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Full text of "Therapie Der Gegenwart 1910 51 ( NNF 12)"

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DIE THERAPIE DER GEGENWART 

MEDIZINISCH CHIRURGISCHE RUNDSCHAU 

FÜR PRAKTISCHE ÄR2TE. 

( 51 . Jahrgang.) 


Unter Mitwirkung hervorragender Fachmänner 
herausgegeben von 

PROF. DR. G. KLEMPERER 

BERLIN. 


Neueste Folge. XII. Jahrgang. 





Alle Rechte Vorbehalten 


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Gedruckt bei Julius Sittenfeld, Hof buchdrucker-, Berlin W 


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Die Therapie der Gegenwart 


1910 


herau8gegeben von Prof. Dr. G. Klemperer 
in Berlin. 


Januar 


Nachdruck verboten. 

Aus der I. medizinischen Klinik der Universität Wien. 

Zur Therapie der Gastroptose. 1 ) 

Von Carl von Noorden» 


Unsere Vorstellungen über Gastroptose 
und über Magenatonie haben seit der Einfüh¬ 
rung der Röntgoskopie in die Diagnostik 
eine gründliche Wandlung erfahren. Eine 
echte Gastroptose kommt zweifellos vor; 
sie ist dann stets Teilerscheinung einer 
auch auf andere Bauchorgane, insbesondere 
auch auf die Leber sich erstreckenden 
Ptose. Das ist aber, von ausgesprochenem 
Hängebauch abgesehen, selten, ln den 
ungemein zahlreichen Fällen, wo wir früher 
bei normaler Beschaffenheit der Bauch¬ 
wand, bei normaler Lagerung der übrigen 
Organe oder höchstens bei gleichzeitiger 
abnormer Beweglichkeit der rechten Niere, 
aus dem Ergebnis der Palpation, aus der 
Verbreitung des Plätschergeräusches, aus 
dem Resultat der Magenaufblähung Ma- 
genptose diagnostizierten, handelt es sich 
fast immer nur um eine Verlängerung 
des ganzen Magens. Da dieselbe am 
kaudalen Magenabschnitt natürlich am 
stärksten zum Ausdruck kommt, fällt im 
Röntgenbilde der Tiefstand der Pars pylo- 
rica besonders stark in die Augen. Die 
Pars pylorica erscheint gleichzeitig abnorm 
beweglich, schlecht fixiert. Es hat daher 
eine gewisse Berechtigung, wenn F. M. 
Groedel geneigt ist, den Namen „Gastro¬ 
ptose 41 überhaupt fallen zu lassen, und da¬ 
für den Namen „Pyloroptose“ einführen 
will. Er deckt mit diesem Worte das, was 
im Schattenbilde zweifellos am meisten im¬ 
poniert. Da aber — mit seltenen Aus¬ 
nahmen — auch höher gelegene Teile des 
Magens tiefer als normal gerückt sind, liegt 
kaum ein Grund dafür vor, den alten gut 
eingebürgerten Namen „Gastroptose 44 fallen 
zu lassen. Man muß sich nur erinnern, 
daß jede Gastroptose die Pars pylorica am 
stärksten betreffen wird. 

DieimRöntgenbildestark ausgesprochene 
Ptose des kaudalen Magen teils ist fast 
immer verbunden mit einer abnormen Dehn¬ 
barkeit der Magenwände und beruht wahr¬ 
scheinlich in erster Stelle auf dieser ab¬ 
normen Dehnbarkeit; das Organ erscheint, 
wenigstens bei aufrechter Körperstellung, 

*) Nach einer Demonstration mit Lichtbildern in 
der K. K. Gesellschaft der Aerzte, Wien, 3. Dezem¬ 
ber 1909. 

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abnorm lang gestreckt, wie ein langer, 5 
bis 7 cm dicker Schlauch, während die 
Pars pylorica in der Regel nach oben ge¬ 
richtet bleibt. Es resultiert gewissermaßen 
eine Uebertreibung der so häufig bei Ge¬ 
sunden vorkommenden „Angelhakenform 11 
des Magens. Manchmal rückt auch der 
Pylorus an die tiefste Stelle des Magens. 
Niemals sieht man bei der Pylorusptose 
die andere, von Holzknecht beschriebene 
normale Form desMagens: „Stierhornform 11 . 

Bei Belastung des mit Pylorusptose behaf¬ 
teten Magens in aufrechter Stellung sieht 
man oft den der Pars pylorica benachbarten 
Teil der großen Kurvatur sich sackförmig 
nach unten ausbauchend, ein weiteres Zei¬ 
chen für die abnorme Dehnbarkeit des 
Organs. 

Außer primärem Verlust an elastischer 
Kraft kann wohl auch mangelhafter Vorrat 
an stützendem Bauchfett die Ursache der 
Pylorussenkung sein. Wenigstens spricht 
die bekannte Tatsache dafür, daß wir ge¬ 
rade bei sehr mageren Personen aus dem 
klinischen Symptomenbilde und aus dem 
Durchleuchtungsbefund auf abnormen Tief¬ 
stand des kaudalen Magenteils schließen 
müssen und dies bei der Durchleuchtung 
bestätigt finden. Aber auch hier ist ab¬ 
norme Dehnbarkeit in der Längsrichtung 
die Voraussetzung dafür, daß es wirklich 
zur Pylorusptose kommt. 

Die beiden, früher mit vieler Kunst aus¬ 
einander gehaltenen Begriffe: Magenptose 
(respektive Pylorusptose) und Magenatonie 
lassen sich heute nicht mehr scharf tren¬ 
nen. Die neueren klinischen und röntgo- 
logischen Erfahrungen gestatten beide Be¬ 
griffe miteinander zu verbinden und von 
„atonischer Pyloroptose“ zu reden. Damit 
kennzeichnet man den weitaus häufigsten 
Tatbestand. 

Wo im klinischen Sinne des Wortes 
Atonie des Magens besteht, wird auch stets 
Pylorusptose gefunden werden. Umgekehrt 
ist aber nicht jeder Tiefstand der Pars py¬ 
lorica mit Atonie vergesellschaftet, d. h. bei 
weitem nicht immer findet man bei der 
Ausheberung verlangsamte Entleerung und 
bei der röntgologischen Untersuchung ver¬ 
spätete und träge Peristaltik. 

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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Januar 


Besonders hervorzuheben ist, daß die 
Beschwerden, die wir gewohnt sind auf 
Magenatonie zu beziehen, sehr häufig aus 
den Resultaten der objektiven Untersuchung 
nicht befriedigend erklärt werden können. 
Oft freilich lehren sowohl Magenspülung 
wie Durchleuchtung, daß die Entleerung 
des Magens wirklich verlangsamt ist; z. B, 
die Durchleuchtung zeigt, daß die peri¬ 
staltischen Wellen abnorm flach verlaufen 
oder zu spät einsetzen oder daß nach an¬ 
fangs normaler Peristaltik eine lange Pe¬ 
riode der Untätigkeit des muskulären Ma¬ 
genschlauches folgt. Aber das Gefühl der 
Völle und des allzulangen Verweilens der 
Speisen im Magen wird oft auch geklagt, 
wenn der tatsächliche Ablauf der Magen¬ 
entleerung nichts zu wünschen übrig 
läßt. Die Beschwerden spielen sich dann 
nur auf subjektivem Gebiete ab, es 
besteht nervöse Dyspepsie, gemäß der von 
Leube seinerzeit gegebenen Deutung des 
Wortes. Der Patient empfindet die Be¬ 
lastung des Magens, während er — 
wenigstens bei mäßiger Füllung des Or¬ 
gans — keine Empfindung davon haben 
sollte. Diese Empfindung der Belastung 
des Mageninnern scheint eng verknüpft mit 
dem Tiefstand der Pars 
pylorica und vielleicht 
mit dem auf ihr tasten¬ 
den Druck zu sein. 

Unter den therapeu¬ 
tischen Hilfsmitteln, die 
zur Bekämpfung der 
atonischen Pyloroptose 
dienen, sind als wich¬ 
tigste zu nennen: 

1. Vermeidung star¬ 
ker Belastung des Ma¬ 
gens. Daher sind ko- 
piöse Mahlzeiten und 
allzu schnelle Füllung 
des Organs zu meiden. 

Kleinere häufige Mahlzeiten sind, meist 
größeren seltenen vorzuziehen. Meist ist 
die gleichzeitige Aufnahme von festen und 
flüssigen Stoffen zu verbieten. 

2. Erleichterung schneller Magenent¬ 
leerung durch Rückenlage nach den Haupt¬ 
mahlzeiten, am besten mit leichter Wen¬ 
dung des Körpers nach rechts. 

3. Anwendung solcher Arzneimittel, die 
erfahrungsgemäß und auch nach experi¬ 
menteller Prüfung den Vagustonus der Ma¬ 
genmuskulatur erhöhen. Mein Assistent 
Alb. Müller 1 ) hat darüber entscheidende 

*) Müller und Saxl, Ueber den Tonus der 
glatten Muskulatur und die Kapazität des Magens 
^Wien. med. Woch. 1909, S. 1640). 


Versuche angestellt. Als tonuserhöhend 
erwiesen sich vor allem: Strychnin und 
Physostigmin, ferner Pilocarpin. 

4. Aufbesserung des gesamten neuro¬ 
tischen Zustandes der Patienten. Die meisten 
Individuen mit Magenätonie sind Neuro¬ 
tiker. A. Müller und P. Saxl 1 ) erkannten 
in der Atonie „eine Störung des normalen 
Umschichtungsprozesses der Magenmusku- 
latur“. Der bei Ausdehnung und bei Zu¬ 
sammenziehung des Magens erfolgende Um¬ 
schichtungsprozeß wird vom Nervus vagus 
beherrscht. Tatsächlich bessern sich fast 
immer, mit Besserung des Allgemein¬ 
zustandes die Erscheinungen der atonischen 
Pyloroptose — wenigstens die mit ihr ver¬ 
bundenen subjektiven Beschwerden. 

Neben diesen Maßnahmen hat es die 
Therapie stets als wichtige Aufgabe be¬ 
trachtet, den gesunkenen Magen wieder zu 
heben. Zwei Methoden kommen in Be¬ 
tracht: 

5. Die Anlegung von stützenden Binden. 

6. Die Fettanreicherung der Bauchhöhle. 

ad 5. Was den Einfluß der Binden auf 

die Hebung des Magens betrifft, so haben 
mich Beobachtungen am Röntgenschirm 
recht skeptisch gemacht. Bei allgemeiner 


Enteroptose (bei Hängebauch) freilich wurde 
der untere Saum des verzehrten Wismut¬ 
breies stets beträchtlich gehoben, wenn 
man eine die untere Bauchhälfte gut 
stützende Binde anlegte. Die Unterschiede 
betrugen 3—5 cm. Da handelte es sich 
stets um Frauen mit erschlafften Bauch¬ 
decken. Wo aber der Bauch normale For¬ 
men und die Bauchdecken normalen Tonus 
hatten, wurde durch kunstgerecht angelegte 
Bauchbinden verschiedener Konstruktion 
nicht die geringste Hebung des Magens 
bewirkt. Leider habe ich frühere Befunde 
nicht aufzeichnen lassen, sodaß ich augen- 

*) Müller und Saxl, Ueber den Vorgang der 
Magenfüllung (Wien. klin. Woch, 1908, Nr. 14), 



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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


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blick lieh nur Ober zwei Bilder verfüge, die 
dies illustrieren (cf. Abb. 1 und 2). Im 
Gegensatz zu der Unveränderlichkeit 
des objektiven Befundes ist aber her¬ 
vorzuheben, daß die meisten Patienten eine 
wesentliche Erleichterung der sub¬ 
jektiven Beschwerden hatten, wenn sie 
die die untere Bauchhälfte mäßig kompri¬ 
mierende Binde tagsüber trugen. Diesen 
Vorteil wird sich die Therapie natürlich zu 
nutze machen, insbesondere bei nervösen 
Individuen. Worauf der gute Einfluß auf 
die subjektiven Beschwerden zurückzuführen 
ist, muß noch festgestellt werden. 

Natürlich will ich nicht in Abrede stellen, 
daß man auch bei normaler Bauchform die 
untere Bauchhälfte so bandagieren kann, 
daß ein atonisch-pyloroptotischer Magen 
gehoben wird. Dies setzt aber eine Kom¬ 
pression voraus, die auf die Dauer nicht 
vertragen wird. Die gewöhnlichen Bauch¬ 
binden, auch bester Konstruktion, erreichen 
das angestrebte Ziel nicht. 

ad 6. Ich habe vor langer Zeit, ge¬ 
stützt auf Resorptions- und Stoßwechsel¬ 
untersuchungen begründet, daß es bei zahl¬ 
reichen chronischen Magenkrankheiten nicht 
zweckmäßig sei, ausschließlich auf die Scho¬ 
nung des erkrankten Organs bedacht zu 
sein und diese durch weitgehende Nahrungs¬ 
einschränkung zu erreichen, sondern daß 
man viel besser zum Ziele komme, wenn 
man — natürlich unter sorgfältiger Aus¬ 
wahl der Nahrung — in erster Linie auf 
die möglichste Steigerung der Zufuhr und 
auf Kräftigung des ganzen Körpers aus¬ 
gehe 1 ). Die Besserung des Ernährungs¬ 
zustandes werde dann auch dem erkrankten 
Organ zugute kommen. Unter den Magen¬ 
krankheiten, die solcher Therapie zugäng¬ 
lich seien, wurde auch die Magenatonie 
und das Ulcus ventrieuii genannt. Ich bin 
diesen Grundsätzen seitdem treu geblieben 
— ohne freilich soweit zu gehen wie Len- 
hartz — und die mästende Ernährung auch 
auf Magengeschwüre mit frischen Blutungen 
auszudehnen. Was die Magenatonie be¬ 
trifft, so galt es damals noch als etwas 
Neues und Kühnes, die Rücksicht auf den 
Magen beiseite und die Aufmästung in 
den Vordergrund zu schieben. Inzwischen 
ist die Methode der Aufmästung bei Magen¬ 
atonie zu allgemeiner Wertschätzung ge¬ 
langt; wenn sie freilich nicht immer zum 
Ziele führt, so liegt dies nicht am Prinzip, 
sondern daran, daß ihrer Durchführung 
doch recht viele praktische Schwierigkeiten 

*) von Noorden, der Stoffwechsel bei Magen¬ 
kranken und seine Ansprüche an die Therapie. Ber¬ 
liner Klinik 1893, H. 55. 


entgegenstehen, die zu Hause nur selten 
in Krankenhäusern und Sanatorien nur 
unter Aufbietung größter Sorgfalt umgangen 
werden können. 

Es ist mir aus vergleichenden Aushebe¬ 
rungen des Magens schon seit langem be¬ 
kannt, daß trotz starker und während der 
Behandlung langsam wachsender Bean¬ 
spruchung des Magens die Entleerungszeiten 
anfangs atonischer Mägen immer kürzer 
wurden. Ich muß mich dabei auf ältere 
Krankengeschichten beziehen, da ich jetzt 
bei Magenatonien von Magenausheberungen 
fast gänzlich absehe und höchstens im An¬ 
fänge der Behandlung am späten Abend 
eine solche vornehmen lasse, um den Magen 
vor der physiologischen Ruhezeit, d. h. 
nachts, gänzlich zu entlasten. Ich fand 
unter meinen No tizenl 1 Krankengeschichten, 
in denen vermerkt ist, daß der Magen 
morgens eine Stunde nach der Aufnahme 
von 400 ccm Tee und 4 Zwiebäcken noch 
reichliche Mengen der Mahlzeit enthielt, 
während nach einer mehrwöchigen diäteti¬ 
schen mästenden Behandlung der Magen 
schon nach 40 Minuten leer gefunden wurde. 
Eine viel größere Serie gleichsinniger Be¬ 
obachtungen stellte mir mein Freund und 
Schüler C. Dapper (Kissingen) zur Ver¬ 
fügung, der sich der gleichen Behandlungs¬ 
und Untersuchungsmethoden wie ich be¬ 
diente. 

Das Röntgen verfahren gibt uns jetzt die 
Möglichkeit an die Hand, viel genauer den 
Einfluß der Behandlung auf Stand und 
Verhalten des Magens kontrollieren zu 
können. Aus früherer Zeit besitze ich 
leider keine Bilder. Bei 9 Fällen von ato¬ 
nischer Pyloroptose, die ich im vorigen 
Sommer mittels Mastkuren behandelte, ließ 
ich die Magenformen vor und nach der 
Behandlung aufzeichnen 1 ). Es ist kaum 
nötig zu erwähnen, daß beide Aufnahmen 
unter völlig gleichen Bedingungen gemacht 
wurden (gleiche Tageszeit, gleiche Be¬ 
lastung mit Wismutbrei usw.). Die Re¬ 
sultate sind überzeugend: in allen Fällen 
wurde eine bemerkenswerte Hebung der 
Pars pylorica gefunden. Wo sich vor der 
Behandlung der an die Pars pylorica gren¬ 
zende Magenteil sackförmig unter der Be¬ 
lastung ausbauchte, war diese Ausbauchung 
später verschwunden. Wo man bei der 
ersten Aufnahme abnorme Weitung der 
mittleren Magenpartien und schlechte Um¬ 
spannung des Inhalts fand, waren diese 
Verhältnisse später erheblich besser ge- 

l ) Die Röntgenaufnahmen wurden von ver¬ 
schiedenen Röntgologen gemacht (Holzknecht, 
v. Schmarda, Schwarz, Robinsohn). 


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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Januar 


worden oder völlig normaler Anspannung 
gewichen. 

Die Dauerhebungen des unteren Magen¬ 
saumes betrugen: 

in einem Falle (Herr O.) 3 cm. — Zunahme 

4 kg, 

in einem Falle (Frl. W.) 4 cm. — Zunahme 
4,8 kg, 

in drei Fällen (Herr V., Herr H., Frl. C.) 

5 cm. — Zunahme 5 bzw. 6 kg, 

in einem Falle (Frau H., straffe Bauch¬ 
decken) 6 cm. — Zunahme 7 kg, 
in zwei Fällen (Frl. M., Herr v. St.) 7 cm. 

— Zunahme 3,4 bzw. 6,3 kg, 
in einem Falle (Frl. R.) 8 cm. — Zunahme 

6 kg. 

Kfr 3. 

i 


Bauchhöhle an der Hebung des Magens 
mitbeteiligt. Der größte Teil des Erfolges 
dürfte aber wohl auf die Besserung der 
Atonie selbst zurückzuführen sein. Voll¬ 
kommenes Schwinden der Magenbeschwer- 
den, die in allen Fällen Vorlagen und die 
Patienten zu mir führten, ferner eine aus¬ 
gezeichnete und nachhaltige Besserung des 
allgemeinen Zustandes wurden ausnahmslos 
erreicht. Die sämtlichen Patienten wurden 
während des Sommers 1909 behandelt; ich 
habe inzwischen von ihnen allen die Nach¬ 
richt erhalten, daß die erzielte Heilung der 
Magenbeschwerden eine dauernde geblieben 
ist. Bei 7 von den 9 Patienten sind zu 
Hause weitere Steigerungen des Gewichtes 
(zwischen 2 und 8 kg) eingetreten. 

Fig. 4 . Es gibt, wie oben an- 


\ 



— Ursprünglicher Stand des Magens. 

. Magen nach der Mastkur, 7 cm Hebung. 

(Fall VHI.) 



Ursprünglicher Stand des Magens. 
Magen nach der Mastkur, 8 cm Hebung. 
(Fall IX.) 


gedeutet, ja noch andere 
Methoden die günstig 
auf die atonische Py- 
loroptose ein wirken. Ich 
glaube aber nach eignen 
Erfahrungen nicht, daß 
irgend eine andere Me¬ 
thode bessere und 
dauerhaftere Resultate 
gibt, als die Aufbesse¬ 
rung des allgemeinen 
Ernährungszustandes. 
Für deren tatsächlichen 
Nutzen ist jetzt der 


Ich kann die Abbildungen hier nicht röntgologische Beweis erbracht. Ich fand 
alle wiedergeben und wähle daher nur zwei in der Literatur keine anderen röntgo- 


Bilder aus, die das erreichte Resultat deut- logischen Nachweise über therapeutisch 
lieh zur Veranschaulichung bringen (Abb. 3 erzielte Hebung bei Magensenkungen, 
und 4). Sicher ist die Fettanreicherung der 


Aus der medizinischen Klinik der Universität Breslau. 

Zur Therapie des Diabetes insipldus 1 ). 

Von O. Minkowski. 

Suchen wir uns über die Grundsätze I Einzelfalle zu entscheiden: ist die ge- 


klar zu werden, von denen wir uns in der 
Therapie des Diabetes insipidus leiten 
lassen wollen, so müssen wir vor allem 
darauf Rücksicht nehmen, daß unter dem 
Namen dieser Krankheit ziemlich hetero¬ 
gene Zustände zusammengefaßt werden, 
deren Scheidung voneinander sich nicht 
immer leicht durchführen läßt. Bezeichnen 
wir als Diabetes insipidus, wie das üblich 
ist, eine Krankheit, bei der „andauernd eine 
vermehrte Absonderung eines nicht zucker¬ 
haltigen Harns ohne Erkrankung der Niere* 
erfolgt, so kommt es für das praktisch 
ärztliche Handeln vor allem darauf an, im 

*) Nach einem in der schlesischen Gesellschaft 
für vaterländische Kultur am 16. Juli 1909 gehaltenen 
Vortrage. 


steigerte Harnabsonderung als die 
primäre Störung aufzufassen, die zu einer 
Verarmung des Organismus an Wasser 
führen müßte, wenn der Wasser Verlust nicht 
durch reichliche Wasserzufuhr gedeckt 
würde, oder ist es nur die krankhafte 
Steigerung des Durstgefühls und die 
übermäßige Wasserzufuhr, die ihrer¬ 
seits die Zunahme der Harnmenge zur 
Folge hat, oder ist schließlich das Eine wie 
das Andere nur die Begleiterscheinung 
irgend eines anderen Leidens. Es 
liegt auf der Hand, daß die Aufgabe der 
Therapie unter so verschiedenen Verhält¬ 
nissen eine verschiedene sein muss: es 
kann z. B. eine Einschränkung der Wasser¬ 
zufuhr nur im zweiten Falle nützlich und 


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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


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geboten sein, während sie im zuerst ge¬ 
nannten Falle leicht schaden könnte, wenn 
nicht gleichzeitig noch in anderer Weise der 
bestehenden Funktionsstörung Rechnung ge¬ 
tragen wird; in dem zuletzt erwähnten Falle 
aber könnte nur von einer Bekämpfung des 
Grundleidens ein Erfolg erwartet werden. 

Daß die Krankheitszustände, die der 
oben angeführten Definition des Diabetes 
insipidus entsprechen, sich in dieser Be¬ 
ziehung sehr verschieden verhalten können, 
unterliegt keinem Zweifel. Ich führe als 
Beispiele 3 Fälle an, die ich gerade in den 
letzten Tagen hier in Breslau zu beobachten 
Gelegenheit hatte: 

Der Eine: eine wohlbeleibte, kräftige, aber 
sehr nervöse Dame, anfangs der 30 er Jahre, 
hat vor einiger Zeit die von Rosenfeld emp¬ 
fohlene Entfettungskur unter ärztlicher Leitung 
mit Erfolg durchgeführt. Als sich später wieder 
eine Gewichtszunahme einstellt, will die Pa¬ 
tientin die Kur auf eigene Faust wiederholen. 
Sie erblickt das Wirksame in der reichlichen 
Wasserzufuhr, trinkt in ihrem Eifer mehrere 
Liter täglich und gewöhnt sich dabei das Wasser¬ 
trinken bald so an, daß sie es nicht mehr lassen 
kann. Jetzt entleert sie täglich 8—10 1 Ham 
bei entsprechender Flüssigkeitszufuhr und sie 
leidet sehr unter dem unstillbaren Durstgefühl 
und dem starken Harndrang. Dabei vorzüg¬ 
liches Allgemeinbefinden und zunehmende 
Körperfülle. Die Patientin „glaubt nicht an die 
Aerzte“ und alle ärztlichen Verordnungen, auch 
die kochsalzarme Diät, erwiesen sich bis jetzt 
als erfolglos. Dagegen soll ein Tränkchen, das 
irgend eine Kurpfuscherin verordnet hat, den 
Zustand sehr erleichtert haben. 

Der Zweite: ein schwächlicher Knabe von 
9 Jahren, Körpergewicht nur 21 kg, wird von 
seinen Eltern zum Arzt gebracht, weil er „trotz 
aller Prügel das Bettnässen nicht lassen will“. 
Der Arzt stellt fest, daß der Knabe täglich 
9—10 1 Urin von einem spezifischen Gewicht 
von 1002 entleert. Natürlich trinkt er auch ent¬ 
sprechende Mengen. Ein Versuch, das Wasser 
gewaltsam zu entziehen, muß bald aufgegeben 
werden, weil der Kleine dabei bedenklich elend 
wird. In den ersten Tagen der Wasserent¬ 
ziehung scheidet er ein paar Liter mehr aus, 
als er zu trinken bekommt, und verliert dabei 
in 2 Tagen mehr als 2 kg, also 10% seines 
Körpergewichts. Die Wasserentziehung wird 
besser ertragen, als gleichzeitig auch die Koch¬ 
salzzufuhr eingeschränkt wird. Im übrigen aber 
trotzt der Fall jeder Therapie. 

In dem dritten Falle handelte es sich um 
einen 50jährigen Herrn, bei dem eine mit 
Polydipsie verbundene Polyurie sich gleichzeitig 
mit den Erscheinungen einer organischen Er¬ 
krankung des Zentralnervensystems — gastri¬ 
schen Krisen, einseitigem Fehlen des Prä- 
patellarsehnenreflexes, Okulomotoriuslähmung 
— einstellte. Wasserentziehung wurde sehr 
qualvoll empfunden. Salzarme Diät brachte 
etwas Erleichterung. Eine antiluetische Be¬ 
handlung, die auf die tabischen Symptome ohne 
Einfluß blieb, beseitigte die Polyurie und Poly¬ 
dipsie fast vollständig. 

Entsprechend der üblichen Einteilung 
hätten wir den ersten Fall als eine „pri¬ 


märe Polydipsie“, den zweiten als einen 
„echten idiopathischen Diabetes insipidus“, 
den dritten als eine „symptomatische Poly¬ 
urie“ bei organischer Erkrankung des Zen¬ 
tralnervensystems zu bezeichnen. 

Muß in den Fällen der letzteren Art 
das Hauptgewicht auf die spezielle Diagnose 
der Nervenläsion gelegt werden, so hat 
man für die übrigen Fälle vor allem zu 
entscheiden gesucht, ob die Polydipsie oder 
die Polyurie als die primäre Störung anzu¬ 
sehen ist. In der Praxis gestaltet sich 
diese Unterscheidung aber keineswegs 
einfach: 

Ebstein hat vor kurzem gemeint, daß 
man in den meisten Fällen aus der 
Anamnese entscheiden könnte, was zu¬ 
erst aufgetreten ist. Das wird aber sicher 
nur ausnahmsweise möglich sein. Selten 
dürften die Verhältnisse so liegen, wie in 
unserem ersten Falle. Da jede übermäßige 
Wasserzufuhr sofort eine Harnflut er¬ 
zeugt, und jede Steigerung der Diurese 
sofort ein größeres Bedürfnis nach Wasser¬ 
zufuhr erweckt, so wird man in der Regel 
durch die Anamnese höchstens erfahren 
können, was dem Patienten zuerst auf¬ 
gefallen ist, nicht was zuerst dagewesen ist. 

Im allgemeinen sucht man die Entschei¬ 
dung danach zu treffen, wie sich der 
Patient gegenüber einer Einschrän¬ 
kung der Wasserzufuhr verhält. Da¬ 
bei pflegt man vor allem Wert darauf zu 
legen, ob die Polyurie nach der Ein¬ 
schränkung der Wasserzufuhr noch 
andauert. Eine solche Fortdauer der ge¬ 
steigerten Harnsekretion beweist aber, selbst 
wenn sie von einer auffallenden Gewichts¬ 
abnahme begleitet ist, noch durchaus nichts 
für eine primäre Polyurie. Es kann sich dabei 
auch ebensogut um eine nachträgliche und 
verzögerte Ausscheidung vorher im Ueber- 
maße zugeführter Wassermengen handeln. 
Wichtiger ist es schon darauf zu achten, 
welche Rückwirkung die Wasser¬ 
entziehung auf den Organismus aus¬ 
übt. Die Intensität der dabei auftretenden 
subjektiven Beschwerden kann dabei 
aber nicht entscheidend sein. Diese hängen 
sehr wesentlich von der Empfindlichkeit 
der Patienten ab, und sie können z. B. bei 
einer hysterischen Polydipsie unter Um¬ 
ständen sehr groß sein und sehr stürmisch 
in die Erscheinung treten. Als maßgebend 
kann aber eine durch die Wasserentziehung 
bewirkte Eindickung des Blutes an¬ 
gesehen werden. In den meisten Fällen 
von Diabetes insipidus vermißt man in¬ 
dessen sowohl die Erhöhung des spezi¬ 
fischen Gewichts wie die stärkere Gefrier- 


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Januar 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


punktserniedrigung des Blutes, weil offen¬ 
bar der Organismus gegen Aenderungen 
der Blutkonzentration sehr empfindlich ist 
und bestrebt ist, den Wasserverlust des 
Blutes durch Wasseraufnahme aus den 
Geweben möglichst bald zu ersetzen. Merk¬ 
liche Abweichungen von der Norm erzielt 
man erst, wenn man bei der Einschrän¬ 
kung der Wasserzufuhr so energisch vor¬ 
geht, daß dadurch erhebliche Beschwerden 
und Gefahren für den Kranken herbei¬ 
geführt werden können. 

Wie schwierig es ist, den Begriff einer 
primären Polydipsie von dem einer pri¬ 
mären Polyurie abzugrenzen, beweisen am 
besten die Ausführungen von Ebstein 1 ), 
der sich bemüht darzutun, daß in allen 
Fällen von Diabetes insipidus die Poly¬ 
dipsie als das primäre angesehen werden 
kann, und darauf hinweist, daß man selbst 
bei der Schrumpfniere die Zunahme der 
Harnmenge nicht auf eine primäre Steige¬ 
rung der Harnabsonderung beziehen darf. 
Hier führe die Funktionsstörung der Niere 
zunächst zu einer Retention von festen 
Harnbestandteilen, deren Anhäufung im 
Blute den Durst steigere und zu einer ver¬ 
mehrten Wasserzufuhr Anlaß gebe; erst 
durch diese werde die Erhöhung der Harn¬ 
menge bewirkt, und so sei es auch hier 
die Polydipsie, die der Polyurie voraus¬ 
gehe. 

Durch eine solche Auffassung wird in¬ 
dessen die Unterscheidung der verschie¬ 
denen Formen des Diabetes insipidus nach 
ihrer Pathogenese nicht gegenstandslos. 
Nur die Formulierung des Unterschiedes 
wird eine andere. Mag die gesteigerte 
Harnsekretion auch in allen Fällen erst 
durch eine vermehrte Wasserzufuhr her¬ 
vorgerufen sein, so fragt es sich immer 
noch: Wird diese vermehrte Wasserzufuhr 
nur durch eine übermäßige Empfindlichkeit 
der Durstnerven, durch psychische Ein¬ 
flüsse oder dergleichen herbeigeführt, ohne 
daß ein gesteigertes Bedürfnis nach 
Wasser im Organismus vorliegt, oder 
dient vielmehr die vermehrte Wasserzufuhr 
zum Ausgleich für irgend eineTu]nk- 
tionsstörung. Es ist klar, daß es in 
letzterem Falle vor allem darauf ankommen 
muß, diese Funktionsstörung zu erkennen 
und zu bekämpfen, ehe man es wagen 
darf, die Wasserzufuhr zu verringern. 

Für gewisse Fälle des Diabetes insipi¬ 
dus haben nun eine Reihe von Autoren, 
unter denen, außer v. Koränyi und 
Tallqvist, namentlich Erich Meyer zu 
nennen ist, auf Grund ihrer Untersuchungen 

1) Deutsch. Arch. f. klin. Med. 1908, Bd. 95, S. 1. 


die Annahme einer besonderen Funktions¬ 
störung von seiten der Nieren wahrschein¬ 
lich gemacht, die man als „Verlust des 
Konzentrationsvermögens für den Harn* 
bezeichnet hat. Während der normale 
Organismus die Fähigkeit besitzt, die Kon¬ 
stanz seiner Säftemischung durch Aende¬ 
rungen der Harnkonzentration zq regulieren, 
bei einem Ueberschusse an festen Bestand¬ 
teilen einen konzentrierteren, bei einem 
Ueberschusse an Wasser einen verdünn- 
teren Harn zu produzieren, scheint dieses 
Anpassungsvermögen in vielen Fällen von 
Diabetes insipidus verloren gegangen zu 
sein. Soll eine größere Menge von festen 
Harnbestandteilen ausgeschieden werden, 
so bewältigt dieses die Niere nicht durch 
Steigerung der Harnkonzentration, sondern 
nur durch eine Zunahme der Harnmenge. 
Dazu müssen größere Mengen von Wasser 
eingeführt werden. Stehen diese nicht zur 
Verfügung, dann kommt es zu einer Wasser¬ 
verarmung des Organismus oder zu einer 
Retention von festen Bestandteilen, die 
unter Umständen einen gefahrdrohenden 
Charakter annehmen kann, sodaß selbst 
der Urämie ähnliche Zustände sich ein¬ 
stellen können. 

Die praktischen Konsequenzen, die sich 
aus diesem Verhalten ergeben, sind in 
neuerer Zeit von verschiedenen Seiten er¬ 
örtert worden. Ich selbst hatte diesem 
Gegenstände schon vor längerer Zeit meine 
Aufmerksamkeit zugewandt. Schon vor 
dem Erscheinen der Meyer sehen Publi¬ 
kation hatte auf meine Veranlassung Win¬ 
kelmann im Jahre 1904 in Cöln, von ähn¬ 
licher Fragestellung ausgehend, Unter¬ 
suchungen an einem Patienten angestellt, 
der später von Cöln nach München kam 
und dort auch E. Meyer als Versuchs¬ 
objekt gedient hat. Aus äußeren Gründen 
konnten die Untersuchungen von Winkel- 
mann erst später publiziert werden. 1 ) In 
Greifswald hat dann S. Weber 2 ) und in 
Breslau Forschbach an Patienten meiner 
Klinik weitere Beobachtungen angestellt, 
die noch nicht ausführlich publiziert sind. 

Auf Grund dieser Beobachtungen und 
unter Berücksichtigung der mittlerweile in 
der Literatur vorliegenden Mitteilungen 
möchte ich den gegenwärtigen Stand der 
Frage wie folgt zusammen fassen: 

Es gibt zweifellos Fälle von Diabetes 
insipidus, in denen sich die Unfähigkeit 
den Harn zu konzentrieren in auf- 

l ) Med. Klinik 1907, Nr. 34. 

a ) Siehe Weber und Groß, Die Polyurien. Er¬ 
gebnisse der inneren Medizin und Kinderheilkunde 
Bd. III, 1909. 


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Januar 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


7 


fallender Weise bemerkbar macht, nament¬ 
lich gegenüber dem Kochsalz. Verab¬ 
folgt man solchen Kranken 10—20 g Chlor¬ 
natrium mit der Nahrung, so steigt, selbst 
wenn die Wasserzufuhr nicht gleichzeitig 
erhöht wird, die Konzentration des Koch¬ 
salzes im Harne nur wenig an, z. ß. nicht 
über 0,1—0,2% unter Verhältnissen, unter 
denen ein Gesunder mehr als 1 % CINa im 
Harne ausscheidet. Es bedarf daher auch 
weit größerer Harnmengen und einer sehr 
viel längeren Zeit, als bei Gesunden, bis 
die Kochsalzzulage vollständig im Harne 
wieder erschienen ist. 

Daß dieses Verhalten nicht in allen 
Fällen in gleichem Maße hervortritt, 
kann nicht weiter auffallen; es braucht eben 
die Intensität der krankhaften Funktions¬ 
störung nicht in allen Fällen die gleiche zu 
sein. Aber es muß hervorgehoben werden, 
daß auch in demselben Falle die Beein¬ 
trächtigung des Konzentrationsvermögens 
nicht unter allen Umständen in gleich 
hohem Grade ausgesprochen ist. 
Untersucht man in kürzeren Intervallen, 
etwa zweistündlich, so zeigt sich oft in den 
ersten Perioden ein Ansteigen der Koch¬ 
salzkonzentration, die aber durch eine nach¬ 
folgende Konzentrationsabnahme so aus¬ 
geglichen werden kann, daß in der 24stün- 
digen Harnmenge die Kochsalzkonzentra¬ 
tion nur wenig beeinflußt erscheint. Noch 
bemerkenswerter ist, daß bei interkur¬ 
rentem Fieber, wie es bereits von ver¬ 
schiedenen Autoren erwähnt wird, und wie 
wir es auch haben beobachten können, mit der 
Abnahme der Harnmenge die Salzkonzen¬ 
tration im Harne sehr erheblich zunehmen 
kann. Es erscheint sehr auffallend, daß die 
Niere gerade unter krankhaften Verhält¬ 
nissen eine Funktion wieder erlangen soll, 
die ihr verloren gegangen war. 

Gegenüber dem Harnstoff ist in den 
betreffenden Fällen eine Störung des Kon¬ 
zentrationsvermögens ebenfalls vorhanden, 
doch tritt sie in der Regel viel weniger 
hervor. Wir haben, um hierüber ein Ur¬ 
teil zu erlangen, die Harnmenge und die 
Stickstoffkonzentration nicht nur in ihrer 
Abhängigkeit von dem Eiweißgehalt der 
Nahrung untersucht, sondern vor allem 
auch den Einfluß einer Zufuhr von 20 bis 
30 g chemisch reinen Harnstoffs ge¬ 
prüft. Eine solche führte zwar zu einer 
beträchtlichen Zunahme der Harnmenge, 
jedoch war diese nicht so groß wie nach 
der Zulage einer entsprechenden Koch¬ 
salzmenge. 

Auch gegenüber anderen Salzen, wie 
Phosphaten und Nitraten ist das Konzen¬ 


trationsvermögen weniger gestört, wie 
gegenüber dem Chlornatrium. 

In Fällen dieser Art, in denen jede Koch¬ 
salzzufuhr zu einer beträchtlichen Steigung 
der Diurese führt, bewirkt häufig die Ver¬ 
ordnung einer kochsalz- und stick¬ 
stoffarmen Diät eine Verringerung 
des Durstes und der Polyurie. So sank 
z. B. in einem Falle unserer Beobachtung 
die Urinmenge von 12—14 auf 3—4 1, ob¬ 
gleich dem Kranken gestattet war, so viel 
zu trinken, wie er wollte. Solche Erfolge 
werden aber nicht immer erreicht. In man¬ 
chen Fällen, in denen die Kochsalzzufuhr 
zwar eine Beschränkung des Konzentra¬ 
tionsvermögens erkennen läßt, bewirkt die 
Kochsalzentziehung nichts weiter als ein 
noch stärkeres Sinken der Kochsalz¬ 
konzentration. Bei dem oben erwähnten 
Knaben z. B. sank bei einer sehr weit¬ 
gehenden Einschränkung des Kochsalz¬ 
gehalts der Nahrung der prozentische 
Chlornatriumgehalt des Harns bis auf 0,01, 
während die Polydipsie und Polyurie sich 
kaum merklich verminderten. 

Offenbar spielen auch noch andere 
Momente bei dem Zustandekommen der 
Polyurie mit. Daß dieses möglich ist, 
geht aus den Versuchen von Finkeln¬ 
burg 1 ) hervor, die einerseits gezeigt, daß 
Störungen des Konzentrationsvermögens 
auch bei solchen Polyurien vorhanden sein 
können, denen unzweifelhaft organische Er¬ 
krankungen des Zentralnervensystems zu¬ 
grunde liegen, andererseits aber auch, daß 
die durch Läsionen bestimmter Hirnteile 
hervorgerufene Polyurie unzweifelhaft eine 
primäre ist, und unabhängig von der 
Wasser- und Salzzufuhr zustande kommt. 

Erscheint somit die Pathogenese der 
Polydipsie und Polyurie auch durch die 
neueren Untersuchungen noch durchaus 
nicht in einer befriedigenden Weise klar¬ 
gestellt, so haben uns doch diese Unter¬ 
suchungen gewisse Handhaben gegeben, 
durch welche es möglich wird, verschiedene 
Fälle des Diabetes insipidus auseinander¬ 
zuhalten und die therapeutischen Ma߬ 
nahmen den bestehenden Funktionsstörun¬ 
gen anzupassen. 

In der Praxis wird es sich empfehlen, 
zunächst in jedem Falle von Diabetes 
insipidus zu prüfen, wie sich nach einer 
größeren Kochsalzgabe bei gleichbleibender 
Wasserzufuhr die Harnmenge, das spezifi¬ 
sche Gewicht und der Chlorgehalt des 
Harns verhält. Es ist dieses leichter aus¬ 
führbar als die Prüfung des Einflusses einer 
Wasserentziehung, deren Wirkungen lang- 

i ) Deutsches Arch. f. klin. Med. 1907, Bd. 91, S.345. 


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8 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Januar 


samer zutage treten, schwerer zu kontrol¬ 
lieren sind und von den Patienten unan¬ 
genehmer empfunden werden. Zeigt eine 
Steigerung des spezifischen Gewichts und 
der Kochsalzgehalt im Harne an, daß das 
Konzentrationsvermögen erhalten ist, so 
darf zunächst eine Einschränkung der 
Wasserzufuhr angestrebt werden. Zeigt 
es sich aber, daß die Kochsalzzufuhr 
weniger den Kochsalzgehalt, wie die Harn¬ 
menge zu beeinflussen vermag, dann ist 
ein Versuch mit einer kochsalz- und stick¬ 
stoffarmen Diät geboten. Diese schafft 
dann in der Regel den Patienten eine 
große Erleichterung, namentlich dann, wenn 
die Nachtruhe durch die Polydipsie und 
Polyurie gestört ist. Allerdings läßt sich 
eine solche Diät nicht beliebig lange durch¬ 
führen, nicht nur weil die fade Nahrung 
den Kranken bald widersteht, sondern 
weil eine allzu energische Einschränkung 


der Kochsalz- und Stickstoffzufuhr auch 
Gefahren bedingen kann. Man wird sich 
darauf beschränken müssen, die strengere 
Diät nur für kürzere oder längere Perioden 
zu verordnen. Aber schon eine zeitweise 
Erleichterung wird wohltätig empfunden, 
und mancher Fall scheint durch eine solche 
Behandlung auch nachhaltig gebessert zu 
werden. 

Bleibt der Erfolg der Kochsalzent¬ 
ziehung aus, obgleich unzweifelhaft eine 
BeschränkungdesKonzentrationsvermögens 
besteht, so ist die Aussicht gering, mit 
irgend einem anderen Mittel einen Erfolg 
zu erzielen. Es sei denn, daß es sich um 
solche Fälle handelt, in denen der Diabetes 
insipidus sich auf dem Boden einer Lues 
entwickelt hat, ob mit oder ohne organische 
Läsion des Nervensystems. In solchen 
Fällen kann eine antiluetische Behandlung 
nicht selten das Leiden beseitigen. 


Aas der medizinischen Klinik der Universität Kiel. 

Einige Bemerkungen zur Bewertung der Azetonkörper¬ 
ausscheidung beim Diabetiker sowie über den Wert von 

Haferkuren. 

Von Hugo Lüthje. 


Es kann wohl als gesicherte Tatsache 
gelten, daß immer dann, wenn im Stoff¬ 
wechsel des Menschen Kohlehydrate nur 
in geringem Umfange oder überhaupt nicht 
mehr zum Umsatz kommen, Azetonkörper 
mit dem Harn zur Ausscheidung kommen, 
und zwar Azeton, Azetessigsäure und ß-Oxy- 
buttersäure. Im Körper entstehen wahr¬ 
scheinlich ausschließlich Azetessigsäure und 
0-Oxybuttersäure; das Azeton entsteht da¬ 
gegen wenigstens zur Hauptsache erst se¬ 
kundär durch Zersetzung der Azetessig¬ 
säure. In welchem Umfange diese Ab¬ 
spaltung des Azetons aus der Azetessig¬ 
säure bereits innerhalb des Organismus 
statthaben kann, ist nicht sicher bekannt. 
Sicher aber wissen wir, daß jedenfalls der 
größere Teil des Azetons erst außer¬ 
halb des Körpers, resp. der Blutbahn, 
im Harn, resp. in den Lungen aus der 
Azetessigsäure entsteht. Kommt wenig 
Azetessigsäure zur Ausscheidung, so zer¬ 
fällt sie in der Regel vollkommen, so daß 
wir im Harn nur Azeton und daneben 
Spuren von /?-Oxybuttersäure finden. Der 
Harn gibt dementsprechend nur die Aze¬ 
tonreaktionen, aber nicht die Eisenchlorid-, 
d. h. die Azetessigsäurereaktion. 

Man kann deshalb, wenn dieEisen- 
chloridreaktion fehlt mit für prakti¬ 
sche Zwecke hinreichender Genauig¬ 
keit annehmen, daß die vorhandene 


abnorme Säuerung des Körpers zu¬ 
nächst nicht ernstere Gefahren in¬ 
volviert. 

Diese leichteren Grade der Azeton¬ 
körperausscheidung beobachtet man be¬ 
kanntlich auch — abgesehen vom Diabetes 
mellitus — bei einer ganzen Reihe von 
anderen Zuständen, die in letzter Linie 
wohl alle das gemeinsam haben, daß eine 
irgendwie verminderte Kohlehydratver¬ 
brennung im Körper statt hat. Wir beob¬ 
achten sie vor allem auch dann, wenn eine 
gesunde Person ausschließlich mit Fleisch 
und Fett, resp. mit diesen und einigen ganz 
kohlehydratarmen Gemüsen ernährt wird. 
Wenn bei einer solchen Ernährung ge¬ 
legentlich stärkere Azetonkörperausschei¬ 
dung vorkommt, so daß selbst die Eisen¬ 
chloridreaktion positiv wird, so erreicht sie 
doch niemals solche Grade, daß etwa für 
den Körper die Gefahr der Säurevergiftung 
entstände. Diese relativ geringe Bildung 
der betreffenden Körper ist verständlich, 
wenn wir bedenken, daß der gesunde Or¬ 
ganismus, auch wenn ihm mit der Nahrung 
keine Kohlehydrate zugeführt werden, 
immer noch in ziemlich reichlichem Maße 
Gelegenheit hat, Kohlehydrate zu ver¬ 
brennen, nämlich diejenigen, die bei der 
Umsetzung der Eiweißmoleküle aus diesen 
im Körper entstehen. Diese Tatsache ist 
aber, wie wir weiter unten noch ausführ- 


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Januar 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


9 


licher sehen werden, auch für die Behand¬ 
lung des Diabetes mellitus wichtig: so lange 
der Diabetiker bei seiner Fleisch-Fettkost 
keinen Zucker ausscheidet, also den aus 
dem Eiweiß gebildeten Zucker noch ver¬ 
brennt, hält sich die Azetonkörperausschei¬ 
dung, resp. die Azetonkörperbildung x ) nach 
unseren Erfahrungen fast immer — viel¬ 
leicht läßt sich das sogar für alle Fälle be¬ 
haupten — in Grenzen, die dem Organis¬ 
mus nicht gefährlich werden. 

Im Allgemeinen gibt die Größe der 
Azetonkörperausscheidung im Harn ein Bild 
über die Schwere der entsprechenden Stoff¬ 
wechselstörung und damit auch über die 
Größe der Gefahr, die dem Organismus droht. 

Die Größe dieser Gefahr wurde bisher 
in der Regel lediglich an den Gramm Aze¬ 
ton gemessen, die man im 24 stündigen 
Urin bestimmen konnte; wir werden weiter 
unten sehen, wie weit die Azetonmenge 
des Harns allein einen zuverlässigen Ma߬ 
stab abgibt, zunächst aber einmal wie bis¬ 
her mit der Annahme rechnen, daß die 
Azetonmenge im Harn tatsächlich einen 
brauchbaren Maßstab liefere. Es mtfißte 
dann also die Frage so gestellt werden, von 
welcher Grenze ab zeigen die Azetonwerte 
im Harn eine dem Organismus nahe bevor¬ 
stehende Gefahr (nämlich die der Säure¬ 
vergiftung) an? Man kann sagen, daß wohl 
in der Regel Azetonwerte bis zu 3 g pro 
Tag im Harn an sich kaum je eine ernste 
Gefahr für den erwachsenen Organismus 
bedeuten. Unter gewissen Umständen aber 
beobachtet man viel größere Azetonmengen 
im Ham (und auch entsprechend große 
Mengen 0-Öxy buttersäure), ohne daß irgend¬ 
welche klinischen Erscheinungen einer be¬ 
vorstehenden oder bereits vorhandenen 
Säure Vergiftung sich bemerkbar machen, 
während in anderen Fällen bereits Azeton- 
werte von 3—4 g und etwas mehr zur 
Säure Vergiftung, d. h. zum Coma diabeti- 
cum führen können. 

Es müssen bezüglich der Beurteilung 
der Gefährlichkeitsgrenze zwei Momente 
beachtet werden, nämlich einmal und vor 
allem die Tatsache, daß Alkalieinfuhr die 
Azetonkörperausscheidung steigern kann 

l ) Wir sprechen hier wie auch im folgenden von 
„Azetonkörperbildung", obgleich ja die Frage, ob 
nicht auch normalerweise die Verbrennung der Aze¬ 
tonkörperbildner im Organismus Ober die Azeton¬ 
körper geht, noch nicht sicher entschieden ist. Ge¬ 
meint ist natürlich hier nur immer diejenige Azeton¬ 
körperbildung, die unter Umständen erfolgt, unter 
denen es zu einer Weiterverbrennung der Azeton¬ 
körper jedenfalls nicht kommt, so daß sie also mit 
dem Harn ausgeschieden werden, resp. ihre schäd¬ 
liche Wirkung im Körper entfalten können, wie das 
beim schweren Diabetes der Fall ist. 

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und zwar erheblich, ohne daß eine ver¬ 
mehrte Bildung dieser Substanzen statt¬ 
gefunden hätte. Man kann diesen ver¬ 
mehrenden Einfluß der Alkalizufuhr be¬ 
sonders gut beobachten in den Fällen, die 
erst einige Zeit, nachdem sie analytisch 
genauer kontrolliert werden, Alkali be¬ 
kommen. Man sieht dann die Azetonaus¬ 
scheidung, die vielleicht bis dahin 2—3—4 g 
pro Tag betrug, plötzlich in die Höhe 
steigen bis event, auf Werte von 7—9 g, ohne 
daß die Situation für den erfahrenen Arzt 
wesentlich ernster wird als bis dahin: klini¬ 
sche Erscheinungen der Säurevergiftung 
treten denn auch selbst bei diesen ex¬ 
zessiven Werten nicht auf. Die Steigerung 
im Harn betrifft dabei meist in gleicher 
Weise wie die Azeton-, resp. Azetessig- 
säureausscheidung auch die /?-Oxybutter- 
säureausscheidung. 

Zur Erklärung der steigernden Wirkung 
des Alkalis auf die Azetonkörperausschei¬ 
dung liegen zwei Möglichkeiten vor. Ein¬ 
mal kann man sich vorstellen, daß das zu¬ 
geführte Alkali die in Betracht kommenden 
Säuren (Azetessigsäure und 0-Oxybutter- 
säure) durch Bildung der entsprechenden 
Salze erst in einen für die Nieren aus¬ 
scheidungsfähigen Zustand bringt. Denn 
die Säuren verlassen wohl nie in freiem 
Zustande den Körper. 

Weiter aber wäre an die Möglichkeit 
zu denken, daß ein Teil der Azetessigsäure, 
der sonst in der Ausatmungsluft als Azeton 
zur Ausscheidung kommt, durch die Niere 
als azetessigsäure Alkaliverbindung ausge¬ 
schieden wird, sobald das erforderliche 
Alkali zur Verfügung steht. 

Gegen diese letztere Annahme spricht 
allerdings der Umstand, daß bei diesen 
Ausschwemmungen nicht nur die Azeton- 
werte, sondern auch die /^-Oxybuttersäure¬ 
werte steigen, wie Tabelle I erkennen läßt. 

Aber noch ein zweites Moment ist offen¬ 
bar für die „Gefährlichkeitsgrenze“ von 
Bedeutung, nämlich ein kaum anders als 
durch „Gewöhnung“ zu erklärendes Mo¬ 
ment. Man kann immer wieder beobachten, 
wie beim Diabetiker die schädliche Wir¬ 
kung der pathologischen Säuren abhängig 
ist von der Zeitdauer, während welcher 
die Azetonurie dauerte. Diabetiker, die 
erst kurze Zeit an Azetonurie leiden, kön¬ 
nen bereits bei relativ niedrigen Azeton¬ 
werten ihr Koma oder wenigstens einleitende 
Erscheinungen der Säurevergiftung be¬ 
kommen, während andere, die seit langer 
Zeit an Azetonurie leiden, bei viel höheren 
Werten unter sonst ganz gleichen Um¬ 
ständen von solchen Erscheinungen frei 

2 

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10 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Januar 



Datum 


Tabelle I. 

U., 23 Jahre, Dr. phil. Seit 5 Jahren an Diabetes erkrankt; nie Anstaltsbehandlung; ambulant behandelt 
mit Kohlehydratbeschränkung. Hat vorher kein Alkali bekommen. 


I i .C 

Zucker °/ 0 Zucker absoi. 


T»./20. Nov. ISOü 1 1034 I 4,0 4,7o 73,26 1 85,72 0,14 2,55 -+- 8,82 14,94 1 2,53 12,84 Strenge Kost, 30 g Na. bic. 

s. | IO) g Fleisch, 

I ; | 200 g Schinken, 

■ I 'X'g Weißbrot 

20/21. Nov. 3000 I 1032 3,85 4,31 115,50 129,21 0,15 4,63 -f \ 22,89 \ 10,«»8 3,431 31,17 Strenge Kost, 40 g do. 

s. I 30U g Fleisch, 

2 Eier 

21./22. Nov 3200 1030 1,65 2,52 52,80 80,61 0,21 6,S6 + 26,14 18,27 2,80 38,41 Strenge Kost, 0 g do 

s. i .300 g Fleisch. 

4 Eier 

222/23. Nov. ! 4100 1030 2,20 3,11 99,22 127,61 0.19 7,Sb -f 29,03 13,53 2,01 43,09 150 g Hafer, 50 g do. 

s. i 3 Eier 

23-/24. Nov. 3900 1032 2,64 3,23 l02/>6 ' 125,97 0,17 6,67 -f | 21,25 «,*3 0,62 : 33,18 200 g Hafer, 75 g do. 

alk 2 Eier 

24. /25. Nov. 3600 1030 1,87 2,67 67,32 96,07 0,15 5,51 + , 21,5o Q,94 0,32 , 31,42 ICO g Hafer, 75 g do. 

alk 2 Eier, 

500 g Gemüse 

25. /26. Nov. 4000 1(>24 1,98 2,62 79,20 104,SS 0,11 4,40 + 17,44 U,0tS 0,15 ; 25,31 150 g Hafer, 75 g do. 

alk i 2 Eier, 

| | j | 500 g Gemüse 

In den folgenden 7 Tagen sinkt bei Gemüse- und Haferperioden die Zucker- und 
Azetonkörperausschciung allmähli h, und zwar am 7. Tage bis auf 
2./3. Dez. | 264M) I 1030 I 0,11 I 0,5«* j 2,86 | 13,<H* <*,*>4 I «»,94 | -t ! 5,o7 6,55''*,'»7 7,35 Gemüse ohne 75g Na. bic. 

'anges. i Fleisch 

I ! | ; i +2 Eiern 

bleiben. Ein kurzer tabellarischer Auszug denen ich andere anreihen könnte, mögen 
aus den beiden folgenden Beobachtungen, das zeigen. 

Tabelle II. 

M.. 20 Jahre, Arbeiter. Seit etwa */a Jahr zuckerkrank; behandelt wegen „Karbunkel am Halse“; entzog 
sich nach einigen Tagen der stationären Behandlung und kam am 15. November wieder in die Klinik. 

Deutliche Zeichen einer Säurevergiftung. 


•- Zucker % Zucker absoi. 


red. polar, red. 


Azeton -J 


~ uO ! *J= 

C :0 (w U « 

SS-sSi 


17./IS. Scpt. 
J8./19. Sept* 
19./20. Sept. 3 


3200 1011 
3200 1020 


20i/21. Sept. 3 3100 1020 


21./22. Sept. 4100 
22-/23. Sept. 3200 


34.7 0,1621 4,1 

33.7 10,176 5,6 


116,5 0,078 2,42 


166,3 0,081 3,34 -f 


I Gemüse -f-3 Eier 
do. 

' 100 g Hafer. 

2 Eier, 

1 35 g Zucker, 

1 I Milch. 

25 g Lävulose 
230 g Hafer, 

2 Eier, 

100 g Sperk, 
g Butter 
do. 
do. 


/'lg Na. bic. 

per os 
30 g per in- 
trar Infus 

30g Na. bic. 


do. 

22-/23. Sept. | 3200 j 1021 | 3,6 | 4.13 | M5,2 | 132 | 0,12 | 3,85 | -f | 13,5 | 10,9 | 4,1 [ 20,39 | do. j 40g Na. bic. 

*) Abends Wohlbefinden. -) 1«) Uhr Kopfschmerzen, motorische Unruhe, tiefe Atmung, Azetongeruch. *) In¬ 
fusion von Na. bic., Besserung, Durchfälle. 

Tabelle III. 

S., 47 Jahre. Bankier. Seit langer Zeit zuckerkrank; seit mehreren Monaten in Beobachtung gewesen; ohne 

alle Zeichen einer Säurevergiftung. 


20./21. Mai 

5750 

1024 

0,8 

1,57 

46,1* 

90,1 

12,3 


3,0 

Strenge Diät 

90 

g Na. bic. 

21./22. Mai 

4200 

1025 

1,1 

1,79 

46,2 

75,1 

V 

+ 

' V ' 

do. 


do. 

22./23. Mai 

50(0 

1024 

0,8 

1,54 

40,0 

75,0 

12,0 

+ 

— 

do. 

85 

g Na. bic. 

23./24. Mai 

41(0 

1025 

0,7 

1,44 

2s,7 

^9,n 

Q.o 

+ 

3,0 

do. 

6<_> 

g do. 

24./25. Mai 

42(0 

1026 

bl 1 

1,76 

46,2 

73,9 

8,7 1 

-+- 

3,2 

do. 


do. 

25/26. Mai 

62CO 

1025 

1,4 

2,16 

86,8 

135,9 

13,6 

+ 

4,96 

do 


do. 

26-/27. Mai 

5200 

1024 

1,6 

2,29 

83,2 

119,0 

°|7 ! 

4- 

2,9 

do. 


do. 


Anmerkung. Beobachtung aus dem Jahre I C HI7, wo tägliche quantitative 3-Oxybuttersäurebestimmungcn 
noch nicht gemacht wurden. Es lassen sich also zum Vergleich mit Tabelle II lediglich die Azetonwerte heranzielien. 


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- — 


Zucker % 

Zucker 

absoi. 

Azeton 

FeCl.i 

NH. 

Diät 

polar. red. 

polar. 

red. 

S 





Medikamente 






Januar 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


11 


Wir können uns jedenfalls zunächst 
dies gegensätzliche Verhalten, wie es in 
Tabelle II und III zum Ausdruck kommt, 
nicht anders erklären, als durch die An¬ 
nahme einer gewissen Gewöhnung der 
Körperzellen an die Gifte, eine Annahme, 
die ja durch zahlreiche Analoga aus der 
Toxikologie leicht zu stützen wäre. 

Es war bereits oben kurz erwähnt, daß 
vermutlich beim Gesunden auch bei aus¬ 
schließlicher Fleisch-Fettkost deshalb die 


es möglich war, schon vorher die Ver¬ 
hältnisse quantitativ zu verfolgen. 

Daß in der Tat eine gefährliche Azi- 
dosis selbst bei wochenlang durchgeführter 
strenger Kost nicht auftritt, haben wir in 
allen unseren Fällen, in denen wir seit län¬ 
gerer Zeit alle Azetonkörper, also so* 
wohl das Azeton als auch die /?-Oxybutter- 
säure täglich quantitativ bestimmen, 1 ) stets 
bestätigt gefunden. Tabelle IV zeigt die 
Gestaltung der Azetonkörperbildung bei 


Tabelle IV. 

R., Referendar. Diabetes Ende Juli 1909 entdeckt, seitdem in Behandlung mit Hafer-Gemüseperioden, seit 

3 Wochen reine Fleisch-Fettkost. 


Datum 




_ , ... i Zucker 
Zack " '» j absol. 

polar, red. polar, red. 


Azeton ■ (J 
£ 

°/o i e 




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Diät 


Me¬ 

dika¬ 

mente 


3 -./3I. Okt. 

,3C0 

1011 j — 

a 


- 

- 

<v i 

0,54 Spur — 

S,32 0,20 


06,2 

Gemüse -f 2u g 
Glutenbrot 

40 g N a. 
bicarb. 

31. Okt. bis 
j . Novbr. 

3300 

luO<> — 

a 




0,02 

0,5 , - 

1 

S.12 0,15 



Gemüse 4- i'Og 
Fleisch. ISO g 
Butter, 100 g 
Sahne, 30 g : 
Glutenbrot 

do. 

J./2. Novbr. 

isöü 

1.01» _ 
a 




'-V'3 

1.1,V. . 

12, 4r, 0,10 

3, f )S 


Gemüse -j- ‘00g 
Fleisch, Fett 
wie ge-tern 

do. 

‘J./3. Novbr. 

B‘.Q 

1010 

a 




0,03 

<’,*7 „ 2,'». 

11,5 ! 0,22 

3,° 5 

o3,0 

Gemüse -4- 2'X)g 1 

Fleisch, 40 g 
Glutenbrot, j 
Fett wie gestern | 

do. 

|;|4, Novbr. 

iszO 

10 Ir» — 

a 




0, 2 

0,4'■ . !,'» 

1 

11,1 j - 

2,77 


Gemüse -f :00 g 
Fleisch, : 0 g 
Fisch, 40 g 
Glutenbrot, Y ett 
wie gestern 

do. 

4jf. r . Novbr. 

>s r i l 

101N - 

a 




o,02 

-V. 4 3,1 

19,24 • i,22 

4,37 


Gemüse _0Üg 
Fleisch, 1 0 g 
Fisch, 40 g 
Glutenbrot, Fett 

do. 


wie gestern 


Azetonkörperbildung nie bedenkliche Grade ; 
annimmt, weil hier ja immer noch eine, | 
wenn auch nicht allzu umfangreiche Kohle¬ 
hydrat Verbrennung stattfindet, nämlich die 
Verbrennung des aus dem Eiweiß abge¬ 
spaltenen Zuckers. Es war weiter ange¬ 
deutet, daß daher auch beim Diabetiker 
die Azidosis keine bedenklichen Formen 
annimmt, solange bei strenger Fleisch-Fett- 
kost kein Zucker ausgeschieden wird, daß 
heißt, also der Eiweißzucker noch ver¬ 
brannt wird. Und so sieht man dann auch 
in der Tat selbst bei wochenlanger stren¬ 
ger Diät in solchen Fällen keine erheb¬ 
lichen oder bedrohlichen Azetonkörperwerte 
im Harn auftreten. Voraussetzung für die 
Ungefährlichkeit ist allerdings, daß in der 
unmittelbar vorangegangenen Periode nicht 
so große Mengen von Azetonkörpern ge¬ 
bildet sind, daß bereits eine Schädigung 
des Organismus im Sinne einer Säurever¬ 
giftung vorliegt. Das klinische Befinden 
des Patienten gibt dafür eine einigermaßen 
zuverlässige Handhabe; eine sicherere Be¬ 
urteilung ist natürlich dann gegeben, wenn 


einer solchen langdurchgeführten strengen 
Kost: 

Die Möglichkeit einer täglich gewon¬ 
nenen quantitativen Uebersicht über die 
Verhältnisse der Azetonkörperbildung, und 
die uns, wenigstens für viele Fälle, als 
sicher geltende Tatsache, daß eine gefähr¬ 
liche Höhe der Azetonkörperbildung erst 
dann erreicht wird, respektive erreicht wer¬ 
den kann, wenn auch der Eiweißzucker 

*) Das Azeton wurde quantitativ bestimmt nach 
Messinger-Huppert. Die ^-Oxybuttersäure wurde 
täglich bestimmt nach der von E mb den modifizierten 
Methode, die es gestattet, innerhalb 3—4 Stunden 
aus 200 ccm Urin die gesamte ^-Oxybuttersäure aus- 
zuäthern. Alle unsere Bestimmungen wurden doppelt 
gemacht; außerdem wurde die Embdensche Me¬ 
thode auf ihre Brauchbarkeit ad hoc besonders ge¬ 
prüft und als zuverlässig erwiesen. Das Nähere dar¬ 
über und über die dieser kurzen Mitteilung zugrunde 
liegenden ausführlichen Beobachtungen siehe in der 
demnächst erscheinenden Publikation meines Assi¬ 
stenten Dr. Weiland. Wir sammeln den Urin der 
Diabetiker von 8—8 Uhr morgens, ungefähr um 
11 1 /% Uhr sind die quantitative Azeton- und ß-Oxy- 
buttersäurebestimmung beendigt, so daß ihr Ausfall 
bereits an demselben Tage die Richtung für die ein¬ 
zuschlagende Diät ergibt. 


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2 * 

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12 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Januar 


nicht mehr oder nicht mehr vollkommen Richtung hin unsern Zweck vollkommen 

verbrannt wird, erlaubt es, unbekümmert erreicht; denn je größer die Zuckermengen 

um die alten landläufigen Anschauungen sind, die im Körper verbrennen, desto ge- 

über die Notwendigkeit, die strenge Kost ringer ist die Gefahr der Azidosis. Man 

zu ändern, sobald Eisenchloridreaktion auf- müßte also a priori annehmen, daß bezüg- 

tritt, von der strengen Kost solange einen lieh der Azidosis die günstigsten Verhält- 

unbeschränkten Gebrauch zu machen, so- nisse dann vorliegen, wenn bei größtem 

lange dabei kein Zucker zur Ausscheidung Eiweißumsatz kein Zucker ausgeschieden 

kommt. Damit ist natürlich für die Besse- wird. Aber wir wollen ja nebenher — so- 

rung des Oxydationsvermögens des Diabe- weit das möglich — auch die Toleranz 

tikers für Kohlehydrate viel gewonnen, möglichst heben; und das erreichen wir 

Auch da, wo quantitative Bestimmungen bekanntlich dadurch, daß die täglich zur 

nicht möglich sind, also gemeinhin in der Zersetzung kommende Kohlehydratmenge 

allgemeinen Praxis wird man aus den mit möglichst gering wird. Schon aus diesem 
geteilten Erfahrungen vorsichtig Nutzen Grunde erscheint eine unbegrenzte Eiwei߬ 

ziehen können, indem man sich bei der i zufuhr nach allseitigem Urteil unzweck- 
Kostverordnung nicht so ängstlich mehr mäßig. Dazu kommt aber weiter, 2 ) daß im 

um das bloße Auftreten der Eisenchlorid- i Eiweißmolekül Azetonbildner sitzen, vor 
reaktion respektive einer stärkeren Azeton- allem das Leuzin. Also auch aus diesem 

reaktion kümmert, sondern vielmehr dar- Grunde muß es wünschenswert erscheinen, 

auf in erster Linie Gewicht legt, ob bei mit der Eiweißzufuhr möglichst an der un- 

der strengen Kost Zucker ausgeschieden tersten, eben noch zulässigen Grenze zu 

wird oder nicht. Im ersteren Fall wird bleiben. 

man jedenfalls in der Praxis wohl besser Die zweckmäßigste untere Grenze muß 
tun, sofort Kohlehydrate mit der Nahrung offenbar da liegen, wo eben noch genug 

zuzuführen, 1 ) obgleich damit die Chancen, Zucker gebildet wird, und entsprechend 

Tabelle V. 

Fräulein S., 43 J. Mitte September in die Behandlung eingetreten, bald darauf ausgesprochenes Koma, erholt 
sich; mit eingeschobenen Haferperioden gleiche Kost und annähernd gleiche N-werte im Harn seit 30 Tagen, 
wie sie für die nächsten sechs Tage in der Tabelle verzeichnet sind (bei 'dauernd konstantem Körpergewicht 


Datum 

Harnmenge 

Spez. Ge¬ 
wicht und 
Reaktion 

Zucker % 

polar, red. I 

Zucker 

absol. 

polar. [ red. 

Azeton 

% | g 

d 

u. 

ß-Oxy- 

butter- 

säure 

N. 

NH 3 

Gesamtaze¬ 
tonkörper 
als ß-Oxy- 
buttersäure 
berechnet 

Körper¬ 

gewicht 

Diät 

31. Okt. bis 

3700 

1006 

0,11 

0,65 

4,07 

| 24,09 

0,05 

1,87 

_ 

10,06 

*»,55 

! 1,08 

13,4 

1 43,5 

Gemitse -f- 1 Ei, 

1 lüOg Hackfleisch 

1. Novbr. 
J./2. Novbr. 

, 2600 

s 

1015 

0,11 

j 0^7 | 

2,86 

: 14,72 

0,07 

1,77 

+ 

12,74 | 

4,65 | 

1,04 

15,o 

42,7 

-p 1) gr Fett 
do. 

2./3. Novbr. 

1 3150 

1012 

0,22 

0,6 j 

6,93 

IS, 87 ; 

0,05 

1,58 

+ : 

12.00 

5,29 1 

1,16 | 

14,82 

43,6 

do. 

3./4. Novbr. 

2200' 

1016 

0,44 1 

0,74 

9,68 

16,39 , 

0,07 

1,57 

+ 

10,78 

4,62 

0,93 

13,59 

43,8 ; 

do. 

4,/5. Novbr. 

3250 

1010 

Nyl-h 

0,4 | 

_ 

1 13,10 ! 

0,07 

2,13 

+ 

17,71 

4,65 ! 

1,0 

21,52 

43,3 

do. 

5./6. Novbr. 

2950 J 

8 

loos 

Nyl 

0,44 j 


| 12,83 

0,05 

1,58 

+ ! 

12,86 

; 4,34 

1,0 | 

15,68 

44,0 

Gemüse -f- 1 Ei, 
ohne Fleisch 


• 

pos. 






+ 150 gr Fett 


die eigentliche diabetische Stoffwechsel- verbrannt werden kann, um eine größere 

Störung zu bessern, natürlich wesentlich Azetonkörperbildung hintenan zu halten, 
vermindert werden. Diese Grenze in allgemeingültiger Weise 

Bei der Verordnung strenger Fleisch- anzugeben, ist unmöglich, sie muß in jedem 

Fettkost ist allerdings noch ein weiterer einzelnen Falle ermittelt werden, am besten 

Punkt beachtenswert: je mehr Fleisch, daß und sichersten durch tägliche quantitative 

heißt also Eiweiß, wir geben, desto größer Analysen, die wenigstens solange fortzu- 

sind die Zuckermengen, die daraus ge- setzen sind, bis man den vorliegenden Dia- 

bildet werden. Wird trotz großer Eiweiß- betesfall in seiner besonderen Individualität 

mengen Zucker nicht ausgeschieden, so kennt. 

haben wir ja nach der eben besprochenen Bei in dieser Weise quantitativ genau 

*) Man ist natürlich immer wieder versucht zu ’ J ) Zwar ist der direkte Einfluß von Fleischnah¬ 
fragen, was denn eine Kohlehydratzufuhr nützen soll, rung auf die Größe der Azetonkörperbildung noch 

wenn nicht einmal mehr der Eiweißzucker verbrennt. nicht sicher bekannt, und die Prüfung stößt auch 

Aber die Zweckmäßigkeit dieses Verfahrens wird auf große Schwierigkeiten, weil für diese Bildung 

durch die Erfahrung, namentlich die bezüglich der noch eine Reihe von anderen, im Einzelfall nur 

Haferkuren gewonnenen, gelehrt. Ueber eine Er- selten klar zu übersehenden Faktoren mit in Betracht 
klärungsmöglichkeit s. w. u. kommen. 


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Januar 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


13 


verfolgten Fällen kann man dann oft sehen, 
daß man mit tiberraschend kleinen Eiwei߬ 
mengen Wochen hindurch auskommen kann, 
was ja übrigens bekannt ist Der vor¬ 
stehende Tabellenausschnitt zeigt das. 

Wie die Tabelle zeigt, sind außer den 
geringen Fleischmengen, vorwiegend Fett 
und die „erlaubten* Gemüse verabreicht 
worden. 

Aber ohne genaue tägliche quantitative 
Analysen, die zum vollkommenen Herrn 
der Situation machen, ist eine derartige 
Behandlung des irgendwie schwereren Dia¬ 
betes unmöglich. Dieser Umstand bedeutet 
allerdings eine Einschränkung der Behand¬ 
lung des Diabetes in der allgemeinen 
Praxis, aber gegen jeden Fortschritt der 
Therapie müssen alle sonstigen Interessen 
in den Hintergrund treten. 

Die Grenze zu ziehen, von der ab ein 
Diabetiker rationell nur in einer mit den 
nötigen Vorkehrungen ausgestatteten An¬ 
stalt zu behandeln ist, ist natürlich, nament¬ 
lich, wenn es mit wenigen Worten ge¬ 
schehen soll, sehr schwer. Wir stehen mit 
v. Noorden auf dem Standpunkt, daß 
jeder Diabetiker, auch der leichte, einmal 
eine mehrwöchentliche Anstaltsbehandlung 
durchmachen sollte, und zwar aus Gründen 
der Schulung und weiter zwecks möglichst 
exakter Bestimmung der Art und Schwere 
des vorliegenden Falles. 

Wie weit ein Diabetiker, der bereits an 
Azidosis leidet (also in der Regel Fälle 
mit bereits hochgradiger Toleranzreduk¬ 
tion!) ohne genauere analytische Kontrolle 
der Zucker- und Azetonkörperausscheidung 
rationell behandelt werden kann, ist in den 
letzten Jahren Gegenstand eingehender Be¬ 
obachtungen gewesen. Zur vollen Klarheit 
kommen wir ja, wenn wir täglich die Kost¬ 
zufuhr genau überblicken und außerdem 
täglich die Zucker-, Azeton-, /f-Oxybutter- 
säure-, N- und NH*-Werte des Harns be¬ 
stimmen können; aber das ist nur selten 
(eben nur in Anstalten) und bezüglich der 
0-Oxybuttersäure überhaupt erst seit eini¬ 
ger Zeit möglich (wenigstens eine schnelle 
tägliche Bestimmung). Und selbst unter 
solchen günstigsten Bedingungen bleibt 
immer noch ein Postulat unerfüllt, nämlich 
die gleichzeitige quantitative Bestimmung 
des mit der Atmungsluft ausgeschiedenen 
Azetons. Nach unseren Beobachtungen 
scheint es uns allerdings, daß man auf die 
Bestimmung des letzteren verzichten kann, 
ohne daß die Beurteilung der ganzen Sach¬ 
lage hinsichtlich der Azidosis wesentliche 
Einbuße erleidet 

Dagegen ist man überall, wo quanti¬ 


tative Harnanalysen nicht möglich sind, 
lediglich angewiesen auf den Ausfall der 
betreffenden qualitativen Reaktionen, re¬ 
spektive auf die klinischen Symptome. 
Leider ist ja aber die Gefahr, wenn erst 
einmal solche klinischen Symptome der 
Azidosis vorhanden sind, oftmals schon so 
groß, daß sie nicht mehr zu beseitigen ist. 

Was sagen uns nun die qualitativen 
Reaktionen, und wie weit darf man aus 
ihrem Ausfall Rückschlüsse machen auf die 
Größe der Azetonkörperbildung in all den 
Fällen, in denen quantitative Analysen 
nicht möglich sind? Die Antwort darauf 
ist im wesentlichen schon im vorhergehen¬ 
den gegeben; wir wollen aber die in Be¬ 
tracht kommenden Punkte noch einmal 
kurz zusammenfassen. 

Bei fehlender Eisenchloridreaktion 
braucht man eine ernstere Gefahr nicht 
zu fürchten, selbst wenn die Azeton¬ 
reaktionen sehr stark positiv ausfallen. 
Denn Eisenchloridreaktion tritt ja nur dann 
auf, wenn größere Mengen von Azeton- 
körpera ausgeschieden werden, sodaß ein 
Teil der Azetessigsäure unzersetzt bleibt. 
Daß bei fehlender Eisenchloridreaktion auch 
die täglich ausgeschiedenen 0-Oxybutter- 
säuremengen gefährliche Grade nicht er¬ 
reichen, können wir auf Grund unserer 
Beobachtungen mit Sicherheit sagen. 

Wie ist es aber, wenn die Gerhardt- 
sche Reaktion positiv ist? Die bekannte 
Färbung des Harns auf Eisenchloridzusatz 
bedeutet fast ausnahmslos eine stärkere 
Azidosis als die bloße Azetonreaktion. Es 
läßt sich auch weiter sagen, daß die Eisen¬ 
chloridreaktion um so intensiver ausfällt, 
je größer die Azetonkörperausscheidung 
ist. Aber die Hoffnung, auf kolorimetri- 
schem, jedem Arzte zugänglichem Wege 
aus der Intensität der Eisenchloridreaktion 
ein approximatives Urteil über die Stärke 
der Azetonkörperausscheidung zu gewinnen, 
ist uns jedenfalls bisher trotz vielfacher, in 
dieser Richtung hin aufgewandter Mühe 
nicht gelungen. Die Breite zwischen dem 
ersten eben noch erkennbaren Auftreten 
der Eisenchloridreaktion und intensiver, in 
ihren einzelnen Abstufungen nicht mehr 
erkennbarer Färbung des Harns ist außer¬ 
ordentlich gering und entspricht keines¬ 
wegs irgendwie erheblichen Unterschieden 
in der Quantität der vorhandenen Azeton¬ 
körpermengen; während also, um ein Bei¬ 
spiel zu wählen, ein Harn mit einer Tages¬ 
menge von 2 g Azeton vielleicht eine eben 
erkennbare Rotfärbung ergibt, ergibt ein 
solcher mit 2,5 oder 3,0 g bereits eine außer¬ 
ordentlich intensive Färbung, sodaß weitere 


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14 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Januar 


Steigerungen auf 3,5 bis 4,5 g und mehr 
an der Färbungszunahme nicht mehr erkenn¬ 
bar sind. 

Die ersten, eben noch als solche er¬ 
kennbaren positiven Ausfälle der Eisen¬ 
chloridreaktion dürfen demnach mit einigem 
Vorbehalt in dem Sinne quantitativ ver¬ 
wandt werden, daß eine erheblichere 
Azidosis nicht vorliegt. Aber darüber hin¬ 
aus versagt die Abschätzung der Färbungs¬ 
intensität vollkommen, und ebenso jeder 
Rückschluß aus dieser auf den Grad der j 
Säurung. j 


0 -Oxybuttersäure oder alle drei Körper 
zusammen, respektive wenigstens zwei von 
ihnen? 

Die Bestimmung des Ammoniaks, dem 
ja als Indikator der Säurung bisher immer 
ein besonderes Gewicht beigelegt wurde, 
versagt nach unseren Untersuchungen in 
vielen Fällen, ja in den meisten vollkommen. 
Wir haben wiederholt außerordentlich hohe 
Azetonkörperwerte gefunden bei ganz auf¬ 
fallend niederen NH 3 - Werten. Ein Ab- 
| schnitt aus einer hierher gehörenden Be- 
j obachtung folgt: 


Tabelle VI. 

R. vergl. Tabelle IV. 


Datum 

! & 

1 E 

1 c 

I 5 

I 

Spcz. 

Gewicht u. 
Reaktion 

Zuck 

pol. 

% 

red. 

Zucker absol. 

polar, red. 

Azeton 

0 / <r 

• 0 

U 

ZJ 

tu 

4 ; 1 

u 

3 

« 

X 10 

O fc 1 

. 

N. 

JE 

2 

Ges.Azeton 
in ,3-Oxy- 
buttersäure 

Diät 

1 

1 

Medika¬ 

mente 

5./6. Okt. 

2 M<» 

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a 

",'7 

1,31 

2' ',02 34,1 

0,13 

3 3 

+ 

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17,n 

0,45 

22,mj 

Strenge Diät 4' 

1 g Na. bic. 

6-/7. , 

3.x U 

1024 ; 

1,15 

1,52 

34,65 45,6'» 

0,086 1 

2,58 

+ 

13,08 

22,5 

0,54 

17,'»9 

do. 

do. 

7./S. „ 

, 330 ■ 

1024 

1,76 

2,42 

61,0 84,6 

0,135 

4,73 

-f 

20,9'» 

24,5 

i/Jo 

29,42 

do. 

do. 

8./. 

! 3-:*< * 1 

K'30 

a 


3,06 

31,0 110,27 

0,13,4 

4,S2 

+ 

2J,?6 

23, > 

1,36 

30,18 

do. 

-f- *> g Weißbrot 

do. 

m/K'. . 

' 36< < » 

1026 

a 

3,52 

3,71 

126,72 ^ 133,4 

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3,36 

+ 

17,64 

18 , 2 " 

1 ',73 

23,6.f 

! Strenge Diät J 
-j- 8 1 .' g Weißbrot 

4? 75 „ Hafer 

do. 

10 ./ 11 . . 

420 > 

1<i25 

a 

3,41 

2,Ml 

142,2 153,2 

0,05 

2,02 

-j- 

11,42 

15,3 

0,48 

15,03 

: 250 g Hafer 

150 « Fleisch 


J./l'-- . 

380' 

1 1U22 

3,74 

3.9*> 

142,1 ; 151,5 

0M‘ 

1,54 

+ 

8,28 

9,01 

0,32 

11,03 

do. 


12. 0 3. . 

3om 

i 1 (» 19 

a 

1,32 

1,63 

67,2 ^ 58,75 

0,058 

2,09 


11,77' 

17,49 

0,27 

15,51 

Gemüse 

|-f J5U g Fleisch 



Auch in den folgenden !0 Tagen gehen bei Azetonmengen, die bis 2,'>S steigen, die Ammoniakwerte nicht 
über 0,34 g pro die hinaus. Es sind dabei in der ganzen Zeit Doppelanalysen des NH 3 gemacht worden; da wegen 
der alcalischen Reaction des Harns Ammoniakverluste eingetreten sein konnten, wurden zur Kontrolle nach -4stündigem 
Siehen von dem gleichen Harn Ammoniakbestimmungen angesetzt, die bis aut minimale Unterschiede die gleichen 
Werte gaben; ferner wurde der alkalische Urin in saurer Flüssigkeit aufgefangen und darin die Bestimmungen gemacht; 
auch dabei ergaben sich keine wesentlichen Differenzen der Resultate gegenüber dem alkalischen Urin. 


Die dritte Möglichkeit, um auch ohne 
quantitative Analysen ein wenigstens an¬ 
nähernd zuverlässiges Urteil darüber zu er¬ 
langen, ob eine vorhandene Azidosis dem 
Körper gefährlich ist oder gefährlich 
werden kann, beruht auf der oben er¬ 
wähnten Erfahrung, daß die Gesamtsäure¬ 
ausscheidung (Azetessigsäure und /?-Oxy- 
buttersäure) im Harn so lange keine ge¬ 
fährlichen Grade anzunehmen scheint, als der 
Harn bei Fleischfettdiät zuckerfrei bleibt. 

Wo aber bei Fleischfettkost und gleich¬ 
zeitiger Azidosis Zucker ausgeschieden 
wird, hört jede Möglichkeit, auch nur ein 
annähernd approximatives Urteil über die 
Größe der Azidosis sich zu bilden, auf. 
Deshalb ist in solchen Fällen eine 
rationelle Behandlung ohne quanti¬ 
tative Analysen überhaupt nicht 
mehr möglich. 

Fragen wir uns jetzt, was quantitativ 
unbedingt bestimmt werden muß, um ein 
genaues Urteil über die Säürebildung zu 
erlangen: das Ammoniak, das Azeton, die 


Diese auffallende Differenz zwischen 
Ammoniakwerten und Säurewerten bedarf 
nebenbei gesagt übrigens durchaus einer 
besonderen Aufklärung. Wir hoffen in 
einiger Zeit vielleicht nähere Aufklärung 
bringen zu können. 

Das zweifellos genaueste Urteil über 
die Säuerungsgefahr dürften wir, wie ohne 
weiteres einleuchtend, durch gleichzeitige 
quantitative Bestimmung des Gesamtazetons 
und der gesamten /J-Oxybuttersäure im 
Harn erhalten. Wir machen diese Be¬ 
stimmungen seit einiger Zeit an allen 
schweren Diabetikern täglich. Es ist diese, 
allerdings außerordentlich Zeit und Arbeit 
raubende Kontrolle, eine Methode, die bei 
der Behandlung schwererer Fälle von Dia¬ 
betes eine Sicherheit gibt, die bisher ge¬ 
fehlt hat, eine Methode, die es uns ermög¬ 
licht, unbekümmert um alles andere nur 
den einen Weg zu verfolgen, nämlich den 
der möglichsten Toleranzhebung des be¬ 
treffenden Kranken. Die einzige Ver¬ 
anlassung, diesen Weg zu verlassen, er- 


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Januar 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


15 


gibt im wesentlichen eine Steigerung der 
absoluten Säurewerte über eine bestimmte 
Grenze hinaus, nicht aber die Eisenchlorid¬ 
reaktion und die Ammoniakwerte. 

Die ausschließliche tägliche quantitative 
Bestimmung des Azetons würde vielleicht 
hinreichende Sicherheit geben, wennAzet- 
essigsäure und /?-Oxybuttersäure in kon- 
stantemVerhältnis zueinander ausgeschieden 
würden. Das ist nach unseren Beobach¬ 
tungen häufig der Fall, aber keineswegs 
immer; zu Zeiten kommen sogar sehr 
große Differenzen vor, also z. B. bei ganz 
niedrigen Azetonwerten sehr hohe ß-Oxy- 
buttersäurewerte, sodaß die quantitative 
Azetonbestimmung allein vollkommen irre¬ 
führen würde. Und so möchte ich be¬ 
haupten, daß eine wirklich rationelle 
Behandlung der mit Azidosis einher¬ 
gehenden Diabetesfälle nur möglich 
ist bei täglicher quantitativer Azeton - 
und /?-Oxybuttersäurebestimmung. 

Zum Schluß möchten wir noch ein Wort 
über die in den letzten Jahren vielfach er¬ 
wähnten Haferkuren hinzufügen. 

v. Noorden hat ja bekanntlich darauf 
aufmerksam gemacht, daß eine Reihe von 
Diabetikern eine auffallend gute Toleranz 
gegen die Haferstärke zeigen: sie vertragen 
Mengen von Haferstärke, ohne Zucker aus¬ 
zuscheiden, die, in anderer Form, z. B. als 


Weizenstärke, dargereicht, viel schlechter 
oder gar nicht vertragen werden. Allseitig 
ist diese v. Noordensehe Erfahrung nicht 
anerkannt, aber wir müssen dieselbe auf 
Grund unserer Erfahrungen auf das an¬ 
gelegentlichste unterstützen. Es kann un¬ 
seres Erachtens keinem Zweifel unter¬ 
liegen, daß die Haferstärke besser vom 
Diabetiker ausgenutzt wird als andere 
Stärkesorten. 

Nicht immer zeigt sich das freilich, 
worauf v. Noorden bereits selbst hin¬ 
gewiesen hat. Aber die verschiedene 
Toleranz verschiedener Diabetiker gegen 
Haferstärke beruht, wie uns scheint, nicht 
auf Zufälligkeiten oder auf Gründen, die 
wir noch nicht übersehen, sondern sie 
hängt ab von der Schwere des Falles, 
respektive von der Besserungsfähigkeit des 
Toleranzvermögens. Ist eine solche 
Besserungsfähigkeit überhaupt vor¬ 
handen, so wird Haferstärke besser 
vertragen als andere Stärkesorten, 
ja wir möchten sogar sagen, die Fälle, in 
denen — trotzdem sie zunächst vielleicht 
sehr schwer aussehen — Hafer in einer 
ersten oder auch erst in einer zweiten 
oder dritten Periode vertragen wird, doku¬ 
mentieren sich eben hierdurch als besse- 
| rungsfähige, ja unter Umständen heilungs¬ 
fähige Fälle, während die Fälle, in denen 


Tabelle VII. 

R., 58 J., Arbeiter, kam unbehandelt mit schwerer Azidosis Anfang Mai in die Behandlung; zuckerfrei 
nach Hafer-GemOseperioden bei strenger Fleisch-Fettkost. Besserung der Toleranz bis auf 1 l /a 1 Milch pro Tag. 


Datum 

Harnmenge j 

Spez. j 

Gewicht u. 
Reaktion . 

Zucker 

1 

| polar. 

% 

red. 

Zucker absol. 

polar. red. 

Azeton 

°/o 

FeCl 3 

Diät 

• 

l-'.tt.. Nov. 

2000 

1015 

! Nyl neg. 

- 

- 

- 

Spur 

neg. 

Gemüse und 15o g Fleisch 

- 

1400 

1021 

do. 

- 

- 

~ 

. 

- 

do. 

2I./22. , 

15-0 

1010 

0,11 

i 1 53 

1,6* 

8,0 


- 

2 r g Hafer 

22./23 , 

2200 

1010 

0,22 

0,57 

4,S 4 

12,5 

- 

- 

do. 

- 

1800 

1« GO 

Nyl.neg. 

- 




- 

Gemüse wie vorher 

- 

1000 

l'i23 

do. 

- 

“ 

- 


- 

do. 

25./20. , 

2500 

102' 

3,08 

3,66 

77,0 

61,5^ 


- 

268 g Weißbrot 

2Ö./27 . 

LiJt'X» 

1031 

5/2S 

5,44 

1 lo,!6 

11", 61 

- 

- 

do. 

27./28 „ 

1000 

1024 

1,21 

1,83 

13,31 

20,00 

- 

- 

Gemüse und 150 g Fleisch 

2\/2 r '. _ 

1200 

102" 

0,11 

0,6 

1,32 

7,10 


- 

do. 

2 9./30. , 

220.' 


l,o 5 

V>3 

36,3 

42,’iO 



250 g Hafer 

30. Nov.* 

200.) 

1013 

2,13 

2,' *5 

4', ° 

* 

5'\ 04 



do. 

1. Dez. 
Kj-l Dez. 

1D «0 

s 

1015 

Nyl nrg. 

— 



• 1 


Gemüse und '0 g Fleisch 


Wir sehen also bei Verabreichung von Hafer wesentlich geringere Zuckermengen im Harn auftreten als bei 
Verabreichung äquivalenter Mengen von W eißbrot. Wir sehen weiter, wie die WeiÜbrotperiode die Toleranz geschädigt 
hat, denn es tritt in der der WeiObrotperiode folgenden Gemüseperiode Zucker in ziemlich erheblichen Mengen wieder 
auf, während nach der ersten Haferperiode bei nachfolgender Verordnung von Gemüsetagen der Harn sofort wieder 
zuckerfrei wurde. 


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16 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Januar 


Hafer nicht besser toleriert wird als andere 
Stärkesorten, von vornherein sehr viel 
weniger aussichtsvoll liegen. 

Daß die Haferstärke in geeigneten 
Fällen besser vertragen wird, läßt sich 
durch ziemlich einwandsfreie Unter¬ 
suchungen zeigen. Ich gebe hier ein 
kurzes Beispiel aus den Tabellen monate¬ 
lang quantitativ untersuchter Diabetiker, 
bei denen wir die Toleranz des betreffen¬ 
den Kranken genau überblicken und gut 
beurteilen konnten. 

Daß Verabreichung von Hafer auch die 
Azidosis günstig beeiflußt, ließ sich in 
unseren Fällen nur da erweisen, wo eine 
gewisse Toleranz gegen Haferstärke be¬ 
stand. Das ist ja nach dem, was wir über 
die Bedeutung der Kohlehydratverbrennung 
für die Azetonkörperbildung wissen, ohne 
weiteres verständlich. 

Der Versuch, die merkwürdige, zunächst 
paradox erscheinende Tatsache der beson¬ 
ders guten Verträglichkeit der Haferstärke 
zu erklären, ist bisher nicht einwandsfrei 
gelungen. Außer den bereits vorhandenen 
Erklärungsmöglichkeiten möchten wir ein¬ 
mal hin weisen auf die neueren chemischen 
Anschauungen, nach denen die verschie¬ 
denen Pflanzenstärken keineswegs als che¬ 
misch einheitliche Körper zu gelten haben, 
(was schon aus der verschiedenen Größe 
ihres wasserlöslichen Anteils hervorgeht 
und aus ihrem verschiedenen tinktoriellen 
Verhalten gegenüber Jod). 

Ich möchte unter einigem Vorbehalt 
noch auf eine andere Möglichkeit hin weisen. 

Bei richtiger Würdigung aller Tatsachen 
und Erfahrungen muß in betreff der Patho¬ 
genese wenigstens der meisten Formen 
von Diabetes diejenige Anschauung als die 
wahrscheinlichste gelten, nach der die 
mangelhafte Ausnutzung des Zuckers die 
Folge einer fermentativen Erschöpfung, 
resp. in den schwersten Fällen die Folge 
der mehr oder weniger vollkommenen Ver¬ 
nichtung der hier in Betracht kommenden 
Fermentfunktion ist. Bei dieser Auffassung 
wird uns die große Bedeutung der Funk¬ 


tionsschonung für die Toleranzhebung am 
besten verständlich. Sehen wir doch bei 
einer solchen konsequenten, durch Monate 
hindurch durchgeführten Toleranzschonung 
selbst Fälle, die zunächst durchaus dem 
schwersten Typus des Diabetes zugerechnet 
werden müssen, außerordentlich viel besser 
werden, ja unter Umständen zu einer rela¬ 
tiven Heilung kommen. 

Wir können uns aber weiter auch vor¬ 
stellen, daß eine geschädigte oder er¬ 
schöpfte Fermentfunktion durch bestimmte 
exzitatorische Mittel gereizt und gestärkt 
werden kann. Daß dieser Gedankengang 
nicht so absurd ist, beweisen z. B. die 
Folgen der Darreichung größerer Milch¬ 
mengen an erwachsene Hunde. Während 
diese bei den ersten Darreichungen reiner 
Milchnahrung fast immer eine sehr erheb¬ 
liche Milchzuckerausscheidung mit dem 
Harn zeigen, werden sie nach Ablauf einer 
Woche oder einer etwas längeren Zeit 
wieder zuckerfrei trotz gleichbleibender 
Milchernährung. 1 ) Der Milchzucker wird 
jetzt ausgenutzt, und zwar wie wir in An¬ 
lehnung an andere Versuche annehmen 
dürfen, wohl infolge der durch den Reiz 
der Milchzuckerzufuhr im Darm wach¬ 
gerufenen Sekretion des Laktasefermentes. 
Hier hat also der entsprechende Reiz im 
Darm des erwachsenen Tieres zur Er¬ 
zeugung, resp. zur „Wiedererweckung“ 
einer fermentativen Aktion geführt, die, 
wie wir wissen, in der Säugungsperiode 
dauernd vorhanden ist. 

Sollte es nicht denkbar sein, daß eine 
ähnliche exzitatorische Wirkung der Hafer¬ 
stärke, resp. irgend einem Bestandteil des 
Hafers zukommt in bezug auf die fermen¬ 
tativen Vorgänge, die vielleicht bei der 
Verarbeitung desTraubenzuckers eine Rolle 
spielen? 

Manche Erfahrungen mit Haferkuren 
können jedenfalls zugunsten einer solchen 
Auffassung herangezogen werden, Er¬ 
fahrungen, auf die in der ausführlichen 
Mitteilung des Näheren eingegangen wer¬ 
den soll. 


Die Behandlung des Scharlachs. 

Von Adolf Baglnsky-Berlin. 


Meine Herren! Die Behandlung des 
Scharlachs Sie zu lehren, in kurzer Dar¬ 
stellung, und gleichsam in einem Zuge und 
Zusammenhang, ist vielleicht eine der 
schwierigsten Aufgaben, die dem klinischen 
Lehrer zuteil werden kann, und ich glaube 
auch nicht, daß es mir glücken kann, alles 
so geordnet, so abgeschlossen Ihnen zum 


Vortrag zu bringen, daß Sie nun wirklich 
gerüstet sein könnten, allen den Fährlich- 
keiten, den überraschenden und wechsel¬ 
vollen Zufällen gewappnet gegenüber¬ 
zustehen, die Ihnen der Scharlach zu bieten 
imstande ist, und die er Ihnen in Ihrer 
praktischen Tätigkeit in einer größeren 

l ) Durch eigene Versuche bestätigt 


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Januar 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


17 


Epidemie sicher bieten wird. Mir selbst 
ist der Scharlach eine der interessantesten 
und gleichsam am meisten zu Herzen 
gehende Krankheit geworden, habe ich doch 
als ganz junger Arzt in der Landpraxis 
wenige Wochen, ja wenige Tage nach Be¬ 
ginn meiner praktischen Tätigkeit im 
Jahre 1868 als Landarzt mit einer furcht¬ 
baren und sehr ausgedehnten Scharlach¬ 
epidemie zu tun bekommen, die mir in 
kurzen Wochen gegen 300 Falle — wenn 
meine Erinnerung mich nicht tauscht — 
und darunter viele schwere und manche 
ganz maligne, in wenigen Stunden zum 
Tode führende Falle, in die Hände führte. 
Ich habe damals den Scharlach als eine 
der heimtückischsten und verderblichsten 
Krankheiten des kindlichen Alters ein¬ 
zuschätzen gelernt; und haben auch die 
vielen, vielen ausgedehnten Erfahrungen 
der späteren Jahre bis auf den heutigen 
Tag mich gelehrt, gegenüber den Heim¬ 
tücken der Krankheit auf der Hut zu sein, 
und mich nicht mehr so leicht überraschen 
zu lassen, wie seinerzeit im Anfang meiner 
Tätigkeit, so muß ich doch auch heute noch 
sagen, daß ich sie in der Reihe der aller¬ 
schlimmsten Feinde der Kinderwelt auch 
heut noch ziemlich weit obenan setze, noch 
dazu seitdem es geglückt ist, der Seuchen 
allerschlimmsten, der Diphtherie, durch 
die so glücklich inaugurierte spezifische 
Serumtherapie ein Ziel zu setzen. Ob wir 
beim Scharlach zu einem gleich glücklichen 
Erfolge Vordringen werden, ob es uns 
glücken wird auf den bisher eingeschlagenen 
Wegen zu einer spezifischen Therapie zu 
gelangen, steht noch dahin. Wir werden 
von den bisherigen Versuchen dazu auch 
alsbald in dieser unserer Unterhaltung zu 
sprechen haben. 

Sie wissen, meine Herren, und das 
werden Sie aus unseren klinischen Vor¬ 
stellungen und Visiten gelernt haben, daß 
der Scharlach sich trotz einer gewissen 
Monotonie des Gesamtbildes und trotz ge¬ 
wisser charakteristischer und unverkennbar 
ihn kennzeichnenden Erscheinungen in 
immerhin wechselvollen Formen sich dar¬ 
stellt. — Sie haben zur Genüge Gelegen¬ 
heit hier schon die leichtesten Formen 
kennen zu lernen, die nach dem ersten Ein¬ 
setzen der Krankheit unter Erbrechen, 
mehr oder weniger hoher Fiebertemperatur 
und gelinder Angina das charakteristische 
feingesprenkelte rote Exanthem zur An¬ 
schauung bringt; ohne daß irgend etwas 
Komplizierendes hinzutritt, klingen bei 
dieser leichten Form Angina und Fieber 
in 2—3 Tagen ab, die Kinder liegen an- 

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scheinend gesund frohen Muts im Bett, 
kaum noch krank zu nennen, und sähe man 
nicht auf der Haut in den nächsten Tagen 
eine mehr oder weniger ausgedehnte Ab¬ 
schuppung, fühlte man nicht vielleicht noch 
unter den Kieferwinkeln leichte Schwel¬ 
lungen der cervicalen Drüsen, man könnte 
sich veranlaßt sehen, die Kinder als wirk¬ 
lich geheilt aufstehen zu lassen und als 
wirklich geheilt zu betrachten. — Viele, ja 
die Mehrzahl dieser leicht Erkrankten bleibt 
auch wirklich unangefochten und die mit 
der Tücke des Leidens unbekannte Um¬ 
gebung der Kranken lacht gar oft der 
Fürsorge des verständigen und gewissen¬ 
haften Arztes; nur leider diejenige Fa¬ 
milie nicht, der passiert ist, was ich gerade 
bei den anscheinend allerleichtesten Fällen 
mehrere Male erlebt habe, daß diese an¬ 
scheinend so gesunden Kinder in der 
dritten oder im Anfänge der vierten Woche 
nach der anscheinend so unwesentlichen 
Attacke plötzlich unter Erbrechen eine 
Verringerung der Diurese erkennen lassen, 
als Zeichen einer ernsten Nierenerkrankung; 
einer Erkrankung die alsbald in ein voll¬ 
kommenes Versiegen der Diurese, in An- 
urie überzugehen vermag, die trotz aller 
angewendeten Mittel unüberwindlich am 
5., 6., oder 7. Tage zum Tode führt. Un¬ 
aufhaltsam, rettungslos. — Meine Herren! 
Lassen Sie sich belehren! — Es gibt so 
keine eigentlich leichten, d. h. leicht¬ 
hin zu behandelnden Scharlachfälle, 

— wenigstens nicht für den gewissenhaften 
Arzt. Jeder Scharlachfall ist eine ernste 
und ernst zu nehmende Krankheit. Dies 
muß für Sie der oberste und erste Grund¬ 
satz aller Scharlachbehandlung sein. 

Was soll nun mit diesen anscheinend 
so leichten Krankheitsfällen geschehen? 
Nicht das einsetzende Erbrechen, noch auch 
das Fieber, noch auch selbst die leichte 
Angina oder gar die Abschuppung er¬ 
heischen irgend welche wirkliche thera¬ 
peutische Maßnahmen. Die Natur wird eben 
gar leicht im kindlichen Organismus mit 
all den anscheinend passageren leichten 
Erkrankungsformen fertig. Nur dessen 
muß man sich bewußt bleiben, daß der 
Kranke wirklich und ernstlich krank ist, 
krank an einem heimtückischen Leiden, 
ergriffen von einem unheimlichen, und noch 
nicht bekannten Virus, gegen welches der 
Organismus sich selbst immun machen 
muß, und daß man Fürsorge treffen muß, 
den Organismus darin nicht zu stören. 
Die Aufgabe des Arztes bei diesen Fällen 
ist zumeist lediglich die, zu verhüten, daß 
der Kranke sich schade. — Nil nocere! 

3 

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18 


Januar 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


ist hier die eigentliche Aufgabe des Arztes; 
dazu bedarf es kaum irgend welcher eigent 
licher therapeutischer Maßnahmen. Will 
man gegen die Angina örtlich etwas an¬ 
wenden, so versorge man den Kranken mit 
kühlen Umschlägen um den Hals, besser 
noch mit einer für 1—2 Tage gut ange¬ 
legten (!) Eiskrawatte, in der Art, wie 
Sie es bei uns sehen, und üben allenfalls 
die örtliche Behandlung mit Gurgelungen 
bei älteren Kindern, mit dem Spray 
(Einstäubungen) bei jüngeren Kindern, mit 
Kal. hypermanganicum oder mit 1V 2 °/oigem 
Wasserstoffsuperoxyd, oder auch mit 
2 —3 % iger Borsäurelösung. Dies wird 
leicht die anginösen Beschwerden be¬ 
seitigen, — und mit ihnen auch das Fieber. 
— Wichtiger aber, meine Herren, als diese 
örtliche Behandlung ist das allgemeine, dem 
Kranken unerbittlich (!) aufzuzwingende 
Regime der ruhigen Bettlage, des Auf¬ 
enthaltes im Bette, trotz alsbald em- 
getretener Entfieberung, für die nächsten 
Wochen, und einer absolut reizlosen, 
möglichst wenig salzhaltigen Kost; hierzu 
eignet sich in erster Reihe die Milchdiät. 
Ich suche nicht, auch nicht nach den 
jüngsten Erörterungen über die salzlose 
Kost von Widal, in dem Kochsalzgehalt 
der Nahrung die größte Noxe; viel mehr 
als den Kochsalzgehalt der Nahrung halte 
ich die Extraktivstoffe des Fleisches für 
schädlich; für das schädlichste freilich, 
wenn beide vereint dem Kranken in der 
Nahrung dargeboten werden; daher meide 
man Bouillon, jede Fleischnahrung und 
beschränke den Kranken vorerst auf reine 
Milchdiät; etwas, was gerade bei Kindern 
sehr gut angeht. — Ich lasse es nie durch¬ 
gehen, daß Kinder keine Milch wollen, und 
habe bisher jedesmal den angeblichen 
Widerstand überwunden; den schlechtesten 
Milchtrinkern habe ich bis zu 2—3 1 Milch 
als Nahrung angewöhnt; wobei freilich im 
Verlauf der dritten Woche und gar der 
vierten Woche Kakao, Mehlsorten aller Art, 
Zwiebackgebäck, auch leichteste Gemüse, 
wie Spinat, Karotten, Blumenkohl, Kartoffel¬ 
püree der Milchdiät hinzugefügt werden 
können. Also! Alles in allem, Bettruhe 
und blandeste, laktovegetabilische 
Diät. — Das ist die eigentliche Therapie 
der leichten Scharlachformen. — In der 
vierten Woche kann der Kranke, wenn der 
Harn stets frei von Albumen und anderen 
krankhaften Bestandteilen, insbesondere 
auch morphotischen, wie Blutkörperchen, 
Zylindern, zahlreichen Lymphkörperchen 
geblieben ist, warm gekleidet und gehalten, 
das Bett zuweilen verlassen. Vor vollen 


6 Wochen entlasse man die Kleinen nicht 
aus der Beobachtung und bei geringsten 
Veränderungen im Allgemeinbefinden, 
leichten Fieberbewegungen oder krankhaften 
Beimischungen im Harn, bringe man inner¬ 
halb dieser Zeit dieselben unweigerlich 
wieder zu Bett. — Dies wird Sie, meine 
Herren, vor so furchtbarenUeberraschungen 
schützen, wie ich angedeutet habe, vor 
Nephritis und Anurie mit Urämie; denn 
diese letztere habe ich, wie ich später 
Ihnen noch ausführlicher auseinandersetzen 
werde, eigentlich nur bei den, durch ver¬ 
fehltes Regime und nachlässiger Beobach¬ 
tung der dringendsten hygienischen Ma߬ 
nahmen schlecht versehenen Kranken be¬ 
obachtet. — Ich habe, wie Sie sehen, der 
Geschäftigkeit des Arztes bisher wenig 
Raum gegeben; tatsächlich ist die mehr 
negative, die prophylaktische Tätigkeit des 
Arztes bei der bisher ins Auge gefaßten 
Krankheitsform die eigentlich heilbrin¬ 
gende. — Soll man die Kranken baden? 
Diese Frage kann zur Erörterung stehen. 
— Notwendig ist nur zeitweilig ein Rei¬ 
nigungsbad, namentlich, wenn sich trotz 
des leichten Ablaufs des Exanthems doch 
eine etwas stärkere Schuppung einstellt; 
ich bin von vielem Baden, weil es über¬ 
flüssig ist, und durch zufällige Erkältungen, 
oder anderen unbekannten Wirkungen von 
der Haut aus vielleicht gar schädlich werden 
kann, mehr und mehr zurückgekommen. 
Jedenfalls wende man, wenn man die kranken 
Kinder baden läßt, die größte Vorsicht an, 
keine Erkältungen zustande kommen zu 
lassen. An sich sind zwar die Scharlach¬ 
kranken nicht gar so empfindlich, wie man 
bei einer Dermatitis erwarten möchte, bei 
weitem nicht so empfindlich wie Masern¬ 
kranke, und man kann sie selbst im kühlen 
Zimmer liegen lassen, freilich eher, wie 
wir ersehen werden, die Fiebernden; 
weniger, und mit größerer Vorsicht die 
Entfieberten. — So, meine Herren, wäre 
mit den leichten unkomplizierten Scharlach¬ 
fällen zu verfahren. 

Lassen Sie uns eine zweite Gruppe von 
Erkrankungen, die sogenannten malignen, 
perniciösen Scharlachformen ins Auge 
fassen. Sie kennen diese furchtbare Er¬ 
krankungsform mehr aus der Beschreibung 
in den Büchern, als aus der eigenen An¬ 
schauung. Zum Glück sind die Fälle nicht 
allzu häufig, wenngleich sie während einer 
größeren Epidemie immerhin in einigen 
Exemplaren zur Beobachtung kommen. Wer 
sie je gesehen hat, wird den schrecklichen 
Eindruck nimmer wieder los. — Mitten aus 
dem frohen, frischen Leben werden da die 


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Jauuar 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


19 


Kinder hingeworfen, unter Uebelkeit, Er¬ 
brechen und selbst profusen Diarrhöen, 
plötzlich kollabiert, cyanotisch, livide, fast 
pulslos oder mit einem kaum zählbaren 
engen, verfallenen Pulse, alsbald besinnungs¬ 
los, bis tief komatös. — So liegen die Kin¬ 
der, die kurz vordem noch froh gespielt, 
die Schule besucht hatten, darnieder, und 
so sterben sie nicht selten schon innerhalb 
der ersten 24 Stunden, noch bevor ein Ex¬ 
anthem sich gezeigt hat. Nut* die Kenntnis 
der Krankheit, dazu die Kenntnis der 
herrschenden Epidemie, gibt die Möglichkeit 
der Diagnose, und selbst erfahrene Aerzte 
sind kaum imstande, sich immer dem eigen¬ 
artigen und seltsamen Krankheitsbilde 
gegenüber zurecht zu finden. Ich will hier 
ja nicht die Pathologie, ich will die The¬ 
rapie des Scharlach Ihnen zur Kenntnis 
bringen; ich will deshalb auch nicht aus- 
spinnen, daß zum Glück immerhin nur we¬ 
nige Fälle gar so fondroyant, so pestartig 
giftig, als ganz augenscheinliche akuteste 
Vergiftungen verlaufen; es gibt Varianten; 
so daß bei einigen Sopor, Delirien, Koma 
sich auf etwas längere Zeitdauer, auf zwei 
bis drei Tage hin, ausdehnen, daß der Livor 
und die Cyanose, dem eigentlichen Schar¬ 
lachexanthem, welches herausbricht und die 
Haut dunkelviolettrot oder braunroth färbt, 
weichen, daß eine unverkennbare, mit mehr 
oder weniger starker Schwellung der 
Schleimhautgebilde und der Lymphdrüsen 
einhergehende Angina das Krankheitsbild 
ergänzt. Freilich bleiben Prostration und 
Verfall der Herzaktion noch bestehen; da 
indessen Erbrechen und Durchfälle nach- 
lassen, so hebt sich die Spannung der Ar¬ 
terien und die Füllung derselben ein wenig, 
und die bisher ganz dumpfen Herztöne er¬ 
halten exakteren, lauteren Charakter, so daß 
die Hoffnung aufkeimt, daß der Organismus 
die Gewalt des in ihm zur Wirkung ge¬ 
langten Giftes zu meistern, zu neutralisieren 
beginnt. — Eine wirkliche, ganz augen¬ 
scheinliche schwere Intoxikation ist es, mit 
der wir zu tun haben; keine andere Auf¬ 
fassungvermag sonst den plötzlich herein¬ 
gebrochenen Zustand zu erklären; wenn 
wir gleich über Art und Wesen des Toxins 
noch nicht die geringste sichere Vorstellung 
haben. Kennen wir doch nicht den Krank¬ 
heitserreger und begreiflicherweise dann 
ebensowenig auch das etwa von ihm er¬ 
zeugte Gift. Es kann nur sein Vorhanden¬ 
sein aus den Krankheitserscheinungen und 
seinen Wirkungen supponiert werden. Sie 
wissen, daß wir selbst bei den raschest ver¬ 
laufenden Fällen der geschilderten Art 
Streptokokken im Blute nachgewiesen 

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haben, und wir wissen auch, daß Strepto¬ 
kokken Produzenten furchtbarer Gifte sind. 

— Wem kommt wohl unter diesen Ein¬ 
drücken und Erfahrungen der Gedanke 
nicht nahe, der Krankheit, nach Analogie 
der bei der Diphtherie gewonnenen Er¬ 
fahrungen und glücklichen Errungen¬ 
schaften, hier ein Antistreptokokkenserum 
zu schaffen, wie dort ein Diphtherieanti¬ 
toxin geschaffen worden ist, um damit den 
Kranken giftfest zu machen, gleichzeitig 
aber, da die Streptokokken im Blute zir¬ 
kulieren, mit bakterizider Wirksamkeit 
Das führt uns, meine Herren, mitten in 
die jüngsten der therapeutischen An¬ 
strengungen hinein. Nachdem die Anti¬ 
streptokokkensera von Marmorek, Moser 
sich als gar nicht, oder nicht irgendwie 
bedeutsam wirkungsvoll erwiesen haben, 
und trotz mancher gegenteiliger Behaup¬ 
tungen mehr und mehr aus der klinischen 
Therapie wieder verschwunden sind, fangen 
neuerdings von Aronson, von Meyer 
hergestellte, mit anerkennenswertem Eifer 
stetig hochwertiger produzierte polyvalente 
Scharlachsera an, in der Behandlung des 
Scharlachs Fuß zu fassen. Wir selbst stehen 
mitten in den Versuchen; sind wir gleich 
in der Privatpraxis ebenso wie hier im 
Krankenhause einzelnen Fällen begegnet, 
die wenigstens die Möglichkeit der Deutung 
zulassen, daß diese Sera subkutan, intra¬ 
muskulär oder wie neuerdings zumeist 
intravenös angewendet, von Nutzen waren, 
so kann ich doch irgend ein zu Gunsten 
der Serumwirkung ausfallendes, abschließen¬ 
des Urteil Ihnen nicht geben. Wir wenden 
jetzt das Meyer sehe, von den Höchster 
Farbwerken hergestellte Serum nach An¬ 
gabe des Autors intravenös in Mengen von 
50—100 ccm an; die Erfolge sind leider bei 
den wirklich turbulenten und schweren 
Fällen, die ich Ihnen geschildert habe, zu 
allermeist ausgeblieben. Auf der anderen 
Seite habe ich aber auch mich nicht der Er¬ 
fahrung verschließen können, daß die Sera, 
wenigstens in einzelnen Fällen, sehr schweren 
Schaden stiften. — So bleibt Ihnen die 
schwere Wahl, ob sie der Krankheit ihren 
Weg lassen, oder bei der Ungunst der Pro¬ 
gnose in den verzweifelten Fällen zur Serum¬ 
anwendung greifen; möge Ihnen wenig¬ 
stens, wenn Sie sich zur Anwendung des 
Serums entschließen, das Bewußtsein blei¬ 
ben, mit allem, was die Kunst bietet, dem 
Kranken beigesprungen zu sein. — Begreif¬ 
licherweise werden sie sich aber damit allein 
nicht befriedigen wollen und können. Sie 
werden bei den Fällen alles das außerdem 
anwenden, was die Lage des Kranken, 

3 * 

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20 


Januar 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


außerhalb der Anregung zu spezifischer 
Therapie, nach langjähriger Erfahrung als 
Indikation an die Hand gibt. Sie werden 
bei Fällen, die mit hohen oder gar ex- 
cessiven Temperaturen, mit Sopor und 
Delirien verlaufen, kühlende Bäder von 
28—30° C eventuell in Verbindung mit 
kalten Uebergießungen versuchen und die 
Herzkraft nebenher mit reichlichen Kamp- 
pherinjektionen zu beleben versuchen. An¬ 
dere Kranke können Sie, unter Dar¬ 
reichung von feurigem Wein, wie Sherry, 
Portwein, mit kühlen, dreimal nach je zehn 
Minuten wiederholten Einpackungen aus 
Prostration und Sopor zu wecken, durch 
Anregung der Reaktion des Hautorganes 
zu beleben versuchen. Auch hierbei können 
Sie zwischendurch noch subcutane Injec- 
tionen von Kampfer oder von Coffein natr.- 
benzoicum zur Anwendung ziehen; (0,01 
bis 0,05 pro dosi.) Ist die Prostration mit 
Cyanose besonders hervortretend, dabei die 
Temperatur nicht allzu hoch, die Körper¬ 
wärme so schlecht verteilt, daß die Extre¬ 
mitäten kalt, blau und livide erscheinen, 
so werden Sie dem Kranken vielleicht ge¬ 
rade, im Gegensätze zu der Kältetherapie, 
mit einem heißen, hochtemperierten Bade 
(bis 38—39° C) beizuspringen versuchen, 
wobei nebenher der Applikation von Eis¬ 
blasen auf den Kopf nichts im Wege steht. 
Auch hierbei brauchen Sie Kampfer, Koffein, 
Wein nicht zu schonen. — Viel ist die 
Rede von der Anwendung von Strychnin 
als eigentlichem Herztonikum, und unsere 
amerikanischen Kollegen würden das Mittel 
kaum entbehren wollen; ich habe es eigent¬ 
lich immer in den verzweifelten Fällen wir¬ 
kungslos gesehen; indessen weiß ich auch 
keinen Grund anzugeben, dasselbe zu ver¬ 
werfen; Sie mögen es also immerhin hier 
und da anwenden, wenn Sie selbst Ver¬ 
trauen dazu haben; Sie werden es sub¬ 
kutan in —2 mg zur Anwendung 

bringen können, 2—3mal am Tage. — Noch 
weniger Sicheres kann ich Ihnen von dem 
jüngst so in den Vordergrund gebrachten 
Adrenalin sagen. Ob es wirklich leistet, 
was man sich von ihm verspricht, wage 
ich nach meinen bisher noch nicht aus¬ 
giebigen Erfahrungen mit dem Mittel nicht 
zu entscheiden. Die Not wird Ihnen das 
Mittel freilich bei den verzweifelten Fällen 
in die Hand drücken, und so können Sie 
ja mit der innerlichen und subkutanen An¬ 
wendung desselben immerhin einen Ver¬ 
such wagen. — Sie werden innerlich meh¬ 
rere Male am Tage 10—15—20 Tropfen der 
1 %oigen Lösung zur Anwendung bringen 
können; zur subkutanen Anwendung wer¬ 


den Sie 2—3mal am Tage von der zehn¬ 
fach verdünnten Lösung je V 2 —I ccm zu 
gebrauchen vermögen. Auch die Anwen¬ 
dung physiologischer Kochsalzlösungen, 
oder besser gesagt, die von uns zumeist 
gebrauchten hypotonischen (3—4%o) Lösun¬ 
gen, in nicht allzu großen Mengen kann 
von großem und lebensrettendem Nutzen 
werden, insbesondere bei den mit Diarrhoe 
und Erbrechen sich ergehenden Fällen. 

Aber, meihe Herren, machen Sie sich 
bei allem, was Sie tun und anwenden, wirk¬ 
lich klar, was Sie damit wollen. Nichts 
Schlimmeres gibt es für den Kranken und 
auch für dessen Umgebung, als ein ver¬ 
zweiflungsvolles Umherspringen des Arztes 
mit Mitteln und Methoden; alles, was Sie 
tun, muß ruhig, konsequent und ausgiebig 
geschehen, so mit dem Serum, so mit Bä¬ 
dern und Einpackungen, so auch mit Ex- 
citantien; denn wenn überhaupt, so liegt 
darin das Heil des Kranken. Leider ist 
ja das, was wir wirklich vermögen, da wir 
das eigentliche Antitoxin nicht besitzen, 
minimal. — Schließlich, vergessen Sie nicht 
den Kranken auch in diesem Zustande aus¬ 
reichend zu ernähren, mit Milch, die Sie, 
wenn der Kranke nicht schlucken kann 
oder will, eventuell mit der Schlundsonde 
einbringen, oder, wenn Erbrechen und 
Diarrhoe eine eigentliche Ernährung ver¬ 
bieten, mit kaltem Tee und etwa schleimi¬ 
gen Suppen. Von Rektalernährung bin 
ich nie ein Freund gewesen und meide sie, 
solange ich irgend kann; sie führt in der 
Regel nicht zum guten, und man kann 
Kinder, mit ganz wenigen Ausnahmen, bei 
guter Pflegehilfe doch wohl meist per os 
ernähren. Ich habe bisher die Behandlung 
der Angina bei den so bedrohlichen Fällen 
nicht erwähnt. — Tatsächlich läßt bei den 
Fällen das bedrohte Allgemeinbefinden 
hierzu keine Zeit; auch eilt es damit nicht 
so; erst wenn die äußerste Gefahr des 
immer drohenden toxischen Herzkollapses 
und der Intoxikation der Centralorgane 
überwunden ist, kann man sich mit Eifer 
der Bekämpfung der skarlatinösen An¬ 
gina zuwenden. Wir werden alsbald die 
von ihr indizierte Therapie bei der gleich¬ 
sam mittleren, der Hauptgruppe der Schar¬ 
lachfälle ins Auge fassen. 

Die Mittelgruppe, freilich das Gros der 
Scharlacherkrankungen umfassend, ist rund 
herausgesagt, diejenige Gruppe von Schar¬ 
lacherkrankungen, die mit komplizierenden 
örtlichen Erkrankungsherden, mit an den ein¬ 
zelnen Organen hervortretenden Krankheits¬ 
erscheinungen einhergeht; selbstverständ¬ 
lichgeschieht dies nicht, ohne daß dasAU- 


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Januar 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


21 


gemeinsymptom der Krankheit, das Fieber, 
sich mehr oder weniger bedeutungsvoll, in 
mannigfachen Variationen zur Geltung 
bringt. 

Lassen sie uns, meine Herren, bevor 
wir in die Betrachtung der einzelnen Phä¬ 
nomene der mannigfachen Komplikationen, 
die den Verlauf des Scharlachs schließlich 
gestalten, eingehen, die Frage erörtern, ob 
wir imstande sind, die Komplikationen durch 
irgend eine, insbesondere durch eine spe¬ 
zifische Behandlung zu verhüten. Viel¬ 
leicht ist Ihnen bekannt, daß die Alten 
empirisch, wie sie nun eben nicht anders 
bei der früheren Unkenntnis der Vorgänge 
bei den Infektionskrankheiten konnten, die 
verschiedensten Mittel und Prozeduren an¬ 
wendeten, zu dem Zwecke, die Verhütung 
der Komplikationen zu erzielen. Ich er¬ 
innere nur an die innere Anwendung von 
Belladonna, von Ammoniak, an die Speck¬ 
einreibungen usw.; heut wird niemand mehr 
der Hoffnung sich hingeben, mit diesen 
Mitteln etwas zu erreichen; freilich haben 
auch die neuen zu dem Zwecke angewen¬ 
deten Mittel, wie Universalinunktionen mit 
Unguent.Arg. colloidale nicht im entferntesten 
die Fähigkeit erwiesen, die man erhofft hat. 
Ja, es haben sich die letztgenannten eher 
als direkt schädlich gezeigt; eine nutzlose 
Quälerei für Patienten und Pflegerinnen; 
man meide sie unbedingt. — Aber auch das 
Mittel, von dem man der ganzen Art der 
Krankheit nach sich etwas hätte versprechen 
können, und das ich jahrelang ausgiebig 
selbst angewendet habe, das methodische 
Warmbaden, hat sich als nutzloserwiesen, 
ob man nun bei den bereits gänzlich oder 
fast gänzlich entfieberten Kranken danach 
schwitzen läßt oder nicht. Man kann mit 
den Schwitzbädern selbst einer Nephritis 
nicht Vorbeugen, geschweige den anderen 
Komplikationen. Man wird deshalb ein hin 
und wieder angewendetes warmes Bad nicht 
meiden, im Gegenteil, indessen nur zu dem 
allgemein hygienischen Zweck der Reini¬ 
gung wird es von Nutzen sein können, 
namentlich zur Zeit der Desquamation, wo 
massenhaft abgestoßene Epidermislamellen 
den Kranken bedecken. — Und nun, wie 
steht es auch hier mit der Serumtherapie?! 
Ich habe Ihnen bereits mitgeteilt, daß die 
Antistreptokokkenserumtherapie bei den 
malignen Fällen nichts Besonderes leistet; 
indes auch die Hoffnungen bezüglich der 
Minderung der Komplikationen hat sie, so¬ 
weit es mir möglich war, Erfahrungen zu 
sammeln, getäuscht; ich habe trotz der An¬ 
wendung von ausgiebigen intravenösen 
Seruminjektionen Drüsenschwellungen, Ver¬ 


eiterungen der Drüsen und Nephritis auf- 
treten sehen, das Mittel ist, wie wir es bis 
jetzt in den Händen haben, nicht das eigent¬ 
liche souveraine wie das Diphtherieantitoxin 
bei Diphtherie; wobei vielleicht doch im 
Einzelfalle einmal eine gewisse Wirkung auf 
besondere Lokalaffektionen zutage treten 
mag, etwas freilich, wovon ich mich bis jetzt 
auch noch nicht zu überzeugen vermochte. — 
Von weiteren prophylaktischen Mitteln gegen 
die schwerste Komplikation des Scharlachs, 
die Nephritis, werden wir noch zu reden 
haben. — Tatsächlich ist und bleibt das 
souveränste Mittel, so viel wie möglich den 
Scharlachkomplikationen den Boden abzu¬ 
graben, wie schon erwähnt, das hygienische 
Regime — Reinlichkeit, Licht, Luft und 
die Milchdiät. — Ein besseres vermag ich 
Ihnen leider noch nicht an die Hand zu 
geben. 

Nun zur Frage des Fiebers. Die Fieber¬ 
bewegungen im Scharlach sind zweierlei 
Natur. Sie sind 1. in den ersten Tagen un¬ 
zweifelhaft der Ausdruck der Infektion und 
Intoxikation. Dieses Fieber kann mit 
sehr hohen Temperaturen einhergehen und 
all den häßlichen Erscheinungen, die dem 
hochtemperierten toxischen Fieber auch 
sonst anhängen, gerade, wie im Typhus, 
bei Influenza, bei Pneumonien usw. Diesem 
Fieber gegenüber wird man denn auch be¬ 
greiflicherweise mit antipyretischen Pro¬ 
zeduren, wie kühlen Bädern, kühlen Ein¬ 
packungen zu begegnen versuchen; es wird 
auch dagegen nichts einzuwenden sein, 
hier und da innerlich antipyretische Mittel 
wie Antipyrin, Chinin, Pyramidon, Phena¬ 
zetin zur Anwendung zu ziehen; offen ge¬ 
standen liebe ich sie alle nicht, und komme 
auch ohne sie durch; will man sie aber 
anwenden, und muß man sie vielleicht in 
der so erschwerten Landpraxis zu Hilfe 
nehmen, so freilich nur mit den für die 
Kinderwelt überhaupt notwendigen Kautelen 
der Anwendung, in Dosierung und Gesamt¬ 
quantität. — Auch die zuweilen enorm ge¬ 
steigerte Pulsfrequenz kann Indikationen 
zum Einschreiten bieten, und so sind selbst 
kleinere Digitalisgaben, als Digitalisinfus. 
(0,5 —1,0:100) 2—3stündlich oder Digalen 
oder Digitalysat in entsprechender Gabe an¬ 
wendbar; auch hier liebe eine allzu frei¬ 
gebige Geschäftigkeit nicht und rate dezu 
sich auf das Notwendigste zu beschränken. 

Schwächezustände des Herzens können 
nebenher gern mit einzeln angewendeten 
Kampfergaben bekämpft werden; und auch 
der Wein wird hier auf der Höhe der 
Intoxikation als ein gutes Unterstützungs¬ 
mittel sich erweisen. Mit einem Worte, 


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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Januar 


die Bekämpfung dieser toxischen Fieber¬ 
bewegungen unterscheidet sich beim Schar¬ 
lach in nichts von der, wie wir sie sonst 
bei den akuten Infektionskrankheiten ge¬ 
wöhnt sind. Sie wissen ja, daß meine 
Devise hier ein für allemal ist: Ne quid nimis! 

Eins können Sie noch festhalten, Schar¬ 
lachkranke vertragen Abkühlungen recht gut, 
und sie können gern auch in kühleren 
Zimmern gehalten werden; im geraden 
Gegensätze zu Masernkranken, deren emp¬ 
findliche und angegriffene Respirations¬ 
organe kühle Umgebung schlecht vertragen. 

Im weiteren Verlaufe des Scharlachs sind 
nun aber die Fieberbewegungen zumeist 
abhängig und unterhalten von Komplika¬ 
tionen und sie sind der Ausdruck für die 
Anwesenheit solcher; je nach der Art der 
Komplikationen ist das Fieber schwankend 
in der Art, wie die Temperaturen sich 
zeigen, schwankend auch in der Hart¬ 
näckigkeit. 

Sie werden verstehen können, daß eine 
kontinuierlich eiternde Otitis das Fieber 
unterhält, daß das Fieber intermittierend 
oder remittierend so lange vorhält, als eine 
mehr oder weniger maligne geschwürige 
Angina besteht, als Phlegmonen, Lymph¬ 
adenitiden, Gelenkaffektionen, Endokarditis 
usw. bestehen, und Sie werden sofort 
einzusehen vermögen, daß es absolut nutz¬ 
los sein muß, das Fieber an sich bekämpfen 
zu wollen, solange derartige Krankheits¬ 
herde nicht beseitigt sind. 

Darum werden Sie bei dem länger sich 
hinziehenden Fieber im Scharlach von 
Hause aus von der Anwendung von eigent¬ 
lichen antifebrilen Mitteln sich nicht viel 
versprechen dürfen. Wir können freilich 
bei der Krankheit ein eigenartiges, mit fast 
kontinuierlicher intermittierender Kurve 


einhergehendes Fieber, dessen Tempera¬ 
turen unter Umständen stets zwischen 37 
und 39 bis 40 o C und selbst darüber 
schwankt, ohne daß es glückt, einen lo¬ 
kalen Krankheitsherd nachzuweisen, ohne 
daß selbst, wie sonst doch so häufig, die 
cervikalen Lymphdrüsen noch Schwellun¬ 
gen aufweisen. Man hat das Fieber als 
pyämisches oder septikämisches Scharlach- 
nachfieber bezeichnet. — Es ist lediglich 
der Ausdruck dafür, daß Toxindepots;nur 
locker verankert, sei es in den Lymph¬ 
drüsen, sei es in anderen Organen, viel¬ 
leicht gar in der Leber gelagert sind, von 
denen aus stets kleine Toxinmengen in die 
Blutbahn hineingelangen und dort zur Ver¬ 
brennung, zur Vernichtung bzw. Ausschei¬ 
dung kommen. Auch gegen dieses Fieber 
sind unsere üblichen Antipyretika, wie 
Chinin, Antipyrin, Phenazetin usw. so gut 
wie wirkungslos. Es weicht zumeist der 
allmählich fortschreitenden Immunisierungs¬ 
arbeit des Organismus. 

Sie werden bei diesen Fällen die Mittel 
immerhin versuchen können, weil Sie da¬ 
mit bei vorsichtiger Anwendung nicht 
schaden werden; aber, wie gesagt, auf 
einen wesentlichen Nutzen werden Sie 
nicht rechnen können. So sehen Sie, wie 
leider hilflos wir noch der Scharlachinfek-, 
tion bezw. Intoxikation gegenüberstehen. 
Es ist aber besser, sich damit abzufinden, 
und lediglich durch ein vernünftiges hygie¬ 
nisches Regime dem Kranken zur Seite zu 
sein, als ihn durch eine quälerische An¬ 
wendung von Mitteln stetig zu behelligen, 
die, weil sie nicht nützen, an sich schon 
schaden. Ich kann Ihnen, meine Herren, 
gar nicht genug ans Herz legen — nur keine 
nutzlose Polypragmasie! und nil nocere! 

(Schluß folgt im nächsten Heft.) 


Ans der Ghirnrgisclien Klinik der Universität Kiel. 

Die Leistungsfähigkeit der Nagelextension in der Fraktur¬ 
behandlung und Knochenchirurgie. 

Von Willy Anschfitz. 


Im letzten Jahre haben wir einige höchst 
erfreuliche Erfolge auf dem Gebiete der 
Knochenchirurgie und besonders in der 
Frakturbehandlung zu verzeichnen gehabt, 
Erfolge von mehr als kasuistischem Inter¬ 
esse. Wir danken sie der Nagelextension. 

Das neue Verfahren ist sehr einfach zu 
schildern. Bei einer Fraktur z. B. werden 
in das untere Fragment durch die Weich¬ 
teile hindurch zwei seitliche Nägel einge- 
trieben und an diesen der Extensionszug 
direkt angebracht; man kann auch einen 
großen, den Knochen perforierenden Nagel 


benutzen oder aber an einem durch den 
Knochen getriebenen Bohrer, den man 
liegen läßt, ziehen. Diesem letzteren Ver¬ 
fahren geben wir den Vorzug, weil Locke¬ 
rungen nicht Vorkommen und die Ausfüh¬ 
rung eine ebenso bequeme wie schnelle ist, 
wenn man mit dem Elektromotor arbeitet. 
Das Prinzip bleibt bei allen Modifikationen 
das gleiche: Ansetzen des Extensions¬ 
zuges an zwei kleinen zirkumskripten 
Stellen, Möglichkeit, die Zugkraft 
und -Wirkung aufs höchste Maß zu 
ste igern. 


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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


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Idee und Methode der Nagelextension ist, zweifelsohne anhaftet. Sie ist ebenfalls 

stammen von Codi villa-BoIogna; Stein- weit geringer, als man a priori annehmen 

mann-Bern hat sie von sich aus aufs neue möchte, aber sie besteht. Wir haben ein¬ 
entdeckt und in mehrfachen aufsehener- mal bei einer Unterarmfraktur eine von der 

regenden Publikationen allgemeiner bekannt Nagelstelle ausgehende leichte Infektion ge- 

gemacht, das haben wir ihm zu danken, sehen, welche allerdings nach Inzision 

Die Modifikation mit dem perforierenden schnell und ohne jede Störung ausheilte. 

Bohrer stammt von Becker. Immerhin, die Gefahr der Infektion ist vor- 

Die Nagelextension stößt auf gewisse handen und die Nagelextension sollte 

begreifliche, aber auch widerlegbare Be- deshalb nur bei strikter Indikation, 

denken. Ja, sie mag auf den ersten Blick nämlich dann, wenn allen anderen Exten- 

wohl etwas roh und auch gefährlich er- sionsmethoden versagt haben, angewendet 

scheinen! Auch ich habe sie das erste Mal werden. Ich kann mich deshalb denen 

mit Sorge und Scheu angewendet, gezwun- nicht anschließen, welche die Nagelexten- 

gen durch die wenig guten Aussichten aller sion zum Normalverfahren bei frischen 

mirbisdatobekanntenBehandlungsmethoden Frakturen erheben wollen, sie sollte reser- 
bei einer 8 Wochen alten, mangelhaft viert bleiben für gewisse noch zu be- 

konsolidierten Unterschenkelfraktur mit 4cm sprechende Gruppen von Brüchen, bei 

Verkürzung. Als dann nach zehntägiger denen man mitunter trotz eifrigen Be¬ 

mühens und guten Könnens 
mit den üblichen Behand¬ 
lungsmethoden schlechte 
Resultate nicht vermeiden 
kann. Ein vorheriger Ver¬ 
such mit anderen Ver¬ 
fahren ist fast immer ge¬ 
stattet; die Nagelextension 
kommt nicht leicht zu spät. 

Den Nachteilen des Ver¬ 
fahrens stehen aber auch 
große offenbare Vorzüge 
gegenüber. Es greift am 
unteren Fragment an zwei 
kleinen Stellen an, läßt das 
übrige Glied vollständig frei 
und nun kann mit jeder be¬ 
liebigen Kraft die Bruchstelle 
distrahiert werden. Der erste 
Umstand erleichtert die Be- 
hanolung schwerer kompli- 
Extension an dem durch die Tibia gelegten zierter Frakturen, der zweite ermöglicht 
Nagel die Fraktur ohne Verkürzung federnd die Bekämpfung der schwersten Dis¬ 
fest ward, ohne daß der Patient nennens- lokationen, denn die Zugkraft ist so 
werte Schmerzen oder auch nur die Spur stark, daß sie noch nach Wochen und 
einer Infektion gehabt hatte, habe ich dem Monaten bedeutende Verkürzungen der 
Verfahren mein volles Interesse zugewendet Weichteile überwindet. Ja, man kann 
und es in weiteren 22 Fällen erprobt. Diese mit ihm Diastasen frakturierter Knochen 
Zahl ist nicht groß, aber alle Fälle waren, erzielen, welche nach Entlastung wieder 
wie wir noch sehen werden, ausgesucht zurückgehen, welche uns aber anderer¬ 
schwere und ungünstige und trotzdem waren seits eine neue Möglichkeit geben, ope- 
die Resultate fast immer gute. Was die rativ gegen alte Verkürzungen vorzugehen. 
Schmerzhaftigkeit betrifft, so kann ich Ich habe in einer früheren Publikation 1 ) 
sagen, daß sie ganz gewiß keine Kontra- eine Anzahl meiner Beobachtungen genau 
indikation gegen das neue Extensionsver- beschrieben und an den Röntgenskizzen 
fahren bildet. Schmerzen sind an der die schönen Erfolge demonstriert. Ich will 
Nagelstelle selbst so gut wie gar nicht vor- erst kurz diese früheren Erfahrungen re- 
handen, sie entsprechen nur der Stärke sümieren, um dann auf neue Erfolge etwas 
der extendierenden Kraft. Bedenklicher näher einzugehen. Die Fälle teilen sich in 
steht es mit der Infektionsgefahr, 6 Gruppen. 

welche der Methode, da sie eine operative | b Deutsche Ztschr. f. Chir. Bd. 101 . 

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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


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1. Veraltete Frakturen mit Pseud- 
arthrosen und verschleppte Fälle 

(4 Fälle). 

Außer dem obenerwähnten Fall wurden 
noch 2 Oberschenkelpseudarthrosen 4 resp. 
4Vs Monate nach dem Unfall mit Nagel¬ 
extension behandelt. Der eine mit 4 cm 
Verkürzung wurde nach vier Wochen langer 
Extension federnd ohne jede Verkürzung 
fest. Bei dem anderen wurde die Ver¬ 
kürzung von 10 cm auch vollkommen korri¬ 
giert. es trat aber keine Festigung ein. 
Nach operativer Entfernung der Interposi¬ 
tion und Knochennaht Heilung mit nur 2 cm 
Verkürzung. Mir scheint danach die Nagel 
extension zur Behandlung gewisser 
Pseudarthrosenformen sehr geeignet 
zu sein. 

Hierher gehören auch alle jene Fälle, 
bei denen wegen interkurrenter Krankheiten 
oder anderer komplizierter Verletzungen 
die üblichen Extensionsmethoden nicht 
dauernd durchführbar sind. Ein Beispiel: 

Ein 63 jähriger Mann mit Oberschenkelbruch, 
bei dem wir mit Heftpflasterextension die Ver¬ 
kürzung bereitsgut ausgeglichen hatten, bekam 
eine schwere Pneumonie und Pleuritis mit 
Herzschwäche. Nach drei Wochen langer Unter¬ 
brechung der Extension Verkürzung und 
schlechte Stellung, welche durch eine erneute 
Heftpflasterextension nicht ausgeglichen werden 
konnte, deshalb Nagelextension: Nach 9 Wochen 
federnd fest ohne Verkürzung. 

Jeder kennt solche traurigen Fälle, wo 
durch Erysipele, Delirium, Infarkte, Pneu¬ 
monie usw. gute Heilungsaussichten durch 
Unterbrechung der Extension vernichtet 
wurden. Bei solchen unvermeidlichen un¬ 
glücklichen Zufällen scheint mir die Nagel¬ 
extension von ganz besonderem Nutzen 
sein zu können. Wie man überhaupt wohl 
hoffen darf, daß sich die Prognose der 
verschleppten veralteten Frakturen 
durch die Nagelextension ganz er¬ 
heblich bessern wird. 

2 . Schwere komplizierte Frakturen 

(5 Fälle). 

Wenn möglich wenden wir auch bei 
komplizierten Frakturen die Heftpflaster¬ 
extension an, bei großen Hautwunden ist 
diese aber nicht immer möglich oder aber 
sie ist wegen sich entwickelnder Phlegmone 
oder Hautgangrän nicht durchführbar. Dann 
tritt die Nagelextension in ihre Rechte, 
weil sie ohne der Wundbehandlung hinder¬ 
lich zu sein, für dauernden Zug sorgt. 

Sie konnte sogar in einem Falle von Unter¬ 
schenkelbruch wochenlang beibehalten werden, 
bei dem sich eine schwere Phlegmone an der 
Bruchstelle abspielte, die mehrfache Inzisionen 
nötig machte. Heilung ohne Verkürzung. 

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Früher war man bei derartigen schweren 
Fällen unter Vernachlässigung einer guten 
Steilung auf Schiene oder gefensterten Gips¬ 
verband angewiesen. Schlechte Resultate 
waren dann nahezu die Regel. Jetzt im 
Besitze der Nagelextension können wir in 
doppelter Hinsicht die Prognose dieser 
schweren Verletzungen günstiger gestalten 
als früher. Wir können entweder bald am 
Nagel extendieren oder aber bei besonders 
unglücklichen lokalen Verhältnissen zunächst 
in der Schiene behandeln und die Korrek¬ 
tur der Dislokation auf eine spätere Zeit 
verschieben. Ich verweise dabei auf einen 
Fall der 4. Gruppe s. u. Auf diesem Ge¬ 
biete wird die Nagelextension gewiß noch 
große Triumphe Jeiern. 

3. Frische einfache Frakturen mit 
unbefriedigendem Resultat bei der 

üblichen Behandlung (4 Fälle). 

Wir haben ein sehr großes Frakturen¬ 
material und erzielen mit der so bald und 
so energisch wie möglich angelegten Heft¬ 
pflasterextension im allgemeinen sehr be¬ 
friedigende Resultate. Aber bei aller 
Uebung in dieser Methode gibt es doch hin 
und wieder Fälle, wo wir mit ihr nicht zum 
Ziele kommen. Und was uns passiert, 
werden auch andere wohl erleben. Da 
kann dann die Nagelextension manchmal 
noch zu einem guten Resultate verhelfen. 

Bei einem fettleibigen Patienten mit starkem 
Pannikulus am gebrochenen Oberschenkel 
kamen wir trotz wiederholter Reposition in 
Narkose und hoher Belastungen nicht zu einer 
guten Stellung. Erst die Nagelextension be¬ 
seitigte die Verkürzung und korrigierte die seit¬ 
liche Verschiebung in nahezu idealer Weise. 

Unsicherer sind die Erfolge der Heft¬ 
pflasterextension bei den Fußgelenksbrüchen 
mit Luxationen oder Subluxationen, be¬ 
sonders wenn die Dislocatio ad longitudinem 
erheblich ist. Ein stark wirksamer Heft¬ 
pflasterlängszug ist bei derartigen Frakturen 
ungemein schwer anzubringen. Bei diesen 
Fällen zögere ich jetzt nicht mehr lange, 
wenn ich mit dem Pflasterzug nicht aus¬ 
komme, den Kalkaneus zu durchbohren und 
an ihm zu extendieren, was ungemein ein¬ 
fach und auch für den Kranken das be¬ 
quemste ist Die seitlich dislozierten Frag¬ 
mente treten heran, der Talus wird unter 
dem wirksamen Längszug nach unten ge¬ 
zogen und kann durch einen zweiten Zug 
leicht nach vorn oder hinten, je wie 
es der Fall erheischt, dirigiert werden. Be¬ 
wegungen im Fußgelenk sind, während der 
Nagel liegt, leicht ausführbar, da der Kal¬ 
kaneus sich um ihn drehen kann. Drei 
derartige Luxationsfrakturen im Fußgelenk, 

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Januar 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


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darunter ein schwerer komplizierter Knöchel - 
resp. Fußgelenksbruch, welcher unter In¬ 
zision des Gelenkes und der Wade sehr 
schön geheilt ist, veranlassen mich, für 
derartige Falle einer frühzeitigen Nagel¬ 
extension vom Kalkaneus aus das Wort 
zu reden. Aber auch hier versäumt man 
nichts, wenn man erst die üblichen Be¬ 
handlungsmethoden versucht, mit denen 
auch wir in dieser Zeit vier gute Resul¬ 
tate erzielten. Aber es ist von uns immer 
wieder als größte Annehmlichkeit emp¬ 
funden worden, daß wir jetzt in der Nagel¬ 
extension eine Methode haben, die uns 
noch hilft, wenn wir auf dem gewöhnlichen 
Wege nicht vorwärts kommen — sie ist 
das Ultimum refugium, das uns bisher nicht 
im Stich gelassen hat: eine treffliche Er¬ 
gänzung der altbewährten Methoden, die 
durch sie in meiner Klinik ganz und gar 
nicht verdrängt werden! 

4. Korrekturen von Verkürzungen 
der Extremitäten infolge alter Frak¬ 
turen, Verbiegungen, Wachstums¬ 
störungen oder anderer Ursachen 
(6 Fälle). 

Ausgehend von der obenerwähnten Be¬ 
obachtung, daß es gelingt, bei starker Be¬ 
lastung Diastasen der Fragmente her¬ 
beizuführen, habe ich im März vorigen 
Jahres versucht, bei einem 10jährigen Mäd¬ 
chen, welches infolge von Enchondromen 
eine Verbiegung des Femur und eine 
Wachstumsverkürzung des rechten Beines 
um 10 cm (9 cm Femur, 1 cm Tibia) hatte, 
diese nach treppenförmiger frontaler Osteo¬ 
tomie durch Nagelextension auszugleichen. 
Es gelang tatsächlich, den Oberschenkel 
um 8 cm zu verlängern. Das war ein 
höchst bemerkenswerter Erfolg. 

Danach mußte es bei Verkürzung 
infolge alter schlecht geheilter Frak¬ 
turen erst recht gelingen, die ge¬ 
wünschte Verlängerung zu erzielen. 
Derartiger Fälle gibt es ja eine große 
Menge, sie hinken nach dem Unfall durchs 
Leben, mehr oder weniger schwer ge¬ 
schädigt in ihrer Erwerbsfähigkeit; ihr 
Leiden fällt ihnen selbst und den Unfall¬ 
kassen zur Last. Die großen Verkürzungen 
entstehen meist nach Oberschenkelfrakturen 
kräftiger Männer, die entweder nicht sach¬ 
gemäß behandelt wurden oder es nicht 
werden konnten, weil irgend einer der 
obenerwähnten Gründe vorlag (komplizierte 
Fraktur, interkurrente Krankheit, schlechte 
äußere Verhältnisse U3W.). In solchen 
Fällen werden die Osteotomie und Nagel¬ 
extension oft noch Besserung oder gar 

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volle Heilung bringen können: Resultate, 
die mit den bisher bekannten Operations¬ 
methoden nicht zu erzielen waren, die einen 
großen schönen Fortschritt in der Knochen¬ 
chirurgie darstellen. 

Der nachfolgende Fall illustriert aufs 
deutlichste die große Leistungsfähigkeit der 
Nagelextension. 

Ein 16 jähriger Knabe erlitt am 23. Juli 1908 
durch Ueberfahrung einen sehr schweren kom¬ 
plizierten Oberschenkelbruch, bei welchem in 
der verschmutzten Wunde die Fragmente und 
die großen Gefäße weit bloß lagen. Epiphysen¬ 
lösung der Tibia am Fußgelenk. Die Versuche, 
eine leidliche Stellung der Bruchstücke herbei¬ 
zuführen, scheiterten wegen der schweren sep¬ 
tischen Wund- und Allgemeininfektion, welche 
zuerst nur Schienen später Gipsbehandlung zu¬ 
ließ. Nach Abstoßung eines 8 cm langen, dicken 
und mehrerer kleinerer Sequestern allmähliche 
Heilung der Wunde. Entlassung 11 Monate 
nach dem Unfall im Gipsverbande mit Verbie¬ 
gung des Femurs und 8 cm Gesamtverkürzung. 

Wir waren sehr froh in diesem verzweifelten 
Falle um die Amputation herumgekommen zu 
sein und ließen, da wir damals die Nagelexten¬ 
sion noch nicht gebrauchten, die Fraktur zu¬ 
nächst einmal heilen. Die Verbiegung konnte 
später nach Refraktur ausgeglichen werden — 
der Erfolg schien uns in Betracht der Schwere 
des Falles ein relativ guter. 

Bei der Wiederaufnahme September 1909 
war die Verbiegung noch stärker. Die Ver¬ 
kürzung infolge nachträglicher Verschiebung 
und Wachstumsstörung noch größer geworden, 

15 cm im ganzen, wovon etwa 2 1 /*—3 cm auf 
die Tibia (Epiphysenlösung) entfielen. 26. No¬ 
vember 1909 Operation. Von der Außenseite 
her wird nach entsprechendem Durchtrennen 
der vorliegenden Knochenhälfte unter Einsetzen 
von Hebeln in die Knochenlücke und Torsion 
ein Spiralbruch gesetzt von etwa 12—14 cm 
Länge. Durchbohrung des Femur handbreit 
über dem Gelenkspalt. Extension am Bohrer 
mit 10—30 Pf. Temperatursteigerung, Schmer¬ 
zen infolge des Zuges. Nach nochmaliger Mo¬ 
bilisierung und erneutem Zuge bestehen jetzt 
noch 4 cm Verkürzung im ganzen (Ober¬ 
schenkel 2 cm, Tibia 2 cm). Der Knochen ist 
federnd fest, im Röntgenbilde nahezu normal 
geformt. Die Verkürzung der Tibia wird durch 
Osteotomie und Nagelextension auch noch aus¬ 
geglichen werden. 

Weniger eindruckvoll aber nicht minder 
wichtig ist der Fall eines Kavallerieoffiziers, 
der nach Oberschenkelbruch 3Va cm Ver¬ 
kürzung behalten hatte. Auch hier haben 
wir nach Bloßlegung des Kallus allein von 
außen zwischen den Muskeln in gleicher 
Weise wie oben einen Spiralbruch von 
etwa 8 cm gesetzt, der durch Nagelexten¬ 
sion distrahiert wurde zur vollkommen 
gleichen Länge des Beines, wie auf der 
anderen Seite. Gleichzeitig wurde noch 
das längst bestehende Genu valgum korri¬ 
giert. Knochen fest nach 7 Wochen, Geh¬ 
fähigkeit ohne j eden Verband nach 9 Wochen. 
Energische mediko-mechanische Therapie 
zur Kräftigung der Muskulatur und Mo- 

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26 


Januar 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


bilisierung des Kniegelenkes noch not¬ 
wendig. 

Auch bei einer difform geheilten Unter¬ 
schenkelfraktur half uns nach der Osteo¬ 
tomie die Nagelextension vom Kalkaneus 
aus schnell und bequem der Ausgleich 
herbeizuführen. 

Ein weniger gutes, aber für andere 
Fälle mehr versprechendes Resultat haben 
wir erzielt bei einer Verkürzung infolge 
poliomyelitischer Wachstumsstörung 
bei einem 15 jährigen Knaben mit fast to¬ 
taler Lähmung der Unterschenkelmuskula¬ 
tur, und schwerem nicht korrigierbarem 
Klumpfuß. Nach Talusexstirpation und Re¬ 
dressement des Klumpfußes Bolzung des Fu߬ 
gelenkes vom Kalkaneus her (fremde Fi¬ 
bula) wurden Tibia und Fibula frontal 
treppenförmig durchsägt. Durchbohrung 
der Tibia oberhalb des Fußgelenkes, Nagel¬ 
extension. Es resultierten 4 cm Verkürzung, 
fast genau die gleiche Differenz wie vor¬ 
her. Es ist aber der Talus weggefallen 
und der äußere Fußrand gehoben worden 
und Patient hat den Vorteil, nunmehr auf 
flacher Sohle ohne Apparat fest auftreten 
zu können. Der Erfolg ist mangelhaft, aber 
er zeigt, daß der Weg, den wir wählten, 
gangbar ist. Im nächsten derartigen Falle 
glaube ich sicher die Verlängerung des 
Unterschenkels viel besser zu erreichen, 
dadurch, daß ich, wie schon Codivilla 
angab, 2 Nägel, einen ober- einen unterhalb 
der Osteotomie einschlage und diese gegen¬ 
einander mit Schrauben wie Kirchner 
extendiere. Der Versuch nach einer Kon¬ 
tinuitätsresektion wegen Tibiakopf- 
sarkomes die Verkürzung durch die Dia- 
stasierung des Femurs auszugleichen, ist 
mißglückt, weil wegen Hautgangrän ampu¬ 
tiert werden mußte. 


Man sieht, es eröffnen sich für die 
zweckmäßige Anwendung der Nagelexten¬ 
sion immer neue Gebiete, wo sie viel Nutzen 
bringen kann! Speziell auf ihre Anwen¬ 
dung bei subtrochanteren Osteoto¬ 
mien möchte ich noch hin weisen. 

5. Nicht gut waren die Erfolge bei 
alten Luxationen, hier lagen die Ver¬ 
hältnisse ungünstig (Luxatio antibrachii 
posterior mit Fraktur der Trochlea, zehn 
Wochen alte Luxatio centralis femoris, 
Luxatio congenita irreponibilis bei einem 
4jährigen Kind). Vielleicht kann sie auch 
hier manchmal die anderen therapeutischen 
Maßnahmen unterstützen, denn die exten¬ 
dierende Kraft ist groß und für kurze Zeit 
unter genauer Kontrolle enorm steigerungs¬ 
fähig. 

Zum Schluß will ich noch auf die letzte 
6 . Gruppe hinweisen, auf die Schuß- 
frakturen. 

Besonders segensreich wird sich die 
Nagelextension bewähren können in der 
Kriegschirurgie. Die erste Forderung des 
Noli tangere der Wunden und der abso¬ 
luten Immobilisation der Fraktur im Gips- 
verbande wird jetzt streng durchgeführt 
werden können. Man kann die Wunde 
heilen lassen ohne allzu große Sorge um 
die spätere Verkürzung. Entsprechende 
Fälle kann ich leider noch nicht mit- 
teilen. 

Nach alledem stehe ich nicht an, die 
Nagelextension aufs wärmste zu empfehlen, 
für die Fälle aber nur wo andere Exten¬ 
sionsmethoden versagen würden oder ver¬ 
sagt haben. Das Verfahren ist ein opera¬ 
tives und es haften ihm deshalb Gefahren 
an, welche mir seine sofortige prinzipielle 
Anwendung gerade bei frischen Frakturen 
nicht zweckmäßig erscheinen lassen. 


Zusammenfassende Uebersicht 

Aphorismen zur Herztherapie. 1 ) 

Von C. A. Ewald-Berlin. 


Im Jahre 1901 habe ich in der Berliner 
klinischen Wochenschrift 3 ) einen sehr in¬ 
struktiven Fall besprochen, bei dem ein 
langdauernder, schließlich aber doch vor¬ 
übergehender Zustand schwerster Herz¬ 
insuffizienz, die den Patienten an den Rand 
des Grabes gebracht hatte, offensichtlich 
nicht nur durch die vis medicatrix naturae, 


*) Nach einem Vortrag im Aerztekurs. 

9 ) C. A. Ewald, Ueber subakute Herzschwäche 
im Verlaufe von Herzfehlern nebst Bemerkungen 
zur Therapie der Herzkrankheiten. Berl. klin. Wocli. 
1901, Nr. 42. 


sondern durch die angewandte Therapie 
zur Heilung gebracht wurde. Es handelte 
sich um eine subakute Myokarditis, die 
auf dem Boden einer seit geraumer Zeit 
bestehenden Mitralinsuffizienz erwachsen 
war. Große Morphiumdosen in Verbin¬ 
dung mit ausgiebiger über drei Wochen 
durchgeführter Drainage der hochgradigen 
Oedeme ließen die vorher vollkommen 
versagende Digitalis wieder zur Wirkung 
kommen mit dem Erfolge, daß sich der 
Kranke, allerdings nach fast einjährigem 
Krankenlager — es kam noch eine Lungen- 


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Januar 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


27 


embolie dazwischen —, so vollständig er- l 
holte, daß er nachher noch über 6 Jahre 
seinem anstrengenden Berufe in voller 
Rüstigkeit nachgehen konnte. 

Dieser Fall gab ein ausgezeich¬ 
netes Beispiel dafür, was die Herz- ■ 
therapie unter Umständen leisten 
kann. Ich will im folgenden an ihn an¬ 
knüpfend einige Fragen der Herztherapie 
besprechen. 

Als Aufgabe der Therapie gegen¬ 
über den verschiedenen Affektionen des 
Herzens kommen in Betracht: 1. die | 
Herzklappenfehler als solche, also das | 
eigentliche Vitium cordis; 2. die entzünd- | 
liehen Zustände am Herzen, die myokar- 
ditischen Prozesse eventuell in Verbindung 
mit arteriosklerotischen Veränderungen; i 
3. das Fettherz; 4. die Herzstörungen, so¬ 
weit sie sich im Anschluß an akute und | 
chronische Infektions- und Organkrankheiten I 
zu entwickeln pflegen, und 5. die nervösen 
Herzleiden. Die erstgenannten Verände¬ 
rungen am Herzen sind selbstverständlich 
erst dann Gegenstand ärztlicher Behandlung, 
wenn ein Versagen des Herzmuskels ein- 
tritt. Solange der Herzmuskel imstande 
ist, die etwa vorhandenen Störungen aus- | 
zugleichen, solange werden sie sich auch 
nach außen hin nicht manifestieren, so¬ 
lange wird also eine Indikation für thera¬ 
peutische Leistungen nicht vorhanden oder 
richtiger gesagt, der Kranke wird nicht 
Gegenstand ärztlicher Behandlung sein. 
Erst wenn der Herzmuskel versagt, d. h. 
wenn sich eine Herzmuskelschwäche, eine 
Insuffizienz des Herzmuskels einstellt, ist I 
der Augenblick gekommen, in dem wir \ 
therapeutisch einzugreifen haben. Die j 
Herzinsuffizienz ist aber im ganzen und j 
großen abhängig erstens vom Herzmuskel | 
respektive dem Klappenapparat, und zwei¬ 
tens von den Widerständen, die sich der 
Bewegung des Blutes, der Leistung der 
Herzpumpe in den peripheren Gefäßen, i 
entgegenstellen. Unsere Aufgabe wird | 
daher sein, einmal die Arbeit des Herzens 
nach Möglichkeit zu erleichtern, zweitens 1 
seine Leistungsfähigkeit zu steigern. Das 
eine Mal haben wir dabei, wenn wir die 
Arbeit des Herzens erleichtern, die peri¬ 
pheren Gefäßgebiete im Auge, das andere i 
Mal, wenn wir seine Arbeit kräftigen wollen, j 
den Herzmuskel selbst in Angriff zu nehmen. 

Zu diesem Zweck stehen uns die 
Arzneimittel im engeren Sinne und Ma߬ 
nahmen, die durch eine allgemeine Beein¬ 
flussung des Organismus eine indirekte 
Wirkung auf das Herz beabsichtigen, zu 
Gebote. 

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Zu den Arzneimitteln gehören 1. die 
Herztonika. Hier haben wir in erster Linie 
die Folia Digitalis und ihre Präparate, Di¬ 
gitalin, Digitalein, Digitoxin (Digalen), Digi¬ 
talen usw., in zweiter Linie den Strophantus, 
das Strophantin (event. Convallamarin) und 
dann erst kommen nach meinen Erfahrun¬ 
gen die übrigen Herztonika, das Spartein, 
die Adonis vernalis, die Convallana ma- 
jalis, das Koffein, ferner die Kalisalze, die 
Scilla, das Helleborein und das Strychnin. 
Letztere Mittel haben weitaus nicht die 
prompte und verläßliche Wirkung, wie sie 
der Digitalis und dem Strophantus eigen 
ist. 2. die Gefäßtonika. Dahin gehören 
die Präparate der Digitalisgrupp; und Ver¬ 
wandter, das Strychnin und eventuell das 
Eisen, 3. die Herzreizmittel: Alkohol, 
Aether, Kainpher, die Temperaturreize, vor 
allem die Wärme, 4. die Gefäßreiz¬ 
mittel. Dahin rechnen wir den Alkohol, 
den Aether, den Aether nitrosus und den 
Ammoniak; endlich 5. diejenigen Mittel, 
die auf die Peripherie wirken durch 
Dilatation der peripheren Gefäße, die Ni¬ 
trate, also das Kalium nitricum, das Nitro¬ 
glyzerin, das Amylnitrit, das Natriumnitrat 
und das Erythrolnitrat. 

Zu den allgemein wirkenden Mitteln ge¬ 
hören die hygienisch - diätetischen 
Maßnahmen: Ruhe und Schonung des 
Herzens auf der einen Seite, auf der an¬ 
deren die leichten gymnastischen Hebungen, 
Terrainkuren, Herzmassage, die Sauerstoff¬ 
inhalationen, Hydrotherapie, die elektri¬ 
schen, kohlensauren und anderen Bäder 
usw. sowie dasf ür die Therapie der Herz¬ 
leiden sehr wesentliche diätetische Ver¬ 
halten. 

Zunächst ein Wort über den Ge¬ 
brauch der Digitalis und ihrer Prä¬ 
parate. Als allgemeine Wirkung der Di¬ 
gitalis gilt: 1. ihre Wirkung auf den Herz¬ 
muskel, indem sie die Systole kräftigt, die 
Diastole verlangsamt und dadurch eine 
bessere Füllung des Herzens während der 
Diastole gestattet; 2. ihre regulierende 
Wirkung auf die Schlagfolge des Herzens 
durch Erzielung einer regelmäßigen Herz¬ 
aktion; 3. die Erhöhung des Blutdrucks, 
die durch die tonussteigernde Wirkung 
der Digitalis auf die p;ripheren Gefäße 
zustande kommt. Wir müssen daran fest- 
halten, daß wir bei der Digitaliswirkung 
zwei Momente zu unterscheiden haben: 
einmal die Wirkung auf das Vaguszentrum 
und damit die Regulation der Schlagfolge, 
sodann die direkte Wirkung auf den Herz¬ 
muskel als solchen. Auf die Frage, wie 
weit es sich dabei um neurogene oder 

4* 

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28 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Januar 


myogene Reize handelt, gehe ich hier nicht 
ein. Zweifellos kommt der Digitalis aber 
außerdem noch eine Wirkung auf das 
vasomotorische Zentrum bezw. auf die peri¬ 
pheren Gefäßnerven zu. 

Welche Präparate der Digitalis 
empfiehlt es sich nun, zu gebrauchen, und 
welches sind die Momente, die uns im 
Einzelfall eine möglichst prompte Wirkung 
der Droge garantieren können? 

Seit langem wird bekanntlich Klage 
darüber geführt, daß die Digitalisblätter 
eine wechselnde pharmakodynamische Wir¬ 
kung haben. Je nach ihrer Provenienz, 
je nach dem Standort, an dem die 
Pflanze Fingerhut gewachsen ist, je nach 
der Länge der Zeit, die sie aufbewahrt 
worden ist, je nach der Jahreszeit, zu der 
die Blätter gepflückt worden sind, ist ihre 
Wirkung bei gleicher Dosis eine verschie¬ 
dene. Und doch wird man das Galenische 
Präparat nicht gern entbehren wollen, weil 
es uns die Summe aller in den Blättern 
vorhandenen wirksamen Stoffe giebt, aus 
denen die sogenannten Reinpräparate immer 
nur einen, wenn auch den vornehmlichst 
wirksamen Teil herausziehen. 

Man hat deshalb in letzter Zeit ver¬ 
sucht, diesen Fehler auszugleichen und die 
Digitalis gewissermaßen physiologisch zu 
titrieren, indem man Digitalisinfuse, Dialy- 
sate und -tinkturen bestimmter Provenienz 
auf das Froschherz einwirken ließ, beob¬ 
achtete, in welcher Dosis und Stärke ein 
Stillstand des Herzens in der Systole er¬ 
folgte und sie dann auf eine bestimmte 
Einheitswirkung einstellte. So lassen sich 
die ungleichen Blätter auf ein gleichmäßig 
wirkendes Präparat bringen. Ich erinnere 
an die zahlreichen Arbeiten, die von Gott¬ 
lieb und Focke nach dieser Richtung hin 
gemacht worden sind und zu der fabrik¬ 
mäßigen Herstellung solcher Präparate ge¬ 
führt haben. Ich nenne die Fol. digital, 
conc. et pulv. von Siebert und Ziegen- 
bain (Marburg), von Caesar und Loretz 
(Halle), die Digitalisdialysate von Bürger, 
Golatz u. a., die Digitalone von Parke, 
Davis & Cie. (alkoholfrei!), die alle auf 
eine bestimmte Menge wirksamer Substanz 
eingestellt sind. Reiner, d. h. frei von 
etwaigen anderen Beimengungen sind aber 
die aus den Digitalisblättern resp. aus 
ihrem wäßrigen oder alkoholischen Extrakt 
hergestellten amorphen oder Kristallisa¬ 
tionsprodukte, die sogen. Glykoside der 
Blätter, also das Digitoxin, Digitalin, das 
Digitalein, welche zum Teil die Namen 
ihrer Darsteller tragen und als Digitoxine 
und Digitaline Cloetta, Nativelle, Kili- 


ani, Homolle et Quevenne, Merck, 
Böhringer usw. in den Handel kommen. 

Diese verschiedenen Digitaline ähneln 
sich untereinander, sind aber nach einer 
Richtung hin fundamental verschieden, 
denn abgesehen von der Wirkung auf das 
Herz, die allen gemeinsam ist, bringen Di¬ 
gitalin und Digitalein nur die Gefäße 
des Sympatikusgebietes zur Kontraktion, 
lassen aber die peripheren Gefäße un¬ 
verändert, während das Digitoxin seine 
Wirkung auf das gesamte Gefäßgebiet aus* 
dehnt. 

Nach meinen Erfahrungen scheint von 
diesen Präparaten, die ich fast alle im 
Laufe der Jahre angewandt habe, vorläufig 
dem Digalen (und dem Strophantin) 
die sicherste und schnellste Wirkung zuzu¬ 
kommen. Ich sage „vorläufig", weil wir 
streng genommen keine Garantie dafür be¬ 
sitzen, daß wir das Digalen, also das von 
Cloetta dargestellte Digitoxinum solubile, 
auch immer in einem gleichwertigen Präparat 
in Händen haben. Wir sind dabei ganz 
abhängig von der Fabrik, der wir auf Treu 
und Glauben zunächst zusprechen, daß ihre 
Präparate stets dieselben sind. Es müßte 
irgendwo eine amtliche Prüfungs¬ 
stelle existieren, an der dieses Prä¬ 
parat und andere Präparate ähn¬ 
licher Art, die auf den Markt kommen, 
einer zuverlässigen, dauernden und 
regelmäßigen Kontrolle unterzogen 
werden. Zunächst aber hat sich in der Tat 
das Digalen als ein sehr gutes und brauch¬ 
bares Mittel erwiesen und wird von den 
verschiedensten Seiten als solches gerühmt. 
Ich selbst kann mich diesen Empfehlungen 
anschließen. Das Digalen enthält im Kubik- 
zentimer 0,3 mg, also 0,0003 g Digitoxin. 
Man kann es innerlich geben, sodann intra¬ 
muskulär (nicht subkutan) und endlich intra¬ 
venös. Von diesen drei Formen der Dar¬ 
reichung ist die intramuskuläre die am 
wenigsten zu empfehlende. Es stellen sich 
leicht Schmerzen an der Injektionsstelle, 
auch wohl Schwellungen ein. Besser ist die 
Darreichung per os und die intravenöse 
Verabfolgung, die, wo es die Verhältnisse 
erlauben, einen sehr prompten und 
schnellen Erfolg hat. Ich erwähne eine 
Patientin mit einer schweren Mitralinsuf¬ 
fizienz und Stenose, welche mit Lungen¬ 
ödem halb erstickt in das Hospital ein¬ 
geliefert wurde. Fünf Minuten nach einer 
intravenösen Injektion von 2 g Digalen 
konnte man den Puls wieder zählen, der 
bis dahin unzählbar war. Die Dyspnoe 
ließ nach und es war zweifellos, daß die 
Patientin einem sicheren Tode entrissen 


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Januar 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


29 


war. Derartige Fälle haben wir zu wieder¬ 
holten Malen beobachtet und mit steigen¬ 
den Dosen — einmal sind 8 cm! mit bester 
Wirkung auf einmal intravenös injiziert 
worden — behandelt. In dieser unmittel¬ 
baren, augenblicklich erfolgenden Beein¬ 
flussung des Zirkulationsapparates liegt 
denn auch der außerordentliche Vorzug 
der intravenösen Digalen- (Digitalone und 
Strophantin ) Injektion vor anderen Dar¬ 
reichungen und anderen Herzmitteln. Wir 
haben uns im Augustahospital jetzt fast aus¬ 
schließlich auf diese beiden eben genannten 
Darreichungsformen desDigalens beschränkt 
und geben es nur per os oder intra¬ 
venös. Die intravenöse Injektion ist außer¬ 
ordentlich leicht und man muß sich nicht 
durch die scheinbaren Schwierigkeiten der 
Technik irritieren lassen, die in Wahrheit 
nicht vorhanden sind. Sorgfältige vorherige 
Antisepsis ist selbstverständlich. Wir 
pflegen, wie gesagt, 1 bis 3 ccm auf einmal 
resp. per Tag ein zu spritzen. In chroni¬ 
schen Fällen sind 0,25—0,5 (event. bis 0,75) 
pro die zu geben. Es hat sich nach 
einigem Tasten herausgestellt, daß man 
als innerlich gegebene Dose etwa 2—3, 
ausnahmsweise und nur vorübergehend, 


auch wohl bis zu 5 und selbst 8 ccm pro 
Tag geben, also daß man bis zu 2,4 mg Digi¬ 
toxin täglich als Digalen verabfolgen kann. 

Die Digitalispräparate wirken aber selbst¬ 
verständlich nur so lange, als der Herz- 
' muskel bezw. die Gefäße angreifbar sind. 
| Sobald eine so starke Degeneration des 
, Myokards eingetreten ist, daß der Herz¬ 
muskel nicht mehr oder nicht in genügendem 
Maße ansprechbar ist, hört auch die Wirkung 
der Digitalis und ihrer Präparate auf. Nun 
können wir aber die Herzarbeit erleichtern, 
indem wir die peripheren Widerstände ver¬ 
ringern. Dann wird der Nutzeffekt eines Herz¬ 
mittels wieder zur Geltung kommen, das den 
höheren Ansprüchen gegenüber bereits 
versagte. Wo sich ein starkes Oedem der 
Extremitäten, Anasarka der Bauchdecken, 
Erguß in den Pleuraraum, selbst in den 
Herzbeutel, eingestellt hat, wird es vor 
allem nötig sein, die Gefäße von dem auf 
ihnen lastenden Druck des transsudierten 
Blutwassers zu befreien. Dies erreichen 
wir durch: 1. die mechanische Drainage 
des Oedems, 2. die Ableitung nach dem 
Darmkanal, besonders durch salinische Ab¬ 
führmittel, 3. die Diuretika. 

(Schluß folgt lm nächsten Heft.) 


Therapeutisches aus medizinischen Vereinen. 

Ueber Tuberkulosetherapie. 

Referat über den Vortrag von J, Citron: Kritisches und Experimentelles zur Tuberkulose¬ 
therapie und die zugehörige Diskussion in der Berliner medizinischen Gesellschaft 
(Sitzungen vom 10 , 24. November und 1. Dezember 1909) .*) 


Die verschiedenen Tuberkuline teilen 
sich in zwei Arten: Alttuberkulin und 
Neutuberkulin. Das erstere ist im 
wesentlichen die einfache filtrierte Bouillon, 
in der der Tuberkelbazillus gewachsen ist, 
enthält also die in der Tuberkelbazillen¬ 
bouillon löslichen Substanzen, während 
das Neutuberkulin eine Gruppe von Prä¬ 
paraten umfaßt, welche alle das Gemein¬ 
same haben, daß sie die Substanzen des 
Bazillenleibes selbst mit enthalten. 

Das Tuberkulin ist kein Toxin, da es 
im Tierkörper kein Antitoxin bildet. Es 
ist auch kein Endotoxin, denn es teilt 
nicht die Eigenschaft aller Endotoxine, daß 
sie, dem gesunden Tier injiziert, eine 
Vergiftung hervorrufen. Nach Citron 
steht es den Aggressinsubstanzen 
außerordentlich nahe, jenen von Bail zu¬ 
erst dargestellten bakteriellen Stoffen, 
welche selbst ungiftig, die Fähigkeit haben, 
die Intensität einer Infektion derart zu 
steigern, daß eine für sich allein subletale 
Dosis eines Bakteriums zu einer letalen 

*) Berl. klin. Woch. 1909, Nr. 49, 50, 51. 


wird. Das Tuberkulin unterscheidet sich 
freilich in manchen Punkten von den 
Aggressinen im eigentlichen Sinne, aber 
es steht ihnen in der Wirkung doch am 
nächsten, und Citron denkt deshalb an 
die Möglichkeit, daß aus dem Tuberkulin 
| im Organismus erst das Aggressin wird. 

Die Wirkung des Tuberkulins ist eine 
mehrfache; es bewirkt beim Tuberkulösen 
an der Einstichstelle eine Rötung, die so¬ 
genannte Stichreaktion, ferner in allen 
tuberkulösen Herden eine sogenannte Herd¬ 
reaktion und drittens, bei Injektion einer 
genügenden Dosis, die Fieberreaktion. 

Für die Frage nun, welche von diesen 
Wirkungen für die Heilung wichtig ist, 
zieht Citron zwei Möglichkeiten in Be¬ 
tracht. Zu einem Teil beruht die Heil¬ 
wirkung des Tuberkulins sicherlich auf der 
Herdreaktion, die eine akute Entzündung 
darstellt und als solche zweifellos ein 
Faktor der Heilung sein kann. Der zweite 
Faktor ist der der Immunisierung gegen 
das Tuberkulin; es soll durch sie die 
toxin- oder aggressmähnliche Wirkung 


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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Januar 


des Tuberkulins, das im Körper des Tuber¬ 
kulösen selbst sezerniert wird und dann 
schädliche Folgen hat, ausgeschaltet werden. 

Zwischen den beiden Arten von Tuber¬ 
kulin, den Alt- und Neutuberkulinen, nimmt 
Citron eine Differenz in der Wirkung an 
in dem Sinne, daß die Alttuberkuline 
eine stärkere Herdreaktion hervor- 
rufen als die Neutuberkuline, während 
die letzteren dadurch, daß sie neben den 
löslichen auch noch unlösliche Substanzen 
des Tuberkelbazillus enthalten, gegen die 
gleichfalls immunisiert werden kann, eine 
vielseitigere Immunität erzeugen 
können. Citron gibt deshalb, da die 
Dosierung der Herdreaktion sehr schwierig 
ist, für alle generalisierten Fälle, insbeson¬ 
dere für die Lungentuberkulose, dem Neu¬ 
tuberkulin den Vorzug. 

Von den vorhandenen Neutuberkulin¬ 
präparaten hält Citron die Kochsche 
Bazillenemulsion, das sogenannte Neu¬ 
tuberkulin B. £., für das vollständigste 
und darum auch wertvollste. Sie hat nur 
den einen Nachteil, daß sie nicht immer 
gut von den Patienten vertragen wird; 
Fiebersteigerungen und stärkere Herd¬ 
reaktionen verursacht sie seltener als das 
Alttuberkulin, aber die Injektion des Prä¬ 
parates ist namentlich in etwas größeren 
Dosen schmerzhaft, weil Infiltrate ent¬ 
stehen. Diese Schwierigkeit wird über¬ 
wunden durch ein nach den Angaben von 
Fr. Meyer und Ruppel in den Höchster 
Farbwerken hergestelltes neues Präparat, 
welches die Infiltratbildung auf ein Minimum 
beschränkt. Dieses Präparat besteht aus 
einer Mischung der Koch sehen Bazillen¬ 
emulsion mit einem Antituberkulin ent¬ 
haltenden Tuberkuloseserum (siehe unten) 
und wird als sensibilisierte Bazillen¬ 
emulsion (S. B. E.) bezeichnet. Citron 
hat sich davon überzeugt, daß das sen¬ 
sibilisierte Neutuberkulin von den 
meisten Tuberkulösen nahezu reaktionslos 
vertragen wird. 

Bezüglich der Dosierung des Tuber¬ 
kulins, — die praktisch wichtigste Frage, in 
der die Ansichten der Tuberkulintherapeuten 
extrem auseinandergehen, — hält Citron 
es auf jeden Fall für zweckmäßig, mit den 
kleinsten Dosen zu beginnen. Aber es 
scheint ihm nicht richtig, wie es Wright 
will, bei den kleinen Dosen ständig zu 
bleiben, vielmehr soll der Tuberkulöse 
möglichst auch gegen größere Dosen Tu¬ 
berkulin immunisiert werden, damit er die 
unberechenbaren Mengen Tuberkulin, die 
er bei allen möglichen Gelegenheiten im 
Körper selbst produziert und in den Kreis¬ 


lauf bringt, im gegebenen Falle zu neutra¬ 
lisieren vermag. Für unnötig aber hält es 
Citron, übermäßig große Mengen, wie sie 
Schloßmann, Bauer, Engel und Andere 
neuerdings anraten, dem Körper einzuver¬ 
leiben, weil solche im Körper spontan nicht 
gebildet werden und man die gleichen Er¬ 
folge, die von jenen Autoren mit den sehr 
großen Dosen berichtet werden, auch mit 
kleinen Dosen erreichen kann. 

Was die Intervalle anlangt, in wel¬ 
chen man das Tuberkulin injizieren soll, 
so ergibt sich daraus, daß das Tuber¬ 
kulin kein Schutzstoff ist, vielmehr 
den kranken Organismus anregen 
soll, selbst die Schutzstoffe neu zu 
bilden, die Forderung: nach jeder Injek¬ 
tion dem Organismus Ruhe zu lassen. 
Citron empfiehlt deshalb, in Intervallen 
von 5, 6, 8 und mehr Tagen zu injizieren. 
Diese Art des Vorgehens gestattet nach 
seiner Erfahrung auch, selbst große Sprünge 
zwischen den einzelnen Dosen zu machen, 
ohne daß der Patient eine Reaktion erleidet. 
Nur einzelne Tuberkulöse fanden sich, als 
Ausnahmen, unter Citrons Fällen, welche 
selbst auf die kleinsten Dosen von S. B. E. 
(Viooooooccm) noch fieberhaft reagierten. 
Woran das liegt, vermag Citron nicht 
zu sagen; er weist nur darauf hin, 
daß bei einzelnen dieser Individuen vor¬ 
her Antituberkulin im Serum gefunden 
wurde. 

Auf die Frage: Wer soll behandelt 
werden, welches sind die Indikationen 
derTuberkulintherapie, welches die K o n tr a • 
indikationen? antwortet Citron fol¬ 
gendes : 

Die günstigste Chance haben die Pa¬ 
tienten, welche im Beginne der Tuberku¬ 
lose stehen, die rein klinisch nur zweifel¬ 
hafte Symptome haben, deren Tuberkulose 
aber durch eine diagnostische Tuberklin- 
injektion gesichert ist; diese kann man 
nahezu sicher von allen ihren Beschwerden 
befreien. Eine zweite Gruppe, für die die 
Tuberkulintherapie sehr zweckmäßig ist, 
umfaßt die Menschen mit geringen lokalen 
Veränderungen und bazillärem Auswurf. 
In diesen Fällen wird, wenn sie lange ge¬ 
nug und in zweckmäßiger Weise behandelt 
werden, fast stets ein Verschwinden der 
Bazillen aus dem Auswurf, meist auch des 
Auswurfs selbst erzielt; dem Patienten wird 
also wenigstens sehr erheblich genutzt, 
aber keineswegs wird in allen diesen Fällen 
noch völlige Heilung erreicht. Es folgt die 
große Gruppe der Fälle zweiten Grades, 
in denen ausgedehntere Veränderungen, 
aber noch keine Kavernen bestehen; hier 


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Januar 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


31 


ist nach Citron noch in sehr vielen Fallen, 
aber nicht in allen, ein Erfolg zu erreichen. 
In der Gruppe der schweren Tubeikulösen 
endlich, insbesondere der Kavernösen sind 
die Erfolge nur sehr gering; bei einigen 
Fallen sah Citron vorübergehende Besse¬ 
rung. — Als Kontraindikationen laßt 
Citron Hämoptoe, Fieber, ferner kompli¬ 
zierende Krankheiten, wie Herzkrankheiten, 
Epilepsie, Neurasthenie, Diabetes und an¬ 
dere nicht ohne weiteres gelten. Wer 
freilich sichere Erfolge haben will, schließt 
besser alle derartigen Falle von der Tu¬ 
berkulintherapie aus; aber es ist nicht an¬ 
gängig zu sagen, daß es Kontraindikationen 
sind, da man sehr wohl Leute, die allerlei 
derartige Schaden haben, trotzdem durch 
die Tuberkulintherapie im gegebenen Falle 
sich bessern sieht. Nur Mischinfektio¬ 
nen rat Citron nicht zu behandeln; Er¬ 
folge hat er bei solchen in keinem Falle 
gehabt. — Für die Dauer der Tuber¬ 
kulintherapie stellt Citron eine zeitliche 
Begrenzung nicht auf. Er rat, mit der Be¬ 
handlung aufzuhören, wenn innerhalb vier 
Wochen keine Besserung oder zum min¬ 
desten kein Stillstand der Erkrankung sich 
zeigt; bei günstigem Verlauf ist die ein¬ 
zige Grenze für das Aufhören die Be¬ 
sch Werdefreiheit des Patienten und das 
Verschwinden der objektiven Symptome. 
— Die Behandlung soll nach Citrons An¬ 
sicht zum Beginn — wo das genaueste 
Studium der Herdreaktion, der Temperatur¬ 
kurve, die genaueste Ueberwachung, die 
genaueste Dosierung des Tuberkulins not¬ 
wendig ist — nur in einer geschlossenen 
Anstalt stattfinden; nach den ersten 4 bis 
6 Wochen kann der Arzt die Behandlung 
draußen weiterführen; nur die allerleichte¬ 
sten Falle dürfen von Anfang an ambulant 
behandelt werden. Für eine spezialisti- 
sche Therapie aber, die nur von wenigen 
ausgeübt werden kann, will Citron die Tu¬ 
berkulintherapie nicht angesehen wissen. 

Zum Schluß seines Vortrages erörtert 
Citron die Frage: Welche Kriterien 
haben wir für den Erfolg der Tuber¬ 
kulintherapie? Er bespricht die Opso¬ 
nine und betont, daß wir noch zu wenig 
von ihnen wissen und daß es zum minde¬ 
sten verfrüht ist, auf Grund der Opsonin¬ 
kurven schon jetzt ein Urteil über die Er¬ 
folge der Tuberkulintherapie abzugeben. 
Auch die von Wassermann und seinen 
Schülern mittelst der Komplementbindungs¬ 
methode nachgewiesenen Antikörper können 
nicht als Maßstab der Wirksamkeit des 
Tuberkulins gelten. Das sogenannte Anti- 
tuberkulin entsteht wohl im Blute unter 


der Behandlung mit Tuberkulin und steigt 
an Menge mit zunehmender Besserung; 
aber andere Tuberkulöse bilden ohne 
Tuberkulinbehandlung spontan Antituber¬ 
kulin und von diesen reagieren manche 
schon auf die kleinsten Tuberkulin dosen 
hoch. Unter diesen Umstanden — schließt 
Citron — müssen wir heute sagen: Wir 
haben keine biologischen Kriterien 
für die Wirksamkeit des Tuberku¬ 
lins. Die Kriterien, die wir haben, 
sind die klinischen: Gewichts¬ 

zunahme, Besserung des lokalen Be¬ 
fundes, Fieberverlust. Jedes einzelne 
dieser Symptome kann tauschen; aber alle 
drei zusammengenommen bedeuten etwas: 
Das Kriterium der Tuberkulinthera¬ 
pie muß die klinische Besserung sein. 
* * 

* 

Aus der umfang- und gehaltreichen 
Diskussion, die an Citrons Vortrag sich 
anschloß, seien nur die Bemerkungen Joch - 
manns wiedergegeben, dessen Beobach¬ 
tungen im Rudolf Virchow • Krankenhause 
unter den Augen von Rob. Koch ange¬ 
stellt sind. 

Jochmann ist der Ansicht, daß es wohl 
ein biologisches Kriterium dafür gibt, ob mit 
der Tuberkulinbehandlung die erstrebte 
Immunisierung erreicht wird oder nicht. 
Das ist die kutane Reaktion, Vor der Be¬ 
handlung wird eine Kutanreaktion sowohl 
mit Alttuberkulin, wie mit der Bazillen¬ 
emulsion (und zwar einer Verdünnung der 
Trockensubstanz auf 1 :50; die im Handel 
erhältliche B.E. ist zu schwach) angestellt; 
beide fallen in der Regel positiv aus. Nun 
wird l zuerst mit Alttuberkulin behandelt, 
und zwar wird die Dosierung nur so hoch 
gesteigert, bis die kutane Reaktion ver¬ 
schwindet. Dann wird eine Behandlung 
mit der Bazillenemulsion angeschlossen, 
und zwar ebenfalls so lange, bis die ent¬ 
sprechende Kutanreaktion verschwindet. 

Auch dem Auftreten von Antikörpern, 
welches bei der Behandlung mit B.E. bei 
einer gewissen Höhe der Immunisierung 
regelmäßig zu beobachten ist, legt JOch¬ 
mann größeren Wert bei. Daß bei der 
Behandlung mit sensibilisiertem Tuberkulin 
keine oder nur so selten Antikörper sich 
bilden, spricht nach seiner Meinung mehr 
zugunsten der alten Bazillenemulsion. Bei 
vorschriftsmäßigem, vorsichtigem Steigen 
der Dosen lassen sich auch mit dieser In¬ 
filtrationen an der Impfstelle vollständig 
vermeiden, die Steigerung bis zur Maximal¬ 
dosis läßt sich ohne jede Fieberreaktion 
erreichen, die klinischen Erfolge sind die¬ 
selben, wie die von Citron angegebenen 


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32 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Januar 


— so kann Jochmann einen Vorteil des 
neuen Präparates oder ein unbedingtes Be¬ 
dürfnis nach einem solchen vorläufig nicht 
erkennen. 

Fr. Kraus widerspricht Jochmanns 
Anschauung von der Bedeutung der Anti¬ 
körper. „Es ist leider nicht so, daß wir 
(bei Verwendung aller jetzt gebräuchlichen 
Tuberkuloseantigene} aus den vorhandenen 
Antikörpern bis jetzt wirklich einen Schluß 
ziehen könnten auf die eingeschlagene The¬ 
rapie, auf die Art und Weise der Durch¬ 
führung der Therapie und auf das, was er¬ 
reicht ist Es bleibt tatsächlich nichts an¬ 
deres übrig, als uns zu halten an das kli¬ 
nische Gesamtergebnis 41 . Im übrigen 
richtet Kraus einen warmen Appell an die 
Aerzte, die Tuberkulintherapie wieder auf¬ 
zugreifen. 

* * 

* 

Ueber die Herstellung des sensi¬ 
bilisierten Neutuberkulins machte 
Fr. Meyer in der Diskussion folgende 
Mitteilungen. 

Die Serumbehandlung der Tuberkulose 
hat die Gefahr der Serumüberempfindlich- 
keit, die Tuberkulinbehandlung die Gefahr 
toxischer Schädigungen. Durch die Kom¬ 
bination beider Methoden erstrebt Meyer, 
ihre Nachteile durcheinander zu kompen¬ 
sieren, ihre Vorteile zu verbinden. Das 
antikörperhaltige Serum soll mit den 
Bazillenleibern derart verbunden werden, 
daß durch die Antikörper die Giftigkeit 
der Bazillenleiber herabgesetzt wird, dann 
aber die Serumflüssigkeit selbst wieder 
entfernt wird. Das geschieht auf die 
Weise, daß zuerst durch leichte tuberku¬ 
löse Infektion von Tieren, Heilung der¬ 
selben durch Tuberkulinbehandlung, er¬ 
neute Infektion mit wieder folgender Tuber¬ 
kulinbehandlung und so durch mehrfache 
Wiederholung des Prozesses ein Tuber¬ 
kuloseimmunserum gewonnen wird, 
welches reichlich Tuberkuloseantikörper ent¬ 
hält Dann wird eine auf flüssigen Nährböden 
gezüchtete, einige Wochen alte, abgetötete 
Tuberkelbazillenkultur mit dem Serum ge¬ 
mischt, 48 Stunden bei Brutschranktempe¬ 
ratur gehalten und danach 10 Tage lang 
mit Glasperlen geschüttelt. Nachdem so 
die Antikörper an die Bazillenreste ge¬ 
bunden sind, wird das überflüssige Serum 
durch Zentrifugieren entfernt, die Mischung 
mehrfach sorgfältig gewaschen und der 
Bodensatz, d. h. die mit ihren Antikörpern 
verbundenen Bazillen zu einer Emulsion 
mit 40% Glyzerin und etwas Karbolsäure 
verarbeitet. 1 ccm der Emulsion enthalten 
5 mg Bazillentrockensubstanz; von dieser 


Normallösung (=1) werden Verdünnungen 
bis herunter zu 1:1 Million angefertigt. 
Das Präparat wird als sensibilisierte Ba¬ 
zillenemulsion bezeichet nach dem franzö¬ 
sischen Sprachgebrauche, weil es ein durch 
Verbindung mit seinen Antikörpern sen¬ 
sibles, d. h. für die Wirkung des Komple¬ 
mentes empfängliches Antigen darstellt. 

Meyer und Ruppel überzeugten sich 
von der relativen Ungiftigkeit ihrer S.B.E.; 
tuberkulöse Tiere vertrugen die fünf- bis 
sechsfache Menge derjenigen Dosis, die 
als gewöhnliche Bazillenemulsion den akuten' 
Tuberkulintod herbeiführte. Sie konnten 
ferner feststellen, daß beim Zusammen- 
bringen von Serum und Bazillen tatsäch¬ 
lich Gift in das Serum übergeht, in dem 
es dann durch Antikörper neutralisiert 
wird. Daß endlich in der S.B.E. tatsäch¬ 
lich eine Verbindung von Antigen und 
Antikörpern vorliegt, ließ sich durch den 
Komplementbindungsversuch erweisen. Das 
von den Höchster Farbwerken hergestellte 
Präparat scheint also die Voraussetzungen, 
von denen Meyer und Ruppel ausge¬ 
gangen sind, tatsächlich zu erfüllen. 

Ueber seine Erfahrungen an Menschen 
berichtet Fr. Meyer nur kurz^ Erbeginnt 
die Behandlung mit einem zehnmillionstel 
Teil der Stammlösung und geht in Ab¬ 
ständen von 8—10 Tagen unter Verdoppe¬ 
lung und, wenn die Injektionen gut ver¬ 
tragen werden, unter Vervierfachung der 
Dosis vorwärts. Die Injektion wird in der 
Regel an der Injektionsstelle reaktionslos 
vertragen. Die allgemeine Reaktion ist 
gering, sie besteht in Mattigkeit, Abge- 
schlagenheit und Kopfschmerzen, die am 
Tage der Injektion, oft erst am dritten 
Tage geklagt werden. Stärkere Fieber¬ 
reaktionen wurden nicht beobachtet; nur 
bei Säuglingen und kleinen Kindern tritt 
ziemlich schnell ein deutlicher Temperatur¬ 
anstieg ein, aber das Gewicht nimmt dabei 
zu und bald nachher zeigt sich eine deut¬ 
liche subjektive Besserung. Herdreaktionen 
sind sicher vorhanden — wie an Kehlkopf¬ 
tuberkulosefällen von Edm. Meyer kon¬ 
statiert wurde — aber sie sind schwächer 
und klinisch bedeutend milder als die ge¬ 
wöhnlichen Tuberkulinreaktionen. — Eine 
Kontraindikation gegen das Präparat 
scheint in der Vorbehandlung mit Alt¬ 
tuberkulin gegeben zu sein. Meyer sah 
unter 100 Patienten 5, bei denen nach 4 
bis 6 Wochen die Behandlung mit S.B.E. 
ausgesetzt wurde, weil der Zustand sich 
verschlechterte; diese 5 Fälle betrafen 
sämtlich Kranke, welche lange mit Alt¬ 
tuberkulin vorbehandelt worden waren. 


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Januar 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


33 


Als geeignet fQr sein Präparat sieht 
Meyer alle initialen Fälle an, ferner alle 
vorgeschritteneren, welche fieberlos ver¬ 
laufen, und sämtliche Fälle von Lokal¬ 
tuberkulose. Auch schwere Fälle, welche 
zwar initial sind, aber in der Art ihres 
Verlaufes durch Fieber und schnelle Ge¬ 
wichtsabnahme Neigung zu Bösartigkeit 
erweisen, werden nach Meyers Erfahrun¬ 
gen durch das Präparat günstig beeinflußt. 

•X- •* 

* 

ln seinem Schlußwort betont Citron 
gegenüber Jochmann, daß das Ver- ! 
schwinden der Kutanreaktion nicht als 
biologisches Kriterium für die heilende 
Wirkung des Tuberkulins angesehen wer¬ 
den kann. Es beweist freilich eine hohe 
Tuberkulinimmunität, aber diese und Hei- j 
lung der Tuberkulose sind leider keines- 
wegs identische Begriffe. | 

Die Behandlung, wie er sie jetzt übt, \ 
skizziert Citron in folgender Weise: Er ; 
beginnt mit kleinen Dosen von S.B.E. und I 
steigt unter möglichster Vermeidung von j 
Fieberreaktionen bis 1,0 ccm. Patienten, I 
welche 1,0 ccm S.B.E. reaktionalos ver¬ 
tragen, reagieren in der Regel auch nicht i 
auf 0,1 ccm der gewöhnlichen B.E. Mit j 
dieser oder einer etwas kleineren Dosis , 
von B.E. fährt Citron dann fort und steigt I 
allmählich auf 1,0 oder höchstens 1,5 B.E. I 
Zum Schluß macht er Injektionen von un¬ 
erhitztem Alttuberkulin T.O.A., bis auch j 
hiervon 1,0 reaktionslos vertragen wird. 
Um die Tuberkulinimmunität möglichst j 
lange zu erhalten, setzt er letztere Injek- j 
tionen noch einige Monate hindurch in 1 
Abständen von 4 Wochen fort. 

! 

* 

Es erübrigt, in eine kritische Besprechung j 
des vorstehend Wiedergegebenen einzu¬ 
treten; ich verweise nur auf den Aufsatz, 
den ich vor einem Jahre an dieser Stelle 
(1909, S. 55) veröffentlicht habe und dessen 
Anschauungen ich auch heute vertrete. 

Die Tuberkulinwelle steigt rasch an. 
Dafür ist Citrons Mitteilung ungemein 
charakteristisch. Stammt sie doch aus der¬ 
selben Klinik, deren damaliger Assistent 
Jürgens 1 ) 1905 noch als Resultat seiner 
Tuberkulinerfahrungen aussprach, daß 
„durch eine noch so vorsichtig durchge- | 
führte Tuberkulinkur offenbar nichts anderes j 
erzeugt wird, als daß die Tuberkulose noch 1 

! ) Zeitschr. f. exper. Path. u. Therapie I., 3. | 


kompliziert wird durch eine Tuberkulin¬ 
vergiftung. 41 

Der Arzt, will er nicht Zurückbleiben, 
muß an dieser von Jahr zu Jahr sich weiter 
ausbreitenden Bewegung teilnehmen. Er 
kann dabei der S. B. E. sich bedienen — 
und deshalb habe ich Citrons und 
Fr. Meyers Mitteilungen so ausführlich 
referiert — aber er vergesse nicht, daß es 
sich nicht so sehr darum handelt zu prüfen, 
ob das neue Präparat besser wirkt als eines 
der älteren, sondern daß noch immer die 
Frage lautet: ist Tuberkulin überhaupt 
ein Heilmittel? 

Kraus und Citron sprechen es mit 
erwünschter Bestimmtheit aus, daß wir kein 
anderes Kriterium für den Wert der Tuber¬ 
kulinbehandlung haben als den klinischen 
Erfolg. Im Einzelfalle aber und in einer 
beschränkten Anzahl von Fällen, wie sie 
der einzelne Kliniker sieht, kann auch der 
Erfolg nichts entscheiden, denn er wird in 
gleicher Weise auch ohne Tuberkulin er¬ 
zielt. Jeder der Kurven, die Citron de¬ 
monstrierte, kann eine gleiche zur Seite 
gestellt werden von einem nicht mit Tuber¬ 
kulin behandelten Falle. Ich verweise be¬ 
sonders auf den Passus oben, in dem 
Citron die Indikationen und Aussichten 
der Behandlung mit S. B. E. darlegt. Nun 
genau die gleichen Chancen ihrer Behand¬ 
lung nehmen auf Grund ihrer Erfolge mit 
Recht auch die Vertreter der ausschließlich 
hygienisch-diätetischen Therapie für sich in 
Anspruch! 

Die große Mehrzahl der Tuberkulin¬ 
therapeuten geht bewußt oder unbewußt 
davon aus, daß das Tuberkulin ein Heil¬ 
mittel ist, und jeder Fall, der unter Tuber¬ 
kulinbehandlung heilt oder sich bessert, 
scheint ihnen durch Tuberkulin günstig 
beeinflußt. Das aber muß erst bewiesen 
werden. Der klinische Erfolg allein kann 
es beweisen. Er aber kann es nur, wenn 
Tausende von Aerzten viele Zehntausende 
von Fällen ein Menschenalter hindurch be¬ 
handeln, durch die Abnahme der Tuber¬ 
kulose-Mortalität und -Morbidität, die ekla¬ 
tant in Erscheinung treten muß, wenn wirk¬ 
lich das Tuberkulin alle oder die meisten 
initialen Fälle von Tuberkulose zu heilen 
vermag. Ein anderer Weg zur Entschei¬ 
dung der Tuberkulinfrage scheint vorläufig 
nicht vorhanden. Deshalb ist es gut und 
notwendig, daß die Tuberkulintherapie in 
immer weitere Kreise dringt, und ich möchte 
wohl durch diesen Bericht zu ihrer Aus¬ 
breitung beitragen. Felix Klemperer. 


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Januar 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Vorträge 

über die Infektion, ihre Erkennung und Behandlung, 
veranstaltet vom preußischen Zentralkomitee für das ärztliche 

Portbildungswesen. 

Bericht von Leo Jacobsohn-Charlottenburg. II. Folge. 


IX. Ad. Schmidt ober die akuten In¬ 
fektionen des Darmes. 

Während gewisse Stellen des Verdau- 
ungstraktus, so die Tonsillen, die Gegend 
des Kolotyphlon und das Rektum fQr in¬ 
fektiöse Erkrankungen besonders disponiert 
sind, ist der Magen, sowie das Kolon den 
meisten Infektionserregern gegenüber recht 
resistent. 

Redner kam zuerst auf die ätiologisch 
sichergestellten infektiösen Erkrankungen 
des Darmes zu sprechen. Die am meisten 
interessierenden sind die Tuberkulose, der 
Typhus, die Cholera und die Dysenterie. 
Die Tuberkulose befällt nur in einem ge¬ 
ringen Prozentsatz den Darm primär. Meist 
wird die Darmschleimhaut bei gleichzeitig 
bestehender Lungenphthise durch ver¬ 
schlucktes bazillenhaltiges Sputum infiziert 
In gleicher Weise vertritt Ad. Schmidt 
die Auffassung, daß auch bei Typhus die 
lokalen Darmerkrankungen sekundäre Lo¬ 
kalisationsstätten der schon frühzeitig im 
Blut kreisenden Typhusbazillen sind. 

Ad. Schmidt ist der Ansicht, daß der 
Typhusdiagnosewert der Wi dal sehen Re¬ 
aktion für die Praxis überschätzt wird. 
Der Praktiker muß frühzeitig entscheiden, 
ob eine diagnostisch zweifelhafte Erkran¬ 
kung ein Typhus ist oder nicht. Da nun 
die Agglutinationsprobe in der Regel erst 
am Ende der ersten oder Anfang der 
zweiten Woche positiv wird, ist die Wi- 
dalsche Reaktion keineswegs für eine 
Frühdiagnose brauchbar. Ihr Wert wird 
auch dadurch eingeschränkt, daß sie bei 
Bazillenträgern und, wenn auch selten, unter 
nicht näher gekannten Umständen positiv 
werden kann, ohne daß klinisch Typhus j 
vorliegt. Dieser Reaktion ebenbürtig, wenn 
nicht überlegen, ist der bazilläre Nachweis 
der Typhusbazillen aus dem Blute mit Hilfe 
des Galleanreicherungsverfahrens, das völlig ! 
eindeutige Resultate gibt und schon in den ! 
ersten Tagen eine sichere Diagnose ermög¬ 
licht. 

Wie bei allen Infektionen, muß auch bei 
denen des Darmes der Wunsch auf ein 
spezifisches Heilmittel gerichtet sein. Leider 
befindet sich die spezifische Behandlung 
der Darmkrankheiten mit Hilfe der Immun¬ 
sera noch in den ersten Anfängen. 

Eine zweite Gruppe von Darminfek¬ 
tionen bilden all die Erkrankungen, für die , 


wir aus klinischen und pathologisch - ana¬ 
tomischen Tatsachen einen spezifischen, 
bisher nicht gekannten Erreger in Anspruch 
nehmen müssen. Es ist dies vor allem die 
Cholera nostras, die bei uns endemische Dys¬ 
enterie und die akute infektiöse Gastroente¬ 
ritis. Die Cholera nostras wird aller Wahr¬ 
scheinlichkeit nach durch einen dem Gärt¬ 
ner sehen Bazillus nahestehenden Erreger 
hervorgerufen. Ganz unklar liegen die Ver¬ 
hältnisse bei der akuten Gastroenteritis. 

Unter gewissen Umständen kann das 
Bacterium coli commune, gewöhnlich ein 
harmloser Darraschmarotzer, zu schweren 
Diarrhoen, ja zu allgemeiner, prognostisch 
nicht ungünstigen Sepsis führen. 

Eine andere Gruppe von Darminfektionen 
kommt dadurch zustande, daß durch Stö¬ 
rung vornehmlich der Kohlehydratverdau¬ 
ung fakultative Darmparasiten, ähnlich wie 
wir es beim Bacterium coli gesehen haben, 
für den Menschen pathogen werden und 
Reizzustände des Darmes hervorrufen. Mo¬ 
torische und sekretorische Magenstörungen 
sowie die funktionelle Pankreasinsuffizienz 
begünstigen diese als Gärungsdyspepsien 
bezeichneten Darmstörungen, welche die 
häufigste Form der chronischen Durchfälle 
darstellen. Mikroskopisch sieht man in den 
Fäzes eine enorme Vermehrung der Darm¬ 
flora, insbesondere der Sarzinen, Hefe¬ 
zellen, Lepthotrixrten, des Pyozyaneus, 
Proteus usw. Es ist jedoch nicht anzu¬ 
nehmen, daß diese Mikroben die primäre^ 
Erreger der chronischen Diarrhoen sind; 
vielmehr sind es die stagnierenden und 
gärenden Kohlehydrate, seltener Eiweiß 
oder Fette, welche die Vermehrung der 
obengenannten Darmbakterien begünstigen, 
indem sie denselben einen geeigneten Nähr¬ 
boden darbieten. 

Vortragender ist auch der Ansicht, daß 
bei der akuten Appendizitis ähnliche Ver¬ 
hältnissevorhanden sind. Auch für die Blind¬ 
darmentzündung postuliert Ad. Schmidt 
eine Stagnation der Kotmassen mit sekun¬ 
därer Darminfektion. Allerdings ist dies 
nicht der alleinige Infektionsmodus. 

Ueber die Behandlung der akuten Darm¬ 
infektionen läßt sich nichts einheitliches 
sagen. Neben einer zweckmäßigen, der 
betreffenden Erkrankung angepaßten Er¬ 
nährung kann die medikamentöse Therapie 
mitunter von Nutzen sein. Bei den auf 


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Januar Die Therapie der Gegenwart 1910. 35 


Gärungsdyspepsie beruhenden Diarrhoen 
kann insofern eine kausale Therapie ge¬ 
trieben werden, als durch Einschränkung 
der Kohlehydrate beziehungsweise Behand¬ 
lung der bestehenden Magenatonie oder 
Sekretionsstörung den Krankheitserregern 
der Boden entzogen wird. Bei Achylia 
gastrica soll kein rohes oder geräuchertes 
Fleisch y auch kein rohes Hühnerei weiß ge¬ 
nossen werden, da diese Speisen bei Ab¬ 
wesenheit von Salzsäure schwer verdaut 
werden. Bei Störungen der Fettverdauung 
wird man die Fettzufuhr verringern. Von 
Wichtigkeit ist es, in allen Fällen die 
ganze Persönlichkeit des Kranken zu be¬ 
rücksichtigen. 

X Jochmann über die vornehmlich 
mit Krankheitserscheinungen des Zen¬ 
tralnervensystems einhergehenden aku¬ 
ten Infektionen. 

Bei vielen akuten Infektionskrankheiten 
treten gelegentlich Zeichen psychischer 
oder organischer Nervenläsion hervor. 
Jochmann beschränkt sich auf die akuten 
infektiösen Erkrankungen, die vorwiegend 
das Zentralnervensystem alterieren. Der 
Grund der vorwiegenden Beteiligung des 
Nervensystems bei bestimmten Infektionen 
ist in der Affinität der Nervensubstanz zu 
bestimmten Körpergiften gelegen. Der 
experimentelle Beweis für diese, die spezifi¬ 
sche Wirkung der Toxine erklärenden Tat¬ 
sache wurde durch Wassermann er¬ 
bracht, welcher zeigen konnte, daß die 
gleichzeitige Einspritzung einer zehnfach 
tötlichen Dosis von Tetanustoxin zusammen 
mit 1 ccm Hirnsubstanz eines Meerschwein¬ 
chens empfängliche Versuchstiere nicht 
schädigt 

Von den akuten Infektionskrankheiten, 
welche sich vorwiegend im Bereiche des 
Zentralnervensystems abspielen und die 
als schwere Toxin Vergiftungen verlaufen, 
kennen wir den Tetanus, den Botulismus 
und die Poliomyelitis. 

Das auf dem Wege der Nervenbahnen 
zentripetal vordringende Tetanusgift geht 
auf die motorischen Zentren der Medulla 
und des Zerebranus über und bewirkt eine 
starke Uebererregbarkeit der Ganglien¬ 
zellen, so daß geringe Reize von tonischen 
Krämpfen der Muskulatur beantwortet 
werden. 

Der Tetanusbazillus beziehungsweise 
seine Dauerform ist in der unbelebten Natur 
weit verbreitet. Besonders findet er sich 
in der Gartenerde, dem Straßenstaube und 
auch in den Dejektionen der Haustiere. 
Er wächst streng anärob und bildet im Tier¬ 
körper wie in Kulturen ein starkes Nervengift. 


Nach einer Inkubationszeit von einer bis 
drei Wochen beginnt der Tetanus für ge¬ 
wöhnlich mit tonischen Krämpfen der Mas- 
seteren (Trismus), die dann auf die Hais¬ 
und Nackenmuskeln (Opisthotonus) über¬ 
gehen und auch die Muskulatur des Bauches 
und der Beine befallen können, während 
die oberen Extremitäten meist frei bleiben. 
Werden die Schlingmuskeln betroffen, so 
kommt es zu einem der Lyssa ähnlichen 
Krankheitsbilde (Tetanus hydrophobicus). 

Bei qualvollen Schmerzen ist das Sen- 
sorium meist ungetrübt. Die Temperatur 
bewegt sich für gewöhnlich zwischen 38° bis 
39°, um gegen Ende der Krankheit zu 
steigen und kurze Zeit nach dem Tode 
exzessiv hohe Grade zu erreichen. 

Je kürzer die Inkubationszeit, desto 
weniger Aussicht hat der Kranke, einen 
Tetanus zu überstehen, während eine Inku¬ 
bation von zwei Wochen und darüber eine 
bessere Prognose rechtfertigt. Diese Eigen¬ 
tümlichkeit hat die Lyssa mit dem Starr¬ 
krampf gemein. 

Wie beim Tetanus findet auch bei der 
Lyssa ein Transport des Nervengiftes auf 
dem Wege der Nervenbahnen zu den zen¬ 
tralen Ganglien statt. Charakteristisch für 
Lyssa sind die als Negrische Körper be- 
zeichneten Gebilde, welche sich mit großer 
Regelmäßigkeit in den Ganglienzellen des 
Ammonshornes finden und nach der An¬ 
sicht einiger Forscher Abkömmlinge der 
Lyssaerreger sein sollen. Die Inkubations¬ 
dauer dieser Krankheit schwankt von 2 bis 
9 Wochen. Angaben über eine längere 
Inkubationszeit beruhen auf irrtümlichen 
Beobachtungen. Im Anfang der Erkrankung 
besteht eine enorme Hyperästhesie aller 
Sinnesnerven. Beim Versuch zu trinken, 
kommt es zu quälenden Schluck- und 
Schlingkrämpfen, sodaß die bedauerns¬ 
werten Kranken keinen Tropfen hinunter¬ 
bringen und schon durch den Anblick von 
Wasser heftig erregt werden können. Die 
allgemeine Unruhe steigert sich im weite¬ 
ren Verlauf zu ausgesprochenen Tobsuchts¬ 
anfällen. Seltener ist die stille Wut. Häufig 
tritt der Tod nach einem kurz vorhergehen¬ 
den Lähmungsstadium ein. 

Die Therapie des Tetanus sowie der 
Lyssa muß darauf hinausgehen, die Erreger, 
wenn möglich, an der Eingangspforte zu 
vernichten, den Gifttransport nach den 
übergeordneten Ganglienzellen zu unter¬ 
brechen und endlich die Uebererregbarkeit 
des Nervensystems symptomatisch zu be¬ 
kämpfen. Dem ersten Gesichtspunkt wird 
durch Ausbrennen resp. Ausschneiden des 
Primärherdes Rechnung getragen. Den 

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36 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Januar 


Transport der Nervengifte zu den zentralen 
Ganglien sucht man beim Tetanus durch 
Injektion eines Antitoxins zu erreichen, das 
von Behring in zwei Stärken zu 20 und 
100 Immunisierungs-Einheiten hergestellt ist 
Es wird am besten intradural injiziert. Auch 
die endoneurale Methode hat gute Resultate, 
ist aber umständlicher. Durch die mit diesem 
Serum dem Körper zugeführten Schutz¬ 
stoffe sollen die Tetanustoxine auf dem 
Wege vom Primärherd zum Zentralnerven¬ 
system abgefangen und unschädlich gemacht 
werden. Daher ist es erklärlich, daß die 
Heilwirkung dieses Serums auf der Höhe 
eines Tetanus keine allzugroße sein kann, 
indem zurzeit der Injektion bereits eine 
größere Toxinmenge in den Ganglienzellen 
verankert ist. Immerhin sterben nach 
Jochmann unbehandelt 85% aller an 
Tetanus Erkrankten, während bei Serum¬ 
behandlung die Sterblichkeit auf 45% 
herabgehen soll. Aussichtsreicher ist die 
prophylaktische Injektion des Tetanus¬ 
serums, das hier auch subkutan gegeben 
werden kann. 

Die von Pasteur geschaffene Behand¬ 
lung der Lyssa kommt auf eine aktive 
Immunisierung der Infizierten vor Ablauf 
der Inkubationszeit hinaus. Das von einem 
tollwütigen Hunde gebissene Individuum 
wird möglichst frühzeitig mit steigenden 
Dosen eines Bouillonauszuges des Lyssa¬ 
giftes behandelt Die Pasteursche Schutz¬ 
impfung ist ein Triumph der Bakteriologie. 
Während ohne Behandlung 40—50% der 
Infizierten der Lyssa erliegen, stirbt von 
den Behandelten kaum ein Prozent. 

Symptomatisch werden Narkotika, ins¬ 
besondere das Morphin, Skopolamin, Chloral- 
hydrat per os oder Klysma angewandt 
Bisweilen muß man zu Aether oder Chloro¬ 
formnarkose schreiten. Bei der außer¬ 
ordentlichen Hyperästhesie der von toll¬ 
wütigen Hunden Infizierten empfiehlt es 
sich, den Boden des Krankenraumes mit 
dicken Teppichen zu belegen und die 
Fenster zu verdunkeln. 

Während bei den bisher erwähnten 
Infektionen die Uebererregbarkeit des 
Nervensystems hervortritt, wird das klinische 
Bild des Botulismus wie der Poliomyelitis 
von Lähmungserscheinungen beherrscht. 

Unter Botulismus verstehen wir eine 
durch den Bacillus botulinus verursachte 
Vergiftung. Dieses Gift findet sich beson¬ 
ders in verdorbenen Würsten, Schinken 
und Fischspeisen. Die Krankheit ver¬ 
läuft teils mit teils ohne Fieber mit 
Mydriasis, Ptosis, Schlucklähmung und 
Trockenheit im Munde. Daneben besteht 


meist Durchfall und Erbrechen. Das neuer¬ 
dings dargestellte, in Pulverform erhält¬ 
liche Botulismusserum hat sich allem An¬ 
schein nach bisher bei der Bekämpfung 
der durch den Bacillus botulinus bedingten 
Fleischvergiftung durchaus bewährt. 

Eine andere Infektionskrankheit, die 
ausschließlich das Zentralnervensystem be¬ 
fällt, ist die Poliomyelitis anterior, auch 
spinale Kinderlähmung genannt. Das 
Krankheitsgift des noch unbekannten Er¬ 
regers schädigt elektiv die Vorderhorn¬ 
ganglien des Rückenmarks. Nach einem 
akut einsetzenden Fieberstadium, das nicht 
selten mit Magendarmstörungen einher¬ 
geht, entwickeln sich ziemlich plötzliche 
Extremitätenparesen, die eine gewisse 
Heilungstendenz erkennen lassen, jedoch 
meist nur teilweiser Rückbildung fähig 
sind. Frühzeitig zeigt sich in den befalle¬ 
nen Muskelgebieten Entartungsreaktion und 
Atrophie. Eine spezifische Behandlung 
gibt es nicht. 

Zu der Gruppe von Erkrankungen, bei 
denen weniger die Toxine als die Erreger 
selbst die Krankheit beherrschen, gehört 
die Trypanosomiasis und die epidemische 
Meningitis. 

Die Trypanosomenkrankheit, welche 
unter den Eingeborenen Afrikas nach 
Millionen zu beziffernde Opfer fordert, 
wird durch ein Protozoon verursacht, das 
durch eine Stechmückenart (Glossina pal- 
palis) auf den Menschen übertragen wird. 
Die Trypanosomiasis beginnt mit einer 
Schwellung der Hals- und Nackendrüsen, 
an welche sich eine Reihe nervöser Störun¬ 
gen anschließt. Neben allgemeinen und 
isolierten Muskelatrophien wird Schluck¬ 
lähmung, sowie Blasen- und Mastdarm¬ 
insuffizienz beobachtet. Charakteristisch 
ist die Apathie der Infizierten sowie das 
intensive Schlafbedürfnis (Schlafkrankheit). 
Bei der Behandlung dieser Krankheit hat 
sich das Atoxyl glänzend bewährt, das in 
Uebereinstimmung mit experimentellen Er¬ 
gebnissen den Parasiten im Blute und den 
Lymphdrüsen abzutöten vermag. 

Die praktisch wichtigste Infektion im 
Bereiche des Zentralnervensystems ist die 
epidemische Genickstarre (Meningitis cere¬ 
brospinalis epidemica). Der Erreger dieser 
Krankheit ist der in morphologischer und 
kultureller Hinsicht dem Gonokokkus sehr 
nahestehende Meningokokkus. 

Die epidemische Genickstarre führt aus 
voller Gesundheit im Laufe weniger Tage 
zu dem charakteristischen Symptomen- 
komplex der Nackensteifigkeit, des Kernig- 
schen Symptomes, der basalen Lähmungen 


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Januar 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


in Verbindung mit Kopfschmerz und Be¬ 
wußtseinstrübung. Klinisch wichtig ist auch 
die allgemeine Hyperästhesie auf optische, 
akustische und Schmerzreize. Sie erlaubt 
besonders bei Säuglingen, bei denen die 
meningitischen Erscheinungen meist nicht 
eindeutig sind, die Diagnose Meningitis zu 
stellen. Gegenüber anderen meningealen 
Infektionen ist der häufige Herpes naso- 
labialis von Bedeutung. Die epidemische 
Meningitis ist reich an Nachkrankheiten. 
Hydro- und Pyozephalus, Imbezillität, 
Blindheit und Taubheit sind häufige Aus¬ 
gänge der Krankheit. 

Die durchschnittliche Mortalität beträgt 
60% bis 70%. Die spezifische Behandlung 
durch das vom Vortragenden sowie Kolle 
und Wassermann dargestellte Immun¬ 
serum ist aussichtsreich, denn sie ver¬ 
ringert die Sterbeziffer auf 33o/ 0 bis 50%. 
Das Serum muß intradural angewandt 
werden. Vorher wird durch Spinalpunktion 
20—30 ccm Liquor entleert und dann lang¬ 
sam die gleiche Menge des auf Körper¬ 
temperatur erwärmten, im Handel erhält¬ 
lichen Serums injiziert. Je nach der Schwere 
des Falles wiederholt man an den nächsten 
Tagen die Serumeinspritzungen. An der 
Hand zahlreicher Fieberkurven suchte 
Jochmann die günstige Wirkung dieser 
Behandlungsmethode zu erhärten. An¬ 
gesichts der ablehnenden Haltung mancher 
Autoren gegenüber der Serumbehandlung 
bei Meningitis epidemica kann nicht be¬ 
zweifelt werden, daß die klinischen Fällu 
Jochmanns für die Brauchbarkeit des 
Meningitisserums sprechen. 

XI. Hildebrand über die akuten In¬ 
fektionen der Gelenke und der Mus¬ 
keln. 

Der Gelenkapparat kann primär infolge 
infizierenden Traumas oder auf hämato¬ 
genem Wege von akuten Infektionen be¬ 
fallen werden. Bei den sekundären, meta¬ 
statischen Gelenkentzündungen kann es 
sich entweder um eine Einschleppung der 
Krankheitserreger selbst oder ihre Toxine 
handeln. Die Entzündung der artikulieren¬ 
den Gelenkenden nimmt stets von der 
Synovialmembran ihren Ursprung und geht 
erst sekundär auf den Knochen selbst über. 

Die klinischen Zeichen der Arthritis 
bestehen in Schmerzen, gestörter Funktion, 
lokaler Hitze und einem mehr oder minder 
beträchtlichen Ergüsse. Die Behandlung 
der akuten Gelenkinfektionen richtet sich 
nach der Art des Erregers, der Beschaffen¬ 
heit des Exsudates und der Intensität der 
Krankheitserscheinungen im allgemeinen. 
Komprimierende Verbände, lokale Ab- 

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37 


leitungen, Heißluft- und Stauungsbehand¬ 
lung, Punktionen, Eröffnungen der Gelenke 
und Drainagen, in seltenen Fällen Re¬ 
sektionen und Amputationen kommen haupt¬ 
sächlich in Frage. 

Die eitrige durch Staphylokokken oder 
Streptokokken verursachte Gelenkentzün¬ 
dung kann auf direktem Wege durch 
penetrierende Verletzungen und Frakturen 
entstehen. Sie führt meist unter erheb¬ 
lichen lokalen Störungen zu schweren sep¬ 
tischen Erscheinungen. In gleicher Weise 
kann durch Uebergreifen eines eitrigen 
Prozesses (Phlegmone, Erysipel) der Um¬ 
gebung ein Gelenk eitrig infiziert werden. 
Vortragender sah bei 130 Erysipelen fünf 
Kontaktirifektionen der großen Gelenke. 

Als die häufigste Form einer sekundären 
hämatogenen Gelenkentzündung muß man 
den gewöhnlichen akuten Gelenkrheumatis¬ 
mus bezeichnen. Der noch unbekannte Er¬ 
reger dringt häufig durch die Tonsillen in 
die Blutbahn ein und bewirkt ein seröses, 
sehr-selten eitriges Gelenkexsudat. 

Bekannt ist das Vorkommen hämato¬ 
gener metastatischer Gelenkeiterungen bei 
Septikopyämie. Doch kann auch im An¬ 
schluß an einen Furunkel, eitrige Zystitis 
und Urethritis gelegentlich eine Gelenk¬ 
vereiterung beobachtet werden. Die Behand¬ 
lung der eitrigen Gelenkentzündungen kann 
nach unseren heutigen Grundsätzen nur 
eine rein chirurgische sein. 

Die gonorrhoische Arthritis zeichnet sieb 
durch große Mannigfaltigkeit des klinischen 
Bildes aus. Intensität und Dauer ist bei 
den einzelnen Formen des Tripperrheuma¬ 
tismus sehr verschieden. Man unterscheidet 
eine gutartige, mit Hydrops einhergehende 
Form ohne besondere Schmerzen und 
Funktionsstörungen, eine sero-fibrinöse, 
welche durch starken Schmerz und lang¬ 
samen Verlauf ausgezeichnet ist, endlich 
eine eitrige Entzündung und wohl auch 
eine phlegmonöse Form, welche auch die 
Gelenkkapsel, die Weichteile und die an¬ 
grenzende Haut ergreifen kann. Bei der 
phlegmonösen gonorrhoischen Entzündung 
bleibt meist eine definitive Deformität mit 
partieller oder totaler Ankylose zurück. 

Im großen ganzen läßt der Tripper¬ 
rheumatismus den monartikulären Typ er¬ 
kennen, das heißt, es werden in der Regel 
1—2 Gelenke befallen. Jedoch kommen 
zahlreiche Ausnahmen vor, indem die go¬ 
norrhoische Arthritis nach Art des Gelenk¬ 
rheumatismus in mehreren Gelenken zu¬ 
gleich einsetzt, sich dann jedoch meist auf 
wenige Gelenke zu beschränken pflegt. 

Die gonorrhoische Gelenkerkrankung wird 

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Januar 


38 Die Therapie der Gegenwart 1910. 


nicht immer durch die Gonokokken selbst 
verursacht. Häufig kommt nur Toxin¬ 
wirkung in Frage. 

Die Prognose der Gelenkgonorrhoe ist 
im allgemeinen quoad restitutionem günstig 
zu stellen. Defektheilungen sind, abgesehen 
von der phlegmonösen Form, seit Ein¬ 
führung der Stauungsbehandlung seltener 
geworden. Jedoch besteht in den meisten 
Fällen eine ausgesprochene Neigung zum 
Rezidivieren. Der Tripperrheumatismus 
kann in jedem Stadium der Gonorrhoe 
auf treten. Die Mehrzahl der Erkrankungen 
wird im akuten Stadium beobachtet, jedoch 
kann auch bei chronischer Gonorrhoe mit 
kokkenhaltigen Fäden eine Gelenkinfektion 
zustande kommen. 

Die Behandlung hat zunächst dem 
Lokalprozesse Rechnung zu tragen und 
durch Injektion gonokokkentötender Mittel 
einen weiteren Transport von Kokken oder 
Toxinen zu den Gelenken zu verhindern. 
Bei Hydrops der Gelenke empfiehlt sich 
ein komprimierender Verband, Einpinselung 
mit Jodtinktur, eventuell Punktion. Die 
beste Therapie ist jedoch die Stauungs¬ 
behandlung, welche in Verbindung mit der 
aktiven Hyperämisierung der Gelenke 
durch Heißluft alle übrigen Methoden ver¬ 
drängt hat und weiteste Anwendung ver¬ 
dient. Zur Vermeidung von Ankylosen 
lasse man frühzeitig aktive und passive 
Bewegungen machen. Massage und mediko- 
mechanische Behandlung ist gleichfalls von 
Nutzen. 

Die Lues kann mono- oder polyartikulär 
bald in akutester Weise, bald in langsam 
progredientem Verlaufe den Gelenkapparat 
ergreifen. Salizyl ist unwirksam, dagegen 
wirkt Jod und Quecksilber spezifisch. 

Gegenüber den bisher beschriebenen 
Formen der originären akuten Gelenk¬ 
infektionen treten die Prozesse an Häufig¬ 
keit zurück, im Verlaufe derer es gelegent¬ 
lich zu einer komplizierenden Gelenk¬ 
entzündung kommt. Die Gelenkbeteiligung, 
die gelegentlich bei Typhus meist im Re¬ 
konvaleszenzstadium beobachtet wird, ist 
entweder eine polyartikuläre ohne Erguß 
und Temperaturerhöhung oder eine auf 
1—2 Gelenke sich erstreckende, mit be¬ 
trächtlichen Lokalerscheinungen einherge¬ 
hende Entzündung. Bevorzugt wird das 
Hüftgelenk. Infolge des starken Gelenk¬ 
ergusses kommt es bei dieser Form nicht 
selten zu Spontanluxationen des Femur¬ 
kopfes. Das Exsudat kann serös oder 
eitrig sein. 

Aehnlich wie beim Typhus kommen 
auch bei der Pneumonie, hier meist auf 


der Höhe der Erkrankung mono- und 
polyartikuläre Gelenkentzündungen vor. 
Die Prognose ist keine schlechte, auch 
nicht, wenn der Erguß eitrig ist. 

Relativ häufig ist eine Beteiligung der 
Gelenke bei Scharlach vorhanden. Selten 
kommt es zu Vereiterung. In der 2. bis 
3. Woche sieht man in einer gewissen An¬ 
zahl von Scharlacherkrankungen eine meist 
in mäßigen Grenzen sich haltende, mit be¬ 
trächtlichen Schmerzen einhergehende 
Rötung und Schwellung der verschiedensten 
Gelenke, den sogenannten Scharlachrheu¬ 
matismus. 

Viel seltener findet man Gelenkentzün¬ 
dungen bei Masern und Röteln. Bei 
Variola handelt es sich meist um mon¬ 
artikuläre Formen mit Neigung zu Ver¬ 
eiterung. Auch bei Dysenterie, Meningitis 
epidemica, Mumps und Rotz kommen ent¬ 
zündliche Prozesse in den Gelenken vor. 

Zum Schlüsse streifte Hildebrand das 
Kapitel der akuten Muskelinfektionen. Die 
akute eitrige Erkrankung des Muskels 
(Myositis purulenta) kann primär durch 
Trauma entstehen oder sich sekundär an 
einen Eiterprozeß der Umgebung an¬ 
schließen. Die häufigere Form der Myo¬ 
sitis purulenta ist die metastatische bei 
Sepsis. Die Behandlung der akuten Muskel¬ 
vereiterung ist eine chirurgische. Meistens 
kommt es mit eintretender Heilung zu be¬ 
trächtlichen Muskelkontrakturen. 

XII. Meißen (Hohenhonnef) über die 
spezifische Diagnose und Therapie der 
Tuberkulose. 

Der lange Zeit vernachlässigten spezi¬ 
fischen Therapie der Tuberkulose hat man 
in den letzten Jahren wieder größere Auf¬ 
merksamkeit zugewendet, jedoch sind auch 
heute noch die Meinungen über die Wirk¬ 
samkeit der Tuberkulinbehandlung sehr 
geteilt. Die Mehrzahl der Aerzte steht in 
der Mitte zwischen fanatischen Anhängern 
dieser Behandlungsmethode und solchen, 
die ihr jeden Wert absprechen. 

Die Grundlage für eine spezifische Tuber¬ 
kulosetherapie wurde durch die Entdeckung 
des Erregers dieser Infektionskrankheit ge¬ 
schaffen. Der Kampf gegen die Tuberku¬ 
lose kann von zwei Seiten aufgenommen 
werden. Einmal darf man erwarten, daß 
durch diätetische und klimatische Kuren 
die Widerstandsfähigkeit des Organismus 
erhöht und so eine günstige Wirkung auf 
das Grundleiden erzielt wird. In der Tat 
gelingt es vielfach, durch reichlichere Er¬ 
nährung und Ueberführung des Kranken in 
eine staubfreie, ozonreiche Atmosphäre die 
Heilungsbedingungen der Tuberkulose zu 


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Januar Die Therapie der 


verbessern, jedoch warnt Redner vor ein¬ 
seitiger Ueberschätzung der klimatischen 
Kuren, bei denen nicht nur das günstige 
Klima, sondern auch zum nicht geringen 
Teile das Hinauskommen aus hygienisch 
ungesunden Verhältnissen für den Erfolg 
der Kur verantwortlich zu machen ist. An 
dem Beispiele des klimatisch ungünstig ge¬ 
stellten Englands, welches gegenüber dem 
durch seine Lage bevorzugten Frankreich 
nur die halbe Tuberkulosesterbeziffer auf¬ 
weist, zeigte Vortragender, daß der klima¬ 
tische Faktor nicht überschätzt werden darf. 

Die medikamentöse Therapie der Tuber¬ 
kulose sucht durch Zuführung von Arseni¬ 
kalien die Zell Vitalität zu erhöhen oder durch 
bakterizide Mittel, von denen namentlich 
die Kreosotpräparate sich großer Beliebt¬ 
heit erfreuen, den Tuberkelbazillus selbst 
zu schädigen, eine Vorstellung, welche an¬ 
gesichts neuerer experimenteller Unter¬ 
suchungen nicht länger aufrecht erhalten 
werden darf. 

Der Gedanke, die Tuberkulose auf dem 
Wege aktiver Immunisierung zu bekämpfen, 
stammt von Robert Koch. Selten ist eine 
medizinische Entdeckung in der Aerzte- 
weit sowie in der Oeffentlichkeit mit 
größerem Enthusiasmus aufgenommen wor¬ 
den, als die von der ersten Autorität der 
Welt in Aussicht gestellte Heilung jener 
Volksseuche mit Hilfe des Tuberkulins. 

Das aus abgetöteten Bouillonkulturen 
hergestellte sogenannte Alttuberkulin wirkt, 
wie Koch zeigen konnte, in spezifischer 
Weise auf den Tuberkuloseherd ein. Es 
kommt nach Tuberkulininjektionen häufig 
zu einer lokalen und mit großer Regel¬ 
mäßigkeit zu einer allgemeinen Reaktion, 
welche sich in Mattigkeit und Temperatur¬ 
erhöhung kundgibt. Dadurch, daß die 
Tuberkulineinverleibung nur bei Tuberku¬ 
lösen manifeste Reaktionen auszulösen ver¬ 
mag, haben wir in dem Tuberkulin ein 
wertvolles Diagnostikum der Tuberkulose. 

Im Anfang der Tuberkulinära machte 
man speziell zu Heilungszwecken aus¬ 
giebigen Gebrauch von dem neuen Mittel. 
Als jedoch die Erfolge der Tuberkulinkuren 
nicht den hochgespannten Erwartungen 
entsprachen, machte sich überall eine große 
Enttäuschung geltend; gleichzeitig setzte 
eine übergroße Skepsis ein, die der objek¬ 
tiven Würdigung dieser Behandlungsme¬ 
thode vielfach geschadet hat und unter 
deren Eindruck wir noch heute stehen. 

Es kann nicht bezweifelt werden, daß 
bei einer Tuberkulinkur gelegentlich infolge 
übermäßiger Lokalreaktion der Verlauf 
einer vorhandenen Tuberkulose ungünstig 


Gegenwart 1910 39 


beeinflußt wird. Daher empfiehlt sich vor 
allem Vorsicht in der Dosierung; es muß 
stets mit kleinsten Mengen Viooooo— Vioooooo g 
begonnen werden, sodaß man immer unter 
der Reaktionsgrenze bleibt. Jedoch ist man 
auch bei sachgemäßer Anwendung des Prä¬ 
parate eines Mißerfolges nicht absolut 
sicher, da die individuelle Empfindlichkeit 
dem Tuberkulin gegenüber sehr verschieden 
und mitunter schwankend ist. Als obere 
Grenze einer Tuberkulindosis gelten durch¬ 
schnittlich 5—10 mg Alttuberkulin. Neuer¬ 
dings sind diese Dosen von Schloßmann 
wesentlich überschritten worden, der als 
Enddosis bei Kindern bis auf V 2 g auf ein¬ 
mal injizierte. 

Da nun reine Tuberkulinkuren kaum ge¬ 
macht werden, vielmehr gleichzeitig die 
günstigen Faktoren einer besseren Ernäh¬ 
rung, größererRuhe eventuell, des Klima¬ 
wechsels in Anwendung kommen, ist die 
Kritik der therapeutischen Brauchbarkeit 
des Tuberkulin Verfahrens sehr erschwert. 
So viel ist jedoch sicher, daß die spezifi¬ 
sche Behandlung nicht vor Rückfällen zu 
schützen vermag. Wenn auch die persön¬ 
lichen Erfahrungen Meißens keinen deut¬ 
lichen Erfolg erkennen lassen, rät Vor¬ 
tragender doch zur weiteren . vorurteils¬ 
freien Anwendung des Tuberkulins. Das 
an geeigneten Fällen unter sorgfältiger 
Kontrolle des Gewichtes, Lokalbefundes 
und der Temperatur vorgenommene Ver¬ 
fahren ist nach Ansicht des Vortragenden 
noch nicht soweit ausgebildet, daß es einst¬ 
weilen dem praktischen Arzt überlassen 
werden könnte. 

Der zweite Teil des Vortrages beschäf¬ 
tigte sich eingehender mit der spezifischen 
Tuberkulosediagnose. Trotz der zahlreichen 
Tuberkulinpräparate ist das Kochsche Alt¬ 
tuberkulin noch immer das beste. Die 
älteste Methode ist die subkutane Injek¬ 
tion, welche bei vorhandener Tuberkulose 
mit einer allgemeinen und einer lokalen 
Reaktion beantwortet ist. Letztere ist am 
Larynx, dem Auge, der Haut und dem ka¬ 
riösen Knochen unter Umständen der di¬ 
rekten Betrachtung zugänglich. 

Eine wertvolle Bereicherung hat die Tu¬ 
berkulosediagnostik durch eine Anzahl 
neuerer Methoden erfahren, die sich aui 
die bekannte Ueberempfindlichkeit (Allergie) 
des mit Tuberkulose infizierten Körpers 
gegenüber den Giften des Tuberkelbazillus 
gründet. 

Als erster trat v. Pirquet mit seiner 
Hautreaktion hervor. Er konnte zeigen, 
daß nach oberflächlicher Impfung mit konzen¬ 
trierter Tuberkulinlösung nach anfänglicher 


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40 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Januar 


Hyperämisierung der Haut eine tastbare 
Papel entsteht, die er als beweisend für 
Tuberkulose ansah. Spätere Untersuchun¬ 
gen haben jedoch das Anwendungsgebiet 
dieser Reaktion wesentlich eingeschränkt 
(cf. Vortrag II). 

Die später eingeführte Salbenreaktion 
sowie die intrakutane Zuführung des Tuber¬ 
kulins kommen der von Pirquet geübten 
Anwendungsart ziemlich nahe. 

Eine andere Form, deren Priorität von 
Wolff-Eisner und Calraette gleichzeitig 
in Anspruch genommen wird, ist die kon- 
junktivale Anwendung, d. h. die Einträuf- 
lung einer 1 °/oo igen Tuberkulinlösung in 
den Bindehautsack. Neuerdings verwendet 
Wolff-Eisner anstatt wäßriger Lösung 
eine Tuberkulinsalbe von gleicher Konzen¬ 
tration. Bei richtiger Auswahl der Fälle, 
insbesondere bei Ablehnung aller mit akuten 
Bindehautkatarrhen Behafteten, ist die 


Konjunktivalreaktion völlig ungefährlich. 
Meißen hat bei mehreren hundert Reak¬ 
tionen niemals irgendwelche unangenehmen 
Nebenwirkungen gesehen. 

Zusammenfassend bemerkte Meißen hin¬ 
sichtlich der diagnostischen Brauchbarkeit 
der neuen Reaktionen, daß die Pirquet¬ 
sche Methode der Injektionsanwendung 
nahezu gleichwertig ist, eine Ansicht, die, 
wie Ref. bemerken möchte, von den meisten 
Autoren nicht geteilt wird. Der positive 
Ausfall der Konjunktivalreaktion beweist 
mit Wahrscheinlichkeit aktive Tuberkulose; 
ist sie negativ, so darf aktive Tuberkulose 
nicht unbedingt ausgeschlossen werden. 

Die prognostische Bedeutung der beiden 
Reaktionen ist darin gelegen, daß Dauer¬ 
reaktion bei Pirquet gutartige Tuberkulose 
beweisen soll, während der negative Ausfall 
der Konjunktivalreaktion allem Anschein 
nach eine schlechte Voraussage rechtfertigt. 


Bücherbesprechungen. 


F. Umber, Lehrbuch der Ernährung 
und der Stoffwechselkrankheiten 
für Aerzte und Studierende. Berlin- 
Wien 1909, Verlag Urban & Schwarzen¬ 
berg. M. 12,50. 

Kaum ein anderes Gebiet der speziellen 
Pathologie und Therapie ist dank den 
Arbeiten der letzten Jahrzehnte so ge¬ 
fördert, wie das der Ernährung und der 
Stoffwechselkrankheiten. Dabei sind wir 
zu so klaren Grundlagen für eine rationelle 
Therapie gekommen, daß der, der diese 
Grundlagen beherrscht, gerade hier seine 
erfolgreichste und darum erfreulichste the¬ 
rapeutische Betätigung am Krankenbette 
findet. Daß man auch heute noch in weiten 
ärztlichen Kreisen so oft einem Mangel an 
Verständnis für die Bedeutung dieser Ge¬ 
biete begegnet, ist besonders auffallend. Es 
ist daher in hohem Grade dankenswert, 
daß F. Umber es unternommen hat, die 
hier bestehende Lücke auszufüllen durch 
eine monographische Darstellung, die nach 
der Auswahl des Stoffes, nach Umfang der 
Darstellung und durch sorgsame kritische 
Beleuchtung der gegenwärtigen Anschau¬ 
ungen unseres Erachtens den Bedürfnissen 
des praktischen und des Anstaltsarztes in 
außerordentlich zweckentsprechender Weise 
entgegenkommt. 

Das Buch bringt zunächst eine kurze 
Darstellung der Physiologie der Ernährung 
und des Stoffwechsels, sodaß auch der¬ 
jenige Leser, dem diese Dinge aus dem 
Gedächtnis entschwunden sind, ohne wei¬ 
tere Voraussetzungen an die Lektüre des 


Gesamtbuches gehen kann. Und eine 
Kenntnis der physiologischen Tatsachen ist 
für das Verständnis der Stoffwechselkrank¬ 
heiten ebenso unerläßlich wie z. B. die der 
Normalanatomie und -physiologie des Zen¬ 
tralnervensystems für das Verständnis der 
Erkrankungen des Rückenmarks und des 
Gehirns. 

Es folgen Kapitel über „Ernährungs¬ 
kuren*, „künstliche Ernährung“, „Fettsucht 41 , 
„Diabetes mellitus“, „seltenere Störungen 
im Kohlehydratstoffwechsel“, „Diabetes insi- 
pidus“, „Gicht“, „Steinbildung in den Harn¬ 
wegen“ und „seltenere Störungen des inter¬ 
mediären Eiweißabbaus“. 

Wir dürfen vielleicht dem Verfasser für 
fernere Auflagen empfehlen, an einzelnen 
Stellen eine etwas schematisierend ere 
äußerliche Darstellung des Stoffes zu 
wählen, und zwar lediglich aus didaktischen 
Gründen. So z. B. in dem Abschnitt „The¬ 
rapie des Diabetes“. Es erleichtert doch 
ein gewisser Schematismus für den dem 
Gegenstand zunächst Fernerstehenden, von 
diesen schematisierten Grundlagen aus zu 
einer individualisierenden Behandlung vor¬ 
zudringen. 

Das Buch Umbers muß Aerzten wie 
Studierenden in gleichem Maße aufrichtig 
empfohlen werden. Er findet hier alles, 
was er am Krankenbett nötig hat, von 
einem Autor dargestellt, der, abgesehen 
von seinen eigenen Erfahrungen, den großen 
Vorzug hatte, vieljähriger Assistent Nau- 
nyns gewesen zu sein. 

Lüthje (Kiel). 


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Januar 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


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6* Nobl. Der variköse Symptomen- 
komplex (Phlebektasie, Stauungs¬ 
dermatose, Ulcus cruris). Seine 
Grundlagen und Behandlung. Mit 68 teils 
farbigen Abbildungen im Text und 
2 Farbentafeln. Berlin-Wien 1910. Urban 
u. Schwarzenberg. M. 10,—. 

Nobl hatte Gelegenheit, an einem sehr 
reichen Krankenmaterial ausgedehnte Er¬ 
fahrungen über Varizen und Ulcus cruris 
und deren Komplikationen zu sammeln. 
Hierbei drängte sich ihm die Ueberzeugung 
von der praktisch- medizinischen und sozialen 
Bedeutung dieser ja meistens als uninter¬ 
essant und therapeutisch undankbar ange¬ 
sehenen und vielfach rein schematisch be¬ 
urteilten Affektion auf; und er gewann die 
Anregung, den Gegenstand in eingehender 
Weise zu bearbeiten. Als Frucht dieser 
Studien liegt eine mit ungemeinem Fleiß, 
großer Sachkenntnis und Kritik zusammen¬ 
gestellte Monographie vor, in welcher die 
Anatomie und Physiologie, die Pathologie 
und Klinik, die Geschichte des Gegenstandes, 
die Aetiologie, Diagnose in gesonderten 
Kapiteln erörtert wird. Ein großer Raum 
ist — was ja hier und für den Praktiker 
das größte Interesse hat — der Prophylaxe 
und Therapie gewidmet. Es werden die 
chirurgischen, dermatologischen, physika¬ 
lischen Behandlungsmethoden eingehend 
kritisch erörtert und auch gezeigt, daß bei 
nicht schematisierender und alle Methoden 
be rücksichtigender Fraktation die Prognose 
doch vielfach nicht so schlecht ist, wie das 
im allgemeinen angenommen wird. Be¬ 
sonders weist der Autor auf den engen 
Zusammenhang zwischen Varizen und Ul¬ 
kus hin und betont, wie gerade an diesen 
Beziehungen die ätiologische Prophylaxe 
und Therapie ihren Angriffspunkt findet. 
Gerade das letzte große Kapitel über Pro¬ 
phylaxe und Therapie dürfte für den Prak¬ 
tiker, der sich ja mit der Behandlung des 
Ulcus cruris so häufig quälen muß, viel 


Anregung, Belehrung und Direktiven bieten. 
Mit der mustergültigen und mühevollen 
Darstellung dieser ganzen Frage hat sich 
der Autor ein Verdienst erworben und eine 
Lücke ausgefüllt. Würden sich alle Aerzte 
in so liebevoller und eingehender Weise 
mit diesem Leiden beschäftigen, dann würde 
die Kurpfuscherei nicht gerade auf diesem 
Gebiete einen so großen Wirkungskreis 
finden. Es ist zu hoffen, daß das anregend 
und klar geschriebene Buch auch nach 
dieser Richtung hin nützlich wirken wird. 

Buschke (Berlin). 

0. Rumpel« Die Cystoscopie im Dienste 
der Chirurgie. Berlin und Wien 1909, 
Urban & Schwarzenberg. 30 M. 

Die Verfeinerung der Diagnosen hat ge¬ 
steigerte Ansprüche an den Chirurgen zur 
Folge gehabt. Die Fortschritte in der 
Chirurgie fordern aber auch von dem 
Chirurgen eine feinere Ausbildung in 
der Diagnosenstellung. Zu den Organen, 
wo sich die Zahl der Eingriffe sehr 
vermehrt hat, und zwar zum Segen der 
Kranken, gehört in erster Linie mit die 
Niere und Blase. Wo man früher sich mit 
einer Wahrscheinlichkeitsdiagnose behelfen 
mußte oder erst eine Probefreilegung vor¬ 
nehmen mußte, da stellt jetzt in den meisten 
Fällen das Zystoskop die sichere Diagnose. 
Dabei ist es in der Hand des einigermaßen 
Geübten ein unschädliches Werkzeug. In 
der Großstadt kann der Arzt seiner ent- 
raten, denn da gibt es Spezialisten, zu 
denen der Kranke unaufgefordert läuft. 
Aber in kleineren Städten gehört das Zysto¬ 
skop zu den Apparaten, die dem Arzt be¬ 
kannt sein sollen und die er öfters anwen¬ 
den muß. Wer sich für die Zystoskopie 
interessiert, dem kann der Rumpe Ische 
Atlas nur warm empfohlen werden. Die 
85 farbigen Abbildungen sind so vorzüglich 
ausgeführt, daß man glaubt, durch das Zysto¬ 
skop in die Blase zu sehen. Zur Erklärung 
ist ein kurzer Text beigegeben. Klink. 


Referate. 


Auf Grund der Ausführungen von 
Rieh. Winckler über seine Mißerfolge 
mit Antimeristem (Cancroidin Schmidt) 
muß man vor der weiteren Anwendung 
dieses Präparates warnen. 

Das Cankroidin besteht aus dem Preß- 
saft eines zur Klasse der Myzetozoen ge¬ 
hörigen Protozoon zusammen mit den 
Sporen von Mucor racemosus. Während 
der Erfinder und eine Anzahl von Aerzten 
einen Erfolg bei inoperablen Karzinomen 
gesehen haben wollen, sind andere Autoren 


sowie Verfasser zu der Ansicht gelangt, 
daß das Cankroidin bei sachgemäßer An¬ 
wendung und Beachtung der zahlreichen 
Kontraindikationen behandlung ohne jeden 
Einfluß auf den Verlauf des Karzinom¬ 
leidens ist. 

Auf Grund eigener Beobachtungen 
(3 Fälle von Oesophaguskarzinom) verwirft 
Winkler die Antimeristemtherapie, die 
schmerzhaft und teuer ist. 

Leo Jacobsohn (Charlottenburg). 

(Med. Klinik 1904, Nr. 44.) 


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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Januar 


Von den Velden berichtet über Blut¬ 
untersuchungen nach Verabreichung von 
Halogensalzen. (Ein Beitrag zur hämostyp- 
tischen Wirkung der Bromide und Chlo¬ 
ride.) 

Unsere therapeutischen Maßnahmen sind 
größtenteils rein, empirische und es ist die 
Aufgabe der m odernen Pharmakologie den 
Zusammenhang zwischen Ursache und Wir¬ 
kung aufzudecken, eine rationelle wissen¬ 
schaftlich fundierte Therapie zu schaffen. 
Es gibt eine Reihe von alten Volksmitteln, 
die lange Zeit hindurch von Aerzten nicht 
anerkannt worden sind, weil man sich, 
ohne sich über die Wirksamkeit orientiert 
zu haben, von vornherein skeptisch ab¬ 
lehnend verhielt. 

Eines dieser der alten Volksmedizin ent¬ 
stammenden Mittel ist das Kochsalz als 
Hämostyptikum. 

Die stomachale Anwendung eines E߬ 
löffels voll NaCl in Wasser gelöst wird 
als Mittel in allen therapeutischen Abhand¬ 
lungen über Hämoptoe angeführt, aller¬ 
dings, obwohl einwandfreie Beobachter die 
sehr günstige Einwirkung betont hatten, 
wird sehr häufig der Wert des Kochsalzes 
in seiner hämostyptischen Bedeutung unter¬ 
schätzt oder überhaupt bestritten. 

Aus diesem Grunde erklärt sich auch 
die Tatsache, daß man die Bedeutung der 
Sache von wissenschaftlicher experimen¬ 
teller Forschung aus wenig berücksichtigt 
hat. 

Die wenigen Autoren, die sich bemüht 
haben eine Erklärung für diese Wirkung 
des Kochsalzes zu finden, vertreten die An¬ 
sicht, daß es sich um einen Reiz des Salzes 
auf die Magendarmschleimhaut handele, und 
daß dadurch reflektorisch ausgelöst eine 
Erweiterung der Bauehgefäße zustande 
komme, die ihrerseits einen niedrigeren 
Blutdruck im großen und kleinen Kreislauf 
bedinge. 

Es ist das Verdienst von v. d. Velden, 
die Aufmerksamkeit wieder auf die hämo- 
styptische Eigenschaft des Koch¬ 
salzes gelenkt zu haben. 

Er bemühte sich, nachdem er sich von 
dieser Wirksamkeit des Kochsalzes über¬ 
zeugt hatte, eine wissenschaftliche Grund¬ 
lage für die „Kochsalztherapie“ zu 
schaffen und ging dabei von der Voraus¬ 
setzung aus, daß der Gerinnungsakt an 
und für sich durch das NaCl beeinflußt 
werde. 

Die Untersuchungen haben nun er¬ 
geben, daß Salzzusatz die Blutgerinnung 
außerhalb des Organismus nicht för¬ 
dert, was aber der Fall ist, sobald sto- 


machal, subkutan oder intravenös Kochsalz 
dem Organismus zugeführt wird. Obwohl 
nun die Bestimmung des entstandenen Fi¬ 
brins „eindeutig eine Verminderung 
des Fibrins“ erkennen ließ, kommt 
v. d. Velden dennoch zu der Ueber- 
zeugung, daß es sich um eine „verstärkte 
Fermenttätigkeit“ handele. Den Wider¬ 
spruch, der sich durch die „verminderte 
Fibrinmenge“ ergibt, sucht er dadurch 
aufzuheben, daß er die Hilfshypothese, daß 
Nebenreaktionen die Fibrinbildung hemmen 
könnten, heranzieht. Die Wirkung des 
Kochsalzes ist nach v. d. Velden im 
wesentlichen eine „Konzentrations¬ 
änderung des Blutes“, und die ver¬ 
stärkte Fermenttätigkeit ist auf Ausschwem¬ 
mung der vermehrten Thrombokinase zu¬ 
rückzuführen. 

Nach v. d. Velden wird der beste Erfolg 
durch die intravenöse Anwendung, die 
ja speziell bei Magendarmblutungen indi¬ 
ziert ist, erzielt. Aber auch das per 
os zugeführte Kochsalz — 10—30 g — 
erweist sich äußerst wirksam. „Salzfieber“ 
konnte in keinem Falle konstatiert werden, 
dagegen gelegentlich einmal „Reizerschei¬ 
nungen von seiten des Magendarmkanales 
und einmal auch von der Niere“. 

Rahel Hirsch (Berlin). 

(Zeitschr. f. exp. Patb. u. Ther., Bd. 47, H. 1, 
S. 290.) 

Die Ausführungen von H. v. Wyss 
und A. Ulrich über die experimentellen 
Grundlagen der Bromtherapie bei Epi¬ 
lepsie sind geeignet, in theoretischer so¬ 
wie praktischer Hinsicht mancherlei An¬ 
regungen zu geben. 

Alle gegenwärtigen Behandlungsmetho¬ 
den der Epilepsie bezwecken die Unter¬ 
drückung der Krampfanfälle, die zwar ein 
Hauptsymptom, jedoch nicht die Krankheit 
selbst sind. Diese Therapie, welche ab¬ 
seits von allen theoretischen Vorstellungen 
über das Wesen der Epilepsie liegt, ist 
schon aus dem Grunde gerechtfertigt, 
weil, wie die Erfahrung lehrt, mit zuneh¬ 
menden Anfällen die Intelligenz in höherem 
Grade gefährdet wird. 

Die empirisch gefundenen Behandlungs¬ 
methoden der Epilepsie lassen sich in 
zwei Gruppen gliedern; es sind dies die 
medikamentösen Maßnahmen einerseits, die 
diätetischen andererseits. 

Die antiepileptische Diätetik bezweckt 
eine kochsalzarme beziehungsweise koch¬ 
salzfreie Diät. Von den Arzneimitteln 
steht das Brom seit langem in dem Rufe, 
die Krampfanfälle zu unterdrücken. Die 
Frage nach der Art der Wirksamkeit des 


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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


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Bromes ist noch nicht entschieden. Die 
einzig nachweisbare Veränderung im Stoff* 
Wechsel ist die nach Bromzuführung auf¬ 
tretende Chlorverarmung des Organismus. 
Dieselbe kommt dadurch zustande, daß 
das eingefQhrte Brom das Chlor aus dem 
Blute verdrängt und seine Ausscheidung 
durch den Urin bewirkt, ln dem gleichen 
Sinne, das heißt den Chlorgehalt des Or¬ 
ganismus herabsetzend, wirkt auch die 
Verabreichung einer kochsalzarmen Kost 
Es liegt nahe, den Chlorgehalt des Blutes 
in eine bestimmte Relation zu den Krampf¬ 
anfällen zu setzen, derart, daß im Organis¬ 
mus des Epileptikers Zunahme des Koch¬ 
salzgehaltes krampfauslösend wirkt, wäh¬ 
rend Herabsetzung des Chlorwertes das 
Auftreten des Anfalls verhindert. 

Die Chlortoleranz des Epileptikers 
richtet sich nach der Schwere des Einzel¬ 
falles. Je häufiger und intensiver die An¬ 
fälle, desto tiefer muß der Reduktionswert 
des Kochsalzes liegen. Es gibt also für 
jeden Einzelfall einen Schwellenwert, bei 
dessen (Jeberschreitung Krämpfe auftreten. 
Dieser Schwellenwert wird empirisch ge¬ 
funden, indem man mit zirka 8 g Brom 
pro die beginnt und allmählich mit dieser 
die Anfälle meist kupierenden Dosis herab¬ 
geht. Gleichzeitig ist es notwendig, die 
Chlorzufuhr durch Vermeidung stark salz¬ 
haltiger Speisen zu vermindern und durch 
Einschränkung der Wasserzufuhr einer 
übermäßigen Bromausscheidung vorzu¬ 
beugen. Der gesuchte Schwellenwert kann 
durch die Zahl ausgedrückt werden, 
welche diejenige Tagesmenge von Brom- 
natrium in Gramm angibt, unter welche 
nicht gegangen werden darf, ohne daß 
Anfälle auftreten. Es wird hierbei eine in 
ihrer Zusammensetzung möglichst konstante 
salzarme Diät und gleichzeitige Reduktion 
des Wasserquantums vorausgesetzt. 

Auf Grund eines großen Beobachtungs¬ 
materials sind Wyss und Ulrich zu der 
Ansicht gelangt, daß die Bromtherapie, 
auch wenn sie monatelang fortgesetzt wird, 
dem Körper unschädlich ist. Die Verfasser 
haben Dosen bis 30 g pro die ohne irgend 
welche Störungen gegeben. Sie empfehlen 
die gelegentliche Zuführung des Broms 
per Klysma. 

Als Zeichen einer Bromintoxikation 
werden gewöhnlich angegeben herab¬ 
gesetzte Reflexerregbarkeit, Schwindel, 
Schlafsucht, Abnahme des Gedächtnisses 
und geistige Stumpfheit. Ein erheb¬ 
licher Teil dieser Erscheinungen ist nach 
Ansicht der Verfasser auf das Grundleiden, 
bei welchem sie hauptsächlich in Anwen- 

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düng kommen, zurückzuführen. Unter Um¬ 
ständen kann sogar bei Epilepsie durch 
energische Bromzuführung eine Besserung 
des geistigen Zustandes erzielt werden. 

Das Auftreten der Bromakne im Verlaufe 
einer Bromkur ist ganz bedeutungslos und 
kann durch sorgfältige Hautpflege häufig 
vermieden werden. Es empfiehlt sich, die 
Bromsalze und nicht organische Brom¬ 
präparate zu geben. 

Leo Jacobsohn (Charlottenburg). 

(A. f. Psych. u. Nerv. Bd. 46, H. 1.) 

Richard Stern ist der Frage der ^Prog¬ 
nose der Epilepsie“ in der Weise nacn- 
gegangen, daß er über das Schicksal der 
entlassenen Patienten mit Hilfe der Polizei 
katamnestische Erhebungen anstellte. Bis¬ 
her erschien ihm beachtenswert, daß gute 
ätiologische Erklärbarkeit der An¬ 
fälle gemeinsam mit dem Mangel an 
spezieller Belastung eher für die An¬ 
nahme einer vorübergehenden Form 
sprächen, während umgekehrt ein un¬ 
erklärliches Verhalten in der Aus¬ 
lösung gemeinsam mit dem Nach weis 
familiärer Epilepsie eher den Ver¬ 
dacht einer Dauererkrankung er¬ 
weckten. 

Der ausschließlich nächtliche Typus der 
Anfälle spricht eher für Gutartigkeit. Stern 
erinnert daran, daß die Zeit des Ein¬ 
schlafens und Erwachens besonders für 
Anfälle disponiert und daß ein Halbwachen, 
charakterisiert durch nächtliche Unruhe, 
wie auch allgemeine Schreckhaftigkeit der 
Patienten, die sich im Zusammenfahren 
äußert, eine Prädisposition für günstige Wir¬ 
kung der Brommedikation bedingen soll, 
was recht einleuchtend ist. Bei dieser Ge¬ 
legenheit erwähnt Stern kurz die inter¬ 
essanten Uebergänge des nächtlichen Auf¬ 
schreckens zum epileptischen Anfall. (Aus¬ 
führlicher: Wiener klin. Woch. 1909, Nr. 12). 

Wenn Brom durch eine Herabsetzung 
der Reflexerregbarkeit wirkt (vielleicht 
meßbar an der Stärke der Patellarsehnen- 
reflexe) so ist es plausibel, daß Fälle, die 
bei fehlenden oder seltenen Krampfattaken 
häufige Absenzen hatten, durch Brom un¬ 
günstig beeinflußt wurden. Stern glaubt, 
hier durch Thyreoidin genützt zu haben. 
Theoretisch stellt er sich vor, daß die 
Herbeiführung eines Thyreoidismus das 
Nervensystem in einen Erethismus versetze, 
welcher der Schlafverwandtschaft der Epi¬ 
lepsie entgegengesetzt sei. Jedenfalls meint 
er beobachtet zu haben, daß die Mehrzahl 
jener gutartigen Krankheitsfälle, an denen 
sich das epileptische Leiden dauernd er¬ 
schöpft hatte, später bei der Wiederunter- 

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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


suchung Zeichen von Thyreoidismus an 
sich trugen. 

Oscar Kohnstamm (Königstein i. Taunus). 

(Jahrb f. Psych. u. Neur. Bd. 30, 1. Heft). 

Zur Prophylaxe und Therapie drohender 
Fingergangrän bei Raynaudscher 
Krankneit gibt Noeßke (aus der Kieler 
chirurgischen Klinik) bemerkenswerte Rat¬ 
schlage. Ermutigt durch die Erfolge der 
Saugbehandlung in Fallen von schweren 
Fingerverletzungen und Erfrierungen wandte 
er dasselbe Verfahren bei mehreren bis 
dahin vergeblich behandelten schwer zya¬ 
notischen und sehr schmerzhaften Finger¬ 
gliedern eines an Raynaud scher Krank¬ 
heit leidenden Patienten an. Es gelang 
bei dieser Behandlungsart, Fingerglieder, 
die absolut kalt und gefühllos waren, da 
durch am Leben und bei guter Funktion 
zu erhalten, daß frontal über die Finger¬ 
beere, hinter dem Nagel und parallel 
seinem Saum, von der uluaren zur radialen 
Seite ein bis auf den Knochen reichender 
Schnitt geführt, die Wunde tamponiert 
und das so behandelte Glied in einer 
Saugglocke 2—3 mal täglich einem nega¬ 
tiven Druck ausgesetzt wurde. Der Erfolg 
in dem Falle von Raynaud scher Krank¬ 
heit war überraschend. Die Zyanose ver¬ 
lor sich völlig, desgleichen die Schmerzen; 
Gangrängefahr war behoben. 

Dieser Versuch eines chirurgischen 
Eingreifens bei einem prognostisch so un¬ 
günstig zu beurteilenden Leiden erscheint 
sehr beachtenswert und verdient möglichst 
bald und oft wiederholt zu werden. 

Eugen Jacobsohn (Charlottenburg). 

(Münch, med. Wochschr. 1909, Nr. 47.) 

Ueber Hämophilie sind in den letzten 
Jahren verschiedene Arbeiten erschienen, 
die trotz der interessanten Ergebnisse der 
Untersuchung des hämophilen Blutes über 
das eigentliche Wesen der Krankheit 
keinen Aufschluß gegeben haben. Einen 
neuen Beitrag liefert Dahlgren. Die 
eigentliche Hämophilie im strengeren Sinne 
ist, zum Unterschied von Skorbut, Purpura, 
Morbus maculosus, Peliosis, angeboren. 
Man spricht auch von einer erworbenen 
Hämophilie, die sich durch eine ähnliche 
Resistenz gegen jede Behandlung aus¬ 
zeichnen soll, es fehlt jedoch das Angeboren¬ 
sein und die Vererbung. Sie kommt auch 
kongenital bei Kindern gesunder Voreltern 
vor und vererbt sich dann weiter. Die 
Krankheit ist die erblichste aller erblichen 
Krankheiten. Sie wird fast ausschließlich 
durch die Frauen fortgepflanzt, auch durch 
die, die selbst nicht krank sind. Frauen 
werden viel seltener befallen, als Männer, 


etwa wie 1 :13. Die Erblichkeit ist etwa 
folgende: 1. Männer aus Bluterfamilien, die 
selbst Bluter sind, erzeugen mit Frauen, die 
nicht aus Bluterfamilien stammen, bei weitem 
nicht immer hämophile Kinder; im Gegen¬ 
teil sind diese Kinder häufiger gesund. 
Umgekehrt scheinen unter den Kindern von 
Frauen, die selbst Bluterinnen sind, sich 
ganz regelmäßig auch wieder hämophile zu 
finden. 2. Männer, die aus Bluterfamilien 
stammen, ohne selbst Bluter zu sein, er¬ 
zeugen mit Frauen aus anderen Familien 
fast niemals hämophile Kinder. Dagegen 
finden sich unter den Kindern von Frauen, 
die Bluterfarailien angehören, ohne selbst 
zu bluten, fast ausnahmslos solche, die an 
ausgesprochener Hämophilie leiden. — Die 
Ursache der Krankheit hat man in Ano¬ 
malien der Gefäße und des Gefäßsystems 
oder des Blutes gesucht. Die von Virchow 
gefundene Dünnheit und fettige Degene¬ 
ration der Gefäßwände und Enge der Aorta 
findet sich auch bei Chlorose. Eine Ver¬ 
größerung der linken Herzkammer und 
vermehrter Blutdruck ist nicht immer vor¬ 
handen und findet sich bei anderen Krank- 
keiten in höherem Maße. Als toxische 
Infektionskrankheit und dem Skorbut iden¬ 
tisch kann die Hämophilie nicht betrachtet 
werden. Nennenswerte Veränderungen in 
der Morphologie und dem Alkalitätsgrad 
des Blutes, im Wassergehalt und osmo¬ 
tischen Druck des Serums bestehen nicht. 
Das Blut lieferte mindestens ebensoviel 
Fibrin beim Gerinnen wie normales. Die 
Gerinnungszeit des Blutes fand sich, so¬ 
wohl Beginn als Beendigung der Gerin¬ 
nung, zweifellos verlängert, wenn nicht 
gerade eine Blutung bestand. Während 
einer starken Blutung aber zeigte das der 
Wunde entnommene Blut eine enorm ge¬ 
steigerte Gerinnungsgeschwindigkeit, wäh¬ 
rend Blut, das gleichzeitig einer unverletzten 
Körperstelle entnommen wurde, höchstens 
eine leichte Steigerung der Gerinnungs¬ 
geschwindigkeit zeigte. Zwischen zwei Blut¬ 
verlusten war die Gerinnung verlangsamt, 
wenn das Blut aus einer unmittelbar vorher 
gesetzten Wunde genommen wurde, schon 
nach 11 Minuten war die Gerinnungs¬ 
geschwindigkeit gesteigert. Es scheint also, 
daß das Blut aus einer nicht ganz frischen 
Wunde Fibrinferment oder andere gerin¬ 
nungsfördernde Stoffe aufnimmt. Also 
Herabsetzung der Gerinnungsgeschwindig¬ 
keit kann nicht das eigentliche Wesen der 
Krankheit sein. Zusatz schon von Spuren 
von definiertem normalem Blut zu hämo- 
philem Intervallärblut beschleunigt die Ge¬ 
rinnungsdauer bis zur normalen; es ist das 


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wohl die Wirkung zugesetzter Thrombo- 
kinase oder zymoplasti scher Substanzen. 
Bei der Blutung aus einer Wunde bildet 
sich ein starkes Gerinnsel, aber dasselbe 
sitzt nicht fest, die Gefäße thrombosieren 
nicht, vermutlich da sie nicht genügend 
Thrombokinase oder zymoplastischer Sub¬ 
stanz liefern, um aus dem vorhandenen 
Thrombogen bzw. Betaprothrombin an Ort 
und Stelle Fibrinferment zu erzeugen. 
Zwischen den Blutungen, wo die reaktive 
Wirkung des Blutverlustes fehlt, spalten 
auch die Blutzellen zu wenigThrombokinase 
oder zymoplastische Substanz ab. Vielleicht 
enthält der ganze hämophile Organismus 
infolge vererbbarer Fehlerhaftigkeit des 
Keimplasmas seiner Zellen weniger von 
diesen Stoffen oder gibt sie schwerer ab. 
In derselben Weise wäre die lokale Hämo¬ 
philie zu erklären. Aus kleinen Wunden 
können große Blutungen auftreten, während 
große Wunden bisweilen nur wenig bluten. 
Bisweilen tritt die unstillbare Blutung erst 
einige Zeit, bis zu 3 Tagen, nach Ent¬ 
stehung der Wunde auf. Sektionsbefunde 
haben keine Aufschlüsse gegeben. Manch¬ 
mal zeigt sich die Krankheit schon bei der 
Abnabelung. In % der Fälle zeigt sie sich 
zuerst gegen Ende des 2. Jahres. Die 
meisten Kranken erliegen ihrem Leiden in 
den ersten Jahren; selten erreichen sie ein 
hohes Alter; mit dem Alter nimmt die 
Krankheit an Stärke ab. Spontane Blutungen 
gehen meist von den Schleimhäuten aus. 
Gelenkveränderungen kommen oft vor, die 
zu schwerer Deformation führen können. 
Das beste Mittel zur Blutstillung ist die 
Kompression; manchmal wirkt ein Verband 
mit frischem Blutserum (Antidiphtherie¬ 
serum); subkutan (20—30 ccm) wirkt das¬ 
selbe erst nach 24 Stunden, intravenös 
(1Qr-20 ccm, bei Kindern die Hälfte) 
schneller. Ergotin wirkt gar nicht. Gela¬ 
tine, Zymoplasma, Kalksalze, Ovarialextrakt, 
Thyreoideaextrakt wirken bisweilen. 

Klink. 

(v. Bruns Beitr. z. kl. Chir. LXI, 3.) 

Borelius hat 14 Fälle von primärem 
Karzinom der Hauptgallengänge zusam¬ 
mengestellt. Ein ätiologischer Zusammen¬ 
hang mit Gallensteinen ließ sich, im Gegen¬ 
satz zum Gallenblasenkarzinom nicht fin¬ 
den; es handelt sich also um primäre Kar¬ 
zinome im strengsten Sinne. Der klinische 
Krankheitsverlauf beträgt durchschnittlich 
einige Monate; jedenfalls besteht der An¬ 
fang des Leidens latent. Die klinischen 
loitialsymptome sind auffallend oft heftig ein¬ 
setzende, anfallsweise auftretendeSchmerzen 
mit scheinbarem Rückgang zu voller Ge¬ 


nesung. Ein charakteristisches Bild haben 
diese Anfälle nicht und dürften am häufig¬ 
sten als Gallensteinschmerzen gedeutet 
werden. In den meisten Fällen zeigte sich 
bald nach dem ersten Anfall Ikterus; völlig 
fehlt er nie, wechselt an Stärke und kann 
vorübergehend verschwinden. Er ist das 
einzige konstante Symptom, unterscheidet 
sich aber von Ikterus aus anderer Ursache 
nicht. Im Schlußverlauf treten cholämische 
Symptome und allgemeine Kachexie hinzu. 
In fast allen Fällen war Lebervergrößerung 
nachzuweisen, wohl zum großen Teil in¬ 
folge Gallenstauung und Erweiterung der 
intrahepatischen Gallengänge. Beim Kar¬ 
zinom des Ductus hepaticus oder an der 
Zystikusmündung ist die Gallenblase eher 
eler, beim Karzinom des Choledochus oder 
der Vater sehen Papille pflegt sie stark 
gespannt zu sein. Bei längerem Ikterus 
treten oft cholämische Blutungen ein, so¬ 
wohl spontan als nach Operationen. Die 
Diagnose läßt sich meist nur mit Wahr¬ 
scheinlichkeit stellen, kann aber selbst bei 
der Laparotomie schwer sein. Im Beginn 
ist das Karzinom an diesen Stellen sicher 
und eine lokale Erkrankung; trotzdem wird 
man bei einem Ikterus auf zweifelhafter 
Basis sich nicht leicht zu einer frühen La¬ 
parotomie entschließen. Von den ange¬ 
führten Fällen ist die Radikaloperation mit 
primärem Erfolg in einigen Fällen gemacht, 
kein Fall hat aber die Operation, soweit 
festzustellen, mehr als drei Jahre überlebt. 
Sehr wichtig ist vorerst die Feststellung, 
ob es eine zirrhöse Form des Leidens gibt, 
die längere Zeit lokal bleibt. Klink. 

(v. Bruns Beitr. z. klin. Chir. Bd. 61, H. 1.) 

Ueber den Zusammenhang vonMagen- 
und Frauenleiden, der in den letzten 
Jahren vielfach Gegenstand eingehender 
Untersuchungen war, bringt Levisohn aus 
der Senator sehen Poliklinik eine be¬ 
merkenswerte Arbeit, die das Ergebnis 
gründlicher literarischer Studien und klini¬ 
scher Beobachtungen darstellt. Die Beob¬ 
achtung, daß unterleibskranke Frauen häufig 
magenleidend sind (nach Engelmann 25%, 
nach Graily-Hewitt 11—14%) hat viele 
Autoren zu der Annahme eines ursäch¬ 
lichen Zusammenhanges zwischen den beiden 
Affektionen und sogar zur Aufstellung eines 
besonderen Krankheitsbildes der „Dyspep- 
sia uterina* (Kisch) geführt, von anderen 
hingegen (Giovanni und Sommer) wird 
jeder Kausalnexus zwischen beiden Krank¬ 
heiten geleugnet. 

Daß die physiologischen Vorgänge im 
weiblichen Geschlechtsleben häufig mit 
Aenderung der sekretorischen und moto- 


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46 Die Therapie der Gegenwart 1910. Januar 


rischen Funktion des Magens einhergehen, 
ist eine den Internisten sowohl wie Gynä¬ 
kologen wohlbekannte Tatsache, die durch 
zahlreiche exakte Untersuchungen erhärtet 
ist (Riegel, P. Müller, Elsner, Kehrer 
usw.). So übt die Menstruation zweifellos 
einen herabsetzenden Einfluß auf dieMagen- 
und Darmtätigkeit aus, die sich objektiv 
vor allem in Abnahme der Magensaftazidi¬ 
tät manifestiert. Aehnlich ist nach Kehrer 
die Rückwirkung von Schwangerschaft und 
Wochenbett. Praktisch ergibt sich hieraus 
der Schluß, daß eine Mageninhaltsprüfung 
während dieser Perioden kein klares Bild 
von der Magenfunktion ergibt. 

Bei der Schwierigkeit der Diagnose einer 
genitalen Reflexneurose verlangt L. eine 
scharfe Absonderung aller Fälle, die sich 
auf irgendeine andere Weise erklären 
lassen, und zwar auf Grund folgender 
Fragestellung: 1. Liegt eine selbständige 
Magenerkrankung vor (Ulkus, Gastritis, Ek¬ 
tasie, Karzinom usw.); 2. Ist das Magen¬ 
leiden durch eine andere organische Er¬ 
krankung oder ein Allgemeinleiden verur¬ 
sacht? (Herz-,Lungen-,Nierenleiden, Gallen¬ 
steine, Tabes, Fieber, Anämie usw.); 3. Sind 
Magen- und Sexualaffektionen nur koordi¬ 
nierte Erkrankungen, einer ersten Ursache 
untergeordnet? Hier kommt vor allem die 
Enteroptose in Betracht, bei der häufig 
Senkung des Magens mit Lageveränderung 
des Uterus zusammentrißt; auch die häufig 
dabei bestehende Ren mobilis kann an und 
für sich zu dyspeptischen Beschwerden 
führen. — Auf Grund dieser Gesichtspunkte 
mußte der Verfasser von 100 Patientinnen, 
bei denen Magen- und Unterleibsbeschwer¬ 
den gleichzeitig bestanden, 66 ausschalten; 
in den übrigen 34 Fällen, in denen es sich 
vorwiegend um chronisch-entzündliche Ver¬ 
änderungen und Lageanomalien der Geni¬ 
talorgane handelte, fand L. bei der in der 
üblichen Weise angestellten Funktions¬ 
prüfung des Magens sehr verschiedene Ver¬ 
hältnisse : 9 mal Achlorydie, 7 mal Hypo- 
chlorydie mit Subazidität, 11 mal Hypochlo- 
rydie mit normaler Gesamtazidität, 6 mal 
normale Sekretion und in 10 Fällen Hyper¬ 
azidität. Von der Art der gynäkologischen 
Affektion sind die Funktionsstörungen un¬ 
abhängig. Da andere Autoren zu ab¬ 
weichenden Resultaten gelangt sind, die 
der Verfasser auffallenderweise dadurch 
erklärt, daß sie in verschiedenen Gegenden 
(Graz, Heidelberg, Berlin usw.) angestellt 
sind, zieht L. aus seinen Untersuchungen 
keine allgemeingültigen Schlüsse. Nur be¬ 
streitet er das Vorkommen einer Dyspepsia 
uterina als eines einheitlichen Krankheits¬ 


bildes. Gleichwohl hält er einen Kausalzu¬ 
sammenhang zwischen beiden Erscheinungen 
in vielen Fällen für wahrscheinlich und zwar 
in dem Sinne, daß den Magenstörungen, 
die im wesentlichen unter dem Bild einer 
Sensibilitäts- oder Sekretionsneurose ver¬ 
laufen, eine Alteration des gesamten Nerven¬ 
systems vorausgeht, an deren Zustande¬ 
kommen das Genitalleiden als auslösendes 
Moment wesentlich beteiligt ist. 

Wenn auch durch sachgemäße gynäko¬ 
logische Behandlung häufig die Magen¬ 
beschwerden beseitigt werden können, so 
ist doch im allgemeinen vor einer gynäko¬ 
logischen Polypragmasie zu warnen. The¬ 
rapeutisch hat vor allem die Allgemein¬ 
behandlung einzusetzen, nötigenfalls nach 
Orientierung über die Sekretionsverhält¬ 
nisse durch die Sonde eine medikamentöse 
Behandlung. 

Die durchdachte, kritische Arbeit Le vi- 
sohns ist für Gynäkologen und Internisten 
lesenswert. Namentlich muß Ref. der War¬ 
nung des Verfassers vor der von Gynäko¬ 
logen leider vielfach so kritiklos geübten 
polypragmatischen Lokalbehandlung bei¬ 
pflichten, welche das unerfreulichste Zeichen 
einseitigen Spezialistentums bildet. 

B. Hall au er (Charlottenburg). 

Berl. klin. Woch. 1909, Nr. 24, S. 1103. 

Zur Behandlung des Meni&reschen Sym- 
ptomenkomplexes emptieht Dr. H. Herz er 
(Rheinieldenj Vibrationsmassage der 
Nasenschleimhaut, Vibration und Pneumo- 
massage der um das äußere Ohr ge¬ 
legenen Kopfpartien. „Die Begründung des 
Heilerfolges scheint mir vor allem in der 
nach Behandlung der Nasenschleimhaut re¬ 
flektorisch erzielten starken aktiven Hyper¬ 
ämie des Kopfes zu liegen, deren Anwesen¬ 
heit lokal und in der Hyperämie der Kon¬ 
junktiven zu erkennen ist; möglicherweise 
findet auch gleichzeitig eine Reizung tro- 
phischer Nervenfasern statt, indem die Wir¬ 
kung der Vibration vielfach als eine dem 
galvanischen Strome ähnliche bezeichnet 
wird.“ Das letztere ist eine Hypothese, 
das erstere eine Tatsache. Auch durch 
Beklopfen des knöchernen Schädels kann 
man nach unseren Erfahrungen Schwindel¬ 
erscheinungen bis zu Menidreschen Sym¬ 
ptomen erfolgreich bekämpfen, die dadurch 
erzielte starke Hyperämie ist direkt sicht¬ 
bar. Daneben empfiehlt sich, als auf den¬ 
selben Effekt herauskommend, Schüttei¬ 
bewegungen, wechselnde Tief- und Hoch¬ 
lagerung, heiße Prozeduren, sowohl lokal 
als allgemein, nicht zu vergessen die Be¬ 
einflussung der wechselnden Blutfüllung 
im Schädel durch Atmung. Interessant ist 


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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


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es nun, daß Otto in einem Vortrag in der 
Dorpater medizinischen Gesellschaft berich¬ 
tet, daß Menstruation eine aniallauslösende 
Wirkung ausübt, dagegen gebückte Haltung 
bei anstrengender Arbeit, Bäder von 38° C, 
Aspirin, also kongestivierende, hyper- 
ämisierende Einflüsse, eine allmähliche 
Besserung bis zur dauernden Heilung her¬ 
vorbrachten. Hauff e (Ebenhausen). 

(Manch. med.Wochschr. 1909, Nr. 20, St. Peters¬ 
burger Med. Wochschr. 1909, Nr. 39, S. 525.) 

Die Versorgung des Ureters bei 
Nephrektomie wegen Tuberkulose ist von 
größter Wichtigkeit. Paschkis empfiehlt 
ein von Zuckerkandl geübtes Verfahren, 
bei dem die Wunde vor Kontakt mit 
tuberkulösem Eiter gut zu bewahren ist. 
Es wird die Niere durch Lumbalschnitt 
freigelegt, wenn möglich luxiert, die Ge¬ 
fäße des Stiels einzeln unterbunden. Nach¬ 
dem ein Drain oder Gazestreifen auf den 
Stumpf des Stiels gelegt ist, wird die in 
eine Kompresse gehüllte Niere samt dem 
Ureter in den unteren Wundwinkel gelegt; 
die Fascia transversa und die Muskulatur 
in 2—3 Schichten durch Katgutnähte ver¬ 
näht. Am unteren Wundwinkel fassen die 
Nähte die Muskelschicht des Ureters auf 
beiden Seiten mit; so ist der Ureter in 
einen Kanal von Muskulatur eingebettet. 
Es folgt dann die Naht der oberflächlichen 
Faszie und der Haut. Der Ureter, neben 
den ein Drain gelegt ist, wird 1 cm über 
dem Hautniveau unterbunden und mit dem 
Thermokauter durchschnitten. Die Eröffnung 
des mit infektiösem Material gefüllten 
Ureters erfolgt auf diese Weise erst nach 
vollständigem Verschluß der Wunde. Der 
vorgelagerte Ureterteil stößt sich ab, die 
Wunde pflegt sich in 2—3 Wochen zu 
schließen. Um den Heilungsprozeß zu be¬ 
fördern, empfiehlt sich eine Aetzung des 
Stumpfes mit 6% Karbolsäure. 

Hohmeier (Altonaj. 

{Deutsche Ztschr. f. Chir. Bd. 102, H. 1—3.) 

Die Behandlung der Oberschenkel- und 
Unterschenkelbrüche hat durch die 
Zuppingerschen Apparate in verschiede¬ 
ner Richtung große Fortschritte gemacht. 
Wenn Bardenheuer das Verdienst gehört, 
immer wieder für die Extensionsbehandlung 
eingetreten zu sein, so hat Zuppinger 
mit seinem Apparat, der auch auf dem 
Extensionsprinzip aufgebaut ist, die Behand¬ 
lung außerordentlich vereinfacht, sie in 
jedem Bett, in jedem Haus, durch jeden 
Arzt möglich gemacht. Dabei wird der 
Kranke niemals über zu großes Extensions¬ 
gewicht klagen und die Umgebung infolge¬ 
dessen nie das Gewicht abhängen, weil das 

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verletzte Glied durch sein eigenes Gewicht 
die Extension ausübt. Die Apparate sind 
sehr vervollkommnet worden und lassen 
einen Dekubitus sicher vermeiden. Jede 
neue Verbesserung gerade auf diesem Ge¬ 
biet ist freudig zu begrüßen, da trotz reich¬ 
licher Anwendung der Durchleuchtung die 
Resultate der Frakturenbehandlung nicht 
besser geworden sind. Eine erhebliche 
Muskelatrophie tritt bei der Apparatbehand¬ 
lung nicht ein und bleibende Gelenkver¬ 
steifung läßt sich auf dem mobilen Apparat 
mit ziemlicher Sicherheit vermeiden. Die 
relativ starre Immobilisation der Gelenke 
in Streckstellung und übermäßige Bean¬ 
spruchung der Elastizität der Weichteile, 
besonders der Muskeln durch Ueber- 
dosierung des Längszuges machen es 
möglich, daß trotz guter anatomischer Re¬ 
sultate das funktionelle Resultat Barden- 
heuers doch hinter den Erwartungen 
zurück bleibt; es bleibt oft eine Verminde¬ 
rung der Arbeitsfähigkeit durch Beuge¬ 
behinderung und Muskelschwäche zurück; 
die Ursache liegt in der Methode. Besser, 
als die Stauung ist für die funktionelle 
Frakturbehandlung die Anwendung des 
Zuppingerschen Apparates. Die Resultate 
sind so gut oder besser, als die besten 
bisher bekannten. Die Extension geschieht 
dabei bei gebeugter Hüfte, gebeugtem Knie 
und leichter Spitzfußstellung des Fußes; 
man kann dabei jede Verkürzung aus- 
gleichen mit einem effektiven Zug von 
3—4 kg für den Unterschenkel, 4 bis vor¬ 
übergehend 6 kg für den Oberschenkel. 

Man vergleiche damit die Bardenheuer- 
schen Gewichte! Das Glied liegt bei 
Unterschenkelbrüchen 3—4 Wochen, bei 
Oberschenkelbrüchen 5—6 Wochen auf dem 
Apparat; wenige Tage nach der Abnahme 
des Apparates besteht ganz freie Beweg¬ 
lichkeit aller Gelenke; das kommt daher, 
daß vom ersten Tage ab, ohne Beeinflussung 
der Extension, aktive Bewegungen in 
mäßigem Umfange möglich sind. Aus dem¬ 
selben Grund treten Muskelatrophie, längere 
Oedeme, Degeneration und schwielig fettige 
Durchwucherung der Muskeln, Phlebitis, 
Venektasien, Ischaemie nicht ein; Schlotter¬ 
gelenke und Gelenkergüsse sind auch un¬ 
möglich. Die leichte Spitzfußstellung ist 
das beste Mittel, um die gefürchtete Rekur- 
vation nach Unterschenkelbrüchen zu ver¬ 
meiden. — Die Apparate sind zu beziehen 
von Hausmann A. G.-St. Gallen (Schweiz) 
und kosten für Oberschenkel 34 Fr., für 
Unterschenkel 32,50 Fr. ausschließlich Zoll. ‘ 

Klink. 

(v. Bruns Beitr. z. kl. Chir. LX, 3.) 

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Der Pruritus localis und universalis Ernährungstherapie — die Aminosäuren als 
nervosus gehört zu den unangenehmsten das Nährpräparat der Zukunft bezeichnet, 
und vielfach therapeutisch sehr schwer zu- Abderhalden und seine Mitarbeiter be- 
gänglichen Affektionen. Vorübergehend richten nun in der vorliegenden Arbeit, daß 
lassen sich bei einer Anzahl von Fällen, ja sie vollkommen verdautes Rindfleisch zu 
durch die gewöhnlichen antipruriginösen Nährklystieren benutzt haben. Das Präparat 
Medikamente Besserungen, selten Heilungen war in den Höchster Farbwerken dar¬ 
erzielen. H. E. Schmidt weist nun auf gestellt worden, indem fettfreies Rindfleisch 
die vortreffliche Wirkung der Röntgen- 6 Wochen lang mit Pankreassaft und fünf 
strahlen bei diesen Affektionen hin. Für Wochen mit Darmpreßsaft verdaut wor- 
die lokalen Pruritusformen — Pruritus vul- den war. Danach ergab das Präparat 
vae, ani, scrotalis — werden dieselben keine Biuretreaktion mehr. Versuchsobjekt 
schon vielfach verwendet und Referent war ein zwölfjähriger Knabe, der vor 
kann aus eigener Erfahrung über gute V 2 Jahr sich eine Laugenverätzung des Oeso- 
Effekte nach dieser Richtung berichten, phagus mit nachfolgender Striktur zuge- 
Bei Pruritus universalis sind die X-Strahlen zogen hatte, danach Pneumonie, Empyem 
bisher nur wenig benutzt worden. Schmidt mit Rippenresektion und schließlich wegen 
teilt auch über die röntgenologische Be- vollständigen Verschlusses des Oesophagus 
handlung dieser ja sehr quälenden Affek- Gastrotomie durchgemacht hatte und auf 
tion günstige Erfahrungen mit; ebenso wird Fistelernährung angewiesen war. Durch 
nach ihm das häußg lang anhaltende all dieses Mißgeschick war der Knabe auf 
postskabiöse und pruriginöse Jucken gün- 25 kg, fast auf die Hälfte des ihm zu- 
stig durch die Behandlung beeinßußt. Es kommenden Körpergewichts, herabgekom- 
genügt meist die halbe Erythemdosis, selten men und also in einem Zustand von Ei¬ 
ist mehr erforderlich. Die Wirkung tritt weißhunger, der ihn zu Eiweißansatz- 
erst nach einer Latenzzeit von 4—8 Tagen versuchen sehr geeignet erscheinen ließ, 
ein. Sie hält 3—6 Wochen, aber auch Der Knabe bekam nach einigen Vorver- 
Monate und Jahre an, vielleicht ist auch suchen 15 Tage lang durch seine Magen¬ 
eine Dauerheilung möglich. Bei Rezidiven fistel 90 g Hafermehl, 150 g Fett, 50 g 
kann das Verfahren immer wieder ange- | Traubenzucker, 25 g Stärke, worin im 
wandt werden. Buschke. j ganzen 2,1 g N enthalten sind, und in je 

(Berl. kl. Wochschr. 1909, Nr. 37.) 

Das Problem der rektalen Ernährung 
hat eine wesentliche Förderung erfahren 
durch Versuche von Abderhalden, Frank 
und Schittenhelm, welche neuerdings 
mit gutem Erfolg ganz verdautes Fleisch 
per clysma zugeführt haben. Bekanntlich 
ist zuerst durch Loewi gezeigt worden, 
daß Hunde aus vollkommen verdautem 
Fleisch ihren Eiweißbedarf decken können, 
d. h. daß der tierische Organismus aus 
einem Gemisch von Aminosäuren Eiweiß 
aufzubauen vermag. Um die endgültige 
Feststellung dieser fundamentalen Tatsache 
hat sich besonders Abderhalden große 
Verdienste erworben. Für die praktische 
Ernährung namentlich kranker Menschen 
ergaben sich aus der neuen Erkenntnis 
neue Fragestellungen. Insbesondere lag 
es nahe, Gemische von Aminosäuren für 
die künstliche Ernährung zu verwerten und 
so habe ich schon vor 6 Jahren — in meiner 
Bearbeitung der Nährpräparate in Leydens 

INHALT: Noorden, Gastroptose S. 1. — Minkowski, Diabetes insipidus S. 4. — 
Lüthje, Azetonkörper und Haferkuren beim Diabetiker S. 8. — Baginsky, Scharlach S. 16. — 
Anschütz, Nagelextension bei Frakturen S. 22. — Ewald, Herztherapie S. 26. — F. Klemperer, 

• Tuberkulosetherapie S. 29. — Vorträge über Infektion S. 34. — Bücherbesprechungen S. 40. 
— Referate S. 41. 

Für die Redaktion verant wörtlich I'rof. Dr. G.Klemperer in Berlin. - Verlag von Urban&Schwarzenberg in Wien u. Berlin. 

Druck von Julius Sittenfcld, Hofbuchdrucker., in Berlin W.8. 

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2 täglichen Klystieren 72,4 g verdautes 
Fleisch und 10 g Hafermehl, worin 7,2 g N 
enthalten sind. Die Klystiere wurden im 
ganzen gut vertragen; von dem darin ent¬ 
haltenen N wurden nach Ausweis der Kot¬ 
bestimmungen täglich 5,7 g, d. h. etwa$0°/o 
resorbiert. Da das kalorische Gesamt¬ 
angebot für das reduzierte Körpergewicht 
ein relativ hohes war, so erklärt sich die 
beträchtliche N-Retention von 35 g in 
15 Tagen, welche sich aus der N-Bestimmung 
im Urin berechtet und welche ungefähr 
1100 g Muskelfleisch entsprechen würde. Die 
wirkliche Gewichtszunahme betrug indes in 
diesen 15 Tagen nur 500 g, sodaß auch mit 
der Möglichkeit der Retention N-haltiger 
Vorstufen des Eiweißes im Sinne Lüthjes 
gerechnet werden muß.—Die Beobachtungen 
der Verfasser sind jedenfalls von großer prak¬ 
tischer Bedeutung und werden gewiß zu er¬ 
neuter Bearbeitung der Fragen von der rek¬ 
talen Ernährung führen. G. Klemperer. 

(Zeitsehr. f. physiol. Chem. Bd. 63. S. 215.) 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


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Die Therapie der Gegenwart 


1910 


herausgegeben von Prof. Dr. G. Klemperer 
in Berlin. 


Februar 


Nachdruck verboten. 

Die Behandlung des Scharlachs. 

Von Adolf Baglnsky-Berlin. (Schluß). 

Wenden wir uns nunmehr der Behänd- I entgegensetzen, verwendet man mit großem 


lung der den Scharlach komplizierenden 
Affektionen zu. 

Es tritt uns in erster Reihe die Schar¬ 
lachangina entgegen. Sie ist, wie Sie 
wissen, ein Frühsymptom der Scharlach¬ 
erkrankung überhaupt und kann von der 
einfachen katarrhalischen Rötung und 
Schwellung bis zur starren Infiltration der 
Pharynxschleimhaut und Lymphorgane, wie 
Tonsillen und Retropharyngeallymph- 
apparat, weiterhin bis zu pseudodiphtheri¬ 
schen schmierigen Belägen und ulzerösem 
und gangränös-ulzerösem Zerfall der ge¬ 
samten Pharynxgebilden fortgeschritten in 
die Erscheinung treten. Lediglich schmerz¬ 
haft, von Fieber begleitet, den Schluckakt 
behindernd, als einfach entzündliche Form, 
können die maligen Formen durch septische 
Allgemeininfektion dem Kranken lebens¬ 
bedrohend und gefährlich werden. So 
muß deshalb jede Angina von vornherein 
ein Gegenstand aufmerksamster therapeuti- j 
scher Encheirese des Arztes sein. Hier 
also soll der Arzt ganz gewiß nicht die 
Hände in den Schoß legen; denn hier 
hat er hinreichend Mittel, und gute Mittel 
an der Hand, den Kranken zu Hilfe zu 
kommen. Bei den einfachen Formen ge¬ 
nügt es, den Kranken mit der Eiskrawatte 
zu behandeln, die aber geschickt wohl¬ 
anliegend gemacht werden muß; zum Gur¬ 
geln, zum Spülen oder bei jüngeren Kin¬ 
dern zur Verwendung im Spray mittels 
Doppeltgebläses verwende man 2—3°/ 0 ige 
Borsäurelösungen. Die schweren Erkran¬ 
kungsformen, wie Diphtheroid und ulzeröser 
Zerfall bedürfen sorgsamer lokaler An¬ 
wendung einer Reihe anderer Mittel; 

1. der örtlichen Einstäubungen mit Sozo- 
jodoInatrium und Schwefelpulver zu gleichen 
Teilen, mittels des Pulverbläsers, oder 

2. der Betupfung mittels Ichthyol. Sub¬ 
limat. 

Ammon. sulfo-ichthyolic. . .10 

Hydrargyr. bichlorat. corrosiv. 0.05 

Aq. destillat . ad 100. 

oder 

3. des Sprays mit Wasserstoffsuperoxyd 

1V2-2o/ 0 . 

Bei Kindern, welche einer örtlichen Be¬ 
handlung unüberwindlichen Widerstand 


Vorteil Formaminttabletten, die wie Bon¬ 
bons den Kindern 3—4—5 Stück pro die 
angeboten und in der Regel von denselben 
gern genommen werden; ich habe dieselben 
in schweren Fällen von ausgezeichneter 
Wirkung gesehen, wobei noch ihre bequeme 
Anwendungsweise als besonderer Vorteil 
sich geltend macht. 

Im Anschlüsse an die mehr oder weni¬ 
ger schweren Anginen kommt nun gar 
nicht selten eine analog mehr oder weni¬ 
ger schwere Erkrankung der Mundschleim¬ 
haut vor; auch gegen diese sind insbeson¬ 
dere die erwähnten Spraymittel von guter 
Wirkung, indes haben sich bei den aller¬ 
schwersten, ebenfalls mit gangränösem 
Zerfall der Wangenschleimhaut oder des 
Zahnfleisches einhergehenden Formen noch 
besonders Kombinationen von Menthol 
oder Thymol mit Wasserstoffsuperoxyd in 
örtlicher Anwendung bei uns bewährt. 

Man verordne: 

Thymol oder Menthol . . .0,5 

Alkohol absolut. 

Wasser Stoff super oxyd( 3%) aa 20. 

! und tupfe mit dem Medikament die ulzerö¬ 
sen oder nekrotischen Stellen 3—4mal täg¬ 
lich. Wir haben mit dem Mittel bei den 
schwersten, der Stomakace und Noma 
sich annähernden Fällen, den vortrefflich¬ 
sten Erfolg und raschen Uebergang zur 
Heilung gesehen. Erwähnen muß ich aber 
bei dieser Gelegenheit noch, daß der auf- 
I merksame Arzt bei all den genannten 
Mund- und Pharynxaffektionen Bedacht 
| nehmen muß, auch auf wirkliche, echte 
Diphtherie zu fahnden. Es handelt sich zu 
allermeist nicht um Diphtherie, nicht um 
! Anwesenheit von Löffler-Bazillen in den 
Belägen; indessen kommen doch auch 
Kombinationen des (Streptokokken-)Diph- 
theroids mit echter (Löffier-)Diphtherie vor. 
Ist letzteres der Fall und hat man den 
Löffler-Bazillus nachgewiesen, so darf man 
selbstverständlich bei dieser Kombination 
von echter Diphtherie mit Scharlach- 
diphtheroid nicht zögern, die entsprechen¬ 
den Mengen von Diphtherieantitoxin neben 
der beschriebenen örtlichen Medikation zur 
Anwendung zu bringen. Man wird ferner 
gut tun, nebenher innerlich als tonisieren- 

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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Februar 


des innerliches Medikament Decoct Chinae 
4—10:100 2stQndl. bis 3stQndl. zu verab¬ 
reichen. 

Zwei weitere Komplikationen schließen 
sich gern an diese schweren Stomatitiden 
und Anginen an, — die mit Schwellung, 
Rhagaden und ulzerösem Zerfall einher¬ 
gehende Schwellung und Entzündung der 
Lippen (Cheilitis), die sehr quälend wird, 
insbesondere, wenn auch die Mundwinkel 
ulzerös werden, und — die Infiltration und 
Schwellung der cervikalen Lymphdrüsen 
und des umgebenden Zellgewebes — die 
cervikale Lymphadenitis und Phlegmone. 

Bei den einfachen Rhagadenbildungen 
an den Lippen kommt man in der Regel 
mit der Applikation von Borvaseline (2 bis 
3%) aus; die weiter greifenden ulzerösen 
Erkrankungen der Lippen wird am besten 
mit Aufstreichen von Zink-Borsäurepaste 
behandelt. Man verwende die bekannte 
Paste: 

Zinc . oxydat. . . . 20—25 

Amyli aa 

Acid. borici ... 3 

Vaselini . ad 100 

oder, wo man mit dieser nicht auskommt 
und der Prozeß nicht sistiert und zur Hei¬ 
lung neigt, pinsele man Rhagaden und Ul- 
cera mit 1 —2°/ 0 iger Arg. nitric.-Lösung, oder 
endlich, wo auch dieses Mittel nicht Hei¬ 
lung zu bringen scheint, appliziere man, 
und dies geschieht zumeist mit sehr gutem 
Erfolg eine 1- bis 2%ige Arg. nitric.-Salbe 
folgender Zusammensetzung: 

Rp. Argent nitric.... 0,5 

Balsam Peruvian. . 0,25 — 0,5 
Vaselini flavi ... ad 20, 
eine Heilsalbe von zuweilen wundervoller 
Wirksamkeit, die auch sonst bei rhagaden¬ 
bildenden Prozessen gar nicht hoch genug 
ein geschätzt werden kann. 

Die andere Komplikation, die Schwel¬ 
lungen der cervikalen Lymphdrüsen, sind 
ja im Scharlach wie auch sonst die Be¬ 
gleiter der Naso-Pharynxerkrankungen, sie 
sind sekundäre Affektionen und heilen 
spontan ab, sobald die Schleimhaut- 
affektionen weichen; somit liegt auch ihre 
Behandlung schon mit in der gegebenen 
Therapie der ersteren. — Die Applikation 
der Eiskravatte genügt dann zumeist als 
Unterstützungsmittel« auch um die Schmerz¬ 
haftigkeit, die die Schwellung meist macht, 
zu beseitigen. Will man örtlich noch 
etwas Besonders anwenden, in der Idee die 
Rückbildung der geschwollenen Drüsen zu 
fördern, so ist gegen die Applikation von 
Ichthyolsalben (10—20 %), auf Mull ge¬ 
strichen, aufgelegt, nichts einzuwenden. 


Der Nutzen freilich ist zweifelhaft, so lange 
der Schleimhautprozeß nicht abheilt. — 
Weit schlimmer ist nun freilich der zur 
Eiterung führende Schwellungsprozeß der 
cervikalen Lymphdrüse, noch dazu dann, 
wenn das periglanduläre Gewebe mit er¬ 
griffen wird und auch die Fascien mit in 
den Prozeß der Eiterung mit hineingezogen 
werden. Man hat es dann mit den ge¬ 
fürchteten skarlatinösen Halsphlegmonen 
zu tun, gegen welche kaum noch anders 
als chirurgisch vorzugehen ist. Man prüfe 
sorgsam auf Fluktuation, die in der Regel 
sehr tief liegt, und incidiere frühzeitig und 
ausgiebig, entferne auch bereits in vollem 
Zerfall befindliche Drüsen; alles übrige ist 
rein chirurgische Encheirese. — Es ist be¬ 
kannt, daß die Halsphlegmonen beim Schar¬ 
lach in der Tiefe gern und rasch an die 
Gefäßscheiden Vordringen und selbst Arro- 
sionen der großen Halsvenen oder gar der 
Carotis herbeizuführen vermögen. Man 
wird also auch chirurgisch auf der Hut sein 
müssen und eventuell selbst vor einer 
Karotisunterbindung nicht zurückscheuen 
dürfen. — Freilich gilt auch hier das 
ne quid nimis!; indeß kann man be¬ 
greiflicherweise dem einschreitenden Chi¬ 
rurgen keine Vorschriften machen; nur soll 
auch dieser sich auf das Mindestmaß des 
Notwendigen beschränken. 

Man hat es, meine Herren, bei diesem 
ganzen, zum Teil, wie Sie wissen, gefähr¬ 
lichen Komplex von Affektionen in erster 
Linie mit der Wirksamkeit von hoch- 
virulenten Streptokokken zu tun; dieselben 
zirkulieren im Blute, und so darf es nicht 
wundernehmen, daß nunmehr im Anschluß 
an die mehr örtlichen begrenzten Prozesse 
auch an entfernteren Gebieten, mehr oder 
weniger bedrohliche Affektionen auftreten; 
so sind denn die Gelenke gar gern ein 
Angriffspunkt der Scarlatina Streptokokken; 
auch hier kann man, wie bei den Anginen, 
die leichten und schweren Formen in die 
Erscheinung treten sehen, die ersteren un¬ 
gefährlich, passager, lediglich zu Rötung, 
Schmerzhaftigkeit des Gelenkes mit Schwel¬ 
lung des Synovialgewebes führend, ein 
Prozeß, der sich in Kürze wieder zurück¬ 
bildet, während die letzteren, die schweren 
Erkrankungen, rapid und unter erheblicher 
Schwellung des periartikularen Gewebes, 
zur Vereiterung der Gelenke Anlaß geben. 
Sie sind alsdann der Ausdruck pyämischer 
Allgemeinerkrankung, gegen welche zumeist 
auch energische chirurgische Eingriffe sich 
als unwirksam erweisen. — Gegen die 
leichteren Erkrankungsformen wendet man 
sich schon um der Höhe des Fiebers willen 


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Februar 


Die Therapie der Gegenwart 1910 


51 


und um der Schmerzhaftigkeit willen, welche 
die Affektion begleitet, gern an die An¬ 
wendung der Salizylprflparate. Wie bei 
akuter Polyarthitis rheumatica wird man 
Acid. salicylicum, oder Aspirin zur An¬ 
wendung bringen, hier beim Scharlach meist 
auch mit gutem, dem gleichen Erfolg wie 
beim Rheumatismus, und unter Anwendung 
derselben gaben von 1—2—3 g pro die, 
je nach Schwere der Affektion und Alters¬ 
stufe der Kinder. Leider werden die 
schweren, die zur Eiterung fahrenden Er¬ 
krankungen von dem Mittel so gut wie gar 
nicht beeinflußt, vielmehr gehen diese ihren 
verhängnißvollen Weg; sie lassen sich auch 
nicht, wie ich dies leider in einigen Fällen 
zu beobachten vermochte, durch die ener¬ 
gischeste Anwendung von allgemeinen Ein¬ 
reibungskuren mittelst Unguent Argenti 
colloidalis Ci6d£ beeinflussen. — Wir 
werden alsbald auch auf die mit den Gelenk¬ 
affektionen hier, wie beim Rheumatismus, 
einhergehenden Herzerkrankungen einzu- 
gehen haben. 

Vorerst sei indeß noch einer anderen, 
als Glied der gleichen Streptokokkus¬ 
infektion angehörenden Komplikation, der 
Otitis media gedacht, und der mit dieser 
sich verquickenden Erkrankungen der 
Nebenorgane des Ohres, des Processus 
mastoideus und seiner Höhlen, des inneren 
Ohres, der Gefäße bis hinauf an die 
Schädelbasis, der Sinus des Schädels. — 
Leichtere Mittelohrenerkrankungen sind, 
wie bei dem Vorkommen der Anginen be¬ 
greiflich, ziemlich häufig beim Scharlach; 
sie machen sich meist frühzeitig durch 
Schmerzen, Schwerhörigkeit und vor allem 
durch das Fieber bemerldich und ein auf¬ 
merksamer Arzt wird Qberdieß die häufige 
Untersuchung des Ohres mittelst des 
Spiegels beim Scharlach kaum je unter¬ 
lassen. — Man wird versuchen müssen, 
sofern die Erscheinungen der Mittelohr¬ 
entzündung, Rötung des Trommelfells, Ver¬ 
wölbung und Empfindlichkeit sich kund 
geben, durch Applikation von Eisblasen 
auf Ohr und Umgebung und vielleicht auch 
durch Einträufelungen von Carboiglyzerin 
(1—2%) des Prozesses Herr zu werden. 
Es glückt dies bei konsequenter Anwendung 
auch in vielen Fällen. — Bei eingetretenen 
Zeichen von Eiterung im Mittelohr, ins¬ 
besondere bei begleitenden hohen, oder 
in der Höhe der Temperatur schwankendem 
Fieber wird man keinen Augenblick zögern 
dürfen, die Parazentese des Trommelfells 
zu machen; die weitere Behandlung dürfte 
dann die übliche mittelst antiseptischer 
Mittel, Karbolglyzerin, Drainage mit Jodo¬ 


form- oder Xeroformgaze, Borsäurelösungen 
usw. sein. — Bleiben die Nebenorgane des 
Ohres intakt, der Processus mastoideus 
frei von Schmerz und Schwellung, mäßigt 
sich langsam die Eiterung, so darf man 
hoffen, daß der ganze Prozeß ohne wesent¬ 
liche Schädigung abläuft. Anders, wenn 
Druckschmerz am Processus mastoideus 
und Schwellungszustände eintreten und 
das Fieber intermittierenden Charakter 
(echter Streptokokkenkurven) behält, dann, 
meine Herren, seien Sie wohl auf der Hut. 
Die Mittelohrentzündungen gehören dann 
im Scharlach mit zu den allergefährlichsten 
Komplikationen, weil unter rapider Ein¬ 
schmelzung des Knochens weitgehende 
Eiterinfiltrationen, Veijauchung, Throm¬ 
bosen der Gefäße eintreten, die nach der 
Schädelbasis sich fortsetzend zu pyämischer 
Sinusinfektion mit Thrombose und der Ge¬ 
fahr allgemein pyämischer Infektion führen. 

— Das alles kann im Scharlach so rapid 
geschehen, daß man bezüglich der statt¬ 
gehabten Zerstörungen geradezu in 
Schrecken gesetzt wird. Hier bleibt nichts 
übrig, als schleunigstes kunstgerechtes 
chirurgisch otiatrisches Eingreifen. Jede 
Versäumnis kann den Tod oder zum min¬ 
desten den dauernden Verlust des Gehör¬ 
vermögens bei dem erkrankten Kinde nach 
sich ziehen. In die detaillierten Fragen 
der otiatrischen Technik beziehentlich der 
weiteren Behandlung der Fälle kann ich 
begreiflicherweise hier nicht eingehen; sie 
liegen uns ferner und gehören tatsächlich 
in das Gebiet wohlgeschulter Ohrenärzte. 

— Was nun aber jeder Praktiker wissen 
muß, ist die Kenntnis der Vorgänge am 
Ohre selbst und die rechtzeitige Erkenntnis 
der Gefahren, in denen der Kränke bei 
der Erkrankung des Ohres schwebt. Sie 
dürfen sich, meine Herren, nicht von 
pyämischen Consequenzen der skarlatinösen 
Mittelohrerkrankungen überraschen lassen; 
Sie dürfen nicht durch Schüttelfröste und 
Temperaturstürze erst aufmerksam gemacht 
sein, daß der Kranke pyämisch zugrunde 
zu gehen in Gefahr ist. — 

Meine Herren! Ich gehe nicht des wei¬ 
teren ein auf eine Reihe von zum Teil sel¬ 
tenen, in manchen Epidemien freilich ge¬ 
häuft auftretenden Komplikationen, wie 
Diarrhöen, Ikterus, Schwellung der Leber, 
Bronchopneumonien, Pleuritis usw. Alle 
diese werden entweder mit Abklingen der 
Infektion spontan besser oder sie werden, 
wo ein Eingreifen sich als notwendig er¬ 
weist, nach den üblichen Behandlungs¬ 
methoden und Indikationen behandelt, 
ohne Rücksicht darauf, daß sie auf dem 

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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Februar 


Boden der Scharlacherkrankung entstanden 
sind. 

Wir wenden uns vielmehr der bedeut¬ 
samsten aller Komplikationen, der Nephritis, 
zu. Man sagt nicht zu viel, wenn man be¬ 
hauptet, daß von der zweiten oder zum 
mindesten von der dritten Woche an der 
Verlauf der Krankheit von der Beschaffen¬ 
heit der Niere dominiert wird. Darum ja 
von vornherein die auf die Beschaffenheit 
des Harnes gerichtete Aufmerksamkeit des 
sachverständigen Arztes, darum auch die 
Ihnen schon gekennzeichnete Notwendig¬ 
keit in der Strenge der Diät, der Abstinenz 
von animalischer Kost. Ich darf Sie, meine 
Herren, bezüglich der skarlatinösen Ne¬ 
phritis auf zwei aus dieser Krankenabtei¬ 
lung unserer Klinik hervorgegangenen Ar¬ 
beiten hinweisen, auf die im Jahre 1893 
im Archiv f. Kinderheilkunde erschienene 
Studie von meinem Assistenten Stamm, 
die sich mit den anatomischen Verhält¬ 
nissen der Nierenentzündung und mit dem 
Werdegange derselben beschäftigte, und 
auf die von mir selbst publizierte im 33ten 
Bande aus dem Jahre 1902. In letzterer 
ist neben der anatomischen Seite der 
Frage die klinische Pathologie und ins* 
besondere auch die Therapie der skarlati¬ 
nösen Nephritis aufs eingehendste gewür¬ 
digt. Ich vermag auch kaum demjenigen, 
was ich damals aus der Erfahrung und Be¬ 
obachtung heraus publiziert habe, wesent¬ 
lich neues hinzuzufügen, und möchte Sie 
bitten» diese, wie ich glaube, sehr ein¬ 
gehende Studie sorgsam zu lesen, um sich 
zu belehren. Was mich vielleicht heute 
dazu drängt, auf die Frage der scarlati- 
nöseu Nephritis noch einzugehen, ist die 
nochmalige Erörterung der Prophylaxe der 
Affektion, Es wird Ihnen nicht unbekannt 
geblieben sein, daß seit einer Reihe von 
Jahren therapeutische Versuche gemacht 
werden, die Scharlachnephritis mittelst sol¬ 
cher Mittel, welche in den Harnwegen 
antiseptische Wirkungen entfalten, zu ver¬ 
hüten, der Entstehung derselben vorzu¬ 
beugen. Ich erinnere Sie hier an die Vor¬ 
schläge vonWidowitz, zu diesem Zwecke 
Urotropin zur Anwendung zu bringen, 
Baläzs hat dafür das Helmitol empfohlen, 
welches ebenso wie Urotropin im Harn 
Formaldehyd abspaltet und dadurch anti- 
septische Wirkungen zuwege bringen soll. 
Seither sind die Meinungen der verschie¬ 
densten Beobachter über die Wirkung 
dieser Mittel sehr voneinander abweichend 
geblieben, so lehnt Schöneich nach Er¬ 
fahrungen an 340 Scharlachkranken die 
Behauptung der Wirksamkeit des Urotropin 


durchaus ab; die prophylaktische Dar¬ 
reichung von Urotropin hat nach seinen 
Beobachtungen die Entstehung der Nephritis 
nicht zu verhüfen, auch den Verlauf nicht 
günstig zu beeinflussen vermocht; auch 
Garlipp spricht sich in ähnlichem Sinne 
aus. Auf der anderen Seite haben Pr ei¬ 
sich, Patschkowski, Buttersack, 
Thompson und jüngst erst Grawitz 
sich zum Teil sehr warm für die Anwen¬ 
dung des Urotropin ausgesprochen. Butter¬ 
sack empfiehlt sogar die fortlaufende Dar¬ 
reichung von dreimaligen Tagesgaben von 
0,05—0,5 g Urotropin. — Ich verweise Sie 
auf diese hier einschlägige Literatur. — 
Wie steht nun, meine Herren, diese Frage 
hier nach unseren Beobachtungen und bei 
unserem Krankenmaterial? Lassen Sie 
mich Ihnen zunächst die Tatsache betonen, 
daß nichts schwieriger ist, als gerade beim 
Scharlach derartige Fragen aus beschränk¬ 
ten kleineren Beobachtungsziffern zur Ent¬ 
scheidung zu bringen. Die Epidemien 
haben, ohne daß wir wissen warum, wesent¬ 
lich von einander verschiedene Charaktere; 
eine Scharlachepidemie tritt von vornherein 
mit zahlreichen Nephritisfällen auf, in einer 
anderen kommt Nephritis kaum je zur Be¬ 
obachtung; was aber noch merkwürdiger 
ist, das ist, daß in derselben Epidemie die 
Zahl der Nephritiden auffallend wechselt; 
so kommt es vor, daß wir hier zuweilen 
monatelang keinen Fall von Nephritis zur 
Beobachtung bekommen, während plötzlich 
die Nephritiden gehäuft erscheinen; ganz 
gewiß ist man hierbei nicht allein von dem 
unbekannten „Etwas* in dem Genius epi- 
demicus abhängig, sondern auch der Zufall 
spielt dabei mit, sodaß wir eine Zeitlang 
von Hause aus diätetisch besser besorgte, 
besser verpflegte, ein andermal diätetisch 
schlecht behandelte, vernachlässigte Kinder 
zur Beobachtung bekommen; auch die kon¬ 
stitutionelle Beschaffenheit der Kinder mag 
überdies eine Rolle spielen. So ist in sich 
schon, unter der anscheinend möglichst 
gleichmäßigen Qualität der Beobachtungen 
an ein und derselben Heilstätte kaum ein 
vergleichbares Material zu erhalten. So» 
viel steht ein für allemal fest, und ich habe 
dies in der oben erwähnten Arbeit bereits 
präzis ausgesprochen, daß 1. die Zahl der 
bei unserem Regime im Krankenhause 
selbst entstehenden Nephritiden eine mini¬ 
male ist, 2. und dies ist vielleicht noch 
wichtiger, daß bösartige Nephritiden mit 
malignem Verlauf, Nephritiden, die Hydrops 
und urämische Attacken machen und in 
diesen Affektionen zum Tode führen, bei 
uns nahezu unbekannt sind. — Lassen Sie 


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Februar 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


53 


uns einmal unser Krankenmaterial nach 
dieser Richtung hin prüfen. Wir haben in 
den Jahren 1906, 1907, 1908 = 729 Schar¬ 
lachfälle zu behandeln gehabt. Von diesen 
sind 88 bereits mit NephHtis ins Kranken¬ 
haus hineingekommen. — In dem Kranken¬ 
hause selbst haben 36 Nephritis im Ver¬ 
laufe des Scharlachs bekommen, das ist 
nach Abzug der 88 Fälle bei 641 Fällen 
5,6%. Von den 36 Fällen haben wir 26 
vollkommen geheilt zu entlassen vermocht. 
Kein einziger der 36 Fälle hat einen urä¬ 
mischen Insult gehabt, und Hydrops kam 
kaum je anders, und auch dies vereinzelt, 
als in Form leichter Oedeme um die Augen 
und an den Knöcheln zum Vorschein. — 
Gestorben sind von den 36 Nephritikern 4; 
die Sektion ergab bei einem der Verstorbe¬ 
nen Tuberkulose der Mesenterialdrüsen 
und tuberkulöse Geschwüre im Ueum; bei 
einem anderen eine echte croupöse Pneu¬ 
monie; bei dem dritten eine schwere ne¬ 
krotische Angina mit septischen Infarkten 
in der Lunge. Die Sektion des vierten 
durfte nicht gemacht werden, die klinische I 
Diagnose war: Angina Ludovici, septische 
Allgemeininfektion. 

Kein einziger Fall ist an den Nephritis 
oder den Folgen derselben gestorben, ja | 
auch nur an den ernsteren Folgen der Ne¬ 
phritis erkrankt. 

So unsere Beobachtungen. Wenn ich 
dieselben, ohne gerade etwa vergleichen 
zu wollen, den Allgemeinbeobachtungen 
von Scharlach an anderen Heilstätten, 
gegenüberstelle, so halten sie nicht allein 
jeden Vergleich aus, sondern ich glaube 
kaum, daß es mit irgend einer Behandlungs¬ 
methode möglich gewesen wäre, zu einem 
besseren Ergebnis zu kommen. 

Jetzt, meine Herren, werden Sie mich 
verstehen, daß ich mich von der angeblich 
spezifisch prophylaktischen Therapie mittels 
Helmitol oder Urotropin ferngehalten 
habe. Ich will die Mittel nicht perhorres- 
zieren und werde vielleicht auch gelegent¬ 
lich einmal eine Versuchsreihe aufnehmen; 
vorerst habe ich aber keinen Anlaß, von 
gut erprobten Methoden unserer Therapie 
abzuweichen, und immerhin zweifelhafte 
Medikamente in Anwendung zu bringen. 

Wir behandeln die Nephritis höchst 
einfach, mit konsequenter strenger Milch¬ 
diät, und mit täglich oder zum mindesten 
je nach Bedarf gegebenen Schwitzbädern. 
Damit verhütet man zuverlässig das Auf¬ 
treten von Hydrops, und scheidet so alle 
häßlichen den Hydrops so gern begleiten¬ 
den Komplikationen, wieBronchitis, Broncho¬ 
pneumonien, Pleuritiden, Phlegmonen usw. 


aus. Nur selten werden zur Anspornung 
der Diurese andere Mittel als der Gebrauch 
alkalischer Wässer, wie Wildunger, Fachin- 
ger, Vichy nötig. 

Von eigentlicher Diureticis, wie Theocin, 
Diuretin ist meines Wissejis nie Gebrauch 
gemacht worden, und ich widerrate Ihnen, 
diese sonst für Herzkranke so hoch von 
mir geschätzten Mittel, bei akuter Nephritis 
anzuwenden. 

Bei allzu gesteigerter Diurese lasse ich 
sogar die Milchmenge auf 1—1*/2 1 pro 
Tag beschränken und lasse dafür den 
Kranken Breiformen, Griesbrei, Reisbrei 
verabreichen. Mit dieser einfachen diäteti¬ 
schen Therapie bekämpfen Sie die Mehr¬ 
zahl der Nephritiden, wenigstens die ein¬ 
fachen, und wenn Sie sie früh in Behand¬ 
lung bekommen. — Schwieriger werden 
nun freilich die Verhältnisse, wenn starke 
hydropische Kranke in Ihre Behandlung 
kommen, oder wenn Anomalien des Her¬ 
zens die Nierenentzündungen begleiten. Sie 
werden dann beim Hydrops neben Schwitz- 
I bädern vielleicht mitunter von diuretischen 
Mitteln Gebrauch machen müssen, und bei 
hydropischen Kranken, die gleichzeitighoch¬ 
fiebrig sind, bei denen Sie also es nicht 
| wagen wollen, heiße Schwitzbäder anzuwen¬ 
den, werden Sie wohl gar den Mut haben 
müssen, den Kranken in ein kaltes Laken 
einzuschlagen und in der kalten Einpackung 
zum Transpirieren zu bringen. Es sind Mi¬ 
nuten ernster, schwerer Entschließung, bei 
dem unter Dyspnoe, schlechtem Puls, und 
Stauungssymptomen, wie Schwellung der 
Leber, Milz usw. schwerleidenden Kranken 
zu so heroischen Anwendungen schreiten 
zu müssen, und doch werden Sie, wenn 
Sie mit Ausdauer und steter Beobachtung 
der Kräfte, dem Kranken zur Seite sind, 
vielleicht auch zur ernsten Zeit ihm selbst 
einen Schluck Champagner gönnen, eine 
Kampferinjektion dazwischen schieben, 
wundervoll glückliche Erfolge, selbst in 
anscheinend schon verzweifelten Fällen er¬ 
leben. Ich will hier nicht, meine Herren, 
vieles wiederholen, was ich bereits in 
meiner Ihnen zitierten Abhandlung nieder¬ 
gelegt habe; indes soll doch Eines Erwähnung 
finden, weil es mich noch auf die Berück¬ 
sichtigung der Herzanomalien führt, welche 
die Nephritis begleiten; d. i. die Kombina¬ 
tion der drohenden Anurie bei schwerer 
haemorrhagischer Nephritis mit myokardi- 
tischen Störungen, mit Dilatatio cordis 
und vielleicht auch mit Endokarditis. 
Hier muß der Gebrauch der Digitalis in 
ausreichender Gabe, sei es, daß Sie nun 
Digitalisinfuse oder Dialysate oder auch 


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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Februar 


Digalen, letzteres selbst in intravenöser 
Anwendung zu Hilfe nehmen, Schwitzbad 
oder Einpackungen unterstützen. 

Freilich können Ihnen von mir ihr den 
einzelnen Fall allgemeingültige bestimmte 
Vorschriften nicht gegeben werden; hier 
liegt alles in der Hand des geschickten, 
sorgsamen Arztes, der auch wohl die 
Dosierung der Mittel nach der augenblick¬ 
lichen Sachlage zu modifizieren verstehen 
muß. Nur tasten Sie auch nicht vielgeschäftig 
umher, springen Sie nicht von einem Mittel 
zum andern, von Digitalis zum Koffein, 
vom Koffein zu Diuretin oder Theocin usw.; 
bei diesen schweren, acut lebensbedrohen¬ 
den Krankheitserscheinungen kann vielmehr 
nur ruhiges, konsequentes Handeln dem 
Kranken zum Heil werden. 

So auch bei den erschreckend herein¬ 
brechenden urämischen Symptomen, bei 
Erbrechen, Amblyopie,Koma und Konvul¬ 
sionen. Ich habe frühzeitig schon die 
Anwendung von Blutziehungen empfohlen 
und habe seit Jahren in der Anwendung 
der Venaesektion das eigentliche Heil 
mittel der urämischen gefunden und ge¬ 
lehrt. Tatsächlich reißt die Blutentleerung 
von 80—100—150 ccm Blut, je nach dem 
Alter und der Konstitution des Kindes, 
dasselbe aus der akuten Lebensgefahr. 
Ich komme wohl, meine Herren, gelegentlich 
der Besprechung der Behandlung derNieren- 
erkrankungen einmal noch ausführlich auf 
die Uraemie und deren Therapie zurück. 
Hier möchte ich es mit diesen Anmerkungen 
genug sein lassen. 

Damit, meine Herren, habe ich, wie ich 
eingangs Ihnen sagte, gewiß nicht die 
Therapie des Scharlachs erschöpft. Hun¬ 
dertfältig sind die Variationen von Krank¬ 


heitsprozessen, die sich im Scharlach an 
Haut, Schleimhäuten und serösen Häuten 
darbieten. Die sekundären (Streptokokken-) 
Infektionen verschonen, da das Virus in 
Blut- und Lymphbahnen * sich befindet, 
kaum irgend einen Körperteil, kaum irgend 
ein Gewebe; so hieße es, alles erdenklich 
Pathologische in die Betrachtung der 
Therapie des Scharlachs mit hineinziehen, 
wollte man allen Vorkommnissen gerecht 
werden. Das Wichtigste glaube ich Ihnen 
mitgeteilt zu haben, und darf nur noch 
hinzufügen, daß Sie auf Kinder, die Schar¬ 
lach überstanden haben, noch lange Zeit 
ein wachsames Auge haben müssen, daß 
Sie insbesondere den Harn stetig unter 
Kontrolle behalten müssen, weil sich her¬ 
ausgestellt hat, daß die chronischen Nephri¬ 
tiden des kindlichen Altuss, und auch viele 
Herzaffektionen dem Scharlach ihren Ur¬ 
sprung verdanken. Daher sei man vorsichtig 
genug, Kinder nach überstandenen Scharlach 
nicht rauhen klimatischen Einwirkungen 
aussetzen zu wollen, selbst mit dem Ge¬ 
brauch von Seeklima und Seebädern, auch 
vor Aufenthalt in feuchter Waldgegend 
zurückzuhalten. Scharlachrekonvaleszenten 
dürften Sie am besten an milde, sonnige 
Plätze schicken, in Deutschland etwa nach 
Thüringen, in den Taunus oder die nicht 
zu tief im Walde liegenden Kurorte des 
württembergischen und badischen Schwarz¬ 
waldes. In Tirol und Schweiz nur in mitt¬ 
lere Höhenlagen, die möglichst frei von 
Nebel und raschen Wetterstürzen sind, 
Dies alles gehört mit in das Gebiet 
der Behandlung der chronischen Nieren¬ 
erkrankungen, auch davon, meine Herren, 
ein andermal Ausführlicheres und Ein¬ 
gehenderes. 


Das Sauerstoffbad in der ärztlichen Hauspraxis. 

Von Dr. Julius Baedeker, prakt. Arzt in Berlin. 


In der Julinummer 1909 der „Ther. der 
Gegenwart" veröffentlichte Stabsarzt Dr. 
Scholz einige von ihm im hydrotherapeuti¬ 
schen Institut der Universität Berlin ge¬ 
sammelte Erfahrungen über Sauerstoffbäder. 
Als wesentlichstes Moment dieser Arbeit 
erschien mir die Tatsache, daß nach der¬ 
selben Sauerstoffbäder überhaupt eine 
wichtige differente physiologische und da¬ 
her bei richtiger Anwendung auch thera¬ 
peutische Wirkung ausüben. 

Deshalb hielt ich es für geboten, auch 
außerhalb der Klinik, lediglich auf dem 
Felde der allgemeinen ärztlichen Haus¬ 
praxis, einmal nachzuprüfen, ob und unter 
welchen Indikationen Sauerstoffbäder ge¬ 


eignet seien, das therapeutische Arsenal 
des praktischen Arztes zu bereichern. 
Gerade auf dem Gebiete der häuslichen, 
das heißt in der Wohnung des Patienten 
durchzuführenden Badekuren, hat sich ja 
in den letzten Jahren ein neues, sehr 
dankbares Feld für die Tätigkeit des prak¬ 
tischen Arztes ergeben! 

Seit Jahren lasse ich mit bestem Er¬ 
folge die bekannten künstlichen Kohlen¬ 
säurebäder „mit den Kissen" im Hause 
nehmen. 

Was nun speziell die Handhabung der 
Sauerstoffbäder in der Wohnung des 
Patienten betrifft, so verfuhr ich dabei 
also: 


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Februar 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


55 


Die Badekur wird möglichst zu einer 
Zeit vorgenommen, wo der Patient einen 
mehrwöchentlichen Urlaub hat, den man 
ihm, wenn angflngig, durch ärztliches Attest 
verschafft! Während der Urlaubszeit 
können wir zahlreiche der Badekur ent¬ 
gegenwirkende, oft in der Berufsarbeit zu 
erblickende ungünstige Bedingungen aus¬ 
schalten und ihn unter die möglichst 
günstigsten Bedingungen bezüglich eines Er¬ 
folges stellen. Dazu gehört, daß der 
Patient nicht badet, wenn die vitale Tages¬ 
energie seiner Nerven schon zu 2 /$ ver¬ 
braucht ist, sondern zu einer Zeit, wo sie 
noch fast unverbraucht ist, das heißt, 
zwischen 10 und 12 Uhr vormittags! 

Anfangs, um erst mal die individuelle 
Wirksamkeit des Bades festzustellen, be¬ 
suchen wir den Patienten behufs Unter¬ 
suchung vor und tyg Stunde nach dem 
Bade. Das erfordert nicht so viel Zeit, 
wie es den Anschein hat. Wir lassen 
nach vorheriger Angabe das Bad bis zum 
Einsteigen und Hineinlegen des Kissens 
mit dem Katalysator fertig bereit halten, 
besuchen bei Beginn unserer Vormittags¬ 
besuchstour unseren Badepatienten, geben 
unsere Vorschriften betreffs Dauer und 
Verhalten nach dem Bade nach vorheriger 
Untersuchung und gehen dann wieder fort, 
um inzwischen einen oder mehrere andere 
in der Nachbarschaft des Badenden woh¬ 
nende Patienten zu besuchen. V 2 Stunde 
nach dem Bade suchen wir unseren Pa¬ 
tienten zwecks unmittelbarer Kontrolle der 
Wirkung wieder auf und, wenn nötig, 
lassen wir ihn am Nachmittag noch in die 
Sprechstunde kommen, um die spätere 
Nachwirkung festzustellen. 

Unmittelbar nach dem Bade ruht der 
Patient 1—2 Stunden in liegender Lage, 
ohne daß eigentliches Schlafen notwendig 
ist Ebenso wenig notwendig ist es aber, 
wie es häufig geschieht, direkt das Gegen- 
ankämpfen gegen den Schlaf nach dem 
Bade anzuordnen. Eine kleine Mahlzeit 
nach dem Bade, Tasse Kakao, Milch, 
Bouillon, empfiehlt sich; eine größere 
Mahlzeit vermeide man 2 Stunden vor wie 
nach dem Bade. Längere Spaziergänge 
von mehr als einer Stunde empfehlen sich 
bei der Mehrzahl der für Sauerstoffbäder 
in Betracht kommenden Patienten nicht, 
wenigstens nicht am Badetage. 

Wer am Vormittag gebadet hat, mache 
nachmittags zwischen 4 und 7 Uhr bei 
gutem Wetter einen halb- bis einstündigen 
Spaziergang. Bei Herzneurasthenikern ist 
das Verbot des Rauchens, des Genusses 
von Bier — mit Ausnahme von bis 1°/o 


Alkohol haltigem Malzbier — und anderen 
alkoholischen Getränken, sowie koffein¬ 
haltigen Getränken nach 5 Uhr nachmittags 
sehr zu empfehlen. 

Unter diesen Bedingungen pflegt die 
Kur mit Sauerstoffbädern nach meinen Er¬ 
fahrungen am meisten Effekt zu haben. 
Doch habe ich bei Patienten mit halb¬ 
tägiger Berufsarbeit, z. B. Lehrern mit 
nur Vormittagstätigkeit, Bankbeamten mit 
Tätigkeit bis 3 Uhr — die dann nach dem 
Essen bis V 26 Uhr erst ruhen mußten — auch 
Erfolge mit Sauerstoffbädern gehabt, die erst 
nachöUhr nachmittags genommen wurden. 

Bäder unmittelbar vor dem Schlafen¬ 
gehen machten mir den Eindruck, als wenn 
diese Tageszeit den Erfolg beeinträchtige; 
auch bei Anwendung gegen Schlaflosigkeit 
ließ ich nicht nach 6*/2 Uhr baden. 

Vor meinen therapeutischen Anwen¬ 
dungen suchte ich zunächst die physio¬ 
logische Wirksamkeit der Sauerstoffbäder 
festzustellen. Die objektive Kontrolle er¬ 
streckte sich hierbei naturgemäß auf die 
Kreislauforgane respektive Atmung, da 
hier dem praktischen Arzt noch am ehesten 
objektive Untersuchungsmethoden, die ein¬ 
fach und schnell anzuwenden sind, zur 
Verfügung stehen. 

Vor allem also kontrollierte ich: 

1. Pulszahl und Stärke 

2. Blutdruck an der Radialis 

3. Beschaffenheit der Herztöne 

4. Herzgrenzen 

5. Dauer der Atemzüge 

6. Tiefe der Atemzüge 


vor, 

5 Minuten 
sowie 
1 Stunde 
nach 

dem Bade. 


Zum Messen des Blutdrucks empfiehlt 
sich für den praktischen Arzt der Sphygmo¬ 
manometer nach Herz (Wien). 

Die weiter angeführten diagnostischen 
Kontrollen führt der praktische Arzt nach 
den bekannten Methoden der auskultativen 
Perkussion respektive Pulspalpation aus. 

Für die Untersuchung der Herzdämpfung 
halte ich die übliche Perkussionsmethode 
wegen der feinen Größenunterschiede, die 
hier meist in Betracht kommen, als etwas zu 
grob. Da jedoch für den praktischen Arzt 
die Untersuchung mittels des Orthodia- 
graphen nach Moritz in der Regel prak¬ 
tisch nicht durchführbar ist, so muß er 
sich leider meist auf die Perkussion be¬ 
schränken. Nach meinen eigenen persön¬ 
lichen Erfahrungen halte ich bei den dazu 
geeigneten Personen — und da wir es 
hier zunächst mit physiologischen Ver¬ 
suchen zu tun haben, konnte ich mir dazu 
ja die geeigneten Personen aussuchen — 
zur Feststellung der Herzbreite die so¬ 
genannte phonendoskopische Herzunter¬ 
suchungsmethode für ganz ausgezeichnet. 


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Die Therapie der Gegenwart 1910, 


Februar 


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Bertha S„ 
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bus B. 

Walter H., 
17 J., Insuff. 
Aortae 

Albert F., 

32 J., Mitral¬ 
stenose 

Else B., 

31 J., Herz¬ 
neurose 

August M., 
50J., beginn. 
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48 J. 
Klimakter. 

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Februar 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


57 


Mir ist völlig bekannt, welche begrün¬ 
deten Angriffe die phonendoskopische 
Untersuchungsmethode erfahren hat. Trotz¬ 
dem sind bei Personen mit minimalem 
Fettpolster und minimaler Brust-, ins¬ 
besondere Pektoralismuskulatur die Fehler¬ 
quellen, die selbst die Autoren dieser 
Methode, Hornung und Smith, tragisch 
in die Irre führten, nach gründlicher 
Uebung der Methode, ausgeschlossen. Ich 
selbst habe als Leiter einer Anstalt für 
Herzkranke hunderte Male meine phonendo¬ 
skopisch gewonnenen Herzbilder mit dem 
Orthodiagraphen kontrolliert, und bis auf 
den Millimeter deckten sich beide Bilder 
in allen geeigneten Fällen. Geeignete 
Fälle sind nach obigem vor allem jugend¬ 
liche Personen bis 18 Jahre, insbesondere 
magere Frauen, und an diesen habe ich 
auch meine Untersuchungen über die Wir¬ 
kung der Sauerstoffbäder auf die Herz¬ 
größe mit Vorliebe gemacht. 

In vorstehender Tabelle nun habe ich das 
Resultat meiner physiologischen Versuche 
über Sauerstoffbäder, das heißt der Wir- i 
kung des einzelnen Bades, im Gegen¬ 
satz zu der weiter untenstehenden einer 
längeren Behandlung, angeführt. Es be- > 
trifft zumeist jugendliche Personen mit 
meist leichteren oder schwereren neur- 
asthenischen Beschwerden, zwei Personen , 
mit organischen Herzfehlern, zwei mit ; 
Morbus Basedow, eine mit Arterio¬ 
sklerose. | 

Die Resultate stammen vom dritten bis , 
fünften Bad, da bei einigen zunächst eine | 
gewisse Idiosynkrasie gegen Baden über¬ 
haupt überwunden werden mußte. 

Wie aus der Tabelle ersichtlich, suchte 
ich mir zu den dort aufgezeichneten Unter¬ 
suchungen vorwiegend Personen aus, bei 
denen 

1. die Blutdruckbestimmung einen hohen 
Blutdruck ergab, wozu mich die Resultate 
von Dr. Scholz anregten, 

2. wie schon erwähnt, Personen, bei 
denen das Fehlen von Fettpolster respek¬ 
tive Pektoralismuskulatur Fehlerquellen bei 
der phonendoskopischen und perkutorischen 
Herzgrenzenbestimmung möglichst aus¬ 
schloß. Die dort angegebenen Herzgrenzen 
entsprechen der sogenannten „relativen“ 
Herzdämpfung. 

Als wichtigstes Resultat ersieht man, 
daß bei Personen mit erhöhtem Blut¬ 
druck — über 150—160 — eine Ernie¬ 
drigung desselben durch das Sauerstoff- 
bad bewirkt wurde, die nach einer Stunde 
zwar nachließ, aber immer noch in ge¬ 
wissem Grade nachzuweisen war. 


Bei Personen mit normalem oder nie¬ 
drigem Blutdruck — unter 160 — kon¬ 
statierte ich keine oder nur so geringe 
Veränderungen desselben, daß diese unter 
Umständen durch kleine, nicht völlig zu 
vermeidende, Fehler in der Messung zu 
deuten wären. 

Ferner fand ich in den Fällen, wo der 
Blutdruck sich wesentlich veränderte, meist 
auch eine Aenderung der Herz grenzen 
durch das Sauerstoffbad, nämlich ein Zu- 
saramenrücken der linken und rechten 
Herzgrenze von zusammen 1 —2 cm. Diese 
Verkleinerung der Herzgrenze hielt in 
den meisten Fällen eine Stunde lang an. 
In Fällen, wo keine wesentliche Verände¬ 
rung des Blutdrucks stattfand, oder wo 
trotz hohem Blutdruck die Herzgrenzen 
schon an sich ziemlich niedrige Masse er¬ 
gaben, wurde keine oder keine wesent¬ 
liche Verengerung der Herzgrenzen fest¬ 
gestellt. 

Wichtig ist schließlich noch die Ver¬ 
langsamung des Pulses durch das Sauer¬ 
stoffbad in Fällen, wo gleichzeitig der 
Blutdruck erniedrigt wurde, sowie das 
Tieferwerden und Längeranhalten der At¬ 
mung in diesen Fällen. 

Die in obiger Tabelle erwähnten wie 
auch die anderweitigen Folgen des Sauer¬ 
stoffbades halten zunächst, das heißt 
nach den ersten Bädern in nachweisbarem 
Maße nur einige Stunden vor. 

Je häufiger das Sauerstoffbad wieder¬ 
holt wird—vorausgesetzt, daß diese Wieder¬ 
holungen in nicht zu großen Zwischen¬ 
räumen einander folgen —, desto nach¬ 
haltiger pflegt die Wirkung zu sein. Nach 
einer Anzahl von durchschnittlich 15—20 
Bädern können wir, wenn wir die richtigen 
Fälle aussuchten, meistens sehr nachhaltige, 
ja nach menschlichem Urteil sogenannte 
dauernde physiologisch wie therapeutisch 
höchst bedeutende Wirkungen feststellen. 
Es möge deshalb hier eine Anzahl beson¬ 
ders interessanter therapeutischer Resultate 
mitgeteilt sein, die zum Teil als Dauer- 
resultate einer längeren Sauerstoffbadekur 
bei denselben Personen zu betrachten sind, 
von denen in obiger Tabelle zunächst nur 
die physiologische Wirkung eines ein¬ 
zelnen Bades angeführt wurde. 

Fall 1. Herr Robert M., Lehrer, 32 Jahre, 
leidet an Atemnot, Blutandrang zum Kopf, 
Schmerzen in der Herzgegend. Kein organi¬ 
sches Herzleiden, Blutdruck 175 vor Beginn 
der Badekur, Herzbreite 14,5. 

Nach 12 Sauerstoff bädern Atemnot dauernd 
gehoben, Kongestionen zum Kopf nicht mehr 
beschwerlich. Schmerz in Herzgegend ganz 
beseitigt. Herzbreite nachhaltig 13—13,5, Blut¬ 
druck nachhaltig 165. 

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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Fall 2. August F., 14 Jahre alt, steht vor 
Konfirmation, anämisch, leidet an täglichem 
Nasenbluten, kalten Füßen, Kopfschmerz. 
Kein organischer Herzfehler. Herzbreite 11, 
Blutdruck 150. 

Nach 14 Sauerstoffbädern Kopfschmerz 
und Nasenbluten ganz fort, Kältegefühl an 
Füßen subjektiv und objektiv geringer. Herz¬ 
breite und Blutdruck nicht verändert. 

Fall 3. Obige Tabelle Fall 9, Herr August 
M.. 50 Jahre, Hausbesitzer, Arteriosklerose 
incipiens, starke Kongestionen zum Kopf, ins¬ 
besondere Sklerä und Wangen stark gerötet, 
leidet an kalten Füßen, Aufregungszuständen. 

Blutdruck bei Beginn der Kur 180, Herz- 
breite 17 cm. Klappen: Herztöne klappend, 
aber nicht unrein. 

Nach 20 Sauerstoffbädern Sklerä gar nicht 
mehr gerötet, Wangen weniger hyperämisch, 
Kälte an Füßen ganz verschwunden, bedeutend 
ruhigeres Temperament wird zur Schau ge¬ 
tragen. 

Blutdruck nach Ende der Kur dauernd 165; 
Herzbreite dauernd 15,5, Herztöne nur wenig 
klappend. 

Fall 4. Obige Tabelle Fall 3, Frau Frieda 
M., 23 Jahre alt, Menses treten sehr profus auf 
und halten 8 Tage an; leidet an Schlaflosig¬ 
keit. Blutdruck vor Beginn der Kur 190, Herz- 
breite 14 cm. Nach 10 Sauerstoff bädern wegen 
beginnender Menses Badekur ausgesetzt. Diese 
ersten Menses während der Kur halten 6 Tage 
an und sind nach Angabe der Frau entschieden 
weniger profus wie sonst stets. 3 Tage nach 
Aufhören dieser Menses wird Badekur fort¬ 
gesetzt und weitere acht Bäder genommen. 
Dann wird mit Baden wieder ausgesetzt und 
die neue Menstruation abgewartet, die nach 

3 Tagen sich zeigt. Dieselbe dauert nur 

4 Tage im ganzen und ist deutlich weniger 
profus als sonst auch geringer als die vorige 
Menstruation. Dann wird 4 Tage nach Be¬ 
endigung dieser Menstruation die Badekur 
noch um 3 Bäder fortgesetzt, sodaß im ganzen 
21 Sauerstoffbäder genommen wurden. 

Die darauf und weiterhin folgenden Menses 
überdauern jetzt nie 5 Tage und sind von 
mittlerer Ergiebigkeit. Ganz zweifellos ist 
außerdem die Schlaflosigkeit der Frau 
eheilt. Vor Beginn der Kur konnte die 
rau oft 10 Nächte nacheinander — weil sie 
beständig es in den Ohren pulsieren hörte — 
nicht schlafen ohne Schlafmittel. Nach der 
Kur hat die Erscheinung dieses Pulsierens 
und damit die Schlaflosigkeit ganz aufgehört, 
schläft, ohne zu erwachen, 7 Stunden. 

Blutdruck nach Ende der Kur dauernd 170, 
Herzbreite 13 cm. 

Fall 5. Walter H. — obige Tabelle Fall 6 —, 
17 Jahre alt, Insuffizienz der Aortaklappe! 
Starkes Pulsieren der Karotiden, fühlt beim 
Liegen alsbald Brausen im ganzen Kopf, das 
Schlaf völlig raubt. 

Blutdruck vor Kurbeginn 200, Herzbreite 14, 
Puls 100 in der Minute, in der Minute 4 bis 

5 Arythmien. 

Nach 17 Sauerstoffbädern Geräusch an 
Aortaklappe weniger stark. Nachlassen des 
Brausens im Kopf bei Beginn des Einschlafen- 
wollens. Sehr erhebliche Besserung der 
Schlaflosigkeit. Karotiden pulsieren weniger 
rasch und deutlich. 

Blutdruck dauernd 175—185, Herzbreite 13,5, 
Puls 92 in der Minute, selten mehr als 


1 Arythmie in der Minute. Bedeutende Besse¬ 
rung des subjektiven Wohlbefindens, insbeson¬ 
dere auch der Atembeschwerden. 

Fall 6 . Siehe obige Tabelle Fall 8 . Frau 
Else B., 31 Jahre alt. Kein organisches Leiden. 
Bekommt beim Treppensteigen Herzklopfen, 
kann nachts infolge Herzklopfens nicht 
schlafen. Blutdruck vor Beginn der Kur 175, 
Herzbreite 13,5. 

Nach 14 Sauerstoff bädern Schlaf dauernd 
ausgezeichnet, auch am Tage, insbesondere 
beim Treppensteigen kein Herzklopfen. 

Blutdruck dauernd 160, Herzbreite 13. 

Fall 7. Obige Tabelle Fall 10, Fr. Marga¬ 
rete G., 48 Jahre alt, Klimakterium, leidet sehr 
an Neuralgien, besonders Interkostal-, sowie 
Subskapularisneuralgien. Krankhafter Auf¬ 
regungszustand. Schlaflosigkeit. 

Blutdruck vor der Kur 155. Herzbreite 13,5. 

Nach 12 Sauerstoffbädern Schlaf stets 5 bis 
6 Stunden meist ununterbrochen. Subskapu- 
larisneuralgie ganz geheilt, Interkostalneuralgie 
sehr erheblich gebessert. Fühlt sich viel 
ruhiger. 

Blutdruck und Herzbreite unverändert. 

Fall 8 . Obige Tabelle Fall 4, Frau Rosa B., 
30 Jahre alt, Morbus Basedowii. Subjektiv: 
leidet an Herzklopfen, Kopfschmerzen, Schlaf¬ 
losigkeit. 

Vor der Kur beträgt Blutdruck 200, Herz- 
breite 15 cm. Puls 120. 

Nach 16 Sauerstoffbädern Schlaflosigkeit 
völlig gebessert, Kopfschmerzen desgleichen, 
Herzklopfen nur noch sehr selten. 

Struma und Protusio bulbi scheinen ent¬ 
schieden weniger ausgesprochen als vor 
der Kur. 

Blutdruck dauernd 170—180, Herzbreite 
14 cm. Puls selten über 100. 

Fall 9 . Kuno B., 25 Jahre, Kaufmann, kein 
organisches Leiden. Klagt über Kälte an 
Händen und Füßen, in Verbindung damit 
Rheumatismus in Waden, Wadenkrämpfe und 
Oberarm. Bei jeder Barometerschwankung 
unerträgliche Ischiasschmerzen. Schlaf sehr 
schlecht. Blutandrang zum Kopf. 

Blutdruck vor der Kur 160, Herzbreite 

13 cm. Puls 86 . 

Nach 10 Sauerstoffbädern hat die Kälte¬ 
empfindung in den Extremitäten und damit 
die rheumatischen Beschwerden völlig nach¬ 
gelassen, desgleichen die Kopfkongestionen. 
Schlaf ist auch gebessert. Bei den vielfachen 
Barometerschwankungen, die in den nächsten 
5 Wochen nach der Kur auftreten, hat sich 
Ischias nur einmal, und zwar sehr wenig be¬ 
merkbar gemacht. 

Blutdruck und Herzbreite unverändert. Puls 
70—74. __ 

Fall 10. Wilhelm G., 20 Jahre. Bronchial¬ 
asthma, Interkostalneuralgie in Verbindung mit 
objektiver und subjektiver Kälte an der Körper¬ 
stelle der Neuralgien. Wöchentlich 2 —3 Asthma¬ 
anfälle stets nachts. Blutdruck vor der Kur 
185, Herzbreite 15 cm. Puls 70. 

Nach 17 Sauerstoffbädern haben asthmati¬ 
sche Anfälle entschieden nachgelassen, treten 
durchschnittlich nur alle 14 Tage einmal auf, 
also 4 —6 mal seltener. Neuralgien und Kälte 
der betreffenden Körperstellen ganz ver¬ 
schwunden. Blutdruck dauernd 170, Herzbreite 

14 cm, Puls 65—70. 


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Februar 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


59 


Im großen und ganzen sprechen diese 1 
Falle für sich. Besonders hervorgehoben I 
zu werden verdient noch, daß sich aus | 
ihnen ergibt, daß die Möglichkeit thera¬ 
peutisch erfolgreicher Sauerstoff Bade- j 
kuren durchaus nicht auf Personen mit | 
•erhöhtem Blutdruck beschränkt ist | 
und daß andererseits der objektive Nach¬ 
weis eines dauernden Sinken des Blut¬ 
druckes durch die Kur durchaus nicht I 
die unerläßliche Vorbedingung für einen j 
Dauer-Erfolg der Sauerstoff Badekur ist. 
Im Gegenteil ergeben Fall 2, Fall 7 und 
Fall 9, daß gerade Störungen von seiten 
des Nervensystems, insbesondere Neuralgien I 
und Schlaflosigkeit, sowie Störungen von 1 
seiten des Zirkulations-Apparates — Nasen¬ 
bluten, kalte Extremitäten, Kongestionen — 
auch bei solchen Personen durch Sauer¬ 
stoff-Badekuren gebessert und geheilt 
wurden, deren Blutdruck von Anfang an 
völlig oder nahezu normal war und auch 
durch die Kur gar nicht oder fast gar nicht 
beeinflußt wurde. 

Jedoch erscheinen mir Personen, deren I 
Blutdruck sehr erheblich unter der 
normalen Größe liegt, insbesondere mit | 
Mitral-Fehlern behaftete und Personen mit 
•direkt bedrohlichen Anämieen nicht ge- j 
eignet zu Sauerstoff-Bädern. j 

Auch Neurastheniker, deren Blutdruck 
sehr erheblich unter der Norm liegt, 
sollen nicht mit Sauerstoff Bädern behandelt 
werden. Sonst erschien mir aber gerade 
das große Heer der Neurastheniker und 
Herz-Neurastheniker mit normalem oder 
•erhöhtem Blutdruck als ganz hervorragend 
geeignet zu erfolgreichen Sauerstoff Bade¬ 
kuren. Gegen Schlaflosigkeit undBronchial- 
Asthma erscheinen mir Sauerstoffbäder 
geradezu als Spezifikum, umsomehr, als 
man gerade bei Bronchialasthma so sehr 
oft Blutdruckerhöhung finden wird. Von 
Klappenfehlern liegen Aorta-Insuffizienz 
sehr, Mitralfehler weniger günstig für 
Sauerstoffbäder. 

Ganz besonders aussichtsreich ist ferner 
die Prognose der Sauerstoff-Bade-Therapie 
bei morbus Basedow, sowie bei Arterio¬ 
sklerose, sofern sie noch nicht Coronar- 
Sklerose und Blutdruckerniedrigung zeigt. 
Auf die überaus günstige Wirkung auf Neu¬ 
ralgien und Blutzirkulations-Störungen — 
— dazu gehören auch Menstruations-Stö¬ 
rungen — wurde schon oben hingewiesen. 
Auch mehrere Fälle von chronischen 
Gelenk- und Muskel Rheumatismus reagier¬ 
ten auf die Sauerstoff badekur überraschend 
schnell mit völligem Auf hören der subjek¬ 
tiven und objektiven Symptome. 


Um noch einige technische Winke zu 
geben — das wichtigste wurde schon weiter 
oben gesagt — so ist vor allem nötig, daß 
man die Gewißheit einer wirklich reichlichen 
und die Badezeit über im Wasser sich 
haltenden Sauerstoffmenge hat. Vor allem 
sind die Sauerstoff-Bomben ganz von der 
Hand zu weisen, da im Gegensatz zur 
Kohlensäure gerade Sauerstoff in gas¬ 
förmiger Zuführungsform sofort an die 
Wasserobei fläche gleitet, ohne daß eine 
irgendwie nennenswerte Menge vom Wasser 
resorbiert wird. Nur chemisch zube¬ 
reitete Sauerstoffbäder mit Sauerstoffent¬ 
wicklung in statu nascendi lassen eine 
spezifische Wirkung erwarten, die auch die 
Badewannen in keiner Weise angriffen 
oder verschmutzten, und zwar bewährten 
sich mir zweifellos die BioxBäder (Dr. 
Zuckers Sauerstoffbäder) am besten. 

Mit diesen allein gewann ich meine 
positiven Ergebnisse. Was die Herstellungs¬ 
weise derselben betrifft, so wird zunächst 
Natrium Perborat, das labilen Sauerstoff 
gebunden enthält, im Badewasser gelöst. 

Um nun den Sauerstoff zu befreien, 
wird ein organisches enzymhaltiges Pulver, 
das in ein Kissen ein geschlossen ist, in 
diesem Kissen auf den Grund des Bades ge¬ 
bracht. Alsdann wird das Kissen ausgedrückt 
I und alsbald entwickelt sich der Sauerstoff, 
i Obwohl die Fabrik von Max Elb, Dresden, 
angibt, daß dieses Kissen bereits vor Ein¬ 
steigen ins Bad in demselben auszudrücken 
sei und erst nach einigen Minuten das Bad 
zu beginnen habe, empfahl ich lieber fol¬ 
gende Methode: Erst beim Einsteigen ins 
| Bad nehme der Badende das Kissen mit 
1 ins Bad. Alsdann drücke er dasselbe der 
Reihe nach am Grund des Bades an 
seinem Rücken, an seiner Bauchseite, an 
seiner rechten und linken Körperseite aus, 
nach dem Ausdrücken immer erst das Voll- 
! füllen des Kissens mit dem Badewasser 
abwartend. Gerade ängstliche und neu- 
j rasthenische Personen gewöhnen sich so 
besser an das Bad und überwinden eine 
eventuelle Indiosynkrasie besser, wenn der 
Sauerstoff erst nach ihrem Einsteigen sich 
allmählich entwickelt. 

Unter diesen Umständen beginne man 
das Bad mit 10 bis 12 Minuten, steigere 
jedesmal um 2 Minuten bis auf 25 Minuten. 
Empfindlichere Personen jedoch lasse man 
15 Minuten nicht überschreiten. Die Tem¬ 
peratur sei 26 bis 28° R. Was die Auf¬ 
einanderfolge der Bäder angeht, so lasse 
ich die ersten 5 Bäder einen um den 
andern Tag nehmen, dann 2 Tage nach¬ 
einander baden und den dritten Tag aus- 

8 * 


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60 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Februar 


setzen. Die letzten 3 Bäder werden wieder in der Woche in die Sprechstunde zur 
einen um den andern Tag genommen. Die Kontrolle. 

Badekur im ganzen beträgt — je nach dem Unter diesen Kautelen wird man finden, 
Fall — 10 bis 25 Sauerstoffbäder. Bei den daß das Sauerstoffbad ein sehr wertvoller, 
ersten 2 bis 3 Bädern empfiehlt es sich, nicht zu unterschätzender Faktor für das 
vor und nach dem Bade den Patienten in therapeutische Arsenal des praktischen 
der Wohnung selbst zu besuchen, später Arztes bedeuten muß, dem eine aussichts¬ 
bestelle man ihn während der Kur 1 —2 mal volle Zukunft offensteht. 


Zur Frage der operativen Behandlung des Morbus Basedowii. 

Von Dr. Julius LowiflSky, Nervenarzt in Berlin. 


In einer Zeit, in der viele Chirurgen die 
Behandlung des Morbus Basedowii als ihre 
spezielle Domäne reklamieren und die 
Unterlassung der Operation bereits als 
einen Kunstfehler hinstellen möchten, sollte 
man mindestens auch alle Mißerfolge der 
Operation, alle üblen Ausgänge und Re¬ 
zidive ebenso der Oeffentlichkeit unter¬ 
breiten, wie die Heilerfolge, die man ja 
schließlich auch unter der früheren in¬ 
ternen Behandlung oft genug zu sehen 
bekam. Gehört doch die Basedowsche 
Krankheit zu denj enigen allgemeinen Nerven - 
krankheiten, die — abgesehen von einer 
verhältnismäßig kleinen Gruppe bösartiger 
Fälle — eine recht günstige Prognose er¬ 
geben und bei denen die verschieden¬ 
artigsten Behandlungsmethoden zum Ziele 
führen können, weil eben die Krankheit die 
verschiedensten Ursachen haben kann. 

Wollte man nun gar mit Rücksicht auf 
die chirurgischen Heilerfolge die ganze 
Theorie der Krankheit auf der Funktion 
der Schilddrüse basieren lassen und aus¬ 
schließlich, wie es viele Chirurgen tun, von 
der thyreogenen Entstehung der Krank¬ 
heit reden, so dürften die Beobachtungen 
der inneren Klinik sehr bald dieser ein¬ 
seitigen Anschauung Unrecht geben. 

Daß es zweifellos Fälle von Morbus 
Basedowii gibt, in denen die Schilddrüse 
gar keine Rolle spielt, in denen also von 
operativer Behandlung und chirurgischem 
Heilerfolg gar keine Rede sein kann, dürfte 
die nachfolgende Krankengeschichte zur 
Evidenz erweisen. 

Frau Margarete Fr., Schneiderin, 33 Jahre 
alt, gibt an, bis vor 8 Jahren ganz gesund ge¬ 
wesen zu sein; sie habe bereits mit 17 Jahren 
geheiratet und habe fünf ganz gesunde Kinder; 
ein Kind ist gestorben, einmal hat ein Abort 
stattgefunden. 

Im 25. Lebensjahre soll sich ganz rasch ein 
Kropf entwickelt haben, der hochgradige Atem¬ 
beschwerden verursachte, weil die Drüse unter 
dem Brustbein besonders stark geschwollen 
gewesen wäre. 

Es sei daher in Breslau bei Mikulicz eine 
große Operation vorgenommen worden, bei der 
auf beiden Seiten und unter dem Brustbein 
alles Drüsengewebe entfernt worden sei mit 


Ausnahme eines kleinen Restes auf der linken 
Halsseite, der seitdem unverändert geblieben 
sei. Ausdrücklich erklärt die sehr intelligente 
Patientin, daß damals bereits auf Symptome 
von Basedow scher Krankheit gefahndet wurde, 
die sich jedoch durchaus nicht gefunden hätten. 
Nun sei sie nach der Operation vier Jahre 
ganz gesund geblieben, dann aber hätten sich 
ohne bekannte Ursache nervöse Symptome 
eingestellt, nämlich Schreckhaftigkeit, Mattig¬ 
keit, Herzklopfen und dergleichen. Jetzt sei 
. B a s e d o w sehe Krankheit diagnostiziert worden, 
die dann drei Jahre bestanden habe. Sie sei 
I in dieser Zeit verschiedentlich, auch in der 
Charite, behandelt, und so weit gebessert 
worden, daß sie jetzt ein ganzes Jahr von allen 
Beschwerden frei gewesen wäre. Vor kurzem 
habe sich wieder ohne erkennbare Ursachen 
das alte Leiden, speziell das Herzklopfen, ein¬ 
gestellt. 

| Objektiv findet sich von den Kardinalsym- 
! ptomen des Morbus Basedowii beiderseitiger 
I Exophthalmus mittleren Grades, ferner mäßiges 
| feinschlägiges Zittern der Hände und ständige 
I Tachykardie von etwa 140 Schlägen. Am Halse 
! findet sich links der schon erwähnte kleine 
, Rest der Schilddrüse von zirka Wallnußgröße, 
ferner eine außerordentlich ausgedehnte Narbe, 
die bogenförmig in den beiden seitlichen Hals¬ 
dreiecken nach innen abwärts bis auf die Mitte 
; des Manubrium sterni zieht und so einen 
| großen, etwa schürzenförmigen Hautlappen um- 
1 faßt, durch den sicher die ganze vordere Hals¬ 
partie freigelegt worden war. Von der sub- 
sternalen Geschwulst ist sonach bei der Ope¬ 
ration gewiß nichts zurückgelassen, worden. 

Es unterliegt nun der Anamnese und 
dem Befunde nach keinem Zweifel, daß es 
sich ursprünglich um Struma ohne Base¬ 
dowsche Krankheit gehandelt hat und dafi 
jetzt Basedowsche Krankheit ohne Struma 
vorliegt. Die Strumektomie hat also den 
Ausbruch der Basedowschen Krankheit 
mindestens nicht verhütet. 

Unabhängig von der Existenz oder 
besser Nichtexistenz der Schilddrüse ist 
die Basedowsche Krankheit entstanden, 
später ist der Morbus Basedowii auch ohne 
Strumektomie (die eben hier zufällig nicht 
, mehr möglich war), zeitweilig wieder ver¬ 
gangen. Man dürfte sich bei diesem Ver¬ 
laufe nicht wundern, wenn der Laie auf 
den Gedanken käme, daß die große Ope- 
: ration erst das Nervenleiden hervorgerufen 
habe. 


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Februar 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


61 


Jedenfalls ist bei dem jetzigen Zustande 
dieses Falles von Morbus Basedowii eine 
operative Behandlung ausgeschlossen. Er 
wird voraussichtlich auch so, durch interne 
Behandlung, auf den früheren Zustand zu¬ 
rückzubringen sein. 

Der Fall beweist aber meines Erachtens 
einwandfrei, daß der Basedowsche Syra- 
ptomenkomplex auch dann vorliegen kann, 
wenn nur noch ein unschädliches Rudi¬ 
ment der Schilddrüse vorhanden ist, wenn 


; also von einer „Hyperthyreoidisation* und 
| von einer übermäßigen inneren Sekretion des 
„Basedow-Giftes* seitens der vergrößerten 
, Schilddrüse gar keine Rede sein kann. 

I Morbus Basedowii kann also ohne 
\ Struma entstehen und bestehen, er ist 
demnach durchaus nicht immer thyreogenen 
Ursprungs und muß nicht durchaus ope¬ 
rativ behandelt werden, ja in gewissen 
Fällen, wie dem vorliegenden, kann er 
; gar nicht chirurgisch beeinflußt werden. 


Eine intravenöse Chemotherapie der Basedowschen Krankheit. 

Von Dr. Felix Mendel-Essen (Ruhr). 


Obwohl die Pathogenese des Mor¬ 
bus Basedowii gerade in der neuesten 
Zeit in zahlreichen Publikationen und Dis- 
kusssionen erörtert wurde, so sind doch 
<lie Ansichten über die Aetiologie 
dieser Erkrankung immer noch als geteilt 
zu bezeichnen. Während die Chirurgen 
nach dem Vorgang Kochers, des ver¬ 
dienstvollsten Forschers auf dem Gebiete 
der Schilddrüsenerkrankungen, als ein¬ 
zige Aetiologie eine krankhaft gestei¬ 
gerte und dabei chemisch veränderte 
Sekretion der Glandula thyreoidea 
annehmen, beharren die Neurologen auf 
dem Standpunkt, daß es zwar Basedow¬ 
ähnliche Erkrankungen gibt, die rein 
thyreogenen Ursprungs sind, daß aber die 
echten Basedow-Erkrankungen als eine 
primäre Neurose aufgefaßt werden 
müssen. 

Der rein thyreogenen Form des 
Basedow, die man nach Kraus 1 ) auch 
treffend als Kropfthyreoidismus be¬ 
zeichnen kann, geht eine oft schon lange 
bestehende krankhafte Vergrößerung 
der Schilddrüse voraus, zu der sich, 
nicht selten erst beträchtlich später, 
außer den charakteristischenVeränderungen 
an den Augen und im Gefäßsystem, die 
thyreotoxischen Symptome hinzugesellen. 

Beim genuinen, echten Basedow 
hingegen tritt die Vergrößerung der 
Schilddrüse gleichzeitig mit den übrigen 
Symptomen in die Erscheinung, während 
als Grundursache meist neben einer neu- 
ropathischen Veranlagung psychi¬ 
sche Affekte oder auch Infektions¬ 
krankheiten mit ihren toxischen Schädi¬ 
gungen des Nervensystems nachzuweisen 
sind. 

Danach würden also die charakteristi¬ 
schen Erscheinungen des Morbus Base¬ 
dowii (Exophthalmus, Struma, Herz pal pi- 
tatio nen) n ur einen Symptomenkomplex 

*) Kongreß för innere Medizin (Mönchen 1906). 

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bilden, der ätiologisch nicht auf eine 
einheitliche, sondern auf verschiedene 
Ursachen zurückgeführt werden kann. Bei 
dieser Divergenz der Meinungen ist es 
nicht zu verwundern, daß auch über die 
Therapie bisher keine Einigung erzielt 
werden konnte. 

Entsprechend der Annahme eines rein 
thyreogenen Ursprungs der Basedow¬ 
schen Erkrankung, den Kocher für beide 
Formen in Anspruch nimmt, sehen die 
Chirurgen in der operativen Verklei¬ 
nerung der Schilddrüse das einzig 
wirksame Heilmittel, obwohl a priori 
angenommen werden muß, daß mit dieser 
Behandlungsmethode nur die pathologisch 
gesteigerte Funktion der Schilddrüse, die 
Hyperthyreosis, herabgesetzt wird, wäh¬ 
rend die chemisch veränderte Sekretion, 
die Dysthyreosis, wenn auch in ver¬ 
mindertem Maße, bestehen bleibt. 

Wenn demnach die chirurgische The¬ 
rapie auch in der thyreogenen Theorie, 
wie sie besonders von Möbius verfochten 
wurde, keine nach allen Richtungen hin 
fest begründete Stütze findet, so sind 
doch die Erfolge dieser Behandlungs¬ 
methode nicht von der Hand zu weisen. 

Kocher 1 ) hat bei97 typischen Basedow¬ 
kranken, die er mit operativer Verkleine¬ 
rung der Schilddrüse behandelte, 72 °/ 0 
Heilung erzielt, während in allen anderen 
Fällen, welche die Operation überlebten, 
teils eine bedeutende, teils eine nur 
mäßige Besserung erzielt wurde. 

Trotz dieser glänzenden Heilungsziffern 
haben gerade unsere hervorragendsten 
Neurologen und Internisten 2 ) ihre An¬ 
sicht über die zweckmäßigste Behandlung 
der Basedowschen Krankheit dahin ab¬ 
gegeben, daß zuerst das ganze Arsenal 
der diätetischen, physikalischen und 

*) Th. Kocher, Kongreß für innere Medizin 
(München 1906). 

3 ) Siehe Med. Klinik 1908. Nr. 1 u. 2. 

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62 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Februar 


medikamentösen Therapie in Anwen- i 
düng zu ziehen ist, und die chirurgische 
Therapie erst dann empfohlen werden 
kann, wenn trotz aller nicht operativen 
Maßnahmen keine Besserung erzielt 
wurde. 

Diese auffallende Ablehnung der ope¬ 
rativen Therapie, die gleichsam nur als 
Ultimum refugium betrachtet wird, findet 
ihre Begründung zunächst darin, daß doch 
die Prognose des Basedow erwiesener¬ 
maßen nicht als so ungünstig zu bezeich¬ 
nen ist, als es bisher geschah, daß eine 
ganze Reihe, anscheinend schwerer Er¬ 
krankungen, spontan oder nach der | 
nicht operativen Behandlung zur 
Ausheilung gelangt oder sich soweit 
bessert, daß die Patienten sich als ge¬ 
heilt betrachten, wenn auch der Arzt immer 
noch die Stigmata des Basedow an ihnen 
nachzuweisen vermag. 

Ferner fehlt bei den Chirurgen die 
strenge Scheidung der rein thyreogenen 
und der genuinen, neurogenen Basedow¬ 
erkrankungen. So hält Kocher 1 ) immer 
noch an der Wesensgleichheit beider 
Formen fest; die erstere, die thyreogene 
Form, die sich an einen bereits vorhandenen 
Kropf anschließt, erscheint ihm nur des¬ 
wegen gemildert, weil sie durch weniger 
schwere Schädlichkeiten herbeigeführt ist 
oder weil sie sich noch im Anfangsstadium 
befindet, oder weil nach seiner Ansicht 
der bereits bestehende Kropf einen 
Grund zur Mitigation der gesamten Er- 
krankheitserscheinungen bildet. 

Nun ist aber gerade diese Form des 
Basedow, bei der die partielle Strumekto- 
mie ihre glänzendsten Heilerfolge erzielt, 
gleichzeitig auch ein günstiges Heil¬ 
objekt der medikamentösen Therapie. 
Bedenken wir weiter, daß die thyreo¬ 
gene Form des Basedow auch die bei 
weitem häufigste ist, daß bei der neuro¬ 
genen schlimmeren Form die Thyreo - 
dektomie sehr häufig versagt oder 
doch nur relative Besserung schafft, daß 
schließlich die operative Behandlung nicht 
ohne Gefahr ist und immer noch ein 
relativ hoher Prozentsatz der Operation 
und ihren Folgen (hohes Fieber, Tetanie, 
Kachexie) erliegt, so können wir die Zu¬ 
rückhaltung der Neurologen begreifen, die 
nur diejenigen Fälle der chirurgischen 
Therapie überweisen, die allen anderen 
Mitteln gegenüber sich als refraktär er¬ 
wiesen haben. 

Es ist deswegen auch nicht zu ver¬ 
wundern, daß trotz der chirurgischen Er- 

‘fMT"“ 


folge immer wieder neue Heilmethoden 
nicht operativer Art gegen die Base¬ 
dowsche Krankheit empfohlen werden. 
Wir müssen allerdings zugeben, daß alle 
sogenannten spezifischen Heilmittel des. 
Basedow, welche die neuere Forschung 
zutage gefördert, in ihren Erfolgen einer 
ernsten Kritik nicht Stand halten, weder 
das Rodagen noch das Antithyreoi- 
din, noch die übrigen der Serumthera¬ 
pie entnommenen Präparate. Auch die 
Organotherapie (Schilddrüsenpräparate,. 
Parathyreoidin, Thymus, Ovarin, Sperrain)* 
die immer wieder gegen die Basedow¬ 
sche Krankheit empfohlen wird, ist als. 
unwirksam jetzt wohl völlig verlassen 
worden. Neben den physikalisch-diäteti¬ 
schen Maßnahmen nehmen in der medi¬ 
kamentösen Therapie immer noch unsere 
altbewährten Nervina, vor allen anderen 
das Arsen, eine hervorragende Stelle 
ein, ferner Eisen, Chinin, Phosphor* 
und als symptomatische Mittel Brom, 
Strophantus, Baldrian und andere mehr. 
Eine völlige Divergenz der Anschauungen 
scheint bei Durchsicht der Literatur über 
die Anwendung der Jodpräparate zu 
bestehen. Während die einen (Erb, 
Kocher) sie als schädlich verwerfen* 

[ sehen andere (Strümpell, Kraus) in be¬ 
stimmten Fällen eine günstige Wirkung 
i dieser Medikation. 

Welche Art der Behandlung wir aber 
auch in Anwendung ziehen, sicherlich wird 
nur diejenige Basedow-Therapie einen Er¬ 
folg erzielen können, die berücksichtigt, 
daß die Schilddrüse nicht immer das 
primär erkrankte Organ ist, und die 
deswegen nicht nur auf die Veränderungen 
der Glandula thyreoidea, sondern auch auf 
das geschädigte und zu Erkrankungen dis¬ 
ponierte Nervensystem einwirkt. 

Dieser Forderung scheint mir eine 
medikamentöse Behandlungsmethode des 
Morbus Basedowii zu entsprechen, die ich 
nun schon mehr als 2 Jahre in einer 
ganzen Reihe von Basedow-Erkrankungen 
als erfolgreich erprobt habe. Sie besteht 
in der gleichzeitigen intravenösen 
Applikation von Jod und Arsen, 
zweier Heilmittel, die in der Therapie des 
Basedow schon längst eine Rolle spielen, 
deren hervorragende Wirksamkeit 
aber erst durch ihre Kombination und 
ganz besonders durch die spezielle Art 
ihrer Zuwendung bedingt wird. 

Es ist das Verdienst Ehrlichs, zuerst 
darauf hingewiesen zu haben, daß die 
Verteilung der Arzneistoffe im tieri¬ 
schen Organismus keine gleichmäßige 


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Gck gle 


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Februar 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


63 


ist, sondern daß viele Medikamente zu be¬ 
stimmten Organen eine besondere Affini¬ 
tät besitzen und daß sie gerade dieser 
elektiven Speicherung in ausgewählten 
Zellterritorien ihre pharmakologische Wirk¬ 
samkeit verdanken. Diese normale Ver¬ 
teilung der Arzneistofle erleidet aber 
nicht selten eine Veränderung, die 
durch verschiedene Gründe endogener 
oder exogener Natur bedingt sein kann. 
Zunächst sind pathologische Vorgänge 
im Organismus imstande, die Affinität 
einzelner Organe zu bestimmten Arznei-- 
stoffen zu erhöhen, wie das Jakoby 1 ) für 
die Salizylsäure bei infizierten Tieren 
festgestellt hat, Loeb 2 ) für Jod bei eitrigen 
Prozessen und tuberkulös erkrankten Or¬ 
ganen, während van den Velden 3 ) eine 
verstärkte Ablagerung von Jod in karzino- 
matösen Geweben und erkrankten Drüsen 
nachgewiesen. 

Zweitens können wir ein Arznei¬ 
mittel in von uns beabsichtigte Bahnen 
dadurch lenken, daß wir es, wie Ehrlich 
in den Grundzügen seiner Chemothera¬ 
pie gelehrt, mit einem geeigneten Stoffe 
verkoppeln, der ihm als Lastwagen 
dient und es mit Hilfe seiner Affinität 
zu bestimmten Organen dorthin bringt, 
wo es seine Heilwirkung ausüben soll. 

Von dieser exogenen Möglichkeit der 
Direktionsänderung unserer Heilmittel 
habe ich bereits in der von mir 4 ) ein¬ 
geführten Arsen-Tuberkulinbehand¬ 
lung der Tuberkulose erfolgreich Gebrauch 
gemacht 

Schließlich kann auch noch, wie ich 
das an anderer Stelle nachgewiesen, die 
Art der Applikation von Einfluß sein 
auf den Grad der Affinität der Arznei¬ 
körper zu bestimmten Organen. Insbeson¬ 
dere bewirkt die intravenöse Injektion 
der Medikamente 5 ) eine verstärkte Ab¬ 
lagerung und festere chemische Ver¬ 
ankerung körperfremder Stoffe in den¬ 
jenigen Organen, zu denen sie eine che¬ 
mische Affinität besitzen. 

Alle diese Momente müssen in Be¬ 
tracht gezogen werden, um die Heilwirkung 
unserer Behandlung Methode zu erklären. 
Die organischen und lunkiionellen Verän¬ 
derungen der SchiMJpise, J». L kombinierte 

') M. Jacoby, Zt -t i. L 1 .;. 1 PC .. 

J ) LocV SchiT'riV i .-5 A 

*) ’- a i Vc • c.’ • . k' i N rscherver- 

sammlung 1908. — i» , B: Zechj-, Bd. 21 

H. 1 u 2 

4 ) F. Mendel, Mönch, rae.l. Wr . iisrhr. 1909, Nr. 1. 

& ) h Mensel, l’rber die Aus heidung und 
Wirkur. ; "■*: 'venös injizierter Mcdiknr.f nte. (Ther. 
d. Gej --nwi-.rt 1908, II 7. i 


Anwendung von Jod und Arsen und ganz 
besonders ihre intravenöse Applikation 
sind Faktoren, welche die Richtung und 
Verteilung dieser Medikamente im Sinne 
einer verstärkten Thyreotropie und 
Neurotropie beeinflussen und dadurch 
erst ihre heilsame Wirkung auf die Base¬ 
dowsche Krankheit bedingen. 

1. Fall: Fräulein A., 20 Jahre alt, stammt 
aus gesunder Familie und einer Gegend, in 
der Kropf sehr selten ist. Sie ist stets gesund 
gewesen, seit ihrem 14. Lebensjahre menstruiert 
und meist regelmäßig. Im 14. Jahre war es 
auch, als sie zum ersten Male eine leichte 
Anschwellung der Schilddrüse bemerkte, 
die trotz Anwendung von Jod salben und Be- 
inselung mit Jodtinktur sich nicht zurück- 
ildete, aber auch keine weiteren Beschwerden 
verursachte. Im 18. Lebensjahre stellten sich 
Atmungsbeschwerden und Herzbeklemmungen 
ein, ohne daß die Schilddrüse erheblich an 
Umfang zunahm. Dabei fühlte sich Patientin 
schwach und nahm an Gewicht ab. Auf Jod¬ 
tropfen Verschlimmerung der Symptome, ins¬ 
besondere starkes Herzklopfen und große 
Schwäche. Nun wurde erst, da auch das Aus¬ 
sehen der Augen sich veränderte, Basedow 
diagnostiziert und Eisumschläge auf das Herz 
und Antithyreoidin Möbius verordnet, wo¬ 
von in zirka 8 Wochen 15 (?) Original¬ 
fläschchen verbraucht wurden, ohne sonder¬ 
lichen Erfolg: nur die Herztätigkeit wurde, be¬ 
sonders durch die Eisumschläge, vorüber¬ 
gehend beruhigt. Als nach einem halben Jahre 
der Zustand sich weiter verschlimmerte und 
Schwäche und Müdigkeit immer mehr Zu¬ 
nahmen, sich außerdem Zittern und verstärkte 
Schweißbildung einstellten, wurde 4 Wochen 
lang Rodagen verordnet. Als auch dieses 
keinen Erfolg zeitigte, wurde als letztes Mittel 
die Operation vorgeschlagen, die aber vom 
Chirurgen abgelehnt wurde, weil er wegen 
des schwachen Herzens die Narkose fürch¬ 
tete. Durch einen Höhenaufenthalt trat 
leichte Besserung ein, die aber wieder ver¬ 
schwand, als Patientin nach Hause zurück¬ 
kehrte. Die Patientin hat während ihrer 
Krankheit mehr als 10 kg an Körpergewicht 
abgenommen. 

Status: Patientin ist ein kräftig entwickeltes 
Mädchen von zirka 162 cm Größe und 58 kg 
Körpergewicht. Schleimhäute von normaler 
Farbe, Haut etwas blaß. Es besteht eine 
diffuse Anschwellung der Schilddrüse, und 
zwar besonders in ihrer rechten Hälfte, die’ 
ungefähr die Größe eines Hühnereies erreicht 
hat. Die Konsistenz ist prall-elastisch, über 
dem rechten Lappen deutliches Blasen und 
Pulsation. Ebenso starke Pulsation der Hals¬ 
venen; mäßiger Exophthalmus, deutliches 
Graefesches Symptom, Herzdämpfung von 
normaler Größe, leichtes systolisches Geräusch 
an der Herzspitze, sonst Herztöne rein. Herz¬ 
aktion stark beschleunigt. Puls regelmäßig, 
bis 140 Schläge in der Minute. Muskulatur 
schlaff, Hände feucht, leichter Tremor. Pa¬ 
tientin klagt über Herzklopfen, große Schwäche 
und starke Schweißbildung am ganzen Körper. 
Melancholische Gemütsstimmung. 

Therapie: Zunächst wurde Patientin meh¬ 
rere Wochen lang mit intravenösen Atoxyl- 
injektionen in steigender Do^is behan¬ 
delt. Es trat eine leichte Besserung des All- 


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Original fram 

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64 Die Therapie der Gegenwart 1910. Februar 


gemeinzustandes ein, ohne daß die objektiven 
Symptome irgend eine Aenderung erfuhren. 
Erst intravenöse Injektionen von Atoxyl + Jod¬ 
natrium brachten eine deutliche Besserung 
aller Basedowschen Erscheinungen, und 
zwar schon nach den ersten Injektionen. 
Zunächst ließ der Tremor nach, dann war auch 
eine deutliche Verkleinerung der Struma zu 
erkennen, während der allerdings nur geringe 
Exophthalmus während der ganzen Behandlung 
keine deutliche Aenderung erfuhr. 

Auffallend war die Besserung des Allgemein¬ 
befindens. Die Patientin, vorher stets auf¬ 
geregt und in trüber Gemütsverfassung, wurde 
ruhiger, hoffnungsvoller, der Appetit besserte 
sich und hatte eine allmähliche Gewichts¬ 
zunahme zur Folge. Nach 20 Jod-Arsen¬ 
injektionen war der Puls von 140 auf 90 zu¬ 
rückgegangen. Die Struma war bedeutend 
kleiner geworden, das Allgemeinbefinden nach 
einer Gewichtszunahme von 6 kg so gebessert, 
daß die Patientin in ihre Heimat zurückkehrte. 
Erkundigungen bei Verwandten haben ergeben, 
daß eine Verschlimmerung des Leidens nicht 
wieder eingetreten ist. 

2. Fall. Elise K., 31 Jahre alt, Dienst¬ 
mädchen, ist stets gesund gewesen und stammt 
von gesunden Eltern. Ihre Mutter, die an 
einer akuten Krankheit gestorben ist, litt viel 
an Kopfschmerzen. Patientin hat im 26. Lebens¬ 
jahre einen Partus durchgemacht und sich von 
diesem eigentlich niemals wieder recht erholt. 
Sie glaubt, daß die Aufregungen jener Zeit 
und die Vorwürfe ihrer Familie die Krankheit 
verschuldet hätten. Sie magert seitdem stark 
ab, hat stets ein unerträgliches Hitzegefühl am 
ganzen Körper, besonders am Kopfe, starkes 
Schwitzen, rasendes Herzklopfen, Zittern, 
Durchfälle, die periodisch ohne jede Ver¬ 
anlassung auftreten. Dabei ist sie stets auf¬ 
geregt, streitsüchtig, schlaflos, schwach und 
unfähig zur Arbeit. 

Status: Patientin sieht sehr leidend und 
verfallen aus, Haut runzelig, von gelbgrauer 
Farbe, dabei stark gerötetes Gesicht. Am 
ganzen Körper profuse Schweißbildung. Starker 
Exophthalmus, Graefesches und Stellwag- 
sches Symptom vorhanden. Ziemlich beträcht¬ 
liche Struma, beiderseits gleich, von gleich¬ 
mäßiger, weicher Konsistenz und deutlicher 
Pulsation. Ebenso starkes Pulsieren der Hals¬ 
gefäße. Herz deutlich nach links verbreitert. 
Der Spitzenstoß ist außerordentlich stark, diffus 
verbreitert. Herztöne rein, wilde Herzaktion. 
Puls während der Untersuchung kaum zu 
zählen, sicher über 200 in der Minute, in der 
Ruhe zirka 180 Schläge. Patientin ist sehr 
mager, bei 167 cm Körperlänge nur 52 Vs kg 
mit Kleidung. Große Schwäche, stark be¬ 
schleunigte Atmung, besonders bei Anstrengung 
und Aufregung. 

Therapie: Jod-Arseninjektionen, zunächst 
alle 2 Tage, dann zweimal wöchentlich. Im 
ganzen 18 Injektionen. Schon nach den ersten 
Injektionen bessere Stimmung, ruhigere Herz¬ 
aktion und geringere Schweißbildung. Im 
weiteren Verlauf der Behandlung schnelle Ab¬ 
nahme aller Basedowsymptome, auch der 
Diarrhöen, ohne Diätvorschriften. Nach sechs 
Wochen Gewichtszunahme von 13 Pfund, der 
Tremor hat ganz aufgehört. Das Hitzegefühl 
und die abnorme Schweißsekretion sind ver¬ 
schwunden* die Patientin ist nicht mehr auf¬ 
geregt und fühlt sich so gekräftigt, daß sie 


gegen meinen Willen die Injektionskur ab¬ 
bricht. Sie nimmt noch täglich 6 Nukleogen- 
tabletten. Objektiv ist von den Krankheits¬ 
symptomen nur noch eine mäßige Ver¬ 
größerung der Schilddrüse vorhanden, 
die aber nicht mehr pulsiert. Exophthalmus 
bedeutend gebessert. Puls schwankt zwischen 
70 und 80, ist regelmäßig und von guter 
Qualität. Die Patientin hat vor kurzem be¬ 
richtet, daß die Besserung bis heute angehalten 
hat (3 Monate nach der Jod-Arsenkur.) 

3. Fall. Prau O., 42 Jahre alt, Kaufmanns¬ 
frau, ist stets gesund gewesen und hat 13 ge¬ 
sunde Kinder geboren. Sie hat sich immer 
sehr wohl gefühlt und während ihrer Ehe von 
92 bis zu 140 Pfund zugenommen. Seit 2 Mo¬ 
naten bemerkt sie, daß der Hals an Umfang 
zunimmt, auch stellten sich Müdigkeit und 
Herzklopfen ein. Gleichzeitig bekam sie Zittern 
der Hände, starke Schweißbildung und perio¬ 
disch heftige Durchfälle ohne nachweisbare 
Ursache. Dabei eine Gewichtsabnahme von 
8 kg in kurzer Zeit. 

Status: Kleine, ziemlich gut genährte Frau, 
Gesicht stark kongestioniert, schwitzend, leichter 
Exophthalmus, mäßige Vergrößerung der Schild¬ 
drüse mit leichter Pulsation und von ziemlich 
derber Konsistenz. Herzdämpfung normal. 
Herztöne rein, aber sehr beschleunigte Herz¬ 
aktion. Puls regelmäßig, 120, leicht zu unter¬ 
drücken. Die Haut am ganzen Körper feucht, 
besonders an den Händen, die sich auffallend 
heiß anfühlen und einen leichten Tremor 
zeigen. Täglich 3—4 flüssige Stuhlgänge. 

Therapie: Schon nach den ersten Jod- 
Arseneinspritzungen bedeutende Besserung, 
besonders der Herzaktion. Auch das Schwitzen 
und Zittern nimmt nach 8tägiger Behandlung 
bedeutend ab, während die Durchfälle erst in 
der dritten Behandlungswoche authören. Im 
weiteren Verlauf verkleinert sich die Schild¬ 
drüse, der Exophthalmus geht bedeutend zu¬ 
rück. Puls viel kräftiger, schwankt zwischen 
90 und 100 in der Minute. Langsame, aber 
stetige Gewichtszunahme seit Beginn der Be¬ 
handlung. Nach 4 Wochen langer Kur geht 
Patientin auf Reisen, sie nimmt noch 4 Wochen 
lang Nukleogen, dreimal täglich 2 Tabletten, 
und fühlt sich weiter vollkommen wohl. Ihr 
Körpergewicht hat im Verlauf von 3 Monaten 
die frühere Höhe fast wieder erreicht. 

4. Fall. 47jährige Gutsbesitzersfrau aus 
B., ist früher stets gesund gewesen, heiratete 
im Alter von 37 Jahren, seitdem viel Arbeit 
und Unruhe in der ausgedehnten Wirtschaft. 
Vor zirka 2 Jahren stellten sich Herzklopfen, 
Aufregungszustände und Schlaflosigkeit ein. 
Gleichzeitig magerte sie stark ab und war in¬ 
folge allgemeiner Schwäche bald nicht mehr 
in der Lage, ihrem Hauswesen vorzustehen. 
Der Arzt erklärte sie für herzkrank, verordnete 
ihr Digitalis, und als danach eher eine Ver¬ 
schlimmerung der Krankheitserscheinungen 
auftrat, eine Kur in Soden im Taunus. Die 
Kur war aber ohne Erfolg. 

Status: Stark abgemagerte Frau mit allen 
Zeichen der Basedowschen Krankheit: 
Mäßiger Exophthalmus, Graefe und Stell¬ 
wag positiv, Schilddrüse vergrößert, beider¬ 
seits gleichmäßig, von weicher Konsistenz, 
Herzpalpitationen, Schweiße, Zittern, stark aus¬ 
gesprochenes Schwächegefühl. Herzdämpfung 
etwas nach links verbreitert, Herztöne rein, 


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Februar 


Die Therapie der Gegenwart 1910 


65 


Puls 140, regelmäßig, aber doch zuweilen aus¬ 
setzend. Gewicht 59 kg. 

Therapie: Patientin wurde zunächst mit 
allmählich ansteigenden Atoxyldosen intra¬ 
venös behandelt, jedoch ohne ausgesprochenen 
Erfolg, der erst einsetzte, als mit der 
kombinierten Jod - Arsentherapie begonnen 
wurde. Von da ab stetig fortschreitende 
Besserung und starke Gewichts-zunahme. 
Nach vier Wochen sind alle Symptome 
bedeutend gemildert, aber immer noch deut¬ 
lich zu erkennen. Als wegen häuslicher Ver¬ 
hältnisse die Kur unterbrochen werden mußte, 
trat ein Rückfall ein und gleichzeitig wieder 
eine rapide Gewichtsabnahme. Nach erneuter 
Kur, zweimal wöchentlich eine Injektion, drei 
Wochen lang, Besserung ; nach starken Ge¬ 
mütsbewegungen wieder Verschlimmerung, die 
eine Entfernung aus dem Haushalte notwendig 
machte. Von da ab bei fortgesetzter Jod- 
Arsenbehandlung ungestörte Besserung. Der 
Exophthalmus ist bedeutend zurückgegangen, 
aber noch deutlich zu erkennen. Graefe und 
Stell wag jetzt negativ. Die Herzaktion ist 
ruhig. Schwitzen und Zittern sind ganz ver¬ 
schwunden, ebenso die Kongestionen zum 
Kopf. Schlaf ist ruhig, völlige Arbeitsfähigkeit, 
Gewichtszunahme 12 kg. Nach einer Höhen¬ 
kur in Oberhof kehrte sie im besten Wohl¬ 
befinden zurück. Sie nimmt jetzt noch 
Nukleogentabletten und fühlt sich andauernd 
wohl. 

5. Fall. Frau K., 36 Jahre alt, stets gesund 
gewesen, hat 3 gesunde Kinder gehabt und ist 
jetzt im 5. Monat schwanger. Im Beginn der 
Schwangerschaft bemerkte sie eine An¬ 
schwellung am Halse, die trotz Einreibung mit 
Jodsalbe immer mehr zunahm. Es stellten 
sich Atembeschwerden, heftige Hustenanfälle, 
sowie Herzklopfen und Erstickungsnot ein, die 
besonders in der Nacht oft eine solche Heftig¬ 
keit erreichte, daß die Frau aus dem Bette 
springen mußte. 

Status: Etwas abgemagerte Frau, gravida 
im 5. Monat. Leichter Exophthalmus, am 
Halse eine stark entwickelte Struma, rechts 
von der Größe eines Hühnereies, links be¬ 
deutend kleiner, auch der mittlere Lappen 
stark vergrößert; deutlicher Stridor bei der 
Inspiration, besonders bei Anstrengung und 
Auflegung. In den Bronchien laute Rhonchi. 
Herzaktion stark beschleunigt. Puls wechselnd, 
130 bis 150 Schläge in der Minute. Leichtes 
Oedem an den Fußknöcheln. 

Therapie: Nach wenigen Injektionen von 
Jod-Arsen, die wegen der Kompression der 
Trachea zunächst täglich vorgenommen 
wurden, Verkleinerung der Struma, Nachlassen 
des Stridors und des Hustens, gegen den 
gleichzeitig Kodein verordnet wurde Nach 
10 täglichen Einspritzungen nur noch alle zwei 
Tage Jod-Arsen, nach 4 Wochen nur noch 
zweimal wöchentlich. Nach 8 Wochen wird 
die Kur abgebrochen. Der Exophthalmus ist 
verschwunden, die Struma bedeutend kleiner, 
keine Atemnot, kein Herzklopfen mehr. Der 
Partus verlief glatt, das Befinden hat sich nach 
der Entbindung noch weiter gebessert und ist 
dauernd gut geblieben. 

6. Fall. Frau W. aus B., 52 Jahre alt, 
Beamtenwitwe, war früher eine blühende und 
auffallend kräftige Frau; hat viel Unglück im 
Leben gehabt, fast ihre ganze Familie durch 
den Tod verloren. Seit 4 Jahren machte sich 


ein starker Kräfteverfall bemerkbar, dabei 
rapide Abmagerung uni zirka 25 kg, die auch 
jetzt noch nicht zum Stillstände gekommen ist. 
Ferner Herzklopfen, Kopfschmerzen, Zittern, 
Schweiße und Hitzegefühl am ganzen Körper. 
Stets Durchfall, auch bei strengster Diät. Viel 
ärztlich behandelt, bald wegen Nervosität, bald 
wegen chronischen Darmkatarrhs. Auch eine 
Badekur in Neuenahr war ohne Erfolg. 

Status: Patientin sehr mager, wiegt 49 kg. 
Starker Exophthalmus, Graefe und Stellwag 
positiv. Kleine, prall-elastische Struma, beider¬ 
seits gleich, stark ausgedehnte Venen des 
Halses, mit deutlicher Pulsation. Herzdämpfung 
nach links verbreitert, blasendes, systolisches 
Geräusch an der Herzspitze. Puls 140, un¬ 
regelmäßig. Gesicht stark gerötet, stets auf¬ 
geregt. schlailos. Starker Tremor. Haut, be¬ 
sonders an den Händen, heiß und feucht an¬ 
zufühlen. Täglich 3 bis 4 wässerige Stuhl¬ 
entleerungen. 

Therapie: Schon nach den ersten Jod- 
Arseninjektionen Besserung des Allgemein¬ 
befindens, mehr Ruhe und Schlaf, allmählich 
auch Beruhigung der Herzaktion und Ver¬ 
kleinerung der Struma, die jetzt eine derbe 
Konsistenz annimmt. Auch der Exophthalmus 
weniger frappant, die Durchfälle hören ohne 
diätetische Einschränkung auf. Allmähliche 
Gewichtszunahme (4 kg in 3 Wochen). Die 
Patientin unterbricht die Kur, weil sie ihren 
Wohnsitz verlegt. 

7. Fall. Fräulein H., Handarbeitslehrerin, 
30 Jahre alt, fühlt sich schon seit längerer Zeit 
schwach und müde, ohne den Sitz ihrer Krank¬ 
heit angeben zu können. Bald stellten sich 
Schwindelantälle ein, die sich zuweilen bis zur 
momentanen Bewußtlosigkeit steigerten. Dabei 
oft rasendes Herzklopfen, verbunden mit Atem¬ 
not, besonders während der Nacht, die sie im 
Bette mehr sitzend als liegend zubringen 
mußte. Appetit schlecht, allmählich zunehmende 
Abmagerung, dabei aufgeregt und unruhig. 

Status: Blasses, schlecht genährtes Mädchen, 
leichter Exophthalmus, Schilddrüse nur wenig 
vergrößert, Herzdämpfung etwas nach rechts 
und links verbreitert, stürmische Herzaktion, 
sodaß die einzelnen Töne kaum zu isolieren 
sind. Puls klein, unregelmäßig, schwankt 
zwischen 180 und 200; oft kaum zu zählen. 
Haut feucht, starkes Zittern der Hände. 

T he rapie: Unter Bettruhe.Tinct. Strophanti, 
Brom, kalten Umschlägen auf das Herz trat 
eine Besserung und Beruhigung der Herzaktion 
ein, auch das Angstgefühl und die Schwindel¬ 
anfälle verloren ihre Intensität. Als beim Ver¬ 
lassen des Bettes alle Symptome sich mit er¬ 
neuter Heftigkeit einstellten und alle Herzmittel 
ohne Erfolg waren, Jod-Arseninjektionen, zu¬ 
nächst dreimal wöchentlich 4 Wochen lang, 
dann 4 Wochen lang zweimal wöchentlich, und 
darauf noch mehrere Monate alle 8 Tage. Die 
Wirkung, besonders auf die Herzstöiung, war 
eine eklatante. Der Puls, der nun schon fast 

2 Jahre lang zwischen 150 bis 200 geschwankt 
hatte, ging auf 96 herunter, wurde regelmäßig, 
kräftig. Die geringe Anschwellung der Schild¬ 
drüse ist verschwunden, ebenso der Ex¬ 
ophthalmus, der allerdings nur einen geringen 
Grad erreicht hatte. Die Patientin ist seit 

3 Monaten völlig arbeitsfähig trotz ihres 
schweren Berufes. 

8. Fall. Fräulein M., 27 Jahre alt, hat 
häufig an Bleichsucht gelitten, ist aber im 

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Februar 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


übrigen stets gesund gewesen. Vor etwa zwei 
Jahren bemerkte sie eine allmählich immer 
stärker sich entwickelnde Anschwellung am 
Halse, die auf Schilddrüsentabletten, Jod¬ 
behandlung innerlich und äußerlich, bedeutend 
zurückging. Allmählich schwoll jedoch der 
Hals wieder an, es stellte sich Herzklopfen 
und allgemeine Schwäche ein, die besonders, 
als Patientin sich verlobte, sehr zunahm. Jod¬ 
natrium innerlich bewirkte zwar eine Ver¬ 
kleinerung der Schilddrüse, aber das Allgemein¬ 
befinden, insbesondere das Herzklopfen, wurde 
schlimmer, weshalb die Behandlung wieder 
ausgesetzt wurde. 

Status: Bleichsüchtiges, aber gut genährtes 
Fräulein. Die Schilddrüse ist nach beiden 
Seiten hin gleichmäßig vergrößert, leicht ver¬ 
schieblich und von weicher Konsistenz. Leichter 
Exophthalmus, links stärker als rechts. Graefe 
und Stell wag negativ. Herzdämpfung normal, 
aber sehr beschleunigte Herzaktion. Lautes, 
blasendes Geräusch an der Herzspitze. Puls 
schnellend, 120, regelmäßig. 

Therapie: Intravenöse Jod-Arseninjek¬ 
tionen, 6 Wochen lang, zweimal wöchentlich. 
Danach allmähliche Verkleinerung der Struma, 
die während der Behandlung eine derbe Kon¬ 
sistenz annimmt. Beruhigung der Herzaktion, 
Puls sinkt allmählich bis auf 80 Schläge in der 
Minute. Gutes Allgemeinbefinden. Patientin 
ist jetzt verheiratet und fühlt sich ganz wohl, 
wenngleich die Struma in mäßigem Umfange 
noch immer vorhanden ist. 

9. Fall. Frau G., 67 Jahre alte Witwe, 
leidet seit ihren Entwicklungsjahren an einem 
Kropfe. Auch sind ihre beiden Töchter mit 
Kröpfen behaftet. Sie ist stets gesund ge¬ 
wesen, trotz eines arbeitsvollen und an Ent¬ 
behrungen reichen Lebens. Seit 5 Jahren trat 
ein rapider Verfall ein, sie magerte zum Skelett 
ab, hatte stets heftiges Herzklopfen, starke 
Atembeschwerden, Hitzegefühl im Gesicht und 
an den Händen, profuse Schweiße, sehr häufig 
Anfälle von Erbrechen und Durchfall, die ihre 
Kräfte oft in bedrohlicher Weise reduzierten. 

Status: Abgemagerte, elend aussehende 
Frau. Exophthalmus, Graefe und Stellwag 
positiv. Die Struma hat den Charakter einer 
Struma colloides mit multiplen Knoten, beider¬ 
seits gleich, von je Hühnereigröße. Starkes 
Pulsieren der Halsgefäße. Haut bräunlich ver¬ 
färbt, feucht. Gesicht kongestioniert, Hände 
heiß, zitternd. Herzdämpfung nach rechts und 
links verbreitert, über allen Ostien blasende 
Geräusche, scharf akzentuierter zweiter Pul¬ 
monal- und Aortenton, Herzaktion vollkommen 
irregulär, Puls in Reihenfolge und Qualität der 
einzelnen Schläge stetig wechselnd, sehr be¬ 
schleunigt, aussetzend. Bald melancholische, 
bald aufgeregte Gemütsstimmung. 

Therapie: Nachdem sich die Patientin von 
einer sehr heftig ein setzenden Attacke von 
seiten des Magendarmkanals einigermaßen er¬ 
holt hatte, Jod-Arseninjektionen intravenös. 
Anfangs täglich 1 Injektion, später alle 2 Tage. 
Im ganzen 12 Injektionen. Danach allmähliche 
Besserung der Herzaktion, die zwar unregel¬ 
mäßig, aussetzend blieb, aber bedeutend 
ruhiger wurde. Die Struma wurde kleiner, 
blieb aber immer noch in beträchtlicher Größe 
bestehen. Exophthalmus wenig gebessert, 
ebenso die Kongestionen nach dem Kopfe. 
Gewichtszunahme in 3 Wochen zirka 3 kg. 
Patientin bricht die Kur ab, um nach ihrer 


Heimat in Thüringen abzureisen. Sie hat sich 
vor kurzem wieder vorgestellt, ist immer noch 
schwach, aber die Basedowsymptome haben 
sich nicht wieder in der früheren Stärke ein¬ 
gefunden. 

10. Fall. 21 jähriger Schlosser, stets gesund 
und aus gesunder Familie, merkt seit einiger 
Zeit, besonders an seinem Kragen, daß sein 
Hals an Umfang zunimmt, obwohl er an Körper¬ 
gewicht verliert. Gleichzeitig hat er bei jeder 
Anstrengung Herzklopfen und Schweißaus¬ 
bruch. Trotzdem wird er zum Militär aus¬ 
gehoben, aber nach nochmaliger Untersuchung 
durch den Oberstabsarzt als untauglich wieder 
entlassen. 

Status: Kräftig gebauter Mann, sehr ge¬ 
ringer Panniculus adiposus, die Schilddrüse ist 
in allen Teilen und nach allen Richtungen hin 
gleichmäßig vergrößert, von weicher Konsistenz. 
Geringer Exophthalmus. Herz normal, nur in 
seiner Tätigkeit beschleunigt. Puls regelmäßig, 
kräftig, 110 in der Minute; Haut feucht, 
schwitzend. 

Therapie: Jod-Arseninjektionen, alle zwei 
Tage, darauf schnelle Besserung, nach 16 In¬ 
jektionen ist Patient frei von Basedow¬ 
symptomen und hat um 4,5 kg zugenommen. 
Die Schilddrüse hat eine feste Konsistenz und 
wieder ihre normale Größe. Herzaktion be¬ 
ruhigt. 

Diese 10 Krankengeschichten, die einer 
größeren Reihe von Beobachtungen als 
besonders charakteristisch entnommen sind, 
liefern uns den Beweis, daß die kombinierte, 
intravenöse Jod - Arsenanwendung 
nicht nur für die thyreogene, sondern 
auch für die neurogene Form des Basedow 
sich als eine prompt und sicher wir¬ 
kende Behandlungsmethode bewährt 
hat. Zwar führt sie in vielen Fällen, be¬ 
sonders wenn es sich um rein neurogene 
Erkrankungen handelt, nicht zur endgültigen 
Heilung, aber sie bildet doch immerhin ein 
wirksames Palliativmittel, selbst für 
solche Erkrankungen, die jeder anderen 
medikamentösen Therapie Trotz geboten 
hatten. Häufig vermag auch die chirur¬ 
gische Behandlung, besonders in solchen 
Fällen, welche der genuinen, neurogenen 
Form zugerechnet werden müssen, nicht 
mehr zu leisten. 

Am schnellsten und gründlichsten 
weichen der Jod-Arsenbehandlung die so¬ 
genannten thyreotoxischen Symptome, 
während die organischen Veränderungen, 
wie leicht erklärlich, zu ihrer Rückbildung 
einer längeren Einwirkung der Medi¬ 
kamente bedürfen. Besonders auffällig ist 
es, wie gleich nach den ersten Injektionen 
das Allgemeinbefinden sich bessert, 
die Eßlust sich hebt und schon nach 
wenigen Tagen das vorher stets sinkende 
Körpergewicht zu steigen beginnt. Auch 
Zittern, Schwitzen, Kongestionen 
und Durchfälle sistieren bald nach Be- 


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Februar 


67 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


ginn der Behandlung. Die Struma ver¬ 
kleinert sich in den meisten Fällen ganz 
beträchtlich, bleibt dann aber häufig in 
einem Umfange bestehen, der doch noch 
die Grenzen des Normalen bedeutend über¬ 
steigt. Aber die veränderte Konsistenz 
der Schilddrüse, die auffällige Derbheit 
des vorher blutreichen und weichen Organs, 
gibt uns den Beweis, daß auch in diesen 
Fällen die vorher abnorm gesteigerte Funk¬ 
tion der Schilddrüse, die Hyperthyre- 
osis, wieder in normale Bahnen ge¬ 
lenkt ist. 

Die Uebererregbarkeit des Herzens, die 
Tachykardie, die wir ebenfalls zu den 
thyreotoxischen Symptomen rechnen 
müssen, bessert sich bald nach Beginn der 
Behandlung, während die übrigen Symp¬ 
tome von seiten des Herzens sich erst 
ganz allmählich zurückbilden. Am hart¬ 
näckigsten erweist sich der Exophthal¬ 
mus, der meist geringer wird, aber doch 
nur so weit zurückgeht, daß er sachkundigen 
Beobachtern immer noch als Basedow- 
Zeichen imponiert. Das ist aber eine Er¬ 
fahrung, die auch bei allen anderen Be¬ 
handlungsmethoden, selbst bei der opera¬ 
tiven, gemacht wird. 

Auf die Methodik der intravenösen 
Therapie brauche ich wohl nicht näher 
einzugehen, sie ist stets in derselben Weise 
ausgeführt worden, wie sie von mir wieder¬ 
holt beschrieben wurde. Zur Injektion 
wurde die Liebergsche 2 G ramm spritze 
mit Platin-Iridiumnadel benutzt. Da 
das injizierte Medikament für die Venen¬ 
intima sowie für das Blut und seine kor¬ 
puskularen Elemente unschädlich ist, so 
können wir, wie ich es stets empfohlen, 
die Stauungsbinde ruhig bis nach Be¬ 
endigung der Injektion liegen lassen, ohne 
die Entwickelung von Thromben an der 
Injektionsstelle oder Gerinnungen im Blute 
befürchten zu müssen. 

Injiziert wurden stets 2 ccm folgender 


Lösung: 

Rp. Atoxyl ./,ög 

Natr. jodat . 4,0 g 


Aq. destill . ad ... . 20,0 ccm 

D ad vitr. nigr. 

Jede Einzeldosis enthält dann 0,1 At¬ 
oxyl + 0,4 Natrium jodat und wird je 
nach der Intensität der Erkrankung täglich 
oder alle 2 Tage und mit fortschreitender 
Besserung wöchentlich zwei und schließlich 
nur einmal injiziert. 

Beide Arzneistoffe erfordernabereine 
besonders vorsichtige Handhabung, 
wenn man ihre Zersetzung verhüten und 
doch eines sterilen Medikaments sicher 


sein will. Sie vertragen keine hohen 
Hitzegrade; nach den Untersuchungen 
von Blumenthal 1 ) spaltet das Aloxyl 
bei zu langem Erhitzen Arsensäure ab, 
welche die Ursache vieler der gefürchte¬ 
ten Intoxikationserscheinungen bilden 
soll. Sicher ist, daß derart zersetzte 
Lösungen schon eine Stunde nach ihrer 
intravenösen Injektion heftigen Schüttel¬ 
frost mit vorübergehenden Fiebererschei- 
nungen hervorrufen, während sie bei sub¬ 
kutaner Anwendung starke Reiz¬ 
erscheinungen, Schwellung und Rötung 
an der Injektionsstelle im Gefolge haben, 
unwillkommene Nebenwirkungen, welche 
bei Benutzung des unzersetzten Prä¬ 
parates niemals zu befürchten sind. 

Das Jodnatrium nimmt bei zu energi¬ 
schem Sterilisieren eine gelbliche Färbung 
an, ein Beweis, daß Jod sich abspaltet. 
Die Folge davon ist, daß die sonst bei 
kunstgerechter Ausführung absolut schmerz¬ 
lose Injektion ein ziemlich heftiges 
Brennen im Verlauf der Vene hervor¬ 
ruft. 

Da Luft und Licht auf unsere Lösung 
oft schon nach kurzer Zeit, besonders bei 
warmer Temperatur, eine gleich zer¬ 
setzende Wirkung besitzen, so ist es rat¬ 
sam, die Lösung als Einzeldosen in 
zugeschmolzenen Ampullen herzu¬ 
stellen, um eines dauernd sterilen und 
dabei unzersetzten Medikaments sicher zu 
sein und so alle unangenehmen Neben¬ 
wirkungen völlig auszuschließen. 

Bei Beobachtung dieser Vorsichtsma߬ 
regeln verläuft die intravenöse Injektion 
der von mir angegebenen Arzneimischung 
absolut schmerzlos, ohne jede örtliche 
oder allgemeine Schädigung, und 
völlig frei von unerwünschten Neben¬ 
wirkungen. 

Dem Praktiker, der die Behandlungs¬ 
methode nachprüfen will, muß es deswegen 
sehr willkommen sein, daß die in der Her¬ 
stellung steriler Medikamente rühmlichst 
bekannte Firma Bernhard Hadra in Berlin 
sich bereit erklärt hat, das von mir erprobte 
Medikament ganz nach meiner Vorschrift 
und mit all den Vorsichtsmaßregeln, welche 
die leicht zersetzbaren Arzneistoffe erfor¬ 
dern, herzustellen und unter dem Namen 
Jodarsyl als Einzeldosen in zugeschmol¬ 
zenen Glastuben in den Handel zu bringen. 

Es bedarf nun noch einer eingehenden 
pharmakologischen Erörterung, um 
die Wirkungsweise der angegebenen 
Behandlungsmethode zu erklären und da- 

l ) Atoxyl und seine Anwendung in der Medizin, 
Charlottenburg 1907. 

9* 


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68 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Februar 


durch die Möglichkeit einer medikamen¬ 
tösen Einwirkung auf den Krankheits¬ 
prozeß des Morbus ßasedowii darzulegen. 

Die von altersher bewährte Wirkung 
des Arsen auf die verschiedenartigsten 
Erkrankungen des zentralen und peripheren 
Nervensystems, sein gleichzeitig gün- | 
stiger Einfluß auf den Stoffwechsel und [ 
die Ernährungsvorgänge im Organis- j 
mus, haben ihm eine hervorragende Be¬ 
deutung in der Behandlung des Morbus 
Basedowii gesichert. Das Arsen wird des- i 
wegen bis auf den heutigen Tag von I 
unseren hervorragendsten Klinikern (Erb, 
Strümpell, Eulenburg u. a. 1 ) unter den 
gegen den Basedow empfohlenen Mitteln 
an erster Stelle genannt. Obwohl also 
seine Wirksamkeit bei dieser erschöpfen¬ 
den Nervenkrankheit als hinreichend be¬ 
wiesen gelten kann, so waren es doch vor 
der Herstellung und Anwendung der 
organischen Arsenpräparate die un¬ 
angenehmen Nebenwirkungen des Medika¬ 
ments, welche seine Heilwirkung beein¬ 
trächtigten und nicht selten seine in bezug 
auf Zeit und Dosis ausreichende Verwendung 
verboten. Dagegen sind die organischen 
Arsenpräparate, insbesondere das At- 
oxyl, bei zweckentsprechender Herstellung 
und Anwendung, besonders in Form der 
intravenösen Injektion, imstande, die 
Heilwirkungen des Arsen in vollkommen¬ 
ster Weise ohne jede störende Neben¬ 
wirkung zur Geltung zu bringen. Wir 
können deswegen gerade von der intra¬ 
venösen Atoxylbehandlung einen be¬ 
sonders günstigen Einfluß auf die neu¬ 
rogenen Momente des Morbus Basedowii 
erwarten. Aber die Erfolge, welche die 
verschiedenen Autoren mit der Atoxyl¬ 
behandlung des Basedow erzielt haben, 
betreffen in gleicher Weise die thyre¬ 
ogenen wie die neurogenen Krankheits¬ 
erscheinungen, sodaß sie in der roborierenden 
Wirkung des Arsen auf das Nervensystem 
allein keine genügende Erklärung finden. 
Wir müssen deswegen dem Arsen, beson¬ 
ders in den relativ großen Dosen, deren 
gefahrlose Einführung das Atoxyl gestattet, 
auch eine günstige Heilwirkung auf 
den gestörten Stoffwechsel der 
Thyreoidea zuschreiben. 

Der von Gautier erhobene Befund von 
Arsen in der Schilddrüse ist bisher 
von keinem anderen Forscher bestätigt 
worden. Er kann deswegen nicht als 
Beweis für die von uns angenommene 
Bedeutung des Arsen für die Anomalie 

J ) S. Med. Klinik 1908, Nr. 1 und 2. 


der Schilddrüsenfunktion herangezogen 
werden. 

Ein gleiches gilt von der Behauptung 
Ewalds, daß die unangenehmen Neben¬ 
wirkungen der Thyreoidbehandlung, der 
künstliche Thyreoidismus durch 
Solutio Fowleri erfolgreich bekämpft 
werde. 

Viel wichtiger scheint für diese Frage 
die von Kocher 1 ) festgestellte Tatsache, 
daß der Phosphor eine anregende 
Wirkung auf die Schilddrüsenfunk¬ 
tion besitzt, daß er insbesondere eine 
gesteigerte Fixierung von Jod in der 
jodarmen Basedowstruma bewirkt. Phos¬ 
phor und Arsen besitzen aber in phar¬ 
makologischer Hinsicht und nach dem 
Charakter ihrer Wirkungen auf das Nerven¬ 
system, den Stoffwechsel und die Ernäh¬ 
rungsvorgänge im Organismus soviel 
Analogien, daß wir, besonders mit Rück¬ 
sicht auf die praktischen Erfolge, 
welche zahlreiche zuverlässige Beobachter 
mit dem Arsen und in neuester Zeit mit 
dem Atoxyl bei Basedow erzielt haben, 
wohl mit Recht diesem Medikamente eine 
gleiche oder ähnliche Wirkung wie 
dem Phosphor auf den Jodchemismus 
der Schilddrüse zuschreiben dürfen. 

Diese direkt thyreotrope Wirkung 
des Arsens erfährt aber in unserer Be¬ 
handlungsweise eine therapeutisch be¬ 
deutungsvolle Steigerung durch das 
Zusammenwirken zweier Faktoren, durch 
die intravenöse Injektion, welche die 
Affinität des Medikaments zur Schilddrüse 
erhöht, und durch den Blutreichtum der 
Basedow-Struma, die ebenfalls eine ver¬ 
stärkte Ablagerung des Arsen in dem er¬ 
krankten Organ zur Folge hat. Deswegen 
bedürfen wir zur Heilwirkung in jeder 
Einzelinjektion nur einer Atoxylmenge, die 
weit entfernt bleibt von der Dosis, bei der 
wir die bekannten toxischen Folgeerschei¬ 
nungen dieser Arsenmedikation befürchten 
müssen. 

Um die Wirkungsweise der Jodkom¬ 
ponente unseres Heilmittels zu erklären, 
müssen wir näher auf die Beziehung des 
Jods zur Schildrüse eingehen. 

Seitdem Baumann in Uebereinstim- 
mung mit einer schon vorher von Kocher 
ausgesprochenen Vermutung das regel¬ 
mäßige Vorkommen von Jod in der 
normalen Schilddrüse der Erwachsenen 
nachgewiesen, ist der Chemismus der 
Thyreoidea Gegenstand zahlreicher Unter¬ 
suchungen gewesen, ohne daß dadurch 

*) Th. Kocher, Kongreß für innere Medizin 
(München 1906). 


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Februar 


69 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


die Funktion dieses Organs in ihrer Be¬ 
ziehung zum Organismus völlig klar gestellt 
wurde. Soviel steht aber fest, daß die 
Schilddrüse ein starkes Selektions¬ 
vermögen für das in die Säftemasse ge¬ 
langende Jod besitzt, daß es dasselbe in 
sich aufspeichert und daß nach Exstir¬ 
pation von Drüsenteilen die zurückbleiben¬ 
den Partien eine Steigerung ihres Jod¬ 
gehaltes erfahren, ein Beweis, welch 
hohe Bedeutung diesem für die normale 
Schilddrüsenfunktion zufällt. 

Ferner hat eine Reihe von Forschern, 
insbesondere auch Albert Kocher 1 ), fest¬ 
gestellt, daß kropfig entartete Drüsen meist 
einen abnorm geringen Jodgehalt auf¬ 
weisen, daß aber keine Schilddrüse so jod¬ 
arm gefunden wird wie die Basedow- 
Struma, in der das Jod oft bis auf V 30 
der Norm vermindert ist. Die Schild¬ 
drüse des Basedow hat also *die 
Fähigkeit verloren, dasjod zu fixie¬ 
ren. Diese Tatsache steht fest, sie läßt 
aber eine Reihe viel umstrittener Fragen 
offen. Zunächst kann trotzdem eine Jod¬ 
sekretion vorhanden sein, es kann sogar 
in Anbetracht der abnorm starken Vasku¬ 
larisation des Organs eine gesteigerte 
Sekretion von Jod stattfinden, das aber 
zu schnell von der mangelhaft aufspeichern¬ 
den Drüse [in die Blutbahn abgegeben 
wird. Oder es kann angenommen werden, 
daß das Jod überhaupt in der Drüse fehlt 
und sich infolgedessen eine Vergiftung 
des Körpers mit schädlichen Stoff¬ 
wechselprodukten vollzieht, die von 
der normalen Schilddrüse durch Jodie¬ 
rung entgiftet werden. 

Ohne Rücksicht auf diese divergieren¬ 
den Theorien muß es das Ziel einer wirk¬ 
samen medikamentösen Therapie sein, den 
Jodchemismus der Schilddrüse, dessen 
Bedeutung für den Basedow von allen 
Forschern, zu welcher Theorie sie sich 
auch bekennen mögen, anerkannt wird, 
zur Norm zurückzuführen. 

Theoretisch scheint die Möglichkeit ge¬ 
geben, dieses durch stomachale Verab¬ 
reichung von Jodpräparaten zu erreichen, 
deren Einwirkung auf kropfig entartete 
Schilddrüsen ja fest steht. 

Nun ist aber schon von älteren Autoren, 
so z. B. von Lücke 2 ) (1862), in einer 
Reihe von Fällen beobachtet worden, daß 
unter dem Gebrauch von Jodpräparaten 
und insbesondere auch von Jodkalium bei 
Patienten, die mit Kropf behaftet waren, 
unter gleichzeitiger Verkleinerung der 

l ) Alb. Kocher, Mitt. a. d. Gr. 1902, Bd. 9. 

3 ) Lücke, Krankheiten der Schilddrüse. 


Struma Symptome hervortraten, die mit 
denen des Morbus Basedowii fast iden¬ 
tisch sind (Abmagerung, Pulsbeschleuni¬ 
gung, Zittern, Aufregungszustände, Schlaf¬ 
losigkeit). 

Auch Albert Kocher 1 ) berichtet, daß 
zweifelsohne durch die Jodtherapie eine 
ganze Anzahl Basedowerkrankungen 
gefördert worden ist, während Theodor 
Kocher 2 ) nach Jodmißbrauch, d. h. nach 
monate- oder jahrelangem Jodgebrauch, so 
starke histologische V eränderungen des ge¬ 
sunden Schilddrüsenparenchym beobachten 
konnte, daß unter Erlöschen der Drüsen¬ 
funktion sich Erscheinungen von Myxoedem 
einstellten. 

Eine Erklärung des Thyreoidismus 
nach Jodgebrauch der Kopfkranken und 
der Steigerung der Basedowsymptome gibt 
uns eine interessante Untersuchung von 
Kraus 8 ), der sah, daß unter dem Einflüsse 
eines fortgesetzten Jodgebrauchs das 
Kolloid der Follikel selbst frischer Kol¬ 
loidstrumen die Schilddrüse verläßt 
und so eine Ueberschwemmung des Orga¬ 
nismus mit Schilddrüsensekreten zustande 
kommt. 

Auf Grund dieser Beobachtungen ist das 
Jod seit langer Zeit als schädlich aus 
der Basedow-Therapie verbannt worden. 
Dennoch berichtet Albert Kocher 4 ) auch 
über einzelne Basedowerkrankungen, die 
unter dem Gebrauch von kleinen Jod¬ 
dosen eine Besserung erfuhren; auch 
Kraus erzielte beim Kropfthyreoidis- 
mus nach Jodgebrauch Milderung der 
Herzsymptome. Ferner sah Strümpell 5 ) 
nicht immer von Jodpräparaten eine üble 
Wirkung, in einer Reihe von Fällen er¬ 
wiesen sich ihm kleine Dosen Jod¬ 
natrium sogar nützlich. 

Sicherlich sind große Dosen Jod nach 
den soeben angeführten Beobachtungen 
als schädlich zu verwerfen. Anders ver¬ 
hält es sich mit kleinen Dosen, die keine 
Gefahr für das gesunde Drüsenparenchym 
bedeuten, an deren Wirkungsmöglich¬ 
keit aber nicht zu zweifeln ist, wenn wir 
bedenken, wie geringe Mengen von Jodo- 
thyrin ausreichen, um den gesamten 
Ausfall der Schilddrüsensekretion 
zu decken. Nur müssen wir, wenn wir den 
Jodchemismus der Basedow-Schilddrüse 
bessern wollen, dafür Sorge tragen, daß 

*) Albert Kocher, Mitt. a. d. Gr., 1902, B. 9. 

2 ) Theodor Kocher, Kongreß für innere Me¬ 
dizin (München 1906). 

A ) Kraus, Kongreß für innere Medizin (München 
1906). 

4 ) Albert Kocher, 1. c. 

5 ) Med. Klinik 1908, Nr. 2. 


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70 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Februar 


die minimalen Jodmengen nicht zu 
schnell den Körper wieder verlassen, son¬ 
dern mit der erkrankten Schilddrüse eine 
feste Verankerung eingehen nach dem 
Grundsätze Ehrlichs: 1 ) 

„corpora non agunt, nisi fixata“. 

Die Thyreotropie des Jod wird aber 
durch nichts mehr gesteigert, wie wir an 
anderer Stelle nachgewiesen haben 2 ), als 
durch die intravenöse Injektion, die 
eine verzögerte Ausscheidung des ein¬ 
geführten Jod und eine festere Fixierung 
dieses Arzneistoffes in denjenigen Organen 
zur Folge hat, zu denen er eine besondere 
chemische Affinität besitzt. 

Das ist aber vor allen anderen Organen 
die Schilddrüse und ganz besonders, in¬ 
folge ihrer vermehrten Vaskularisation, die 
Struma Basedowiana. 

Atoxyl und Jodnatrium, die Kompo¬ 
nenten unserer Medikation, erfahren also 
durch die intravenöse Applikation eine 
Verstärkung ihrer Thyreotropie und 
dadurch eine verstärkte Einwirkung auf die 
Anomalie des Schilddrüsenstoffwechsels, 
welche dem Basedow eigentümlich ist. 
Gleichzeitig dient das Jodnatrium dem 
mit ihm verbundenen Atoxyl als Last¬ 
wagen, um es vermöge seiner großen 
Affinität zur Schilddrüse dorthin zu brin¬ 
gen, wo es seine heilende Wirkung aus- 
üben soll. 

Diese pharmakologischen Darlegun¬ 
gen lassen es erklärlich erscheinen, daß 
unsere Behandlungsmethode die besten 
und schnellsten Erfolge, ja an Heilung 
grenzende Besserung bei der thyreogenen 
Form des Basedow erzielt. Ob es uns bei 
der neurogenen Form gelingt, gleich¬ 
zeitig mit der Anomalie der Schilddrüsen¬ 
funktion auch die Schädigung des 
Nervensystems dauernd zu beseitigen, 
muß natürlich trotz der anerkannt günsti¬ 
gen Einwirkung des Arsen und ganz be¬ 
sonders des intravenös injizierten Atoxyl 
auf das Nervensystem, von der Art 


i 


l 


seiner Schädigung abhängen. Ist die¬ 
selbe durch vorausgegangene Infektions¬ 
krankheiten oder durch phsychische Affekte 
hervorgerufen, so werden wir sie unter 
gleichzeitiger Anwendung der diätetisch¬ 
physikalischen Therapie (reizlose Diät, 
Ruhe, Luftkuren, Luftliegekur, Elektrizität), 
die nie außer acht gelassen werden darf, 
leichter überwinden, als wenn eine heredi¬ 
tär neuropathische Disposition die Grund¬ 
ursache der Erkrankung bildet. In solchen 
Fällen werden wir eine längere inter¬ 
mittierende Jod - Arsenbehandlung 
durchführen müssen. Da selbst dann noch 
Rückfälle zu befürchten sind, so habe ich, 
um diese zu verhüten, anscheinend mit 
gutem Erfolge, in den Intervallen der Jod- 
Arsenbehandlung den Patienten Nukleogen 
verabreicht, ein in Tablettenform hergestell¬ 
tes Arzneipräparat, das eine glückliche 
Komposition von Arsen, Phosphor und 
Eisen darstellt, also eine Reihe von Heil¬ 
mitteln enthält, welche erfahrungsgemäß 
und nach unseren obigen Darlegungen eine 
günstige Einwirkung sowohl auf die 
thyreogenen wie die neurogenen Symp¬ 
tome des Morbus Basedowii besitzen. 

Die von uns beobachteten Basedow¬ 
erkrankungen stellen zwar meist leichtere 
oder mittel-schwere Fälle dar, teils thyre¬ 
ogenen, teils neurogenen Ursprungs; aber 
die hierbei erzielten und prompt einsetzen¬ 
den Erfolge berechtigen uns wohl zu der 
Annahme, daß auch bei schweren Erkran¬ 
kungen, die das Leben bedrohen, durch 
unsere kausale Therapie eine Besserung 
erzielt werden kann. Sollte aber der Heil¬ 
erfolg wider Erwarten ausbleiben oder 
sich nicht als ausreichend erweisen, so 
bleibt uns immer noch die operative 
Verkleinerung der Schilddrüse als 
letzter Heilversuch übrig, dessen Re¬ 
sultate, falls sie nicht zur völligen Resti¬ 
tutio ad integrum führen, immer noch durch 
eine postoperative Jodarsylkur ge¬ 
bessert werden können. 


Ueber ambulante Epilepsiebehandlung; mit besonderer 
Berücksichtigung des Sabromln. 

Von Nervenarzt Dr. Frochlich -Berlin. 


Die ambulante Behandlung Epileptischer 
ist für Arzt und Patienten mit manchen 
Schwierigkeiten verknüpft; für den Arzt, 
weil er bezüglich der wichtigsten Krank¬ 
heitserscheinungen zumeist auf Schilderung 
des Kranken respektive seiner Umgebung 
angewiesen ist; für den Kranken vor allem 

*) Siehe Ther. d. Gegenwart 1909, H. 12. 

2 ) F. Mendel, Ther. d. Gegenwart 1908, H. 7. 


deshalb, weil die Forderungen der modernen 
Epilepsietherapie nur schwer in der Häus¬ 
lichkeit sich verwirklichen lassen. Im all¬ 
gemeinen spielen ja heut bei unseren 
therapeutischen Maßnahmen drei Punkte 
eine Rolle: Ruhe des Körpers wie des 
Geistes, Diät, Medikamente. 

Wir bekommen Epileptiker zumeist bei 
gehäuften Anfällen in Behandlung. Das 


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Februar 


71 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


soziale Milieu ist gerade bei Behandlung 
dieser Erkrankung besonders zu berück¬ 
sichtigen: Einen Arbeiter, der in engen, 
dunklen und schlecht ventilierten Räumen 
sich aufhält, werden wir oft schon in einem 
Stadium einer geeigneten Anstalt über¬ 
weisen müssen, in dem wir den besser 
gestellten Kranken ruhig zu Hause lassen 
können. Andererseits werden wir aber 
auch nicht jeden Arbeiter sofort mit der 
Arbeit aussetzen lassen müssen, vielmehr 
nur Arbeiter in gefährlichen Maschinen- I 
und dergleichen Betrieben, denen ihre bis- ! 
herige Arbeit dauernd zu untersagen ist. 
ln ungefährlichen Betrieben arbeitende 
Kranke werden wir hingegen oft noch 
weiter arbeiten lassen, wenn wir wissen, 
daß sie die ärztlichen Maßnahmen ge¬ 
wissenhaft befolgen und vor allem sich 
von jeglichen Erregungen — Lektüre, 
Politik usw. — fernhalten. 

Gehäufte Anfälle rechtfertigen natürlich 
eine Arbeitspause. 

Der begüterte Patient ist zumeist Kopf¬ 
arbeiter. Ihm werden wir während der 
Periode gesteigerter Anfälle auf jeden Fall 
alle Tätigkeit untersagen, da geistige Arbeit ; 
entschieden die Häufigkeit der Anfälle be- I 
günstigt. Ein schwerer Anfall erfordert 
am besten einige Tage Bettruhe, das Ver¬ 
bot jeder Lektüre und jeden Besuches, 
auch wenn am Tage nach dem Anfall 
das Wohlbefinden ein noch so gutes 
ist. Bei gehäuften Anfällen dringen wir : 
am besten auf einen Landaufenthalt und 
lassen auch dort den Kranken sich aller 
geistigen Tätigkeit und aller Besuche ent¬ 
halten. Die Anfälle werden durch diese 
Maßnahmen oft in einer Zeit seltener, in 1 
der ähnliche Fälle in der Stadt noch un¬ 
verändert bleiben. Wir sehen hier häufig, 
wie weit mehr empfindlich der geistige 
Arbeiter gegenüber dem körperlich Arbei¬ 
tenden ist: kaum je wird durch körperliche 
Atbeit allein eine Verschlimmerung auf- ! 
treten, während dies bei fortgesetzt geistiger j 
Arbeit oft der Fall ist. Die Zeit der s 

Ruhe ist nicht zu kurz zu bemessen. 
Halbe Maßnahmen nützen hier nicht; darum 
ist einem Arbeiter auch mit einem kurzen 
Landaufenthalt wenig gedient. Zudem 
bleibt der Bemittelte auch außerhalb seiner 
Wohnung in ständiger ärztlicher Behand¬ 
lung, ein Arbeiter kann sich dies nicht ! 
leisten; die Erholungsstätten und Sanatorien 
der Städte, Landes Versicherungsanstalten 
usw. nehmen Epileptiker grundsätzlich 
nicht auf; so ist der Arbeiter, der Land¬ 
aufenthalt bekommt, nur auf sein erhöhtes 
Krankengeld angewiesen, mit dem er sich 


weder kurgemäß beköstigen kann, noch 
einen Arzt zu Rate zu ziehen in der Lage 
ist. Darum ist es für den Arbeiter zweck¬ 
mäßiger, wenn er bei ungefährlicher Arbeit 
nach kurzer Ruhepause seine Arbeit wieder 
aufnimmt, wenn der Fall ein schwerer 
wird, daß er eine geeignete Anstalt auf¬ 
sucht. Diese Maßnahme ist bei dem sozial 
Bessergestellten wiederum erst dann an¬ 
gebracht, wenn die Krankheit besonders 
! schwere Formen annimmt. 

Eine ganz wesentliche Rolle spielt dann 
die Diät, zumal die vegetarische Kost, 
welche in größerer oder geringerer Strenge 
von den meisten Autoren bei Epilepsie als 
dringendes Erfordernis angesehen wird. 
Eine ganz besondere Diät hat Rosenberg 
empfohlen, der nur bei äußerst strenger 
Befolgung seiner diätetischen Vorschriften 
für einen Erfolg mit seinem Epileptol ein¬ 
zustehen vermeint, ein Mittel, über das be¬ 
kanntlich die Meinungen noch sehr aus¬ 
einandergehen ; aber auch er ist im wesent¬ 
lichen für Einschränkung des Fleisch¬ 
genusses. Im wesentlichen wird es aber 
wohl darauf ankommen, in der Diät nicht 
zu schematisieren und sich nach der Be¬ 
sonderheit und Schwere des vorliegenden 
Falles zu richten; jedenfalls soll das 
Körpergewicht keine großen Schwankungen 
erleiden, eine Unterernährung darf nicht 
stattfinden. Ich lasse in allen Fällen ge¬ 
häufter Krarapfzustände sofort eine streng 
lakto-vegetabilische, möglichst salzfreie Diät 
ausführen, die sich auf mehrere Wochen 
zu erstrecken hat. 

Eier vermeide ich im Anfang auch nach 
Möglichkeit. Der Uebergang zur gemisch¬ 
ten Kost hat dann ganz allmählich zu 
erfolgen. 

Es hat sich mir — wenn durchführbar — 
als zweckmäßig erwiesen, daß der Kranke, 
auch wenn gar keine Anfälle mehr auftreten, 
noch auf mehrere Monate 1—2 vegetarische 
Tage beibehält. Von Getränken sind Kaffee, 
Tee und Alkohol in jeder Form auf lange 
Zeiten zu verbieten. Rauchen habe ich 
in mäßiger Weise immer bald wieder ge¬ 
statten können, ohne je einen Schaden 
hiervon zu sehen; im Beginn der Kur ver¬ 
biete ich es. Endlich ist für genügende 
Defäkation zu sorgen; eventuell sind leichte 
Abführmittel zu reichen. Leichte hydro¬ 
therapeutische Maßnahmen sind zu emp¬ 
fehlen. 

Diese kurzen Bemerkungen mögen ge¬ 
nügen; diese Dinge sind ja in der letzten 
Zeit ausführlich von den verschiedensten 
Autoren behandelt worden, ohne daß aller¬ 
dings bisher eine Uebereinstimmung er- 


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72 


Februar 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


zielt wurde, vor allem, wie erwähnt, hin- ] 
sichtlich des Nutzens einer strengen vege- i 
tarischen Diät. | 

In den meisten ambulant, respektive in 
der Häuslichkeit zu behandelnden Fällen 
— und nur von diesen soll ja die Rede 
sein — ist auch eine medikamentöse The¬ 
rapie erforderlich. Das souveräne Mittel 
war bisher stets das Brom, nach dem Vor¬ 
schläge von Toulouse und Richet bei 
chlorarmer Diät, um ein Bromdepot im 
Körper zu schaffen. Ich bevorzuge mehr 
das Natron- wie das Kalisalz; auch das 
Strontiumsalz ist vereinzelt empfohlen 
worden und vor allem die Mischung von 
Bromalkalien. Brom in Brot verbacken 
kommt als Spasmosit (Schnitzer) und 
Bromopan (Bälint) in den Handel. So 
prompt Brom nun auch bei richtiger Do¬ 
sierung und langer Darreichung zu wirken 
pflegt, haften ihm doch recht viele Mängel 
an, sodaß man seit langem eifrig nach 
Ersatzmitteln für dasselbe gesucht hat. 
Diese haben jedoch fast alle den not¬ 
wendigen Anforderungen nicht genügt, wir 
sahen immer wieder Bromismus auftreten, 
Bromakne und vor allem Verschlechterung 
des psychischen Befindens, Abnahme der 
Intelligenz, erschwertes Denken, Müdigkeit, 
Unvermögen geistig zu arbeiten. 

Ausführlichere Mitteilungen sind über 
die Epilepsiebehandlung mit Bromipin ge¬ 
macht worden, eine Verbindung von 
Brom und Sesamöl, das als 10%iges und 
33 l / 3 %iges Präparat in den Handel kommt. 
Eulenburg, Losio, Haymann und An¬ 
dere haben wohl günstige Erfolge be¬ 
obachtet, die notwendigen Mengen sind 
aber sehr große, und vor allem sind toxi¬ 
sche Nebenwirkungen nicht zu vermeiden; 
zudem ist der Geschmack kein guter, so¬ 
daß sich das Bromipin nicht recht in die 
Therapie hat einführen lassen. Noch 
weniger Anklang hatten andere Präparate 
gefunden, wie das Bromokoll, das Bromalin, 
das Bromalbazid und andere mehr. Auch 
die Opiumbehandlung wird wohl nur noch 
vereinzelt angewendet. 

Die organotherapeutische Behandlung 
endlich, die Lion in die Therapie ein¬ 
geführt hat und Eulenburg nachprüfte, 
hat nur sehr unsichere Resultate ergeben. 

Ich habe in den letzten Monaten Ver¬ 
suche mit zwei neuen Mitteln gemacht, der 
Darreichung von Natrium biboracicum und 
von Sabromin. Ueber das erstgenannte 
Mittel, das zuerst von Gowers schon 
1870 in die Therapie eingeführt, von 
Ocrum (Kopenhagen), von Fe re (aller¬ 
dings nur mit Erfolg in 9,1 %) und von 


Lange empfohlen wurde, habe ich keine 
Aufzeichnungen, ich verwandte es nur in 
2 Fällen, in denen jede Therapie seit 
Monaten erfolglos geblieben war; das 
Leiden bestand in beiden Fällen seit 
Jahren, Brom blieb, selbst in stärkeren 
Gaben, ohne jede Wirkung. Auch die 
Boraxtherapie ließ die Anfälle nicht zum 
Verschwinden bringen, diese wurden aber 
entschieden seltener. Sabromin habe ich 
hier nicht versucht. 

Ausgedehntere Versuche machte ich 
nun mit Sabromin, wozu mir die Firma 
Friedrich Bayer & Co. das nötige Material 
liebenswürdigerweise zur Verfügung stellte; 
im ganzen wurden 3500 g = 3 1 /» kg an 
i 14 Patienten verabreicht. Um das Resultat 
vorwegzunehmen, so waren die Erfolge 
mit diesem Mittel geradezu glänzend, so¬ 
daß es mir nicht ausgeschlossen scheint, 
daß Sabromin mit der Zeit die anderen 
Brompräparate ersetzen wird, sobald sich 
seine billigere Darstellung ermöglichen 
; lassen wird. Chemismus und Pharmako- 
: dynamik sind von anderen Autoren wieder- 
| holt und erschöpfend mitgeteilt worden, 
sodaß sich diesbezügliche Angaben hier 
erübrigen. Auch diese Autoren rühmen 
übereinstimmend die prompte Wirkung 
des Sabromins, seine völlige Ungiftigkeit, 
seine gute Einnehmbarkeit und das Fehlen 
jeglicher Nebenwirkungen. Ich nenne die 
Arbeiten aus der Meringsehen Klinik, 
von Eulenburg, Kalischer, Kroner, 
Haymann, Schlockow, Schuster und 
jüngst eine gemeinsame Arbeit von Br atz 
und Schlockow. 

Die Menge der nötigen Sabromingaben 
variiert natürlich nach Lage des Falles. 
Wie bei jedem Brompräparat muß man 
diejenige Menge erst ausprobieren, die 
I imstande ist, Anfälle zu coupieren, respek¬ 
tive die Häufigkeit herabzusetzen. Im 
Durchschnitt kamen wir mit täglichen 
Gaben von 3—4 g aus, auf mehrere Male 
i verteilt. Die Tabletten müssen zerkaut 
. und mit Wasser heruntergespült werden, 
j Empfindliche Patienten nehmen das Mittel 
im Anschluß an die Mahlzeiten, ich habe 
j aber auch keine unangenehmen Zwischen- 
I fälle gesehen, wenn Sabromin auf weniger 
| vollen Magen genommen wurde. Es ist 
I wichtig, Sabromin einige Monate hindurch 
j zu geben und nur sehr allmählich mit 
! der Quantität herunterzugehen. Müssen 
wir doch bedenken, daß Sabromin nur bei 
gleichen Mengen 7* der Bromsalzmengen 
enthält wie die Bromalkalien, und daß 
diese geringe Brommenge die gleiche Wir¬ 
kung wie die Bromalkalien auszuüben hat. 


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F ebruar 


73 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Das Sabromin wurde mir in Tabletten - 
und in Pulverform geliefert. Merkwürdiger¬ 
weise wurden die Tabletten weit lieber ge¬ 
nommen als die Pulver, obwohl ja die Ta¬ 
bletten auch erst im Munde zerkaut werden 
müssen. Jedenfalls wurde das Mittel aus¬ 
nahmslos gern genommen, nie wurde Über 
schlechten Geschmack geklagt, nie über 
schlechte Bekömmlichkeit, ich hatte keine 
Gelegenheit, eine Bromakne zu beobachten, 
und vor allem blieb das psychische Verhalten 
vollkommen unbeeinflußt. Ich beobachtete 
im ganzen 14 Fälle, alle längere Zeit hin¬ 
durch, bis zu 10 Monaten4) Ich möchte es 
nicht unterlassen, einige Krankengeschichten 
kurz zu skizzieren: 

F. K., 31 J., Kassenbote. 26. Mai 1909. Lues¬ 
infektion November 1908, eine energische Kur 
8 Wochen; seitdem ohne spezifische Behand¬ 
lung. Keine Erscheinungen: sonst nie erheb¬ 
lich krank gewesen; erblich nicht belastet. Am 
24. und 25. Mai je einen Krampfanfall mit tiefer 
Bewußtlosigkeit und Kopfverletzungen; Dauer 
der Anfälle je 10 Minuten. 3mal 2 Tabletten. 

6. Juni 1909. Bisher Sabromin gut vertragen, 
kein Bromismus; gestern einen leichten Anfall 
gehabt. Weiter 3mal 2 Tabletten. 

7. Juni 1909. Gestern schwerer Anfall. 4 mal 
2 Tabletten. 

13. Juli 1909. Gestern Abend ein ganz leich¬ 
ter Anfall. 

17. Juli 1909. Gestern wieder ein leichter 
Anfall. 

27. Juli 1909. Allgemeinbefinden gut: gestern 
ein ganz leichter Anfall. Weiter 4 mal 2 Ta¬ 
bletten. 

1. Oktober 1909. Hat weiter mit allmählicher 
Abnahme der Quantität bis Ende August Sa¬ 
bromin genommen. Seither anfallsfrei, fühlt 
sich kräftig, leistungsfähig, ohne jede Be¬ 
schwerden. Die im Beginn der Behandlung 
vorgeschriebene Diät und hydrotherapeutischen 
Maßnahmen führt K. weiter durch. 

F. S., Arbeiter. 28 J. 16. Mai 1909. Seit dem 
7. Jahre epileptische Anfälle, gewöhnlich alle 
14 Tage, besonders nachts, häufiger Zungen¬ 
biß. Verschlimmerung seit Februar 1909, seit¬ 
dem wöchentlich 2mal ziemlich schwere An¬ 
fälle: deprimiert. 

Hat seit Dezember 1908 (Beginn meiner Be¬ 
handlung) dauernd 3,5 g Natr. bromat. pro die 
genommen. Statt des Brom wurde Sabromin 
gegeben, täglich 6 Tabletten ä 0,5 g. 

23. Mai 1909. Keinen Anfall mehr gehabt: 
links leichte Konjunktivitis; Wohlbefinden, kein 
Bromismus, psychisch ohne Störungen. 

6. Juni 1909. Anfallsfrei geblieben, ist kräftig 
und leistungsfähig. 

1.Oktober 1909. Dauernd anfallfrei geblieben, 
hat bis in die letzte Zeit regelmäßig täglich 
3mal 2 Tabletten genommen. Die Sabromin- 
Therapie soll weiter durchgeführt werden. 

M. K., Arbeiterin, 20 J. 27. Mai 1909. Seit 
dem 9. Lebensjahre epileptische Anfälle, ge¬ 
wöhnlich in 8 wöchentlichen Pausen. Jetzt in 
einer Woche 3 Anfälle; Zungenbiß. Brom hat 

1 ) Anm. bei der Korrektur. Mehrere in der 
jüngsten Zeit beobachtete Fälle hatten auch nur 
günstige Ergebnisse. 


wohl stets geholfen, es hat die Patientin aber 
auch immer sehr mitgenommen; sie hatte 
darum in letzter Zeit die Bromtherapie ausge¬ 
setzt und nur Eisen genommen. 3mal 2 Ta¬ 
bletten Sabromin. 

4. Juni 1909. Keine Anfälle mehr gehabt. 
Leichte Kopfschmerzen, sonst aber vollkommenes 
Wohlbefinden, keine Magenbeschwerden, kein 
Bromismus. 

Patientin war noch einige Wochen in Beob¬ 
achtung; die Besserung hielt bei guter Verträg¬ 
lichkeit des Sabromin an. 

R. B.. Tischler, 36 J. 18 Mai 1909. Erster 
Anfall Anfang Mai, tiefe Bewußtlosigkeit und 
Zungenbiß. Täglich Anfälle, nur nachts. Stets 
gesund gewesen, erblich nicht belastet. 3mal 
2 Tabletten Sabromin. 

20. Juni 1909. Bedeutend besser. Die Anfälle 
j waren allmählich seltener und leichter gewor- 
j den. Nie Bromismus, allgemeines Wohlbefinden. 

I Sabromin weiter. 

! 11. Juli 1909. Hat in den letzten Wochen 

I keinen Anfall mehr gehabt; heut früh ein ganz 
leichter Anfall. 

j 27. Juli 1909. Hat nur einmal einen kleinen 
i Anfall gehabt. Sabromin weiter. 

I 31 Oktober 1909. Anfälle in Intervallen von 
ca. 3 Wochen, bis auf einen schweren nur 
! ganz leichte Anfälle. Sabromin wurde stets gut 
vertragen, in letzter Zeit leichte Abnahme des 
| Gedächtnisses. Im allgemeinen Wohlbefinden. 

. Kann arbeiten, während im Mai die Arbeitskraft 
I völlig darniederlag, 

M. P.. Schlosser, 27 J. 27. Juli 1909. Erster 
Anfall mit 20 Jahren, gewöhnlich in ca. sechs- 
wöchentlichenlntervallen. HäufigeVerletzungen. 

! Jahrelang regelmäßig Brom, täglich 1 Teelofi'el 
1 voll Salz. Im Laufe der Jahre starke Abnahme 
des Gedächtnisses. Keine erbliche Belastung. 

! Sabromin 3 mal 2 Tabletten, 
i 3. Oktober 1909. Hat dauernd bisher Sabro- 
! min in gleicher Dosis genommen. Die Anfälle 
sind bedeutend leichter aufgetreten und waren 
1 von kürzerer Dauer. Entschieden besseres All- 
| gemeinbefinden gegen früher. Kein Bromismus, 
i Appetit stets in Ordnung. Früher waren im 
' Anschluß an die Anfälle stets Kopfschmerzen 
! von etwa 2 Stunden Dauer anfgetreten, seit der 
, Sabromin-Therapie sind diese Kopfschmerzen 
’ geschwunden. 

H. W., Primaner, 18 J. 2. April 1909. Im 
; Jahre 1905 und 1907 je ein leichter Anfall, der 
als Ohnmacht gedeutet wurde. Erster typischer 
| Anfall mit Zungenbiß März 1909 in der Schule. 
i Bisher nie erheblich krank, keine hereditäre 
i Belastung. Heut ein besonders schwerer An- 
I fall. Seit März 3 g Natr. brom. pro die, jetzt 
I 6g. Strenge vegetarische Diät; sollte allmählich 
! wieder auf 3 g Brom zurückgehen. 

5. Mai 1909 Erneuter schwerer Anfall; hatte 
im April am Schulunterricht nicht teilnehmen 
können, da der sonst äußerst begabte Schüler 
psychisch so mitgenommen war, daß er nicht 

I mehr imstande war, *zu denken und das Ge- 
! dächtnis ihn völlig im Stich ließ: kann am 
I Schulunterricht nicht teilnehmen: äußerst depi- 
j miert und reizbar; Bromismus. Aussetzen des 
j Brom, dafür Sabromin 4 g pro die. Landaufent- 
■ halt 4 Wochen verordnet, 
j 10. Juni 1909. Kommt sehr erholt zurück: 
hat nur einen ganz leichten Anfall gehabt. 
Kein Bromismus, guter Appetit, kann wieder, 
wie früher arbeiten. 

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74 


Februar 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


23. Juni 1909. Ein ganz leichter Anfall; 
bestes Wohlbefinden, nur noch 6 Tabletten 
Sabromin pro die. 

25. August 1909. Ein ganz leichter Anfall. 
Sabromin in gleicher Dosis weiter. 

3. Oktober 1909. Hat dauernd die Schule 
besuchen können, ohne jede geistige Anstren¬ 
gung die Arbeiten zum Abiturientenexamen 
geschrieben, sodaß er vom mündlichen Examen 
dispensiert wurde. Keinen Anfall mehr gehabt. 
Allerbestes Wohlbefinden. Soll noch einige 
Monate Sabromin nehmen. 

M. R., Tischler, 40 J. 4. Februar 1909. Seit 
längerer Zeit Krampfanfälle mit Zungenbiß. 
Lues mit 19 Jahren, eine Kur. Natr. bromat. 
20,0, Natr. jodat. 10,0, Aqu. ad 200,0 3mal täg¬ 
lich 1 Eßlöffel. 

20. Juni 1909. Besserung, aber noch häufig 
Anfälle; Bromismus,Gedächtnisschwäche; 3mal 
2 Tabletten Sabromin. 

27. Juni 1909. Ein ganz leichter Anfall; 
Wohlbefinden. 

11. Juli 1909. Weder Anfälle noch Schwindel¬ 
anfälle gehabt. 

10. Oktober 1909. Bis jetzt andauernd Sa¬ 
bromin genommen; kein Bromismus, das Ge¬ 
dächtnis hat sich gehoben und ist dauernd gut 
geblieben; hat keine schweren Anfälle mehr 
gehabt, nur ganz leichte ohnmachtsartige Zu¬ 
stände ohne tiefe Bewußtseinsstörung und ohne 
Zungenbiß. 


Zusammenfassung: Ich möchte auf 
Grund vorliegender Mitteilungen dahin 
resümieren: 

Ein Heilmittel gegen Epilepsie in dem 
I Sinne, daß wir mit Sicherheit dauernd An¬ 
fälle verhüten, d. h. eine Heilung zu erzielen, 
ist bisher nicht gefunden worden. Auch 
die chirurgische Therapie hat uns hier im 
Stich gelassen. Wir sind neben diätetischen 
Maßnahmen auf medikamentöse Behandlung 
angewiesen. Die Brompräparate sind hier 
dominierend geblieben. Den Bromalkalien 
haften aber derartige Mängel an, daß sie 
bei den Kuren, die sich nun einmal auf 
lange Zeiten zu erstrecken haben, als 
äußerst störend empfunden werden. Das 
Sabromin scheint hier die vorhandene 
Lücke auszufüllen, es hat sich anderen 
Autoren und mir glänzend bewährt. Es 
ist freilich noch kein Heilmittel in obigem 
Sinne, es wirkt aber gut und rasch auf die 
Anfälle ein, es ist bei langem Gebrauch 
nicht toxisch und führt mit erheblich gerin¬ 
geren Brommengen zu dem gleichen Resultat 
wie die Bromalkalien, ohne deren üble Nach¬ 
wirkungen. Seine weitere sorgfältige Er¬ 
probung ist deshalb dringend geboten. 


Zusammenfassende Uebersicht. 

Aphorismen zur Herztherapie. 

Von C. A. Ewald-Berlin. (Schluß). 


Die mechanische Drainage ist das 
sicherste und ausgiebigste Mittel zur Ent¬ 
fernung der Oedeme, das wir besitzen. 
Welche Methoden man anwendet, ob man 
scarifiziert oder die von Curschmann oder 
von mir angegebenen Punktionsnadeln be¬ 
nutzt u. s. f. ist ziemlich gleichgültig. Haupt¬ 
sache ist, daß man dfen Kranken vor Durch- 
nässung schützt, weil sonst leicht Dekubitus 
eintritt und selbstredend streng antiseptisch 
vorgeht. Ich habe bei zahlreichen Punktionen 
nur einmal vor Jahren ein Erysipel von der 
Stichstelle bei einem alten decrepiden Mann 
ausgehen sehen. Auf diese Weise lassen 
sich viele Liter Wasser entfernen und 
durch Einstich in die Beine (Ober- oder 
Unterschenkel, eine oder mehrere Nadeln 
gleichzeitig eingelegt) die unteren Extre¬ 
mitäten sowie Skrotum, Bauch und Brust 
drainieren. Aber die mechanische Drainage 
ist nicht immer auszuführen. Es gibt eine 
Reihe von Fällen, in denen durch Finger¬ 
druck eine starke Delle in den ödematösen 
Partien erzeugt werden kann, wo aber doch 
bei der Punktion nur wenig oder gar kein 
Wasser abläuft. Unter solchen Verhält¬ 
nissen ist die Spannung derGewebsmaschen, 
zwischen die sich die Flüssigkeit ergossen 


! hat, so gering, daß nicht der zum Abfließen 
| nötige Druck besteht. Man kommt aber selbst 
| dann noch gelegentlich zum Ziel, wenn man 
zuerst durch Diuretika und Ableitungen auf 
den Darmkanal die Herzkraft so weit ge¬ 
hoben hat, daß der Turgor der Gewebe ein 
stärkerer und damit der Ablauf der Oedem- 
flüssigkeit ein besserer wird. Auf die An¬ 
wendung der Abführmittel gehe ich hier 
nicht ein, will aber bemerken, daß man sich 
unter allen Umständen davor hüten muß, 

I Purgantien und Drastika anzuwenden, es 
i sei denn, daß man bei hochgradiger Ver¬ 
stopfung vorübergehend ein solches Mittel 
1 gibt, um den Darm frei zu machen. Im 
übrigen sind nur die salinischen und die 
milden pflanzlichen Aperentien am Platze. 
Was die Diuretika betrifft, so haben sich 
I in der letzten Zeit — früher mußten wir 
uns auf das Kalium aceticum, die Scilla, 
i den Juniperus und ähnliche harntreibende 
Mittel beschränken — besonders das Diu- 
retin, das Agurin und das Theocin bewährt. 
Das Diuretin ist der Repräsentant für die 
I Verbindungsform des Theobromins, eines 
I Dimethyl^anthins, mit den Natriumsalzen 
| der Salizyl- und der Essigsäure. Ich gebe 
| das Diuretin mit Digitalis zusammen in 


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Februar 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


75 


Pulverform und verschreibe Fol. Digitalis 
pulv. 0,1, Diuretin 1,0, in capsula operculata 
oder amylacea, weil das Diuretin einen sehr 
schlechten Geschmack hat. Außerdem wirkt 
das Pulver, obgleich man a priori das 
Gegenteil annehmen sollte, scheinbar besser 
als die Lösung, so daß z. B. von Eichhorst 
die Darreichung der Digitalis in Pulverform 
der im Infus vorgezogen wird. Das tue 
ich nun nicht immer, aber in den Fällen, 
wo es sich um eine vorübergehende starke 
Digitaliswirkung handelt, namentlich mit 
Rücksicht auf die Verstärkung oder über¬ 
haupt die Anbahnung der Diurese, pflege 
ich die Digitalis in Pulverform zu geben. 
Wenn das Diuretin nicht von Erfolg ist, so 
kann man auch das Agurin (Theobrominum 
natrioaceticum) oder Eustenia (Theobromin¬ 
jodnatrium) verwenden. Recht gute Erfolge 
hatte ich mit dem Theophyllinum synthetic. 
oder Theocin, in Lösung oder als essig¬ 
saures Salz, als Theocinum natrioaceticum 
gegeben, welches von vielen Patienten 
besser vertragen wird. Alle diese Mittel 
können per os oder im Suppositorium ver¬ 
abfolgt werden. 

Ein weiteres Unterstützungsmittel der 
Herzspezifika ist das Morphium. Schon 
in einer früheren Publikation sprach ich 
mich folgendermaßen aus: „Sie finden nicht 
so selten Herzfehler, welche zunächst auf 
Digitalis nicht reagieren, bei denen weder 
die Diurese zu vermehren, noch eine regel¬ 
mäßige Herzaktion, noch eine Steigerung 
des Blutdrucks, also eine Kräftigung der 
Herzsystole hervorzurufen ist, wenn wir 
nicht vorher dem aufgeregten und un¬ 
ruhigen Kranken durch einige Morphium¬ 
dosen Ruhe verschafft haben. Meist sind 
das Fälle, wo starke Atemnot, Schlaf¬ 
losigkeit, Angina pectoris, wo vielleicht 
schon Cheyne-Stokessche Respiration vor¬ 
handen ist. Wenn hier eine dreiste sub¬ 
kutane Morphiumgabe verabreicht wird, 
tritt der langentbehrte und sehnlichst her¬ 
beigewünschte Schlaf ein, die psychische 
Aufregung, die auf das Allgemeinbefinden 
zurückwirkt, wird gemildert, das Herz findet 
Zeit und Ruhe langsamer und regelmäßiger 
zu schlagen, die Systole wird besser, die 
Dyspnoe und die anderen Folgen der elenden 
Herzaktion werden herabgemindert, mit 
einem Wort, es tritt eine schnelle und aus¬ 
giebige Wendung zum Besseren ein. Nun 
wirkt Hand in Hand damit auch die Digi¬ 
talis und entwickelt ihren tonisierenden 
Effekt auf das Herz. Man soll unter solchen 
Umständen mit dem Morphium nicht zu 
ängstlich sein. Es ist in derartigen Fällen 
geradezu unschätzbar, es schädigt den 


l Kranken nicht, sondern es stärkt ihn und 
wirkt lebensverlängernd, ja lebensrettend, 
wenn dies überhaupt möglich ist.“ Diesen 
I Worten hätte ich auch heute nur hinzuzu- 
| fügen, daß ich sie je länger je mehr be- 
I stätigt finde, aber immer wieder Fällen be- 
; gegne, wo aus einer ungerechtfertigten 
Angst vor dem Morphium dies Labsal und 
I Heilmittel dem Kranken über Gebühr lange 
vorenthalten wurde. 

[ Als eine sehr unangenehme Eigenschaft 
der Digitalis gilt nun bekanntlich ihre ku¬ 
mulative Wirkung. Die einzelnen Dosen 
summieren sich und nach einiger Zeit kommt 
ein ungewollt starker Effekt zustande. Nach 
meinen Erfahrungen wird diese kumulative 
Wirkung der Digitalis sehr übertrieben. Sie 
geht wie ein Gespenst durch die Kranken¬ 
berichte, Lehrbücher usw. hindurch. Ich 
habe von einer kumulativen Wirkung 
der Digitalis sehr selten etwas ge¬ 
sehen, und nur, wenn wir in verzweifelten 
Fällen Massivdosen geben, treten uner¬ 
wünschte Nebenerscheinungen ein: sehr 
hochgradige Verlangsamung des Pulses, 
starkes Sinken des Blutdruckes und schlie߬ 
lich eine bedenkliche Beschleunigung des 
Pulses durch Vaguslähmung. Ich kann nicht 
sagen, daß ich nach dieser Richtung hin 
unangenehme Erfahrungen gemacht hätte. 
Man muß ja doch jeden Kranken, dem man 
ein Herzmittel gibt, unter Augen haben, man 
muß täglich und womöglich mehrmals täg¬ 
lich seinen Puls kontrollieren und sieht be¬ 
treffenden Falls aus dem veränderten Puls¬ 
bilde, ob die unerwünscht toxische Wirkung 
der Digitalis eingetreten ist. Dann wird 
man das Mittel alsbald absetzen müssen. 
Viel mehr zu fürchten ist nach meiner 
| Erfahrung die Wirkung, die die Digitalis¬ 
anwendung auf den Magen- und Darm¬ 
kanal äußert, so daß die Kranken nach 
einiger Zeit den Appetit verlieren, auch wohl 
direkt über Uebelkeit, Nausea klagen, event. 
leichte Brechneigung und selbst Erbrechen 
sowie Diarrhoen bekommen und aus diesem 
Grunde die Digitalis abgesetzt werden muß. 
Diese Wirkung der Digitalis ist eine zen¬ 
trale, nicht etwa eine periphere, im Magen 
gelegene. Gibt man nämlich die Digitalis 
unter solchen Verhältnissen als Klysma 
oder subkutan oder intravenös, so tritt die 
Uebelkeit ebenso ein wie vorher, es wird 
also offenbar ein zentraler Punkt durch die 
gleichviel wo resorbierte Digitalis ange¬ 
griffen, der durch Reflexwirkung den Ver¬ 
dauungstrakt schädigt. Will man die Digi¬ 
talispräparate längere Zeit hintereinander 
geben — und ich lege ein großes Gewicht 
mit Kußmaul, Naunyn und anderen aufdie 

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76 Die Therapie der Gegenwart 1910. Februar 


chronische Darreichung der Digitalis— so tut 
man am besten, von Zeit zu Zeit eine Pau3e 
einzuschalten und auf eine längere Zeit der 
Darreichung eine Periode folgen zu lassen, 
in der das Mittel ausgesetzt wird, um dann 
nach etwa 5—8—10 Tagen wieder aufs neue 
mit ihm zu beginnen. Dann kommt man 
auch mit relativ kleinen Dosen aus. Für 
die Digitalis, im Infus oder als Pulver ge¬ 
geben, eignet sich am besten eine einmalige 
Dosis entsprechend 0,05 g Foliorum Digi¬ 
talis, 3—4 mal am Tage. Was die Anwendung 
des Digitalin und des Digitoxin betrifft, so 
schwanken die Dosen zwischen 0,3 und 
1 mg wie schon oben bemerkt. 

Ist dieDigitalis bei gewissen Herz¬ 
erkrankungen kontraindiziert? Als 
Regel gilt, die Digitalis bei den Mitralfehlern, 
hauptsächlich bei der Mitralinsuffizienz, in 
großen Dosen zu geben, bis 0,8, ja bis 1 g 
und 1,5 g pro die. Dagegen soll man sie 
bei der Aorteninsuffizienz in sehr viel 
kleineren Mengen verwenden, 0,25 bis 0,4 g 
pro die; ja einzelne, wie z. B. Lander- 
IS r unton, warnen überhaupt vor der Digi¬ 
talis bei der Aorteninsuffizienz, und zwar 
ausgehend von dem Gedanken, daß durch 
die verlängerte Diastole der Rückfluß des 
Blutes in den linken Ventrikel gefördert 
wird, also leicht eine Anämie des Gehirns 
eintreten kann und eine Ueberfüllung des 
linken Ventrikels in noch höherem Maße, 
als dies ohnehin schon stattfindet, bewirkt 
wird. Es ist gar keine Frage, daß man 
sich gerade bei den Aortenfehlern außer¬ 
ordentlich vor synkopeartigen Zufällen 
hüten muß. Wenn sich ein Mann mit einer 
Aorteninsuffizienz plötzlich aufrichtet, so 
kann es geschehen, daß er eine Ohnmachts¬ 
anwandlung oder eine wirkliche Ohnmacht 
bekommt. Ich habe gesehen, daß bei Ent¬ 
leerung der gefüllten Blase ähnliche Zu¬ 
stände eintreten können. Das ist leicht er¬ 
klärlich: die gefüllte Blase drückt auf die 
Unterleibsgefäße und infolgedessen ist der 
Zufluß des Blutes in dieselben erschwert, 
die Blutmasse bleibt in den oberen Regio¬ 
nen. Wenn aber die Blase plötzlich ent¬ 
leert wird, können sich die Unterleibs¬ 
gefäße ausdehnen, das Blut fließt in sie 
hinein und es kann eine momentane Gehirn¬ 
anämie die Folge sein. Es ist also eine alte 
Erfahrung, daß man bei Aorteninsuffizienz 
mit der Digitalis sich eine gewisse Beschrän¬ 
kung auferlegen soll. Ich bin aber nicht der 
Meinung und habe es auch nicht bewahrheitet 
gefunden, daß man nun überhaupt keine 
Digitalis und andere in diese Gruppe ge¬ 
hörigen Herzpräparate geben dürfte. 

Noch ein Wort über die Anwendung 


I des Strophantus. Der Strophantus oder 
I vielmehr die ausschließlich gebrauchte Tinc- 
! tura Strophanti und das Strophantin (man 
; verwende als Reinpräparat das Strophanti- 
num crystallisat. Thoms) sollten sich nach 
früherer Anschauung von der Digitalis da- 
i durch unterscheiden, daß ihnen die Wirkung 
: auf die peripheren Gefäße fehle. Man pflegte 
t sie also in solchen Fällen zu geben, in denen 
| eine starke Kontraktion der peripheren Ge¬ 
fäße schon von vornherein besteht, z. B. 
bei schweren dispnoetischen Zuständen, 
bei denen durch den Reiz der Kohlensäure 
auf das vasomotorische Zentrum eine Kon¬ 
traktion der peripheren Gefäße eintritt. In¬ 
dessen ist nach neueren Forschungen auch 
das Strophantin (resp. die T. Strophanti) 
als ein Digitaliskörper anzusehen, dem die 
gleichen Wirkungen wie den anderen Digi¬ 
talispräparaten zukommt, von denen die 
meisten eine starke Gefäßwirkung zeigen. 
A. Fränkel (Badenweiler) hat die intrave¬ 
nöse Anwendung des Strophantins in Dosen 
von b / 4 —1 mg in 24 h besonders gerühmt, 
weil es konstanter als das Digalen sein soll. 
Ich habe keinen Unterschied gefunden, doch 
hat die Strophantinlösung (1:1000, Böh- 
ringer & Söhne), von der 1 ccm äquivalent 
20 ccm Digalen ist, den Vorteil, daß man 
mit geringeren Mengen auskommt. 

Auf die übrigen oben angeführten Herz¬ 
mittel, also die Convallaria majalis und 
das aus ihr hergestellte Convallamarin, 
ferner die Adonis vernalis, das Hele- 
borein und das Spartein, will ich hier 
nicht eingehen, weil ich sie selbst wenig 
gebraucht habe und ihre Wirkung allgemein 
als unzuverlässig gilt. Es sei nur bemerkt, 
daß soeben aus der Convallaria ein angeb¬ 
lich chemisch reines, von allen emetisch 
wirkenden Stoffen befreites Convallamarin 
dargestellt und in wässriger Lösung unter 
dem Namen „Kardiotonin“ auf den Markt 
gebracht ist, welchem dieselben Eigen¬ 
schaften wie dem Digalen nachgerühmt 
werden. Es ist um einerseits die Herzwir¬ 
kung zu unterstützen, andererseits die Diu¬ 
rese zu befördern mit Coffein. Natrioben- 
zoic., und zwar 0,025 g Koffein im ccm 
verbunden. Als therapeutische Anfangs¬ 
dosis kann 1 ccm p. os gegeben werden. 
Boruttau hat dasselbe mit gutem Erfolg 
auf seine pharmakodynamischen Eigen¬ 
schaften hin geprüft. Ich habe bei der bis¬ 
herigen Anwendung des Kardiotonin den 
Eindruck gehabt, daß es eine etwas ener¬ 
gischere Wirkung wie das Digalen hat. 
Dies gilt namentlich von einem kürzlicn 
mir zur Prüfung übergebenen „Neu - Kar¬ 
diotonin“, über welches der folgende 


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Februar 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Auszug aus der Krankengeschichte einer 
an Mitralinsuffizienz mit leichter myokar- 
ditischer Degeneration leidenden Frau von 
52 Jahren berichten möge. 


,25. Oktober 1909: Das Befinden war eine ; 
Zeit lang recht bedrohlich; das Herz war j 
trotz Digalen in seiner Aktion sehr unregel- 1 
mäßig, die Pulsfrequenz sehr beschleunigt und j 
viele frustrane Kontraktionen vorhanden. Trotz- I 
dem war die Diurese eine gesteigerte und die | 
Oedeme nahmen ab. Da das Digalen gar nicht 
auf die Regelung der Herzaktion wirkte, wurde i 
vom 7.—15. Oktober Neukardiotonin gegeben I 
mit dem Erfolge, daß die Herzaktion nahezu I 
geregelt und ruhig wurde, die Oedeme und die | 
' subjektiven Beschwerden ganz schwanden. I 
Heute hat die Patientin 78 kleine, ganz regel- | 
mäßige Pulse, keine Dyspnoe, Herzstoß breit, j 
kräftig und etwas hebend. Es besteht eine leichte | 
Verbreiterung der absoluten Herzdämpfung nach j 
rechts: sie beginnt im dritten Interkostalraum 
am rechten Rand des Sternums, links nach ; 
innen von der Mamillarlinie. Spitzenstoß im i 
fünften Interkostalraum in der Mamillarlinie. 
Lautes systolisches Blasen an der Spitze, nach 
dem Sternum hinaufgehend." 


Wie weit der obige bei einem schweren | 
Klappenfehler mit Myokarditis immerhin | 
3 Wochen anhaltende günstige Einfluß auf | 
das Herz dem Convallamarin, wie weit dem 
beigemengten Koffein beizumessen ist, wie 
weit noch eine Nachwirkung des Digalens, 
das freilich wochenlang vorher ohne Nutzen 
gegeben war, in Frage kommt, dürfte schwer 
zu entscheiden sein. Immerhin kann das 
Kardiotonin als zeitweiliger Ersatz und als j 
ein berechtigter Versuch’ in den Fällen, wo 
die Digitalis und ihre Präparate versagen, j 
in Anwendung gezogen werden. 

Ueber das von F. Mendel neuerdings 
warm empfohlene Digitalon habe ich keine 
eigenen Erfahrungen, da ich mich bisher 
auf die galenischen und die genannten 
Reinpräparate beschränkt habe. Es ist ein 
wäßriger, titrierter Auszug der Blätter, der 
als amerikanisches Präparat ebenfalls keiner 
Kontrolle über die Beständigkeit seines 
Gehaltes unterliegt. 

Auch über die Herzreizmittel kann ich 
kurz hinweggehen und will nur hervorheben, 
daß meiner Erfahrung nach die subkutane 
Kampherinjektion, da, wo es sich um 
Fälle hochgradiger Herzschwäche handelt, 
immer noch viel zu zaghaft angewendet 
wird. Halbstündige Injektionen einer ganzen 
Kampherspritze (Kampheröl), wenn erforder¬ 
lich Tag und Nacht fortgesetzt, mit kleinen 
Unterbrechungen, sind bei uns nichts seltenes. 
Ihre Wirkung kann durch die innerliche Dar¬ 
reichung von Koffein, am besten als Doppel¬ 
salz, Coffeinum natrio-benzoicum, verstärkt 
werden. 


Im Gegensatz zu der gefäßverengenden 
Wirkung der Digitalis und ihrer Präparate 


sei auf die gefäßerweiternde Wirkung 
hingewiesen, die wir da brauchen, wo starke 
Spannungen und Kontraktionen in den peri¬ 
pheren Gefäßen bestehen. Ich habe vorhin 
schon die Nitrate, also vor allem das Ni¬ 
troglyzerin und das Amylnitrit genannt. 
Letzteres eignet sich nicht zu längerem 
Gebrauch, ist aber bei plötzlichem Gefä߬ 
krampf (Angina pectoris) oft von prompter 
Wirkung. Das Nitro glyzerin gibt man 
entweder in Form der Tabletten, die 
1 mg Nitroglyzerin enthalten oder, was 
noch besser,, in Form einer alkoholi¬ 
schen Lösung. Wenn Sie Nitroglyzerin 
0,5 g und Alkohol absolut. 12 g zusammen 
geben, so enthält ein Tropfen von dieser 
Mischung 1 mg Nitroglyzerin und Sie 
können davon 2—3—5 Tropfen verab¬ 
folgen. Das Nitroglyzerin hat aber nach 
meinen Erfahrungen die Schattenseite, daß 
es leicht Kongestionen zum Kopfe hervor¬ 
ruft, und zwar nicht nur, wie in den Lehr¬ 
büchern angegeben, bei chronischer Nephri¬ 
tis, sondern auch bei Angina pectoris auf 
Grund einer Arteriosklerose. Die Kranken 
klagen über Kopfschmerzen, ein Gefühl von 
Pulsation im ganzen Körper, auch wohl über 
Schwindelerscheinungen, die nach dem Ni¬ 
troglyzerin auftreten. Daß das Mittel bei 
Fällen von Asthma cardiale resp. An¬ 
gina pectoris zunächst oft ganz zauberhaft 
wirkt und man mit dem Nitroglyzerin, wenn 
man es richtig anwendet, eklatante Erlolge 
erzielen und die Anfälle geradezu coupieren 
kann, will ich als allgemein bekannt nur 
kurz anführen. 

Zum Schluß noch einige Bemerkungen 
über allgemein therapeutische Ma߬ 
nahmen bei Herzfehlern. Da sind zu¬ 
nächst die gymnastischen Methoden; 
einmal die sogenannten Terrainkuren, die 
auf eine vermehrte Bewegung der Kranken 
durch abgestuftes und dosiertes Spazieren¬ 
gehen auf ansteigendem Terrain hinaus¬ 
laufen, und das andere Mal die mediko- 
mechanischen Maßnahmen, die eine ge¬ 
steigerte Arbeit einzelner Muskelgruppen 
aktiver oder passiver Art bezwecken. Die 
Terrainkuren sind seinerzeit durch den ver¬ 
storbenen Münchener Kliniker Oertel ge¬ 
schaffen worden. Ihr eventueller Nutzen 
ist darin gegeben, daß durch die stärkere 
Bewegung der Kranken der Stoffwechsel 
angeregt wird, daß durch die Anregung 
des Stoffwechsels eine Reihe von gebildeten 
toxischen Produkten unschädlich gemacht 
und eine Ausscheidung der giftigen An¬ 
häufungen im Körper bewiikt wird. Es 
wird die Atmungsmechanik gebessert, der 
periphere Kreislauf wird auf diese Weise 


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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


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angeregt und erleichtert, die Wasseraus¬ 
scheidung durch Haut, Lungen und Nieren 
vermehrt und so kann auch eine Entlastung 
der Herzarbeit und indirekt eine Kräftigung 
des Herzens zustande kommen. Den naiven 
Standpunkt, den Oertel seinerzeit einnahm 
und den viele nachgebetet haben, daß näm¬ 
lich durch die vermehrte Bewegung direkt 
eine Trainierung des Herzmuskels statt¬ 
finde, etwa so wie man seinen Bizeps trai¬ 
niert, wenn man alle Tage Hantelübungen 
macht, habe ich von Anfang an bekämpft. 
Wenn man sich vorstellt, daß der Herz¬ 
muskel pro Tag bei 72 Schlägen in der 
Minute 103680 Kontraktionen ausführt und 
eine Arbeit leistet, die viele Hunderte von 
Kilogrammmetern beträgt, dann erkennt 
man, wie gänzlich unbegründet die Vor¬ 
stellung ist, daß nun durch das wenige 
Spazierengehen das Herz direkt, rein 
mechanisch noch weiter gekräftigt werden 
könne. Eine so oberflächliche Anschauung 
ist ganz von der Hand zu weisen. Es ist 
vielmehr der Nutzen der Oertelkuren nur 
in dem oben angegebenen Sinne zu ver¬ 
stehen. 

Zu den mediko-mechanischen Ma߬ 
nahmen gehört die schwedische Heilgym¬ 
nastik, die Vibrationsmassage, die ander¬ 
weitigen Massagekuren, die Kuren mit den 
Atmungsapparaten, die eine methodische 
Atmung und dadurch eine Regelung der 
Zirkulation bezwecken. Im allgemeinen 
wirken diese Maßnahmen in erster Linie 
dadurch, daß sie die Stauungen in der Pe¬ 
ripherie mittels aktiver und passiver Be¬ 
wegungen beseitigen. Sie sind also überall 
da angezeigt, wo Kardiopathien bestehen, 
die eine Anwendung der eigentlichen Herz¬ 
mittel nicht erlauben und wo auch Terrain¬ 
kuren nicht angezeigt sind. Da kann man 
durch diese Methoden rein mechanisch ein¬ 
wirken. Sie können des weiteren zur Unter¬ 
stützung der medikamentösen Therapie her¬ 
angezogen werden. In diesen Bereich ge¬ 
hören auch die vorhin schon genannten 
Thermal-, Sool- und Gas-Bäder, die An¬ 
wendung der Elektrizität, besonders das 
jetzt so beliebte Vierzellenbad und ähnliche 
Prozeduren. 

Noch ein Wort über die Diät. Die 
Diät bei den Herzkrankheiten im Stadium 
der Dekompensation hat zweierlei Auf¬ 
gaben. Einmal soll sie die Flüssigkeit, 
die innerhalb des Blutes zirkuliert, auf ein 
möglichstes Mindestmaß setzen, um dem 
Herzen, grob ausgedrückt, unnütze Arbeit 
zu ersparen. Das andere Mal soll sie die 
Kräfte des Patienten erhalten, leicht ver¬ 
daulich und an Menge mäßig sein, ohne ihm 


nach irgendeiner Richtung hin eine Unter¬ 
ernährung einzubringen. Was die Regelung 
der Flüssigkeitszufuhr betrifft, so bitte ich 
über dieses Kapitel und die Erfolge, die man 
mit der Flüssigkeitsbeschränkung eventuell 
erzielen kann, die eingehende Darstellung 
sich anzusehen, die Kraus in dem Handbuch 
der Ernährungstherapie von Leyden ge¬ 
geben hat. Man muß zunächst versuchen, 
ein gewisses Gleichmaß zwischen der Zu¬ 
fuhr und dem Ausgeben der Flüssigkeit 
herzustellen. Ich helfe mir in der Praxis 
dabei so, daß ich die Patienten ausmessen 
lasse, wieviel Flüssigkeit sie innerhalb 
24 Stunden zu sich nehmen und wieviel 
Urin sie in derselben Zeit ausscheiden. 
Die Flüssigkeitszufuhr ist derart zu regeln, 
i daß sich Zufuhr und Ausscheidung unge¬ 
fähr das Gleichgewicht halten. Selbst wenn 
dies der Fall ist, nimmt der Kranke immer 
noch mehr Wasser auf, als er im Harn 
ausscheidet, doch geht ein erheblicher Teil 
dieses Plus durch die Perspiration, durch 
die Lungenatmung, durch den Schweiß, 
durch die Sekrete, soweit sie nicht den 
Harn betreffen, verloren. Es ist in der Tat, 
wiedas schon Oertel seinerzeit angegeben 
hat, erstaunlich, welchen Einfluß auf die 
Diurese man unter Umständen durch eine 
geregelte Wasserzufuhr erzielen kann. Da¬ 
bei lasse man aber die Kranken nicht ver¬ 
dursten, wie das bei den sogenannten 
Schrot sehen Kuren stattfindet. Das Mindest¬ 
maß, unter das man nicht heruntergehen 
sollte; beträgt 800 ccm bis 1 Liter Flüssig¬ 
keit pro Tag. Sonst leiden die Kranken 
derartig unter dem Durst, daß sie ihn 
nicht ertragen können. 

Was die Kost als solche betrifft, so 
soll die notwendige Zufuhr von Brenn¬ 
werten in derselben gewahrt bleiben. Um 
die Flüssigkeiten von vornherein möglichst 
zu beschränken, wird man also im wesent¬ 
lichen mehr feste, wenigstens breiige Speisen 
und wenig Suppen, wenig stark wasser¬ 
haltiges Gemüse wie Gurken, Tomaten,Kohl, 
Kürbis, Melonen und dgl. geben. Zu stark 
gesalzene Speisen sind zu vermeiden, weil 
sie den Durst erhöhen und die Wasserauf¬ 
nahme und Wasserretention gesteigert wird, 
blähende Kost, besonders die Kohlgemüse, 
aus der Diät zu streichen, weil sie Hochstand 
des Zwerchfells und dadurch eine Erschwe¬ 
rung der Herzaktion bewirken. Da die 
Extraktivstoffe des Fleisches eine schä¬ 
digende Wirkung auf das Herz und die 
Gefäße haben und die Kalisalze, die im 
Fleisch enthalten sind, als direkte Herz¬ 
gifte anzusehen sind, so wird man ohne 
weiteres den Fleischkonsum des Herzkranken 


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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


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sich innerhalb sehr mäßiger Grenzen halten Bier oder andere moussierenden Getränke, 
lassen, und ihm das Eiweiß, das er bean- deren Kohlensäuregehalt den Magen auf- 
Sprüchen muß, in Form von Eiern, von bläht und indirekt die Herzarbeit erschwert 
Milch und Molkereiprodukten und in Form —dem Herzen nicht unzuträglich sind. Eben- 
von Zerealien resp. Leguminosen oder Ober- so vermeide ich es auch, den gewohnten Ge- 
haupt von Vegetabilien zuführen. Die Milch nuß des Tabaks völlig zu verbieten, zumal 
hat den Uebelstand, daß sie dem Organis- wenn der Herzfehler schon im Stadium der 
mus sehr viel Flüssigkeit bringt. Man kann Dekompensation ist. Bei arteriosklerotischen 
sich dadurch helfen, daß man sie eindampft, Prozessen rate ich allerdings völlige Ent- 
z. B. auf ein Drittel oder die Hälfte ihres haltung vom Nikotin und Alkohol an, weil 
Volumens, auch Rahmgemenge und der- behauptet wird, daß Nikotin wie Alkohol 
artiges verabfolgt, wogegen die Kranken auf die Gefäß Wandungen eine schädliche 
auf die Dauer aber leicht Widerwillen emp- ; Wirkung ausüben. Eine rein vegetarische 
finden. Eine ausschließliche Milchdiät, etwa Diät dem Kranken zu geben, halte ich nicht 
in der strengen Form der sogen. Karellkur i für notwendig. Es ist bekannt, daß bei 
(viermal tägl. 150 bis höchstens 200 ccm Vegetariern eine sehr geringe Pulsfrequenz 
Milch), halte ich wegen der damit verbundenen gefunden wird. Man könnte also meinen, 
Unterernährung — auch wenn sie nur kurze daß in den Fällen, wo eine sehr hohe Puls- 
Zeit durchgeführt wird— für nicht geeignet frequenz besteht, eine rein vegetarische 
obgleich sie sich in Fällen schwerer Iosuf- t Diät von besonderem Nutzen sei. Indessen 
ficienz oft von selbst aufdrängt, weil die kommen wir mit einer lakto vegetabilischen 
Kranken nichts anderes wie etwas Milch zu Diät bei den Herzfehlern, wo wir das Fleisch 
nehmen mögen. Unter allen Umständen soll ganz vermeiden wollen, aus und können 
der Herzkranke in seiner Nahrung mäßig sogar in der Mehrzahl der Fälle geringe 
sein und stärkere Reizmittel ganz vermeiden. Mengen Fleisch — 75—100 g tischfertiges 
Schwere Alkoholika, scharfe Gewürze, viel leichtes Fleisch p. d., also im wesentlichen 
Rauchen sind vom Speise- resp. Genuß- sogenanntes weißes Fleisch, Geflügel und 
zettel des Herzkranken zu streichen. Ob Fisch — erlauben. Es wäre dabei noch 
er überhaupt den Alkohol vollkommen zu bemerken, daß man die Mahlzeiten in 
meiden soll, ob er keine Zigarren oder möglichst regelmäßigen Intervallen geben 
keinen Tabak mehr rauchen darf, das ist i soll und daß sich der Herzkranke sowohl 
eine Frage, die man von Fall zu Fall ent- vor Tisch wie nach Tisch hinzulegen hat, 
scheiden muß. Im allgemeinen stehe ich jedesmal eine halbe bis dreiviertel Stunde, 
auf dem Standpunkt, daß ich meinen Herz | Das ist für die Verwertung der Nahrung, 
kranken kleine Mengen von Alkohol nicht für die Schonung des Herzens, wie dies ja 
versage, da kleine Mengen von gutem, I auf der Hand liegt, unter allen Umständen 
leichtem, nicht moussierendem Wein — nicht eine zweckmäßige Anordnung. 

Therapeutisches aus medizinischen Vereinen. 

Vorträge 

über die Infektion, ihre Erkennung und Behandlung, 
veranstaltet vom preußischen Zentralkomitee für das ärztliche 

Portbildungswesen. 

Bericht von Lao Jacobsohn-Charlottenburg. (Schluß). 

XIII. Lesser über die sexuellen Infek- I ein neues Zeitalter der Syphilisforschung 
Honen mit besonderer Bciücksichugung angebrochen ist. 

der spezifischen Erkennung und Behänd- • Die erste Tat war das lange vergeblich 
lung der Syphilis. j versuchte Experiment der Luesübertragung 

Während sich unsere Kenntnisse über auf ein Versuchstier. Im Jahre 1903 zeigte 
das Ulcus molle und die Gonorrhöe seit Metschni ko ff in Gemeinschaft mit Roux, 
Entdeckung der spezifischen Erreger dieser daß die anthropoiden Affen für mensch- 
Infektionen in dem letzten Dezennium nicht liehe Syphilis empfänglich seien. Später 
wesentlich gemehrt haben, hat die Syphilis- wurde auch an niedrigstehenden Affen so- 
forschung eine so ungeahnte Fülle von An- wie Meerschweinchen und Kaninchen der 
regungen und Vertiefungen unserer theore- Beweis der Uebertragbarkeit der Lues er- 
tischen Auffassungen und der sich hieraus bracht. Hiermit war die Grundlage für eine 
für die Praxis ergebenden Gesichtspunkte experimentelle Forschung dieser Volks¬ 
erfahren, daß mit den neuen Entdeckungen | seuche und Bekämpfung auf serotherapeu- 


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80 Die Therapie der Gegenwart 1910. 


tischem Wege gegeben. Zwei Jahre später 
konnten Schaudinn und Hoffmann den 
lange vergeblich gesuchten Erreger der 
Syphilis in Gestalt einer zierlichen Spiro¬ 
chäte der wissenschaftlichen Welt prä¬ 
sentieren. 

Den Schlußstein der neuen Entdeckungen 
bildet die als Wassermannsche Reaktion 
bezeichnete serodiagnostische Probe, an 
deren Ausarbeitung neben Wassermann 
auch Neißer und Bruck beteiligt sind. 

Durch diese drei Entdeckungen sind 
wir weit über das hinausgekommen, was 
die Syphilisforschung in den letzten 80 
Jahren dank der Mitarbeit hervorragender 
Gelehrter wie Sigmund, Virchow und 
Fournier an Erfolgen aufzuweisen hatte. 

Betrachten wir zunächst die Fortschritte 
in diagnostischer Hinsicht. Während man 
in Frühfällen und bei zweifelhaften Primär¬ 
affekten vor Entdeckung des Syphiliserregers 
auf ein Abwarten der Sekundärerscheinun¬ 
gen angewiesen war, sind wir heute meist 
in der Lage, durch Nachweis der Pallida- 
spirochäte aus einer winzigen Sekretmenge 
mit aller Sicherheit die Frage zu ent¬ 
scheiden, ob Lues vorliegt oder nicht. Zum 
Nachweis des Erregers bedient man sich 
entweder der Giemsafärbung oder der di¬ 
rekten Betrachtung im Dunkelfeld. Sehr 
zweckmäßig ist auch die Bur rische Tusch¬ 
methode, die ohne komplizierte Apparate 
in der Sprechstunde eine schnelle Diagnosen¬ 
stellung ermöglicht. 

Während die Wassermannsche Re¬ 
aktion nicht zur Frühdiagnose zu gebrau¬ 
chen ist, da sie frühestens 6 Wochen 
nach Auftreten des Primäraffektes positiv 
wird, kann sie im Sekundärstadium neben 
dem Spirochätennachweis zur Sicherung 
der Diagnose herangezogen werden. Der 
positive Ausfall dieser Reaktion ist mit einer 
an die Gewißheit grenzenden Wahrschein¬ 
lichkeit für Lues beweisend. Das gelegent¬ 
liche Vorkommen der Reaktion bei Ma¬ 
laria, tropischer Framboesie und Scharlach 
tangiert ihren Wert in keinerlei Weise. 
Lessers eigene Untersuchungen, die sich 
auf 3000 Fälle stützen, zeigen, daß bei 
manifesten Erscheinungen der Lues diese 
Reaktion in 95 % positiv ausfällt. Hingegen 
läßt der negative Ausfall Lues nicht mit Sicher¬ 
heit ausschließen. Dies gilt besonders für 
latente Lues (Näheres cf. Vortrag II). 
Fragen wir uns, zu welchen praktischen 
Ergebnissen die neuen Entdeckungen der 
Luesforschung geführt haben, so können 
und dürfen wir heute in allen sicheren 
Fällen von Lues schon frühzeitig eine 
energische lokale Behandlung des Primär¬ 


affektes beginnen. Findet sich in einer 
verdächtigen sklerotischen Stelle die Spiro- 
chaeta pallida, so liegt Lues vor. Wir 
sind somit in der Lage, schon sehr frühzeitig 
die Infektionsquelle durch Exzidieren oder 
Ausbrennen zu beseitigen. Wie wertvoll 
eine solche Behandlung sein kann, zeigen 
einige seit mehreren Jahren sicher beob¬ 
achteten Fälle, bei denen 4 Jahre nach früh¬ 
zeitiger Exzision der Initialsklerose, ohne 
daß irgend eine antiluetische Behandlung 
stattgefunden hat, keine Erscheinungen von 
Lues aufgetreten sind und auch die Wasser¬ 
mannsche Reaktion nicht positiv ge¬ 
worden ist. 

Ueber den Zeitpunkt der spezifischen 
antiluetischen Behandlung bestehen nach 
wie vor Meinungsverschiedenheiten zwischen 
erfahrenenSyphilidologen.Während Neißer 
sofort nach Sicherung der Diagnose die 
Einleitung einer antiluetischen Kur fordert, 
stehen Lesser und ardere auf dem Stand¬ 
punkt, in allen Fällen den Eintritt der Se¬ 
kundärerscheinungen abzuwarten. 

Auch über die Art der Behandlung 
herrscht unter den berufenen Autoren noch 
keine Einigkeit. Während die einen rein 
symptomatisch, das heißt nur bis zur Rück¬ 
bildung der manifesten Lueserscheinungen 
die antiluetische Behandlung fortsetzen 
wollen, steht die größere Mehrheit auf dem 
von Fournier begründeten Standpunkt 
der chronisch intermittierenden Kuren, die, 
ohne daß manifeste Luessymptome bestehen, 
in Intervallen auf einige Jahre ausgedehnt 
werden. Nach Ansicht einiger Autoren 
soll die Wassermannsche Reaktion zur 
Entscheidung dieser Frage heran gezogen 
werden. Lesser steht dieser Art der Ver¬ 
wendung der Luesreaktion sehr skeptisch 
gegenüber. 

An der medikamentösen Behandlung der 
Syphilis hat sich in den letzten Dezennien 
wenig geändert. Eine gewisse Bereiche¬ 
rung der antiluetisch wirkenden Mittel 
stellen die Arsenikalien, besonders das 
Atoxyl dar. Jedoch hält Lesser die Arsen¬ 
behandlung nicht für aussichtsreich, da zur 
Erreichung eines therapeutischen Effektes 
große, sehr differente Dosen erforderlich 
sind. 

In einer Schlußbetrachtung wies Vor¬ 
tragender auf die Tatsache hin, daß trotz 
besserer Erkennung und Behandlung der 
Syphilis die Gesamtzahl der mit dieser 
Seuche Infizierten nicht abgenommen hat. 
Schuld hieran ist die Prostitution und das 
geringe Verständnis, das die Behörden be¬ 
gründeten ärztlichen Forderungen gegen¬ 
über gezeigt haben. 


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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


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XIV. Flügge ober Aetiologie und Pro¬ 
phylaxe der Wundinfektion. 

Während die Chirurgie noch bis vor 
ungefähr 30 Jahren in ihren Grundan¬ 
schauungen von den emporblQhenden 
Schwesterwissenschaften der Hygiene und 
Bakteriologie unbeeinflußt blieb, hat sie 
seit den klassischen Untersuchungen Robert 
Kochs Ober die Wundinfektion von ihnen 
eine ungeahnte Fülle von Anregungen und 
Bereicherungen in theoretischer sowie prak¬ 
tischer Hinsicht erhalten. 

Seit der Entdeckung der Staphylo- und 
Streptokokken im Jahre 1881 haben sich 
unsere Ansichten über die Bedeutung jener 
Bakterien als Krankheitserreger in manchen 
Punkten geändert. Während man früher 
mit der Ubiquität der Staphylokokken rech¬ 
nete und diese Anschauung auf ihr gleich¬ 
zeitiges Vorkommen in Furunkeln, Akne¬ 
pusteln, Phlegmonen, sowie auf gesunden 
Schleimhäuten, im Staub und in der Luft 
stützte, weiß man heute, daß die Mehrzahl 
der in der freien Natur vorhandenen Sta¬ 
phylokokken harmlose Schmarotzer sind. 

Die experimentellen Ergebnisse der mo¬ 
dernen Bakteriologie haben uns in Ueber- 
einstimmung mit klinischen Tatsachen ge¬ 
lehrt, daß es zwei verschiedene Arten von 
Staphylokokken gibt, die eigentlichen Eiter¬ 
erreger und die saprophytisch fortwuchern¬ 
den Kokken. Erstere sind stets pathogener, 
letztere saprophytischer Provenienz. Ein 
Uebergang beider kommt nicht vor. 

Der pathogene Kokkus ist durch zwei 
Eigentümlichkeiten ausgezeichnet; er wirkt 
hämolytisch und wird durch ein ihm spezi¬ 
fisches, das heißt durch Vorbehandlung mit 
Eiterkokken gewonnenes Serum agglutiniert. 
Der saprophytisch lebende Staphylokokkus 
hingegen hat keine hämolytischen Eigen¬ 
schaften und wird nur durch ein auf ihm 
abgestimmtes Serum agglutiniert. Prüft 
man einen Kokkus zweifelhafter Provenienz 
auf diese beiden Eigenschaften, so wird 
man nicht mehr im Zweifel sein, ob es 
sich um einen pathogenen Mikroorganismus 
oder einen harmlosen Schmarotzer handelt. 

Der Umschwung unserer theoretischen 
Anschauungen hinsichtlich der Ubiquität der 
pathogenen Staphylokokken und die Er¬ 
kenntnis, daß die wirklichen Eitererreger 
immer nur von erkrankten Menschen 
stammen, darf, wie Vortragender eindring¬ 
lich hervorhob, nicht ohne Einfluß auf das 
ärztliche Handeln bleiben. Im Lichte dieser 
neuen Forschungen winkt uns die Mög¬ 
lichkeit, durch Vernichtung der von einem 
infizierten Menschen stammenden Staphylo¬ 
kokkenkeime die Zahl der Eiterinfektionen 


herabzusetzen. Dieses Ziel kann bis zu 
einem gewissen Grade durch die Vernich¬ 
tung der eitrigen Sekrete, Verbrennung 
der gebrauchten Verbandstoffe und Be¬ 
lehrung der Kranken erreicht werden. 

Aehnliche Verhältnisse wie bei den Sta¬ 
phylokokken finden wir bei den Strepto¬ 
kokken. Auch hier gibt es eine pathogene 
und eine saprophytische Art von Mikro¬ 
organismen. Die frühere Anschauung von 
der Artverschiedenheit der Erysipelerreger 
und der Streptokokken ist nicht mehr halt¬ 
bar, vielmehr ist die Virulenz der Bakterien 
sowie die Lokalität, auf der die Infektion 
entsteht, für den weiteren Verlauf des In¬ 
fektes maßgebend. Die Abgrenzung der 
pathogenen und nichtpathogenen Strepto¬ 
kokkenstämme nach den für die Staphylo¬ 
kokkenidentifizierung maßgebenden Unter¬ 
scheidungsmerkmalen ist leider nicht mög¬ 
lich, da dieselben hier versagen oder keine 
zuverlässigen Resultate geben. 

Für die Bekämpfung der Streptokokken 
besitzen wir einige spezifische Sera. Die¬ 
selben werden jetzt polyvalent hergestellt, 
das heißt durch Behandlung von Tieren 
mit verschiedenen Streptokokkenstämmen 
gewonnen. 

Ueber die Heilwirkung der Strepto¬ 
kokkensera bestehen große Meinungsver¬ 
schiedenheiten (cf. Vortrag XVI). Erschwert 
wird die Beurteilung ihrer Wirksamkeit 
durch die Unmöglichkeit, ihren Titre ex¬ 
perimentell zu bestimmen, da Versuchstiere 
gegen den für den Menschen pathogenen 
Streptokokkus nahezu immun sind. 

Den Weg der aktiven Immunisierung 
hat Wright bei den Eiterinfektionen be¬ 
schritten, indem er unter Kontrolle des 
, opsonischen Index den Kranken mit abge- 
I töteten Keimen, die womöglich von diesem 
| selbst stammten, behandelte. Wenn die 
i herrschende Anschauung über das Wesen 
I der Opsonine richtig ist, hätten wir in dem 
opsonischen Index einen objektiven Ma߬ 
stab für die vermutlichen Chancen aktiver 
Immunisierungsmethoden. 

Den Schluß des Vortrages bildeten einige 
Bemerkungen über den Tetanus, der auch 
zu den Wundinfektionen gehört. Tetanus 
schließt sich besonders an infizierende 
Traumen an, welche durch Schaffung be¬ 
sonderer Wundverhältnisse den Tetanus¬ 
bazillen anaerobe Existenzbedingungen dar¬ 
bieten. 

Namentlich sind es Hieb-, Stich- und 
Schußwunden sowie komplizierte Frakturen, 
welche tiefe Gänge in den Weichteilen 
hinterlassen und so ein anaerobes Wachs¬ 
tum begünstigen. 

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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


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Die Therapie des ausgebrochenen Te¬ 
tanus besteht neben der symptoma¬ 
tischen Behandlung des Krampfzustandes 
in der intraduralen respektive endoneu- 
ralen Injektion des spezifischen Serums. 
Ein gewisser Erfolg ist dem Tetanusserum 
nicht abzusprechen, weshalb man es in 
jedem Falle versuchen sollte. Die pro¬ 
phylaktische Wirkung des Serums ist über 
jeden Zweifel erhaben. 

XV. Bumm über die puerperale In¬ 
fektion und ihre Behandlung. 

Wahrend seit Einführung der Antisepsis 
die Wundinfektion auf allen Spezialgebieten 
der gesamten Medizin erheblich abgenommen 
haben, ist dies bei den puerperalen Infek¬ 
tionen nur in beschranktem Maße der Fall. 
In Deutschland sterben noch immer jährlich 
5—6000 Frauen am Kindbettfieber. Die 
Gründe hierfür liegen in den ungünstigen 
Bedingungen, unter denen die Frauen der 
niederen Klassen gebären, sowie der größe¬ 
ren Vernachlässigung der wichtigsten hy¬ 
gienischen Forderungen von seiten der 
ärmeren Bevölkerung. Die Errichtung von 
Gebäranstalten, wie sie entweder selbständig 
oder als Spezialabteilungen größerer 
Krankenhäuser bestehen, kann die Ziffer 
der puerperalen Infektionen nicht wesent¬ 
lich herabdrücken, da die Zahl der in diesen 
Anstalten erfolgenden Partus nur ein kleiner 
Bruchteil der Gesamtgeburten darstellt. 

Wird der Arzt zu einer fiebernden 
Wöchnerin gerufen, so genügt es nicht, 
eine puerperale Infektion festzustellen, 
sondern die Diagnose muß auch die spe¬ 
zielle Art des Kindbettfiebers sowie die Aus¬ 
breitung der Krankheit berücksichtigen. 
Hierzu gehört zunächst eine genaue In¬ 
spektion der Vulva, Scheide und des 
äußeren Muttermundes. Speziell ist auf 
Risse, schmierig belegte Wunden und auf 
die Beschaffenheit der Lochien zu achten. 
Es folgt die bakteriologische Untersuchung 
des Lochialsekretes, das man am besten 
mit einem feinen Glasrohr dem Zervix ent¬ 
nimmt. Eine Platinöse hiervon wird in 
Bouillon übertragen, der Rest zu Ausstrich¬ 
präparaten verwandt. Die direkte mikro¬ 
skopische Betrachtung gibt meist wichtige 
Fingerzeige für die Art der vorliegenden 
Infektion. Sind polymorphe Stäbchen vor¬ 
handen, so handelt es sich um harmlose 
Saprophyten und das Fieber pflegt nach 
einigen Tagen beendigt zu sein. Gono¬ 
kokken rechtfertigen als Erreger des Kind¬ 
bettfiebers eine relativ günstige Prognose, 
während Streptokokken in Reinkultur den 
Fall von vornherein zu einem sehr bedenk¬ 
lichen stempeln. 


Bumm tritt warm für diese leicht und 
schnell auszuführende Untersuchung des 
Lochialsekretes ein. Daneben muß das Blut 
auf das Vorhandensein von Keimen unter¬ 
sucht werden. Lassen sich pathogene Keime 
aus dem Blute züchten, so muß die Er¬ 
krankung als eine wenig aussichtsreiche 
bezeichnet werden. 

Die Behandlung des Kindbettfiebers 
richtet sich nach der Art des Einzel¬ 
falles. Die Lokalbehandlung der Genital¬ 
organe hat bisher wenig geleistet. Desto 
häufiger wird durch Eingehen mit Instru¬ 
menten, Spülungen usw. geschadet. Eine 
zielbewußte konservative Therapie ist meist 
die beste; vor jeder Polypragmasie muß 
eindringlich gewarnt werden. 

Handelt es sich um eine einfache Lochial¬ 
stauung, so fließt nach Einführung eines 
Sondenröhrchens in den Zervix das Sekret 
meist im Strahle heraus und das Fieber 
geht in einigen Stunden herunter. Uterus¬ 
spülungen verwirft Bumm, da sie häufig 
von Schüttelfrösten gefolgt sind und andrer¬ 
seits Keimireiheit durch Einführung anti¬ 
septischer Lösungen in das Uteruskavum 
nie zu erzielen ist. 

Bei septischer Endometritis soll gleich¬ 
falls weder mit der Kürette noch mit anderen 
Instrumenten in den Uterus eingegangen 
werden. Spülungen sind zu unterlassen, 
da durch dieselben neue Infektionserreger 
in dieLymphbahnen eingeschwemmt werden 
können. Besteht Verdacht auf Retention 
von Plazentarresten, so ist einmaliges Ein¬ 
gehen in den Uterus und unter Umständen 
manuelles Ausräumen der Cavum Uteri ge- 
| boten. 

In der Allgemeinbehandlung ist Bumm 
bedingter Anhänger der traditionellen Al¬ 
koholzufuhr. Der Weg der Zukunft ist 
nach Ansicht des Vortragenden in der 
Serumtherapie gelegen. Die Wirksamkeit 
der heutigen Antistreptokokkensera ist da¬ 
durch beeinträchtigt, daß die tierischen 
Antikörper der Streptokokken mit den 
menschlichen nicht identisch sind. Aber 
auch in seiner heutigen Gestalt muß dem 
Serum bei richtiger Indikationsstellung ein 
gewisser Wert zuerkannt werden. Vor¬ 
tragender erinnert an einige Puerperal¬ 
erkrankungen, bei denen 12 Stunden nach 
der Seruminjektion das Fieber für immer 
abfiel. 

Obgleich die Kollargolbehandlung nicht 
das gehalten hat, was man sich anfangs 
von ihr versprach, sollten gelegentliche 
gute Erfolge den Praktiker ermutigen, einen 
Versuch mit einer Injektion von 2 ccm 
einer 5o/ 0 igen Lösung zu machen und er- 


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83 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


forderlichen Falles dieselbe einige Male zu 
wiederholen. 

Außerdem sind hypodermatische oder 
rektale Kochsalzinfusionen von Nutzen. Die 
operative Behandlung des Kindbettfiebers 
ist zunächst dort indiziert, wo zirkumskripte 
Eiterungen nachweisbar sind. In diesem 
Falle ist die Eröffnung von Abszessen be¬ 
ziehungsweise eitrigen Exsudaten leicht 
und von gutem Einfluß auf den Verlauf 
der Erkrankung. 

Mehrfach ist die Exstirpation des sep¬ 
tischen Uterus mit Erfolg ausgeführt worden. 
Geeignet erscheinen Frühinfektionen, ver¬ 
ursacht durch septische Endometritis, wenn 
gleichzeitig schmierige Beläge vorhanden 
oder die Uteri sehr zerrissen sind. Die 
Gefahren der Operation bestehen in einer 
Verschleppung pathogener Keime, die zu 
Peritonitis führen kann. \ 

Bumm steht auf dem Standpunkt, daß | 
jede im Wochenbett entstehende, durch 
Puerperalinfektion hervorgerufene Peri- I 
tonitis operativ behandelt werden soll. Der 
hierzu notwendige chirurgische Eingriff ist \ 
sehr geringfügig. Es genügt, mehrere Ein- ; 
schnitte zu machen und das peritoneale j 
Exsudat nach außen zu drainieren. Spü- j 
lungen sollen nicht gemacht werden, da j 
dadurch dieselben eine stärkere Toxin- > 
resorption verursacht wird. Die Resultate 
der chirurgischen Behandlung der Wochen¬ 
bettsperitonitis sind recht befriedigend. 
Vortragender hat Heilung in 30% seiner | 
Fälle. Die eitrige Form der Peritonitis gibt ; 
ceferis paribus eine bessere Prognose als j 
die serofibrinöse. 

Eine wertvolle Bereicherung der opera¬ 
tiven Behandlung bei Puerperalinfektionen | 
bildet die von Freund, Trendelenburg 
und Bumm empfohlene Unterbindung der ! 
Vena hypogastrica. Diese Operation kommt ! 
bei subakuten oder chronischen Pyämien in j 
Frage, während bei stürmischen Eiter fiebern i 
die Unterbindung der Venen erfolglos bleibt, j 
Der Trendelenburgschen Operation liegt , 
die Idee zugrunde, durch Verlegung der ! 
venösen Zirkulation den Transport von 
Bakterien oder Toxinen nach dem Herzen 
zu erschweren. Während man ursprüng¬ 
lich die eine Hypogastrika ligiert hat, wird 
jetzt meistens eine Vena femoralis zu¬ 
gleich mit der einen Vena spermatica unter¬ 
bunden. 

XVI. Plehn über die klinische Beur¬ 
teilung von Fiebern aus zweifelhaften 
oder unbekannten Ursachen und ihre 
Behandlung. 

Der Kreis der diagnostisch unklaren 
Erkrankungen ist mit der Verbesserung 


der Untersuchungstechnik sowie der Er¬ 
weiterung unserer Kenntnisse mehr und 
mehr ein geengt worden. Während z. B. 
noch vor 20 Jahren die kryptogenetische 
Sepsis eine große Rolle gespielt hat, sind 
wir heute meistens imstande, den Ausgangs¬ 
punkt einer septischen Infektion nachzu¬ 
weisen sowie diese Erkrankung gegen 
andere mit septischen Erscheinungen einher¬ 
gehende Krankheitszustände abzugrenzen. 
Hierzu gehört auch die akute Leukämie, 
die mit hohem Fieber, Schüttelfrösten und 
Knochenschmerzen ganz an eine Sepsis 
erinnern kann. Fehlt ein beträchtlicher, 
über die septische Milzschwellung hinaus¬ 
gehender Milztumor, so kann die Diagnose 
nur aus dem Blutbilde gestellt werden. 
Jedoch kann gerade bei den akuten Formen 
das Blutbild ein aleukämisches, d. h. ein 
solches ohne Vermehrung der weißen Blut¬ 
zellen sein und nur eine numerische Ver¬ 
schiebung der einzelnen Leukozytenformen 
zeigen. 

Eine gewisse Verwandschaft mit der 
Sepsis ist auch in den ätiologisch völlig 
unklaren Erkrankungen vorhanden, wo unter 
Fieber Blutungen auf der Haut, Schleim¬ 
haut, Retina und in den Gelenken ent¬ 
stehen. Die Prognose ist in diesen Fällen 
eine günstige. 

Handelt es sich darum, die Quelle eines 
unklaren Fiebers aufzusuchen, so soll man 
in keinem Fall unterlassen, bei Männern 
die Prostata, bei Frauen das Pyelon zu 
untersuchen. Ebenso ist auf tiefliegende 
Abszesse (Leber, Milz) zu fahnden. 

Nicht außer Acht darf man lassen, daß 
auch die tertiäre Lues namentlich in der 
Form des Lebergumma mit lang anhalten¬ 
dem Fieber einhergehen kann. Vortragen¬ 
der ist auch der Ansicht, daß bei Frauen 
habituelle Verstopfung gelegentlich zu rezi¬ 
divierenden Fiebern führt. 

Die Malaria ist an den regelmäßig wie¬ 
derkehrenden Schüttelfrösten mit Intervallen 
bei nahezu vollständiger Gesundheit zu er¬ 
kennen. Gesichert wird die Diagnose durch 
den Nachweis der Malariaplasmodien im 
Blute sowie durch die spezifische Wirkung 
des Chinins. Therapeutisch empfiehlt Plehn 
die intramuskuläre Injektion von Chinin in 
nicht zu kleinen Dosen. 

Das in den Mittelmeerländern und in 
manchen tropischen Ländern vorkommende 
Maltafieber wird durch einen spezifischen 
Kokkus (Mikrokokkus melitensis) verursacht 
Das Krankheitsbild erinnert sehr an die In¬ 
fluenza, das Fieber ist anfangs remittierend, 
später intermittierend. Die Krankheit hat 

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84 Die Therapie der Gegenwart 1910. Februar 


große Neigung zum Rezidivieren. Gesichert 
wird die besonders gegen Tuberkulose, 
Typhusund Febris recurrens abzugrenzende 
Diagnose durch den Nachweis der Malta¬ 
kokken aus dem Blute, während die Ag¬ 
glutination weniger eindeutige Resultate 
gibt. 

Große diagnostische Schwierigkeiten sind 
häufig vorhanden, wenn es gilt, bei einer 
fieberhafte Erkrankung zu entscheiden, ob 
Typhus, Miliartuberkulose oder Sepsis vor¬ 
liegt. Auch der geübte Diagnostiker wird 
hier bei einmaliger Untersuchung meist 
keine sichere Diagnose stellen können. In 
diesen Fällen müssen alle diagnostischen 
Hilfsmittel der Chemie, Bakteriologie und 
Mikroskopie erschöpft werden. 

Zum Schlüsse machte Redner noch 
einige Angaben über die Diagnose der 
Tuberkulose. Plehn warnt vor zu hoher 
Bewertung der Ophthalmoreaktion. Er ver¬ 
fügt über 4 Fälle, bei denen trotz positiver 
Reaktion autoptisch die Lungen frei von 
tuberkulösen Veränderungen gefunden 
wurden. 

Nicht selten ist im Kindesalter die Drüsen¬ 
tuberkulose die Quelle eines unklaren Fie- 


| bers. [Hier leistet das Röntgen verfahren 
! diagnostisch gute Dienste. 

Um die Pubertät sieht man bei Kindern 
beiderlei Geschlechtes bisweilen länger an¬ 
haltende Fieberbewegungen, ohne daß der 
Ernährungs- und Kräftezustand wesentlich 
1 leidet. Der Ausgang ist immer ein gün¬ 
stiger. Die Ursache des Fiebers ist un¬ 
bekannt und vielleicht in einer latenten, 
benignen Tuberkulose zu suchen. 

In der Behandlung der Infektionskrank¬ 
heiten ist man mehr und mehr davon ab- 
| gekommen, das Fieber selbst zu bekämpfen. 
Der Umschwung in der die Beurteilung 
der Antipyrese wurde durch die Erkenntnis 
herbeigeführt, daß das Fieber nur ein Sym¬ 
ptom sei und der vermehrte Eiweißzerfall 
nicht durch das Fieber als solches, sondern 
durch die Wirkung von Toxinen verursacht 
i werde. 

Mit der Besprechung der wichtigsten 
ernährungstechnischen Fragen, einigen Hin¬ 
weisen auf die medikamentöse sowie Bäder¬ 
behandlung und einem Ausblick auf die 
Fieberbehandlung der Zukunft schloß Redner 
den Vortrag und somit den Zyklus der hier 
l referierten Vorträge. 


Bücherbesprechungen. 


Wilhelm Ebstein. Die Pathologie und 
Therapie der Lepra. Bibliothek me¬ 
dizinischer Monographien. Bd. 9. Leipzig 
bei Dr. Werner Klinkhard. 

Ein Allmeister der medizinisch-klinischen 
und medizinisch - historischen Forschung 
bringt in dieser rund 100 Seiten umfassen¬ 
den Monographie eine — weniger auf eigene 
Erfahrungen, basierte — als auf eingehen¬ 
den literarischen Studien beruhende Dar¬ 
stellung der Lepra. Wenn auch diese 
Krankheit für uns keine große praktische 
Bedeutung hat, so muß sie doch jeden Me¬ 
diziner als eins der interessantesten Kapitel 
unserer Wissenschaft fesseln. Der Gegen¬ 
stand kann naturgemäß in diesem Buche 
nicht völlig erschöpft sein, aber alles 
Wesentliche, auch die modernen Forschungs¬ 
ergebnisse (mit Ausnahme der serologi¬ 
schen) sind berücksichtigt; besonders sind 
auch die allgemein wichtigen geographi¬ 
schen Verhältnisse, die vielfach erörterten 
Beziehungen der Lepra zur Kunst wenig¬ 
stensin wichtigeren Punkten dargestellt. Das 
Buch wendet sich nicht an den Spezialisten. 
Aber jeder Arzt, der die allgemeinen Fragen 
unserer Kunst im Auge behält, wird das 
ungemein fesselnd und ansprechend ge¬ 
schriebene Buch mit Interesse lesen. 

Buschke (Berlin). 


R. Lenzmann. Die Pathologie und 
Therapie der plötzlich das Leben 
gefährdenden Krankheitszustände. 
II. Auflage. Jena 1909. Gustav Fischer. 
584 S. 

Das schnelle Vergriffensein der vor 
2 Jahren erschienenen ersten Auflage des 
Lenzmann sehen Werkes zeigt, daß das 
Buch einem praktischen Bedürfnis ent¬ 
spricht. Wenn auch an guten Lehr- und 
Handbüchern kein Mangel ist, aus denen 
man sich erschöpfend über die durch den 
Titel des Werkes bezeichneten Krankheits¬ 
zustände orientieren kann, so ist es doch 
für den Praktiker angesichts eines plötz¬ 
lich das Leben bedrohenden Leidens ein 
nicht zu unterschätzender Vorteil, sich 
schnell über ein Krankheitsbild informieren 
zu können. 

In lebendiger Schilderung läßt Lenz- 
mann die meist aus eigener Beobachtung 
gewonnenen, mit zahlreichen Kranken¬ 
geschichten illustrierten Krankheitszustände 
vorüberziehen, welche in wenigen Stunden 
oder Tagen für ihren Träger lebens¬ 
gefährlich werden können. Der Gliederung 
des Stoffes ist der Organursprung der 
einzelnen Krankheiten zugrunde gelegt. 

Den größeren Raum des Lenzmann- 
sehen Werkes nimmt das Gebiet der 


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Februar 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 85 


inneren Medizin ein, aber auch chirurgische 
Erkrankungen sowie die das Leben ge¬ 
fährdenden Krankheitszustände, wie sie 
durch abnormen Verlauf der Schwanger- | 
schaft, der Geburt und des Wochenbettes | 
bedingt werden, sind gleichfalls erschöpfend j 
abgehandelt. j 

Eine wesentliche Erweiterung gegenflber 
der ersten Auflage bedeutet die Einfügung 
eines Abschnittes über die wichtigsten | 
akuten Vergiftungen. 

Es sei noch darauf hingewiesen, daß I 
Verfasser überall eingehend die Diffe¬ 
rentialdiagnose berücksichtigt hat. Hierbei 
hat ihn die Idee geleitet, kein „Vademekum 
für die Rocktasche“ zu schreiben, sondern 
die Grundlage für ein ernstes Studium 
jener den Praktiker besonders interessie¬ 
renden Krankheitszustände zu geben. 

Leo Jacobsohn (Charlottenbur§). 

Therapeutisches Taschenbuch der Ner¬ 
venkrankheiten. VonDr.W.Alexander 
und Dr. K. Krön er. Berlin 1910. Fischers 
Medizinische Buchhandlung. 

Das in der Serie der therapeutischen 
Taschenbücher erschienene 164 Seiten 
starke Büchlein bezweckt den Praktiker 
mit den in der Neurologie herrschenden 
therapeutischen Grundsätzen und Behand¬ 
lungsmethoden vertraut zu machen. Daß 
ein solches Unternehmen einem praktischen 
Bedürfnisse entspricht, hat Gold scheid er 
in dem den Ausführungen der beiden 
Autoren vorausgeschickten Vorworte dar¬ 
getan. Der Aufgabe, in knapper Form mit 
Weglassung alles Unwesentlichen, eine 
kompendiöse Zusammenstellung neuerer 
und neuester Heilmittel zu geben, sind 
Alexander und Kroner in jeder Hinsicht 
gerecht geworden. Nebenbei enthält das 
kleine Buch mehrere Abbildungen und eine 
Reihe von Angaben über die Bezugs¬ 
quellen, der in der Neurologie therapeutisch 
brauchbaren Apparate mit Angabe des 
Preises. Wo es nötig ist, haben die 


Autoren die Ausführung therapeutischer 
Methoden bis ins Einzelne geschildert. 
Gleichzeitig gibt das Büchlein differentiell 
diagnostische Hinweise der wichtigsten 
Nervenkrankheiten. Alles in allem ein für 
die Praxis sehr brauchbares und empfehlens¬ 
wertes Buch. 

Leo Jacobsohn (Charlottenburg). 
Johann Fein. Rhino- und laryngolo- 
gische Winke für praktische Aerzte. 
Mit 40 Textabbildungen und 2 Tafeln. 
Verlag von Urban & Schwarzenberg, 
Berlin und Wien 1910. M. 5,— geb, 
Referent hat das Büchelchen mit vielem 
Vergnügen durchgelesen und mit einem 
Gefühl der Befriedigung aus der Hand gelegt. 
Man merkt es auf jeder Seite: es ist das 
i Werk eines Arztes, der aus der Praxis 
' heraus für die Praxis geschrieben hat. 

Gerade dem Praktiker wird Fe ins Buch 
i ein willkommenes Vademekum sein. Dem 
! Charakter und der eigentlichen Bestimmung 
des Buches entsprechend, hat Fein auf alle 
theoretisierenden Erörterungen und selbst¬ 
verständlich auch auf die sonst üblichen 
Literaturangaben verzichtet und nur die¬ 
jenigen Krankheitsprozesse der Nase und 
des Halses ausführlicher abgehandelt, die 
der Medicus practicus häufiger zu sehen 
Gelegenheit hat. Sehr praktisch ist dabei 
wieder das von Fein befolgte Einteilungs¬ 
prinzip, das die Krankheiten nach gewissen 
besonders hervorstechenden Symptomen 
gruppiert. Ein Lehrbuch will das Feinsche 
Opus ja nicht sein; aber als Ratgeber für 
die dringendsten Bedürfnisse der täglichen 
Praxis wird es eine wertvolle Bereicherung 
der ärztlichen Bibliothek bilden. 

Ob in dem umgrenzten Rahmen des 
Büchelchens zwei Tafeln ausschließlich zur 
Illustration der Dauerresultate bei der 
Paraffinbehandlung der Sattelnasen er¬ 
forderlich waren, mag dahingestellt bleiben. 
Im übrigen sind Druck und Ausstattung 
von einwandfreier Güte. A. Bruck (Berlin.) 


Referate. 


Die Aktinomykose wird an der Wölf- 

1 ersehen Klinik konservativ oder operativ j 
oder kombiniert behandelt. Zur konser¬ 
vativen Behandlung dienen die Jodpräpa¬ 
rate: Jodkalium, in letzter Zeit Jodnatrium, 
innerlich zu 2—5 g täglich in Pulvern oder 
von einer 5%igen Lösung 3 mal 1 E߬ 
löffel, oder am ersten Tag 1 g, am zweiten 

2 g, am dritten 3 g, dann 3 Tage Pause, 
dann wieder von vorn. Aeußerlich wurde 
10% ige Jodkalilösung zum Verbinden der 
kranken Stellen benutzt; ferner wurde ver- | 


sucht Sajodin 3 mal 1 g, Jodvasogen 6°/ 0 
| zu Pinselung und Umschlägen. Die Ope¬ 
ration bestand in Inzision, Exkochleation, 
Exstirpation. Durch die Jodbehandlung 
wurden 18 Fälle von Kopf-Halsaktinomy- 
kose geheilt, 5 gebessert, 4 starben. Der 
Einfluß des Jods führte in den meisten 
Fällen zu Abszedierung und Rückgang der 
i Infiltration. Es kann aber auch trotz Jod¬ 
darreichung neue Infiltration auftreten. Daß 
durch gründliche Operation die Behandlungs- 
1 dauer gegenüber der Jodbehandlung ab- 


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86 Die Therapie der 

gekürzt wird, ist zweifellos. Also bei der 
Kopf-Halsaktinomykose hat sich die Jod- 
behandlung sehr bewährt. Von 7 Kranken 
mit Bauch aktin omy kose hatten 4 in ihrem 
Beruf sicher mit Getreide zu tun. Die 
Diagnose ließ sich in allen Fällen ganz 
sicher stellen. Als Ausgangspunkt kann in 
allen Fällen der Darm betrachtet werden. 
Sitz waren 2 mal die Bauchdecken, 3 mal 
der Darm bezw. Proc. vermif., 2 mal das 
große Becken. Die Form war 6 mal die 
gewöhnliche, nämlich chronische Phleg¬ 
mone mit Fisteln, einmal war die Erkrankung 
ganz zirkumskript. Einige Tage oder 
Wochen vor Auftreten der tastbaren Ge¬ 
schwülste waren Schmerzen im ganzen 
Unterleib oder an der betreffenden Stelle 
vorausgegangen; einmal bestand Aszites. 
Neben der chirurgischen Behandlung wurden 
Jodpräparate und Tuberculinum vetus an¬ 
gewandt. 3 wurden geheilt, 3 gebessert, 

1 starb; der mit Tuberkulin behandelte ge¬ 
nas. Sitzt die Erkrankung nur in den 
Bauchdecken, so ist die Prognose sehr gut; 
chirurgisch kommt man dann mit Inzision 
und Exkochleation aus. Bei diffusen Herden 
in der Bauchhöhle genügt die Exkochlea¬ 
tion nicht und noch weniger das Jod; 
Tuberkulin hat sich bei längerem Gebrauch 
günstig erwiesen. Bei den seltenen zirkum¬ 
skripten Formen kommt nur die Exstirpa¬ 
tion in Betracht. Eine Dauerheilung konnte 
erzielt werden bei umschriebenen Darm¬ 
tumoren und isolierten Organerkrankungen, 
wie Niere und Tube, ferner bei Bauch-' 
deckeninfiltration ohne intraperitoneale Be¬ 
teiligung und in einzelnen Fällen von diffus 
infiltrierenden vom Processus vermiformis 
oder vom Zökum ausgehenden Formen. 
Für die begrenzten Darmtumoren und die 
isolierten Organerkrankungen war nötig 
und genügte die Exstirpation. Bei den 
Bauchdeckeninfiltrationen wurde Heilung 
herbeigeführt durch bloße Inzision, durch 
Inzision und Verabreichung von Jodpräpa¬ 
raten, durch Tuberkulininjektionen, durch 
Exkochleation allein oder kombiniert mit 
Jodmedikation und durch radikale Exstir¬ 
pation. Klink. 

(v. Bruns Beitr. z. kl. Chir., Bd. 63, H. 3) 

Die von Amerikanern und Engländern 
schon seit einiger Zeit angewandte Appen- 
dikostomie hat Wilms an einigen t allen 
erproben können. Er empfiehlt ihre Ver¬ 
wendung bei allgemeiner Peritonitis mit 
starkem Meteorismus und beginnender 
Darmschwäche, ferner bei Ileus, wo der 
Darm ebenfalls stark gebläht und die 
Darm wand geschwächt ist — bei diesen 
beiden Krankheitsformen dann, wenn die 


Gegenwart 1910. Februar 

Anlegung einer Dünndarmfistel in Frage 
kommt; da die Appendikostomie aber 
leichter und ungefährlicher anzulegen ist, 
so ist sie einer solchen vorzuziehen — 
und endlich noch zur Behandlung der 
Kolitis. Der Darminhalt läßt sich durch 
die Appendikostomie gut entleeren, Koch¬ 
salzlösung und Nährklistiere können durch 
sie leicht in den Darm eingeführt werden. 
Geht die Peritonitis nicht von der Appen¬ 
dix aus, so muß eventuell ein besonderer 
Schnitt zur Anlegung der Appendixfistel 
gemacht werden; ist Appendizitis die Ur¬ 
sache der Peritonitis, so läßt sich der 
Wurmfortsatz, wenn er nicht völlig gan¬ 
gränös ist, doch ganz gut zur Fistelaniegung 
verwenden. Derartige Fisteln pflegen sich 
rasch zu schließen. Um bei völlig gesun¬ 
der Appendix das zu lange Bestthen- 
bleiben der Fistel zu verhüten, empfiehlt 
es sich, den Wurmfortsatz so zu fixieren, 
daß das Mesenteriolum bis zur Basis unter¬ 
bunden und nun dieser schlecht ernährte 
Fortsatz als Rohr benutzt wird. Auf diese 
Weise wird allmählich die Wand der 
Appendix zerstört, hält aber doch so lange 
stand, bis sich Adhäsionen bilden können, 
die das Auftreten einer Bauchfellentzündung 
verhindern. Eine Knickung des Darmes 
ist bei der Appendikostomie nicht zu be¬ 
fürchten, dahingegen kann es, wie Wilms 
sich in einem Fall überzeugen konnte, 
Vorkommen, daß die Appendix stark aus¬ 
gezogen wird und nun als dünner Strang, 
der jederzeit die Ursache eines Strangu- 
lationsileus werden kann, durch die Bauch¬ 
höhle zieht. Man könnte dies verhindern, 
wenn man breite Adhäsionen durch eine 
Art Kolopexie um die Appendix schaffte;, 
da aber hierdurch die Operationsdauer 
verlängert wird, so wird man in den 
meisten Fällen davon Abstand nehmen 
müssen. Hohmeier (Altona). 

(Deutsche Ztschr. f. Chir. Bd. 102, H. 4—6.) 

In einer kürzlich veröffentlichten Vor¬ 
lesung übet Chlorose weistC.vonNoorden 
auf die bei dieser Krankheit häufige hart¬ 
näckige Obstipation hin, die des öfteren 
den Gebrauch von Eisen in jeder Form 
verhindert, und bespricht deren Bekämpfung. 
Dabei warnt er vor dem häufigen Gebrauch 
von Klistieren, die er als „die weitaus schäd¬ 
lichste und folgenschwerste Bekämpfungs¬ 
form der chronischen Stuhlträgheit“ be¬ 
zeichnet, weil nach seiner Meinung aus ihr 
fast immer eine abnorme Erschlaffung, Er¬ 
weiterung und Trägheit des Mastdarms re¬ 
sultiere. Die gewöhnliche Obstipation be¬ 
ruht nach Noorden auf Bewegungsstörung 
des Dickdarms, besonders der Flexura 


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87 


Februar Die Therapie der Gegenwart 1910.. 


sigmoidea und ist durch eine systematische 
diätetische Behandlung ausnahmslos leicht 
und dauerhaft heilbar. Wenn aber durch 
häufige, insbesondere auch große Klistiere 
eine Mastdarmerschlafiung hinzugekommen, 
dann sieht man durch die diätetische Kur 
wohl die Sigmoidalobstipation zur Heilung 
kommen, die Kotmassen rücken ordnungs¬ 
mäßig bis in die Ampulle des Rektums vor, 
bleiben dort aber ohne Reflexauslösung 
lange liegen und es bedarf noch einer 
langen und peinvollen Nachbehandlung, oft 
durch abnorme Reizmittel, wie Glyzerin¬ 
zäpfchen, kleine Oelklystiere usw., um diese 
Mastdarmträgheit zu überwinden. 

Die obstipierende Wirkung ist nicht bei 
allen Formen der Eisentherapie die gleiche. 
Am häufigsten führen nach Noordens Er¬ 
fahrung die Präparate der Pharmakopoe 
zur Obstipation. Viel weniger ist dies der 
Fall beim Gebrauch der kohlensauren Stahl¬ 
quellen (Langenschwalbach, Franzens¬ 
bad usw.), die aber für häusliche Behand¬ 
lung sich nicht eignen, sondern stets an 
der Quelle getrunken werden müssen. Die 
Wässer mit schwefelsaurem Eisen (Levico, 
Roncegno, Guber quelle, Val Sinestra) 
stehen zwischen beiden in der Mitte. Die 
von Quincke angeregte subkutane Einver¬ 
leibung des Eisens, von der die moderne 
Therapie namentlich in den romanischen 
Ländern ausgedehnten Gebrauch macht, 
bewährt sich oft, aber durchaus nicht immer; 
nach Noordens Erfahrung kommt es auch 
dabei oft zu starker Stuhlträgheit. 

In solchen Fällen, wo Eisen schlecht 
vertragen wird, ist es angezeigt, sich des 
Arsen zu bedienen — um so mehr als ja 
das Eisen bei der Chlorose nicht etwa 
wirkt, weil es im Körper oder in der Nah¬ 
rung des Chlorotischen an Eisen mangelt, 
sondern beide, Eisen und Arsen, ebenso 
wie manche anderen therapeutischen Ma߬ 
nahmen, die bei Chlorose mit Nutzen an¬ 
gewandt werden, als direktes Reizmittel auf 
die blutbildenden Organe wirken. Die Wahl 
des Arsenpräparates ist nicht gleichgültig. 
Acid. arsenicosum und Liqu. Kal. arsenicosi, 
die, innerlich dargereicht, häufig gut ver¬ 
tragen werden, sind bei Hyperästhesie des 
Magens, an der viele Chlorotische leiden, 
zu vermeiden. Die obengenannten arsen¬ 
haltigen Eisenwässer werden vom Magen 
zwar durchschnittlich besser vertragen, sind 
aber eben wegen der obstipierenden Wir¬ 
kung des Eisens kontraindiziert. Die Ka- 
kodylatinjektionen sind unsicher in ihrer 
Wirkung, dabei nicht ungefährlich; auch 
bei den Atoxylinjektionen sind überraschende 
Vergiftungen nicht ausgeschlossen. Sehr 


empfehlenswert ist nach Noordens Er¬ 
fahrungen die fast eisenfreie Dürkheimer 
Maxquelle, auf welche v. d. Velden und 
Brenner kürzlich hingewiesen haben. Die¬ 
selbe enthält im Liter 13,8 g Chlornatrium 
und 0.017 g Arsentrioxid; sie bringt die 
Arsenwirkung vortrefflich zur Entfaltung 
und ist dabei ohne jede Reizwirkung für 
Magen und Darm. Auch Chlorotische mit 
beträchtlicher Magenhyperästhesie vertragen 
dieses Mineralwasser, welches infolge seines 
Kochsalzgehaltes die Darmperistaltik ent¬ 
schieden anregt. Man beginnt mit der 
Verordnung von dreimal täglich 20 ccm 
(nach den Mahlzeiten zu nehmen) und steigt 
allmählich auf dreimal 100 ccm, womit die 
Tagesdosis von 5 mg Arsenik erreicht wird. 

Bezüglich der Ernährung der Chlo¬ 
rotischen hältNoorden an seiner früheren 
Empfehlung eiweißreicher Kost fest. Be¬ 
sonders ein eiweißreiches erstes Frühstück, 
gleichgültig ob man Eier oder, was N o o r d e n 
bevorzugt, Fleisch nehmen läßt, ist von 
ausgezeichnetem Einfluß auf das subjektive 
Wohlbefinden der Chlorotischen. Die neuer¬ 
dings aufgekommene Mode, Chlorotische 
und überhaupt anämische Patienten vor¬ 
wiegend mit Vegetabilien, also eiweißarm 
zu ernähren, verurteilt Noorden scharf als 
unbegründet und schädlich; das Optimum 
der Eiweißzufuhr für Chlorotische scheint 
ihm zwischen 100 und 120 g zu liegen. 

F. Klemperer. 

(Med. Klinik 1900, Nr. 2.) 

In einem Aufsatze über dielndikationen 
und Kontraindikationen von Dick- 
darmeinläufen und Klistieren wendet 
sich J. Boas gegen die Ueberschätzung 
dieser, wie er glaubt, häufig schädlichen 
Prozeduren bei der Behandlung der ver¬ 
schiedenen Formen der Dickdarmkatarrhe. 
Von den gewöhnlichen Wassereinläufen 
kann bei ihnen ein Nutzen nur dadurch er¬ 
wartet werden, daß stagnierende Residuen 
und diesen beigemengte Noxen schnell aus 
dem Darme entfernt werden. Das kann 
zweifellos bei obstipativen Katarrhen und 
vermehrter Flatulenz, aber auch bei soge¬ 
nannten Sterkoraldiarrhöen sicherlich von 
Nutzen sein; bei mit stark gesteigerter 
Peristaltik einhergehenden chronischen Ka¬ 
tarrhen dagegen kann nach Boas von einem 
Erfolg von Wasserinjektionen selbstver¬ 
ständlich keine Rede sein. In diesen letzt¬ 
genannten Fällen wird nun vielfach von 
medikamentösen Einläufen Gebrauch 
gemacht; besonders werden adstringierende 
Zusätze (Tannin, Argentum nitricum, Wis¬ 
mut und andere) bevorzugt, und zwar teils 
ihrer stopfenden Wirkung wegen, teils um 


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88 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Februar 


die erkrankte Darmschleimhaut „umzu¬ 
stimmen". Boas hält dem entgegen, daß 
eine stopfende Wirkung durch Adstringen¬ 
den unbedingt leichter erreicht wird, wenn 
sie per os gereicht werden; daß ferner eine 
adstringierende Wirkung von Injektions- 
flüssigkeiten überhaupt nicht erwiesen und 
die „umstimmende“ Wirkung, die bei Darm¬ 
katarrhen zustande kommen soll, doch wohl 
recht fragwürdig ist, da von diesen Mitteln 
niemals beim Magenkatarrh Gebrauch ge¬ 
macht wird, bei welchem die Chancen 
einer therapeutischen Beeinflussung doch 
sehr viel günstiger liegen. 

Gänzlich kontraindiziert sind die Tannin-, 
Blei- und ähnliche Präparate bei der Co¬ 
litis membranacea. Auch bei Kranken 
mit gewöhnlicher muköser Kolitis, be 
sonders solchen mit Diarrhöen, wird durch 
Tanninklistiere nicht nur nichts genutzt, 
sondern es treten erst infolge der adstrin¬ 
gierenden Einläufe Membranen auf. Wie 
nachTannininjektionen, sah Boas Membran- 
bildung auch nach Injektion von Höllen¬ 
stein, Alaun, Bleiessig. Da Boas weiter 
beobachtet hat, daß selbst gewöhnliche 
Wasserklistiere, in abundanter Weise appli¬ 
ziert, das Krankheitsbild der Enteritis mem¬ 
branacea ungünstig beeinflussen, ist er da¬ 
zu gekommen, bei dieser Krankheit von 
der Applikation von Klystieren und Wasser¬ 
einläufen, mit oder ohne adstringierende 
Zusätze, überhaupt Abstand zu nehmen; 
die rein diätetische Behandlung, wenn es 
ihr gelingt, die Obstipation oder umgekehrt 
die Diarrhöen zum Schwinden zu bringen, j 
erzielt die besten Erfolge. | 

Bei der chronischen Kolitis be¬ 
schränkt Boas die Indikation der Darm¬ 
infusionen auf Grund seiner Erfahrungen 
nur auf wenige Fälle. Von nicht medika- j 
mentösen Infusionen haben die ganz kleinen 
Darminfusionen, in Form von Bleibe¬ 
klistieren, einen gewissen Wert, und zwar 
in Fällen von chronischer Kolitis mit Diar¬ 
rhöen, gelegentlich aber auch mit Obstipa¬ 
tion, die mit mehr oder weniger heftigen 
Schmerzen oder auch Brennen in weiten 
Bezirken des Kolon einhergehen. Kleine 
Infusionen von etwa 200—300 ccm warmen 
Wassers, auch Karlsbader oder anderen 
Wassers, oder eines der karminativen Tees 
üben hierbei einen kalmierenden Einfluß 
auf die katarrhalisch afßzierte Schleimhaut, 
den Boas einem „inneren Kataplasma“ ver¬ 
gleicht. Auf die objektiven Zeichen des 
Katarrhs, speziell auf die Schleimproduktion 
der Dickdarmschleimhaut aber haben weder 
diese noch andere Klistiere einen irgend¬ 
wie nachweisbaren Effekt, wie denn Boas 


überhaupt niemals die Beobachtung machen 
konnte, daß der fein verteilte Darmschleim 
sich durch medikamentöse Einwirkungen 
von oben oder unten wesentlich beein¬ 
flussen läßt, selbst wenn die sonstigen kli¬ 
nischen Symptome des Darmkatarrhs eine 
deutliche Besserung zeigen. 

Im Gegensatz zu den kleinen Bleibe¬ 
klistieren, die einen wenigstens palliativen 
Wert in der Behandlung der chronischen 
Dickdarmkatarrhe haben, hält Boas den 
Erfolg großer und dann nur kurze Zeit 
zurückgehaltener Darminfusionen, mit oder 
ohne medikamentöse Zusätze, für äußerst 
gering. Er hat dieselben jahrelang nament¬ 
lich bei chronischen Diarrhöen, die ihren 
Sitz besonders im Dickdarm hatten, ange¬ 
wandt, ohne irgendwie einen Einfluß auf 
den Verlauf der Dickdarmkatarrhe zu er¬ 
kennen, abgesehen von den Schmerzen, 
welche speziell die medikamentösen Zusätze 
zu den Darmeinläufen den Patienten ver¬ 
ursachen. 

Dagegen ist eine gewisse Einwirkung 
durch medikamentöse Zusätze möglich bei 
tiefsitzenden Dickdarmprozessen, 
etwa Rektum bis zur oder über die Flexura 
sigmoidea hinaus. Für diese Zwecke emp¬ 
fiehlt Boas speziell kleine Einläufe mit 
Wismutsuspensionen (im Verhältnis von 
10:200), mit denen er in einigen Fällen 
von schwerer eitriger Kolitis und Ge¬ 
schwürsbildung günstige Resultate erzielt 
hat. Das Eingießen der Wismutsuspension 
mittels Mastdarmschlauch und Trichter oder 
durch das Rektoskop, beziehungsweise 
Sigmoskop ist dabei ebenso wirksam, wie 
das Einblasen durch geeignete Pulverbläser. 

Eine wesentlich größere Indikationsbreite 
schreibt Boas den sogenannten Darm¬ 
waschungen oder Darmspülungen bei hoch¬ 
gradiger akuter oder chronischer Kopro¬ 
st ase zu. Das Verfahren, das erst ange¬ 
wendet werden soll, wenn Abführmittel oder 
gewöhnliche Klistiere erfolglos gegeben 
worden sind, besteht darin, daß man in 
Seiten- oder Knieellenbogenlage mittels 
einfacher Mastdarmsonde und längerem 
Schlauch und Trichter (oder mittels des 
Zweigschen Glasrohres ä double courant) 
den Darm in gleicher Weise, wie es beim 
Magen üblich, mit mehreren Litern Seifen- 
wasser, dem man zweckmäßig noch einige 
| hundert Gramm Olivenöl zusetzt, so lange 
auswäscht, bis der Darminhalt erweicht ist 
I und das Spülwasser rein abfließt. Dieses 
| Verfahren, welches nach Boas Erfahrungen 
sehr erheblich die Wirkung von .Oel- 
klistieren übertrifft, die in schweren Fällen 
häufig ausbleibt oder sehr geringfügig ist, 


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Februar 


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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


vermag mit einem Schlage eine schwere 
und mit schmerzhaften Sensationen einher¬ 
gehende Koprostase zu beseitigen und ver¬ 
dient eine häufigere Anwendung in der 
Praxis. F. Klemperer. 

(Med. Klinik 1910, Nr. 2 ) 

Glaeßner und G. Singer konstatierten 
bei ihren Versuchen eine peristaltische 
Wirkung der Galle, die sich ausschließlich 
auf den Dickdarm beschränkte. Als wirk¬ 
samen Bestandteil der Galle in dieser 
Richtung fanden sie die Gallensäuren und 
empfehlen daher letztere als Abführmittel. 
Damit aber deren Wirkung voll zur Geltung 
komme, verwendeten sie sie in Form von 
Suppositorien (ä 0,1—0,3 g). In allen Fällen 
stellte sich nach 5—10 Minuten Stuhldrang 
ein und es kam zur Entleerung groß knolliger 
oder säulenförmiger Fäzes, deren Form, 
Konsistenz und Farbe vollständig dem 
Obstipationsstuhl entspricht. Nie trat eine 
Verflüssigung des Stuhles ein. Mit Rück¬ 
sicht auf die ausschließliche Dickdarmwirkung 
der Gallensäuren stellen die Autoren als 
Indikation für deren Anwendung jene Fälle 
auf, bei denen eine Störung im Rektum 
oder eine Schwäche der austreibenden Kraft 
im Dickdarm vorliegt, also bei paralytischem 
Ileus, bei postoperativer Darmparese und 
bei hartnäckigen Formen von Darmträgheit 
bei chronischer Peritonitis. H. W. 

(Wiener klin. Wochenschr. Nr. 1). 

Die Heißwasserbehandlong in der 
Dermatologie bespricht O. Rosenthal 
(Berlin) und empfiehlt ihre Anwendung in 
reichem Maße. Wenn der Autor bei allen 
Formen akuter Ekzeme und bei Artherio- 
sklerotikern das heiße Wasser scheut, so 
stimmt das mit unseren Erfahrungen nicht 
überein, auch gibt Rosenthal eine Be¬ 
gründung dafür nicht an. 

Hauffe (Ebenhausen). 

(Med. Klinik 1909, Nr. 36.) 

Die Aussichten einer Operation bei per¬ 
foriertem Magengeschwür bessern sich 
immer mehr. Das zeigen weiter die Mit¬ 
teilungen von Steinthal über 15 Fälle. 
Spontanheilungen gehören zu den größten 
Seltenheiten. Einen derartigen Fall hat 
Steinthal aber erlebt, wo 10 Tage nach 
der Perforation ein gutabgekapselter gas¬ 
führender Abszeß im Epigastrium eröffnet 
wurde. Es handelt sich in diesen Fällen 
wohl um eine sehr kleine Perforationsöff¬ 
nung, die sich dureh einen Fibrinpfropf 
schließt. Die besten Erfolge bringt eine 
möglichst frühe Operation. Der Schock nach 
der Perforation dauert nur kurz und kann 
fehlen, der verlängerte Kollaps ist ein 


Zeichen der beginnenden Peritonitis; einen 
Aufschub der Operation wegen eines Schocks 
darf es deswegen nicht geben. Stein thal 
hat 58,3% gerettet, die übrigen 41,6 0/ 0 
starben. Von den in den ersten 12 Stunden 
Operierten wurden 60 % gerettet, 40 % 
starben. Es wurde stets Chloroform-Aether- 
narkose angewandt. Stein thal hat nie¬ 
mals die Geschwürsränder exzidiert, ge¬ 
schweige denn die weitere infiltrierte Um¬ 
gebung herausgeschnitten; die Perforations¬ 
öffnung wurde nur übernäht und die Naht 
hat immer gut gehalten; die Perforation 
hatte einmal die Größe eines Zehnpfennig¬ 
stückes, sonst Erbsengröße. Vor einer Re¬ 
sektion des kranken Magenteils ist sehr zu 
warnen. Das Ulkus ist nur dann zu ex- 
zidieren, wenn seine harten Wundränder 
die Nähte durchreißen lassen. In einem 
Fall, wo eine Narbe von Pfenniggröße mit 
halblinsengroßer Perforation genäht war 
und Gastroenterostomie gemacht war, war 
bei der nach 3 1 2 Monaten ausgeführten 
Autopsie nichts mehr von dem Geschwür 
zu finden. Wurden durch den Sitz der 
Perforationsstelle und deren Entfernung 
mechanisch ungünstige Entleerungsverhält¬ 
nisse für den Magen geschaffen, so wurde 
die Gastroenterostomie hinzugefügt. Die 
Drainage und Tamponade nach der Ope¬ 
ration muß gründlich durchgeführt werden. 
In 4 Fällen war die Perforation ganz plötz¬ 
lich bei Leuten eingetreten, die niemals 
Magenbeschwerden gehabt hatten. Diese 
Erfahrungen mahnen daran, bei Erfolg¬ 
losigkeit der inneren Behandlung das Magen¬ 
geschwür chirurgisch anzugreifen, ehe es 
zur Perforation kommt. Klink. 

(v. Bruns Beitr. z. kl. Chir., Bd. 65, H. 2.) 

Pankow hat sich der dankenswerten 
Aufgabe unterzogen, das Dunkel der chro¬ 
nischen Metritis zu lichten und die Uterus¬ 
blutungen nicht allein vom deskriptiv-ana¬ 
tomischen, sondern auch vom funktionellen 
Standpunkte zu beleuchten. Es ist ganz 
zweifellos, daß der Tatbestand der soge¬ 
nannten chronischen Metritis seinem Namen 
nicht entspricht und es sind bis jetzt die 
Definitionen stets an der Mannigfaltigkeit 
der Befunde und des Krankheitsbildes ge¬ 
scheitert. Bis jetzt rechnete man zur Me¬ 
tritis chronica nicht die echt entzündlichen 
Formen, sondern die profusen Blutungen 
bei Vergrößerung des Uterus. 

Pankow hat im ganzen 52 Uteri mit 
profusen Blutungen untersucht, das heißt 
die Uteri der Frauen, die das klinische Bild 
der idiopathischen chronischen Metritis dar¬ 
geboten haben. Seine Fragestellung, die 
logisch durchgeführt ist, ist folgende: 

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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Februar 


1. Ist die Ursache der Blutungen auf 
eine einheitliche anatomische Grundlage 
zurQckzufQhren? 

2. Liegt diese Ursache im Myometrium 
oder Endometrium? 

3. Entsprechen bestimmten anatomischen 
Veränderungen des Myometriums oder des 
Endometriums auch charakteristische klini¬ 
sche Symptome? 

4. Liegt die Ursache der klinischen Sym¬ 
ptome vielleicht in den Ovarien? 

5. Sind auch extragenitale Ursachen zu 
berücksichtigen? 

Die makroskopische Vergleichung der 
exstirpierten Uteri ergab, daß die Größen- 
und Konsistenzverhältnisse des Uterus bei 
Frauen, die geblutet haben, nicht abhängig 
voneinander sind und daß dasselbe klini¬ 
sche Bild sich auch bei dem diflerentesten 
Verhalten bezüglich Konsistenz und Große 
fand. 

Die Theorie Theilhabers von der Be¬ 
deutung des Bindegewebes zurückweisend, 
findet Pankow, daß weder ein gut ent¬ 
wickeltes Myometrium vor Blutungen schützt, 
noch daß eine sehr reichliche Bindegewebs¬ 
vermehrung unbedingt Blutungen zur Folge 
haben muß. In der Vermehrung des Binde¬ 
gewebes liegt also nichts Charakteristisches 
für die vergrößerten Uteri und die Diagnose 
„Metritis chronica“ läßt sich daraufhin nicht 
stellen. 

Auch in bezug auf die Gefäße hat der 
Vergleich der blutenden und nichtblutenden 
Uteri einen Unterschied nicht ergeben; auch 
vergrößerte, sogenannte metritische Uteri 
zeigten das gleiche Verhalten wie die nor¬ 
malgroßen Uteri. Also haben Gefäßver¬ 
änderungen für die chronische Metritis 
nichts Charakteristisches. Und das Gleiche 
gilt vom elastischen Gewebe des Uterus, 
auch hier ließen sich keine charakteristi 
sehen Unterschiede feststellen. 

Von vielen Untersuchern wurde das Endo¬ 
metrium als Ursache der Blutungen ange¬ 
schuldigt. In der Tat fand Pankow Ver¬ 
änderungen im Endometrium bei blutenden 
Frauen häufiger als bei nichtblutenden, 
Veränderungen, von denen er aber zeigen 
konnte, daß sie mit einer vorausgegangenen 
Entzündung nichts zu tun haben und die 
er als Hyperplasia mucosae bezeichnet. 
Trotzdem besteht ein ursächlicher Zu¬ 
sammenhang mit den Menorrhagien nicht, 
es sind zufällige Begleiterscheinungen oder 
Folgen der profusen Blutung. Sehr bald 
nach einer Abrasio können die Blutungen 
wieder einsetzen, obwohl die Schleimhaut 
sich noch gar nicht regeneriert haben kann, 


und die Totalexstirpation zeigt dann, daß 
eine Mukosa fehlt. Bei blutenden Frauen 
finden sich diese Veränderungen, die Hyper¬ 
plasie, in gleicherweise in den vergrößerten 
wie in den nichtvergrößerten Uteri und 
stellen somit nichts für die sogenannte Me¬ 
tritis chronica Charakterisches dar. 

Aus diesen Tatsachen schließt Pankow, 
daß es eine idiopathische Metritis chronica 
in dem Sinne, daß die Vergrößerung des 
Uterus allein auch mit bestimmten klinischen 
Krankheitserscheinungen einhergehe, über¬ 
haupt nicht gebe. 

Auch in anatomischen Veränderungen 
der Ovarien ist die Ursache nicht zu suchen, 
wohl aber könnten gewisse Beobachtungen 
dafür sprechen, daß eine funktionelle Störung 
der Ovarialtätigkeit ursächlich sei. Wir 
finden die profusen Blutungen gerade in 
der Pubertät und im Klimakterium, das 
heißt zu einer Zeit, wo die Tätigkeit der 
Ovarien beginnt und auf hört. Vielleicht 
kommt sogar nicht nur die sekretorische 
Tätigkeit der Ovarien allein in Frage, son¬ 
dern auch Störungen des physiologischen 
Gleichgewichts der verschiedenen blut¬ 
drucksteigernden und blutdruckherabsetzen- 
den innersekretorischen Drüsen. Mit dieser 
Theorie wären auch die Widersprüche er¬ 
klärt, warum bei chlorotischen Mädchen 
bald Amenorrhoe, normale Menstruation, 
bald profuse Blutung vorhanden ist. 

Als ein Beweis für die Blutungen infolge 
Störungen der vasomotorischen Regulierung 
zieht Pankow auch die Blutungen aus 
psychogener Ursache herbei, wie sie bei 
hysterischen und neurasthenischen Frauen 
beobachtet wird; vielleicht liegt hier eine 
gesteigerte Erregbarkeit der vasomotori¬ 
schen Zentren vor. 

Für möglich hält es Pankow, daß die 
Gesamtheitder geschilderten Veränderungen 
im Uterus imstande sei, den Ablauf einer 
durch andere Einflüsse verursachten Blutung 
zu steigern. 

Aschoff hat vorgeschlagen, den Namen 
Metritis chronica nur für die Fälle zu be¬ 
halten, in denen eine voraufgegangene Ent¬ 
zündung nachweisbar ist, im übrigen aber 
für das Leiden den Ausdruck Metropathia 
chronica respektive, weil die Blutung das 
hervorstechendste Symptom ist, Metropathia 
haemorrhagica anzunehmen. Pankow emp¬ 
fiehlt zur weiteren Spezialisierung ein cha¬ 
rakterisierendes Beiwort wie Metropathia 
haemorrhagica senilis, juvenilis. 

Die Arbeit, deren Wert durch gute Ab¬ 
bildungen erhöht wird, ist auch in den 
Einzelheiten der Ausführung wertvoll und 
kann besonders denjenigen Gynäkologen 


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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


empfohlen werden, die bei der Diagnose 
Blutung bereits an die Curette denken. 

P. Meyer. 

(Ztschr. f. Geb. u. Gyn., Bd. 65, H. 2.) 

Eine neue Methode der Nephropexie 
hat Lenk in 3 Fflllen erproben können, 
Ober deren Dauerresultate er allerdings 
noch nichts Endgültiges mitteilen kann. Er 
benutzt als Aufhängeband der Niere den 
Muse, psoas niinor beziehungsweise eine 
ihm entsprechende, leicht auffindbare und 
zu isolierende Sehne. Nachdem durch einen 
Schrägschnitt die Muskulatur und Fascia 
abdominalis gespalten und das Peritoneum 
medianwärts abgeschoben ist, kann man 
sich leicht von dem Vorhandensein des 
Psoas minor überzeugen. Die Sehne wird 
nun mittels einer stumpfen Unterbindungs 
nadel isoliert, möglichst tief unten quer 
durchschnitten und mit einer Klemme fixiert. 
Die Niere wird dann reponiert und in die 
schon vor der Operation als richtig fest¬ 
gestellte Lage gebracht, die Fettkapsel auf 
3—4 cm weit längs gespalten. An den 
Enden dieses Schnittes durchtrennen zwei 
kleine Querschnitte die Capsula propria 
der Hinterwand des unteren Nierenpols. 
Zwischen diesen Querschnitten wird die 
Kapsel unterminiert, durch den Kanal die 
freigemachte Sehne hindurchgezogen, das 
freie Sehnenende um die 12. Rippe herum¬ 
geschlagen, die Schlinge in sich und mit 
dem Periost der Rippe fest vernäht. Durch 
feine Nähte wird dann die Capsula propria 
mit der Sehne an ihrer Berührungsstelle 
vereinigt; weiter folgt die Naht des Fett¬ 
kapselschnittes, bei der auch die Sehne 
roitgefaßt wird. Um eine Pendelbewegung 
der Niere nach vorn oder hinten zu ver¬ 
hüten, wird möglichst hoch oben die Fett¬ 
kapsel mit der seitlichen Rumpfwand ver¬ 
näht. Ein allzuscharfes Anspannen der 
Sehne ist zu vermeiden. Ein Atrophieren 
der Sehne ist nicht zu befürchten, da ihr 
proximales Ende in der natürlichen Ver¬ 
bindung bleibt. Der Haut- und Muskel¬ 
schnitt kann ganz geschlossen werden. 
Die Nephropexie läßt sich nach dieser 
Methode mit größter Schonung der Niere 
ausführen; die intakte Belassung der Niere 
in ihrer Fettkapsel hält Lenk für äußerst 
wichtig. Hohmeier (Altona). 

(Deutsche Ztschr. f. Chir. Bd. 102, H. 1—3.) 

C. Widmer berichtet über die narben¬ 
lose Heilung eines Hautkrebses durch 
viermal V 2 stündige Sonnenbestrahlung. 
Zur Konzentrierung des Sonnenlichtes be¬ 
diente er sich Reflektoren von Trichter¬ 
form. Er erwähnt, daß das Sonnenlicht 


viel öfter zur Verfügung steht, als man ge¬ 
wöhnlich annimmt Sehr richtig bezieht er 
die Wirkung nicht nur auf die Lichtstrahlen, 
sondern weist auch den Wärmestrahlen ihren 
guten Anteil zu. „Die Quellen kurzwelligen 
ultravioletten Lichtes haben vorzugsweise 
nur destruktiven Charakter, das Sonnen¬ 
licht hat neben diesen destruktiven Strahlen 
eine Mehrzahl mit exquisit produktiven und 
restitutivem Charakter* (cf. Referat 1907, 
S. 423). Hau ff e (Ebenhausen). 

(Manch, rned. Wochschr. 1908, Nr. 39.) 

Bab berichtet über einen Vorschlag zur 
medikamentösen Therapie der infan- 
tilistischen Sterilität; es leitet ihn dabei 
der Wunsch, ein Mittel in die Hand zu 
bekommen, welches sich weniger gegen den 
Infantilismus bei Uterus, als gegen den der 
Ovarien wendet. Die Wirkung des Oophorins 
ist zweifellos zuerst als eine lokale, d. h. 
auf das Ovarium lokalisierte zu erkennen. 
Die Möglichkeit, die Menstruation hervor¬ 
zurufen, spricht für eine Verbesserung, 
nicht für eine Verschlechterung des folli¬ 
kulären Apparates, wie auf Grund von Tier¬ 
versuchen Bucura annahm. Ist dieMenstru- 
ation allerdings normal, dann ist Oophorin 
kontraindiziert. Ebenso wichtig ist die 
Allgemeinbeeinflussung des Stoffwechsels 
durch das Oophorin, welches die noch 
mangelhafte innere Sekretion der ungenü¬ 
gend funktionierenden Ovarien ersetzt und 
den Stoffwechsel in normale Bahn lenkt 

Um die Blutversorgung der ganzen Geni¬ 
tale zu bessern und damit einen Wachs¬ 
tums- und Funktionsreiz auszulösen, er¬ 
gänzt Bab die Oophorindarreichung durch 
Yohimbinum hydrochloricum Spiegel, be¬ 
sonders wenn die infantilistische Sterilität 
auf einer leichten Hypoplasie und funk¬ 
tioneilen Schwäche der Genitalien beruht. 
Dazu kommt gerade durch das Yohimbin 
eine Beseitigung der Frigidität und dadurch 
eine vermehrte Konzeptionsmöglichkeit 
Die Oophorin-YohimbinWirkung ergänzt 
Bab weiter durch das Lezithin. Für Er¬ 
zeugung und Entwicklung einer Frucht muß 
eine umfangreiche Lezithinproduktion ein- 
setzen und außerdem ist Lezithin als Nerven- 
tonikum wirksam. 

Bab empfiehlt also bei geeigneten Fällen 
infantilistischer Sterilität eine kombinierte 
Oophorin-Yohimbin-Lezithinmedikation; zu 
diesem Zweck hat er durch die Firma 
Freund und Redlich Tabletten von folgender 
Zusammensetzung herstellen lassen: 
Oophorin (Landau) . . 0,5 
Yohimbin, hydrochl. . 0,0005 
Lezithin . 0,025 

Mftabl. D. tal. Dos. Nr. 12 pro die. 

12 * 


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Februar 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Jede Packung ist für 10 Kurtage be¬ 
rechnet. Eine reine Oophorinkur ist der 
kombinierten Kur vorauszuschicken; dabei 
darf eine Verschlechterung der Menstruation 
nicht eintreten. 

Ueber Versuche oder irgendeinen Er¬ 
folg berichtet Bab nichts, es ist auch nicht 
zu ersehen, ob Versuche angestellt sind 
oder ob seine Vorschläge nur einer theo¬ 
retischen Ueberlegung entspringen. Immer¬ 
hin dürfte — das nil nocere vorausgesetzt — 
eine medikamentöse Behandlung der Steri¬ 
lität für viele Praktiker eine Bereicherung 
bedeuten. * P. Meyer. 

(Zentralbl. f. Gyn., 1909. Nr. 45). 

Die Vitiligo war bis vor kurzem der 
Behandlung völlig unzugänglich. Buschke 
ist es zuerst gelungen, mittels der Quarz¬ 
lampe Pigment in vitiliginösem Gebiet zu 
erzeugen, das sich mehrere Monate hielt 
und dann allerdings wieder verschwand. 
Referent hatte selbst Gelegenheit, weitere 
Fälle in dieser Weise zu behandeln und 
fand dabei seine zuerst gemachten Beob¬ 
achtungen bestätigt. Angeregt durch die 
Mitteilung des Referenten hat Stein an 


der Jadassohnschen Klinik die Versuche 
nachgeptüft und hat im wesentlichen die 
Angaben Buschkes als richtig befunden; 
in der Deutung der histologischen Befunde 
ist seine Anschauung eine etwas abwei¬ 
chende. Er hat nun diese Versuchsergeb¬ 
nisse noch dahin erweitert, daß es auch 
durch thermische Irritationen (Kohlensäure- 
Scbneebehandlung)gelingt, Pigment in vitili¬ 
ginösem Gebiet zu erzeugen. Buschke 
hat diese Versuche nachgeprüft und kann 
sie bestätigen. Allein es ergab sich, daß hier¬ 
bei nicht so regelmäßig wie mit der Quarz¬ 
lampe Pigment zu erzielen ist. (Schon bei 
seinem ersten Versuche sah Buschke, daß 
das Finsenlicht hier wirkungslos ist; das hat 
sich auch bei weiteren Versuchen ergeben.) 
Leider verschwindet das künstlich erzeugte 
Pigment wieder. Ob vielleicht durch häufig 
ausgeführte Bestrahlungen eine bleibende 
Heilung der kosmetisch gelegentlich doch 
recht störenden Vitiligo zu erzielen ist, 
muß weiteren Versuchen überlassen blei¬ 
ben. Zunächst bietet das Verfahren immer¬ 
hin theoretisch dermatologisches Interesse. 

Buschke (Berlin). 

(A. f. Dermat. u. Syph. Bd. 97, H. 2 u. 3). 


Therapeutischer Meinungsaustausch. 

Ueber Jodomenin bei Arteriosklerose. 

Von Dr. E. Qumpert-Berün. 


Durch die Arbeiten von Otfried Müller 
und R. Inada 1 ) ist Licht geworfen auf die 
Wirkung, die dem Jod im Organismus zu¬ 
kommt. Die Annahme Huchards, daß die 
Jodsalze die kleinen Gefäße erweitern, da¬ 
durch die Durchblutung der einzelnen 
Organe begünstigen und so das mit der 
erhöhten Gefäßspannung Hand in Hand 
gehende Fortschreiten der Arteriosklerose 
hemmen, ließ sich, wie Boehra und Berg 2 ) 
und später Stockman und Charteris 8 ) 
zeigten, experimentell nicht bestätigen. Die 
ganze Anschauungsweise aber erwies sich 
als unrichtig und unhaltbar, als Hasen- 
feld 4 ) und C. Hirsch 5 ) anatomisch und 
Sawada 6 ) klinisch fanden, daß bei der 
Mehrzahl der Fälle von Arteriosklerose 
weder Hypertension im arteriellen Gebiete 
noch dauernd erhöhter Arteriendruck über¬ 
haupt vorhanden sind, wenn nicht gleich¬ 
zeitig Nierenerkrankungen das Krankheits¬ 
bild beeinflussen. Romberg sprach im 
Jahre 1904 zuerst die Ansicht aus, daß die 
Jodsalze vermutlich eher einen Einfluß auf 
i) Deutsche med. Wschr. 1904, H. 48, S 1751. 
2 j A. f. Phar. u. exp. Path. Bd. 5. 

Brit. med. J. 1901 (23. NovJ. 

4 ) D. A. f. kl. Med. Bd. 57, S. 193. 

Ebenda Bd. 68, S. 56. 

6 ) Deutsche med. Wschr. 1902, Nr. 12. 


die Beschaffenheit des Blutes, als auf die 
Gefäße selbst ausübten und Otfried 
Müller und R. Inada (loc. cit.) konnten 
diese Annahme bestätigen, indem sie nach¬ 
wiesen, daß die Viskosität des Blutes durch 
Jodgebrauch abnimmt, daß das Blut also 
flüssiger wird, ohne nennenswerte wäßrige 
Verdünnung zu erleiden. Im gleichen Ver¬ 
hältnis zur Abnahme der Viskosität steigt 
dann nach der Poiseuillesehen Formel 
die Stromgeschwindigkeit des Blutes. 

Unter allen Jodverbindungen, welche 
für die Medikation von Jod in Frage 
kommen, sind die Jodalkalien (Jodkalium 
und Jodnatrium) zweifellos die geeignetsten, 
weil das Jod im Blutkreislauf in Form von 
Jodalkali zirkuliert, somit bei Darreichung 
von Jodalkali eine weitere Assimilation des 
Jods im Organismus nicht mehr erforder¬ 
lich ist. Nun ist aber jedem Arzt bekannt, 
daß Jodkalium und Jodnatrium, besonders 
bei fortgesetztem Gebrauch, wie dies bei 
arteriosklerotischen Erkrankungen unbe¬ 
dingt erforderlich ist, sehr unliebsame 
Nebenwirkungen hervorrufen können, als 
da sind; Koryza, Konjunktivitis, schwere 
gastrische Erscheinungen u. a. m. Es ist 
deshalb das Bestreben der Aerzte und 
Chemiker gewesen, die Jodalkalien durch 


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Februar 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


93 


Präparate mit organisch gebundenem Jod 
zu ersetzen. Unter die Zahl dieser Mittel 
zählt das Jodomen in, auf welches ich 
schon früher 1 ) aufmerksam gemacht habe 
und welches ich nun speziell auf seine 
Anwendbarkeit bei Arteriosklerose geprüft 
habe, wo ja bekanntlich Jod sehr lange an¬ 
gewandt werden muß. 

Jodomenin ist eine Verbindung von Jod¬ 
wismut und Eiweiß, welche die charakte¬ 
ristische Eigenschaft besitzt, durch verdünnte 
Sauren und saure Agentien nicht angegriffen 
von Alkalien und alkalischen Flüssigkeiten 
aber glatt in Jodalkali und Wismuteiweiß 
zerlegt zu werden. 

Jodomenin wird im Einklang mit seinem 
chemischen Verhalten auch vom Magensafte | 
nicht angegriffen, belästigt also den Magen j 
in keiner Weise, sondern wird erst bei | 
fortschreitender Verdauung im Darm, be- ; 
sonders durch den Einfluß des alkalischen | 
Darmsaftes unter Abgabe von Jodalkali ge- ! 
spalten. Das sich gleichzeitig bildende ! 
Wismuteiweiß verhält sich indifferent und 
beeinflußt den Darm in keiner Weise; das i 
Jodoroenin ist daher der sicherste Ersatz | 
für alle Jodalkalien bei sämtlichen für Jod- j 
medikation in Betracht kommenden Fällen. 
Als erwünschte Beigabe ist besonders noch 
der gute Geschmack des Präparates zu er¬ 
wähnen. 

Es lag mir nun daran, die Wirkung des 
Jodomenins, dessen theoretische Grundlage 
ja im Vorangehenden erörtert worden ist, 
an einem größeren Material eingehend zu 
prüfen. 

Es kamen im ganzen 35 Fälle von 
Arteriosklerose in Betracht, welche von mir 
längere Zeit beobachtet worden sind; ich 
bemerke ausdrücklich, daß solche Patienten, 
bei denen die Beobachtungsdauer weniger 
als zwei Monate betrug, für meine Statistik 
nicht in Betracht kamen, da dieser Zeit¬ 
raum wohl als das Minimum der Beobach¬ 
tungszeit einer Jodwirkung bei Arterio¬ 
sklerose anzusehen ist. Man kann die be¬ 
obachteten Fälle in doppelter Hinsicht 
gruppieren: 

A) I. Fälle, bei denen Jodomenin als | 
einzige Jodtherapie angewendet 

wurde.27 

II. Fälle, bei denen vorher andere 
Jodpräparate (Jodalkalien, be¬ 
ziehungsweise andere Jodver¬ 
bindungen als Ersatzmittel 
dafür) angewendet wurden und 
Jodismus erzeugten .... 8 

35 

*) Ueber Jodomenin. A. Busc h und E. G u m per t, 
Thcr. d. Gegenwart 1908, H. -1. 


B) Eine andere Gruppierung richtet sich 
nach der Aetiologie der Arterioskle¬ 
rose, und zwar kommen hier in 
Betracht: 

I. Fälle von verschiedener Ursache 
(körperliche und geistige Ueber- 
anstrengung, Stoffwechselerkran¬ 
kungen, Alkoholismus und Tabak¬ 
mißbrauch usw.).32 

IL Fälle von Arteriosklerose nach 

Lues.3 

"35 

Betrachtet man die Beobachtungen von 
dem Gesichtspunkt der Jodwirkung bzw. 
-Nebenwirkung, so zeigt sich, daß in allen 
Fällen die Durchschnittsdosen von 3 bis 
6 Tabletten pro die dauernd gut vertragen 
wurden; nur in einem einzigen Falle von 
Arteriosklerose bei einer 60jährigen Pa¬ 
tientin, die bereits früher dauernd an 
Magenstörungen gelitten hatte, stellte sich 
nach vierwöchigem Gebrauch von Jodomenin 
ein leichter Schnupfen ein. Nachdem das 
Jodomenin aber 14 Tage dann ausgesetzt 
wurde, wurde es in der Menge von 2 mal 
täglich 1 Tablette anstandslos dauernd gut 
vertragen. Abgesehen von diesem Fall, der 
wohl nicht als eigentlicher Jodismus zu 
deuten ist, ist das Jodomenin stets gut ver¬ 
tragen worden; ja in einem Falle (Arterio¬ 
sklerose nach Lues bei einem 42 jährigen 
Maurer) wurden 8 Wochen hindurch an- 
j fänglich 6, dann 9 und späterhin 12 Tabletten 
I pro Tag ohne die geringsten Nebenerschei- 
I nungen vertragen. Mit diesen Resultaten 
| stimmen die Beobachtungen von Fried- 
i mann 1 ) und Cassel 2 ) durchaus überein. 

' Ersterer hat bei einer großen Reihe von 
Patienten, denen er Jodomenin in großen 
Dosen gab, niemals einen Fall von Jodis¬ 
mus bemerkt, Cassel hat sogar Kindern 
bis 200 Tabletten, ohne das Mittel auszu¬ 
setzen, verabreicht. Gerade die Beobach¬ 
tungen an Kindern scheinen mir von großer 
i Wichtigkeit für die Beurteilung der Neben- 
i Wirkung eines Medikaments zu sein, da ja 
die große und leichte Reaktionsfähigkeit 
des kindlichen Organismus zweifellosNeben- 
wirkungen — also Jodismus in diesem Falle 
— am ehesten zeitigen würde. 

Was die Wirkung des Jodomenins bei 
den einzelnen Formen der Arteriosklerose 
(in ätiologischer Hinsicht) betrifft, so ist 
kein wesentlicher Unterschied in der Art 
der Beeinflussung feststellbar gewesen. Er¬ 
wähnt sei nur, daß in allen Fällen, mit 
einer Ausnahme, eine Besserung erzielt 
wurde, die sich nicht nur in der Ab- 

1 ) Friedmann. Bcr). klin. Woch. 1909. Nr. 11 

2 ) Cassel, Ther. d. Gegenwart 1908, Nr. 7. 


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94 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Februar 


nähme der subjektiven Beschwerden zeigte 
— das könnte ja unter Umständen viel¬ 
leicht auf Suggestion bzw. Autosuggestion 
beruhen —, sondern auch objektiv z. B. aus 
dem Befunde des Herzens, der Herztätig¬ 
keit, dem Blutdruck usw. festzustellen war. 
Es hat nur in einem Falle von Kompensations¬ 
störungen des Herzens ganz versagt. 

Es war schon von anderer Seite (Fried¬ 
mann) betont worden, dafi mit Jod in Form 
von Jodomenin in erheblich geringeren 
Dosen (bezogen auf Jodkalium) dieselben 
Resultate erzielt wurden, wie mit größeren 
Jodkali- und Jodnatriumgaben. Am besten 
zeigte sich das u. a. bei einem meiner Fälle 
von Arteriosklerose nach Lues, in dem sich 
ein gleichzeitig bestehendes Gumma am 
rechten Unterschenkel von zirka Dreimark- 
stQck-Größe ohne sonstige Therapie nach 
dreimal täglich 2 Tabletten Jodomenin 
schloß. Ferner ist ein Fall von Arterio¬ 


sklerose nach Lues noch von Interesse, in 
welchem die vorher schwach positive 
Wassermannsche Reaktion nach drei¬ 
monatlichem Gebrauch von 3 mal 1, dann 
3 mal 2 Tabletten Jodomenin negativ wurde. 
Natürlich können aus diesem einen Falle 
keine Schlüsse gezogen werden, zweifellos 
verdient er aber Beachtung. 

Was die Darreichung des Jodomenins 
anbetrifft, so muß es jedenfalls längere Zeit 
genommen werden, soll es seine volle Wir¬ 
kung entfalten. Man macht, wie esHuchard 
bei der Jodmedikation empfiehlt und wie ich 
es fast immer gemacht habe, in jedem Monat 
eine 8—14 tägige Pause, oder man setzt 
nach mehreren Wochen das Mittel für 
längere Zeit aus. Auch nachdem es 
während eines Zeitraumes von 1—2 Jahren 
gegeben worden ist, sollte man es mit an¬ 
gemessenen Unterbrechungen noch weiter 
darreichen. 


Veronalnatrium bei Seekrankheit. 


Von Dr. Galler, Schiffsarzt 

Bei der beträchtlichen Anzahl von ver¬ 
schiedenen Theorien, welche die Ent¬ 
stehungsursache der Seekrankheit erklären 
sollen, kann es nicht wundernehmen, daß 
auch mannigfache Methoden zu ihrer Be¬ 
handlung vorgeschlagen worden sind. 

Die neueste Theorie hat ziemlich viel 
Wahrscheinlichkeit für sich, nach der näm¬ 
lich die Seekrankheit im wesentlichen als 
eine Folge von Reizungen angesehen wird, 
welche die ungewohnten Schifisbewegungen 
auf das Gleichgewichtsorgan (Labyrinth) 
ausüben. Damit finden auch die von 
seiten des Nervensystems und des Ver¬ 
dauungstraktes hauptsächlich auftretenden 
Symptome am besten eine Erklärung; 
andererseits ist es einleuchtend, daß alle 
bisher angewandten Behandlungsmethoden, 
auch die medikamentösen, verhältnismäßig 
wenig erfolgreich waren. Solange es 
nicht möglich ist, auf technischem Wege 
die rein physikalische Wirkung der Schifis¬ 
bewegungen auf den Körper zu paraly¬ 
sieren, werden wir bei Behandlung der 
Seekrankheit immer auf symptomatische 
Hilfsmittel beschränkt bleiben. Diese sind 
der Hauptsache nach Ruhe, entsprechende 
Lagerung (Verschiedenheit derselben bei 
Anämie oder kongestiver Hyperämie des 
Gehirns), vorsichtige Nahrungszufuhr (wenig 
Flüssigkeit), psychische Beeinflussung und 
Darreichung von Beruhigungsmitteln. 

Was die letzteren anbetrifft, so er¬ 
freuen sich, abgesehen von den vielen 
Produkten, die namentlich von der fremd¬ 
ländischen Industrie in Spezialpackung zu 


der Hamburg-Ämerika-Linie. 

übermäßig hohen Preisen auf den Markt 
geworfen werden und deren Wert meist 
ein äußerst fragwürdiger ist, zumal fast 
immer die Zusammensetzung dieser Prä¬ 
parate nicht angegeben wird, unsere Bal¬ 
drian- und Brompräparate ziemlicher Be¬ 
liebtheit. Bei ganz schweren Fällen 
(Gravidität) ist man oft sogar gezwungen, 
zum Morphin zu greifen. 

In neuerer Zeit findet auch das Veronal 
ausgedehnte Verwendung, über das sich 
Schepelmann 1 ) mit zur Nachprüfung er¬ 
munternden Ergebnissen äußerte. 

Auch ich habe dieses Präparat längere 
Zeit mit guten Erfolgen angewandt. Noch 
vorteilhafter als dieses erscheint mir je¬ 
doch nach meinen Erfahrungen des 
letzten halben Jahres seine Natrium¬ 
verbindung, das Veronalnatrium. Die be¬ 
deutend leichtere Löslichkeit desselben in 
Wasser (1 :5 gegen 1 :145) und die damit 
zusammenhängende schnellere Resorbier- 
und Wirksamkeit sind Eigenschalten, die 
besonders in den Fällen von größtem Wert 
sind, wo infolge ständigen Brechreizes, 
des häufigsten und unangenehmsten 
Symptomes der Seekrankheit, alles in den 
Magen eingeführte sofort wieder erbrochen 
zu werden droht. 

Da ja Zufuhr größerer Flüssigkeits¬ 
mengen an und für sich schon das Er¬ 
brechen begünstigt, ist die Möglichkeit, 
das Veronalnatrium mit außerordentlich 
wenig Flüssigkeit zu verabfolgen, sicher 

l ) Therapeut Monatsh. 1907, Nr. 8. 


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Februar 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


95 


ein nicht zu unterschätzender Vorteil. 
Dazu kommt noch, daß mit dem prompteren 
Eintritt der Wirkung diese Gefahr noch 
weiter erheblich herabgesetzt wird. 

Meine Anwendungsweise des Mittels 
war im allgemeinen die, daß ich bei 
länger dauerndem schweren Wetter inner¬ 
halb 24 Stunden 2 mal je 0,5 g in mög¬ 
lichst wenig Wasser selbst darreichte. 
Gelingt es dem Patienten, das Präparat 
zirka 10 Minuten bei sich zu behalten, 
was mit wenigen Ausnahmen stets der 
Fall ist, so darf man sicher sein, daß er 
für die nächsten 10—12 Stunden Ruhe hat. 
In leichten Fällen genügt eine einmalige 
Anwendung am besten abends und zwar 
nach dem Zubettgehen. 

Veronalnatriumkann in Form von Pulvern 
oder Tabletten verabreicht werden. Die 


letzteren sind für den Schiffsgebrauch be¬ 
sonders praktisch und handlich; sie werden 
zweckmäßig vor dem Wasserzusatz etwas 
zerdrückt, was die Auflösung noch be¬ 
schleunigt. 

Wenn nach meinen Erfahrungen auch 
selbstverständlich zugegeben werden muß, 
daß man mit Veronalnatrium wie mit 
irgend einem anderen Arzneimittel den 
Eintritt der Seekrankheit nicht immer 
verhüten oder die schweren Erscheinungen 
absolut beseitigen kann, so ist es doch 
zweifellos, daß gerade Veronalnatrium 
relativ in den häufigsten Fällen den 
Seekranken eine bedeutende Erleichterung 
von allen Beschwerden bringt und somit 
verdient, unter den Arzneimitteln zur Be¬ 
kämpfung der Seekrankheit an erster Stelle 
! empfohlen zu werden. 


Ueber die Anwendung des Alsols bei Haut- und Geschlechtsleiden. 

Von Dr. M. Lewitt- Berlin. 


In der Wundbehandlung hat sich das 
Interesse in neuerer Zeit wieder den vor¬ 
übergehend in Vergessenheit geratenen 
Tonerdepräparaten zugewandt und unter 
diesen war das von Athenstaedt darge¬ 
stellte Doppelsalz von essigsaurer und 
weinsaurer Tonerde berufen, eine nicht zu 
unterschätzende Rolle als ungiftiges Anti¬ 
septikum zu spielen. 

Die therapeutische Anwendung des Al¬ 
sols ist in der Literatur durch eine große 
Zahl von Veröffentlichungen behandelt wor¬ 
den. Noch spärlich sind die Berichte über 
die Erfolge des Alsols in der dermato¬ 
logischen Praxis, sodaß ich mich in 
folgenden Zeilen veranlaßt sehe, auf die 
vielseitige Verwendbarkeit des Mittels hin¬ 
zuweisen, zum Teil auf Grund meiner Er¬ 
fahrungen, die ich früher als Abteilungsarzt 
am Ostkrankenhause (dirigierende Aerzte: 
Prof. Dr. Kromayer, Dr. v. Chrismar) I 
zu machen Gelegenheit hatte. 

Die Arzneiform, welche den Dermato¬ 
logen am meisten interessiert, ist Alsol- 
Creme. Unter diesem Namen wird das 
Alsol in Form einer Salbenzubereitung in 
den Handel gebracht. Wegen seiner Leicht¬ 
löslichkeit eignet sich Alsol zur Inkorpo¬ 
rierung in Salben sehr gut. Alsol* Creme 
enthält V2°/o Alsol in wässeriger Lösung, 
und diese Lösung ist aufs feinste mit den 
fettigen Bestandteilen der Creme emulgiert, 
so daß die antiseptische Wirkung des Al¬ 
sols voll und ganz zur Geltung kommt. 

Alsol-Creme ist eine kühlende, milde, 
absolut ungiftige und reizlose Wundsalbe, 
welche vermöge ihrer Zusammensetzung 
nicht ranzig wird und auch bei längerer 


Aufbewahrung ihre Wirkung nicht verliert. 
Sie ist leicht von der Haut zu entfernen 
und beschmutzt die Wäsche nicht. Da sie 
ein angenehm kühlendes Gefühl verursacht, 
ist sie bei zahlreichen mit Juckreiz ein¬ 
hergehenden Hautaffektionen indiziert Und 
so sieht man in der Tat, daß der Juckreiz 
verschwindet und bei Intertrigo, nässender 
Dermatitis und akuten Ekzemen die lästigen 
subjektiven Beschwerden, wie Brennen und 
Schmerzen, erheblich nachlassen, während 
bei der Behandlung mit Zink- oder Bor¬ 
salben der Zustand sich eher verschlimmert 
hatte. Allem Anschein nach wurde auch 
die Dauer der Behandlung erheblich ab¬ 
gekürzt. 

Ein weiteres Gebiet für die Anwendung 
in Salbenform wäre die Behandlung der 
Akne vulgaris. Nachdem die Pusteln er¬ 
öffnet worden, ließ ich Alsol-Creme auftra¬ 
gen. Weder vermehrte Knotenbildung noch 
Reizung wurde beobachtet, wie dies zu¬ 
weilen nach Salbenapplikation vorkommt, 
da nicht alle Aknekranken Fett gut ver¬ 
tragen. Günstige Erfolge erzielt man auch 
bei den verschiedenartigsten Dermatitiden. 
OberflächlicheHautentzündungen besonders 
nach Reizung durch Salben sind für die 
Behandlung mit Alsol-Creme sehr geeignet. 
Nur bei Individuen, die Salben und Pasten 
nicht vertragen, verwende man „ Alsol- 
puder", der in handlichen Blechdosen 
mit Streudeckeln im Handel ist und infolge 
des Gehalts an Talkum die Haut weich 
und geschmeidig macht. 

Bei Erythema exsudativum multi- 
forme wurde Alsol-Creme zur äußeren 
Applikation vielfach benutzt. 


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Februar 


96 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Um die Umgebung der Furunkel gegen 
Infektion zu schützen, ist gleichfalls Alsol- 
Creme ein sehr geeignetes Mittel, indem es 
der Desinfektion der Hautoberfläche Rech¬ 
nung trägt. 

Bei Hyperhydrosis der Hände und 
Füße genügen oft zur lokalen Behandlung 
in leichteren Fällen Fußbäder und Waschun¬ 
gen mit Liquor Alsoli und dann werden 
statt der alten Hebraschen Salbe mit Also!- 
Creme bestrichene Wattebäusche zwischen 
die Zehen eingelegt und täglich mehrmals 
erneuert. Doch verdient der Alsolpuder 
gleichfalls eine ausgedehntere Anwendung 
bei der Behandlung des Fußschweißes. 

Bei Impetigo contagiosa, nachdem 
man die Krusten entfernt hat, bewies sich 
Alsol-Creme als ein wertvolles Heilmittel, 
das den Präzipitatsalben an Wirkung keines¬ 
wegs nachstand. 

Bei Intertrigo, auch der Säuglinge, 
empfiehlt es sich zunächst durch Alsolpuder 
die Hautentzündung mit ihren lästigen Er¬ 
scheinungen zu lindern. Bei sehr schmerz¬ 
haften Rhagaden ist die Salbenform (Alsol- 
Creme) am Platze. 

Bei Verbrennungen leichteren Grades 
wirkte Alsol-Creme sehr angenehm kühlend 
und schmerzlindernd, die Reizerscheinungen 
ließen bald nach, auch wurden überraschend 
schnelle Heilerfolge erzielt. Ich gebe hier 
unbedingt der Salbenbehandlung den Vor¬ 
zug vor den Trockenverbänden. Erwähnt 
sei jedoch, daß Blaschko (Taschenbuch 
für Haut- und Geschlechtsleiden 1908) zur 
Behandlung von Brandwunden auch Um¬ 
schläge mit 2°/ 0 iger Alsollösung empfiehlt. 

Bei Unterschenkelgeschwüren sieht 
man zuweilen gute Resultate, indem die 
Sekretion eingeschränkt wird und gesunde 
Granulationsbildung rasch erfolgt. 

Von Fritsch 1 ) bereits wurde das Alsol 
zu Scheidenspülungen bei Pessarbehand¬ 
lung und zur Nachbehandlung bei akuter 
Gonorrhoe der Frauen verordnet. Daß 
an der desinfizierenden Wirkung des Alsols 
und besonders seiner bakteriziden Wirkung 
auf den Gonokokkus nicht zu zweifeln, be¬ 
weisen die Versuche von Aufrecht (Deut- 


*) Fritsch, Die Krankheiten der Frauen, Berlin, 
8. Aufl , und Volkmanns Sammlung klinischer Vor¬ 
träge, Leipzig 1899, H. 235. 


I sehe Aerztezeitung 1900, H. 4). Es genügten 
i schon 0,2% ige Alsollösungen, um Gono¬ 
kokken in einer Minute abzutöten. Ein Vor¬ 
zug des Alsols ist ferner, daß es die 
I Schleimhaut nicht reizt; das Epithel der 
Scheide ist gegen Alsol ganz unempfind- 
; lieh. Auch fleckt es keine Wäsche, es 
riecht nicht und greift Gummischläuche 
nicht an. Im Ostkrankenhaus hat es bei 
akuter Gonorrhoe sich uns bestens be¬ 
währt; meist benutzten wir zu Spülungen 
1 Eßlöffel des 50%igen Liquor Alsoli auf 
1 Liter lauwarmen Wassers. Alsdann wur¬ 
den Tampons eingelegt, die in 1 o/ 0 jger 
i Lösung getränkt, mehrere Stunden, oft auch 
bis zum nächsten Tage liegen blieben, oder 
die Wattetampons wurden mit Alsol-Creme 
bestrichen, und später, als die Firma Athen- 
staedt & Redeker Alsol-Vaginalkapseln an- 
' fertigte, machten wir Versuche mit dieser 
Arzneiform, die uns außerordentlich befrie- 
: digten. Es werden salbenhakige und fett¬ 
freie Kapseln hergestellt, die statt der Tam¬ 
pons zweckmäßig jeden zweiten Tag im 
| Spiegel eingeführt werden. Welcher von 
| beiden Formen, der salben haltigen oder 
der fettfreien, der Vorzug gebührt, darüber 
I läßt sich noch kein endgültiges Urteil fällen; 
wir fordern daher zur sorgfältigen Nach¬ 
prüfung auf. 

In einfachen Fällen von Fluor albus 
(ohne Gonokokkenbefund) bewährten sich 
gleichfalls Ausspülungen mit V 2 %igen Alsol¬ 
lösungen und Kapselbehandlung. 

Bei dem durch gonorrhoischen Ausfluß 
1 erzeugten Ekzem der Vulva ist Alsol- 
Creme von nicht zu unterschätzendem Vor- 
: teil, indem die Salbe gleichzeitig das 
Ueberfließen der Sekrete verhindert und so 
| einer Mastdarmgonorrhoe vorbeugt. 

Schließlich sei noch erwähnt, daß Alsol 
! zur lokalen Behandlung bei syphilitischen 
| Schleimbauterkrankungen im Mund und 
j Rachen, ferner als Gurgelwasser bei Sto¬ 
matitis mercurialis, bei Stomatitis aph¬ 
thosa und skorbutischen Affektionen des 
Zahnfleisches, sowie als prophylaktisches 
Mundwasser bei Merkurialkuren angewendet 
werden kann. 

So lernte ich das Alsol als ein ganz 
| vorzügliches und empfehlenswertes Mittel 
bei zahlreichen Erkrankungen aus dem Ge¬ 
biete der Dermatologie kennen und schätzen. 


INHALT: Baginsky, Behandlung des Scharlach S. 49. — Baedeker, Sauerstoffbäder 
S. 54. — Löwinsky, Basedowsche Krankheft S. 60. — Mendel, Basedowsche Krankheit S. 61. — 
Froehlich. Epilepsie S. 70. — Ewald, Herzkrankheiten S. 74. — Gumpert, Jodomenin S. 92. — 
Gail er, Seekrankheit S. 94. — Lewitt, Alsol S. 95. — Vorträge über Infektion S. 79. — 
Bücherbesprechungen S. 84. — Referate S. 85. 


Für die Redaktion verantwortlich Prof. Dr. K 1 em p e r e r in B-rlin. - Verlag von Urban&Sch warzenberg in Wien u. Berlin. 
I)i uck von Julius S 1 1 t e n f r I d , I lofhuclidrucker., in Berlin W.8. 


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Die Therapie der Gegenwart 


1910 


herausgegeben von Prof. Dr. G. Klemperer 

in Berlin. 


März 


Nachdruck verboten. 


Aus der medizinischen Klinik der Universität Strassburg. 

(Direktor: Geh. Hed.-Rat Prof. Dr. Moritz). 

Zur therapeutischen Bewertung der diabetischen Azidose 

in der Praxis. 


Von Privatdozent Dr. L. Blum. 


Es ist eine heutzutage wohl allgemein 
anerkannte Tatsache, daß beim schweren 
Diabetes die Hauptgefahr fQr die Kranken 
in der sogenannten Azidose liegt, in dem 
Vorhandensein großer Säuremengen und 
in dem Unvermögen, sie zu verbrennen. 
Bei der für die Behandlung und Beurtei¬ 
lung des Diabetes so wichtigen Einteilung 
der Erkrankung in Formen verschiedener 
Schwere, ist es gerade das Bestehenbleiben, 
trotz sachgemäßer Behandlung, der die 
Azidose kennzeichnenden Eisenchloridreak- 
tion, das die schweren Fälle von den mittel¬ 
schweren und leichten unterscheidet. 

Für eine zweckmäßige Therapie des 
schweren Diabetes ist daher die richtige 
Einschätzung des Grades der Azidose eine 
notwendige Voraussetzung, ln einer vor 
kurzem erschienenen Abhandlung hat 
Lüthje 1 ) an der Hand von Krankenbeob¬ 
achtungen wiederum ausdrücklich auf diesen 
Punkt hingewiesen, und in einer fast gleich¬ 
zeitig erschienenen Mitteilung hat Geel- 
muyden 2 ) den gleichen Gegenstand be¬ 
handelt. Ueber diese Tatsache werden die 
Meinungen kaum geteilt sein, und der Vor¬ 
schlag Lüthjes, daß in allen Fällen von 
schwerem Diabetes die Stärke der Azidose 
genau festgelegt werden müsse, wird eben¬ 
falls die volle Zustimmung aller auf dem 
Gebiet des Diabetes bewanderten Aerzte 
erfahren. Nur wird man über die Axt, wie 
diese Bewertung in der Praxis erfolgen 
solle, wohl zu einer verschiedenen und, wie 
ich vorausschicken will, zu einer viel ein¬ 
facheren Auffassung kommen. 

Bekanntlich erfolgt in den Zuständen, 
die wir nach Naunyns Vorschlag als 
Azidose bezeichnen, eine Ausscheidung 
von ß Oxybuttersäure, Azetessigsäure und 
Azeton im Harn. Diese Körper stehen nach 
ihrer chemischen Konstitution in inniger 
Beziehung zueinander, auf die ich hier 
nicht eingehen möchte. Von diesen 3 Sub¬ 
stanzen lassen sich allein das Azeton und die 
Azetessigsäure im Harn durch Farbenreak¬ 
tionen nachweisen, während die Anwesenheit 

*) Ther. d. Gegenw. Januar 1910. 

9 ) Berl. klin. Woch. 17. Januar 1910. 


von Oxybuttersäure auf anderm Wege be¬ 
urteilt werden muß. 

Zur Schätzung der ausgeschiedenen 
Mengen von Azeton und Azetessigsäure 
haben sich nun die kolorimetrischen Ver¬ 
fahren auf Grund der Le gal sehen Nitro- 
prussidnatriümprobe und der Gerhardt- 
schen Eisenchloridreaktion als nicht brauch¬ 
bar erwiesen. Höchstens vermag der Ge¬ 
übte, der täglich Diabetikerharne zu unter¬ 
suchen hat und gleichzeitig quantitative 
Untersuchungen mit denselben Urinen an¬ 
gestellt hat, aus der Stärke der Eisen¬ 
chloridreaktion die Menge der Azetessig¬ 
säure ungefähr zu beurteilen. Aber ganz 
abgesehen davon, das eine solche Schätzung 
nur sehr approximativ ist, kann sie doch 
nur für Ausnahmefälle gelten und ist da¬ 
her nicht als maßgebend anzusehen. Die 
quantitative Azetonbestiromung vermag uns 
allein sichere Werte sowohl über die Mengen 
des vorgebildeten Azetons als auch der in 
Azeton zerfallenden Azetessigsäure zu 
geben. Nun genügt aber die Bestimmung 
des Azetons bez. der Azetessigsäure keines¬ 
wegs zur Beurteilung der Azidose, wie 
dies die Untersuchungen der Naunyn- 
schen Schule, vor allem von Magnus- 
Levy gezeigt haben. Die nach ihrer Menge 
am stärksten ins Gewicht fallende Säure, 
die ß- Oxybuttersäure, bleibt hierbei unbe¬ 
rücksichtigt, denn es besteht kein kon¬ 
stantes Parallelgehen zwischen Azeton¬ 
oder Azetessigsäureausscheidung und der 
Oxybuttersäureausscheidung; ein Rück¬ 
schluß von den Azetonmengen auf die 
Oxybuttersäuremengen ist daher unmöglich. 

Das nächstliegende würde daher sein, 
auch die Oxybuttersäure direkt quantitativ 
zu bestimmen, und sicherlich bietet dieses 
Verfahren keine allzu großen Schwierig¬ 
keiten und verlangt bei einiger Uebung 
auch nicht allzu viel Zeit. Immerhin ist 
Uebung schon erforderlich und fernerhin 
ist auch eine gewisse Laboratoriumsein¬ 
richtung (Polarisationsapparat, Aetherex- 
traktionsapp arate) dazu nötig l ). 

*) Die Schlitzung der ausgeschiedenen Oxybutter¬ 
säuremengen aus der Linksdrehung des Harns nach 

13 


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98 


Die Therapie der 


Man hat daher statt der etwas umständ¬ 
lichen direkten Bestimmung der einzelnen 
Säuren im Ham eine indirekte, kürzere Me¬ 
thode vorgeschlagen: die Messung der täglich 
ausgeschiedenen Ammoniakmengen. Zur Ab- 
Sättigung der im Ueberschuß vorhandenen 
Säuren benutzt der Organismus, sobald ihm 
fixes Alkali nicht zur Verfügung steht, 
Ammoniak, das der Harnstoffbildung ent¬ 
zogen wird. Die Schätzung der Ammoniak¬ 
mengen gibt ein sicheres Maß der Ver¬ 
mehrung der Säureausfuhr; war es doch 
ihre Feststellung, die zur Entdeckung der 
Azidose geführt hat. 

Die Methoden zur Ammoniakbestimmung 
sind nun höchst einfach, benötigen, da sie 
titrimetrisch ausgeführt werden können, 
nur geringe Apparatur und sie vollziehen 
sich ohne Ueberwachung in kurzer Zeit. 
Von neuen Methoden führe ich an die von 
Folin und Moritz, deren letztere wir 
ständig anwenden. 

Von den quantitativen Methoden würde 
daher die Bestimmung des Ammoniaks 
praktisch zur Bewertung der Azidose von 
höchstem Werte sein, wenn sie unter allen 
Umständen anwendbar wäre. Sie ist es 
aber nur so lange, als der Organismus auf 
seinen eigenen Alkalivorrat angewiesen ist, 
und ihm kein Alkali von außen zugeführt 
wird. Erhält der schwere Diabetiker Natron 
bicarbonicum per os, so verwendet er dieses 
Natron zur Absättigung der Säuren, und 
die Ammoniakausscheidung sinkt. Es können 
daher bei staiker Azidose, sobald alle Säuren 
mit Natron abgesättigt sind, die Werte für 
Ammoniak normal sein und trotzdem sehr 
große Säuremengen aus dem Organismus 
ausgeführt werden. 

Die folgende Beobachtung (Tabelle 1) 

Tab 


Gegenwart 1910. März 


zeigt dies in schönem Maße. Es werden hier 
bei einem im beginnenden Koma aufge¬ 
nommenen Patienten sehr große Oxybutter- 
säuremengen ausgeschieden (in 3 Tagen 
360 g), Mengen, die zu den höchsten be¬ 
obachteten gehören (siehe Magnus-Levy, 
Ergebnisse der inneren Medizin, I). 

Die Ammoniakwerte sind zwar hoch, 
stehen aber infolge der hohen zugeführten 
Natrondosen (340 g in 3 Tagen) in keinem 
Verhältnisse zu den großen ausgeschiedenen 
Oxybuttersäuremengen. Am 12. Tage ist 
trotz der immerhin noch beträchtlichen 
Azidose die Ammoniakausfuhr fast normal. 

Noch beweisender ist die folgende Be¬ 
obachtung (Tabelle 2), in der man anderer 
Untersuchungen halber mit den Mengen 
des Natron bicarbonicum ziemlich rasch 
herunterging. Bei 50 g Natron sind die 
Werte für Ammoniak annähernd normal 
(6. und 7. Tag), bei Darreichung von 30 
und 20 g am 8. und 9. Tag schnellen sie 
stark in die Höhe, in den Tagen 10, 11 
und 12, an denen kein Natron gereicht 
wurde, übertreffen sie ebenfalls die nor¬ 
malen Werte um ein Vielfaches, gleich¬ 
zeitig macht sich eine Tendenz zum Steigen 
der NHs-Werte bemerkbar. Am 13. Tage, 
wo wieder Natron gegeben wurde, sinkt 
das Ammoniak wieder auf einen viel 
niedrigeren Wert. Die Schwankungen in 
der Oxybutterausscheidung in diesem Ver¬ 
suche hängen mit anderen, hier nicht zu 
erörternden Bedingungen zusammen. 

Die Tatsache, daß nach Zufuhr von 
Natron bicarbonicum die Ammoniakausfuhr 
trotz starker Azidose sinkt, ja normale 
Werte annehmen kann, bietet daher nichts 
Auffallendes. Sicherlich liegt hierin auch 
die Erklärung der Tatsache, auf die Lüthje 

Ile 1. 


Tag 

Harn¬ 

menge 

Reaktion 

Stick¬ 

stoff 

in g 

Zucker j 

in g 

Azeton 

in g 

Azeton als 
Oxy butter¬ 
säure 

in g : 

Oxy- 

butter- 

säure 

in g 

Gesamt- 

oxybutter- 

säure 

in g 

NH, 

in g 

Verord¬ 

nung 

NaHCOi 

g 

1 . 

7800 

1 1 

amphoter 

22,27 

180.9 1 

16,809 

30,24 

96,36 

1 126,60 

5,34 ' 

150 

2. 

6500 

schwach alk. 

15,57 

130,0 

14.93 1 

25,87 

97,54 

123,40 

6,74 

110 

3. 

5000 

alk. 

13.58 

105,0 

14.32 

25,27 

89,63 

1 114.90 

3,44 

80 

4. 

3200 


11,3 

64 

9,67 

17,06 

58,82 

! 75,88 

2,27 

70 

5. 

3400 


10,57 

92 

10,49 

18,84 

59,57 

i 78,41 

2,43 

60 

6. 

3200 


1 10,08 

67 

7,37 

13,66 

57,33 

1 70,99 

2,66 

50 

7. 

3200 


1 10,53 

! 83 1 

6,61 

11,89 

44.51 

1 56,40 

1,95 

40 

8. 

2700 


10,55 

1 89 

5,43 

9,89 

33,08 

1 42,97 

2,11 

30 

9. 

3500 

1 

10,74 

i 94 

6,46 

14,63 

49,03 

l 63,66 

2,45 

30 

10. 

2600 


10 87 

1 84 

4,03 

7,22 

28,62 

1 35,84 

1,68 

30 

11. 

2400 ; 

amphoter 

10,58 

1 72 

6,72 

12,15 

33,8 

; 45,9 

1,08 

30 

12 . 

2300 

sauer 

— 

1 70 . 

4,63 

8,30 

25,3 

33,6 

0,72 

30 


. ~ , . « : besonders hinweist, daß die Ammoniak- 

Vergärung des Zuckers kommt wegen der zur Ver- , 

gärung nötigen Zeit und der Ungenauigkeit der Me- bestimmung zur Bewertung der Azidose 
thode praktisch nicht in Betracht. | versagt. Die Beobachtung, die er als 


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Man 


99 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Beispiel hierfür anführt (Tabelle 6), scheint 
wenigstens hierfür zu sprechen: der Patient, 
der im Harn trotz starker Azidosekörper¬ 
ausfuhr nur niedrige Ammoniakwerte auf¬ 
wies, erhielt täglich 40 g Natron bicar- 
bonicum; der Harn war alkalisch, es war 
demnach eine Absättigung der Säure durch 
das von außen zugeführte Alkali erreicht 
worden. 

Auf Grund dieser Tatsachen kommt 
Lüthje zu dem Schluß, daß eine „wirkliche 
rationelle Behandlung der mit Azi¬ 
dose einhergehenden Diabetesfälle 
nur möglich ist bei täglicher quan¬ 
titativer Azeton- und Oxybutter- 
säurebestimmung“. Zu einer ganz ähn¬ 
lichen Schlußfolgerung gelangt auch Geel- 
muyden 1 ). 

Tabelle 2. 


1 

■ Reaktion 

NM, 

Oxybutter- 

säure 

' in g 

Zufuhr 
j von 

! Natr. bic. 

in g 

1. schwach sauer 

1,86 

1 31.45 

! 90 

2. alkalisch 

1,09 

49.80 

! 70 

3. 

1,34 

i 38.97 

70 

4. • „ 

1.59 

38.69 

! 50 

o. ,, 

0.92 

42,22 

50 

6. , 

0,56 

18,16 

50 

7. 

0,68 

17.32 

50 

8. 

3,33 

| 10,66 

30 

9. amphoter 

5.48 

13.62 

20 

10. sauer 

2,10 

27,15 

— 

11. 1 

i 3,64 

41,33 

— 

12. 

4,36 

13.84 

i — 

13. schwach sauer 

1,30 

7,59 

1 25 


Es würde hiernach eine völlig sach¬ 
gemäße Behandlung des schweren Diabetes 
nur mehr unter ganz besonderen Um¬ 
ständen möglich sein, in Anstalten, die 
über die nötigen Hilfskräfte zur Ausfüh¬ 
rung sämtlicher quantitativer Bestimmungen 
verfügen. Aber selbst dann würde eine 
solche Regel schwer durchzuführen sein, 
wenn, wie es uns zum Beispiel schon vor¬ 
gekommen ist, eine Reihe schwerer Fälle, 
zum Beispiel 4—6, gleichzeitig in Behand¬ 
lung steht. 

Es dürfte indessen die Forderung täg¬ 
licher quantitativer Acidosekörperbestim 
mungen für die schweren Diabetesfälle doch 
zu weit gehen. Man kann, wie wir glauben, 
in praxi sogar auf recht einfache Weise 
zum Ziele kommen, indem man die Auf¬ 
gabe der Säurebestimmung gewisser¬ 
maßen dem Organismus*selbst über¬ 
läßt. Es genügt in praktischer Beziehung, 
folgendes zu beachten: 

Wird dem Organismus im Zustand der 
Azidose Alkali von außen zugeführt, so 


*) loc. cit. 


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Gck gle 


benutzt er dieses, um die Säuren zu neu¬ 
tralisieren. Die völlige Neutralisation der 
Säuren können wir an der Reaktion des 
Urins, die zuerst amphoter und bei Ueber- 
schuß von Alkali alkalisch wird, leicht er¬ 
kennen. Sobald der Harn alkalisch ist, 
ist demnach der Organismus mit Alkali 
abgesättigt. Die Mengen von Alkali, 
die zur Erzeugung einer alkalischen 
Reaktion des Harns nötig sind, 
geben uns daher einen sehr brauch¬ 
baren Indikator für die Stärkender 
Azidose; • Je, '‘größere; Mengen ; Na¬ 
tron -bicarbonicunr zur- ferzielung 
einer ’a}kajiscb-pq Reaktion , nöfig 
sind, fti’.stfirkje^ jii:e:Ä£idö$e 
Die folgenden Tabellen, die wir aus 
einer großen Reihe von Beobachtungen 
herausgegriffen haben, seien als Beispiele 
hierfür angeführt, die quantitativen Azidose¬ 
körperbestimmungen wurden aus anderen 
Gründen ausgeführt. 


Tabelle 3. 


Harn¬ 

menge 

Re¬ 

aktion 

7 . Azeton 

Zucker, 

1 I in g 

Oxy- 

butter¬ 

säure 

»n g 

Ges&mt- 

oxy- 

butters. 

in g 

: 

Natr. 

bicarb. 

in g 

2000 

alkal. 

1 

11,6 | 1,42 

4.31 

7,8 

2x5 

2000 

1 »» 

6,0 1,28 

! 4,43 

6,68 

2x5 

1600 

1 »» 

9,6 0,90 | 

I 1,99 

1 3,56 

2x5 


10 g Natron bicarbonicum genügen, um 
den Urin alkalisch zu machen; die Azeton¬ 
körperausscheidung ist dementsprechend 


sehr 

gering. 


Tabelle 4. 



Hai n- 

mengc 

Re¬ 

aktion 

j 

Zucker ! A2Cton ! 

| ; 

j in g 

Oxy- , 
butter¬ 
säure 

in g ! 

Gesamt- 

oxy- 

butters. 

in g | 

Natr. 

bicarb. 

in g 

2400 

alkal. 

i 

1 0 

1.41 

5.3 

7,8 

25 

2800 

»t 

0 

1,61 

6,1 

9,2 

25 

2200 

i ** 

0 

1,55 

10,2 | 

13,3 

25 


In diesem Falle sind bereits 25 g Natron 
bicarbonicum nötig, um den Harn dauernd 
alkalisch zu erhalten, dementsprechend sind 
die Werte der Azidosekörper höher und 
die Azidose ist bereits als mittelschwere 
zu bezeichnen. 

Tabelle 5. 


Harn- 

menge 


Re- 

aktion 


i 

~ , ! Azeton 

Zucker| 


l*ng 


Oxy- ( >e9anit . jj atr 
butter- oxy- 
säure 1 butters. bicarb. 

in g i in g | in g 


i 2350 alkal. , 9,5 3,19 24.0 29,8 30 

! 2000 „ 17,0 | 2,75 ' 16,5 ' 21,4 30 

1950 | „ 21,5 | 3,18 | 17,5 j 23,0 30 

| Die Azetonkörperausscheidung erreicht 
; bei diesem Patienten höhere Werte, so 
I daß der Fall schon als ein schwerer gelten 

13 * 


Original frnm 

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März 


100 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


kann; zur Absättigung der Säuren sind 30 g 
NaHC0 3 nötig. 

Im folgenden Falle wird der Urin erst 
mit 50 g alkalisch. Die Azetonkörper¬ 
ausscheidung zeigt dementsprechend hohe 
Werte. 



T abeile 

6 . 



1 

Harn¬ 

menge 

^ e " 7 , Azeton 

'Zucker 

aktion 

! in g 

Oxy- 

butter- 

säure 

in g 

Gesaint- 
oxy- ? 
Lutters 

in S i 

1 H Jg 

in g 

270Q< 

[ alkal/ .60 ...5,95 

1 .40,64 ! 

L 5J31. 

50 

280Q ; 

53 .:a34 

*4036 

:S2pZ 

50 

2700 ' 

• 12 -5:53 

38,96 


50 


3J50.J .* v : J..5Q- 6,58. # 41„8. .59,83«. 50 

..: IjV dpij’in.iX^ello /.’^ngefhhrttJi ‘Falle 
ist die Reaktion des Urins nach‘Zufuhr von 
150 g Natron bicarbonicum noch amphoter, 
die Säuremengen, die an diesem Tage 
ausgeschieden sind, erreichen einen Wert, 
der nur in seltenen Fällen beobachtet 
worden ist. 

Während beim normalen Menschen 
5—10 g Natron bicarbonicum eine deut¬ 
lich alkalische Reaktion des Harnes be¬ 
wirken, sind bei leichter Azidose bis 20 g 
nötig, bei mittelschwerer 20—30 g und bei 
schwerer 50 g und darüber, ja in den 
schwersten Fällen von Säureintoxikation, im 
Coma diabeticum, kann eine alkalische Reak¬ 
tion überhaupt nicht mehr erzielt werden. 


Abgesehen von seiner Einfachheit hat 
diese Art der Beurteilung der Stärke 
der Azidose, die an unserer Klinik seit 
den Zeiten Naunyns geübt wird, noch 
den Vorteil, eine direkte Handhabe für 
unser therapeutisches Handeln zu bieten. 
Namentlich wird die Beachtung der Re¬ 
aktion des Harns dazu führen, daß ein 
Punkt mehr berücksichtigt wird, als dies 
oft geschieht. In allen Fällen von Diabetes, 
bei denen die Gefahr des Coma diabeticum 
infolge Azidose vorhanden ist, soll nicht 
eher eine völlige Entziehung der Kohle¬ 
hydrate stattfinden, als der Urin durch 
Zufuhr genügender Mengen von Natron 
bicarbonicum alkalisch geworden ist. Bei 
Berücksichtigung dieser Tatsache werden 
üble Zufälle vermieden werden, die oft 
zum Tode führen, und die nur bei rasche¬ 
stem Eingreifen noch rückgängig gemacht 
werden können. Der in Tabelle II von 
Lüthje angeführte Fall bietet ein 
typisches Beispiel hierfür. 

Weiterhin wird bei Berücksichtigung 
der Reaktion des Harns auch der weniger 
mit der Therapie des Diabetes sich Be¬ 
fassende bald die Ueberzeugung gewinnen, 
welche große Mengen von Natron not¬ 
wendig sind, um durchschlagende Erfolge 
zu erzielen, und daß dann auch solche 
Erfolge in der Tat erzielt werden können. 


Aus der medizinischen Klinik der Universität Tübingen. 

(Direktor: Professor Dr. v. Romberg.) 

Kochsalzarme Diät zur Beseitigung des Ascites tuberculosus 1 ). 

Von Dr. med. Walter Alwens, ehern. Assistenzarzt der Klinik; 
jetzt Sekundärarzt an der Medizinischen Klinik des Städtischen Krankenhauses zu Frankfurt a. M. 


Die engen Beziehungen, die bei öde- | 
matösen Nierenkranken zwischen Retention 
von Kochsalz und Wasser bestehen, vor 
allem die bekannte Erscheinung, daß Ent¬ 
ziehung von Kochsalz in vielen Fällen die 
Oedeme deutlich zum Rückgang zu bringen 
vermag, gaben den Anlaß auch bei der 
Behandlung des tuberkulösen Aszites einen 
Versuch mit der Kochsalzentziehung zu 
machen. 

Die chirurgische Behandlung dieses Lei¬ 
dens, welche nach den Veröffentlichungen 
Königs, Czernys u. a. viele Anhänger 
gefunden hatte, ist im Laufe der Jahre mehr 
und mehr verlassen worden. Namhafte 
Chirurgen verhalten sich heutzutage der 
operativen Therapie gegenüber sehr reser¬ 
viert. Die interne Therapie stellt die Hebung 

*) Erweiterung eines in der Tübinger Natur¬ 
wissenschaftlich-Medizinischen Gesellschaft ans 11. No¬ 
vember 1907 gehaltenen Vortrages (Münch. Med. 
Wochschr. 1908, Nr. 1, S. 50). 


des Kräftezustands an die erste Stelle, sie 
bekämpft in erster Linie die Tuberkulose 
als solche nach den heute allgemein gül¬ 
tigen hygienisch diätetischen Regeln. Die 
| Beseitigung des Ascites tuberculosus, eine 
der lästigsten Erscheinungen für den Pa¬ 
tienten, ist auf mancherlei Weise angestrebt 
worden. Neben lokalen Applikationen auf 
das Abdomen und in neuster Zeit der 
Röntgenbestrahlung hat man arzneiliche 
Diuretica in jeder Form angewendet. Diese 
Diuretica lassen meist vollkommen im Stich 
oder sind wegen der unangenehmen Magen¬ 
darmstörungen, die sie fast immer bei der¬ 
artigen Kranken verursachen, nicht zu ver¬ 
werten. Von 14 in den letzten Jahren in 
der Medizinischen Klinik mit Diuretizis und 
lokalen Applikationen behandelten Fällen 
sind 8 gar nicht beeinflußt worden, bei 5 
I war ein mäßiges Abnehmen des Aszites 
| zu konstatieren. Nur in einem Fall war 
nach 5 Wochen der Aszites beinahe be- 


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März 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


101 


s«itigt. In 13 Fallen wurden die Diuretika I 
nicht vertragen. Wieviel in den 5 etwas 
gebesserten Fällen auf die lokalen Appli¬ 
kationen, wieviel auf die allgemeinen 
hygienisch-diätetischen Maßnahmen zu be¬ 
ziehen ist, dürfte schwer sein zu entschei¬ 
den. Im allgemeinen wird man demnach 
berechtigt sein zu sagen, daß die medi- ! 
kamentöse Therapie des Ascites tubercu- 
losus keine großen Erfolge zu verzeichnen 
hat. Um so näher lag es, auf diätetischem 
Wege vorzugehen und einen therapeuti¬ 
schen Versuch mit kochsalzarmer Ernäh¬ 
rung zu machen. 

Eine^solche Kost im strengen Sinn des 
Wortes setzt sich zusammen aus Hafer- 
mus, Reisschleim, gekochtem Obst, Eiern, 
Milch und ungesalzener Butter, sie enthält 
pro die ca. 2—3 g Kochsalz. Um die Kost 
für den Patienten abwechselungsreicher zu | 
gestalten, wurde gelegentlich auch eine 
etwas salzreichere Kost von Fleisch, Brot 
und Gemüsen gegeben, welche mit einem 
möglichst kleinen Quantum Kochsalz zu¬ 
bereitet worden war. Diese Kost enthält 
ca. 4 g Kochsalz als Tagesmenge im Ver¬ 
gleich zu 13—14 g Kochsalz der gemischten 
Durchschnittskost. Die kochsalzarme Kost 
wurde entweder längere Zeit hindurch ohne 
Unterbrechung gegtben oder aber immer 
nur auf einige Tage und dann wieder von 
einigen Tagen normaler Kost unterbrochen. 
Die letztere' Form der Anwendung empfahl 
sich weit mehr, da die Patienten dabei den 
Appetit nicht /verloren. 

Unter normalen Verhältnissen scheidet 
die gesunde Niere das in der Nahrung ein¬ 
geführte Kochsalz im Urin annähernd 
quantitativ wieder aus, wenn man absieht 
von den recht unbedeutenden Kochsalz¬ 
verlusten in Schweiß und Kot. Die durch¬ 
schnittliche Kochsalzmenge im Urin pro 
die beträgt 12—15 g und je nach der Größe 
der Einfuhr^ gestaltet sich im allgemeinen 
auch die Ausfuhr. Das Verhalten der Koch¬ 
salzausscheidung beim Gesunden während 
kochsalzarmer und kochsalzreicher Kost 
zeigt beifolgende Kurve. 

In der kochsalzarmen Periode übersteigt 
die Kochsalzausfuhr die Einfuhr um bei¬ 
nahe das doppelte. In der daran sich an¬ 
schließenden kochsalzreichen Periode da¬ 
gegen bleibt die Ausfuhr hinter der Ein¬ 
fuhr wesentlich zurück. Es wird also der 
Kochsalzbestand des Organismus, welcher 
in der^kochsalzarmen Periode in Anspruch 
genommen war, in der kochsalzreichen 
Periode wieder ergänzt. Man sieht aus 
den u unten beigesetzten Zahlen der Urin¬ 
menge, wie bei diesem Wechsel schon 


beim Normalen in der Flüssigkeitsausschei¬ 
dung beträchtliche Schwankungen unter 
gleichbleibender Zufuhr (ca. 2 1 pro die) 
eintreten. 

Noch viel ausgeprägter treten diese Ver¬ 
hältnisse bei den nachstehend wieder¬ 
gegebenen Krankengeschichten der Fälle 


Ausfuhr BEinfuhr 


lia.CI Oktober November 

A25 26 27 28 M30 31 1 2 S 5 , 6 . 7 . B . 9 IQ. 



Urinmen9e|s|||||§|S|S|||||§|||||§|S|||g|S|$|§ 


von tuberkulösem Aszites in Erscheinung, 
die nach der angegebenen Methode be¬ 
handelt wurden. 


Kall 1. 29jährige Frau, Behandlungsdauer 
vom 12. Dezember 1906 bis 17. Januar 1907. 5Mo- 
nate vor der Aufnahme in die Medizinische 
Klinik war Patientin wegen länger bestehendem 
Aszites punktiert und es waren mehrere Liter 
abgelassen worden. Seit 14 Tagen bemerkt 
Patientin erneute Anschwellung des Leibes und 
heftige stechende Schmerzen in der rechten Seite. 

Befund: Mittlerer Kräfte- und Ernährungs¬ 
zustand. Lungen: Geringe doppelseitige tuber¬ 
kulöse Spitzenaflektion, rechtsseitige Pleuritis 
exsudativa. Abdomen: Mäßig frei beweglicher 
Aszites, keine Tumoren: zu Beginn der Er¬ 
krankung Fieber, später fieberfreier Verlauf. 
Am 8. Tage Punktion des rechtsseitigen Pleura¬ 
exsudats. Bei der Entlassung ist der Aszites 
vollkommen beseitigt. 

Auf die schlechte Diurese, welche in 
den ersten drei Tagen bei gemischter 
salzreicher Kost besteht, folgt alsbald 
mit dem Einsetzen der kochsalzarmen 
Diät ein Ansteigen der Urinmenge. Bei¬ 
nahe vier Wochen wird in derselben 
Weise ununterbrochen fortgefahren. Die 
Diurese erreicht ihren Höhepunkt am An¬ 
fang der dritten Woche der Behandlung. 
Erst gegen Schluß der kochsalzarmen 
Periode setzt ein mäßiges Absinken der 
Diurese ein. Zu diesem Zeitpunkt ist bei 
der Patientin der Aszites bereits bis auf 
geringe kaum noch nachweisbare Reste 
zurückgebildet. Darum kann ein Ansteigen 
der Diurese nicht mehr erfolgen. Die koch- 
salzaime Kost ruft vielmehr jetzt eine ge¬ 
ringe Verminderung der Diurese hervor, wie 
dies der Norm entspricht. Die von da an 
einsetzende kochsalzreiche gemischte Kost 
läßt eine genügende gleichmäßig anhaltende 
Diurese zustande kommen (s. Kurve 1). 


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102 


März 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Fall 2. 26jähriges Mädchen, Behandlungs¬ 
dauer vom 14. April bis 18. Juni 1907. Beginn 
der Erkrankung vor einem halben Jahr mit 
Leibschmerzen und allmählich zunehmender 
Anschwellung des Leibes, Atemnot und Schwel¬ 
lung der Beine. 

Befund: Doppelseitige geringfügige tuber¬ 
kulöse Lungenspitzenaffektion, starke Dyspnoe 
bedingt durch llochdrängung des Zwerchfells, 
Cyanose, Oedeme der Beine infolge Aszites¬ 
druckwirkung, beträchtlicher freibeweglicher 
Aszites. Leibesumfang 94 cm. keine Tumoren, 
Urin o. B. Beinahe fieberfreier Verlauf. Bei 
der Entlassung ist der Aszites nicht mehr nach¬ 
weisbar. Leibesumfang 84 cm. 


der Haut und sichtbaren Schleimhäute, links¬ 
seitiges Pleuraexsudat. Frei beweglicher As¬ 
zites, Leibesumfang 86 cm. fieberhafter Ver¬ 
lauf bis auf die letzten 2 Wochen. Bei der 
Entlassung Aszites nicht mehr nachweisbar, 
Leibesumlang 71 cm. Pleuraexsudat kleiner, 
noch deutlich nachweisbar. 

Bei dieser Patientin, bei der der be¬ 
trächtliche Aszites im Laufe der Behand¬ 
lung völlig verschwand, erreichte die Di¬ 
urese erst bei der zweiten viertägigen 
Periode kochsalzarmer Kost beträchtliche 
Werte, stieg aber von da ab jedesmal beim 


Kurve 1. 

Na CI drme^osh 


Dezember^ Januar \ 


2000 - 



Hier wurde die kochsalzarme Diät inter- I 
mittierend gegeben und zwar immer für 
die Dauer von 3—4 Tagen, dann folgte 
eine 4tägige Pause, in der normale Kost 
verabreicht wurde. Sofort mit dem ersten 
Einsetzen der kochsalzarmen Kost steigt 
die Diurese stark an. Dasselbe wiederholt 
sich späterhin noch zweimal, am Schluß 
ist der Aszites verschwunden. 

Fall 3. 15jähriges Mädchen, Behandlungs- [ 
dauer vom 2. Juli bis 2. August 1907. 

Seit 4 Monaten bemerkt Patientin An- ; 
Schwellung des Leibes, seit 6 Wochen leidet 
sie an Husten und Auswurf. Vor 6 Wochen 
wurden durch Punktion des Abdomes 6 1 I 
Flüssigkeit entleert. Seit 3 Wochen beginnt 
der Leib von neuem anzuschwellen. 

Befund: Mittlerer Kräfte- und Ernährungs¬ 
zustand. Lungen: Keine sichere Veränderung; 
frei beweglicher Aszites mittleren Grades, Lei¬ 
besumfang 76 cm, keine Tumoren, fieberfreier 
Verlauf. Bei der Entlassung am 2. August 
1907 Aszites nicht mehr nachweisbar. 

Auch hier stieg die Diurese nach Ver¬ 
abreichung der intermittierend gegebenen 
kochsalzarmen Kost jedoch erst am vierten 
Tage, um dann von da an sich durch¬ 
schnittlich auch weiterhin auf guter Höhe 
zu halten. 

Fall 4. 17jähriges Mädchen. Behandlungs¬ 
dauer 28. Januar bis 28. März 1909. 

Seit 4 Wochen bemerkt die Patientin An¬ 
schwellung des Leibes, kann nur wenig Urin i 
lassen. Allgemeine Müdigkeit, Nachtschweiße, 
Menses cessieren seit 4 Monaten. 

Befund: Schlechter Kräfte- und Ernährungs¬ 
zustand. Geringe Oedeme der Beine. Blässe 


Einsetzen der kochsalzarmen Kost prompt 
an. Interessant an der weiteren Beobach¬ 
tung dieses Falles ist, daß zu einer Zeit, 
da der Aszites schon vollständig geschwun¬ 
den ist, die wieder eingeführte kochsalz¬ 
arme Diät immer noch ein Ansteigen der 
Diurese zur Folge hatte (im Gegensatz zu 
Fall 1). Die Erklärung für dieses an¬ 
scheinend abweichende Verhalten ist zu 
suchen in dem neben dem Aszites noch 
vorhandenen Pleuraexsudat, dessen Re¬ 
sorption jetzt von statten geht. 

Zwei weitere Beobachtungen betreffen 
zwei Kinder mit Ascites tuberkulosus, von 
denen keine Kurven aufgenomen sind, da 
bei dem jugendlichen Alter der Patienten 
die Gesamtmenge des Urins nicht ohne 
Verlust aufgefangen werden konnte. 

Fall 5. öjähriges Kind. Behandlungsdauer 

6 Wochen. 

Anamnese: Seit 3 Wochen Anschwellung 
des Leibes, allgemeine Abmagerung und übler 
Geruch des Urins. 

Befund: Schlechter Kräfte- und Ernährungs¬ 
zustand. 

Lungen: O B. frei beweglicher Aszites, keine 
Tumoren. Nebenbei Bakteriurie (Bakterium 
coli). Während des Verlaufs von Zeit zu Zeit 
Temperatursteigerungen, bei der Entlassung ist 
der Aszites völlig verschwunden. 

Fall 6. 8jähriges Kind. Behandlungsdauer 

7 Wochen. 

Anamnese: Seit 1 Jahr besteht Anschwellung 
des Leibes und Atemnot. 

Befund: Schlechter Kräfte- und Ernäh 
rungszustand,j Blässe des ^Gesichts, Drüsen 


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März 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


103 


Schwellungen, frei beweglicher Aszites, keine 
Tumoren. 

Temperatur: Während der 7 wöchigen Be¬ 
handlungsdauer stets etwas erhöht. Zum 
Schluß der Behandlung kein Aszites mehr 
nachweisbar. 

Bei beiden Kindern war unter der inter¬ 
mittierenden Behandlung mit kochsalzarmer 
Kost der Aszites ebenso rasch zurück¬ 
gegangen, wie bei den vier ersten Fällen. 

Daran schließen sich noch zwei weitere 
Beobachtungen, in denen ebenfalls ein 
deutlich vorhandener allerdings nicht großer 
Ascites tuberkulosus während einer Be¬ 
handlung mit kochsalzarmer Kost rasch 
zurückging. In diesen Fällen tritt jedoch 
der Zusammenhang mit der Art der Be¬ 
handlung nicht so überzeugend hervor, 
wie in den ersten, eben geschilderten, und 
ganz besonders ließ sich in keinem der 
beiden Fälle der Einfluß der kochsalzarmen 
Diät auf die Diurese so deutlich erkennen 
wie dort. Der Aszites verschwand viel¬ 
mehr ohne daß irgendwie nennenswerte 


[ geringen Grades, fieberfreier Verlauf. Bei der 
: Entlassung am 1. Mai 1908 ist kein Aszites 
mehr nachweisbar. 

Hier wurde nur einmal für 3 Tage koch¬ 
salzarme Kost gegeben, die Diurese war 
von vornherein recht gut und stieg wäh¬ 
rend der kochsalzarmen Periode noch et- 
' was an. 

In zwei weiteren Fällen schließlich blieb 
die kochsalzarme Kost ganz ohne Einfluß 
auf den Verlauf der Dinge. 

Fall 9. 19jähriges Mädchen. Behandlungs¬ 
dauer vom 26. März bis 17. Juni 1908. 

I Anamnese: Seit 14 Tagen bestehen An- 
| Schwellung des Leibes und Leibschmerzen, hie 
und da Erbrechen, Fieber; Appetit ist schlecht, 

| Gewichtsabnahme. Früher nie ernstlich krank. 

Befund: Schlechter Kräfte-und Ernährungs¬ 
zustand, Blässe der Haut und sichtbaren 
: Schleimhäute. Lunge: Ueber der linken Spitze 
leichte Schallverkürzung und unreines Vesi¬ 
kuläratmen. kein Rasseln. Abdomen: Aufge¬ 
trieben, frei beweglicher Aszites, Umfang 84 cm. 
i Fieberhafter Verlauf. 

Der Verlauf gestaltete sich folgender¬ 
maßen: Nach einer kurzen Periode mäßigen 


stärkere Diureseperioden aufgetreten wären. 

Fall 7. 26jähriges Mädchen. Behandlungs¬ 
dauer vom 18. Januar bis 22. Februar 1908. 

Anamnese: Beginn der Erkrankung vor 
3Va Wochen mit Fieber und Brustfellentzün¬ 
dung, seit 10 Tagen Anschwellung des Leibes. 
Patientin konnte nur wenig Urin lassen. 
Starkes Durstgefühl. Nachtschweiße. Früher 
nie krank. 

Befund: Schlechter Kräfte* und Ernährungs¬ 
zustand, Blässe der Haut und sichtbaren 
Schleimhäute, keine Drüsenschwellung. 

Lungen: Linksseitige Pleuraschwarte, links¬ 
seitige tuberkulöse Spitzenaffektion. 

Abdomen : Mäßiger, freibeweglicher Aszites, 
ln der linken Unterbauchseite fühlt man eine 
unbestimmte gegen die Umgebung nicht deut¬ 
lich abgrenzbare Resistenz. Leibesumfang 
84 cm. Urin: Spur Eiweiß, hyaline Zylinder. 
Neigung zu Durchfällen, Fieberhafter Verlauf. 
Bei der Entlassung am 22. Februar 1908 All¬ 
emeinzustand gebessert. Patientin ist ent- 
ebert, Leibesumfang 78 cm. Aszites nicht 
nachweisbar. 

Die Patientin hatte einen starken Wider¬ 
willen gegen die kochsalzarme Kost. In 
den Zeiten kochsalzarmer Diät war die 
Nahrungsaufnahme mangelhaft. Die Di¬ 
urese schwankt sehr stark, ist meist recht 
niedrig. Ein Einfluß der intermittierend 
gegebenen kochsalzarmen Diät auf die 
Urinmenge ist nicht zu erkennen. Der 
Aszites ist jedoch während der Behand¬ 
lung geschwunden. 

Fall 8. 14jähriger Junge. Behandlungs¬ 
dauer vom 8. April bis 1. Mai 1908. Anamnese: 
Seit 10 Wochen krank, Abmagerung und Nacht- 
schweisse. Seit 4 Wochen Anschwellung des 
Leibes, früher nie ernstlich krank. 

Befund: Schlechter Kräfte- und Ernährungs¬ 
zustand. Lungen: Geringfügige linksseitige 
tuberkulöse Spitzenaffektion. Abdomen: Meteo- 
ristisch aufgetrieben , i frei beweglicher Aszites 


[ spontanen Ansteigens der Diurese sank sie 
wieder rasch auf niedere Werte. Koch¬ 
salzarme Kost änderte daran nichts. Da¬ 
gegen rief Natr. salicyl. (2 g pro die) wie¬ 
derholt sehr starke Polyurie mit Ausschei¬ 
dung von großen Kochsalzmengen hervor. 
Die nun gegebene kochsalzarme Kost 
steigerte diese Polyurie nicht, sondern die 
Urinmenge sank, und erst erneute Gaben 
von Salicyl riefen wieder starke Diurese 
hervor, so daß am Schluß der Behandlung 
der Aszites beseitigt war. Gleichzeitig 
waren jedoch unter andauerndem, mittlerem 
Fieber Resistenzen im Abdomen palpabel 
geworden und der allgemeine Kräftezustand 
nahm sichtlich ab. 

Fall 10. 19jähriges Mädchen. Behandlungs¬ 
dauer vom 7. Mai bis 10. Juni 1908. 

Anamnese: Seit 6 Wochen allmählich zu¬ 
nehmende Anschwellung des Leibes, dabei 
Durchfälle, etwas Husten und wenig Auswurf, 
Abmagerung, allgemeine Müdigkeit, ab und zu 
Nachtschweisse. Vor einem Jahr Lungen¬ 
katarrh, sonst nie krank. 

Befund: Mittlerer Kräfte- und Ernährungs¬ 
zustand. Lunge: Doppelseitige tuberkulöse 
Spitzenaffektion, linksseitige Pleuraschwarte. 
Abdomen: Frei beweglicher Aszites, starke 
Neigung zu Durchfällen, fieberhafter Verlauf. 
Bei der Entlassung keine wesentliche Aende- 
rung im Befund, die Durchfälle sind nicht zu 
beseitigen, Gewichtsabnahme um 37a kg. 

In diesem Falle versagte die kochsalz- 
arme Kost vollkommen. Die Diurese blieb 
während der ganzen Dauer der Behand¬ 
lung gleich niedrig. 

Es zeigt sich demnach, daß die koch¬ 
salzarme Diät keineswegs in allen Fällen 
von Ascites tuberculosus zur Entleerung 
desselben führte. Sie kann gelegentlich 


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104 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


März 


vollkommen versagen. Wenn es gestattet 
ist, aus den beiden Fällen mit negativem 
Erfolg, die wir beobachteten, einen Schluß 
zu ziehen, so dürfte dieses Versagen am 
ehesten da zu erwarten sein, wo entweder 
der Prozeß sehr aktiv und fortschreitend 
ist (Fall 9), oder aber da, wo Kompli¬ 
kationen schwererer Art vorliegen, die den 
Ernährungszustand resp. den Wasserhaus¬ 
halt stark beeinflussen (Darmtuberkulose in 


dacht werden mußte, so erhielt die Patientin 
reichlich Digitalis, jedoch ohne jeden Er¬ 
folg. Als dann nach 8 Tagen kochsalz¬ 
arme Kost eingeführt wurde, stieg die Urin¬ 
menge ebenso wie das Kochsalz auf das 
prompteste sehr stark an (Kurve 2). Das 
wiederholte sich bei der zweiten und 
dritten kochsalzarmen Periode. Es wurden 
keine anderweitigen Arzneimittel gegeben, 
deshalb ist die Kurve besonders demon- 


Kurve 2. 


Na CI. Februar 
Einfuhr! 


März, 


ITT5I 6T7TBTgnQTHI El BITOT5T751 


|lJrinmenge 



2000f 

iNlhraiujitlimigkeit 


FallJIO). Bemerkenswert ist, daß im ersten | 
Fall das Natr. salicyl. nach dem Versagen 
der kochsalzarmen Kost noch einen starken 
diuretischen Effekt aufwies. 

Man wird demnach auch hier unter¬ 
scheiden müssen zwischen Menschen mit 
noch hinreichend guter Ernährung ohne 
stärkeres Fieber und solchen, die bereits 
weitgehend heruntergekommen sind und 
dauernd höheres Fieber aufweisen. In den 
letzteren Fällen kann die kochsalzarme 
Kost geradezu schaden, da sie den ohne¬ 
hin sehr labilen Appetit solcher Patienten 
schwer beeinträchtigen kann. 

Hier sei noch angefügt, daß Versuche 
mit kochsalzarmer Kost auch bei Aszites 
anderer Genese unternommen wurden. Mit 
einer einzigen Ausnahme blieben sie bis¬ 
her sämtlich resultatlos. Der eine Fall sei 
kurz angeführt. 

Fall 11. 32jährige Frau. Behandlungs¬ 
dauer vom 10. Februar bis 17. März 1909. 

Anamnese: Vor 3 / 4 Jahren bemerkte die 
Patientin Anschwellung der Beine, 4 Wochen 
später Anschwellung des Leibes. Auf ver¬ 
schiedenartige Behandlung hin trat Besserung 
ein. Von Zeit zu Zeit jedoch stellten sich Re¬ 
zidive ein. Seit 4 Wochen wieder erhebliche 
Anschwellung des Leibes und Kurzatmigkeit. 
Von früheren Krankheiten ist nichts zu eruieren. 

Befund: Mittlerer Kräfte- und Ernährungs¬ 
zustand, Zyanose, Dyspnoe. Keine Oedeme. 
Herz: Mitralinsuffizienz und -Stenose, Trikuspi- 
dalinsuffizienz. Abdomen: Beträchtlicher frei 
beweglicher Aszites, Umfang 101 cm. Derbe 
Leber- und Milzschwellung. Blut: Wassermann 
negativ. Urin: Spur Eiweiß, keine Zylinder. 
Fieberfreier Verlauf. 

Da wegen des Herzfehlers zu Anfang 
an ein Ueberwiegen kardialer Stauung ge- 


strativ. Bei der Entlassung hat der Leibes¬ 
umfang um 10 cm abgenommen (91 cm). 

Hier kann es sich offenbar nicht um 
eine rein kardiale Stauung gehandelt haben; 
das zeigt das Versagen des Digitalis. Es 
muß hier noch ein anderer Einfluß im 
Spiele gewesen sein. Man könnte ihn ein¬ 
mal in den Nieren suchen. Allerdings 
waren keine Erscheinungen von Nephritis 
nachweisbar, aber ein ähnliches torpides 
Verhalten der Nieren hat Strauß auch 
ohne Nephritis bei lange bestehenden Herz¬ 
fehlern beobachtet. Wahrscheinlicher ist je¬ 
doch, daß neben dem Herzfehler noch eine 
Polyserositis bestand. Dafür würde be¬ 
sonders die Milzschwellung sprechen. Jeden¬ 
falls handelt es sich nicht bloß um Herz¬ 
insuffizienz. 

Um sich eine Vorstellung von dem gün¬ 
stigen Einfluß kochsalzarmer Kost auf den 
Ascites tuberculosus machen zu können, 
wird man vielleicht annehmen dürfen, daß 
das Blut, welches zur Aufrechterhaltung 
des osmotischen Gleichgewichts einen kon¬ 
stanten Kochsalzgehalt braucht, denselben 
bei Einschränkung der Kochsalzzufuhr zu 
ergänzen sucht durch Aufnahme von Koch¬ 
salz aus den Geweben. Wenn sich nun 
im Körper ein größeres Kochsalzdepot in 
Gestalt eines tuberkulösen Aszites vorfin¬ 
det, so geht von dort die entsprechende 
Menge Kochsalz ins Blut über. Dies kann 
nur in Lösung, also unter Mitnahme von 
Wasser geschehen. Entsprechend dem so 
erhöhten Wassergehalt des Blutes scheidet 
die gesunde Niere erhöhte Urinmengen in 


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März 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


105 


entsprechender Konzentration aus. Die 
Diurese kommt in Gang, es wird Wasser 
und Kochsalz im Urin vermehrt abgegeben. 
Offenbar kommt dies jedoch nur dann zu¬ 
stande, wenn die Resorptionswege in der Peri¬ 
tonealhöhle noch nicht zu weitgehend durch 
Veränderungen des Peritoneums verlegt 
sind. Theoretisch interessant ist, daß auch 
in den Fällen, wo kochsalzarme Diät die 
Diurese nicht steigerte, die Kochsalzaus¬ 
fuhr gegenüber der Einfuhr trotzdem genau 
so stark überschoß, als beim Normal ver¬ 
such. (Vergl, die Kochsalzkurve beim Ge¬ 
sunden.) Kochsalz und Wasser gehen dem¬ 
nach nicht immer zusammen. 

Ueber die Dauerresultate dieser Thera¬ 
pie läßt sich noch nichts Abschließendes 
sagen, da ausgedehnte Nachuntersuchungen 
bisher nicht gemacht werden konnten; eine 
Umfrage vor D /2 Jahren hat aber ergeben, 
daß bei Fall 1, 2, 3. 5, 6 nach einer Zeit 
von 2 Monaten im Minimum, 10^2 Monaten 
im Maximum ein Rezidiv nicht eingetreten 
war. Das hier angegebene Verfahren hat 
gegenüber den anderen empfohlenen nach 
unseren Erfahrungen vor allem einen 
Hauptvorzug, nämlich den eines relativ 
raschen Effektes. Wenn ich in dieser 
Richtung unser klinisches Material der 
letzten Jahre noch einmal durchsehe, so 
ergibt sich, daß von 14 mit Schmierseifen¬ 
einreibungen und arzneilichen Diureticis 
behandelten Fällen 8 nach einer Behand¬ 
lungsdauer von durchschnittlich 5^2 Wochen 


gar keine Veränderungen aufwiesen, 5 nach 
durchschnittlich 37* wöchiger Behandlung 
einen geringen Rückgang ihres Aszites 
zeigten und gebessert entlassen werden 
konnten und nur in einem Fall (9) nach 
ca. 5 Wochen der Aszites fast vollkommen 
beseitigt war. Zum Vergleich mit den 
Zahlen anderer Autoren möchte ich einer 
im Jahrbuch für Kinderheilkunde 1907, 
Seite 399 erschienenen Arbeit von Hans 
Schmid in Basel Erwähnung tun, aus der 
zu entnehmen ist, daß von 12 an Peritonitis 
tuberculosa (aszitische Form) leidenden 
Patienten unter konservativer Behandlung 

4 zum Exitus kamen, 3 nach durchschnitt¬ 
lich 7 monatlicher Behandlungsdauer geheilt, 

5 nach durchschnittlich 472 monatlicher Be¬ 
handlung gebessert entlassen wurden. Dem¬ 
gegenüber haben wir unter 10 Fällen, die 
mit kochsalzarmer Diät behandelt wurden, 
8, in denen nach 5—7 Wochen der Aszites 
vollständig beseitigt war. Man wird aus 
diesen Vergleichszahlen den Schluß ziehen 
dürfen, daß die Behandlung mit kochsalz¬ 
armer Kost in einem beträchtlichen Pro¬ 
zentsatz eine schnelle und vollständige 
Resorption des Aszites zustande bringt. 
Aber auch hier wird der Erfolg, wie noch¬ 
mals betont sei, ganz ausschlaggebend von 
einer sorgfältigen Auswahl der Fälle ab- 
hängen. Die weitere Erfahrung dürfte ge¬ 
statten, noch präzisere Indikationen zu 
stellen, als dies an unserem kleinen Ma¬ 
teriale möglich war. 


Aus der medizinischen Klinik der Universität Halle. 

(Direktor: Prof. Dr. Ad. Schmidt). 

Lieber die Wirkung des H 2 0 2 -Präparates „Oxygar“ auf die 

Sekretion im Magen. 

Von Dr. Kan KatO aus Japan. 


Das Wasserstoffsuperoxyd hat in dem I 
letzten Dezennium als Dcsinfizienz und I 
Desodorars eine bevorzugte Stelle in un- | 
serem Arzneisatze gewonnen. Bei Angina, , 
Diphtherie, Stomatitis, Otorrhoe und Rhi- 1 
nitis, ferner in der Chirurgie ist es mehr 
und mehr in Aufnahme gekommen. Es 
lag deshalb nahe, auch seine innerliche 
Anwendung bei Magen- und Darmleiden zu 
versuchen. 

Petri 1 ) stellte als erster in der Hallenser | 
Klinik Versuche mit H 2 O 2 Lösungen bei 
Magenleiden an, welche ergaben, daß das 
H 3 O 2 den HCl-Gehalt des Mageninhalts 
deutlich herabsetzt. Wie diese Wirkung 
zustande kommt, ist in Tierexperimenten 
unter Bickels Leitung von Togami 2 ; 

•) Arch. f. Verdauungskrankh. 1908, Nr. 14, S.478. 

s ) Bcrl. klin. Wochenschr. 1908, Nr. 33. ! 


untersucht worden, wobei sich ergab, daß 
infolge der HjOj-Einwirkung eine starke 
Schleimsekretion im Magen hervorgerufen 
wird, deren Alkaleszenz die Azidität her¬ 
absetzt. Zu demselben Endergebnis kommt 
eine unter Leitung von H. Winternitz 
angefertigte Dissertation von Rocco l ). 
Petri und Rocco empfehlen auf Grund 
ihrer Beobachtungen den Gebrauch dünner 
H 2 O 2 - Lösungen gegen Hyperaziditätsbe¬ 
schwerden. 

Da jedoch, worauf Rocco bereits hin¬ 
wies, bei dieser Art der Verabreichung des 
Wasserstoffsuperoxyds sich in praxi ge¬ 
wisse Schwierigkeiten geltend machen (der 
Patient muß 3 mal täglich 2 Tassen einer 
V 4 % ig en U 2 O 2 Lösung zu sich nehmen), 
habr ich Versuche mit dem an Agar ge- 

*) Rocco, Inaugural-Dissertation. Halle 1909. 

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106 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


März 


bundenen Wasserstoffsuperoxyd, dem 
„Oxygar* (Helfenberg) gemacht. Dieses 
Präparat ist bereits von Berger und 
Tsuchiya *) hinsichtlich seiner Einwirkung 
auf die Zersetzungsvorgänge im Darmkanal 
geprüft worden und hat sich dabei als das 
einzige wirklich leistungsfähige Mittel zur 
Unterdrückung resp. Herabsetzung der 
pathologischen Gärungsvorgänge bewährt. 
Berger und Tsuchiya haben bei Gelegen¬ 
heit ihrer Untersuchungen auch auf die Wir¬ 
kung desOxygars im Magen geachtet und da¬ 
bei konstatiert, daß es im Gegensatz zu 
reinen H 2 O 2 Lösungen keine Herabsetzung 
der Magensäure bewirkt, was sie auf eine 
langsame Abspaltung von H 2 O 2 zurück¬ 
führen, welche nicht ausreicht, eine Schleim¬ 
produktion seitens der Magenwand anzu¬ 
regen. Gerade diese langsame Abspaltung 
von H 2 O 2 ist es, welche dem Präparat die 
Fähigkeit verleiht, bis in den Darm hinab 
wirksam zu bleiben. 

Ich verabfolgte den Patienten morgens 
nüchtern ein Probefrühstück nach Ewald, 
heberte nach 1 Stunde aus und bestimmte 
die freie Salzsäure und die Gesamtazidität 
des Magensaftes. 

Ein zweites Mal gab ich denselben Pa¬ 
tienten gleichzeitig mit dem Ewald sehen 
Probefrühstück oder auch V 2 Stunde vor¬ 
her 1 g Oxygar und heberte ebenfalls nach 
1 Stunde aus. 

Folgende Werte erhielt ich bei meiner 
Versuchsreihe: 


I. Versuchsreihe. 
Normalazidität. 


Nr. 

Nach Probefrühstück 

Nach Probefrühstück 
und Oxygar 

Freie HCl 

Gesamt- 

Azidität 

Freie HCl ■ 

Gesamt- 

Azidität 

1 

22.0 

34,0 

I 

25.0 

46,0 

2 

32,0 

52.0 

44.0 ; 

62,0 

3 

11.0 

34,0 

14.5 1 

36.5 

4 

320 

44.0 

42,0 

60.0 

5 

32,0 

44,0 

33 0 | 

48,0 

6 

24,0 

50,0 

27.0 1 

71,0 

7 

24.0 

50.0 

46,0 | 

68,0 

8 

14.0 

46,0 

340 1 

50,0 

9 

240 

44 0 

30.0 

55,0 

10 

5.0 

25.0 

16.0 ; 

50,0 

11 

41,0 

57.0 

45.0 | 

67,0 

12 

31.0 

57.0 

32.5 ! 

88,5 

13 

20,0 

47.0 

22,0 ! 

60,0 


Somit beobachtete ich nach Oxygarein- 
gabe fast stets eine sich in mäßigen 
Grenzen bewegende Zunahme der Säure¬ 
werte. 


*) Zeitschr. f. exper. Path. u. Ther. 1909, Nr. 7. 


II. Versuchsruhe. 
Hypazidität. 


Nr. 

Nach Probefrühstück 

p • Gesamt- 

Freie HCl A ..._ 
Azidität 

Nach Prob 
und O 

Freie HCl 

efrühstück 

xygar 

Gesamt- 

Azidität 

1 

30,0 

72,0 

42.0 

74,0 

2 

56,0 

79,0 

67.0 

84,0 

3 

46.0 

70.0' 

70,0 

87,0 

4 

36,0 

68,0 

40,0 

90,0 

5 

46,0 

62,0 

84.0 

98,0 

6 

41,0 

67.0 

30,0 

73,0 

7 

49,0 

62,0 

33.0 

53,0 

8 

46,0 

72,0 

28,0 

42,0 


Auch hier zeigt sich fast regelmäßig 
Vermehrung der Säure; nur in 2 Fällen 
(7 und 8) trat eine geringe Herabsetzung 
der Säurewerte nach Oxygareingabe ein. 


III. Versuchsreihe. 
Hypazidität. 


Nr. 

Nach Probefrühstück 

Nach Probefrühstück 
und Oxygar 

Freie HCl 

Gesamt- 

Azidität 

Freie HCl 1 

j Azidität 

1 


16,0 

2,0 

23,0 

2 

— 

16.0 

10.0 

30.0 

3 

_ 

20,0 

*26,0 

54,0 

4 


20.0 

14.0 

34,0 

5 

— 

12.0 

11,0 

29,0 

6 

— 

120 

- 4,0 

7 

— 

33.0 

j 26,0 

8 

— 

38,0 

— i 10,0 

9 

— 

9.0 

6,0 

10 


10,0 

- 10,0 


i • I > 

In der Hälfte der Fälle trat freie HCl 


nach Oxygareinnahme auf, wo sie vorher 
gefehlt hatte. — Nur viermal wurde 
die Gesamtazidität nach Oxygareingabe 
kleiner. 

Das Gesamtergebnis dieser Versuche 
bestätigt also die Angabe von Berger und 
Tsuchiya, daß das H 2 O 2 in der Form des 
Oxygars die HCl des Mageninhalts nicht 
herabsetzt, wie es Lösungen von H 2 O 2 
ziemlich regelmäßig tun. Nur in wenigen 
i Versuchen (6 unter 31) konnte eine gering¬ 
fügige Herabsetzung der Säurewerte kon¬ 
statiert werden. Weiterhin zeigte sich aber, 
daß das Oxygar im Gegensatz zum reinen 
H 2 O 2 in der Regel sogar eine Erhöhung 
der Säureabscheidung bewirkt, welche teil¬ 
weise nicht unerhebliche Werte erreicht 
und bei fehlender freier Säure zu einem 
Auftreten derselben führen kann. Daß diese 
Wirkung nicht von dem ganz indifferenten 
Agar-Agar, dem Vehikel des H 2 O 2 ab¬ 
hängt, ist eigentlich selbstverständlich, 
immerhin habe ich noch durch einige spe¬ 
zielle Versuche mich davon überzeugt. Es 
ist das H 2 O 2 , welches in dieser Form der 


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Kärz 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


107 


Darreichung leicht erregend auf die sezer- 
nierenden Zellen wirkt, während es in 
reinen Lösungen im pathologischen Sinne 


reizend einwirkt und dann eine Schleim¬ 
absonderung auslöst, welche die Magen- 
sfture neutralisiert. 


Die Serumbehandlung des Gelenkrheumatismus. 


Von Dr. med. Hans 

Wir haben zwar in den verschiedensten 
Salizylpräparaten ein im großen und ganzen 
ausgezeichnetes Mittel zur Behandlung des 
akuten Gelenkrheumatismus; aber trotzdem 
läßt uns die therapeutische Wirkung oft 
genug im Stich, sodaß es verständlich ist, 
wenn die chemischen Fabriken immer 
neue Präparate auf den Markt bringen, 
deren letztes das vorletzte natürlich immer 
bedeutend an Wirksamkeit zu Obertreffen 
pflegt. Die meisten der modernen Mittel 
gegen Gelenkt heumatismus sind Salizyl- 
präparate; besonders modern sind die zur 
percutanen Anwendung empfohlenen (Salit, 
Mesotan, Spirosal usw.). Etwas prinzipiell 
anderes ist schon die Empfehlung des 
Kollargols in intravenöser oder rektaler 
Anwendung. Ich habe persönlich keine 
Erfahrung Ober die Wirkung des Kollargols, 
will aber erwähnen, daß verschiedene 
Autoren schon vor einigen Jahren Ober 
ausgezeichnete Resultate berichtet haben. 
In der Med. Klinik (1907, Nr. 42) berichtet 
Witthauer Ober 25 mit Kollargolklysmen 
behandelte Fälle, von denen 21 geheilt 
wurden, nachdem die gewöhnlichen Mittel 
versagt hatten. Die neueste Arbeit stammt 
wohl von Fabian und Knopf (Berl. klin. 
Woch. 1909, Nr. 30), die zu dem Schluß 
kommen, daß Kollargolklysmen anzuwenden 
sind, wenn die Salizyltherapie versagt hat. 

Die Kollargoltherapie des Gelenkrheuma¬ 
tismus ging wohl von dem Gedanken aus, 
•daß der echte akute Rheumatismus durch 
Streptokokken hervorgerufen wird. Man 
nimmt an, daß in der Mehrzahl der Fälle 
die Tonsillen die Eingangspforte der In¬ 
fektion dar stellen, da in den meisten Fällen 
-eine Angina dem Auftreten des Gelenk¬ 
rheumatismus vorangeht. In diesem Ge¬ 
dankengang haben wir auch die Brücke 
zur Serumbehandlung des Gelenk¬ 
rheumatismusgefunden. Menzer machte 
am 14 Mai 1902 in der Berliner medizi¬ 
nischen Gesellschaft Mitteilungen Ober eine 
von ihm geübte Behandlung des Gelenk¬ 
rheumatismus mittels Streptokokkenserums. 
Er kam zu dem Schluß, daß die Serum¬ 
behandlung auch chronisch gewordene Er¬ 
krankungen noch zu heilen beziehungs¬ 
weise zu bessern vermöchte, und daß auch 
die akuten Rheumatismen günstigere Hei¬ 
lungsbedingungen fänden, wenn sie mit 


Ratze b urg- W ismar. 

Serum behandelt würden. Rückfälle sollten 
seltener werden, und auch auf bestehende 
Endokarditiden sollte ein entschieden gün¬ 
stiger Einfluß ausgeübt werden (Münch, 
med. Wochschr. 1904, Nr. 33). Die Methode 
ist natürlich von verschiedener Seite nach¬ 
geprüft worden. Es ist mir nicht möglich, 
alle Literaturangaben anzuführen, die über 
Serumbehandlung berichtet haben. Er¬ 
wähnen will ich nur, daß mir bei dem 
Studium der Methode außer den grund¬ 
legenden Arbeiten Menzers eine Arbeit 
von Schaefer (Ther. d. Gegenwart 1904, 
H. 3) in die Hände gefallen ist, der 
die Serumbehandlung warm empfiehlt. 
Schaefer hat zwar nur über eine geringe 
Anzahl von Fällen berichtet, doch kommt 
er zu dem Resultat, daß unter dem Ein¬ 
fluß der Serumbehandlung die 
Attacken viel kürzer waren und daß 
die Serumbehandlung einen Zustand 
subjektiven Wohlbefindens hinter¬ 
ließ, wie er seit Jahren nicht be¬ 
standen hatte. 

Ich bin nun in der Lage, über einen 
Fall zu berichten, in dem ich durch die An¬ 
wendung des Menzer sehen Streptokokken¬ 
serums einen geradezu eklatanten Erfolg 
erzielt habe. Ich halte die Veröffentlichung 
dieses — wenn auch nur einzigen — Falles 
gerade deshalb für so wichtig, weil er aus 
der Praxis des praktischen Arztes stammt 
und dadurch beweist, daß gerade in der 
Allgemeinpraxis unter bestimmten Bedin¬ 
gungen die Anwendung des Serums zweck¬ 
mäßig ist. Der Fall ist 2 Jahre lang ein¬ 
gehend beobachtet, sodaß das Urteil über 
den Erfolg ein absolut unzweideutiges ist. 
Ich will die Krankengeschichte eingehend 
darstellen, da sich so am besten die In¬ 
dikation für die Anwendung des Serums 
in der Praxis ergibt. 

Der jetzt 56 Jahre alte Lokomotivführer a. D. 
H. hierselbst erkrankte 1893 an Influenza, 
deren Folge das erstmalige Auftreten eines 
Anfalles von Gelenkrheumatismus war: beide 
Füße stark geschwollen und schmerzhaft. 
Thtrapie: Salizyl intern. 4 Wochen Er¬ 
werbsunfähigkeit. 1895 trat der zweite 
Anfall ein, ebenfalls wieder in beiden Fu߬ 
gelenken. Nach Salizylgebrauch trat in drei 
Wochen Heilung ein. Dieselbe Therapie 
führte 1896 bei einem beide Fußgelenke und 
das linke Kniegelenk heimsuchenden Anfall 
in 6 Wochen zum Ziel. 1897 trat ein be- 

14 » 


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108 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


März 


sonders heftiger Anfall auf: Starke Schwellung 
und Schmerztlaftigkeit beider Fuß- und Knie¬ 
gelenke zwangen den Patienten zu 6wöchiger 
Bettruhe. Der Anfall wurde mit Salizyl, später 
mit Massage, Sool- und Dampfbädern be¬ 
handelt; die Dienstunfähigkeit dauerte 
10 Wochen. Nach 4jähriger Pause trat 1901 
ein Anfall in beiden Füßen, im linken Knie 
und in der linken Schulter auf. Außer der 
bewährten Salizyltherapie wurden diesmal 
heiße Breiumschläge verordnet. Die Dauer 
dieser Erkrankung betrug 14 Wochen. 
1902 machte Patient eine Soolbadekur (15 Bäder) 
mit Massage durch. Trotzdem trat 1903 wieder 
ein Anlall im linken Ellbogen und in der 
linken Hand auf; Therapie: Ichthyolpinselungen, 
Einreibungen mit Kampferspiritus. Dienst¬ 
unfähigkeit: 3 Wochen. 1904 erkrankten 
die meisten der Gelenke: beide Fuß-, beide 
Knie-, beide Schulter-, beide Handgelenke, so¬ 
wie endlich das linke Ellbogengelenk waren 
Sitz der Erkrankung. Interne Behandlung: 
Salizyl und Jod. Aeußere Behandlnng: 
6 Wochen täglich elektrisiert (laradischer 
Strom). 24 8%ige Solbäder in Segeberg. Da 
die linksseitige Schultermuskulatur mangelhaft 
funktionierte, so wurde eine 4 wöchige mediko- 
mechanische Behandlung in der Wasserheil¬ 
anstalt Kleinen verordnet; außerdem Massage 
und heiße Dampfduschen. Die Dienst¬ 
unfähigkeit betrug in diesem Jahre 
10 Monate. 1906 nahm H. wieder 24 8%ige 
Solbäder in Segeberg. 1907, im Mai und Juli, 
zunächst 2 kleinere Anfälle von je 14 tägiger 
Dauer (linke Hand und linker Fuß). Am 
2. Oktober 1907 endlich trat ein Anfall auf (im 
Anschluß an Ueberanstrengung beim Umzug?), 
der zu den schwersten gehörte, die Patient 
überhaupt durchgemacht. Beide Füße, beide 
Kniegelenke und das linke Ellbogengelenk 
waren stark geschwollen. Ich ordinierte zu¬ 
nächst Aspirin, später Pyrenol, Thiokol, 
wandte heiße Umschläge sowie Einpinselungen 
von Ichthyolglyzerin an. Wohl gelang es, für 
wenige Tage eine geringe Abschwellung der 
Gelenke und damit natürlich auch ein Nach¬ 
lassen der so heftigen Schmerzen zu erzielen, 
doch traten Rezidive Über Rezidive auf; war 
das eine Gelenk abgeschwollen, so begann das 
andere unter geringen Temperaturanstiegen 
wieder zu schwellen und schmerzhaft zu 
werden. Da die üblichen Mittel nahezu er¬ 
schöpft waren und der Patient auch keine Lust 
verspürte, noch andere Medikamente zu pro¬ 
bieren, so entschloß ich mich, die Anwendung 
des Menzerschen Streptokokkenserums zu 
empfehlen. Um dem Patienten zu dieser Kur 
etwas Mut einzuflößen, gab ich ihm selbst die 
Arbeiten von Menzer (Münch, med. Wochschr. 
1904, Nr. 33) und Schaefer (Ther. d. Gegen¬ 
wart 1904, Märzhefi) an die Hand. Der Patient 
ersah aus diesen Arbeiten die Zweckmäßigkeit 
der Anwendung, für die er sonst keinen An¬ 
haltspunkt gehabt hätte, und entschloß sich so¬ 
fort zu einem Versuch der Anwendung. Ich 
erwähne diese näheren Umstände gerade des¬ 
halb so genau, weil es für den Praktiker im 
allgemeinen nicht ganz so leicht ist wie für 
den Kliniker, die Patienten zu eingreifenden 
Kuren zu bewegen. 

Bevor ich mich zur Anwendung entschloß, 
orientierte ich mich über die von Menzer 
selbst (loco sup.) angegebenen Kontraindika¬ 
tionen. Diese sind gegeben in „erheblichen 
Stenosen an der Mitralis" und in allgemeiner 


Körperschwäche. Eine einfache Endokarditis 
sieht Menzer selbst nicht als Kontraindikation 
für die Verwendung des Serums an. Arterio¬ 
sklerose höheren Grades kontraindiziert eben¬ 
falls die Anwendung. Da mein Patient von 
geradezu robustem Körperbau war und am 
Herzen weder Erscheinungen von Stenose 
noch von Arteriosklerose (letztere auch nicht 
an den peripheren Gefäßen) bestanden, ich 
mithin annehmen mußte, daß die nötige Re¬ 
generationskraft, die Menzer vom Patienten 
verlangt, vorhanden war, so entschloß ich mich 
zur Anwendung des Serums (von Merck in 
Darmstadt in Fläschchen ä 2, 5 und 10 ccm 
bezogen). Besonders hervorheben möchte 
ich noch, daß während der Anwendung 
des Serums weder ein innerliches 
Mittel gereicht noch eine äußerliche 
Behandlung angewandt wurde. 

Ich lasse hierunter zunächst die Temperatur¬ 
kurve folgen: 


Bffi-K 


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Anschließen will ich dann sogleich die 
Krankennotizen, die der Patient selbst fast all¬ 
täglich aufgeschrieben hat, und zwar mit den¬ 
selben Worten, die der Patient notiert hat: 

8. Januar. Leichte Schwellungen an beiden 
Knien, beiden Füßen und an der linken Hand. 
Die Schwellungen im Laufe des Tages ge¬ 
steigert. 

9. Januar. Schwellungen am rechten Knie 
und an der linken Hand haben etwas nach¬ 
gelassen. 

10. Januar. Schwellungen an beiden Knien 
und der linken Hand haben bedeutend nach¬ 
gelassen. In lektionsstelle etwas ge¬ 
schwollen, brennende Schmerzen an 
derselben, Schlaf bisher sehr gut. 

11. Januar. Sehr unruhig; abends 
7 Uhr kalter Schweiß und Brustbeklem¬ 
mung, leichter Schmerz in allen Glie¬ 
dern; Körper sehr schlaff, Appetit gut, 
hat nachgelassen. 

12. Januar. Schmerzen im rechten Fuß. 

13. Januar. Schmerzen in beiden Füßen, 
große Unruhe, Appetit hat nachge¬ 
lassen. 

14. Januar. Nachts wenig Schlaf; Schmerzen 
in beiden Füßen, im rechten Knie und im 
rechten Handgelenk. 

15. Januar. Schmerzen in denselben Ge¬ 
lenken; rechtes Knie sehr steif. 

16. Januar. Schmerzen im linken Fuß 
heftiger, in den anderen Gelenken weniger 
heftig. 

17. Januar. Schmerzen in den Finger¬ 
gelenken der rechten Hand; linker Fuß sehr 
stark geschwollen; während des Nach¬ 
mittags große Unruhe, gegen Abend 
starker Schweiß. 

18. Januar. Rechtes Handgelenk sehr 
schmerzhaft; starke Schwellung auch an den 
Fingern; während der Nacht kein Schlaf. 

19. Januar. Heftige Schmerzen in allen 
Gelenken haben bedeutend abgenommen. 
Schlaf und Appetit wieder gut. Während 


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März 


109 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


des Tages fortwährender leichter 
Schweiß. 

20. Januar. Rechte Hand abgeschwollen, 
gut beweglich, ebenfalls beide Knie und Füße; 
während der Nacht Schweiß. 

22. Januar. Am Abend und während 
der Nacht Schweiße. 

Ab 23. Januar traten keine außergewöhn¬ 
lichen Erscheinungen mehr auf, die Besserung 
schritt langsam fort. 

Am 22. Februar konnte Patient das Bett 
verlassen. 

Vom 29. Februar ab zur Nachbehandlung 
26 Massagen. 

April 1908 ist Patient so weit, daß er 
1V* Stunden ohne Schmerzen gehen kann. 

So weit die Notizen, die Patient selbst auf¬ 
geschrieben hat. Ergänzend will ich hinzu¬ 
fügen, daß Patient seit der Behandlung niemals 
wieder ein Rezidiv bekommen hat trotz großer 
körperlicher Anstrengungen, die er sich zu¬ 
gemutet hat. Ich habe den Patienten noch 
kurz vor Anfertigung dieser Arbeit (Anfang 
November 1909) nach seinem Befinden gefragt, 
worauf er mir erwiderte, es gehe ihm gro߬ 
artig, er fühle sich wohler als je und könne 
4 Stunden hintereinander marschieren, ohne 
auch nur irgend welche Beschwerden zu ver¬ 
spüren. Auch die Frau bekundete mir kürz¬ 
lich ihre Zufriedenheit mit dem Resultat. 

Wenn wir nun eine kritische Wür¬ 
digung der vorliegenden Behandlung 
unternehmen wollen, so müssen wir zu¬ 
nächst feststellen, daß wir in der Tat eine 
Reaktion durch die Serumeinspritzung 
erzielt haben. Das ist mit Sicherheit be¬ 
wiesen dadurch, daß vom 9. Januar ab 
(also demjenigen Tage, an dem die größte 
Dosis, gleich 10 ccm Serum, injiziert 
wurde) ein rapider Anstieg der Temperatur 
erfolgte, der am 10. Januar abends schon 
38,5 °, dann mit morgendlichen Remissionen 
am 16. Januar abends 39° erreichte, um 
dann unter Schweißausbruch vom 17. Ja¬ 
nuar ab kritisch zur Norm abzufallen. Be¬ 
wiesen ist die Reaktion ferner durch das 
Auftreten heftiger und äußerst schmerz¬ 
hafter Gelenkschwellungen, die um die 
Zeit der Temperaturakme ihren Höhepunkt 
erreichten. Bewiesen ist die Reaktion 
endlich meines Erachtens gerade durch 
die Nebenerscheinungen, die mit der In¬ 
jektion zumal der größeren Dosen des 
Serums auftraten: Unruhe, Appetitlosigkeit 
und Schlaflosigkeit. Wir haben also 
durch die Seruminjektion eine deutliche 
Reaktion erzielt, die ihren Ausdruck fand 
in einer akuten Verschlimmerung des Pro¬ 
zesses: während vor der Einspritzung die 
Erscheinungen im Bilde eines subakuten 
Gelenkrheumatismus auftraten, d. h. unter 
ganz geringen vorübergehenden Tempe¬ 
raturerscheinungen kommende und wieder 
gehende Schwellungen an diesem und 
jenem Gelenk sich zeigten, traten an fast 


allen Gelenken, die jemals den rheumati¬ 
schen Prozeß gezeigt hatten, unter dem 
Einfluß der Seruminjektion lebhafte Schwel¬ 
lungen und Schmerzen mit hohem Tempe¬ 
raturanstieg auf — unter verhältnismäßig 
leichten Störungen des Allgemeinbefindens, 
mit anderen Worten: aus einem Rheuma¬ 
tismus, der schon entschieden subakut war, 
ja der schon chronisch zu werden drohte, 
wurde ein akuter Rheumatismus unter dem 
Einfluß der Serumbehandlung. Damit 
haben wir schon das Prinzip der Strepto¬ 
kokkenserumbehandlung ausgesprochen: 
das Serum soll gewissermaßen alles Bös¬ 
artige, was in den Gelenken respektive in 
den Körpersäften steckt, sich * austoben “ 
lassen, damit dadurch die Möglichkeit zum 
Chronischwerden genommen wird. Wir 
haben also vom 9. Januar ab (vergleiche 
die Fieberkurve!) einen akuten Gelenk¬ 
rheumatismus, der nun natürlich der Durch¬ 
schnittsdauer bedarf, um zur gänzlichen 
Heilung zu gelangen: 4 Wochen Bettruhe 
und Nachbehandlung mit Massage durch 
weitere 4 Wochen; von da ab kein Schmerz 
mehr, keine Störung. 

Was die Dosierung des Serums 
betrifft, so schreibt Menzer (1. c.) darüber 
folgendes: „Die Dosierung des Strepto¬ 
kokkenserums beim akuten Gelenkrheuma¬ 
tismus besteht im allgemeinen in der An¬ 
wendung von Einzeldosen k 5 ccm. Chro¬ 
nische Fälle von sehr langem Bestehen 
müssen in einzelnen Etappen behandelt 
werden. Ich empfehle hier zunächst in 
2—3 tägigen Intervallen Dosen k 5 ccm 
einzuspritzen, nach Injektion von 30 ccm 
eine längere, ein- bis mehr wöchentliche Pause 
zu machen und dann in ähnlicher Weise 
fortzufahren. In Fällen, in welchen aus 
den oben dargelegten Gründen besondere 
Vorsicht in der Behandlung geboten ist, 
muß die Dosierung eine wesentlich ge¬ 
ringere sein (Va, 1, 2 ccm). a In den 6 von 
Schäfer-Pankow (1. c.) veröffentlichten 
Fällen handelt es sich (mit 2 Ausnahmen) 
um Kinder. Bei dem 13 jährigen Knaben 
Sch. (Fall 1) wurden im ganzen nur 2 mal 
5 ccm im Zwischenraum von 1 Tag injiziert. 
Bei dem 12 jährigen Knaben O. (Fall 2) 
wurde zuerst 1 ccm, am 2. Tag (mit 1 Tag 
Zwischenraum, 2, am 3. Tag 3 ccm injiziert, 
im ganzen also 6 ccm. Bei der 34 jährigen 
Frau Schw. (Fall 3) wurden zuerst 2 ccm, 
am übernächsten Tag 5 ccm, nach 4 Tagen 
5 ccm, am Tage darauf noch einmal 5 ccm, 
zusammen 17 ccm injiziert In Fall 4 
(14 jährig. V.) wurden im ganzen 17,5 ccm, 
in Fall 5 (40 jährig. S.) wurden 30 ccm in 
4 Injektionen ä 2,5 und 4 Injektionen 


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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


März. 


ä 5 ccm eingespritzt, in Fall 6 (5 jährig. H.) 
7 ccm Serum ifijiziert. Fall 5 war im 
ganzen wohl etwas schwach (schwache 
Herztöne) und hatte Komplikation mit 
Pleuritis und systolischem Geräusch an der 
Aorta, deshalb wohl die sehr vorsichtige 
Dosierung (4 mal 2 1 /* ccm mit je 1, zuletzt 
sogar 2 Tagen Zwischenraum). Fall 3 
hatte offenbar Komplikation mit Mitral¬ 
insuffizienz, die unter der Serumbehand¬ 
lung besser wurde (schwächere Herz¬ 
geräusche). Auch Fall 1 und 2 hatten 
Herzkomplikationen, die ebenfalls durch 
die Serumbehandlung gebessert wurden, 
ln meinem Fall ging ich, obwohl keine 
Komplikationen bestanden und der Körper 
sehr kräftig war, zunächst sehr vorsichtig 
vor, indem ich am 3. Januar 2 ccm in¬ 
jizierte, ohne jede Wirkung. Da auch die 
nächsten beiden Injektionen ä 5 ccm keinen 
sichtbaren Reaktionseffekt erzielten, so 
ging ich, abweichend von der sonst üb¬ 
lichen Dosierung, zur Injektion von 10 ccm 
auf einmal über. Das genügte, um einen 
sofortigen Effekt zu erzielen. Die Reaktion 
wurde durch nochmalige 2 Injektionen von 
je 5 ccm auf der Höhe erhalten. Ich bin 
der Ueberzeugung, daß ich ohne die In¬ 
jektion der 10 ccm nicht einen so prompten 
Erfolg erzielt hätte. 

Was nun die Nebenwirkungen der In¬ 
jektion betrifft, so sind dieselben als äußerst 
geringfügig zu bezeichnen. Immerhin fiel 
es dem Patienten auf, daß er infolge der 
Behandlung an Appetitlosigkeit, Unruhe 
und Schlaflosigkeit litt, was ihm bei seinen 
rheumatischen Beschwerden sonst nicht 
passiert war. Er selbst bezeichnete aber 
die Störungen als so gering, daß sie für 
die Beurteilung der Zweckmäßigkeit der 
Serumanwendung überhaupt nicht in Frage 
kommen; außerdem dauerten die unan¬ 
genehmen Erscheinungen nur einige wenige 
Tage. Was die Schweißausbrüche betrifft, 
so wurde von Schaefer-Pankow (1. c.) 
betont, daß dieselben auffallend gering 
seien. In meinem Fall waren sie zwar 
bedeutend, wurden aber vom Patienten 
nur registriert, ohne daß über das Un¬ 
angenehme solchen Schweißausbruches ge¬ 
klagt wurde. Die Rötung an der Injektions¬ 
stelle, die sich am 10. Januar am Ober¬ 
schenkel einstellte, ging durch Bepudern 
mit Amylum schnell zurück. 

Epikrise: Ein 54jähriger Mann, der 
1893 zuerst an Gelenkrheumatismus er¬ 
krankte, von häufigen und heftigen Rezi¬ 
diven geplagt wurde, bekam Oktober 1907 
einen besonders langwierigen, zu andau¬ 
ernden Rückfällen neigenden Gelenk- 

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rheumatismus, der der Behandlung mit 
den üblichen Mitteln trotzte. Es wurden 
deshalb 32 ccm Menzersches Strepto¬ 
kokkenserum injiziert, wodurch ein all¬ 
mähliches Abklingen des Prozesses ohne 
jeden weiteren Zwischenfall erzielt wurde. 

Die wichtigste Frage für die allgemeine 
Verwendung des Serums ist die: wann 
soll der praktische Arzt das Serum gegen 
Gelenkrheumatismus verwenden? M e n z er 
selbst empfiehlt die Anwendung des Serums 
besonders in akuten Fällen, indem er die 
Salizyltherapie ganz verwirft. In leichteren 
akuten Fällen soll exspektativ verfahren 
werden, in schwereren mit der Serum¬ 
injektion sofort begonnen werden, da ge¬ 
rade in diesen Fällen die Chancen beson¬ 
ders günstig sind. Es leuchtet jedem 
Praktiker ohne weiteres ein, daß dieser 
Standpunkt unhaltbar ist. Wir müssen 
unter allen Umständen die Salizyltherapie, 
die wie keine andere Therapie bei irgend 
einer Krankheit sicher fundiert und daher 
fest eingebürgert ist, zur Anwendung 
bringen. Gerade in leichten Fällen ver¬ 
langt der Kranke Linderung seiner 
Schmerzen, die wir ihm bei der Unschäd¬ 
lichkeit des Mittels keineswegs vorenthalten 
dürfen. Wir brauchen ja darum noch 
nicht den Körper mit Salizyl zu über¬ 
schwemmen, sondern können die Dosierung 
beliebig abstufen — je nach der Intensität 
des Falles. Auch bei subakuten Fällen 
werden wir zunächst die Salizylmedikation 
versuchen, die wir später mit Hydro¬ 
therapie und medikomechanischen Ma߬ 
nahmen wirkungsvoll unterstützen können. 
Sobald aber die Nutzlosigkeit der Salizyl- 
und mechanischen Therapie klar zutage 
tritt, sollen wir dem Patienten die Anwen¬ 
dung des Serums empfehlen und zwar so¬ 
wohl in akuten wie in subakuten Fällen. 
Ebenso müssen wir beim chronischen 
Rheumatismus verfahren, das heißt auch 
hier gilt es zunächst, einen Versuch mit 
altbewährten Mitteln (Heißluftbäder, Dampf¬ 
bäder, Sandbäder, Massage) zu machen; 
versagen diese Mittel, so müssen wir auf 
die Anwendung des Serums dringen. 

Zum Schluß noch einige kurze Bemer¬ 
kungen über die Technik der Injektion. 

Ich verfahre genau wie bei der Injektion 
des Diphtherieheilserums. Sorgfältige Des¬ 
infektion der Außenseite des Oberschenkels 
sowie der Hände des Arztes. Auskochen 
der Spritze (Pravaz 2 ccm) mit 2 Kanülen. 

Die Injektion wird subkutan gemacht; die 
eine Kanüle bleibt drin, während mit der 
anderen die Spritze neu aufgefüllt wird. 

Die zu injizierende Menge richtet sich 

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März 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


111 


nach der Körperkonstitution des Kranken. 
Bei Kindern wird man mit 2 ccm Einzel¬ 
dosis. bei Erwachsenen im allgemeinen 
mit 5 ccm auskommen. Doch kann es 
nötig werden, wie in meinem Fall, 10 ccm 
zu injizieren. Wenn 30 ccm injiziert sind, 
empfiehlt es sich, eine längere Pause 
(1—2 Wochen und mehr) zu machen. 

Ich bin weit entfernt, aus dem vor¬ 


liegenden einzelnen Fall Schlosse ziehen 
zu wollen für die allgemeine Verwendbar¬ 
keit des Menzersehen Serums, doch hat 
mir der Fall gezeigt, daß wir in ver¬ 
zweifelten Fällen von Polyarthritis die 
Möglichkeit haben, mit der Seruminjektion 
einen eklatanten dauernden Erfolg zu er¬ 
zielen; und darauf allein kommt es an: 
der Erfolg entscheidet alles! 


Ams der chirurgischen Abteilung des städtischen Auguste Viktoria-Krankenhauses 

zu Schöneberg. 

Die chirurgische Behandlung der Tuberkulose. 

Von W. Kausch. 


I. Die Gelenk- und Knochen¬ 
tuberkulose* | 

Unter chirurgischer, d. h. der chirurgi¬ 
schen Behandlung zugänglicher Tuberku¬ 
lose verstand man früher in der Haupt¬ 
sache die Tbc. der Knochen und Gelenke, 
ferner die der Sehnenscheiden, der äußeren 
LymphdrOsen, der Hoden; die der Haut j 
ist ja bereits ein Grenzgebiet zur Derma- | 
tologie. Heute, wo der Chirurg zahlreiche j 
innere Organe erfolgreich operativ angreift, | 
ist das Gebiet der chirurgischen Tbc. weit 
umfangreicher, gibt es doch kaum ein Or¬ 
gan, dessen chirurgische Behandlung bei 
tuberkulöser Erkrankung nicht in Betracht 
käme. Wegen der Verschiedenheit der 
Behandlung erscheint es zweckmäßig, die 
Tbc. der Gelenke und Knochen getrennt 
von der der übrigen Organe zu besprechen. 

Die Ansichten der Chirurgen über die 
Behandlung der Knochen- und Gelenk- 
Tbc. gehen auch heute noch weit 
auseinander. Wenn es auch Chirurgen, 
die prinzipiell jede Tbc. operativ angreifen 
oder prinzipiell jede Operation verwerfen, 
heute nicht mehr gibt, so ist doch recht 
scharf ein radikaler und ein konservativer 
Flügel zu unterscheiden. Zu ersterem 
rechne ich König sen. und seine Schule 
(Riedel, Hildebrand, Martens usw.), 
Gar re und viele andere, zu letzterem 
Bier, die Mikuliczsche Schule und andere. 
Zwischen den beiden Extremen liegen zahl- j 
reiche Zwischenstufen. 

Aus dem radikalen Lager sind in den , 
letzten Jahren häufiger Publikationen über 1 
die Behandlung der Tbc. erfolgt. Ich will 1 
nur die von König sen., Martens (in | 
dieser Zeitschrift), Garr£ nennen. Spär- j 
licher sind die Arbeiten aus dem konser- , 
vativen Lager; sie stammen fast sämtlich 
von Bier und seiner Schule (Klapp). Es 
scheint mir um so zweckmäßiger, der Be- | 
handlung der Knochen- und Gelenk-Tbc. ' 
auch von anderer konservativer Seite nahe | 


zu treten, als die Bi er sehe Schule wesent¬ 
lich anders vor geht als z. B. die Mikulicz sehe. 
Aus dieser ist in letzter Zeit wenig hier¬ 
über publiziert worden; Tietze hat über 
die kindliche Tbc. geschrieben, Henles 
umfassende Arbeit liegt bereits 12 Jahre 
zurück. 

Besonderes Gewicht lege ich in 
meiner Abhandlung auf das Vor¬ 
gehen bei Abszessen und bei Fisteln; 
namentlich letztere werden meiner Erfah¬ 
rung nach meist vernachlässigt oder wenig¬ 
stens nicht systematisch behandelt. Manche 
erwähnen, wenn sie ausführlich die Be¬ 
handlung der Tbc. besprechen, die Fisteln 
überhaupt nicht, woraus ich schließe, daß 
sie außer der radikalen Therapie, zu der 
sie sich meist alsdann auch bekennen, 
überhaupt keine für die Fisteln würdigen 
oder üben. 

ln Breslau, auf der Mikulicz sehen Klinik, wo 
ich in der konservativen Behandlung der Tbc. 
aufwuchs und sie während 9 Jahren sab, 
nahmen wir an, daß vielleicht örtliche und so¬ 
ziale Verhältnisse mitsprächen, wenn manche 
Chirurgen mit der konservativen Behandlung 
so unzufrieden waren, trotz erneuter Versuche 
mit ihr sie immer wieder fallen ließen und zur 
radikalen zurückkehrten. Es war mir daher 
wertvoll, ein anderes Material, das Schöneberger, 
d. h. das Groß-Berliner, kennen zu lernen. Die 
sozialen Verhältnisse der ärmeren Bevölke¬ 
rungsschichten in Breslau und Berlin, nament¬ 
lich Schöneberg, sind zweitellos verschieden, 
in Schöneberg wesentlich günstiger. So könnte 
man sagen: Der Aufenthalt im Krankenhause 
als solcher muß auf sozial schlechter Gestellte 
günstiger einwirken als auf die besser Situierten. 
Nachdem ich das Schöneberger Material über 
3 Jahre lang kenne, muß ich sagen, die kon¬ 
servative Therapie der Tbc. gibt mir im ganzen 
dieselben zufriedenstellenden Resultate wie in 
Breslau. Ich bin, wie ich sogleich vor¬ 
wegnehmen will, im allgemeinen der 
konservativen Behandlung der Gelenk- 
und Knochen-Tbc. treu geblieben, wenn 
ich auch in einigen Tunkten etwas 
aggressiver geworden bin. 

Ich will nun sogleich zur Behandlung, 
wie ich sie ausführe, übergehen, wobei ich 


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März 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


natürlich auch das Vorgehen anderer be¬ 
sprechen werde; ich beginne mit der all¬ 
gemeinen Behandlung, weil sie in 
mancher Beziehung die lokale beeinflußt. 

Im ganzen finde ich und habe es ge¬ 
sehen , wo ich auch tätig war und wo ich 
sonst hingekommen bin, wird der allge¬ 
meinen Behandlung von den Chirurgen zu 
wenig Gewicht beigelegt. Es gilt das 
übrigens keineswegs allein für die Tbc., 
sondern auch sonst. Der Chirurg, über¬ 
haupt jeder Spezialist, jeder nicht allge¬ 
meine Arzt, neigt nur allzu sehr dazu, 
allein das örtliche Leiden zu behandeln, 
das für ihn von Interesse ist, nicht den 
ganzen Menschen. Bei der Tbc. kommt es 
auf die allgemeine Behandlung aber ganz 
besonders an. Wohl wird überall, in Lehr¬ 
büchern „und Publikationen, Vorträgen und 
Diskussionen betont, wie wichtig sie sei, in 
praxi wird sie aber meist sehr vernach¬ 
lässigt. 

Luft, Licht, Sonne braucht jeder ge¬ 
sunde Mensch, noch mehr jeder Kranke, 
zumal der an einer chronischen Krankheit 
Leidende. Darum soll der Tuberkulöse 
nur wenn es besser für ihn ist an das Bett 
gefesselt werden; es soll sorgsam abge¬ 
wogen werden, ob die Bettruhe dem lo¬ 
kalen Leiden mehr nützt als sie der allge¬ 
meinen Verfassung schadet. Bei einer 
floriden Erkrankung der unteren Extremi¬ 
täten und der Wirbelsäule ist ohne Zweifel 
die Ruhe angezeigt. 

Muß der Kranke aber das Bett hüten, 
so sei das Zimmer hell und luftig. Nach 
Möglichkeit werde er ins Freie gefahren, 
in die Sonne, bei schlechtem Wetter unter 
gedeckte Veranden. Martens scheint mir 
der einzige Großstadt- oder überhaupt 
Stadtchirurg zu sein, der dies im Kranken¬ 
hause konsequent, selbst nachts, durch¬ 
führt. Ich stoße auf die größten Schwie¬ 
rigkeiten, es bei mir durchzusetzen. Den 
Schwestern und dem übrigen Personale ist 
das Hin- und Herfahren der Betten unbe¬ 
quem, offenbar sind es auch die weiten 
Gänge, die sie dabei machen müssen, um 
zu ihren Patienten zu gelangen. Und die 
Stationsärzte interessieren sich nach meiner 
Erfahrung auch nur wenig für die Frisch¬ 
luftbehandlung. Gern setze ich auch die 
kranke Stelle unbedeckt oder nur leicht zu¬ 
gedeckt den Sonnenstrahlen aus, zweck¬ 
mäßig gelagert und bedeckt erkältet sich 
der Patient auch bei kühler Witterung so 
durchaus nicht. 

Von größter Bedeutung ist selbstver¬ 
ständlich die Ernährung. Eine regel¬ 
rechte Mastkur halte ich nach meinen Er¬ 


fahrungen bei der chirurgischen Tbc. sicht 
für notwendig. Viel Milch und sonstige 
kräftige Ernährung; Nährpräparate, wenn 
der Appetit darniederliegt; bei kleinen 
Kindern Lebertran, kommen hier in Be¬ 
tracht. Klapp gibt Malz und sah beson¬ 
ders bei der Schrothschen Kur gute 
Erfolge. 

Großes Gewicht lege ich auf die Be¬ 
handlung mit Solbädern oder mit der sie 
ersetzenden Schmierseife. Da wird nach 
meiner Erfahrung viel zu wenig auf die 
regelrechte Durchführung der Kur ge¬ 
achtet. Die meisten Aerzte geben einfach 
an, der Patient solle Solbäder erhalten; wie 
sie gemacht werden sollen, ordnen sie 
nicht an. Die Folge davon ist, daß das 
Personal die ihm richtig erscheinende Salz¬ 
menge in Wasser tut von ihm richtig 
scheinender Temperatur. Meist wird viel 
zu wenig Salz und das Wasser viel zu 
heiß genommen. Es ist durchaus erfor¬ 
derlich, daß das Personal genau instruiert 
und kontrolliert wird. 

Das Salzbad soll nach Möglichkeit die Be¬ 
schaffenheit haben, die wir von dem natür¬ 
lichen, dem Seebade her, als die beste kennen. 
3 7*% sei der Salzgehalt, bis zu 4°/o kann er 
steigen. Verhältnismäßig gleichgültig ist es, 
welches Salz genommen wird, ob Steinsalz 
oder Viehsalz, Staßfurter Abraumsalz oder 
Sole. Ich bevorzuge eine Mischung von 
gleichen Teilen Staßfurter Salz und des billig¬ 
sten zu erlangenden Kochsalzes, meist ist das 
wohl rotes Viehsalz. 

Die Temperatur sei lau, sie sei bei Schwäch¬ 
lichen anfangs höher, gehe im Laufe der Zeit 
kälter werdend bis auf 22° C herab. Der 
Patient bleibe nicht zu lange im Bade, anfangs 
5 Minuten, allmählich zunehmend bis 10 Minuten. 
Jeden zweiten Tag werde ein Bad genommen, 
der Sonntag wird ausgelassen, also 3 Bäder in 
der Woche. 

Wo auf die Kosten gesehen werden muß, 
wird das Badewasser mehrmals, bis 3 und 4mal 
benutzt; es bleibt in der — meist hölzernen — 
Wanne und ein Teil desselben wird jedesmal 
bis zum Kochen erhitzt. 

Einen ganz außerordentlichen Fort¬ 
schritt stellt meines Erachtens die Schmier¬ 
seifenkur nach Kapesser dar, deren Ein¬ 
führung wir Hoffa hauptsächlich verdanken. 
Sie ersetzt vollständig die Solbadkur, ist 
viel billiger als diese und läßt sich auch 
bei Patienten, die ihrer Wunden oder Ver¬ 
bände (Gips, Extension) wegen Solbäder 
nicht nehmen können, ausgezeichnet durch¬ 
führen. Namentlich in der Praxis paupe- 
rum, wenn die Patienten aus der Kranken¬ 
hausbehandlung entlassen sind, ist diese 
Kur zweckmäßig. Aber auch sie muß 
regelrecht durchgeführt werden, soll sie 
helfen. 

Beim Erwachsenen wird ein Eßlöffel Schmier¬ 
seife (Sapo calinus venalis) genommen and in 


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März 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


113 


die Haut mit der flachen Hand eingerieben 
solange, bis die Seile verschwunden ist und 
die Haut eine glänzende Fläche darstellt. Dies 
dauert etwa 5—10 Minuten. Nun läßt man den 
Patienten eine halbe Stunde lang liegen und 
wäscht dann mit einem Lappen oder Schwamm 
und lauem Wasser oberflächlich die Seife ab, 
trocknet dann den Patienten. Diese Waschung 
soll keine energische sein, damit die in der 
Tiefe sitzende Seife nicht wieder heraus¬ 
geholt wird. Die Einreibung findet, wie das 
Solbad, jeden zweiten Tag statt, abwechselnd 
wird die vordere Rumpfseite, die Rückseite, 
die unteren Extremitäten, diese eventuell 
auch zusammen mit den oberen herange¬ 
nommen. Gern bevorzuge ich bei der Ein¬ 
reibung den befallenen Körperteil, so nament¬ 
lich hei Peritoneal-Tbc. den Bauch. 

Wird die Haut empfindlich oder droht Ek¬ 
zem, so reibe ich am nächsten Tage Vaseline 
ein oder ich lasse diese Körperstelle bei der 
nächsten Einreibung weg. 

Die allgemeine Behandlung läßt sich 
zweifellos am besten an den Orten ge¬ 
stalten, die von jeher unserer Erfahrung 
nach bei Tbc. die günstigsten Erfolge auf¬ 
weisen. Ich nenne sie in der Reihenfolge, 
wie ich sie für die chirurgische Tbc. ein¬ 
schätze: die See, das Solbad, das 
Höhenklima, Waldheilstätten. Zweifel¬ 
los ist die See, und zwar für uns die Nord¬ 
see, weniger die Ostsee, bei Knochen , 
Gelenk- und Drüsen Tbc. weit vorzuziehen. 
Früher war eine solche Seekur nur für 
wohlhabende Leute zu erschwingen, heute 
haben sich aber auch hierin die Verhält¬ 
nisse geändert. Es gibt Stellen an der 
Nordsee, wo auch gegen billiges Entgelt 
Patienten untergebracht und ärztlich be¬ 
handelt werden können. 

Die Stadt Schöneberg ist die erste 
Deutschlands, die ihr eigenes Nordseesana¬ 
torium besitzt; ihre armen Kranken wer¬ 
den hier unentgeltlich, zahlende zu ge¬ 
ringen Pflegesätzen 6 Wochen und länger 
aufgenommen. Es ist das im vergangenen 
Sommer eingeweihte Tbc.Sanatorhim in 
Boldixum bei Wyk auf der nordfriesi¬ 
schen Insel Föhr. Der Arzt des Sanatoriums 
ist chirurgisch ausgebildet, so daß die not¬ 
wendigen Eingriffe dort vorgenommen 
werden können. Patienten, bei denen 
große Eingriffe in Betracht kommen, wer¬ 
den natürlich nicht hingeschickt. Gerade 
für die Gelenk- und Knochen-Tbc. ver¬ 
spreche ich mir von solchen Seehospizen 
viel. Auch die Winterkur kommt bei uns 
immer mehr auf; im Schöneberger Sana¬ 
torium ist der Betrieb im Winter nur wenig 
eingeschränkt. 

Wer die Nordsee nicht verträgt,» den 
schicke ich an die Stellen der Ostsee, wo 
natürliche Solquellen vorhanden sind, so in 
Kolberg und anderen Orten. 

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Kontraindizieit ist die See, wenigstens 
die Nordsee, bei gleichzeitg bestehender 
Tbc. der Lunge, sei sie auch geringen 
Grades. Hier kommen eher die Solbäder 
in Betracht, hauptsächlich aber die Höhen¬ 
kurorte und die abseits der großen Städte, 
meist im Walde angelegten Heilstätten. 

Von den Solbädern habe ich so ausge¬ 
zeichnete Erfolge bei der uns hier inter¬ 
essierenden Tuberkulose gesehen, daß ich 
sie der See fast gleichwertig halte; bei 
letzterer muß aber doch noch etwas hin¬ 
zukommen: Patienten, die überhaupt nicht 
baden, erholen sich an der See ungleich 
mehr als im Solbade, wenn sie dort auch 
nicht baden. 

Erst spät, nachdem längst der Nutzen 
des Höhenklimas für die Lungen Tbc. er¬ 
kannt, begann man auch chirurgische Tbc. 
im Gebirge zu behandeln. Die namentlich 
im Hochgebirge, auch im Winter, von Chi¬ 
rurgen, so von Bernhard im Engadin, 
ferner in Leysin (Wallis) erzielten Er¬ 
folge sind jedenfalls sehr bemerkenswert. 
Offenbar kombiniert sich hier die Höhen¬ 
wirkung mit der Insolation. 

Waldheilstätten, die chirurgische 
Tbc. aufnehmen, besitzen wir in Deutsch¬ 
land bisher kaum; ich kenne nur Hohen- 
lychen. 

Vom Standpunkte der guten Luft aus 
sollte man auch die chirurgische Tbc. eigent¬ 
lich nach Möglichkeit nicht im Kranken¬ 
hause behandeln. Da wir aber nun ein¬ 
mal nicht alle diese Kranken in Kurorten 
unterbringen können, muß man doch zu 
den Krankenhäusern greifen. Für die 
ärmeren, dicht aufeinander wohnenden Be¬ 
völkerungsklassen steht das Krankenhaus 
übrigens, wie ich oben bereits andeutete, 
heute zweifellos eine Art Kurort dar. Und 
die schwereren Fälle von Tbc., namentlich 
die der unteren Extremitäten, werden schon 
aus dem Grunde, wenigstens bis das floride 
Stadium vorbei ist, am zweckmäßigsten im 
Krankenhause behandelt, weil die zur Be¬ 
handlung erforderlichen Einrichtungen hier 
die besten sind und die Krankenhausärzte 
auch die größte Erfahrung darin haben. 

Das Ideal für die Behandlung schwerer 
Knochen- und Gelenk-Tbc. wäre meiner 
Ansicht nach folgendes: Krankenhäuser, 
für das nördliche Deutschland an der See, 
für das mittlere und südliche im Gebirge 
gelegen, mit allen Mitteln und Aerzten zur 
chirurgischen Behandlung auch der schwer¬ 
sten Tbc. ausgestattet (ähnlich wie Berck- 
sur-mer). Der Aufenthalt müßte bis zur 
völligen Genesung ausgedehnt werden 
können; Kinder müßten daher Schulunter- 

15 

Original fram 

UNIVERSITY OF CALIFORNIA 




IM 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


März 


rieht erhalten, je nach der sozialen Lage 
verschiedenen. Das Gmelinsche Päda¬ 
gogium bei Wyk auf Föhr ist meines 
Wissens bisher das einzige deutsche See¬ 
sanatorium mit höherer Schulbildung. 
Solche Anstalten, wie ich sie im Auge 
habe, in größerer Zahl erfordern freilich 
ungeheuere Kosten und stehen in ferner 
Zukunft. 

Kleine Kinder, die getragen werden 
können und müssen, und Erwachsene, die 
an Tbc. der oberen Extremitäten leiden, 
abgesehen von den ganz schweren Formen, 
ferner solche der unteren, wenn das floride 
Stadium vorübergegangen ist, werden am 
besten ambulant behandelt. 

Als weitere Methode der Allgemeinbe¬ 
handlung ist dann die mit spezifischen, 
gegen die Tbc. gerichteten Mitteln anzu¬ 
führen. An erster Stelle ist da das Tuber¬ 
kulin zu nennen. Seit die Hochflut vor¬ 
bei, als es vor nunmehr fast zwei Dezen¬ 
nien auf kam, sind immer wieder von ein¬ 
zelnen Versuche mit ihm angestellt wor¬ 
den. Es sind auch unzweifelhaft Erfolge 
bei der chirurgischen Tbc. damit erzielt 
worden, anscheinend auch bei der Gelenk- 
und Knochen-Tbc., und zwar mit den 
kleinen, keine Reaktion hervorrufenden 
Dosen. Es kann sowohl das Alt- wie das 
Neutuberkulin angewandt werden. Im ganzen 
ist die Behandlung aber doch zu unsicher 
und langwierig; sie wird wohl auch nur 
von wenigen Chirurgen richtig und kon¬ 
sequent durchgeführt; ich zweifle aber nicht, 
daß sie noch eine Zukunft hat. Dasselbe 
läßt sich über andere Tuberkuline und über 
die Tbc. Sera sagen. 

Der Behandlung mit Medikamenten, 
werden sie subkutan, intravenös (Zimt¬ 
säure, Kantharidin) oder per os (Kreosot, 
Guajakol) eingegeben, kommt heute keine 
erhebliche Bedeutung mehr zu. 

Ich gehe nun zur lokalen Behand¬ 
lung der erkrankten Gelenke und Knochen 
über. Man kann da den Stoff verschieden 
angreifen. Die verschiedenen Behandlungs¬ 
methoden können nacheinander besprochen 
werden, oder ich kann die tuberkulösen 
Erkrankungen ihrer Art und Schwere nach 
abhandeln, oder ich kann schließlich die 
einzelnen Gelenke und Körperabschnitte 
nacheinander durchgehen. Mir erscheint 
als das zweckmäßigste, ersteres Vorgehen 
einzuschlagen; ganz starr kann ich mich 
aber nicht hieran halten. Selbstverständ¬ 
lich ist es, daß ich mich, soweit es mög¬ 
lich und nötig ist, auch auf die einzelnen 
Körperabschnitte und auf die Schwere der 
Erkrankung beziehen werde. Ich beginne 

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mit den physikalischen Heilmethoden, 
die ich den operativen gegenüber stelle. 

Ruhigstellung und Entlastung ist 
seit lange und war bis vor kurzem allge¬ 
mein üblich bei der Behandlung der Gelenk- 
Tbc. In neuerer Zeit, seit der Aera der 
Stauung und Saugung, weichen manche, in 
ester Linie Bier selbst, davon ab; sie 
fixieren die erkrankten Gelenke überhaupt 
nicht mehr, um einer Versteifung vorzu¬ 
beugen. Bier (Klapp) fixiert nur noch 
bei Koxitis, und zwar ausschließlich durch 
den Gipsverband. Nach meiner und wohl 
der Mehrzahl Erfahrung ist aber die Ruhig¬ 
stellung bei der beginnenden Tbc. und 
überhaupt bei allen schwereren Formen 
von so außerordentlich günstiger Wirkung, 
daß ich ihr unbedingter Anhänger geblieben 
bin; trotz der Stauung, die ich viel und 
gern anwende, fixiere ich. Das einzige 
Gelenk, bei dem ich hier eine gewisse 
Ausnahme mache, ist das Schultergelenk. 

Hier genügt mir, abgesehen von den ganz 
schweren Formen, die Mitelia. 

Die Ruhigstellung kann in sehr verschie¬ 
dener Weise durchgeführt werden. In 
erster Linie stehen sich hier zwei Metho¬ 
den gegenüber: Der Extensions verband 
und der Gipsverband. Jeder von ihnen 
hat Vorzüge und Nachteile; ich will sie zu¬ 
erst aufzählen. 

Von vornherein sei bemerkt, daß der Ex¬ 
tensionsverband an den tuberkulös erkrankten 
oberen Extremitäten kaum je Anwendung 
findet aus dem einfachen Grunde, weil hier 
sein Nachteil, die Fesselung des Patienten an 
das Bett, in keinem Verhältnis steht zu seinen 
hier meist geringen Vorzügen. Auch am Fuße 
kommt er nicht in Betracht; es bleibt also das 
Hüft- und Kniegelenk, ferner die Wirbelsäule in 
ihrer ganzen Länge. Und auch bei der Tbc. 
des Kniegelenks wende ich ihn in der Regel 
nur an, wenn pathologische Stellungen vorhan¬ 
den sind. Bei keiner der Erkrankungsformen 
des Kniegelenks an sich scheint die Entlastung 
durch Zug wesentlich mehr zu wirken als die 
Ruhigstellung und das Auf hören der Belastung. 

Es bleibt demnach ein verhältnismäßig kleines 
Gebiet für den Extensionsverband übrig. 

Mittels des Extensionsverbandes wird 
eine Entlastung des erkrankten Gelenkes 
erzielt, wie das bei keiner anderen Methode 
möglich ist. 

Eine gewisse Entlastung stellt übrigens be- 
' reits die Bettruhe dar für die Wirbelsäule 
und die unteren Extremitäten; es ist aber nur 
eine Entlastung vom Druck der physiologi- 
1 sehen Belastung. Sie reicht bei schwerer Tbc. 

| nicht aus; die durch den Extensionsverband 
gesetzte Entlastung ist weit wirkungsvoller. 

Ich finde, daß heute auf die Distrak- 
tion 1 ) der Gelenkenden, die der Zugver- 

*) Die Ausdrücke Extensionsverband, Streck¬ 
verband haben mir, solange ich Chirurg bin, nie 
recht gefallen wollen. Das Wort „extendere“ ist 

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März 


Oie Therapie der Gegenwart 1910. 


115 


band herbeiführt, nicht genügend Gewicht 
gelegt wird. Nur F. Krause würdigt sie. 
Nach meiner Ueberzeugung ist sie das 
beim Extensionsverband ausschlaggebende, 
auf ihr beruht seine Ueberlegenheit gegen¬ 
über anderen entlastenden Methoden. Daß 
bei einem gut angelegten und längere Zeit 
stark ziehenden Extensionsverband eine 
Diastase der Gelenkenden zustande kommt, 
ist unzweifelhaft (F. Krause), und daß 
eine solche bei Erkrankung der Gelenke, 
namentlich, wenn die überknorpelten Flä¬ 
chen gelitten haben, günstig wirken kann, 
ist recht plausibel. Auf diese Distraktion 
der Gelenkenden, die absolute Entlastung, 
lege ich mehr Gewicht als auf die absolute 
Ruhigstellung. 

Die Ruhigstellung, die der Eztensions¬ 
verband herbeiführt, ist im allgemeinen 
keine vollständige, soll es auch nicht sein, 
ich will ja sogar durch den Streckverband 
eine Korrektion pathologischer Stel¬ 
lungen herbeiführen. Es ist dies ein 
weiterer ganz außerordentlicher Vorzug 
des Zugverbandes; der Gipsverband er¬ 
laubt nur ein gewaltsames Redresse¬ 
ment, und ein solches ist bei florider Tbc. 
so außerordentlich gefährlich, daß ich es 
vollständig verwerfe. Ich habe selbst bei 
anscheinend ausgeheilter Tbc. nicht gar so 
selten ein Aufflackern erlebt, wenn gewalt¬ 
sam redressiert wurde. Wie spielend und 
schmerzlos, ohne Narkose, beseitigt dem¬ 
gegenüber der Zugverband pathologische 
Stellungen! 

Der bei Kozitis angelegte Zugverband 
erlaubt, namentlich so wie ich ihn anlege, 
bei horizontal suspendiertem Beine Bewe¬ 
gungen der Hüfte. Es ist auffallend, wie in 
Fällen, wo zuvor jede geringste Bewegung 
unmöglich oder sehr schmerzhaft war, 
kurze Zeit nach Anlegung des Extensions¬ 
verbandes seitwärts pendelnde Bewegungen 
ohne jeden Schmerz ausführbar sind und 
nach einiger Zeit auch vom Patienten selbst 

medizinisch festgelegt für Strecken als Gegensatz zu 
Beugen. Das wesentliche des Extensionsverbandes 
ist aber nicht die Streckung der Extremität, sondern 
der Zug. Ich kann den Extensionsverband anlegen 
bei lauter gebeugten Gelenken, z. B. wenn ich wegen 
Humerusfraktur extendiere und der Patient halb auf¬ 
recht im Bette sitzt, der Ellbogen rechtwinklig ge¬ 
beugt ist. Einen solchen Verband hatten wir als 
typischen auf der Mikuliczschen Klinik. Ich habe 
auch schon, um Streckkontrakturen des Knies zu be¬ 
zwingen, Extensionsverbftnde angelegt, die seine Beu¬ 
gung bezweckten. Die bei Oberschenkel fraktur 
kleiner, noch unreiner Kinder Qbliche vertikale Sus¬ 
pension ist ein Extensionsverband in rechtwinkliger 
Beugestellung des Hüftgelenks. Ich würde am lieb¬ 
sten den Ausdruck Extensionsverband durch Dis¬ 
traktionsverband, Streckverband durch Zugver¬ 
band ersetzt sehen. 

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vorgenommen werden. Schaden habe ich 
nie davon gesehen, ich glaube, es beugt 
dies hingegen der Versteifung vor. 

Der Distraktionsverband erlaubt eine 
ständige Beobachtung der erkrankten Kör¬ 
perstelle. Er laßt ferner eine Behandlung 
mit Stauung, Punktion, eine Fistelbehand¬ 
lung zu, was alles beim Gipsverband nicht 
oder doch nicht ordentlich möglich ist, 
man mag ein noch so schönes Fenster in 
ihn schneiden. Es ist keine Frage, daß die 
vorstehenden Behandlungsmethoden sich 
nicht entfernt so gut wie beim Zugverband 
durchführen lassen. 

Ein zweifelloser Nachteil des letzteren 
ist, daß er den Patienten an das Bett fesselt. 
Deshalb soll er auch nur angewandt wer¬ 
den, solange seine Vorteile diesen Nach¬ 
teil übersteigen. Ich benutze ihn bei allen 
frischen Fällen, ferner bei den schweren 
Fällen so lange, bis der floride Prozeß 
vollständig abgelaufen ist, was ich nach 
der Schmerzhaftigkeit beurteile; dann bei 
pathologischen Stellungen zur Beseitigung 
dieser. Sobald es möglich ist, ersetze ich 
ihn durch einen Gipsverband oder durch 
Apparate. 

Ein weiterer Nachteil ist, daß er, am 
Hüftgelenk angewandt, gelegentlich ein 
schlotterndes Kniegelenk zur Folge hat, 
ferner auch Versteifungen der unterhalb 
des erkrankten Gelenkes gelegenen Ge¬ 
lenke. Was letztere betrifft, so sind sie 
jedenfalls meist harmloser als die durch 
den Gipsverband herbeigeführten Verstei¬ 
fungen. Und von Schlottergelenken, die 
man bei gut angelegtem Streckverband 
überhaupt nur selten sieht, habe ich nie 
dauernde Schädigung gesehen. 

Ich möchte an dieser Stelle einiges über 
die Technik des Gewichtszugverbandes 
bemerken. 

Ich lege ihn im ganzen so an, wie wir es 
auf der Mikuliczschen Klinik taten. Es wird 
eine dorsale Gipsschiene aus gestärkter Gaze 
angefertigt, die genau auf das Bein modelliert 
wird; nach 12—24 Stunden ist sie trocken. 
Nun wird der Extensionsverband angelegt. 1 ) 
Ich nehme entweder Segeltuch heftpflaster¬ 
streifen, Leukoplast oder gewöhnliches, oder 
ich nehme auch die Filzstreifen und die 
Heusnersche Klebemasse. In neuerer Zeit 
verwende ich auch viel eine von Nordmann 
auf meiner Abteilung eingeführte Methode: 
weiche Flanellstreifen werden mit Celli tlösung 
am Beine befestigt; sie halten unzweifelhaft weit 
besser als das vorher erwähnte, haben aber 
doch mehrmals Blasen abgegeben, hauptsäch¬ 
lich an den Stellen, wo Luft hinzutreten konnte, 


l ) Nicht unzweckmäßig ist es, namentlich bei 
Frakturen, sogleich die Extensionsstreifen anzulegen 
und -wickeln und auf ihnen die dorsale Gipsschienc 
zu modellieren. 

15 * 

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116 Die Therapie der Gegenwart 1910. März 


seltener im ganzen Verlaufe der Streifen. Zur- 
zeit nehme ich meist Flanellstreifen und die 
Mastixlösung v. Oettingens, was sich mir 
bisher vorzüglich bewährte. Bei den Heusner- 
sehen Streifen nehme ich den Metallbügel, 
sonst das hölzerne Spreizbrett. 

In jedem Falle von Extension an den Beinen 
wegen Tbc. lasse ich die Extremität frei schwe¬ 
ben. Die 3teiligen Matratzen, die besonders für 
diesen Zweck bestimmt sind, werden so gelagert, 
daß der Patient nur vom Kopf bis einschlie߬ 
lich dem Gesäß auf ihnen liegt. Im unteren 
Teile des Bettes befindet sich nichts als die 
stählerne Matratze; das gesunde Bein wird auf 
eine weiche Unterlage gelegt. Das kranke Bein 
wird an einem eisernen Galgen aufgehängt, 
der an dem Kopf- und Fußende des Bettes be¬ 
festigt ist. Ich habe diese Galgen seinerzeit 
in Breslau konstruiert, damit die Patienten 

Fig. 1. 



ohne Aenderung an der Extension zum Rönt¬ 
genapparate gefahren werden können. Zuvor 
hatten wir auf der Breslauer Klinik nur höl¬ 
zerne Galgen, die auf dem Fußboden standen, 
oberhalb und unterhalb des Bettes. In die 
dorsale Gipsschiene sind Ringe eingegipst; 
durch Karabinerhaken und starken Bindfaden 
wird das an die Schiene gewickelte Bein am 
Galgen aufgehängt. 

Im allgemeinen schwebt das Bein parallel 
zum Bette (Fig. 1), je nach dem Bedürfnis 
wird es aber auch in jede andere Stellung ge¬ 
bracht. So beseitige ich starke Beugekontrak¬ 
turen der Hüfte, namentlich wenn sich eine 
Lendenlordose ausgebildet hat, in folgender 
Weise: Die Matratzen werden hoch aufein¬ 
ander getürmt; damit sie sich nicht eindrücken, 
wird unter die oberste ein Brett gelegt. Nun 
wird das Bein allmählich immer mehr nach 
unten gezogen, so daß ein Winkel von bis 45° 
entsteht (siehe Fig. 2). Gibt der Patient mit 
seiner Wirbelsäule nach, indem er den Bauch 
vorwölbt, so lege ich auf ihn einen Sandsack. 

Ein weiterer Vorteil der Lagerung ist. daß 
der Patient sich leicht hin- und herbewegen 
kann, daß das Bett bequem zu machen geht und 
daß die Bettschüssel sich leicht unterschieben 

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läßt, ferner wird nur ein geringer Teil der an¬ 
gehängten Gewichte durch die Reibung in An¬ 
spruch genommen. 

Die Extension an sich führt gleichzeitig 
ohne weiteres zur Abduktion. Dies kann nur 
erwünscht sein, wenn das Bein zuvor in Ad¬ 
duktion stand oder wenn es reell zu kurz ist; 
die Abduktion führt ja eine scheinbare Ver¬ 
längerung des Beines herbei. Eine bestehende 
Abduktion muß in besonderer Weise ausge¬ 
glichen werden: es wird ein Zugverband an 
beiden Beinen angelegt, eine Kontraextension 
auf der kranken Seite; das gesunde Bein wird 
nun stärker belastet als das kranke. F. Krause 
beschreibt dies von Volkmann stammende 
Verfahren genau und bildet es ab. 

Bei Subluxation des Kniegelenks füge ich 
zum Längszuge noch zwei vertikale hinzu, der 
am Tibiakopfe angreifende zieht nach oben, 


Fis- 2. 



der an den Femurkondylen angreifende nach 
unten. 


Zur Kontraextension stelle ich das Fu߬ 
ende des Bettes hoch. Ich benutze hierzu in¬ 
einander passende Holzklötze (siehe Fig. 1), 
seltener besondere eiserne Vorrichtungen, die 
hochschraubbar sind (Fig.2): letztere stehen nicht 
so fest. Der Rumpf bleibt in der gewöhnlichen 
Lage, nur der Kopf wird erhöht. Diese Kontra¬ 
extension durch die Körperschwere erscheint 
mir viel zweckmäßiger und für den Patienten 
angenehmer als die durch eine um die gesunde 
oder kranke Hüfte gelegte Schlinge. Ich füge 
diese Schlinge gerne bei Kindern, die sonst 
nicht ordentlich liegen bleiben, zur Kontraexten¬ 
sion durch Schrägstand des Bettes hinzu: als¬ 
dann muß aber, wenn die Schlinge um die ge¬ 
sunde Hüfte gelegt wurde, meist durch eine 
locker um das Fußgelenk gelegte weitere 
Schlinge verhindert werden, daß die Kinder 
das gesunde Bein aus der Hüftschlingc heraus¬ 
ziehen. Die Schlinge zur Kontraextension be¬ 
festige ich stets fest am Bettpfosten. Es ist 
völlig zwecklos, an dieser Stelle auch noch ein 
Gewicht anzuhängen, wie das meist geschieht. 

Zur Extension an der Wirbelsäule 
nehme ich die Glisson sehe Schlinge. In der 
Regel hänge ich kein Cewicht an sie, sondern 
ich befestige sie fest am Bette, dessen Kopf¬ 
ende ich hoch stelle. Sitzt die Erkrankung 
tiefer als etwa am vierten Brustwirbel, so füge 
ich die Achselschlinge hinzu und stelle das 

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März 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


11 7 


Bett wesentlich höher. Von der unteren Brust¬ 
gegend an bevorzuge ich die Extension an 
beiden Beinen bei hoch gestelltem Fußende des 
Bettes; ich führe sie aber nicht aus, wenn sen¬ 
sible oder trophische Störungen an den Beinen 
bestehen. Alsdann beschränke ich mich auf 
die ruhige Rückenlage. Liegt ein Gibbus vor, 
so wird in jedem Falle ein Kissen unter ihn 
gelegt; das Kissen wird am besten mit Heft¬ 
pflaster am Rücken des Patienten befestigt, 
damit es stets richtig liegt. Die Rauchfufi¬ 
sche Schwebe habe ich seit langer Zeit nicht 
mehr angewandt. 

Der Gipsverband hat unzweifelhaft 
den Vorzug, daß er eine Fixation herbei¬ 
führt wie keine andere Vorrichtung. Da¬ 
für ist unter ihm aber auch die Atrophie 
der Muskulatur eine stärkere, ferner wer¬ 
den die Gelenke leichter steif, und zwar 
nicht allein das erkrankte, sondern über¬ 
haupt die von ihm eingeschlossenen. 

Ein weiterer Nachteil ist, daß er meist 
keine vollständige Entlastung herbeiführt. 
Bei liegenden Patienten bewirkt er in dieser 
Beziehung kaum mehr wie die einfache 
Bettruhe, bei Herumgehenden schützt er aber 
meines Erachtens im allgemeinen nicht völlig 
vor der durch das Auftreten bedingten Be¬ 
lastung. Man mag den Gipsverband noch so 
zweckmäßig anlegen, die Fußsohle nach 
D o 11 i n g e r polstern oder, wie ich und viele es 
auch oft machen, einen eisernen Bügel ein¬ 
gipsen, der den Fuß frei bewegen läßt und 
vor Belastung schützt; an den Femur- und 
Tibiakondylen muß der Verband doch 
einigermaßen fest sitzen, sonst ist eben das 
Bein nicht fixiert, und so pflanzt sich der 
Druck der Belastung auf die Hüfte fort. Von 
einer Entlastung durch das Gewicht des 
Beines kann bei einem gut sitzenden Gips¬ 
verband keine Rede sein, das ist Illusion! 

Im übrigen läßt sich meiner Ansicht 
nach das Hüftgelenk des Herumgehenden 
auch durch keinen Gipsverband, sei er 
noch so gut angelegt, vollständig fixieren, 
aus dem Grunde, weil sich durch keinen 
solchen Verband das Becken auf die Dauer 
absolut feststellen läßt. Da müßte man 
schon den anderen Oberschenkel und den 
Rumpf bis zur Achselhöhle mit eingipsen. 
Eher läßt sich durch einen gut angelegten 
Gipsverband das Knie- und noch besser 
das Fußgelenk von dem Drucke der Be¬ 
lastung beim Auftreten freihalten. 

Das eben über das Hüftgelenk Gesagte 
gilt in gleicher Weise für die Wirbelsäule. 
Kein noch so gut angelegtes Gipskorsett, 
kein noch so sinnreich konstruiertes ortho¬ 
pädisches Korsett fixiert die Wirbelsäule 
vollständig, von Entlastung gar nicht zu 
reden. Am ehesten ist dies noch bei der 
Erkrankung der Halswirbelsäule möglich, 

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wenn sich der Verband gut an den Hinter¬ 
kopf und das Kinn anstemmt. Bei den 
tieferen Teilen der Wirbelsäule führt das 
feste Gipskorsett, auch wenn es dem Pa¬ 
tienten in Suspension angelegt wird, keine 
ausreichende dauernde Entlastung herbei. 

Der Extensionsverband leistet da weit mehr 
und deshalb bevorzuge ich ihn bei allen 
floriden Fällen und allen schweren an der 
Wirbelsäule wie auch sonst. 

Die übrigen Nachteile des Gipsverban¬ 
des gegenüber dem Zugverbande habe ich 
schon oben angeführt. 

Aus meiner Darstellung geht bereits 
hervor, daß und warum ich den Exten¬ 
sionsverband bei Tbc. der Hüfte, Wirbel¬ 
säule, weniger des Knies, ausgiebig an¬ 
wende. Die Mehrzahl der Chirurgen läßt 
den Zugverband heute bei der Koxitis vor 
dem Gipsverbande zurücktreten und wendet 
ihn fast nur zur Korrektion pathologischer 
Stellungen an wie König, manche wie 
Bier selbst hierzu nicht; zur Heilung der 
Tbc. an sich wird der Zugverband fast 
nirgends benutzt. Ich kenne aber für 
schwere Fälle von Koxitis kein besseres 
Mittel. 

In recht zweckmäßiger Weise kann man 
die Fixation und Entlastung durch Appa¬ 
rate herbeiführen. In erster Linie stehen 
da die Hessingschen Schienenhülsen- 
Apparate. Niemals ist bei ihnen aber die 
Fixation eine so sichere wie beim Gips¬ 
verbande, niemals die Entlastung eine so 
energische wie beim Streckverbande. Im 
übrigen erlauben die Apparate dadurch, 
daß sie abnehmbar sind, jede lokale Be¬ 
handlung. Vorrichtungen zum Feststellen 
sorgen dafür, daß die gesunden Gelenke 
bewegt werden können, in späteren Stadien 
auch die kranken. Durch weitere ange¬ 
brachte Vorrichtungen können auch patho¬ 
logische Stellungen bis zu einem gewissen 
Grade korrigiert werden, so namentlich die 
Adduktionsstellung. Ich verwende die Ap¬ 
parate gern in den späteren Stadien. Sie 
sind aber leider sehr kostspielig und 
lassen sich nur von Patienten, die leidlich 
zahlungsfähig sind, anschafien, allenfalls 
von Kassen und Armenverbänden. 

Ferner kommen alle Formen der 
Schienenverbände in Betracht; an den 
unteren Extremitäten die Volkmannsche, 
an den oberen Papp-, Holz- und Blech¬ 
schienen. Gern gebe ich abnehmbare Gips¬ 
verbände, die ich zu den Schienenverbän¬ 
den rechne, namentlich beim Fuß- und 
Kniegelenk; ich tue dies aber erst in den 
späteren Stadien, wenn ich dem Patienten 
bereits eine Belastung zumuten kann. Das 

Original frnm 

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118 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Mäiz 


Gipsbett lege ich bei kleinen Kindern an, 
die noch nicht extendiert werden können. 

Das Redressement mit Gewaltanwen¬ 
dung habe ich bereits oben gestreift (S. 115). 
Ich verwerfe es prinzipiell in den frischen 
Stadien, halte es später, mit Vorsicht an¬ 
gewandt, für zulässig; es darf dann aber 
nicht etwa eine Ankylose bestehen und es 
muß Narkose angewandt werden, damit die 
Muskulatur vollständig ausgeschaltet ist. 
Gerne henutze ich dazu beim Hüftgelenk 
die Dittelschen Stangen, auf denen dann 
der Gipsverband angelegt wird. 

Vom Redressement der Wirbelsäule 
nach Calot, mit Anwendung starker Ge¬ 
walt, ist man heute allgemein ganz zurück¬ 
gekommen. Ein vorsichtiges Redressement 
in Etappen, das weniger ein Aufrichten der 
eingeknickten Wirbel als eine kompen¬ 
sierende Lordose der dicht oberhalb und 
unterhalb gelegenen Partien beabsichtigt, 
wird jedoch mit gutem Erfolge ausgeführt. 
Gaugele hat selbst Lähmungen dadurch 
geheilt. 

Die mobilisier ende Behandlungkommt 
bei Tbc. erst in Betracht, wenn der Prozeß 
lange Zeit und sicher ausgeheilt ist. Man 
kann da keine bestimmten Vorschriften 
machen. Je schwerer der Fall ist, um so 
länger muß damit gewartet werden; in 
leichten Fällen beginne ich vorsichtig mit 
manuellem Bewegen, wenn eine voll¬ 
ständige Schmerzlosigkeit etwa */4 Jahr 
lang besteht, bei schweren warte ich Jahr 
und Tag ab. Und überhaupt beginne man 
nicht gleich mit Heilgymnastik und mediko- 
mechanischen Apparaten, sondern zunächst 
mit manueller Bewegung; sobald eine Ver¬ 
schlimmerung auftritt, muß selbstverständ¬ 
lich mit den Bewegungen aufgehört wer¬ 
den. Die Reaktion der Tbc. auf passive 
Bewegungen ist ja so charakteristisch, daß 
man sie in manchen Fällen geradezu diffe¬ 
rentialdiagnostisch gegenüber anderen Ge¬ 
lenkerkrankungen verwerten kann. Früher 
kann man die Massage anwenden, wobei 
aber sorgfältig die erkrankten Partien aus¬ 
zulassen sind. Eine nicht übertriebene 
Massage des Quadrizeps wird auch bei 
noch bestehender schmerzhafter Erkran¬ 
kung des Kniegelenks, die aber bereits im 
Rückgänge sein muß, kaum je schaden. 

Einen großen Fortschritt in der Be¬ 
handlung der Gelenk- und Knochen Tbc. 
stellt meines Erachtens die Erfindung der 
Stauungshyperämie durch Bier dar; 
ich bin ein warmer Anhänger derselben 
und wende sie in Kombination mit der 
Jodoformbehandlung in großem Umfange 
an. Gerade von dieser Kombination hält 

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Bier nichts, während wir auf der Miku- 
liczschen Klinik und auch ich jetzt gute 
Resultate dabei erzielten. Viele haben gar 
keine Erfolge von der Stauung gesehen, 
bei keiner Form der Tbc. (König, Hilde¬ 
brand.) Man hat ihr auch direkt Vor¬ 
würfe gemacht: nach Bier selbst soll die 
Stauung das Entstehen kalter Abszesse be¬ 
günstigen. Ich habe dies nicht finden 
können, würde es aber auch — mit Bier — 
für gar keinen Nachteil halten; im Gegen¬ 
teil, mir sind die Formen von Tbc., bei 
denen sich kalte Abszesse bilden, im all¬ 
gemeinen gar nicht unlieb. Ich habe da¬ 
mit einen Weg gewonnen, den tuberku¬ 
lösen Herd selbst fn bequemer Weise an¬ 
zugreifen, denn der Abszeß führt zu 
ihm hin. 

Die meisten und auch Bier selbst ver¬ 
werfen das Stauen bei bestehenden Fisteln. 

Ich staue auch hier und habe gerade hier¬ 
von im Zusammenhang mit der Mikulicz- 
schen Behandlungsmethode der Fisteln 
(vergl. später) außerordentlich günstige Er¬ 
folge gesehen. Ich habe durchaus den 
Eindruck, als wenn die Fistelbehandlung 
ohne gleichzeitiges Stauen nicht so günstige 
Resultate gibt. 

Sorgfältig sehe ich darauf, daß Biers 
Vorschriften erfüllt werden. Der gestaute 
Körperteil darf sich nicht kühler anfühlen 
als die andere Extremität, wobei selbstver¬ 
ständlich beide in gleicher Weise bedeckt 
oder offen sein müssen. Es darf kein 
Schmerz entstehen, vorher bestandener 
darf auf keinen Fall stärker werden. 

Nicht recht will mir das Befolgen von 
Biers Vorschrift gelingen: Die Stauung 
soll kräftig sein, die Extremität stark blau 
und dabei heiß, jedenfalls nicht kühler als 
die symmetrische. Sobald ich kräftig staue, 
werden mir die Extremitäten kühl, und ich 
staue daher schwächer, offenbar schwächer 
als Bier; gerade hiermit habe ich zufrie¬ 
denstellende Resultate erzielt. Uebrigens 
hat Bier auch Schwierigkeiten, bei Tbc. 
Wärme durch Stauung zu erzeugen. Klapp 
empfiehlt aus diesem Grunde, die Extremi¬ 
tät zuvor in den Heißluftkasten zu stecken 
oder nach Lannelongue 1—2 ccm 
60%ige Chlorzinklösung in die Umgegend 
zu injizieren. 

Ich lasse die Stauungsbinde in der 
Regel nur eine Stunde liegen, nicht bis 
3 Stunden wie Bier. Ueber das Aussetzen 
der Stauung vor und nach der Punktion 
und Injektion vergl. S. 120, bei Fisteln 
vergl. später. 

Schwierigkeit bereitet die Stauung des 
ScluiUergelenks und der lliifte, unmöglich ist 

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März 


Die Therapie der 


sic an der Wirbelsäule außer dem obersten 
Teile des Halses. Am Hüftgelenk habe ich 
immer wieder versucht, durch einen als Spica 
angelegten Gummischlauch zu stauen; ich war 
davon nie recht befriedigt. Hingegen habe ich 
beim Schultergelenk durch einen in derselben 
Weise angelegten Schlauch außerordentlich zu¬ 
friedenstellende Resultate erzielt sowohl bei 
Tbc. als auch in anderen Fällen, wo ich Dauer¬ 
stauung (22 Stunden) anwandte. 

Die aktive Hyperämie, die heiße 
Luft und das Saugen, wenigstens soweit 
es den gesamten erkrankten Körperteil be¬ 
trifft, sollen bei Tbc. nicht angewandt wer¬ 
den. Ueber das Saugen tuberkulöser 
Fisteln mittels Schröpfkopf vergl. später. 

Auch die Röntgenbestrahlung ist 
zur Behandlung der Gelenk-Tbc. versucht 
worden. Die Erfolge sind noch recht spär¬ 
lich und unsicher, auch ist das Verfahren 
namentlich bei Kindern nicht unbedenklich. 
Nach Moser ist die Röntgenbestrahlung 
nur berechtigt bei reiner Kapsel Tbc., 
ferner bei Gelenkversteifungen, wenn die 
Tbc. ausgeheilt ist 

Ich komme nun zur operativen Be¬ 
handlung der Gelenk- und Knochen-Tbc. 
Hier ist scharf zwischen konservativen 
und radikalen Methoden zu unterscheiden. 
Die wichtigste der konservativen ist die 
Injektion von Jodoform-Glyzerin, die 
unzweifelhaft bereits zu den operativen 
Methoden zu rechnen ist; häufig wird sie 
mit der Punktion verbunden. Die konse¬ 
quente Durchführung dieser Behandlung 
verdanken wir Billroth und seiner Schule, 
insbesondere wurde sie von Mikulicz 
weiter ausgebildet — eingefahrt in die Chi¬ 
rurgie wurde das Jodoform bekanndich 
von Mosetig-Moorhof, der es auch be¬ 
reits gegen Tbc. anwandte. Ich bin ein 
überzeugter Anhänger dieser Behandlungs¬ 
methode. Ich weifi wohl, daß sie sehr ge¬ 
wichtige Gegner hat, wie König und seine 
Schule. Ich komme später noch auf die 
Gründe zurück, warum ich glaube, daß 
manche nicht zufriedenstellende Resultate 
mit ihr erzielen. Henle hat seinerzeit das 
Vorgehen der Mikuliczschen Klinik be¬ 
schrieben. Ich führe die Behandlung im 
wesendichen in derselben Weisenaus, möchte 
aber, abgesehen von kleinen Abweichungen, 
noch genauer auf einige Punkte, die mir 
besonders wichdg erscheinen, wie die 
Technik der Punktion und der Fistelbe¬ 
handlung eingehen. 

Ich verwende die Injektion von Jodo¬ 
formglyzerin in allen Fällen von Knochen- 
und Gelenk-Tbc., in denen ich den 
Knochenherd oder das Gelenk erreichen 
kann. Wo es sich um die Injektion in das 

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Gegenwart 1910. 119 


Gelenk selbst handelt, wird von bestimmten 
Stellen ausgegangen, am besten und wenn 
es möglich ist, bei jeder Punktion von einer 
anderen, damit, namentlich bei Gelenken, 
die Taschen besitzen, alle Teile allmählich 
unter Jodoform gesetzt werden. 

Beim Hüftgelenk bevorzuge ich den 
v. Büngnersehen Punkt: Man zieht von der 
Kreuzungsstelle der A. femoralis mit dem hori¬ 
zontalen Schambeinaste eine Linie zur Spitze 
des Trochanter major; wo sie den Innenrand 
des Sartorius schneidet, sticht man senkrecht 
in die Tiefe. F. Krause sticht bei möglichst 
gestrecktem, adduziertem und leicht nach innen 
rotiertem Oberschenkel oberhalb des großen 
Trochanters senkrecht zur Femurachse in der 
Frontalebene ein. Man kann auch vom hinteren 
Rande des Trochanters eingehen; die Haupt¬ 
sache ist, daß man die großen Gefäße nicht 
verletzt. 

Beim Kniegelenk steche ich in der Regel 
abwechselnd — medial und lateral in den 
Gelenkspalt unterhalb der Kondylen, bei Er¬ 
güssen quer unter die Patella oder in die ein¬ 
zelnen Rezessus. 

In das Sprunggelenk geheich unter den 
Malleolen ein, nach oben stechend Beiden kleinen 
Fußwurzelgelenken wähle ich die Stelle, wo nach 
dem Röntgenbilde oder nach dem klinischen Be¬ 
funde die Erkrankung am schwersten ist. Da^ 
gleiche gilt für das Handgelenk. Am Ellen¬ 
bogen gehe ich beiderseits vom Olekranon 
oder dicht über dem Radiusköpfchen ein. Am 
Schultergelenk steche ich nach Krause 
lateral vom Processus coracoideus ein, oder 
auch von seitwärts oder hinten unter das 
Akromion. 

In die Wirbelgelenke und Wirbel injiziere 
ich im allgemeinen nicht. Ich habe es einige 
Male getan, doch war der Erfolg zweifelhaft 
und ich hatte stets ein ungemütliches Gefühl 
dabei. 

Handelt es sich um fungöse Gelenke, 
so injiziere ich mitten in die Fungusmassen 
hinein, bei jeder Punktion an mehreren 
Stellen. Sehe ich auf dem Röntgenbilde 
Knochenherde, die außerhalb des Gelenks 
liegen, so suche ich in diese selbst das 
Jodoformglyzerin einzuspritzen, sofern ich 
nicht radikal vorgehe. 

Zur Injektion nehme ich Spritzen aus 
Glas und Metall mit anschraubbarer Kanüle; 
die Spritze muß Griffe für zwei Finger 
besitzen, damit man große Kraft anwenden 
kann. Das Quantum Jodoformglyzerin, 
welches in ein Gelenk oder in Gewebe ge¬ 
spritzt wird, soll beim Erwachsenen 20 ccm 
nicht übersteigen. So viel Inhalt muß auch 
die Spritze fassen. 

Ich nehme 10% Jodoformglyzerin. Es 
wird nicht sterilisiert wie das manche tun, 
da sich im Glyzerin keine Bakterien halten. 

Auf dem Boden der Flasche, die natürlich 
vor dem Gebrauche geschüttelt werden 
muß, befinden sich Glaskugeln von Klein¬ 
erbsengröße, die verhindern, daß das Jodo¬ 
form sich auf dem Boden der Flasche fest 

Original fram 

UNIVER3ITY OF CALIFORNIA 






120 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


März 


zusammenbackt; bei fehlenden Kugeln hilft 
das kräftigste Schütteln nichts* und so in¬ 
jiziert man dann statt des 10%igen Jodo¬ 
formglyzerins weit schwächeres. 

Auf jede Injektion von Jodoformglyzerin 
folgt eine Reaktion. Die lokale äußert sich 
in Schmerzen, Rötung und Schwellung, die 
allgemeine in Temperatursteigerung bis 390 
und darüber. Die Reaktion tritt bald nach 
der Injektion auf und vergeht nach 1 bis 
3 Tagen, doch bleibt die erhöhte Tempe¬ 
ratur zuweilen auch länger bestehen. Ich 
will eine gewisse Reaktion haben, bleibt sie 
aus, so injiziere ich das nächste Mal mehr. 

Herumgehende Patienten, die an Tbc. 
der unteren Extremitäten leiden, müssen 
sich legen, bis die Reaktion vorüber. Die 
Extensionsbehandlung wird nicht unter¬ 
brochen. 

Zwei bis drei Tage vor der beabsich¬ 
tigten Injektion des Jodoformglyzerins höre 
ich mit dem Stauen auf und beginne erst 
nach Ablauf der lokalen Reaktion wieder 
damit. Nach meiner Erfahrung unterlassen 
dies die meisten; ich halte es für sehr 
wichtig. Alles dieses gilt in gleicher Weise 
auch für Patienten, denen Abszesse punk¬ 
tiert und injiziert werden. 

Zur Anästhesierungnehme ichSchleich- 
sche Lösung, gern auch den Aetherrausch. 
Es ist ürigens auffallend, wie Kinder sich 
in der Regel die doch recht schmerzhafte 
Injektion lieber ohne Narkose machen 
lassen, wenn sie beides, mit und ohne 
Narkose, kennen gelernt haben. 

Wo kalte Abszesse bestehen oder Ge¬ 
lenkergüsse. ist die Punktion anzuwenden. 
Sind die Ergüsse serös, so werden sie mit« 
einer Spritze (dicke Kanüle) oder einem 
dünnen Troikart punktiert und es werden 
10—20 cm Jodoformglyzerin eingespritzt. 
Tuberkulöse Ge'enkabszesse werden in 
derselben Weise wie sonst kalte Abszesse 
behandelt. 

Beim kalten Abszeß stehe ich nach 
wie vor auf dem Standpunkte, daß er nicht 
eröffnet werden darf, daß er nur mit Punk¬ 
tion und Injektion zu behandeln ist. Daß 
die einfache Eröffnung und Drainage zu 
verwerfen ist, darauf brauche ich nicht ein¬ 
zugehen; die Gründe sind schon oft ent¬ 
wickelt worden, so auch von He nie. Ich 
halte die einfache Spaltung kalter 
Abszesse für schlecht, die von Sen¬ 
kungsabszessen, d. h. von Abszessen, 
die weit vom Erkrankungsherde ent¬ 
fernt liegen, für einen groben Kunst¬ 
fehler. 

Bier, der die kalten Abszesse prinzipiell 
nicht mit Jodoform behandelt, empfiehlt sie 

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nicht einfach zu inzidieren, sondern dabei 
in folgender Weise vorzugehen: Der Ab¬ 
szeß wird mit kleinem Schnitt gespalten, 
ausgedrückt, offen gehalten. Sobald sich 
Eiter wieder ansammelt, wird wieder aus¬ 
gedrückt und mit dem Schröpfkopf gesaugt. 

Ich kann mich auch für diese Behandlungs¬ 
methode nicht erwärmen und halte sie für 
einen Rückschritt. Ein inzidierter kalter 
Abszeß läßt sich ebensowenig wie eine 
aseptische Wunde, auch bei strengster 
Asepsis, steril halten, man mag ausdrücken 
oder saugen, selbst Tag und Nacht 
saugen, was übrigens Bier nicht ein¬ 
mal tut. Früher oder später wandern aus • 
der Haut die Bakterien ein, wenn sie nicht 
auf andere Weise hinein gelangen, und die 
Sekundärinfektion ist da. Auf deren Ver¬ 
hütung kommt es aber an, wenn man bei 
der Tbc. mit konservativen Methoden et¬ 
was erreichen will. Biers Empfehlung 
wird dazu führen, daß die praktischen 
Aerzte wieder mit dem Inzidieren der 
kalten Abszesse beginnen, was viele — 
leider auch manche Chirurgen — stets ge¬ 
tan haben. Wieviel Schaden habe ich 
nicht davon gesehen! Liegt der Abszeß 
nahe dem Knochenherde, so gelingt es 
häufig, der Sekundärinfektion wieder Herr 
zu werden oder den Patienten durch radi¬ 
kales Eingreifen zu heilen. Für den Kranken, 
bei dem der kalte Abszeß weit ab vom 
Herde liegt, wie z. B. der Psoasabszeß bei 
der Wirbel-Tbc., bedeutet die Inzision des 
Abszesses in der Regel das Todesurteil. 

Ich will nur den folgenden Fall, den ich 
vor kurzem erlebte, schildern; es ist leider 
nicht der einzige. 

William W., 34 Jahre alt, Handlungs¬ 
gehilfe aus Schottland. 

Kamilienanamnese, Vorleben ohne Beson¬ 
derheiten. Vor 1 Jahre Lungenkatarrh. Vor 
3 Wochen Anschwellung in der linken Bauch¬ 
gegend, die langsam an Größe zunahm. Der 
zugezogene Arzt vermutete, daß es sich um 
einen Drüsenabszeß handelte, die Probepunk¬ 
tion ergab angeblich guten Eiter, er inzidierte 
und fand dann, daß der Abszeß weit in die 
Tiefe ging. Er nahm nunmehr einen Senkungs¬ 
abszeß an und schickte den Patienten am fol¬ 
genden Tage in das Schöneberger Kranken¬ 
haus. 

18. Januar 1908. Aufnahme. Kräftiger, 
etwas blaß aussehender Mann, mittlerer Ernäh¬ 
rungszustand. 65 kg Gewicht, Temperatur leicht 
erhöht, bis 37,8°. Innere Organe ohne Beson¬ 
derheiten; an der Wirbelsäule und dem Becken 
nichts pathologisches bemerkbar, das Röntgen¬ 
bild auch negativ. 

In der linken Inguinalgegend eine 6 cm 
lange schräge Wunde, die wenig trübes Sekret 
entleert. Sondierung gelingt 16 cm weit. 
Ophthalmotuberku'inreaktion 2% stark positiv. 

Trotz des negativen Befundes an der 
Wirbelsäule zweifelte ich nicht daran, daß es 

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UNIVER5ITY OF CALIFORNIA 







März 


121 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


sich in diesem Falle um einen Psoasabszeß, 
ausgehend von einer Wirbel-Tbc., handelte. 
Da der Abszeß nun einmal geöffnet war, be¬ 
schloß ich, ihn nach Bier zu behandeln- Ich 
möchte noch bemerken, daß die Behandlung 
von einem Assistenten begonnen und später 
überwacht wurde, der bis vor kurzem Volontär 
an der Bi ersehen Klinik gewesen war. Die 
Wunde wurde täglich % Stunden gesaugt, 
5 Minuten Saugen, 3 Minuten Pause. In die 
Wunde wurde nichts eingeführt. 

29. Januar. Temp. plötzlich 39,2 °, von nun 
an jeden Abend erhöhte Temp , bis 39,5°. 

4. Februar. Da die Wunde offenbar misch¬ 
infiziert und die Infektion durch Saugen nicht 
zurückgeht, das Fieber bleibt, schreite ich zu 
der Methode der Fistelbehandlung, wie ich sie 
später beschreibe: Jodoformglyzerininjektion 
unter mäßigem Druck, Einführung eines 16 cm 
langen Drains, um den Sekretabfluß zu sichern; 
das Drain sollte nur so lange liegen bleiben, 
als hohe Temp. besteht. 

26. Februar. Die Temp. nahm ab, zuweilen 
auch ein fieberfreier Tag. Daher beschließe ich 
ein Verfahren, von dem ich zuweilen Erfolge 
sah: Ich exzidiere in Schleich scher Anästhesie 
die Wundränder, fülle den Fistelgang unter 
Druck mit Jodoformglyzerin (120 ccm) und 
vernähe die Wunde fest und vollständig mit 
Draht. 

3 Tage lang Temp. bis 39,2°, dann Abfall 
zu der Höhe, wie die Temp. vor dem Eingriffe 
war. Sonst keine Reaktion. 

14. März. Gewicht 56 kg. Da die Nähte 
zum Teil durchschneiden und sich Sekret ent¬ 
leert, lege ich an der auseinander gewichenen 
Partie noch zwei weit ausgreifende Draht¬ 
nähte an. 

25. März. Geringe Sekretion, Temp. jetzt 
meist normal, gelegentlich Steigerung bis 38°. 

9. April. Geringe Sekretion, doch schließt 
die Wunde sich nicht. Daher wird wieder zum 
Saugen übergegangen. 

5. Mai. Da das Saugen keinen Fortschritt 
bringt mache ich einen neuen Versuch, den 
Schluß der Wunde zu erreichen, und zwar 
durch folgendes Verfahren: Ich steche einen 
Troikart zwei Querfinger oberhalb der Wunde 
durch die Bauchdecke in die Höhle ein, lasse 
das Rohr liegen. Dann exzidiere ich die Wund¬ 
ränder und vernähe sie fest. Ich beabsichtige, 
hierdurch die alte Wunde vollständig zum 


Schluß zu bringen, ohne daß das Wundsekret 
sich ansammelt und die Heilung verhindert. 

11. Mai. Die Naht bleibt trocken und heilt. 
Der Troikart wird heute entfernt, da in seiner 
Umgebung eine Infiltration beginnt; er wird 
durch ein dünnes Drainrohr ersetzt. In die 
Wunde wird häufiger Jodoformglyzerin in¬ 
jiziert. 

30. Mai. Die alte Wunde, die bereits völlig 
verschlossen war und es auch blieb, wenn 
Jodoformglyzerin unter mäßigem Druck injiziert 
wurde, beginnt wieder zu sezernieren. Von 
jetzt ab wird die Wunde jeden zweiten Tag 
mit Todoformglyzerin durchgespült, indem es 
duren das im Troikartkanale liegende Drain¬ 
rohr eingespritzt wird und durch die alte In- 
zisionswundc herausfließt. Der Patient ist an¬ 
dauernd fieberfrei. 

12. Juli. Der Ernährungszustand geht kon¬ 
stant zurück, obwohl Patient völlig fieberfrei 
ist. Gewicht 50 kg. Es fließt Eiter und Jodo¬ 
formglyzerin nur aus dem Drain, nicht aus der 
Wunde, die sich nicht schließt und offenbar 
tuberkulös infiziert ist. 

15. Juli. Heute zum ersten Male Spur Al- 
bumen im Urin, welches gestern noch fehlte. 
Der Eiweißgehalt nimmt täglich und rapid zu: 
Am 17. Juli 7 s °/oo, am 20. Juli am 

22. Juli 4°/oo> am 24* Juli 7 °/oo bei 1000 ccm 
1018 ccm spez. Gew. 30. Juli 1 %, das Urin¬ 
quantum nimmt ab, Oedeme treten auf, das 
Körpergewicht nimmt zu, obwohl der Ernäh¬ 
rungszustand zurückgeht, Gewicht 51,7 kg. 

6. August 1,4%, 9. August 2,8%, es beginnen 
häufige, unstillbare Durchfälle 30. August 4%, 
Gewicht 55,6 kg. 2. September 1908. Exitus. 
Patient war andauernd fieberfrei, reichliche 
Eitersektretion. 

Die Sektion (Prosektor Dr. Hart) ergibt: 
Ausgedehnte Karies der Lenden- und Kreuz¬ 
beinwirbel, rechts ein geschlossener Psoas¬ 
abszeß, links führt die Fistel zum Erkrankungs¬ 
herde. Amyloid von Niere, Milz, Darm; alte 
verkäste Lungenherde. 

Ich habe diesen Fall ausführlicher ge¬ 
schildert, um zu zeigen, welche Mühe ich 
mir gebe und welche Mittel ich anwende, 
um eröffnete mischinfizierte kalte Abszesse 
wieder zum Schlüsse zu bringen. 

(Ein zweiter Artikel folgt im nächsten Heft). 


Aus der Dermatologischen Abteilung des Rudolf Virohow-Erankenhauses zu Berlin. 
(Dirigierender Arzt: Prof. Dr. Buschke.) 

Ueber die Behandlung des Ulcus cruris mit Scharlachrot. 

Von Dr. Kurt Pein. 


B. Fischer 1 ) teilte 1906 seine äußerst | 
interessanten Beobachtungen über atypische 
Epithelwucherungen mit und den intensiven 
Wachstumsreiz, den das Scharlachrot auf 
das Plattenepithel ausübt. Er injizierte es j 
in öliger Lösung zwischen Ohrknorpel und | 
Haut von Kaninchen in der Hoffnung, so i 
der Frage der experimentellen Krebserzeu¬ 
gung näher zu kommen, und sah, daß das 
Hautepithel die Fetttröpfchen mit großer 
Schnelligkeit umwuchs. I 

Seiner Anregung, diesen durch das j 
Scharlachrot hervorgerufenen Reiz zur 

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Epithelisierung von Wundflächen zu ver¬ 
werten, folgte als erster Schmieden 2 ). 

Er stellte sich eine 8%ige Scharlachrot¬ 
vaseline her, legte sie mittels Mullläppchen 
auf Wunden, sobald sie flache, frischrote 
Granulationen zeigten, und deckte mit 
wasserdichtem Stoffe ab. Es trat eine re¬ 
aktive Entzündung ein, die ein sehr rasches 
Wachstum des Epithels vom Wundrande 
her zur Folge hatte. Wenn der entzünd¬ 
liche Prozeß zu heftig wurde, auf die Um¬ 
gebung Übergriff und stärkere Sekretion 
der Wundfläche eintrat, setzte er das 

Ordinal frem 

UNIVER5ITY OF CALIFORNIA 






Marz 


122 Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Scharlachrot aus und machte indifferente 
Salbenverbände. In ähnlicher Weise be¬ 
nutzte er Zinkpflasterverbände, die mit 
Scharlachrot in 10%iger Konzentration 
versetzt waren. 

Schmiedens gute Erfolge forderten 
zur Nachahmung auf. So benutzte Kaehl er 8 ) 
die Salbe, ohne mit wasserdichtem Stoff 
abzudecken. Er sah dabei weniger die 
stärker entzündlichen Nebenwirkungen auf- 
treten, und der Heileffekt war gleich gut. 
Er wandte die Salbe auch bei Wunden an, 
die noch nicht völlig gereinigt waren, und 
fand sie dabei „nicht ganz zwecklos". 

Zwei sehr günstig verlaufene Fälle teilt 
Krajcä 4 ) mit, bei denen die Scharlachrot¬ 
behandlung mit inselförmiger Hauttrans¬ 
plantation kombiniert wurde. Auch 
Sprecher 5 ) sah gutes und schnelles 
Epithelwachstum, wies jedoch entschieden 
auf die bereits von Schmieden mitge¬ 
teilte Ansicht hin, daß nur bei rein granu¬ 
lierenden Wunden ein Erfolg zu er¬ 
zielen sei, da sonst jede chorioplastische 
Wirkung fehle. 

Durch Verwendung einer 4°/ 0 igen 
Scharlachrotsalbe vermied Auerbach 6 ) 
jede übermäßige Reizung und brauchte 
daher niemals auszusetzen und indifferente 
Salben anzuwenden wie alle anderen. Die 
Heilung soll ebenso schnell von statten 
gegangen sein. Stärkere Sekretion soll 
unter der Salbe bald versiegt sein. 

Hermann 7 ) sah gute Erfolge des 
Scharlachrot bei Trommelfellperforationen, 
Wolfrum und Cords 8 ) in 5%iger Vaseline 
bei Substanzverlusten der Kornea. 

Welcher Bestandteil im Scharlach den 
wirksamen Reiz auf das Epithel ausübt, 
ist noch nicht sicher bekannt. Bei experi¬ 
mentellen Versuchen über Geschwülste fand 
ihn Stöber 9 ) im a-Naphthylamin. Für die 
Therapie erwies sich nach Hayward 10 ) 
dieser Körper als unbrauchbar, da er schon 
nach 24 Stunden viel zu starke Reizungen 
verursachte, dagegen fand er im Amido- 
azotoluol eine Komponente des ursprüng¬ 
lich verwendeten Scharlachs, die in 8%iger 
Salbe noch bessere Wirkungen erzielt 
haben soll als das Scharlachrot. Diese 
neue Salbe ist unter dem Namen Schar¬ 
lachsalbe im Gegensatz zu der früheren 
Scharlachrotsalbe in den Handel ge¬ 
kommen. 

Auf unserer Abteilung wurde eine ganze 
Anzahl von varikösen Ulcera cruris mit 
Scharlachrot behandelt. Wir benutzten 
8 % ige Scharlachrotvaseline, die wir mittels 
Mullkompressen den Wunden auflegten, 
ohne mit wasserdichtem Stoff abzudecken. 


Wir machten stets in je 24 Stunden 
wechselnd einen Verband mit Scharlach¬ 
rot und mit Borvaseline. Durch dies Ver¬ 
fahren vermieden wir die stärkeren entzünd¬ 
lichen Wirkungen, wenn es sich um frisch 
granulierende Wunden handelte. Auffallend 
war, welch große Trockenheit eine solche 
mit Scharlachrot behandelte Fläche sehr 
bald zeigte. So lange noch stark eitrige 
Sekretion bestand oder nekrotische Be¬ 
läge den Geschwürsgrund bedeckten, 
konnten wir nie eine günstige Wirkung 
des Scharlachrot konstatieren, vielmehr 
trat eine akute Verschlechterung und Ver¬ 
zögerung des Heilungsvorganges ein. Wir 
setzen deshalb jetzt mit der Scharlach¬ 
behandlung stets erst dann ein, wenn es 
uns gelungen ist, durch feuchte oder Bor¬ 
salbenverbände das Ulcus zu reinigen. 

In den oben zitierten Arbeiten wird auf 
Mitteilung von Krankengeschichten fast 
völlig verzichtet. Auch bei unserer Dar¬ 
stellung wollen wir auf keine Einzelheiten 
eingehen, sondern nur in aller Kürze einen 
Ueberblick geben, mit welch großer 
Schnelligkeit die Epithelisation unter dem 
Scharlachrot fortschreitet. 

Wir behandelten 25 Ulcera cruris vari- 
cosa bei 19 Patienten mit folgendem Erfolge: 


Patient 
12. Mai 

1 . 

8x5*) cm 

und 10x5*) c 

21. 

Mai 

77s x 4 % - 

10x4»/, 

26. 

Mai 

6 1 /* x 4 

., 10x4»/, 

5. i 

funi 

37a x 3 

27a X 2 

8x2»/. 

12. 

uni 

6>/,xiy, 

.. 3’/, x 3 A 

17. J 

uni 

2 x 1 Vs .. 

27. J 

uni 

VtxV* * 

.. 3 3 /< x 3 lt 


Auf Wunsch Entlassung. Patient schien vor 
Beginn der Behandlung schlechte Heilungs¬ 
aussichten zu bieten, da er seit 18 Jahren an den 
Geschwüren litt und der ganze Unterschenkel 
elephantiastisch verändert war. Das eine Ulkus 
reagierte nicht sofort auf das Scharlachrot, 
vielmehr trat bis zum 26. Mai stärkere Sekre¬ 
tion ein, da es bei Beginn der Behandlung 
noch nicht genügend gereinigt war. 

Patient 2 (60 Jahre alt). 

28. Mai 12x5 cm, 11. Juni 5x3 cm, 25. Juni 
geheilt. 

Patient 3. 

5. Juni 7 l /iX5Va cm, 10. Juni 57a x 2 cm. 

23. Juni geheilt. 

Patient 4. 

12. Juni 7x4 3 / 4 cm, 20. Juni 6x47* cm, 
27. Juni 1x7* cm > 14. Juli geheilt. Es bestand 
Elephantiasis. 

Patient 5. 

16. Juni 4x27 a cm und 3 xU/* cm, 1- Juli 
geheilt. 

P a t i e n t 6. 

20. Juni 8x4 cm, 30. Juni 3x27* cm, 

24. Juli geheilt. 

I|| bedeutet Breite. 


Digitized by Google 


Original fram 

UNIVERSiTY OF CALIFORNIA 







März 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


123 


Patient 7. 

29. Juni 2 5x2 cm, 2. Juli 1,5x1 cm, 11. Juli 
geheilt. 

Patient 8 (71 Jahre alt). 

29. Juni 3,5x3 cm, 10. Juli geheilt. 

Patient 9. 

1. Juli 10x3,5 cm, 10. Juli 5x2 cm, 20. Juli 
geheilt. 

Patient 10. 

6. Juli 25x8 cm, 20. Juli 12x4 cm. Auf 
Wunsch Entlassung. 

Patient 11 (62 Jahre alt) 

24. Juli 3 X 1 cm, 3. August 2 x 3 / 4 cm. Auf 
Wunsch Entlassung. 

Patient 12 

6. August 8x4Yi cm und 4x3 cm, 15. Sep¬ 
tember geheilt. 

Patient 13. 

1. September 4 X 1 cm, 12. September ge¬ 
heilt. 

Patient 14 (79 Jahre altj. 

1. September 2x2 cm, 14. September ge¬ 
heilt. 

Patient 15. 

4. Oktober 6x3 3 /i cm. 10. Oktober 5x1 X U cm, 
14. Oktober 3X 1 /* cm, 18. Oktober 2 1 / a x */« cm, 
22. Oktober geheilt. 

Die Ulcera waren seit 6 Jahren behandelt, 
ohne sich völlig zu schließen. 


Patient 16. 


14. Oktober. 

8x3 cm 

und 

5-3 

18. Oktober. 

2 x 2 1 /« „ 


4 — 3 

25. Oktober. 

4x1 


3 - 1 »4 

31. Oktober. 

1 X l U 


2 — 1 

9. November geheilt 

V 

V*-l 4 


Patient 17. 

14. Oktober 5X4 cm, 18 Oktober 4X3’/* cm, 
25. Oktober 2*/iX Va cm, 30. Oktober 1 1 ' 4 X \U cm. 
Auf Wunsch Entlassung. 

Patient 18. 

29. Oktober 3 1 /* X 2 cm uud 1 X */* cm und 
3 , /jX2 , /a cm, 20. November geheilt. 

Patient 71 Jahre alt, litt seit 30 Jahren an 
Beingeschwüren. 

Patient 19. 

30. November 6x7 cm, 24. Dezember geheilt. 

Aus den mitgeteilten Daten ergibt sich, 
daß die Epithelisierung unter dem Scharlach¬ 
rot außerordentlich schnell vor sich geht, 
und zwar ist die Wachstumsschnelligkeit 
im Anfänge der Behandlung größer als im 
weiteren Verlaufe. Auch Fälle, die progno¬ 
stisch sehr ungünstig erschienen, zeigten 
gute Heilung. Das gebildete Epithel 
zeichnete sich durch seine gute Solidität aus. 
Ueber Rezidive stehen uns noch keine 
Erfahrungen zu Gebote. Immerhin können 
wir das Scharlachrot für die Ulcus cruris- 
behandlung als oft brauchbares Mittel 
empfehlen. 

Ermutigt durch die guten Erfolge bei 
Beingeschwüren wandten wir das Schar¬ 


lachrot auch bei einer Anzahl anderer 
Ulcera und Wunden an. 

Ulcera mollia, Wundflächen von ope¬ 
rierten Bubonen, luetische Ulzerationen 
heilten nicht, so lange noch das spezifische 
Virus aktiv war. Waren jedoch die 
Flächen durch die spezifischen Mittel resp. 
die Allgemeinbehandlung gereinigt, so wurde 
die Epithelisierung durch das Scharlachrot 
wesentlich beschleunigt. 

Nur zwei Fälle will ich noch kurz hervor¬ 
heben. Im ersten handelte es sich um ein 
gangränöses Ulcus glandis, das % der Glans 
völlig zerstört hatte. In 16 Tagen war die 
ganze Wunde mit festem Epithel über¬ 
kleidet. Im zweiten Falle bestanden aut 
den Streckseiten beider Ellenbogen je ein 
5X5 cm großes, kreisrundes luetisches 
Ulcus. Nach Beendigung einer Hg-Kur, 
durch die das luetische Agens zerstört war, 
zeigten die Ulcera reine Granulationen und 
heilten dann unter Scharlachrot in auf¬ 
fallend kurzer Zeit ab. 

In drei Fällen gelang es uns nicht, reine 
Wund Verhältnisse zu bekommen. Ein Ver¬ 
such mit Scharlachrot ließ hier völlig im 
Stich. Einmal lagen luetische serpiginöse 
Ulcerationen vor, die jeder antiluetischen 
Behandlung trotzten und allmählich die 
ganze Bauch- und Gesäßhaut ergriffen 
haben, im zweiten Falle ein Ulcus cruris 
varicosum in steinharten alten Narben mit 
sehr ungünstigen Ernährungsverhältnissen. 
Bei dem dritten Fall handelt es sich um 
einen 70jährigen Mann mit Tabes und 
starker Arteriosklerose. Derselbe zeigte am 
Unterschenkel ein etwa talergroßes Ulcus 
mit schmutzigen, hypertrophischen Granu¬ 
lationen. Hier brachte auch schwächere 
Scharlachrotsalbe nur stärkere Reizung und 
Sekretion zustande. Bemerkenswert war, 
daß eine durch Trauma entstandene Haut¬ 
verletzung neben dem Geschwür auf die 
Methode gut reagierte, daß aber die Epithe¬ 
lisierung am Rande des primären Ulcus 
prompt Halt machte. Man muß wohl auch 
in diesem Geschwür ein aktives Virus an¬ 
nehmen, das die Heilung unmöglich machte. 
Karzinom lag. nicht vor. 

Literatur: 1) Münch, med. Wochschr. 1906, 
Nr. 42. — 2) Zbl. f. Chir. 1908. Nr. 6. — 3) Med. 
Klinik 1908, Nr. 22. — 4) Münch, med. Wochschr. 
1908, Nr. 22. — 5) Gaz. degliosped 1909, Nr. 23. 
Referat in Klin. therap. Wochschr. 1909, Nr. 13. 

— 6) Klin. therapeut. Wochschr. 1909, Nr. 13. 

— 7) Deutsche med. Wschr. 1909, Nr. 22. — 

8) Münch, med. Wochschr. 1909, Nr. 5. — 

9) Münch, med. Wochschr. 1909, Nr. 3. -- 

10) Münch, und Wochschr. 1909, Nr. 36. 


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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Die Behandlung der Gonorrhoe und ihrer Komplikationen. 

Von Alfons Nathan-Berlin. 


I. 

Nach der Entdeckung des Gonokokkus 
Neißer im Jahre 1879 war die Gonorrhoe 
als eine spezifische Erkrankung präzisiert, 
und es war nicht mehr angängig, jeden 
Ausfluß aus der Harnröhre als Tripper zu 
bezeichnen, sondern diese Diagnose war 
an den Nachweis der wohl charakteri¬ 
sierten Krankheitserreger geknüpft. Seit¬ 
dem hat dank den immer mehr verfeinerten 
Untersuchungsmethoden die Kenntnis dieser 
so weit verbreiteten Krankheit in anatomi¬ 
scher und klinischer Beziehung ungeheure 
Fortschritte gemacht, die auch der Therapie 
in hervorragendem Maße zu gute gekom¬ 
men sind. Allein nur langsam sind die I 
neuen Behandlungsmethoden in die Kreise 
der Praktiker gedrungen, und immer noch 
spielen alle möglichen Adstringenden und 
Balsamika in der Gonorrhoetherapie eine 
große Rolle, so daß es sich wohl der Mühe 
verlohnt, die moderne Therapie dieser 
Krankheit zu betrachten, wobei ich mich 
hauptsächlich auf meine langjährigen an 
einem großen privaten und poliklinischen 
Material gewonnenen Erfahrungen stütze. 

Die Anatomie und Physiologie der 
Harnorgane sowie die Biologie des Gono¬ 
kokkus darf ich als bekannt voraussetzen. 
Wir unterscheiden nun heute in therapeu¬ 
tischer Hinsicht nicht mehr den akuten und 
chronischen Tripper, sondern das infek¬ 
tiöse vom Vorhandensein der Gonokokken 
abhängige Stadium, und den postgonor¬ 
rhoischen Katarrh, das aseptische Sta¬ 
dium. Ferner unterscheiden wir, je nach 
der Ausdehnung der Erkrankung, 

1. die Gonorrhoea superficialis, wenn 
die Erkrankung sich nur an der Oberfläche 
der Schleimhaut abspielt, 

2. die Gonorrhoea profunda, wenn die 
tieferen Schichten der Urethra mit ihren 
Drüsen (Morgagnische Krypten und 
Littresche Drüsen) affiziert sind. 

3. die Gonorrhoea complicata (Affek- 
tionen der Prostata, Nebenhoden, Samen¬ 
blasen usw.). 

Selbstverständlich können diese Formen 
im Laufe der Erkrankung neben- und nach¬ 
einander auftreten, wir müssen sie jedoch, 
um erfolgreich Vorgehen zu können, scharf 
auseinander halten. Das A und O der Be¬ 
handlung ist die Kontrolle unserer thera¬ 
peutischen Maßnahmen mit dem Mikroskop, ! 
d. h. die ständige Untersuchung des Se- | 
krets auf Gonokokken; nur so können wir j 
hoffen, die moderne, von Neißer und 

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seiner Schule eingeführte antiseptische 
| Behandlung durchzuführen. Das Prinzip 
der antiseptischen Behandlung wird von 
Jadassohn kurz und bündig dahin prä- 
| zisiert: „Vernichtung der Gonokokken an 
allen Punkten, an denen ihre Anwesenheit 
i bewiesen oder sicher anzunehmen ist, mit 
| möglichst geringer oder ohne alle Schädi- 
I gung der Schleimhaut, eventuell sogar mit 
günstiger Beeinflussung der entzündlichen 
| Veränderungen.“ Wenn dieses ideale 
| Postulat auch schwer zu erreichen ist, so 
können wir ihm doch einigermaßen nahe¬ 
kommen, da wir in den Silbersalzen Mittel 
kennen gelernt haben, welche die Gono¬ 
kokken abtöten. Da das Argentum nitri- 
cum, das am frühesten angewandte Silber¬ 
salz, mit den Gewebsflüssigkeiten Nieder¬ 
schläge gibt und daher keine Tiefenwirkung 
ausüben kann, hat die chemische Industrie 
die sog. Silbereiweißverbindungen herge¬ 
stellt, die diesen Fehler nur in geringem 
Maße haben. Nachdem ich alle Silber¬ 
albumin ate, wie das Argonin, Protargol, 
Largin, das Ichthargan usw. durchprobiert 
habe, wende ich seit 6 Jahren nur noch 
das von Liebrecht hergestellte, von den 
Höchster Farbwerken in den Handel ge¬ 
brachte Albargin an. Dies ist eine Ver¬ 
bindung von Argentum nitricum mit Gela- 
tose. Es ist in kaltem und warmem Wasser 
leicht löslich, reizt die Schleimhaut fast 
garnicht und ist, was bei poliklinischer und 
i Kassenpraxis ja auch mitspricht, dreimal 
billiger, als Protargol. Man wendet es in 
1 °/oo 1 g er Lösung an, die man sich leicht 
aus einer 10o/ 0 igen Mutterlösung herstellt. 

Es empfiehlt sich, die antiseptische Be- 
I handlung mit der Irrigationsmethode aus¬ 
zuführen, die allerdings vom Arzte seibst 
gehandhabt werden muß. Allein wer da 
weiß, wie schlecht und nachlässig Injek¬ 
tionen vom Patienten gemacht werden, und 
wer andererseits die vorzüglichen Resul¬ 
tate dieser Methode kennt, wird diese Un¬ 
annehmlichkeit leicht in den Kauf nehmen, 
und auch die Patienten sind bald damit 
einverstanden. Am meisten zu empfehlen 
sind die sog. Janetschen Spülungen, da 
bei ihnen kein Instrument in die Urethra 
eingeführt zu werden braucht und zu der 
Wirkung des Medikaments noch die mecha¬ 
nische, die Schleimhaut spannende, kommt. 
Ursprünglich empfahl Jan et zu diesen 
Spülungen heiße Kaliumhypermanganat- 
lösungen, wovon er große Mengen irri- 
gierte; jetzt macht man eine Janetsche 

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März 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


125 


Spülung mit jedem beliebigen Medikament 
und versteht darunter nur die Art der 
Applikation. Die Technik ist sehr einfach: 
ein Irrigator gefüllt mit der Lösung, in un¬ 
serem Falle also 1°/oo!ges Albargin, hängt 
ca. 1V 2 m über dem Sitze des Patienten; 
der Schlauch trägt einen olivenförmigen 
Glasansatz, der bei Nichtgebrauch in Sub¬ 
limat aufbewahrt wird. Der Arzt faßt die 
Glans mit der linken Hand und setzt mit 
der rechten den Ansatz fest auf das Orifi- 
zium auf. Nach mehrmaliger Ausspülung 
der Anterior läßt man nach und nach den 
vollen Druck auf den Kompressor ein¬ 
wirken und fordert den Patienten auf, Urin 
zu lassen. Der Kompressor gibt dann 
bald nach, und man irrigiert 250—300 g 
der Lösung, die der Patient dann aus¬ 
uriniert. Erleichtern kann man die Proze¬ 
dur durch vorherige Injektion einer 1%igen 
Kokainlösung (eventuell mit Zusatz von 
einigen Tropfen Suprarenin) in die Urethra, 
die man ca. 5 Minuten ein wirken läßt. — 
Wenn ich im folgenden von Spülungen 
spreche, so verstehe ich stets darunter die 
eben beschriebenen Jane tsehen Spülungen. 
Die Anwendung einer großen Spritze dazu 
ist nicht zu empfehlen, weil man die Stärke 
des Druckes nicht so gut kontrollieren 
kann. Diese Spülung wird gewöhnlich 
täglich einmal gemacht und wird mit dieser 
Behandlung sofort begonnen, sobald Gono¬ 
kokken vorhanden sind, ganz gleichgültig, 
wo sie sitzen und ob die Infektion schon 
längere Zeit besteht. Nur bei Oedem der 
Glans oder des Präputium warte ich 1 bis 
2 Tage und lasse inzwischen kalte Um¬ 
schläge machen. Ich halte es für einen 
direkten Kunstfehler, die beste Zeit für 
die Vernichtung der Gonokokken mit der 
internen Therapie zu vertrödeln, was leider 
noch täglich geschieht. Immer noch be¬ 
kommt man Patienten in Behandlung, die 
entweder auf eigene oder ärztliche Ver¬ 
ordnung monatelang irgendwelche Kapseln 
genommen haben, ohne ihre Gonokokken 
zu verlieren. Ich perhorresziere die An¬ 
wendung der Balsamika vollständig, wenn 
diese allein, ohne lokale Behandlung, die 
Gonorrhoe heilen sollen, ich gebe sie nur 
bei dysurischen Beschwerden, sei es, daß 
diese von der Anterior oder Posterior aus- 
gehen; und zwar bin ich stets mit dem 
einfachen Ol. santali ausgekommen, da es, 
falls man nur ein gutes Präparat erhält, 
dasselbe leistet, wie alle anderen mit so 
großer Emphase und Reklame empfohlenen 
Balsamika. — Die Albarginspülungen wirken 
ganz ausgezeichnet: die Schmerzen und 
der Harndrang lassen nach, der dünn¬ 


flüssige grüne Eiter wird gelb und rahmig, 
die Gonokokken verschwinden in 6—8 bis 
14 Tagen. Das Sekret enthält dann Leuko¬ 
zyten, Muzin und Epithel, um dann ganz 
schleimig zu werden. Die Gonorrhoe heilt 
bei glattem Verlauf in 5—6 Wochen völlig 
aus. Je früher man mit der lokalen Be¬ 
handlung beginnt, um so milder und gün¬ 
stiger ist der Verlauf, desto seltener treten 
Komplikationen hinzu. 

Verschwinden die Gonokokken nicht, 
so ist an das Vorhandensein para- oder 
periurethraler Gonorrhoe zu denken. Die 
erstere erscheint seltener in Form infizier¬ 
ter paraurethraler Gänge; sie zeigt sich 
vielmehr meistens so, daß die Lippen des 
Orificium ext. intensiver geschwollen sind; 
drückt man den Eiter aus der Urethra und 
tupft ihn vom Orifizium ab, so sieht man 
auf der Innenseite des Lippenrandes steck- 
nadelkopfgroße OefFnungen, aus denen sich 
bei Druck Eiter mit Gonokokken entleert. 
Am besten spaltet man dann die kleinen 
Gänge galvanokaustisch nach der Urethra 
zu. Bei periurethralen Infiltraten ist die 
lokale Behandlung auszusetzen, auf graue 
Salbe sowie feuchtwarme Umschläge gehen 
sie meist zurück. Etwaige Abszesse, die 
sich meist seitlich vom Frenulum zeigen, 
sind zu inzidieren und antiseptisch zu be¬ 
handeln. 

Sind diese Komplikationen auszu¬ 
schließen, verschwinden die Gonokokken 
aber trotzdem nicht, oder bekommen wir 
die Patienten in einem späteren Stadium 
in Behandlung, nachdem wiederholte Rezi¬ 
dive mit Gonokokken vorangegangen sind, 
oder enthält das Sekret trotz sorgfältiger 
Behandlung fast nur Leukozyten, so ist an¬ 
zunehmen, daß die Gonokokken in die lie¬ 
feren Schichten der Mukosa gedrungen 
sind und die Morgagnischen Lakunen 
und Littreschen Drüsen befallen haben. 
Wir müssen sie dann aus der Tiefe an 
die Oberfläche bringen, um sie vernichten 
zu können. Zu diesem Zweck rate ich, 
sich erst nicht lange mit anderen Ma߬ 
nahmen aufzuhalten, sondern die instrumen- 
teile Behandlung zu Hilfe zu nehmen, und 
zwar in Form der Dehnungen mit dem 
Spüldilatator, so ungern ich auch sonst 
Instrumente in die Urethra bei Gonorrhoe 
einführe. Je nach der Reaktion macht man 
wöchentlich 1 —2 Spüldehnungen und spült 
die anderen Tage. 

Jedoch die häufigste und wichtigste 
Komplikation ist die Erkrankung der Ure¬ 
thra posterior. Nach den verschiedenen 
Statistiken tritt sie in 70 —75% der Fälle 
auf, bei unzweckmäßiger Behandlung und 


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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


März 


unpassendem Verhalten des Patienten so¬ 
gar noch öfter. Die frühere Anschauung 
der Guyonsehen Schule, daß der Com- 
pressor urethrae dem Fortschreiten der 
Gonorrhoe mechanisch ein Ziel setzt, wird 
heute allgemein verworfen. Durch die 
Untersuchungen von Finger und Bier¬ 
hoff wissen wir, daß der gonorrhoische 
Prozeß sich mit Vorliebe in den Follikeln 
und Drüsen festsetzt und an einer follikel- 
armen Stelle Halt macht. Die Pars mem- 
branacea ist frei von Follikeln und Drüsen, 
während in der pars prostatica um dem 
Colliculus seminalis herum zahlreiche Drü¬ 
sen, die Glandulae prostaticae, münden. 
Die hinter dem Kollikulus liegende Partie 
der Pars prostatica ist wieder drüsenfrei. 
Der Prozeß überschreitet nicht den Kom¬ 
pressor, wenn nicht noch andere schädi¬ 
gende Momente hinzukommen, die Bier¬ 
hoff in einer Kongestion der Urethra 
posterior sieht. Die Urethritis posterior 
ist also stets mit einer Prostatitis gonor¬ 
rhoica vergesellschaftet. Sie setzt schlei¬ 
chend ein und macht nicht immer so stür¬ 
mische Symptome, wie man sie früher mit 
dem Begriff einer Urethritis posterior ver¬ 
band. Die gonorrhoische Prostatitis tritt 
in drei Formen auf, die ineinander über¬ 
gehen können: 

1. Die endoglanduläreoderkatarrhalische 
Form, mild verlaufend. Der Urin wenig 
oder gar nicht verändert, geringe Beschwer¬ 
den; die Prostata wenig vergrößert, weich 
und teigig. Im Prostatamassat wenig Leu¬ 
kozyten und isolierte Gonokokken. 

2. Die follikuläre Form. Die Gono¬ 
kokken sind in das subepitheliale Gewebe 
um die Tubuli gedrungen; durch Verschluß 
der Lobuli kommt es zu einer Eiteransamm¬ 
lung in diesen Taschen, weiter zur Ein¬ 
schmelzung der Zwischenwände und dann 
zum Durchbruch mit Entleerung des Eiters. 
Der Urin ist stark getrübt. In der Pro¬ 
stata fühlt man verhärtete Stellen oder 
Knötchen, nach Durchbruch des Eiters 
weiche, eindrückbare Stellen. Im Sekret 
findet man erst nach wiederholten Unter¬ 
suchungen Gonokokken. Die Symptome 
sind viel stürmischer: Dysurie, Tenesmus, 
terminale Hämaturie. Der Verlauf kann 
jedoch auch ein subakuter sein, nach schein¬ 
barer Ausheilung kehrt diese Form sehr 
häufig wieder, wenn eine neue Eitertasche 
sich gebildet hat, die durchbricht und auch 
die Anterior wieder infiziert. 

3. Während dies die häufigsten Formen 
sind, ist die parenchymatöse Form sehr 
selten: ca. 3%; Schüttelfröste. Fieber, 
Schmerzen im Rektum, Tenesmus vesicae 

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et alvi charakterisieren sie; die Drüse ist 
nicht in toto geschwollen, sondern nur 
ein Lappen ist befallen, der sehr schmerz¬ 
haft ist und sich prall elastisch anfühlt. 

Es bildet sich oft ein Abszess, der meist 
in die Urethra, seltener in das Rektum 
perforiert. Die Abszedierung ist meist auf 
eine Mischinfektion zurückzuführen. 

Ich habe die Pathologie der Prostata¬ 
gonorrhoe etwas genauer geschildert, weil 
sie die Ursache der häufigen Rezidive ist und 
trotzdem so oft übersehen wird, während 
der Arzt viel Unheil verhüten kann, wenn 
er nur daran denkt, die Prostata zu unter¬ 
suchen; denn gerade sie verursacht die 
konjugalen Infektionen, wenn der Ehekon¬ 
sens in leichtsinniger Weise erteilt wird. 

Die Therapie der Wahl bei der ersten 
und zweiten Form der Prostatagonorrhoe 
sind Spülungen und Massage. Die Spülung 
zerlege ich in zwei Akte: Ausspülung der 
Anterior und Vorspülung der Posterior 
mit ca. 60—70 g, dann Durchspülung der 
ganzen Urethra, bis der Patient Harndrang 
verspürt; dazwischen schalte ich die Mas¬ 
sage ein. Letztere soll nur mit dem Finger, 
nie mit einem Instrument ausgeführt wer¬ 
den, einmal, um Verletzungen zu vermeiden, 
dann aber ersetzt kein Hilfsmittel das feine 
Gefühl des Fingers. Gespült wird täglich, 
massiert einen Tag um den andern. Die 
Massage muß leicht und milde sein und 
soll sich nur auf die erkrankten Drüsen- 
teile erstrecken. Bei starken Reizerschei¬ 
nungen warte man einige Tage mit dem 
Beginn der Massage. Unterstützt wird 
diese Behandlung, besonders bei der folli¬ 
kulären Prostatitis, durch Hitzeapplikation; 
Patient führt sich täglich einen Prostata- 
psychrophor in das Rektum ein und läßt 
1—2 1 warmen Wassers, so heiß als er es 
verträgt, durchlaufen. Der Eiter bricht 
dann leichter durch. Auch heiße Sitzbäder 
sind zu empfehlen. Noch günstiger wirkt 
diese Hitzeanwendung beim Abszeß und 
beschleunigt dessen Durchbruch, der zum 
Glück meist in die Urthra erfolgt; dann 
kann mit der Massage auch hier begonnen 
werden. Hat der Abszeß keine Neigung, 
nach der Urethra durchzubrechen, so 
macht man die Dittelsche Operation, das 
heißt die Bioslegung der Prostata von 
einem Perinealschnitt aus. Irrigationen und 
Massage müssen sehr lange, mitunter 
monatelang, fortgesetzt werden, und wer¬ 
den an die Geduld des Arztes und des 
Patienten große Anforderungen gestellt. 

Man werde nicht müde, bei der Neigung 
zu häufigen Rezidiven, immer und immer 
wieder das Prostatasekret auf Gonokokken 

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Die Therapie der Gegeawart 1910. 


127 


zu untersuchen und beruhige sich erst, < 
wenn nach Provokationen durch starken 
Alkoholgenuß, nach chemischer und mecha 
nischer Irritation sich keine Gonokokken 
mehr zeigen. Erst nach Heilung der Pro j 
statagonorrhoe sind die anderen Erkran¬ 
kungen der Urethra in Angriff zu nehmen. 

Was die Abortivkur anbetrifft, so be¬ 
kommen wir die Patienten gewöhnlich zu 
spät in die Behandlung, um die Kur noch 
erfolgreich durchzuftlhren. Hat das Sekret 
erst die spezifische grüne Farbe ange¬ 
nommen, so ist unsere Mühe vergeblich; 
nur in einem Falle glückte mir die Kur. 
Der Patient kam 24 Stunden nach der In¬ 
fektion mit gonokokkenhaltigem, schleimig¬ 
eitrigem Sekret zur Behandlung. Die Ab¬ 
ortivkur führe ich aus, indem ich 3mal 
täglich mit 1%oigem Albargin irrigiere. 

Selbstverständlich geht mit dieser lo¬ 
kalen Behandlung eine allgemeine und 
symptomatische Behandlung Hand in Hand. 
Bei Fieber ist das Bett zu hüten. Blande 
Diät muß angeordnet, für leichten Stuhl 
gesorgt werden. Bei heftigen Schmerzen 
sind Narkotika (Morphium, Belladonna als 
Suppositorien), bei dysurischen Beschwer¬ 
den Balsamika, bei schmerzhaften Erek¬ 
tionen Heroin oder Brom anzuwenden; bei 
Tenesmus und terminaler Hämaturie ist 
eine vorsichtig ausgeführte Spülung der 
Posterior nach Diday (Einführung eines 
Katheters, bis das Auge desselben den 
Kompressor passiert hat, dann Durch¬ 
spülung mit einer 200 g fassenden Spritze) 
mit 7*°/oo Arg. nitr. oft von zauberhafter 
Wirkung. Retentio urinae ist durch Ka¬ 
theterismus zu beseitigen. 

Wenn die Gonokokken erst einmal in 
die Posterior gedrungen sind, dann ist die 
Möglichkeit gegeben, daß sie auch die dort 
mündenden Nebenhoden und Samenblasen 
und weiter aufsteigend die Blase und das 
Nierenbecken infizieren. Nicht eindring¬ 
lich genug kann ich raten, die Epididymitis 
sorgfältig zu behandeln, besonders die 
doppelseitige. Die ersten Tage ist Bett¬ 
ruhe am besten; sind die ersten stürmi¬ 
schen Symptome vorbei, so ist eine vor¬ 
sichtige Spülung der ganzen Urethra ent¬ 
schieden von Nutzen. Wenngleich dieses 
Vorgehen noch nicht allgemeine Zustim¬ 
mung findet, so habe ich doch nie davon 
nachteilige Folgen gesehen. Schmerzen 
sind mit großen Salizyldosen (Aspirin) und 
Pinselungen des Skrotums mit Monotal zu 
bekämpfen. Vor allen Dingen jedoch ist 
ein gut sitzendes Suspensorium, und zwar 
das Neißer-Langlebertsche, anzulegen, 
das die Hoden und auch den meist mitbe- 

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teiligten Samenstrang ruhig stellt. Vor 
Anlegung des Suspensoriums wird ein 
Prießnitzscher Umschlag appliziert und 
dann auf das Suspensorium ein Thermo¬ 
phor oder ein heißer Sandsack gelegt Die 
Eisbehandlung ist nicht zu empfehlen, da 
sie meist derbe Infiltrate hinterläßt, ein 
sehr wichtiges Moment bei der wenig aus¬ 
sichtsreichen Behandlung der Azoospermie. 

Es ist erstaunlich, wie wohl sich die Pa¬ 
tienten mit dem Suspensorium fühlen und 
wie gut sie nach einigen Tagen ihrem Be¬ 
rufe nachgehen können. In jüngster Zeit 
werden auch Punktionen des Nebenhodens, 
und zwar der Cauda, unter antiseptischen 
Kautelen empfohlen. Im späteren Stadium 
sind Resorbentien (Jodvasogen, Ichthyol) 
und Moorumschläge anzuwenden, womit 
man oft eine Resorption älterer Infiltrate 
> erzielt; auch Massage und Bi ersehe Stau¬ 
ung ist empfehlenswert. 

Die Spermatozystitis, die oft übersehen 
wird, ist wie die Prostatitis mit Massage 
und rektaler Hitzeanwendung zu behandeln. 

' So häufig eine gonorrhoische Zystitis dia- 
| gnostiziert wird, so selten ist sie; es han¬ 
delt sich meist um die Urethritis posterior. 
Kurz erwähnen will ich noch, daß wir eine 
Pyelitis gonorrhoica, falls sie der internen 
Therapie nicht weicht, vermittels des Ure- 
terenkatheterismus mit Spülungen behan¬ 
deln, und wir in der Bi ersehen Stauung 
ein vorzügliches Mittel zur Behandlung der 
gonorrhoischen Arthropathien besitzen. 

II. 

Sind die Gonokokken beseitigt, so ist 
unsere Aufgabe damit noch nicht beendet, 
sondern wir haben uns mit den Verände¬ 
rungen, die die Gonokokken und ihre 
Toxine auf der Schleimhaut der Urethra 
und ihrer Anhänge gesetzt haben, zu be¬ 
schäftigen, wir haben den postgonorrhoi¬ 
schen Katarrh mit seinen Folgen zu be¬ 
handeln. Dazu müssen wir uns über die 
Ausdehnung des Prozesses der Oberfläche 
und Tiefe nach klar werden. Die Unter¬ 
suchung des Urins, des Sekrets, der Fäden 
und des Prostatasekrets geben uns wichtige 
Anhaltspunkte, ob die Anterior oder Poste¬ 
rior oder beide erkrankt sind. Der Ge¬ 
brauch der Knopfsonde (Bougie ä boule) 
ist dringend zu empfehlen; ihre Anwen¬ 
dung wird leider häufig verabsäumt, ob¬ 
gleich sie dem Arzt wichtige Aufschlüsse 
geben kann. Am wichtigsten ist jedoch 
die Endoskopie der Harnröhre, um deren 
Ausbau sich Oberländer, Kollmann 
und in letzter Zeit Goldschmidt Ver¬ 
dienste erworben haben. Diese Methode 

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März 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


läßt uns erkennen, ob der katarrhalische 
Prozeß nur die Oberfläche oder die tieferen 
Schichten der Schleimhaut mit ihren Drüsen 
befallen hat. Man unterscheidet zwischen 
weichen und harten Infiltraten; beim wei¬ 
chen Infiltrat ist die Mukosa kleinzellig in¬ 
filtriert, das Zylinderepithel geht in Pflaster¬ 
epithel über. Im Endoskop erscheint die 
Schleimhaut hyperämisch, entzündet und 
geschwollen. Die Entzündung lokalisiert 
sich mit Vorliebe um die Drüsen; ihre 
Ausführungsgänge verstopfen sich ent¬ 
weder, das Sekret wird retiniert und es 
kommt zur sogenannten Follikelbildung; 
oder sie sind stärker infiltriert und liegen 
im Endoskop klaffend mit geschwollenen 
Rändern zutage. Bei genügender Energie 
des Entzündungsprozesses verwandelt sich 
das weiche Infiltrat in das harte durch 
Umwandlung der Rundzellen in Bindege¬ 
websfasern, ein Vorgang, dessen Ende die 
Bildung einer Striktur ist. Beim harten 
Infiltrat ist die Schleimhaut blasser, je nach 
der Menge des vorhandenen Bindegewebes, 

' und hat ihre Elastizität verloren. Diese Pro 
zesse können sich nebeneinander abspielen 
und befallen in der Posterior auch den Kolli- 
kulus mit den Ductus ejaculatorii und können 
dadurch Störungen der Potenz (Ejaculatio 
praecox, Spermatorrhoe) herbeiführen. 

Es kann hier unmöglich eine genaue 
Schilderung der Details, welche uns das 
Endoskcp erkennen läßt, gegeben werden, 
jedoch muß betont werden, daß eine ex¬ 
akte Behandlung nur mit endoskopischer 
Kontrolle möglich ist. Bei oberfläch¬ 
lichen Erkrankungen kommen wir mit Spü¬ 
lungen mit Arg. nitr., beginnend mit Vio°/oo 
und steigend bis 7s %o aus; auch Kalium- 
hypermanganicum in derselben Konzen¬ 
tration tut oft gute Dienste. Die Rück¬ 
bildung der Schleimhaut können wir durch 
Pinselungen in der Anterior resp. durch 
Instillationen in der Posterior mit 7* bis 
2%igen Kupfersulfatlösungen unterstützen. 
Bei tiefer greifenden Infiltraten und Drüsen- 
erkrankungen jedoch muß instrumentell 
behandelt, und zwar dilatiert werden; am 
besten dilatiert man mit Metallsonden. Ich 
empfehle besonders die mit Guyon scher 
Krümmung, weil sie in ihrer Form am 
meisten der Konfiguration der Urethra 
ähneln und so am wenigsten reizen. Die 
Sonden steigen um Vs mm an, die nach 
Charriere kalibrierten um 7$ mm, dies ist 
bei den Nummern zu berücksichtigen. Zum 
Beispiel ist Guyon Nr. 40 = Charri&re 
Nr. 20; bei engem Orificium ext. ist vor¬ 
her die Meatotomie zu machen. Bei sehr 


deiben Infiltraten, die der Sondenerweite¬ 
rung nicht nachgeben, ist die Urethrotomia 
interna mit dem Ko 11 mann sehen Urethro- 
tom vorzunehmen und dann nach einigen 
Tagen weiter zu bougieren. Ist bis Nr. 60 
bougiert und ergibt die Endoskopie noch 
Veränderungen, besonders im Bulbus, so 
sind Spüldehnungen mit schwachen Argen¬ 
tumlösungen empfehlenswert; etwaige da¬ 
nach noch vorhandene Drüsenerkrankungen 
sind durch Schlitzung mit dem Kollmann- 
sehen Messer, galvanokaustisch oder elek¬ 
trolytisch im Endoskop zu behandeln. Enge 
Strikturen dürfen nie mit Dehnern behan¬ 
delt werden. 

Sehr oft bleibt nach Erkrankungen der 
Posterior eine chronische Prostatitis zu¬ 
rück, die Prostata erscheint etwas ver¬ 
größert, das Massat enthält Leukozyten. 
Weitere Symptome sind Prostatorrhoe, 
meist bei der Defäkation, seltener am 
Ende der Harnentleerung, und das große 
Heer der sexualncurasthenischen Erschei¬ 
nungen. Die Therapie besteht in Spü¬ 
lungen, Massage und eventuell in einer 
äußerst vorsichtigen instrumentellen Be¬ 
handlung (dicke Sonden, Winternitzsche 
Kühlsonde usw.). Veränderungen am Colli- 
culus seminalis, die uns jetzt das Gold- 
schmidtsche Urethroskop zeigt, sind en¬ 
doskopisch mit Jodtinktur oder starken 
Argentumlösungen zu behandeln. Die 
Spermatozystitis chron. erfordert dieselbe 
Behandlung wie die Prostatitis. Der All¬ 
gemeinbehandlung ist besondere Sorgfalt 
zu widmen (Hydrotherapie). 

Selbstverständlich müssen alle Eingriffe 
mit peinlichster Sauberkeit ausgeführt wer¬ 
den, nach gehöriger Säuberung der Glans 
und einer Ausspülung der Urethra mit 
einem Desinfiziens. Denn die veränderte 
Schleimhaut gibt einen sehr günstigen 
Nährboden für die Bakterien, in unserem 
Falle das Bact. coli und ihm ähnliche Bak¬ 
terien ab, die die Entzündung wieder an¬ 
fachen, eitrige Sekretion und Kompli¬ 
kationen wie die Gonorrhoe herbeiführen 
können. Spülungen mit Hydrargyrum 
oxycyanatum 1 : 5000—4000 beseitigen diese 
Infektionen rasch, wenn sie früh erkannt 
werden, wozu die Anwendung des Mikro¬ 
skops notwendig ist. 

Während der Arzt im infektiösen Sta¬ 
dium der Gonorrhoe möglichst aggressiv 
zu Leibe gehen muß, soll er im asep¬ 
tischen Stadium, gleich weit entfernt von 
einem laisser aller, wie von einer allzu 
großen Polypragmasie, als Erstes und Letztes 
das nil nocere beherzigen. 


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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


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Bücherbesprechungen. 

Die Epilepsie im Kindesalter, mit be- j Absicht, sich recht gründlich über den Ge- 
sonderer Berücksichtigung er- genstand zu unterrichten, hat, der lese das 
zieherischer, unterrichtlicher und Buch. Und wem dann noch nicht Genüge 
forensischer Fragen. Von Prof. Dr. geschehen ist, der findet im Literaturver- 
H. Vogt. Berlin 1910. S. Karger. zeichnis von 34 Seiten Länge sicher das 

Da der Verfasser auf eine jahrelange prak- gewünschte. Jeder Praktiker sollte das 
tische Anstaltstätigkeit zurückblickt und da- Buch sich anschaffen, denn es wird ihm 
neben das Hilfsschulmaterial der Stadt Frank- manchesmal einen gesuchten Rat geben, 
furt a.M. sowie deren mustergültige soziale wenn ihm schwül zumut ist, wie er sich 
Einrichtungen auf den hier interessierenden einem Gegenstand gegenüber verhalten 
Gebieten genau studieren konnte, war es 1 soll, der seine eigenen Wege gewandert 
ihm möglich, in der vorliegenden Mono- ist an Plätze, wo er nicht hingehört, 
graphie eine umfassende Darstellung der Brechmittel sollen zur Entfernung der 
Klinik, pathologischen Anatomie und sozialen Fremdkörper nur selten angewendet wer- 
Bewertung der kindlichen Epilepsie zu den, desto häufiger Magenspülungen. Diese 
geben. sind am Platz bei ätzenden Flüssigkeiten, 

Von dem reichen Inhalte des Buches Fischgräten, Obstkernen, Glassplittern, 
sei an dieser Stelle nur auf das Kapitel Gallensteinen im Magen, Abführmittel kön- 
„ Prophylaxe, Erziehung und Unterricht, nen direkt gefährlich wirken; sie sind am 
Schule und Anstalt, Soziale Fürsorge" Platz bei Ansammlung unverdaulicher Nah¬ 
kurz eingegangen. Der Verfasser schil- rungsmittel, meist im Zökum und Dick- 
dert darin, wie sich der Arzt den Heiraten | darm, im Verein mit Einläufen. Die beste 
Epileptischer gegenüber zu verhalten hat Methode, den Fremdkörper unschädlich zu 
und wie die Entwicklung epileptischer | machen, ist die Einhüllung in verschiedene, 
Kinder sorgfältig zu überwachen ist ; schwer verdauliche Substanzen, wie Kar- 
(ruhige geistige und körperliche Entwick- j toffel, Reis, Gerste, Hirse, Brot, Hülsen- 
lung). Die Frage des Schulunterrichts Epi- früchte, Mehlklöße, Sauerkraut. Einmal er- 
leptischer wird erörtert und dabei beson- ! wiesen sich Kartoffel mit Baumwollfäden 
ders das enge Zusammenarbeiten von Arzt | als gutes Mittel zur Einhüllung eines ver- 
und Lehrer betont. Verfasser will Epilep- j schluckten Gebisses. Man sieht, verschluckte 
tiker nicht generell von der Normalschule I Fremdkörper sind keine Sache für Schlem- 
ausschließen, glaubt allerdings, daß nur ein | mer. Nach 3—4 Tagen darf man den Ein¬ 
kleiner Teil für dieselbe geeignet ist. Ein | hüllungsmitteln ein Abführmittel folgen 
anderer Teil kann in den Hilfsschulen ; lassen und wird hiermit in den meisten 
unterrichtet werden. Das Gros der Kran- j Fällen zum Ziel kommen. Verschluckte 
ken, darauf kommt dieses Kapitel des Nadeln werden in mindestens l /s der Fälle 
Buches hinaus, endet in Anstalten, und j per vias naturales entleert. Von 151 Fällen 
darum ist die Frage der Anstaltsbehand- starben aber 15, meist infolge Perforation 
lung die wichtigste. Verhältnismäßig weni- des Magendarmkanals. Beim Gallenstein- 
gen von ihnen gelingt es, sich einen Beruf ileus ist das Resultat der konservativ Be- 
zu schaffen (Landwirtschaft, Gärtnerei), und handelten etwas günstiger als das der Ope- 
auch von diesen kommt im Laufe der Jahre rierten, was Mortalität betrifft, doch han- 
noch ein beträchtlicher Teil in Anstalten, delt es sich bei den Operierten um schwe- 
weil sie sich infolge ihrer Reizbarkeit und rere Fälle. Die Prognose bei dieser Er- 
Neigung zu unsozialen Handlungen auf die krankung ist mit Vorsicht zu stellen. Die 
Dauer in der Freiheit nicht halten können, interne Behandlung ist zu versuchen, doch 

Hübner (Bonn). von vornherein eine Operation in betracht 
A. Wolfler und V. Lieblein. Die Fremd- zu ziehen; Abführmittel sind unzweck¬ 
körper des Magendarmkanals des mäßig; sehr zu empfehlen sind hohe Ein- 
Menschen. Deutsche Chirurgie, Liefe- laufe mit heißem oder kaltem Wasser oder 
rung 46b. Stuttgart 1909, F. Enke. 402 Oel, sowie Magenausspülungen. Klink. 
Seiten mit 10 Abbildungen. R. Birnbaum. Klinik der Mißbildungen 

Die Fremdkörper des Verdauungstraktus und kongenitalen Erkrankungen 
werden in den Lehrbüchern meist stief- des Fötus. Mit 43 Textabbildungen 

mütterlich abgetan, aber mit Unrecht. Wenn und 1 Tafel. Berlin, Julius Springer, 

man das vorliegende Buch durchstudiert, Preis geb. 13,60 M. 

so Endet man, daß man auf diesem Gebiet Aus der reichhaltigen Sammlung der 
recht viel dazu lernen kann. Wer diese Göttinger Frauenklinik hat Birnbaum ein 


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März 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Material zusammengetragen, welches ihn be¬ 
fugt erscheinen läßt, eine Klinik der Mi߬ 
bildungen und kongenitalen Erkrankungen 
des Fötus als Monographie zu schreiben. 
Wer sich selbst mal mit Mißbildungen be¬ 
schäftigt hat, der weiß, durch welche Un- I 
menge von Arbeiten man sich hindurch- j 
winden muß, die noch dazu in der weiten 
Literatur zerstreut sind. Hier setzt nun 
Birnbaums Werk ein, das eine schnelle 
Orientierung, vor allem für den Praktiker, ; 
bietet. Birnbaum ist in erster Linie Gy¬ 
näkologe und Geburtshelfer, und die ge¬ 
burtshilfliche Seite des Themas ist von 
ihm in besonders ausgiebiger Weise be- 1 
arbeitet worden. Das an und für sich j 
trockene Gebiet der Mißbildungen ist da- | 
durch, daß nicht nur die pathologisch-ana¬ 
tomische Seite, sondern auch die klinische 
Bedeutung zur Beurteilung herangezogen 
wurde, nicht nur interessanter, sondern 
auch leichter verständlich gemacht worden. 
Daß die rechtlichen Verhältnisse der Mi߬ 
bildungen von Birnbaum nicht über¬ 
gangen worden sind, ist wiederum ein be¬ 
sonderes Verdienst des Autors, aber ge¬ 
rade hier wäre vielleicht eine genauere Be¬ 
sprechung am Platze gewesen; sie hätte 
zweifellos den Wert des Buches erhöht, 
das dem Praktiker als Nachschlagewerk von 
großem Nutzen sein wird, das aber auch 
in der Bibliothek eines Geburtshelfers nicht 
fehlen sollte. P. Meyer. 

W. Scholtz. Pathologie und Therapie 
der Gonorrhoe in Vorlesungen. Ein 
Lehrbuch für Aerzte und Studierende. 
Mit 2 Tafeln und 22 Abbildungen im Text. ; 
Zweite erweiterte und umgearbeitete Auf- | 
läge. Gustav Fischer in Jena, 1909. 

Bereits beim ersten Erscheinen dieses 
Werkes vor 6 Jahren habe ich dasselbe in ! 
dieser Zeitschrift als eine gute und für den ! 
praktischen Arzt zweckmäßige Darstellung 
der Gonorrhoe empfehlen können. Die j 
zweite Auflage ist in der Anlage nicht ; 
wesentlich verändert. Dagegen sind alle 
neueren Fortschritte kritisch verwertet und | 
gesonderte Kapitel über die Gonorrhoe 1 
des Weibes (ich finde den auch hier ge- | 
brauchten Ausdruck weibliche Gonorrhoe 
dem Sprachgefühl nicht entsprechend, Vir- 
chow würde ihn sicher gerügt haben) und 
die gonorrhoischen Metastasen hinzuge¬ 
treten. Das Buch ist die einzige als ge¬ 
sonderte Monographie erscheinende Dar¬ 
stellung der Gonorrhoe nach der Auffassung 
der Ne iß ersehen Schule. Dabei sind aber 
doch auch die von anderen Seiten emp¬ 


fohlenen Methoden der Behandlung, be¬ 
sonders der chronischen Gonorrhoe, in 
völlig ausreichender und Zutreffender Weise 
erwähnt und ihre Anwendungsweise selbst 
bis in Details erörtert. Man kann dem Autor 
beistimmen, wenn er in der Vorrede die 
Erwartung ausspricht, „daß das Buch dem 
Studierenden und Praktiker bei der Be¬ 
handlung der Gonorrhoe ein klarer und 
übersichtlicher Führer sein dürfte*. 

Buschke (Berlin). 

P. Mulzer. Praktische Anleitung zur 
Syphilisdiagnose auf biologischem 
Wege. (Spirochätennachweis, Wasser- 
m an n seheReaktion. Berlin 1910. Julius 
Springer. 

Ueber die Bedeutung und den Wert, 
welche die neuesten Syphilisforschungs¬ 
ergebnisse für die Praxis haben, herr¬ 
schen nach meinen Erfahrungen unter 
den Praktikern vielfach nicht ganz rich¬ 
tige Anschauungen. Gegenüber der einfach 
klinischen Beobachtung und klinischen 
Diagnose wird vom Spirochäten nach weis 
und der Wassermannschen Reaktion zu 
viel erwartet. Als ich die obige kleine 
| Monographie in die Hände bekam, ging 
! ich deshalb mit einem gewissen Vor- 
| urteil an deren Lektüre, ich fürchtete, daß 
durch eine für den Praktiker bestimmte 
handliche Darstellung der Materie noch 
mehr die gesunde klinische Richtung in 
der Syphilisdiagnostik zu Schaden käme. 
Aber ich wurde angenehm enttäuscht. Der 
Autor begrenzt wesentlich im Sinne des 
Referenten den praktischen Wirkungskreis 
der modernen Methoden und führt dieselben 
gegenüber der klinischen Untersuchung auf 
das richtige Maß zurück. Unter dieser 
Flagge ist das Erscheinen des Buches nur 
zu begrüßen und es wird eine Lücke aus¬ 
füllen. Sind doch die einschlägigen Tat¬ 
sachen in der immensen Literatur so zer¬ 
streut, daß selbst der Spezialist sie kaum 
beherrschen kann. Der Autor hat es ver¬ 
standen, auf kleinem Raum in geschickter, 
übersichtlicher Form klar und leicht ver¬ 
ständlich und auch sachlich und in bezug 
auf die Technik kritisch die Materie dar¬ 
zustellen. Für jeden, der sich mit diesen 
Dingen speziell beschäftigt, aber auch für den 
praktischen Arzt, in dessen Tätigkeit ja diese 
Fragen häufig ein greifen, wird das Buch 
ein gutes Orientierungs- und Nachschlage¬ 
werk sein. Die gute Ausstattung auch in 
bezug auf Abbildungen trägt das ihrige 
dazu bei, um die kleine Monographie emp¬ 
fehlenswert und zweckentprechend er¬ 
scheinen zu lassen. Buschke. 


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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


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Referate. 


Aus der Amsterdamer Klinik gibt i 
von Assen einen Bericht Ober 100 ein¬ 
geklemmte Brfiche und beweist daran die 
Richtigkeit der Forderung von Lanz, daß 
die Taxisversuche heute nicht mehr an¬ 
gebracht sind. Es gibt Falle von Darm¬ 
inkarzerationen, wo man nicht die kleinsten 
klinischen Symptome drohender Gangrän 
sieht, während bei der Herniotomie eine 
Verlegung der Zirkulation durch Throm¬ 
bose der Mesenterialgefäße, also drohende 
Gangrän gefunden wird. Die einzig richtige 
Therapie der eingeklemmten Hernie ist die 
Herniotomie. Die verhältnismäßig häufigen 
ernsten Folgen nach einer Taxis raten 
immer mehr zur Operation statt Taxis, 
auch in der Landpraxis. Jeder Taxis¬ 
versuch beeinflußt das Allgemeinbefinden 
schlecht, allein schon wegen der Schmerz¬ 
haftigkeit. Die angeführten Fälle wurden 
gleich nach ihrer Einlieferung operiert. 
Kinder wurden erst operiert, wenn durch 
Beckenhochlagerung während einiger 
Stunden eine spontane Reposition nicht 
erzielt wurde. In 6 Fällen bestand nicht 
eine der gewöhnlich angeführten Kontra¬ 
indikationen gegen Taxis und die Operation 
zeigte doch, daß die Taxis gefährlich ge¬ 
wesen wäre. In 19 Fällen war ein Bruch¬ 
band getragen worden, ein guter Beweis, 
wie wenig ein Bruchband eine Einklemmung 
verhütet. Die Mortalität betrug 2%, aber 
ohne ursächlichen Zusammenhang mit der 
Operation; dabei ist zu berücksichtigen, 
daß vier Kranke unter 1 Jahr, achtzehn 
60—70, siebzehn 70—80, drei über 80 Jahre 
waren. 7 mal mußte drainiert werden, J 
sonst war immer prima reunio. Das I 
seltene Auftreten von Pneumonie ist wohl I 
auf die ausgedehnte Verwendung der ; 
Lokalanästhesie zurückzuführen. Die Taxis | 
ist nur zu versuchen bei florider Lues und j 
Infektion des Operationsfeldes, wenn keine i 
spezielle Kontraindikation besteht; bei 
kleinen Kindern ist beim Fehlen von be- I 
unruhigenden Allgemeinerscheinungen eine ! 
Spontanreduktion durch Beckenhoch- | 
lagerung vor der Operation zu versuchen. 

Klink. 

(Bruns B. 1909. Bd. 65, H. 2.) 

Ist bei Fazialislähmung: die Neuro- 
plastik erfolglos geblieben, so kommen 
royoplastische Operationen in Betracht, die 
den Zweck haben, die Gesichtsstatik zu 
korrigieren. Jianu gibt für eine solche 
eine neue Methode an, die in einem Falle 
mit einem befriedigenden Erfolg aus- 
geführt wurde. Nachdem ein schwach 

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bogenförmiger Schnitt längs dem hinteren 
Rand des Unterkiefers bis zur Mitte des¬ 
selben angelegt ist, wird die Haut nach oben 
und vorn bis nahe an die Kommissur ab- 
präpariert. Sodann wird vom Masseter 
ein Bündel isoliert, mit dem Unterkiefer¬ 
periost abgelöst und nach oben geschoben 
bis zur Mitte. Dabei ist zu beachten, daß 
der Nervus massetericus nicht durch¬ 
gerissen wird. Es wird nun die Kommissur 
vorgeschoben und an ihr das Muskelbündel 
mit Katgutfeden befestigt. Eventuell kann 
man das Muskelbündel spalten und beide 
Bündel isoliert am Orbicularis sup. et 
inf. annähen. Die Haut wird darüber voll¬ 
ständig geschlossen. Außer dieser Methode 
läßt sich auch die von Gomocu an¬ 
gegebene Plastik verwenden. Hierbei wird 
ein Muskellappen aus dem Sternokleido- 
mastoideus gebildet, der nach Unterminie¬ 
rung der Haut an der Kommissur befestigt 
wird. Die Nähte dürfen dabei, um eine 
Infektion zu verhüten, die Mundschleimhaut 
nicht durchbohren. H oh m ei er (Altona). 

(Deutsche Ztschr. f. Chir. Bd. 102, H. 4—6.) 

Sehr günstige Resultate bei einer größe¬ 
ren Reihe ankylosierender Gelenker- 
krankungen erzielte P. Heeg er (Oeyn¬ 
hausen) mittels Fibrolysin. Die Injektionen 
wurden nach vorheriger Erwärmung der 
Ampulle auf 45° C in die Glutäalgegend 
gemacht, und zwar täglich, im ganzen 10 
bis 20 mal. Die Patienten gebrauchten da¬ 
bei die Badekur und wurden von der 
zehnten Injektion an außerdem mit Massage 
und mediko mechanischen Uebungen be¬ 
handelt. Irgendwelche unangenehmen Neben¬ 
erscheinungen kamen nicht zur Beobach¬ 
tung. Das Allgemeinbefinden wurde in 
allen Fällen vorzüglich beeinflußt, wofür 
He eg er allerdings besonders auch die 
Bäderbehandlung in Betracht zieht. Die 
Besserung der Gelenkprozesse aber, die in 
keinem Falle ausblieb, wenn sie auch nicht 
in allen gleich groß war, führt Heeger 
vornehmlich auf das Fibrolysin zurück, dem 
er eine große Zukunft bei der Behandlung 
der chronischen Arthritiden voraussagt. 

F. K. 

(Münch, med. Wochschr. 1910, Nr. 5.) 

Kausch gibt auf Grund seiner Beob 
achtungen bemerkenswerte Ratschläge für 
die Behandlung des Hydrozephalus mit 
konsequenter Punktion. Er faßt seine Er¬ 
fahrungen in folgende Sätze zusammen: 

1. Bei weit offenem Schädel soll die Ven¬ 
trikelpunktion energisch von den offenen 
Stellen aus vorgenommen werden. 2. Stets 

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Die Therapie der 

ist der Druck am Anfang und Ende der 
Punktion zu bestimmen. 3. Beim ersten 
Male sind in schweren Fallen bis 100 ccm 
abzulassen, der erhöhte Druck soll um 
etwa 20 cm Wasser sinken, aber nicht 
tiefer als auf + 5 cm; verträgt das Kind 
dies gut, so soll der Druck beim nächsten 
Male auf 0, später auf Minus gebracht 
werden. Die einmalig abgelassenen Quanten 
können schließlich mehrere Hundert Kubik¬ 
zentimeter, bis 300 ccm betragen. 4. Die 
Punktion ist jedenfalls zu wiederholen, so¬ 
bald wieder ein höherer positiver Druck 
vermutet wird; wenn erforderlich täglich, 
sonst nach einigen Tagen, so lange bis der 
Schädel normale Größe erreicht. 5. Bei 
negativem Drucke, ferner bei infolge der 
Entleerung abstehenden Schädelknochen 
ist die Kompression anzuwenden. 6. Lum¬ 
bal punktiere man bei offenem Schädel 
nur in leichten Fällen oder in schweren 
später, wenn durch Ventrikelpunktionen er¬ 
hebliche Besserung erzielt wurde, und das 
Ablassen großer Quanten nicht mehr in 
Betracht kommt. 7. Je weiter der Schluß 
des Schädels fortgeschritten ist, um so vor¬ 
sichtiger sei man, besonders mit dem Her¬ 
beiführen negativen Druckes; letzterer über¬ 
steige nicht die Fontanellenbreite (der ne¬ 
gative Druck übersteige in Zentimetern 
Wasser nicht das Klaffen der Fontanelle, 
das heißt ihren größten Durchmesser; also 
bei einer Fontanellenbreite von z. B. 5 cm 
übersteige er nicht 5 cm). 8. Bei ge¬ 
schlossenem Schädel ist sehr vorsichtig um¬ 
zugehen, negativer Druck völlig zu ver¬ 
meiden, auch jede stärkere Herabsetzung 
des erhöhten Druckes in einer Sitzung; 
man lasse häufiger und jedesmal weniger 
ab. Zunächst ist die konsequente Lumbal¬ 
punktion zu versuchen. Erreicht sie nichts, 
so ist auch hier die konsequente Ventrikel¬ 
punktion von kleinen Bohrlöchern aus vor¬ 
zunehmen, am besten in der Stirngegend. 
9. Die komplizierten Operationsmethoden 
sollen bei offenem wie geschlossenem 
Schädel erst versucht werden, wenn die 
konsequente und energische Punktion nicht 
zum Ziele führt. 

Eugen Jacobsohn (Charlottenburg). 

(Mitt. a. d. Gr. 1910, Bd. 21, H. 2.) 

In einer Studie über die Infüsion 
physiologischer Salzlösungen unter¬ 
zieht A. Thieß die Bedingungen der Salz¬ 
aufnahme bezw. -abscheidung einer sorg¬ 
fältigen Kritik und kommt hierbei zu dem 
Schlüsse, daß die subkutane Zuführung 
größerer Salzmengen für den Organismus 
keineswegs immer unbedenklich sei. 

Er stützt sich hierbei auf die experi¬ 


Gegenwart 1910. März 


mentell erhärtete Tatsache, daß nach In¬ 
fusion hypertonischer und öfters auch iso- 
tonischer Salzlösungen trotz der anfäng¬ 
lichen Steigerung der Diurese eine Chlor¬ 
retention erfolgt. Erheblicher erscheint der 
Einwand, daß durch das in größeren Men¬ 
gen zugeführte NaCl eine Ausscheidung 
von Kalium und Kalzium verursacht werde. 
Da diese beiden Elemente zum Aufbau des 
Eiweißmoleküls notwendig sind, so wirkt 
jede Kochsalzinfusion nach Thieß im Sinne 
der Verarmung des Körpers an diesen 
lebenswichtigen Bestandteilen. So kommt 
Verfasser zu dem Schluß, daß reine Chlor¬ 
natriumlösungen unter Umständen ein 
Körpergift sind. Er hält es für unbedingt 
notwendig, der Infusionsflüssigkeit genügend 
Kalzium und Kalium zuzusetzen, daß ein 
etwaiges Defizit dieser Stoffe mit Sicher¬ 
heit gedeckt wird. 

An der Hand zahlreicher Experimente 
sucht Verfasser die Richtigkeit dieser For¬ 
derung zu erhärten. Sieht man von der 
durch das Eingehen auf die verschiedensten 
theoretischen Möglichkeiten übermäßig be¬ 
lasteten Beweisführung ab, so lassen sich 
die Ergebnisse der Thieß sehen Ausfüh¬ 
rungen in folgende Sätze zusammenfassen. 

Die Infusion größerer Kochsalzmengen 
kann unter Umständen zu schweren Schä¬ 
digungen führen. Kontraindiziert ist sie 
bei kleinen Kindern, bei Erkrankungen, die 
mit starkem Salzverlust einhergehen, bei 
Hungerzuständen, bei Kachexie, sowie bei 
Erkrankungen, die von Veränderungen der 
Nieren, des Herzens und der Gefäße be¬ 
gleitet sind. Zu vermeiden ist die Infusion 
sodann bei allen Zuständen, die mit Chlor¬ 
retention oder vermehrter Ausscheidung 
anderer Salze einhergehen, hauptsächlich 
also im Fieber. Ferner ist sie bei Chol¬ 
ämie auszu schließen. 

Davon metallischen Bestandteilen Kalium 
und Kalzium zum Aufbau der Zelle unbe¬ 
dingt notwendig sind, muß die Infusions¬ 
flüssigkeit diese beiden Körper in Lösung 
enthalten, damit eine Verdrängung dieser 
Metalle aus ihren organischen Verbindungen 
vorgebeugt werde. 

Die Menge der Salze des Kalium und 
Kalzium muß so groß gewählt werden, {daß 
sie ungefähr ihrer Konzentration in den 
tierischen Geweben entspricht. Dieses ist 
bei einem Prozentgehalt von 0,6 NaCl, 
0,02 CaCl 2 und 0,02 KCl der Fall. 

Wenn es auch dankenswert ist, die Re- 
sorptions- und Ausscheidungsverhältnisse 
bei Kochsalzinfusionen, die ja auf dem 
Boden der Praxis entstanden sind, einer 
genauen Kritik zu unterziehen, so scheint 


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März 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 133 


Referenten die Art der Behandlung des 
Themas, sowie die Aufstellung präziser In¬ 
dikationen und Kontraindikationen zu theo¬ 
retisch. Die tausendfältige erfolgreiche An¬ 
wendung der Kochsalzinfusionen bei Zu¬ 
ständen, bei denen nach Ansicht des Ver¬ 
fassers dieses Verfahren kontraindiziert 
wäre, hat ergeben, daß die Infusion nicht 
so schlimm ist als ihr Ruf und daß die 
geäußerten Bedenken wenigstens teilweise 
theoretischer Natur sind. 

Leo Jacobsohn (Charlottenburg). 

(Mitt. a d. Grenzgeb. d. Med. u. Chir., Bd. 21, Heft 2.) 

L.Berliner (Reinickendorf-Berlin) emp¬ 
fiehlt die Behandlung des Keuchhustens 
mit Chininsalbe auf dem Wege durch die 
Nase. Von der Salbe, die je nach dem 
Alter des Kindes 1—2,5 auf 10—15 g Adip. 
suill. verschrieben wird, läßt er mit einem 
Glasstäbchen 3—4mal täglich eine etwa 
bohnengroße Portion in jedes Nasenloch 
einfQhren; danach soll das Kind, damit die 
Salbe nach hinten fließt, auf dem RQcken 
liegen. Bei dieser Methode beobachtete 
Berliner in einigen Fällen schön nach 
3—4 Tagen eine wesentliche Besserung, 
meist trat der Erfolg einer fortschreitenden 
Abnahme der Zahl und Intensität der An 
fälle erst nach zirka acht Tagen deutlich 
in Erscheinung. Die Wirksamkeit der Me¬ 
thode ist nach Berliners Erfahrungen um 
so deutlicher, je jünger die Kinder sind. 
Universelle Krämpfe im Gefolge der Stick¬ 
hustenanfälle bei Kindern in den ersten 
beiden Lebensjahren pflegten wegzubleiben, 
sobald die Salbenbehandlung eingeleitet war. 

Felix Klemperer. 

(llünch. mcd. Wochschr. 1910, Nr. 7.) 

Auf die Gefahren der Narkosen bei 
künstlich verkleinertem Kreislauf 
macht Graefenberg aufmerksam. Nach 
dem Vorschläge Klapps (vergl. diese 
Zeitschrift 1909, August) wurden in der 
Kieler Universitäts-Frauenklinik eine Zeit¬ 
lang Narkosen bei gleichzeitiger Abschnü¬ 
rung der Gliedmaßen ausgeführt. Dabei 
wurde eine auffällige Häufung von post¬ 
operativen Thrombosen festgestellt. In 
ca. 1/2 Jahr kamen bei 75 Laparotomien 
6 Thrombosen vor. Diese Zahl mußte 
überraschen, weil nach anderen Erfahrungen 
ebenso wie an den in der Kieler Klinik 
gemachten ein so hoher Prozentsatz 
nicht beobachtet worden war. Die be¬ 
obachteten Erscheinungen haben Veran¬ 
lassung gegeben, auf die Abschnürung der 
unteren Extremitäten nach der Vorschrift 
Klapps völlig zu verzichten. 

Eugen Jacobsohn (Charlottenburg) 

(Deutsche med. Wschr. 1910, Nr. 5.) 


Dem „Nil nocere“ in der Neurologie 
widmet Oppenheim einen kurzen inhalt¬ 
reichen Artikel, der weit über das von 
diesem Autor vertretene Spezialgebiet hin¬ 
aus von Bedeutung ist. Aus den Ausfüh¬ 
rungen des Berliner Meisters spricht die 
ernste Mahnung, in den therapeutischen 
Bestrebungen nicht über die durch das Nil 
nocere gezogenen Grenzen hinauszugehen. 
Gestützt auf seine reichen Erfahrungen 
zeigt Oppenheim, wie mit der Einführung 
neuer Behandlungsmethoden die Verant¬ 
wortlichkeit des Arztes sich nicht unbe¬ 
trächtlich gesteigert hat. 

Namentlich gilt dies für die Neurochi¬ 
rurgie. Wenn auch nicht zu verkennen 
ist, daß durch das siegreiche Vordringen 
der Chirurgie auf ein ihr bis vor kurzem 
verschlossenes Gebiet eine Reihe von 
Kranken dem sicheren Tode entrissen 
werden, so darf man sich andererseits nicht 
darüber täuschen, daß hier auch eine An¬ 
zahl von Todesfällen sowie schweren 
Schädigungen der Gesundheit auf das 
Konto einer zu weiten Indikationsstellung 
zu setzen sind. 

Die von chirurgischer Seite geäußerte 
Meinung, daß eine Probeöffnung des Schä¬ 
dels zu diagnostischen Zwecken in gleicher 
Weise erlaubt sei wie eine Probelaparo¬ 
tomie, wird von Oppenheim scharf ab¬ 
gelehnt mit der Begründung, daß die Ge¬ 
fahren einer Trepanation ungleich größer 
seien als die einer Leibesöffnung. „Die 
Funktion der Sprache, des Sehens und 
Denkens steckt im Gehirn und nicht im 
Abdomen. Und das bedingt den funda¬ 
mentalen Unterschied." Im Anschluß an 
diese Erörterung zitiert Oppenheim einen 
Fall seiner Praxis, wo eine dekompressive 
Trepanation sich als notwendig heraus¬ 
stellte. Der Operateur hielt sich nicht an 
die von Oppenheim vorgeschlagene Stelle 
des rechten Schläfenlappens, als des für 
die Hirnfunktion irrelevantesten Teiles, und 
trepanierte über der linken Stirnschläfen¬ 
gegend. Die Folge war eine totale Aphasie, 
durch welche die bis dahin intelligente und 
ausdrucksfähige Patientin bis zu ihrem ein 
Jahr später erfolgenden Tode von der 
sprachlichen Verständigung mit der Außen¬ 
welt abgeschnitten wurde. 

Gegen den Grundsatz des Nil nocere 
wird ferner dadurch gefehlt, daß Eingriffe 
als harmlos hingestellt werden, die recht 
folgenschwer sein können. Hiermit nimmt 
Oppenheim Stellung gegenüber der Hirn¬ 
punktion und verlangt, daß die Methode auf 
die Fälle beschränkt bleibe, die sonst der 
Diagnose nicht zugänglich sind, voraus- 


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134 Die Therapie der Gegenwart 1910. März 


gesetzt, daß überhaupt eine exakte Diag¬ 
nosenstellung für das Leben des Patienten 
von Bedeutung ist. Auch die Lumbal¬ 
punktion hat sich, seitdem man eine erhöhte 
Aufmerksamkeit den Gefahren dieser Me¬ 
thode zugewandt hat, als ein durchaus 
nicht immer harmloser Eingriff erwiesen. 
Dieses wird durch vier eigene Erfahrungen 
belegt. Insbesondere warnt Oppenheim ; 
vor Anwendung der Punktion bei Polio¬ 
myelitis und Rückenmarkstumor. 

Den Schluß der Ausführungen bildet 
eine Kritik der modernen Arsenpräparate, 
deren Gebrauch wiederholt zu schweren 
Schädigungen der Gesundheit, insbesondere 
zu Erblindung geführt hat. Den Bestre¬ 
bungen der Chemotherapie, möglichst ak¬ 
tive Arsenverbindungen herzustellen, ver¬ 
danken wir das Atoxyl und das neuerdings 
von Ehrlich empfohlene Arsazetin. Die 
mehrfach bekanntgegebenen Fälle von 
Atoxylamaurosen haben dann auch zur 
Einschränkung bezw. vorsichtigeren Dosie¬ 
rung dieses Präparats geführt. Das Ars¬ 
azetin, das im Rufe einer weniger giftigen 
Arsenverbindung steht, ist, wie neuere Er¬ 
fahrungen lehren, ein keineswegs indiffe¬ 
renter Körper. Nachdem bei den anfäng¬ 
lichen Dosen von 0,5—0,8 (Einzeldosis) 
einige Male Erblindung eingetreten war, 
ist man in der Dosierung mehr und mehr 
herabgegangen. Trotzdem hat Oppen¬ 
heim bei Einzeldosen von 0,1 und einer 
Gesamtmenge von 1,8 Arsazetin verteilt 
auf einen Zeitraum von sechs Wochen eine 
erhebliche Ambliopie nicht vermeiden kön¬ 
nen. Auf Grund dieser Erfahrung warnt 
Oppenheim vor der Anwendung der 
neuen Arsenpräparate nachdrücklichst. 

Einen ablehnenden Standpunkt nimmt 
ebenfalls Hannes den neuen Arsenpräpa¬ 
raten gegenüber ein. In einer Mitteilung 
über die Einwirkung des Ars&zetins auf 
den Sehnerven erwähnt er den Fall 
Iversens, bei dem allerdings nach großen 
Arsazetinmengen Erblindung sich einstellte. 

Gleichzeitig stützt sich Verfasser bei 
der Verwerfung der genannten Arsenikalien 
auf eine eigene Beobachtung. Es handelte 
sich um einen 66jährigen Kranken, bei dem 
wegen schwerer sekundärer Anämie eine 
vorsichtige Arsazetin kur eingeleitet wurde. 
Nach 8 Injektionen von 0,1 Arsazetin die im 
Laufe von 2 Wochen gegeben wurden, zeigten 
sich Sehstörungen, die nach 2 Monaten in 
komplette Optikusatrophie ausgingen. Auch 
hier wurde wie im Falle Oppenheims von 
größeren Dosen abgesehen. 

Auf Grund dieser Erfahrung kommt 
Verfasser unter kritischer Sichtung der 


| bisherigen Literatur, die sicher nur einen 
j Teil der eingetretenen Arsenschädigungen 
! enthält, zu folgenden Schlußsätzen: 

Die neuen Arsenderivate sind vorläufig 
| noch nicht geeignet, die frühere Form der 
Arsenbehandlung zu verdrängen. Der in 
kleineren Beobachtungsreihen erreichte 
Nutzen steht in keinem Verhältnis zu den 
bisher bekanntgegebenen schweren Schädi¬ 
gungen, welche diesen Medikamenten zu¬ 
zuschreiben sind. Besonders empfiehlt es 
sich den praktischen Aerzten, gegenüber 
diesen Mitteln weitgehende Zurückhaltung 
zu beobachten. 

Leo Jacobsohn (Charlottenburg). 

(Berl. klin. Wochschr. 1910, Nr. 5. — Deutsche 
med. Wschr. 1910, Nr. 6.) 

Ueber den gegenwärtigen Stand der 
Psychotherapie bringt L. Löwenfeld 
eine umiassende kritische Uebersicht. 

Trotz der Entwicklung, welche die 
Psychotherapie in den letzten Dezennien 
erfahren hat, ist dieser Zweig der Heil¬ 
kunde noch nicht genügend anerkannt; es 
liegt das nicht in letzter Linie an den 
fundamentalen Meinungsverschiedenheiten, 
die sich auf diesem Gebiet — wie auf 
keinem andern — geltend machen. Selbst 
unter Neurologen und Psychiatern gehen 
die Ansichten über den Wert der einzelnen 
psychotherapeutischen Methoden derart 
auseinander, daß die einen als ungemein 
wichtige Errungenschaft betrachten, was 
andere als vollständigen Unsinn belächeln. 

Man kann die p ychischen Behandlungs¬ 
methoden in zwei Gruppen sondern, solche, 
deren Anwendung besondere Studien und 
praktische Uebung verlangen, und solche, 
bei denen diese nicht erforderlich sind. 
Zur ersten Gruppe gehört die hypnotische 
Behandlung und die psychoanalytische 
Methode nach Freud; zur letzten alle 
übrigen Verfahren. Von diesen erfordern 
jedoch selbst die einfachsten, wie die Auf¬ 
klärung des Kranken und der tröstende 
Zuspruch Erfahrung und psychologischen 
Takt. Der Erfolg hängt hier wesentlich 
von dem Auftreten und der Persönlichkeit 
des Arztes ab. Die scheinbar einfache 
suggestive Behandlung im Wachzustand 
kann außerordentlich schwierig sein. Die 
eingehenden Vorschriften Ziehens, der 
die Hervorrufurg der Autoritätsvorstellung 
hierbei als erste Aufgabe des Arztes be¬ 
trachtet, sind den Anforderungen der Praxis 
gegenüber völlig unzulänglich. Die „Tech¬ 
nik“ Ziehens, welche Löwenfeld aus¬ 
führlich bespricht, ist als zu schematisch 
und zu primitiv zu verwerfen. Bei der 
Suggestivbehandlung muß der Arzt unbe- 


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März Die Therapie der 

dingt in hohem Maße individualisieren. — 
Wahrend nun die einfachen psychothera¬ 
peutischen Methoden, Aufklärung, Ueber- 
redung, Willenstherapie, Ablenkung, Arbeit, 
Ruhe, verbale und larvierte Wachsuggestion 
usw. zwar verschieden bewertet, im allge¬ 
meinen jedoch anerkannt werden, bilden 
die Hypnotherapie und die Psychoanalyse, 
welche weit höhere Anforderungen an das 
Können und die Qualitäten des Arztes 
stellen, den Gegenstand der widersprechend¬ 
sten Meinungen. Wenn diese beiden Me¬ 
thoden von manchen Neurologen ohne 
weiteres verworfen werden, so liegt das 
fast immer an Voreingenommenheit oder 
mangelnder Sachkenntnis. Manche Autoren 
gelangen auch dadurch zu einem abspre¬ 
chenden Urteil, daß sie, bestimmt durch 
gute praktische Erfolge, dieses oder jenes 
Verfahren einseitig bevorzugen und in den 
anderen nicht von ihnen kultivierten nur 
die Schattenseiten erblicken. Während 
noch hervorragende Kliniker, wie Bene¬ 
dikt und Ri eg er, die Hypnotherapie als 
wertlose oder gefährliche Spielerei oder als 
„Altweiberkur“ hingestellt haben, beginnt 
in der neuesten Zeit eine sachgemäßere 
Beurteilung sich anzu bahnen. Immerhin 
werden auch jetzt noch die Gefahren der 
Hypnose bei weitem Qberschätzt. Bei rich¬ 
tiger Anwendung dieses Heilverfahrens 
sind Gefahren Oberhaupt nicht zu be¬ 
fürchten. 

Auch von einigen hervorragenden 
Psychotherapeuten wird von der Anwen¬ 
dung der Hypnotherapie abgesehen; so 
von Freud und Dubois. Freud erkennt 
die Erfolge der Hypnosebehandlung voll 
kommen an, beschränkt sich jedoch auf 
die von ihm und Breuer geschaffene 
„analytische“ oder „kathartische“ Methode. 
Dubois, welcher das Hauptmoment in der 
Genese der funktionellen und psychopathi¬ 
schen Störungen in der „primären Fühls- 
lage“ erblickt, glaubt, daß diese durch er¬ 
zieherische Einflüsse umzugestalten ist. Er 
verwirft daher die Erweckung der Autori¬ 
tätsvorstellung, die Suggestion und die 
Psychoanalyse als Mittel der Beeinflussung 
und erkennt als einziges Verfahren, die 
Dialektik, d. h. den vernünftigen Zuspruch 
an. Die Ausstellungen, welche Dubois 
gegen die Hypnotherapie geltend macht, 
werden eingehend besprochen und wider¬ 
legt. Löwenfeld betont, daß die Beein¬ 
flussung in der Hypnose sich prinzipiell 
durchaus nicht von den anderen psycho 
therapeutischen Methoden unterscheidet 
und mindestens so wirksam wie die „Per¬ 
suasion“ die Fühlslage beeinflußt; nament- 


Gegenwart 1910. 135 

lieh, wenn man — wie dies neuerdings 
nach dem Vorbild von Großmann fast 
allgemein geschieht — die Suggestionen 
im Schlaf- sowohl wie Wachzustand durch 
entsprechende Motivierungen stützt. Die 
überzeugende Dialektik allein, auf die Du¬ 
bois die ganze Psychotherapie reduzieren 
will, genügt auf keinen Fall. Vorstellungen 
und Impulsen gegenüber, die unter dem 
Bild des Zwangscharakters auftreten, kann 
man durch Ueberredung und Aufklärung 
nur temporäre Erfolge erzielen. Die Ein¬ 
sicht in das Krankhafte und Absurde ihrer 
Vorstellungen hindert die Kranken nicht, 
immer wieder darauf zurückzukommen, wie 
man dies z. B. typisch bei der Zweifel- und 
Grübelsucht beobachtet. Während nun 
Zwangsneurosen — ein Gebiet, auf dem 
Löwenfeld besondere Erfahrungen ge¬ 
sammelt hat, — durch Hypnose in manchen 
Fällen zweifellos geheilt werden können, 
sind Heilungen mittels des Dubois sehen 
Verfahrens sicher nicht zu erreichen. Bei 
Störungen anderer Art bestreitet Löwen¬ 
feld die von Dubois erzielten Erfolge 
nicht, glaubt jedoch, daß sie nicht seiner 
Dialektik als solcher zuzuschreiben sind, 
sondern, daß sie durch die sehr wirksamen 
Suggestionen, welche in den geschickt 
formulierten Aufklärungen Dubois* ent¬ 
halten sind, erklärt werden müssen. — 
Sicherer als von der Hypnotherapie ist bei 
Zwangsneurosen eine radikale Heilung von 
der Freudschen Methode zu erwarten, 
welche sich gegen die im „Unterbewußten“ 
ruhenden Wurzeln des Leidens richtet. 
Obschon eine große Reihe von Unter¬ 
suchungen über die psychoanalytische Me¬ 
thode vorliegt, stehen sich die Ansichten 
über den Wert dieses Verfahrens noch 
sehr schroff* gegenüber. Wenn Oppen¬ 
heim es als eine moderne Form des 
Hexenwahns bekämpft, so geht er ent¬ 
schieden zu weit. Diese geistvolle Methode 
verlangt eine große Vertiefung, ohne die 
eine vorurteilsfreie Prüfung nicht möglich 
ist. Die Lehre Freuds enthält zwei funda¬ 
mentale Theorien; die erste, die Theorie 
von dem infantilen sexuellen Trauma als 
Ursache der Psychoneurose, die zweite, 
umfassendere, die Lehre von dem „einge¬ 
klemmten Affekt“, der „Unbewußtheil“ ge¬ 
wisser seelischer Vorgänge und der Beseiti¬ 
gung der daraus resultierenden Krank¬ 
heitserscheinungen durch die Ueberführung 
der unbewußten Elemente in das Bewußt¬ 
sein. Wenn Freud wohl auch die Bedeu¬ 
tung der infantilen Sexualität zu sehr ver¬ 
allgemeinert und überschätzt, so darf man 
darum doch nicht — wie dies in Fach- 


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136 Die Therapie der Gegenwart 1910. Mäiz 


kreisen fast allgemein geschieht — die 
Grundtheorie seines Systems verwerfen. 

Am meisten verspricht sich Löwenfeld 
von der Verbindung der Psychoanalyse 
mit der Hypnose, für die besonders Muth- 
mann eingetreten ist. Denn es unterliegt 
keinem Zweifel, daß in der Hypnose die 
Reproduzierbarkeit von Kindheitserinne¬ 
rungen in vielen Fällen — unabhängig von 
der Schlaftiefe — gesteigert ist. 

Die Domäne der Psychotherapie bilden 
nach Löwen fei d vor allem die Neurosen 
und Psychoneurosen. Ihre sachgemäße 
Behandlung erfordert, daß man den ganzen 
Apparat der psychotherapeutischen Metho¬ 
den beherrscht, deren jede ihre Besonder¬ 
heit in der Wirkung hat. 

Der Nutzen der unzähligen modernen 
physikalisch-diätetischen Mittel und phar¬ 
mazeutischen Präparate, der teils physio¬ 
logischer, teils suggestiver Natur ist, ist 
nicht zu leugnen, darf jedoch nicht über¬ 
schätzt werden. 

Löwenfeld, der auf Grund seiner her¬ 
vorragenden und vielseitigen Arbeiten auf 
dem Gebiet des Hypnotismus, der Lehre 
von den Neurosen usw. als ein Mitbegrün¬ 
der der modernen Psychotherapie genannt 
werden muß, ist durch seine besonnene 
und objektive Art wohl besonders berufen, 
uns eine kritische Uebersicht über den 
Stand dieser schwierigen Fragen zu geben 
Gerade gegenüber den zahlreichen Anfein¬ 
dungen, welche die Hypnotherapie in ärzt¬ 
lichen Kreisen vielfach ohne Sachkenntnis 
erfährt, ist das kritische Expose Löwen¬ 
felds — auch wenn es nichts eigentlich 
neues bringt — als eine bedeutungsvolle 
Arbeit zu begrüßen. 

B. Hailauer (Charlottenburg). 

(MQnch. med. Wochschr. 1910, Nr. 3 u. 4.) 

In seiner Arbeit „Zur Wahl der Ope¬ 
rationsmethode bei der Behandlung der 
Nephrolithiasis“ berichtet M a k k a s über die 
in der Garreschen Klinik ausgefühlten 
Pyelotomien. Seitdem es durch das 
Routgenvertahren ermöglicht ist, nicht nur 
die Zahl der Steine, sondern auch ihren 
Sitz genau zu bestimmen, scheint diese 
Operationsmethode wieder mehr Anhänger 
zu gewinnen. Selbst große Steine lassen 
sich durch das eröffnete Nierenbecken ent¬ 
fernen; reicht die Oeffnung im Nieren¬ 
becken nicht aus, so kann der Schnitt in 
das Nierenparenchym hinein verlängert 
werden; auf diese Weise wird nur ein 
kleiner Teil des Parenchyms vom Schnitt 
getroffen. Das Zurücklassen von Kon¬ 
krementen läßt sich am besten dadurch ver¬ 


hüten, daß man den Schnitt im Nieren¬ 
becken nicht zu klein anlegt und mit dem 
durch die Schnittöffnung eingeführtea 
Finger die Nierenkelche abtastet. Bei hoch¬ 
sitzenden Uretersteinen empfiehlt es sich, 
den Stein in das Nierenbecken zurück¬ 
zuschieben und ihn dann durch Pyelotomie 
zu entfernen. Handelt es sich um sehr 
große, stark verzweigte Korallensteine oder 
ist durch das Röntgenbild nachgewiesen, 
daß der Stein tief im Nierenparenchym 
sitzt, so wird die Nephrotomie in An¬ 
wendung kommen. Dieser Operations¬ 
methode wird man auch ferner den Vor¬ 
zug geben bei schwerer infektiöser Pyelitis, 
bei pyonephrotisch veränderten Nieren oder 
bei in der Niere fortschreitender Ent¬ 
zündung; auch in den Fällen, wo eine 
Freilegung des Nierenbeckens wegen skle- 
rosierender Prozesse in dem das Nieren¬ 
becken umgebenden Fettgewebe unmöglich 
ist. Die Nachteile der Nephrotomie gegen¬ 
über der Pyelotomie sind bekannt, es sind 
dies einmal die nach Nierenschnitten auf¬ 
tretenden nekrotischen Vorgänge im Paren¬ 
chym, ferner aber die gefährlichen, oft 
neue Eingriffe erfordernden Nachblutungen. 
Auch bei Unmöglichkeit der Naht des 
Nierenbeckens ist das Zurückbleiben einer 
Fistel, wenn keine Abflußhindernisse vor¬ 
liegen, nach den bisherigen Erfahrungen 
nicht zu befürchten; wenn möglich, soll 
das eröffnete Nierenbecken durch dreifache 
Nahtreihe geschlossen werden. 

Hohmeier (Altona). 

(Deutsche Ztschr. f. Chir., Bd. 103, H. 3—6.) 

Ueber intravenöse und intramusku¬ 
läre Anwendung hoher Serumdosen bei 
der Behandlung der Diphtherie berichtet 
Berlin. Es wurden bei 120 Kranken hohe 
Serumdosen, und zwar 4000 AE bis 
16000 AE intravenös oder intramuskulär 
in die Glutäen eingespritzt. Der Gesamt¬ 
eindruck von der Wirkung dieser Therapie 
war ein durchaus günstiger, besonders im 
Vergleich mit den Resultaten früherer 
Zeiten (es handelte sich um das Augusta- 
Hospital in Köln). In 62 Fällen war eine 
ganz auffällige Einwirkung auf .das Fieber 
zu konstatieren: bei 34 Kranken erfolgte 
bereits am ersten Tage nach der Injektion 
ein meist ganz steiler Abfall der Tempe¬ 
ratursteigerung. In 28 Fällen sank die 
Temperatur bis zum zweiten Tage Staffel- 
förmig zur Norm herab. Mit dem Abfall 
des Fiebers ging fast immer ein Absinken 
der Pulsfrequenz einher; auch das Allge¬ 
meinbefinden besserte sich ganz merklich. 
— Berlin faßt seine Erfahrungen folgen¬ 
dermaßen zusammen; 1. Der günstige Ein- 


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März 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


37 


fluß hoher Serumdosen bis zu 16000 AE 
bei der Behandlung der Diphtherie ist un¬ 
verkennbar. 2. Intravenöse oder intra¬ 
muskuläre Injektionen sind der subkutanen 
Anwendung vorzuziehen. 3. Die großen 
Serummengen, auch mit Karbolzusatz, sind 
nach der bisherigen Erfahrung unschädlich. 

Eugen Jacobsohn (Charlottenburg). 

(Deutsche med. Wschr. 1910, Nr. 5.) 

Auf die tonsill&re Behandlung der 
rheumatlsehen Erkrankungen, welche 
1904 von Gürich angeregt wurde, lenkt 
P. Schichhold in einem in der Leip¬ 
ziger Medizinischen Gesellschaft gehaltenen 
Vortrage erneut die Aufmerksamkeit. Bei 
rheumatischen Erkrankungen, ganz be¬ 
sonders bei häufig rezidivierenden, 
soll man an eine Eiteransammlung in 
den Mandeln denken und die Behand¬ 
lung der Gelenkerkrankung von den Ton¬ 
sillen aus vornehmen. Die bloße Inspektion 
der Mundhöhle mit Hülfe des Spatels ge¬ 
nügt in solchem Falle nicht. Es ist unbe¬ 
dingt nötig, durch Hinwegziehen des vor¬ 
deren Gaumenbogens mit einem geeigneten 
Häkchen die ganze Vorderfläche der Man¬ 
del dem Blick zugänglich zu machen, be¬ 
sonders auch die Mandelspitze, den oberen 
Pol der Mandel, der sich infolge des Zu¬ 
sammentreffens der beiden Gaumenbögen 
in der Fossa supratonsillaris am meisten 
dem Gesicht entzieht und in dem sich in 
sehr vielen Fällen die Hauptherde finden. 
Schon bei dem leichten Druck, den die 
Mandel durch das Abziehen des Gaumen¬ 
bogens erfährt, fließt oft Eiter in mehr 
oder weniger großen Mengen aus den 
Lakunen heraus. Unter 70 Fällen, die 
Schichhold nach Gürichs Methode ton- 
sillar behandelte, fand er in fast allen Eiter 
in sichtbaren, zum Teil sogar in meßbaren 
Mengen (1—2 ccm); und dabei gaben viele 
der Kranken an, daß sie nie an Mandel¬ 
entzündung gelitten hätten, manchen waren 
sogar schon vor Jahren die Mandeln her¬ 
ausgeschnitten. Zur Feststellung, ob in den 
Mandelgruben sich Eiter befindet, wird am 
besten die von Gürich angegebene sichel¬ 
förmig gebogene Hohlsonde in die Lakunen 
eingeführt; bei Vorhandensein von Eiter 
füllt sich die Rinne mit diesem. Es ist 
hierbei zu beachten, daß meist die Gruben 
der unteren Hälfte der Mandel sich nach 
unten, die der oberen nach oben hin er¬ 
strecken. Neben den Mandeln rät Schich¬ 
hold auch die Zähne und die Nebenhöhlen 
der Nase zu beachten. Er selbst sah in 
einigen Fällen, in denen nach beendeter 
tonsillärer Behandlung die rheumatischen 
Beschwerden nicht ganz wichen, nach Ent- 

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fernung bezw. Behandlung der erkrankten 
Zähne die Heilung eintreten, und Gürich 
berichtet über einen Fall, der nach erfolg¬ 
loser tonsillärer Behandlung erst durch 
Beseitigung eines Empyems der Ober¬ 
kieferhöhle geheilt wurde. Auch in der 
Luschkaschen Drüse (adenoide Wuche¬ 
rungen) oder anderwärts sitzende Eiter¬ 
herde können in Betracht kommen. 

Die tonsillare Behandlung beginnt 
mit der Spaltung der aufgesuchten Mandel¬ 
gruben. Schichhold empfiehlt, dabei die 
ganze Mandel durch möglichst frontale 
Schnitte in einzelne Scheiben zu zerlegen 
und diese dann mittels der Hartmann- 
schen Konchotome oder auch anderer 
Modelle abzu tragen. Tonsillen quetscher 
zur Entleerung der Lakunen sind gänzlich 
unzulänglich; auch die Aussaugung nach 
Bi er scher Methode reicht nicht aus. Die 
Spaltung kann mit dem Schieihäkchen vor¬ 
genommen werden, besser bedient man 
sich eines Mandelmessers; das Gürichsche 
Messer ist besonders empfehlenswert. Die 
Spaltung der Tonsillen allein hält Schich¬ 
hold nicht für ausreichend, einmal, weil 
trotz sorgfältiger Durchsuchung der Man¬ 
deln gewöhnlich eine Anzahl Gruben un- 
entdeckt und ungespalten bleibt, zweitens, 
weil zu leicht die gespaltenen Teile wieder 
verkleben und verwachsen und so neue 
Taschen bilden. Deshalb schließt Schich¬ 
hold stets an die Spaltung der Lakunen 
die radikale Entfernung der Tonsillen an. 

Dabei ist es dann natürlich nicht erforder¬ 
lich, wie es Gürich vorschlug, alle sicht¬ 
baren Lakunen aufzusuchen und zu spalten; 
vielmehr spaltet und entleert Schichhold 
nur diejenigen Lakunen, die nachweislich 
Eiter enthalten, um vorerst einmal die 
wesentlichen infektiösen Depots zu ent¬ 
fernen, und dann schließt er die Abtragung 
der Tonsille an. Was die Methode der 
Abtragung anlangt, so verwirft Schich¬ 
hold die Tonsillotomie, ob sie mit der 
Guillotine oder mit Hakenzange und Messer 
ausgeführt wird, als unzulänglich, weil mit 
ihr nur der vorderste Teil, das Dach der 
Mandel entfernt wird und die Hauptmasse 
stehen bleibt. Er verlangt die möglichst 
ausgiebige Abtragung mit der Doppel- 
kurette, mit dem Konchotom oder ähnlich 
wirkenden Instrumenten, die ein Eindringen 
zwischen die Gauraenbögen gestatten und 
eine Zerstückelung der Mandel bewirken. 

Die Abtragung wird in einer Sitzung so 
weit ausgeführt, als es die eintretende 
Blutung gestattet; sie wird dann in weiteren 
Sitzungen, am besten mit Pausen von je 
einer Woche, fortgesetzt, bis von der 

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138 


März 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


ganzen Mandel nur die Basalplatte übrig 
ist. Die Dauer der Tonsillarbehandlung 
beträgt im allgemeinen 3—5 Sitzungen. 
Der Schmerz des Eingriffes ist nach 
Schichholds Erfahrungen im allgemeinen 
nicht groß; Kokain hat keinen Zweck, da 
es wenig oder gar nichts erreicht. Wegen 
des Brechreizes gibt Schichhold nach 
der Angabe von Gürich sehr empfindlichen 
Personen mehrere Tage lang Brom. Die 
Blutung ist im allgemeinen nicht so schlimm; 
wird sie durch ihre Dauer bedrohlich, so 
ist, falls die üblichen lokalen Styptika nicht 
genügen, das Kompressorium von Miku- 
licz-Stoerck anzuwenden. Als weitere 
Behandlung empfiehlt Schichhold Hals¬ 
umschlag, eventuell Eisschlauch, Gurgeln 
mit Wasserstoffsuperoxyd, wo Gurgelungen 
nicht möglich sind, Formamint. 

Der Erfolg der Behandlung äußert 
sich nach Schichholds Erfahrung meist 
unmittelbar nach dem ersten Eingriff in 
einem Nachlass der Schmerzen und der 
Temperatur; am zweiten oder dritten Tage 
aber tritt dann eine Art Rückfall auf — 
Gürich bezeichnet dies als Reaktion— nach 
dessen Ablauf sich eine fortschreitende und 
andauernde Besserung aller Symptome ein¬ 
stellt. Die späteren Operationen pflegen 
keine oder nur geringe Temperaturer¬ 
höhungen hervorzurufen. 

Schichhold empfiehlt diese Behand¬ 
lungsmethode nicht nur für rezidivierende 
Gelenkrheumatismen, bei welchen sie seiner 
Ansicht nach kategorisch gefordert werden 
muß, sondern für jeden Fall von Gelenk¬ 
rheumatismus überhaupt, auch im ersten 
Anfall. Alle von ihm operierten Fälle 
blieben von Rezidiven verschont. Dabei 
ließ Schichhold die Patienten frühzeitig 
aufstehen, zum Teil schon am sechsten 
Tage. Durch langes Liegen wird nach 
seiner Ansicht die Heilung nicht befördert; 
vielmehr rät er, nebenbei die befallenen 
Gelenke zu massieren und passiv zu be¬ 
wegen. Von den üblichen Watteeinpackun¬ 
gen nahm er Abstand, meist auch von der 
Darreichung von Salizylpräparaten. Die 
Einwirkung der tonsillaren Behandlung auf 
die Komplikationen von Seiten des Herzens 
hält Schichhold für günstig; frischere 
Endokarditiden und Myokarditiden heilen 
völlig ab; ältere verruköse Auflagerungen 
bleiben natürlich unbeeinflußt. Auch eine 
komplizierende Pleuritis sah Schichhold 
in einem Falle nach der Tonsillarbehand¬ 
lung sehr schnell zurückgehen. 

In einer Diskussionsbemerkung zu 
Schichholds Vortrag begrüßt H. Cursch- 
mann (Leipzig) den Hinweis auf die Be- 

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Ziehungen der chronischen „fossu- 
lären“ Angina tonsillaris zur Polyarthri¬ 
tis als einen wichtigen diagnostischen Fort¬ 
schritt und bezeichnet die Unterlassung 
der Mandeluntersuchung in der von Gü¬ 
rich und Schichhold angegebenen Weise 
als einen Kunstfehler. Er selbst hat eine 
ganze Reihe von Fällen gesehen, bei denen 
der tonsilläre Ursprung der Polyarthritis 
sich nicht wegleugnen ließ. Daß aber nicht 
nur die häufig rezidivierenden Fälle mit 
komplizierender Endokarditis tonsillären 
Ursprungs sind, sondern auch die gewöhn¬ 
liche Polyarthritis rheumatica öfters oder, 
wie Gürich und Schichhold meinen, fast 
stets mit Tonsillitiden in ätiologischem Zu¬ 
sammenhang steht und tonsiliär zu be¬ 
handeln ist, erscheint zum mindesten sehr 
zweifelhaft; Curschmann hält es fdr wahr¬ 
scheinlich, daß diese Auffassung zu weit 
geht. Dagegen erscheinen ihm die Be¬ 
ziehungen der eiterigen Erkrankung der 
Tonsillen zur Entstehung septischer Pro¬ 
zesse als sehr wichtig — Curschmann 
glaubt, daß die Verlegenheitsdiagnose 
„kryptogenetische Septikämie“ wesentlich 
seltener werden könnte, wenn man in jedem 
Falle den Mandeln besondere Aufmerksam¬ 
keit widmete — und besonders hält er die 
entzündliche oder eiterige Tonsillaraffektion 
für eine sehr häufige Ursache gewisser 
Formen von Nephritis. Auch in diesen 
Fällen ist die Erkennung des Zusammen¬ 
hanges nicht nur theoretisch, sondern 
therapeutisch von Wichtigkeit; die ton¬ 
silläre hämorrhagische Nephritis wird nach 
Curschmanns Erfahrungen durch aus¬ 
giebige operative Mandelbehandlung auf¬ 
fallend rasch und dauernd geheilt. 

Felix Klemperer. 

(Münch, med. Wochschr. 1910, Nr. 6.) 

Schöne kommt in seinen Untersuchun¬ 
gen über Transplantation von Ge¬ 
schwülsten und normalen Geweben zu 
folgenden Schlüssen: Die Transplantation 
von Geschwülsten kann bei Mäusen durch 
die Vorbehandlung der Tiere mit Ge¬ 
schwulstmaterial und normalem Gewebe 
vereitelt werden. Mäuseembryonen können 
subkutan und intraperitoneal, bei einmaliger 
und wiederholter Injektion immunisierend 
wirken. Die Embryonen grauer Mäuse sind 
in ihrer Wirkung auf weiße Mäuse den 
weißen Embryonen unterlegen, aber auch 
ihre Wirkung ist deutlich nachweisbar. 
Noch weniger wirken Rattenembryonen. 

In der immunisierenden Wirkung von nor¬ 
malem und Geschwulstgewebe ließ sich 
kein qualitativer Unterschied nachweisen, 
vielmehr ließen sich die zutage tretenden 

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März 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


139 


Verschiedenheiten im wesentlichen auf quan¬ 
titative Unterschiede zurückführen. Für das 
häufige Mißlingen artgleicher Transplanta¬ 
tionen normaler Gewebe sind schwere pri¬ 
märe toxische Wirkungen nicht verant¬ 
wortlich zu machen, während sich leichte 
und schleichend wirkende derartige Ein¬ 
flüsse nicht ausschließen lassen; die hier 
wirksamen Momente fallen weg bei Be¬ 
nutzung junger gleichgeschlechtlicher Ge- 
schwisterzu den Transplantationsversuchen. 
Auch das regelmäßige Mißlingen artfremder 
Transplantationen ließ in den besonderen 
Fällen der Transplantation von Maus auf 
Ratte und von Kaninchen auf Maus eine 
schwere primäre toxische Schädigung als 
Ursache nicht erkennen; wohl aber mußte 
bei der Wahl anderer Tierspezies mit der 
Möglichkeit einer solchen Wirkung ge¬ 
rechnet werden. Die natürliche Resistenz 
der Versuchstiere zeigte normalen Gewebs- 
und Geschwulsttransplantationen gegenüber 
keinen erheblichen Unterschied. Es ließ 
sich nachweisen, daß entsprechend der ak¬ 
tiven Geschwulstimmunität sich wenigstens 
zwischen bestimmten artverschiedenen 
Tieren (Maus, Ratte — Kaninchen, Maus) 
eine aktive Immunisierung mit normalen 
oder Geschwulstgeweben auch gegenüber 
der Implantation eines normalen Gewebes 
wirksam zeigte. Das Wesen der natür¬ 
lichen und künstlichen (aktiven) Geschwulst¬ 
immunität ist uns noch dunkel und zwar 
weniger klar als z. B. gegenüber Diphtherie 
oder Cholera oder roten Blutkörperchen 
einer anderen Art. Sehr wahrscheinlich 
ist aber, daß die ImmunitätsWirkungen, wie 
sie durch Geschwülste erzeugt werden und 
gegen sie wirksam sind, nicht auf Parasiten 
in diesen Geschwülsten oder deren Stoff¬ 
wechselprodukte zurückzuführen sind. Dar¬ 
aus, daß man mit normalem Gewebe gegen 
Geschwulstgewebe, und umgekehrt, immu¬ 
nisieren kann, darf man vermuten, daß 
unsere Immunitäten im wesentlichen durch 
Körperzellen und deren Produkte bedingt 
sind, bezw. an ihnen angreifen. Anti¬ 
körper als Ursachen dieser Immunitäten 
konnten im Blut noch nicht nachgewiesen 
werden; trotzdem können sie vorhanden 
sein, denn die Immunitäten sind noch schwach 
und die fraglichen Zytolysine gewiß sehr 
empfindlich und schwer nachweisbar. Das 
häufige Ausbleiben der Immunität nach 
einer innerlichen Injektion von körper¬ 
fremdem, artgleichen Gewebe erinnert an 
die Unregelmäßigkeit, mit der sich z. B. 
Isohämolysine nach Injektion körperfremden, 
artgleichen Blutes entwickeln. Auch die 
anscheinend stärkere Ausbildung der Immu- 

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nität zwischen artverschiedenen Individuen 
kann im Sinne der Antikörper verwertet 
werden. Die Immunität ist bisher nur nach¬ 
gewiesen als Folge der Einwirkung eines 
körperfremden, normalen oder Geschwulst¬ 
gewebes. Damit wird die Aussicht auf eine 
wirksame aktive Immunisierung gegen eine 
im kranken Körper autochthon entstandene 
Geschwulst nicht gefördert. Klink. 

(v. Bruns Beitr. z. kl. Chir., Bd. 61, H. 1.) 

Anläßlich einer eigenen Beobachtung 
berichtet Gerönne über schwere Vakzine¬ 
erkrankungen und ihre Prophylaxe. Das 
Interesse, das man neuerdings den artifi- 
ziellenVakzineerkrankungenentgegenbringt, 
datiert von der bekannten Publikation des 
Tübinger Zoologen Blochmann, dessen 
Kind durch Uebertragung der Impfvakzine 
des Augenlichtes beraubt wurde (vergl. diese 
Zeitschrift 1904, S. 173). 

Die Aufsehen erregende Schrift Bloch- 
manns faßt 140 Publikationen zusammen, 
die sich mit dem Thema der Vakzine¬ 
erkrankungen beschäftigen. Berücksichtigt 
man, daß es sich hierbei ausnahmslos um 
Publikationen gehandelt hat, die irgend ein 
klinisches oder diagnostisches Interesse dar¬ 
geboten haben, so muß man die Anzahl 
der insgesamt zur Beobachtung gelangten 
Fälle wesentlich höher veranschlagen. 

Es ist das Verdienst Blochmanns, mit 
Nachdruck darauf hingewiesen zu haben, 
daß der Impfling durch Uebertragung der 
Vakzine unter Umständen seiner Umgebung 
gefährlich werden kann. Besonders ge¬ 
fährdet sind Kinder, die an chronischen 
Ekzemen leiden, zumal wenn sie noch nicht 
geimpft sind. Erwachsene sind jedoch der 
Vakzineübertragung gegenüber keineswegs 
immun. Im Anschluß an die artifizielle 
Vakzination kommt es zu lokalisierter oder 
allgemeiner Bildung von Pusteln, die mit 
der echten Variola große Aehnlichkeit haben. 

Schwere Schädigungen der Gesundheit, Er¬ 
blindungen und selbst Todesfälle sind bei 
der Vakzineübertragung nichts Ungewöhn¬ 
liches. 

Angesichts dieser Tatsache hat der 
Impfarzt die Pflicht, soweit es in seinen 
Kräften steht, der sekundären Vakzination 
vorzubeugen. Dieser Pflicht nachzukommen, 
muß um so eher Sache der gesamten Aerzte- 
schaft sein, als das Vertrauen des Publikums 
zu der obligatorischen Schutzimpfung durch 
diese und andere unangenehme Zufälle er¬ 
heblich erschüttert worden ist. 

Um Vakzineinfektionen zu verhüten, 
muß man zunächst verlangen, daß der Arzt 
über diese Krankheit orientiert ist. Sodann 

18 * 

Original fram 

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HO 


Die Therapie der Gegenwart 1910. März 

muß der Arzt die Impfung unterlassen, des Impfstoffes auf Gesunde möglich ist 
wenn nachgewiesenermaßen ein mit Ekzem und daß namentlich nicht geimpfte, an 
behaftetes Kind sich in der Umgebung des Hautausschlägen leidende Kinder gefährdet 
Impflinges befindet. Auch das Publikum sind. Leo Jacobsohn (Charlottenburg), 
muß belehrt werden, daß eine Uebertragung (Beri. klin. Woch. 1910, Nr. 4.) 

Therapeutischer Meinungsaustausch. 

Indikation und Kontraindikation vegetarischer Entfettungsdiät. 

Von Dr. B. Latz- Charlottenburg. 


Die Arbeit Albus über „Entfettung 
durch vegetarische Diät“ (Ther. d. Gegen¬ 
wart, November 1909, nach einem auf der 
Salzburger Naturforscherversammlung ge¬ 
haltenen Vortrage) veranlaßt mich, einige 
Bemerkungen Ober die Indikation und 
Kontraindikation dieser „Entfettungsdiät“ 
zu machen, damit nicht im großen Publikum 
und in weiten Aerztekreisen der Glaube 
entsteht, in der vegetarischen Lebensweise 
ein neues, leicht anwendbares und überall 
nützliches Entfettungsmittel zu besitzen. 

Schon bei der in Salzburg dem Vor¬ 
trage folgenden Diskussion wurde mit 
Recht der Einwand erhoben, daß diese 
Art der Behandlung fettsüchtiger Patienten 
seit Jahren bekannt und in gewissen Sana¬ 
torien mit mehr oder weniger großem Er¬ 
folge angewandt würde. Was aber unter 
besonders günstigen Kautelen in einer An¬ 
stalt durchzuführen ist, kann deshalb keines¬ 
wegs stets für die Allgemeinpraxis emp¬ 
fohlen werden. Die Resultate der in vege¬ 
tarischen Sanatorien entfetteten Patienten 
schienen mir ferner häufig recht bedenk¬ 
lich; die Nachkur der Entfettungskur be¬ 
stand meistens in einer Beseitigung der 
unangenehmen Folgezustände, die sich bald 
bemerkbar machten. 

Es ist überflüssig, an dieser Stelle be¬ 
sonders darauf hinzuweisen, daß in sämt¬ 
lichen, in den letzten Jahren angegebenen 
Entfettungsdiäten derGedanke vorherrschte, 
das Sättigungsbedürfnis des Patienten mehr 
oder weniger durch eine Bevorzugung der 
Vegetabilien zu decken. In dem Al hu¬ 
schen Vorschläge ist also nichts weiter als 
eine extreme Steigerung früherer Forde¬ 
rungen zu erblicken. Albu schaltet das 
Fleisch völlig aus und verlangt eine streng 
grob vegetarische Kost, die viele schwer 
und unverdauliche Nahrungsmittel, zum 
großen Teil sogar in rohem Zustande, 
enthalten soll. Ist dies eine ideale Diät, 
um fettsüchtige Patienten schonend und 
ohne gesundheitsschädigende Folgezustände 
zu entfetten, eine Diät, die die Patienten 
diszipliniert, auch nach der Kur das nor¬ 
male Gewicht dauernd erhalten zu können? 

Als Kontraindikationen vegetarischer 

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Entfettungskuren bezeichnet Albu selbst 
alle Komplikationen der Fettleibigkeit, 
insbesondere das Fettherz und die Stö¬ 
rungen des Verdauungskanals. Durch diese 
Einschränkung, die sicherlich zu Recht 
besteht, ist die Zahl der Fettleibigen, die 
für eine vegetarische Entfettungskur im 
Albu sehen Sinne in Betracht kommen, 
von vornherein eine sehr geringe. Die 
Fälle von Fettleibigkeit, die ohne jede 
Komplikation (nur aus Schönheitsgründen) 
zur Behandlung gelangen, sind als seltene 
Ausnahmen zu bezeichnen. Wenn ich die 
von mir klinisch und ambulant behandelten 
Fettsüchtigen auf die Möglichkeit einer so 
eingreifenden Behandlungsmethode, wie 
sie in jedem Falle die rein vegetarische 
Diät darstellt, nachprüfe, so bleibt kaum 
ein einziger übrig, dem ich unbedenklich 
diese Kur empfehlen könnte. 

Daß die vegetarische Kostform imstande 
ist, das Leben und oft auch die Gesund¬ 
heit dauernd zu erhalten, ist durch Stoff¬ 
wechseluntersuchungen erwiesen. Ferner 
ist bekannt, daß viele Menschen lange Zeit 
hindurch vegetarisch leben und sich dabei 
einer angeblich guten Gesundheit erfreuen. 
Auch können strenge Vegetarier gelegent¬ 
lich große körperliche Anstrengungen gut 
vertragen; diese Leute haben aber ihren 
Körper systematisch an die vegetarische 
i Lebensweise gewöhnt. Aber kein Arzt 
wird wagen, eihem schwer arbeitenden 
Menschen ein vegetarisches Leben zu emp¬ 
fehlen, da die plötzliche Unterernährung 
schwere organische Schädigungen herbei¬ 
führen kann. Der Fettsüchtige ist während 
einer Entfettungskur fast stets als schwer 
arbeitender Mensch zu betrachten; die 
meistens verordneten physikalischen Ma߬ 
nahmen beanspruchen einen Mehraufwand 
von Kräften im Vergleich mit der der Kur 
vorangegangenen Zeit. Auf die vegetarische 
Kost muß sich selbst der gesunde Körper 
gewissermaßen erst einstellen, bis er das 
neue Regime ohne Beschwerden verträgt. 
Diese Zufälligkeiten des Ueberganges von 
einer Diät zur anderen gerade an den Be¬ 
ginn einer Entfettungskur zu verlegen, 
scheint mir nicht geraten. 


Original frnm 

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März 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


141 


Wenn Albu sagt, daß bei den meisten 
Fettleibigen ein starker Erfolg nur auf 
diätetischer Basis zu erreichen ist, so kann 
man ihm hierin sicher zustimmen, obgleich, 
meines Erachtens, die aktive Muskelarbeit 
in dem Rahmen einer Entfettungskur ein 
der Diät fast gleichwertiger Faktor ist. 
Ich bin überzeugt, daß fettleibige Patienten 
nur mit rein vegetarischer Diät behandelt, 
sogar im Bette abnehmen können, wieviel 
mehr, wenn sie ihrer gewohnten Beschäf¬ 
tigung nachgehen. Derartige Erfolge lassen 
sich aber von jeder Einschränkung der 
Diät in diesem oder jenem Sinne be¬ 
richten, ein Beweis für die absolute Güte 
einer Entfettungskur kann die Ausführung 
einzelner gelungener Resultate nicht sein. 
Jede Entfettungskur muß eine Dauer¬ 
behandlung vorstellen. Nicht, wie es 
noch vielfach betrieben wird, darf eine 
plötzliche Entlastung des Körpers durch 
einen starken Gewichtsverlust herbeigeführt 
werden. Das Wichtigste jeder Ent¬ 
fettungskur, mag sie nun heißen, wie sie 
will, bleibt die Disziplinierung des 
Patienten. Diese Disziplinierung setzt 
aber voraus, daß der Arzt für die Dauer 
nichts Unmögliches verlangt, sondern daß 
seine Wünsche sich tunlichst mit denen 
des Padenten begegnen, das heißt, daß in 
dem Rahmen der gewohnten bürgerlichen 
Küche eine Reform entworfen wird, die 
ohne besondere Schwierigkeiten und Un¬ 
zuträglichkeiten jahrelang hindurch ein¬ 
gehalten werden kann. 

Diesem Wunsche, dieser anerkannten 
Forderung entspricht das von Albu emp¬ 
fohlene Regime nicht. Das Beispiel einer 
täglichen Kostordnung, das ich Albus 
Arbeit entnehme, weicht von unseren 
landesüblichen Gebräuchen erheblich ab 
und kann daher nicht als besonders zweck¬ 
mäßig erscheinen. 

Frühstück: 

Tee m. Saccharin 
50 g Simonsbrot 
10 g Butter 
500 g Aepfel 

Mittag: 

Bouillon mit 1 Ei 
200 g Spinat 

100 g geröstete Kartoffeln 
200 g Aepfelkompott 
*/j Pfd. Weintrauben 

Abendbrot: 

1 Pfd. Spargel 
20 g Butter 
60 g Simonsbrot 
200 g Pfirsiche. 

Drei Mahlzeiten täglich sind für eine 
Entfettungskur nicht genügend. Es ist 


von Bedeutung, daß die Pausen zwischen 
den Mahlzeiten nicht zu lang bemessen 
sind, besonders bei Fettsüchtigen, die an 
stetem Hungergefühl leiden, an vieles 
Essen gewöhnt sind, leicht zu Schwäche¬ 
zuständen neigen und zumal bei einer Ent¬ 
fettungskur, wo der reelle Wert der zu¬ 
geführten Nahrangsstoffe ein sehr geringer 
ist und dem Magen eine vorübergehende 
Sättigung nur durch eine größere Quan¬ 
tität vorgetäuscht wird. Es ist demnach 
zweckmäßig, kleinere Mahlzeiten in Form 
eines Apfels, einer Tasse Bouillon oder 
Tee usw. einzuschieben. 

Das von Albu empfohlene Frühstück 
besteht aus Tee, etwas Brot und Butter 
und 500 g Aepfel. Ich glaube, daß die 
wenigsten Menschen, selbst die, die sich 
einer vegetarischen Entfettungskur unter¬ 
ziehen, auf die Dauer imstande sind, des 
Morgens 500 g Aepfel zu verzehren. Der¬ 
selben unvorteilhaften Anordnung von Ge¬ 
müse, Kompott und Obst begegnen wir 
bei der Mittags- und Abendmahlzeit. Diese 
enormen Quantitäten überfüllen den 
Magen, müssen in relativ kurzer Zeit un¬ 
vermeidlich zu einer Ueberdehnung der 
Organe, zu einer Atonie des Magens 
und eventuell auch des Darmes führen. 

Die Kartoffel spielt auch bei Albu 
eine wichtige Rolle; sie kehrt bei den für 
Mittags- und Abendmahlzeiten angegebenen 
Menüs in allen möglichen Variationen 
wieder, die Kartoffel ist eine Hauptstütze 
der vegetarischen Entfettungskur. Diese 
neue Kur ist also eigentlich nichts anderes 
als eine Variante der Rosenfeld- 
schen Kartoffelkur. Aber gerade Rosen- 
feld und nach ihm P. F. Richter legten 
aus verschiedensten Gründen den größten 
Wert auf die richtige Kombination von 
Kohlehydraten und Eiweiß. Wie zweck¬ 
mäßig und für jeden Fall modifizierbar 
und brauchbar ist die Diäteinteilung bei 
der Kartoffelkur; nur wenige Kontra¬ 
indikationen sind zu beachten. Im Gegen¬ 
sätze zu dem oben angeführten Diätzettel 
| von Albu lasse ich an dieser Stelle das 
Diätschema von P. F. Richter folgen; der 
Unterschied ergibt sich von selbst und be¬ 
darf keines Kommentars. 

Morgens 8 Uhr: 1 Tasse Tee oder Kaffee 
(ohne Milch), 50 g mageren Schinken, 1 Brötchen. 

10 Uhr: 1 bis 2 Eier. 

12 Uhr: Obst (zirka 100 g). 

2 Uhr: Vor dem Essen 1—2 Glas Zitronen¬ 
limonade (ohne Zucker), 1 Teller Bouillon mit 
150 - 200 g Kartoffeln (Salzkartoffeln), 100 bis 
125 g mageres Fleisch, dazu eine saure Gurke 
und viel Radieschen, grünen Salat usw.; even- 
, tuell 100 g Gemüse (ohne Mehl und Butter), in 
dem Verhältnis, wie die Menge Kartoffelu 


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Mär2 


142 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


herabgesetzt wird, kann die Gemüseportion er¬ 
höht werden. 

4 Uhr: 1 Tasse Kaffee. 

6 Uhr: Frisches Obst (eventuell 1 Tasse 
Bouillon). 

8 Uhr: 100 g mageres kaltes Fleisch oder 
1 Hering, dazu 150 g Kartoffeln (eventuell als 
Salat), rote Rüben, Rettich, etwas mageren 
Käse. Vor dem Essen wieder 1—2 Glas 
Zitronenlimonade. 

Die Kartoffelkur ist demnach nicht, wie 
Albu sagt, eine mildere Abart der vege¬ 
tarischen Kost, sondern die vegetarische 
Entfettungskur ist eine gröbere Abart der 
Kartoffelkur. 

Wenn ich nochmals meine Bedenken 
gegen die vegetarische Entfettungskur kurz 
zusammenfasse, so sind es folgende: 

1. Nur unkomplizierte Fälle von Fett¬ 
sucht kommen in Betracht. Diese sind 
äußerst selten, die Anwendungsmöglichkeit 
ist eine beschränkte. 

2. Die rein vegetarische Entfettungskur 
kann leicht eine Schädigung des Ver¬ 


dauungskanals (Atonie, Diarrhöen) hervor- 
rufen. 

3. Jede Entfettungskur muß so an¬ 
geordnet sein, daß der Patient die Kur mit 
geringen Modifikationen sein ganzes Leben 
hindurch fortsetzen kann. Die vegetarische 
Entfettungskur repräsentiert eine Lebens¬ 
weise, die für europäische Begriffe vorläufig 
nicht befolgt werden kann. 

4. Jede Entfettungskur muß auch eine 
Disziplinierkur sein, das heißt der Fett¬ 
süchtige, der meistens ein Vielesser ist, 
muß systematisch an eine normale Nah¬ 
rungszufuhr gewöhnt werden. Die vege¬ 
tarische Kur erreicht das Gegenteil, sie 
gewöhnt den Patienten an eine Ueber- 
füllung des Magens. 

5. Verschiedene moderne Entfettungs¬ 
kuren bevorzugen gleichfalls die Vegeta- 
bilien, besitzen alle Vorteile der vege¬ 
tarischen Entfettungskur ohne ihre evidenten 
Nachteile. 


Erwiderung auf vorstehenden Aufsatz. 

Von Prof. Dr. A. Albu - Berlin. 


Die obige Darstellung erweckt den Ein¬ 
druck, als ob ich den Fettleibigen die vege¬ 
tarische Kost als eine — „ideale Diät" für 
die Dauer ihres Lebens empfohlen hätte, 
ln meinem Aufsatze ist aber nachdrücklich 
betont, daß die rein vegetarische Ernäh¬ 
rung nie länger als 4—6 Wochen ausge¬ 
dehnt werden soll, um als Vorbereitung zu 
einer dauernden fleisch- und fettarmen Er¬ 
nährung zu dienen. Der Begriff der „Kur* 
schließt ja eine zeitliche Begrenzung in 
sich! Das gilt in gleichem Maße für die 
Bantingkur, die Oertelkur, die Ebstein¬ 
kur, die Kartoffelkur, die Milchkur u. dgl., 
und die Behauptung: „Jede Entfettungskur 
muß eine Dauerbehandlung vorstellen" ist 
eine Contradictio in adjecto. Jede Ent¬ 
fettungskur soll den Patienten nur den Weg 
zu einer vernünftigeren Regelung ihrer Er¬ 
nährung weisen, und das tut gerade die 
vegetarische Entfettungskur durch die Man¬ 
nigfaltigkeit der dabei möglichen Ernäh¬ 
rungsweisen in weit höherem Maße als die 
meisten diätetischen Entfettungskuren. Jede 
derselben ist so einseitig, daß sie als eine 
Dauerbehandlung gar nicht in Frage kommen 
kann. Die im Beginne jeder Entfettung 
nicht nur erwünschte, sondern auch not¬ 
wendige stärkere Gewichtsreduktion läßt 
sich qben nur durch solch einseitige, über¬ 
triebene Ernährungsformen erreichen, die 
sich von einander nur dadurch unterschei¬ 
den, daß die eine leichter durchführbar ist 
oder stärkere Nachwirkung hat, oder einen 
zweckmäßigeren Uebergang zu der späteren 


Normalkost gewährleistet als die andere. 
Keine der seit einem halben Jahrhundert 
empfohlenen Entfettungsmethoden hat das 
fertig gebracht, was Latz als „Ideal" be¬ 
trachtet; „Im Rahmen der gewohnten bür¬ 
gerlichen Küche eine Reform durchzu¬ 
führen, welche ohne besondere Schwierig¬ 
keiten und Unzuträglichkeiten jahrelang 
hindurch eingehalten werden kann." Eine 
solche Entfettungskur muß noch erfunden 
werden! Freilich wird die Wissenschaft auf 
diesem Gebiete keine Fortschritte zu erwarten 
haben, wenn man ängstlich an „landesüblichen 
Gebräuchen“ festhält und Neuerungen „für 
europäische Begriffe“ aus dem Wege geht. 

Daß unkomplizierte Fälle von Fettsucht 
„äußerst selten“ sind, werden erfahrene 
Aerzte unmöglich zugeben. So empfiehlt 
z. B. von Noorden (Die Indikationen der 
Entfettungskuren. Berlin, 1900. S. 8 u. ff.) 
die Einleitung von Entfettungskuren selbst 
bei geringen Graden von Fettleibigkeit, 
namentlich bei jüngeren Leuten, schon um 
prophylaktisch zu wirken. Aus kosmeti¬ 
schen Rücksichten allein soll der Arzt 
überhaupt nie Entfettungskuren machen. 
Aber die Mehrzahl selbst der nur wenig 
Fettleibigen hat eben Beschwerden bei 
körperlichen Anstrengungen, ist in ihrer 
Beweglichkeit beschränkt u. dgl. m. Die 
Anwendungsfähigkeit für die vegetarische 
Entfettungskur ist deshalb nicht geringer 
als für jede andere. 

Schädigungen des Verdauungskanals 
(Atonie und Diarrhoen) können nicht ein- 


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März 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


143 


treten, wenn die Kur unter ärztlicher Kon- | 
trolle durchgefQhrt wird. Den gesunden 
Magen passieren, wie die bekannten syste¬ 
matischen Untersuchungen von Penzoldt 
erwiesen haben, die GemQse und Kompotts, ( 
selbst in größerer Menge, ebenso schnell 
als die verschiedenen Fleischarten. Auf 
die Notwendigkeit der individuellen Varia- I 
tionen und des ständigen Wechsels der I 
Kost habe ich in meiner Arbeit nachdrück¬ 
lich hingewiesen. Die Mannigfaltigkeit der 
mitgeteilten Speisenfolgen läßt auch er- 1 
kennen, daß die Nahrungsmengen der ein- j 


zelnen Mahlzeiten sehr schwanken und 
meist geringer sind, als Fettleibige, nament¬ 
lich wenn sie im Fleischgenuß zu schwelgen 
gewohnt sind, zu sich zu nehmen pflegen. 

Die theoretisch konstruierten Bedenken 
gegen die' vegetarische Entfettungskur 
werden im übrigen am besten durch die 
günstigen praktischen Erfolge widerlegt. Des¬ 
halb kann auch auf die Besprechung einiger 
unrichtigen Angaben in obigem Aufsatz, so 
z. B. das angebliche Fehlen der Zwischen¬ 
mahlzeiten in meinem Kostordnungsplane 
u. a. m., Verzicht geleistet werden. 


Coryfin, ein reizloses Mentholderivat 

Von Dr. med. Braitraaier-Kie!. 


Das Menthol in seinen verschiedenen 
Zubereitungen hat sich längst einen dau¬ 
ernden Platz in der Therapie erworben. 
In Gestalt des Migränestiftes gegen Neu¬ 
ralgien, als „Mentholin* gegen Schnupfen, 
in Oellösung zu Nasenpinselungen oder 
Inhalationen, in Form von Dragees gegen 
Laryngitiden oder Pharyngitiden, in Gestalt 
von Pillen gegen Gastralgien ist es bei dem 
einen oder anderen Praktiker beliebt. 
Gewiß verdient das Menthol diese Beliebt¬ 
heit, denn wenn es auch kein Mittel ist, mit 
dem man im Kampfe gegen schwere Krank¬ 
heiten entscheidende Erfolge erringen 
kann, so ist es doch von hervorragender 
Bedeutung in der symptomatischen Therapie 
bei jenen kleinen Beschwerden, auf deren 
Beseitigung oft so ungemein viel ankommt 
und bei denen der Arzt doch nicht gern 
gleich zu eingreifenderen Mitteln seine Zu¬ 
flucht nimmt. 

Die Mentholwirkung ist die eines 
schwachen Antiseptikums, Anästhetikums 
und Antiphlogistikums; sie nimmt gewisser¬ 
maßen eine Mittelstellung ein zwischen der 
von Kokain und Phenol. Während jedoch 
das erstere wegen seiner relativen Giftig¬ 
keit gefürchtet ist, hindert die Aetzwirkung 
eine ausgedehnte Verwendung des Phenols. 
Von einer Giftigkeit des Menthols kann 
man nun wohl nicht sprechen, dagegen ist 
eine gewisse Aetzwirkung unleugbar noch 
vorhanden, die seine Verwendung oft ein¬ 
schränkt, wenn nicht ganz verbietet. In¬ 
folge seiner leichten Flüchtigkeit ist die 
Wirkung auch nur eine momentane und 
rasch vorübergehende. Es waren daher 
Versuche mit Freuden zu begrüßen, welche 
darauf hinzielten, das Menthol auch seiner 
Reizwirkung zu entkleiden und seinen 
Effekt zu einem protahierteren zu gestalten. 

In vollkommener Weise ist dieses Ziel 
im Coryfin, dem Aethylglykosäureester des 
Menthols erreicht, welches seit dem Jahre 


1 1906 von den Elberfelder Farbenfabriken 
I in den Handel gebracht wird. Das Coryfin 
ist eine farblose, ölige Flüssigkeit, die in 
ganz frischem Zustande nahezu geruchlos 
ist. Durch schwache Alkalien, sowie durch 
die Lebenstätigkeit der die Oberfläche der 
Haut bildenden Tegumentzellen wird das 
Produkt verseift und dann macht sich ein 
deutlicher Mentholgeruch bemerkbar. — Die 
| verschiedene Fermentwirkung der lebenden 
| und toten Tegumentzellen ist von Impens 1 ) 
an lebenden und toten Fröschen sehr schön 
I nachgewiesen worden. Hand in Hand mit 
j der allmählichen Verseifung auf der Haut- 
| ober fläche geht jedoch auch eine Resorp- 
> tion vor sich, denn es läßt sich zirka zwei 
| Stunden nach Applikation von Coryfin auf 
i die Brust Mentholglykuronsäure im Harn 
| nachweisen. 

Infolge der erst allmählich eintretenden 
| Mentholwirkung merkt man daher direkt 
nach Einpinselung von Coryfin fast nichts; 
erst allmählich tritt das dem Menthol eigene 
Kältegefühl auf, das dann jedoch auch be¬ 
deutend länger vorhält, und demzufolge ist 
auch die damit Hand in Hand gehende 
schmerzstillende Wirkung eine bedeutend 
protahiertere. Infolge der Resorption und 
der darauf folgenden Spaltung des Esters 
kommt auch die Gefäßwirkung des Menthols 
zur Geltung. Es tritt eine Volumverenge¬ 
rung derselben ein und demzufolge eine 
Abschwellung der hyperämischen Mukosa, 
wodurch die entzündungswidrigen Eigen¬ 
schaften des Coryfins bedingt sind. Dem¬ 
nach vereinigt das Coryfin sämtliche Wir¬ 
kungen des Menthols in eklatanter Weise in 
sich, während die subkutanen Aetzwirkungen 
desselben völlig ausgeschaltet sind. 

In der seither erschienenen Literatur äußert 
sich in dieser vergleichenden Hinsicht Baum¬ 
garten 1 ). Er erzielte bei Schnupfen sogar eine 

J ) Therap. Monatsh. 1908 No. 1. 

Klin. therap. Wochenschr 1907, 51. 


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144 


März 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


derartig vorzügliche Wirkung mit Coryfin, wie \ 
sie weder mit 5°/ 0 igem Mentholöl noch durch . 
Menthulin oder andere Mentholverbindungen 
zu erreichen gewesen war. I 

Auch Seifert, Würzburg *), bezeichnet 
Coryfin als ein sehr angenehm wirkendes 
Schnupfenmittel. Pollak 1 2 ) konstatierte ein 
promptes Nachlassen der Beschwerden bei 
nervösen Kopfschmerzen. Saenger 3 ) bevor- . 
zugt es bei Inhalationen gegen akute Katarrhe j 
der oberen und unteren Luftwege und rühmt 
den geringen Reiz, den es auf die Schleimhäute 
ausübt, sowie seine Sparsamkeit im Verbrauch, 
v. Kirchbauer 4 ) hat Coryfin in verschiedener 
Hinsicht angewandt und äußert sich ebenfalls 
recht anerkennend darüber. 

Ich selbst habe nun von Coryfin, seit¬ 
dem es im Handel ist, in der verschieden¬ 
sten Weise Gebrauch gemacht und es ist 
mir zu einem so lieben Medikament ge¬ 
worden, daß ich es nicht mehr entbehren 
möchte. Eine brillante Wirkung entfaltete 
es stets bei Stirnpinselungen, besonders 
gegen neuralgische Schmerzen, aber auch 
in verschiedenen Fällen von rheumatischem 
Kopfschmerz erzielte ich damit bedeutende 
Erleichterung. Besonders schätze ich auch 
diese Pinselungen gegen jenes dumpfe Ge¬ 
fühl im Kopf bei nervöser Abspannung 
oder Ueberreizung, das jede geistige Ar¬ 
beit völlig unmöglich machen kann. Eine 
baldige bedeutende Erleichterung tritt ein 
und dem Abgespanntsein macht ein ange¬ 
nehmes Gefühl der Frische Platz. Gewarnt 
werden muß davor, zuviel von dem Prä- I 
parat auf die Stirn aufzutragen oder es 
gar direkt ans Auge zu bringen, da es 
naturgemäß das Auge stark reizt, sodaß 
man dasselbe eine Zeitlang nicht öffnen 
kann. 

Bei Schnupfen wende ich es mit Vor¬ 
liebe in der Weise an, daß ich einen 
Tropfen auf Watte vorn in die Nase 
plaziere und wenn irgend möglich Luft 
durchziehen lasse. — Bei stärkerem Husten¬ 
reiz infolge von Halsentzündungen oder 
Kehlkopfkatarrh bringen Inhalationen von 
wenigen Tropfen Coryfin auf heißem Wasser 
rasche Linderung oder auch das langsame 
Zergehenlassen eines Stückchen Zuckers, 
auf das man etwas Coryfin aufgetropft hat. 

1 ) Deutsche med. Wschr. 1907 Nr. 20. 

2 ) Allg. Wiener med. Ztg. 1908 Nr. 48. 

3 ) Therapeut. Monatsh. 1908 Nr. 6. 

4 ) Deutsche med. Wschr. 1907 Nr. 20. 


Eine angenehme Ergänzung dieser letzten 
Methode bilden die Coryfinbonbons, welche 
noch den Vorteil haben, daß sie bedeutend 
langsamer im Munde zergehen und so eine 
andauerndere Wirkung ausüben, als auch 
das Coryfin bedeutend gleichmäßiger ver¬ 
teilt enthalten. Die beruhigende Wirkung 
des intern verabreichten Coryfins auf die 
Magennerven kam in einigen Fällen von 
nervösem Erbrechen Gravider eklatant zur 
Geltung. Gerade in letzter Hinsicht habe 
ich einige charakteristische Fälle erlebt. 

In einem solchen, der allen Maßnahmen 
(Extr. chinae Nanning, Kokain, Eisbeutel 
usw.) getrotzt hatte, war ich nach Beratung 
| mit einem Kollegen schon zum künstlichen 
Abort entschlossen, als ein letzter Versuch 
mit Coryfin bei dauernder Bettruhe es er¬ 
möglichte, die Patientin über die kritischen 
Monate hinweg zu bringen. 

Das Coryfin hat sich mir also als ein 
ganz vorzügliches Mittel bewährt, wo es 
galt, lästige und quälende Begleiterschei¬ 
nungen einer Erkrankung dem Patienten 
erträglicher zu machen. — Es kann überall 
da angewandt werden, wo die Beschwerden 
in der Nähe der Hautoberfläche oder er¬ 
reichbarer Schleimhautbezirke sich ab¬ 
spielen. 

Auf eine erst ganz kürzliche Neuerung 
in der Packung des Coryfins möchte ich an 
dieser Stelle noch hinweisen. Anstelle des 
in Kork befestigten Pinselchens sind jetzt 
etwas respektabler aussehende Glaßtopfen- 
fläschchen verwandt worden, in denen sich 
ein längerer Glasansatz befindet, der z. B. 
zum Bestreichen der Stirn gegen Kopf¬ 
schmerzen vorteilhaft Verwendung findet. 
Außerdem liegt jeder Packung ein geriefel¬ 
ter Nickeldraht bei, der mit einem Watte- 
bäuschchen armiert zur Verteilung des 
Coryfins in der Nase dient. Das Watte- 
bäuschchen kann so beliebig groß oder 
klein gewählt und vor allen Dingen stets 
gewechselt werden, sodaß die ganze Mani¬ 
pulation dadurch zu einer viel reinlicheren 
gestaltet wird. 

Zweck dieser Zeilen war, auf die viel¬ 
seitige Anwendungsweise des Coryfins 
einmal hinzuweisen; es sollte mich freuen, 
wenn dieselben zu weiteren Nachprüfungen 
Veranlassung geben sollten. 


INHALT: Blum, Azidosis S. 97. — Alwens, Tuberkulöse Aszites S. 100. — Kan Kato, 
Oxygar S. 105. — Ratzeburg, Gelenkrheumatismus S. 107. — Kausch, Chirurgische Tuber¬ 
kulose S. 111. — Pein, Scharlachrotsalbe S. 121. — Nathan, Gonorrhoe S. 124. — Latz, 
Vegetarische Entfettung S. 140. — Albu, Erwiderung S. 142. — Breitmayer, Coryfin S. 143. — 
Bücherbesprechungen S. 129. — Referate S. 131. 

Für die Redaktion verantwortlich: Prof. Dr. G.KIempererin Berlin. - Verlag von Urban&Sch warxenberg in Wien u. Berl in. 
Druck von JuliuiSittenfeid, Hofbuchdrucker., in BerlinW.8. 


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UNIVERSiTY 0F CALIFORNIA 





Die Therapie der Gegenwart 


1910 


herau8gegeben von Prof. Dr. G. Klemperer 
in Berlin. 


April 


Nachdruck verboten. 

Ueber Sarton, ein neues Nährpräparat für Zuckerkranke. 

Von C. von Noorden -Wien und Ed. Lampd-Frankfurt a. M. 


- Die vortrefflichen Erfahrungen, die wir 
mit Hafermehl bei Diabetikern gemacht 
hatten, und die inzwischen von vielen Seiten 
bestätigt wurden, veranlagten uns, auch 
zahlreiche sonstige Vegetabilien darauf zu 
prüfen, ob sie von Diabetikern besser als 
andere, ähnlich zusammengesetzte Nah¬ 
rungsmittel vertragen würden. Unter den 
vielen amylazeenreichen Stoffen war keiner, 
der den Vergleich mit Hafer aushielt. 
Allerdings erwies sich der Einfluß der ver¬ 
schiedenen Vegetabilien auf die Zucker¬ 
ausscheidung durchaus nicht proportional 
ihrem Stärke- und Eiweißgehalt. Wir be¬ 
obachteten trotz gleichen Stärkegehaltes 
bemerkenswerte Unterschiede der Wir¬ 
kung, die sich als konstant erwiesen. Aber 
die Versuche sind noch nicht umfangreich 
genug, um schon jetzt die Aufstellung einer 
Skala zu gestatten. 

Außer den amylazeenreichen wurden 
auch die eiweißreichen Vegetabilien in Be¬ 
tracht gezogen. Dies war um so wichtiger, 
als nach den Erfahrungen der letzten Jahre 
Diabetiker die vegetabilischen Eiweißkörper 
oft besser vertragen, als die animalischen. 
Die isolierten Pflanzenkleber, wie Aleuro- 
nat, Roborat, Glidin, Tutulin usw. haben 
den Nachteil, den Geschmack der Speisen 
zu beeinträchtigen. Grüne Gemüse ver¬ 
tragen einen kleinen Zusatz dieser Präpa¬ 
rate, im übrigen sind die letzteren nur in 
Gemeinschaft mit größeren Mengen von 
Kohlenhydrat genießbar, z. B. in Form 
von kohlenhydratreichen Suppen oder in 
Form von Brot. Mit den eiweißreichen 
Hülsenfrüchten (trockene Erbsen, Linsen, 
Bohnen) machten wir, ebenso wie alle Vor¬ 
gänger, schlechte Erfahrungen. 

Ein Zufall spielte uns die Soja hispida 
(Sojabohne), japanischer Provenienz, in die 
Hände. Die ersten Versuche liegen schon 
viele Jahre zurück. Sie wurden von uns 
gemeinsam an unserer Privatklinik in 
Frankfurt begonnen, später von dem einen 
von uns in Frankfurt, von dem anderen in 
Wien fortgesetzt 

Die Soja hispida liefert eine Frucht, die 
dem Aussehen nach zwischen Erbse und 
Bohne steht. Sie gehört zu den Legumi¬ 
nosen. Es gibt zahlreiche Arten der Soja¬ 
bohne, an Güte außerordentlich verschie¬ 


den. Nur wenige Sorten sind in der Küche 
verwendbar. In Japan bereitet man daraus 
die japanische Bohnensauce, Shoyu ge¬ 
nannt. Sie findet auch in der feineren 
europäischen Küche Verwendung. Außer¬ 
dem wird in Japan aus Sojabohnen eine 
eigenartige Speise, Tofou, bereitet. Sie ist 
sehr reich an Proteiden; fast alle anderen 
Bestandteile der Bohnen werden bei der 
Zubereitung entfernt. In einfach abge¬ 
kochtem Zustande, als Gemüse oder Salat, 
wird die Sojabohne in Japan nur von der 
ärmeren Bevölkerung als Nahrung benutzt. 
Auch im südöstlichen Europa baut man die 
Sojabohne seit etwa drei Dezennien an; 
doch erreicht sie hier nicht die gleiche 
Güte wie in Japan. 

Der hohe Gehalt der Sojabohne an Ei¬ 
weiß (30 bis 35%), der geringe Gehalt an 
Stärke und an gärungsfähigem Kohlen¬ 
hydrat (ca. 6 °/ 0 ) veranlaßte uns, die Bohne 
bei Diabetikern zu versuchen. Aber die 
unveränderte Bohne sagte, trotz aller kor¬ 
rigierenden Zusätze, dem europäischen Ge¬ 
schmack nicht zu. Einige Male wird sie 
zwar von den Diabetikern, die jeder Ab¬ 
wechslung hold sind, gerne genommen; 
dann wird sie zurückgewiesen. Sie hinter¬ 
läßt einen unangenehmen, nur langsam 
schwindenden Nachgeschmack. Außerdem 
stellten wir fest, daß die unveränderte 
Bohne die Zuckerausscheidung des Dia¬ 
betikers ungünstig beeinflußt. 

Schließlich wurde eine Methode gefun¬ 
den, die einerseits dem Sojabohnenmehl 
fast alle Kohlenhydrate entzieht, anderer¬ 
seits die unangenehm schmeckenden Stoffe 
beseitigt. Da dieses Verfahren viel zu um¬ 
ständlich ist, um im Haushalt durch geführt 
zu werden, übernahmen die Farbenfabriken 
vorm. Bayer & Co. in Elberfeld die Her¬ 
stellung im großen. Das Präparat wurde 
zunächst in Form eines dicken Pürees her¬ 
gestellt, das in Blechbüchsen sterilisiert 
abgegeben wird (ca. 18—19 °/ 0 Trocken¬ 
gehalt, darunter 8 bis 9°/ 0 Eiweiß). In¬ 
zwischen ist es gelungen, die bei Herstellung 
eines trockenen Pulvers entgegenstehenden 
Schwierigkeiten zu überwinden, und die 
Firma teilt uns soeben mit, daß sie es vor¬ 
aussichtlich vorziehen werde, das Präparat 
in Pulverform abzugeben. 

19 


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146 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


April 


Dieses Sojabohnenpüree, von der Fabrik 
mit dem Namen „Sarton“ belegt, enthält 
weder Substanzen, die sich mit Lugol- 
scher Lösung bläuen oder röten (Stärke, 
Erytrodextrin), noch enthält der wäßrige 
Auszug mehr als Spuren von reduzieren¬ 
dem und gärungsfähigem Kohlenhydrat. 
Erst durch Kochen mit verdünnter Salz¬ 
säure wird, wie aus den meisten Eiwei߬ 
körpern, Zucker abgespalten. 

Man verwendet das Püree am besten 
zur Bereitung von Suppen. Man dünstet 
das Püree mit Butter, dann gibt man 
Fleischbrühe hinzu und kocht 10 Minuten 
lang. Salz und andere Gewürze werden 
nach Belieben hinzugefügt. Für einen 
Teller Suppe, von angenehm dicker Kon¬ 
sistenz, genügen zirka 80 g des Pürees. 
Will man die Speise als Beilage zu Fleisch 
oder Gemüse benützen, so gibt man ihr 
eine entsprechend stärkere Konzentration. 
In Aussehen und Geschmack steht die 
fertige Speise einem aus gewöhnlichen 
weißen Bohnen bereiteten Gerichte nahe. 
Der Geschmack ist bei guter Zubereitung 
ausgezeichnet. Alle Patienten und auch 
Gesunde nahmen es gern. Natürlich wird 
man die Sojabohnensuppe dem Diabetiker 
nicht jeden Tag vorsetzen dürfen, sonst 
träte bald Ueberdruß ein. Aber ein- bis 
zweimal die Woche wird es sehr gern ge¬ 
nommen und bringt namentlich für die 
Diabetiker, die nur ungern auf Hülsen¬ 
früchte verzichten, eine sehr willkommene 
Abwechslung. Aehnlich den Erbsen- und 
Linsensuppen erlaubt die Sojabohnensuppe 
auch eine starke Belastung mit Butter und 
anderen Fetten und dient damit zur Ein¬ 
verleibung hoher Nährwertsummen. 

Besondere Sorgfalt wurde natürlich der 
Frage gewidmet, ob das Sojabohnenpüree 
in seiner jetzigen Form auf die Zucker¬ 
produktion des Diabetikers Einfluß ge¬ 
winne. Es liegen darüber Erfahrungen an 
mehr als 100 Diabetikern vor. Im allge¬ 
meinen ist die Frage zu verneinen. Bei 
leichteren Formen von Diabetes läßt es 
die Zuckerausscheidung völlig unbeeinflußt. 
In mittelschweren Fällen, wo strenge Diät 
den Urin gerade zuckerfrei macht, und wo 
die geringste Zulage von Stärkemehl 


Glykosurie nach sich ziehen würde, werden 
80—100 g des Pürees gleichfalls gut ver¬ 
tragen. Auch in den noch weiter vor¬ 
geschrittenen Fällen, wo neben dem Ver¬ 
zicht auf Kohlenhydrate auch die Eiwei߬ 
zufuhr beschnitten werden muß, um den 
Harn zuckerfrei zu erhalten, treibt die Zu¬ 
lage der genannten Menge des Sojapürees 
in der Regel keinen Zucker in den Harn. 
Immerhin gibt es einzelne, besonders eiwei߬ 
empfindliche Fälle, wo dies der Fall ist. 
Aber die Wirkung ist bedeutend geringer 
als die von Fleischmengen gleichen Stick¬ 
stoffgehaltes. Wenn man daher, mit Rück¬ 
sicht auf die große Eiweißempfindlichkeit 
dieser Fälle, eine Zeitlang vegetabilische 
Ernährung für angezeigt hält und trotzdem 
die Eiweißzufuhr nicht zu tief sinken lassen 
will, so ist gerade dieses Präparat ein 
wertvolles Hilfsmittel. 

Alles in allem dürfen wir sagen, daß 
durch das Sarton die Diabetesküche wesent¬ 
lich bereichert wird. Die Praxis wird 
noch andere Anwendungsformen kennen 
lehren. Natürlich beschränkt sich die An¬ 
wendung nicht auf die Zuckerkrankheit. 
Ueberall, wo man dem vegetabilischen 
Eiweiß den Vorzug vor animsdischen gibt, 
z. B. bei Gicht und harnsaurer Diathese, 
bei Nierenkrankheiten und bei manchen 
Störungen der Verdauungsorgane, wird es 
willkommen sein. Auf die Darmperistaltik 
hat das Sojabohnenpüree einen ähnlich an¬ 
regenden Einfluß, wie Hülsenfrüchte, ohne 
aber — wie diese — der Gasbildung Vor¬ 
schub zu leisten. Diese Nebenwirkung ist 
auch beim Diabetiker recht willkommen. 
Der wesentliche Vorteil für die Diabetes¬ 
küche liegt freilich darin, daß es dem 
Zuckerkranken eine neue Abwechslung 
bietet und daß es ein angenehmes, leicht 
bekömmliches, nicht zuckerbildendes Ge¬ 
richt liefert, welches in Form, Geschmack 
und Anwendungsweise für die schmerzlich 
entbehrten Hülsenfrüchte eintritt. 

Genauere Mitteilungen über die Soja¬ 
bohne, über die Chemie des Präparates, 
über seine Resorptionsfähigkeit usw. wird 
demnächst Dr. E. Jürgensen aus der 
Wiener I. medizinischen Klinik veröffent¬ 
lichen. 


Aus dem Laboratorium des med. poliklin. Instituts der Universität Berlin. 
(Direktor: Geh. Rat Prof. Senator.) 

Zur medikamentösen Therapie der Cholelithiasis. 


Von Felix Eichler, Spezialarzt für Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten in Berlin-Charlottenburg. 


Ueber die Entstehung der Gallensteine 
ist viel gestritten worden. Zurzeit hat 
wohl die „infektiöse Theorie“ bei weitem 
die meisten Anhänger. Das Primäre ist die 


Stagnation der Galle, die dann durch Ein¬ 
wandern niederer Organismen, vom Darm¬ 
kanal her (die sogenannte „deszendie¬ 
rende“ Infektion auf dem Wege der Blut- 


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April 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


147 


bahn dürfte äußerst selten sein) infiziert 
wird und zu einem Katarrh der Gallenblase 
und der ableitenden Gallenwege führt, 
tiallenstammg und bakterielle Infektion 
bind die notwendigsten Bedingungen lür 
die Bildung der Gallensteine. Daß Gallen¬ 
stauung allein nicht zur Steinbildung ge¬ 
nügt, das lehren die Fälle, in denen 
monatelang totale Verschlüsse des Chole- 
dochus bestehen, ohne daß es auch nur 
zur Eindickung der Galle kommt. Der 
infektiöse Katarrh der Gallenblase verbun¬ 
den mit Gallenstauung führt zu einer Zer¬ 
setzung der Galle und zur Desquamation 
der Epithelien, die Lösungsbedingungen 
für das Cholesterin werden ungünstiger, 
es fällt Bilirubinkalk aus und aus dem 
Konglomerat der verschiedensten Zerfalls¬ 
produkte entsteht dann der Kern zum 
Gallenstein. Dieser kann nach eventuellem 
Abklingen der akuten Entzündung ohne 
Beschwerden zu machen in der Gallen¬ 
blase ruhig liegen bleiben oder wieder zu 
•einer Entzündung der Wand der Gallen¬ 
blase führen. 

Daß es möglich ist, große verkalkte 
Gallensteine durch Verabreichung irgend¬ 
welcher Medikamente wieder zur Lösung 
xu bringen, daran glaubt jetzt wohl kein 
verständiger Arzt mehr. Hier können wir 
nur durch geeignete Verordnungen ein 
möglichst dauerndes Stadium der Latenz 
erzielen. Principiis obsta! Wir müssen 
mehr als bisher darauf bedacht sein, in¬ 
fektiöse Katarrhe der Gallenwege und ein¬ 
fache katarihalisch-ikterische Erkrankungen 
erfolgreich zu bekämpfen und so zu ver¬ 
hindern suchen, daß sich Konkremente 
bilden oder daß sich bereits vorhandene 
Steine weiter vergrößern. Meistens ent¬ 
wickelt sich aber ein Gallensteinleiden 
ganz schleichend und Viele beherbergen 
jahrelang Dutzende von Steinen in ihrer 
Gallenblase, ohne von deren Existenz eine 
Ahnung zu haben. Oftmals geben die ganz 
plötzlich auftretenden Koliken erst Kennt¬ 
nis von dem Vorhandensein von Gallen¬ 
steinen und sind die Veranlassung, zum 
erstenmal wegen dieses Leidens einen Arzt 
zu Rate zu ziehen. Die pathologische 
Grundlage dieser Anfälle besteht zweifel¬ 
los in Entzündungen und Muskelkrämpfen 
der Gallenwege. Es fragt sich nun, wo¬ 
durch diese entstehen. In einer Anzahl 
von Fällen wohl dadurch 1 ), daß kleine 
Steine in die Gänge gelangen und deren 
Wände reizen. Sicher kommen aber, wie 
wir durch Riedel wissen, auch Koliken 
zu stände, ohne daß überhaupt die Mög- 

*) Zitiert n. Krehl, Path. Physiologie, 


lichkeit einer Steineinklemmung besteht. 
Das Maßgebende ist dann die Entzündung 
der Schleimhaut an Blase oder Gängen, 
und es spricht vieles dafür, im Auftreten 
dieser Entzündung überhaupt die 
Grundlage der Gallensteinanfälle zu 
sehen. Abgesehen davon, daß durch das 
Verlegen des Lumens eines größeren 
Gallenausführungsganges durch ein Kon¬ 
krement Ikterus entstehen kann, wird Gelb¬ 
sucht bei Cholelithiasis auch häufig durch 
Ausbreitung der Entzündung von der 
Gallenblase aus auf die großen und kleinen 
Gallenwege beobachtet. Es findet hier 
derselbe Vorgang, nur in umgekehrter 
Richtung, statt, wie beim Fortschreiten der 
katarrhalischen Entzündung der Darm¬ 
innenfläche auf die Choledochusmündung 
und den Ductus choledochus selbst 

Das an sich schon kleine Lumen dieses 
Ganges wird durch die entzündlich ge¬ 
schwollene Schleimhaut stark eingeengt, 
und diese an sich geringen Hemmungen 
genügen meist schon, die unter sehr 
schwachem Drucke abgesonderte Galle zu 
stauen, zur Resorption zu bringen und 
Ikterus zu erzeugen. 

Unser Hauptaugenmerk im Kolikanfall 
sowie bei einfacher Cholezystitis und beim 
katarrhalischen Ikterus muß also neben 
Beheben des Schmerzes darauf gerichtet 
sein, wenn möglich, die Entzündung der 
Gallenwege direkt durch geeignete Des- 
infizientien zu bekämpfen und eine 
dünnflüssige Galle zu produzieren, 
die durch die geschwollenen Ausführungs¬ 
gänge ihren Weg leichter nach dem Darm 
findet, als eine von schleimig-dickflüssiger 
Konsistenz. Dabei erscheint es aber bei 
Bestehen von Ikterus nicht ratsam, eine 
starke Hypersekretion von Galle anzuregen, 
da bei dem geringen Sekretionsdrucke der 
Galle eventuell doch eine Passage nach 
dem Darm zu nicht möglich sein könnte, 
und somit die Spannung in der Gallenblase 
nur vermehrt und die Gelbsucht verstärkt 
würde. 

Die Frage ist nun, ob wir ein Medika¬ 
ment besitzen, das, ohne einen starken 
Gallenfluß anzuregen, die Galle zu ver¬ 
flüssigen imstande ist, und das desinfi¬ 
zierend auf die Gallenwege wirkt. Viele 
Autoren stellen dies strikte in Abrede. 
Nach einigen neueren Untersuchungen ist 
jedoch eine günstige Beeinflussung der 
Galle in obengenanntem Sinne durch ge¬ 
wisse Medikamente nicht so ohne weiteres 
von der Hand zu weisen. 

Kuhn hat sich, nachdem früher Pr 6 vost 
und Bin et den Einfluß von Medikamenten 

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148 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


April 


auf die Galle geprüft hatten 1 ), in letzter 
Zeit eingehend mit dem Studium der des¬ 
infizierten Wirkung einer größeren Zahl | 
als innere Antiseptika empfohlener Mittel j 
befaßt. Zur Bestimmung der Desinfektions- | 
Verhältnisse einzelner Mittel wurde unter¬ 
sucht, bei welchem °/ 0 * Gehalt von Des- j 
infizientien die in die Gallenblase abgeson¬ 
derte Gallenflüssigkeit keinerlei lebendes 
Material mehr zu beherbergen fähig war. 
Als Maßstab für das Aufhören des Lebens in 
den Versuchsproben dienten zwei Kriterien: 

Das erste besteht in der Kontrolle der 
Abtötung der Keime bei einem gewissen 
Gehalt an Desinfektionsmaterial durch Ab¬ 
impfen auf sterile Nährböden und Züchtung. ! 

Das zweite besteht in der Kontrolle der ] 
Gasbildung. Zu diesem Zwecke wurde 
eine Probe Galle mit Zucker im Verhältnis 
von 1 % versetzt, dann wurden abge¬ 
messene Mengen mit gewissen Mengen 
von Desinfektionsmitteln gemischt, in Gä¬ 
rungsröhrchen gefüllt und bebrüten lassen. 

Das Ergebnis der Versuche war fol¬ 
gende Skala der Desinfektionsmittel der 


Gallenwege: 

Desinfiziens 

Verzögerung der 

| Sterilisation 

! 

Gasbildung 


Thymol. . 

0,05-0,1 

0,1 

Menthol. . 

0,1 

0,25 

Na salicyl. . 

0,1 

0,6 

Naphthol . 

0,1 

0,5 

Aspirin . . , 

1.0 

2,5 

Citarin . . 

2.5 

5,0 


Thymol und Menthol bewiesen sich wohl 
in Hinsicht ihrer Desinfektionskraft, nur 
werden sie nicht in Mengen in den Gallen- 
wegen zur Ausscheidung kommen, die an j 
oben festgelegte Zahlen heranreicht An¬ 
ders steht es nach Kuhn mit der Salizyl- I 
säure und ihren Salzen. Sie geht in be- ; 
trächtlicher Menge, wie in alle Körper- f 
säfte, so auch in die Galle über und ent¬ 
faltet bereits bei einer Konzentration von 
0,1 % einen sehr erheblichen Einfluß auf 
die Fäulnisvorgänge der Galle. 

Kuhn stellte sodann auch Versuche an 
einem Patienten mit Gallenfistel an. Zu- | 
nächst untersuchte er die Gärung der 
Galle, ohne vorher Salizyl zu verabreichen: 

Stunden der Gärung: 4 12 24 I 36 48 j 

! ' j 

Gasmenge in cm 1 3 ! 5 8 10 j 

1 3 j 5 | 8 ; 10 

Hierauf erhielt der Patient 4 stündlich 1 g 
Na salicyl. (pro Tag 6 g). Das Versuchs¬ 
ergebnis in Tabellenform war folgendes: 

*) Revue de m6d. de la Suisse Romande 1888, Nr. 5. ’ 


Größe der Gasmengen nach Salizylverordnung: 


Stunden nach 

Beginn der Stunden nach der Bebrütung 

Salizylverab-- 


reichung 

4 | 

12 1 

24 

| 36 ' 

48 

12 


1.0 1 

3,0 ! 

4,0 

| 4,5 | 

5.0 

24 

1. Tag 

1.0 1 

2.8 

3,8 

8,0 

8,0 

48 

2. „ 

0.4 , 

0,5 

0,7 

2,25 : 

2,27 

72 

3. . 

0,1 ! 

1.5 ] 

2.5 

3,5 

3,8 


Es zeigte sich also eine deutliche Ab¬ 
nahme der Gärfähigkeit der Galle nach 
Salizylmedikation, und Kuhn hält hiernach 
den Einfluß der Salizylsäure allen Zweifeln 
entgegen für bewiesen. 

Die Resultate Useners ähneln ganz 
denen von Kuhn. Die Gärungsgröße sank 
nach Salizylgaben bedeutend, das anfangs 
zähflüssige fadenziehende Sekret 
wurde immer weniger mucin- und 
eiterhaltig bis endlich klar und wasser¬ 
flüssig. Usener kommt auf Grund seiner 
Versuche zur Ueberzeugung, daß die 
Salizylsäure nicht nur eine desinfizie¬ 
rende Wirkung auf die in den Gallen¬ 
wegen zirkulierende Galle, sondern auch 
einen spezifischen Einfluß auf die 
Schleimhäute der Gallenwege, ihre Se¬ 
kretion und ihre katarrhalischen Prozesse 
hat. Er empfiehlt daher praktisch durch¬ 
aus bei katarrhalischem Ikterus, Gallen¬ 
steindisposition, Gallensteinanfällen, Ent¬ 
zündungen und Empyem der Gallenblase 
das Natrium salicyl. zu geben. 

Ich möchte nicht verfehlen, gleich an 
dieser Stelle auf die Bemerkung Useners 
nochmals besonders hinzuweisen, daß die 
Galle, die anfangs zäh und dickflüssig war, 
unter Einwirkung von Na salicyl. klar und 
dünn wurde. Es ist dies eine Bestätigung 
einer bereits von älteren Autoren gemach¬ 
ten Beobachtung, die in neuester Zeit 
übrigens auch Le wasche w wieder kon¬ 
statieren konnte. 

Neben Na salicyl. wurden von anderer 
Seite als wirksame Gallenantiseptika Kalo- 
mel, Sublimat, Karbolsäure, Salol, Menthol, 
Naphthol u. a. m. empfohlen. Doch sind 
diese Mittel für innerliche Anwendung ent¬ 
weder zu gefährlich, oder ihre Wirkung 
erschien bei exakter Nachprüfung zu wenig 
intensiv oder ganz illusorisch. 

In neuester Zeit hat nun Crewe aus 
dem pharmakologischen Institut der Johns 
Hopkins-Universität Untersuchungen über 
die Ausscheidung des Formaldehyd direkt 
durch die Leber und die Wand der Gallen¬ 
blase und seine antiseptische Wirkung ge¬ 
macht. Die Resultate dieser Versuche sind 
sehr interessant; sie haben etwa folgendes 
ergeben: 


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April 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


149 


Beim Gallenfistelhunde, dem 1 g Hexa- 
methylenamin per os verabreicht worden 
war, gab die Galle bereits 24 Stunden 
spater eine deutliche Formaldehydreaktion. 

Um den Nachweis zu erbringen, daß 
ein Teil des Hexamethylenamins direkt 
durch die Wand der Gallenblase ausge¬ 
schieden würde, legte Crewe den Ductus 
eystic. bloß und unterband ihn. Sodann 
wurden in den nächsten 2 Stunden 3 g 
Hexamethylenamin in die Schenkelvene des 
Hundes injiziert und die Galle, die durch 
den Ductus choledochus auslief, wurde 
mittels eines Katheters gesammelt. Am 
Ende der Versuchszeit wurde die Gallen¬ 
blase entfernt und der darin befindliche 
Inhalt sowie die aus dem Ductus chole¬ 
dochus ausgeflossene Galle mittels der 
Formaldehydprobe untersucht Es stellte sich 
heraus, daß die aus der Blase stammende 
Galle eine intensivere Formaldehydreaktion 
gab, als die aus dem Ductus gesammelte. 

Zum Nachweis des Formaldehyds be¬ 
diente sich Crewe folgender Methode: 

4—6 Tropfen Milch werden zu wenigen 
ccm dem zu untersuchenden Material zu¬ 
gesetzt, und diese Mischung wird unter¬ 
schichtet mit der gleichen Menge eines Rea¬ 
gens, das aus 100 ccm 99°/ 0 iger Schwefel¬ 
säure und 1 Tropfen einer 3%igen Eisen¬ 
chloridlösung besteht. Die Schwefelsäure 
zerlegt das Hexamethylenamin in Form¬ 
aldehyd und Ammoniak und ein amethyst¬ 
farbiger Ring entsteht an der Berührungs¬ 
stelle der beiden Schichten. Da die Eigen¬ 
farbe der Galle die Farbentinktion stört, 
so wird vorher eine Portion Galle mit 
Wasser verdünnt, mit Schwefelsäure sauer 
gemacht und destilliert. Das Formaldehyd 
geht ins Destillat über. Bei großer Form¬ 
aldehydkonzentration versagt die Probe. 

Crewe hatte Gelegenheit, bei drei 
Patienten, denen aus therapeutischen Rück¬ 
sichten Gallenblasenfisteln angelegt worden 
waren, die antiseptische Wirkung des 
F ormaldehyds auf die abgeschiedene Galle 
zu studieren: 


Fall 1. Eröffnung der Gallenblase wegen 
Gallensteine; Sekundärinfektion der Galle. 
Impfung von Gelatineplatten mit Galle: 


' 

1 Zahl der ge- I 


Geimpft mit 

’ schätzten Ko- ( 

1 lonien nach j 

Organismen 

| 

24 Stunden 


Platte 1 1 Tropf.Galle 

12C0 

B. typhös. 

. 23 . , 

4000 

B pyocyan 
und andere 

»35, 

8000 


i 

nicht näher 
bestimmte 



Bakterien 


Sogleich nach Anfertigung der Kulturen er¬ 
hielt der Patient die erste Dosis Hexamethylen¬ 
amin. Innerhalb der nächsten 24 Stunden er¬ 
hielt Patient 5 mal 0,63 g, also insgesamt 4,5 g. 
4 Stunden nach der letzten Dosis wurde eine 
zweite Probe Galle entnommen und auf Platten 
ausgesät. Das Resultat war folgendes: 


Geimpft mit 


Nach 24 stQnd. 
Bebrütung 


Platte 1 j 1 Tropf. Galle keinWachstum 

2 * 3 

» Ä a » » » n 

n 3(5 „ „ „ „ 


Die Platt, 
bleiben 
auchnach 
4täg. Be¬ 
brütung 
steril 


NB. Die destillierte Galle gab die Formaldehyd- 
reaktion. 


Fall 2. Wegen häufiger Attaken von Gelb¬ 
sucht von langer Dauer Eröffnung der Gallen¬ 
blase; kein Stein gefunden. Um die Gelbsucht 
zu beheben, wird die Fistel offen gelassen. 
10 Tage nach der Operation wird Galle auf 
Platten geimpft: 



1 

Zahl der ge- 



Geimpft mit ' 

i 

schätzten Ko- | 
lonien mich j 
24 Stunden 

Organismen 

Platte 1 

: 5 : 

i 

1 Tropf.Galle j 
3 * » 

5 „ » | 

6000 

12 000 
20000 

B. coli, dicke 
Kokken und 
Luft - Orga- 
| nismen 


Auch dieser Patient erhielt in den folgen¬ 
den 24 Stunden im Ganzen 4,5 g Hexamethylen¬ 
amin. Sodann wurden wieder Galleaussaaten 
gemacht: 


| Geimpft mit 

I 

Zahl der ge¬ 
schätzten Ko¬ 
lonien nach 
24 Stunden 

i 

i 

Organismen 

1 

Platte 1 jl Tropf.Galle 

40 

Nur B. coli 

„ 2 13 . 

75 

war aufge- 

■ '3|5 „ „ 

90 

gangen 

9 4 |1 ccm 

500 



Wie aus obigen Tabellen zu ersehen 
ist, nahm bei allen drei Patienten schon 
kurze Zeit nach Verabreichung von 4,5 g 
Hexamethylentetramin pro die der Gehalt 
der Galle an bakteriellen Elementen ziem¬ 
lich rasch ab (Fall 2) bezw. verschwand 
vollkommen (Fall 1 und 3). 

Wenn dies günstige Resultat auch nicht 
einzig und allein auf die desinfizierende 
Wirkung des Hexamethylentetramins zu¬ 
rückzuführen ist, sondern wenn hierbei 
auch der Umstand eine höchst wichtige 
Rolle mitspielt, daß nach Anlegen der 
Fistel die infizierte Galle nach außen hin 
gut abfließen und so schon rein mecha¬ 
nisch alle pathologischen Keime mit fort¬ 
spülen konnte und ihnen keine Zeit zur 
Ansiedlung ließ, so ist doch die Zeit, die 
nötig war, um die Galle wieder vollkommen 


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150 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


April 


Fall 3. Eröffnung der Gallenblase wegen eitriger Gallenblasenentzündung mit Gallenstein: 


Datum 


Verabreichte Mengen 
Hexamethylen- 
tetiamin in 24 Stund. 

g 

Platte 

Geimpft 

mit 

Zahl d geschätz¬ 
ten Kolonien 
nach 24 Stunden 

Bemerkungen 

Dezember 4. 

— 

1 

1 Tropf. Galle 

150,000 

B.coli, B. typhös, u. andere 
nicht bestimmte. 

n 

5. 

0,6 

2 

i „ 

n 

150,000 

Entleerung von dunkel¬ 
brauner Galle mit faulig. 
Geruch. 

n 

6. 

1,2 

3 

1 ,, 


100,000 

— 

» 

7. 

2,1 

4 

1 „ 


75,000 

Galle von brauner Farbe- 

n 

8. 

2,7 

5 

i . 

n 

60,000 

Farbe der Galle hat sich 
verbessert. 


9. 

3,6 

6 

1 * 


20,000 

— 

w 

10. 

3,6 

7 

i . 

n 

12,000 

Drain wird entfernt; 
Wunde heilt u. beginnt 
sich zu schließen. 

V 

11. 

4,5 

8 

i . 

« 

300 

Galle ist vollkommen klar 
in 24 Stunden. 

» 

12. 

4,5 

9 

1 „ 

ft 

8 

Nur noch B. coli; Wunde 
heilt rasch. 

ff 

13. 

14. 

4,5 

4,5 

10 

1 11 

1 ccm 

1 . 


steril! 


n 

15. 

4,5 

12 

i . • 


» 

Wunde ist geheilt 


steril zu machen, auffallend kurz, und diese ! legen sein. Bei der Umsetzung des Prä- 
Beschleunigung der Heilung ist doch wohl , parates, die eventuell im Organismus vor 
wenigstens zum Teil dem verabreichten sich gehen kann, bilden 100 Teile Sali- 
Hexamethylenamin zugute zu halten. formin ungefähr 65 Teile Formaldehyd. 

Weshalb sollte auch das Formaldehyd, Ich benutzte zu meinen Versuchen einen 
das sich schon seit einer Reihe von Jahren Hund mit kompletter Gallenfistel und stu- 
als Desinfiziens der Harnwege (Urotropin, dierte zunächst den Einfluß des Saliformins 
Helmitol, Hetralin usw.) bewährt hat, und ! auf die aus der Fistel ausfließende Galle, 
das in Form von Stoman- und Formamint- j Der Hund erhielt morgens 9 Uhr 250 g 
tabletten als bakterizid wirkendes Mittel I Fleisch und 100 g Wasser, nachmittags 
gegen akute und chronische Streptomykosen 5 Uhr 250 g Fleisch, 250 g Kartoffeln, 
vielfach mit Erfolg angewendet wurde, 400 g Wasser. Um 9 Uhr morgens wurde 
nicht auch auf die infizierte Galle eine der Hund in einem Gestell angeschnallt 
salutäre Wirkung auszuüben imstande und die während der nächsten 8 Stunden 
sein, nachdem ihr Uebergang in diese ! aus der Fistel fließende Galle würde- 
sicher erwiesen ist? Uebrigens hat schon t sorgfältig gesammelt. Bereits 15 Stunden 
vor mehreren Jahren Wm. Bain (Medical j nach Verabreichung von Saliformin gab- 
Magazine, London, Februar 1906) bei { die Galle deutliche Formaldehydreaktion, 
frischen Gallensteinanfällen, die auf Typhus- ; Die Ergebnisse dieses Versuches sind 
bazillen zurückzuführen sind, das Hexa- 1 tabellarisch zusammengestellt folgende: 
methylentetramin als ein Spezifikum emp- I (siehe Tabelle I S. 151). 
fohlen. | Bei Betrachtung obiger Tabelle erkennt 

Angeregt durch Kuhns und Useners i man, daß die Menge der abgesonderten 
günstige Versuche mit Na salicyl. und die | Galle nach Verabreichung von Saliformin 
guten Erfahrungen, die Crewe mit Hexa- ; nicht anstieg, sondern eher ganz wenig 
methylentetramin bei eitrigen Gallenblasen- I geringer war (physiologische Schwankung), 
entzündungen machte, ging ich daran, im j Dagegen trat eine deutliche Verflüssi- 
Tierexperimente eine Vereinigung beider ; gung der anfangs ziemlich stark schleim- 
Mittel, das Saliformin (salizylsaures Hexa- i haltigen Galle ein, was sich auch in der 
methylentetramin) auf seine eventuelle des- ■ Abnahme des spezifischen Gewich- 
infizierende Kraft zu erproben. Das Sali- j tes und der festen Gallenbestand¬ 
formin ist ein weißes, in Wasser und Al- j teile, sowie in der Erniedrigung des 
kohol leicht lösliches, angenehm säuerlich I Gefrierpunktes dokumentiert, 
schmeckendes kristallinisches Pulver. Es | Nunmehr prüfte ich die Gärfähigkeit 
wurde bisher als harnsäurelösendes Anti- der an Normal- und Saliformintagen ab- 
septikum bei Gicht, Blasenstein und bak* geschiedenen Galle mittels der von Kuhn 
teriellen Erkrankungen der Harnwege j angegebenen Methode und kam zu folgen¬ 
empfohlen und soll dem Urotropin über- den Resultaten: 


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April 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


151 


Tabelle I. 


Einfluß des Saliformins auf die Gallensekretion. 


Ver¬ 

suchs¬ 

tag 

Verordnung 

Galle 

in 

8 Stdn. 

ccm 

Spez. 

Ge¬ 

wicht 

Ge¬ 

frier¬ 

punkt 

In Prozenten 

Gesamt- 

abscheidung 

Bemerkung 

Trok- 

ken- 

substanz 

Asche 

Trok- 

ken- 

substanz 

Asche 

1 . 

Früh 9Uhr 250 g Fleisch, 100Wasser 

110 

1020 

0,60 

6,015 

0,631 

6,617 

0,694 

Schleimig, fa- 


Abend5 , 500 „ „ 400 „ 








denziehend. 


250 „ Kartoffeln 









2. 

do. 

110 

1020 

0,60 

5,894 

0.538 

6,383 

0,592 

do. 

3. 

do. 

120 

1021 

0,61 

6,052 

0,580 

7,262 

0,696 

Ziemlich stark 










schleimhaltig. 

4. 

do. 

95 

1022 

0,60 

6,095 

0,845 

5,790 

0,803 


5. 

do. + 3 mal täglich 1,0 Saliformin 


Galle nicht aufgefangen 




6. 

do. 

80 

1020 

0,58 

6,366 

0,576 

5,083 

0,461 

Weniger 










Schleim. 

7. 

do. 

80 

1019 

0,58 

6,234 

0.756 

4,987 

0,605 

do. 

8. 

do. 

90 

1019 

0,59 

6,208 

0,564 

5,559 

0,508 

Dünnflüssig, 










ohne Schleim- 










beimengung. 

9. 

do. 

95 

1019 

0,57 

6.384 

0,584 

6,065 

0,555 

do. 

10. 

Normalkost 

75 

1020 

0,58 

7.440 

0,732 

5,396 

0,549 

Schleimfrei. 

11. 

| do. 

60 

1020 

0,59 

7,126 

0,912 

4,276 

0,547 


12. 

i do. 

75 

1021 

0,58 

8,031 

0,879 

6,023 

0,659 

Etwas dick- 


1 








flüssig. 


In 7 Normal- \ -r_ 

645 





41,747 

4,540 



In 4 Saliformin- f Ta * en 

345 





21,694 

2,129 



Durchtchnilt { “*,. 8 

92 

86 

1021 

1019 

0,60 

0,58 

6.665 

6,199 

0,731 

0,620 

5,9641 0,649 
5,4241 0,532 

i 


Tabelle U. 


Gär u ngs versuch. 


Galle vom Versuchstag 

1. Tag 

2. 

Tag 


3. 

Tag 


4 

Tag 

4 Uhr 
p. m. 

9 Uhr 
a. m. 

5 Uhr 
p. m. 

9 Uhr 

a. m. 

5 Uhr 
p. m. 

9 Uhr 
a. m. 

5 Uhr p. m. 

4. Versuch a . . . 

0,2 cm 

5,4 cm 

5.8 

cm 

6,2 cm 

6,6 cm 

6,9 

cm 

ausgegoren 
= 7,2 cm 

Kontrollversuch a 1 

0)3 n 

5,5 „ 

5.8 

n 

6.4 „ 

6,8 „ 

6,8 

9 

» 

8. Versuch b . . . 

0,2 „ 

2,6 * 

2,9 

ff 

2,9 „ 

3,0 „ 

3,3 

n 

3,3 cm 

Kontrollversuch b 1 

0,2 , 

29 n 

3.2 

w 

3,3 ; 

3,3 ^ 

3,4 

M 

3.3 , 

12. Versuch c . . . 

0.5 . 

3.6 . 

3,7 

n 

4,6 „ 

5,8 ff 

63 

» 

ausgegoren 

Kontrollversuch c l 

Spur 

4.7 „ 

4,7 

n 

4.7 , 

5,0 „ 

5,6 

n 

6,4 cm 


Während die maximale Gärung am 
4. Tag ohne Saliformin 7,2 cm (bezw. 
6,4 Versuch c 1 ) betrug, war sie unter Sali- 
forminwirkung 3,3 cm. 

Es ist also eine Abnahme der Gär¬ 
fähigkeit der Galle von Ober die Hälfte zu 
konstatieren. 

Ich prüfte endlich die desinfizierende 
bezw. Wachstumshemmende Eigenschaft 
der Saliformingalle in der Art, daß ich 
Kartofielnährböden, die nach Robert 
Kochs Vorschrift vorbehandelt waren, mit 
1 ccm steril aufgefangener Galle bezw. 
mit 1 ccm Saliformingalle bestrich, die 
Galle 20 Minuten lang eintrocknen ließ 
und dann in Kartoffelscheiben mit Bac. 
prodigios. beimpfte. Dieser Bazillus ist zu 
diesem Zwecke besonders geeignet. Er 
hat bekanntlich die Eigenschaft, bei seiner 


Verpflanzung auf Kartoffelnährböden einen 
roten Farbstoff zu produzieren, der die 
Kartoffeln erst rosarot und später intensiv 
dunkelrot erscheinen läßt. Am besten ent¬ 
wickeln sich die Kulturen bei Temperaturen 
von 200 C. 

Ich teile die Resultate dieser Versuche 
in der folgenden Tabelle mit: (siehe Ta¬ 
belle III S. 152). 

Es ist hieraus deutlich ersichtlich, daß 
normale Galle keinerlei nennenswerten 
Einfluß auf das Wachstum von Bac. 
prodigios. hat. Waren die Kartoffelscheiben 
jedoch mit Saliformingalle vorbehandelt, 
so wurde dadurch auf ihnen das Wachs¬ 
tum des Bac. prodigios. bedeutend ge¬ 
hemmt oder die Nährböden blieben 
sogar völlig steril. 

Nach dem Tierexperiment sind wir also 


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152 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


April 


Versuchs-1 
tag I 


Tabelle III. 

Bakteriologischer Versuch mit Bac. prodigiosus. 


Kartoffelscheibe 
geimpft mit 
Bac. prodigiosus 


Nach 1 Tag 


Nach 2 Tagen 


Nach 3 Tagen 


a ohne Galle 

a 1 Kontrollprobe 
b mit 1 ccm Galle 
bestrichen 
b 1 Kontrollprobe 
c ohne Galle 

c 1 Kontrollprobe * 

d mit 1 ccm Galle 
bestrichen 
d 1 Kontrollprobe 
e ohne Galle 

e 1 Kontrollprobe 
f mit 1 ccm Galle; 

bestrichen 
f 1 Kontrollprobe 
g ohne Galle 

g l Kontrollprobe 
h mit 1 ccm Gallei 
bestrichen 
h 1 Kontrollprobe ] 


Deutliche vier rosa¬ 
rote Impfstriche 

J Bakt. Wachstum 
i gegen a und a 1 
) gering behindert 
Deutliche rosarote 
Impfstriche 
do. 

Vier deutlich sicht¬ 
bare Impfstriche 
do. 

Vier deutliche rote 
Striche 
do. 

Drei blaßrote an¬ 
gedeutete Striche 
Kein Wachstum 
Vier deutliche rosa¬ 
rote Striche 
do. 

Kein Wachstum 
Kein Wachstum 


Starke dunkelrote 
Striche 
do. 

Deutliche, saftige, rote 
Impfstriche 

Wellige rote Impf¬ 
striche 
do. 

Wachstum gegen c 
l und c 1 mäßig behin¬ 
dert 

Dicke, saftige, rote 
Impfstriche 
do. 

Zwei zarte rote 
Striche 

Kein Wachstum 

' Vier,starke, wulstige 
\ Impfstriche 

Ganz zartrosafarbene, 
feine Striche 
Kein Wachstum 


Erhabene, wulstige, 
dunkelrote Striche 
do. 

Dunkelrote, erhabene 
Impfstriche 

Striche konfluierend 
dunkelrot 

Dunkelrote, saftige 
Striche 

| Flacher Belag 

I Erhabene, wulstige, 
l dunkelrote, z. T. kon- 
I fluierende Striche 
Zwei feine, blaßrosa 
Striche 

Kein Wachstum 
Die Striche konfluieren 

do. 

Zwei feine, graurosa¬ 
farbene, dünne Striche 
Kein Wachstum 


in der Lage, durch Verabreichen von Sali- 
formin eine dünnflüssige Galle zu er¬ 
zielen, die sowohl antifermentativ als 
auch antibakteriell von recht beachtens¬ 
werter Wirkung ist, und ich halte daher 
dies Mittel für geeignet, bei äkut entzünd¬ 
lichen Affektionen der Gallenblase und 
Gallengänge angewendet zu werden. Man 
verordnet es in Dosen von 0,5—0,75 3 bis 
4 mal täglich. 

Haben wir nun das akute Aufflackern 
der Cholelithiasis, den Kolikanfall, bezw. 
die Cholezystitis und den Ikterus durch 
innerliche Mittel usw. erfolgreich bekämpft 
oder operiert, so bleibt uns noch die wich¬ 
tige Aufgabe, das chronische Leiden zu 
behandeln, möglichst lange ein Stadium 
der Latenz zu schaffen, bezw. den 
Patienten vor einer Neubildung von Steinen 
zu schützen. Denn mit der künstlichen 
Entfernung pathologischer Konkremente 
ist noch nicht der eigentliche Quell des 
Leidens, der Katarrh, behoben, sondern 
vorläufig erst das Produkt der katarrhali¬ 
schen Entzündung beseitigt. Riedel meint 
zwar, niemals echte Rezidive nach der 
Operation gesehen zu haben, die nur durch 
übersehene und zurückgebliebene Steine 
veranlaßt würden. Kehr, Homans, 
v. Hansemann, Körte und andere haben 
jedoch auch Neubildung von Steinen post- 
operativ beobachtet. 


Sind die frisch entzündlichen Erschei¬ 
nungen abgeklungen, und ist die Passage 
nach dem Duodenum wieder vollkommen 
frei, so werden wir vor allem einer neuen 
Eindickung und Stauung der Galle Vor¬ 
beugen müssen und zu versuchen haben, 
eine gesteigerte Sekretion von physiolo¬ 
gisch vollwertiger und dabei dünnflüssiger 
Galle zu erzielen. Gelingt dies, so spülen 
wir dadurch die noch in den Gallenwegen 
vorhandenen Bakterien mechanisch fort 
und lassen ihnen keine Zeit zur Ansied¬ 
lung. Die Zahl der als sogenannte Chola¬ 
goga empfohlenen Mittel ist sehr groß; 
aber nur ganz wenige davon können einer 
ernsthaften Kritik standhalten. Pr€vost 
und Bin et sagen: „la bile est le plus 
constant et le plus efficace des chola- 
gogues.“ In neuerer Zeit haben unter der 
Leitung von Stadelmann, Nissen, Man¬ 
delstamm, Gertner, Loevenson, Go- 
rodezky, Glaß und Dombrowsky Beob¬ 
achtungen über die Wirkung zahlreicher 
Medikamente auf die Quantität und Be¬ 
schaffenheit der Galle angestellt. Als Re¬ 
sultat vieler Untersuchungen erwiesen sich 
nur Galle und gallensaure Salze als echte 
Cholagoga; alle anderen Mittel wurden als 
vollständig indifferent befunden. Auch 
Wörner hat mit gallensaurem Eiweiß 
(Ovogal) Versuche am Gallenfistel¬ 
hunde angestellt und fand ein Ansteigen 


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April 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


153 


der Gallenmenge von weit über 1OO°/ 0> 
dabei war die Galle an „Ovogaltagen M viel 
weniger zähflüssig als an „Normaltagen“. 
Zu ganz ähnlichen Resultaten gelangte 
ich selbst und Latz 1 ) beim^Tierexperiment 
Auch wir konnten nach Verabreichung von 
Ovogal ein deutliches Ansteigen der Ab¬ 
sonderung dünnflüssiger Galle und eine 
Vermehrung des taurocholsauren Natriums 
konstatieren. Gerade auf dieses letzte 
Moment möchte ich einiges Gewicht legen, 
da eine an gallensauren Salzen reiche 
Galle gute Lösungsbedingungen für 
Cholesterin bietet. Die Befürchtung, daß 
nach Verordnung von Galle leicht Haemo- 
lyse auftreten kann, trifft bei richtiger Dosie¬ 
rung nicht zu. Ry wosch hat auf Roberts 
Veranlassung die gallensauren Salze phar¬ 


makologisch geprüft, und bedauert, daß sie 
trotz ihrer cholagogen Wirkung so wenig 
therapeutisch verwendet werden. 

Man verordnet das Ovogal am besten 
in Gelatinekapsel ä 0,5 3—4 mal täglich, 
anfangs 2 später 1 Kapsel, und läßt davon 
zunächst 2 Originalschachteln ä 50 Stück 
ausnehmen. Nach einigen Monaten wieder¬ 
holt man die Kur, und später nochmals. 
Um weiterhin noch leicht antiseptisch auf 
die Galle einzuwirken, kann man nebenbei 
zeitweise noch Na salicyl., Urotropin oder 
Saliformin geben. Daß man natürlich außer¬ 
dem alle wohlerprobten diätetischen, hy- 
driatischen, hygienischen und sonstige 
Maßregeln beachtet und geeigneten Falles 
eine mehrmalige Brunnenkur anordnet, 
bedarf wohl keiner besonderen Betonung. 


Aus der Inneren Abteilung des Städtischen Krankenhauses in Ratibor. 

Ueber Digistrophan, ein neues Kardiakum. 

Von Dr. O. Boelke, Dirigierender Arzt. 


Unter den Herzmitteln nehmen von jeher 
Digitalisblätter und Strophantussamen mit 
Recht die erste Stelle ein. Beide haben 
jedoch den bekannten Nachteil einer außer¬ 
ordentlichen Inkonstanz in ihrer Wirkung, 
der um so störender bei der Therapie 
wird, weil er völlig unkontrollierbar ist, da 
er auch bei äußerlich einwandfrei erschei¬ 
nender Droge gefunden wird. Um diesem 
Uebelstande abzuhelfen, hat die Industrie 
eine Reihe von Präparaten hergestellt, die 
teils Ertrakte der Rohdroge herstellen, 
teils die kristallinischen oder amorphen 
wirksamen Toxine rein verwerten. Doch 
nur ein kleiner Teil dieser Produkte ist 
ohne Einbuße an typischer Wirkung ge¬ 
wonnen und hat den Uebelstand der In¬ 
konstanz mehr oder weniger verloren. 
(Ich nenne die gebräuchlichsten, Digitalis 
dialysat., Digalen, Strophantin.) Die 
beiden letzteren haben sich vornehmlich 
aus dem Grunde in der Therapie gut ein- 
geführt, weil ihre subkutane beziehungs¬ 
weise intravenöse Anwendbarkeit und des¬ 
halb schnelle Entfaltung der Wirkung zur 
Behebung plötzlicher Zirkulationsstörungen 
bisher unübertroffen ist. Aus gleichem 
Grunde jedoch ist ihr Anwendungsgebiet zu¬ 
gleich eingeengt und mehr oder weniger an 
klinischen Betrieb gebunden. Für eine länger 
dauernde Digitaliskur und besonders für 
den Praktiker muß aber die Verabfolgung 
eines Mittels per os die Norm bleiben. 
Auf meine Anregung hin bringt die Firma 
Goedecke & Co„ Berlin, ein nach einem 
patentierten Verfahren für diesen Zweck 
J) Archiv“ f. Verd. Kr. XV. 5. 


hergestelltes kombiniertes Digitalis-Stro- 
phantus-Präparat in den Verkehr, das allen 
an ein derartiges Mittel zu setzenden An¬ 
forderungen nach meinen bisherigen Be¬ 
obachtungen genügt — das Digistrophan —, 
das tatsächlich bei exakter Dosierbarkeit 
und absoluter Haltbarkeit volle Digitalis- 
Strophantuswirkung entfaltet und eine be¬ 
queme Anwendungsweise in Tablettenform 
per os ermöglicht. 

Die leitenden Gesichtspunkte, die zur 
Herstellung des Digistrophan führten, waren 
einmal aus der vorliegenden Literatur ge¬ 
geben, aus der hervorgeht, daß Strophantus 
in gewissem Sinne die störende Kumu¬ 
lativwirkung der Digitalis mildern soll, an¬ 
dererseits lag die Vermutung nahe, daß 
die Kombination dieser beiden ähnlich, 
schließlich doch längst nicht absolut gleich¬ 
wirkenden Herzmittel einen besseren Heil¬ 
effekt erzielen müsse, als jedes gesondert, 
eine Voraussetzung, die sich völlig be¬ 
stätigt hat. 

Für die Herstellung des Digistrophan 
im pharmazeutischen Sinne war die be¬ 
kannte Tatsache grundlegend, daß bei der 
Darstellung von Fluidextrakten und trocke¬ 
nen Extrakten von Digitalis und Stro¬ 
phantus wirksame Bestandteile dieser 
Drogen in Verlust geraten, da sie flüchtige 
Substanzen enthalten, welche durch das 
bei der Darstellung der Extrakte, beson¬ 
ders der trockenen, notwendige Erhitzen 
naturgemäß verloren gehen müssen. In¬ 
folgedessen existieren bisher feste Extrakte 
von Strophantus und Digitalis mit voll¬ 
wertiger Wirksamkeit noch nicht. Bei 

20 


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154 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


April 


dem obigen Verfahren ist folgender Weg 
eingeschlagen worden, um Verlust von 
wirksamer Substanz zu vermeiden: Es wer¬ 
den 100 Teile Fol. Digitalis und 50 Teile 
Strophantus in der in den Pharmakopoen 
üblichen Weise zu einem Fluidextrakt her¬ 
gestellt. Dieses Fluidextrakt wird nun im 
Vakuum bei einer sehr niedrigen Tempe¬ 
ratur, welche 40o nicht überschreiten darf, 
mit einem genau abgemessenen Quantum 
eines technischen Bindemittels, z. B. Milch¬ 
zucker, derart verdunstet, daß das erhal¬ 
tene feste Extrakt entsprechend dem Ge¬ 
wicht der Drogen eingerichtet ist. Sind 
also 100 g Fol. Digitalis und 50 g Sem. 
Strophanti in Arbeit genommen worden, 
so müssen 1000 Tabletten von 0,5 g = 150 g 
Extrakt entsprechen. Der Arzt erhält auf 
diese Weise die Möglichkeit, die beiden 
Drogen Strophantus und Digitalis sehr 
genau dosieren zu können, denn jede ein¬ 
zelne Tablette entspricht demnach 0,1 g 
Fol. Digitalis und 0,05 g Sem. Strophanti 
von so voller konstanter Wirksamkeit, wie 
sie die frische Droge niemals bieten kann. 
Neben diesen reinen Digistrophantabletten 
sind für bestimmte Zwecke — Verstärkung 
der Diurese — noch solche Tabletten her¬ 
gestellt worden, die neben 0,1 g Digitalis 
und 0,05 g Strophantus noch 0,2 g Natrium- 
azetat, respektive Coffein natrio acet. 0,35 g 
enthalten, Kardiakum und Diuretikum 
können hier also in denkbar bequemster 
Weise in einer Tablette verabfolgt 
werden. 

Das Digistrophan erwies mir zunächst 
seine prompte tonisierende Wirkung an 
isolierten Kaltblüterherzen, wurde dann an 

Kurve 1. 


10 gesunden kräftigen Männern und dar¬ 
aufhin bei allen geeigneten Herz- und Ge¬ 
fäßkranken unter genauer Registrierung 
von Blutdruck, Pulskurve, Pulszahl und 
-stärke sowie Diurese eingehend geprüft 
und, wie die nachfolgenden Fälle beweisen, 
von einer außerordentlich prompten und 
konstanten Wirkung befunden. 


Die Vorversuche mit Herzgesunden 
bieten nur insofern Interesse, als bei der 
Digistrophandarreichung eine der besten 
Droge gleiche Wirkung auf die Herzarbeit 
erzielt wurde. Der Blutdruck, der bekannt¬ 
lich bei Gesunden unter der Digitalis¬ 
therapie nur wenig steigt, erhöhte sich in 
unseren Fällen ebenfalls nur gering; die 
an und für sich normale Pulswelle zeigte 
typische und auffällig schnell einsetzende 
Digitaliswirkung, während die Zahl der 
Pulse im Durchschnitt von 80 auf 66 her¬ 
unterging. Die Diurese stieg entsprechend 
dem erhöhten Blutdruck in allen Fällen. 
— Nebenwirkungen traten auch bei 
mehrwöchentlicher (14 Tage) Darreichung 
nie auf. 

Weit eklatanter dokumentierte sich die 
Wirkung des Digistrophan bei Kranken 
mit Kreislaufstörungen. 85 derartige Fälle 
kamen im Laufe von 10 Monaten zur Be¬ 
handlung, und zwar 44 organische Klappen¬ 
fehler, 18 Herzmuskelerkrankungen, 1 Herz¬ 
beutelverwachsung mit Herzverlagerung, 

3 Fälle von schweren Störungen der Herz¬ 
arbeit durch Raumbeengung im Brustkörbe, 
und außerdem 19 Fälle von Herzermüdung 
bei akuten Infektionskrankheiten, vornehm¬ 
lich bei Typhus abdominalis. Die instruk¬ 
tivsten Krankheitsfälle aus diesen ver¬ 
schiedenen Gruppen seien zur genauen 
Dokumentierung der prompten Wirkung 
des Digistrophan hier kurz zusammen¬ 
gestellt: 

1 . W. K., 16 Jahre, Schlosserlehrling. Seit 
2 Jahren schwerer Herzfehler nach Veitstanz. 

Klinische Diagnose: Stenosis et Insufficientia 
aortae et Mitralis incompensata. 

Herzspitzenstoß in 
der mittleren Axillarlinie. 
Stauungslunge, -leber, 
-milz und -niere. Zy¬ 
anose des Gesichts. As¬ 
zites. Anasarka. Puls¬ 
frequenz 140—160. starke 
Arythmie; Blutdruck 136. 

Drei Digitaliskuren 
(je 3 g) mit vorüber¬ 
gehender Besserung, je¬ 
doch sank der Puls nie 
unter 116. Am 27. No¬ 
vember 1909 bei schwer¬ 
ster Dekompensation 
Blutdruck 138, Puls 140. 
3 bis 4 mal täglich 1 Ta¬ 
blette Digistrophan; am 
4. Dezember sämtliche Störungen verschwun¬ 
den; Puls 90, voll und rythmisch, Blut¬ 
druck 154, Diurese von 600 auf 2300 ge¬ 
stiegen. Zum ersten Male seit Monaten 

4 Wochen rezidivfrei. 

2 . G. A., 12 Jahre. Insufficientia aortae et 
mitralis nach rezidivierender Polyartritis rheu- 
matica. Blutdruck 113, Puls 100, Diurese 900, 
beginnende Dekompensation. Ordination: Digi- 



Moodteteq 

Krankbeifsteg 

170 Wo 
160? ilo 

9.170 5 

150 * i60 ^ *1 
160 & 

IW i*o -rSO 

- 130 —» 

130 120 c 39 

110 ’ 

T20 *oo 38 
»o 

80 37 

70 ■* 

60 36 

30 

58 51 


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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


8 Tagen Puls 86, völlig rhythmisch, Blutdruck 154, 
Diurese 1800 Patientin bleibt während ihres 
14 tägigen Krankenhausaufenthaltes rezidivfrei. 

Kurve 2. 


Mooatelag | isv ] i6 j i? I ia I 19 I 20 I 21 1 22 1 Z3 I 2 V | 25. I 26 I u I 28. 


später 3 Digistrophan- 
tabletten, nach 5 Tagen 
Blutdruck 160, Puls 112, 

Diurese 1000. Am 12. Tage 
Blutdruck 154. Puls fast 
völlig rhythmisch 88, 
bleibt ohne Beschwerden: 
fernerhin normale Urin¬ 
mengen (2 Monate hin¬ 
durch beobachtet). 

4. J. K.. Arbeiter, ^ 

24 Jahre. Myokarditis un- c 

bekannter Ursache. 

Spitzenstoß 2Vs cm außer- g. 

halb der Warzenlinie. 

Puls 126, qualitativ und 
quantitativ stark aryth- 
misch. Blutdruck 134, 

Diurese 750. Ordination: 

3 mal 1 Digistrophan- 
tablette. Nach 5 'lagen 
Puls 84, nahezu regulär, 

Blutdruck 168, Diurese 
1800, vom 10. Tage ab 
normale Verhältnisse. 

5. J. P., Lehrling. 

14 Jahre. Pleuritis retra- 

hens, Herzbeutelver¬ 
wachsung. Verlagerung i 

des Herzens in toto um | 

3 cm nach rechts (kon- g 

trolliert durch Röntgen¬ 
bild). Beginnende Aryth- 
mie, wohl bedingt durch 
Zerrung und Abknickung 
der großen Gefäße. Puls 

periodisch irregulär 
ca. 112, Blutdruck 126, 

Diurese normal. Ordina¬ 
tion: 3 mal 1 Digistro- 
phantablette. Nach 5 Ta¬ 
gen Blutdruck 144, Puls 
100, gleich arythmisch wie 
vorher. Später 80 Pulse, 
jedoch kenrt trotz guten ö 

Allgemeinbefindens der c 

normale Herzrhythmus 
nicht zurück, weil die Ur- £ 

sache der Erkrankung 5 

nicht beeinflußt werden 
konnte. 

6. B. G., 34 Jahre alt. 

Myokarditis mit Stauungs¬ 
erscheinungen im kleinen 
Kreislauf bei schwerer 
Kyphoskoliose. Stauungseiweiß. Knöchelödeme. 
Puls 120, Blutdruck 126, Diurese 650. Ordi¬ 
nation: 3 Digistrophantabletten täglich. Nach 


Kurve 3, 


Monatstaq 113VH 1 1 «t 1 IS 1 16 1 17 [ 16 I 19 ] 20 \ 21 . 22. 23. 2<r 25 26. 


Krankbetrsl 


Stuhl 


Urin 


Monatstdq 3JX V 5 6 


! Krankheitstag | 1 2 3 


1100 


MonaKstaq. |5VI 1 6 [ 7, | fl. | 9. 1 10 1 11 |12 1 IS | 14 | 15. 1 16. 1 17 1 18. 


Krankheitsl 


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156 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


April 


Blutdruck 144. 2 Tage später kritischer Abfall, 
schnelle Resolution. 

8. A. St., 16 ! /a Jahre. Herzermüdung bei 
Typhusrekonvaleszenz. Doppelseitige Throm¬ 
bose der Vena femoralis. Puls ca 160, jagend, 
fast unfühlbar. Blutdruck 104, tiefe Zyanose. 
24 Stunden hindurch nach Eintritt der bedroh¬ 
lichen Symptome Annaleptika und fortlaufend 
Digistrophan. 4 Tabletten täglich. Am 5. Tage 
der Therapie Blutdruck 140. Puls 84, voll und 
rhythmisch. Weitere Rekonvaleszenz ungestört. 

In ähnlicher Weise zeigte sich die hervor¬ 
ragend tonisierende Wirkung der Digitalis- 
Strophantuskombination auf die Herz¬ 
tätigkeit in allen anderen Fällen. Wenn 
der klinische Herzbefund überhaupt noch 
eine Besserung erwarten ließ, erfolgte sie 
unter der Wirkung des neuen Mittels in 
weitgehendem Maße. Besonders deutlich 


spricht sie sich im Falle 1 aus, weil hier 
der Heilerfolg der Digistrophankur mit der 
vorangegangenen The¬ 
rapie der reinen Digi¬ 
talisdroge einen Ver¬ 
gleich gestattet, der so¬ 
wohl in Stärke als auch 
Dauer der Wirkung zu¬ 
gunsten des Digistro¬ 
phan ausfällt. Sehr gut 
läßt auch Kurve 7 (Pneu¬ 
monie) diese Wirkung 
erkennen. Trotzdem die 
Temperatur in continua 
auf 40 Grad bleibt, sinkt 
die Pulszahl von 130 
auf 90 ab. — Der Voll¬ 
ständigkeit wegen sei 
noch hinzugefügt, daß 
Herzinsuffizienz bei pri¬ 
mären Nierenleiden, wie 
zu erwarten war, eben¬ 
so wie durch Digitalis 
auch Jjdurch Digistro¬ 
phan im allgemeinen 
keine Beeinflussung er¬ 
fuhr, speziell blieb die 
Steigerung der Diu¬ 
rese aus. 

Der allgemeine Ueber- 
blick über die Wir¬ 
kungsweise des letzte¬ 
ren bringt folgende 
Punkte des therapeuti¬ 
schen Effektes haupt¬ 
sächlich zur Geltung: 

Erhöhung der Schlag¬ 
tiefe und Herabminde¬ 
rung der Schlagzahl des 
Herzens, Verschwinden 
der Arythmie in denk¬ 
bar weitestem Maße. Der 
Blutdruck (gemessen 
nach Riva-Rocci mit Recklinghausen- 
scher Manschette) wird konstant und ent¬ 
sprechend einer guten Digitaliswirkung er¬ 
höht. Bei der Beobachtung einiger Myo¬ 
karditiden konnte das auch von anderen 
Autoren als paradox bezeichnete Verhalten 
— erhöhter Blutdruck bei außerordentlich 
kleiner Pulswelle — bestätigt werden; es 
erfuhr unter der Therapie eine Einstellung 
auf die Norm, d. h. trotz Kräftigung des 
Pulses und Erniedrigung der Schlagzahl 
mit schwindender Arythmie sank der ur¬ 
sprünglich erhöhte Blutdruck in mehreren 
Fällen infolge der gebesserten Herzarbeit 
auf die Norm ab. Konform der Besserung 
der Herztätigkeit war stets eine Steigerung 
der Diurese auf resp. über die Norm zu 


Temperatur 40°. Ordination: 4 Tabletten täg¬ 
lich, nach 5 Tagen Temperatur 39,9 u , Puls 94, 


Kurve 6. 



Kurve 7. 



Mondtag 


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April 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


157 


verzeichnen, die sich durch die Darreichung 
von Digistrophandiuretikum noch erhöhen ’ 
ließ. Betont muß bei der Digistrophan- | 
therapie der schnelle Eintritt und die re- j 
lativ lange Dauer der Wirkung werden, j 
zwei Faktoren von großem therapeutischen 
Werte. Das Digistrophan wird von den 
Verdauungsorganen auch bei schweren 
Infektionskrankheiten stets gut vertragen; 1 
es hat keinen schädigenden Einfluß, vor I 
allem nicht auf die Nieren. Bei einzelnen I 
Kranken mit schweren Stauungserschei- I 
nungen der Baucheingeweide trat wohl j 
durch die Wirkung des Strophantus auf 
den Nervus splanticus (vergl. Magnus 
und Gottlieb) in den ersten Tagen 2 bis 
3 mal ohne jede subjektive Störung oder 
gar Schmerz breiiger Stuhl auf, eine j 
Nebenwirkung, die in diesem Falle ge¬ 
radezu erwünscht sein muß. Störende 
Kumativwirkung wurde in keinem Falle 


beobachtet. Die Dosierung ist denkbar 
einfach, da die wirksame Substanz, wie aus 
dem chemischen Teil hervorgeht, für jede 
Tablette feststeht. Täglich 3 mal 1 Tablette 
genügt für die Mehrzahl der Fälle; wo es 
nötig ist, erhöhen 4 Tabletten diese Wir¬ 
kung und werden gut vertragen. 

Kurz zusammengefaßt stellt danach das 
Digistrophan ein nach speziellem Verfahren 
gewonnenes Herzmittel dar, das alle wirk¬ 
samen Bestandteile bester Digitalisblätter 
und Strophantussamen entfaltet und dabei 
doch störende Kumulation ausschaltet. Das 
Herstellungsverfahren sichert dem Mittel 
neben absoluter Haltbarkeit und bequemster 
Dosierbarkeit eine dauernde Konstanz und 
Intensität der Wirkung, welche der der 
Droge weit voransteht. Infolge dieser 
Vorzüge verdient das Digistrophan bei 
allen geeigneten Herzkranken in Anwen¬ 
dung zu gelangen. 


Ein neuer Apparat zur Asthmabehandhing. 

Von Dr. G. Zuelzer - Berlin. 


Auf meine Veranlassung haben die 
Drägerwerke in Lübeck einen Apparat 
konstruiert, welcher speziell den Forde¬ 
rungen, die bei Behandlung des Asthmas 
aufzustellen sind, gerecht wird; daneben 
kann er auch zweckmäßig zur Behandlung 
des Emphysems benutzt werden. Als das 
wesentlichste Moment im akuten asthma¬ 
tischen Anfall betrachte ich — in Ueber- 
einstimmung mit einer Reihe von Autoren — 
die primäre Lungenblähung, während die 
Fluxionshyperämie der Bronchialschleim¬ 
haut, die, wie ich zeigen konnte, 1 ) bei dem 
sonst typischen Bilde des Bronchialasthmas 
fehlen kann, nur von sekundärer Bedeu¬ 
tung ist. Ich hatte deshalb seinerzeit zur 
Beseitigung der Lungenblähung im Anfall 
die Atropininjektion (mindestens 1 mg) 
empfohlen. Es ist klar, daß es in jeder 
Beziehung günstiger für den Kranken ist, 
wenn man dasselbe Ziel auf mechanischem 
Wege erreichen kann. — Eine Folge der 
Lungenblähung (Talma, Strübing) nach 
anderen jedoch eine Ursache derselben, 
ist der veränderte Atemtypus im Anfall. 
Der Asthmatiker atmet im Anfall mit ver¬ 
längertem und vertieftem Inspirium und 
verkürztem und forciertem Exspirium. 
Talma, Strübing, Saenger u. A. haben 
auf verschiedene Weise versucht, diesen 
Atemtypus durch die Willensenergie des 
Kranken umzuändern. Es ist dieses jeden¬ 
falls leichter zu erzielen, wenn wir dem 
Kranken den richtigen Atemtypus durch 
einen mechanisch einstellbaren Apparat 

*) Therapie der Gegenwart, September 1906. 


quasi aufoktroyieren können. — Zur Er¬ 
reichung dieser beiden therapeutischen 
Forderungen ist die Ein- und Ausatmung 
bei dem Apparat vollkommen voneinander 
getrennt, sowohl was die zeitliche Dauer, 
als was den Druck während der einzelnen 
Phasen anbelangt. Der Kranke kann unter 
einem beliebigen positiven Druck (bis zu 
40 cm Wasser höhe) einatmen, und unter 
einem, davon unabhängigen, beliebigen 
negativen Druck (ebenfalls bis zu 40 cm 
Wasserhöhe) ausatmen. Die Atmungsdauer 
ist gleichfalls in beiden Phasen unabhängig 
voneinander und beide Faktoren sind 
jederzeit leicht regulierbar. — Man läßt den 
Kranken beispielsweise zu Anfang unter 
einem niedrigen Ein- und Ausatmungsdruck 
etwa während 2 Sekunden ein- und 3 Se¬ 
kunden ausatmen, steigert dann allmählich 
den negativen Ausatmungsdruck bis auf 30, 
selbst bis auf 40 cm Wasserhöhe, und steigert 
gleichzeitig die Ausatmungsdauer auf 4, 6, 8, 
10, ja selbst 15 Sekunden. Die Erfahrung 
lehrt, daß die Kranken sich sehr schnell 
dem Apparat anzupassen lernen. Auch in 
der anfallsfreien Zeit ist der analoge Atem¬ 
typus anzuwenden. Nach einer Atmungs¬ 
dauer von 3—4 Minuten an dem Apparat 
läßt sich ein Zurückgehen der Lungen¬ 
grenzen beim Asthmatiker um 2—3 Quer¬ 
finger auf der Höhe des Exspiriums nach- 
weisen. Die Kranken fühlen sich ganz auf¬ 
fällig erleichtert. Eine gleichzeitig mög¬ 
liche Einatmung von ätherischen Oelen, 
wobei der herrschende positive Druck das 
Eindringen der Gase in die kleinsten Bron- 


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158 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


April 


chien begünstigt, ist ein Heilungsfaktor für 
die häufigen bronchitischen Komplikationen. 

Der Apparat ist folgendermaßen konstruiert: 
Komprimierte Luft oder Oj bilden das Betriebs¬ 
mittel; der Hochdruck in dem Zylinder wird 


Atlrtfu« 

SfdKut 

******* 



durch ein Ventil A auf 5 Atmosphären redu¬ 
ziert Unter diesem konstanten Druck strömt 
das Gas in eine Zweigleitung zu zwei Saug- 
bezw. Druckdüsen. Die Saug- und Druckwir¬ 
kung der einen Düse B dient dazu, die Lunge 
mit der nötigen Luft zu füllen und wieder zu 
entleeren. Die Saug- und Druckwirkung der an¬ 
deren Düse C dient dazu, die Ein- und Ausatmung 
genau nach der gewünschten Zeit zu regulieren 


und umzuschalten. Die Umschaltung geschieht 
mittels eines Lederbalgs D nach dem beim 
„Pulmotor* angewendeten Prinzip. 

Die Zeitregulierung wird bewirkt durch zwei 
Drosselungshähne E, welche die Luft in einer 
bestimmten Zeit in den Lederbalg hineinpressen 
bzw. heraustreten lassen. 
Die Regulierung des 
Ein- und Ausatmungs¬ 
drucks geschieht mittels 
mehr oder weniger zu 
belastender Ventilklap¬ 
pen F, die sich öffnen 
resp. schließen; der ge¬ 
wünschte Ueber- oder 
Unterdrück wird auf 
einem Manometer ange¬ 
zeigt. Die Ein- und Aus¬ 
atmungsluft wird in ge¬ 
trennten Schläuchen zur 
Maske geleitet resp. von 
derselben abgeführt. 
Schlechte Ausatmungs¬ 
luft kann auf diese 
Weise nicht zum zwei¬ 
ten Male in die Lungen 
gelangen. Auch diese 
Art der Zu- und Ableitung ist dem Prinzip des 
„Pulmotor“ entnommen. In die Luftzuleitung 
ist ein Verdunster G eingeschaltet, der mit 
Wasser zwecks Anfeuchtung oder mit einem 
flüchtigen Medikament beschickt werden kann. 
Auch kann der Medikamentenvemebelungs- 
apparat nach Spieß dem Einatmungsrohr ein¬ 
gefügt werden H. Der Apparat ersetzt voll¬ 
kommen eine pneumatische Kammer. 


Genuß und Genußmittel. 

Von Dr. Wilhelm Sternberg, Spezialarzt für Zucker- und Verdauungs-Kranke in Berlin. 


Die moderne Physiologie der Ernährung 
beurteilt den Wert der Nahrung lediglich 
nach zwei Werten, dem physikalischen 
Brennwert und chemischen Nährwert. 
Uebersehen wird dabei ein Wert. Das ist 
der Genuß wert. Daß man diesen Wert bis¬ 
her übergangen hat, ist in der Tatsache be¬ 
gründet, daß man die Aufgaben der Küche 
außer acht gelassen hatte. Wenn man da¬ 
her fortfährt, die Technik der Küche zu 
übersehen, dann bleibt nicht bloß die Be¬ 
wertung der Nahrungsmittel und Lebens¬ 
mittel, sondern auch das Urteil über die 
Genußmittel einseitig. Denn die praktische 
Ernährungstechnik in der Küche und die 
theoretischen Wissenschaften der Ernäh¬ 
rung im Laboratorium, die Verdauungs¬ 
und Stoffwechsellehre, nehmen in der Be¬ 
trachtung ihrer Objekte einen grundsätzlich 
abweichenden Standpunkt ein, worauf ich 1 ) 
bereits hingewiesen habe. 

Die Technik hat einzig und allein die 
Eigenschaften ins Auge zu fassen, wäh¬ 
rend die Theorie die Wirkungen aus- 

x ) „Stoffwechsel, Verdauung und Ernährung". 
Zbl. f. Physiologie u. Pathologie des Stoffwechsels 
1909, Nr. 16. — „Ernährungslehre und Ernährungs¬ 
technik". Ztsch. f. physik. u. diät. Ther. 1909. 


schließlich betrachtet. Und daß diese Ver¬ 
schiedenheit zu den abweichendsten Re¬ 
sultaten führen muß, das zeigt die Bewer¬ 
tung der Genußmittel in der Wissenschaft 
einerseits und in der alltäglichen Praxis 
des Lebens andererseits. Wenn aber ein 
Widerspruch zwischen Wissenschaft und 
Leben entsteht, so sagt Liebig, dann hat 
die Wissenschaft Recht und das Leben 
Unrecht. 

In dem neuesten Werk über Physiologie 
von Zuntz-Loewy 1 ) macht Zuntz fol¬ 
gende Angabe: „Von den Würzstoffen 
müssen wir eine zweite Gruppe von Ge¬ 
nußmitteln scheiden, welche nicht so sehr 
auf den Verdauungsapparat“ — also 
nicht so sehr auf den Magen und Darm — 
„vielmehr nach ihrer Resorption* — also 
noch jenseits des Darms — „auf das 
Nervensystem wirken. Bei den alkohol¬ 
haltigen Getränken, bei dem Wein, wie bei 
den alkaloidhaltigen Genußmitteln, Tee, 
Kaffee, Schokolade, ebenso beim Tabak 
sind es die letzteren Wirkungen* — 
also die Wirkungen jenseits der Verdauung 
und jenseits der Aufsaugung — „haupt- 

x ) Lehrbuch der Physiologie des Menschen 1909, 
S. 708. 


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April 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


159 


sächlich, wegen deren die betreffenden 
Mittel genommen werden. Wir erstreben 
eine Anregung unseres Zentralnerven¬ 
systems, Beseitigung des Ermüdungsgefühls 
und unbehaglicher Stimmung. 11 

Allein diese in der Wissenschaft heut¬ 
zutage allgemein herrschende Ansicht Ober 
den Zweck und Wert des Genusses erschöpft 
den Begriff des Genusses durchaus nicht. 
Der Genuß beschränkt sich nämlich keines¬ 
wegs bloß auf die Wirkung. 

Wäre es richtig, daß die Wirkung einzig 
und allein oder auch nur hauptsächlich den 
Genuß ausmachte, dann würde ja der Ge¬ 
nuß ebenfalls auch dann eintreten, wenn 
nicht durch die erste Mündung des Ver¬ 
dauungsschlauches uns die Genußmittel und 
Leibgerichte einverleibt würden, sondern 
mittels der Magenpumpe in den Magen 
oder durch Klystier in die dem Munde ent¬ 
gegengesetzte Mündung, in den After, wie 
dies Wiel 1 ) tatsächlich vorgeschlagen hat. 
Und doch bestimmen die kaufmännischen 
Sachkundigen den wirklichen Wert ihrer 
Genußmittel dadurch, daß sie eine Probe 
gerade in den Mund und nur in den Mund 
nehmen, die sie alsbald wieder ausspeien, 
vor jeglicher Einwirkung auf Magen, Darm 
oder gar Nervensystem. 

Wäre die Ansicht der modernen Ernäh¬ 
rungsphysiologie richtig, wie sie auch von 
Zuntz geteilt wird, dann würde die Wirkung 
der Genußmittel es sein müssen, welche 
ihren Preiswert bestimmt. Das ist aber 
tatsächlich keineswegs der Fall. Der Preis¬ 
wert der Weine, der Biere, der Liköre und 
so fort hängt durchaus nicht vom Alkohol¬ 
gehalt ab, der Preiswert des Kaffees und 
der Teequalitäten nicht vom Gehalt an 
Alkaloiden. 

Wäre die allgemeine Ansicht der theo¬ 
retischen Forschung richtig, dann würde 
auch der Geldwert aller gleichartigen Ge¬ 
nußmittel, z. B. aller Weine, aller Kaffee¬ 
sorten, aller Teequalitäten und so fort unter¬ 
einander stets der gleiche sein. Aber auch 
dies widerspricht allen Tatsachen des täg¬ 
lichen Lebens. 

Andererseits gibt es Genußmittel, welche 
gar keine Wirkung entfalten. Das Koch¬ 
salz übt so wenig Wirkung auf den ge¬ 
sunden Körper aus, daß wir seine Lösung 
die „physiologische Salzlösung" nennen und 
dem einfachen oder gar destillierten Wasser 
in gewissen Fällen vorziehen. Und doch 
ist der Genuß des Salzes ein unleugbarer, 
und das Bedürfnis nach diesem Genüsse seit 
jeher ein so allgemeines, daß es eine eigene 
Bezeichnung führt „Salzhunger". 

l ) „Tisch für Magenkranke“. Karlsbad 1880, S.65. 


In manchen Fällen von Diabetes kann 
der Genuß von mäßigen Mengen Rohr¬ 
zuckers ohne jede Wirkung bleiben, so 
daß der Zucker quantitativ wieder ausge¬ 
schieden wird. Dennoch hat der Zucker 
einen Genuß geboten, trotzdem er gar 
keine Wirkung gehabt hat. 

In manchen Darmkrankheiten kann der 
Genuß mancher verbotenen Genußmittel 
ohne Wirkung bleiben, so daß diese quan¬ 
titativ aus dem Darm entleert werden. Und 
dennoch hat das Genießen der Genußmittel 
einen Genuß bereitet. 

Ein tatsächlicher Genuß ist unverkenn¬ 
bar, auch wenn die Wirkung überhaupt 
gar nicht eintritt. Der Genuß der alkaloid- 
oder alkoholhaltigen Genußmittel tritt auch 
dann ein, wenn die Anregung oder die 
Beseitigung des Ermüdungsgefühls und der 
unbehaglichen Stimmung gar nicht von¬ 
nöten ist oder überhaupt nicht gewünscht 
wird, möglicherweise gar vermieden werden 
soll. 

Nicht nur die von den Genußmitteln 
bieten einen Genuß, deren Wirkung null 
und nichtig ist, sondern sogar die Ge¬ 
nußmittel, welche eine schädliche Wir¬ 
kung zeigen, deren Wirkung also einen 
negativen Wert bedeutet. Das ist es ja, 
weshalb man neuerdings als „Gifte" die Ge¬ 
nußmittel ansieht und von „Giftwirkung“ des 
Genusses spricht Aber der gegenteilige 
Fall tritt höchst bezeichnenderweise nicht 
ein. Es ist durchaus nicht etwa der Fall, 
daß die Mittel, welche eine nützliche Wir¬ 
kung zeigen, deren Wirkung also einen posi¬ 
tiven Wert nach einer gewissen Richtung 
hin bedeutet, nämlich die Heilmittel, einen 
Genuß auszuüben vermögen. Von all den 
zahlreichen Arzneimitteln der humanen und 
der veterinären Medizin aller Länder und 
aller Zeiten ist nicht ein einziges ein Ge¬ 
nußmittel. Vielmehr ist das diametral Ent¬ 
gegengesetzte der Fall. Beim Genießen 
der Arzneimittel tritt nicht wie beim Ge¬ 
nießen der Genußmittel ein Genuß ein, 
sondern das polare Gegenteil. Das ist der 
Ekel, der sich zum Genuß verhält wie po¬ 
sitiv zu negativ. Und dieses Unbehagen 
stellt sich sogar bei Tieren ein, so daß die 
Einnahme von Arzneimitteln in der Vete¬ 
rinärmedizin noch viel mehr Sorgfalt er¬ 
fordert, als in der Humanmedizin. Selbst 
wenn die Beschwerden und Schmerzen noch 
so quälende und lästige gewesen sein 
mögen, und die Medizin wirklich schon 
ihre Beseitigung sicher bewirkt hat, so ist 
damit doch noch kein Genuß eingetreten. 
Denn die Freiheit von Beschwerden und 
die Schmerzlosigkeit, also der Nullpunkt, 


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160 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


April 


ist bei weitem noch nicht ausreichend für 
den Genuß. Vielmehr verlangt der Genuß 
noch einen positiven Wert. Ja, der 
Unterschied geht noch viel weiter. Wenn 
eine Koffeindosis oder Alkoholgabe, Ni¬ 
kotindarreichung wirklich schon die „An- ! 
regung unseres Zentralnervensystems, Be¬ 
seitigung des Ermüdungsgefühls und un¬ 
behaglicher Stimmung" bewirkt hätte, so 
wäre diese arzneiliche Wirkung doch noch 
kein Genuß. Wäre dies tatsächlich der 
Fall, dann würde ja die moderne Wissen¬ 
schaft die technische Herstellung solcher 
Dosen von diesen wirksamen Prinzipien 
der Genußmittel erstreben. Dann würde 
also die gerade entgegengesetzte Richtung 
der heutigen Abstinenzbewegung einsetzen. 
Wenn dies aber tatsächlich trotzdem noch 
nicht eingetreten ist, dann ist dies nur in 
der unbewußten Einsicht begründet, daß 
der einzige Genuß doch nicht die von Zuntz 
angenommene Wirkung ist. Nicht einmal 
der Genuß des Morphiumsüchtigen liegt in 
der Beseitigung der Beschwerden und in der 
Anregung. Die Anregung allein ist jedenfalls 
nicht der Genuß im eigentlichen Sinne. 


Bei dem Genuß kommt es hauptsächlich 
oder zuerst gerade nicht auf die Wirkung 
der Genußmittel an, wie ich 1 ) bereits 
bewiesen hatte. Vielmehr sind es ihre 
Eigenschaften, also die örtlichen Reiz- 
! Wirkungen gerade in den ersten Wegen, 
auf die es beim Genuß ankommt. Kinder 
machen sich ein Vergnügen aus dem Ge¬ 
nuß von Bonbons, Näschereien, Schokolade. 
Einen Genuß haben sie so lange und nur 
so lange, so lange diese Genußmittel im 
Munde verweilen. Sofort hört der Genuß 
auf, mit dem Moment, mit dem das Genu߬ 
mittel den Mund verlassen hat. Wenn die 
Kinder, wie das öfter vorkommt, etwa aus 
Unachtsamkeit die Bonbons oder die Genu߬ 
mittel verschluckt haben, bevor sie sie mit 
dem Speichel aufgelöst und im Munde auf¬ 
gesaugt haben, so haben sie sofort den 
Genuß eingebüßt, trotzdem der Zucker 
seine Wirkung voll und ganz entfalten 
kann. 

Daraus ergibt sich, daß die Auffassung 
der modernen exakten Wissenschaft und 
der theoretischen Forschung über den Ge¬ 
nuß prinzipiell unrichtig ist. 


Ans der chirurgischen Abteilang des städtischen Angaste ViktoriarKr&nkenh&ases 

za Schöneberg-Berlin. 

Die chirurgische Behandlung der Tuberkulose. 


Von W. 

Den mischinfizierten geschlossenen 
tuberkulösen Abszeß behandele ich, so lange 
es irgend geht, genau in derselben Weise 
wie den gewöhnlichen; es gelingt mir im 
allgemeinen, wenn die Mischinfektion keine 
zu schwere ist, ihrer Herr zu werden, und 
ihn in einen gewöhnlichen kalten zu ver¬ 
wandeln. Gelingt dies nicht, oder sind die 
Erscheinungen des Abszesses von vorn¬ 
herein zu stürmische, ist er zu heiß, so 
lege ich eine kleine Inzision an, ein Drain¬ 
rohr ein und gehe, nachdem die akuten 
Erscheinungen abgelaufen sind, wie bei der 
Fistelbehandlung vor. 

Nun einiges zur Technik der Punk¬ 
tion und Injektion! Der kalte Abszeß 
darf nie, wie das noch vielfach geschieht, 
auf seiner Höhe punktiert werden. Ich 
gehe grundsätzlich von der Peripherie, vom 
gesunden Gewebe aus. Von hier aus 
steche ich schräg ein und vermeide so 
mit großer Sicherheit, daß der Stichkanal 
fistulös wird. Besonders wichtig ist dies, 
wenn der Abszeß der Perforation nahe 
ist, wenn seine Decke papierdünn und 
stark gerötet ist. Ich bringe solche 
Abszesse in der Regel ohne jede Narbe 
zur Ausheilung, was besonders an kos- 


Kausch. (Schluß). 

metisch in Betracht kommenden Stellen 
wichtig ist. 

Bei kleinen Abszessen, ferner bei solchen 
von großer Tiefe, wo ich Neben Verletzungen 
fürchte, nehme ich die oben bereits er¬ 
wähnte Spritze. Sonst benutze ich grund¬ 
sätzlich den Troikart und richte mich bei 
dessen Kaliber nach der Größe des Ab¬ 
szesses. Im allgemeinen enthält der kalte 
Abszeß, je größer er ist, um so mehr Ge- 
websfetzen und läßt sich infolgedessen 
schwerer vollständig entleeren. 

Sobald ich den Troikart nehme, mache 
ich zuvor mit einem kleinen Skalpell eine 
ganz kleine Inzision durch die Kutis, die 
soeben den Troikart ohne Spannung der 
Haut durchtreten läßt. Man erlebt zu leicht 
ohne diese Inzision, daß die Haut durch 
das auch nur kurze Zeit liegende Instru¬ 
ment in ihrer Ernährung gestört wird in¬ 
folge der starken Auseinanderdrängung; 
eine kleine Nekrose genügt aber, um zur 
Fistel und damit zur Sekundärinfektion zu 
führen. Die kleine Inzision wird durch 


l ) „Grundsätze für den Genuß der Genußmittel. “ 
Thcrap. d. Gegenwart, März 1909. — «Die Alkohol¬ 
frage im Lichte der modernen Forschung.“ 1909. 
Leipzig, Veit & Co. 


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April 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


161 


eine Drahtnaht verschlossen. Bei sehr 
großen Abszessen, namentlich zwerchsack¬ 
förmigen, punktiere ich auch gleichzeitig an 
zwei Stellen. 

Nehme ich die Spritze, so aspiriere ich 
den Abszeßinhalt, schraube alsdann die 
Spritze ab, fülle sie mit Jodoformglyzerin 
und spritze ebensoviel davon ein, wie die 
Eitermenge betrug. Verwende ich den 
Troikart, so lasse ich zunächst den Eiter 
spontan ablaufen, dann komprimiere ich 
den Abszeß, um ihn möglichst vollständig 
zu entleeren. Ich tue dies im bewußten 
Gegensatz zum Vorgehen bei heißen Ab¬ 
szessen, bei denen ich das Ausdrücken, 
wie es noch immer vielerorts geübt wird, 
vollständig verwerfe: es nützt nichts, 
schadet vielleicht und verursacht dem Pa. 
tienten ganz unnötige Schmerzen. Ver¬ 
stopft sich das Troikartrohr, so führe ich 
eine gerade Sonde durch oder ich stoße 
den Mandrin noch einmal vor; hilft auch 
dies nicht, so injiziere ich Kochsalz oder 
Sublimat. 

Der kalte Abszeß soll stark mit 
Jodoformglyzerin gefüllt werden, 
dieses soll unter Druck stehen, so 
daß es in die Wandung eingepreßt 
wird. Im allgemeinen genügt das soeben 
bereits erwähnte, dem abgelassenen Eiter 
gleiche Quantum. Grundsätzlich injiziere 
ich nicht mehr als 100 ccm, von dieser 
Menge habe ich nie Schaden gesehen. 
Der kalte Abszeß besitzt eine derbe, aus 
starken Bindegewebsschichten bestehende 
Wandung, die außerordentlich langsam re¬ 
sorbiert und so fest ist, daß sie erst bei 
sehr hohem Drucke birst. Es ist etwas 
völlig anderes, ob ich dasselbe Quantum 
Jodoformglyzerin in einen kalten Abszeß 
injiziere, oder in eine Gelenkhöhle, einen 
Fungus und anderes Gewebe. 

Ist die Abszeßhöhle so groß, daß ich 
zur Füllung unter Druck mehr als 100 ccm 
benötige, so gehe ich anders vor. Ich 
lege jetzt weit größeres Gewicht auf die 
völlige Entleerung des Abszesses von allen 
Bröckeln und Gewebsfetzen; ich spüle den 
Abszeß mit Sublimatlösung 1/1000 so oft 
durch, und zwar auch mit Druck, bis die 
Flüssigkeit ziemlich sauber und frei von 
Brocken zurückfließt. Das Sublimat ent¬ 
ferne ich durch Kochsalz. In den voll¬ 
ständig von Kochsalz entleerten Abszeß 
spritze ich nunmehr 100 ccm Jodoform¬ 
glyzerin, verschließe ihn mit Drahtnaht 
und lege einen stark komprimierenden 
Verband an, damit auch jetzt das Jodoform¬ 
glyzerin unter Druck steht. Ich wiederhole 
dies Manöver öfter, als wie ich sonst die 


kalten Abszesse punktiere, etwa alle acht 
Tage, und es gelingt mir auf diese Weise 
in der Regel schnell, große Abszesse zur 
Verkleinerung zu bringen. Ist dies er¬ 
reicht, so gehe ich wie gewöhnlich vor. 

Nicht prall gefüllt werden darf ferner 
ein Abszeß mit dünner Decke; die Per¬ 
foration wäre sonst die sichere Folge. In 
solchen Fällen wird sorgfältig alles ent¬ 
leert, nur ganz wenig Jodoformglyzerin 
injiziert und erst parallel mit der zu¬ 
nehmenden Dicke der Wandung Druck an¬ 
gewandt. 

Die Punktion des gewöhnlichen kalten 
Abszesses wird wiederholt,- sobald sich 
wieder eine stärkere Füllung bemerkbar 
macht, im allgemeinen in zwei bis vier 
Wochen. 

Die Reaktion des Organismus ist die¬ 
selbe wie bei der Injektion von Jodoform¬ 
glyzerin in ein Gelenk. Die Anästhesierung 
geschieht mit Schleichscher Lösung oder 
Aetherrausch. 

Nun noch einiges über Abszesse an be¬ 
sonderen Körperstellen. 

Bei Abszessen, die oberhalbdesPou part¬ 
seben Bandes liegen, und die nicht so groß 
»ind, daß ich sicher bin das Peritoneum zu 
vermeiden, lege ich eine größere Inzision an, 
schiebe das Bauchfell zurück und steche erst 
jetzt ein. Selbstverständlich wird die Wunde 
durch Naht verschlossen. 

Re t ro pharyngeal ab szesse punktiere ich 
von der Mundhöhle aus und injiziere nur wenig 
Jodoformglyzerin. Liegt der Abszeß mehr 
seitlich, so daß ich ihn von der Seitenwand des 
Halses leicht erreichen kann, so ziehe ich dies vor. 

Ich will mich über die Wirkungsweise 
des Jodoformglyzerins nicht eingehender 
auslasse n, um so weniger, als ich hierüber 
nichts neues bringen könnte. Das wirk¬ 
same Prinzip ist offenbar die bereits er¬ 
wähnte intensive Reaktion, die der Injek¬ 
tion folgt. Der kalte Abszeß ist indolent, 
sein Inhalt besteht hauptsächlich aus De¬ 
tritus, seine Wand ist eine derbe, geföß- 
arme, wenig durchlässige Membran. Analog 
verhalten sich die tuberkulösen Fisteln; 
schlaffe, blasse Granulationen kleiden ihre 
Wand und Mündung aus. Die Reaktion 
führt zu lebhafter Hyperämie und zum 
Einwandern von Leukozyten. Heile ver¬ 
danken wir es in erster Linie, wenn wir 
heute einen klareren Einblick in die Wir¬ 
kungsweise des Jodoformglyzerins haben: 
es werden dadurch Leukozyten in den 
Abszeß gezogen, die dessen Bestandteile 
verdauen und so resorptionsfähig machen; 
dem kalten Abszesse fehlen diese Stoffe, 
während der heiße deren zuviel besitzt. 

Daß die Reaktion energischer wird, wenn 
das Jodoformglyzerin mit Gewalt in die 

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162 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


April 


Wand des Abszesses und der Fisteln ge¬ 
preßt wird, ist erklärlich. Wir haben 
jedenfalls regelmäßig gefunden, daß die 
Resultate weit ungünstiger waren, wenn 
wir nicht typisch in der Weise, wie ich 
das soeben für den Abszeß ausführte und 
für die Fisteln sogleich beschreiben werde 
vorgingen: wenn zu wenig Jodoform¬ 
glyzerin genommen, wenn der Abszeß 
nicht völlig oder gar nicht entleert, wenn 
die Wandung nicht unter Druck gesetzt 
wurde. Und darauf führen wir auch die 
Differenzen in den Resultaten zwischen uns 
und anderen, die weniger konsequent ver¬ 
fuhren, zurück. 

Von den zahlreichen Ersatzmitteln, 
die sowohl für das Jodoform wie für das 
Glyzerin angegeben worden sind, kann ich 
mich für keines begeistern. Ich gebe aber 
zu, daß ich wenig Erfahrung darin habe, 
ich urteile mehr nach den Mitteilungen 
anderer. Ich sehe jedenfalls im Augen¬ 
blick keine Ursache, vorausgesetzt, daß 
man vorsichtig ist, vom Jodoform sowohl 
wie vom Glyzerin abzugehen. Ich habe 
schwere Intoxikationen oder gar Todes 
fälle bei meinem Vorgehen nie gesehen. 
Besteht Albuminurie, die ja nicht immer 
gleich auf Amyloid der Niere zu beruhen 
braucht, so ersetze ich das Glyzerin durch 
Gummiarabikum oder Olivenöl. Bekannt¬ 
lich reizt Glyzerin die Niere und ruft selbst 
bei Gesunden, in zu großen Mengen an¬ 
gewandt, Methämoglobinurie hervor. Vor 
dem Ersatz des Glyzerins durch Aether 
kann ich nur warnen. Liegt Idiosynkrasie 
gegen Jodoform vor, so versuche man es 
mit Isoform oder mit der von Franz 
König warm empfohlenen Karbolsäure; 
auch Formol oder Knochenkohle, Jod¬ 
tinktur oder Jod-Jodkaliumlösung sind ver¬ 
wandt worden. Ueber Wismut bei tuber¬ 
kulösen Fisteln vergl. Seite 165. 

An Stelle des Jodoforms sind dann 
auch ganz andersartige Stoffe in die tuber¬ 
kulösen Abszesse injiziert worden: Leuko¬ 
zytenferment, Trypsin (Jochmann) letz¬ 
teres in 1 %iger Lösung. Die Wirkung 
dieser Stoffe beruht auf demselben Prinzip 
wie beim Jodoform, auf der Verdauung und 
Resorption des Abszeßinhaltes. 

Außerordentlich wichtig ist die Be¬ 
handlung der tuberkulösen Fisteln. 
Gerade bei ihnen erziele ich durch die 
Behandlung, wie sie auf der Mikulicz sehen 
Klinik üblich war, ganz vorzügliche Erfolge, 
und gerade diese Behandlung wird nach 
meiner Erfahrung fast nirgends, wo sie in 
dieser Weise versucht wird, richtig durch¬ 
geführt. 


Die meisten Chirurgen betrachten heute 
die Fistelfälle als die ungünstigen, als zur 
konservativen Therapie ungeeignet, und 
gehen sogleich oder doch nach sehr kurzen 
konservativen Versuchen radikal vor. 
Bier behandelt sie mit dem Schröpfkopf; 
anfangs wird er täglich 3 bis 4 Stunden 
lang angewandt, immer abwechselnd 5 Mi¬ 
nuten gesaugt und 3 Minuten pausiert; 
allmählich, wenn die Granulationen gut, 
rot und hart, wird seltener gesaugt. Die 
Saugmethode hat uns auf der Mikulicz- 
schen Klinik, wo wir sie öfters versuchten, 
keine zufriedenstellenden Resultate gegeben, 
jedenfalls der Mikuliczschen Injektions¬ 
methode nachstehende. Auf diese Methode, 
die Henle seinerzeit beschrieben hat, lege 
ich das größte Gewicht und bespreche sie 
deshalb eingehend, so wie ich sie ausführe. 

In die tuberkulösen Fisteln wird unter 
starkem Druck Jodoformglyzerin injiziert. 
Auf diesen Druck kommt es an, in die 
Fistelwandung und in den Herd, zu dem 
die Fistel führt, soll das Jodoformglyzerin 
hineingepreßt werden; ich besprach dies 
bereits Seite 161. 

Ein intensiver Druck kann nicht herbei¬ 
geführt werden, wenn nicht die aufgesetzte 
Spritze ganz fest die Fistelöffnung ver¬ 
schließt. Das Einführen eines Schlauches 
in die Oeffnung zur Verbindung mit der 
Spritze ist völlig unzureichend. 

Die Fisteln haben nun sehr verschieden 
gestaltete äußere Mündungen; bald sind sie 
eng, bald weit. Der Rand ist meist hart, 
zuweilen aber auch weich und dehnbar; 
nicht selten ist die Haut am Rande unter¬ 
miniert. Da nun das Bestreben ist, die 
Fistel nicht nur bakterienfrei zu machen, 
sondern auch sie möglichst bald zum Schluß 
zu bringen, folgt hieraus schon, daß eine 
Erweiterung der Fistelmündung aut jeden 
Fall unerwünscht ist. Bringt man eine ge¬ 
wöhnliche Spritze an die Fistelöffnung, so 
daß ihre Spitze diese sicher verschließt, 
so gelingt das nur durch Einführung der 
konischen Spitze in den Anfangsteil der 
Fistel. Hierdurch wird aber unfehlbar 
dieser Teil erweitert. 

Mikulicz hat, um dies zu vermeiden, 
seine sogenannten Oliven aus Glas kon¬ 
struiert, olivenähnliche Glasansätze, die 
exakt auf die Mündung der Spritze passen. 
Die Oliven dringen nicht in die Fistel ein, 
sondern werden fest auf ihre äußere Um¬ 
randung aufgesetzt. Für enge Fisteln ge¬ 
nügen die gewöhnlichen kleinen Oliven 
(Fig. 3) 1 ); eine schmälere, dafür längere 
Olive (Fig. 4) wird sonst bei der Wund- 

*) Die Figuren 3—7 stellen die halbe Größe dar. 


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April 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


163 


behandlung verwandt. Je breiter die 
Fistelöffnung ist, um so größer muß die 
Olive sein. Die größeren Mikulicz sehen 
Oliven waren hohle Glaskugeln, die im 
Innern denselben Kanal für die Spritzen¬ 
spitze und das Injektionsmittel hatten, wie 
die kleinen Oliven. Sie zerbrachen häufig, 
weniger gelegentlich der Injektion als so 
im Gebrauche. Ich habe daher Oliven aus 
Hartgummi konstruiert, die genau den¬ 
selben Dienst erweisen (Fig. 5, 6)*). Ich 
besitze sie in mehreren Formen; sie sind 
völlig unzerstörbar, werden natürlich aus¬ 
gekocht. Sie haben freilich den Nachteil 
der Undurchsichtigkeit. Die untere Oeff- 
nung der Olive läßt sich daher nicht so 
leicht auf die Fistelöffnung aufsetzen, sie 
verschiebt sich eher; auch sieht man 
nicht, wie das Jodoformglyzerin durch den 
Fig. 3. Fig. 5. 



Hohlraum der Olive in die Fistel fließt. 
Man erkennt ja aber das richtige Funk¬ 
tionieren der Injektion leicht daran, daß 
die Spritze leer wird und kein Jodoform¬ 
glyzerin vorbeifließt. 

Als Spritze verwende ich meine ge¬ 
wöhnliche Wundspritze aus Hartgummi und 
Glas (Fig. 7). Man kann natürlich auch 
die an sich idealere Spritze aus Glas und 
Metall nehmen, die den großen Vorzug 
der Auskochbarkeit hat; nach meiner Er¬ 
fahrung eignet sich diese aber weniger. 
Es gelingt heute noch durchaus nicht, die 
stets gute Funktion der auskochbaren 
Spritzen zu garantieren, außer bei den 
Rekordspritzen; solche von dieser Größe, 
die 20 ccm fassen, sind aber recht schwer 
und unhandlich. Ferner lassen sich Oliven 
aus Glas nur sehr schwer wasserdicht auf 
eine metallene Spritze aufsetzen, sie 
springen leicht. Die Spritze zur Jodo r orm- 
glyzerininjekdon unter Druck muß sehr 
dicht halten, was ja selbstverständlich ist; 
sie muß auch leicht gehen, sonst hat man 
den Druck nicht in der Hand, unter dem 
man injiziert. Der Nachteil, daß meine 

*) Fig. 5 zeigt das weitere Kanalende, auf welches 
die Spritze gesetzt wird, Fig. 6 das engere Ende, 
welches auf die Fistelöffnung kommt. 


Hartgummispritze nicht auskochbar ist, 
wird erstens dadurch ausgeglichen, daß 
grundsätzlich mit der Spritze niemals aspi¬ 
riert wird, ihr inneres wird infolgedessen 
nie infiziert Zweitens wird niemals das 
Ende der Spritze auf eine Wunde oder 
Fistel gesetzt, stets wird die Olive ver¬ 
wandt. Man muß nur darauf achten, daß 
niemals ein Rückfluß in die Spritze da¬ 
durch erfolgt, daß am Ende der Injektion 
der Druck am Stempel nachläßt. 

Die mit Jodoformglyzerin gefüllte Spritze 
mit aufgesetzter Olive (Fig. 7) wird, nach¬ 
dem sorgfältig die Luft entfernt, auf die 
Fistelöffnung gesetzt, und nun wird mit 
Druck eingespritzt. Den Druck, den man 
an wenden darf, muß man gewissermaßen in 
der Hand haben. Er soll erheblich sein, 
aber auch nicht so stark, daß er die Fistel¬ 
wandung sprengt; er darf nicht zu schwach 
sein, sonst hilft die Injektion nichts. Ich 
kann mich nur eines Falles besinnen, in 
dem ich glaube die Fistelwandung ge¬ 
sprengt zu haben; es floß, nachdem zu¬ 
nächst ein erheblicher Widerstand nach 
Injektion eines gewissen Quantums erreicht 
war, plötzlich verhältnismäßig viel Jodo¬ 
formglyzerin ohne Widerstand ein; ich 
hörte natürlich sofort mit der weiteren In¬ 
jektion auf. Es erfolgte eine sehr starke 
Reaktion, viel erheblicher wie sonst; einen 
weiteren Schaden sah ich aber nicht davon. 

Am Ende der Injektion wird mit großer 
Schnelligkeit die Spritze samt der Olive 
entfernt und gleichzeitig ein kleiner Tupfer, 
den man mit der linken Hand bereit ge¬ 
halten hat, auf die Fistelöffnung gesetzt. 
Geht man dabei geschickt vor, so entleert 
sich überhaupt kein Jodoformglyzerin aus 
der Fistel. Die Fistelöffnung wird nun 
wenigstens 5 Minuten lang fest zugehalten, 
und zwar von dem Arzte selbst, der die 
Injektion ausführte; noch besser ist es, 
10 Minuten zu warten. 

Hiergegen wird meist verstoßen. Die meisten 
überlassen das Zuhalten ganz jungen Aerzten 
oder dem Pflegepersonal; wenn sie selbst zu¬ 
halten, wird dabei nicht nach der Uhr gesehen, 
sie werden bald ungeduldig und lassen zu 
früh los. 

Läßt man j etzt die Fistelöffnung frei, so 
soll sich fast reines Glyzerin entleeren; 
das spezifisch schwerere Jodoform hat sich 
auf der Wand der Fistel niedergeschlagen, 
soweit es nicht in die Wandung selbst hin¬ 
eingepreßt worden ist. Sieht man, daß 
irgend erhebliche Mengen von Jodoform 
mit herausfließen, so war die Injektion 
nicht richtig ausgeführt und man muß das 
nächste Mal länger zuhalten. 

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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


April 


Bestehen mehrere Fisteln in derselben 
Gegend, so geht man folgendermaßen vor: 
Es wird in eine Fistel in obiger Weise in¬ 
jiziert, und zwar nimmt man hierzu an 
jedem Injektionstage eine andere; nun 
werden sämtliche Fisteln genau beobachtet. 
Kann dies nicht einer allein tun, so müssen 
andere dabei helfen. Sobald aus einer der 
anderen Fisteln Jodoformglyzerin heraus¬ 
fließt, hält der Injizierende diese Fistel zu. 
Man kann so bei einiger Geschicklichkeit 
und bei günstiger Lage der Fisteln mit 
seiner linken Hand fünf Fisteln fest ver¬ 
schließen; liegen mehr Fisteln vor, so muß 
ein Assistent helfen. Entleert sich aus 
einer der Fisteln kein Jodoformglyzerin 
während des Einspritzens, so muß diese 
Fistel gesondert behandelt werden. 

Die Injektionen werden wöchentlich 1- 
bis 2mal ausgeführt. Ich richte mich da¬ 
bei nach der Schwere der Reaktion: je 
schwerer diese ist, um so seltener nehme 
ich die Einspritzung vor. Sie ist etwas 
schmerzhaft, aber nicht sehr, eine Anästhe¬ 
sierung wende ich kaum je dazu an. 

Das Sondieren der tuberkulösen Fisteln 
wird nach Möglichkeit vermieden. Vor 
der ersten Injektion ist die Sondierung 
nicht zu umgehen; es wäre sogar ein Fehler, 
sie zu unterlassen. Die Spritze muß näm¬ 
lich während des Injizierens in der Rieh 
tung der Fistel, d. h. ihres Anfangsteiles, 
gehalten werden. Verläuft, um einen ex 
tremen Fall anzuführen, die Fistel schräg 
unter der Haut allmählich in die Tiefe und 
injiziere ich unter Druck in zur Haut senk¬ 
rechter Richtung oder gar die Spritze 
schräg aufsetzend, so daß der Winkel zwi¬ 
schen ihr und der Fistel noch spitzer wird, 
so wird die Fistel zugepreßt und niemals 
mit Jodoformglyzerin gefüllt werden. Kenne 
ich einmal den Verlauf der Fistel, so ist 
natürlich jede Sondierung zwecklos und 
sogar schädlich. Deshalb lege ich auch 
Gewicht darauf, daß die Person des Inji¬ 
zierenden möglichst selten wechselt und bei 
einem Wechsel eine regelrechte Uebergabe 
des Patienten stattfindet. Drainage wende 
ich bei der Fistel nur an, wenn schwerere 
Mischinfektion mit erheblicher Temperatur¬ 
erhöhung besteht; sonst wird einfach 
Jodoformgaze aufgelegt, wenn die Granu¬ 
lationen außen zu üppig sind, auch Argen¬ 
tumsalbe und der Stift benutzt. 

Unter dieser Art der Fistelbehandlung 
sehe ich im allgemeinen tuberkulöse Fisteln 
ganz außerordentlich günstig beeinflußt 
werden und heilen. Ich habe die feste 
Ueberzeugung, daß die Resultate aller 
derer, die nicht günstig sind, auf der fehler¬ 


haften Technik beruhen. Ich sage dies 
nach dem, was ich gesehen habe. Die 
Fistelbehandlung richtig durchzuführen, ist 
weit schwieriger, als die der kalten Ab¬ 
szesse. Ich habe noch keinen Chirurgen 
gesehen, weder jüngeren noch älteren, der 
nach einfacher Beschreibung die Injektions¬ 
therapie richtig ausführt; kaum je sah ich 
es auch, wenn ich die Injektion vormachte. 
Ich verlasse mich daher auf die Richtigkeit 
der Durchführung dieser Methode erst 
dann, wenn ich mich durch Augenschein 
davon überzeugt habe, daß der Betreffende 
alles richtig macht. Ich möchte nur folgende 
zwei Fälle aus meiner Breslauer Zeit kurz an¬ 
führen, die ich in lebhafter Erinnerung habe. 

Frau von ea. 50 Jahren, jahrelang krank, 
ausgedehnte Fistelbildung um das linke Schulter- 
gelenk. Fs blieb zweifelhaft, auch nach dem 
Röntgenbilde, ob eine Tbc. oder O>teomyelitis 
vorlag, wenn auch ersteres nach der Anamnese 
und dem klinischen Befunde wahrscheinlicher 
war. Die Patientin lag auf meiner Station; ich 
war damals Oberarzt der Klinik und überließ 
auf meiner Station die einfacheren Dinge 
jüngeren Aerzten. Ich ordnete die Behand¬ 
lung mit Bierscher Stauung und Jodoform- 
glvzerininjektionen in die Fisteln an. Obwold 
dies 4 Wochen lang durchgeführt wurde, zeigte 
sich keinerlei Besserung, so daß ich mehr zur 
Diagnose Osteomyelitis neigte und bereits ein 
radikales Vorgehen erwog. Da sah ich eines 
Tages zu, wie die jüngeren Aerzte, denen ich 
öfters, unter anderem auch an diesem Falle, 
die 1 echnik. deren Kenntnis ich überdies aut 
unserer Klinik voraussetzen mußte, gezeigt 
hatte, die Injektion von Jodoformglyzerin Vor¬ 
nahmen: sie injizierten ohne Druck, spärlich, 
hielten die Fisteln nicht ordentlich und nicht 
lange genug zu. Ich nahm daher von jetzt an 
die Einspritzungen selbst vor; prompt zeigte 
sich Besserung, sämtliche Fisteln heilten im 
Verlaufe von etwa 6 Wochen. Patientin behielt 
eine leidliche Beweglichkeit der Schulter. 

Kaufmann von ca. 60'Jahren. Seit mehreren 
Jahren Erkrankung des linken Ellenbogen- und 
Handgelenks Im Laufe der Zeit haben >ich 
zahlreiche Fisteln gebildet, auch im Bereiche 
des Unterarms, im ganzen etwa 10. weithin 
Unterminierungen der Haut. Der Ellenbogen 
ist spindelförmig aufgetrieben. gleichfalls das 
Handgelenk Patient ist viel behandelt worden, 
zuletzt wurde ihm überall, wo er hin kam, zur 
Amputation geraten, auch in der chirurgischen 
Universitäts-Poliklinik. Als ich den Fall zu (ie- 
sicht bekam, sah er ganz verzweifelt aus. und 
auch ich glaubte kaum, daß ich in diesem Falle 
durch konservative Behandlung etwas erreichen 
würde. Ich versuchte sie aber doch, mn so 
mehr, als der Patient bat, ihm doch den Arm, 
wenn es irgend möglich wäre, zu erhalten. Ich 
behandelte ihn mit Bier.scher Stauung und In¬ 
jektion von Jodofonnglyzerin in die Fisteln: 
Patient erhielt zunächst eine Pappschiene, die 
Ellenbogen und Handgelenk fixierte, späterhin 
wurde nur noch das Handgelenk fixiert Im 
Laufe von etwa 2 Monaten schlossen sich sämt¬ 
liche Fisteln und Patient behitlt einen ge¬ 
brauchsfähigen Arm; Ellenbogen und Handge¬ 
lenk blieben ziemlich gut beweglich. 


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April 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


165 


Ich lege auf diese beiden Fälle ganz beson¬ 
ders großes Gewicht. Auch recht konserva¬ 
tive Chirurgen, wären in ihnen wahrscheinlich 
radikal vorgegangen. 

Zu den unangenehmsten tuberkulösen 
Fisteln gehören solche mit weiter Unter¬ 
minierung der Haut. Zuweilen gelingt 
es mir, auch solche Stellen mit Jodoform¬ 
glyzerin unter Druck zu füllen, zumal 
mittels der großen Oliven (vergl. S. 163), 
sonst lasse ich das Jodoformglyzerin ein¬ 
fach einfließen oder ich reibe die Hohl¬ 
räume mit Jodoformbrei aus (Jodoform¬ 
gazestückchen, die ich in ein noch wesent¬ 
lich dickeres Gemenge von Jodoform und 
Glyzerin einlege). Gelegentlich kratze ich 
solche Unterminierungen vorsichtig aus, 
fast nie spalte ich sie. Im Gegenteil, ich 
suche die unterminierten Stellen zum An¬ 
heilen auf die Unterlage zu bringen, indem 
ich sie nach der jedesmaligen Jodoform¬ 
behandlung anpresse. 

E. G. Beck (Chicago) hat kürzlich eine 
andere Behandlung von Fisteln, auch tuber¬ 
kulösen, empfohlen. Er füllte sie mit 
Wismutpaste, um ihren Verlauf auf dem 
Röntgenbilde festzustellen. Dabei erlebte 
er überraschende Heilungen von Fisteln, 
die vorher jeder Therapie getrotzt hatten. 
Die Wismutpaste (Bismut. subnitric., das 
doppelte Vaselin) wird unter mäßigem 
Druck in die Fisteln injiziert und dies jeden 
zweiten Tag wiederholt. Der günstige Er¬ 
folg der Injektion ist von anderer Seite 
bestätigt worden, doch sind auch viele 
schwere Vergiftungen durch Wismut beob¬ 
achtet, sogar Todesfälle (bisher V 2 Dutzend). 
Ich würde Wismut nur wählen, wenn Jodo¬ 
form und auch Isoform nicht vertragen 
wird, oder wenn ich unter meiner Behand¬ 
lung mit der Fistel nicht fertig werde. 

Dann ist auch empfohlen • worden, in 
die Umgebung der Fisteln Substanzen zu 
injizieren, so von König Jodoformglyzerin, 
von Klapp Alkohol; Klapp injiziert ihn 
auch in tuberkulöse Herde. Er soll eine 
Bindegewebsablagerung herbeiführen und 
den Herd dadurch abkapseln. Ich habe 
keine Erfahrung über diese Prozeduren. 
Die Alkohol Injektion soll jedenfalls sehr 
schmerzhaft sein und muß häufig, anfangs 
täglich, wiederholt werden. 

Die Auskratzung stellt den Ueber- 
gang von den konservativen operativen 
Eingriffen zu den radikalen dar, indem 
durch eine ausgiebige Auskratzung ja der 
ganze tuberkulöse Herd aus dem Körper 
entfernt werden kann. Das Auskratzen ist 
gegen früher entschieden im Rückgänge 
begriffen, wie mir scheint, mit Recht Vom 


Injizieren und Auskratzen der kalten Ab¬ 
szesse halte ich gar nichts, gleichgültig, ob 
man sie darnach verschließt, mit Jodoform¬ 
glyzerin füllt oder offen läßt. Tuberkulöse 
Fisteln kratze ich im allgemeinen nicht aus. 
Ich tue es gelegentlich, namentlich bei 
weithin unterminierten, wenn ich mit der 
gewöhnlichen Behandlung nicht weiter 
komme, und wenn die schlaffen Granula¬ 
tionen geradezu dazu auffordern. Liegt 
der Knochenherd nahe der Fistelmündung, 
so daß man ihn bequem von hier aus er¬ 
reicht, so mag man es versuchen; ich halte 
es auch dann für berechtigt, wenn sehr 
verdünnte Haut über fungösen Massen liegt. 

Das Auskratzen tuberkulöser Gelenke, 
auch wenn Fisteln vorhanden sind, lasse 
man aber im allgemeinen; bei kleinen Ge¬ 
lenken, namentlich an den Zehen, erzielt 
man manchmal etwas damit, bei den großen 
kaum je. Bei der Tbc. gehe man in der 
Regel ganz konservativ oder ganz radikal 
vor, radikal aber nur dann, wenn man auch 
wirklich den ganzen tuberkulösen Herd 
entfernen will und kann; das allerschlimmste 
ist das Anoperieren der Tbc. 

Es gibt aber auch Fälle, in denen man 
schließlich gezwungen ist, operativ vorzu¬ 
gehen, den ganzen Herd aber doch nicht 
entfernen kann, man müßte denn zur Ab¬ 
latio schreiten. Ich habe jedenfalls von 
sehr ausgiebigen Operationen, Kombination 
von Auskratzung mit Abmeißelung usw., 
ganz breiter Eröffnung der Herde, ohne 
daß die Operation aber eine radikale ge¬ 
wesen wäre, in ganz verzweifelten Fällen 
Erfolge gesehen. Ich fülle in solchen 
Fällen das ganze mit Jodoformglyzerin und 
vernähe bis auf kleine Oeffnungen. 

So habe ich zurzeit ein Kind in Be¬ 
handlung mit schwerer Tbc. des Ellen¬ 
bogengelenks und des ganzen Unterarmes. 
Die Fisteln, die bestanden, wurden lange 
mit Einspritzungen behandelt, aber ohne 
Erfolg. Dann wurde einmal ein größerer 
Sequester entfernt, es blieb eine Pseu- 
darthrose des Radius. Schließlich eröffnete 
ich die Herde breit, legte das Ellenbogen¬ 
gelenk und die beiden Vorderarmknochen 
frei, verfolgte die Gänge; von einer radi¬ 
kalen Operation konnte keine Rede sein, 
da hätte ich amputieren müssen. Es ist 
mir in diesem Falle gelungen, sämtliche 
Wunden zum Schluß zu bringen. Das 
Ellenbogengelenk ist ziemlich gut beweg¬ 
lich, nur die Streckmuskulatur am Unter¬ 
arm funktioniert nicht recht, weil die Mus¬ 
keln sehr gelitten haben, nicht etwa der 
N. radialis. Ich glaube, daß in diesem 
Falle wohl jeder andere amputiert hätte. 


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166 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Apiil 


Die radikale und frühzeitige Entfernung 
von Knochenherden ist heute, wo wir 
über das Röntgenverfahren verfügen, ganz 
ungeheuer gegen früher erleichtert. Wir 
vermögen mit großer Sicherheit auch kleine 
Knochenherde zu erkennen, wenn das 
Bild auch manchmal täuscht. Und bei be¬ 
stehendem Herde bereitet die Differential¬ 
diagnose zuweilen dann noch Schwierig¬ 
keit, ob es sich um Tbc., Lues oder viel¬ 
leicht einen Tumor handelt. 

Herde, die in der Nähe von Gelenken 
lidgen und es bedrohen, ohne daß das Ge¬ 
lenk bisher ergriffen wurde, halte ich für 
das günstigste Objekt für die radikale Ent¬ 
fernung. Der Herd soll womöglich ent¬ 
fernt und zur Heilung gebracht werden, 
ehe er in das Gelenk durchbricht. Wo 
kein Gelenk in Gefahr, versuche ich auch 
bei Knochenherden öfters zunächst die 
konservative Behandlung: ich staue, injiziere 
Jodoformglyzerin in den Herd selbst, stelle 
die Extremität ruhig. 

Auf keinen Fall gibt 'mir ein auf dem 
Röntgenbild erkennbarer Sequester an sich 
die Ursache zum radikalen Vorgehen, oder 
wenigstens zu seiner Entfernung, gleich¬ 
gültig, ob ein Gelenk erkrankt ist oder 
nicht. Tuberkulöse Sequester können sehr 
wohl einheilen, ich glaube sogar, daß misch¬ 
infizierte dies vermögen. 

Die operative Behandlung der Knochen¬ 
herde, wie sie heute meist geübt wird, be¬ 
steht in der radikalen Entfernung des Her¬ 
des mit folgender Plombierung des Kno¬ 
chens. Es gibt zahlreiche Plombenmassen; 
die ursprüngliche, von Mosetig-Moorhof 
stammend, ist mir noch immer die liebste. 
Doch muß ich sagen, daß die Plomben oft 
im Laufe der Zeit wieder herauskommen, 
und die Höhlen, die nach Entfernung tuber¬ 
kulöser Knochenherde Zurückbleiben, heilen 
in der Regel und im Gegensätze zu denen 
bei Osteomyelitis auch ohne Plombierung 
aus. 

Im übrigen lassen sich auch heute noch 
keineswegs alle Knochenherde eliminieren, 
andere wenigstens nicht leicht. In den 
Wirbelkörpern sitzende zu entfernen, würde 
auch an Stellen, wo es technisch möglich 
ist, z. B. von der Bauchhöhle aus, einen 
derart ungeheuren Eingriff darstellen, daß 
ich nur dringend vom Versuche abraten 
kann. Auch greife ich nicht Herde an bei 
intaktem oder verhältnismäßig intaktem 
Gelenk, wenn der Herd schwer erreichbar 
ist, wie z. B. am Hüftgelenke 

Eine andere Kontraindikation geben 
kosmetische Gründe. Im Gesicht, z. B. auf 
der Stirn, am Orbitalrande, habe ich tuber¬ 


kulöse Abszesse und Knochenherde unter 
konservativer Behandlung ausheilen sehen, 
wo die meisten operiert und den Patienten 
durch Narben verunstaltet hätten. Wo hin¬ 
gegen die Herde leicht erreichbar sind, wo 
kalte Abszesse direkt über ihnen liegen, 
wie am Schädeldache, an der Rippe, da 
schreite man meinetwegen zur radikalen 
Entfernung des Herdes; ich würde es auch 
in diesem Falle nur tun, nachdem ich das 
konservative Vorgehen versuchte und nichts 
erreichte. 

Die Exstirpation kalter Abszesse 
ist schon seit langer Zeit ausgefuhrt wor¬ 
den, in neuerer Zeit redet ihr Tietze das 
Wort. Ich halte sie, wie ich soeben be¬ 
merkte, für zulässig in den Fällen, in denen 
gleichzeitig mit dem kalten Abszesse der 
Knochenherd entfernt werden kann. Den 
Abszeß total, d. h. im Gesunden zu exstir- 
pieren und den tuberkulösen Knochenherd, 
der seine Ursache ist, nicht zu entfernen, 
halte ich nicht für richtig, in manchen 
Fällen für gefährlich. Hieraus folgt schon, 
daß diese Methode nur für eine sehr be¬ 
schränkte Zahl der Abszesse ernstlich in 
Betracht kommt: der kalte Abszeß darf 
nicht weit entfernt vom Herde sitzen, der 
außerdem gut zugänglich sein muß, wie 
das für die Rippen- und die Schädel¬ 
karies gilt. 

Die typische und häutigst angewandte 
radikale Operation bei der Gelenk-Tbc. ist 
die Resektion. Durch sie wird, wenn 
die Heilung in normaler Weise erfolgt, der 
Krankheitsprozeß wesentlich abgekürzt und 
der hauptsächliche tuberkulöse Herd — der 
einzige ist es ja fast nie — aus dem Kör¬ 
per entfernt. Menschen mit schweren tuber¬ 
kulösen Gelenkauftreibungen, die jahrelang 
leidend und auf das höchste herunter¬ 
gekommen waren, sieht man nicht selten 
in kurzer Zeit genesen und durch die Ent¬ 
fernung des ausgedehnten tuberkulösen 
Herdes geradezu aufblühen. Das sind un¬ 
leugbare Vorteile der Resektion wie jeder 
anderen radikalen Methode. 

Sie hat aber auch Nachteile. Die Re¬ 
sultate nach der Resektion sind keineswegs 
stets gute. Ich will nicht einmal von 
meinen eigenen reden, zumal ich nur ver¬ 
hältnismäßig selten reseziere. Ich habe im 
Laufe der Jahre zahlreiche von anderen 
Chirurgen resezierte Fälle gesehen, die 
recht viel zu wünschen übrig ließen. Das 
resezierte Gelenk war steif, völlig ankylo- 
tisch, wo ein bewegliches dringend er¬ 
forderlich gewesen wäre, oder es war 
vollkommen schlotternd, wo ein festes weit 
eher am Platze gewesen wäre. 


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167 


April 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Das Schicksal der Gelenke nach den* Resek¬ 
tion ist ein recht verschiedenes. Es hän^t dies 
nicht allein von der Art der ausgeführten Re¬ 
sektion ab, sondern noch von anderen Dingen, 
die der Operateur nicht in der Hand hat. Ich 
will nur folgende anführen: Das Gelenk an 
sich, seine Zugänglichkeit; die Infektion; 
Schmerzen, die der Patient nach der Operation 
hat und die eine beabsichtigte Mobilisierung 
verhindern : die Knochenneubildung, die Bildung 
einer neuen Gelenkpfanne: die Atrophie der 
das Gelenk umgebenden Muskeln. Nun sind 
aber die Anforderungen,die an die verschiedenen 
Gelenke gestellt werden, um von einer guten 
Funktion zu sprechen, recht verschiedene: Er¬ 
ziele ich am Schulter- oder Hüftgelenk ein 
Schlottergelenk, d. h. ein nach allen Richtungen 
bewegliches, mit gut funktionierender Musku¬ 
latur, so ist dies ein recht gutes Resultat. Das¬ 
selbe Schlottergelenk am Knie, Ellenbogen oder 
an den Interphalangealgelenken wäre ein mise¬ 
rabler Erfolg, am Knie unzweifelhaft weit 
schlechter a*s eine Ankylose. Ein steifes, völlig 
schmerzloses Knie behindert den Menschen 
nicht gar so sehr, ein absolut steifes Schulter¬ 
gelenk weit mehr. 

Oder die Extremität war derart ver¬ 
kürzt, sei es infolge davon, daß zur radi¬ 
kalen Entfernung alles Erkrankten viel 
Knochen weggenommen werden mußte, sei 
es, daß im Bereiche der Epiphysenlinie 
operiert werden mußte. Es ist leicht ge¬ 
sagt: man schädige bei der Operation die 
Epiphysenlinie nicht! Zeigen sich in ihrem 
Bereiche tuberkulöse Herde, so läßt man 
sich, um radikal zu operieren, doch leicht 
dazu verführen, sie anzugreifen. Der 
Knochen bleibt im Wachstum zurück oder 
er wächst schief. 

Und dann heilen auch keineswegs nach 
der radikalen Operation alle Fälle aus; 
manche werden infiziert, in anderen geht 
die lokale Tbc. weiter, obwohl man im ge¬ 
funden zu operieren glaubte; in wieder 
anderen schreitet die Tbc. der Lungen fort 
oder es kommt zur allgemeinen. 

Die Resektion der großen Gelenke stellt 
ferner einen recht schweren Eingriff dar; 
namentlich gilt dies für das Hüftgelenk, 
bei dem die unmittelbare Mortalität eine 
sehr erhebliche ist. 

Die Vorteile der Resektion muß auch 
jeder konservative Chirurg, die Nachteile 
jeder radikale anerkennen. Die Stellung 
zur Gelenkresektion ist im wesentlichen der 
Punkt, der die beiden Flügel von einander 
trennt. Mir scheint, die Entscheidung, in 
welchem der beiden Lager der Chirurg 
steht, wird heute weniger durch seine Er¬ 
fahrungen und sein Urteil über die Resek¬ 
tion bedingt als durch seine Erfolge mit 
der konservativen Behandlung: wer mit ihr 
schlechte Erfahrungen macht, wird eben 
radikal. Jedenfalls gehen aber auch die 
radikalen Chiiurgen bei den einzelnen Ge¬ 


lenken sehr verschieden vor und weichen 
auch dabei wieder sehr erheblich vonein¬ 
ander ab; der eine reseziert lieber dieses, 
der andere jenes Gelenk, respektive er re¬ 
seziert es prinzipiell nicht oder doch ungern. 

Am radikalsten geht König sen. vor, 
der alle erreichbaren Gelenke reseziert. 
Gar re bevorzugt die Resektion am Knie, 
Fuß, Ellbogen; an der Hüfte, Schulter, 
Hand geht er lieber konservativ vor. 
Küttner und neuerdings auch Tietze 
resezieren das Handgelenk gerne; Müller 
(Rostock) reseziert überall gerne, besonders 
bei Kindern außer der Hüfte und dem Knie. 
Bier sah an der Hand, dem Ellbogen und 
dem Fuße gute Resultate bei der konser¬ 
vativen Behandlung, am Knie schlechte. 

Ich bin, wie ich oben bereits ausführte, 
mit den Resultaten der konservativen Be¬ 
handlung, wie ich sie ausübe, sehr zu¬ 
frieden. Mir heilen die tuberkulösen Ge¬ 
lenke aus, abgesehen von den schweren 
Erkrankungen des Knies und bei alten 
Leuten außerdem des Fußes. Die geheilten 
Gelenke sind nicht oder wenig verkürzt; 
in den schweren Fällen sind die Gelenke 
meist steif, in den mittelschweren mäßig, 
in den leichten gut beweglich. Warum 
sollte ich da resezieren? 

Ich habe noch nie eine Hüftgelenk¬ 
resektion wegen Tbc. ausgeführt und, wie ich 
gestehen will, diese Operation überhaupt am 
Lebenden noch nicht gesehen, weder auf 
der Mikuliczschen Klinik noch sonst. Ich 
bin mit meinen Fällen von Koxitis, auch 
schweren und fistulösen, stets fertig ge¬ 
worden; und die überwiegende Mehrzahl 
der von anderen operierten Fälle, die ich 
sah, schreckte mich geradezu von der Ope¬ 
ration ab. 

Das Schultergelenk habe ich auch 
noch nie reseziert; in meiner Abwesenheit 
wurde in meinem Krankenhause einmal ein 
Schultergelenk wegen Karies reseziert; das 
Resultat war ein leidliches. Als nach 
einiger Zeit das andere Schultergelenk 
auch erkrankte, behandelte ich es konser¬ 
vativ mit Stauung und Injektion; es heilte 
prompt und glänzend aus. Ich zweifle nicht 
daß die andere Seite unter dieser Behand¬ 
lung auch ausgeheilt und daß das Resultat ein 
noch besseres gewesen wäre als nach der 
Resektion. 

Eine typische Resektion des Ellbogens 
habe ich auch nie vorgenommen, wohl 
aber in ganz vereinzelten Fällen, mit denen 
ich sonst nicht fertig wurde, atypische, wo¬ 
bei ich nur das kranke entfernte. Der 
S. 165 angeführte Fall ist ein Beispiel 
dafür. 


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168 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


April 


Niemals habe ich das Handgelenk 
reseziert. Die Fuß re Sektion fahre ich 
gelegentlich wegen Fungus aus, meist bei 
alten Menschen, jedenfalls nie bei jungen. 
Soweit es geht, bin ich auch hier konser¬ 
vativ, d. hi ich reseziere gerne osteopla¬ 
stisch nach Wladimiroff-Mikulicz oder 
ich amputiere nach Pirogoff. Leichter 
entschließe ich mich an den Zehen und dem 
Mittelfuße dazu, einen Knochen oder ein 
Gelenk herauszunehmen. 

Es bleibt so von den Extremitäten das 
Kniegelenk übrig; bei ihm schreite ich 
häufiger zur Resektion. Die Grande sind 
folgende: 

An die unteren Extremitäten werden 
unzweifelhaft weit höhere Anforderungen 
gestellt als an die oberen; ihre Gelenke 
werden ja belastet. Sie müssen fest und 
schmerzlos sein; sind sie es nicht, so ver¬ 
mag der Patient nicht herumzugehen und 
erleidet die dadurch bedingten Schädi¬ 
gungen. 

Diese beiden Punkte gelten in gleicher 
Weise für das Hüft-, Knie- und Fußgelenk; 
bereits in weit geringerem Maße für den 
Mittelfuß und für die Zehen. Reseziert man 
das Hüft-, Knie- oder Fußgelenk, so werden 
die Gelenke entweder steif oder beweglich. 
Ein Kniegelenk nach der Resektion so be¬ 
weglich zu machen, daß es wie ein nor¬ 
males, als Scharniergelenk funktioniert, 
d. h. nur Beugung und Streckung erlaubt, 
ist bisher noch keinem Menschen gelungen; 
mit dem seitlichen festen Bandapparate 
fällt die Stabilität des Knies. Ob wir je 
durch Lexers freie Gelenktransplantation 
mit einiger Bestimmtheit brauchbare Knie¬ 
gelenke herstellen werden, ist heute noch 
nicht zu entscheiden. Vorläufig müssen 
wir zufrieden sein, wenn wir durch die 
Resektion ein steifes, ausgeheiltes Knie er¬ 
zielen; das können wir aber gerade beim 
Knie mit großer Sicherheit garantieren. 
Ein solches Knie behindert den Patienten, 
wie ich bereits S. 167 sagte, verhältnismäßig 
wenig, weniger als ein steifes Hüft- oder 
Fußgelenk. Bei schwerem Fungus des 
Knies erreiche ich nun, selbst wenn ich 
ihn, was äußerst selten ist, durch konser¬ 
vative Therapie zur Heilung bringe, nie¬ 
mals ein bewegliches Gelenk, es wird stets 
steif. Darum reseziere ich hier lieber so¬ 
gleich und erziele so eine schnelle Heilung, 
Ist die Patella — was durch das seitliche 
Röntgenbild zu erkennen — knöchern mit 
der Unterlage verwachsen, so wird das 
Knie wohl auch nie wieder beweglich. Da¬ 
her reseziere ich alsdann, falls die Resek¬ 
tion irgend angezeigt ist. 


Ein festes Hüftgelenk behindert den Pa¬ 
tienten, wie ich bereits sagte, ungleich 
mehr als ein steifes Knie. Wer daran 
zweifelt, der vergleiche nur den Patienten, 
dessen beide Hüften versteift sind mit dem 
Patienten, dessen beide Kniee ankylotisch 
sind. Daß die Hüfte nach der Resektion 
willkürlich beweglich wird, hat der Opera¬ 
teur nicht in der Hand. 

Das Bein wird nach der Resektion des 
Kniegelenks beim Erwachsenen in der Regel 
nur wenig verkürzt, bei der Hüfte muß 
man meist die Pfanne und den ganzen 
Kopf, oft den Hals, zuweilen noch mehr 
entfernen. 

Das Knie ist ein leicht zugängliches 
Gelenk, seine Resektion stellt einen nicht 
sehr großen Eingriff dar — beides im 
Gegensatz zur Hüfte. 

Und schließlich, und das ist die Haupt¬ 
sache: Mit der Tbc. der Hüfte und des 
Fußes — wenn ich bei letzterer von ganz 
alten Leuten absehe — werde ich unter 
konservativer Behandlung fertig, mit ge¬ 
wissen Formen der Knie-Tbc. nicht. Es 
ist das der schwere Fungus, gleichgültig, 
ob Fisteln bestehen oder nicht. Hier rate 
ich dem Patienten sofort zur Resektion und 
versuche die konservative Behandlung nur, 
wenn die Operation verweigert wird, meist 
ohne Erfolg. 

Mit der Caries sicca, die ich am Knie 
verhältnismäßig oft sah, und mit der fistu¬ 
lösen Tbc., mit dem Hydrops und dem 
kalten Gelenkabszeß werde ich in der 
Regel fertig. Manche Chirurgen resezieren 
auch bei diesen Formen prinzipiell, nur 
wenige allerdings beim Hydrops. 

So kommt es, daß ich dem Knie eine 
Sonderstellung in bezug auf die Resektion 
vor allen anderen Gelenken zuerkenne und 
ich handle danach: Ich führe die Resektion 
des Knies aus bei jedem Fungus, außer bei 
ganz leichter Form desselben. Niemals re¬ 
seziere ich vor völlig oder annähernd voll¬ 
endetem Wachstum, d.h. vordem 14.—16. 
Lebensjahre. 

Die Knieresektion führe ich als typische 
Operation aus nach der Mikuliczschen Me¬ 
thode. Lokale Anämie, Querschnitt mitten über 
die Patella von einem Kondylus zum andern, 
die Patella wird sogleich durchgesägt, breite 
Durchschneidung der Kapsel und Ligamente, 
besonders der Seitenbänder, so daß das Gelenk 
weit klafft. Nun wird zunächst die obere 
Hälfte des Erkrankten radikal entfernt. Dann 
werden die Ligamenta cruciata durchschnitten, 
die hintere Gelenkpartie exstirpiert, zum 
Schluß die untere Gelenkhälfte. Jetzt wird 
das untere Femurende abgesägt, und zwar so, 
daß der Knochen die Form eines Konvexzylin¬ 
ders erhält. Es wird sorgfältig darauf geachtet, 
daß alles Kranke und Verdächtige entfernt wird. 


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April 


Die Therapie der Gegeawart 1910. 


169 


besonders auf einzelne Knochenherde und 
Gänge, die ausgekratzt und ausgebrannt, even¬ 
tuell plombiert werden müssen, falls bei ihrer 
Entfernung durch Absägen des Knochens gar 
zu viel von letzterem verloren ginge. Das 
obere Tibiaende wird konkavzylindrisch abge¬ 
sägt. Die beiden Knochenenden müssen exakt 
aufeinander passen, so daß das physiologische 
Genu valgum erhalten bleibt, die Belastungs¬ 
linie des Beines die richtige ist. Die hintere 
Hälfte der Patella wird abgesägt, die erhaltenen 
Stücke um so viel verkürzt, wie es etwa der 
Verkürzung des Knochens entspricht. Mit 3 bis 
4 Drahtnähten werden die beiden Stücke ver¬ 
einigt und die eine Hälfte auf dem Femur an¬ 
genagelt. Fortlaufende Hautnaht mit Seide, in 
den beiden Ecken bleibt eine kleine Oeffnung 
zum Abfluß des Wundsekrets, Verband, Fixa¬ 
tion auf einer Holzschiene in richtiger Stellung. 
Leicht komprimierende Gummibinde über Knie 
und Holzscniene, die 12—24 Stunden liegen 
bleibt. Erst nach Anlegung dieser Gummi¬ 
binde wird die Esmarchsche Binde entfernt, 
Gipshanfschiene, mittels deren das Bein hori¬ 
zontal oder noch besser ein wenig ansteigend 
aufgehängt wird, wie das oben (Seite 116) beim 
Zugverband beschrieben wurde. Bei normalem 
Heilungsverlauf bleibt dieser Verband 3 Wochen 
liegen. Dann Verbandwechsel, wobei das Bein 
auf der Holzschiene fixiert bleibt, Entfernung 
der Hautnaht. Patient erhält zunächst einen 
festen Gipsverband, der, um das Knie nicht zu 
bewegen, am besten in folgender Weise ange¬ 
legt wird: bei noch liegender Holzschiene wird 
eine leichte dorsale Gipsschiene angefertigt, 
getrocknet, auf das Bein gelegt, jetzt erst die 
Holzschiene abgenommen und nun ein zirku¬ 
lärer Gipsverband angelegt, in den die dorsale 
Gipsschiene eingegipst wird. Im Gips verband, 
der den Fuß umschließt, das Becken frei läßt 
und keinen Sitzring hat, steht Patient auf. Das 
Knie soll belastet werden; um beim Heben des 
Beines eine Distraktion zu verhindern, wird 
eine um die Fußsohle gehende Schlinge ange¬ 
legt, die der Patient in der Hand hält und mit 
der er beim Gehen jedesmal das Bein passiv 
anhebt. Nach 4 Wochen wird der feste Gips¬ 
verband durch einen abnehmbaicn ersetzt, der 
den Fuß frei läßt. 

Die extrakapsuläre Entfernung des 
Kniegelenks — wie anderer Gelenke nach 
Bardenheuer — ohne die tuberkulös er¬ 
krankten Stellen zu eröffnen, ist theoretisch 
schön und einleuchtend; sie gelingt aber nur 
in den leichten Fällen; in den schweren, 
wo kalte Abszesse und Fisteln außerhalb 
des Kapselbereiches bestehen, gelingt sie 
nicht, es sei denn, man entfernt weit mehr 
Knochen als erforderlich ist. 

Auch die Arthrektomie, worunter die 
Entfernung der Kapsel verstanden wird, 
während die Gelenkenden, die Knorpel er¬ 
halten bleiben, habe ich noch nie ausge- 
führt; Fälle, in denen das Gelenk so wenig 
erkrankt ist, daß diese Operation in Frage 
kommt, reseziere ich nicht. 

Zur Amputation wegen Knochen-und 
Gelenk-Tbc. schreite ich nur sehr ungern. 
Im jüngeren Lebensalter verwerfe ich sie 


vollständig, im mittleren könnte mir höch¬ 
stens eine vorgeschrittenere, aber noch 
aussichtsvolle Lungenphthise die Indikation 
geben. Ich habe sie noch niemals in einem 
solchen Falle ausgeführt. 

Anders liegen die Verhältnisse im 
höheren Alter, welches ich hier von 50 Jah¬ 
ren an rechne. Da entschließe ich mich 
eher dazu, je älter das Individuum ist, um 
so leichter, tue es aber auch hier im all¬ 
gemeinen erst, wenn die konservative 
Methode und die kleineren radikalen Ein¬ 
griffe erfolglos sind. Am ehesten ampu¬ 
tiere ich das Fußgelenk, schreite zur 
Pirogoffschen Operation oder zur tiefen 
Unterschenkelamputation. An den oberen 
Extremitäten habe ich noch nie wegen Tbc. 
amputiert. Ein noch so schlecht geheilter 
Arm ist besser wie gar keiner, ohne ein 
Bein kann ein Mensch besser existieren als 
ohne einen Arm. 

Als letzte Gruppe von operativen Ein¬ 
griffen muß ich noch solche anftihren, die 
nach erfolgter Ausheil ungderTbc. not¬ 
wendig werden können, also nicht gegen das 
Leiden als solches gerichtet sind. Ist eine Ge¬ 
lenk-Tbc. in schlechterStellung und mit voll¬ 
ständiger Ankylose, d. h. fester, knöcherner 
Verwachsung ausgeheilt — man sollte es 
natürlich nicht erst soweit kommen lassen, 
doch geraten manche Patienten erst in 
solchem Zustand in unsere Hände — so 
| muß die Extremität auf operativem Wege 
I in eine brauchbare Stellung gebracht werden. 

Beim Hüftgelenke wird die subtrochantere 
! Osteotomie, beim Knie die Keilresektion 
oder die Resektion ausgeführt; beim Ell¬ 
bogengelenke wird man die Resektion mit 
dem Bestreben, ein bewegliches Gelenk zu 
schaffen, versuchen. 

; Bei ausgeheilter Tbc. können ferner 
] entlastende Operationen in Frage kom- 
j men. Da ist in erster Linie die Lamin- 
; ektomie zu nennen. Daß ein Nerv oder 
| anderes Organ, das vom Knochen umwachsen 
| wird, leidet, und daher der Entlastung be¬ 
darf, kommt wohl kaum vor. 

Die Laminektomie ist angezeigt, wenn 
bei Wirbel-Tbc. eine erhebliche Parese 
oder gar eine vollständige Lähmung der 
unteren Extremitäten besteht, und diese Er¬ 
scheinungen unter dem Extensionsverband 
nicht zurückgehen. Man erzielt durch die 
Laminektomie gelegentlich sehr schöne Er¬ 
folge, namentlich, wenn der tuberkulöse 
Prozeß bereits ausgeheilt ist. Bestand die 
Lähmung zu lange, so bleibt die Operation 
häußg nutzlos; ist der tuberkulöse Prozeß 
noch nicht ausgeheilt, so kann ein Rezidiv 
der Lähmung erfolgen, was mich allerdings 

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April 


no 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


nicht abhalten würde, noch einmal einzu¬ 
greifen. Bei florider Tbc. gibt die Lamin- 
ektomie kaum je einen dauernden Erfolg. 

Ich verfüge neben einigen Mißerfolgen oder 
geringen Erfolgen über einen ausgezeichnet ge¬ 
lungenen Fall von Laminektomie, den ich noch 
auf der Breslauer Klinik operierle. Bei dem 
jungen Manne bestand seit einigen Monaten 
eine Parese beider Beine, zuletzt eine voll¬ 
ständige Lähmung. Der Gibbus saß in der 
unteren Brustwirbelsäule. Durch eine ausge¬ 
dehnte Laminektomie brachte ich den Patienten 
so weit, daß er ohne Unterstützung gehen 
konnte, wenn die Kraft der unteren Extremi¬ 
täten auch nicht normal wurde. Ein Rückfall 
trat, solange ich von dem Patienten hörte 
(3 Jahre), nicht ein. 

Zum Schlüsse möchte ich noch kurz 
auf Komplikationen und andere Gründe 
eingehen, die von Einfluß sind für die Be 
handlung der Knochen- und Gelenk-Tbc., 
namentlich auf die Indikation zum konser¬ 
vativen und radikalen Vorgehen. 

Bei Kindern gehe ich noch konser¬ 
vativer vor, reseziere noch seltener als bei 
Erwachsenen. Einmal tue ich dies, z. B. 
am Knie, um das Wachstum nicht zu schä¬ 
digen. Ein weiteier Grund ist, daß die 
Tbc. zweifellos um so günstiger verläuft, 
je jünger das Individuum ist. 

Aus diesem Grunde reseziere, respek¬ 
tive amputiere ich bei alten Leuten an 
den unteren Extremitäten häufiger, wenn 
es sich um schwere Fälle handelt, oder 
wenn ich mit der konservativen Behand¬ 
lung nicht bald Erfolge erziele. Die Tbc. 
verläuft bei alten Leuten ungünstiger, 
außerdem liegt mir gerade bei solchen 
daran, sie bald auf die Beine zu bringen. 

Besteht eine Lungen-Tbc., und ist sie 
eine leichte, ohne oder mit spärlichen Ba¬ 
zillen, so beeinflußt sie mein Vorgehen 


nicht. Bei schwerer, progressiver, die 
aber noch die Heilung aussichtsvoll er¬ 
scheinen läßt, gehe ich radikaler vor als 
ich es sonst tue. Bei aussichtsloser Tbc. 
unterlasse ich jeden irgend größeren und 
den Patienten quälenden Eingriff. Ebenso 
würde ich bei komplizierter Darm-Tbc. Vor¬ 
gehen. 

Bei Amyloid verhalte ich mich so, wie 
ich es für schwere Lungenphthise soeben 
angab. Ich habe noch nie eine amyloide 
Erkrankung heilen sehen, weder bei radi¬ 
kaler noch bei konservativer Therapie. 

Bei bestehendem Diabetes mellitus 
behandele ich diesen diätetisch und suche 
den Patienten zuckerfrei zu machen. Gegen 
die Tbc. gehe ich im ganzen wie sonst 
vor; bei älteren Leuten würde ich mich 
eher als sonst zur Ablatio entschließen. 

Ein wichtiges Moment bildet für viele 
Chirurgen die soziale Lage des Patienten: 
Sie gehen bei schlecht Situierten eher ra¬ 
dikal vor, um die Patienten schneller ge¬ 
sund und arbeitsfähig zu machen, um den 
Krankenhausaufenthalt und damit die Zeit 
der absoluten Arbeitsunfähigkeit zu kürzen. 
Ich erkenne dies Moment an, habe mich 
aber doch selten dadurch in meinem Vor¬ 
gehen beeinflussen lassen. 

Nicht gelten lasse ich Momente wie den 
entfernten Wohnort des Patienten, wo¬ 
durch sich manche eher zum radikalen Vor¬ 
gehen entschließen; es sei denn, der Pa¬ 
tient sei außerdem arm, dann ist aber die 
soziale Lage wieder das Ausschlaggebende. 

Daß ich mich in meinem Vorgehen nicht 
durch die Wünsche des Patienten oder der 
Angehörigen beeinflussen lasse, ist selbst¬ 
verständlich. 


Bücherbesprechungen. 


Biedert und Lang’ermann. Diätetik und 
Kochbuch für Magen- und Darm¬ 
kranke, nebst einem Abriß über Unter¬ 
suchung und Behandlung, neu heraus¬ 
gegeben gemeinsam mit Dr. G. Langer¬ 
mann und Dr. F. Gernsheim, ehema¬ 
ligen Assistenten von Geh. Ob.-Med.- 
Rat Prof. Dr. Biedert. Stuttgart 1909. 
F. Enke. 

Das Buch trägt auch in seiner neuen, 
etwas erweiterten Gestalt das Gepräge 
Prof. Biederts, eines unserer verehrungs¬ 
würdigsten Aerzte, der in vorbildlicher 
Weise praktisches Denken mit wissen¬ 
schaftlichem Sinn in sich vereinigt. Es 
enthält einen kurzen Abriß der Pathologie, 
Diagnostik und allgemeinen Therapie der 


Magen- und Darmkrankheiten, während der 
Hauptanteil der Diätetik gewidmet ist. 
Voraus geschickt ist die eigene Kranken¬ 
geschichte Biederts, die angenehm und 
nützlich zu lesen ist. Bei Erwähnung der 
von „Kohnstamm warm empfohlenen an¬ 
fangs fleischfreien, später fleischarmen 
Kost“, die sich auch den Verfassern gegen 
Obstipation gut bewährt hat, fehlt der im 
Interesse der Sache hier anzufügende 
Hinweis, daß Milch oder Milchkakao in 
! hinreichender Menge ein integrierender 
Bestandteil der Diät ist. Nur bei Beach¬ 
tung dieser Vorschrift wird man ihre vollen 
Vorteile ernten, die nicht zum wenigsten 
in der Möglichkeit einer gleichzeitigen 
Ueberernährung bestehen. Auch gegen 


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April 


Hie Therapie der Gegenwart 1910. 


171 


Colica mucosa, selbst schwerer Art, ist 
sie nach neueren Erfahrungen des Refe¬ 
renten ein wahres Spezifikum. — Der 
Schwerpunkt des Werkchens liegt in den 
zahlreichen mit Nährwertberechnungen ver¬ 
sehenen Kochrezepten und Speisezetteln, 
die für eine ganze Woche variiert sind. 
Dadurch erscheint auch die Absicht ge 
rechtfertigt, dem Patienten selbst das Buch 
in die Hand zu geben, der von dem mehr 
theoretischen Teil, so gemeinverständlich 
er abgefaßt ist, doch keinen Vorteil davon¬ 
tragen wird. Für den Arzt hingegen, so¬ 
fern er der täglichen Uebung in diäteti¬ 
schen Dingen ermangelt, ist gerade die 
praktische Diätetik von großem Nutzen. 
Er wird den Verfassern der sorgfältigen 
und mühsamen Arbeit reichen Dank wissen. 

O. Kohnstamm (Königstein i. Taunus). 

Lehrbuch der Augenheilkunde» bear¬ 
beitet von Azcnfciu, Bach, Biel- 
schowsky, Elschnigg,Gre eff, Heine, 
v. Hip pel, Krflckmann, Peters, Schir¬ 
mer, herausgegeben von Axenfeld. 
Verlag von Gustav Fischer in Jena 1909. 
15 M. 

Durch Zusammenarbeit der hervor¬ 
ragendsten unter den jüngeren Ophthal¬ 
mologen ist ein Werk entstanden, das 
ebenso ein Lern- und Lehrbuch ist, wie, 
— ich möchte fast sagen — ein komprimiertes 
Handbuch, ein kleiner Graefe-Saemisch. 
Eine Zusammenarbeit vieler Autoren hat zwar 
immer etwas mißliches; Widersprüche lassen 
sich nicht immer vermeiden. So sagt 
Krückmann auf S. 437: „Ein Lymphgefä߬ 
system fehlt dem Glaskörper, auch einen 
Canalis hyaloideus gibt es nicht* und 
Peters auf S. 485: „Aus dem Glaskörper 
fließt die Lymphe durch den Zentralkanal, 
der nach Resorption der fötalen Arteria 
hyaloidea persistiert, in die Lymphscheiden 
der Zentialgefäße des Optikus*. 

Was aber an dem Buch besonders 
gelobt werden muß, ist die stetige Be¬ 
zugnahme auf das Ziel, das es verfolgt, 
ein Lehrer der Studierenden und ein Rat¬ 
geber der Aerzte zu sein. Es stellt nicht 
eine Zusammenfassung des heutigen Wissens 
dar, sondern bringt mit Bildern und Ueber- 
sichtskapiteln das Wesendiche und Wich¬ 
tige dem Leser so dar, daß er allmählich 
und ohne Mühe mit den Schwierigkeiten 
seiner Aufgabe veitraut wird. Als muster¬ 
gültig in dieser Hinsicht muß ich das Ka* ! 
pitel Erkrankung der Uvea von Krück¬ 
mann bezeichnen, das nicht Symptome 
aufzählt, sondern das Zustandekommen der¬ 
selben erklärt und sie auf diese Weise dem 
Studenten nachdrücklich einprägt. Er zeigt 

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durch typische anatomische Bilder, wie das 
jeweilige ophthalmoskopische Bild zustande 
kommt und weckt dadurch das Verständnis 
und die Anregung zur geistigen Durch¬ 
arbeit des Spiegelbefundes. 

Leider stehen nicht alle Kapitel auf 
dieser Höhe; aber trotz dieser Ungleichheit 
kann das Buch aufs beste empfohlen werden. 

C. Adam (Berlin). 

Fromme. Die Physiologie und Patho¬ 
logie des Wochenbetts. Mit 31 Ab¬ 
bildungen im Text und 2Tafeln. Berlin 1910. 

S. Karger. Preis 8,40 M. 

Es war ein außerordentliches Verdienst 
Frommes, in zusammenhängender Weise 
über die Physiologie und Pathologie des 
Wochenbetts zu berichten; sein Buch bringt 
nicht allein den Aerzten ein guten Ueberblick, 
sondern auch diejenigen, die sich mit dem 
gleichen Thema beschäftigen, können das 
Buch als einen Markstein betrachten, an dem 
man nicht so ohne weiteres vorbei kann. 

In der Physiologie des Wochenbetts 
werden zuerst die Rückbildungsvorgänge 
der Genitalien besprochen, dabei besonders 
dem Bochialsekret der gesunden Wöch¬ 
nerin mehrere Seiten gewidmet Es folgen 
die Beschreibung der Milch, die klinischen 
Erscheinungen des puerperalen Zustandes, 

Pflege, Behandlung und Hygiene im Wochen¬ 
bett, Physiologie und Pflege der Neu¬ 
geborenen. 

Der Schwerpunkt des Buches liegt in der 
Pathologie des Wochenbetts. 

Fromme definiert das Kindbettfieber als 
ein Wundfieber, das gewöhnlich verursacht 
wird durch das Eindringen pathogener hä¬ 
molytischer Streptokokken in die Genitalien 
der Frau. Da er die Mikroorganismen in 
Eigenkeime und Fremdkeime trennt, d. h. 
solche, die unter normalen Verhältnissen 
an den äußeren Genitalien und in der Vagina 
leben, und andere, die mit Fingern und 
Instrumenten von außen hereingeschleppt 
werden, so stellt er zuerst den normalen 
Keimgehalt fest und findet, daß die Fremd- 
keime ganz besonders in Frage kommen. 

Der häufigste dieser Fremdkeime ist zweifel¬ 
los der Streptococcus pyogenes, dessen 
wichtigste Eigenschaft die Hämolyse ist 
Fromme hat ein Verfahren angegeben (im 
Blutschwammversuch) das „mit Leichtigkeit* 
entscheiden läßt, ob man es mit einem sapro- 
phytären hämolytischen Sin ptokokken- 
! stamm, also einem Eigenstreptokokkus 
oder mit einem pathogenen Fremdstrepto¬ 
kokkus zu tun hat. Neuerdings verwendet 
Fromme zur Unterscheidung dieser beiden 
Streptokokkenarten eine 2°/o-ig e Lecithin¬ 
emulsion, die in 24 Stunden entscheiden 

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172 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


April 


läßt, ob virulente oder saprophytische Strep¬ 
tokokken im Spiele sind. Daß saprophytäre 
Streptokokken sich innerhalb weniger Tage 
in virulente Keime umwandeln können, 
hält Fromme entgegen Ahlfeld für un¬ 
bewiesen. Der Nachweis der Streptokokken 
bedeutet noch kein Puerperalfieber, erst der 
positive Ausfall der von Fromme ange¬ 
gebenen Reaktionen erweist die Pathogenität 
des Streptococcus. 

Die Saprophyten fließen gewöhnlich mit 
dem Lochialfluß ab; erst wenn eine Stauung 
zustande kommt, so daß eine Resorption 
der Gifte eintritt oder wenn Fäulnis (durch 
Eihautreste) statthat, tritt Fieber auf: 
Stauungsfieber, saprämisches Fieber, Intoxi¬ 
kationsfieber). 

Die pathogenen Freradkeime dagegen 
dringen als Parasiten von der Wunde aus 
in die normalen Gewebe ein. Auf diesen 
Untersuchungen basiert Frommes Schema 
des Kindbettfiebers: 

I. Bedingt durch saprophytäre (Eigen) 

Scheidenkeime. 

1. Saprophyten auf Geburtswunden, Ei- 
hautfetzen, Plazentarresten (Wund¬ 
fäulnis, Eintagsfieber usw.). 

2. Saprophyten wuchernd in Thromben 
der Plazentarstelle (Thrombophlebitis, 
Thrombose der Becken venen, Pyaemia 
chronica. 

II. Bedingt durch pathogene Fremdkeime 

(virulente Streptokokken). 

A. Lokalisierte Infektion. 

1. Kolpitis, Endometritis septica(strepto- 
coccica). 

2. Gangraena Uteri puerperalis. 

B. Fortschreitende Infektion. 

Auf Tubenwege. 

1. Pyosalpinx streptococcica. 

2. Peritonitis circumscripta (Ovarial- 
abszess, Douglasabszess, diffuse Peri¬ 
tonitis). 

Auf Blutwege. 

1. Reine Septikämie (Bakteriämie.) 

2. Pyaemia acuta und chronica (Thrombo- 
. phlebitis). 

Auf Lymphwege. 

1. Peritonitis puerperalis. 

2. Parametritis puerperalis. 

Auf Einzelheiten in der Ausführung 
dieses Schemas einzugehen, muß ich mir 
leider an dieser Steile versagen. Aber 
der Arzt, der sich nicht mit der Diagnose 
Wochenbettfieber begnügt, findet in 
Frommes Buch manche Anregung. 
Konservative und chirurgische Therapie 
werden gegeneinander abgewogen, der 
Wert der Serum- und Kollargolbehandlung 
kritisch beleuchtet Da Fromme neue 


Wege in der Erforschung des Puerperal¬ 
fiebers gefunden hat, kann man ihm nicht 
den Vorwurf eines gewissen Subjektivismus 
machen, das ist wohl ganz natürlich; es 
gehört eben Kritik und Erfahrung des 
Lesenden dazu, nicht alles zu unterschreiben, 
was Fromme sagt. Schematische Ab¬ 
bildungen und Kurven erhöhen den didak¬ 
tischen Wert des Buches, das aufs wärmste 
empfohlen werden kann. P. Meyer. 
Max Joseph. Lehrbuch der Haut- und 
Geschlechtskrankheiten. Zweiter 
Teil. Geschlechtskrankheiten. Sechste 
vermehrte und verbesserte Auflage. 
Leipzig 1909 bei Georg Thieme. 

Es dürfte unnötig erscheinen, diesem 
allgemein anerkannten Lehr buche, das in 
einem Zeitraum von 15 Jahren sechs Auf¬ 
lagen erlebt hat, noch besondere empfeh¬ 
lende Geleitworte auf den Weg zu geben, 
zumal bei früheren mehrfachen Besprechun¬ 
gen desselben in dieser Zeitschrift seitens 
des Referenten die Vorzüge des Werkes 
und seine hervorragende Brauchbarkeit 
besonders für den praktischen Arzt charak¬ 
terisiert wurden. Es genügt, hervorzuheben, 
daß auch in dieser neuesten Auflage alle 
Fortschritte der Forschung auf den ein¬ 
schlägigen Gebieten verwertet und speziell 
der Wassermannschen Reaktion ein be¬ 
sonderes kurzes Kapitel gewidmet ist, in 
dem Technik und praktische Bedeutung 
der Serodiagnostik summarisch besprochen 
wird. Ohne die große theoretische Be¬ 
deutung der Wassermannschen Ent¬ 
deckung und ihren praktischen Wert für 
diagnostische Fragen, die wertvolle Hilfe, 
welche die Klinik durch diese Methode 
erfährt, im geringsten zu bestreiten, muß 
allerdings der Referent in der Bewertung 
für Prognose und Therapie den Schlu߬ 
folgerungen von Max Joseph — wenig¬ 
stens nach seinen eigenen Erfahrungen und 
dem zeitigen Stand unserer Kenntnisse — 
entschieden widersprechen. Wenn der 
Autorauch nach dieser Richtung dem 
Verfahren „enorme Bedeutung“ zu¬ 
spricht, so kann Referent das nicht gelten 
lassen. Vielleicht bringt uns hierin der 
weitere Ausbau der Methodik weiter; zur¬ 
zeit dürfte aber gerade nach dieser Rich¬ 
tung eine gewisse Reserve am Platze sein. 

Buschke. 

Alfred Fournier. Sekundäre Spät¬ 
syphilis. Uebersetzt von De. Bruno 
Sklarek. Mit fünf mehrfarbigen Tafeln. 
Berlin 1909 bei Julius Springer. 

Daß die landläufige Einteilung der 
Syphilis in das primäre, sekundäre und 
tertiäre Stadium ein Schema darstellt, von 


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April 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


173 


dem Abweichungen Vorkommen, ist den 
Spezialisten wohlbekannt; besonders das 
Auftreten klinisch als solcher anzu¬ 
sehender Früherscheinungen zu einer 
Zeit, wo regulär Tertiärschema bestehen 
sollte, haben auch wir zeitweise beobachtet. 
Besonders Schleimhauterscheinungen die- | 
ser Art sind mir aus meiner Erfahrung ! 
bekannt, Roseolen sind mir sehr selten | 
begegnet. In der vorliegenden Mono- i 
graphie stellt einer der erfahrensten 
Syphilidologen seine diesbezüglichen Beob- > 
achtungen zusammen, und wir sehen zu 
unserem Erstaunen, wie häufig ihm diese I 
Dinge begegnet sind. Mit einem großen I 
Teil dieser Beobachtungen kann man sich [ 


wohl einverstanden erklären; und sie wer¬ 
den den Praktiker veranlassen, vorsichtig 
in der Abgrenzung der Früh- und Spät¬ 
symptome, besonders auch in bezug auf 
die Frage der Infektiosität zu verfahren. 
Andere Fälle erscheinen nicht so ge¬ 
sichert. Aber jedenfalls wird dies lehr¬ 
reiche Buch veranlassen müssen, mit neuen 
Forschungsmethoden diese praktisch so 
wichtigen Fragen zu untersuchen. Es ist 
Sklarek zu danken, daß er zur Verbreitung 
dieser wichtigen Monographie durch seine 
geschickte Uebersetzung beigetragen hat; 
sie wird zweifellos zur Klärung dieser 
wichtigen Probleme der Syphilisforschung 
anregen. Buschke. 


Referate. 


Neuerungen aus dem Gebiete der chi¬ 
rurgischen Appendizitisbehandlongr teilt 
Ebner aus der Lexersehen Klinik mit; 
sie betreffen die Schnittführung bei An¬ 
legung des Bauchschnittes und die Technik 
bei der Amputation und Stumpfversorgung 
der Appendix. Bei der Operation wird hoch¬ 
gradige Schräglagerung des Patienten nach 
der linken Seite hin angewendet; durch 
diese fallen Dünndarm und Netz nach links 
herüber, die Appendix kommt dadurch 
leichter zu Gesicht. Da bei der Lanz- 
schen Schnittführung die Abgangsstelle 
der Appendix nicht mit Sicherheit getroffen 
wird, wird nach Lexer der Hautschnitt 
mehr oberhalb der bispinalen Falte, vom 
Mc. Burneysehen Punkte aus beginnend, 
angelegt. Der Muskelschnitt durchtrennt 
nur die bindegewebigen Bestandteile der 
Bauchwand im Faserverlauf, der fleischige 
Teil der Muskulatur bleibt unberührt; auf 
diese Weise wird eine Atrophie der 
Muskelfasern, ein Durchschneiden der 
Nähte, das Blutergüsse im Gefolge haben 
kann, vermieden. Die Faszienränder lassen 
sich durch die von Lexer geübte Vier¬ 
stichknopfnaht leicht und fest wieder ver¬ 
einigen. Die Appendix wird durch eine 
um die Basis gelegte Ligatur fixiert, läßt 
sich an dem Faden mit einem kleinen Teil 
des Zökum gut vorziehen. Nach Unter¬ 
bindung des Mesenteriolum wird die Appen¬ 
dix nach oben gezogen, seine Abgangs¬ 
stelle durch eine von unten her an die 
Basis der Appendix herangehende, die 
Serosa breit fassende seromuskuläre 
Schlupfnaht gut eingestülpt; durch Zug an 
der hochgehaltenen Appendix wird die 
Abgangsstelle aus der Falte emporgehoben 
und die Appendix proximalwärts von der 
Ligatur durchtrennt, der Stumpf verschwin¬ 


det in der Serosafalte, durch die Ligatur 
am Wurmfortsatz wird ein Ausfließen seines 
Inhaltes verhütet. Zum völligen Verschluß 
werden noch einige Lembertnähte ange¬ 
legt: Ebner nennt dies von Lexer ge¬ 
übte Verfahren die Abnabelung der Appen¬ 
dix vermittelst der zweietagigen rückläufi¬ 
gen Schlupfnaht. Ebner glaubt, daß auf 
diese Weise Stumpfabszesse, wie sie von 
anderer Seite bei Einstülpung des unter¬ 
bundenen Appendixstumpfes beobachtet 
wurden, vermieden werden; außerdem 
rühmt er die Sicherheit, Bequemlichkeit 
und außerordentliche Schnelligkeit dieses 
Verfahrens. Hohmeier (Altona). 

(Deutsche Ztschr. f. Chir., Bd, 103, H. 3—6.) 

Ueber die Stellung der Karelischen 
Milchkur in der Entfettungsbehandlungv 
auf welche Lenhartz, Moritz u. a. in den 
letzten Jahren die Aufmerksamkeit gelenkt 
haben (vergl. diese Zeitschrift 1908, S. 329, 
380 und 427), sprach H. Strauß auf der 
diesjährigen Versammlung der Balneologi- 
schen Gesellschaft. Strauß hat die Karell- 
kur bei Fettleibigen mittleren und höheren 
Grades anfangs in der Form durchgeführt, 
daß er täglich — meist für die Dauer von 
5—8 Tagen — in 2 1 /? ständigen Pausen 4 bis 
5 mal ein Wasserglas voll gewöhnlicher 
Milch nehmen ließ, außerdem nichts, höch¬ 
stens in den letzten Tagen täglich einmal 
eine Apfelsine oder einen Apfel. Die Pa¬ 
tienten lagen während der ganzen Dauer 
der Kur zu Bett und wurden in der Mehr¬ 
zahl der Fälle täglich massiert. Von fast 
allen Patienten wurde diese Kur außer¬ 
ordentlich gut vertragen; kaum einer klagte 
über Hunger und Durst, einige über Ver¬ 
stopfung. Der Erfolg war meist ein schöner, 
zum Teil sogar ein überraschender. Stets 
war der Erfog in den ersten 3 Tagen 


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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


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am größten. Die Gewichtsabnahmen be¬ 
trugen in den ersten 3 Tagen meistens 
2-3 kg. einmal sogar 5,5 kg. Bis zum 
7. Tage erreichte die Abnahme meistens 
4—5 kg, in dem einen Falle volle 10 kg. 
Die Urinmenge sank meistens schon am 
3. bis 4. Tage auf 400—500 ccm, in einigen 
Fällen betrug sie um diese Zeit noch 
600—800 ccm. Der Kochsalzgehalt war am 
3 Tage schon auf wenige Gramm ab¬ 
gesunken und hielt sich in den weiteren 
Milchtagen auf 1—2 g täglich. Während 
der „Nachkur“ erhielten die Patienten Zu¬ 
lagen von kleinen Mengen Obst, Grau¬ 
brot, fettarmem Fleisch, fettarm zubereitetem 
Gemüse, wobei das Milchquantum meist 
herabgesetzt wurde, oder es wurde eine 
milchfreie, kalorienarme gemischte Diät 
unter Beschränkung der Flüssigkeit 
und des Kochsalzgehaltes der Nahrung 
gegeben. Die Mehrzahl der Patienten nahm 
auch während dieser Nachkur ab, doch in 
erheblich geringerem Maße als während der 
eigentlichen „Kur“; es gab aber auch Tage, 
an welchen die Patienten sogar bis 
7s Pfund Zunahmen. 

Der Gewichtsverlust in den ersten Tagen 
der Kur ist zweifellos in erster Linie durch 
einen Flüssigkeitsverlust verursacht — 
wenn auch daneben fraglos noch eine Ein¬ 
schmelzung von Fett stattfindet — und diese 
Entwässerung ist auf zwei Momente zurück¬ 
zuführen, die geringe Flüssigkeitszufuhr 
und die geringe Kochsalzzufuhr. Die 
letztere gibt Anlaß zur Abgabe entbehrlichen 
Kochsalzes aus dem Körper. Mit dem Koch¬ 
salz aber verläßt auch ein entsprechendes 
Wasserquantum den Organismus, und zwar 
derart, daß auf 6 g Kochsalz etwa 11 Wasser 
aus dem Körper verschwindet. Die Koch¬ 
salzarmut der knappen Milchdiät hält Strauß 
auch für einen der Gründe, warum die 
Patienten trotz der geringen Flüssigkeits¬ 
zufuhr im allgemeinen nur ein geringes 
Durstgefühl empfinden. 

Trotz der im allgemeinen den Patienten 
außerordentlich imponierenden Erfolge der 
Karellkur ist dieselbe keinesfalls als gene¬ 
relle Entfettungsmethode anzu wenden, 
sondern soll für spezielle Zwecke reser¬ 
viert bleiben. Sie eignet sich für schwere 
Fälle von Fettsucht mit Herzstörungen; 
schon für mittelschwere Fälle ohne kardiale 
Kompensationsstörungen aber ist sie meistens 
entbehrlich und es ist rationeller, diese Fälle 
zum Gegenstand einer individualisie¬ 
renden Entfettungsbehandlung zu machen. 
Für mittelschwere Fälle von Fettsucht kann 
die Karellkur dann mit Vorteil herange¬ 
zogen werden, wenn es sich um Nephritiker 


oder Gichtkranke handelt. Insbesondere 
bei fettleibigenNephritikern mitBlutdruck- 
steigerung hat Strauß von „Milchtagen“ 
(s. unten) Nutzen gesehen. Auch bei manchen 
Fällen von Adipositas mit Glykosurie hält 
er einen Versuch mit der Karellkur für 
ratsam. Von diesen Spezialfällen aber ab¬ 
gesehen empfiehlt er, die Karellkur als eine 
sehr energische Kur nur für sehr schwere 
Fälle von Fettsucht zu reservieren, die auf 
anderen Wegen schwer zu bekämpfen sind, 
ln mittelschweren Fällen von Fettsucht 
mit kardialen Kompensationsstörungen und 
auch in schweren Fällen ohne kardiale 
Störungen hat Strauß in der letzten Zeit 
die Karellkur mehrfach nur in der Form 
einer 3—4 tägigen Kur durchgeführt, weil 
in dieser Zeit ja der Haupteffekt der Kur 
erzielt wird; solche „Miniatur-Kuren“ 
wurden nach einer Reihe von Wochen 
oder Monaten wiederholt, wenn das Ge¬ 
wicht des Patienten unterdes wieder stärker 
angestiegen war. Mit Erfolg hat Strauß in 
einigen Fällen auch von den von Römheld, 
Tobias u. a. empfohlenen „Milchtagen“ 
Gebrauch gemacht, die er einmal wöchent¬ 
lich, ausnahmsweise nur zweimal befolgen 
ließ. Solche „Miniaturformen“ der Karell¬ 
kur empfiehlt Strauß mehr, als eine lang 
hingezogene Durchführung der Karelischen 
Prinzipien, ferner empfiehlt er dringend, 
in allen Fällen Bettruhe durchzuführen und 
die Patienten in genauer ärztlicher Ueber- 
wachung zu halten. Unter diesen Kautelen 
und in der Beschränkung ihrer Anwendung 
auf die zur Ruhe verurteilten schweren, 
die anämischen und schlaffen Fettleibigen, 
bei denen von der Arbeitsentfettung 
gar nicht oder nur in geringem M aße Ge 
brauch gemacht werden kann, stellt nach 
Strauß’ Erfahrungen die Karellkur nicht 
nur in ihrer ursprünglichen Form, sondern 
auch in der Miniaturform, sei es als eine 
3 tägige „Einleitungskur“, sei es in Form 
der sogen. „Milchtage“, eine wirksame Be¬ 
handlung dar. Felix Klemperer. 

(Med. Klinik 1910, Nr. 13.) 

E Jacobsohn gibt einen Ueberblick 
über die chronischen Gelenkerkr&n- 
kungen im Röntgenbilde (mit Ausnahme 
der Tuberkulose und Lues). Bei den 
chronisch rheumatischen Gelenkaffektionen 
unterscheidet er nach dem Röntgenbilde 
scharf zwischen der Arthritis hypertrophicans 
und der Arthritis atrophicans. Bei der 
ersten Form finden sich geringe Knochen¬ 
atrophie, stets Proliferationen, oft knorpelige 
oder knöcherne Gelenkkörper, meist ein 
breiter Gelenkspalt auch in vorgeschrittenen 
Fällen, nie Ankylosenbildung, gute Ent- 


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April 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


175 


faltung der Gelenkkapsel bei Sauerstoff- 
insufflationen. Im Röntgenbilde zeigen sich 
oft schon bei kurz bestehender Krankheit 
große Veränderungen. Die zweite Form 
ist ausgezeichnet durch starke Knochen¬ 
atrophie, seltene Ausbildung von Prolifera¬ 
tionen, Fehlen knorpeliger oder knöcherner 
Gelenkkörper, durch den engen Gelenk¬ 
spalt in vorgeschritteneren Fällen, öfters 
durch Ankylosenbildung und schlechte Ent¬ 
faltung der Gelenkkapsel bei Sauerstoff- 
insufflationen. Im ganzen sind bei dieser 
Form die Veränderungen im Röntgenbilde, 
selbst bei lange bestehender Krankheit, nur 
geringfQgig. — Den röntgenologischen 
Unterschieden dieser beiden Formen ent¬ 
sprechen klinische und pathologisch-ana¬ 
tomische. Was die klinischen Unterschiede 
anbetrifft, so sind bei der Arthritis hyper- 
trophicans zu erwähnen: mon- oder olig- 
artikulärer, nicht exquisit progredienter 
Typus, Bevorzugung des männlichen Ge¬ 
schlechts, oft deutlich palpable Prominenzen 
und fühlbare Corpora libera, meist starkes 
Gelenkknarren, nie Ankylose, keine sehr 
ausgeprägte Muskelatrophie, selten andere 
trophische Störungen, selten starke Störung 
des Allgemeinbefindens. Bei der Arthritis 
atrophicans finden sich: Polyartikulärer, 
exquisit progredienter Typus, Bevorzugung 
des weiblichen Geschlechtes, keine fühl¬ 
baren Prominenzen oder Corpora libera, 
kein auffallendes Gelenkknarren, oft Anky¬ 
lose, fast immer starke Muskelatrophie, oft 
andere trophische Störungen, oft starke 
Störung des Allgemeinbefindens. — Die 
pathologisch - anatomischen Unterschiede 
sind für die Arthritis hypertrophicans: Be¬ 
ginn in der Knorpelsubstanz, stets Wuche¬ 
rungsprozesse, keine Synechien, nie Anky¬ 
losen, Zottenwucherung und Corpora libera 
cartilag. et ossea, für die Arthritis atro¬ 
phicans: Beginn in der Synovialis, keine 
oder nur sehr geringfügige Wucherungs¬ 
prozesse, oft Synechien, öfters Ankylosen, 
Zottenwucherung und Corpora libera fibri- 
nosa. Die Einteilung chronisch-rheuma¬ 
tischer Gelenkaffektionen in hypertrophische 
und atrophische Formen hilft nach Ansicht 
des Verfassers bei der Differenzierung der 
übrigen chronischen Arthritiden insofern, 
als man meistens sagen kann, daß eine be¬ 
stimmte Art chronischer Gelenkerkrankung 
mehr den hypertrophischen Charakter an¬ 
nimmt, eine andere wiederum mehr dem 
atrophischen entspricht. Zur hypertrophi¬ 
schen Form wären die neuropathischen 
Gelenkaffektionen zu rechnen, zur atro¬ 
phischen die chronisch-infektiösen Arthri¬ 
tiden (der sekundär - chronische Gelenk¬ 


rheumatismus, die Arthritis gonorrhoica, 
andere im Gefolge von Infektionen auf¬ 
tretende chronische Gelenkentzündungen, 
z. B. bei S?psis, Typhus, Influenza, Skar- 
latina), die Gicht und gewisse Formen der 
Arthritis senilis. 

Der Arbeit sind eine g ößere Anzahl 
von Röntgenbildern beigegeben. Sie stützen 
die von dem Verfasser angeführten Beob¬ 
achtungen hinsichtlich des Röntgenbefundes 
chronischer Gelenkprozesse. 

Autoreferat. 

(Mitt. a. d. Gr. 1909, Bd. 20, H. 5.) 

Seine aus der inneren Abteilung des 
städt Krankenhauses Moabit herrührenden 
Beobachtungen von tuberkulösem Gelenk¬ 
rheumatismus hat E. Melchior um einen 
neuen Fall aus der Berliner chirurgischen 
Klinik vermehrt. 

Es handelt sich bei der letzten Beob¬ 
achtung um ein 19 jähriges Mädchen mit 
tuberkulöser Heredität, welches als Kind 
an skrofulösen Drüsen litt. Vor 2 Jahren 
stellte sich eine Tuberkulose des Unter¬ 
kiefers ein, welche wegen fortschreitender 
Knochennekrose die Exartikulation not¬ 
wendig machte. Etwa 3 Wochen nach der 
ohne Komplikationen verlaufenen Opera¬ 
tion begann das linke Sprunggelenk unter 
Schmerzen und Fieber anzuschwellen und 
es folgten nach 14 Tagen Schwellungen im 
linken Knie und Ellenbogen. In allen Ge¬ 
lenken war ein deutlicher Erguß vorhanden. 
Das Allgemeinbefinden der Patientin war 
befriedigend, die Funktionsstörung der be¬ 
fallenen Gelenke unbedeutend. 

Nach Ausschluß von Gonorhoe, Lues 
und Ablehnung eines akuten Gelenkrheuma¬ 
tismus kommt Melchior zur Diagnose eines 
tuberkulösen Gelenkrheumatismus, wie er 
zuerst von Grocco und Poncet be¬ 
schrieben ist. Melchior gründet die Dia¬ 
gnose hauptsächlich auf das gleichzeitige 
Bestehen einer konstitutionellen tuberkulösen 
Erkrankung, und auf den Nachweis von 
Tuberkelbazillen, die nach einem neuen von 
Zieschl angegebenen Verfahren im Blute 
gefunden wurden. 

Das in Deutschland wenig bekannte 
Bild des tuberkulösen Gelenkrheumatismus 
erinnert, abgesehen von der miliaren Form 
der Synovialtuberkulose, die als Teiler¬ 
scheinung der akuten Miliartuberkulose eine 
infauste Prognose gibt, am meisten an einen 
subakuten Gelenkrheumatismus mit schlech¬ 
ter Heilungstendenz. Befallen werden fast 
ausschließlich Individuen, die entweder an 
einer klinisch manifesten Organtuberkulose 
leiden oder durch Heredität und Habitus 
tuberkulös suspekt sind. 


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April 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Poncef, dem wir neben Grocco die 
eingehenddien Ansichten über den tuber¬ 
kulösen Gelenkrheumatismus verdanken, 
vertritt die Auffassung, daß die Gelenk¬ 
entzündungen toxischen Ursprunges sind. 
Dem gegenüber ist es in neuerer Zeit, 
wenn auch nur in wenigen Fallen, gelungen, 
durch Verimpfung des Gelenkpunktates bei 
Meerschweinchen Tuberkulose zu erzeugen. 

Wenn auch zuzugeben ist, daß derartige 
Versuchsergebnisse die toxische Natur des 
tuberkulösen Gelenkrheumatismus in Frage 
stellen, so kommt dem von Melchior 
erbrachten Nachweis einer tuberkulösen 
Bazillämie keine Beweiskraft, weder im 
positiven, noch negativen Sinne zu, da in 
Fällen von manifester Organtuberkulose, 
an der Patient leidet respektive gelitten hat, 
Tuberkelbazillen öfters im Blute angetroffen 
werden. Leo Jacobsohn (Charlottenburg). 

(Berl. klin. Woch. No. 11.) 

K. Kaspar macht auf Grund der in dem 
Cnopfschen Kinderspital in Nürnberg 
gewonnenen Erfahrungen auf die Fort¬ 
schritte in der Intubationsbehandlung 
der diphtheritischen Larynxstenose 
aufmerksam, welche der von O’Dwyer, 
dem Erfinder der Methode, 1897 eingeführ¬ 
ten Alaunheiltube zu danken sind. 

Die Vorzüge der Intubation vor der 
Tracheotomie sind jetzt allgemein aner¬ 
kannt; die Intubation ist leicht zu erlernen 
und stellt einen weit geringeren Eingriff 
dar, als die Tracheotomie, sie hat weiterhin 
nicht die Gefahren für die Atmungsorgane, 
die dieser anhaften. Als Nachteil der In¬ 
tubation wird geltend gemacht, daß sie in 
der Hauptsache auf das Krankenhaus 
beschränkt bleiben muß, weil die rasche 
Erreichbarkeit des Arztes Bedingung ist. 
Dies fällt nicht so sehr ins Gewicht, weil 
einmal bei den heutigen Verhältnissen die 
Mehrzahl der Kruppatienten im Spital be¬ 
handelt wird. Ferner kann sich der Arzt 
draußen mit Hilfe der Intubation die Trache¬ 
otomie sehr erleichtern, indem er dem 
Patienten erst einmal schnell über einen 
gefahrdrohenden Erstickungsanfall hinweg 
hilft. Der geübte und erfahrene Arzt kann 
bei günstigen äußeren Verhältnissen sehr 
wohl auch in der Privatpraxis die Heil¬ 
behandlung mit der Tube durchführen. 
Nicht selten verläuft die Sache so, daß man 
die Tube einführt und dadurch eine Pseudo¬ 
membran lockert; ein heftiger Hustenstoß 
wird ausgelöst, bei dem Tube und Pseudo¬ 
membran herausfliegen, und die Stenose 
ist dauernd behoben. Unentbehrlich ist 
ferner die Tube in den Fällen, wo trache- 
otomierte Kinder infolge irgendwelcher 


pathologischer Verbildungen die Kanüle 
nicht mehr entbehren können; hier dient 
die Tube direkt als Bougie, welche den 
deformierten und stenosierten Kehlkopf 
wieder in die richtige Form bringt. 

Der einzig gewichtige Nachteil des In¬ 
tubationsverfahrens besteht darin, daß die 
Tube auf der diphtheritisch entzündeten 
Kehlkopfschleimhaut bei manchen Kindern 
einen Dekubitus verursacht, welcher unter 
Umständen schwere Folgen nach sich zieht. 
Die meisten dekubitalen Geschwüre liegen 
in derZirkumferenz des Ringknorpels,haupt¬ 
sächlich an der vorderen Seite, an der Stelle 
also, welche nachgewiesenermaßen die 
engste im Laryngo-Trachealrohr ist und 
welche eigentlich die Tube im Kehlkopf 
festhält, indem sie sich fest um die bauchige 
Anschwellung derselben zusammenschließt. 
Die durch den diphtheritischen Prozeß ge¬ 
schädigte Schleimhaut ist in ihrer Wider¬ 
standskraft wahrscheinlich herabgesetzt und 
leichte Arrosionen, öfter noch kleine, durch 
den Druck anämische Stellen sind ziemlich 
häufig zu finden. Solche Läsionen sind 
meist unbedenklich, sie machen keine Sym¬ 
ptome und sind in ihrer Bedeutung für den 
Patienten sicher geringer anzuschlagen, als 
eine Tracheotomiewunde. Aber manchmal 
kommt es doch innerhalb kurzer Zeit zu 
vollständiger Zerstörung der Schleimhaut, 
ja zu Arrosion und Durchlöcherung des 
Ringknorpels und die Heilung gestaltet 
sich dann ungemein schwierig und lang¬ 
wierig. 

Das Auftreten solcher Folgeerscheinun¬ 
gen hat dazu geführt, daß man Kinder, 
die nach einer gewissen Zeit, gewöhnlich 
3 mal 24 Stunden, die Tube nicht definitiv 
entbehren konnten, sekundär tracheoto- 
mierte, ob sie nun einen Dekubitus hatten 
oder nicht. 

Gegen diesen Standpunkt, den heute 
noch die meisten Kinderspitäler einnehmen, 
wendet Kaspar ein, daß einmal die Re¬ 
sultate der sekundären Tracheotomie quoad 
vitam durchaus nicht die besten sind; ferner 
daß dabei zweifellos auch Kinder tracheo- 
tomiert werden, die mit der Tube allein 
noch zu heilen gewesen wären; und drittens 
daß damit nicht einmal immer mehr das Auf¬ 
treten von schwerem Dekubitus vermieden 
wird, da dieser sich gelegentlich schon 
in den ersten 2—3 Tagen entwickelt. Die 
Schwierigkeit liegt darin, daß es nicht 
möglich ist, eine exakte Diagnose zu stellen, 
ob ein Dekubitus da ist, wann er eintritt, 
wie groß er ist. Von dem Kehlkopfspiegel 
kann bei den kleinen Kindern, zumal bei 
der bestehenden Erstickungsgefahr, kaum 


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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


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je Gebrauch gemacht werden. Es bleiben 
gewisse klinische Anzeichen, die jedoch 
nicht absolut zuverlässig sind. Als ein 
Hauptsymptom des Dekubitus gilt das häu¬ 
fige Aushusten der Tube sowie die immer 
kürzer werdende Zeit, in der das Kind 
ohne Tube atmen kann. Indessen kamen 
auf der Cnopfschen Abteilung Kinder zur 
Beobachtung, welche die Tube nie aus¬ 
husteten, nach der Extubation 2—3 Tage 
ohne Tube aushielten und dennoch schwere 
Geschwüre acquiriert hatten, andere da¬ 
gegen, welche die Tube sehr oft aushusteten 
und keine Geschwüre hatten. Von Neu¬ 
mann aus Baginskys Klinik ist auf das 
Verhalten der Temperatur hingewiesen 
worden. Normaler Weise fällt bei der 
Diphtherie die Temperatur am 2. oder 
3. Tage zur Norm ab; kommt es zum De¬ 
kubitus, so beginnt ein neuer Anstieg. 
Kaspar findet diese Beobachtung in seinem 
Material des öfteren bestätigt, sehr häufig 
aber treten sonstige fieberhafte Kompli¬ 
kationen störend dazwischen. Einen ge¬ 
wissen diagnostischen Wert für die Er¬ 
kennung des Dekubitus schreibt Kaspar 
der Albuminurie zu. Er nimmt an, daß 
die Vulverabilität der Schleimhaut in di¬ 
rektem Verhältnis zur toxischen Schädigung 
der Gewebe durch die Diphtherie steht, 
und den Grad dieser letzteren glaubt er 
ermessen zu können an dem Auftreten 
einer Albuminurie sowie an der Stärke 
derselben. In Fällen mit schwererer Albu¬ 
minurie wendete Kaspar die Tube nur 
mit Vorsicht an und tracheotomierte sehr 
frühzeitig, wenn die Extubation nicht ge¬ 
lang. Ueberhaupt nicht recht zur Intu¬ 
bation geeignet sind schwammige, sehr 
junge (sogenannte pastöse, lymphatische) 
Kinder, ferner solche, die kurz vorher eine 
andere Infektionskrankheit (Masern, Schar¬ 
lach) überstanden haben oder gleichzeitig 
mit der Diphtherie an einer solchen leiden. 
Bei diesen Kindern ist die Kehlkopfschleim¬ 
haut besonders empfindlich, und die Tube 
darf nicht lange, höchstens 24 Stunden, 
liegen; besteht dann noch Stenose, so muß 
zur Tracheotomie geschritten werden. 

Einen wesentlichen Fortschritt in dieser 
Situation bedeuten die neuen Tuben, die 
O’Dwyer 1897 konstruiert hat, die aber 
bei uns noch wenig Eingang gefunden 
haben. O’Dwyer machte den Halsteil der 
Tube schlanker und verlegte ihre bauchige 
Hervorwölbung etwas tiefer, so daß sie 
außerhalb der gefährlichen Stelle am Ring¬ 
knorpel zu liegen kommt; außerdem umgab 
er den Halsteil mit einer alaunhaltigen 
Gelatine, wodurch die Heilung von Ge¬ 


schwüren befördert werden sollte. Diese 
Tuben werden auf der Cnopfschen Ab¬ 
teilung seit 1 Jahr angewendet. Die Kinder 
werden zuerst mit der normalen Tube in- 
tubiert und zwar mit der Ebonittube; ge¬ 
lingt nach 2 mal 24 Stunden die Extabation 
nicht definitiv, so wird zur Alaunheiltube 
übergegangen, besonders dann, wenn es 
sich um die vorerwähnten empfindlichen 
Kinder handelt. Der Erfolg dieses Ver¬ 
fahrens war ein eklatanter: schwerer 
Dekubitus kam nur noch ganz seiten vor 
und die Zahl der notwendig gewordenen 
Tracheotomien ging sehr stark zurück (von 
22—33% in den Vorjahren auf 6°/ 0 ). Kaspar 
empfiehlt deshalb die Anwendung der 
Alaunheiltube, durch welche voraussichtlich 
die Tracheotomie auf wenige Ausnahme¬ 
fälle zu beschränken sein wird. 

Felix Klemperer. 

(Münch. Med. Woch. 1910, No. 11.) 

Nach den Erfahrungen Czernys, die 
von Caan mitgeteilt werden, ist das 
Radium ein wichtiges Mittel zur Be¬ 
kämpfung von bösartigen Tumoren, z. B. 
Karzinomen, Sarkomen, besonders Melano- 
Sarkomen, sowie malignen Lymphomen. 
Bisher wurden von malignen Tumoren ge¬ 
wöhnlich nur oberflächlich gelegene klei¬ 
nere Tumoren (Epitheliome, isolierte Knöt¬ 
chen bei Mammakarzinomrezidiven usw.) 
mit Radiumbromid behandelt. Hinderlich 
war die Seltenheit und Kostspieligkeit 
dieses Präparates. Neuerdings stellt das 
Wiener Arbeitsministerium in beschränktem 
Maße Radiumpräparate zur Verfügung, 
die einen geringen Prozentsatz angeblich 
reinen, aus Joachimsthaler Pechblende her¬ 
gestellten Radiumbromids enthalten sollen 
und verhältnismäßig preiswert erscheinen. 
Die Versuche Czernys bezogen sich 
namentlich auf Radiolpräparate aus dem 
Kreuznacher Quellsinter und Präparate der 
Berliner Radiogengesellschaft, die durch 
ihre Menge und Billigkeit weitgehende 
Verwendung erlauben. Die Ungiftigkeit 
der Präparate wurde durch Tierversuche 
festgestellt, während zahlreiche histologische 
Untersuchungen darauf hinwiesen, daß es 
sich bei der Radiumwirkung auf maligne 
Tumoren, wenn auch nicht um eine spezi¬ 
fische, so doch um eine elektive Wirkung 
insoweit handelte, als in der Regel zuerst 
die eigentlichen Tumorzellen, in zweiter 
Linie das Bindegewebe und die Gefäße 
angegriffen wurden. Die weißen Blut¬ 
körperchen nahmen während der Behand¬ 
lung zu, rote Blutkörperchen und Hämo¬ 
globin nahmen ab. Die kurze Behandlungs¬ 
zeit läßt nicht von Dauerheilungen sprechen, 

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April 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


aber die vorübergehenden bezw. vor¬ 
läufigen Erfolge bedeuten schon einen 
großen Fortschritt. In etwa 50% von 
130 Fällen hatte die Radiumbehandlung 
nennenswerten Erfolg (Verflüssigung, Er¬ 
weichung, Schrumpfung der Tumoren, 
Hebung des subjektiven Befindens), be¬ 
sonders bei malignem Lymphom. Die 
Radiumbehandlung allein stand in ihren 
Erfolgen aber weit zurück hinter der kom¬ 
binierten Behandlung durch Radium zu¬ 
sammen mit Röntgenbestrahlung oder Ful- 
guration oder medikamentöser Behandlung 
oder Forestisierung oder Toxinbehandlung. 
Bei einigermaßen operierbaren Fällen kommt 
die blutige Operation oder die Ignioperation 
in erster Linie in Betracht. Durch bieg¬ 
same Radiumsonden und besonders kon¬ 
struierte rohrförmige Behälter kann man 
das Radium an sonst schwer zugängliche 
Stellen bringen. Das Radiolpulver besteht 
aus hochwertigen Radiumsalzen, die in 
hochkonzentriertem Zustand in eine wasser¬ 
unlösliche Form gebracht werden. Mit diesem 
Pulver wurden offene Karzinomgeschwüre 
bestreut, doch wirkt es nicht bakterizid 
und wird deshalb besser mit Borsäure zu 
gleichen Teilen verwandt. Radioldauer- 
kompressen enthalten Radiol in einer im 
Wasser aufquellenden Grundmasse, die in 
Stoff eingenäht ist; sie werden täglich 
6—8 Stunden feucht bei geschlossenen 
Karzinomen, Drüsenanschwellung und ex¬ 
sudativen Karzinosen aufgelegt; die Er¬ 
folge waren bisweilen überraschend. 
10%ige Radiolgaze brachte nur vorüber¬ 
gehenden Erfolg. Radiolgelatineverbände 
hatten keinen Einfluß. Sonden wurden mit 
Radiolschellack oder steriler emanations¬ 
wasser- oder radiolsalbehaltiger Gaze 
armiert und mehrere Stunden eingelegt. 
In den Handel kommen noch 20 g schwere 
Vaginalkugeln als Ovuli Radioli und 5 g 
schwere Kugeln als Globuli Radioli aus 
10% bei Körpertemperatur schmelzender 
Radiolgelatine. Die von dem Radiolpulver 
ausgehende Emanation kann auf Wasser 
übertragen werden. Solche emanations¬ 
haltige Kochsalzlösung sowie Radiolemul- 
sion wurden in Tumoren eingespritzt, er¬ 
wiesen sich aber durch ihren Bakterien¬ 
gehalt als nachteilig, führten allerdings 
eine Verflüssigung und Nekrose im Tumor 
herbei; von dem Radiogen läßt sich eine 
sterile emanationshaltige Flüssigkeit her- 
stellen. Die Magenkarzinome wurden durch 
Darreichung von Radiol- beziehungsweise 
Radiogenemanationswasser, bis 100 ccm 
pro die, und Radioldauerkompressen be¬ 
handelt, zum Teil mit Besserung des sub¬ 


jektiven und objektiven Befindens, zum 
Teil mit Verschlechterung. Bei Oesophagus¬ 
karzinom besserten sich die Beschwerden, 
bei Uteruskarzinom nicht. Klink. 

(Bruns B. 1909, Bd. 65, H. 3.) 

Die primäre Lungenruptur hat bei kon¬ 
servativer Behandlung eine Mortalität von- 
63%, Nebenverletzungen mitgerechnet Des¬ 
wegen empfiehlt Wolf(-Trendelenburg> 
die operative Behandlung. Kleine Lungen¬ 
wunden heilen leicht von selbst, größere 
heilen gut, wenn sie genäht werden. Das 
Lungengewebe hat keine Regenerations¬ 
fähigkeit und heilt mit einer Narbe. Schuß- 
und Stichwunden heilen leichter spontan» 
als Risse. 3 Indikationen bestehen für die 
Naht: drohende Verblutung beziehungs¬ 
weise rasches Anwachsen des Hämothorax, 
starke Hämoptoe mit drohender Aspiration 
des Blutes in die andere Lunge und zu¬ 
nehmendes bedrohliches Emphysem. Die 
Gefahren des Eingriffes sind Infektion und 
Pneumothorax; der letztere läßt sich durch» 
Herausziehen der Lunge aus der Wunde 
vermeiden; man kann dieselbe nachher so¬ 
gar in die Thoraxwunde einnähen, wodurch 
eine Wiederausdehnung begünstigt, das 
Schwinden des Pneumothorax beschleunigt 
wird; das Operieren mit Druckdifferenz¬ 
apparaten ist natürlich sehr angebracht. 
Die Wunde ist möglichst immer zu nähen, 
die Tamponade nur auf den Notfall zu be¬ 
schränken, daß die Quelle der Blutung am 
Hilus sitzt und für eine Naht nicht zu er¬ 
reichen ist. Selbst auf die Gefahr hin, 
später wegen eines Exsudates wieder öffnen 
zu müssen, soll man die Pleura schließen, 
um die Kranken über die gefährliche Zeit 
der Zirkulationsstörung wegzubringen. Von 
einem prinzipiellen sofortigen Operieren 
jeder Lungenverletzung darf keine Rede 
sein; der erste Shock darf nur nicht ver¬ 
leiten, und eine Probethorakotomie ist 
noch nicht spruchreif. Läßt sich aus der 
zunehmenden Blässe und Cyanose, aus der 
immer mühsamer werdenden Atmung, dem 
kleinen frequenten Puls, dem angsterfüllten 
Gesichtsausdruck auf die Fortdauer der 
Blutung schließen, so ist die unbedingte 
Indikation zur Thorakotomie gegeben, 
gleichviel, ob nebenher Spannungspneumo¬ 
thorax und bedrohliches Hautemphysem 
besteht oder nicht. Die Haemoptoe fehlt 
oft. Die Thorakotomie muß ausgiebig sein, 
damit man mit der Hand eingehen, die 
Lunge hervorziehen und die Oberfläche 
absuchen kann. Dazu ist gewöhnlich Re¬ 
sektion einer oder mehrerer Rippen nötig. 
Auch die Lungenschüsse geben bei kon¬ 
servativer Behandlung eine Mortalität von 


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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


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30%, die Stichverletzungen von 38%; 
Kriegs- und Friedensverletzungen sind 
hierin gleich, auch die modernen Geschosse 
geben keine bessere Prognose als die 
alteren deformierenden Weichbleigeschosse. 
Die innere Verblutung nach Schußverletzung 
kann noch nach einem Monat zum Tode 
führen. Klink. 

(Bruns B. 1910, Bd. 66, H. 1.) 

Eine Arbeit von Finsterer aus der 
Hackerschen Klinik faßt den heutigen 
Standpunkt der Behandlung lebensbedrohen¬ 
der Hagen- und Duodenalblutungen zu¬ 
sammen. Danach bestehen die von Leube 
und Mikulicz aufgestellten Leitsätze für 
die chirurgische Behandlung dieser Er¬ 
krankung im großen und ganzen noch zu 
recht: Bei akuter einmaliger Magenblutung 
innerliche Behandlung mit völliger Ruhig¬ 
stellung des Magens; nach neuerlicher 
oder chronisch in kleineren Mengen sich 
wiederholender Blutung wegen der Ge¬ 
fahren schwerer Anämien operative Be¬ 
handlung. Als solche kommen in Betracht: 
die Exzision des GeschwQrs bei günstigem 
Sitz (Pylorus, kleine Kurvatur); wenn diese 
nicht möglich ist, die Unterbindung der 
blutenden Gefäße nach Eröffnung des 
Magens oder die Unterbindung der zu- 
führenden Kranzarterien nach Witzei. 
Zur Bestimmung des Sitzes des blutenden 
Ulkus kann die Beobachtung Hackers 
wertvoll sein: eine diffuse, oft in Strahlen 
auslaufende ßammige Rötung, die durch 
perigastritische, außerordentlich gefäßreiche, 
tiefrote Pseudomembranen bedingt ist. Sie 
kommt in ähnlicher Weise auch bei Chole¬ 
zystitis auf der Serosa der Gallenblase vor. 
Hacker hat sie nur beim Ulkus, nicht 
beim Karzinom, auch nicht beim Ulkus¬ 
karzinom gesehen. Die Gastroenterostomia 
retrocolica posterior ist beim Sitz des 
Ulkus am Pylorus indiziert, wünschenswert 
beim Ulkus an der kleinen Kurvatur zur 
Erzielung eines guten Abflusses des Magen¬ 
inhalts. Eine blutstillende Bedeutung kommt 
ihr bei den kleinen, nicht die ganze Dicke 
der Magenwand einnehmenden Ulzera zu, 
während bei den kallösen Ulzera kein Er¬ 
folg zu erwarten ist. Zur Vermeidung der 
wegen der hochgradigen Anämie schäd¬ 
lichen Narkose soll entweder die Lokal¬ 
anästhesie oder die Lumbalanästhesie ver¬ 
wendet werden. Der Tod durch Verblutung 
bei innerer Behandlung tritt in 5—12% 
der Ulkusfälle ein. Der Prozentsatz der 
Heilungen durch Operation bedeutet einen 
großen Fortschritt. Klink. 

(Bruns B. 1909, Bd. 65, H. 3.) 


H. Oppenheim und M. Borchardt 
veröffentlichen einen interessanten Beitrag 
über das bisher unbekannte Krankheitsbild 
der Meningitis chronica serosa circum- 
skripta. 

Diese nicht nur den Neurologen inter¬ 
essierenden Mitteilungen sind ein neuer 
Beweis für das erfolgreiche Zusammen¬ 
gehen der Chirurgie und Neurologie. 

Den Ausgangspunkt der Betrachtungen 
bildete ein siebenjähriges Mädchen, bei 
welchem sich im Laufe einiger Monate das 
Bild einer zerebellaren Neubildung ent¬ 
wickelte. ImAnschluß an ein schwereres Kopf¬ 
trauma stellten sichKopfschmerz, Erbrechen, 
Doppelsehen und zeitweise auch Nacken¬ 
steifigkeit ein. Der von H. Oppenheim 
erhobene Befund ergab Parese des rechten 
Abduzens, mäßige Nackensteifigkeit, leichte 
zerebellare Ataxie, Verlust der Kniephäno¬ 
mene, Herabsetzung der Hörfähigkeit rechts 
und doppelseitige Stauungspapille. Auf 
Grund dieser Symptome wurde ein Tumor 
resp. Zyste der rechten hinteren Schädel¬ 
grube angenommen und trotz fehlender 
Anhaltspunkte für Lues eine Jodquecksilber¬ 
kur eingeleitet. 

Unter dieser Behandlung trat eine fast 
völlige Rückbildung aller Symptome ein. 
Auch die Stauungspapille ging zurück. 
Die Patientin erholte sich rasch und nahm 
25 Pfund zu. 

Einige Monate später kam es wieder zu 
Anfällen von Kopfschmerz und Erbrechen, 
die sich wieder auf Jod besserten. Ein 
halbes Jahr darauf stellten sich die früheren 
Symptome in gleicher Stärke wieder ein 
und auch der Nervenstatus entsprach, ab¬ 
gesehen von einer neu hinzugekommenen 
Adiadokokinesis der rechten Hand im 
wesentlichen dem früheren Untersuchungs¬ 
ergebnis. Im Anschluß an eine Spinal¬ 
punktion erfolgte rapide Verschlimmerung 
des Zustandes. An neuen Symptomen 
fanden sich Nystagmus beim Blick nach 
rechts, rechtsseitige Fazialisparese und aus¬ 
gesprochene zerebellare Ataxie. 

Das Kind wurde unter der Diagnose 
Tumor oder Zyste der rechten hinteren 
Schädelgrube M. Borchardt zur Operation 
überwiesen. Die zweizeitig ausgeführte 
Operation ergab an der Unterfläche der 
rechten Kleinhirnhemisphäre eine zystische 
Degeneration der Arachnoidea. Aus der 
Meningealzyste entleerte sich etwa ein 
Weinglas Liquor. Darauf wurde die Dura 
vernäht und der Hautknochenlappen ge¬ 
schlossen. Nach drei Monaten wegen neuer 
Drucksymptome nochmalige Trepanation 
und Entleerung einer Zyste an derselben 

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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


April 


Stelle und des gleichen Charakters. Darauf 
schnelle Wundheilung und Rückbildung 
aller Symptome bis auf eine auf teil weiser 
Optikusatrophie beruhende Sehstörung. 

Das Wesentliche und Neue des hier 
zitierten Falles liegt in dem Nachweis einer 
umschriebenen chronischen serösen Menin¬ 
gitis, die sich im Anschluß an Traumen, 
vielleicht auch auf anderer Grundlage, ent¬ 
wickeln kann. Die Symptomatologie dieses 
Zustandes steht der des Hirntumors so 
nahe, daß eine sichere Abgrenzung nicht 
möglich ist. Vielleicht sind meningeale 
Reizerscheinungen bei Neigung zu längeren 
Remissionen von Bedeutung für die DifFe- 
rentialdiagnose. Ist Jod und Quecksilber 
ohne Erfolg, so soll operiert werden. Wie 
bei allen Neubildungen der hinteren Schädel¬ 
grube muß die Spinälpunktion bei Verdacht 
eines solchen Zustandes vermieden werden. 

Leo Jacobsohn (Charlottenburg). 

(Deutsche med. Wschr. 1910, Nr. 2.) 

Polano gibt uns in seiner Arbeit über 
Oelsäurewirkungen als Ursache der 
Eklampsia gravidarum die Ergebnisse 
seiner Versuche wieder. Basierend auf 
den Arbeiten von Faust und Tallquist, 
die als Ursache der Botriozephalus- 
anämie die Oelsäure erkannt hatten, 
glaubten Freund und Mohr die Oelsäure 
auch als ätiologischen Faktor für die 
Eklampsie gefunden zu haben, indem sie 
dieselbe in der Eklampsieplazenta nach¬ 
wiesen. Mit Recht weist Polano darauf 
hin, daß der qualitative Nachweis aber 
nicht genügt, sondern daß es vielmehr auf 
eine quantitative Bestimmung der Oelsäure 
in der Eklampsieplazenta ankommt. Bei 
der Botriozephalusanämie handelt es sich 
um eine lange Zeit andauernde schädigende 
Wirkung der Oelsäure auf die roten Blut¬ 
körperchen, von denen stets eine kleine 
Anzahl untergeht: es kommt dabei nie zu 
akuten Erscheinungen. Wenn man nun 
annimmt, daß die eklamptischen Krampf¬ 
anfälle durch eine plötzlich erfolgende 
Zerstörung der roten Blutkörperchen ent¬ 
stehen, sie also als Erstickungskrämpfe 
deutet, dann müßte nachgewiesen werden, 
daß dieses hämolytische Gift bei der 
Eklampsie nun wirklich in großer Menge 
auf einmal zur Wirkung gelangt. 

Polano schließt aus seinen Analysen, 
daß Oelsäure sich sowohl in der normalen 
wie in der eklamptischen Plazenta findet, 
und zwar nicht nur im eigentlichen Zellen¬ 
gewebe, sondern auch in den Eihäuten und 
der Nabelschnur. Ein Ueberwiegen der 
Oelsäure bei der Eklampsie konnte Polano 
nicht feststellen. Im Blut einer Eklampti¬ 


schen fand sich nicht mehr Oelsäure als 
bei einer Nichteklamptischen. Im Urin 
wurde ein Unterschied in bezug auf den 
Oelsäuregehalt nicht festgestellt. 

Nach Zangemeister ist die Zahl der 
roten Blutkörperchen im Blut der Eklampti¬ 
schen in der Regel vermehrt, niemals aber 
verringert, während es bei der Oelsäure- 
vergiftung gerade zu einer Verminderung 
der Erythrozytenzahl und des Hämoglobin¬ 
gehaltes kommt. 

Pol an os Resultate sprechen also gegen 
die von Freund und Mohr aufgestellte 
Oelsäurehämolysetheorie der Eklampsie. 

P. Meyer. 

(Ztschr. f. Geburtsh. und Gynftk., Bd. 65, H. 8.) 

In ihren „Untersuchungen über die 
physiologisch wirksame Substanz der 
SchUddpfise“ prüften Pick und Pineies 
die Wirksamkeit von Schweineschild¬ 
drüsen, Thyreoglobulin, Jodothyrin, 
sowie von Präparaten, die durch Spaltung 
von Schilddrüseneiweiß (Säure-Pepsin- 
Trypsinspaltung) gewonnen worden waren. 

Testobjekt waren myxödematöse Ziegen, 
deren Ausfallserscheinungen je nach der 
Beeinflussung durch die genannten Präpa¬ 
rate als Maßstab diente. 

Daß Schweineschilddrüsen sehr günsti¬ 
gen Erfolg zeigten, entspricht den allge¬ 
meinen Erfahrungen. 

Auch von dem nach Oswald darge¬ 
stellten Thyreoglobulin sahen Pick und 
Pineies das gleiche prägnant günstige 
Resultat. Dagegen waren das nach 
Baumann von Bayer dargestellte Jodo¬ 
thyrin ebenso wie die durch längere 
Verdauung gewonnenen Pepsin-Trypsin- 
Präparate wirkungslos. 

Auch nach Baumanns großer Ent¬ 
deckung, als man zunächst geglaubt im 
Jodothyrin die wirksame Substanz ent¬ 
deckt zu sehen, hatte man praktisch doch 
nur von den Organpräparaten, wie sie 
fabrikmäßig dargestellt werden, Gebrauch 
gemacht. Entweder handelt es sich hier¬ 
bei um getrocknete, pulverisierte Drüsen¬ 
substanz oder um bei Zimmertemperatur 
mit Kochsalzlösung dargestellte Extrakte. 

Am besten sind naturgemäß die Organ¬ 
präparate, die möglichst ohne chemische 
Eingriffe alle Stoffe der Drüse unverändert 
enthalten. Denn was das wirksame Prinzip 
der Gl. thyreaidea ist, wissen wir nicht. 

Rahel Hirsch (Berlin). 

(Ztschr. f. exp. Path. u. Therapie, Bd. 7, H. 2, 
S. 518.) 

Eine Operation, die der praktische Arzt 
oft machen muß, ist die Sehnenn&ht. Sehr 
oft sieht er sich auch in die Lage versetzt. 


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April 


Die Therapie der 


eine Sehnenplastik machen zu müssen. 
Deshalb werden die Tierversuche, die 
Kirschner angestellt hat, sehr interessieren. 
Eine Achillessehne, die einem Kaninchen 
entnommmen und demselben Tier zwischen 
die Beuger des Oberschenkels lose ein¬ 
gepflanzt wurde, blieb einmal zum Teil 
erhalten, ein anderes Mal wurde die Sehne 
so aufgelockert und verändert, daß von 
Weiterleben keine Rede war. Die auf¬ 
lösenden Leukozyten dringen auf dem 
Wege des physiologischen Saftstroms in 
dem Peritenonium in die Sehne. Bei allen 
Transplantationen tritt der große Unter¬ 
schied zwischen Periost und Peritenonium 
zutage; das Periost ist ein wichtiges Ge¬ 
webe, das Peritenonium nur ein nicht 
spezifisches Bindegewebe, das nur als 
Blut- und Lymphgefäßträger eine neben¬ 
sächliche Rolle spielt und dessen Schädi¬ 
gung keine schlimmen Folgen hat. Wurde 
bei Hunden die Achillessehne exstirpiert 
und durch das entfernte oder ein anderes 
Stück Sehne ersetzt, so heilte es gut ein 
und die Funktion war gut, wenn die Sehne 
nicht zu sehr gequetscht und nicht gleich 
zu sehr belastet wurde. Sehr gute Erfolge 
lieferten die Versuche, Sehnen durch 
Faszienstücke zu ersetzen. Die überpflanz¬ 
ten Sehnen haben die unangenehme Eigen¬ 
schaft, sich allmählich zu verlängern zum 
Schaden der Funktion; zweifellos sind die 
Stellen der Dehnung die Sehnennarben. 
Der Versuch, aus Sehnen dünne Bänder 
zu schneiden, mißlang. Die Muskelfaszien, 
besonders dieFascia lata des Oberschenkels, 
mit ihrem stärksten Zug, dem Tractus ileo- 
tibialis (Massiatscher Streifen), sind ein 
Sehnengewebe als dünne Platte, das sich 
leicht in Bänder von jeder Breite und 
Länge schneiden läßt, sehr fest ist und in 
beliebiger Menge ohne Funktionsstörung 
entnommen werden kann. Die Faszien 
zeigten sich für die freie Transplantation 
sehr geeignet Sie bleiben in ganzer Aus¬ 
dehnung am Leben und lassen — im Gegen¬ 
satz zu den Sehnen — nekrotische Stellen 
fast ganz vermissen. Erst nach Wochen 
und Monaten verlieren die Faszien ihre 
charakteristische Struktur und nehmen das 
Aussehen eines festen, straffen, sehnen¬ 
artigen Bindegewebes an. Die Versuche 
haben gezeigt, daß die Faszie zum Sehnen¬ 
ersatz mindestens ebenso brauchbar ist, 
wie die Sehne selbst und die anderen bis¬ 
her verwandten Materialien. Sie kann 
ferner in Anspruch genommen werden, 
als körperfremdes Material, bei dem das 
Durchwachsenwerden auf lange Strecken 
natürlich lange braucht. Die Faszie kann 

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Gegenwart 1910. 181 

auch als Mantel um eine Sehnennaht als 
Verstärkung herumgelegt werden. Der 
Versuch, die Bauchdecken, mit alleiniger 
Erhaltung von Haut und Peritoneum auf 
eine große Fläche durch Faszie zu er¬ 
setzen, glückte sehr schön; ein andermal 
wurde nur die Haut erhalten und das 
Peritoneum und die übrigen Schichten 
durch je ein Faszienblatt ersetzt und hier 
bildete sich in kurzer Zeit annähernd die 
normale Wandstärke. Das die Muskellücke 
ausfüllende Blatt wird in ein festes Narben¬ 
gewebe umgewandelt, dem ein großer Teil 
deF Festigkeit der neuen Bauchdecke zu 
danken ist. Auch als Ersatz der Dura zur 
Vermeidung von Hirnprolaps bewährte sich 
die Faszie. Auch zur Ueberdeckung von 
Leberwunden und zur Erleichterung der 
Lebernaht bewährte sich die Faszie gut. 

Die große Stärke der Faszie ergibt sich 
daraus, daß ein Streifen von 1 cm Breite 
eine Belastung von 50 Pfund ohne Schädi¬ 
gung vertrug. Die Faszien werden zu 
versuchen sein als Ersatz für Sehnen, 
Gelenkbänder, Wand von Körperhöhlen 
(Bauchdecken, Peritoneum, Perikard, 
Zwerchfell, Dura, Gelenkkapsel), großen 
Hernien, zur Wundnaht parenchymatöser 
Organe, zur Verhinderung der knöchernen 
Verwachsung von Gelenkenden, zur Um¬ 
hüllung von Nervennahtstellen und Gefä߬ 
nähten, zur Verstärkung der Wand inope¬ 
rabler Aneurysmen. Klink. 

(Bruns B. 1909, Bd. 65, H. 2.) 

Ueber die rheumatische Entzündung 
der serösen Häute berichtet E. Mosler. 

An der Hand von 18 Beobachtungen am 
Material des RudolfVirchow-Krankenhauses 
führt Mosler den Nachweis, daß es eine 
wohl charakterisierte Form von Entzündung 
der serösen Häute gibt, welche ätiologisch 
mit dem Polyarthritis rheumatica identisch 
ist, jedoch sich von dem klinischen Bilde 
des akuten Gelenkrheumatismus soweit ent¬ 
fernt, daß man berechtigt ist, in derartigen 
Fällen von Polyserositis rheumatica zu 
sprechen. 

Die Entzündung der Gelenke kann hier¬ 
bei gänzlich fehlen oder sie ist nur leicht 
angedeutet. Im Gegensatz zu den be¬ 
kannten serösen Ergüssen, die den Verlauf 
eines von vornherein meist schweren Ge¬ 
lenkrheumatismus unterbrechen, setzt die 
Polyserositis aus voller Gesundheit mit 
Schmerzen in der Herzgegend, Seiten¬ 
stechen und Dyspnoe ein. Im Anfang sind 
die Zeichen trockener Entzündung am Peri¬ 
kard und den Pleuren festzustellen. Sehr 
bald kommt es dann zu serösen Ergüssen. 

Der Puls ist durch die ziemlich konstante 

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182 


Apri 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


muskuläre Beteiligung des Herzens frequent 
und unregelmäßig. Mehrmals wurde Di- 
krotie sowie Bigeminie festgestellt Eiwei߬ 
ausscheidung mit und ohne Zylindrurie ist 
recht häufig. 

Sehr quälend ist die ausgesprochene 
Dyspnoe, welche Verf., gestützt auf die 
Mitteilungen Pawinskis, auf die trockene 
Perikarditis bezieht. Der intensive Luft¬ 
mangel, das Angstgefühl über der Brust, 
die heftigen ausstrahlenden Schmerzen, 
wie sie bei trockener Perikarditis Vor¬ 
kommen, können unter Umständen an einen 
stenokardischen Anfall erinnern. 

Die Prognose ist bei Erwachsenen fast 
immer eine günstige. So darf der Arzt 
auch gegenüber stürmischen und bedroh¬ 
lichen Erscheinungen, wie sie bei der Poly¬ 
serositis häufig sind, mit der Wahrschein¬ 
lichkeit eines guten Ausganges rechnen. 

Die Therapie der Polyserositis ist eine 
vorwiegend symptomatische. Pinselungen 
mit Jodtinktur und eine auf die Herzgegend 
applizierte Warmwasserblase lindern die 
heftigen Stiche, während Eis weniger gut 
vertragen wird. Daneben wirken wieder¬ 
holte kleinere Morphiumdosen wohltuend. 
Bei muskulärer Insuffizienz des Herzens 
wird Digalen, Kampfer und Kofiein ge¬ 
geben. Punktionen des Herzbeutels oder 
der Pleuren kommen nur ausnahmsweise in 
Frage. 

Als Antirheumatikum wurden 1,5—3,0 g 
Antipyrin in Lösung auf den Tag ver¬ 
teilt, gegeben. 

Ref. ist der Ansicht, daß die Wirkung 
der Antirheumatika bei Polyserositis recht 
ungleich ist. Während z. B. eine Anzahl 
von Kranken dem Aspirin gegenüber sich 
refraktär verhält, sieht man in anderen 
Fällen nach Dosen von 2—3 g pro die 
ganz auffallende Besserungen. Offenbar 
handelt es sich, wie auch beim akuten 
Gelenkrheumatismus selbst um Krankheits¬ 
erreger, die in bezug auf die salizylotrope 
Wirkung sich recht verschieden verhalten. 

Leo Jacobsohn (Charlottenburg). 

(Berl. klin. Woch. 1910, Nr. 7.) 

Die operative Behandlung der Spon¬ 
dylitis tnbepenlosa behandelt ein Aufsatz 
von Neumann. Am häufigsten wird 
operativ eingeschritten wegen bestehender 
oder drohender Lähmung, die die Prognose 
stark trübt. Die Lähmung wird hervor¬ 
gerufen durch mechanische Kompression 
des Rückenmarks. Die Bedingungen für 
diese liegen am klarsten bei der Tuberku¬ 
lose der Wirbelbogen; deswegen hat hier 
auch die Laminektomie guten Erfolg. Die 
noch unklaren Fälle, wo die Laminektomie 


wenig oder nichts nutzt, finden wir bei 
Erkrankung der Wirbelkörper. Diese ist 
die häufigere, in engem Zusammenhang 
mit dem Charakter ihrer Gefäße als End¬ 
arterien. Das Rückenmark kann nach 
langdauernder Kompression — beobachtet 
istHeilung nach 17 Jahren durch Operation— 
sich wieder erholen nach Beseitigung der 
Ursache, aber es können auch durch 
kurzen Druck unheilbare Veränderungen 
eintreten. Oft findet sich als Zeichen 
starker Kompression eine deutliche Quer¬ 
schnittsverringerung der Medulla, aber mit 
ganz unversehrten Fasern. Nach allem 
scheint das schnelle Einsetzen und die 
Heftigkeit des Drucks viel wichtiger zu 
sein als die lange Dauer. Weiß man doch, 
daß schon kleinste, plötzlich in den Rücken¬ 
markskanal gebrachte Fremdkörpermengen 
von dem Rückenmark mit einem Funktions- 
ausfall beantwortet werden. Ob das Mark 
erholungsfähig ist, läßt sich im einzelnen 
Falle nicht entscheiden. Deswegen ist 
man heute in jedem Fall von Lähmung 
verpflichtet, mit allen Mitteln dem Rücken¬ 
mark die Bedingungen zu schaffen, die 
seine Erholung ermöglichen. In fastKX)o/ 0 
aller Spondylitisfälle findet sich ein prä¬ 
vertebraler Abszeß, der sich Hand in 
Hand mit der Einschmelzung des Wirbel- 
körpers und der Ausbildung des Gibbus 
bildet. Der Druck in diesem Abszeß steigt 
immer mehr. Besonders ungünstige Ver¬ 
hältnisse finden diese Abszesse im Tho- 
rakakeil, da das fest anliegende Mediastinum 
ihrer Ausbreitung außerordentliche Schwie¬ 
rigkeiten entgegensetzt. Das immerhin 
häufigste Vorkommen wird sein, daß diese 
Abszesse nach Abheben der Pleura costalis 
zwischen den Rippen sich vorwölben und 
hier perforieren oder zur Eröffnung kommen. 
Nach Zerstörung des Wirbelkörpers sendet 
der Abszeß einen Fortsatz in den Wirbel¬ 
kanal und komprimiert das Rückenmark. 
Bei großem Abszeß ohne Lähmung muß 
man annehmen, daß der Abszeß durch 
Knochen noch von dem Wirbelkanal getrennt 
ist. 80°/o von spondylitischen Lähmungen 
fallen der Brustwirbelsäule zu; an der 
Lendenwirbelsäule sind komplette Läh¬ 
mungen wegen des fehlenden Marks nicht 
möglich, an der Halswirbelsäule finden die 
Abszesse viel bessere Bedingungen für 
ihre Ausdehnung. Die ältere Ansicht, 
daß allein durch das Zusammensinken der 
Wirbelsäule bei der Bildung des Gibbus 
eine mechanische Verengerung des Wirbel¬ 
kanals zustande kommt mit sekundärer 
Kompression der Medulla, ist aufgegeben; 
vielmehr sprechen die neueren Beobach- 


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183 


-April Die Therapie der Gegenwart 1910. 


tungen eher für eine Erweiterung. Kom¬ 
pression durch Sequester ist selten. Eine 
selbständige Gruppe bilden die reparatori- 
sehen Gewebsneubildungen. Sie erscheinen 
als sekundär in den Wirbelkanal hinein¬ 
produzierte Vorsprünge, die eine Kom¬ 
pression wohl erzeugen können. Für ihre 
Diagnose ist der Zeitpunkt ihres Auftretens 
wichtig; eine irgend nennenswerte Knochen¬ 
neubildung erfolgt erst mit dem Stillstand und 
Rückgang des Krankheitsprozesses. Sie 
gibt eine Indikation für die Laminektomie. 
Die Peripachymeningitis hängt innig zu¬ 
sammen mit der Ausbildung des präverte¬ 
bralen Abszesses, und sie geht möglicher¬ 
weise mit seiner Entleerung zurück; aber 
auch hier besteht in vorgeschrittenen 
Fällen Indikation für die Laminektomie. 
.Zuerst soll man immer auf den Abszeß 
fahnden, weil er die früheste Kompressions¬ 
möglichkeit bildet. Besteht keine Lähmung, 
so kann man den Abszeß konservativ be¬ 
handeln, denn er kann sich eindicken und 
resorbiert werden. Eine bestehende Läh¬ 
mung kann durch die Eztension schwinden, 
kehrt aber wieder, wohl infolge Wachsens 
des Abszesses. Also soll der Abszeß bei 
Lähmung immer eröffnet werden. Die 
Abszeßdrainage ist relativ ungefährlich, und 
man kann damit nur nützen, sollte sie also 
auch bei fehlender Lähmung prophylaktisch 
ausführen. Man kommt an den Abszeß 
durch Resektion des Processus transversus 
und eines Stückchens Rippe. Die Drainage¬ 
öffnung ist so lange offen zu halten, bis 
man sicher ist, daß die Krankheit zum 
Stillstand gekommen ist. Man hat so in 
80% Heilung erzielt Die sichere Diagnose 
und Lokalisation des prävertebralen Ab¬ 
szesses ist erst durch die Röntgendurch¬ 
leuchtung möglich geworden. Auch am 
Lenden- und Halsteil ist dieses Verfahren 
für die Frühdiagnose sehr schätzenswert. 
Die Perkussion ist nur für große Brust¬ 
abszesse mit großer seitlicher Ausdehnung 
verwendbar. Bei wahrscheinlich vorhan¬ 
denen sekundären peripachymeningitischen 
Veränderungen ist zuerst die Kostotrans- 
versektomie zur Eröffnung des Abszesses 
zu machen; die Laminektomie kann im 
Bedarfsfall später gemacht werden. Die 
Indikationen wären also folgende: 1. Spon¬ 
dylitis ohne Lähmung: konservativ, eventuell 
Drainage. 2. Spondylitis mit Abszeß und 
Lähmung: Abszeßdrainage in absoluter In¬ 
dikation. 3. Aeltere Fälle ohne Abszeß 
mit sekundären Veränderungen im Wirbel¬ 
kanal, wie Peripachymeningitis und Knochen¬ 
neubildung: Laminektomie, Beseitigung der 
«Ursache. 4. Fall 2 und 3 kombiniert: 


Drainage und Laminektomie, wobei man es 
zunächst mit der Abszeßdrainage allein 
versuchen mag. Klink. 

(v. Bruns Beitr. z. Chir. 1909, Bd. 65, H. 2.) 

Das Ideal der Behandlung der Strepto¬ 
kokkensepsis ist eine spezifisch immuni¬ 
sierende. Aktive Immunisierung ist für die 
fertige Infektion praktisch nicht verwertbar; 
aber eine passive sollte möglich sein. Bei 
Tieren kann man eine gegen Streptokokken 
wirksame spezifische Immunisierung er¬ 
reichen. Beim Menschen müßte das Serum 
schon in den ersten 24—48 Stunden ange¬ 
wandt werden. 24 Stunden post infectionen 
rettet die 100fache Menge der prophylak¬ 
tisch wirksamen Dosis nur noch 50% der 
Fälle. Artfremde Sera können direkt 
schaden. Elsässer hat in 2 Fällen schwer¬ 
ster Sepsis von Jodipin auffallend gute 
Wirkung gesehen. Jodipin Merek (25%) ist 
eine Verbindung von Sesamöl und Chlor¬ 
jod mit 25% Jodgehalt und wird zu 5—15 ccm 
subkutan gegeben. Es verträgt Erhitzen im 
Wasserbade. Bei ungenügender Wirkung 
werden nach 48 Stunden wieder 5 ccm in¬ 
jiziert. Das Jodipin bildet ein Joddepot, 
das den Organismus für Wochen unter 
Jodwirkung hält. Intoxikationserscheinun¬ 
gen oder Jodismus wurde nie beobachtet. 
Es tritt eine starke Hyperleukozytose auf 
mit andauernder Mononukleose. Schon 
Potheau kam zu folgendem Schluß: Bei 
toxischen Infektionen, die mit Fieber und 
schweren Allgemeinerscheinungen einher¬ 
gehen, führt Jodipin einen schnellen Tem¬ 
peraturabfall und Besserung des Allgemein¬ 
befindens herbei und unterstützt den Körper 
im Kampf gegen die Toxine. Auch bei 
Staphylokokkenpyämie, Puerperalsepsis, 
Osteomyelitis, Perityphlitis, Erysipel, Milz¬ 
brand, Lungenaktinomykose sah Elsässer 
sehr gute Wirkung des Jodipins. (Ref. 
möchte die Vermutung aussprechen, daß 
es doch wohl nur leichtere, zur Selbst¬ 
heilung neigende Fälle von Streptokokken¬ 
infektion sind, in denen Jodipin wirksam 
ist. In den bekannten schweren Fällen 
von Sepsis läßt es regelmässig im Stich.) 

Klink. 

(v. Bruns Beitr. z. kl Chir. LX. 3.) 

Neuere Erfahrungen über die von ihm 
systematisch erforschte Scheinnarkose 
mit kleinen Chloroformmengen bringt B. 
Hailauer in seinen Ausführungen über 
eine neue Anwendungsform der Suggestion 
in der gynäkologischen Praxis. 

Auf Grund einer größeren Versuchs¬ 
reihe ist Hall au er zu der Ansicht gelangt, 
daß die Scheinnarkose, zu der durch¬ 
schnittlich 1—2 ccm nötig sind, zumal bei 


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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


April 


den leichter suggerierbaren Frauen ge¬ 
eignet ist, bis zu einem gewissen Grade 
die Inhalationsnarkose zu ersetzen. Das 
Chloroform soll hierbei ein larviertes Sug¬ 
gestionsmittel sein, mit dem besonders 
wirksame hypnotische Vorstellungen ver¬ 
bunden werden. 

Die speziellere Technik der sog. Sug- 
gestiernarkose besteht in der Anwendung 
der üblichen hypnotischen Verbalsuggestion 
in Verbindung mit kleinsten Chlorofonp- 
mengen, die von Zeit zu Zeit auf die 
Maske geträufelt werden. Ist Somnolenz 
eingetreten, so wird Anaesthesie für den 
Unterleib suggeriert und die Schlaftiefe 
durch entsprechende Eingebungen vertieft. 
Nach Beendigung des im Stadium der 
Analgesie vor genommenen Eingriffes ge¬ 
nügt es, der Kranken zu versichern, daß 
sie wach sei, um die Hypnose zu unter¬ 
brechen. Die Erinnerung an die Vorgänge 
während des hypnotischen Schlafes fehlt 
oder ist unvollständig. Gelingt die Sug- 
gestiernarkose nicht, so kann man ohne 
Schaden des Patienten zur wirklichen Chloro- 
formierung schreiten. Zuvor empfiehlt es 
sich nach Hallauer, bis zum ersten Eintritt 
von Betäubungserscheinungen die Narkose 
fortzusetzen und dann das Chloroform fort¬ 
zulassen. Mitunter gelingt es hierdurch, 
einen länger dauernden Toieranz- und Schlaf¬ 
zustand hervorzurufen. 

Den Beweis dafür, daß es sich bei seinen 
Patienten um hypnotische Zustände ge¬ 
handelt hat, sieht Hallauer in dem Auf¬ 
treten von Katalepsie und Drehautomatismus. 

Hallauer hat die Suggestivnarkose in 
gegen 300 Fällen bei Probekurettagen, Zer¬ 
vixdilatation , Auf richtung des retioflektierten 
Uterus, Einleitung und Ausräumung von 
Aborten mit Finger oder Kürette, Aus¬ 
brennen von Karzinomen und anderen 
Eingriffen der kleinen Gynäkologie ange¬ 
wandt. Refraktär erwiesen sich nur 10 o/ 0 
der Behandelten, in 20 o/o war ein halber, 
für die Ausführung des Eingriffes aber ge¬ 
nügender Erfolg vorhanden, während in 
60—70o/ 0 ein voller Erfolg zu verzeichnen 
war. 

Ein besonders geeignetes Anwendungs¬ 
gebiet für die Scheinnarkose bietet die 
Geburtshilfe. Fast ausnahmslos konnte 
Verfasser einen schmerzlosen, von den 
Patienten entweder gar nicht oder nicht un¬ 
angenehm empfundenen Geburtsverlauf er¬ 
zielen. Namentlich rühmt Hallauer den 
regulatorischen Einfluß der Wehentätigkeit. 

Ganz besonders scheint die Methode 
auch als Ersatz für die Narkosenunter¬ 
suchung geeignet zu sein, indem im hyp¬ 


notischen Schlaf völlige Erschlaffung der 
Bauchdecken eintritt. Hierdurch ist die 
Suggestivnarkose auch für Unterrichts¬ 
zwecke von Bedeutung. In diagnostischer 
Hinsicht verspricht die Suggestivnarkose 
durch Ausschaltung des psychisch bedingten 
Schmerzgefühles die objektive Bewertung 
eines schmerzhaften Zustandes zu ermög¬ 
lichen. Ebenso ist die Methode in Ver¬ 
bindung mit der Lumbalanaesthesie und 
als Einleitung einer gewöhnlichen Chloro¬ 
formnarkose recht geeignet. 

Im zweiten Teile seiner Ausführungen 
kommt Verfasser auf die therapeutische 
Bedeutung der Suggestivnarkose zu 
sprechen. Die erhöhte Suggestibilität der 
Patienten hat Hallauer zur therapeutischen 
Beeinflussung funktioneller Sexualstörungen, 
insbesondere Vaginismus, Hyperemesis 
i gravidarum, sowie bei Perversionen des 
| Sexualtriebes benutzt. Auch bei organi- 
i sehen Erkrankungen der Genitalsphäre, 

| welche eine wesentlich psychische Kompo- 
1 nente des Krankheitsbildes erkennen lassen, 
kann die Suggestivnarkose, ohne auf die 
organische Grundlage des häufig gering¬ 
fügigen Leidens einzuwirken, ein Heilmittel 
sein, das, wie Hallauer an mehreren Fällen 
zeigen konnte, bei veralteten, jeder Be¬ 
handlung trotzenden Leiden noch erfolg¬ 
reich ist. 

In theoretischer Hinsicht hat Referent, 
ohne die schönen, auf ein größeres Be¬ 
obachtungsmaterial gestützten Erfolge Hal- 
i lauers in Frage zu ziehen, gewisse Be¬ 
denken, die Suggestivnarkose als eine nur 
larvierte Form der Hypnose aufzufassen. 
Wenn auch die verwandten Chloroform- 
mengen gering waren und im Durchschnitt 
einige Kubikzentimeter nicht überstiegen, so 
muß namentlich nach älteren französischen 
Erfahrungen, die mit der Narkose ä la reine 
gewonnen worden sind, sowie mit Rück¬ 
sicht auf die jüngst erfolgte Publikation 
von Eisenberg, der bei Gebärenden ohne 
Anwendung von Verbalsuggestion mit 
kleinen Chloroformgaben ähnliche Erfolge 
wie Hallauer erzielt hat, doch mit der 
Möglichkeit einer narkotischen Wirkung des 
Chloroforms gerechnet werden. Referent 
ist der Ansicht, daß es sich in den Fällen 
Hallauers um eine Kombination von Nar¬ 
kose und Hypnose handelt, wie sie Ver¬ 
fasser für einige seiner Fälle selbst in 
Anspruch nimmt. Die Auffassung des 
Chloroforms als besonders wirksamen 
suggestiven, den Eintritt der Hypnose be^ 
günstigenden Mittels scheint Referent nicht 
für die Erklärung der weitgehenden sen¬ 
siblen Lähmung, wie sie bei operativen 


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April 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


185 


Eingriffen erforderlich ist, hinreichend zu 
sein, um so mehr als die besten Kenner des 
Hypnotismus den praktischen Wert der 
Hypnose für chirurgische Eingriffe nur 
gering einschätzen. 

Leo Jacobsohn (Charlottenburg). 

(Deutsche med. Woch. 1910, Nr. 6.) 

Danielsen(-Küttner) berichtet einen 
Fall von erfolgreicher Epithelkörperchen¬ 
transplantation bei Tetania parathyreoi- 
prlva. Frau, bei der wegen starker Atem¬ 
not schnell eine mächtige Kolloidstruma 
zum größten Teil entfernt werden mußte; 
vom 6 Tage an schwere Tetanie mit allen 
klassischen Zeichen: Muskelkrämpfe, mecha¬ 
nische Uebererregbarkeit der motorischen 
Nerven, Trousseau und Chvostek. Zu¬ 
nächst Narkotika, Bäder, Schilddrüsen- und 
Nebenschilddrüsentabletten; Verschlechte¬ 
rung, Krämpfe der Atemmuskeln, lebens¬ 
gefährlicher Zustand. Zwischen Faszie 
und Peritoneum werden 2 Epithelkörperchen, 
die bei 2 anderen Strumektomien gewonnen 
waren, eingepflanzt Danach allmähliche 
Besserung, nach 7 Monaten völlige Heilung. 
Postoperative Tetanien sind nicht so sehr 
selten. Je weniger Epithelkörperchen er¬ 
halten sind, desto schlechter die Prognose; 
es müssen mindestens 2 Zurückbleiben. 
Neuerdings werden auch die Kindertetanie, 
die idiopathische Arbeitertetanie, Tetanie 
der Graviden, bei Infektionskrankheiten 
usw. auf den Funktionsausfall der Epithel¬ 
körper zurückgefÜhrt. Von pathologischen 
Veränderungen dieser Organe kennen wir: 
Blutungen, atrophische und zystische De¬ 
generationen, Adenome und Tuberkulose. 
Vor der Heterotransplantation, etwa vom 
Affen, ist zu warnen. Ein Versuch mit 
Material von frischen Leichen ist erlaubt; 
am besten ist natürlich Uebertragung vom 
Menschen; man soll 2 Körperchen ein¬ 
pflanzen, darf aber nie mehr als eins weg¬ 
nehmen, da man nicht weiß, ob der Be¬ 
treffende 4 hat. Klink. 

(Bruns B. 1910, Bd. 66, H. 1.) 

Sud eck berichtet über einen Fall von 
Unterkleferresektion, bei dem er als Er¬ 
satz die König-Roloffsche Elfenbeinpro¬ 
these nyt gutem Erfolge angewendet hat. 
Diese Prothese wird in verschiedenen 
Größen vorrätig gehalten, sie wird mit einem 
Zäpfchen in die Sägefläche des Kiefers, 
mit dem Gelenkende in das Kiefergelenk 
eingestellt. Es handelte sich in diesem 
Falle um eine 83jährige Frau, die an einem 
Spindelzellensarkom des rechten Unter¬ 
kiefers erkrankt war. Bei dem vollkommen 
zahnlosen Kiefer gelang es Sudeck, die 
Resektion ohne Eröffnung der Mundschleim¬ 


haut auszuführen; für die reaktionslose 
Einheilung der Prothese ein großer Vor¬ 
teil; denn wird die Mundschleimhaut in 
größerer Ausdehnung eröffnet, so kann 
natürlich eine vom Munde aus leicht ein¬ 
tretende Infektion der Wunde die Ein¬ 
heilung der Prothese sehr erschweren, ja 
unmöglich machen. Sud eck glaubt, daß 
man auch bei noch vorhandenen Zähnen 
eine Operation ohne Eröffnung der Mund¬ 
schleimhaut ermöglichen kann, wenn man 
die Zähne extrahiert und die Operation 
erst nach Ausheilung der Extraktionswunde 
vornimmt. Bei Sudecks Patientin heilte 
die Prothese gut ein, sie konnte schon 
nach einigen Tagen den Kiefer gut be¬ 
wegen. Drei Monate nach der Operation 
ist die Patientin einem Rezidiv erlegen. 
Das bei der Sektion gewonnene Präparat 
zeigte eine die Prothese fest umhüllende 
Bindege websnarbe, an der sich die Kau¬ 
muskeln ansetzten. Diese Vereinigung der 
Kaumuskeln mit der Bindegewebsnarbe 
zeigt, daß die Prothese nicht nur durch die 
Muskeln der gesunden Seite, sondern auch 
durch die eigenen Kaumuskeln bewegt wird. 

Hohmeier (Altona). 

(D. Zeitschr. f. Chir., Bd. 100, H. 5 u. 6.) 

Scipiades (aus der 2. Frauenklinik in 
Budapest) gibt uns einen Beitrag zur 
Therapie der Utenisruptur, der auf der 
Beobachtung von im ganzen 97 Fällen 
basiert. 

Selbstverständlich ist die prophylakti¬ 
sche Behandlung der Uterusruptur der 
wichtigste Punkt, das heißt die sichere Er¬ 
kennung der beginnenden Zervixdehnung. 
Wenn aber eine Ruptur eingetreten ist, 
sei es eine inkomplette, sei es eine kom¬ 
plette Ruptur, dann ist nach Scipiades 
die konservative Therapie die beste. 

Nach Entleerung der Blase muß die 
Geburt auf vaginalem Wege mit der 
schonendsten Operation beendet werden. 
Dann hält ein Assistent von außen den 
Uterus in normaler Anteflexio fixiert, und 
ohne Ausspülung wird die Wundhöhle und 
die Scheide mit steriler Jodoformgaze fest 
tamponiert; bei Atonia uteri ist auch der 
Uterus selbst lose zu tamponieren. Danach 
wird ein Druckverband auf das Abdomen 
gelegt; Analeptika, Ergotin usw. werden 
verabreicht, eine Eisblase kommt außerdem 
auf den Bauch. Da der Transport un¬ 
günstig auf den Zustand wirkt, muß diese 
Behandlung sofort an Ort und Stelle vor¬ 
genommen werden und die Frau bleibt 2, 
möglichst 8 Tage in ihrer Wohnung, so¬ 
dann ist es am besten, die Patientin in 
die Klinik zu überführen. Hier wird statt 

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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


April 


des Gazetampons jetzt ein Glasdrain ein¬ 
gelegt, das nach wiederum 6—8 Tagen 
durch ein Gummidrain ersetzt wird. Des¬ 
infizierende Ausspülungen der Scheide 
werden ausgeführt, bis die Wundhöhle ver¬ 
schlossen ist. 

Mit dieser Behandlungsmethode sind 
seit 1906 alle Uterusrupturen ausnahmslos 
geheilt worden, obwohl unter diesen 6 Fällen 
4 komplette Rupturen vorhanden waren, 
von denen die eine durch einen Blasenriß, 
die andere durch einen Vorfall von Netz 
und Darm in die Vulva kompliziert war. 

In einem 2. Teil seiner Arbeit wendet 
sich Scipiades gegen eine Arbeit Hart¬ 
manns: „Ein Beitrag zur Aetiologie und 
Therapie der Uterusruptur“, in welcher 
Hartmann die Tamponade zwar für das 
verhältnismäßig beste zur momentanen 
Blutstillung hält, sie aber zur Behandlung 
der Ruptur für nicht ausreichend erklärt. 
Nur in der kleineren Zahl von Fällen ist 
aber überhaupt nach Scipiades eine stär¬ 
kere Blutung vorhanden; in 95% seiner 
Fälle ließ die Blutstillung nichts zu wün¬ 
schen übrig; bei den wenigen Rupturen, 
bei denen die Blutung nicht stand, wäre 
auch, wie Scipiades zeigen konnte, eine 
sofort ausgeführte chirurgische Blutstillungs¬ 
methode zu spät gekommen. 


Genauere Einzelheiten der Polemik 
gegen Hartmann sind im Original nach¬ 
zulesen; ich habe die Methode der Tam¬ 
ponade etwas genauer referiert, weil sie, 
wie ich glaube, dem praktischen Arzt ein 
Hilfsmittel sein wird, wenn er allein einer 
Uterusruptur gegenübersteht. P. Meyer. 

(Volkmanns klinische Vorträge Nr. 553. Gynä¬ 
kolog. Nr. 206, 1909.) 

Von verschiedenen Seiten ist über Ver¬ 
giftungserscheinungen bei Injektion von 
Wismut berichtet worden. Matsuoka teilt 
drei neue Fälle mit, von denen zwei tödlich 
verliefen. Die injizierte größte Dosis war 
8 g, die Vergiftungserscheinungen traten 
erst am 12.—32. Tage auf. In zwei Fällen 
war das erste Symptom der Vergiftung 
eine Stomatitis, im dritten Falle klagte die 
Patientin über nervöse Symptome, Kopf¬ 
schmerz, Schwindelgefühl, Schlaflosigkeit. 
Im weiteren Verlauf traten Erscheinungen 
von seiten des Magendarmkanales hinzu — 
Durchfall oder Verstopfung, in einem Fall 
dysenterieähnliche Durchfälle. — Diese 
Fälle zeigen, daß das Wismut in Absze߬ 
höhlen injiziert, resorbiert wird, und daß 
schon relativ kleine Dosen schwere Intoxi¬ 
kationen hervorrufen können. 

Hohmeier (Altona). 

(Deutsche Ztschr. f. Chir., Bd. 102, H. 4—6.) 


Therapeutischer Meinungsaustausch. 

Zur Arsentherapie mit der Diirkheimer Maxquelle. 

Von Dr. L. Katzenstein-Wiesbaden. 


ln unserem Arzneischatz fehlte bis jetzt 
ein Arsenmittel, das es ermöglichte, dem 
Organismus Arsen in größerer Menge und 
dabei in ungiftiger, keine unangenehmen 
Nebenerscheinungen mit sich bringender 
Form einzuverleiben, ein Mittel, das eine 
reine Arsenwirkung zu entfalten imstande 
wäre. Das Arsen, das ja besonders bei 
der Behandlung der Blutkrankheiten, Ner¬ 
venkrankheiten, bei vielen Hautaffektionen 
und manchen Konstitutionsanomalien als 
wertvolles Heilmittel geschätzt wird, ruft 
in Form des Acidum arsenicum oder der 
Fowlerschen Lösung häufig empfindliche 
Magenstörungen hervor, die bei der ohne¬ 
hin bei Anämischen und Chlorotischen 
schon vorhandenen Hyperästhesie des 
Magens besonders unangenehm ist. Die 
Injektionen von Natrium und Ferrum 
cacodylicum, sowie von Atoxyl, die die 
Eidverleibung des Arsen unter Umgehung 
des Magens ermöglichen sollten, haben 
nach v. Noorden in manchen Fällen 
schwere Schädigungen hervorgerufen, so 
z. B. eine Neuritis optica mit Amblyopie 


und eine Polyneuritis mit Lähmungen; 
außerdem ist das Freiwerden der arsenigen 
Säure, worauf die Wirkung dieser Prä¬ 
parate beruht, individuellen Schwankungen 
unterworfen, die Wirkung der Injektionen 
also auch nach dieser Richtung hin keine 
zuverlässige. Am besten werden noch die 
natürlichen Arsenwässer vertragen, wie 
z. B. die arsenhaltigen EisensulphatWässer 
Roncegno, Levico und Guberquelle und 
der arsenhaltige erdige Säuerling Val 
Sinestra; aber diejenigen, die so viel Arsen 
enthalten, daß man mit ihnen eine aus¬ 
reichende Arsenwirkung bei mittleren 
Tagesmengen erreichen könnte, wie 
Roncegno und Levico, enthalten so viel 
Eisensulphat, das ja bekanntlich leicht 
Magenbeschwerden und lästige Obstipa¬ 
tionen hervorruft, daß sie nur eßlöffelweise 
genommen werden können, diejenigen 
Arsenwässer aber, die nur einen geringen 
Gehalt an Eisensulphat haben, wie Guber¬ 
quelle und Val Sinestra, enthalten anderer¬ 
seits auch so geringe Mengen Arsen, daß 
eine kräftige Arsenwirkung nur mit großen 


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April 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


187 


Mengen Wassers, bei Val Sinestra z. B. mit 
8 /4 1 täglich, hervorgerufen werden kann. 

Wir haben daher schon lange nach 
einem Arsenwasser gesucht, das sich durch 
hohen Arsengehalt und geringen Eisen¬ 
gehalt auszeichnet Dasselbe ist in der 
DQrkheimer Maxquelle gefunden worden. 
Die Maxquelle ist ein arsenhaltiger, warmer 
erdmuriatischer Kochsalzsäuerling, der 
1857 zuerst von Bunsen und Kirchhoff 
analysiert wurde, die zwar bei dieser Ge¬ 
legenheit die Entdeckung des Rubidium 
und Cäsium machten, aber das Arsen nicht 
fanden. Erst 1906 fand E bl er-Heidelberg 
Arsen in der Maxquelle und zwar die 
große Menge von 17,35 rag arseniger 
Säure (As 2 Os) im Liter, neben 13,36 g 
Kochsalz und nur 0,00365 Fe 2 Os. Zum 
Vergleich sei gesagt, daß nur Roncegno 
mehr As 2 Os, nämlich 42,6 mg bei der 
großen Menge von 3,0 g Eisensulphat ent¬ 
hält, dagegen Levico nur 6,0, Guberquelle 
nur 6,0 und Val Sinestra nur 3,7 mg 
As 2 Os. 

Die mit der DQrkheimer Maxquelle von 
Brenner, von der Velden, von Noor¬ 
den, Kaufmann-Dürkheim, Neißer und 
anderen angestellten experimentellen und 
klinischen Untersuchungen ergaben fol¬ 
gende Resultate: 

Es wurde neben einer Hebung des 
Allgemeinbefindens und dem Schwinden 
subjektiver Beschwerden eine Erhöhung 
des Hämoglobingehaltes — z. B. von 48 
auf 70, von 40 auf 68, von 24 auf 54, von 
55 auf 90% —, eine Vermehrung der 
roten Blutkörperchen bis um 2 Millionen, 
eine Verminderung des antitryptischen 
Ferments des Blutes (Brenner), eine Er¬ 
höhung des Körpergewichts bis um 5 kg 
in 6 Wochen, eine Beseitigung bestehender 
Obstipation der Blutarmen und eine spezi¬ 
fische Einwirkung auf viele Dermatosen 
erreicht. Besonders wichtig ist auch die 
leicht abführende Wirkung der Maxquelle, 
im Gegensatz zu anderen Blutmitteln, die 
meist Obstipationen herbeiführen. Diese 
Wirkung ist eine Folge des Kochsalz¬ 
gehaltes der Quelle, die, wie Brenner 
durch das Tierexperiment nachwies, die 
Magensaftsekretion, die Motilität des 
Magens und die Peristaltik des Darms an¬ 
regt. Wahrscheinlich ist neben der Eisen¬ 
freiheit auch der Kochsalzgehalt der Max¬ 
quelle daran schuld, daß das Wasser nach 
dem einstimmigen Urteil aller Autoren aus¬ 
gezeichnet vertragen wird und fast nie 
irgendwelche Beschwerden von seiten des 
Verdauungstraktus hervorruft. Nicht nur 


Kinder vertragen es vorzüglich nach dem 
Urteil von Kaufmann, der es in 800 Fällen 
bei Kindern von 4—16 Jahren anwandte, 
sondern es zeigten auch einige Erwachsene, 
die es entgegen der Vorschrift nüchtern bis 
zu einem Liter täglich tranken, keinerlei 
Beschwerden. 

Diese gute Bekömmlichkeit und der 
hohe Arsengehalt ermöglichen es uns also, 
dem Körper große Mengen Arsen in un¬ 
schädlicher Form zuzuführen und so eine 
kräftige Arsen Wirkung zu erreichen. Die 
Maxquelle wird in steigender Dosis ge¬ 
nommen und zwar so, daß man mit 50 ccm 
täglich beginnt und täglich um 25 ccm 
steigt bis zu einer Höchstdosis von 300 ccm, 
bei dieser etwa 3 Wochen verbleibt und 
dann wieder in gleicher Weise rückwärts 
geht; bei Kindern beginnt man mit 10 bis 
20 ccm und geht bis zu 30—60 ccm. Diese 
Dosen werden in 3 Portionen geteilt und 
nach dem Essen eingenommen. Der Ge¬ 
schmack des Wassers ist ein leicht salzi¬ 
ger und bedeutend angenehmer als bei 
anderen Arsenwässern. 

Die überaus günstigen therapeutischen 
Erfolge, die allgemein bei der Anwendung 
der Dürkheimer Maxquelle erreicht wurden, 
möchte ich auf die hohen Arsendosen 
zurückführen, die dabei den Patienten zu¬ 
geführt wurden. Ich will an einer Tabelle 
zeigen, daß die Maxquelle auch nach 
dieser Richtung hin eine souveräne Stel¬ 
lung unter den Arsenwässern einnimmt. 
Es werden in 6 Wochen an arseniger 
Säure eingenommen bei Gebrauch von: 

1. Dürkheimer Maxquelle 173,0 mg AsjO* 
(Schema nach v. d. Velden) 

2. Val Sinestra.107,3 „ „ 

(Schema nachGlax. Balneo¬ 
therapie bei gleichbleiben¬ 
der Menge von 700 ccm 

täglich) 

3. Roncegno.80,9 „ „ 

(Bei einer Menge von drei 

Eßlöffeln täglich im Durch¬ 
schnitt) 

4. Guberquelle.16,38 „ „ 

i Nach Glax, Balneotherapie) 

-evico.10,3 „ „ 

(SchemaIV für erwachsene 
Patienten von guter Ver¬ 
dauung nach Dr. Lierm- 
berger, Levico) 

6. Levico. 6,4 „ „ 

(Schema III für erwachsene 
schwächliche Patienten). 

In Anbetracht dieser Tatsachen darf 
man wohl die Dürkheimer Maxquelle ein 
Arsenwasser von idealen Eigenschaften 
nennen, das wohl berechtigt ist, schnell in 
unseren Arzneischatz aufgenommen zu 
werden. 


24* 


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188 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


April 


Beitrag zur medikamentösen Behandlung des Diabetes mellitus. 


Von Sanitätsrat Dr. 

. Trotz aller Mißerfolge ist neben der 
als wirksam allgemein anerkannten Diät¬ 
regelung — die Suche nach spezifischen 
Heilmitteln gegen Diabetes mellitus mit 
Eifer fortgesetzt worden. Von französischer 
Seite 1 ) sind die Röntgenbestrahlungen der 
Leber bei schwereren diabetischen Erkran¬ 
kungen mit dem Erfolge einer Verminde¬ 
rung der Zuckerausscheidung angewandt 
worden. Ich erwähne dieses Vorgehen, 
welches natürlich der Nachprüfung bedarf, 
weil dasselbe außerordentliche Aehnlichkeit 
hat mit der von mir 2 ) im verflossenen 
Jahre in Vorschlag gebrachten Bestrahlung 
der Nieren bei Insuffizienz ihrer Tätigkeit 
infolge chronischer Nephritis. Hier wie 
dort war nach der Bestrahlung eine Kräfti¬ 
gung der Funktion der betreffenden Organe 
zu verzeichnen. Reichen unsere Kenntnisse 
auch nicht aus, diese Vorgänge zu erklären, 
so wird uns eine solche Wirkung immerhin 
verständlicher, wenn wir den Anschauungen 
Schades 8 ) bezüglich der Kolloidchemie 
folgend annehmen, daß die Röntgenstrahlen 
eine spezifische Wirkung auf das Kolloid des 
Zellenprotoplasmas ausüben. 

Vor allem aber suchte man die Pro¬ 
dukte der inneren Sekretion auch für die 
Therapie des Diabetes mellitus nutzbar zu 
machen. Ich habe bereits mehrfach Ge¬ 
legenheit genommen, über diesbezügliche 
Versuche (Pankreatin, Pankreon, Hepa- 
toidin, Thyreoidin, Enteridin, Adrenalin) 
zu berichten, leider waren nur Mißerfolge 
zu verzeichnen. Auch das Produkt, welches 
aus der Hypophyse, deren Tätigkeit un¬ 
streitig mit dem Kohlenhydratstoffwechsel 
in näherer Relation steht, bereitet wird, 
habe ich bereits im Jahre 1903 angewandt 
und zwar das Mercksche Präparat, jedoch 
konnte ich keine erkennbare Wirkung mit- 
teilen. Nach einer Besprechung mit ihrem 
Vertreter stellte mir die Chemische Fabrik 
Rhenania, Aachen, ein Präparat Hypo- 
physon zur Verfügung, welches ähnlich 
wie das Pankreon erst im Darm in seine 
wirksamen Komponenten zerfällt. Wie ich 
nach dem Versuche erfuhr, führt Bor- 
chardt die bei pathologischen Verände¬ 
rungen der Hypophysis beobachtete Glykos- 
urie auf Hypersekretion des Organes 
zurück. Dafür liefert mein Versuch keinen 
Anhalt, den n die im Laufe der Behandlung 

1 ) M6n£trier, Actions des rayons chez les dia- 
b6tiques. (S6m. mdd. 1909, Nr. 48 u. 49.) 

s ) Lenn6, Baineologenkongreß, Berlin 1909. 

3 ) Schade, Zur Einführung der Kolloidchemie 
in die Balneologie. (Zeitschr. f. Balneol. Klimatol. 
1909, Nr. 17.) 


Leoni, Neuenahr. 

mit Hypophyson eintretende Steigerung 
der Glykosurie möchte ich auf nervöse Ein¬ 
flüsse (Pat. litt in den Tagen an heftigen 
Zahnschmerzen) zurückführen. Im Gegen¬ 
teil, anfangs trat eine deutliche Verminde¬ 
rung der Zuckerausscheidung auf und ich 
würde einen günstigen Einfluß des Präpa¬ 
rates unbedingt anerkennen, wenn nicht 
ein zweiter Versuch bei derselben Patientin 
ohne Einfluß geblieben wäre, während Ge¬ 
müsetage aber in der folgenden Periode stets 
prompten Erfolg hatten, wenn auch nur 
vorübergehend, da es sich um einen aus¬ 
gesprochen schweren Diabetes handelte — 
vielleicht liegt auch darin der Grund, daß 
das Mittel versagte. 

Fräulein H. L, 19 Jahre alt. Stets gesund, 
fühlte Anfang Herbst 1908 gesteigerten Frost 
bei großer Erschlaffung, ihr schlechtes Aus¬ 
sehen und die auffallende Abmagerung führte 
zum Arzt, welcher 8% Zucker im Harn fest¬ 
stellte. 9. August 1909 tritt die Kranke in meine 
Behandlung. Die Untersuchung ergibt normale 
Organe — soweit erkenntlich —, Funktionen 
verlaufen normal bis auf die Menses, welche 
seit September 1908 zessiert haben. Sie ist eine 
sehr gewissenhafte Kranke und beobachtet die 
vorgeschriebene Diät aufs ängstlichste. Bei 
ewohnter Lebensweise, welche 100 g Schrot¬ 
rot (40 g, 20 g, 40 g) gestattete, ergab die 
erste Analyse vom 10/11. August 1909: 

2400 ccm Harn, 1032 spez. Gew., 5,1 % = 
122,4 g Zucker, 1,71 % = 41,04 g Harnstoff, 
1,13 °/oo = 2,71 g Harnsäure. 

Nach Beschränkung der Eiweißkost unter 
Erhöhung der Fettnahrung fanden sich am 
16/17. August: 

3000 ccm Harn, 1027 spez. Gew., 4,1 °/o = 
123,3 g Zucker, 1,32% = 39,6 g Harnstoff, 0.62 0 oo 
= 1,86 g Harnsäure. 

Nunmehr wurde mit der Medikation ein¬ 
gesetzt und drei Tage täglich dreimal 2 und 
drei Tage dreimal 3 Tabletten zu 0,1 g reinem 
Hypophyson bei sonst völlig gleicher Lebens¬ 
weise verabreicht. Am 23/24. August wurden 
festgestellt: 

2500 ccm Harn. 1030 spez. Gew., 3,8% = 
95 g Zucker, 1,32 % — 33 g Harnstoff, 2,55 %o 
= 6,3 % Harnsäure. 

Bei gleicher Diät drei Tage dreimal 4, 
drei Trage dreimal 5 Tabletten Hypophyson. 
Untersuchung am 30/31. August: 

2350 ccm Harn, 1028 spez. Gew., 3,3% = 
77,5 g Zucker, 1.08% — 25,38 g Harnstoff, 
2,65 °/oo = 6,23 g Harnsäure. 

Nächste Verordnung sechs Tage dreimal 
6 Tabletten, sonst keine Aenderung — 
leider traten in diesen Tagen die heftigsten 
Zahnschmerzen ein, welche freilich am Sammel¬ 
tage selbst fast geschwunden waren. Das 
Untersuchungsresultat war entsprechend dem 
körperlichen Befinden am 6/7. September: 

3100 ccm Harn, 1032 spez. Gew., 5,1 % = 
158.1 g Zucker, 1,02 % = 30,7 g Harnstoff, 
2,35 %o = 7,28 g Harnsäure. 

Da nebenbei der Gedanke aufstieg, die 
Dosis des Medikamentes konnte zu hoch ge¬ 
griffen sein, wurde die Gabe wieder herabge- 


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April 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


189 


setzt auf dreimal 5 und dreimal 4 Tabletten 
je drei Tage lang. Untersuchungsresultat vom 
14/15. September: 

2650 ccm Harn, 10.32 spez. Gew., 4,2 % = 
111,3 g Zucker, 1.32 °/o = 34.18 g Harnstoff, 
1,89 °/oo = 5,00 g Harnsäure. 

Azeton und Azetessigsäure wurden stets 
trotz regelmäßiger reichlicher Natrongaben (50 
bis 100 g pro die) in reichlicher Menge ausge¬ 
schieden. 

Das Körpergewicht zu Beginn 51,3 kg mit 
Kleidung betragend, stieg bis 52,1 kg am 
6. September; auf 51,4 kg am 14. September 
zurückgehend. 

Ein mehrere Wochen später erneuter 
V< rsuch mit Hypophyson bei derselben 
Patientin ließ nicht den geringsten Einfluß 
erkennen — ich gebe zu, daß die Krank¬ 
heit vielleicht zu weit fortgeschritten war. 

Jedenfalls dürften die ersten Unter¬ 
suchungsergebnisse zu weiteren Versuchen 
in geeigneten Fällen Anlaß geben, da 
nicht nur die Zuckerausscheidung 
herabgesetzt, sondern auch der Ei¬ 
weißumsatz erheblich eingeschränkt 
wurde und gerade der letztere Umstand 
dürfte bei der Beurteilung der Wirksam¬ 
keit eines Mittels bei Diabetes mellitus von 
ausschlaggebender Bedeutung sein. 

Ein zweites Mittel, welches mir eben¬ 
falls von der Rhenania übergeben wurde, 
ist nach Befunden von Cohnheim, Hei¬ 
delberg und anderen Forscher zusammen¬ 
gesetzt; es ist ein Gemisch von Leber-, 
Muskel- und Pankreasextrakt und führt den 
Namen Trion. Ich versuchte das Mittel 
bei zwei Kranken. Der eine, Herr S., in 
den vierziger Jahren, 90 kg wiegend, kräf¬ 
tiger, stattlicher Mann mit leichter Arterio¬ 
sklerose, worauf wohl auch die vorhandene 
Albuminurie zurückzuführen ist, scheidet 
bei 50 g — 30 g — 50 g Schrotbrot und 
reichlicher Fleischkost etwas über 50 g 
Zucker aus, also fast die ganze eingeführte 
Kohlehydratmenge. Unter leider nicht 
energisch genug durchgeführter Eiweißbe¬ 
schränkung sank die Zuckerausscheidung 
auf 30 g pro die. Nunmehr wurden in 
zwei Perioden von sechs Tagen täglich 
dreimal 6 Tabletten Trion bei sonst 
gleicher Lebensweise verabreicht. Die 
Untersuchung nach den ersten sechs Tagen 
zeigte eine Zuckerausscheidung von 13,5 g, 
die nach der zweiten sechstägigen Periode 
16,8 g. Ob dieser Erfolg auf die Tabletten 
oder auf die Regelung der Diät (Eiwei߬ 
beschränkung) zurückzuführen ist, lasse ich 
dahingestellt. 

Die zweite Versuchsperson war ein 54jäh- 
riger Diabetiker von gesundem Aussehen und 
82 kg Körpergewicht Er besucht schon längere 
Jahre Neuenahr, wurde anfangs immer zucker¬ 
frei, bis er vor vier Jahren eine schwere In¬ 


fluenza durchmachte. Seitdem ist der Zucker 
nicht mehr völlig aus dem Harn geschwunden, 
auch bei strenger Enthaltung von Kohlehydraten, 
Bei seiner letzten Anwesenheit klagte er über 
verminderte Eßlust, träge Darmtätigkeit und 
ein „unlustiges“ Gefühl in den Eingeweiden. 
Die Untersuchung ließ keine Organerkrankungen 
usw. erkennen; das Körpergewicht blieb kon¬ 
stant. Bei seiner Ankunft 23/24. Juli 1909 
wurden 80 g Zucker im Harn festgestellt bei 
einer Zufuhr von 20—30 g Kohlehydrat am 
Morgen und etwa 10 g am Abend. Bei gleicher 
Lebensweise, nur mittags wurden in letzter 
Zeit auch 10 g Kohlehydrat gewährt, um die 
Eßlust zu steigern, schwankte die Zuckeraus¬ 
scheidung während der ersten vier Wochen 
zwischen 41 und 58 g in 24 Stunden. Nun 
wurde mit der Verabreichueg von Trion be¬ 
gonnen und zwar wurden zunächst dreimal 
6 Tabletten sechs Tage lang verordnet. 
Die darauf folgende Harnuntersuchung ergab 
64,8 g Zucker, sonst wie bisher keine patho¬ 
logischen Bestandteile. Hierauf wurde die 
Trionmenge auf dreimal 10 Tabletten erhöht, 
aber auch diesmal zeigte sich kein Erfolg: 
Nach mehrtägigem Gebrauche waren 65 g 
Zucker im Ham ausgeschieden worden. Eine 
Wirkung des Trion ist demnach in diesem 
Falle nicht zu erkennen gewesen. 

Es möchte fast scheinen, daß in der 
bisherigen Weise angewandt, die Organ- 
therapie der erfolgreichen Behandlung des 
Diabetes mellitus nicht dienstbar gemacht 
werden kann; ob die subkutane oder intra¬ 
venöse Anwendung bessere Resultate zei¬ 
tigen würde, scheint mir zweifelhaft; ich 
glaube, daß wir, wenn wir das richtige 
Organ sollten wirklich gefunden haben, 
das wirksame Prinzip noch nicht genügend 
rein herzustellen vermögen. 

Von Rudisch 1 ) wird dem Atropinum 
sulfuricum und dem Atropinum methylbro- 
matum Merck eine Erhöhung der Toleranz 
für Kohlehydrate beim Diabetiker zuge¬ 
schrieben. „Die Glykosurie verschwindet 
bei Atropin bedeutend schneller als bei 
kohlehydratfreier Diät." Dosis 0,008 bis 
0,032 g dreimal täglich. 

Der erst angeführten Patientin, welche 
übrigens Ende Januar 1910 im Koma zu¬ 
grunde ging, trotz der sehr frühzeitig be¬ 
gonnenen regelmäßigen reichlichen Alkali¬ 
zufuhr, wurde das Atropinum methylbro- 
matum Merck in zwei wöchentlichen Pe¬ 
rioden in der vorgeschriebenen Dosis ver¬ 
abreicht, ohne daß die geringste günstige 
Beeinflussung des Kohlehydratstofiwechsels 
zu erkennen gewesen wäre. 

So dankbar sich uns daher die diäte¬ 
tische Behandlung des Diabetes mellitus 
erweist, so wenig positiven Nutzen hat uns 
bisher die medikamentöse Behandlung dieses 
Leidens gebracht. Das muß uns nicht ent- 

*) Rudisch, Archiv f. Verdauungskrankh., Bd.1 5 
H. 4. 


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190 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Apri 


mutigen, sondern anspornen, durch immer 
tieferes Eindringen in das Wesen dieser 
krankhaften Veränderung doch schließlich 


ein wirklich heilendes Mittel zu erschließen, 
welches meiner Ansicht nach in erster 
Linie die Organtherapie liefern wird. 


Einige Bemerkungen über Pergenol. 


Von Dr. Robert Meyer, Hals-, 

Pergenol, ein leicht lösliches, festes und 
haltbares Wasserstoffsuperoxyd - Präparat, 
das von den Chemischen Werken vormals 
Dr. Heinrich Byk, Charlottenburg, neuer¬ 
dings in den Handel gebracht wird, ist 
geeignet, die Anwendungsmöglichkeiten des 
Wasserstoffsuperoxyds so ziemlich auf allen 
Gebieten der Medizin wesentlich zu er¬ 
weitern. 

Pergenol ist ein weißes, kristallinisches 
Pulver, das aus einer Mischung von mole¬ 
kularen Mengen Natriumperborat und 
Natriumbitartrat besteht; beim Lösen in 
Wasser liefert es Wasserstoffsuperoxyd 
und Borsäure, und zwar die letztere an 
weinsaures Natrium gebunden in Form von 
Natriumborotartrat. Zahlenmäßig entspre¬ 
chen 100 Teile Pergenol 12 Teilen H 2 O 2 
und 22 Teilen HsBOs. Pergenol löst sich 
mit größter Leichtigkeit in kaltem, ebenso 
in lauwarmem Wasser. Da die desinfizie¬ 
rende Kraft des Wasserstoffsuperoxyds in 
warmer Lösung bekanntlich beträchtlich 
gesteigert wird, so empfiehlt es sich, wo 
angängig, warme Pergenollösungen zur Ver¬ 
wendung zu bringen. 

In erster Linie aber möchte ich die Auf¬ 
merksamkeit auf die außerordentlich be¬ 
queme Anwendung des Pergenols in Pulver¬ 
form hinlenken, wenn Schorf oder eiterige 
Beläge aus nicht leicht zugänglichen Höh¬ 
lungen zu entfernen sind. Mir hat diese 
handliche Anwendungsweise ausgezeichnete 
Dienste geleistet, wenn es sich darum han¬ 
delte, bei chronischen Mittelohreiterungen 
festhaftenden zähen Eiter aus den Gehör¬ 
gängen, Trommelfell oder Mittelohr zu ent¬ 
fernen. Mit dem Pulverbläser blies ich eine 
kleine Quantität Pergenol. medicin. pulv. 
auf die zu reinigende Stelle und brachte 
dann vermittels Sprays eine schwache Bor¬ 
säurelösung auf das Pergenol, das jetzt 
prompt seine Wirkung, die typische des 
Wasserstoffsuperoxyds, entfaltete. Die feine 
Verteilung des Pergenols erleichtert und 
ermöglicht das Eindringen in die versteck¬ 
testen Buchten und Höhlungen. Ebenso 
förderte, wo es mir darauf ankam, Brand¬ 
schorfe nach Kauterisationen einzelner 
Nasenmuscheln zu entfernen, ein Einblasen 
von Pergenol mit nachfolgendem Spray die 
Entfernung dieser Schorfe außerordentlich. 

Es ist freilich notwendig, den Pulver¬ 
bläser nach jeder Applikation des Pergenols 


Nasen- und Ohrenarzt in Berlin. 

sehr sorgfältig zu reinigen, da das Mittel 
sehr hygroskopisch ist und das Instrument 
sonst verkleben könnte. Eventuell kann 
das reine Pergenol auch mit Borsäure, 
Talkum oder ähnlichen Mitteln gemischt 
eingeblasen werden. 

Abgesehen von dieser Hygroskopizität 
aber läßt die Haltbarkeit des Pergenols 
nichts zu wünschen übrig. Namentlich ist 
das Präparat gegen Temperatureinflüsse 
durchaus beständig, was man ja bekanntlich 
leider von den flüssigen Wasserstoffsuper¬ 
oxyd-Präparaten nicht behaupten kann. 

Nicht unerwähnt bleibe, daß das Per¬ 
genol auch ein ausgezeichnetes, seiner 
Handlichkeit wegen für den ambulanten 
Gebrauch sehr geeignetes Hämostatikum 
darstellt. 

Die feste Form des Mittels gestattet den 
Aerzten die ex tempore Darstellung von 
Lösungen mit genau bekanntem Gehalte 
an Wasserstoffsuperoxyd. Für die Her¬ 
stellung solcher Lösungen sind besonders 
die Pergenol. medicin.-Tabletten des Han¬ 
dels geeignet, die es ermöglichen, die gerade 
benötigte Menge Wasserstoffsuperoxyd¬ 
lösung jeweils frisch herzustellen. 

Eine fernere Verwendungsform des 
Pergenols stellen die Pergenol - Mund¬ 
pastillen dar, die je 0,1 g Pergenol mit 
Zucker und Pfefferminz enthalten. Hier ist 
zum ersten Male Wasserstoffsuperoxyd in 
die neuerdings so beliebte Form von 
Pastillen gebracht, die der Patient langsam 
im Munde zergehen läßt. In Fällen von 
Erkrankungen der Mund- und Rachen¬ 
organe, wo ein Gurgeln nicht gewünscht 
wird, oder mit Schwierigkeiten verknüpft 
ist, wie z. B. in der Kinderpraxis, halte ich 
die Darreichung dieser Mundpastillen für 
sehr angebracht. Auch Gotthilf hat sich 
neuerdings (Medizinische Klinik 1910, Nr. 8) 
in gleichem Sinne geäußert. Reizwirkungen 
irgend weicher Art fehlen den Pergenol- 
Mundpastillen gänzlich, was ja bei einem, 
bei aller Wirksamkeit doch so milden Des- 
infiziens, wie es das Wasserstoffsuperoxyd 
ist, nicht verwunderlich erscheint. 

Eine andere spezielle Form des Per¬ 
genols sind die Pergenol-Mundwasser- 
tabletten, die sich von den Pergenol. 
medicin.-Tabletten nur durch einen Zusatz 
von Pfefferminz unterscheiden. Sie liefern 
beim Auflösen ein treffliches Mundwasser 


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April 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


191 


fQr die Zwecke der täglichen Mundpflege. 
Auch leisten sie in entsprechenden aku- 
ten Fällen als Gurgelwasser gute Dienste; 
der sehr milde Geschmack der Lösung 
wird von den Patienten angenehm ver¬ 
merkt. 


Im Pergenol besitzen wir also ein 
Wasserstoffsuperoxyd Präparat, das diesem 
geschätzten Desinfiziens meines Erachtens 
eine noch ausgedehntere Anwendung ge¬ 
währleistet, als es bisher schon der Fall 
war. 


Zum Andenken an Renvers. 

Von Q. Klemperer. 1 ) 


Meine lieben Kollegen! Heut ist ein 
Jahr vergangen, seit der vormalige Direktor 
der inneren Abteilung unseres Kranken¬ 
hauses von uns geschieden ist. Sie wissen, 
welche hervorragende Stellung er in der 
ärztlichen Welt eingenommen hat; der 
Glanz seines Namens hat auch auf unser 
Krankenhaus einen leuchtenden Schein ge¬ 
worfen; uns ziemt es vor anderen, seiner 
zu gedenken, sein Andenken wach zu 
halten. 

Vor einem Jahre hat Herr Geheimrat 
Sonnenburg in unserm Kreise mit be¬ 
redten Worten ein Charakterbild des uns jäh 
Entrissenen gezeichnet. Heute will ich ver¬ 
suchen auseinanderzusetzen, welchen be¬ 
sonderen Umständen Renvers seinen 
glänzenden Aufstieg verdankt hat. Es ist 
Ihnen wohl bekannt, daß die meisten Führer 
unseres Standes durch wissenschaftliche 
Arbeit emporkommen, in der inneren Me¬ 
dizin meist durch Laboratoriumsarbeit, die 
nicht immer in unmittelbarer Beziehung zu 
den praktischen Zielen unserer Kunst steht. 
Bei Renvers war das nicht der Fall; vom 
Laboratorium hat er sich geflissentlich 
ferngehalten; eigentlich wissenschaftliche 
Arbeiten hat er nicht hinterlassen. Und 
doch ist er unbestritten der erste Arzt in 
Berlin gewesen, dessen Ruf zeitweise 
Forscher und Gelehrte in den Schatten 
stellte. 

Sind es nur äußere Glücksumstände 
gewesen, die ihn zur Höhe führten, nur 
die edle Schönheit seines Antlitzes und 
seiner Haltung, seine Kunst, die Menschen 
zu verstehen und zu lenken? Nun, meine 
Herren, es ist wohl schon vorgekommen, 
daß äußere Gaben und Fügungen einen 
Arzt vorübergehend in die erste Reihe 
stellten und in die Mode brachten, aber 
daß ein Arzt länger als ein Jahrzehnt der 
anerkannte Vertrauensmann von Hoch und 
Gering ist, daß bei seinem jähen Hintritt 
eine tiefe Trauer durch eine ganze Bevöl¬ 
kerung geht, das ist nur möglich, wenn 
ein ungewöhnliches Können dauernd be¬ 
sondere Leistungen hervorbringt. 

*) Ansprache, gehalten bei der ärztlichen Gedenk¬ 
feier am 22. März 1910 im Krankenhaus Moabit. 


Renvers war in Wahrheit ein ärzt¬ 
licher Könner. Nicht nur, daß er die ge¬ 
wöhnlichen Untersuchungs- und Behand¬ 
lungsmethoden des inneren Arztes und des 
Neurologen in meisterhafter Weise be¬ 
herrschte, er verstand auch Augen, Ohren 
und Kehlkopf wie ein geübter Spezialist 
zu spiegeln und zu beurteilen. Des sind 
Sie alle oft Zeuge gewesen. Dazu war er 
ein ausgebildeter Chirurg. Als er noch 
Stabsarzt beim Friedrich Wilhelms-Institut 
war, da schwankte er lange, ob er sich 
für innere Medizin oder Chirurgie ent¬ 
scheiden sollte; er hätte sicher auch unter 
den Chirurgen seinen Weg gemacht, wenn 
ihn das Schicksal dorthin geführt hätte. 
Als wir an der Leydenschen Klinik As¬ 
sistenten waren, war es uns noch erlaubt, 
manche Operationen selbst auszuführen; es 
war ein Vergnügen, Renvers z. B. ein 
Empyem oder einen Leberechinokokkus 
operieren zu sehen. Er war auch in der 
Gynäkologie und Geburtshilfe wohl er¬ 
fahren. Eines Tages kam er strahlend in 
die Klinik — es war Ende der 80er Jahre; er 
war des Nachts zu einer kreißenden Portiers¬ 
frau gerufen worden, es handelte sich um 
Plazenta praevia; er hatte die Entbindung 
allein durchgeführt; Mutter und Kind lebten. 

Diese vielseitigen Kunstfertigkeiten 
waren ihm nicht mühelos zu eigen gewor¬ 
den; er hat sie mit eisernem Fleiß errun¬ 
gen. Als Stabsarzt an der Leydenschen 
Klinik und noch als junger Direktor in 
Moabit hat er unermüdlich gearbeitet und 
geübt, bis er Meister jeder Technik war. 

Renvers war ein glänzender Tech¬ 
niker, aber niemals ein Routinier. Die 
Ausübung seiner Künste unterstand stets 
der gereiften Kritik eines durchgebildeten 
Denkers. Er war ein Gelehrter in der Be¬ 
herrschung der wissenschaftlichen Grund¬ 
lagen unserer Kunst. Als pathologischer 
Anatom hat er durch seine reichen Kennt¬ 
nisse oft Fachmänner in Erstaunen gesetzt; 
bis die Wogen seiner praktischen Tätig¬ 
keit fast über ihm zusammenschlugen, hat 
er selten versäumt, den Sektionen seiner 
Abteilung beizuwohnen. Er hatte sehr ge¬ 
diegenes physiologisches Wissen und klare 


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April 


192 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


chemische Vorstellungen. Dazu kam ein 
scharfes Gedächtnis, das ihn Ober den un¬ 
gewöhnlichen Reichtum seiner ärztlichen 
Erfahrungen mühelos gebieten ließ, und 
eine glänzende Kombinationsgabe, mit der 
er oft wie inspiriert dunkle Symptomen- 
bilder zu erhellen, unzugänglich erschei¬ 
nende Krankheiten der Behandlung zu er¬ 
schließen vermochte. 

Aus so weitverzweigtem Wurzel werk 
großen Könnens und reichen Wissens er¬ 
wuchs die Selbstsicherheit und das Selbst¬ 
bewußtsein, die ein Teil seines Wesens 
wurden, daraus auch die künstlerische 
Grazie in der ärztlichen Betätigung, die 
wir so oft an ihm bewundert haben. Nur 
aus vollendeter Kraft blicket die Anmut 
hervor. 

So vielseitig und tiefgehend Renvers’ 
praktische und wissenschaftliche Interessen 
waren, fast stets machte er Halt an der 
Grenze der Produktivität. Er beherrschte 
die Technik der literarischen und mancher 
experimentellen Arbeit und seinem Scharf¬ 
sinn, seinem Fleiß wie seiner manuellen 
Geschicklichkeit wären gewiß auch auf dem 
Gebiet selbständigen Schaffens Erfolge be- 
schieden gewesen. Aber trotz vielerlei An¬ 
regung zur Produktion hielt er sich bewußt 
im Rezeptiven. Hierin wiederum war er 
äußerst vielseitig. Er las sehr viel, nicht 
nur am Schreibtisch in später Stunde, im 
Wagen und auf Reisen war er stets von 
medizinischer Literatur begleitet; er suchte 
sich über alle Fortschritte in Diagnostik 
und Therapie auf dem Laufenden zu er¬ 
halten und führte alle guten Neuerungen 
alsbald im Krankenhause ein. Lumbal- 
und Hirnpunktion, Widal und Wassermann, 
Blutfärbungen und Blutaussaat wurden 
regelmäßig ausgeführt, Stauungsbinden, 
Wärmekapseln, Sauerstoffballons und vieles 
andere wurden neben vielen neuerprobten 
Arzneimitteln angewandt. Ueber seine Er¬ 
fahrungen berichtete er gelegentlich in 
Fortbildungskursen, früher auch in Vereins¬ 
vorträgen, häufiger in kollegialer Unter¬ 
haltung und bei Konsultationen. Geschrieben 
hat er wenig, fast nie aus eigenem Antrieb. 
In den kurzen Aufsätzen, die er verfaßt 
hat, sind viele klare Fragestellungen für 
experimentelle Weiterarbeit enthalten. Aber 
für sein Teil lehnte er jede Laboratoriums¬ 


arbeit aufs bestimmteste ab. Welches war 
der Grund dieser auffallenden und un¬ 
gewöhnlichen Selbstbeschränkung? Es war 
nicht etwa Zeitmangel, denn schon als 
junger Assistent trennte er sich bewußt 
von den Genossen, die ins Laboratorium 
strebten, und verbrachte auch dienstfreie 
Stunden im Krankensaal. Es war auch 
nicht Geringschätzung vor der Arbeit kli¬ 
nischer Laboratorien, denn obwohl er ge¬ 
legentlich den dilettantischen Charakter 
mancher klinischen Experimentalstudien 
hervorhob, erkannte er doch mit Ernst an, 
daß für den Fortschritt der inneren Medizin 
die tätige Mitarbeit der Kliniker unbedingt 
erforderlich sei. Unserer Vorgesetzten Be¬ 
hörde gegenüber hat er die Notwendigkeit 
der wissenschaftlichen Arbeit im Kranken¬ 
haus stets betont; es war der Stolz seines 
letzten Lebensjahres, daß uns ein neues 
pathologisches Institut bewilligt wurde, in 
dem jede wissenschaftliche Arbeit Platz 
und Förderung finden wird. 

Wenn ich dem Grund seiner Labora¬ 
toriumsfremdheit nachsinne, so kann ich nur 
das tiefe Bedürfnis nach innerer Harmonie, 
das Renvers beseelte, dafür verantwortlich 
machen. In seiner Beschränkung auf die 
praktische ärztliche Arbeit war ihm ver¬ 
gönnt, Vollkommenes zu leisten; gleich 
Hohes in der Wissenschaft zu leisten, 
wäre ihm unmöglich gewesen; so wäre 
eine Ungleichmäßigkeit in seine Leistung, 
vielleicht ein Ringen und eine Unruhe in 
sein Wesen gekommen, die seiner ruhigen 
Abgeklärtheit fremd und unsympathisch 
waren. 

Ein Jahr ist seit Renvers’ Tode ver¬ 
flossen; noch steht sein Bild in frischer 
Lebendigkeit vor uns. Er war ein großer 
Arzt, der in seltener Universalität und 
Vollendung unsere Kunst beherrschte, ein 
bedeutender Mensch, der seine reichen 
Gaben zu harmonischer Vollkommenheit 
auszugestalten vermochte. Möge jeder von 
uns, zum Heile unserer Kranken, diesem 
leuchtenden Vorbild in nimmer ruhender 
Selbstvervollkommnung nacheifern. „Keiner 
sei gleich dem andern, doch gleich sei 
jeder dem Höchsten! Wie das zu machen? 
Es sei jeder vollendet in sich.* In solchem 
Sinne möge Renvers’ Geist in alle Zukunft 
über unserm Krankenhause walten! 


INHALT: Noorden-Lampe, Sarton S. 145. — Eichler, Cholelithiasis S. 146. — Boelke, 
Digistrophan S. 153. — Zuelzer, Asthmabehandlung S. 157. — Sternberg, Genuß und Genußmittel 
S. 158. — Kausch, Chirurgische Behandlung der Tuberkulose S. 160. — Katzenstein, Arsen¬ 
therapie S. 186. — Lenne, Diabetes mellitus S. 188. — Meyer, Pergenol S. 190. — Klemperer, 
Zum Andenken an Renvers S. 191. — Bücherbesprechungen S, 170. — Referate S. 173: 

Für die Redaktion verantwortlich Prof. Dr. G. K lern pe rer in Berlin.- Verlag von Urban&Schwarzenberg inWien tu Berlin. 
Druck von Julius Sittenfcld, Hofbuchdrucker., in BerlinW.8. 

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Die Therapie der Gegenwart 


1910 


herausgegeben von Prof. Dr. G. Klemperer 

ln Berlin. 


Mai 


Nachdruck verboten. 

Ans der medizinischen Klinik der Universität Göttingen. 

Ueber Herzstörungen im Kindes- und Pubertätsalter. 


Von C. 

Auch die Gespenster sind der Mode 
unterworfen. Gegenwärtig herrschen in 
der ärztlichen Praxis zwei Gespenster: das 
Myokarditis- und das Atherosklerose¬ 
gespenst. Auch das Kindesalter wird von 
beiden heimgesucht, vorwiegend natürlich 
von dem ersteren. Aber die von Krehl 
und Germain See angeregte Diskussion 
über die sogenannte Wachstumshyper¬ 
trophie des Herzens, d. h. eine scheinbar 
sprungweise Massenzunahme des Kreis¬ 
laufmotors (Beneke), hat andererseits zu 
der interessanten Frage geführt, ob nicht 
schon im Kindes- beziehungsweise Puber¬ 
tätsalter funktionelle (nicht immer anato¬ 
misch nachweisbare) Aenderungen der Ge¬ 
fäßwand von pathologischer Bedeutung 
Vorkommen. 

Ich sehe hier völlig ab von luetischen 
Veränderungen der Gefäße und von se¬ 
kundärer Atherosklerose bei Nephritis im 
Kindesalter. Im höheren Kindes- bezie¬ 
hungsweise im Pubertätsalter sind diese 
merkwürdigen Fälle von sogenannter Wachs¬ 
tumshypertrophie gar nicht so selten. 

Herzklopfen und Druckgefühl auf der 
Brust führen die Patienten zum Arzt. Durch¬ 
aus nicht immer findet man die Symptome 
einer wirklichen Hypertrophie (hebender 
Spitzenstoß, akzentuierter zweiter Aorten¬ 
ton, eventuell auch systolische Geräusche). 
Dagegen ist in vielen Fällen besonders 
auffallend die Spannungszunahme und Ver¬ 
dickung der Arterienwand. Der Blutdruck 
ist aber meist nicht wesentlich erhöht. 

Die Tübinger Schule Rombergs läßt 
die Frage offen, ob es sich hier um athero- 
sklerotische Veränderungen oder lediglich 
um eine Verdickung der Muskularis han¬ 
delt. Die wichtigen Untersuchungen 
O. Müllers und Schlayers haben aber 
auch für eine Anzahl hierhergehöriger 
Fälle gezeigt, daß die Arterien solcher In¬ 
dividuen — ganz ähnlich wie bei der wahren 
Atherosklerose — auf thermische Reize ent¬ 
schieden schlechter reagieren. Was aber 
ist die Ursache dieser funktionellen Stö¬ 
rungen? Sieht man die eigenen und frem¬ 
den Kasuistiken durch, dann scheinen doch 
häufige nervöse Erregungen auch hier 
eine wichtige ätiologische Rolle zu spielen. 


Hirsch. 

Man hat aber auch an primäre Nieren¬ 
störungen gedacht und die orthostatische 
Albuminurie in Beziehung zu dieser Gefä߬ 
anomalie gebracht. 

Die orthostatische Albuminurie tritt 
aber viel häufiger ohne derartige Herz- 
und Gefäßstörungen auf. 

In der Zeit nach Eintritt der Pubertät 
aber kann sicher die Masturbation zu 
ganz den gleichen Herz- und Gefäßerschei¬ 
nungen führen. Sie wird in der Anamnese 
immer sorgfältiger zu suchen und bei der 
Therapie immer mehr zu berücksichtigen 
sein. Gewiß ist die Bedeutung der Mastur¬ 
bation für das Nervensystem früher viel¬ 
fach übertrieben worden, häufig ist ja die 
Masturbation auch nicht Ursache, sondern 
Symptom neuropathischen Wesens. An¬ 
dererseits muß man sich aber hüten, 
die Bedeutung exzessiver Grade von 
Masturbation für das Herz- und Gefä߬ 
system zu unterschätzen. Fortgesetzte 
starke nervöse Erregungen können selbst¬ 
verständlich zu einer vermehrten Inanspruch¬ 
nahme des Kreislaufapparates und dadurch 
zu Veränderungen der Gefäßwand, insbe¬ 
sondere auch der Muskularis führen. 
Bonnet und Triepel haben uns in 
neuester Zeit auf die schon physiologischer 
Weise verschiedene Beschaffenheit hin¬ 
sichtlich des Aufbaues der Wand in den 
verschiedenen Gefäßprovinzen hingewiesen. 
Die physiologisch angestrengteren, Druck 
und Zug ausgesetzten Arterien haben im 
Gegensatz zu Organ-, speziell zu den Herz¬ 
gefäßen eine mächtig ausgebildete Musku¬ 
laris. Die Funktion wirkt bestimmend 
auf die Entwicklung der Media. Die 
pathologisch gesteigerte Funktion muß nicht 
nur zur Massenzunahme, sondern wohl 
sicher auch zunächst zu physikalischen 
Aenderungen der Media führen, auf die neuer¬ 
dings Schlayer und Fischer in einer 
ausgezeichneten Abhandlung hingewiesen 
haben. Sie konnten zeigen, daß die Skle¬ 
rose der Intima für die Palpabilität der 
Arterien eine weit geringere Rolle spielt, 
als man seither annahm. 

ln einer großen Zahl von Fällen konnten 
sie nachweisen, daß die Dickwandigkeit 
der Arterien sicher nicht durch anatomisch 

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194 


Mai 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


nachweisbare Arteriosklerose bedingt war. 
„Es gibt Veränderungen an den Arterien, 
welche sie hochgradig verdickt erscheinen 
lassen und vermindert funktionstüchtig 
machen, ohne daß sie anatomisch arterio¬ 
sklerotisch sind." 

Zu diesen Arterienverdickungen 
nicht arteriosklerotischer Natur mit 
Mediaverdickung gehören auch die 
Fälle von sogenannter juveniler 
Sklerose. 

Die Anatomen werden daher in Zukunft 
mehr als seither auf das Verhalten der 
Media zu achten haben. 

Auch in der Kinderpraxis wird man 
sich mit diesen wichtigen Feststellungen 
beschäftigen müssen. 

Derartige Arterien mit Mediaverdickung 
scheinen sich hinsichtlich der Funktions¬ 
verschlechterung wie gesagt ähnlich wie 
wirklich atherosklerotische Arterien zu ver¬ 
halten. 

In dieser Studie möchte ich mich aber 
vor allem mit einer Reihe von Symptomen 
beschäftigen, die, an sich harmloser Natur, 
doch bei vielen das Gespenst der Myokard¬ 
oder Gefäßerkrankung auftauchen lassen, 
weil man eine Zeitlang geneigt war, ein¬ 
zelnen Symptomen eine zu weitgehende 
Bedeutung bei der Diagnose einzuräumen. 

Bei der Diagnose der Herz- und Ge¬ 
fäßerkrankung muß man aber stets der 
alten Forderung des großen William 
Stokes eingedenk sein: Untersucht den 
ganzen Menschen und diagnostiziert 
nicht auf Grund einzelner Erschei¬ 
nungen. 

Etwas geradezu Alarmierendes 
aber hat für viele Aerzte und Laien 
die geringste Arythmie des Herz¬ 
schlages, der aussetzende Puls. 

Man wird daher nicht selten von Kol¬ 
legen oder von besorgten Eltern konsul¬ 
tiert, die bei einem Kinde — manchmal 
ganz zufällig — eine mehr oder weniger 
ausgesprochene Unregelmäßigkeit des Pulses 
entdeckt haben. 

Das Fehlen einer Herzvergrößerung, 
von Geräuschen, die normale Größe der 
Leber, das in keiner Weise gestörte sub¬ 
jektive Wohlbefinden (auch nicht beim 
Laufen, Turnen, Singen) machen dabei die 
Annahme einer organischen Läsion von 
vornherein unwahrscheinlich. Auch die 
Anamnese (keine vorausgegangene Angina, 
Diphtherie usw.) ergibt in solchen Fällen 
häufig keinerlei Grund zur Beunruhigung. 
Trotzdem läßt aber die „ominöse“ Arythmie 
die Angehörigen und auch die Aerzte nicht 
zur Ruhe kommen: gilt doch leider viel- 


! fach noch die Unregelmäßigkeit des Herz¬ 
schlages als wichtiges Symptom der so 
l gefürchteten „Myokarditis". 

In einer Reihe von Fällen mit Arythmie 
i erscheint den Aerzten die Sorge um so 
berechtigter, als hier in der Tat die Un¬ 
regelmäßigkeit des Herzschlages nach einer 
fieberhaften Erkrankung einsetzt. Die 
Erfahrung lehrt aber, daß diese Arythmien 
oft ebenso schnell wieder verschwinden 
können, wie sie aufgetreten sind. 

Kinder zeigen zweifellos eine beson¬ 
dere Neigung zu Arythmien. Ich erinnere 
nur an die so häufigen Unregelmäßigkeiten 
des Pulses bei harmlosen Magen - Darm¬ 
erkrankungen, bei Darmparasiten, bei Ap¬ 
pendizitis, bei Migräne der Schulkinder usw. 

Treten die Arythmen bei solchen Er¬ 
krankungen oder nach leichteren Infektionen 
auf, dann läßt sich ja immer noch eine 
„organische Schädigung leichtesten Grades", 
„toxische Schädigung des Herzmuskels“ 
oder gar eine „Vagusbeeinflussung“ kon¬ 
struieren. 

Und das geschieht auch in vielen Lehr¬ 
büchern. 

Aber wie verhält es sich mit der 
Erklärung der Arythmien anschei¬ 
nend völlig gesunder oder nicht 
ernstlich erkrankter Kinder? 

Eine große Reihe von Beobachtungen 
in der Sprechstunde und in der Konsular¬ 
praxis haben mich veranlaßt, diesem inter¬ 
essanten Gegenstände einmal nachzugehen. 
Schon in den älteren Darstellungen der 
Herzkrankheiten finden sich hierher ge¬ 
hörige Beobachtungen, so bei Stokes, 
Friedreich, v. Bamberger, v. Dusch 
und Anderen. 

In der älteren pädiatrischen Literatur 
sind die Ansichten sehr geteilt. Die einen 
behaupten, der aussetzende Puls sei im 
Kindesalter eine Rarität und fast stets ein 
Zeichen einer beginnenden Meningitis 
(Roger). 

Die andern sagen: das ist falsch; es 
gibt im Kindesalter durchaus harmlose 
Irregularitäten des Pulses (Bouchat). 

In den neueren Darstellungen derKinder- 
heilkunde liest man nur wenig oder an¬ 
deutungsweise über die Unregelmäßig¬ 
keiten des Pulses im Kindesalter 
ohne nachweisbare Läsion des Her¬ 
zens. Die moderne Pädiatrie ist so sehr 
durch die Probleme des Stoffwechsels und 
der Ernährung des Säuglings in Anspruch 
genommen, daß leider die klinische Durch¬ 
forschung mancher gerade für das Kindes¬ 
alter wichtigen Erkrankung anscheinend in 
den Hintergrund tritt. 


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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


195 


Mai 


Es ist deshalb auch kein Zufall, daß die 
wirklich grundlegende Abhandlung Ober 
die Herzarythmien im Kindesalter den 
Forscher zum Autor hat, der in einzig¬ 
artiger Weise den modernen Pädiater mit 
dem Kliniker im Sinne Wund erlich s in 
seiner Person vereinigt: O. Heubner. 

O. Heubner hatte noch im Jahre 1880 
in seiner Abhandlung über die tuberkulöse 
Meningitis (in Eulenburgs Realenzyklo¬ 
pädie) gesagt, daß er die Irregularität des 
Herzens außer bei dieser Erkrankung im 
Kindesalter für etwas sehr Seltenes halten 
müsse. 

ln seiner klassischen Abhandlung aber 
über den uns hier beschäftigenden Gegen¬ 
stand betonte er (1894), er könne zwar 
Ashby nicht beistimmen, wenn dieser sage, 
„der Puls ist beim Kinde öfter irregulär 
als beim Erwachsenen, und zwar ohne Be¬ 
einflussung durch eine Krankheit 11 , er 
müsse aber das häufigere Auftreten 
einer harmlosen Irregularität zu¬ 
geben. 

Auf Grund eines ausgezeichnet beob¬ 
achteten Krankenmaterials führt er dann 
alle Ursachen an, die bei einer vorüber¬ 
gehenden Irregularität in Betracht kommen 
können. Sieht man von den organischen 
Erkrankungen des Herzens ab, dann be¬ 
obachtet man Irregularität: 

1. Nach Vergiftungen. Heubner sah 
Arythmien nach Vergiftung mit Stechapfel¬ 
samen, Digitalis, Opium. 

2. Bei Digestionsstörungen (Verstopfung! 
Bouchat). 

3. Nach heftigem Erbrechen und Unter¬ 
leibserkrankungen (Appendizitis!). 

4. Im Rekonvaleszenten Stadium von In¬ 
fektionskrankheiten (natürlich abgesehen 
von den Fällen, wo eine schwere Myokar¬ 
ditis z. B. bei Diphtherie Ursache der Ir¬ 
regularität ist). Hier muß man aber be¬ 
sonders vorsichtig sein hinsichtlich der 
Abgrenzung der Myokardaffektion. 

Heubner sah harmlose, vorüber¬ 
gehende Arythmien in der Rekon¬ 
valeszenz bei fast sämtlichen Infek- 
tionskrankeiten des Kindesalters. 

5. Bei anämischen und nervösen Kindern. 

6. Bei Darmparasiten. 

Heubner diskutiert auch schon die 
Frage einer sogenannten physiologi¬ 
schen Arythmie im Kindesalter. 

So können Gemütsbewegungen bei 
vielen Kindern Arythmien hervorrufen. 
Die während des Schlafes nicht sel¬ 
ten zu beobachtende Herzarythmie, 
die in neuerer Zeit von Czerny genauer 


studiert wurde, war schon dem alten Stoll 
bekannt. 

Da Costa beschrieb geradezu fami¬ 
liäres Auftreten von Arythmie bei 
gesunden Kindern, das merkwürdigerweise 
bei jeder fieberhaften Erkrankung ver¬ 
schwand. Wir werden hierfür nach Mit¬ 
teilung der Mackenzieschen Beobach¬ 
tungen über den prinzipiellen Unterschied 
zwischen der sogenannten kindlichen und 
der Arythmie der Erwachsenen eine plau¬ 
sible Erklärung finden. 

In neuester Zeit hat sich Mackenzie 
sehr eingehend mit der kindlichen Aryth¬ 
mie beschäftigt. Er geht in seinen Aus¬ 
führungen von der Tatsache aus, daß der 
Puls für jedes Lebensalter eine cha¬ 
rakteristische Erscheinung darstelle. 

So nimmt bekanntlich die Pulsfrequenz 
von der Geburt bis zum 21. Lebensjahr 
allmählich ab. Der Einfluß der Körper¬ 
größe — aber auch klimatischer Faktoren — 
ist dabei unverkennbar. 

Tigerstedt (Lehrbuch der Physiologie 
des Kreislaufes) gibt für die verschiedenen 
Lebensalter folgende Tabelle: 


Lebensjahr 

mittlere Pulsfrequenz 

0-1 

134 

1-2 

111 

2—3 I 

108 

3-4 I 

108 

4-5 ! 

103 

5-6 

98 

6-7 

93 

7-8 

| 94 

8-9 

! 89 

9—10 

i 91 

10—11 

87 

11—12 

89 

12—13 

88 

13-14 

87 

14—15 

82 

15—16 

83 

16-17 

j 80 

17—18 

j 76 

18-19 

77 

19—20 

74 


Rollet 1 ) gibt folgende Zahlen: 

Ende des Total¬ 
lebens . . . 144—133 Pulse pro Minute 
Neugeborener 
im 1. Lebens¬ 
jahr . . . 143-123 „ „ „ 

10.—15. Lebens¬ 
jahr. . . . 91-76 „ 

20.—60. Lebens¬ 
jahr .... 73-69 „ „ „ 

Selbstverständlich wird die Pulsfrequenz 
vorübergehend beeinflußt durch thermische 
Einflüsse, Bewegungen, Uebergaug von der 

l ) Hermanns Handbuch der Physiologie Bd. 4, 1. 

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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Mai 


Rückenlage in aufrechte bzw. stehende Hal¬ 
tung, Nahrungszufuhr. Warm eingewickelte 
Kinder haben eine höhere Pulsfrequenz 
als nackte. 

Mackenzie sieht nun in der Nei¬ 
gung des kindlichen Herzens zu 
Arythmien geradezu etwas „Physio¬ 
logisches“. 

Sicher zeigt ja das Herz des Kindes 
Infektionen gegenüber eine größere Wider¬ 
standsfähigkeit als das Herz des erwachse¬ 
nen beziehungsweise älteren Individuums. 
Das kindliche Herz ist eben ein „unver¬ 
dorbenes Herz“. 

Gewisse Giftwirkungen, wie Alkohol, 
Tabak usw., spielen in der kindlichen 
Anamnese keine Rolle. Ebensowenig die 
echte Atherosklerose. 

Curschmann hat auf Grund eines 
außerordentlich großen Beobachtungsmate¬ 
riales für den Typhus nachweisen können, 
daß kindliche Herzen durchgehends viel 
widerstandsfähiger sich erweisen als die 
Herzen Erwachsener. 

Wir können daher Unruh keineswegs 
beistimmen, wenn er dem kindlichen Herzen 
eine überaus große Empfindlichkeit gegen¬ 
über Infektionen zuschreibt. 

Mackenzie betont mit Recht, daß die im 
kindlichen Alter auch im Anschluß an fieber¬ 
hafte Erkrankungen auftretenden Bradykar¬ 
dien und Arythmien durchaus nicht ohne 
weiteres als Ausdruck einer schwereren 
Myokardschädigung aufgefaßt werden dür¬ 
fen. Er vertritt die Anschauung, daß im 
Kindesalter in der Zeit, wo die Puls¬ 
zahl physiologischerweise eine aus¬ 
gesprochene Abnahme zeigt (vom 
dritten Lebensjahr bis in die Puber¬ 
tät hinein!), meistens und am deut¬ 
lichsten zwischen dem 8. und 15. Le¬ 
bensjahr Schwankungen des Ryth¬ 
mus aufzutreten pflegen. 

Diese Unregelmäßigkeit des Pulses 
aber hat gegenüber einer Arythmie 
infolge organischer Herzerkrankung 
beziehungsweise Herzschwäche ein 
ganz charakteristischesKennzeichen. 
Bei diesen „kindlichen Arythmien“ 
sind die einzelnen Pulsschläge in der 
Regel gleichmäßig, voll und kräftig 
ausgebildet; nur die Dauer der Dia¬ 
stole ist eine verschieden lange. 
Diese Arythmie verschwindet auch 
meistens bei beschleunigter Herz¬ 
tätigkeit, weil dann die abnorm 
langen Diastolen verkürzt werden. 
So erklärt sich wohl auch zwanglos das 
Verschwinden der familiären Arythmien 


da Costasbei fieberhafter Erkrankung des 
betreffenden Kindes. 

Mackenzie hat Fälle beobachtet, wo 
eine derartige kindliche Arythmie 
bis über die Pubertät hinaus bestehen 
blieb. Ich kann das auf Grund vielfacher 
Erfahrung bestätigen. Insbesondere bei 
jungen graviden Frauen wirkt die zufällige 
Entdeckung einer solchen harmlosen Aryth¬ 
mie oft besorgniserregend. Schon Stokes 
hat solche Fälle beobachtet. 

Im Gegensatz hierzu zeigen die 
auf organischer Schädigung des 
Herzmuskels beruhenden Arythmien 
einen ganz anderen Charakter. Hier 
wird die Arythmie in der Regel durch 
Extrasystolen bedingt. 

Extrasystolen sind bekanntlich vorzeitig 
(nahe der refraktären Periode) auftretende 
Herzkontraktionen. Sie stellen schwächere 
Kontraktionen (kleine, oft gar nicht fühlbare 
Pulswelle!), frustrane Kontraktionen im 
Sinne von Hochhaus und Quincke dar. 
Die Extrasystolen sind die Folge einer ab¬ 
normen Erregung des erkrankten Herz¬ 
muskels (myokrethisch im Sinne Herings). 

Es muß aber betont werden, daß Extra¬ 
systolen auch bei Nervösen auftreten kön¬ 
nen. Man sagt, bei nervösen Affektionen 
seien sie vom Patienten empfunden, bei 
nicht nervösen sei das nicht der Fall. Diese 
Art der Unterscheidung ist natürlich höchst 
mangelhaft. Man kann wohl sagen, Extra¬ 
systolen allein beweisen noch nicht eine 
organische Läsion, aber sie sind doch sehr 
verdächtig in dieser Richtung (Romberg). 

Sehr treffend bemerkt F. Müller: Extra¬ 
systolen können auch bei sogenannten Ner¬ 
vösen das erste Zeichen einer später mani¬ 
fest werdenden organischen Nerven¬ 
erkrankung sein! Zudem ist es bis jetzt 
im Experiment noch nicht gelungen, Extra¬ 
systolen durch Reizung der Herznerven zu 
erzeugen. 

Wir dürfen also aus dem Auf¬ 
treten einer Arythmie im Kindes¬ 
alter nicht ohne weiteres auf eine 
organische Läsion des Herzens 
schließen. Die sogenannte kindliche 
Arythmie ist nach dem Pulsbilde etwas 
ganz anderes als die durch Extrasystolen 
bedingte Arythmie. Und selbst Extra¬ 
systolen können bei nervösen Individuen 
Vorkommen, ohne die Folge einer ernste¬ 
ren Erkrankung des Herzens darzustellen. 

Die genaueste Untersuchung und indi¬ 
viduelle Beurteilung ist daher in jedem 
Falle unerläßlich. Pulszählen und gleich¬ 
zeitige Auskultation am Herzen! Aufnahme 
eines Splygmogrammes. 


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Mai 


Oie Therapie der Gegenwart 1910. 


197 


Mackenzie ist überzeugt, daß fast I erregter Herzaktion und im Exspirium 


jedes Kind zu gewissen Zeiten Arythmien 
hat als charakteristische Begleiterschei¬ 
nung der „natürlichen Abnahme der Puls¬ 
frequenz“. 

Interessanterweise hat die Arythmie bei 
der Meningitis tuberculosa auch infantilen 
Charakter, das heißt sie beruht lediglich 
auf verschieden langen Diastolen. 

Bei organischen Herzerkrankungen 
stellen sich auch im Kindesalter Arythmien 
mit Extrasystolen ein, die zu sogenannten 
frustranen Kontraktionen führen und leicht 
zu erkennen sind. 

Von Wichtigkeit ist ferner die richtige 
Einschätzung von Herzgeräuschen bei 
Kindern, die nachweislich keine Endo¬ 
karditis durchgemacht haben. Es ist das 
Verdienst von Lüthje, in neuerer Zeit 
die Aufmerksamkeit auf die sogenannten 
akzidentellen Herzgeräusche bei Kin¬ 
dern gelenkt zu haben. Es handelt sich 
dabei keineswegs immer um sogenannte 
Nervöse, bei denen schon Stokes harmlose 
Arythmien neben sogenannten akzidentellen 
Geräuschen am Herzen beschrieben hat. 

Lüthje untersuchte 854 Kinder, be¬ 
ziehungsweise jugendliche Individuen (801 
im Alter von 6 bis 13 Jahren; 53 zwischen 
14 und 20 Jahren). Er fand 623mal systo¬ 
lische Geräusche; in 564 Fällen war das 
Geräusch nur über der Pulmonalis deutlich. 
14 mal war es nach anderen Ostien deut¬ 
lich fortgeleitet. Nur 2 % der Untersuchten 
hatten sichere Zeichen von Klappenfehlern. 
Die überwiegende Mehrzahl hatte also 
„akzidentelle“ Geräusche. 

Ich habe seinerzeit Herrn W. Beyer ver¬ 
anlaßt, diese Daten an den Dresdener 
Schulen nachzuprüfen. 

Beyer hat in außerordentlich gründ¬ 
licher Weise 830 Schulkinder (Knaben und 
Mädchen) im Alter von 6 bis zu 14 Jahren 
untersucht. Er fand 352 mal ein systoli¬ 
sches Geräusch (= 42 % aller untersuchten 
Kinder). Verhältnismäßig häufiger fand er 
systolische Geräusche bei den Mädchen 
(161 mal unter 336; bei den Knaben 191 
mal unter 494). 

Am häufigsten waren die Geräusche bei 
Kindern im Alter von 9 bis 14 Jahren. 
Von 352 Fällen hatten 253 = 61 % das 
Geräusch auch in der Ruhe von vorn¬ 
herein; 99 = 39% bekamen es erst nach 
Turnübungen. 

In der Mehrzahl der Fälle hatte das 
Geräusch sein Punctum maximum über 
der Pulmonalis. 

35% aller Kinder hatten „Pulmonal“- 
geräusche. Diese Geräusche werden bei 


lauter, zum Teil treten sie dann erst auf. 

7,4% hatten „Mitralgeräusche“, das heißt 
das Punctum maximum war über der Mi¬ 
tralis. Beyer sah diese „Mitralgeräusche“ 
bei verstärkter Herzaktion zum Teil erst 
auftreten, zum Teil aber auch verschwinden. 

! vereinzelten Fällen finden sich wohl Pul¬ 
monal- und Mitralgeräusche kombiniert. 

Nach dem Blutbefund geht die Häufig¬ 
keit des Auftretens der Geräusche durch¬ 
aus nicht der Verbreitung der Anämie par¬ 
allel. 

Viele Anämische hatten keine ausge¬ 
sprochenen Geräusche. Nur in 14 Fällen 
seines Materials ließen sich einwandfrei 
Herzfehler nach weisen. 

Ich möchte gegenüber der von Lüthje 
und Beyer geübten präzisen Abgrenzung 
von sogenannten reinen „Pulmonalge¬ 
räuschen“ einigen Zweifel äußern. Schon 
Traube lehrte uns, daß systolische 
Geräusche, die an der Mitralis ent¬ 
stehen, oft am besten an der Herz¬ 
basis nach der Pulmonalis zu gehört 
werden. Das ändert aber natürlich nichts 
an der bemerkenswerten Tatsache, daß 
im Kindesalter ebenso häufig wie harmlose 
Arythmieen auch „harmlose Geräusche“ zu 
finden sind. 

Es liegt der Gedanke nahe, das Auf¬ 
treten solcher akzidentellen, das heißt nicht 
auf organischer Läsion beruhenden Ge¬ 
räusche auf bestimmte physiologische und 
anatomische Eigentümlichkeiten des kind¬ 
lichen Kreislaufes zurückzuführen. 

Lüthje denkt bei der Erklärung dieser 
häufig anzutreffenden Pulmonalgeräusche 
an Stenosengeräusche infolge eines sehr 
flachen Thorax. 

Da die Geräusche häufig bei der for- 
zierten Exspiration lauter werden, so 
denkt er an eine durch die Exspiration be¬ 
dingte weitere Verkleinerung des sterno- 
vertebralen Durchmessers. Also stärkere Ste- 
nosierung des Gefäßes! Aehnlich wie in 
dem bekannten Stethoskopdruckversuch von 
Henoch und Steffen. 

Dem möchte ich gegenüber halten, daß 
auch organisch bedingte Pulmonalgeräusche 
und auch Mitralgeräusche bei nichts weniger 
als verflachtem Thorax nur im Exspirium 
lauter werden — wohl durch Entblößung 
der Pulmonalis und des Herzens von der 
Lunge und dadurch bedingte Annäherung 
an die Brustwand. 

Beyer plädiert im Anschluß an Be- 
neke und Kreyssig an ein Mißverhältnis 
zwischen Herz volumen und Gefäß weite. Er 
faßt die Pulmonalgeräusche daher als „Di- 


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198 


Mai 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


latationsgeräusche“ auf. Beneke sprach 
ja schon vor vielen Jahren von einem 
„kardiovaskulären Typus“ bei Kindern: 
geringe Herzhöhlung und weite große Ge¬ 
fäße. Nach der Pubertät erst wird nach 
ihm das Verhältnis umgekehrt. So wächst 
das Herzvolumen von der Geburt bis zur 
Pubertät um das 12fache, der Aorten¬ 
umfang nur um das 3 fache. 

Ich möchte hier nicht die noch immer 
nicht befriedigend zu beantwortende Frage 
der Entstehung sogenannter akzidenteller 
Geräusche aufrollen. Ich glaube, daß eine 
einheitliche Erklärung aus dem einfachen 
Grunde nicht möglich sein wird, weil die 
sogenannten akzidentellen Geräusche ganz 
verschiedene Ursachen haben können. 
So treten ja auch die einen für den rein 
anämischen Charakter (Beschleunigung des 
Blutstroms bei der Anämie) ein, die andern 
denken an passagere muskuläre Mitral¬ 
insuffizienzen (v. Leube, Krehl). 

Romberg möchte in Uebereinstimmung 
mit v. Bamberger die akzidentellen Ge¬ 
räusche wenigstens zum Teil auf abnorme 
Schwingungen des Herzmuskels und der 
Wand der großen Gefäße zurückführen. 
Er gibt aber auch die Schwierigkeiten einer 
einheitlichen Erklärung zu, lehnt den Sehr¬ 
wald sehen Versuch, sie als Venengeräusche 
zu deuten, ab und gibt zu, „daß bei Kindern 
namentlich eine relative Weite der Pulmo- 
nalis im Vergleich zu ihrem Ostium für 
die Geräuschbildung verantwortlich gemacht 
werden könne“. 

Wir sehen also jedenfalls, daß im 
kindlichen Lebensalter relativ sehr häufig 
„harmlose“ Herzgeräusche auftreten können, 
deren einheitliche Erklärung nicht möglich 
ist. Ich persönlich bin der Meinung, daß 


es sich in sehr vielen Fällen doch um 
| leichte passagere muskuläre Mitralinsuffi- 
I zienzen handelt. 

Hinsichtlich der richtigen Beurteilung 
des einzelnen Falles gilt auch heute noch 
, das Wort des erfahrenen W. Stokes: 

I „Die Kunst, eine richtige Diagnose 
! zwischen funktionellen und organi- 
| sehen Herzleiden zu stellen ist nicht 
, soleicht, wie neuere Schriftsteller an¬ 
geben, und wir gelangen öfters durch 
instinktartige Geschicklichkeit — das 
Resultat der Erfahrung und des Ur- 
! teils — zueinem richtigeren Schlüsse, 

] als durch diagnostische Regeln.“ 

j Literatur. 

1) Krehl, Erkrankungen des Herzmuskels 
j in Nothnagels Handbuch. — 2) Krehl, Patho- 
I logische Physiologie VI. Aufl. Leipzig 1910. — 

' 3) Romberg, Krankheiten des Herzens. II. Aufl. 
Stuttgart 1909. — 4) Schlayer und Fischer* 
Arteriosklerose und Fühlbarkeit der Arterien¬ 
wand. D. Arch. f klin. Med. 98. Bd., H. 1—3, 

| S. 164ff. — 5) Heubner, O., Ueber Herz- 
I arythmie im Kindesalter. Zeitschr. f. klin. Med. 
Bd. XXVI, S. 493. — 6) Czerny, Beobach¬ 
tungen über den Schlaf im Kindesalter. Jahr- 
| buch f. Kinderheilkunde Bd. XXXII, S. 28. — 

! 7) Mackenzie. J., Die Lehre vom Puls. 

Deutsch von Adolf Deutsch. Frankfurta. M. 

I 1904. Johannes Alt. — 8) Unruh, Ueber die 
| sogenannte Schulanämie. Freie Vereinigung 
| f. inn. Med. i. Kgr. Sachsen 1906. D. med. W. 

| 1906, Nr. 41. — 9) Lüthje, H.. Beitrag zur 
I Frage der systolischen Geräusche am Herzen. 

I Med. Klinik 1906, Nr. 16/17 und Offizielles 
Protokoll d. Sitzung d. ärztl. Vereins zu Frank- 
i furt a. M. v. 17. Dezember 1906. Münch, med. 

1 W. 1907, Nr. 495. — 10) W. Beyer, Unter¬ 
suchungen über das häufige Vorkommen von 
1 systolischen Herzgeräuschen bei Kindern. J. D. 
| Leipzig 1907. (Ausführliche Literatur.) — 
11) Stokes, Krankheiten des Herzens an der 
Aorta. 


Ueber eine Prioritätsfrage bezüglich des künstlichen Pneumo¬ 
thorax bei der Behandlung der Lungenschwindsucht — und 
über den Mechanismus seiner Wirkung. 


Von Prof. Carlo Forlanini, Direktor der medizinischen Klinik der Kgl. Universität in Pavia. 


Veranlassung zu der vorliegenden Arbeit 
geben eine im Mai vorigen Jahres in dieser 
Zeitschrift erschienene Veröffentlichung 
von Dr. Daus 1 ) und das Urteil, das der¬ 
selbe über meinen Vorschlag der Behand¬ 
lung Jer Lungenschwindsucht mit dem 
künstlichen Pneumothorax fällt, worin ich 
ihm nicht beistimmen kann: — daß ich 
seither so viel Zeit verstreichen ließ, findet 
seinen Grund in den großen Schwierig¬ 
keiten, denen ich bei den Literaturnach- 

*) S. Daus (Berlin-Gütergotz), Historisches und 
Kritisches über künstlichen Pneumothorax bei Lungen¬ 
schwindsucht (Die Ther. d. Gegenw. Mai 1909). 


forschungen begegnete, die dann leider 
doch nicht den gewünschten Erfolg hatten: 
wie Daus, so war es auch mir nicht mög¬ 
lich direkte An gaben über den Vorschlag von 
Carson zu sammeln, noch mir seine Ori¬ 
ginalarbeit zu verschaffen; hingegen gelang 
es mir, einige Mitteilungen zu finden, die mir 
von Nutzen erschienen. Zuvor will ich 
aber wiedergeben, was Daus über den 
strittigen Punkt schreibt: 

„Die neuerdings viel diskutierte Be¬ 
handlung der Lungentuberkulose durch 
künstlichen Pneumothorax stellt keineswegs, 
wie ihr Neuentdecker Forlanini angibt, 


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Mai 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


199 


eine neue Methode dar, sondern ich stelle 
hiermit fest, daß die Priorität Carson ge¬ 
bohrt." — Und zur Stotze seiner Behaup¬ 
tung bringt Daus folgende Dokumente 
herbei: Im Lehrbuch der speziellen Patho¬ 
logie und Therapie von Canstatt, heraus¬ 
gegeben im Jahre 1843, stehe: „Unausführ¬ 
bar ist die Idee von Carson, durch Eröff¬ 
nung einer Seite der Pleura künstlichen 
Pneumothorax und hierdurch Kompression 
der kavernösen Lunge zu erzeugen und 
später dasselbe Verfahren auf der anderen 
Seite zu wiederholen, sowie auch Piorrys 
Vorschlag, durch eine Binde Kompression 
der einen Seite der Brust zu bewirken und 
dadurch die Wandungen der Tuberkel¬ 
höhlen zum Behufe der Adhäsion einander 
näher zu bringen." Auch Wunderlich 
bezeichne in seinem Lehrbuch der Patho¬ 
logie und Therapie vom Jahre 1856 „so¬ 
wohl die Kompression von außen her nach 
Piorry, wie die Eröffnung des Thorax und 
Herbeiführung eines künstlichen Pneumo¬ 
thorax nach Carson als nicht nachahmens¬ 
wert". Köhler schreibe in seinem Hand¬ 
buch der speziellen Therapie vom Jahre 
1867: „Der (der Idee, durch Steigerung der 
Atemtätigkeit die Tuberkelbildung zu ver¬ 
hüten) entgegengesetzte Vorschlag Car- 
sons, durch künstliches Herbeiführen eines 
Pneumothorax auf einer Seite, oder der 
Piorrys, durch einen Druckverband oder 
durch Auflegen von Gewichten die Brust¬ 
wände niederzudrücken, um die Wände 
der Eiterhöhlen miteinander in Berührung 
zu bringen und auf diese Weise ihre Ver¬ 
narbung zu bewerkstelligen .... verdient 
keine klinische Prüfung, geschweige, daß 
die Einführung dieser Methode in die all¬ 
gemeine Praxis zu erwarten ist." — Zum 
Schluß bemerkt Daus: „Im Zusammen¬ 
hänge hiermit sei noch hinzugefügt, daß 
man nach H. E. Richter (Grundriß d. inn. 
Klinik, Leipzig 1856) das Einsinken der 
Brust über den Eiterhöhlen zuweilen durch 
angelegte Binden oder Pflasterstreifen för¬ 
dern könne. Indessen, wenn man sich in 
desperaten Fällen zur Kompressionstherapie 
entschlossen hat, so geht wohl aus allem 
hervor, daß man der Carson sehen Me¬ 
thode der „inneren" Kompression in Form 
des künstlichen Pneumothorax den Vorzug 
geben wird.“ — Weiter unten dann, daran 
erinnernd, wie schon die alten Aerzte den 
wohltätigen Einfluß bemerkt hätten, den 
ein spontan aufgetretener Pneumothorax 
auf die Symptome und den Verlauf der 
Schwindsucht ausübe, drückt er (in einer 
Fußnote) folgende Ansicht aus: „Möglicher¬ 
weise waren diese Fälle auch Carson be¬ 


kannt und haben ihn zu seiner Methode 
vielleicht mit inspiriert.“ 

Die soeben erwähnten Dokumente be¬ 
stehen also im wesentlichen in dem Urteil 
von vier Autoren über eine von Dr. Carson 
vorgeschlagene Methode zur Behandlung 
der Lungenschwindsucht mit einem Pneumo¬ 
thorax, den man durch Eröffnung der 
Pleurahöhle erhält: drei von ihnen, Can¬ 
statt, Wunderlich und Köhler, halten 
den Vorschlag für klinisch unausführbar; 
der vierte, E. Richter, spricht sich dahin 
aus, daß, wenn man seine Zuflucht zu einer 
Kompressionsbehandlung nehmen wolle, 
die Carsonsche Methode jener von Piorry 
vorgeschlagenen mit Heftpflasterstreifen 
vorzuziehen wäre. Aber aus den ange¬ 
führten Stellen geht nicht hervor, worin 
die Methode besteht, und vor allem, ob 
der Vorschlag — wie es sich für jenen von 
Piorry tatsächlich ergibt — je ausgeführt 
worden ist und mit welchem Erfolge. Wenn 
ich nun auch davon absehe, daß der 
Carsonsche Vorschlag seit fast einem 
halben Jahrhundert in Vergessenheit ge¬ 
raten war, als ich im Jahre 1881 meinen 
eigenen Vorschlag vorbrachte, so scheint 
mir dennoch, daß die Zitate von Dr. Daus 
nicht hinreichen, um eine Priorität zu¬ 
gunsten Carsons daraus abzuleiten; um 
so mehr, als es heute unter Berücksichti¬ 
gung der pathologischen Kenntnisse und 
der chirurgischen Technik jener Zeit 
nicht anzunehmen ist, daß es damals mög¬ 
lich gewesen wäre, eine therapeutische 
Maßnahme zu ersinnen und vor allem aus¬ 
zuführen, die dem Begriffe des modernen 
künstlichen Pneumothorax entsprochen 
hätte. Daher entschloß ich mich noch 
selber zu Nachforschungen in zahlreichen 
Bibliotheken; aber es gelang mir nicht, 
irgendwelche direkte Notiz über diesen 
Gegenstand zu finden. Hingegen hatte ich 
das Glück, das Werk eines piemontesi- 
schen Arztes, eines Zeitgenossen von 
Carson, in die Hände zu bekommen, der 
ungefähr in jener Epoche zu seiner weiteren 
Ausbildung einige Zeit in London ver¬ 
brachte. Es ist dies Dr. Luigi Parola, 
leitender Arzt des Spitals von Cuneo, der 
im Jahre 1849 ein 700 Seiten starkes Werk 
über die Lungenschwindsucht veröffent¬ 
lichte 1 ); darin kommt eine Stelle vor, die 

l ) L. Parola, Von der Tuberkulose im allge¬ 
meinen und der Lungenschwindsucht im speziellen; 
historische und praktisch-theoretische Untersuchungen 
zur Beantwortung der 10 Fragen, die von der Kgl. 
medizinisch-chirurgischen Akademie in Turin aufge¬ 
stellt und von derselben mit dem Garbigliettischen 
Preise gekrönt worden sind. (Turin 1849. G. Favale 
& Comp. 700 S. 8° m. 4 Taf.) 


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200 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Mai 


ich weiter unten wiedergeben werde, in 
welcher — leider ohne Quellenangabe — 
Car so n kurz erwähnt wird. Nachdem der 
Verfasser von der Thorakozentese als 
Mittel zur Entleerung innerer Eiteransamm¬ 
lungen im Brustraume gesprochen und 
daran erinnert hat, daß bereits Baglivi sie 
„für die besonderen Fälle von ulzerösen 
Prozessen in den Lungen“ empfohlen hätte, 
„in Anlehnung an einen von ihm selbst in 
Padua beobachteten Falle mit glücklichem 
Ausgang“ und sich „mit Recht“ dar¬ 
über beklagt hätte, „daß bei der Lungen¬ 
schwindsucht die Aerzte viel eher daran 
dächten, die Reihe der wertlosen Medika¬ 
mente zu vergrößern oder sich schmäh¬ 
licher Untätigkeit hinzugeben, statt diesen 
genannten Heil weg zu versuchen“, fährt er 
folgendermaßen fort (S. 617): 

„In der Tat hatte ihn (die Thorako¬ 
zentese) bereits vor mehr als hundert 
Jahren der Engländer Barry angedeutet. 
Nach seiner Ausdrucksweise sei es un¬ 
menschlich, die armen Kranken mit Deri- 
vantien oder Expektorantien hinzuhalten, 
da es doch notwendig sei, der inneren 
Eiteransammlung auf dem kürzesten Wege 
Abfluß zu schaßen durch Eröffnung des 
Thorax direkt über dem Tuberkel. Ra¬ 
in ad ge machte dann von dieser Operation 
einen besonderen Gegenstand und einen 
Bestandteil seiner Behandlung jndem er 
bekannte, daß das beste Mittel zur Heilung 
der Schwindsucht darin liege, so viel als 
möglich die Ruhigstellung des erkrankten 
Organs oder wenigstens der tuberkulösen 
Partie desselben zu erreichen; die Oeßnung 
in der Brustwand und die Verbindung des 
Krankheitsherdes mit der Außenluft be¬ 
wirkten nun durch ein Zusammenziehen 
der darüberliegenden Brustwandpartie diese 
Unbeweglichkeit, was zur Folge hätte, daß 
der Respirationsakt aufgehoben würde 1 ). 

*) Von Arbeiten von Ram ad ge konnte ich nur 
eine von Dr. Holmbaum im Jahre 1836 ins Deutsche 
und von Dr. Lebe au ebenfalls 1836 ins Französische 
übersetzte mir zugänglich machen. (Meine Nach¬ 
forschungen ergaben nicht, daß er noch anderes ge¬ 
schrieben hätte.) Aber ich fand darin nicht die von 
Dr. Parola ihm zugeschriebene Aeußerung; im Gegen¬ 
teil, es kamen ganz entgegengesetzte Gedanken darin 
zum Ausdruck, und zwar daß »jeder auf die obere 
Brustwand ausgeübte Druck eine Gelegenheitsursache 
zur Entstehung von Tuberkeln darstelle 41 (Seite 11 j 
der französischen Ausgabe), ferner wird darin an die 
alte Beobachtung der Kliniker von der geringen 
Schwindsuchtdisposition der Asthmatiker und Eraphys- 
matiker erinnert (Seite 2, 3 und 4); cs wird darin 
erwähnt, daß er bei der Autopsie von geheilten 
Schwindsüchtigen, die an einer andern Krankheit zu¬ 
grunde gingen, stets Emphysem nachgewiesen hätte; 
es wird die Ueberzeugung ausgedrückt, daß „ulzeröse 
Lungenprozesse radikal ausheilen und neue Tuberkel- 


Aehnliche Ueberlegungen waren schon von 
Dr. Carson in Liverpool ausgesprochen 
worden, der die Schwierigkeit der Ver¬ 
narbung von Geschwüren in den Lungen 
dem Umstand zuschrieb, daß die Lungen 
fortwährend gezwungen wären sich aus¬ 
zudehnen und zusammenzuziehen. Und 
nachdem einige Beobachtungen, die er am 
Menschen gemacht hatte, und Tierversuche 
ihm gezeigt hatten, daß man ohne Gefahr 
Luft in die eine der beiden Brusthälften 
einbringen könne, schlug er seine Punktion 
für die Fälle von Schwindsucht vor, damit 
die kranke Lunge, indem sie von der Außen¬ 
luft zusammengedrückt würde, zu einer heil¬ 
samen Ruhe gezwungen werde. Wenn 
dann durch dieses Mittel ihre Ausheilung 
erzielt worden wäre, solle dieselbe Punktion 
auf der andern Seite wiederholt werden, 
sofern die Natur des Falles es verlange. 
Solcherlei Betrachtungen werden bekräftigt 
durch die Tatsachen und durch die Be¬ 
obachtungen des Dr. Houghton (Encic. 
cit.) und vor allem durch einen in der 
Dubliner Zeitung mitgeteilten Fall, der einen 
Maurer betrifft, welcher ein und ein halbes 
Jahr lang nach Anlegung der Fistel lebte 
und sicherlich noch sehr lange Zeit am 
Leben geblieben wäre, hätte er nicht die 
Unklugheit begangen, bei seinem mühsamen 
Beruf zu verharren, wodurch er zunächst 
eine Pleuropneumonie der entgegengesetzten 
Seite durchzumachen hatte, und, dieser 
glücklich entronnen, an den Folgen wieder¬ 
holter akuter Entzündungen der andern 
Lunge und des Pneumothoraxsackes schlie߬ 
lich zugrunde gehen mußte. Während des 
erwähnten Zeitraumes zog sich die aus¬ 
gedehnte Seite zusammen, kehrte aber 
schließlich zur anfänglichen Ausdehnung 
wieder zurück. Die hektischen Schweiße 
verschwanden fast vollständig von dem 
Zeitpunkt der Perforation an; die Kräfte 
und das Allgemeinbefinden nahmen derart 
zu, daß sie dem Patienten sogar die Wieder¬ 
ausübung seines Berufes gestatteten. Der 
hier dargelegte Fall veranlaßte Houghton 

bildungen verhindert werden können durch künstliche 
Ausdehnung des Lungengewebes*'; und gestützt auf 
diese Beweggründe wird der Vorschlag gemacht 
(Seite 39) die Lungenschwindsucht zu heilen, indem 
man den Kranken durch eine lange und schmale 
Röhre forciert atmen lasse. 

F. H. Ra m ad ge. Die Lungenschwindsucht ist 
heilbar, oder Entwicklung des Prozesses, den Natur 
und Kunst einzuschlagen haben, um diese Krankheit 
zu heilen; nebst Empfehlung einer neuen und einfachen 
Heilmethode. (Aus dem Englischen übersetzt von Dr. 
C. Holmbaum 1836. — Amsterdam und New-York.) 

F. H. Ramadge. Trait6 sur la nature et le 
traitement de la consomption pulmonaire. (Trad. de 
Tanglais par H. Lebe au, Bruxelles 1836.) 


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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


201 


Mai 


zu folgenden Betrachtungen Ober die gün¬ 
stige Wirkung der komprimierenden Luft 
auf den tuberkulösen Zustand der kom¬ 
primierten Lunge: die durch die Atmungs¬ 
tätigkeit bedingte fortwährende Bewegung 
der Lunge und die daraus resultierende 
Reibung derselben unterhalten eine be¬ 
ständige Reizung und einen vermehrten 
Blutandrang um die Tuberkel herum; die 
Folge davon ist deren Wachstum und deren 
fortschreitende Entwicklung. Umgekehrt 
fehlt beim Pneumothorax der Einfluß dieser 
Ursachen, da die Lunge in fast vollkommener 
Ruhe und in einem Zustande verhältnis¬ 
mäßiger Anämie der Wirbelsäule anliegt." 

Der hier wiedergegebene Abschnitt läßt 
zweierlei Folgerungen zu: erstens, daß 
wahrscheinlich der von Carson vor¬ 
geschlagene Pneumothorax nicht geschlossen 
und nicht unter Druck ist, wie es conditio 
sine qua non für den modernen Pneumo¬ 
thorax ist, sondern ein offener Pneumo¬ 
thorax ist. ln der Tat sagt R am ad ge — 
nach Parola — daß die beste Art, „die 
Unbeweglichkeit der Lunge zu erreichen, 
die Eröffnung der Thoraxwand und die 
Verbindung des Krankheitsherdes mit der 
Außenluft darstelle." . . . „Aehnliche Ueber- 
legungen", fährt Dr. Parola fort, „waren 
schon von Dr. Carson in Liverpool aus¬ 
gegangen, welcher „seine Punktion für die 
Fälle von Schwindsucht vorschlug, damit 
die Lunge von der Außenluft zusammen¬ 
gedrückt," usw.; und weiter vorn: „solcher¬ 
lei Betrachtungen werden bekräftigt durch 
die Tatsachen" und hauptsächlich durch 
den Fall von Houghton, „der anderthalb 
Jahre lang nach der Anlegung der Fistel 
am Leben blieb." — Uebrigens schreibt 
auch Canstatt (zit. nach Dr. Daus) Carson 
den Gedanken der „Eröffnung der Pleura" 
(„durch Eröffnung einer Seite der Pleura") 
zu — und Wunderlich spricht „von der 
Carsonschen Methode der Eröffnung des 
Thorax.“ 

Die andere Folgerung ist die, daß der 
Vorschlag von Carson wohl niemals tat¬ 
sächlich ausgeführt worden ist, oder nur 
in Form eines vereinzelten Versuches, aber 
nie als methodisch durchgeführte Praxis. 
Es muß in der Tat auffallen, daß, während 
Parola im Kapitel über die Thorakozentese 
des weiten und breiten mit vielen Details 
die einzelnen Fälle von Entleerungen von 
inneren Eiteransammlungen des Thorax 
(ohne Unterschied zwischen pleuralen und 
pulmonalen) wiedergibt, er für die Carson - 
sehe Operation nur eine kurze Andeutung 
übrig hat und sie erklärt als „Betrachtungen 
ähnlich jenen von Ramadge", welche ihn 


„mit der Beihilfe von einigen Beobachtungen 
am Menschen und von Tierversuchen" dazu 
brachten, „seine Punktion der Pleura vor¬ 
zuschlagen", — „Betrachtungen", so fährt 
Parola fort, „welche bekräftigt werden 
durch die Tatsachen und durch die Be¬ 
obachtungen des Dr. Houghton". Bei dem 
Interesse und der Wichtigkeit des Gegen¬ 
standes ist anzunehmen, daß Parola mehr 
und klarer davon gesprochen hätte, wenn 
er es eben gekonnt hätte. Wer möchte 
übrigens glauben, daß zur Zeit von Carson, 
vor der Listerschen Epoche jemand es 
gewagt hätte einen chirurgischen Pneumo¬ 
thorax therapeutisch anzulegen, bei der 
großen Gefahr des Fluktuierens des Media¬ 
stinums und der unvermeidlichen Gefahr 
der Infektion der Pleura? oder wenn er 
in Form eines einzelnen Versuches aus- 
geführt worden wäre, das Ergebnis nicht 
derart gewesen wäre, um gründlich vor 
einer Wiederholung desselben abzu¬ 
schrecken? 

* * 

* 

Nachdem im vorhergehenden die aus 
der Literatur geschöpften Beweisgründe 
dargelegt worden sind, ist es nun not¬ 
wendig zu prüfen, ob man es hier wirklich 
mit einer eigentlichen Prioritätsfrage zu 
tun hat, davon ausgehend, daß die Grund¬ 
lage einer solchen Streitfrage die Identität 
des therapeutischen Gedankens der beiden 
Vorschläge sein müsse. 

Kein Zweifel, daß, wenn Carson 1843, 
ich 1882 und Murphy 1898, jeder ohne 
Kenntnis des anderen, den identischen 
therapeutischen Gedanken gehabt hätten, 
der erste Prioritätsanspruch hätte Carson 
zuerkannt werden müssen; eine zweite 
Priorität würde mir zukommen, nachdem 
fast für ein halbes Jahrhundert jede Er¬ 
innerung an Carsons Vorschlag verloren 
gegangen war; und eine dritte Priorität 
müßte Murphy zukommen, sofern er — 
wie ich annehme — von meinem Vorschlag 
keine Kenntnis hatte, wiewohl derselbe auf 
einem internationalen Kongreß mitgeteilt 
und gleich darauf in einer verbreiteten 
Zeitschrift, der Münchener medizinischen 
Wochenschrift, veröffentlicht worden war. 

Nun, ich zögere nicht zu behaupten, 
daß dem nicht so ist; zwischen dem thera¬ 
peutischen Gedanken von Carson und 
jenem von Murphy besteht tatsächlich eine 
gewisse Analogie, aber der meinige ist 
davon grundsätzlich verschieden. Der 
chirurgische Akt des Pneumothorax, der 
allen drei gemeinsam ist, stellt nur einen, 
nicht einmal wesentlichen Berührungspunkt 
vor, oder vielmehr nur eine äußerliche 

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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Mai 


Aehnlichkeit des Ausführungsmittels, die 
den wesentlichen Unterschied zwischen dem 
erläuternden Begriff der Methode und der 
Methode selbst in keiner Weise verringert. 
Daher ist es mir nicht möglich, hier eine 
Prioritätsfrage zu entdecken; nach meiner 
Ansicht sind die Vorschläge von Car so n 
und Murphy und der meinige wesentlich 
verschieden, und es besteht unter denselben 
nur eine rein äußerliche Aehnlichkeit. 

Ich bezwecke nun, diesen Unterschied 
darzulegen und zu veranschaulichen, nicht 
etwa um eine Priorität festzustellen, die an 
sich wertlos und für den Leser ohne Inter¬ 
esse ist, sondern weil ich es für natürlich 
erachte und es mein Wunsch ist, den er¬ 
läuternden Begriff und die Natur meines 
Vorschlages recht deutlich darzustellen, 
wozu ich durch zwei Beweggründe ge¬ 
trieben werde: — erstens, weil, wie ich 
schon 1882 sagte: mein Vorschlag von 
einer Reihe von Gedanken über die Natur 
des phthisiogenen Prozesses sich herleitet, 
die mir eigen und vollständig neu sind; 
diese Gedanken haben, nach meinem Dafür¬ 
halten, eine noch größere Bedeutung für 
die Pathologie als sie die Methode selbst 
für die Therapie besitzt; — und zweitens 
weil es nur mit einem nach diesem Ge¬ 
danken aufgebauten Technizismus möglich 
ist, den ganzen Erfolg, den die Methode 
gestattet, zu erreichen, und die Unan¬ 
nehmlichkeiten und die Gefahren, die ihr 

anhängen, zu vermeiden. 

* * 

* 

Die Heilung der Phthise durch den 
Pneumothorax ist notwendigerweise das 
Ergebnis von zwei getrennten Vorgängen: 
der eine ist die Aufhaltung des der Krank¬ 
heit zugrunde liegenden Prozesses, des 
Zerstörungsprozesses, — der andere die 
Vernarbung der schon eingetretenen Zer¬ 
störungswerke, der Höhlenbildungen. Der 
eine wie der andere sind ebenso unent¬ 
behrlich, um eine vollkommene Heilung zu 
erreichen. Nehmen wir beispielsweise und 
in Form einer rein abstrakten Hypothese 
an, daß der Pneumothorax nur den Zer¬ 
störungsprozeß zum Stillstand bringen 
würde, die schon eingetretenen Zerstörungen 
aber weiterbestehen ließe, so würde daraus 
nicht eine Heilung, sondern nur eine Ver¬ 
änderung der anatomischen und klinischen 
Form des Prozesses folgen; die fort¬ 
schreitende Zerstörung der Lunge wäre 
wohl aufgehalten und unterdrückt, aber die 
schon erfolgten Zerstörungen würden immer 
fortbestehen, die Kavernen unaufhörlich 
weiter Eiter bilden; ein Krankheitszustand 
also, in seinen Wirkungen analog jenem 


der Bronchiektasien, an sich schon schwer 
und genügend, um zum Exitus letalis zu 
führen. Ebenso, den umgekehrten Fall 
angenommen, daß ein Pneumothorax die 
Kavernen zur Vernarbung bringen würde, 
aber den Zerstörungsprozeß weiterbestehen 
ließe, würden die schon erfolgten Zer¬ 
störungen und die unaufhörlich frisch ent¬ 
stehenden vernarben, aber der stets tätige 
Zerstörungsprozeß würde nach und nach 
im verbleibenden Parenchym immer weiter 
um sich greifen, um es schließlich ganz zu 
vernichten: — Endresultat also: Umwand¬ 
lung des ganzen Organs in eine narbige 
Masse, das ist seine gänzliche Aufhebung. 
Es sind dies zwei reine Hypothesen, denen, 
besonders was die zweite anbetrifft, in der 
Wirklichkeit nichts entspricht; aber sie 
deuten uns an, auf welche Weise die 
Heilung der Phthise vor sich gehen muß, 
um wirklich eine vollständige zu sein. 

Nun heilt auch der nach bestimmten 
Regeln und in einer gegebenen Form er¬ 
zeugte Pneumothorax die Phthise im 
ganzen: den Zerstörungsprozeß wie die 
schon erfolgten Zerstörungen, — wofür 
man nunmehr hinreichende anatomische 
und klinische Beweise besitzt Daraus läßt 
sich schließen, daß seine Wirkung eine 
zusammengesetzte ist und aus zwei ge¬ 
trennten Einzelwirkungen hervorgeht: eine, 
welche die Kavernen zur Vernarbung 
führt — eine andere, welche den Zer¬ 
störungsprozeß verhindert und zum Still¬ 
stand bringt. 

Welches ist nun der Mechanismus einer 
jeden dieser zwei Wirkungen? Deijenige 
von der Vernarbung der Kavernen ist 
selbstverständlich: der Pneumothorax löst 
die Lunge von der Brustwand ab, drückt 
sie zusammen, bringt die Höhle der 
Kavernen zum Schwinden, entleert sie und 
erhält sie leer, bringt und erhält ihre 
Wandungen in direkte Berührung und be¬ 
wirkt dadurch ihre endgültige Verklebung: 
derselbe Mechanismus also, wonach jeder 
andere Substanz vertust vernarbt. 1 ) Für 
die noch in Bildung begriffenen Kavernen, 
das heißt für die großen, noch nicht er¬ 
weichten und daher noch nicht entfern¬ 
baren Käseherde, ist der Mechanismus, 

1 ) Nach den allgemeinen Anschauungen sollte es 
als sehr unwahrscheinlich erscheinen, dafi bei Sub¬ 
stanzdefekten tuberkulöser Natur der fortdauernde 
Kontakt der Wände genüge, um deren dauernde 
Vereinigung zu erreichen: welch* andere tuberkulöse 
Kontinuitätstrennung heilt denn durch einfaches An¬ 
einanderlegen von deren Wänden oder Rändern? 
Dieser Zweifel wird aber hinfällig, wenn man, wie 
ich es tue, der tuberkulösen Neubildung in diesem 
Prozesse nur einen nebensächlichen Anteil zuschreibt. 


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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


203 


wenn auch nicht in der Form, so doch im 
Resultat derselbe; der komprimierte Käse¬ 
haufen wird verkleinert ausgepreßt und 
durch eine narbige Bindegewebsneubildung 
eingehallt und sequestriert und der Rest 
verfällt schließlich der Kalkdegeneration. 
(In dieser selben Arbeit werde ich ein 
schönes Beispiel davon mitteilen.) 

Und welches ist der Mechanismus der 
zweiten Wirkung des Pneumothorax, des 
Auftretens des Zerstörungsprozesses? Hier 
liegt der Hauptpunkt in dieser Frage, denn 
von den zwei Wirkungen des Pneumo¬ 
thorax ist diese allein die eigentlich wesent¬ 
liche, wie ja beim phthisischen Prozeß der 
erste und wesentlichste Faktor der Zer¬ 
störungsprozeß ist; hier müssen daher der 
Carsonsche Gedanke, der von Murphy 
und der meinige geprüft werden. 

Was Carson anbetrifft, so zeigen die 
wenigen Mitteilungen, die wir über ihn 
haben, übereinstimmend, daß er sich dies¬ 
bezüglich gar keinen Gedanken gebildet 
hatte. 

Daus schreibt: „Aus den obigen Zitaten 
geht indes hervor, daß die Anwendung 
der Kompression seitens der alten Aerzte 
weniger den Motiven einer absoluten 
Ruhigstellung der Lunge entsprungen zu 
sein scheint. Man dachte sich die Heilung der 
Lungenkavernen analog der der äußerlichen 
Geschwüre: Annähern der Wundränder, 
damit bedingtes Verkleinern der Wund¬ 
flächen usw., so etwa, wie man den £rfolg 
von Heftpflasterstreifen bei Beingeschwüren 
sah.* Und Parola: „Die Eröffnung der 
Thoraxwand und die Verbindung des 
Krankheitsherdes mit der Außenluft be¬ 
wirken diese Unbeweglichkeit (der Lunge) 
durch eine Zusammenziehung der darüber 
liegenden Wandpartien; was zur Folge 
hat, daß der Respirationsakt aufgehoben 
wird ... .; Dr. Carson, davon ausgehend, 
daß die Lungen fortwährend zu einem Zu¬ 
stand der Dilatation und zu einem solchen 
der Zusammenziehung gezwungen werden, 
schrieb diesem Umstand die Schwierigkeit 
der Vernarbung der Lungenkavernen zu." 

Dr. Carson hat also nur die Vernar¬ 
bung der Kavernen erstrebt, nicht die Be¬ 
handlung des Zerstörungsprozesses selbst, 
folglich nicht die Heilung der Schwind¬ 
sucht. Wenn er wirklich einen derartigen 
öperativen Eingriff gewagt hat, so könnte 
er allerhöchstens als ein Vorläufer jener 
Aerzte angesehen werden, die später eine 
Behandlung der Kavernen begründeten 
(Quincke, Bier, Turban, Länderer, 
K. Spengler) durch Mobilisierung des 
Thoraxanteils ihrer Wandung, oder durch 

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Erzeugung einer Zusamraenziehung des 
Thorax über der Kaverne durch Entfernung 
einer oder mehrerer Rippenstücke: aber 
er ist nicht ein Vorläufer jener, die außer 
nach Heilung der Kavernen auch und 
zwar vor allem nach Heilung des der 
Schwindsuchtzugrunde liegenden Prozesses, 
des Zerstörungsprozesses, trachten. 

Murphys Gedanke erscheint voll¬ 
kommener. Er schreibt dem Pneumo¬ 
thorax die Vernarbung der Kavernen 
durch Berührung ihrer Wände infolge 
Kompression der Lunge sowie gleichzeitig 
eine günstige, heilende Wirkung auf den 
Grundprozeß zu; der Mechanismus dieser 
letzteren beruhe auf der Ruhe des Organs. 
Murphy, als Chirurg, stellt durch ein 
Pneumothorax die phthisische Lunge, um 
sie zu heilen, in Ruhe, ebenso wie er ein 
tuberkulöses Gelenk durch einen Apparat 
immobilisiert und ruhigstellt. Murphy 
drückt sich aber nicht ganz klar aus; er 
behauptet nicht grundsätzlich, daß die 
Ruhe den Zerstörungsprozeß aufhalte; 
aber da tatsächlich dies der Fall ist, so 
muß, wer seinem Gedankengang zustimmt, 
sich fragen, durch welchen Mechanismus 
die Ruhe einen so großen Erfolg erziele, 
und zuvor noch, was man in diesem Falle 
unter Ruhe verstehen müsse. Das oben 
angeführte Beispiel von der Gelenktuber¬ 
kulose scheint mir nicht scharf genug. 

Man begreift leicht, wie das Aufeinander¬ 
reihen kranker Gelenkflächen unter Druck, 
insofern es ein Trauma darstellt und eine 
mechanische Reizung bewirkt, die Reizungs¬ 
vorgänge im Gelenk unterhält und ver¬ 
stärkt, die Reparationsvorgänge aber stört 
und hintanhält; und daß infolgedessen die 
Aufhebung derselben die Heilung begün¬ 
stigt oder zum mindesten ermöglicht. Aber 
welche nur entfernte Analogie besteht 
zwischen dem Aufeinanderreiben unter 
Druck von kranken Gelenkflächen und der 
feinen Bewegung des Lungenparenchyms 
bei der Atmung? Dr. Hougthon hat sich, 
nach dem Zitate von Parola, in ähnlichem 
Sinne ausgedrückt: „Die beständige Be¬ 
wegung der Lunge und die Reibung der 
Luft bei der Atmungstätigkeit unterhalten 
fortwährend eine Reizung und einen 
stärkeren Blutandrang in der Umgebung 
der Tuberkel: daher deren Wachstum und 
fortschreitende Entwicklung; umgekehrt 
feilt beim Pneumothorax der Einfluß dieser 
Momente weg, weil die Lunge in fast voll¬ 
ständiger Ruhe und im Zustande einer 
entsprechenden Anämie der Wirbelsäule 
anliegt.* Aber wie sollte man sich denken, 
daß diese, obendrein hypothetische, 

26 * 

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204 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Mai 


Hougthonsche Hyperämie und Reizung 
durch die Luftreibung genügen sollten, um 
den phthisischen Prozeß qualitativ und 
quantitativ so zu unterhalten, daß es ge¬ 
nagte, sie auszuschalten, um die Heilung 
zu erzielen? 

Der Ausdruck „Ruhe*, der im gewöhn¬ 
lichen Sprachgebrauch eine so klare und’ein- 
deutige Bedeutung hat, wird somit in dem uns 
beschäftigenden speziellen Falle vag und un¬ 
genau und gibt nicht Rechenschaft — mag 
er mit der Bedeutung der Ausschaltung von 
mechanischen Reizungsmomenten oder mit 
jener von Arbeitsersparnis des Organs ge¬ 
braucht werden — über die beachtenswerte, 
ich möchte sogar sagen, überraschende 
Tatsache, daß die mit dem Pneumothorax 
erlangte „Ruhe“ der Lunge die Schwind¬ 
sucht heile 1 ). 

Ich kann hier nicht umhin, zu bemerken, 
daß im allgemeinen die Auslegung von 
Murphy nicht als genügend angesehen 
wird; daß viele von denen, die sich mit 
diesem Gegenstand beschäftigt haben, die 
Notwendigkeit empfunden haben, ihn zu 
erklären, und andere Hypothesen vorge¬ 
bracht haben, und daß diese nicht nur von 
jenen von Murphy, sondern auch unter¬ 
einander sehr verschieden und sogar direkt 
einander entgegengesetzt sind 3 ). 

l ) Aus der Ruhigstellung der Lunge ergeben sich 
zwei Tatsachen, die mächtig zu deren Heilung bei- 
tragen, ohne trotzdem die bestimmenden Ursachen da¬ 
für zu sein. Welches auch immer die Eingangspforte 
in die Lunge für die ursprünglichen Erreger der 
Schwindsucht ist, so erfolgt die weitere Ausbreitung des 
Prozesses vorwiegend auf dem Luftweg. Ein Teil des 
auszuwerfenden septischen Materials wird leicht auf 
seinem Wege nach außen durch die Atembewegungen 
in die tieferen Luftwege aspiriert, was die Bildung 
immer neuer Herde zur Folge hat. Die Ruhig¬ 
stellung der Lunge unterdrückt diese, wenn nicht 
einzige, so doch gewiß vorwiegende Ursache der 
fortwährenden Ausbreitung des Prozesses. 

Gleichzeitig mit der Lunge immobilisiert der 
Pneumothorax auch das septische Material in den 
Luftwegen; dessen fortwährende Erneuerung auf den 
Resorptionsflächen wird dadurch vermindert und 
schließlich ganz aufgehoben und letztere werden auf 
ein Minimum ihrer Ausdehnung reduziert; womit die 
Resorption von toxischen Substanzen bedeutend ver¬ 
ringert wird. Der Fieberabfall und die subjektive 
Besserung, die man vom ersten Beginn der Behand¬ 
lung als eine der konstantesten Erscheinungen beob¬ 
achtet, und die daher nicht dem anatomischen Hei¬ 
lungsprozeß zugeschrieben werden kann, ist wahr¬ 
scheinlich die Folge der starken Einschränkung der 
Resorption toxischer Substanzen und muß ohne 
Zweifel in großem Maße, wenn auch indirekt, zur 
Heilung beitragen. Aber ich wiederhole, diese beiden 
Tatsachen, die Beschränkung der Ausdehnung des 
Prozesses auf dem Luftwege und die Verringerung 
der toxischen Resorption, genügen nicht, um für sich 
allein die Heilung der Phthise mit dem Pneumothorax 
zu erklären. 

*) Nach Toussaint soll der Pneumothorax 
durch die Kompression eine Anämie der Lunge be- 

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Ich habe meinen Vorschlag des künst» 
liehen Pneumothorax im Jahre 1882 1 ) ge¬ 
macht — zunächst nur theoretisch und erst 
einige Jahre später ihn in die Tat umge¬ 
setzt —, indem ich von einem wohl defi¬ 
nierten theoretischen und aprioristischen 
Grundgedanken ausging und ausschließlich 
dazu geführt wurde durch Beobachten und 
Abwägen der mechanischen Bedingungen, 
welche sich für die Lunge ergeben aus der 

wirken und die entzündliche Hyperämie in den Bron¬ 
chen und Lungen zum Schwinden bringen. Auch 
nach Stokes (zitiert nach Daus) soll die günstige 
Wirkung des Pneumothorax von der durck die Kom¬ 
pression erzeugten Obliteration der Pulmonalgefäße 
herrühren. Nach Adams hebt der Pneumothorax in 
der gleichen Weise den venösen Lungenkreislauf auf, 
der die entzündlichen Prozesse begünstigt, und läßt 
nur den ernährenden Kreislauf der Bronchialarterien 
fortbestehen. Im Gegensatz hierzu soll nach Sackur 
und Sauerbruch (zitiert nach Lenormand und 
Lew) der Pneumothorax die Zirkulation übermäßig 
steigern und so eine venöse Hyperämie nach Bier 
erzeugen, die die Gewebe in ihrem Kampf gegen den 
Bazillus unterstützt. Lemke stellt die Hypothese 
einer Verlangsamung der Blut- und Lymphzirkulation 
auf, was eine verminderte Resorption der Toxine zur 
Folge hätte. Entsprechend drücken sich Brauer, 
Beneke, Graetz aus, nachdem Shingu experi¬ 
mentell die Verlangsamung der Lymphzirkulation nach¬ 
gewiesen hatte. Nach Späth ist die Wirkung des 
Pneumothorax eine kompliziertere: sie leitet sich her 
von der Aufhebung der Bewegung und der Dehnung 
des Lungengewebes bei der Atmung, aus der Ver¬ 
langsamung der Lymphzirkulation, aus der arteriellen 
Ischämie und der daraus resultierenden geringeren 
Sauerstoffzufuhr, wodurch die Lebensbedingungen für 
den Bazillus und die übrigen Keime verändert wer¬ 
den, aus der Obliteration der Bronchialwege durch 
Kompression von außen und durch Sekretstauung, 
wodurch die Aspiration von Bazillen in entfernte ge¬ 
sunde Lungenpartien verhindert und jede weitere 
Ausbreitung des Prozesses aufgehoben wird. Daus 
endlich, gestützt auf die bekannten Untersuchungen 
von Auclair, wirft die Hypothese auf, daß der 
Pneumothorax die mit Aether extrahierbaren kaseo- 
genen Toxine einschränkt und die mit Chloroform 
extrahierbaren sklerogenen dagegen begünstigt. 

Beiläufig bemerkt, läßt sich ohne Schwierigkeit 
einwenden, daß von diesen Deutungen jene von 
Daus, von der antikaseogenen Wirkung des Pneumo¬ 
thorax, vollständig auf Hypothese beruht, daß ebenso 
hypothetisch sind jene der ischämisierenden und kon- 
gestionierenden Wirkung, da wir ja noch in Un¬ 
kenntnis sind Ober den Zustand des Lungenkreislaufs 
beim Pneumothorax, und daß die andern, obschon- 
sie eine reelle Grundlage besitzen, wohl eine über¬ 
zeugende Erklärung für die Besserung des Schwind¬ 
süchtigen, aber gar keine für den Stillstand des Zer¬ 
störungsprozesses geben. Alle zusammen aber (mit 
Ausnahme jener vagen und ungenügenden von 
Murphy) erscheinen und sind viel eher gesuchte Er¬ 
klärungen für eine dunkle, aber unleugbare Tatsache, 
das ist die günstige Wirkung des Pneumothorax und 
der Pleuraergüsse auf den Verlauf der Schwindsucht, 
als für die aprioristischen Grundgedanken, welche 
zum Vorschläge des therapeutischen Pneumothorax 
geführt haben. 

*) C. Forlanini, Beitrag zur Behandlung der 
Phthise. — Abtragung der Lunge? — Künstlicher 
Pneumothorax? (Gazetta degli Ospedali, Milano 1882, 
Aug.-Nov.) 

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Hai 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


205 


Ansammlung in derselben der anatomischen 
Produkte der verschiedenen sie befallenden 
infektiösen Prozesse 1 ). 

In meiner Arbeit vom Jahre 1882 habe 
ich die allgemeinen Züge dieses Grund- 
gedankens dargelegt. Diesen selben Ge¬ 
danken habe ich dann, in drei kurze, notwen¬ 
digerweise schematische Sätze zusammen- 
gefaßt, in meiner neulichen Arbeit in dieser 
Zeitschrift wiederholt 2 ). Ich führe sie mit 
einigen Erläuterungen hier nochmals an: 

1. Satz. Die infektiösen Prozesse der 
Phthise äußern sich anfänglich — mit Aus¬ 
nahme vielleicht des primitiven Tuberkel - 
knötchens, dem ich übrigens keine wesent¬ 
liche Bedeutung zuzuschreiben vermag — 
in der Form und mit den anatomischen 
Produkten der „Entzündung“, die, un¬ 
wesentliche Unterschiede ausgenommen, 
jenen der anderen Organe und Gewebe 
analog sind: flüssige Exsudate mit koagu¬ 
lierenden Substanzen, Leukozyteninfiltra¬ 
tion, Proliferation der fixen Zellen und 
ganz besonders vorwiegend des Alveolar¬ 
epithels. Diese Produkte und — was von 
grundsätzlicher Bedeutung ist — das sie 
beherbergende Lungengewebe verfallen 
dann sekundär in käsige Degeneration, zu 
einer einzigen Masse zusammenschmelzend, 
welche durch die sich anschließende Re- 

*) Bis zu jenem Zeitpunkt (1882) hatte ich noch 
nicht Gelegenheit gehabt, persönlich den Einfluß des 
spontanen Pneumothorax auf den Verlauf der Schwind¬ 
sucht zu konstatieren; aber ich kannte die von 
Meusnier und H^rard veröffentlichten Fälle, so¬ 
wie die von Toussaint in seiner These de Paris 
1880 zusammengestellten 24 Fälle verschiedener an¬ 
derer Beobachter. Da nun diese, Fälle meine theo¬ 
retische Behauptung bekräftigen, so erwähnte ich sie 
in meiner Arbeit — als Hilfsbeweise —, indem ich 
freilich die Toussaintsche Erklärung zurQckwies 
und vor allem auf den Unterschied aufmerksam 
machte zwischen dieser Erklärung und dem theoreti¬ 
schen und aprioristischen Gedanken, mit welchem ich 
meinen Vorschlag des kQnstlichen Pneumothorax be¬ 
gründete. Ich schrieb damals (S. 666): „Für mich 
können die Tatsachen von Toussaint ohne weiteres 
angenommen werden und bedflrfen nicht der klini¬ 
schen Dokumente von Hörard, Meusnier und 
Toussaint, um geglaubt zu werden* — und weiter 
unten, nachdem ich die allgemeinen Züge meines Ge¬ 
dankens dargelegt hatte, fügte ich hinzu (S. 667): * So wer¬ 
den die Fälle vonToussaint, Herard und Meusnier 
für mich ohne weiteres verständlich: in der durch 
den Pneumothorax ruhiggestellten Lunge muß der 
phthisiogene Prozeß erlöschen. Und so läßt mich 
die volle Uebereinstimmung zwischen dem, was ich 
meine Anschauungsweise der Phthise nennen will 
und wozu ich mit aprioristischen Begründungen ge¬ 
langte, und den klinischen Tatsachen von Toussaint, 
Htrard und Meusnier, die ich später kennen 
lernte, den Vorschlag, den Pneumothorax künstlich 
bei Phthisikern zu erzeugen, verständlich erscheinen.* 
*) C. Forlanini, Die Indikationen und die 
Technik des künstlichen Pneumothorax bei der 
Behandlung der Lungenschwindsucht. (Ther. d. 
Gegenw. Nov.-Dez. 1908.) 


Sorption oder Ausstoßung des verkästen 
Materials die für die Phthise charakteristische 
besondere Zerstörungsform des Lungen¬ 
parenchyms einleitet und das darstellt, was 
ich mit dem Ausdruck „destruktiver Pro¬ 
zeß“ bezeichnen will. 

Ohne bestreiten zu wollen, daß bio¬ 
chemische Eigenschaften der Infektions¬ 
keime und ihrer Produkte und des neu¬ 
gebildeten anatomischen Materials einen 
Anteil bei der käsigen Degeneration des 
letzteren und des dasselbe einschließenden 
Lungengewebes hafipn, behaupte ich nun, 
daß dieser Anteil nur nebensächlich und 
nicht notwendig ist, und daß der haupt¬ 
sächliche, notwendige und für sich allein 
hinreichende Grund für diese Erscheinung 
in der einzigen Bewegung von Ausdehnung 
und Zusammenziehung besteht, die die 
kompromittierte Organpartie infolge der 
Atmungstätigkeit beständig auszuführen 
gezwungen ist: eine Behauptung, welche 
selbstverständlich und notwendig zur 
Schlußfolgerung führt, daß die Unter¬ 
drückung der respiratorischen Bewegung, 
wie sie auch erreicht werden mag, den 
Zerstörungsprozeß der Schwindsucht 
aufhebt. 

2. Satz. — Die respiratorischen Be¬ 
wegungen der Lunge üben auch einen vor¬ 
bereitenden Einfluß aus auf das Feld — 
wenn ich mich so ausdrücken darf — und 
das Material für den zukünftigen Zer¬ 
störungsprozeß; er kommt durch diesen 
zweiten und durch den dritten Satz zum 
Ausdruck: 

Die Zunahme der Intensität der respi¬ 
ratorischen Bewegungen setzt etwelchen 
Widerstand der Entwicklung und vielleicht 
auch der Ausbreitung der vorbereitenden 
Prozesse der Phthise entgegen; unter be¬ 
stimmten Umständen und innerhalb gewisser 
Grenzen kann dieser Einfluß therapeutisch 
verwertet werden. Wie wir später sehen 
werden, ist dies bei der Pneumothorax¬ 
behandlung der Fall. 

3. Satz. — Die Herabsetzung der Inten¬ 
sität der respiratorischen Bewegungen be¬ 
günstigt die Entwicklung der den Zer¬ 
störungsprozeß vorbereitenden Prozesse, be¬ 
günstigt also die Entwicklung der Phthise. 
Bei der Pneumothoraxbehandlung ist es 
unerläßlich, auf diesen dritten Satz ganz 
besonders Rücksicht zu nehmen. 

Es wäre nun hier am Platze, den Me¬ 
chanismus darzulegen, wodurch die Be¬ 
wegung der Lunge zur käsigen Degene¬ 
ration ihres Parenchyms und des in ihm 
angesammelten Materials der infektiösen 
Prozesse führt; aber ich behalte mir diese 


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206 


Mai 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Darlegung, welche für die klinische Aus¬ 
führung des Pneumothorax nicht notwendig 
ist, für eine passendere Gelegenheit vor. 
An dieser Stelle ist hingegen eine klinische 
Illustration der drei Sätze zweckent¬ 
sprechender und für den Augenblick auch j 
genügend. Alle drei haben bei der Be- | 
handlung mit dem Pneumothorax An- | 
Wendung gefunden: die erstere immer, weil ! 
sie die Grundlage bildet, die zwei andern | 
nur in bestimmten Fällen und unter be¬ 
stimmten Bedingungen; und die Erfolge 
sind in allen drei Fällen der theoretischen 
Annahme entsprechend ausgefallen und er¬ 
langen daher fast den Charakter eines ex- ! 

perimentellen Beweises. 1 

* * 

# 

Hinsichtlich des ersten Satzes könnte 
der Erfolg selbst der Behandlung, der nie 
ausbleibt, wenn die gewünschten Bedin¬ 
gungen, das ist die vollkommene und an¬ 
dauernde Ruhigstellung der Lunge, tat¬ 


sächlich erreicht werden, für sich allein 
genügen, um — jedem, der wie ich die 
andern vorgebrachten Erklärungen nicht 
für ausreichend hält — zu zeigen, wie wohl 
begründet meine Anschauungen sind. 

Derselbe Beweis wird nun aber auch 
auf anderem Wege erbracht. Der genannte 
Satz hat diesen selbstverständlichen Folge¬ 
satz: wenn die Bewegung der Lunge die 
wesentliche und unerläßliche Bedingung 
für den phthisiogenen Prozeß ist, so muß 
deren Ruhigstellung nicht nur die schon 
vorhandene Phthise aufhalten, sondern 
auch verhindern, daß sie sich in einer ge¬ 
sunden Lunge entwickelt, wenn auch alle 
andern Bedingungen dazu vorhanden wären; 
ein Gedanke, der mit größerer Klarheit 
noch so sich ausdrücken ließe, daß, wenn 
die Lunge — nach einer absurden Hypo¬ 
these — ein unbewegliches Organ wäre, 
sie nicht phthisisch werden könnte. 

(Schlufi folgt im nächsten Heft.) 


Ans der IL inneren Abteilung des Städtischen Krankenhauses Moabit zu Berlin. 
(Dirigierender Arzt: Professor Dr. Zinn.) 

(Jeber die Anwendung des Pantopon (Sahli). 

Von Dr. Julias Hallervordsn. 


Das Pantopon, welches Sahli in die 
Therapie eingeführt hat (Therap. Monatsh. 
1909, Jan.), ist ein wasserlösliches Opium¬ 
präparat, in welchem sämtliche Alkaloide 
des Opiums an Chlor gebunden enthalten 
sind. Es wird von der Firma HofFmann— 
La Roche & Co. in den Handel gebracht 
in Form von Tabletten zu 0,01, in 2°/oiger 
Lösung, als Pulver zur Herstellung von 
Lösungen, sowie steril in Ampullen von 
1,1 ccm (*= 0,02) zur subkutanen Injektion. 
Ein besonderer Vorzug ist die leichte Ste- 
rilisierbarkeit der Lösung — sie kann ohne 
chemische Veränderung gekocht werden — 
und uie schnelle Wirkung. Sahli gibt das 
Pantopon als Beruhigungsmittel mit den¬ 
selben Indikationen wie Morphium und 
Opium. Da bisher wenig Berichte über 
die Wirkung des neuen Mittels vorliegen 1 ), 
haben wir eine Reihe von Versuchen da¬ 
mit angestellt, welche die von Sahli ge¬ 
hegten Erwartungen durchaus bestätigen. 

Wir führen einige Ergebnisse an: 

Sehr geeignet erwies sich das Pantopon 
bei schwerer Darmtuberkulose, bei welcher 
die starken Diarrhöen und Schmerzen nicht 
genügend durch die üblichen Mittel be- 

f ) Rodari, Experimentell - biologische Unter¬ 
suchungen Ober das Pantopon; Therap. Monatsh. | 
1909, Oktober, und Heimann, Klinische Beobach¬ 
tungen Ober die Wirkung des Pantopon; Mönch, med. 
Wochenschr. 1910, No. 7. 


kämpft werden konnten. Wurde morgens 
und abends 1 Pravazspritze (= 0,02) Pan¬ 
topon gegeben, so genügte dies nicht nur, 
um die Durchfälle zu beseitigen oder doch 
auf ein Minimum herabzusetzen, sondern 
auch die Hustenbeschwerden ließen nach, 
und es trat eine allgemeine Beruhigung 
ein, so daß von allen anderen Mitteln ab¬ 
gesehen werden konnte. In einem Falle 
schwerster Lungenphthise mit Amyloid der 
Nieren, starken Oedemen und lebhaften 
subjektiven Beschwerden genügten 2 mal 
0,02 g Pantopon in 24 Stunden, um den 
Patienten 2 Wochen lang (bis zum Tode) 
vollkommen beschwerdefrei zu erhalten. 
Auch innerlich wurde in leichteren Fällen 
von Darmtuberkulose das Präparat in Ta¬ 
bletten verabfolgt, die sehr gern genommen 
wurden; doch konnte in den wenigen Fällen, 
wo es gegeben wurde, ein Vorzug vor der 
gewöhnlichen Form der Darreichung des 
Opiums als Tinct. op. spl. nicht konstatiert 
werden. 

Als allgemeines Beruhigungsmittel be¬ 
sitzt es durchaus die von Sahli hervor¬ 
gehobenen Vorteile vor dem Morphium. 
Bei einem Tabiker mit sehr lebhaften lan- 
zinierenden Schmerzen mußte schließlich 
zu Morphium gegriffen werden, da durch 
Antipyretika und alle anderen üblichen 
Maßnahmen eine Linderung der Beschwer¬ 
den nicht mehr herbeizuführen war. Aber 


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Mai 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


207 


der Patient vertrug das Morphium schlecht, er 
bekam danach Uebelkeit und Unruhegefühl. 

Hier konnte durch Pantopon Hilfe ge¬ 
bracht werden. Es genügten wieder 2 x 0,02g 
subkutan, um 24 Stunden hindurch den 
Kranken in einem fast schmerzfreien und 
vor allem ruhigen Zustande zu halten. 
Wurde ihm ohne sein Wissen wieder 
Morphium gegeben, so stellte sich gleich 
das alte Unbehagen wieder ein. Zwar 
nahm das Morphium die Schmerzen auch, 
aber das Pantopon wirkte länger und inten¬ 
siver auf das psychische Verhalten, der Pat. 
fohlte sich wohler und ruhiger und schlief 
besser und länger, ganz abgesehen da¬ 
von, daß unbequeme Nebenwirkungen 
fehlten. Bei einem schweren Phthisiker 
mit chronischer Hämoptöe, Herzleiden 
und Nephritis versagten alle Narkotika: 
nach der ersten Morphiuminjektion bekam 
er leichte Vergiftungserscheinungen, nach 
Skopolamin Halluzinationen und Erethis¬ 
mus. Patient war mehrere Nächte schlaf- 
os, unruhig, aufgeregt und gereizt. Nach 


0,02 g Pantopon wurde er ruhig und ver¬ 
fiel in tiefen Schlaf. Jetzt gelingt es seit 
2 Wochen, durch täglich 2 Spritzen den 
sehr empfindlichen Kranken euphorisch zu 
erhalten. — 

Von der subkutanen Anwendung wurden 
Nachteile nie beobachtet; die auch nach 
längerem Aufbewahren stets klaren Lösun¬ 
gen verursachten keine lokale Reizwirkung. 
Unangenehme Allgemeinerscheinungen sind 
auch bei wiederholter Anwendung nicht 
beobachtet worden, außer etwa Kopf¬ 
schmerzen bei der leicht entstehenden Ob¬ 
stipation, welcher bei einiger Aufmerksam¬ 
keit unschwer entgegengewirkt werden kann. 

Das Pantopon bedeutet nach den bis¬ 
herigen Erfahrungen demnach im Gegen¬ 
satz zu vielen Eintagserzeugnissen mancher 
chemischen Industrien einen wirklichen Fort¬ 
schritt für unsere Therapie. Es verdient 
eine ausgedehnte Anwendung in der inne¬ 
ren Praxis. Namentlich aber dürfte es sich 
auch zu Opiumkuren bei Geistes-und Nerven¬ 
kranken empfehlen. 


Bücherbesprech ungen. 


Hans H. Meyer und R. Gottlieb, Die ex¬ 
perimentelle Pharmakologie als 
Grundlage der Arzneibehandlung. 
Für Studierende und Aerzte. Mit 61 Text¬ 
illustrationen und 1 farbigen Tafel. Berlin 
und Wien 1910 Urban & Schwarzen¬ 
berg. 483 S. 12,00 M., geb. 13,50 M. 

Das Erscheinen des vorliegenden Buches 
ist für die wissenschaftliche Pharmakologie 
und damit für die experimentelle Medizin 
ein Ereignis von nicht geringer Bedeutung. 

Im Gegensatz zu den bisherigen Lehr¬ 
büchern der wissenschaftlichen und prakti¬ 
schen Arzneimittellehre wird der Stoff 
nach einem gewissermaßen natürlichen 
System, nach den Organen und Krank¬ 
heitsursachen, auf die die Arzneistoffe 
wirken, behandelt, und zwar nach der Be¬ 
einflussung des Nervensystems, des Auges, 
der Verdauung, der Uterusbewegungen, des 
Kreislaufs, der Atmung, der Nierenfunktion, 
der Schweißsekretion, des Stoffwechsels, 
der Muskeln, des Blutes, des Wärmehaus¬ 
halts, der Entzündungsvorgänge und der 
Krankheitsursachen (Helminthen, Bakterien, 
Toxine, Protozoen usw.) durch chemische 
Agentien geordnet. Diese Einteilung gibt 
dem Buche nicht nur ein eigenartiges Ge¬ 
wand, sondern hat auch die Darstellung 
des Stoffes von Grund auf umgestalten 
lassen, indem in den einzelnen Kapiteln — 
gewiß zur Befriedigung des ärztlichen 
Lesers — die physiologischen Vorgänge 


als Grundlage mehr oder weniger eingehend 
besprochen werden müssen, aus denen 
dann die therapeutisch zu behandelnden 
Störungen der Organfunktionen ab¬ 
geleitet werden können. Die Meyer- 
Gottlieb sehe „experimentelle Pharma¬ 
kologie", die auf jahrzehntelangen eige- 
! nen Laboratoriumsforschungen aufgebaut 
ist und nur die gesicherten ärztlichen 
Beobachtungen und das Ergebnis des 
exakten Versuchs anerkennt, sucht das 
verbindende Band um Pathologie und 
Pharmakologie zu schlingen. „Mit der 
Pathologie gemeinsam soll die Pharma¬ 
kologie verstehen lehren, wie pathologische 
Aenderungen von Organfunktionen durch 
Arzneimittel sich beeinflussen und zur 
Norm zurückführen lassen." Von einheit¬ 
lichen großen Gesichtspunkten aus, immer 
den Blick auf das Wirken der einzelnen 
Organe in ihren Beziehungen zu einander 
und zum gesamten Organismus gerichtet, 
wollen die Verf. dem Arzt die gesicherte 
theoretische Grundlage für die Anwendung 
der Arzneimittel geben und das Verständnis 
der Pharmakologie als eines Teils der Bio¬ 
logie ermöglichen. 

Möchte dieses neue und eigenartig^ 
Buch, das formvollendete Darstellung und 
großzügige Auffassung mit Selbständigkeit 
und Gediegenheit des Inhalts vereint, bald 
für den Arzt ebenso ein willkommener 
und zuverlässiger Berate* sein, wie es für 


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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Mai 


den Spezialfachmann und Forscher ein 
Werk von bleibendem Wert genannt 
werden darf. E. Rost (Berlin). 

R. Jolly. Atlas der mikroskopischen 
Diagnostik der Gynäkologie nebst 
einer Anleitung mit erläuterndem Text. 
Mit 52 farbigen Lithographien und 2 Ab¬ 
bildungen im Text. Berlin, Wien 1910. 
Urban & Schwarzenberg. Preis geb. 20 M. 

Jolly widmet die ersten Seiten seines 
Buches der Anwendung und Technik der 
mikroskopischen Untersuchung und be¬ 
ginnt mit der Indikation zur Abrasio und 
Exzisio, basiert ja doch sein Buch auf der 
von Olshausen in die Gynäkologie ein- 
geführten Abrasio. Und deshalb ist meiner 
Meinung nach der Titel des Buches ein zu¬ 
viel versprechender, denn Jolly beschreibt 
nur die mikroskopischen Bilder von Aus¬ 
kratzungen und Probeexzisionen, sein Titel 
jedoch spricht allgemein von mikrosko¬ 
pischer Diagnostik in der Gynäkologie. 
Das soll den Wert des Buches nicht schmä¬ 
lern, denn was Jolly sowohl ira Text wie 
in Abbildungen bringt, ist einwandfrei 
gut. Die Bilder sind bis ins kleinste hinein 
instruktiv und vom Verlag in wundervoller 
Weise reproduziert. 

Der Hauptwert des Buches ist wohl im 
Unterricht zu suchen, denn ein ausgebil¬ 
deter Gynäkologe, der eine pathologisch¬ 
anatomische Vorbildung besitzen sollte, 
wird ein Buch mit typischen Abbildungen 


nicht nötig haben, der Allgemeinpraktiker 
hat meist das Instrumentarium zur patho¬ 
logisch-anatomischen Untersuchung nicht 
zur Hand: aber um dem Studenten die 
spezielle pathologische Anatomie der Aus¬ 
kratzungen zu zeigen, ist Jollys Buch sehr 
geeignet. 

Ich möchte empfehlen, die kurettierten 
Stückchen nicht mit Wasser, sondern mit 
dünnen Formalinlösungen vom Blut zu 
reinigen’; die Struktur leidet zweifellos 
weniger. Schwierigkeit der Paraffineinbet¬ 
tung habe ich nie gesehen, kann auch 
nicht finden, daß das Präparat darunter 
leidet. Man wird diese Dauer einbettungs- 
methoden gerade bei der Abrasio nicht 
ganz aufgeben können, denn die Gefrier¬ 
methode leistet bei sehr geringen Mengen 
kurettierten Materials zu wenig. 

Hervorzuheben ist, daß Jolly den Be¬ 
griff einer Endometritis hypertrophica ohne 
Beziehung zur Menstruation aufrecht hält; 
die Abbildung der Plasmazellen ist recht 
gut. Bei seinen Krebsbildern vermisse ich 
ein Kankroid der Portio mit Hornperlen; 
letztere bringt Jolly allerdings beim Kor¬ 
pus-Karzinom. Interessant und sehr instruk¬ 
tiv ist d^s Täuschungsbild Fig< 42; gerade 
solche Bilder sind für den Unterricht sehr 
wertvoll. 

Ich habe selten so ausgezeichnete Ab¬ 
bildungen gesehen und möchte dem Buche 
gerade wegen seiner Instruktivität eine 
weite Verbreitung wünschen. P. Meyer. 


Therapeutisches aus Vereinen und Kongressen. 

Bericht über die 39. Versammlung der Deutschen Gesellschaft 
ffir Chirurgie zu Berlin, 30. März bis 2. April 1910. 

Von w. Klink -Berlin. 


Die diesjährige Sitzung der Deutschen 
Gesellschaft für Chirurgie fand unter der 
vorzüglichen Leitung von Bier statt. Der 
große Saal des Langenbeckhauses ist viel 
zu klein für die Versammlung. Deshalb 
wurde ein Ausschuß beauftragt, über einen 
Neubau zu beraten, vielleicht im Anschluß 
an das von der Berliner medizinischen Ge¬ 
sellschaft geplante Virchowhaus. Das Ver¬ 
mögen der Gesellschaft beträgt rund 
550000 Mark. 

Das erste Hauptthema war die chirur¬ 
gische Behandlung der Epilepsie ; F. K r a u s e 
(Berlin) sprach über die nicht traumatischen 
Tilmann (Köln) über die traumatischen 
Formen. Auf keinem Gebiet der Hirn¬ 
chirurgie, die noch in ihren ersten An¬ 
fängen steckt, sind wir nach Krauses Aus¬ 
führungen so weit, wie in der Behandlung 


der Jacksonschen Epilepsie. Seine Erfah¬ 
rungen beziehen sich auf 80 Kranke wäh¬ 
rend I 6 V 2 Jahren. Im wesentlichen sind 
die Zentralregionen des Großhirns be¬ 
fallen; ganz selten gehen die Anfälle von 
anderen Hirnstellen aus. Der alte Satz 
von Hitzig, daß nur die vordere Zen¬ 
tralwindung elektrisch erregbar ist, gilt 
auch für den Menschen. Zur Erregung be¬ 
nutzt Krause ein Schlitteninduktorium und 
einen so schwachen Strom, daß er an der 
Zungenspitze eben Geschmacksempfindung 
erregt, keine Zuckungen. So fand er den 
oberen Teil der vorderen Zentralwindung 
als Zentrum für die untere Extremität, den 
mittleren für die obere Extremität und den 
unteren ftlr Kau- und Kehlkopfmuskeln. 
Zwischen diesen Focis gibt es große 
Zwischenstellen, die nicht erregbar sind, 


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Mai 


Die Therapie der Gegenwart 1910 


209 


entgegen den Ergebnissen der Tierver- j unterschätzen. Die Zahl der Epileptiker 
suche. Manchmal folgt die Muskelzuckung in Preußen beträgt etwa 1 % 0 der Bevöl- 
sofort der zentralen Reizung, manchmal kerung. Die innere Medizin hat hier ver- 
ist sie nur schwer auszulösen oder bleibt sagt, deshalb muß die Chirurgie Vorgehen, 
ganz weg. Die elektrische Reizung stellt Die Operation ist bei Kindern gefährlich, 
einen schweren Eingriff dar, der starke Unter 31 Operierten hat er eine Heilung 
Kollapse nach sich ziehen kann. Diese fa- j von 3 Jahren; 2 sind gestorben, beides 
radische Reizung ist die einzige Möglich- i Kinder. Man darf mit der Operation nicht 
keit, sich auf der Hirnoberfläche zu orien- warten, bis die Kranken verblödet sind, 
tieren; bei ihrem Versagen ist man dem Nach Tilmanns Ausführungen ist das 
Zufall überlassen, zumal man die Pia j Trauma als Ursache der Epilepsie wohl 
nicht abziehen darf. Eine anatomische überschätzt worden. Die Frage der Aetio- 
Orientierung ist selbst bei Knochenlappen logie ist sehr dunkel. Man muß bei den 
von 9 x 9 cm nicht möglich und darauf Anfällen vorbereitende (wie Erblichkeit) 
ist wohl eine große Reihe von Mißerfolgen und auslösende Momente unterscheiden, 
zurückzuführen. Die Richtigkeit seiner Allgemeine Krämpfe können bei lokalen 
Schlußfolgerungen ergeben in einigen Fällen Rindenverletzungen, lokale Krämpfe bei 
die Sektion, ferner die mikroskopische allgemeiner Rindenreizung eintreten. Unter 
Untersuchung von entfernten Stücken, wo- 20 Eingriffen fand er 10 mal eine ver- 
bei der Umstand ins Gewicht fällt, daß die mehrte Spannung der Dura. Läßt sich die 
vordere Zentralwindung einen ganz Arachnoidea nach Eröffnung der Dura 
anderen Bau hat, als die hintere; schließ- schonen, so zeigt sie sich nur leicht ange- 
lich war beweisend das postoperative Auf- feuchtet, ohne freie Flüssigkeit, auch bei 
treten von kurz dauernder motorischer Oedem der Pia. ln 4 Fällen war das Oedem 
Aphasie, selbst Agraphie, auch ohne Läh- der Pia so stark, daß man die Hirnober- 
mung des Arms; das wäre bei Operation fläche nicht sehen konnte. Nach Einstechen 
an der hinteren Zentral Windung nicht zu entleert sich das Oedem sehr schnell. Es 
verstehen. Bei der Jacksonschen Epilepsie besteht eine Vermehrung der Zerebrospinal- 
verbreitet sich der Krampf immer von fiüssigkeit, die hauptsächlich ihren Sitz in 
einer Körperstelle auf die dem Zentrum, den Maschen der Arachnoidea hat. Eine 
nach benachbarte, niemals sprungweise auf I Schrumpfung des Hirns kann hierfür nicht 
entfernte Gebiete. Nicht operiert werden die Ursache sein, denn dann bestände 
soll Jacksonsche Epilepsie, die auf Intoxi- | keine Druckerhöhung in der Arachnoidea, 
kation, Infektion, Hysterie beruht; alle an- sondern das Gegenteil. Es besteht wohl 
deren Formen sind zu operieren. Neu- j ein Vermehrung der Zerebrospinalflüssig- 
bildungen verursachen selten den reinen | keit von vornherein. Unter 20 Fällen fanden 
Jacksonschen Typus. Einmal fand er ein i sich 19 mal Veränderungen an Knochen 
Angiom, einmal eine solide Geschwulst I oder Hirnhäuten oder Gehirn, nur einmal 
als Ursache. Bei der zerebralen Kinder- i war der Befund negativ. 3 mal bestanden 
lähmung kann nach vielen Jahren in den ! Zysten, offenbar als Reste einer alten Blu- 
gelähmten Gliedern Epilepsie auftreten; tung, 1 mal ein Angiom, 1 mal Periostitis 
aber auch für diese Fälle ist eine epilep- ossificans. In den Fällen, wo ein beein- 
tische Disposition anzunehmen, sie sind flußbarer Lokalbefund vorhanden war, hatte 
nach Auftreten der Krämpfe zu operieren, die Operation Erfolg. Man soll es nicht 
ln manchen Fällen findet man bei der so weit kommen lassen, sondern soll bei 
Operation gar keine Veränderungen; hier | frischen Schädelverletzungen eingreifen, 
ist man auf die Exzision des Zentrums an- | denn fast alle traumatischen Epilepsiefälle 
gewiesen; danach tritt große Lähmung und Tilmanns waren anfangs konservativ be- 
Aphasie ein; die letztere schwindet zuerst, handelt worden. Die Operationsgefahr 
die erstere später. Die vordere Zentral- kommt bei der ausgebildeten Epilepsie 
Windung ist als sensomotorisches Zentrum auch nicht in betracht, deshalb ist sie stets 
zu betrachten. Von 49 Kranken mit Jack- zu empfehlen. Man soll stets an der Stelle 
sonscher Epilepsie hat er 5 dauernd ge- der Verletzung eingehen. Aseptische Ope- 
heilt. — Für die allgemeine Epilepsie rationen lösen fast nie Epilepsie aus. Die 
herrscht noch weniger Klarheit, als für die Dura ist stets zu eröffnen. Nur bei Narben 
Jacksonsche. Die Kochersche Theorie ist die veränderte Hirnstelle zu entfernen, 
der intrakraniellen Drucksteigerung als Tilmann operiert einzeitig und hat hierbei 
Ursache der Anfälle hält er nicht für rieh- keine nennenswerte Blutung. Von 20 Fällen 
tig, aber die praktische Bedeutung der sind 60 o/o seit Vs bis 3 Jahren geheilt; 
Kocherschen Ventilmethode darf man nicht 20% boten keine Erfolge; Mortalität 5°/o. 

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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Friedrich (Marburg) hat im ganzen 
25 Fälle von Epilepsie operiert. 11 Fälle 
vor 7—11 Jahren: 1 geheilt, 1 fast geheilt, 
3 jahrelang gebessert, 5 ohne Erfolg; 
6 Fälle vor 3—7 Jahren, davon 2 bis jetzt 
anfallsfrei und 1 längere Zeit gebessert; 
5 Fälle in den letzten 3 Jahren: 2 ganz 
anfallsfrei, 1 gebessert, 2 ohne Erfolg. Die 
ältesten Fälle sind im wesentlichen nach 
Kocher operiert; von einer Ventil Wirkung 
ist nur noch bei 1 wenig vorhanden; 
die anderen sind alle fest verheilt. In 
neuer Zeit hat er mehrfach Rindenexzisi¬ 
onen gemacht. Ein Fall, der erfolglos nach 
der Ventilmethode operiert war, wurde 
durch Exzision des Armzentrums auf der 
linken Seite außerordentlich gebessert. 
Wir dürfen aber nur das Hauptfocusgebiet 
angreifen, niemals das ganze Zentrum weg¬ 
nehmen. Die verschiedenen Zentren 
spielen in einander über, so daß z. B. das 
Zehenzentrum dicht bei dem Daumenzentrum 
liegt, auch ohne daß man Stromschleifen 
zur Erklärung heranzieht. 

K ü m m e 11 (Hamburg) hat dieArteria verte- 
bralis unterbunden, das Rindenzentrum 
exstipiert, ohne Erfolg. Erst seit 1896, 
seit er die Kochersche Methode an¬ 
wendet, hat er bessere Erfolge. Er hat 
22 mal operiert. 2 Kranke sind seit 11 
Jahren frei von Anfällen und geistig normal; 
3 sind wesentlich gebessert. Verschiedent¬ 
lich fanden sich Folgen von Verletzungen, 
z. B. Zysten, wo von Verletzungen nichts 
bekannt war. Das Ventil versagte in den 
meisten Fällen; deswegen mußte mehr¬ 
mals zweimal operiert werden. Solange 
das Ventil wirkte, waren die Kranken an¬ 
fallsfrei. Gar re (Bonn) ist von den Er¬ 
folgen der Entfernung des Rindenzentrums 
nicht befriedigt. Er rät erst dann zu ope¬ 
rieren, wenn die innere Behandlung ganz 
versagt. Kocher (Bern) betont, daß er 
die Druckerhöhung nur für einen Teil der 
Fälle von Epilepsie annimmt und daß für 
diese Fälle die Ventilbildung von Wert sei. 

Hesse (Stettin) sprach über die diag¬ 
nostische und therapeutische Hirnpunktion 
nach Neißer-Pollak. Ihr Hauptgebiet 
sind intrakranielle Blutungen nach Trau¬ 
men. Die Punktion ist an mehreren Stellen 
des Schädels vorzunehmen, bis eine Besse¬ 
rung ersichtlich wird, in einer oder mehreren 
Sitzungen. Besonders angezeigt ist sie bei 
fortgeschrittenem Hirndruck, wenn die 
Trepanation Gefahr bringen würde. 

Franz (Berlin) kann 3 neue Fälle von 
Krönleinschen Schädelschüssen, lauter 
Selbstmörder, beibringen, so daß die Ge¬ 
samtzahl jetzt 11 beträgt. 2 unter den 


neuen waren Vertikalschüsse. In seinen 
Versuchen von Nahschüssen auf Menschen- 
und Ochsenschädel wurde das Gehirn nie¬ 
mals zu Brei zermalmt. Als Ursache für 
den eigenartigen Befund bei den Krönlein¬ 
schen Schüssen folgert er aus seinen Ver¬ 
suchen die direkte Uebertragung der Ar¬ 
beitsleistung des Geschosses auf das Ge¬ 
hirn. 

O. Hildebrand (Berlin) berichtet über 
seine Erfahrungen in der Rfickenmarks- 
chirurgie. Er möchte mehr operativ vorge¬ 
gangen sehen. Blutungen in die Rücken¬ 
markshäute hat er nach Verletzungen oft 
gesehen. Eine Vermehrung der Blutung 
um oder in das Rückenmark ist bei vor¬ 
sichtigem Operieren nicht zu erwarten. 
Treten bei Wirbelsäulen-Verletzungen 
Rückenmarkserscheinungen auf und gehen 
dieselben nicht bald zurück, so ist zu ope¬ 
rieren, da die Verletzten sonst an Blasen- 
und Mastdarmlähmung zugrunde gehen. 

4 mal hat er bei Verletzung der Halswirbel¬ 
säule operiert: 3 starben bald, 1 später; 

5 mal bei Verletzungen der Brustwirbel¬ 
säule: 1 zeigte leichte Besserung; 3 wurden 
unwesentlich gebessert, starben nach einen 
Jahr; 1 mal bei Verletzung der Lenden¬ 
wirbelsäule, starb. Bei spondylitischen 
Lähmungen ist zu operieren, wenn ortho¬ 
pädische Maßnahmen nicht bald helfen. 
In 5 von 9 Fällen fand er ausgedehnte 
Granulationsmassen, flächenhaft bis wall- 
nußgroß. Gegen sie ist die Extension natür¬ 
lich wirkungslos. Sie komprimieren und 
lähmen ebenfalls das Rückenmark. Von 
9 Operierten blieben 4 unverändert, 3 wur¬ 
den gebessert, bei 1 sind die Erscheinungen 
geschwunden, 1 wurde vollkommen geheilt. 
Beim Vorhandensein von Rückenmarks- 
tumoren ergibt die Diagnose die Therapie. 
Die Meningitisserosa kann hier vollkommene 
Täuschung bringen. Extra-und intramedul- 
lare Neubildungen sind nicht leicht zu 
unterscheiden. Die Segmentdiagnose hat 
große Fortschritte gemacht. Er verfügt über 
15 Fälle, die fast alle richtig diagnostiziert 
waren. Von 13 operablen Fällen starben 
3. In den übrigen Fällen gingen die Rücken¬ 
markserscheinungen nur so weit zurück, 
als sich das Mark erholen konnte. Die 
Festigkeit der Wirbelsäule wird durch die 
Laminektomie nicht geschädigt. 

Kuttner (Breslau) stellte 9 Kinder vor, 
bei denen er wegen weit vorgeschrittener 
Littlescher Krankheit die von Förster vor¬ 
geschlagene Durchschneidung der hinteren 
Wurzeln von Spinalnerven ausgeführt hat. 
Zweck der Operation ist die Beseitigung 
der spastischen Kontraktur. Von drei be - 


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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


211 


nachbarten Wurzeln dürfen nur 2 durch¬ 
schnitten werden. Die Erfolge waren sehr 
gut. Unter 10 Operationen kein Todesfall. 
Die Operation ist nicht gefährlich. Die 
operierten Fälle wären durch orthopädische 
Maßnahmen allein nicht gebessert worden. 
Auch nach der Ausführung der Förster - 
schen Operation soll man nicht zu früh 
mit orthopädischen Operationen beginnen. 
Eine Regeneration der durchschnittenen 
Wurzeln ist nicht zu fürchten. Auch bei 
gastrischen Krisen hat er die Operation 
mehrfach mit gutem Erfolg gemacht. Auch 
Gottstein hat die Förstersche Operation 

5 mal mit befriedigendem Erfolg gemacht, dar¬ 
unter waren zwei Erwachsene. AuchBier hat 

6 mal erfolgreich bei Littlescher Krankheit 
operiert; mehrfach wurde beobachtet, daß j 
die Spasmen ganz schwanden unmittelbar | 
nach der Operation und später etwas wieder- | 
kehrten. Klapp empfiehlt, erst plastische 
Operationen zu machen und dann erst die | 
Förstersche. Tietze (Breslau) hat die 
Operation 9 mal gemacht, 5 mal bei Er¬ 
wachsenen; zweimal handelte es sich um 
multiple Sklerose. Kinder vertragen die 
Operation viel leichter, als Erwachsene; 

3 starben, davon 2 im Operationsshock. 
Göbell (Kiel) machte die Operation mit 
gutem Erfolg bei Hydrocephalus internus 
mit spastischer Lähmung eines Beines. 
Wendel (Magdeburg) operierte nach För¬ 
ster bei einer Stichverletzung des Rücken¬ 
marks mit hochgradiger spastischer Läh¬ 
mung im Bein; bis jetzt fortschreitende 
Besserung der Beweglichkeit und Schwinden 
der Spasmen. 

Aschner (Wien) hat die Hypophyse 
oft bei Hunden entfernt; die Tiere leoten 
weiter, aber Wachstum, Zahnbildung, Ge¬ 
nitalien blieben infantil. Auch bei 3 bis 
jetzt ausgeführten Sektionen von mensch¬ 
lichen Zwerchen fand sich eine Zerstörung 
der Hypophyse. Aschner schließt, daß die 
Hypophyse kein unbedingt lebenswichtiges 
Organ ist, daß aber ihre völlige Entfernung 
die erwähnten Störungen hervorruft. Hirsch 
(Wien) ist nur unter Kokainanästhesie an 
die Hypophyse herangegangen in 5 Sitzun¬ 
gen; 1. Entfernung der mittleren Muschel, 

2. Ausräumung des Siebbeins, 3. Entfer¬ 
nung der Vorderwand der Keilbeinhöhle, 

4. Freilegung der Dura, 5. Eröffnung der 
Dura, Punktion des Hypophysentumors; 
jetzt nach 3 Wochen ist ein sehr guter 
Erfolg vorhanden. Wullstein (Halle) geht 
an die Hypophyse nach breiter Aufklappung 
des Stirnbeins heran. Hochenegg (Wien) 
hat 3 Fälle von Akromegalie operiert; einer 
davon gestorben. Die vor 2 Jahren vorge- 


> stellte Kranke ist ganz gesund und hat 
ihre Menses wieder. Der 2. Fall ist vor 
5 /4 Jahr operiert, nachdem die Krankheit 

7 Jahre bestand; sie war einseitig blind. 
Die Blindheit blieb bestehen, aber die akro- 
megalischen Erscheinungen gingen stark 
zurück, die Menses traten wieder auf; nach 

8 Monaten trat wieder Kopfschmerz auf, 
Hände und Füße nahmen wieder zu. Je¬ 
denfalls ist der Tumor nach der Sella 

| nicht weiter gewachsen, wohl aber nach 
I dem Gehirn. 

| Sauerbruch (Marburg) sprach über 
lokale Anämie und Hyperämie durch 
I künstliche Veränderung der allgemeinen 
Blutverteilung. Wird der Körper unter 
einen geringeren Außendruck gebracht, so 
läßt sich am Schädel fast blutleer arbeiten; 
besonders stark zeigte sich das an der 
Dura. Eine schädliche Wirkung ließ sich 
bei Tieren nicht feststellen. Der Blutdruck 
in den großen Arterien sinkt nur ganz 
wenig, nur die Venen werden blutarm. Das 
Blut sammelt sich in Brust und Bauch an. 
Auch am Menschen bewährte sich die Me¬ 
thode mehrmals, in einigen Fällen ver¬ 
sagte sie. An schütz (Kiel) hat die Me¬ 
thode 11 mal mit zum Teil gutem Erfolg 
angewandt. 

Das zweite Hauptthema war die chirur- 
! gische Behandlung der Stenose und der 
| starren Dilatation des Thorax. 

! W. A. Freund (Berlin) besprach die 
I zwei von ihm beschriebenen Thoraxano- 
! malien, als primär und lungenschädigend. 

1. Die Stenose der oberen Thoraxapertur 
I beruht auf einer Entwickelungshemmung 
| des ersten Rippenknorpels. Sie bewirkt 
, eine Gestaltveränderung und funktionelle 
| Störung der Lungenspitze. Hat sie einen 
| gewissen Grad erreicht, so entwickelt sich 
eine Hypertrophie der Scaleni; geht sie 
I noch weiter, so kann eine Ruptur des 
! Knorpels stattfinden und es bildet sich eine 
Pseudarthrose. — 2. Bei der starren Dila¬ 
tation des Thorax besteht eine gelbe Zer¬ 
faserung des Knorpels; der Knorpel ver¬ 
größert sich in jeder Richtung und gibt 
dem Thorax eine andere Form, eine dau¬ 
ernde Inspirationsstellung. Es kommt zum 
Lungenemphysem, später zur Erweiterung 
der unteren Apertur, das Zwerchfell wird 
gespannt, verdünnt, atrophisch. — Bei der 
ersten Affektion empfiehlt er nur dann einen 
Eingriff wegen bestehender Lungentuber¬ 
kulose, wenn dieselbe die zweite Rippe 
nicht überschreitet. Im 2. Fall will er nur 
operiert wissen, wenn Zwerchfell und 
Lunge noch nicht atrophiert sind. 

Mohr (Halle) faßte sein Urteil folgen- 

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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


dermaßen zusammen: Die starre Dilatation 
des Thorax ist in 30 Fällen operiert. Das 
Ergebnis lautet in allen Fällen dahin, daß 
der vorher starre Thorax beweglich wurde. 
Der Grad der Beweglichkeit war natürlich 
ein verschiedener. Fast alle Operierten 
waren jahrzehntelang krank und es be¬ 
standen atrophierende Prozesse in den 
Lungen selbst. Es war deshalb nicht zu 
erwarten, daß die Lunge wieder normal 
würde. Die emphysematose Blähung der 
Lunge bleibt bestehen oder geht nur wenig 
zurück. Die Beweglichkeit des Thorax wird 
aber erreicht und nur mit dieser Durch¬ 
schneidung der Knorpel. Die Besserung 
erstreckte sich auf Atmung, Blutzirkulation, 
Herzbewegung. Bronchitis, Entzündungen 
und ähnliche sekundäre Erkrankungen der 
Lunge beeinflussen den Erfolg natürlich 
auch, aber in erster Linie ist für den Er¬ 
folg nötig eine richtige Auswahl der Fälle 
und richtige Operation. Weitere Ursachen 
für die Starrheit des Thorax sind Alter, 
Thorax paralyticus, Hypertonie der Muskeln. 
Bei der letzten Form sind die Knorpel 
normal, es ist nicht zu operieren, sondern 
es ist mit Atemgymnastik und Mechanik zu 
behandeln. Der paralytische Thorax ist 
auch nicht zu operieren. Bei ihm sind die 
Rippen starr, abgeflacht und die Zwischen¬ 
räume verengt. Nach einer Durchschnei¬ 
dung der oft degenerierten Knorpel ver¬ 
ringert sich hier der Thorax noch mehr. 
Die Atemmuskeln sind hier jedenfalls schon 
von Natur schwach angelegt. Auch der senil 
starre Thorax, der auch verengt ist, soll 
nicht operativ behandelt werden. Das ty¬ 
pische Bild des Habitus emphysematosus 
ist das folgende: Sämtliche oder einzelne 
Knorpel sind vorgetrieben; diese Auftrei¬ 
bungen sind unregelmäßig, haben Ein- und 
Ausbuchtungen; sie sind spontan oder bei 
Belastung empfindlich; die Knorpel fühlen 
sich hart an und man kann nicht hinein¬ 
stechen. Klaren Aufschluß über die Ver¬ 
änderungen gibt die Durchleuchtung, aller¬ 
dings nur Blendenaufnahmen einzelner 
Rippen. Sehr wichtig ist die Beobachtung 
des Zwerchfells: es ist abgeflacht und be¬ 
wegt sich nur wenig. Nach der Operation 
bewegt es sich wieder sehr gut. Wichtig 
für die Indikationsstellung ist die Stärke 
der Bronchitis, ihre Art und die Folgen 
derselben. Die Bronchitis und das Asthma 
bronchiale selbst verbieten die Operation 
nicht, vielmehr wird die Bronchitis ge¬ 
wöhnlich durch die Operation sehr ge¬ 
bessert, während das Asthma wenig be¬ 
einflußt wird. Lassen sich Kreislauf¬ 
störungen vor der Operation durch innere 


Behandlung nicht bessern, so ist von 
der Operation abzuraten. Auch bei be¬ 
stehendem Aneurysma ist die Operation 
verboten. Im übrigen ist zu operieren, wenn 
der Thorax überhaupt noch ausdehnungs¬ 
fähig ist und wenn man sich mit der in¬ 
neren Behandlung keine Erfolge verspricht. 
Das Alter spielt keine Rolle. Die Verän¬ 
derung der Knorpel kommt schon bei Kin¬ 
dern vor. Ueber die Operation im Greisen- 
alter kann man zweifelhaft sein. — Zur Beur¬ 
teilung derEnge der oberenThoraxapertur ge¬ 
nügt Inspektion und Palpation nicht. Wenn die 
Operation auch nicht gefährlich ist, so soll 
man sie doch erst nach längerer Beobach¬ 
tung ausführen. 

v. Hansemann (Berlin) gab höchst 
wertvolle Erläuterungen zu diesem Kapitel, 
da er sich mit Freund zusammen besonders 
mit dem Thema beschäftigt hat: Die ana¬ 
tomische Disposition für die Tuberkulose 
des^ Lunge kann sehr verschieden sein. 
Die Enge der oberen Thoraxapertur ist 
nur eine Form derselben. Daher muß man 
von diesem Gesichtspunkte aus eine ganze 
Reihe von Formen der Schwindsucht unter¬ 
scheiden. Er kam immer mehr zu der 
Ueberzeugung, daß die typische Lungen¬ 
schwindsucht, bei der die enge obere Tho¬ 
raxapertur sich findet, von der atypischen 
zu trennen ist. Bei der ersteren fängt die 
Erkrankung etwas unterhalb der Spitze an. 
Bei den atypischen Fällen läßt sich auch 
immer der Grund finden, weshalb die Krank¬ 
heit nicht in der Spitze, sondern an einer 
andern Stelle anfängt: Die Lunge ist außer¬ 
ordentlich empfindlich gegen die Anwesen¬ 
heit von Tuberkelbazillen, aber nur die 
pathologische Lunge. Bei fast jeder chro¬ 
nischen Lungenerkrankung irgend welcher 
Art kann man makro- oder mikroskopisch 
Tuberkulose nachpreisen. Deshalb stellen 
sie klinisch oft das Bild der Tuberkulose 
vor und erst die Sektion zeigt, daß die 
primäre Erkrankung Lues oder Neubil¬ 
dung war und die Tuberkulose erst die se¬ 
kundäre Erkrankung. Für alle Fälle, die 
zur Lungenphthise, d. h. zum Schwund von 
Lungengewebe führen, ließ sich eine Ur¬ 
sache finden. Wenn an einer Stelle der 
Lunge z. B. ein Druck ausgeübt wird, so 
kann hier eine Phthise entstehen, z. B. an 
der Stelle einer alten Lungenverletzung, 
an der Stelle eines alten Rippenbruchs, 
durch Druck einer pathologisch geformten 
Rippe. Gegenstand der Freundschen Ope¬ 
ration können nur die typischen Fälle von 
Spitzentuberkulose sein; an anderen Stellen 
können höchstens die nachweisbaren Rip¬ 
penanomalien angegriffen werden. Dietuber- 


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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


213 


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kulose Veränderung darf höchstens bis zur 
3. Rippe reichen. Man muß allerdings be¬ 
denken, daß die Tuberkulose noch aus¬ 
heilen kann, wenn schon Kavernen von 
recht beträchtlicher Größe vorhanden sind 
und wo zeitlebens Tuberkelbazillen in der 
von Narben umgebenen Kaverne vorhanden 
sind. — Für die chirurgische Behandlung 
des Emphysems kann natürlich nicht das 
interstitielle Emphysem in Betracht kommen, 
d. h. die Ruptur von Lungengewebe bei 
starken Hustenanfällen. Auszuschließen ist 
auch das sekundäre entzündliche Emphy¬ 
sem bei anderen Entzündungen der Lunge. 
Die frühere Annahme, daß chronischer 
Bronchialkatarrh zu Emphysem führt, ist 
falsch; die Entzündung kommt erst zu dem 
Emphysem hinzu. Das Asthma ist auch 
keine umschriebene Krankheit, sondern ein 
Symptom verschiedener anderer Krank¬ 
heiten. Die Rarefikation des Lungenge¬ 
webes spielt erst in den letzten Stadien 
des Emphysems eine Rolle. Die Prozesse, 
die sonst das Gewebe zum Schwund brin¬ 
gen, sind eben nicht in einer emphyse- 
matösen Lunge vorhanden. Hier liegt kein 
degenerativer Prozeß vor, noch sind die 
elastischen Fasern geschwunden; man 
findet ebensoviele und ebensostarke elasti¬ 
sche Fasern, wie in einer gesunden Lunge. 
Die Erweiterung der Lungenblasen erfolgt 
zunächst rein mechanisch und auch die 
Alveolarporen erweitern sich. Dadurch ent¬ 
stehen Lücken und schließlich Löcher, die 
man sondieren kann. Erst im späteren 
Stadium des Emphysems reißen auch die 
elastischen Fasern und schnurren zusam¬ 
men; also keine Rarefikation, sondern ein 
rein mechanischer Vorgang. Der Thorax 
dehnt sich immer mehr aus und die Lunge 
folgt und dadurch kommt der beschriebene 
Zustand der Lunge zustande. Diese Form 
kann man als Freundsches Emphysem be¬ 
zeichnen. — Eine zweite Form des Em¬ 
physems ist das kongenitale Emphysem; 
es ist nicht angeboren, sondern entsteht 
auf angeborener Basis, indem die elastischen 
Fasern nicht genügend entwickelt sind. 
Bei dieser Form hat natürlich eine Ope¬ 
ration keinen Zweck, da der Thorax 
elastisch ist Das Freundsche Emphysem 
fängt nicht vor dem 30. Lebensjahr an; 
was vorher auftritt, gehört dem kongeni¬ 
talen oder einer anderen Form an. Das 
Altersemphysem unterscheidet sich anato¬ 
misch in nichts von dem Freundschen Em¬ 
physem. Beim Altersemphysem besteht eine 
Starrheit des Thorax, aber keine Erweite¬ 
rung, aber auch keine Verengerung, son¬ 
dern eine Mittelstellung. Das Emphysem 


selbst kann sich nach theoretischer Ueber- 
legung nach der Operation zurückbilden, 
da es ja eine Ueberdehnung der Lunge 
darstellt; nur muß man früh genug ope¬ 
rieren, ehe die elastischen Fasern einge¬ 
rissen und geschrumpft sind. Der Gefäßbau 
eines Organs paßt sich dem Bedürfnis an 
und die Gefäße können sich nach der Ope¬ 
ration zurückbilden. Etwas anders steht 
es mit der Hypertrophie des rechten 
Herzens. Es kann da theoretisch nach der 
Operation zur Degeneration des Herz¬ 
muskels kommen, da er weniger Arbeit zu 
leisten hat. Daher soll man nicht warten, 
bis das Herz stark hypertrophiert ist. Im 
übrigen wird die Operation sicher das Herz 
günstig beeinflussen. 

Van der Velden (Düsseldorf) berichtet 
über 10 operierte Fälle von starrer Dila¬ 
tation des Thorax. Stets kam man mit der 
einseitigen Operation aus, auf der Seite 
der größten Degeneration, fast immer 
rechts. Die erste Rippe wurde nie ange¬ 
griffen, nur der 2. bis 4. Rippenknorpel. 
Der Knorpel wurde stets ganz entfernt, 
doch kann man auch gezwungen sein, ein 
Stück Rippe wegzunehmen. An der Stelle 
der Operation bildet sich eine Pseud- 
arthrose, nach einigen Monaten schon eine 
sehr gut bewegliche bindegewebige Brücke. 
Eine Perichondritis ossificans und Kalkein¬ 
lagerung darf nicht ein treten, weswegen 
das Perichondrium sorgfältig entfernt wer¬ 
den muß. Befund nach der Operation: die 
Rippen sinken ein und atmen mit. Die dau¬ 
ernde Veränderung zeigt sich in einer 
dauernden Vermehrung der vitalen Kapa¬ 
zität der Lunge. Der Husten wird bedeu¬ 
tend leichter; die Bronchitis heilt aus wenn 
nicht schon Bronchectasen bestehen. Der 
Atemtypus nähert sich dem kostalen; rein 
kostal wird er nicht; die Kranken können 
wieder tiefer liegend schlafen. Die Beweg¬ 
lichkeit des Zwerchfells ist nach der Ope¬ 
ration nicht vermehrt, was auch bei der 
Entfernung nur oberer Rippen nicht zu er¬ 
warten ist. Die Zirkulation bessert sich. 
Der Thorax wird auf der operierten Seite 
kleiner, flacher. Für die Operation ist es 
ohne Belang, ob die Thoraxstarrheit primär 
oder sekundär ist; in beiden Fällen ist 
die Operation angezeigt und hat sich be¬ 
währt. 

Die gleichen günstigen Folgen sah 
Seidel (Dresden) bei zwei Operierten; die 
vorher unbeweglichen unteren Lungen¬ 
grenzen verschieben sich jetzt um mehrere 
Zentimeter. — Friedrich (Marburg) ist 
von seinen Erfolgen nicht so sehr entzückt. 
Ein Kranker starb bald nach der Ope- 


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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


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ration infolge Bronchopneunomie und Pleu¬ 
ritis infolge der Operation. 3 andere Falle 
sind vor IV 2 —2 l /2 Jahren operiert. Schon 
nach der Durchtrennung einer Rippe emp¬ 
fanden die Kranken eine große Erleichte¬ 
rung und zwar bei der Einatmung; mit 
weiterer Durchtrennung (2. bis 6. Rippe) 
wird die Atmung immer leichter. Bisweilen 
kann man den Kranken schon am nächsten 
Tage aus dem Bett lassen. Die Zyanose 
der Lippen bildet sich in Tagen oder 
Wochen zurück. Die Entfernung des Peri- 
chondriums macht die Operation recht 
schwierig. Die Kranken zeigen nach der 
Operation große Besserung. Das Prinzip 
der Operation ist richtig, aber unsere 
Technik und Methoden lassen noch viel zu 
wünschen übrig, vor allem läßt sich das 
Spiel von Beweglichkeit nicht auf die Dauer 
erhalten. Auch Körte (Berlin) bezeichnet 
die Entfernung des Perichondriums als 
sehr schwierig; er hat nach 4 Monaten 
schon die Regeneration des Knorpels er¬ 
lebt. Stieda (Halle) verfügt über 6 Ope¬ 
rierte mit starrem Thorax, darunter 2 von 
28 und 29 Jahren; kein Exitus; Erfolge gut. 
Lex er (Königsberg) hat beiderseits die 
1. bis 5. Rippe reseziert mit gutem vor¬ 
läufigen Erfolg. Hirschberg (Frankfurt 
a./M.): 12 jähriges Mädchen mit Bronchial¬ 
asthma; Rippenresektion; sehr guter un¬ 
mittelbarer Erfolg; nach einigen Monaten 
leichte Asthmaanfälle; Pseudarthrosenbil- 
dung im Sternum; seit 1V 2 Jahr völlig frei 
von Asthma. Wullstein (Halle) schlägt 
vor, statt der Rippen einen Teil des Ster¬ 
num zu resezieren. 

Wilms (Basel) berichtete über hoch¬ 
interessante Versuche über die Aetiologie 
des Kropfes, die er und Bireher ange¬ 
stellt haben. Der Kropf findet sich in der 
Schweiz endemisch, wo das Meer der 
Tertiärzeit war, er fehlt auf dem Eruptiv¬ 
gestein. Für die experimentelle Kropfer- 
zeugung ist die Ratte das beste Versuchs¬ 
tier. Sie zeigt bei Fütterung mit Wasser 
aus Kropfbrunnen schon nach 3 Monaten 
Kropfbildung, die mit der des Menschen 
übereinstimmt. Filtration des Wassers durch 
Berkefeldfilter ist ohne Einfluß; hingegen 
bleibt die Kropfbildung aus, wenn das 
Wasser auf 80 0 erhitzt wird. Das Wasser 
ist durch nichts sonst von gewöhnlichem 
Wasser zu unterscheiden, nur ist der Am¬ 
moniakgehalt unwesentlich erhöht. Wilms 
zieht den Schluß, daß an den befallenen 
Stellen die ganze zugrunde gegangene 
Fauna im Boden steckt und deren Toxine 
von dem Wasser ausgelaugt werden und 
eine Vergrößerung der Schilddrüse ver- 


' Ursachen. Die Schilddrüse vernichtet die 
| Toxine in sich oder sie produziert Gegen¬ 
gifte, die im Körper die Toxine vernichten. 
Es ist schon lange bekannt, daß das Wasser 
1 in Kropfgegenden durch Abkochen un- 
! schädlich wird. Durch Eindickung des 
1 Wassers im Vakuum wurde seine Giftwir¬ 
kung herabgesetzt. — In der Diskussion 
wird die Trinkwasser- und ähnliche Theo¬ 
rien angezweifelt. Gegen die Toxintheorie 
! spricht die verschiedene Häufigkeit des 
| Kropfes bei Frauen und Männern, die Sel- 
i tenheit in der Kindheit und anderes. 

| Kocher weist auf die Verschiedenheit 
| der Basedowkranken gegenüber der Jod- 
| darreichung hin. Manche sind sehr empfind- 
[ lieh, bekommen erst nach Joddarreichung 
einen Kropf; selbst Aufenthalt an der See 
! kann nervöse Erscheinungen bei ihnen her- 
vorrufen. Hier ist natürlich Joddarreichung 
verboten. 

Klose und Vogt (Frankfurt a./M.) stu¬ 
dierten die Folgen der Thymusexstir- 
pation beim Tier. Es eignen sich hierzu nur 
Hunde; sie müssen am 10. Tag operiert 
werden. Die Tiere werden nach der Ope¬ 
ration eigentümlich aufgeschwemmt, in ihren 
Bewegungen plump, breitspurig; die Mus¬ 
kulatur fühlt sich wie durch Fett ersetzt 
an. Dieses Stadium adipositatis dauert drei 
Monate. Danach werden die Tiere kachek- 
tisch, können nicht mehr laufen, es tritt 
Muskelzittern ein. Dabei ist das Sentorium 
ganz frei. Dieses Stadium dauert durch¬ 
schnittlich 4 Monate, bis 14 Monate: Sta¬ 
dium thymoprivum. Der Ausgang ist ein 
Zustand von tiefer Bewustlosigkeit von 4 
bis 5 Tagen, Coma thymicum, das mit dem 
Tod abschließt. Im Stadium cachecticura 
treten Spontanfrakturen ein. Die Diaphysen 
zeigen massenhafte Zysten, Verdickung der 
Epiphyse, Osteoporose, abnorme Biegsam¬ 
keit der Knochen. Die Rippen bleiben viel 
länger knorpelig. Es besteht Rachitis, Osteo¬ 
malazie und Osteoporose an demselben 
Tier. Das prozentuale Verhältnis von phos- 
| phorsaurem und kohlensaurem Kalk ist un¬ 
verändert aber die absolute Menge der 
Erden ist nur die Hälfte, wie beim gesun¬ 
den Tier. Jedenfalls wird diese Salzauf¬ 
lösung durch Nukleinsäure bewirkt. Eine 
Zuführung von Thymussubstanz hat keinen 
| therapeutischen Wert, denn dann würde 
man noch mehr Säure zuführen, da die 
| Thymus sehr reich an Nukleinsäure ist. 

Das Ersatzorgan für die Thymus ist die 
! Milz. Wird die Thymus erst entfernt, wenn 
l die Milz schon gut ausgebildet ist, so 
I bleiben die üblen Folgen aus. Die Thymus 
| ist ein lebenswichtiges Organ, das im Kör- 


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Mai 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 215 


per kreisende Stoffe neutralisiert und das 
wir niemals vollständig in der ersten Pe¬ 
riode entfernen dürfen. Die Ausfallserschei¬ 
nungen sind Folgen einer Säureintoxi¬ 
kation. — Die Veränderungen der nervösen 
Organe im besonderen waren: Im Stadium 
adipositatis Störung der Beweglichkeit, der 
Sensibilität, der Reflexe; schwere Verän¬ 
derung der elektrischen Erregbarkeit; 
schwere psychische Veränderungen bis zur 
völligen Verblödung. Man findet die Ver¬ 
änderungen der Neuritis, Entwicklungs¬ 
hemmung des Zentralnervensystems, inten¬ 
sive Quellung der Zellelemente des Zentral¬ 
nervensystems. Dementsprechend tritt eine 
Vergrößerung des Hirnvolums durch einen 
Quellungszustand ein. Stauung ist nicht 
die Ursache, sondern innere Veränderungen, 
Aufquellung der Kolloidsubstanz durch 
Säureeinfluß. Die vermehrte Säuremenge 
läßt sich schon durch Lakmuspapier in dem 
kranken Hirn nachweisen. Das Gehirn ge¬ 
sunder Hunde gibt makro- und mikrosko¬ 
pisch denselben Befund, wenn es in Säure 
gelegt wird. Durch Verabreichung von 
Thymus läßt sich eine Verschlechterung 
des Zustandes herbeifQhren. 

Ge bei e (München) sprach zur Frage 
der Thymus persistens bei Morbus Base¬ 
dow. Das Thymusgewicht ist viel größer, 
als man bisher annahm. Die Zeit des Rück¬ 
gangs der Thymus ist ganz verschieden. 
Man sollte nicht von Thymus persistens, 
sondern von supranormalem Gewicht der 
Thymus reden. Thymusfütterung schädigt 
nicht, auch nicht ihre Einpflanzung. Thymus- 
exsdrpation ergibt die von Klose beschrie¬ 
benen Bilder. Die Thymus kann die feh¬ 
lende oder veränderte Schilddrüse ersetzen 
die Thymus persistens ist eine Kompen¬ 
sation für die kranke Schilddrüse; tritt der 
Tod ein, so ist das kein Thymustod, son¬ 
dern ein Herztod. 

König (Berlin): Große bösartige Neu¬ 
bildungen können nur mit dem Messer ge¬ 
heilt werden. Unter den bösartigen Ober¬ 
kiefergeschwülsten sind die große Mehrzahl 
Sarkome. Geheilte Oberkieferkarzinome 
sind sehr selten. Die Oberkieferneubildun¬ 
gen geben so gut wie keine Drüseninfek¬ 
tionen. Er ist stets sehr radikal vorge¬ 
gangen. Man muß den ganzen Oberkiefer 
einer Seite wegnehmen, muß oft über die 
Mittellinie hinausgehen, die Orbita aus¬ 
räumen, oft noch deren Dach wegnehmen, 
weit nach der Basis cranii Vordringen, darf 
eine Verletzung der Dura nicht scheuen, 
muß den Jochbogen entfernen. Von 48 
totalen Oberkieferresektionen wegen Kar- 
cinom sind 19 gestorben; bei Vermeidung 


jeder Narkose werden wohl die Resultate 
besser werden. 8 sind seit 10 und mehr 
Jahren rezidivfrei und werden cs also wohl 
auch bleiben. Sticker berichtet aus der 
BierschenKlinik über 53 Oberkiefertumoren, 
von denen 8 nach der Operation starben. 
Von 26 Karzinomen bekamen 5 bald Reci- 
dive, 9 blieben geheilt. 

Czerny (Heidelberg) wendet Radium 
und Röntgenbestrahlung gegen bösartige 
Geschwülste reichlich an und hat auch gute 
Erfolge damit gesehen. Auch bei malignem 
Lymphom hat sich Radium bewährt. Mit 
Antimeristem Schmidt hat er 45 Fälle be¬ 
handelt; 15 davon haben die Kur ganz 
durchgemacht, die nicht gleichgültig ist. 
Bei starker Konzentration entwickelt sich 
an der Injektionsstelle eine Anschwellung, 
die sich öffnen und eine eiterartige Flüssig¬ 
keit entleeren kann, die allerdings asep¬ 
tisch ist. Ferner tritt danach öfters Fieber 
ein. Es sind gewisse Rückbildungen, auch 
objektiv, in etwa 50 % der Fälle beobachtet. 
Zweifelhaft ist allerdings, ob das Anti¬ 
meristem ein spezifisches Antitoxin ist; es 
handelt sich wohl überhaupt um eine 
Toxinwirkung, denn die Toxine verursachen 
alle fieberhafte Zustände, nach deren 
Schwinden eine Erleichterung eintritt. Bei 
schwachen Leuten ist die Gefahr zu groß, 
weil die Kranken danach rascher zugrunde 
gehen. Die Fulguration hat Czerny einge¬ 
schränkt zugunsten der Diathermie und Elek¬ 
trokaustik. Aber man kann durch nichts ein 
jauchendes Krebsgeschwür so schön in 
I eine gut aussehende Wunde verwandeln, 
wie durch Auskratzen mit folgender Ful¬ 
guration. Für Rezidive ist die Fulguration, 
auch bisweilen angezeigt. In Körperhöhlen, 
z. B. Vagina, ist sie schlecht anzuwenden, 
weil die Blitze den nächsten Punkt des 
Körpers treffen und nicht in die Taschen 
dringen. Praktischer ist die von Forest 
angegebene Methode, die Diathermie und 
Elektrokaustik erlaubt. Mit Hilfe einer 
kleinen Platinnadel kann man so eine 
Mammaamputation ebenso schnell machen, 
wie mit dem Messer. Dabei schneidet nicht 
das Instrument, sondern der Lichtbogen, 
der herauskommt. Die Wunden heilen p. 
p. Durch richtige Anwendung und Auswahl 
der Elektroden kann man durch die Dia¬ 
thermie eine tiefgehende Wärmewirkung 
erzielen, wodurch die Krebszellen geschä¬ 
digt werden. 

Wendel und Sauerbruch empfehlen 
ein aktiveres Vorgehen bei Oesophagus- 
und Cardiacarcinom, obwohl ihre Erfolge 
bisher nicht schlechter sein konnten. 
Küttner hat die Operation des Oesopha- 


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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Mai 


guskarzinoms im Brustteil aufgegeben, nach¬ 
dem er alle Operierten verloren hat. 
Kümmell empfiehlt zweizeitige Operation 
und schiebt die schlechten Erfolge auf die 
schlechte Nahtmöglichkeit. 

Lotsch, Kuhn, Henle, Schoemaker 
zeigen Apparate für Ueberdrucknarkose. 

Girard (Genf) spricht zur Behandlung 
der Mastoptose (Mamma pendula). Dieselbe 
ist unschön, führt zu Intertrigo und kann 
Schmerzen verursachen, die letzteren infolge 
Stauungsanschwellung; sie lassen sich durch 
Hochbinden und Mastopexie beseitigen. 
Zur Vermeidung einer sichtbaren Narbe 
empfiehlt er unteren Bogenschnitt, Hoch¬ 
klappen der Mamma und Fixation an der 
zweiten Rippe. 

Lexer (Königsberg) empfiehlt zur 
Nasenplastik das vereinfachte Schimmel- 
buschsche Verfahren. Er stellt zwei Ope¬ 
rierte mit eingepflanztem Kniegelenk vor, 
die eine vor 2 l / 2 Jahren operiert, mit 
idealem Ergebnis. Ein Kranker, dem das 
untere Ende der Ulna durch Tibia ersetzt 
wurde, zeigt sehr gute Funktion. Einem 
Mädchen wurden vor 9 Monaten 9 1 / 2 cm 
vom oberen Tibiaende entfernt wegen 
Sarkom und durch eine amputierte Tibia 
ersetzt, mit sehr gutem Erfolg. Einer der 
voriges Jahr vorgestellten Kranken mit 
eingepflanztem Kniegelenk bekam eine Psy¬ 
chose mit der Wahnvorstellung, dafi der 
fremde Knochen niemals einheilen könne 
und war nur durch die Amputation zu be¬ 
ruhigen. — Küttner hat das obere Ober¬ 
schenkelende, das er wegen Sarkom ent¬ 
fernen mußte, durch den gleichen Knochen 
aus einer Leiche ersetzt. Er entnahm den 
Ersatzknochen 12 Stunden post mortem 
aseptisch, hob ihn 24 Stunden in Kochsalz 
und Cloroform auf. Die Einheilung erfolgte 
reaktionsios. Jetzt, 5 Wochen nach der 
Operation zeigt die Durchleuchtung gute 
Stellung. Dies ist die erste geglückte 
Ueberpflanzung von der Leiche und eröff¬ 
net große Perspektiven. 

Eine eingehende Besprechung fand auch 
wieder die Behandlung der Appendizitis. 
Kümmel (Hamburg) will die in letzter 
Zeit von verschiedenen Seiten ausge¬ 
sprochene Neigung für ein zu konservatives 
Verfahren bekämpft wissen. 1903—1907 hat 
sich die Zahl der Appendizitiskranken in 
den Anstalten verdoppelt. Die Mortalität 
ist von 9,6 o/o auf 6,3 o/ 0 herabgegangen. 
Das Eintreten eines Rezidivs ist bei nicht 
operierten Kranken die Regel. Er fand in 
51 o/ 0 Rückfälle, wenn er die leichten Fälle 
nicht mitrechnete. Heilungen ohne Ope¬ 
rationen kommen vor, aber nur ausnahms¬ 


weise. Die Angabe Aschoffs, daß 4 /o aller 
Menschen an Appendizitis gelitten haben, 
stimmt mit seinen Erfahrungen überein; 
es braucht nur eine Veranlassung hinzuzu¬ 
kommen und der Anfall ist da. Die Ap¬ 
pendizitis ist eine Infektionskrankheit; sie 
zeigt auch eine Anschwellung zurzeit der 
Erkältungskrankheiten. Die Angaben der 
Pathologen Ober die Zahl der gesund ent¬ 
fernten Wurmfortsätze sind übertrieben. 
Abgesehen von dem Druckschmerz gibt es 
kein beständiges Symptom bei der Appen¬ 
dizitis. Die anderen Symptome können alle 
fehlen, selbst bei durchgebrochener Appen¬ 
dizitis. Die Diagnose ist oft sehr unsicher 
und solange werden auch Abszesse und 
Peritonitis nicht vermieden werden. Die 
Frühoperation ist wissenschaftlich anfecht¬ 
bar, aber praktisch einzig richtig. Die Vis¬ 
kositätsbestimmung des Blutes ist sehr gut 
und gibt relativ sicheren Aufschluß über 
den Inhalt der infizierten Bauchhöhle, auch 
über die Differentialdiagnose gegenüber 
Extrauteringravidität. Die Viskosität steigt 
bei schwerer Infektion des Peritoneums. 
Aber die Methode stellt uns nur vor fertige 
Tatsachen, gibt uns aber keinen Ausblick 
für die nächsten Stunden; sie sagt uns 
nichts über die Beschaffenheit des Appendix. 
Das gleiche gilt von dem Arnethschen 
Blutbild. Deswegen ist stets die Frühope¬ 
ration am Platz. Das Ricinusöl ist eine sehr 
zweischneidige Waffe und außerhalb des 
Krankenhauses sehr gefährlich. Es ruft auch 
ein gewisses subjektives Wohlbefinden her¬ 
vor und bewirkt ein ablehnendes Verhalten 
des Kranken gegenüber der Operation. Es 
ist nicht zu empfehlen. Die Kranken lassen 
sich heute gern operieren und es gehört 
Mut dazu, von der Operation .abzuraten. 
In den letzten Jahren hatte Kümmell bei 
Operation in den ersten 50 Stunden 0,5 % 
Mortalität. 1600Intervalloperationen ergaben 
1 % Mortalität, in den letzten Jahren 0,5 °/o. 
Die Intervalloperationen werden von den 
Aerzten im ganzen zu leicht genommen; 
noch nach Vs Jahr können sich Absceßreste 
finden; deswegen ist die Frühoperation 
vorzuziehen. Seine gesamten Appendizitis¬ 
operationen, 2650 Fälle, Peritonitis einge¬ 
schlossen, ergaben 6,8% Mortalität. Die 
Spätoperation bei Peritonitis ergab in den 
letzten Jahren 25 % Mortalität. Wir müssen 
operieren, sobald wir den Kranken bekom¬ 
men. Die Punktion ist zu verwerfen; sie 
ist überflüssig, denn man findet oft nichts, 
oft saugen sich die Abszesse auf, oft muß 
man nachträglich inzidieren; und sie ist 
nicht ungefährlich. Die innere Medizin be¬ 
handelt, die Chirurgie heilt die Appendizitis. 


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Mai 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


217 


Auch Sonnenburg (Berlin) betrachtet 
die Appendizitis als Infektionskrankheit 
enterogenen oder hämatogenen Ursprungs. 
Bei der enterogenen Infektion setzt der 
Katarrh sich aus dem Darm auf die Appen¬ 
dix fort, der dann die Erscheinungen der 
entzündlichen Reizung zeigt. Dieselbe geht 
aber bei einer normalen Appendix vor¬ 
über, weil hier die Bedingungen für eine 
Lokalisation fehlen. Das sind die einfachen 
Katarrhe des Wurmfortsatzes, die nach 
einigen Tagen vergehen, von denen 
Aschoff spricht. In den anderen Fällen 
besteht eine anatomische Disposition der 
Appendix; hier stauen sich die Sekrete 
beim Katarrh; er kann nicht so schnell 
schwinden; es kommt zu den Erscheinungen 
der akuten Appendizitis. Sobald die Ab¬ 
flußmöglichkeit für die Sekrete eintritt, 
schwinden die Erscheinungen. Entwickelt 
sich der Katarrh öfter, so kommt es zu 
anatomischen Veränderungen in der Wan¬ 
dung und im Innern der Appendix. Die 
pathologisch-anatomische Diagnose vor der 
Operation läßt sich nicht immer durch¬ 
führen. Wir stellen heute diese Forderung 
nicht mehr. Die Entzündung am Wurm¬ 
fortsatz führt zu einer Hyperleukozytose. 
Ist die Virulenz der Infektion hochgradig, 
so werden die Leukozyten schnell ver¬ 
braucht und es werden Reserven heran¬ 
gezogen in Gestalt von jüngeren, unfertigen, 
fragmentierten Zellformen. Die Leuko¬ 
zytenzählung genügt in vielen Fällen zur 
Klarstellung der Heftigkeit der Infektion; 
genügt dieselbe nicht, so läßt Sonnen¬ 
burg noch die Arnethsche Methode der 
Blutbildbestimmung ausführen. Es konnte 
so immer wieder gezeigt werden, daß die 
qualitativen Veränderungen des Blutes desto 
größer waren, je schwerer die Infektion 
war; je größer die Zahl der einkernigen 
Leukozyten, desto ernster die Prognose. 
Ein Fallen der Leukozytenkurve und ein 
Steigen des Arnethschen Blutbildes ist 
ein sehr übles Zeichen. Mit Hilfe dieser 
Blutuntersuchung werden die Fälle aus¬ 
gesucht, die operiert werden können und 
sollen. Ist das richtige Urteil so gefällt, 
so kann man dreist ein Abführmittel geben. 
In 300 Fällen hat Sonnenburg Ol. Ricini 
gereicht mit Oo/ 0 Mortalität, zum Beweis, 
daß er mit der Differenzierung der Fälle 
auf dem richtigen Wege ist. Die Fälle 
heilten, weil sie leicht waren, nicht infolge 
des Abführmittels. Die Entscheidung über 
den Zeitpunkt der Operation und die Be¬ 
handlung der Appendizitis gehört nur dem 
Chirurgen. Sonnenburg ist im Prinzip 
auch ein Anhänger ganz früher Operation. 


Er glaubt aber durch die Blutuntersuchung 
einst dem Arzte etwas Praktisches bieten 
zu können, so daß derselbe strenge Indi¬ 
kationen für die Operation im Anfang der 
Erkrankung stellen kann. Er hofft, daß die 
Chirurgen sich ihm allmählich an schließen 
werden. Seine Erfolge sind so gut, wie 
die der anderen. Er will nur einem kritik¬ 
losen Frühoperieren aller Fälle entgegen- 
treten. 

Kocher bekennt sich vollständig zu 
den Ausführungen von Kümmell. Das 
Rizinusöl von Sonnenburg hat ihm Leib¬ 
schmerzen verursacht. Dadurch ist die 
Gefahr entstanden, daß die Behandlung der 
Appendizitis wieder in die Hände der 
Internisten gerät. Die Bezeichnung als 
Angina des Abdomens trifft zu. Die katar¬ 
rhalische Appendizitis spielt eine viel zu 
große Rolle, sie kommt nur als sekundäre 
Erkrankung vor. Die Pathologen sehen 
vor Bäumen den Wald nicht, wenn sie 
nur geschlossene Wurmfortsätze unter¬ 
suchen. Man findet schon ganz im Anfang 
Veränderungen im Wurmfortsatz, die die 
akute Appendizitis als hämorrhagisch gan¬ 
gränöse Entzündung charakterisieren. Die 
strenge Unterscheidung in simplex und 
destructiva läßt sich nicht durchführen. 
Die Blutung zeigt sehr häufig eine segmen¬ 
täre Anordnung, genau entsprechend der 
Anordnung eines Gefäßgebietes; sie breitet 
sich allmählich aus, bis sie die ganze 
Appendix einnimmt. Das Exsudat in der 
Appendix hat die allergeringste Bedeutung. 
Aus den hämorrhagischen Infiltrationen 
kann Nekrose hervorgehen und daraus 
kann bei dem infektiösen Inhalt der Appen¬ 
dix Gangrän werden. Hier kommt es zum 
Durchbruch. Wenn nun die Gangrän 
immer droht, so muß man früh operieren 
und nicht erst mit Blutuntersuchungen die 
Zeit verlieren. Küttner empfiehlt auch 
aufs dringendste die Frühoperation. Seit¬ 
dem er die Fälle früher in die Klinik be¬ 
kommt, ist die Gesamtmortalität der akuten 
Anfälle von 29,4 % auf 8,5 °/ 0 gefallen. 
Kunkel (Fulda) hat es durch die Volks- 
tümlichmachung der Operation erreicht, daß 
in der dortigen Gegend kein Appendizitis¬ 
kranker mehr außerhalb des Krankenhauses 
stirbt! Sprengel (Braunschweig): Der 
praktische Arzt wendet nach dem Vor¬ 
gehen Sonnenburgs jetzt schon wieder 
zu häufig das Rizinusöl an. Die Anwen¬ 
dung des Oeles ist gefährlich und über¬ 
flüssig. Die Frühoperation ist eine Reak¬ 
tion auf eine vorhergehende falsche Be 
handlung durch das Publikum, namentlich 
mit Rizinusöl. Die Leukozytenzählung 

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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Mai 


versagt und wird in den meisten Anstalten 
nicht mehr geübt. Die Untersuchung des 
Blutbildes ist zu kompliziert, besonders für 
den praktischen Arzt Die Diagnose der 
Appendizitis ist die leichteste Unterleibs¬ 
diagnose im Frühstadium. Bei der Inter¬ 
valloperation gehört die Prognose zu den 
Unmöglichkeiten; gerade deshalb ist die 
Frühoperation am Platz. Intervallopera¬ 
tionen dürfen nicht kritiklos gemacht wer¬ 
den. Die Statistik von Albu ist ganz un¬ 
zuverlässig und falsch. Auf die Kritik 
Albus will er nicht eingehen. „Wir 
Chirurgen sind höfliche Leute und sagen: 
Herr Albu versteht in dieser Sache nichts.“ 
F. König (Altona) ist auch Anhänger der 
Frühoperation. Die wissenschaftlichen Un¬ 
tersuchungen, wie z. B. die Untersuchung 
der Viskosität, können nur einseitige Auf¬ 
klärung geben, namentlich über die ent¬ 
zündlichen Faktoren im bakteriologischen 
Sinne. Im praktischen Sinne ist aber die 
Appendizitis keine bakterielle Erkrankung. 
M ei sei (Konstanz): Segmentäre Erkran¬ 
kungen führen zur Perforation und die 
segmentären Erkrankungen sind die Folge 
von Gefäßverschlüssen. Man findet im 
Mesenteriolum dann nicht nur Thrombosen, 
sondern sogar Obliteration der Venen; es 
sind das chronische Erkrankungen. 

v. Brunn (Tübingen) erhielt bei der 
Bauchdeckennaht nach Eröffnung appen- 
dizitischer Abszesse unter 87 Fällen 33 mal 
sekundäre Abszesse, davon zwei intraperi¬ 
toneale. Die offene Behandlung ergab in 
69% Narbenbrüche, die Naht in 20%. 
Rehn (Frankfurt a. M.) rät im Gegensatz 
zu Nord mann, bei der Eröffnung alter 
Absesse, wenn es nötig ist, die Bauchhöhle 
wohl zu öffnen. Von 60 alten Abszessen sind 
ihm 25 gestorben, ohne daß er die Ad¬ 
häsionen löste, davon nur einer an Peri¬ 
tonitis, keiner infolge der Operation. Auch 
bei Abszessen empfiehlt er die primäre 
Naht mit Drainage. Langemak spricht 
sich gegen die primäre Naht aus; man soll 
nach spätestens viermal 24 Stunden die 
Tampons entfernen und erlebt dann auch 
keine Brüche. Körte näht auch nur Peri¬ 
toneum und Faszie und eventuell Musku¬ 
latur mit einigen Nähten nach eitrigen 
Bauchoperationen. Die Haut läßt er offen 
oder näht sie sekundär. Fabricius (Wien) 
weist darauf hin, wie oft eine Appendizitis 
die Ursache scheinbar gynäkologischer Er¬ 
krankungen ist; bei der Appendizitisopera¬ 
tion soll man auch immer die Genitalien 
kontrollieren. Heile (Wiesbaden) stellte 
an Hunden Versuche zur experimentellen 
Erzeugung von Appendizitis an; auf häma¬ 


togenem Wege gelang ihm das nicht. Die 
Veränderungen, die er bei seinen Unter¬ 
bindungen und Injektionen erzielte, bieten 
nichts unerwartetes und tragen nichts zur 
Klärung der Appendizitisfrage bei. 

Rotter (Berlin) wendet sich gegen die 
Naht mit Drainage bei Peritonitis, da un¬ 
gefähr von der 12. Stunde nach der Ope¬ 
ration an eine Drainage der freien Bauch¬ 
höhle nicht mehr möglich ist, weil dann 
schon Verwachsungen vorhanden sind. 
Erst vom dritten Tage ab tritt wieder eine 
Sekretion ein, und zwar aus den Granula¬ 
tionen. Rehn führt demgegenüber aus, 
daß er bei 62 freien Peritoniten, die er 
nach seiner Methode drainiert hat, nur 
dreimal sekundäre Abszesse, niemals einen 
Douglasabszeß erlebt hat. Er hatte bei allge¬ 
meiner Peritonitis eine Mortalität von 47 %. 

Hirschei (Heidelberg) hat in verzwei¬ 
felten Fällen große Mengen vonl %Kampfer- 
öl in die Bauchhöhle gebracht und ist mit 
der Wirkung sehr zufrieden. Nößke hat 
sogar bis zu 300 g 5—10% Kampferöl in 
die Bauchhöhle eingeführt und war eben¬ 
falls sehr zufrieden; aus dem Oel müssen 
erst die ranzigen Produkte entfernt werden. 
Borchard (Posen) hat weitere Fälle von 
Peritonitis durch Einführung von Olivenöl 
in die Bauchhöhle mit gutem Erfolg be¬ 
handelt. Die Methode ist ungefährlich. 
Der Puls hebt sich bald danach. 

Tietze (Breslau) hält die Diagnose der 
Pankreasnekrose für gut möglich. Von 
7 Fällen hat er zwei geheilt. Der Chirurg 
muß auf dem Standpunkt stehen, daß für 
die disseminierte Fettnekrose Erkrankungen 
des Pankreas die Ursache sind. Man muß 
das Pankreas freilegen und den Bauch im 
übrigen wie bei einer Peritonitis behandeln, 
Polya (Budapest) hält die Pankreasnekrose 
für die Folge einer Infektion des Pankreas 
mit aktivierenden Bakterien, die den 
Pankreassaft verdauend machen und so zu 
einer Selbstverdauung der Drüse führen. 
Rosenbach (Berlin) meint, daß zur 
Pankreasnekrose nötig ist 1. eine mechani¬ 
sche oder bakterielle Schädigung des Or¬ 
gans, 2. das Hinzutreten von aktivierenden 
Substanzen. In das Duodenum einge¬ 
pflanzte Pankreasstückchen wurden erst 
verdaut, wenn sie vorher mit Adrenalin¬ 
lösung bestrichen waren. 

Seidel sah bei zwei Leuten mit jahre¬ 
lang bestehender Gallenfistel Knochen¬ 
störungen auftreten; in dem einen Falle 
kam es zu multiplen Spontanfrakturen, die 
aber wieder heilten; in dem anderen Falle 
bestanden Knochenschmerzen und Geh¬ 
störungen. Der eine Fall ist durch Sektion 


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Mai 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


219 


bestätigt. Auch bei Hunden ist bei lange 
bestehender Gallenfistel Osteoporose beob¬ 
achtet, die nach Schluß der Fistel in wenigen 
Wochen heilte. Das fordert auf, Gallen¬ 
fisteln nicht zu lange bestehen zu lassen. 

Noetzel (Völklingen) hat durch Tier¬ 
versuche bestätigt, daß die Gallenblasen¬ 
peritonitis auch beimTier eine sehr schlechte 
Prognose hat. 

Sprengel sucht eine Aenderung in der 
bisherigen Richtung der Laparotomie¬ 
schnitte herbeizuführen. Am meisten geübt 
werden bisher die Längsschnitte. Dabei 
werden die Aponeurosen, Faszien und 
Nerven meist quer getroffen. Man soll 
mehr zu Querschnitten übergehen. H e u s n e r 
legt seit 4 Jahren bei Bauchoperationen 
Querschnitte an. Die Bauchdecken klaffen 
dabei sehr gut. Sehr * zeitraubend und 
schwierig ist die Naht der dicken Schichten. 
Die Narben sind sehr fest. 

Rehn jr. (Königsberg) bat seine Ver¬ 
suche über freie Sehnentransplant&tion 
fortgesetzt. Das Peritonium spielt eine 
wichtige Rolle entsprechend dem Peri- 
chondrium und Periost und ist nicht nur 
Blut- und Lymphgefäßträger. Es hat eine 
sehnenbildende Eigenschaft, aber nur, wenn 
sofort funktioneller Reiz und Anspannung 
eintritt. Das Peritonium ist zum Zusammen¬ 
heilen der Stümpfe unbedingt nötig. Lex er 
hat die Ueberpflanzung beim Menschen 
mehrfach ausgeführt: Ersatz der Quadri- 
zepssehne durch eine ebensolche durch 
Amputation gewonnene; ebenso die Achilles¬ 
sehne zweimal; desgleichen an einem para¬ 
lytischen Klumpfuß; Uebertragung vom 
amputierten Unterschenkel auf die Hand; 
selbst auf Syphilitische glückte die Ueber¬ 
tragung vorübergehend; Nabel- und epi¬ 
gastrische Hernien wurden durch Sehnen 
geschlossen. — Freie Fetttransplantation 
ergab beim Tier gute Resultate. Nach 
8 Tagen war es schon gut eingeheilt; nach 
mehreren Monaten war der Hauptteil noch 
gut erhalten, ein Teil resorbiert. Das Fett 
zeigte sich dem künstlichen Material über¬ 
legen zur Ausfüllung der verschiedensten 
Lücken. Läwen (Leipzig) hat eine Hernie 
der Linea alba durch einen großen Periost¬ 
lappen von der Tibia gedeckt. Kirschner 
(Greifswald) empfiehlt die Transplantation 
von Faszien zur Deckung von Defekten der 
verschiedensten Art. Das Material wird 
der Fascia lata femoris entnommen. Man 
kann so Autoplastik machen und ist von 
der Homoplastik unabhängig. Einmal be¬ 
währte sie sich auch zur Deckung einer 
Blasenektopie. v. Saar bespricht die er¬ 
folgreiche Einpflanzung von Peritoneum, 


Periost und Faszie in die Dura. Bauer 
(Breslau) hat Versuche über die Ein¬ 
pflanzung konservierter Knochen gemacht. 
Die Knochen wurden aseptisch entnommen 
und bei dauernd 0—1° aufbewahrt in 
physiologischer Kochsalzlösung mit oder 
ohne Antiseptikum, oder im Serum ge¬ 
töteter Tiere, oder in Ringerscher Lö¬ 
sung. Alle Knochen heilten reaktionslos 
bei Hunden ein; nach 14 Tagen schon be¬ 
stand innige Verwachsung mit den um¬ 
gebenden Weichteilen im Gegensatz zu 
Elfenbein und ausgeglühtem Knochen. Am 
besten bewährte sich die Aufbewahrung in 
Ringerscher Lösung. Kraus (Charlotten¬ 
burg) hat gestielte Hautlappen in das Peri¬ 
toneum eingeheilt; es bildete sich keine 
Metaplasie in Serosa, sondern es entstanden 
Epithelzysten. Bier hat Fettgewebe oft 
mit gutem Erfolg übertragen. 

Gulecke (Straßburg) will aus seinen 
Hundeversuchen die Möglichkeit der Naht 
der Aorta ascendens beweisen. Sie ist 
sehr brüchig und kann nicht länger kom¬ 
primiert werden wegen der Schädigung der 
nervösen Zentren und des Herzens. Er 
beschränkte sich daher auf die seitliche 
Naht Fünf Tiere von 17 sind geheilt, da¬ 
von drei mit glatter Narbe; in einem Fall 
bildete sich ein wandständiger Thrombus, 
einmal entstand nach 2 Tagen ein Aneu¬ 
rysma. 

Unger (Berlin) hat mit Erfolg die Nieren 
mit Kava und Aorta von Hund auf Hund 
transplantiert; bei Uebertragung von Hund 
auf Schwein entstand sofort Thrombose in 
der Kava; Uebertragung von einem Neu¬ 
geborenen, U /2 Stunde p. ra., auf Affen 
erregte keine Gerinnung. Die Nieren eines 
großen Affen wurden einer schwer urämi¬ 
schen Frau eingepflanzt: Thrombose trat 
nicht ein; aus den Ureteren sickerte am 
anderen Tag Flüssigkeit, unentschieden, 
ob Urin oder Oedemflüssigkeit; Tod nach 
36 Stunden; die Nieren waren lebensfrisch, 
hätten funktionieren können. 

Wilms hält die Gefahr der Fettembolie 
für abwendbar. Da der Transport des 
Fettes auf dem Lymphwege geschieht, so 
läßt es sich im Ductus thoracicus abfangen. 
Bei einem Verletzten mit viel Quetschungen 
und Knochenbrüchen und mit den be¬ 
ginnenden Erscheinungen der Fettembolie 
legte er den Ductus thoracicus frei und 
drainierte ihn; zwei Tage floß Lymphe mit 
dicken Fettropfen ab; nach sechs Tagen 
war die Wunde trocken. Der Mann genas, 
Die Schwierigkeit liegt in der Diagnose. 

Clairmont (Wien) empfiehlt auch die 
Behandlung der Luftaspiration, deren 

28 * 


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220 Die Therapie der Gegenwart 1910. Mai 


Diagnose leichter ist als bei der Fett¬ 
embolie. Es kommen nur die ganz akut 
verlaufenden Fälle in Betracht. Die Pro¬ 
gnose ist ungünstig. Es gelang ihm nicht, 
ein Tier zu retten. Er machte erst die 
Aspiration der Luft aus dem Herzen, wenn 
dasselbe schon Stillstand. Das Herz fing 
wieder an zu schlagen, aber die Tiere 
blieben tot. 

Dollin ger (Budapest) fand als Haupt¬ 
hindernis für die Reposition der veralteten 
Schulterluxation eine Verkürzung der 
Sehne des M. subscapularis. Nach dessen 
Durchschneidung ließ sich unter 36 Fällen 
31 mal die Reposition ausführen, ln 5 
Fällen bestand zugleich eine schlecht ge¬ 
heilte Fraktur am Collum chirurgicum; 
hier mußte reseziert werden. Die Operation 
dauert 15—20 Minuten und ist einfach. 
Bei der präkorakoiden Form ist allerdings 
große Vorsicht nötig, da dann die großen 
Gefäße dem Kopf aufliegen und damit ver¬ 
wachsen sein können. Ein schon bestehen¬ 
der Bruch des Tuberculum maius muß zu¬ 
gleich festgenäht werden. Reluzation trat 
nur einmal ein, am 2. Tag, dann nicht 
mehr. Die Endergebnisse ließen natürlich 
viel zu wünschen übrig, da ja schon die 
frischen Luxationen oft wenig erfreuliche 
Resultate liefern. Schlange und Landow 
bestätigen die Ausführungen Dollingers. 

Neuber (Kiel) empfiehlt bei Coxitis 
tuberculosa ein operatives Vorgehen, wenn 
die konservative Behandlung nicht bald 
Erfolg hat; die Kranken heilen dann 
schneller und mit besserem Resultat. Er 
eröffnet das Gelenk von vorn, weil da¬ 
durch die Funktion weniger gestört wird. 
Vor der Operation sind Jodoforminjektionen j 
zu machen, da sie die dankbarere Form, 
die derbere, schafft. Die Gelenk wunde des¬ 
infiziert er mit 5% Formalinseifenlösung, 
füllt das Gelenk mit 5% Jodoformemulsion. 
Bis auf den Tampon wird die ganze Wunde 
geschlossen. Die Erfolge sind gut; im all¬ 
gemeinen wird ein gut bewegliches Gelenk 
erzielt. In der Bierschen Klinik wird das ; 
Hüftgelenk möglichst konservativ behandelt. 
Auf die Fixation wird dabei großer Wert 
gelegt; die Verbände werden 4—10 Monate 
und länger durchgeführt. Eine Ankylose soll 
man nur da erstreben, wo eine ständige 
Neigung zu Kontraktur besteht. Das Knie¬ 
gelenk gibt für die konservative Behand¬ 
lung die schlechtesten Ergebnisse und ist 
für Stauung am undankbarsten. Die Ent¬ 
lastung ist hier sehr wichtig. Beim Fu߬ 
gelenk ergibt die konservative Behandlung 
bessere Erfolge als die operative. Man 
braucht nicht zu fixieren, sondern nur zu I 

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entlasten und stauen. Die Kontrakturen 
schwinden unter der Stauung von selbst. 

Die zahlreichen vorgezeigten Fälle zeigen 
alle sehr gute Resultate. Alapy operiert 
die Koxitis bei Kindern nur bei infizieren¬ 
den Fisteln. Die Funktion ist viel besser 
und die Verkürzung viel kleiner, als nach 
Operation. Kniegelenkstuberkulose operiert 
er nur bei Vorhandensein von Eiter. 
Spitzig operiert die Coxitis tuberculosa 
nur bei Indicatio vitalis. Eine Beweglich¬ 
keit ist nur zu erreichen bei serösem Er¬ 
guß, niemals bei Zerstörung des Knochens. 
Müller (Rostock) empfiehlt die möglichst 
frühe Entfernung der käsigen Herde bei 
großen Kindern und Erwachsenen; nur dann 
bekommt man gute Erfolge. 

Die Esmarchsche Binde wird gewöhn¬ 
lich viel zu fest angelegt und verursacht 
dadurch Beschwerden oder Schädigungen. 

Ihr Druck braucht den arteriellen Blutdruck 
nur wenig zu übertreffen, also etwa 20 mm 
Quecksilber. Deshalb hat Perthes (Leip¬ 
zig) eine auskochbare Hohlmanschette aus 
Durit hersteilen lassen, die um das Glied 
gelegt und dann mit einem kleinen Blase¬ 
balg einfach aufgeblasen wird. Der Druck 
ist einfach abzulesen. Die Lösung geschieht 
ebenso einfach. Es tritt nur ein Gefühl von 
Schwere, nach etwa 25 Minuten motorische 
und sensorische Lähmung ein. Zur Aus¬ 
führung der Bierschen Stauung empfiehlt 
er eine Hohlmanschette in Verbindung mit 
einem Irrigator. Momburg empfiehlt den 
Druck zu regeln, indem man die Haut an 
der Stelle der Abschnürung erst reibt und 
die Binde so fest anlegt, bis die Rötung 
schwindet. In der Diskussion wird das 
Unterlegen von Gummikissen unter die 
Binde empfohlen, besonders bei der Um¬ 
schnürung des Abdomens, da nach der ein¬ 
fachen Umschnürung einmal starke Darm¬ 
blutung bei einem Kind beobachtet wurde. 

Röpke (Jena) beschreibt die in Jena 
übliche winkelige Durchmeißelung des 
Oberschenkels bei Genu valgum, wodurch 
gleich ein besserer Halt erzielt wird. 

Klapp beschreibt seine Methode der 
Mobilisierung von Ankylosen im Kniege¬ 
lenk. Dieselbe ist nur anwendbar, wenn 
noch die Stützfähigkeit vorhanden ist. Er 
bringt nach Lösung aller Verwachsungen 
das Knie in starke Bewegung, so daß die 
Tibia auf den unversehrten Knorpelflächen 
an der Hinterseite der Oberschenkelkon- 
dylen stellt. Durch Herausnahme eines 
Keils aus dem Oberschenkel wird das 
Knie dann gestreckt gestellt; sehr genaue 
Vereinigung ist nötig. Die Erfolge waren 
zum Teil recht gut. 

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Mai 


221 


Die Therapie der 


An schütz (Kiel) empfiehlt wieder aufs 
wärmste die Nftgelextension zur Verlänge¬ 
rung von Gliedern, die durch schlecht ge¬ 
heilte Frakturen oder Wachstumsstörungen 
verkürzt sind. Bei irischen Frakturen wird 
die Frakturstelle mobilisiert, bei alten wird 
osteotomiert, schräg oder treppenförmig, 
und dann nagelextendiert. Besonders die 
alten Oberschenkelbrüche soll man an- 
greifen. Er hat so Verlängerungen um 
8 bis 9 cm am Oberschenkel erzielen 
können. 

Die Diskussion über die Knochennaht 
bei Frakturen zeigte, daß dieselbe doch 
schon viele Freunde hat, aber in ihrer 
Technik noch sehr zu vervollkommnen ist 
und in ihren Ergebnissen noch viel zu 
wünschen läßt Auch bei der Naht ist sehr 
große Sorgfalt auf die Erhaltung des Pe¬ 
riost zu legen. Wilms empfiehlt die Naht 
bei jedem stark dislozierten Vorderarm¬ 
bruch; zur Bolzung nimmt er hier einen 
einfachen Nagel, dessen Kopf und Spitze 
abgekniffen wird; für den Unterschenkel 
nimmt er Elfenbein. Bergei (Langensalza) 
hat Versuche mit Fibrin angestellt. Durch 
subkutane Injektion erzeugte er Leukozytose 
und Granulationsbildung; nach subperi¬ 
ostaler Injektion bildete sich Kallus. Fibrin- 
Mer ck ist ganz steril und stets gebrauchs¬ 
fertig. Es stellt eine Unterstützung der 
physiologischen Vorgänge bei Wund¬ 
heilung und Kallusbildung dar. 

Nehrkorn (Elberfeld) berichtet über 
Osteosklerose der langen Röhrenknochen 
bei einer Frau, wohl auf anämischer Basis, 
die sehr große Schmerzen machte. Wasser¬ 
mann sehe Reaktion war negativ; Rachitis 
bestand nicht. Die Kranke war an Armen 
und Beinen fast ganz gelähmt. Er trepa¬ 
nierte alle langen Röhrenknochen ausge¬ 
dehnt und räumte die Markhöhle aus, wo¬ 
nach die Schmerzen schwanden und die 
Beweglichkeit wiederkehrte. Die Mark¬ 
höhle war nur noch sehr klein. 

Durch die Laparotomie werden beson¬ 
ders die serösen Formen der B&uchfell- 
tuberkulose günstig beeinflußt. Glycerin, 
offic. in die Bauchhöhle eines Tieres in¬ 
jiziert, bewirkt eine Exsudation von 5 bis 
10% des gesamten Körpergewichtes an 
Flüssigkeit in die Bauchhöhle; dieser Aszites 
wird in 12—16 Stunden wieder aufgesaugt. 
Friedrich schlägt nun vor, bei der Lapa¬ 
rotomie der serösen Formen 25 bezw. 40 g 
Glyzerin in die Bauchhöhle zu bringen; 
später injiziert er bis achtmal Glyzerin in 
die Bauchhöhle. Man wird durch die Zu¬ 
nahme des Körpergewichts und die Besse¬ 
rung des subjektiven Befindens danach 


Gegenwart 1910. 


überrascht. Die tuberösen Formen ope¬ 
riert man besser nicht. Evler (Treptow) 
hat bei wiederkehrendem tuberkulösen 
Aszites eine Dauerdrainage unter die 
Bauchhaut mit gutem Erfolg ausgeführt. 
In der Diskussion wird auf den großen 
Wert der dauernden Ruhigstellung der 
Kranken hingewiesen. Alapy empfiehlt 
vor der Operation einige Wochen Tuber¬ 
kulinbehandlung, die sich ihm sehr be¬ 
währt hat. 

Brunner (Münsterlingen) hat eine große 
Umfrage über die Wundbehandlungs¬ 
technik veranstaltet und folgendes zusammen¬ 
gestellt: Die meisten Chirurgen reinigen die 
Hände mit Wasser, Seife, Sublimat; es 
folgt der Zahl nach Heißwasser, Alkohol; 
wenige mit Seifenspiritus; noch weniger 
Jodbenzin. Gummihandschuhe trägt die 
Hälfte grundsätzlich. — Desinfektion des 
Operationsfeldes wird am häufigsten mit 
Wasser, Seife, Sublimat ausgeführt; manche 
pinseln danach Jodtinktur; das Jodbenzin 
hat sich etwas eingebürgert. Ein Drittel 
trägt Masken oder Schleier; verschiedene 
haben die Maske wieder weggelassen, (na¬ 
türlich) ohne Verschlechterung des Resul¬ 
tats. Katgut wird von fast allen benutzt; 
die Jodpräparation ist die häufigste. Die 
meisten operieren trocken, doch ist die 
antiseptische Waschung nicht ganz ver¬ 
lassen. Jodoformgaze wird noch reichlich 
angewandt. Operationswunden werden 
meist mit steriler Gaze bedeckt. Unfall¬ 
verletzungen werden fast von allen anti¬ 
septisch behandelt; die Umgebung wird 
viel mit Jodtinktur gepinselt. Bei offenen 
Knochenbrüchen wird oft Perubalsam an¬ 
gewandt. 

Bürgers (Königsberg) hat zur Bestim¬ 
mung der Virulenz von Streptokokken 
folgende Methode ausgebildet: Herstellung 
einer gleichmäßigen Emulsion aus einer 
14 Stunden alten Reinkultur aus der Wunde. 
Mit Menschenblut bei 37 o im Brutschrank. 
Ausstrich-Bestimmung des Prozentsatzes von 
Leukozyten, die Kokken gefressen haben. 
Diese Methode würde 14 Stunden nach der 
Entnahme des Materials ein Urteil erlauben. 
Hagemann (Greifswald) hat in 46 Fällen 
Antistreptokokkenserum Höchst möglichst 
früh gegeben, zum erstenmal 50 ccm, bei 
Wiederholung 10—25 ccm, immer unter 
die Haut. Eine Heilwirkung trat nie ein. 
Schwere Sepsis wurde überhaupt nicht be¬ 
einflußt. Dauernde Schädigung durch das 
Serum trat nicht ein, wohl aber vorüber¬ 
gehende. Wo es günstig wirkte, war es 
wohl einfach die Wirkung des artfremden 
Serums durch Anregung der Phagozytose. 


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Gck gle 


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222 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Mai 


Lotheisen (Wien) glaubt in dem Anti- 
streptokokkenseram Paltauf ein brauchbares 
Mittel gefunden zu haben. Schädigung 
durch dasselbe hat er nicht gesehen. 
Nößke hat bei 20 Fällen von schwerer 
Staphylokokken- und Streptokokkeninfektion 
an der Hand breite oberflächliche Inzisionen 
an der Innenseite des Oberarms unterhalb 
der Achselhöhle gemacht, um aus den sich 
hier sammelnden Lymphgefäßen die in¬ 
fizierte Lymphe sich entleeren zu lassen. 
Er war mit dem Erfolg zufrieden; die 
Schnitte müssen früh gemacht werden. 
Ritter (Posen) behandelt das Erysipel mit 
aktiver Hyperämie in Gestalt von Heißluft, 
dreimal täglich s / 4 —Stunde, mit gutem 
Erfolg. In der Diskussion wird auf das 
genau periodische Ab- und Anschwellen 
der Fieberkurve bei Sepsis hingewiesen, 
die Perioden sind in den einzelnen Fällen 
verschieden, wohl abhängig von den 
Kokkenstämmen; es handelt sich wohl 
jedesmal um eine neue Generation. Schöne 
(Marburg) berichtet über seine Versuche, 
die Wundbehandlung und das Geschwulst¬ 
wachstum durch Stoffwechselstörungen und 
Vergiftungen zu beeinflussen. 

König und Hohmeier (Altona) haben 
eine Umfrage über die Lumbalanästhesie 
veranstaltet: Eine große Zahl Chirurgen 
haben die Methode wegen ihrer Gefahren 
verlassen. 2400 Fälle gesammelt. Skopol¬ 
amin-Morphin gibt ein Teil vorher. Die 
meisten Chirurgen wenden die Methode 
nur bei Kranken von über 14 Jahren an; 
zweimal wurde sie bei Tabes ohne Schä¬ 
digung angewandt. Die Mittel waren 
Stovain, Novokain, Tropakokain mit und 
ohne Adrenalin. Das Pohlsche Präparat 
hat die meisten Versager gebracht und 
deshalb wird das Mercksche viel ver¬ 
wendet. Im ganzen waren 9% Versager. 
Nachwirkungen: Kopfschmerzen fehlten 

selten und traten nach allen drei Mitteln 
auf, sie sind durch die gewöhnlichen Mittel 
und Stauung nicht zu beeinflussen. Son¬ 
stige Störungen traten selten und nur vor¬ 
übergehend auf. Drei Abduzenslähmungen 
gingen nicht zurück. Nierenstörungen 
wurden nicht beobachtet. Asphyxie machte 
viermal künstliche Atmung nötig. 41 Fälle 
von Lungenerkrankung, darunter 0,70 % 
Pneumonie im ganzen, also wie bei Inhala¬ 
tionsnarkosen. 12 Todesfälle = 0,5 °/ 0 , d. h. 
15 mal so viel wie bei Allgemeinnarkose: 
viermal Atmungslähmung, dreimal Kollaps, 
einmal Anurie, einmal Apoplexie, dreimal 
Meningitis spinalis purulenta; die letzteren 
37 Stunden bezw. 11 Tage bezw. 11 Tage 
nach der Operation.- Die hohe Zahl von 


Todesfällen Hegt an der Ungunst des Ma¬ 
terials. Einer weiteren Verbreitung der 
Methode kann nicht das Wort geredet wer¬ 
den. Sie ist nur anzuwenden, wenn Aether- 
rausch und Lokalanästhesie nicht ausreichen 
und strenge Gegenanzeigen gegen Allge¬ 
meinnarkose bestehen. Bei Arteriosklerose 
sind die Nebennierenpräparate am gefähr¬ 
lichsten. Diabetes ist eine Indikation für 
Lumbalanästhesie. Die Lumbalanästhesie 
schädigt dieselben Organe, wie die All¬ 
gemeinnarkose, aber sie schädigt außerdem 
das nervöse Zentralorgan, das dort unver¬ 
sehrt bleibt Müller (Rostock) hat etwa 
2000 mal Lumbalanästhesie angewandt und 
ist ein großer Anhänger der Methode; er 
nimmt immer Stovain. Kopfschmerzen hat 
er auch viel gesehen und das ist das un¬ 
angenehmste dabei. Meningitis sah er 
niemals. Bei Kopfschmerz wird der intra¬ 
durale Druck gemessen; ist er gesteigert, 
so wird abgelassen, ist er, wie gewöhnlich, 
herabgesetzt, so wird eine Kochsalzinfusion 
gemacht und die Kopfschmerzen schwinden 
nach einer Stunde. Strauß hat über 
19000 Lumbalanästhesien zusammengestellt 
mit 0,5 °/qo Mortalität; bei 30 000 Fällen fand 
er eine solche von 1:1800. Dönitz 
(Berlin): Die Nacherscheinungen werden 
hauptsächlich durch meningitische Reizung 
verursacht. Das Tropakokain reizt am 
wenigsten. Die Nebennierensubstanzen 
lösen im zersetzten Zustand üble Nach¬ 
wirkungen aus. Viel Suprareninzusatz er¬ 
zeugt viel Kopfschmerz und Erbrechen. 
Kalte Lösungen erregen auch Kopf¬ 
schmerzen; deshalb ist körperwarm einzu¬ 
spritzen. Die langdauernde Lähmung der 
Beine, die Par- und Anästhesien, die Blasen¬ 
lähmung hängen davon ab, wo die Cauda 
equina auf ihrem Querschnitt getroffen ist; 
die Injektion muß dieselbe an der Hinter¬ 
seite treffen. 

Coenen macht auf die Massenblutungen 
in das Nierenlager aufmerksam, wovon elf 
Fälle bekannt sind. Die Ursache waren 
perforierte Tumoren oder Tuberkulose, 
Nephritis, Arteriosklerose. Man muß 
essentielle Blutungen, meist bei Nephritis, 
und sekundäre Blutungen unterscheiden. 
Die Diagnose wurde nur einmal gestellt, 
obwohl die Erscheinungen charakteristisch 
sind. Heftiger, anfallsweiser Schmerz, 
Zeichen der inneren Blutung, Ausbildung 
eines Nierentumors; der Urin kann ganz 
normal sein. Prognose sehr schlecht. 
Durch Operation 44% geheilt. Das Häm¬ 
atom kann sich auch abkapseln. 

Payr (Greifswald): Durch Eingriffe am 
Gefäßsystem läßt sich ein Magengeschwür 


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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


223 


nur schwer erzeugen, weil die Gefäß Ver¬ 
sorgung am Magen so gut ist. Er injizierte 
2—10%ige Formalinlösung in Magen¬ 
arterien und -Venen; danach entstanden 
Geschwüre mit wenig Neigung zur Heilung 
und großer Neigung zum Fortschreiten und 
Perforieren. Eine Selbstverdauung kann 
das nicht sein, denn die Perforation er¬ 
folgte in der fünften bis sechsten Woche. 
Er hat 30 Ulzera reseziert und exzidiert. 
Die Ulkusschwielen sind zum Teil ganz ge¬ 
fäßlos, obwohl sie bis 3 cm dick sind. 
Selbst Hauptarterien können darin ganz 
verschlossen sein. Die Blutungsgefahr ist 
bei Ulcus simplex viel größer als bei Ulcus 
callosum. Die Schwiele dehnt sich weit 
über die Grenzen des Geschwürs hinaus, 
sie kann um den ganzen Magenumfang sich 
herumziehen. Payr ist deshalb immer 
mehr zur Resektion des mittleren Magen¬ 
teils gekommen. In 26% von 30 Ulcera 
callosa ließ sich eine sichere, teils be¬ 
ginnende, teils fortgeschrittene Umwand¬ 
lung im Karzinom feststellen; dabei hat er 
nicht einmal Serienschnitte gemacht. Die 
Mortalität der Resektion betrug 10%. 
Nach der Resektion verminderte sich der 
Pylorospasmus bedeutend; bei einfacher 
Exzision kann er weiter bestehen. K ü 11 n e r 
kam zu folgenden Ergebnissen: Es gelingt 
auch dem Erfahrenen nicht, das Ulcus 
callosum makroskopisch vom Karzinom zu 
unterscheiden; 43,4 % erwiesen sich mikro¬ 
skopisch als sichere Karzinome. Von den 
wegen Ulkus resezierten, wo aber mikro¬ 
skopisch ein Karzinom nachgewiesen wurde, | 
sind viele jahrelang geheilt geblieben. Von 
den wegen Ulcus callosum gastroentero- | 


1 stornierten sind 41 % an Karzinom ge¬ 
storben. Das Ulcus callosum darf also nur 
mit Resektion behandelt werden. Ewald 
I (Berlin) glaubt auch an eine sehr häufige 
> Umwandlung des Ulkus in Karzinom. Die 
| chemische Untersuchung liefert keine 
I strengen Beweise für Gut- oder Bösartig¬ 
keit des Ulkus. Schoemaker legte bei 
Hunden eine Duodenumfistel an. Genossene 
Milch tritt nach 10 Minuten aus; Ein¬ 
spritzung von Säure in den Darm sistiert 
den Abfluß um etwa 9 Minuten. Bei ge¬ 
mischter Kost kommt nach 10 Minuten der 
erste Guß in Form von Wasser, nach 
weiteren 10 Min. bröckchenhaltiges Wasser 
und erst viel später die anderen Speisen. 
Nach Entfernung des Pylorus kommt auch 
nach 10 Minuten der erste Guß, obwohl der 
Sphincter pylori fehlt; dann kommen die 
Güsse regelmäßig, nur etwas rascher und 
etwa viermal so stark; bei gemischter Kost 
i derselbe Vorgang. Also ist eine Funktion 
, der Peristaltik anzunehmen, die so auf den 
| Inhalt wirkt, daß das zuerst austritt, was 
I am leichtesten herausgebracht werden kann. 
Aber bei Einspritzung von Säure in den 
Darm erfolgt dann ein ununterbrochener 
, Austritt aus dem Magen. Also es ist durch 
die Pylorusresektion nur der Säurereflex 
vom Darm aus gestört. Daher schlägt Schoe¬ 
maker bei Hyperazidität Gastroenterosto¬ 
mie, bei Hypazidität Sphinkterektomie vor. 

Reichel (Chemnitz) hat die Flexura 
sigmoidea mit gutem Erfolg durch eine 
Dünndarmschlinge ersetzt. 

Meisel hat in 17 Fällen von Gastro- 
enteroptosis die Kolorrhapie mit befriedi¬ 
gendem Erfolg ausgeführt. 


VI. Kongreß der Deutschen Röntgengesellschaft, 
Berlin« 3. April 1910. 

’ Bericht von Dr. Bugen Jacobsohfl-Charlottenburg. 


Der VI. Röntgenkongreß unter der Lei¬ 
tung Holzknechts brachte eine Menge 
von Vorträgen und Demonstrationen. Trotz¬ 
dem kann nicht behauptet werden, daß die 
einzelnen Themata besonders nennenswerte 
und neue Aufschlüsse ergaben. Neben 
einigem Interessanten und Anregenden hörte 
man mancherlei, was selbst dem Spezial- 
röntgenologen weniger wichtig und wert¬ 
voll erscheinen mußte. 

Die Einteilung des reichlichen Stoßes 
— es handelte sich um 53 Vorträge, die 
an einem Tage zur Besprechung kamen — 
gliederte sich in die therapeutischen Vor¬ 
träge, die Vorträge aus der inneren Me¬ 
dizin, die chirurgischen, technischen und 
Projektionsvorträge. 


Die Röntgentherapie hat weitere Er¬ 
folge zu verzeichnen. H. E. Schmidt 
(Berlin) bestrahlte ein inoperables Sarkom 
der Hals- und Achseldrüsen und ein inoper¬ 
ables Sarkom der Tonsille mit Metastasen. 
Die Geschwülste verkleinerten sich schon 
nach wenigen Sitzungen und schrumpften 
bis auf kleine, harte, anscheinend binde¬ 
gewebige Reste. Die verabfolgten Einzel¬ 
dosen waren gering; sie betrugen nur % 
bis % Erythemdose der Sabouraud- 
Noiraschen Skala. — In einem Falle von 
Angiom der Wange bei einem 1%jährigen 
Kinde erzielte Schmidt schon nach sechs 
Sitzungen ein völliges Schwinden des Tu¬ 
mors. Von der das Hautniveau 1 cm über¬ 
ragenden Geschwulst blieb nichts mehr 


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224 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Mai 


übrig, als eine zarte, wenig auffallende 
Narbe. Vortragender glaubt, daß beim 
Naevus vasculosus die Resultate der 
Röntgenbehandlung ebenso gute sein wer¬ 
den, wie bei der Applikation des Radiums. 

Albers-Schönberg (Hamburg), der 
sich schon auf dem vorigen Röntgen¬ 
kongresse in ausführlicher Weise Ober die 
Röntgentherapie bei gynäkologischen Krank- ! 
heiten ausgesprochen hatte, stellte auf 
Grund seiner früheren und neueren Be¬ 
obachtungen folgende Thesen auf: 1. Die 
Ovarien werden durch die Röntgen¬ 
bestrahlung zur Atrophie gebracht. Am 
meisten betroffen werden die Graafschen 
Follikel. Es tritt infolge dieser Schädi¬ 
gungen eine künstliche Menopause ein. 
Bei älteren Frauen, welche dicht vor oder 
in den klimakterischen Jahren stehen, ist ! 
die Atrophie des Ovariums leichter und * 
dauernder zu erreichen, als wie bei jüngeren I 
Personen. 2. Die Erzeugung der künst- ! 
liehen Klimax wird zur Verkleinerung von | 
Myomen und zur Beseitigung der durch die 
Myome hervorgerufenen Blutungen, fernei; i 
zur Beseitigung prä- und postklimakteri- | 
scher Blutungen und Beschwerden benutzt. 
Die Ursache der Verkleinerung der Myome 
und der Beseitigung der Blutungen ist zum I 
größten Teil in der Einwirkung auf die 
Ovarien, zum kleineren Teil in der Ein¬ 
wirkung auf die Myome selbst zu suchen. 

3. Für den Erfolg der Myomtherapie ist 
die Beschaffenheit des Myoms von Bedeu¬ 
tung. Am besten beeinflußt werden die 
intramuralen Myome. Kontraindiziert ist 
die Röntgentherapie bei submukösen Myo- 
men wegen der oft dabei eintretenden sehr 
starken Blutung. 4. Ausgeblutete Frauen 
mit sog. Myomherzen oder mit Myokardi¬ 
tiden dürfen auf keinen Fall bestrahlt wer¬ 
den, da die im Anfänge der Behandlung 
oft auitretende gesteigerte Blutung Lebens¬ 
gefahr im Gefolge haben kann. 5. Es gibt 
refrakträre Fälle, die auf Röntgenbestrah¬ 
lung nicht reagieren. Erreicht man nach 
einer gewissen Zeit, eine gute Technik 
vorausgesetzt, keinen Erfolg, so soll man 
die Röntgentherapie nicht weiter fort¬ 
setzen. Anderenfalls läuft man Gefahr, 
infolge der langedauernden Bestrahlungen 
andere Organe zu schädigen. 6. Auch in 
solchen Fällen, in denen keine Menopause 
erreicht wird, ist oft eine Besserung der 
Blutung und der Periodenbeschwerden zu 
erzielen. 7. Die Myome verkleinern sich 
oft, in geeigneten Fällen verschwinden sie 
sogar ganz; doch gehört dazu lange Zeit. 

8. Das Hauptanwendungsgebiet der Röntgen¬ 
therapie in der Gynäkologie sind die kli¬ 


makterischen Blutungen und Schmerzen 
bei Frauen, die das 50. Lebensjahr über¬ 
schritten haben. 9. Nur bei gichtiger 
Technik sind gute Erfolge zu erzielen, 
und Schädigungen mit Sicherheit zu ver¬ 
meiden. 

Gauß (Freiburg i. Br.) weiß über ähn¬ 
lich günstige Resultate zu berichten. Er 
sah gute Erfolge bei Bestrahlung von 
Myomen, Metrorhagien, Amenorrhöen und 
Dysmenorrhöen. Ein Karzinom, dessen 
Operation abgelehnt war, wurde vorüber¬ 
gehend gebessert. Das Rezidiv trat erst 
nach 2 Jahren ein. Die Bestrahlung von 
fünf Graviden erzielte in drei Fällen missed 
abortion. 

Reifferscheid (Bonn) untersuchte 
Mäuseovarien, welche vorher bestrahlt 
waren. Es zeigte sich Degeneration des 
Follikels und Zerstörung der Eizelle. Die 
schweren Veränderungen betrafen nicht 
nur das Parenchym, sondern auch das 
Stroma, dessen Kerne geschrumpft und 
dessen Zeichnung verschwommen war. Bei 
einem Aflenovarium waren die Erschei¬ 
nungen fast die gleichen. Die Unter¬ 
suchung von 6 Menschenovarien, die später 
entfernt werden mußten, ergab Degenera¬ 
tion der Primordialfollikel und Schrumpfung 
der Eizelle. Letztere bildeten entweder 
eine hyaline Scholle oder schwammen frei 
im Follikel. Vortragender glaubt durch 
seine Untersuchungen die Uebereinstim- 
mung der mikroskopischen mit den klini¬ 
schen Ergebnissen bewiesen zu haben. 

Dohan (Wien) berichtet über günstige 
Beeinflussung des chronischen Gelenk¬ 
rheumatismus. Bei 11 von 13 bestrahlten 
Fällen ließ sich ein Nachlassen der Schmer¬ 
zen und der Schwellung, sowie eine bessere 
Beweglichkeit erzielen. 

Heßmann (Berlin) sieht in der Haut¬ 
reaktionsstufe ein Hindernis für die oft 
| notwendige Massendosierung bei Tumoren. 
Er empfiehlt sehr große Dosen zu verab¬ 
reichen und eventuell die Haut an der zu 
bestrahlenden Stelle zu exzidieren. Ein auf 
| diese Weise vorbehandelter inoperabler 
Brustkrebs wurde soweit gebessert, daß 
er nunmehr operiert werden konnte. 

Levy-Dorn berührt die interessante 
Frage der Idiosynkrasie gegen Röntgen¬ 
strahlen. Diese Frage ist bis jetzt weder 
nach der positiven noch negativen Seite 
hin exakt entschieden worden; Levy- 
Dorn hat unter vielen Tausenden von Be¬ 
strahlungen keinen Fall gesehen, bei dem 
eine für die Mehrzahl der Menschen un¬ 
schädliche Dosis großen Schaden ange¬ 
richtet hätte. Hingegen gibt er zu, daß 


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Mai 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


225 


nicht alle Menschen qualitativ gleich Operation am Handrücken verlief aller- 
# rea ^ leren * dings insofern nicht befriedigend, als sich 

Försterling(Mörs)erstattete den Bericht jedesmal am zentralen Rand der exzidierten 
der Kommission zur Erforschung der Partie ein neues Ulkus entwickelte. Gi 1 - 
Wachstumsschädigungen durch Röntgen- mer (München) beobachtete an sich ein 
strahlen. Wie erinnerlich wurde das Schwinden von Hyperkeratosen und Rha- 
Thema der Wachstumsstörungen beim gaden nach Entwicklung eines septischen 
Tiere auf dem vorjährigen Röntgenkongreß Ekzems; er denkt infolgedessen an die 
von Försterling und Krukenberg aus- Möglichkeit, durch die Erzeugung einer 
führlich besprochen. Die außerordentlich aseptischen Eiterung eine ähnliche Heil¬ 
schweren Schädigungen, wie sie zuweilen Wirkung zu erzielen, 
beim Tiere gefunden werden, ließen einer Von den diagnostischen Vorträgen seien 
Nachforschung nach der Richtungais notwen- nur die interessanteren hervorgehoben, 
dig erscheinen, ob sich beim wachsenden Men- Rieder (München) sprach über Kavernen 
sehen analoge Störungen nachweisen lassen bei Anfangstuberkulose der Lungen. Die- 
würden. Die in diesem Sinne erfolgte selben sind, wenn sie tiefer liegen und von 
Umfrage hatte glücklicherweise das erfreu- normalem Lungengewebe überdeckt sind, 
liehe Resultat, daß Wachstumsstörungen auf gewöhnliche Weise schwer zu diagnosti- 
beim Menschen nicht zu befürchten sind, zieren. Infolge ihrer bindegewebigen Hülle 
Eine gewisse Vorsicht ist nur bei ganz ist jedoch eine Differenzierung auf dem 
kleinen Kindern anzuwenden. Röntgenbilde möglich. 

Schwarz (Wien) gibt praktische Winke Lichtenberg (Straßburg) und Voelcker 
für die von ihm angegebene Desensibilisie- berichteten über ca. 100 Fälle, bei denen 
rung der Haut. Eine solche läßt sich durch die von ihnen eingeführte Methode der 
Kompression, und zwar in einfacher Weise Pyelographie zur Anwendung kam. Durch 
bei den Extremitäten durch Gummibinden Kollargolinjektionen in die Ureteren und 
{geeignet sind die Bi ersehen Stauungs- Blase erhält man einen guten Ueberblick 
binden) , beim Halse und bei der Axilla über Lage, Verlauf und Form der gefüllten 
durch einen aufgeblähten und durch Binden- Partien. Man kann auf diese Weise die 
touren fixierten Gummiballon erzielen, verschiedenen Formen des Stauungsbeckens 
Unter Anwendung einer derartigen Kom- | sowie die Insuffizienz der Ureterenmündun- 
pression kann man etwa die dreifache der j gen bei nervösen Störungen und Prostata¬ 
bisherigen Erythemdosis verabfolgen. ! hypertrophie erkennen. Irgendwelche un- 

Walter (Hamburg) macht darauf auf- | angenehmen Erscheinungen sind bei An¬ 
merksam, daß man sein Augenmerk auch i Wendung der Methode nicht beobachtet 
auf die schädigende Wirkung der Sekundär- worden. 

Strahlung richten müsse. In Betracht j Kästle (München) spricht über die 
kommt die Strahlung vom Glase der » kontrastbildenden Mittel in der Röntgeno- 
Röntgenröhre und die von den getroffenen * logie. Er empfiehlt als Ersatz für die Wis- 
Gegenständen ausgehende Strahlung, ins- I mutpräparate und den Magneteisenstein das 
besondere die Blendenkisten - und die | Zirkonoxyd. Dasselbe ist billig (Kilogramm 
Körperstrahlung. Um die von dem Innern j 11 M.) und selbst in konzentrierten Säuren 
der Blendenkiste ausgehenden Strahlen zu ! fast unlöslich, also auch ungiftig. Man 
unterdrücken, hat W. eine technische Neue- , gebraucht ungefähr einhalbmal soviel vom 
rung angebracht derart, daß die Sekundär- ' Zirkonoxyd, um bei Durchleuchtungen oder 
strahlen vor ihrem Austritt aus dem Kasten Photographien dieselben Dichtigkeiten zu 
abgefangen werden. j erreichen, wie mit den Wismutpräparaten. 

Mayer (Basel) behandelte seine eigenen j Die Projektionsvorträge brachten Bilder- 
Röntgenulzera in der Weise, daß er Kohlen- I demonstration aus der Pathologie > der 
säureschnee wiederholt ca. 5—10 Sekunden i Brustorgane (Levy-Dorn-Berlin), aus der 
auf die erkrankten Partieen einwirken ließ, j Pathologie der Eingeweide (Köhler-Wies- 
Es erfolgte Heilung mit einer kosmetisch j baden und Holzknecht-Wien), ferner 
befriedigenden Narbe. Von den Diskussions- | Bilder der Rachitis, der Akromegalie sowie 
rednern empfiehlt Albers - Schönberg, der Thierpathologie (Gottschalk-Stutt- 
<iurch Erfahrungen am eigenen Körper j gart): Frakturen, Rachitis bei Haustieren, 
belehrt, die möglichst frühzeitige operative i Tendinitis beim Pferde. 

Entfernung bei Kankroiden und Deckung j Zum Vorsitzenden des nächsten Kon- 
desDefekts durch Thierse h sehe Transplan- ! gresses wurde Prof. Walter (Hamburg) 
Nation; eine derartige bei ihm ausgeführte | gewählt. 

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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Mai 


27. Kongreß für innere Medizin in Wiesbaden 
18.— 21. April 1910. 

Bericht von G. Klemperer. 


Die 27. Tagung bedeutet einen Mark¬ 
stein in der Entwicklung des Kongresses 
für innere Medizin, weil sie eine lange 
vorbereitete Statutenänderung zum Ab¬ 
schluß gebracht hat, welche vielleicht die 
äußere und innere Verfassung der Körper¬ 
schaft wesentlich beeinflussen wird. Die 
Organe des Kongresses sind der 4gliedrige 
Vorstand und der 25gliedrige Ausschuß, 
Beide Körperschaften ergänzten sich bisher 
durch Selbstzuwahl, welche traditions¬ 
gemäß der Zustimmung des Kongresses > 
gewiß war. Nach den neuen Statuten bleibt 
dem Ausschuß ein Vorschlagsrecht für alle I 
Neuwahlen, aber diese werden vom Plenum ! 
durch Stimmzettel vollzogen. Im übrigen 
dürfen von je 30 Mitgliedern selbständige j 
Vorschläge zur Wahl des Ausschusses ge¬ 
macht werden. Damit ist einer Beschränkung 
der Kongreßleitung auf allzu enge Gruppen 
vorgebeugt. Wesentlicher noch ist die 
Aenderung der Geschäftsordnung. Von 
nun an sind die Themata mit kurzer In¬ 
haltsangabe dem Vorsitzenden 4 Wochen 
vor Beginn der Tagung einzureichen, und 
dieser hat das Recht, ungeeignet erschei¬ 
nende Mitteilungen zurückzuweisen. Den 
Zurückgewiesenen steht die Berufung an 
den Ausschuß frei. Vorträge, deren wesent¬ 
licher Inhalt bereits publiziert ist, dürfen 
nicht zugelassen werden. Vorträge und 
Demonstrationen dürfen nur 15 Minuten 
dauern; der Vorsitzende ist verpflichtet, 
den Rednern bei Ueberschreitung der zu¬ 
lässigen Redezeit das Wort zu entziehen. 
Die Vorträge müssen frei gehalten werden. 
Es ist wohl ohne weiteres ersichtlich, daß 
die Befolgung dieser neuen Ordnung dem 
Kongresse eine neue Blüte sichern wird. 
Nun hat der Vorsitzende die Möglichkeit, 
Vorträge, die Phantastisches oder Unwissen¬ 
schaftliches oder gar Schlimmeres enthalten, 
von vornherein zurückzuweisen; nun kann 
er auch auf die Zahl der Anmeldungen 
einen Einfluß ausüben und durch den 
Hinweis auf die eventuelle Ueberfülle des 
Vorhandenen so Manchen zur Zurücknahme 
seines Vortrages bewegen; vielleicht könnte 
die Publikation im Tageblatt des Kongresses 
in solchen Fällen als Kompensation dienen. 
Es ist jedenfalls nach den neuen Statuten mehr 
als früher die Möglichkeit gegeben, jedem, 
der wirklich auf die Tagesordnung kommt, 
eine gewisse Wahrscheinlichkeit zu sichern, 
daß er zum Worte gelangt. Geradezu un¬ 
schätzbar aber erscheinen die neuen Be¬ 


stimmungen über die Vortragsart. Wenn 
frei vorgetragen werden muß und wenn 
niemandem, er sei auch wer er sei, mehr 
als 15 Minuten zustehen, so wird jeder die 
Verpflichtung fühlen, seine Mitteilung für 
diese Zeitdauer ordentlich zu präparieren. 
Man kann in 15 Minuten sehr viel sagen. 
Es wird das beklagenswerte Schauspiel 
aufhören, daß Redner, die ängstlich an 
ihrem Manuskript kleben, ganz hilflos vom 
Schlußzeichen des Vorsitzenden überrascht 
in der Mitte ihre Rede abbrechen müssen. 
Der Kongreß hat u. a. auch den Zweck, 
den jungen akademischen Nachwuchs zu 
sichten; der akademische Lehrer bedarf 
der Vortragskunst, und auch der junge 
Dozent sollte sie soweit beherrschen, daß 
er im Stande ist, verwickelte Probleme 
und Tatsachen in freier Rede und be¬ 
grenzter Zeit anschaulich zu berichten! 
Satzungen stehen auf dem Papier; alles 
kommt auf den Geist an, in dem sie an¬ 
gewandt werden. Man darf das Vertrauen 
hegen, daß der neugewählte Vorsitzende 
Herr v. Krehl, der sich um das Zustande¬ 
kommen der neuen Statuten das größte 
Verdienst erworben hat, mit ihrer Hilfe 
den Kongreß der erhofften Vollkommen¬ 
heit näher führen wird. 

Der diesmalige Kongreß ist im Geiste 
der Wissenschaftlichkeit und der Freiheit 
geleitet worden, aus dem die neuen Sta¬ 
tuten geboren sind. Herr Fr. Kraus war 
ein strenger aber toleranter Vorsitzender; 
er begrenzte fast ausnahmslos die Rede¬ 
zeiten und unterdrückte unwissenschaftliche 
Vorträge; ausgedehnte R ekapitulationen 
bekannten Stoffes wies er mit der Be¬ 
merkung zurück: „Wir sind keine didak¬ 
tische Versammlung." Dabei suchte er 
jedem Vortragenden zum Worte zu ver¬ 
helfen und bemühte sich gelegentlich her¬ 
vorgetretene Gegensätze auszugleichen. 
Es ist kein Zweifel, daß das allseitig an¬ 
erkannte Gelingen des 27. Kongresses nicht 
zum wenigsten der umsichtigen und uner¬ 
müdlichen Arbeit des Vorsitzenden zuzu¬ 
schreiben ist. 

Der Kongreß brachte Referate mit großen 
Diskussionen über das Tuberkulin und 
über die sekundären Anämien. Außerdem 
eine außerordentliche Fülle von Vorträgen 
aus den verschiedensten Wissenszweigen 
der inneren Medizin. Wenn mehrfach von 
praktisch ärztlicher Seite klagend hervor¬ 
gehoben wurde, daß die Themata theoreti- 


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Mai 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


227 


sehen Inhalts so sehr an Zahl überwogen, 
so darf doch nicht vergessen werden, daß 
dies Verhältnis aus dem Wesen des inneren 
Kongresses entspringt und kaum wesent¬ 
licher Aenderung fähig ist. Auf dem 
Kongreß soll nur Neues berichtet werden. 
Gewiß wäre es am schönsten, wenn wir 
recht viel von neuen Behandlungsmethoden 
und Heilungen erführen. Aber die Früchte 
reifen nur dem, der in langer, geduldiger 
Arbeit den Acker bestellt; sie werden oft 
an Stellen gewonnen, die kaum eine Ernte 
versprachen. Der Kongreß, welcher einen 
Ueberblick über den Gesamtgewinn unserer 
Kunst im vergangenen Jahre gewähren 
soll, muß scheinbar entlegene theoretische 
Forschung über irgend ein Krankheits¬ 
wesen ebenso einschätzen, wie eine un¬ 
mittelbare Bereicherung der praktischen 
Therapie. Das Motto unseres Kongresses 
heißt: Alles ist Frucht und alles ist 
Samen. 


Der folgende Bericht wird kein getreues 
Spiegelbild des Kongresses darbieten, son¬ 
dern dem engeren Programm dieser Zeit¬ 
schrift entsprechend wie in früheren Jahren 
diejenigen Themata hervorheben, welche 
eine nähere Beziehung zur praktischen Aus¬ 
übung unserer Kunst darbieten. 

In seiner Eröffnungsrede gab Kraus 
zuerst einen Ueberblick über die Arbeiten 
des verstorbenen großen Physiologen Eduard 
Pflüger und erörterte dann einige den 
Kongreß besonders angehende Zeitfragen. 
Er betonte von neuem die alte Frerichs- 
sche Forderung von der Selbstherrlichkeit 
der inneren Medizin, der die wissenschaft¬ 
lichen Hilfsfächer und die Spezialitäten 
sich ohne Trennungsgelüste ein- und unter¬ 
zuordnen hätten. In der praktischen Medi¬ 
zin sei das persönliche Vertrauensverhältnis 
des Pflegebefohlenen zu seinem Arzt höher 
einzuschätzen als die Vorteile des Spezia- 
lisierens; es sei hierzu notwendig genaue 
Beobachtung und Kenntnis der familiären 
Erblichkeitsverhältnisse, des persönlichen 
Entwicklungsganges und der Einblick in 
den Gesamtorganismus. Dieser Gesichts¬ 
punkt müsse auch in der neuen Reichs¬ 
versicherungsordnung zu gunsten der Ein¬ 
führung der freien Arztwahl maßgebend 
sein. Des weiteren bedauerte Kraus die 
spärliche Teilnahme der praktischen Aerzte 
an dem Kongreß, der einen wesentlich 
akademischen Charakter trage. Von einer 
Bevorzugung der Demonstrationen sowie 
therapeutischer Themata hoffte er eine 
Besserung, die die Frequenz des inneren 


Kongresses der der Chirurgen annähern 
möchte. 

Das Referat über die spezifische Er¬ 
kennung und Behandlung der Tuber¬ 
kulose 1 ) erstattete Prof. Schütz (Berlin) 
vom veterinärärztlichen Standpunkt. Für 
die Verbreitung der Tuberkulose unter den 
Rindern, so führte er aus, spielt die Ver¬ 
erbung keine größere Rolle; nur 70 Fälle von 
plazentarer Infektion sind bekannt. Mit 
zunehmendem Lebensalter tritt die Erkran¬ 
kung in steigendem Maße hervor — bei 
Tieren bis zu 6 Wochen findet sich nur 
0,4 % Tuberkulose und bei solchen von 
6 Wochen bis 1 Jahr 0,3%. dagegen bei 
Tieren von 1—3 Jahren 1,4 % und von 3 
bis 6 Jahren schon 33,5%; von allen älteren 
Milchkühen endlich sind 50—70% tuber¬ 
kulös. Die Häufigkeit der Tuberkulose bei 
den geschlachteten Tieren im Deutschen 
Reiche, die 1907 21,2 % betrug, hat sich in 
den letzten 12 Jahren verdoppelt. Die 
spezifische Erkennung der Tuberkulose 
beim Tiere wird erreicht durch die ge¬ 
wöhnliche Tuberkulinprobe, die beim 
Rinde in der subkutanen Einverleibung von 
0,5 ccm Alttuberkulin (verdünnt mit der 
vierfachen Menge 0,5%iger Karbolsäure) 
besteht. Die Einspritzung findet abends 
statt; die Temperatur wird am folgenden 
Tage morgens 6 und 9, dann um 12 und 
um 3 Uhr nachmittags gemessen. Zeigen 
die Temperaturen nach und vor der In¬ 
jektion eine Differenz von mindestens 1,5°, 
so ist die Diagnose auf Tuberkulose zu 
stellen. Alle Tiere, die in solcher Weise 
reagierten, erwiesen sich bei der Schlach¬ 
tung als tuberkulös bis auf 2—3%. Die 
Methode hat also eine außerordentliche 
Sicherheit. Ihre praktische Anwendung in 
den Quarantänestationen, die an der Nord¬ 
grenze zur Verhütung der Einfuhr tuber¬ 
kulösen Viehs aus Dänemark errichtet 
wurden, stieß aber auf eine große Schwie¬ 
rigkeit. Tritt nämlich bei einem Tiere eine 
Reaktion ein, so gibt dieses Tier nach Ein¬ 
spritzung derselben Dosis in den nächsten 
2—3 Wochen keine Reaktion. Diese Tat¬ 
sache nutzten die Händler aus, indem sie 
den Tieren kurz vor der Einfuhr 0,5 ccm 
Tuberkulin subkutan einspritzten. In den 
Jahren 1899—1905 wurden in den Nord¬ 
quarantänestationen insgesamt 448 353 
Tiere eingespritzt. 1899 reagierten davon 
3,4% und ebenso viel wurden bei der 
nachherigen Schlachtung als tuberkulös er¬ 
mittelt. 1905 dagegen reagierten nur 0,8 %; 


1) Berichterstatter Ober Tuberkulosereferate und 
Diskussion ist Prof. Felix Klemperer. 

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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Mai 


als tuberkulös durch die Schlachtung er¬ 
mittelt aber wurden 24,7 %. Auf Ehrlichs 
Rat versuchte man dieser Täuschung da¬ 
durch zu begegnen, daß zur diagnostischen 
Tuberkulinprobe 2 ccm Tuberkulin sub¬ 
kutan eingespritzt wurden. Dies half je¬ 
doch nur vorübergehend, denn bald wurden 
den Tieren vor der Einfuhr ebenfalls 2 ccm 
eingespritzt. Man stieg auf 4 ccm. Das 
Resultat war, daß die Händler den Tieren 
auch 4 ccm injizierten. Es bleibt nun 
nichts übrig, als die Dosis noch weiter zu 
steigern — was unbedenklich ist, da die 
gesunden Tiere selbst nach kolossalen 
Dosen ganz gesund bleiben, nur ihr Milch¬ 
ertrag wird etwas geringer — oder aber 
mit der Tuberkulinprobe nach der Einfuhr 
3—4 Wochen zu warten. 

Ein Ersatz der gewöhnlichen (subkutanen) 
Tuberkulinprobe, die immerhin unbequem 
und mit nicht unwesentlichen Kosten ver¬ 
knüpft ist, durch die lokalen Proben 
nach v. Pirquet und Wolff-Eisner ist 
beim Tiere nicht möglich. Die kutane und 
die intrakutane Probe haben bis zu 50% 
Fehlergebnisse gegeben, die Ophthalmo¬ 
reaktion nach den Angaben einiger Autoren 
zwar nur 2—7%, nach anderen jedoch 
32% Fehlergebnisse. 

Ueber die Agglutinationsprobe 
liegen sehr widersprechende Angaben vor; 
nach Kochs eigenen Feststellungen aber 
ist sie zur diagnostischen Entscheidung nicht 
zu verwerten, da der Agglutiningehalt auch 
beim gesunden Tiere nicht fehlt und beim 
tuberkulösen in weiten Grenzen schwankt. 
Noch weniger gibt die Präzipitation ein 
diagnostisches Mittel an die Hand. Die 
Untersuchungen über die Komplement¬ 
ablenkung sind noch nicht abgeschlossen; 
sie scheinen aber nach allen bisherigen 
Erfahrungen sehr aussichtsvoll und diese 
Methode wird vielleicht in der Zukunft eine 
entscheidende Bedeutung gewinnen. Vor 
der Hand aber bildet die subkutane Tuber¬ 
kulinprobe unter den oben genannten Kau- 
telen unsere beste Methode zur frühen Er¬ 
kennung der Tuberkulose. 

ln theoretischer Hinsicht stehtSchütz 
auf dem Standpunkt, daß das eingeführte 
Tuberkulin mit einem im Körper des tuber¬ 
kulösen Tieres, im tuberkulösen Herd, sich 
bildenden Gegenkörper, dem sogenannten 
Antituberkulin, unter Komplementbindung 
sich vereinigt. Dieser Prozeß hat zwei 
Wirkungen im Gefolge, Flüssigkeitsver¬ 
mehrung (Durchtränkung) und Chemotaxis 
(Leukozytenanziehung), im pathologisch¬ 
anatomischen Sinne Entzündung. Das Rind 
bildet den Gegenkörper leicht und hat ihn 


im Blute. Die Eutstehung des Fiebers bei 
der Reaktion ist damit nicht erklärt. 

Für die Behandlung der Tuberkulose 
ist die Bangsche Methode, welche die Ab¬ 
schlachtung aller tuberkulösen Tiere und 
Aufzucht der Jungen mit gekochter Milch 
fordert, wegen der zu starken Verbreitung 
der Krankheit nicht durchführbar Es kann 
sich bei uns nur darum handeln, nach 
Ostertags Verfahren alle Fälle von 
offener Tuberkulose durch Tötung aus¬ 
zuscheiden. An den Kosten würde dieses 
Verfahren nicht zu scheitern brauchen, da 
ein Reichsgesetz vom Juni 1909 die Ent¬ 
schädigung des für die Züchter entstehen¬ 
den Verlustes vorsieht. Eine vielleicht un¬ 
überwindbare Schwierigkeit für die Durch¬ 
führung aber liegt in der Diagnose. Nur 
in 3 % wurde trotz gründlicher Unter¬ 
suchung durch geübte Tierärzte die 
Diagnose auf offene Tuberkulose gestellt; 
das Schlachtresultat ergab 10% — bei 7% 
also versagt die klinische Diagnose. 

Die prophylaktische Impfung gegen 
Tuberkulose nach v. Behring mittels 
Bovovakzin (Menschentuberkelbazillen in 
trockenem Zustande; zweimalige Injektion) 
oder nach Koch und Schütz mittels 
Tauruman (Menschentuberkelbazillen in 
feuchtem Zustande, einmal zu injizieren) 
hat keine günstigen Resultate erzielt. Wohl 
wird eine Immunität des Tieres herbei¬ 
geführt, aber dieselbe hält nur 1—2 Jahre 
an und müßte dann wieder erneuert wer¬ 
den. Das ist aber nicht angängig, weil die 
Bazillen mindestens 6 Monate lang im Tier¬ 
körper leben bleiben und mit der Milch 
ausgeschieden werden, so daß die Milch 
und auch das Fleisch zur Verwertung un¬ 
tauglich sind. 

Als zweiter Referent besprach der 
Erlanger Kliniker, Prof. Penzoldt die spe¬ 
zifische Erkennung und Behandlung der 
Tuberkulose beim Menschen. Der spezi¬ 
fische Nachweis des Erregers der Krank¬ 
heit kommt für die Frühdiagnose weniger 
in Betracht, da in den frühesten Stadien 
meist kein Untersuchungsmaterial (Sputum) 
vorhanden ist. Bedeutungsvoller ffcr die 
frühe Erkennung der Tuberkulose ist das 
von Rob. Koch dargestellte Tuberkulin. 
Dasselbe ist als spezifisch anzusehen, trotz¬ 
dem Albumosen (die im Tuberkulin ent¬ 
halten sind) die gleiche Wirkung haben; 
diese aber geben die charakteristische Re¬ 
aktion erst bei weit größeren Dosen, 
praktisch ist Tuberkulin spezifisch. Das 
Tuberkulin ist sicher kein chemisch ein¬ 
heitlicher Körper; als Tuberkulin wird 
es dadurch charakterisiert, daß 0,1 bis 


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Mai 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


229 


0,3 ccm tuberkulöse Meerschweinchen in 
24 Stunden töten; nach der Virulenz der 
Bazillen aber, nach der Herstellung der 
Nährböden usw., von denen das Tuber¬ 
kulin gewonnen wird, ist der Gehalt an 
spezifisch wirksamen Bestandteilen schwan¬ 
kend. 

Zur Tuberkulindiagnostik stehen zur 
Verfügung die kutane, die intrakutane, die 
konjunktivale und die subkutane Methode. 

Die kutane Methode nach v. Pirquet 
gibt eine örtliche Reaktion, doch ist eine 
geringe allgemeine (Fieber-)Reaktion dabei 
möglich. Das Eintreten ausgesprochener 
kutaner Reaktion stellt die Diagnose auf 
Vorhandensein von Tuberkulose fast ab¬ 
solut sicher. Für die Beurteilung nega¬ 
tiver Reaktion aber kommt in Betracht, daß 
auch bei frühester, bei ganz abgeschlossener, 
ferner bei vorgeschrittener Tuberkulose, 
dann bei Meningealtuberkulose, bei gleich¬ 
zeitigem Vorhandensein von Masern und 
bei Tuberkulinfestigkeit die Reaktion aus- 
bleibt. 

Die intrakutane (Stich-) Reaktion hat 
den Vorzug sicherer Dosierung (0,1 mg); 
sie ist die eigentliche örtliche Reaktion. 
Ihre diagnostische Bedeutung ist im posi¬ 
tiven wie im negativen Ausfall die gleiche, 
wie die der kutanen Reaktion. 

Die Ophthalmoreaktion macht vor¬ 
übergehende örtliche Störungen (gefährlich 
ist sie bei genügender Beachtung der 
Wolff-Eisnerschen Vorschriften nicht; be¬ 
denklicher ist ihre Wiederholung); auch 
sie ist nicht ganz eigentlich örtliche Reak¬ 
tion, gelegenüich kommt Fieber vor. Ihre 
Bedeutung wird geschmälert durch ihren 
positiven Ausfall in 30 % bei Typhus, Diph¬ 
therie u. a., durch die Möglichkeit der 
Simulation und die erheblich geringere 
Anwendungsmöglichkeit. 

Bei der subkutanen Methode fehlen 
Schädigungen nicht ganz und die Dosierung 
bereitet sehr große Schwierigkeiten. Sie 
soll deshalb nur da angewendet werden, 
wo sie wirklich zur Entscheidung unum¬ 
gänglich nötig ist Ihr positiver Ausfall 
(jede Temperatursteigerung) spricht fast 
sicher für Tuberkulose; der negative Aus¬ 
fall aber beweist nicht das Fehlen von 
Tuberkulose, wenn er auch mit Wahrschein¬ 
lichkeit für das Fehlen von fortschreitender 
Tuberkulose spricht 

Für die Diagnostik der verschiedenen 
Formen und Lokalisationen der tuberkulösen 
Erkrankung gibt P e n z o 1 d t folgende Regeln: 

1. Bei sichtbaren auf Tuberkulose ver¬ 
dächtigen Veränderungen (der Haut und 


Schleimhäute) sichert nur die nach sub¬ 
kutaner Inj ektion auftretende Herdreaktion 
die Diagnose. Die lokalen Methoden sind 
unzureichend. (Bei verdächtiger Augen¬ 
erkrankung kontraindiziert). 

2. Bei verdächtigen chirurgischen 
Affektionen besagen die lokalen Methoden 
ebenfalls nichts. Die subkutane Probe ist 
kontraindiziert bei Wirbel- und bei Ohr¬ 
erkrankung. Ihr negativer Ausfall gibt 
keine Entscheidung. 

3. Bei meningealer Erkrankung ver¬ 
sagen die lokalen Methoden, die subkutane 
ist kontraindiziert. Erkrankung der serösen 
Häute ist mittelst anderer Methoden leichter 
der diagnostischen Entscheidung zugänglich. 

4) Bei fieberhaften Erkrankungen sind 
nur die lokalen Methoden mit Vorsicht zu 
verwerten; ihr negativer Ausfall sagt mehr, 
als der positive, gibt aber auch keine 
sichere Entscheidung. 

5. Lungenerkrankungen: Die lokalen 
Methoden besagen bei Kindern viel; bei 
Erwachsenen ist die subkutane Probe an¬ 
zuschließen. Es ist nicht angängig, einen 
strengen Unterschied zwischen aktiver und 
inaktiver Tuberkulose zu statuieren. Der 
positive Ausfall der subkutanen Probe 
weist auf größere Neigung des Prozesses 
zum Fortschreiten hin; der negative Aus¬ 
fall läßt einen fortschreitenden Prozeß un¬ 
wahrscheinlich erscheinen; doch müssen 
die klinischen Symptome damit überein¬ 
stimmen, um die Diagnose auf Aktivität 
bezw. Passivität des Prozesses zu sichern. 
Im allgemeinen ist zu sagen, daß die sub¬ 
kutane Methode mehr bietet als die lokalen. 

Die übrigen biologischen Methoden 
(Agglutinationsprüfung, opsonischer Index, 
Komplementablenkung, Anaphylaxieüber¬ 
tragung) sind in ihren Resultaten unsicher 
und für diagnostische Zwecke bisher nicht 
zu verwerten. 

Der Tuberkulinbehandlung steht 
Penzoldt persönlich wohlwollend gegen¬ 
über. Er ist selbst 1890 mit Tuberkulin 
behandelt worden und er verfügt über 
9 weitere Fälle, von denen jetzt nach 
17 Jahren nur 2 gestorben sind, 2 sich re¬ 
lativ gut befinden, die anderen ganz ge¬ 
sund sind. Er verkennt aber nicht, daß die 
Frage nach dem Wert der Tuberkulin¬ 
therapie objektiv sehr schwer zu ent¬ 
scheiden ist 20 verschiedene Tuberkuline 
sind in Gebrauch und werden in verschie¬ 
denster Methodik angewandt — daraus allein 
erhellt schon die Unsicherheit dieser The¬ 
rapie. Als die geeignetsten Präparate sind 
das Alttuberkulin, die Bazillenemulsion und 


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230 Die Therapie der 


das Beraneksche Tuberkulin anzusehen; 
die Hauptschwierigkeit aber ist nicht, wel¬ 
ches Präparat, sondern wie dasselbe an¬ 
gewendet werden soll. Die Einführung per 
os ist wegen der Unsicherheit der Do- j 
sierung und der Beeinträchtigung der Wirk¬ 
samkeit durch die Verdauungsfermente zu 
verwerfen. Bei der subkutanen Injektion ist 
festzuhalten, daß größere Dosen Gefahr 
bringen können und zum Erfolge nicht 
nötig sind; leichtere Reaktionen aber sind 
nie ganz vermeidlich; das Verbleiben auf 
minimalen Dosen hat noch keinen ent¬ 
scheidenden Erfolg erzielt, das einschlei¬ 
chende Verfahren ist zurzeit als das beste 
anzusehen. Penzoldt empfiehlt den Be¬ 
ginn mit 0,1 mg.; die Injektion findet mor¬ 
gens 2 mal wöchentlich (eventl. in längeren 
Pausen; niemals darf die Pause weniger als 
2 mal 24 Stunden betragen) in der langsamen 
Steigerung nach Sahlis Vorschriften 1 ) 
statt. Die absolute Maximaldosis, bis zu der 
gestiegen werden soll, ist unsicher, doch 
ist es kaum nötig, über 0,1 g zu gehen. 
Das Stehenbleiben bei der optimalen Dosis 
im Sinne von Sahli 1 ) hält Penzoldt für 
ratsam. Die Dauer der Behandlung muß 
mehrere Monate betragen; die jahrelange 
Fortsetzung nach Petruschkis Vorschrift 
(Etappenbehandlung) ist empfehlenswert. 

Die Heilwirkung des Tuberkulins 
führt Penzoldt sowohl auf die Anregung 
der Antikörper Wirkung und Giftfestigung 
als auf die Einwirkung auf den Krankheits¬ 
herd (formative Entzündung) zurück. Er 
sieht in der Tuberkulin Wirkung eine Unter¬ 
stützung der natürlichen Heilbestrebungen 
und will sie nur als Unterstützung aller 
bisherigen therapeutischen Methoden an¬ 
gewandt wissen. 

Der Erfolg der Tuberkulintherapie bei 
Lungentuberkulose ist in den initialen 
Fällen der beste, doch ist nicht zu ver¬ 
kennen, daß auch manche initiale Fälle, 
die ganz frisch in Behandlung kommen, 
nicht günstig beeinflußt werden. Auf der 
andern Seite können selbst unheilbare 
Fälle noch Besserung erfahren. Bei fieber¬ 
haften Fällen ist die Beurteilung schwierig; 
daß Entfieberung eintritt, beweist nur die 
Unschädlichkeit der Behandlung. Bei fort¬ 
schreitender Erkrankung im Kindesalter ist 
nach Penzoldts Erfahrungen die Tuber¬ 
kulinbehandlung nicht erfolgreich. — Bei 
den sichtbaren Tuberkulosen (Lupus usw.) 
hat die Tuberkulinbehandlung nur den 
Wert eines Unterstützungsmittels der son¬ 
stigen Therapie und ist sehr selten von 
Erfolg begle itet. Bei chirurgischerTuber- 

l ) cfr. diese Zeitschr. 1909. S. 105 u. 106. 


Gegenwart 1910. Mai 


kulose ist sie nur dann zuzulassen, wenn 
eine konservative Therapie überhaupt rat¬ 
sam ist. Die Tuberkulose der serösen 
Häute ist nach Ablauf des Fiebers nach 
| denselben Regeln zu behandeln, die für 
initiale Lungentuberkulose gelten. Bei 
Darmtuberkulose ist die spezifische Behand¬ 
lung von recht zweifelhaftem Werte, bei 
Meningealtuberkulöse ist sie verboten. 

Von der passiven Behandlung durch 
Serum (Marmorek u. a.) ist ein Nutzen nicht 
erwiesen; jedenfalls steht sie weit hinter 
dem Tuberkulin zurück. 

Penzoldt schließt: Die Tuberkulin¬ 
therapie ist geeignet, die bisherige Thera¬ 
pie wirksam zu unterstützen. Mehr ist 
vorderhand nicht zu sagen; Jahre und 
Jahrzehnte werden vergehen, bis zu 
einem abschließenden Urteil genügendes 
Material gewonnen ist. Die Tuberkulin¬ 
therapie stammt aus dem Laboratorium und 
dieses darf und soll ihr die Richtungslinie 
geben; aber es soll nicht jede neue, theo¬ 
retische kleine Erkenntnis die praktische 
Tätigkeit gleich beeinflussen und ändern 
wollen; an Stelle der bisherigen Extensität 
der Arbeit muß die Intensität treten. Die 
Frage, ob die Tuberkulintherapie bereits 
dem praktischen Arzte gehört, ist nur 
sehr bedingt mit J a zu beantworten. Wohl 
kann jeder Arzt diese Therapie handhaben, 
aber er muß sie erst unter Anleitung eines 
Erfahrenen erlernen. Und nur da darf er 
sie anwenden, wo eine geeignete hygienisch¬ 
diätetische Behandlung und Ueberwachung 
des Kranken möglich ist. Gewöhnlich wird 
dies nur in Kliniken und Anstalten oder 
unter besonders günstigen privaten Ver¬ 
hältnissen möglich sein; eine ambulante 
Behandlung jedenfalls ist ausgeschlossen. 
Nur bei Berücksichtigung dieser Kautelen, 
durch Geduld und Vorsicht kann der gute 
Kern erhalten werden, der nach Penzoldts 
Ueberzeugung in der Tuberkulintherapie 
steckt; ohne sie ist ein neues Fiasko un¬ 
vermeidlich. 

Aus den anschließenden Tuberkulose- 
Vorträgen und der sehr umfangreichen, 
leider vielfach in Einzelheiten zersplittern¬ 
den Diskussion mag hier nur das kurz 
wiedergegeben werden, was zu den prak¬ 
tischen Hauptfragen der Tuberkulin¬ 
diagnostik und -therapie in Beziehung steht. 

In diagnostischer Hinsicht sei er¬ 
wähnt, daß Romberg (Tübingen) den 
größten Wert für die Diagnose auf die Herd¬ 
reaktion in den Lungenspitzen legt; 
er injiziert sukutan in 48stündigen Pausen 
Vio— 5 /io—1—5—10 mg Tuberkulin. Die 
Herdreaktion erkennt er an der Zunahme, 


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Mai 


Die Therapie der 

bezw. am Auftreten von Dämpfung in der 
verdächtigen Spitze bei möglichst leiser 
Perkussion. Bei a /4 seiner positiv reagie¬ 
renden Fälle stellte er die Herdreaktion 
in dieser Weise (ausschließlich perkutorisch) 
fest, nur ein Teil hatte gleichzeitig Rassel¬ 
geräusche; diese waren bald voraber¬ 
gehend, die Dämpfung blieb 12—36 Stunden 
bestehen. — Stintzing (Jena) hält bei 
subkutaner diagnostischer Anwendung des 
Tuberkulins 3 mg für die obere Grenze. 
Die Reaktion nach Gaben bis 3 mg hat 
spezifische Bedeutung, nach höheren Dosen 
nicht mehr. Von der Konjunctivalreaktion 
sah er günstige Resultate, er empfiehlt, sie 
stets vor der subkutanen Probe zu machen. 

Litzner (Schömberg) hält es bei Pa¬ 
tienten mit labilem Nervensystem zur Be¬ 
urteilung der Temperatursteigerung nach 
einer diagnostischen Tuberkulininjektion 
für erforderlich, derselben eine sogenannte 
Injectio vacua voranzuschicken. — Refe¬ 
rent wies darauf hin, daß der Unter¬ 
schied zwischen der Cutireaktion und der 
Ophthalmoreaktion nicht sowohl in der 
Verschiedenheit von Haut und Auge zu 
liegen scheint, als in der verschiedenen 
Konzentration der zu beiden Reaktionen 
verwandten Lösungen. Wenn man neben 
der gewöhnlichen Pirquetimpfung mit un¬ 
verdünntem oder 1 :5 verdünntem Tuber¬ 
kulin eine zweite Cutanimpfung am anderen 
Arm mit Tuberkulin in der Verdünnung 
1:100 vorniromt, so geht die letztere in ihrem 
Resultate stets parallel mit der Ophthalmo¬ 
reaktion. Auf diese Weise kann man die 
Augenimpfung, die zwar ungefährlich, doch 
immerhin oft unbequem ist, sich ersparen. 
Im übrigen glaubt Referent nicht, daß man, 
wie Wolff-Eißner meint, durch ver¬ 
gleichende Haut- und Augenimpfung aktive 
und latente Prozesse von einander trennen 
könne. Er sah vielfach Patienten, beson¬ 
ders Kinder mit tuberkulösen Drüsen, die 
deutlich am Auge — und ebenso am Arm 
nach Cutanimpfung 1 : 100 — reagierten 
und sicher nach Befund und Verlauf nicht 
aktiv tuberkulös waren. — Auch Sahli 
(Bern) empfiehlt, die Lokalreaktion abzu¬ 
stufen durch Verdünnung des Tuberkulins 
bis Viooo- Der Ausfall gewährt einen An¬ 
haltspunkt für die Tuberkulinempfindlich¬ 
keit des Patienten, welcher für die Bestim¬ 
mung der therapeutischen Dosierung von 
Wert sein'kann. — Jessen (Davos) hält 
die Lokalreaktionen für relativ wertlos. Er 
weist auf die Diagnose durch den Nach¬ 
weis von Tuberkelbazillen im Blute hin, 
die auch in frühen Fällen gelegentlich 
gelingt. 


Gegenwart 1910. 231 


In therapeutischer Hinsicht verdienen 
die Mitteilungen Jochmanns (Berlin) Be¬ 
achtung, auf dessen Abteilung im Rudolf 
Virchow-Krankenhause Koch seine klini¬ 
schen Beobachtungen fortsetzt. Joch¬ 
mann beginnt die Behandlung mit Alt¬ 
tuberkulin, meist mit 1 mg; unter Vermei¬ 
dung stärkerer Reaktionen wird in 3 tägigen 
Pausen bis 10 mg, dann weiter in längeren 
Pausen bis zur Höchstdosis von 1 ccm ge¬ 
stiegen. Bei 300— 500 mg verschwindet 
gewöhnlich die Pirquet-Reaktion. Es folgt 
die Behandlung mit Bazillenemulsion, be¬ 
ginnend mit Vioo mg, steigend in Intervallen 
von 5—8 Tagen bis 10 mg; dabei ver¬ 
schwindet auch die Kutanreaktion auf BE 1 ). 
Auch dieser zweite Teil der Behandlung 
ist möglichst fieberlos durchzuführen; ge¬ 
legentlich treten nach den Injektionen In¬ 
filtrate, selbst ein Abszeß ein. Die Erfolge 
dieser Therapie sind bei Drüsentuberkulose 
der Kinder und Skrophulose sehr gute, 
bei Knochentuberkulose nicht deutlich. Bei 
der Lungentuberkulose der Säuglinge 
wurden ungünstige Erfahrungen gemacht, 
bei der der Erwachsenen überwiegend gute. 

Schloßmann (Düsseldorf) empfiehlt die 
allerkleinsten Anfangsdosen, event. noch 
weniger als Vioo mg, dann aber Ansteigen 
bis weit über die bisher gebräuchliche 
Höchtdosis von 1 ccm. Auf diese Weise 
hat er bei kleinen Kindern außerordentlich 
gute Resultate erzielt. 

F. Klemperer wies bezüglich der bio¬ 
logischen (immunisierenden, entgiftenden) 
Wirkung des Tuberkulins darauf hin, daß 
es von allen bisher bekannten Antikörpern 
erwiesen oder doch sehr wahrscheinlich ist, 
daß sie gar keine Beziehung zu dem Heilungs¬ 
prozeß haben. Anders steht es mit der 
lokalen, der sogen. Herdwirkung. Diese 
kann nützlich wirken, indem sie zu forma- 
tiver Entzündung um den Krankheitsherd, 
zum Abschluß desselben führt Sie kann 
aber auch schaden — indem sie den Herd 
erweicht, aufrührt, verbreitet — und wir 
haben es nicht sicher in der Hand, die 
Wirkung nach der einen oder anderen 
Richtung zu leiten. Darum bleibt die 
Tuberkulintherapie stets eine zweischneidige 
Waffe. Darum sind aber auch mindestens 
leichte lokale Reaktionen notwendig; ganz 
ohne Reaktion — im Sinne Sahlis — 
kann die Behandlung auch nichts nutzen. 
Einige wenige Fälle werden auf diese Weise 
der Heilung zugeführt. Das Gros der Fälle 
aber, die angeblich durch Tuberkulin ge¬ 
heilt werden, sind nur unter der Behand¬ 
lung, nicht durch dieselbe geheilt. Es 

x ) cf. diese Zeitschr. 1910, S. 31. 


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2S2 


Mai 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


sind das Fälle, die in derselben Zeit auch 
ohne das Tuberkulin geheilt wären, denen 
aber doch wohl noch eine Wirkung des 
Tuberkulins zu gute kam, die fraglos als 
dritte neben der biologischen und der 
Herdwirkung besteht, d. i. die Suggestiv¬ 
wirkung. 

Sahli (Bern) hält es für den größten 
Fortschritt, daß die Behandlung ohne 
Reaktion durchgeführt wird. In theoreti¬ 
scher Hinsicht glaubt auch er, daß die Anti¬ 
körper überschätzt werden, und er schreibt 
jetzt neben der Giftfestigung der Reiz¬ 
wirkung eine größere Bedeutung zu (womit 
er die Bedeutung der Herdwirkung aner¬ 
kennt, nur daß er sie unter der Schwelle 
klinischer Wahrnehmbarkeit gehalten wis¬ 
sen will!). Er empfiehlt das B e r a n e k sehe 
Tuberkulin, das von eiweißarmen Nähr¬ 
medien stammend, von geringerer Giftigkeit 
sein soll. Ein dankbares Objekt für die 
Tuberkulintherapie bietet die Urogenital¬ 
tuberkulose in ihren Anfangsstadien. 

Stintzing (Jena) bekennt sich als Freund 
der Tuberkuiintherapie. Bei Lupus hat 
dieselbe keine Erfolge gehabt und ist längst 
aufgegeben. Auch bei Darm- und Peri¬ 
tonealtuberkulose sind die Resultate sehr 
wenig befriedigende, bei Urogenitaltuber¬ 
kulose dagegen gute, z. T. glänzende. 

v. Jaksch (Prag) steht der Tuberkulin¬ 
therapie ablehnend gegenüber; er hat sich 
nicht davon überzeugen können, daß er 
seinen Patienten mit derselben irgendwie 
genutzt hat. Auch Rumpel (Hamburg) ist 
skeptisch; einen eindeutigen, entscheiden¬ 
den Erfolg hat er niemals gesehen. Er 
empfiehlt, jeden Fall erst mit allen diäte¬ 
tisch-physikalischen Faktoren, Freiluftkur 
usw., zu behandeln und nur, wenn alle 
Mittel erschöpft sind, es mit Tuberkulin 
in vorsichtiger Form zu versuchen. — 

Eine ähnliche Stellung nimmt Jessen 
(Davos) ein, der es im allgemeinen für 
besser hält, ohne Tuberkulin zu behandeln;? 
bei scheinbar tuberkulingeheilten Fällen 
sind später schwere Rezidive eingetreten. 
Führt die Allgemeinbehandlung nicht zum { 
Ziele und wird Tuberkulin nötig, so em¬ 
pfiehlt Jessen eine milde Behandlung 
ohne große Dosen. Demgegenüber treten 
Edm. Meyer (Berlin), der das sensibili¬ 
sierte Tuberkulin (F. Meyers Serovaccin- 
Höchst) bei Kehlkopftuberkulose mit Erfolg 
anwandte, Rothschild (Soden), welcher 
mit polygener Bazillenemulsion behandelt 
und die Steigerung der Dosen, die nur zur 
Gewöhnung führt, als überflüssig verwirft, 
Landmann (Leipzig), der sein Tuberkulol 
in minimalen Dosen und längeren Pausen 


(von 8—21 Tagen) injiziert, u. a. wärme# 
für die Tuberkulintherapie ein. — Clemens 
(Chemnitz) spricht de$n Tuberkulin eine 
spezifisch antifebrile Wirkung #u. 

Die Frage, ob die Tuberkulinbehand* 
lung schon für die ärztliche Praxis 
reif sei, wurde mehrfach verneint, so von 
Sobotta (Görbersdorf), Jessen (Davos) 
und von Stintzing (Jena), welcher vor der 
ambulanten Behandlung, die er als sehr 
gefährlich bezeichnet, geradezu warnt 
Erst wenn ein Patient 6—10 Wochen in 
der Klinik, im Krankenhaus oder ähnL 
beobachtet, wenn die Reaktionsgrenze fest¬ 
gestellt sei, dürfe er sekundär vom Arzte 
zu Hause weiterbehandelt werden. Auch 
Meinertz, der über die Erfahrungen der 
Rostocker Klinik berichtete, empfiehlt dem 
praktischen Arzte große Zurückhaltung 
gegenüber der Tuberkulintherapie, wäh¬ 
rend Jochmann der ambulanten Behand¬ 
lung weniger ängstlich gegenüber steht und 
Sahli in ihr geradezu die Zukunft der 
Tuberkulintherapie sieht. 

In diesem Punkte, wie in vielen anderen 
gingen die Meinungen ziemlich auseinander. 
Im allgemeinen aber schien die Versamm¬ 
lung einer mittleren Stellung zuzuneigen, 
wie sie Penzoldt auch in seinem Schlu߬ 
wort einnahm, in welchem er sich als vor¬ 
sichtigen Anhänger der Tuberkulintherapie 
bekannte, ihrer allgemeinen Ausbreitung 
gegenüber aber noch Zurückhaltung zu 
üben anriet. 

Das zweite Referat über sekundär* 
Anämien und ihre Behandlung wurde von 
Gerhardt (Basel) erstattet. Es behandelte 
diejenigen Anämien, welche sich an vorher¬ 
gegangene Krankheiten anschließen, oder 
durch dem Körper innewohnende Schädlich¬ 
keiten (wie z.B. Eingeweidewürmer) bedingt 
wird. Die Butarmut kann dadurch zustande 
kommen, daß die Blutflüssigkeit des Körpers 
im ganzen vermindert sein kann, oder daß 
die Zahl der roten Blutkörperchen herab¬ 
gesetzt ist, oder auch daß der Blutfarbstoff 
in den roten Blutkörperchen nicht in ge¬ 
nügender Menge vorhanden ist Die Blut¬ 
armut, die sich an große Blutungen und 
Blutverluste anschließt, wird vom gesunden 
Organismus in einigen Wochen repariert 
von einem erschöpften Organismus aber 
viel langsamer, besonders wenn die Blut¬ 
verluste sich häufiger wiederholt haben; 
das Knochenmark kann dann die Fähigkeit 
verlieren, denVerlust wieder zu ersetzen. Es 
ist deshalb genau zu unterscheiden, ob nur 
ein vermehrter Untergang der roten Blut¬ 
körperchen stattfindet, oder ob zugleich 
eine verminderte Neubildung durch Funk- 


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Mai 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


233 


tionsschädigung der blutbildenden Organe 
vorhanden ist. Dies letztere dürfte der 
Fall sein bei vielen Leuten der arbeitenden 
Klasse, bei denen infolge mangelhafter Er- 
n^hrung, sowie des Mangels an Licht und 
Luft eine verminderte Blutbildung zur Blut¬ 
armut führt. Für die Blutbildung ist eine 
genügende Eisenzufuhr, sowie ein geregel¬ 
ter Eisenstoffwechsel unbedingt notwendig. 
Bei Kindern besonders kann durch man¬ 
gelnde Eisenzufuhr Anämie entstehen, und 
auch Säuglinge, die zu lange Zeit nur mit 
Milch ernährt worden sind, werden leicht 
blutarm und man muß ihnen eisenhaltige 
Nahrung zuführen. Auch die perniziöse 
Anämie scheint durch gestörte Eisenresorp¬ 
tion zustande kommen zu können, indem 
bei Erwachsenen durch Achylia gastrica 
die Eisensalze unlöslich bleiben. Schwere 
Anämien kommen nach Infektionskrank¬ 
heiten leicht vor, besonders nach Malaria 
und Sepsis; die Tuberkulose führt nur in 
extremsten Fällen, besonders durch Amy¬ 
loid, zu einer schweren Blutarmut. Da¬ 
gegen findet sie sich häufig bei Krebs¬ 
kranken, und wenn die Krebsgeschwulst 
auf das Knochenmark übergreift, so erfährt 
das Blut eine Umwandlung, die dem des 
Embryonallebens entspricht. Auch Schwan¬ 
gerschaft und Wochenbett können zu 
schwerer Blutarmut führen. Unter den Er¬ 
krankungen einzelner Körperorgane, welche 
Anämie bedingen, sind Lebererkrankungen 
und die sogenannte Ban tische Milz¬ 
erkrankung zu nennen. Eine Gruppe 
für sich bilden die Anämien nach Ver¬ 
giftungen; als wesentlichste Blutgifte kom¬ 
men in Betracht chlorsaures Kali, Anilin, 
Nitrobenzol, Pyrogallol. Man sieht dann 
die an das embryonale Blut erinnernden 
Formen und kommt infolgedessen zu der 
Frage, ob nicht auch sonst, wenn solche 
Formen auftreten, es sich um Vergiftung 
handelt, z. B. um Vergiftung durch Stoffe, 
die sich im Darme erst gebildet haben, 
oder, wie bei gewissen Bandwürmern, durch 
Verdauung abgestorbener Bandwurmteile. 
Man hat aus Bandwurmgliedern Extrakte 
dargestellt und dabei lipoide Stoffe ge¬ 
funden, besonders Oelsäureverbindungen. 
Spritzt man solche Extrakte Tieren ein, 
so kann man schwere Anämien hervor* 
rufen. Die abgestorbene Schleimhaut des 
Menschen enthält ebenfalls solche Lipoide, 
man kam daher auf den Gedanken, daß 
die sekundäre Anämie des Menschen durch 
Verdauung abgestorbener Schleimhautteile 
bewirkt werde. Sichergestellt sind diese 
Anschauungen aber noch nicht. 

Unter den Behandlungsmitteln steht in 


! erster Reihe das Eisen, das nicht nur auf 
I die Chlorose, sondern auch auf die sekun¬ 
dären Anämien sehr günstig einwirkt. 

I Ebenso bewährt sich das Arsen, sowohl in 
anorganischen als den neuen organischen 
Verbindungen. Ob die Höhenluft durch 
allgemeine Kräftigung oder die Vermehrung 
der Blutkörperchenzahl wirke, sei zweifel¬ 
haft. Die Kuhn sehe Saugmaske scheine 
in ähnlichem Sinne zu wirken. Bluttrans¬ 
fusionen, sowohl intravenöse wie subkutane, 
hätten oft nur vorübergehende Wirkungen 
gezeigt, die Injektionen von Blutserum 
seien unsicher. 

Die Diskussion brachte nur wenig Er¬ 
gänzungen des ausgezeichneten Referates 
So wurden die Anämien nach Gelenk¬ 
rheumatismus und Nephritis erwähnt, 
zur Differentialdiagnose der Ban tischen 
Krankheit wurde die Milzpunktion empfoh¬ 
len. Für häusliche Arsentherapie wurde 
auf die neue Dürkheimer Maxquelle auf¬ 
merksam gemacht. Die subkutane Bluttrans¬ 
fusion fand viele Lobsprecher. Ein großer 
Teil der Diskussion drehte sich um die 
ätiolbgische Bedeutung der Oelsäure, die 
fast durchgehend zurückgewiesen wurde. 
Auch die Möglichkeit des protozoären Ur¬ 
sprungs der perniziösen Anämie wurde 
-Jiervorgehoben und durch die Analogie zu 
der sicher protozoären Kala-azar wahr¬ 
scheinlich gemacht. In dieser Analogie 
findet die Anwendung der neuen hoch- 
wirksamen Arsenpräparate ihre starke 
Stütze. Auch auf die Wasseranreicherung 
der Gewebe bei vielen Anämien wurde 
hingewiesen und daraus die Berechtigung 
zu wasserarmer Diät sowie Schwitzkuren 
hergeleitet. Desgleichen wurden systema¬ 
tische Atemübungen empfohlen, da die 
Anämischen oft oberflächlich atmen. Her¬ 
vorzuheben sind die Mitteilungen Schau¬ 
manns, der auf Grund seiner Beob¬ 
achtungen für die Botryozephalusanämie 
eine besondere Disposition als notwendig 
erklärte. 

Rein therapeutischen Inhalts waren die 
Mitteilungen Ehrlichs und seines japani¬ 
schen Mitarbeiters Hata über ein neues 
Arsenpräparat zur Bekämpfung der Proto¬ 
zoenkrankheiten. Bekanntlich hat Ehrlich 
zuerst das Arsacetin, dann das Arseno- 
phenylglycin dargestellt und mit diesen 
Präparaten im Tierversuch Abtötung der 
Spirochäten ohne Schädigung des erkrank¬ 
ten Tiers erreicht; als diese Mittel bei 
menschlichen Protozoenkrankheiten, bei 
Schlafkrankheit, Rekurrens und Syphilis 
versucht wurden, zeigten sie zwar auch 

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234 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Mai 


unverkennbare Wirkungen, aber es waren 
allzu große Dosen erforderlich, die zu be¬ 
denklichen Vergiftungserscheinungen führ¬ 
ten. Insbesondere traten manchmal schon 
nach mäßigen Gaben der neuen Mittel un¬ 
heilbare Optikusatrophien auf, sodaß diese 
Präparate für die Bekämpfung der mensch¬ 
lichen Protozoenkrankheiten kaum geeignet 
erscheinen. Einen neuen verheißungsvollen 
Schritt auf der der Forschung eröffneten 
Bahn bedeutet das neue Präparat, welches 
die Nummer 606 trägt — man kann daraus 
erkennen, mit welcher Energie und mit 
welchen Mitteln im Ehrlichschen Institut 
gearbeitet wird. Chemisch charakterisiert 
sich das neue Mittel als Dioxydiamido- 
diarsenobenzol. Wie Dr. Hata berichtete, 
entfaltet es in der Sterilisierung des Tier¬ 
körpers bei verschiedenen Spirillosen ganz 
ausgezeichnete Erfolge. Inzwischen ist es 
von Iversen in Petersburg bei Rekurrens 
mit vorzüglicher Heilwirkung angewandt 
worden. In Deutschland hat es Alt in der 
Irrenanstalt in Uchtspringe bei luetischen 
Paralytikern angewandt; die Anwendungs¬ 
weise geschah so, daß 0,3 g des Präparats 
in 20 ccm alkalischen Wassers gelöst, auf 
einmal in die Glutäen eingespritzt wurde. 
Die Injektion ist schmerzhaft, aber sie 
braucht nicht wiederholt zu werden. Alt 
erzielte den Effekt, daß in vielen Fällen 
die vorher positive Wassermannsche 
Reaktion nach einiger Zeit verschwand. 
Auf dem Kongreß berichtete nun Schreiber 
(Magdeburg) im Anschluß an die Hataschen 
Tierversuche, daß er das Diarsobenzol in 
100 Fällen von frischer Syphilis mit über¬ 
raschendem Erfolg angewandt hatte; die 
Sekundärerscheinungen seien in auffallen¬ 
der Weise danach zurückgegangen. Auch 
Schreiber hat nur je eine Einspritzung 
von 0,3 g gemacht, die mäßige lokale und 
fieberhafte Reaktionen verursacht hätten. 
Natürlich ist die Zeit noch viel zu kurz, 
um über die endgültige Beeinflussung der 
syphilitischen Infektion etwas aussagen zu 
können, auch kann natürlich noch nicht 
beurteilt werden, ob sich nicht doch noch 
giftige Nebenwirkungen der allgemeinen 
Einführung des neuen Präparats entgegen¬ 
stellen werden. Daß aber die Forschungs¬ 
richtung, welche uns früher oder später 
ein unfehlbares Heilmittel der Syphilis lie¬ 
fern wird, mit allen Kräften zu fördern ist, 
darüber kann wohl kein Zweifel sein. 
Ehrlich selber sprach einige Worte über 
die Giftigkeit der neuen Heilsubstanzen 
und verglich die Anwendung derselben mit 
den lebensgefährlichen Operationen der 
Chirurgen, welche die Gefahren der Krank¬ 


heit und des Eingriffs gegeneinander abzu¬ 
wägen hätten. Diese Erwägung trifft zwei¬ 
fellos zu bei unbedingt tödlichen Krank¬ 
heiten. Man würde bei inoperablen Kar¬ 
zinomen oder bei perniziöser Anämie gern 
Heilmittel an wenden, die bei großen Chancen 
des Erfolges geringe Vergiftungsgefahr 
einschließen. Aber bei an sich nicht tod¬ 
bringenden Krankheiten, wie Rekurrens 
und Syphilis, muß die vollkommene Un¬ 
gefährlichkeit des Heilmittels gefordert 
werden. 

Hiernach berichte ich die Vorträge über 
die epidemische spinale Kinderlähmung» 
welche von Krause (Bonn), Meinicke 
(Hagen) und Römer (Marburg) gehalten 
wurden. Krauses Beobachtungen er¬ 
strecken sich auf 633 Fälle. Die Krankheit 
mit den auf Veränderungen des Rücken¬ 
marks beruhenden Lähmungen wurde zu¬ 
erst 1840 in ausgezeichneter Weise von 
Jacob v. Heine in Stuttgart beschrieben. 
Die mit dem Gehirn zusammenhängende 
Form beschrieb zuerst Eisenlohr. Die 
westfälischen Erfahrungen haben wiederum 
gezeigt, daß das erste und zweite Lebens¬ 
jahr am meisten betroffen werden, ver¬ 
einzelt erkranken auch Erwachsene. Mit 
Pockenimpfung und Zahnen hat die Krank¬ 
heit nichts zu tun. Am meisten erfolgt die 
Uebertragung von Mensch zu Mensch, ohne 
daß die übertragenden Personen selbst zu 
erkranken brauchen. Sehr merkwürdig ist, 
daß zu gleicher Zeit durch ganz Rheinland 
und Westfalen ein großes Hühner- und 
Kaninchensterben beobachtet wurde, auch 
unter Lähmungserscheinungen. Etwas Ge¬ 
naues über die Zusammenhänge weiß man 
aber nicht. Man kann bei der Krankheit 
drei Stadien unterscheiden, zuerst Allge¬ 
meinsymptome verschiedener Art häufig 
fieberhafter, oft gastrischer Natur, dann die 
Lähmungen, die meist sehr umfangreich 
sind, sodann das Stadium des Abfalls, in 
dem ein großer Teil der gelähmten Muskeln 
wieder gesund wird. In etwa 25 v. H. der 
Fälle kamen Heilungen vor, zweimal Rück¬ 
fälle. Das epidemiologische Studium ergab, 
daß die Seuche fast ausschließlich von 
Mensch zu Mensch verbreitet wurde und 
zwar sowohl durch an der Krankheit lei¬ 
dende Personen als durch Rekonvaleszenten 
von der Krankheit sowie insbesondere auch 
durch klinisch gesunde Zwischenträger. 
Das ätiologische Studium der Seuche konnte 
einen zu der Klasse der leicht züchtbaren 
und leicht färberisch darstellbaren Bakterien 
gehörigen Erreger ausschließen. Das Gift 
gleicht in seinen Eigenschaften auffallend 
dem der Hundswut. So wurde festgestellt. 


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Mai Die Therapie der 


daß es mit Sicherheit nur im lebenden 
Körpsr (Affe) züchtbar ist, daß es vorläufig 
unsichtbar ist, daß es zur Klasse der so¬ 
genannten filtrierbaren Mikroorganismen 
gehört, daß es sich um ein gegen Aus¬ 
trocknung, gegen niedrige Temperaturen, 
gegen Glyzerineinwirkung äußerst wider¬ 
standsfähiges, für höhere Temperaturgrade 
(55 Grad) aber sehr empfindliches Gift 
handelt. Als Versuchstier für tierexperi¬ 
mentelle Studien kommt im wesentlichen 
nur der Affe in Betracht. Mäuse, Ratten, 
Meerschweine, Rinder, Schafe, Ziegen, 
Pferde, Schweine, Katzen, Hunde, Geflügel 
sind gegen das Gift unempfindlich. Die 
wahrscheinliche Eingangspforte sind die 
lymphatischen Aufnahmeapparate im Nasen - 
Rachenraum und Magen-Darmkanal. Von 
der Eintrittspforte aus findet rasch Kon¬ 
zentration des Giftes nach dem Zentral¬ 
nervensystem hin statt, zu dem es offenbar 
besondere Beziehungen besitzt. Von der 
Eintrittsstelle aus findet die Verbreitung 
nach dem Zentralnervensystem hin wahr¬ 
scheinlich auf dem Lymphwege oder auf 
dem Blutwege statt. Für die hygienische 
Bekämpfung empfiehlt sich tunlichste Ver¬ 
meidung des Kontaktes mit an Kinder¬ 
lähmung erkrankten Personen und ihrer 
Umgebung, sorgfältige Mundpflege sowohl 
bei den Erkrankten, den Rekonvaleszenten 
und ihrer Umgebung als auch — zu prophy¬ 
laktischen Zwecken — in Epidemienzeiten 
bei den Gesunden; Desinfektion der Ab¬ 
gänge der erkrankten Personen, Formalin- 
Wohnungsdesinfektion. Das Ueberstehen 
der natürlich erworbenen oder experi- | 
mentell erzeugten Kinderlähmung hinterläßt 
spezifische Immunität, ein für das Ver¬ 
ständnis einiger epidemiologischer Tat¬ 
sachen wichtiger Befund. Aussichten auf 
eine spezifische Prophylaxe durch Schutz¬ 
impfung bietet die experimentell nachge¬ 
wiesene künstliche Immunisierungsmöglich¬ 
keit von Affen gegen für Kontrollaffen 
rasch tödliche Infektion. Von solchen wirk¬ 
samen Immunisierungsverfahren sind bisher 
beschrieben worden: subkutane Injektion 
getrockneten Giftes; für praktische Zwecke j 
ist dies aber zu gefährlich, da es sich um 
gelegentlich Lähmungen veranlassendes Gift 
handelt, Immunisierung mit durch Hitze 
abgeschwächtem oder mit karbolisiertem 
Giftstoff und Immunisierung durch Injektion 
einer unschädlichen Mischung von Gift und 
antikörperhaltigem Serum. Das Serum 
immunisierter Affen enthält spezifisch wirk¬ 
same Antikörper, die das Gift der epide¬ 
mischen Kinderlähmung bei Mischung im 
Reagensglas seiner Infektionseigenschaften 


Gegenwart 1910. 235 


berauben. Indessen sind noch keine Er¬ 
fahrungen über den Heil- oder Schutzwert 
dieses Serums gewonnen. 

Römer demonstrierte eine Reihe von 
Photographien von Affen, die an Kinder¬ 
lähmung durch künstliche Uebertragung 
des Giftes erkrankt waren, und besonders 
die kinematographischen Bilder dieser Affen 
erregten das lebhafteste Interesse. 

Geh. Rat v. Leube, jetzt wohl der ver¬ 
ehrte Nestor des Kongresses, sprach über 
„die Beharrungstendenz der Zellt&tigkeit 
und ihre Beziehungen zur Pathologie 1 *. Die 
Körperzelle hat die Tendenz, in ihrer Tätig¬ 
keit zu verharren (Tenazität der Zelle), das 
gilt auch für den Fall, daß durch neue 
Reize die Zelle zu einer ungewohnt neuen 
Tätigkeit angeregt wird. Diese Ueberlegung 
ist wichtig bei der Antikörperbildung gegen 
Infektionsprozesse, für die Dauer der Im¬ 
munität bei Immunisierungen, für die gerin¬ 
gere Intensität der Rezidive. Zusammen¬ 
hängend hiermit ist auch die Frage, ob das 
Fieber bei Infektionen als ein für den 
Körper nützlicher oder schädlicher Vor¬ 
gang anzusehen sei. Heiße Bäder, die die 
Temperatur auf 40° beim Menschen für 
längere Zeit brachten, erwiesen sich von 
gutem Einfluß auf den infektiösen Prozeß, 
und es waren auch objektiv vermehrte 
Antikörper im Blut nachzuweisen. Als 
praktisches Resultat hieraus dürfte sich er¬ 
geben, daß ein nicht zu hohes Fieber nicht 
unter allen Umständen bekämpft werden 
muß. 

Geh. Rat Quincke, der nach Nieder- 
| legung seines klinischen Lehramts in Kiel 
nunmehr in Frankfurt wissenschaftlicher 
Arbeit lebt, berichtete Experimentelles zur 
Frage der Luftdruck - Erkrankungen. 
Bei den Bauten, die im laufenden oder 
Grundwasser aufgeführt werden müssen, 
wird das wasserhaltige Erdreich durch 
Preßluft unter hohem Druck zurückgedrängt. 
Die Arbeiter, die sich in dieser Luft auf¬ 
halten müssen, zeigen oft Erkrankungen 
des Nervensystems und andere Erschei¬ 
nungen, die als Caisson-Krankheit bekannt 
sind. Den Ursachen dieser Erkrankung 
ist Quincke nachgegangen, und er fand, daß 
die Körpergewebe den Stickstoff viel ge¬ 
ringer an sich reißen als das Wasser, und 
im Körper selbst nimmt die Hirn Substanz 
und das Fettgewebe sechsmal mehr Stick¬ 
stoff auf als das Muskelgewebe. Weil das 
Gehirn und das Rückenmark schwach mit 
Blut durchflutet wird, wird der Stickstoff 
nur schwer daraus entfernt, und er gibt 
die Veranlassung zu den Erscheinungen 
von seiten des Zentralnervensystems. 

30 * 


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236 Die Therapie der Gegenwart 1910. Mai 


Plesch (Berlin) empfiehlt zur Verhütung 
der Preßluft-Erkrankungen, nur die Hälfte 
des bisher angewandten Druckes anzu 
wenden und zu der Luft in den Caissons 
Kohlensäure zuzuleiten. Die Atmung und 
damit die Zirkulationsgeschwindigkeit wird 
dadurch beschleunigt und der Organismus 
von dem Stickstoff befreit. 

Aus dem Gebiet der Stoffwechselerkran¬ 
kungen seien die Untersuchungen von 
Gudzent aus der Hisschen Klinik über die 
Einwirkung der Radiumemanation auf 
die Gicht hervorgehoben. Gudzent konnte 
nachweisen, daß nach geeignet applizierten 
Radiumbädern das sonst stets im Blut der 
Gichtiker nachweisbare Natriuriurat in 
zwei Fällen von Gicht verschwandt. Dies 
ist eine außerordentlich wichtige Feststel¬ 
lung, deren wissenschaftlich bedeutsamen 
Charakter His noch besonders hervorhob. 
Ob nun die Radiumbäder auf den die 
Harnsäurestauung bedingenden Prozeß ein¬ 
wirken und also wirkliche Gichtheilung her¬ 
beiführen, muß in weiteren Versuchen fest¬ 
gestellt werden. Ins theoretische Gebiet 
führten die Mitteilungen von Umber 
(Altona), welcher Gesunden wie Gicht¬ 
kranken Lösung einer Harnsäure-Piperazin¬ 
verbindung intravenös injizierte. Er konnte 
feststellen, daß die Gesunden die Harn¬ 
säure fast ganz ausschieden, während die 
Gichtkranken große Mengen retinierten. 
Die Bedeutung dieser Versuche für das 
Problem des Wesens der Gicht wurde in 
einer lebhaften Diskussion erörtert, ohne 
daß die Anhänger entgegengesetzter An¬ 
schauungen zur Einigung gelangten. 

In bezug auf den Diabetes hat der Kon¬ 
greß praktisch verwertbare Ergebnisse nicht 
gezeitigt. Vielversprechend ist eine von 
Reicher und Stein angegebene neue Me¬ 
thode zur Bestimmung des Blutzucker¬ 
gehaltes. welche an sehr kleinen Blutmengen 
genaue Resultate ergibt. Reicher stellte 
mit dieser Methode fest, daß im Blute nicht 
immer die gleiche Menge Zucker verhanden 
ist, wie man bisher stets glaubte, sondern 
daß im nüchternen die kleinste Menge 
Zucker im Blute sich findet, nach Zucker¬ 
nahrung aber die Blutzuckermenge steigt, 
dann wieder abfällt. Zuckerkranke besitzen 
unter allen Umständen viel mehr Zucker 
im Blute als gesunde Menschen, nach 
Zuckernahrung steigt bei ihnen auch der 
Blutzuckergehalt viel höher an als beim Ge¬ 
sunden. Ebenso ist die Verbrennung des 
Zuckers beim Zuckerkranken gegenüber 
dem gesunden Menschen bedeutend ver¬ 
langsamt. Es ist zu hoffen, daß aus den 
Aufschlüssen, welche die neue Methodik 


geben wird, auch für die Prognose und 
Therapie des Diabetes Früchte erwachsen 
werden. 

Von Porges (Wien) wurde mitgeteilt, 
daß nach doppelseitiger Exstirpation der 
Nebennieren das Glykogen aus der Leber 
verschwinde. Es wäre möglich, daß die 
Adynamie bei Addisonscher Krankheit auf 
diesem Glykogenschwund beruhe, man sollte 
also hierbei reichliche Kohlehydrate in der 
Nahrung zuführen. 

In seinem Vortrag über Hormone (Reiz¬ 
stoffe innerer Sekretion) sprach Zülzer 
speziell über das Nebennierenextrakt. Ad¬ 
renalin verursacht Zuckerausscheidung und 
Blutdruckerhöhung. Durch Z ü 1 z e rs Unter¬ 
suchungen ist wahrscheinlich gemacht, daß 
beide Wirkungen von derselben Molekül¬ 
gruppe hervorgerufen werden. Sobald man 
nämlich auf das Adrenalin das Extrakt der 
Bauchspeicheldrüse einwirken läßt, das eine 
antagonistische Bedeutung hat, so wurde 
nicht nur diese Zuckerausscheidung unter¬ 
drückt, sondern das so gewonnene Adre¬ 
nalin rief eine dauernde Verbesserung 
des Kreislaufs hervor, während durch das 
gewöhnliche Adrenalin zwar eine vorüber¬ 
gehende Kreislauf Verbesserung bewirkt 
wird, die indessen schnell einer Ver¬ 
schlechterung (Blutdruckabfall und Collaps- 
puls) Platz macht. Das neu verwendete 
Adrenalin stellt also ein besseres Mittel zur 
Regulierung der Herztätigkeit dar als das 
bisher gebrauchte. Zülzer ist überhaupt 
der Ansicht, daß das Adrenalin nur in 
dieser Form in unserem Organismus kreist. 

Aus den Vorträgen über die Ver¬ 
dauungskrankheiten hebe ich die Mit¬ 
teilung von Curschmann jun. (Mainz) 
hervor, welcher festgestellt hat, daß die 
Salzsäurebestimmung nach den reizlosen 
Probefrühstücken und Mahlzeiten, besonders 
bei nervösen Personen, nicht die richtigen 
Werte angibt. Wenn man eine Mahlzeit 
zusammenstellt, die sowohl dem örtlichen 
als auch persönlichen Geschmack entspricht, 
werden andere Salzsäurewerte gefunden. 
Baumstark (Homburg v. d. H.) hat nach¬ 
geprüft, ob die Meinung zu Recht besteht, 
daß Bindegewebe nur im Magen aufgelöst 
wird; er konnte im Hundeversuch fest¬ 
stellen, daß die Lösung bis zur Mitte des 
Dünndarms stattfindet. 

Bei den Versuchen von Vogt hat sich 
gezeigt, daß nach Milzexstirpationen die 
Pepsinausscheidung aufhört, daß indessen 
nach einiger Zeit infolge der vikarierenden 
Lymphdrüsentätigkeit sich die Pepsinaus¬ 
scheidung wieder einstellt und bis fast an 
die Normgrenze ansteigt. 


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Mai 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


237 


Elsner (Berlin) und Löning (Halle) 
zeigten Bilder der Magenschleimhaut, welche 
mit ihren Gastroskopen aufgenommen war; 
Elsner konnte auch Abbildungen von Ge¬ 
schwüren und Karzinomen, die er gastro- 
skopisch gefunden hat, demonstrieren. Beide 
Instrumente sind entsprechende Modifika¬ 
tionen des Oesophagoskops, also starre 
Röhren, deren Einführung trotz der An¬ 
gaben der Erfinder nicht gerade angenehm 
ist. In der Diskussion wurde auf das neue 
Gastroskop von Sußmann (Berlin) hin¬ 
gewiesen, welches in biegsamer Form 
wie eine Schlundsonde eingeführt und da¬ 
nach durch einen entsprechenden Mecha¬ 
nismus starr gemacht wird. 

Ueber endobronchlale Therapie sprach 
Ephraim (Breslau). Er erklärte die bis¬ 
herige Art der Inhalation und Insufflation 
auf Grund seiner endoskopischen Befunde 
für wertlos. Zur wirksamen Behandlung 
sei vielmehr die direkte Anbringung von 
Medikamenten auf die erkrankte Schleim¬ 
haut erforderlich, die am besten in Form 
des feinsten Verspritzens erfolge. Man 
kann dies durch Einführung geeigneter 
Röhren oder durch einen biegsamen Zer¬ 
stäuber bewirken, den man nach Belieben 
in die rechte oder linke Seite und beliebig 
tief einführen kann, und der den Patienten 
angeblich gar nicht belästigt. Redner be¬ 
richtet über günstig behandelte Fälle von 
eitriger Bronchitis, bei denen er Terpentin 
oder Suprarenin-Novocain-Lösung einge¬ 
stäubt hat. Noch besser seien die Erfolge 
beim Bronchialasthma. Hier werde nicht 
nur eine sofortige Beseitigung der asthma¬ 
tischen Erscheinungen herbeigeführt, son¬ 
dern angeblich, zum Teil durch einmalige 
Behandlung, langdauernde Heilung erreicht 

Kuhn (Berlin) empfahl dagegen seine 
Lungensaugmaske auch als Heilmittel für 
Bronchialasthma. Bisher zielte man bei 
einer solchen Behandlung meist darauf 
hin, durch Zusammenpressen des Brust¬ 
kastens auf die Ausatmung einwirken. 
Nach Kuhn komme es vielmehr auf eine 
Verbesserung der Einatmung und damit 
zugleich auf eine bessere Durchblutung 
der Lungen an. Da gewöhnliche, ver¬ 
stärkte und verlängerte Tiefeinatmung die 
Lungenblähung vermehren würden und 
auch infolge des bei Asthmatikern auf¬ 
tretenden Hustenreizes nicht möglich sind, 
so sei die Einatmung zu erschweren, denn 
dadurch werde ein ähnlicher physiolo¬ 
gischer Einfluß auf Blutansaugung und Zir¬ 
kulation erzielt, wie durch tiefe Ein¬ 
atmungen, und gleichzeitig komme auto¬ 
matisch dabei auch eine Verlängerung der 


Einatmung zustande. Es müsse also ge¬ 
wissermaßen das beim Asthmatiker vor¬ 
wiegend bei der Ausatmung vorhandene 
Hindernis auch in die Einatmung einge¬ 
schaltet werden, damit die erschwerte Aus¬ 
atmung ausgeglichen werde. Praktisch be¬ 
währt hat sich zu diesem Zweck die At¬ 
mung vermittels der Lungensaugmaske, 
durch welche sich ohne Vorübung und in 
therapeutisch abgestufter Weise die ge¬ 
wünschte Einatmungserschwerung und -Ver¬ 
längerung ohne weiteres erzielen läßt. 
Bei der Beurteilung dieser Erfolge in der 
Asthmatherapie wird man gut tun, sich an 
die launische Natur dieses Leidens zu er¬ 
innern, dem jede neue eingreifende Me¬ 
thode in der Regel für einige Zeit im¬ 
poniert, um leider zu bald ihre Wirksam¬ 
keit einzubüßen. 

Zahlreiche Vorträge über Herz« und 
Nierenerkrankungen bezogen sich auf die 
verfeinerten Methoden der funktionellen 
Diagnostik. Ich bringe ein ausführliches 
Referat über einen Vortrag von Nikolai 
(Berlin), welcher einen gewissen Einblick 
in die neueren Anschauungen über die 
Funktionsstörungen des Herzens gestattet. 
Das Thema des Vortrages betraf die Dis¬ 
soziation zwischen Vorhof und Herzkammer 
beim Menschen und in Verbindung damit 
über den Begriff der Allodromie. 

Das Herz hat die einzige Funktion, das 
Blut umzutreiben. Als Herzkrankheit ist 
daher jeder Zustand — und nur ein solcher 
zu bezeichnen, bei dem diese Funktion 
weniger gut als in der Norm erfüllt wird. 
Da diese Funktion eine rein mechanische 
ist, lassen sich die Herzkrankheiten dem¬ 
entsprechend auch nach rein mechanischen 
Gesichtspunkten einteilen. Wie eine Pumpe 
schlecht arbeitet, wenn ihre Ventile un¬ 
brauchbar sind, wenn ihre Kraft nach¬ 
gelassen hat, oder wenn der Rhythmus der 
einzelnen Teile verändert ist, so auch beim 
Herzen. Wir unterscheiden also die 
Klappenfehler, die muskulöse Herzschwäche 
und die Arythmien. 

Eine weitere Schädigung der Herz¬ 
arbeit wäre denkbar, wenn das Herz sich 
in fehlerhafter ungünstiger Weise zusammen¬ 
zieht. Die Möglichkeit, eine solche Gruppe 
als Krankheitseinheit zu beschreiben, lag 
nicht vor, solange wir keine Mittel hatten, 
auch nur den normalen Erregungsablauf 
im Herzen zu verfolgen, geschweige denn 
irgend eine Abweichung von der Norm 
zu diagnostizieren. Es ist also nicht wun¬ 
derbar, daß alle derartigen Schädlichkeiten 
bisher unter dem Sammelnamen der ner¬ 
vösen Herzerkrankungen zusammengefaßt 


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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Mai 


worden sind. Heute haben wir in dem 
Elektrokardiogramm die Möglichkeit, den 
Kontraktionsablauf zu verfolgen, und können 
daher eine neue Gruppe von Herzerkran¬ 
kungen, die wir als Allodromien (ver¬ 
änderter Ablauf) den Nomodromien (regel¬ 
mäßiger Ablaut) gegenüberstellen, abson¬ 
dern. 

„Ob eine solche Absonderung praktisch 
erscheint, kann allein die Erfahrung ent¬ 
scheiden; auf Grund unserer bisherigen 
Erfahrungen glauben wir es. In bezug auf 
die Allodromien möchten wir folgendes 
behaupten: 

1. Die Allodromien können für sich 
gesondert auftreten und sind dann häufig 
die einzige objektiv nachweisbare Schädi¬ 
gung, die wir in gewissen, bisher als nervös 
bezeichneten Erkrankungen nachweisen 
können. Die Aussonderung der Allodro¬ 
mien ist deshalb nicht ganz belanglos, weil 
bei ihnen — im Gegensatz zu den sonstigen 
Herzneurosen — in therapeutischer Be¬ 
ziehung Ruhe angebracht erscheint. 

2. Die Allodromien können wie jeder 
andere Herzfehler durch eine mäßige 
Hypertrophie kompensiert erscheinen, und 
sie treten dann in Verbindung mit einem 
etwas großen Herzen bei an sich völlig 
gesunden Personen auf; sie sind aber auch 
dann der Hinweis auf ein minderwertiges 
Herz, was in solchen Fällen bei Funktions¬ 
prüfungen zu Tage tritt. 

3. Die Allodromien können mit anderen 
Herzerkrankungen vergesellschaftet sein 
und sind in gewissem Sinne notwendige 
Folgen bestimmter anderer Erkrankungen; 
sie können also für diese Erkrankungen 
als pathognostische Symptome verwertet 
werden. Da jetzt durch das Elektrokardio¬ 
gramm die Möglichkeit einer physikalisch 
gesicherten Diagnose gegeben ist, wird sich 
dann die Therapie auf gesicherte Grund¬ 
lagen stellen lassen. 

Erwähnt sei ferner die Mitteilung von 
Frz. Müller (Berlin) und Fellner (Fran¬ 
zensbad) über ein neues Mittel zur Herab¬ 
setzung des Blutdrucks und Gefä߬ 
erweiterung, welchem die Erfinder den 
Namen Vasotonin beilegen. Es ist eine 
Verbindung von Yohimbin und Urethan, 
in welcher das letztere die aphrodixische 
Wirkung des ersteren unterdrücken soll, 
ohne die vorzüglichen angiodilatatorischen 
Effekte zu beeinträchtigen. Müller und 
Fellner empfehlen ihr Vasotonin gegen 
den gesteigerten Blutdruck bei Arterio¬ 
sklerose, sowie bei Asthma und Angina 
pectoris; das Yohimbin-Urethan soll durch 
bessere Durchblutung der Hirngefäße die 


Intelligenz und Lebhaftigkeit schon halb 
verblödeter Sklerotiker steigern. Die 
Mahnung zur Vorsicht, die Prof. v. Krehl 
dieser Mitteilung folgen ließ, möchte ich 
sehr unterstützen, denn in den Versuchen, 
die ich selbst im Krankenhaus Moabit mit 
Vasotonin habe anstellen sehen, konnte ich 
nichts von den gerühmten Erfolgen wahr¬ 
nehmen. 

Zum Schluß berichte ich über einige 
interessante Mitteilungen, die außerhalb der 
bisherigen Kategorien standen. Prof. Pick 
(Prag) sprach über chronische T&b&k- 
verglftung. Bei dieser findet man manch¬ 
mal eigenartige Atmungsstörungen, die sich 
durch Nikotinwirkung nicht erklären lassen. 
Auch weiß man, daß, besonders bei den 
österreichischen Zigarren, die sogenannte 
Schwere der Zigarre mit dem Nikotingehalt 
nichts zu tun hat. Aus der Tatsache, daß 
der Tabak geringe Mengen von Blausäure 
enthält, daß Blausäure die Atmung beein¬ 
flußt, daß bei der Blausäure Vergiftung im 
Körper vermehrte Rodanbildung eintritt 
und diese sich auch bei Gewohnheits¬ 
rauchern zeigt, glaubt Pick schließen zu 
dürfen, daß in der Tat die Blausäure zu 
der chronischen Tabaksvergiftung beiträgt. 

Nägeli (Zürich) berichtet über „End¬ 
ergebnisse bei der traumatischen 
Neurose in der Schweiz“. Die Schweiz 
kennt keine Rentengewährung, sondern ge¬ 
währt den L nfallverletzten eine einmalige 
Abfindung. Nägeli hat nun das Schicksal 
von 138 Fällen sog. traumatischer Neurose 
verfolgt und gefunden, daß 115 voll erwerbs¬ 
fähig geworden waren; bei 80 ließ sich 
dies durch genaue Feststellung des Lohnes 
beweisen, da sie Lohnarbeiter waren. 17 
hatten ihren Beruf gewechselt und sind 
voll erwerbsfähig gewesen und nur zwei 
der Geschädigten verdienen ein Jahr nach 
der ersten Begutachtung noch nicht den 
früheren Lohn. In der Diskussion betonte 
Schultze (Bonn), daß auch nach seinen 
Erfahrungen die Prognose der traumatischen 
Neurose bedeutend besser sei, als man 
im allgemeinen annehme. 

Dies Referat enthält nur die praktisch 
einigermaßen wichtigen Mitteilungen und 
übergeht eine große Reihe interessanter 
und wichtiger Vorträge theoretischen In¬ 
halts, die gewiß auch manchem praktischen 
Arzte von großem Interesse sein würden. 
Auch der Inhalt der Diskussionen, die zum 
Teil sehr inhaltreich und fesselnd waren, 
konnte vielfach nur andeutungsweise wieder¬ 
gegeben werden. Sie sind ausführlich ent¬ 
halten in dem ausführlichen Bericht über 


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Mai 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


239 


die Verhandlungen, welcher jedem Mitglied 
des Kongresses unentgeltlich zugeht. Dieser 
alljährlich im August erscheinende Band 
bietet ein getreues Spiegelbild der Fort¬ 
schritte der inneren Medizin und bildet 
sicherlich eine Zierde jeder ärztlichen Biblio¬ 
thek. Der Wunsch nach dem Erwerb dieser 
Verhandlungen sollte ein lebhafter Anreiz 
für viele Kollegen sein, Mitglieder des 
Kongresses für innere Medizin zu werden! 
Es ist einigermaßen beschämend, daß unsere 
Mitgliederzahl so sehr weit hinter der des 
Chirurgenkongresses zurückbleibt, während 
doch jeder Arzt sich als innerer Mediziner 


! fühlen und an den Veranstaltungen zur Förde- 
I rung dieses Faches tätigen Anteil nehmen 
1 sollte. Der Kongreß für innere Medizin wird 
jetzt zum eingetragenen Verein; er erwirbt 
die Rechte einer juristischen Persönlichkeit. 
In seiner neuen Organisation wird er mehr 
i als früher in der Lage sein, die wissen- 
| schaftlichen und praktischen Interessen der 
innern Medizin fördern zu können. Er öffnet 
seine Pforten allen Aerzten deutscher 
Sprache; möchten sie sich ihrer Zugehörig¬ 
keit zur innern Medizin, der alma mater 
ärztlicher Kunst, mehr als bisher bewußt 
; werden! 


Bemerkung zu der Arbeit von Kausch über chirurgische Tuberkulose. 


Von Prof. Fr, 

Herr Prof. Kausch (Schöneberg) hat 
im 3. und 4. Heft dieser Zeitschrift einen 
Aufsatz veröffentlicht, in welchem er kund 
gibt, wie er die Tuberkulose der Knochen 
und Gelenke behandelt. Es ist nicht meine 
Absicht, eine Kritik dieser Kundgebung zu 
schreiben, aber ich halte es für meine 
Pflicht, Stellung zu nehmen zu einer voll¬ 
kommen unrichtigen Bemerkung, welche 
er (3. Heft, S. 119) über mich und meine 
Schule macht: Bei seiner Besprechung der 
Vorzüge der Jodoformglyzerininjektion sagt 
er: „ich weiß wohl, daß dieselbe sehr ge¬ 
wichtige Gegner hat, wie König und 
seine Schule.“ 

Ich kann niemanden, auch HerrnKausch 
nicht zumuten, daß er meine viele Jahre 
zurückliegenden Arbeiten über Jodoform 
und die Vortrefflichkeit seiner Wirkungen, 
zumal in der Verbindung mit Glyzerin ge- 


König-Berlin. 

lesen hat. Er würde dann freilich wissen, 
daß ich nicht der letzte von denen bin, 
welche die Verbreitung dieser Methode ge¬ 
fördert haben, längst vorher, ehe es über¬ 
haupt eine Mikulicsche Schule gab. 
Aber ich bin nicht so bescheiden zu 
| glauben, daß meine jüngsten Arbeiten 
| wenigstens unberücksichtigt bleiben dürften, 
| wenn jemand einen belehrenden Artikel 
i über Gelenktuberkulose schreiben will. Hätte 
i Herr Prof. Kausch das getan, dann würde 
i er in meiner Monographie aus dem Jahre 
i 1906 gefunden haben, wie hoch ich die 
Jodoformglyzerininjektion für die 
Heilung der Tuberkulose einschätze. 
Unter anderen Aeußerungen darüber ver- 
| weise ich auf S. 48, 49, 103—105. 

Ich kann die Versicherung hinzufügen, 
daß meine Schüler genau so darüber denken 
wie ich. 


Ueber Reklame durch Sonderdrucke. 


Vom He 

Unter der obigen Ueberschrift hat vor 
kurzem Prof. W. Heubner (Göttingen) 
in den Therapeutischen Monatsheften einen 
Aufsatz veröffentlicht, in welchem er die 
oft beklagten Mißstände auf dem Gebiet 
der Arzneimittelfabrikation von neuem 
geißelte. Er erklärt es aber auch — was 
bisher nicht geschehen ist — als eine der 
Würde des ärztlichen Standes nicht ent¬ 
sprechende Sitte, daß pharmazeutische 
Firmen mit den Prospekten über neue Prä¬ 
parate auch Sonderabdrücke von Publi¬ 
kationen an die Aerzte versenden. Er 
glaubt, daß eine solche Versendung in jeder 
Form nur den suggestiven Reklamezwecken 
der Industrie diene, und daß die Orien¬ 
tierung, die der Arzt durch dife ihm von 
der Fabrik übermittelten Sonderabdrücke 
erfährt, eine verfälschte sei, da doch stets 


ausgeber. 

nur empfehlende Publikationen vertrieben 
, würden. Da nun auch die Titel der Zeit¬ 
schriften, aus denen die Sonderdrucke 
stammen, zumHilfsmittelderReklame werden, 
so tun die Redaktionen dem Interesse der 
1 Aerzte an vorurteilsloser Berichterstattung 
Abbruch und machen sich den Interessen 
I der Industrie dienstbar, wenn sie die Liefe- 
I rung von Sonderdrucken an pharmazeu- 
| tische Firmen gestatten. Heubner fordert 
| also von der Redaktion einer periodischen 
j Zeitschrift, welche allen ihr zufallenden 
j ideellen Aufgaben Genüge tun will, beson- 
i ders von einer solchen, welche die Bericht- 
! erstattung über das Gebiet der Arznei- 
f Wissenschaft pflegt, daß sie jede Lieferung 
von Sonderdrucken an industrielle Firmen 
i einstellt. Er hofft, daß eine solche Maß- 
| regel ein Schritt auf einem segensreichen 


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240 Die Therapie der Gegenwart 1910. Mai 

Wege sei. Dadurch wird es allmählich der Kern der ganzen Frage zu liegen. Die 
tiefer in das Bewußtsein der Aerzte ein- | Verantwortung liegt bei den Redaktionen, 
dringen, „daß der heute bestehende Ein- I Die sollen unnachsichtig allen Schund und 
fluß der pharmazeutischen Industrie auf ! alle Reklame zurQckweisen. Ich glaube für 
ärztliches therapeutisches Denken und | mich sagen zu dürfen, daß in den 12 Jahren 
Handeln vielfach mächtiger ist, als im In- i meiner publizistischen Tätigkeit kein Ku- 
teresse der Kranken und der Wissenschaft | kuksei in die Spalten der Therapie der 
liegt. Eine Verringerung dieses Einflusses | Gegenwart eingeschmuggelt ist. Was ich 
wird den wahren Fortschritt in der Therapie j aufgenommen habe, war immer so, daß die 
eher fördern als hemmen.“ , Versendung in Sonderdrucken auch vor 

Als Herausgeber der „Therapie der | der strengsten Kritik standhalten durfte. 
Gegenwart* halte ich mich für verpflichtet, ! Mit Vergnügen bekenne ich auch, daß ich 
zu der dankenswerten Anregung des Herrn j mich nicht erinnere, in den Therapeutischen 
Prof. H e u b n e r Stellung zu nehmen. Aber Monatsheften jemals eine Publikation ge- 
obwohl ich dem Grundgedanken derselben j funden zu haben, deren Versendung ich 
gern zustimme, bedaure ich doch, mich da- : hätte beanstanden sollen, 
gegen aussprechen zu müssen. Erstens halte Danach scheint es mir, alsobHeubner 
ich den Gedanken praktisch für kaum aus- mit seinem Vorschläge das Kind mit dem 
führbar, denn ich kann mir nicht vor- Bade ausschüttet. An der Besserung der 
stellen, wie wir die Fabriken an der Mißstände, die er mit Recht beklagt, arbeitet 
Versendung von Abdrücken hindern die medizinische Fachpresse seit langem, 
können; an die Autoren wird ja von jeher | und es wird vielleicht möglich sein, für die 
eine unbegrenzte Zahl von Abdrücken ge- j Gesamtheit der Redaktionen Grundsätze in 
liefert und diesen müssen wir wohl die j der Aufnahme von Arzneimittelempfehlungen 
Verwendung freistellen; wir können ihnen j einzuführen, wie sie die vornehme Publi- 
nicht verbieten, ihre Arbeiten jedem Arzt zistik von jeher als verbindlich anerkennt, 
zusenden zu lassen. Zweitens können wir Dann wird auch der besonnenste Kritiker 
auf gar keinen Fall die Fabriken hindern, * nichts mehr gegen die Verwendung von 
ihren Prospekten beliebige Auszüge aus j Sonderdrucken durch die herstellenden 
literarischen Arbeiten beizufügen. Wenn Firmen etwas einwenden können. Vielleicht 
sie nun keine Sonderabdrücke mehr schicken hätten die verehrten Kollegen von den „The- 
können, werden sie von dieser zweiten rapeutischen Monatsheften“ besser getan, 
Möglichkeit ganz uneingeschränkten Ge- Heubners Vorschläge dem berufenen 
brauch machen. Sie werden nun natürlich Forum, der Vereinigung der medizinischen 
nur das abdrucken, was ihnen aus den be- Fachpresse, zu unterbreiten, ehe sie sich für 
treffenden Arbeiten ganz besonders in den ein Vorgehen entschieden, das in seiner 
Kram paßt und die Aerzte werden dann Vereinzeltheit doch wirkungslos bleiben 
viel einseitiger und viel weniger objektiv muß. Uebrigens hat auch der Ausschuß 
informiert werden als zuvor. des Kongresses für innere Medizin sich mit 

Der Hauptgrund aber, den ich gegen Heubners Anregung beschäftigt und sie 
Heubners Anregung ins Feld führen einer Kommission zur Berichterstattung 
möchte, liegt darin, daß ich es durchaus überwiesen. Sollte die illustre Körperschaft 
für berechtigt und keineswegs für ver- des Kongresses zu einem Votum kommen, 
urteilenswert halte, wenn den Aerzten gute so wird dasselbe natürlich auch für die 
Publikationen über gute Arzneimittel zu- „Therapie der Gegenwart“ absolut ver- 
gesandt werden. Schließlich ist das doch bindlich sein. Vorläufig aber möchte 
auch eine Art der Information, die manchen ich meinen persönlichen Standpunkt dahin 
Aerzten nicht unerwünscht ist und die doch präzisieren, daß ich in der Verwendung 
nicht unbedingt zur Einschläferung der von Sonderdrucken aus der von mir 
Selbstkritik und zur willenlosen Suggestion herausgegebenen Zeitschrift auch durch 
führen muß. pharmazeutische Firmen nichts Unrechtes 

Es kommt eben nur darauf an, daß es oder Schädliches erblicken kann, 
gute Publikationen sind. Hier scheint mir 

INHALT: Hirsch. Herzstörungen im Kindes- und Pubertätsalter S. 193. — Forlanini, 
Pneumothorax S. 198. Hallervorden. Pantopon S. 206. — Bücherbesprechungen S. 207. 
— Chirurgenkongreß S. 208. — Röntgenkongreß S. 223. — Kongreß für innere Medizin S. 226. — 
König, Bemerkung zu der Arbeit Kausch S. 239. — Reklame durch Sonderdrucke S. 239. 

Für die Redaktion verantwortlich Prof. Dr. (i.Klempcrerin Berlin. - Verlag von Urban&Schwarienbcrg in Wien u. Berlin. 

Di uck von Julius Sittenfcld, 1 lofbuclidruckcr., in Berlin W. 8. 


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Original fram 

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Die Therapie der Gegenwart 


1910 


herau8gegeben von Prof. Dr. G. Klemperer 
In Berlin. 


Juni 


Nachdruck verboten. 


Robert Koch f 

Am 27. Mai ist Robert Koch einem arteriosklerotischen Herzleiden er¬ 
legen. Mit ihm ist einer der Großen dahingegangen, deren Werk für alle 
Zeiten dauert. Die Früchte seiner Arbeit kommen der ganzen Menschheit zu 
gute, in erster Reihe aber den Aerzten, deren Ideenkreis und deren Macht¬ 
bereich er erweitert hat. Die Erkenntnis und die Verhütung der Infektions¬ 
krankheiten sind durch Robert Koch auf neue Grundlagen gestellt worden, 
auf welchen auch ihre Behandlung in Zukunft noch größere Erfolge zeitigen 
wird als bisher. Wir neigen uns in Ehrfurcht vor dem Andenken des dahin¬ 
gegangenen Meisters, den wir mit freudigem Stolz aus unseren Reihen hervor¬ 
gehen sahen. Schwebt sein Genius in unerreichbarer Höhe, so suchen wir ihm 
nachzustreben in der unermüdlichen und opferfreudigen Arbeit für das Wohl 
unserer Mitmenschen, die das schönste Attribut des ärztlichen Standes bildet. 


Ueber die Tenazität der Zelltätigkeit und Ihre Beziehungen 

zur Pathologie. 

Von Prof. W. Leube-WOrzburg 1 ). 


Die Lebensvorgänge vollziehen sich nach 
unseren heutigen Anschauungen in letzter 
Instanz durch die Tätigkeit der Zellen, die 
„Elementarorganismen**. Zu ihrer Existenz 
bedürfen dieselben bekanntlich allgemeiner 
Lebensbedingungen (Sauerstoff, Tempera- 
turoptima, Nahrung usw.), deren Verände¬ 
rungen als „Reize* für die Zellen wirken, 
auf welche dieselben mit einer Aenderung 
ihres stofflichen und dynamischen Gleich¬ 
gewichts reagieren. 

Da bei Vorhandensein der Reizbarkeit 
und Reaktionsfähigkeit der Zellen die ver¬ 
schiedenartigsten Reize immer dieselbe der 
betreffenden Zellenart speziell zukommende 
Wirkung hervorrufen, so muß voraus¬ 
gesetzt werden, daß der lebendigen Sub¬ 
stanz eine „spezifische Energie** d. h. 
eine Spezifität ihrer Tätigkeitsrichtung 
innewohnt. Die letztere wird unter nor¬ 
malen Verhältnissen von den verschiedenen 
Reizen lediglich quantitativ in bezug auf 
ihre Leistun gsgröße, nicht auch qualitativ 

*) Auf dem letzten Kongreß für innere Medizin habe 
ich einige Gedanken über das Beharrungsvermögen 
der Zellen zum Vortrag gebracht, von welchen ich 
glaube, daß sie auch für das praktische Handeln am 
Krankenbett einigen Nutzen bringen können. Ich 
komme deswegen gern der Aufforderung des Her¬ 
ausgebers dieser Zeitschrift nach, einen Auszug 
meines Vortrages an dieser Stelle zu veröffentlichen. 
Die ausfQhrliche Publikation meiner Arbeit mit den 
experimentellen Belegen erscheint demnächst in der 
Zeitschrift für klinische Medizin. 


d. h. in bezug auf die Natur der Zellpro¬ 
dukte beeinflußt Es zeigt sich also eine 
unverkennbare Tendenz der Zelle in der 
für sie charakteristischen Richtung zu ar¬ 
beiten, eine in der Organisation und Ent¬ 
wicklung der Zelle begründete immanente 
Eigenschaft, an der sie das ganze Leben 
unverrückt festhält, was ich seit langer 
Zeit als Beharrungstendenz „Tena¬ 
zität** der Zelltätigkeit bezeichnet habe. 

So liefern beispielsweise ganz exklusiv 
die Zellen der Magenschleimhaut Pepsin, 
die Leberzellen die Gallenbestandteile — 
so geht der Stoffwechsel unter normalen 
Verhältnissen immer nach fest bestimmten, 
der Assimilation und Dissimilation dienen¬ 
den Gesetzen vor sich, die von der Ze 11- 
arbeit streng eingehalten werden. Stoffe 
werden dabei regelmäßig als Endprodukte 
der Stoffzersetzung ausgeschieden, d. h. 
nicht weiter umgesetzt, trotzdem sie noch 
weiterer Oxydation fähig wären usw. 

Abweichungen von dieser normalen 
spezifischen Tätigkeit der Zellen existieren 
unter physiologischen Verhältnissen nicht 
oder nur in ganz untergeordnetem Maße. 

Dagegen kommt bei den Körper 
krankmachenden Schädlichkeiten 
eventuell eine quantitative Verände¬ 
rung der Zelltätigkeit als Ausdruck 
der Krankheitswirkung vor. Ist die 
Veränderung nur kurzdauernd, so macht 

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242 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Juni 


sie nach Ablauf der Krankheit wieder dem 
quantitativ normalen Verhalten der Zell¬ 
tätigkeit Platz. Hält dagegen die quantita¬ 
tive Veränderung der Zellarbeit nach einer 
bestimmten Richtung hin an, so wird damit 
ein pathologischer Zustand geschaffen, der 
nur schwer redressierbar ist, weil die ab¬ 
norme Zellarbeit kraft ihrer Tenazität in 
Permanenz tritt und als dauernde krank¬ 
hafte Lebensäußerung erscheint. 

Wenn unter gewissen krankhaften Ver¬ 
hältnissen auch qualitative Veränderungen 
der Zelltätigkeit sich einstellen, so ist dies 
jedenfalls viel seltener und nur so zu er¬ 
klären, daß sehr intensive, ungewohnte und 
längere Zeit einwirkende Reize vom nor¬ 
malen abweichende Atomgruppierungen 
und damit eine qualitative Veränderung 
der Zelltätigkeit zustande bringen. Ist 
diese durch Atomumstimmung neu¬ 
geschaffene Zelltätigkeitsrichtung 
erst fest entwickelt, so wird auch sie 
kraft der allgemeinen Beharrungs¬ 
tendenz der Zellfunktion mit großer 
Konsequenz eingehalten. 

Gewöhnlich gereicht die Veränderung 
der Zelltätigkeitsrichtung dem Gesamtorga¬ 
nismus zum Schaden, selten zum Nutzen. 
Daß und wie das letztere möglich ist, wird 
klar werden, wenn wir den Vorgang der 
Immunisierung an der Hand des suppo- 
nierten Gesetzes der Tenazität der Zell¬ 
tätigkeit analysieren und die Richtigkeit 
desselben unter Benutzung klinischer und 
experimenteller Erfahrungen näher prüfen. 

Indem die natürliche oder künstliche 
aktive Immunisierung in den Zellen des 
Körpers spezifische Reaktionen auslöst, 
wird durch Bildung von Antikörpern ein 
Impfschutz erreicht, der um so länger an¬ 
hält, je längere Zeit die Körperzellen in 
der erworbenen spezifischen Tätigkeit der 
Antikörperproduktion verharren. Bei später 
verminderter oder aufgehobener Abgabe 
von Antikörpern kann die spezifische 
Tätigkeit der Zellen im Sinne einer Anti¬ 
körperbildung dank der Beharrungstendenz 
der veränderten Zelltätigkeit leicht, das heißt 
leichter und energischer als das erstemal 
durch dieselben Reize spezifischer Art 
(Bakterien und Bakterienextrakte) gesteigert 
oder aufs neue in Gang gebracht werden. 

Bekanntlich nimmt die Menge der im 
Verlauf eines Typhus abdominalis ge¬ 
bildeten Agglutinine und Bakteriolysine im 
Blut rasch ab, so daß sie gewöhnlich schon 
nach Wochen oder Monaten nicht mehr 
nachweisbar sind und das Individuum nach 
kurzer Zeit seine Immunität scheinbar ver¬ 
loren hat. In Wirklichkeit ist dies aber 


nicht der Fall; denn bei einer neuen In¬ 
fektion schnellt der Serumtiter für die Ag¬ 
glutinine und die bakteriziden Stoffe rasch 
wieder zur alten Höhe hinauf. 

Bei vorher mit Typhus vorbehandelten 
Kaninchen genügt eine minimale Menge 
von Typhusbazillenkultur, die beim intakten 
Kaninchen keine Agglutination hervorruft, 
um die abgesunkene Agglutinationsfähigkeit 
des Serums sofort beträchtlich hinaufzu¬ 
treiben. Diese Tatsache ist, wie ich glaube, 
mit der Annahme der Tenazität der spe¬ 
zifischen Zellarbeit in bezug auf die Bil¬ 
dung von Schutzstoffen, nachdem dieselbe 
gering oder latent geworden ist, am un¬ 
gezwungensten zu deuten. 

In gleicher Weise lassen sich die bei 
der Vakzination und neuerdings bei der 
Serumkrankheit gewonnenen Erfahrungen 
erklären. Auch hier ist man zu der An¬ 
nahme berechtigt, daß die einmal erlangte 
Fähigkeit der Antikörperbildung durch einen 
neuen spezifischen Anstoß leichter als 
früher wieder geweckt werden kann. 

Aber nicht nur auf den spezifischen 
Reiz, der seinerzeit den Zellen die be¬ 
stimmte Tätigkeitsrichtung d. h. die Pro¬ 
duktion von Schutzstoffen aufzwang, rea¬ 
gieren die zur Bildung von Antikörpern 
befähigt gewordenen Zellen mit erneuter 
stärkerer Produktion derselben. Auch 
nicht spezifische starke Zellreize schei¬ 
nen die einmal angeregte Bildung von 
Schutzstoffen dank der Tenazität der spezi¬ 
fischen Zelltätigkeit gelegentlich wieder in 
Gang zu bringen, so Pilocarpin, Hetol, Bier- 
sche Stauung, längere dauernde Einwirkung 
hoher Wärmegrade u. a. Mit solchen nicht 
spezifischen Zellreizen gelang es mir in 
der Tat bei Menschen, die vor kürzerer 
oder längerer Zeit einen Typhus über¬ 
standen hatten, die Agglutination im Serum, 
wenn sie nicht mehr nachweisbar war, wie¬ 
der positiv zu machen. 

Die ungezwungenste Deutung für diese 
experimentell erhärtete Tatsache scheint 
mir die zu sein, daß dabei ein stärkerer 
Reiz auf zur Agglutininbildung befähigte 
Zellen ausgeübt wird, auf den sie mit 
einer stärkeren Bildung von Agglutininen 
reagieren, auch dann, wenn die Agglutinin¬ 
produktion latent geworden ist. Zu dieser 
Tätigkeit sind aber die Zellen in höherem 
Maße nur dann befähigt, wenn sie durch 
einen vorausgehenden Typhus zur ekla¬ 
tanten Reaktion von Agglutininen ange¬ 
regt worden sind und diese spezifische 
Tätigkeitsrichtung mit einer gewissen Zähig¬ 
keit einhalten. Ist diese Vorbedingung, 
die Immunisierung gegen Typhus, nicht er- 


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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


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füllt, so kann auch keine spezifische Agglu¬ 
tininbereitung auf jene Reize erfolgen und 
kein positives Resultat erzielt werden. Ein 
Kontrollversuch am Gesunden, an einem 
22jährigen Studenten, der bis jetzt nie 
krank gewesen war und namentlich nie 
einen Typhus überstanden hatte, ergab denn 
auch in den vor und nach einer energi¬ 
schen Bierschen Stauung entnommenen 
Blutproben dasselbe negative Resultat. 

Die im Voranstehenden entwickelten 
Anschauungen über die Tenazität der Zell¬ 
tätigkeit sind, wie ich glaube, geeignet, 
einen Einblick in die verschieden starke 
Entwicklung und Dauer der Immu¬ 
nität zu geben. Je weniger tiefgreifend 
im einzelnen Falle die Beeinflußung der 
Zelltätigkeit durch die Bakterienprodukte 
ist, um so leichter und rascher wird die 
Zelle die in Berührung d. h. nach den 
üblichen Vorstellungen im Kampf mit den 
Bakterien neu erworbene Richtung ihrer 
Tätigkeit verlieren und später, wenn die¬ 
selbe latent geworden ist, auch nicht durch 
neue spezifische oder starke nichtspezifische 
Reize wieder gewinnen. In solchen Fällen 
wird auch der Versuch, die Antikörper 
künstlich wieder zu erwecken, nicht ge¬ 
lingen. Umgekehrt wird eine schwere In¬ 
fektion und eine lange Dauer derselben die 
Zellen zu stärkerer Schutzstoffbildung an¬ 
regen, und die spezifische Arbeitsrichtung 
wird in diesem Fall um so länger als Folge 
der Beharrungstendenz der Zelltätigkeit an- 
halten. So würde sich die klinische Tat¬ 
sache, daß in der Regel je länger und 
schwerer ein Infektionsprozeß einwirkt, um 
so weniger rasch den Organismus von der¬ 
selben Krankheit später auis neue befallen 
wird, aufs einfachste erklären. 

Als weitere Konsequenz müßte ange¬ 
nommen werden.daß die einzelnen Infek¬ 
tionsstoffe sich in bezug auf die Einwirkung, 
auf die Zelltätigkeit und ihre Anregung zur 
Bildung der die Immunisierung bewirkenden 
Antikörper verschieden verhalten, so daß 
bei der einen Infektionskrankheit die spe¬ 
zifische Reaktion der Zellen mit einer 
weniger, bei der anderen mit einer mehr tief¬ 
greifenden Atomgruppierung in den Zellen 
verbunden wäre und die letztere deswegen 
kraft der Tenazität der Zelltätigkeitsrichtung 
um so intensiver und länger anhielte. 

Weiterhin kann die Theorie von der 
Tenazität der Zelltätigkeit eventuell auch 
die viel ventilierte, theoretisch wie prak¬ 
tisch wichtige Frage von der verderb¬ 
lichen oder salutären Bedeutung des 
Fiebers in Infektionskrankheiten der 
Lösung näherbringen. 


Die Auffassung des Fiebers, insbeson¬ 
dere die Frage, ob das Fieber dem Kör¬ 
per gefährlich oder ob es eine zweckmäßige 
und daher nicht zu bekämpfende Reaktion 
des Organismus sei, wurde in den letzten 
vier Jahrzehnten verschieden beantwortet. 
Durch zahlreiche Experimente ist erwiesen, 
daß hohe Temperaturen, das heißt solche 
über 400 C, eine Steigerung des Eiwei߬ 
zerfalles bewirken. Wenn also die höheren 
Grade des Fiebers namentlich bei längerer 
Dauer in Berücksichtigung des stärkeren 
Eiweißzerfalles schädlich wirken, so ist 
damit nicht gesagt, daß etwaige durch die 
erhöhte Körpertemperatur auf der anderen 
Seite zustande kommenden Wirkungen 
nicht nützlich sein und die bei hohem 
Fieber eintretende Schädigung nach anderer 
Richtung hin verringern könnten. 

Experimentell hat sich erweisen lassen, 
daß künstlich erhitzte Tiere im allgemeinen 
Infektionen besser überstehen als nicht er¬ 
hitzte, insbesondere daß durch künstliche 
Hyperthermie eine stärkere Bildung von 
Antikörpern erzielt werden kann und zwar 
von Agglutininen als auch von Hämolysinen 
und Bakteriolysinen. Meine Versuche über 
den Einfluß höherer Temperaturen auf die 
Hämolysinbildung bei Tieren, bei welchen 
die letztere im Abklingen begriffen war, 
ergaben, daß kurz dauernde Erhöhung der 
Körpertemperatur beim Tier auf 400 C 
wirkungslos ist, daß dagegen die Hämo¬ 
lysinanregung nicht ausbleibt, sobald die 
Temperatur der Tiere nach Injektion von 
10%igen Deuteroalbumosenlösungen län¬ 
gere Zeit, das heißt tagelang, hochgehalten 
wird. 

Sind wir also nach alledem berechtigt, 
beim Tier in einer längerdauernden Er¬ 
höhung der Körpertemperatur eine der 
Ursachen für eine Steigerung der Anti¬ 
körperbildung zu sehen, so wird die Ueber- 
tragung dieser Annahme auf den Menschen 
erst dann erlaubt sein, wenn es gelingt, 
auch bei Kranken eine Steigerung der Pro¬ 
duktion der Antikörper im Fieber experi¬ 
mentell nachzuweisen. 

Meine nach dieser Richtung angestellten 
Versuche ergaben zunächst, daß mäßig 
heißeBäder und kurz dauern deKörper- 
temperaturerhöhung auf 40° keinen 
Einfluß auf die Antikörperbildung ausüben. 
Wenn ich bei Menschen, die vor einiger 
Zeit einen Typhus überstanden hatten, und 
jetzt kein Agglutinin mehr oder nur Spuren 
davon im Blut hatten, ein mäßig heißes 
Bad (40° C, Dauer V 2 Stunde) nehmen 
ließ, wodurch die Körpertemperatur kurze 
Zeit (V 2 —I Stunde) auf 39 bis 40° C er- 

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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Juni 


höht wurde, so zeigte sich nie ein po¬ 
sitiver Erfolg. 

Anders wenn eine wiederholte, also 
längerdauerndeTemperaturerhöhung 
durch heiße Bäder erzielt wurde. Hierbei 
zeigte sich eine deutlich gesteigerte Agglu¬ 
tininbildung. 

Ebenso wie eine nicht rasch vorüber¬ 
gehende Temperatursteigerung scheint auch 
eine einmalige exzessive Erhitzung des 
Körpers (Hitzegrad von 48—50° C) als star¬ 
ker Zellenreiz zu wirken, auch wenn dabei 
die Körpertemperatur nur kurze Zeit auf 40° 
erhöht ist. 

Nach den bisher im Versuch und am 
Krankenbett gemachten Erfahrungen scheint 
mir der Schluß erlaubt zu sein, daß eine 
exzessive, wenn auch kurzdauernde 
Hitzeeinwirkung und ebenso ein 
längerdauerndes Fieber von zirka 
400 C die Schutzstoffbildung begün¬ 
stigen. Zweifelsohne wird dadurch ein 
starke* (nichtspezifischer) Reiz auf die 
Zellen ausgeübt, so daß dieselben zu 
stärkerer Tätigkeit und, wenn sie dazu von 
früher her vorbereitet sind, speziell auch 
zur Bildung von Antikörpern angeregt 
werden. 

Aus dem Erörterten dürften sich im 
Allgemeinen folgende Grundsätze für unser 
Vorgehen gegen das Fieber bei Infektions¬ 
krankheiten ergeben: 

Bei Körpertemperaturen von unter 39,0 
bis 39,5 C ist eine Bekämpfung des Fiebers 
weder vom theoretischen noch vom prakti¬ 
schen Standpunkt aus indiziert. Anders 
bei Temperaturen über 39,5 o. Hier ver¬ 
langen nicht nur die Störungen des All¬ 
gemeinbefindens: die Appetitlosigkeit, die 
Schwere der nervösen Symptome (Kopf¬ 
schmerz, Delirien usw.), sondern auch der 
bei dieser Temperaturhöhe eintretende 
stärkere Eiweißzerfall ein antipyretisches 
therapeutisches Eingreifen. Aber wir 
brauchen selbst diese höheren Temperatur¬ 
grade nicht mehr so ängstlich wie früher 
um jeden Preis herabzudrücken. Wir wissen 
jetzt, daß dieselben neben den genannten 
Schädigungen des Organismus durch 
stärkere Anregung der Antikörperbildung 
sogar Nutzen schaffen können, und werden 
daher zweckmäßigerweise im einzelnen Fall 
individuell verfahren, d. h. nur dann kon¬ 
sequent und sehr energisch antipyretisch 
vorgehen, wenn die allgemeinen schädigen¬ 
den Folgen der anhaltenden Temperatur¬ 
steigerung einen höheren oder gar bedenk¬ 
lichen Grad annehmen. Es hat dies bald 
mit Anwendung einer konsequenten aber 
nicht zu heroischen hydriatischen Be¬ 


handlung (abgekühlten Bädern oder kalten 
Wickeln), bald mit Antipyreticis zu ge¬ 
schehen, wobei man aber unter allen Um¬ 
ständen die großen Dosen von Phenazetin, 
Pyramidon u. a. wegen der unangenehmen 
Nebenwirkungen derselben (Appetitver¬ 
schlechterung, Nierenreizung, interkurrente 
Schüttelfröste und Kollaps) zu vermeiden hat. 

Noch möchte ich die Frage streifen, ob 
nicht bei geringem Fieber geradezu die 
Anwendung heißer Bäder indiziert ist, 
von denen wir gesehen haben, daß sie die 
Zellen zu stärkerer Antikörperbildung an¬ 
zuregen imstande sind, um so mehr als ein 
Teil der „Fiebersymptome“ gar nicht auf 
die hohe Körpertemperatur des Fieber¬ 
kranken, sondern auf die Infektion zurück¬ 
zuführen ist Daß mit heißen Bädern 
und Wickeln bei Fiebernden zuweilen 
bessere Erfolge als mit kalten Prozeduren 
erzielt werden können, ist nicht zu be¬ 
zweifeln, doch scheint mir die Frage noch 
nicht spruchreif zu sein. Jedenfalls aber 
steht nichts im Wege, in Fällen, wo die 
wärmeentziehenden Mittel schlecht ver¬ 
tragen werden, einen Versuch mit heißen 
Wickeln u. a. zu machen. 

Die entwickelten Grundsätze einer ein¬ 
geschränkten, individualisierenden Fieber¬ 
behandlung werden heutzutage von den 
meisten Aerzten befolgt. Sie haben sich 
aus der praktischen Erfahrung im Laufe 
der letzten 2 Jahrzehnte entwickelt und 
waren maßgebend schon zu einer Zeit, als 
die Beförderung der Antikörperbildung 
durch hohe Temperaturen noch nicht fest¬ 
gestellt war. Auch ich selbst habe seit 
langen Jahren bei der Behandlung des 
Fiebers nach den geschilderten Regeln ge¬ 
handelt und kann nur empfehlen, sich im 
allgemeinen an dieselben zu halten. 

Wahrscheinlich spielt die „Tenazität 
der Zelltätigkeit“ nicht nur auf dem Ge¬ 
biet der Infektionskrankheiten, sondern 
auch sonst in der Pathologie, speziell bei 
den Stoffwechselkrankheiten, hier 
nicht zum Nutzen, sondern zum Schaden 
des Organismus eine bedeutsame Rolle — 
so bei der Fettsucht, der Gicht und 
beim Diabetes mellitus. Ich gehe auf 
diese Fragen in der Zeitschrift für klinische 
Medizin ausführlicher ein. 

Die Annahme, daß bei den genannten 
Stoffwechselkrankheiten die Beharrungs¬ 
tendenz der quantitativ und eventuell auch 
qualitativ fehlerhaft gewordenen Zellfunk¬ 
tion eine wichtige Rolle spielt, erklärt es, 
warum diese Stoffwechselstörungen so hart¬ 
näckig anhalten und unseren therapeuti¬ 
schen Bestrebungen einen so schwer 


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Juni 


Oie Therapie der Gegenwart 1910. 


245 


überwindbaren Widerstand entgegensetzen, 
warum ihre „Heilung“ gewöhnlich nur eine 
scheinbare ist und die Zelltätigkeit bei 
jeder Gelegenheit in den alten Fehler 
zurückfällt. 

Es ist möglich, daß künftig medikamen¬ 
töse Mittel gefunden werden, die auf die 
perverse Zellfunktion in der betreffenden 
Stoffwechselstörung umstimmend und hei¬ 
lend einwirken. Bis jetzt wissen wir aber von 
der Existenz und Wirksamkeit solcher Mittel 
recht wenig oder gar nichts. Dagegen 
ist es von vornherein wahrscheinlich, daß 
eine Rückkehr der gestörten Zelltätigkeit 
in die richtige Bahn am ehesten erwartet 
werden darf, wenn den funktionell krank 
gewordenen Zellen zunächst keine oder 
nur das geringste Maß von Arbeit in der 
Richtung zugemutet wird, in der ihre Funk¬ 
tion geschädigt ist. Dieses Prinzip der 
spezifischen Schonung ist von klinischer 
Seite längst als die wichtigste therapeu¬ 
tische Maßregel bei den uns beschäftigen¬ 
den Stoffwechselkrankheiten anerkannt 
Dem Diabeteskranken wird allgemein eine 
kohlehydratfreie Kost verordnet, dem Fett¬ 
süchtigen werden die Fettbildner in der 
Nahrung entzogen, dem Gichtkranken der 
Alkohol und eine an Purinbasen reiche 
Nahrung verboten. Diese Ernährungsvor¬ 
schriften müssen im einzelnen Fall längere 
Zeit durchgeführt werden. Ist es dann im 
Verlaufe der Behandlung unter stetiger 
Kontrolle des Stoffwechselverhaltens wahr¬ 
scheinlich geworden, daß die Zellen von 


der quantitativen Herabsetzung und Fehler¬ 
haftigkeit ihrer Tätigkeit sich erholt haben, 
so versuche man ganz langsam mit 
leichtesten Aufgaben die Zelltätig¬ 
keit wieder nach der Richtung ihrer 
Schädigung hin in Anspruch zu neh¬ 
men und sich mit größeren Zumutungen 
an die Zelltätigkeit allmählich einzu¬ 
schleichen. Man kann auf diese Weise 
die Zellen zur Wiederaufnahme ihrer 
regelrechten Tätigkeit erziehen, d. h. 
eine allmähliche Anbahnung und Be¬ 
festigung der letzteren herbeiführen. Diese 
in ihren Grundlagen angedeutete, natur¬ 
gemäße Behandlungsmethode stellt zwar 
die Geduld des Arztes und Patienten auf 
eine harte Probe, ist aber, wie ich glaube, 
bis jetzt unzweifelhaft die rationellste. Sie 
lässt, wenn man Jahre darauf verwendet, 
am ehesten erwarten, daß die in Insuffizienz 
und falsche Richtung geratene Zelltätigkeit 
wieder dauernd der normalen Platz machen 
wird, die sonst fast immer eintretenden 
Rückfälle der Stoffwechselstörung ausbleiben 
werden und der Kranke nicht bloß schein¬ 
bar, sondern wirklich gesund werden wird. 

Die entwickelten Grundsätze der „Ten- 
azität der Zelltätigkeit“ dürften vielleicht, 
wie ich hoffe, zur Erklärung des Zustande¬ 
kommens der Immunität und des Wesens 
gewisser Stoffwechselkrankheiten beitragen 
und auch bei unserem therapeutischen 
Vorgehen von Wert sein. Ich würde mich 
freuen, wenn meine Arbeit zu weiterer 
Forschung Veranlassung gäbe. 


Ueber eine Prioritätsfrage bezüglich des künstlichen Pneumo- 
thorax bei der Behandlung der Lungenschwindsucht — und 
Ober den Mechanismus seiner Wirkung. (schins.) 

Von Prof. Carlo Forlaninl, Direktor der medizinischen Klinik der Kgl. Universität in Pavia. 


Wir besitzen nun eine nicht unbe¬ 
deutende Anzahl von klinischen und anato¬ 
mischen Beobachtungen 1 ) (sämtliche nach 
1882 gesammelt), welche mit diesen Ge- 

l ) In der Behandlung dieses Gegenstandes habe 
ich mir einen bestimmten Plan vorgenommen. Nach 
der summarischen Mitteilung vom Jahre 1906 habe 
ich mich an die Zusammenstellung einer vollständigen 
Monographie gemacht Davon habe ich bereits den 
Abschnitt Ober das Instrumentarium für den operativen 
Eingrifi, Ober die Technik dieses letzteren und Ober 
seine Zufälle veröffentlicht (op. cit ). Es werden 
nun die rein klinischen Abschnitte folgen Ober die 
Fortführung der Behandlung, aber die Zufälle im 
Verlaufe derselben und Ober die Ausgänge; ab- 
schliefien werde ich mit meiner Statistik. Auf eine 
letzte Veröffentlichung werde ich schließlich meine 
Anschauungen über die Natur des phthisiogenen Pro¬ 
zesses und Ober die Wirkungen der Ruhigstellung 
der Lunge versparen, da ihnen eine allgemeinere 
und gewissermaßen abschließende Bedeutung zu¬ 
kommt und sie ein ausgedehnteres Feld als jenes des 


danken übereinstimmen: nämlich Beobach¬ 
tungen von Fällen, bei denen die ruhig¬ 
gestellten Lungenpartien — bei Ausbruch 
der Phthise 1 ) nach der Ruhigstellung — 

therapeutischen Pneumothorax besitzen. Uebrigens 
gelangt jeder, der die Lfebens- und Funktions¬ 
bedingungen des Lungenparenchyms und jene, die 
durch das Material der infektiösen Prozesse der 
Phthise darin erzeugt werden, prüft, mit Leichtigkeit 
von selbst zu dem Schluß, daß jenes Parenchym ab¬ 
sterben müsse: ein Schluß, der noch bekräftigt wird 
durch die für die käsige Degeneration der Lunge 
charakteristischen anatomischen Eigentümlichkeiten. 

C. Forlanini. Zur Behandlung der Lungen¬ 
schwindsucht durch künstlich erzeugten Pneumo¬ 
thorax. (Deutsche med. Wschr. 1906, Nr. 35.) 

*) Es ist nicht unnütz zu bemerken, daß, während 
ein ähnlicher Gedanke von den andern, oben an¬ 
geführten Deutungen der Wirkung des Pneumo¬ 
thorax, — welche wohl die lokale und allgemeine 
Besserung des Phthisikers erklären können, aber 
nicht die der gesunden Lunge durch die Richtig- 


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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Juni 


vollständig frei davon blieben, während die 
beweglich gebliebenen Partien in ihrer 
ganzen Ausdehnung davon befallen wurden. 
Ich erinnere an die Fälle von Späth 1 ), 
Schmorl 2 ), Palasse 3 ) und Westen¬ 
höffe r 4 ), bei welchen die Phthise beide 
Lungen in ihrer Totalität ergriff und nur 
jene Partien vollständig verschonte, die 
durch schon vorhandene Pleuraergüsse 
ruhiggestellt und so gegen sie geschützt 
waren. Einen analogen, aber meiner An¬ 
sicht nach noch bedeutungsvolleren Fall 
habe ich selbst voriges Jahr beobachtet 
(Fall 42 meiner Statistik); ich gebe dessen 
Krankengeschichte hier kurz zusammen- 
gefaßt wieder. 

Franz B., 17 Jahre alt, Schlosser, aus Pavia, 
wird am 30. November 1907 in die Klinik auf- 

f enommen. — Die Krankheit begann in akuter 
orm rechtsseitig im vergangenen Juli. 

Status praesens. — Grazile Konstitution; 
phthisischer Habitus mit zylindrischem, schiefem 
Thorax. Starke Abmagerung und Prostation; 
Blässe (Fleischl 65%); hektisches Fieber, 38,5 
bis 39°; Frösteln, Schweiße. 200—350 g Sputum 
täglich, eitrig, großballig, wird leicht ausge¬ 
worfen; zahlreiche Bazillen und elastische 
Fasern. Puls 102; R. 26; arterieller Blutdruck 
112 mm Hg; Körpergewicht 34,7 kg. 

Thoraxbefund. Rechts vorn: Tieferliegen 
der ganzen oberen Lungengrenze. Gedämpft- 
tympanitischer Schall, mit Wintrich-Fried- 
reichschem Phänomen, mit bronchial-ampho¬ 
rischer Atmung und stark klingenden und gur¬ 
gelnden Rasselgeräuschen in der Supra- und 
Infraklavikulargegend; abgeschwächter Per¬ 
kussionsschall bis zur Basis, nach unten zu 
sich aufhellend; mit verschärftem, unbestimmten 
Atmen und verschiedenblasigen klingenden 
Rasselgeräuschen, nach unten zu an Zahl ab¬ 
nehmend; hochstehender unterer Lungenrand 
(in der Mammillarlinie an der 5. Rippe). Rechts 
unten und in der Axilla: Analoger Perkussions¬ 
und Auskultationsbetund; weniger deutlich 
jedoch die Kavernensymptome; die Ab¬ 
schwächung des Perkussionsschalles und die 
Rasselgeräusche erreichen nicht die Basis und 

Stellung verliehene Phthiseimmunität — sich nieth 
ableiten und auch nicht mit ihnen in Uebereinstimmung 
bringen ließe, dieser selbe Gedanke Hauptbestandteil 
des ersten fundamentalen Satzes ist; denn es ist klar, 
daß wenn die Bewegung der Lunge conditio sine qua 
non für die Entfaltung ^es Zerstörungsprozesses ist, 
dieser sogar nicht beginnen kann in einer gesunden 
Lunge, der durch die Ruhigstellung jene Bedingung 
genommen worden ist. 

l ) Späth, Eßlingen. Ueber die Beziehungen der 
Lungenkompression zur Lungentuberkulose (Med. 
Korrespondenzblatt des Württemberg, ärztl. Landes¬ 
vereins 1888, Nr. 14). 

Schmorl. Zur Frage der Genese der Lungen¬ 
tuberkulose. (Münch, med. Wochschr. 1902, Nr. 33 
und 34.) 

3 ) M. Palasse. Röle protecteur de l’6panchement 
pleural, au cours de la granulie.* (Soc. m6d. des 
Höpitaux de Lyon, S6ance du 26. Janvier 1909. — 
La Presse m6d. 1909, Nr. 18.) 

4 ) Westen ho eff er. Zur Frage der Disposition 
bei der Lungentuberkulose mit Beziehung auf ihre 
Therapie. (Die Ther. d. Gegenwart, Dezember 1906.) 


lassen unten einen 3—4 cm breiten Streifen 
hellen Schalles und fast normaler Atmung frei; 
der untere Lungenrand in normaler Höhe, seine 
aktive Beweglichkeit fast normal in der Skapu- 
larlinie, nach vorn zu geringer werdend (2—3 cm 
stark in der Axillarlinie); in der Fossa infra- 
spinosa ausgedehntes, scharfes in- und ex- 
spiratorisches Reiben. — Linke Lunge: Schall¬ 
abschwächung in der Supra- und Infraklavi- 
kulargegend (bis zum zweiten Interkostalraum) 
und in der Fossa supraspinata, ziemlich aus¬ 
geprägt oben, nach unten zunehmend; mit 
rauhem, etwas konsonierenden Bronchialatmen 
und verlängertem Exspirium; klein-und mittel¬ 
blasige, konsonierende, bewegliche, nicht gur¬ 
gelnde Rasselgeräusche, besonders zahlreich 
in der Supraklavikulargrube. Im übrigen nor¬ 
maler Lungenschall mit verschärftem Atmen 
und vereinzelten trockenen und feuchten Rassel¬ 
geräuschen; die Lungengrenzen normal, Lungen¬ 
ränder gut verschieblich. — Untersuchung des 
Herzens, des Abdomens, des Urins ohne Be¬ 
sonderheiten. 

Diagnose: Doppelseitige Phthise mit ziem¬ 
lich raschem Verlauf; rechts ausgedehnt (fast 
total), vorgeschritten mit Kavernenbildung, mit 
trockener Pleuritis und fast totalen Adhärenzen 
vorn; links Spitzenerkrankung, mit deutlichen 
destruktiven Veränderungen, aber noch nicht 
mit Kavernenbildung. 

Das nicht mehr initiale Stadium der links¬ 
seitigen Erkrankung, die teilweise Verwachsung 
der Pleura rechts, die Schwere des Allgemein¬ 
zustandes hielten mich anfangs von der An¬ 
legung des Pneumothorax ab; da aber der Zu¬ 
stand sich rasch verschlimmerte (in zwei Wochen 
weitere Gewichtsabnahme um 1 kg und Sinken 
des Hämoglobingehaltes auf 50 %), so daß der 
Exitus nahe und unvermeidlich erschien, und 
unter Berücksichtigung, daß mit dem Pneumo¬ 
thorax wenigstens ein vorübergehender Still¬ 
stand hätte erreicht werden können, unternehme 
ich am 26. Dezember 1907 eine erste Einführung 
von 300 ebem Stickstoff, die ich nach meiner 
gewohnten Methode an den nachfolgenden 
Tagen wiederhole. 

Wie gewöhnlich, sinkt rasch das Fieber 
(schon nach der ersten Einführung erreicht es 
nicht mehr 38°) und mit ihm verschwinden die 
Schweiße, die Kräfte heben sich, die Gewichts¬ 
abnahme hört auf, ja am 17. Tage besteht 
schon eine Zunahme von 200 g. Der Husten 
nimmt ab und mit ihm der Auswurf, der rasch 
sich modifiziert * 

30. Dezember 1907 (5. Tag). Nachweisbarer 
Pneumothorax von der 2. Rippe vorn und zwei 
Querfinger unterhalb der Spina scapular bis 
zur Basis; oberhalb davon bestehen die Ka¬ 
vernensymptome weiter. 

4. Januar 1908 (10. Tag). Der Pneumothorax 
nimmt vorn auch den 1. Interkostalraum ein 
und überschreitet den linken Sternalrand. Die 
perkutorischen Höhlen Symptome sind ver¬ 
schwunden; es bleiben noch die gurgelnden 
Rasselgeräusche. Der Befund hinten unver¬ 
ändert. 

14. Januar (20. Tag). Die gurgelnden Rassel- 
eräusche beschränken sich auf die Supra- 
lavikulargegend; sonst alles unverändert. 

5. Februar (42. Tag). Befund rechts unver¬ 
ändert. Deutliche Abnahme der Rasselgeräusche 
links. Auswurf auf 80—100 ebem vermindert; 
bedeutend weniger eitrig, mit noch zahlreichen 
Bazillen und elastischen Fasern. Seit längerer 
Zeit Apyrexie. Große Besserung des Allgemein- 


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Juni 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


247 


zustandes; Gewichtszunahme um 3,9 kg. Der 
Kranke steht auf. Es wird mit subkutanen 
Injektionen von Fibrolysin begonnen. 

19. Februar (55. Tag). Pneumothorax bis 
zum Schlüsselbein. In der Supraklavikular¬ 
grube und hinten bis unter die Spina herunter 
Dämpfung mit Schachtelton, sehr schwaches, 
unbestimmtes Atmen; seltene kleinblasige, 
konsonierende, nicht gurgelnde, ja wenig be¬ 
wegliche Rasselgeräusche. Links vereinzeltes, 
klingendes, klein- und mittelbiasiges Rasseln 
in der Supraklavikulargrube. Auswurf zirka 
50 cbcm. Weitere allgemeine Besserung, Ge¬ 
wichtszunahme um 4,6 kg. 

9. Mai (zirka 4 1 /* Monate). Sehr voluminöser 
Pneumothorax; er erreicht die linke Parasternal¬ 
linie. Es besteht noch die Lungenverwachsung 
in der Supraklavikulargrube und in der Fossa 
supraspinata. Das Rasseln in der kompri¬ 
mierten Lunge hat immer weiter abgenommen. 
Links ganz vereinzeltes Rasseln beim Husten 
in der Supraklavikulargrube. Sputum 20 bis 
25 cbcm, schleimig, mit einzelnen dickeren 
Flocken, die vereinzelte Partikelchen von ela¬ 
stischen Fasern und ganz seltene Bazillen ent¬ 
halten (1 auf 2—3 Gesichtsfelder). Subjektives 
Wohlbefinden: Patient ist den ganzen Tag auf 
und geht spazieren, und hat nur bei Bewegungen 
mäßige Dyspnoe. Gewichtszunahme 12,1 kg. 

6. Juni (57t Monate nach Beginn der Kur). 
Atmung rechts überall aufgehoben; es bestehen 
noch seltene Rasselgeräusche in der Fossa 
supraspinata in den Zwischenzeiten, die nach 
jeder frischen StickstofTeinführung verschwinden. 
Die Rasselgeräusche links sind ganz weg. 
Allgemeinzustand immer gut; Patient macht 
lange Spaziergänge. Gewichtszunahme 13,1 kg. 

19. Juli (fast 7 Monate). Da der Zustand 
immer sehr gut ist, verläßt Patient die Klinik 
(um alle 10—15 Tage zur Stickstoffeinführung 
zu erscheinen). 

23. bis 29. Juli, 5. August. Ambulatorische 
Stickstoffnachfüilung. Der objektive und sub¬ 
jektive Allgemeinzustand bleibt unverändert 
gut Es besteht immer noch eine kleine, tief¬ 
liegende Gruppe von Rasselgeräuschen über 
der Spina, die aber nach der Einführung von 
200 cbcm Stickstoff verschwindet. Patient ist 
fortwährend fieberlos, hat ganz seltene Husten¬ 
stöße, mit sehr wenig Auswurf. 

Es handelt sich also um einen äußerst be¬ 
friedigenden und unverhofften Erfolg. Die 
schon ziemlich vorgeschrittene und ausgebreitete 
Erkrankung der linken Lunge war für den 
Augenblick zum Schweigen gebracht w'orden; 
sie bestand nur noch in einer Spitzendämpfung 
und konnte als auf dem Wege stärkster Rück¬ 
bildung begriffen betrachtet werden. Die ge¬ 
schrumpfte rechte Lunge, an die Thoraxkuppel 
angedrückt, war noch nicht vollständig ruhig 
gestellt; sobald der Druck des Pneumothorax 
etwas nachließ, traten wieder Rasselgeräusche 
darin auf. Aber die großen Kavernen waren 
aufgehoben, der bindegewebige Vernarbungs¬ 
prozeß war sicherlich in bestem Gang, und es 
war eine bleibende Heilung zu erhoffen, wenn 
nur mit Sorgfalt und auf noch lange Zeit 
hinaus der Pneumothorax unterhalten und der 
Kranke eine entsprechende Lebensweise be¬ 
obachten würde; das noch frische Narben¬ 
gewebe mußte noch wenig widerstandsfähig 
sein; bei den bestehenden Verwachsungen mit 
der Thoraxwand waren Zerreißungen und die 
Eröffnung der Lunge in die Pleurahöhle möglich 
bei heftigeren Thoraxbewegungen (ich habe 


andere solche Fälle gesehen, die ich bei der 
Besprechung der Zufälle im Verlaufe der Be¬ 
handlung mitteilen werde); der Kranke hätte 
schon einer ruhigen Beschäftigung obliegen, 
aber nicht heftige körperliche Ueberanstren- 
gungen ertragen können ; in diesem Sinne wurde 
ihm auch sehr ernstlich zugesprochen. Leider 
ließ er sich durch sein vollständiges subjektives 
Wohlbefinden, und da er sich über seinen 
wahren Zustand nicht genau Rechenschaft 
geben konnte, zu großen Spaziergängen zu Fuß 
und auf dem Rad und selbst zu Ausflügen im 
Ruderboot auf dem Tessin verleiten. Und der 
befürchtete Zufall trat ein. 

Am Morgen des 5. August kommt er zur 
üblichen Stickstoffnachfüllung in die Klinik. 
Gleich darauf fährt er auf dem Rad nach 
Broni (21 Kilometer) und von hier steigt er zu 
Fuß nach dem Schloß von Cicognola (200 m 
über Broni), indem er weitere 5 Kilometer, 
stellenweise mit starker Steigung, zurücklegt. 
Während des Anstieges hat er ungewöhnliche 
Dyspnoe und, auf der Höhe angekommen, einen 
Erstickungsanfall; nachdem er sich einiger¬ 
maßen erholt hat, steigt er zu Fuß wieder den 
Hügel herunter. Während der folgenden Tage 
— er wird fiebernd in die Klinik wieder auf¬ 
genommen — wird Perforation der Lunge, 
Verkleinerung des Pneumothorax, hernach 
Empyem konstatiert, dem der Kranke am 
13. September erliegt. In der Zwischenzeit 
von mehr als einem Monat flackert die alte 
linksseitige Spitzenaffektion wieder auf und er¬ 
greift rasch einen großen Teil der gesund ge¬ 
wesenen linken Lunge. 

Leichenbefund. Rechte Pleura äußerst 
verdickt, die Höhle enthält zirka 400 cbcm 
Eiter. Die rechte Lunge ist zu einer soliden, 
kompakten Masse geschrumpft, die ungefähr 
Vs—Vio der Pleurahöhle einnimmt (der Rest 
ist Pneumothorax), und aus zwei untereinander 
durch einen dicken Isthmus verbundenen Teilen 
besteht; der obere mit der Spitze verwachsene 
Teil ist zudem durch zwei 3—4 mm dicke 
Pleurafalten an die Thoraxwand festgeheftet; 
der zweite Teil hat die Form eines dicken 
abgeflacht zylindrischen Stranges und ist dem 
Mediastinum und dem Zwerchfell adhärent. 
Fig. 1 ist die Photographie eines großen Teiles 
des mit der Lunge aus dem Thorax heraus¬ 
genommenen Pleurasackes; die obere Masse 
mit dem Isthmus ist durch einen seitlichen 
senkrechten Schnitt in zwei Teile geteilt; der 
hintere Teil liegt in der Photographie links; 
der vordere, nach außen gedreht, liegt rechts 
zusammen mit dem dicken mediastin&len 
Strange; letzterer ist ebenfalls quer durch¬ 
schnitten und seine Schnittflächen sind kaum 
voneinander gedrängt. Durch Zurückdrehen 
der rechten Hälfte der Photographie auf die 
linke würde man die Lungenmasse wieder ver¬ 
einigen. — Auf der Schnittfläche erscheint die 
fleischig aussehende obere Masse durch einen 
dicken querverlaufenden Bind ege websstreifen 
(wahrscheinlich das sehr verdickte obere inter- 
lobäre Septum) in zwei Teile geteilt. Der 
obere Teil ist von deutlich fleischigem Aus¬ 
sehen mit verschwommenen Flecken von ver¬ 
schieden intensiver blaß ziegelroter oder grauer 
oder schwarzer oder gelblicher Farbe; es 
kommen darin aber auch rein gelbe Flecken 
vor, die einen mit scharfen, die anderen mit 
mehr verschwommenen Rändern, von denen 
der größte Teil den Durchmesser von 1 cm 
nicht erreicht; sie bestehen augenscheinlich aus 


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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Juni 




käsigen Massen. Diese Flecken sind vor¬ 
wiegend längs eines oberen peripherischen 
Streifens, gewissermaßen sub¬ 
pleural, verteilt; aus einigen 
von ihnen ist die käsige Masse 
heraus gefallen, einen kleinen 
Hohlraum zurücklassend. Der 
andere Teil bringt in sehr ab¬ 
geschwächter Weise die Ver¬ 
hältnisse des oberen wieder; die 
Farbensprenkelung tritt weniger 
stark hervor; man erkennt darin 
kaum einige gelbliche Flecken, 
und es erscheinen Inseln von 
vorher lufthaltig gewesenen, 
jetzt atelektatischem Lungen 
gewebe. Dasselbe gilt von der 
Schnittfläche der zylindrisch- 
mediastinalen Masse, in der die 
lufihaltig-atelektatischen Lun¬ 
genpartien viel zahlreicher sind. 

Die linke Lunge zeigt das 
gewohnte Bild eines stark ausge¬ 
bildeten phthisischen Prozesses 
in der Spitze; im übrigen Teil 
sind überall, vorzugsweise an 
der Basis, verstreute zahlreiche 
kleine Herde. 

Histologischer Lungen¬ 
befund. In der ganzen linken 
Lunge wird der klassische Be¬ 
fund der floriden Phthise erho¬ 
ben; Herde von käsiger Pneu¬ 
monie in 'allen ihren Stadien. 
Tuberkelknötchen mit Riesen- 
und epitheloiden Zellen und frischer Rundzellen¬ 
infiltration. Weitere Einzelheiten halte ich für 
überflüssig. 

Rechte Lunge: Eme I cm dicke Scheibe 

Fig. 2. 


aus der oberen Partie, in 6 Würfel geteilt, gibt 
uns in Oberflächen- und senkrechten Serien- 

Fig. 1. 


Die aus dem Thorax herausgenommene Pleura und Lunge des Franz B. 

Die obere Lungenmasse ist durch einen senkrechten Schnitt quer durchtrennt und 
der vordere Teil samt der unteren mediastinischen Masse und einem Teil des 
Pleurasackes nach außen umgeschlagen (rechts in der Zeichnung). Die media- 
stimsche Masse ist ebenfalls quer durchschnitten, aber in horizontaler Richtung, 
und der Schnitt ist klaffend. 

schnitten den Befund eines Gesamtdurch- 
schnittes durch die ganze Masse: dasselbe ist 
mit der in 3 Würfel zerteilten mediastinischen 
Masse der Fall. — Der Befund entspricht jenem 

der eingeleite¬ 
ten Heilung, die 
noch nicht das 
von mir 1906 be¬ 
schriebene End¬ 
stadium (op. cit.) 

erreicht hat, 
aber doch schon 


Schnitt durch einen aus der oberen Lungenmasse des Franz B. entnommenen Würfel, wo die 
Läsionen am vorgeschrittensten sind (siebenfache lineare Vcrgrösserung). 


weiter vorge¬ 
schritten ist als 
in den Fällen 
von Graetz. 
Fig. 2 gibt eine 
Mikrophotogra¬ 
phie in 7facher 
lineärer Ver¬ 
größerung eines 
Schnittes durch 
den die Spitze 
betreffenden 
Würfel wieder, 
in dem die be¬ 
deutendsten 
Reste der alten 
Phthise enthal¬ 
ten sind. Eine 
unregelmäßige 
dicke käsige 
Masse in der 
Mitte ist um¬ 
geben von ver¬ 
schiedenen klei¬ 
neren ; alle sind 
scharf abge¬ 
grenzt. Die kä¬ 
sige Substanz 


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Juni 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


249 


hat sich in der Härtungsflüssigkeit stark zu¬ 
sammengezogen und ist voll von Sprüngen; 
größtenteils ist sie amorph und färbt sich nicht; 
stellenweise sind noch die zusammengedrängten 
deformierten zeitigen Elemente mit schwach 
färbbaren Kernen zu erkennen. Diese Massen, 
die wahrscheinlichen Ueberreste der früheren 
großen Kavernen, sind umgeben und vonein¬ 
ander abgetrennt durch eine aus neugebildetem 
Bindegewebe bestehende Masse, die bald da, 
bald dort Reste von Lungenparenchym, Gefäße 
und Bronchen einschließt. Bei entsprechender 
Vergrößerung erscheint das Bindegewebe mehr 
oder weniger jungen Datums, an einzelnen 
Punkten schon von deutlicher Narbenstruktur 
mit unregelmäßig zusammenliegenden Bündeln, 
überall von zahlreichen gut färbbaren fixen 
Zellen und einer reichlichen kleinzelligen In¬ 
filtration durchsetzt, die bald difius ist, bald 
auch in mannigfach geformten Haufen ange¬ 
ordnet ist, zuweilen so dichtgedrängt wie bei 
Abszeßknötchen. An einzelnen Stellen ist die 
Bindegewebsneubildung scharf getrennt von 
den käsigen Massen, mit dem Aussehen einer 
Wandbildung; an andern Stellen scheint sie mit 
der Käsesubstanz zu verschmelzen. Die 
Bindegewebsneubildung ist besonders reichlich 
um die Gefäße und um die Bronchen herum: 
die Gefäßwände sind verdickt, besonders die 
der Arterien, ohne aber den Grad der den 
letzten Stadien der Narbenbildung eigen¬ 
tümlichen Mesarteriitis obliterans zu erreichen. 
Auch hier begegnet man, wenn auch in wenig 
hervorstechendem Maße, jenen interessanten 
Gefäßneubildungen von angiomartigem Aus¬ 
sehen, wie sie von Guyot-Bourg für die 
pleuralen Pseudomembranen bei der Phthise 
beschrieben worden sind, wie man sie aber 
auch, speziell bei der vorgeschrittenen narbigen 
Bindegewebsbildung in der Lunge beobachtet. 
— Ebenso verdickt und mit reichlicher klein¬ 
zelliger Infiltration durchsetzt sind die Bron¬ 
chialwände; ich habe keine besonderen Ver¬ 
änderungen an der Muskularis noch an den 
Drüsen angetroffen; aber die Lumina sind de¬ 
formiert, stenosiert oder an einzelnen um¬ 
schriebenen Stellen dilatiert und durch dicke 
Sekretpfropfen mit reicher Proliferation zylin¬ 
drischer Epithelien verstopft 

Von besonderem Interesse sind die Reste 
von Lungengewebe; sie treten in meistens 
isolierten, unregelmäßigen, verschieden großen 
und durch die Bindegewebsneubildung gut ab¬ 
gegrenzten Haufen auf; zuweilen sind hingegen 
ihre Grenzen nicht scharf und verlieren sich 
im Bindegewebe; das Parenchym ist überall 
atelektatisch. stellenweise stark gedehnt, von 
faszikuliertem Aussehen, mit reichlicher klein¬ 
zelliger Infiltration, und die Epithelzellen sind 
stark zusammengedrängt stellenweise deutlich 
erkennbar, Wo die Läsionen hochgradiger 
sind, wie in Fig. 2, erscheinen viele jener 
schon seit langer Zeit, speziell für die fibröse 
Phthise beschriebenen Bilder, mit dem Aus¬ 
sehen von embryonalem Lungengewebe, zu¬ 
weilen verästelten Drüsenschläuchen gleichend 
mit wohlerhaltenem kubischen Epithel und 

g ’oßem, rundlichen, stark färbbaren Kern, deren 
edeutung dunkel ist und die mir — speziell 
bei der Beobachtung der älteren Fälle von 
Lungenvernarbung — vorderhand den Eindruck 
machen von atypischen Neubildungen von in 
Parenchymzügen zurückgebliebenem Lungen¬ 
epithel, in welchem jeder infektiöse Prozeß er- j 
loschen ist in denen aber gleichzeitig die t 


Atmungsfunktion nicht wieder einsetzen kann. 
Wo hingegen die Läsionen geringgradiger sind, 
ist die Zellanhäufung geringer, die Lungen- 
gewebspartien sind ausgedehnter, die klein¬ 
zellige Infiltration und die Atelektase geringer, 
ja die Alveolen zeichnen sich deutlich ab und 
ihr Epithel ist relativ gut erhalten. Wo endlich 
die Läsionen der alten Phthise spärlich sind, 
wie im untersten Teil der mediastinischen 
Blasse, bildet das Parenchym ein kontinuier¬ 
liches Ganzes mit einer reichlichen Bildung 
von Epithelien, die an vielen Stellen den 
Charakter einer eigentlichen katarrhalischen 
Pneumonie, hier und da mit den ersten An¬ 
fängen von käsiger Degeneration, annimmt. 

Aber trotz sorgfältiger Untersuchung gelang 
es mir nicht, eine Andeutung von fnschen 
Phthiseprozessen nachzuweisen; keine Herde 
von käsiger Pneumonie, wie sie typisch in der 
linken Lunge zu sehen waren, sondern nur die 
reiche Epithelzellenproduktion der media¬ 
stinischen Masse, da und dort mit Andeutungen 
von käsiger Degeneration (hier muß bemerkt 
werden, daß die genannte wenig erkrankte 
Lungenpartie nach der Perforation und nach 
dem Sinken des Pneumothoraxdruckes einen 
gewissen Grad von funktioneller Bewegung 
wieder erlangt haben muß); und vor allem 
keine Tuberkelknötchen in ihrem charakte¬ 
ristischen anatomischen Aufbau, weder frische 
noch alte; ich fand nur in der Nähe des Randes 
der zentralen käsigen Masse von Abb. 2, in 
den senkrechten Serienschnitten davon eine 
Gruppe von weniger Tuberkelriesenzellen, 
welche aber wegen ihres Aussehens und weil 
sie isoliert im Bindegewebe lagen, ohne Be¬ 
gleitung der andern zarteren Elemente des 
Knötchens, der epitheloiden Zellen und Spuren 
des Retikulums, als Ueberbleibsel des alten 
Prozesses angesehen werden mußten 1 ). 

Der mitgeteilte Fall ist interessant wegen 
seines klinischen Erfolges, der nur durch 
den Kranken selbst kompromittiert wurde; 
aber er ist vor allem wichtig mit Rück¬ 
sicht auf den anatomischen Befund und 
dessen Bedeutung. Zweifellos war der in¬ 
fektiöse Prozeß noch nicht erloschen, weder 
in der rechten noch in der linken Lunge; 
es kam zu einem akuten Wiederaufflackern 
gelegentlich der durch das Empyem ge¬ 
schaffenen neuen schweren Allgemeinbe¬ 
dingungen. ln der frei funktionierenden 
linken Lunge ergriff derselbe rasch in 
klassischer Weise das ganze Organ; in der 
oberen Masse der durch die Vernarbung 
ruhig gestellten rechten Lunge findet man 
hingegen keine Spur davon; und er er¬ 
scheint in ganz initialer Form in der me¬ 
diastinischen Masse, welche, nahezu frei 
von alten Läsionen, wahrscheinlich infolge 
der Perforation und des Sinkens des Pneu¬ 
mothoraxdruckes einen gewissen Grad 


*) Der Bazillennachweis in der rechten Lunge 
fiel negativ aus. Da die Stücke in Formalinalkohol 
aufbewahrt worden waren, hat dieser Befund na¬ 
türlich keinen absoluten Wert; er trifft aber zusammen 
mit dem Fehlen der histologisch charakteristischen 
Tuberkelknötchen. 

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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Juni 


funktioneller Beweglichkeit wiedererlangt 
hatte. 

Der zweite und dritte meiner Funda¬ 
mentalsätze, daß nämlich die Lebhaftigkeit 
der Atmungsbewegungen ein gewisses 
Hindernis dem Sichfestsetzen der vorberei¬ 
tenden Prozesse der Phthise entgegenstelle 
und die Abschwächung derselben ihm Vor¬ 
schub leiste, werden bereits durch ältere 
klinische Beobachtungen illustriert; die Be¬ 
vorzugung der Spitzen, die Disposition zur 
Phthise bei jenen, die ein ruhiges Leben 
in geschlossenen Räumen führen, die rela¬ 
tive Immunität hingegen bei jenen, die viel 
Bewegung, besonders im Gebirge, machen, 
usw.; aber diese Sätze finden, wie ich 
schon sagte, auch ihre praktische Anwen¬ 
dung und erfahren eine neue Illustration 
durch die Behandlung mit dem Pneumo¬ 
thorax. 

Der Pneumothorax der einen Seite übt, 
wie ich bereits in meinen früheren Arbeiten 
sagte, eine heilende Wirkung auch auf 
eine eventuelle Läsion der anderen Lunge 
aus; und die weitere Erfahrung bestärkt 
mich immer mehr in dieser Ueberzeugung. 
Es handelt sich hier um eine mehrfache 
Wirkung, bei .welcher gewiß als mächtige 
Faktoren die Aufhebung der Resorption 
der Toxine aus der anderen Lunge, als 
die unmittelbare Folge des Pneumothorax 
und später ihre Ausheilung und ihre Be¬ 
einflussung des Allgemeinzustandes hervor¬ 
zuheben sind; aber mehrere Momente 
lassen mich auch an die Beteiligung einer 
rein mechanischen, vom Pneumothorax als 
solchen sich herleitenden Wirkung denken, 
wie wir sie a priori auffassen müßten; eine 
Wirkung, die nicht direkt und absolut den 
Prozeß verhindert, wie es jene der Ruhig¬ 
stellung des Organs ist, sondern eine die 
Behandlung einfach unterstützende Wirkung 
von ganz anderem Mechanismus. Indem 
nämlich der Pneumothorax in vikariieren¬ 
der Form der anderen Lunge ein Ueber- 
maß von respiratorischer Beweglichkeit 
auferlegt 1 ), setzt er damit der Fortsetzung 

l ) Daß eine Funktionsbebinderung einer Lunge 
oder — allgemeiner — eine Verkleinerung der At¬ 
mungsoberfläche zu einer vikariierenden Zunahme der 
anderen Lunge oder der übrigbleibenden Atmungs¬ 
oberfläche führe, muß schon a priori angenommen 
werden; die Tatsache ist aber für die Pneumothorax¬ 
behandlung von solcher Wichtigkeit, daß es nötig ist, 
sie in ihren Einzelheiten und speziell mit Rücksicht 
auf ihr Maß zu studieren und klar zu legen. Eine 
solche Untersuchung wurde zweimal in meiner 
Klinik in Turin und in jener in Pavia vorgenommen. 
1890 von den Proff. Riva-Rocci und Cavallero, 
damaligen Assistenten der Klinik, und neuerdings 
von Dr. Carpi, meinen jetzigen Assistenten. Riva- 
Rocci und Cavallero benutzten 12 Fälle der 


der vorbereitenden Prozesse der Phthise — 
wie es mein zweiter Satz ausdrückt — 
einen gewissen Widerstand entgegen; was 
eine vorbeugende Wirkung bedeutet, wenn 
die Lunge gesund ist, eine kurative, wenn 
sie schon von der Krankheit befallen ist; eine 
Wirkung, welche bei ihrer Natur und bei 
ihrem Mechanismus nur innerhalb gewisser 
Grenzen und nur unter bestimmten Bedin¬ 
gungen vor sich geht, vor allem nur, wenn 
die Läsion noch nicht weiter vorgeschritten 
ist und speziell, wenn es noch nicht zu 
eigentlichen Zerstörungen gekommen ist. 

Ich habe in meiner Statistik bereits eine 
ordentliche Anzahl von Fällen, bei denen 
eine Läsion der anderen Lunge zum Still¬ 
stand kam oder zurückging; in einigen 
Fällen heilte die Läsion ganz aus, und für 
einen Fall besitze ich den anatomischen 
Beweis der Heilung (ich werde bei der 
nächsten Gelegenheit diesen Fall — den 
fünften meiner Statistik —, welcher inter¬ 
essante Einzelheiten über den Heilungs¬ 
prozeß bietet, detailliert mitteilen); es han¬ 
delt sich um ein Mädchen mit rechtsseitiger 
kavernöser Phthise, bei welcher links in 
der Supraklavikulargrube eine Gruppe 
ziemlich fixierter, klein blasiger, klingender 
Rasselgeräusche bestand, die einige Zeit 
nach Einleitung der Behandlung für immer 

Klinik, die an verschiedenen Krankheitsformen des 
Atmungsapparates litten; darunter befanden sich vier 
meiner ersten Fälle von künstlichem Pneumothorax. 
Carpi hingegen benutzte 20 junge und gesunde 
Individuen, bei denen er eine merkliche Reduktion 
der Atmungsoberfläche mit dem von meinem früheren 
Assistenten Dr. Scarpa in Turin vorgeschlagene 
Emi-Eso-Torace erzielte; (es ist ein nach dem Prin¬ 
zip des alten pneumatischen Panzers konstruierter 
Apparat, mit welchem man die Atmungsexkursionen 
der einen Hälfte oder der ganzen Thoraxbasis ein¬ 
schränkt, mit der Absicht, in der anderen Hälfte oder 
in den oberen Thoraxpartien vikariierend eine ver¬ 
mehrte Atmungstätigkeit hervorzurufen. Die Resul¬ 
tate der drei Beobachter sind übereinstimmend und 
beweisen, 1. daß, welches auch die Reduktion der 
respiratorischen Oberfläche ist, die ventilierte Luft¬ 
menge ungefähr den normalen Wert beibehält, — 
2. daß die infolgedessen für die Einheit der vorhandenen 
Atmungsfläche notwendige Atmungszunahme im Mittel 
zu einem Viertel ihres Wertes von der Zunahme der 
Atemfrequenz und zu drei Viertel von der Vertiefung 
der Atembewegungen abhängig ist. 

G. Cavallero und S. Riva-Rocci. — Die re¬ 
spiratorische Funktion bei den Individuen mit Re¬ 
duktion der Atmungsoberfläche in den Lungen. Ex¬ 
perimentelle Studie. (Gazz. internaz. di Scienze 
Mediche, Anno XII, Napoli 1890.) 

L. G. Scarpa. —Von einer physiotherapeutischen 
Behandlung der Pleuritis und der Lungentuberkulose 
vermittels eines neuen Apparates, genannt pneuma¬ 
tischer Emi-Eso-Torace. (Comunicaz. alla R. Accad. 
di M6dicina di Torino. Seduta del 6. Luglio, 1906.) 

M. Carpi. — Die Lungenventilation bei Gesunden 
nach experimenteller Einschränkung der Atmungs¬ 
exkursionen. (Gazzetta Medica Italiana Nr. 6, 1910. 
Pavia. 


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Juni 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


251 


verschwanden; bei der Autopsie konsta¬ 
tierte ich an der im übrigen normalen 
Spitze eine leichte Narbenbildung, der 
wahrscheinliche Ueberrest der vierzehn 
Jahre vorher nachgewiesenen initialen 
Läsion. 

Klarer ist die Anwendung des dritten 
Satzes bei der Behandlung mit Pneumo¬ 
thorax: „Die Abschwächung der Atmungs¬ 
bewegungen begünstigt die Festsetzung der 
vorbereitenden Prozesse der Phthise®; und 
diese Wechselbeziehung ist so groß und 
von solcher Tragweite, daß man» um nicht 
großen Unannehmlichkeiten zu begegnen, 
sie bei jeder Behandlung mit Pneumothorax 
gegenwärtig haben muß. 

Ist der unter Druck stehende Pneumo¬ 
thorax gebildet, so wird durch ihn das 
Mediastinum nach der anderen Seite ver¬ 
schoben; die Folge ist eine Verringerung 
der Kapazität dieser Thoraxhälfte und eine 
entsprechende Herabsetzung ihrer spiro- 
metrischen Zahl, d. i. ihrer maximalen in¬ 
spiratorischen Ausdehnungsfähigkeit. Ge¬ 
wöhnlich ist die Herabsetzung nie so 
stark, um zu verhindern, daß in der nicht 
komprimierten Lunge die größte vikariie¬ 
rende respiratorische Aktivität, wie ich an¬ 
gedeutet habe, sich einstellt, und zwar in 
genügender Masse, um die normale Venti¬ 
lation im Zustande der Ruhe zu gewähr¬ 
leisten. Aber es ist klar, daß, wenn der 
Druck des Pneumothorax stark erhöht 
werden muß, um Pleuraverwachsungen zu 
erzwingen, es Vorkommen kann, daß die 
Verschiebung des Mediastinums die respi¬ 
ratorische Kapazität der anderen Thorax¬ 
hälfte derart einschränkt, daß die Ausbil¬ 
dung des vikariierenden Uebermaßes der 
für die normale Ventilation notwendigen 
Motilität verhindert wird, und auch daß 
die Motilität unter die Norm sinkt; mit 
anderen Worten, daß der in Funktion 
bleibenden Lunge ein auch für normale 
Exkursionen zu kleiner Spielraum übrig 
gelassen wird; in abstrakter Form kann 
man sich sogar eine solche Verschiebung 
des Mediastinums vorstellen, die die At¬ 
mung vollständig verunmöglicht. In solchen 
Fällen wird nicht nur der heilende Einfluß 
des vikariierenden Bewegungsübermaßes 
der in Funktion bleibenden Lunge aus- 
bleiben, sondern es kann sich die im dritten 
Satz beobachtete Bedingung verwirklichen, 
d. h. die Abschwächung der respiratorischen 
Bewegungen, und somit die Bildung von 
die Phthise vorbereitenden Herden oder 
die weitere Ausdehnung der schon be¬ 
stehenden begünstigt werden, besonders, 
wenn schon eine Läsion besteht. 


Und tatsächlich beweist die Klinik des 
Pneumothorax die Wahrscheinlichkeit dieses 
aprioristischen Gedankenganges. In einigen 
meiner Fälle, bei denen, sei es aus Not¬ 
wendigkeit für die Behandlung, sei es un¬ 
bemerkt, besonders gelegentlich der Bil¬ 
dung eines den Druck in schwer kontrollier¬ 
barer Weise verändernden pleuralen Er¬ 
gusses, der Druck im Pneumothorax unge¬ 
wöhnlich hochstieg, stellten sich in der 
anderen Lunge in zeitlicher Uebereinstim- 
mung und in progredienter Form die An¬ 
zeichen der verminderten Bewegungsfunk¬ 
tion ein, die Verengerung und die zuneh¬ 
mende Verlegung der Luftwege, und zum 
Schluß die klassischen örtlichen und all¬ 
gemeinen Symptome der Bildung neuer 
und fortwährend sich ausbreitender Krank¬ 
heitsherde. Und als Gegenbeweis hierzu 
brachte die rasche Rückkehr des Druckes 
zu einem angemessenen Grade das gleich¬ 
zeitige Verschwinden der neuen Erschei¬ 
nungen, so daß der Eindruck hervorgerufen 
wurde, daß mit der Beschränkung der 
respiratorischen Bewegungen gewisser¬ 
maßen künstlich neue Herde in der anderen 
Lunge erzeugt worden waren, die dann 
wieder unterdrückt wurden durch die Wieder¬ 
einsetzung der Bewegungen. 

Im Laufe dieses Jahres kamen zwei 
solcher Fälle zu meiner Beobachtung (58 
und 60 meiner Statistik); ich gebe den 
zweiten davon hier wieder, der genauer 
verfolgt werden konnte. 

Arthur M., 24 Jahre alt, aus einer Gemeinde 
der Provinz Pavia, Gastwirt, wird am 22. No¬ 
vember 1908 in die Klinik aufgenommen. — 
Ein Bruder an Schwindsucht gestorben; militär¬ 
untauglich wegen schwächlichem Körperbau. 
— Krankheitsbeginn im Juni 1907, in akuter 
Form, rechtsseitig. Er hat Perioden mit hohem 
Fieber und reichlicher eitriger Expektoration 
durchgemacht. Zunehmende Abmagerung, Un¬ 
fähigkeit zur Arbeit. 

Status praesens: Sehr graziler Körper¬ 
bau; ungenügender allgemeiner Ernährungs¬ 
zustand. Nicht sehr lästiger Husten mit spär¬ 
lichem (5—6 g pro Tag), dickem, reineitrigen 
münzenförmigen Sputum mit zahlreichen Ba¬ 
zillen und bündelförmigen elastischen Fasern. 
Fieberfrei; Puls 100, Respiration 20. Arterieller 
Blutdruck 125. Hämoglobin (Fleischl) 90 %. 
Körpergewicht 50,6 kg. 

Thorax: Zylindrisch, mager, asymetrisch, 
bei der Atmung sich ungleichmäßig ausdehnend. 

Rechte Seite: Oberer Lungenrand in toto 
über 1 cm tiefer stehend, der untere an normaler 
Stelle, überall aktiv verschieblich, nur vorn in 
ziemlich abgeschwächtem Grade. Oben starke 
Dämpfung, die in den Fossae supraclavicularis 
und supraspinata fast absolut ist und nach 
unten zu allmählich abnimmt bis zur 4. Rippe 
vorn und zur Mitte der Skapula hinten; von 
hier an lauter Lungenschlag bis zur Basis. 
Ueber diesem Gebiete ist der Stimmfremitus 
erhöht, die Atmung bald da bald dort unbe- 

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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Juni 


stimmt, etwas bronchial klingend, mit ver¬ 
längertem Exspirium und stark klingenden, 
nicht reichlichen, klein- und mittelblasigen 
Rasselgeräuschen in den Fossae supraclavi- 
cularisundsupraspinata, großblasiger, reichlicher 
beim Hustenstoß gurgelnd in den Fossae infra- 
clavicularis, interscapularis und infraspinata. 

Linke Seite: Kaum nachweisbares Tiefer¬ 
stehen des obern Randes, der untere an nor¬ 
maler Stelle und normal verschieblich. Dämpfung 
in den Fossae supraclavicularis und supra- 
spinata. die bis unter die Klavikula reicht im 
Sterno-klavikularwinkel, mit verschärftem In- 
spirium, verlängertem Exspirium und klein¬ 
blasiges klingendes Rasseln fast nur bei Husten- 
stoßen. Im übrigen normaler Befund. 

Der Befund am Herzen und an den übrigen 
Organen belanglos. 

Radioskopische Untersuchung: Aus¬ 
gedehnter starker Schatten rechts innen oben; 
eine leichte Schattenandeutung über der linken 
Spitze. 

Diagnose: Phthise beider Spitzen, im Be¬ 
ginne links; rechts viel ausgedehnter und vor¬ 
geschrittener, einen Teil des Ober- und des 
Mittellappens interessierend; mehrere kleine 
Kavernen rechts; Pleurahöhlen frei. 

Die Indikation zur Behandlung mit dem 
künstlichen Pneumothorax wird gestellt und 
dieselbe am 29. November 1907 mit einer 
ersten Einführung von 300 ccm Stickstoff ein¬ 
geleitet. 

Unter fortgesetzten täglichen Nachfüllungen 
erreicht der Pneumothorax am 6. Tage sein 
größtes Volumen, ist aber noch nicht voll¬ 
ständig: bei der Durchleuchtung erkennt man, 
daß die Lunge komprimiert ist, aber hinten 
oben adhärent ist und daß sie entsprechend 
dem obern Interlobärseptum bis in die hintere 
Axillarlinie ausgezogen ist; über dieser Stelle 
ist der Perkussionsschall noch gedämpft, wenn 
auch mit ausgesprochenem Schachtelton, und 
es wird noch ein deutliches Atmungsgeräusch 
gehört, kein Rasselgeräusch. Ueber der linken 
Lunge ist der Befund unverändert. Der Aus¬ 
wurf ist durch Speichelbeimengungen auf 10 
bis 12 g gestiegen. Die Stickstoffnachfüllungen 
werden in größeren Abständen fortgesetzt, in 
der Absicht, das Volumen und den Druck des 
Pneumothorax zu erhöhen und die Adhäsionen 
zu bezwingen; zu letzterem Zwecke werden 
auch Injektionen von Fibrolysin gemacht. 

Ende Dezember 1907 ist der Eitergehalt des 
Sputums fast völlig verschwunden, die Bazillen 
sind äußerst spärlich und man findet nur wenige 
zweifelhafte Fragmente elastischer Fasern. Der 
Thoraxstatus ist unverändert. 

Die Behandlung mit Stickstoffnachfüllungen 
von 125—175 ccm alle 2—4 Tage wird fort¬ 
gesetzt bis zum März. In der Zwischenzeit 
waren zwei blind endende Analfisteln aufge¬ 
treten, die operiert wurden. Der Ernährungs¬ 
zustand hatte sich verschlimmert (Anfangs 
März war das Körpergewicht um 8 kg ge¬ 
sunken), aber örtlich hatte sich der Zustand 
entschieden gebessert; trotz Bestehenbleibens 
der rechtsseitigen Dämpfung mit etwelchem 
Atmungsgeräusch und jener leichteren über 
der linken Spitze mit etwas Atmungsver- 
schäriung, verschwanden die Rasselgeräusche 
auf beiden Seiten, und der Auswurf beschränkte 
sich auf wenige Gramm, war schleimig- 
speichelig, ohne Bazillen (bei zahlreichen Unter¬ 
suchungen) und frei von elastischen Fasern. 

Zu dieser Zeit mußte ich für einige Zeit 


von der Klinik wegbleiben; aber die Behand¬ 
lung war nunmehr vorgezeichnet: sorgfältige 
Unterhaltung des Pneumothorax, und die Ver¬ 
narbung der rechten Lunge der Zeit über¬ 
lassen. 

Ich sehe den Kranken am 9. April in schwerem 
Zustande wieder infolge einer Mitte März be¬ 
gonnenen Verschlimmerung. Ich gebe hier die 
klinische Krankengeschichte wieder: 

12. März. In der linken Supraklavikular- 
grube sind klein- und mittelblasige, klingende 
Rasselgeräusche wieder aufgetreten; rechts 
keine Veränderung. Zunahme des Auswurfs 
(21 g), der wiederum eitrig ist, mit Bazillen 
in ziemlicher Anzahl. Apyrexie. 

30. März. Rechts Lungenbefund unver¬ 
ändert; ganz geringer Pleuraerguß. Links haben 
die Rasselgeräusche an Zahl zugenommen und 
sich auf die Fossae infraclavicularis und infra¬ 
spinata ausgedehnt. Die Temperatur seit vier 
Tagen fiebrig mit Maxima zwischen 37,8 und 
38,5, heute 39,2. 

4. April. Ueber der linken Lunge sind die 
Rasselgeräusche zahlreich und erstrecken sich 
auch auf die Infraklavikulargrube und die 
Achselhöhle; sie sind klingend; im Auswurf 
sehr zahlreiche Bazillen und elastische Fasern. 
Pneumothorax gespannt, der Erguß angestiegen; 
die rechte Lunge unverändert. Abendtempe¬ 
ratur 39,0. Man diagnostiziert diffuse akute 
Phthise links; mit Rücksicht auf die Zunahme 
des Ergusses und die starke Spannung des 
Pneumothorax wird mit den Stickstoffnach¬ 
füllungen aufgehört. 

9. April. Ich sehe den Kranken wieder und 
konstatiere: rechte Seite: Pneumothorax von 
enormem Volumen (infolge des Hinzukommens 
des Ergusses). (Fig. 3.) Vorn hat sich der 


Fig. 3. 



Perkussionsbefund des Arthur M. am 9. April 1909. 

PP Grenzen des Pneumothorax bei Rückenlage; PP obere 
und untere Grenze der Unken Lunge: m aktive Verschieb¬ 
lichkeit des unteren linken Lungenrandes; p ' normaler Sitz 
des oberen Lungenrandes, der durch den Pneumothorax über 
ragt wird. 

Pneumothorax über die ganze innere Hälfte 
der linken Thoraxseite ausgedehnt und über¬ 
schreitet die Brustwarze; nach unten reicht er 
bis unter den epigastrischen Winkel in der 
Mittellinie und erreicht (in Rückenlage) den 
rechten Rippenbogen. Hinten (bei aufrechter 
und stark nach vorn gebeugter Stellung, um 
den Erguß zu verdrängen) sinkt er unter die 
12. Rippe herunter. Erguß von beträchtlichem 


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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


253 


Volumen; beim Sitzen erreicht er die Brust¬ 
warze und den Angulus scapulae (man denke 
an die Umstülpung des Zwerchfells nach unten!); 
die Leber ganz nach unten vom Rippenbogen 
und nach links verlagert Die frühere Dämpfung 
in der oberen Partie besteht fort; über ihr und 
längs der Projektion des oberen und des 
unteren Interlobärseptums in der Achselhöhle 
leichtes Atmungsgeräusch (wie früher) und ver¬ 
einzeltes Geräusch des fallenden Tropfens; im 
übrigen herrscht auch in der das Sternum nach 
links überragenden Partie vollständige Stille. 

Linke Seite: Herz stark verlagert: der 
Spitzenstoß ist jenseits der Mammillarlinie und 
reicht bis zur mittleren Axillarlinie (hier im 
8.Interkostalraum): kein Reiben oder Sch wirren; 
die Herzdämpfung ist mit Rücksicht auf den 
Lungenbefund nicht bestimmbar; die Töne sind 
dumpf, entfernt, ohne Geräusche, rhytmisch. 
Puls 120; arterieller Blutdruck 130; mäßige 
Zyanose; Respiration 36. — Dyspnoe. — Tempe¬ 
ratur 39,6. 

Linke Lunge: Unterer Rand an normaler 
Stelle, seine Verschieblichkeit auf ein Drittel 
reduziert; die Incisura cardiaca ist aufgehoben; 
der Pneumothorax grenzt in der Mammillar¬ 
linie unmittelbar an die Lunge. Nirgends mehr 
reiner, normaler Lungenschall; es bestehen 
zwei weite Dämpfungszonen von verschiedener 
Intensität und mit unbestimmten Grenzen; die 
eine ist die alte Spitzendämpfung, die inten¬ 
siver geworden ist und bis in die Infra- 
klavikulargrube und über die ganze Skapula 
heruntersteigt, nur die Basis freilassend; die 
andere ist an der Basis in der vordem Axillar¬ 
linie, überschreitet nach oben die Mammillar- 
höhe und schließt die Herzgegend in sich ein. 
Ueberall sehr scharfes, bronchiales, stellen¬ 
weise ziemlich konsonierendes Atmen mit auf¬ 
fallenden, tiefen Unterbrechungen; Stellen mit 
krepitierenden Rasselgeräuschen und ganz 
feinem Knisterrassein, vorzüglich vorn an der 
Basis; und überall in verschiedener Stärke 
reichliche, sehr bewegliche Rasselgeräusche 
von jeder Blasengröße, die an einer Stelle nahe 
der Herzgegend und an einer andern über dem 
Schulterblatt einen stark klingenden und wasser¬ 
pfeifenartigen Charakter annehmen. 

Ich diagnostiziere einen ausgedehnten links¬ 
seitigen bronchopneumonischen Prozeß, den ich, 
wenigstens zu großem Teile, der Verringerung 
des Spielraums und der Bewegungen der linken 
Lunge infolge des enormen flüssigen und gas¬ 
förmigen Inhalts der rechten Pleura zuschreibe. 
Die Folge davon ist, daß ich 500 ccm Stick¬ 
stoff entferne; 300 sofort und 200 am folgenden 
Morgen. 

10 April. Nach der Entfernung des Stick¬ 
stoffs subjektive Besserung; Reduktion des 
Pneumothorax nach links und dem Epigastrium 
zu; der auskultatorische Befund links abge¬ 
schwächt; die Rasselgeräusche und der bron¬ 
chialklingende Charakter des Atmungsgeräusches 
haben abgenommen; der sakkadierte Charakter 
fast ganz verschwunden. Leichte Temperatur¬ 
erniedrigung. 

Eine Probepunktion ergibt eine klare Flüssig¬ 
keit, mit ganz seltenen Lymphozyten, und mit 
negativem bakteriologischen Befund, auch hin¬ 
sichtlich Agar- und Gelatinekulturen. 

Vom 10.—21. April schwächte sich der links¬ 
seitige Befund immer mehr ab; auch die Ba¬ 
zillen und die elastischen Fasern nahmen ab, 
hingegen nahmen der Erguß und das Rasseln 
auf der rechten Seite zu und in den letzten 


Tagen auch das Fieber; weswegen man sich 
zur Thorakozentese entschließt. 

22. April. Thorakozentese von 1300 ccm 
(fast vollständig; die kleine zurückbleibende 
Menge ist gerade noch durch die Succussio 
nachweisbar) und Ersatz der entfernten Flüssig¬ 
keit durch 1100 ccm Stickstoff. Abends Tem¬ 
peratur 40,1; subjektive Verschlimmerung, 
merkliche Zunahme der Rasselgeräusche links, 
Pneumothorax sehr gespannt. Es werden 
daher 250 ccm Stickstoff wieder entfernt, was 
eine sofortige Besserung zur Folge hat 1 ). 

Von diesem Augenblick an nahm das Fieber 
ab und trat andauernde Apyrexie ein; es ging 
mit einigen Wechselfällen der linksseitige Be¬ 
fund bis zum fast völligen Verschwinden zurück. 
Der ein wenig entspannte Pneumothorax wurde 
noch dreimal mit je 50 ccm nachgefüllt (am 
20. April, 6. und 16. Mai). Der Allgemein- 
zustand besserte sich fortschreitend; das nach 
der Pleuritis auf 40 kg gesunkene Körper¬ 
gewicht begann wieder anzusteigen; der 
schleimig-seröse Auswurf zirka 10—15 g, ent¬ 
hielt ganz spärliche Bazillen. 

Im Mai ist von der schweren Komplikation 
der linken Lunge nur noch der geringe Befund 
wie am Tage der Spitalaufnahme zurück¬ 
geblieben : leichte Spitzendämpfung mit seltenen 
Rasselgeräuschen in der Fossa supraspinata; 
im übrigen Teil der Lunge sind die Rassel¬ 
geräusche verschwunden und es besteht nur 
noch eine leichte Verschärfung des Atem¬ 
geräusches. Der Kranke geht ms Freie. Es 
begann zwar damals ein langsames Wieder¬ 
auftreten des Ergusses, das zweimal, am 19. 
und am 25. Mai, die Herausnahme von 100 ccm 
Stickstoff nötig machte, um neuen Kompli¬ 
kationen vorzubeugen. 

18. Juli. Der Kranke verläßt die Klinik in 
folgendem Zustand (die Kur wird ambulatorisch 
fortgeführt): Es waren seit 58 Tagen keine 
Entleerungen noch Nachfüllungen von Stick¬ 
stoff mehr notwendig gewesen: ein langsames 
Ansteigen des Ergusses gleicht die langsame 
Resorption des Stickstoffs aus. Subjektives 
Wohlbefinden; der Kranke macht lange Fu߬ 
spaziergänge. Husten fast Null; spärlicher, 
schleimig-seröser Auswurf; zahlreiche Unter¬ 
suchungen nach Bazillen und elastischen Fasern 
im Juni und Juli hatten sämtlich negatives 
Resultat. Das Gewicht ist auf 42,3 kg an¬ 
gestiegen. 

Thoraxbefund (siehe Fig. 4). Pneumo¬ 
thoraxhöhle noch weit, ist, bei Rückenlage, 
durch die dickausgezogene Linie P bezeichnet; 
unten verläuft seine Grenzlinie noch auf der 
linken Thoraxseite, mit Verlagerung des Herzens, 
oben ist sie zum Teil überdeckt von der ver¬ 
größerten linken Lunge, welche über die rechte 
Sternallinie herüberragt. Hinten erreicht sie 
die 11. Rippe. Der Schall des Pneumothorax 
ist nicht mehr der reine Schachtelton von 


*) Es ist schwer, die zum Ersätze eines entleerten 
Ergusses nötige Stickstoffmenge zu bestimmen; im 
Einführungsapparat steht der Stickstoff unter einem 
höheren Druck, als jener des Pneumothorax beträgt, 
und auf einer viel niedrigeren Temperatur (in unserem 
Fall 20°) und erfährt daher nach seiner Einführung 
eine Ausdehnung und Volumen Vergrößerung; er muß 
daher in geringerer Menge als die entleerte Flüssig¬ 
keit eingeführt werden; es ist aber schwierig, im 
einzelnen Falle die Differenz zu bestimmen. Hier 
war die Menge von 1100 ccm zu groß, daher die 
Notwendigkeit einer Entleerung. 


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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Juni 


früher, besonders nach unten zu, wahrscheinlich 
infolge allgemeiner Pleuraverdickung; ebenso 
erscheint auch die Spitzendämpfung der ad- 
härenten rechten Lunge weniger deutlich als 
früher. Es besteht ein sehr beweglicher 
Pleuraerguß; in aufrechter Stellung erreicht er 
fast die Brustwarze (Linie V) und bildet eine 


Fig. 4. 



Lunge; m aktive Verschieblichkeit ihres unteren Randes: 
PP* normaler Sitz des oberen Lungenrandes, rechts vom 
Pneumothorax und links vom effektiven oberen Lungenrand 
überragt; V obere Grenze des Ergusses bei aufrechter Stellung. 

Dämpfungszone, die mit der Herz- und mit 
der Leberdämpfung verschmilzt; hinten erreicht 
sie den Schulterblattwinkel. Das Atmungs- 

§ eräusch ist überall aufgehoben mit Ausnahme 
er Spitzendämpfung, wo ein schwaches, ent¬ 
ferntes, metallisch klingendes Atmungsgeräusch 
(laryngo-tracheal?) hörbar ist. 

Linke Lunge ziemlich vergrößert 1 ); ihre 
Dämpfungsgrenze ist durch die schwach aus¬ 
gezogene Linie p bezeichnet; oben überragt 
sie den rechten Sternalrand; die etwas nach 
unten gerückte untere Grenze ist gut ver¬ 
schieblich (punktierte Linie m), in der mittleren 
Axillarlinie um 5 cm. Hinten liegt die Grenze 
an der 11. Rippe mit einer Verschieblichkeit 
von 2 cm. Auch die obere Grenze liegt etwas 
höher als in der Norm. Ueberall scharfes 
pueriles Atmen; in der Supraskapulargegend 
sehr scharf, bronchial, doch nicht konsonierend; 
nicht sakkadiert; keine Rasselgeräusche, aus¬ 
genommen eine Stelle in der Fossa supra- 
spinata neben der Wirbelsäule, wo man zeit¬ 
weise bei sehr tiefem Inspirium ein schwer zu 
deutendes Knistern hört. 

Das Herz noch leicht nach links verlagert, 
ohne andere Besonderheiten. Kein weiterer, 
hier in Betracht kommender Befund an den 
übrigen Organen. 

* * 

* 

Dieser Fall ist in verschiedenen Hin¬ 
sichten interessant; mir genügt es aber, 
die Komplikation hervorzuheben, die eine 
Zeitlang den regelrechten Verlauf der Be¬ 
handlung gestört hat. Diese war bereits 
schön fortgeschritten, als sei es infolge 

*) Die Vergrößerung der andern Lunge bei der 
fortgeschrittenen Behandlung mit Pneumothorax ist 
eine relativ häufige Beobachtung. 


allzu starker StickstofTnachfQllung, sei es 
wegen des akuten Auftretens einer ex¬ 
sudativen Pleuritis, der Pneumothorax ein 
enormes Volumen erreicht; dadurch wird 
der Bewegungsraum für die andere Lunge 
aufs äußerste eingeschränkt, und daher 
ihre Verkleinerung und die Stenose und 
die Verlegung der Luftwege, dann die 
diffuse Bronchopneumonie (mit zahlreichen 
Bazillen), die bereits das Zerstörungs¬ 
stadium erreicht hat (zahlreiche elastische 
Fasern). Das schwere Syndrom verzieht 
sich dann vollständig und prompt mit der 
Entleerung von Stickstoff und mit der Ver¬ 
kleinerung des Pneumothorax; und dieses 
Zurückgehen der Symptome steht wie das 
vorausgehende Aufbieten derselben in 
direktem Parallelismus zur Volumenände¬ 
rung des Pneumothorax. Gerade so wie 
es mein dritter Satz verlangt. 

Ich schließe. Selbst angenommen, daß 
der Vorschlag von Carson in die Tat 
umgesetzt worden sei (streng genommen 
müßte man sagen, „daß der Vorschlag ein 
derartiger gewesen war, daß man, beson¬ 
ders in jener Zeit, dessen Verwirklichung 
hätte annehmen können“), so besteht doch 
zwischen jenem Vorschlag und dem 
meinigen keinerlei Uebereinstimmung, weder 
in dem zugrunde liegenden therapeutischen 
Gedanken, noch in dem unmittelbaren 
Zweck, noch in den Mitteln. Es scheint 
mir also nicht in dieser Hinsicht eine 
Prioritätsfrage zu bestehen. 

Ich habe aber gerne die von Dr. Daus 
heraufbeschworene Gelegenheit ergriffen* 
um die beiden genannten Zwecke zu er¬ 
reichen; der erstere ist der, mit Hilfe kli¬ 
nischer Dokumente, und weiter ausholend, 
als ich es in meinen früheren Mitteilungen 
gemacht hatte, das fundamentale Prinzip 
meiner Methode zu entwickeln — vor allem, 
insoweit es dazu dient, die leitenden 
Grundsätze der Behandlung fortzusetzen, 
die heute, wie ich dargelegt habe, folgender¬ 
maßen sich zusammen fassen lassen: Der 
Pneumotorax muß in absoluter Weise die 
Lunge ruhigstellen; — die Ruhigstellung 
muß ohne Unterbrechung bis zur erzielten 
Heilung andauern, ohne Voreingenommen¬ 
heit wegen der Länge der Zeit; — der 
Pneumothorax muß innerhalb solcher Vo¬ 
lumengrenzen unterhalten werden, daß der 
Spielraum der anderen Lunge nie unter 
eine bestimmte Grenze eingeschränkt wird, 
im Gegenteil, daß derselbe immer womög¬ 
lich eine genügende Ausdehnung behält, 
um der Lunge die größtmögliche vicariie- 
rende Tätigkeit zu gestatten. — Ich kann 
hinzufügen, daß diese Regeln im ganzen 


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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


255 


mit den Ergebnissen aus meiner Erfahrung | 
zusaromenfallen. 

Der zweite Zweck ist der, die Aufmerk¬ 
samkeit nochmals auf einen Teil dieses 
Gegenstandes hinzulenken, der mir nicht 
genügend berücksichtigt zu sein scheint. 
Die Erfolge der Pneumothoraxbehandlung 
zahlen sicherlich zu den bemerkenswertesten 
in der Therapie; es handelt sich um Schwind¬ 
süchtige, bei denen alle Hoffnung unerbitt¬ 
lich verloren ist und die doch heilen kön¬ 
nen: ich zahle in meiner Statistik eine 
ordentliche Anzahl von Fallen, die seit 
einigen Jahren ihre gewohnte Lebensweise 
und ihre Arbeit wieder aufnehmen konnten. 
Nur scheint es mir, daß bei diesen Er¬ 
folgen der Therapie der Mechanismus der 
Heilung vom Gesichtspunkt der Pathologie 
aus nicht weniger bedeutungsvoll ist 
Warum heilt die gegen alle Bemühungen 
unserer Therapie so hartnäckige Lungen¬ 
tuberkulose durch die einfache Richtig¬ 
stellung des Organs? „Aus dem einzigen 
Grunde, weil“ — wie ich 1882, mich auf 
den spontanen Pneumothorax beziehend, 
schrieb — „ein Lungenbläschen geplatzt 
ist und die Pleurahöhle sich mit Luft ge¬ 
füllt hat“ Es ist eine Frage, welche die 
Wesensfrage selbst der Tuberkulose und 
der Phthise in sich einschließt, und welche 


unter den gegenwärtigen Meinungen keine 
befriedigende Antwort findet. Die Ruhe 
des Organs im Sinne der Arbeitsersparnis 
— die Ischämie oder die Ausschaltung des 
venösen Kreislaufs, oder die Hyperämie 
nach Bier — die Verlangsamung derLymph- 
zirkulation — die Verminderung der Toxin¬ 
resorption — die der Ausbreitung des Pro¬ 
zesses durch aerogene Metastase gesetzte 
Schranke — das den kaseogenen Aether- 
extrakten entgegengesetzte Hindernis, alles 
dies, soweit es nicht reine Hypothesen 
sind, ist ungenügend, um den ganzen Me¬ 
chanismus dieser Erscheinung zu erklären; 
höchstens verändern sie den Sinn der 
Frage, aber sie lösen sie nicht. 

Ich habe, wie ich mich schon ausge¬ 
sprochen habe, über diesen Gegenstand 
meine eigenen Ansichten, die mich apho¬ 
ristisch zum Vorschlag des künstlichen 
Pneumothorax geführt haben, und die ich 
dann mit meiner Erfahrung übereinstimmend 
fand. Aber welches auch die Aufnahme 
und das Schicksal dieser Ansichten sein 
mag, der Heilungsmechanismus der Phthise 
durch die Ruhigstellung der Lunge bildet 
heutzutage für die Pathologie einen Gegen¬ 
stand von nicht geringerem Interesse als 
es für die praktische Medizin die Heilung 
des Schwindsüchtigen selbst bedeutet. 


Aus der medizinischen Klinik der städtKrankenanstalteu zu Frankfurt a. U. und der 
medizinischen Klinik der Universität Kiel 
(Direktor: Professor Dr. Lüthje). 

Die Brauchbarkeit der Sahlischen Desmoldreaktion in Klinik 

und Praxis. 

Von Dr. Weiland und Dr. Sandelowsky, Assistenten der Klinik. 


Im Jahre 1906 veröffentlichte Sahli 
eine neue Methode der Prüfung des Magen- 
chemismus unter natürlichen Verhältnissen 
und ohne Anwendung der Schlundsonde. 
Bei der großen Zahl der Veröffentlichungen, 
die sich mit dieser sogenannten Desmoid- 
reaktion befaßten und zum Teil die Resul¬ 
tate Sahlis heftig bekämpften, sah sich 
Sahli noch in demselben Jahr veranlaßt 
auf die Notwendigkeit hinzuweisen, seine 
Methode mit allen von ihm angegebenen 
Kautelen auszuführen, um über den Wert 
oder Unwert der Reaktion richtig urteilen 
zu können. Auch in der neuen Auflage 
seines Lehrbuches der klinischen Unter¬ 
suchungsmethoden gibt er nochmals eine 
detaillierte Schilderung der Technik der 
Anfertigung der Desmoidbeutelchen. 

Das Prinzip der Methode beruht darauf, 
daß nach der Anschauung von Ad. Schmidt 
rohes Bindegewebe nur im Magen ver¬ 
daut wird. Sahli gibt also dem verdauen¬ 


den Magen solches Bindegewebe in Gestalt 
eines Katgutfadens; diesen schlingt er um 
eine Gummimembran, in der eine methylen- 
blau- odei jodoformhaltige Pillenmasse ver¬ 
schlossen ist Erfolgt in dem Pepsinsalz¬ 
säuregemisch des normalen Speisebreis die 
Auflösung des Katguts, so tritt die Re¬ 
sorption des eingeschlossen gewesenen 
Methylenblaus, respektive des Jodoforms 
ein, und diese Körper werden mit Hülfe 
einfacher chemischer Reaktionen im Urin, 
respektive Speichel nachgewiesen. 

Die zur Herstellung der Desmoidbeutel¬ 
chen erforderlichen Materialien sind Gummi¬ 
membran aus feinstem Paragummi, die als 
„Cofferdam“ in der Zahnheilkunde Ver¬ 
wendung finden; ferner feinstes Katgut und 


Pillen nach der Vorschrift: 

Rp. Jodoform . 5,0 

Succi liquir. depur. et pulv. 
liq . aa . 2,0 

M. f. p. Nr. 50. 


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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Juni 


Rp. Methylenblau .2,5 

Succi liquir. depur. et pulv . 

liq. aa .2,0 

M. f. p. Nr. 50. 


Die Pillen, die Sahli neuerdings emp¬ 
fiehlt, die mit einem Wismutzusatz ver¬ 
sehen sind, damit sie auch in einem dick¬ 
flüssigen Magensaft untertauchen, halten 
wir nicht für empfehlenswert, weil sie zu 
groß und zu weich sind und sich ihr Ver¬ 
schluß durch den feinen Katgutfaden nicht 
so sicher und einwandfrei herstellen läßt 
wie bei den kleineren Pillen von festerer 
Konsistenz. 

Die Materialien können von der Firma 
Hausmann A.-G., Sanitätsgeschäft, St. Gallen, 
bezogen werden. Die Pillen werden in 
ein etwa 16 qcm großes Stück Kautschuk¬ 
membran, das vorher mit Talkum respek¬ 
tive Reismehl eingerieben ist, so ein¬ 
geschlagen, daß sich die Membran über 
der Pille spannt und etwas glänzend wird. 
Während die linke Hand Beutelchen und 
Pille fixiert, schlingt man mit der rechten 
den vorher in Wasser aufgeweichten Kat¬ 
gutfaden um den Hals des Beutelchens in 
drei parallel nebeneinander liegenden 
Touren; dann knüpft man einen Doppel¬ 
knoten, ohne die Spannung der Membran 
zu verändern. Die überstehenden Ecken 
des Kautschuks werden dicht über dem 
Faden abgeschnitten, dieser selbst etwa 
auf 2—3 mm vom Knoten gekürzt. 

Zur Prüfung auf Brauchbarkeit wird die 
Pille in Wasser geworfen, in dem sie unter¬ 
sinken soll, ohne daß Methylenblau sich 
dem Wasser mitteilt. Diese Probe ist nötig 
zur Prüfung der Schwere, da die Pille, um 
verdaut zu werden, auch im Magen unter¬ 
sinken soll, und der Dichtigkeit des Ver¬ 
schlusses, weil sonst Methylenblau auch 
ohne Verdauung des Katgutfadens in 
den Mageninhalt Übertritt und resorbiert 
wird. 

Diese Vorschriften von Sahli sind zwar 
sehr ins einzelne gehend und nehmen in 
der Schilderung seiner Methode einen 
breiten Platz ein, aber wir haben uns über¬ 
zeugt, daß es zur Erzielung guter Resul¬ 
tate notwendig ist, sie strikt inne zu halten; 
ferner ist es nach Anfertigung einiger 
Pillen mit Leichtigkeit möglich, alle vor¬ 
geschriebenen Einzelheiten und Kautelen 
innezuhalten, ohne daß es besondere Mühe 
erforderte. Es ist einleuchtend, daß die 
Verwendung fabrikmäßig hergestellter Des- 
moidpillen zu einem verwertbaren Resultat 
nicht führen kann; denn einmal hat man 
bei solchen nicht die Sicherheit, zuverlässig 
gearbeitete Beutelchen aus dem notwen¬ 


digen Material zu erhalten, andererseits 
ist die Gummimembran und der Knoten 
des Fadens bei längerem Liegen nicht 
widerstandsfähig. 

Die vorschriftsmäßig hergestellten Pillen 
werden am besten zu einem gewöhnlichen 
Mittagessen oder etwa V 2 Stunde nachher 
gegeben; Sahli selbst empfiehlt, sie nach 
der Suppe zu nehmen; sie sollen unge- 
kaut mit einem Schluck Wasser herunter¬ 
geschluckt werden. Es empfiehlt sich, die 
Patienten nicht rechte Seitenlage einnehmen 
zu lassen, um zu verhüten, daß die Pille 
zu früh den Magen verläßt. (Sahli). 

In Abständen von je zwei Stunden 
sollen die Patienten Urin lassen, respek¬ 
tive den Speichel in ein Reagenzglas ent¬ 
leeren. Gewöhnlich tritt die Anwesenheit 
von Methylenblau durch Grünfärbung des 
Urins in die Erscheinung. In Fällen, wo 
der Urin ungefärbt bleibt, kann man durch 
Kochen unter Zusatz von einigen Kubik¬ 
zentimetern konzentrierter Essigsäure die 
Leukobase, als welche das Methylenblau 
wieder ausgeschieden wird, in die grün- 
gefärbte saure Lösung überführen. 

Der Nachweis des Jodoforms geschieht 
durch Stärkereaktion oder dadurch, daß 
man den Urin, respektive Speichel mit 
Chloroform ausschüttelt, dann einigeTropfen 
1 % iger Natriumnitritlösung und 1 ccm 
acid. sulf. dil. puriss. zusetzt. Bei Anwesen¬ 
heit von Jod tritt eine sehr schöne Rosa¬ 
färbung auf. 

Sahli äußert sich über die mit seiner 
Methode erzielten Resultate in dem Sinne, 
daß ein positiver Ausfall ein Beweis für 
das Vorhandensein eines pepsin- und salz¬ 
säurehaltigen Magensaftes und für den 
normalen Verlauf des Magenchemismus sei. 
Bleibt die Reaktion negativ, so hat keine 
genügende Magenverdauung stattgefunden, 
das heißt es ist entweder der Chemismus 
des Magens gestört oder seine Motilität 
gesteigert. Verspätete Desmoidreaktion 
läßt auf zwar vorhandene, aber herab¬ 
gesetzte Pepsinwirkung schließen. Eine 
Reagenz auf freie Salzsäure ist die Des¬ 
moidreaktion nicht; und wenn bei fehlen¬ 
der HCl im ausgeheberten Mageninhalt die 
Desmoidreaktion positiv ausfällt, so erklärt 
dies Sahli damit, daß die Verdauung eines 
gewöhnlichen Probefrühstückes eine will¬ 
kürliche, ziemlich leichte Aufgabe für den 
Magen sei, die gar nicht die normalen 
Säureverhältnisse wiedergebe, die durch 
die gewöhnliche Nahrung erzielt würden; 
außerdem erhält man durch die Aushebe¬ 
rung nur den Einblick in den Stand der 
Magenverdauung zu einem bestimmten 


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Juni 


Die Therapie der Gegenwart 1910 


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Zeitpunkt; dabei können die Verhältnisse 
vorher und nachher ganz andere sein. 

Dieser vorsichtigen Deutung der Ergeb¬ 
nisse und dem wiederholten Hinweis auf 
die Wichtigkeit der Einhaltung der tech¬ 
nischen Vorschriften bei der Herstellung 
der Desmoidbeutelchen haben eine Reihe 
von Autoren nicht Rechnung getragen und 
so ist es wohl gekommen, daß die Bewer¬ 
tung der Sahlischen Desmoidreaktion in 
der Literatur so verschieden ausgefallen 
ist. Ferner hat die Frage, ob Bindegewebe 
einzig und allein vom Magensaft verdaut 
werden können, zu Kontroversen Anlaß 
gegeben. 

Zu denjenigen Autoren, die in der 
Sahlischen Desmoidreaktion ein ausge¬ 
zeichnetes diagnostisches Hilfsmittel sehen, 
gehört Ktthn 1 ). Er verglich in 44 Fällen 
die Resultate seiner angestellten Desmoid- 
proben mit den Befunden der Aushebe¬ 
rung nach ProbefrQhstQck und fand in 
jedem Fall Uebereinstimmung, das heißt 
positive Reaktion, wo auch freie Salzsäure 
nachgewiesen werden konnte. Deshalb 
will er in der Desmoidreaktion ein Reagenz 
auf freie Salzsäure sehen. Aber in dieser 
Schlußfolgerung geht er weiter, als Sahli 
selber, der Ober Fälle berichtet, wo trotz 
fehlender freier Salzsäure die Reaktion 
positiv blieb. 

In ähnlicher Weise spricht sich Ka¬ 
liski 3 ) für die Brauchbarkeit der Sahli¬ 
schen Methode aus. Die Reaktion war 
positiv, wo auch nach ProbefrQhstQck mit¬ 
tels der Ausheberung freie Salzsäure nach¬ 
gewiesen werden konnte. Nur in zwei 
Fällen, wo keine freie Salzsäure gefunden 
wurde, war ebenfalls die Reaktion positiv. 
In diesen beiden Fällen ließ sich aber 
durch einen stärkeren digestiven Reiz, wie 
ihn eine reichliche Mittagsmahlzeit dar¬ 
stellt, freie Salzsäure feststellen. In einem 
Karzinomfall, wo trotz des Vorhandenseins 
von freier Salzsäure, die Reaktion negativ 
ausfiel, konnte der Nachweis der erloschenen 
Pepsinreaktion dafQr verantwortlich gemacht 
werden. Der Autor geht aber in der Ver¬ 
wertung der Sahlischen Methode noch 
einen Schritt weiter, indem er aus der 
Schnelligkeit des Auftretens, der Grünfär- 
bung und ihrer Intensität einen Schluß auf 
die spezielle Form der vorliegenden funk¬ 
tionellen Magenstörung zieht Er stellt als 
Norm hin, daß zwischen der siebenten 
und zwölften Stunde nach Verabreichung 
der Pille die Grünfärbung bei gesunden 
Aziditätsverhältnissen des Magens auftreten 

*) Münch. Med. Woch. 1906, Nr. 50. 

2 ) Münch. Med. Woch. 1906, Nr. 5. 


soll. Wird der Urin vorher grQn, so handele 
es sich um eine Superazidität, tritt nachher 
der Farbwechsel auf, so liege eine Sub¬ 
azidität, respektive eine motorische Magen¬ 
störung vor. Letztere Schlüsse dürften 
aber eine Verallgemeinerung nicht zulassen, 
weil doch recht häufig eine Atonie mit 
einer Superazidität, und umgekehrt eine 
Hypermotilität mit einer Subazidität kom¬ 
biniert sind. 

Trottmann 1) hat sechzig Fälle unter¬ 
sucht und dieSahlische mit derSchmidt- 
schen Probe verglichen. Er erwartete also 
bei positiver Desmoidreaktion das Fehlen 
von mikroskopisch nachweisbarem Binde¬ 
gewebe im Stuhl. In 55 Fällen fand er 
Uebereinstimmung und nur in 5 Fällen 
Widerspruch. Er kommt deshalb zu dem 
Schluß, daß die Sahli sehe Desmoidreak¬ 
tion eine durch nichts zu ersetzende Be¬ 
reicherung unserer diagnostischen Hilfs¬ 
mittel sei. 

Einen reservierten Standpunkt nimmt 
Eichler 2 ) ein. Er hat an dreißig Fällen 
die Sahli sehe Reaktion geprüft und be¬ 
zeichnet sie als einen ausgezeichneten Not¬ 
behelf. Der positive Ausfall der Probe be¬ 
weise, daß die Magenwand Pepsin und 
Salzsäure in genügender oder annähernd 
genügender Weise produziere. Der ver¬ 
zögerte Eintritt der Reaktion zeigt, daß 
der eine oder der andere Faktor der 
Magenverdauung nicht normal funktioniere 
und „daß das Leiden kein allzu bedenk¬ 
liches sein wird 11 . Die negative Reaktion 
aber deutet auf eine Störung der Magen¬ 
funktion hin, ohne daß es erlaubt wäre, 
hinsichtlich der Natur der Störung irgend¬ 
einen Schluß zu ziehen. 

v. Aldor 8 ) hat sich die Frage vorgelegt, 
von welchem Bestandteile des Magensaftes 
der positive oder negative Ausfall der Des¬ 
moidreaktion abhängig sei. Zu diesem 
Zwecke hat er Reagenzglasversuche im 
Thermostaten von Körpertemperatur mit 
Salzsäurepepsinlösungen in verschiedenen 
Konzentrationen angestellt und in jedes 
Reagenzglas eine Pille hineingetan. Dabei 
zeigte es sich, daß zur Auflösung des Kat- 
gutfadens ein Pepsin- und Salzsäuregemisch 
in einer Konzentration, wie sie im Magen 
besteht, notwendig sei. Der Versuch fiel 
negativ aus, befand sich die Pille nur in 
einer Pepsinlösung, oder nur in einer Salz¬ 
säurelösung, ganz gleichgültig, in welcher 
Konzentration diese Substanzen vorhanden 
waren. 

») Münch. Med. Woch. 1907, Nr. 52. 

2 ) Berl. Klin. Woch. 1905. 

3 ) Berl. Klin. Woch. 1906. 

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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Zur Entscheidung der Frage, ob die 
Desmoidreaktion als ein Reagenz auf freie 
Salzsäure zu betrachten sei, wie Kühn 
und Kaliski es annahmen, hat er Ver¬ 
suche mit nativem Magensafte an gestellt 
und gefunden, daß das Katgut auch in 
einem Magensafte aufgelöst wurde, den er 
vorher durch Zusatz von Vio n-Natronlauge 
neutralisiert hatte. Deshalb erkennt v. Aldor 
die Berechtigung nicht an, in der Sahli- 
schen Probe ein Reagens auf freie Salz¬ 
säure zu sehen. An der Hand von 
25 Fällen weist er des weiteren nach, daß 
der positive Ausfall der Reaktion nur er¬ 
kennen lasse, daß der Magen Pepsin und 
Salzsäure sezerniere, ohne Rücksicht darauf, 
ob die Salzsäure frei oder gebunden ist. 
Welche Art der Sekretionsstörung vor¬ 
liege, ob Superazidität oder Subazidität, 
könne man aus der Desmoidreaktion nicht 
ersehen, da der subazide Magensaft das 
Katgut oft früher gelöst habe, als der 
superazide. Seine Fälle mit negativer Re¬ 
aktion zeigten zwar alle eine mit Hilfe der 
Ausheberungsmethode nachgewiesene Se¬ 
kretionsinsuffizienz, doch war es niemals 
erlaubt, einen Schluß auf die nähere Natur 
dieser Störung zu ziehen. 

Er bezeichnet demgemäß mit Eichler 
die Sahlische Probe als einen ausge¬ 
zeichneten Notbehelf, besonders in den 
Fällen, wo die Anwendung der Schlund¬ 
sonde kontraindiziert ist, aber sie könne 
diese nicht völlig ersetzen. In vielen Fällen 
sei es doch zu wichtig, durch makrosko¬ 
pische, mikroskopische und chemische 
Untersuchung des Mageninhaltes sich ein 
Bild von der besonderen Natur der vor¬ 
liegenden Erkrankung zu machen. 

Diesen Autoren, die die Sahlische Re¬ 
aktion ohne oder mit Bedingung akzep¬ 
tieren, steht eine Reihe anderer gegenüber, 
welche der Methode jede Daseinsberechti¬ 
gung absprechen. Sie alle fußen auf der 
nach ihrer Anschauung bewiesenen Be¬ 
hauptung, daß entgegen der Annahme von 
A. Schmidt rohes Bindegewebe auch im 
Darm verdaut würde. 

Saito 1 ) hat im Reagensglas ein Ge¬ 
misch von Pankreassaft und Darmextrakt 
auf Katgut einwirken lassen und fand, daß 
dieses in 6—27 Stunden verdaut wurde. 
Daß das Methylenblau nur vom Darm aus 
resorbiert würde, bewies er indirekt, indem 
er einen oben und unten geschlossenen 
Hundemagen mit Methylenblau füllte, den 
Hund nach 24 Stunden tötete und bei 
der Sektion weder im Urin noch in den 
O rganen ir gend eine Spur von Methylen- 

') Berl. klin. Wocb. 1906. 


blau entdecken konnte. Deshalb hänge der 
Zeitpunkt des Auftretens der Reaktion nur 
von der motorischen Tüchtigkeit des 
Magens ab. 

Diesen Einwendungen schließt sich auch 
Einhorn 1 ) an. Er publizierte 4 Fälle von 
Achylia gastrica, bei denen die Desraoid- 
reaktion positiv ausfiel. Reichte er Katgut- 
pillen, die mit Hammelfett, das der Magen¬ 
verdauung widersteht, überzogen waren, 
so fiel die Reaktion auch in positivem 
Sinne aus, so daß er den Wert der Sahli- 
schen Probe nicht anerkennen konnte. 

Alexander und Schlesinger 2 ) halten 
ebenfalls die Methode für unbrauchbar. 
Bei gleichbleibenden AziditätsVerhältnissen 
hatten sie entgegengesetzte Reaktionen. 
Bei normalen Säureverhältnissen war die 
Reaktion dreimal negativ. Bei einem Fall 
von Magenkarzinom einmal positiv und ein¬ 
mal negativ, während bei einem anderen 
Karzinomfall bei vollständiger Anazidität 
und motorischer Insuffizienz die Reaktion 
positiv ausfiel. Ebenso hatten sie bei zwei 
Fällen von Magenfisteln mit fehlender 
Salzsäure eine Auflösung des Katguts ge¬ 
sehen. Die Autoren glauben, der Satiri¬ 
schen Probe keine Bedeutung beimessen 
zu können, weil auch Reagenzglasversuche 
mit Salzsäure und Trypsin die Verdauung 
von Katgut gezeigt hätten. 

Schwarz stellte röntgenoskopisch fest, 
daß die mit Wismut gefüllten Beutelchen 
bei auffallend vielen Personen, auch bei 
Magengesunden, sich erst im Darm auf¬ 
lösten. 

v. Tabora hatte bei Anazidität positive 
Reaktion; er hält die Methode für nicht 
einwandfrei und ist mit v. Aldor der An¬ 
sicht, daß man in vielen Fällen die dia¬ 
gnostische Ausheberung nicht entbehren 
könne. Denn wichtiger als die Verdauungs¬ 
kraft festzustellen gilt es oft, die motorische 
Funktion und die Wandveränderungen des 
Magens zu erkennen. Demgegenüber steht 
der Satz von Sahli: Jedenfalls wird gegen 
Windmühlen gekämpft, wenn mir die nie 
von mir ausgesprochene Ansicht unter¬ 
geschoben wird, die chemische Unter¬ 
suchung des Magens ganz durch die Des¬ 
moidreaktion zu ersetzen, während ich viel¬ 
mehr stets beide Methoden als sich er¬ 
gänzende Verfahren gleichzeitig übe . . .* 

Die Arbeiten, welche die Brauchbarkeit 
der Sahli sehen Methode anzweifeln oder 
verneinen, vertreten sämtlich mit Saito 
die Meinung, daß auch im Darm die Kat- 
gutverdauung erfolge. Doch Saito hat 

x ) Deutsche med. Wschr. 1906, Nr. 49. 

9 ) Münch, med. Wochschr. 1906. 


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Juni 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


259 


seine Beweismittel nur aus Reagensglas¬ 
versuchen gewonnen, aus Versuchen, die 
denen in vivo angestellten doch wohl nicht 
absolut gleichen dürften. 

Ueberdies hatte er, worauf Sahli hin¬ 
weist, statt Darmsaft einen Darmextrakt ge¬ 
nommen und auf diese Weise sich noch 
mehr von natürlichen Verhältnissen ent¬ 
fernt. Seinen Ergebnissen stehen auch die 
Resultate von Wolf er gegenüber, der bei 
Gastroenterostomien den Nachweis er¬ 
brachte, daß direkt in den Dünndarm ge¬ 
schobene Desmoidbeutelchen nicht aufge¬ 
löst wurden. 

Einen recht wertvollen Beitrag zur Ent¬ 
scheidung des Gegensatzes zwischen 
Schmidt und Saito hat Max Gentzen 1 ) 
gebracht. Seine Versuche sind in vivo bei 
Menschen und Kaninchen angestellt. Er 
versenkte Desmoidpillen ins Duodenum 
und in tiefere Dünndarmabschnitte von 
Kaninchen, nachdem er bei einigen vorher 
den Magen am Pylorusende abgebunden 
hatte. Es fand sich mit Ausnahme von 
einem Fall niemals eine Ausscheidung von 
Methylenblau oder Chromogen, und in dem 
einen Ausnahmefall wird wahrscheinlich 
durch den nicht unterbundenen Pylorus 
saurer Magensaft ins Duodenum über¬ 
getreten sein. Bei einem anderen Kaninchen 
wurde die Reaktion im Duodenum geprüft 
und als alkalisch bewertet. Um den Be¬ 
weis bei Menschen zu erbringen, gab 
Gentzen die Desmoidpillen in eine Keratin¬ 
masse sorgfältig eingehüllt, die bekanntlich 
vom Magensaft nicht angegriffen wird. Vier 
Menschen hatten die so präparierte Pille 
genommen und bei niemandem konnte Me- 
thylenurie nachgewiesen werden, ein Be¬ 
weis, daß Katgut nach der Verdauung des 
Keratins im Darm vom Darmsaft nicht an¬ 
gegriffen wird. 

Was nun unsere eigenen Resultate 
anbelangt, so haben wir im ganzen 145 Fälle 
mit der Desmoidreaktion untersucht und 
haben dazu ohne Ausnahme alle Magen¬ 
erkrankungen, die während einer be¬ 
stimmten Zeit in der Klinik behandelt 
wurden, benutzt. Wir kamen zu dem Re¬ 
sultat, daß bei 102 Patienten = 70,4 o/ 0 eine 
Uebereinstimmung des Ausheberungsbe¬ 
fundes mit dem Ausfall der Reaktion vor¬ 
handen war. Es handelt sich dabei einer¬ 
seits um Patienten, die wegen gutartiger 
Magenstörungen aufgenommen waren. Es 
waren Dyspepsia nervosa, Super- und Sub¬ 
azidität und Ulcus ventriculi. Hier war im 
ausgeheberten Magensaft stets freie Salz¬ 
säure vorhanden. Die Zeiten, nach denen 

Münch, raed. Wochenschrift 1907. 


sich Methylenblau oder Jod im Urin nach- 
weisen ließ, waren verschieden und 
schwankten zwischen 6 und 16 Stunden, 
ln manchen Fällen, bei denen durch Be¬ 
stimmung des Aziditätsgehaltes des Magen¬ 
saftes eine Vermehrung der freien Salz¬ 
säure und der Gesamtazidität erkannt wurde, 
trat zwar schon nach 2 und 4 Stunden eine 
positive Reaktion auf, aber es war kein 
Parallelgehen von schnell eintretender Re¬ 
aktion und Superazidität einerseits zu ver¬ 
folgen, andererseits trat auch bei Sub¬ 
azidität keine verlangsamte Ausscheidung 
auf, so daß wir glauben, daß es nicht an¬ 
gängig ist, aus den zeitlichen Verschieden¬ 
heiten einen diagnostischen Rückschluß auf 
die Säureverhältnisse machen zu können. 

Auf der anderen Seite stehen die ma¬ 
lignen, karzinomatösen Magenerkrankungen 
und die Achylia gastrica. Bei Krebs¬ 
erkrankungen, bei denen die Ausheberungs¬ 
methode das Fehlen freier Salzsäure und 
vpn Pepsin ergab, fanden wir ebenso aus¬ 
nahmslos negative Desmoidreaktion wie bei 
den sieben untersuchten Fällen von Achylia 
gastrica. Zwar hatten wir fünf Fälle von 
Magenkrebs, bei denen die Ausheberung 
keine freie Salzsäure ergab, mit positiver 
Desmoidreaktion, aber hier waren oft 
relativ hohe Gesamtsäurewerte und in den 
darauf untersuchten Fällen auch Pepsin 
vorhanden. Wenn Sahli angibt, daß es 
ihm bei Achylia gastrica nie gelungen ist, 
positive Desmoidreaktion zu erhalten, so 
können wir uns dem entgegen den Be¬ 
funden von Eichhorn voll und ganz an¬ 
schließen. 

In einem gewissen Gegensatz zu diesen 
übereinstimmenden Resultaten stehen 
34 Fälle — 24°/ 0 , bei denen die Unter¬ 
suchung mit der Magensonde das Fehlen 
freier Säure, die Desmoidreaktion positives 
Resultat zeigte. Jedoch läßt sich hier eine 
Erklärungsmöglichkeit ungezwungen finden. 
Es waren ausnahmslos benigne Erkran¬ 
kungen und die Fermentsekretion war bei 
ihnen in allen Fällen, die wir daraufhin 
untersuchten, stets ungestört. Ferner ge¬ 
lang es uns einige Male, wo wir Gelegen¬ 
heit hatten Probernahlzeit zu geben, bei 
dieser positive Salzsäurebefunde zu er¬ 
heben, wenn auch bei Probefrühstück sie 
gefehlt hatte. Man könnte also hier an¬ 
nehmen, daß die Verhältnisse so lagen, 
daß bei genügend starkem, digestivem Reiz 
immer freie HCl gefunden worden wäre, 
oder daß die Ausheberung des Probe¬ 
frühstücks zu einer Zeit erfolgte, wo zwar 
gebundene, aber keine freie Salzsäure vor¬ 
handen war. ln all diesen Fällen war der 

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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Juni 


positive Ausfall der Desmoidreaktion ein 
Hinweis darauf, daß der Gesamtchemismus 
des Magens nicht wesentlich gestört und 
nur eine unerhebliche, benigne Magen¬ 
erkrankung vorlag. 

Im ganzen bei neun Fällen — 6% — 
fanden sich Widersprüche in dem Aus¬ 
heberungsbefund und dem Ausfall der 
Reaktion, die wir ohne weiteres nicht er¬ 
klären können. Es sind dies die fünf 
Untersuchungen bei Krebskranken, die wir 
vorher erwähnten, und vier Fälle von 
benignen Magenerkrankungen mit positivem 
Salzsäurebefund und fehlender Desmoid¬ 
reaktion. Bei den letzteren kann es sich 
um Zufälligkeiten handeln, wie z. B., daß 
die Desmoidpille im Mageninhalt nicht 
untergesunken, oder durch ungeschickte 
Lagerung des Patienten auf die rechte 
Seite zu früh den Magen verlassen hat. 
Eine Stütze dieser Ansicht sehen wir darin, 
daß unter den eingangs angeführten 
102 Fällen fünf waren, bei denen die erste 
Anstellung der Reaktion ebenfalls negativ 
war, bei Wiederholung unter allen Kautelen 
aber immer positiv ausfiel. 

Für die fünf Fälle von Karzinom bliebe 
dann noch die Erklärung, daß es sich bei 
ihnen um Erkrankungen gehandelt hat, bei 
denen das Pepsinsalzsäuregemisch des 
Speisebreies noch genug Kraft besaß, um 
das Bindegewebe zu verdauen; es könnte 
hieraus und aus dem Ausfall der Reaktion 
in den 34 Fällen benigner Erkrankung mit 
fehlender freier Salzsäure der Schluß ge¬ 
zogen werden, daß — wie Sahli es selbst 
für seine Reaktion angibt — sie ein viel 
sicherer und zuverlässiger Indikator für 
den Ablauf der verdauenden Funktion des 
Magens ist, als die einmalige Untersuchung 
mit der Sonde. 

Betrachtet man die Ergebnisse unserer 
großen Untersuchungsreihe im ganzen, so 
kann man sagen, daß die Desmoidreaktion 
bei einer klinischen Prüfung alles das ge¬ 
halten hat, was Sahli von ihr in seinen 
Publikationen aussagt. 

Wir glauben, daß die Unterlagen, auf 
denen sich das Prinzip der Methode auf¬ 
baut, durch die von Sahli mitgeteilten 
Verdauungsversuche im Reagenzglas und 
die durch Ad. Schmidt einwandfrei nach¬ 
gewiesene Bindegewebsverdauung im Magen, 
breit genug sind und haben deshalb von 
einer experimentellen Prüfung Abstand ge¬ 
nommen. Außerdem kam es uns darauf an, zu 
zeigen, daß die Desmoidreaktion einejdinisch 
brauchbare Untersuchungsmethode ist. 

Es ist nach unseren Erfahrungen die 
Desmoidreaktion ein Mittel, den normal 


verlaufenden Verdauungsvorgang im Magen 
festzustellen; sie ist dagegen kein Reagens 
auf freie HCl. 

Auf einige Punkte möchten wir jedoch 
ganz besonders hinweisen. 

Es erscheint uns durchaus notwendig, 
die Desmoidbeutelchen selbst herzustellen 
und keine Fabrikpräparate zu nehmen; die 
Gründe dafür nach den Angaben Sahlis 
haben wir eingangs angegeben. 

Die Anfertigung genau nach der Vor¬ 
schrift, wie sie Sahli in seinen Veröffent¬ 
lichungen gibt, bildet ein zweites Er¬ 
fordernis, um gute Resultate zu bekommen; 
besonders die Prüfung in einem Glase 
Wasser auf Schwere der Pille und Un¬ 
durchlässigkeit der Gummimembran ist un¬ 
erläßlich. 

Die Frage, ob und wann man die Des¬ 
moidreaktion anwenden soll, würden wir 
dahin beantworten: 

Bei klinischen Magenuntersuchungen 
bildet die Desmoidreaktion eine verhält¬ 
nismäßig leicht anzustellende Untersuchung, 
die über die verdauende Kraft des Magens 
guten Aufschluß gibt. Sie soll selbstver¬ 
ständlich nur neben und mit der Sonden¬ 
untersuchung angewandt werden; daher ist 
die Befürchtung, sie könne dazu verleiten, 
wie Tabora und v. Aldor angeben, die 
chemische Untersuchung und Mikroskopie 
des Mageninhaltes zu vernachlässigen, un¬ 
begründet. In der Praxis ist sie ein wert¬ 
volles Hilfsmittel zu einer orientierenden 
Untersuchung und zugleich bei positivem 
Ausfall ein wertvoller Anhaltspunkt für 
prognostische Beurteilung des Falles. 

Im allgemeinen würden wir bei Fällen, 
wo man aus äußeren Gründen nicht son¬ 
dieren kann, oder der Zustand des Kranken 
die Einführung der Sonde verbietet, die 
Anwendung der Desmoidpille unter allen 
Umständen für angezeigt halten. 

Ein besonderer Wert kommt der Des¬ 
moidreaktion aus dem Grunde zu, weil es 
mit ihrer Hilfe leicht möglich ist, die 
benignen Fälle von den bösartigen zu 
trennen; denn in keinem Falle, wo Säure 
und Fermentsekretion versiegt waren, ist 
es möglich gewesen, positive Reaktion zu 
erhalten. 

Gegen die Reaktion läßt sich einwenden, 
daß zu vielerlei präzisierte Vorschriften zu 
ihrer Ausführung nötig sind, und daß eine 
Menge äußerer Umstände am Krankenbett 
das Resultat beeinflussen können. Doch 
wird jeder, der einige Male selbst ein 
Desmoidbeutelchen anfertigte, bald zu einer 
Geschicklichkeit gelangen, die es ihm er¬ 
möglicht, in wenigen Minuten gute Pillen 


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Juni 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


261 


herzustellen und die Herstellungsvor¬ 
schriften nehmen sich nur auf dem Papier 
so kompliziert aus. Ferner ist es bei 
einigermaßen intelligenten Kranken und 
geschultem Personal leicht zu erreichen, 
daß die Pillen nicht angekaut werden, die 
Kranken nicht auf der rechten Seite 
liegen usw. 

Fassen wir das Resultat unserer Beob- 
tung zusammen, so kommen wir zu folgen¬ 
den Schlußsätzen: 

1. Die Sahli sehe Desmoidreaktion ist 
eine brauchbare Methode zur Untersuchung 
der Magenverdauung; ihre Anwendung als 
ergänzende Untersuchung zur Magen¬ 
sondierung ist zu empfehlen; sie kann die 
Magensondierung in gewissem Sinne er¬ 
setzen, wenn äußere Umstände die Son- 


] dierung unmöglich machen, oder der Zu¬ 
stand des Kranken eine solche kontra¬ 
indiziert. 

2. In 70% der Fälle fanden wir ab¬ 
solute Uebereinstimmung der Resultate der 
Sondierung und Desmoidreaktion, in 24% 
widersprechende Resultate, die sich aber 
bei Ausschaltung der Fehlerquellen auf¬ 
klärten, und in 6 % war eine sichere 
Uebereinstimmung nicht vorhanden. 

3. Bei widersprechenden Resultaten er¬ 
gab eine angestellte Wiederholung stets 
Uebereinstimmung mit dem Ausheberungs- 
resultat; oder eine verabreichte Probemahl¬ 
zeit ergab entsprechende Säurewerte. 

4. Um zu brauchbaren Resultaten zu 
gelangen, muß man sich genau an Sahlis 
Vorschriften halten. 


Aus der inneren Abteilung des Krankenhauses der Jüdischen Gemeinde zu Berlin. 

(Dirig. Arzt: Prof. R Strauss). 

Ueber Klystier-Ersatz-Therapie. 

Von Dr. W. Unna, Assistenzarzt. 


Unter den fflr die Erleichterung der 
Defäkation empfohlenen Darmeingießungen 
erfreuen sich die seinerzeit von Fleiner 1 ) 
in die Therapie eingeführten Oeleinläufe 
seit vielen Jahren in der Praxis besonderer 
Beliebtheit. Allerdings ist die ihnen von 
Fleiner ursprünglich nachgesagte Eigen¬ 
schaft, daß sie imstande sind, feste trockene 
Fäzes aufzulösen, nicht unbestritten ge¬ 
blieben. 2 ) Ihre Wirkung beruht wohl vor¬ 
nehmlich darauf, daß sie die Passage 
schlüpfrig und so für verhärtete Massen 
besser durchgängig machen. Nach dieser 
Richtung hin aber erfüllen sie ihre Auf¬ 
gabe anerkanntermaßen in vorzüglicher 
Weise. Auch sind sie frei von manchen 
Nachteilen, die man Klysmen von größerer 
Masse wohl mit einem gewissen Recht 
nachsagt. So ist z. B. bei ihnen nicht zu 
befürchten, daß sie zu Ueberdehnungen 
und damit zur Erschlaffung der unteren 
Darmwege führen können, da hierfür die 
zur Injektion verwandte Menge von Oel 
viel zu gering ist 

Allerdings sind auch den Oelklysmen 
gewisse Schattenseiten eigen, so z- B. die 
verschiedenen technischen Unbequemlich¬ 
keiten, die sich bei ihrer Verwendung mit¬ 
unter störend geltend machen. Denn nicht 
ganz selten gibt es dabei eine Beschmutzung 
der Wäsche, sei es, daß ein Teil des 
Oeles gleich am Schlauchende entlang aus 

l ) Fleiner, Berliner klin. Wochenschr. 1893, 
Nr. 3 u. 4. 

a ) Schilling, Zentralb!. für Stoffw. und Ver- 
daunngs-Krkh. 1900, Nr. 5. 


dem Anus wieder austritt, sei es, daß es 
durch auftretende Flatus wieder ausgespritzt 
wird. Auch bleibt zuweilen ein Teil des 
Oeles an den Wänden des Irrigators und 
des Darmrohres haften. Für alleinstehende 
Personen ist weiterhin die Bereitung eines 
Oelklystiers meistens mit gewissen Schwie¬ 
rigkeiten und Unannehmlichkeiten verknüpft, 
so daß in solchen Fällen die Verordnung 
zuweilen auf Widerstand stößt. 

Aus solchen Gründen ist ein Ersatz¬ 
mittel für Oelklystiere, das deren zweck¬ 
dienliche Eigenschaften aufweisen konnte, 
ohne gleichzeitig mit ihren Nachteilen be¬ 
haftet zu sein, als ein Fortschritt auf diesem 
Gebiete herbeizuwünschen. Einen Versuch 
nach dieser Richtung stellten die von 
Lipowski!) angegebenen Paraffinein¬ 
läufe dar. Das Paraffin wird dabei in 
recht handlichen kleinen Eimerchen ge¬ 
liefert, in denen es auch, durch Eintauchen 
des Eimers in heißes Wasser, flüssig ge¬ 
macht wird. Mittels einer vorher an¬ 
gewärmten Spritze wird es durch einen 
zirka 25 cm langen Schlauch ins Rektum 
injiziert Während und auch noch etwa 
3 Minuten nach dieser Prozedur soll sich der 
Patient in Knie-Ellbogen-Lage halten. 
Mit diesen Paraffineinläufen hatten auch 
wir häufig Erfolg, insofern als danach ohne 
Schmerzen eine massige breiige Defäkation 
erfolgte. In etwa einem Drittel unserer 
Fälle versagte allerdings die Wirkung, und 
das flüssige Paraffin wurde sofort oder 
bald nach der Injektion ohne Kotbeimen- 

*) Lipowski, Berl. klin.Wochenschr. 1909, Nr. 29. 


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262 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Juni 


gung wieder entleert. Was aber auch bei 
diesen Paraffineinläufen häufig das Ver¬ 
fahren störte, war die nicht gut zu ver¬ 
meidende Beschmutzung der Hände, der 
Wäsche usw. Nicht sehr brauchbar er¬ 
wiesen sie sich auch für solche Patienten, 
die bei der Anwendung der Klystiere auf 
sich allein angewiesen sind. Und schlie߬ 
lich dürfte für viele auch der nicht ganz 
geringe Preis (60 Pfg. pro Eimerchen, das 
ist für einen einmaligen Einlauf) ein 
nicht ganz zu vernachlässigendes Moment 
bilden; zumal in denjenigen Fällen, in 
welchen die Anwendung — wie das ja 
meistens der Fall sein wird — längere 
Zeit hindurch geschehen soll. 

Um die gekennzeichneten Unbequem¬ 
lichkeiten zu umgehen, hat mein Chef, Herr 
Prof. H. Strauß, sich veranlaßt gesehen. 
Versuche anzustellen mit großen Suppo- 
sitorien aus Ol. Kakao, ähnlich wie sie vor 
kurzem von Boas 1 ) als Nährsuppositorien 
empfohlen worden sind. Er ging dabei 
von der Voraussetzung aus — die uns 
dann die Praxis auch bestätigt hat — daß 
sich solche Zapfen, wenn deren Schmelz¬ 
punkt, niedriger ist als die Körpertempe¬ 
ratur im Mastdarm auflösen müssen 
und daß die von ihnen gelieferte 
Oelmenge ausreichen mußte, um die 
Darmwand und Kotmassen genügend 
schlüpfrig zu machen und ein mühe¬ 
loses Durchgleiten der letzteren durch das 
Rektum zu ermöglichen. Herr Oberapo¬ 
theker Freundlich, Vorsteher unserer 
Krankenhaus-Apotheke, hatte die Liebens¬ 
würdigkeit, mir über die Herstellung solcher 
Mastdarmzapfen einige Angaben zu machen: 
Die Zapfen haben eine konische Form, sind 
8 cm lang (d. h. nicht länger als der Längs¬ 
durchmesser der Ampulle!) im Durch¬ 
messer 1V 2 —2 cm breit und an ihrem 
vorderen Ende etwas zugespitzt. — Sie 
werden in einem eigenen Suppositorien- 
apparat aus je 15—20 g erwärmten Ol. 
Kakao hergestellt Nach dem Erkalten 
haben sie eine genügend feste Konsistenz, 
um sich — an der Spitze mit etwas 
Oel oder weicher Vaseline einge¬ 
fettet — mühelos in den After einführen 
zu lassen. Dabei ist Knie-Ellenbogen-Lage 
zwar dienlich, aber nicht unbedingt er¬ 
forderlich. In den allermeisten Fällen 
reicht die linke Seitenlage vollkommen aus. 
Zweckmäßig ist es, bei der Einführung des 
Zapfens die Topographie des Rektums zu 
berücksichtigen, also die erste Hälfte senk¬ 
recht zum After einzuführen, bei der zweiten 
Hälfte aber, entsprechend der Richtung 

*) Boas, Berl. klin. Wochschr. 


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der Ampulle, den Weg etwas dorsalwärts 
zu nehmen. 

Wir haben diese Zapfen seit einiger 
Zeit bei einer großen Anzahl von Patienten 
in Anwendung gezogen, und zwar zunächst 
in solchen Fällen, in denen es darauf an¬ 
kam, die Reibung des Kotes mit der Am¬ 
pulle, zumal mit ihrem distalen Teil, und 
mit den Wänden der Pars sphincterica zu 
vermindern, wozu schon ein geringes 
Quantum von Oel völlig ausreichen muß; 
also vornehmlich in den Fällen von so¬ 
genannter Proctitis ampullaris und 
Proctitis sphi-ncterica 1 ), in denen die 
Proktosigmoskopie eine entzündlich ge- 
rötete, feucht-glänzende oder auch auf¬ 
fallend trockene, granulierte, eventuell auch 
erodierte oder mit Schleim belegte Mu¬ 
kosa vor Augen führt. In derartigen Fällen 
kommt es ja in erster Linie darauf an, 
traumatische Insulte der Schleim¬ 
haut zu verhüten, durch die das Leiden 
unterhalten oder gar gesteigert werden 
oder durch welche nach schon erfolgter 
Ausheilung Anlaß zu Rezidiven gegeben 
werden könnte. Manchmal;, wenn auch 
durchaus nicht in allen solchen Fällen, 
handelt es sich um jenen Zustand, den 
Strauß als „proktogene Obstipation“ 
beschrieben hat 2 ). Also überall da, wo es 
zunächst genügt, die unteren Wege 
schlüpfrig zu machen, sind die Stuhl¬ 
zapfen am Platze. Und daß sie diesen 
Zweck erfüllen, beweist — neben der An¬ 
gabe der Patienten, die Defäkation sei 
auffallend mühelos vor sich gegangen — 
der Anblick des Stuhles, der gewöhnlich 
nach der Entleerung von einer öligen 
Masse umgeben ist, die in. dem den Stuhl 
auf fangenden Gefäß bald zu einer schmalz¬ 
artigen Masse erstarrt. Selten nur war 
das Oel mit dem Stuhl selbst vermischt — 
anscheinend nur dann, wenn der Kot sich 
im Mastdarm noch nicht allzu sehr ver¬ 
härtet hatte. In solchen Fällen erfolgte 
die Defäkation nicht selten denn auch 
' relativ bald, d. h. schon nach zirka 72 bis 
2 Stunden, während sie sonst am häufigsten 
4—8 Stunden auf sich warten ließ. In der 
Mehrzahl der Fälle hatten die Stuhlzapfen 
an sich keine kotaustreibende Wirkung, 
sondern erleichterten nur die Absetzung des 
Stuhles in ihrer Eigenschaft als Schmier¬ 
und Gleitmittel. Infolgedessen er¬ 
scheinen sie auch zunächst nur in den oben¬ 
genannten Fällen indiziert. 

J ) cf. H. Strauß, Berl. klin. Woch. 1908, Nr. 31 
und die Prokto-Sigmoskopie. Leipzig. Thieme 1910. 
S. 95—98. 

s ) H. Strauß, Therapeut Monatsh. August 1906. 


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263 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Ihr Indikationsgebiet läßt sich aber durch 
verschiedene Zusätze zum Ol. Cacao be¬ 
liebig erweitern. So haben wir in solchen 
Fällen, in welchen gleichzeitig noch eine 
a d s t r i n g i e r e n d e Wirkung auf die Schleim - 
haut der Ampulle und der Pars sphinc- 
terica erwünscht ist, den Stuhlzapfen noch 
eine Beimischung von 0,5—1,0 g des nach 
den Angaben von Strauß hergestellten 
zuckerfreien, neutralen, kalk- und menthol¬ 
haltigen Heideibeerextraktes gegeben, 
wie es sich nach den Mitteilungen von 
Läufer 1 ) aus der Strauß’schen Poliklinik 
teils in Form kleiner Suppositorien, teils in 
Form von Klysmen für die Behandlung ent¬ 
zündlicher Prozesse der untersten Darmab¬ 
schnitte bewährt hatte. Auch Ichthyol- 
beimengungen (0,1 g) mit oder ohne Eukain 
(0,03 g) und Extr. Beilad. (0,03 g) haben 
wir mit Erfolg angewandt. Begreiflicher¬ 
weise kann man auch Argent. nitricum, 
Protargol und ähnliches beimengen. Eine 
eccoprotische Wirkung erzielt man durch 
Zusatz von Glyzerin, Seife usw. Auf 
Grund der Versuche von K. Glaeßner 
und G. Singer 3 ) haben wir für diejenigen 
Fälle, in welchen uns ein Peristaltik-an¬ 
regender Zusatz erwünscht schien, 0,1 bis 
0,2 g Cholsäure beigemengt und sind 
dabei in zahlreichen Fällen zu dem 
gewünschten Erfolge gelangt Im 
Laufe von einer halben bis zu fünf Stunden 
kam es zu einer mühelosen Entleerung 
eines normal geformten Stuhles, und der 
ganze Vorgang glich sehr einer spontanen 
physiologischen Defäkation, worauf auch 
schon die beiden Autoren hinweisen. Die 
Patienten äußerten meistens ganz von selbst. 


Aus dem österreioh-nngarisolien 

Die Behandlung der 

Von Primararzt 

Die bis jetzt bei Amöbendysenterie an¬ 
gewendeten Behandlungsmethoden geben 
in der großen Mehrzahl der Fälle sehr 
wenig befriedigende Resultate. 

Das von vielen als Spezifikum geprie¬ 
sene Ipeca ruft bei Amöbendysenterie 
höchstens Brechneigung oder Erbrechen 
hervor. Dessen Wirkungslosigkeit bei 
Amöbendysenterie ist übrigens schon von 
Kartulis 3 ) hervorgehoben worden. 

Purgantien haben wohl den Zweck, den 
Darm von Schleim und Fäkalmassen zu be¬ 
freien, auf den Krankheitsprozeß selbst 

Läufer, Therapeut. Monatsh., Mai 1908. 

*) Wien. klin. Wochschr. 1910, Nr. 1. 

3 ) Kartulis, Dysenterie, Nothnagel, Spezielle 
Pathologie. 


wie leicht ihnen die Entleerung geworden ist. 
Wir haben allerdings auch Fälle gesehen, in 
denen die Wirkung ausblieb, doch war 
dies bei weitem die Minderzahl. Als An¬ 
wendungsgebiet der Cholsäure bezeichnen 
Glaeßner und Singer alle jene Fälle, 
bei denen eine Erschwerung der Defäkation 
durch Störung im Rektum vorliegt oder 
eine Schwäche der austreibenden Kraft im 
Dickdarm anzunehmen ist; auch den para¬ 
lytischen Ileus, die postoperative Darm¬ 
parese und Darmparalyse sowie die hart¬ 
näckigen Formen der Darmträgheit bei chro¬ 
nischer Peritonitis glauben die genannten 
Autoren mit Cholsäure beeinflussen zu 
können. Jedenfalls sind die Erfolge, die wir 
mit der Anwendung der Cholsäurezapfen im 
allgemeinen erzielt haben, in solchem Grade 
zufriedenstellend, daß wir die Cholsäure¬ 
zapfen in solchen Fällen empfehlen 
können, wo zur Schonung des Magens 
auf die Verabreichung eines Abführ¬ 
mittels verzichtet werden muß und 
in welchen die gleichzeitige Anwen¬ 
dung eines Aperitiv- und Gleitmittels 
angezeigt erscheint. 1 ) 

Da wir mit den hier beschriebenen 
großen Stuhlzapfen, die wir bei den ver¬ 
schiedensten Krankheitszuständen des Dar¬ 
mes angewandt haben, nie irgendwelche 
Belästigung des Patienten erlebt, aber in 
ihnen ein sehr gutes Ersatzmittel für ge¬ 
wisse Arten von Klystieren kennen gelernt 
haben, so nehmen wir keinen Anstand, sie 
für die hier besprochenen Zwecke zur all¬ 
gemeinen Benutzung zu empfehlen. Jede 
Apotheke wird sich leicht auf ihre Her¬ 
stellung einrichten können 2 ) 


Spital in Alexandrien-Aegypten. 

Amöben - Dysenterie. 

Edgar Axisa. 

üben sie gar keine Wirkung aus. Ad¬ 
stringenden vermögen bei akuter Dysen¬ 
terie die Anzahl der Stühle nicht zu ver¬ 
mindern, bei chronischen Fällen ist deren 
Wirkung eher schädlich, da sie unliebsame 
Verstopfung herbeiführen, welche wieder 
durch Purgantien behoben werden muß. 
Dasselbe gilt vom Opium, welches bei 
schweren Fällen von akuter Dysenterie 
dessen lindernde Wirkung gänzlich einge- 

*) Von den diätetischen Mitteln, welche eine Er¬ 
weichung des Stuhles erzeugen, möchte ich auf die 
bei der Regulin-Anwendung gemachte Erfahrung 
und die durch sie nahegelegte Verwendung von Agar- 
Agar-Speisen statt Gelatine hinweisen, von denen 
Herr Prof. Strauß reichlich Gebrauch machen ließ. 

a ) Sie werden zurzeit in der Kopernikus-Apotheke, 
Berlin W., Hohenstaufenstraße vorrätig gehalten. 


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264 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Juni 


büßt zu haben scheint. — Am rationellsten 
dürfte noch die lokale Behandlung der 
Dysenterie durch hohe Darmeingießungen 
sein. Dieselbe ist aber nur bei subakuten 
und chronischen Fällen anwendbar. Bei 
akuten Fällen im ulzerativen Stadium 
scheitert dieselbe an den Schmerzen, welche 
durch eine noch so kleine Eingießung her¬ 
vorgerufen werden. Erst wenn die akuten 
Erscheinungen zurückgegangen sind, kann 
die Enteroklyse in Betracht kommen. 

Von französischen Kolonialärzten ist 
in die Therapie der Dysenterie das 
„Kossam“ eingeführt worden. Dasselbe 
ist in Aegypten durch Legrand 2 ) bekannt 
gemacht worden. — Jene Aerzte, welche 
das Mittel bei ihren Fällen versucht haben, 
sind über die Anwendung desselben sehr 
verschiedener Meinung, da das „Kossam“ 
bei einigen Fällen eine sichtbare Heilwir¬ 
kung ausübt, ebenso frappant wie das 
Chinin bei der Malaria, bei anderen da¬ 
gegen zu versagen scheint. 

Die Ursache dieser Mißerfolge liegt 
darin, daß bei der Wahl der Behandlung 
die Aetiologie des Falles nicht in Betracht 
gezogen wird, daß man sich nicht vor 
Augen hält, daß es nicht „eine“ Dysen¬ 
terie gibt, sondern verschiedene dysen¬ 
terische Erkrankungen, welche durch ganz 
verschiedene Erreger hervorgerufen werden, 
und daß demnach von einer einheitlichen The¬ 
rapie der Dysenterie, wie eine solche in 
allen Lehrbüchern beschrieben wird, keine 
Rede sein kann. — Da aber bei jedem 
Fall von Dysenterie aufs Geratewohl, bald 
Ipeca, bald Kossam, bald Purgantien, bald 
Adstringenden und Desinfizientien gereicht 
werden, und nebenbei in den Darm aller¬ 
hand eingegossen wird, so ist es kein 
Wunder, daß manches von den einen ge¬ 
priesen, von den anderen verworfen wird, 
und daß trotz des vielen Einnehmens per 
os et per rectum die Dysenterie einen 
äußerst qualvollen und langwierigen Ver¬ 
lauf nimmt. 

Das Kossam, wie schon Legrand in 
seiner Mitteilung im internationalen Kongreß 
zu Kairo hervorhebt, wirkt aber hauptsäch¬ 
lich bei Amöbendysenterie, und zwar bei 
unkomplizierten Fällen. Bei derselben beob¬ 
achten wir bei Kossamtherapie, selbst bei 
den schwersten Fällen, nach wenigen Tagen 
das vollständige Verschwinden des Blutes 
aus den Fäzes, und nach ungefähr drei 
Wochen nach Beginn der Behandlung sind 
die Stühle von normaler Beschaffenheit. — 
Auch die heftigen subjektiven Erscheinun- 

2 ) Legrand, Congr&s int. de medicine. Le 
Cairo. 


gen erfahren nach kurzer Zeit eine bedeu¬ 
tende Besserung, um in Bälde gänzlich 
nachzulasen. — Die spezifische Heilwirkung 
des „Kossam“ ist aber besonders bei chro¬ 
nischer Dysenterie ersichtlich. Ich habe 
Fälle, welche jahrelang jeder Behandlung 
getrotzt haben, durch „Kossam“ in wenigen 
Wochen in vollständige Heilung übergehen 
gesehen. 

Das „Kossam“ ist der chinesische Name 
des öligen Samens von „Brucea Suma 
trana“, einer Simarubeae, und ist in Tonkin, 
Cochinchina und Annam ein Volksmittel 
gegen Dysenterie. — Dasselbe wurde von 
den Eingeborenen den Europäern gegen¬ 
über streng geheim gehalten. Nach vielen 
Bemühungen gelang es Dr. Mangeot, 
Gefängnisarzt in Saigon, sich einige Samen 
zu verschaffen. — Das Mittel wurde nun 
von ihm vielfach und mit sehr gutem Er¬ 
folge anwendet. Ebenso von La Chapelle 
und Teliier. In Aegypten wurde es zu¬ 
erst von Legrand angewendet. — Das 
Mittel kommt im Handel in Form von 
„Tabloid“ hergestellt, durch die Firma 
„Collin“ in Paris. Das wirksame Prinzip 
des „Kossam“ soll das von Bertrand im 
Institut Pasteur dargestellte Glukoside „Ko¬ 
samine“ sein. 

Das Kossam wirkt vor allem hämosta- 
tisch. Wie erwähnt, verschwindet bei 
schweren Fällen schon nach wenigen Tagen 
das Blut aus den Fäzes. Bei leichten oder 
chronischen Fällen nach 1—3 Tagen. 
Während bei nicht ‘mit Kossam behandel¬ 
ten Fällen nach Weber-Schümm noch 
2—3 Wochen nach makroskopisch nega¬ 
tivem Blutbefund in den Fäzes der Nach¬ 
weis desselben gelang, fällt die betreffende 
chemische Probe bei Kossambehandlung 
nach 6—10 Tagen negativ aus. Bei bazil¬ 
lärer Dysenterie verschwindet bei Kossam¬ 
behandlung auch rasch das Blut aus den 
Fäzes, es treten aber oft im Laufe der 
Krankheit Rezidivblutungen auf. — Bei 
zwei Fällen von profusen Blutungen bei 
Darmtuberkulose sah ich dieselben bei 
Kossamdarreichung bald Stillstehen, ebenso 
Hämorrhoidalblutungen. — Das Kossam 
scheint aber direkt auf die Amöben schä¬ 
digend zu wirken. Unter 37 Stühlen, die 
ich systematisch darauf untersucht habe, 
sind nach 8—12 Tagen der Behandlung 
meist keine Amöben mehr in den Fäzes 
nachweisbar. Im Beginn der Erkrankung 
waren aber dieselben in den betreffenden 
Schleimflocken fast in Reinkultur und in 
enormer Menge vorhanden. 

Sonst konnten Amöben bisweilen noch 

mehrere Wochen nach Aufhören der Blu- 
♦' 


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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


265 


tungen nachgewiesen werden. Eine ad¬ 
stringierende Wirkung besitzt das Kos- 
sam nicht. Das Nachlassen der Durch¬ 
fälle und schließlich das Auftreten geform¬ 
ter Stühle muß auf dessen spezifische 
Wirkung bezogen werden. Bei nicht 
dysenterischen Durchfallen ist das Kos- 
sam vollständig wirkungslos. Durch das 
Kossam ist an Stelle der froher bei der 
Behandlung der Amöbendysenterie wal¬ 
tenden Polypragmasie eine bedeutende 
Vereinfachung der Therapie eingetreten. 
Die Behandlung ist hauptsächlich eine me¬ 
dikamentöse und besteht in täglicher Dar¬ 
reichung von Kossam. Ab und zu wird 
ein Purgans, und in seltenen Fällen ein 
Adstringens gereicht. Bei manchen Fällen 
werden zur mechanischen Reinigung des 
Darmes von Schleim DarmspQlungen mit 
1 obiger Ichthyollösung gemacht. Bei an¬ 
deren Fällen wieder sind die hohen Darm¬ 
eingießungen von 0,5 %iger bis 1 °/ 0 iger 
Tanninlösung, wie sie von Kartulis in 
die Therapie der Dysenterie eingefQhrt 
worden sind, nicht zu entbehren, deren 
Anwendung hat aber nur bei bestimmter 
Indikation zu geschehen. — Bevor wir auf 
die Behandlung der Amöbendysenterie 
eingehen, muß die Bemerkung vorausge¬ 
schickt werden, daß die Amöbendysenterie 
als akute, subakute und chronische Amöben¬ 
dysenterie auftreten kann. Allerdings geht 
oft die eine Form in die andere Ober, oft 
aber auch dokumentiert sich die Amöben¬ 
dysenterie von Anfang an als akute, sub- 
akute oder chronische. 

Bei der akuten Form werden die Stahle 
bald rein blutig oder blutig-schleimig, erst 
nach mehreren Tagen enthalten dieselben 
wieder geringe Mengen Fäzes. Die Stahle 
erfolgen ungemein häufig, jede 10 Minuten 
und noch öfter. Die Leibschmerzen sind 
sehr heftig, der Tenesmus äußerst quälend. 
Bei der Palpation der Fossa sigmoidea 
fühlt sich der Darm weich an, und bei 
günstig endenden Fällen ist an dem¬ 
selben keine Verdickung nachweisbar. Erst 
beim Uebergang in die subakute Form, 
nach schon wochenlang dauernder Krank¬ 
heit, ist eine Verdickung und ein Hart¬ 
werden des Darmes zu fühlen. 

Bei der subakuten Form sind Leib¬ 
schmerzen und Tenesmus allerdings vor¬ 
handen, aber bei weitem nicht so heftig. 
Anzahl der Stühle 12—20. Selten sind 
dieselben rein blutig oder blutig-schleimig. 
Meist ist der Stuhl breiig oder dünnflüs¬ 
sig, mit blutig-schleimiger Beimengung. 
Bei der Palpation der Fossa sigmoidea 
fühlt man den Darm deutlich verdickt und 


etwas hart. Bei der chronischen Amöben- 
dysenterie ist der Darm in der Fossa 
sigmoidea hart, strangartig kontrahiert, der 
Verlauf ist der gewöhnlich bekannte oder 
sie verläuft unter dem Bilde einer Colitis 
muco membranacea, oder einer Proctitis, 
bei Lokalisation im Rektum usw. 

Ferner gibt es, was die Aetiologie an¬ 
belangt, Mischformen von Amöben- und 
bazillärer Dysenterie. Es sind jene Fälle, 
wo im Stuhl necrotische Schleimhautfetzen 
ausgestoßen werden, und wo schwere All¬ 
gemeinerscheinungen auftreten 1 ). 

Bei der Besprechung der Therapie 
wollen wir nun die akute, subakute und 
chronische Amöbendysenterie einzeln vor¬ 
nehmen. — Die meisten Fälle von akuter 
Amöbendysenterie bekommt der Arzt in 
der größten Anzahl der Fälle erst dann 
zu sehen, wenn Darmblutungen bereits 
aufgetreten sind. Da in dem bei schweren 
akuten Fällen nur wenige Tage anhaltenden 
katarrhalischen Stadium Patient ohnedies 
in der Regel Purgantien genommen hat, so 
verliere man keine Zeit damit und reiche 
sofort Kossam. Patient bekommt stündlich 
ein Tabloid bis 8 Stück. Es können bis 
12 Tabloid gereicht werden, ich habe die 
Tagesgabe von 8 jedoch nie überschritten. 
In den 2—3 ersten Tagen der Behandlung 
ist eine Besserung, besonders dann, wenn 
die Therapie in voller ulzerativer Periode 
eingesetzt hat, kaum ersichtlich. 

Die Anzahl der Stühle nimmt nicht ab, 
die Entleerungen sind rein blutig oder 
blutig-schleimig. Der Tenesmus und die 
Leibschmerzen halten mit gleicher Intensität 
an. Am 4., spätestens am 5. Tage der Be¬ 
handlung nehmen die subjektiven Be¬ 
schwerden ab, die Stühle erfolgen weniger 
häufig. Zwischen einzelnen Stuhlentleerun¬ 
gen vergeht bisweilen V» Stunde. Patienten 
können nachts einige Stunden schlafen. 
Die Beschaffenheit der Stühle fängt an, 
sich zu ändern. In einzelnen Stühlen sind 
einige Klümpchen Fäzes vorhanden, welche 
in einer fleischwasserähnlichen Flüssigkeit 
schwimmen. Nun geht es der Besserung 
rapid entgegen; nach weiteren 5—6 Tagen 
ist makroskopisch meist kein Blut mehr 
vorhanden. Die Anzahl der Stühle sinkt 
auf 4—6. Subjektive Beschwerden haben 
aufgehört, nur die Palpation des Darmes 
kann manchmal noch etwas schmerzhaft 
sein. 

Patient, welcher sich bis jetzt bei reiner 
Milchdiät befand, verlangt stürmisch nach 


l ) Eine genauere Beschreibung dieser verschie¬ 
denen Formen wird an anderer Stelle erfolgen. 

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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


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Nahrung. Es empfiehlt sich jetzt, ein 
Purgans zu reichen, Kalomel 1 g oder 
Natr. sulfur. 30 g. 

Darauf wieder Kossam, 8 Stück. Als 
Diät Milch, Eier, Tapioka- oder Griessuppen 
und später leichte Kartoffel-, Erbsen- oder 
Linsenbreie, gut passiert. Nach weiteren 
10—12 Tagen ist der Stuhl geformt, ohne 
jede Schleim beimengung. 

Wenn trotz Fehlens von Amöben und 
von Schleim die Stühle dünnflüssig bleiben, 
kann neben Kossam, welches längere Zeit 
nach vollständigem Verschwinden der 
Amöben gegeben wird, ein Adstringens 
gereicht werden. Wir geben Simaruba 
nach folgender Formel: 

Dct. rud. Simarubae. . . /0,0:/00,0 

Bism. subnitr .5,0 

Mixt. gumm. 

Syr. aurant. cort . aa 25,0 

M. D. S. 3—4 stündlich ein Eßlöffel. 

Eventuell können 30 gtt. Opiumtinktur hin¬ 
zugefügt werden. 

Bevor ein Fall als geheilt entlassen 
wird, bekommt derselbe ein Purgans, und 
die Fäzes werden sorgfältig auf Amöben 
untersucht. Ferner darf die Spülflüssigkeit 
des Darmes keinen Schleim enthalten, und 
endlich wird durch einige hohe Darmein¬ 
gießungen von 1 %iger Tanninlösung even¬ 
tuell Schleimabsonderung hervorgerufen. 
Der Schleim wird nochmals auf Amöben 
untersucht. Bei der Palpation darf der 
Darm nicht druckempfindlich sein, muß 
weich sein und keine Spur von Kontraktion 
aufweisen. 

Gegen die heftigen subjektiven Be¬ 
schwerden im ulzerativen Stadium sind wir 
leider machtlos. Gegen den Tenesmus er¬ 
weisen sich nützlich öftere Waschungen 
der Analgegend, das Auflegen von eis¬ 
kalten Bleiwasserkompressen oder der¬ 
gleichen, ebenso Morphium- oder Opium- 
repositorien bringen keine Linderung her¬ 
bei. Eingießungen in das Rektum selbst 
geringer Mengen Flüssigkeit steigern oft 
die Schmerzen. Gegen die Leibschmerzen 
kann man warme Kataplasmen auflegen, 
bei drohender Perforation den Eisbeutel. 

Bei dieser Behandlung sah ich in einer 
ganzen Reihe von Fällen nach wenigen 
Tagen das ulzerative Stadium, welches 
sonst Wochen und Wochen anhielt, ab- 
klingen, und nach spätestens 3 Wochen 
konnte Patient gänzlich geheilt entlassen 
werden, was bei sonstiger Behandlung 
nicht vor 6—8 Wochen und darüber er¬ 
zielt werden konnte. 

Es wäre müßig, die Krankengeschichten 
aller mit Kossam behandelten Fälle 


wiederzugeben. Es möge mir nur ge¬ 
stattet sein, einige Fälle gleichsam als Bei¬ 
spiele für die guten Resultate, die bei 
dieser Behandlungsmethode erzielt wurden, 
mitzuteilen. 

A. Akute Amöbendysenterie. 

Fall 1. Patient 18 Jahre alt, Seemann. 

Am 9. September 1909 profuse Durchfälle 
und Leibschmerzen. Am 13. September blutig¬ 
schleimige Stühle, dieselben sollen jede 10 Mi¬ 
nuten erfolgen. Tenesmus sehr heftig. Fieber. 

Aufnahme am 15. Sptember. 

Status: Lungen- und Herzbefund bietet 
nichts Abnormes. Puls 116. Abdomen unter 
dem Niveau des Thorax, Bauchdecken ge¬ 
spannt. Palpation äußerst schmerzhaft, beson¬ 
ders in der Fossa ileo-cöcalis. Leber- und 
Milzgrenzen normal. Temperatur 39°. Zunge 
belegt, trocken. Brennender Durst, Patient 
klagt über heftige Schmerzen und Tenesmus. 
Die Stühle erfolgen so häufig, daß die Anzahl 
derselben nicht bestimmt werden kann. Stuhl 
blutig-schleimig oder rein blutig. Im mikro¬ 
skopischen Präparat massenhaft Amöben. Be¬ 
handlung Kossam 8 Tabloids, je eins stündlich. 

16. September. Patient hat die ganze Nacht 
nicht geschlafen. Anzahl und Beschaffenheit 
der Stühle wie tags vorher. 

17. September. Leibschmerzen und Tenes¬ 
mus äußerst heftig. Patient muß jeden Augen¬ 
blick auf die Leibschüssel. Es werden nur 
wenige Tropfen Blut entleert, oder es gehen 
kleine Mengen Schleim und Blut ab. — Im 
mikroskopischen Präparat massenhaft Amöben. 
M - Suppositorien schaffen keine Linderung. 
Eingießen von 200 ccm Wasser mit 4 g Antipyrin 
und 30 gtts. Opiumtinktur wird nicht vertragen. 

18. September. Stuhlgang jede 10 Minuten. 
In einzelnen Stühlen sind geringe Mengen Fäzes 
enthalten. 

19. September. 26 Stühle. Blut in geringer 
Menge. Tenesmus und Leibschmerzen haben 
bedeutend nachgelassen. Palpation der Fossa 
sigmoidea schmerzhaft. 

20. September. Status idem. Im Stuhl fast 
kein Blut vorhanden. 

21. September. Patient hat in der Nacht 
20 Stuhlentleerungen gehabt, mit ziemlich hef¬ 
tigem Stuhldrang. In zwei derselben war 
etwas Blut vorhanden. Temperatur 37,1—37,8 

22. September. 24—30 Stühle mit geringer 
Blutbeimengung, jedoch heftiger Tenesmus. 
Teperatur 36,5—37,4. 

23. und 24. September. Spuren Blut. 

25. September. 18 Stühle. Kein Blut. Tenes¬ 
mus in geringem Grade. Temperatur 36,9bis36,5. 

26. September. 10—15 Stühle. Beschaffen¬ 
heit derselben breiig mit Schleimbeimengung. 
Kein* Blut. Amöben spärlich. Weber-Schumm 
positiv. 

27. September. 12 Stühle. Kalomel 1 g. 

28. September. 16 Stühle, dünnflüssig mit 
sehr wenig Schleim. Keine Amöben. Weber- 
Schumm schwach positiv. Kossam und Det. 
Simarubae. 

30. September. 6 Stühle. Palpation nicht 
schmerzhaft. Darm weich. 

1. Oktober. 3 Stühle, breiig. Weber- 
Schumm negativ. 

2. Oktober. 3 geformte Stühle, und von da 
an täglich 1—2 geformte Stühle ohne Schleim¬ 
beimengung. 

Krankheitsdauer ungefähr 17—20 Tage. 


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Juni 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


267 


Fall 2. Patient 20 Jahre alt. Am 5. Sep¬ 
tember 1909 Brechneigung, Leibschmerzen. 
Am 8. September profuse Durchfälle. Am 
13. September blutig-schleimige Stühle, welche 
jede 10 Minuten unter heftigstem Tenesmus 
erfolgen. 

Aufnahme am 15. September. 

Status: Abdomen unterhalb des Niveaus des 
Thorax. Leiseste Palpation äußerst schmerz¬ 
haft. Zunge dick belegt und trocken. Leber 
und Milzgrenzen normal. • Gesichtsausdruck 
leidend. Anzahl der Stühle nicht bestimmbar. 
Sobald Patient die Leibschüssel verlassen hat, 
verlangt er wiederum stürmisch nach dersel¬ 
ben. Stühle rein blutig oder blutig-schleimig. 
Meist gehen unter quälendstem Tenesmus nur 
einige Tropfen Blut ab. Nachts vollständige 
Schlaflosigkeit. Brennender Durst. Die Pal¬ 
pation des Abdomens ist so schmerzhaft, daß 
Perforation befürchtet wird. Der Eisbeutel 
muß jedoch entfernt werden, da durch den¬ 
selben die Schmerzen eine Steigerung erfuhren. 
Um den Tenesmus zu lindern, wird eine Spü¬ 
lung des Rektums mit 4 g Antipyrin und 
Opiumtinktur, 30gtts, versucht. Das Einführen 
einer dünnen Nelatonsonde rief jedoch solche 
Schmerzen hervor, daß davon Abstand ge¬ 
nommen wurde. 0,02 Morphium subkutan ohne 
Wirkung. 

16. September. Leibschmerzen und Tenes¬ 
mus äußerst heftig. Patient hat die ganze 
Nacht schlaflos verbracht. Anzahl der Stühle 
unbestimmbar. Die Stuhlentleerungen bestehen 
aus etwas Blut oder sind blutig-schleimig. — 
Einige nekrotische Schleimhautfetzen nachweis¬ 
bar. Temperatur 38,7—39,5. Um den Tenes¬ 
mus zu lindern Morphiumsuppositorien ohne 
Erfolg. Kossam 8 St. 

17. September. Status idem. Eine Eingie¬ 
ßung in das Rektum von <*50 ccm Wasser mit 
4 g Antipyrin und 30 gtts. Opiumtinktur wird 
sofort ausgestoßen. Dieselbe rief heftige 
Schmerzen hervor. Es werden mehrere nekro¬ 
tische Schleimhautfetzen ausgestoßen. 

18. September. Status idem. Temperatur 
38—39. 

19. September. Subjektive Beschwerden 
haben etwas nachgelassen. Nachts konnte 
Patient auf 0,02 Morphium subkutan einige 
Stunden schlafen. 

20. September. Anzahl der Stühle geringer. 
Dieselben bestehen zeitweise aus einigen 
Klümpchen Fäzes, welche in einer Fleisch¬ 
wasser ähnlichen Flüssigkeit schwimmen, zum 
Teil aber sind dieselben noch rein blutig oder 
blutig-schleimig. Die Schmerzen haben nach¬ 
gelassen. Die Zunge reinigt sich. Temperatur 
37,8—39. 

21. September. Anzahl der Stühle nimmt 
ab. In fast jeder Entleerung sind geringe 
Mengen Fäzes enthalten. Stuhl sehr übel¬ 
riechend. Patient hat nachts ohne Morphium 
6 Stunden geschlafen. Temperatur 38,2—38,8. 

22. September. Stuhlgang jede Va Stunde. 
Blutbeimengung nimmt ab. Tenesmus weniger 
quälend, doch noch immer heftig. 

23. September. Im Stuhl sind nur Spuren 
Blut enthalten. Temperatur 37,5—38,3. 

24. September. Makroskopisch kein Blut. 
Keine nekrotischen Membrane nachweisbar. 

25. September. Kein Blut. Anzahl der 
Stühle 18. Wenig Stuhldrang. Temperatur 36,8 
bis 37,8. 

26. September. Wohlbefinden. Stuhl breiig 
mit Schleimbeimengung. Im mikroskopischen 


Präparat keine Erythrozyten. Weber-Schumm 
positiv. Bei der Palpation der Fossa sigmoidea 
ist der Darm etwas schmerzhaft. 

27. September. 4 Stühle, breiig, wenig 
Schleim. Spärliche Amöben. Patient verlangt 
nach Nahrung. Diät: 2 Tapiocasuppen, 1 Liter 
Milch, 4 Eier, 2 leichte Kartoffelbreie. 

28. September. Kalomel 1 g. 

29. September. 4 Stühle, breiig, mit ge¬ 
ringer Schleimbeimengung. Keine Amöben. 
Weber-Schumm schwach positiv. Neben 
Kossam Dct. red. Simarubae. 

4. Oktober. 3 Stühle, breiig, mit geformten 
Stücken. Weber-Schumm negativ. 

5. Oktober. 2 geformte Stühle. Weber- 
Schumm negativ. Diät: */a Huhn, Suppe, Milch, 
Eier, Erbsenbrei. 

8. Oktober. 1 geformter Stuhl. 

11. Oktober. Volle Diät. Am 16. Oktober 
verläßt Patient das Spital. Wiederholte Unter¬ 
suchungen ergaben die Abwesenheit von 
Amöben, von Blutspuren und von Schleim in 
den Fäzes. 

Bis zum 5. Oktober waren leichte Tempe¬ 
ratursteigerungen, 37,2—37,5, zu verzeichnen. 

Diese beiden Fälle gehören entschieden 
• zu den schwersten akuter Amöbendysen- 
terie, und doch, wie aus der Kranken¬ 
geschichte ersichtlich, war der Ausgang 
bei der einfachen Behandlung, ohne Opium, 
Darmdesinfizientien, und Darmeingießungen 
und Purgantien, ein ausnehmend günstiger, 
auch was die Dauer der Erkrankung selbst 
anbelangt. Bei meinen ersten, nicht mit 
Kossam, sondern nach den in allen Lehr¬ 
büchern beschriebenen Methoden behan¬ 
delten Fällen war von einem Verschwinden 
des Blutes aus den Fäzes vor 2—3 Wochen 
und von einer definitiven Heilung vor 
5—6 Wochen nicht die Rede. 

Wenn auch bei der subakuten Amöben - 
dysenterie das „Kossam* den Mittelpunkt 
der Behandlung bildet, so macht sich bei 
derselben die Anwendung von Darm¬ 
spülungen und Purgantien bisweilen not¬ 
wendig. Wie bereits erwähnt, sind bei 
der subakuten Form sowohl die subjektiven 
Beschwerden als auch die Darmerscheinun¬ 
gen bedeutend milder als bei der akuten 
Dysenterie. 

Dagegen hat die subakute Form Ten¬ 
denz zum Chronischwerden. Der Darm 
fühlt sich in der Fossa sigmoidea von An¬ 
fang an deutlich verdickt und wird all¬ 
mählich hart. 

Ferner ereignet es sich, daß, wenn auch 
bei Kossamdarreichung nach 2—3 Tagen 
das Blut vollständig verschwindet, die 
Schleimabsonderung noch längere Zeit in 
reichlichem Maße anhält und breiige oder 
dünnflüssige Stuhlentleerungen 2—3 täglich 
erfolgen, oder es bestehen Durchfälle mit 
sehr geringer oder auch fehlender Schleim¬ 
beimengung. Der Darm ist jedoch bei der 
Palpation immer schmerzhaft und fühlt sich 

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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Juni 


etwas hart an. Bei diesen Fällen empfiehlt 
sich, jeden 3. Tag 30 g Natr. sulfur. zu 
reichen, und DarmspQlungen mit Ichthyol 
zur mechanischen Reinigung des Darmes, 
wobei 4—5 1 1°/oiger Ichthyollösung zur 
Verwendung kommen, zu machen. 

Oft genügt diese Behandlung allein, um 
vollständige Heilung herbeizuführen. 

Es ereignet sich aber bisweilen, daß 
der Darm bei der Palpation schmerzhaft 
und dessen Verdickung bestehen bleibt 

Es erfolgen stets 2—4 breiige oder 
dünnflüssige Stühle mit geringer Schleim¬ 
beimengung und spärlichen Amöben. Nun 
werden statt der Spülungen mit Ichthyol 
1—2 mal täglich hohe Darmeingießuagen 
mit 0,5—1°/oiger Tanninlösung gemacht, 
welche möglichst lange vom Patienten be¬ 
halten werden müssen. 

Es kommt darauf zu reichlicher Schleim¬ 
absonderung in den Fäzes. Im Schleim 
sind reichlich Amöben vorhanden. Die 
Eingießungen werden fortgesetzt bis voll¬ 
ständigem Weich werden des Darmes und 
negativem Amöbenbefund. 

Endlich kommt es vor, daß bei weich 
gewordenem Darme undFehlen von Amöben 
leichte Durchfälle, 2—3 dünnflüssige Stühle 
täglich, bestehen bleiben. Nur hier ist die 
Anwendung von Adstringenden, wie Bis¬ 
mut, Tannin, anzuwenden. 

B. Subakute Amöbendysenterie. 

Patient, 42 Jahre alt, erkrankte am 6. De¬ 
zember 1909 an Durchfällen und Leib sch merzen. 

Am 7. unter Tenesmus Blut- und Schleim¬ 
abgang, mehrere Stuhlentleerungen, ungefähr 
16—24 mal täglich. Blut und Schleim nach des 
Patienten Angaben mit den Fäzes untermengt. 
Am 14. Aufnahme. Temperatur 37,9—38,7o. 
Palpation des Darmes in der Fossa sigmoidea 
schmerzhaft. Darm daselbst deutlich verdickt 
und etwas hart. Leibschmerzen und Tenesmus 
ziemlich heftig. 17 Stühle. Dieselben bestehen 
aus geringen Mengen breiiger Fäzes, denen 
Blut und Schleim untermengt ist. Bisweilen 
sind die Fäzes von Blut und Schleim deutlich 
getrennt, so daß man neben den Fäzes den 
blutig-schleimigen Anteil unterscheiden kann. 
Massenhaft Amöben. Therapie: Kossam 
8 Stück. 

15. Dezember. 11 Stühle, in 3 derselben 
ist etwas Blut vorhanden. 

16. Dezember. 4 Stühle, ohne Blut. Leib¬ 
schmerzen geringgradig. Kein Tenesmus. 

17. Dezember. Kalomel 1 g. 

18. Dezember. 3 breiige Stühle mit ge¬ 
formten Stücken. Wenig Schleim. Kossam 
6 Stück. 

19. Dezember. 2 geformte Stühle. Einzelne 
Amöben nachweisbar. 

20. Dezember. 1 geformter Stuhl. Kein 
Schleim. 

21. Dezember. 1 geformter Stuhl. Weder 
Schleim noch Amöben. Weber-Schümm 
negativ. Darm vollständig weich und schmerz¬ 
los. Im Spülwasser einzelne Schleimflocken. 


Bei diesem Falle kam es also zu einer 
glatten Heilung wenige Tage nach Kossam- 
darreichung, ohne ohne irgend ein anderes 
Medikament. 

Beim folgenden Falle mußten neben Kossam 
Darmspülungen gemacht werden. 

Fall 2. Patient, 22 Jahre alt, erkrankte am 
23. März an Leibschmerzen, Durchfällen mit 
blutig-schleimiger Beimengung und Tenesmus. 
Aufnahme am 31. März 1909. 

Palpation des linken unteren Quadranten sehr 
schmerzhaft. Darm daselbst verdickt und etwas 
hart. Tenesmus gering. Temperatur 38°. 
12 Stühle. Fäzes breiig in geringer Quantität 
und mit reichlicher blutig-schleimiger Bei¬ 
mengung. Massenhaft Amöben. 

Therapie: Kossam 8 Stück. 

1. April. 7 Stühle. Temperatur 38,3—38,5°. 

2. April. 5 Stühle. Blut bedeutend ab¬ 
genommen. 

3. April. 4 Stühle. Blut in Spuren. 

4. April. 3 Stühle. Kein Blut, jedoch reich¬ 
lich Schleim. Kein Tenesmus. Darm fühlt 
sich weicher an. Temperatur 37,6°. 

5. April. 1 Stuhl, breiig, viel Schleim. Im 
Schleim einzelne Amöben. 

6. April. Natr. sulf. 30 g. 5 Stühle mit 
viel Schleim. 

7. April. Kossam 8 Stück. 2 Darmspülungen 
mit 4—5 1 1%iger Ichthyollösung. 1 Stuhl, 
breiig, in der Spülflüssigkeit viel Schleim. 

8. April. 1 Stuhl. Schleim nimmt ab. 

9. April. 2 geformte Stühle, ohne Schleim. 
In der Spülflüssigkeit wenig Schleim. 

12. April. Darm vollständig weich. Stuhl 
geformt. Weber-Schumm negativ. Keine 
Amöben nachweisbar. 

Darmspülung mit abgekochtem Wasser er¬ 
gibt nur einige Schleimflöckchen. 

Fall 3. Patientin, 26 Jahre alt, erkrankte 
am 20. November 1909 an Leibschmerzen und 
Diarrhöen. 

Am 25. November mehrere Stühle mit Blut- 
und Schleimbeimengung. Patientin bekam 
3 Tage nacheinander Ipeca. ohne Erfolg. Auf¬ 
nahme am 28. November 1909. Status: Ab¬ 
domen etwas aufgetrieben. Palpation des 
Darmes in der Fossa sigmoidea sehr schmerz¬ 
haft. Darm verdickt und etwas hart. Tem¬ 
peratur 38,4—38,9°. 

14—18 Stühle mit reichlicher Blut- und 
Schleimbeimengung. Amöben sehr reichlich. 
Patientin klagt über Leibschmerzen. Tenesmus 
mäßig. Therapie: Kossam 8 Stück 

29. November. 12 Stühle mit viel Schleim 
und sehr wenig Blut. Temperatur 37,8—38,8°. 

30. November. 8 Stühle, teils breiig, teils 
dünnflüssig, mit viel Schleim, jedoch ohne Blut. 
Schmerzen haben nachgelassen. Tenesmus 
verschwunden. Temperatur 37,7—38,3. 

1. Dezember. 6 Stühle mit wenig Schleim. 
Temperatur 37,8—38,8°. 

2. Dezember. Kalomel 1 g. 

3. Dezember. 4 dünnflüssige Stühle mit 
wenig Schleim. Patientin klagt über Schmerzen 
im linken unteren Abdominalquadranten. Pal¬ 
pation des Darmes schmerzhaft, derselbe ver¬ 
dickt und etwas hart. Kossam 8 Stück, 2 Darm¬ 
spülungen mit 1°/oigem Ichthyol. 

Bis zum 10. Dezember Status idem. Tem¬ 
peratur 37,2—37,8°. 

Vom 11.—15. Dezember Simarubae mit 3 g 
Bism. subnitr. und 20gtts. Tct. Opii, nebenbei 
Kossam. Am 16., 17., 18. Dezember Korsam 


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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


269 


8 Stück. Bismut und Tannalbin 0,5, Ext. Opii 
0,01, täglich 4 Pulver. Der Stuhl erfolgt trotz¬ 
dem 2—-4 mal täglich, ist dünnflüssig, mit ganz 
geringen Schleimmengen. Sehr spärliche 
Amöben nachweisbar. Der Darm in der Fossa 
sigmoidea ist verdickt, aber hart und schmerz¬ 
haft. 

Am 21.Dezember je 2 hohe Darmeingießungen 
mit 1%iger Tanninlösung. Kossam 6 Stück. 

Am 22. Dezember 2 breiige Stühle mit 
reichlicher Schleimbeimengung und zahlreiche 
Amöben. 

Die Eingießungen werden bis zum 26. De¬ 
zember fortgesetzt. Stuhl geformt, mit ganz 
minimaler Schleimbeimengung. Keine Amöben 
nachweisbar. Bei der Palpation ist der Darm 
nicht mehr schmerzhaft, fühlt sich jedoch noch 
etwas verdickt. Am 28. Dezember ist derselbe 
vollständig weich geworden. 

1 Stuhl täglich, geformt. Im Spülwasser 
kein Schleim. 

C. Chronische Dysenterie. 

Die Behandlung derselben besteht in 
Darreichung von Kossam und Dafmspülun- 
gen mit 1 °/oiger Ichthyollösung zur mecha¬ 
nischen Reinigung des Darmes. Bei Nei¬ 
gung zur Obstipation wird dann und wann 
ein Purgans gereicht, am besten Natr. 
sulfur. Gegen Ende der Behandlung emp¬ 
fiehlt es sich auch hier durch Eingießung 
von Tanninlösung starke Schleimproduktion 
hervorzurufen, und den Schleim sorgfältig 
auf Amöben zu untersuchen. 

Bei Vorhandensein derselben wird mit 
den Tannineingießungen fortgesetzt, bis 
wiederholte Untersuchungen das vollstän¬ 
dige Fehlen von Amöben ergeben haben. 
Bei dieser Behandlung habe ich in 2 bis 
3 Wochen Heilungen erzielt bei 3 bis 
4jähriger chronischer Dysenterie, welche 
hartnäckig jeder Behandlung getrotzt hatte. 
Bei schon seit mehreren Jahren anhalten¬ 
der chronischer Amöbendysenterie verliert 
der Darm seinen strangartigen Charakter, 
es bleibt aber oft eine Verdickung des 
Darmes bestehen, da sich eine Hyper¬ 
trophie des Darmes entwickelt hat. 

Fall 1. Patient leidet seit 3 Jahren an Leib¬ 
schmerzen, Tenesmus. Oefters im Tag blutig¬ 
schleimige Stuhlentleerungen. Ab und zu 
heftige Schmerzen im linken unteren Quadran¬ 
ten. Der Anfall endigt mit Abstoßung blutig 
fingierter Schleimmembranen, Hämorrhoiden. 
Patient wurde wegen Colitis muco-membranaea 
und Proctitis vielfach behandelt, unter anderem 
Trinkkur in Monte-Catini. — Am 22. Mai 1907, 
nachts, heftiger Schmerzanfall im linken unte¬ 
ren Abdominalquadranten. 

Status am 23. Mai. In der Fossa sigmoidea 
Darm kontrahiert, nicht besonders schmerzhaft. 
Am Anus mehrere Hämorrhoidalknoten. Di¬ 
gitaluntersuchung des Rektums muß wegen 
heftiger Schmerzen unterbrochen werden. Am 
herausgezogenen Finger blutiger Schleim. 
Stuhlbefund: dunkelbraun, breiig, mit blutig¬ 
schleimiger Beimengung. Schleim in Fetzen 
und blutig fingierten Membranen. Reichlich 
Amöben. 


Diagnose: rektale, chronische Amöben¬ 

dysenterie. 

Therapie: Von Darm Spülungen mußte Ab¬ 
stand genommen werden, wegen der heftigen 
Schmerzen, die das bloße Einführen der 
Nelatonsonde hervorrief. Kossam 8 St. Diät: 
Milch, Eier, Erbsen- und Linsenbreie, Tapioka, 
Gries- und Reissuppen. 

27. Mai. Tenesmus hat bedeutend nachge¬ 
lassen. 2—3 breiige Stühle ohne Blutbeimen¬ 
gung und sehr wenig Schleim. 

29. Mai. Kein Stuhldrang. 2 geformte 
Stühle, wenig Schleim. 

1. Juni. Darmspülung mit 1 %iger Ichthyol¬ 
lösung. Dieselbe rief etwas Schmerz hervor. 
In der Spülflüssigkeit sehr viel Schleim. 

5. Juni. Das Einführen der Nelatonsonde 
ist nicht mehr schmerzhaft. Schleimmenge 
gering. Seit 2 Tagen hat Patient keinen Stuhl. 

6. Juni. 30 g Natr. sulfur. 4 dünnflüssige 
Stühle von gelber Farbe, mit ganz minimaler 
Schleimbeimengung. Keine Amöben. , 

7. Juni. Kossam und Darmspülungen. Am 
Anus nur einzelne Hämorrhoidalknötchen. — 
Patient fühlt sich ganz wohl. 

10. Juni. Ein geformter Stuhl von normaler 
Beschaffenheit. Darm in der Fossa sigmoidea 
vollständig weich. Die Behandlung wurde bis 
zum 15. Juni fortgesetzt Bis heute ist Patient 
vollkommen gesund. 

Fall 2. Patient leidet seit mehreren 
Jahren an chronischer Dysenterie und wurde 
mit Ipeca, Adstringentien, Eingießungen mit 
Tannin vielfach behandelt. Nach scheinbarer 
Heilung, welche 1—2 Monate anhielt, traten 
wieder die gewöhnlichen Beschwerden auf, 
und zwar heftige Leibschmerzen links und 
Entleerung unter mäßigem Tenesmus. breiiger 
Stühle mit reichlicher blutig-schleimiger Bei¬ 
mengung, bisweilen ziemlich heftige Blutungen. 
Patient ist sehr heruntergekommen und sieht 
kachektisch aus. Im Stuhl Amöben in großer 
Menge. 

2. November 1907. Kossam 8 Stück. 

5. November. 3 breiige Stühle. Kein Blut, 
jedoch viel Schleim. 

6. November. Kossam und eine Darm¬ 
spülung mit 1 %ig er Ichthyollösung. 

10. November. 2 breiige Stühle mit sehr 
geringer Schleimbeimengung. In der Spül¬ 
flüssigkeit viel Schleim. 

13. November. Kein Stuhl. In der Spül¬ 
flüssigkeit nimmt der Schleim ab. 

14. November. Natr. sulfur. 30 g. 5 Stühle 
von gelber Farbe, dünnflüssig, sehr wenig 
Schleim enthaltend. Keine Amöben. 

17. November. 1 Stuhl geformt Kossam 
6 Stück. 

19. November. Eingießung 2 1 1 %iger 
Tanninlösung. 

20. November. 1 geformter Stuhl mit etwas 
Schleim. Keine Amöben. Bis 25. November 
nimmt Patient täglich Kossam, 4 Tabloids. 

Patient ist bis heute gesund. Darm in der 
Fossa sigmoidea etwas verdickt. Leichte Ob¬ 
stipation. 

Was die Anwendungsweise des Kossam 
anbelangt, so muß zum Schluß bemerkt 
werden, daß dasselbe manchmal Brechreiz 
hervorruft. Bei solchen Fällen empfiehlt 
es sich, die Tagesgabe zu zerreiben und 
in Suspension in einem schleimigen Vehikel 


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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Juni 


zu reichen. — Kindern gibt man, je nach 
dem Alter, 2 bis 6 Tabloids in Schüttel¬ 
mixtur. 

Zusammenfassung. 

Bei Amöbendysenterie besteht die Be¬ 
handlung in Darreichung von Kossam, 
welches in kurzer Zeit die Blutungen zum 
Stillstehen bringt, die subjektiven Be¬ 
schwerden lindert, und direkt auf die 
Amöben schädigend wirkt Bei akuter 
Amöbendysenterie wird ab und zu ein 
Purgans gereicht. Bei Bestehenbleiben von 
dünnflüssigen Stühlen ohne Schleim und 


bei - negativem Amöbenbefund Adstrin¬ 
genden. 

Bei subakuten Fällen Kossam und Darm¬ 
spülungen zur mechanischen Reinigung des 
Darmes. Bei Bestehenbleiben dünnflüssiger 
Stühle ohne Schleim und Amöben und bei 
weich gewordenem Darme Adstringenden, 
ist dagegen der Darm noch verdickt und 
schmerzhaft, Eingießungen von 2 1 0,5 bis 
1 %iger Tanninlösung. 

Bei chronischer Dysenterie Kossam und 
Darraspülungen, Ichthyol und später Ein¬ 
gießungen von 0,5%iger Tanninlösung. 


Ans der Direktorialabteilnng des Allgem. Krankenhauses St. Georg, Hamburg. 

(Prof. Deneke.) 

Die Behandlung des Delirium tremens mit Veronal. 

Von Dr. Ernst von der Porten. 


Das Delirium tremens auf alkoholischer 
Basis ist, selbst wenn es kräftige Männer 
des mitüeren Lebensalters betrifft, als eine 
ernste Erkrankung anzusehen. Die Gefahren, 
die dem Herzen von der durch die Hallu¬ 
zinationen immer wieder frisch belebte 
motorischen Unruhe drohen, sind ja recht 
bedeutende. Die Mortalität des Deliriums 
wird denn auch von den meisten Autoren 
recht hoch beziffert; so gibt Kraepelin 
3 —-5o/ 0 Mortalität, Bonhoeffer 9°/ 0 , 
Ziehen 12%, Jacobson gar 19% (bei 
Ganser, Münch, med. Wochschr. 1907, 
Nr. 3) und Eichelberg 5,5% Mortalität 
an; Ganser berichtet, daß, bevor er den 
Deliranten grundsätzlich Digitalis verab¬ 
reichte, er 6,37% Mortalität gehabt habe, 
und daß nach Einführung der Digitalis¬ 
behandlung die Sterblichkeit auf 0,88% 
gesunken sei. 

Es wäre unrichtig, die Mortalitätsziffern 
der verschiedenen Autoren ohne weiteres 
miteinander zu vergleichen und daraus 
etwa einen Schluß auf die therapeutischen 
Erfolge ziehen zu wollen, die diesem oder 
jenem gebrauchten Mittel in höherem oder 
geringerem Maße zukämen. Dazu wird doch 
das Material in den verschiedenen Städten 
und Kliniken ein zu verschiedenes sein. 
Wenn man aber an demselben Kranken¬ 
haus, bei demselben Material und bei 
derselben Beurteilung die verschiedenen 
Jahrgänge der Deliranten, bei denen nun 
nur die Therapie gewechselt hat, mitein¬ 
ander auf die therapeutischen Erfolge ver¬ 
gleicht — wie z. B. bei der Ganserschen 
Statistik — so wird man allerdings wohl 
imstande sein, diese oder jene Therapie zu 
empfehlen. 

Wir können auf Grund eines derartigen 
Vergleichs das Veronal als ein Hypnotikum, 


I das auch in großen Dosen weder die Be¬ 
schaffenheit des Pulses noch die Atmung 
ungünstig beeinflußt und dabei die psycho¬ 
motorische Erregung in ausgezeichnetem 
Maße zu bekämpfen und damit dem Herzen 
Arbeit zu sparen befähigt ist, für die Be¬ 
handlung des Delirum tremens empfehlen. 

Unsere gesamte Statistik erstreckt sich 
auf die Jahre 1901—1909 und umfaßt 
660 Fälle von Delirium, wobei sowohl das 
bereits außerhalb des Krankenhauses aus- 
gebrochene, wie das hier ausgebrochene, 
wie auch schließlich das Delirium imminens 1 ) 
einbegriffen ist. Von diesen 660 Fällen 
entfallen 396 auf die Jahre 1901—1906, und 
diese wurden mit Chloralhydrat und mit 
, Bromsalzen behandelt. Im allgemeinen 
wurden 1—2, seltener 3 g Chloralhydrat 
gegeben, oft nur am ersten Tag, oft aber 
wurde noch an den folgenden Tagen diese 
Dosis wiederholt. Das Brom wurde in 
Form einer Mixtur (10,0:200,0) so verab¬ 
reicht, daß der Patient 2stündlich 1 g be¬ 
kam; oft wurden beide Medikamente neben¬ 
einander gegeben. Digitalis wurde zwar 
nicht systematisch und grundsätzlich jedem 
Deliranten verabreicht, aber doch immer 
da, wo die Qualitäten des Pulses irgend¬ 
wie zu wünschen ließen. Alkohol wurde 
fast nie gegeben. Bei stärkerer Unruhe 
wurde der Patient in diesen Jahren alsbald 
in die Isolierzelle gebracht. Im Durch¬ 
schnitt verbrachte jeder Delirant 1,4 bis 
1,7 Tage in der Isolierzelle. 

Wir hatten in dieser Zeit 36 Todesfälle 

(=9 0 / 0 ). 

Nun ist für die Beurteilung einer The¬ 
rapie des Deliriums nicht nur die Mor¬ 
talitätsziffer maßgebend, sondern man wird 

*) Zur Gruppe des Delirium imminens sind nur die 
Fälle gerechnet, die Delirium imminens geblieben sind. 


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Juni 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


271 


auch in Betracht ziehen müssen, in welchem 
Maße es gelingt, den Ausbruch des De¬ 
liriums zu verhindern. Es ergibt sich bei 
einer derartigen Zusammenstellung, daß wir 
in den Jahren 1901—1906 
69 Fälle von Delirium imminens 
(=17,4 0/o) und 

72 Fälle von hier ausgebrochenem 
Delirium (= 18,1 °/ 0 ) hatten. 

In den Jahren 1907 bis 1909 hatten wir 
264 Fälle von Delirium, welche fast ganz 
ausschließlich mit Veronal behandelt wurden. 
Der Modus der Behandlung war etwa fol¬ 
gender: Wir geben das Veronal — wie 
v. Mering und Fischer es schon 1903 in 
der Therapie der Gegenwart empfohlen 
haben — in warmem Tee gelöst; gleich 
nach der Aufnahme bekommt der Patient 
1 g Veronal, eine oder zwei Stunden 
später bereits das zweite Gramm. Damit 
kommen wir beim Delirium imminens zu¬ 
meist aus: der Patient wird ruhiger, besser 
traitabel und verfällt in einen vom nor¬ 
malen nicht zu unterscheidenden Schlaf. 
Kommen wir mit 2 g nicht aus — und bei 
den bereits ausgebrochenen Delirien pflegt 
es so zu sein — so geben wir vor Ablauf 
von 5 Stunden ein drittes Gramm; wir 
scheuen uns auch nicht, in ganz resistenten 
Fällen innerhalb der ersten 12 Stunden 4 g 
Veronal zu verabreichen. Wir haben, wie 
bereits erwähnt, niemals bei diesen Dosen 
auch nur den geringsten nachteiligen Ein¬ 
fluß auf Puls oder Atmung konstatieren 
können. Selbst bei einer Dosis von 10 g, 
die in selbstmörderischer Absicht außer¬ 
halb des Krankenhauses genommen war, 
wo bei tiefstem Schlaf alle Reflexe bis auf 
den Pupillenreflex fehlten, Waren Puls und 
Atmung durchaus normal. Die in der 
Literatur bekannten Fälle von Veronal- 
vergiftung bestätigen übrigens diese Be¬ 
obachtung. In den Jahren 1907 bis 1909 
hielten wir es bei der Deliriumbehandlung 
mit Digitalis und Alkohol wie früher, da¬ 
gegen wurde von der Isolierzelle möglichst 
selten Gebrauch gemacht, so daß im Durch¬ 


schnitt jeder Delirant nur 0,38—0,83 Tage 
in der Isolierzelle zubrachte. 

Die Mortalität ist nun bei der Veronal- 
behandlung bedeutend niedriger gewesen 
als in den vorhergehenden Jahren: wir 
hatten bei den 264 Deliranten 9 Todesfälle 
[= 3,4 % (gegen 9,0)]. 
j Von diesen 9 Todesfällen betrafen vier 
! sonst gesunde Individuen, Leute von 34, 
66 , 52 und 32 Jahren; von den übrigen 
5 zum exitus gekommenen Fällen wurden 
zwei mit kruppöser Pneumonie eingeliefert, 
zwei weitere mit Bronchopneumonie und 
Arteriosklerose und einer endlich mit be¬ 
ginnender Leberzirrhose. 

In erhöhtem Maße ist es uns gelungen, 
den Ausbruch des Deliriums hintanzuhalten; 
d. h. wir hatten mehr Fälle von Delirium 
imminens und weniger von hier ausge¬ 
brochenem Delirium als in den vorher¬ 
gehenden Jahren. Wir hatten nämlich: 
73 Fälle von Delirium imminens [= 27,6 % 
gegen 17 °/ 0 )] und 15 Fälle von hier aus¬ 
gebrochenem Delirium [= 5,6 % (gegen 
18 %)]. 

Diese Statistik, die mit der Einführung 
des Veronals ein Sinken der Mortalität 
von 9 % auf 3,4 %, ein Seltnerwerden der 
im Krankenhause ausgebrochenen Fälle 
von Delirium (von 18% auf 5,6%) und 
eine dementsprechende relative Vermehrung 
der Fälle von Delirium imminens von 17% 
auf 27,6 % zeigt, beweist zusammen mit der 
klinischen Beobachtung des Einzelfalles, daß 
wir es beim Veronal wirklich mit einem 
Mittel zu tun haben, daß den Verlauf des 
Delirium tremens günstiger zu beeinflussen 
imstande ist als Chloral und Brom (s. auch 
Möller-Kopenhagen, BerL klin. Woch.1909, 
Nr. 52). Es scheint, das wir im Veronal 
ein Mittel haben, das — ohne Neben¬ 
wirkung — der psychomotorischen Er¬ 
regung spezifisch entgegenwirkt und einen 
dem natürlichen durchaus ähnlichen Schlaf 
hervorruft und das daher bei der Be¬ 
handlung des alkoholischen Deliriums Be¬ 
vorzugung verdient. 


Aus dem Städtischen Krankenhause in Posen. 

Ein altes in Vergessenheit geratenes hyperämisierendes Mittel. 

Von Prof. Dr. Carl Ritter, dirigierender Arzt der chirurgischen Abteilung. 


Vor kurzem habe ich über Versuche 1 ) I 
berichtet, das Erysipel mit heißer Luft zu 
behandeln. 

Bekanntlich sind unsere bisherigen Er¬ 
folge auf diesem Gebiete nicht allzu glän- j 

*) Ritter. Die Behandlung des Erysipels mit ] 
heißer Luft. MQnch. med. Woch. 1910 und Chirurg. 
Kongr. 1910. 


zend gewesen. Die zahllosen Mittel, die 
immer wieder von neuem angegeben wer¬ 
den auf der einen Seite und die noch 
stets vorkommenden Todesfälle trotz der 
Behandlung auf der anderen Seite sind 
gute Beweise dafür. 

Alle therapeutischen Maßnahmen gingen 
bisher in der Hauptsache von dem einen 


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Die Therapie der Gegenwart 19t0. 


Juni 


Gesichtspunkt aus: Man sucht bei dem 
schnellen Umsichgreifen, dem Wandern und 
dem Ueberspringen des Prozesses vor 
allem das Erysipel an dem Ort der Er¬ 
krankung festzuhalten und eine weitere 
Verbreitung und Resorption zu verhindern, 
das gleiche Prinzip übrigens, das uns ja 
auch im allgemeinen bei der Behandlung 
akut infektiöser Prozesse Oberhaupt geleitet 
hat. Aber schon seit längerer Zeit hatte 
ich die Erfahrung gemacht, 1 ) daß eine künst¬ 
lich vermehrte Resorption bei diesen Pro¬ 
zessen nicht nur nicht schadet, sondern 
sogar überaus günstig auf den Krankheits¬ 
prozeß einwirkt. Ich übertrug deshalb das 
gleiche Prinzip auch auf das Erysipel, in¬ 
dem ich mich der heißen Luft, des kräftig¬ 
sten künstlichen Resorptionsmittels, das wir 
besitzen, bediente. Die Resultate waren 
überraschend gut. In lückenloser Reihe 
konnten auch schwerste Formen der Rose 
schneller Heilung entgegen geführt werden. 

Ich glaubte, und ebenso wohl der Leser, 
daß diese Behandlungsmethode neu sei. 
Allerdings, die heiße Luft selbst ist bisher 
bei Erysipel wegen der Gefahr einer 
Weiterverschleppung des Prozesses nicht 
angewandt worden. Aber etwas ähnliches 
ist doch schon einmal therapeutisch ver¬ 
sucht worden. 

Bei eingehender Durchsicht der Lite¬ 
ratur fand ich folgendes: 

„Pierquin (Des fricdons avec lesfers 
chauds. Gaz. med. du Montpellier 1853 und 
Journal des conaiss. m€d. chir. Nov.1852) las 
in einem 1694 von einem Herrn v.Coulanges 
an eine Dame (Madame deS6vign£) geschrie¬ 
benen Briefe die Nachricht, daß ersterer, 
an heftigem Rheuma der Schulter leidend, 
von der Kammerfrau, der Frau von Saint 
Gerau schnell geheilt wurde, indem letztere 
ihn mit einem heißen Bügeleisen bügelte. 
Seitdem hat Pi er quin dieses Verfahren 
bei den verschiedensten Krankheiten mit 
besonderem Erfolge angewandt. Auch 
R£camier soll das Bügeleisen in seiner 
Klinik und in der Privatpraxis erfolgreich 
benutzt haben. In Deutschland soll das 
Bügeleisen auch gegen Erysipelas und zahl¬ 
reiche andere Affektionen von diesem oder 
jenem in Anwendung gezogen worden sein, 
so bei verschiedenen nicht zur Eiterung 
neigenden Entzündungen, bei Scharlach, 
Rheumatismus, Katarrhen der Luftwege 
und chronischer Aphonie, bei Störungen 
der Menstruation, bei Entzündungen der 


! ) Ritter. Die Behandlung der akut infektiösen 
Prozesse mit möglichster Erhaltung der Funktion. 
Berlin. Klin. Woch. 1909. 


Sehnenscheiden, der Gelenke, bei Muskel¬ 
krankheiten usw. 

Bei Erysipelas, welches rasch wanderte 
oder die Neigung hatte, schnell zu ver¬ 
schwinden, und sobald üble Symptome 
diese Neigung ankündigten, in solchen 
Fällen traktierte man die Kranken mit dem 
Bügeleisen, indem der Arzt mit nicht zu 
großer Hitze eine Stunde lang über die 
Haut an der Erysipelstelle hin und her 
fuhr; diese Behandlungsweise habe hin¬ 
sichtlich des Erfolges alle anderen über¬ 
troffen. Nützlich sei es auch, die Anwen¬ 
dung des Bügeleisens für den ganzen Kör¬ 
per auszudehnen, besondersauf die Leber¬ 
gegend/ 1 ) 

Bezüglich der Technik des eigentüm¬ 
lichen Verfahrens wird bemerkt, daß „die 
zu bügelnden Teile mit einfachem oder 
doppeltem Flanell bedeckt und daß dann 
mit dem mehr oder weniger heißen Bügel¬ 
eisen langsam oder schneller, stärker oder 
drückend darüber hingefahren wurde. 

Es wird der Rat erteilt, daß es sich 
empfehle, die Wärme des Bügeleisens zu¬ 
vor an einem Tuche zu erproben. Nach 
dem Bügeln, dessen Dauer sehr verschieden 
war, wurden die Patienten in wollene 
Decken gewickelt und so einige Zeit liegen 
gelassen/ 

Weiteres habe ich leider bisher über 
diese Behandlungsmethode nicht finden 
können. Die Kritik ist sehr rasch mit 
dieser Therapie fertig gewesen. So sagt 
Tillmanns in seiner Monographie 2 ) über 
Erysipelas: 

„Wenn man Geschichte der Behandlung 
des Erysipel schreiben wollte, so würde 
das eine wenig dankbare, nutzbringende 
Arbeit sein. Es würde sich konstatieren 
lassen, daß oft planlos bald in diesen, 
bald in jenen Mitteln experimentiert wurde, 
daß nicht selten ganz abenteuerliche 
Mittel angewandt wurden, welche heute 
unser mitleidiges Lächeln erregen/ 

„Zu diesen kaum glaublichen Behand¬ 
lungsmethoden gehört z. B. unter anderem 
die Anwendung des Bügeleisens gegen 
Rotlauf, eine Methode, welche ihrer Aben¬ 
teuerlichkeit halber hier kurze Erwähnung 
finden mag/ 

Ich kann diesem verdammenden Urteil 
nicht beistimmen. 

Ich meine vielmehr, daß wir es hier mit 
einem nicht mit Unrecht angewandten, aber 
wie es scheint, völlig in Vergessenheit gera¬ 
tenen stark hyperämisierenden Mittel zu tun 

J ) Nach Tillmanns Erysipelas. Deutsche Chi¬ 
rurgie. 1880. 

a ) Tillmanns 1. c. 


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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


273 


haben, das wir aber gut tun, der Vergessen¬ 
heit zu entreißen. Es ist wohl zweifellos, daß 
mit dem Bügeln ziemlich der gleiche Effekt 
hervorgerufen werden muß, wie mit der Hei߬ 
luftbehandlung, über deren physiologische 
Wirkungen wir jetzt durch exakte Versuche 
sehr genauen Einblick gewonnen haben. 

Daß das Mittel praktisch von großem 
Vorteil ist, haben wir in den letzten um 
serer Gesichtserysipel - Fälle erfahren, bei 
denen wir fast ausschließlich die Bügelung 
verwandten. 

Gerade im Gesicht ist die Anwendung 
der heißen Luft oft schwierig. Die Augen 
müssen sorgfältig mit Watte oder feuchten 
Kompressen geschützt werden und der 
breite heiße Strom, der aus dem Schorn¬ 
stein durch die Zimmerluft hindurchstreicht, 
trifft die erysipelatöse Fläche oft nur unge¬ 
nügend, oft zu stark. Außerdem sind die 
einzelnen Stellen bei den Vorsprüngen und 
Vertiefungen des Gesichts von der Flamme 
verschieden weit entfernt und um gleich¬ 
mäßig eine große Gesichtspartie zu behan¬ 
deln, gehört viel Aufsicht und Bedienung. 


Bei den Extremitäten liegt es anders; 
hier bleibt der Heißluftkasten die einfachste 
Methode. 

Aber auch bei ausgedehntem Erysipel der 
Extremität und des Rumpfes zusammen 
reichen die Kästen nicht aus. In allen diesen 
Fällen scheint mir die Bügelung eine sehr 
willkommene Ergänzung der Heißluftbe¬ 
handlung. Daß sie kräftig wirkt, brauche 
ich wohl nicht zu betonen. 

Wir machten die Erfahrung, daß die 
Patienten das Bügeln ebenso angenehm 
empfanden wie die heiße Luft. Wir haben 
nur 10—15 Minuten gebügelt, aber 3 mal 
am Tage die Prozedur wiederholt. Inwie¬ 
weit auch andere Prozesse mit dieser Me¬ 
thode zu beeinflussen sind, kann ich vor¬ 
läufig nicht sagen. Sehr handlich ist bis 
jetzt das Instrumentarium nicht. Das medi¬ 
zinische Warenhaus wird aber in kurzem 
ein bequemeres, leichteres und zweckent¬ 
sprechenderes Instrument hersteilen, bei 
dem auch die Möglichkeit gegeben ist, die 
Temperatur genau zu regulieren und schnell 
zu ändern. 


Ueber Gangstockung (intermittierendes Hinken). 

Von Dr. Gustav Muskat* Berlin, Spezialarzt fQr orthopädische Chirurgie. 1 ) 


Die Dysbasia angiosderotica intermit- 
tens (Erb), Claudication internlitten ie par 
oblit^ration arterielle (Charcot), Para- 
lysie douloureuse ischemique (Charcot), 
angiosklerotische intermittierende Muskel¬ 
parese (Graßmann), Angina cruris 
(Walton), arteriosklerotischer Rheumatis¬ 
mus (Zöge von Manteuffel). Dyspragia 
intermittens angiosderotica (Ortner) ent¬ 
behrt noch immer eines deutschen Wortes, 
welches die Eigentümlichkeit des Sym- , 
ptomenkomplexes wiedergibt 

Wir möchten mit besonderer Berück- | 
sichtigung des vorzugsweisen Befallenseins 
der unteren Extremitäten und der dadurch 
hervorgerufenen Störungen des Gehaktes 
die Bezeichnung: „Gangstockung* bezw. 
„Bewegungsstockung* vorschlagen. 

Aus den vorzüglichen Arbeiten Erbs i 
und anderer nach ihm beobachtender ! 
Autoren geht zur Genüge deutlich hervor, ! 
daß es sich bei der Erkrankung nicht um 
ein eigentliches Hinken handelt wie es in 
der Veterinär-Medizin zuerst von Boulley | 
1831 als Boiterie intermittente des chevaux 
beschrieben wurde. 

Es besteht auch deshalb ein weiterer : 
Unterschied, weil beim Tiere eine Throm- I 
böse der größeren Gefäße, z. B. der Aorta j 

l ) Nach einem Vortrage auf dem Kongreß für 
innere Medizin in Wiesbaden. 1910. I 


an ihrer Teilung in die beiden Darmbein- 
bezw. Schenkelarterien (A. iliaca exterma 
bezw. femoralis) und in die beiden Becken¬ 
arterien (A. hypogastrica), seltener der 
Achsel- bezw. Armarterien, mitunter auch 
der Lendenarterien vorhanden ist. 

Dabei wird von Friedberger und 
Fröhner 1 ) besonders hervorgehoben, daß 
das Pulsieren der Schien- und Fesselbein¬ 
arterien nur bisweilen fehlt, während beim 
Menschen, soweit überhaupt Veränderungen 
der Gefäße selbst in Frage kommen, zu¬ 
nächst das Fehlen der Pulse am Fuß 
und Unterschenkel als ausschlaggeben¬ 
des Symptom beobachtet wird. 

Die subjektiven Empfindungen treten in 
Form von ziehenden Schmerzen, die sich 
mitunter, nicht immer, bis zu Muskel¬ 
krämpfen steigern können, und starker Er¬ 
müdung des Beines in die Erscheinung. 

Ein Hinken ist weder von anderen 
Autoren noch vom Verf. selbst, der häufig 
Gelegenheit hatte, in seiner orthopädischen 
Anstalt derartige Fälle zu sehen, festge¬ 
stellt worden. 

Nach der klassischen Darstellung Erbs 
ist das Symptomenbild folgendes: 

„Meist langsam und allmählich beginnt 
das Leiden; selten, daß es einmal plötzlich 

*) Friedberger und Fröhner, Lehrbuch der 
speziellen Pathologie und Therapie der Haustiere. 

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274 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Juni 


und in großer Intensität einsetzt; wahr¬ 
scheinlich kommt es den Kranken dann 
erst, nach leisen Vorstadien, einmal plötz¬ 
lich zum Bewußtsein. Manchmal beginnt es 
nur einseitig und bleibt lange so bestehen, 
greift dann auf die andere Seite Ober, ist aber 
auch häufig von vornherein doppelseitig. 

Zuerst sind es sensible Störungen, die 
sich bemerklich machen: unangenehme 
Sensationen im Fuß, den Zehen, den Sohlen 
und Waden — Kribbeln, Kitzeln, Kälte¬ 
gefühl, zum Teil mit Hitzegefühl abwechselnd, 
Spannungsgefühle in den Waden, selten 
zunächst zu wirklichem Schmerz gesteigert. 
— Alles dieses wesentlich zunächst beim 
Gebrauch der Beine, nach längerem oder 
kürzerem Gehen eintretend, in der Ruhe 
bald wieder schwindend; doch können diese 
Sensationen gelegentlich auch in der Ruhe, 
des Nachts im Bett auftreten, vielleicht 
durch Erregungen, durch Temperaturein¬ 
wirkungen u. dergl. ausgelöst. 

Damit verbunden sind gewöhnlich schon 
von vornherein zirkulatorische und vaso¬ 
motorische Störungen: die Kranken sehen 
und fühlen, daß ihre Füße oft blau und 
kalt werden, ausgesprochen zyanotisch 
sind, besonders, wenn sie dieselben etwas 
herunterhängen lassen, oder nach einigem 
Gehen; dazwischen treten auch hellere, 
rote Flecken auf, oder einzelne Hautstellen, 
ganze Zehen werden blaß, weiß, leichen¬ 
ähnlich — „sterben ab“ —, alles dies bei 
einigem Gehen stärker hervortretend, nach 
kurzer Ruhe in horizontaler Lage meist 
rasch wieder verschwindend. Gelegentlich 
kommen auch diese wesentlich vasomotori¬ 
schen Störungen in der Ruhe, im Bett zur 
Erscheinung. 

Und nun pflegt es nicht lange zu dauern, 
bis die Kranken im Gebrauch ihrer Füße und 
Beine sehr erheblich beeinträchtigt werden 
und ausgesprochene motorische Störungen 
darbieten: unter Steigerung der sensiblen 
Symptome, der Parästhesien, Spannungen 
und Schmerzen tritt — nicht selten unter 
anscheinendem Krampf in den Waden- und 
Fußmuskeln — eine völlige Unfähigkeit zur 
weiteren Bewegung ein; der Kranke kann 
nur mit großer Mühe, unter Schmerzen 
oder gar nicht mehr weiter; er muß stehen 
bleiben oder sich niedersetzen und aus¬ 
ruhen; nach wenigen Minuten oder einer 
Viertelstunde sind alle Erscheinungen vor¬ 
über und der Kranke geht — zunächst 
ohne alle und jede Schwierigkeit — weiter, 
um nach wenigen Minuten oder einer 
Viertelstunde genau dasselbe wieder zu 
erleben; er hat jetzt das Symptom des 
.intermittierenden Hinkens“. 


Auch in dieser Schilderung fehlt aber 
auch die Schilderung des wirklichen Hin¬ 
kens, es kommt vielmehr nur zu einem 
Stocken des Ganges und der Bewegung. 

„Nicht bei allen Kranken ist das Bild 
genau das gleiche: bald ist die sensible 
Störung, bald die vasomotorische, bald der 
Schmerz, bald der Krampf mehr ausge¬ 
sprochen; die Gebrauchsunfähigkeit der 
Muskeln kann mehr oder weniger hoch¬ 
gradig sein; der Kranke kann mehr oder 
weniger lange gehen, kann das Weiter¬ 
gehen erzwingen oder es wird ihm völlig 
unmöglich — immer bleibt das Grund¬ 
legende des Symptomenkomplexes nachweis¬ 
bar: völliges oder fast völliges Wohlbefinden 
in der Ruhe, Beginn des Gehens in ganz nor¬ 
maler Weise, nach wechselnder Zeit dann 
Auftreten der Störungen, die schließlich 
das Gehen verhindern; Verschwinden der¬ 
selben nach kurzer Ruhe und Wiederauf¬ 
treten, sobald das Gehen wieder fortgesetzt 
wird; das ist also das „intermittierende 
Hinken“, oder besser vielleicht die inter¬ 
mittierende, periodisch wiederkehrende 
Abasie. 

Nicht immer ist ferner der ganze Sym- 
ptomenkomplex in gleicher Vollständigkeit 
entwickelt: die einzelnen Bestandteile des¬ 
selben können in verschiedener Reihen¬ 
folge und Kombinationen, in wechselnder 
Intensität auftreten; sie können sich mehr 
oder weniger rasch zusammenfinden, mehr 
oder weniger hohe Grade erreichen. 

Der objektive Befund ist in solchen 
Fällen meist ein recht charakteristischer. 

Die Füße und Unterschenkel sind kalt, 
blaurot, zyanotisch, gelegentlich auch etwas 
gedunsen, besonders wenn sie längere Zeit 
herabhingen; kleine, erweiterte Hautgefäß- 
chen schimmern überall hindurch, die Haut 
ist trocken, welk, die Nägel in ihrem 
Wachstum gestört: vorübergehend können 
auch hellrote in den mehr zyanotischen 
Teilen auftreten, ein marmoriertes Aus¬ 
sehen entstehen, oder es treten ganz blasse, 
anämische Stellen auf, ganze Zehen — 
einzeln oder zu mehreren — werden bleich, 
leichenähnlich, eiskalt, für kürzere oder 
längere Zeit, und gewinnen dann unter 
„Prickeln“ und „Bitzein“ ihre frühere rote 
und zyanotische Färbung wieder. Bei 
einiger Ruhe, im warmen Bett, können 
aber alle diese Erscheinungen fehlen. 

Von hervorragender Wichtigkeit ist nun 
aber die Untersuchung der Fußarterien, 
weil ihre Erkrankung und Veränderung 
zum Teil direkt mit den Symptomen in 
Beziehung zu bringen ist, zum Teil Rück¬ 
schlüsse erlaubt auf das Verhalten der 


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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


275 


tiefer oder weiter oben am Unterschenkel 
gelegenen, der Palpation nicht zugäng¬ 
lichen Arterien, besonders auf diejenigen 
der Muskeln. Hier zeigt sich nun gegen¬ 
über dem fast ausnahmslos bei gefäßgesun¬ 
den Personen normalen Verhalten des 
Pulses in den vier der Palpation zugäng¬ 
lichen Arterien, den beiden Dorsales pedis 
und Tibiales posticae hinter dem inneren 
Knöchel —, daß in fast allen Fällen sich 
mehr oder weniger deutlich Veränderungen 
an diesen durch die Palpation nachweisen 
lassen. Nicht selten findet man rigide Be¬ 
schaffenheit, Verdickung oder Verschmächti- 
gung und Schlängelung der einzelnen Ge¬ 
fäße, Differenzen in ihrem Umfang und in 
der Größe des Pulses auf beiden Seiten, 
ganz besonders aber das Fehlen der Pul¬ 
sation in einer oder mehreren oder allen 
von diesen Arterien; dieselben können da¬ 
bei noch als harte, dünne Stränge fühlbar 
sein, aber lassen nicht eine Spur von Puls 
erkennen; es kann auch Vorkommen, daß 
der Puls von der gewöhnlichen Stelle nicht, 
dagegen etwas mehr zentral noch schwach 
zu fühlen ist. 

Dieses Fehlen des Pulses kann zu ver¬ 
schiedenen Zeiten sich etwas verschieden 
gestalten; der Puls kann zeitweilig, wahr¬ 
scheinlich nach dem vasomotorischen Ver¬ 
halten, gänzlich fehlen, zu anderer Zeit 
wieder in schwacher Weise vorhanden 
sein; das hängt wohl von der äußeren 
Temperatur oder von den Funktions¬ 
zuständen der Füße ab. Der längere Zeit 
verschwundene Puls kann mit der Besse < 
rung des Leidens wiederkehren. 

Jedenfalls verdient dieses objektive 
Symptom, das sonst wohl nur bei hoch¬ 
gradiger seniler Arteriosklerose regelmäßig 
gefunden wird, eine ganz besondere Be¬ 
achtung. (< 

So leicht die Diagnose in ausge¬ 
sprochenen Fällen ist, so schwierig kann 
sie im Anfangsstadium sein. 

Es ist notwendig, folgende Möglichkeiten 
sich vor Augen zu halten: 

1. Die Beschwerden, welche zur „Gang- 
stockung“ führen, beruhen nicht auf Ver¬ 
änderungen im Kreislauf, sondern auf andere 
Erkrankungen, bei denen an erster Stelle 
der Plattfuß, Ischias, Gelenkrheumatismus 
zu nennen wären. Hier werden genaue 
Untersuchungen des Fußgewölbes und des 
Fußumrisses zur Feststellung führen können, 
die Pulse sind vorhanden. 

2. Eine bestimmte Erkrankung, besonders 
der Plattfuß, ist auszuschließen, die Arterien 
pulsieren und trotzdem treten die oben ge¬ 


schilderten Symptome der „Gangstockung“ 
ein. 

Diese Fälle, welche von Erb, Oppen¬ 
heim u. A. schon früher beschrieben 
wurden, dürften auf Angiospasmus zurück¬ 
zuführen sein. 

Ortner (Innsbruck) hat auf dem Kon¬ 
greß für innere Medizin in Wiesbaden 
(1910) in der Diskussion daraufhingewiesen, 
daß solche Stockungen ohne Veränderung 
der Gefäße im Darmtraktus Vorkommen, 
die lediglich auf Einwirkung des Tabaks 
beruhen. Jeder mißbräuchlichen Anwendung 
von Tabak folgt eine entsprechende Re¬ 
aktion, während Aussetzen der Schäd¬ 
lichkeit sofortige Besserung, Wiederauf¬ 
nahme des Tabaksgenusses wieder die 
alten Erscheinungen hervorruft. Es sind 
dies rein vasomotorische Einflüsse. Be¬ 
kanntermaßen spielt das Nikotin eine her¬ 
vorragende Rolle bei der Entstehung der 
arteriellen Veränderungen, die zur Gang¬ 
stockung führen, ja einzelne Autoren halten 
es, besonders in Form des Zigaretten¬ 
rauchens für die einzig anzuschuldigende 
Ursache, während zweifellos auch andere 
Schädlichkeiten in Betracht kommen. Aller¬ 
dings wird häufig Ursache und Wirkung 
verwechselt. So z. B. wenn Idelsohn 1 ) den 
Plattfuß, den er bei vielen Patienten ge¬ 
funden hat, als Ursache der Erkrankung 
anspricht, so erscheint es viel natürlicher, 
den Plattfuß als das sekundäre zu be¬ 
trachten, der aus der zur Schonung des 
schmerzhaften Fußes eingenommenen fal¬ 
schen Stellung entstanden ist. 

Sehr wesentlich zur Klärung der Situ¬ 
ation dürfte das Röntgenbild sein, daß 
in ausgesprochenen Fällen deutlich die 
Veränderungen der Wandungen der Ar¬ 
terien zeigt. 

3. Die Pulse sind wenig oder gar nicht 
zu fohlen, das Röntgenbild zeigt aber 
keine Veränderung der Gefäße. In solchen 
Fällen fehlt noch die Kalkeinlagerung in 
die Gefäßwand, diese selbst ist nur verdickt 
und das Lumen derartig verengert, daß bei 
stärkerer Inanspruchnahme durch Bewegung 
die Blutzufuhr eine ungenügende wird. 

4. Das Röntgenbild zeigt mehr oder 
weniger große Teile der Fuß- und Schenkel¬ 
arterien deutlich in der Weise verändert, 
daß Kalkeinlagerungen in die Gefäßwand 
teils als Inseln, teils kontinuierlich sich ab¬ 
heben. Oft stehen die Kalkplättchen mit 


! ) Idelsohn, Ueber intermittierendes Hinken. 
D. Ztschr. f. Nervenheilkunde 24. cf. Bing, Ueber 
das intermittierende Hinken. Beiheft z. Medizin. 
Klinik 1907, H. 5. 

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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


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ihren feinen Spitzen scharf konturiert Ober 
die äußere Gefäßumhüllung hinaus. 

Ein Fall, in welchem Kalkeinlagerungen 
röntgenologisch, Pulslosigkeit klinisch fest¬ 
gestellt wurde, der keine Beschwerden ge¬ 
habt hätte, ist niemals beobachtet worden, 
wohl aber Fehlen aller Beschwerden, trotz 
Fehlen der Pulse. Gerade in solchen 
Fällen, welche Zufälligkeitsfunde sind, kann 
eine geeignete Behandlung, Schonung, 
leichte Massage, Jod, warme Bäder, elek¬ 
trische Behandlung mit Hochfrequenz, Vier- 
Zellenbad u. a. m., welche besonders alle 
weiteren Schädigungen, Nikotin, Alkohol, 
körperliche Anstrengungen (Sport), geistige 
und seelische Irritation, Kälte u. a. m., fern¬ 
hält, für den Patienten von unschätzbarem 
Werte sein. 

In der Diskussion auf dem Kongreß für 
innere Medizin hat Payr (Greiftwald) über 
derartige Fälle berichtet, bei denen die 
drohende Gangrän durch Einpßanzen der 
A. femoralis profunda in die vena femoralis 
verhindert wurde, indem ein neuer Kreis¬ 
lauf geschaffen wurde. 

Ein eigentliches Zurückgehen der Be¬ 
schwerden ist bei solchen Fällen, in denen 
röntgenologisch einö Kalkablagerung in den 
Gefäßen festgestellt wurde, nie beobachtet. 


wohl aber ein Stehenbleiben auf derselben 
Stufe, so daß die Befürchtung Zoege von 
Manteuffels, daß alle Fälle zur Gangrän 
führten, nicht gerechtfertigt erscheint. 

Die Veränderung in den Gefäßen be¬ 
ginnt gewöhnlich an den periphersten 
Teilen, den Zehenarterien, und setzt sich 
dann weiter fort bis in die Kniekehle und 
noch höher hinauf. 

Im Journal de radiologie 3 Nr. 15 be¬ 
richtet Maurice d’ Hallniic über den 
Nachweis einer verkalkten Arterie im Knie¬ 
gelenk, cf. auch Oppenheims Lehrbuch 
der Nervenkrankheiten. 

Albers-Schönberg 1 ) berichtet über 
die Darstellung der verkalkten Arteria iliaca 
und Aufrecht 2 ) über die sklerosierte Aorta 
im Röntgenbilde. 

Es ist zweifellos, daß die Röntgentechnik 
auch hier ein wichtiges Hilfsmittel zur 
Sicherstellung der im Anfangsstadium 
schwierigen Difierentialdiagnose bildet. 

Die Röntgenbilder zeigen am besten die 
Veränderungen und die verschiedenartigen 
Formen der Gefäßerkrankung, doch darf 
auch beim Fehlen der röntgenologisch fest¬ 
zulegenden Veränderungen nicht der Ver¬ 
dacht auf „Gangstockung“ fallen gelassen 
werden. 


Bücherbesprechungen. 


L. Aschoff und A. Bacmeister, Die Cho- 
lelithiasis. Jena 1910, Fischer. 

Das vorliegende Werk bringt eine Dar¬ 
stellung der histologischen und biologischen 
Forschungen, durch welche die Verfasser 
wesentliche Fortschritte in der Erkenntnis 
der Ursachen der Gallensteinkrankheit an¬ 
gebahnt haben. Vorausgeschickt wird eine 
ausführliche Darlegung des normalen Gallen¬ 
blasenbaus beim Fötus und Erwachsenen 
unter besonderer Berücksichtigung der von 
den Verfassern erhobenen und mittlerweile 
von anderer Seite bestätigten, detaillierten 
Befunde. 

Der Hauptnachdruck liegt auf dem Nach¬ 
weis der abakteriellen Steinbildung in 
Blasen, die aller Merkmale der Entzündung 
entbehren und nur solche der Stauung 
tragen. Diese reicht, möglicherweise von 
einer vermehrten Cholesterindiathese unter¬ 
stützt, bereits durch ihre unmittelbaren 
Folgezustände hin, um aus der Galle selber 
das Cholesterin auszufällen; Naunyn hatte 
seine Herkunft in desquamierte Blasenepi- 
thelien verlegt. Auch die andern Kon¬ 
stituenten der Konkremente werden von 
der uninfizierten, bloß gestauten Galle ge¬ 
liefert, die sie in ausreichender Menge ent¬ 


hält. Die in dieser Weise gebildeten „ra¬ 
diären Cholesterinsteine“ sind Solitär¬ 
konkremente mit den Kennzeichen fast rein 
kristallinischer Genese und kristallinischen, 
appositiven Wachstums. Sie werden be¬ 
schwerdelos getragen und nur dadurch ver¬ 
hängnisvoll, daß ihr bloßes Vorhandensein 
oder vollends ihre gelegentliche Wirkung 
als sog. Verschlußsteine das Auftreten des 
entzündlichen Gallensteinleidens in hohem 
Maße begünstigt. Die Folge dieser sekun¬ 
dären Infektion ist entweder der Hydrops 
vesicae felleae oder aber häufiger die chro¬ 
nische, gewöhnlich rekurrierende Chole¬ 
zystitis mit Ausbildung multipler Pigment¬ 
kalkkonkretionen. Der Kalkgehalt der Steine 
ist dabei direkt proportional dem Grade 
und der Häufigkeit der sie produzierenden 
Entzündungsschübe. Den klarsten Nachweis 
eines (nicht infektiösen) Vorläuferstadiums 
der chronischen Cholezystitis bilden jene 
nicht seltenen Fälle, wo unter zahlreichen, 
kalkreichen Steinen einer, und nur dieser, 
als Einschluß einen Solitärkristall, den ra¬ 
diären Cholesterinstein, aufweist, für dessen 

Albers-Schönberg, Röntgentechnik. 
a j Aufrecht, Zur Pathologie und Therapie der 
Arteriosklerose. Wien, Hölder, 1910. 


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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


277 


langsame, abakterielle Entstehung die Ver¬ 
fasser auf Grund zahlreicher Versuche ein- 
treten. Den Schluß bildet eine Erörterung 
der Ober die Bakteriologie des Gallenstein¬ 
leidens bekannten Tatsachen. — Das inhalt¬ 
reiche Buch wird für jeden, der Ober Patho¬ 
genese oder Klinik der Gallensteine arbeiten 
will, unentbehrlich sein. 

Meid ne r (Berlin). 

E. Leser. »Die spezielle Chirurgie in 
öOVorlesungen". Jena1909. G.Fischer; 
ungeb. 26,50 Mk. 1418 Seiten mit 435 Ab¬ 
bildungen. 

Das Buch hat in 19 Jahren 9 Auflagen 
erlebt, was eine Empfehlung überflüssig 
macht. Es hat die Absicht des Verfassers, 
ein kurzgefaßtes Lehrbuch für Aerzte und 
und Studierende vorzustellen, sehr gut er¬ 
füllt. Die neue Auflage ist der stetigen 
Entwicklung der Chirurgie gerecht ge¬ 
worden. Zu den alten Freunden, nament¬ 
lich unter den Studierenden, wird das Buch 
viele neue erwerben. Klink. 

0. Sultan. Grundriß und Atlas der 
speziellenChirurgie. ILTeil. München. 
J. F. Lehmann. 1910. 16 Mk. 624 Seiten 
mit 40 farbigen Tafeln und 261 Abbil¬ 
dungen. 

Der vorliegende Band ist in der be¬ 
kannten Art der Lehmannschen Atlanten 
abgefaßt und ausgestattet. Er ist, ebenso 
wie der erste Band, das, was er sein will, 
nämlich ein vorzüglicher Grundriß und 
Atlas. Er umfaßt die Bauchorgane, Ge¬ 
schlechtsorgane und Extremitäten. Die Ab¬ 
bildungen sind sehr gut. Klink. 

Louis Wickham und Degrais. Radium¬ 
therapie (Instrumentarium, Technik, Be¬ 
handlung von Krebsen, Keloiden, Naevi, 
Lupus, Pruritus, Neurodermatiden, Ek¬ 
zemen, Verwendung in der Gynäkologie). 
Autorisierte deutsche Ausgabe von Max 
Winkler in Luzern mit Einführung von 
Prof. Jadassohn. Mit 72 Textfiguren 
und 20 mehrfarbigen Tafeln. Berlin bei 
Julius Springer, 1910. 267 S. 

ln diesem monumentalen Werk, das von 
der Acad£mie de Mddecine de Paris preis¬ 
gekrönt ist, bringen die Autoren einen ein¬ 
gehenden Bericht ihrer mehrjährigen Stu¬ 
dien über die praktische Verwertbarkeit 
des Radium in der Medizin. Durch Kon¬ 
struktion zweckentsprechender Apparate, 
welche die Applikation des Radium unter 
den verschiedensten Bedingungen leicht 


und gut ermöglichen, durch Verwertung 
geeigneter Filtrierapparate ist es ihnen ge¬ 
lungen, einerseits die schädigende Wirkung 
der Substanz so auszuschalten und die 
therapeutischen Effekte so zu dosieren, daß 
jedenfalls nun durch die unermüdliche Ar¬ 
beit der Verfasser der Weg zum weiteren 
Ausbau dieses immerhin aussichtsvollen und 
zukunftsreichen Gebietes gebahnt ist In¬ 
wieweit die Indikationen, welche weite 
Gebiete umgreifen, ganz der weiteren Er¬ 
fahrung Stand halten werden, ist nicht mit 
voller Sicherheit zu sagen. Besonders gegen¬ 
über der Behandlung von Karzinomen (spe¬ 
ziell auch Lungenkrebs) dürfte eine gewisse 
Vorsicht und Skepsis vielleicht nicht ganz 
unangebracht sein. Der Inhalt des Buches 
ist im übrigen in der Ueberschrift skizziert, 
so daß mir nur noch zu erwähnen übrig 
bleibt, daß durch ausgezeichnete Bilder die 
theoretischen und praktischen Auseinander¬ 
setzungen aufs beste unterstützt werden. 
Der weiteren unverzüglichenPr opagation und 
Nachprüfung der Gedanken und Anregungen 
der Verfasser steht ja leider bisher die 
Kostspieligkeit und Seltenheit des Radium 
im Wege. Sollte die weitere chemische 
Forschung nach dieser Richtung Abhilfe 
schaffen, so dürfte zweifellos das vorliegende 
Werk, durch dessen Schöpfung sich Wick¬ 
ham und Degrais ein großes Verdienst 
erworben haben, der Ausgangspunkt für 
alle weiteren praktisch-medizinischen Ra¬ 
diumforschungen bilden. Buschke. 

L. Philippson. Dermatologische Dia¬ 
gnostik. Anleitung zur klinischen Unter¬ 
suchung von Hautkrankheiten. Aus dem 
Italienischen übersetzt von Fritz Julius¬ 
berg. Berlin bei Springer, 1910. 91 S. 

In diesem kleinen Werk gibt der ver¬ 
diente Dermatologe in sehr klarer, leicht fa߬ 
licher und pädagogisch-geschickter Form 
eine summarische und elementare Darstellung 
der Hautsymptomatologie auf anatomischer 
Basis, ferner die Entwicklung und Aetio- 
logie der wichtigsten Dermatosen und gibt 
den Weg an, wie man zu einer exakten 
Diagnose gelangt. Ganz besonders für den 
angehenden Dermatologen wird das Buch 
ein guter Wegweiser sein und dazu bei¬ 
tragen, ihn zu einem denkenden Diagno¬ 
stiker zu machen, der von Augenblicks¬ 
und Zufallsdiagnosen nicht befriedigt wird. 
Nach dieser Richtung sei das Buch aufs 
angelegentlichste empfohlen. Buschke. 


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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Referate. 


Dr. E. Fab er (Kopenhagen) macht darauf 
aufmerksam, daß nach kalten Bädern 
Albuminurie viel häufiger auftritt, als man 
bisher wußte. Zwischen der Dauer des 
Bades und dem Grade der Albuminurie 
besteht keine direkte Beziehung. Die 
Lordose nach Je hie ist nicht die Ursache 
der Eiweißausscheidung, denn die Albumi¬ 
nurie tritt auch bei einfachem Untertauchen 
oder Schwimmen auf dem Rocken ein. Die 
Albuminurie wie die gleichzeitig oft beob¬ 
achtete Zylindurie erklärt Fab er als vaso¬ 
motorisches Phänomen. Das Allgemein¬ 
befinden ist bei Leuten, die kalte Bäder 
regelmäßig nehmen, also oft zu Eiwei߬ 
ausscheidungen Gelegenheit haben, stets 
dauernd ausgezeichnet und der Urin in 
der Zwischenzeit stels normal, eine Schä¬ 
digung der Nieren kann also nicht statt¬ 
gefunden haben. Fab er erklärt die Al¬ 
buminurie nach kalten Bädern als das 
prägnanteste Beispiel fOr eine nicht nephri- 
tische vorübergehende Eiweißausscheidung, 
von anderen Formen unterschieden durch 
die oft großen Eiweißmengen und zahl¬ 
reichen Zylinder. Hauffe (Ebenhausen). 

(Mon. f. phys.-diät. Heilmethode 1909. Bd. 12 ) 

Oberstabsarzt Dr.Schmiz (Saarbrücken) 
berichtet einen Fall, wo er durch steile 
BeckenhoeMagerung eine Blinddarmfistel 
zum Verschluß gebracht hat. „Der Kot ist 
bis zur Bauh in sehen Klappe in der Regel 
dünnflüssig und kann durch geeignete Diät 
leicht in dieser Form gehalten werden. 
Bei steiler Beckenlagerung liegt der Blind¬ 
darm höher als die Einmündestelle des 
Dünndarmes und der flüssige Kot muß, 
seiner Schwere folgend, direkt abwärts 
fließen und kann nicht durch die Blind¬ 
darmöffnung heraustreten." Dabei wird 
die Nahrung an Menge und Wassergehalt 
völlig ausgenutzt, die Wunde vom Kot 
nicht berührt, der Verband bleibt sauber. 
Referent kann der Aufforderung des Autors 
zur größeren Ausnutzung der Lagerung 
bei Kranken auf Grund zahlreicher eigener 
Erfahrungen nur beistimmen. 

Hauffe (Ebenhausen). 

(Deutsche med. Wschr. 1910, Bd. 1.) 

Zur Symptomatologie des spatischen 
Darmverschlusses, der seit Heidenhain 
in den letzten Jahren Gegenstand mehr¬ 
facher Unternehmungen geworden ist, 
liefert Nordmann drei weitere Beiträge. — 
Unter besonderen Umständen kann es 
zu einem umschriebenen Spasmus der 
Darmmuskulatur kommen, der bis zu 


völliger Verlegung des Darmlumens führen 
kann. Meistens entsteht der spastische 
Ileus auf dem Boden eines nervösen 
Grundleidens, insbesondere der Hysterie. 
Die Erkennung der hysterischen Grund¬ 
lage bei diesem Leiden ist deshalb von 
Wichtigkeit, weil die Prognose in diesen 
Fällen eine günstige ist und die operative 
Behandlung nicht in Frage kommen sollte. 

Die erste Beobachtung Nordmanns 
betrifft eine 25jährige Patientin, die auf 
Grund der Anamnese und des Nerven- 
status für eine schwere Hysterika gehalten 
werden mußte. Einen Tag vor der Auf¬ 
nahme in das Krankenhaus stellten sich 
heftige Schmerzen im Leibe und Diarrhöen 
ein, worauf Stuhl und Flatus sistierten und 
galliges Erbrechen erfolgte. Objektiv wurde 
neben Fehlen des Korneal- und Rachen¬ 
reflexes und Hypästhesie an den Beinen, 
Meteorismus und sichtbare Peristaltik fest¬ 
gestellt. Während das Allgemeinbefinden 
nicht wesentlich gestört war, waren die 
nächsten 4 Tage Stuhlgang und Flatus an¬ 
gehalten, während häufig galliges Erbrechen 
erfolgte. Unter heißen Packungen und 
Morphium erfolgte glatte Heilung. 

In dem zweiten Falle, der ein ähnliches, 
wenn auch schwereres Krankheitsbild dar¬ 
bot, wurde die Diagnose auf hysterisch 
spastischen Darmverschluß wegen der Be¬ 
drohlichkeit der Erscheinungen namentlich, 
mit Rücksicht auf eingetretenes Kotbrechen, 
nicht gestellt und die Laparotomie gemacht. 
Es fand sich von der Mitte der Kolon 
aszendens eine spastische Kontraktur des 
ganzen Dickdarms bis in das kleine Becken 
hinein. Da auf Druck auf das Zökum Gas 
in den kontrahierten Darmteil übertrat, 
wurde von der Anlegung eines künstlichen 
Afters Abstand genommen. In den nächsten 
10 Tagen erfolgte täglich kotiges Erbrechen, 
ohne daß das Allgemeinbefinden wesentlich 
litt. Auch dieser Fall ging in Heilung aus. 
Da nach der Operation bei der Patientin 
Anästhesien von hysterischem Charakter 
nachweisbar waren, nimmt Nordmann 
auch hier einen auf Hysterie beruhenden 
spastischen Ileus an. 

Unklarer lagen die Verhältnisse bei 
einer dritten Patientin, die eine 69jährige 
robuste Frau war und keinerlei Zeichen 
der Hysterie darbot. Die Patientin er¬ 
krankte plötzlich mit heftigen Schmerzen 
in der rechten Bauchseite und Erbrechen, 
während Stuhlgang und Flatus völlig 
sistierten. Bei der Operation wurde im 
untersten Teile des Ileum eine 10 cm lange 


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279 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Kontraktionsstelle von Bleistiftdicke ge¬ 
funden. 

Oberhalb der Stenose wurde eine 
Schrägfistel angelegt, um den Darminhalt 
nach außen abzuleiten. Nach 24 Stunden 
erfolgte der Tod. Die Autopsie ergab 
keinerlei Anhaltspunkte für das Zustande« 
kommen des spastischen Darmverschlusses. 
Verfasser faßt seine Ausführungen in fol¬ 
gende Schlußsätze zusammen: 

Durch einen Spasmus in der Muskulatur 
eines Darmabschnittes kann ein Darmver¬ 
schluß entstehen. Die Ursache des Krampfes 
liegt zuweilen in einer allgemeinen Nerven¬ 
erkrankung, besonders in der Hysterie. Es 
gibt Fälle, in denen die sorgfältigste Unter¬ 
suchung des Kranken ergebnislos bleibt 
und die Autopsie bei der Operation und 
die Sektion keinen Aufschluß über das 
Wesen des Spasmus bringt. Auch wenn 
der Verdacht auf einen Darmverschluß 
durch einen Krampf in der Muskulatur be¬ 
rechtigt ist, muß der Kranke unverzüglich 
dem Krankenhaus überwiesen werden. 

Die Therapie kann beim Vorliegen eines 
nervösen Grundleidens konservativ sein, 
solange das Allgemeinbefinden des Pa¬ 
tienten gut bleibt. Wenn es sich ver¬ 
schlechtert, ist die Enterostomie zur Ent¬ 
leerung der geblähten Schlingen indiziert, 
um der Sterkorämie vorzubeugen. Die 
Prognose des Eingriffs ist bei einem nicht 
paralytischen Darm gut, besonders wenn 
ein Nervenleiden die Ursache des Spasmus 
ist. Sie ist schlecht, wenn die Darmläh¬ 
mung, die anscheinend häufig mit dem 
Spasmus vergesellschaftet ist, nicht zu 
überwinden ist 

Referent sieht sich veranlaßt, darauf 
hinzuweisen, daß die Unterscheidung zwi¬ 
schen hysterischem und spastischem Darm¬ 
verschluß, wie sie auch in der Ueberschrift 
der Nordmannschen Arbeit zum Ausdruck 
kommt, geeignet ist, falsche Vorstellungen 
über den Mechanismus des betreffenden 
Leidens zu erwecken. Hysterischer und 
spastischer Darmverschluß sind keine Gegen¬ 
sätze, sondern nur in ätiologischer Hin¬ 
sicht verschieden. In beiden Fällen handelt 
es sich um eine auf Spasmus der Darm- 
muskularis beruhende Einengung bezie¬ 
hungsweise Verlegung des Darmlumens. 
Es wäre demgemäß richtiger, von hyste¬ 
risch spastischem und einfach spastischem 
Darmverschluß zu reden. 

Leo Jacobsohn (Charlottenburg). 

(Deutsch, med. Woch. Nr. 10.) 

Die neueren Gesichtspunkte bei Ent¬ 
fettungskuren werden von G. v. Berg¬ 
mann m einem ausführlichen Aufsatz kri¬ 


tisch beleuchtet. DieEinteilung der Fälle von 
Fettsucht nach ätiologischen Momenten, 
das heißt in konstitutionelle und nicht kon¬ 
stitutionelle, darf nicht auf die Spitze ge¬ 
trieben werden. Zwar gibt es zweifellos 
Menschen, die ständig oder zu Zeiten einen 
ganz wesentlich niedrigeren Umsatz haben 
als andere, doch bleibt dieses geringe 
Umsatzniveau stets nur ein disponierendes 
Moment unter mancherlei anderen und 
kann durch kleinere oder größere Nahrungs¬ 
aufnahme und Muskelarbeit ausgeglichen 
oder unterstützt werden. Eine solche Dis¬ 
position wird man als Hypofunktion der 
Schilddrüse nur in Fällen ansprechen 
dürfen, die sich klinisch auch sonst als 
Formes frustes von Myxoedem manifestieren; 
durch bloße Angaben der Patienten ohne 
ausgedehnte Stoffwechselversuche gelangt 
man jedenfalls nicht zur Aussonderung 
dieser Kategorie disponierter Menschen. 
Das ist auch für die Feststellung des rein 
klinischen Begriffes der konstitutionellen 
Fettsucht kaum von Belang. Unter ihn 
fallen mehr die durch Behäbigkeit und 
dabei gesteigerte Appetenz gerade für 
Mehlspeisen und Fette zur Fettsucht prä¬ 
destinierten Individuen; eine solche Wesens¬ 
art erbt sich fraglos in ganzen Familien fort. 

Die Prinzipien jeder Entfettungskur sind 
Herabsetzung der Zufuhr unter Wahrung 
des Sättigungsgefühls und Erhöhung des 
Verbrauchs. Bei der Nahrungsbeschrän¬ 
kung soll mit der Eiweißzufuhr nicht unter 
100—120 g pro die herabgegangen werden. 
Allerdings sind in letzter Zeit, besonders 
von Moritz und Lenhartz, Kuren mit 
weit stärkerer Herabsetzung der Eiwei߬ 
mengen empfohlen worden. Solange hier¬ 
bei, vor allem durch die eiweißsparende 
Wirkung von Muskelarbeit und reichlicher 
Kohlehydratzufuhr, eine erhebliche Eiwei߬ 
schmelze vermieden wird, kann man, be¬ 
sonders bei den Kreislaufkomplikationen 
der Fetten, auch davon Gutes sehn. 
Immerhin ist die Gefahr größerer Eiwei߬ 
verluste nicht gerade gering zu veran¬ 
schlagen, wie man sich in der Therapie 
des Magengeschwürs nach dem Vorgänge 
von Lenhartz jetzt ja auch mehr und 
mehr von der Unter- zur Ueberernährung 
wendet Weit unbedenklicher und dabei 
kaum weniger wirksam als die zu aus¬ 
giebige Beschränkung der Eiweißzufuhr 
sind die von Boas eingeführten Karenz¬ 
tage. 

Bei allmählichen Entfettungskuren ist 
eine übergroße Eiweißarmut der Nahrung 
noch weniger empfehlenswert als bei 
strengen. Bei diesem milderen Verfahren 


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Die Therapie der Gegenwart 1910, 


Juni 


spielt nach Rosenfelds und Richters 
Beispiel die Kartoffel als kalorienarm, 
sättigend und eiweißsparend eine große 
Rolle. Variationen der Flüssigkeitszufuhr 
haben wenig Wert, Mineralwasserkuren 
höchstens mittelbaren durch schlechtere 
Ausnutzung der Nahrung infolge schnellerer 
Darmpassage. 

Zur Verbrauchserhöhung leisten Muskel¬ 
übungen, Gehen, Reiten und Massage bloß 
wenig; nur angestrengte Arbeit läßt mehr 
erhoffen. Hydrotherapeutische Maßnahmen 
mögen später einmal zur Erzielung direkter 
Fettverluste wichtig werden; zurzeit haben 
im Sinne erhöhten Verbrauchs durch 
Wärmeentziehung nur halb protrahierte 
Bäder in allen möglichen Kombinationen 
eine gewisse Bedeutung. Mehr ist bei 
herzgesunden, auch mastfettsüchtigen Pa¬ 
tienten von einer vorsichtigen, protrahierten 
Schilddrüsenmedikation zu erwarten. Man 
wird dabei auf besonders reichliche Eiwei߬ 
gaben Bedacht nehmen, obwohl die Um¬ 
satzsteigerung genau so gut auf Kosten 
der Fette und Kohlehydrate wie des Ei¬ 
weißes geschieht. Meißner (Berlin) 

(Bcrl. klin. Woch. 1910, Nr. 14.) 

Die Fersenneur&lgie oder Achillodynie 
macht der Altmeister der Chirurgie, Prof. 
Fr. König, zum Gegenstand einer aus¬ 
führlichen Besprechung. Sie ist kein sehr 
häufiges Leiden, schädigt aber ihre Träger, 
meist junge Leute, sehr erheblich in ihrer 
Leistungsfähigkeit. K. bringt die Krank¬ 
heitsgeschichten von 8 operierten Fällen 
mit 12 von Neuralgie befallenen Füßen. 
Viermal wurden als Ursache entzündete 
Schleimbeutel allein, 4 mal daneben Ab¬ 
normitäten am Knochen und 4 mal schlie߬ 
lich bloß drückende Knochenkörper ge¬ 
funden, von denen 2 traumatisch entstanden 
waren, 2 hingegen epiphysäre Exostosen 
darstellten. Schleimbeutel, welche als an¬ 
nähernd konstante anatomische Bildungen 
für die vorliegende Frage in Betracht kom¬ 
men, gibt es nur zwei: die Bursa mucosa 
achilleo-calcanea an der Insertionsstelle der 
Achillessehne zwischen ihr und der hinteren, 
oberen Fläche des Process. post, calc., in 
der die Sehne des Muse, plant, inseriert, 
und die Bursa mucosa subcalcanea zwischen 
dem Sohlenfett und dem prominentesten 
Teile des Calcaneus, an deren vorderen 
Seite ein Zweig der Rami calc. med. des 
Nerv, tibial. vorbeiläuft. Den Anlaß zur 
Entzündung dieser Schleimbeutel geben 
chronische F ußbekleid ungstraumen, die 
ihrerseits auch an anderen als den beiden 
typischen Stellen Schleimbeutel überhaupt 
erst zur Entwickelung bringen können, und 


besonders Infektionen, Vor allem die Gonor¬ 
rhöe. Vom Knochen aus führen zur Ent¬ 
stehung neuralgischer Beschwerden an¬ 
geborene Verbildungen, Traumen und 
wiederum Infektionen, zumal gonorrhoische, 
indem sie auf dem Wege infektiöser 
Reizung des Periosts Knochenproduktion 
hervorrufen. Der sog. Calkaneussporn, 
der in der Richtung der Plantaraponeurose 
und durch sie ausgezogene Process. med. 
tuberosit calc., kann, da er parallel der 
Sohlenfläche verläuft, gleichfalls erst nach 
Trauma oder Inf ektion benachbarter Schleim¬ 
beutel im Zustande einer infektiösen Osteo¬ 
periostitis beschwerlich fallen. Schleim - 
beutelerkrankungen, besonders gonorrhoi¬ 
sche, werden mit äußerlicher Applikation 
von Jodtinktur erfolgreich behandelt; bessere 
Garantie für Dauerheilung gewährt ihre 
gründliche, operative Zerstörung. Sind 
Knochenauswüchse am Sohlenteil der Ferse 
vorhanden, so bedient man sich mit Vor¬ 
teil des Sarazinschen Gummiluftkissens; 
im übrigen operiert man, rezidivfrei jedoch 
nur bei ausgiebiger Entfernung des Periosts. 

Meißner (Berlin). 

(Deutsche med. Woch. 1910, Nr. 13.) 

Das gewaltsame kurze in einem Akt 
ausgeführte Redressement des Pottschen 
Buckels nach Calot ist wegen seiner 
großen Gefährlichkeit längst allgemein ver¬ 
lassen worden. Wo es sich darum handelt, 
einen zur Ausbildung gekommenen GibbtUS 
wieder auszugleichen, kommt nur das 
allmähliche Redressement in Frage. 
B. Lange (Straßburg) verwendet zunächst 
für die Dauer von 1—1V 2 Jahren ein nach 
dem Gipsmodell hergestelltes Reklinations¬ 
bett. Läßt das Röntgenbild einen Knochen¬ 
sequester erkennen, so muß die Horizontal* 
läge noch länger innegehalten werden. In 
der zweiten Periode der Behandlung legt 
Lange bei ganz leichter Suspension einen 
mit Filz gepolsterten Reklinationsgipsver¬ 
band an. Ein Ausschnitt über dem Gibbus 
ermöglicht langsam steigende Korrektur 
mittels Wattepolster. Durch Einklemmen 
von Korkstückchen in horizontale durch 
den Gipsverband gelegte Sägeschnitte wird 
das Resultat festgehalten. Die Korrektur 
des Buckels im gefensterten Gipsverband 
soll in 1—1 Va Jahren erreicht werden. 
Dann folgt die Behandlung mit abnehm¬ 
barem Reklinationskorsett, das das Resultat 
festhält und durch ein über dem Gibbus 
angebrachtes Fenster mittels einlegbarer 
Wattepolster noch eine letzte Korrektur 
ermöglicht Nach Verlauf eines weiteren 
Jahres erhält der Patient tagsüber einen 
leichten Geradehalter mit mäßiger Rekli- 


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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


281 


nation, für die Nacht ein kurzes Gipsbett 
mit Filzpölsterung. Senkungsabszesse wer¬ 
den in der üblichen Weise mit Punktion 
und Jodoformglyzerininjektionen behandelt 
Lähmungen der Beine hat Lange durch 
Lagerung im Reklinationsgipsbett zurück¬ 
gehen sehen. Bergemann (Königsberg). 

(Deutsche Zeitschr. f. orthopäd. Chir. Bd. 25, 
S. 292.) 

Schanz gibt eine Modifikation zu der 
bisher als Normalverfahren geltenden un¬ 
blutigen Einrenkung der angeborenen 
Hüftgelenkluxation nach Lorenz. An 
der gesunden Seite des Kindes stehend 
fixiert er mit der einen Hand die Sym¬ 
physe, mit der anderen faßt er das luxierte 
Bein in der Kniekehle und beugt es so 
weit, daß der Oberschenkel auf die Bauch¬ 
wand des Kindes zu liegen kommt. Dann 
adduziert er ihn, bis das Femur in der 
Richtung auf den Nabel steht In dieser 
Richtung wird mit einem intensiven Ruck 
unter gleichzeitiger Innenrotation ein Zug 
ausgeübt, wodurch der Kopf in die Pfanne 
hineingelangt. Unter fortdauerndem Zug 
wird das Bein dann in rechtwinklige Abduk¬ 
tionsstellung gebracht, in der es durch 
einen sofort angelegten Gipsverband er¬ 
halten wird; dieser umgreift den Rumpf 
bis an die Brustwarzen und reicht bis unter 
das Knie. Nach einer Woche wird er zur 
Kontrolle der Stellung gewechselt, nach 
6 Wochen durch die von HOftmann an¬ 
gegebene Bandage ersetzt, die nur die ge¬ 
fährlichen Bewegungen verhindern soll. 
Nach 1—4 Monaten wird auch diese fort¬ 
gelassen. 

Schanz läßt die Kinder weder im Ver¬ 
band noch in der Bandage umhergehen 
und sucht auch nachher den Beginn des 
Laufens möglichst hinauszuschieben; er 
vermeidet jede passive Korrektur und 
gymnastische Uebung der Muskulatur, weil 
dadurch die Reposition gefährdet und 
andererseits einer nachträglichen Defor¬ 
mierung des Hüftgelenks der Weg bereitet 
werde. 

Schanz hat von dieser Behandlung die 
günstigsten Erfolge gesehen; als wesent¬ 
lichen Unterschied zwischen seinem Hand¬ 
griff und dem Lorenzschen hebt er her¬ 
vor, daß bei ihm die Dehnung der Kapsel¬ 
wand nur soweit erfolge, als für die Re¬ 
tention des Kopfes in der Pfanne nötig 
sei. Damit werde die Ueberdehnung des 
vorderen Kapselabschnittes und ihre Folgen, 
Transposition und vordere Reluxation, ver¬ 
mieden. 

Von gleichen Gesichtspunkten aus¬ 
gehend, sieht F. Lange (München) die 


Hauptaufgabe der Verbandperiode darin, 
die überschüssige Kopfhaube der Kapsel 
nach Möglichkeit zu verkürzen, damit sie 
dem andrängenden Kopf Widerstand leisten 
kann. Diesem Bestreben wirken die ge¬ 
bräuchlichen Primärstellungen, namentlich 
die meist geübte der rechtwinkligen Ab¬ 
duktion, direkt entgegen, da sie die Span¬ 
nung des Kapselschlauches erheblich er¬ 
höhen. Lange empfiehlt deshalb, das re- 
ponierte Bein in Streckstellung bei starker 
Innenrotation und einer Abduktion von 
120—130° einzugipsen. Hierbei seien die 
Bedingungen für die erwünschte Kapsel¬ 
schrumpfung die denkbar besten. 

Nach dem Vorgang von Schede sieht 
Reiner in der pathologischen Antetorsion 
des Schenkelkopfes die Hauptursache für 
die häufigen Reluxationen. Bei höherem 
Grade der Antetorsion (bei 2jährigen über 
90®, bei 4jährigen über 60—65°) hält er 
deshalb die operative präliminäre Detor- 
quierung für erforderlich. Er frakturiert 
das Femur in der Mitte mittels des Lorenz¬ 
schen Osteoklastredressements und gipst 
das Bein bei starker Auswärtsrotation des 
distalen Fragmentes ein. Der Verband 
bleibt 7 Wochen liegen, nach weiteren 
7 Wochen wird erst die Reposition vor¬ 
genommen. 

In den Fällen, bei denen auf unblutigem 
Wege die Reposition nicht erreicht werden 
kann,ist die Operation berechtigt. Deutsch¬ 
länder hat die blutige Reposition nach 
dem Vorschläge von Ludloff in horizon¬ 
taler Abduktion ausgeftlhrt. Er geht von 
einem Querschnitt in der Genitokrural- 
furche aus und dringt hart am Becken¬ 
skelett auf die Incisura acetabuli vor, wo¬ 
nach die untere Gelenkkapsel über der 
Luxationspfanne quer gespalten wird. Nach 
der Reposition fixiert Deutschländer das 
Gelenk bei Abduktion von etwa 45° nur 
auf 3—4 Wochen; 1 Woche darauf beginnt 
er schon mit Massage und Stehübungen. 

Bergemann (Königsberg). 

(Deutsche Zeitschr. f. orthopäd. Chir. Bd. 25, 
S. 94, 164, 218, 775.) 

Bei der konservativen Behandlung der 
tuberkulösen Koxitis wird von der Mehr¬ 
zahl der Chirurgen und Orthopäden Fixa¬ 
tion und Entlastung des erkrankten Ge¬ 
lenkes durch einen das ganze Bein ein¬ 
schließenden Gips verband erstrebt. Fehler¬ 
hafte Stellung in Adduktion und Innen¬ 
rotation wird zunächst durch einen Streck¬ 
verband ausgeglichen, das Bein in leichter 
Adduktion und Außenrotation eingegipst 
Diese Grundsätze hat Lorenz seit einigen 
Jahren verlassen. Er wirft der geschilderten 

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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Jun 


Methode vor, daß sie ein end- und nutz¬ 
loser Kampf gegen die Adduktionsstellung 
sei, daß die oftmalige Wiederholung der 
Stellungskorrektur die Empfindlichkeit des 
Gelenkes erhöhe und daß sie dem ihm 
allein richtig erscheinenden Endziel, der 
Ankylosenbildung durch eine möglichst 
feste Verwachsung, entgegen wirke. Wichtig 
erscheint ihm nur die vollständige Ruhig¬ 
stellung des Gelenkes, während er an 
Stelle der Extension die Belastung des 
fixierten Gelenkes treten läßt. Nur bei 
Empfindlichkeit gegen Belastung wird das 
Gelenk, nötigenfalls durch Suspension des 
Beines, entlastet. Werden die Schmerzen 
durch einen intraartikulären Abszeß ver¬ 
ursacht, so wird er punktiert. Die Patienten 
erhalten einen vom Becken bis dicht Ober das 
Knie reichenden exakt anliegenden Gips¬ 
verband, dem bei der geringsten Empfind¬ 
lichkeit des Gelenkes eine Unterschenkel¬ 
halse als Ersatz des Gehbügels angefügt 
wird. Der Verband bleibt möglichst lange, 
gelegentlich über U /2 Jahre liegen. Wäh¬ 
rend der Dauer des eigentlichen Krank¬ 
heitsprozesses wird die Stellung niemals 
korrigiert, es sei denn, daß sie ein Herum¬ 
gehen überhaupt nicht zuläßt, ln diesem 
Falle wird das Bein in Narkose ohne Ge¬ 
waltanwendung bis zur Mittelstellung ge¬ 
bracht. Erst nach Ablauf der Krankheit 
wird die Adduktion und Innenrotation 
durch die intertrochantere Osteotomia 
femoris beseitigt. 

Von dieser Behandlungsmethode, die 
zum obersten Grundsatz die Vermeidung 
von Schmerzen habe, hat Lorenz die 
günstigsten Heilerfolge gesehen. 

Sehr schroff abgelehnt wird die Lorenz- 
sche Behandlungsweise von Vulpius, der 
namentlich auf die mangelhafte Fixation 
des Gelenkes in dem kurzen Gipsverband 
und auf die Gefahren der Belastung hin¬ 
weist. 

Auch Heusner kann sich aus ähnlichen 
Gründen mit den kurzen Gipsverbänden 
nach Lorenz nicht befreunden. Er nimmt 
die Stellungskorrektur im Anfang der Be¬ 
handlung in tiefer Narkose auf dem Ex¬ 
tensionstisch vor. Bei starkem Widerstande 
geht er in Etappen vor und hat Nachteile 
dieses Redressements niemals gesehen. 
Bei der Weiterbehandlung wendet er lange 
Fixationsverbände an, die nach oben bis 
an die Brustwarzen reichen, unten durch 
einen Bügel abgeschlossen sind. Als 
Material nimmt er für die innerste Schicht 
weichen Filz, der mit Harz fest an die 
Haut geklebt wird. Darauf folgen Stärke¬ 
binden, in die Aluminiumschienen neben 


Stuhlflechtwerk und Schusterspan einge¬ 
legt werden. Bergemann (Königsberg). 

(Deutsche Zeitschr. f. orthopid. Chir. Bd. 24, 
S. 513, Bd. 25, S. 6, Bd. 26, S. 386.) 

Aus der Braun sehen Abteilung in 
Zwickau macht Peuckert wieder Mit¬ 
teilungen über die Lokalanästhesie und 
Suprareninanämie,die beweisen,wie der 
Geübte mit dieser höchst einfachen Me¬ 
thode erstaunliches leisten kann. Ohne 
Suprareninzusatz ist die Lokalanästhesie un¬ 
denkbar. Aber auch ohne Anästhetikum wird 
die Suprareninanämie reichlich mit bestem 
Erfolg angewandt, während der Kranke 
narkotisiert ist. Bei Schädeloperationen 
erhält man durch zirkuläre, bezw. in der 
Schläfen-, Supraorbital- und Hinterhaupt¬ 
gegend intermuskuläre Umspritzung des 
ganzen Operationsfeldes mit sehr dünner 
Suprareninlösung eine vortreffliche Anämie 
des Schädeldaches. Die blutigen Opera¬ 
tionen an der Nase und ihren Nebenhöhlen, 
die Ober- und Unterkieferresektionen, die 
Resektionen oder Exzisionen der Zunge, 
die Operationen im Mund und Alveolar¬ 
fortsatz sind geradezu spielend ausführbar 
und gewinnen ein ganz anderes Aussehen. 
Die Injektionstechnik ist dieselbe wie zur 
Lokalanästhesie. Dabei sind auch die 
kleinsten Gefäße zu unterbinden und eine 
sorgfältige Naht auszuführen oder fest zu 
tamponieren, dann erlebt man keine Nach¬ 
blutungen. Die Anämie dauert IV 2 bis 
2 Stunden, meist länger. Die käufliche 
0,1 %ige Suprareninlösung verwendet 
Braun selten, z. B. bei Thierschschen 
Transplantationen; oder zu subkutanen 
oder intravenösen Injektionen bei Kollaps. 
Im übrigen nimmt er, auch zur einfachen 
Anämisierung, die Novokain-Suprarenin- 
tabletten Höchst, die fast unbeschränkt 
haltbar sind. Eine Tablette A wird in 
25 ccm Kochsalzlösung gelöst und enthält 
0,00016 Suprarenin. boric.; von dieser Lö¬ 
sung können 150 ccm ohne Schaden ein¬ 
gespritzt werden, also 0,00096 Suprarenin, 
während die Maximaldose 0,0005 beträgt 
Die Giftigkeit des Novokain ist sehr ge¬ 
ring — bis zu 0,75 kann man schadlos in¬ 
jizieren — so daß man das Novokain der 
Tabletten nicht zu berücksichtigen braucht 
bei der Anämisierung. Der Kochsalzlösung 
zur Auflösung der Tabletten ist auf 1 1 
2 Tropfen Acid. mur. dilut. zuzusetzen, dann 
kann die fertige Lösung beliebig lange ge¬ 
kocht oder in Dampf sterilisiert werden. 
Es geschieht dies wegen der Zersetzung 
des Suprarenins durch Spuren von Alkali. 
Homorenon hat sich nicht bewährt; das 
neuerdings synthetisch hergestellte L-Supra- 


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Juni 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


283 


renin-Höchst scheint ebenso gut zu wirken, 
wie das Organpräparat. Braun benutzt 
zur Anästhesierung zwei Lösungen: Eine 
Tablette A wird in 25 ccm aufgelöst: 
V 2 °/oige Novokainlösung; eine Tablette A 
wird in 10 ccm aufgelöst: etwas mehr als 
1 °/oige Novokainlösung. Die V 2 %ige Lö¬ 
sung wird gewöhnlich benutzt, die 1°/oige 
nur, wenn die Leitungsunterbrechung 
großer Nervenstämme erstrebt wird. — Für 
Schädeleröffnungen empfiehlt Braun all¬ 
gemeine Narkose mit lokaler Suprarenin- 
anämie. Empyem der Stirnhöhle und Sieb¬ 
beinzellen operiert Braun nur noch in 
Lokalanästhesie. Sehr gut gelingt die 
Unterbrechung des N. maxillaris in der 
FlQgelgaumengrube mit 1 %iger Lösung. 
Sehr erleichtert wird die Oberkieferexstir¬ 
pation durch die Lokalanästhesie. All¬ 
gemeinnarkose wird hier nur nötig, wenn 
die Grenzen der Neubildung nach der 
Flügelgaumen- und Schläfengrube nicht 
mehr sicher zu bestimmen sind. Exzision 
eines Stückes Zunge nach querer Wangen¬ 
spaltung wird zu einem überaus einfachen 
Eingriff. Klink. 

(v. Bruns Beitr. z. klin. Chir. Bd. 66, H. 2.) 

Die konservative Behandlung der Pa- 
tell&rfrakturen bringt nicht immer sichere 
Heilung, es bleibt oft eine Schwäche des 
verletzten Beines und Unsicherheit beim 
Gehen zurück; hierdurch kann es leicht zu 
einer Refraktur kommen. Baum empfiehlt 
deshalb in seiner Arbeit »Zur Technik und 
Nachbehandlung der Patellarnaht* das 
operative Vorgehen und er rät, bei der 
Patellarnaht nach der Methode von Kausch 
zu verfahren, d. h. das operierte Knie pri¬ 
mär in Beugestellung zu fixieren. Da¬ 
durch wird leicht und rasch ein befriedi¬ 
gendes funktionelles Resultat erzielt, das 
sich früher beim Verbinden des Beines in 
Strecksteilung nur mit grofier Mühe er¬ 
reichen ließ. Nachdem das Gelenk durch 
unteren Bogenschnitt eröffnet ist, werden 
die Knochenränder der Patella sorgfältig 
von Blutgerinnsel und interponierten Ge* 
websfetzen befreit und durch zwei Silber¬ 
oder Aluminiumbronzedrahtnähte vereinigt, 
der zerrissene Bandapparat wird mit Seide 
genäht Bei offener Wunde wird unter 
Fixation und, wenn nötig, leichtem Herab¬ 
ziehen des oberen Fragmentes das Gelenk 
in einen Winkel von 135o gestellt; in dieser 
Stellung nach der Haut naht und Anlegung 
eines Kompressionsverbandes in gebogener 
Kram er scher Schiene fixiert. Am sechsten 
Tage wird nach Abnahme des Verbandes 
das Bein passiv bis zur Geraden gestreckt. 


die Beugestellung um 200 vermehrt. Dann 
wird das Bein in einer von einem eisernen 
Bügel herabhängenden Lasche aufgehängt, 
die Beugung durch tägliches Höherziehen 
der Lasche gesteigert; mehrere Male am 
Tage wird das Bein passiv gestreckt Am 
14. Tage wird mit aktiven Streckversuchen 
begonnen. Auffallend bei diesem Verfahren 
ist die geringe Schmerzhaftigkeit der ersten 
passiven Bewegungen. Die Patienten sollen 
nicht zu früh auf stehen, damit die aktiven 
Bewegungen sich unter Aufsicht des Arztes 
energischer durchführen lassen. Eine 
mediko-mechanische Nachbehandlung frisch 
genähter Patellarfrakturen empfiehlt sich 
nicht, da, wie Baum in zwei Fällen beob¬ 
achten konnte, Refrakturen durch diese 
Behandlung eintreten können. Der Kranken¬ 
hausaufenthalt wird durch dies Verfahren 
abgekürzt und, wie schon gesagt, ist die 
zu erreichende Funktionsfähigkeit des 
Knies eine vorzügliche gegenüber den 
Fällen, die nach der alten Methode behan¬ 
delt wurden. Hervorzuheben ist noch, daß 
bei der primären Beugung des Knies die 
Knochen genäht werden müssen, eine 
Periostnaht reicht nicht aus, sie kann bei 
der Beugung zu leicht auseinanderreißen. 

Baum erwähnt noch, daß an der Kieler 
Klinik auch bei Olekranonfrakturen die 
Beugefixation nach der Naht mit gutem 
Erfolge angewendet wird. 

Hohmeier (Altona). 

(Deutsche Ztschr. f. Chir. Bd. 104, H. 3—4.) 

In einer eingehenden Abhandlung über 
den Plattfuß (Pes valgus und valgoplanus) 
legt Bardenheuer den Hauptwert auf die 
gymnastische funktionelle Behandlung der 
Fußmuskeln. Sie besteht zunächst in me¬ 
thodischen Bewegungsübungen, verbunden 
mit Massage der plantaren Muskeln. Die 
Uebungen sollen exakt militärisch ausge¬ 
führt werden, eine Belastung des Herzens 
durch Ueberanstrengung darf nicht statt¬ 
finden. Daneben ist von außerordentlicher 
Wichtigkeit, daß bei der Fußbekleidung 
jede funktions- und zirkulationshemmende 
Einengung vermieden wird. Barden- 
heuer empfiehlt sehr das Tragen von San¬ 
dalen, soweit es der Beruf zuläßt. Beim 
Gehen ist die Abduktionsstellung der Füße 
schädlich; hygienisch zweckmäßig ist der 
Großzehengang, beim Aufsetzen des Fußes 
soll nicht die Ferse, sondern der Zehen¬ 
ballen den Boden zuerst berühren. Bei 
Kindern ist darauf zu halten, daß die Be¬ 
lastung der Füße nicht zu früh stattfindet. 
Beim Erwachsenen soll für richtigen 
Wechsel zwischen Arbeit und Erholung 
der Fußmuskulatur gesorgt werden, ebenso 

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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Juni 


für Wechsel zwischen Retraktions- und 
Dehnungszustand. 

Ohne diese funktionelle Behandlung soll 
die orthopädisch mechanische niemals allein 
vorgenommen werden. Letztere ist selbst 
nur entbehrlich beim beschwerdefreien 
stationären Plattfuß. Die Plattfußeinlagen 
dürfen die Gefäße und Nerven in der plan¬ 
taren Exkavation nicht drücken; das Talona- 
vikulargelenk muß frei liegen. Die Unter¬ 
stützung muß an den widerstandsfähigsten 
Abschnitten des Fußes, an der Basis und 
nicht an der Spitze der Wölbung an¬ 
greifen. Hinten muß der Kalkaneus, na¬ 
mentlich das Sustentaculum tali, vorne 
müssen die Metatarsalköpfchen gestützt 
werden. Auf Weite des Vorderschuhes, 
auf eine adduzierte Form der Sohle muß 
gehalten werden, ln der Sohle soll sich 
eine Vertiefung für die Ferse finden. 

Das Brisement forc£ soll beim anky- 
lotischen Pes valgo-planus vorgenommen 
werden, wenn die Funktion stark behindert 
ist, wenn große Plattfußbeschwerden be¬ 
stehen und einige Beweglichkeit in den 
Tarsalgelenken vorhanden ist. Zur Aus¬ 
führung dienen maschinelle Apparate, emp¬ 
fohlen wird besonders der von Schultze- 
Duisburg. Neben dem Brisement wird die 
Tenotomie der Achillessehne ausgeführt. 
Der nach der Korrektur angelegte Gips¬ 
verband wird von Barden heu er nach 
5—6 Tagen entfernt, danach ein Exten¬ 
sionsverband angelegt, der für Supination 
und Exkavation des Mittelfußes sorgt. In 
diesem Verband muß der Patient funktionelle 
Uebungen ausführen; nach 14—20 Tagen 
wird die Extension fortgelassen, bestimmte 
Uebungen bei Bettruhe fortgesetzt. 

Beim entzündlichen Plattfuß beseitigt 
Bardenheuer zunächst durch feuchte Um¬ 
schläge den Muskelspasmus und leitet dann 
eine gymnastisch - orthopädische Behand¬ 
lung ein. 

Die operative Behandlung der Muskel¬ 
verkürzung oder -Verpflanzung kommt beim 
Plattfuß nur in Frage, wenn die funktionelle 
Methode im Stich gelassen hat, wenn die 
Beschwerden sehr groß sind und der pes 
valgo-planus nicht absolut fixiert ist. Viel 
darf von diesen operativen Eingriffen nicht 
erwartet werden, da nicht nur einer, sondern 
alle Muskeln des Fußes und des Unter¬ 
schenkels an der Erschlaffung beteiligt sind. 

Von den operativen Behandlungs¬ 
methoden am Knochen kommt nur die 
Trendel enburgsche supramalleoläre 
Osteotomie und die Gleichsche Operation 
in Betracht Erstere verwendet Barden- 
heuer aber nur beim traumatischen Pes 


planus post fracturam. Von der Gleich- 
sehen Operation, der Verschiebung des ab¬ 
gemeißelten Processus calcaneus posterior 
nach innen und oben hat Bardenheuer 
in 2 Fällen einen guten Erfolg gesehen. 

Als Plattfußeinlagen empfiehlt Höft¬ 
mann Korksohlen. Sie werden in Dicke 
von 4 mm auf dem Gipsmodell gewalkt, 
die Höhlung des Fußes wird mit einem 
Korkstück ausgefüllt. Entsprechend den 
druckempfindlichen Stellen des Fußes wird 
in die Korkschicht eine Polsterung mit 
Schwammgummi eingeführt. Zur Erhöhung 
der Widerstandsfähigkeit werden diese 
Sohlen mit Azetonzelluloidlösung durch¬ 
tränkt, mit einer dünnen Stahlfederunter- 
lage versehen und mit Leinwand oder Leder 
bezogen. 

Krukenberg hat zur Heilung des Platt¬ 
fußes unter der Mitte eines gewöhnlichen 
Schnürstiefels einen steigbügelähnlichen 
Fortsatz angebracht. Er geht hierbei von 
der Ueberlegung aus, daß die Belastungs¬ 
verhältnisse für den Fuß am günstigsten 
sind, wenn er entweder nach vorn oder 
nach hinten geneigt steht, und wenn gleich¬ 
zeitig die Körperlast nach vorn oder hinten 
von der Mitte des Fußes geworfen wird. 
Von ähnlichen Gesichtspunkten werden von 
Krukenberg Vorrichtungen angegeben, 
die Schwerkraft so umzusetzen, daß bei 
jedem Schritt der Fuß beliebig in Klump¬ 
fuß- oder Plattfußstellung herübergehebelt 
wird. Bergemann (Königsberg). 

(D. Zeitschr. f. orthopfld. Chir., Bd. 25, S. 1,27,268.) 

Zur Skollosenbehandlung empfiehlt 
Krukenberg einen Apparat, der gleich¬ 
falls auf dem Prinzip der Verschiebung der 
Schwerlinie beruht. Pelotten auf Brust- 
und Lendenausbiegung werden unterein¬ 
ander verbunden und mit seitlichen Hebel¬ 
armen versehen, deren oberer durch einen 
Gurt um den Hals eine weitere Befestigung 
erhält. Gewichte an den Querstangen 
sollen nach den Parallelogrammen der 
Kräfte an den Pelotten angreifen und die 
Schwerkraft beliebig nach rechts und links 
ablenken. Krukenberg verwirft das 
Stützkorsett wegen seiner bekannten schäd¬ 
lichen Einwirkung auf die Rückenmusku¬ 
latur. Zum Ersatz dafür dürfte sein Appa¬ 
rat aber kaum als portative Vorrichtung 
in Betracht kommen. 

Zur Mobilisierung der skoliotischen Wir¬ 
belsäule wendet Krukenberg die Heißluft¬ 
behandlung an, mit der gleichzeitig passive 
Dehnungen der über Gurten schwebenden 
Wirbelsäule einhergehen. 

Das von Wahl bei fixierter Skoliose 
benutzte Reklinationsbett besteht aus einem 


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Juni 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


285 


gepolsterten Brett mit 2—3 eingebauten 
seitlichen Schiebern; durch kräftige Stahl¬ 
federn können letztere einen erheblichen 
Druck auf den Thorax ausQben. Die 
Patienten verbleiben in dem Bett die ganze 
Nacht über. Bei der gymnastischen Be¬ 
handlung verwendet Wahl eine seitlich an¬ 
gebrachte Glissonsche Schwebe und eine 
ebenfalls seitlich am Scheitel der Wirbel¬ 
säulenabbiegung angreifende Gabel. Neuer¬ 
dings hat er sich bei der Behandlung der 


fixierten Skoliose dem — ohne Narkose 
vorgenommenen — forzierten Redresse¬ 
ment mit nachfolgendem Kontentivgips- 
verband zugewandt. Die Schädigung der 
Rumpfmuskulatur vermeidet er durch täg¬ 
liche Erneuerung des Verbandes, wobei 
eine intensive Massage und Gymnastik der 
Rückenmuskulatur stattfinden kann. 

Bergemann (Königsberg). 

(Deutsche Zeitschr. f. orthopftd. Chir., Bd. 25, 
S. 27, 321.) 


Therapeutischer Meinungsaustausch. 

Aus dem Sanatorium für innere und Nervenkrankheiten Schloss Homegg a. N. 
Behandlung subazider Zustande mit mechanisch reizender Kost und mit 

Zitronensäure. 

Von San.-Rat Dr. Roemheld, Chefarzt der Anstalt 


Es ist eine längst bekannte Tatsache, 
daß die Wirkung einer Speise auf die 
Magensaftsekretion um so geringer ist, je 
feiner verteilt die Speise gereicht wird. 
Wie erst Bickel 1 ) vor kurzem wieder be¬ 
tont hat, empfiehlt sich deshalb bei den 
verschiedenen Formen der Supersekretion 
besonders die Darreichung der Speisen in 
Püreeform. Das umgekehrte Prinzip, bei 
subaziden Zuständen, eine nicht nur che¬ 
misch, sondern auch mechanisch stärker 
reizende Kost zu geben, um so die Magen¬ 
saftsekretion mehr anzuregen, scheint bis¬ 
her weniger Anwendung gefunden zu 
haben. Hier spielt zweifellos nicht nur der 
Kauakt mit, der bei gröberer Kost sich 
intensiver gestaltet und schon allein da¬ 
durch die Saftsekretion anregt, sondern 
namentlich die direkte Einwirkung der 
physikalisch grobkörnigen Speisen 
auf die Magenschleimhaut. Von den 
chemisch als Sekretionserreger wirkenden 
Nahrungsmitteln wissen wir mehr. Bickel 
hat ein Diätschema für die Sekretions¬ 
störungen des Magens aufgestellt und ge¬ 
wissermaßen eine Skala der Sekretions- 
erreger angegeben. Curschmann 2 ) hat 
kürzlich gezeigt, daß die Salzsäurebestim¬ 
mung nach den reizlosen Probefrühstücken 
und Mahlzeiten, besonders bei nervösen 
Personen, nicht die richtigen Werte gibt. 
Wenn man eine Mahlzeit so zusammen¬ 
stellt, wie es sowohl dem örtlichen, als auch 
dem persönlichen Geschmack entspricht, 
werden andere Salzsäurewerte gefunden. 

Auf Grund ähnlicher, seit Jahren ge¬ 
machter Beobachtungen möchte ich nament¬ 
lich zu therapeutischen Zwecken bei 
manchen subaziden Zuständen, vor¬ 
ausgesetzt, daß die Motilität normal ist, 
eine mechanisch reizendere Kost 
empfehlen. Besonders bewährt hat sich 


mir diese Diät außer in Fällen von nervöser 
Dyspepsie namentlich auch bei Gastritis 
subacida, die mit reichlicher Schleimsekre¬ 
tion im Magen und nicht selten mit Darm- 
atonie einhergeht. Hier wirkt eine grob¬ 
körnige Kost (Grahambrot, rohe undurch- 
getriebene Grütze, Grütze mit Obst, Salate 
usw.) ähnlich wie die von Noordensehe 
Verordnung schlackenreicher Diät bei 
Colitis mucosa. Gewiß handelt es sich bei 
beiden Zuständen nicht immer um Katarrhe 
im engeren Sinne, sondern oft auch um 
Sekretionsneurosen. Die mechanisch grobe 
Kost wirkt dann, ähnlich wie eine Spülung, 
Schleim beseitigend und gleichzeitig er¬ 
regend auf die Drüsentätigkeit. Ich ver¬ 
füge über eine Reihe von Fällen von chro¬ 
nischer Gastritis, die subazid und selbst 
anazid waren und bei Innehaltung strenger 
* reizloser* Magendiät blieben, bei denen 
sich aber bei Anwendung mechanisch 
reizender Kost nach und nach wieder 
normale Säurewerte stellten. 

Als Beispiele für die Wirkung grobkörni¬ 
ger Kost mögen folgende Angaben genügen. 

1. 27 jähriger Kaufmann mit Subazidität, 
reichlicher Schleimbildung im Magen, Obstipa¬ 
tion. Nach gewöhnlichem Probefrühstück (Tee, 
altbackenes Brödchen) fand sich: 

Freie HCl 4. Gesamtazidität 24. 

Nach Probefrühstück bestehend aus Tee und 
Grahambrot: 

Freie HCl 18, Gesamtazidität 28. 

2. 46 jähriger Brauereidirektor, Potatoren- 
gastritis mit sehr reichlichem Schleim morgens 
in der Spülflüssigkeit. 

Gewöhnliches Probefrühstück: 

Freie HCl 20, Gesamtazidität 52. 

Nach Probefrühstück bestehend aus Grütze 
mit Obst: 

Freie HCl 35, Gesamtazidität 92. 

Ausführlichere Untersuchungen sollen 
später veröffentlicht werden. 

Aehnlich verhält es sich häufig mit der 
Probemahlzeit. Fügt man derselben etwas 


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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Juni 


Grahambrot und Salade mit Zitronensäure 
zu, so erhält man nicht selten, wenn auch 
nicht konstant, höhere Werte. 

Ueberhaupt möchte ich hier auf die Be¬ 
deutung der Zitronensäure hin weisen. 
Es gibt eine Menge Menschen mit sub- 
aziden Zuständen, die Salzsäure absolut 
nicht vertragen. Ueber diese Tatsache ist 
wenig bekannt. Bei Flein er 8 ) fand ich 
eine kurze Notiz darüber. Ich lasse dahin¬ 
gestellt, in wie weit es sich hierbei um 
psychisch bedingte Unfähigkeit, Salzsäure 
als Medikament zu vertragen, handelt, oder 
in wie weit eine echte Idiosynkrasie vor¬ 
liegt. Die Tatsache steht jedenfalls fest, 
und es ist falsch, in solchen Fällen, in denen 
der sub- oder anazide Patient Salzsäure 
nicht nehmen kann, diese Tatsache einfach 
als Ausfluß eines hysterisches Zustandes 
zu betrachten. Solche Patienten — man 
denke nur an chlorotische Mädchen mit 
Subazidität, — haben oft einen Heißhunger 
nach sauren Speisen und vertragen meistens 
Fruchtsäure, speziell Zitronensäure in jeder 
Form gut. Ich verwende deshalb bei solchen 
Patienten Zitronensäure geradezu als Ersatz¬ 
mittel für Salzsäure. Füttert man diese 
Kranken ausschließlich mit der üblichen 
„reizlosen“ Magendiät, mit Breikost usw., 
so erreicht man in vielen Fällen nichts, ja 
man hat, um mit von Krehl 4 ) zu sprechen, 
oft den Eindruck, daß es besser wäre, 
wenn der Patient überhaupt nicht behandelt 
würde, als wenn er von dem durch Vor¬ 
urteile beengten Arzt strenge, oft geradezu 
lächerliche Diätvorschriften erhält, die sich 
einfach auf die Tatsache stützen, daß der 
Patient subazid ist 


Gibt man solchen Subaziden morgens 
ein kochsalzhaltiges Wasser zu trinken, so 
riskiert man in vielen Fällen, daß eine Er¬ 
schlaffung des Magens eintritt Ganz anders, 
wenn man gleich morgens nüchtern eine 
sekretionsbefördernde Speise nehmen läßt, 
Grütze mitObst, wie sie besondersBircher- 
Benner 5 ) empfohlen hat,undurchgetriebene 
Grütze, Grahambrot, Tee mit Zitronensaft 
usw., und wenn man der übrigen gemischten 
Magendiät mittags und abends etwas Salade 
zufügt, der mit Zitronensaft versetzt ist. Auch 
hier gilt es: naturam si sequemur ducem, non 
aberrabimus. Die Gewohnheit der Englän¬ 
der, in der Frühe ihr kräftiges Porridge zu 
essen, hat sicherlich etwas für sich. 

Besonders empfohlen sei zu therapeuti¬ 
schen Zwecken die Kombination einer 
mechanisch reizenden Kost mit Zu¬ 
gabe von Zitronensaft. Auch als Probe¬ 
frühstück oder Probemahlzeit kann diese 
Kombination (z. B. Tee mit Zitronensaft 
und Grahambrot) in Frage kommen, wenig¬ 
stens zur Bestimmung der Werte freier HCl. 

Daß sich diese Diät naturgemäß nicht 
für alle Fälle von Subazidität eignet, und 
daß man dabei auf die Motilität des Magens 
achten und diagnostische Irrtümer, be¬ 
sonders Ulcus ventriculi, vermeiden muß, 
ist selbstverständlich. 

Literatur: 

1) Bickel, A., Grundlagen der Diätetik bei 
Veraauungskrankheiten. Med. Klinik 1910, Nr. 12. 
— 2) Curschmann, H., Verhandlungen des 
Kongr. f. innere Med. 1910. — 3) Fl einer, 
Magenkrankheiten 1896. — 4) v. Krehl, Grund¬ 
sätze der Ernährungsbehandlung. Ztschr. f. 
ärztl. Fortbild. 1909, Nr. 17. — 5) Bircher- 
Benner, Ernährungstherapie 1909. 


Die Größe der Bläschen im Ozetbade und im Kohlensäurebade. 

Von Dr. L. Sar&SOn, Berlin. 


Unter Ozetbädern werden nach meinem 
Vorschläge bekanntlich die auf chemischem 
Wege durch Katalyse von Wasserstoff¬ 
superoxyd enthaltendem Wasser erzeugten 
moussierenden Sauerstoffbäder verstanden, 
im Gegensatz zu den sogenannten Perl¬ 
bädern, denen atmosphärischer Sauerstoff 
von außen zugeführt wird, und meinen 
Hydroxbädern, die auf elektrolytischer Zer¬ 
legung des Wassers beruhen. 1 ) 

Bereits in der ersten Mitteilung über 
das Ozetbad 2 ) wies ich daraufhin, daß die 
in ihm enthaltenen Gasbläschen zirka 3 bis 
5 mal kleiner seien als die in Kohlensäure¬ 
bädern auftretenden Bläschen, daß somit 
die Ozetgasbürste eine wesentlich feinere 
sei als die Kohlensäuregasbürste. Unter 

*) Berl. klin. Wochschr. 1907, 4. 

a ) Deutsch, mediz. Wochenschr. 1904, 45. 


den zahlreichen Autoren, die sich in der 
Folge mit meinem Ozetbade beschäftigt 
und meine Beobachtung bestätigt haben, 
scheint Uebereinstimmung darin zu be¬ 
stehen, daß der geringere Durchmesser 
der Ozetgasbläschen gegenüber den COg- 
Bläschen für die physiologische Wirkung 
der Bäder wesentlich mit in Betracht 
kommt. 

Um so mehr dürften die Resultate einer 
vergleichenden, direkten Messung des Durch¬ 
messers der Ozetbläschen einerseits und 
der Kohlensäurebläschen andererseits inter¬ 
essieren. 

Es wurden sowohl aus dem in stärkster 
Tätigkeit befindlichen Ozetbade als auch 
aus einem aus Weinsäure und Bikarbonat 
bereiteten Kohlensäurebade mit Hilfe eines 
flachen, dünnwandigen Glasröhrchens, das 


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Juni 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


287 


senkrecht in die Badeflüssigkeit eingeführt 
wurde, Proben entnommen, das Röhrchen 
sofort horizontal und flach unter ein Mi¬ 
kroskop gebracht und es wurde dann in 
einem mehrfach gewechselten Gesichtsfelde 
die Anzahl und die Größe der Bläschen 
abgelesen. Zur Messung der Größe war 
eine Skala im Mikroskop angebracht, von 
der je ein Teilstrich 0,0255 mm entsprach. 

Beim Ozetbade sind die Beobachtungen 
verhältnismäßig leicht zu machen, da die 
Bläschen zwar sehr zahlreich, aber sehr 
klein und von nahezu derselben Größen¬ 
ordnung sind und weil sie sich während 
der Beobachtungsdauer nicht wesentlich 
verändern. 

Beim Kohlensäurebade dagegen ist ein 
Aufschäumen der Flüssigkeit unter Bildung 
sehr großer Blasen — von mehreren Milli¬ 
metern Größe — ganz zu Anfang nicht zu 
vermeiden. Ferner nehmen die dann unter 
das Mikroskop gebrachten Bläschen sehr 
rasch an Größe zu. Endlich sind die 
Größenunterschiede zwischen den einzelnen 
Bläschen ganz gewaltig, so daß man hier 
sehr auf Schätzungen angewiesen ist Man 
sieht unter dem Mikroskop Blasen, die 
mehr als das ganze Gesichtsfeld einnehmen, 
neben solchen, die nicht größer sind als 
die normalen Ozetbläschen. 

Was die genaue Größe der Bläschen 
betrifft so gelangte man zu folgenden Er¬ 
gebnissen : 

Ozetbad: Es wurden z. B. folgende 
Bläschen gezählt und beobachtet: 

5 mit 2, 5 mit 4, 4 mit 5, 1 mit 7 Teil¬ 
strichgröße, 3 mit 2, 3 mit 3, 4 mit 5 Teil¬ 
strichgröße, 2 mit 1 Vs» 2 mit 3, 4 mit 4, 
1 mit 5, 1 mit 8 Teilstrichgrößen. 

Daraus ergeben sich im Mittel rund 
4 Teilstriche für die einzelne Blase. 4 Teil¬ 
striche entsprechen ziemlich genau 0,1 mm. 

Kohlensäurebad: Aus den vorher 
geschilderten Gründen ist eine genaue 
Messung und Zählung der Bläschen nicht 


möglich gewesen. Man geht aber nicht 
fehl, wenn man die Größe der Kohlen¬ 
säurebläschen im Mittel zu mindestens 
1 mm annimmt; dabei sind die ganz großen 
Blasen gar nicht berücksichtigt. 

Mit diesen Zahlen kann man ganz inter¬ 
essante Rechnungen aufmachen. Da die 
Ozetsauerstoffbläschen also den zehnten 
Teil (nicht, wie früher von mir geschätzt, 
den dritten bis fünften Teil) des Durch¬ 
messers von dem der Kohlensäurebläschen 
aufweisen, so ist die von ihnen beanspruchte 
Fläche also nur ein Hundertstel und ihr 
Volumen nur ein Tausendstel. Auf einer 
gegebenen Oberfläche, z. B. der Haut des 
Badenden, haben also hundertmal soviel 
Ozetbläschen Platz als Kohlensäurebläs¬ 
chen, Vorausgesetz, daß die großen Blasen 
gleich gut haften wie die kleinen, was 
durchaus nicht der Fall ist. Ferner aber 
kann man aus einem gegebenen Gasvolumen 
die tausendfach größere Anzahl Ozetbläs¬ 
chen bekommen als bei der Kohlensäure, 
so daß im Ozetbade die etwa abgestreifte 
Gasdecke sich tausendmal so leicht wieder 
ersetzt als im Kohlensäurebade. Nimmt 
man bei beiden Bädern eine gleiche Gas¬ 
menge von 25 Litern pro Vollbad an im 
Zustande der Uebersättigung, so würden 
sich in einem solchen Kohlensäurebade, 
falls keine großen Schaumblasen auftreten, 
50 Millionen Bläschen bilden können, beim 
Ozetbad aber 50 Milliarden feiner Bläschen. 

Physikalisch erklärt sich der Größen¬ 
unterschied beider Bläschenarten, die im 
Augenblick der Entstehung gleiche Größe 
besitzen, zum Teil dadurch, daß im Kohlen¬ 
säurebade neben dem Zustande der Ueber¬ 
sättigung ein stärkerer Gehalt des Wassers 
an gelösten Gasen vorhanden ist als im 
Ozetbade, daß also die Kohlensäurebläs¬ 
chen durch stärkere Diffusion aus der gas¬ 
reicheren Flüssigkeit rascher wachsen als 
die in einer gasärmeren Flüssigkeit befind¬ 
lichen Ozetbläschen. 


Ist die Ausdrucksweise „angeborene Hartleibigkeit“ eine richtige 

Bezeichnungs weise ? 

Von Dr. med. Roger Baron Budberg-Charbin (China). 


Welchem Arzt haben nicht Mütter ihr 
Leid vorgeklagt, daß ihre Kinder von Ge¬ 
burt an Obstipation litten, ja daß ohne ein 
Klysma sie nie einen guten Stuhl hätten? 

Gerade in bessern Ständen und unter 
kultivierten Völkern hört man solche 
Klagen, während wir habitueller Obstipa¬ 
tion der Kinder bei Völkern, die näher 
der Natur stehen, kaum je begegnen. Wer 
Völker und ihre Gewohnheiten zu beob¬ 
achten Gelegenheit hatte, der wird mir 


hierin gewiß beistimmen und hinter die 
Redensart „angeborene Hartleibigkeit 41 ein 
berechtigtes Fragezeichen stellen! 

Es gibt kaum ein anderes Organ des 
menschlichen Körpers, das sich so prompt 
an regelmäßige Funktionen gewöhnen läßt, 
als der Darm, ebenso leicht aber auch 
wird er aus der Ordnung gebracht, wenn 
man Pünktlichkeit in seiner Entleerung 
vernachlässigt. Das sind ja allgemein be¬ 
kannte Dinge. Naturvölker sind überzeugt 


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288 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Juni 


von der Wichtigkeit, daß ihre Kinder eine 
geregelte Entleerung haben und sie kennen 
die Bedingungen, durch die sich solches 
erreichen läßt. Auffallend gleichartig sind 
die wesentlichsten Prinzipien bei den ver¬ 
schiedenen Völkern, durch die sie die 
regelmäßige Darmfunktion erhalten. Mor¬ 
gens mit dem Aufstehen wird bereits das 
Neugeborene zur Stuhlentleerung aufge- 
gefordert. Zu diesem Zweck bringt die 
Mutter das Kind in eine sitzende Lage, 
indem sie mit beiden Händen die Ober¬ 
schenkel des Kindes von unten her erfaßt, 
gegen den Leib des Kindes preßt, wobei 
als Gegenstütze von seiten des kindlichen 
Rückens, je nach der Größe des Kindes, 
die Daumen der Mutter, ihre Knie oder 
ihre Brust dient. Solch eine Lage veran¬ 
laßt unwillkürlich das Kind zu Anspannung 
der Bauchpresse. Solches unterstützt die 
Mutter durch Hervorbringen irgendwelcher 
monotoner Töne, sei es durch Pfeifen oder 
Laute wie „ä, ä a , „ps, ps“, was Zerstreu¬ 
ungen vorbeugt und die Gewöhnung er¬ 
leichtert. Die Methode, statt dessen das 
Kind zu schrecken durch Rufen von Tieren 
oder Personen, die das Kind fürchtet, wie 
ich solches dazwischen zu beobachten Ge¬ 
legenheit hatte, erscheint natürlich nicht 
zweckmäßig, obwohl auch hier das Kind, 
durch diese Anregung seiner Phantasie, 
die Atmung voll Spannung hemmt und 
kräftiger preßt. 

Der Erfolg, der durch Regelmäßigkeit 
und Einnehmen dieser Position zu erreichen 
ist, springt in die Augen. Kinder von 
3—4 Monaten, die in die Windeln, selbst 
ihr großes Bedürfnis, machen, sind ja im 
kultivierten Europa etwas gewöhnliches, 
nicht aber in China und Japan bei guten 
Müttern. In der geschilderten Lage ent¬ 
leert das Kind indessen nicht nur seinen 
Darm, sondern auch seine Blase, und 
mancher Europäer wundert sich, daß in 
guter Familie bei Chinesen und Japanern 
erst 2 Monat alte Kinder auch nicht ein¬ 
mal ihre Windeln naß machen. So etwas 
zu erlangen ist indessen in geschilderter 
Weise nicht so schwer, es bedarf nur 
einiger Beobachtungsgabe und der Regel¬ 
mäßigkeit, zu der das ganz kleine Kind 
anzuerziehen ist. 


Auch beobachten wir hier eine Methode 
der Bauchmassage und allgemeiner Muskel¬ 
gymnastik, die von nicht geringem Einfluß 
auf die Entwicklung des Kindes ist. Das 
Kind wird mit dem Bauche auf die Hand¬ 
fläche so gelegt, daß diese quer über den 
Leib unterhalb der Rippenbögen sich flach 
erstreckt, während Daumen einerseits und 
Fingerspitzen andererseits in die Flanken 
zu liegen kommen. Die andere Hand 
stützt, den Steiß und die Hüften umfassend, 
das Kind in der halbhorizontalen Lage. 



Das Kind wünscht dabei fest gefaßt zu 
sein, ist dieses der Fall, dann ist ihm keine 
Lage angenehmer, als die geschilderte. 
Es setzt seine Hals-, Nacken-, Rücken- und 
Bauchmuskeln ins Spiel, und so mancher 
ist erstaunt, wie ein boshaft schreiendes 
Kind, durch diese Lage allein, sofort zu 
besänftigen ist, während sein ganzes Be¬ 
nehmen völlige Zufriedenheit ausdrückt 
Es springt uns in die Augen, daß unter 
chinesischen Kindern wir kaum je Rachitis 
finden, und nur sehr selten sehen wir selbst 
bei den ärmsten Leuten anämische und 
elende Kinder, die meisten sind derartig 
bausbackig, daß sie bei uns als Pracht¬ 
kinder bezeichnet würden. So etwas läßt 
sich gewiß in erster Reihe der kräftigen 
gelben Rasse zuschreiben, auch der mehr 
vegetabilen Kost der stillenden Mütter, 
nicht aber an letzter Stelle auch dem 
Prinzip, von Geburt an das Kind an regel¬ 
mäßige Darmfunktion zu gewöhnen. 


INHALT: Nachruf für Robert Koch S. 241. — Leube, Tenazität der Zelltätigkeit 
S. 241.— Forlanini, Pneumothorax S. 245. — Weiland und Sandelowsky, Desmoidreaktion 
S. 255. — Unna, Klystierersatz-Therapie S. 261. — Axisa, Dysenterie S. 263. — Porten. Veronal 
bei Delirium S. 270. — Ritter, Bügeleisen bei Erysipel S. 271. — Muskat, Gangstockung S. 273. 
— Roemheld, Subazidität S. 285. — Sarason, Ozetbäder S. 286. — Budberg, Hartleibigkeit 
S. 287. — Bücherbesprechungen S. 276. — Referate S. 278. 

Für die Redaktion verantwortlich Prof. Dr. G. Klempererin Berlin. Verlag von Urban&Sch warzenberg in Wien u. Berlin. 
Druck von Julius Sittenfeld, Hofhuclidiuckcr., in BerlinW.8. 


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Die Therapie der Gegenwart 


1910 


herausgegeben von Prof. Dr. G. Klemperer 

In Berlin. 


Juli 


Nachdruck verboten. 

Ueber die Behandlung des Diabetes mellitus bei Kindern. 

Von Dr. Marius Lauritzen, Kopenhagen. 


Bevor ich mit meinem Gegenstand, der 
Diabetestherapie bei Kindern, beginne, muß 
ich einige Bemerkungen Ober die Diagnose 
und Prognose machen. Eigentlich ist es 
nur die frühe Diagnose, die schwierig sein 
und Erwähnung fordern kann; denn in den 
Fällen, wo ausgesprochene diabetische Sym¬ 
ptome bestehen, ist ja die Diagnose klar. 
Wenn im Anschluß an eine akute Krank¬ 
heit oder durch Zufall eine schwache Gly- 
kosurie entdeckt wird, muß man entscheiden, 
ob man einem beginnenden Diabetes gegen¬ 
übersteht 1 ). Wie beim Erwachsenen ist in 
solchem Falle eine Funktionsprüfung nötig 
und die Probemahlzeit, die ich bei größeren 
Kindern anwende, besteht aus 30—50 g 
Reis (mit Wasser gekocht), 25 g Fisch, 
100—200 g Kartoffeln, 25—75 g Brot, je 
nach dem Alter des Kindes. Der Urin 
wird die nächsten vier Stunden nach der 
Mahlzeit gesammelt und analysiert. Tritt 
nach einer solchen Funktionsprüfung eine 
ausgesprochene Vermehrung der Glykos- 
urie ein, so halte ich es für notwendig, mit 
einer antidiabetischen Behandlung zu be¬ 
ginnen. Es muß unsere Aufgabe sein, 
die Diagnose so zeitig wie möglich zu 
stellen. In Familien mit Diabetes oder 
Stoffwechselkrankheiten die in näherer 
Relation zur Zuckerkrankheit stehen, muß 
der Urin der Kinder häufig auf Glykose 
untersucht werden, und finden sich redu¬ 
zierende Stoffe im Urin, muß man die 
Probemahlzeit benutzen, um eine möglichst 
exakte Diagnose zu erhalten. Bei Kindern 
mit Akne, Furunkeln. Pruritus, Ekzem, 
Psoriasis und anderen Hautaffektionen muß 
man auf seiner Hut sein und auf Glykos- 
urie untersuchen. Nur, wenn man die 
Krankheit in ihrem ersten Stadium ent¬ 
deckt, kann man eine wesentliche Besse¬ 
rung der Prognose oder eventuell eine Hei¬ 
lung erhoffen. 

Die Prognose kann nämlich bei Kindern 
mit leichten diabetischen Glykosurien gut 
sein, wenn sie in einem frühen Stadium 
entdeckt werden. Das zeigen die bekannten 

l ) In bezug auf die Differentialdiagnose zwischen 
Glykosurie und anderen Zuckerarten im Urin mochte 
ich mir gestatten, auf meine Abhandlung Ober diesen 
Gegenstand in Ugeskrift for Laeger 1908 und Nordisk 
Tidsskrift for Terapi 1908 hinzuweisen. 

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Fälle von Richard Schmitz. Bei einem 
4jährigen und einem 15jährigen Kind aus 
einer diabetischen Familie wies Schmitz 
in einem frühen Stadium 5,8 bzw. 3% 
Zucker im Urin nach, und eine energische 
diätetische Behandlung brachte beiden Kin¬ 
dern «Heilung, v. Noorden hat einen ähn¬ 
lichen Fall. In den mittelschweren und 
schweren Fällen, wo die Assimilation ge¬ 
ring oder äußerst gering ist, und wo daher 
ein schwächere oder stärkere Azidose be¬ 
steht, ist die Prognose schlecht. Die aus¬ 
gesprochene Neigung zur Azidose oder 
Ketonurie im Kindesalter ist (ebenso wie 
bei ganz jungen Menschen) eine sehr 
wesentliche Ursache der schlechten Pro¬ 
gnose des Diabetes bei Kindern. 

In nachstehender Tabelle finden sich 
27 Fälle von Diabetes mellitus bei Kindern, 
die ich in der Privatpraxis und auch in 
meiner Klinik zu sehen Gelegenheit hatte. 

Es sind 15 Mädchen und 12 Knaben. Das 
ist das gewöhnliche Verhältnis, daß die 
Krankheit sich ebenso häufig bei Mädchen 
wie bei Knaben findet im Gegensatz zu 
dem, was wir bei Erwachsenen finden, wo 
alle Autoren die weit größere Häufigkeit 
beim Manne hervorheben. In 7 Fällen 
konnte Heredität nachgewiesen werden, 
also bei einer verhältnismäßig geringen 
Zahl. Auch v. Noorden meint, daß die 
Heredität weit geringer bei Kindern als 
bei Erwachsenen ausgesprochen ist 

Traumen (Gehirnerschütterung) als ur¬ 
sächliches Moment habe ich in keinem 
meiner Fälle nachweisen können. Nur in 
einem einzigen Fall war es mir möglich, 
eine sogenannte Gelegenheitsursache zu 
vermuten, die in der Tabelle angeführt ist. 

Die Autopsie wurde in keinem Falle vor¬ 
genommen. Sichere Zeichen eines Pankreas¬ 
leidens fand sich bei keinem dieser Kinder. 

Der Grad der Glykosurie — leicht, 
mittelschwer und schwer — der in der 
Tabelle angeführt ist, gilt für die erste 
Untersuchung des Patienten. Ich habe im 
wesentlichen v. Noordens Einteilungsprin¬ 
zip gebraucht: 

Leichte diabetische Glykosurie bei 
Kindern. 

Der Zucker schwindet sehr schnell bei 
kohlehydratarmer Diät Urin-N (als Maß 

37 

Original fram 

UNIVER5ITY 0F CALIFORNIA 




290 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Juli 


Tabelle I. 


Nr. 

1 

Name 

Geschlecht 

Alter 

1 Glykosurie 
bei erster 
Untersuch. 

i Azidose 
bei erster 
Untersuch. 

Here¬ 

dität 

Gelegenheits¬ 

ursache 

Dauer 

i 

1 1 

A. S. 

Knabe 

3 

Jahre 

schwer 

stark 



1 Jahr 

2 

! P. H. 

Knabe 

8 

II 

mittel 

mittel 

Ja 

Verbrennung 

U/i Jahr 

3 

A. P. 

Knabe 

13 

ff 

mittel 

mittel 


Vakzination 

| 17s Jahr 

4 

N. K. 

Mädchen 

2 

ff 

schwer 

stark 

Ja 


3 Monate 

5 

M. J. 

Mädchen 

7 

ff 

schwer 

stark 


Keuchhusten 

7 Monate 

6 

C. T. 

Knabe 

15 

ff 

schwer 

mittel 

Ja 


8 Monate 

7 

B. B. 

Mädchen 

10 

ff 

leicht 

0 

Ja 


4 Jahre 

8 

G. S. 

Mädchen 

14 

ff 

mittel 

schwach 

Ja 

1 

2*/ 4 Jahre 

9 

A. N. 

Knabe 

13 

ff 

mittel 

mittel 



1 Jahr 

10 

A. T. 

Knabe 

8 

Monate 

schwer 

stark 


1 

3 Monate 

11 

H. L. 

Knabe 

4 

Jahre 

mittel 

mittel 



I 8 /* Jahre 

12 

R. B. 

Mädchen 

11 

f$ 

schwer 

stark 

Ja 

i 

1 

1 fahr 

13 

E. B. 

Mädchen 

5 

ff 

mittel 

mittel 


1 

1 Jahr 

14 

P. J- 

Knabe 

15 

ff 

mittel 

mittel 



1 Jahr 

15 

B. W. 

Mädchen 

5 

ff 

schwer 

mittel 



2 Jahre 

16 

M. A. 

Mädchen 

13 

w 

leicht 

0 

1 

1 

Von Jan. 1907. Lebt. 

17 

K. R. 

Mädchen 

12 

ff 

mittel 

schwach 



VonMärzI 907. Lebt. 

18 

P. H. 

Knabe 

4 

ff 

mittel 

mittel 



2V 4 Jahre 

19 

K. K. 

Mädchen 

4 

ff 

mittel 

schwach 

Ja 


Von Jan. 1907. Lebt. 

20 

E. K. 

Mädchen 

3 

ff 

mittel 

schwach 



1 Jahr 

21 

F. C. 

Mädchen 

13 

ff 

schwer 

stark 



4 Monate 

22 

J. W. 

Knabe 

14 

Monate 

schwer 

mittel 



2 Monate 

23 

E. O. 

Mädchen 

10 

Jahre 

mittel 

schwach 


Herpes zoster 

Von Nov.1908. Lebt. 

24 

E. P. 

Knabe 

6 

ff 

mittel 

schwach 



Von Aug.1909. Lebt. 

25 

M. N. 

Mädchen 

8 

ff 

mittel 

stark 



Von Juni 1909. Lebt. 

26 

B. G. 

Mädchen 

14 

ff 

mittel 

schwach 


Icterus simpl. 

Von Okt. 1908. Lebt. 

27 

K. V. 

Knabe 

14 

ff 

mittel 

mittel 


1 

VonAprill 909.Lebt. 


des Eiweißumsatzes) darf dabei nicht 13 bis 
15 g bei größeren Kindern übersteigen. 
Danach wird längere Zeit hindurch Zulage 
von 30—50 g Kohlehydrate ertragen. 

Mittelschwere diabetische Glykos- 
urie bei Kindern. 

Der Zucker schwindet erst bei einer 
kohlehydratarmen Diät, bei der die Eiwei߬ 
menge so gering ist, daß das N des Urins 
unter 13 g sinkt, aber größer als 7 g ist. 
Die Toleranz für Eiweiß und Kohlehydrat¬ 
zulage kann sich bessern. 

Schwere diabetische Glykosurie bei 
Kindern. 

Der Zucker schwindet bei starker Ein¬ 
schränkung der N* Zufuhr nicht ganz, oder 
nur, wenn der N-Gehalt dauernd unter 7 g 
sinkt. 

Bei der Behandlung des Diabetes melli¬ 
tus bei Kindern ist die diätetische Therapie 
die wichtigste, aber, um das bestmögliche 
Resultat zu erreichen, muß die Diätbehand- 
iung mit anderen wichtigen therapeutischen 
Faktoren vereinigt werden. 

Im Beginn der Kur ist demnach Bett¬ 
ruhe nötig, besonders in den mittelschweren 
und [schweren Fällen. Es gilt, dem dia¬ 
betischen Kind geistige und körperliche 
Ruhe und möglichst geringen Stoffumsatz 
zu verschaffen. So lange die Bettruhe 
dauert, ist es in vielen Fällen am besten, 
Körpermassage zu verabfolgen. Wenn die 


Glykosurie beseitigt ist, sind Spaziergänge 
in frischer Luft am Platze. Erst kleinere, 
später längere Touren ein- oder zweimal 
täglich. Selbstverständlich müssen die 
Magen- und Darmfunktionen reguliert 
werden. Medikamente wird man nur bei 
Behandlung von Komplikationen gebrauchen, 
nur die Alkalitherapie, die später besprochen 
werden soll, ist ein sehr wichtiger Punkt 
der Behandlung. 

Zum Verständnis der modernen diäte¬ 
tischen Diabetestherapie ist es notwendig, 
sich der Hauptpunkte der Untersuchungen 
zu erinnern, die diese Therapie geschaffen 
haben und besonders bei den Resultaten 
zu verweilen» die für die Behandlung des 
Diabetes bei Kindern Bedeutung haben. 

Bekanntlich wurde die diätetische Dia¬ 
betestherapie von Rollo begründet, und 
seine Diät (Fleisch, Fettstoffe, U /2 1 Milch, 
etwas Butterbrot) wurde benutzt, fast bis 
Claude Bernards und Bouchardats 
Arbeiten die Diät modifizierten. (Die Milch 
wurde aus der Diät gestrichen. Es wurde 
vor großen Fleischrationen gewarnt, und 
die kohlehydratarmen Gemüse und Früchte 
wurden in die Diät eingeführt) Die meisten 
folgten Bouchardats Vorschriften, nur 
Cantani verlangte absolut strenge Diät 
(Fleisch, Schinken, Fisch, Eier, Bouillon) 
mehrere Monate hindurch und dann lang¬ 
samer Uebergang zu mehr gemischter Diät, 
Der Engländer Donkin (1875) riet zu ab- 


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Juli 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


291 


soluter Milchdiät (Magermilch) 6 Wochen 
hindurch, und dann Zugabe von magerem 
Fleisch, Gemüse, Bouillon und dies Mo¬ 
nate lang. 

Diese verschiedenen Diätformen wurden 
fast bis auf unsere Tage angewendet, nur 
lernte man im Lauf der Zeit individuali¬ 
sieren, so daß man wußte, wo die eine oder 
andere Diätform am besten paßte. 

Die moderne Diabetestherapie ist dabei 
nicht stehen geblieben, sondern hat sich 
neue Formen geschaffen, die teils auf Er¬ 
fahrungen der alten Autoren gebaut waren, 
teils auf die zahlreichen klinischen, experi¬ 
mentellen und chemischen Untersuchungen, 
die seit den achtziger Jahren des vorigen 
Jahrhunderts bis zu unseren Tagen vor¬ 
genommen sind. Die deutschen Schulen 
haben hier an der Spitze gestanden (Külz, 
Naunyn und v.Noorden und ihre Schüler), 
v. Merings und Minkowskis epoche¬ 
machende Arbeiten über die Bedeutung 
des Pankreas für Pathogenese und Patho¬ 
logie sind die Einleitung zu einem inten¬ 
siven Studium des Diabetes, das der The¬ 
rapie dieser Krankheit große Vorteile ge¬ 
bracht hat. 

Die zwei Fragen, deren Klarstellung der 
Therapie am meisten genutzt hat, sind: 
1. Das Verhältnis des Eiweißumsatzes zur 
Glykosurie und 2. die Entstehung und Vor¬ 
beugung der Azidose (der diabetischen 
Autointoxikation). Es war auf Naunyns 
Klinik (die Weintraudsehen Untersuchun¬ 
gen) die Frage des Verhältnisses des 
Eiweißumsatzes zur Glykosurie 1 ) gründlich 
untersucht worden, und das praktische Re¬ 
sultat dieser Untersuchungen war die Ein¬ 
führung der eiweißarmen Diät und die Er¬ 
kenntnis, daß man ohne Schaden die Dia¬ 
betiker lange Zeit mit einer solchen Diät 
behandeln kann, die fast frei von Kohle¬ 
hydraten ist und weit weniger Eiweiß ent¬ 
hält, als man früher in der antidiabetischen 
Diät brauchte. Mit dieser Behandlung glückte 
es, den Urin bei Patienten zuckerfrei zu 
machen, bei denen man es früher nicht für 
möglich gehalten hätte, das Körpergewicht 
nahm zu, das N-Gleichgewicht blieb bestehen 
und der Stoffumsatz war wie bei normalen 
Menschen. In einzelnen Fällen mußte die 
Eiweißmenge in der Kost minimal werden, 
um die letzten Zuckerspuren zu entfernen. 
Naunyn benutzte hierzu „Hungertage*, 
v. Noorden brauchte die sogenannten 
„ Gemüsetage “, die später besprochen wer¬ 
den sollen. Die Behandlung mit einer 

*) In Dänemark ist dies in meiner Doktordisser¬ 
tation behandelt worden. 

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solchen Diät kann innerhalb weniger Wochen 
die Assimilation des Patienten für Kohle¬ 
hydrate und Eiweißzucker bessern, so daß 
die Toleranz steigt. Naunyn hat neben¬ 
bei das Verdienst, zuerst betont zu haben, 
wie wichtig es ist, den Gesamtstoffumsatz 
so klein wie möglich zu machen; es gilt 
nicht nur die für den Zuckerumsatz in¬ 
suffizienten Organe, sondern alle Zellen zu 
schonen. Dies wichtige therapeutische 
Moment hat auch Weintraud und später 
K oh lisch befürwortet. 

Gleichzeitig will ich auf den Einfluß der 
verschiedenen Eiweißstofie auf die Glykos¬ 
urie aufmerksam machen, wo zahlreiche 
Untersucher gezeigt haben (Th er man, 
Lütje, v. Noorden, Mohr, Falta und 
Gigou), daß nur in den Fällen, wo die 
Glykosurie verhältnismäßig gering ist, ein 
deutlicher Unterschied besteht, aber nicht 
in den schweren Fällen. Das Milcheiweiß 
und das Fleisch wirkt stärker auf die 
Glykosurie als das Hühnereiweiß; das 
Pflanzeneiweiß steht ungefähr in der Mitte. 

Aber wie gesagt — das Wichtigste für 
die Zusammensetzung der strengen Diät 
ist, daß die Gesamteiweißmenge in jedem 
Fall so abgepaßt wird, daß der Urin zucker¬ 
frei gehalten werden kann und daß die 
Gesamtkostration nicht größer als notwen¬ 
dig gemacht wird. Wo es mit dieser Diät 
oder der Haferkur, die später besprochen 
werden soll, nicht glückt, den Urin zucker¬ 
frei zu machen, muß man die strenge kohle- 
hydrat- und eiweißarme Diät verlassen und 
eine weniger strenge Diät geben; man muß 
jedoch ständig dafür sorgen, daß die Kost¬ 
ration nicht unnötig groß wird. 

Bevor wir die Frage des Verhältnisses 
des Eiweißumsatzes zur Glykosurie ver¬ 
lassen, muß ich ganz kurz erwähnen, daß 
der Vergleich zwischen Kohlehydrat- und 
Eiweißeinwirkung auf die Zuckeraüsschei- 
dung (v. Noordens Schüler Falta, Gigou 
u. a.) Resultate gegeben hat, die von prak¬ 
tischer Bedeutung sein können; in den 
leichteren Fällen macht die Zulage von 
Kohlehydraten meistens stärkere Glykos¬ 
urie als die Zulage von Eiweiß, in schwereren 
Fällen erweist die Zulage von Eiweiß eine 
verhältnismäßig weit stärkere Steigerung 
des Zuckers als die Kohlehydratzulage. 
Auch im Substitutionsversuch kann der 
Ausscheidungskoeffizient in den eiwei߬ 
reichen Perioden höher liegen als in den 
kohlehydratreichen. Der Koeffizient (Q) 
wird hier nach folgender Formel berechnet: 

^ D 100 • 

Q ~5N + K, 

wobei D = ausgeschiedenem Zucker, N = 

37* 

Original from 

UNIVERSUM 0F CALIFORNIA 



292 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Jul» 


N im Urin 1 ), K = zugeführte Kohle¬ 
hydrate ist. 

Die zweite Frage, die Entstehung und 
Bekämpfung der Azidose, ist in den letzten 
Dezennien durch zahlreiche Untersuchungen 
soweit klargelegt, daß die moderne Dia¬ 
betestherapie große Vorteile daraus gezogen 
hat, und besonders bei der Behandlung des 
Diabetes bei Kindern, wo erfahrungsgemäß 
rasch stärkere Ketonurie als bei Erwachse¬ 
nen auftritt (Ausscheidung von Ketonen: 
Azeton, Azetessigsäure und ß • Oxybutter- 
säure), spielt die Bekämpfung der Azidose 
eine sehr große Rolle. Die Ketonurie ent¬ 
steht ja bekanntlich dadurch, daß die Kohle¬ 
hydrate dem intermediären Stoffwechsel 
entzogen werden. Gesunde Menschen be¬ 
kommen auch Ketonurie, wenn sie eine Ei¬ 
weiß- und Fettkost erhalten oder wenn sie 
hungern. Kinder bekommen, wie erwähnt, 
schneller und stärker Ketonurie als Er¬ 
wachsene, junge Menschen leichter als alte. 
Die Diabetiker, die auf Eiweiß- und Fett¬ 
diät sind, bekommen stärkere Ketonurie 
als die Gesunden, weil bei den Diabetikern 
eine größere oder geringere Menge ihres 
Eiweißzuckers in den Urin übergeht und 
dem Stoffwechsel entzogen wird. 

Es ist wichtig, den Grad der Ketonurie 
zu kennen, da diese zur Beurteilung der 
Stärke der Säureintoxikation beitragen kann, 
die eine große Rolle für die Prognose und 
Behandlung des Falles spielt. Man kann 
hier verschiedene Wege gehen. Eine 
quantitative Bestimmung des Azetons + 
Azetessigsäure und Oxybuttersäure klärt 
uns über den Grad der Ketonurie auf, aber 
da diese Bestimmungen lange Zeit in An¬ 
spruch nehmen und ziemlich umständlich 
sind, eignen sie sich für klinische Zwecke 
nicht. Hier ist es notwendig, sich täglich 
und früh am Tage ein sicheres Urteil 
über die Größe der Ketonurie zu ver¬ 
schaffen, denn Aenderungen in der Zu¬ 
sammensetzung der Diät können mit einiger 
Sicherheit nur vorgenommen werden, wenn 
man den Grad der Azidose kennt. Eine 
solche leicht anwendbare klinische Methode 
ist kürzlich von Björn Andersen und 
mir veröffentlicht 3 ). Hier bestimmt man 
durch Titrierung die Totalazidität und Am¬ 
moniakmenge des Urins. Diese zwei Werte 

*) Die Untersuchungen in schweren Fällen von 
Diabetes haben es wahrscheinlich gemacht, daß die 
größtmöglichste Zuclcerbilduog aus Eiweiß bei Menschen 
derart ist, daß 5 g Traubenzucker aus 1 g N ent¬ 
stehen. 

3 ) Ueber Säure- und Ammoniakbestimmung im 
Urin und ihre klinische Anwendung (vgl. Hoppe- 
Seylers Zeitschr. f. phys. Chemie, Bd. 64, Heft I, 
1910). 

□ igitized by Google 


haben einen parallelen Verlauf und sind ein 
guter Wegzeiger für die täglichen Schwan¬ 
kungen der Azidose (vgl. die umstehenden 
Tabellen). 

In bezug auf die Bildung der Azidose¬ 
stoffe wissen wir nun, daß ihre Muttersub¬ 
stanzen Fett- und Eiweißstoffe sind, während 
die Kohlehydrate und der Eiweißzucker, 
der im Organismus umgesetzt wird, der 
Bildung der Azidosestoffe entgegenarbeitet. 
Daher muß man in der Diät, wo wir das 
Fett nicht entbehren können, zu große 
Fettrationen vermeiden und dafür sorgen, 
daß die Eiweißmenge nicht zu reichlich ist, 
solange die Toleranz des Diabetikers für 
Eiweißzucker gering ist. Haben wir erst 
die Toleranz durch eine schonende diäte¬ 
tische Behandlung verbessert, dann wird 
der vermehrte Umsatz von Eiweißzucker 
der Bildung von Azidosestoffen entgegen¬ 
wirken, d. h. antiketoplastisch wirken. 

Die Kohlehydrate, die umgesetzt werden, 
wirken stark antiketoplastisch. Wie wir 
sehen werden, hat die Haferstärke oft eine 
sehr stark antiketoplastische Wirkung. Lä- 
vulose und Mannit können manchmal eben¬ 
so wirken. Glyzerin gleichfalls, aber da 
dies den Zucker im Urin vermehren und 
vielleicht die Nieren reizen kann, ist es 
zweifelhaft, ob es angewendet werden darf. 

Außer der Bekämpfung der Azidose¬ 
stoffbildung kann es auch notwendig sein, 
die Anhäufung dieser Stoffe im Organismus 
zu verhindern. Hierzu benutzen wir die 
von Stadelmann eingeführte Alkalithe¬ 
rapie. Die pflanzensauren Alkalien und 
Natronbikarbonikum verbinden sich mit den 
organischen Säuren und führen sie leichter 
in den Urin über. Wenn wir keine Alkalien 
geben, gehen die Säuren Verbindungen mit 
dem Ammoniak des Organismus ein, der 
dadurch der Harnstoffbildung entzogen 
wird, und das Resultat kann sein, daß der 
Organismus großer Mengen Alkali beraubt 
wird. Die Zuführung von Alkalien ver¬ 
mindert also die Ammoniakmenge des 
Urins. 

In bezug auf den Einfluß der Fettstoffe 
und der verschiedenen Kohlehydrate auf 
die Glykosurie liegen aus denUntersuchungen 
der neueren und neuesten Zeit Erfahrungen 
vor, die für die Therapie von praktischer 
Bedeutung sind. Einige von ihnen sind 
minder wichtig, andere aber haben eine 
eminente Bedeutung für die Diätetik der 
schwereren Fälle von Diabetes gehabt. 

Die Fettstoffe vermehren in der Regel die 
Glykosurie nicht. Nur in einzelnen Fällen 
zeigte sich in eiweißarmen und sehr fett¬ 
reichen Versuchsperioden eine Vermehrung 

Original fram 

UNIVERSITY OF CALIFORNIA 





Juli 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


293 


des Zuckers im Urin (Hesse, Bernstein, 
Bolaffio und v. Westenrijk). In der 
Praxis spielt das jedoch kaum eine Rolle. 
Es ist wichtig, zu wissen, daß Maltose be¬ 
sonders schlecht ertragen wird, daß Lävu- 
lose manchmal ganz gut ertragen wird und 
daß einzelne Diabetiker eine ausgesprochene 
Intoleranz gegen Milchzucker haben, so 
daß selbst ganz kleine Portionen Milch 
eine weit stärkere Glykosurie verursachen 
können, als man nach dem Gehalt von 
Milchzucker und Kasein erwarten sollte. 

Von größter Bedeutung ist es, die gün¬ 
stige Wirkung der Haferstärke auf die 
Glykosurie in vielen Fällen von Diabetes 
und besonders bei Kindern zu kennen, 
v. Noordens Mitteilungen im Jahre. 1903 
über die rätselhafte Wirkung der absoluten 
Hafersuppendiät auf die Glykosurie und 
Ketonurie bilden die Grundlage für diese 
neue Behandlungsmethode. Seit der Zeit 
sind zahlreiche Beweise für die heilsame 
und, wie es scheint, spezifische Wirkung der 
Haferkur veröffentlicht (Heubner, Lang¬ 
stein, Ewald und' Siegel, H. Lüthje, 
Weintraud, Umber, Falta und Lampe). 
Schon im Jahre 1905 teilte ich 1 ) in Däne¬ 
mark 9 Fälle mit, die mit dieser Diät be¬ 
handelt waren (darunter ein Kind). Später 
wurde die Anwendung der Haferdiät von 
v. Noorden etwas modifiziert, wodurch 
man eine sicherere Wirkung als früher be¬ 
kommt. Er braucht jetzt einige Tage lang 
strenge eiweißarme Diät, darauf einen Ge- 
roüsetag, dann einige Tage die Haferkur, 
zwei bis drei Gemüsetage, zuletzt wieder 
strenge Diät. Während der Haferkur 
dürfen keine anderen Kohlehydrate und 
kein Fleisch gegeben werden; auch Eier 
können manchmal die günstige Wirkung 
vermindern. 

Für Kinder habe ich folgende Zusammen¬ 
setzung der Diät verwendet: Amerikanische 
Haferflocken (100—200 g), Butter (100 bis 
250 g), 2—6 Eier, 6 g Salz, Tee, Kaffee und 
etwas Rotwein. 

Die Haferflocken können zu Suppe oder 
zu Grütze gekocht werden (mit Butterzu¬ 
satz); die Butter wird der Suppe bei jeder 
Anrichtung zugesetzt, und gleichzeitig wird 
etwas Zitronensaft dazu gegeben, (Roborat 
und Reiseiweiß, das v. Noorden ab und 
zu braucht, habe ich zur Suppe nicht zu¬ 
gesetzt, da die Kinder sie ohne Zusatz 
lieber nehmen und Eier vorziehen.) In 
keinem meiner Fälle bei Kindern trat 
Diarrhoe oder Oedem ein, was, worauf ich 

*) M. Lauritzen, lieber die Anwendung von 
Kohlehydratkuren bei Zuckerkranken. Med. Klinik 
1905. 

□ igitized by Google 


1905 aufmerksam machte, bei Haferdiät 
vielleicht als Folge des reichlichen Salz¬ 
gehalts auftreten kann. Deshalb pflege ich 
die Butter mit Wasser kneten zu lassen, 
bevor sie der Suppe zugesetzt wird, 
v. Noorden meint, daß das Oedem als ein 
„toxisches Oedem" aufgefaßt werden muß, 
und gibt während der Kur den Patienten, 
die beginnendes Oedem zeigen, Theocin. 

Wenn wir nun auf die spezielle Dia¬ 
betestherapie bei Kindern näher eingehen 
sollen, ist es praktisch, die Behandlung der 
1. jungen Kinder im 1. und 2. Lebensjahr 
und 2. größeren Kinder jede für sich zu 
besprechen. 

1. Bei jungen Kindern ist der Verlauf 
in der Regel so rasch und gewaltsam, daß 
keinerlei Aussicht besteht, die Prognose zu 
verbessern. Ich habe in solchen Fällen 
Milchdiät gewählt, aber habe bisher keine 
Buttermilch versucht, wie von Langstein 
empfohlen ist, weil sie weniger fetthaltig 
ist und so günstig auf die Azidose wirken 
kann. 

Bei einem 14monatigen Kinde von 8V2 kg 
brauchte ich eine Milch - Sahne - Wasser¬ 
mischung (mit Abzug der ausgeschiedenen 
Zuckerwerte, 140 Kalorien, repräsentierte 
die Mischung etwa 1000 Kalorien). Es trat 
eine kurzdauernde Besserung des Zustands 
ein, aber da der Fall eine progressive 
Tendenz hatte und die Azidose stark zu¬ 
nahm, trat 2 Monate nach Beginn der Be¬ 
handlung Koma ein. In diesem Fall glückte 
es nicht, die Behandlung mit Hafersuppen¬ 
diät durchzuführen; aber sie mag kürzere 
Zeit hindurch bei Kindern in diesem Alter 
versucht werden. 

2. Bei größeren Kindern, wo sich eine dia¬ 
betische, leichte Glykosurie findet, fährt man 
am besten, wenn man streng zu Werke geht. 

Eine kohlehydratfreie Diät mit mäßigem 
Eiweißgehalt wird mindestens zwei Wochen 
durchgeführt und gleichzeitig wird das 
Körpergewicht und die in der Regel schnell 
auftretende Ketonurie kontrolliert. Danach 
pflege ich zu einer Diät mit Aleuronatbrot 
oder Glutenbrot überzugehen 1 ). Die Diät 
darf nicht mehr als 40—50 g Kohlehydrat 
enthalten. Wenn der Patient nicht einmal 
dies^, ohne Zucker in den Urin zu be¬ 
kommen, verträgt, muß die Kohlehydrat¬ 
menge bis auf die Hälfte oder noch mehr 
eingeschränkt werden. 

*) Eiweiß Fett Kohlehydrate 

Aleuronatbrot. . ca. 20% ca. 6° 0 ca. 20% 
Glutenbrot ... m 25% »5% »17% 

(Leerbeck und 
Holm, Kopen¬ 
hagen). 

Original from 

UNIVERSITY 0F CALIFORNIA 





294 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Juli 


Als Beispiel kann angeführt werden: Glutenbrot = ca. 1300 Kalorien, d. h. 
Ein 4jähriges Kind von 17 kg bekam 50 g 77 Kalorien pro Kilogramm. 

Braten oder Fisch oder Schinken, 25gSpeck, Es ist vorteilhaft, jeden Monat einige 
25 g Käse, 2 Eier, 200 g Gemüse und Tage strenge Diät nach einem Gemüsetag 
zuckerarme Früchte, 50 g Butter, 1 /o Nösel einzuschieben. Sollte sich Zucker zeigen, 
Sahne, 80 g Aleuronatbrot oder 100 g kehrt man sofort zur ganz strengen Diät 

Tabelle II. 


Obs. Nr. 23. E. O., lOjähriges Mädchen. 


Datum 

Kost 

Eiweiß 

Fett 

Kohlehydrate 

Kalorien pro Kilogramm 

Gramm Bicarbonic. natr 

Gramm Zucker im Urin . 

Totalazidität des Urins 
in Aequiv. 

Gramm Ammoniaki. Urin 

Eiscnchloridreaktion im 

Urin 

Reaktion des Urins 

N im Urin 

Körpergewicht in Gramm 

00 

n 

B 

n 

H 

fl 

3 

(N 

o 

9 

17. 3. | 

Gemischte Kost. 




140 — - 




— Pat.*ist zu- 










hause 

18. 3, 

Diät mit Glutenbrot und 










Porterzwieback . . . . 

— — 


— 


— 

_ 

— 

— 

1. 5. 

Diät mit 100 g Aleuronatbrot i 










vom 28. 4. 

92 127 

31 — 

— 

26,5, — 1,96 

mittel 

sauer 

— 

31200, Aufn. auf d. 

4. 5. 

50 g Aleuronatbrot, 50 g 








Klinik 28.4 


Glutenbrot. 

94 127 

29 — 

— 

19.8 — — 

schwach 


— 

32000 

5. 5. 

Gemüsetag. 

42! 94 

27 — 

— 

1,2! — 

» 


— 

32000 

6. 5. 

Diät ohne Brot. 

65 108 

12 — 

— 

1.3 — — 



— 

— 

7. 5. 

Diät ohne Brot. 

71110 

12 — 

— 

5,9, - - 


„ 

— 

— 

8. 5. 

Diät ohne Brot. 

71 110 

12! — 

— 

9,6 — — 



— 

31600 

9. 5. 

Gemüsetag. 

42 94 

27 - 

— 

0 - — 

M 


— 

— 

10. 5. 

Diät ohne Brot. 

71 110 

12 — 

— 

0 — — 



— 

— 

11. 5. 

Diät ohne Brot. 

71110 

12 43*) 

— 

0 — — 



_ 

32000 

12.-15. 5. 

Diät ohne Brot. 

71110 

12 43 

_ 

0 — — 



_ 

32100 

16. 5. 

Diät ohne Brot. 

71 110 

12 43 

— 

1.2 - - 



_ 

32200 

18. 5. 

Gemüsetag. 

42 94 

27 — 

— 

0 — — 

-H 


— 

32100 

19.-22. 5. 

Diät ohne Brot. 

71 110 

12 — 

— 

0 — — 

- 4 - 


_ 

32400 

24. 5. 

Diät mit 50 g Glutenbrot 

_I — 

— — 

— 

0 — — 

- 4 - 

:: 

— 

32500 

28. 5. 

Diät mit 50 g Glutenbrot . 

— — 

— — 

— 

0 - - 



— 

32500 Entlassg.aus 

7.6. — 18.10. 

Diät mit 75 g Glutenbrot, 50g 






„ 


der Klinik 


Früchte. 100 g Sahne . . 

—! — 

— — 

— 

0 - - 

-t- 

,, 


36000 Ist zu Hause 

18. 11. 

Diät mit 75 g Glutenbrot, 50g 










Früchte, 100 g Sahne . . 

—1 — 

— — 

— 

8 I — - 

-4- 

• 

— 

36000 Ist zu Hause 

22. 11. 

? 

_ 

_ _ 

— 

_ _ 

_ 

- 

_ 

— Aufn. auf d. 

23. 11. 

Diät mit 50 g Glutenbrot, 








Klinik 


100 g Sahne. 

84'124 

20 — 

— 

35,8 0,1524)1,78 

mittel 

. 

12,9 

35200 

24. 11. 

Gemüsetag. 

47 129 

32 - 

— 

16,8 0,1654 2,08 

schwach 


11,5 

— 

25. 11. 

Diät ohne Brot. 

71 110 

12 — 

— 

14 ! 0,1445' 1,75 

mittel 


n,o 

— 

26. 11. 

Diät ohne Brot. 

71 110 

12 — 

_ 

20 10,1334:1,58 



12,2 

— 

27. 11. 

Gemüsetag. 

47 129 

32 — 

— 

6,6 0,0959 1,17 

schwach 


7,5 

35800 

28. 11. 

Haferdiät. 

33 158 

92 — 

— 

12,5 0.1088 1,31 



8,8 

— 1 

29. 11. 

Gemüsetag. 

471129 

32 — 

— 

1.2 1 0.1144 1,35 

mittel 


9,3 

_ , 

30. 11. 

Ilaferdiät. 

33 158 

92 — 

— 

2 0,1063 1,23 

schwach 


6.9 


1. 12. 

Gemüsetag.. 

47 129 

32 - 

— 

11.7 - - 

mittel 


8,0 

— 

2. 12. 

Diät ohne Brot. 

71 110 

112 — 

— 

37,8 0,1853 2,12 

stark 


16,2 

— 

3. 12. 

Diät mit 25 g Glutenbrot 

77 111 

16 — 

5 

32 0,19112,23 



15,8 

— Diätübertre- 










tung? 

4. 12. 

Haferdiät. 

22 102 

64 — 

5 

1.1 — - 

schwach 


5,5 

— 

5. 12. 

Haferdiät. 

22102 

64 — 

5 

1,4 — — 



6,0 

— 

6. 12. 

Gemüsetag. 

471129 

132 — 

15 

0 - - 

mittel 


— 

35000 

7. 12. 

Diät ohne Brot. 

61 131 

117 - 

20 

0 — — 


alkal. 

_ 

— Entlassg.aus 










der Klinik 

10. 12. 

Diät mit 25 g Glutenbrot . 

73 137 

21 — 

20 

0 — — 



— 

— 

19. 12. 

! Diät mit 50 g Glutenbrot . 

80 138 

25 — 

15 

0 — — 



_ 

— 

30. 12. 

1 Diät mit 75 g Glutenbrot . 

86 14C 

30 — 

10 

1 0 I — — 

* 

1 l 

— 

36000| 


*) Rubner hat folgende Zahlen (nach Abzug der Verbrennungsvvärme der Fäzes): 



Kinder von 4,03 kg verbrauchen 91,3 Kal. pro Kilogr. 


Kinder von 

23,7 kg vcrbrauc 

ien 

39,5 Kal. pro Kilogr. 

« it 

11.8 „ . 81,5 „ 


n 


» 11 

30.9 „ 

9» 


57,7 „ „ 

- 

16.4 . . 73,9 , 


» 


n » 

40,4 ,, 

19 


52,1 „ . „ 

Dioitized bv O . »ölp 






Original fram 


~- 





UNIVER5ITY OF CALIFORNIA 

































Juli 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


295 


zurück, die 3—4 Wochen durchgeführt 
werden muß. Zeigt sich kein Zucker im 
Urin, muß man mindestens zwei Jahre bei 
der oben angeführten Diät verbleiben. Erst 
dann kann davon die Rede sein, weitere 
Zugabe von kohlehydrathaltiger Nahrung 
zu versuchen, wobei man mit großer Vor¬ 
sicht vorgehen muß und das nur während 
eines Hospitalaufenthaltes. 

In den leichten Fällen besteht eine 
Möglichkeit der Heilung, die man um 
keinen Preis durch zu frühen Uebergang 
zur gemischten Kost verscherzen darf. 
Selbst wenn sich keine Glykosurie zeigt, 
muß man einen solchen Patienten ins 
Hospital zur Revision aufnehmen. Nur auf 
diese Art kann man sich Klarheit über die 
Assimilationsfähigkeit des Kindes verschaffen 
und die quantitative Zusammensetzung der 
Diät nach den Erfahrungen regulieren, die 
man durch genaue Untersuchung der Tole¬ 
ranz und der Neigung zur Ketonurie ge¬ 
winnt. Ich weiß sehr gut, daß diese Forde¬ 
rungen sehr weitgehend sind, und daß die 
Eltern nicht verstehen können, warum ein 
anscheinend gesundes Kind in die Klinik 
aufgenommen werden soll. Aber nach 
meiner Erfahrung ist es der einzige Weg, 
auf dem es möglich ist, das Kind zur Hei¬ 
lung zu führen oder sein Leben so lange 
wie möglich zu verlängern. 

In den mittelschweren Fällen ist oft 
begründete Aussicht, eine bedeutende Besse¬ 
rung der Prognose quoad durationem vitae 
durch eine zweckmäßig geleitete Hospital¬ 
behandlung zu erwarten, die, wohl zu 
merken, in modifizierter Form zuhause in 
den Perioden, wo das Kind nicht auf der 
Klinik ist, fortgesetzt wird. Selbst wenn 
die Azidose ziemlich stark ist, unterlasse 
ich es nie, eine Behandlung mit strenger 
Diät zu versuchen, die nach folgenden 
Prinzipien eingerichtet wird: Unter Bett¬ 
ruhe werden die Eiweißstoffe und Kohle¬ 
hydrate der Kost bei gleichzeitiger Ver¬ 
mehrung der Fettration methodisch einge¬ 
schränkt. Vor jeder neuen Einschränkung 
wird ein sogenannter „Gemüsetag" einge¬ 
schoben. An einem solchen Tag bekommt 
der Patient 400—600 g kohlehydratarme 
Gemüse, auf drei Mahlzeiten verteilt, außer¬ 
dem 2—4 Eier, 50—100 g Speck, 1 Portion 
Bouillon mit Gemüse, Tee, Kaffee ohne 
Sahne, Sodawasser (vgl. Tabelle II). 

Beob. Nr. 23. E. O m 10jähriges Mädchen. 
Die Patientin, in deren Familie kein Diabetes 
besteht, bekam im November 1908 Herpes zoster 
über der rechten Hüfte und hatte im Januar 
1909 einen Furunkel im Gehörgang. Am 
17. März 1909 wurden 7% Traubenzucker im 
Urin nachgewiesen, nachdem sie über Durst 

□ igitized by Google 


geklagt und sich einige Wochen müde gefühlt 
hatte. Aus der Tabelle ersieht man, wie der 
Urin allmählich weniger zuckerhaltig wurde, 
um zuletzt, am 9. Mai. nach einem Gemüsetag 
zuckerfrei zu sein. Das hält bei Uebergang zu 
strenger Diät ohne Brot an. Die Ketonurie hat 
sich währenddem fast verloren. Am 16. Mai 
zeigt sich wieder etwas Zucker, der schnell 
durch einen Gemüsetag entfernt wird und fort¬ 
bleibt bei andauernder Behandlung mit strenger 
Diät mit 71 g Eiweiß. Das Gewicht nimmt zu 
bei nur 43 Kalorien pro Kilogramm. Geringe 
Zulage von Kohlehydraten wird ertragen. Wäh¬ 
rend eines halbjährigen Aufenthalts zuhause 
bleibt sie zuckerfrei und das Gewicht steigt um 
fast 5 kg. Sie darf einige Stunden in der 
Schule sein. Am 18. November ist etwas Zucker 
im Urin, der während der Reise ins Kranken¬ 
haus ansteigt und gleichzeitig nimmt die Keton¬ 
urie zu. Da der Zucker bei strenger Diät in 
Verbindung mit eingeschobenen Gemüsetagen 
nicht sofort schwindet, benutze ich Haferkur 
und Gemüsetage, die zunächst mißglücken, aber 
das nächstemal, wo die Haferration geringer 
ist, schwindet der Zucker rasch und hat sich 
seitdem nicht wieder gezeigt, selbst nach 
kleinerer Zulage von Eiweiß und Kohlehydraten. 

Die Eisenchloridreaktion ist geschwunden und 
das Gewicht wieder gestiegen. Die letzten 
Tage des Hospitalaufenthalts gebe ich recht 
große Dosen Alkalien, um keine Verschlimme¬ 
rung der Azidose während der Reise nach 
Hause zu riskieren. 

Als ein zweites Beispiel eines mittel¬ 
schweren, nach denselben Prinzipien wie 
die eben erwähnte Patientin behandelten 
Falles mag Beobachtung Nr. 25 angeführt 
werden. Diese Patientin ist im Gegensatz 
zur ersten sehr abgemagert und hat bei 
der Aufnahme starke Azidose und Glykos¬ 
urie von 100—150 g Zucker in 24 Stunden. 

Hier glückt es auch, durch vorsichtigen 
Uebergang zu strenger Diät mit einge¬ 
schobenen Gemüsetagen den Zuckergehalt 
zu erniedrigen und mittels Haferkur kom¬ 
biniert mit Gemüsetagen wird dann das 
auffallend günstige Resultat erreicht, was 
jeder Kenner des Diabetes sofort bemerken 
wird (vgl. Tabelle III). 

Beob. 25. M. N., 8jähriges Mädchen. Kein 
Diabetes oder Tuberkulose in der Familie. Sie 
hat immer gekränkelt und war stets mager ge¬ 
wesen. Keine Kinderkrankheiten. Im Sommer 
1909 wurde sie reizbar und litt viel an Durst. 

Einen Monat vor der Aufnahme in die Klinik 
wies der Hausarzt 10°/o Zucker im Urin und 
eine Diurese von 1—21 nach. Sie wurde zu¬ 
hause mit Diäf -f- Glutenbrot und 7* 1 Sahne 
ohne wesentliche Besserung behandelt. Die 
Organuntersuchung zeigt nichts Abnormes. Der 
Stuhlgang normal, makro- und mikroskopisch. 

Auf der Klinik wird Eiweiß und Kohlehydrat 
der Kost nach eingeschobenen Gemüsetagen 
eingeschränkt und die Glykosurie fällt auf 36 g; 
aber die Azidose bleibt fast unverändert. Nach 
zweitägiger Haferkur und anschließenden Ge¬ 
müsetagen hält der Urin sich zuckerfrei und 
die Ketonurie vermindert sich bedeutend. Nach 
wiederholter Haferdiät, kombiniert mit Alkali¬ 
therapie, mit folgender geringer Kohlehydrat- 

Original from 

UNIVER5ITY OF CALIFORNIA 





296 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Juli 


Tabelle III. 


Obs. Nr. 25. M. N., 8jähriges Mädchen. 


Datum 

Kost 

Eiweiß 

Fett 

Kohlehydrate | 

Kalorien pro Kilogr | 

Gramm Bicarb. natr. 1 

GrammZucker i. Urin 

Totalazidität des 
Urins im Aequiv. 

Gramm Ammoniak 

im Urin 

Eisenchloridreaktion 

im Urin 

Reaktion des Urins 

Gramm N im Urin 

•- 

Je 

•c s 
£ 6 
bC u 

o O 

Q. 

u 

O 

X 

Bemerkungen 

1909 















7. 10. 

Diät mitGlutenbrot(zu Hause) 

— 

— 

— 

— 


100 

— 

— 

mittel 

sauer 


18 400 Aufgen. in d. 

fcn.’rrilr 

12. 10. 

Diät mit 75 g Glutenbrot 

85 

133 

25 

_ 

_ 

48 

0,2250 

2,79 

stark 

» 

17,3 

18400 


13. 10. 

Gemüsetag. 

56 

160 32 

— 

_ 

8 

0,1683 

2,09 

mittel 

» 

9,9 

18 600 


14. 10. 

Diät mit 25 g Glutenbrot 

74 

131 

21 

— 

— 

38 

0,1484 

1,96 

mittel 

n 

9,2 

18 700 


15. 10. 

Diät mit 25 g Glutenbrot 

74 

131 

21 


— 

36 

0,1932 

2,59 

stark 

n 

13,4 

18 500 

16. 10. 

Haferkur mit 50 g Roborat 

69 

120 

80 


— 

12,8 

0,0533 

1.47 

schwach 


6.7 

18 600, 

17. 10. 

Haferkur mit 4 Eiern . . . 

45 

142 

80 

— 

_ 

0 

0,1177 

1,59 

mittel 


— 

18200 


18. 10. 

Gemüsetag ... ... 

49 

152 

32 

— 

— 

0 

0,1041 

1,34 

schwach 

n 

— 

18 600 


19. 10. 

Gemüsetag. 

49 

152 

32 

— 

— 

0 

0,1106 

1,44 

mittel 

V 

— 

19100 


20. 10. 

Gemüsetag. 

49 

152 

32 

— 

10 

0 

— 

— 

schwach 

n 

5,1 

18 6C0 


21. 10. 

Haferkur mit 4 Eiern . . . 

45 

142 

80 

— 

10 

0 

— 

— 

mittel 


4,0 

18 700 

22. 10. 

Diät mit 50 g Glutenbrot . 

50 

126 

38 


10 

0 

— 

— 

mittel 

alkal. 

3,6 

19100 


23. 10. 

Diät mit 50 g Glutenbrot 

50 

126 

38 

— 

10 

0 

— 

— 

mittel 

n 

5,9 

19 200 

24. 10. 

Dieselbe mit 50 g Braten 

65 

131 

38 

_ 

10 

0 

— 

— 

mittel 

sauer 

— 

19 200 

25. 10. 

Dieselbe mit 50 g Braten 

65 

131 

38 

— 

10 

0 

0,0525 

0,71 

stark 

alkal. 

8.8 

19 200 


26. 10. 

Gemüsetag. 

49 

152 

32 

— 

10 

0 

0.0396 

0,48 

stark 

sauer 

4,8 

19 300 

27. 10. 

Diät ohne Brot. 

60 

147 

20 

— 

10 

0 

0,0531 

0,63 

stark 

w 

9.2 

19 500 


28. 10. 

Diät ohne Brot. 

60 

147 

20 

— 

10 

0 

0,0622 

0,69 

mittel 

n 

8,0 

19 500 


29. 10. 

Dieselbe mit 25 g Gluten *+- 















100 g Gemüse. 

63 

147 

16 


10 

0 

0.0576 

0,69 

mittel 


— 

19600 


30. 10. 

Gemüsetag. 

49 

152 

32 

— 

10 

0 

0,0465 

0,55 

mittel 

» 

4,9 

19 400 Entlassen a. 















der Klinik 

3. 11. 

Diät mit 25 g Glutenbrot 

63 

147 

16 

— 

10 

0 

— 

— 

mittel 


— 

19 500 


10.-24.11. 

Dieselbe -f 50 g Aepfel -j- 







10. 11. 





24.11. 



2 Eier -f- 25 g Braten . . 

58 

138 

22 

— 

10 

0 

0,0965 

0,99 

mittel 

n 

— 

20 000 


8. 12. 

Diät mit 50 g Glutenbrot 

64 

140 27 

— 

10 

0 

— 

— 

schwach 

V 

— 

20 000 


24. 12. 

Diät mit 50 g Glutenbrot 

64 

140 

27 

_ 

10 

0 

— 

— 

schwach 


— 

20 400 


31. 12. 

Dieselbe + 50 g Kartoffeln 

65 

140 

37 


10 

0 

— 

— 

mittel 


— 

20 400 

1910 















29. 1. 

Dieselbe + 50 g KartotTeln 

65 

140 

37 

— 

10 

0 

— 

— 



— 

20 400 Urin kein Azet. 















(Legals Pr.) 


Zulage zur strengen Diät und Gemüsetagen 
bleibt der Urin zuckerfrei und die Ketonurie 
ist nur gering. Das Gewicht steigt um 1 kg. 
Nach der Entlassung aus dem Krankenhaus am 
30, Oktober 1909 blieb der Urin ständig zucker¬ 
frei und gab nach Zulage von größeren Kohle¬ 
hydratmengen mit der Legal sehen Probe keine 
deutliche Reaktion auf Azeton. Das Gewicht 
stieg weiter um 1 kg. 

Ein dritter Patient mit mittelschwerer 
Glykosurie und Ketonurie (Beobachtung 27) 
war viel schwerer als die beiden vorange¬ 
gangenen zuckerfrei zu bekommen, aber 
auch hier gelang es zuletzt durch wieder¬ 
holte Haferkuren, kombiniert mit Gemüse¬ 
tagen, Aglykosurie zu erzielen, die unter 
starker Gewichtszunahme anhielt. 

Beob. 27. K. V., 14jähriger Knabe. Kein 
Diabetes in der Familie. Im Alter von zwei 
Jahren hatte er „gastrische Anfälle“. Im siebenten 
Jahr Scarlatina ohne Albuminurie. Häufig 
Angina tonsillaris. Im Frühling 1909 beginnt 
er zu kränkeln, im Sommer häufiges Urinieren 
und starker Appetit, trotzdem Gewichtsverlust. 
Anfang Dezember weist der Hausarzt 8,5 °/o 


Zucker nach, die Diurese beträgt 2—2 l / 9 l. Durch 
antidiabetische Diät mit Glutenbrot zuhause 
geht die Zuckerausscheidung bis ungefähr auf 
die Hälfte zurück und bleibt da einige Zeit 
stehen. Patient ist mager und blaß. Hämo¬ 
globin 70. Die Organuntersuchung zeigt nichts 
Abnormes außer leichter Dehnung des I. Herz¬ 
tons und Spaltung des II. Tons über der Basis. 
Der Stuhlgang hart, schwer. Fäzes übrigens 
normal, makro- und mikroskopisch. 

Aus Tabelle IV kann man ersehen, wie 
schwer es ist, die Glykosurie niedrig zu 
halten, trotz Einschränkung von Eiweiß und 
Kohlehydraten und Anwendung von Ge¬ 
müsetagen. Um die starke Ammoniakaus¬ 
scheidung zu vermindern, wird gleichzeitig 
Alkalitherapie eingeleitet. Nach wieder¬ 
holten Haferkuren, gefolgt von Gemüse¬ 
tagen und strenger Diät, gelingt es, den 
Zucker völlig aus dem Urin zu entfernen 
und nun beginnt das Körpergewicht zuzu¬ 
nehmen ; bis dato ist es um 3 kg gestiegen. 
Der Urin ist ständig zuckerfrei und die 
Ketonurie sehr mäßig. 


□ igitized by 



Original fr&m 

UNIVERSITY OF CALIFORNIA 
















Juli Die Therapie der Gegenwart 1910. 297 

Tabelle IV. 

Obs. Nr. 27. K. V., 14jähriger Knabe. 



11.—15,1. Diät mit 75 g Brot . . 

15. —16.1. Gemüsetag. 

16. —17.1 Diät mit 50 g Brot . . 

17. —18.1.; Diät mit 50 g Brot . . 

18. —19.1.| Diät mit 50 g Brot , 

19. -— 20. 1. Gemüsetag. 

20. —21.1.' Diät mit 50 g Brot . . 

21. —24.1. Diät mit 50 g Brot 24. 1. 

24. —25.1.1 Gemüsetag. 

25. — 26.1.| Diät ohne Brot. . . . 

26. —31.1. Diät ohne Brot . 31.1. 

31.1. — 1.2.1 Gemüsetag. 

1. —2.2. Haferdiät: 200 g Hafer. 

2. —3. 2. 240 g Butter, 3 Eier, 10 g 

Salz, 250 g Rotwein . 

3. —4.2. Gemüsetag. 

4. —5. 2. Gemüsetag mit 50g Fisch 

5. —6. 2. Diät ohne Brot.... 

6. —7. 2. t Diät ohne Brot... 

7. —8.2. Diät ohne Brot.... 

8. —9.2. Diät ohne Brot. . 

9. —10.2. Haferdiät: 150gGr.,2Eier, 

[ 60gButter,500Rotwein 

10. —11.2. Haferdiät: 150gGr.,2Eier, 

20g Butter, 500Rotwein 

11. —12. 2J Gemüsetag. 

12. —13. 2. Gemüsetag. 

13. —14.2. Gemüsetag-f 75gBraten 

14. —15.2. Diät ohne Brot. . . . 


102 155! 
38112! 
82 154 
82 154 
82 154 
38 112) 
73 151 
73 151 
47,129 
76 176 
76176 
47 129 
51 245 


48 18 46 
32 18 34 
39 18 50 
39 18 — 
39 18- 
32 18 — 
39 18 — 
39:18 — 
3218 —i 
17jl8 — 
17118 —! 
32|18 
12818 — 


-|95 
-125 
— 22,7 
-32,5 
5 33 
5 17,8 
5 5,5 

2,5 25,5 
2,5 7,7 


51 245 128118— 15 12,ß! 
50 139) 32)18—15 5 
65445 32 18 —15 ' 0,4 

74162 17118 —15 Spar 

74162! 17118 —15 „ 

74 162! 17(18 —15 „ 

74 162 1748- 15 „ 

! ! i | ! 

36 74 9636- 15 11 i 
! ! ! ! | I 

36 200 96 36 — 15 Spar ' 
40j 136' 37 18 - 10 0» 
404 36 37 18— 10 i 0 | 
62143 37 18 — 10 | 0 
74462) 17 18— 10 0 


5 0,2770 
1,4 ! 0,1326 
2,8 0,1834 
1,7 0,1634 
3,5 0,1588 

1.7 0,1279 

1.3 - 

3.4 0,0929 

2.8 0,0909 
2,8 0,1198 
3,2 0,0667 
1,1 0,0331 
4,4,0.0672 

— !o,0296 
0 0,0522 
3 0,0534 
0 10.0398 
0 0,0548 

— 0.0664 
0,210,0660 


3,7 |24 
1.65 12,3 
2,31 13,2 
2,0313.3 
1,86)14,4 
1,50 — 

0,9 11,2 
0,92 10,6 
1,21113,1 
0,76i 8,7 
0,29] 6,5 
0,63 8,9 

0,26 4,9 
0,46 7,8! 
0,66 8 , 2 ] 
0,41 9,41 
0,46 9,5! 
0,62 13,3] 
0,52 12,31 


stark sauer 
mittel 


schwach 

mittel 

stark 


j alkal. 

I sauer 


0 0,0349 0,15 5,8 

0 0,0300 0,12 5,8 
1,2 0,0279 0,1 5,7 

2,7 0,0441 0.46 8,5 
- — 0,42 - 


schwach 

0 

schwach 

mittel 


39200 Bettruhe 
39 300 
39 500 

39 800 

40 000 
40000) 

40 300! 

39 600 
39800 
39600 
39800 
39 800 
39600 

39600 

39200] 

39600 
39 700 
39700 
39800 
40200 

39600j 

39 300 
39600 
39800 

40 000 


Mittelschwere Diabetesfälle, die nach 
der alten Behandlung nicht frei von Zucker 
wurden, können also mit der modernen 
Therapie mehr oder weniger leicht zucker¬ 
frei gemacht und die Prognose quoad du- 
rationem kann bedeutend gebessert werden. 
Wie bei den leichten Fällen gilt es auch 
hier, die Hospitalbehandlung zuhause fort¬ 
zusetzen und selbst wenn sich kein Zucker 
im Urin zeigt, mQssen diese Patienten jeden 
dritten Monat zur Revision ihrer Assimi¬ 
lationsfähigkeit und des Grades der Keton- 
urie in die Klinik aufgenommen und die 
Diät danach reguliert werden. 

In den schweren Fällen (vgl. die obige 
Definition) muß die diätetische Behandlung 
nach ungefähr denselben Prinzipien geleitet 
werden, aber hier steht die Alkalitherapie 
mehr im Vordergrund. Der Uebergang 
zur strengen Diät muß äußerst vorsichtig 
und unter großen prophylaktischen Dosen 
Alkali geschehen, wie das Naunyn seiner¬ 
zeit angeraten hat. Durch allmähliche 
Steigerung der Alkalidosis (Natr. bicarb. 
in Fachinger oder Sodawasser) macht man 
den Urin alkalisch oder schwach sauer, 


erst dann geht man zur strengen Diät nach 
der oben angegebenen Methode über. Auf 
diese Weise kann man vermeiden, daß die 
strenge Diät Symptome von beginnendem 
Coma diabeticum macht. Will der Zucker 
trotz starker Einschränkung des Eiweißes 
der Kost und trotz Gemüsetage nicht ganz 
schwinden, kann man—bei Bettruhe — einen 
• Hungertag versuchender manchmal die letz¬ 
ten Zuckerspuren fortbringen und bewirken 
kann, daß der Zucker beim Uebergang zur 
strengen Diät mit einer kleinen Eiweißration 
nicht wiederkommt. Das Körpergewicht 
fällt bei einem Hungertag manchmal stark, 
pflegt aber schnell wieder hochzukommen. 

Die Haferkur nach dem oben bespro¬ 
chenen Schema mit einleitenden und ab¬ 
schließenden Gemüsetagen soll auch ver¬ 
sucht werden; nur muß der Uebergang zur 
strengen Diät langsam vor sich gehen, da 
man sonst von einer plötzlich starken Zu¬ 
nahme der Azidose mit .anschließendem 
Koma überrascht werden kann. 

Auf die Behandlung des Coma diabeti¬ 
cum und anderer Komplikationen will ich 
in dieser Abhandlung nicht eingehen. 


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Gck >gle 


38 

Original frnm 

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Bemerkungen 



















298 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Juli 


Ans der I. inneren Abteilung des städt. Krankenhauses Moabit in Berlin. 
(Direktor: Prot Georg Klemperer.) 

Krisenartig auftretende Bewusstlosigkeit mit Atemstillstand 

bei Tabes. 

Von Dr. Leo Jacobsohll -Charlottenburg. 


Die Monotonie des klinischen Bildes, 
das wir gewöhnlich bei der Tabes zu 
sehen bekommen, wird in einer Minderzahl 
von Fällen durch den Eintritt trophischer 
Störungen sowie krisenartiger Zustände im 
Bereich des Vagus und der Splanchnici 
unterbrochen. Weniger bekannt ist ein 
eigenartiger Symptomenkomplex, welcher 
in nahen Beziehungen zur Tabes steht und 
durch krisenartig eintretende Bewußtlosig¬ 
keit mit Atemstillstand charakterisiert ist 

Wir hatten des öfteren Gelegenheit, an 
einer 46 jährigen tabischen Patientin, welche 
wegen heftiger gastrischer Krisen das 
Krankenhaus aufsuchte, jenen eigenartigen, 
durch das Unvermittelte des Eintritts 
sowie die Schwere des Krankheitsbildes 
höchst bedrohlich erscheinenden Zustand 
zu beobachten. Die Vorgeschichte unserer 
Patientin, welche zum erstenmal vor 
1 l h Jahren in das Krankenhaus aufgenom¬ 
men wurde, lautet: 

15. Juni 1908. Frau V., hereditär, familiär 
ohne Besonderheiten. Früher gesund, ab¬ 
gesehen von einer Extrauteringravidität, welche 
eine Laparotomie erforderlich machte. 

Beginn des jetzigen Leidens mit kolikartigen 
Schmerzen und wäßrigem Erbrechen. Im Laufe 
des nächsten Jahres reißende Schmerzen im Kreuz 
und in den Beinen, daneben in Abständen von 
14 Tagen bis 4 Wochen Brechanfälle in Ver¬ 
bindung mit kolikartigen Schmerzen. In den 
letzten Monaten Unsicherheit des Ganges im 
Dunkeln. 7 Aborte, ein lebendes Kind, das im 
Alter von 3 Wochen starb. Letzte Regel aus¬ 
geblieben. 

Der erste Untersuchungsbefund (16. Juni 1908) 
lautete: Kleine blasse Frau in schlechten Er¬ 
nährungsverhältnissen. In der Linea alba vom 
Nabel zur Symphyse alte Operationsnarbe. 
Postoperative Hernie. 

Herzgrenzen nicht verändert. Töne 
rein, 2. Aortenton leicht akzentuiert. 
Puls von normaler Frequenz, etwas hart. 
Urin Spuren von Albumen, keine 
Zylinder. Spezifisches Gewicht 1020. 

Nervensystem: Pupillen beiderseits eng 
und leicht verzogen. Reflektorische Starre 
Pat.-Reflexe fehlen. Romberg positiv. Knie¬ 
hackenversuch beiderseits unsicher. Taktile 
Sensibilität überall erhalten, dagegen werden 
Nadelstiche am rechten Kalkaneus und linken 
Malleolus int. nicht als schmerzhaft empfunden. 
Gang ziemlich sicher, erst bei Augenschluß 
mäßige Ataxie nachweisbar. 

Wegen heftiger Leibschmerzen wurde 
ein heißes Bad verordnet und, als dieses 
wirkungslos blieb, 1 cgm Heroin injiziert. 

Etwa 1 /2 Stunde später verfiel Patientin 
ganz plötzlich, ohne alle Vorboten in einen 


Zustand tiefer Bewustlosigkeit. Ebenso un¬ 
vermittelt setzte die bis dahin regelmäßige 
und ruhige Atmung aus. Die Haut wurde 
blaß und kühl, die Pupillen maximal weit 
und lichtstarr; der Kornealreflex erlosch 
und der Unterkiefer sank herab, so daß 
die Patientin einen moribunden Eindruck 
machte. Nur das Herz arbeitete kräftig 
weiter. Herzrythmus und Pulsfrequenz 
waren nicht gestört. Nach 2 Minuten 
machte sich eine allgemeine Zyanose be¬ 
merkbar, 1 Minute später traten Zuckungen 
von vorwiegend klonischem Charakter an 
den unteren Extremitäten auf. Im ganzen 
verblieb die Patientin 4 Minuten im Zu¬ 
stand der Bewußtlosigkeit und des Atem¬ 
stillstandes. Dann setzte, ebenfalls ganz 
unvermittelt, die Atmung tief und voll wieder 
ein, worauf Patientin bald zur Besinnung 
kam. 1 Stunde später wiederholte sich der 
geschilderte Zustand in gleicher Weise. 
Die Atmung sistierte diesmal 2 Minuten. 
Am folgenden Tage kam ebenfalls ein 
Anfall von zwei Minuten Dauer zur Beob¬ 
achtung. Eür alle Anfälle bestand totale 
Amnesie. 

Die Deutung dieses eigenartigen, höchst 
foudroyanten Krankheitsbildes ist für den, 
der diese Zustände nicht kennt, nicht 
leicht. Eine Morphium- respektive Heroin¬ 
wirkung konnte in unserem Falle zuerst 
ausgeschlossen werden, indem der Typus 
der Respirationsstörung sich von dem bei 
toxischen Morphiumdosen beobachteten 
wesentlich unterschied. Auch zeigte der 
weitere Verlauf, daß Anfälle unabhängig 
von Heroininjektionen auf traten, anderer¬ 
seits nach Heroin keine Anfälle beobachtet 
wurden. Bei der vorhandenen chronischen 
Nephritis war man berechtigt, an einen 
urämischen Anfall zu denken. Indes ließ 
das Rezidivieren des Zustandes bei symp¬ 
tomfreien Intervallen sowie das bei Urämie 
unbekannte minutenlange Sistieren der 
Atmung darauf schließen, daß es sich nicht 
um Urämie handle. Für Epilepsie boten 
sich ebenfalls keine Anhaltspunkte. 

Uebersieht man die Literatur der bei 
Tabes beobachteten Respirationsstörungen, 
so findet man folgende Mitteilungen über 
verringerte respektive aufgehobene Atem¬ 
frequenz. M. Egger 1 ) erwähnt einen Fall 

Soci6t6 de neurol. de Paris, Sitzungsbericht 
vom 5. Februar 1903; zitiert Neurol. Zbl. 1903, S. 891. 


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Original fram 

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Juli 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


299 


einer gutartigen, über 30 Jahre sich er¬ 
streckenden Tabes, bei der in den letzten 
Jahren sich eine habituelle Herabsetzung 
der Atemfrequenz bis auf 4—5 Züge pro 
Minute einstellte. Nach vorausgegangenen 
tiefen Inspirationen konnte ein apnoischer 
Zustand von 2 Minuten Dauer erzielt werden. 
Es liegt auf der Hand, daß dieser apnoische 
Atemstillstand kaum mehr als eine geringe 
äußere Aehnlichkeit mit der von uns be¬ 
obachteten Unterbrechung der Atemtätig¬ 
keit hat. 

Oppenheim 1 ) und Siemerling haben 
bei einer seit einigen Jahren an Tabes 
leidenden Frau einen 4 Wochen ante 
exitum eintretenden komatösen Zustand be¬ 
obachtet, der mit einer erheblichen Ver¬ 
langsamung der Atemtätigkeit einherging. 
Die durchschnittliche Zahl der Atemzüge 
in der Minute ging nicht über 8 hinaus. 

Daß auch der Cheine-Stokessche 
Atemtypus auf dem Boden der Tabes ent¬ 
stehen kann, zeigt die Beobachtung von 
Mac Bride 2 ), der bei einem Fall von Tabes 
mit doppelseitiger Postikuslähmung habi¬ 
tuellen Cheine-Stokes sah. 

Die erste Mitteilung eines krisenartig 
auftretenden Zustandes von Atemstillstand 
und Bewußtseinsschwund bei Tabes ver¬ 
danken wir Pal 3 ). Dieser Autor wies dar¬ 
auf hin, daß es im Verlaufe der Tabes 
unter ganz besonderen Umständen zu einem 
derartigen Symptomenkomplex kommen 
kann. In der Monographie Pals über die 
Gefäßkrisen (1905) findet sich eine Schilde¬ 
rung, die mit fast photographischer Treue 
das Charakteristische unseres Falles wieder¬ 
gibt. „Die Erscheinungen des Zustandes 
sind Atemstillstand und Bewußtlosigkeit, 
rasch zunehmende Zyanose, Verbreiterung 
des rechten Herzens und Muskelzuckungen. 
Der Kranke macht den Eindruck eines 
Sterbenden. Der Atemstillstand tritt meist 
urplötzlich ohne Vorboten ein. Ebenso ist 
auch der Rückgang zur Norm mitunter 
ganz unvermittelt. Es besteht völlige 
Amnesie. Die Kranken glauben geschlafen 
zu haben.“ Wort für Wort ist auf unseren 
Fall anwendbar. Bemerkenswert ist, daß 
Pal [Atempausen bis zu 8 Minuten kon¬ 
statieren konnte. 

Eine neuere zusammenfassende Arbeit 
desselben Autors ist vor einem Jahre er¬ 
schienen 4 ), in welcher Pal gestützt auf eine 

*) A. f. Psych. Bd. 18, S. 108. 

a ) Edinb. Med. Journ. Bd. 31. 

3 ) Ueber die Geffifikrisen und deren Beziehungen 
zu den Magen- und Bauchkrisen der Tabiker. Mflnch. 
med. Woch. 1903, S. 2135. 

4 ) J. Pal, Atmungs- und Geffifikrisen. Wien, 
med. Wochschr. 1909, Nr. 11. 

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weitere Beobachtung seinen noch näher 
zu besprechenden theoretischen Stand¬ 
punkt gegenüber den tabischen Atem¬ 
krisen präzisiert. 

Einen weiteren typischen Fall von Atem¬ 
lähmung mit Bewußtseinsverlust bei Tabes 
hat Loeb 1 ) aus der Straßburger Klinik 
veröffentlicht. Es handelt sich wie bei uns 
um einen an gastrischen Krisen leidenden 
Tabiker, der im Anschluß an eine Morphium¬ 
injektion (0,01 g) in einen Zustand von 
Bewußtlosigkeit mit Atemstillstand geriet 
In den nächsten Stunden mehrfache Wieder¬ 
holungen der Anfälle. Da nach Zusatz von 
Atropin zum Morphium keine weiteren An¬ 
fälle sich zeigten, ist Loeb geneigt, dem Mor¬ 
phium eine ursächliche Bedeutung für das 
Zustandekommen der Anfälle beizumessen. 

Aus der amerikanischen Literatur ist 
von Hoover 2 ) über ähnliche Krankheits¬ 
bilder, wie wir sie in unseren Fällen kennen 
gelernt haben, berichtet worden. Zwei von 
den Patienten Hoovers waren tabisch, 
während der dritte an schwerer Arterio¬ 
sklerose litt. Bei der Lektüre der Hoover¬ 
sehen Publikation, die ein fesselndes Bild 
dieses eigenartigen, den Arzt und Kranken 
in gleicher Weise überraschenden Zu¬ 
stande zu geben weiß, fällt wiederum die 
völlige Uebereinstimmung aller bisher be¬ 
obachteter Fälle bis in die kleinsten Details 
auf. Bemerkenswert ist, daß die Atem¬ 
pause während eines Anfalles 20 Minuten 
währte. Allerdings erfolgten während 
dieser Zeit einige oberflächliche Inspira¬ 
tionen. Bei einem anderen Patienten trat 
auf der Höhe eines Anfalls der Tod ein. 

Was unsere eigene Beobachtung an¬ 
betrifft, so hatten wir, da die betreffenden. 
Patientin in der Folgezeit noch einigemale 
das Krankenhaus aufsuchte, noch mehrfach 
Gelegenheit, Attacken vom geschilderten 
Typus zu sehen. Ein Auszug aus den 
Krankenjournalen ergibt, daß 

am 1 .Dezember 1908 ganz plötzlich ein Anfall 
von 2 Minuten Dauer eintrat, der sich noch zwei¬ 
mal wiederholte. Am 30. Dezember änderte sich 
der Typus der Anfälle in der Weise, daß nach 
vorangegangenen gastrischen Krisen ein Zu¬ 
stand von Bewußtlosigkeit eintrat, welche 
45 Minuten anhielt und in dessen Verlauf die 
Atmung zehnmal für die Zeit von 60—80 Se¬ 
kunden sistierte. 

Am 27. Juli 1909 wurden zwei 4 Minuten 
dauernde Anfälle notiert Tags darauf kam es 
zu mehrstündiger Bewußtlosigkeit mit häufigen 
Atmungspausen von 2—4 Minuten. 

Im Verlauf des letzten Jahres hat die Tabes 
bei unserer Patientin weitere Fortschritte ge- 

l ) Loeb, Ein Fall von Atemstillstand bei Tabes. 
Deutsche med. Wschr. 1904 Nr. 41. 

s ) Hoover, The Joura. of the Am. Med. Assoc. 

20. Juli 1907. 

38* 

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300 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Juli 


macht. Namentlich ist die Ataxie ziemlich be¬ 
trächtlich geworden, während Blasenstörungen 
zurzeit nicht bestehen. Subjektiv hat Frau V. 
viel unter ihrer Krankheit zu leiden, indem 
gastrische Krisen mit heftigen Schmerzen im 
Kreuz und den Beinen alternieren. Die letzte 
Blutdruckmessung ergab 175 mm (Riva-Rocci). 

Zusammenfassend drängt sich uns die 
Tatsache auf, daß die bisher bekannten 
Fälle von Bewußtseins Verlust mit Atem¬ 
stillstand mit einer Ausnahme bei Tabikern 
beobachtet worden sind. Demgemäß ist 
die Tabes, soweit wir berechtigt sind, aus 
kleinen Zahlenreihen etwas Gesetzmäßiges 
abzuleiten, die häufigste, wenn auch nicht 
die alleinige Voraussetzung für das Zu¬ 
standekommen der geschilderten Anfälle. 
Ihrem Wesen nach sind die hier in Frage 
kommenden Zustände wohl der Ausdruck 
einer temporären Lähmung des Atemzen¬ 
trums. Die Möglichkeit, daß hierbei ein 
auf das Atemzentrum lähmend ein wirkendes 


Alkaloid wie das Morphium oder Heroin 
gelegentlich den Eintritt einer Atemkrise 
begünstigen kann, ist nicht von der Hand 
zu weisen. 

Gestützt auf ein größeres Tatsachen¬ 
material sucht Pal, dem wir die um¬ 
fassendsten Untersuchungen über den 
Mechanismus krisenartiger Zustände ver¬ 
danken, den Nachweis zu tühren, daß 
die Atemkrisen bei Tabes ebenso wie 
die gastrischen und Kehlkopfkrisen auf 
akuter Hochspannung im arteriellen System 
beruhen. Ich muß mir versagen, an dieser 
Stelle auf die mit guten Gründen gestützten 
Anschauungen Pals näher einzugehen. Pal 
vertritt hierbei die Auffassung, daß nach 
Art der Claudicatio intermittens eine der 
arteriellen Drucksteigerung parallel gehende 
Gefäßkontraktion im Gebiete der Medulla 
oblongata den betreffenden Symptomen- 
komplex hervorrufen soll. 


Geschmack und Schmackhaftigkeit in der Hygiene 
und in der Küche. 

Von Dr. Wilhelm Sternberg, Spezialarzt für Zucker- und Verdauungs-Kranke in Berlin. 


Wer in der Erforschung der Nahrung, 
in der Ergründung der Frage nach dem 
Wesen des Genusses der Genußmittel und 
des Genießens der Nahrungsmittel, die 
Praxis des täglichen Lebens nicht ganz 
übersieht, der muß erkennen, daß die 
theoretischen Prinzipien der modernen Er¬ 
nährungslehre für die Bewertung der Nah¬ 
rungsmittel oder gar der Genußmittel 
durchaus noch nicht ausreichen. Denn die 
Begriffe, mit deren Erkenntnis die exakte 
Physiologie der Ernährung die Aufgaben der 
Nahrung zu begrenzen vermeint, nämlich 
chemischer Nährwert und physikalischer 
Brennwert, erschöpfen die Probleme keines¬ 
falls, wie ich 1 ) des öfteren hervorgehoben 
habe. Wird ja nicht einmal der wahre absolute 
Wert, Preiswert, Geldwert und Marktwert 
durch Nährwert und Brennwert bestimmt] 
Es hängt vielmehr von ganz anderen Wer¬ 
ten der wahre Wert ab. Der Genuß wert 
ist es, welcher den eigentlichen Wert in 
der Praxis ausmacht. Und dieser Genuß. 

*) „Appetit und Appetitlichkeit in der Hygien c 
und in der Küche", Zeitschr. f. physik. u diätet 
Ther. Bd. XIII, Nov. 1909, S. 3. — „Die moderne 
Kochküche im Großbetrieb“, Zeitschr. f. Hyg. u. 
Infektionskrankh. 1909, S. 181. — „Die Alkoholfrage 
im Lichte der modernen Forschung.“ Leipzig, Veit 
& Co. 1909, S. 3. — „Genuß und Gift“, Med. Klinik 
1908, Nr. 45. — »Der Alkohol in der klassischen 
Malerei" Fortschr. d. Med. 1909, Nr. 28. — „Grund¬ 
sätze für den Genuß der Genußmittel“, Ther. d. Geg. 
März 1909. — „Grundirrtümer der Abstinenz“, Fort¬ 
schritte d. Med. 1910, Nr. 10/11. — „Genuß und 
Genußmittel", Ther. d. Gegenw. 1910, April. 

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wert wird zumeist und zunächst durch den 
Geschmack — im weitesten Sinne des 
Wortes — bestimmt. Tatsächlich ist auch 
der Geschmackssinn ein so feines Reagenz, 
daß die biologische Geschmacksprobe so¬ 
gar allen anderen exakten wissenschaft¬ 
lichen Proben weit überlegen ist. Es ge¬ 
nügt, bloß auf den sich in der alltäglichen 
Praxis immer mehr einbürgernden Brauch 
der biologischen Sinnesprobe durch die 
Polizeihundehinzuweisen. In der Theorie war 
dies bisher so wenig bedacht, daß der erst¬ 
malige Hinweis hierauf durch mich 1 ) in mei¬ 
nem Buch „Der Geschmack in der Wissen¬ 
schaft und Kunst“ auf fiel und Herrn Albu 2 ) 
in seiner kritischen Besprechung zur Ver¬ 
wunderung Anlaß gab, da er hier „Betrach 
tungen über Geschmack, über das Geruchs¬ 
organ der Polizei-, Jagd- und Kriegsspür¬ 
hunde, über Blumenzucht u. dgl. m.“ fände. 

Die Tatsache jedoch, daß die Geschmacks¬ 
probe jeder anderen Probe zum mindesten 
gleichwertig ist, findet sogar schon im täg¬ 
lichen Sprachgebrauch seit jeher allgemeine 
Verwendung. 

In allen Sprachen bedeutet * Schmecken“ 
mittels des Geschmackssinns „Versuchen“, 
„Kosten“ soviel wie „Versuchen“ über¬ 
haupt, „Prüfen“, ja geradezu „Genehmigent“ 

l ) Stuttgart 1907. F. Enke »Kochkunst u. ärzt¬ 
liche Kunst" S. 14—22. 

s ) Berl. klin. Wochenschr. 2. Dezember 1907. 

Nr. 48, S. 1558. — »Die Alkoholfrage", Leipzig 1909, 

S. 34. 

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Juli 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


301 


„Billigen“. In diesem Sinne gebraucht 
auch der Lateiner das Wort „gustare“, 
der Grieche „reuetrflat *, die französische 
Sprache „goüter“. „Kiesen“ und „küren“ 
(„erkoren“) = „wählen“ ist urverwandt zu 
„gustare“ = schmecken. Seit jeher be¬ 
deutet sogar im bildlichen, übertragenen 
Sinne „Schmecken“ soviel wie „Fühlen“, 
„Merken“, „Empfinden“ oder gar seeli¬ 
sches „Fühlen“. So heißt es im Homer: 1 ) 
„Aber er sollte zuerst den Pfeil aus den 
Händen Odysseus’ kosten“. 

Ferner heißt es in der Ilias: 2 ) „Jetzo 
wohlauf denn kosten wir rasch von ein¬ 
ander die ehernen Kriegslanzen.“ 

Um so seltsamer ist es, daß der Ge¬ 
schmackssinn in der Theorie der Medizin 
und in der Hygiene gar keine Würdigung 
findet: Denn in der Hygiene ist dies nicht 
einmal für die wissenschaftliche Bewertung 
der Kunst der Fall, deren Aufgabe es ist, 
dem Geschmackssinn zu schmeicheln; das ist 
nämlich die Kochkunst, welche die ge¬ 
schmacklosen Nahrungsmittel zu schmack¬ 
haften Lebensmitteln herzustellen hat, da¬ 
mit sie uns munden. 

Darauf weise ich 8 ) des öfteren hin. 
Und doch hebt schon Horaz 4 ) die Bedeu¬ 
tung des Geschmacks für die Kochkunst 
hervor: 

Catius: Nec sibi cenarum quivis teroere arroget artem 
Non prius exacta tenui ratione saporum 
Auch nicht traue sich Jeder so leicht in der 
Kochkunst, 

Ehe er genau durchforschte die Regeln der 
Geschmacks-Physiologie. 

So kommt es, daß auch die wissenschaft¬ 
liche Praxis der Hygiene auf die Geschmacks¬ 
proben kaum besonderen Wert legt, soweit 
wenigstens die Geschmacksproben in Be¬ 
tracht kommen, welche durch den gewerb¬ 
lichen Sachverständigen von Küche und 
Keller ausgeführt werden. Auf diese Not¬ 
wendigkeit weist aber auch schon Plato 5 ) 
hin, indem er sagt: „Ueber den Geschmack 
des Gastmahls kann nicht einmal der Gast¬ 
geber entscheiden, sondern der berufliche 
Sachverständige, nämlich der Küchen¬ 
meister, wird das beste sachkundige Urteil 
abgeben können.“ Das müssen die heutigen 
Institutionen 6 ) sich noch aneignen. 


!) Odyssee XXI, 98. 

*) Ilias XX, 258. 

*) „Die Küche im Krankenhaus" 1908, Stuttgart 
F. Enke. 

4 ) Sat. II, 4, 35. .Unterricht für Feinschmecker.* 
*) Theaitet XXVI, 178d. 

6 ) Amtl. stenogr. Ber. f. d. Sitzung d. Stadtver¬ 
ordnetenversammlung am 11. März 1909, Nr. 10. 
Herausgegeben vom Magistrat von Berlin S. 131. 
„Die Alkoholfrage" 1909, S. 40. 

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Wenn schon die Vernachlässigung der Ge¬ 
schmacksproben seitens der Industrie für 
die Bewertung der Nahrungsmittel seitens 
der Nahrungsmittel-Chemie und Nahrungs¬ 
mittel-Chemiker falsche Werte ergibt, so 
ist dies noch mehr der Fall für das Ueber- 
sehen des Geschmacks bei der Bewertung 
der Genußmittel. Denn der Genuß der Genu߬ 
mittel wird noch mehr durch die Schmack¬ 
haftigkeit bestimmt. Daher wird in der 
Praxis der Industrie der Wert der Genu߬ 
mittel seit jeher durch die Geschroacksprobe 
des beruflichen Sachkenners bestimmt. Dies 
hebt ebenfalls Plato 1 ) bereits hervor. Sokra¬ 
tes: „So ist, glaube ich, über den in der Zu¬ 
kunft zu erwartenden süßen oder herben 
Geschmack des Weines nicht etwa die 
Meinung des Zitherspielers entscheidend, 
sondern vielmehr das Urteil des Land¬ 
wirts.“ Theodoros: „Wie anders?“ So¬ 
krates: „Andererseits möchte auch über zu¬ 
künftige Mißklänge und Wohlklänge nicht 
das Urteil des Turnlehrers maßgeblicher 
sein, als das des Musikers, wenn auch viel¬ 
leicht dem Turnlehrer später selber das 
Stück wohlklingend erscheinen wird.“ — 
Denn der Geschmack ist es, der den Wert 
des Weines bestimmt, so sagt schon Euri- 
pides 2 ). Mit vollem Recht heben daher 
Bidder 3 ) und du Bois-Reymond 4 ) die 
feine Empfindlichkeit des Geschmacks bei 
Weinkennern hervor. Ich 5 ) habe auch auf 
die Feinschmecker, auf die gewerblichen 
Koster, die Berufsköche, hingewiesen. Und 
in der Praxis der Medizin und der Hygiene 
werden diese Begriffe wie „Geschmack“, 
„Schmackhaftigkeit“ von Küche und Keller, 
„Geschmacksproben“ der Genußmittel, „Ge¬ 
nuß“, „Genußwert“ ebenso übergangen, wie 
die Bezeichnungen und Begriffe des „Appe¬ 
tits“ und der „Appetitlosigkeit“, der „Appe- 
titlichkeit“ und „Unappetitlichkeit“. Die 
Schmackhaftigkeit wird sogar in der Litera¬ 
tur der Veterinärmedizin eingehender be¬ 
handelt als in der Humanmedizin. Ich 6 ) 
führe dies darauf zurück, daß die Hygiene 
der Ernährungslehre die Ernährungstechnik 
bisher vollkommen vernachlässigt, zum 
Schaden der Erkenntnis dieser praktisch 

») Theaitet XXVI, 178c. 

Kyklops 150. 

3 ) Bidder 1846, Wagners Handwörterbuch S. 10 
„Schmecken*. 

4 ) .Ueber dieUebung". Zur Feier des Stiftungs¬ 
festes der militär-ärztlichen Bildungsanstalten am 
2. August 1881. Reden 2. Folge. Leipzig 1887. 

S. 423. 

5 ) .Die Küche in der modernen Heilanstalt." 
Stuttgart, F. Enke 1909, S. 10. 

•) .Appetit und Appetitlichkeit in der Hygiene 
und in der Küche." Zeitschr. f. physik. u. diätet. 
Therapie XI. 1909. 

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302 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Juli 


äußerst wichtigen Probleme. Es ist be¬ 
merkenswert, daß auch auf diesem Gebiete 
mehr noch als die ärztliche Praxis die 
juristische Praxis der Theorie vorausgeeilt 
ist. Für mehrere andere Gebiete habe ich 
dies schon nachgewiesen. Es bringen die 
nichtmedizinischen Laien, die gewerblichen 
Interessenten des Vertriebes der Genu߬ 
mittel und auch die juristischen Praktiker 
den beregten Momenten ein viel größeres 
Interesse entgegen, als die praktischen 
Aerzte und die medizinischen Forscher 
der Hygiene. Am deutlichsten tritt dieser 
Gegensatz hervor bei der Bewertung der 
Weine in der alltäglichen Praxis und vor 
Gericht. 

Seit Jahren verlangen die gewerblichen 
Interessenten, daß — dem Sinne des Ge¬ 
setzes entsprechend — bei Beurteilung von 
Weinen bezüglich der Beschaffenheit von 
Aussehen, Geruch und Geschmack Zun¬ 
gensachverständige vernommen wer¬ 
den. Die Pfälzischen Weinproduzenten 
haben den kgl. Amtsgerichten in der Pfalz 
eine Anzahl zungensachverständiger Wein¬ 
leute namhaft gemacht und begrüßen es 
dankbar, daß fast bei allen Beanstandungen 
neuerdings eine Anzahl dieser Fachmänner 
gehört und nach ihrem Gutachten ver¬ 
fahren wurde. In anderen Weinbaugebieten 
scheint man nach diesem System noch 
nicht zu handeln, obschon der Erlaß des 
Reichskanzlers vom 28. Oktober 1903 haupt¬ 
sächlich darauf hinweist. Unzweifelhaft 
braucht nicht all das „Wein 44 zu sein, was 
die chemische Analyse besteht; gerade 
darin liegt die Notwendigkeit der Ernen¬ 
nung unparteiischer Weinkenner. Man be¬ 
zweckt einmal, dem Weinfache das Recht 
zu wahren, über sein Produkt selbst zu 
urteilen und nicht auch dem Chemiker, 
dem Nahrungsmittel-Chemiker, die Zungen¬ 
probe zu überlassen, dann aber auch, um 
die in Massen angebotenen, auf irgend 
welchem Wege analysenfest hergestellten 
„kleinen Sachen“ „Spuren“ auf Grund der 
Zungenprobe aus dem Verkehr zu bringen. 
Es müssen eben die Gesamtanalyse und 
das durch die Zungenprobe eines Weines 
geschaffene Bild zugleich ausschlaggebend 
sein. Noch weiter geht der Kanton Winter¬ 
thur, nach dessen Vorschriften selbst dann 
noch Weine mit Erfolg beanstandet wer¬ 
den können, wenn die Analyse sie hatte 
passieren lassen. 

Der Teil lautet folgendermaßen: 

Beurteilung von Weinproben durch eine 
Degustationskommission und richter¬ 
liche Anerkennung dieses Verfahrens. 

Ueber die Begutachtung von Wein- 

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proben durch eine gemeinderätliche De¬ 
gustationskommission statt durch den 
Chemiker und über die richterliche Gut¬ 
heißung dieses Vorgehens gegenüber er¬ 
folgter Einsprache wird im „Schweiz. 
Zentralblatt für Staats- und Gemeindever¬ 
waltung“ von Dr. J. Weber in Winter¬ 
thur u. a. folgendes berichtet. 

Einen die Weinbau treibende Bevölke¬ 
rung unseres Landes schwer schädigenden 
Faktor im Wirtschaftsleben bildet die so 
weit verbreitete Weinpantscher ei, durch 
welche Wein in großen Quantitäten mit 
geringen Kosten produziert wird und billig 
abgegeben werden kann. Dieser beizu¬ 
kommen, hält schwer, da die Technik in 
derselben große Fortschritte gemacht, so 
daß auch der beste Chemiker mit der 
schönsten Analyse dem im Winter, Früh¬ 
jahr oder Sommer produzierten Weine die 
Realität nicht absprechen kann. So lange 
bei der Beurteilung eines Weines nur auf 
eine vom Kantons- oder Stadtchemiker 
vorgenommene chemische Analyse ab¬ 
gestellt 1 ) wird, so lange werden auch die 
wohlgemeinten Bestimmungen in der kan¬ 
tonalen züricherischen Verordnung, be¬ 
treffend die Kontrollierung des Weinver¬ 
kehrs (daß als Wein nur das durch Gären 
aus dem Traubensaft ohne irgend wel¬ 
chen Zusatz gewonnene Getränk be¬ 
zeichnet werden dürfe, daß andere wein¬ 
haltige oder weinähnliche Getränke gemäß 
ihrer Zusammensetzung oder Herstellung 
als koupierte, gallisierte oder Kunstweine 
deklariert werden müssen) nur auf dem 
Papier stehen. Von derartigen Erfahrungen 
ausgehend ist die Gesundheitsbehörde 
Winterthur dazu gelangt, auf den Ent¬ 
scheid einer von ihr eingesetzten, aus an¬ 
erkannten Weinkennern bestehenden De¬ 
gustationskömmission abzustellen, 1 ) 
welche ihren Befund nach Kosten des 
betreffenden Weines, gestützt auf Geruch 
und Geschmack, abgibt. Die Gesundheits¬ 
behörde erkannte die Tatsache an, daß er¬ 
fahrene Weinkenner nicht bloß reale Weine 
sofort von nicht realen, gallisierten Weinen 
mit Leichtigkeit zu unterscheiden, sondern 
auch die verschiedenen Weine nach der Ge¬ 
gend, aus welcher sie stammen, zu gruppieren 
vermögen und zwar auf die durchaus ver¬ 
schiedene Reaktion von Zunge und Gau¬ 
men auf gewisse Eigentümlichkeiten des 
Weines, nicht auf den subjektiven 
Geschmack, sondern auf die ganz be¬ 
stimmten, einem Weinkenner nicht ent¬ 
gehenden Reize auf die Geschmacksorgane 

*) Schweiz. Provinzialismus, gleichbedeutend mit: 

„ urteilen*. 

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Juli 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


303 


hin. Um diese Untersuchungsmethode zu 
einer möglichst zuverlässigen und objek¬ 
tiven zu machen, ist die Gesundheits¬ 
behörde bei der Degustationskom¬ 
mission sehr sorgfältig vorgegangen und 
hat ferner dafür Sorge getragen, daß dieser 
je weilen unbekannt bleibt, von wem die 
zu beurteilenden Weinproben stammen. 
Um ferner die Prüfung durch Oberexperten 
zu ermöglichen, werden jeweils Doppel¬ 
proben erhoben. 

In diesem Frühjahr nun hat sich eine 
Gelegenheit geboten, die Anwendbarkeit 
dieser Untersuchungsmethode durch die 
Gerichte beurteilen zu lassen. Der Inhaber 
einer Verkaufsstelle für Wein ist nämlich 
auf den Befund der Degustationskom¬ 
mission hin wegen unrichtiger Deklara¬ 
tion seiner Weine mit einer Polizeibuße 
bestraft worden, obschon der Kantons¬ 
chemiker erklärt hatte, daß nach dem 
Ergebnisse der chemischen Untersuchung 
der Weine keine Anhaltspunkte vorliegen, 
um die Richtigkeit der Deklaration zu be¬ 
anstanden. Der Bestrafte verlangte ge¬ 
richtliche Beurteilung der Buße. Der An¬ 
walt desselben wies in der Gerichtsver¬ 
handlung darauf hin, daß die betreffenden 
Weine vom Kantonschemiker nicht be¬ 
anstandet worden seien, und bestritt die 
Anwendung der Degustation als Unter¬ 
suchungsmethode für die Beurteilung eines 
Weines mit der Begründung, daß über den 
Geschmack nicht zu streiten sei: „de gu- 
stibus non est disputandum“. Der Ge¬ 
schmack sei zu subjektiv, als daß er 
ein zuverlässiges Untersuchungsmittel bil¬ 
den könnte. Eventuell wurde die Ein¬ 
setzung einer Oberexpertise verlangt, da 
die von der Gesundheitsbehörde gewählten 
Experten als Weinhändler und Wirte, 
also Konkurrenten, befangen seien und 
daher kein unparteiisches Urteil abgeben 
könnten. Das Bezirksgericht erkannte 
jedoch die Ausführungen der Gesundheits¬ 
behörde an und wies auch das Begehren 
nach einer Oberexpertise zurück, das letz¬ 
tere mit dem Bemerken, daß die von der 
Behörde gewählten Experten als Wein¬ 
kenner bekannt seien und nicht befangen 
und parteiisch sein konnten, weil ihnen 
die Inhaber der zu beurteilenden Weine 
bei Abgabe ihres Urteils nicht bekannt 
waren. Die verhängte Buße wurde daher 
bestätigt. 

Gegen dieses Urteil des Bezirksgerichts 
reichte der Anwalt des Bestraften Nichtig¬ 
keitsbeschwerde bei der Appellationskam¬ 
mer des Obergerichts ein, wobei er neuer¬ 
dings ausführte, daß es nicht angehe, bei 

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der Beurteilung eines Weines und der da¬ 
her rührenden Verhängung einer Buße auf 
eine Geschmacksprobe, auf den Befund 
einer Degustationskommission abzu¬ 
stellen, 1 ) welch letztere zudem aus Kon¬ 
kurrenten des Bestraften und erbitterten 
Gegnern des Kleinverkaufes geistiger Ge¬ 
tränke über die Gasse bestehe. Jedes 
Sachverständigengutachten müsse motiviert 
sein, schon damit der Richter und die 
Parteien dasselbe nach seiner tatsächlichen 
Richtigkeit und nach seiner Logik nach¬ 
prüfen können. Ein Urteil auf ein nicht 
motiviertes und nicht motivierbares Urteil 
stützen, heiße die Rechte der Verteidigung 
wesentlich beeinträchtigen. 

Die Appellationskammer des Oberge¬ 
richts wies die Beschwerde ab (Beschluß 
vom 7. Mai 1903), indem dieselbe das in 
dem Befunde der Degustationskom¬ 
mission liegende Beweismittel als solches 
anerkannte und den Einwand, daß die ge¬ 
nannte Kommission als befangen zu er¬ 
klären sei, zurückwies, wie das Bezirks¬ 
gericht. Der Standpunkt des Nichtigkeits¬ 
klägers, daß ein Befund über die Unter¬ 
suchung von Lebens- und Genußmitteln 
nachgeprüft werden müsse, um beweis¬ 
kräftig zu sein, wird als unhaltbar be¬ 
zeichnet, da das Gesetz betreffend die 
öffentliche Gesundheitspflege es vollständig 
in die Kompetenz der Gesundheitsbehörde 
lege, das Ergebnis einer Untersuchung auf 
eigene Wahrnehmung oder auf den Bericht 
eines Sachverständigen zu gründen, sofern 
eine Gewähr dafür vorhanden sei, daß die 
Untersuchung eine zweckentsprechende und 
zuverlässige sei. Diese Voraussetzungen 
seien im vorliegenden Falle unzweifelhaft 
vorhanden. 

Mit diesen Entscheiden wird es der Ge¬ 
sundheitsbehörde möglich gemacht, die 
Kontrolle des Weinverkehrs vorzunehmen, 
gestützt auf Urteile von Degustations¬ 
kommissionen und endgültig auf den 
Befund der letzteren, sofern deren Zu¬ 
sammensetzung eine zuverlässige und für 
die unparteiische Abgabe ihres Urteils ge¬ 
sorgt ist, abzustellen. 9 ) Damit ist auch die 
Möglichkeit gegeben, der Weinpantscherei 
energischer entgegenzutreten. 

Von der königl. Kreis-Versuchsstation 
Speyer wurden die gewerblichen Inter¬ 
essenten wiederholt auf die Zungenprobe 
verwiesen, in Fällen, wo die Weine zwar 
verdächtig waren, die Analyse jedoch be¬ 
standen hatten. Die Kaufleute beantragen 
daher im Weinparlament die Errichtung 

l ) Lies: „urteilen.“ 

*J Lies: „zu entscheiden.” 

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30* 


Juli 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


von Zungen probe-Kommissionen, welche 
teils aus Weinhändlern, teils aus Produzenten 
bestehen. Es wären also sowohl die 
Handelskammern, als auch die landwirt¬ 
schaftlichen Korporationen um Vorschläge 
zu ersuchen, und zwar hätte eine „Zun¬ 
genprobe-Kommission“ jeweils zu glei¬ 
chen Teilen aus Sachverständigen beider 
Korporationen zu bestehen. Daß über die 
Auswahl auch der Weinkontrolleur zu hören 
wäre, ist aus nahe liegenden Gründen 
empfehlenswert. Es muß noch auf den 
§ 11 des ungarischen Weingesetzes, sowie 
auf die §§ 20 und 21 des im Anhang zu 
jenem Gesetz befindlichen Erlasses des unga¬ 
rischen Handelsministers 1 ) im Jahre 1897 
hingewiesen werden, welche sich auch mit 
den Aufgaben der Zungenprobekommis¬ 
sion beschäftigt. Vielleicht wird es auch 
nötig, ein vollständiges Regulativ für diese 
wichtige Einrichtung auszuarbeiten. 

Auch in anderen Gebieten des Nah¬ 
rungsmittel-Verkehrs dringt die Einsicht 
durch, daß die theoretische Wissenschaft 
der Ernährungshygiene für die Praxis des 
Lebens durchaus nicht genügt. 

ln den Kreisen der Nahrungsmittel¬ 
gewerbe war darüber Klage geführt wor¬ 
den, daß in Strafverfahren, die den Ver¬ 
kehr mit Nahrungs- und Genußmitteln be¬ 
treffen, kaufmännische Sachverständige im 
Verhandlungstermin zugezogen worden 
sind, denen die erforderliche Objektivität 
oder kaufmännische Befähigung fehlte, und 
daß hierdurch in Einzelfällen Fehlsprüche 
verursacht wurden. Die Handelskammer 
zu Berlin hatte deshalb in einer Eingabe 
1909 an den Oberstaatsanwalt bei dem 
Kammergericht den Wunsch ausgesprochen, 
daß in derartigen Prozessen von Anfang 
an als kaufmännischer Sachverständiger 
ein für die betreffenden Waren öffentlich 
angestellter und beeidigter Gewerbetrei¬ 
bender oder mangels eines solchen eine 
von den amtlichen Handelsvertretungen 
vorzuschlagende Person zugezogen wird. 
Der Oberstaatsanwalt hat diesem Ersuchen 
durch eine Verfügung an die ersten Staats¬ 
anwälte und die Amtsanwälte Folge ge¬ 
geben. Es wird darin an einen früheren 
Ministerialerlaß erinnert, in dem auf die 
Bedeutung der Auswahl qualifizierter Sach¬ 
verständiger von Küche und Keller in 
Strafprozessen über Nahrungsmittel hin¬ 
gewiesen und empfohlen wurde, bei Ver¬ 
fahren, in welchen Fragen des Handels¬ 
rechtes und des Handelsbrauches in Be 

*) „lieber das Verbot der Weinfälschung und des 
Verkehrs mit gefälschtem Wein“. 1909. Verlag 
Mor. Röth (Budapest). 

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tracht kommen, sofern nicht von vorn¬ 
herein Sachverständige von unzweifel¬ 
hafter Befähigung zur Verfügung stehen, 
mit den zuständigen Handelskammern 
wegen Ernennung solcher Sachverständiger 
in Einvernehmen zu treten. Im Anschluß 
daran weist der Oberstaatsanwalt die 
nachgeordneten Instanzen an, in Fällen, 
in denen neben dem Chemiker, dem die 
Beurteilung der wissenschaftlichen und 
produktionstechnischen Fragen unterliegt, 
noch ein besonderer kaufmännischer Sach¬ 
verständiger über die Fragen der eigent¬ 
lichen Handelstechnik und die im Verkehr 
herrschenden Gebräuche und Gepflogen¬ 
heiten zuzuziehen ist, die Auswahl eines 
solchen unter den öffentlich angestellten 
und beeidigten Gewerbetreibenden oder 
durch Angehung der amtlichen Handels¬ 
vertretungen zu treffen. 

Ich meine daher, im Gegensatz zu 
König 1 ) und Dr. H. Spieß 3 ), daß zur 
Beurteilung des Wertes der Genußmittel 
nicht bloß der Hygieniker und nicht bloß 
der Chemiker berufen ist, sondern auch der 
gewerbliche Fachmann in Küche und Keller. 

Wenn die Wissenschaft der Hygiene 
zur wahren Erkenntnis des Wertes der 
Genußmittel von Küche und Keller und 
des Wesens ihres Genusses gelangen soll, 
dann darf die Theorie nicht mehr wie bis¬ 
her die Praxis vernachlässigen, dann darf 
die Ernährungslehre nicht fernerhin die 
Ernährungstechnik in Küche und Keller 
übersehen, dann darf sich die Physio¬ 
logie der Ernährung nicht mehr mit der 
Chemie der Nahrungsmittel und Nahrungs¬ 
stoffe begnügen, dann muß die Medizin 
endlich einmal die Erfahrungen der juristi¬ 
schen Praxis und der Rechtswissenschaft 
über die fertige Nahrung der Garküche ein¬ 
holen. Es ist vielleicht nicht bloß ein Zu¬ 
fall, daß die einzige Autorität über Ge¬ 
schmack von Küche und Keller, auf die sich 
die moderne Medizin immer noch beruft, ein 
Jurist ist: Brillat Savarin, „dessen lehr¬ 
reiches Buch heute viel zu wenig gekannt 
ist“ vom ärztlichen Fachmann, wie Albu 8 ) 
meint! Durch diese Einsicht wird dann 
auch die Wissenschaft der Ernährung ge¬ 
winnen. Denn es wird sich zeigen, daß 


l ) „Ueber die einer geregelten Lebensmittel- 
kontrollc zurzeit noch entgegenstehenden Hinder¬ 
nisse“. V. Jahresversammlung der Freien Vereini¬ 
gung Deutscher Nahrungsmittel-Chemiker. Mai 1906. 
Ztschr. f. Untersuchung der Nahrungs- und Genu߬ 
mittel 1906. 

a ) „Zur Nahrungsmittelkontrolle“. Chemiker- 
Zeitung 29. März 1910, Nr. 37 S. 321. 

3 ) „Grundzüge der Ernährungstherapie.“ 1908, 

S. 62 u. S. 8. 

Original from 

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Juli 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


305 


und warum im allgemeinen schon fQr 
das Genießen der Nahrungsmittel, nicht 
bloß fQr den Genuß der Genußmittel, zu 
den beiden bisher allein geltenden Werten, 


chemischem Nährwert und physikalischem 
Brennwert, ein dritter Wert hinzuzurechnen 
ist, der Genußwert: Geschmack und 
Schmackhaftigkeit 


Zur Therapie des Keuchhustens. 

Von Dr. Gustav Bradt-Berlin. 


Wenn wir die große Zahl der Medika¬ 
tionen und Behandlungsmethoden über¬ 
sehen, die gegen den Keuchhusten emp¬ 
fohlen worden sind, drängt sich leicht der 
Gedanke auf, daß keine den in sie gesetzten 
Erwartungen entsprach, und daß infolge¬ 
dessen die Aerzte immer wieder nach 
neuen Kampfmitteln gegen diesen Feind 
der Kinder suchten. Besonders war es 
die verschiedene Auffassung vom Wesen 
der Krankheit, welche die einzelnen Beob¬ 
achter auf verschiedene therapeutische 
Bahnen drängte. Erwägt man, daß die 
Pertussis von dem einen als Nervenkrank¬ 
heit, von anderen als eine infektiöse Er¬ 
krankung der oberen Luftwege aufgefaßt 
wurde, so ist die Divergenz der therapeu¬ 
tischen Bestrebungen nicht verwunderlich. 
Heute besteht wohl insofern eine Ueber- 
einstimmung in der Beurteilung der Er¬ 
krankung, als man sie als eine Infektions¬ 
krankheit auffaßt, und viele Aerzte glauben, 
daß nur von einem im modernsten Sinne 
geübten serotherapeu tischen Vorgehen 
Hilfe gegen den Feind zu erwarten sei. 
Da wir aber die Erreger der Pertussis 
noch nicht sicher kennen, so sind die Aus¬ 
sichten dieser Therapie noch gering, ins¬ 
besondere: da, wenn wir die Bordet- 
GengoiTsehen Bakterien als spezifisch 
gelten lassen wollen, die serotherapeutische 
Beeinflussung — worauf Arnheim hin¬ 
weist — wegen der technischen Schwierig¬ 
keiten und der geringen toxischen Eigen¬ 
schaften der Kulturen wenig Aussicht auf 
Erfolg bieten! Es bleibt uns daher zu¬ 
nächst das große Feld chemischer oder 
physikalischer Maßnahmen übrig, die ja 
auch bei anderen Infektionskrankheiten wie 
Malaria, Rheumatismus usw. Hilfe bringen. 
— Es soll nun im folgenden durchaus nicht 
zu den vielen Medikationen eine neue emp¬ 
fohlen werden, sondern nur auf die Wich¬ 
tigkeit einer längst geübten hingewiesen 
und ihre ätiologische Begründung gegeben 
werden. 

Abgesehen von der charakteristischen 
Art des Hustenanfalls auf der Höhe der 
Erkrankung ist der Verlauf der Pertussis 
doch ein sehr verschiedener. Diese Proteus¬ 
natur kann zum Teil auf der Verschieden¬ 
heit der Virulenz der Noxe beruhen (genius 

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morbi), zum Teil im befallenen Individuum 
selbst zu suchen sein, indem geschwächte 
Organismen und in diesen wiederum die 
geschwächten Organe besonders unter der 
Noxe zu leiden haben und mit ihren Sympto¬ 
men das Krankheitsbild beherrschen. So er¬ 
gibt sich denn die große Verschiedenheit der 
einzelnen Epidemien und der verschieden¬ 
artige Verlauf bei einzelnen Individuen 
während derselben Epidemie. 

Nichtsdestoweniger glauben wir mit 
anderen Autoren auf Grund klinischer und 
pathologisch anatomischer Beobachtungen 
annehmen zu können, daß wenigstens im 
Beginn der Erkrankung eine bestimmte 
Körperregion der spezifischen Infektion 
durch die Pertussisnoxe anheim fällt, und 
daß von hier aus die ersten Anfälle aus¬ 
gelöst werden. 

Der pathologisch anatomische Befund 
ist kein einheitlicher. Da die Fälle erst 
sehr spät zur Sektion kommen, gewöhnlich 
nachdem Komplikationen aufgetreten sind, 
ist die Unterscheidung von primären und 
sekundären Veränderungen sehr schwierig, 
fast immöglich. Eindeutiger schon ist der 
Befund, den man durch Autopsie in vivo 
mit Nasen- und Kehlkopfspiegel erhält 
(Meyer-Hüni und v. Herff). Auf beiden 
Wegen hat man häufig eine Entzündung 
der Schleimhaut der oberen Luftwege beob¬ 
achtet. Im allerersten Stadium freilich 
sieht man zuweilen gar keine deutliche 
makroskopische Alteration, obwohl schon 
unzweideutige Anfälle vorhanden sind; 
doch sind relativ früh zirkumskripte Rötun¬ 
gen an den Choanen beobachtet worden. 
Ferner fand man die Hinterwand des 
Larynx verdickt und auch die supra- und 
infraglottische Schleimhaut entzündet, ja 
sogar nekrotisiert (Dominici). Weiter 
wurden Veränderungen an der Trachea 
und den Bronchien beobachtet — also das 
Bild eines absteigenden Katarrhs der Luft¬ 
wege. 

Diese objektiven Befunde weisen uns 
darauf hin, daß der Sitz der ersten Er¬ 
krankung in den obersten Luftabschnitten 
zu suchen sei. Dem entspricht eine von 
uns in vielen Fällen immer wieder ge¬ 
machte Beobachtung, daß ein zäher glasiger 
Schleiropfropf kurz vor dem Anfall bei der 

39 

Original frnm 

UNIVERSUM OF CALIFORNIA 





306 


Juli 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Inspektion des Rachens aus dem Nach¬ 
rachenraum herabhing, und dieser Schleim¬ 
pfropf scheint uns für die Attacke von 
großer Bedeutung zu sein. Wir hören so 
oft von Patienten, die an Pharyngitis Sim¬ 
plex leiden, daß der Schleimpfropf hinter 
der Nase sie außerordentlich quäle, sie 
zum Husten und Würgen veranlasse, ehe 
sie ihn loswerden. Die Hustenattacken 
bei solch einfacher Pharyngitis sind zu¬ 
weilen so heftig, daß man an Pertussis 
denken möchte, und die Kranken fühlen 
sich sofort befreit, wenn man mit dem 
Pinsel diesen Pfropf aus dem Nasenrachen 
entfernt hat. Zumeist hing auch bei der 
weiter unten zu beschreibenden therapeu¬ 
tischen Pinselung des Rachens der Per¬ 
tussiskranken, am herausgezogenen Watte¬ 
träger ein zäher mehr oder weniger großer 
glasiger Schleimpfropf. 

Wenn weiter die Bakteriologen be¬ 
richten, daß die Stoffwechselprodukte der 
Pertussiserreger stark ätzende Eigenschaften 
besitzen, so können diese Aetzwirkungen 
auf die Rachenschleimhaut die Schwere 
des Hustenanfalls schon erklären im Gegen¬ 
sätze zu den gewöhnlichen Pharyngitiden, 
bei denen ja in der Regel kein spastischer 
Husten auftritt. 

Eine weitere Beobachtung weist eben¬ 
falls auf die obersten Luftwege als Ein¬ 
gangspforte der Pertussisnoxe hin. Zu¬ 
weilen beobachtet man während einer Per¬ 
tussisepidemie Kinder, die an Niesanfällen 
in ganz analoger Weise leiden, wie die 
anderen erkrankten Kinder an Husten¬ 
anfällen. Bei diesen hat die Krankheit die 
Schleimhaut der Nase ergriffen. In einem 
solchen von mir beobachteten Falle war 
nur eine Schwellung der Nasenschleimhaut 
und geringe Rötung zu beobachten. Es 
ist ferner bei unserer Betrachtung die kli¬ 
nische Erfahrung zu berücksichtigen, daß 
die Hypertrophie des adenoiden Gewebes 
im Nasenrachenraum die Intensität der An¬ 
fälle steigert. 

Der Nasenrachenraum ist nun auch der¬ 
jenige Teil der obersten Luftwege, in 
welchem der Krankheitsprozeß zuerst auf¬ 
tritt und sich am längsten abspielt. Früher 
oder später werden auch die tieferen Teile 
des oberen Lufttraktus ergriffen. Der Reiz 
im Nasenrachenraum, dessen Ursachen wir 
oben gekennzeichnet haben, ist so stark, 
daß beim Keuchhusten zum Unterschied 
vom gewöhnlichen Husten nicht nur die 
Exspiration, sondern auch die Inspiration 
bei verengter Stimmritze und gespannten 
Stimmbändern erfolgt — daher auch die 
für Keuchhusten charakteristische tönende 


Inspiration, die nur durch das Vorüber¬ 
streichen der Luft an gespannten Mem¬ 
branen entstehen kann. 

Diese Beobachtungen und Ueberlegungen 
führen zu der Erkenntnis, daß die Versuche 
bei Pertussis die obersten Luftwege, als 
den primären Herd, lokal zu behandeln, 
durchaus begründet sind. Gelingt es nun, 
die ersten Folgezustände der Infektion im 
Nasenrachenraum erfolgreich anzugreifen, 
so hätten wir eine der ätiologischen Thera¬ 
pie sehr nahekommende. 

Von diesen Gesichtspunkten aus haben 
wir versucht, durch Touchierungen des 
Rachens und Nasenrachens die Pertussis 
zu bekämpfen, indem wir dabei gleichzeitig 
den reizenden Schleimpfropf entfernten 
und die ihn sezernierende Schleimhaut mit 
adstringierenden resp. antiseptischen Lösun¬ 
gen behandelten. Einige Krankengeschichten 
mögen die hierbei gemachten Beobachtun¬ 
gen erläutern. 

1. Knabe C. F. hustet seit längerer Zeit 

— kein erheblicher Befund an der Lunge — 
Rachen gerötet. — Bisherige interne Medi¬ 
kationen ohne Erfolg. — Der Klang des Hustens 
erweckt den Verdacht auf Pertussis. — Pinse¬ 
lung des Nasenrachens und Rachens mit Lugol- 
scher Lösung und Inhalation von Emser Krähn- 
chen mit dem Heryngschen Inhalationsapparate: 
Besserung in ca. 14 Tagen — kein typischer 
Pertussisanfall. Einige Tage später treten bei 
der Schwester des Knaben, die schon einige 
Tage vorher gehustet hatte, typische Pertussis- 
anfälle auf, die zunächst medikamentös ohne 
Erfolg behandelt werden. Nach etwa fünf 
Pinselungen des Nasenrachens hört die Reprise 
auf. Die Touchierung erfolgt erst täglich, dann 
nach 2 resp. 3 Tagen, 

2. Die Kinder Sp. waren seit einigen Tagen 
an heftigem Husten mit Brechreiz und j, Er¬ 
stickungsanfällen* erkrankt. Bei dem einen 
Kinde beobachtete ich einen typischen Pertussis¬ 
anfall. Beide Kinder wurden mit Lugolscher 
Lösung von der Mutter morgens und abends 
nach meiner Anweisung in Rachen und Nasen¬ 
rachen gepinselt. Brechen und Reprise (»Er¬ 
stickungsanfälle*, wie sie die Mutter nannte) 
cessierten in wenigen Tagen. Am Ende der 
zweiten Woche husteten die Kinder nicht mehr. 

Die Mutter der Kinder, welche in langer 
Samaritertätigkeit sich eine gute manuelle Ge¬ 
schicklichkeit angeeignet hatte und eine gute 
Beobachtungsgabe besitzt, beschreibt die Er¬ 
krankung folgendermassen: »Meine Kinder — 
damals fünf- und vierjährig — hatten einige 
Tage lang Husten, Schnupfen, Halsschmerzen 

— eine „Erkältung“. Plötzlich steigerte sich 
der Husten sehr bedenklich — er trat nachts 
besonders stark auf mit Brechreiz und Er¬ 
stickungsanfällen. Der Arzt verordnete Pinse¬ 
lungen des Rachens, die ich gewissenhaft 
morgens und abends ausführte. Zusehends 
besserte sich der Husten, der Brechreiz schwand 
vollkommen, in zehn Tagen waren die Kinder 
gesund. Wir waren kurz vor der Erkrankung 
unserer Kinder bei einer befreundeten Familie 

ewesen, deren Kinder heftigen Keuchhusten 

ekamen und lange Zeit nach der Genesung 


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Original fram 

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Juli 


Die Therapie der Gegenwart 1910 


307 


unserer Kinder noch hatten. Ich möchte fast 
sagen: bei meinen Kindern wurde durch die 
Pinselungen der Keuchhusten im Keime er¬ 
stickt. Nach jedesmaligem Pinseln husteten 
die Kinder stundenlang nicht, und nachts blieben 
sie von dem für Keuchhusten so typischen Er¬ 
brechen fast ganz verschont.“ 

3. Die drei Geschwister W. kommen gleich¬ 
zeitig zur Behandlung: Irmgard W. bekommt 
Bromoform, Hermann und Bernhard werden 
im Nasenrachen mit Lugolscher Lösung be¬ 
handelt. Aus der von der Mutter vorgenommenen 
Zählung der Anfälle entsteht folgende Tabelle 
(der Zähler gibt die Zahl der Tages-, der 
Nenner die der Nachtanfälle an): 

Nach den Angaben der Mutter blieben die 
Anfälle des Mädchens immer schwerer als die 
der Knaben. Am 29. Juli gibt die Mutter an, 
die Anfälle wären „so gut wie weg“ bei den 
Knaben. Es geht aus der Tabelle hervor, daß 
die nächtlichen Anfälle bei Irmgard relativ viel 
langsamer wichen, als bei den Knaben, obwohl 
bei Bernhard eine Bronchitis den Verlauf Mitte 
Juli komplizierte und seine Anfälle ursprüng¬ 
lich quantitativ viel zahlreicher und qualitativ viel 
schwerer waren. 


fälle waren stets leichter geblieben, auch in den 
Zeiten, in denen er entsprechend dem Stadium 
seiner Krankheit f zahlreichere Anfälle hatte. 
Kurt bekam auch eine Blutung in die Konjunk- 
tiva. Am 2. Juli sagt die Mutter: „Der Ver¬ 
lauf bei Erich ist im ganzen leichter als bei 
Kurt.* 

5. Erwin L. Wally L. 

1907 
Juni 

Erwin hustet seit zwei 25 6/6 4/4 

Wochen mit Ziehen. 

26 9/1 

27 6 1 

Erwin wird gepinselt, 28 6/1 
Wally nicht. 

29 6/1 

30 5/1 
Juli 

1 9/0 11/4 

2 9/0 

3 7/0 

4 5/0 

5 5/0 7/5 

6 5/0 

7 5/0 7/3 


1907 

Irmgard 

Hermann 

Bernhard 

2907 

3274/07 

5273/07 

25. Juni 

8/5 

4/0 

19/15 

28. „ 

9/4 

8/0 

11/5 

2. Juli 

4/ 

4/0 

10/4 

7. „ 

4/3 

5/0 

9/4 

12 . „ 

5/3 

4/0 

10/5 

19. ,. 

4/2 

2/0 

5/1 

27. „ 

3/0 

2/0 

3/1 

31. „ 

2/1 

3/0 

4/0 

4. August 

2/1 

2/0 

4/1 

10 . „ 

2/0 

1/0 

2/0 

17. ,, 

0/0 

0/0 

1/0 


Bronchitis 
Lig. pectratis 

Die Mutter sagt: „Die Anfälle sind so gut wie weg. 
Ziehen nicht mehr zurück.“ 

Irmgards Anfälle sind schwerer, wie die der Knaben. 


4. Erich und Kurt G. Erich wird gepinselt, j Auch hier sehen wir den Verlauf bei 
Kurt erhält Bromoform. Beginn der Behänd- I dem lokal behandelten Kinde leichter sich 
lung am 21. Juni 1907 : I gestalten. Auffallend war der Anstieg der 


Erich (3229) 

Juni 

21 

22 8/0 

23 4/0 

24 5/0 

25 3/0 

Anfälle an Zahl und Kraft ge- 26 6/0 

ringer als bei Kurt. Dieser ist 
länger und schwerer krank. 

27 7/1 

Anfälle ebenso häufig wie beim 28 11/1 

Kontrollbruder, aber leichter. 

29 5/1 

30 11/1 
Juli 

Anfälle häufiger, aber leichter. 1 8/1 

Angabe der Mutter: ,.Der Verlauf 2 7/1 

bei Erich ist im ganzen leichter 
als bei Kurt.“ 

3 7/0 

4 5/0 

Bei Erich können wir die drei Stadien der I 
Pertussis verfolgen, da er im Beginn der Krank- ] 
heit in Behandlung trat. Die Zahl der nächt¬ 
lichen Attacken hat eine nicht überstiegen. Er ! 
war ebenso schnell wiederhergestellt als der I 
Bruder, der viel länger krank war. Seine An- | 

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Kurt (3230) 

11/3 

6/3 

9/1 

7/0 

6/1 Besserung. 

Dieser Knabe hat einen Bluterguß in 
der Conjunctiva. Seine Einzelanfälle 
7/2 waren stärker als bei Erich. 

6/1 

7/1 

4/1 

5/0 

7/0 


8/0 

4/0 

Zahl der Anfälle am 1. Juli. Der Knabe war 
am 30. Juni nicht behandelt worden. Nach 
Wiederaufnahme der Touchierungen schwin¬ 
den die nächtlichen Anfälle ganz, die Tages¬ 
anfälle viel schneller als beim Kontroll- 
kinde. 

39* 

Drigiral from 

UNIVERSITÄT OF CALIFORNIA 






308 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Juli 


6. Geschwister Sch.: 



Carl 

Martha 

Hertha 

2. Juli 

13/6 



5. „ 

9/6 



10 . „ 

9/5 



15. „ 

4/5 

8/6 


16. „ 

10/7 


5/5 

20 . „ 

6/4 

7/5 


24. „ 

6/3 

6/3 

6/6 

30. „ 

5/1 

6 2 

6/4 

4. August 

5/0 

4/2 

7/4 


Aus der Krankengeschichte: 

1 . Juli: Bei Karl Beginn der Pinselungen. 

4. Juli: Bei Martha keine typischen Anfälle. 
Medikation: Liq. pectoralis. 

10. Juli: Bei Martha besteht eine Pharyn¬ 
gitis, die Hustenanfälle sind stärker, aber keine 
Reprise. 

15. Juli: Bei Martha typische Anfälle. Be¬ 
ginn der Rachenpinselungen. 

16. Juli: Bei Karl tritt nach anfänglicher 
guter Besserung plötzlich Fieber auf. Dieses 
war bedingt durch einen Darmkatarrh infolge 
übermäßigen Genusses von Kirschen. 

14. Juli: Bei Hertha typische Anfälle — be¬ 
kommt Bromoform. 

24. Juli: Bei Karl sind die Anfälle wieder 
an Zahl geringer und leichter. 

Bei Martha sind die Anfälle leichter. 

Bei Hertha sind die Anfälle häufiger und 
schwerer. 

Wir ersehen aus dieser Kranken¬ 
geschichte, daß der Verlauf bei der mit 
Bromoform behandelten Hertha "sich schwe¬ 
rer gestaltet, als bei der fast gleichzeitig 
erkrankten Martha, welche lokal behandelt 
wurde. Bei Karl tritt trotz der Kompli¬ 
kation mit dem fieberhaften Darmkatarrh, 
die eine Verschlimmerung der Anfälle er¬ 
zeugte, schnell wieder eine Besserung ein, 
die besonders durch die Erleichterung des 
Einzelanfalles charakterisiert war. 


7. Else K. 


Datum 

Anfälle 

5. Juli 

14/9 

10 . „ 

18/8 

14. M 

12/5 

18. „ 

16/8 

24. „ 

9/5 

26. „ 

10/3 

31. „ 

10/2 

4. Aug. 

6/1 


Hustet seit 14 Tagen mit 
Ziehen und Brechen. 
Typische Anfälle be¬ 
obachtet. 


Nach anfänglicher Besse- 
r un g Ausb ruch von Vari¬ 
cellen und Steigerung 
der Anfälle. 


Auch relativ schnelle und systematische 
Abnahme der Anfälle trotz der durch das Auf¬ 
treten von Varicellen bedingten Verschlimme¬ 
rung. In der Varicellenperiode wurde das 
Kind nicht zur Behandlung gebracht. Nach 
Wiederaufnahme der Behandlung schnelle Besse¬ 
rung. 


8. Willy 

Willyhustetseit 
drei Wochen 

Keine Anfälle 


P. 

Juli 

17 

4/2 

8/2 

20 

4/2 

6/0 

26 

4/1 

4/0 

Aug. 

4 

0/0 

0/0 

5 



Paul P. 

Paul hustet 
etwas länger 

Keine Anfälle. 


Relativ schneller Verlauf bei lokaler Be¬ 
handlung. 


Bei einer sehr großen Anzahl von Per¬ 
tussisfellen haben wir Beobachtungen ana¬ 
loger Art machen können und stets ge¬ 
sehen, daß der Einzelanfall nach der 
Pinselung sehr viel leichter wurde, er 
dauerte nicht so lange wie vorher und er¬ 
schöpfte die Kinder nicht so sehr wie 
früher. Der Einfluß der Pinselung auf die 
Zahl der Anfälle war auch fast stets sehr 
deutlich, wie ja auch aus den angeführten 
Tabellen ersichtlich ist. Dieser Unterschied 
in der Einwirkung auf Qualität und Quan¬ 
tität der Anfälle dürfte sich in folgender 
Weise erklären lassen. Aus der kurzen 
pathologisch anatomischen Skizze im An¬ 
fänge dieser Auseinandersetzungen geht 
hervor, daß die beobachteten Veränderun¬ 
gen den Nasenrachen, den Rachen, Kehl¬ 
kopf und Trachea betreffen können. Eine 
genaue Untersuchung der Kinder mit dem 
Kehlkopfspiegel ist nur sehr selten mög¬ 
lich, daher auch nicht die Feststellung, 
welche Partien im Einzelfalle betroffen 
sind. Wir begnügen uns mit der Behand¬ 
lung eines locus affectionis, den wir als 
Produktionsstätte des oben beschriebenen 
Schleimpfropfes für den hauptsächlichsten 
und ursprünglichen halten — nämlich 
Rachen und Nasenrachen. Wenn außer 
von dieser Stelle auch noch von anderen 
erkrankten Stellen der oberen Luftwege, 
die wir aber nicht sehen können, Husten¬ 
reize ausgehen sollten, so schalten wir 
einen Herd durch unsere Therapie aus, 
und mit der Verringerung der causa wird 
auch der effektus verkleinert; die nicht be¬ 
handelten Stellen können darum ruhig 
weiter und ebenso häufig die Anfälle aus- 
lösen. Aber die Summe der Reize ist 
quantitativ herabgesetzt und damit die 
Stärke des Einzelfalles. In praxi allerdings 
sehen wir auch schnell die Zahl der An¬ 
fälle geringer werden, und dies dürfte 
seinen Grund darin finden, daß beim Aus¬ 
wischen des Rachens einige Tropfen des 
Medikamentes in den Kehlkopf resp. die 
Trachea gelangen und daselbst adstringie¬ 
rend wirken. Wenn man im SpiegelbildeVer- 
änderungen am Latynx resp. der Trachea 
zu erkennen Gelegenheit findet, so wird 


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Original frnm 

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Juli 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


309 


man gut tun, mit der Spritze einige Tropfen 
des Medikamentes zu instillieren, nachdem 
man vorher kokainisiert hat, um durch die 
Injektion keinen Glottiskrampf auszulösen. 
Allerdings eignet sich diese Maßnahme nur 
für Erwachsene. Bei Erkrankung der Nase, 
auf die wir oben hingewiesen haben, ist 
es zweckmäßig, auch diese auszupinseln 
oder eine starke Protargolsalbe (10%) ins 
Naseninnere zu bringen; letzteres sollte man 
als Unterstützung der Touchierungsbehand- 
lung stets tun, wenn die Nase verstopft ist. 

Da, wo eine Brochitis besteht, sind die 
dabei üblichen, besonderen hydrotherapeu¬ 
tischen Maßnahmen nicht zu vergessen. 
Man hat gegen die lokale Behandlung ein¬ 
gewendet, daß sie zu aggressiv sei und 
leicht einen neuen Hustenanfall auslösen 
könne. Nun, wenn ein Kind 20 Anfälle 
gehabt hat, kann man ruhig den einund¬ 
zwanzigsten erzeugen, wenn man dadurch 
erreicht, daß danach alsbald die Zahl und 
Schwere der Attacken zurückgeht. Irgend¬ 
welche Schädigungen haben wir bei den 
vielen hundert Pinselungen, die wir an 
Pertussiskranken gemacht haben, nicht 
beobachtet * 

Als Medikament benutzten wir dieLö3ung: 
Rp. Jodi pari. 

Acid. carbol. aa . . . 0,5 


Kali jodat . 1,5 

Glycerin . 15,0 

Aqua ad . 100,0 


Aeußerlich. 

Wie aus der Literatur ersichtlich, haben 
andere Autoren sich anderer Medikamente 
in prophylaktischer respektive kurativer 
Absicht bedient, z. B. Calabro des Subli¬ 
mates in 0,05prozentiger Lösung, andere 
des Karbols, der Salicylsäure, des Resor- 
cins usw. Wir möchten aber nicht bloß 
Wert legen auf die adstringierende, sondern 
auch auf die mechanische Einwirkung, so¬ 
wie auf ein Medikament, bei dem keine 
schädigendeNebenwirkung zu befürchten ist. 

Einige Autoren haben das Medikament 
in Spray- oder Dampfform appliziert, andere 
die Insufflation von Pulvern in Nase und 
Rachen bevorzugt. Uns scheint die Tou- 
chierung, geschickt ausgeführt, den er¬ 
strebten Zweck am besten zu erfüllen. Die 
Pinselung muß schnell erfolgen, zunächst 
kurz den unteren Teil des Rachens treffen 
und dann muß man den Watteträger in 
den Nasenrachenraum bis ans Rachendach 
hinaufführen, so daß durch die Würgbe¬ 
wegung das Medikament aus dem Watte¬ 
bausch ausgedrückt wird. Am besten 
eignet sich der Baginskysche Watteträger 
dazu, dessen mit Watte bewickeltes abge- 

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bogenes Ende nur 2 cm lang sein soll. 

Eine präzise mit sicherer Hand ausgeführte 
energische Touchierung ist notwendig, sie 
darf bloß 2 bis 3 Sekunden dauern, um die 
Kinder so wenig wie möglich zu belästigen. 

Versuche mit einer 2prozentigen Pro- 
targollösung waren nicht so erfolgreich, 
als die mit obiger Lösung. 

Wir haben die Touchierungen täglich 
nur einmal ausgeführt; man höre nicht zu 
früh damit auf, da wir zuweilen nach mehr¬ 
tägigem Aussetzen eine Verschlimmerung 
auftreten sahen, die allerdings auf erneute 
Touchierung alsbald wieder zurückging. 

Aus dem Gesagten geht hervor, 
daß die Touchierung des Nasen¬ 
rachenraumes imstande ist, den Ver¬ 
lauf der Pertussis günstig zu beein¬ 
flussen. Dieser günstige Einfluß 
tritt besonders stark in Erscheinung 
bei frischen Fällen, bei welchen wir 
eine derartig auffallende Abkürzung 
der Krankheit erzielen konnten, daß 
man wohl von einer Coupierung 
sprechen kann. Stets aber war ein 
Rückgang in der Schwere und Zahl 
der Einzelfälle zu beobachten. Da 
wo Komplikationen von seiten der 
Lungen bestanden, war allerdings 
der Einfluß unserer Therapie ge¬ 
ringer, eine Tatsache, die nach 
unseren Betrachtungen über den Sitz 
der Krankheit verständlich ist. 

Die eben beschriebene Lokalbehandlung 
darf uns natürlich nicht vergessen lassen, 
daß die Toxine nicht bloß im Nasenrachen¬ 
raum liegen bleiben, sondern auch resor¬ 
biert werden. Wir müssen daher durch 
die geeigneten hygienischen und hydro- 
und ernährungstherapeutischen Maßnahmen 
die Reaktionsfähigkeit des Organismus 
stärken. In erster Linie kommt da der 
möglichst ausgedehnte Aufenthalt im Freien 
in Frage. Den Keuchhustenkranken eine 
solche Freiluftkur zu ermöglichen, werden 
die Aerzte stets bemüht sein müssen, und 
speziell in den Großstädten müssen die 
Behörden veranlaßt werden, gewisse Spiel¬ 
plätze für solche Kinder während der Epi¬ 
demie zu reservieren zur Heilung der 
Kranken und zum Schutze der Gesunden. 

Litteratur. 

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f. Kinderh. Bd. V, 248. — Monti, Ueber die 
die Behandlung des Keuchhustens mit Inhala¬ 
tionen von Gazeol. Jahrb. für Kinderheilk. 

Bd. VI, 102. — Lesser, Petroleumdämpfe. 

Jahrb. f. Kinderheilk. Bd. VI, 436.— Gürder, 

Nasale Einblasungen von Medikamenten zur 
Behandlung des Keuchhustens. Jahrb. f. Kinder¬ 
heilk. Bd. XXV, 298. — Brayn, Ph. J.. The 
treat of whooping cough by Naphthalene In- 

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UNIVERSUM 0F CALIFORNIA 








310 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Juli 


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Union medicale 1886, No. 81 p. 977—980. — 
Moncorvo, Tussis convulsiva und ihre Be¬ 
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1885, p. 108ff, 145 ff., 193 ff. — Hennig, C, 
Therapeutisches wider den Keuchhusten. Jahrb. 
f. Kinderheilk., Bd. 26, S. 390. — Michael, 
Ueber Keuchhustenbehandlung. Dtsch. med. 
Wochenschr. 5, 1886. — Keppler, Al., Ueber 
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5, 1887. — Labb£, Traitement de la coque¬ 
luche. Soci6t£ de thörapeutique. Le progres 
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1887. —• Pich, H., Einatmung von Acid. carbol. 
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Ind. XXVII, 1. 5. 12. 1887. — v. Gensen, Th., 
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Dr. Wittelshöfers Wiener med. Wochenschr. 
Nr. 18—24, 1888. — Erfahrungen über das 
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husten. Jahresbericht der Kgl. Poliklinik f. 
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med. Wochenschr. 13, 1888. — Maizard, In- 
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Beltz, A., Zur Behandlung des Keuchhustens. 
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Schilling, Fr., Zur Keuchhustenbehandlung. 
Münchener med. Wochenschr. 29, 1889. — 
Schwarz, S., Ueber Keuchhusten und dessen 
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Keuchhusten. Therap. Monatsblätter 1, 1893. 

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husten, Medicinskoje Oboorenje No. 21, 1893. 

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Tomaseo, Un caso raro di guarigione della 
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Contribuzione alla terapia. La pediatria. 
Anno VII No. 11, Novembre 1899. — Raud- 
nitz, R. W., Zur Semiotik und zur Behandlung 
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1900, Nr. 26. — Godson, John Edw., The treat- 
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Calabro, C., II sublimato corrosivo come 
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Baumei, L., Guörison de la coqueluche par 
les pulvörisations pheniquöes ä 25 %o Annales 
de mödicine et chirurgia infant. 1902, 2. Heft. 

— Rey, Zur Therapie des Keuchhustens. 
Bericht über die 22. Sitzung der Vereinigung 
niederrheinisch-westphälischer Kinderärzte 1905. 

— Dominici, Beitrag z. pathol. anat. Studium 
des Keuchhustens. Riv. di clin. Pediatr. No. 11, 
1907. — Jochman, Ueber die Aetiologie und 
path. Anatomie des Keuchhustens Ergebn. d. 
allg. Pathologie und path. Anatomie d. Men¬ 
schen und der Tiere, 9. Jahrg., II. Abt., 1905. 


Die Bedeutung der Röntgenstrahlen in der Gynäkologie. 

Von Manfred Fraenkel- Charlottenburg. 


Während bis zu meinen Veröffent¬ 
lichungen über den „Wert der Röntgen¬ 
strahlen in der Frauenheilkunde* dieselben 
gerade auf diesem Gebiete kaum zur An¬ 
wendung gelangten; so daß — seit Deutsch, 
1904, Beeinflussung eines Myoms — jede 
Mitteilung in der Literatur fehlte, änderten 
sich diese Verhältnisse wie mit einem 
Schlage, als ich 1907 meine Tierversuche 
und den „Fall von Abort beim Menschen*, 
1908 „meine ersten 28 Fälle günstiger Be- 
einflussung„ nicht nur von Myomen, sondern 
auch aller anderen Blutungen, sowie der 
Dysmenorrhöe, Fluor und nervös-sexualer 
Zustände beschrieb und 1909 auf dem 
Röntgenkongreß über nunmehr 80 Fälle 
berichtete. Es folgten Nachuntersuchungen 
besonders von Prof. Albers-Schönberg 
(Hamburg), der gerade bei Myomblutungen 
meine Beobachtungen bestätigte und auch, 
was die Verkleinerung der Geschwülste 
betrifft, dieselben glänzenden Resultate 
veröffentlichte. 

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Auch der letzte Röntgenkongreß 1910 
stand wieder unter dem Zeichen dieser, 
den Röntgenstrahlen neu erschlossenen, 
so überaus aussichtsreichen therapeutischen 
Verwendungen. Ja, ich hatte die Freude, 
diesmal auch meine bereits 1907 aufge¬ 
stellte, 1909 noch angezweifelte Behauptung: 
man könne — wie es mein damaliger Fall 
deutlich bewies — mittels Röntgenstrahlen 
auch beim Menschen einen Abort herbei¬ 
führen, von Gaus (Freiburg) an drei 
Fällen bestätigt zu hören. Ferner trat 
Gaus — neben Albers-Schönberg — 
auf Grund seiner Beobachtungen an der 
Krönigsehen Frauenklinik warm für die 
Röntgentherapie bei den von mir ange¬ 
gebenen verschiedenen Frauenleiden ein. 

Zuletzt veröffentlichte im März San .-Rat 
Schindler (Görlitz) eine alle Zweifler 
voll überzeugende Arbeit, in der er leider 
gerade meine allerersten Publikationen über 
diese therapeutische Frage unerwähnt ließ, 
dessen Stimme mir um so gewichtiger er- 

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Juli 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


311 


scheint, als er — als Fachgynäkologe — 
sonst gegen Myome gewiß operativ vor¬ 
zugehen gewohnt und geneigt war, und so 
bei ihm eine Voreingenommenheit zu¬ 
gunsten der Röntgenbestrahlungen fort¬ 
fällt. Seine Resultate sind so günstige, 
daß er zu der Ueberzeugung kommt, „in 
der Röntgenbehandlung ein mächtiges 
Mittel gegen Myome zu sehen, das alle 
bisherigen Behandlungsweisen — mit Aus¬ 
nahme der Operation — bei weitem über¬ 
trifft und häufig einen operativen Eingriff 
den Patientinnen erspart.“ 

So halte ich mich denn für berechtigt, 
unter Bezugnahme aller dieser neuen Nach¬ 
prüfungen meiner Ergebnisse aus den 
Jahren 1907 bis 1909 und gestützt auf meine 
in dem letzten Jahre wieder an 15 Fällen 
gesammelten Erfahrungen und Erfolge, mich 
in dieser Frage an den praktischen Arzt 
zu wenden, — dessen Kreuz gerade jene 
Frauenleiden darstellen, — weil — bei ge¬ 
ringen Beschwerden — Arzt und Patientin 
sich zur Operation nicht entschließen 
können, und der Arzt heute nun nicht mehr 
wie bisher gezwungen ist, mit unzureichen¬ 
den Mitteln, also untätig, Zusehen zu müssen, 
wie sich aus kleinen, unscheinbaren An¬ 
fängen ein lebensgefährliches Leiden ent¬ 
wickelt, bei dem schließlich die Operation 
die einzige, die ultima ratio ist, mit all 
ihren Fährnissen bei solch ausgebluteten 
Frauen. 

Betreffs der Myombehandlung kann ich 
an acht meiner neuen Fälle meine früheren 
Erfolge nur bestätigen: Prompte Sistierung 
der oft unstillbaren Blutungen, die jeder 
Tamponade trotzen und wo als ultimum 
refugium oft schon nur die Operation noch 
in Aussicht genommen war, ferner an¬ 
haltend langsames, aber deutliches Zurück¬ 
gehen der Geschwulst. 

Fraglich nur erscheint mir die direkte 
Beeinflussung des Myoms selbst. 

Bei den Patientinnen mit Myom haben 
wir es mit älteren Frauen zu tun, deren 
Eierstöcke schon etwas geschwächt sind. 
Es ist daher nicht zu verwundern, wenn 
hier schon eine kurze Reihe von Bestrah¬ 
lungen so überaus prompte Erfolge hin¬ 
sichtlich der Blutungen zeitigt. Denn, 
wenn mit der allmählichen Reifung des 
Eis eine allmähliche Anschwellung und 
Blutfülle der Uterusschleimhaut einhergeht, 
so ist es erklärlich, daß die Blutfülle sich 
gar nicht erst einstellt, wenn es uns gelingt, 
die Eireifung zu verhüten. Bei jüngeren 
Individuen mit noch ganz normalem Eier¬ 
stockgewebe wird naturgemäß mehr Zeit 
und ein größeres Maß von Schädigung da- 

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zu notwendig sein. Wenn man dagegen 
Frauen, die ohnehin sich doch schon der 
klimakterischen Zeit nähern, der Bestrah¬ 
lung aussetzt, so erkläre ich mir die Ein¬ 
wirkung eben so, daß die Herabsetzung 
der Blutung einzig und allein auf dem Um¬ 
wege durch die Eierstöcke erfolgt. Das 
Myom schwindet dann mangels reichlicherer 
Ernährung und Blutzufuhr. Es fühlt sich 
Gebärmutter und Myom härter an, weil die 
Blutfülle abnimmt, das schwammartig durch¬ 
tränkte Gewebe sich zusammenzieht. 

Daß die Eierstöcke trotz ihrer ver¬ 
steckten Lage eine äußerst elektive Nei¬ 
gung für Röntgenstrahlen zeigen, kann aus 
verschiedenen Gesichtspunkten bewiesen 
werden. 

Einmal durch das makroskopische und 
mikroskopische Bild. 

Die mit (a) bezeichneten Eierstockprä¬ 
parate 1 ) sind durch Bleiplatten abgedeckt, 
die mit (b) bezeichneten den Strahlen aus¬ 
gesetzt, beide nach einer Reihe von Be¬ 
strahlungssitzungen operativ entfernt. Die 
Abbildungen 3 ) bieten in jedem Fall schon 
makroskopisch deutlich erkennbare Größen¬ 
unterschiede bis auf einhalb des Normalen. 
Ferner ist die Oberfläche der unbestrahlten 
Eierstöcke (a) deutlich mit kleinen Höckern 
versehen, die sich schon in dem Photo¬ 
gramm dokumentieren, das Organ fühlt 
sich sofort nach der Entfernung — also 
quasi in vivo — viel weicher und elasti¬ 
scher an, als die derben bestrahlten Eier¬ 
stöcke (b), die keinerlei Erhabenheit an 
ihrer Oberfläche dem Auge mehr dar¬ 
bieten. 

Genau analog ist das mikroskopische 
Bild: Hier (a) noch eine ganze Reihe Fol¬ 
likel am Rand (die vorher gefühlten Er¬ 
habenheiten), Follikel in der Randzone wie 
eingestreut, in allen Stadien der Reifung. 

Dort (b) nichts derartiges, einige Reste 
der ehemaligen Corp. lut., einige leere oder 
mit Detritusmassen angefüllte Follikelreste, 
sonst beiderseitig Degeneration des ganzen 
stark verkleinerten Organs z. T. mit Oblite¬ 
ration der Gefäße. An einigen Präparaten ist 
das Gefäßlumen noch nicht verschlossen, oft 
sieht man es sogar eigenartig dilatiert mit 
Wandungen, die degenerierte hyaline Ver¬ 
änderungen an einzelnen Stellen zeigen, 
während wieder an anderen Stellen (ohne 
wesentliche Veränderungen) die abwech¬ 
selnde Verengerung und Erweiterung der 
Gefäße allein auffielen: Erscheinungen, die 

*) Siehe auch Fortschritte auf dem Gebiete der 
Röntgenstrahlen 1909, H. 2, Bd. XIV. 

s ) Von Halberstädter freundlichst zur Ver¬ 
fügung gestellte Präparate. 

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312 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Juli 



noch von keiner Seite bisher beschrieben 
sind und der Erklärung harren; es will 
mir scheinen, als ob die Erweiterung das 
Erschlaffungs- oder Läh¬ 
mungsstadium darstellt als 

zweite Etappe in der Ein- - 

Wirkung der Röntgen- 
bestrahlung; das erste a 
Stadium wäre der Reiz¬ 
zustand. Es ist mir über¬ 
haupt klar geworden, 
daß die Röntgen¬ 
strahlen inrefract.dosi 
anreizend wirken, so 
erklärte ich auch die oft 
von mir beobachtete und 
beschriebene stärkere Blu- £ 

tung in der I. Serie der <5 ■ 

Bestrahlung, z. B. bei Myo¬ 
men als Anreiz, ein Zu¬ 
stand, dem dann erst, | 1 Ih»^ V - 
wenn genügend Röntgen¬ 
strahlen verabfolgt sind, das Organ also 
quasi mit Röntgenstrahlen geladen oder 
überladen ist, die lähmende degenerative Ent¬ 
artung der Ovarien, als 
Zeichen der wachstum¬ 
hemmenden Beeinflussung 
der Röntgenstrahlen auf 

Allen Präparaten je¬ 
doch ist gemeinsam: als 
im Vordergrund der Er¬ 
scheinung stehend, jene 
ausgedehnte Atrophie der 
Grafschen Follikel, sowie 
ein ganz deutlich in die _ 

Augen springender Man- ££> 
gel an Primärfollikeln. 

Schließlich bringe ich dl, 
als Nr. 4a und b, die nach ^ 

meiner Kenntnis ersten 
Ovarien menschlichen 
Ursprungs 1 ), an denen die Differenz von 
bestrahltem und unbestrahltem Organ deut¬ 
lich erkennbar ist. 

Es war hier — was gewiß als Ausnahme 
aufzufassen ist — gelungen, ein bestrahltes 
und ein durch Abdecken unbestraftes 
Organ operativ zu entfernen und so kann 
ich im Bild ein Kuriosum zeigen: 

Der linke Eierstock mit den schönsten 
Grafschen Follikeln, wie man sie wohl 
kaum deutlicher erkennen kann, daneben 
eine große Anzahl Primärfollikeln — das 
ganze Organ damit wie übersät — in allen 
Stadien der Reifung. 

Rechts ein absolut obliteriertes, binde- 

*) Fortschritte auf dem Gebiete der Röntgen¬ 
strahlen 1909, H. 2. Bd. XIV. 


geweblich degeneriertes Gewebe, ohne Fol¬ 
likel. (Das Genauere über diesen Befund 
soll an anderer Stelle niedergelegt werden.) 

Fig. 1. 


Wir wissen und die Präparate zeigen 
es deutlich, daß die schnell proliferierenden 
epithelialen Zellen der Einwirkung der 


Röntgenstrahlen am meisten unterliegen, 
und es gibt wohl keine Zellgruppe im 
menschlichen Körper, die mehr und 
schnellere Arbeit leistet als die Eierstöcke. 

Fig. 3 Nur durch diese elek- 

====|^=j tive Wirkung ist es aber 
^ I zu verstehen, daß ich 

jSl J§§ z. B. — ganz unbeab- 
a 5 sichtigt zuerst — Pe- 

riodeneinschränkung in 
Fällen beobachten 

'L . ? .!■! konnte, wo ich z. B. die 

Schilddrüse bestrahlt 
habe oder eine Psoriasis des Arms, oder den 
schmerzhaften Ischiadikus, wie ich es in 
meinen früheren Arbeiten 1 ) geschildert habe. 
Zentralbl. f. Gynäkologie 1907, 1908, 1909.— 

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Juli 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


313 


Aus meinen Beobachtungen ergab sich 1 
für mich als Norm, daß die günstigste Zeit 
der Bestrahlung gleich nach der letzten 
oder wenigstens in der ersten Hälfte nach I 

Fig. 4. 

Menschliche Eierstöcke 



a) unbestrahlt 



b) bestrahlt 

dieser Periode gelegen ist. In diesem Zeit 
raum muß mit dem Bestrahlen begonnen 
werden, will man einen sicheren Erfolg er¬ 
zielen. Die in der zweiten Hälfte dann 
vorgenommenen zwei bis drei Nachbestrah¬ 
lungen sichern nur die anfangs erzielte 
Wirkung und befestigen sie. 

Schon um dem etwaigen Einwurf zu be¬ 
gegnen, daß ich ja keinen Maßstab habe 
für die Größe der gesetzten „Schädigung“, 

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habe ich stets nach einem zweimonatlichen 
Turnus jede Bestrahlung ausgesetzt und 
auch so noch eine Dauerbeeinflussung 
während der dritten bis fünften Periode — 
d. h. bis auf zirka V 2 Jahr — oft ver¬ 
zeichnen können. 

Bislang ließ uns nun gerade bei 
anämischen Frauen und jungen Mäd¬ 
chen mit starken Blutungen und 
heftigen Periodenbeschwerden die 
Therapie völlig im Stich. Ein sicheres 
Mittel gegen Meno- und Metrorrhagien, 
gegen Dysmenorrhöen und Ausfluß 
auf nicht infektiöser Basis kennen 
wir nicht. Andererseits muß gegen 
alle diese Beschwerden, die die Frauen 
bedeutend schwächen und zu schwe¬ 
ren allgemeinen Gesundheitsstörungen 
führen, ihnen das Leben verbittern, 
gegen all diese Beschwerden muß 
etwas Energischeres getan werden, 
will man nicht jeden Erfolg körper¬ 
licher Kräftigung durch Allgemein¬ 
therapie völlig illusorisch machen. 

Der Vorteil meiner vorgeschlage¬ 
nen Behandlung liegt einmal in der 
völligen Schmerzlosigkeit, die 
die Frauen sehr zu würdigen wissen, 
gerade wenn sie schon häu¬ 
fig mit anderen Methoden 
vorher gequält und her¬ 
unter sind, zweitens in der 
Sicherheit des Erfolges 
und schließlich in der ab¬ 
soluten Ungefährlich¬ 
keit bei der nötigen Vor¬ 
sicht. Denn in keinem 
meiner Fälle seit dem Jahre 
1906 habe ich jemals eine 
Verbrennung konstatieren 
können. 

Kehren wir nun zu un¬ 
seren Fällen zurück. Neben 
den erwähnten 8 neuen mit 
Myom und 3 Fällen mit 
Ausfluß nehmen in meiner 
Erfahrung einen breiten 
Raum ein: 30 Fälle von 
starken sechs- bis acht¬ 
tägigen Periodenblutungen, 
bei denen in der Norm nach etwa acht 
Bestrahlungen im ersten und etwa drei Be¬ 
strahlungen im zweiten Monat, die Perioden¬ 
einschränkung von nur drei Tagen mit ge¬ 
ringem Blutverlust eine Reihe von Monaten 
bis zu fünf ohne jede weitere Therapie 
bestehen blieb. 

Ferner möchte ich eines Falles gedenken, 
der eine besondere Stelle einnimmt, eines in 
Berlin wohl selten beobachteten Falles von 

QrigirSPffom 

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3? 4 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Juli 


Osteomalazie, den ich seit zirka vier Jahren 
in Behandlung habe. 

Patientin litt früher an äußerst starken 
Blutungen, so daß sie häußg tamponiert 
werden mußte. Die Periode war von hef¬ 
tigsten krampfartigen Schmerzen begleitet, 
die osteomalazischen Beschwerden mit der 
Zeit noch erheblich gesteigert. In der Zeit 
der Behandlung, in der ich auf der einen 
Seite eine völlige Sterilität nur ungern her¬ 
beiführen wollte, gelang es mir, durch ver¬ 
schiedene Bestrahlungsserien, die natürlich, 
um Hautschädigungen zu vermeiden, zeit 
weilig unterbrochen werden mußten, so¬ 
wohl die Schmerzhaftigkeit als auch die 
Dauer der Periode auf 1^2 bis höchstens 
2 Tage herabzusetzen. Ferner war in den 
ganzen vier Jahren ein Zunehmen der 
Osteomalazie nicht zu verzeichnen, im 
Gegenteil traten schmerzfreie Intervalle 
häußg auf, denen dann allerdings auch 
solche mit gesteigerten Knochenschmerzen 
folgten. Doch war Patientin imstande, 
was sie seit sieben Jahren nicht mehr 
ausführen konnte, Theaterbesuch mit stun¬ 
denlangem Sitzen, darunter eine „Fausts- 
Vorstellung von über fünf Stunden Dauer, 
ja, sogar stundenlange Spaziergänge. 

Ich möchte nun keineswegs den Glauben 
erwecken, als ob ich den Fall für geheilt 
ansehe. Ich bin auch keineswegs mit dem 
bisherigen Erfolge schon zufrieden. Denn 
es ist für mich zweifelhaft und abzuwarten, 
ob ein Dauererfolg wirklich erreicht werden 
kann. Aber auf der anderen Seite eine 
30jährige Frau ohne zwingenden Grund 
kastrieren und den frühzeitigen Klimax her 
beiführen, ist zu überlegen, und immerhin 
vier Jahre ohne Fortschreiten der 
Knochenerweichung trotz größerer körper¬ 
licher Anstrengungen und erhebliche Besse¬ 
rung des Allgemeinbefindens deuten doch 
auf eine Beeinflussung hin. Ich hatte jetzt 
zirka 1*/2 Jahre mit den Bestrahlungen 
pausiert, die Periode blieb bis vor drei 
Monaten U /2 bis 2 Tage schwach. Von 
da an verstärkte sie sich sichtlich auf drei 
bis vier Tage mit Schmerzen als Begleit¬ 
erscheinung, ferner Schmerzen im rechten 
Knie und Unterschenkel. Sofort setzte ich 
wieder mit der Bestrahlung ein und hatte 
die Freude, schon die nächste Periode an 
Stärke und Beschwerde ganz erheblich be¬ 
einflußt zu sehen und — was das wich¬ 
tigste ist — auch die deutlich osteomalazi¬ 
schen Beinschmerzen gingen prompt zurück. 

Der Fall ist noch aus einem anderen 
Grunde wichtig. Er beweist, daß bei der 
nötigen Vorsicht selbst eine so lange sich 
hinziehende Röntgenbehandlung ohne all- 

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gemeinen Schaden vertragen werden kann, 
denn die Haut zeigt bis auf leichte Pig¬ 
mentierung nicht die geringste Reizer¬ 
scheinung. 

Schließlich habe ich über die Behand¬ 
lung der Dysmenorrhöe mit allgemeiner 
Nervosität zu berichten. Absichtlich fasse 
ich beide zusammen, da beide enge Be¬ 
ziehungen zueinander aufweisen, ja, das 
eine aus dem andern als Folgeerscheinung 
resultieren kann. 3 Fälle will ich hier aus 
meiner Gruppe herausgreifen: 

Fall 1. Ein 15jähriges Mädchen, seit zwei 
Jahren Periode, die sich alle vier Wochen wieder¬ 
holt, seit I 1 /* Jahren von heftigen Schmerzen 
begleitet ist, seit dieser Zeit stellen sich jedes¬ 
mal vor Einsetzen derselben epileptiforme 
Anfälle ein, besonders am frühen Morgen des 
ersten Tages der Periode. Daneben besteht 
Ausfluß. Nach acht Bestrahlungen war die 
Periode auf zwei Tage herabgemindert, Blutung 
geringer, ohne jede Schmerzhaftigkeit und ohne 
irgendeinen Anfall. Die Behandlung wurde 
in dem nächsten Monat noch einmal wieder¬ 
holt, sistierte dann von März bis Oktober 1908, 
ohne daß sich ein neuer Anfall einstellte. Ok¬ 
tober, November wurde die Behandlung er¬ 
neuert. Das junge Mädchen hat seit dieser 
Zeit nie wieder einen Anfall, nie wieder eine 
schmerzhafte Periode gehabt. 

Fall 2. Line 26jährige Frau. Periode stets 
7—8 Tage, heftigste Beschwerden, besonders 
die ersten zwei Tage, sehr starke Blutungen. 

Periode wiederholt sich alle drei Wochen, so 
daß Patientin eigentlich nur 14 Tage frei ist. 

Sechs Sitzungen des ersten Monats und sechs 
der nächsten Bestrahlungsserie bewirken eine 
dreitägige schmerzfreie geringe Blutung. 

Patientin fuhr ins Bad. Die nach vier Wochen 
sich einstellende Periode dauerte angeblich fünf 
Tage, Blutung gering ohne Beschwerden. Aus 
dem Bad zurückgekehrt, setzte die nächste 
Periode mit einer leichteren Steigerung der 
Blutung und der Schmerzen ein. Nach acht 
Bestrahlungen war der Einfluß auf Stärke der 
Blutungen und Schmerzen derart, daß Patientin 
während der Periode einen Ball mitmachen 
konnte, was ihr bis dahin nie möglich gewesen 
war. Patientin kam zwei Monate darauf in 
andere Umstände, hat also die befürchtete 
Sterilität glänzend widerlegt. 

Fall 3. Eine 45jährige, sehr blasse, schwache 
Frau R. Seit acht Jahren an den heftigsten 
Periodenstörungen leidend, Periode sehr stark, 
von sehr langer Dauer. Infolge des starken 
Ausgeblutetseins häufige Ohnmächten, Anfälle 
j von Gedächtnisschwäche. Nach der Periode 
mehrmals sich wiederholende Anfälle mit 
Zuckungen. Patientin war wiederholt ausge¬ 
kratzt worden ohne jeden Erfolg. Patientin 
steht seit acht Monaten bei mir in Behandlung, 
hat im ganzen in vier Bestrahlungsserien 
28 Sitzungen gehabt und hat in dieser ganzen 
Zeit, und zwar nur in den ersten beiden Mo¬ 
naten, drei Anfälle durchgemacht. Seit dieser 
Zeit ist Patientin ohne Beschwerden. Der Blut¬ 
verlust ist minimal. Anfälle sind seither nicht 
wieder aufgetreten. 

Diese drei Fälle sind so recht das Para¬ 
digma der durch Dysmenorrhöe nervös. 

Original fram 

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Juli 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


315 


neurasthenisch gewordenen Frau. Auf der 
einen Seite das junge Mädchen, von der 
Mutter aus neuropathisch veranlagt, leidet 
seit dem Einsetzen der starken und schmerz¬ 
haften Periode an epileptiformen Krämpfen; 
dort eine vor der Zeit gealterte, durch 
kolossalen Blutverlust und schmerzhafte 
Perioden elend gewordene Frau mit krampf¬ 
artigen Anfällen und Zuckungen als End¬ 
resultat ihrer Periodenbeschwerden, und in 
der Mitte eine kräftige jüngere Frau, deren 
Nervensystem noch reichlich brauchbar ge¬ 
blieben ist, trotz der dysmenorrhöischen 
Beschwerden. 

Welche Behandlung schlägt der Gynäko¬ 
loge in solchem Falle vor? 

Veit schreibt: „Unsere gynäkologische 
Therapie scheint der Mode unterworfen zu 
sein. Früher die ewige Sprechstunden¬ 
behandlung; dann die Diszision des äußeren 
Muttermundes, dann die des inneren Mutter¬ 
mundes, die Amputation der Portio; die 
Auskratzung. Jetzt die Retroflexionsope- 
ration. Meist mit gutem Erfolg, aber bei 
mancher Patientin schwere nervöse Folge¬ 
zustände. M 

Hofmeister schreibt über Dysmenor¬ 
rhöe: „Wie auch die Erfolglosigkeit der 
Behandlung am Uterus beweist, ist die 
Quelle der Schmerzen in solchen Fällen in 
den Ovarien zu suchen, besonders bei 
chlorotischen Mädchen. Als Therapie: 
Morphium, Opium, konstanter Strom, in 
die Gebärmutter eingeführt (bei Virgi¬ 
nes nicht anzuwenden), Skarifikation der 
Portio. 11 

Und derselbe: bei Menorrhagien aller 
Art: „Im allgemeinen ist der Erfolg der 
Ausschabung sehr gering. Man ist im 
wesentlichen auf eine symptomatische und 
medikamentöse Therapie angewiesen.“ 

Damit ist dieser Medikation selbst das 
Urteil gesprochen. Und gerade hier setzt 
die neue Röntgenbehandlung mit über¬ 
raschend schnellem Erfolge ein. 

Indem ich an die oft erfolgreiche Be¬ 
handlung der nervösen Form von Dys¬ 
menorrhöe durch Kokainisierung der Nasen - 
muschel erinnere, möchte ich noch eine 
Betrachtung betreffs der Behandlung der 
daraus resultierenden allgemeinen Nervosi¬ 
tät bei Frauen hier anschließen. 

Es handelt sich bei der Menstruation 
um den Abort eines unbefruchteten Eis, 
infolgedessen eine Reihe von ausgelösten 
Impulsen überwunden werden müssen, wie 


ich es seinerzeit auf dem Röntgenkongreß 
1909 ausführte. Ich glaube und die Beob¬ 
achtung hat die Richtigkeit meiner An¬ 
nahme wohl bestätigt, daß in diesen Fällen 
von überaus starken sexuellen unbefrie¬ 
digten Reizen dieselben durch Herab¬ 
setzung der intensiven Reifung des Eis 
mittels Röntgen strahlen zum Nutzen der 
schwer darunter leidenden Frauen einge¬ 
schränkt werden können. 

Fasse ich die oben erwähnten Erfolge 
zusammen, so dürfte die bei Aerzten und 
Patientinnen noch häufig bestehende Furcht 
gegen die Röntgenstrahlen nicht gerecht¬ 
fertigt erscheinen. Wir müssen daher 
immer und immer wieder betonen, daß 
Röntgenverbrennungen, noch dazu mit den 
mittelharten Röhren, wie sie gerade die 
gynäkologischen Anwendungen erfordern, 
äußerst selten sind und daß eine Idiosyn¬ 
krasie gegen Röntgenstrahlen nur sehr 
selten vorkommt, von einigen Autoren über¬ 
haupt sogar abgeleugnet wird. 

Zweitens müssen wir aber auch die 
Gynäkologen von der Wirksamkeit dieser 
neuen Therapie überzeugen und aus Gegnern 
zu Anhängern derselben machen. Denn 
wenn wir heute z. B. gerade beim Myom 
ohne operativen Eingriff mit all seinen 
nicht zu unterschätzenden Gefahren, Nar¬ 
kose bei ausgebluteten Frauen, Herzmuskel¬ 
schwächen usw. dieselben Erfolge zeigen 
können, als vorher mit der Operation er¬ 
reicht wird, so ist es klar, welchen Weg 
therapeutischen Handelns der Arzt seinem 
Patienten anzuraten berechtigt, ja sogar 
verpflichtet ist. 

Ich glaube bestimmt, und ich befinde 
mich hier in guter Gemeinschaft mit Alb er s- 
Schönberg, Schindler u. a., daß wir 
vielen Frauen die Operation ersparen 
können, wenn sie sich der Röntgentherapie 
unterwerfen: vor allem können wir durch 
das frühzeitige Einsetzen dieser Therapie 
Zustände allgemeinen Ausgeblutet¬ 
seins ganz verhüten. 

Aber nicht nur bei Myomen, sondern 
auch in anderen Fällen von Blutungen ist 
die Röntgentherapie beachtenswert, wie ich 
oben ausführte. 

So bietet sich ein neues hoffnungsreiches 
Feld therapeutischen Handelns und der 
Arzt wird sich gewiß den Dank seiner 
Patientinnen erwerben, wenn er sie bei¬ 
zeiten der Röntgenbehandlung zuführt. 


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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


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Therapeutisches aus Vereinen und Kongressen. 

Aus der Berliner medizinischen Gesellschaft. 

Sitzung vom 22. Juni 1910. 

Paul Ehrlichs Syphilis-Heilmittel. 


Auf dem letzten Kongreß für innere 
Medizin (vergl. unsern Bericht H. 5., S. 226) 
machte der Mitarbeiter Ehrlichs, Dr.Hata, 
die ersten Mitteilungen über ein neues von 
Ehrlich dargestelltes Arsenpräparat, das 
Dioxydiamidodiarsenobenzol, durch 
welches bei einmaliger Anwendung einige 
Protozoenkrankheiten der Tiere sicher ge¬ 
heilt wurden. Auch die experimentelle 
Syphilis der Kaninchen wurde durch das 
neue Mittel zum Schwinden gebracht Auf 
Grund dieser experimentellen Beobach¬ 
tungen hatte Ehrlich das Mittel an Prof. 
Alt zur Erprobung an Paralytikern und 
späterhin Prof. Schreiber zur Erprobung 
an Syphilitikern gegeben. Wie in unserra 
Bericht dargestellt ist, hatten die klinischen 
Prüfungen überraschend günstige Resultate 
ergeben, so daß schon auf dem Kongreß 
die Meinung Boden fassen mußte, daß wir 
es hier mit einem praktischen Fortschritt 
von größter Wichtigkeit zu tun hätten. In¬ 
zwischen hatte Ehrlich im März d. J. sein 
Präparat Herrn San.-Rat Dr. Wechsel¬ 
mann, dem Leiter einer dermatologischen 
Abteilung des städtischen Rudolf-Virchow- 
Krankenhauses, zur ausgiebigen Erprobung 
an syphilitischen Menschen übergeben. Im 
folgenden bringen wir ein ausführliches 
Referat über Wechselmanns Vortrag, der 
von der Medizinischen Gesellschaft mit 
lebhafter Bewegung und wahrer Begeiste¬ 
rung aufgenommen wurde. 

Es ist wohl anzunehmen, daß ein Teil, 
vielleicht sogar ein großer Teil der mit 
Syphilis Infizierten durch eine gute, spezi¬ 
fische Therapie geheilt wird, bestimmt er¬ 
weisen läßt sich dieses aber nicht, da uns 
gegenüber einer so eminent chronisch mit 
durch Jahrzehnte voneinander getrennten 
Rezidiven verlaufenden Krankheit ein 
sicheres Kriterium für die wirkliche Heilung 
fehlt; auch dieWassermannscheReaktion, 
welche ja die Lösung mancher Kernfrage 
der Syphilidologie gebracht oder angebahnt 
hat und welche auch hier in Betracht käme, 
wird sich erst nach jahrzehntelanger Beob¬ 
achtung hierfür sicher bewerten lassen. 
Fest steht jedenfalls, daß auch bei der besten 
spezifischen Therapie manche Fälle — und 
zwar weitaus mehr, als man gewöhnlich 
annimmt — nach vielen Jahren noch sekun¬ 
däre und tertiäre inf ektiöseErscheinungen 
bieten, abgesehen von den sogenannten 


parasyphilitischen Erkrankungen, und daß 
niemand, welcher einen syphilitischen Primär¬ 
affekt in Behandlung bekommt, die sichere 
Gewähr für den Verlauf der Krankheit 
übernehmen kann. Danach ist das Streben 
nach Verbesserung der Syphilistherapie 
vollauf gerechtfertigt. Die Forderungen 
aber, welche man an ein neues derartiges 
Mittel stellen muß, sind: 1. daß es zum 
mindesten nicht schädlichere Wirkungen als 
Quecksilber besitzt, und 2., daß es in einer 
Wirkung auf die Symptome der Syphilis 
dieses übertrifft. Das Ehrlichsche Mittel 
leistet im Tierversuch dieses beides unbe¬ 
dingt, man kann es in dieser Hinsicht als 
fast atoxisch ansehen, da Affen 0,15 pro 
Kilo Körpergewicht subkutan anstandslos 
vertragen, während die Spirochäten der 
Kaninchensyphilis durch eine einzige und 
viel niedrigere Dose prompt mit einem 
Schlage vernichtet werden. Natürlich ist 
damit für die menschliche Syphilis noch 
nichts ausgesagt; denn einerseits könnte 
das Mittel für den Menschen viel toxischer 
sein, und andererseits könnte es für die 
menschliche Syphilis, welche ja doch eine 
viel schwerere ist, als die beim Tier ex¬ 
perimentell erzeugte, wenig wirkungsvoll 
sein. Wechselmann überzeugte sich zu¬ 
nächst an einem elenden, dem Tode ver¬ 
fallenen Säugling mit möglicherweise auf 
Lues beruhender Littlescher Krankheit, 
daß 0,03, intramuskulär injiziert, anstands¬ 
los ohne jede Schädigung vertragen wurden, 
und als das Kind einige Wochen später 
starb, ergab die Sektion nichts, was irgend¬ 
wie auf Arsenintoxikation bezogen werden 
konnte. Heute sind schon mehrere hundert 
Fälle mit dem Mittel behandelt worden, so 
daß man die Gefahr der Toxizität nicht 
mehr hoch einzuschätzen braucht, und man 
kann um so mehr das jedem neuen Mittel 
naturgemäß anhaftende Risiko übernehmen, 
da die wirksame Quecksilbertherapie, be¬ 
sonders die mit unlöslichen Salzen, Salizyl- 
Quecksilber, Kalomel und vor allem dem 
neuerdings wieder empfohlenen grauen Oel 
keineswegs unbedenklich ist und die Lite¬ 
ratur eine große Zahl von schweren, auch 
tödlichen Intoxikationen — die sich vor¬ 
her gar nicht berechnen lassen — bei 
völlig korrekter Anwendung aufweist. Bei 
der Prüfung ging Wechselmann von dem 
Gedanken aus, ob das neue Mittel Fälle, 


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Juli 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


317 


die der bisherigen Therapie absolut nicht 
# weichen wollen, günstig beeinflußt. * 

Wechselmann berichtete nun in ein¬ 
gehender Weise über eine Reihe der von 
ihm behandelten Fälle. Bei der enormen 
Bedeutung dieser Krankengeschichten schien 
es mir von besonderer Wichtigkeit, sie 
möglichst authentisch unseren Lesern unter¬ 
breiten zu können. Ich bin Herrn Kol¬ 
legen Wechselmann aufrichtig dankbar 
für die Erlaubnis, diese Krankengeschichten 
im Original bringen zu können. 

1. Willy Dah. kam als löjähriger im Jahre 
1906 in meine Behandlung im Städtischen Ob¬ 
dach wegen einer Lues maligna, welche trotz 
Kalomelinjektionen, Zittmannkur nicht heilte. 
Bei Eröffnung des Virchowkrankenhauses wurde 
er auf die Station des Kollegen Buschke ver¬ 
legt, dessen Krankengeschichte ich entnahm, 
daß er im Oktober 1906 noch kokardenförmige 
Syphilide am Körper, ulzerösen Zerfall der 
Rachenorgane, Knochenschwellungen und vor 
allem an der Unterseite der Glans 8 tiefe, bis j 
erbsengroße, speckig belegte Ulcera hatte. 
Schmierkur, Sajodin, Kalomelinjektionen, Ar¬ 
senik (Pil. asiat. und Spritzen). Dampf- und 
Schwefelbäder, Kal. jod. Seit dem Februar 1907 
trat wochenlang Fieber bis 39° auf. der Rachen 
mußte mit Anästhesin bepudert werden, wegen 
der Schluckbeschwerden. Im März Schmierkur, 

2 Touren. Am 28. April 1907 ein Teil der 
Effloreszenzen abgeheilt, ein Teil granulierend, 
die des Kopfes noch unverändert. Uvula ab¬ 
gefallen. Zittmann und Jodipin. 28. April bis 
7. Mai Sublimatinjektion; 23. Mai Atoxylinjektion 
ä 0,2 nur 3, dann ausgesetzt, zugleich 2 Touren 
einer Schmierkur. Er wurde dann am 7. Juni 
entlassen, weil er weitere Behandlung verwei¬ 
gerte. Der Rachen war mit riesigen Narben 
ab geh eilt, die Hautsyphilide heil, außer mark¬ 
stückgroßen Effloreszenzen am Gesäß. Schon 
am 12. Juni aber ging er wegen Auf brechen 
der Hauterscheinungen in die Gharite. Zehn 
Atoxylinjektionen, dann 6 Kalomelinjektionen. 
Im November ging er in die Heilstätte Lichten¬ 
berg. 32 Einreibungen, Jodkali und Sajodin. 
Etwa im April trat wieder ein Geschwür am 
Penis auf, das sich langsam vergrößert hat. 
Am 20. Mai 1908 Entlassung und Aufnahme 
im Virchowkrankenhause. Arseninjektionen, 
Kalomelinjektionen, Jodkasein, Jodkali, Schmier¬ 
kur. 31. August 19 >8 gebessert auf Wunsch 
entlassen. November/Dezember 1908 in der 
Charite Kalomel. Februar-Juni 1909 in Lichten¬ 
berg Schmierkur. Im August 1909 wieder im 
Virchowkrankenhaus. Oktober/Dezember 1909 
Lichtenberg Schmierkur und Kalomel. Januar/ 
März 1910 bei Dr. Max Joseph Schmierkur 
und Kal. jodat. Am 2. April 1910 auf meiner 
Station aufgenommen. Der sehr elende Patient 
zeigte im wesentlichen auf der Innenseite des 
Oberschenkels eine kleinhandtellergroße blau¬ 
rote, teils narbige, teils geschwürige Fläche, 
eine gleiche, 2:6 cm winklig verlaufende mit 
schmierig belegten serpiginösen Ulzerationen. 
Verschiedene Knochenverdickungen. Am Penis 
nimmt eine stark zerklüftete, schmierig belegte 
Ulzeration die ganze Haut der Glans und der 
ventralen Fläche der Penishaut tief bis auf die 
Fascie ein; in derselben sind nur ab und zu 
noch Hautinseln von Linsengröße. Patient gibt 
an, daß seit Beginn der Krankheit, 1906, der 

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Penis nur einige Tage oberflächlich geschlossen 
gewesen sei. 13. April 1910 0,25 Ehrlich 606, 
Temperatur 38,1 0 bei gutem Allgemeinbefinden, 
nur heftige Schmerzen, Morphiuminjektion. 
14. April 37,2, 38,2. Morphiuminjektion, dabei 
gutes Befinden. 15. April 37,5, abends 39,3. 
Morphium inj ektion. Allgemeines Befinden gut. 

16. April 37,5, 38,5. Vom 17. Mai sinkt die 
Temperatur, Schmerzen hören auf. Die Hei¬ 
lung setzt rapid ein. Am 20. April ist das 
Kopfgeschwür und die Stelle am Oberschenkel 
fast heil, die Ulzerationen des Penis reinigen 
sich und verkleinern sich. Am 9. Mai ist alles 
restlos heil, sodaß Patient nicht mehr im 
Krankenhaus zu halten ist Am 20. Mai war 
die Narbe am Penis am oberen Rand eine 
Spur erodiert, da Patient sie offenbar ganz ver¬ 
nachlässigt hatte. Später stellte er sich trotz 
Aufforderung nicht wieder vor. 

Patient hat sich auffallend erholt. Körper¬ 
gewicht 6. April 50,5, am 16. April 50, 23. April 
48,5, 30. April 50, 7. Mai 51,3 kg. Ebenso sicher 
beweisend für die eminente, den bisher be¬ 
kannten Mitteln überlegene Wirksamkeit des 
neuen Präparats ist folgende Beobachtung. 

2. Die 25jährige Arbeiterin Flora Sie. wurde 
im Juli 1905 mit Lues infiziert und hat mehr¬ 
fach Schmier- und Spritzkuren in der Charite 
durchgemacht. Seit Jahren kann sie den Kot 
nicht halten, und sie wird in einem erbärm¬ 
lichen Zustand am 5. Mai 1909 auf meiner Ab¬ 
teilung aufgenommen, mit zirka 2 cm tiefen, 
stinkenden, bogenförmig angeordneten, von 
der hinteren Kommissur hoch hinauf gegen 
die Nates ziehenden je zirka 15 cm langen, 
aus einzelnen Ulzerationsherden bestehenden 
Geschwüren; zum Teil sind Heilungsvorgänge 
in Form von ganz atrophischen Narben kennt¬ 
lich, an deren Rand die serpiginös unaufhalt¬ 
sam fortschreitenden Geschwüre sitzen. Der 
Mastdarm ist stark infiltriert und zeigt zwei 
Strikteren, für den Finger knapp durchgängig, 
auf denen man tiefe Ulzerationen sieht. Wasser- 
mannsche Reaktion sehr stark positiv, Gewicht 
45 kg, 5 Kalomelinjektionen, wegen Durchfall 
abgesetzt, zugleich immer Jodkali. Vom 12. Mai 
ab Schmierkuren. Inkontinenz etwas gebessert; 
Körpergewicht 40 kg. Lokale Röntgenbestrah¬ 
lung der Geschwüre. Am 3. Juli auf ihren 
Wunsch in wenig verändertem Zustand ent¬ 
lassen, aber am 7. Juli 1909wieder aufgenommen, 
weiter mit K.-J. und örtlich behandelt, da Hg 
schlecht vertragen wurde. Am 4. Mai erhielt 
Patientin in einem Zustand, der etwas schlechter 
war, als die Moulage zeigt, 0,3 (606), worauf 
schon nach wenigen Tagen eine Reinigung 
und Heilung der großen Geschwüre begann, 
welche am 18. Mai bis auf einige ganz kleine 
Steilen der rechten Seite, welche auch jetzt 
noch nicht ganz geheilt sind, vollständig war. 
Zugleich haben sich die Erscheinungen des 
Darmes sehr gebessert; die rektoskopische 
Untersuchung ergibt nur noch eine flache Ero¬ 
sion an der Strikterstelle. Das Allgemeinbefin¬ 
den hat sich sehr gehoben; das Körpergewicht 
ist stabil 40 kg geblieben. 

Außerordentlich günstig war auch die Wir¬ 
kung des neuen Mittels in folgenden Fällen 
maligner Lues, welche teilweise auf Queck¬ 
silber nicht oder nicht genügend reagierten. 

3. Minna La . . ., 23 Jahre, wurde vom 

17. Februar bis 1. April 1910 auf unserer Ab¬ 
teilung wegen Lues I/II mit Schmierkur be¬ 
handelt. Ende April erschienen bei ihr wieder 
Ausschläge, und am 6. Mai wurde sie mit tiefen, 

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318 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Juli 


ulzero-krustösen zehnpfennigstück- und darüber 
großen Effloreszenzen im Gesicht und am Kör¬ 
per wieder aufgenommen. Zugleich zeigten 
die gesamten Rachenorgane tiefe, schmierig 
belegte Ulzeration, und besonders das Zäpf¬ 
chen war an seiner Basis beiderseits zerstört, 
so daß es nur noch an einem Stiel in der 
Mitte hing und sein Verlust innerhalb weniger 
Tage sicher bevorstand. Patientin hat schon 
tagelang der Schmerzen halber nicht schlucken 
können, und auch die Atmung war wesentlich 
behindert. Am 10. Mai Injektion (606) 0,4. Schon 
nach zwei Tagen gingen die Beschwerden 
kolossal zurück; am 18. Mai war der Rachen 
voll ausgeheilt, das Syphilid benarbt. Jetzt 
bestehen nur noch Pigmentflecke. Noch in 
Beobachtung. 

4. Friedrich K . . ., 30 Jahre, wurde vom 

2. März bis 10. April wegen einer sofort papulo- 
ulzerös aufgetretenen Syphilis, die schon am¬ 
bulant mit Hg behandelt war, auf der Station 
des Kollegen Buschke mit Schmierkur, Jod¬ 
kali und Arsen behandelt. Er trat später in 
homöopathische Behandlung und war vom 
11. März bis 30. April 1910 wieder hier im 
Krankenhaus wegen eines zweimarkstückgroßen 
Geschwürs am Rücken, ähnlicher Effloreszenzen 
hinter den Ohren und auf dem Kcmf, Auftrei¬ 
bung des Schienbeins, hühnereigroßem Tumor 
des linken Hodens; dabei bestand bei dem 
heruntergekommenen Patienten Fieber von 39°. 
Unter Schmierkur Besserung der Erscheinungen. 
Am 12. April trat ein Anfall von Schlottern 
des Unterkiefers und Unfähigkeit, zu sprechen, 
auf. Aehnliche Anfälle sollen im letzten Jahr 
schon öfter vorgekommen sein. Patient wird 
am 30. April gebessert entlassen. 8 Tage später 
trat der Ausschlag wieder auf, und sein Arzt 
(Dr Adler) schickte ihn ins Krankenhaus, weil 
er Hg nicht vertrug und das verordnete Levico 
nicht viel wirkte. Am 21. Mai 606 0,405. Die 
Temperatur steigt auf 39,3°; am 28. Mai alle 
Gescnwüre völlig heil. Hoden am 5. Juni von 
normaler Größe und Konsistenz. Schwindel 
völlig geschwunden, ebenso Druckempfindlich¬ 
keit des Schädels. Körpergewicht 16. Mai 65, 

3. Juni 66 kg. 

5. Max D . . ., 45 Jahre. Dezember 1909 
Schanker, 5 wöchentliche Schmierkur. Jetzt am 
Rumpf zahlreiche, von früherem ulzerösen Ex¬ 
anthem herrührende, noch gerötete Narben. 
Ulzeröses, papulo krustöses Syphilid am Rumpf 
und Extremitäten. 27. Mai 606 0,5. Temperatur 
steigt bis 38,8«; am 4. Juni alles abgeheilt. 
Körpergewicht 29. Mai 48, 6. Juni 49,5 kg. Der 
folgende Fall beweist, wie unmittelbar auf eine 
nicht zum Ziel führende Schmierkur das Mittel 
prompt wirkt 

6. Grete H . . ., 18 Jahre. Januar 1909 
Primäraffekt der Lippe, 6 wöchentliche Schmier¬ 
kur. 25. April 1910 ulzero-krustöse Papeln am 
Rücken, Nates, Labien. (Spirochäten zahlreich.) 
Auf dem Kopf zweimarkstückgroße, bis auf die 
Galea reichende Ulzerationen. Nach 112 g Ugt. 
einer, sind letztere nur etwas reiner und ver¬ 
kleinert; auch die anderen Effloreszenzen etwas 
kleiner, aber durchaus nicht heil. 26. Mai 606 
0,45. 31. Mai Effloreszenzen heil; von den beiden 
Kopfgeschwüren eines heil; das zweite war 
noch ganz oberflächlich, 7. Juni ganz heil. 
Körpergewicht 29. Mai 53, 7. Juni 54 kg. 

Schon in diesen Beobachtungen tritt — 
was sich fast ausnahmslos speziell auch bei 
Tuberkulosen bestätigte — klar zutage, daß 
nach der Injektion sich das Allgemeinbefinden 


kolossal hob. Selbst in den ersten Tagen, wo 
die Sqjimerzhaftigkeit noch sehr lebhaft ist, hat 
man diesen Eindruck, und die Patienten geben 
es häufig spontan an. Vor allem tritt fast 
immer eine Erhöhung des Körpergewichts ein, 
manchmal allerdings erst, nachdem in den 
ersten der Injektion folgenden Tagen wegen 
der Schmerzen und der Temperatursteigerung 
vorübergehend eine Abnahme stattgehabt hat. 
Geradezu Verwunderung aber erregt diese 
Hebung des Allgemeinbefindens in den beiden 
folgenden Fällen, welche nach dem überein¬ 
stimmenden Urteil aller Aerzte, welche sie 
beobachtet haben, so elend und herabgekom¬ 
men waren, daß man sie mit Sicherheit als 
dem Tode in nicht zu ferner Zeit verfallen 
bezeichnen konnte. 

7. Arthur P. . . ., 23 Jahre. Vor sieben Mo¬ 
naten Primäraffekt; vier Wochen später Aus¬ 
schlag; vom 28. November 1909 bis Mitte März 
1910 Spritzkur (35 Spritzen). Seit drei Mo¬ 
naten Gelenkschmerzen in beiden Kniegelenken. 
Am 5. Mai 1910 kam Patient im Zustand höch¬ 
ster Entkräftung auf unsere Abteilung. Patient 
war zum Skelett abgemagert, die Haut von 
fahler Leichenblässe, das Gesicht einem Toten¬ 
kopf ähnlich mit höchst schmerzlichem Aus¬ 
druck. Ueberall im Gesicht und am Körper 
zehnpfennig- und darüber große, mit Krusten 
besetzte, durch die ganze Haut bis aufs Unter¬ 
hautzellgewebe reichende Ulzerationen neben 
Narben. Aashafter Gestank aus der Nase, in 
welcher das Septum perforiert, die linke untere 
Muschel und der Vomer im Abstoßen begriffen 
war. Ausgedehnte Ulzerationen im Nasen¬ 
rachenraum , welche auch das Zäpfchen in 
seiner linken Hälfte zum Zerfall gebracht 
haben. Patient kann gar nicht schlucken 
wegen der großen Schmerzhaftigkeit und muß 
mit Schlundsonde und Nährklystieren erhalten 
werden. Puls sehr klein und von schlechter 
Spannung, 120 und mehr. Wir wagten nicht, 
die Einspritzung zu machen, doch als unter 
Jodinjektionen stetige Verschlimmerung eintrat 
und wir das Ende in absehbarer Zeit erwarte¬ 
ten, injizierten wir am 21. Mai 0,4. Keine Tem¬ 
peratursteigerung, mäßige Schmerzen. Schon 
nach zwei bis drei Tagen deutliche Besserung 
des Allgemeinbefindens. 26. Mai überall deut¬ 
lich beginnende Heilung. 30. Mai Zapfenheilung. 
Ulzera in vollster Heilung und abgeheilt. Das 
kranke knöcherne Nasengerüst hat sich in toto 
ausgestoßen. Fötor geschwunden. Jetzt, 7. Juni, 
hat sich Patient sehr erholt, fängt an, selbst zu 
schlucken und kann schon umhergehen. Körper¬ 
gewicht 21. Mai 41,5, 28. Mai 41,5, 5. Juni 42,5 kg. 

8. H.. .., 35 Jahre, Kassenbote (ophthalmo- 
logische Station des Herrn Dr. Fehr). Sehr 
herabgekommener Mann. Zahlreiche impetigi- 
nöse Syphilide der Kopfhaut. Krustöse ulze¬ 
röse Syphilide überall im Gesicht, Rumpf und 
Extremitäten zerstreut. Im Rachen ist die 
Uvula völlig verloren gegangen, die Testieren¬ 
den Rachenorgane sind sehr infiltriert und ge¬ 
schwollen und stellen an ihren freien Teilen 
mit schmierigem Belag versehene Ulzerations- 
flächen dar. 24. Mai 606 0,4. Nach sechs Tagen 
alles gereinigt, Syphilide in vollster Heilung. 
Patient fühlt sich wohl und beginnt zu schlucken 
und aufzustehen. 13. Juni alles heil. 

9. Marie H. ..., 24 Jahre. 3. Januar 1910 
wegen universellen papulösen Syphilids bis 
9. Februar Schmierkur auf unserer Abteilung. 
Damals Optikus beiderseits unscharf begrenzt, 
venöse Hyperämie. Neuritis optica (Dr. Fehr). 


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Juli 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


319 


Am -13. April wurde Patientin wieder auf¬ 
genommen wegen eines dichten, am ganzen 
Körper verbreiteten zehnpfennigstück- bis 
fünfzigpfennigstückgroßen papulo-krustösen, ko¬ 
kardenförmigen Syphilids. 

19. April 0,3 606. 22. Mai Krusten heben 
sich ab. Abheilung in zwei bis drei Wochen 
bis auf Pigmentierungen. 19. Mai Gesichtsfeld, 
Augenhintergrund normal. Bleibt in Beob¬ 
achtung bis 8. Juni. Körpergewicht 23. April 
50. 1. Mai 52,2, 15. Mai 54, 20. Mai 54, 25. Mai 
55,5. 4. Juni 57 kg. 

Ueber die Wirkungen bei Primäraffekten 
und den gewöhnlichen Formen der sekundären 
(auch rezidivierenden) Lues gibt folgende Zu¬ 
sammenstellung Auskunft. 

1. Männer. 

10. C . . ., 25 Jahre. Kolossaler Primär¬ 
affekt der Unterlippe. Kolossaler mannsfaust- 

roßer Maxillarbubo. Universelles papulöses 
yphilid. 23. April 0,3, 30. April Primäraffekt 
und Drüsen au! die Hälfte verkleinert. 18. Mai 
völlig heil, bis auf geringe Pigmentflecke am 
Oberschenkel. Gewicht 7. Mai 69,5, 14. Mai 71,5. 

11. G . . ., 30 Jahre. Ulc. dur. am Schaft 
des Penis seit 14 Tagen. 3. Mai 0,3 606. 9. Mai 
gereinigt, 26. Mai heil. Gewicht 30. April 62, 

7. Mai 62,5, 14. Mai 62. 

12. Sch . . ., 28 Jahre. Geschwür seit Mitte 

Februar 1910. Syphilitische Phimose (später 
auf Wunsch inzidiert), dichtes papulöses 
Syphilid universell. 23. April 0,3. 16. Mai 

Exanthem geschwunden. 26. Mai alles, auch 
die Induration des Präputiums, heil. Gewicht 
23. April 54,5, 30. April 55,5, 7. Mai 56, 14. Mai 

55.5 (Tag nach der Phimosenspaltung), 26. Mai 
57 kg. 

13. No . . ., 27 Jahre. Geschwür der Glans 
(Spir. ++); seit 4 Wochen. Univers. papul. 
Syph. 30. April 0,3 (606). 6. Mai Schanker 
geschlossen, Exanthem flach, bräunlich. 9. Mai 
fast heil; auf Wunsch entlassen; 64 kg. 

14. K ...» 24 Jahre. 23. Februar 1910 Ulc. 
April Exanthem. Entzündliche Phimose, dar¬ 
unter große Ulcera mixt, und am Schaft sehr 

oßer serpiginöser Schanker (Spir. -f-f) 
1V* cm. Plaques muqueuses. Exanthem 
nicht bemerkbar. 3. Mai 606 0,3 ; 6. Mai ge¬ 
reinigt, 15. Mai serpiginöse Geschwüre heil. 
Weiche Schanker bestehen noch. 30. April 74, 
7. Mai 75, 5. Juni 76 kg. 

15. W . . ., 22 Jahre. Kolossaler Primär¬ 
affekt der Unterlippe, talergroß, sehr zerfallen, 
apfelgroße Submaxillardrüsen. Schmierkur mit 
mäßigem Erfolg. 21. Mai 0,4 (606). 2. Juni Ulc. 
flach, zehnpfennigstückgroß. Drüsen ganz 
klein, zum Teil vereitert. 8. Juni Ulc. fast neil, 

51.5 kg; 4. Juni 51,5 kg. 

16. G . . ., 31 Jahre. Seit 8 Wochen Ge¬ 
schwür am Glied. Tuberculos. pulm. 4. Sal.- 
Inj. Geschwür vergrößert sich. Gonorrhoe, 
Urethralmündung und Glans von markstück¬ 
großem, zerfallenem Ulc. dur. eingenommen. 
Inguinaldrüsen sehr groß und hart. 27. Mai 0,5 
(606). 30. Mai Geschwür rein, verkleinert sich. 
3. Juni Pleuritis sicca. Auf Wunsch entlassen. 

17. W . . ., 30 Jahre. Seit 6 Wochen Ge¬ 
schwür am Glied. Seit 3 Wochen papulöses 
Syphilid am ganzen Körper, nicht sehr dicht. 
Skleradenit. univer. Angina spec. An der 
Corona glandis r. zerfallenes Geschwür. 1. Juni 
0,4. 2. Juni kolossale, talergroße Erythemflecke 
um zahlreiche Papeln. Jari sch-Herxheim er¬ 
sehe Reaktion, einen Tag anhaltend. 8. Juni 

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Geschwür in Heilung, Papeln in Rückbildung. 

29. Mai 61, 5. Juni 61,5 kg. 

18. E . . ., 22 Jahre. Januar Schanker, 
10 Salicylquecksilberinjektionen. Jetzt Angina. 
Dichtes, mittelgroßfleckiges, universelles Exan¬ 
them. 3. Mai 0,4 (606). 6. Mai Angina heil. 
Exanthem im Schwinden. 9. Mai heil. 23. Mai 
entlassen. 30. April 61, 7. Mai 59, 14. Mai 60, 

21. Mai 61,5 kg. 

19. Sch ...» 33 Jahre. Am 18. März nach 
Kur hier geheilt entlassen. 16. April Halsbe¬ 
schwerden, Plaques an der Zunge. Angina. 
3. Mai 0,3 (606). 6 Mai fast alles heil. 9. Mai 
heil; 20. Mai geheilt entlassen. 7. Mai 70 kg. 

20. F . . ., 27 Jahre. Ausgebreitete klein- 
bis mittelgroßfleckige Roseola. Skleradenitis. 
Erosionen der Glans (Spir.). 27. Mai 0,5 (606); 
am 2. Tag 38,2 Temperatur. 30. Mai Primäraffekt 
geschlossen, Roseola besteht noch. 4. Juni alles 
heil; an der Infektionsstelle Infiltrat. 28. Mai 61, 
3. Juni 62,5 kg. 

21. Pe . . ., 32 Jahre. Seit 8 Wochen am 
Penisschaft charakteristisches Geschwür (kleine 
Spir.). Kleinpapulöses universelles Syphilid. 
27. Mai 0,5 (606). 2. Juni Rückbildung des Exan¬ 
thems deutlich. Primäraffekt geschlossen. 

22. G . . ., 21 Jahre. Bohnengroße Indura¬ 
tion am Frenulum. Roseola. 1. Juni 0,4 (606). 
9. Juni geheilt entlassen. 

23. P . . ., 24 Jahre. Papulöses Syphilid. 
1. Juni (606) 0,4. 

24. M . . ., 16 Jahre. Sehr dichte, klein¬ 
fleckige Roseola. Angina spec. Plaques. Ero¬ 
sionen an Glans und Schaft-Penis (Spir. -f). 

30. Mai (606) 0,45. 31. Mai sehr starke Jarisch- 
Herxheimersche Reaktion. 2. Juni Primär¬ 
affekte geheilt. Exanthem geschwunden. 

25. M . .., 22 Jahre. Phimosis specif. Sehr 
dichtes papulöses Syphilid. Papeln am Scrot. 
und Penanal. Angina mit starken Ohrschmerzen. 

22. Mai 606 0,3. 25. Mai Ohrschmerzen ge¬ 

schwunden. 30. Mai Exanthem sinkt ein, Phi¬ 
mose geschwunden. 2. Juni Exanthem flacher, 
bräunlich. Ulzerationen am Penis heil, Papeln. 

8. Juni, da Exanthem noch nicht ganz resor¬ 
biert, noch Schmierkur verordnet 21. Mai 66, 
29. Mai 63,5, 5. Juni 64 kg. 

26. O . . . Makulöses Syphilid. Impetigo 
capit. spec. 4. Juni 0,4 (606). 

27. Sch . . . Papeln ad anum et scroti. 

9. Juni 0,5 (606). 

2a Krol .... 31 Jahre. 9. Juni (606) 0,5. 

29. W . . ., 23 Jahre. Primäraffekt, Papeln. 

9. Juni 606 0,5. 

30. R . . . Rezidiv. 9. Juni 606 0,5. 

II. Frauen. 

31. Clara B . . ., 19 Jahre. Seit drei Mo¬ 
naten kolossale Papeln, zum Teil zerfallen, 
zum Teil organisiert an Genitalien und Ober¬ 
schenkeln. 5. April (606) 0,3, 9. April noch 
Spirochäten, 15. April Rückbildung deutlich, 
2ö. April ganz abgeheilt Noch bis 24. Mai 
beobachtet, kein Rezidiv. 17. April 62, 5. Mai 
65 Kilo. 

32. Clementine R . . ., 15 Jahre. Kolossal- 
Oedem. Indurative und zahlreiche Papeln der 
Genitalien. Roseola 30. April 03 (606), 3. Mai 
sehr starke Rückbildung aller Erscheinungen. 

10. Mai heil. 24. Mai entlassen. 5. Mai 45, 

20. Mai 48 Kilo. 

33. Ida H . . ., 20 Jahre. Vor 8 Wochen 
Ulc. lab. pud. Jetzt sehr dichtgedrängtes uni¬ 
verselles. sehr derbes, mikropapulöses, liche¬ 
noides Exanthem, welches erfahrungsgemäß 


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320 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Juli 


der Therapie nur schwer weicht. Sklerad. 
universal. Angina spec. Plaques der Zunge. 
Papeln der großen Labien. 

19. April 606, 0,3, 22. April deutliche Invo¬ 
lution, 26. Mai Papeln heil, des Exanthems 
Plapues heil. Die Rückbildung schritt stetig 
fort, sodaß nur noch kleine Pigmentierungen 
im und unter dem Niveau der Haut nach drei 
Wochen etwa behandelt. Vom 21. bis 26. Mai 
wurde zur Resorption der Flecke noch 6x4 e 
Ungt. ein. verrieben. 46—47 Kilo wechselnd. 

34. Erna G ...» 20 Jahre. Papeln der Ge¬ 
nitalien, papulo-krustöses Syphilid. 28. April 
6,06, 0,3, ä0. April Papeln in Rückbildung, 

3. Mai heil, 14. Mai Exanthem fast geschwun¬ 
den, leichte Schuppung. 24. Mai ohne Erschei¬ 
nungen. Bekommt trotz negativer Wasser¬ 
mann-Reaktion noch 7 mal Ungt. ein. 4,0. 
27. April 57. 1. Mai 57, 15. Mai 58, 4. Juni 60 Kilo. 
Kein Rezidiv. 

35. Hilda G. .. ., 17 Jahre. 1. November bis 

4. Dezember 1909 makulöses Syphilid. Schmier¬ 
kur. 3. Mai wieder aufgenommen wegen Re¬ 
zidivpapeln der Genitalien. 7. Mai 0,3 606. 
8. Mai Erbrechen. 18. Mai völlig geheilt. 5. Mai 
45, 15. Mai 43, 20. Mai 43,5 kg. 

36. Lydia G...., 20 Jahre. Condylomata 
lata der Genitalien. Sklerad. inguinal. 7. Mai 
0,3 (606), am 9. Mai Temperatur 39,2 abends. 
14. Mai Papeln abgeheilt. 7. Mai 50, 15. bis 

20. Mai 52 kg, 7. Juni stellt sich ohne Re¬ 
zidiv vor. 

37. Marie G.22 Jahre. Seit März Ge¬ 

schwüre der Genitalien. Labien und Anal¬ 
gegend von großem Beet ulzerierter Papeln 
bedeckt. Sklerad. inguinal. 23. Mai 606 0,4. 
31. Mai Papeln heil, noch über dem Haut¬ 
niveau. 22. Mai 47,5, 4. .Juni 49 kg. 

38. Elfriede Qu-- 20 Jahre. Ulzerierte 

flache Genitalpapeln. Inguinaldrüsen. 24. Mai 
606 0,3. 31. Mai fast heil. 3. Juni heil. 25. Mai 
45,3, 5. Juni 47 kg. 

39. Johanna H... ., 22 Jahre. Mai/Juni 1909 
hier wegen Lues. Dezember 1909 Papeln. 
Spritzkur bis 9. Februar 1910 in der Charitö. 

21. März hier Schmierkur bis 2. Mai wegen 
makulopapulösem Syphilid. Plaques der Ton¬ 
sillen. Schon am 24. Mai aufgenommen mit 
Plaques der Tonsillen und Zunge, Rhagaden 
der Mundwinkel, isolierte Papeln auf Striae 
des Unterbauches. 26. Mai 606 0,456. 31. Mai 
Rhagaden heil, Plaques heil. 3. .Juni Papeln 
eingesunken. 24. Mai 52, 4. Juni 53,1 kg. 

40. Bertha M... ., 21 Jahre., Schwächliche 
Patientin, markstückgroßes schmieriges Ulc. dur. 
der linken Lab. major, kolossales induratives 
Oedem. Rechte Lungenspitze Dämpfung und 
Rasselgeräusche. 26. Mai 0,456 (606). 31. Mai 
Primäraffekt gereinigt, Oedem fast ganz ge¬ 
schwunden. 6. Juni nur noch fünfpfennigstück¬ 
große Fläche, reine Erosion. 25. Mai 41,5, 
4. Juni 42 kg. 

41. Martha G.22 Jahre. Angina specif. 

Großfleckige Roseola. Konfluierte ulzerierte 
Papeln der Labien und Perineum. 31. Mai 
606 0,4. 7. Juni Papeln überhäutet, aber noch 
nicht ganz resorbiert. 

42. N . . ., 20 Jahre. Ulzerierte Plaques 
der Tonsillen und Gaumenbögen. Papeln der 
Zunge. 27. Mai 0,45, 31. Mai alles heil. 

43. Auguste N . . ., 21 Jahre. Angina spec., 
zahlreiche bohnengroße ulzerierte Papeln der 
Genitalien. 24. Mai 0,4 (606), 31. Mai Papeln 
überhäutet, aber noch über dem Hautniveau. 

44. Hedwig G . . ., 26 Jahre. Roseola. 

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Plaques der Zunge. Papeln der Labien. 27. Mai 
0,45 (606). 31. Mai Roseola verschwunden. 

3. Juni alles heil. 

45. Clara B . . ., 29 Jahre. Blasse Frau, 
Lungenspitze Rasselgeräusche. Kleinpapulöses 
lichenoides Syphilid seit 8 Tagen bemerkt. 
Skleradenit. 1. Juni 606 0,4. 3. Juni Exanthem 
sinkt ein, 7. Juni Rückgang fortgeschritten, nur 
noch Pigmentflecke. 

46. Emma R . . ., 27 Jahre. Mutter und 
Bruder Tuberkulose. Rasselgeräusche über der 
rechten Spitze. Roseola am Rumpf; makulo¬ 
papulöses Syphilid an den Extremitäten; zahl¬ 
reiche große konfluierende Papeln an den La¬ 
bien. Plaques im Rachen. 31. Mai 606, 0,4, 
3. Juni Papeln gereinigt Syphilid im Rück¬ 
gang, Plaques fast geschwunden. 7. Juni Plaques 
heil. Papeln überhäutet, aber noch erhaben. 
Exanthem nur noch angedeutet. 

47. Charlotte Schn . . ., 21 Jahre. Scabies. 
Angina spec. Plaques tonsill. An der Labia 
majora einzelne papulöse, teils nässende, teils 
trockene kegelförmige Infiltrate, in denen Spiro¬ 
chäten nicht zu finden sind. (Zweifelhaft, ob 
Papeln schon durch Scabies bedingt.) Wasser¬ 
mann-Reaktion -|—|—|—1-. 25. April 606, 0,3. 
3. Mai Angina heil, 10. Mai Papeln (?) über¬ 
häutet, aber noch emporragend. Da sich diese 
trockenen Wucherungen nicht weiter zurück¬ 
bilden, 24. Mai noch Schmierkur, trotzdem 
Wassermann-Reaktion negativ eingeleitet. 

5. Mai 51, 20. Mai 53, 5. Juni 54 kg. 

48. Auguste D . .., 30 Jahre. Höchst elende 
Frau. Mit 21 Jahren wegen eines Augenleidens 
Spritzkur. Vor 3 Jahren 10 Spritzen wegen 
Ausschlag (Prpf. Buschke). Geburt eines 
Kindes, das nach 8 Tagen starb; danach wegen 
neuer Erscheinungen 8wöchentliche Schmier¬ 
kur. Seit Herbst 1909 Reißen in der linken 
Schulter, daselbst ein faustgroßes Gumma, ein 
gleiches in der linken Hüftbcuge, beide in Zer¬ 
fall. Rechte Lunge bis zur zweiten Rippe 
Dämpfung vorn, hinten bis zum oberen Rand 
der Skapula, bronchiales Atmen, knackende 
Geräusche. Unregelmäßige Temperatursteige¬ 
rungen. Jodkali mit leidlichem Erfolg, Gum- 
mata werden etwas kleiner. 26. Mai 606, 0,44, 
7. Juni Gumma etwas eingesunken, sonst wenig 
geändert. 29. Mai 35 kg. 

Eine besondere Betrachtung verdient 
die hereditäre Lues der Säuglinge. Es 
wurden gerade diese zuerst der Behand¬ 
lung unterworfen und solche ausgesucht, 
welche kaum Aussicht hatten, am Leben 
erhalten zu werden. Es sind dies Fälle 
von Pemphigus syphiliticus neonatorum, 
eine Form von Syphilis, bei welcher die 
inneren Organe von Spirochäten so durch¬ 
wuchert sind, -daß die Kinder fast stets mit 
und ohne Kuren sterben. Es ist gelungen, 
zwei derartige Kinder zu heilen, drei 
andere starben einige Tage nach der In¬ 
jektion; durch dieselbe waren die Er¬ 
scheinungen der Syphilis auf der Haut 
rapid verschwunden, aber es trat Tempe¬ 
ratursteigerung, Anämie und in einem Fall 
Opisthotonus auf. Die Sektion ergab in 
einem Fall ausgedehnteste miliare Gumma¬ 
bildungen der Leber, im zweiten Gummata 
des Herzens, im dritten Pädatrophie, keine 


Original frnm 

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Juli 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


321 


Zeichen von Arsenintoxikation. Nun ist ja 
das Leben so schwer syphilitischer Säug¬ 
linge, zumal wenn man ihnen die Mutter¬ 
brust nicht geben kann, aufs höchste be¬ 
droht. Es starben z. B. zu gleicher Zeit 
drei Säuglinge mit lange nicht so schwerer 
Lues, von denen der eine Oberhaupt nicht 
behandelt war, die beiden anderen der üb¬ 
lichen Hg-Kur unterworfen waren. Ebenso 
erkrankten zwei Kinder, welche in den letz¬ 
ten Tagen mit Pemphigus syphyliticus und 
papulöser Syphilis aufgenommen und zur In¬ 
jektion bestimmt waren, noch vor derselben 
an Fieber, ohne daß man irgend einen das 
Fieber erklärenden lokalen Krankheitsherd 
aufweisen konnte, und der Pemphigus starb. 

Immerhin ist es möglich, daß durch die 
rapide Auflösung der kolossalen Spiro¬ 
chätenmengen bei Anwendung des neuen 
Mittels eine solche Menge von Endotoxinen 
frei wird, daß dadurch eine vorübergehende 
Schädigung eintritt, welcher der schwache 
kindliche Organismus nicht stand hält Man 
wird auf diese Verhältnisse bei der Do¬ 
sierung achten müssen und zweckmäßig 
nur Kinder, deren Ernährungsfrage tadellos 
geordnet ist, vor der Hand der neuen Be¬ 
handlung unterziehen. 

Aus diesen Beobachtungen und nach den 
von andern Forschern gemachten Erfah¬ 
rungen, welche einige Hundert Fälle um¬ 
fassen, geht hervor, daß das Ehrlichsche 
Mittel in den bisher gebrauchten Dosen 
eine wesentliche Toxizität nicht hat. Ueble 
Wirkungen auf das Herz, Eiweiß- und 
Zuckerausscheidungen wurden nicht beob¬ 
achtet. Es ist für die allerskeptischste Be¬ 
trachtung klar, daß das neue Mittel in seiner 
Heilwirkung auf die Symptome der Syphilis 
den bisherigen weit überlegen ist. Sowohl 
bei Primäraffekten, wie bei den üblichen 
Manifestationen der sekundären Syphilis: 
Roseola, Papeln, Plaques, Skleradenitis, ist 
die Rapidität des Erfolges nach einer ein¬ 
zigen Injektion klar erwiesen, besonders 
aber ist die Heilung der malignen, der 
tertiären, der viszeralen Formen (Hoden¬ 
syphilis, Kopfschmerzen und eleptiforme 
Zustände, Fall K.) erstaunlich; vor allem 
aber grenzt die Wirkung auf die durch die 
bisherige Behandlung unheilbaren Krank¬ 
heitsformen ans Wunderbare. Als beson¬ 
derer Vorteil ist die fast stets hervor¬ 
tretende sehr günstige Wirkung auf das 
Allgemeinbefinden hervorzuheben, welche 
besonders die Anwendung des Mittels bei 
Tuberkulosen, wo das Hg immer als zweifel¬ 
haftes Mittel erscheint, wie aus mehreren 
unserer Beobachtungen hervorgeht, emp¬ 
fehlenswert erscheinen läßt. Rezidive 

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wurden bisher nicht beobachtet, doch ist 
die Beobachtungszeit noch zu kurz, wenn 
auch die ältesten Fälle, zwei Kinder, zirka 
drei Monate in unserer fortgesetzten Be¬ 
obachtung stehen. Es kann diese Frage, 
sowie die Frage, ob das Mittel mit einem 
Schlage die Syphilis heilen kann, erst durch 
fortgesetzte Beobachtung gelöst werden. 
Wir haben aber den Eindruck gegenüber 
kleinen Defekten in der Heilung einzelner 
Fälle, daß die bisher verwendeten Dosen 
nicht für alle Fälle ausreichend sind. Da¬ 
für spricht auch, daß die Wirkung bei den 
malignen Formen uns bedeutender erscheint, 
als bei papulösen Syphiliden. Wir haben 
es eben mit einem ausgesprochen spirillen- 
tötenden Mittel zu tun, und diese sind bei 
den malignen Formen zwar vorhanden — 
wie in dem einen unserer Fälle, entgegen 
den bisherigen Angaben, nachgewiesen ist—, 
aber doch weitaus spärlicher vorhanden. 
Wahrscheinlich hängt der volle Erfolg, die 
Sterilisatio magna, von der Dosis ab; dem¬ 
entsprechend hat Wechselmann auch die 
Dosis schon wesentlich, auf 0.45, bei Frauen, 

0,5 bei Männern erhöht. Toxisch wirken 
auch diese Dosen nicht Geheimrat Ehrlich 
meint nach den Erfahrungen an Tieren, wo 
das schnellere oder langsamere Verschwin¬ 
den der Spirillen genau von der gebrauchten 
Dosis abhängt, daß, wo am Tage nach der 
Injektion noch Spirochäten nachzuweisen 
sind, die Dosis zu klein ist, und man wird 
in diesen Fällen versuchen müssen, eine 
zweite Injektion folgen zu lassen. 

Wahrscheinlich sind auch in den Fällen, 
welche eine Jarisch-Herxheimersche 
Reaktion zeigen, die angewandten Dosen 
zu klein, um alle Spirochäten zu töten, und 
die Reaktion ist dann der Ausdruck einer 
durch zu kleine Dosen hervorgerufenen 
biologischen Erregung derselben. 

Was die Technik der Anwendung be¬ 
trifft, so hat Wechselmann die betreffen¬ 
den Dosen 0,25—0,5 in etwas Methylalkohol 
angelöst, dann 10 ccm Aq. dest. sterilisata 
zugefügt, dann langsam 1,5—2,0 Vio-Natron- 
lauge zugesetzt und Wasser auf 20 ccm 
aufgefüllt. Manchmal wurden auch nur 10 ccm 
Wasser verwendet, teilweise auch ohne 
Zusatz von Methylalkohol gelöst. In letzter 
Zeit wurde unter Titrierung mit Phenol¬ 
phthalein die Flüssigkeit möglichst genau 
mit Natronlauge neutralisiert und die etwas 
trübe Aufschwemmung injiziert, was weniger 
Schmerz hervorzurufen schien. Die In¬ 
jektion erfolgte nach Einpinselung der Haut 
mit Jodtinktur in die Glutaeen langsam an 
1—2 Stellen, möglichst außen fern vom 
Ischiadikus. Die Injektion ist nicht sehr 

Original fr;m 

UN1VERSITY OF CALIFORNIA 





322 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Juli 


schmerzhaft, viele empfinden dieselbe über¬ 
haupt nicht sehr. Die Schmerzen, welche 
groß, aber erträglich sind und individuell 
sehr verschieden empfunden werden, treten 
meist erst nach einigen Stunden, manchmal 
aber erst nach 1—2 Tagen auf, halten 
etwa 3 Tage lebhaft an, um sich dann 
mehr oder weniger schnell zu verlieren. 
Narkotika eventuell Morphiuminjektionen 
helfen darüber'weg. Am 1., 2. oder 3. Tage 
steigt manchmal, nicht immer, die Tempe¬ 
ratur und erhebt sich auf 38—39°, dabei ist 
das Befinden meist ein recht gutes. Meist tritt 
ein pralles Oedem auf, und für 8—12 Tage 
bilden sich mäßig harte, diffuse Infiltrate. 

Dem bedeutungsvollen Vortrag von 
Wechselmann folgten Mitteilungen von 
Alt (Uchtspringe), Schreiber (Magde¬ 
burg), L. Michaelis, Kromayer und 
Tomaszewski (Berlin). Sämtliche Vor¬ 
tragenden waren einig in der Anerkennung, 
daß das neue Mittel ganz hervorragende 


Heilwirkungen bei frischer Lues ohne ge¬ 
fährliche Nebenwirkungen entfalte. So war 
es verständlich, daß eine tiefe Bewegung 
der Verehrung und Dankbarkeit die Ge¬ 
sellschaft ergriff, als Ehrlich selbst die 
Rednerbühne betrat und einige Worte des 
Dankes an seine ärztlichen Mitarbeiter 
richtete. Wie wir erfahren, besteht die 
Absicht, das neue Mittel bis auf Weiteres 
nur in Krankenhäusern anwenden zu lassen 
und es erst der allgemeinen Praxis zu 
übergeben, wenn es sich in vieltausend¬ 
facher Anwendung als absolut unschädlich 
und frei von gefährlicher Nebenwirkung 
erwiesen hat. Inzwischen dürfen wir heut 
schon anerkennen — wenn auch über 
Dauerwirkung, Rezidivverhütung, besonders 
aber über die Einwirkung auf die Syphilis 
innerer Organe ein Urteil noch nicht mög¬ 
lich ist — daß das Genie des großen Ent¬ 
deckers der ärztlichen Kunst einen außer¬ 
ordentlichen Fortschritt gebracht hat. G. K. 


Referate 


Ueber den Aderlaß bei Kreislauf¬ 
störungen und seinen unblutigen Er¬ 
satz, das „Abbinden der Glieder“, macht 
D. v. Tabora (Straßburg i. E.) auf Grund 
seiner Untersuchungen und Erfahrungen 
an der Moritz sehen Klinik sehr beachtens¬ 
werte Mitteilungen. 

Gegenüber den bisherigen rein empi¬ 
rischen und daher schwankenden Indi¬ 
kationen für die Ausführung des Ader¬ 
lasses und für seine quantitative Bemessung 
gibt die Venendruckmessung, die sich 
mittels des Phlebotonometers (erhältlich [ 
bei C. F. Streisguth, Straßburg i. E.) im j 
einzelnen Falle leicht ausführen läßt, einen I 
sicheren Wegweiser, der den rechten 
Augenblick für den Eingriff, sowie die nach 
der Lage des Falles erforderliche Dosie¬ 
rung der „Entlastung des venösen Systems“ 
deutlich erkennen läßt. 

Ein abnorm erhöhter Druck in der 
Mediana — dem Ort der Messung — läßt 
auf eine mindestens ebenso große Druck¬ 
erhöhung im rechten Vorhofe, also auf 
eine entsprechend stärkere Füllung des¬ 
selben schließen. Zunahme von Druck 
und Füllung des Vorhofes haben aber auch 
die Zunahme beider im Ventrikel zur Folge; 
es resultiert also eine Steigerung des 
Schlagvolumens des rechten Ventrikels und 
erhöhter Druck und Füllung im Lungen¬ 
kreislauf. Auf zwei Wegen lassen sich 
nun letztere therapeutisch beeinflussen. 
Einmal durch Herabsetzung des Druckes 
im rechten Vorhof, das heißt also im Hohl- 

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venensystem, und das Mittel hierzu ist 
eben die Venaesectio. Der zweite Weg 
ist die Steigerung des Schlagvolumens des 
linken Ventrikels und die damit einher¬ 
gehende bessere Ausschöpfung des Lungen¬ 
kreislaufs; dieser Weg ist dann indiziert, 
wenn es in einem bestimmten Falle speziell 
an der Kraft des linken Ventrikels fehlt. 

Indem der Aderlaß den Druck im rechten 
Vorhofe herabsetzt, vergrößert er auch 
das Stromgefälle von den Arterien nach 
den Venen hin und damit die Strömungs¬ 
geschwindigkeit des Blutes. Erhöhung des 
Aortendruckes muß ebenfalls auf Ver¬ 
besserung des Gefälles hinwirken; jedoch 
geht hierbei der größte Teil der Druck¬ 
zunahme in den Kapillaren verloren. Eine 
dritte nützliche Wirkung des Aderlasses 
liegt in der nachgewiesenermaßen durch 
ihn zustande kommenden Verringerung der 
Blutviskosität, welche ebenfalls zur Ver¬ 
besserung des Stromvolumen beiträgt. Aus 
alledem folgt, daß die Anwendung des 
Aderlasses bei Kreislaufstörungen nur 
dann berechtigt sein kann, wenn derVenen- 
(Vorhofs-)Druck erhöht ist; andererseits 
aber folgt daraus auch, daß inbezug auf 
die Herabsetzung des Venendrucks ein 
analoger Effekt, wie durch den Aderlaß, 
oft auch durch Herzmittel erzielt werden 
kann. Mit anderen Worten: Eine Venae- 
sektio ist bei bestehender Kreislaufstö¬ 
rung nur dann indiziert, wenn der 
Venendruck erhöht ist; aber nicht in 
jedem Falle vonVenendruckerhöhung 

Original from 

UNIVERSUM 0F CALIFORNIA 



Juli 


323 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


muß venaeseziert werden, andere Me¬ 
thoden fahren oft zum gleichen Ziel. Ganz 
besonders intensiv muß die Kombination 
von Aderlaß und Herzmitteln wirken; so 
erklärt sich die Beobachtung, daß Digitalis¬ 
präparate zuweilen erst im Anschluß an 
einen Aderlaß ihre volle Wirkung ent¬ 
falten. 

Was die Menge des beim Aderlaß ab- 
zul^ssenden Blutes anlangt, so ergaben fort¬ 
laufende Venendruckmessungen während 
der Blutentziehung, daß die üblichen kleine- * 
ren Aderlässe — von 150—200 ccm — einen 
erhöhten Venendruck nur ganz unbedeutend 
herabzusetzen vermögen. Erst die Ent¬ 
nahme größerer Blutmengen, die etwa 6 bis 
10 °/ 0 der Gesamtblutmenge des be¬ 
treffenden Individuums betragen, also von 
durchschnittlich 300—500 ccm Blut, führt 
eine ausreichende Wirkung herbei. 

Zum Beispiel: 65jähriger Patient mit Em¬ 
physem und Herzinsuffizienz. Venendruck 
205 mm. Venaepunktio: Nach Entleerung von 
100 ccm Venendruck 195, nach 200 ccm 185, 
nach 300 ccm 175, nach 400 ccm 165, nach 
450 ccm 155 mm. 

Die Erniedrigung des Venendrucks bis 
zum Normal wert von etwa 60—80 mm 
Wasser gelang bei stärkeren venösen 
Stauungen oft auch durch die großen Ader¬ 
lässe nicht — der größte von Tabora 
ausgeführte Aderlaß, der übrigens einen 
unmittelbar lebensrettenden Erfolg hatte, 
betrug 750 ccm — aber die durch Ader¬ 
lässe von 300—500 ccm erzielte Druck¬ 
herabsetzung war doch stets eine beträcht¬ 
liche und von großem Einfluß auf den 
Kreislauf. 

Blutentziehungen von solcher Größe sind 
natürlich bei schwächlichen und besonders 
bei anämischen Kranken nicht erlaubt. Bei 
solchen bietet eine andere Methode Ersatz, 
die als „unblutiger Aderlaß 41 (v. Dusch) 
bezeichnet werden kann, d. i. das soge¬ 
nannte „Abbinden der Glieder 44 . Durch 
ein länger dauerndes Abbinden aller vier 
Extremitäten läßt sich, wie auf der Moritz- 
sehen Klinik festgestellt wurde, eine bis zu 
5 /4 1 betragende Volumenzunahme der Ex¬ 
tremitäten erzielen, welche zum größten 
Teil jedenfalls auf Blut zu beziehen ist. 
Durch systematische Venendruckmessungen 
stellte v. Tabora fest, daß das „Abbinden 44 
den Venendruck erheblich, manchmal selbst 
bis zur Norm herabsetzt; die größte Druck¬ 
herabsetzung, die er beim Abbinden beob¬ 
achtete, betrug 143 mm Wasser, d. h. es 
wurde ein auf das dreifache erhöhter 
Venendruck (217 mm) auf 74 mm, einen 
noch normalen Wert, reduziert. Das Ab- 

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binden kann nach dieser Richtung prinzi¬ 
piell den Aderlaß wohl stets ersetzen; der 
letztere verdient trotzdem oft den Vorzug 
aus folgenden Gründen. Einmal hängt die 
Größe des Effektes der Ligatur von der 
verschiedenen Ausbildung und Ausdeh¬ 
nungsfähigkeit der Extremitätenvenen ab. 
Dann wirkt der Aderlaß momentan, der 
maximale Effekt des Abbindens tritt erst 
nach 10—15—20 Minuten oder noch später 
ein; wo Gefahr im Verzüge, ist ceteris 
paribus der Aderlaß zu wählen. Schlie߬ 
lich werden auch die schnürenden Gummi¬ 
binden, die zur Konsolidierung des Effektes 
mindestens 1—2 Stunden liegen bleiben 
müssen, zuweilen unangenehm empfunden. 
Thrombosen in den abgestauten Venen sah 
Tabora niemals auftreten. Bei der Lö¬ 
sung der Binden muß ganz „parzellen¬ 
weise 44 vorgegangen werden; bevor z. B. 
die nahe der Leistenbeuge liegende Ober¬ 
schenkelligatur gelöst wird, muß eine 
andere oberhalb des Knies angelegt werden, 
damit so zunächst nur das im Oberschenkel 
abgestaute Blut dem Kreisläufe wieder zu¬ 
geführt wird. Außerachtlassen dieser Vor¬ 
sicht, d. h. plötzliches Lösen aller Binden, 
kann durch rasch einsetzende Ueberlastung 
des rechten Herzens zu schweren Kollaps¬ 
zuständen Anlaß geben. Bei Beobachtung 
dieser Kautelen leistet der „unblutige 
Aderlaß 44 häufig Vorzügliches und Tabora 
empfiehlt ihn zu ausgedehnterer Anwen¬ 
dung. Er benutzt ihn nicht nur als Ersatz-, 
sondern oft auch als Ergänzungsmittel des 
Aderlasses. In Fällen, wo ein zu aus¬ 
reichender Druckherabsetzung genügender 
Aderlaß dem Patienten nicht zugemutet 
werden kann, wird oft nach Entleerung von 
300 ccm Blut und darüber ein stunden¬ 
langes „Abbinden 44 angeschlossen. 

Die beiden Methoden zur Entlastung 
des venösen Systems, Aderlaß und Ab¬ 
binden der Glieder, kommen bei 2 Gruppen 
von Kreislaufstörungen in Anwendung; bei 
kardialen Dekompensationen und bei 
Pneumonien mit Kreislaufschäche. 
Beide Gruppen geben verschiedene thera¬ 
peutische Indikationen. 

Bei „kompensierten 44 Klappenfehlern 
und Herzmuskelerkrankungen ist 
der Venendruck normal (nur bei manchen 
Fällen von Trikuspidalinsuffienz ist der 
Venendruck bei noch ziemlich leistungs¬ 
fähigem Herzen bereits beträchtlich er¬ 
höht); jede bei einem Herzkranken auf¬ 
tretende Venendruckerhöhung darf als 
Herzinsuffienzsymptom aufgefaßt werden. 

Ist der Venendruckwert ein hoher — 

150 mm H 2 O und darüber — besteht 

41* 

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Juli 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


starke Dyspnoe und Zyanose, so kann 
unter Umständen eine Herabsetzung des 
Venendrncks durch Aderlaß allein genügen, 
um alle bedrohlichen Symptome mit einem 
Schlage zum Verschwinden zu bringen und 
die Wiederherstellung der Kompensation 
anzubahnen. Der Aderlaß ist in diesen 
Fällen aber nur dann sofort vorzunehmen, 
wenn eine erst nach Tagen zu erwartende 
Digitaliswirkung nach Lage des Falles 
nicht mehr abgewartet werden kann, ein 
raschwirkendes Präparat aber, speziell die 
intravenöse Strophantininjektion, zu be¬ 
denklich erscheint. In der Regel soll der 
Aderlaß, beziehungsweise das Abbinden 
der Glieder erst dann zur Anwendung 
kommen, wenn eine ausreichende Digitalis¬ 
wirkung sich nicht erzielen läßt. Oft wirkt 
nach dem Aderlaß dann das Digitalis in 
ganz anderer Weise als vorher. Der Ader¬ 
laß soll den Venendruck tunlichst bis zur 
Norm, mindestens aber um 50—80 mm 
Wasser herabsetzen. Ein schlechter Puls 
kontraindiziert hier die Blutentziehung in 
keiner Weise; Tabora sah ihn ausnahms¬ 
los nach der Venaesectio sich bessern. 

Die Kreislaufstörung bei Pneu¬ 
monie ist in der Regel nicht primär¬ 
kardialer Natur, sondern durch zentrale 
Lähmung des Vasomotorentonus bedingt. 
Dementsprechend ist der Druck im 'arte¬ 
riellen wie im venösen System herabgesetzt. 
Im weiteren Verlaufe der Erkrankung kann 
sich aber noch Herzschwäche im eigentlichen 
Sinne hinzugesellen und diese führt dann 
zu Venendruckerhöhung. Jetzt erst ist 
eine Indikation zur Venaesectio, beziehungs¬ 
weise zum Abbinden gegeben. Entsprechend 
dieser besonderen Entstehung der Venen¬ 
druckerhöhung durch späteres Hinzutreten 
von Herzschwäche im Gegensatz zu der 
gewöhnlichen kardialen Dekompensation, 
wo die Venendruckerhöhung ein ganz 
frühzeitiges Symptom ist, muß dies Symptom 
bei Pneumonie stets als ein recht bedenk¬ 
liches aufgefaßt werden und die Wirkung 
des Aderlasses hält bisweilen der zu 
starken Erschöpfung des Herzens nicht 
stand oder bleibt ganz aus. Stärker als 
bei der kardialen Dyspnoe wird der 
arterielle Druck bei der Pneumonie durch 
den Aderlaß beeinflußt; in fast allen seinen 
Fällen beobachtete v. Tabora deutliche, 
manchmal sogar erhebliche Senkungen des 
arteriellen Druckes. Deshalb muß bei 
Pneumonie besonders darauf geachtet 
werden, eine ausgiebige Herzstimulie¬ 
rung mit dem Aderlaß zu verbinden und 
gleichzeitig durch Vasokonstringentien 
(Adrenalin, Chlorbarium usw.) einen peri- 

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pheren Ersatz für den fehlenden zentralen 
Vasomotorentonus zu schaffen. 

Felix Klemperer. 

(Münch, med. Woch. 1910, Nr. 24.) 

Hesse berichtet über den chirurgischen 

Wert der Antifermentbehandlung eit¬ 
riger Prozesse; in 25 zum größten Teil 
schwereren Fällen hat er diese Behandlungs¬ 
methode in Anwendung gebracht. Die Ent¬ 
leerung des Eiters durch Aspiration mit 
einer Kanüle gelang vollständig nur lei 
kleinen, mit dünnflüssigem Eiter gefüllten 
Abszessen; bei größerer Eiteransammlung 
oder bei mit Blutgerinnseln oder nekroti¬ 
schen Gewebsfetzen durchsetzten Eiter 
reichte die Aspiration nicht aus, hier mußte 
inzidiert werden. Um dem Prinzip der ge¬ 
schlossenen Behandlung nicht zu entsagen, 
wurde nach Ablassen des Eiters das Serum 
in die Abszeßhöhle hineingegossen und 
die Wunde wieder durch Naht geschlossen. 
Vor der Inzision wurde die Umgebung des 
Abszesses gesäubert, dann die 3—8 cm 
lange Inzision angelegt und der Eiter unter 
sanftem Druck entleert. Ein Eingehen in 
die Abszeßhöhle mit Instrumenten oder 
Fingern wurde vermieden. Die Eitermenge 
wurde bestimmt und hiernach die zu inji¬ 
zierende Serummenge bestimmt; die Serum¬ 
menge entsprach etwa der Hälfte bis einem 
Drittel der Eitermenge. Nach nochmaliger 
Säuberung der Wundnachbarschaft wurde 
die Wunde durch möglichst nahe anein¬ 
andergesetzte Seidennähte geschlossen, um 
ein Ausfließen des Serums zu verhüten. 
Es folgt dann trockener Verband der 
Wunde und Ruhigstellung des erkrankten 
Teiles. Hesse punktierte in 10 und inzi- 
dierte in 16 Fällen; bei ersterer Behand¬ 
lungsart hatte er fünf Mißerfolge, bei 
letzterer nur zwei, im ganzen betrug die 
Zahl der Mißerfolge 27°/ 0 . In sechs Fällen 
wurde Aszitesflüssigkeit bzw. Hydro- 
zelenwasser angewendet, von diesen mi߬ 
langen vier; von 20 Fällen, in denen das 
Mercksche Leukofermantin gebraucht wurde, 
mißlangen nur drei. In der Hälfte der 
Fälle wurden Strepto- oder Staphylokokken 
nachgewiesen, die Art der Eitererreger 
scheint aber nach Hesses Ansicht für den 
Verlauf belanglos zu sein. Die Serum¬ 
menge soll, wie schon oben angedeutet, 
nicht zu gering sein, sie soll im Durch¬ 
schnitt ein Drittel der entleerten Eitermenge 
betragen. Hesse injizierte, ohne daß üble 
Nachwirkungen auftraten, bis 100 ccm. 
Anaphylaktische Erscheinungen, Serum¬ 
exanthem sah Hesse bei seinen Fällen 
nicht. Als wichtigstes Symptom trat der 
Temperaturabfall und das Aufhören der 


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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Juli 



325 


Schmerzen hervor, die Druckempfindlich¬ 
keit in der Umgebung und die entzünd¬ 
lichen Erscheinungen gingen zurück. In 
den nächsten zwei bis drei Tagen wurde 
das Exsudat serös und es folgte leichte 
Resorption. War am zweiten Tage die 
Druckempfindlichkeit nicht zurückgegangen, 
so ließ sich selten die Eröffnung des Ab¬ 
szesses vermeiden. Bei der richtigen 
Phlegmone wurde von der Antiferment¬ 
behandlung abgesehen, weil durch die In¬ 
jektion die Eitererreger weiter in die Tiefe 
gebracht werden und es zu einem Fort¬ 
schreiten der Phlegmone kommen könnte; 
bei dieser Erkrankung könnte man den 
Heilverlauf wohl beschleunigen durch Auf¬ 
legen in Serum getränkter Gaze auf die 
Inzisionswunden. Bei der sogenannten um¬ 
schriebenen Phlegmone mit Erweichungs¬ 
herden leistete die Antifermentbehandlung 
gute Dienste. 

Daß die Antifermentbehandlung, wie 
Hesse selbst an Kontrollversuchen zeigt, 
in geeigneten Fällen günstige Resultate 
liefern kann, ist sicher, immerhin ist aber 
ihr praktischer Wert scheinbar geringer, 
als man auf Grund der theoretischen Ueber- 
legungen annnehmen könnte. 

Hohmeier (Altona). 

(Arch. f. klin. Chir., Bd. 92, H. 1.) 

Eckstein berichtet über zwei günstig 
beeinflußte Fälle von Asthma bronchiale 
durch Röntgenbestrahlung, ln beiden Fällen 
trat sehr rasch Besserung und Verschwin¬ 
den der Anfälle ein. Nach einigen Monaten 
traten Rezidive ein, die wieder durch Be¬ 
strahlung geheilt wurden. H. W. 

(Prager med. Wochenschr. Nr. 14.) 

Auf Grund seiner Erfahrungen bringt 
Felix Hirschfeld die Beziehungen zwi¬ 
schen Gravidität und Diabetes zu ein¬ 
gehender Darstellung. Er glaubt doch, 
dafür eintreten zu müssen, daß die Ver¬ 
schlimmerung einer bestehenden Zucker¬ 
krankheit im dritten bis vierten Monat der 
Schwangerschaft nicht selten ist, dabei 
mehr die Azidosis, weniger die Glykosurie 
betrifft. Gleichwohl kommt es in der Regel 
weder während der Gravidität, noch im 
Wochenbett zum Koma. Ueberhaupt kann 
die Prognose relativ günstig gestellt wer¬ 
den, zumal die nach der Entbindung ge¬ 
reichte, knappe Diät das Verschwinden des 
Zuckers begünstigt. Zur Stützung seiner 
Anschauung vom verschlimmernden Einfluß 
der Schwangerschaft auf den Diabetes 
kommt Hirschfeld auf Versuche an gra¬ 
viden, nicht zuckerkranken Frauen zu 
sprechen, von denen etwa 10% — aller¬ 
dings wohl unter der Wirkung einer An- 

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läge zum Diabetes oder auch nervöser 
Disposition — selbst bei gewohnter Er¬ 
nährungsweise gelegentliche Glykosurie auf¬ 
weisen. Freilich ist Hirschfeld geneigt, 
ein solches Verhalten, bzw. eine alimen¬ 
täre Glykosurie bei Schwangeren bereits 
als Ausdruck einer leichten, diabetischen 
Stoffwechselstörung anzusehen; die Leichtig¬ 
keit der Affektion wird hierbei seiner An¬ 
sicht nach auch durch passageres Auftreten 
von Azetessigsäure nicht in Frage gestellt. 

Meidner (Berlin). 

(Berl. klin. Wochenschr. 1910, Nr. 23.) 

Zur Behandlung der verschiedensten 
Dickdamerkrankungen insbesondere des 
Meteorismus, der Atonie, der Colitis mem- 
branacea und der Hämorrhoiden empfiehlt 
C1 e m m die Anwendung trockener Kohlen¬ 
säure. Ein Schütteltrichter wird mit einer 
Weinsäurelösung gefüllt. Der Auslauf des¬ 
selben taucht durch einen doppelt durch¬ 
bohrten Stöpsel in eine Flasche mit Natron¬ 
lösung, aus der ein Winkelrohr heraus¬ 
führt, das mit einem Kugeldarmrohr in 
Verbindung steht. Durch Oeffnen des 
Glashahnes des Schütteltrichters fließt die 
Weinsäurelösung in die Flasche, es ent¬ 
wickelt sich Kohlensäure und diese wird 
durch das Darmrohr in den Darm geleitet, 
bis ein gelinder Druck im Colon verspürt 
wird. Dann wird der Schlauch abgesetzt 
und durch Massage der Darm entleert. In 
den meisten Fällen genügten 6—8 Sitzun¬ 
gen, um alle Beschwerden zu beseitigen. 

H. W. 

(Wien, klin.-therap. Wochenschr. Nr. 31.) 

Pankow berichtet über die Schnellig¬ 
keit der Keimverbreitung bei der 
puerperal - septischen Endometritis. 
Aus den Mißerfolgen der Hysterektomie 
bei schwerer septischer Endometritis ist zu 
ersehen, daß die Operation meist zu spät 
ausgeführt wird: obwohl die bimanuelle 
Palpation keine Veränderungen der Para¬ 
metrien und Adnexe hatte erkennen lassen, 
zeigte es sich bei der Operation, daß die 
Keime bereits weiter eingedrungen waren, 
als angenommen war. Von diesen bereits 
infizierten Teilen kann aber durch Ein¬ 
fließen von Oedemflüssigkeit in die freie 
Bauchhöhle während der Operation eine 
Peritonitis hervorgerufen werden und auch 
nach der Operation kann der entzündliche 
Prozeß noch auf das Peritoneum über¬ 
gehen. Alles deutet darauf hin, daß, wenn 
überhaupt operiert werden soll, dieses sehr 
frühzeitig zu geschehen hat. In 2 Fällen 
hat sich Pankow zur Frühoperation ent¬ 
schlossen. Besonders wichtig erscheint 
der 2. Fall: bereits 48 Stunden post partum 

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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Juli 


wurde die Operation ausgeführt und es 
wurden Streptokokken im Blut, in allen 
Schichten der Uteruswandung und in einem 
Thrombus der linken Spermatika gefunden. 
In ähnlich schneller Weise verbreitet sich 
auch das gutartigere Bacterium coli. Beide 
Fälle kamen zur Heilung. 

Mit Recht hebt Pankow hervor, daß 
für die Entscheidung, ob operieren oder 
abwarten, ganz besonders das klinische 
Bild zu verwerten sei. Bei 5 zu spät ope¬ 
rierten Fällen, die zum Exitus kamen, war 
die supravaginale Amputation ausgeführt 
worden; um dem infizierten parametranen 
Gewebe einen guten Abfluß nach unten 
verschaffen zu können, empfiehlt Pankow 
nach seiner guten Erfahrung bei den beiden 
erwähnten Fälle die Totalexstirpation des 
Uterus. P. Meyer. 

(Ztschr. f. Geb. u. Gyn., Bd. 66, H. 2.) 

Professor C. Ritter (Posen) empfiehlt 
die Behandlung des Erysipels mit 
heißer Luft, die zu arterieller Hyper¬ 
ämie und dadurch zu vermehrter Re¬ 
sorption führt. Er berichtet über 19 Fälle, 
die zum Teil sehr schwere waren; bis auf 
1 Fall, der abends in schwerer Benommen¬ 
heit eingeliefert wurde und in der Nacht 
starb, wurden alle geheilt. Auffallend war 
bei allen Patienten der rasche Temperatur¬ 
abfall; bei den ganz frischen Fällen fiel 
die Temperatur von 40° und darüber öfter 
nach eintägiger Behandlung kritisch zur 
Norm ab und blieb dann normal; in älteren 
Fällen ging sie lytisch ganz allmählich, 
aber gleichmäßig täglich immer mehr her¬ 
unter. Der Heißluftapplikation folgte oft 
unmittelbar einTemperaturanstieg; Schüttel¬ 
frost wurde nie beobachtet. Die erysipe- 
latöse Stelle heilte stets in der Weise, daß 
zunächst der zentrale Teil abblaßte und 
abschwol), meist zeigten zahlreiche zentral - 
wärts verlaufende kleine lymphangitische 
Streifen den Resorptionsvorgang an; erst 
später folgte das Abblassen des peripheren 
Abschnittes. Hierin und in dem Tempe¬ 
raturanstieg unmittelbar nach der Heißluft¬ 
behandlung erblickt Ritter einen sicht¬ 
baren Ausdruck der starken Resorption. 
Von den Patienten wurde die heiße Luft, 
die Ritter mindestens 2—3mal am Tage 
V 2 —1 Stunde anwenden läßt, sehr angenehm 
empfunden. Keiner klagte über die Hitze; 
das Allgemeinbefinden wurde meist günstig 
beeinflußt; diejenigen Patienten, welche 
stark schwitzten, wurden im allgemeinen 
schneller geheilt. 

Was die Technik der Heißluftapplikation 
anlangt, so benutzte Ritter bei den Glied¬ 
maßen die Bierschen Kästen; nur wenn 

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Arm, Bein und Rumpf erkrankt war, ver¬ 
wendete er das Quinckesche Schwitz¬ 
bett. Fürs Gesicht wurde allein der Schorn¬ 
stein (mit im Kugelgelenk beweglichem An¬ 
satz) verwendet, der soweit vom Gesicht 
entfernt aufgestellt wurde, daß der heiße 
Luftstrom, der das Gesicht trifft, eben er¬ 
träglich empfunden wird; nur wenn die 
Augen nicht mit verschwollen waren, 
wurden sie besonders geschützt. 

F. Klemperer. 

(Münch, med. Wochschr. 1910, Nr. 21.) 

Hautdefekte nach Verbrennungen 
empfiehlt Dr. Wirz in Mühlheim a. Rh. 
mit feuchten Umschlägen zu behandeln, 
auch solche nach Wunden usw. und Ulcera 
cruris hat er mit gutem Erfolg in dieser 
Weise behandelt. Zahlenangaben fehlen. 

Den theoretischen Erörterungen ist dafür 
ein zu breiter Spielraum gewährt. 

Hauffe (Ebenhausen). 

(Therapeut. Monatsh., Juni 1909.) 

Einen Herrn in mittleren Jahren, der 
durch die Ausscheidung unzähliger Maden¬ 
würmer bei jedem Stuhlgang sehr belästigt 
wurde, hat Schmidt durch tägliche Ver¬ 
abreichung von zwei bis drei je 1 g hal¬ 
tenden Estontabletten (Aluminiumsubazetat) 
erfolgreich behandelt. Meidner (Berlin). 

(Deutsche med. Wschr. 1910, Nr. 18.) 

Einen Fall von Meningitis serosa 
otogener Genese mit eigenartigem Verlauf 
berichtet O.Voss (Frankfurt a.M.): In einem 
Fall von Sinusphlebitis mit konkomitierender 
Meningitis serosa der hinteren Schädelgrube 
kam es während der Rekonvaleszenz unter 
plötzlichem Auftreten von Kreuzschmerzen 
und Kernigscher Kontraktur zu einer Infek¬ 
tion der spinalen Häute. Voss führt dieses 
Vorkommnis auf Zerreißung von Adhäsionen 
im Bereich der hinteren Schädelgrube zu¬ 
rück, ehe der Prozeß hier vollkommen ab¬ 
geklungen war und gibt dem zu frühen 
Aufstehen des Patienten schuld hieran. 

Er knüpft hieran die Mahnung zu striktester 
Innehaltung von Bettruhe bis zu dem Mo¬ 
mente, in dem das letzte Anzeichen der 
entzündlichen Exsudation vollkommen ver¬ 
schwunden ist. 

(Otologen-Kongreß 1910.) 

Schindler berichtet über günstige 
Erfolge bei Röntgenbehandlung von 
Myomen. Schon nach wenigen Bestrah¬ 
lungen konnte bei einer großen Anzahl be¬ 
strahlter Patienten ein Nachlassen in der 
Stärke der Menstruation, Verkürzung der 
Menses und Besserung des Allgemein¬ 
befindens konstatiert werden. Etwaige 
Schmerzen im Unterleib ließen nach, das 
Aussehen der Patienten besserte sichwesent- 

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Juli 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


327 


lieh, und ihre Leistungsfähigkeit nahm zu. 
In den meisten Fällen konnte ein Rückgang 
der Myomgeschwulst, in keinem Falle ein 
Wachsen derselben festgestellt werden. 
Bei einigen Patienten versagte die Methode, 
aber trotzdem glaubt Verfasser in ihr ein 
wirksames Mittel für die Myombehandlung 
zu besitzen, ein Mittel, das alle bisherigen 
Behandlungsweisen, mit Ausnahme der 
operativen, bei weitem übertrifft und 
häufig einen operativen Eingriff erspart. 

Dr. Eugen Jacobsohn-Charlottenburg. 

(Deutsche Med. Woch. 1910, No. 9.) 

Doevenspeck berichtet über drei Fälle 
günstig endender Unterlappenpneumonie 
mit gleichfalls rasch abheilender Neph¬ 
ritis haemoglobinuriea im Sinne Sena¬ 
tors. Bei zweien spielten Erkältungs¬ 
schädlichkeiten die entscheidende Rolle; 
im dritten möchte Doevenspeck hydri- 
atischen Maßnahmen Schuld an der Blut¬ 
farbstoffausscheidung geben und so alle 
drei unter dem bekannten Gesichtspunkt 
der Abkühlung als Ursache für die Hämo¬ 
globinurie betrachten. In zwei Fällen 
fahndete er auch auf Hämoglobinämie und 
konnte sie feststellen; in einem gab der 
spektroskopierte Harn die Oxyhämoglobin¬ 
streifen. Eiweiß und Formelemente wurden 
nie vermißt; doch glaubt Doevenspeck, 
sie bloß als Ausdruck einer Nierenreizung, 
nicht einer eigentlichen Nephritis würdigen 
zu sollen. Zur Bereicherung seiner Kasu¬ 
istik diskutiert Doevenspeck zum Schlüsse 
noch einen älteren Fall von foudroyanter 
Pneumokokkensepsis mit hämoglobinuri- 
schem, Methämoglobin führendem Urin. 
Die Annahme des damaligen Beobachters, 
der Pneumokokkus könne für die Zythämo- 
lyse verantwortlich gemacht werden, will 
Doevenspeck nicht gelten lassen. 

Meidner (Berlin). 

(Deutsche med. Wschr. 1910, Nr. 20.) 

Neue Kenntnisse zur Physiologie der 
Nierenabsonderung bringt Grünwald. 
Bei chlorarm gefütterten Kaninchen kann 
man durch fortgesetzte Diuretindarreichung 
immer wieder NaCl-Ausscheidung erzwingen 
und bei genügend langer Durchführung 
dieser Behandlung reflektorische Ueber- 
erregbarkeit, fortschreitende Lähmung und 
schließlich Tod hervorrufen. Das Auftreten 
dieser Vergiftungserscheinungen läßt sich 
nur durch NaCl-Gaben hintanhalten. 

Salzdiurese, z. B. Natriumsulfat, bringt 
keine starke NaCl-Ausschwemmung hervor. 
Die NaCl-treibende Wirkung des Diuretins 
ist eine primäre Nierenwirkung und zwar 
bildet den Hauptangriffspunkt der Glome- 
rulusapparat, wenn auch eine Lähmung der 


Rückresorption in dem Epithel angesichts 
der besonders intensiven und andauernden 
Diuretinwirkung vermutet werden muß. 
Doch bleibt letztere bei Schädigung des 
Nierenepithels durch große Quecksilber¬ 
gaben erhalten. Die Ausscheidungsstelle 
des NaCl ist jedenfalls der Glomerulus, der 
prozentuelle NaCl-Gehalt der Nierenrinde 
ist nur geringen, der des Nierenmarkes 
beträchtlichen Schwankungen unterworfen. 

K. Reicher, Berlin. 

(Arch. f. exp. Path. u. Pharm. Bd. 60, H. 4. u. 5.) 

Aus dem Urbankrankenhause zu Berlin 
teilt Beuster einen Fall von akuter, trau¬ 
matischer Niereninsuffizienz mit. Zwei 
Tage nach einem in den Einzelheiten nicht 
bekannten Straßenbahnunfall verfiel ein 
Patient in Krämpfe, die — insbesondere 
mit Hilfe der Kryoskopie des Blutes — als 
urämische erkannt wurden, und kam zum 
Exitus. Bei der Obduktion wurden außer 
hypostatischen Pneumonien und frischer 
Lungenspitzen- und Lymphdrüsentuber- 
kulose nur geringfügige Veränderungen 
beider Nieren — Verfettung und Nekrose 
— ermittelt. Dieser Befund sprach in 
gleicherweise gegen ein zur Zeit des 
Traumas schon bestehendes Nierenleiden, 
wie gegen eine durch den Unfall erst her¬ 
vorgerufene — in ihrem Vorkommen ohne¬ 
dies bezweifelte — akute Nephritis. Der 
ersten Annahme stand auch die Anamnese 
entgegen, der zweiten die Kürze der Zeit, 
in der die frische Erkrankung bereits zur 
Urämie hätte geführt haben müssen. Umso 
unerklärlicher bleibt die schwere Insuffizienz 
der Nieren im Anschlüsse an ein Trauma, 
das sie anatomisch nur wenig alteriert hatte. 

Meißner (Berlin). 

(Deutsche med. Wschr. 1910, Nr. 18.) 

Zur Frage von der Pathogenese der 
nephritischen Oedeme bringt Timofeew 
neues Material. Die Ergebnisse seiner 
fleißigen und interessanten Arbeit lassen 
sich wenigstens teilweise in folgenden 
Schlußsätzen zusammenfassen: Als Haupt¬ 
faktor für das Auftreten der nephritischen 
Oedeme erscheint der Uebergang von 
spezifischen lymphtreibenden Sub¬ 
stanzen ins Blut. Als Quelle dieser 
Lymphagoga dienen die erkrankten Nieren, 
deren zerfallende Zellbestandteile (Nephro- 
blaptine) hierbei ununterbrochen ins Blut 
übertreten. Zum Beweise dieser Annahme 
sollen folgende Versuche dienen: Normales 
arterielles oder venöses Blutserum besitzt 
ebensowenig lymphagoge Wirkung beim 
artgleichen Tier wie das von beiderseitig 
nephrektomierten und an Urämie zugrunde 
gehenden Tieren herstammende Blutserum. 


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Juli 


328 Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Dagegen rufen sowohl wäßrige Extrakte 
aus gesunden Nieren als auch das Blut- 
serum von Tieren, bei denen die Nieren¬ 
arterie oder der Ureter unterbunden wur¬ 
den, eine scharfausgeprägte Verstärkung 
des aus dem Duct. thorac. ausfließenden 
Lymphstromes hervor. Ferner kommt die 
lymphtreibende Wirkung der Nephroblaptine 
auch daran zum Ausdruck, daß statt der 
normalen 1—3 ccm aus dem Duct. thorac. 
in gleicher Zeit 8—9 ccm beim nieren¬ 
kranken Tiere selbst ausfließen, der 
Lymphe dieser Tiere eine ungewöhnlich 
große Anzahl von Erythrozyten beigemischt 
und die Koagulationsföhigkeit der Lymphe 
vermindert erscheint. Der Ausfall der 
sekretorischen Nierenfunktion hat anderer¬ 
seits eine Störung des osmotischen Gleich¬ 
gewichts der Körperflüssigkeiten und weiter 
die Retention einer abnorm hohen Wasser¬ 
menge in den Geweben zur Folge. In 
Verbindung mit der abnormen Durchlässig¬ 
keit der Gefäße führt dies zum Oedem. 
Letzteres kann auch dadurch in akuter 
Weise verursacht werden, daß man einem 
nierenkranken Tiere mäßige Mengen phy¬ 
siologischer NaCl - Lösung einführt. An 
normalen Tieren wird die gleiche Wirkung 
der physiologischen NaCl-Lösung nur nach 
vorausgegangener Einführung von Nieren¬ 
emulsion beobachtet. K. Reicher, Berlin. 

(Arch. f. exp. Path. u. Pharm. Bd. 60, H. 4 u. 5.) 

Nach kursorischer Erörterung der für 
die Diagnose der Perikarditis wichtigsten 
Punkte legt N. Ortner seinen Standpunkt 
hinsichtlich der Therapie der Herzbeutel¬ 
entzündung in einem klinischen Vortrage 
dar. Er verlangt strenge Bettruhe, solange 
die Erkrankung noch irgendwie physika¬ 
lisch nachweisbar ist, und empfiehlt für 
dyspnoische Patienten eine eventuell bis 
zu sitzender Stellung erhöhte Rückenlage. 
Der Uebergang zum Aufstehen soll durch 
gymnastische Uebungen im Bett vermittelt, 
das Treppensteigen als schwierigste 
Leistung erst ganz zuletzt, jedenfalls nur 
zögernd eingeübt werden. Die Beköstigung 
kann bei tuberkulöser und neoplasmatischer 
Perikarditis eine gemischte, soll bei rheu¬ 
matischer eine vegetarische und muß bei 
nephritisch-urämischer vor allem durch die 
Rücksicht auf die Nierenerkrankung be¬ 
stimmt sein. Bei akuter, febriler Herz¬ 
beutelentzündung nicht rheumatischer 
Natur braucht Fleisch nicht unbedingt ver¬ 
mieden zu werden. Geringe Mengen von 
Wein sind für bisher nicht abstinente 
Patienten zu empfehlen, nicht so starker 
Thee und Kaffee. Die Flüssigkeitszufuhr 
kann bei guter Herzkraft bis zu 2 1 pro die 

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betragen, bei darniederliegender bis auf 
1 1 eingeschränkt werden; treten Oedeme 
auf, so bedient man sich daneben auch mit 
Vorteil der mindestens periodischen Ver¬ 
abreichung kochsalzarmer Kost. Dieses 
Regime bewährt sich auch zur Erzielung 
endlicher Resorption des Exsudats chro¬ 
nischer, tuberkulöser Perikarditiden. Sorge 
für leichte Stuhlentleerung ist Pflicht, nicht 
minder Vermeidung jeder eigenen körper¬ 
lichen Leistung des Patienten bei der De- 
fäkation. Zur Linderung der lokalen Be¬ 
schwerden finden Kälte, Hitze und örtliche 
Blutentziehungen je nach Erfolg Anwen¬ 
dung. Verabreichung von Morphium läßt 
sich häufig schon wegen begleitender 
Schlatlosigkeit nicht umgehen; die Bei¬ 
bringung erfolgt subkutan, bei nicht ganz 
vertrauenswürdiger Herzkraft zusammen 
mit Koffein. Die medikamentöse Therapie 
kann bloß bei syphilitischer und rheuma¬ 
tischer Perikarditis kausal sein. Diesen 
kausalen Behandlungsmethoden steht die 
Anwendung des Kollargols und Elekrargols 
(letzteres 5—30 g intramuskulär oder intra¬ 
venös) nahe; wenigstens sprechen Ortners 
Erfahrungen dafür. Im übrigen geht man 
symptomatisch vor, vorzugsweise durch 
Verabfolgung von kardiotonischen Mitteln; 
je nach Veranlassung — dauernde Un¬ 
kräftigkeit oder plötzliche Erlahmung des 
Herzmuskels — wird innerliche (Digitalis¬ 
präparate) oder intravenöse (Strophantin, 
Digalen) Darreichung bevorzugt. Bei exsu¬ 
dativer Herzbeutelentzündung werden diu- 
retische Medikamente, am besten aus der 
Theobromingruppe, beigegeben. Auch im 
Abheilungsstadium der Perikarditis will 
Ortner Digitalis oder Strophantus nicht 
missen, um durch Anregung kräftiger Herz¬ 
kontraktionen einer Concretio pericardii 
cum corde vorzubeugen. Größe des Ex¬ 
sudats (Ausbildung der ominösen Dreiecks¬ 
form!) bei ausgeprägter Herzschwäche, 
Ausbleiben der Resorption bilden eine 
strikte Indikation zur Vornahme der Para¬ 
zentese des Herzbeutels. Sie wird im 
fünften oder sechsten Interkostalraum ein 
bis zwei Querfinger breit außerhalb der 
linken Mamillarlinie im Bereiche der Däm¬ 
pfung nach positiv ausgefallener Probe¬ 
punktion durch milde Heberwirkung vor¬ 
genommen und kann bei großen Ergüssen 
bis zu mehreren 100 cbcm entleeren. Be¬ 
gleitende pleurale Flüssigkeitsansamm¬ 
lungen müssen, wofern sie erheblich sind, 
vorher punktiert werden, da oft schon ihre 
Beseitigung das Herz genügend entlastet, 
um die Parazentese des Perikards ver¬ 
meiden zu lassen. Sie ist ein verant- 

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Juli 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


329 


wortungsreicher, wenn auch nicht selten 
dringend gebotener und dann auch — selbst 
bei den hämorrhagischen Herzbeutelent¬ 
zündungen Skorbutischer — aussichtsvoller 
Eingriff. Abgesackte, dextrokardiale Er¬ 
güsse sind in der rechten Parasternallinie 
im vierten oder fünften Interkostalraum zu 
punktieren, besser wohl durch Schnitt zu 
entleeren; retrokardiale sind der Punktion 
unzugänglich; eitrige oder jauchige sind 
breit zu eröffnen. Die Concretio pericardii 
cum corde et cum pleura kann nur durch 
Kardiolyse und, falls sich schwerere Ver¬ 
änderungen der Leberkapsel und des 
Peritoneums hinzugesellen, anschließende 
Omentopexie nach Talma erfolgreich an¬ 
gegangen werden. Meidner (Berlin). 

(Deutsche med. Woch. 1910, Nr. 20). 

An der Hand einiger Fälle entwickelt 
Holländer ein Bild der einzelnen Kom¬ 
binationsformen zwischen Perityphlitis und 
Ikterus. Zuerst bespricht er das seltene 
Vorkommnis einer leichten, katarrhalischen 
Gelbsucht im Vorläuferstadium einer akuten 
Epityphlitis und erklärt den Zusammenhang 
durch die Annahme, daß eine vom Magen 
ausgehende Erkrankungswelle erst den Ik¬ 
terus verursacht und später Typhlon mit 
Appendix getroffen hat. Eine andere Mög¬ 
lichkeit ist die toxische Gelbsucht, die vor 
oder nach der Operation auftritt, jedenfalls 
aber durch sie oder unter den dabei ge¬ 
setzten, günstigeren Bedingungen meist 
ziemlich rasch abläuft. Sie kann je nach 
Intensität der Giftresorption skleral bis 
universell sein und bedeutet nach Hol¬ 
länders Erfahrungen ante operationem 
eine Mahnung zum Eingriff wegen Gefahr 
der Totalnekrose des Wurms. Die schwerste 
Form ist der unter dem Bilde einer fou- 
droyanten Pyämie, nicht selten ohne all¬ 
gemeine Peritonitis, rasch tödlich aus¬ 
gehende, postoperative Ikterus, den Hol¬ 
länder zwar ausführlich diskutiert, schlie߬ 
lich aber doch nach Zusammenhang und 
Entstehungsursachen für noch unaufgeklärt 
ausgibt. Meidner (Berlin). 

(Berl. klin. Wochenschr. 1910, Nr. 22.) 

Jolly berichtet nach einem in der Ber¬ 
liner Gesellschaft für Geburtshilfe und 
Gynäkologie gehaltenen Vortrage über die 
Operation des Prolapsos uteri totalis. 
Seine Modifikation der Totalexstirpation, 
die er in 34 Fällen angewendet hat, be¬ 
steht im wesentlichen darin, daß er nach 
der Exstirpation des Uterus die Stümpfe 
stark vorzieht und das Peritoneum ver¬ 
einigt; dann werden die vorgezogenen 
Stümpfe mit 4—5 kräftigen Knopfnähten 

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zusammengezogen und bilden fest mit ein¬ 
ander vereinigt, eine dicke Pelotte, die vor 
dem Peritoneum und hinter der Scheiden¬ 
wand liegt. Selbstverständlich legt auch 
Jolly großen Wert auf eine ausgiebige 
hintere Kolporrhaphie, besonders darauf, 
daß ein hoher fester Damm zu Stande 
kommt. 

Zur Illustration der Indikation zur To¬ 
talexstirpation fügt Jolly 28, übrigens sehr 
mäßig reproduzierte, Abbildungen der exstir- 
pierten Uteri bei: bei myomatösem Uterus 
ist die Totalexstirpation selbstverständlich 
indiziert, weiter bei senilen Formen, die 
als Stütze keinen Wert haben, und bei 
großen metritischen Uteri; ein Teil der 
exstirpierten Uteri ist normal. Jolly legt 
größeren Wert auf die oberen Halte¬ 
apparate des Genitalrohres, die seitlichen 
Ligamente, die erst dann wirksam sein 
können, wenn sie, genügend gekürzt, die 
Scheide nach oben ziehen. — Wenn der 
Uterus noch fest sitzt, bleiben die einfachen 
Kolporrhaphien die richtigen Operationen; 
sind aber die Bänder gedehnt, so ist Jollys 
modifizierte Totalexstirpation, d. h. die 
Bildung einer kräftigen Pelotte durch die 
zusammengezogenen Stümpfe indiziert. 

Als Nahtmaterial wurde ausschließlich 
Jodkatgut verwendet; die Patientinnen 
bleiben 14 Tage im Bett. 

Selbstverständlich ist die Operation für 
die späteren Lebensjahre geeignet; bei 
jungen Frauen muß der Uterus erhalten 
bleiben. Mit Recht macht Jolly darauf auf¬ 
merksam, daß bei den Interpositions- 
methoden (Schauta-Wertheim) die Gebär¬ 
fähigkeit des Uterus verloren geht. 

3 Frauen starben; 2 am 12. resp. 14. 
Tag an Lungenembolie, die 3. an den Folgen 
eines Diabetes am 2. Tage. Die Ursache 
der relativ häufigen Lungenembolie sieht 
Jolly nicht in der modifizierten Stümpf- 
versorgung, sondern in der Verletzung der 
Venen des Beckenbodens bei der hinteren 
Kolporrhaphie. 

Für die Beurteilung der Dauerresultate 
ist die Zeit zu kurz, nur 4 Fälle liegen 
1 Jahr zurück, bei den meisten sind nur 
wenige Monate seit der Operation ver¬ 
flossen. P. Meyer. 

(Zeitschrift f. Geb. u. Gyn., 56. Bd. 1. Heft.) 

Rubens (Gelsenkirchen) berichtet einen 
Fall von Psoriasis, seit 14 Jahren be¬ 
stehend, bisher vielfach vergebens behan¬ 
delt, der bei einer Masernerkrankung plötz¬ 
lich am dritten Tage der Erkrankung die 
Schuppen zu verlieren begann. Seit zwei 
Monaten ist der Patient frei von Psoriasis, 

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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Juli 


Im Anschluß daran berichtet Fried - 
jung (Wien) über einen Fall, wo nach 
Masern seit 12 Jahren die bisher in Re¬ 
zidiven auftretende Psoriasisanfälle auf* 
hörten und nur noch kleine Herde übrig¬ 
blieben. Wenn er aber den Vorschlag 
macht, mit Serumexanthem analoge Heilungs* 
versuche zu machen, so erscheint Referent 
das künstliche Hervorrufen eines Exanthems 
doch viel einfacher durch einen akuten 
Sonnenbrand, der leichter beherrscht werden 
kann. Darüber bestehen bereits genügend 
Erfahrungen auch bei der Psoriasbehand- 
lung. Cfr. auch Berichte des Lichterfelder 
Kreiskrankenhauses 1900—1906. 

Hau ff e (Ebenhausen). 

(Deutsche med. Wschr. 1910, Nr. 3.) 

Lorenz tritt für eine ambulante Be¬ 
handlung der Sehenkelhalsbrftelie ein. 
Bei Patienten jugendlichen und mittleren 
Alters gleicht er in Narkose die Dislokation 
aus, indem er unter subkutaner Myotomie 
der am stärksten gespannten Adduktoren 
das Bein extendiert und adduziert. In 
maximaler Adduktion, Streckung und Innen¬ 
rotation wird das Bein sodann in einem gut 
anmodellierten Gipsverband fixiert; durch 
Anfügung einer Fußsandale wird der Patient 
gehfähig. Nach 3—4 Monaten erhält er 
einen abnehmbaren Stützapparat, den er 
bei gleichzeitiger Massagebehandlung min¬ 
destens 9 Monate lang tragen muß. 

Bei veralteten deform geheilten Brüchen 
hat Lorenz noch 7—8 Wochen nachdem 
Unfall die Reinfraktion durch maximale 
Abduktion zustande gebracht und die 
weitere Behandlung in der geschilderten 
Weise durch geführt. In den Fällen, bei 
denen der Knochen nicht mehr refrakturiert 
werden kann, sorgt Lorenz dafür, daß 
die habituell gewordene Adduktionsstellung 
in eine habituelle Abduktion übergeführt 
wird. 

Alte Personen erhalten während des 
schmerzhaften Stadiums einen Gipsverband 
ohne wesentliche Stellungskorrektur, der 
ihnen wenigstens das Verlassen des Bettes 
gestattet. Bergemann (Königsberg). 

(Deutsche Zeitschr. f. orthopfid. Chir. Bd. 25, 
S. 76.) 

Zur Behandlung der akuten otogenen 
Sepsis empfiehlt Hansberg (Dortmund) auf 
dem letzten Otologenkongresse an der Hand 
von 15 beobachteten Fällen akuter otogener 
Sepsis die Frühoperation. In allen seinen 
Fällen bestanden äußerlich keine Verände¬ 
rungen am Warzenfortsatz, 8 mal fehlte 
sogar eine Empfindlichkeit auf Druck. 
Eiter wurde in allen Fällen im Warzenfort¬ 
satz gefunden, 5 mal fand sich 4 Tage nach 

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dem ersten Auftreten der Mittelohrerkran¬ 
kung bereits eine Thrombose im Sinus, 
resp. krankhafte Veränderungen an der 
Wand desselben. 

Als Operation kommt zunächst die Er¬ 
öffnung des Warzenfortsatzes, dann die 
Freilegung des Sinus, event. mit Eröffnung 
desselben in Betracht. Hansberg hat 
gewöhnlich sehr frühzeitig operiert, 2 mal 
1V 2 . 4mal 3, 4mal 4, je 1 mal 6, resp. 10 Tage 
nach dem ersten Auftreten der Mittelohr¬ 
erkrankung, in 3 Fällen wurde im Verlaufe 
von Angina, resp. Scharlach operiert. 

Die Diagnose ist in den Frühstadien 
sehr schwierig, aber nicht unüberwindlich, 
von großer Bedeutung sind Temperatur¬ 
erhöhung, Schlummersucht, Empfindlichkeit 
am Warzenfortsatz. Aus der Höhe des 
Fiebers läßt sich nicht immer ein Schluß 
ziehen auf die Schwere der Erkrankung. 

Jeder Fall muß streng individualisiert 
werden, die Therapie muß immer dem je¬ 
weiligen Fall angepaßt sein. Ueber den 
Zeitpunkt, wann eingegriffen werden soll, 
lassen sich keine bestimmten Regeln auf¬ 
stellen, Erfahrung und Takt des Operateurs 
entscheiden. 

Von den Fällen Hansbergs wurden 
13 geheilt, 2 starben. 

(Otologen-Kongreß 1910.) 

Die Behandlung der kongenitalen 
Syphilis nach Immerwohl rühmt Heub- 
ner auf Grund seiner Erfahrungen in der 
Kinderklinik und Poliklinik der Charite. 

Die Methode besteht in der intramusku¬ 
lären Einspritzung von 0,002—0,003 Subli¬ 
mat in möglichst kleiner Menge gelöst, also 
etwa 0,1 einer 2%igen Lösung. Die In¬ 
jektion erfolgt alle 8 Tage. Die Ergeb¬ 
nisse sind sehr befriedigend, was Ref. an 
eigenem Material bestätigen kann. 

Finkeistein. 

(Charit6-Annalen XXX.) 

Fortschritte in der Ausbildung und 
Fortbildung der Taubstummen berichtete 
Hugo Stern (Wien) auf dem letzten Oto- 
logen-Kongreß. Schon im vorschulpflich¬ 
tigen Alter muß man systematische Stimm¬ 
übungen vornehmen, wozu adäquate Vor¬ 
bilder (gleichaltrige hörende Kinder) her¬ 
anzuziehen sind. Große Beachtung ist der 
Kehlkopfstellung und Kehlkopfbewegung 
zuzuwenden, ferner der Verbesserung der 
Vibrationsempfindlichkeit und einer richtigen 
Atemtechnik. Im allgemeinen bewährt es 
sich, beim Artikulationsunterricht nicht 
vom einzelnen Laut, sondern von Silben 
auszugehen. Vortragender* verweist weiter 
auf die Wichtigkeit der Vornahme von 

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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


331 


Juli 


Hörübungen (Urbantschitsch) in geeig¬ 
neten Fallen, auf die phonetische Schrift 
Gutzmanns, auf das Häufigkeitswörter¬ 
buch Kädings und Kobraks mimische 
Schrift — alles Hilfsmittel für ein rascheres 
und sichereres Absehenlernen. Das größte 
Gewicht ist auf eine weitere Fortbildung der 
Taubstummen in stimmlicher und sprach¬ 
licher Hinsicht zu legen, um eine reine und 
modulationsfähige Sprache zu erzielen. 

(Otologen-Kongreß 1910). 

Cordes tritt lebhaft für das Vorkom¬ 
men der Typhlitis stercor&lis, das ja 
in letzter Zeit stark angezweifelt worden 
ist. Die primäre Typhlitis kann in zwei 
Formen auftreten: 1. Durch spezifisch ge- 
schwürige Prozesse; besonders Tuberku¬ 
lose, Aktinomykose; Typhus, Dysenterie 
verursachten zur Perforation des Blinddarms 
führende Typhlitis; 2. einfache von der 
Schleimhaut ausgehende, in die Darmwand 
eindringende oder dieselbe durchdringende 
und auf die Umgebung weitergreifende Ty¬ 
phlitis verschiedener Aetiologie. An dem 
Vorkommen der ersten Form zweifelt nie¬ 
mand; von der zweiten Form hat Cordes 
zwei Fälle beobachtet. Das klinische Bild 


war beidemal das der akuten Appendizitis, 
das erstemal im ersten Anfall, das andere 
Mal im Rückfall. Der Appendix war beide¬ 
mal unverändert, doch bestand an dem 
Coecum eine zirkumskripte Entzündung, die 
in dem einen Fall die ganze Wand betraf, 
eiterig und emphysematös war, während 
sie in dem anderen Falle schon älter war 
und fast alle Wandschichten betraf. Nach 
der Resektion erfolgte Heilung. Als Ur¬ 
sache der Entzündung betrachtet Cordes 
in beiden Fällen den Reiz durch harte 
Skybala. Die seltene Beobachtung der Ty¬ 
phlitis bei Operationen kommt wohl daher, 
daß die Typhlitis so gelinde auftritt, daß 
sie nicht zur Beobachtung kommt, oder daß 
sie in vielen Fällen ganz abgeklungen ist, 
wenn die Symptome einer schweren Appen¬ 
dizitis auftreten, da ja die Heilungsbedin¬ 
gungen für das Coecum viel besser sind, 
als für die Appendix. (Das Vorkommen 
der Typhlitis ist ja wohl nicht ganz zu 
leugnen, doch ist sie wohl sehr selten und 
man tut gut, in allen Fällen eine Appen¬ 
dizitis anzunehmen, damit nicht die recht¬ 
zeitige Operation unterbleibt. Ref.) 

Klink. 

(v. Bruns Beitr. z. kl. Chir., Bd. 63, H. 3.) 


Therapeutischer Meinungsaustausch. 

Anhang zu meinem Aufsatz „Ueber künstlichen Pneumothorax 
bei der Behandlung der Lungenschwindsucht". 


Von Prof. Carlo 

Durch die besondere Freundlichkeit des 
Herrn Dr. J. Melandri, Direktor des italieni¬ 
schen Krankenhauses zu London, gelangte ich 
in den Besitz der langgesuchten Publikation 
von Dr. James Carson aus Liverpool. Ans 
derselben ergibt sich nun — wie ich dies an 
dieser Stelle sogleich bemerken will —, daß 
meine Vermutung, es hätte Carson einen rein 
theoretischen Vorschlag, aber niemals eine prak¬ 
tische Anwendung davon gemacht, und daß er 
jedenfalls nicht etwa die Heilung des der Lungen¬ 
schwindsucht zugrunde liegenden Prozesses, 
sondern lediglich eine der Kavernen und Lungen¬ 
abszesse anstrebte, eine gerechtfertigte war. 

Car so ns Arbeiten weisen daraufhin, daß 
er hauptsächlich Physiolog war; zwei derselben 
interessieren uns ganz besonders; die eine über 
die Elastizität der Lunge, die andere über die 
Behandlung der Lungenkavernen. 

Erstere wurde von Dr. Thomas Young 
in der Sitzung vom 25. November 1819 der 
königl. Londoner Gesellschaft vorgelesen und 
führt den Titel: „On the Elasticity of the 
Lungs" (in Phylosophical Transactions of the 
Roysu Society of London for the year 1820, 
Bd. 1, S. 29—44). Die Elastizität der Lungen 
war bereits seit längerer Zeit den Physiologen 
bekannt; das Verdienst aber, die bei Eröffnung 
des Thorax zur Wahrnehmung gelangenden 
Vorkommnisse auf dieselbe zurückgeführt und 
die ihr bei Kreislauf und Atmung zukommende 
Rolle ins Licht gestellt zu haben, gebührt, so¬ 
viel es scheint, Carson; sicherlich gebührt 

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Forlaninl-Pavia. 

ihm — wie dies auch von Donders in seinem 
1856 erschienenen klassischen Lehrbuche der 
Physiologie (J. Donders, Physiologie des 
Menschen. Leipzig, S. Hirzel, 1856. Bd. 1, 

S. 402) anerkannt wird — jenes, durch Tier¬ 
versuche das Maß dieser Elastizität bestimmt 
zu haben, was eben den Inhalt seiner in der 
Londoner Royal Society gemachten Mitteilung 
bildet In seinem Vortrage spricht Carson 
der seiner Schätzung nach bei Rindern über 
anderthalb, bei Schafen, Kälbern, großen Hun¬ 
den einen bis anderthalb Fuß, bei Katzen und 
Kaninchen 6 bis 8 Zoll Wasser betragenden 
Elastizität der Lungen — soweit letztere dem 
Herzen und dem Zwerchfell unmittelbar an- 
liegen — eine Mitbeteiligung an den Erschei¬ 
nungen des Blutkreislaufes zu und bedient 
sich ihrer als Stütze, um die Atmungsbewe¬ 
gungen des Zwerchfells zu erklären. 

Die Erkenntnis der Lungenelastizität ver¬ 
anlaßt ihn denn auch, gelegentlich einer im 
November 1821 in der Society of Liverpool 
gehaltenen Vorlesung eine von ihm ersonnene 
Behandlung der Kavernen und Lungenabszesse 
vorzuschlagen. Besagte Vorlesung ist betitelt: 

„On lesions of the lungs“ (15 Seiten) und 
wurde später — gleichzeitig mit zwei anderen, 
nämlich der bereits angeführten: „On the 
Elasticity of the Lungs* und einer zweiten: 

„On the Vacuity of the Arteries after Death“ 

(19 Seiten stark) — in einem in der Bibliothek 
des Londoner Royal College of Surgeon auf- 
bewahrten Bändchen, das den Titel führt: 

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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Juli 


„Essays Physiological and Practical by James 
Carson M. Dr. Physician in Liverpool. Printed 
by J. B. Wright of Castle St. Liverpool. 1822“, 
veröffentlicht. 

Im Hinblick auf das historische Interesse, 
das Car so ns Anschauungen für unser Thema 
besitzen, halte ich es für angezeigt, dieselben 
hier kurz zusammenzufassen. 

Wird bei einem Kaninchen — führt Carson 
aus — auf einer Seite der Thorax zwischen 
Rippe und Rippe so tief eingeschnitten, daß 
die Luft frei eindringt, so kollabiert die Lunge; 
das Tier scheint aber hierbei keine Schädigung 
zu erleiden; wenn man aber fünf Tage nachher 
bei demselben Tiere ganz den gleichen Ein¬ 
schnitt macht, jedoch auf der entgegengesetzten 
Seite, so geht wohl mitunter das Tier zu¬ 
grunde, häufiger aber ist dasselbe nach einer 
Periode von schweren Leiden und Atemnot 
Soweit wieder hergestellt, daß es fünf Tage 
nach dem zweiten Eingriff nichts mehr dar¬ 
bietet als einen schwachen Rest von Atemnot. 
Wird da das Tier geopfert, so läßt sich fest¬ 
stellen, daß die beiden Wunden vernarbt sind 
und — falls man den Unterleib früher als den 
Thorax eröffnet — das Zwerchfell unten wohl 
konkav ist, aber in geringerem Grade als in 
der Norm. Werden hingegen die Einschnitte 
am Thorax auf beiden Seiten desselben zu 
gleicher Zeit ausgeführt, so geht das Tier so¬ 
fort zugrunde. Daraus schließt Carson, daß 
der Kollaps einer Lunge allein im Leben gut 
toleriert wird — was wahrscheinlich darin 
seinen Grund hat, daß das Mediastinum eine 
verhältnismäßig steife Scheidewand zwischen 
den beiden Thoraxhälften bildet und ein Mecha¬ 
nismus da ist, der innerhalb einer gewissen 
Zeit den Kollaps vermindert und der Lunge 
zu ihrer Funktionsfähigkeit wieder verhilft, so 
daß der fünf Tage später in der anderen Lunge 
hervorgerufene Kollaps mit dem Leben noch 
vereinbar ist; dies sei jedoch nicht mehr der 
Fall, sobald beide Lungen zugleich zum Kolla¬ 
bieren gebracht werden. 

Sich weiter einlassend, faßt nun Carson 
den Einfluß der Lungenelastizität ins Auge, für 
den Fall, daß im Organ Läsionen erzeugt wer¬ 
den oder es zur Bildung von Abszessen kommt. 
Solche Läsionen vernarben bei weitem nicht 
so leicht wie bei anderen Körperteilen und 
haben einen höchst bedenklichen Ausgang, und 
zwar nicht etwa, wie mehrfach angenommen 
wird, weil die beständige respiratorische Be¬ 
wegung des betreffenden Teiles das notwen¬ 
dige Aneinanderhaften der Oberflächen hindert, 
sondern wohl darum, weil infolge der mächti¬ 
gen Elastizität des Gewebes die Bänder der 
einzelnen Kontinuitätstrennungen dahin streben, 
sich immer mehr voneinander zu entfernen und 
dadurch die Trennung immer mehr zu erweitern. 

Der sich ansammelnde Eiter, der bei ge¬ 
wöhnlichen Abszessen entleert werden muß, 
da er die Wände daran hindert, miteinander 
in Berührung zu kommen, wird hier auf 
bronchialem Wege herausgeschafft; dessen 
ungeachtet erfolgt eine solche Berührung nicht, 
weil infolge der Elastizität des Gewebes die 
Wände dahin streben, sich nach jeder dem 
Zentrum der Karität entgegengesetzten Rich¬ 
tung zurückzuziehen. Es tritt hier bei der 
Lunge das gleiche ein, wie beim Reißen der 
Achillessehne, wo die beiden Stümpfe infolge 
der Muskelkontraktion gewaltsam voneinander 
entfernt werden und deren Verheilung künst¬ 
lich, d. i. erst dann zu erzielen ist, wenn man 

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dieselben durch Kraftanwendung wieder mit¬ 
einander in verharrende Berührung bringt 

Es ist einleuchtend — bemerkt Carson 
zum Schlüsse —, daß. wenn man eine der¬ 
artig erkrankte Lunge zum Kollabieren bringt 
und die ihrer Heilung in unüberwindlicher 
Weise entgegen wirkende Elastizität des Ge¬ 
webes ausschaltet, der Läsion die gleiche Hei¬ 
lungsfähigkeit verliehen wird, als wenn sie in 
anderweitigen Körperteilen ihren Sitz hätte. 

Und nachdem — wie es sich gezeigt hat — 
das Zusammenfallen nur einer Lunge vom 
Tiere gut toleriert wird, so dürfte meinem 
Dafürhalten nach — für jene Fälle, wo eben 
nur eine Lunge verletzt ist — das in Rede 
stehende Verfahren eine erfolgreiche einfache 
und vollständige Behandlung ermöglichen. 

Sind aber beide Lungen verletzt, dann 
sind auch die zu überwindenden Schwierig¬ 
keiten größere. Da es jedoch bei den Tieren 
möglich ist, fünf Tage nach der Operation auf 
der einen Seite noch eine zweite auf der ent¬ 
gegengesetzten ohne gar große Gefahr auszu¬ 
führen — was den Gedanken an eine in der 
zuerst kollabierten Lunge allmählich vor sich 
gehende Wiederausdehnung nahe legt —, so 
ist auch beim Menschen Aussicht vorhanden, 
daß nach Verlauf einer gewissen Zeit die Ope¬ 
ration an der zweiten Lunge ebenso sicher 
ausgeführt werden könne, wie an der ersten. 
„Sollte dies auch nicht der Fall sein“ — fügt 
Carson hinzu —, „so müßte doch die Mög¬ 
lichkeit gegeben sein, denke ich, künstliche 
Mittel zur Wiederausdehnung der als bereits 
vernarbt geltenden ersten Lunge ausfindig zu 
machen.“ 

Eine Einzelheit von Car so ns Operations¬ 
verfahren erscheint mir aber ganz besonders 
erwähnenswert. „Wenn eine eine starke Eiter¬ 
ansammlung enthaltende Lunge,“ sagt er, „plötz¬ 
lich zum Kollabieren gebracht wurde, so würde 
der Eiter in die Bronchialwege gedrängt wer¬ 
den und dadurch den Kranken in drohende, 
unmittelbar bevorstehende Lebensgefahr setzen; 
letztere ließe sich jedoch durch Anwendung 
eines leicht einzusehenden, einfachen Mittels 
verhüten, indem man nämlich das Zusammen¬ 
fallen der Lunge stufenweise, durch mehrmalige 
Einführung (wiederholte Einschnitte...!?) kleiner 
Luftmengen herbeiführt.“ 

Aus Inhalt und Form der Mitteilung Car- 
sons geht nun also klar und deutlich hervor, 
daß sein Vorschlag ein rein theoretischer, nie¬ 
mals zur Ausführung gebrachter gewesen ist. 

Die einzige von ihm gemachte Angabe bzw. 
praktische Demonstration entstammt den in 
der alten Literatur verzeichneten Fällen von „an 
Auszehrung leidenden“ Individuen, die durch 
im Kriege erhaltene penetrierende, einen Zu¬ 
tritt der Luft gestattende Brustwunden wieder 
gesund wurden. „Die Operation,“ sagt hierzu 
Carson, „die ich, ein bestimmtes ziel ver¬ 
folgend, gewagt habe zu empfehlen, ist in 
diesen Fällen — wenn auch in grober Weise 
— durch den Zufall selbst ausgeführt worden.“ 

Wohl kaum unzweideutiger dürften die 
Schlußworte der Mitteilung lauten: „Ob die 
Methode,“ so schließt Carson, „sich als eine 
anwendbare und daher zweckentsprechende 
bewähren wird, oder ob sie von der Mehrzahl 
nicht als eine solche wird anerkannt werden 
und — nachdem sie eine Zeit hindurch die 
Aufmerksamkeit in Anspruch genommen — 
der allgemeinen Nichtbeachtung zum Opfer 
fallen wird, wird die Zeit entscheiden.“ 

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Juli 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


33* 


Es sei mir nun gestattet, nochmals folgende 
Schlüsse daraus zu ziehen: 

1. Carsons Vorschlag ist nur der theore¬ 
tische Gedanke eines Physiologen gewesen. 
Wohl schwerlich hätte zu jener Zeit — auch 
heutzutage nicht — ein praktischer Arzt es 
vermocht bzw. gewagt, einen solchen Vorschlag, 
in der Weise wie er damals gemacht wurde, 
praktisch zu verwerten — und ebenso wenig 
würde er es heute wagen. 


2. Immerhin besteht zwischen jenem Ge¬ 
danken und meinem Vorschläge ein wesent¬ 
licher Unterschied. Carson befaßt sich einzig 
und allein mit der Behandlung der Exkavation, 
die weiter nichts ist als ein anatomischer Aus¬ 
gang des Prozesses: ich dagegen fasse jenen 
der der Krankheit zugrunde liegenden Prozesse 
ins Auge und dies auf Grund einer die Natur 
desselben betreffenden neuen Auffassung, deren 
Priorität ich vor allen beanspruche. 


Bemerkungen zu Forlaninis Artikel über eine Prioritätsfrage bezüglich des 
künstlichen Pneumothorax bei der Behandlung der Lungenschwindsucht. 

Von Dr. S. Daus, Leitender Arzt der Heimstätte der Stadt Berlin in Gütergotz. 


Im diesjährigen Heft 5 und 6 dieser Zeit¬ 
schrift wendet sich Herr Professor Carlo 
Forlanini 1 ) gegen Ausführungen, die ich 2 ) im 
vorjährigen Heft 5 dieser Zeitschrift gemacht 
hatte. Ich hielt mich auf Grund von Zitaten 
aus den Handbüchern von Can statt 1843, 
Wui^derlich 1856 und Köhler 1867 für be¬ 
rechtigt, Carson als erstem den Gedanken der 
Bekämpfung der Lungentuberkulose mittels 
künstlich zu erzeugendem Pneumothorax zu 
vindizieren, denn die Idee von Carson bestand 
darin, durch Herbeiführung eines künstlichen 
Pneumothorax eine Kompression der kavernösen 
Lunge zu erzeugen und damit die Krankheit 
zu bekämpfen. Das ist ja doch nichts anderes, 
als was auch unsere moderne Pneumothorax¬ 
therapie bei Lungenphthise beabsichtigt. Mag 
man neute durch unsere modernen Hilfsmittel 
die Sache vervollkommnet haben, der Kern ist 
doch der gleiche: die Anwendung des künst¬ 
lichen Pneumothorax als therapeutisches Reme- 
dium bzw. Agens bei Lungenschwindsucht. 
Ob dabei die Empirie, die Carson seinerzeit 
die Idee insuffliert hat, eine andere war, bzw. 
ob die in meiner Arbeit geäußerte Vermutung, 
daß ihn die eventuelle Kenntnis der von Stokes 
bzw. Houghton mitgeteilten Fälle günstigen 
Einflusses des natürlichen Pneumothorax auf 
das Lungenleiden darauf gebracht hat, kommt 
hierbei doch gar nicht in Betracht. 

Ich behalte mir im übrigen vor, auf die 
Frage noch einmal, möglichst bald an anderer 
Stelle zurückzukommen, denn ich bin inzwischen 
dank der Liebenswürdigkeit Herrn Prof. Par- 
ker’s (Liverp.) in den Besitz eines Originalessays 
von Carson: „On lesions of the lungs“, als Vor¬ 
trag im November 1821 in der „Liverpool Society“ 
gehalten, gekommen, der indes, da Carson erst 
1843 gestorben ist, nicht genügenden Aufschluß 
über Carsons Ansichten, Erfahrungen usw. 
über diesen Gegenstand in seinen späteren 
Lebensjahren gibt, der aber die von Parola 
gemachten Angaben bestätigt, andererseits aber 
eine eingehendere Zitierung erfordert, als mir 
im Rahmen dieser Abwehr heute möglich ist. 3 ) 

*) Carlo Forlanini, lieber eine Prioritätsfrage 
bezüglich des künstlichen Pneumothorax bei der Be¬ 
handlung der Lungenschwindsucht usw. Therap. d. 
Geg. 1910, S. 198 bzw. S. 245, ferner Rivista delle 
pubblicaz. sul Pneumotorace terapeutico Nr. 5, Giugno 
1909, bzw. Gazzetta medica Italiana 1909, Nr. 38. 

*) S. Daus, Historisches und Kritisches über 
künstlichen Pneumothorax bei Lungenschwindsucht. 
Therap. d. Geg. 1909, S. 221. 

3 j Ausgehend von Tierversuchen schlägt Carson 
seine Methode bei Schwindsucht und Abszeß (auch 
hierzu vgl ForlaninisFall von Lungenabszefi: Münch, 
med. Woch. 1910, Nr. 3) vor und sieht eine Stütze 
dafür in dem günstigen Einfluß auf Schwindsucht durch 


Dem weiteren Einwand Forlaninis, es 
ginge aus meinen Zitaten nicht hervor, ob der 
Vorschlag von Carson wirklich ausgeführt 
worden sei, kann ich schon entgegen halten, 
daß Wunderlich ihn für „nicht nadiahmens- 
wert“ erklärt. Das Gegenteil aber aus meinen 
Zitaten schließen zu wollen, wie es Forlanini 
in der „Rivista etc.“ will, ist nicht gut an¬ 
gängig. Denn es hat zu allen Zeiten Männer 
gegeben, die in ihrem Denken und Handeln 
nicht bloß ihren Zeitgenossen, sondern auch 
noch nächstfolgenden Generationen weit voraus 
waren und zu ihrer Zeit nicht genügend ver¬ 
standen, bzw. gewürdigt wurden; aus diesem 
Gesichtspunkte heraus ist das Urteil, das meine 
Gewährsmänner über die Carson sehe Me¬ 
thode fällen, weder maßgebend, noch irgend¬ 
wie beweiskräftig, sondern wir haben nur aus 
den Zitaten die nackte, für uns wesentliche 
Tatsache herauszuschälen, daß Carson als 
erster Vorläufer der heutigen modernen Pneu- 
mothoiaxtherapeuten anzusehen ist. Uebrigens 
hat ja auch heutzutage der therapeutische 
Pneumothorax seine Gegner und findet leider 
nicht überall den gleichen Beifall. Und es be¬ 
handelt auch heute ein Autor, der ein neues 
Handbuch herausgeben will, darin das Kapitel 
vom therapeutischen Pneumothorax je nach 
seiner Meinung, Neigung und Erfahrung mehr 
oder weniger wohlwollend und ausführlich. 
Wir brauchen daher keineswegs von vornherein 
das gleiche „Interesse“ und Einsicht in die 
„Wichtigkeit des Gegenstandes“ bei dem von 
Forlanini zitierten Parola vorauszusetzen, 
wenn er hierüber nur so nebenbei etwas 
dürftig, über die Thorakozentese dagegen mit 
vielen Details berichtet. Das mag nun auch 
der allgemein damals geltenden medizinischen 
Zeitströmung entsprochen haben. Jene Zeit 
war noch nicht reif für die von Carson emp¬ 
fohlene Therapie und darum geriet diese in 
Vergessenheit. Mag auch sein, daß die spätere 
Anwendung des therapeutischen Pneumothorax 
aus Furcht vor pleuritischen Infektionen unter¬ 
lassen wurde, wie Pedrazzini 1 ) bereits in 
seinem in der Mailänder medizinischen Gesell¬ 
schaft gehaltenen Vortrage ausführte. — Jedes¬ 
falls aber ist das Herbeiführen des künstlichen 
Pneumothorax zur Bekämpfung der Lungen¬ 
phthise, wie es schon Carson vorschlug, doch 
der Hauptakt, der dieser ganzen Therapie den 
Namen gegeben hat, kann doch also nicht etwa 
bloß einen — wenn ich recht verstanden habe 


Stichverletzungen (z. B. Säbel) der kranken Lunge, 
wo die Operation „was.., roughly indeed, made by 
accident.“ 

*) Pedrazzini (Mailand, Via Valpetrosa): Sul 
pneumotorace artificiale nella cura della tubercolosi 
polmonare e della tisi. Sitzg. vom 27. Juli 1907. 


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334 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Juli 


— „nicht einmal wesentlichen Berührungspunkt 
oder vielmehr nur eine äußerliche Aehnlich- 
keit des Ausführungsmittels" darstellen. 

Was nun die Ueberlegungen Carsons an¬ 
langt, so schreibt Forlanini, daß Carson 
nach dem Berichte von Parola in dem Um¬ 
stand, daß die Lungen fortwährend gezwungen 
wären, sich auszudehnen und zusammenzu¬ 
ziehen, die Schwierigkeit der Heilung sah. 
Und hierzu findet sich in Fori an in is Ge¬ 
danken eine gewisse Analogie. Ich will nichts 
aus dem Zusammenhänge reißen. Aber als 
Grundgedanke, auf dem sich seine weiteren 
„Sätze" aufbauen, scheint mir doch Forlaninis 
Ansicht im Vordergründe zu stehen, „daß der 
hauptsächliche, notwendige und für sich allein 
hinreichende Grund für diese Erscheinung in 
der einzigen Bewegung von Ausdehnung und 
Zusammenziehung besteht, die die kompro¬ 
mittierte Organpartie infolge der Atmungstätig¬ 
keit beständig auszuführen gezwungen ist. . 

Ich möchte hierauf nicht weiter eingehen, son¬ 
dern nur noch das zusammenfassende Urteil 
Pedrazzinis erwähnen: „Wir stehen also 
nicht vor neuen Kriterien, noch vor ungebräuch¬ 
lichen therapeutischen Vorkehrungen." Und 
weiterhin sagt derselbe Autor: „II merito del 
prof.Forlanini e certo quello di aver fatto rivivere 
tra noi la questione del pneumotorace artificiale 
per la cura della tisi polmonare e di averne 
studiato e perfezionato il modo di esecuzione.“ 

Bei dieser Gelegenheit möchte ich nicht 
unterlassen, zu erklären, daß mir bei Abfassung 
meiner vorjährigen Arbeit der Vortrag Pe¬ 
drazzinis im ganzen und natürlich auch sein 
den Passus über Carson vollständig wieder¬ 


gebender Abschnitt aus der Arbeit Parolas 
unbekannt gewesen war. Indes geht auch aus 
Forlaninis Arbeit hervor, daß diesem der 
Vortrag Pedrazzinis — beginnend mit den 
Worten: „Es hallen noch in diesem Sale die be¬ 
währten Worte des berühmten Klinikers aus 
Pavia wieder ... .**, womit Forlanini selbst ge¬ 
meint ist, der kurz vorher in derselben Gesell¬ 
schaft über dies Thema gesprochen hatte, und 
obwohl im ganzen als Polemik gegen Forlanini 
gehalten — nicht bekannt war, denn er hätte doch 
sonst schon vor meiner Arbeit daraus die Kennt¬ 
nis der Parolaschen Arbeit gewonnen (also 
schon 1907), während er in seiner jetzigen Arbeit 
(H. 5, S. 199) es als Glück bezeichnet, das Werk 
Parolas, das sich, wie ich bei meinem letzten 
Aufenthalt in Mailand erfuhr, in der Bibliothek 
des dortigen Ospedale Maggiore befindet, jetzt 
nach Erscheinen meiner Arbeit in die Hände 
bekommen zu haben. Daraus also schließe ich, 
daß ihm dieser Vortrag und die Polemik Pe¬ 
drazzinis bisher unbekannt geblieben ist. Ich 
jedesfalls sehe die Autorschaft von Carson 
bestätigt. Nach meiner Ansicht ist man es den 
Manen dieses Mannes schuldig, seinen Namen 
auch in diesem Zusammenhänge aus der vor¬ 
märzlichen Literatur herüberzuretten und ihm 
jetzt, wo seine Ideen wieder aufgenommen, 
exakt ausgebaut und nach jeder Richtung hin 
begründet, insbesondere in der Technik nach 
modernsten Grundsätzen vervollkommnet wer¬ 
den, in der ihm zukommenden Weise gerecht 
zu werden. Damit werden die Verdienste von 
Forlanini, Brauer, Murphy, A. Schmidt 
u. a. um die Pneumothoraxtherapie in keiner 
Weise irgendwie tangiert. 


Ans der Klinik und Poliklinik für Frauenkrankheiten von Prof. Dr. Nagel, Berlin. 
Erfahrungen mit Aperitol als schmerzloses Abführmittel. 

Von Dr. A. Hirschberg, Assistenzarzt. 


Ueberblickt man die in den letzten 
Jahren in den Arzneischatz eingeführten 
Abführmittel, so fällt dabei in die Augen, 
daß die alten pflanzlichen Mittel, wie Rha¬ 
barber, Senna und Aloe immer mehr zu¬ 
gunsten der synthetischen Präparate in den 
Hintergrund treten. Unter diesen erzielt 
die Gruppe der Oxyanthrachinone und des 
Phenolphtaleins die Hauptrolle. Das Phenol- 
phtalein besonders hat in den letzten Jahren 
eine große Verbreitung als Abführmittel 
gewonnen. Die Tatsache, daß man es hier 
mit einer ganz ungiftigen Substanz zu tun 
hat, die schon in relativ kleinen Mengen 
eine sichere Wirkung erzeugt, die sich 
genau dosieren läßt und nur einen schwach 
bitteren Geschmack besitzt, sind so erheb¬ 
liche Vorzüge vor den pflanzlichen Drogen, 
daß sie die überraschend schnelle Verbrei¬ 
tung des Mittels begreiflich machen. Was 
speziell die Ungiftigkeit des Phenolphtaleins 


l ) Carson: »The peculiar obstinacy observable 
in the eure of injuries of the lungs, has generally 
been attributed to the constant motions, and different 
degrees of distension to which these organs are sub- 
jected in the process of respiration.“ (Originalessay I.c.). 

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betrifft, so sind letzthin einige Fälle be¬ 
schrieben worden, in denen Kinder bis zu 
25Tabletten k 0,2Phenolphtalein genommen, 
ohne andere schädliche Wirkung als starken 
Durchfall dadurch zu bekommen. Die 
meisten der in letzter Zeit dargestellten 
neuen Abführmittel enthalten daher das 
Phenolphtalein als wirksames Prinzip. Ein 
Nachteil des Mittels besteht indessen darin, 
daß es bei empfindlichen Personen fast 
immer Leibschmerzen und Kullern erzeugt. 
Um diese unangenehmen Nebenwirkungen 
zu beseitigen, konnte man daran denken, 
das Phenolphtalein mit einem Darmseda¬ 
tivum zu verbinden. Nach Hammer und 
Vieth eignet sich dazu am besten die 
Baldriansäure, da sie im Vergleich mit den 
sonst gebräuchlichen Beruhigungsmitteln, 
wie Opium oder Belladonna als völlig harm¬ 
los zu bezeichnen ist. Es genügt indessen 
nicht, eine einfache Mischung von Baldrian 
und Phenophtalein einzunehmen, da die 
Baldrianbestandteile längst resorbiert wären 
und ihre Wirkung erschöpft wäre, ehe die 
abführende Wirkung des Phenolphtaleins 
in Kraft treten kann. Es muß vielmehr 


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Juli 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


335 


eine feste Bindung beider zustande ge¬ 
bracht werden, die sich erst im Dickdarm 
spaltet. Als solche wurde von den ge¬ 
nannten Autoren das Aperitol in den 
Arzneischatz eingeführt. Die Autoren fassen 
ihre Resultate mit diesem Mittel in folgende 
Sätze zusammen: 

1. Durch die chemische Einführung der 
sedativen Baldriansäuregruppe in das ab¬ 
führend wirkende Molekül des Phenol- 
phtaleins wurde eine Substanz erhalten, 
welche eine schmerzlose Stuhlentleerung 
auch bei solchen Personen hervorruft, 
welche sonst bei Gebrauch auch sogenannter 
milder Abführmittel Leibschmerzen zu be¬ 
kommen pflegen. 

2 . Das Aperitol ist als ein völlig un¬ 
schädliches Abführmittel zu bezeichnen, 
welches keine toxischen oder reizenden 
Eigenschaften besitzt, insonderheit keine 
Schädigung der Nieren hervorruft; es kann 
also auch bei Nierenaffektionen verabreicht 
werden. Im Darm wird es in seine Be¬ 
standteile zerlegt, von denen das Phenol- 
phtalein nur in minimalem Grade resor¬ 
biert, zum größten Teile mit den Fäzes 
wieder ausgeschieden wird. 

3. Das Aperitol ruft, in geeigneter Dosis 
angewandt, im allgemeinen nach 4 bis I 
12 Stunden eine einmalige (selten mehr- | 
malige) reichliche breiige Stuhlentleerung 
hervor. Es scheint bei längerem Gebrauche 
keine Angewöhnung zu erzeugen. 

4. Die gewöhnliche Dosis für Erwachsene 
beträgt 2 Bonbons oder Tabletten zu 0,2 g 
Aperitol. Bei zu schwacher Wirkung kann 
die Dosis unbedenklich erhöht werden. 
Bettlägerige bedürfen oft 3 bis 4 Tabletten, 
kleine Kinder erhalten einen halben bis 
einen, größere 2 Bonbons. 

Diese Angaben sind von verschiedenen 
Seiten nachgeprüft und im großen und 
ganzen als richtig anerkannt worden. 

Ueber die Art und Weise, wie die ab¬ 
führende Wirkung des Aperitols zustande 
kommt, hat Herschell (London), eine 
Reihe Versuche angestellt. Durch Ver¬ 
abreichung von Probemahlzeiten, die mit 
Karminpillen abgegrenzt waren, bestimmte 
er den Einfluß des Aperitols sowohl auf 
die Zeit zwischen Aufnahme und Aus¬ 
scheidung der Nahrung als auch auf die 
Konsistenz und den Wassergehalt des 
Stuhles. Er fand 1. daß Aperitol die 
Darmperistaltik vermehrt und die Stoffe 
schneller aus dem Darmkanal befördert, 
daß jedoch die Wirkung selbst bei dem 
gleichen Individuum noch durch unbekannte 
Faktoren in ihrer Intensität beeinflußt 


wurde; 2. daß nach Aperitol die Menge 
des Wassers im Kot vermehrt wird, und 
zwar annähernd proportional der ver¬ 
abreichten Menge des Aperitols. 

Was die Auslösung von Schmerzen 
nach der Einnahme des Aperitol betrifft, 
so finden wir bei allen Autoren die über¬ 
einstimmende Angabe, daß es in der großen 
Mehrzahl der Fälle gänzlich schmerzlos 
wirkt, nur selten wird ein Unbehagen oder 
Stechen, meist kurz vor der Entleerung 
verspürt. 

Was nun meine eigenen Beobachtungen 
anbetrifft, so habe ich bei dem großen 
Krankenmaterial unserer Klinik und Poli¬ 
klinik das Mittel mehrere Monate lang in 
Anwendung gebracht. Da bei den Frauen 
die Neigung zur Obstipation erfahrungs¬ 
gemäß eine bei weitem größere ist, als bei 
den Männern, so muß die Dosis bei den 
ersteren eine größere sein. Während bei 
Männern bereits 1—2 Tabletten erfolgreich 
wirken, bedarf es bei Frauen 2—3 Tab¬ 
letten. Die Frauen nehmen das wohl¬ 
schmeckende Aperitol sehr gern ein; 
Schmerzen bei der Entleerung wurden in 
keinem Falle beobachtet, ebensowenig 
irgendwelche Reiz- oder Intoxikations¬ 
erscheinungen. Der Stuhlgang stellt sich 
etwa 6—7 Stunden nach Einnahme des 
Mittels ein, so daß es sich empfiehlt, das¬ 
selbe entweder abends vor dem Schlafen¬ 
gehen oder morgens zu nehmen. Auch 
4—5 Tabletten pro dosi wurden von den 
Patienten anstandslos vertragen, nur war 
darnach die drastische Wirkung eine fulmi¬ 
nantere. 

Unsere Erfahrungen bestätigen also die 
Angaben der oben genannten Autoren, die 
das Aperitol als ein völlig unschädliches 
und schmerzloswirkendes Abführmittel be¬ 
zeichnen. Da es ferner sowohl in Form 
der Bonbons wie der Tabletten auch von 
empfindlichen Personen gern genommen 
wird, so dürfte es besonders in der Frauen- 
und Kinderpraxis den sonst üblichen Ab¬ 
führmitteln vorzuziehen sein. 

Literatur. 

Pronai, Universitätsfrauenklinik, Wien, 
„Klinische Versuche mit Aperitol“, Wiener 
klinische Rundschau, 1910. Nr. t. — Baedeker, 
Berlin, „Aperitol als Abführmittel und spezi¬ 
fisches Darmheilmittel“, Zentralblatt für die 
gesamte Therapie, Novemberheft 1909. — 
Herschell, London, „Ueber die Wirkung des 
Aperitols“, Folia Therapeutica, April 1909. — 
Mj k 1 o s, Klinisch - therapeutische Wochenschr. 
1909, Nr. 30. — Pickardt, Berlin, Therapeu¬ 
tische Rundschau 1908. — Hammer & Vieth, 
„Aperitol ein schmerzlos wirkendes Abführ¬ 
mittel“, Med. Klinik 1908, Nr. 37. 


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336 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Juli 


Zur Bewertung des Gynovals. 

Von Dr. Georg Fla tau, Nervenarzt, Berlin. 


In den letzten Jahren wurde wieder- 
holentlich auf die Verschiedenheiten der 
pharmakologischen Wirkung einiger Drogen 
hingewiesen und betont, daß Schwankungen 
in dem Gehalt an dem wirksamen Prinzip 
bedingt sind durch den Standort der Pflanze 
und durch das Verhältnis, in dem die ein¬ 
zelnen Glykoside, Alkaloide, Gehalt an 
ätherischem Oel vorhanden sind. Diese 
Verschiedenheit weist auch neben der Digi¬ 
talis unsere offizineile Baldrianwurzel auf. 
Durch die Untersuchungen von Kionka 
wissen wir, daß die in der frischen Wurzel 
enthaltenen wirksamen Substanzen schon 
beim Trocknen und Lagern veränderlich 
und zersetzlich sind. Bei dieser durch die 
Tierversuche exakt bewiesenen Differenz 
an aktiven Prinzipien lag es nahe, die¬ 
jenigen Stoffe aus dem Baldrian zu iso¬ 
lieren, die den therapeutischen Effekt der 
Wurzel bedingen. Die Baldnansäure be¬ 
sitzt die spezifische Wirkung nicht, da¬ 
gegen ist festgestellt (Versuche an Katzen), 
daß sie dem Baldrianöl zukommt und dieses 
setzt sich hauptsächlich aus Borneol und 
Isoborneol zusammen, sowie aus zahlreichen 
Estern, von denen derjenige der Baldrian- 
und Isovaleriansäure die wichtigsten sind. 
Unter Berücksichtigung dieser Erfahrungen 
wurde aus dem Borneol und der Isover- 
bindung der Valeriansäure ein [neues Bal¬ 


drianpräparat Gynoval-Bayer hergestellt, 
das chemisch einen Isovaleriansäure-Iso- 
borneolester vorstellt. Er enthält die beiden 
aktiven Stoffe des Baldrians, besitzt einen 
nur bis zu einem gewissen Grade an Baldrian 
erinnernden Geschmack und wird daher als 
Ersatz der Baldrianauszüge empfohlen. 

Auch von mir wurde dieses Präparat, 
das der Bequemlichkeit wegen in genau 
dosierten Mengen in Gelatinekapseln in den 
Handel kommt, bei geeigneten Indikationen 
in Anwendung gezogen. Meine Unter¬ 
suchungen berücksichtigen etwa 20 Fälle 
nervöser Zustände, insbesondere Herz¬ 
klopfen, Angstzustände und dann Herz¬ 
leiden, die mit Schlaflosigkeit einhergehen. 
Bemerkenswert war die günstige Wirkung 
in einem Fall von habituellem Erbrechen 
bei Eisenbahnfahrt. 

Meine Beobachtungen lassen sich dahin 
zusammenfassen, daß die Gynovalperlen im 
allgemeinen recht gut vertragen werden. 
Die therapeutische Wirkung war recht be¬ 
friedigend, der Effekt auf die Schlaflosig¬ 
keit und auf die nervösen Symptome war 
ein günstiger, so daß sich eine Empfehlung 
der Gynovalperlen für die angegebenen 
Erkrankungen durchaus rechtfertigen läßt, 
dies um so mehr, als der Preis auch eine 
Verwendung des Präparates bei den weniger 
bemittelten Patienten zuläßt. 


Erklärung. 


Auf dem diesjährigen Chirurgenkongreß 
hat Herr Professor Sprengel (Braun¬ 
schweig) sich am Schluß der Appendizitis- 
Debatte gegen die Ausführungen des Herrn 
Professor Albu (Berlin) in der Berl. klin. 
Wochenschrift 1909, Nr. 27, in einer Dis¬ 
kussionsbemerkunggewandt, die auf Wunsch 
der Beteiligten Gegenstand einer Verhand¬ 
lung vor dem Unterzeichneten Vorsitzenden 
der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie 
für das Jahr 1910 geworden ist. 

Nachdem Herr Albu erklärt hat, daß 
er die grundsätzliche Frühoperation von 
seiten der maßvollen und kritischen Chi¬ 
rurgen, zu denen er mit den anderen wissen¬ 
schaftlichen Vertretern dieser Operation 


Herrn Professor Sprengel rechnet, als 
berechtigt anerkennt, erklärt Herr Spren¬ 
gel, daß er den Schlußpassus seiner Be¬ 
merkungen lediglich und ausdrücklich des¬ 
halb gebraucht hat, weil er das Prinzip der 
Frühoperation durch die Ausführungen des 
Herrn Albu sachlich und formell geschädigt 
glaubte. Nach der obigen Erklärung des 
Herrn Albu wird für Herrn Sprengel 
der Grund einer persönlichen Abwehr gegen 
Herrn Albu hinfällig. Er nimmt demnach 
den gebrauchten verletzenden Schlußpassus 
zurück und hat die Streichung desselben 
im Sitzungsprotokoll veranlaßt. 

Der Unterzeichnete Vorsitzende hält da¬ 
mit den Zwischenfall für erledigt. Bier. 


INHALT: Lauritzen, Diabetes mellitus bei Kindern S. 289. — Jacobsohn, Tabes 
S. 298. — Sternberg, Schmackhaftigkeit S. 300. — Bradt, Keuchhusten S. 305. — Fraenkel, 
Röntgenstrahlen in der Gynäkologie S. 310. — P. Ehrlichs Syphilis-Heilmittel S. 316. — Forla- 
nini, Pneumothorax S. 331. — Daus, Pneumothorax S. 333.— Hirschberg, Aperitol S. 334.— 
Flatau, Gynoval S. 336. — Referate S. 322. 

Für die Redaktion verantwortlich Prof.Dr.G.Klemperer in Berlin. — Verlag von Urban&Sch warxenberg inWien u. Berlin. 
Druck von Julius Sittenfeld, Hofbuchdrucker., in Berlin W.8. 


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Die Therapie der Gegenwart 


1910 


herausgegeben von Prof. Dr. G. Klemperer 
ln Berlin. 


August 


Nachdruck verboten. 

Ans der L medizinischen Abteilung des städtischen Krankenhauses am Urban ln Berlin. 

Ueber abgekammerte. Insbesondere interlobäre Pleuraexsudate 
nebst Bemerkungen über Empyema putridum. 

Von A. Fraenkel. 


Man braucht nicht viele Sektionen ge¬ 
sehen zu haben, um zu wissen, daß ab¬ 
gekammerte entzündliche Pleuraergüsse zu 
den verhältnismäßig häufigen Befunden 
gehören. Haben dieselben ihren Sitz an 
derjenigen Stelle, an welcher auch ge¬ 
wöhnlich die Entwicklung umfangreicher, 
den größeren Teil der Brusthöhle frei ein¬ 
nehmender Exsudate beginnt, nämlich in 
den abhängigen hinteren Partien, und 
handelt es sich um einfache serös-fibrinöse 
Ausschwitzungen, so ist ihre klinische Be¬ 
deutung gering. Anders wenn die Lage 
des Ergusses eine abweichende ist und in¬ 
folgedessen auf benachbarte Teile eine 
stärkere Druckwirkung ausgeübt wird oder 
auch, wenn die sonstige Beschaffenheit des 
Exsudates, sei es eine umschriebene Eiter¬ 
ansammlung oder gar ein jauchiges Em¬ 
pyem, besondere Berücksichtigung er¬ 
fordert. In solchen Fällen erwächst der 
Diagnostik die Aufgabe, sobald als mög¬ 
lich nicht bloß genau die Lage und Aus¬ 
breitung, sondern auch die Natur der Aus¬ 
schwitzung festzustellen, um sie durch 
einen entsprechenden Eingriff zu beseitigen. 

Was zunächst den Sitz der ab¬ 
gekapselten Pleuritiden betrifft, deren 
Bestehen, wie sich von selbst versteht, 
ohne das Vorhandensein umschriebener 
oder ausgedehnterer Verklebungen bzw. 
Verwachsungen beider Rippenfellblätter 
nicht möglich ist, so können dieselben ge¬ 
legentlich an den verschiedensten Punkten 
der Lungenoberfläche zur Entwicklung ge¬ 
langen. So kommen z. B. umschriebene 
Flüssigkeitsansammlungen, sowohl serös¬ 
fibrinöse als auch eitrige, vorn oben 
zwischen Klavikula und 3. bis 4. Rippe vor. 
Sie können Tumoren, Aneurysmen, Ent¬ 
zündungen des Parenchyms Vortäuschen. 
Die wahre Ursache der durch sie gesetzten 
Dämpfungen wird meist erst durch Punk¬ 
tion erkannt. Vor allem aber sind es drei 
Lokalisationen der umschriebenen Exsudat¬ 
bildung, welche wegen der mit ihnen ver¬ 
knüpften besonderen klinischen Symptome 
genannt zu werden verdienen: die dia¬ 
phragmatischen Pleuritiden, die dem Me¬ 


diastinum benachbarten und endlich die 
interlobären. 

Bei der diaphragmatischen Pleu¬ 
ritis, d. h. den zwischen Lungenbasis 
und Zwerchfellsoberfläche belegenen Aus¬ 
schwitzungen, bildet das Exsudat eine 
flache, mitunter halbkugelförmige Flüssig¬ 
keitsblase. Wofern deren Durchmesser 
nicht erheblich und der Erguß nicht eitrig 
ist, können die Erscheinungen so gering¬ 
fügig sein, daß er leicht gänzlich über¬ 
sehen wird. Es braucht nicht einmal eine 
Schallabschwächung im Bereich der ab¬ 
hängigsten Partien vorhanden zu sein. Am 
ehesten werden unter solchen Umständen 
noch Schmerzen im Epigastrium oder längs 
des Rippenbogenrandes, namentlich beim 
tiefen Luftholen, sowie die augenschein¬ 
lich behinderte oder gänzlich aufgehobene 
Zwerchfellsatmung den Verdacht auf das 
vorhandene supraphrenische Exsudat lenken. 
Erheblicher gestalten sich die Symptome, 
wenn der Erguß einen größeren Umfang 
erreicht oder wenn selbst bei geringer 
Größe Eiterbildung vorliegt Dann pflegen 
vor allem die Schmerzen sehr viel be¬ 
trächtlicher und charakteristische Druck¬ 
punkte vorhanden zu sein. Französische 
Aerzte, namentlich Guöneau de Mussy 1 ) 
und Bouveret 3 ), haben auf einen solchen 
besonders häufigen Druckpunkt, welcher 
an der Schnittstelle der vertikalen Ver¬ 
längerung des äußeren Brustbeinrandes 
mit der horizontalen Verlängerung der 
zehnten Rippe gelegen ist, aufmerksam 
gemacht. Er wird von ihnen als „Bouton 
diaphragmatique 11 bezeichnet Daneben er¬ 
weist sich, wie schon erwähnt, das Epi¬ 
gastrium druckempfindlich, und ebenso ist 
auch der auf die untersten Zwischenrippen¬ 
räume ausgeübte Druck besonders schmerz¬ 
haft, zuweilen im Bereiche der ganzen 
Ausdehnung des 10. und 11. Interkostal¬ 
raumes, zuweilen auf eine bestimmte Stelle, 
z. B. einen dicht neben der Wirbelsäule 
belegenen Punkt beschränkt Bei manchen 
Kranken soll auch Druck auf den Stamm 
des Nervus phrenicus am Halse empfindlich 
sein. Diese Erscheinungen gehören in das 

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338 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


August 


Gebiet der sogenannten irradiierten Neur¬ 
algien. Dazu kommen andere Reizerschei¬ 
nungen, wie spontan sich äußernde Magen¬ 
schmerzen, Schmerzen beim Schlucken von 
Speisen und Flüssigkeiten, sobald dieselben 
das Foramen oesophageum im Zwerchfell 
passieren,Singultus,Erbrechen und schmerz¬ 
hafte, auf die Gegend des Diaphragma hin¬ 
weisende Empfindungen beim Husten. 
Sehrwald 8 ) hat einen Fall von Pleuritis 
diaphragmatica nach Pneumonie beschrie¬ 
ben, bei welchem die Atmungsstörung 
infolge der vollständigen Ausschaltung der 
Zwerchfellstätigkeit beträchtlich war und 
der Patient bei jedem Versuche, etwas zu 
schlucken, von einem so heftigen und qual¬ 
vollen Husten befallen wurde, daß die 
Nahrungsaufnahme per os schließlich ganz 
unmöglich wurde und die Ernährung des 
Kranken lediglich rektal bewirkt werden 
konnte. Offenbar wurde dieser Husten 
reflektorisch durch Reizung der entzün¬ 
deten Zwerchfellsserosa beim Durchtritt 
der Speisen durch den untersten Teil des 
Oesophagus ausgelöst. Ebenso sind der 
Singultus und das Erbrechen als Reflex¬ 
wirkungen aufzufassen. 

Vor einer längeren Reihe von Jahren be¬ 
obachtete ich einen an supradiaphragmatischem 
Empyem leidenden Kranken, dessen hervor¬ 
stechendste Symptome zurzeit des Eintritts in 
die Anstalt in stürmischem, nach dem 
Genuß jeglicher Speise auftretendem 
Erbrechen bestanden. Der 26jährige Mann 
gab an, 14 Monate zuvor beim Heben einer 
schweren Last plötzlich heftige spannende 
Schmerzen in der Lebergegend verspürt zu 
haben; er wurde auch mehrere Wochen hin¬ 
durch in der Charite als leberleidend behandelt. 
Die Schmerzen in der Lebergegend ver¬ 
schwanden indes allmählich, um in der Folge 
nur bei stärkeren körperlichen Anstrengungen 
wiederzukehren. Ebenso verlor sich das ur¬ 
sprüngliche Fieber, und auch die vorhanden 
ewesenen Nachtschweiße ließen nach, bis 
Wochen vor der Aufnahme in das Urban¬ 
krankenhaus schmerzhafte Anschwellungen der 
Hand-, Fuß- und Kniegelenke sich einstellten, 
wozu sich dann noch das erwähnte hartnäckige 
Erbrechen gesellte. Dieses stand zunächst so 
im Vordergrund aller Beschwerden und son¬ 
stigen Erscheinungen, daß wir an eine Intoxi¬ 
kation mit verdorbener Nahrung, eine Fisch¬ 
vergiftung infolge eines kurz vorher genossenen 
Bücklings dachten, um so mehr, als kurze Zeit 
danach ein über den größeren Teil der Körper¬ 
oberfläche verbreitetes, kleinileckiges, teils 
papulöses, teils pustulöses Exanthem auftrat. 
Unter Anwendung wiederholter Magenaus¬ 
spülungen verschwand dieses Erbrechen nach 
etlichen Tagen, und nun kamen neue Sym¬ 
ptome hinzu, welche die Deutung des Falles 
in die richtige Bahn lenkten. Es stellten sich 
subfebrile Temperaturen ein, der Patient be¬ 
gann zu husten und expektorierte manchen 
Tag bis zu 300 g eines homogenen rahmig¬ 
eitrigen Sputums. Zugleich entwickelte sich 
über dem untersten Abschnitt der rechten 


hinteren Thoraxhälfte eine etwa 3 Querfinger 
breite Dämpfungszone, innerhalb deren das 
Atemgeräusch abgeschwächt und frei von 
Nebengeräuschen war, während oberhalb kre- 
itierendes Rasseln und Bronchialatmen hör- 
ar waren. Später — etwa 3 Wochen nach 
Beginn der Krankenhausbeobachtung — er¬ 
folgte ein neuer Exanthemausbruch in Form 

E etechialer Flecken an den Unterextremitäten. 

rie Diagnose wurde jetzt auf eine Eiter¬ 
ansammlung an der Basis der rechten Lunge 
gestellt. Für das Vorhandensein dieser sprach 
noch ganz besonders eine bei tieferem Ein¬ 
drücken des 8. Interkostalraumes an zirkum¬ 
skripter Stelle sich bemerkbar machende 
Schmerzempfindung, welche der Mitte zwischen 
rechter Mammillar- und vorderer Axillarlinie ent¬ 
sprach. In der Tat gelang es hier, bei tieferem 
Einstechen einer langen runktionskanüle Eiter 
zu aspirieren, nachdem vorher verschiedentliche 
im Bereich der hinteren Dämpfung ausgeführte 
Probepunktionen ergebnislos gewesen waren. 
Die von W. Koerte ausgeführte Operation be¬ 
stätigte das Vorhandensein eines abgekapselten 
Eiterdepots zwischen Lungenbasis und Zwerch¬ 
fellsoberfläche im Betrage von etwa 400 g, 
nach dessen Beseitigung völlige Heilung er¬ 
folgte. 

Noch eines letzten, von Sehrwald an¬ 
geführten, für die Erkenntnis der Pleuritis 
diaphragmatica in Betracht kommenden 
Reflexsymptoms sei schließlich gedacht, 
des respiratorischen Bauchdecken¬ 
reflexes. Er besteht darin, daß während 
einer tiefen Einatmung, gegen Ende der¬ 
selben, eine blitzartige Kontraktion in den 
oberen Ansatzpartien des gleichseitigen 
M. rectus abdominis erfolgt, die sich mit¬ 
unter bis zum 5. Interkostalraum erstreckt 
und sich auch künstlich durch Druck auf 
die schmerzhaften Zwischenrippenräume 
hervorrufen läßt. Statt ihrer tritt manch¬ 
mal eine rasche Anspannung der gesamten 
Bauchmuskulatur auf. — 

Ueber abgekapselte Pleuritis des 
dem Mediastinum anliegenden Brust¬ 
fellabschnittes hat Dieulafoy 4 ) be¬ 
achtenswerte Mitteilungen gemacht unter 
Zugrundelegung zweier einschlägiger von 
ihm selbst beobachteter Empyemfälle. Der 
eine betraf einen jungen Arbeiter, welcher 
plötzlich von Fieber und Oppressionsgefühl 
befallen wurde. Die anfänglich anfallsweise 
auftretende Atemnot wurde allmählich 
ständig, es traten pertussisartige Husten¬ 
attacken hinzu, dann wurde die Stimme 
rauh, und etwa 4 Wochen nach Beginn 
der ersten Symptome machte sich eine 
deutliche Dysphagie bemerkbar, bestehend 
in dem Unvermögen, feste Speisen zu ge¬ 
nießen, welche durch ein Hindernis im 
Oesophagus festgehalten zu werden schienen. 
Besonderes Gewicht legt Dieulafoy auf 
ein die Inspiration begleitendes keuchendes 
oder sägendes Geräusch (Tirage et cornage). 


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August 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


339 


Auch entwickelten sich bei dem betreffen¬ 
den Kranken an der Thoraxhaut Venen¬ 
netze, die auf Kompression der Vena azygos 
bezogen wurden. Hierzu kamen gewisse 
durch die Palpation, Auskultation und Per¬ 
kussion gelieferte Zeichen: Druckempfind¬ 
lichkeit der oberen oder mittleren Processus 
spinosi der Brustwirbelsäule, leichte ein¬ 
seitige Schallabschwächung in derselben 
Höhe neben der Wirbelsäule und beson¬ 
ders deutlich hörbarer Stridor an dieser 
Stelle der Thoraxhinterwand. Der oben 
erwähnte Kranke expektorierte im weiteren 
Verlauf an mehreren Tagen mäßig reich¬ 
liche Mengen fötiden Sputums, wonach die 
subjektiven Symptome sich sofort er¬ 
mäßigten und schließlich unter leichten 
Schwankungen des Befindens und der 
fieberhaft erhöhten Temperatur Heilung 
eintrat. Da das Blutserum des Patienten 
eine agglutinierende Wirkung auf Pneumo¬ 
kokken ausQbte, so schließt Dieulafoy, 
daß es sich bei dieser Beobachtung um 
eine Pneumokokkeninfektion der das hin¬ 
tere Mediastinum begrenzenden Pleura¬ 
abschnitte, welche einseitig zu einer zirkum¬ 
skripten Eiterung ffihrte, gehandelt habe. 
— Aehhlich waren die klinischen Erschei¬ 
nungen in einem zweiten Falle, der eine 
44jährige Frau betraf, bei der die Krank¬ 
heit sich Ober 3 Monate hinzog; die Ent¬ 
stehung war ebenso dunkel wie im vorher¬ 
gehenden Falle, und nach voraufgegangenen 
Anfällen schwerster, von Erstickungsgefahl 
begleiteter Dyspnoe erfolgte ebenfalls plötz¬ 
licher Durchbruch des Eiters in die Luft¬ 
wege mit schnellem Rückgänge aller Er¬ 
scheinungen, insbesondere auch des be¬ 
trächtlichen Fiebers. Hier bestand noch 
als ein weiteres, die Diagnose bereits vor¬ 
her befestigendes Symptom eine Ver¬ 
schiebung des Larynx und der Trachea 
nach der gesunden Seite. 

In der Literatur hat Dieulafoy vier 
analoge Beobachtungen auffinden können. 
Er betont den plötzlichen, brüsken Beginn 
der fieberhaften Affektion, welche allemal 
einseitig ist, meist auf einer Pneumokokken¬ 
infektion beruht und zu wenig umfänglichen 
umschriebenen Eiteransammlungen führt, 
die sich meist spontan einen Durchbruch 
in die Bronchien bahnen. Die Diagnose 
beruht auf den durch den Abszeß aus¬ 
geübten Druckwirkungen auf die Teile der 
Nachbarschaft: Nervus vagus, recurrens, 
Trachea bzw. Hauptbronchus, Oesophagus, 
sowie auf dem Auftreten wenn auch wenig 
ausgesprochener und wenig umfänglicher 
Dämpfung neben der Wirbelsäule. Sie 
wird ebenso wie bei den vorher be¬ 


sprochenen abgekapselten lokalen Flüssig¬ 
keitsansammlungen in der Pleura durch 
die Zuhilfenahme der Durchleuchtung 
und Röntgenphotographie wesentlich 
befestigt werden können. — 

Besondere Beachtung haben die etwas . 
häufigeren interlobären Pleuraergüsse 
gefunden, wovon die Publikationen Po- 
tains 5 ), D. Gerhardts 6 ), Rochards 7 ) und 
Dieulafoys 8 ), sowie eine Anzahl anderer 
in der Literatur verstreuter kasuistischer 
Beiträge, namentlich französische Disserta¬ 
tionen, Zeugnis ablegen. Schon Laönnec 9 ) 
kannte diese abgekammerten Exsudate und 
hat eine genaue Beschreibung ihres anato¬ 
mischen Verhaltens gegeben. Häufig sind 
sie eitrig oder jauchig und können, wenn 
sie in die Bronchien durchbrechen, leicht 
zu der irrtümlichen Diagnose Lungenabszeß 
oder Lungengangrän Anlaß geben. In töd¬ 
lich verlaufenen Pneumoniefällen findet 
man gar nicht selten zwischen den im 
übrigen miteinander verklebten Serösen der 
die Interlobärfurchen begrenzenden Lungen¬ 
abschnitten eine oder mehrere kleinere Eiter¬ 
ansammlungen im Betrage eines Teelöffels 
oder Eßlöffels. Es kommen aber auch 
serös-fibrinöse, der Hauptsache nach 
auf die Interlobärspalten beschränkte 
Ergüsse vor, welche in diesem Falle meist 
einen stattlicheren Umfang erreichen als 
selbst die größeren eitrigen oder putriden 
Ausschwitzungen und auch diesen gegen¬ 
über ein etwas anderes anatomisches und 
symptomatologisches Verhalten in ihrer Be¬ 
ziehung zur Lunge und Brustwand aufweisen. 
Darauf habe ich 10 ) bereits vor mehr als 
10 Jahren in einem in der Berliner medi¬ 
zinischen Gesellschaft gehaltenen Vortrage 
aufmerksam gemacht und später durch 
E. Flörsheim 11 ) in dessen Doktorarbeit 
Beispiele solcher nicht eitrigen interlobären 
Pleuritisformen veröffentlichen lassen. 

Um die klinischen Erscheinungen der 
interlobären Pleuritis klar erfassen zu 
können, muß man mit der Topographie 
der die Lungenlappen trennenden Spalten 
vertraut sein. Nach Merkel 12 ) beginnt der 
Sulcus interlobaris der linken Lunge neben 
der Wirbelsäule in Höhe der Spina sca- 
pulae oder des Dornfortsatzes des 3. Brust¬ 
wirbels, um schräg nach außen und ab¬ 
wärts verlaufend die hintere Axillarlinie im 
4. Interkostalraum zu schneiden und in der 
Mammillarlinie das vordere Ende des vierten 
Rippenknochens zu erreichen. Der Ver¬ 
lauf der rechten Interlobärspalte ist hinten 
oben bis zum äußeren Skapularrand der 
gleiche wie der der linken. 

Von da ab beziehungsweise etwas weiter 

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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


August 


nach außen, von der hinteren Axillarlinie 
an, verhält er sich, entsprechend dem zwi¬ 
schen Ober- und Unterlappen eingefOgten 
Mittellappen, abweichend, indem die Furche 
sich in der Höhe der 4. Rippe in zwei 
Schenkel teilt, von denen der obere — 
Sulcus interlobaris superior — annähernd 
horizontal nach vorn verläuft, und in der 
Höhe der 4. Rippe am rechten Sternalrand 
endet, während der untere — Sulcus inter¬ 
lobaris inferior — sich stark nach abwärts 
senkt und im Schnittpunkt der Mammillar- 
linie mit der 7. Rippe den unteren Lungen¬ 
rand erreicht. Rochard wie Dieulafoy 
betonen, daß der Verlauf der Interlobär¬ 
spalten nicht ganz konstant ist; insbeson¬ 
dere rechnet ersterer den Beginn des großen 
oder schrägen Sulcus der rechten Seite 
um zwei Interkostalräume tiefer, so daß dem¬ 
entsprechend auch der weitere Verlauf nach 
vom nicht so steil ist als aus der vor¬ 
erwähnten Angabe hervorgeht. 

Von vornherein leuchtet ein, daß der 
klinisch - physikalische Befund der inter¬ 
lobären Pleuritis in Uebereinstimmung mit 
dem geschilderten anatomischen Verhalten 
der Spalten nicht in allen Fällen der gleiche 
sein kann. Ich habe schon oben ange¬ 
deutet, daß eine große Zahl von Eiter¬ 
ansammlungen in diesen Bezirken der 
Pleuren nicht sehr erheblichen Umfang er¬ 
reicht. Allerdings kommt auch das Gegen¬ 
teil vor — abgekapselte Empyeme im Be¬ 
trage von einem halben oder ganzen Liter 
Eiter. Ist jedoch die Menge gering, d. h. 
beträgt sie nur wenig mehr als 100 oder 
200 Kubikzentimeter oder sinkt sie gar 
darunter und liegt der Eiter infolge all¬ 
seitiger Verklebung der Spaltenränder an 
keiner Stelle der Brustwand direkt an, so 
können daraus nur geringe und zugleich 
nicht allzu intensive Dämpfungen des Per¬ 
kussionsschalles resultieren. Diese werden 
wiederum, je nachdem die Ansammlung sich 
im hinteren, mittleren oder vorderen Ab¬ 
schnitt der entsprechenden Spalte befindet, 
an verschiedenen Stellen auftreten, bald 
am Rücken, bald an der Seitenwand oder 
unter Umständen gar mehr nach vorn, 
zwischen Axillar- und Mammillarlinie. Zu 
Anfang läßt sich nur ein relativ schmaler, 
der Gegend und dem Verlaufe der Inter¬ 
lobärspalte entsprechender Dämpfungs¬ 
streifen von unbedeutender Längenaus¬ 
dehnung nachweisen, ober- und unterhalb 
dessen nicht selten abnorm tiefer oder 
tympanitischer Lungenschall besteht; erst 
allmählich nimmt die Dämpfung in beiden 
Dimensionen zu. Innerhalb des Bezirkes 
der Schallabschwächung ist das Atmungs- | 


geräusch abgeschwächt oder fehlt auch 
gänzlich, während in der Umgebung, in¬ 
folge der Kompression der angrenzenden 
Lungenpartien Bronchialatmen und auch 
wohl Rasselgeräusche hörbar sind. Die 
Röntgenuntersuchung klärt aber die 
Ausbreitung des Exsudates weiter auf, wo¬ 
für eine von Seufferheld 18 ) mitgeteilte 
Beobachtung ein anschauliches Beispiel 
liefert; eine absolute Sicherheit der Diag¬ 
nose gewährt jedoch auch sie nicht. Diese 
ist erst gegeben, sobald — bei vorhandenem 
Empyem — der gerade hier sehr häufig 
zu beobachtende Durchbruch in die Bron¬ 
chien erfolgt oder wenn durch eine Probe¬ 
punktion der Verdacht des interlobären 
Exsudats bestätigt wird. 

Besonders charakteristische Zeichen 
treten in denjenigen Fällen hinzu, in denen 
es sich um große Flüssigkeitsansamm- 
lung von mehr als einem halben bis zu 
einem ganzen Liter und darüber handelt. 
Zu dieser Gruppe gehören nicht bloß 
eitrige, sondern der größere Teil der serös¬ 
fibrinösen interlobären Exsudate, 
wie in dem oben zitierten Vortrage von 
mir des Ausführlicheren dargelegt worden 
ist Speziell bei den nichteitrigen, der 
Hauptsache nach auf den Raum zwischen 
den Lungenlappen beschränkten Ergüssen, 
geschieht die Ausschwitzung mit solcher 
Geschwindigkeit und in solcher Massen- 
haftigkeit, daß das Exsudat an einer mehr 
oder weniger großen Stelle der Pleura 
parietalis direkt anliegt oder zum mindesten 
von ihr nur durch eine dünne Schicht 
komprimierten Lungengewebes getrennt 
ist. In der Regel ist es die Seitenwand 
des Torax — in der Axillarlinie —, in 
welcher das Exsudat gewissermaßen frei 
zutage tritt und durch die Punktionsnadel 
unschwer erreicht werden kann; aber auch 
bei größeren interlobären Empyemen kommt 
das vor (vergl. die weiter unten folgende 
Mitteilung eines hierher gehörigen Falles). 
An allen anderen Stellen oberhalb und 
unterhalb der Interlobärspalte sind die 
beiden Pleurablätter fest miteinander ver¬ 
klebt oder durch ältere Adhäsionen mit¬ 
einander verwachsen, so daß auf einem 
durch den Brustkorb gelegt zu denkenden 
Frontalschnitt die Gestalt des Exsudates 
einem Kegel- oder Keilschnitt ähnelt, 
dessen stumpfe Kuppe gegen das Me¬ 
diastinum beziehungsweise das Herz ge¬ 
richtet ist, während die Basis der seitlichen 
Brustwand anliegt. Da infolge der pleuralen 
Verlötungen das Exsudat in keiner Rich¬ 
tung frei sich ausbreiten kann, so muß beim 
weiteren Wachstum desselben die benach- 


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August 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


341 


barte Lunge eine erhebliche Kompression 
und das Herz eine deutlich in die Erschei¬ 
nung tretende Verlagerung in der Richtung 
gegen die gesunde Brusthälfte erfahren. 
Daraus ergeben sich Oberaus wichtige 
Unterschiede von dem Verhalten der den 
Pleuraraum frei erfüllenden Exsudate. Wie 
bei diesen findet sich auch dort intensive 
Dämpfung an der Hinter- und Seitenwand 
des Brustkorbes. Dieselbe kann sich sogar 
hinten von der Spina scapulae bis zum 
Rippenbogenrand erstrecken, sie ist aber 
nicht durch das Exsudat selbst, sondern 
zunächst durch die zwischen ihm und der 
Brustwand befindliche komprimierte Lunge 
verursacht. Im Bereich der Dämpfung be¬ 
steht natürlich wie bei großen freien Exsu¬ 
daten abgeschwächtes, unbestimmtes oder 
aus der Tiefe kommendes bronchiales 
Atmen. Punktiert man an verschiedenen 
Stellen der Hinterwand des Thorax, so er¬ 
hält man, was im ersten Augenblick über¬ 
raschend wirkt, keine Exsudatflüssigkeit, 
während das Ergebnis positiv ist, sobald 
man in der Seitenwand in der Gegend des 
4. bis 6. Interkostalraumes einsticht Dabei 
können noch zwei Umstände zur Klärung 
der Sachlage mitwirken; 1. die außerge¬ 
wöhnlich starke Verschiebung des Herzens, 
2. bei linkseitigen Exsudaten das Erhalten¬ 
sein des Traubeschen Raumes. Die Ver¬ 
schiebung des Herzens muß begreiflicher¬ 
weise um so mehr in die Augen springen, 
als vorn oben am Thorax lauter Perkus¬ 
sionsschall besteht, also die Größe des Ex¬ 
sudates — bei fälschlicher Annahme eines 
freien Ergusses — an sich nicht genügen¬ 
den Grund für die erhebliche Lageverände¬ 
rung des Herzens abgibt. Ich teile hier 
einen vor kurzem von mir in der Privat- 
praxis beobachteten Fall von jauchigem 
Empyem mit, bei welchem zwar aus gleich 
anzuführendem Grunde die Verdrängung 
des Herzens fehlte, die Gesamtheit aller 
übrigen Symptome aber dem eben darge¬ 
legten Verhalten so vollkommen entsprach, 
daß schon vor der bestätigenden Probe¬ 
punktion die Diagnose auf interlobäres 
Empyem mit ziemlicher Sicherheit gestellt 
werden konnte. 

Der betreffende Patient, ein 27jähriger, von 
Haus aus kräftiger, vorher nie lungenkranker 
Mann, war vier Wochen, bevor ich ihn sah, 
unter Fieber und ziemlich schwerer Beeinträch¬ 
tigung des Allgemeinbefindens erkrankt. All¬ 
mähliche Entwicklung einer schließlich die ganze 
rechte Hinterwand von der Mitte der Skapula 
bis zum Rippenbogenrand einnehmenden 
Dämpfung mit aufgehobenem Atemgeräusch 
und stark abgeschwächtem Stimmfremitus. An 
verschiedenen Stellen, von anderer Seite — im 
ganzen «neunmal — ausgeführte Probepunk¬ 


tionen im Bereiche der hinteren Dämpfung 
hatten stets ein negatives Ergebnis gehabt 
Man hatte beim Einstechen der Nadel allerorts 
die Empfindung gehabt, als wenn dieselbe 
durch derbes Gewebe drang. Bei der Konsul¬ 
tation am 26. April d. J. bestätigte ich zunächst 
das Bestehen der geschilderten Dämpfung 
hinten rechts nebst dem übrigen soeben er¬ 
wähnten physikalischen Verhalten. Nur im 
oberen Drittel der rechten Hinterwand war 
noch abgeschwächtes Atemgeräusch hörbar so¬ 
wie der Fremitus, wenngleich etwas verringert, 
fühlbar. In der rechten Seitenwand bestand 
ebenso intensive, in die Leberdämpfung über¬ 
gehende Schallabschwächung mit aufgehobenem 
Atemgeräusch. Vorn rechts oben dagegen war 
der Schall von der Klavikula bis zur 4. Rippe 
tief tympanitisch, das Atemgeräusch rauh, ohne 
Nebengeräusche. Von der 4. Rippe setzte wieder¬ 
um starke Dämpfung mit abgeschwächtem 
Atmen ein. Im Bereich der tympanitisch 
schallenden Zone erschien der Fremitus im 
Vergleich zu links verstärkt. Das Herz war 
nicht nach links verschoben. Der noch in leid¬ 
lichem Kräftezustand befindliche Kranke fiel 
durch seine Blässe auf und war nicht beson¬ 
ders kurzatmig. Er expektorierte geringe 
Mengen eines schleimigen, geruchlosen Spu¬ 
tums und gab an, auch beim Husten und Aus¬ 
werfen keinen, fauligen Geschmack zu ver¬ 
spüren. Es bestand andauernd ziemlich hohes 
stark remittierendes beziehungsweise inter¬ 
mittierendes Fieber. 

Bei der Beantwortung der Frage, wie 
dieser Befund in Verbindung mit dem ne¬ 
gativen Ausfall der Punktion zu erklären 
sei, gelangte ich zu dem Schluß, daß nur 
zwei Möglichkeiten vorliegen könnten: ent¬ 
weder Verengerung oder Verschluß des 
rechten Hauptbronchus unterhalb des Ab¬ 
ganges des den Oberlappen versorgenden 
Astes oder ein abgekapseltes großes, haupt¬ 
sächlich den Raum zwischen dem rechten 
Oberlappen einer- und dem Mittel- und 
Unterlappen andrerseits einnehmendes 
Pleuraexsudat Die Annahme der Broncho- 
stenose erschien zwar geeignet, den perkut- 
torischen und auskultatorischen Befund 
(Luftleere des Mittel- und Unterlappens) 
durch Atelektase zu erklären; sie gab aber 
keinen befriedigenden Aufschluß über den 
eigentümlichen tief tympanitischen Schall 
über dem rechten Oberlappen; zudem 
fehlte jeglicher Stridor. Anamnestisch 
sprach ferner nichts für einen aspirierten 
Fremdkörper. So blieb also allenfalls als ur¬ 
sächliches Moment der Bronchusverengung 
nur noch die Annahme eines Tumors, 
sei es eines Aneurysmas oder einer bös¬ 
artigen Geschwust — eines Bronchial¬ 
karzinoms — übrig. Ersteres kam mangels 
aller sonstigen Erscheinungen nicht in Be¬ 
tracht. Bronchialkarzinome' können in 
außergewöhnlichen Fällen allerdings ähn¬ 
liche Symptome bedingen, wie sie unser 
Patient darbot. Ich erinnere an eine in 


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342 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


August 


meinem Handbuch der speziellen Patho¬ 
logie und Therapie der Lungenkrankheiten 
(Seite 950) mitgeteilte Beobachtung, welche 
einen 40jährigen Arzt betraf, dessen Lei¬ 
denszeit wenig mehr als 14 Tage betrug; 
hier fand sich bei der Sektion ein etwa 
kirschgroßer wandständiger Tumor in dem 
vom rechten Stammbronchus abgehenden 
unteren Aste, welcher dessen Lumen so 
vollständig verlegte, daß die dadurch be¬ 
wirkte Sekretstauung die Entwicklung einer 
subakuten Indurativpneumonie des Unter¬ 
lappens mit beginnender Erweichung zur 
Folge gehabt hatte. Aber das ist ein Vor¬ 
kommnis von solcher Seltenheit, daß es 
jedenfalls näher lag, bei unserem Kranken 
ein großes interlobäresExsudat anzunehmen. 
Nur die fehlende Dislokation des Herzens 
nach links schien mit dieser diagnostischen 
Auffassung des Falles nicht vereinbar ; doch 
ließ sich dieselbe ohne allzugroßen Zwang 
aus einer durch Mitbeteiligung an der Ent¬ 
zündung verursachten strafferen Fixierung 
der Pleura mediastinalis an der vorderen 
Brustwand erklären. Wies endlich das hohe 
stark remittierende Fieber auf eitrige Be¬ 
schaffenheit des Exsudates hin, so glaubte 
ich auf Grund des so auffälligen tiefen tym- 
panitischen Schalles über dem rechten 
Oberlappen noch einen Schritt weiter in 
der Diagnose gehen und auf ein mit Gas¬ 
entwicklung verbundenes putrides Empyem 
schließen zu dürfen. Die Richtigkeit dieser 
Folgerung bestätigte die Probepunktion, 
welche — an der in den meisten derartigen 
Fällen zunächst empfehlenswerten Stelle — 
nämlich in einem der mittleren Interkostal¬ 
räume der Seitenwand vorgenommen wurde, 
und stinkenden Eiter zutage förderte. 

Der Kranke wurde noch am selben Tage 
in die Klinik des Herrn Prof. Karewski 
übergeführt, welchem ich die folgenden Notizen 
verdanke: 

Operation am Vormittag des 27. April 1910 
in leichter Aether-Sauerstoffnarkose. Ueber- 
druckapparat. Vorher nochmals rechts hinten 
vorgenommene Probepunktion ergebnislos, 
während beim Einstechen im 6. Interkostal¬ 
raum der vorderen Axillarlinie Eiter erhalten 
wird. Resektion eines 6 cm langen Stückes 
der 5. Rippe. Nach Inzision der Pleura ent¬ 
leerte sich zirka V* 1 stinkender, mit Luft ver¬ 
mischter und zahlreiche nekrotische Lungen¬ 
fetzen enthaltender Eiter. In der Tiefe er¬ 
blickte man den Mittellappen der rechten 
Lunge kollabiert; an seiner Vorderfläche be¬ 
fand sich eine Perforationsöffnung, aus der 
reichlicher Eiter abfloß. Oberlappen leicht ge¬ 
bläht. Der in die Oeffnung eingeführte Finger 
gelangt in eine tiefe Höhle; durch Vorschieben 
einer Kornzange ließ sich feststellen, daß die¬ 
selbe sich bis an die hintere Thoraxwand er¬ 
streckte. Kontrainzision in der hinteren Axillar¬ 
linie mit nachfolgender Resektion eines Stückes 
der 8. Rippe. Durchführen eines dicken Drains 


durch die beiden Fistelöffnuneen der Pleura¬ 
höhle; ein zweites Drain wurde von der vor¬ 
deren Wunde aus in die Gangränhöhle ein¬ 
gelegt. — Am Abend war das Befinden leid¬ 
lich; Temperatur auf 38,2° C abgefallen, 80 bis 
90 regelmäßige, kräftige Pulse nach mehrfachen 
Kampfer- und Digaleninjektionen im Laufe des 
Tages. Am nächsten Morgen, 28. April, Tem¬ 
peratur 36,7°, Puls 90, leidliches Befinden. 
Verbandwechsel wegen starker Sekretion. Bald 
danach lebhafte Dyspnoe und hochgradige 
Zyanose; Pulsfrequenz stieg auf 130—140, Re¬ 
spirationsfrequenz 40. — 29. April. Andauern¬ 
der Kollaps. Temperatur = 35,3°, Puls 140, 
fadenförmig. 36 Resp. Fortgesetzte Sauer¬ 
stoffinhalationen. Gegen 9 Uhr abends plötz¬ 
licher Exitus. 

Epikritisch habe ich nur noch hinzu¬ 
zufügen, daß, nach dem Operationsbefunde 
zu urteilen, die leichte Tympanie über 
dem rechten Oberlappen sehr wahrschein¬ 
lich nicht bloß durch den Gasgehalt des 
Empyems, sondern zum Teil auch durch 
die Größe der vorhandenen Lungenbrand¬ 
höhle verursacht war. 

Die Entstehung jauchiger Empyeme 
beruht meist auf der Anwesenheit eines 
Gangränherdes der Lunge. Dessen Per¬ 
foration in die Pleura macht sich oft durch 
Auftreten besonders intensiver Brust¬ 
schmerzen bemerkbar, worin — falls der 
Patient keine stinkenden Sputa entleert — 
ein Fingerzeig für die mutmaßliche Natur, 
des Exsudates gelegen ist Ein großer 
Teil gerade der interlobären eitrigen 
Pleuritiden ist fötide und ihre Entwicklung 
mit so lebhaften Schmerzempfindungen 
verbunden, wie man sie bei serös-fibrinöser 
Exsudation oder selbst unzersetztem Em¬ 
pyem für gewöhnlich nicht beobachtet. 
Daß die Patienten trotz der gleichzeitig 
bestehenden Lungengangrän oftmals keine 
brandigen Sputa auswerfen, ist eine zur 
Genüge bekannte Tatsache, für die ich 
schon vor Jahren eine, wie ich glaube, 
befriedigende Erklärung gegeben habe 14 ). 
Gewöhnlich erfolgt die Infektion der Pleura 
von einem in der Nähe derselben befind¬ 
lichen, zu Anfang nur wenig umfänglichen 
Gangränherd, welcher aus einer Broncho¬ 
pneumonie, z. B. einer Influenzapneumonie 
oder einem embolischen Infarkt oder einer 
Bronchiektasie hervorgegangen ist. Die 
ihn umgebende entzündliche Infiltration 
verhindert die freie Kommunikation mit 
den Bronchien. Diese wird noch mehr 
erschwert, wenn das an Menge zunehmende 
Pleuraexsudat seine komprimierende Wir¬ 
kung auf die Lunge ausübt und die mit 
dem Herde in Verbindung stehenden klei¬ 
neren Luftröhrenäste fest verschließt. Wird 
bei weiterem Umsichgreifen des brandigen 
Lungenprozesses die Perforation in dem 


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August 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


343 


Bronchialbaum nahegerückt,-so verrät sich 
der Eintritt dieses Ereignisses nicht selten 
schon einige Zeit vorher durch einen 
fauligen Geschmack, welchen die Patienten 
beim Husten bemerken. 

Vor einigen Jahren hat Dieulafoy 15 ) 
die bisherigen Kenntnisse und Anschau¬ 
ungen über die Natur und Aetiologie der 
putriden Pleuritis ergänzt. Er fät die 
verschiedenen Formen dieser Erkrankung 
unter der Kollektivbezeichnung Pleur^sies 
oz£neuses zusammen und unterscheidet 
drei zum Teil auch bakteriologisch vonein¬ 
ander abweichende Krankheitsbilder. Die 
verhältnismäßig gutartigste Form ist die 
„fötide“, welche zwar stinkend, aber weder 
putride noch gangränös ist, d. h. sie geht 
weder mit Gasentwicklung einher, noch ist 
sie mit der Abstoßung brandig abgestorbe¬ 
ner Teile der Pleura oder mit einer Lungen¬ 
gangrän verbunden. Dementsprechend 
zeigen auch die aus dem serös purulenten 
Exsudat angelegten (anaöroben) Kulturen 
keine Gasbildung, und die Injektion des 
Eiters unter die Haut von Tieren erzeugt 
keine gashaltigen Abszesse. Die Mehrzahl 
dieser fötiden Pleuritiden ist abgekapselt 
und giebt zwar keine absolut gute, aber 
eine immerhin leidliche Prognose. In einer 
der mitgeteilten Beobachtungen expek- 
torierte der Patient, bei dem schließlich 
die Thorakotomie mit Erfolg ausgeführt 
wurde, exquisit stinkende, schmutzig* graue 
zerfließende Sputa, ohne daß die Natur 
der sie verursachenden Lungenaffektion 
sicher festgestellt werden konnte; die 
Sputa verloren nach der Operation ihre 
fötide Beschaffenheit und die vorher stark 
erhöhte Temperatur kehrte alsbald zur 
Norm zurück. — Eine schwere und pro¬ 
gnostisch ungünstigere Erkrankung stellt 
die zweite Form, die putride Pleuritis 
(im engeren Sinne der Dieulafoyschen 
Nomenklatur) dar. Sie bildet im Gegen¬ 
satz zur fötiden meist nicht abgekammerte, 
sondern große, den Pleuraraum frei er¬ 
füllende Exsudate. Dieselben sind eben¬ 
falls dünneitrig. Bakteriologisch besteht 
der Unterschied, daß die vorhandenen, 
zum Teil anaöroben Bakterien Gasentwick¬ 
lung hervorrufen und dementsprechend 
auch dem klinisch • physikalischen Sym- 
ptomenbilde die Erscheinungen eines 
Pneumothorax sich hinzugesellen können, 
ohne daß eine Kommunikation mit den 
Bronchien (Durchbruch) besteht. Ebenso 
folgt der Probepunktion nicht selten die 
Entwicklung eines gashaltigen Abszesses 
der Thoraxwand. Mitunter geht, wie früh¬ 
zeitige Punktionen lehren, der Putreszenz 

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ein Stadium voraus, in welchem die Ex¬ 
sudatflüssigkeit sich noch nicht wesentlich 
von einem gewöhnlichen serös-fibrinösen, 
an Leukozyten reichen, geruchlosen Erguß 
unterscheidet. Die Symptome der Er¬ 
krankung, deren Beginn durch einen un¬ 
gewöhnlich heftigen Seitenschmerz aus¬ 
gezeichnet ist, ändern sich mit dem Ein¬ 
tritt der Zersetzung und Fäulnis; die 
Kranken machen alsdann einen schwer 
septischen Eindruck mit Neigung zu 
schnellem Verfall, und der Ausgang kann, 
wenn nicht alsbald radikal operiert wird, 
leicht tödlich werden. Was die Ursache 
betrifft, so entsteht diese Form der 
jauchigen Pleuritis sowohl durch Trans¬ 
port der Erreger durch die Blutbahn, also 
metastatisch im Verlaufe entfernt lokali¬ 
sierter putrider Prozesse, als auch durch 
Fortpflanzung auf dem Lymphgefäßwege, 
z. B. im Gefolge von Bronchiektasie, von 
jauchigen Eiterungen der Bauchhöhle 
(Appendizitis) usw. Es kommen aber Fälle 
vor, in denen die Aetiologie unklar bleibt 
und jedenfalls eine Lungenerkrankung 
(Gangrän) als Ausgang nicht auffindbar 
ist. Ueber diesen Punkt werde ich mich 
gleich noch etwas weiter äußern. — Die 
letzte, von Dieulafoy zur Gruppe der 
Pleur£sies ozeneuses vereinten Brustfell¬ 
entzündungen ist endlich die gangränöse 
Form, die wiederum, je nachdem die bran¬ 
dige Zerstörung bloß die Pleura oder zu¬ 
gleich das Lungenparenchym selbst be¬ 
trifft, in zwei Unterabteilungen geschieden 
wird. Diese Trennung erscheint mir je¬ 
doch mehr auf theoretischen Gesichts¬ 
punkten zu beruhen, da es bei den als 
rein pleurale Gangrän bezeichneten Fällen 
doch im wesentlichen auf einen die ober¬ 
flächlichen Lungenpartien mitbeteiligende 
bezw. sogar öfter von diesen selbst aus¬ 
gehenden Brand herauskommt. Das Charak¬ 
teristische ist jedenfalls, daß abgestorbene 
Gewebsteile im Empyemeiter gefunden 
werden. Die klinischen Symptome der 
gangränösen und putriden Pleuritis stimmen, 
wenn man von dem Vorhandensein oder 
Fehlen grober Parenchymfetzen im Aus¬ 
wurf absieht, in den meisten Fällen über¬ 
ein, und auch Dieulafoy gesteht zu, daß 
Uebergänge von der einen Form zur andern 
Vorkommen. 

Dies sind im wesentlichen die Anschau¬ 
ungen Dieulafoys. Es läßt sich nicht 
leugnen, daß sie sowohl in ätiologischer 
als auch klinischer Beziehung die Lehre 
von den jauchigen Empyemen in einigen 
nicht unwichtigen Punkten erweitern. 
Immerhin fehlt es bislang an hinreichend 

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344 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


August 


sicheren Angaben über die Natur der be¬ 
teiligten Mikroorganismen. Aber auch so 
lassen die Angaben Dieulafoys manche 
Einwendungen zu und fordern zur Kritik 
auf. Von Wichtigkeit ist, was über die 
verhältnismäßig geringe Schwere der zur 
ersten Gruppe, der fötiden Pleuritis ge¬ 
hörigen Fälle gesagt wird. Sie sind, wie 
wir gehört haben, meist abgekapselt. Das 
erinnert mich an verschiedene eigene Be¬ 
obachtungen kleiner, auf den hinteren, 
untersten Teil des Pleuraraumes be¬ 
schränkter jauchiger Exsudate, bei denen 
das Allgemeinbefinden der Patienten auf¬ 
fallend wenig beeinträchtigt war, so wenig, 
daß wegen der Geringfügigkeit der 
Dämpfung, des geruchlosen Auswurfes und 
namentlich auch wegen der unbedeutenden, 
subfebrilen Temperatursteigerung lange 
Zeit mit der Punktion gewartet wurde. 
Nur die Blässe der Betreffenden und die 
ausbleibende Entfieberung veranlaßte 
schließlich den die Sachlage aufklärenden 
Probestich. Ich habe schon angeführt, daß 
in dem als Beispiel von Dieulafoy an¬ 
geführten Falle auch die Sputa außerordent¬ 
lich fötide waren; sie verloren diese Be¬ 
schaffenheit bald nach der Operation, und 
Dieulafoy erklärt selbst, daß hier das 
jauchige Empyem durch eine Lungen¬ 
affektion bedingt war, über deren Natur 
er nicht Auskunft geben könne. Vielleicht 
lag eine fötide Bronchitis zugrunde; ich 
halte es aber auch nicht für ausgeschlossen, 
daß trotz des angeblichen Fehlens nekro¬ 
tischer Parenchymbestandteile im Auswurf 
und im Pleuraeiter ein wenig umfänglicher 
Gangränherd der Lunge den Ausgangs¬ 
punkt bildete. 

Die meisten jauchigen Empyeme — das 
betone ich nochmals — sind auf Lungen¬ 
brand zurückzuführen und es erscheint mir 
willkürlich, als entscheidendes Merkmal für 
die Trennung in putride und gangränöse 
Exsudate den Umstand gelten zu lassen, 
daß das eine Mal bei der Thorakozentese 
Gewebsfetzen im Eiter gefunden werden, 
das andere Mal nicht. Ein Erguß kann 
schon geraume Zeit hindurch faulige Be¬ 
schaffenheit angenommen haben, bevor der 
ihn verursachende Gangränherd in die 
Pleurahöhle exfoliiert ist. In dem einen 
der von Dieulafoy mitgeteilten Fälle, wel¬ 
cher eine 32jährige Frau betraf, bei der 
sich das putride Empyem nach einem mit 
Zersetzung verbundenen Geschwürs- und 
Eiterungsprozeß in der Vagina entwickelte, 
nimmt Dieulafoy selbst eine Lungen¬ 
embolie mit Putreszenz des Infarktes an. 
Der Fall ist doch sicher mit demselben 


Recht zur gangränösen wie zur putriden 
Form des Empyems zu zählen, zu welcher 
letzteren er nach Dieulafoy gehört Un¬ 
beschadet der seit Traube allgemein an¬ 
erkannten Tatsache, daß die bindegewebigen 
Bestandteile gangränösen Lungengewebes 
der Auflösung einen hartnäckigeren Wider¬ 
stand leisten als die elastischen Fasern, 
muß man zugeben, daß namentlich kleine 
brandige Fetzen schließlich durch längere 
bakterielle oder fermentative Einwirkungen 
gänzlich verschwinden können. — Wir 
können also auf Grund des Befundes bei 
der Operation, und zwar speziell mit Rück¬ 
sicht auf das Fehlen abgestorbener Gewebs- 
teile im Eiter keineswegs allemal mit Sicher¬ 
heit behaupten, daß eine Lungengangrän als 
Ursache der Putreszenz ausgeschlossen sei, 
selbst dann nicht (cf. oben), wenn die Pa¬ 
tienten vor der Operation geruchlose Sputa 
expektorierten. Nun gibt es zwar Fälle 
von jauchigem Empyem, für welche diese 
Aetiologie nicht in Betracht kommt, Fälle, 
bei denen, wenn sie tödlich verlaufen, trotz 
eifrigen Suchens eine Ursache der Putreszenz 
des Pleuraexsudates überhaupt nicht ge¬ 
funden wird und namentlich die Lunge 
sich durchaus unversehrt erweist. Dieu¬ 
lafoy führt einige, allerdings von anderen 
Autoren beobachtete Beispiele dieser Art 
als Beleg an. Sie zu erklären, macht ihm 
augenscheinlich Schwierigkeiten und er ist 
geneigt, obwohl er ihre Seltenheit zugibt, 
bis auf weiteres, für sie die Bezeichnung 
der primären putriden Pleuritis gelten zu 
lassen. Indeß, es ist unmöglich, daß Fäul¬ 
niserreger durch die unversehrte Haut oder 
Schleimhaut in das Innere des Körpers 
dringen können und es muß allemal eine 
Eintrittspforte in Gestalt einer patho¬ 
logischen Veränderungan irgend einer Stelle 
vorhanden sein. Ihr Nichtauffinden ist kein 
Beweis gegen die Berechtigung dieser Vor¬ 
aussetzung. Hier möchte ich deswegen 
zum Schluß meiner Darlegungen auf eine 
leicht übersehbare Quelle der Entwicklung 
putrider Empyeme aufmerksam machen, 
für die ich selber eine anschauliche Kranken¬ 
beobachtung beibringen kann. Es handelt 
sich um den Ausgang von einem Trak¬ 
tionsdivertikel des Oesophagus. Der 
betreffende Fall ist bereits im Jahre 1903 
in einer unter meiner Leitung verfaßten 
Dissertation 16 ) veröffentlicht worden: 

Ein 15jähriger Kutscher erkrankte 8 Tage 
vor seiner am 24. Juni 1899 in das Kranken¬ 
haus am Urban stattgehabten Aufnahme mit 
Schüttelfrost, Stechen in der rechten Brust¬ 
hälfte und Kopfschmerzen. Wiederholung der 
Fröste in den nächsten Tagen. Temperatur 
bei dem Eintritt in die Beobachtung 40,2, Puls 


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August 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


345 


100, Resp. 40. Sanguinolentes Sputum. Vom 
rechts von der 2. Rippe ab Dämpfung, welche 
nach unten an Intensität zunimmt mit auf¬ 
gehobenem Stimmfremitus und abgeschwächtem 
Atemgeräusch. Hinten von der Spina scapulae 
dextrae bis zum Rippenbogenrand Dämpfung, 
mit demselben auskultatorischen und palpatori- 
schen Befund wie vom. Links mit Ausnahme einer 
leichtenSchallabschwächung überder hinteren un¬ 
tersten Thoraxpartie nichts besonderes. Spitzen¬ 
stoß in der vorderen Axillarlinie des 5. Inter¬ 
kostalraumes, bis wohin auch die Herzdämpfung 
reicht. In der ganzen Regio cordis perikardi¬ 
tisches Reiben. — Am 25. Juni abermals 
Schüttelfrost. Die am nächstfolgenden Tage 
rechts hinten vorgenommene Probepunk¬ 
tion ergibt seröses Exsudat. Temp. 41,2o, 
P. 124, R. 52. — Am 28. Juni Symptome eines 
Pneumothorax dexter; bei erneuter Probe¬ 
punktion erweist sich das Exsudat als dünn¬ 
eitrig, stinkend, von gelber, zum teil brauner 
Farbe. Noch an demselben Tage Thorakotomie 
mit Resektion der 8. Rippe und Entleerung von 
2 Litern putriden Eiters. Den nächstfolgenden 
Tag mehrere Schüttelfröste; am 30. Juni Exitus. 
— Sektionsbericht: Parietales und viscerales 
Blatt des Perikard, mit reichlichen fibrinösen, 
zum Teil zottigen Auflagerungen. Herzgröße 
normal. Rechte Lunge komprimiert, der Wirbel¬ 
säule anliegend. Der gesamte rechte Brust- 
raum ist von einem dicken, weißlichen, fibrinös¬ 
eitrigen Belag ausgekleidet, der sich leicht von 
der Pleura entfernen läßt. Rechter Oberlappen 
hellrot und lufthaltig; rechter Unterlappen von 
vermindertem Luftgehalt, derb, die Schnitt¬ 
fläche nicht gekörnt. Ungefähr in der Mitte 
des Oesophagus, entsprechend der Bifurka¬ 
tion der Trachea, findet sich ein Traktions¬ 
divertikel. Die eingeführte Sonde gelangt 
von demselben in einen zirka walnußgroßen 
Eiterherd, welcher sich aus mehreren an der 
Bifurkation gelegenen Lymphdrüsen gebildet 
hat Eine Kommunikation des Eiterherdes 
mit der rechten Pleurahöhle ist nicht sicher 
nachzuweisen. 

Beobachtungen wie diese gehören zu 
den Seltenheiten. Die Entstehungsursache 
der Veijauchung des pleuritischen Ergusses 
ist in vivo bei ihnen begreiflicherweise nicht 
diagnostizierbar. Nach der Einteilung Dieu- 
lafoys würde unser Fall in die Gruppe 
der putriden Pleuritiden einzureihen sein. 
Die Lunge erwies sich, abgesehen von der 
Kompression, als intakt; jedenfalls waren 
Veränderungen derselben nicht die Ur¬ 
sache der Putreszenz, der faulige Eiter ent¬ 
wickelte Gas (Symptome des Pneumothorax) 
und seine Bildung und Zersetzung erfolgte, 
nachdem ein serös-fibrinöser Ergufi voraus¬ 
gegangen war. 

Die Traktionsdivertikel des Oeso¬ 
phagus stellen bekanntlich im Gegensatz 
zu den selteneren Pulsionsdivertikeln einen 
außerordentlich häufigen Befund bei den 


Sektionen dar, der oft in Fällen erhoben 
wird, in welchen zu Lebzeiten der Patienten 
nichts auf ihr Bestehen hinwies. Sie werden 
meist durch Schrumpfung einer oder 
mehrerer mediastinaler, in der Gegend der 
Bifurkation der Trachea gelegener Lymph- 
drüsen verursacht, deren narbiger Zug eine 
trichterförmige Einziehung der Mukosa und 
Submukosa des Oesophagus bewirkt. Durch 
Zersetzung von Speiseteilchen, welche sich 
in der Spitze des Trichters verfangen, 
kann es zu Ulzerationen und schließlich zu 
Durchbrüchen in die benachbarte Trachea, 
in große Gefäße (Pulmonalarterie, Aorta), 
gelegentlich auch zu einer Mediastinitis und 
jauchigem Empyem kommen. Da wie ge¬ 
sagt, die Divertikel gewöhnlich in der Um¬ 
gebung des Endes der Trachea (an deren 
hinteren Wand, nahe der Bifurkation) sitzen, 
so ist es begreiflich, daß diese Bildungen 
bei der gewöhnlichen Sektionstechnik, bei 
welcher die Lungen am Hilus abgeschnitten 
werden, leicht übersehen werden. Auf 
diese Weise kann auch einmal die Ent¬ 
stehungsweise eines Empyema putridum 
sich der Erkenntnis entziehen. 

Literatur: 

1) Guöneau de Mussy, Arch. gönörales 
de M6d. 1853 u. 1879. — 2) Bouveret, Traite 
de l’Empyeme 1888, S. 547; cf. auch: G. Zuel- 
zer, Ueber Pleuritis diaphragmatica, Münch. 
med.Wochschr. 1898, Nr. 47, S. 1496. — 3) Sehr¬ 
wald, Zur Diagnose der Pleuritis diaphrag¬ 
matica, Deutsche med. Wochschr. 1907, Nr. 52, 
S. 2174. — 4) Dieulafoy, La Pleuresie media- 
stine, Clinique mödicale de l’Hötel Dieu de 
Paris, Tome III, Paris 1900, S. 1—25. —5) Po- 
tain, La Pleuresie interlobaire, L’Union mdd. 
1891, Nr. 27 und 1892, Nr. 49. — 6. D. Ger¬ 
hardt. Ueber interlobäre Pleuritis, Berl. klin. 
Wochschr. 1893, Nr. 33. — 7. Rochard, Traite- 
ment chirurgicale de la pleurösie purulente in¬ 
terlobaire, Gazette des höpitaux 1892, Nr. 31. 
— 8. Dieulafoy, 1. c., Tome HI, p. 24—68. — 
9. Laönnec, Traite de l’auscult. med. Tome. II. 
36d, p. 502. — 10. A. Fraenkel, Ueber einige 
Komplikationen und Ausgänge der Influenza, 
Berl. klin. Wochschr. 1897, Nr. 15. —11. E. Flörs¬ 
heim, Ueber interlobäre Pleuraexsudate, Inaug.- 
Diss., Berlin 1899. — 12. Fr. Merkel, Hand¬ 
buch der topographischen Anatomie, Bd. 2, 
S. 404. — 13. Seufferheld, Ein Fall von 
Pleuritis mterlobaris serosa, Münch, med. 
Wochschr. 1907, Nr. 26, S. 1281; cf. auch: 
D. Gerhardt, ibid. Nr, 18, S.911. — 14. A. 
Fraenkel, Zur Lehre von der putriden Pleu¬ 
ritis, Berl klin. Wochschr. 1879, Nr. 17 u. 18. — 
15. 1. c. Tome IV, p. 44—83. — 16. J. Salo- 
mon, Ueber die Folgen der chronischen 
Bronchialdrüsenaffektionen, Inaug.-Diss., Berlin 
1903. 


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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


August 


Aus der Medizinischen Klinik des städtischen Krankenhauses zu Frankfurt a. M. 
(Direktor: Prof. Sohwenkenbecher.) 

Die intravenöse Injektion des Heilserums bei Diphtherie. 

Von Dr. Hermann Tachau. 


Die Italiener Gagogni und Zamboni 1 ) 
haben als die ersten im Jahre 1899 und 
1900 bei schwerer Diphtherie die intra¬ 
venöse Injektion des Heilserums empfohlen. 
Im Gegensatz zu ihren Erfolgen sah der 
Franzose Richarviere 1 ) auch bei intra¬ 
venöser Applikation höchster Dosen keinen 
besseren Ausgang der Erkrankung. — In 
größerem Umfange wurden intravenöse 
Seruminjektionen in England angewandt. 
Cairus 2 ) berichtete 1902 über 20 Fälle, in 
denen er nach intravenöser Seruminjektion 
auffallend schnelles Zurückgehen der Tox¬ 
ämie, Schwinden der Drüsenschwellungen 
und besonders erhebliche Besserung bei 
mit Pneumonie komplizierten Fällen be¬ 
obachtete. Außer einer Zunahme der Fälle 
von Serumkrankheit sah er keine un¬ 
angenehmen Nebenwirkungen. — 1904 be¬ 
richteten dann Biernacki und Muir 8 ) aus 
dem Plaislow-Fever-Hospital in London 
über 45 und 1906Bisson 4 ) aus demselben 
Krankenhause über 200 mit dieser Methode 
behandelte Fälle. Sie injizierten bis zu 
100000 I.-E. In vielen Fällen, besonders 
bei Beteiligung des Larynx, konnten sie 
überraschende Wirkungen feststellen, eine 
Anzahl erheblicher Stenosen ging zurück, 
ohne daß eine Operation erforderlich 
wurde. Es wurden aber auch wiederholt 
unangenehme Nebenwirkungen beobachtet 
(Kollaps, Schüttelfrost). Von den 200 Fällen 
Bissons verliefen 35 letal. 

In Deutschland hat die intravenöse In¬ 
jektion des Heilserums erst in neuerer 
Zeit Anklang gefunden. Die Anregung 
ging von experimentellen Untersuchungen 
aus. Bergbaus 5 ), Morgenroth 6 ) und 
Meyer 7 ) zeigten in übereinstimmender 
Weise, daß Tiere, die mit der gleichen 
Toxinmenge vergiftet waren, bei intra¬ 
venöser Injektion des Antitoxins mit einer 
geringeren Dosis gerettet werden konnten 
als bei subkutaner. Nach den Unter¬ 
suchungen von Berghaus entsprechen 
der Wirkung einer subkutanen Injektion 
von 40 I.-E. die einer intraperitonealen 
von 7,0 I.-E. und die einer intrakardialen 
von 0,08 I.-E. Die Forderung war also 
berechtigt, bei schweren Diphtherien kli¬ 
nische Versuche mit intravenöser Einver¬ 
leibung des Serums zu machen. 

Ueber derartige Versuche berichtete 
zunächst Schreiber 8 ) (Magdeburg) an der 
Hand von 21 Fällen, die er mit intra¬ 


venösen Injektionen von 3000—8000 I.-E. 
behandelte. Er stellte die Unschädlichkeit 
dieser Applikationsweise fest; auch der 
übliche Phenolzusatz wurde stets ohne un¬ 
angenehme Nebenwirkungen vertragen. 
Seine Fälle verliefen bis auf einen Todes¬ 
fall sämtlich gut, es wurde lediglich ein 
häufigeres Auftreten von Serumexanthemen 
beobachtet, das durch die Anwendung 
höherer Dosen erklärt schien. 

Gleich günstige Resultate erzielten 
Fette 9 ) (Hamburg) und Berlin 10 ) (Köln). 
Fette behandelte 145 Fälle mit einer Mor¬ 
talität von 14%, Berlin führte bei 145 Di¬ 
phtheriekranken intravenöse oder intra¬ 
muskuläre Injektionen aus; 17% verliefen 
letal. 

Wir haben in der hiesigen medizinischen 
Klinik seit einem Jahre wegen Diphtherie 
oder Diphtherieverdacht 100 intravenöse 
Seruminjektionen ausgeführt. In 78 Fällen 
wurde die Diagnose auch durch die bak¬ 
teriologische Untersuchung bestätigt. Die 
Technik war die allgemein übliche; es 
wurde besonders auf recht langsames In¬ 
jizieren geachtet. Zu einem operativen 
Freilegen der Vene konnten wir uns nicht 
entschließen; wir haben deshalb bei klei¬ 
neren Kindern, bei denen die direkte 
Punktion unmöglich war, auf die Anwen¬ 
dung der intravenösen Injektion verzichtet. 
— Als Dosis wurde das Dreifache der von 
Baginski 11 ) angegebenen Menge gewählt, 
für leichte Fälle 3000—4500 L-E., für 
schwere 6000—9000 I.-E. Es kam ein 
Serum von Merck zur Verwendung; je 
2 ccm desselben enthielten 1000 I.-E. Im 
allgemeinen wurde nur eine einmalige In¬ 
jektion ausgeführt; nur wenige schwerste 
Fälle erhielten am nächsten Tage eine 
zweite Einspritzung. 

Hat die intravenöse Injektion des Heil¬ 
serums einen günstigeren Einfluß auf den 
Ablauf der Diphtherie als die subkutane? 

Die Frage ist wie jede Beurteilung 
therapeutischer Maßnahmen, die nicht 
eklatant wirken, schwer zu beantworten. 
Sichere Anhaltspunkte gibt erst eine große 
Statistik, die zeigt, ob Komplikationen und 
Todesfälle bei intravenöser Applikation 
des Serums seltener sind als bei sub¬ 
kutaner. Die bisher vorliegenden Mor¬ 
talitätszahlen bleiben nun jedenfalls nicht 
hinter den Durchschnittszahlen zurück. 
Bisson hat in 14%, Fette in 13,8%, 


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August 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


347 


Berlin in 17,8% der Fälle einen letalen 
Ausgang. Wir haben von den 78 sicheren 
Diphtherien 9 verloren (12,8%). In der 
gleichen Zeit sind mit subkutanen Injek¬ 
tionen 170 Diphtherien mit 24 Todesfällen 
behandelt (14%). Die Zahlen sprechen 
nicht zugunsten der intravenösen Injektion, 
zumal wenn man berücksichtigt, daß die 
kleineren Kinder, bei denen die Diphtherie 
ja viel häufiger einen ungünstigen Ausgang 
nimmt, fast ausnahmslos mit subkutanen 
Injektionen behandelt sind. 

Die Ursache des letalen Ausganges 
bildete entweder die Schwere der Diphtherie¬ 
intoxikation oder es traten Komplikationen 
von seiten der Kreislaufsorgane und Nieren 
hinzu. Diese zu verhindern gelingt also 
auch bei intravenöser Injektion des Serums 
nicht. 

Bei den leichten Fällen hat man durch 
die intravenöse Injektion des Serums einen 
schnelleren Ablauf der Krankheitserschei¬ 
nungen zu erzielen gehofft. So wird be¬ 
sonders angegeben, daß die Temperatur 
schneller zur Norm zurückkehren soll. Ein 
genauer Vergleich der Kurven intravenös 
Injizierter mit denen subkutan Injizierter 
bestätigt diese Erwartung nicht. Das Fieber 
besteht auch bei intravenöser Injektion oft 
mehrere Tage lang. — Im Verlauf der 
Rachenerkrankung, in der Abstoßung der 
Beläge, dem Verschwinden der Bazillen aus 
der Mundhöhle sind nie merkliche Unter¬ 
schiede beobachtet worden. So ist z. B. die 
Zahl der Patienten, die trotz subjektiven 
Wohlbefindens noch nach 3 Wochen Di¬ 
phtheriebazillen in der Mundhöhle beher¬ 
bergen, bei den intravenös gespritzten 
nicht geringer als bei den übrigen. 

Nach unseren Beobachtungen verdient 
die intravenöse Injektion also in thera¬ 
peutischer Beziehung keinen Vorzug vor 
der subkutanen. Soll sie überhaupt neben 
dieser bestehen bleiben, so muß ent¬ 
schieden gefordert werden, daß sie frei 
ist von jeglichen unangenehmen Neben¬ 
wirkungen. 

Daß Zahl und Schwere der Serum- 
exantheme bei Applikation höherer Dosen 
eine größere ist, ist erklärlich. Da wir 
außerdem durch Ohnacker 12 ) wissen, von 
wie großer Bedeutung die Provenienz des 
Serums für das Zustandekommen des Exan¬ 
thems ist, so erübrigt sich ein Vergleich 
zwischen subkutaner und intravenöser In¬ 
jektion in dieser Beziehung. 

Bei einer großen Zahl der Fälle ist die 
intravenöse Injektion von einer anfänglichen 
Steigerung der Körpertemperatur gefolgt. 
Wir fanden sie in etwa der Hälfte unserer 


Fälle. Dreimal sind gleichzeitig mit dieser 
Temperatursteigerung im unmittelbaren 
Anschluß an die Injektion ~ erheblichere 
Störungen aufgetreten. 

1. Carl Th., 19 Jahre. Seit 2 Tagen mit 
Halsschmerzen erkrankt. Tonsillen, ein Teil 
des Zäpfchens und weichen Gaumens mit 
membranösen Auflagerungen bedeckt. Injek¬ 
tion von 8000 I.-E. (16 ccm) intravenös. Nach 
l /i Stunde Schüttelfrost, Temperaturanstieg von 
38,0° auf 40,0°. Puls kaum fühlbar, starke 
Zyanose. Nach Darreichung von Kampfer und 
Wein Besserung, nach 3 Stunden ist der Puls 
wieder gut gefüllt; Wohlbefinden. Am 17.Krank¬ 
heitstage geheilt entlassen. 

2. Peter R., 24 Jahre. Wegen einer diphtherie- 
verdächtigen Angina 4000 I.-E. (in 8 ccm) intra¬ 
venös. Kurz nach der Injektion Schüttelfrost, 
Temperaturanstieg von 38° auf 39,8°. Puls un- 
fühlbar. Kampfer. Wein. Nach */* Stunde 
allmählicher Rückgang der Symptome. Patient 
klagt am Abend und folgenden Tage über 
Kopfschmerzen, wird nach 8 Tagen geheilt 
entlassen. 

3. Joseph K., 15 Jahre alt. Seit einem Tage 
Halsschmerzen. Tonsillen mit ausgedehnten 
Membranen bedeckt, die auf Zäpfchen und 
weichen Gaumen übergreifen. Temperatur 
39,6°. Intravenöse Injektion von 6000 L-E. 
(12 ccm). 10 Minuten später tritt unter großer 
Unruhe des Patienten starke Zyanose an 
Händen, Füßen und im Gesicht auf. Puls sehr 
klein frequent, kaum fühlbar, Temperatur 38,4°. 
Erbrechen. 15 Minuten nach der Injektion 
zeigt sich eine erythematöse Rötung am 
ganzen Körper. Nochmaliges Erbrechen. Nach 
1 Stunde ist das Exanthem nur noch an 
den unteren Extremitäten vorhanden, an den 
Füßen zeigen sich einige Quaddeln. Der Puls 
ist jetzt wieder gut gefüllt. Temperatur 39,4°. 
Nach einer weiteren Stunde ist die Hautver¬ 
änderung völlig verschwunden. Puls gut ge¬ 
füllt, Temperatur 40,0°. Es treten keine wei¬ 
teren Nachwirkungen auf, Patient wird am 
23. Krankheitstage gesund entlassen. 

In den beiden ersten Fällen trat also 
im Anschluß an die Injektion ein schwerer 
Schüttelfrost und Kollaps ein. Im dritten 
Falle folgte der Einspritzung ein Kollaps, 
der von einem universellen Erythem be¬ 
gleitet war. In allen drei Fällen gingen 
die Symptome zwar bald zurück, sie waren 
aber für den Patienten und seine Um¬ 
gebung äußerst besorgniserregend. — Der 
Gedanke lag nahe, daß es sich um Pa¬ 
tienten handelte, die durch eine frühere 
Seruminjektion anaphylaktisch geworden 
waren. Genaue Nachfragen ergaben je¬ 
doch bei keinem Anhaltspunkte für die 
Möglichkeit einer früheren Seruminjektion. 
Um eine erworbene Anaphylaxie kann es 
sich also nicht handeln. Auch zur An¬ 
nahme einer angeborenen Ueberempfind- 
lichkeit haben wir keinen Grund. Von 
dem Exanthem möchten wir annehmen, 
daß es überhaupt nicht ein eigentliches 
Serumexanthem war, sondern eine den 
Kollaps begleitende Vasomotorenstörung. 

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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


August 


Bisson 4 ) berichtet, daß in mehreren 
seiner Fälle die intravenöse Injektion von 
Schüttelfrost und Kollaps gefolgt war. 
Bisson und Fette 9 ) teilen je einen Fall 
mit, in dem kurz nach der Einspritzung 
ein Exanthem aufgetreten ist, das dem im 
Falle K. beobachteten völlig entspricht. 

Wir haben also bei der intravenösen 
Injektion des Heilserums keinen deutlichen 
therapeutischen Vorteil gegenüber der 
subkutanen Injektion gesehen, dagegen 
aber einige recht unangenehme Neben¬ 
erscheinungen beobachtet. Wir haben des¬ 
halb, zumal da außerdem die Technik der 
intravenösen Injektion komplizierter ist, 


von dieser Applikationsweise wieder Ab¬ 
stand genommen. 

Literatur: 

1) Zitiert nach Bisson. — 2) Cairus, The 
Lanzet 1902, S. 1685. — 3) Biernacki und 
Muir, The Lanzet 1904, S. 1774. — 4) Bisson, 
The Lanzet 1906, S. 929. — 5) Berghaus, 
Zentralblatt für Bakteriologie Bd. 50, S. 87. — 
6) Morgenroth, Therapeutische Monatshefte 
1909, S. 1. — 7) Meyer, Berliner klinische 
Wochenschr. 1909, S. 1890. — 8) Schreiber, 
Münch, med. Wochenschr. 1909, S, 1597. — 

9) Fette, Medizin. Klinik 1909, S. 1891. - 

10) Berlin, Dtsche. med. Wochenschr. 1910, 
S. 210. — 11) Bagin sky in Nothnagels Hand¬ 
buch d. spez. Pathologie u. Therapie Bd. II. 
— 12) Ohnacker, Therapie d. Gegenw. 1909, 
S. 511. 


Pharmakologisches über die Ester der p-Aminobenzoesäure 
mit besonderer Berücksichtigung des Cycloforms. 

Von Dr. med. et phil. E. Impens. 


Das Cycloform, der Isobutylester der 
p-Amidobenzoesäure, ist eine weiße, bei 
65° schmelzende, in glänzenden Schüppchen 
krystallisierende Verbindung, welche in 
Alkohol und Aether sehr leicht, in Wasser 
dagegen nur wenig löslich ist. 

Die Löslichkeit in Wasser habe ich 
durch Titration mit einer 0,5%igen Natrium- 
nitritlösung und durch direkte Wägung 
bestimmt; sie beträgt bei 14° zirka 0,014, 
bei 170 0,019 bis 0,02 und bei 22® 0 , 022 % 
Diese Zahlen erheben keinen Anspruch auf 
vollkommene Genauigkeit. 

Trotz ihrer so schwachen Konzentration 
weisen diese Lösungen eine nicht unbe¬ 
deutende physiologische Wirksamkeit auf, 
welche man hauptsächlich an zwei Ob¬ 
jekten beweisen kann, nämlich an der 
Hornhaut und am Fisch. 

Träufelt man eine bei 17o gesättigte, 
wäßrige, zirka 0,02%ige Cycloformlösung 
in den Bindehautsack eines Kaninchenauges 
ein, und läßt dieselbe etwa zwei Minuten 
lang auf die Kornea ein wirken, so beob¬ 
achtet man, daß letztere auf ihrer ganzen 
Fläche unempfindlich geworden ist. Die 
Berührung und der Druck mit einer stumpfen 
Spitze rufen keinen Reflex der Augenlider, 
welche weit geöffnet bleiben, hervor. Diese 
Anästhesie dauert vier bis sechs Minuten 
an, nimmt dann von der Peripherie gegen 
das Zentrum der Hornhautfläche allmählich 
ab, um nach neun bis zehn Minuten ganz 
zu verschwinden. 

Die halbe Sättigung, also zirka 0,01 % 
ruft nach zwei Minuten langer Berührung 
eine leichte, ziemlich oberflächliche An¬ 
ästhesie der Kornea hervor; nach einer 
Applikationszeit von drei Minuten entsteht 
eine vollständige Insensibilität der Horn¬ 


haut, welche nach vorne zu, an der Stelle, 
wo die Nickhaut sich schützend vorschieben 
kann, ein wenig schwächer wird und in 
Hypästhesie übergeht Die Unempfindlich¬ 
keit währt drei bis fünf Minuten, die dar¬ 
auf folgende Hypästhesie noch ungefähr 
die gleiche Zeit. Die Drittelsättigung, 
etwa 0,007%, hat eine ähnliche, aber 
leichtere und flüchtigere Wirkung; die An¬ 
ästhesie bleibt oberflächlich und hält 
höchstens zwei bis drei Minuten an. Nach 
einer weiteren Verdünnung der Lösung 
nimmt man keine nennenswerte Einwirkung 
auf die Kornea mehr wahr; die Grenze 
des Anästhesierungsvermögens des p Ami- 
dobenzoesäureisobutylesters ist demnach 
mit einer Konzentration von 0,007% er¬ 
reicht. 

Der Aethylester der p Amidobenzoe¬ 
säure ist in Wasser löslicher als das Cyclo¬ 
form; seine bei Zimmertemperatur ge¬ 
sättigte Lösung enthält annähernd 0,079 g 
auf Hundert. Die anästhesierende Wirkung 
dieser Lösung ist nicht sonderlich stärker 
als diejenige der Cycloformsättigung; sie 
tritt nur ein wenig schneller ein — und 
ist etwas nachhaltiger. Ihre Dauer beträgt 
ungefähr sechs bis sieben Minuten; die 
zurückbleibende Hypästhesie hält danach 
noch acht bis zehn Minuten an. 

Die Halbsättigung erzeugt nur in den 
mittleren und hinteren Teilen der Kornea¬ 
oberfläche eine vollständige Anästhesie; 
der von der Nickhaut bedeckte Teil weist 
nur eine leichte Abstumpfung der Empfind¬ 
lichkeit auf. 

Mit der Drittelsättigung, 0,026 %, nach 
deren Einwirkung man eine leichte, sehr 
bald erlöschende Anästhesie beobachtet, 
ist man, wie beim Isobutylester, an die 


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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


349 


Grenze der Wirksamkeit des Aethylesters 
gelangt. 

Die Viertelsflttigung ruft nichts weiter 
als eine flüchtige Hypästhesie hervor. 

Die beiden Propylester der p Amido¬ 
benzoesflure nehmen in Betreff ihrer Lös¬ 
lichkeit in Wasser eine Mittelstellung 
zwischen dem Aethylester und Cycloform 
ein. Die gesättigte Lösung enthält je nach 
der Höhe der Zimmertemperatur zwischen 
0,03 und 0,04%; in ihren anästhesierenden 
Eigenschaften gleicht dieselbe sehr den 
entsprechenden Lösungen des Aethyl- und 
Isobutylesters, und die Drittelsättigung 
stellt ebenfalls die Grenze der Verdünnung 
dar, welche noch imstande ist, Unemp¬ 
findlichkeit zu erzeugen. 

Wir ersehen aus diesen Daten, daß die 
bei gewöhnlicher Temperatur gesättigten 
Lösungen der erwähnten vier p-Amido- 
benzoesäurederivate ein fast gleichwertiges 
Anästhesierungsvermögen aufweisen, ob¬ 
gleich ihr Gehalt an wirksamer Substanz 
sehr verschieden ist und vom Aethylester 
bis zum Isobutylester bedeutend abnimmt. 
Die anästhesierenden Eigenschaften wachsen 
demnach mit der Zahl der Kohlenstoffatome 
des Alkoholradikals. 

Diese Tatsache finden wir bei den 
höheren p-Amidobenzoesäureestern, wie 
den Amyl- und Benzylestern bestätigt; 
diese Substanzen, welche in Wasser so 
wenig löslich sind, daß ihre praktische 
Verwendung als schmerzlindernde Mittel 
kaum in Frage kommt, anästhesieren beide 
sehr intensiv. 

Die gleiche Steigerung läßt sich bei der 
allgemeinen Wirkung der p-Amidobenzoe- 
säureester auf die Fische beobachten. Sie 
rufen nach kurzer Zeit einen narkotischen 
Zustand hervor, welcher in vollständige 
Paralyse mit Erlöschen der Atmung über¬ 
geht. Das Herz wird zuletzt angegriffen 
und der Kreislauf ist noch lange in Tätig¬ 
keit, nachdem die Atmung aufgehört hat. 
Bis in die Vierzigstelsättigung läßt sich 
dieser lähmende Einfluß verfolgen. 

Von der Zehntelsättigung ab können die 
Fische (Ellritzen) sich noch erholen, wenn 
man sie nach eingetretener Atemlähmung 
in frisches Wasser versetzt. Die Erholung 
tritt dann schnell ein; zwei bis drei Mi¬ 
nuten nach dem Wasserwechsel bewegen 
sich die Kiemendeckel wieder und bald 
darauf nimmt der Fisch seine normale 
Haltung wieder ein. 

Die Wirkung des Cycloforms am Frosch 
läßt sich mit derjenigen am Fisch ver¬ 
gleichen: Lähmungssymptome beherrschen 
ebenfalls das Bild. Die Wirksamkeit der 


Substanz ist aber beim ersteren Versuchs¬ 
tier entschieden geringer; eine Dosis von 
0,05 g als salzsaures Salz in den Rücken- 
lymphsack injiziert, erzeugt nur eine un¬ 
vollständige und ziemlich schnell vorüber¬ 
gehende Paralyse. 

Die Versuche am Frosch werden durch 
die geringe Löslichkeit des Cycloforms in 
Wasser sehr erschwert. Die Salze der 
schwachen Base sind wohl löslicher; sie 
dissoziieren aber — und ihre Lösungen 
reagieren kongosauer. Die Einspritzung 
solcher sauren Flüssigkeiten ruft immer 
ausgedehnte Aetzungen hervor, welche das 
Vergiftungsbild nicht unwesentlich trüben. 

Der mit Hilfe eines Katheters entnom¬ 
mene Harn eines mit Cycloform vergifteten 
Frosches enthält eine Substanz, welche sich 
diazotieren läßt und dann mit 2-Phenyl- 
amino - 5 - naphthol - 7 - sulfosäure gekuppelt 
einen himbeerroten Farbstoff liefert. Es 
handelt sich wahrscheinlich um p-Amino- 
benzoesäure oder um unverändertes Cyclo¬ 
form. 

Die Resorption der p-Aminobenzoe- 
säureester, welche hier in Betracht kommen, 
ist wegen ihrer Schwerlöslichkeit auch bei 
den Warmblütern sehr träge; infolgedessen 
sind die Symptome, welche man nach Ver¬ 
abreichung mäßiger Dosen per os auf den 
ersten Blick wahrnehmen kann, sehr wenig 
ausgeprägt. In dem Verhalten der Ver¬ 
suchstiere merkt man kaum eine Aende- 
rung; bei näherer Untersuchung findet man 
aber, daß die Schleimhäute mehr oder 
weniger zyanotisch aussehen. Diese Zya¬ 
nose ist nach Darreichung der löslicheren 
Ester, wie des Aethylesters z. B. von 0,5 g 
aufwärts ab, sehr intensiv und wird dann 
von Benommenheit, Schläfrigkeit, Dyspnoe 
und von einem Schwächezustand, welcher 
sich nach hohen Dosen bis zum Kollaps 
steigern kann, begleitet. Bei den Katzen 
ist nach 1 g p-Aminobenzoesäureäthylester 
der tödliche Ausgang der Vergiftung keine 
Seltenheit 

Diese Erscheinungen werden vom Cyclo¬ 
form in geringerem Maße hervorgerufen; 
die schwächere Wirkung beruht aber ledig¬ 
lich auf der sehr langsamen Resorption 
dieses Esters. 

Dosen von 0,2 g Cycloform erzeugen 
im Durchschnitt bei den Katzen keine 
sichtbare Zyanose; die Farbenveränderung 
der Schleimhäute wird erst nach 0,4 bis 
0,6 g per os wahrnehmbar; nach 1 g so¬ 
gar erreicht sie in den meisten Fällen nicht 
die Intensität, weiche man nach Verab¬ 
reichung des Aethylesters beobachten kann. 

Beim Kaninchen ist die Zyanose immer 


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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


August 


undeutlich; diese Tiere vertragen über¬ 
haupt große Dosen der p-Aminobenzoe- 
säureester sehr gut 

Die Hunde dagegen zeigen nach 1 g 
Cycloform eine im Durchschnitt ziemlich 
schnell vorübergehende Zyanose; sie können 
aber die tägliche Wiederholung dieser 
Dosis über eine Woche lang ohne nennens¬ 
werte Beeinträchtigung ihres Allgemeinbe¬ 
findens ertragen. 

Die nach Eingabe von p-Aminobenzoe- 
säureestern eintretende Zyanose ist eine 
Folge der Umwandlung des Blutfarbstoffs 
in Methämoglobin, welche diese Substanzen 
nach Art der Aniline verursachen. 

Die Sauerstoffkapazität des Blutes nimmt 
im Verhältnis der umgewandelten Menge 
Hämoglobin ab; ich habe diese Kapazität 
bei Katzen nach Dosen von 0/75 bis 1 g 
p-Aminobenzoesäureäthylester per os, von 
17 auf 3% fallen sehen. Merkwürdiger¬ 
weise erholen sich die Tiere von dieser 
Blutvergiftung relativ schnell und der 
Sauerstoffkonsum wird nicht in dem Um¬ 
fang reduziert, den man bei erster Ueber- 
legung erwarten könnte. Wenn die Tiere 
ruhig sind, vermag der Organismus trotz 
verhältnismäßig ausgedehnter Methämoglo- 
binbildung seinen Sauerstoffbedarf zu 
decken. In meinen Versuchen fand ich bei 
ruhigen Katzen, welche nicht zu hohe Dosen 
p-Aminobenzoesäureäthylester bekommen 
hatten und stark zyanotisch aussahen, 
keinen Unterschied im Sauerstoffkonsum. 
Erst wenn der Sauerstoffbedarf durch 
rasche und ausgedehnte Muskelbewegungen 
stark zunimmt, kann ein Defizit in der 
Versorgung der Gewebe mit Sauerstoff 
eintreten; es stellt sich dann eine intensive 
Dyspnoe ein. 

In vitro rufen die Ester der p-Amino- 
benzoesäure keine Methämoglobinbildung 
in defibriniertem Ochsen- oder Katzenblut 
hervor; die Sauerstoffkapazität bleibt un¬ 
verändert, wovon ich mich durch zahlreiche 
Analysen überzeugt habe. 

Die Ester der Aminooxybenzoesäure da¬ 
gegen wandeln das Oxyhämoglobin rasch 
in Methämoglobin um, auch bei gewöhn¬ 
licher Temperatur. Setzt man z. B. zu 
100 ccm Ochsenblut 0,02 g m-Amino-p-oxy- 
benzoesäureäthykster zu, so fällt die Sauer¬ 
stoffkapazität von 16,60/ 0 nach drei Stun¬ 
den auf 12,5%, nach sieben Stunden auf 
10,5%, nach 24 Stunden auf 7,5%. 

In vivo wirken die Aminooxybenzoe- 
säureester, wie man nach diesen Ergeb¬ 
nissen erwarten kann, intensiv auf den 
Blutfarbstoff ein und erzeugen eine starke 
Zyanose. 

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Um den Widerspruch zwischen der Un¬ 
fähigkeit der p-Aminobenzoesäureester in 
vitro Methämoglobin zu erzeugen und ihre 
bedeutende Wirksamkeit in dieser Hinsicht 
im Tierkörper aufzuklären, drängt sich die 
Annahme auf, daß sie sich im Organismus 
in Ester einer p-Aminooxybenzoesäure 
durch Substitution eines Wasserstoffatoms 
durch eine Hydroxylgruppe in dem Kern 
umwandeln. 

In der Tat ist es mir gelungen, aus dem 
Harn der Hunde, welche p-Amidobenzoe¬ 
säureäthyl- oder Isobutylester per os be¬ 
kommen hatten, neben p-Amidobenzoesäure, 
eine Substanz zu isolieren, welche alle 
Eigenschaften einer p-Aminooxybenzoesäure 
aufwies: intensive Reduktion des Silber¬ 
nitrats bei alkalischer Reaktion in der 
Kälte, Violettfärbung mit Eisenchlorid, Un¬ 
fähigkeit mit 2 Naphthol-3‘6 Disulfosäure 
nach dem Diazotieren einen Farbstoff zu 
geben, Fähigkeit aber, sich nach dem Dia¬ 
zotieren mit 1 *8-Aminonaphthol-4-sulfosäure 
zu einem intensiven violetten Farbstoff zu 
kuppeln, endlich rasche Umwandlung des 
Oxyhämoglobins in Methämoglobin in vitro. 

Die morphologischen Aenderungen, 
welche die p-Aminobenzoesäureester, nach 
Heinz, in den Erythrozyten hervorrufen 
und welche in der Bildung von stark re- 
fringenten Kügelchen in der Blutkörperchen¬ 
scheibe bestehen, sind nicht die Ursache 
der Erniedrigung der Sauerstoffkapazität, 
denn sie treten erst spät auf, zu einer Zeit, 
wo die Zyanose schon vorüber ist und die 
Sauerstoffkapazität die Norm bald wieder 
erreicht. 

Im Reagensglas erzeugen die Ester der 
p-Aminobenzoesäure keine Hämolyse; im 
Gegenteil härtet das Cycloform z. B. die 
roten Blutkörperchen und macht sie re¬ 
sistenter gegen die Hämolyse durch hypo¬ 
tonische Kochsalzlösungen. 

Die Wirkung dieser Substanzen auf die 
Blutkörperchen und auf den Blutfarbstoß 
ist für die therapeutische Verwendbarkeit 
derselben nicht von großer Bedeutung. In 
der Tat werden sie hauptsächlich äußerlich 
als Anästhetika bei Wunden und Läsionen 
der Haut gebraucht; ihre innerliche An¬ 
wendung ist beschränkt, und die langsame 
Resorption der relativ geringen verab¬ 
reichten Dosen schützt im allgemeinen vor 
der Einwirkung auf das Blut. 

Außer den anästhesierenden Eigen¬ 
schaften haben die Ester der p Amino¬ 
benzoesäure, u. a. das Cycloform, einen 
deutlichen, wenn auch nicht besonders 
starken, fäulniswidrigen Einfluß. In ge¬ 
sättigter Lösung bei 37° verzögert oder 

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August 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


351 


verhindert sogar das Cycloform die am- 
moniakalische Gärung des Harns und die 
Putrefaktion an der Luft infizierter Albu- 
mosenlösungen; weiter besitzt es gegen¬ 
über Staphylokokken eine schwache ent¬ 
wicklungshemmende Wirkung. 


Ich behalte mir vor, in einer demnächst 
erscheinenden Veröffentlichung auf die 
pharmakologischen Eigenschaften der p- 
Aminobenzoesäureester des Aethylalkohols 
und seiner Homologen in ausführlicher 
Weise zurückzukommen. 


Zur Prophylaxe der habituellen Haltungsanomalien. 

Von Dr. Qeorg Müller-Berlin. 


Unter den vielen Ursachen, die zur 
Verkrümmung der Wirbelsäule führen, 
spielt zweifellos eine Verschiebung der 
physiologischen statischen Verhältnisse eine 
hervorragende Rolle. 

Niemand zweifelt heute noch daran, daß 
durch zu starke Inanspruchnahme der Plan¬ 
tarfaszie und der kurzen plantaren Fu߬ 
muskeln Plattfuß entsteht, oder daß durch 
zu anhaltendes breitbeiniges Stehen das 
Lig. later, intern, überdehnt wird und ein 
Genu valgum sich entwickelt. 

Genau derselbe Vorgang spielt sich auch 
in der Wirbelsäule ab, wenn durch habituelle 
Abweichung von den physiologischen Ver¬ 
hältnissen, Druck und Zug an den Bändern, 
Muskeln und Knochen verschoben werden. 
Während Plattfuß und X-Bein durch zu 
langes unzweckmäßiges Stehen hervor¬ 
gerufen werden, leidet die Wirbelsäule am 
meisten durch lang anhaltendes Sitzen wie 
es, außer bei gewissen Berufsarten, vor¬ 
wiegend beim Schulunterricht notwendig 
ist. Erschwerend fällt bei der Schuljugend 
noch ins Gewicht, daß es sich um Indivi¬ 
duen handelt, bei denen die Muskulatur 
noch nicht voll entwickelt und das Knochen¬ 
wachstum noch nicht abgeschlossen ist, 
so daß sich jede Schädigung doppelt 
schwer bemerkbar machen muß. 

Ueberhaupt sehen wir zwischen dem 
Pes valgus, Genu valgum und der Coxa 
vara adulescentium einerseits und den habi¬ 
tuellen Haltungsanomalien der Schuljugend 
anderseits viele Anologien und zwar nicht 
nur in bezug auf ihre Aetiologie, sondern 
auch in bezug auf ihre Therapie und noch 
mehr auf ihre Prophylaxe. 

Das Kind benutzt in der Schule ent¬ 
weder die hintere oder die vordere Sitz¬ 
lage. Bei ersterer findet der Rumpf seine 
Unterstützung in den beiden Tubera Ischii 
und im Steißbein, während der Rücken 
sich an die etwa vorhandene Rücklehne 
anlehnt. Da aber letztere meist zu steil 
steht und nicht kongruent den physiologi¬ 
schen Ausbiegungen der Wirbelsäule her¬ 
gestellt ist, so ermüden die Rückenmuskeln, 
denen die Aufgabe zufällt, die Wirbelsäule 
gewissermaßen abzusteifen, ganz allmählich 
und fangen an zu schmerzen. Um dem zu 


entgehen, schiebt das Kind das Gesäß nach 
vorn, schaltet die ermüdeten und schmer¬ 
zenden Rückenmuskeln aus und läßt die 
Wirbelsäule, die sich dann nur noch mit 
einem einzigen Punkt an die Rücklehne 
anlehnt, soweit in sich zusammensinken, 
bis sie in den Bandhemmungen einen Halt 
findet. 

Ein ganz ähnlicher Vorgang spielt sich 
bei der vorderen Sitzhaltung ab, bei der 
der Oberkörper seine Unterstützung in den 
beiden unteren Flächen der Oberschenkel 
und in beiden auf dem Fußboden aufge¬ 
setzten Füßen findet. Den Rückenmuskeln 
fällt auch hier wiederum die Aufgabe zu, 
die einer Rücklehne völlig entbehrende 
Wirbelsäule in ihrer physiologischen For¬ 
mation zu erhalten, was sie jedoch wiede¬ 
rum nur eine gewisse Zeit tun können, um 
dann, wenn sie zu ermüden und zu schmer¬ 
zen beginnen, einfach außer Aktion zu 
treten und die nach rückwärts konvex zu¬ 
sammensinkende Wirbelsäule der Band¬ 
hemmung zu überlassen. 

Nun spielt sich hier derselbe Vorgang 
ab, den wir vom Pes valgus und Genu val¬ 
gum her kennen. Die überanstrengten 
Bänder überdehnen sich und gestatten eine 
immer größere Konvexität, ehe sie als 
Hemmungsmechanismen in Funktion treten, 
die konvexseitigen Muskeln verlängern sich 
und verlieren immer mehr ihren Tonus, 
die konkavseitigen Bänder und Muskeln 
dagegen verkürzen sich und stempeln all¬ 
mählich die wiederholte, wenn auch vor¬ 
übergehende pathologische Haltung, zu 
einer dauernden. Auch die Wirbelkörper 
reagieren auf die veränderte Belastung, 
indem sie an der konkaven Seite, wo sie 
einem vermehrten Druck ausgesetzt sind, 
kallöser werden und auf der konvexen 
Seite den verminderten Druck mit einer 
größeren Porosität beantworten. 

Eine Zeitlang vermag das Kind die be¬ 
ginnende Deformität wieder auszugleichen, 
indem es nach beendetem Schulunterricht 
sich reckt und dehnt, sich auf dem Nach¬ 
hausewege von der Schule herumtummelt 
und mit den Schulfreunden herumbalgt und 
auf diese Weise die vorübergehend außer 
Funktion gesetzten Muskeln kräftig kontra- 


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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


August 


hiert und die überanspruchten Bänder 
wieder entlastet. 

Aber allmählich tritt ein Stadium ein, 
wo diese Selbsthilfe der Natur nicht mehr 
genügt, um den Schaden eines überan¬ 
strengenden Sitzens während des Schul¬ 
unterrichts zu kompensieren, dann wird die 
Haltungsanomalie eine dauernde. 

Es fragt sich nun, wie kann man dieser 
Gefahr, in die sich jeder Sahulrekrut 
begibt, Vorbeugen. Zum Teil geschieht 
es durch die Einführung rationell kon¬ 
struierter Schulbänke. Doch hat mich die 
Erfahrung gelehrt, daß diese allein durch¬ 
aus nicht ausreichen, da die Kinder selbst 
in den besten Schulbänken nicht immer 
richtig sitzen und auch hier mit Vorliebe 
ihre Wirbelsäule nach Ausschaltung der 
Muskulatur der Bandhemmung überlassen. 

Da kam mir vor einiger Zeit der Ge¬ 
danke, den Schultornister, den doch jedes 
Kind tragen muß, als prophylaktisches 
Hilfsmittel heranzuziehen. Freilich muß 
derselbe zu diesem Zweck gewissermaßen 
umgebaut werden, da er in seiner bis¬ 
herigen Form und Anwendungsweise von 
unserem Gesichtspunkt aus nicht nur nichts 
nützte, sondern geradezu Schaden anrich¬ 
tete. Ich will nicht von der Schulmappe 
sprechen, die dadurch seitliche Ver¬ 


Fig. 1. 



biegungen der Wirbelsäule züchtet, daß sie 
ständig an oder unter demselben Arm ge¬ 
tragen wird, sondern nur von dem Tor¬ 
nister, der auf den Rücken geschnallt 
wird, der sogenannten Buckelmappe (Fig.1). 


Diese wird zumeist recht voll und schwer be¬ 
packt, und mit zwei Riemen befestigt, welche 
von der Mitte der oberen Kante abgehen, 
um die Schultern herumlaufen und unten 
dicht neben dem äußeren Ende der unteren 
Kante der Tornisterrückwand festgeschnallt 
respektive -gehakt werden. Sobald das 
Kind mit dieser Schultasche geht, stemmt 
sich die untere Rückwandkante gegen die 
normalerweise bereits bestehende lordoti- 
sche Lendenausbiegung, während der obere 
Teil des Tornisters nach rückwärts fällt 
und das Kind nach rückwärts zieht. Diesen 
Zug gleicht der Tornisterträger dadurch 
aus, daß er den Oberkörper nach vorn 
legt und die Schulter nach vorn zieht, 
während gleichzeitig durch den Druck 
der unteren Kante die Lendenlordose ver¬ 
größert wird, was wiederum eine kompen¬ 
satorische Vermehrung der physiologischen 
Brustausbiegung nach rückwärts zur Folge 
hat. Außerdem sitzt der Tornister so lose 
auf dem Rücken, daß er bei jedem Schritt 
in die Höhe fliegt, um dann mit einem 
Stoß gegen die Wirbelsäule wieder auf den 
Rücken zurückzufallen. Gelingt es also, 
diesen Schultornister, der jetzt gewisser¬ 
maßen nur pathogene Qualitäten besitzt, in 
einen, wenn auch nicht therapeutischen, so 
doch prophylaktischen Faktor umzuwandeln, 
so bedeutet dies einen doppelten Vorteil. 

Nach jahrelangen Versuchen glaube ich 
diese Aufgabe gelöst zu haben und zwar 
lediglich durch eine Aenderung der Riemen¬ 
führung, derart, daß sie wie ein Gerade¬ 
halter wirkt und die durch zu langes 
Sitzen herbeigeführte Haltunganomalie, 
falls noch keine anatomischen Veränderun¬ 
gen vorliegen, beseitigt. Es würde hier¬ 
durch sowohl auf dem Nachhausewege, 
als auch auf dem darauffolgenden Wege 
zur Schule die dort angenommene fehler¬ 
hafte Haltung ausgeglichen, so daß, wenn 
auch die Schädigungen des Sitzens immer 
wieder von neuem auf den Rücken ein¬ 
wirken, sie doch gewissermaßen immer 
wieder einen korrigierten Rücken vor¬ 
finden, so daß eine Kumulierung der 
schädigenden Momente unter allen Um¬ 
ständen vermieden wird. 

Das Charakteristische des Tornisters 
liegt, wie schon erwähnt, in der Führung der 
Riemen (Fig. 2). Sie beginnen zusammen 
etwas unterhalb der Mitte der oberen Kante 
der Rückwand, verlaufen dann durch zwei 
Paar Ueberleger, von denen das eine Paar 
etwas schräg gestellt, nicht ganz hand¬ 
breit vom äußern und etwa eine Hand 
breit vom unteren Rande entfernt ange¬ 
bracht ist, während das andere Paar Ueber- 


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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


353 


leger mit Rollen versehen und in einem 
Drehgelenk drehbar, am unteren Rande, senk¬ 
recht unter dem oberen Paare liegt. Nach- 

Fig. 2. 



dem die Riemen diese beiden Ueberleger 
passiert haben, verbreitern sie sich zu 
einem Gürtel und werden vorn durch ein 
Gürtel- oder Koppelschloß geschlossen. 
Die Anwendung ergibt sich ohne weiteres 
(Fig. 3): Nachdem das Kind seine Arme 


Fig. 3, 



durch die oberen durch Zurückziehung 
der Riemen beliebig weit zu machenden 
Schlupfen hindurchgeführt hat, zieht es die 


vom herabhängenden Gürtelteile fest an 
und schließt das Schloß. Die Wirkung ist 
eine eklatante und offensichtige. Die Schul¬ 
tern werden stark zurückgezogen, die Brust 
wird vorgedrängt und der Rücken dadurch, 
daß er in seiner ganzen Ausdehnung der 
harten Tornister wand angelegt wird, ener¬ 
gisch aufgerichtet, kurz, die Haltungsano¬ 
malie wird beseitigt, vorausgesetzt natür¬ 
lich, daß derselben noch keine anatomischen 
Veränderungen zugrunde liegen. 

Doch noch weitere Vorteile bietet der 
Tornister. Wir hören oft darüber klagen, 
daß die Schultaschen mit viel zu vielen 
Büchern bepackt werden und deshalb un¬ 
gebührlich schwer sind. Ist dies gewiß an 
sich schon ein Uebelstand, so wird dieser 
noch dadurch vermehrt, daß bei den bisher 
üblichen Schultaschen die Last auf die 
untere hintere Kante, die gegen die Lenden¬ 
wirbelsäule drückt, und die Schulterriemen, 
die das Kind zwingen, den Zug nach rück¬ 
wärts durch Vorwärtsneigung des Kopfes 
und Vorwärtsbeugung des Rumpfes zu 
parieren, verteilt ist. 

Bei dem von mir angegebenen Schul¬ 
tornister, den ich (aus dp#6s und nXd&iv ge¬ 
bildet), Orthoplast genannt habe, wird die 
Last gleichmäßig auf den ganzen Rücken, 
den Leib und die Schultern verteilt und des¬ 
halb subjektiv viel weniger unangenehm 
und funktionell nicht nachteilig empfunden. 

Schließlich liegt der Orthoplast, ohne 
zu drücken, dem Rücken so fest an, daß 
er selbst bei den wildesten Sprüngen der 
Kinder sich nicht vom Fleck rührt und in¬ 
folgedessen die oben beschriebenen schäd¬ 
lichen Stöße gegen die Wirbelsäule voll¬ 
kommen vermeidet. 

Auf Grund meiner bisherigen Beobach¬ 
tungen, die, wie schon oben erwähnt, sich 
über eine Reihe von Jahren erstrecken, 
glaube ich in dem beschriebenen Tornister 
ein ebenso einfaches wie wirksames Pro- 
phylaktikum gegen die durch vieles Sitzen 
während des Schulunterrichts hervor¬ 
gerufenen Haltungsanomalien gefunden zu 
haben. 


Aus der inneren Abteilung des Auguste Viktoria-Krankenhauses in Schöneberg. 

(Direktor: Dr. Huber.) 

Bemerkungen zur Behandlung des akuten Harnröhrentrippers 

des Mannes. 

Von Dr. Bruno Glaserfeld, Arzt in Berlin-Schöneberg. 


Daß die akute Gonorrhoe des Mannes 
nur durch eine lokale Therapie zur voll¬ 
kommenen Heilung gebracht werden kann, 
wird wohl von fast allen Aerzten anerkannt. 
Es gibt ja sicher vereinzelte Fälle, die ohne 


Lokalbehandlung mit diätetischen Ma߬ 
nahmen und Bettruhe zur Ausheilung kom¬ 
men; sie sind aber überwiegend in der 
Minderzahl und bei den meisten dieser 
nicht lokal in Angriff genommenen Gono- 


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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


August 


rrhöen handelt es sich um Scheinheilungen, 
d. h. kurze Zeit nach der sogenannten Hei¬ 
lung tritt wieder Ausfluß auf, oder die be¬ 
treffenden Urethritiden waren nicht spezi¬ 
fischer Natur. Es ist daher meiner An¬ 
sicht nach bei jedem Tripper ein dringend 
notwendiges Erfordernis, kurz nach Auf¬ 
hören der allerersten entzündlichen Er¬ 
scheinungen eine sachgemäße Injektionskur 
mit einem der neueren Silberpräparate ein¬ 
zuleiten. Daß diese Kur trotzdem oftmals 
nicht zum gewünschten Ziel führt, liegt fast 
nur an der unrichtigen Ausführung des 
Spritzens durch den Patienten. Hat der 
Arzt dem Patienten die genauen Vorschriften 
für die Technik des Spritzens gegeben, so 
hat er, wenn er gewissenhaft und zum 
Nutzen des Patienten handeln will, die 
Pflicht, bald nach der Verordnung den 
Patienten selbst während der Injektion zu 
kontrollieren. Wer sich diese kleine Mühe 
öfters macht, der wird die unglaublichsten 
Fehler beim Spritzen des Patienten sehen 
und erkennen, warum die Injektionskur bei 
dem betreffenden Patienten bisher erfolglos 
verlief. Die Art und Weise, wie gespritzt 
werden soll, und die Fehler bei der Aus¬ 
führung hier näher zu besprechen, halte 
ich für unnötig, da ich diese als bekannt 
voraussetze; erwähnen will ich nur, daß 
die Aseptik meist eine höchst mangelhafte 
ist. Mir kommt es nur darauf an, darauf hin¬ 
zuweisen, daß der Arzt sich injedem ein¬ 
zelnen Falle von der richtigen Aus¬ 
führung der Spritzkur durch eigene 
Kontrolle überzeugt. Er wird dann sehen, 
daß manch ein Patient zu den beim Spritzen 
notwendigen Manipulationen zu ungeschickt 
ist und trotz nötiger Belehrung es nicht 
lernt, oder daß andere sich bei weitem 
nicht genügend Zeit zum Spritzen nehmen, 
ln solchen Fällen sind durch die Injektions¬ 
kur gute Resultate nur zu erzielen, wenn 
man sie durch einen zuverlässigen 
geprüften Wärter ausführen läßt oder 
persönlich das Spritzen stets überwacht. 
Die hierdurch entstehenden Mehrkosten bei 
der Behandlung spielen für die wohlhabende 
Bevölkerung keine große Rolle; die Kranken¬ 
kassen . werden den Kassenpatienten die 
Mehrausgabe, die ja den Etat nicht allzu 
sehr belastet, vielleicht gern bewilligen, 
wenn sie erfahren, daß sich durch diese 
Maßnahme das Heer der chronisch Tripper¬ 
kranken, welche bekanntlich den Kassen 
sehr zur Last fallen, vermieden wird. 

Zu jeder Tripperbehandlung gehört in 
den ersten 8—10 Tagen Bettruhe. Diese 
selbstverständliche Verordnung wird leider 
nicht überall durchgeführt: einmal liegt 


dies an dem Unverstand der Laien, dann 
aber auch an dem Umstande, daß diese 
Forderung noch nicht Allgemeingut der 
Aerzte geworden ist Ja, verordnen die 
Aerzte nicht bei eitrigen Katarrhen anderer 
Schleimhäute für gewöhnlich strenge körper¬ 
liche Ruhe? Warum soll der eitrige Ka¬ 
tarrh der Schleimhaut des Genitalapparates 
des Mannes eine Ausnahme bilden? Bett¬ 
ruhe zu Beginn des Trippers verkürzt die 
Tripperbehandlung erheblich und schützt 
vor dem Auftreten von Komplikationen. 
Daß die Verordnung der Bettruhe oftmals 
auf Schwierigkeiten von seiten der Patien¬ 
ten stößt, gebe ich vollauf zu; diese 
Schwierigkeiten sind insbesondere durch 
Wohnungsverhältnisse oder Familienrück¬ 
sichten veranlaßt. Mit letzteren müssen wir 
Aerzte sehr rechnen. Da es aus mannig¬ 
faltigen Gründen meist nicht angängig ist, 
den tripperkranken jungen Mann in der 
Behausung mit Bettruhe zu behandeln, so 
müssen wir ihm diese durch Aufnahme in 
eine Krankenanstalt verschaffen. Heutzu¬ 
tage bestehen ja glücklicherweise nicht 
mehr die Schwierigkeiten wie vor 15 bis 
20 Jahren, wo es fast unmöglich war, die 
Aufnahme eines Tripperkranken in ein 
Krankenhaus zu bewerkstelligen: so sind 
jetzt in Groß-Berlin allein im Ostkranken¬ 
haus, im Rudolf-Virchow-, Charlottenburger 
und Schöneberger Krankenhaus u. a. m. 
zahlreiche Betten für Geschlechtskranke 
reserviert. Und die wohlhabendere Bevölke¬ 
rung kann in Groß-Berlin mit Leichtigkeit 
in den zahllosen Sanatorien oder Kliniken 
Aufnahme finden. 

Seit langer Zeit wird die lokale Behand¬ 
lung des Trippers durch eine interne medi¬ 
kamentöse unterstützt; was kann man über¬ 
haupt von einer inneren Behandlung ver¬ 
langen und erwarten? Es ist mit un¬ 
seren heutigen inneren Mitteln 1 ) un¬ 
möglich, Gonokokken abzutöten; wir 
müssen den Worten Schwersenskis 2 ) 
absolut beistimmen: „Wenn man behauptet, 
daß ein internes Mittel Gonokokken tötet, 
so wird diese Wirkung ihm angedichtet/ 

Ein inneres Mittel, das für die Gonorrhöe 
von Wert sein soll, muß folgende Eigen¬ 
schaften haben: 1. entzündungswidrig, 
2. sekretionsbefördernd wirken, 3. durch 
Niere und Blase ausgeschieden werden, 
4. keine unangenehmen Nebenerscheinungen 


l ) Ich sehe hier von dem Gonovaccin ab, da mir 
Erfahrungen über dasselbe fehlen; vielleicht bedeutet 
die EintQhrung dieses Mittels eine neue Etappe in 
der Tripperbehandlung. 

a j Schwersensky, Allosan, Berl. klin. Woch. 
. 1908, Nr. 43. 


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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


355 


machen. Die gebräuchlichsten Mittel, die 
bisher in solchen Fällen angewandt wurden, 
waren pharmakologische Körper, welche 
zü den Balsamen gehören; als Haupt¬ 
repräsentanten fungieren das Baisamum 
Copatvae, Cubebae und Oleum Santali. Daß 
diese Mittel, deren günstige Wirkung 
pharmakologisch noch gar nicht erklärt ist, 
den soeben aufgestellten Forderungen nahe¬ 
kommen, ist aus ihrer weiten Verbreitung 
sichergestellt. Leider besitzen sie sämtlich 
unangenehme Nebenerscheinungen, insbe¬ 
sondere auf den Verdauungstraktus und 
die Nieren, so daß man öfters von ihrer 
Anwendung Abstand nehmen muß und zu 
anderen pharmakologischen Präparaten 
greift, die zwar nicht alle Eigenschaften 
der Balsame besitzen, äber doch ähnliche 
Wirkungen enthalten: nämlich Salol, Uro¬ 
tropin usw. 

Es ist daher als ein Fortschritt in der 
internen Gonorrhöebehandlungzu begrüßen, 
daß wir seit kurzem ein neues Balsamprä¬ 
parat im Handel haben, welches die Vor¬ 
teile der Balsame ohne ihre lästigen Neben¬ 
wirkungen aufweist; ich meine das Allo- 
san, den Allophansäureester des Santalol. 
Die chemische Konstitution glaube ich hier 
übergehen zu dürfen und verweise auf die 
Arbeiten von Regenspurgerund 
Schwersenski 2 ). Das Allosan hat den 
Vorzug, ein fester Körper zu sein und 
kommt in Tablettenform zu 0,5 g in der 
üblichen Glasröhrenverpackung in den 
Handel. Angeregt durch die günstig lau¬ 
tenden Veröffentlichungen der soeben ge¬ 
nannten Autoren sowie von O’Brien 3 ), 
Cracken 4 ), Pritchard 5 ) u. a. m. habe ich 
während meiner Assistentenzeit Versuche 
mit dem Allosan auf der Abteilung für 
geschlechtskranke Männer des Schöne- 
berger Krankenhauses gemacht; diese 
Versuche wurden nach meinem Abgang 
aus dem Krankenhause daselbst fortge¬ 
setzt, ich hatte ferner Gelegenheit, in der 
Privatpraxis Allosan zu verordnen, sodaß 
ich hier über die Wirkung des Allosans in 
zirka 150 Fällen berichten kann. Es wurden 
gewöhnlich dreimal täglich je 2 Tabletten 
gegeben; die Patienten scheuten sich nie, 
das Präparat zu nehmen und nahmen es 
auch in der Tat — letzteres betone ich 
ausdrücklich, da ich früher häufig die Be¬ 
obachtung gemacht habe, daß die Patienten 

*) Regenspurger, Medizinische Klinik 1908, 
Nr. 3. 

2 ) Schwersenski, 1. c. 

*) O’Brien, The Therapist 1909, Nr. 3. 

4 ) Cracken, Medical Press and Circular 1909, 
Nr. 3625. 

5 ) Pritchard, The Therapist 1909, Nr. 10. 


die schlecht schmeckenden oder in Kapseln 
gegebenen Balsame wegwarfen, da der 
Ekel, diese Präparate zu nehmen, unüber¬ 
windlich war, und dem Arzt nachher vor¬ 
redeten, sie hätten die Kapseln genommen. 
Das Allosan ist ein fast geschmackloses 
Präparat, reizt nicht im geringsten den 
Verdauungstraktus; genaue Urinunter¬ 
suchungen zeigten in meinen Fällen, daß 
keinmal irgendwelche Nierenreizung, ins¬ 
besondere Albuminurie, durch Allosan ent¬ 
stand. Es macht sich in der Exspirations¬ 
luft nicht unangenehm bemerkbar — ein 
sehr wesentlicher Faktor, welcher leider 
bei anderen balsamischen Mitteln nicht zu¬ 
trifft. 

Wir sehen somit, daß das Allosan frei 
von allen den Nebenwirkungen ist, welche 
wir bisher bei der Verordnung von Balsam¬ 
präparaten kannten. Diese Eigenschaft 
halte ich für den hauptsächlichen Vorzug 
des Allosans. Im übrigen deckte sich seine 
Wirkung beim akuten Tripper mit der der 
übrigen Balsame. Die Schmerzen gingen 
stets bei unserer Behandlung, die sich aus 
Bettruhe, blander Diät, Protargolinjektionen, 
und AUosandarreichung zusammensetzte, 
prompt zurück, der dicke Ausfluß macht 
bald dünnflüssigem Sekret Platz, das eben¬ 
falls schnell verschwand. Ich bin weit da¬ 
von entfernt zu sagen, daß in unseren 
Fällen durch Allosan eine Beschleunigung 
des Heilungsverlaufes eingetreten ist; ftlr 
gewöhnlich dauerte die Heilung 4-5 Wochen. 
Allosan ist ferner natürlich nicht imstande, 
Komplikationen des Trippers hintanzuhalten; 
daß wir im Schöneberger Krankenhause 
letztere sehr wenig auf treten sehen, schiebe 
ich vielmehr auf die Bettruhe und die sach¬ 
gemäßen Injektionen. 

Statistiken und Krankengeschichten hier 
zu geben, halte ich für inopportun: damit 
ist bei der Beurteilung eines die 
Hauptbehandlung nur unterstützen¬ 
den therapeutischen Mittels nichts 
bewiesen. Wer will denn, selbst wenn 
ich herausbekommen würde, daß in meinen 
Fällen der Ausfluß schneller zurückging 
oder die Schmerzen eher verschwanden 
oder die Behandlungsdauer eine kürzere 
war als in anderen, beweisen, daß diese 
Besserungen nur eine Wirkung des Allo¬ 
sans waren? Ich halte unsere recht gün¬ 
stigen Heilerfolge für eine Wirkung sämt¬ 
licher von uns herangezogenen therapeu¬ 
tischen Maßnahmen. — Alles in allem ge¬ 
nommen, glaube ich ein Recht zu haben, 
das Allosan für die Praxis in der Gonorrhoe¬ 
behandlung zu empfehlen, da es die Wir- 
| kung eines guten Balsams hat, ohne die 

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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


August 


unangenehmen Nebenerscheinungen der 
Balsame zu zeigen. 

Das Allosan wurde fast ausschließlich 
bei der Gonorrhoea acuta anterior gegeben. 
Bei der Gonorrhoea acuta posterior sind 
wir von der bei uns stets sehr bewährten 
Medikation des Bärentraubentees und Uro¬ 
tropins nicht abgegangen, da hierzu kein 
genügender Grund vorliegt und wir eben 
mit den Erfolgen des Urotropins sehr zu¬ 
frieden waren. Die direkte Behandlung 
der hinteren Harnröhre bestand in Irriga¬ 
tionen von schwacher Höllensteinlösung 
mit dem Ultzmannschen Katheter; für ge¬ 
wöhnlich waren nach 5—7 Spülungen so¬ 
wohl die subjektiven Beschwerden ver¬ 
schwunden, als auch der objektive Befund 
ein guter. Kommt man durch diese Lokal¬ 
behandlung nicht gut vorwärts, so ist in 
solchen Fällen die Endoskopie der gesam¬ 
ten Harnröhre die wesentlichste Forderung, 
ohne welche jede weitere Tripperbehand¬ 
lung unmöglich ist; wozu im Dunklen tappen, 
wenn wir mit unseren modernen Instru¬ 
menten den Krankheitsherd einwandfrei 
auflinden und streng lokalisiert in thera¬ 


peutischen Angriff nehmen können? Leider 
ist die Kenntnis von dem Nutzen der En¬ 
doskopie bisher nicht in alle Kreise der 
praktischen Aerzte gedrungen, so daß noch 
viele Patienten die Vorteile dieser Unter¬ 
suchungsmethode entbehren müssen. Erst 
durch Allgemeineinführung der Endoskopie 
bei den über 5—6 Wochen dauernden 
akuten Entzündungen der vorderen und 
hinteren Harnröhre wird es uns in der 
Mehrzahl der Fälle gelingen, den Ueber- 
gang eines akuten Trippers in das chro¬ 
nische Stadium zu verhindern. Es ist daher 
Pflicht darauf hinzuweisen, daß von der 
Endoskopie in jedem zweifelhaften Fall Ge¬ 
brauch gemacht wird. 

Die Behandlung der bei der Urethro- 
skopie gefundenen Infiltrate besteht in 
Aetzungen und Dehnungen mit dem Ko 11- 
mannsehen Dilatator; ich will jedoch nicht 
näher auf diese bekannten Einzelheiten 
eingehen. Mir lag nur daran, hier die bei 
der Tripperbehandlung für den Allgemein¬ 
praktiker wichtigsten Punkte zu besprechen 
und unsere günstigen Erfahrungen über 
das Allosan mitzuteilen. 


Therapeutisches aus Vereinen und Kongressen. 

Ueber Tuberkulinbehandlung. 1 ) 

Von Chefarzt Dr. F. Köhler« Heilstätte Holsterhausen bei Werden. Ruhr. 


M. H.! Wenn ich im Aufträge des Vor¬ 
standes der Landesversicherungsanstalt der 
Hansestädte es übernommen habe, Ihnen 
heute in Kürze ein Referat zu erstatten 
über das Thema: „Die Tuberkulinbehand¬ 
lung“, so bin ich nach meinem Dafürhalten 
nicht in der Lage, Ihnen ein abgerundetes, 
geklärtes Bild über eine wissenschaftliche 
Frage zu liefern. Die Frage der Tuber¬ 
kulinbehandlung, ihre Zweckmäßigkeit, ihre 
Grenzen, ihre theoretischen Grundlagen 
befinden sich vielmehr noch im Flusse, und 
alleweil tauchen neue Vorschläge, neue Er¬ 
fahrungen, neue Gesichtspunkte auf, denen 
wir uns nicht entziehen dürfen, wofern wir 
nicht der wissenschaftlichen Fortbildung 
des Problems die Lebensader unterbindend, 
im positiven Dogmatismus vorbehaltlos 
stecken bleiben wollen. 

Sie werden daraus entnehmen können, 
wie sich zurzeit die Frage der Tuberkulin¬ 
behandlung im Stadium des heiß umstritte¬ 
nen Objektes befindet. Verfolgen Sie ein¬ 
gehend die Literatur über den Gegenstand, 
so werden Sie auf der einen Seite eine 


*) Referat, erstattet im Aufträge des Vorstandes 
der Landesversicherungsanstalt der Hansestädte auf 
der Konferenz derselben am 12. März 1910 zu Ham¬ 
burg. 


begeisterte Anhängerschaft der Tuberkulin¬ 
behandlung finden, aus deren Reihen ein 
„Lehrbuch der spezifischen Diagnostik und 
Therapie der Lungentuberkulose“ hervor¬ 
gegangen ist, dessen Wert ich durchaus 
nicht verkenne, Sie werden auf der an¬ 
deren Seite Vertreter einer Richtung fin¬ 
den, welche den gelegentlichen Nutzen 
der Tuberkulintherapie durchaus nicht in 
Abrede stellen, aber von dem Gesamt¬ 
effekt keineswegs genügend begeistert sind, 
um sagen zu können, daß schon etwas 
einigermaßen Vollkommenes erreicht sei. 
Unter der Zahl dieser Untersucher findet 
sich eine Reihe, welche den Gefahren, 
die mit einer Tuberkulinbehandlung ver¬ 
bunden seien, ihre besondere Aufmerksam¬ 
keit widmen, da nach ihren Erfahrungen 
in der Tat die Sache doch nicht so be¬ 
dingungslos gehandhabt werden kann, da 
die Menschen sich außerordentlich ver¬ 
schiedenartig gerade diesem ungemein 
different wirkenden Mittel gegenüber ver¬ 
halten, so daß von einer allgemeinen Ver¬ 
wendung nicht im entferntesten die Rede 
sein kann. 

Sie wissen, daß die erste Tuberkulin¬ 
ära im Jahre 1891 mit einem gewaltigen 
Fiasko abschloß. Soviel ist heute sicher. 


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August 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


357 


daß dieser Fehlschlag in erster Linie dar¬ 
auf zurückzuführen ist, daß seinerzeit mit 
zu hohen Dosen operiert worden ist und 
daß ganz naturgemäß, als die Kunde von 
einem wirksamen Tuberkuloseheilmittel die 
Welt durcheilte, sich Schwer- wie Leicht¬ 
kranke herandrängten, um auch für sich 
die frohe Botschaft nutzbringend werden 
zu lassen. Diese weitgehende Hoffnung 
ist seinerzeit nicht erfüllt worden, sie ist 
auch heute nicht erfüllt und wir wissen 
vorläufig noch nicht, ob sie jemals erfüllt 
werden wird. 

Wollte aber auch heute jemand er¬ 
klären, daß trotz alledem der Effekt der 
Tuberkulinbehandlung ein außerordentlich 
zufriedenstellender sei, so kann ich mich 
nicht etwa der häufig geäußerten Ansicht 
der Positivisten anschließen, es seien die 
enttäuschenden Erfahrungen einer falschen 
Anwendung des Tuberkulins zuzuschreiben. 
Wer sich nur einigermaßen eingehend und 
mit wissenschaftlicher Kritik an therapeu¬ 
tische Untersuchungen heranmacht, bei 
dem festigt sich allerdings gar bald eine 
wohlbegründete Einsicht und ein maßvolles 
Urteil, wofern er nicht kraft seines Tempe¬ 
ramentes sich bestimmen läßt, von vorne- 
herein dem Zug der Bejahung sich anzu¬ 
schließen und Hindernisse, Hemmungen 
und Enttäuschungen zu übersehen, wo 
solche in der Tat bestehen. „Gelehrsam¬ 
keit und Urteilsfähigkeit stehen in keinem 
notwendigen Zusammenhang“, sagt Cham- 
berlain in seinem prächtigen „Immanuel 
Kant“. 

Da dürfen auch nicht die Lehrbücher, 
sofern sie Dogmen predigen, Lehrmeister 
werden, auf deren Autorität man schwört, 
da muß vielmehr das Vertrauen auf die Rich¬ 
tigkeit des eigenen Urteils den Wegweiser 
bilden, selbst wenn hochverdiente Autori¬ 
täten sich für den positiven Standpunkt ohne 
Vorbehalt insZeug legen sollten. Denn auch 
diese können irren und unterliegen aus 
psychologischen Gründen besonders leicht 
der Tatsache, daß so gerne der Wunsch 
der Vater des Gedankens ist Gewiß, wir 
wünschen alle von Herzen, gerade unseren 
Lungenkranken so bald und so eindrin¬ 
gend wie nur möglich, zu helfen, wir wollen 
aber nicht dann schon den Zeitpunkt der 
Erfüllung des Evangeliums als gekommen 
ansehen, wenn die Zeit noch voll ist von 
Kämpfen und Unklarheiten, wenn wir nicht 
haben helfen können, wo wir helfen zu 
können hofften, wo wir Rückschläge beob¬ 
achten, die wir außerhalb des Bereiches 
der Möglichkeit wähnten, wo wir selbst 
während der Behandlung neue Schößlinge 

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emporstreben sehen, welche das in dem 
kranken Körper wuchernde Unkraut ge¬ 
trieben. 

Aus diesen Andeutungen werden Sie 
bereits die Grundlinien meines Standpunktes 
herauserkennen, den ich gegenwärtig in 
der Frage der Tuberkulinbehandlung ver¬ 
trete. 

Soll derselbe mit einem Namen belegt 
werden, so möchte ich sagen, daß ich den 
Standpunkt des vorsichtigen Skeptizismus 
vertrete, den ich mit Schröder, Meissen, 

Felix Klemperer und vielen anderen, 
besonders aber solchen Heilstättenkollegen 
vertrete, die nicht gerne durch literarische 
Veröffentlichungen hervortreten, um in den 
Kampf der Meinungen einzutreten und sich 
einer Polemik speziell mit den positiv ge¬ 
richteten, begeisterten Verehrern der Tu¬ 
berkulinbehandlung auszusetzen. Ich mache 
Sie ferner darauf aufmerksam, daß jetzt 
erst allmählich unsere Kliniker an den Uni¬ 
versitäten aus der Reserve des Urteils her¬ 
austreten, und auch hier ist eine gewisse 
Unschlüssigkeit, eine begreifliche Vorsicht 
unverkennbar. Jedenfalls steht das eine 
fest: Eine einmütige Begeisterung lassen 
unsere akademischen Lehrer bislang noch 
nicht erkennen. Zum Teil liegt das gewiß 
daran, daß gerade an den Universitäts¬ 
kliniken das Tuberkulosematerial meist zu 
schwer, zu weit fortgeschritten ist, um hier 
die Tuberkulosetherapie in erster Linie auf 
die Tuberkulinanwendung zu präzisieren, 
zum Teil liegt es aber sicher daran, daß 
die Tuberkulinwirkung keine grundsätzlich 
durchgreifende, plötzlich einsetzende ist, 
sondern höchstens eine langsam fortschrei¬ 
tende. Ja, selbst von solchen Kennern, 
welche sich der von manchen Seiten ge¬ 
äußerten, meines Erachtens übertriebenen 
Begeisterung nähern, wird hervorgehoben, 
daß die üblichen dreimonatlichen Heil¬ 
stättenkuren gar nicht genügend Zeit bieten, 
um die volle Wirksamkeit einer Tuberkulin¬ 
behandlung sich ausleben zu lassen. 

Wenn ich nunmehr ein Resumg meiner 
eigenen Erfahrungen zufflgen darf, so 
möchte ich in Kürze Ihnen einen Ueber- 
blick geben, in welchem Umfange an der 
meiner Leitung unterstehenden Heilstätte 
Holsterhausen bei Werden an der Ruhr 
mit Tuberkulin gearbeitet worden ist. Mit 
Alttuberkulin Koch sind bisher 1 ) 134 Per¬ 
sonen behandelt worden mit 2026 Spritzen, 
mit der Kochschen Bazillenemulsion 14Per¬ 
sonen mit 75 Spritzen, mit dem Cal mette¬ 
schen Tuberkulin 65 Personen mit 578 
Spritzen, m it JK Spengler 49 Personen 

*) Anfang M&rz 1910. 

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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


August 


mit 803 Spritzen, mit Perlsuchttuberkulin 
15 Personen mit 288 Spritzen, mit dem die 
Bazillenemulsion Koch in Kapseln enthal¬ 
tenden Phthisoremid von Krause 49 Per¬ 
sonen mit 5485 Kapseln, mit den Tuber¬ 
kulinpillen Freymuth 33 Personen und 
schließlich füge ich an: mit dem Serum 
Mamorek 60 Personen mit 2590 Rektal¬ 
eingießungen. 

Ich stehe nicht an, zu behaupten, daß 
dieses Material geeignet sein muß, dem 
ruhigen Beobachter genügend Unterlage 
für ein kritisches Urteil an die Hand zu 
geben. 

Ganz allgemein gesprochen, kann ich 
von den mit diesen vielfachen Mitteln er¬ 
zielten Resultaten behaupten, daß ver¬ 
blüffende Erfolge mit keinem Mittel erreicht 
worden sind. Sie werden ferner aus der 
großen Anzahl der gegenwärtig vorhande¬ 
nen Tuberkuline entnehmen, daß immer wie¬ 
der nach Neuem und Verbessertem gesucht 
wird, weil es Vollkommenes und Vollbefrie¬ 
digendes noch nicht gibt. Ich habe gewiß 
in manchen Fällen ganz befriedigende Wir¬ 
kungen gesehen, insofern der Gesamt¬ 
zustand des Patienten sich hob, eine gute 
Gewichtszunahme erreicht wurde. Husten 
und Auswurf sich minderte, auch hier und 
da einmal Tuberkelbazillen verschwanden, 
auch wohl, daß die pathologischen Ge¬ 
räusche sich minderten, aber daß in un¬ 
verhältnismäßig günstigem Gegensätze zu 
der üblichen physikalisch-diätetischen Be¬ 
handlung eine gründliche Umwälzung der 
organischen Verhältnisse geschah und ein 
Kranker mit mäßig ausgebreiteter Lungen¬ 
tuberkulose mit annähernder Sicherheit als 
ein Geheilter hätte bezeichnet werden kön¬ 
nen, das habe ich nahezu kaum ein ein¬ 
ziges Mal gesehen. 

Aber, könnte man einwenden, vielleicht 
kommt der nachhaltige Effekt der Tuber¬ 
kulintherapie erst später zur Geltung. Ich 
verschließe mich diesem Einwand keines¬ 
wegs und verfolge die Dauererfolge der 
spezifisch Behandelten, da ich alle meine 
Patienten nach 2, 4, 6, 8 Jahren usw. kon¬ 
trolliere. Ich wage aber vorläufig noch 
nicht, vergleichende Statistiken anzustellen, 
da die Zahl der spezifisch Behandelten 
noch zu gering ist. 

Jedoch hat kürzlich Schröder recht 
bemerkenswerte Mitteilungen veröffentlicht, 
welche in dieses Gebiet fallen. Dieser Ar¬ 
beit entnehme ich auch einen Ausspruch 
Finklers aus dem Jahre 1907. Er sagt: 
„Ich sah, analog wie bei belasteten Indi¬ 
viduen, plötzliche Ausbrüche akuter Ver¬ 
schlimmerung einer latenten Tuberkulose 

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und rapiden Verlauf ad exitum bei Tuber- 
kulinisierten und zwar häufiger, wie ich 
sonst ohne spezifische Therapie zu beob¬ 
achten pflegte/ Demgegenüber meint Lö¬ 
wenstein, daß Rezidive zu den Selten¬ 
heiten gehören und glaubt, daß, wo sie 
Vorkommen, sich das tuberkulöse Gewebe 
nicht genügend ausgestoßen habe. In sol¬ 
chen Fällen solle man den Hustenreiz 
steigern. 

Mit vollem Recht hält Schröder diesen 
Rat für gefährlich. Er erblickt in den viel¬ 
leicht durch zu hohe Tuberkulindosen an¬ 
geregten Einschmelzungen eine hohe Ge¬ 
fahr für den Kranken und die Ursache für 
die schweren Rezidive und akuten Aus¬ 
breitungen des tuberkulösen Prozesses, die 
Schröder in den letzten Jahren bei einer 
Reihe von Tuberkulösen beobachtete. Es 
handelt sich um 25 Fälle, die sämtlich von 
gewissenhaften Tuberkulintherapeuten in 
sprungweisem Vorgehen zum größten Teile 
bis zu hohen Dosen ohne wesentliche 
Reaktionen lege actis immunisiert und 
wesentlich gebessert, zum Teil geheilt ent¬ 
lassen waren. Nicht lange nach beendeter 
Tuberkulinkur traten schwere Rezidive und 
Ausbreitungen der Tuberkulose ein. 

Mir selbst sind ähnliche Beobachtungen 
nicht fremd. Ich habe mehrfach bei vor¬ 
sichtigster Steigerung der Dosis von Viooo 
oder höchstens 5 /iooo mg anfangend, frische 
Herde in der Umgebung des Spitzenherdes 
und besonders auch im Unterlappen auf- 
treten sehen. Aehnliche Erfahrungen 
machte u. a. v. Müller in München,., auch 
Geißler-St. Petersburg und Pel-Amster- 
dam nach ihren Berichten auf dem Inter¬ 
nationalen medizinischen Kongreß in Buda¬ 
pest 1909. 

Und damit komme ich auf Einzelheiten, 
welche in der Tuberkulinbehandlung von 
besonderer Bedeutung sind. 

Ich halte es für eine außerordent¬ 
lich wichtige Tatsache, daß die Wirkung 
des Tuberkulins in den einzelnen 
menschlichen Organismen sehr ver¬ 
schiedenartig ist und einer unheimlich 
scheinenden Unberechenbarkeit unter¬ 
liegt. Selbst bei vorsichtigem Vorgehen 
werden wir nicht selten von plötzlich ein¬ 
setzenden heftigen Reaktionen überrascht, 
die nicht immer in wenigen Stunden ab- 
klingen. Ich habe bei vorher fieberfreien 
Patienten wochenlang auftretendes Fieber 
beobachtet. , 

Und diese Erscheinung scheint mir in 
Parallele gesetzt werden zu müssen mit 
der Tatsache, daß nicht selten völlig neue 
Gebiete, ich erinnere an Kehlkopf, Zunge, 

Original fram 

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Pie Therapie der Gegenwart 1910. 


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Kniegelenk und Darm, von Tuberkulose 
ergriffen werden können. Soll hier nicht 
das Tuberkulin den Grund abgeben, so 
muß man immerhin sagen, daß zum min¬ 
desten das Mittel, welches die Tuberkulose 
beseitigen sollte, nicht imstande gewesen 
ist, die Entstehung einer neuen Tuber- 
kuloseansiedlung zu verhindern! 

Nach Römer, Deycke und Much ist 
denn auch höchst wahrscheinlich die Wirk¬ 
samkeit der Kochschen Tuberkuline gar 
keine immunisatorische, sondern ledig¬ 
lich eine hyperämiesierende. Zu die¬ 
ser Auffassung drängt in der Tat die kli¬ 
nische Erfahrung. Kümmel berichtete am 
15. Juni im Hamburger ärztlichen Verein 
von Fällen, in denen trotz zunehmender 
Tuberkulinfestigung die Tuberkulose in 
Niere und Blase fortschritt. Auch die Tier¬ 
versuche von Pfuhl, Dönitz bis in die 
neueste Zeit sprechen gegen aktive Im- 
munisation. 

Aber vielleicht sind auch diese Dinge 
nicht so verwunderlich, wenn man daran 
denkt, daß das Tuberkulin ja überhaupt 
kein Bazillentöter, sondern ein giftparaly¬ 
sierendes Mittel ist. Darin liegt ja von 
vorneherein ausgesprochen, daß unter Um¬ 
ständen trotz aller Giftabtötung die Bazillen 
selbst völlig ungehemmt virulent bleiben 
können. Und daran ändert auch die dem 
Neutuberkulin Koch zugrunde liegende 
Tendenz nichts. Ebensowenig wird eine 
Mischinfektion irgendwie beeinflußt! 

Jedoch wäre es einseitig, wollte man 
übersehen, daß diesen geschilderten, vor¬ 
wiegend negativen Punkten Erfahrungen 
geübter Phthisiotherapeuten, ich nenne nur 
Bandelier, Röpke, Sahli, gegenüber¬ 
stehen, welche das Tuberkulin als ein recht 
brauchbares Mittel erscheinen lassen. Und 
doch welche Uneinigkeit! Ich erinnere nur 
daran, daß Röpke das Tuberkulin bei 
Kehlkopftuberkulose wirksam befand, wäh¬ 
rend Schröder schlimme Erfahrungen 
machte, Besold und Gidionsen, auch 
Clarus an den Weickerschen Heil¬ 
anstalten die völlige Wirkungslosigkeit her¬ 
vorheben ! 

Einzelne haben recht erfreuliche Er¬ 
folge beim Lupus gesehen, andere ver¬ 
mißten eine günstige Einwirkung völlig, 
oder der Erfolg hielt nicht stand, ja es 
kam zu schweren Rezidiven. Somit liegt 
wohl die Wahrheit in der Mitte, dahin 
lautend, daß in manchen Fällen recht 
wohl befriedigende Erfolge erzielt werden 
können, und dieser Erkenntnis entziehe ich 
mich, wie ich schon betont habe, nicht. 
Aber ich füge sogleich hinzu, welche Fälle 

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gerade diesen Erfolg versprechen, ist noch 
völlig unklar. Es fehlen die erforderlichen 
Kriterien! Man sage unter keinen Um¬ 
ständen, daß etwa alle beginnenden Tuber¬ 
kulosen sich dem Mittel zugänglich zeigen, 
man beobachtet vielmehr eine ganze Reihe 
auch beginnender Tuberkulosen, welche 
immer wieder eine Ueberempfindlichkeit in 
Gestalt dauernd eintretender Fiebertempe¬ 
raturen und allgemeinen Unbehagens zei¬ 
gen. Man ist sich auch heute allgemein 
darüber einig, daß besonders gern nervöse 
Tuberkulöse das Tuberkulin schlecht ver¬ 
tragen, so daß damit schon eine ganze 
Schar des uns zugehenden Tuberkulose¬ 
materiales ausscheidet. 

Ferner ist noch lange nicht darüber 
Klarheit gewonnen, welche Fälle, die nicht 
mehr in den allerersten Anfängen stehen, 
noch einem Versuche der Tuberkulinbehand¬ 
lung unterworfen werden dürfen. Jeden¬ 
falls ist bei diesen tastenden Unternehmun¬ 
gen besondere Vorsicht geboten. Das gilt 
auch von den leicht fiebernden Fällen. Ich 
habe bei solchen nur ganz vereinzelt mit 
dem Alttuberkulin eine dauernde Beseiti¬ 
gung des Fiebers erreichen können. Viel¬ 
leicht liegen die Chancen für die Bazillen¬ 
emulsion günstiger, vielleicht empfiehlt sich 
auch bei manchen Fällen ein Wechseln mit 
dem Präparat, wenn das erst angewandte 
keinen rechten Erfolg zeitigt. Jedenfalls 
aber wird von keiner Seite den Tuber¬ 
kulinen eine durchschlagende Entfiebe¬ 
rungswirkung nachgerühmt, was nicht ge¬ 
rade die Erwartungen hochzuspannen ge¬ 
eignet sein dürfte. 

Häufig ist der Einfluß des Tuberkulins 
auf den Appetit günstig, der Kranke blüht 
auf und fühlt sich subjektiv gehoben, das 
Gewicht steigt. Aber man lasse sich, wo¬ 
rauf ich bereits in einer eingehenden Ab¬ 
handlung über das Phthisoremid Krause 
hingewiesen habe, nicht dadurch bestimmen, 
nun auch einen Stillstand des Lungenpro¬ 
zesses ohne weiteres anzunehmen. Gewiß 
pflegen wir mit Recht im allgemeinen auf 
den Gesamtzustand, die Wandlungen des 
Gewichtes und den scheinbar normalen 
Ablauf der Organfunktionen besonderen 
Wert zu legen, aber zu der Stabilierung 
eines Parallelismus dieser günstigen All- 

f emeinverhältnisse mit der Besserung der 
überkulose in den Lungen selbst bietet 
die Erfahrung, welche gerade diesen sehr 
wichtigen Punkt des Zusammenhanges auf 
dem Gebiete der pathologischen Physio¬ 
logie ins Auge faßt, keine genügende 
Grundlage. Es ist keinenfalls bewiesen, 
daß ein gesteigerter Gewichtszuwachs eine 

Orig mal from 

UNIVER5ITY 0F CALIFORNIA 





360 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


August 


erhöhte Antikörperproduktion im Gefolge 
haben muß. 

Jeder Praktiker weiß, daß es in den 
Heilstätten ein Kleines ist, die Patienten in 
erheblichem Maße zunehmen zu lassen, er 
hat aber bei kritischer Beobachtung sich 
ebensowenig d6r Tatsache verschließen 
können, daß trotz aller Hebung des Ge¬ 
samtzustandes eine entsprechende Aus¬ 
heilung der Lungentuberkulose nicht in 
solchen Fällen durchweg erreicht werden 
konnte. Die Dinge liegen also so: Die 
Hebung des Gesamtzustandes ist zweifellos 
der günstigste Untergrund für eine Aus¬ 
heilung der Lungentuberkulose, aber ein 
gesetzmäßig bedingender Kausalnexus zwi¬ 
schen beiden, in dem Sinne, daß, wenn 
das eine vorhanden, das andere logisch 
folgen muß, besteht nicht. 

Aehnlich aber müssen wir auch von 
den übrigens keineswegs in den Einzel¬ 
heiten klargestellten biologischen Vor¬ 
gängen bei der Tuberkulinbehandlung 
sagen: Wenn die Wirkung des Tuber¬ 
kulins, wie man annimmt, darauf beruht, 
daß der Körper angeregt wird, Gegengifte 
zu produzieren, so ist damit keineswegs 
gesagt, daß nun nach Einverleibung des 
Tuberkulins auch jeder Körper tatsäch¬ 
lich Antikörper produzieren muß. Es be¬ 
steht hier zweifellos eine Art von Akti¬ 
vitätsgrenze des Einzelorganismus. Der 
Körper ist eben eine mit selbständigen und 
individuellen Mitteln arbeitende Größe, 
welche, trotz der Unterordnung unter all¬ 
gemeine biologische Gesetze, doch dem 
gleichen Reize gegenüber keineswegs kon- 
sonierend reagiert. Dieses Gesetz der 
individuellen Reaktion, wie ich es 
nennen möchte, macht sich ja wohl auf 
zahlreichen Gebieten der Physiologie wie 
der Pathologie geltend. Denken wir nur 
an das Nervensystem, bei dem bekanntlich 
am markantesten die individuelle Rea- 
gibilität gegenüber gleichen Reizen von 
außen hervortritt. 

So möchte ich denn auch für die Tuber¬ 
kulinbehandlung als das vornehmste Gesetz 
hinstellen, daß die Bedingungen für deren 
günstigen Erfolg an die Individualität in 
der Tat gebunden sind. Noch sind die 
Grenzen nicht scharf markiert, innerhalb 
deren die Tuberkulinbehandlung mit an¬ 
nähernder Sicherheit völligen Erfolg ver¬ 
spricht. Um so mehr aber soll es meines 
Erachtens Aufgabe der wissenschaftlich ar¬ 
beitenden Aerzte sein, diesen Dingen nach¬ 
zuspüren, um von dem Tuberkulin als 
einem unterstützenden Mittel Gebrauch 
machen zu können. 

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Sie sehen aus diesen Ausführungen, 
daß ich somit keineswegs geneigt bin, das 
Tuberkulin in der Tuberkulosetherapie bei 
Seite zu legen, wenn auch keineswegs fest¬ 
steht, ob die Lunge gerade zu den dem 
Tuberkulin zugänglichsten Organen ge¬ 
hört. 

Am meisten ermutigend sind wohl ohne 
Zweifel die Wirkungen des Tuberkulins bei 
Augenerkrankungen, so daß v. Hippels 
erste günstige Erfahrungen kaum Wider¬ 
spruch gefunden haben. Bei Nierentuber¬ 
kulose widersprechen sich die Autoren 
außerordentlich. Karo betont wiederholt 
seine günstigenErgebnisse, während F. Krä¬ 
mer bei einem Fall 7monatiger Tuberkulin¬ 
behandlung in der späterhin exstirpierten 
Niere jede Spur einer Einwirkung vermißte, 
vielmehr frische Tuberkel in der Niere 
nachweisen konnte. Aehnlich ist es Wild- 
bolz ergangen. 

Ich möchte Ihnen empfehlen, an der 
wissenschaftlichen Erforschung des Pro¬ 
blems mitzuarbeiten und diesem Zwecke 
auch die Volksheilstätten zu öffnen, die 
meines Erachtens nicht nur berufen sind, 
sich auf die gesicherten Behandlungs¬ 
methoden zu beschränken, sondern mitzu¬ 
arbeiten an der Klarstellung wissenschaft¬ 
licher Forschungsobjekte, damit die Förde¬ 
rung unserer Erkenntnis weiterhin unseren 
anvertrauten Kranken möglichst bald zu¬ 
gute kommt. 

Eine besondere Vorsicht in diesen Dingen 
brauche ich wohl allen denen, welche an 
den Anstalten wirken, nicht nochmals be¬ 
sonders ans Herz zu legen. Sie wird ohne 
weiteres allen denen zu eigen, welche sich 
einen offenen Blick für die Gefahren und 
insbesondere auch für das individuelle 
Prinzip in aller Therapie bewahren, wie es 
dem kritischen, gewissenhaften Arzte ge¬ 
ziemt. Noch stehen wir in der Frage der 
Tuberkulinbehandlung in zahlreichen un¬ 
gelösten Streitfragen. Ich erinnere nur • 
kurz daran, daß es noch keineswegs sicher 
ist, ob die nach der Empfehlung von Ro¬ 
bert Koch, von Bandelier und Röpke 
häufig angestrebte Hoch-Immunisierung 
wirklich den zweckmäßigen Modus der Tu¬ 
berkulinanwendung bedeutet, ob nicht die 
von Nourney und namentlich neuerdings 
von Schweder, auch von Benge und 
Koranyi, ebenso von mir selbst bevor¬ 
zugte Anwendung kleiner Tuberkulindosen 
die mannigfachen unbefriedigenden Mo¬ 
mente zu beseitigen geeignet ist. Die mit 
kleinen Dosen arbeitenden Untersucher 
sehen gerade in der Ueberempfindlichkeit 
ein Mittel, um die Autoiromunisation nicht 

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August 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


361 


herabzusetzen. Der Gegensatz dieser Me¬ 
thode zu der von Löwenstein empfohle¬ 
nen der zielbewußten Steigerung trotz star¬ 
ker Allgemeinreaktionen ist evident. Sollten 
wir aber gerade nicht mit der letzteren 
wieder in die Fehler der ersten Tuber¬ 
kulinära verfallen? 

Nach Rdnon und nach Küß dient auch 
in Frankreich, ebenso wie in England und 
Amerika, das Tuberkulin fast ausschlie߬ 
lich in kleinster Dosis als Unterstützungs¬ 
mittel einer strengen hygienisch-diätetischen 
Behandlung. Diese Dinge harren noch der 
kritischen Bearbeitung. 

Das aber soll gegenwärtig in den Heil¬ 
stätten entschieden werden, und darum 


möchte ich allen denjenigen Stellen, wel¬ 
chen die Aufsicht über die Heilstätten ob¬ 
liegt, empfehlen, ihre Aerzte an dem Tu¬ 
berkulinproblem arbeiten zu lassen. Ob 
die Tuberkulinbehandlung die Zahl der 
Dauererfolge der Heilstättenkuren wesent¬ 
lich steigert, ist noch keineswegs sicher. 
Wie dem auch sei, ich meine: das Fest¬ 
halten an dem Grundsätze, daß nur weit¬ 
gehend studierte und kritisch gehandhabte 
Arbeit zu einer gefestigten Wissenschaft 
und zu einem praktischen Erfolge führen 
kann, muß auch in der Frage der Tuber¬ 
kulinbehandlung der Leitstern des Arztes 
wie die Maxime der die Heilstätten ver¬ 
waltenden Obrigkeiten sein! 


Therapeutisches von der Versammlung sQdwestdeutscher 
Neurologen und Irrenärzte in Baden-Baden. 

Bericht von Dr. Lilienstein, Arzt für innere und Nervenkrankheiten, Bad Nauheim. 


Im Vordergrund der Verhandlungen 
standen Vorträge der deskriptiven Patho¬ 
logie; so berichtete 

Erb (Heidelberg) über einige Fälle von 
akuter Arterienerkrankung 1 (Arteriitis ob- 
literans?), die zu dem bisher anscheinend 
noch nicht beschriebenen akuten Einsetzen 
des intermittierenden Hinkens führte. 

Schönborn (Heidelberg) stellte einen 
Mann mit eigenartiger Myopathie vor. 

Bumke und Kehrer (Freiburg) teilen 
die Ergebnisse plethysmographischer Unter¬ 
suchungen bei Geisteskranken, Kohnstamm 
und Hindelang (Königstein) anatomische 
Untersuchungen am Nucleus intermedius 
sensibilis mit. 

Großes Interesse erweckte das Referat 
vonEwald (Straßburg) überden Schwindel, 
an das sich eine lebhafte Diskussion schloß. 
Es hat den Anschein, als ob die Unter¬ 
suchung auf Schwindel bezw. Drehnystag¬ 
mus und kalorischen Nystagmus (Barany) 
immer mehr Bedeutung für die Diagnostik 
gewinnt. Auch die Vorträge von Rosen- 
feld (Straßburg) und Barany (Wien) be¬ 
handelten dieses Gebiet. 

Rosenfeld konnte z. B. durch die Prü¬ 
fung auf Drehnystagmus epileptische An¬ 
fälle von hysterischen unterscheiden und 
fand typische Veränderungen desselben bei 
multipler Sklerose und bei Hirntumoren. 

Auch Bartels (Straßburg) demonstrierte 
Drehnystagmus, der bei einem Kaninchen 
in typischer Weise zu beobachten war, 
dessen Akustikus vor einem Jahr experi¬ 
mentell durchschnitten worden war. Er 
wies auf den Zusammenhang zwischen 
Augenmuskellähmungen und Erkrankungen 
des Ohrlabyrinths hin. 

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Barany (Wien) selbst erörterte die 
physiologische Bedeutung des von ihm be¬ 
schriebenen kalorischen Nystagmus und 
demonstrierte einen neuen Versuch zur Prü¬ 
fung vestibulärer Innervationsstörungen. 
Derselbe besteht darin, daß man die Ver¬ 
suchsperson einen vorgehaltenen Gegen¬ 
stand, z. B. einen Finger des Experimen¬ 
tators, mit dem Zeigefinger berühren läßt. 
Dann zieht die Versuchsperson den Finger 
zurück und versucht bei geschlossenen 
Augen den Finger des Experimentators 
wieder zu berühren. Das gelingt immer, 
auch bei ungeübten und ungebildeten Per¬ 
sonen. Erzeugt man nun einen vestibulären 
Nystagmus, etwa z. B. durch 10maliges 
Umdrehen um die vertikale Achse, so 
wird vorbeigezeigt und zwar stets in 
der entgegengesetzten Richtung des Ny¬ 
stagmus. 

Edinger (Frankfurt) berichtet über ver¬ 
gleichend anatomische Untersuchungen des 
Zerebellums, das (ähnlich wie das Gro߬ 
hirn) entwicklungsgeschichtlich zerfällt, und 
zwar in das Paläozerebellum (= nahezu 
identisch mit dem Wurm und der Flocke 
der Säuger) und das Neozerebellum. 

Ohne Diskussion wurde der Vortrag von 
Hoche (Straßburg): eine psychische Epi¬ 
demie unter Aerzten erledigt, der sich 
mit dem aktuellen Thema der Freud sehen 
Psychoanalyse beschäftigte: „Der Begriff der 
psychischen Epidemie umfaßt, wenn von 
den eigentlichen krankhaften Vorgängen ab¬ 
gesehen wird, auch die Uebertragung be¬ 
sonderer Vorstellungen von zwingender 
Kraft in eine Anzahl von Köpfen mit der 
Wirkung des Verlustes des eigenen Urteils 
und der Besonnenheit. In diesem Sinne 

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362 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


.August 


gehört zu den psychischen Epidemien die 
eigentümliche ärztliche Taumelbewegung, 
die sich an die Namen Freud und die 
Methode der sogenannten Psychoanalyse 
anschließt. Fachgenossen gegenüber be¬ 
darf es keiner näheren Auseinandersetzung 
über das Wesen der Anschauungen von 
Freud und seinen Anhängern. In sach¬ 
licher Hinsicht darf die ganze Bewegung, 
was die wissenschaftliche Seite derselben 
anbetrifft, wohl als erledigt gelten. Die 
zurzeit daran Beteiligten werden allerdings 
von der Bedenklichkeit des Weges, den 
sie gehen, nicht überzeugt werden. Die 
Freud sehe Methode ist nicht nur für die 
Patienten bedenklich, sondern zweifellos in 
der Art, wie fanatische Anhänger sie zur¬ 
zeit ausüben, auch für die Neuropathologie 
kompromittierend und wir können nicht 
energisch genug von der vielerorts be¬ 
liebten und geübten Art des Betriebes ab¬ 
rücken. Es handelt sich dabei nicht um 
eine „Schule* in wissenschaftlichem Sinne, 
sondern um eine Art von Sekte, nicht um 
beweisbare und prüfbare Tatsachen, son¬ 
dern um Glaubenssätze. Die Sekte zeigt 
alle Merkmale, wie sie derartigen geistigen 
Bewegungen eigen ist: die fanatische Ueber- 
zeugtheit, die harte Unduldsamkeit gegen 
Andersgläubige mit Neigung zur Beschimp¬ 
fung derselben, die hohe Verehrung für 
den Meister mit der Bereitwilligkeit, auch 
die ungeheuerlichsten Zumutungen in in¬ 
tellektueller Beziehung zu schlucken, die 
phantastische L'eberschätzung des bereits 
Erreichten und des auf dem Boden der 
Sekte Erreichbaren. Die Frage, wie die 
ganze Bewegung möglich ist, ist nicht ohne 
Interesse. Eine der negativen Voraus¬ 
setzungen war der durchschnittliche Mangel 
an historischem Sinn und philosophischer 
Schulung bei den Anhängern; eine andere, 
die durchschnittliche Trostlosigkeit der 
Therapie der Nervenkrankheiten, bei wel¬ 
chen jetzt sowohl die arzneiliche wie die 
physikalische Heilmethode, nachdem die¬ 
selben ihre suggestive Wirkung eingebüßt 
haben, versagen. Für die Erfolge der 
Freudschen Methode, die charakteristi¬ 
scherweise wiederum bei der Hysterie am 
deutlichsten sind, bedarf es zur Erklärung 
keiner spezifischen Heilwirkung der Psycho¬ 
analyse. Die Erfolge werden der eindring¬ 
lichen Wirkung des intensiven Befassens 
mit den Patienten, dem großen Aufwand 
an Zeit von Seiten des Arztes usw. in 
erster Linie verdankt. Auch das entspricht 
dem Wesen der Sekte, daß nur die gläu¬ 
bigen Jünger Erfolge haben, nur die gläu¬ 
bigen Jünger mitreden dürfen. Es ist zu 


hoffen, daß die ganze Bewegung bald end¬ 
gültig abflauen wird. Die Hauptbereiche¬ 
rung wird die Geschichte der Medizin da¬ 
vontragen, die eine merkwürdige psychische 
Epidemie unter Aerzten in ihren Blättern 
zu verzeichnen haben wird.“ (Ausführliche 
Veröff entlichung in der medizinischen Klinik.) 
(Autoreferat) 

Herr Straub (Freiburg i. Br.): Ueber 
experimentelle chronische Bleiver¬ 
giftung* Vortragender erzielte an Katzen 
durch einmalige subkutane Applikation 
von etwa 0,2 g eines sehr schwer lös¬ 
lichen Bleisalzes eine chronische, im Laufe 
von 7—10 Wochen tödlich endende Ver¬ 
giftung mit zentral*nervösen Symptomen, 
beginnend mit Sensibilitätsstörungen, 
Ataxie, sich steigernd zu Extremitäten¬ 
lähmungen und dem klinischen Bilde 
der multiplen Sklerose und stets en¬ 
digend als Bulbärparalyse. Während die 
meisten Erscheinungen funktionell ver¬ 
laufen, bot die terminale Bulbärparalyse 
bei geeigneten Versuchsbedingungen ana¬ 
tomische Unterlagen, nämlich Degenera¬ 
tionen desGollschen und Burdachschen 
Stranges, des Glossopharyngeus-Vagus- 
kernes und des Nucleus ambiguus, kennt¬ 
lich durch den Untergang der nervösen 
Bestandteile und Auftreten von reichlichen 
Fettkörnchenzellen. (Mikroskopisch von Pro¬ 
fessor A s c h o ff untersucht.) Die chemische 
Bilanzierung der aus dem Bleidepot zur 
Herbeiführung solcher Wirkungen entnom¬ 
menen Mengen ergab, daß es sich um 
wenige Milligramme (ca. 20 mg) handelt, 
die aber in keinem Organ der Tiere wieder¬ 
gefunden wurden — insbesondere ist das 
Organ der Wirkung, das Gehirn und 
Rückenmark bleifrei. Die Gesamtmenge 
wurde vielmehr im Laufe der Zeit aus¬ 
geschieden. Die chronische Vergiftung 
kommt also nicht wie die akute durch Sum¬ 
mation von Giftmengen im empfindlichen 
Organ zustande, sondern durch Summation 
von Minimumeffekten, die das lange Zeit 
in einem Bleistrom von gewisser Dichte 
lebende empfindliche Organ erleidet. Diese 
Stromdichte läßt sich messen, denn da pro 
Sekunde etwa 8 Milliontel Milligramm das 
Tier passierten, dürfte dieses etwa eine 
jeweilige Bleikonzentration von 1 :200 Mil¬ 
lionen dargestellt haben. 

Ein eigenartiges Symptomenbild bei 
Hysterischen beschrieb Schütz (Wies¬ 
baden), nämlich schweren Colonsp&smus, 
bei dem die Operation (Laparotomie) nur 
durch einen Zufall unterblieb. Die recht¬ 
zeitige richtige Diagnose wurde durch eine 
Röntgenaufnahme ermöglicht. 


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Gck gle 


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August 


Die Therapie der Gegenwart 191Q. 


363 


Pfersdorf (Straßburg) hat stuporöse 
Geisteszustände durch Assoziationsver¬ 
suche analysiert und teilt dieselben je 
nach ihrer Reaktion in verschiedene 
Gruppen ein. 

Mit der neuen Alzheimer sehen Unter- 
suchungsmethode (der Abbauprodukte im 
Nervensystem) hat Spielmeyer (Freiburg) 
Fälle von Paralysis agitans untersucht 
und entsprechende Veränderungen im 
Rückenmark — als Teilerscheinung einer 
diffusen Erkrankung nachgewiesen. Alz¬ 
heimer selbst beschreibt Untersuchungen, 
die er mit derselben Methode bei der 
Degeneration und Regeneration peripherer 
Nervenfasern vorgenommen hat. Wichtig 
ist das Ergebnis, daß sich mit dieser 
Methode nachweisen ließ, daß der Achsen¬ 
zylinder sich durch Auswachsen von 
Seitensprossen aus dem zentralen Stumpf 
regeneriert und daß die Schwannsche 
Zelle sich biologisch wie eine Gliazelle im 
Zentralnervensystem verhält. 

Becker (Baden-Baden) weist auf die 
biologische Zusammengehörigkeit der Re¬ 
flexe hin, die bei Störung der Verbindung 
zwischen Gehirn und Rückenmark auftreten. 
(Westphal-, Remak-, Schäfer-, Ba¬ 
binsky-, Oppenheim-Bechterer- und 
Mendel-Reflex.) 

Mit der Alzheimerschen Methode hat 


Oppenheim (Frankfurt) auch multiple 
Sklerose in Frühstadien untersucht. 

Einen Fall von akqter absteigender 
(L an dry scher) Paralyse beschreibt Sie gm. 
Auerbach (Frankfurt a. M.). 

Die Vorträge von Jacob (München): 
Traumatische Veränderungen am Zentral¬ 
nervensystem, Weygandt (Hamburg): Pa¬ 
ranoiafrage und Gierlich (Wiesbaden): 
Tuberkel im Hirnschenkel, boten ausschlie߬ 
lich neurologisches Interesse. 

In einem Fall von Lues cerebrospinalis 
konnte Straßmann (Heidelberg) die Spiro- 
chaeta pallida im Gewebe des Zentral¬ 
nervensystems nachweisen. 

Wittermann (Rufach) hat das Kranken¬ 
material einer großen Pflegeanstalt zur 
„retrospektiven Diagnostik* verwandt, Ka- 
tamnesen erhoben und dadurch bei ein¬ 
zelnen Krankheitsbildern, besonders bei der 
Dementia praecox, typische Merkmale des 
Verblödungsstadiums gewonnen. 

Es wurde beschlossen, die Versammlung 
im nächsten Jahr wieder in Baden-Baden 
abzuhalten. Geschäftsführer:D. Gerhardt 
(Basel) und L Laquer (Frankfurt a. M ). 

Als Referatthema wurden die organi¬ 
schen Grundlagen der Altersverän¬ 
derungen im Nervensystem au £ die 
Tagesordnung gesetzt. Spielmeyer (Frei¬ 
burg) wurde als Referent ernannt. 


Bücherbesprechungen 


E. Poulsson. Lehrbuch der Pharma¬ 
kologie. Für Aerzte und Studierende. 
Deutsche Originalausgabe besorgt von 
Dr. med. Fr. Leskien. Mit einer Ein¬ 
führung von Walter Straub. Mit 8 Fi¬ 
guren. Leipzig 1909. S. Hirzel. 574 Seiten. 
13,80 M., geb. 15,50 M. 

Bis zum Erscheinen dieses Buches im 
vorigen Jahr fehlte es an einem Lehrbuch 
der Arzneimittellehre, das, auf den Tatsachen 
der wissenschaftlichen Forschung sich auf¬ 
bauend, die pharmakologischen Eigen¬ 
schaften der Arzneimittel darstellt, gleich¬ 
zeitig aber auch die klinisch zur Geltung 
kommenden Wirkungen eingehend genug 
beschreibt, um dem Praktiker ein Berater 
zu sein, d. h. ein Buch, in dem versucht 
wird, die von jeher und gewiß auch in 
Zukunft wechselnde Anwendung und Wert¬ 
schätzung der Arzneimittel auf den ge¬ 
sicherten Boden des Experiments zu stellen, 
wodurch allein die Wirkungen der als 
Arzneimittel Verwendung findenden Stoffe 
verstanden und der Mechanismus der Wir¬ 
kungen aufgedeckt werden kann. 

Ein solches Buch konnte bis dahin nur 

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auf den exakten Forschungen Schmiede¬ 
bergs und auf den Anschauungen seiner 
zahlreichen, auch den Verfasser in sich 
schließenden Schüler basieren, wie sie 
in dem 1909, Seite 585 besprochenen 
Grundriß Schmiedebergs niedergelegt 
sind. Poulsson stützt sich außer auf 
seine eigenen umfassenden Erfahrungen 
als Professor der Pharmakologie und Prak¬ 
tiker in Kristiania im wesentlichen auf 
Schmiedebergs genannten „klassischen“ 
Grundriß, auf Cushnys ausgezeichnetes 
Lehrbuch und auf Penzoklts Klinische 
Arzneibehandlung. 

Poulssons Buch erfüllt in glücklicher 
Weise die oben aufgestellten Bedingungen 
und bietet in geschickter Form dem Arzt 
die Ergebnisse der wissenschaftlichen For¬ 
schung als Richtschnur für sein therapeu¬ 
tisches Handeln; es darf deshalb als die 
wissenschaftliche Arzneimittellehre für den 
praktischen Arzt fast uneingeschränkt 
empfohlen werden. Geradezu mustergiltig 
sind — um nur ein Beispiel anzuführen — 
die nach der Seite der Theorie und für 
die praktischen Zwecke erschöpfend be- 

46 * 

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364 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


August 


handelten Kapitel Ober die allgemeinen 
Anästhetika, die Gruppe des Digitoxins 
(Digitalis) und viele andere. Besonders 
her vorgehoben sei, daß bei jedem Arznei¬ 
mittel die Tatsachen Ober die Aufnahme, 
Schicksale und Ausscheidung zur Beur¬ 
teilung herangezogen, und daß die zahl¬ 
reichen neueren Arzneimittel kritisch ab¬ 
geschätzt werden. 

Daß das Buch einen Ausländer zum 
Verfasser hat und in Uebersetzung vorliegt, 
macht sich in keiner Weise geltend: die 
bei uns gebräuchlichen und offizinellen 
Mittel sowie die im Deutschen Reich gel¬ 
tenden Maximaldosen sind berücksichtigt; 
die Uebersetzung von Leskien in Leipzig 
ist, dank auch der fachmännischen Durch¬ 
sicht des Textes durch den Freiburger 
Pharmakologen W. Straub, ausgezeichnet. 

E. Rost (Berlin). 

Pels-Leusden* Chirurgische Opera¬ 
tionslehre für Studierende und 
Aerzte. Berlin-Wien, 1910, Urban und 
Schwarzenberg. 728 Seiten mit 668 Ab¬ 
bildungen. In Leinen geb. 20 Mk. 

Es gehört Mut dazu, bei der großen 
Zahl chirurgischer Operationslehren, die 
schon vorhanden sind, eine neue zu 
schreiben. Aber diese Mühe ist in dem 
vorliegenden Buch reichlich belohnt. Es 
hält die Mitte zwischen den Operations¬ 
kursen und den ausführlichen Handbüchern 
für Spezialisten und ist so für Studierende 
und Nichtspezialisten vorzüglich geeignet, 
sich den Verlauf einer Operation zu ver¬ 
gegenwärtigen, wozu die klare Darstellung 
noch viel beiträgt. Da in den Lehrbüchern 
der Chirurgie über der Beschreibung der 
Krankheiten die Beschreibung der Opera¬ 
tionen vernachlässigt zu werden pflegt, die 
letztere aber nicht weniger wichtig ist, so 
ist das vorliegende Buch als willkommene 
und wertvolle Ergänzung der chirurgischen 
Lehrbücher zu betrachten. Das Buch zer¬ 
fällt in einen allgemeinen und speziellen 
Teil. Klink. 

Arthur Schlesinger» Die Praxis der 
lokalen Anästhesie. Berlin-Wien 1910, 
Urban & Schwarzenberg. 160 Seiten mit 
22 Abbildungen. Geb. 5 Mk. 

Die großen Mißerfolge der Schleie hschen 
Methoden haben die Aerzte gegen die 
Lokalanästhesie mißtrauisch gemacht. Ganz 
mit Unrecht, denn die Erfolge, die der 
jetzige Hauptverfechter der Methode, 
Braun-Zwickau, damit erzielt hat, und die 
Einfachheit der Ausführung derBraunschen 
Methode sind so in die Augen springend, 
daß das Schlesinger sehe Büchlein mit 
Freuden zu begrüßen ist, denn es gibt 

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dem Praktiker eine sehr gute Uebersicht 
über die Verfahren, die gerade in der All¬ 
gemeinpraxis, wo nicht eine Schar von 
Assistenten zur Verfügung stehen, zur 
Schmerzstillung bei kleineren und größeren 
Operationen zu empfehlen sind. Das Buch 
hilft einem großen Bedürfnis ab. Nur sollte 
sich der Verfasser nicht mehr soviel mit 
der Schleichschen Methode befassen, 
denn von ihr gilt der Ausspruch Brauns, 
daß jeder, der Lokalanästhesie treiben will, 
die Schleichsche Methode gar nicht 
schnell genug vergessen kann. Dann darf 
der Verfasser im speziellen Teil ausführ¬ 
licher werden, denn der Praktiker operiert 
heutzutage viel; auch die Anästhesierung 
bei gynäkologischen Operationen dürfte 
eingehender behandelt sein. Des weiteren 
würde ich empfehlen, statt verschiedene 
Methoden zu beschreiben und statt des 
Zusatzes von Suprareninlösung eine ein¬ 
heitliche Methode durchzuführen, am besten 
wohl die mit Novocain Suprarenintabletten- 
Höchst, die sich vorzüglich bewährt haben. 
Zum Schluß darf ich daraufhinweisen 
(p. 104), daß die Anästhesierung des Ober¬ 
kiefers von der Fossa pterygopalatina aus 
von Braun fünfmal mit bestem Erfolg aus¬ 
geführt ist; dieses Verfahren ist einfach 
und kommt z. B. für Extraktionen zahl¬ 
reicher Oberkieferzähne in Betracht. Doch 
tuen diese kleinen Fehler dem guten Büch¬ 
lein keinen Abbruch. Klink. 

Georg Müller (Berlin). Die Orthopädie 
des praktischen Arztes. Berlin- 
Wien 1910, Urban & Schwarzenberg. 
Geb. 10 Mark. 

Der Verfasser verfolgt den Zweck, aus 
seiner großen Erfahrung den praktischen 
Arzt mit dem heutigen Stand der Ortho¬ 
pädie bekannt zu machen, soweit sie für 
den Allgemeinpraktiker, der Lust am ortho¬ 
pädischen Arbeiten hat, in Betracht kommt. 
Müller ist selbst früher praktischer Arzt 
gewesen und weiß daher sehr genau, wo 
es nottut. Man kann sagen, daß er seinen 
Zweck sehr gut erreicht hat, und daß er 
in 258 Seiten mit 151 vorzüglichen Ab¬ 
bildungen den Stoff klar, übersichtlich und 
doch eingehend dargestellt hat. Das Buch 
kann nur empfohlen werden. Klink. 

Theodor Landau. Myom bei Schwan¬ 
gerschaft, Geburt und Wochen¬ 
bett. (Mit 17 Tafeln in Photogravure 
und Begleittext.) Berlin und Wien 1910. 
Urban & Schwarzenberg. 60 M. 

Das vorliegende Werk, bestehend aus 
einem vornehm ausgestatteten Bilderatlas 
und einem knapp und klar gehaltenen Be- 


Original fram 

UNIVER5ITY OF CALIFORNIA 





August 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


365 


gleittext, bildet das Extrakt 20jähriger 
Studien, welche den Verfasser befähigten, 
an der Hand eines ausgezeichneten klini¬ 
schen Materiales ein instruktives Sammel¬ 
werk zu schaffen. Bei der Fülle der ge* 
radezu ins Ungemessene angewachsenen 
Literatur über den vorliegenden Gegen¬ 
stand wird jeder das Erscheinen dieses 
Werkes mit Freude begrüßen, welcher 
sich über die in Betracht kommenden 
Fragen rasch orientieren will oder sie in 
dem Unterricht seinen Hörern besonders 
illustrativ klar machen möchte. Nicht jede 
Klinik dürfte über ein so umfangreiches 
Material von graviden Myomen verfügen, 
als die Privat-Frauenklinik von Landau 
in Berlin. Das der Arbeit zugrunde lie¬ 
gende Material umfaßt die in den letzten 
5 Jahren durch den Verfasser ausgeführten 
283 Myomoperationen, von denen nur 2 
tödlich verliefen; gewiß ein ausgezeichnetes 
Resultat. Der Umstand, daß der Text eine 
Vereinigung von Vorträgen in Fortbildungs¬ 
kursen für praktische Aerzte darstellt, hat 
der Klarheit und der Durcharbeitung der 
Themata sehr genutzt. Man erkennt an 
der lehrhaften schematischen Kürze, daß 
das Ganze oft durchdacht, oft durchsprochen 
und gefeilt worden ist. Im ersten Teil 
des Buches werden die Beziehungen von 
Myom und Sterilität, die Diagnosenstellung 
und Symptomatologie und endlich die not¬ 
wendigen konservativen oder radikalen 
therapeutischen Maßnahmen besprochen. 
Der zweite Teil der Arbeit bringt die 
Unterlagen für die Schlußfolgerungen. Die 
283 Fälle sind in einer kurzen übersicht¬ 
lichen Tabelle zusammengestellt. Die wich¬ 
tigeren Krankengeschichten, welche die 
Komplikation von Myom mit Schwanger¬ 
schaft, Geburt und Wochenbett betreffen, 
sind ausführlich wiedergegeben; insbeson¬ 
dere sind die auf den Tafeln dargestellten 
Präparate eingehend erläutert. Die Er¬ 
fahrungen des Verfassers gipfeln in fol¬ 
genden therapeutischen Vorschlägen: Bei 
der Komplikation von Myomatosis mit 
Schwangerschaft, Geburt und Puerperium 
kommen folgende Verfahren in Betracht: 

1. Die Entfernung des Myoms allein. 
Myomotomie und Myomektomie. Bei 
Myomen, die über den inneren Mutter¬ 
mund reichen, empfiehlt sich stets der ab¬ 
dominale Weg, bei Myomen unterhalb teils 
vaginales, teils abdominales Vorgehen. Bei 
gestielten Geschwülsten einfache Abtragung; 
bei breitbasigen Tumoren empfiehlt sich 
die Enukleation. Wenn aber die Frucht 
lebensfähig ist und wenn bei der Aus¬ 
schälung das Cavum uteri eröffnet worden 


ist, muß sofort durch Kaiserschnitt ent¬ 
bunden werden, weil die notwendige 
Schlußplastik nur am leeren Uterus leicht 
und sicher auszuführen ist. Gestielte sub¬ 
muköse Polypen werden von der Scheide 
aus entfernt. Bei zervikalen Myomen ist 
die vaginale Exstirpation vorzunehmen, 
wenn die nicht zu große Geschwulst — 
im kleinen Becken gelegen — in die Scheide 
hineinragt oder die Scheide nach abwärts 
drängt Auch hier muß sofort entbunden 
werden, wenn das Eibett oder das Peri¬ 
toneum eröffnet ist oder ein zu zerfetztes 
Geschwulstbett zurückbleibt. Der vaginale 
Weg wird lieber zugunsten des abdomi¬ 
nalen aufgegeben, wenn der Tumor so 
groß wird, daß er in das Becken eingekeilt 
erscheint 

2. Die Totalexstirpation, supravaginale 
Amputation des Uterus, abdominale und 
vaginale Hysterektomie, eventuell nach 
vorangegangener Sectio caesarea. Die In¬ 
dikation ist für dieses Verfahren gegeben, 
wenn durch die Enukleation unreparierbare 
Wundverhältnisse im Uteruskörper ge¬ 
schaffen werden müßten oder wenn ent¬ 
zündliche Adnexerkrankungen den Fall 
komplizieren, also stets dann, wenn auch 
ohne Schwangerschaft eine radikale Ope¬ 
ration notwendig wäre. Dasselbe gilt für 
alle septischen Vorgänge in der und um 
die schwangere Gebärmutter. Der vaginale 
Weg kann gewählt werden, wenn der 
Uterus etwa bis zum Nabel reicht Bei in¬ 
fizierten Myomen ist der vaginale Weg 
vorzuziehen, solange das Peritoneum noch 
freigeblieben ist Ist das Peritoneum be¬ 
reits infiziert, so empfiehlt sich die ab¬ 
dominale Operation. In allen zweifel¬ 
haften Fällen kann die letzte Ent¬ 
scheidung nur bei der Laparotomie 
getroffen werden. 

Der Verfasser verwirft mit Recht die 
als wertlos und gefährlich bezeichneten 
Verfahren der Kastration, der Entfernung 
der Frucht mit den Ovarien und der Enu¬ 
kleation der Myome mit gleichzeitiger 
Kastration. Von den 21 durch radikale 
Operation gewonnenen Präparaten sind 17 
nach der Natur von dem verstorbenen 
Maler Queißer gezeichnet und nach dem 
modernen Verfahren der Heliogravüre in 
vollendeter Treue reproduziert worden. 
Die von der geschickten Hand Picks präpa¬ 
rierten Originale zu den Tafeln sind in dem 
pathologisch-anatomischen Museum der 
Landauschen Frauenklinik in Berlin auf¬ 
gestellt, dessen Vorzüge ja den Lesern 
zum großen Teil durch den Besuch der 
Klinik bekannt sein dürften. Die Bilder 


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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


August 


erläutern in glücklicher Weise alle bei 
Schwangerschaft und Myom möglichen 
Komplikationen; insbesondere geht aus 
dem Studium derselben die Schwierigkeit 
der Plazentaranlage und die Häufigkeit der 
Lageabweichungen der Frucht bei Myomen 
hervor. Die Ausstattung des ganzen Werkes 
macht dem Verlage alle Ehre und erklärt 
den Preis von 60 Mk., welcher bei der 
Güte und Gediegenheit des Ganzen kein 
Hindernis für eine rasche Verbreitung des 
vorliegenden Werkes darstellen dürfte. 
Der Atlas schließt als pathologische Folge 
zwanglos an Leopolds physiologischen 
Atlas „Uterus und Ei“ und dürfte bald wie 
dieser in keiner Bibliothek fehlen. 

Kroemer (Greifswald.) 
Oskar Scheuer. Die Syphilis der Un¬ 
schuldigen (Syphilis insontium). Urban 
& Schwarzenberg, Berlin u. Wien 1910. 

Das mehrfach auch zusammenfassend 
in der Literatur behandelte, praktisch ja 
sehr wichtige Thema findet hier eine ein¬ 
gehende monographische Darstellung, in 
der die Literatur bis in die neueste Zeit 
verfolgt und sorgfältig kritisch gesichtet 
mitgeteilt wird, ln dem klar und über¬ 
sichtlich angeordneten Material wird auch 
der Praktiker eine Reihe von Dingen fin¬ 
den, die für ihn großes Interesse haben, 
wie die Beziehungen der extragenitalen 
Syphilis zur Unfallversicherung, zum Heb¬ 
ammenberuf, die Hygiene der Barbier¬ 
stube, Syphilis der Aerzte u. a. m. Be¬ 
sonders dürfte hier die Frage, wann der 
infizierte Arzt wieder praktizieren, wann 
die syphilitische Hebamme wieder ihren 
Beruf aufnehmen darf, den praktischen 
Arzt interessieren. Das flüssig geschriebene 
Buch wird sicher die analoge bekannte 


Monographie von Duncan Bulkley, 
welche die modernen Forschungsergeb¬ 
nisse nicht enthält, ersetzen. Buschke. 

Hans Wossidlo* Die Gonorrhoe des 
Mannes und ihre Komplikationen. 
Zweite um gearbeitete Auflage. Mit 
54 Textabbildungen und 8 teils farbigen 
Tafeln. Leipzig 1909 bei Georg Thieme. 

In dieser neuen Auflage des Wossidlo¬ 
schen Lehrbuches hat der Autor die 
Goldschmidt sehe Irrigationsurethrosko- 
pie, welche ja für gewisse Affektionen der 
Urethra posterior Vorzügliches leistet, be¬ 
sprochen, den Strikturen ein besonderes 
Kapitel gewidmet und sonst alle modernen 
Ergebnisse der Gonorrhoelehre verwertet. 
Das Buch gibt die Erfahrungen eines aus¬ 
gezeichneten Praktikers in mustergültiger 
Weise wieder und bringt von der Theorie 
genug, um auch den Spezialisten aus¬ 
reichend zu orientieren. Besonderes Inter¬ 
esse bringt der Autor naturgemäß auch 
der instrumentellen Behandlung entgegen; 
gute Abbildungen illustrieren gerade diesen 
Teil des Buches. Aber auch den bakterio¬ 
logischen Dingen wird in dem Buche reich¬ 
lich Raum gewidmet. Besonders rigoros 
ist Wossidlo in der Erteilung des Ehe¬ 
konsenses, wo er nicht nur den negativen 
Gonokokkenbefund, sondern auch .die Ab¬ 
wesenheit nennenswerter Leukozytenmen¬ 
gen in den Sekreten und das Fehlen 
urethroskopisch nachweisbarer Verände¬ 
rungen in der Harnröhre verlangt. Auch 
hieraus geht die große Sorgfalt hervor, 
mit der der Verfasser dieses ausgezeich¬ 
neten Buches seine Tripperkranken be¬ 
handelt. Das Werk kann aufs angelegent¬ 
lichste empfohlen werden. Buschke. 


Referate. 


Eine auffällige Steigerung der Adre- 
nalinempflndlichkeit durch Kokain, 
welche zur Anwendung dieser Kombination 
in der Praxis auffordert, fanden Fröhlich 
und Loewi. Es wurde für die Wirkung 
auf Blutgefäße, Harnblase und Auge fest¬ 
gestellt, daß an sich ganz unwirksame Gaben 
von Kokain die Adrenalinwirkung sowohl 
nach Intensität wie Dauer in hohem Maße 
steigern. K. Reicher. 

(Arch. f. exp. Path. u. Pharm., Bd. 62, H. 2 u. 3.) 

Im Gegensatz zu anderen Autoren publi¬ 
ziert Kuchendorf zwei Fälle von günsti¬ 
ger Beeinflussung des Basedowschen 
Syndroms durch Röntgenstrahlen. Im 
ersten handelte es sich um eine maligne 
Struma, die nur unvollständig entfernt 


wurde; die Bestrahlung und eine Badekur 
in Nauheim hat völlige, nun schon zwei 
Jahre bestehende Heilung mit Wieder¬ 
erlangung der Militärdienstfähigkeit ge¬ 
bracht. Beim zweiten, einer Patientin, die 
der partiellen Strumektomie verfallen schien, 
wurde mit Kropf- und Herzbestrahlungen 
subjektives Wohlbefinden, die Möglichkeit, 
den Haushalt wieder zu versorgen, sowie 
Rückgang der Struma, der Herzvergröße¬ 
rung und profusen Schweißabsonderung 
erzielt. Zu erwägen wäre, ob im letzten 
Falle die Röntgenbehandlung nicht mehr 
ah Form der beim Basedow schon an sich 
so heilkräftigen psychischen Beeinflussung 
wirksam geworden ist. Meidner (Berlin). 

(Deutsche med. Wschr. 1910, Nr. 21.) 


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August 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


367 


Die Untersuchungen über Chlorose, 
welche der Leiter der Freiburger Poli¬ 
klinik kürzlich mitteilte, verdienen das 
Interesse der Aerzte, wennschon sie bis¬ 
her auf die Behandlung der Krankheit 
ohne direkten Einfluß sind. 

Als Kardinalsymptom der Bleichsucht 
gilt bisher fast allgemein die Anämie, 
also die Verarmung des Blutes an Hämo¬ 
globin, eventuell auch an roten Blutkörper¬ 
chen; aus der Anämie werden die meisten 
übrigen Krankheitssymptome abgeleitet und 
erklärt. Die chlorotische Anämie entsteht 
wahrscheinlich durch ungenügende Neu¬ 
bildung, nicht durch beschleunigten Zerfall 
roter Blutkörperchen. Charakteristisch für 
die Krankheit ist ferner, daß sie im wesent¬ 
lichen nur bei Frauen in den Entwicklungs¬ 
jahren und dem darauf folgenden Decennium 
vorkommt; später können allerdings Rezi¬ 
dive eintreten. 

Bei den Patientinnen seiner Poliklinik 
beobachtete Morawitz nun ziemlich häufig 
— im letzten halben Jahre in 28 Fällen — 
typische chlorotische Erscheinungen 
trotz normalen oder nahezu normalen 
Hämoglobingehaltes. Die meisten der 
Patientinnen waren junge Mädchen, die 
vom Lande stammten und dort ganz ge¬ 
sund gewesen waren; bald nach dem Ein¬ 
tritt in eine städtische Dienststellung er¬ 
krankten sie mit den typischen Symptonen: 
Mattigkeit und Schlafsucht, Kopfschmerz 
und Schwarzwerden vor den Augen, mehr¬ 
fach Ohnmachtsanfälle; oft bestand das 
bekannte Verlangen nach sauren Speisen. 
Dabei war die Anämie bei diesen Mädchen 
keineswegs erheblich. In einigen Fällen 
war der Hb-Gehalt (nach Sahli bestimmt) 
normal; bei der Mehrzahl lag allerdings 
eine geringe oder mäßige Abnahme des 
Blutfarbstoffes vor, doch lag der Hb-Wert 
meist über 80 °/ 0 , Bemerkenswert ist vor 
allem, daß die Schwere des Krankheits¬ 
bildes nicht immer dem Grade der Hb- 
Verarmung parallel geht (wenngleich bei 
wirklich schweren Chlorosen meist eine 
erhebliche Verminderung des Hb besteht); 
so zeigte beispielsweise eine Patientin 
bei 95% Hb einen ziemlich schweren Ge¬ 
samtzustand. 

Unter diesen Umständen erhebt sich 
natürlich die Frage, ob die in Rede stehen¬ 
den Kranken denn wirklich bleichsüchtig 
waren. Morawitz bejaht diese Frage aus 
folgenden Gründen. Erstens handelte es 
sich bei über der Hälfte der Fälle nicht 
um den ersten Anfall der Krankheit, 
sondern um Rezidive und viele von den 
Patientinnen hatten schon früher mit gutem 


Erfolge Eisen genommen. Zweitens be¬ 
standen bei den meisten gewisse objektive 
Symptome: Amenorrhöe oder Unregel¬ 
mäßigkeiten der Periode, ferner Nonnen¬ 
sausen (und zwar bei gerader Kopf¬ 
haltung und Vermeidung jeden stärkeren 
Stethoskopdruckes). Das letztere wird ge¬ 
wöhnlich durch eine vermehrte Strömungs¬ 
geschwindigkeit des Blutes erklärt, welche 
bei starker Hb-Armut als kompensatorische 
Vorrichtung gegen die drohende Sauer¬ 
stoffverarmung der Gewebe erwiesener¬ 
maßen eintritt. Indeß besteht bei Chlorose 
bisweilen auch Nonnensausen, wenn der 
Hb-Gehalt nahezu normal ist — Morawitz 
hörte es bei einer Patientin mit 85 % Hb 
in besonders schöner Weise — während 
es bei Anämien anderen Ursprungs selbst 
ber viel stärkerer Verminderung des Blut¬ 
farbstoffes vermißt werden kann. Morawitz 
schließt daraus, daß anämische Blutbe¬ 
schaffenheit und beschleunigte Blutströmung 
zum mindesten nicht die einzigen 
Ursachen der Venengeräusche bei 
Chlorose sind. Den letzten und nach¬ 
drücklichsten Beweis für die Zugehörigkeit 
seiner Fälle zur Chlorose sieht Morawitz 
in der Heilwirkung des Eisens; die 
große Mehrzahl seiner Patientinnen wurde 
in sehr kurzer Zeit durch Eisen wesentlich 
gebessert, bzw. geheilt. 

Aus diesen Beobachtungen zieht Mo¬ 
rawitz den Schluß: Die Anämie ist 
nicht das Kardinalsymptom der Chlo¬ 
rose, die Erscheinung, von der die 
meisten übrigen abhängen; sie ist nur 
eines der Symptome unter anderen. 

Die Wirkung des Eisens bei Chlorose 
spricht nicht gegen diese Anschauung, 
sondern stützt sie eher. Denn es ist nicht 
bewiesen, ja sogar unwahrscheinlich, daß 
die heilende Wirkung des Eisens bei Chlo¬ 
rose als direkte oder indirekte Reizwirkung 
auf die blutbildenden Organe, speziell als 
Reiz für reichlichere Hb-Bildung zu deuten 
ist. Gegen die Existenz einer solchen 
Reizwirkung spricht die Nutzlosigkeit des 
Eisens (im Gegensatz zum Arsen) bei fast 
allen nicht chlorotischen Anämien. Bei den 
Chlorotischen andererseits beseitigt das 
Eisen nicht nur die Anämie, sondern die 
ganze Fülle der objektiven und subjektiven 
Symptome, welche nicht von der anämi¬ 
schen Blutbeschaffenheit abhängen (so die 
Störung des Wasserhaushaltes, die den 
Chlorotischen eigentümliche Neigung zu 
Wasserretention, welche mit der Hb- 
Armut nicht Zusammenhängen kann, da sie 
den meisten anderen schweren Anämien 
fehlt). Dadurch ist die Vorstellung be- 


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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


August 


gründet, daß die Eisenwirkung bei der Chlo¬ 
rose nicht an den blutbildenden Organen, 
sondern an der noch unbekannten 
Wurzel des gesamten Krankheits¬ 
bildes der Bleichsucht angreift. 

Auf die weiteren Fragen, die sich nun 
erheben: Was ist das Wesen der Chlo¬ 
rose? Wie erklären sich die Krankheits¬ 
erscheinungen, wenn sie nicht von der 
Anämie abhängig sind? Wo greift die Eisen¬ 
wirkung an? — ist eine Antwort vorläufig 
nicht möglich. Manche Erscheinungen 
deuten auf Beziehungen der Chlorose zu 
den Ovarien hin, andere auf solche zu der 
Schilddrüse (Häufigkeit der Anschwellung 
der Schilddrüse bei Chlorotischen), doch 
liegen die Zusammenhänge, die hier viel¬ 
leicht bestehen, noch im Dunkeln. 

F. Klemperer. 

(Münch, med. Woch. 1910, Nr. 27). 

Cluß hat aus der Literatur alle ope¬ 
rierten Fälle von traumatischer Jackson¬ 
scher Epilepsie gesammelt, die mindestens 
3 Jahre nach der Operation geheilt blieben, 
im ganzen 21 Fälle. Diese Ziffer ist sehr 
niedrig im Verhältnis zu der großen Zahl 
der Operierten. Die Heilung wurde bis 
20 Jahre beobachtet, ein Beweis, daß die 
Heilung durch Operation möglich ist. In 
anderen Fällen wurden noch nach fünf 
Jahren Spätrezidive beobachtet. Es kommt 
auch vor, daß Wochen-, monate- oder jahre¬ 
lang nach der Operation noch Anfälle be¬ 
stehen und dann schwinden. Ein jüngeres 
Lebensalter verbessert die Prognose. Außer 
dem Trauma muß man noch ein prädispo¬ 
nierendes Element für die Entwicklung der 
Krankheit annehmen, wie überstandene 
Infektionskrankheiten, Intoxikationen und 
sonstige Schädlichkeiten, auch langdauernde 
Eiterung am Ort der Verletzung, über¬ 
mäßigen Alkoholgenuß. Es hatten fast 
immer Knochenwunden und meist kompli¬ 
zierte Schädelbrüche bestanden; als Folgen 
fanden sich Exostosen, Knochendepres¬ 
sionen, knöcherne Defekte des Schädel¬ 
gewölbes mit ausgedehnten Narben, die die 
Gehirnrinde und -hüllen beteiligten; sehr 
häufig fanden sich Zysten, darunter sehr 
ausgedehnte porenzephalische Zysten. Die 
leichtere Art der Verletzung beeinflußte 
die Prognose nicht günstiger. Die Erfolg¬ 
losigkeit der Operation hat bisweilen ihren 
Grund darin, daß außer der operierten 
Stelle noch andere Stellen des Gehirns 
verletzt sind. Die Anfälle treten selten 
sofort nach dem Trauma auf; meist tritt 
ein kürzeres oder längeres Stadium der 
Latenz ein, das bis 29 Jahre beobachtet 
wurde. Die längste Latenz zeigten die 


Fälle, wo das Trauma vor dem 14. Lebens¬ 
jahre auftrat Während der Latenz wurden 
bisweilen Kopfschmerzen, Schwindelanfälle, 
Ohnmächten beobachtet, einige Male trat 
nach dem Trauma Lähmung einiger Körper¬ 
teile auf, die bisweilen wieder zurückging. 
Die Dauer des Bestehens der Epilepsie hat 
für die Prognose der Operation keine Be¬ 
deutung; auch nicht die Länge der Zeit 
seit dem Trauma. Das Symptomenbild der 
traumatischen Jackson sehen Epilepsie ist 
sehr wechselnd. Das Bewußtsein schwindet 
meist. Die Pausen sind erst länger, dann 
immer kürzer, so daß man zuletzt von 
einem Status epilepticus sprechen kann. 
Die Anfälle beginnen teilweise mit einer 
Aura, die an den Ort der Verletzung oder 
in das zuerst krampfende Glied verlegt 
wurde; häufig treten sie nach Aufregung 
oder Anstrengung auf. Bisweilen lassen 
sie sich durch Druck auf die empfindliche 
Narbe auslösen. Zuweilen haben die Re¬ 
flexepilepsien den Jackson sehen Typus. 
Bald ist nur eine Körperhälfte befallen, 
bald gehen die Anfälle auch auf die andere 
über, doch wird hierdurch die Prognose 
nicht beeinflußt. Der Verlauf der Anfälle 
entspricht nicht immer dem der klassischen 
Jackson sehen Epilepsie. Es finden sich 
überhaupt manche Anklänge und Ueber- 
gänge zu der allgemeinen traumatischen 
Epilepsie. Bei den allgemeinen Krampf¬ 
anfällen dieser Fälle weisen nur Lähmungs¬ 
erscheinungen oder ein stärkeres Hervor¬ 
treten der Krämpfe in einem Körper¬ 
abschnitt auf die Jacksonsche Epilepsie 
hin. Hemiparese und Paralyse in den 
vorher zuckenden Gliedern trat bei der 
Hälfte der Kranken auf; die Lähmungs¬ 
erscheinungen blieben in einigen Fällen 
bestehen und nahmen mit der Zahl der 
Anfälle zu. Nach den Anfällen machten 
namentlich die Kopfschmerzen Beschwerden, 
das Gedächtnis nahm ab, die Geisteskräfte 
verfielen. Von Operationsmethoden kommen 
zwei in Betracht: Ventilbildung in der 
Schädelkapsel nach Kocher und Exzision 
der krampfenden Gehirnzentren nach 
Horsley. Die Ventilbildung hilft nicht 
immer; ja, es sind Fälle durch Bildung 
eines knöchernen Verschlusses geheilt 
worden, wo während des Bestehens eines 
Ventils Anfälle auftraten. 

Außerdem bedeutet eine Schädellücke 
immer eine große Gefahr schon wegen der 
Narbe der Verwachsungsprozesse zwischen 
Haut und Dura und der Narbenschrump¬ 
fung. In 7 von den 21 Fällen waren die 
Anfälle aufgetreten, obwohl nach der Ver¬ 
letzung eine Knochenlücke zurückgeblieben 


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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


369 


war; 6 Fälle wurden trotz festen Ver¬ 
schlusses geheilt. Die Exzision des Krampf¬ 
zentrums ist angezeigt, wenn sich daselbst 
krankhafte Veränderungen des Gehirns 
oder seiner Häute finden. In 6 Fällen 
wurden Narben der Hirnrinde abgetragen, 
6 mal wurden Zysten der Hirnrinde ent¬ 
fernt, 2 mal wurde das scheinbar gesunde 
Zentrum entfernt. Die Bestimmung des 
Zentrums geschieht durch elektrische Rei¬ 
zung. Die größte Aussicht auf Erfolg 
haben offenbar die Fälle, bei denen sich 
greifbare Veränderungen finden. 7 Fälle 
wurden ohne Eingriff am Gehirn selbst ge¬ 
heilt, wodurch der Satz widerlegt wird, 
daß längere Zeit gedrückte Hirnteile des¬ 
halb entfernt werden müssen, weil sie sich 
nicht mehr erholen können. Als Folge der 
Exzision von Gehirnsubstanz trat sofort 
oder nach kurzer Zeit eine Lähmung auf, 
die meist in höchstens 14 Tagen schwand; 
wo keine Gehirnsubstanz entfernt wurde, 
schwanden die vor der Operation bestehen¬ 
den Lähmungen. Baut sich der Anfall der 
Jackson sehen Epilepsie aus einer epilep¬ 
tischen Veränderung und dem lokalen Reiz 
auf, so verursacht nach dem Wegfall der 
einen Komponente die noch vorhandene, 
schlummernde, epileptische Veränderung, 
die durch die Operation nicht beseitigt 
worden ist, infolge unbekannter Reize 
einen allgemeinen epileptischen Anfall. Zur 
Vermeidung der Verwachsung der Dura 
mit Pia und Gehirn empfiehlt Finsterer 
das Einschieben eines Stückes Bruchsack. 

Klink. 

(v. Bruns Beitr. z. klin. Chir. LXVI, 2.) 

In seiner Arbeit „Zur Therapie spontaner 
Hftftgelenksluxationen im Gefolge akuter 
Erkrankungen" macht Brandes darauf 
aufmerksam, daß der Arzt beim Auftreten 
sekundärer Gelenkprozesse nach Masern, 
Scharlach, Typhus, Sepsis u. a. an eine 
Spontanluxation denken und sich bemühen 
soll, sie zu verhüten. Lagerung und Ver¬ 
bände reichen allein nicht aus, sondern 
die letzte Prophylaxe ist nach Brandes* 
Ansicht die wiederholte Entfernung des 
im Gelenk vorhandenen Exsudates durch 
Punktion. Nur durch diese läßt sich eine 
allzu große Dehnung und Erschlaffung der 
Gelenkbänder und Kapsel verhüten und 
sich die Tiefe und Form der Pfanne er¬ 
halten, indem die Schwartenbildung ver¬ 
hindert wird. Auf diese Weise wird auch 
am besten die Reluxation vermieden, die 
nach Reposition bei frühen Fällen leicht 
eintreten kann, wenn das Exsudat nicht 
aus dem Gelenk entfernt ist. 

Bei erfolgter Spontanluxation sollen 


nach Brandes’ Meinung Punktionen des 
Gelenkes bei frühen Fällen und Repo¬ 
sitionsmanöver wie bei der kongenitalen 
Luxation die ersten therapeutischen Ma߬ 
nahmen darstellen. Hohmeier (Altona). 

(D. Zeitschr. f. Chir. Bd. 105, H. 1 u. 2.) 

Erst in neuerer Zeit hat man angefangen, 
die Wirkung klimatischer Einflüsse mit 
exakten Untersuchungsmethoden zu prüfen. 
Unsere wissenschaftlichen Erfahrungen sind 
aber auf diesem Gebiete immer noch recht 
mangelhafte. Nur der Einfluß des Gebirgs¬ 
klimas ist bisher — besonders von der 
Zuntzschule — eingehend in verschiedener 
Richtung studiert worden, und es ist der¬ 
selben Schule wiederum zu verdanken, daß 
jetzt auch „über den Einfluß des See¬ 
klimas und der Seebäder auf den 
Menschen" Forschungsergebnisse, die sich 
auf den Eiweißenergiehaushalt, sowie 
auf Pulsfrequenz und Blutdruck be¬ 
beziehen, vorliegen. 

Loewy, Müller, Cronheim, an 
Stoffwechsel versuche gewöhnte F orscher, 
machten zusammen mit Bornstein an der 
Nordsee in einer lötägigen Versuchs¬ 
periode diese Untersuchungen. 

Die Nahrungszufuhr war selbstver¬ 
ständlich in jeder Richtung genau analy¬ 
siert und quantitativ zugemessen. 

Die stickstoffhaltigen Substanzen sowie 
die Gesamtkalorien blieben sich täglich fast 
ganz gleich. 

1. Die Wirkung des Seeklimas und 
stickstoffhaltiger Substanzen auf den 
Eiweißstoffwechsel und den Energie¬ 
haushalt: 

Durch das Seeklima sowohl wie durch 
die Seebäder wurde der Sauerstoffver¬ 
brauch gesteigert. 

Ein Körpergewichtsverlust stellte sich 
aber durch das Klima allein nicht ein. Der 
Umsatz müßte schon „erheblich" größer 
sein, um dies zu bewirken. 

Während der Periode der Seebäder 
dagegen wird eine „langsam fort¬ 
schreitende Abnahme des Körper¬ 
gewichts" konstatiert. 

Die quantitativen Veränderungen gingen 
parallel mit qualitativen, mit „Abnahme 
des respiratorischen Quotienten". 

Die Ursache dieses Effekts entzieht sich 
einstweilen noch der Beurteilung. 

In zwei Fällen zeigte sich stärkere Zu¬ 
nahme des kalorischen Quotienten im Harn, 
sowie eine Wirkung auf den N-Umsatz, 
die allerdings bei verschiedenen Indi¬ 
viduen in entgegengesetzter Richtung 
ausfiel: in dem einen Falle eine Steigerung, 
in dem anderen eine Einschränkung. Da 

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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


August 


die Werte in den 15 Tagen konstant blieben, 
kann von Versuchsfehlern wohl nicht die 
Rede sein, sondern wie in anderer Be¬ 
ziehung macht sich hier die individuelle 
Beeinflussung geltend. 

2. Der Einfluß des Seeklimas auf die 
Blutbildung. 

Das Höhenklima Qbt durch Sauer¬ 
stoffmangel einen erregenden Reiz auf 
die blutbildenden Organe aus. 

Um diese Wirkung an der See zu 
prüfen, wurden 2 Würfe von Hunden — 
8 im ganzen — nicht nur in bezug auf den 
Hämoglobingehalt, sondern auch mit Rück¬ 
sicht auf die Gesamtblutmenge nach der 
Methode von Plesch untersucht. 

Das Resultat war ein negatives. Eine 
Steigerung, wie sie das Höhenklima ver¬ 
anlaßt, konnte nicht festgestellt werden. 

3. Pulsfrequenz und Blutdruck. 

Von den untersuchten Individuen litten 
zwei an Arteriosklerose. Eine geringe 
Steigerung des systolischen Druckes(12mm) 
trat nur in einem Falle auf, die übrigen 
zeigten keine Veränderung. Das See¬ 
klima ist also im Gegensatz zu den See¬ 
bädern vom Gesichtspunkte des Blut¬ 
drucks aus bewertet für Arteriosklero- 
tiker nicht kontraindiziert. Durch das 
Seebad stieg aber der systolische Blut¬ 
druck bei kurz- und langdauerndem Bade 
bis um 33 mm Hg — also erheblich — an, 
der diastolische blieb unverändert. Die 
Pulsfrequenz stieg von 80 auf 100 an. Kurz 
nach dem Bade gingen die Erscheinungen 
schnell zurück. 

Ursache kann sein: 

1. der Salzgehalt des Meerwassers, 

2. der Wellenschlag, 

3. die Muskelarbeit gegen den Wellen- 
schlag. 

Daß für Individuen, deren Herz- und 
Gefäßsystem der Schonung bedarf, See¬ 
bäder schädlich sind, hat man stets ge¬ 
wußt; wir wissen jetzt, daß einer der schäd¬ 
lichen Faktoren die dadurch hervorgerufene 
Blutdrucksteigerung ist. 

4. Der Kochsalzstoffwechsel. 

Bei täglicher Zufuhr von 12 g waren 
die entsprechenden Ausscheidungen sehr 
schwankende. Bei 3 Personen kam es zu 
Steigerung der Kochsalzausscheidung. 

Es wurden auch Versuche darüber an¬ 
gestellt, wie viel Kochsalz sich auf der 
Körperoberfläche ansammelt, und es stellte 
sich heraus, daß dies von dem verschie¬ 
denen Grade der Behaarung abhängt; es 
fanden sich Werte bis 0,377 g NaCl pro 
qm Körperoberfläche. 


Die Wirkung des Kochsalzgehaltes 
der Seeluft auf den menschlichen Orga¬ 
nismus, dem vielfach noch Bedeutung bei¬ 
gemessen wird, ist nach den vorliegenden 
Anschauungen nicht erheblich. 

Dagegen ist die Licht Wirkung an der 
See, die sich bei photographischen Auf¬ 
nahmen zeigt, sicherlich von Bedeutung. 

B. Hirsch (Berlin). 

(Zeitschr. f. exp. Path. u. Ther., Bd, 7, H. 3, 
S. 627.) 

Während für die Klimipfüßbehandlungr 
älterer Kinder der nach erfolgtem Redresse¬ 
ment in überkorrigierter Stellung ange¬ 
legte Gipsverband als das Normal verfahren 
zu gelten hat, sind die Meinungen bei 
Neugeborenen und Säuglingen geteilt. 
Die einen legen auch hier sofort den Gips¬ 
verband an, die anderen begnügen sich 
nach erfolgtem Redressement mit Schienen- 
und Bindenverbänden. Haudek gehört zu 
den letzteren; bis zum Alter von 5 Monaten 
verwendet er den Bindenverband nach 
Finck — von Oettingen. Das Redresse¬ 
ment nimmt er etappenweise in 2—5 Sitzun¬ 
gen vor. Beim Anlegen der Binde läßt er 
die dritte Tour um die Ferse herumgehen, 
um den Kalkaneus nach außen zu drängen. 
Die Tenotomie der Achillessehne hat sich 
bei allen 20 bisher von ihm behandelten 
Fällen erübrigt, ebenso war in keinem der 
Fälle eine Nachbehandlung nötig. Wenn 
die Kinder zu laufen anfingen, erhielten 
sie eine Keileinlage an der Außenseite. 
Haudek ist mit den Resultaten seiner Be¬ 
handlungsweise sehr zufrieden, er empfiehlt 
das Oettingensche Verfahren wegen 
seiner Einfachheit in der Technik und weil 
die Körperpflege des Kindes nicht dabei 
zu leiden braucht. Das etappenweise Vor¬ 
gehen verhindert Plattfußbildung durch 
Ueberkorrektur, jederzeit ist eine Kontrolle 
der Stellung im Verbände möglich. 

Für schwerere Klumpfußformen älterer 
Kinder, die unblutig nicht mehr redressiert 
werden können, empfiehlt Haglund eine 
Modifikation der Phelpsschen Operation. 
In Betracht kommen die Kinder unter 10 
bis 12 Jahren, bei denen das Hindernis 
nicht im Skelett, sondern in der Retraktion 
der plantaren und medialen Weichteile 
liegt. Werden letztere nach Phelps durch¬ 
trennt, so entsteht eine breitklaffende 
Wunde, die zur Vermeidung der Narben¬ 
retraktion eine lange Fixationszeit nötig 
macht. Haglund hat deshalb dem äußeren 
Fußrand, an dem nach der Korrektur ein 
Ueberfluß an Weichteilmaterial vorhanden 
ist, einen gestielten zungenförmigen Weich¬ 
teillappen entnommen und in den Defekt 


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August 


Oie Therapie der Gegenwart 1910. 


371 


am inneren Fußrande eingenäht Mit dem 
Ergebnis ist er sehr zufrieden gewesen. 

Bergemann (Königsberg). 

(Deutsche Zeitschr. f. orthopftd. Chir., Bd. 25, 
S. 716.) 

Untersuchungen Ober die leukozyt&ren 
und humoralen Kampfmittel des Orga¬ 
nismus gegen bakterielle Infektionen hat 
Rubritius mitgeteilt. Zu den Reagens¬ 
glasversuchen lassen sich vom Tier Leuko¬ 
zyten gewinnen durch intraperitoneale In¬ 
jektion steriler Bouillon. Vom Menschen 
gewann Rubritius genügend Leukozyten 
auf folgende Weises Nach der Punktion 
wurde in die Höhle von kalten Abszessen 
20—40 ccm einer 1 %igen Nukleinsäure¬ 
lösung gespritzt; nach 14—16 Stunden kann 
man dann eine Flüssigkeit mit reichlichen 
polynukleären Leukozyten entleeren; die 
Injektionen wurden jeden fünften Tag 
wiederholt; geschadet haben dieselben den 
Kranken nie. Die Leukozyten wurden 
mehrfach gewaschen und nur wenn sie 
steril waren mit menschlichem Blutserum, 
inaktiviertem Serum, physiologischer Koch¬ 
salzlösung und steriler Bouillon vermischt. 
Sie müssen frisch verwendet werden, da sie 
schon nach 24stündigem Auf bewahren bei 
kühler Temperatur einen Teil ihrer Bakte- 
ricidie verloren haben. Extrakte dieser 
Leukozyten erwiesen sich auch als viel 
weniger wirksam. Die Versuche haben 
gezeigt, daß auch dem Menschen, wie es 
für Tiere schon festgestellt ist, zum Schutz 
gegen bakterielle Infektionen zweierlei Ab¬ 
wehrmittel zur Verfügung stehen, die leuko- 
zytären und die aus dem Blutserum stam¬ 
menden Bakterizidine. In dem vereinten 
Wirken beider, sei es durch die unter¬ 
stützende Rolle, welche die Säfte für die 
Leukozytenbakterizidie einnehmen, oder 
durch die unabhängige Wirkung der Säfte 
und Leukozyten voneinander ist das Heil 
für den Organismus gelegen. Die Art und 
Weise, wie der menschliche Organismus 
seine keimfeindlichen Stoffe gegen die ver¬ 
schiedenen Arten von Infektionserregern 
in Anwendung bringt, ist ziemlich kompli¬ 
ziert und je nach der Art der Mikroorga¬ 
nismen verschieden. Keime, die vom Serum 
stark abgetötet werden, unterliegen gar 
nicht oder nur wenig den Leukozyten. 
Hingegen lallen diejenigen Keime, die vom 
Serum nicht angegriffen werden, viel öfter 
den Leukozyten zum Opfer. Ein Beispiel 
für die erste Gruppe ist der TyphusbaziUus, 
Bact. coli comm. und Choleravibrio; in die 
zweite Gruppe gehören hauptsächlich solche 
Keime, die nicht die Fähigkeit haben, im 
Blut und in den Organen sich zu ver- 

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mehren, wie der Diphtheriebazillus und in 
gewissem Sinne der Bacillus pyocyaneus. 
Während Much gegenüber Strepto- und 
Pneumokokken starke bakterizide Eigen¬ 
schaften des menschlichen Blutplasmas, das 
reichlich Leukozyten enthielt, feststellen 
konnte, wobei nach seinen Untersuchungen 
das Serum diesen Keimen gegenüber als 
wirkungslos sich erwies, konnte Rubritius 
die starken bakteriziden Fähigkeiten der 
Leukozyten nur gegenüber gewissen Arten 
von Strepto- und Staphylokokken nach- 
weisen. Das völlige Fehlen der Serum- 
bakterizidie diesen Eitererregern gegen¬ 
über konnte auch er bestätigen. Bei 
Strepto- und Staphylokokken muß man zwei 
ganz verschiedene Typen unterscheiden, 
von denen die einen von den Leukozyten 
gar nicht, die anderen sehr stark beeinflußt 
werden; die Leukozyten wirken im letzteren 
Falle am stärksten, wenn sie in dem an 
sich ganz unwirksamen Serum aufge¬ 
schwemmt sind. Hierbei spielen wohl die 
Opsonine eine Rolle, die in hohem Maße 
die Phagozytose befördern, wodurch der 
erwähnte Kontakt hergestellt wird. Die 
saprophytisch vegetierenden, avirulenten 
Arten erwiesen sich stark der Bakterizidie 
menschlicher Leukozyten unterworfen, wäh¬ 
rend die pathogenen Arten weder von den 
leukozytären noch humoralen Schutzstoffen 
beeinflußt werden; auf diesem Wege ist es 
vielleicht nicht unmöglich, zu einer Unter¬ 
scheidung zwischen pathogenen und nicht¬ 
pathogenen Arten zu .gelangen. Auch ist 
die Uebereinstimmung der hämolytischen 
Fähigkeit dieser Kokken und der Virulenz¬ 
bestimmung nach der vorliegenden Methode 
ganz auffallend. Die als virulent erwiesenen 
und nach den klinischen Ermittlungen auch 
wirklich virulenten bildeten nämlich Hämo¬ 
lysine, die als avirulent erwiesenen nicht. 

Klink. 

(v. Bruns Bcitr. z. klin. Chir. 1910, Bd. 66, H. 2.) 

Die Einrichtung von Luftbädern in 
Lungenheilstätten befürwortet Dr. Zick¬ 
graf (Groß Hausdorf). Er berichtet, daß 
bei 34 darauf beobachteten Patienten das 
Körpergewicht mehr sich hob, trotz ge¬ 
ringer Abnahme nach jedem Luftbad, als 
bei solchen, die nicht das Luftbad be¬ 
nutzten, sonst aber gleich behandelt wurden. 
Beachtenswert ist auch, daß die ver¬ 
bissensten und arbeitsunlustigsten Patienten 
ohne Sträuben jeglicher Arbeit sich unter¬ 
zogen. Dazu kommt die bald bemerkbare 
Hebung des Allgemeinzustandes. Es er¬ 
scheint uns nicht unwichtig, darauf auf¬ 
merksam zu machen, daß so durch prakti¬ 
sche Erfolge die früher bestehenden theo- 

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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


August 


retischen Kontraindikationen gegen das 
Luftbad immer weiter eingeschränkt wer¬ 
den. Uebrigens hat vor mehr als 8 Jahren 
bereits Schweninger im Lichterfelder 
Krankenhause auch Tuberkulösen die Vor¬ 
teile des Luftbades angedeihen lassen. 

Hauffe (Ebenhausen). 

(Ztschr. f. phys. u. diftt. Ther., Februar 1910.) 

Jede umfangreiche Mitteilung Ober 
Lumbalanästhesie ist mit Freuden zu be¬ 
grüßen, denn die schöne Methode steht 
wegen der schweren Zufälle, die danach 
gemeldet wurden, in Gefahr, verlassen zu 
werden. Ein treuer Anhänger derselben 
ist Slajmer (Laibach), der sie in 2700Fällen 
mit Tropakokain ausgefQhrt hat. Als Gegen¬ 
anzeige gilt ihm Sepsis, schweres Fieber, 
floride Tuberkulose und Lues in den ersten 
Stadien, schwere Rückenmarkserkrankun¬ 
gen, während er sie öfters bei halbseitiger 
Lähmung nach alten Apoplexien anwandte. 
Von besonderem Wert zeigte sich die 
Methode bei sehr alten Leuten, bei schweren 
Lungen-, Herz- und Nierenleiden, bei 
schwerem Diabetes und Arteriosklerose. 
Eine Nierenstörung trat nie auf. Niemals 
war die Injektion technisch unmöglich, 
immer entleerte sich Liquor. Es wurde 
stets Tropakokain Merck in sterilen Phiolen 
zu 0,05 und 0,10 in physiologischer Koch¬ 
salzlösung verwandt. Temperaturen bis 
37,8° kamen in 20%, bis 390 in 6—7% 
vor, stets als Folge fehlerhafter Technik. 
Leichte Kopfschmerzen zeigten sich in 25%, 
länger dauernde in 2%; Pyramidon und 
Koffein wirkten gut gegen dieselben; stär¬ 
kere Kopfschmerzen schwanden auf Ent¬ 
leerung von 5—10 ccm Liquor cerebrospi¬ 
nalis. Für die Dauer der Anästhesie be¬ 
steht eine schwache Parese des Sphincter 
ani. Das Tropakokain scheint außerdem 
den Darm anzuregen. Blasenstörungen sind 
nicht häufiger als nach anderen Narkosen. 
Schwere Kollapse wurden 7 mal erlebt, fast 
stets bei Beckenhochlagerung. Unvoll¬ 
kommen war die Anästhesie 106 mal, stets 
infolge fehlerhafter Technik. Andauernde 
Nervenlähmung, besonders der Augen¬ 
nerven, traten nicht ein. Todesfälle kamen 
nicht vor. Manchmal entstand der Ein¬ 
druck, daß nachträglich stärkere Blutungen 
auftraten nach Auf hören der Tropakokain¬ 
wirkung. Die gewöhnlich verbrauchte Menge 
war: bei Hernienoperationen, Appendekto¬ 
mien, Magen-, Gallenblasen-, Nierenopera¬ 
tionen 0,07, bei Operationen an Blase, Darm, 
Anus, Genitalien 0,04—0,05. Neuerdings 
gibt Verf. bei größeren Laparotomien eine 
Stunde vorher Skopolamin - Morphium 


(0,003—0,01) subkutan. Als unterste Grenze 
gilt das 14. Jahr. Für die Operationen galt 
der Magen als oberste Grenze. Der Ein¬ 
stich wurde unterhalb des 3. oder 4. Lenden¬ 
wirbels gemacht, medial oder lateral, meist 
sitzend. Von dem Liquor wird so viel ab¬ 
gelassen, als Feuchtigkeit eingespritzt wird; 
man spritzt ein, wenn derselbe im Strahl 
oder rasch tropfend fließt. Nach der In¬ 
jektion wird etwas Liquor angesaugt und 
wieder injiziert, doch darf keine Gewalt bei 
der Aspiration angewandt werden. Die 
Rekordspritze und Nadel werden in physio¬ 
logischer Kochsalzlösung ausgekocht. Adre¬ 
nalin oder andere Nebennierenpräparate 
wurden nie verwandt. Die Nadel soll 8 bis 
9 cm lang, höchstens 1 mm dick sein, die 
Spitze kurz; gut sind Hartnickelnadeln. 
Bei Hirntumoren und bei traumatischen und 
entzündlichen Prozessen an Hirn und 
Rückenmark wurde die Punktion ohne 
Schaden ausgeführt. Die Lumbalanästhesie 
soll nur angewandt werden, wo die Lokal¬ 
anästhesie nicht möglich ist. Klink. 

(v. Bruns Beitr. z. klin. Chir. 1910, Bd. 67.) 

Die namentlich für die Beurteilung von 
Unfällen wichtigen Beziehungen zwischen 
Lunge und Trauma macht Külbs, dem wir 
auch ähnliche Studien in bezug auf das Herz 
verdanken, in verdienstlicher Weise einer 
experimentellen Analyse zugänglich. Külbs 
konnte bei Hunden durch stumpfe Gewalt¬ 
einwirkung auf die Thoraxwand neben 
leichten Pleuraverletzungen ziemlich erheb¬ 
liche Veränderungen an den Lungen er¬ 
zeugen, so Blutungen, gröberere Zerreißun¬ 
gen von Pleura pulmonalis und Lungen¬ 
gewebe, Die Weichteile blieben dabei oft 
unverletzt Bei den einige Tage oder 
Wochen nach dem Schlage getöteten Tieren 
fand man ein mehr oder wenig reichlich 
Blutfarbstoff einschließendes Granulations¬ 
gewebe. Später ging dieses in ein gefä߬ 
armes, derbes Bindegewebe über. 

Beim Schlage gegen die vordere und 
seitliche Thoraxwand — nie bei Erschütte¬ 
rungen der hinteren Thoraxwand — trat 
Kontrecoupwirkung gelegentlich auch in 
entfernteren Lungenbezirken auf, z. B. Blu¬ 
tungen im rechten Oberlappen beim Schlag 
gegen den linken Unterlappen. Die leich¬ 
tere Ansiedlung von Bakterien in einem 
derart veränderten Lungengewebe ist ohne 
weiteres zuzugeben. 

Das Zustandekommen der traumatischen 
Pneumonie gewinnt jedenfalls nach diesen 
dankenswerten Untersuchungen viel mehr an 
Wahrscheinlichkeit. K. Reicher. 

(Arch. f. experim.Pathol.u.Pharmak., Bd. 62, H.l.) 


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August 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


373 


Mann berichtet über Resultate bei der 
Behandlung der Lungentuberkulose mit 
dem Marmorekschen Serum. Nach 
seinen Erfahrungen trat in den meisten 
Fällen darnach eine fortschreitende Ver¬ 
schlechterung des lokalen Befundes ein. 
Nach den Obduktionsbefunden gewann er 
den Eindruck, daß das Serum dem spezi¬ 
fischen Zerstörungsprozeß der Bazillen Vor¬ 
schub leistet. Es fand sich, obzwar nur leichte 
Fälle in Behandlung genommen wurden, 
bei der Obduktion der tuberkulöse Prozeß 
über die ganze Oberfläche der Lungen 
ausgebreitet und im Infiltrate waren zahl¬ 
lose kleine Kavernen und peribronchitische 
Abszesse vorhanden. H. W. 

(Wiener klin. Wochenschr. Nr. 42.) 

Nicht penetrierende kallöse Magenge¬ 
schwüre sind nicht selten, besonders an der 
kleinen Kurvatur und Pars pylorica; alle 
penetrierenden, d. h. die Magenwand 
durch wachsenden und auf die Nachbar¬ 
organe übergreifenden Magengeschwüre 
sind kallös, alle bilden mächtige Bindege¬ 
webswucherung, sind von derben, entzünd¬ 
lichen Wällen umgeben. Schwarz (Agram) 
teilt 17 derartige Fälle mit. Die Therapie 
kann natürlich nur chirurgisch sein. Die 
Exzision des Magengeschwürs beseitigt nur 
das Symptom, die Magengeschwürskrank¬ 
heit wird dadurch nicht berührt. Die kau¬ 
sale Therapie des Magengeschwürs ist die 
Gastroenterostomie; hiernach wird auch 
durch das Ueberfließen des alkalischen, 
mit Galle und Pankreassafc gemengten 
Darmsaftes, in den Magen der Magensaft 
neutralisiert, wodurch die Neubildung von 
Magengeschwüren erschwert wird. Schwarz 
führte früher die segmentäre Resektion aus, 
fügte später prinzipiell die Gastroenterosto¬ 
mie hinzu und begnügt sich jetzt bei allen 
Magenleber- und Magenpankreasgeschwüren 
mit der Gastroenterostomie; der Erfolg der 
letzteren Operation ist auch bei solchen 
penetrierenden Geschwüren, die weitab vom 
gesunden Pylorus liegen, ganz überraschend. 
Die Furcht vor krebsiger Umwandlung des 
kallösen Ulkus darf nicht zu radikalen Ope¬ 
rationen verleiten, denn man sieht nach 
Gastroenterostomie allein penetrierende 
Ulzera ganz ausheilen; ist aber eine karzi- 
nomatöse Umwandlung schon im Gange, 
hat sie bereits auf Leber oder Pankreas 
übergegriffen, dann dürfte auch die radi¬ 
kalste Operation zwecklos sein. Natürlich 
hilft auch die Gastroenterostomie nicht in 
allen Fällen. Die Gastroenterostomie soll 
ein reichliches Einströmen von Galle und 
Pankreassaft in den Magen gestatten; sie 
ist am besten als hintere und recht breit 


anzulegen. Das penetrierende Ulkus heilt 
leichter nach der Gastroenterostomie als 
das einfache, vielleicht infolge der Still¬ 
legung durch die Verwachsung mit Nach¬ 
barorganen. Sehr beachtenswert ist die 
Methode der Maydlschen Klinik, bei allen 
superaziden Ulzera der Exzision des Ulcus 
diePylorusresektion hinzuzufügen. Für diese 
Operation spricht neben den guten Er¬ 
folgen die theoretische Berechtigung: Der 
Mageninhalt und saure Magensaft kann sich 
nicht mehr stauen; vom Pylorus aus wird 
der Reiz zur Sekretion des sauren Magen¬ 
saftes ausgelöst, was nach seiner Resektion 
verhindert wird. Bei den Magenbauch¬ 
wandgeschwüren muß man das Ulkus ex- 
zidieren, was sich meist leichter machen 
läßt, und dann gastroenterostomieren. — 
Den penetrierenden Magengeschwüren nahe 
verwandt sind die penetrierenden Jejunal¬ 
geschwüre; sie können sich nach Gastro¬ 
enterostomie entwickeln, können ohne vor¬ 
herige Beschwerden in die Bauchhöhle per¬ 
forieren, können unter Bildung entzünd¬ 
licher Tumoren in die Bauch wand wachsen, 
können ins Colon transversum perforieren. 
Die Beschwerden können Jahre nach der 
Gastroenterostomie auftreten. Manchmal 
tritt nach Nahrungsaufnahme eine Linde¬ 
rung der Beschwerden ein; Erbrechen ist 
selten. Viel seltener tritt das Jejunalge¬ 
schwür nach hinterer, als nach vorderer 
Gastroenterostomie auf. Dem entspricht 
die chirurgische Behandlung: das Geschwür 
ist zu exzidieren und eine Gastroentero- 
stomia post, anzulegen. Eine Jejunostomie 
hat immer versagt. Wenn alles andere 
versagt, wäre eine Cholezystogastrostomie 
zu machen, um die Magenschleimhaut stän¬ 
dig alkalisch zu berieseln. Klink. 

(v. Bruns Beitr. z. klin. Chir. 1910, Bd. 67.) 

Einen neuen Vorschlag zur Erzielung 
von tiefen Narkosen macht L. Burk¬ 
hard t-Freiburg. Er führt das Narkotikum 
(Chloroform oder Aether) in physiologischer 
Kochsalzlösung verteilt, intravenös ein 
und hebt als Vorteile dieser Methode den 
außerordentlich geringen Verbrauch an 
Chloroform beziehungsweise Aether sowie 
die exakte Dosierbarkeit hervor. Außer 
gelegentlicher Hämoglobinurie und vor¬ 
übergehender Nierenreizung hat Burk¬ 
hardt bei Menschen und Tieren keine üblen 
Nachwirkungen gesehen. Atmung und Puls 
blieben während der ganzen Narkose auf¬ 
fallend ruhig. Es muß natürlich abgewartet 
werden, ob die günstigen Erfahrungen, 
welche an kleinem Materiale mit dieser 
immerhin einen ernsten Eingriff bedeuten¬ 
den Methode gewonnen wurden, einer 


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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


August 


Nachprüfung an vielen Fällen Stand halten 
werden. K. Reicher. 

(Arch. f. experim. Pathol. u. Pharmak., Bd. 61, 
H. 4—6 ) 

Auerbach und Brodnitz, deren ge¬ 
meinsame Arbeit bereits eine Reihe günstiger 
Resultate auf dem Gebiete der Neuro¬ 
chirurgie aufzuweisen hat, haben einige 
weitere Beiträge zur Hirn- und Rücken¬ 
markschirurgie geliefert, an deren Hand 
sie ihren Standpunkt über einige noch der 
Diskussion unterstehende Punkte der Dia¬ 
gnose und Behandlung der Tumoren des 
Zentralnervensystems präzisieren. 

Fall I. Mehrere Jahre mit langen Re¬ 
missionen heftige neuralgische Schmerzen 
im Nacken, die zuletzt in den Vorderarm 
und die rechte Hand ausstrahlen. Darauf 
Schwäche des rechten Beines und Inkon- 
tinentia urinae. 

Objektiv: Rechte Pupille und Lidspalte 
etwas erweitert. Spastische Parese des 
rechten Beines, Fußklonus, Babinski, Pa- 
tellarklonus; links keine Spasmen, jedoch 
Fuß- und Patellarklonus, Babinski. 

Am rechten Bein taktile Hyperästhesie, 
links Hypalgesie und Hypothermie, also 
Brown-S6quardscher Komplex. 

Nach antiluetischer Kur Verschlimme¬ 
rung. Zunehmende Lähmung des linken 
Beines. Sehr beträchtliche Rigidität beider 
Beine, Neigung zu tonischen Krämpfen bei 
geringen Reizen. Jetzt auch am rechten 
Bein und der rechten Körperhälfte bis zur 

3. Rippe Hypalgesie und Hypothermie. 

Diagnose: Intraduraler, extramedullärer 

Tumor. Für die Ermittlung des Sitzes 
wurde die oberste Grenze der sensiblen 
Lähmung verwertet. Diese fiel mit dem 
2.-3. Dorsalsegment zusammen, so daß 
man unter Berücksichtigung der Tatsache, 
daß die Kreuzung der Schmerz- und Tem¬ 
peraturbahnen immer einige Segmente 
höher liegt, als oberste Grenze der ver¬ 
muteten Neubildung das 7.—8. Zervikal¬ 
segment angegeben werden konnte. Diese 
Annahme wurde auch gestützt durch das 
okulopupilläre Symptom, das in diesem 
Falle als ein Reizsymptom des 8. Zervikal- 
Segmentes aufgefaßt wurde. 

Operation zweizeitig. Nach Resektion 
der Wirbelbögen sieht man den das 
Rückenmark stark komprimierenden Tumor, 
der vom 3. Dorsalwirbelbogen bis zum 

4. Halswirbelbogen reicht. Lösung des 
Tumors von der Dura, Exstirpation. 

TrotzKopferysipelsundeinerOtitismedia 
genas der Patient und konnte nach 3 Mona en 
sich mühelos fortbewegen. Nach weiteren 
9 Monaten war restlose Heilung eingetreten. 


Die epikritischen Bemerkungen, die Ver¬ 
fasser in neurologischer sowie chirurgischer 
Hinsicht an diesen Fall knüpfen, eignen sich 
nicht für eine Wiedergabe in extenso und 
müssen im Original nachgelesen werden. 

Die folgende Krankheitsgeschichte be¬ 
handelt einen Fall von Neurofibrom des 
Ulnaris. Es wurde der diagnostizierte, 
5 cm lange Tumor reseziert und die 
Nervenenden durch Lappenbildung ver¬ 
einigt. Es erfolgte innerhalb 5 Wochen 
glatte Heilung. Bemerkenswert ist die 
auch bei anderen Nervensektionen ge¬ 
fundene Tatsache des Ausbleibens von 
Lähmungserscheinungen unmittelbar nach 
Kontinuitätstrennung des betreffenden 
Nerven. 

Die letzte Beobachtung führt in das 
Gebiet der Hirn Chirurgie. Es handelt sich 
um ein zwölfjähriges Mädchen, das seit 
vier Jahren an Kopfschmerzen litt, ln den 
letzten Wochen stärkerer Kopfschmerz, 
Flimmern vor den Augen und Erbrechen. 
Dazu kam Unsicherheit des Ganges. 

Objektiv: Patellarreflexe beiderseits 
schwach, Andeutung von Romberg. Babinski 
links kein Nystagmus. Neuritis optika. 

14 Tage später, rechte Pupille fast starr, 
links träge Reaktion. Konjunktivalreflexe 
fehlen. Linker Kornealreflex abgeschwächt. 
Bewegungsataxie der linken Hand und des 
linken Fußes. Adiadokokinesis der linken 
Hand. Zerebellare Ataxie. Patellarreflexe 
erloschen. Deutliche Stauungspapille. Klopf¬ 
empfindlichkeit des linken Okkiput. 

Diagnose: Tumor cerebelli. Sitz mit 
Rücksicht auf die linksseitige Bewegungs¬ 
ataxie und Adiadokokinesis ebenfalls links. 

Bei Anlegung der Trepanationsöffnung 
profuse Blutung, die nur mit Mühe durch 
eine Wachsplombe gestillt werden konnte. 
8 Stunden später Exitus an den Folgen 
des schweren Blutverlustes. 

Bei der Sektion fand sich der vermutete 
Tumor, ein zellreiches Gliom der linken 
Kleinhirnhemisphäre. Bemerkenswert ist, 
daß die tötliche Blutung aus einem Aneu¬ 
rysma des Konfluens sinuum erfolgt war. 

Leo Jacobsohn. 

(Mitt. a. d. Grzgb. d. Med. u. Chir. 1910, H. 4.) 

Sitzenfrey hat 58 Eklampsiefälle 
gesammelt, die mit Nierendekapsolation 
behandelt wurden. Mortalität = 39,6%. 
19% betrafen Schwangere, 31 % der 
Eklampsien Puerperae. Die Mortalität der 
ersteren war 45 %, die der letzteren 28 %. 
Die Mortalität der Nierendekapsulation an 
sich sollte Oo/ 0 sein. Die einseitige De- 
kapsulation ist mit Rücksicht auf die hohe 
Mortalität bei Eklampsie abzulehnen, auch 


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August 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


375 


wenn die eine Niere bedeutend kränker 
gefunden wird. Es sind wegen des nicht 
selten außerordentlich schnellen Verlaufs 
der Eklampsie stets beide Nieren zu de- 
kapsulieren, um möglichst rasch eine aus¬ 
giebige Diurese zu erzeugen und die Ge¬ 
fahr der Anurie infolge akuter Nierenin¬ 
suffizienz abzuwenden. In 80o/ 0 folgte auf 
die Dekapsulation eine deutliche Hebung 
der Diurese. Bei der Beurteilung der Re¬ 
sultate — 33o/ 0 Mortalität bei doppelter 
Dekapsulation — muß man bedenken, daß 
auch bei schwersten Eklampsien spontan 
eine plötzliche Genesung eintreten kann. 
Die Hebung der Diurese ist die physio¬ 
logische Wirkung der Dekapsulation und 
hat natürlich nur Zweck, wenn die Harn¬ 
sekretion darniederliegt; bei guter Diurese 
hat die Operation keine Berechtigung, wenn 
auch die Anfälle sehr stark und häufig sind 
und das Koma tief ist. Die Mortalität bei 
Eklampsie beträgt ohne Eingriff an den 
Nieren etwa 20%. Die größten Verände¬ 
rungen finden sich anNieren: Degeneration am 
sezemierenden Parenchym; an Leber: fibri¬ 
nöse Thromben und Parenchymnekrosen; 
an Gehirn: Erweichungsherde, Blutungen, 
Oedeme. Bei der Niereneklampsie beherrscht 
die Oligurie bzw. Anurie und die Harn¬ 
veränderung das Krankheitsbild; bei der 
Lebereklampsie der Ikterus; bei der Hirn¬ 
eklampsie die schweren eklamptischen An¬ 
fälle in dem tiefen Koma. Die Dekapsu- 
iadon hat natürlich nur Zweck bei der 
renalen Eklampsie; sie beseitigt die intra¬ 
renale Spannungserhöhung und damit die 
Anurie, Zyiindrurie, Hämaturie und häufig 
die Albuminurie, immer vorausgesetzt, daß 
noch keine schweren Parenchymverände- 
rungen vorhanden sind. Die intrarenale 
Spannungserhöhung kann entstehen: 
1. Durch Verschluß oder Kompression 
beider oder selbst eines Ureters. 2. Durch 
Verlegung der Harnkanälchenlumina durch 
Harnzylinder, Harnsäure, Kalk, Bilirubin, 
Hämoglobin. 3. Durch Kompression der 
Nierenvene, infolge von erhöhtem intraab¬ 
dominalen Druck bei Gravidität, oder hoch¬ 
gradiger Stauung in derselben. 4. Durch 
beträchtliche Verengerung der Lumina der 
Nierenarterie und deren Aeste infolge von 
Gefäßkrampf. 5. Durch entzündliche Ver¬ 
änderung des Nierengewebes. Bei der 
Operation fand man drei Formen: 1. Die 
geschwollene blaurote Niere, 2. die große 
weiße Niere, 3. die ödematöse, weiche, 
matsche Niere. Mit großen Kochsalzinfu¬ 
sionen soll man bei Eklamptischen vor¬ 
sichtig sein, da dieselben eine Kochsalz¬ 
retention im Blute, eine Verschlimmerung 


der Nierenkrankheit und Zunahme der 
Oedeme bedingen können. Die Dekapsu¬ 
lation bei Eklampsie ist angezeigt, wenn 
nach erfolgter Entbindung die Harnsekretion 
nicht oder nur ungenügend in Gang kommt 
und durch andere Mittel nicht zu heben ist. 
Wie lange man zuwarten kann, dafür fehlt 
jeder Anhaltspunkt. Zu berücksichtigen ist 
die reflektorische Anurie nach Operationen, 
die bald zu schwinden pflegt. Klink. 

(v. Bruns Bcitr. z. klin. Chir, 1910, Bd. 67.) 

Einen Fall von Nephrolithiasis als Folge 
subkutaner Nierenverletzung berichtet 
Casper. Der Patient war bis zu seinem 
Unfall völlig gesund gewesen, hatte ins¬ 
besondere auch bei schwerster Arbeit nie¬ 
mals Blutharnen gehabt. Unmittelbar nach 
dem Trauma der rechten Nierengegend 
entleerte er blutigen Urin. Die Hämaturie 
verschwand; Patient nahm die Arbeit wieder 
auf, und alsbald wurde auch sein Harn 
wieder fleischwasserfarben. Das wieder¬ 
holte sich mehrfach, auch während er in 
Caspers Klinik beobachtet wurde. Der 
Eintritt der Hämaturie war stets von 
Schmerzen begleitet. Durch Ureterenkathe- 
terismus wurde festgestellt, daß die ab¬ 
normen Bestandteile des Harns ausschlie߬ 
lich der rechten Niere entstammten; nur 
ein steter Reichtum an Oxalatkristallen kam 
dem Sediment der Urine beider Nieren 
gleichmäßig zu. Unter dieser bloß lokali- 
satorisch präzisen Diagnose gelangte der 
Patient zur Operation, die in der Entfernung 
eines halbbohnengroßen Steins aus dem 
rechten Nierenbecken bestand und schlie߬ 
lich vollständige Heilung herbeiführte. 
Das Konkrement war ein mit Oxalat¬ 
kristallen inkrustiertes Blutgerinnsel. Diese 
Zusammensetzung im Verein mit der Be- 
schwerdelosigkeit vor dem Unfall und seit 
der Operation sieht Casper als Beweis 
für die traumatische Genese dieses Falls 
von Nephrolithiasis an. Eine Nierenver¬ 
letzung führt nur dann zur Entstehung 
eines Konkrements, wenn, wie selten, gleich¬ 
zeitig eine Ueberladung des Harns mit 
Salzen besteht. Auch in dieser Beziehung 
ist der vorliegende Fall lehrreich, indem 
er beweist, daß auch Oxalate, nicht bloß 
Phosphate und Urate, um ein Fremdkörper¬ 
stroma herum als Steine auskristallisieren 
können. Meidner (Berlin). 

(Bert. klin. Woch. 1910, Nr. 19.) 

Fritsch(-Küttner) teilt einen lehr¬ 
reichen Fall von Ulcus ventriculi perforans 
als Aetiologie der Pankreasnekrose mit: 
Langjährige Ulkusbeschwerden; Erschei¬ 
nungen von Perforationsperitonitis. Ope¬ 
ration: Eröffnung eines großen Abszesses 


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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


August 


zwischen Magen und Zwerchfell mit stin¬ 
kendem Eiter. Durch Tamponade wird die 
Peritonitis abgegrenzt, und die Oeffnung 
im Magen schließt sich durch Verklebungen; 
in der 3. Woche Pneumonie, in der 4. 
Parotitis. Plötzlich Entleerung von reich¬ 
licher weißer Flüssigkeit aus der Wunde: 
Pankreassaft. Der Patient erliegt dem 
Kräfteverfall. Autopsie: Ulcus ventriculi 
perforans und totale Pankreasnekrose. Bei 
der ersten Operation bestand noch keine 
Pankreaserkrankung; dieselbe entstand erst 
infolge der direkten Infektion des Pankreas 
durch die Eiterung. Die Cammidgeprobe 
war positiv. Es ist der zweite derartige 
bisher mitgeteilte Fall. Klink. 

(Bruns B. 1910, Bd. 66, H. 1.) 

Die Veränderung des Mittellappens bei 
der ProstatÄhypertrophie festzustellen, 
macht große Schwierigkeiten, da die 
Untersuchung vom Rectum aus oft ver¬ 
sagt, auch die Untersuchung mit starren 
Sonden keine genauen Aufschlüsse gibt 
und die Cystoskopie in vielen Fällen tech¬ 
nisch unausführbar und wegen Blutungs¬ 
und Infektionsgefahr zu gefahrvoll ist. 
Burkhärdt und Floercken empfehlen 
deshalb die Darstellung der vergrößerten 
Prostata auf röntgographischem Wege mit 
gleichzeitiger Füllung der Blase mit Sauer¬ 
stoff, bei der ja auch, worauf Burkhardt 
schon früher hinwies, Fremdkörper sehr 
deutlich auf der Platte hervortreten. 

Nach Einführung eines elastischen 
Katheters wird die Blase vorsichtig ent¬ 
leert und mit Sauerstoff gefüllt, indem 
entweder der Katheter direkt mit einer 
Sauerstoffbombe oder aber mit einer 
3°/oiges Wasserstoffsuperoxyd enthaltenden 
Flasche, die eine als Katalysator dienende 
Kalium-hypermangan. Pastille enthält, in 
Verbindung gebracht wird. Die Füllung 
wird unterbrochen, sobald die Blase 
sich vorwölbt und der Patient über Span¬ 
nungsgefühl klagt. Will man wegen 
Blutungsgefahr die Blase nicht ganz ent¬ 
leeren, so bedient man sich eines doppel¬ 
läufigen Katheters; es kann so der Urin 
langsam abfließen, während Sauerstoff 
einströmt. Die beigegebenen Röntgen¬ 
bilder zeigen sehr schön die Vergrößerung 
des Mittellappens und der Seitenlappen, 
außerdem auch die Ausdehnung und den 
Hochstand der Blase. 

Die röntgographische Darstellung der 
Prostata kann eventuell ausschlaggebend 
sein für die Art der Operation, da nach 
Ansicht einer großen Zahl von Chirurgen 
bei der Vergrößerung des Mittellappens 
die suprapubische Methode, in anderen 


Fällen die perineale bezw. Wilms’sche Ope¬ 
ration vorzuziehen ist. 

Hohmeier (Altona). 

S. Zcitschr. f. Chir. Bd. 105 Heft 1 u. 2. 

Ueber die Folgezustände der Verletzun¬ 
gen des Schläfenbeins berichtete auf dem 
Otologenkongreß Manasse (Straßburg L 
Eis.). Derselbe teilt die Folgezustände 
der Verletzungen des Schläfenbeins in 
3 Gruppen: 

* I. Fälle, die direkt durch das Trauma 
zugrunde gehen; 

II. Fälle, die indirekt, also an den weiteren 
Folgen des Traumas, das Leben ein¬ 
büßen ; 

III. Fälle, die mit dem Leben davonkommen. 

Die I. Gruppe ist für das Referat ohne 
Interesse, die II. wird kurz besprochen, 
zu ihr gehören die Fälle, di.e an eitriger 
Meningitis, selten an Sinusthromben oder 
Hirnabszessen zugrunde gehen. Man könnte 
sie bezeichnen als „entzündliche Erkrankun¬ 
gen des Hirns und seiner Häute nach 
Felsenbeintraumen“. 

Das größte Interesse beansprucht die 
III. Gruppe, welche diejenigen Patienten 
umfaßt, die an ihrem Felsenbeintrauma 
weder direkt noch indirekt zugrunde gehen. 
Sie werden eingeteilt in 

A. solche, die auch funktionell zur völligen 
oder fast völligen Heilung kommen. 

a) Leichte Fälle, mit normalem oder 
fast normalem Gehör, aber sonst deut¬ 
lich nachweisbaren Labyrinthstörun¬ 
gen, bedingt durch Commotio laby- 
rinthi. 

b) Schwere Fälle von typischer Basis¬ 
fraktur, die trotzdem auch zur funk¬ 
tioneilen Heilung kommen (ziemlich 
selten). 

B. Fälle mit dauernder schwerer Schädi¬ 
gung der Funktion: traumatische Taubheit 
oder Schwerhörigkeit. 

a) Zufolge von Felsenbeinfraktur. 

b) Zufolge von Commotio labyrinthi, beide 
nur anatomisch, weniger klinisch zu 
unterscheiden. 

(OtologenkongreB 1910.) 

Neumayer hat im Chirosoter Klapp 
ein ausgezeichnetes Mittel zur Behandlung 
von Verbrennungen gefunden. Die Ver¬ 
brennungen 1. Grades werden mit Chiro¬ 
soter übersprayt und steril verbunden; 
bei Verbrennungen 2. Grades werden erst 
die Blasendecken abgetragen, der gallertige 
Inhalt der Blasen mit feuchten Tupfern be¬ 
seitigt, dann folgt Chirosoterspray und 
steriler Verband. Bei Verbrennungen 
3. Grades werden nur die herunterhängen¬ 
den, nekrotischen Fetzen entfernt, im 


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August 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


377 


übrigen bleibt der Schorf liegen; die ganze 
Wundfläche wird übersprayt und mit ste¬ 
rilem Verband bedeckt. Der erste Verband 
bleibt solange liegen, bis er durchtränkt 
ist. Beim Verbandwechsel tupft man etwa 
vorhandenes Sekret am besten mit Koch¬ 
salztupfern ab. Die Sekretion ist aber bei 
Anwendung dieses Mittels gering, da das 
Chirosoter die sezernierenden Oeffnungen 
verschließt und so zu einer Verminderung 
des Eiweißverlustes führt. Verunreinigte 
Brandwunden kann man abspülen oder 
wenn die Gelegenheit dazu fehlt, ohne jede 
Reinigung mit Chirosoter übersprayen oder 
einfach übergießen und steril verbinden. 
Die auf der Wundfläche liegenden Krusten 
sollen nur an den Stellen, an denen sie 
sich spontan lösen, abgetragen werden. 
Die noch festsitzenden sollen liegen bleiben, 
bis sie von selber abfallen. Fallen die 
Borken ab, so kommt darunter die neue 
junge Haut zum Vorschein; zur Kräftigung 
und Geschmeidigmachung derselben, em¬ 
pfiehlt es sich, sie noch 1—2 mal mit Chiro¬ 
soter zu übersprayen und sie für einige 
Tage mit einem Schutz verband zu be¬ 
decken. 

Sehr angenehm bei dieser Behandlung 


ist die in den meisten Fällen bald nach 
dem Spray auftretende Schmerzlosigkeit. 
Um auch bei sehr empfindlichen Patienten 
Linderung der Schmerzen zu erreichen, 
wendet Neumayer das 1 %ige Alypin- 
Chirosoter an. 

Eine Wucherung der Granulationen ist 
nicht zu befürchten, der Höllensteinstift 
kommt nur selten in Anwendung. 

Um die Ueberhäutung der Wundflächen 
noch mehr zu beschleunigen, empfiehlt 
Neumayer die von ihm erprobte Schar- 
lachrot-Chirosoteremulsion. 

Die Narben werden bei dieser Behand¬ 
lungsart glatt, zeigen wenig Neigung zur 
Schrumpfung. 

Neumayers Erfolge mit dieser Be¬ 
handlungsmethode sind sehr gute und er 
empfiehlt das Mittel, weil es einfach und 
billig ist, die Infektion verhindert, die 
Heilung beschleunigt, schöne, glatte Narben 
gibt und die Schmerzen lindert. 

Neumayer fügt noch an, daß die ge¬ 
schilderte Behandlung auch bei hart¬ 
näckigem, nässenden Ekzem, auch Jodo¬ 
formekzem, gute Dienste geleistet hat. 

Hohmeier (Altona). 

(Deutsche Zschr. f. Chir. Bd. 104. H. 5. u. 6.) 


Therapeutischer Meinungsaustausch. 

Aas der Prof. Dr. v. Bardelebenschen Poliklinik für Frauenkrankheiten, Berlin. 
Baldriao-Therapie bei nervösen Storungen. 

Von Dr. Theo Kuttner, Assistent. 


Die wirksame Substanz der Baldrian¬ 
wurzel befindet sich in dem ätherischen 
Baldrianöl, welch letzteres in der Wurzel 
bis zirka 1% nachgewiesen worden ist. 
Es wirkt anscheinend vornehmlich der 
Ester des Borneol lsovalerianats, welches 
sich in dem Oel der getrockneten Wurzel 
bis zirka 9 0 / 0 , dagegen zu Beginn des 
Trocknens bis zirka 12% befindet (Kobert). 

Beim Menschen und beim Tierexperi¬ 
ment wirkt es in kleinen Dosen etwas an¬ 
regend auf das Nervensystem und wird 
daher bei Kollapszuständen, Gehirndepres¬ 
sionen, allgemeiner Schwäche angewandt, 
in etwas größeren Gaben wirkt es gefä߬ 
erweiternd und sedativ auf das Nerven¬ 
system. Nach größeren (doppelten) Dosen 
wirkt es als Antispasmodikum durch Herab¬ 
setzung der Reflexerregbarkeit. 

Der Baldrian ist benutzt worden als 
Unterstützungsmittel der Bromidbehandlung 
bei Epilepsie. Bei Tieren gelingt es, 
Strychnin- und Ammoniakkrämpfe durch 
Baldrianöl zu beseitigen (Kobert). Es 
ermöglicht, den Blutdruck zu erniedrigen 
bei Vasospasmen durch die gefäßerwei¬ 


ternde Wirkung auf das Zirkulationssystem 
und kann daher mit großem Vorteil bei 
unerwünschtem,hyperämischemBlutandrang 
nach dem Kopfe und den Geschlechts¬ 
organen angewandt werden. Auch in 
Fällen von Shok und Kollaps, durch Angst, 
Schreck oder dergleichen hervorgerufen, 
wie z. B. nach kleinen operativen Eingriffen 
oder ärztlichen Untersuchungen bei sehr 
nervösen Individuen, angekündigt durch 
Gesichtsblässe, erweiterte Pupillen und 
kalte Extremitäten, läßt sich die zweck¬ 
mäßige Wirkung so erklären, daß die 
wahrscheinliche passive Hyperämie des 
intraabdominalen Venensystems sich auf¬ 
löst, wenn die Gefäßerweiterung des aite- 
riellen Systems stattfindet Als Sedativum 
in der Behandlung von Angstneurosen 
neurasthenischer und hysterischer Kranker 
hat es sich in der Therapie schon seit 
längerer Zeit bewährt. 

Um die Wirksamkeit des Borneols zu 
erhöhen, hat man Isovaleriansäure-Borneol- 
ester mit Brom chemisch vereinigt, wodurch 
das Präparat sehr erheblich an Geschmack, 
Bekömmlichkeit und Geruch gewinnt. 

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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


August 


Der gewonnene Monobromisovalerian- 
säure-Borneolester enthält 25,2 °/o Brom, 
26,5% Isovaleriansäure, 48,3% Borneol 
und wird von der Fabrik Schering ab¬ 
gekürzt „Valisan“ genannt, in Gelatine¬ 
kapseln ä 0,25 in Originalpackungen (Blech¬ 
dosen ä 10 und 30 Stück) in den Handel 
gebracht. Das flüssige Valisan, welches 
wir auch zur Verfügung hatten, ist wasser¬ 
hell, von glyzerinartiger Konsistenz und 
hat einen leichten aromatischen Geruch 
und Geschmack. Es ist nicht in Wasser, 
sondern in organischen Lösungsmitteln 
löslich. 

Es hat sich bei uns als ein besonders 
gutes therapeutisches Hilfsmittel in zahl¬ 
reichen Fällen bei verschiedenen Störungen 
des Zentral- und sympathischen Nerven¬ 
systems bewährt, und die in unserer Klinik 
erzielten guten Resultate stellen somit nur 
eine Bestätigung des auf der inneren Ab¬ 
teilung des städtischen Krankenhauses 
Charlottenburg-Westend (Vorstand Prof. 
Dr. Grawitz) mit diesem Präparate er¬ 
zielten Erfolges dar. 

Besonders gut bewährt hat es sich in 
Fällen von Neurasthenie, Hysterie, Reiz¬ 
barkeit des Nervensystems und Angst¬ 
neurosen bei Onanie und der Basedow¬ 
schen Krankheit, bei Beschwerden des 
Klimakteriums und den Ausfallserschei¬ 
nungen nach Hysterektomia mit Kastration. 
Auch in Fällen von Magenneurosen mit 
Erscheinungen? von Uebelkeit oder Er¬ 
brechen durch lokale Ursachen oder re- 
flexe Erregbarkeit, wie z. B. das Er¬ 
brechen während der Schwangerschaft, ist 
es, in letzterem Fall in nachstehender 
Weise, mit Erfolg angewandt worden: 

2—3 Kapseln Valisan werden des Mor¬ 
gens vor dem Aufstehen mittels einer 
Tasse nicht zu heißen schwarzen Kaffees, 
welcher langsam nachgetrunken wird, ver¬ 
abreicht. Einige Patienten, die eine See¬ 
reise machten, teilten mir mit, daß ihnen 
2 Kapseln, 2—3 mal täglich, mit schwarzem 
Kaffee genommen, gute Dienste geleistet 
hätten. 

Ein typisches Bild der vielen Fälle von 
Neurasthenie und Hysterie infolge von 
Onanie gibt folgendes Beispiel: 

Eine junge Maschinennäherin, 21 Jahre alt, 
klagt über häufiges Urinieren (alle 15 Minuten), 
Jucken an den Geschlechtsteilen, aufsteigende 
Hitze, häufigen Kopfschmerz, plötzliches Auf¬ 
schrecken aus dem Schlaf mit Angstgefühl, 
Appetitlosigkeit und Ausfluß (Vaginitis infolge 
Masturbation). Objektiver Befund: Herz und 
Lunge ohne Befund, Geschlechtsorgane mit 
Ausnahme von Vaginitis ohne Befund, Urin¬ 
menge 24 Stunden 1000—1500 ccm, klar, kein 


Zucker oder Eiweiß. Mittels hygienischer Ma߬ 
regeln und Verabreichung von 6 Valisan- 
kapseln täglich, ferner einer lokalen Behand¬ 
lung mit anästhesierender Salbe hat sich der 
Zustand nach einigen Tagen gebessert, und 
nach 7—8 Wochen fühlte sich die Patientin 
sehr wohl, der Ausfluß ließ gänzlich nach, und 
sie konnte als geheilt entlassen werden. 

Für eine Reihe von anderen Fällen wäre 
folgendes Beispiel ein Typ: Patientin sehr 
korpulent, klagt über Herzbeklemmung, Angst¬ 
gefühl und Gürtelschmerz, während sich je¬ 
doch kein objektiver Befund nachweisen läßt. 
Es wurde ihr empfohlen, nur an solchen 
Tagen, an denen sich die Beschwerden ein¬ 
stellen oder an denen sie außerordentlich 
nervös ist, 1—2 Kapseln zu nehmen und die¬ 
selbe Dosis bei Wiedereintreten der Be¬ 
schwerden zu wiederholen. Ebenfalls wurde 
Valisan mit Erfolg in derselben Weise an¬ 
gewandt auch bei den Angstneurosen und 
Herzklopfen der Basedowschen Krankheit. 

Auch in nachstehender Weise wurde 
Valisan angewandt: 

Eine sehr nervöse Patientin, die sich seit 
längerer Zeit an Morphium gewöhnt hatte, 
mußte sich bei uns einer Darmoperation unter¬ 
ziehen. Trotzdem der Eingriff gut gelungen 
ist und der Patientin während unserer Be¬ 
handlung kein Morphium erlaubt wurde, klagte 
sie einige Tage nach der Operation über 
heftige kolikartige Leibschmerzen. Es stellte 
sich heraus, daß die Patientin zu viel Gänse¬ 
braten und Bier vertilgt hatte. Da sie das so 
sehr erwünschte Morphium nun nicht be¬ 
kommen konnte, mußte sie als Ersatz mit un¬ 
serer Verabreichung von Valisankapseln, und 
zwar je 2 Stück 3—4 mal täglich, vorlieb 
nehmen. Auch in diesem Falle war Erfolg zu 
verzeichnen, und so könnte dieses Mittel auch 
bei Morphiumentziehungskuren in Betraeht 
kommen. 

Mit Erlaubnis eines Herrn Kollegen möchte 
ich hier noch einen nennenswerten Erfolg an 
einem seiner Patienten berichten: 

Es handelt sich um einen sehr nervösen 
Ministerialbeamten, welcher schon seit längerer 
Zeit vergeblich mehrere Aerzte wegen In- 
somnia konsultiert hatte. Es wurden ihm 
3 Kapseln Valisan 1 Stunde vor dem Schlafen¬ 
gehen verordnet und erklärte Patient darauf, 
daß er jetzt seit 3 Wochen die erste Nacht 
habe schlafen können. Er benutzt auch nur 
die Kapseln als Hilfsmittel, um ihm über Tage, 
an denen sich größere Nervosität einstellte, 
hinwegzuhelfen. Ist er von schwerem Tages¬ 
dienst erschöpft oder erwartet er Aerger von 
seiten seiner Gattin oder Vorgesetzten, so 
nimmt er sofort 2 Kapseln, um solche Momente 
besser überwinden zu können, da er andern¬ 
falls sehr erregt ist. Der Patient nimmt jetzt 
jede Woche an Gewicht zu und gab seiner 
Freude darüber Ausdruck. Der eklatante Er¬ 
folg gab mir Veranlassung, an dieser Stelle 
hiervon zu berichten. 

Die Kapseln wurden stets gern ge¬ 
nommen und verursachten niemals lästiges 
Aufstoßen, noch wurden irgendwelche 
schädliche Nebenwirkungen je beobachtet. 

Die Herstellung dieses Präparates in 
Kapselform ermöglicht eine haltbare, 
saubere und bequeme Verabreichung und 


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August 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


379 


ist auch, abgesehen von der Verbesserung, 
Borneolvalerianat mit Brom chemisch zu 
verbinden, als ein sehr konzentriertes 
Baldrianpräparat anzusehen. Angenommen, 
daß das Oel, welches in der Baldrian¬ 
wurzel bis zu 1 % gefunden wird, statt 9°/ 0 
10°/ 0 Borneol-Valerianat enthält, so ist es 
leicht ersichtlich, daß zirka 1000 g Wurzel 
nur 1 g Isovaleriansäure-Borneolester auf¬ 
weisen könnte. Der Gehalt an Borneol- 
Valerianat in der üblichen Dosis der 
Baldrianpräparate ist, wie aus folgender 
Tabelle hervorgeht, auch ein ziemlich ge¬ 
ringer. 


Rad. Valerianae. . . 
Extr. Valerianae fld. . 


Tinct. 

» n 


aeth. 


Dosis g 


Valeriansiure- 
Bomeol g 


2,0 0,002 
. 2,0 0,002 
Tropfen 

. 15—60 0,001-0,003 
. 12—60 0,001—0,003 


Demnach würden 5—6 Valisankapseln 
an Gehalt von Valeriansäure-Borneol (25% 
Gehalt an Brom subtrahiert) 1 kg Baldrian¬ 
wurzel entsprechen. 

Auf Grund unserer mit „Valisan“ ge¬ 
machten Erfahrungen kann dieses neue 
Baldrianpräparat wohl als ein sehr brauch¬ 
bares Arzneimittel bezeichnet werden. 


Ueber Alkohol-Verbände. 1 ) 

Von Dr. C. Köhler - Görlitz. 


Angeregt zur Anwendung des Alkohol- 
verbandes wurde ich durch den Vortrag 
Büchners auf der Naturforscher-Ver¬ 
sammlung in München 1899: „Ueber die 
natürlichen Schutzeinrichtungen des Or¬ 
ganismus." In demselben empfahl Büchner 
die äußere Anwendung des Alkohols als 
hervorragendes Unterstützungsmittel der 
im Körper vorhandenen Schutzeinrichtungen 
für den Kampf mit Infektionen. Nach 
Büchner beruht der heilbringende Einfluß 
der Alkoholumschläge darauf, daß sie eine 
Erweiterung der Hautgefäße, in noch 
höherem Grade der Muskelgefäße und am 
meisten der Gefäße des Magen-Darmtraktus 
herbeiführen, und daß dadurch eine ver¬ 
stärkte Zuflußleitung von frischem Blut 
und damit frischen Leukozyten und bakte¬ 
riziden Blutbestandteilen zum Infektionsherd 
bewirkt wird. Es ist leicht ersichtlich, daß 
dem Blut und den ihm innewohnenden 
Heilfaktoren um so schneller ein Erfolg 
beschieden ist, daß also um so leichter 
eine Heilung eintritt, je früher man mit 
der Applikation des Alkoholverbandes ge¬ 
gebenenfalls beginnt. Aus diesem Grunde 
sind auch ein Hauptanwendungsgebiet für 
denselben entzündliche Prozesse, die erst 
im Beginn und noch nicht weiter fortge¬ 
schritten sind, wie Phlegmonen, Panari- 
tien, Mastitiden, Phlebitiden, Lymph¬ 
adenitiden usw. im Anfangsstadium. 
Gerade hier ist die Wirkung des Alkohol¬ 
umschlages eine eklatante. Ueberraschend 
schnell tritt gewöhnlich ein Nachlassen und 
schließlich Aufhören der Schmerzen ein. 

*) Anm. des Herausgebers: Die vorstehende 
Arbeit glaube ich zum Abdruck bringen zu sollen, 
obwohl sie nur Bekanntes rekapituliert, weil wohl 
manche Kollegen die SalzwedeIschen Alkoholver- 
bände noch nicht so vielseitig anwenden, als die¬ 
selben es verdienen; diesen Kollegen werden die 
Empfehlungen des Verf. hoffentlich zur Anregung 
dienen. 

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Vor allen Dingen läßt sich aber auch bald 
feststellen, daß die Entzündung zurückgeht. 
Aber auch bei einer bereits beginnenden 
eitrigen Einschmelzung ist oft noch ein 
Stillstand und Rückgang zu erzielen. Tritt 
letzterer in einem oder höchstens zwei Tagen 
nicht ein, so habe ich es vorgezogen, den 
Eiter operativ zu entfernen. Aber auch 
nach der Operation genannter Affektionen 
ist eine Weiterbehandlung mit Alkoholver¬ 
bänden empfehlenswert, da sie die Aus¬ 
heilung beschleunigen. Dabei streut man 
ein Wundpulver, z. B. Europhen, auf die 
Wunde, um Schmerzen in derselben vor¬ 
zubeugen. Besonders die Karbunkel 
möchte ich zur Behandlung mit Alkohol¬ 
verband ebenfalls empfehlen. 

Ein gleich günstiges Objekt für die 
externe Alkoholbehandlung bieten die 
Drüsenentzündungen. Im besonderen 
habe ich bei Entzündungen der Leisten¬ 
drüsen erfreuliche Resultate erzielen können. 
Von den hierhergehörigen Fällen möchte 
ich einen anführen, der, obgleich die linke 
Leistendrüse bereits fast Wallnußgröße er¬ 
reicht hatte, äußerst druckempfindlich war 
und schon beginnende Eiterung vermuten 
ließ, in verhältnismäßig kurzer Zeit durch 
den Alkoholverband zur Heilung kam. Bei 
einem anderen Falle trat die Heilung sogar 
ein, ohne daß der Patient dauernde Ruhe¬ 
lage durchführen konnte. Ein dritter Fall 
mit beiderseitiger Leistendrüsenentzündung 
kam ebenfalls in der kurzen Zeit von acht 
Tagen zur Heilung, obwohl der Patient 
mich in der Sprechstunde aufsuchte. Selbst¬ 
verständlich ist dauernde Ruhe hierbei ein 
wesentlicher Heilfaktor und möglichst in 
Anwendung zu bringen. Bemerken möchte 
ich ferner noch, daß bei den angeführten 
drei Fällen die Aetiologie eine verschieden¬ 
artige war, um darauf hinzuweisen, daß 
bei allen Arten von Leistendrüsenentzün- 

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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


August 


düngen und ebenso anderen Drüsenentzün¬ 
dungen der Alkoholverband eine günstige 
Wirkung ausübt. — Bei Orchitis und 
Epididymitis habe ich so günstige Er¬ 
folge durch Alkoholverbände gesehen, daß 
ich sie zur Nachprüfung dringend emp¬ 
fehlen kann. Ich will für beide Affektionen 
je einen Fall anführen. Eine Orchitis zog 
sich vor 2 Jahren mutmaßlich durch Trauma 
der Hausdiener einer Buchhandlung zu. 
Durch die meinerseits angeordnete Alkohol¬ 
applikation trat in Kürze Beruhigung der 
Schmerzen ein. Nach 5 Tagen war die 
Schwellung zurückgegangen, so daß ich 
den Patienten ein Suspensorium anlegen 
und aufstehen lassen konnte. Nach weiteren 
4 Tagen erhielt er bereits Erlaubnis zum 
Ausgehen. Bei dem Epididymitisfall war 
der Erfolg durch den von mir verordneten 
Alkoholverband ein gleich guter. Bei dem 
Patienten gingen die bekannten Erscheinun¬ 
gen der Epididymitis schon infolge des ersten 
angelegten Alkoholverbandes so zurüfck, 
daß Patient in der Nacht schlafen konnte. 
Da auch die Anschwellung schnell und 
stetig zurückging, konnte ich ihn schon 
nach 8 Tagen mit einem Suspensorium 
versehen ausgehen lassen. Ein paar Tage 
später durfte er seine Beschäftigung wieder 
aufnehmen. Bemerken möchte ich hier, 
daß man bei Fällen wie den angeführten 
sich in der Regel mit 70°/oigem Alkohol 
begnügen muß wegen der Empfindlichkeit 
der Skrotalhaut. Einstäubungen mit Talkum 
vor Anlegen des Verbandes sind geeignet, 
die Reizbarkeit der Haut überhaupt herab¬ 
zusetzen. Bei Fällen, wie den beiden an¬ 
geführten, lasse ich außerdem die Patienten 
in Rückenlage oben über die Oberschenkel 
ein Handtuch legen und dieses straff an¬ 
ziehend beiderseits unter das Gesäß 
schieben. Man erhält dadurch eine Hoch¬ 
lagerung des Skrotums und erleichtert das 
Anlegen des Verbandes. 

Bei Erysipel, auch des Gesichts, kann 
ich nach meinen Erfahrungen den Alkohol¬ 
verband ebenfalls dringend zur Anwendung 
empfehlen. Außer seinen sonstigen guten 
Eigenschaften hat er vor anderen Methoden 
den Vorzug der Sauberkeit. Ich gedenke 
hierbei noch meiner Assistentenzeit, wo 
auch die Gesichtserysipele mit Kalium hyper- 
manganicumlösungen behandelt wurden. 
Durch diese Umschläge sahen die Patienten 
im Gesicht bald braun aus wie die Nubier. 
Bei Behandlung mit Ichthyolsalbe sahen 
sie noch schrecklicher und schmieriger aus. 
Gerade dadurch, daß man bei Anwendung 
des Alkoholverbandes eine beständige Kon¬ 
trolle über den Werdegang des Erysipels 


ausüben kann, unterscheidet er sich vor¬ 
teilhaft von anderen Methoden. In An¬ 
wendung kommt beim Gesichtserysipel der 
70%ige Alkohol. Die Augen schütze ich 
durch aufgelegte Leinwandstreifen. Bei 
einem besonders schweren Fall des Ge¬ 
sichtserysipels mit schweren Hirnerschei¬ 
nungen ließen sich bald günstige Resultate 
durch den Alkoholtimschlag erzielen. Ich 
ließ diesmal die Flasche mit Alkohol auf 
Eis stellen und häufiger, zirka dreistündlich, 
einen Verbandwechsel vornehmen. Nach 
zwölfstündiger Anwendung war das Sen- 
sorium des Kranken frei. Bei mehreren Fällen 
von Kontusion der Rippen konnte ich die 
schmerzstillende Wirkung des Alkohols fest¬ 
stellen. In Anwendung kommen dabei gleich¬ 
zeitig innere Mittel, wie Codein. phosphor., 
Pyramidon usw. Ein Analogon ist hierbei 
zu finden in der Verwendung des Alkohol¬ 
umschlags bei Herpes zoster, wie ihn 
Hellmer (Blätter für klinische Hydro¬ 
therapie 1901, Nr. 4) empfohlen hat. Schon 
nach dem ersten Verband ist auch hier ein 
Nachlassen der Nervenschmerzen zu be¬ 
merken. Eine ebenso schnell beruhigende 
Wirkung wie bei Neuralgien konnte ich 
durch den Alkoholverband wiederholt bei 
sehr schmerzhaften Periostitiden nach Zahn¬ 
karies erzielen. Ueber die direkte Appli¬ 
kation des Alkohols (50%igen) auf kariöse 
Zähne, wie sie Büchner empfohlen hat, 
bin ich ohne Erfahrung. Von anderer Seite 
ist sehr davon abgeraten worden. Bei 
Angina ist ebenfalls eine Beruhigung der 
Schlingbeschwerden durch Anwendung des 
(90% igen) Alkoholumschlages zu erzielen. 
Anscheinend auch eine Beschleunigung des 
Heilungsprozesses, den ich noch durch 
Gurgeln mit Kognak mehrmals am Tage, 
abgesehen von der sonstigen üblichen 
Therapie hierbei, zu beschleunigen suche. 
Bei kleineren Kindern, die noch nicht 
gurgeln können, verrichtet eine täglich 
mehrmals ausgeführte Bepinselung mit 
Kognak bzw. ein Bestreichen der Mandeln 
mit einem kognakgetränkten Wattebausch 
dieselben guten Dienste. Besonders bei 
der Angina follicularis ist diese Methode 
empfehlenswert. 

Ein weiteres Gebiet für die Anwendung 
des nach dem Erfinder Salzwedel ge¬ 
nannten Alkoholverbandes liefern die ver¬ 
schiedenartigen Gelenkentzün düngen. 
Interessant ist der hierhergehörige Artikel 
von Amreim (Deutsch, med. Wochenschr. 
1904, Nr. 15), in welchem von einem guten 
Erfolg der externen Alkoholtherapie bei 
Spondylitis tuberculosa berichtet wird. 
Auch anderweitig wird über günstige Re- 


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August 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


381 


sultate dieser Behandlungsweise bei Ge¬ 
lenktuberkulose berichtet, so in der Manch, 
med. Wochenschr. 1899, S. 1304 über 
10 Fälle. Sie hat fOr den allgemeine 
Praxis treibenden Arzt meines Erachtens 
den Vorzug vor der Bi er sehen Stauung, 
daß sie bequemer ausfahrbar ist. Bei einem 
Fall von gonorrhoischer Entzündung des 
rechten Kniegelenks, den ich vor 1 Jahr 
mit Alkoholverband behandelte, war ich 
mit den Fortschritten in der Heilung recht 
zufrieden. Leider konnte ich die Behand¬ 
lung nicht bis zur Beendigung fortsetzen. 
Ich erwähne den Fall nur, um zu einer 
eventuellen Nachprüfung anzuregen. Dieses 
möchte ich aber besonders tun in bezug 
auf gichtische Gelenkentzündungen 1 ). 
Ich habe an keiner anderen Stelle Mit¬ 
teilungen über die Anwendung des Alko¬ 
holumschlages bei diesen Arthritiden ge¬ 
funden, glaube aber nach den von mir da¬ 
mit gemachten günstigen Erfahrungen be¬ 
haupten zu können, daß die Arthritis urica 
im besonderen Maße eine Indikation für 
die externe Alkoholbehandlung bietet Bei 
meinen Fällen war das Zurückgehen der 
heftigen Lokalerscheinungen direkt ver¬ 
blüffend. 

Schließlich möchte ich die Alkoholver¬ 
bände auch bei chronischem Gelenk¬ 
rheumatismus empfehlen; in einigen ekla¬ 
tanten Fällen meiner Behandlung habe ich 
Linderung der Schmerzen und Zurückgehen 
der Schwellungen beobachtet. 

Zum Schluß will ich, da bereits wieder¬ 


holt von anderer Seite die Anwendungs¬ 
weise genau beschrieben wurde, nur das 
Wesentliche davon rekapitulieren oder kurz 
über die von mir bevorzugte Methode be¬ 
richten. Man läßt Verbandgazestücke in 
8—lOfacher Lage mit 90%igem Alkohol 
tränken, nebenbei bemerkt, unter Hinweis 
auf die Feuersgefahr. Diese Stücke sollen 
so groß sein, daß sie handbreit, wenn 
möglich, ins Gesunde nach allen Richtun¬ 
gen von den Grenzen des Entzündungs¬ 
gebietes hin sich erstrecken. Darüber 
kommt ein wiederum größeres Stück Gutta¬ 
perchapapier oder dergl., welches mit einem 
wieder größeren Stück Watte bedeckt wird. 
Das Ganze befestigt man dann mit einer 
Binde oder dergl. Wechseln habe ich den 
Verband am Tage in der Regel alle vier 
Stunden lassen, in der Nacht nur bei be¬ 
sonderen Fällen ebenso häufig. Hautstellen, 
die besonders empfindlich sind, dulden nur 
70%ige Alkoholverbände. Man kann die 
Reizbarkeit der Haut, wenn nötig, durch 
Bestreuen mit Talkum herabsetzen. Etwa 
vorhandene Wunden, die keine Gegenindi¬ 
kation bilden, bestreut man mit Europhen 
oder dergl. Bei einzelnen Fällen, z. B. 
Gelenkrheumatismus, Neuralgien usw., lasse 
ich bei den ersten Verbänden den Alkohol 
in heißem Wasser vorher auf eine höhere 
Temperatur bringen, späterhin ist das meist 
nicht mehr nötig. Das Abschilfern der 
Haut, wie es leicht nach längerer Anwen¬ 
dung des Alkoholverbandes in Erscheinung 
tritt, geht bald vorüber. 


Aerztliche Erfahrungen in Aegypten. 


Von Dr. Lilienstein - Bad Nauheim (i. Winter i; 

Unter den Fremden, die jeden Winter 
nach Aegypten kommen, ist die Zahl der 
Deutschen in den letzten Jahren sehr ge¬ 
stiegen. Mitteilungen über ärztliche Er¬ 
fahrungen in diesem Lande verdienen des¬ 
halb um so größeres Interesse, als meines 
Erachtens in jedem Fall die Hausärzte 
über die Reisefähigkeit befragt und Ver¬ 
haltungsmaßregeln von ihnen gegeben 
werden sollten, mag es sich um eine 
schwere Erkrankung handeln, wegen der 
Aegypten aufgesucht wird — etwa eine Er- 


*) Anm. des Herausgebers: In bezug auf 
Gelenkentzündungen dürfte doch wohl in den meisten 
Fällen die Bi ersehe Stauung den Vorzug verdienen; 
dieselbe ist mindestens ebenso bequem anzuwenden 
als der Alkohol verband. Ganz zweifellos aber ist 
die Bi ersehe Stauung dem Alkohol unbedingt vor¬ 
zuziehen bei gonorrhoischer Arthritis; hier leistet bei 
konsequenter Anwendung die Bi ersehe Stauung so 
Ausgezeichnetes und ist allen anderen Behandlungs¬ 
methoden so weit überlegen, daß ihre Anwendung 
fast als eine Pflicht des Arztes bezeichnet werden muß. 


Kairo), Arzt für innere und Nerven-Krankheiten. 

krankung der Atmungsorgane, der Nieren — 
oder um eine Erholungs- und Vergnügungs¬ 
reise. 

Es ist zwar nicht zu leugnen, daß die 
Reiseverbindung nach Aegypten außer¬ 
ordentlich bequem geworden ist. Mit 
dem Lloydexpreßzug über Neapel fährt 
man ohne große Anstrengung in ca. 
100 Stunden von Berlin nach Alexandrien. 
Trotzdem mahnen mehrere Fälle, die 
ich in Aegypten zu beobachten Gelegen¬ 
heit hatte, zur Vorsicht bei der Erteilung 
der Reiseerlaubnis. Um diese geben zu 
können, muß der Arzt über eine Reihe 
von Einzelheiten informiert sein. 

Vor allem schließt die Reise nach 
Aegypten, im Gegensatz zu derjenigen 
z. B. an die Riviera, nicht nur eine große 
Landreise, sondern auch eine mindestens 
dreitägige Seefahrt ein. Nun kann eine 
lange Bahnfahrt auch mit einem Schwer¬ 
kranken ohne allzugroßes Risiko angetreten 


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382 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


August 


werden; ist doch auf jeder Zugstation die 
Möglichkeit gegeben, die Reise zu unter¬ 
brechen. Strengt dann die meisten Menschen 
eine Bahnfahrt auch wesentlich mehr als 
eine Schiifsreise an, so ist bei der letzte¬ 
ren doch die Seekrankheit zu berücksich¬ 
tigen. Für Gesunde ist sie ohne Gefahr, 
wie elend sich auch mancher fühlen mag. 
Dagegen kann bei Leuten mit hohem 
Blutdruck, bei Nephritikern mit Apoplexien, 
bei Kachektischen u. dgl. der wiederholte 
Brechakt doch an und für sich schon zu 
bedeutender Erschöpfung führen. 

Einen großen Tiefgang haben die 
Schilfe des Norddeutschen Lloyd, die nach 
Australien und Ostasien gehen, weil sie 
meist stark beladen sind. Die Seekrank¬ 
heit brauchte man bei diesen also weniger 
zu fürchten. Sie gehen aber — im 
Gegensatz zu den eigentlichen Aegypten¬ 
dampfern—nicht nach Alexandrien, sondern 
nach Port Said. Dort nun können die 
Schiffe mit einigem Tiefgang nicht direkt 
am Kai anlegen. Die Passagiere werden 
vielmehr in kleinen Kähnen ausgebootet 
Für Schwerkranke ist das besonders in 
der Nacht und bei schlechtem Wetter sehr 
unangenehm. Außerdem ist die Bahnver¬ 
bindung von Port Said nach Kairo, wohin 
sich ja wohl die meisten Reisenden zu¬ 
nächst wenden, lange nicht so bequem, 
wie diejenige von Alexandrien aus. 

Der Hafen von Alexandrien hat den 
Vorteil, daß Schiffe mit sehr großem Tief¬ 
gang direkt am Kai anlegen und daß dort 
für den Notfall ein gut geleitetes deut¬ 
sches Krankenhaus (Arzt Dr. Gatzky) vor¬ 
handen ist 

Die 200 km von Alexandrien nach Kairo 
legt der Schnellzug in 3^2 Stunden zurück. 

Die wenigsten Fremden bleiben in 
Alexandrien, bezw. in dem Kurort Ramleh. 
Nur im Frühjahr und Herbst halten sich 
auch Europäer dort auf. Sonst wird 
Ramleh von wohlhabenden Aegyptern be¬ 
wohnt, denen es in Kairo und in Ober¬ 
ägypten im Sommer zu heiß ist. Im Winter 
ziehen auch sie mit den Fremden nach 
Süden, nach Kairo, Helouan, Luxor, 
Assiut und Assouan. Diese Städte sind 
als die eigentlichen klimatischen Kurorte 
Aegyptens anzusehen. 

Kairo selbst kommt für Kranke nur 
als Durchgangsstation in Betracht. Es 
bietet die Schädigungen einer großen Stadt, 
noch vermehrt durch Unreinlichkeit, Lärm 
und Unruhe, die nun einmal als typischste 
Merkmale mit orientalischen Sitten ver¬ 
bunden sind. Trotzdem halten sich alle 
Kranken zum mindesten ein paar Tage 


auf der Durchreise in der Hauptstadt auf. 
Die Spitze des Deltas, an der Kairo liegt, 
bildet ja die hohle Gasse, durch die jeder 
kommen muß, der nach Oberägypten will. 
Außerdem macht sich hier im Klima schon 
der trocknende Einfluß der Wüste sehr 
stark bemerkbar. Während es in Alexandrien 
recht häufig regnet, habe ich doch während 
des Winters Monate in Kairo ohne einen 
Tropfen Regen erlebt. 

Je weiter man nach Süden kommt, 
schon in Helouan, mehr noch in Luxor 
und am meisten in Assouan, setzt man sich 
in dem schmalen Tal des Nils dem Einfluß 
der Wüste, d. h. der starken Lufttrocken¬ 
heit, der direkten Sonnenbestrahlung 
und der intensiven Lichtwirkung aus. 

In diesen drei Faktoren sehe ich in 
erster Linie die Heilwirkung des ägyptischen 
Klimas. Aus ihnen leiten sich naturgemäß 
die Indikationen für den Winteraufenthalt 
in Aegypten ab. 1 ) 

Die Winterkur in Aegypten ist in den 
Fällen angezeigt, in denen die feuchte Kälte 
des europäischen Winters eine Gefahr in 
sich schließt. 

Es handelt sich in erster Linie um 
Kranke, die an chronischem Rheumatismus 
der Gelenke und Muskeln, an chronischer 
Bronchitis und an Nephritis leiden, um Re¬ 
konvaleszenten von fieberhaften Krank¬ 
heiten und um solche, die sich leicht „er¬ 
kälten". 

Hierbei ist es meines Erachtens relativ 
gleichgültig, ob der chronischen Bronchitis 
z. B. eine Tuberkulose zugrunde liegt, oder 
welcher Art die Nephritis ist. Wichtig er¬ 
scheint es mir aber, hier einmal energisch 
darauf hinzuweisen, daß es nur dann 
einen Zweck hat, die Kranken den 
Gefahren der großen Reise, dem 
Leben in einer vollkommen fremden 
und ungewohnten Umgebung auszu¬ 
setzen und ihnen die doch recht erheb¬ 
lichen Kosten eines Aufenthalts in Aegypten 
aufzuladen, wenn der allgemeine Kräfte¬ 
zustand es erlaubt und wenn eine 
Wiederherstellung noch möglich ist. 

Wunder kann auch Aegypten nicht 
wirken. Und bei manchem der von mir 
beobachteten Kranken, dessen Zustand 
schon zu Hause absolut hoffnungslos war, 
konnte auch in Aegypten kein Stillstand, 
sondern höchstens gelegentlich einmal eine 
geringe Verzögerung des Krankheitspro¬ 
zesses erzielt werden. Ich sah Kranke, 
die durch die Rei ie schwer geschädigt an¬ 
kamen, so daß diese also den Exitus letalis 

l ) Cf. die Arbeiten von Engel-Bey, Schacht, 
Kirchner u. a. m. 


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August 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


383 


eher beschleunigt als verzögert haben mag. 
Im speziellen denke ich an einen Kollegen, 
dem freilich auch von allen Seiten geraten 
worden war, die Reise zu unterlassen und 
der in der Tat so schwer krank ankam, 
daß er in Kairo bleiben mußte, wo er nach 
2 Monaten starb. Das „gelobte Land* — 
Oberägypten — hat er nicht gesehen. 

Betont werden muß auch noch, daß ein 
kürzerer Aufenthalt in Aegypten — etwa 
weniger als 3 Monate — für ernstlich 
Kranke keinen Zweck hat Bei chronischer 
Nephritis z. B. sollte in Aegypten wenn 
möglich auch noch der Sommer zugebracht 
werden, wie wenig angenehm die tropische 
Hitze desselben auch für Europäer sein mag. 

Wenn also im Bewußtsein der Aerzte 
bisher Nephritis und Phthise an und für 
sich als Indikation für den Winteraufenthalt 
in Aegypten galten, so möchte ich dies 
nur bedingt und durch die obigen Voraus¬ 
setzungen eingeschränkt gelten lassen. 

Noch auf eine andere Gefahr muß die 
Aufmerksamkeit der Aerzte und ihrer nach 
Aegypten reisenden Patienten gelenkt 
werden: 

Die Sorglosigkeit, mit der man in Eu¬ 
ropa und ganz besonders in Deutschland 
reisen kann, sowie das Vertrauen zu den 
hygienischen Einrichtungen sind in 
Aegypten ebensowenig wie im übrigen 
Orient, am Platz. 

Zunächst ist in Aegypten der Typhus 
in ganz unverhältnismäßig viel höherem 
Grade als bei uns verbreitet. 

So finde ich — um ein Beispiel zu 
geben — in der letzten Mortalitätsstatistik 
vom März/April 1910 innerhalb 19 Tagen 
27 Todesfälle von Typhus in Kairo selbst 
und 109 Todesfälle, sowie 378 offiziell ge¬ 
meldete Typhusfälle im übrigen Aegypten. 
(Kairo hat ca. 600000, Aegypten ca. I 1 /» 
Million hier in Betracht kommende Ein¬ 
wohner.) 

Hierbei ist natürlich zu beachten, daß 
sowohl die Krankheitsmeldungen als die 
Statistik der Todesfälle in Aegypten keines¬ 
wegs so zuverlässig sind wie bei uns, und 
daß somit diese Zahlen der Ausbreitung 
des Typhus eher zu niedrig als zu hoch 
gegriffen sind. 

Daß auch die Pest, besonders in 
Alexandrien, vereinzelt vorkommt, will ich 
nicht unerwähnt lassen, obwohl in dieser 
Hinsicht dem Reisenden absolut keine Ge¬ 
fahr droht. 

Man stößt in Aegypten, wie in den 
Tropen, auf eine Reihe von fieberhaften 
Erkrankungen, die weder den schulmäßigen 
Verlauf des Typhus, noch der Intermittens, 


der Malaria und ähnlicher Krankheiten 
zeigen, die aber wohl in den meisten Fällen 
auf eine typhöse Infektion zurückzuführen 
sind. 

Für Fremde noch zu beachten wäre auch 
die kontagiöse ägyptische Augenkrankheit, 
die namentlich in den Eingeborenenvierteln 
der Städte und auf dem Lande sehr ver¬ 
breitet ist. 

Bei der Gleichgültigkeit und dem 
Fatalismus der eingeborenen muhamedani- 
Bevölkerung ist vorläufig nicht daran zu 
denken, daß dieses Uebel in Aegypten ver¬ 
schwindet. Es ist auffallend, wieviel Haib¬ 
und Ganzerblindeten und wievielen Kran¬ 
ken mit floridem Augenkatarrh man auf 
Schritt und Tritt in Aegypten begegnet. 

Bei diesem Stand der Dinge ist es 
selbstverständlich dringend anzuraten, daß 
der Arzt dem Reisenden strenge Diätvor¬ 
schriften und Vorsichtsmaßregeln mit auf 
den Weg gibt: 

Schon auf der Reise nach Aegypten 
und ganz besonders im Lande selbst sollte 
vor dem Genüsse von ungekochtem bezw. 
unfiltriertem Wasser, vor rohen Speisen, 
Obst, Salat und dergl. gewarnt werden. 
Auch die Butter kann in Aegypten wenig¬ 
stens nicht unter allen Umständen als 
keimfrei angesehen werden. Der Augen¬ 
krankheit wegen ist jede direkte Berührung 
mit den Eingeborenen und mit den von 
ihnen benutzten Gegenständen nach Mög¬ 
lichkeit zu vermeiden. Endlich ist die prä¬ 
ventive Schutzpockenimpfung in jedem 
Falle anzuraten. 

Bezüglich des Klimas muß noch darauf 
hingewiesen werden, daß Abkühlungen 
abends, während der Nacht und morgens 
und zuweilen heftiger Wind warme Klei¬ 
dung auch in Aegypten nötig machen. 

Ich weiß sehr wohl, daß viele Fremde 
und in Aegypten lebende Europäer alle diese 
Vorsichtsmaßregeln außer acht lassen und 
trotzdem viele Jahre lang gesund bleiben. 
Meine Erfahrungen in der ägyptischen 
Praxis haben mich aber gelehrt, auf diese 
Dinge doch Wert zu legen. 

Für die in Aegypten weilenden Fremden 
keine Gefahr bildend, aber vom ärztlichen 
Standpunkt aus interessant, sind drei 
Krankheiten, die ich unter den Einge¬ 
borenen in den Hospitälern häufig sah. 
1. Die Bilharzia, 2. Leberabszesse und 
3. die Pellagra. 

Die Bilharzia ist eine Infektion mit 
Distoma hämatobium. Das befallene In¬ 
dividuum wird durch diesen Parasiten 
häufig absolut nicht geschädigt. Erst wenn 
durch die andauernde Hämaturie eine 


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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


August 


starke Anämie bewirkt worden ist, treten 
auch subjektiv bemerkbare Störungen auf. 

Auch die Leberabszesse bilden, aus 
der Nähe betrachtet, nicht das schwere 
Krankheitsbild, das man a priori erwarten 
sollte. Ich habe viele Leberabszesse in 
den ägyptischen Hospitälern gesehen. Mag 
es nun die Eigenheit der befallenen Kranken 
oder der Krankheit sein, jedenfalls ver¬ 
trugen die Patienten die monate- ja jahre¬ 
lang dauernde Eiterung bei relativ gutem 
Allgemeinbefinden. Eigentümlich ist es, 
daß vorzugsweise Europäer und solche 
Eingeborenen, die europäische Lebensge¬ 
wohnheiten angenommen haben, an Leber¬ 
abszessen erkranken. 

In der Kairiner Irrenanstalt fallen schon 
äußerlich Patienten mit Hautveränderungen 
auf, die wir in unseren Irrenanstalten kaum 
jemals zu sehen bekommen. Das sind die 
an Pellagra Leidenden, deren Haut sich im 
Anfangsstadium abschuppt und später aus¬ 
gedehnte Pigmentatrophieen zeigt. Die 
Pellagra ist eine Krankheit des ägyptischen 
bäuerlichen Proletariats der Fellachen und 
hängt mit der Aufnahme von schlechtem, 
verdorbenen Mais zusammen. Die ökono¬ 
mischen Verhältnisse Aegyptens laufen da¬ 
rauf hinaus, daß die Steuerlast im wesent¬ 
lichen von den Fellachen, den ägyptischen 
Kleinbauern, getragen wird. Sie müssen 
für das Wasser, das ihnen vom Staat aus 
dem Nil zugemessen wird, einen hohen 
Wasserzins bezahlen. Die großen Land¬ 
gesellschaften, meist in den Händen von 
englischen Spekulanten, tragen auch noch 
dazu bei, die wirtschaftliche Lage der 
Landbevölkerung herunter zu drücken. 
Eine Folge dieser Verhältnisse ist, daß die 
Fellachen die guten Sorten ihres Maises 
verkaufen müssen, während ihnen selbst 
nur verdorbene Frucht zur Nahrung übrig 
bleibt. Sowohl der psychische Zustand 
der. Pellagrakranken, als auch der Verlauf 
der Krankheit in den späteren Stadien, er¬ 
innern lebhaft an die progressive Paralyse. 
Auf ein mehr oder minder starkes Er¬ 
regungsstadium folgt eine ausgesprochene 
Demenz und zunehmender körperlicher 
Verfall. Gleich der Paralyse ist die Pellagra 
und die daraus resultierende Kachexie un¬ 
heilbar und führt innerhalb weniger Jahre 
zum Tode. 


Die drei letztgenannten Krankheiten 
bilden wie bemerkt — im Gegensatz zu 
den früher besprochenen Infektionskrank¬ 
heiten — keine Gefahr für die nach 
Aegypten kommenden Fremden und auch 
vor den genannten Infektionen kann man 
sich bei einiger Vorsicht leicht schützen. 
Man ist als Europäer in Aegypten doch 
mehr oder minder gezwungen, sich an die 
gut geleiteten, europäisch eingerichteten, 
großen Hotels zu halten, die meist nur 
während der Saison, d. h. von Mitte No¬ 
vember bis Ende April geöffnet sind. 

Wenn ich nun geglaubt habe, wie oben, 
auch auf die Nachteile des ägyptischen 
Klimas und auf die Gefahren des Aufent¬ 
halts am Nil einmal hinweisen zu müssen, 
so möchte ich die Vorzüge Aegygtens 
natürlich nicht in Abrede stellen. Ich 
werde an anderer Stelle einmal ausführlich 
auf die erstaunlich raschen Heilerfolge zu¬ 
rückkommen, die ich bei chronischer und 
subakuter Nephritis, bei nephritischen Rei¬ 
zungen, bei chronischer Bronchitis und 
subakutem Rheumatismus unter dem Ein¬ 
fluß des trockenen Winterklimas in Aegypten 
gesehen habe. 

Ganz sicher lohnen sich sowohl für 
Kranke, als auch für Gesunde die freilich 
nicht unbeträchtlichen Ausgaben. (Unter 
15—20 Mk. pro Tag und Person dürfte 
man in den besseren Häusern kaum durch¬ 
kommen.) 

Es ist doch für Gesunde sehr angenehm 
und für Kranke ein außerordentlicher Vor¬ 
teil, mit Sicherheit stets auf gutes Wetter 
rechnen zu dürfen, wenn in Deutschland 
naßkalte Tage den Genuß frischer Luft 
fast unmöglich machen. Auch die Be¬ 
fürchtung zu großer Hitze ist nicht am 
Platze. Man ist am Tage stets in der an¬ 
genehmsten lauen Frühlingstemperatur, die 
kühlen Nächte steigern das Wohlbehagen 
noch und ganz besonders lohnend und 
empfehlenswert sind längere Ritte in der 
trockenen und klaren Luft der Wüste. 

Noch heute strebt, wie zu Zeiten 
Strabos und Herodots, jeder zum 
Nil zurück, der einmal von seinem 
Wasser getrunken hat. . . . 

Es muß aber — für Europäer wenig¬ 
stens — jetzt unbedingt abgekocht oder 
filtriert werden!!! 


INHALT:Fraenkel, Pleuraexsudate und Empyema putridum S. 337. — T a c h a u, Heilserum 
bei Diphtherie S. 346. — Impens, Cycloform S. 348. — Müller, Habituelle Haltungsanomalien 
S. 351. — Glaserfeld, Harnröhrentripper des Mannes S. 353. — Köhler, Tuberkulinbehandlung 
S. 356. — Lilienstein, Versammlung südwestdeutscher Neurologen u. Irrenärzte in Baden-Baden 
S. 361. — Kuttner, Baldriantherapie S. 377. — Köhler, Alkohol verbände S. 379. — Lilienstein, 
Erfahrungen in Aegypten S. 381. -r- Bücherbesprechungen S. 363. — Referate S. 366. 

Für die Redaktion verantwortlich Prof. Dr. G.Klempererin Berlin. - Verlag von Urban&Sch warzenberg inWien u. Berlin. 

Druck von Julius Sittenfeld, Ilofbuchdrucker., in Berlin W.8. 


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Die Therapie der Gegenwart 


1910 


herausgegeben von Prof. Dr. G. Klemperer 

In Berlin. 


September 


Grundlagen der 

Von Prof. Dr. 

Die Theorie, die während 30 Jahren 
meine therapeutischen Bestrebungen ge¬ 
leitet hat, ist nicht am Arbeitstich entstan¬ 
den; sie hat sich durch die Beobachtung 
am Krankenbett und in der Sprechstunde 
langsam entwickelt; sie ist krystallisierte 
Praxis. Sie gipfelt in folgenden Grund¬ 
sätzen : 

1. Die Gesetze der Normalpsychologie 
gelten voll und ganz für die Psychopatho¬ 
logie. Zwischen normalen und krankhaften 
psychischen Vorgängen besteht nur ein 
Gradunterschied. 

2. Abnorme Geistes- und Gemütszustände 
müssen deshalb mit den gleichen Mitteln, 
welche bei der Bildung eines gesunden 
Geistes zur Anwendung kommen, nämlich 
durch Erziehung, bekämpft werden. 

An diese fast selbstverständlich klin¬ 
genden Prinzipien haben sich die Psychiater 
und Neurologen zu wenig erinnert. Sie 
fassen die Psychopathien als wahre Krank¬ 
heiten im Sinne der internen Pathologie 
auf, und suchen die Ursache der psychi¬ 
schen Störung in einer primären Erkran¬ 
kung des Denkorgans. Sie vergessen, daß 
auch bei anderen Organen Funktionsstörun¬ 
gen ohne primäre Schädigung des Organs 
entstehen können. Ein dyspeptischer Zu¬ 
stand kann seine Ursache in einer Erkran¬ 
kung des Magens haben; er kann aber 
auch bei normalem Magen infolge unzweck¬ 
mäßiger Ingesta entstehen. Die Ingesta, 
welche unsere „Seele* verarbeitet, man 
könnte sagen, verdaut, sind Vorstellun¬ 
gen, Ideen. Wie unser Magenzustand 
sehr von der Qualität der Nahrung ab¬ 
hängt, so ist auch unser Seelenzustand in 
hohem Maße von den aufgenommenen Vor¬ 
stellungen abhängig. Natürlich leidet dar¬ 
unter das Organ selbst, und zwar, meiner 
Meinung nach, nicht im Sinne eines dua¬ 
listischen psychophysischen Parallelismus, 

Anmerkung des Herausgebers; Der hier 
erscheinende Aufsatz bildet einen Teil der Vor¬ 
lesung Ober Psychotherapie, welche demnächst im 
II. Bande der .Fortschritte der Deutschen Klinik", 
herausgegeben von Prof. Felix Klemperer, er¬ 
scheinen werden. Ich bin dem Herrn Verfasser, wie 
dem Herausgeber der Deutschen Klinik in gleicher 
Weise zu Dank verpflichtet, daß sie die Erlaubnis 
zur vorzeitigen Publikation dieses Aufsatzes in der 
Therapie der Gegenwart erteilt haben. 

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Nachdruck verboten. 

Psychotherapie. 

• Dubois-Bern. 

sondern in monistischem Sinne, da ja das 
Wort „Seele“ nur eine abstrakte Bezeich¬ 
nung für die psychologischen Funktionen 
des Gehirns darstellt. 

Die bei Psychopathen aller Art vorkom¬ 
menden Zwangsgedanken und Zwangs¬ 
handlungen werden oft als etwas ganz 
Fremdes, sozusagen als etwas Parasitäres, 
welches keinen Platz im Kreise der Ideen¬ 
assoziationen findet, angesehen. Gegen 
diese Auffassung muß ich mich entschieden 
auflehnen; sie widerspricht den sichersten 
Grundsätzen der Psychologie. Alle Ideen, 
auch die verrücktesten, haben ihren Platz 
im Kreise der Assoziationen; sie sind ge¬ 
radezu durch Assoziation entstanden, auch 
wenn der Kranke, des Mangels an reflek¬ 
tiertem Bewußtsein wegen, den Faden nicht 
mehr findet. 

Die Beobachtung, daß manche durch 
Phobien und andere Zwangsgedanken ge¬ 
plagte Kranke die Unrichtigkeit ihrer Vor¬ 
stellungen einzusehen angeben, aber den¬ 
noch ihre Angst nicht los werden, hat diese 
falsche Auffassung unterstützt und zu einer 
verhängnisvollen und unhaltbaren Trennung 
von Geistes- und Gemütsleben geführt. 

Nein, die Affekte sind nicht ursprüng¬ 
lich; vor der Betonung durch Lust- und 
Unlustgefühle, vor dem Begehren und vor 
der Furcht, muß eine Vorstellung in¬ 
tellektueller Art da sein, und diese Vor¬ 
stellung entsteht immer durch eine Syn¬ 
these, durch einen assoziativen Prozeß. 

Hier muß ich auf gewisse Tatsachen 
aufmerksam machen, welche, wie mir 
scheint, ziemlich unbeachtet geblieben 
sind. Da der Mensch unmittelbar unter 
den Eingebungen seiner Affektivität han¬ 
delt, so hat er meist keinen Grund, nach 
der Urvorstellung zu suchen; es genügt 
ihm zu fühlen, um zu handeln. Daher die 
Impulsivität vieler Menschen, welche sich 
nicht die Mühe nehmen, die Vorstellung 
wiederzufinden, die den Affekt ausgelöst 
hat. Würde der Vorgang der Assoziation 
nur zwischen intellektuellen Vorstellungen 
stattfinden, so wäre es viel leichter, den 
Faden zu verfolgen und die Genese eines 
Gedankens nachzuweisen. Die Assoziation 
kann aber stattfinden zwischen Vorstellun- 

49 

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386 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


September 


gen und Vorstellungen (intellektuelle Ar¬ 
beit), zwischen einem schon bestehenden 
Affekt und einer Vorstellung und zwischen 
verschiedenen Affekten. 

Es ist deshalb sehr schwer, ja oft un¬ 
möglich den Knäuel zu entwirren. Schon 
im Normalzustände kann der Mensch den 
Weg seiner zahllosen Assoziationen nicht 
immer verfolgen; er denkt sozusagen auto¬ 
matisch, indem die Gedanken sich anein¬ 
ander reihen infolge der Analogie oder 
des Kontrastes; er ist wie ein Klavier¬ 
spieler, welcher auswendig ein Stück spielt, 
Noten aneinander reiht und nicht imstande 
wäre, das Gespielte zu Papier zu bringen. 
Kein Wunder, wenn ein psychopathisch 
veranlagter Mensch, der überdies schon 
durch vorausgegangene Vorstellungen in 
Aufregung geraten ist und dadurch den 
Kopf verloren hat, der Fähigkeit verlustig 
geht, seine Assoziationskomplexe unter die 
Lupe des reflektierten Bewußtseins zu 
nehmen. 

Nicht genug kann ich die führende Rolle 
der Vorstellung im Geistes- und Gemüts¬ 
leben betonen; alles psychische Geschehen 
beginnt mit einer Vorstellung. Vorstellun¬ 
gen können auftreten: 

1. Als direkte Wahrnehmung von Ob¬ 
jekten und von Bewegüngsformen, welche 
im wahrnehmenden Ich (Seele) durch Rei 
zung der Sinnesorgane wachgerufen werden. 

2. Als Reminiszenz früherer Wahrneh¬ 
mungen. 

3. Als durch Ideenassoziation entstan¬ 
dene komplizierte Bilder konkreter oder 
abstrakter Natur. 

Die Psychologen bezeichnen die direkte 
Wahrnehmung eines Reizes als Empfin¬ 
dung und vindizieren ihr nur dann den 
Charakter einer Vorstellung, wenn ein wei¬ 
teres Denken sich daran anknüpft, d. h. 
wenn Erkenntnisvorgänge sich in den Ge¬ 
fühlsvorgang einmischen. Ich gehe weiter 
und sehe schon in der einfachsten Empfin¬ 
dung eine Vorstellung, weil die Empfin¬ 
dung nicht direkt als Reizzustand, sondern 
als seelisches Bild wahrgenommen wird. 
Uebrigens sind im regen Geistesleben des 
Menschen die sogenannten Empfindungen 
von vornherein kompliziert und mit Er¬ 
kenntniselementen verknüpft; wir empfin¬ 
den kaum jemals ohne simultanes Denken. 

Die Empfindungsreminiszenzen tauchen 
nicht spontan, etwa infolge einer materiel¬ 
len Veränderung im Gehirn, auf, sondern 
sie verdanken ihre Entstehung einer Ge¬ 
dankenassoziation. So kompliziert und für 
andere unverständlich die Assoziations¬ 
komplexe eines Psychopathen auch sein 


mögen, eine Lücke im Gedankenkreis kön¬ 
nen wir in keiner Weise annehmen. Jede 
Erscheinung des pathologischen wie des 
normalen Geisteslebens beginnt mit den 
Vorstellungen, welche gewertet und logisch 
verknüpft werden. Der Gedankengang ist 
je nach der Persönlichkeit ein verschie¬ 
dener, weil die Reminiszenzen andere sind 
und weil jede Vorstellung mannigfache An¬ 
knüpfungspunkte für neue Gedankenreihen 
bietet. 

Schon im normalen Zustande bemerken 
wir, wie unendlich zahlreich die Ideen¬ 
assoziationen sein können. Jede Vorstel¬ 
lung ist vergleichbar mit einer rotierenden 
Scheibe, welche automatisch multiple 
Weichenstellungen gestattet. Wir sindz.B. 
mit einer wissenschaftlichen Arbeit beschäf¬ 
tigt und lesen ein Buch mit Aufmerksam¬ 
keit; unsere Gedanken verfolgen dabei die 
vom Autor gegebene Richtung. Wie oft 
aber schweifen wir von diesem geraden 
Wege ab. Ein gelesenes Wort bewirkt 
plötzlich eine andere unerwartete Weichen¬ 
einstellung, und längere Zeit verweilen wir 
in einem dem Thema völlig fremden Ge¬ 
biete. Eine andere Ideenverknüpfung bringt 
uns wieder zu der beabsichtigten Arbeit 
zurück; bald aber gleiten wir wieder in 
eine andere Richtung. Wir sind oft selbst 
erstaunt über die Sprünge unserer Phan¬ 
tasie und haben Mühe, nachzuweisen, wo, 
wann und warum die Abweichung statt¬ 
gefunden hat. 

Sobald eine Gefühlsbetonung der Vor¬ 
stellungen stattfindet, nehmen die Asso¬ 
ziationen einen scheinbar viel ungereimte¬ 
ren Charakter an; ich sage scheinbar, weil 
wir dabei nicht entgleisen, sondern auf 
den Schienen bleiben, auch wenn die Rich¬ 
tung nicht die erwartete, die als normal 
bezeichnete ist. 

Eine hohe Verstandesbildung verein¬ 
facht in zweckmäßiger Weise diesen Pro¬ 
zeß der Weichenstellung. Wohl besteht 
die Möglichkeit, nach allen Richtungen zu 
fahren und allen Regungen zugänglich zu 
sein; es werden jedoch die sicheren Bahnen 
bevorzugt; es tritt eine Logik der Verknüp¬ 
fungen ein, welche ein annähernd normales 
Vernunfts- uud Gefühlsleben gestattet. 

Alle diese Vorgänge finden in gleicher 
Weise in der Psychopathologie statt Auch 
da ist der Assoziationskreis lückenlos, selbst 
wenn er für den Beobachter mehr oder 
weniger unverständlich bleibt. Mit Recht 
sagt Stadelmann: „Es gibt keinen psy¬ 
chischen Vorgang bei der Psychose, der 
nicht im normalen Leben sein Analogon 
fände.“ 


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September 


387 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Bei den Psychopathen aller Art begün¬ 
stigen zwei Geistesfehler die Ungereimt¬ 
heit des Vorstellungs- und Gemütslebens: 
der Egozentrismus und die Kritik¬ 
losigkeit. 

Einem jeden Psychotherapeuten muß der 
Egozentrismus seiner Patienten aufgefallen 
sein, sogar in den häufigen Fällen, wo 
nicht nur scheinbare, sondern wirkliche 
altruistische Regungen in den Vordergrund 
treten. In irgendeiner Richtung findet man 
bei diesen Kranken immer die Neigung, 
den Blick auf ihr Selbst zu lenken und 
namentlich Befürchtungen in bezug auf ihr 
leibliches oder seelisches Wohlsein zu 
hegen; die Furcht ist die Haupt¬ 
erscheinung in der Psychopatho¬ 
logie. Da die Gefühlsbetonung mit dem 
Vorherrschen der Eigenliebe Hand in Hand 
geht, so ist das Leben eines Psychopathen 
viel reicher an Gemütsbewegungen als das 
des normalen Menschen. Er reagiert auf 
psychische Reize in übertriebener Weise, 
was wiederum der Kritiklosigkeit Vorschub 
leistet; denn nichts trübt die Vernunft so 
intensiv wie die Emotion. 

Die Kritiklosigkeit ist den meisten Psy¬ 
chopathen eigentümlich, auch denjenigen, 
welche in gewissen Gebieten, z. B. in Lite¬ 
ratur und Kunst, eine hohe Begabung zei¬ 
gen; bei den Dichtern ist diese Psych- 
asthenie auffallend; sie sind oft abergläu¬ 
bisch und gehorchen allen ihren Gefühls¬ 
regungen, ohne sie der Kritik der Vernunft 
zu unterwerfen. 

Besonders verhängnisvoll wird die Ver¬ 
bindung beider Schwächen. Die Kritik 
losigkeit bedingt eine fehlerhafte Wertung 
der Weltbilder; diese werden infolge des 
Egozentrismus überwertet und erhalten eine 
starke Gefühlsbetonung. Die daraus resul¬ 
tierende Gemütsbewegung beeinträchtigt 
erheblich die Fähigkeit der geistigen Syn 
these; die Kritik wird dadurch noch man¬ 
gelhafter. Eis ist leicht einzusehen, wie 
eine solche Wechselwirkung zwischen 
Geistes- und Gemütsleben auf den Asso 
ziationsvorgang störend einwirkt. 

Diese Tatsachen genügen vollkommen, 
um das Törichte in den Gedanken, Affekten 
und Handlungen der Psychopathen zu er¬ 
klären. Wir brauchen nicht zu der Hypo 
these unsere Zuflucht zu nehmen, daß eine 
Idee gleichsam spontan, ohne Assoziation 
mit gegenwärtigen oder aufgespeicherten 
Gedanken auftreten könne. 

Ich habe schon betont, daß es ebenso 
unstatthaft ist, das Ungereimte im krank¬ 
haften Geistesleben auf strukturelle Ver¬ 
änderungen des Gehirns zurückzuführen. 


Die Schädigung der Zellen bedingt wohl 
Ausfallserscheinungen und somit verschie¬ 
dene Grade der Verblödung. Die Kritik¬ 
losigkeit wird dadurch noch vermehrt; auf 
den Assoziationsvorgang selbst übt sie je¬ 
doch keine direkte Wirkung aus. 

Einen dritten Fehler haben die Aerzte 
bei der Betrachtung der Psychopathien 
begangen; sie haben zu sehr den Begriff 
Krankheit aufrecht erhalten und ihn nach 
dem Vorbilde der internen Medizin präzi¬ 
sieren wollen. 

Es ist ein berechtigter Wunsch der Beob¬ 
achter, genaue Krankheitsbilder zu ent¬ 
werfen und diagnostische Merkmale her¬ 
auszufinden, welche für Prognose und The¬ 
rapie äußerst maßgebend sind. Es ist 
gewiß höchst wichtig, unter der Maske 
neurasthenischer Erscheinungen eine be¬ 
ginnende Paralyse entdecken zu können 
und den Fall nicht als harmlose Nervosität 
zu behandeln. Es ist notwendig, bei kon¬ 
vulsivischen Erscheinungen eine scharfe 
Differentialdiagnose zwischen Epilepsie und 
Hysterie zu stellen. Auf etwaige Abnahme 
der Intelligenz muß man sorgfältig achten, 
wenn man heilbare Psychopathien von Ver¬ 
blödungsformen unterscheiden will. Die 
Versuche der Psychiater und Neurologen, 
eine bessere Klassifikation der Psycho¬ 
pathien zu gewinnen, sind daher sehr zu 
begrüßen; die Diskussionen, welche darüber 
in Aerzteversammlungen und in Zeitschrif¬ 
ten geführt werden, bereichern unser Wissen 
erheblich. Immerhin darf man nicht ver¬ 
gessen, welche Kluft die Psychopathologie 
von der Somatopathologie trennt; es ist 
die gleiche, welche zwischen Psychologie 
und Physiologie liegt. 

ln einem gewissen Sinne darf man die 
beiden Gebiete vereinigen als Zweige der 
Biologie, welche den Menschen, sowie 
alle Lebewesen in ihren Leistungen be¬ 
trachtet und den Zusammenhang der Er¬ 
scheinungen festzustellen sucht. Doch stoßen 
wir dabei auf das Rätsel des Bewußt¬ 
seins, Während in der Physiologie, sensu 
stricto, die Reize physische Natur haben, 
sind sie in der Psychologie psychische; 
hier somatische Einflüsse, welche imstande 
sind, auch in der Bewußtlosigkeit ihre Wir¬ 
kungen auf Muskel-, Gefäß- und Drüsen¬ 
nerven auszuüben; dort Vorstellungen, 
welche zwar zu den gleichen leiblichen 
Reaktionen führen, aber als Vorbedingung 
eine innere Wahrnehmung, ein Fühlen 
und Denken verlangen. 

Es war daher schon theoretisch voraus¬ 
zusehen, daß es ein nutzloses Unterfangen 
bedeutet, in der Psychopathologie Krank- 

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September 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


heitseinheiten unterscheiden zu wollen. 
Der gänzliche Mißerfolg dieser Klassifika¬ 
tionsversuche hat es denn auch bewiesen. 
Zeitweise hätte man glauben können, daß 
diese Analyse zur Präzisierung der Krank¬ 
heitsbegriffe führen werde; bald aber ent¬ 
stand daraus eine große Verwirrung, welche 
die Stellung einer praktischen Diagnose 
erschwerte, ohne daß wir dabei tiefer in 
das Wesen der Geistesgestörtheit einge¬ 
drungen wären. 

Für die Zustände, die ich als Psycho- 
neurosen bezeichne, habe ich stets diese An¬ 
sicht vertreten. Es gibt keine Krankheits¬ 
einheit, die man Neurasthenie nennen kann; 
es gibt nur „neurasthenische Zustände“, 
welche übrigens niemals ganz rein auf- 
treten, sondern sich meist mit hypochon¬ 
drischen, melancholischen, ja oft hysteri¬ 
schen Zuständen vermischen. — Die zahl¬ 
reichen Diskussionen über die Hysterie 
haben uns gezeigt, daß bei näherer Be¬ 
trachtung der Begriff sich auflöst, wie die 
Meeresmedusen in den Händen des Beob¬ 
achters sozusagen schmelzen. 

Stadel mann hat denselben Gedanken 
sehr klar ausgesprochen; er schreibt: „Die 
Psychiatrie als ein Teil der Medizin glaubte 
mit Messer und Mikroskop, den Hilfsmitteln, 
deren sich die Anatomie bedient, das Wesen 
ihres Materiales ergründen zu können. Sie 
suchte; das Wesen der Psychose blo߬ 
zulegen blieb ihr versagt.“ 

Und nun kommen die Psychiater all¬ 
mählich zur Einsicht, und zwar hervor¬ 
ragende, wie Hoche. In seinem Referat 
über die Melancholiefrage betont er die 
Unmöglichkeit, scharfe Krankheitstypen 
aufzustellen und schreibt: „Wir sollten der 
Frage, ob das Suchen nach reinen Krankheits¬ 
typen nicht die Jagd auf ein Phantom dar¬ 
stellt, ohne Scheu ins Gesicht leuchten.“ — 
Bezeichnend sind seine Worte über die 
Seelenstörungen, welche eine anatomische 
Basis haben: „Für alles, was mit Defekt 
endigt, ist wenigstens eine pathologisch¬ 
anatomische Einheit möglich und wahr¬ 
scheinlich. Aber gerade diejenigen For¬ 
men von Seelenstörungen, für welche wir 
eine solche anatomische Basis teils kennen, 
teils voraussetzen, sind in dem Zusammen¬ 
hang dieser Erwägungen besonders in¬ 
struktiv. Gerade die mit Defekt außgehen- 
den Zustände, speziell die Fälle von De¬ 
mentia paralytica, Dementia senilis und De¬ 
mentia praecox (letztere soweit sie den 
Namen „Demenz“ wirklich verdienen) zei¬ 
gen, daß sie in besonderem Maße die Nei¬ 
gung haben, Symptomatologisch in allen 
möglichen Farben zu schillern. Alle oder 

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wenigstens fast alle sonst selbständig vor¬ 
kommenden Krankheitszustände mit Stim¬ 
mungsanomalien, Sinnestäuschungen usw. 
treten bei diesen chronischen organischen 
Hirnkrankheiten auf. Der groben anatomi¬ 
schen Veränderung entspricht im groben 
die immer wiederkehrende Reihe derjenigen 
klinischen Erscheinungen, die das Krank¬ 
heitsbild als roter Faden durchziehen, näm¬ 
lich der fortschreitende Verfall der psychi¬ 
schen Persönlichkeit, während der anato¬ 
mische Prozeß im übrigen von den ver¬ 
schiedensten Symptomen und Symptom¬ 
kombinationen begleitet wird.“ 

Auch hinsichtlich der Intoxikationen 
macht er ähnliche Erwägungen und betont 
den Einfluß der individuellen zere¬ 
bralen Beschaffenheit. Statt zerebral 
hätte ich gesagt „psychisch“; ich habe 
schon gesagt, aus welchen Gründen. Die in¬ 
dividuelle zerebrale Beschaffenheit Hoches 
entspricht meiner „mentalite primaire“ und 
der „Fühlsanlage“ von Stadelmann. 

Müssen wir notgedrungen auf Krank¬ 
heitseinheiten (entit6s morbides der 
Franzosen) verzichten, so müssen wir um 
so schärfer die klinischen Bilder zeich¬ 
nen. Sie gehen zwar ineinander über, so- 
daß keine Trennung möglich ist wie zwi¬ 
schen Masern und Scharlach. Freilich 
müssen wir Rahmen haben für unsere kli¬ 
nischen Bilder; während sie in der Somato- 
pathologie meistens fest sind, müssen es 
in der Psychopathologie mobile Rahmen 
sein, welche nach Bedarf verschiedene 
Bilder aufnehmen können. Wohl darf man 
in der wissenschaftlichen Forschung die 
Frage aufwerfen, ob die Melancholie, die 
Manie, vielleicht nur als Erscheinungsformen 
eines „manisch-depressiven Irreseins“ zu 
gelten haben. So interessant auch solche 
Erwägungen sind, haben sie doch klinisch 
nicht viel zu bedeuten ; ich darf sogar sagen, 
daß die etwas voreilige Beantwortung dieser 
Fragen Verwirrung gestiftet und, ohne uns 
irgendeinen Vorteil zu bringen, die für 
Patient und behandelnden Arzt so wichtige 
Prognose dieser Zustände viel ernster ge¬ 
staltet hat. Empörend ist es zu hören, wie 
begeisterte Anhänger dieser Theorie, bei 
der Erzählung des Verlaufes eines seit 
vielen Jahren geheilten Falles von Melan- 
cholia simplex, lächelnd, fast mit einer ge¬ 
wissen Schadenfreude die Ansicht aus¬ 
sprechen: „Er wird zurückfallen.“ Das 
weiß niemand, Was aber dem Arzt not¬ 
tut, das ist, die Symptomenkomplexe, welche 
wir mit den Aufschriften: Neurasthenie, 
Hysterie, Hypochondrie, Melancholie, Manie 
usw. versehen, genau zu kennen. In der 


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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Schilderung dieser „Zustande“ sollten die 
Kliniker die Meisterschaft eines genialen 
Porträtmalers zeigen, welcher bei aller Be¬ 
rücksichtigung des Kunstsinnes doch die 
Aehnlichkeit in den Vordergrund stellt. 

Sämtliche Zustände, in denen das Seelen¬ 
leben gestört ist, verdienen die allgemeine 
Bezeichnung: Psychopathien, namentlich 
diejenigen, bei welchen keine strukturelle 
Veränderung des Gehirns nachweisbar ist; 
denn sobald eine Gehirnaffektion da ist, 
ziehen wir vor, die Krankheit anatomo- 
pathologisch zu bezeichnen. Die Paranoia 
betrachten wir als eine Geisteskrankheit; 
die Paralyse dagegen als eine zerebrale 
Erkrankung, auch wenn sie sich nur durch 
analoge Seelenstörungen kundgibt. 

In dieser Verallgemeinerung umfaßt aber 
das Wort „Psychopathien“ eine Menge von 
psychopathologischen Zuständen, von der 
leichtesten Gemütsverstimmung des nor¬ 
malen Menschen bis zu den höchsten 
Graden der Verrücktheit, und zwar ohne 
daß es möglich wäre, scharfe Grenzen zu 
ziehen. In dieser großen Klasse unter¬ 
scheidet man deshalb gewöhnlich die 
Psychoneurosen und die Psychosen. 
Die Trennung ist eine ganz willkürliche, 
konventionelle, ebenso wie der Unterschied, 
den wir praktisch zwischen Psychotherapeut 
und Psychiater machen. 

Die Bezeichnung Psychoneurosen, 
welche in der älteren Psychiatrie in einem 
anderen Sinne gebraucht wurde, habe ich 
vorgeschlagen als Ersatz für den Begriff 
Neurosen. Letztere Bezeichnung betrachte 
ich als obsolet. 

Als „Neurosen“ bezeichnete man bisher 
funktionelle Störungen der verschiedenen 
Organe, für welche die pathologische Ana¬ 
tomie keine Erklärung finden konnte und 
die klinische Beobachtung keine Gewebs- 
ränderung vermuten ließ. Der Begriff 
war gewissermaßen ein negativer und man 
ging so weit, diese Krankheitszustände 
„Morbi sine materia“ zu benennen. Später 
gestattete die Einsicht, daß im Organismus 
nichts ohne physische Prozesse stattfinden 
kann, eine solche Auffassung nicht mehr, und 
der Name „Neurosen“ bedeutete soviel wie 
„Morbi ex causa ignota“. Man hoffte durch 
weitere Forschungen diese Krankheiten¬ 
gruppe allmählich verringern zu können, 
ja sie vielleicht verschwinden zu lassen, 
wenn es einmal der Wissenschaft gelingen 
sollte, die materielle Ursache all dieser 
Störungen zu entdecken. Es ist dies zum 
Teil auch gelungen, indem verschiedene 
Erkrankungen aus der Klasse der Neurosen 
ausgemerzt wurden. 

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Dennoch beobachtet der Arzt tagtäglich 
manche Funktionsstörungen, für welche er 
keine primäre Gewebserkrankung verant¬ 
wortlich machen kann, und die Beibehaltung 
des Begriffes „Neurosen“ hat dabei zu einer 
verhängnisvollen Konfusion geführt. Es 
entstand die Vorstellung, daß der Grund 
zu diesen Störungen in den „Nerven* zu 
suchen sei; so wurde vielfach angenommen, 
daß bei Darmbeschwerden der Sympathikus, 
namentlich der Plexus solaris krank sei. 

Die ungenaue Bezeichnung „Nervenkrank¬ 
heiten“ verbreitete sich und drang bis in 
die Sprache des Publikums, Man ließ sich 
dazu verleiten, lokalisierte Neurosen an¬ 
zunehmen und noch heutzutage sprechen 
die Aerzte von Magen-, Darm- und Herz¬ 
neurosen, ja von Gelenkneurosen! 

Eine solche Auffassung ist völlig un¬ 
haltbar. Das Wort „Nervenkrankheiten“ 
muß beschränkt werden auf die wirklichen 
Krankheiten der peripheren Nerven, seien 
sie durch gröbere anatomische Verände¬ 
rungen (Neuritis, Tumoren, Traumata, De¬ 
generationsprozesse usw.) oder durch mole¬ 
kulare noch unbekannte Vorgänge bedingt. 

Der Begriff „Neurosen“ muß wegen seiner 
zu engen Betonung der Rolle der „Nerven“ 
wegfallen und durch die Bezeichnung 
„Psychoneurosen“, welche den psychogenen 
Einfluß in den Vordergrund stellt, ersetzt 
werden. 

Sobald eine Funktionsstörung sich auf 
eine, wenn auch noch so winzige Verände¬ 
rung eines Organs zurückführen läßt, ist es 
keine Neurose mehr, sondern eine lokale Er¬ 
krankung. Es gibt sicherlich viele Störungen 
der Herzaktion, welche durch allmähliche 
Entartung von Herzgebilden (Herzfleisch, 
Herzgefäße, Herzganglien) durch Seneszenz, 
Arteriosklerose bedingt sind; andere mögen 
auf Intoxikationen aller Art beruhen. Der 
Arzt muß stets an diese Möglichkeit denken 
und sich nicht übereilen, die Sache als 
„nervös“ zu taxieren; er muß suchen, ver¬ 
mittels aller Untersuchungsmethoden dar¬ 
über ins klare zu kommen. Allein er darf 
auch nicht vergessen, daß das psychische 
Geschehen mächtig auf das Herz einwirkt. 

Wir suchen zu wenig nach solchen psychi¬ 
schen Einflüssen, welche auch bei einem 
nachweisbaren Vitium cordis sich geltend 
machen, und wir schreiben oft der Digi¬ 
talis, der Bettruhe, der Milchdiät Besse¬ 
rungen zu, welche nur der seelischen Be¬ 
ruhigung zu verdanken sind. Es ist aller¬ 
dings oft sehr schwierig, die Vorgänge 
zu analysieren und die wahre Ursache 
herauszufinden. Auch die Physiologen, ob¬ 
gleich sie bei Tieren scheinbar weniger 

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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


September 


mit der Psyche zu schaffen haben, müssen 
diese Schwierigkeit ins Auge fassen. Als 
Schiff in Florenz im Jahre 1854 die regel¬ 
mäßigen Kontraktionen und Dilatationen 
der Arterie im Kaninchenohr entdeckte, 
glaubte er an eine lokale Einrichtung zur 
Erhaltung einer besseren Zirkulation und 
bezeichnete diese Arterie als „Cor acces 
sorium“. Bei Wiederholung dieser Ver¬ 
suche zeigte Mosso, daß sämtliche vaso¬ 
motorischen Veränderungen im Kaninchen¬ 
ohr eine seelische Ursache haben, ebenso 
wie das Erröten des Menschen. Beobachtete 
er seine Tiere durch ein kleines Fenster 
ihres Käfigs, ohne von ihnen gesehen zu 
werden und ohne Geräusch, so konnte er 
nachweisen, daß die Ohren längere Zeit, ja 
stundenlang, die gleiche Farbe behielten. 
Sofort aber traten die Dilatationen und 
Kontraktionen wieder auf, wenn eine Ge¬ 
mütsbewegung sie auslöste; es genügte 
dazu ein leises Pfeifen, ein Wort, irgend 
ein Geräusch, wie das Bellen eines Hundes, 
der Flug eines Vogels, ein Sonnenstrahl, 
der Schatten einer Wolke. 

Noch viel empfindlicher ist der Mensch 
mit seinem hochentwickelten Geistes- und 
Gemütsleben. Er reagiert nicht nur auf 
Reize, welche die Sinne direkt treffen, son¬ 
dern auf mannigfaltige Gemütserregungen, 
welche durch seine Vorstellungen herauf¬ 
beschworen werden. Wohl kann er in 
gewissen Fällen erröten infolge einer mate¬ 
riellen Beeinflussung, bei großer Hitze, bei 
Einatmung von Amylnitrit usw.; meistens 
aber treiben ihm Befangenheitsgefühle 
die Röte ins Gesicht. Wir können das¬ 
selbe Frostgefühl empfinden bei kühler 
Witterung und bei der Gemütsbewegung, 
welche uns beim Anhören guter Musik 
oder eines Theaterstückes erfaßt, und bei 
gleichzeitiger Einwirkung beider Ursachen 
ist es uns unmöglich, zu wissen, was ge¬ 
wirkt hat. Das Herz wird durch körper¬ 
liche Anstrengungen, durch Hindernisse in 
der Zirkulation zu rascherem Schlagen ver¬ 
anlaßt; wie oft aber hat das Herzklopfen 
seine Ursache in unserem Gemütsleben! 
Die Magen- und Darmfunktionen, die Se¬ 
kretion ihrer großen und kleinen Drüsen, 
die Respiration, die Nierensekretion, die 
Tonusveränderungen aller Muskeln, kurz 
alle leiblichen Funktionen können zwar 
materiell bedingt werden, aber noch mehr 
stehen sie unter dem Einflüsse der „Seele“, 
das heißt jener psychologischen Vorgänge, 
bei welchen Vorstellungen den psychischen 
Reiz darstellen. 

Auf diese Vorgänge haben uns die 
Physiologie und die Klinik des 19. Jahr¬ 


hunderts nicht genügend aufmerksam ge¬ 
macht. Man hat sie wohl beobachtet, aber 
in der Sucht, alles objektiv nachweisen zu 
wollen, hat man sich von ihrer Wichtig¬ 
keit zu wenig Rechenschaft gegeben. Und 
doch kann der Arzt täglich, in der Sprech¬ 
stunde und am Krankenbett, diesen steten 
und mächtigen Einfluß des Geistes auf den 
Körper erkennen. Seine Patienten erröten 
vor ihm, weinen, zeigen sich verlegen, be¬ 
kümmert; sie zittern, ihr Herz klopft stür¬ 
misch; Erbrechen, Dyspepsie, Diarrhoe und 
Obstipation, Menstruationsstörungen treten 
infolge momentaner oder langandauernder 
Gemütsbewegungen auf. Es gibt keine 
Funktionsstörung, welche nicht psychogen 
bedingt sein könnte, und zwar nicht, wie 
viele Aerzte meinen, durch Einbildung, 
sondern durch die physiologische Wirkung 
der Emotion, wobei allerdings auch Auto¬ 
suggestionen eine Rolle spielen können. 
Als Gegensatz zu Wundts „physiologi¬ 
scher Psychologie“ könnte man ein Buch 
schreiben über „psychologische Physio¬ 
logie“, worin sämtliche somatischen Funk¬ 
tionsstörungen, welche auf das Vorstellungs¬ 
leben zurückzuführen sind, beschrieben 
wären. 

Wie mir scheint, hat man nicht klar ge¬ 
nug eingesehen, auf welchem Wege dieser 
Einfluß des Psychischen auf dtn Körper 
sich geltend macht. Es kommen dabei in 
Betracht: die Affektivität, die Sug- 
gestibilität und die Ermüdbarkeit. 
Die Affektivität hat ihren Grund im Selbst¬ 
erhaltungstrieb. Sämtliche vasomotorischen 
Erscheinungen, welche auf die Gemüts¬ 
bewegung folgen, tragen den Charakter 
einer Abwehr; die Blutwallung geschieht in 
der Richtung nach dem gefährdeten Organ 
hin, sie führt den in Tätigkeit tretenden 
Teilen die ernährende Flüssigkeit zu, wie 
den im Gefecht stehenden Soldaten Muni¬ 
tion zugeführt wird. Dieser Erhaltungs¬ 
trieb ist schon den niedrigsten Organismen 
eigen, und alle diese Reaktionen vollziehen 
sich sozusagen automatisch, nach dem Vor- 
bilde des Reflexes oder der Tropismen. 
Diese biologische Tatsache hat sehr dazu 
beigetragen, den Affekt für das primäre zu 
halten, namentlich als physiologische Ver¬ 
suche uns zeigten, daß auch enthauptete 
Tiere bei Reizung koordinierte Flucht¬ 
bewegungen machen, obgleich sie weder 
fühlen noch denken. Gewiß, aber dieser 
automatische Teil der Abwehr wird sehr 
oft ganz unzweckmäßig, wie bei der ent¬ 
haupteten Schlange Tiegels, welche einen 
glühenden Eisenstab umschlingt, da sie den 
Schmerz nicht empfindet. Unter normalen 


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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


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Verhältnissen hätte die Schlange diese 
automatische Abwehrbewegung vielleicht 
begonnen, sie aber sofort unterlassen bei 
der zweiten Empfindung der Hitze. Kon¬ 
traktionen von Muskeln, vasomotorische 
Erscheinungen, Drüsensekretionen können 
wohl reflektorisch, beim enthaupteten oder 
narkotisierten Tiere, stattfinden, dagegen 
fallen alle Reaktionen aus, welche ein wirk¬ 
liches Fühlen und Denken voraussetzen. 
Unter normalen Verhältnissen reagieren 
wir aber auf die Vorstellung einer Ge¬ 
fahr. Dieses Wort „Gefahr“ muß man 
sehr allgemein auflassen. Ich definiere die 
Furcht als ein „Begehren, daß etwas nicht 
geschehe“; jedes Erlebnis, das wir nicht 
wünschen, verdient die Bezeichnung „Ge¬ 
fahr“. Das Erkennen der Gefahr ist die 
Vorbedingung jeder zweckmäßigen Ab¬ 
wehrbewegung, die dann nicht mehr ein¬ 
seitig bleibt, sondern sich neuen Verhält¬ 
nissen anzupassen weiß. So werden Vögel, 
welche nie einen Flintenschuß gehört 
haben, sich vom Jäger wohl annähern 
lassen; die Erfahrung belehrt sie aber bald, 
und sie werden das nächstemal davon- 
fliegen, sobald sie ihn in großer Entfernung 
sehen. Schon hier tritt nicht nur die ein¬ 
fache Wahrnehmung, die bloße Vorstellung 
„Mensch“ auf; es kommt noch die Vor¬ 
stellung ,böser Mensch“ dazu, d. h. die 
Idee einer Gefahr, welche erst Furcht und 
Flucht auslöst. 

Infolge des jedem lebenden Protoplasma 
eigenen natürlichen Erhaltungstriebes hat 
sich evolutionistisch die Affektivität aus- 
gebildet. Sie zeigt sich zweckdienlich, in¬ 
dem die Lustgefühle den Trieb entfachen, 
das Gewünschte zu erreichen, während die 
Unlustgefühle die Furcht und die Flucht 
oder auch die Abwehr bedingen. Nach¬ 
teilig wird jedoch die Affektivität, wenn sie 
übertrieben ist. Die Reaktionen treten 
dann stürmisch auf, schaffen selbst neue 
UnlustgefQhle, vermehren die Furcht und 
trüben die Vernunft. Diese übertriebene 
Affektivität schreibe ich nicht, wie gewisse 
Autoren, einer abnormen Reizbarkeit ge¬ 
wisser bulbären Zentren zu, sondern der 
Psychasthenie, dem Mangel an „Einstellungs¬ 
vermögen“. Im Intellekt liegt der primäre 
Fehler, der eine unrichtige Wertung der 
Weltbilder nach sich zieht. Gewiß wird 
auch der vernünftigste Mensch erschrecken 
können, selbst wenn keine große Gefahr 
vorliegt; er wird auch automatisch rea¬ 
gieren auf Sinnesreize, welche durch ihre 
Heftigkeit oder Plötzlichkeit ursprünglich 
die Idee einer möglichen Gefahr wecken, 
z. B. bei einem Kanonenschuß, beim Zu¬ 


schlägen einer Türe. Je wahrhaft gebil¬ 
deter ein Mensch ist, desto seltener werden 
solche Gemütsbewegungen bei ihm auf- 
treten. Die Affektivität wird durch die 
Bildung des Verstandes vermindert, na¬ 
mentlich wenn Hand in Hand mit der 
wissenschaftlichen auch eine ethische Bil¬ 
dung, im Sinne eines Stoizismus, statt¬ 
gefunden hat. 

Immerhin bleibt dem Menschen eine 
normale Affektivität, welche ihn zum Han¬ 
deln treibt, ihn fähig macht, zu genießen, 
und umgekehrt ihn lehrt, Unlustgefühle zu 
vermeiden. Auf jede Vorstellung, die 
unsere Interessen, im allgemeinsten Sinne 
des Wortes, berühren, treten fast simultan 
mit der Vorstellung, wenn auch chrono¬ 
logisch sukzessiv, als somatischen Reak¬ 
tionen auf. 

Ich habe gezeigt, wie der Egozentrismus 
die Affektivität erhöht und wie die Kritik¬ 
losigkeit sie schürt. Die Psychasthenie der 
Psychopathen macht sie für alle Einflüsse 
viel empfindlicher; eine Menge von Funk¬ 
tionsstörungen sind emotionelle Vorgänge, 
welche der Affektivität zuzuschreiben sind. 
Der Reiz wirkt hier nicht unmittelbar auf 
die Zentren des Palaeencephalon, nach 
Art des Reflexes; er nimmt seinen Weg 
durch die Hirnteile, in welchen die sub¬ 
jektive Wahrnehmung und die geistige 
Synthese stattfinden. Als solche, rein in¬ 
folge der Affektivität auftretende Erschei¬ 
nungen möchte ich nennen: Erröten und 
Erblassen, Pupillenveränderungen, Erschlaf¬ 
fung der Gesichtszüge, Schnüren im Halse, 
Schwäche der Stimme, Aphonie und Mu¬ 
tismus, Atemnot, Herzklopfen, Präkordial¬ 
angst, Schweiße, Schwindel; im Gebiete 
der Verdauungsorgane sämtliche Funktions¬ 
störungen, welche auch bei somatischen 
Zuständen eintreten können: Appetitlosig¬ 
keit, Ekel, Aufstoßen, Brechreiz, Erbrechen, 
Magendruck und -schmerzen, Obstipation 
und Diarrhöe, von seiten der Harnorgane: 
Pollakiurie und Polyurie, Tenesmus; im 
Gebiete der Genitalien: Impotenz, Störun¬ 
gen der Menstruation, Dysmenorrhöe, Blu¬ 
tungen usw. Auch die Muskeln entgehen 
diesem Einfluß nicht; sie zeigen Kontrak¬ 
turen und klonische Zuckungen, Zittern, 
Schwäche bis zur Aufhebung der Motilität. 
Algien der verschiedensten Art, in allen 
Organen, können infolge einer Gemüts¬ 
bewegung auftreten, sei es momentan, sei 
es andauernd; sie bilden eine Hauptklage 
vieler Psychopathen. Endlich wäre noch 
der psychischen, subjektiven Zustände zu 
gedenken, welche diese Patienten empfin¬ 
den: Traurigkeit, Angst, Schwindel, Gefühl 


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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


September 


von Leere oder von Vollsein im Kopf und 
anderes mehr. 

Alle diese Erscheinungen können schlie߬ 
lich beim normalen Menschen auftreten, 
wenn eine heftige Gemütsbewegung statt¬ 
gefunden hat; kein Mensch dürfte sich 
solchen Reaktionen gegenüber als gefeit 
betrachten. Bei den Psychopathen treten 
sie indessen viel heftiger auf und bei An¬ 
lässen, welche andere Menschen nicht be¬ 
rühren würden. Diese erhöhte Affektivität 
führe ich, wie gesagt, nicht auf eine krank¬ 
hafte Empfindlichkeit des Nervensystems, 
sondern auf eine Schwäche des Verstandes 
zurück. 

Diese Psychasthenie hat noch weitere 
Gefahren und steigert die Macht der krank¬ 
machenden Vorstellungen; sie erhöht die 
Suggestibilität. — Ich verstehe darunter 
die Neigung des Menschen, seinen Wahr¬ 
nehmungen sofort volle Geltung zu geben, 
Eingebungen anderer kritiklos zu akzep¬ 
tieren und entsprechend diesen Vorstellun¬ 
gen in Affekt zu geraten und zu handeln. 

Wäre die Urteilsfähigkeit des Menschen 
eine perfekte, würde er die Weltbilder so¬ 
fort richtig werten, so könnte die Sug¬ 
gestibilität als eine gute Eigenschaft gelten; 
wir würden sozusagen instinktiv rasch und 
gut handeln. Leider ist dem nicht so. 
Das Geistes- und Gemütsleben ist so reich, 
daß eine korrekte Wertung aller Welt¬ 
bilder sehr schwer ist. Wir täuschen uns 
schon bei der einfachsten Wahrnehmung 
von Objekten, von Tatsachen, bei der Be¬ 
urteilung von Erlebnissen und noch viel 
mehr in der induktiven Geistestätigkeit, die 
wir mit dem Worte „Denken“ bezeichnen. 
Die dabei notwendigerweise auftretende 
Affektivität trübt, auch im normalen Zu¬ 
stande, die intellektuellen Funktionen. In¬ 
folge dieser zahllosen Irrtumsmöglichkeiten 
wird die Suggestibilität zu einem Haupt¬ 
fehler der Menschheit. Einzig durch die 
stete Kritik einer geläuterten Vernunft läßt 
sich diese Leichtgläubigkeit bekämpfen und 
gelangt der Mensch zu einer klaren Ein¬ 
sicht. 

Bei allen Psychopathen zeigt sich diese 
übertriebene Suggestibilität. Wohl kommt 
es häufig vor, daß sie den Eingebungen 
anderer (Heterosuggestion) großen Wider¬ 
stand entgegensetzen, wie z. B. viele Hyste¬ 
rische, Psychasthenische und Paranoische. 
Dagegen stehen sie vollständig unter dem 
Joche ihrer eigenen Ideen (Autosuggestion). 
Auch zeigt die Suggestibilität eines Indi¬ 
viduums stets Variationen; so kann ein 
Patient, der dem einen Arzte sich hart¬ 
näckig widersetzte, die Eingebungen eines 


anderen sofort akzeptieren oder einem 
Charlatan Gehör schenken. Maßgebend für 
das affektive Handeln sind auch meist nicht 
die bewußten, mit klarem, reflektiertem Be¬ 
wußtsein betrachteten Suggestionen, son¬ 
dern die weniger präzisen, halbvergessenen, 
aber schon lange gefühlsbetonten Vor¬ 
stellungen, welche in unserem Tiefinnersten 
schlummern; der Franzose nennt sie: les 
pensces de derriere latete. So gibt mancher 
Patient an, ein Medikament ohne Glauben 
genommen zu haben, während im Grunde 
doch die Hoffnung auf eine Wirkung (Affekt) 
sein Gemüt beherrschte. 

Sind nun bei einem suggestiblen Men¬ 
schen, sei es infolge von Gemütsbewe¬ 
gungen, sei es auf Grund somatischer Ur¬ 
sachen, Funktionsstörungen aufgetreten, so 
verschlimmert die Suggestibilität die Lage 
des Patienten erheblich. Nicht nur werden 
dadurch die vorhandenen Störungen fixiert, 
indem die Seele alles Empfundene sofort 
zur Wirklichkeit stempelt, sondern es 
machen sich noch neue Vorstellungen einer 
Gefahr geltend. Während ein vernünftiger 
Mensch, namentlich wenn er sich zu einem 
stoischen Verhalten erzogen hat, die Ten¬ 
denz zeigt, unangenehme Empfindungen zu 
vernachlässigen, sie als harmlos, als vor¬ 
übergehend zu betrachten, überwertet der 
Psychopath alle 9 eine Wahrnehmungen; er 
erblickt in allem eine Gefahr und gerät 
dadurch in Affekt. Dieser löst seinerseits 
neue Funktionsstörungen aus, welche eben¬ 
falls durch die ihnen geschenkte Aufmerk¬ 
samkeit fixiert werden. Es ist bei vielen 
Kranken höchst schwierig nachzuweisen, 
was als direkte Folge der Gemütsbewegung 
zu betrachten und was auf dem Wege der 
Auto- oder Heterosuggestion entstanden 
ist. Vielfach wurde in ärztlichen Vereinen 
die Frage aufgeworfen, ob die hysterischen 
Erscheinungen (Anästhesien, Lähmungen, 
Kontrakturen, konvulsivische Krisen usw.) 
unmittelbar durch die Emotion ausgelöst 
werden, oder ob sie aus Suggestionen her¬ 
vorgehen. Eine genauere Analyse auf 
diesem Gebiete tut not, da die Lösung 
solcher Fragen wichtige Indikationen für 
die Therapie bieten kann. Eine scharfe 
Trennung wird allerdings kaum möglich 
sein, da jeglicher Affekt aus einer Vor¬ 
stellung entsteht, also gewissermaßen eine 
Autosuggestion voraussetzt. Es zeigt sich 
hier wieder die Identität von Fühlen und 
Denken. 

Durch die Suggestibilität erhält die Affek¬ 
tivität eine Steigerung, welche völlig hin¬ 
reicht, die Erscheinungen der Psychopathien 
zu erklären; immerhin glaube ich der Er- 


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September 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


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müdbarkeit, als dritte im Bunde, eine 
große Rolle zuschreiben zu müssen. Im 
Affektzustand werden zahlreiche Organe 
in lebhafte, ja stürmische Tätigkeit ver¬ 
setzt. Dadurch tritt eine Ermüdung ein, 
welche viel intensiver ist als die nach einer 
langen, aber ruhigen Arbeit sich einstellende; 
eine kurze Gemütsbewegung erschlafft uns 
mehr als Stunden fortgesetzter körperlicher 
oder geistiger Tätigkeit 

Die Ermüdung tut sich aber nicht nur 
kund durch Abnahme der Leistungsfähig¬ 
keit, wie z. B. der Schwierigkeit, weiter 
zu gehen, eine geistige Arbeit fortzusetzen; 
sie manifestiert sich noch durch eine ganze 
Reihe von Beschwerden und Funktions¬ 
störungen. Bei kerngesunden, robusten 
Individuen mag sich die Ermüdung durch 
einfache Leistungsfähigkeit und Beschwer¬ 
den im Organ, welches in Anspruch ge¬ 
nommen war, kundgeben; die meisten 
Menschen haben aber gewisse „loci minoris 
resistentiae“, und die Folgen erlittener 
Strapazen machen sich an verschiedenen 
Stellen geltend. So kann eine anstrengende 
Bergtour bei dem einen nur Müdigkeit in 
den Beinen hervorrufen; ein anderer be¬ 
kommt dabei Kopfschmerzen, Nacken- .und 
Rückenschmerzen. Ein dritter gibt an, sich 
körperlich nicht müde zu fühlen, ist aber 
mürrisch und ungeduldig geworden. Bei 
manchen tritt Appetitlosigkeit ein, während 
sonst Bewegung den Appetit fördert; dem 
einen bringt die Ermüdung guten Schlaf, 
dem andern verursacht sie eine schlaflose 
Nacht. Jeder reagiert auf seine Weise; 
übersteigt die Ermüdung eine gewisse, 
für jede Person andere Grenze, so kann 
sie sämtliche Beschwerden verursachen, 
die wir als „nervöse“ bezeichnen. Die 
Wahrnehmung all dieser Funktionsstörun¬ 
gen wird wiederum dank der Suggestibi- 
Htät und Affektivität überwertet, und der 
Patient gerät immer tiefer in die verhäng¬ 
nisvolle Spirale. 

Bei allen Psychoneurosen und Psychosen 
läßt sich diese Wechselwirkung der Affek¬ 
tivität, der Suggestibilität und der Ermüd¬ 
barkeit leicht nachweisen. Die Reaktion 
des einzelnen hängt von seiner primären, 
körperlichen und psychischen Konstitution 
ab. Oft genügt die Vorstellung (Sug¬ 
gestion), um alle Beschwerden auszulösen, 
z. B. bei Personen, welche sich krank 
wähnen, sobald sie von einer Krankheit 
sprechen hören; sie empfinden sogleich die 
subjektiven Symptome, und auch die ob¬ 
objektiven Reaktionen bleiben nicht aus. 
Noch häufiger gibt ein wirklicher somati¬ 
scher Reiz Anlaß zu der Vorstellung; die 

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Wirkung des Erlebnisses wird jedoch durch 
die übertriebene Affektivität und Suggesti¬ 
bilität gesteigert. Endlich kann ein großes 
Ereignis mächtig auf den Menschen ein- 
wirken und ihn krank machen; aber auch 
da noch spielt die Suggestibilität der Pa¬ 
tienten eine Rolle. Ueberall zeigen sich 
Kleinmütigkeit, Furcht und Mangel an Be¬ 
sonnenheit; im Zeichen der Schwäche leben 
alle diese Psychopathen. 

Unter Umständen kann der Egozentris¬ 
mus auch zu Genußsucht führen; mancher 
Psychopath läßt sich zu Exzessen in Baccho 
et Venere verleiten, ja sogar zu über¬ 
mäßiger körperlicher oder geistiger Arbeit, 
bei welcher er sein Kapital an Nerven- 
kraft verschwendet. Die Beobachtung 
solcher Fälle hat den italienischen Kliniker 
Grocco dazu geführt, neben der Neur¬ 
asthenie eine Neurohypersthenie anzu¬ 
nehmen. Ich halte diese Auffassung für 
unrichtig. Hypersthenisch ist niemand; mit 
seinen Kräften ist der Mensch eher spar¬ 
sam. Diese exzedierenden Patienten sind 
Psychopathen, welche impulsiv handeln, 
unter dem Banne ihrer Leidenschaften 
leben oder eine übertriebene Arbeitslust 
zeigen; sie treiben ihren Gaul bis er zu¬ 
sammenbricht; am Ende treten doch neur- 
asthenische Erscheinungen auf. Uebrigens 
hat eine gewisse Neurasthenie auch ihre 
guten Seiten; diese Anlage bringt eine 
Empfänglichkeit mit sich, welche auch die 
Begeisterung entfachen kann. Der fran¬ 
zösische Kliniker Sandras hat schon 1851 
geschrieben: „Rien n’est plus admirable 
que cet etat nerveux, quand il est au Ser¬ 
vice d’une bonne töte et d’un bon coeur.“ 
Leider ist dies nicht allzuhäufig, und bei 
vielen Fällen von Neurasthenie verbindet 
sich ein schwacher Kopf mit „Moral 
insanity“. 

Es ist leicht einzusehen, welche Folgen 
die Vermischung dieser verschiedenen 
Geistes- und Charakterfehler haben kann. 

Wenn der Egozentrismus und die Kritik¬ 
losigkeit die Affektivität und die Suggesti¬ 
bilität züchten, - wenn dazu noch die emo¬ 
tionelle Ermüdung auf einen schwachen 
Organismus einwirkt, so ist der Ausbruch 
der Psychopathie nicht zu verwundern. 
Freilich können gewisse Individuen diese 
geistigen Minderwertigkeiten alle besitzen, 
schwachsinnig sein, egoistisch leben, ihre 
Affektivität in einem ausschweifenden Leben 
aufs höchste steigern und dennoch gesund 
bleiben; sie sind eben zäher als andere. 

Immer wieder tritt uns die Wichtigkeit der 
primären Anlage entgegen, nicht bloß 
als sogenannte Prädisposition — die man 

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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


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nur theoretisch aufstellt, um die Tatsache 
zu erklären, daß nicht alle Menschen durch 
die gleichen Ereignisse krank werden —, 
sondern als bestehende, nachweisbare 
körperliche und seelische Anlage; ein 
scharfer Beobachter kann diese Minder¬ 
wertigkeiten lange vor dem Ausbruch der 
Psychopathie auf decken. Ich habe stets 
auf die Wichtigkeit dieser Anlage aufmerk¬ 
sam gemacht. 

In ausgezeichneter Weise hat Stadel- 
mann, Nervenarzt in Dresden, diesen Ge¬ 
danken ausgesprochen, indem er die Ent¬ 
stehung der „Psychose" auf das Zusammen¬ 
wirken dreier Faktoren zurückführt: Fühl¬ 
anlage, Fühllage und Erlebnis. 

Hat man diese Grundsätze richtig ver¬ 
standen, so begreift man sofort, daß die 
Psychopathien keine spezifischen Ent¬ 
stehungsmomente haben, sondern daß sie 
unter dem Einfluß ganz banaler körper¬ 
licher und seelischer Einwirkungen, welche 
auf andere Menschen keinen Effekt aus¬ 
üben würden, ausbrechen. Das Erlebnis 
somatischer oder psychischer Natur spielt 
nur die Rolle einer „Gelegenheitsursache", 
welche allerdings oft von entscheidendem 
Einfluß sein kann. 

Es lassen sich aus dieser Anschauung 
zugleich auch allgemeine therapeutische 
Prinzipien ableiten. Selbstverständlich ist, 
daß man bei der Prophylaxe wie bei der 
Behandlung auf jeden einzelnen dieser drei 
Faktoren oder auf alle zusammen einwirken 
kann. 

Unstreitig wäre es zweckmäßig, „Minder¬ 
wertige" vor schädlichen Erlebnissen zu 
schützen. In vielen Fällen tun wir dies 
auch, indem wir bedrohte oder kranke 
Persönlichkeiten aus einer ungünstigen Um¬ 
gebung entfernen, den Schulbesuch mit 
seinen unvermeidlichen Nachteilen ver¬ 
bieten, kurz, so weit möglich, die Patienten 
in günstigere Verhältnisse versetzen. So 
notwendig und wertvoll diese Maßregeln 
auch sind, ist doch leicht einzusehen, daß 
wir unseren Kranken oder schlecht veran¬ 
lagten Menschen ein Leben ohne Sorgen 
nicht bereiten können. Immerhin darf 
diese Indikation, die Gelegenheitsursachen 
möglichst zu beseitigen, nicht vernachlässigt 
werden; in gewissen Fällen genügt dies 
schon zur Heilung. 

Die momentane Fühllage ist bei der 
Entstehung jeglicher Psychopathie von 
großer Wichtigkeit. Wie ein Mensch, der 
sich in einer schwankenden Gleichgewichts¬ 
lage befindet, durch einen leichten Stoß 
zum Fall gebracht wird, so ist eine Person 
auch psychisch leichter verletzbar, wenn 


sie sich in einer abnormen Fühllage be¬ 
findet. 

Der Grundton der momentanen Fühllage 
ist gegeben durch die Fühlanlage; sie er¬ 
leidet jedoch mancherlei Veränderungen 
unter der Einwirkung verschiedenster Fak¬ 
toren. Die Umstände, welche imstande 
sind, die Fühllage des Menschen zu ver¬ 
ändern, sind so unzählige, daß eine er¬ 
schöpfende Aufzählung nicht möglich ist. 

Körperliche Euphorie, Heiterkeit infolge 
angenehmer Ereignisse, verschiedene Ge¬ 
nußmittel usw. bedingen eine günstige 
Fühllage; nicht nur genießen wir die Lust¬ 
gefühle an sich, wir werden dadurch zu 
weiterem Genuß vorbereitet; in dieser 
Stimmung überwerten wir angenehme Er¬ 
lebnisse und sind imstande, Unannehmlich¬ 
keiten mit Gleichmut zu ertragen. Eine 
seelische Euphorie können wir auch emp¬ 
finden nach einem Unwohlsein, sogar be¬ 
vor noch völlige Heilung eingetreten ist; 
der Kontrast gestattet eine optimistische 
Wertung der an sich noch keineswegs an¬ 
genehmen Lage. 

Viel häufiger und für die Psychopatho¬ 
logie wichtiger sind die ungünstigen Fühl¬ 
lagen, welche eine unrichtige Wertung der 
Vorstellungen und eine übermäßige Ge¬ 
fühlsbetonung nach sich ziehen. Der Mensch 
zeigt in der Regel keine große Neigung 
zum Optimismus; das Leiden sieht er meist 
durch ein Vergrößerungsglas, das Glück 
hingegen scheint ihm kurz und vergäng¬ 
lich; er verdirbt sich den Genuß der 
Gegenwart durch die Furcht vor der Zu¬ 
kunft. 

Auf die Fühllage jedes Menschen übt 
vor allem die Ermüdung einen mächtigen 
Einfluß aus. In dem Zustande der Er¬ 
müdung macht uns das Bedürfnis nach 
Ruhe ungeduldig und reizbar. Eine Be¬ 
merkung unserer Angehörigen nehmen wir 
gleich übel, sehen darin eine Belästigung 
oder eine Kränkung, und das barsche Wort: 
„Laß mich doch in Ruh’" ist schon auf 
unseren Lippen. Der Ermüdete sieht leicht 
alles durch eine schwarze Brille, läßt sich 
entmutigen und erblickt unüberwindliche 
Hindernisse, wo er kurz zuvor keine fand. 
In dieser Fühllage hat sich mancher Psy¬ 
chopath zu abnormen Handlungen, zum 
Selbstmord, ja zum Mord hinreißen lassen. 
— Die Sättigung ist auch eine Ermüdungs¬ 
fühllage; sie bedingt oft eine jähe Ver¬ 
stimmung, welche alles in einem anderen 
Lichte erscheinen läßt, so daß wir verab¬ 
scheuen, was wir vorher ersehnten und 
genossen. Stadelmann verdanken wir 
die gediegenste Beschreibung dieser 


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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


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Stimmungswechsel, welche auf dem Boden 
einer angebornen und anerzogenen „ Kon¬ 
trastanlage“ entstehen und zu einer „Um¬ 
sturzwertung“ führen 1 ). Nichts ist so wichtig 
für die Beurteilung von Psychopathien wie 
die Kenntnis dieser Erscheinungen. 

Nur darin finden wir eine Erklärung für 
die rätselhaften Selbstmorde von Menschen, 
die vorher nicht als krank galten, unter 
dem Einfluß eines winzigen Erlebnisses; 
wir begreifen dadurch auch die plötzliche 
Umstimmung eines Psychopathen, der aus 
der Sprechstunde des Arztes so ermuntert 
herauskommt, daß er sich geheilt fühlt, und 
eine halbe Stunde später finden wir ihn 
im Bett in der höchsten Verzweiflung, nur 
weil seine Frau ihn mit einem nervösen 
Lächeln empfing. Die Stimmung solcher 
Menschen gleicht dem Barometer in stür¬ 
mischen Zeiten; aber schon beim Normalen 
zeigt die Kurve beständige und oft jähe 
Schwankungen. 

In der Nacht, wenn der Schlaf nicht 
kommen will, ist die Fühllage eine andere 
als am Tage. Wohl gibt es Menschen, 
welche auch in einer schlaflosen Nacht die 
Gemütsruhe und die Geistesschärfe be¬ 
wahren, meist aber hat die Nachtstim¬ 
mung eine melancholische Färbung. Wir 
überwerten die trüben Vorstellungen, werden 
zu Pessimisten angesichts von Aufgaben, 
die uns am Tage leicht vorkamen. In der 
Nacht verschlimmert sich der Zustand von 
Psychopathen und auch von anderen Kranken 
oft erheblich. Lichtmachen ist ein pro¬ 
bates Mittel gegen solche Verstimmungen; 
es wirkt sogar bei asthmatischen Anfällen 
und deutet auf die Mitwirkung psychogener 
Einflüsse. 

Die Menstruation übt auf die momen¬ 
tane Fühllage des Weibes einen großen 
Einfluß aus; sie steigert die Ermüdbarkeit, 
die Reizbarkeit, die Empfindlichkeit, den 
Widerspruchsgeist. Es gibt kaum ein 
Weib, bei welchem diese Stimmungswechsel 
einem aufmerksamen Beobachter, nament¬ 
lich dem Herrn Ehegemahl, entgehen 
würden. Bei psychopathisch veranlagten 
Damen steigert sich diese Verstimmung bis 
zur Menstrualpsychose. In Straffällen muß 
hie und da dem menstruierenden Weibe 
eine verminderte Zurechnungsfähigkeit zu¬ 
erkannt werden. Auf welche Weise dieser 
Einfluß sich geltend macht, ob auf dem 
Wege des Reflexes oder durch Einwir¬ 
kung gewisser Stoffe, oder endlich psy- 

*) Das Wesen der Psychose. — Der Umsturz¬ 
wert (Ztschr. f. Psychotherapie, Bd. II. H. 2, Stutt¬ 
gart, Verlag von Ferdinand Enke, 1910). 


chogen durch Autosuggestionen, ist noch 
völlig unerforscht. 

Ebensowenig wissen wir über die Fühl¬ 
lage des kritischen Alters. Die meisten 
Aerzte denken dabei an Ausfallserschei¬ 
nungen durch Sistierung derOvarialfunktion 
und schreiben den Erkrankungen des Ge¬ 
nitalapparates eine große Rolle als Ursache 
von Psychoneurosen zu. Man hat ver¬ 
sucht, durch Ovarialpräparate diese Stö¬ 
rungen zu beseitigen. Die Arbeiten von 
Prof. Walthard in Frankfurt zeigen je¬ 
doch, daß Operationen, welche die künst¬ 
liche Menopause bedingen, keineswegs 
solche Ausfallserscheinungen hervorrufen; 
er stellte fest, daß sämtliche Patientinnen, 
welche nach der Operation Zustände von 
„Nervosität“ zeigten (11 Fälle auf 80 Ope¬ 
rierte), schon lange vorher psychoneuro- 
tische Erscheinungen dargeboten hatten. 

Das ganze Geschlechtsleben ist mit 
einer solchen Fülle von Empfindungen, Ge¬ 
fühlen, Gemütsbewegungen verbunden, die 
Phantasie spielt dabei eine so hervor¬ 
ragende Rolle, daß man sich nicht zu 
wundern braucht, wenn Erlebnisse auf 
diesem Gebiete krankmachend wirken. Die 
enorme Wichtigkeit der Erotik im Menschen¬ 
leben kann nicht hoch genug angeschlagen 
werden; bei Personen, welche die Kontrast¬ 
anlage haben, kann sie zu Eifersuchtsver¬ 
brechen und zu Lustmorden führen. 

Das Alter beeinflußt die Fühllage auch 
erheblich. Sie ist eine verschiedene in der 
Kindheit, in der Pubertätszeit, in der Ge¬ 
schlechtsreife, im Rückbildungsalter. In 
dem letzteren tritt eine Fühllage der Er¬ 
müdung ein. Der Greis kommt leicht zur 
Blasiertheit, er sehnt sich nach Ruhe, wird 
ungeduldig, reizbar, egoistisch, und die 
Abnahme der Geisteskräfte beeinträchtigt 
eine wirksame Abwehr durch die Vernunft. 

Krankheiten aller Art verändern eben¬ 
falls die Fühllage, nicht nur schmerzhafte 
Affektionen, welche Ungeduld und Reiz¬ 
barkeit verursachen, sondern auch solche, 
welche Depression nach sich ziehen, wie 
langdauernde Verdauungsstörungen, an¬ 
haltende Schwächezustände usw. 

Intoxikationen (Alkohol, Morphium 
usw.) üben einen gewaltigen Effekt auf das 
Geistes- und Gemütsieben aus. Abgesehen 
von der Möglichkeit des Auftretens deli- 
riöser Zustände wirken diese Gifte wesent¬ 
lich auf die geistige Synthese, auf die Ge¬ 
fühlsbetonung der Vorstellungen. Daher 
ihre große Rolle in der Aetiologie der 
Psychosen und Psychoneurosen. 

Aber, so mächtig diese Einwirkung auch 
ist, verrät sich doch immer die primäre 

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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


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Fühl- und Denkanlage. Viele Pota¬ 
toren sind von Haus aus Psychopathen, 
und der Alkoholismus spielt mehr die Rolle 
einer Gelegenheitsursache, er ist schon eine 
Frucht der Psychopathie. Das gleiche gilt 
von der Arteriosklerose, welche wohl 
geistige Ausfallserscheinungen erzeugen 
kann, jedoch nur dann zur Melancholie, 
zum Verfolgungswahn führt, wenn schon 
eine abnorme Fühlanlage da ist. 

Es ließen sich noch viele Faktoren er¬ 
wähnen, welche ein schwaches Gemüt 
ins Schwanken und zum Sturze bringen 
können. 

Endlich ist zu erwähnen, daß das Er¬ 
lebnis nicht nur die Rolle des Tropfens 
spielt, der das Gefäß zum Ueberfließen 
bringt, sondern auch die Fühllage ver¬ 
ändert, so daß der Mensch nicht nur un¬ 
mittelbar auf das Ereignis reagiert, sondern 
auch für andere Erlebnisse empfindsamer 
wird. 

Tagtäglich variiert somit die Fühllage 
eines jeden Menschen unter dem Einflüsse 
somatischer und psychischer Faktoren. Die 
Ursache dieser Stimmungswechsel läßt sich 
nicht in allen Fällen erkennen. Oft fühlt 
man sich verstimmt nach einer guten Nacht, 
während man sich andrerseits munter fühlen 
kann nach den Strapazen einer in Ver¬ 
gnügungen verbrachten Nacht, ja sogar 
wenn gewisse Exzesse dabei stattgefunden 
haben. Wenn schon der normale Mensch 
solche Schwankungen wahrnimmt, wie viel 
intensiver muß dieser Einfluß auf Psycho¬ 
pathen sein! 

Seit langem wird von verschiedenen 
Autoren auf eine gewisse Periodizität im 
Menschenleben aufmerksam gemacht, und 
die Beobachtung von Anstaltsärzten scheint 
diese Angaben zu bestätigen, indem in ge¬ 
wissen Tagen, Wochen oder Monaten viele 
Patienten eine Verschlimmerung ihres Zu¬ 
standes zeigen. Spruchreif ist die Frage 
nicht; es ist eben sehr schwer, alle Ereig¬ 
nisse auszuschließen, welche Körper und 
Geist beeinflussen, um nachzuweisen, ob 


ein rein somatischer Zustand die Fühllage 
verändert hat. 

Unter allen Umständen, in allen diesen 
zufälligen Fühl lagen, spiegelt aber stets 
die Fühllage durch, und diese Tatsache 
hat manchen Psychiater und Neurologen zu 
einer pessimistischen Auffassung gebracht. 
Von dem Gedanken ausgehend, daß der 
psychische Zustand eines Menschen durch 
die somatische Beschaffenheit seines Gehirns 
I gegeben ist, hat man der Heredität eine 
| zu große Wichtigkeit beigemessen und die 
I Möglichkeit einer tiefen Umänderung der 
! Persönlichkeit geradezu geleugnet. Wie 
schon gesagt, hat man dabei viel zu wenig 
die Ingesta der „Seele“ berücksichtigt. 

Die Erfahrungen von 30 Jahren haben 
mich eines anderen belehrt und mir ge¬ 
zeigt, daß es nicht so schwer ist, die FühJ- 
und Denkanlage eines Menschen zu korri¬ 
gieren, wenn auch nicht vollständig, wenig¬ 
stens so weit, daß aus den bleibenden 
geistigen Minderwertigkeiten keine größeren 
Nachteile mehr erwachsen. Der seelische 
Besitzstand eines Menschen hängt eben 
nicht nur von der Heredität ab, sondern 
noch viel mehr von der Erziehung durch 
die zahllosen Lebenserfahrungen. Auch 
nationale Unsitten, welche oft so groß sind, 
daß wir den Seelenzustand unserer Pa¬ 
tienten aus anderen Ländern kaum be¬ 
greifen, lassen sich auf verderbliche Ein¬ 
flüsse des Milieus zurückführen, und der 
Arzt, der psychotherapeutisch einzugreifen 
weiß, ist oft verblüfft über die Leichtig¬ 
keit, mit welcher die Bekehrung solcher 
„Unrichtigdenkenden “ stattfindet. 

Wichtig für die Behandlung aller Psy¬ 
chopathien ist somit: die Beseitigung schäd¬ 
licher Erlebnisse und die Vermeidung 
aller Faktoren,welche eine ungünstige Fühl¬ 
anlage hervorrufen können; damit lassen 
sich schöne momentane Erfolge erzielen. 
Eine psychotherapeutische Kur kann aber 
nur dann als gelungen betrachtet werden, 
wenn eine tiefe Umgestaltung der Fühl- 
anlage erzielt worden ist. 


Aus der medizinischen Klinik der Universität Groningen. 

(Direktor: Pro£ Dr. Wenckebach). 

Ueber die Behandlung der serösen Pleuritis mit Lufteinblasung. 


Von Dr. J. H. Geselschap, Arzt in Delden (Niederlande). 


Wenn man in verschiedenen Hand- und 
Lehrbüchern das Kapitel derThorakozentese 
nachschlägt, wird man betroffen von der 
großen Einstimmigkeit, womit alle Autoren 
die absolute Notwendigkeit hervorheben, 
daß, bei der Punktion von Exsudaten und 
Transsudaten in der Brusthöhle, keine Luft 


hierin eindringe. Die Technik der ver¬ 
schiedenen Punktionsapparaten wird großen¬ 
teils durch die Furcht vor Lufteintritt be¬ 
herrscht. Diese läßt sich verschiedentlich 
erklären. Zuerst hat die Gefahr der In¬ 
fektion daran Schuld. Die Möglichkeit, 
daß mit der Luft Mikroben hineindringen 


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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


und den Prozeß anstatt serös eitrig machen, 
liegt auf der Hand, obgleich solches in 
Wirklichkeit jedoch selten geschieht. Wie¬ 
derholt kommt es vor, daß durch einen 
Fehler in der Technik bei einer Punktion 
Luft in die Brusthöhle eintritt, ohne daß 
später nachteilige Folgen sich zeigen. 
Widal 1 ) und Andere haben solche Fälle 
beschrieben, von Ziemssen 2 ) erzählt, 
daß er bei der Punktion mit einem ein¬ 
fachen Troikart oft die Luft mit einem 
schlürfenden Geräusch in die Pleurahöhle 
eindringen hörte, ohne weitere Folgen da¬ 
von zu bemerken. Auch das Schreckbild 
des offenen Pneumothorax und der oft 
ernsthafte Verlauf des Pneumothorax bei 
Lungentuberkulose haben wohl das ihrige 
dazu beigetragen, den Pneumothorax in 
solch einen üblen Ruf zu bringen. Seit 
einiger Zeit aber ist ein gewisser Um¬ 
schwung eingetreten; sowohl bei Lungen¬ 
tuberkulose als bei Bronchieektasien hat 
man mit dem künstlichen Pneumothorax 
günstige therapeutische Resultate erreicht. 
Auch bei seröser Pleuritis und gleich¬ 
artigen Zuständen wird derselbe hier und 
da angewendet. Wiewohl die publizierten 
Resultate nicht ungünstig, bisweilen selbst 
frappant zu nennen sind, findet jene 
Anwendung bisher doch nur sporadisch 
statt. Deswegen dünkt es mir nicht 
unbegründet, einmal das Interesse für 
die Methode bei seröser Pleuritis zu be¬ 
anspruchen, unter Berücksichtigung der Er¬ 
fahrungen, welche in der Universitätsklinik 
in Groningen und anderswo gemacht 
worden sind. Dieser künstliche Pneumo¬ 
thorax wird nicht anempfohlen zur Er¬ 
setzung der klassischen Thorakozentese, 
sondern zu deren Korrektion. Mit der An¬ 
wendung der Thorakozentese sind ja öfters 
Beschwerden und Gefahren verbunden. 
Auch wenn man immer mit der größten 
Vorsicht arbeitet, hat man dann und wann 
mit weniger oder mehr ernsten Zufällen zu 
tun. Diese Zufälle: Schmerz in der Brust, 
Husten, Brustfell Verletzung mit nachfolgen¬ 
der Blutung, Lungenberstung mit folgendem 
Pneumothorax oder Hämoptöe, Embo¬ 
lien, Herzschwäche, albuminöse Expekto¬ 
ration sind allgemein bekannt. Als Ur¬ 
sache stellt sich gewöhnlich dar eine zu 
starke oder zu schnelle Entlastung der 
Lunge oder der anderen Brustorgane. 
Daher wird stets empfohlen, sehr langsam 
und niemals mehr als 1000 bis 1500 ccm auf 
einmal zu entleeren. Daher kommt es, daß 
man jedesmal andere Apparate und Kautelen 
zu erfinden strebt. Ich erinnere nur an 
die Methoden von Bard 3 ), Boinet 4 ) und 

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Pitres 5 ). Wenn man die entleerte Flüssig¬ 
keit durch Luft ersetzt, verhindert man die 
Entlastung und zugleich die hiermit ver¬ 
bundenen Zufälle. Dazu kommt noch, daß 
man also verfahrend diejenigen befriedigt, 
die sich bisher der Punktion gegenüber 
verneinend verhalten, des salutären Wertes 
wegen, welcher der Flüssigkeit beigemessen 
wird. Die Flüssigkeit hält die beiden 
Pleurablätter geschieden, verhindert also 
Adhäsionen. Die ersetzende Luft be¬ 
wirkt dasselbe. 

Die erste noch einigermaßen schüchterne 
Empfehlung dieses therapeutischen Pneumo¬ 
thorax, welche man in der Literatur an¬ 
trifft, stammt von Parker 6 ), einem engli¬ 
schen Arzte. In einer Sitzung der Royal 
medical and chirurgical Society, teilte 
dieser mit, ein 3 3 /4jähriges Kind mit einem 
großen Brustempyem behandelt zu haben, 
bei welchem durch Aspiration nur 115 g 
Eiter entfernt werden konnte. Wieder¬ 
holung der Punktion, einige Tage später, 
ergab dasselbe geringe Resultat, weshalb 
zur Inzision übergegangen wurde. Jetzt 
strömten 1200 ccm Eiter heraus. Da die 
Vis a fronte (die Aspiration) in diesem 
Falle so wenig ergab, empfahl er in einem 
solchen Falle später, es mit einer „Vis a 
tergo“ zu versuchen, indem man, während 
der Punktion, durch eine andere, ebenfalls 
in der Eiterhöhle eingestellte Kanüle fil¬ 
trierte und karbolisierte Luft in die Pleura¬ 
höhle brachte, welche dann den Eiter aus- 
treiben würde. Dieser Gedanke Parkers 
ist mehr oder weniger verwandt mit der 
Methode Rosers 7 ) zur Behandlung des 
Brustempyems. Letztgenannter, der einer 
der Vorkämpfer des Brustschnitts bei 
Empyem war, ließ nach dem Empyemschnitt 
Luft in die Pleurahöhle eintreten, indem er 
den Patienten umdrehte. Bei schon lange be¬ 
stehenden fistulösen Empyemen brachte er 
einen biegsamen Katheter in die Fistel und 
injizierte selbst, soweit nötig, Luft, um den 
Eiter soviel wie möglich zu vertreiben. In 
der Diskussion, welche Parkers Einleitung 
folgte, zeigte sich, daß Symes Thomp¬ 
son, Douglas Powell und Andere auch 
bei der Punktion seröser Exsudate Luft 
eingelassen hatten; sei es, um Schmerz 
oder Husten entgegenzuwirken, sei es, weil 
die Lunge an der Seite der Pleuritis so 
sehr krank war, daß man vor Lungen¬ 
berstung infolge der Entlastung durch die 
Entleerung Furcht hatte. 

Einige Jahre später kommen zwei andere 
Mediziner, P o t a i n 8 ) und S e c r e t an 9 ) zu dem¬ 
selben Gedanken; erstgenannter mittels ein¬ 
facher Induktion, der andere zufälligerweise. 

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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


September 


Potain behandelte einen Patienten mit 
Lungentuberkulose, bei welchem ein Pneumo¬ 
thorax eintrat. Eine seröse Brustfellentzündung 
erfolgte hieraus; das Exsudat nahm zu und 
% wurde am Ende so umfangreich, daß die Ope¬ 
ration geboten wurde. Wenn ich nun die 
Flüssigkeit entleere, so dachte Potain, und 
die Lungenfistel ist noch nicht geschlossen, 
dann tritt von neuem Luft in die Brusthöhle 
ein. Ist die Fistel schon geheilt, die Narbe 
aber noch nicht stark genug, dann komme ich 
in Gefahr erneuter Zerreißung. In beiden 
Fällen ist es möglich, daß der Sero-Pneumo¬ 
thorax mittels Infektion aus der Lunge in einen 
Pyo-Pneumothorax übergeht. Er aspirierte 
jetzt den Erguß nach gewöhnlicher Weise, 
aber je nachdem das Exsudat sich entleerte, 
ließ er sterile Luft in die Brusthöhle ein. Also 
wurde D/a Liter Erguß entfernt und ebensoviel 
Luft eingelassen. Das Exsudat kam wieder. 
In den folgenden fünf Monaten mußte man die 
Operation noch dreimal in gleicher Weise 
wiederholen. Namentlich die letzte Punktion 
war instruktiv. Da Potain meinte, daß, da 
die Fistel wohl geheilt und die Narbe solid 
genug erschien, es keine Beschwerden mehr 
bei einfacher Punktion geben würde, unterließ 
er das Lufteinblasen. Kaum jedoch war die 
Punktion beendet, so fing der Patient zu husten 
an und bekam furchtbaren Schmerz in der Brust 
Dieses hatte sich bei keiner der vorigen Punk¬ 
tionen gezeigt. Sogleich ließ man Luft ein: 
das Husten und der Schmerz hörten unmittel¬ 
bar auf. 

In noch zwei anderen Fällen von Sero- 
Pneumothorax hat Potain mit schönem 
Erfolg die selbige Methode angewendet. Er 
hat aber in dieser nur wenige Nachfolger 
gefunden. Rosenbach 10 ) hat diese Be¬ 
handlung aus theoretischen Gründen be¬ 
stritten, wohl aber hat sie Vaquez 11 ), 
Achard 12 ) und Andere veranlaßt, den 
künstlichen Pneumothorax bei seröser Pleu¬ 
ritis anzuwenden. 

Secretan behandelte einen Patienten mit 
seröser Pleuritis, welche schon zwei Jahre 
dauerte. Jedesmal hatte man punktiert, immer 
aber konnte man nur ungefähr 800 ccm Erguß 
entleeren, weil der Patient alsdann zu husten 
anfing. Nach jeder Punktion ersetzte sich das 
Exsudat wieder. Das letztemal entleerte man 
ziemlich leicht V* Liter. Weil jetzt die Flüssig¬ 
keit sehr langsam herauslief, pumpte man 
einige Male. Nachher fließt sie leicht und 
schnell ab. Da der Patient solches vorzüglich 
erträgt, geht man bis 3200 ccm weiter. Plötz¬ 
lich hält der Abfluß inne und die Luft strömt 
mit großer Kraft in die Flasche ein. Nach Ent¬ 
fernung der Kanüle tut sich ein ausgedehnter 
Pneumothorax hervor. Offenbar war infolge 
der starken Aspiration die Lunge zerrissen, 
sodaß das ausströmende Exsudat allmählich 
durch Luft ersetzt wurde. Dieses beugte der Ent¬ 
lastung der Brustorgane vor und den Zufällen, 
welche sonst daraus folgten. Das Exsudat 
rezidivierte jetzt nicht und vollkommene Ge¬ 
nesung trat ein. 

Laneereaux 13 ) meldet eine solche Ge¬ 
nesung einer chronischen hämorrhagischen 
Pleuritis, indem Luft während der Punktion 
zufällig in die Brusthöhle kam. 


In England propagiert namentlich Barr 14 ) 
diese Methode. Er kombiniert die Luft¬ 
einblasung mit der Injektion von Adrenalin. 
Abel Ayerza 15 ) zu Buenos-Ayres hat mit 
seinen Schülern Bunge und del Solar 
die tuberkulöse Pleuritis mit Sauerstoßein¬ 
blasung behandelt. Durch das Gelingen 
einer solchen Therapie bei tuberkulöser 
Peritonitis kam er zu jener Methode. 
Wenckebach 16 ) wendete die Methode 
systematisch an bei chronischem Empyem, 
um den großen chirurgischen Operationen 
am Brustkorb zuvorzukommen. In Frank¬ 
reich war Vaquez 11 ) einer der ersten, der 
diese Methode bei serösen Pleuritiden an¬ 
wendete. Wenn man die oben in kurzem 
besprochene Literatur studiert, findet man, 
daß wahrscheinlich mit der Lufteinblasung 
das folgende erreicht wird: 

a) Den lästigen und bisweilen gefähr¬ 
lichen Zufällen, welche die Thorakozentese 
öfters herbeiführt, kann man Vorbeugen; 
also: Husten, Brustschmerz, albuminöse Ex¬ 
pektoration, Lungenverletzung, Blutungen, 
Kollaps. Dadurch wird die Thorakozen¬ 
tese auch bei Hydrothorax ohne Beschwer¬ 
den möglich, wobei hinsichtlich der Zirku¬ 
lationsstörungen obengenannte Zufälle desto¬ 
mehr zu befürchten sind. 

b) Man kann mehr als die traditionellen 
1 J /2 Liter entleeren, wenn nötig auch alles. 

c) Die Dauer der Krankheit wird ver¬ 
kürzt, was namentlich bei chronischen Ex¬ 
sudaten sich zeigen wird. 

d) Man kann früher punktieren und 
braucht nicht zu warten, bis der Prozeß 
3—4 Wochen gedauert hat. 

c) Man kann ruhig punktieren, ohne 
daß man zu fürchten hat, daß die Ent¬ 
leerung des Ergusses die primäre Krank¬ 
heit nachteilig beeinflußt, im Fall von 
Lungentuberkulose an derselben Seite. 

Ad a) Im zuvor beschriebenen Falle 
Potains ist angedeutet, daß der Schmerz 
und der Husten mittels der Lufteinblasung 
beseitigt werden konnten. Alle anderen 
Forscher haben die gleiche Erfahrung 
gemacht. Es ist freilich etwas, was man 
ä priori erwarten kann. Nach der Thoraco- 
centese, mit der Lufteinblasung verbunden, 
ist alles wie vorher geblieben. Die dyna¬ 
mischen Verhältnisse in der Brusthöhle 
sind wenig verändert; die Lunge ist noch 
zusammengedrückt, nur befindet sich Luft 
anstatt des Ergusses in der Pleurahöhle. 
Obwohl man nicht annehmen kann, daß 
dann die Vitalkapazität der Lunge sogleich 
bedeutend vermehrt ist, fühlen die Patienten 
sich sehr erleichtert. Die Dyspnoe ist viel 
geringer geworden. Die Erklärung hiervon 


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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


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wird wohl diese sein, daß das Zwerchfell 
nicht mehr das schwere Exsudat zu tragen 
hat. Es ist wirklich auffallend, wie unmittel¬ 
bar die Luft die Störungen aufhebt: 

Fall 1. A.F., ein 4jähriger Knabe kommt mit 
einem großen pleuritischen Exsudate in die 
Klinik zu Groningen. Man aspiriert mit dem 
Pot a in sehen Apparate 850 ccm helle, gelb¬ 
grüne Flüssigkeit. Da der Patient arg zu husten 
anfängt, beendet man die Aspiration, holt das 
Stilet mit geschlossenem Hahn aus dem Troi- 
karts, legt ein steriles Wattebäuschchen 
auf die Oeffnung des Troikarts und läßt, durch 
Eröffnung des Hahnes, Luft in die Brusthöhle 
eintreten. Sogleich hört der Husten auf. 

Fall 2. A. K. f ein 14jähriger Knabe mit 
Bauchfelltuberkulose, bekommt in der Klinik, 
an der linken Seite, eine seröse Pleuritis. Man 
stellt eine Probepunktion ein. Diese Punktion, 
wobei nur 20 ccm Flüssigkeit entleert wird, er¬ 
weckt beim Patienten Klagen wegen eines zu¬ 
sammenschnürenden Brustschmerzes. Man 
wartet ab; aber da das Exsudat spontan nicht 
verschwinden will, schreitet man einen Monat 
später zur Punktion. Fünfmal fängt der Patient 
an zu klagen über Schmerz und jedesmal ver¬ 
schwinden die Klagen augenblicklich durch 
Lufteinlassen, sodaß man 1300 ccm Erguß ent¬ 
leeren kann. 

Daß man Blutungen aus den Pleura¬ 
gefäßen, zufolge eines niedrigen negativen 
Druckes in der Höhle während oder nach 
Entleerung der Flüssigkeit, durch Luftein¬ 
blasung umgehen kann, versteht sich von 
selbst. Ebenso sehr erleichtert diese die 
Punktion bei hämorrhagischen Exsudaten. 
Es ist bekannt, daß diese Exsudate eine 
Punktion meistens schlecht ertragen. Nach 
der Punktion nehmen sie meistens wieder 
schnell zu, während der Blutgehalt sich 
auch vermehrt. Darum entleert man bei 
hämorrhagischer Pleuritis notgedrungen 
am liebsten sehr wenig, höchstens ein 
halbes Liter. Sowohl Vaquez 11 ) als 
Achard 12 ) melden Fälle hämorrhagischer 
Art, wobei mittels des künstlichen Pneumo¬ 
thorax, der Erguß nach der Punktion sehr 
langsam oder überhaupt nicht mehr zurück¬ 
kam. In der Klinik zu Groningen hat 
man bei einer hämorrhagischen Perikarditis 
auch eine gleiche günstige Erfahrung 
machen können, indem man die Parazentese 
des Herzbeutels mit Lufteinblasung in den 
Herzbeutel verband. Wenckebach hat 
diesen Fall in der Zeitschrift für Klinische 
Medizin beschrieben. 

Welchen Nutzen bei Hydrothorax diese 
Methode ergibt, dürfte sich aus dem fol¬ 
genden Falle zeigen: 

Fall 3. D. C., ein 40 jähriger Patient mit 
Myokarditis hat an beiden Seiten, besonders 
rechts, ein Hydrothorax. Der Dyspnöe wegen 
entleert man sehr vorsichtig und langsam mit 
dem Potainschen Apparate Erguß aus der 
rechten Pleurahöhle. Demzufolge bekommt | 


der Patient Lungenödem, das mit Anwendung 
aller Mittel bekämpft wird. Der Zustand 
bessert sich momentan, aber nach kurzer Zeit 
kommt der Patient wieder in die Klinik zurück. 
Der Hydrothorax hat sich wieder ersetzt und 
die Dyspnöe wird so arg, daß man zur Punk¬ 
tion genötigt wird. Man aspiriert 1850 ccm. 
Belehrt von der Erfahrung, unterbricht man 
bei dieser Punktion jedesmal die Aspiration 
und läßt dann in der beim ersten Falle expli¬ 
zierten Weise Luft ein in die Brusthöhle. Diese 
Aspiration wird vorzüglich ertragen und auch 
nachher gibt es keine Zufälle. 

Daß die albuminöse Expektoration auf 
dieselbe Weise verhindert werden konnte, ist 
meines Erachtens noch nicht erprobt. Wohl 
wird kein einziger Fall beschrieben, worin 
der gefürchtete Symptomenkomplex auftrat, 
jedoch, da dieses selten vorkommt und die 
Fälle, welche mit gleichzeitiger Luftein¬ 
blasung behandelt worden sind, noch re¬ 
lativ wenige sind, beweist dieses noch 
nichts. Außerdem wissen wir noch nicht 
genau, wie diese Expektoration entsteht. 
Durchaus nicht immer ist, so wie wohl be¬ 
hauptet wird, ein Fehler in der Technik 
daran schuld. Vielleicht hat man hier mit 
einer Idiosynkrasie zu tun und dann wird 
die Lufteinblasung möglicherweise kein 
Resultat ergeben. 

Ad. b). Man findet in der Literatur u ) ö ) 17 ) 
Beispiele, daß 3—5 1 ohne einige Beschwer¬ 
den entleert wurden. Auch in Groningen 
hat man wiederholt 3 1 entfernt. Wenn 
man dafür sorgt, daß die Kanüle in der 
untersten Lage der Flüssigkeit einsteckt, 
dann kann man bequem den ganzen Erguß 
fortschaffen. Lambrior 18 ), der in vielen 
Fällen tuberkulöser Pleuritis die Thora« 
kozentese mit der Lufteinblasung verbunden 
hat, schätzt zur Heilung von Exsudaten, 
welche nach jeder gewöhnlichen Punktion 
hartnäckig rezidivieren, die vollkommene 
Entleerung des Exsudates von hohem Werte. 

Ad. c). Von der unmittelbaren Heilung 
der jeder gewöhnlichen Punktion trotzenden 
Exsudaten sind einige schlagende Beispiele 
beschrieben. So sah Vaquez 11 ) in einem 
Falle linksseitiger seröser Pleuritis, wobei er 
13 mal punktiert hatte, während die Flüssig¬ 
keit jedesmal sich ersetzte, als er die vier¬ 
zehnte Punktion mit einer Stickstoffeinbla- 
"sung verband, sogleich Genesung eintreten. 
In einem anderen Falle waren 5 Punktionen 
vorausgegangen, während die sechste gefolgt 
von Azotothorax, sogleich Genesung ver¬ 
mittelte. Lambrior 18 ) erzählt ausführlich 
einen Fall tuberkulöser ssro - fibrinöser 
Pleuritis, wobei man im Verlaufe von 6 Mo¬ 
naten 9 mal punktiert hatte. Jedesmal 
konnte man nur 1000 ccm entleeren, da 
alsdann der Patient zu husten anfing und 


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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


wegen Schmerz sich beklagte. Das 10. Mal 
gelang es 2200 ccm zu entleeren, indem 
er sogleich Luft einließ. Jetzt folgte voll¬ 
kommene Genesung. 

Auch A. Schmidt 19 ) hat mittels inter¬ 
pleuraler Injektion von Luit oder Sauer¬ 
stoff Genesung schon lange anwesender 
Exsudate erreicht. 

Es versteht sich schon, daß der künst¬ 
liche Pneumothorax in solchen Zuständen 
fehlen kann. Man kann jedoch noch Nutzen 
bekommen daraus, daß der Erguß ganz und 
gar entleert werden kann; sodaß, im Falle 
von Rezidiv, es doch länger dauert, bevor 
wieder so viel Exsudat existiert, daß die 
Punktion indiziert erachtet werden kann. 
Man kann alsdann den folgenden Eingriff 
verzögern. 

Ad. d). Hier und da nimmt man eine 
gewisse Neigung war, Ergüsse früher zu 
punktieren, in der Erwartung den Prozeß 
abkürzen zu können. Die gewohnte Regel 
ist, daß man bei einem pleuritischen Exsu¬ 
date 3—4 Wochen abwartet, ob nicht der 
Erguß spontan verschwinden will. Einzelne, 
z. B. Delafield 20 ) bevorzugen es, schon 
früher zu punktieren, in der Meinung, da¬ 
durch den Prozeß zu verkürzen. Ihnen ent¬ 
gegen wird behauptet, daß sie in solcher 
Weise den salutären Wert des Exudates 
unterschätzen. Wenn man nun die Flüssig¬ 
keit durch Luft ersetzt, hört jene Schwierig¬ 
keit auf. Barr 14 ) berichtet, daß er, seitdem 
er Luft einläßt, viel eher punktiert. Und 
Achard 12 ) bekam aus dem Verlauf seiner 
Fälle den Eindruck, daß ein solcher ver¬ 
frühter Eingriff den Prozeß verkürzt. Die 
Zahl der Fälle ist jedoch noch sehr gering, 
um dieses Urteil genügend zu rechtfertigen. 

Ad. e). In scharfem Gegensatz mit der 
sub d) zitierten Anschauung steht die Tat¬ 
sache, daß man bei tuberkulösen Pleuri¬ 
tiden nicht so bald wie früher zum Eingriff 
übergeht und lieber die Pleuritis möglichst 
lange sich selbst überläßt. Dafür gibt es 
zweierlei Veranlassung. Zum ersten hat 
man erfahren, daß eine tuberkulöse Lunge, 
durch ein Exsudat oder einen Pneumo¬ 
thorax zusammengedrückt, bessere Hoff¬ 
nung auf Genesung ergiebt Die allmählich 
gebräuchlichere Forlaninische Methode 
zur Behandlung der Lungentuberkulose ist 
ein Erfolg jener Erfahrung. Nicht ohne Recht 
spricht Galliard 21 ) von: „Pleur^sies pro- 
videntielles“. Zweitens ist es bekannt, daß 
nach der schnellen Aufsaugung oder nach 
der Punktion eines Exsudates, das eine 
tuberkulöse Lunge umgiebt, wohl einmal 
Miliartuberkulose 22 ) nachfolgt. Auch kann 
in einem solchen Falle die Punktion Ein¬ 


tritt einer Hämoptöe 23 ) befördern. Nun 
bietet die Lufteinblasung Gelegenheit zwei 
Herren zu dienen: der salutäre Einfluß des 
Ergusses auf den Lungenprozeß kann zur 
Geltung gelangen, indem die Luft die 
Wirkung der Flüssigkeit übernimmt und 
man kann doch sogleich den möglichen 
nachteiligen Folgen des anwesenden Er¬ 
gusses zuvorkommen durch Entleerung 
desselben. Wenn man das Exsudat sich 
selbst überläßt, muß man jene in den Kauf 
nehmen. Besteht ein Exsudat namentlich 
längere Zeit, so setzt sich immer Fibrin ab 
auf den Pleurablättern: Pleuraverdickung 
und Pleuraschwarten sind die Folge. Man 
hat bei der Anwendung der Delormeschen 
Methode erfahren, wie eine ähnlich ver¬ 
dickte Pleura pulmonalis die spätere Lun¬ 
genentfaltung erschweren kann. Es kommt 
vor, daß die physikalischen Symptome, 
welche man am Brustkörbe eines Patienten 
mit einer exsudativen Pleuritis findet, nicht 
nur aus der anwesenden Flüssigkeit allein 
erklärlich sind. Da würde es gefährlich 
werden können, die dynamischen Verhält¬ 
nisse im Brustkasten durch die Entleerung 
plötzlich zu ändern; während doch die Dys- 
pnöe oder der allgemeine Zustand die 
Funktion höchst wünschenswert erscheinen 
lassen. Ein Beispiel hiervon findet man 
im folgenden Falle. 

Fall 4. A. M., ein 22jähriges Mädchen 
hat Pseudoleukämie. Am Halse und in den 
Achseln findet man große Drüsenpakete. Die 
rechte Brusthälfte ist normal. Die linke Seite 
des Brustkastens bleibt zurück bei der Ein¬ 
atmung. Links vom und links hinten ist die 
Lungenspitze gedämpft. An der Vorderseite 
setzt sich die Dämpfung fort bis zu der zweiten 
Rippe, an der Hinterseite bis zur vierten. 
Darunter ist der Perkussionsschall vollständig 
dumpf. Ueber der Dämpfung hört man noch 
Rasseln, darunter hört man nichts. Ueber 
dem Tr au besehen Raum hat man gedämpften 
tympanitischen Schall. Im Röntgenzimmer 
sieht man, daß die linke Brusthälfte ganz und 
gar dunkel ist. Man macht links hinten eine 
Probepunktion und findet trübe leichtgelbe 
Flüssigkeit. Mit dem Potainsehen Apparate 
wird 2250 ccm Erguß entleert; zugleich wird 
Luft eingelassen. Zwölf Tage später hat sich 
der Erguß wieder stark vermehrt, so daß man 
wieder einen Eingriff machen muß und nun in 
drei Teilen 2850 ccm Flüssigkeit entleert, drei¬ 
mal die Aspiration unterbrechend und nach 
jeder Aspiration Luft einblasend, im ganzen 
bis zu einer Quantität von 1400 ccm. Jetzt 
bringt man Luft in die Brusthöhle, in folgender 
Weise: 

Man ersetzt die Flasche des Potain - 
sehen Apparates, worin der Erguß sonst 
aufgefangen wird, durch eine Kombination 
zweier Flaschen, welche durch gläserne 
Röhren verbunden sind. Die eine ist gra¬ 
duiert und leer, die zweite enthält eine 


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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


401 


Sublimat- oder eine Borsflurelösung. Die 
zweite Flasche wird emporgehoben, sodaß 
die Lösung hieraus in die andere Flasche 
Qberlfluft. Dann wird die Luft aus dieser 
Flasche durch ein Wattenfiltrum hindurch 
in die Pleurahöhle eingetrieben. Die Quan¬ 
tität Qbergelaufener Lösung bestimmt die 
Quantität eingeblasener Luft. Man läßt die 
Luft jedesmal sehr langsam und unter nie¬ 
drigem Drucke einströmen. 

Noch zweimal mußte man nachher punk¬ 
tieren. Das erstemal wurden 3 1 Flüssigkeit 
entleert und 1500 ccm Luft eingeblasen; das 
zweitemal respektive 2700 und 1300 ccm. Später 
ist die Patientin an der Pseudoleukämie ge¬ 
storben. Die Sektion zeigte u. a., daß die 
Brustfellentzündung geheilt war und daß, links 
neben dem Mediastinum, große Drüsen¬ 
schwellungen sich befanden. 

Man kann, außer in den beiden be¬ 
schriebenen Weisen, noch in allerlei an¬ 
deren Luft in die Brusthöhle bringen. 
Achard 12 ), Barr 14 ), Vaquez 11 ), Lam- 
brior 18 ) und Schmidt 19 ) haben dazu ver¬ 
schiedene Apparate erfunden. Die Forde¬ 
rung, welche man vornehmlich an jede 
Methode stellen muß, ist, daß die Luft hin¬ 
reichend gesäubert wird. Nun ist aus den 
Untersuchungen von v. Dusch und Schrö¬ 
der bekannt, daß die Filtration durch sterile 
Watten genügende Sterilität verbürgt. 

Da, wenn eine Methode Allgemeingut 
werden soll, es nötig ist, daß sie möglichst 
einfach sei, verdient meines Erachtens die 
beim ersten Falle beschriebene Weise den 
Vorzug. Wenn man mit der Lufteinblasung 
allein bezweckt, den gewöhnlichen Zufällen, 
wie Husten, Schmerz u. a. vorzubeugen, 
oder sie zu bekämpfen, dann ist jene Methode 
hinreichend. Man unterbreche dann jedes¬ 
mal die Aspiration, um den Erguß allmäh¬ 
lich durch Luft zu ersetzen. Jedoch ist es 
gelegentlich schwierig, in dieser Weise 
Luft einzubringen, auch wenn aus dem 
Schmerz in der Brust sich zeigt, daß ein zu 
geringer Druck in der Pleurahöhle herrscht. 

Fall 5. Ich erinnere mich eines Patienten, 
eines, alten Mannes, mit einem großen links¬ 
seitigen Exsudate, kompliziert durch eine in 
Entstehung begriffene Entzündung des rechten 
Oberlappens. Nachdem, ohne Beschwerde, an¬ 
derthalb Liter entleert waren, wurde der Po- 
tainsche Apparat von demTroikart losgemacht, 
ein Pfropt steriler Watte auf die Oeffnung des 
Troikarts gelegt, aber auch während der Ein¬ 
atmungsbewegungen wurden die Watten feucht, 
ohne daß wir das eigentümliche schlürfende 
Geräusch hören konnten, das man bei Luft¬ 
einströmung vernimmt. Nun wagten wir nicht 
weiter zu gehen, was wohl möglich gewesen 
wäre, wenn wir einen Apparat zur Hand ge¬ 
habt hätten, um Luft einzublasen. 

Sobald man die Luft messen will, kann 
man das beim vierten Fall beschriebene 


Instrumentarium anwenden, oder ein an¬ 
deres von Achard 12 ), Lambrior 16 ) usw. 
Das wird erwünscht sein, wenn man mit 
einer hämorrhagischen Pleuritis oder einem 
Hydropneumothorax zu tun hat, oder wenn 
man weiß, daß die Lunge an der selbigen 
Seite krank ist, oder wenn man den gan¬ 
zen Erguß entleeren will. In allen jenen 
Fällen soll die Luft einen gewissen Druck 
ausüben und muß man sie also mit einer 
gewissen Kraft einblasen können. 

Gewöhnlich genügt es, wenn halb so 
viel Luft eingebracht, als Flüssigkeit ent¬ 
leert ist. Einzelne, sowie Lambrior 18 ), 
bringen ebensoviel Luft oder selbst noch 
etwas mehr hinein. Dem steht entgegen, 
daß dann die Patienten nach der Operation 
noch wohl mal wegen Dyspnöe sich be¬ 
klagen oder daß rings um die Stelle des 
Einstechens etwas subkutanes Hautemphy¬ 
sem 24 ) auftritt. Das beste wäre natürlich, 
wenn man in jedem Falle individualisieren 
könnte. Dazu fehlen uns noch vielfach die 
Data. Die Röntgenuntersuchung kann 
uns hier zum richtigen Wege helfen. 

Einzelne Untersucher bevorzugen Sauer¬ 
stoff oder Stickstoff. Dieses hängt davon 
ab, wie man diese Therapie erklärt. Abel- 
Ayerza benutzt bei tuberkulösen Pleuri¬ 
tiden Sauerstoff, in der Meinung, daß dieser 
unmittelbar gegen die Tuberkelbazillen wirk¬ 
sam ist Diejenigen, welche wie Vaquez die 
Wirkung gänzlich in mechanischer Weise 
betrachtet, benutzen lieber Stickstoff, weil 
dieses Gas schwieriger durch das Brustfell 
aufgenommen wird und also den gewünsch¬ 
ten Mechanismus dauerhafter macht. So¬ 
bald man sich jedoch auf Sauerstoff oder 
Stickstoff beschränkt, wird die Methode 
gänzlich der Klinik Vorbehalten, während 
mit Luft die Anwendung überall möglich ist. 
Dazu kommt noch, daß die Resultate mit 
Luft durchaus nicht geringer sind und ein 
möglichenfalls heilsamer Einfluß des Sauer¬ 
stoffs nicht auszuschließen ist. Nur wenn 
man eine Lungenkompression von einiger¬ 
maßen längerer Dauer handhaben will, wird 
Stickstoff zu wählen sein, weil man dann 
etwas länger mit einer neuen Einblasung 
wird warten können. Das wird der Fall 
sein, wenn man einen Hydropneumothorax 
punktiert, um die Lungenfistel gut ver¬ 
schlossen zu halten. Ebenso wird man han¬ 
deln, wenn die Lunge an der Seite der 
Pleuritis tuberkulös und die andere Lunge 
noch so gesund ist, daß zugleich Anwen¬ 
dung der Forlaninischen Methode mög¬ 
lich ist. Wo in einem solchen Falle das 
Exsudat die Adhäsionen schon gelöst und 
die Lunge zum Zusammenfallen geführt 

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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


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hat — die Natur uns also den Weg ge¬ 
ebnet hat — wird man vielleicht die Indi¬ 
kation für die Forlaninische Methode in 
diesen Fällen etwas eher gelten lassen 
dürfen, als sonst gestattet wird. 

Die mechanische Erklärung ist für alles 
nicht zureichend. Daß die Symptome, welche 
sonst aus der Entlastung der Lunge und 
der Mediastinalorgane sich ergeben, ver¬ 
mieden werden, daß schnelle Rückkehr 
des Ergusses, insoweit das von einem 
hinterbliebenen Vakuum abhängt, verhindert 
wird, ist auf physikalischem Wege erklärlich; 
ebenso, daß Adhäsionen und die Genese 
der Pleuraschwarten bekämpft werden. 
Weniger leicht zu fassen ist, daß die [unter¬ 
bliebene Flüssigkeit schneller aufgenoramen 
und die Heilung einer chronischen Pleu¬ 
ritis beschleunigt wird. Verschiedene Unter¬ 
sucher meinen, daß die Luft die Blutgefäße 
des Brustfelles zusammendrückt und also 
die Exsudation des Ergusses erschwert. 

Entwickelt aber das Gas, ohne einigen 
bedeutenden Druck in die Brusthöhle ein¬ 
gebracht, wohl hinreichende Spannung, um 
die Blutgefäße zusammenzudrücken? Ent¬ 
steht vielleicht, wie in einer Lunge durch 
Azotothorax komprimiert, eine venöse Hyper¬ 
ämie in der Pleura? Wenn, zufolge der 
langsamen Gasresorption, ein allmählich 
wachsender negativer Druck in der Brust¬ 
höhle entsteht, so kann solches auch zu 
größerem Blutgehalt des Brustfelles Ver¬ 
anlassung geben. Obendrein hält der künst¬ 
liche Pneumothorax die kranke Pleura in 
der Ruhigstellung, worin zuvor der Erguß 
das Brustfell gebracht hatte. 

Ein Bedenken, das man gegen diese Be¬ 
handlungsweise tragen kann, ist, daß Gas¬ 
einblasung die sogenannte Pleuraeklampsie 
verursachen kann. 25 ) Mein Kollege J. Hek- 
man hat nach Entleerung von ungefähr 
15 ccm Flüssigkeit und Zulassung eines 
kleinen Quantums Luft einen leichten An¬ 
fall wahrgenommen. Forlanini hat mehr¬ 


mals bei seinen Patienten diese gefährlichen 
Symptome gesehen. Es ist jedoch, meines 
Erachtens, eine offene Frage, ob das Gas 
die größte Schuld hat. Insoweit diese 
Symptome von der großen Reizbarkeit des 
Brustfelles abhängen (und nicht von einer 
Embolie) und reflektorisch vermittelt wer¬ 
den, ist die Reizung des Brustfelles durch 
die Kanüle vielleicht die Hauptursache. 
Eine einfache Probepunktion, das Ein¬ 
bringen eines Drainrohres und anderes 
veranlassen doch wohl gelegentlich Pleura¬ 
eklampsie. Das verhindert jedoch nicht, 
daß Vorsicht in hohem Maße nötig bleibt. 
Literatur: 

1) Pleurösie in: Dict. des Science mCd. Paris 
1888(Widal). A. gön. demöd. 1895(Meunier). 
Soc. möd. des Höpit 1897 (Galliard). Soc. 
möd. des Höpit. 1894 (Catrin). — 2) Deutsch. 
A. f. klin. Med. 1869, Bd. 5. — 3) Revue de 
möd. 1902. — 4) A. gön. de inöd. 1905 und 
Province Mödicale 19Q5. Thöse de Lyon 1907 
(Arbez). — 5) Les signes physiques des 
öpauchements pleuraux. Bordeaux 1900. — 
6) The Lancet 1882, Vol. I. — 7) Deutsche med. 
Wschr. 1885. — 8) Acadömie de möd. 24. April 
1888. — 9) Revue mödicale de la Suisse ro- 
mande 1888. — 10) Die Erkrank, des Brust¬ 
felles. Spez. Path. u. Therap. von Nothnagel. 

— 11) Acadömie de möd. 26. Mai 1908. Soc. 
möd. des Höp. 16. u. 23. Mai 1902. — 12) Soc. 
möd. des Höp. 17. April 1903. Semaine möd. 
16. Sept. 1908. —- 13) Acad. de möd. 6. Okt. 
1908. — 14) The Bradshaw-Lecture. Brit. 
med. J. 1907, Vol. I. A Clinical Lecture. Brit. 
med. J. 1904, Vol. I. 72. Congr. of the Brit. 
med. Assoc: Brit. med. J. 1904, Vol. II. — 
15) A. Bunge, Thöse de Buenos Ayres 1900. 
A. Meliton Gonzales del Solar, These de 
Buenos Ayres 1890. — 16) Ned. Tijdschr. von 
Geneeskunde 1909, I. — 17) Soc. möd. des Höp. 
12.und 19.Okt.1906(Dufour). —18) A.A. Lam- 
brier et J. Agapi, Bull, des möd. et natural, 
de Jassy 1907. — 19) Verhandlgn. des 23. Kongr. 
f. innere Med. München 1906. — 20) Am. J. 
of med. Sc. 1903. — 21) Semaine möd. 1897. 

— 22) Litten, Charitö-Annalen 1882. Pin- 
uet, These de Lyon 1899. — 23) Finkler, 
rkrankungen der Pleura, in: Handbuch der 

Therapie der chronischen Lungenschwindsucht 
von G. Schröder u. F. Blumenfeld. Leipzig 
1904. — 24) Picot, Clinique mödicale 1892. — 
25) Lamandö, These de Paris 1896. 


Ueber die Entstehung des spontanen Nasenblutens und seine 

Behandlung mit Digitalis. 

Von Dr. Focke^Düsseldorf. 


Die aus früherer Zeit stammenden 
Kenntnisse vom spotanen Nasenbluten sind 
in den letzten 40 Jahren durch die seitdem 
erblühte Rhinologie bedeutend erweitert 
worden. Trotzdem konnte über seine Ent¬ 
stehung und seine zweckmäßigste Behand¬ 
lung noch keine allseitig befriedigende 
Klarheit erreicht werden. Daß die Epi- 
staxis überaus häufig nur ein Symptom 
konstitutioneller Störungen ist und daß die 


Lebensweise dabei eine wichtige Rolle 
spielt, wird nirgends bestritten. Und da 
nun zur Beobachtung dieser Faktoren die 
Spezialärzte gewöhnlich nicht so gute Ge¬ 
legenheit haben, wie die in der allgemeinen 
Praxis stehenden Aerzte, so ist es vielleicht 
von Interesse, auch einmal wieder einen 
der letzteren «u den obigen Fragen zu hören. 

Die Erfahrungen, die ich im folgenden 
darstellen möchte, sind an etwa 120 Fällen 


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Original frnm 

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September 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


403 


gesammelt worden; von diesen kamen % 
in den Jahren 1892—98 in Langenberg 
<Kr. Mettmann), wo sich kein Spezialarzt 
befand, und das letzte Drittel von 1899 an 
in Düsseldorf zur Beobachtung. 

Hinsichtlich des örtlichen Befundes 
weiß ich den bekannten Tatsachen nichts 
hinzuzufügen. Einmal habe ich die von 
jedem Rhinologen als hin und wieder vor¬ 
kommend beschriebene Erscheinung ge¬ 
sehen, wie inmitten einer dunkelroten 
Schleimhautstelle ein pulsierender Punkt 
das Blut ausfließen laßt. Oefter habe ich 
gesehen, wie aus einer solchen dunkelroten 
Schleimhautstelle das Blut diffus träge her¬ 
vorsickerte, ähnlich dem langsamen Hervor¬ 
treten der einzelnen Tropfen einer starken 
Salzlösung durch Filtrierpapier. Am häu¬ 
figsten aber sah ich die Patienten, die mir 
oft vorher schon bekannt waren, nicht 
während des Blutens, sondern erst nach 
seinem Aufhören oder im Blutungsintervall; 
und es waren dann außer den Gerinnseln 
und Schorfen in den Naseneingängen nur 
noch die allgemeinen Zeichen des Blut¬ 
verlustes zu finden; dann habe ich nicht 
selten auf eine nähere Untersuchung des 
Naseninnern verzichtet, bis etwa ein Rück¬ 
fall sie erfordern würde. 

Soweit ich die Literatur der Epistaxis 
kenne, neigen mit bezug auf den histo¬ 
logischen Hergang alle Rhinologen, 
außer Kiesselbach 1 ), der Meinung zu, daß 
die „Kontinuitätstrennung eines Gefäßes*, 
also eine Rißblutung vorliege. Demgegen¬ 
über habe ich immer die lebhaftesten 
Zweifel für berechtigt gehalten; sie auszu¬ 
sprechen wage ich erst jetzt, nachdem ich 
vor einiger Zeit die Möglichkeit gehabt 
habe, die bezüglich der anderen Form der 
Blutextravasation, nämlich der Diapedesis- 
blutung, vorhandenen histologischen Tat¬ 
sachen näher kennen zu lernen und in 
ihrer historischen Entwicklung zusammen¬ 
zustellen 2 ). Hiernach erklärt sich die in 
der Rhinologie vorherrschende Ueber- 
schätzung der Rhexis und Unterschätzung 
der Diapedesis aus den Anschauungen, die 
in der allgemeinen Pathologie während der 
vergangenen Jahrzehnte bezüglich der spon¬ 
tanen Blutungen überhaupt in Geltung ge¬ 
wesen waren. Aus der erwähnten Zu¬ 
sammenstellung ergiebt sich weiter das 
Folgende als diejenige Auffassung, die der 


*) W. Kiesselbach (Erlangen) im Handb. d. 
Ther. innerer Krankheiten von Penzoldt-Stint- 
zing. 3. Aufl., Bd. 3 (1902), S. 123. 

*) Ueber Bedeutung und Umfang der Diapedesis 
bei den spontanen Blutungen. Zeitschr. f. klin. Med., 
Bd. 70 (1910), S. 267 ff. 

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heutigen normalen und pathologischen 
Anatomie bezw. Physiologie entsprechen 
dürfte. 

Zunächst sind gesunde Gefäße, auch die 
kleinsten, viel zu elastisch, als daß sie 
spontan, d. h. aus inneren Ursachen reißen 
könnten; und ihre Erkrankung, z. B. durch 
eine infektiöse Embolie, ist, besonders in 
jüngeren Jahren, verhältnismäßig so selten, 
daß sie für die Erklärung der häufigen 
Epistaxis kaum in Betracht kommt. Daß 
ferner beim Losreißen angetrockneter Se¬ 
kretborken ein Gefäßriß entstehen sollte, 
ist sehr unwahrscheinlich, weil in die Borke 
ja kein Gefäß eintritt. Auf der anderen 
Seite steht es dagegen fest, daß in den 
weichen Geweben bei einer durch Stauung 
verursachten Erhöhung des venösen und 
kapillaren Blutdruckes die Wandzellen der 
Kapillaren zwischen sich sehr leicht kleine 
Spalten öffnen, die viel kleiner sind als 
ihre Zellänge, um Blutkörperchen und 
Plasma in das Gewebe austreten zu lassen. 
Diese Blutdiapedese wird damit zu einer 
Art von Ventileinrichtung. Der Austritt 
kann schnell geschehen und sich an der¬ 
selben Stelle schnell wiederholen. Für den 
weiteren Hergang können die an der 
menstruierenden Uterusschleimhaus erhal¬ 
tenen Befunde für die Nasenschleimhaut, 
die in dieser Hinsicht weniger erforscht 
ist, mit gelten; denn in ihrem schwell¬ 
körperreichen Bau sind beide einander 
äußerst ähnlich. Es wird also das bei 
starker Stauung ausgetretene Blut in der 
Schleimhaut kleinste, zwischen zahlreichen 
Faserverbindungen zusammen fließende An¬ 
häufungen („Lakunen“) bilden, bis die ein¬ 
fache Epithelschicht infolge ihrer serösen 
Durchtränkung und des Druckes feine 
Lücken entstehen läßt, durch die das Blut 
wie aus einem Sieb diffus hervorquillt 
Wenn sich an einer größeren Lakune eine 
verhältnismäßig größere Oeffnung bildet, 
so wird das Blut stärker fließen, wobei 
auch leicht eine Pulsation entsteht, weil die 
unterhalb liegenden turgeszenten Gefäße 
auf die Lakune rhythmisch drücken. Auf 
diesem stark blutenden Punkt, der eben 
nur in der Minderzahl der Fälle vorhanden 
sein wird, bildet sich am Schluß der Blu¬ 
tung ein kleiner fester Schorf. Nach 
seiner vorzeitigen Entfernung kann natür¬ 
lich die Blutung aufs neue beginnen, be¬ 
sonders, wenn die Stauung fortdauert 
Wenn es aber ohne vorhergegangene Epi¬ 
staxis oder Stauung nach dem Losreißen 
einer Borke einmal in geringerem Grade 
blutet, so liegt dem ebenfalls eine Extra- 
vasatio per diapedesin zugrunde, infolge 

51* 

Original fram 

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404 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


September 


der vorübergehenden Aufhebung des Ober¬ 
flächendruckes. 

Diese histologische Auffassung, bei der 
die allzu gezwungene Annahme eines Ge¬ 
fäßrisses forlfellt, wird nun gestützt durch 
die Beobachtungen am Kranken. Der er¬ 
wähnte dunkelrote „Punkt“, der nach dem 
Verschwinden der Stauung oft ein Ab¬ 
wischen seines Schorfes verträgt ohne zu 
bluten, wird je nach seinem Sitz (z. B. auf 
einer flachen oder prominenten Stelle) eine 
verschiedene Form und Farbe zeigen; er 
kann deshalb leicht verschiedene anato¬ 
mische Deutungen hervorgerufen haben, 
auf die ein Eingehen hier zu weit führen 
würde. Aber eine Angabe von Kiessel¬ 
bach möchte ich hervorheben, daß man 
nämlich an der Schleimhaut öfter sehen 
könne, wie „nach leichtem Bestreichen mit 
der Sonde auf dem ganzen zurückgelegten 
Wege ein Blutströpfchen neben dem an¬ 
deren“ hervortritt 1 ). Das ist bei starker 
Turgeszenz gut begreiflich; und es wäre 
bei diesem Zustande ohne Zweifel ver¬ 
kehrt, mit der Sonde den „ursächlichen“ 
Punkt zu suchen, wie es manchmal als 
Regel gefordert worden ist. Bei starker 
Stauung ist eben eine ganze Fläche der 
Schleimhaut wie ein Schwamm zum Bluten 
bereitet; und es hängt dann wohl von ört¬ 
lichen Zufälligkeiten ab, ob sich viele 
kleinste Oeffnungen an zerstreuten Punk¬ 
ten bilden oder ob das Epithel sich nur 
an einem Punkt etwas weiter öffnet. 

Wenn man so vor allem an die Stau¬ 
ung denkt und sich die Extravasatio per 
diapedesin nebst dem folgenden Hervor¬ 
quellen durch das Epithel vorstellt, so ver¬ 
steht man auch manche klinischen Tat¬ 
sachen besser als früher. Es ist z. B. ge¬ 
wiß nicht zutreffend, wenn von einzelnen 
Rhinologen gesagt wird, daß beim gewohn¬ 
heitsmäßigen Bluten doch stets eine äußere 
Gelegenheitsursache, „wie Jucken, Kratzen, 
Schneuzen, Nießen“, selbst wenn die Kran¬ 
ken es leugnen, vorhergegangen sein 
müsse. Manchmal hat der Patient freilich 
infolge des Blutandranges ein Prickeln ge¬ 
fühlt, das ihn zum Gebrauch des Fingers 
oder Tuches veranlaßte; und darauf ist die 
Blutung eingetreten, was übrigens ohne die 
Berührung wohl ebenso, vielleicht nur einige 
Minuten später geschehen wäre. Oft aber 
wird der Betroffene, der gerade eifrig mit 
Händen und Gedanken anders beschäftigt 
war (meistens mit gebeugtem Kopf), auf 
die Nase erst aufmerksam durch die plötz¬ 
lich über die Lippen rinnende Nässe. Dem 
entspricht es auch, daß manchmal die erste 

*) I. c. S. 124. 

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starke Epistaxis während des Nacht¬ 
schlafes auftritt, besonders dann, wenn 
am vorhergehenden Nachmittage eine län¬ 
gere Strapaze, am Abend eine starke Fül¬ 
lung des Magendarmkanals stattgefunden 
hatte. Ebenso kann ja auch bei Pferden 
in der Ruhe nach längeren Rennen oder 
Hetzjagden plötzlich Nasenbluten auftreten. 1 } 

Es erhebt sich nun die Frage nach der 
eigentlichen Ursache der örtlichen Zir¬ 
kulationsstörung, der Stauung in der 
Nase. Unter meinen Fällen konnte ich nur 
bei einzelnen als Ursache in der Nase 
eine Tumorbildung finden, die dann sofort 
dem Rhinologen überwiesen wurde. Häu¬ 
figer waren Stauungen durch Kleider druck 
am Hals oder in der Taille oder an beiden 
Stellen; auch Verdauungsstörungen mit 
Darmtympanie, wodurch der Thoraxraum 
verengt wird, was Moritz Schmidt für 
die oberen Luftwege überhaupt betont* 
spielten manchmal eine Rolle. Eigentliche 
Herzstörungen (bedingt durch Klappen¬ 
fehler, Arteriosklerose oder chronische 
Nephritis) bestanden bei sechs oder sieben 
Patienten; in gleicher Häufigkeit fanden 
sich nervöse Herzbeschwerden. Die ge¬ 
wöhnlichste Grundlage war aber meines 
Erachtens eine hydrämische Plethora. 
Bei diesem Zustande hat schon Oertel^ 
den häufigen Gegensatz zwischen der Völle 
des Gefäßapparates und der Blässe der 
Haut hervorgehoben; und dementsprechend 
war auch bei meinen Patienten die größte 
Gruppe die der Chlorotischen mit ihrer 
„vasomotorischen Labilität“ im Alter der 
Pubertätsentwicklung. Diese Gruppe stellt 
ja nach allen Autoren das Hauptkontingent 
zur Epistaxis. In vielen Fällen wurden die 
Nachteile, die aus der Konstitution für den 
Kreislauf hervorgingen, noch verstärkt 
durch Fehler der Lebensweise, wie z. B. 
überreichen Kaffeegenuß. 

Alles in allem bestand bei wenigstens 
4 / 5 der Fälle für die örtliche Stauung ein 
Anlaß in allgemeinen Zirkulations¬ 
störungen. Hiernach habe ich es für 
nötig gehalten, die Therapie einzurichten. 

Wenn bei der akuten Behandlung die 
üblichen Maßnahmen, das Lösen beengen¬ 
der Kleider nebst dem flachen Andrücken 
des Nasenflügels gegen das Septum bei 
bequemem Sitzen und ruhigem Atmen, ge¬ 
gebenenfalls auch eine hydropathische Ab¬ 
leitung, z. B. kalte Kompresse auf den 


*) Mackenzie bei Voltolini, Die Krankheiten 
der Nase und des Nasenrachenraumes, Breslau 1888, 
S. 122. 

*) Oertel (München), Handb. d. allg. Therapie 
der Kreislaufstörungen, Leipzig 1891, S. 37. 


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September 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


405 


Nacken 1 ), nicht genügt, so fragt es sich, 
was weiter zu tun ist. Die Rhinologie be¬ 
nutzt vor allem die chemische oder ther¬ 
mische Kaustik, mit der man ja zweifellos 
die blutende Stelle oft zum Verschluß brin¬ 
gen kann, besonders wenn man einen 
blutenden Punkt sieht Weil man letzteren 
aber bekanntlich oft nicht sehen kann und 
weil, selbst wenn er zu sehen ist, auch 
nach der Kaustik manchmal noch tampo¬ 
niert werden muß, so verzichte ich meistens 
auf die Kauterisation ganz und führe lieber 
die vordere Tamponade mit weißer Gaze 
aus. Außer bei einem Hämophilen habe ich 
das niemals wiederholen müssen, weil nach 
einem halben Tage durch die sonstige The¬ 
rapie die Stauung zum Verschwinden ge¬ 
bracht ist. Denn sobald die akute Blutung 
gestillt ist, betrachte ich es als die Haupt¬ 
aufgabe des Arztes, den Kreislauf zu 
regeln, um dem Rückfall des Blutens 
vorzubeugen! 

Zur Kreislaufregelung werden natürlich 
zuerst die Fehler der Diät abgestellt, was 
manchmal ja schon allein zum Erfolge ge¬ 
nügt. Bei Stuhlverstopfung wird mit einem 
Abführmittel angefangen, und im übrigen 
wird die Aufnahme erregender Speisen 
<Gewürze, Eier, Fleisch) und Getränke ein¬ 
geschränkt, letzteres z. B. durch ein mehr¬ 
wöchiges gänzliches Verbot des Bohnen¬ 
kaffees. Dagegen werden Gemüse, Obst, 
Butter, Milch, Malzkaffee mehr herange¬ 
zogen. Das Verbot des Bückens, Hebens, 
Schneuzens ist zwecklos. 

Hierzu kommt für die ersten Tage eine 
Arzneiverordnung, teils weil die Diät 
oft besser befolgt wird, wenn an sie durch 
eine Arzneivorschrift erinnert wird, teils 
weil die Diät allein oft nicht genügt. An¬ 
fangs habe ich Ergotin, Kalziumsalze, Phos¬ 
phorsäure, Digitalis und anderes versucht; 
aber nichts hat so gut gewirkt wie die 
Digitalis. Deshalb habe ich von 1894 an 
fast diese allein gegeben; nur bei den sel¬ 
teneren Epistaxispatienten mit stark kon- 
gestioniertem Gesicht habe ich bis heute 
noch manchmal Kalzium vorgezogen. 

Im ganzen habe ich Digitalis gegen 
Nasenbluten 84 mal verordnet. Von 31 
dieser Fälle bin ich ohne Nachricht ge¬ 
blieben, woraus aber nicht geschlossen zu 
werden braucht, daß das Mittel hier nutz¬ 
los gewesen sei; denn die Ausgebliebenen 
waren meistens Kassenmitglieder, die beim 
Fehlen des Erfolges leicht wiederkommen 
konnten; überdies pflegte ich diesen zu 
sagen: wenn es hilft, ist Wiederkommen 

Vcrgl. hierzu neuerdings Jurasz (Lemberg), 
Münch, med. Wochschr. 1909, S. 1793. 

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unnötig. Von 53 der Patienten mit Digi¬ 
talis habe ich aber später wieder Mitteilun¬ 
gen über den Erfolg erhalten; und von 
diesen 53 möchte ich hier noch einiges be¬ 
richten. 

Es waren 25 männliche und 28 weib¬ 
liche Personen. Davon standen 


im Alter von 
Jahren 


im Alter von 
Jahren 


0— 5 

1 

30-35 

1 

5-10 

_ 

35-40 

— 

10—15 

6 

40—45 

— 

15—20 

25 

45—50 

2 

20—25 

10 

50-60 

— 

25—30 

4 

60-75 

4 

Während 

l der mehr ländlichen Praxis- 


periode lagen die meisten Fälle in den 
heißen Sommermonaten; in der Stadt ver¬ 
schwand dieser Unterschied. Ueber die 
Dauer und Stärke des Blutens habe ich 
7 mal nichts notiert; aber bei 6 Patienten 
hatte es mit erheblicher Stärke einige 
Stunden bis Tage gedauert; bei 12 war es 
seit mehreren Tagen täglich, bei anderen 
12 seit Wochen „oft“ oder „fast täglich“ 
aufgetreten und 16 klagten über häufiges 
Bluten seit Monaten oder Jahren. 

Als die beste Form der Digitalistherapie 
habe ich für den vorliegenden Zweck immer 
wieder den Blätteraufguß gefunden, und 
zwar seit 1903 das „Inf. fol. Digit, titr.“. 

Als gleichwertig habe ich in den letzten 
Jahren auch das „Digitalysat Bürger“ 
schätzen gelernt. Bei einer mäßigen Dosie¬ 
rung lassen diese Arzneiformen die Digi¬ 
toxinwirkung nicht so störend hervortreten, 
wie das manche andere Präparate tun; 
außerdem beginnt ihre Wirkung schnell 
genug und hält sehr lange an. Ich be¬ 
trachte 0,7-—0,8 g der Folia Digit, titr. im 
Infus 1 ) als Gesamtdosis, wenn sie in zwei 
Tagen verbraucht wird, oder drei Tage 
lang 3 mal täglich 20 Tropfen Digitalysat 
gegen das Nasenbluten des Erwachsenen 
als meistens ganz ausreichend. Diese relativ 
kleinen Dosen haben den Magen, der hier 
ja gewöhnlich gesund ist, nach den Mahl¬ 
zeiten niemals belästigt. 

Bezüglich des Erfolges ist nun zu 
sagen, daß er nur zweimal ganz ausblieb. 
Das lag bei dem einen Patienten, einem 
jungen Mann, an seiner hereditären Hämo¬ 
philie, gegen die auch alle sonstigen Mittel, 
einschließlich der Technik eines erfahrenen 
Rhinologen, wirkungslos blieben; der Exitus 
trat ein, nachdem noch Zahnfleisch-, Ohr- 
und Hautblutungen hinzugekommen waren. 

l ) Zweckmäßig mit 5 °/ 0 reinem Spiritus; vgl. Med. 
Klinik 1909, Nr. 25. 

Original from 

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406 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


September. 


Der andere Fall betraf eine Verkäuferin, 
die lieber immer wieder blutete, als daß 
sie das starke Kaffeetrinken und Schnüren 
aufgab. — Ein nur teilweiser Erfolg 
zeigte sich siebenmal, insofern das Bluten 
noch einige Male, aber meistens nur in 
geringerem Grade wiederkehrte, ohne daß 
ich die Gründe dafür herausfinden konnte. 
Bei zwei dieser Patienten wurde die Digi¬ 
talis dann nochmals gegeben, worauf bei 
dem einen der volle Erfolg eintrat. 

Bei wenigstens ö / 4 der Patienten 
hat die Nase zuletzt geblutet vor dem Ge¬ 
brauch der Arznei oder spätestens inner¬ 
halb der ersten 24 Stunden nach dem Be¬ 
ginn des Einnehmens. Also es blieb das 
Bluten vom Eintritt der Digitalis¬ 
wirkung an fort, und zwar dauernd, 
solange ich Nachricht erhielt. Letzteres 
geschah nur in 4 Fällen vor Ablauf der 
ersten Woche; von 11 Patienten habe ich 
mehrere Wochen hindurch, von 19 mehrere 
Monate und von 4 Patienten länger als ein 
Jahr bei anderen Anlässen gehört, daß sie 
seit dem einmaligen Gebrauch der Arznei 
von Nasenbluten frei seien. Die Angaben 
wurden in vielen Fällen von den Angehö¬ 
rigen bestätigt. — Bei 4 Patienten, die 
nach einem blutungsfreien Zwischenraum 
von 1—2 Jahren wegen abermals hart¬ 
näckiger Epistaxis wiederkamen, nachdem 
sie es mit der früher verordneten Diät 
allein schon vergeblich versucht hatten, 
stand das Blut wieder sofort nach Hinzu¬ 
fügung der Digitalis. — In 2 Fällen, von 
denen einer nicht zur obigen Zahl, sondern 
zur Klientel eines befreundeten Kollegen 
gehörte, war die Nase längere Zeit hin¬ 
durch spezialärztlich oft kauterisiert wor¬ 
den; es blutete immer wieder. Erst als 
Digitalis genommen war, hörte es sofort 
und dauerd auf! Von dem einen hörte ich 
dieses zuletzt nach einigen Wochen, von 
dem andern nach über Jahresfrist. 

Sehr lehrreich waren mir 6 Fälle, bei 
denen eine greifbare anatomische Störung 
▼orlag. Der eine betraf ein elfjähriges, 
schlecht ernährtes Mädchen mit einer ka¬ 
tarrhalisch gewucherten Stelle der Muschel; 
ich hatte diese Stelle übersehen. Trotzdem 
blieben die seit 2 Wochen fast täglichen 
Blutungen nach Digitalis 14 Tage lang aus! 
Dann starkes Rezidiv und Ueberweisung 
ins Krankenhaus, wo die Wucherung kau¬ 
terisiert wurde. — Bei den anderen fünf 
konnte der beabsichtigte Besuch des Spe¬ 
zialisten (meistens vom Wohnort Langen¬ 


berg aus) nicht so bald ausgeführt werden. 
Es handelte sich dreimal um eine starke 
chronische Rhinitis, zweimal um Verenge¬ 
rung der Nase durch vergrößerte Muscheln. 
Bei diesen 5 Patienten, die unter fast täg¬ 
lichen Blutungen sehr gelitten hatten, 
standen letztere sofort und dauernd nach 
dem Verbrauch einer Digitalisarznei! Später 
erst wurden die Rhinitiden durch geeignete 
Schnupfpulver geheilt, während die beiden 
Muschelvergrößerungen nach mehreren 
Wochen spezialärztlich verkleinert wurden. 
— Es geht hieraus hervor, daß selbst bei 
solchen Patienten, die eines chirurgischen 
Eingriffes bedürfen, die Blutung durch Diät 
und Digitalis schon oft zum Stillstände 
kommt; und damit werden die Vorbedin¬ 
gungen zur Operation nur günstiger. 

Wie läßt sich nun der überraschende 
Nutzen der Digitalis beim Nasenbluten er¬ 
klären? — Um mich kurz zu fassen, 
möchte ich sagen, daß ich zunächst an eine 
„spezifische" Wirkung auf die Nasenschleim¬ 
haut nicht denke, ferner, daß dabei eine 
Vermehrung der Viskosität oder Thrombo- 
kinase im Blut wohl keine oder nur eine 
untergeordnete Rolle spielt. Ebenso dürfte 
bei diesen bescheidenen Dosen eine „Kon¬ 
traktion der peripheren Gefäße“ fehlen. 
Meines Erachtens handelt es sich um die 
gewöhnliche Wirkung, die die Digitalis in 
mäßigen Gaben überhaupt ausübt: die Stö¬ 
rung in der Zirkulation und Verteilung des 
Blutes wird aufgehoben, die venöse und 
kapillare Stauung verschwindet. 
Hierin liegt auch mit Rücksicht auf den 
erörterten histologischen Hergang die ganz 
ausreichende Erklärung dafür, daß eine 
Kreislaufregelung, besonders mit Heran¬ 
ziehung der Digitalis, die beste kausale 
Therapie des Nasenblutens ist. 

Meine Beobachtungen habe ich in den 
letzten Jahren bei einer Literaturdurch¬ 
sicht vollkommen bestätigt gefunden da¬ 
durch, daß die Digitalisanwendung gegen 
spontane Hämorrhagien schon während der 
ersten 2 /s des vorigen Jahrhunderts sehr 
bekannt und geschätzt gewesen ist. Sie 
ist, wie ich an anderer Stelle dargelegt 
habe, hauptsächlich auf Grund von Theo¬ 
rien aufgegeben worden, die man jetzt als 
Mißverständnisse betrachten muß. 1 ) Viel¬ 
leicht findet die altbewährte praktische 
Heilmethode, die heute auf festerem Boden 
steht als früher, jetzt wiederum Anklang 
und neue Verbreitung. 

Therapie d. Gegenwart 1909, Febr. 


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September 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


407 


Aus der L Medizinischen Abteilung des Städtischen Krankenhauses Moabit. 
(Direktor: Prot Dr. G. Klemperer.) 

Ehrlichs Syphilisheilmittel bei einigen Fällen innerer Lues. 

Von Dr. Meidner, Assistenzarzt. 


Das von Paul Ehrlich dargestellte 
Amidoarsenobenzol befreit den mit Spi¬ 
rillen infizierten Tierkörper mit einem 
Schlage von der Infektion und heilt die 
experimentelle Tiersyphilis mit unbedingter 
Sicherheit. Die bisherige klinische Anwen¬ 
dung des neuen Mittels hat gezeigt, daß 
es für die syphilitischen Sekundärerschei¬ 
nungen ein zweifelloses Heilmittel ist; ob 
es zur wirklichen Sterilisierung auch beim 
spirochäteninfizierten Menschen führt, wird 
sich erst nach Jahren entscheiden lassen. 

Als eine Aufgabe der inneren Klinik 
darf es betrachtet werden, einmal die Un¬ 
gefährlichkeit des Mittels, beziehungsweise 
seine Nebenwirkungen festzustellen. So¬ 
dann aber muß erprobt werden, ob es in 
der Behandlung der syphilitischen Affek- 
tion der inneren Organe dasselbe, be¬ 
ziehungsweise mehr leistet als Jod und 
Quecksilber. Schließlich wird es sich auch 
an diesen Patienten erweisen, ob die Ehr- 
lichsche Behandlung zur vollkommenen 
Sterilisierung des infizierten Organismus 
führt. 

Für die bisher von allen Beobachtern 
übereinstimmend bekundete Ungefährlich¬ 
keit des Mittels können wir einen sehr 
wirksamen Beweis bringen, da wir aus ge¬ 
wissen theoretischen Gründen das Mittel 
bei einer Kategorie der geschwächtesten 
Menschen anwandten, nämlich bei schwerer 
perniziöser Anämie und Leukämie. Diese 
Patienten mit hochgradiger Herzschwäche 
und geringster Sauerstoffsättigung der Ge¬ 
webe vertrugen das Mittel ohne jeden 
Schaden oder irgend eine erhebliche Neben¬ 
wirkung. 

Zugleich aber boten diese Heilversuche 
bei perniziöser Anämie eine weitere Stütze 
für die Spezifität der Wirkung des Ehr- 
lichschen Mittels; denn während viele 
Arsenpräparate einen deutlichen Effekt auf 
die Blutregeneration ausüben, ließ das 
neue Mittel in dieser Hinsicht vollkommen 
im Stich. 

Im übrigen haben 34 Patienten, denen 
wir die schwach alkalische Lösung des Prä¬ 
parates intraglutäal injizierten, dasselbe ohne 
nennenswerte Schädigung vertragen. Fast 
stets folgten der Injektion örtliche und 
ausstrahlende Schmerzen, die meist mäßig 
waren, in einigen Fällen aber die Anwen¬ 
dung von Morphium oder Schlafmitteln 
notwendig machten; nur von wenigen 


Tabikern und Paralytikern wurden gar 
keine Schmerzen geklagt. 

Als besondere Nebenwirkung kam ein¬ 
mal eine bald schwindende Urtikaria der 
Vorderarme und Hände, ein andermal eine 
ziemlich starke Acne furunculosa faciei 
zur Beobachtung. In einem dritten Falle 
schossen acht Tage nach der Injektion 
unter heftigem Juckreiz am Endgliede des 
linken Zeigefingers, im ganzen fünf hanf¬ 
korngroße, gelbgraue, flache Knötchen auf, 
die aber Tags darauf bereits wieder, und 
zwar für die Dauer, verschwunden waren. 

Schmerzen und Fieber bestanden drei, 
allenfalls fünf oder sechs Tage; nur ein¬ 
mal gingen die Schmerzen bei sonst ganz 
unkompliziertem Verlauf erst vom zehnten 
Tage an und bloß ganz allmählich zurück. 
Die lokalen Infiltrate gingen nach 5—8Tagen 
zurück; in einem Falle brauchte es 20 Tage 
zur vollkommenen Resorption; in einem 
anderen Falle kam es zu deutlicher Fluk¬ 
tuation, sodaß eine Inzision angebracht er¬ 
schien; es entleerte sich aber nur wenig 
hämorrhagisch - nekrotisches Material, das 
sich bei Mikroskopie und Kultur als ganz 
steril erwies. Die Schnittwunde heilte 
schnell. 


Es wurden auf unserer Abteilung von 
Anfang Mai dieses Jahres alle Patienten 
mit luetischen Erkrankungen, sowie einige 
Tabiker und Paralytiker — dazu noch die 
obenerwähnten Fälle von Anämie und Leu¬ 
kämie — mit Amidoarsenobenzol behandelt. 
Unter diesen befanden sich 6 Patienten 
mit rein dermatologischen Affektionen z.T. 
ausgedehnten Hautgeschwüren; dieselben 
reinigten und überhäuteten sich nach 
der spezifischen Injektion mit einer ganz 
ungewöhnlichen Schnelligkeit, welche alle 
Beobachter in Erstaunen setzte. Ueber 
diese Fälle von dermatologischem Interesse 
wird unser spezialistischer Berater, Herr 
Dr. Held, in einer späteren Veröffent¬ 
lichung berichten. 

Im folgenden gebe ich einen kurzen 
Bericht über die übrigen bisher von uns 
behandelten Fälle: 1 ) 


*) Die Ehrlichsche Substanz ist in den Kranken¬ 
geschichten der KQrze halber mit E. bezeichnet. Die 
Wassermannsche Reaktion wurde teils von Herrn 
Prof. Jacoby, teils von Herrn Prof. Schütze an¬ 
gestellt. 


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408 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


September 


Fall 1. Frau R., 57 Jahre, sichere Tabes 
mit mäßigen Beschwerden, bekam Ende Mai 
1910 an der Basis der linken zweiten Zehe 
^ einen allmählich sich bis auf den Knochen ver- 
* tiefenden, markstückgroßen Substanzverlust mit 
übelriechender, schmieriger Sekretion. In sei¬ 
nem Grunde stieß die Sonde schmerzlos auf 
rauhen Knochen. Am 17. Juni 1910 wurden 
nach Schnitt und Gegenschnitt drei flache, 
2—4 qmm große Sequester aus der Wunde 
entfernt Wassermannsehe Reaktion positiv. 
Am 25. Juni 1910 Injektion von 0,45 g E. Bereits 
am 29. Juni 1910 war die Absonderung sehr 
viel spärlicher und kaum noch übelriechend; 
der Defekt war frischer gerötet. Am 3. Juli 
1910 war die Sekretion versiegt. Am 9. Juli 
1910 war der Substanzverlust kaum noch linsen¬ 
groß und am 13. Juli 1910 gänzlich überhäutet, 
so daß Patientin am 15. Juli 1910 auf Verlangen 
ihre Entlassung erhielt. An der bestehenden 
Tabes war weder subjektiv noch objektiv etwas 
geändert. 

Fall 2. Q., 53 Jahre, zeigte neben Pupillen¬ 
starre und schlecht auslösbaren Patellarreflexen 
zwei tiefe, kraterförmige, bis auf den Knochen 
reichende, schmerzlos entstandene Substanz¬ 
verluste am vorderen Teil der rechten Fu߬ 
sohle. Das eine hatte die Größe eines Mark¬ 
stückes, das andere die eines Fünfmarkstückes. 
Sie bestanden seit mehreren Jahren und hatten 
sich trotz vieler Heilversuche nie ganz ge¬ 
schlossen. Die Wundsekretion war gering, der 
Belag des Grundes mehr krustig als schmierig. 
Am 4. Juli 1910 bekam Patient 0,3 E. Bis zum 
10. Juli 1910 blieben die Defekte unverändert. 
Von da an reinigte sich der Grund rasch, so 
daß er bereits am 13. Juli 1910 von frischen 
Granulationen bedeckt war. Gleichzeitig setzte 
auch vom Rande her Ueberhäutung ein. Der 
Heilungsprozeß war schon am 19. Juli 1910 
ganz abgeschlossen, so daß Patient am 22. Juli 
1910 auf sein Verlangen entlassen werden 
konnte. Die Zeichen seiner rudimentären Tabes 
waren dieselben wie bei der Aufnahme. 

Fall 3. D., 53 Jahre, Fall von sicherer 
progressiver Paralyse (Pupillenstarre, gestei¬ 
gerte Reflexe, motorische Schwäche der Beine, 
charakteristische Sprachstörung, dementes Ver¬ 
halten) bot an der linken Ferse ein markstück¬ 
großes, ziemlich tiefes Hautgeschwür mit man¬ 
gelnder Heilungstendenz. Am 15. August 1910 
bekam er 0,6 g E. Vom 17. August begann der 
Substanzverlust sich zu verkleinern und war 
am 26. August ganz geschlossen. Die para¬ 
lytischen Erscheinungen haben sich nicht ver¬ 
ändert. 

Es handelt sich um drei Fälle von Mal 
perforant, wie sie bei Tabikern nicht selten 
sind und trotz Hg und Jod gewöhnlich 
schwer heilen; in den berichteten drei 
Fällen ist die Heilung mit erstaunlicher 
Schnelligkeit eingetreten. 

Fall 4. Sch., 45 Jahre, klagt über lanzi- 
nierende Schmerzen, Gürtel- und Brustdruck¬ 
gefühle. Am 25. Mai 1910 Pupillenstarre, feh¬ 
lende Kniereflexe, ausgebreitete Anästhesien, 
schwere Ataxie. Wassermann-p. Injektion 
von 0,3 g E. Danach in den nächsten Wochen 
keine Veränderung der tabischen Zeichen. 
8. Juni Wassermann -p. Vom 10. Juni 1910 
an entwickelte sich eine Schwäche des rechten 
N. peroneus, die im Laufe des Monats zu einer 


kompletten Lähmung mit partieller Entartungs¬ 
reaktion gedieh. Der Gang war nicht besser 
geworden, viel Klagen über Parästhesien. Auf 
ausdrückliche Bitten des sehr intelligenten Pa¬ 
tienten wurden am 3. Juli 1910 nochmal 0,3 g E. 
eingespritzt. Objektiv hat sich danach nichts 
geändert, doch gab Patient an, er verspüre ein 
Nachlassen des Druckes auf der Brust; auch 
wurden die Klagen über die lästigen Parästhe¬ 
sien geringer; der Gang des Patienten schien 
weniger schwankend und ausfahrend. Objektiv 
war eine Besserung nicht zu konstatieren, 
auch die Peroneuslähmung unverändert. 
Wassermann am 17. August positiv. 

Fall 5. Z., 38 Jahre, seit sechs Jahren 
sichere Tabes. Wassermann +. Im Vorder¬ 
gründe des Krankheitsbildes stand seit Monaten 
eine schwere, ataktische Gangstörung und un¬ 
ablässige. heftige, lanzinierende Schmerzen. 
8. Juni 1910 0,3 g E. Bis zum 21. Juni 1910 
waren die lanzinierenden Schmerzen weniger 
häufig und intensiv geworden; eine größere 
Sicherheit des Ganges war unverkennbar. 
Wassermann 21.Juni positiv. Am 28.Juni1910 
hatte Patient wieder eine mehrstündige Attacke 
quälender, lanzinierender Schmerzen. Seitdem 
fehlten sie bis zur Entlassung am 5. Juli 1910 
fast ganz; der Gang war vollkommen sicher 
geworden, von dem eines normalen Menschen 
nicht unterscheidbar; die Ataxie verriet sich 
bloß noch durch unerhebliches Schwanken beim 
Romberg sehen Versuch. Im übrigen hatte 
der tabische Symptomenkomplex keine Aende- 
rung erfahren. 

Fall 6. N., 43 Jahre, klagt über leichte 
Ermüdbarkeit. Wassermann -p. Pupillen¬ 
reaktion verlangsamt, sehr schwer auslös¬ 
bare Patellarreflexe, Romberg positiv, aus¬ 
gesprochene Hypotonie der Muskulatur. Keine 
subjektiven tabischen Symptome, keine Ataxie. 
Am 9. Juli 1910 bekam er 0,4 g E. Bisher in 
den objektiven Symptomen nichts geändert. 

Fall 7. H., 42 Jahre, bemerkte seit acht 
Monaten Verschlechterung des Ganges und 
Sinken des rechten Augenlides. Pupillenstarre, 
fehlende Kniereflexe, ausgesprochene Ataxie, 
Ptosis des rechten oberen Augenlides, Wasser¬ 
mann -p. Am 28. Juli 1910 0,5 g E. Bis zum 
6. August 1910 war bereits ein merklicher Rück¬ 
gang der Ptosis eingetreten. Am 12. August 
1910 erklärte er, sich beim Gehen sicherer zu 
fühlen, und am 18. August 1910 war auch iür 
den Betrachter die ataktische Gangstörung er¬ 
kennbar gebessert; die Ptosis ist nicht un¬ 
beträchtlich zurückgebildet, besteht aber fort. 
Am 17. August Wassermann -p, Pupillen¬ 
starre und Fehlen der Reflexe unverändert 

ln den vorstehend beschriebenen sechs 
Fällen von Tabes hat das neue Mittel eine 
wesentliche Einwirkung nicht gezeigt, nur 
in einem Fall gingen schwere ataktische 
Erscheinungen in auffallender Weise zurück; 
die subjektiven Aenderungen, die wir bei den 
Uebrigen beobachtet haben, sind auch ohne 
besondere Beeinflussung gelegentlich bei 
Tabikern zu sehen. Selbstverständlich kann 
die Wertschätzung eines Syphilisheilmittels 
nicht nach seinem Effekt auf tabische Ver¬ 
änderungen bemessen werden; abgesehen da¬ 
von, daß der Zusammenhang zwischen Tabes 


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September 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


409 


und Lues nicht in jedem Fall als gesichert 
anzusehen ist, sind diejRQckenmarksläsionen 
als irreparabel zu betrachten. Wenn die An¬ 
wendung des Mittels den Fortschritt des 
Leidens mit Sicherheit aufhalten sollte — 
worüber natürlich jetzt noch kein Urteil 
möglich ist —so würde es trotzdem eine sehr 
segensreiche Wirksamkeit entfalten. 

Fall 8. FrL Z. # 23 Jahre, war seit Pfingsten 
1909 mit spastisch-paretisch-ataktischen Erschei¬ 
nungen in beiden Unterextremitäten, Ataxie 
und Parästhesien in den oberen, besonders 
dem linken Unterarm, und Urinbeschwerden, 
erkrankt. Wassermann -f. Die Diagnose 
schwankte zwischen Lues spinalis und mul¬ 
tipler Sklerose; Patientin wurde mehrfach von 
Spezialneurologen untersucht, welche ebenfalls 
die Diagnose in der Schwebe ließen. Zehn 
Sublimatinjektionen ä 0,02g. Die Urinentleerung 
wurde normal; sonst aber waren keine rechten 
Fortschritte zu verzeichnen, wenn Patientin 
auch im Verlaufe von Monaten etwas gehen 
lernte. Schließlich konnte sie sich mühsam 
auf kurze Strecken mit zwei Stöcken selber 
behelfen. Objektiv war im Befunde nichts 
Wesentliches geändert. Am 29. April 1910 be¬ 
kam Patientin 0,3 g E. Am 3. Mai 1910 war ihr 
Zustand der gleiche, der Wassermann noch 
positiv. Am 24. Mai 1910 Wassermann —. 
im übrigen aber keine Aenderung der spasti¬ 
schen Parese der Extremitäten. Am 19. Juli 
gebessert entlassen. 

Dieser Fall würde für eine neurologische 
Analyse sehr geeignet sein, da er die 
Schwierigkeit der Differentialdiagnose zwi¬ 
schen Lues spinalis und multipler Sklerose 
sehr deutlich aufzeigt; für die Beurteilung 
des neuen Mittels kann er wegen der Un¬ 
sicherheit der Diagnose in keiner Weise 
herangezogen werden. 

Fall 9. W., 50 Jahre, bewußtlos, nach 
Angabe der Angehörigen seit 16 Jahren auf 
beiden Beinen gelähmt. Patient hat mehrfache 
Quecksilberkuren ohne r-rfolg durchgemacht; 
seit einigen Wochen frische Lähmung des rech¬ 
ten Armes. Seit etwa 14 Tagen hohes Fieber, 
seit drei Tagen Koma. Der durch Katheter 
entleerte Urin ist trübe, enthält reichlich Eiter. 
Patient war nahezu als Moribundus zu bezeich¬ 
nen, der Puls sehr frequent und kaum fühlbar, 
die Atmung beschleunigt. Es wurde am 23. Juni 
eine intravenöse Injektion von 0,3 g E. gemacht, 
doch war eine Wirkung nicht zu konstatieren. 
Der Tod trat nach zwei Stunden ein. 

Dieser Fall betrifft — wie die Obduk¬ 
tion bestätigte — eine septische Zysto- 
pyelitis bei luetischen multiplen Erwei¬ 
chungsherden in Hirn und Rückenmark. 
Der Versuch einer spezifischen Behandlung 
des luetischen Prozesses war bei dem all¬ 
gemeinen Verfall des Patienten von vorn¬ 
herein wenig aussichtsvoll; für die Statistik 
kann der Fall in keiner Weise verwertet 
werden. An dem tötlichen Ausgang können 
wir der Injektion absolut keine Schuld bei¬ 
messen, da Patient sich schon vor derselben 
im Zustand größter Herzschwäche befand. 

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Fall 10. Sch., 48 Jahre, aufgenommen in 
vollkommener Bewußtlosigkeit am 28. Juni. 
Nach Angabe der Angehörigen seit Monaten 
Harninkontinenz und steigende Unsicherheit des 
Ganges; seit 27. Juni komatös. Pupillenreaktion 
war erhalten, die Patellarreflexe nicht auszu¬ 
lösen; beiderseits ausgesprochene Ptosis. 
Wassermann -p. Am 29. Juni 1910 0,3 g E. 

Im Verlauf der vier darauf folgenden Tage be¬ 
gann Pat. ganz allmählich auf Anruf zu reagieren, 
bewegte auch Arme und Beine ein wenig; die 
Augenlider ebenfalls etwas beweglich. Bis zum 
10. Juli ^910 war er ganz klar und geordnet, 
konnte alle Gliedmaßen ungehindert bewegen 
und beide Augenlider in normalerWeise heben. 
Nachdem er noch 14 Tage zu Bett gelegen 
hatte, fing er an Gehversuche zu machen, die 
ihn bis zum 1. August 1910 zu einem ungehin¬ 
derten, kaum noch schwankenden Gange ohne 
alle fremde Hilfe befähigten. Seither hat er 
sich sehr wohl befunden; die Patellarreflexe 
fehlen noch, und er kann den Urin nicht halten, 
trägt stets Urinal. 

Es handelt sich um frische, schwere 
zerebrale Lues bei einem Tabiker; die zere¬ 
bralen Störungen gelangen zur vollkom¬ 
menen Heilung, während von den tabischen 
Erscheinungen nur die Ataxie verschwindet. 
Dieser Fall stellt jedenfalls ein außerordent¬ 
liches Heilresultat bei zerebraler Lues dar, 
bei dem noch besonders die Schnelligkeit 
des Eintritts hervorzuheben ist. Man sieht 
gelegentlich ähnliche Erfolge nach Queck¬ 
silber, doch wohl selten so schnell. In 
unserm Fall ist es fraglich, ob die Queck¬ 
silberwirkung noch zur rechten Zeit ge¬ 
kommen wäre, um das gefährdete Leben 
zu retten. 

Fall 11. Frau L., 49 Jahre, Alkoholistin, 
intellektuell defekt, leidet seit zwei Jahren an 
spastisch - paretisch - ataktischen Erscheinungen 
in beiden Unterextremitäten, besonders der 
linken, Harninkontinenz und mäßiger links¬ 
seitiger Ptosis. Wassermann -p. Unter je 
einer Quecksilberspritz- und -schmierkur (5X0,1 
Hydrarg. salicyl. und 120,0 Ung. ein.) lernte 
sie, mit Hilfe von Stöcken, ein paar mühsame 
Schritte machen. Am 3. Juli 1910 0,5 g E. 
Gegen Ende des Monats gab sie spontan an, 
mit dem linken Bein etwas leichter fortzukönnen. 
Seither hat sich ihr Gang soweit gebessert, daß 
sie, auf Stöcken gestützt, kurze Spaziergänge 
im Anstaltsgarten machen kann, wobei sie sich 
mit Hilfe eines Urinals ausreichend sauber hält. 

Die Ptosis am linken Auge besteht, doch in 
geringerem Grade, fort; Wassermann am 
17. August noch -p, die Symptome der spastisch- 
ataktischen Parese der Beine sind unverändert 
geblieben. 

In diesem Fall ausgesprochener spinaler 
Lues hat die spezifische Behandlung nach 
Ehrlich eine vorher durch Hg erzielte 
mäßige Besserung etwas weiter gebracht, 
ohne ebenfalls entschiedene Fortschritte zu 
erzielen. 

Fall 12. Frau K., 30 Jahre. In den letzten 
Monaten des Jahres 1909 allmähliche Entwick¬ 
lung einer spastischen Paraparese der Beine 
und vollkommene incontinentia urinae. Wa s s e r - 

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410 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


September 


mann -f-. Unter regulärer Schmierkur fort¬ 
schreitende Verschlechterung des Geh Ver¬ 
mögens. Inkontinenz unverändert. Am 16. Juli 
1910 0,4 g E. Schon am 18. Juli 1910 gab 
sie an, das linke Bein besser bewegen zu 
können; tatsächlich wurden Widerstands¬ 
bewegungen auch mit merklich größerer Kraft 
als noch vor einiger Zeit ausgeführt. Bis zum 
15. August 1910 war es gelungen, Patientin 
einige erfolgreiche Gehversuche anstellen zu 
lassen. Freilich sind es bis heute nur ein paar 
mühsame Schritte geblieben, die Harninkonti¬ 
nenz besteht unverändert fort. Wass.ermann 
15. August 1910 schwach positiv. 

Auch dieser Fall von Lues spinalis, der 
sich gegen Hg refraktär gezeigt hat, wird 
durch Arsobenzol nicht wesentlich beein¬ 
flußt. 

Fall 13. Fr. Z., 51 Jahre, seit zwei Jahren 
allmählich zunehmende, ataktische Störungen 
in den Unterextremitäten und Schwerhörigkeit. 
Bei der Aufnahme Pupillenreaktion herabge¬ 
setzt, es besteht ein handtellergroßer Dekubitus 
der Kreuzbeingegend. Dazu eine Rektal- 
striktur 13 cm über dem Anus von knapp 
2 cm Durchmesser. Klagen über sehr heftige 
Schmerzen in den verschiedensten Körper¬ 
gegenden. Wassermann Am 22. Juli 1910 
0,5 g E. In den nächsten 14 Tagen objektiv 
alles unverändert, insbesondere die Schmerzen 
nicht geringer. Am 4. August auf Drängen der 
Patientin Einleitung einer regulären Schmierkur; 
danach Nachlassen der Schmerzen, aber objektiv 
nicht die geringste Veränderung. Nervenbefund 
blieb völlig derselbe wie anfangs, auch Stuhl¬ 
beschwerden und rektoskopisches Bild unver¬ 
ändert, der Dekubitus reinigt sich sehr langsam 
unter der üblichen lokalen Behandlung. 

Ein Fall von luetischer Rektalstriktur 
einer Tabischen wird weder durch 
Arsobenzol noch durch Hg gebessert. 

Fall 14. Frau K., 45 Jahre, bekam nach 
Ausweis älterer Krankenblatter vor siebzehn 
Jahren ganz plötzlich eine Ophthalmoplegia 
dupl. int. total., ext. incompl. mit Doppelbildern 
beim Blick nach links und nach oben (Schwäche 
des M. abd. sin. und der Aufwärtswender des 
rechten Auges); die Affektion hat seither ganz 
unverändert bestanden, trotzdem Pat. viele 
spezifische Kuren durchgemacht hat. Vor zwei 
Monaten traten unbestimmte Magenbeschwerden 
hinzu. Bei der Aufnahme waren die Sehnen¬ 
reflexe gesteigert, auch bestand eine recht erheb¬ 
liche Demenz, doch nicht von paralytischem 
Charakter. Wassermann-}-. Am 7. Juli 1910 
0*4 g E. Bis zum Ende des Monats wurde keiner¬ 
lei Veränderung ihres Zustandes bemerkt. Am 
27. Juli 1910 traten heftige, als krampfartig be¬ 
schriebene Schmerzattacken in der Magengegend 
auf, die aber in drei Tagen wieder verschwan¬ 
den ; chemisch bestand eine Achlorhydrie, 
röntgenologisch eine Atonie des Magens. Am 
6. August 1910 befand sich Pat. wieder ganz 
wohl, behauptete sogar, weit besser sehen zu 
können. Objektiv war aber keine Aenderung 
des Augenbefundes eingetreten, insbesondere 
die Doppelbilder ganz wie ehedem nachweisbar. 
Am 15. August 1910 Wassermann noch po¬ 
sitiv. Am 20. August 1910 erklärte Pat. zum 
ersten Male, daß die Doppelbilder beim Blick 
nach links näher beieinander stünden. Bei 
eingehender Prüfung bestätigte sie diese An¬ 
gabe immer wieder. Zudem konnten auch 


beim Blick nach oben überhaupt keine Doppel¬ 
bilder mehr hervorgerufen werden; die vorher 
deutlich sichtbare Schwäche der rechtsseitigen 
Aufwärtswender ließ sich denn auch nicht 
mehr beobachten. 

Die Arsobenzolinjektion hat einem ver¬ 
alteten Fall luetischer Augenmuskellähmung 
ganz wesentliche Besserung gebracht; ob in 
einem so alten Fall dieselbe Wirkung durch 
eine erneute Hg-Jodkur zu erzielen gewesen 
wäre, muß als fraglich bezeichnet werden. 

Fall 15. Frau S., 31 Jahre, hat seit Jahren 
ein schweres, kombiniertes Vitium cordis; 
neuerdings heftige, nächtliche Kopfschmerzen. 
Wassermann -}-, bekam 12. Juli 1910 0*4gE. 
Bis zum 18. Juli 1910 hatte sie unter den der 
Injektion folgenden Beschwerden viel zu leiden. 
Von da an traten diese von Tag zu Tag mehr 
zurück, und Pat. erholte sich zusehends, die 
nächtlichen Kopfschmerzen blieben 
völlig fort. Bei ihrer Entlassung am 
3. August 1910 fühlte sie sich wohler als seit 
langem. Wassermann noch +. 

Dieser Fall von postluetischen nächt¬ 
lichen Kopfschmerzen ist durch das neue 
Mittel vollkommen geheilt, ähnlich wie es 
durch längere Jodkur zu erreichen ge¬ 
wesen wäre. 

Fall 16. Frau E., 57 Jahre, vor 16 Jahren 
luetische Infektion. Seit einigen Jahren wurde 
sie von heftigen, nächdichen Kopfschmerzen 
gequält. Seit vier Wochen bemerkte sie Zu¬ 
nahme des Leibumfangs. Bei der Aufnahme 
bestand beträchtlicher Aszites, die Leber hart 
und vergrößert; eine intensive Dämpfung über 
dem Oberlappen der linken Lunge, im Bereich 
derselben abgeschwächtes Atmen, sparsame 
Rasselgeräusche; über der Herzbasis ein rauhes 
systolisches Geräusch, Herz nicht vergrößert. 
Diagnose Leberlues, luetische Lungenaffektion, 
luetische Perikarditis (?) Am 16. Juni 1910 0,3g E. 
Am 22. Juni 1910 konnte ein Rückgang des 
Aszites konstatiert werden; die Kopfschmerzen 
hatten nachgelassen. Bis zum 25. Juni 1910 
schien die Besserung zuzunehmen; von da an 
aber traten Erscheinungen schwerer Herz¬ 
schwäche auf, der Patientin am 27. Juni 1910 
erlag. Bei der Sektion wurden narbige und 
gummöse Veränderungen der Leber und Lunge, 
sowie Gummata des Schädeldachs gefunden. 
Der Herzbefund war die Folge eines durch 
Lymphdrüsenschrumpfung hervorgerufenen 
kleinen Traktionsaneurysmas der Art. pulm. 
dextr. 

Der Befund beweist — wie selbstverständ¬ 
lich — daß alte luetische Narben dem neuen 
Mittel nicht weichen, daß aber auch Gummi- 
geschwGlste in inneren Organen wenigstens 
durch kleine Gaben Arsobenzol nicht be¬ 
einflußt zu werden brauchen. 

Fall 17. T., 64 Jahre, Potator, vor 20 Jahren 
luetisch infiziert Arteriosklerose, Dilatatio 
cordis bis in die mittlere Axillarlinie. Seit vier 
Wochen Aszites und Ikterus. Sehr dyspnoisch 
und zyanotisch, 110 kleine Pulse. Leber groß, 
hart, höckrig. Seit etwa 14 Tagen Schmerzen 
im Munde und Erschwerung der Nahrungsauf¬ 
nahme. Bei der Aufnahme besteht starker 
Foetor ex ore, schwere ulzeröse Stomatitis mit 
schmutzigen, schmierigen Belägen des Zahn- 


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September 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


411 


fleisches, des Gaumens und der Tonsillen. Am j 
1. August 0,4 g E. In überraschender Weise 
heilt vom 3. Tage an die Stomatitis, so daß I 
Mund. Gaumen und Tonsillen am 6. August 
ganz normal erscheinen. Gleichzeitig hat sich 
Allgemeinbefinden und Herzkraft unter Digitalis 
erheblich gebessert. Patient ißt und schläft be¬ 
deutend besser, der Aszites wird geringer. 
Patient wird auf Wunsch am 6. August ge¬ 
bessert entlassen. 

Ein Fall von luetischer Stomatitis bei 
luetischer Leberzirrhose und arterioskle¬ 
rotisch-alkoholischer Herzschwäche wird 
durch Arsobenzol geheilt, während Leber¬ 
und Herzveränderungen objektiv unver¬ 
ändert bleiben, aber in ihren Folgezuständen 
dem Patienten zeitweise weniger Be¬ 
schwerden machen. 

Zu den hier berichteten 17 Fällen (+ 6 der¬ 
matologischen) treten noch 11 Fälle anderweitiger 
innerer Erkrankungen, bei denen Lues nicht 
vorlag und bei welchen das neue Mittel aus 
hier nicht zu erörternden theoretischen Gründen 
angewandt wurde. Heileffekte wurden gemäß 
der spezifischen Natur des Mittels nicht er¬ 
zielt. Jedoch wurde auch bei den schwäch¬ 
sten Kranken keine Schädigung hervorgerufen. 
Sehr auffallend war oft, daß nach Abklingen 
der lokalen und allgemeinen Reizerscheinungen 
eine erhebliche Besserung darniederliegenden 
Allgemeinbefindens, Zunahme des Appetits 
und wesentliche Gewichtszunahme beobachtet 
wurden. 


Fassen wir unsere Beobachtungen zu¬ 
sammen, so hat sich Ehrlichs neues Mittel 
auch uns als ein vorzügliches Heilmittel 
syphilitischer Haut- und Schleimhautverän¬ 
derungen erwiesen. Bei inneren Erkran¬ 
kungen hat es in einmaliger Anwendung 
in mehreren Fällen dieselbe Heilkraft ge¬ 
zeigt wie sonst langdauernde Hg- und Jod¬ 
kuren; von besonderer Bedeutung ist der 
schnelle Eintritt des Heileffekts in lebens¬ 
gefährlichen Fällen. Narbige Veränderun¬ 
gen erwiesen sich natürlich als unangreif¬ 
bar, in Verlust geratenes Nervengewebe als 
nicht restituierbar. Tabes und Paralyse 
waren nicht wesentlich zu beeinflussen, 
am ehesten noch Augenmuskelstörungen 
und Ataxie. Das neue Mittel hat uns min¬ 
destens dasselbe geleistet, was wir früher 
durch Jod und Quecksilber erzielt haben; 
es ist den alten Mitteln überlegen durch 
die Kürze der Behandlung und die Schnel¬ 
ligkeit der Wirkung. Ob auf Grund dieser 
Vorzüge das Ehrlich sehe Heilmittel die 
alten Methoden zu verdrängen berufen ist, 
wird auch für die innere Medizin davon 
abhängen, ob durch dasselbe die Spiro¬ 
chäten für alle Zeit abgetötet werden. 
Diese Entscheidung kann erst nach jahre¬ 
langer Beobachtung gefällt werden. 


Zusammenfassende Uebersicht. 

Ans der dermatologischen Abteilung des Rudolf Yirohow-Erankenhauses ln Berlin. 

(Dirig. Arzt: Prof. Dr. Buschke.) 

Ueber die Ehrüchsche Syphilisbehandlung. 

Referat von Dr. W. Fischer, Assistent der Abteilung. 


ln kurzer Zeit hat das neue Ehrlich- 
sche Präparat eine solche umfassende Lite¬ 
ratur gezeitigt, daß wir zu unserer eigenen 
Orientierung die einzelnen Berichte ge¬ 
sammelt haben. Ein daraus resultierendes 
Referat, welches die wesentlichsten Punkte 
aus der verwirrenden Fülle der Berichte her¬ 
vorhebt, zur Orientierung für den Praktiker 
zu publizieren, erschien Herrn Professor 
Buschke schon jetzt nicht unzweckmäßig. 
Auf seine Anregung sind die folgenden 
Zeilen zurückzuführen. 

Von vornherein war es uns klar, daß 
es zurzeit noch absolut unmöglich ist, über 
die Wirkung des Ehrlich-Hata 606 und 
seinen Wert gegenüber einer so kompli¬ 
zierten und über Jahrzehnte sich erstrecken¬ 
den Krankheit wie der Syphilis zu einem 
einigermaßen fundierten Urteil zu kommen. 
Wenn ich es trotzdem unternehme, die 
bisherigen Beobachtungen an dieser Stelle 
einer Durchsicht zu unterziehen, so leitet 
uns dabei der Gedanke, daß für den 

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Fernerstehenden eine solche zusammen¬ 
fassende Darstellung ungleich wertvoller 
werden kann, als die zahlreichen Mit¬ 
teilungen einzelner Autoren, die auf die 
Befunde einiger weniger Fälle gestützt 
unsere ganze bisherige Syphilistherapie 
über den Haufen werfen wollen und so 
außerordentlich verwirrend wirken. Ein 
übriges tut die politische Presse, die durch 
entstellte oder unverstandene und einseitige 
Berichte im Publikum eine Aufregung her¬ 
vorgerufen hat, welche jeder Dermatologe 
täglich in seiner Praxis zu spüren be¬ 
kommt. Es kann demnach eine vorsichtig 
abwartende Stellungnahme gegenüber der 
Therapia magna sterilisans der Lues im 
Interesse des Schöpfers dieses Begriffes 
nur von Nutzen sein und in diesem Sinne 
mögen die folgenden Zeilen aufgefaßt 
werden. 

Die Verwendung des Arsens bei der 
Behandlung der Syphilis ist keineswegs 
jungen Datums. Schon früh machte man 

52* 

Original from 

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412 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


September 


sich die analeptische Wirkung dieses Me¬ 
dikamentes zur Hebung des Allgemein¬ 
zustandes der Patienten zunutze und die 
reine Empirie zeigte später, daß eine regel¬ 
rechte, allerdings hoch dosierte Arsenkur 
sehr wohl in einer Reihe von Fällen von 
schwerer und tertiärer Syphilis die Sym¬ 
ptome rasch zum Schwinden bringen kann. 
Freilich sollen Rezidive bei dieser Be¬ 
handlung besonders früh und häufig beob¬ 
achtet sein. O. Rosenthal tritt für 
diese Methode ein. Aber auch auf dem 
Wege theoretisch-wissenschaftlicher Ueber- 
legung kam man nach der Entdeckung 
Schaudinn-Hoffmanns dazu, das Arsen 
der Syphilistherapie nutzbar zu machen. 
Ausgehend von der Wirksamkeit des 
Atoxyls bei anderen Spirillosen und 
Trypanosomenkrankheiten empfahl Uhlen - 
huth, gestützt auf die Erfolge, die er mit 
Hoffmann bei der Behandlung mit Syphilis 
geimpfter Tiere sah, die Anwendung des 
Atoxyls auch bei der menschlichen Syphilis. 
Freilich machte die Nötigung, starke 
Dosen zur Anwendung zu bringen und die 
dabei auftretenden Schädigungen, be¬ 
sonders des Sehnerven, die Verwendung 
des Atoxyls schließlich unmöglich. Ehrlich 
hat dann diese beim Atoxyl gewonnenen 
Erfahrungen zum Ausgangspunkt weiterer 
Untersuchungen gemacht und gestützt auf 
die Erforschung der Konstitution des 
Atoxyls, die schon früher versucht, aber 
erst von ihm in Gemeinschaft mit Bert- 
heim zum Abschluß gebracht wurde, im 
Laufe der letzten Jahre immer neue, durch 
Gruppensubstitution im Atoxyl gewonnene 
Arsenverbindungen mit besonders starker 
Wirkung auf parasitäre Mikroorganismen 
hergestellt. Diesen Arbeiten verdankt das 
giftige Arsacetin, das Arsenophenylglyein 
und schließlich das Dioxydiamidoarseno- 
benzol (Ehrlich-Hata 606) seine Ent¬ 
stehung. Da im Tierexperiment durch eine 
einmalige Einverleibung einer bestimmten 
Dosis dieses und ähnlicher Stoffe eine voll¬ 
kommene Abtötung aller Parasiten (Spirillen 
und Trypanosomen) gelang, bezeichnete 
Ehrlich eine solche Behandlung als therapia 
magna sterilisans. 

Nachdem im Ehrlichschen Institut diese 
Vorversuche an Tieren so günstig in bezug 
auf die parasitizide Kraft des Mittels aus¬ 
gefallen, wurde der Psychiater Alt mit der 
Prüfung des Mittels am Menschen betraut. 
Dieser veranlaßte dann Schreiber das 
Mittel auch an Syphilitikern zu prüfen; 
Alt beobachtete neben einzelnen Besse¬ 
rungen bei postsyphilitischen Affektionen 
unter anderem bei einer Reihe von 


Paralytikern nach einer einmaligen In¬ 
jektion von 0,3 g ein Schwinden der vor¬ 
her positiven Wassermannschen Reak¬ 
tion. 1 ) Schreiber (Magdeburg) berichtete 
dann im Verein mit Hoppe über 150 so 
behandelte Fälle. Wie schon Alt hervor¬ 
gehoben hatte, sahen auch sie keine unan¬ 
genehmen Nebenwirkungen und erklärten 
das Präparat, soweit man bei differenten 
Mitteln von Ungiftigkeit sprechen darf, für 
absolut ungiftig. Trotzdem warnten sie 
vor seiner Anwendung bei schwerer Er¬ 
krankung der Zirkulationsorgane, der Nieren 
und Augen und bei allen Allgemeinerkran¬ 
kungen und Kachexien. Ihre klinischen Er¬ 
folge waren deutlich; Primäraffekte zeigten 
nach 24 Stunden Neigung zur Rückbildung, 
Anginen waren in 3—4 Tagen geheilt, aus¬ 
gedehnte Papelbildungen kamen in 4 Wochen 
zum Schwinden. Besonders gut reagierten 
tertiäre und gegen Quecksilber refraktäre 
Fälle. Nach diesen günstigen Erfahrungen 
gingen nun in den nächsten Monaten eine 
ganze Reihe von Kliniken an die Prüfung, 
und nach ihren Befunden ergibt sich über¬ 
einstimmend, daß wir in dem „Hata 606“ 
ein Mittel vor uns haben, dem oft eine 
ganz exquisite Wirkung auf die Spiro¬ 
chäten, die meist in kurzer Zeit aus den 
Effloreszenzen schwinden, und auf eine 
Reihe von syphilitischen Prozessen, auch 
der inneren Organe zugeschrieben werden 
kann. Hauptsächlich wird hervorgehoben 
die günstige Beeinflussung der malignen 2 ) 
Syphilis und von einigen Autoren die 
Schnelligkeit des Involutionsprozesses spe¬ 
zifischer Effloreszenzen. Ganz besonders 
günstige Resultate gibt in bezug auf die 
Involution Glück an. Er sah Primäraffekte 
mit Drüsen zum Teil schon in 5 Tagen 
vollkommen schwinden; makulo-papulöse 
Exantheme brauchten 3—5, pustulöse 5—8, 
ein Lichen syphiliticus 7, diffuse stark 
hypertrophische Papeln an Skrotum und 
Penis 5 Tage zur Abheilung. Es unterliegt 
nun keinem Zweifel, daß die Beurteilung 
solcher z eitlicher Angaben gewisse 

l ) Für die Behandlung der Tabes und Paralyse, 
bei der ursprünglich das Präparat angewandt wurde, 
hat die bisherige weitere Beobachtung keine Anhalts¬ 
punkte eines definitiven therapeutischen Nutzens er¬ 
geben. 

s ) Der Ausdruck „maligne Syphilis* sollte ver¬ 
mieden werden, da über diese Bezeichnung noch 
keine Uebereinstimmung unter den Autoren herrscht. 
Manche bezeichnen damit ulzeröse Sekundär- und 
Tertiärformen, die der Hg- und J-Wirkung nicht 
unterliegen; andere rechnen alle ulzerösen Früh¬ 
formen dazu, unter denen es eine ganze Anzahl gibt, 
welche im Verhältnis zu ihrem klinischen Aspekt 
überraschend schnell unter ganz geringen Hg-Mengen, 
ja auch ohne diese allein durch roborierende All¬ 
gemeinbehandlung und kleine Jodgaben heilen. 


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September 


Dip Therapie der Gegenwart 1910. 


413 


Schwierigkeiten macht, da derartige Beob¬ 
achtungen außerordentlich dem subjektiven 
Empfinden des einzelnen unterworfen sind. 
Wir wissen überdies längst, daß Primär- 
affekte häufig spontan heilen; sie kommen 
ja bekanntlich in einer ganzen Reihe von 
Fällen nur als kleine, schnell heilende Ver¬ 
letzungen den Kranken zum Bewußtsein. 
Bei Frauen sieht man z. B. Primäraffekte im 
Verhältnis zur Häufigkeit der Lues selten, sie 
müssen also spontan abgeheilt sein. Viele 
Frühexantheme schwinden nach kurzem Be¬ 
stand ohne Therapie, Schleimhautplaques 
heilen unter lokaler Behandlung in kaum 
8 Tagen und auch die resistenteren Formen 
wie papulöse Exantheme gehen in der über¬ 
wiegenden Mehrzahl der Fälle unter Hg- 
Zufuhr in 14 Tagen bis 3 Wochen zurück. 
Ebenso heilen tertiär-ulzeröse Syphilide 
selbst in größerer Ausdehnung unter Jod 
in 3—4 Wochen, häufig aber auch in viel 
kürzerer Zeit; so habe ich erst kürzlich 
auf unserer Abteilung unter anderem eine 
geschwürige Zerstörung des ganzen weichen 
Gaumens und hinteren Rachens nur unter 
Jod und indifferenten Spülungen zur mecha¬ 
nischen Reinigung in 21 Tagen vollkommen 
zuheilen sehen. Trotzdem behandelte man 
nun bisher die durch 2—3 Quecksilberein¬ 
spritzungen symptomlos gewordenen, nicht 
geheilten (!) Patienten noch eine gewisse 
Zeit lang weiter, da eine lange Er¬ 
fahrung uns gelehrt hat, in der prolong¬ 
ierten Hg-Therapie auch eine gewisse Pro¬ 
phylaxe gegen weitere Rezidive und dele¬ 
täre Späterkrankungen zu sehen, ein Ver¬ 
fahren, das uns einige, wenn auch un¬ 
sichere Aussichten für eine endliche Heilung 
gibt. In dieser Hinsicht läßt sich über das 
neue Mittel naturgemäß noch gar nichts 
sagen, es müssen Jahre vergehen, ehe über 
die Möglichkeit einer definitiven Heilung, 
denn das muß das Ideal jeder Syphilis¬ 
therapie sein, ein Urteil gefällt werden 
kann. Bei dieser Frage spielen unseres 
Erachtens Resultate von Tierversuchen ab¬ 
solut keine Rolle, da die experimentelle 
Syphilis der Affen und Kaninchen klinisch 
ganz anders verläuft; überdies kann man ja 
auch, wie aus den Neißersehen Versuchen 
hervorgeht, durch eine Quecksilberkur die 
Syphilis anthropoider Affen zur Heilung 
bringen, während dies eben beim Menschen 
in den meisten Fällen nicht möglich ist. 
Ebenso verhält es sich mit dem Atoxyl 
und wahrscheinlich auch mit dem Arseno- 
benzol. 

So weit aber sieht man jetzt schon 
klar, daß Rezidive nach einer einmaligen 
Hatainjektion nichts seltenes sind, auch 


von einer Kupierung im Initialstadium 
kann kaum die Rede sein. Wir selbst 
haben auf unserer Abteilung bisher 2 1 ), 
von anderer Seite so behandelte Patienten 
mit schweren Rezidiven und 1 mit einem aus¬ 
gedehnten, spirochätenhaltigen Primäraffekt, 
der etwa 8 Wochen früher gespritzt war, 
in Behandlung bekommen. Schreiber- 
Hoppe sahen unter 150 Fällen 10 Rezidive 
schon nach 4 Wochen, Kromayer unter 
27 Fällen 5, Braendle und Clingestein 
unter 27 Fällen 4 geringe und 1 ausge¬ 
dehnten Rückfall nach 2^2—3 Wochen. 
Neißer zählt unter 100 Fällen 5 Rezidive, 
Hoffmann sah nach 0,3 Hata und 
14 tägiger Schmierkur ein schweres ulze¬ 
röses Rezidiv. Glück und Wolff sahen 
je eins nach 8 und 14 Tagen. Daneben 
finden sich auch eine Reihe von Beobach¬ 
tungen, in denen eine nur mangelhafte Ein¬ 
wirkung aut den syphilitischen Prozeß kon¬ 
statiert werden konnte, wobei wir ganz von 
den auf einer viel zu kurzen Beobachtungs¬ 
zeit fußenden Mitteilungen von Besserungen 
und fast verheilten Ulzerationen absehen 
wollen. Glück sah breite Papeln noch 
nach 3 Wochen, ferner einen Primäraffekt 
unbeeinflußt. Hartung hat neben teil¬ 
weise ganz eklatanten Erfolgen auch teil¬ 
weise nicht zufriedenstellende Resultate be¬ 
sonders bei Anal- und Genitalpapeln. 
Iversen konnte in 2 Fällen breite Papeln 
in 3 Wochen noch nicht zur Heilung 
bringen, nach ihm halten sich auch Skle¬ 
rosen und Adeniditen infolge ihrer anato¬ 
mischen Struktur 3—4 Wochen. Hoff¬ 
mann konstatierte eine nicht ausreichende 
Wirkung auf ein hochgradiges papulöses 
Syphilid, sodaß er eine Schmier kur an¬ 
schließen mußte. Auch Grouven sah 
neben einer im allgemeinen entschieden 
außerordentlich früh einsetzenden günstigen 
Beeinflussung, die sogar manchmal die 
augenfälligste Hg-Wirkung in den Schatten 
stellte, einige Mißerfolge; in hypertrophi¬ 
schen Papeln des Gesichts fand er noch 
2 Monate nach der ersten Injektion massen¬ 
haft bewegliche Spirochäten, ein tubero- 
serpiginöses Syphilid heilte nach 3 Hata- 
Injektionen (0,3,0,4,1,0) erst nach 2Monaten. 
Während Glück bei Keratitis parenchy- 
matosa gute Erfolge sah, scheint nach 
Uhthoifs 3 Fällen kein unmittelbar si- 
stierender Einfluß auf den Prozeß ausge¬ 
übt zu werden. Der erstere sah auch bei 
einer doppelseitigen Iritis eine nur mäßige 
Besserung. Schließlich sei kurz über einen 
Fall von schwerer, jeder Hg- und Jod¬ 
zufuhr unzugänglicher tertiär-ulzeröser Sy- 
*) Einer davon schwere Augenlues. 


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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


September 


philis berichtet, der auf unserer Abteilung 
am 15. Juli mit recht ungünstiger Wirkung 
0,4 Hata bekam. 

Pat. W.j tertiär-maligne Syphilis, seit 1906 
erfolglos mit Kalomel, Schmierkur, Jodkali und 
Arsen behandelt. Zurzeit der Injektion auf dem 
Bauch drei typische tertiär-syphilitische Ge¬ 
schwüre am Rande von Narben (das erste 
12:12 cm, das zweite 10:10 cm, das dritte 
1 :4 cm), auf dem Gesäß ein zweimarkstück¬ 
großes, gleiches. Die Geschwürsflächen zeigten 
in den letzten Monaten weder Progredienz noch 
Heilungstendenz. Allgemeinbefinden verhältnis¬ 
mäßig gut. Leber zeigt Hypertrophie. Geringes 
Albumen, keine Zylinder. 7. Juli: Injektion 
0,4. Wassermann. - An den folgenden Tagen 
außer Klagen über heftige Schmerzen in beiden 
Gesäßhälften nichts. 13. Juli: Die Ulzera ver¬ 
größern sich, ihre infektiösen Ränder sind stark 
unterminiert. 17. Juli: Die oberen Wundränder 
zerfallen, die Unterminierung reicht jetzt 2 cm 
weit. Die bisher verhältnismäßig sauberen 
Granulationen eitern sehr stark und sind von 
zahlreichen kleinen Blutungen durchsetzt. Die 
Injektionsstellen sind schmerzlos. 24. Juli: 
Diffuse Blutung aus dem unteren Geschwür, 
die Granulationsflächen werden gangränös. All¬ 
gemeinbefinden schlechter. 8. August: Weitere 
Vergrößerung der Geschwüre, das oberste — 
größte — 13:13:7 cm, das unterste rund¬ 
licher geworden. 16. August: Das oberste Ge¬ 
schwür 13,5 : 14 : 8 cm. Gewichtsabnahme 
4 Pfund (von 59 auf 57 kg). Das Allgemein¬ 
befinden ist erheblich verschlechtert, besonders 
sind in der letzten Zeit die vor der Ein¬ 
spritzung nicht sehr schmerzhaften Wund¬ 
flächen derart empfindlich geworden, daß Pat. 
dauernd unter Narkotizis und Anästhesinsalbe 
gehalten werden muß. 18. August: Auf der 
linken Gesäßhälfte in der Narbe ein linsen¬ 
großes, neues ulzeröses Syphilid; das Ge¬ 
schwür auf dem Gesäß fünfmarkstück geworden. 
Wassermann —. 

Gegenüber diesen anscheinenden Mi߬ 
erfolgen sei ausdrücklich betont, daß ihnen 
eine große Reihe günstiger Resultate 
gegenübersteht. Besonders darauf hinge¬ 
wiesen sei namentlich, daß fast alle Auto¬ 
ren übereinstimmend die potenzierte As- 
Wirkung des Präparates, die sich in einem 
ausgezeichneten Einfluß auf das subjektive 
Wohlbefinden und einer oft rapiden Ge¬ 
wichtszunahme dokumentiert, hervorheben. 
Eine weitere Frage ist, wie steht es mit 
der Toxizität des Präparates? Da dasselbe 
bisher nicht gebrauchsfertig, sondern als 
salzsaure Verbindung, die erst vor der In¬ 
jektion zur Lösung oder Aufschwemmung 
gebracht wird, zur Benutzung kommt, sind 
aus verschiedenen Gründen, besonders um 
eine anscheinend recht schmerzhafte, ziem¬ 
lich lange anhaltende Lokalreaktion zu 
vermeiden» mehrere von der ursprüng¬ 
lichen Alt sehen Vorschrift abweichende 
Modifikationen im Gebrauch. Es wird in 
saurer oder alkalischer Lösung und nach 
dem Vorschlag von Michaelis und Wech- 
selmann-Lange in neutraler Suspension 


verwandt. Die Applikation erfolgt intra¬ 
muskulär in die Nates oder subkutan zwi¬ 
schen die Schulterblätter; die Lösungen 
können auch intravenös gegeben werden. 
Die Dosis ist von den Autoren wiederholt 
variiert worden. Ehrlich selbst und Alt 
gehen über 0,5 g nicht hinaus, besonders 
Grouven hat diese Mengen erheblich 
überschritten und das in Methylalkohol ge¬ 
löste Präparat zuletzt in Anfangsdosen von 
0,9 gegeben und im Laufe von 6—7 Wochen 
bei wiederholten Injektionen 2 g und mehr 
verwandt. 

Ueber das Verhalten des Präparates im 
Körper haben Ph. Fischer und Hoppe 
Untersuchungen angestellt. Sie fanden bei 
Luetikern nach intramuskulärer Injektion 
der alkalischen Lösung die Ausscheidung 
durch den Urin am 4.—5. Tage beendet, 
durch den Darm erfolgte sie über 10 Tage; 
bei intravenöser Darreichung hielt sie 2 bis 
3 Tage durch den Urin und 5—6 Tage 
durch die Fäzes an. Bei zwei an ander¬ 
weitigen Affektionen 14 und 36 Tage nach 
der Einspritzung verstorbenen Patienten 
fand sich aber intramuskulär noch ein er¬ 
hebliches Arsendepot. Grouven» der gleich¬ 
falls die Lösung benutzt, hat in 30 Fällen 
die Ausscheidung durch den Harn etwa 
zwei Wochen lang, einige wenige Male auch 
noch in der 3. Woche feststellen können. 

Gegen die erwähnten Modifikationen 
und Steigerungen der Dosis wendet sich 
Alt in einem vor kurzem erschienenen Ar¬ 
tikel der Münch. Med. Wochschr. (Nr. 34). 
Er hält sich nicht für berechtigt» über 
Dosen von 0,5 herauszugehen» da „nament¬ 
lich in Fällen von ganz frischer Syphilis 
Temperaturanstiege bis 39,5 o, Steigerung 
und Unregelmäßigkeit der Herztätigkeit, 
leichte Benommenheit sowie Brechreiz be¬ 
obachtet wurden“ *). Die Einverleibung 
saurer Lösung verwirft er ganz, da das 
Präparat in dieser Form anscheinend nicht 
ungiftig ist und die Herztätigkeit ungünstig 
beeinflußt. Die Verwendung einer Sus¬ 
pension verlangsamt nach Alt die Wirkung, 

*) Auch wir haben schon bei Dosen von 0,4 der 
in Methylalkohol gelösten Substanz Anzeichen von 
leichten Arsenintoxikationen gesehen. Im übrigen haben 
wir außer dem oben erwähnten Fall noch fünf Fälle 
vulgärer Syphilis auf Wunsch der Patienten be¬ 
handelt (Dosen 0,3 und 0,4), die sich in bezug auf 
klinischen Verlauf nicht von den in anderen Mit¬ 
teilungen beschriebenen Erfolgen unterscheiden. Die 
Erscheinungen in den beiden letzten Fällen, ver¬ 
bunden mit dem Nachweis, daß das As nicht so 
schnell wie ursprünglich angenommen wurde, zur 
Ausscheidung kommt, veranlaßten uns, von einer 
weiteren Verwendung des Mittels in regulären 
Syphilisfällen zunächst abzusehen und es zu reser¬ 
vieren für die seltenen der Hg- und Jodtherapie 
gegenüber refraktären Fälle. 


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September 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


415 


wie dies auch klinisch trotz der Verwendung 
höherer Dosen festgestellt ist und vermehrt 
die Gefahr einer Intoxikation bei wiederholter 
Behandlung. Diese Deponierung unver¬ 
brauchten Arsens tritt allerdings, wie die 
Befunde von Ph. Fischer und Hoppe 
gezeigt haben, auch bei Verwendung der 
Lösung ein; auch hier liegt also die Ge¬ 
fahr einer Summation von As im Organis¬ 
mus vor, eine Gefahr, die gegenüber den 
unlöslichen Quecksilbersalzen ungleich 
größer ist, da wir letzteres in möglichst 
kleinen Dosen, das Hata 606 aber nach 
den Alt sehen Angaben in Mengen geben, 
deren Steigerung aus Gründen der Toxizität 
nicht ratsam erscheint Die intravenöse 
Einverleibung wird besonders von Alt 
empfohlen, andere, in erster Linie Michae¬ 
lis, bekennen sich mehr zur Anwendung 
der Suspension, da dadurch eine länger 
andauernde Wirkung erzielt werden kann. 
Bei der intravenösen Injektion sind bisher 
zwei Todesfälle bekannt geworden; über 
den einen berichtet Iversen bei einer 
rekurrenzkranken Frau nach bei einer 
Dosis von 0,3. Es trat eine akute 
Nephritis mit hämorrhagischem Exanthem 
auf, die Sektion ergab Arteriosklerose, 
Myokarditis und andere (schon vorher be¬ 
stehende) grobe Veränderungen lebens¬ 
wichtiger Organe. Im übrigen hält Iver¬ 
sen den Eingriff für unbedenklich und sah 
nur 2—3 Stunden nach der Injektion halb¬ 
stündige Schüttelfröste und in einzelnen 
Fällen Erbrechen und Durchfall. Fränkel 
und Grouven erlebten bei einem auf 
syphilitischer Basis seit Jahren mit schweren 
Sprachstörungen, Worttaubheit usw. er¬ 
krankten Patienten l U Stunde nach er¬ 
folgter intravenöser Injektion von 0,4 mit 
15 ccm Wasser verdünnter Hatalösung 
eine typische Arsenvergiftung, der der 
Patient nach 37s Stunden erlag. Die 
Autoren ziehen daraus den Schluß, weitere 
intravenöse Einspritzungen von Hata zu 
unterlassen und glauben, daß die Mehr¬ 
zahl der Aerzte den gleichen Weg 
einschlagen wird. Einen weiteren Todes¬ 
fall nach 0,3 in saurer Lösung erwähnt 
Hoffmann 1 ). Derselbe Autor hat ferner 
nach der gleichen Dosis eine zentrale em- 
bolische Pneumonie durch verschleppten 
Trombus aus der Glutäalmuskulatur mit 
bedrohlicher Herzschwäche und in zwei 
weiteren Fällen nicht unbedenkliche Stö¬ 
rungen der Herztätigkeit (Pulsbeschleuni¬ 
gung, geringe Verbreiterung nach rechts, 
systolisches Geräusch) beobachtet. Mit 

*) Einen weiteren Spiethoff nach 0,5 bei einer 
äußerst unterernährten, anämischen Person. 


diesen Befunden stimmen die Alt sehen 
Bemerkungen über die nicht ungiftige 
saure Lösung des Medikamentes überein. 
Auch Bonhöffer referierte in der Schle¬ 
sischen Gesellschaft für vaterländische 
Kultur am 29. Juli 1910 über zwei unan¬ 
genehme Zufälle. Nach einer Injektion der 
neutralen Suspension traten bei einem 
Kranken mit frischer, lOMonate bestehender 
spinaler Syphilis, der zurzeit der Einspritz¬ 
ung nur noch eine Parese der Beine hatte, 
während eine früher bestehende totale Blasen 
lähmung geschwunden war und die spontane 
Urinentleerung gut vor sich ging, zunächst 
starke, drei Tage dauernde Schmerzen auf, 
dazu eine vollkommene Blasenlähmung und 
eine Verstärkung der Lähmungserscheinun¬ 
gen an den Beinen. Ferner stellte sich 
bei einem Paralytiker zwei Stunden nach 
der Injektion unter hohem Fieber (39,4°) 
ein schwerer epileptischer Anfall mit resi- 
duärer linksseitiger Hemianopsie usw. ein; 
Bonhöffer läßt hier die Frage offen, ob 
es sich um einen einfachen paralytischen An¬ 
fall oder um eine Embolie handelt. Hauck 
sah noch 0,3 nach Altschem Verfahren 
applicirter Dosis stundenlange Somnolenz 
und starke Störungen der Herztätigkeit. Von 
anderer Seite werden stürmische Allgemein¬ 
infektionen bei bereits bestehenden bakte- 
ridschen Infektionen mitgeteilt. Loeb und 
Glück sahen je einen Abort nach der In¬ 
jektion, während sonst im allgemeinen Gra¬ 
vide die Behandlung gut zu vertragen 
scheinen. Drei Peronäusparesen, von denen 
Wechselmann berichtet, sind wohl auf 
direkte Schädigung des Ischiadikus durch 
die intraglutäale Injektion und das kon¬ 
sekutive Infiltrat zurückzuffchren, obgleich 
meines Wissens etwas derartiges bei den 
ebenso angewandten, unlöslichen Hg-Salzen 
bisher nicht beobachtet wurde. (Extensoren¬ 
lähmung bei Asintoxikation?) 

Schließlich berichteten Bohac und So- 
botka über folgende in drei (von 14) be¬ 
handelten Fällen beobachtete Symptome: 
Harnverhaltung, in einem Falle von langer 
Dauer, Fehlen der Patellarreflexe und einer 
ganzen Reihe der gewöhnlich geprüften 
Reflexe, ausgesprochene Mastdarmtenesmen. 
Die Verfasser glauben, daß das beschriebene 
recht ernst zu nehmende Krankheitsbild 
Berührungspunkte mit Symptomen der 
Atoxylvergiftung aufweist. Zu diesen Fällen 
hat alsbald Ehrlich selbst Stellung ge¬ 
nommen; unter Hinweis auf die zahlreichen 
Injektionen, in denen ein ähnlicher Sym- 
ptomenkomplex nie beobachtet wurde, 
glaubt er, daß die beobachteten Störungen 
nicht mit dem Präparat 606 zusammen- 


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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


September 


hängen, vielmehr dürfte es sich um Fehler¬ 
quellen bei der Herstellung oder um Methyl¬ 
alkoholvergiftungssymptome handeln. Die 
Deutung der Fälle ist demnach nicht klar. 
Sie mahnen aber in bezug auf die Be¬ 
nutzung der metylalkoholgelösten Substanz 
zur Vorsicht, auch Alt verwirft diesen 
Modus der Solution. Immerhin kann man 
die Anschauung der Autoren, daß das 
Mittel auf das Zentralnervensystem, beson¬ 
ders aufs Rückenmark, gelegentlich schädi¬ 
gend wirkt, nach diesen und einigen an¬ 
deren Beobachtungen (vergleiche den Bon- 
höfferschen Fall und einen Fall von Harn¬ 
verhaltung bei Herxheimer) nicht apriori 
von der Hand weisen. Diese Beobachtun¬ 
gen scheinen deshalb wichtig, weil bekannt¬ 
lich auch das syphilitische Virus eines der 
schwersten Infektionsnervengifte darstellt, 
ein Umstand, dem ja die Syphilis ihre 
düstere Prognose hauptsächlich verdankt. 
Und es ist vielleicht nicht ganz unberech¬ 
tigt, die Frage zur Diskussion zu stellen, 
ob nicht nach der Richtung der Tabes und 
Paralyse die Inkorporierung eines so wirk¬ 
samen und zweifellos auch Beziehungen 
zum Nervensystem aufweisenden Arsenprä¬ 
parates in einem syphilitischen Organismus 
prädisponierend wirken kann. Wird doch 
auch dem Quecksilber von mancher Seite, 
wie ich allerdings glaube, bisher ohne strin¬ 
genten Beweis, dieser Vorwurf gemacht. 

Symptome einer leichten Arsenvergiftung 
sah auch W. Pick in einer Reihe von 
Fällen und wenn sie ihm auch nicht be¬ 
drohlich schienen, so rät er doch zur Vor¬ 
sicht bei der Anwendung höherer Dosen. 
In einer Reihe von Fällen wurden Arznei¬ 
exantheme beobachtet. Bei der Untersuchung 
des Blutbildes zeigt sich fast regelmäßig 
eine beträchtliche Leukozythose. 

Uebereinstimmend wird angegeben, daß 
bisher Störungen des Sehnerven in keinem 
Falle beobachtet wurden. 

Gegenüber diesen ernsten Nebenerschei¬ 
nungen treten die anscheinend unter Um¬ 
ständen doch recht intensiven schmerz¬ 
haften Infiltratbildungen und subjektiven Be¬ 
schwerden durchaus zurück. Ein klares Ur¬ 
teil über die beste Applikationsmethode läßt 
sich zurzeit deshalb noch nicht geben, weil 
in den vorliegenden Berichten die diesbezüg¬ 
lichen Angaben noch zuwidersprechend sind. 

Naturgemäß beschäftigen sich alle Be¬ 
obachter auch mit der Einwirkung der 
neuen Therapie auf die Wassermannsche 
Reaktion; ihr Schwinden bei Paralytikern 
war ja für Alt ein Hauptanhaltspunkt, das 
Präparat als Antisyphilitikum der Prüfung 
zu empfehlen. Vorweg möchte ich »be- | 


merken, daß anscheinend immer noch eine 
ganze Reihe von Autoren dieser Reaktion 
als Kriterium für eine erfolgreiche Therapie 
eine übertriebene Schätzung einräumt. Ein 
negativer Wassermann ist durchaus nicht, 
wie z. B. Iversen annimmt, ein sicherer 
Beweis, daß eine Heilwirkung erzielt wurde. 
Dies ist schon hundertfältig bewiesen und 
ein Verhalten der Reaktion, wie sie Hoff¬ 
mann bei seinem dritten Fall (Med. Klinik 
Nr. 33, S. 1292) beschreibt, ist wieder ein 
eklatantes Beispiel für diese unsere An¬ 
schauung. Nun gar aus dem Negativwerden 
oder -bleiben der Reaktion in der Primär¬ 
periode und dem vorläufigen Ausbleiben 
eines Exanthems auf die Wahrscheinlich¬ 
keit einer definitiven Heilung zu schließen, 
erscheint völlig unstatthaft; auch unter früh 
ein geleiteten Hg-Kuren schwindet oft die 
Reaktion, ohne daß dadurch auch nur die 
geringste Gewähr für eine Sanatio com- 
pleta geboten wäre. Während man nun 
nach den ersten Berichten annehmen konnte, 
daß die Mehrzahl der Fälle nach Ablaut 
einer gewissen Zeit negativ reagieren wür¬ 
den, ist dies durch spätere Untersuchungen 
wieder außerordentlich in Frage gestellt. 

Ziehen wir das Resümee aus den vor¬ 
liegenden Befunden, so kann man zur¬ 
zeit nur sagen, daß es Ehrlich gelungen 
ist, in seinem Präparat 606 ein Mittel zu 
schaffen, dem eine außerordentlich inten¬ 
sive Wirkung auf viele luetische Prozesse 
innewohnt. Eine definitive Heilung im 
Sinne einer Therapia magna sterilisans ist 
— das beweisen die Rezidive — nicht er¬ 
reicht. Darin liegt aber auch gar nicht 
der Kernpunkt seiner Bedeutung, vielmehr 
handelt es sich darum, ob wir in ihm ein 
dem Quecksilber und dem Jod klinisch 
überlegenes und zugleich ungiftigeres Me¬ 
dikament sehen können. 

Im allgemeinen kann man sagen, daß 
das Mittel in seiner Wirksamkeit im Durch¬ 
schnitt mit dem stärksten Hg-Präparat, dem 
Kalomel, in Analogie zu setzen ist. Hier¬ 
auf weisen auch die Herxheim ersehen 
Parallelversuche mit Kalomel und Hata hin, 
mit dem Ergebnis, daß etwa 2 Kalomel- 
injektionen einer Hataspritze entsprechen. 
Des Weiteren ergibt sich in Bezug auf 
diesen Punkt allem Anschein nach, daß 
vereinzelte Fälle, die nicht auf Kalomel 
reagieren dem neuen Präparat zugänglich 
sind. Andererseits hat es schon jetzt fast den 
Anschein, als wenn die Nervensyphilis, für 
die gerade das Kalomel ein vorzügliches 
Mittel darstellt, von dem Ehrlichschen 
Mittel gelegentlich in günstigen, wohl auch 
dem Kalomel zugänglichen Fällen, gut be- 


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September 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


417 


einflußt wird, während auf die Mehrzahl 
der Fälle keine oder eine ungünstige Wir¬ 
kung auftritt. Außerdem entsteht aber auch 
der Eindruck, daß häufig bei papulösen 
Frühsyphiliden das Kalomel dem Hata über¬ 
legen ist. Man würde also mit 2—3 Kalomel- 
spritzen im allgemeinen ähnliches, gelegent¬ 
lich besseres und seltener schlechteres er¬ 
reichen. Wobei noch zu bemerken ist, daß 
das in kleinen Dosen verwandte Kalomel, 
wenn auch sicher different, doch nach den 
bisherigen Mitteilungen für das Nerven¬ 
system ungleich unschädlicher ist. Ueber- 
dies würde es keinem Syphidologen ein¬ 
fallen jeden regulären auf Hg normal 
reagierenden Luesfall mit Kalomel zu be¬ 
handeln. Von diesem Gesichtspunkt aus 
werden wir bei dem zeitigen Stand der 
Erfahrung das Ehrlichsche Präparat für 


solche seltenen Fälle der Lues reservieren, 
bei denen jede Hg- und Jodtherapie er¬ 
folglos bleibt. 

Erst eine über Jahre fortgesetzte kritische 
Prüfung kann seinen Wert sicherstellen. 
Es wird sich fragen, ob sich zur Erzielung 
noch besserer Erfolge eine mehr der 
Syphilistherapie angepaßte, kurenmäßige 
Darreichung des Präparates erreichen 
und ob eine weitere Entgiftung sich er¬ 
möglichen läßt. Schon jetzt macht sich 
eine Neigung der Autoren geltend, die 
Dosierung erheblich zu steigern, hierdurch 
und durch die wiederholte Anwendung er¬ 
gibt sich die Möglichkeit von Gefahren, 
die uns die größte Vorsicht zur Pflicht 
machen. — Das alte nil nocere muß auch 
hier der erste Grundsatz unseres ärztlichen 
Handelns sein. 


Bücherbesprechungen. 


Otto Veraguth. Neurasthenie. Eine 
Skizze. tferlm 1910, J. Springer. 

Der den Lesern der Zeitschrift (vergl. 
Jahrgang 1905) schon bekannte Nerven¬ 
arzt versucht in diesem 150 Seiten starken 
Aufsatz die wesentlichsten Punkte im Bilde 
der Neurasthenie darzustellen und insbe¬ 
sondere der psycho-pathologischen Frage¬ 
stellung neue Anregungen zu geben. Ver¬ 
fasser faßt die Erscheinungen dieser Krank¬ 
heit als pathologische Korrelate von Ge¬ 
schehnissen der normalen Physiologie des 
Neurones auf. Ausgehend von den Gold¬ 
scheid ersehen Untersuchungen (die Be¬ 
deutung der Reize für Pathologie und 
Therapie im Lichte der Neuronenlehre 
1898) führt der Verfasser in die von 
Goldscheider schon betonte Variabilität 
des Neurongesamtzustandes nach dem 
Vorgänge von Mott, Tschermak, die 
drei Einzelkomponenten des Neuro- oder 
Psychotonus ein, Unterschwelligkeit oder 
Hypotonus, das Optimum und den Hyper¬ 
tonus, die Ueberschwelligkeit. Der Begriff 
Asthenie wird in Tonusstörung übergeführt; 
gestört sind Aufnahme-, Leitungs-, Denk- 
und Ausstrahl fähigkeit (pouvoir emissiv) 
der Neurone. Wichtig sind die Gemüts¬ 
bewegungen für die Entstehung der Krank¬ 
heit: Erinnerungen, Vorstellungen, gefühls¬ 
betonte Komplexe (Bleuler), insbesondere 
in Zeiten physiologischer Krisen oder bei 
katastrophalen Erlebnissen, ferner die 
Dauertraumen; Liebe, Ehe, schlecht ge¬ 
ratene Kinder, Macht-, Geld-Gier, Ehrgeiz. 
Auch auf die affektiven „Zacken* des 
Unterbewußtseins, welche in unsere Vor¬ 
stellungen hineinragen und das seelische 


Gleichgewicht bedrohen, legt Verfasser 
mit Dubois großen Wert, lehnt aber die 
Uebertreibungen der Freud sehen Schule 
ab. Der Neurastheniker kann allein unter 
unserer Führung lernen, diese krank¬ 
machenden unterbewußten Komplexe selbst 
auszugraben und zu beseitigen; der Hyste¬ 
riker formiert sie sich selbst („Alethie*), 
vermag sie aber nicht auf logischem Wege 
oder selbständig zu entfernen. Strukturelle, 
ererbte Dauereigentümlichkeiten derNerven- 
elemente gibt auch Verfasser zu, will sie 
aber bedeutend eingeschränkt wissen auf 
Keimvergiftung durch Alkohol und Lues. 

(Hier wäre wohl auch der geistvollen, 
nur etwas verschnörkelten Theorie eines 
Ooutsiders, des Müncheners Georg Hirth 
und seiner „eiblichen Entlastung* zu ge- 
gedenken. Ref.) 

Ais ursächliche Momente erörtert Ver¬ 
fasser weiterhin abnorme Gefäßverhältnisse, 
Stoffwechselgifte. In einer relativen Wehr¬ 
losigkeit gegen schädigende Reize sieht 
Verfasser das Charakteristikum der Neur¬ 
asthenie. 

In dem Abschnitt II werden die sub I 
neu gewonnenen Erkenntnisse auf die 
Differentialdiagnose der Neurasthenie an¬ 
gewandt. Unter anderem betont Verfasser 
die Umkehrung der Leistungskurve während 
des Tages als deutlichstes Stigma der 
Neurasthenie. Der Abschnitt III enthält 
die Therapie, auch diese in pointillierender 
und lasirender Form; zuweilen von des 
Gedankens Blässe allzusehr angekränkelt. 
Es gehört schon ein eigener fester Stand¬ 
punkt dazu, um in diesem „Mare nervosum“ 
das Steuer nicht zu verlieren. Im übrigen 

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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


September 


klinisch sehr interessanter Beobachtungen 
anderer Art Hans Hirschfeld (Berlin), 
v. Hansemann, Atlas der bösartigen 
Geschwülste. 53 Seiten Text und 140 
bunte lithographierte Abbildungen. Berlin 
1910, Hirschwald. 9 M. 

Trotz der Arbeiten der Institute für 
Krebsforschung ist die einzige aussichts¬ 
reiche Behandlung der bösartigen Ge¬ 
schwülste immer noch die Operation. Aber 
nur die frühzeitige. Dazu gehört eine frühe 
Diagnose. Das erfordert wieder, daß der 
behandelnde Arzt eine histologische Unter¬ 
suchung in zweifelhaften Fällen vornehmen 
kann. Um ihm die Deutung des mikro¬ 
skopischen Bildes zu erleichtern, wurde 
der vorliegende Atlas im Aufträge des 
deutschen Zentralkomitees für Krebs¬ 
forschung herausgegeben. Er gibt keine 
Raritäten, sondern nur typische Fälle 
heiten schon so viel gearbeitet worden ist, wieder, auch nur Präparate, die mit ein¬ 
harren noch viele Fragen der Aufklärung, fachen Methoden behandelt sind. Die Aus- 
Der interessante Beitrag, den Bennecke wähl der durchweg vorzüglichen Abbildun- 
hierzu liefert, kommt zu bemerkenswerten gen ist sehr glücklich getroffen. Die Wie- 
Ergebnissen. Nach seinen Feststellungen dergabe der Präparate ist möglichst natur¬ 
verläuft die unkomplizierte Diphtherie ohne getreu ohne Schematisieren. Der Atlas ist 
oder nur mit geringer Hyperleukozytose, ein ausgezeichnetes Hilfsmittel für die 
erst wenn eine Mischinfektion, wie in den mikroskopische Diagnose der einschlägigen 
meisten Fällen, hinzutritt, kommt es zu er- Fälle und kann jedem Praktiker und Stu- 
heblichen Vermehrungen der Leukozyten, dierenden, die sich für das Thema inter- 
Das wechselnde Verhalten derselben bei essieren, nur warm empfohlen werden. Der 
Diphtherie war schon öfter aufgefallen, Preis ist für das Gebotene klein, 
doch fehlten bisher kontrollierende bak- Zur Fixierung der Präparate, soweit sie 
teriologische Untersuchungen, wie sie Ben- nicht frisch untersucht werden, empfiehlt 
necke ausgeführt hat. Er behauptet nun, Hansemann Alkohol, der auch durch de- 
daß auch bei der unkomplizierten Skarla- naturierten Spiritus ersetzt werden kann, 
tinakeine Hyperleukozytose besteht, sondern oder konzentrierte Sublimatlösung, warnt 
erst dadurch zustande kommt, daß eine aber vor Formalin. Die beste Einbettungs- 
Sekundärinfektion (meist mit Streptokokken) methode ist die in Paraffin; Zelloidin ist 
hinzutritt, die nun gerade bei dieser In- gut, dauert aber zu lange; Gefrierschnitte 
fektion niemals ausbleibt. Hauptsächlich sind sehr häufig unzulänglich. Die Probe¬ 
sind es Analogieschlüsse, besonders auf exzision soll der Peripherie der Geschwulst 
Grund der Vorgänge bei der Variola, die entnommen werden. Zur Färbung emp- 
Bennecke zu seiner Hypothese führen, pfiehlt sich Hämatoxylin-Eosin, zur Auf- 
Die Untersuchungen des Verfassers, die hellung Origanonöl. Die Technik zur Her- 
also zum Teil zu Resultaten geführt haben, Stellung der Präparate ist eingehend und 
die von bisher geltenden Anschauungen mit besonderer Betonung der für den Prak- 
abweichen, verdienen jedenfalls nachgeprüft tiker in Betracht kommenden Methoden 
zu werden. Die Arbeit enthält auch eine Reihe dargestellt. Klink. 

Referate. 

Hannes (aus der Küstnersehen Klinik Sicherheit erkennen, ob das Badewasser, 
in Breslau) hat interessante Versuche an- das ja zweifellos eine Bakterienaufschwem- 
gestellt, um die Frage zu lösen, ob das mung darstellt, bis zum Scheidengewölbe 
Bad als eine Infektionsquelle zu be- vordringt. Die Versuche Hannes’ an 
trachten ist. Bisherige Beobachtungen an Schwangeren — dem Bade waren Prodi- 
Schwangeren, teils auf einer chemischen giosuskulturen zugesetzt — ergaben bei 
Farbreaktion beruhend, teils auf einer bak- Entnahme tief aus der Scheide sämtlich ein 
teriologischen Methode, ließen nicht mit negatives Resultat. Die Entnahme wurde 


glaubt Referent — und auf ein „Credo 11 
kommt es in dieser Krankheit allenthalben 
und in letztem Grunde an —, daß die 
Wahrscheinlichkeit der Lösung von Ur¬ 
sprung und Quell der Neurasthenie nicht 
in psychologischen, noch so fein und tief 
verankerten Vorgängen gegeben ist, son¬ 
dern in der biochemischen Aufklärung 
der Nervenerregung. Hier scheinen dem 
Referenten die Forschungen über die 
Lipoide von H. Meyer-Overton, Ver- 
worn-Bürker (Münch, med. Wochenschr. 
1910, Nr. 27) Erfolg zu versprechen. 

B. Laquer (Wiesbaden). 
H. Bennecke (Jena): Die Leukozytose 
bei Scharlach und anderen Misch¬ 
infektionen. Jena, Gustav Fischer, 
1909. 80 Seiten. 

Obwohl auf dem Gebiete der Leuko¬ 
zytenveränderungen bei Infektionskrank- 


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September 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


419 


in subtiler Weise mit dem Men gesehen 
Scheidenlöffel vorgenommen. Trotzdem 
liegt natürlich die Möglichkeit des Eindrin¬ 
gens von Keimen vor und wenn diese Mög¬ 
lichkeit besteht, ist die Frage zu erörtern, 
ob nicht das Reinigungsbad der Kreißenden 
völlig zu verwerfen sei. Hannes hat, da 
die Verhältnisse bei Schwangeren anders 
liegen als bei Kreißenden, auch bei letz¬ 
teren Versuche mit Prodigiosuskulturen an¬ 
gestellt; selbstverständlich mußte die Blase 
noch stehen (nach dem Blasensprunge wer¬ 
den Oberhaupt keine Bäder verabreicht), 
der Muttermund war drei- bis fünfmark¬ 
stackgroß und der Kopf durfte nicht fest 
in das Becken gepreßt sein — es kamen 
also nur Mehrgebärende in Frage, bei 
denen natQrlich auf guten Schluß der Vulva 
und hohen Damm Wert gelegt wurde. 
Durch Hannes’ Versuche muß es nun als 
erwiesen gelten, daß in der Eröffnungs¬ 
periode Badewasser und die in ihm ent¬ 
haltenen Mikroben in höher gelegene Ab¬ 
schnitte der Vagina eindringen können. 
Ob nun diese Gefahr praktisch von großem 
Wert ist, hängt von der Beschaffenheit der 
betreffenden Gebäranstalt ab; Untersuchung 
der Kreißenden auf Hautafiektionen, gründ¬ 
liche Reinigung der möglichst zahlreich 
vorhandenen Wannen sind von Bedeutung. 
Gerade die Hände der Kreißenden sind 
Träger septischen Schmutzes und man 
lasse die Kreißende sich nicht selbst im 
Badewasser ab waschen. Nach Hannes ist 
es am zweckmäßigsten, das Reinigungsbad 
aufzugeben und an seine Stelle das Ab¬ 
waschen unter der Dusche oder auf einer 
Pritsche mit fließendem Wasser zu setzen. 
Das Wartepersonal sollte dabei Gummi¬ 
handschuhe tragen. P. Meyer. 

(Ztschr. f. Geb. u. Gyn. Bd. 66.) 

Schon lange suchte man nach einer 
Methode, bei großen Beckenoperationen 
unter künstlicher Blutleere operieren zu 
können. Einen gangbaren Weg scheint 
hier die Momburgsche Methode zu zeigen. 
Sie beruht darauf, zwischen Rippenbogen 
und Darmbeinkamm einen dicken Gummi¬ 
schlauch 2—4mal um den Leib zu wickeln, 
bis der Puls in der A. femoralis verschwin¬ 
det. Man sucht mit dem Schlauch die 
Aorta zu komprimieren. Um eine absolute 
Blutleere am Becken zu erzielen, sollen die 
Beine von den Zehen her elastisch ein¬ 
gewickelt werden, bis sie blutleer sind. 
Nach Umlegung des Schlauches um den 
Leib werden dann die Binden um die Beine 
gelöst und die Beine tief, der Kopf hoch¬ 
gelagert. Dadurch fließt das Blut aus dem 
Becken in die blutleeren Beine, dessen 


Rückfluß durch abschnürende Binden an 
beiden Oberschenkeln verhindert wird. Um 
bei Abnahme des Schlauches vom Leib 
durch plötzliche Einschaltung der ganzen 
unteren Körperhälfte in den Kreislauf eine 
Schädigung des Herzens zu vermeiden, soll 
man an Oberschenkel und Unterschenkel 
vorher eine abschnürende Binde anlegen 
und durch deren Lösung die Beine wieder 
allmählich einschalten. Man kann so eine 
gute Blutleere erzielen, muß allerdings 
manchmal noch auf die Aorta ein Kom- 
pressorium auflegen. Bisweilen werden 
starke Blutdruckschwankungen dabei beob¬ 
achtet, dieselben können auch noch lange 
nach der Abnahme des Schlauches auf- 
treten und gefährlich sein. Der Schlauch 
hebt, wie Leichenversuche gezeigt haben, 
die Blutzirkulation in den Beinen und im 
ganzen Darmkanal auf. Bei Arteriosklerose, 
Herzfehler und schwachem Herzen ist die 
Methode zu widerraten. Auch eine Blasen- 
und Mastdarmlähmung wurde danach be¬ 
obachtet, vermutlich als Folge einer Isch¬ 
ämie des Conus terminalis des Rücken¬ 
marks. Einmal lag der Schlauch 2 Stunden 
20 Minuten ohne Schaden. In einem Falle 
Hofmeisters führte der Schlauch Darm¬ 
gangrän durch Druck mit nachfolgender 
tötlicher Peritonitis herbei. Auch Am¬ 
berger hat einen Fall angeführt, wo die 
Momburgsche Methode zum Tode führte, 
wie er annimmt infolge von Stauungs¬ 
erscheinungen in den Brustorganen. Die 
Kranke Hofmeisters war sehr mager und 
elend. Die Momburgsche Methode darf 
nur bei ganz Herzgesunden und nicht zu 
elenden Kranken angewandt werden, nicht 
bei alten Leuten und Arteriosklerose. Bei 
zu fettreichen Leuten, bei denen trotz kräf¬ 
tiger Abschnürung kein Verschwinden des 
Femoralispulses zu erreichen ist, ist die 
Abschnürung der unteren Körperhälfte 
nicht anwendbar, da die Gefahr der Ver¬ 
blutung in die unvollkommen abgeschnürte 
Körperhälfte besteht Bei sehr mageren 
Personen und bei Darmerkrankungen (ulze- 
rative, chronisch entzündliche Prozesse 
usw.) ist die Methode auch verboten wegen 
der Gefahr schwerer Darmschädigung durch 
Druckwirkung des Schlauches. Nach den 
bisherigen Erfahrungen ist die Methode 
auf die Fälle zu beschränken, wo eine un¬ 
vermeidliche Operation ohne Blutleere zu 
gefährlich oder unmöglich ist. Klink. 

(v. Bruns Beitr. z. klin. Chir. 1910, Bd. 68, Nr. 2.) 

Aus der Abteilung von Braun (Zwickau) 
wird die Blunksche Blutgefäßklemme 
warm empfohlen. Jedes Instrument, das 
eine dauernde und zuverlässige Blutstillung 

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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


September 


ohne Unterbindung erlaubt, verdient wei¬ 
teste Anwendung; und hier scheint es sich 
um ein solches zu handeln. Das Instru¬ 
ment gleicht einer stark gebogenenCooper¬ 
sehen Schere, deren sehr kurze Branchen 
stumpf und auf der Innenseite stumpf ge¬ 
zahnt sind; sie wird in drei verschiedenen 
Größen für kleine, mittlere und große Ge¬ 
fäße und in einer kürzeren und längeren 
Form gefertigt. Jede ist für 7,50 M. von 
Rudolf Blunk (Hamburg) zu beziehen. 
Auch bei recht starken Arterien ist nach 
der Durchtrennung ein spontaner Ver¬ 
schluß möglich, ja die Regel, wenn die 
Durchtrennung nicht durch einen scharfen 
Schnitt, sondern durch eine Quetschung 
oder Zerreißung erfolgt, da dann die Rän¬ 
der der Gefäßwunde sich einrollen und 
das durch Kontraktion verengte Lumen 
schließen. Die Klemme bewirkt einen Ge¬ 
fäßverschluß nicht durch starken Druck, 
sondern durch Aufrollen der inneren Ge¬ 
fäßhäute in das Gefäßlumen, ist also ein 
im Prinzip ganz anderes Instrument als die 
Angiotriptoren. Die Adventitia wird fest 
aufeinander gepreßt; die Intima und Mus¬ 
kularis wird durchquetscht und distal und 
proximal zu zwei Pfröpfen aufgerollt, die 
das Lumen verschließen; die Trennung der 
Schichten erfolgt zwischen Adventitia und 
Media. Die Blutstillung erfolgte an den 
Arterien immer sicher, einmal sogar an 
der Aorta femoralis, an den größeren Venen 
weniger sicher. Die Klemme wird ge¬ 
schlossen und sofort wieder langsam ab¬ 
genommen. So wurde eine Kleinhirnope¬ 
ration ohne Unterbindung und ohne Blut¬ 
verlust ausgeführt. Besonders an den Ge¬ 
fäßen der Pia, wo sich Unterbindungen 
meist nicht anlegen lassen, hat sich die 
Klemme sehr bewährt. Auch die venöse 
Blutung bei Tracheotomie läßt sich schnell 
stillen. Eine große Thorakoplastik erfor¬ 
derte nur drei Umstechungen, Blutungen 
der Magenwand lassen sich schnell stillen, 
bei Nierenoperationen bewährte sich die 
Klemme sehr; bei Blutungen aus den 
Schwellkörpern versagte sie. Die Klemme 
kann an isolierten Gefäßen und an kleinen, 
gefäßhaltigen Gewebsbündeln angelegt wer¬ 
den. Atheromatöse und verkalkte Gefäße 
schließen die Verwendung der Klemme aus. 

Klink. 

(v. Bruns Beitr. z. kl. Chir. Bd. 68, H. 3.) 

Zur Frage der Darmblutung bei Peri¬ 
typhlitis bringt C. A. Ewald einen bereits 
früner von ihm mitgeteilten Fall in Erinne¬ 
rung, wo bei einem gelegentlich an Magen¬ 
beschwerden leidenden Mann plötzlich eine 
nur im Anfang Fieber machende, diffuse 


Peritonitis mit Blutbrechen und schwarzen 
Stuhlgängen einsetzte. Unter der Diagnose 
„perforiertes Magen- oder Duodenal¬ 
geschwür“ ging Patient am sechsten Tage 
seiner Erkrankung zugrunde. Bei der 
Sektion fand sich ein perforierter, gan¬ 
gränöser Wurmfortsatz, aber nirgends in 
der Darmwand eine zur Erklärung der 
schweren Blutung hinreichende Läsion; es 
möchte sich wohl doch um thrombotische 
Vorgänge im Gefäßgebiet des Darmes ge¬ 
handelt haben. Meidner (Berlin). 

(Med. Klinik 1910, Nr. 30.) 

Eine neue Methode des operativen 
Darm Verschlusses wird von Klapps 
empfohlen. Der zu verschließende Darm 
wird am zweckmäßigsten mit einer Quetsch¬ 
zange gequetscht und mit schmaler Darm¬ 
klemme gefaßt; sodann wird der Darm 
knapp an der Klemme mit dem Thermo¬ 
kauter durchtrennt und nun die Klemme 
solange um ihre eigene Achse gedreht, bis 
die Serosafläche der Drehrolle auf der 
Serosa des zuführenden Darmschenkels 
liegt. Jetzt folgt Sersoanaht, die Klemme 
wird auseinander genommen, herausge¬ 
zogen und auch diese Stelle noch durch 
Naht verschlossen. Die Schleimhaut zieht 
sich bei Beginn der Drehung vollständig 
zurück. Die Serosanaht läßt sich, da der 
Darm an der Klemme gut zu halten ist, 
bequem anlegen. Ein nach dieser Methode 
verschlossener Darm hält viel größeren 
Innendruck aus als der durch Lembert- 
sche Naht geschlossene, denn der Druck 
kann nicht auf die Nahtstelle selbst wirken, 
sondern richtet sich gegen die intakte 
Wand des gedrehten Darmstückes; bei Luft- 
und Wasserfüllung des Darms platzte der 
Darm bei gesteigertem Druck nie an der 
Nahtstelle, ln Anwendung kommen dürfte 
das Verfahren nach Klapps Ansicht vor 
allem beim Schluß des Duodenalstumpfes 
bei der Magenresektion nach Billroth II, 
hier ist es auch schon praktisch erprobt; 
ferner ist es schon angewendet bei Dick¬ 
darmresektionen und Appendixoperationen. 

Hohmeier (Altona). 

(D. Z. f. Chir., Bd. 105, H. 5 u. 6.) 

Ueber die Behandlung der hämorrha¬ 
gischen Diathesen verbreitet sich Arns- 
p er ge r in einem klinischen Vortrage. Diese 
Affektionen sind bis zu einem gewissen 
Grade durch die Neigung der betroffenen 
Patienten zu Blutungen charakterisiert. Man 
kann angeborene oder ererbte — die Hämo¬ 
philien im engeren Sinne — und erwor¬ 
bene Formen unterscheiden: Skorbut, Bar- 
lowsche Krankheit, Purpura simplex und 
haemorrhagica, bzw. Morbus maculosus 


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September 


421 


Die Therapie der Gegenwart 1910 


Werlhofi, Pcliosis rheuraatica. Die sympto¬ 
matische, hämorrhagische Diathese schwerer 
Infektions- und Blutkrankheiten, einiger Ver¬ 
giftungen und kachektischer Krebsträger ent¬ 
behrt des Charakters selbstständiger Krank¬ 
heitsbilder. 

Die exquisit erbliche Hämophilie ist 
wahrscheinlich durch Fehlen eines für die 
Blutgerinnung nötigen Stoffes hervor¬ 
gerufen; die skorbutische Gruppe, die sich 
durch endemisches oder gar epidemisches 
Vorkommen auszeichnet, hat ihren Grund 
in Ernährungsanoroalien; die Purpuraerkran¬ 
kungen mit ihrem sporadischen Auftreten 
sind durch Infektion oder Intoxikation ver¬ 
ursacht. 

Die Bekämpfung der Hämophilie erfor¬ 
dert zunächst rassenhygienische und indi¬ 
viduelle Prophylaxe. Diese besteht in Ver¬ 
meidung jeder, auch einer operativen, Ver¬ 
letzung, nicht aber auch der gefahrlosen 
Impfung, reizloser, dabei ausgiebiger Kost 
und diätetischer Regelung des Stuhlganges, 
jene im Heiratsverbot an die meist selbst 
frei bleibenden Mädchen aus Bluterfamilien, 
die für die Uebertragung auf die Nach¬ 
kommenschaft weit mehr in Betracht kom¬ 
men als sogar selbst erkrankte, männliche 
Individuen; vollends kann gesunden Män¬ 
nern mit hämophiler Belastung die Ehe 
unbedenklich gestattet werden. Die Be¬ 
handlung der Bluterkrankheit besteht in der 
Zufuhr gerinnungsbeschleunigender Stoffe: 
Milch, Vegetabilien oder pure Kalksalze, 
die vermutlich die Bildung des Thrombins 
aus dem Prothrombin begünstigen (Calc. 
chlorat.sicc. bis4,0, Calc.lact. bis 6,0täglich); 
leichtere Salina; Menschen- und Tierserum 
(bis 40 ccm monatlich einmal; cave Serum¬ 
krankheit!); Gelatine (30,0 per os, 15,0 per 
clysma täglich), die außer durch ihren Kalk¬ 
gehalt auch noch als artfremde, eiweißartige 
Substanz serumähnlich wirken könnte. Die 
mit einem dieser Mittel erzielte Herab¬ 
setzung der Gerinnungszeit bleibt nach Ab¬ 
bruch der Medikation bestenfalls drei bis 
vier Wochen bestehen; unter Umständen 
kann das genügen und sogar von Wichtig¬ 
keit sein, etwa zur Vorbereitung auf unum¬ 
gängliche Eingriffe. Blutungen von Blutern 
erfordern rasche Anwendung energischer 
Styptika, vor allem auch lokal, daneben 
subkutane Verabreichung körperwarmer, 
steriler Gelatine (M e r c k, 10%, 40,0). Bluter¬ 
gelenke und ihre Folgezustände sind nach 
allgemein-, aber nicht operativ-chirurgischen 
Grundsätzen zu behandeln. 

Skorbut und Barlowsche Krankheit, 
die als infantiler Skorbut aufzufassen ist, 
sind durch vernünftige Ernährung zu ver¬ 


hüten, durch ihren Wechsel zu heilen, be¬ 
sonders die letztere durch Uebergang zu 
Muttermilch oder ungekochter Kuhmilch 
unter Beigabe frischer Früchte oder Frucht¬ 
säfte. ln der diätetischen Behandlung des 
Skorbut spielen frische Gemüse und be¬ 
sonders Zitronensaft die vorzüglichsteRolle. 
Haut- und Zahnfleischpflege, diese ge¬ 
gebenenfalls unter Anwendung von Ad¬ 
stringenden, dürfen nicht vernachlässigt 
werden. Medikamentös kommen Gerbstoffe 
und Bittermittel, sowie die an pflanzen¬ 
sauren Alkalien reiche Herba Cochleariae 
(50,0:300,0 3mal täglich V 2 Weinglas) in 
| Betracht; reine pflanzensaure Alkalien sind 
hingegen nutzlos. Blutungen sind, wie 
unter Hämophilie dargelegt, zu bekämpfen. 

Die Purpuraerkrankungen unterhalten 
ihrer großen Mehrzahl nach offenbar enge 
Beziehungen zum akuten Gelenkrheumatis¬ 
mus. Ihre Neigung zu Blutungen aller Art 
macht deren Vermeidung zur ernsten Pflicht. 
Geistig und körperlich niemals in Anspruch 
genommen, völlig reizlos ernährt, muß der 
Kranke, streng ans Bett gefesselt, dem Ver¬ 
schwinden auf der kleinsten Blutung ent¬ 
gegenharren. Gegen Blutungen geht man, 
wie oben angegeben, nur bei ganz schweren 
mit Adrenalin (0,5—1,0 der 1°/oo Lösung 
subkutan) vor, gegen innere noch je nach 
ihrem Sitz. Bestehende Hautblutungen be¬ 
dürfen bloß schützender Verbände oder 
Polster. Gegen die Krankheit selbst wirken 
reichliche Gaben von Zitronensaft (trotz 
seiner die Gerinnung verlangsamenden 
Eigenschaften!) und Salizyl in allen Formen. 
Gegen hartnäckige Rezidive bedient man 
sich daneben mit Vorteil des Arsens und 
Eisens. Meißner (Berlin). 

(Deutsche med. Wschr. 1910, Nr. 24.) 

Höftmann empfiehlt auf Grund sehr 
günstiger Erfahrungen die Unnaschen 
Zinkleimverbände zur Behandlung der 
Fußgeschw&re. Der Patient muß zunächst 
einige Tage im Bett bleiben bis zur Ab¬ 
schwellung des Beines und bis zur Reini¬ 
gung der Geschwüre. Auf die Wunde 
kommt ein Stück Brandbinde zu liegen, 
dann wird der Zinkleim aufgetragen, mit 
kleinen Wattepartikelchen bedeckt, eine 
Stärkebinde und schließlich eine Mullbinde 
darüber gewickelt Auf die Varizen kommen 
dicke Wattetampons zu liegen, die ähnlich 
einer Venenklappe wirken sollen. Mit der 
Trend elenburgschen Operation hatHöft- 
mann (1. c.) in 69°/o der Fälle Heilung er¬ 
zielt. Bei der Nachuntersuchung hat er 
den Eindruck bekommen, daß Rezidive der 
Varizen sich besonders stark an der Stelle 
der Exzision der Venen ausgebildet hatten. 


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422 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


September 


Für die operationslose Behandlung der 
Varizen hat er einen Apparat konstruiert, 
bei dem durch Pelottendruck auf die Vene 
oberhalb der Kniekehle ein dem Trendelen¬ 
bur g sehen Phänomen analoger Ersatz der 
Venenklappe geschaffen wird. 

Bergemann (Königsberg i. Pr ). 

(Ztschr. f. orthopäd. Chir., Bd. 25, S. 270.) 

Die Perforation der Gallenblase kann 
auf verschiedene Weise nach den Aus¬ 
führungen Härtigs zustande kommen. Eine 
seltenere Form ist folgende: Gallenblase 
stark mit Steinen gefüllt; mindestens ein 
Stein muß vorhanden sein, der sich nicht 
durch den Zystikus treiben läßt; Gries ge¬ 
nügt nicht. Die Kompression muß kurze 
Zeit sehr stark sein oder längere Zeit 
schwach wirken. Es dürfen keine Ver¬ 
wachsungen bestehen. Infektion, schwere 
Störungen der Wand können fehlen. Die 
Prognose dieser Form ist gut wegen des 
Fehlens von eitrigen Prozessen. 2. Viel 
häufiger sind die Perforationen bei geschä¬ 
digter Gallenblasenwand. Hier kann man 
mehrere Grade unterscheiden: Leichte Atro¬ 
phie der Schleimhaut durch Druck eines 
Steines; oberflächliche Ulzera der Mukosa, 
die glatt ausheilen können; größere Ulze* 
rationen meist durch Druckusur oder De- 
kubitalnekrose, die auch mit Narben und 
Schrumpfung heilen können, wobei die 
Steine in die Wand einwachsen und später 
durch trockene Wanderung in andere Ge¬ 
webe gelangen können. Tritt bei diesen 
Formen eine schnelle Perforation ohne 
vorherige Verklebung mit der Nachbar¬ 
schaft ein, so entwickelt sich eine meist 
tötliche allgemeine eitrige Peritonitis. Eine 
3. Art der Perforation hat folgende Vor¬ 
aussetzungen : Zystikusverschluß, Sekret¬ 
stauung als dessen Folge, Rarefizierung 
der Muskulatur am Pole der Gallenblase, 
eine, wenn auch geringfügige Gewaltein¬ 
wirkung oder Lagewechsel. Oder 4.: Zysti¬ 
kusverschluß; Infektion des abgeschlosse¬ 
nen Hohlraums; Virulenzsteigerung der 
Bakterien durch die Verstopfung; Nekrose 
und Perforation der Wand durch die Druck¬ 
steigerung. — Als seltene Form der Per¬ 
foration kommt hinzu die bei diabetischer 
Gangrän der Gallenblase. — Von 30 ope¬ 
rierten Gallenblasenperforationen sind 14 
t= 46,6°/o gestorben. Das entspricht nicht 
den Folgerungen, die Ehrhardt aus Tier¬ 
versuchen gezogen bat, nämlich: Normale 
sterile Galle ruft am Peritoneum keine 
peritonitischen Erscheinungen hervor, da¬ 
gegen Ikterus durch Resorption; infizierte 
Galle bewirkt eine bland verlaufende Pen- 
tonitis, meist ohne Ikterus; der blande 


Verlauf erklärt sich aus einer Virulenz- 
abschwächenden Wirkung der Galle und 
aus der Neigung Gallenperitonitiden zu 
Verklebungen. Klink. 

(v. Bruns Beitr. z. klin. Chir. 1910, Bd. 68, Nr. 2.) 

Ueber den Einfluß von Gelatineinjek- 
11onen (Gelatina sterilisata Merck, 10%. 
subkutan) auf die Blutgerinnungszeit publi¬ 
ziert Grau eine experimentelle Studie. Aus 
sämtlichen Versuchen ergab sich ihm eine 
— bis 85°/o betragende — Herabsetzung, 
die sich auf nicht mehr als 24 Stunden er¬ 
streckt und ihren Gipfel in der 10. bis 
12. Stunde nach der Einverleibung erreicht. 
Als Erklärung läßt er Verschiebungen der 
Konzentration oder der molekularen Zu¬ 
sammensetzung des Blutes nicht gelten, 
sondern beansprucht hierfür vielmehr die 
Empfindlichkeit des Körpers gegen Ein¬ 
führung artfremder, eiweißartiger Sub¬ 
stanzen, wie denn im anaphylaktischen 
Kollaps umgekehrt eine erhebliche Ver¬ 
längerung der Gerinnungszeit des Blutes 
konstatiert sei. Meidner (Berlin). 

(Deutsche med. Wschr. 1910, Nr. 27.) 

Auf die von Cathelin und Sicard 
gefundene und in Frankreich seit 1901 
häufiger geübte Behandlung der Ischias 
mit epiduralen Injektionen macht L. Bl u m 
(Straßburg i. E) aufmerksam, der diese Me¬ 
thode auf der Moritzschen Klinik bei einer 
Anzahl von Kranken angewandt hat und 
ihr eine Reihe von Vorteilen gegenüber 
den gebräuchlicheren perineuralen In 
jektionen zuschreibt. Die epidurale Me¬ 
thode fußt auf der Möglichkeit, ohne Ein¬ 
dringen in den Duralsack auf die Nerven¬ 
wurzeln zu wirken und zwar durch Benutzen 
des Sakralkanals. Der Duralsack reicht 
beim Erwachsenen bis ans untere Ende 
des 1. Sakralwirbels, beim Kinde bis zum 
2. Wirbel. Der Sakralkanal ist ausgefüllt 
von den ziemlich seitlich verlaufenden 
Nerven wurzeln des Plexus sacralis und 
pudendus, von Fettgewebe und zahlreichen 
Venenplexus. Von außen her ist der Kanal 
durch das Foramen sacrale inferius zugäng¬ 
lich, das die Form eines umgekehrten V 
oder U hat, zirka 1 cm breit, 1V* — 2 cm 
hoch ist und oben durch das Ende der 
mittleren Leiste des Sakrum, seitlich durch 
2 Höcker, die Enden der Cristae sacrales 
laterales, begrenzt wird. Zum Auffinden 
der Oeffnung bedient man sich folgender 
Punkte: Verfolgt man durch Tasten mit dem 
Finger die mittlere Sakralleiste von oben 
nach unten, so fällt man plötzlich in eine 
Exkavation, die der Oeffnung entspricht. 
Einen noch konstanteren und deutlicheren 
Anhaltspunkt gewähren die zwei Höcker, 


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September 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


423 


die die Oeffnung seitlich begrenzen. Bei 
mageren Leuten sind sie deutlich durch die 
Haut zu sehen und bei nicht allzu starkem 
Fettpolster sind sie immer gut zu palpieren. 
Am besten zii fühlen sind sie in der Knie¬ 
ellenbogenlage oder in Seitenlage bei starker 
Beugung des Rumpfes und der unteren Ex¬ 
tremitäten. Zur Orientierung kann auch 
das obere Ende der Glutaealfalte dienen; 
im allgemeinen findet sich die Oeffnung 
2 cm höher als dieses Ende. Zu beachten 
ist, daß bei Seitenlage die Oeffnung nicht 
genau median, sondern etwas über der 
Mittellinie liegt — Zum Einstich benutzt 
Blum eine gewöhnliche Rekordspritze von 
10 ccm Inhalt mit einer 6—8 cm langen, 
ziemlich dünnen Nadel. Bei normalen ana¬ 
tomischen Verhältnissen dringt die Nadel 
bei dieser Länge nicht höher als bis zum 
2. Sakralwirbel, wenn sie ganz eingestochen 
wird Beim Erwachsenen beträgt die Ent¬ 
fernung des unteren Endes des Sakral¬ 
kanals von der Oeffnung etwa 6—7 cm 
beim Manne, 6 cm bei der Frau. Bei 
Kindern sind natürlich entsprechend kür¬ 
zere Nadeln zu wählen. Als Injektions¬ 
flüssigkeit wandte Blum anfangs 1 % 
Kokain- oder 4% Stovainlösung, später 
einfache physiologische Kochsalzlösung an; 
es wurden 0,03—0,06 Kokain oder Stovain 
oder 5—10 ccm der Kochsalzlösung ein¬ 
gespritzt. Was die Technik der Injektion 
anlangt, so wird bei den in Knieellenbogen¬ 
oder in Seitenlage (s. oben) befindlichen 
Patienten die Kanüle nach Desinfektion der 
betreffenden Gegend zuerst unter einem 
Winkel von 20° eingeführt, bis das Liga¬ 
ment durchstochen ist (was am plötzlichen 
leichteren Vordringen der Kanüle zu ver¬ 
spüren ist), dann wird horizontal weiter 
vorgegangen. Bevor die Injektion aus¬ 
geführt wird, überzeugt man sich, daß 
eine Vene oder der Lumbalsack nicht an¬ 
gestochen sind; die Flüssigkeit wird dar¬ 
auf langsam injiziert, was ohne allzu 
starkes Drücken gelingen soll. Ist man 
im Sakralkanal drinnen, so geben die Pa¬ 
tienten abnorme Sensationen in den Beinen 
(Ziehen, Schießen) an; außerdem fehlt beim 
Gelingen eine Vorwölbung der Haut, wie 
sie bei subkutaner Injektion eintritt. Die 
Kanüle wird darauf herausgezogen und 
die Stichöffnung mit Kollodium oder Heft¬ 
pflaster verschlossen. Im allgemeinen tut 
man gut, die Kranken auf die Seite zu 
legen, auf der die Ischias besteht. Nach 
der Einspritzung geben die Patienten zu¬ 
weilen Gefühl des Druckes im Kreuz an, 
vor allem bei Verwendung größerer Flüs¬ 
sigkeitsmengen. Die Besserung tritt nach 


Blums Erfahrungen meist sehr rasch auf, 
selten erst nach 24 Stunden. Bei Ischias 
hören zuerst die Schmerzen im Kreuz und 
im Oberschenkel auf. Oefters geben die 
Kranken ein Gefühl von Eingeschlafensein, 
von Kribbeln in den Beinen an. Zuweilen 
werden die Schmerzen im Peroneusgebiet 
anfangs nur wenig beeinflußt. In manchen 
Fällen sind am Tage nach der Injektion 
die Schmerzen etwas stärker, um am fol¬ 
genden Tage nachzulassen. In den meisten 
Fällen jedoch geben die Patienten eine so¬ 
fortige Besserung an; es genügt zuweilen 
eine Injektion, um alle Beschwerden zu be¬ 
seitigen. In anderen hartnäckigen Fällen 
sind mehrere Injektionen nötig, die in Inter¬ 
vallen von 2—3Tagen vorgenommen werden. 

Die epidurale Injektion beeinflußt — 
und das ist ihr Hauptvorzug — außer dem 
Ischiadicus noch andere Nervengebiete; 
sie ist deshalb nicht allein bei Ischias, 
sondern auch bei neuralgischen Schmerzen 
in anderen Nerven der unteren Extremitäten 
anzuwenden. Blum sah sehr günstige und 
rasche Wirkung von der sakralen Injektion 
bei hartnäckigen „Kreuzschmerzen“, 
die der gewöhnlichen Behandlung getrotzt 
hatten. Von französischen Urologen wird 
die epidurale Injektion als das wirksamste 
Mittel zur Behandlung der Enuresis noc- 
tura empfohlen. Felix Klemperer. 

(Münch, med. Woch. 1910, Nr. 32.) 

Zur Frage der Organ Veränderungen 
durch große, subkutane Kochsalz-Infu¬ 
sionen liefert Wideröe einen experimen¬ 
tellen Beitrag. Es ist ihm gelungen, durch 
fortgesetzte Einverleibung physiologischer 
Kochsalzlösung Kaninchen zu töten. Die 
Menge betrug, auf den erwachsenen Men¬ 
schen umgerechnet, etwa 5 1 täglich. Die 
Veränderungen bestanden in dilatiertem, 
schlaffem Herzen mit subendokardialen und 
muskulären Blutungen nebst kleinen gelben, 
endokardialen Streifungen; die Herzge¬ 
wichte waren normal geblieben. 

Meidner (Berlin). 

(Berl. klin. Woch. 1910, Nr. 27.) 

Zu den beobachteten Fällen von Per¬ 
foration von Magengeschwür waren in 
wenigstens 2 /s Magenbeschwerden voraus¬ 
gegangen. Es können aber auch scheinbar 
ganz Gesunde von der Perforation über¬ 
rascht werden. Finsterer (v. Hacker) 
berichtet über 18 neue Fälle. Bluterbrechen 
war nur in zwei Fällen vorausgegangen. 
Die Symptome der Perforation sind fast 
immer dieselben: Unter den verschieden¬ 
sten Umständen (Bettruhe, Aufstehen, bei 
der Arbeit) plötzlicher sehr heftiger Schmerz 
in der Oberbauchgegend, meist in der 


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September 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Magengrube oder um den Nabel, der der¬ 
artig heftig zu sein pflegt, daß der Kranke 
ohnmächtig umfällt. Dieser Schmerz trat 
in allen Fällen auf. Gleichzeitig oder un¬ 
mittelbar nach dem Schmerz trat in % der 
Fälle sicher Erbrechen auf, also entgegen 
der Behauptung Riegels und anderer, daß 
das Erbrechen gewöhnlich fehle. Eines 
der wichtigsten Symptome ist die Bauch¬ 
deckenspannung; sie ist so stark, daß man 
sie an den Inscriptiones tendineae sehen 
kann. Es fand sich bei %, nicht bloß in 
den ersten Stunden, sondern bei schon 
bestehendem Meteorismus, bisweilen bei 
ausgedehnter Peritonitis. Besonders cha¬ 
rakteristisch ist sie, wenn sie auf die Ober¬ 
bauchgegend beschränkt bleibt. Sehr wichtig 
ist der heftige Schmerz bei leiser Berüh¬ 
rung und spontan, bei Magen Perforation 
meist im linken Hypochondrium, bei Duo¬ 
denalperforation im rechten und in der 
Pylorusgegend, sich aber auch nach der 
lleozökalgegend ausbreitend; dieser Schmerz 
ist verschieden von der diffusen Empfind¬ 
lichkeit bei Peritonitis. Der Kollaps nach 
dem ersten Schmerz kann einige Stunden 
dauern und einer geringen Besserung 
weichen. Das Verschwinden der Leber¬ 
dämpfung ließ sich nur 4mal feststellen. 
Eine Flankendämpfung fehlt im ersten Sta¬ 
dium gewöhnlich. Puls und Temperatur 
bieten für Magenperforation nichts Cha¬ 
rakteristisches. Abgang von Stuhl und 
Winden ist von dem Grade der Peritonitis 
abhängig. Die Diagnose ließ sich meistens 
stellen;, die häufigste Verwechslung ist die 
mit Appendizitis; in Betracht kommt noch 
Cholelithiasis, Pancreatitis ac. haemorrha- 
gica, weibliche Genitalerkrankungen; auch 
Verwechslung mit Pleuritis und Pneumonie 
kam vor. Nach den ersten stürmischen 
Erscheinungen und dem Kollaps kann ein 
Stadium relativen Wohlbefindens eintreten 
mit wenig Schmerzen und geringen All¬ 
gemeinsymptomen. Vereinzelte Fälle von 
spontaner Heilung sind bekannt, aber im 
ganzen ist die Prognose ohne Operation 
letal. Die Frühoperation ist unbedingt zu 
verlangen. Von sechs in den ersten zwölf 
Stunden operierten wurden fünf = 83% 
geheilt, fünf zwischen 13 und 24 Stunden 
starben alle, von drei zwischen 25 bis 
48 Stunden wurden zwei geheilt, darüber 
starben alle. Mil es hat noch zwischen 12 
bis 24 Stunden 56% Heilung und 24 bis 
36 Stunden 50% und später 8o/ 0 Heilung 
bei 46 Fällen, v. Hacker hat auch nach 
38 und 48 Stunden noch Heilung erlebt. 
Selbst bei Peritonitis nach vier Tagen und 
massenhafter Jauche wurde noch Heilung 


erzielt mit einfacher Tamponade. Die Ope¬ 
ration ist sofort auszuführen, noch während 
des Kollapses. Zur Narkose ist Aether zu 
nehmen; 2mal wurde Aethylchloridnarkose 
verwandt, 5 mal Lumbalanästhesie. 17 mal 
war die vordere Magen- oder Duodenal¬ 
wand perforiert, davon nur 2mal an der 
großen Kurvatur. Die Oeffnungen waren 
erbsengroß bis 1 % cm groß. Das Ulkus ist 
zu exzidieren oder nur zu Übemähen; in ganz 
verzweifelten Fällen auch nur zu tamponie¬ 
ren; von zwölf tamponierten Fällen der Lite¬ 
ratur wurden elf geheilt. Bei der Naht 
kann eine Netzplombe große Dienste leisten; 
auch Annähen des Magens an die Bauch¬ 
wunde und Einführen eines Rohrs durch 
die Perforation ins Duodenum ist öfter mit 
gutem Erfolg ausgeführt. Die gleichzeitige 
Gastroenterostomie ist nur bei gutem All¬ 
gemeinbefinden erlaubt. Die Bauchhöhle 
ist gründlich durchzuspülen. Sehr zu emp¬ 
fehlen ist hierzu der Luckschsche Apparat. 
Nach der Spülung Drainage. Die genähte 
Perforation ist zu tamponieren; Körte 
schließt demgegenüber die Bauchhöhle 
ganz. In der Nachbehandlung reichlich 
Kochsalzlösung subkutan und per rectum. 
6 mal trat Pneumonie, 2 mal Pleuraempyem 
auf. Klink. 

(v. Bruns Beitr. z. klm. Chir. 1910, Bd. 68, H. 2.) 

Eug. Holländer (Berlin) berichtet 
über einen Fall von fortschreitendem 
Schwund des Fettgewebes und 
seinen kosmetischen Ersatz durch 
Menschenfett. Die 21jährige Patientin 
(Choristin) zeigte ein ungewöhnlich ab¬ 
schreckendes, totenkopfähnliches Gesicht; 
die Augen liegen hohl, die Wangen sind 
tief eingefallen, alle Knochen springen 
deutlich hervor. Am Halse, Rumpf und 
Oberextremitäten dasselbe Bild; die An¬ 
sätze sämtlicher Muskeln und ihr Verlauf 
sind scharf sichtbar, ebenso die Kon¬ 
traktionen der verschiedenen Muskelgrup¬ 
pen. Der ganze Oberkörper stellt sich als 
ein „ideales, Modell des Hautmuskelmen¬ 
schen a für kunstanatomische Zwecke dar; 
dabei sieht die Haut gelb und alt aus. Im 
Gegensatz zu dem greisenhaften welken 
Anblick des Oberkörpers bietet die Pat. 
von den Hüften ab jugendliche volle 
Formen, ja die seitlichen Partien der 
Oberschenkel zeigen Fettansammlungen, 
die als pathologisch (diffuse lipomatöse 
Ablagerungen) anzusehen sind. Im 
übrigen erscheint die Pat. gesund; die 
inneren Organe funktionieren normal, die 
Gl. thyreoidea ist nicht vergrößert, je¬ 
doch nachweisbar, am Nervensystem keine 
wesentliche Veränderung. — Nach der An- 


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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


425 


gäbe der Pat. soll die fortschreitende Ab¬ 
magerung vor 6 Jahren im Anschluß an 
einen großen Schreck (plötzlicher Tod des 
Vaters durch Straßenunfall) begonnen haben 
und zwar zuerst im Gesichte. Die Pat. hat 
sich dabei bis in die letzten Jahre körper¬ 
lich ganz wohl gefühlt; sie leidet aber 
psychisch sehr, da sie infolge der zu¬ 
nehmenden Entstellung ihres Gesichtes 
brotlos geworden ist und sich zuletzt 
kaum mehr auf die Straße wagte. 

Zur symptomatischen Behandlung 
dieses pathologischen Zustandes, der sich 
als eine „hochgradige Atrophie des 
Fettgewebes in der oberen Körper¬ 
hälfte und Ueberfluß an Fettansatz 
an der unteren Hälfte“ darstellt und 
den Trophoneurosen zuzurechnen sein 
dürfte, bediente sich Holländer eines 
eigenartigen Mittels: der subkutanen 
Injektion von*Menschenfett. Hollän¬ 
der hat bei Injektionen von Menschen¬ 
fett , die er zuerst zu Ernährungs¬ 
zwecken bei verhungerten Individuen nach 
Magenoperationen versucht hat, die Be¬ 
obachtung gemacht, daß trotz schneller 
Resorption diffuse Schwellungen zurück¬ 
blieben, die aber in absolutem Gegensatz 
standen zu den tumorartigen Verdickungen 
nach Paraffineinspritzungen. Er hat dann 
mehrfach nach Amputation der Mamma und 
bei eingezogenen an den Rippen adhärenten 
Narben nach deren subkutaner Loslösung 
zu kosmetischen Zwecken die Einspritzung 
von sterilem Fett ausgeführt. Das Men¬ 
schenfett wird ausschließlich durch Ver¬ 
wendung operativ gewonnenen Fettes — 
sei es bei der Entfernung von Lipomen 
oder z. B. von Netzhernien — natürlich 
nur von gesunden Menschen gewonnen. 
Das Fett muß, damit es hellgelb bleibt, in 
kleine Stücke zerschnitten und von allem 
Bindegewebe befreit werden; dann wird 
es drei Stunden im Wasserbade gekocht 
und in einen Krug geschüttet. Am über¬ 
nächsten Tage wird das Fett, welches bei 
Zimmertemperatur flüssig bleibt, von dem 
Satz, der sich doch meist noch bildet, ab¬ 
gegossen und noch einmal aufgekocht. Das 
dann resultierende Fett kann nach Hol¬ 
länder, nachdem die Flaschenöffnung mit 
Papier verschlossen ist, jahrelang aufbewahrt 
werden, ohne zu verderben. Vor dem 
Gebrauch soll es noch einmal aufgekocht 
werden. Das so gewonnene Fett, bei 
Körpertemperatur eingespritzt, läßt sich 
subkutan verstreichen und ist fast ganz 
reizlos; für die kosmetische Verwendung 
hat es nur den einen Nachteil, daß ziem¬ 
lich schnell, innerhalb von Wochen, ein 

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intensiver Abbau erfolgt. Um diesem ent¬ 
gegenzutreten, hat Holländer das Men¬ 
schenfett mit Hammeltalg vermischt. 
Letzterer allein, welcher bei Körper¬ 
temperatur fest ist, bewirkt, wenn er er¬ 
wärmt eingespritzt wird, eine viele Tage 
dauernde reaktive Schwellung, nach deren 
Abklingen eine starre Intumeszenz zurück¬ 
bleibt. Die Mischung von Hammeltalg 
und Menschenfett dagegen, welche bei 
Körpertemperatur eine breiige Konsistenz 
hat, gestattet eine gleichmäßige und un¬ 
starre Unterfütterung der Teile fast ohne 
Reaktion. Mit dieser Mischung nun, die 
sich durch dünne Kanülen ohne besonderen 
Schmerz einführen läßt, hat Holländer 
das ganze Gesicht seiner Patientin aus¬ 
gefüllt. Mit Rücksicht auf das spätere 
Verschwinden der Menschenfettpartikel 
nahm er dabei zunächst eine etwas volumi¬ 
nösere Füllung vor. Das Resultat, das Hol¬ 
länder im photographischen Bilde wieder¬ 
gibt, ist vorläufig ein sehr gutes. Die 
Haut bekam normale Farbe, das Gesicht 
kindlichen Ausdruck; die Pat. hat seit 
Monaten ihren Beruf wieder aufgenommen. 

Es ist nur zu fürchten, daß das mensch¬ 
liche Fett kurz über lang doch resorbiert 
und daß der übrigbleibende Hammeltalg 
durch seine Unebenheiten kosmetisch 
wenig befriedigen wird. 

Felix Klemperer. 

(Münch, med. Woch. 1910, No. 34.) 

Da die neuere klinische Forschung er¬ 
geben hat, daß der Milchzucker häufig die 
Ursache für alimentäre Intoxikationen 
im Kindesalter darstellt, haben Lehndorf 
und Zak die Milch vom Milchzucker 
durch Dialyse zu befreien gesucht. Zirka 
72 1 Milch wird in einen Pergamentbeutel 
gefüllt und dieser in ein Gefäß mit 10 1 
Wasser gehängt. Das Wasser wird bei 
500 C gehalten und jede Stunde gewechselt. 

Zur Milch wird noch 0,1 ccm Perhydrol 
zugesetzt. Nach zirka 4 Stunden ist der 
Milchzuckergehalt auf 50% des ursprüng¬ 
lichen gesunken. Die Erfolge mit einer 
solchen Milch waren sehr befriedigende. 

H. Wiener. 

(Wiener med. Wochenschr. Nr. 33.) 

Die Milzexstirpation bei der myeloiden 
Leukämie galt bisher deshalb für unbe¬ 
dingt kontraindiziert, weil in allen bisher 
bekannt gewordenen Fällen sehr bald nach 
dem Eingriff der Tod eingetreten war. 
Deshalb ist ein von K. Ziegler in der 
medizinischen Sektion der Schlesischen 
Gesellschaft für vaterländische Kultur zu 
Breslau am 17. Juli d. J. vorgestellter Fall 

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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


September 


von Interesse, in welchem nach der Milz¬ 
exstirpation nicht der Tod erfolgte. Aller 
dings wurde dieselbe erst ausgeführt, nach¬ 
dem durch Röntgenbestrahlung die Milz 
wesentlich verkleinert war. Bei der 22 Jahre 
alten Patientin, die 5 Jahre lang beobachtet 
werden konnte, betrug die Leukozytenzahl 
anfangs 300 000 und ging unter Röntgen¬ 
bestrahlung bis auf 12000 herab, während 
sich die Milz schließlich bis zur Untastbar- 
keit verkleinerte. Im Laufe der folgenden 
Jahre traten wiederholt Rezidive ein, welche 
immer wieder durch Röntgenbestrahlung 
beseitigt werden konnten. Schließlich ge¬ 
lang es aber nur die Leukozytenzahl bis 
auf 40000 herabzudrücken. Nunmehr ent¬ 
schloß man sich zur Milzexstirpation, welche 
Ziegler auf Grund theoretischer Deduk¬ 
tionen schon früher bei myeloider Leukämie 
vorgeschlagen hat. Patientin überstand den 
schweren Eingriffallerdings nach schwieriger 
Rekonvaleszenz gut. Kurz nach der Ope¬ 
ration stieg die Zahl der Leukozyten aut 
100000, sank aber bald wieder auf 40 000. 
4 Wochen später betrug die Leukozyten¬ 
zahl bereits wieder 128 000. Unter Be¬ 
strahlung der Leber ging sie dann zurück 
auf 70 000. Zurzeit soll sich die Patientin 
so wohl fühlen, wie zu den Zeiten der 
stärksten Remission. Eine ausführliche 
Publikation dieses interessanten und wich¬ 
tigen Falles wird in Aussicht gestellt, nach¬ 
dem die Patientin längere Zeit beobachtet 
ist. Jedenfalls lehrt derselbe, daß die Ex¬ 
stirpation der leukämischen Milz nicht wie 
man bisher glaubte, unbedingt letal ver¬ 
laufen muß. Der ungünstige Ausgang der 
bisher mitgeteilten Fälle ist offenbar nur 
darauf zurückzuführen, daß der Eingriff im 
Höhestadium der Krankheit erfolgt ist, wo 
der Organismus eminent geschwächt zu 
sein pflegt und abgesehen von Komplika¬ 
tionen wie Blutungen usw. schon die Shok- 
wirkung bei der plötzlichen Entfernung eines 
so gewaltigen Tumors, wie die leukämische 
Milz es ist, als Todesursache in Betracht 
gezogen werden muß. In der Diskussion 
berichtete Küttner, daß er einmal eine 
riesenhafte leukämische Wandermilz ex- 
stirpiert hat und dadurch eine wesentliche 
Besserung bei der Patientin erzielte. Trotz¬ 
dem ging sie nach 2 Jahren an der Leuk¬ 
ämie zugrunde, obwohl sie weiter bestrahlt 
worden ist. Er berichtete ferner über einen 
Fall, in dem sich nach Exstirpation der 
Milz wegen Schußverletzung eine Poly¬ 
zythämie entwickelte. In diesem Falle 
hatten sich aber, wie die spätere Sektion 
ergab, im Peritoneum Milzgewebe neuge¬ 
bildet. Hieraus folgt wohl, daß bei genuiner 

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Polyzythämie die Splenektomie therapeutisch 
nicht in Betracht kommen kann. 

Hans Hirschfeld (Berlin). 

(Berl. klin. Woch. 1910, Nr. 32.) 

Die von Rindfleisch angegebene Me¬ 
thode des Spiralschnittes zur Behandlung 
des varikösen Symptomenkomplexes, 
die leider wenig Dekannt geworden ist, 
empfiehlt Kayser aus Kümmells Ab¬ 
teilung aufs wärmste. Die Erfolge waren 
fast immer sehr gute. Die Operation ist 
ein erheblicher Eingriff und erfordert Nar¬ 
kose oder Lumbalanästhesie, schafft mäch¬ 
tige Wundflächen und eröffnet eine Menge 
Blut und Lymphbahnen. Die Nachbehand¬ 
lung ist recht schmerzhaft; die Heilung er¬ 
folgt per granulationem und dauert lange, 

4—7 Wochen bis zur Ueberhäutung. Des¬ 
wegen ist nur dort die Methode am Platz, 
wo das Leiden lange besteht, schwere Stö¬ 
rungen bringt und den weniger eingreifen¬ 
den Methoden trotzt. Die Technik ist fol¬ 
gende: Das mit Jodtinktur desinfizierte Bein 
wird an einem Galgen hochgehängt, der 
Oberschenkel wird abgeschnürt. Der Haupt¬ 
ast der Saphena magna am Oberschenkel 
wird reseziert oder unterbunden. Vom 
äußeren Knöchel wird mit dem Messer eine 
fortlaufende Spirallinie um den Unter¬ 
schenkel geführt, wenn nötig bis am Ober¬ 
schenkel hinauf; je schwerer die Verände¬ 
rungen, desto dichter liegen die Spiralen. 
Parallel der untersten Spirale durchsetzen 
2—3 Schnitte Haut und Unterhautgewebe 
des Fußrückens von der Außen- bis Innen¬ 
kante. Vorhandene Geschwüre, die natür¬ 
lich vorher gereinigt sein müssen, kommen 
zwischen zwei Spiralen, doch kann man 
auch hindurchgehen, auch kann man neben 
dem Ulkus noch je einen Längsschnitt 
machen. Der Schnitt geht bis auf die 
Faszie; die Gefäße werden unterbunden. 
Bei sehr großer Zahl kann man auch die 
Schnittlinie mit fortlaufender Katgutnaht 
V* cm vom Wundrand oben und unten ab¬ 
nähen und dann erst das Unterhautzell¬ 
gewebe durchtrennen; das empfiehlt sich 
besonders am Fußrücken. Größere Varizen, 
die durch die Faszie scheinen, werden frei¬ 
gelegt, doppelt unterbunden und durch¬ 
trennt. Die Wundränder werden mit Haken 
gewaltsam auseinander gezogen. Die Wund¬ 
fläche wird mit Dermatol bestreut, das ver¬ 
bundene Bein hochgelagert. In den ersten 
Tagen starke Schmerzen, leichtes Fieber. 
Am 5.—7. Tag Verbandwechsel mit Wasser¬ 
stoffsuperoxyd nach Morphiuminjektion und 
Skopolamin; von da an täglicher Verband 
mit Campherwein, Borsäure- oder Höllen¬ 
steinlösung. Die wachsenden Granulationen 

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September 


« Die Therapie der Gegenwart 1910. 


427 


werden täglich mit Höllenstein geätzt, bis 
tiefe Rinnen entstehen. Dabei Salbenver¬ 
bände (Zinksalbe, Argent. nitric. mit Peru¬ 
balsam). In der 3.—4. Woche kann der 
Kranke umhergehen. Die Epithelisierung 
wird durch 8%ige Scharlachrotsalbe be¬ 
schleunigt. Nach der Vernarbung Massage 
des Beines und einige Wochen Wickeln 
mit Binden. Die bestehenden Geschwüre, 
auch ganz kallöse, schlossen sich vor der 
Operationswunde. Der Epithelüberzug wird 
fest; der Gliedumfang wird derb, die öde- 
matöse Haut wird lederartig. Das sub¬ 
jektive Resultat war immer gut. Störungen 
der Hautsensibilität ließen sich nicht fest¬ 
stellen. Klink. 

(v. Bruns Beitr. z. klin. Chir. 1910, Bd. 68, H. 3.) 

Auf dem letzten Otologenkongreß be¬ 
richtete Urbantschitsch (Wien) über 
Aetiologie der Taubstummheit. Er teilt, 
an alog Hammerschlag, die Tau bstummheit 
in 2 große Gruppen: in erworbene und kon¬ 
genitale. Die erworbene kann intrauterin 
oder postfötal entstanden sein. Zur ersteren 
gehört neben den verschiedenen Ent¬ 
zündungsformen die Lues hereditaria. 
E. Urbantschitsch untersuchte nun 125 
Taubstumme und zum Teil deren An¬ 
gehörige mittels Wassermannscher Sero¬ 
reaktion, und zwar mit folgendem Resultat: 
negative oder spurweise Reaktion: 84,4%, 
mittelstarke 6,4% (Grenzfälle); 7,2% fast 
oder ganz komplette Reaktion. 

Da Verf. unter „hereditär-degenerativer 
Taubstummheit 4 (Hammerschlag) jene 
Fälle versteht, in denen die Ursache der 
Taubstummheit in der Keimesanlage gelegen 
ist, wenn auch mitunter eine scheinbar aus¬ 
lösende Ursache hinzutritt, wodurch die 
„latente 4 Disposition „manifest 4 wird, 
während in anderen die Disposition von 
Beginn an manifest erscheint, so teilt er 
die hereditär-degenerative Taubstummheit 
in eine „manifeste 4 und in eine „latente 4 ; 
für die Berechtigung dieser Einteilung er¬ 
bringt Verf. Beweise aus seiner Erfahrung. 

Mitunterkann eine schwere Konstitutions- 
krankheit imstande sein, den degenerativen 
Charakter einer Familie auszulösen. Hierzu 
gehören unter Umständen Syphilis und 
Tuberkulose (Anführung von je 2 Beispielen 
aus dem Beobachtungsmaterial des Verf.). 

Die Konsanguinität der Eltern als solche 
übt nur einen sehr geringen Einfluß auf 
das Zustandekommen von Taubstummheit 
aus; es muß sich vielmehr um eine kon- 
sanguine Ehe in einer hereditär-degene¬ 
rativen Familie handeln. Verf. beobachtete 
unter 400 Taubstummen (hiervon 390 Ka¬ 
tholiken !) nur 2 mal Konsanguinität, und in 

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einer dieser konsanguinen Ehen ist außer¬ 
dem die Blutsverwandtschaft nicht als aus¬ 
lösendes Moment für das Zustandekommen 
der Taubstummheit zu betrachten. Dieser 
geringe Koeffizient dürfte seine Erklärung 
in der Seltenheit konsanguiner Ehen unter 
Katholiken ßnden. 

Von Wichtigkeit kann zur Beurteilung 
des degenerativen Charakters in einer 
Familie der Nachweis anderweitiger körper¬ 
licher Abnormitäten sein, von denen Verf. 
eine ganze Reihe aus seinem Beobachtungs¬ 
material anführt. 

(Otologenkongrefi 1910.) 

Ueber das Vorkommen von Tuberkel- 
b&zillen im kreisenden Blute haben 
Jessen und Rabinowitsch an je zwölf 
Patienten der drei Turbanschen Stadien 
Untersuchungen angestellt und dabei neben 
Bazillen auch auf säurefeste Granula, wahr¬ 
scheinlich durch Bakteriolyse entstandene 
Zerfallsprodukte, geachtet, auf den Nach¬ 
weis der Tuberkuloseerreger durch das 
Tierexperiment jedoch verzichtet. Sie fan¬ 
den in zwei Fällen des ersten Stadiums 
Bazillen und Granula im Blute, in zweien 
des zweiten bloß Granula, in fünfen des 
dritten Bazillen und Granula, einmal nur 
diese. Die beiden positiven Fälle des 
ersten Stadiums zeigten im Sputum keine 
Erreger, auch keinerlei lokalen Organbefund, 
der eine allerdings eine geringfügige Brust¬ 
fellschwarte. In diesen beiden Fällen war 
also der Bazillennachweis im Blute von 
hohem, diagnostischen Wert. Weitgehende 
prognostische Schlüsse läßt er nicht zu, 
gerade daß man ein Verschwinden der Er¬ 
reger aus dem Blute auch bei überdauern¬ 
den Granula als Zeichen der Besserung 
mit in Rechnung stellen kann, z. B. nach 
Anlegung eines künstlichen Pneumothorax, 
wo bei günstigem Verlauf durch Kom¬ 
pression der Lungenwurzel dem weiteren 
Uebertritt von Bazillen der Weg verlegt 
oder doch erschwert werden könnte. 

Meidner (Berlin). 

(Deutsche med. Wschr. 1910, Nr. 24.) 

Die Behandlung des Typhus mit 
Pyr&midon, der Valentini (Danzig) im 
Jahre 1903 außerordentliche Erfolge nach¬ 
rühmte (vergl. d. Zeitschr. 1903, S. 282), hat 
sich nach Mitteilungen von Prof. Moritz 
(1907) und seinem Assistenten Dr. Jacob 
auf der Straßburger Klinik gut bewährt. 

Die Pyramidonbehandlung wurde meist in 
der Weise durchgeführt, daß von 6 Uhr 
morgens bis 12 Uhr nachts, also 10 mal in 
24Stunden, 0,1 g Pyramidon (Pyramidon 2,0, 

Sir. Simpl. 20,0, Aqu. dest. ad 200,0) ge¬ 
geben wurde. Die nächste und in der 

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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


September 


428 


großen Mehrzahl sehr prompte Wirkung 
war die, daß das Fieber um einen oder 
mehrere Grade abfiel und weiterhin einen 
ganz milden Verlauf zeigte oder völlig 
fortblieb, wenn die Darreichung des Pyra- 
midons entsprechend lange fortgesetzt 
wurde. Stärker noch als die Wirkung auf 
die Temperatur, war die auf das Allgemein¬ 
befinden: die Somnolenz, die Unruhe, die 
Kopfschmerzen, das schwere Krankheits¬ 
gefühl verschwanden oft in kurzer Zeit, die 
Ernährung und Pflege der Kranken wurden 
dadurch in außerordentlicher Weise er¬ 
leichtert. In mehr als 30 Fällen erhielten 
die Kranken das Mittel 10—20 Tage lang, 
in 15 Fällen 21—35 Tage, ein Kranker 
während 41 Tagen. Schädliche oder un¬ 
angenehme Nebenwirkungen des Pyra- 
midons wurden nicht beobachtet. Bei 
wenigen Patienten nur trat in den ersten 
Tagen des Gebrauchs stärkerer Schwei߬ 
ausbruch auf, aber nicht in dem Maße, daß 
das Mittel ausgesetzt werden mußte. Ein 
schädlicher Einfluß des Pyramidons auf 
den Kreislauf wurde in keinem Falle ver¬ 
zeichnet; auch bei Patienten mit schlechtem 
Pulse, bei denen Kampher, Koffein und 
Digitalis nötig waren, wurde ohne Nachteil 
daneben Pyramidon gegeben. Beim Auf¬ 
treten von Blutungen wurde das Pyramidon 
meistens nicht ausgesetzt, vielmehr erwies 
sich die durch das Mittel erzielte Be¬ 
ruhigung des Patienten, die Beseitigung der 
motorischen Unruhe usw. gerade hier als 
wertvoll; nur wenn infolge einer Blutung 
starker Abfall der Temperatur und höhere 
Pulsfrequenz eintrat, wurde das Mittel fort¬ 
gelassen. Alle Kranke, die systematisch 
Pyramidon erhielten, wurden nicht gebadet; 
dagegen wurde im Interesse der Hautpflege 
und zur Bekämpfung der Komplikationen 
von seiten der Lunge von kühlen Teil¬ 
oder Ganzwaschungen und von Prießnitz- 
schen Umschlägen vielfach Gebrauch ge¬ 
macht. — Auf diese Weise wurden in den 
letzten 3 Jahren auf der Straßburger 
Klinik von 207 Typhuskranken insgesamt 
80 mit Pyramidon behandelt und zwar ge¬ 
rade die mittelschweren und schweren 
Fälle. Es starben 8. also 10%. Bis Mitte 
1907 war die Bäderbehandlung allein an¬ 
gewandt worden; die durchschnittliche 
Mortalität betrug 13,9 %. Von 1907 bis 
1910 wurden ohne Pyramidon, mit Bädern 
behandelt 127 Fälle mit 14,1 °/ 0 Mortalität. 

[Es darf nicht verschwiegen werden, 
daß in den Händen vieler Nachuntersucher, 
die auf Valentinis Empfehlung hin seiner¬ 
zeit das Pyramidon bei ihren Typhuskranken 
anwandten, das Mittel sehr viel geringere 


oder keine Erfolge erzielt hat. Die Ver¬ 
schiedenheit der Typhen an verschiedenen 
Orten und zu verschiedenen Zeiten spielt 
hierbei sicherlich eine Rolle. Aber bei 
dem zweifellos vorhandenen Bedürfnis der 
Praxis nach medikamentöser Antipyrese 
verdient die Mitteilung der Mo ritz sehen 
Klinik immerhin Beachtung und dürfte er¬ 
neute Versuche mit Pyramidon rechtfertigen.] 

F. Klemperer. 

(Münch, med. Wochschr. 1910, Nr. 33.) 

Die Diagnostik und Pathologie der 
Zahnkrankheiten, soweit sie für den 
praktischen Arzt von wesentlicher Be¬ 
deutung sind, behandelt Prof. Williger 
(Berlin) in einem Beiheft zur „Medizinischen 
Klinik“. Nach kurzer Besprechung der 
krankhaften Erscheinungen beim Zahn- 
wechsel, wobei er auf die Wichtigkeit der 
Erhaltung des Milchgebisses hinweist, be¬ 
spricht Verf. die Karies und ihre Folge¬ 
krankheiten. Das wichtigste Mittel zur 
Verhütung der Karies ist „sorgfältiges 
Sauberhalten der Zähne von Kindesbeinen 
an und gewissenhafte zahnärztliche Ueber- 
wachung“. — Von den Folgekrankheiten 
der Karies kommt in erster Linie die Ent¬ 
zündung des Zahnmarks, die Pulpitis, 
in Betracht, die mit heftigen Schmerzen 
einhergeht. Dabei ist aber der Zahn nach 
Entfernung der kranken Pulpa noch zu er¬ 
halten. Vorläufig kann man die Schmerzen 
lindern, indem man nach Entfernung des 
erreichbaren Kranken mit dem scharfen 
Löffel ein Wattebäuschchen mit Nelkenöl 
einlegt und mit Gips die Höhle verschließt. 
Antineuralgika helfen auch in großen 
Gaben wenig, manchmal ist Linderung der 
Schmerzen nur durch eine Morphiuminjek¬ 
tion zu erreichen. Durch Weitergreifen 
des entzündlichen Prozesses kommt es zur 
Wurzelhautentzündung und weiterhin 
zur Periostitis. Dabei kommt es meist 
zur Abszedierung. Der Eiter fließt in 
selteneren Fällen durch die Alveole ab, 
meist bildet sich ein Abszeß an der Vorder¬ 
fläche der Kiefer, das Zahngeschwür; nicht 
sehr häufig sind die palatinalen Abszesse. 
Vom Unterkiefer aus kommt es zu Mund¬ 
bodenabszessen, in schweren Fällen zu 
sehr gefährlichen Mundbodenphlegmonen. 
Uebergreifen auf die Kaumuskulatur führt 
zur Kieferklemme; als Holz- oder Gas¬ 
phlegmone kann der Prozeß auf den Hals 
übergreifen. Sehr gefährlich sind die 
Thrombophlebitiden, die sich in die Sinus 
durae matris fortpflanzen können und so 
den Exitus herbeiführen. Selten kommt es 
zur Osteomyelitis der Kieferknochen. — Die 
akute Periodontitis kann auch chronisch 


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September 


Die Therapie der Gegenwart 19t0. 


429 


werden; es bilden sich dann an der j Bei allen schweren Zahnerkrankungen 
Wurzelspitze Granulationen, welche den I findet man eine Stomatitis catarrhalis 
Knochen aushöhlen. Diese Form, die chro- j und infolgedessen eine belegte Zunge, die 
nische Periodontitis, entwickelt sich ! also nicht immer für eine Magenerkrankung 
auch langsam, wenn Entzündungserreger charakteristisch ist. Bei Zahnextraktionen 

auf irgend einem Wege zur Wurzelspitze erfolgt häufig eine Eröffnung der Oberkiefer¬ 
gelangen. Die Zähne sind verfärbt und höhle. Zur Verhütung von Infektion muß 

geben einen dumpfen Klang beim Be- man in solchen Fällen einen Jodoformgaze¬ 
klopfen. Die Granulationen brechen häufig streifen für einige Tage vor die Oeffnung 

durch das Zahnfleisch durch und bilden legen. Kieferhöhlenempyeme dentalen 

Fisteln. Akute Nachschübe können bei der Ursprungs entstehen durch Granulome in die 

chronischen Periodontitis Vorkommen. Bei Höhle hineinragender Wurzeln. — Trige- 

jeder Form kommt es zur Entzündung der rainusneuralgien, besonders des zweiten 

regionären Lymphdrüsen, die oft Neuralgien und dritten Astes, kommen differential- 

vortäuschen. Selten kommt es zur Abs- diagnostisch bei vielen Zahnkrankheiten in 

zedierung der Drüsen. Therapie ist Spal- Betracht. — Wird bei Tabes die Mund- 

tung des Zahnabszesses und meist Extrak- Schleimhaut anästhetisch, so verlieren die 

tion des schuldigen Zahns. Aus den Gra- Kranken ihre Zähne ohne jeden Schmerz, 

nulomen entwickeln sich manchmal Zysten, Ob die Zähne als Eingangspforte für 
welche zu großen Tumoren wachsen. den Tuberkelbazillus zu betrachten sind, 

EineZahnerkrankung des höheren Alters, ist zweifelhaft, dagegen ist es unbedingt 
welche häufig bei Diabetes und Gicht, manch- nötig, daß das Gebiß Tuberkulöser in Ord- - - 

mal auch ohne nachweisbare Aetiologie nung ist, da durch mangelhafte Kautätig- 
vorkommt, ist die Alveolarpyorrhoe, keit die Ernährung der Kranken leidet, 
eine chronische Entzündung im periodon- Daß bei Lues hereditaria die Zähne 
talen Gewebe, bei der sämtliche Be- Veränderungen zeigen, ist allgemein be- , 

festigungsmittel des Zahns zerstört werden, kannt, doch sind die meisten Störungen 
sodaß der Zahn schließlich von selbst ausfällt, in der Zahnbildung eher der Rhachitis, 

Traumen geben bei Verhinderung einer vielleicht auch der Tetanie zur Last zu 
Infektion eine gute Prognose. Luxierte legen. — Vor einer Quecksilberkur sind 
Zähne, die längere Zeit außerhalb der die Zähne stets in Ordnung zu bringen, 

Wundhöhle gewesen sind, werden wieder dann genügt zur Verhütung der Stomatitis 
fest und funktionstüchtig, wenn man sie in die gewöhnliche Mundpflege. 

ihre Alveole zurückbringt und in geeigneter Emst Mayer (Berlin). - 

Weise für einige Zeit feststellt. Beiheft 7 (Med. Klinik 1910 ). 


Therapeutischer Meinungsaustausch. 

Heiße Bäder bei Keuchhusten» 

Von Dr. Schrohe- Mainz. 

In Ermangelung eines souveränen Mittels | Hustenparoxysmen gebe man zweimal ein 
gegen Keuchhusten wird jede andere Maß- solches Bad. Man soll nicht davon ab- 
nahme gewiß gern befolgt werden, wenn stehen, auch wenn man im Darm hohes 
sie einfach und leicht zur Ausführung ge- Fieber festgestellt hat. Gebraucht man bei 
bracht werden kann. In diesem Sinne den fiebernden Kindern die Vorsicht, den 
können heiße Bäder nicht nachdrücklich ! Kopf während des Badens durch kalte 
genug empfohlen werden. Es ist mir nicht | Kompressen kühlen zu lassen, so wird man 
bekannt, ob dieses therapeutische Hilfs- keinen Schaden sehen. Die günstige Wir- 
mittel gegen Pertussis schon anderwärts kung wird man bald erkennen gerade bei 
empfohlen oder angewendet worden ist. den schwerkranken, schon apathischen, von 
In leichteren Fällen wird am besten den fortwährenden Anfällen ganz er- 
gegen Abend ein heißes (37,5 C, 30 R.) schöpften Kleinen. 

Bad von 10—15 Minuten Dauer gegeben. Was nun die theoretische Begründung 

Meist ist mindestens die halbe Nacht der des erprobten Hilfsmittels anlangt, so sei 

Schlaf gut, ungestört; auch wird neben der nur kurz auf die auffallende Blässe der '« 

Abschwächung der Anfälle die Dauer der ' Keuchhustenkinder hingewiesen. Die Haut 

Krankheit an und für sich wesentlich ab- ist blaß und kühl, während das Thermo- 

gekürzt Selbst in scheinbar schweren j meter im Darm Fieber anzeigt. Es macht 

Fällen betrug die Dauer nur wenige Wochen den Eindruck, als ob die Hautgefäße krampf- 

(2—3 Wochen). Bei sehr großer Zahl der ; haft kontrahiert seien. Durch Lösung dieses 

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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


September 


Krampfes im heißen Bade werden die 
inneren Organe und damit die Lunge, die 
Bronchialschleimhaut von ihrer Hyperämie 
befreit, entlastet. Dazu kommt dann noch 
die bekannte günstige Einwirkung des 
heißen Bades auf die Gift ausscheidung durch 
die Haut, die sedative Beeinflussung des 
Nervensystems, der beruhigende Effekt auf 
reflektorisch krankhafte Kontraktionen (will¬ 
kürlicher und) unwillkürlicher Muskeln 
(Bronchien). 

In allen Fällen, in welchen meine An¬ 
ordnung gut befolgt worden ist, habe ich 


einen guten Erfolg gesehen. Gewiß wird 
man die medikamentöse Behandlung nicht 
ganz entbehren können, aber daneben die 
geschilderte einfache Prozedur gern in den 
Heilplan aufnehmen. Es wäre zu wünschen, 
daß die Eindrücke von Erfolgen, die sub¬ 
jektiven Erfahrungen eines Praktikers nach¬ 
geprüft, durch klinische Beobachtung be¬ 
stätigt werden, und als wissenschaftlich 
gesicherte Tatsachen in der Therapie des 
Keuchhustens Geltung erhalten. Denn noch 
immer ist diese Krankheit eine Geißel der 
Kinder und der Familien. 


Ein handliches Oesophagoskop. 

Von Dr. F. Schilling-Leipzig, Spezialarzt für Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten. 


Die Oesophagoskopie ist nicht neu. Mit 
den Fortschritten der Laryngoskopie und 
Endoskopie wuchs das Bestreben, auch das 
Innere der Speiseröhre dem Auge zugäng¬ 
lich zu machen. Nach mancherlei Fehl¬ 
versuchen, die durch Kußmauls 1 ) Beob¬ 
achtungen an den Manipulationen eines 
Degenschluckers im Jahre 1868 angeregt 
waren, gelang es v. Mikulicz 2 ) zuerst, das 
Organ zu intubieren und endoskopieren. 
Hacker 8 ) und Rosenheim 4 ) vervoll- 
kommneten die Methode, Schreiber 5 ) 
fügte die Speichelpumpe hinzu. Brünings 6 ) 
konstruierte einen Tubus nach Art des 
Fernrohres und änderte, wie Glücks¬ 
mann 7 ) und Kahler 8 ), die Optik. Kel- 
ling 9 ) gab ein biegsames Instrument an, 
Koelliker steift das flexible Rohr nach 
der Einführung mit Mandrin durch ein 
Metallrohr. 

Bevorzugt blieb das starre Rohr mit 
Mandrin. Innen- und Außenbeleuchtung 
wechselten. Mit diesen Hauptpunkten in 
der Entwicklung des Verfahrens begnüge 
ich mich, auf eine Kritik und genauere 
Daten lasse ich mich nicht ein. Wer sich 
gründlich orientieren will, findet das Nähere 
bei Kraus 10 ), Gottstein 11 ), Stark 12 ); auch 
ich 18 ) habe schon vor Jahren eine kurze 

l ) Magenspiegelung. Bericht d. naturforsch. Ges. 
Freiburg i. Br. 1868, Bd. 5. 

а ) Ueber Oesophago- und Gastroskopie. Wien, 
raed. Pr. 1881. 

s ) Ueber Oesophagoskopie. Wien. med. Pr. 1897, 
Nr. 46. 

4 ) Btg. z. Oesophagoskopie. Berl. klin. Wocb. 
1895, Nr. 50. 

*) Zur Oesophagoskopie. Arch. f. Verdauungskh. 
1902. 

б ) Deutsch, med. Woch. 1909, Nr. 17. 

7 ) Berl. klin. Woch. 1903, Nr. 4. 

0 ) Verhandl. d. Ver. d. Laryngol. 1909. 

9 ) Münch, med. Woch. 1897. 

,0 ) Erkrank, der Mund- und Speiseröhre 1902. 

ll ) Technik und Klinik d. Oesophagoskopie 1901. 

1J ) Die direkte Besichtigung der Speiseröhre 1905. 

,s ) Schilling, Krankheiten der Speiseröhre. 


Monographie über die Krankheiten der 
Speiseröhre mit Details in dieser Richtung 
erscheinen lassen. 

Trotz aller Empfehlungen, welche die 
Autoren der Methode auf den Weg mit¬ 
gaben, ist die ösophageale Endoskopie in 
den Händen der Spezialisten, mögen sie 
sich in der inneren Medizin oder Chirurgie 
betätigen, geblieben. Warum? Es haftet 
den langen starren Tuben in den Augen 
des Ungeübten, wenn er als Zuschauer der 
Krankenexploration beiwohnt, etwas Ab¬ 
schreckendes an, der Patient erscheint ge¬ 
quält, dazu ist die Lage auf dem Rücken 
mit hängendem Kopfe, weniger schon auf 
der Seite mit hintenüber gebeugtem Kopfe 
eine unnatürliche, eine Zwangsposition. 
Dem Zuschauer wie dem Patienten erwacht 
der Gedanke, daß das lange Rohr leicht 
den Oesophagus lädieren könne, zumal 
wenn der Kopf gewaltsame Bewegungen 
macht, und doch ist Perforation nur bei 
morschem Gewebe am Introitus beschrieben; 
sonstige üble Zufälle sind bei Beobachtung 
der Kontraindikationen wenig passiert. 

Ich besitze das Instrumentarium von 
v. Mikulicz, Rosenheim und Gottstein, 
erstere sind mit einem Mandrin versehen, 
letztere mit einer Leitsonde. 

Mir hat seit Jahren ein leicht zu hand¬ 
habendes Rohr vorgeschwebt, das sich 
nach Art der O'Dwy er sehen Intubation 
mit Hilfe eines längeren Stieles schonend 
und leicht dirigieren, behutsam in den 
Oesophagus ein- und herausführen läßt. 
Notwendig war dabei, daß das periphere 
Ende die Gestalt eines Löffelstieles hat, um 
mühelos in den Hypopharynx und über 
den Ringknorpel in den Oesophaguseingang 
zu dringen; gefahrlos und sicher war dies 
nur unter Direktion des Auges möglich, 
also bei fortgesetzter Beleuchtung. 

Schon früher, als ich Kirsteins ge¬ 
fensterten Retropharyngealtubus sah, kam 


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September 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


431 


mir der Gedanke, den seitlichen Ausschnitt 
zum schrägen Durchschnitt zu machen. 
Später diente mir Killians Hohlspatel als 
Ausgangspunkt, der zur Inspektion des 
Hypopharynx, zu welchem Zwecke ich 
mein elektrisch erleuchtetes Pharyngoskop 1 ) 
benutze, verwandt wird. An Stelle des 
schrägen Abschnittes setzte ich eine löffel- 
törmige, verlängerte Zunge mit breiter 
peripherer Wulstung und geringer Krüm¬ 
mung (Fabrikant Diehl-Leipzig). Brü¬ 
nings 2 ) konstruierte in ähnlicher Weise 
seinen Autoskopiespatel. Damit fiel der 
Mandrin fort, da die Tubuszunge mit der 
ansteigenden schiefen Ebene den Eingang 
zum Oesophagus allein und sicher fand. 


Zur Beleuchtung des Tubus- 
innern während der Passage 
durch den oralen und laryn- 
gealen Rachenteil und das 
Speiserohr, als Ersatz des 
eigenen Auges griff ich zum 
Caspersehen Panelektroskopes 
mit Kohlenfaden und Osram¬ 
fäden (a) bei diagnostischen 
Zwecken; kommt aber die The¬ 
rapie mit Einführung von In¬ 
strumenten in Frage, dann tritt 



an seine Stelle Kirsteins Stirnlampe, 
und der Stiel (b), den ich auf den Rekto- 
skoptubus schraube, wird zum Handgriff. 
Das Panelektroskop hat in der Beleuchtung 
eine wesentliche Aenderung erfahren, in¬ 
dem ich das Prisma verlängerte und etwas 
verschmälerte, so daß der größte Teil des 
Tubus von parallelen Strahlen bis zur 
Zunge erleuchtet wird 3 ). Für das Auge und 
das Instrumentarium ist noch Raum genug 
daneben übrig, zumal ich den Tubustrichter 
rechts ausbrechen ließ. Die Tuben besitzen 
verschiedene Durchmesser und Länge, in 
der Regel genügen zwei in der Länge von 
26 und 39 cm, da ich mit ersterem bereits 
bis zur Tiefe der Bifurkation und mit letz¬ 
terem bis zum Hiatus oesophageus gelange. 
Fremdkörper (%), Stenosen, Traumen, Para¬ 
lysen, Krebs und Divertikel lokalisieren sich 
gern im Halsteil bis zum oberen Brustteil 
des Oesophagus, tiefer trifft man außer Neu- 

>) Ther. d. Gegenw. 1909, Heft 8. 

2 ) Direkte Laryngoskopie. 

3 ) Die moderne Verschiebung mit Schrägstellung 
findet meinen Beifall weniger. 


bildungen, Stenosen, Formveränderungen, 
Kompression von außen, Atonie und Spas¬ 
mus, selten Ulzera und syphilitische Herde. 

Das Verfahren gestaltet sich möglichst 
einfach. Nachdem konstatiert ist, daß keine 
Kontraindikationen (Kieferenge, kurzer Hals, 
Leberzirrhose, Herz-, Lungen- und schwere 
Nervenleiden) vorliegen, wird der Meso- und 
Hypopharynx samt Introitus oesophagi mit 
20% Kokain, selten 10% Eukain oder 
Anästhesin anästhesiert. Vprheriges La- 
ryngoskopieren [Glücksmann 1 )] fällt weg. 
Schon nach 2—3 Minuten ist das Ziel er¬ 
reicht, alte Leute habe ich vielfach ohne 
weiteres im zervikalen Speiseröhre endo- 
skopiert. Will ich nur den Hals- und 
oberen Brustteil inspizieren, so sitzt der 
Patient auf einem gewöhnlichen Stuhle. 
Das mit Glyzerin oder Vaselin befeuchtete 
Rohr, das sofort durch Stromschluß er¬ 
leuchtet ist, gleitet, geleitet von der rechten 
Hand in der Mitte der hinteren Pharynx¬ 
wand ohne den Zungengrund arg zu 
drücken bis zum Sichtbarwerden eines 
Querwulstes fast in einem Zuge hinab, 
während die linke den Kopf des Patienten 
am Scheitel nach hinten beugt. Dirigiere 
ich jetzt die Zunge des Instrumentes nach 
vorn, so sehe ich das Spiel der Stimm¬ 
bänder, also in den Larynx. Jetzt drücke 
ich die Tubuszunge hinter den Wulst und 
fordere den Kranken auf, eine 
Schluckbewegung zu machen. 
Leicht rückt der Tubus ab¬ 
wärts und die gerötete Schleim¬ 
haut des Oesophagus kommt 
zu Gesicht. Als Stützpunkt, als 
Hypomochlion für das Ab¬ 
wärtsdirigieren dient die Hals¬ 
wirbelsäule, dem Tieferrücken 
des Rohres begegnen keine 
Schwierigkeiten. Bin ich orien¬ 
tiert, so folgt das Rohr leicht 
dem Zuge am Stiele des Elek- 
troskopes nach oben. — Genau 
so gestaltet sich die Methodik 
für die tiefere Endoskopie mit 
dem langen Rohre, wenn der Patient nur ruhig 
Atem holt; nur sitzt der zu Untersuchende 
dabei auf einem Schemel und man fast den 
Griff desElektroskopes wie einen Krückstock 
von oben. — Nach Art der Pinzetten kon¬ 
struierte lange Tupferträger, Zangen, Saug¬ 
apparate, meine Saugspritze 2 ) usw. stehen 
rechts auf einem Tische zur Hand, um sofort 
einzugreifen, wenn die Indikation vorliegt. 

Im Gegensätze zu Brünings halte ich 
die mandrinlose Einführung, zumal für den, 

*) Berl. Klinik Heft 233. 

a ) Therapeut. Monatsh. 1901. 



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432 Die Therapie der Gegenwart 1910. September 

der romanoskopiert, für leichter und sicherer einen größeren Spielraum zwischen Tubus 
als das Intubieren mit Mandrin. Daß man und Auge des Untersuchers für instru- 
in jeder Lage, Rücken- wie Seitenlage, mentelle Manipulationen gestattet, vor. Je 
den Tubus einführen kann, unterliegt einfacher übrigens das Instrumentarium ist, 
keinem Zweifel. desto leichter wird die Handhabung und 

Daß die Beleuchtung mit dem Pan- um so unentbehrlicher wird die Assistenz, 
elektroskop und der Stirnlampe in der desto schneller erlernt der Anfänger die 
Regel genügt, dafür bringen meine und Technik. 

Starks und anderer Autoren erzielten Er- Geschick erfordert jede Technik in ihrer 
folge den besten Beweis. Stark betont Anwendung. Darüber, ob der Satz, daß 
ausdrücklich, daß das Licht selbst für die sich jeder Arzt ohne spezielle Vorbildung 
tiefsten Partien ausreicht. Meine Verbesse- die ösophagoskopische Methodik aneignen 
rung des ersteren bringt große Vorteile, kann, wie ein begeisterter Anhänger seines 
Innenlampen stehen im Wert zurück. Instrumentariums unlängst behauptet, zu 
Brünings zieht seine eigene Beleuchtungs- Recht besteht, dürften wohl noch Bedenken 
Vorrichtung mit dem Dreifadenbrenner, die bestehen. 

Ehrlichs Syphilisheilmittel und die ärztliche Praxis. 

Vom Herausgeber. 

Aus den Darlegungen, welche dem Ehr- noch nicht zu sehr in die Gewebe ein- 
lichsehen Mittel in diesem Heft gewidmet gedrungen sind, also nur in den Anfangs¬ 
werden (S. 407 und 411) werden unsere Stadien der Erkrankung. Schließlich ist es 
Leser klar erkennen, wie weit sich bis jetzt wahrscheinlich, daß der Entdecker sein 
die außerordentlichen Erwartungen erfüllt Präparat noch vervollkommnen wird, so 
haben, welche die neue Entdeckung bei daß in naher Zukunft noch größere Heil¬ 
allen Sachkennern hervorrufen mußte. Es Wirkungen erzielt werden als jetzt, 
kann kein Zweifel mehr bestehen, daß das Aber selbst wenn ein gewisser Prozent¬ 
neue Mittel in der Behandlung der Syphilis satz von Rezidiven übrig bleiben sollte — 

dasselbe leistet wie das Quecksilber in seiner was ich keineswegs für wahrscheinlich halte 
intensivsten Anwendungsform, während es — immerhin ist es begreiflich, daß jeder 
dabei den unschätzbaren Vorzug hat, in Arzt das Verlangen hat, seinen luesinfizierten 
einmaliger Anwendung weit schneller zu Patienten die Wohltat des neuen Verfahrens 
wirken als die älteren Methoden. Es ist angedeihen zu lassen, 
auch zweifellos, daß Ehrlichs Mittel auch Man darf wohl sagen, daß in der ärzt- 
in solchen Fällen von Lues sich sehr wirk- liehen Praxis ein ebenso berechtigtes als 
sam erweist, welche auf Quecksilber wenig lebhaftes Bedürfnis nach dem neuen Mittel 
oder gar nicht reagieren. Als ganz sicher besteht. Nun ist die Heilsubstanz welche 
kann auch ausgesprochen werden, daß Ehrlich mit seltener Liberalität allen 
Schädigungen der Patienten bei geeigneter Hospitälern zugänglich gemacht hat, für 
Auswahl und geeigneter Dosis durch das die Mehrzahl der praktischen Aerzte bisher 
neue Mittel nicht hervorgerufen werden, nicht erhäldich. Gewiß wird jeder die vor- 
Aus diesen heut wohl unbestreitbaren bildliche Zurückhaltung billigen, mit welcher 
Sätzen darf man die Folgerung ziehen, daß der große Entdecker sein neues Mittel dem 
das Ehrlichsche Mittel für die Behänd- Markt ferngehalten hat; aber nachdem die 
lung der syphilitischen Erkrankungen schon Hospitalbeobachtungen soweit gediehen 
jetzt die größte Bedeutung gewonnen hat. sind, daß an der Unschädlichkeit und der 
Ob es gelingen wird, eine dauernde Wirksamkeit der Heilsubstanz kein Zweifel 
Heilung zu erzielen und das Vorkommen mehr möglich ist, dürfen wir vielleicht die 
von Rezidiven zu verhüten, erscheint bis- Bitte aussprechen, daß das Mittel in ge- 
her zweifelhaft. Wenigstens sind schon eigneter Form den Apotheken übergeben 
viele Rezidive bekannt geworden. Aber werde, um von allen Aerzten angewendet 
einmal weiß man noch nicht, wie groß die zu werden. Wir dürfen zu unsern Kollegen 
zur Sterilisierung notwendige Dosis ist, das Zutrauen hegen, daß sie in der In- 
zweitens ist es möglich, daß die Abtötung dikationsstellung und der Anwendungsweise 
aller Spirochäten nur gelingt, wenn sie | die nötige Vorsicht zu üben wissen werden. 

INHALT: Dubois, Psychotherapie S. 385. — Geselschap, Lufteinblasung bei Pleuritis 
S. 396. — Focke, Digitalis bei Nasenbluten S. 402. — Meidner, Ehrlichs Syphilisheilmittel S.407. 

— Fischer, dasselbe S.411. — Schrohe, Keuchhusten S.429. — Schilling, Oesophagoskop S. 430. 

— G.Klemperer, Syphilisheilmittel S.432.— Bücherbesprechungen S.417.— Referate S.418. 

Für die Redaktion verantwortlich I’rof. Dr. G. Klempererin Berlin.- Verlag von Urban&Sch warienberg in Wien u. Berlin. 

Druck von Julius SittenfeId, Hofbuchdrucker., in BerlinW.8. 


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Die Therapie der Gegenwart 


1910 


herausgegeben von Prof. Dr. G. Klemperer 

in Berlin. 


Oktober 


Nachdruck verboten 

Aus der inneren Abteilung des städt Krankenhauses, Altona. 

Bemerkungen zur Pathologie und Therapie des Duodenal¬ 
geschwürs. 1 ) 

Von Prof. Dr. Umber. 


Das Ulcus duodeni ist auch nach meinen 
Erfahrungen zweifellos viel häufiger als es 
in der Praxis diagnostiziert wird. Das be¬ 
weisen mir auch meine eigenen Fälle, die 
sämtlich ohne Ausnahme unter anderen 
Diagnosen in unsere Beobachtung kamen. 
So war ich unlängst in der Lage, nicht 
weniger als 5 Fälle gleichzeitig in der Be¬ 
obachtung zu haben. Andererseits be¬ 
gegne ich freilich der Angabe, daß z. B. 
die Gebrüder Mayo (Rochester) wöchent¬ 
lich 2 Fälle von Ulc. duodeni operieren 
und unter ihren letzten 200 Fällen mehr 
Duodenalulzera als Magenulzera haben, auch I 
wiederum mit einer vorsichtigen Skepsis. 
Und zwar darum, weil einmal der Chirurg 
selbst bei der Obductio in vivo nicht immer 
in der Lage ist, bei uneröffnetem Duode¬ 
num zu sagen, ob und wo ein Ulcus darin 
vorhanden ist. Die Darmwand kann völlig 
intakt für die Inspektion von außen bleiben. 
Andererseits kann die Diagnose oft genug 
auch bei genauester klinischer Beobach¬ 
tung und sorgfältigster Kenntnis der Sym¬ 
ptomatologie auf falsche Wege geraten. 

Darum seien mir hier einige Bemer¬ 
kungen zur letzteren gestattet. 

Die Schmerzen pflegen in typischen 
Fällen in der rechten Parasternallinie in | 
der Gegend der Gallenwege aufzutreten, | 
kürzere oder längere Zeit nach der Nah¬ 
rungsaufnahme, meist 2—3 Stunden später, 
anfallsweise und manchmal mit großer 
Heftigkeit, gewöhnlich ohne Erbrechen. 
Daher die Verwechslung mit Cholelithiasis- 
anfällen naheliegend. Auch zu dem Fall 
von Duodenalgeschwür, den ich Ihnen so¬ 
gleich im Präparat demonstrieren werde, 
war ich von einem erfahrenen Magendarm¬ 
spezialisten wegen Gallensteinanfällen zu¬ 
gezogen worden. Einen Kranken habe ich 
auf der Höhe der äußerst heftigen Schmerz- 
anfälle spontan regelmäßig Knieellen¬ 
bogenlage einnehmen sehen: Hier saß das 
Duodenalulkus an der hinteren Wand und 
war nach hinten mit dem Pankreas ver¬ 
wachsen ! 

l ) Vorgetragen auf dem Schlcsw.-Holst. Aerztetag, 
Itzehoe, den 2. Juli 1910. 


Bemerkenswert ist, daß die Schmerzen, 
wenn sie 2—3 Stunden nach der Mahlzeit 
auftreten, durch erneute Nahrungszufuhr 
zuweilen unterdrückt werden (Hunger¬ 
schmerz, hungerpain). 

In einem Falle gelang es mir besonders 
schön, den seit Jahren an einer Stelle kon¬ 
stanten Schmerzpunkt, der stets auch als 
palpable Resistenz zu fühlen war, durch 
eine Bleimarke auf der Wismutröntgen- 
platte 3 Querfinger abwärts vom Pylorus 
im Duodenalschatten zur Anschauung zu 
bringen. Aehnliches habe ich mehrfach 
durch Röntgenaufnahmen eruieren können. 
Dorsale Druckpunkte können auch nach 
meinen Erfahrungen beim Ulcus duodeni 
vorhanden sein, sind aber differential-dia¬ 
gnostisch nicht verwertbar. Der Schmerz 
iät im ganzen mehr von der Quantität der 
Nahrung als von der Qualität derselben 
abhängig. Ich sah ihn auch nach Rektal¬ 
nährklysmen auftreten, offenbar durch den 
reflektorisch ausgelösten Magensaftfluß. 

Die mehrfach beschriebenen dem An¬ 
fall vorausgehenden Kältegefühle an 
Händen, Füßen oder Abdomen werden 
manchmal sehr bestimmt spontan angegeben, 
manchmal erst durch Befragen eruiert, oft 
genug vermißt. 

Ikterus gehört nicht zum Bilde des 
Duodenalulcus. ln einem von mir beob¬ 
achteten Fall war er deutlich wenn auch 
schwach vorhanden und post mortem durch 
einen unabhängig von dem Duodenalulkus 
bestehenden kleinen Tumor an der Papille 
erklärt. 

Was die Temperatur anbelangt, so 
habe ich mehrfach in unkomplizierten Fällen 
doch eine gewisse Neigung zu subfebrilen 
Temperatursteigerungen gesehen, die aller¬ 
dings oft nur bei 2 stündlichen Rektal - 
messungen in der Kurve zu erkennen sind. 

Der Magen ist, meist sekundär, in Mit¬ 
leidenschaft gezogen: Funktionelle Störun¬ 
gen im Sinne einer abnorm leichten Saft¬ 
sekretion, Hypersecretio acida, sind nicht 
immer, aber doch häufig genug bei der 
Funktionsprüfung des Magens zu kon¬ 
statieren. 

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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Oktober 


Das allergrößte Gewicht bei der Dia¬ 
gnose muß aber auf den Nachweis von 
Blut im Darmkanal gelegt werden. Das 
Blut im Stuhl kann schon makroskopisch 
an der Teerfarbe erkennbar sein, ja, es 
kann sogar als rotes Blut vorhanden sein, 
wie ich es kürzlich an einem sogleich 
zu besprechenden Fall sah. Meist aber 
handelt es sich um sogenannte okkulte 
Blutungen, die erst auf chemischem Wege 
im Stuhlgang nachgewiesen werden können. 
Am besten durch die von Dreyer modifi¬ 
zierte Web er sehe Probe: 

Etwas Stuhlgang wird mit einigen Tropfen 
Eisessig und Aether in der Reibschale ver¬ 
rieben, abgegossen, mit etwas Guajackharz- 
pulver geschüttelt und auf ein Stück Fil¬ 
trierpapier gegossen, das vorher mit altem 
Terpentinöl befeuchtet ist. Bläuung zeigt 
den positiven Ausfall der Probe an. 

Wenn man nun den Nachweis geführt 
hat, daß Blut im Stuhl vorhanden ist, so 
kann diese Tatsache erst dann diagnostisch 
für Ulcus duodeni sprechen — den dazu 
gehörigen klinischen Symptomenkomplex 
als vorhanden vorausgesetzt —, wenn 

1. die Nahrung schon mehrere Tage blut¬ 
frei, das ist fleischfrei gereicht wurde, und 

2. bei der funktionellen Prüfung des 
Magens nach Probefrühstück kein Blut 
im Magensaft nachweisbar war. Auch beim 
blutenden Ulcus duodeni kann durch Anti¬ 
peristaltik beim Brechen oder Aushebern 
Blut in den Magen zurückströmen, darum 
ist nur der negative Befund im Magensaft 
bei positivem Blutbefund im Stuhl dia- ! 
gnostisch für Ulcus duodeni verwertbar. 
Dieses Moment besitzt aber, darin stimme 
ich nach eigenen Erfahrungen mit Ewald 
voll überein, einen außerordendich hohen 
diagnostischen Wert. 

Unter sorgfältiger Berücksichtigung aller 
dieser angedeuteten diagnostischen Momente 
läßt sich die Diagnose Ulcus duodeni in 
vielen Fällen — darin stimme ich Boas 
Ewald gegenüber durchaus bei — mit 
guter Sicherheit stellen. 

Es ist nicht richtig, mit Collin die Dia¬ 
gnose des Duodenalulcus für unmöglich 
anzusehen. Die Angabe von Kausch im 
Handbuch der praktischen Chirurgie, es sei 
überhaupt noch kein richtig diagnostizierter 
Fall von Ulcus duodeni zur Operation ge¬ 
kommen, ist heute nicht mehr zutreffend. 
Als Beweis dafür diene Ihnen z. B. ein Fall 
bei einem 33jährigen Herrn, den ich unter 
meinen sicher diagnostizierten Fällen des¬ 
halb auswähle, weil ich Ihnen das sehr in¬ 
struktive Präparat davon vorzulegen in der 
Lage bin. 


Hier war mit aller Sicherheit die klini¬ 
sche Diagnose auf ein suprapapilläres 
blutendes Ulkus zu stellen, und wegen der 
allmählich profus werdenden Blutungen 
die Gastroenterostomie von Prof. König 
auf meinen Vorschlag ausgeführt worden. 
Die Blutungen aus dem Geschwürsgrund 
dauerten dessen ungeachtet fort und führten 
zu innerer Verblutung. An dem Präparat 
sehen Sie ein suprapapilläres tiefes Ulkus 
im Duodenum, das mit dem Grund auf den 
Pankreaskopf festgewachsen ist. Die arro- 
dierte quer durchtrennte Arteria pancreatica 
sah mit ihrem offenen Lumen in den Ge¬ 
schwürsgrund hinein und war die Quelle 
der tödlichen Blutung, die den ganzen 
Dünndarm erfüllte. Daneben erkennen Sie 
einen kleinen kirschkerngroßen Tumor an 
der Papille der von den Ausführungsgängen 
ausgeht, mit dem Ulcus nichts zu tun hat, 
aber am Ikterus schuld war. Speziell 
dieser Fall gibt mir Gelegenheit zu einigen 
therapeutischen Bemerkungen. Die allge¬ 
meine Therapie des Ulcus duodeni über¬ 
gehe ich aber hierbei, denn sie unter¬ 
scheidet sich in nichts von der der Magen¬ 
geschwüre. Aber die Frage der Therapie 
der blutenden Duodenalulcera sei berührt. 
Auch sie deckt sich im großen und ganzen 
mit derjenigen der blutenden Magenge¬ 
schwüre. Ruhe, Eisbeutel, vorübergehende 
Nahrungsenthaltung (wobei zu bedenken 
ist, daß auch nach Nährklysmen reflektorisch 
Magensaft fließt und den Geschwürsgrund 
reizt), Atropin, Morfin, Pantopon, Gela¬ 
tine per os und subkutan in Form von 
Merck scher Gelatine, Suprareningaben. 
Besonders rühmend möchte ich den blut- 
und schmerzstillenden Effekt des Escalins 
hervorheben (5 Pastillen frühmorgens nüch¬ 
ternin Wasser emulgiert zu trinken 3— 4 Tage 
hintereinander), das sich uns seit Jahren 
bei allen Blutungen des Magendarmkanals 
sehr bewährt hat. 

Dauern aber wie in dem zuletzt er¬ 
wähnten Fall die Blutungen trotz aller 
therapeutischen Maßnahmen in profuser 
Weise fort und bedrohen das Leben, so 
bleibt nur der operative Eingriff. Daß die 
Gastroenterostomie nicht ausreicht, um le¬ 
talen Verlauf der Blutungen zu verhindern, 
lehrt der eben besprochene Fall, und ich 
möchtedaher vor allem empfehlen, sich in 
derartigen Fällen mit der Gastroenterostomie 
nicht zu begnügen, sondern das Duodenum 
mit allen Kautelen längs zu eröffnen, die 
blutende Stelle aufzusuchen und zu ver¬ 
sorgen. Man muß zu dem Zweck schon 
eröffnen. Der Vorschlag von Wilms, in 
dem Magen mit eingestülptem Finger das 


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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


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Ulcus zu palpieren und zu abernähen, dürfte zur Operation. Vor allem profuse Blutungen 
wohl nur in den seltensten Fällen erfolg- oder unerträgliche alimentäre Schmerzen 
reich sein, denn das flache Ulcus duodeni, sollten den operativen Eingriff herbei- 
das keine verdickten Ränder hat, ist meist j führen, nicht aber an sich die Diagnose 
nicht palpabel und sein Sitz nicht mal des Ulcus duodeni, das zunächst kon- 
von außen immer an der Serosa erkenn- servativ zu behandeln ist, wodurch auch 
bar. meist ein latenter Zustand oder Heilung 

Ich rate nur bei dringenden Indikationen herbeigeführt werden kann. 


Allgemeine Grundzüge in der Behandlung der akuten Infektions¬ 
krankheiten der Kinder. 

Von Adolf BagtüSky-Berlin. 


M. H.! Wenn Sie als bereits lange in 
der Praxis stehende, erfahrene Aerzte vor 
Ihrem inneren Auge die Mannigfaltigkeit 
der nach üblichem Sprachgebrauch als 
akute Infektionskrankheiten der Kinder be- 
■zeichnete Krankheitsformen vorüberführen, 
so wird es Ihnen schier unmöglich erschei¬ 
nen, allgemeine Grundsätze für die Behand¬ 
lung dieser so verschiedenen Krankheiten 
aufstellen zu wollen; und dies um so weniger 
möglich, als Sie gelernt haben und gewohnt 
sind, nicht die Krankheiten als „Ding 
an sich“, sondern die Kranken zu be¬ 
handeln, deren jeder durch besondere 
Eigenart auch zu besonderer, ihm an gepaßter, 
wie wir sagen individualisierender Behand¬ 
lung herausfordert (indiziert). So wird es 
Ihnen von Hause aus als verfehlt erschei¬ 
nen, sich über dasjenige aussprechen zu 
wollen, was den Gegenstand unserer heu¬ 
tigen Erörterungen bilden soll. — Und 
doch! Wenn Sie — selbst jede Polyprag¬ 
masie ausgeschlossen — trotz den hundert¬ 
fach, nach den augenblicklichen und spe¬ 
ziellen Indikationen, wechselnden therapeu¬ 
tischen Maßnahmen, Ihr eigenes Tun am 
Krankenbett akut erkrankter Kinder über¬ 
prüfen, so wird Ihnen nicht entgehen 
können, daß Sie unwillkürlich und fast un¬ 
bewußt Ihr Handeln nach relativ einfachen 
und nicht allzu zahlreichen Grundlinien 
einrichteten, und daß Sie solcher Art 
schwer gefährdete Kranke über die schwie¬ 
rigsten Klippen hinweggeführt, gar manches 
gefährdete Leben gerettet zu haben über¬ 
zeugt sind. — Es liegt dies augenschein¬ 
lich daran, daß ebenso, wie bei aller Eigen¬ 
art, der einzelne Organismus den allge¬ 
meinen physiologischen Gesetzen unter¬ 
worfen ist, auch der Entwicklungsgang und 
Verlauf der einzelnen Krankheitsformen, 
sie seien nach Ursprung und Erscheinungs¬ 
formen noch so verschieden, allgemeinen 
Gesetzen der Pathogenese und Pathologie 
zu folgen gezwungen sind. — So gibt es also 
nach beiden Richtungen hin, sowohl nach 
der Seite der Erkrankten, wie nach der 


pSeite der Krankheit, einen gemeinsamen 
Boden, der für eine allgemeine Therapie 
der in Rede stehenden Krankheiten ge¬ 
nutzt werden kann. — Dies soll der Aus¬ 
gangspunkt unserer Ausführungen sein. 

M. H.! Wenn es gleich schwierig ist, 
bei dem steten und rapiden Fortgang der 
Forschungen, scharf abzugrenzen, was 
unter den Begriff der Infektionskrankheit 
fällt, — ich darf nur daran erinnern, wie 
relativ kurz noch die Zeit her ist, daß wir 
für Pneumonie, für Malaria, Tuberkulose 
u. a. die Krankheitserreger kennen gelernt 
haben, so daß wir diese Krankheitsformen 
I in die Reihe der Infektionskrankheiten haben 
einrücken sehen —, so sind wir doch 
£ einigermaßen mit uns im Klaren und 
werden einander verständlich, wenn wir 
von den akuten Infektionskrankheiten, ins¬ 
besondere auch der Kinder sprechen. Wir 
wissen, daß es sich um Krankheiten han¬ 
delt, welche mit typischen Krankheitser¬ 
scheinungen auftreten und meist typischen 
; Verlauf nehmen und einem spezifischen 
Krankheitserreger ihr Entstehen verdanken. 

> Für eine Anzahl derselben ist dieser Krank- 
, heitserreger bereits bekannt, für weitere, 

I deren Virus uns noch nicht erschlossen ist, 
ist aus der Analogie heraus mit fast spo- 
i diktischer Sicherheit der Schluß zu ziehen, 
daß die Krankheiten lediglich durch ein 
| spezifisches Kontagium erzeugt werden 
i können. Kein moderner Arzt wird zweifeln, 
daß Skarlatina, Morbillen, Variola und 
Varizella, jede durch den spezifischen, 
i lebendigen Krankheitserreger erzeugt wer¬ 
den. — So fußen die akuten Infektions¬ 
krankheiten allesamt auf dem gemeinsamen 
Boden, daß sie aus der Einwirkung dieser 
Infektionserreger hervorgehen. Wie man 
sich nun die Wirkung der Infektionser¬ 
reger im Organismus vorzustellen habe, 
i dies ist, wie Sie wissen, eine noch nicht 
völlig zum Austrag gebrachte Frage, die 
, gerade in der jüngsten Zeit aufs lebhafteste 
diskutiert wird. Wenn Pirquet und 
, Schick die Anschauung vertreten, daß 

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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Oktober 


die Infektionskrankheit dann in die Er¬ 
scheinung tritt, wenn im Organismus er¬ 
zeugte und in die Blutbahn eintretende 
Antikörper mit den Krankheitserregern 
selbst oder deren Toxinen in Beziehung, 
in Reaktion, treten, so vermag dies wohl 
dazu zu dienen, die Krankheitsvorgänge 
bei den Infektionskrankheiten unserem Ver¬ 
ständnis näher zu bringen, wie denn auch 
Stärke, Art und Mannigfaltigkeit der Sym¬ 
ptome aus der Variabilität der Reaktion 
zwischen Antikörper und Virus erklärlich 
erscheint; ob aber diese Anschauung d ; e 
richtige, und für alle Infektionen zutreffende 
ist, dürfte immerhin in Frage stehen; wie 
denn auch, wie Sie wissen, Bail die An¬ 
schauungen von Pirquet nicht teilt und 
nicht sowohl die Reaktion, als vielmehr die 
Lahmlegung der Schutzkräfte des Orga¬ 
nismus durch von den Mikroorganismen 
abgesonderte Aggressivstoffe, und die so 
gewonnene Möglichkeit der eigenen Ver¬ 
mehrung und der Giftwirkung als den 
Ausgangspunkt der eigentlichen Infektions¬ 
krankheit betrachtet; so gibt es noch an¬ 
dere Anschauungen, ich verweise nur auf 
Wolff-Eisners Endotoxintheorie u. a.m., 
aus denen die Krankheitserscheinungen er¬ 
klärt werden. — Sei dem nun. wie ihm 
wolle; dem Arzt ist die Krankheit der 
Ausdruck einer Abweichung des Organis¬ 
mus von ‘der normalen Funktion, unter 
dem Einfluß eines pathogen wirkenden 
Reizes. 

Die bedeutungsvollste aber und am 
meisten augenfällige Abweichung von der 
Norm ist, mit nur seltenen Ausnahmen, 
das Auftreten von Fieber. 

Das ist so konstant, daß uns am 
Krankenbette das Auftreten von Fieber, 

— wenn wir von einigen wenigen fieber- 
erregenden aseptischen Reizen absehen, 

— mit dem Begriffe einer stattgehabten 
Infektion fast zusammenfällt. Hier sehen 
wir also eine allen Infektionskrankheiten 
allgemein zugehörige Erscheinung, und 
es läßt sich von Hause aus begreifen, 
daß von jeher dem Arzte der Gedanke 
nahe getreten ist, dieser Allgemeinerschei¬ 
nung der Infektionskrankheit gntgegenzu- 
wirken; wobei vorausgesetzt wurde, daß 
der Symptomenkomplex, den wir unter dem 
Begriff des Fiebers zusammenfassen, als 
dem Kranken schädlich und bedrohlich sei. 
Wir werden denn auch alsbald Gelegen¬ 
heit nehmen, zu prüfen, ob diese, unter 
dem wuchtigen Eindrücke der Fieberer¬ 
scheinungen wohl erklärliche, gleichsam 
primitive und notwendig erscheinende 
ärztliche Aktion diejenige Berechtigung 


bat und für den Kranken mit dem Heil¬ 
erfolge ausschlaggebend wird, den der 
Arzt von jeher davon erwartet hat. 

Bevor wir aber in diese Frage eintreten, 
lassen Sie uns erst noch eine andere, 
augenscheinlich mindestens ebenso wich¬ 
tige, ja vielleicht noch wichtigere erörtern, 
weil sie die eigentlich noch primitivere ist; 
nämlich die, ob es und inwieweit es mög¬ 
lich ist. nach dem alten therapeutischen 
Grundsätze: cessante caussa cessat effectus, 
eine echt und recht kausale, eine spezi¬ 
fische Therapie bei der Bekämpfung der 
Infektionskrankheiten einzuschlagen; um so 
ab initio der hereinbrechenden oder be¬ 
reits zutage getretenen Krankheit ein so¬ 
fortiges und schleuniges Ende zu bereiten. 
— Der Gedanke der spezifischen Therapie 
liegt so nahe und ist Laien sowohl wie 
Aerzten so augenscheinlich Erfolg ver¬ 
sprechend, daß es nicht Wunder zu nehmen 
braucht, daß derselbe von frühester Zeit her 
ein Grundgedanke allen therapeutischen 
Handelns gewesen ist. Derselbe fand auch 
in der Tatsache, daß man das Auffinden 
spezifischer Mittel nicht zu den Utopien 
rechnen dürfe, seitdem man in dem Chinin 
ein spezifisches Mittel gegen Malariainfek¬ 
tion erkannt hatte, ein wissenschaftlich 
gegründetes Fundament, und es ist des¬ 
halb wohl zu verstehen, daß der in der 
allerjüngsten Zeit von Ehrlich so ener¬ 
gisch und, wie es den Anschein hat, mit 
so großem Erfolge verfolgten Gedanken¬ 
gang der Therapia sterilisans magna von den 
Sympathien und dem intensivsten Interesse 
der gesamten ärztlichen Welt begleitet 
wird. Es bedarf auch keiner langen Aus¬ 
einandersetzung der Gründe dafür, daß der 
Gedanke der spezifischen Therapie der 
Infektionskrankheiten in der Zeit der Ent¬ 
deckungen und des Nachweises der spezi¬ 
fischen Krankheitserreger, in der letzten 
Epoche der Medizin, der Zeit der Bakterio¬ 
logie und Mikrologie, mehr als je in den 
Vordergrund getreten ist; hat sich doch 
mit der Kenntnis der mikrobischen Krank¬ 
heitserreger auch das Verständnis für ihre 
Wirkungsweise im Organismus immerhin 
weiter erschlossen, und läßt uns die vor 
unseren Augen sich aufbauende Iromuni- 
tätsforschung Angriff und Gegenwirkung 
besser verstehen, als es je vordem etwa 
möglich erschien. Die wenngleich vorerst 
nur auf beschränktem Gebiete errungenen 
Erfolge der Serumtherapie und die jüng¬ 
sten Erfolge der Chemotherapie machen 
die Hoffnung rege, daß es nicht mehr aus¬ 
geschlossen ist, daß auch für jede 
einzelne aus der Gesamtheit der In- 


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Oktober 


Die Therapie der Gegenwart 1910 


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ftktionskrankheiten das je entsprechende 
antidotische, spezifische, therapeutische 
Agens gefunden werden kann. — Freilich 
sind dies fQr den Augenblick zumeist 
nur erst noch Ausblicke. Hoffnungen, mit 
denen bei der Mehrzahl der Infektions¬ 
krankheilen dem Kranken nicht geholfen 
werden kann. Wir müssen uns als Aerzte 
dessen bewußt bleiben, und gerade in 
einer Zeit, wo die Hoffnung auf das Ge¬ 
lingen spezifischer Therapie durch glück¬ 
liche Ergebnisse gegenüber einigen wenigen 
Krankheitsformen erfüllt worden ist, müssen 
wir uns mehr als je davor hüten, ver¬ 
allgemeinern zu wollen, durch wüstes oder 
rohes Darauflosexperimentieren an den er¬ 
krankten Organismus mit schematisch er¬ 
dachten und künstlich zusammengefügten 
Mitteln allzu optimistisch heranzutreten. Es 
würde dies zu unabsehbarem Schaden für 
unsere Kranken ausschlagen und nicht zu 
rechtfertigen sein. Bisher hat die spezifische 
Therapie nur noch in den engsten Grenzen 
Wert und Bedeutung, die nur ganz müh¬ 
sam und schrittweise von der wissenschaft¬ 
lichen Medizin erweitert werden. 

Tatsächlich ist eben, bis auf die wenigen ! 
Krankheiten, für welche wir spezifische : 
Heilmittel und Heilsera bisher in die Hand I 
bekommen haben, der Weg unseres thera- j 
peutischen Handels nach der anderen, bis- I 
her eingeschlagenen Seite zu verfolgen, daß ! 
wir uns auf die Bekämpfung eventuell Be¬ 
seitigung der infolge der Infektion nach 
und nach eintretenden, den Organismus 
bedrohenden Krankheitserscheinungen, der 
funktionellen Störungen und anatomischen 
Läsionen, am Krankenbette einzurichten 
haben. 

Unter diesen Erscheinungen ist es nun, 
wie angegeben, in erster Reihe das Fieber, 
das den Arzt zu therapeutischen Leistungen 
herauszufordern scheint; denn mit dem 
Fieber gehen anscheinend, wenn nicht alle, 
so doch viele der bedrohlichen Vorgänge 
im Organismus einher. So kann es nicht 
Wunder nehmen, daß auch in der Be¬ 
kämpfung des Fiebers von jeher eine — 
ob mit Recht oder Unrecht, ist ja wohl 
fraglich — der Hauptaufgaben ärztlichen 
Handelns gesucht wurde. 

Ich habe vor einer Reihe von Jahren 
in einer der Frage der Fieber bekämpfung 
bei den Infektionskrankheiten im Kindes¬ 
alter gewidmeten Studie *) mich mit dem 
Gegenstände einigermaßen ausreichend be¬ 
schäftigt. Ich habe daselbst ausgeführt, 

% 

*) Die Antipyrese im Kindesalter, Verlag August 
Hirschwald, Berlin 1901. 

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daß das anscheinend bedeutsamste Haupt¬ 
symptom des Fiebers, die Temperatur¬ 
steigerung allein nicht diejenigen Ge¬ 
fahren für den Organismus birgt, die man 
gewillt war, demselben beizulegen, daß 
schwerste, mit gefährlichster Bedrohung 
des Organismus einhergehende akute In¬ 
fektionskrankheiten mit relativ geringen, 
nur kaum mittelhohen Temperaturen ein¬ 
herzugehen vermögen, und umgekehrt, hohe 
Fiebertemperaturen vielfach ohne Schaden 
überwunden werden; ich habe insbeson¬ 
dere auch auf die für den kindlichen Or¬ 
ganismus geltende große und auf anatomi¬ 
schen und biologischen Grundlagen sich 
auf bauende Labilität der Wärmeökonomie 
hingewiesen, die dazu führt, daß Kinder 
gar leicht sehr hohe Temperaturen im 
Fieber erreichen, aber auch relativ leicht 
ertragen; und zwar deshalb leichter er¬ 
tragen, weil ebenso, wie beim Kinde die 
Steigerung der Temperatur eine raschere 
und intensivere, ebenso die Wärmeabgabe 
eine erleichterte und mehr ergiebige ist; 
ferner weil die allenfalls für Erwachsene so 
bedrohlich mit der gesteigerten Fiebertem¬ 
peratur in die Erscheinung tretende mit¬ 
gesteigerte Herzaktion und damit gegebene 
Herzabnutzung für Kinder von weniger 
großer Bedeutung ist. — Damit sind zu¬ 
nächst schon und ganz allgemein Finger¬ 
zeige gegeben, daß wir nicht nötig haben, 
um der Temperatursteigerung allein und 
an sich mit gewalttätigen und besonders 
aktiven therapeutischen Maßnahmen an den 
kindlichen Organismus heranzutreten; viel¬ 
mehr wird man, selbst unter der Voraus¬ 
setzung, daß es wünschenswert erschiene, 
eine besonders hoch gesteigerte Fieber¬ 
temperatur zu bekämpfen, mit Vorsicht und 
Bedacht, vor allem mit Maß, das Herab¬ 
mäßigen der Temperatur in die Wege 
I zu leiten haben. Ich habe diese Tatsachen 
| in der erwähnten Studie dahin zusammen¬ 
gefaßt, daß ich erklärte, das Gefahrdroh¬ 
ende bei den Infektionskrankheiten der 
Kinder liege nicht sowohl in der hyper- 
pyretischen Temperatur an sich, als viel¬ 
mehr in der toxischen allgemeinen Wir¬ 
kung der Krankheitserreger, für welche 
die hyperpyretische Temperatur nur als 
ein einzelnes Phänomen zum Ausdruck 
gelangt. — Diese Allgemeinwirkungen 
der Krankheitserreger und ihrer Toxine, 
welche das Fieber begleiten, sind es, 
welchen in erster Reihe die Aufmerksam¬ 
keit des Arztes am Krankenbette des 
Kindes zugewandt bleiben muß; sie sind 
es, die das therapeutische Handeln be¬ 
stimmen. 

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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Oktober 


Die toxischen Wirkungen geben sich, 
wie Ihnen ja allen bekannt ist, an fast allen 
Organen, aber je nach der besonderen 
Eigenschaft (Affinität), sei es der toxischen 
Körper selbst, oder auch je nach der be¬ 
sonderen Disposition des Erkrankten, in 
mehr oder weniger großer Verschieden¬ 
heit kund. i 

In hervorragender Weise wird das 
Nervensystem, und zwar bei Kindern zu¬ 
meist sehr frühzeitig in Mitleidenschaft ge¬ 
nommen; so sehen wir beim Anfang der 
Erkrankung schon Erbrechen, Kopfschmerz, 
allgemeine Hinfälligkeit, Unruhe bis zu 
Konvulsionen, Delirien und auch soporöse 
Zustände in die Erscheinung treten. — Mit 
mehr oder weniger langer Dauer und mit 
mehr oder weniger ausgeprägter Intensität 
treten diese Symptome in dem Krankheits¬ 
verlaufe hervor und werden zur Grundlage 
therapeutischer Indikationen und von Ma߬ 
nahmen, die sich dann bei den meisten 
akuten Krankheiten, welcher Art der Ver¬ 
lauf auch sonst sei, wiederholen. 

Nicht minder intensiv sind Erschei¬ 
nungen am Zirkulationsapparat. Gesteigerte 
Herzaktion, Pulsfrequenzen bei Kindern 
bis 160—180 und noch mehr gehören nicht 
zu den Seltenheiten; Arythmie und Herab- 
gehen der Pulsspannung — also Zustände 
von Herzschwäche —, nicht so häufig viel¬ 
leicht wie bei Erwachsenen, treten sie 
meist doch auch in die Erscheinung; sie 
sind, wie ich schon angedeutet habe, für 
Kinder im allgemeinen nicht im entfern¬ 
testen so gefährlich wie für Erwachsene; 
sie werden aber freilich auch hier und da 
bedrohlich und können schließlich als funk¬ 
tioneile Störungen, Kollapszustände, bei 
langer Dauer des Krankheitsprozesses aber 
auch durch anatomische Läsion des Herzens, 
durch Degeneration des Herzmuskels, ge¬ 
fährlich werden. Bei einzelnen Infektions¬ 
krankheiten, so beispielsweise bei Gelenk¬ 
rheumatismus, Diphtherie, sind die Toxin¬ 
wirkungen durch die augenscheinlich be¬ 
sonderen Affinitäten der Toxine zum Herzen 
ganz besonders zu berücksichtigen. — Bei 
anderen sind es die Veränderungen der 
Blutgebilde, Vermehrung oder Verminde¬ 
rung der Leukozyten, hämolytische, die 
Erythrozyten schädigende Vorgänge, die 
unsere Aufmerksamkeit erheischen. 

Sind die Respirationsorgane nicht schon 
die von Hause aus eigentlich in Angriff ge- 
nommenenen, wie bei der genuinen Pneu¬ 
monie, so werden sie doch leicht und 
häufig in Mitleidenschaft gezogen; augen¬ 
scheinlich durch die gelegentlich der 
Störungen der Herzaktion einsetzenden 


Zirkulationsstörungen und die damit be¬ 
dingten exsudativen Vorgänge. So sind 
Bronchitis, Bronchopneumonien häufige und 
unbehagliche Begleiter der Mehrzahl der 
akuten Infektionskrankheiten. 

Sehr früh schon zumeist funktionell,, 
aber auch anatomisch geschädigt werden 
die Digestionsorgane. Anorexie, und zwar 
meist vollkommenes Darniederliegen des 
Appetits bei ausgeprägtem Durstgefühl, 
Erbrechen, Diarrhoeen oder hartnäckige Ob¬ 
stipation charakterisieren eine große Anzahl 
der akuten toxischen Prozesse; damit geht 
nun begreiflicherweise je nach der Dauer 
Gewichtsverlust, Abmagerung und allge¬ 
meiner Verfall einher, sofern man nicht 
von vornherein darauf bedacht ist, den¬ 
selben durch geeignete Ernährung der 
Kranken entgegenzuwirken. Wir werden 
erkennen, daß hier sehr bedeutsame Auf¬ 
gaben einer allgemeinen und verständigen 
Therapie erwachsen. 

Auch die Harnorgane werden in Mit¬ 
leidenschaft gezogen; begreiflicherweise, 
da schließlich den Nieren die Aufgabe zu- 
fällt, einen großen Teil der Krankheits¬ 
erreger und toxischer Substanzen aus dem 
Organismus mit dem Harn auszuscheiden, 
sei es nun als noch wirksame oder durch 
Abtötung und chemische Wandlung und 
Bindung veränderte und unschädlich ge¬ 
machte Körper; eine Aufgabe, welcher die 
Nieren vielfach nicht ohne eigene Schädi¬ 
gung sich zu unterziehen vermögen. 

M. H.! Es sollte Ihnen mit diesen 
kurzen Andeutungen nur vor die Augen 
geführt werden, wie umfangreich die all¬ 
gemeinen Wirkungen der schädigenden 
toxischen Substanzen werden. Fast immer 
aber und nur der Zeit und dem Grade 
nach verschieden tritt als typischer und 
charakteristischer Ausdruck der Infektion 
und der Intoxikation die gesteigerte Tem¬ 
peratur in die Erscheinung. 

Wir wissen, daß all die erwähnten Vor¬ 
gänge — das Fieber eingeschlossen — unter 
dem Einflüsse der Abwehrtätigkeit des Or¬ 
ganismus, des Kampfes gegen die Infektion 
und Intoxikation, welcher Art dieser nun auch 
sei, entstehen; sie sind der Ausdruck der 
Antiaktion desselben gegenüber den dem 
Organismus heterogenen aggressiven Fak¬ 
toren, letztere sind als Antigene die 
Agentien, welche die Zellengruppen zu 
Abwehraktionen und -leistungen spornen. 

Bei einzelnen Krankheiten vermögen 
wir nun mit relativ einfachen Untersuchungs¬ 
methoden zu verfolgen, daß diese Wehr¬ 
leistungen des Organismus nur vollzogen 
werden unter der Einwirkung der gestei- 


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Oktober 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


439 


gerten Körpertemperatur; so weiß man 
beispielsweise, daß die Hyperleukozytose 
bei der genuinen Pneumonie, welche die 
Vorgänge der Krise einleitet, wesentlich 
unter dem Einflüsse erhöhter Körpertem¬ 
peratur vor sich geht; daß so in der Tem¬ 
peratursteigerung des Fiebers, so bedroh¬ 
lich dieselbe auch unter Umständen er¬ 
scheinen kann, dennoch von der Natur ein 
wesentlicher Faktor der einzuleitenden 
Heilung geschaffen sein kann. Diese eigen¬ 
artige Stellung, welche das Fieber bei den 
durch Infektion eingeleiteten Vorgängen im 
Organismus einnimmt, daß es, an sich gefahr¬ 
drohend und bedrohlich, dennoch mit den 
Heil Vorgängen eng verknüpft ist, hat es 
dem Arzte von jeher schwer gemacht, in 
. der einzelnen Krankheitsform sowohl, wie 
noch ganz besonders bei dem einzelnen 
Kranken die Entscheidung zu treffen, ob 
überhaupt und bis zu welchem Grade die 
Fieberbekämpfung notwendig oder gar zu¬ 
lässigsei; notwendigem eine durch die Tem¬ 
peratursteigerung an sich gesetzte Schädi¬ 
gung der Organe zu verhüten, zulässig, um 
nicht in den von der Natur angebahnten 
Immunisierungs- und damit also Heilungsvor¬ 
gang ungeschickt und störend einzugreifen. 

Verfolgt man die um diese Frage sich 
konzentrierenden theoretischen und experi¬ 
mentellen Arbeiten, so erkennt man aus 
ihnen, wie überaus schwierig es ist, theo¬ 
retisch zu einer Entscheidung zu gelangen. 
Ich kann hier nur auf die um dieses so schwie¬ 
rige Gebiet seit vielen Jahren sich konzentrie¬ 
renden Arbeiten hinweisen, deren Be¬ 
deutung Wassermann in dem Kapitel 
„Wesen der Infektion 4 * des K o 11 e -Wasse r- 
mannschen Handbuchs der pathogenen 
Mikroorganismen, ins rechte Licht gestellt 
hat (s. Bd. 1. S. 267 fl.). Wassermann 
kommt nach einer immerhin stattlichen 
Uebersicht der wichtigsten Erscheinungen 
der Literatur über die Phasen des Kampfes 
in der Frage von der ätiologischen Bedeu¬ 
tung des Fiebers, zu dem Schlüsse daß man 
zwar das Fieber gleichsam als Indikator 
einer Teilerscheinung einer für den Ab¬ 
lauf der Infektion nützlichen Reaktion des 
Organismus betrachten dürfe, daß indes 
Ursachen und Wesen des Fiebers in In¬ 
fektionen vielartig und wechselnd sein 
können, so daß man also für die einzelne 
Krankheit und gar für den einzelnen Fall 
bei einer besonderen Infektionskrankheit 
aus den allgemeinen Prinzipien für die 
Frage der Behandlung sichere Schlüsse 
nicht ziehen kann, vielmehr ist man auf 
„eingehende Studien der einzelnen Infek¬ 
tionen 41 angewiesen. 

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So hat es also für den Praktiker wenig 
Zweck, auf das Für und Wider in den 
theoretischen Erörterungen des näheren 
einzugehen; die Literatur 1 ) ist bis in die 
jüngste Periode überaus mannigfach und 
in den Ergebnissen schwankend. Mehr als 
je muß man auf die in der Klinik 
zu erwerbende und auf die von dem Prak¬ 
tiker am Krankenbett zu erringende Erfah¬ 
rung hinweisen, wenn es sich darum han¬ 
delt, in dem einzelnen Infektionsfall die 
Frage der Notwendigkeit und des Maßes 
der Fieberbekämpfung zu entscheiden. Diese 
Erfahrung am Krankenbett leitet aber etwa 
zu folgenden Schlüssen, die ich in einigen 
kurzen Sätzen fixieren möchte. 

1. Hohe und nicht gerade exzessive 
Temperatursteigerungen (etwa bis 40,5 und 
selbst 41 o C) werden im ganzen, insbeson¬ 
dere von Kindern, nicht allzu schwer ver¬ 
tragen, wenn sie nur kurze Zeit andauern. 
Ausgeschlossen müssen selbstverständlich 
etwa durch Eiterungsprözesse (Otitis, 
Zystitis usw.) örtlich bedingte und unter¬ 
haltene Temperaturen werden. Sie rechnen 
nicht hierher. 

2. Exzessive Temperaturschwankungen 
zwischen 40—41 0 C und 36 o C sind der 
Ausdruck septischer Infektion und nicht so¬ 
wohl an sich, als vielmehr um des Pro¬ 
zesses willen, den sie indizieren (Septi- 
kämie, Pyämie), gefährlich. 

3. Längerdauernde hohe Fiebertempe¬ 
raturen, ohne wesentliche Remissionen über 
39° C bis 41° sind unbedingt gefährlich; 
sie sind der Ausdruck schwerer Infektion, 
erschöpfen aber auch gleichzeitig an sich 
den Organismus. 

4. Langdauernde, selbst nur in mittleren 
Temperaturschlägen schwankende Fieber¬ 
bewegungen zwischen 37,8—39 o C können 
um ihrer Dauer willen gefährlich werden, 
weil sie den Organismus durch die be¬ 
gleitenden Phänomene (Anorexie, Diar¬ 
rhöen usw.) erschöpfen. 

Was werden wir aus diesen allgemeinen 
Sätzen für die Praxis zu lernen haben? 

1. Gegen momentane, eben erst ein¬ 
setzende, selbst hohe Temperatursteige¬ 
rungen, hat der Arzt nicht nötig mit Anti- 
pyrese einzuschreiten, oder nur dann, wenn 

1 ) s. Henrijean, Revue de m6dicine 1889. 

Nr. 11. 

Rovighi, Lavori dei Congr. di medic. intern. 

1890. Zentrbl. f. Bakt. u. Parasit. Bd. 8, 1890. 

A. Loewy u. P. F. Richter, Virchows Arch. 

Bd. 145, 1896. 

Paltauf, Wiener klin. Wochschr. 1898, Nr. 14. 

s. auch Wolfgang Weichardts Jahresberichte 
der Inununitätsforschung von 1905 an. Verlag: Fer¬ 
dinand Enke, Stuttgart. 

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440 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Oktober 


besondere Umstände (Konvulsionen, De¬ 
lirien, große Unruhe usw.) dazu zwingen. 

2. Die Antipyrese wird erst notwendig, 
wenn hohe Temperaturen (ohne wesent¬ 
liche Remissionen) längere Zeit hindurch 
(5, 6, 8 Tage) andauern. 

3. Die Antipyrese wird weiterhin eben¬ 
falls notwendig, wenn mittelhohe Tempera¬ 
turen längere Zeit hindurch (8 — 14 Tage) 
andauern (so bei Bronchopneumonien). 

4. Die septischen Fieber (mit exzessiven 
Schwankungen) sind mit antipyretischen 
Mitteln, zu allermeist Oberhaupt nicht zu 
bekämpfen. Sie sind refraktär, und weichen, 
soweit es überhaupt möglich ist, meist nur 
chirurgischen Eingriffen, soweit solche durch 
örtliche Affektionen indiziert sind. 

Dies sollen wohl auch im allgemeinen 
die Grundsätze der Fieberbekämpfung der 
Infektionskrankheiten sein. Man wird an 
der Hand derselben sich vielleicht nicht 
in allen, aber doch in vielen Fällen für 
sein Handeln am Krankenbett zurechtfinden. 

Ueber die Art der Antipyrese habe ich 
mich seinerzeit in meiner oben zitierten 
Broschüre genügend ausgesprochen, und 
darf hier zusammenfassend nur wieder¬ 
holen, daß man am besten 

1. wenn irgendmöglich innerliche Anti- 
pyretika meidet, vielmehr den Versuch 
macht, mit Abkühlungen, Eisblasen, kühlen 
Waschungen, Einpackungen, Bädern (bei 
Kindern nicht unter 20o R.) auszukommen. 
Man vergesse nie, daß die meisten inner¬ 
lichen antipyretischen Mittel Herz oder das 
Blut schädigende Mittel sind; 

2. daß man keinerlei Antipyrese an¬ 
wende, die nicht von der Anwendung von 
roborierenden Mitteln begleitet wird; 

3. daß im allgemeinen die Antipyrese 
die Herzkraft nicht schwächen darf, viel¬ 
mehr muß sie mit Mitteln erreicht werden, 
welche dem Herzmuskel zu Hilfe kommen. 

Ich gehe hier weiterhin absichtlich auf die 
einzelnen Antipyretika nicht ein, verweise 
vielmehr auf das, was ich in der mehrfach 
zitierten Broschüre bereits ausgeführt habe; 
ich will nur ganz allgemein zur Begründung 
der hydriatischen Antipyrese gegenüber der 
Anwendung innerlicher Mittel anführen, 
daß die relativ große Körperoberfläche des 
Kindes im Verhältnis zu seinem Körper¬ 
volumen von Hause aus auf die große 
Wirksamkeit dieser wärme entziehenden 
Methode beim Kinde hinweist und deshalb 
auch um so besser verwertbar ist, weil sie 
vortrefflich, je nach der Ausgiebigkeit der 
Anwendung am Krankenbett des Kindes 
dosiert und dem einzelnen Kinde angepaßt 
werden kann. — Damit soll nun freilich über 


die innerlichen Antipyretika, die sicherlich 
oft nicht zu entbehren sind, der Stab nicht 
gebrochen werden; nur soll man bei 
Kindern damit nicht ohne ganz bestimmte 
und wohl erwogene Indikationen Vorgehen, 
weil sie immer eine gewisse Schädigung 
der Herzkraft und des Blutes der Kinder 
involvieren. 

Nicht umgehen will ich aber gelegent¬ 
lich der Frage der Anwendung der Robo- 
rantien und Stimulantien die Frage der 
Verwendung des Alkohols. Hier kann man 
nur aus der Erfahrung heraus urteilen. 
Reinen Alkohol, sei er auch verdünnt, bei 
kranken Kindern anzuwenden, wird kaum 
einem erfahrenen Arzte beikommen, 
wenigstens nicht bei uns in Deutschland. 
Ganz etwas anderes ist es mit der An¬ 
wendung von Wein. 

Meiner Auffassung nach hat alles, was 
im Kampfe der Meinungen für und wider 
den Alkohol geschrieben worden ist und 
noch wird, gar nichts mit der Frage der 
Darreichung von Wein bei den Infektions¬ 
krankheiten der Kinder zu tun. Der Wein 
kommt nichts weniger, als lediglich durch 
seinen Gehalt an Alkohol, als roborieren- 
des und stimulierendes Mittel am Kranken¬ 
bette der infektionskranken Kinder zur 
Wirkung. Der Wein ist ein sehr kom¬ 
plexes, inhaltsreiches Medikament, und 
bleibt, wie aus der praktischen Erfahrung 
heraus geurteilt werden kann, das beste 
roborierende und stimulierende Mittel für 
Kinder, welche länger dauernden, mit 
Fieber verlaufenden Prozessen unterliegen. 

Ich halte denselben für geradezu unent¬ 
behrlich und möchte ihn nicht missen, 
kann ihn selbst bei solchen Infektions¬ 
krankheiten, welche durch ihre Eigenart be¬ 
sonders die Nieren, wie beim Scharlach, 
mitzubeteiligen vermögen, in dem Augen¬ 
blicke nicht missen, wenn im ersten Shok 
die Kranken der malignen Einwirkung des 
Virus auf das Herz zu erliegen drohen; 
für die mit längerem Fieber einhergehenden 
Infektionskrankheiten, wie den Typhus, halte 
ich ihn für das vorzüglichste Unterstützungs¬ 
mittel der hydriatischen Antipyrese; er ist 
mir lieber als die sonst vielfach an ge¬ 
wendeten Herztonika und Exitantien, wie 
Digitalis, Koffein, Kampher, Strychnin usw. 
wenngleich wohl auch diese Mittel gewiß 
nicht immer entbehrt werden können. So 
sehr mir bekannt ist, daß diese Anschauung 
und Erfahrung auf Gegnerschaft stößt, so 
wenig können mich die theoretischen Er¬ 
örterungen und selbst die praktischen Er¬ 
fahrungen über die Gefährlichkeit des Al¬ 
kohols als Genußmittel für gesunde Kinder, 


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Oktober 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


441 


von der Erfahrung der ausgezeichneten 
Wirkung des Weins auf längere Zeit hin¬ 
durch fiebernde Kinder, abdrängen. Darum 
rate ich für die Mehrzahl der Infektions¬ 
krankheiten zur Anwendung einer mäßigen 
aber wirksamen Gabe guten (ich verwende 
meist griechische Weine, aber auch Bor¬ 
deaux- und Sherry wein) Weines, von 
25—50—100 g pro die bei Kranken von 
5—10—14 Jahren, in Verbindung mit der 
allgemeinen Antipyrese, beziehungsweise 
auch bei lokaler Antipyrese (beispielsweise 
in der fibrinösen Pneumonie). 

Wie aber hervorgehoben, ist die Infek¬ 
tion nicht allein durch das Fieber, sondern 
durch eine größere Reihe von besonderen 
Erscheinungen, die durch die Mitleidenschaft 
der verschiedensten Organe ausgelöst 
werden, gekennzeichnet. Wir haben diese, 
da sie doch immer zu den Allgemein¬ 
erscheinungen rechnen, wenn auch nur 
kurz in den Bereich unserer Betrachtungen 
zu ziehen. 

Obenan fesseln unsere Aufmerksamkeit 
die nervösen Symptome: Schlaflosigkeit, 
Unruhe, Delirien, Konvulsionen. Sie können 
lediglich durch das Fieber bedingt sein 
und weichen alsdann der angewandten 
Antipyrese mit dem HerabdrQcken der 
Temperaturkurve. Wo dies nicht der Fall 
ist, und sie durch die Eigenart der Intoxi¬ 
kation oder der Individualität der Kranken 
bedingt werden, erheischen sie besondere 
Maßnahmen. Es kann notwendig werden, 
einem Kinde, das längere Zeit hindurch 
schlaflos und unruhig sich umherwälzt, so 
ungern man dies auch tun mag, durch 
Narkotika Hilfe zu schaffen; soll ich ein 
besonderes empfehlen, so vermag ich als 
angenehmes Sedativum das Veronal anzu¬ 
geben. In Gaben von 0,1—0.2 bei Kranken 
von 5—10—14 Jahren bewähit es sich als 
gutes Mittel. Freilich ist es geboten, das 
Mittel absolut nur so lange anzuwenden, als 
es unbedingt unentbehrlich erscheint. Un¬ 
ruhe, Delirien, Jaktationen wird man immer¬ 
hin nebenher neben der allgemeinen Anti¬ 
pyrese durch örtliche Applikation von Eis 
zu bekämpfen versuchen, während tieferen 
soporösen Zuständen gegenüber die all¬ 
gemeine Antipyrese, eventuell mit dem 
mechanischen Effekt kalter Uebergießungen 
kombiniert werden kann. 

Die Exzitationszustände des Herzens und 
des gesamten Zirkulationsapparates werden 
gleichfalls in der auf das Herz applizierten 
Eisblase ein gutes Mittel finden, in Ver¬ 
bindung eventuell mit der Anwendung 
der eigentlichen Herzmittel, wie Digitalis, 
Koffein usw., wenn Schwächezustände des 


Herzens sich einstellen. In letzterem Falle, 
bei Herzarythmie, schwach und klein 
werdendem, allzu frequentem Puls, wird 
man immer wieder mit Vorteil auf den 
Gebrauch des Weines zurückgreifen, und 
nur im großen Notfälle, wo alles zu ver¬ 
sagen droht, zu Kampfer und anderen 
Reizmitteln seine Zuflucht nehmen. Immer¬ 
hin ist es eine der wesentlichsten Aufgaben 
der Aerzte, bei Infektionskrankheiten stetig 
die Herzaktion zu überwachen und recht¬ 
zeitig dem Kranken beizuspringen. 

Für die allgemeinen Gefahren, die bei 
infektiösen Prozessen seitens des Respi¬ 
rationsapparates drohen, bieten meist schon 
die genannten Herzmittel gute Hilfe, denn 
zumeist sind die in den unteren Partien 
der Lungen eintretenden Katarrhe und 
Atelektasen die Folgen geschwächter Herz¬ 
aktion. Unterstützt kann die Wirkung 
dieser Mittel indes doch durch die Summe 
der Expektorantien, vor allem aber auch 
durch Sauerstoffeinatmungen werden. — 
Es sei dies hier nur angedeutet, ohne daß 
ich in die Details der Dinge weiter eingehen 
möchte. — Was für den Respirationsapparat, 
gilt auch für die Nieren. Albuminurie 
ist wie erwähnt, vielfach der Ausdruck der 
Infektion, oder der Ausscheidung von 
Toxinen und Krankheitserregern durch die 
hierbei geschädigten Nieren; sie kann aber 
auch durch fehlerhafte Herzaktion bedingt 
sein. Hier vermögen, solange es sich nicht 
um echte Nephritiden handelt, subkutane 
Injektionen von Kochsalzlösung, am besten 
der von mir verwendeten S^ige Lösung 
(hypotonische Lösung), in Mengen von 100 
bi3 200 g Abhilfe zu schaffen; im übrigen 
vermag Gebrauch von alkalischen Wässern, 
wie Wildunger, Vichy, Fachinger usw. 
durch Anregung der Diurese von Nutzen 
zu sein; wird doch durch dieselben der 
auszuscheidende Harn und mit ihm die 
die Nieren passierende Masse der Toxine 
verdünnt, und so für das Nierenparenchym 
weniger schädlich gemacht. 

Nicht minder von Bedeutung, das hin 
und wieder ebenfalls als ein Zeichen der 
Infektion in den Vordergrund tretende Er¬ 
brechen, oder auch die in gleicher Weise 
die Schwere der Infektion markierenden 
Diarrhoeen eingerechnet, sind die Sym¬ 
ptome der Mitbeteiligung des Ir.testinal- 
traktus. Beide Erscheinungen pflegen bei 
Kinderrt ganz besonders in dem Beginne 
der Erkrankung in den Vordergrund zu 
treten und sie sind es vor allem, welche 
die schweren Kollapserscheinungen von 
Anfang an bedingen. Auch hier sind 
Kochsalzinfusionen und nebenher der Ge- 


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442 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Oktober 


brauch von alkalischen Wässern, eben¬ 
so wie der von kaltem Tee die verläßlich¬ 
sten Mittel, soweit nicht stimulierende Me¬ 
dikationen, wie wiederholte Kampferinjek¬ 
tionen und die innerliche Darreichung 
eines gekühlten Getränkes, noch nötig 
werden. Gegen die Diarrhoeen wird neben¬ 
her besonders nur einzuschreiten sein. 
Ich behalte mir aber vor, in einer der 
folgenden Abhandlungen, speziell über die 
Behandlung des Typhus auf diese dort 
besonders interessierende Frage noch ein¬ 
gehender zurückzukommen. 

M. H.! Sie sehen, wie vieles an Umsicht 
und Hilfeleistung seitens des behandelnden 
Arztes auch nur um der allgemeinsten In¬ 
dikationen willen von dem Kranken bean¬ 
sprucht wird, und doch wäre es ein 
schlechter Arzt, der sich damit begnügte, 
und nicht noch in folgendem die Haupt¬ 
faktoren seiner Tätigkeit umfaßte; nämlich 
in der Leitung der allgemeinen hygienischen 
Maßnahmen und der Diät. Nehmen sie 
es nicht für überflüssig, daß davon noch 
im besonderen gesprochen wird, weil an¬ 
geblich alles ja bekannt, hinlänglich auch 
erprobt und Gemeingut ist; und doch wird 
kaum je so viel an anderer Stelle am 
Krankenbett gefehlt wie gerade hier. Licht 
und Luft sind neben Reinlichkeit die wich¬ 
tigsten Heilfaktoren. Man sorge dafür, daß 
dem kleinen Kranken das beste, luftigste 
Zimmer, auch das lichthellste und freund¬ 
lichste gegeben werde, wobei das Lager 
am besten freistehend, nicht in irgend¬ 
einem Winkel des Raumes, nicht hinter 
Schränken und Kommoden usw. gewählt 
werde. Die beliebten Vorhänge über dem 
Bette sind schädlich, weil sie den Kranken 
zwingen, in dem Dunstkreise seiner eigenen 
Exhalationen zu verbleiben und ihm die 
Luftzufuhr nehmen. Man sorge auch dafür, 
daß die Erwärmung des Zimmers, die der 
Krankheit und dem Zustande des Kranken 
entsprechende sei, daß das Krankenzimmer 
ebenso wenig überhitzt wie unterkühlt sei. 
So nehme man auch auf die Kranken¬ 
bekleidung Bedacht. Sie darf bei hebernden 
Kranken begreiflicherweise nicht zu dicht 
und zu warm sein; auch Bett und Decke nicht. 

Dies alles und mit ihm die allergrößte 
Sauberkeit, die ebensowohl dem Körper 
des Kranken, wie der Leib- und Bettwäsche 
desselben gewidmet sein muß, sind zum 
mindesten die Mittel, Komplikationen seitens 
der Respirationsorgane, wie Bronchitiden 
und Bronchopneumonien, und ebenso Haut¬ 
schädigungen, wie Intertrigo oder gar De¬ 
kubitus zu verhüten. An sich leiden Kinder 
nur äußerst selten an Dekubitus, doch 


können immerhin Vernachlässigung der 
Hautpflege und das Liegenlassen im Schmutz 
von Urin und Fäzes die fatalsten Schäden 
bedingen und sich zum mindesten in stark 
verzögerter Rekonvaleszenz rächen. — Es 
kaiyi mit nicht genug Nachdruck auf die 
Notwendigkeit der Erfüllung dieser Forde¬ 
rungen, der so viel vernachlässigten und 
versäumten, hingewiesen werden. 

Das gleiche läßt sich von der Diät sagen. 

Die Diät der Kinder soll dem Kalorien- 
bedarf angemessen reich, aber auch ebenso 
leicht verdaulich und einfach sein, wobei 
immerhin eine gewisse Rücksicht auf Ver¬ 
wöhnung und Liebhaberei bei Kindern mit 
durchgehen kann, vorausgesetzt, daß diese 
nicht das Notwendige und einzig Erlaubte 
und Nützliche verdrängen. Ueber den 
Kalorienbedarf der kranken Kinder haben 
wir durch praktische Studien einigermaßen 
Aufschluß erlangt; ich darf hier wohl auf 
die von mir in Gemeinschaft mit Dronke 
und Sommerfeld 1 ) im Kinderkranken¬ 
hause gemachten Studien verweisen; freilich 
beziehen sich die von uns gefundenen 
Zahlen lediglich auf bereits rekonvaleszente 
Kinder und sind größer ausgefallen, als 
etwa für fiebernde und noch dazu hoch¬ 
fiebernde Kinder passend sein würde. — 
Indeß würde es wirklich schwierig sein, 
wollte man Kalorienziffern lediglich für 
fiebernde Kinder fixieren. Hier ist tatsäch¬ 
lich alles individuell, je nach der Beschaffen¬ 
heit des KrankheitsVorganges und des Er¬ 
krankten. Alles hängt so ab von der inner¬ 
halb der Fieberzeit dem Kinde verbliebenen 
Fähigkeit, Nahrung aufzunehmen und zu 
verarbeiten, hängt ab von dem Grade der 
herrschenden Anorexie, vom DurstgefÜhl, 
von dem Sensorium usw., und allgemeine 
Regeln für die Quanten würden sich even¬ 
tuell nur aus einer großen Anzahl von Be¬ 
obachtungen allenfalls schätzungsweise fest¬ 
legen lassen. Der gut behandelnde und gut 
beobachtende Arzt wird von der geeigneten 
Fieberkost dem Kranken immer soviel 
beibringen lassen, als zur augenscheinlichen 
Erhaltung des Kranken nötig erscheint, 
dies aber auch eventuell mit einigem Zwang. 
Festgehalten muß allerdings werden, daß 
der Kranke innerhalb der Fieberperiode 
weder wesentlich abmagert noch auch 
sonst irgend welchen Erschöpfungszustän¬ 
den anheimfällt. Gar oft ist eintretende 
Herzschwäche bei Kindern die Folge un¬ 
zureichender Ernährung während des 
Fiebers. Dies muß und kann vermieden 
werden. Daher wird von Hause aus eine 
im ga nzen reich N-haltige möglichst kon- 

l ) Archiv f. Kinderheilkunde, Bd. 16 u. Bd. 23. 


j^itizsr: by 


Go. gle 


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Oktober 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


443 


zentrierte Kost zu wählen sein, und in 
einer möglichst leicht verdaulichen, das ist 
also in flüssiger Form; ist es doch fast 
selbstverständlich, daß fiebernde Kinder 
nicht zum Kauen, höchstens zum Schlürfen 
und Schlucken gebracht werden können. 
Erwachsene übrigens, so lange sie nicht 
bei völlig freiem Sensorium sind, zumeist 
auch; so bewegt sich die Ernährung der Kin¬ 
der in Darreichung ausreichender Mengen 
von Milch, von Bouillon, rohen Eiern 
und Wein. Damit kann man aber tatsächlich 
selbst schwer darniederliegende Kinder so 
gut erhalten, daß sie kaum an Gewicht ver¬ 
lieren, und nach Erledigung der Fieber¬ 
periode in eine um so günstigere und 
rasche Rekonvaleszenz gehen. 


Soviel, meine Herren, in großen Um¬ 
rissen über die Allgemeinbehandlung in- 
ftkliös und fiebernder Erkrankter. Vieles, 
„ ja vielleicht alles, kommt hier auf die Er¬ 
fahrung an, und der glücklichste Arzt 
wird am Krankenbette schwer erkrankter 
und hochfiebernder Kinder der sein, wel¬ 
cher unter Zugrundelegung allgemeiner 
therapeutischer Grundsätze und Grundzüge 
sich doch möglichst frei von der Schablone 
und von schädigender Polypragmasie hält, 
der tatsächlich immer nur den Kranken, 
nicht die Krankheit behandelt, der vor 
allem der Natur nicht Gewalt antun will, 
und dem bei allem, was er tut, vor Augen 
steht, daß, wie unsere Alten lehrten: na¬ 
tura sauat. — 


Aus der Dr. Brügelmannschen Klinik ztt Südende (Berlin). 

Ueber den Stand der heutigen Lehre vom Asthma. 

Von Dr. Oskar Weiß, Ieit. Arzt. 


Es gibt wohl kaum eine Krankheit oder 
besser gesagt einen Symptoraenkomplex, 
welcher vielköpfiger, verworrener und 
dunkler uns zur Entscheidung unterbreitet 
wird, als das Asthma. Da ist es denn kein 
Wunder, daß das, was der eine als patho- 
gnomisch ansieht, dem andern als acciden- 
tär erscheint, und daß die Mittel, die dem 
einen im konkreten Fall geholfen haben, 
den andern elend im Stiche lassen. 

Ich möchte im folgenden eine Dar¬ 
stellung der Auffassungen von Brügel- 
mann geben, wie sie in der 5. Auflage 
seines Lehrbuches über Asthma vorliegen. 
Da Brügelmann in dreißigjähriger Tätig¬ 
keit 3510 Asthmafälle zu sehen und zu be¬ 
handeln Gelegenheit hatte, verdienen seine 
Anschauungen wohl Gehör und Beachtung. 

Brügelmann geht von der physiolo¬ 
gischen Tatsache aus, daß jeder Reiz, der 
den menschlichen Körper trifft, nur durch 
Mitwirkung des Zentralorgans zur Per¬ 
zeption, desgleichen zur Reaktion gelangt 
und weist nach, daß wohl bei keinem Men¬ 
schen Aktion, Perzeption und Reaktion sich 
einwandfrei abspielen, sondern daß in den 
allermeisten Fällen kleinere oder größere 
Widerstandsdefekte in den betreffenden 
zur Perzeptions- und Reaktionsleitung ge¬ 
hörenden Gehirnzentren bestehen, wodurch 
die Reize sehr häufig von anderen Zentren 
aufgenommen und weitergeleitet werden, 
obwohl letztere eigentlich, d. i. normaler¬ 
weise, gar nicht in Betracht kommen sollten. 
Daß dies Vorkommnisse sind, welche wir 
alltäglich beobachten, ist ganz gewiß bei 
den uns hier am meisten interessierenden 
Zentren zutreffend: Respirationszentrum, 


vasomotorisches Zentrum, sensitive Zone 
der dura und pia mater. Die Widerstands¬ 
kraft dieser Zentra ist stets eine verschie¬ 
dene, je nach der Individualität, Kraft, 
Lebensweise, erblichen Veranlagung und 
Erziehung der betreffenden Person. 

Diese Betrachtung fühlt uns dann zu 
der einzig richtigen Auffassung des Wortes 
* Disposition 11 , die ja zum großen Ttil auf 
obigen Momenten beruht. 

DerSymptomenkoraplex, den wir Asthma 
nennen, stellt nun vor allem eine schwere 
Atemanomalie dar; es versteht sich daher 
von selbst, daß das Atmungszentrum in 
erster Reihe daran die Schuld trägt. 

Und so muß der Forschung nach dem 
Wesen des Asthmas der Satz vorangestellt 
werden: Nur durch die Reizung des 
Respirationszentrums kann ein Asth¬ 
maanfall zustande kommen; ohne 
Reizung des Respirationszentrums 
kein Asthma. 

Sobald dies als absolut richtig aner¬ 
kannt ist, ergibt sich anschließend sofort 
die Frage: Wodurch nun wird das Respi- 
rationszentrum gereizt? Das Studium dieser 
Frage bedurfte natürlich langer Zeit. Und 
es ist wohl auch nur dem Umstande zu¬ 
zuschreiben, daß sich die Brügelmann¬ 
schen Forschungen über so lange Jahre 
erstrecken, daß wir die Frage heute er¬ 
schöpfend dahin beantworten können: Die 
Reizung des Respirationszentrums kommt 
auf traumatischem, reflektorischem 
und toxischem Wege zustande. Bezüg¬ 
lich des ersten Weges möchte ich nur an 
das bekannte Vorkommen erinnern, daß 
einem Menschen vor Angst und Schreck 

56* 


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444 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Oktober 


der Atem stockt — ein ganz schlagendes 
Beispiel für das Zustandekommen des 
Asthmas — denn bei Sorge, Kummer, ja 
schweren Autosuggestionen tritt die Atem¬ 
anomalie immer wieder in die Erscheinung 
und zwar fortschreitend bis zur trauma¬ 
tischen asthmatischen Angstneurose, welche 
den fürchterlichsten Grad von Asthma 
zeigt, den wir kennen. Durch ein solches 
Trauma cerebri wird das ganze Gehirn 
schwer gereizt, also auch das Respirations¬ 
zentrum, und ebenso wie die anderen 
Zentren Reflexe daraufhin auslösen, tut es 
das Respirationszentrum auch und erst 
recht, wenn es der locus minoris resi- 
stentiae ist. 

Sodann das ganze Heer der Reflexe. Von 
dem schmerzenden Haarboden beginnend, 
Augen, Ohren, Nase, Rachen, Kehlkopf, 
Bronchien, Magen, Darm, Geschlechts¬ 
organe, Füße und vor allem die äußere 
Haut, sowie die Schleimhäute und vieles 
mehr erhalten oder bilden Reizzustände, 
welche, auf das Zentralorgan übertragen, 
bei herabgesetzter Widerstandsfähigkeit des 
Respirationszentrums stets einen Reflex des 
letzteren auslösen. 

Drittens endlich kommt die toxische 
Wirkung des Blutes in Betracht, die anor¬ 
male Ernährung des Zentralorgans und 
somit des geschwächten Respirationszen¬ 
trums. Dies wird der Fall sein bei allen 
Zuständen, bei denen eine Vermehrung der 
Kohlensäure im Blute eintritt, also bei 
Herz- und Nierenkrankheiten, Plethora, 
Respirationshindernissen, ja künstlich auch 
bei Muskelüberanstrengungen, besonders 
bei übermäßigem Laufen, Tanzen usw. 

In diesen drei ganz verschiedenen Vor¬ 
gängen finden wir stets eine Reizung des 
Respirationszentrums und zwar eine um so 
heftigere, je schwächer und leichter zu be¬ 
einflussen dasselbe ist. 

Also in allen Fällen eine Reizung des 
Respirationszentrums als Conditio sine qua 
non für das Zustandekommen eines Asthma¬ 
anfalles. 

Dies hatte Brügelmann bereits in den 
früheren Auflagen seines Lehrbuchs aus¬ 
führlich dargelegt und hatte in Aerzte- 
kreisen große Anerkennung gefunden, aber 
der Anfall selbst, der von allen Autoren 
als Bronchialkrampf angesprochen wird, 
blieb noch unerklärt, ebenso auch die ganz 
charakteristischen Töne vom leichten Pfeifen 
bis zum vieltönigen kochenden und rasseln¬ 
den Geräusch. Auch hierfür bringt er jetzt 
eine Erklärung y und zwar hat die Einat¬ 
mung des Atropinnebels den Schlüssel ge¬ 
geben. Es ist heute wohl allgemein be¬ 


kannt, daß die Einatmung von Atropinnebel 
durch die Nase sehr häufig einen sofortigen 
Nachlaß des Asthmas hervorbringt Aehn- 
liches erreicht man durch Pinselung der 
Nase, ebenso des Nasenrachenraumes, und 
so lag es dann nahe, sich nach dem Zu¬ 
stand des letzteren besonders im Anfall 
umzusehen, zumal- fast alle Asthmatiker 
zuerst den Sitz ihres Krampfes in den Hals 
verlegen und über ein drückendes, zu¬ 
sammenschnürendes Gefühl oben im Pha¬ 
rynx klagen. Als ausgeprägtes Bild bei 
der postrhinoskopischen Untersuchung sehen 
wir nun im Anfall Schwellung und Rötung 
der Rachenmandel und der ganzen nächsten 
Umgebung. Besonders schön ist dies durch 
das von Reiniger, Gebbart & Schall neu- 
eingeführte Pharyngoskop zu beobachten. 
Geht man nun mit einem Pinsel, der in 
einer Atropin Kokainlösung getränkt ist, 
hinter der Uvula in die Höhe und touchiert 
die Mandel sowie die Umgebung ein- bis 
zweimal ganz energisch, so steht der An¬ 
fall stets und zwar solange, als der ihn 
verursachende Reiz nicht die künstliche 
Lähmung übertrifft. Dabei ist es ganz 
gleichgültig, wodurch das Asthma erzeugt 
wird, ob auf traumatischem, auf reflektori¬ 
schem oder auf toxischem Wege. Die 
Lähmung der Rachenmandel und ihrer 
Umgebung bzw. aller der hier in Betracht 
kommenden Nerven bringt sofort einen 
Stillstand des Asthmas hervor. Daraus 
folgt, daß dort der Sitz des Krampfes sein 
muß und weiter, daß das krankhaft ge¬ 
reizte Respirationszentrum den Krampf der 
Rachenmandel und der Pharynxmuskulatur 
als normale Reaktion erzeugt. Daß auch 
dort die Geräusche entstehen, beweist 
ebenfalls der Umstand, daß dieselben durch 
die Pinselung sofort verschwinden, also 
ganz bestimmt durch den Krampf entstan¬ 
den sind. 

Dies ist in Kürze die Brügelmannsche 
Vorstellung vom Asthma. Nach allem, 
was ich darüber höre und sehe, wird sie 
ärztlicherseits mit großer Anerkennung 
entgegengenommen, namentlich von den 
Männern der Praxis. 

Im Verfolg seiner Anschauungen nun 
ist Brügelmann schon lange zu der 
Ueberzeugung gekommen, daß die Migräne 1 ) 
und die Urtikaria durchaus als Schwester¬ 
krankheiten des Asthmas anzusehen sind 
und hat dies schon vor zehn Jahren aus¬ 
drücklich hervorgehoben. Jetzt kommt 
von Strümpell in einem Aufsatze der 

*) Die Migräne, ihre Entstehung, ihr Wesen und 
ihre Behandlung, von Sanitätsrat Dr. Brügelmann. 
Verlag von F. Bergmann, Wiesbaden 1909. 


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Oktober 


445 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Medizin. Klinik, Nr. 23,1910, zu demselben 
Ergebnis; er führt jedoch alle die hierher 
gehörenden Krankheiten auf exsudative 
Prozesse zurück. Dagegen bin ich der 
Meinung, daß die Exsudationen nicht die 
Ursache, sondern die Folge sind und er¬ 
innere daran, daß man diese Vorgänge so¬ 
wohl auf traumatischem, als auch reflekto¬ 
rischem Wege künstlich erzeugen kann. 
Wer kennt nicht die Wirkungen auf Blase 
und Darm nach Gemütsbewegungen, die 
reflektorische Diarrhoe nach Pinselung der 
Nase mit 20% Kokainlösung, umgekehrt 
das Nasenlaufen nach Uterinaflektionen 
(Regel) oder die reflektorische Sekretion 
der Bronchial- und Nasenschleimhaut nach 
nassen, kalten Füßen, auch Schweißfüßen, 
oder nicht die Migräne ganz reflektorisch 
nach Magenverstimmungen oder psychischen 
Schädlichkeiten, und gar die Urtikaria nach 
dem Genuß von bestimmten Speisen, nach 
bestimmten Gerüchen oder nach dem Be¬ 
tasten von bestimmten Gegenständen! 
Ueberall dasselbe Bild, Sekretionsanomalien 
nach Nervenreizung. Es würde mich zu 
weit führen, wollte ich alle diese Vor¬ 
kommnisse, die dem Asthmatherapeuten 
geläufig sind, hervorsuchen; ich sehe, wie 
gesagt, alle diese Exsudationen an den 
verschiedensten Orten lediglich als Re¬ 
aktionen an, die bei disponierten Individuen 
leichter in die Erscheinung treten, als bei 
nicht disponierten. 

Was aber die berühmten eosinophilen 
Zellen und Curschmannschen Spiralen 
im Auswurf der Asthmatiker angeht, so 
kann ich nicht verstehen, wieso dieselben 
stets als pathognomisch betont werden. 
Wenn ein Anfall durch den gut einge¬ 
arbeiteten Patienten mittels Atropinnebels 
kunstgerecht kupiert wird, so kommt es 
gar nicht zur Sekretion; unkundige Aerzte 
und Patienten allerdings lassen den An¬ 
fall austoben und dann entwickeln sich 
beim Abklingen des Anfalls die charakte¬ 
ristischen Auswurfmengen, in denen man 
— namentlich nach längerem Stehen — 
obige Merkmale findet. Genau dieselben 
Merkmale finden sich aber auch im Bron¬ 
chialschleim bei chronischem Bronchial¬ 
katarrh, ja sogar im Nasenschleim, wenn 
man ihn auffängt und stehen läßt. Sie sind 
also absolut kein nur dem Asthma zu- 
kommendes Attribut. 

Wenn wir nun die obige Lehre unserem 
therapeutischen Handeln zugrunde legen — 
wie es in hiesiger Klinik seit langen Jahren 
geschieht — so leuchtet ein, daß wir bei 
jedem neu eintretenden Asthmatiker be¬ 
strebt sein müssen, die Hauptfrage zu be- 

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antworten: Wodurch wird im konkreten 
Falle das Respirationszentrum gereizt? 

Ohne weiteres werden z. B., wenn eine Psy¬ 
chose oder eine Hysterie das Zentralorgan 
belastet und das Respirationszentrum in 
Mitleidenschaft zieht, Maßnahmen, wie 
Nasenbehandlung oder Glühlichtbäder oder 
Atemübungen, wodurch das Zentralorgan 
eher beunruhigt als beruhigt wird, unter¬ 
lassen, da sie mehr schaden als nützen 
werden. Andererseits ist, wenn eine Nasen¬ 
affektion (beispielsweise Polypen) vorliegt, 
es als ein schwerer Kunstfehler zu be¬ 
zeichnen, vor jeder anderen Behandlung 
eine gündliche galvanokaustische Ausräu¬ 
mung der Nase nicht vorzunehmen, ln 
den allermeisten Fällen, wenn das Asthma 
nicht allzu lange besteht und dadurch dem 
Körper indirekt schwer geschadet hat, wird 
man mit der rhinoskopischen Behandlung 
ausreichen. Liegt aber ein Uterinleiden 
vor und ergibt die Anamnese, daß bei der 
Regel oder Kohabitation jedesmal mehr 
oder weniger erhebliches Nasenlaufen und 
Asthma eintritt, so wird man die Nase nur 
sekundär erkrankt betrachten und sein 
ganzes Augenmerk den Geschlechtsorganen 
zuwenden und durch Dilatation der krampf¬ 
haft kontrahierten Zervix, durch Behand¬ 
lung des erkrankten Endometriums oder 
durch Repositionen der Gebärmutter, Lösen 
von Verwachsungen und lageverbessernde 
Operationen (AlexanderAdams,Vaginae- 
fixatio usw.) Ruhe schaßen, mit einem ge¬ 
wöhnlich in bezug auf das Asthma gerade¬ 
zu zauberischen Erfolge und sofortigem 
Aufhören des Nasenflusses. 

Zeigt uns aber ein Asthmatiker eine 
Störung der Herztätigkeit, so sprechen wir 
von einem Herzasthma, müssen aber von 
vornherein die Diflerentialdiagnose stellen, 
ob es sich um eine funktionelle Herzneu¬ 
rose (Neurasthenia cordis) oder um ein 
vitium cordis handelt. Im ersten Falle 
werden wir suggestiv beruhigen und durch 
Pneumatotherapie, Hydrotherapie und Diät 
in weitestem Sinne das Respirationszentrum 
entlasten; im zweiten Falle werden wir 
durch Digitalis, Strophantus, heiße Bäder, 
Atemgymnastik usw. der Ausbreitung des 
vitium Vorbeugen und durch Beseitigung 
der Intoxikation des Blutes den Reiz auf 
das Respirationszentrum beseitigen. 

Aus diesen kurzen Betrachtungen ergibt 
sich nun schon, daß der Suggestionär, der 
Rhinologe und der Gynäkologe in mög¬ 
lichst vollendeter Form vereint sein müssen, 
um den an den modernen Asthmathera¬ 
peuten mit Recht gestellten Anforderungen 
zu genügen. Brügelmann verlangt außer- 

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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Oktober 


dem noch den Elektrotherapeuten, Pneu¬ 
matotherapeuten und vor allem den ge¬ 
schulten Anstaltsarzt. 

Es ist sehr viel, was von dem Asthma¬ 
therapeuten verlangt werden muß, aber es 
geht nicht anders. Die Herren, die nicht 
rhinologisch, gynäkologisch und suggestiv 
tadellos arbeiten können, kommen leicht 
zu Widersprüchen und schaffen eher Ver¬ 
wirrung als Klarheit. 

So haben wir es vor kurzem noch er¬ 
lebt, daß von einem inneren Kliniker uns 
der Einwurf gemacht wurde, daß „die 
asthmogenen Punkte nur ein Hirngespinst“ 
wären; wenn man mit einer feinen Sonde 
einem normalen Menschen in die Nase 
ginge, so fänden sich stets Schmerzpunkte. 
Nun, wer nur ein einziges Mal — wie so 


manche hier hospitierende Kollegen — die 
Demonstration der asthmogenen Punkte 
unterBrügelmanns 1 ) Meisterhand gesehen 
hat, ist noch immer aus einem Saulus ein 
Paulus geworden. Und wer die galvano¬ 
kaustische Behandlung dieser asthmogenen 
Punkte vernachlässigen zu können glaubt, 
wird die meisten seiner Asthmakranken 
nicht herstellen. 

Beim Aufsuchen der asthmogenen Punkte 
muß die Sonde spielend auf dem Finger 
ruhen und so leicht die Schleimhaut be¬ 
rühren, daß der Kranke höchstens einen 
Kitzel wahrnimmt. Den gewaltigen Unter¬ 
schied in der Sensibilität, sobald die 
Sonde einen asthmogenen Punkt berührt, 
wird dann wahrlich niemand übersehen 
können. 


Zusammenfassende Uebersicht. 

Die Bedeutung der Nebennierenpräparate für die ärztliche 

Praxis. 

Von Dr. Leo Jacob SOhn»Charlottenburg. 


Während noch vor 10 Jahren die prak¬ 
tische Verwertbarkeit der Nebennieren¬ 
präparate noch wenig bekannt war, haben 
sich diese eigenartigen, in kleinsten Mengen 
wirksamen Substanzen dank ihrer viel¬ 
seitigen Verwendungsmöglichkeit mehr und 
mehr in den Arzneischatz eingebürgert 
und gehören heute zu den beliebtesten 
Mitteln der gesamten Medizin. Auf allen 
Spezialgebieten der Medizin nehmen jetzt 
die Nebennierenpräparate eine hervor¬ 
ragende Stellung ein. Der Chirurg und 
Ophthalmologe gebraucht sie in gleicher 
Weise wie der Internist und Frauenarzt, 
ja es gibt kaum ein anderes Mittel, das in 
ähnlicher Weise den vielseitigsten An¬ 
sprüchen und Indikationsstellungen genügt, 
als das Adrenalin. 

Angesichts der großen Bedeutung der 
Nebennieren präparate für die ärztliche 
Praxis will ich im folgenden einen Ueber- 
blick über den heutigen Stand der Adre¬ 
nalintherapie geben. Hierbei soll dem 
Rahmen dieser Zeitschrift entsprechend, 
das Thema vom Standpunkte des Prak¬ 
tikers behandelt werden und die Theorie 
nur insoweit Erwähnung finden, als für 
das Verständnis der Tatsachen notwendig ist. 

Die Einführung der Nebennierenpräpa¬ 
rate. in den Arzneischatz bedeutet insofern 
etwas prinzipiell Neues, als die wirksame 
Substanz nicht im Laboratorium einer che¬ 
mischen Fabrik entstanden ist, sondern 
dem tierischen Organismus entstammt. 
Nachdem schon in den fünfziger Jahren 


des vorigen Jahrhunderts und dann später 
durch Bro wn-Sequard das Interesse der 
Physiologen auf das rätselhafte Organ der 
Nebennieren gelenkt war, deren vitale Be¬ 
deutung durch die Lehren Addisons einem 
größeren Publikum bekannt wurde, gelang 
es Oliver und Schäfer im Jahre 1895 
den Nachweis zu erbringen, daß Neben¬ 
nierenextrakte in die Blutbahn gebracht, 
eine mächtige Blutdrucksteigerung be¬ 
wirkten. Mit dieser Entdeckung und der 
gleichzeitigen Erkenntnis, daß die wirksame 
Substanz der Nebennieren sich im Marke 
des Organes befindet, setzen die Be¬ 
mühungen der Forscher ein, dieses hoch- 
wirksame Mittel der ärztlichen Praxis zu 
erschließen. Dieses war jedoch erst mög¬ 
lich, als es vor gerade 10 Jahren Taka- 
mine gelang, aus dem in seiner Wirkung 
schwankenden und mit allerlei Ballast 
beschwerten Organextrakt das wirksame 
Prinzip der Nebennieren in Gestalt einer 
kristallinischen Substanz darzustellen. 

Die Entdeckung des japanischen For¬ 
schers führte dann zur fabrikmäßigen Her¬ 
stellung und allgemeineren Anwendung des 
gereinigten, genau dosierbaren Präparates. 

Von den im Handel erhältlichen Neben¬ 
nierenpräparaten sind die gebräuchlichsten: 
das Adrenalin (Parke, Davis & Co.), das 
Epirenan (Byk), das Paranephrin (Merck) 
und das Suprarenin (Höchst). Diese hin- 

Vergleiche Brügelmann: Das Asthma, sein 
Wesen und seine Behandlung. 5. Aufl. Verlag 
J. F. Bergmann, Wiesbaden. 


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Gck gle 


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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


447 


sichtlich ihrer Wirksamkeit und Haltbar¬ 
keit ziemlich übereinstimmenden Präparate 
sind 1 °/ooige salzsaure (seltener borsaure) 
Lösungen der kristallinischen Substanz. 

Ein Nachteil aller organischer Neben¬ 
nierenpräparate ist ihre nicht sehr große 
Haltbarkeit. Angebrochene Flaschen, be¬ 
sonders aber verdünnte Lösungen mit Zu¬ 
satz von Kokain, Novokain usw. zersetzen 
sich, namentlich wenn sie dem Licht und 
der Luft ausgesetzt sind. Hierdurch ver¬ 
lieren die Nebennierenpräparate nicht nur 
ihre therapeutische Wirksamkeit, sondern 
scheinen nach einigen Erfahrungen toxische 
Verbindungen abzuspalten, die dem Orga¬ 
nismus unter Umständen gefährlich werden 
können. Zersetzte Lösungen sind trübe 
und nehmen einen braunen Ton an. Man 
mache es sich daher zur Regel, nur klare 
Lösungen zu verwenden. Eine leichte 
Rosafärbung der Flüssigkeit ist unbe¬ 
denklich. 

Einen weiteren Fortschritt der Adre¬ 
nalintherapie — ich brauche im folgenden 
Adrenalin kollektiv für die verschiedenen 
Nebennierenpräparate — bedeutete die syn¬ 
thetische Herstellung der wirksamen Sub¬ 
stanz der Nebennieren durch den Chemiker 
der Höchster Farbwerke Stolz. Stolz 
gelang es auf synthetischem Wege ein dem 
Adrenalin chemisch identischen Körper 
zu gewinnen, der die charakteristischen 
Eigenschaften der Nebennierensubstanz 
zeigt und durch große Haltbarkeit ausge¬ 
zeichnet ist. Dieses sogenannte synthetische 
Suprarenin wird in Pulverform, 1 %o ige 
Lösung wie auch in Tabletten zu 1 rag ab¬ 
gegeben und kann durch Aufkochen steri¬ 
lisiert werden. 

Die pharmakodynamischö Wirksamkeit 
des Adrenalins beruht auf der kontraktions¬ 
erregenden Wirkung der Nebennieren¬ 
präparate auf die Muskularis der kleineren 
und kleinsten arteriellen Gefäße. Diese 
vasokonstriktorische Eigenschaft äußert sich 
lokal in dem Erblassen der sichtbaren 
Schleimhäute, auf die man einige Tropfen 
der 1°/toigen Lösung bringt. Injiziert 
man 0,5—1 ccm in die Blutbahn, so 
kommt es nach einigen Minuten infolge 
der Verengerung des kapillären Strom¬ 
gebietes zu einer beträchtlichen Steigerung 
des Blutdruckes. Gleichzeitig übt das Adre¬ 
nalin eine energische exzitierende Wirkung 
auf den Herzmuskel aus. Das Adrenalin 
ist das mächtigste Kardiotonikum, das wir 
zurzeit besitzen. 

In gleicher Weise wirkt die Nebennieren¬ 
substanz auf die Mukularis des Uterus ein, 
der ein besonders feines Reagens für 

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Adrenalin ist, indem Meerschweinchenuteri 
noch in einer Verdünnung von 1:20 Milli¬ 
onen zur Kontraktion gebracht werden. 

Auf die für die experimentelle Patho¬ 
logie interessanten Tatsachen der Adre- 
nalinglykosurie sowie der Aortennekrose 
nach Adrenalininjektionen will ich an dieser 
Stelle nicht eingehen. Ebenso erübrigt 
es sich der interessanten Beziehungen des 
chromaffinen Systems zu den Drüsen mit 
innerer Sekretion zu gedenken. 

Die vielseitige Verwendung, die das 
Adrenalin auf den einzelnen Gebieten der 
Medizin gewonnen hat, leitet sich von den 
erwähnten pharmakodynamischen Eigen¬ 
schaften der in kleinsten Mengen wirksamen 
Nebennierenpräparate ab. Aus praktischen 
Gründen will ich im folgenden mit all¬ 
gemeineren Indikationen der Adrenalin¬ 
behandlung beginnen und dann auf die 
speziellere Verwendung der Nebennieren¬ 
präparate zu sprechen kommen. 

Es ist verständlich, daß die ins Auge 
fallende anämisierende Wirkung der Neben¬ 
nierenpräparate den Ausgangspunkt der 
gesamten Adrenalintherapie bildet. Ueberall 
wo es galt Blutungen zu beherrschen oder 
den Eintritt von Hämorrhagien zu ver¬ 
hindern, wandte man das Adrenalin an 
und erkannte bald, eine wie mächtige 
Förderung die bisherigen Blutstillungs¬ 
methoden durch das wirksame Prinzip der 
Nebennieren erfahren hatten. Nach 
Hunderten zählen die Publikationen, die 
sich mit dieser Seite der Adrenalinwirkung 
befassen, und alle Autoren sind voll des 
Lobes ob der erstaunlichen Wirkung des 
Adrenalins. 

Aeußere Blutungen, wie sie durch 
Schnittverletzungen, Kontusionen oder durch 
Bersten von Gefäßen entstehen, werden 
wegen der guten Zugänglichkeit und Ueber- 
sicht der Wund Verhältnisse nur in Aus¬ 
nahmefällen die Anwendung der Neben¬ 
nierenpräparate erfordern. Desto mehr 
wird dies der Fall sein bei Blutungen, 
deren Sitz eine Lokalbehandlung erschwert 
bzw. unmöglich macht. 

So hat sich das Adrenalin außerordent¬ 
lich bei schwer stillbarem Nasenbluten 
bewährt. Es gelingt durch Tamponade mit 
Wattestückchen oder Gazestreifen, die in 
reine Adrenalinlösung getränkt werden, oft 
noch eine Epistaxis zu beherrschen, die 
früher die Anwendung des Beiloeschen 
Röhrchens erforderlich machte. 

Ganz besonders hat sich ferner die 
Adrenalinbehandlung dort bewährt, wo 
Blutungen in Hohlorgane erfolgen. Dieses 
ist z. B. bei Blasen- und Uterusblutungen 

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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Oktober 


der Fall. Blasenhämorrhagien schwerster 
Art sind durch Injektionen der zehnfach 
verdünnten offizineilen Lösung wiederholt 
zum Stehen gebracht worden. Es empfiehlt 
sich in diesen Fällen 100—150 ccm des 
Präparates (1 :10 000) in die Blase zu inji¬ 
zieren. 

Mehrfach ist auch das Adrenalin bei 
Gebärmutterblutungen (Endometritis hae- 
morrhagica) mit Erfolg verwandt worden. 
Nach dem Vorschlag von Steinschneider 
wird ein mit Watte armierter Playfair in 
zehnfach verdünntes Adrenalin getaucht, 
in den Uterus eingeführt und dort einige 
Minuten belassen. Energischer ist die 
anämisierende Wirkung des Adrenalins, 
wenn es direkt in die Portio eingespritzt 
wird. Durch gleichzeitige Verwendung 
von Kokain gelingt es eine so weitgehende 
Anämisierung und Anästhesierung des 
Uterus zu bewirken, daß z. B. die Aus¬ 
räumung von Plazentarresten nach Abort 
fast blut- und schmerzlos ausgeführt werden 
kann (Grasser). 

Auch bei Magen-, Darm- und Lungen - 
blutungen hat man sich vielfach der hämo- 
styptischen Eigenschaften der Adrenalin¬ 
präparate bedient und das Mittel sowohl 
innerlich (mehrmals 10—20 Tropfen) als 
auch subkutan (V 2 —1 Pravazspritze) ge¬ 
geben. Wenn auch eine Anzahl von Autoren 
gute Erfolge, z. B. bei schwersten Hämor- 
rhagien, zu verzeichnen haben, so hat die 
Adrenalintherapie andererseits hier wieder¬ 
holt im Stich gelassen und nicht die über¬ 
zeugenden Vorteile gebracht, die man an 
anderer Stelle oft zu bewundern Gelegen¬ 
heit hatte. Der Grund hierfür ist wohl bei 
der innerlichen Darreichung darin zu sehen, 
daß das leicht zersetzliche Adrenalin bei 
seiner Passage durch den Magen und Darm 
der Einwirkung der Verdauungsfermente 
rasch unterliegt. 

Am günstigsten lauten die Berichte 
über die Behandlung blutender Typhus¬ 
geschwüre durch interne Adrenalinmedi¬ 
kation. Auch bei rektalen Blutungen haben 
sich Adrenalininfusionen 1:10 000 mehr¬ 
fach bewährt. Selbst schwer stillbare Blu¬ 
tungen aus parenchymatösen Organen kön¬ 
nen durch Adrenalin beherrscht werden. 
Nach den erfolgreichen Tierexperimenten 
Lehmanns, der bei Hunden und Kanin¬ 
chen durch Adrenalininjektionen unblutige 
Resektionen großer Leberteile ausführen 
konnte, hat man ähnliche Resultate wieder¬ 
holt am Menschen bei eingreifenden Leber¬ 
und Milzoperationen erzielt. In diesen Fäl¬ 
len wurde das Adrenalin in zehnfacher Ver¬ 
dünnung auf die blutenden Organe aufge- 

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tupft. Durch die gefäßkontrahierende Wir¬ 
kung des Adrenalins wird eine schnelle 
Thrombenbildung begünstigt, sodaß Nach¬ 
blutungen bei Nachlassen der Adrenalin¬ 
anämie nicht beobachtet wurden. 

Wenn auch für die Praxis ohne große 
Bedeutung, desto mehr aber für die glän- 
zendeWirkung des Adrenalins beweisend, 
sind diejenigen Fälle, in denen mit anderen 
Mitteln nicht still bare Blutungen, welche 
ihren Träger auf Grund hereditärer Blut¬ 
anomalien an den Rand des Grabes brachten, 
durch Adrenalin beherrscht wurden. Wir 
kennen Situationen, wo die Adrenalin¬ 
tamponade bei Blutern direkt lebensrettend 
gewirkt hat (O. Lange). 

Es mag noch erwähnt werden, daß die 
Verbandstoffabrik von Arnold (Chemnitz) 
mit Adrenalin präparierte Watte, Gaze so¬ 
wie Tampons in den Handel gebracht hat, 
die eine schnelle Adrenalinwirkung bei be¬ 
quemer Handhabung ermöglichen. 

Verlassen wir hiermit das Gebiet der 
Blutungen, auf dem die Nebennierenpräpa 
rate eines der souveränsten Mittel sind und 
wahrscheinlich auch bleiben werden, und 
wenden wir uns einem anderen, gänzlich 
verschiedenen Anwendungsgebiet des Ad¬ 
renalins zu. 

Wie wir bei Besprechung der pharmako- 
dynamischen Eigenschaften der Neben¬ 
nierenpräparate bereits erkennen ließen, ist 
das Adrenalin sowohl durch seine vaso- 
konstriktorischen Eigenschaften, als auch 
durch die den Herzmuskel bis aufs äußerste 
stimulierende Wirkung das geeignetste 
Mittel, bei momentaner Kreislaufstörung die 
stockende Zirkulation wieder in Gang zu 
bringen. 

Es läßt sich im Tierexperiment zeigen, 
daß das durch Chloral oder Chloroform 
zum Stillstand gebrachte Herz durch Ad¬ 
renalin wieder belebt und zu kräftigen 
Schlägen angeregt wird, wobei der auf 
Null gesunkene Blutdruck allmählich die 
normale Höhe erreicht. Es ist das Verdienst 
englischer und amerikanischer Autoren, 
die Ergebnisse des Tierexperimentes für 
die ärztliche Praxis nutzbar gemacht und 
das Adrenalin systematisch bei solchen Zu¬ 
ständen angewandt zu haben, bei denen 
ein momentanes Versagen der Herztätig¬ 
keit vorlag und es darauf ankam, das Herz 
über den kritischen Moment weniger 
Minuten hinwegzubringen. So hat man bei 
der Chloroformsynkope, Wundshock und 
anderen Kollapszuständen das Adrenalin 
intravenös mehrfach mit geradezu zauber¬ 
haftem Erfolge angewandt und in Fällen 
höchster Not sich nicht gescheut, das Me- 

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Oktober 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


449 


dikament durch die Brustwand hindurch 
direkt in den Herzmuskel zu injizieren. 

Nachdem in Deutschland zuerst Heiden - 
hain und Hoddick das Adrenalin bei peri¬ 
tonealer Blutdrucksenkungangewandthaben, 
berichtete Kothe aus der Abteilung Son- 
nenburgs Ober die Wirkung der Neben¬ 
nierenpräparate bei Kollapszuständen und 
kam auf Grund seiner Erfahrungen zu dem 
Schluß, daß das Adrenalin das mächtigste 
Kardiotonikum der Gegenwart sei. Kothe 
hatte Gelegenheit, in fünf Fällen schwersten 
Kollapses bei Lumbalanästhesie das Prä¬ 
parat zu geben und vier der nahezu mori¬ 
bunden Patienten durch intravenöse Injek¬ 
tionen (0,75—1 ccm) zu retten. In gleicher 
Weise hatte Kothe günstige Resultate 
bei postoperativem Shock und in Kollaps¬ 
zuständen nach Tubenruptur sowie schwerer 
innerer Blutung. In diesen Fällen wurde 
das Adrenalin zusammen mit Kochsalz¬ 
lösung (20 gtt:1000 ccm NaCl) intravenös 
angewendet. 

Im Gegensatz zu anderen Autoren sah 
Kothe bei schweren Perforations-Perito¬ 
nitiden nur vorübergehende Erfolge von 
Adrenalin - Kochsalzinfusionen. Nach den 
günstigen Erfahrungen von Heidenhain, 
Hoddick, Rothschild und anderen Auto¬ 
ren, welche die verderbliche peritoneale 
Blutdrucksenkung erfolgreich mit intra¬ 
venösen Adrenalin - Kochsalzeingießungen 
zu bekämpfen vermochten, dürfte trotz 
mancher, durch die Schwere der Toxin¬ 
wirkung erklärten Mißerfolge bei der Be¬ 
handlung der Peritonitis dem Adrenalin 
ein dankenswertes Anwendungsgebiet sich 
eröffnen. 

Verlassen wir hiermit die mehr allge¬ 
meinen Indikationen für die Adrenalin¬ 
behandlung. Fraglos würden die bisher ge¬ 
würdigten, bisher durch kein anderes Mittel 
ersetzbaren Eigenschaften des Adrenalins 
genügen, um den Nebennierenpräparaten 
eine dauernde Stellung unter unseren best¬ 
wirksamen Medikamenten zu sichern. Was 
aber erst dem Adrenalin seine große Popu¬ 
larität und uneingeschränkte Anerkennung 
verschafft hat, ist die bedeutsame Rolle, 
welche den Nebennierenpräparaten bei der 
örtlichen Schmerzbetäubung Vorbehalten 
war. Die Einführung des Adrenalins in die 
lokale Anästhesie durch Braun bedeutet 
geradezu einen Wendepunkt der örtlichen 
Anästhesierungsverfahren. Suchen wir uns 
das Wesen der Adrenalinwirkung im An¬ 
ästhesierungsprozeßverständlich zu machen, 
so erinnern wir uns, daß das örtliche An- 
ästhetikum (Kokain) besser und intensiver 
wirkt, wenn das Operationsgebiet nach 


Möglichkeit aus der Zirkulation ausge¬ 
schaltet wird (Oberst). So entstand das 
Abschnürungsverfahren, weiches unter Ver¬ 
wendung des Esmarchsehen Schlauches 
an den Extremitäten sich gut durchführen 
ließ und einen nicht zu unterschätzenden 
Fortschritt der lokalen Anästhesie bedeutete. 
Jedoch waren dem Oberstschen Verfahren 
natürliche Grenzen durch Beschränkung 
der Blutleere auf die der Abschnürung 
allein zugänglichen Extremitäten gezogen. 

Hier setzen die Nebennierenpräparate 
ein, deren energisch anämisierende Eigen¬ 
schaften es ermöglichen, jede beliebige 
Stelle des Körpers in einfachster Weise 
aus dem Blutkreislauf auszuschalten. Spritzt 
man nämlich in die Gewebe Adrenalin ein, 
so bringt dasselbe wie ein komprimieren¬ 
der Schlauch die arteriellen Gefäße zur 
Kontraktion und schafft so einen Zustand 
umschriebener Gefäßleere, wie er durch 
das Esmarch sehe Verfahren nicht besser 
zu erzielen ist. Recht anschaulich bezeich¬ 
net ein französischer Autor (Lermoyez) 
daher das Adrenalin als das Alkaloid der 
Esmarchschen Blutleere. Die Adrenalin- 
anämisierung erleichtert dem Chirurgen 
nicht nur ganz wesentlich die Blutstillung 
und schafft so gleichzeitig besser überseh¬ 
bare Wund Verhältnisse, sondern sie ermög¬ 
licht auch, mit weit geringeren Mengen von 
Kokain auszukommen. Hierin liegt ein 
ganz wesentlicher Fortschritt gegenüber 
den früheren Infiltrationsmethoden, bei 
denen Kokainvergiftungen angesichts der 
sehr verschiedenen Toleranz dieses Alka¬ 
loids zum Teil ganz unvermeidlich waren. 
Die kokainsparende Wirkung der Neben¬ 
nierenpräparate erklärt sich aus der inten¬ 
siven örtlichen Gefäßkontraktion, der eine 
erhebliche Resorptionsbeschränkung für 
das lokale Anästhetikum parallel geht. 
Durch die Kombinierung des Adrenalins 
mit dem Kokain beziehungsweise seinen 
Derivaten ist der Umfang der lokalen An¬ 
ästhesierungsmethoden ganz wesentlich er¬ 
weitert worden. In gleicher Weise haben 
sich die Nebennierenpräparate neben der 
eigentlichen Infiltrationsanästhesie auch bei 
der Leitungsanästhesie sowie der zirkulären 
Anästhesierung nach Hackenbusch be¬ 
währt. 

Wie soll das Adrenalin in der lokalen 
Anästhesie verwendet werden? Von der 
ursprünglichen Verwendung des Adrenalins 
in Verbindung mit Kokain ist man mehr 
und mehr abgekommen, seitdem man in 
dem Eukain, Stovain, Alypin und Novo¬ 
kain relativ ungiftige Ersatzpräparate des 
durch Adrenalinzusatz seiner Giftigkeit 

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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Oktober 


keineswegs ganz beraubten Kokains kennen 
gelernt hatte. Nur bei eng umschriebenen 
chirurgischen Eingriffen, wie sie vornehm¬ 
lich in der Ophthalmologie und Zahnheil¬ 
kunde Vorkommen, sollte heute noch die 
Kokainadrenalinkombinierung angewandt 
werden. Man nimmt hierzu V*- bis 1 %ige 
Kokainlosungen mit Zusatz von 1—2 Trop¬ 
fen der offizineilen Adrenalinlösung pro 
1 ccm. Ein zweckmäßiges steriles Kokain- 
Adrenalingemisch, bestehend aus 0,0075 Ko¬ 
kain und 0,00005 Adrenalin wird in Phiolen 
ä 1 ccm und 2 ccm unter dem Namen 
Eusemin in den Handel gebracht. 

Von den Ersatzpräparaten des Kokains 
hat in Deutschland das von den Höchster 
Farbwerken hergestellte Novokain dank 
seiner ausgezeichneten schmerzbetäubenden 
Wirkung und geringer Toxizität sich nach 
den warmen Empfehlungen der berufensten 
Kenner der Anästhetologie schnell eine 
große Zahl von Freunden erworben und 
zählt heute zu den beliebtesten Mitteln auf 
dem Gebiete der lokalen Anästhesie. 

Wer häufig Gelegenheit hat, die lokale 
Schmerzbetäubung anzuwenden, hält am 
besten eine 1 %ige Stammlösung des Novo¬ 
kains vorrätig und gibt vor dem Gebrauche 
auf 10 ccm einen Zusatz von 1 —2 Tropfen 
Adrenalin. Für den praktischen Arzt emp¬ 
fiehlt sich dagegen mehr der Gebrauch der 
von den Höchster Werken eingeführten 
Novokain - Suprarenintabletten. Dieselben 
kommen in den Handel als 

Tablette A: 0,125 Novokain und 0,000125 
Suprarenin, 

Tablette ß: 0,1 Novokain und 0,00025 
Suprarenin. 

Tablette A entspricht in 25 ccm steriler 
physiologischer Kochsalzlösung gelöst, einer 
0 , 50 / 0 igen Novokainlösung + 2 1 /» Tropfen 
Suprarenin. Tablette B, gelöst in 10 ccm, 
gibt eine lo/ 0 ige Novokainlösung -f- 5Tropfen 
Suprarenin, in 5 ccm eine 2%ige Lösung 
-4-10 Tropfen Suprarenin. Die V 2 —1 °/o»gen 
Lösungen werden für die Infiltrationsanäst¬ 
hesie verwandt, während solche von 1 —2% 
für die Leitungsanästhesie in Betracht 
kommen. 

Alle Autoren, welche Gelegenheit hatten, 
das Novokainadrenalingemisch zu erproben, 
stimmen in der uneingeschränkten Aner¬ 
kennung der sicheren und von üblen Zu¬ 
fällen freien Wirkung dieses Mittels über¬ 
ein. In wie weiten Grenzen es heute 
möglich ist, im Vertrauen auf die ver¬ 
besserte Lokalanästhesie die Inhalations¬ 
narkose zu umgehen, lehrt ein Blick in 
die große Zahl von eingreifenden Opera¬ 
tionen, die in den letzten 10 Jahren unter 


örtlicher Schmerzbetäubung ausgeführt 
worden sind. Pleuraempyeme, Lungen¬ 
abszesse und Gangränherde, subphrenische 
Abszesse, Hernien sind in lokaler An¬ 
ästhesie operiert worden, Mammaamputa¬ 
tionen, Gastrostomien, Magenresektionen 
und Teilexstirpationen des Kehlkopfes aus¬ 
geführt worden, ohne daß die Kranken 
irgendwelche Schmerzen zu erdulden 
brauchten. 

Täglich macht man heute in größeren 
Städten Hunderte von Narkosen. Veran¬ 
schlagt man die Anzahl der jetzt in lokaler 
Anästhesie ausführbaren chirurgischen Ein¬ 
griffe nur auf einige Prozent der gesamten 
früher in Narkose ausgeführten Operationen, 
so wird man angesichts der Gefahren und 
üblen Nachwirkungen der Inhalationsnarkose 
die Fortschritte der örtlichen Schmerz¬ 
betäubung auf das Freudigste begrüßen. 

Um die Bedeutung der Nebennieren¬ 
präparate für die Anästhesie vollauf zu 
würdigen, müssen wir noch eines Gebietes 
gedenken, das, durch Biers geniale Idee 
der Heilkunde erschlossen, erst durch die 
Einführung des Adrenalins für die Praxis 
verwertbar wurde, es ist dies die Lumbal¬ 
anästhesie. Die dem Kokain anhaftenden 
Nachteile mußten sich naturgemäß im ge¬ 
steigerten Maße dort bemerkbar machen, 
wo, wie bei der Medullaranästhesie, das 
Alkaloid direkt an die Nervenzentren des 
Rückenmarks und der Medulla oblongata 
herantritt. Dieser Umstand erklärt, ange¬ 
sichts der im Anfang häufigen unerfreu¬ 
lichen Zufälle, das Mißtrauen, das die 
Mehrzahl der Chirurgen der Lumbal¬ 
anästhesie entgegenbrachte. Erst durch 
die Einführung der Nebennierenpräparate, 
deren Bedeutung für die Lumbalanästhesie 
Bier selbst als erster erkannt hatte, wurde 
diese Methode für die Praxis verwertbar. 
Die heute in der Lumbalanästhesie ge¬ 
bräuchlichsten Mittel, wie Novokain, Sto- 
vain und Tropakokain enthalten sämtlich 
einen Zusatz von 0,0001—0,0005 Adrenalin. 

Neben der Chirurgie hat an erster 
Stelle die Zahnheilkunde wesentliche Vor¬ 
teile von der Einführung der Nebennieren¬ 
präparate gehabt. Kein anderes Spezial¬ 
gebiet erfordert in so hohem Maße die 
örtliche Schmerzbetäubung als gerade die 
Odontologie. Die Vorzüge der kombi¬ 
nierten Adrenalin-Kokainwirkung sind hier 
die gleichen wie bei der Infiltrations- be¬ 
ziehungsweise Leitungsanästhesie, sodaß 
ich hierbei nicht länger verweilen will. 

Wie bereits erwähnt, hat das Kokain 
in der Zahnheilkunde gegenüber seinen 
weniger giftigen Ersatzpräparaten bisher 


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Oktober 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


451 


das Feld behauptet, wenngleich in den 
letzten Jahren ihm in dem Novokain 
ein allem Anschein nach siegreicher Kon¬ 
kurrent erwachsen ist. Das Gelingen der 
Anästhesie in der zahnärztlichen Praxis 
setzt wie überall genaue Kenntnis der In¬ 
jektionstechnik voraus. Alles in allem hat 
die Erfahrung der letzten 6 Jahre den Aus¬ 
spruch Brauns bewahrheitet, daß das 
Problem einer gefahrlosen Lokalanästhesie 
in der Zahnheilkunde durch Einführung 
der Kokain-Adrenalin (Suprarenin-)gemische 
befriedigend gelöst ist 

Im Gegensatz zu den meisten Spezial¬ 
gebieten hat die interne Medizin relativ 
geringe Förderungen von den Neben¬ 
nierenpräparate erfahren. Der Grund hier¬ 
für liegt wohl in der Tatsache, daß der 
Internist weniger häufig Gelegenheit hat, 
sich die pbarmakodynamischen Eigen¬ 
schaften des Adrenalins nutzbar zu machen. 
Auf die Anwendung der Nebennieren¬ 
substanzen bei inneren Blutungen, soweit 
sie in den Bereich der inneren Medizin 
fallen, sind wir schon zu Anfang dieser 
Arbeit eingegangen. Ebenso haben wir 
der eminenten kardiotonischen Eigenschaften 
des Adrenalins gedacht, welche die analep- 
tische Wirkung des Kampfers und Kofieins 
ganz wesentlich übertreffen. Angesichts 
der eklatanten Erfolge, deren die Neben¬ 
nierenpräparate sich in verzweifelten Fällen 
rühmen dürfen, ist unbedingt zu fordern, 
daß dieselben in weiterem Umfange, als es 
bisher geschehen ist, bei Herz- und Ge¬ 
fäßkollapsen angewendet werden. Das 
Adrenalin gehört neben Kampfer und 
Morphium in das Besteck des praktischen 
Arztes. 

Auch bei der Behandlung des Bronchial¬ 
asthmas hat das Adrenalin nach dem Ur¬ 
teil einiger amerikanischer Autoren, denen 
wir uns, gestützt auf eigene Beobachtungen, 
anschließen möchten, zuweilen recht gute 
Erfolge zu verzeichnen. Man läßt das 
Mittel innerlich (10—15 Tropfen mehrmals) 
nehmen oder injiziert 0,5 ccm. Bei Asthma 
nasalen Ursprunges ist es möglich, durch 
Bestreichen der Nasenschleimhaut mit einem 
in konzentrierte Adrenalinlösung getränkten 
Wattebausch den Anfall zu kupieren. 

Es ist eine bemerkenswerte Tatsache, daß 
die Nebennierenpräparate bei derjenigen 
Erkrankung, bei der ihre Anwendung aus 
klinischen und allgemein pathologischen 
Gesichtspunkten ohne weiteres indiziert sein 
sollte, keine überzeugenden Erfolge auf¬ 
zuweisen haben; ich meine den Morbus 
Addisoni. Der Gedanke, den Ausfall der 
Nebennierensekretion durch Nebennieren- 

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Präparate beziehungsweise Organextrakte 
zu ersetzen, schien so verlockend, daß 
schon in den 90 er Jahren bei Addison die 
Nebennierensubstanz ausgiebig angewen¬ 
det wurde und so den Ausgangspunkt 
der gesamten Opotherapie bildete. Die 
durch Brom-S£quard inaugurierte Be¬ 
handlung mit Glyzerinextrakten der 
Drüsensubstanz wurde dann mit den 
fabrikmäßigen Nebennierenpräparaten wie¬ 
der aufgenommen. Obwohl es nicht an 
Stimmen fehlt, die sich anerkennend über 
die Adrenalintherapie bei Addison aus¬ 
sprechen, und so erfahrene Autoren wie 
Eichhorst und Osler reden ihr gelegent¬ 
lich das Wort, läßt sich andererseits nicht 
leugnen, daß in der Mehrzahl der Fälle 
die Nebennierenpräparate keine überzeu¬ 
genden Erfolge beim Morbus Addisoni zu 
verzeichnen haben. Offenbar beruhen die 
Insuffizienzzustände der Nebennieren noch 
auf einem anderen Faktor als dem Ausfall 
des im Adrenalin oder den Extrakten ent¬ 
haltenen wirksamen Organprinzips. Immer¬ 
hin ist im gegebenen Fall ein Versuch der 
internen Darreichung des Adrenalins ge¬ 
rechtfertigt 

Die günstigen Erfahrungen über die 
herzanaleptische Wirkung des Adrenalins 
bei peritonealer Blutdrucksenkung haben 
unlängst N. Thornton veranlaßt, auch 
bei schweren Pestfällen die Nebennieren¬ 
präparate therapeutisch anzuwenden. In 
50 Fällen von Pest, bei der häufig früh¬ 
zeitige Zirkulationschwäche besteht, konnte 
sich der Autor von der günstigen Wirkung 
des Adrenalins auf das Herz und die Ge¬ 
fäße überzeugen. Es gelang ihm, Patienten 
zu retten, die bei der Aufnahme einen 
moribunden Eindruck gemacht hatten. 

Wenn auch ein Teil der mit Adrenalin 
behandelten Kranken am Ende der Schwere 
der Infektion erlag, so war das Resultat 
Thorntons insofern ein sehr günstiges, 
als in 74% Heilung eintrat. Bei den zur 
Autopsie kommenden Fällen ließ sich am 
Herzen und an den Gefäßen stets die 
Wirkung des Adrenalins nachweisen. 

Wie vielseitig die Verwendbarkeit der 
Nebennierenpräparate ist, erkennt man, 
daß auch bei der ab Osteomalazie be- 
zeichneten Störung der Knochenernährung 
das Adrenalin sich einen Platz erobert 
hat Es ist das Verdienst des bekannten 
italienischen Gynäkologen L. Bossi, das 
Adrenalin in die Behandlung jener eigen¬ 
artigen Knochenerkrankung eingeführt zu 
haben. Nachdem es Bossi gelungen war, 
einen schweren Fall von Osteomalazie 
durch 7 Injektionen von 0,5 ccm des reinen 

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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Oktober 


Adrenalins in kurzer Zeit zu heilen, sind 
sowohl von italienischen als auch deutschen 
Autoren mehrfach günstige Resultate be¬ 
richtet worden, und es läßt sich wohl 
nicht bezweifeln, daß gewisse Formen der 
medikamentös bisher nicht zu beeinflussen¬ 
den Krankheit durch Adrenalin geheilt 
werden. 

Es lag nahe, die günstigen Erfahrungen 
der Adrenalinbehandlung auch für die der 
Osteomalazie verwandte Störung der 
Rachitis nutzbar zu machen. Positive Re¬ 
sultate auf diesem Gebiete haben einige 
italienische Kinderärzte aufzuweisen, wäh¬ 
rend man in Deutschland seitens der 
Pädiater diesem An tirachitikum mit größerer 
Reserve entgegengekommen ist. Von 
deutschen Autoren hat, soweit ich sehen 
kann, bisher nur Stöltzner bei einer 
größeren Anzahl von Rachitikern das 
Adrenalin angewandt und eine schnelle 
Besserung der Allgemeinerscheinungen 
sowie der lokalen Wachstumsstörung be¬ 
obachten können. 

Daß das Adrenalin in der Urologie 
und Gynäkologie namentlich bei Blutungen 
vorteilhaft angewendet wird, haben wir 
bereits bei Besprechung der hämostyp- 
tischen Eigenschaften der Nebennieren¬ 
präparate gesehen. An dieser Stelle sollen 
noch einige speziellere Indikationen für die 
Adrenalintherapie Erwähnung finden. 

Abseits von einer Heilwirkung hat das 
Adrenalin in der Urologie auch diagnosti¬ 
sche Bedeutung gewonnen, indem es, in die 
Blase gespritzt, bei Blutungen ein klares 
zystoskopisches Bild gewinnen läßt und 
so unter Umständen erst eine rationelle 
Behandlung der Blasenhämorrhagie möglich 
macht. In anderer Weise haben sich die 
Nebennierenpräparate durch ihre anämi- 
sierende, die Schleimhaut zum Abschwellen 
bringende Wirkung bei schwierigem Ka¬ 
theterismus, bedingt durch Strikturen sowie 
Prostatahypertropüie, bewährt (v. Frisch, 
Kornfeld). Auch gegen Blasenatonie 
sind Injektionen von 150 ccm der 50 fach 
verdünnten Stammlösung empfohlen wor¬ 
den. Es ist ein bemerkenswertes Resultat, 
daß es wiederholt gelungen ist, bei kom¬ 
pletter Harnverhaltung durch Schwellungen 
der hypertrophischen Prostata nach In¬ 
jektion von 2 ccm der unverdünnten 
Lösung in die Pars prostatica urethrae 
eine spontane Entleerung der Blase zu er¬ 
möglichen und so den schwierigen und 
nicht gefahrlosen Katheterismus zu ver¬ 
meiden. Daß auch bei Probeexzisionen, 
Tumorabtragungen und anderen endovesi- 
kalen Eingriffen das Adrenalin mit Vorteil 


angewandt wird, mag nur nebenbei er¬ 
wähnt werden. 

Die kontraktionserregende Wirkung der 
Nebennierenpräparate kann, wie bereits 
erwähnt, in der Gynäkologie vorteilhaft 
zur Stillung von Metrorrhagien benutzt 
werden. Indem die kontraktionserregende 
Wirkung des Adrenalins sich nicht nur 
auf die Gefäße des Uterus, sondern auch 
auf die Muskulatur der Gebärmutter selbst er¬ 
streckt, sind die Nebennierenpräparate nach 
den Erfahrungen einiger Frauenärzte ein 
ausgezeichnetes Hämostatikum in der Ge¬ 
burtshilfe, soweit es sich um Blutungen 
aus Atonie handelt. In diesen Fällen gibt 
man das Adrenalin in kleinen Dosen zu 
1 —3 Dezimilligramm entweder subkutan 
oder in die Portio selbst. Neu, der sich 
speziell um die Einführung der Neben¬ 
nierenpräparate in die Gynäkologie und 
Geburtshilfe verdient gemacht hat, hatte 
Gelegenheit, die Wirkung des Adrenalin 
bei einem Kaiserschnitt zu studieren. Er 
injizierte nach Freilegung des Uterus eine 
Pravazspritze der zehnfach verdünnten 
Lösung an drei Stellen in die Uterusmus¬ 
kulatur. Hierdurch gelang es ihm, den 
kreißenden Uterus sofort in stürmische 
Kontraktionen zu versetzen und eine aus¬ 
giebige Anämisierung des ganzen Organs 
zu bewirken. 

Sehen wir von der Verwendung des 
Adrenalins bei der lokalen Anästhesie ab, 
so ist die Rhino-Oto-Laryngologie das 
häufigste und dankbarste Feld für den Ge¬ 
brauch der Nebennierenpräparate. Von 
der ausgezeichneten Wirkung des Adre¬ 
nalins bei Nasenblutungen haben wir be¬ 
reits gesprochen. In weitgehender Weise 
hat sich das Adrenalin auch als Blut¬ 
stillungsmittel bei Nasenoperationen be¬ 
währt. Durch Betupfen der Nasenschleim¬ 
haut mit Adrenalinlösung gelingt es, für 
die meisten endonasalen Eingriffe völlige 
Blutleere zu erzielen. Zusammenfassend 
bemerkt Hecht: »Wie unschätzbar für den 
Rhinologen dieses Mittel geworden ist, er¬ 
sieht man daraus, daß eine Reihe von Ope¬ 
rationen, bei denen die stete Blutung das 
Operationsfeld überschwemmte und ein 
fast fortwährendes Abtupfen und wieder¬ 
holtes Tamponieren erforderte, jetzt bei ab¬ 
soluter Blutleere oder kaum störender, be¬ 
deutend reduzierter Blutung vorgenommen 
werden kann, und so unter Umständen eine 
Narkose vermieden wird“. Die Erfahrungen 
Hechts, die eine Bestätigung der früheren 
Mitteilungen Rosenbergs bilden, sind im 
Laufe der letzten 6 Jahre im vollen Um¬ 
fange von anderen Fachgenossen des Autors 


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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


453 


bestätigt worden* Es gibt heute wohl 
kaum einen Spezialisten auf dem Gebiete 
der Rhino - Laryngologie, der nicht das 
Adrenalin bei Operationen in der Nasen¬ 
höhle ausgiebig anwendet. Die Kombi¬ 
nierung des Adrenalin mit dem Kokain 
bzw. seinen Ersatzpräparaten hat wie in 
der Chirurgie auch in der Rhinologie den 
Umfang der in Lokalanästhesie ausführ¬ 
baren Eingriffe wesentlich erweitert. So 
werden heute Muschelamputationen, Exzi¬ 
sionen von Leisten, Resektionen der Nasen¬ 
scheidewand, sowie Radikaloperationen von 
Kieferhöhlenempyemen mit Hilfe der Ko¬ 
kainadrenalinanästhesierung schmerzlos und 
bei relativer Blutleere ausgeführt. 

Auch bei der Behandlung des Schnupfens, 
besonders der mit starker Schwellung der 
Nasenschleimhaut feinhergehenden Form der 
Koryza, wird das Adrenalin in Lösung 
oder als Zusatz zu Schnupfenpulvern mit 
Vorteil verwendet Empfohlen wird eine 
Mischung von 

Zinc. sozojodol ... 0,3 

Menthol . 0,2 

Suprarenin.cryst. puriss. 0,001 
Sacchar. lactis .... 10,0 
Dieses Pulver wird mehrmals mit einem 
Pulverbläser in die Nase eingestäubt 
Das unter dem Namen Renoform be¬ 
kannte Schnupfenmittel enthält als wirk¬ 
sames Prinzip ebenfalls einen Zusatz von 
Adrenalin. Auch für die Behandlung des 
Schnupfens der Säuglinge ist das Adre¬ 
nalin empfohlen worden (Ballin, Vohsen). 
Nach den Angaben Bailins, der an einem 
größeren Material die Wirkung des Adre¬ 
nalins bei dem Säuglingsschnupfen prüfte, 
führt man in die Nase in reine Lösung 
getauchte kleine Tampons ein, die man 
einige Minuten liegen läßt. Hierdurch ver¬ 
mindert sich nicht nur schnell die flüssige 
Sekretion, sondern die beim Säuglings¬ 
schnupfen relativ häufige konsekutive Bron¬ 
chitis wird in der Mehrzahl der Fälle ver¬ 
mieden (8°/o bei Adrenalinbehandlung, 
50°/o unbehandelt). 

Von der diagnostischen Bedeutung der 
Nebennierenpräparate bei Nasen- und Kehl¬ 
kopfkrankheiten soll im letzten Teil dieser 
Mitteilungen die Rede sein. 

Aehnlich wie in der Rhinologie ist die 
Anwendung des Adrenalins in der Laryn¬ 
gologie sowie Otologie. In der Laryngo¬ 
logie bedient man sich der Nebennieren¬ 
präparate, um bei akuter Laryngitis und 
anderen Schwellungszuständen am La- 
rynx oder Pharynx die turgeszierte Schleim¬ 
haut zum Abschwellen zu bringen und 
endolaryngeale und endotracheale Eingriffe 

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schmerzlos und ohne Blutverluste auszu¬ 
führen. 

In der Ohrenheilkunde findet das Adre¬ 
nalin Verwendung zur Anästhesierung des 
äußeren Gehörganges und Trommelfelles. 
Außer durch Leitungsanästhesie läßt sich 
der äußere Gehörgang auch in der Weise 
anästhesieren, daß kleine Wattestückchen 
in eine konzentrierte, erwärmte Kokain- 
Adrenalinlösung (0,5 Kokain auf 1 ccm 
Adrenalin 1 :1000) getaucht und gegen das 
Trommelfell angedrückt werden. Für die 
Hammer - Amboß - Extraktion sowie die 
Ausführung der Radikaloperation empfiehlt 
sich die Einspritzung von Kokain-Adre¬ 
nalin. 

Wenden wir uns nunmehr zu dem An¬ 
wendungsgebiete derNebennierenpräparate, 
das aus äußeren Gründen hier an letzter 
Stelle steht, wiewohl es bei historischer 
Betrachtung an erster Stelle genannt werden 
müßte, es ist dies die Ophthalmologie. Mit 
und ohne Zusatz von anderen in der Augen¬ 
heilkunde gebräuchlichen Mitteln wie 
Zink und Atropin, hat sich das Adre¬ 
nalin bei der Behandlung von Konjunkti- 
vitiden, insbesondere der Frühlingskatarrhe 
und der Conjunctivitis phlyctaenulosa be¬ 
währt. 

Die anämisierende Wirkung der Neben¬ 
nierenpräparate läßt sich an der injizierten 
Konjunktiva gut verfolgen. Bringt man 
einen Tropfen der reinen Lösung in den 
Bindehautsack, so blaßt die Konjunktiva 
bereits nach 15 Sekunden ab. Das Maximum 
der Wirkung tritt nach 2—3 Minuten ein. 
Die Beeinflussung der konjunktivalenHyper¬ 
ämie läßt sich oft noch nach 2—3 Stunden 
nach weisen. 

Nach den Berichten englischer Autoren 
scheint sich das Adrenalin auch bei der 
Behandlung des Heufiebers bewährt zu 
haben. Zu gleichen Resultaten sind auch 
Königshofer und Königstein gelangt. 
Man gibt es hier in Verbindung mit Ko¬ 
kain am besten in Salbenlorm: 


Acid. bor. . 0,2 

Kokain, mur . 0,1 


Solut. Saprarenin (1:1000) 1,0 

Vaselin, american. alb. ad 10,0 

M. f. ungt. 5 X täglich in das Auge und die Nase 
einzureiben. 

Es erübrigt sich hervorzuheben, daß 
auch in der Augenheilkunde die lokale An¬ 
ästhesierung mit dem Kokain-Adrenalin¬ 
gemisch erfolgreich angewendet wird. Irid- 
ektomien, Tenotomien, Plastiken, ja selbst 
Enukleationen des Bulbus werden heute 
sicher und schmerzlos mit der Infiltrations¬ 
anästhesie unter Adrenalinzusatz ausgeführt. 

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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Oktober 


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Werfen wir einen Rückblick auf das 
Ganze, so haben sich die Nebennierenprä¬ 
parate in den verschiedensten Indikations¬ 
stellungen auf den einzelnen Spezialgebieten 
unserer Wissenschaft bewährt und unseren 
an zuverlässigen Mitteln nicht eben reichen 
Arzneischatz in ganz ungeahnter Weise 
bereichert. Aber wo viel Licht ist, ist viel 
Schatten, sagt ein altes Sprichwort, und es 
wäre wunderbar, wenn die großartigen Er¬ 
folge der Adrenalinbehandlung ganz ohne 
Opfer errungen wäret*. In der Tat ist dem 
nicht so. Ueberblickt man die ziemlich um¬ 
fangreiche Literatur der Mitteilungen und 
Veröffentlichungen, die sich auf die thera¬ 
peutische Anwendung der Nebennierenprä¬ 
parate beziehen, so sind es der Hauptsache 
nach zwei Todesfälle, die dem Adrenalin zur 
Last gelegt werden. Es handelt sich um 
die beiden in der Presse viel diskutierten 
Todesfälle, die ein anonymer Autor nach 
Adrenalineinspritzung in die Portio gesehen 
hat. Verwendet wurde das englische Prä¬ 
parat. Die Dosis betrug drei Pravazspritzen 
der zehnfach verdünnten Lösung. Wenn¬ 
gleich der Tod beider Patientinnen bei 
gleichzeitiger Chloroformnarkose erfolgte, 
und Chloroformtod nicht mit Sicherheit 
auszuschließen ist, wird man bei kritischer 
Prüfung der mitgeteilten Tatsachen die 
beiden letal endigenden Fälle doch auf das 
Konto des Adrenalins rechnen müssen. 
Aller Wahrscheinlichkeit nach ist durch 
einen unglücklichen Zufall das Mittel direkt 
in die Blutbahn gelangt und hat, vielleicht 
begünstigt durch die Narkosenwirkung, den 
Tod der beiden Patientinnen herbeigeffthrt. 
Zu dieser Auffassung ist auch Braun ge¬ 
langt, der als Mitbegründer der Adrenalin¬ 
therapie zu den Mitteilungen des anonymen 
Schreibers Stellung nimmt. Nach Braun 
lag insofern ein Verschulden des betreffen¬ 
den Arztes vor, als die angewandte Lösung 
(1:10000) zu konzentriert war. Braun 
tritt dafür ein, daß man zur Anämisierung 
von Geweben das Adrenalin stark ver¬ 
dünnen soll (1 :200). Aehnlich wie das 
Kokain hat das Adrenalin keine eigentliche 
Maximaldosis, da die Toxizität weniger von 
der Gesamtmenge der Substanz als von 
ihrem Verdünnungsgrade abhängt. Will 
man unerwünschte Nebenwirkungen der 
Nebennierenpräparate vermeiden, so muß 
man nach Braun anstatt kleiner Mengen 
konzentrierter, große Mengen verdünnter 
Lösungen anwenden. 

Mehrfach ist berichtet worden, daß nach 
Adrenalininjektionen beilnfiltrationsanästhe- 
sie sich Hautgangrän eingestellt hat, welche 
auf ischämische Nekrose und schlechte Ge- 


websernährung bezogen worden ist. Nament¬ 
lich scheinen ältere Leute hierfür disponiert 
zu sein. Eine langwierige Phlegmone sah 
Aronheim nach Anwendung von Adrenalin 
bei Innehaltung peinlicher Asepsis entstehen. 
Auch hier handelte es sich um einen älteren 
Mann. Desgleichen hat man Kiefernekrose 
im Anschluß an Adrenalininjektion beob¬ 
achtet. Alles in allem gehören derartige 
Zufälle angesichts der vieltausendfachen 
Erfahrung zu recht seltenen Vorkomm¬ 
nissen, die teilweise durch Ueberdosierung 
des Mittels verschuldet sind. Immerhin ist 
geraten, bei alten Leuten sowie schweren 
Arteriosklerotikern mit der Anwendung der 
Nebennierenpräparate vorsichtig zu sein. 
Der Standpunkt Schleichs, bei der In¬ 
filtrationsanästhesie das Adrenalin wegen 
der Gefahr der Gewebsschädigung ganz zu 
vermeiden, wird von den deutschen Aerzten 
nicht geteilt. 

Ein anderer Uebelstand, für den das 
Adrenalin verantwortlich gemacht worden 
ist, ist die Neigung zu Nachblutungen aus 
Operationswunden bei Auf hören der anä- 
misierenden Wirkung des Adrenalins. An 
diesem Faktum trägt jedoch nicht das Ad¬ 
renalin, sondern seine falsche Anwendungs¬ 
weise Schuld. Nimmt man nämlich zu 
konzentrierte Lösungen, so bringen die 
Nebennierenpräparate auch weitere Gefäße 
zur Kontraktion, sodaß dieselben blutleer 
werden und bei der Unterbindung dem 
Operateur leicht entgehen. In den meisten 
Fällen der kleinen Chirurgie genügen 3 bis 
5 Tropfen der reinen Lösung, die dem zu 
injizierenden Quantum zugesetzt werden 
(Braun). Hält man sich an diese Dosen, 
so wird man Nachblutungen stets ver¬ 
meiden. 

Andere mehr harmlose Nebenwirkungen 
des Adrenalins ist der nicht seltene 
Schnupfen und Nicßreiz bei Verwendung 
des Präparats in der Laryngo-Rhinologie. 
Schließlich wäre noch zu sagen, daß nach 
Zahnextraktion mitunter vorübergehende 
anämische Flecken auf der Gesichtshaut 
beobachtet worden sind. 

Fassen wir zusammen, was von un¬ 
erwünschten Zufällen der Adrenalinbehand¬ 
lung bisher bekannt geworden ist, so muß 
man sagen, daß angesichts der ausgedehnten 
Anwendung der Nebennierenpräparate auf 
allen Spezialgebieten die Reihe der Ad¬ 
renalinschädigungen eine sehr kleine ist, 
ja daß es überhaupt kein anderes Mittel 
gibt, das bei richtiger Dosierung eine solche 
Promptheit der Wirkung mit relativer Un¬ 
gefährlichkeit verbindet, als gerade das 
Adrenalin. Zum Schlüsse noch einige Be- 


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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


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merkungen Ober die diagnostische Verwert¬ 
barkeit der Nebennierenpräparate. Die 
diagnostische Bedeutung des Adrenalins 
hängt größtenteils mit seiner anämisieren- 
den Wirkung zusammen. 

Die Blutleere, die nach AufdrQcken 
eines in Adrenalin getauchten Wattestück- 
chens sich auf der Epidermis erzielen 
läßt, kann zunächst in der Dermatologie 
diagnostisch verwertet werden, indem auf 
der abgeblaßten Haut zweifelhafte Infiltrate 
deutlich sichtbar werden. Dies ist z. B. 
bei den Lupusknötchen der Fall, welche 
als bräunliche oder gelbliche Herde sich 
von dem hellen Grunde abheben. Die 
Adrenalinanwendung konkurriert bei der 
Lupusdiagnose mit der älteren Glasdruck¬ 
methode, hat aber vor dieser den Vorzug 
der längeren Sichtbarkeit des eingetretenen 
Vorganges. 

In ähnlicher Weise kann das Adrenalin 
in der Laryngologie die Diagnose strittiger 
Kehlkopfinfiltrate befestigen und die bei 
direkter Betrachtung ähnlich aussehenden 
entzündlichen Schwellungszustände der 
Schleimhaut ausschließen lassen. 

Besonderen diagnostischen Wert haben 
die Nebenpräparate für die Untersuchung 
der Nase und der Nebenhöhlen. Indem 
das Adrenalin die entzündete oder hyper¬ 
trophische Nasenschleimhaut zum Ab¬ 
schwellen bringt, wird die Orientierung 
und Uebersicht der erkrankten Partien er¬ 
leichtert, häufig auch erst ermöglicht 
Auch bei der Differenzierung der Empyeme 
der Nebenhöhlen ist das Adrenalin durch 
Sichtbarmachung der einzelnen Ausfüh¬ 
rungsgänge für die Diagnose von Wert. 

Bei der Diagnose der nasalen Kopf¬ 
schmerzen soll nach L. Rethi das Kokain 
verworfen und durch Adrenalin ersetzt 
werden. Wegen der gleichzeitigen an¬ 
ästhesierenden Wirkung des Kokains hält 
Rethi das Aufhören des Kopfschmerzes 
nach Kokainpinselung der Nase nicht da¬ 
für beweisend, daß der Kopfschmerz 
nasalen Ursprungs ist, während ein 
gleicher Erfolg bei Anwendung der Neben¬ 
nierenpräparate ein diagnostisch eindeuti¬ 
ges Resultat gibt. 

In der Ophthalmologie läßt sich das 
Adrenalin gleichfalls diagnostisch ver¬ 
werten, indem es bei Instillation in den 
Konjunktivalsack Anämie erzeugt und 
etwaige Trachomkörner oder andere In¬ 
filtrate deutlich sichtbar macht. 

Daß die blutstillende Eigenschaft des 
Adrenalins vorteilhaft angewandt wird, um 
bei Blasenhämorrhagie deutliche zysto- 

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skopische Bilder zu gewinnen, ist bereits 
erwähnt worden. 

Die vonLoewi behauptete Eigenschaft 
des Adrenalins, bei Pankreasinsuffizienz 
nach konjunktivaler Instillation Mydriasis 
zu erzeugen und so für die Pankreas¬ 
diagnostik verwertbar zu sein, bedarf noch 
weiterer Nachprüfung. 

Unsere eigenen Versuche, die ich im 
städtischen Krankenhause Moabit an der 
Abteilung des Herrn Prof. G. Klemperer 
anzustellen Gelegenheit hatte, sprechen bis 
zu einem gewissen Grade gegen die dia¬ 
gnostische Verwertbarkeit des Adrenalins 
im Sinne Loewis. 

Es ließe sich noch mancherlei anführen, 
was mit der Wirkung der pharmakodyna- 
misch überaus interessanten Nebennieren¬ 
präparate in Verbindung steht. Da diese 
Arbeit jedoch ausschließlich praktischen 
Gesichtspunkten Rechnung tragen soll, 
wollen wir mit den letzten diagnostischen 
Bemerkungen den Gegenstand verlassen. 

Auch abseits ihrer praktischen Verwer¬ 
tung müssen die Nebennierenpräparate das 
Interesse eines jeden Mediziners erwecken, 
da sie, dem tierischen Organismus selbst 
entstammend, einen Lichtstrahl in das ge¬ 
heimnisvolle Dunkel jener Organfunktionen 
werfen, die wir als innere Sekretion zu 
bezeichnen pflegen. 

Im Text zitierte Literatur: 

L. Ball in. Zur Behandlung des Schnupfens 
der Säuglinge. (Therapie der Gegenwart 1905, 

H. 7, S. 2.) — Bier und Dönitz, Rücken¬ 
marksanästhesie. (Münch, med. Woch. 1904, 

Nr. 14.) — Braun, Kokain und Adrenalin. 

(Berl. Klinik 1904, H. 187.) — Braun, Ueber 
die Anwendung des Suprarenins. (Ztschr. f. 

Gynäk. 1909, Nr. 3tf.) — Bossi, Nebennieren 
und Osteomalazie. (Ztschr. f. Gynäk. 1907, 

Nr. 3.) — V. Frisch, Adrenalin in der uro- 
logischen Praxis. (Wien. klin. Woch. 1902, 

Nr. 31.) — Heidenhain, Mitteil. a. d. Grenzgbt 
1908, Bd. 18, H. 5.) — Hoddick, Ueber die 
Behandlung der peritonealen Blutdrucksenkung 
mit intravenösen Adrenalinkochsalzinfusionen. 

(Ztschr. f. Chirurg. 1907, Nr. 41.) — Kothe, 

Die Behandlung von Kollapszuständen mit 
intravenösen Adrenalininjektionen. (Therap. d. 

Geg., N. F., 1909, H. 2.) — O. Lange, Ueber 
die Anwendung des Adrenalins als Hämosta- 
tikum in Fällen verzweifelter Blutung. (Münch, 
med. Woch. 1903, S. 62.) — N. N., Warnung 
vor Adrenalin. (Ztschr. f. Gynäk. 1909, Nr. 30.) 

— Neu, Ueber die Verwertbarkeit des Supra¬ 
renins in der geburtshilflichen Therapie. 

(Therap. d. Geg. 1907. H. 9.) — Derselbe, 
Untersuchungen über die Bedeutung des Supra¬ 
renins für die Geburtshilfe. (Aren. f. Gynäk. 

1908. H. 3.) — Steinschneider, Adrenalin 
bei Gebärmutterblutungen. (Münch, med. Woch. 

1905.) — Stöltzner, Nebennieren und Rachitis. 

(Med. Klinik 1908, Nr. 18—22.) — Thornton 
Bemerkungen über den Nutzen des Adrenalin¬ 
chlorids bei Behandlung der Pest. (Lancet, 

9. April 1910.) — Vohsen, Die Behandlung 

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456 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Oktober 


des Schnupfens der Säuglinge und kleinen 
Kinder. (Berl. klin. Woch. 1905, Nr. 40.) 

Weitere Literatur: 

W.B eren t,UeberRenoformpulver. (Therap. 
d. Geg., N. F., 1906, H. 8.) — Engelmann, 
Die Behandlung der Osteomalazie nach Bo9si. 
(Ztschr. f. Gynäk. 1905, Nr. 23.) — Gordon, 
Adrenalin in der Behandlung der Addisonschen 
Krankheit. (Indian Medical Record 1905, ref. 
Münch, med. Woch. 1906, S. 235.) — Grasser, 
Adrenalininjektionen zur Vermeidung der 
Blutung bei Entfernung von Plazentarresten 
nach Abort. (Ztschr. f. Gynäk. 1909, Nr. 25.) 
— Hecht. Suprarenin. (Münch, med. Woch. 
1904, Nr. 5.) — Kaplan, On the hypoder- 
matic use of adrenalinchloride in the treatment 
of asthmatic attacks. (Med. News 1905, Bd. 86.) 


— Kirch, Ueber Adrenalin und seine An¬ 
wendung bei schweren Blutungen. (Deutsch, 
med. Woch. 1903, Nr. 48.) — Kornfeld, 
Epirenan und seine praktische Anwendung. 
(Neue Therapie 1904, Nr. 11.) — Mohr, Bei¬ 
trag zur Aetiologie und Therapie des Heu- 
fiebers. (Münch, med. Woch. 1905, Nr. 34.) — 
Müller, Ueber die Anämisierung mit Adre¬ 
nalin. (Wien, klin.-therap. Woch. 1904, Nr. 21.) 

— Derselbe, Ueber eine neue imprägnierte 
Gaze. (Medico 1905, Nr. 31.) — Rethi, Kopf¬ 
schmerz nasalen Ursprungs. (Ztschr. f. klin. 
Med. 1908.) — Rosenberg, Ueber örtliche 
und allgemeine Begleiterscheinungen nach In¬ 
jektionen. (Zahnärztl. Rundsch. 1909, Nr. 52.) 

— Win ekler. Die Nebennieren präparate als 
diagnostisches Hilfsmittel in der Dermatologie. 
(Monatsh. f. prakt. Dermat. 1908, Nr. 3.) 


Therapeutisches aus Vereinen und Kongressen. 

Therapeutisches aus der 82. Versammlung: deutscher Natur¬ 
forscher und Aerzte, Königsberg 1 . Pr. 18.—24. September 1910. 

Nach den Berichten der Vereinigung der medizinischen Fachpresse. 


Aua den allgemeinen Sitzungen. 

Cramer (Göttingen): Pubertät und 
Schule. 

Die Pubertät fällt in die Jahre, wo die 
Entwicklung der Organe, vor allem des 
Gehirns, zu einem gewissen Abschluß 
kommt; gerade in dieser etwa vom 13. bis 
21. Jahre zu rechnenden Zeit geht zum 
großen Teil die letzte Entwicklung der 
feineren Elemente des Gehirns, speziell der 
Hirnrinde, vor sich, gleichzeitig erfolgt die 
geschlechtliche Reife, auch bilden sich die 
sekundären Geschlechtscharaktere aus. Dem¬ 
entsprechend ändern sich die Stoffwechsel¬ 
vorgänge, häufig von emansischen Zustän¬ 
den und deren Folgeerscheinungen begleitet 

Großes Interesse beansprucht die psy¬ 
chologische Seite der geistigen Entwicklung 
in der Pubertät: das Gehirn hat in dieser 
Zeit eine Riesenarbeit zu bewältigen, weil 
aus dem in Kurzschlüssen denkenden und 
urteilslos handelnden Kinde ein auf Grund 
abstrakter Vorstellungen selbständig urtei¬ 
lendes Individuum wird. In den Beginn 
der Pubertät spielen noch vielfach kind¬ 
liche Züge hinein. 

Egoismus, Fehlen von Hemmungen, sehr 
lebhafte Phantasie und Eifersucht, ein meist 
nur kurz fassendes Gedächtnis und nament¬ 
lich bei mangelhafter Erziehung eine Nei¬ 
gung zu Grausamkeit und Eifersucht. Da¬ 
bei handelt es sich bei scheinbar selbstän¬ 
digen Urteilen der Kinder fast immer um 
auswendig gelernte, gewöhnlich nicht lange 
haftende Assoziationen. Erst mit dem 
Fortschreiten der normalen Entwicklung in 
der Pubertät tritt die Fähigkeit ein, in ab¬ 
strakten Vorstellungen auf Grund eigener 
Urteile zu denken. Zunächst zeigt sich 


dies in Aeußerlichkeiten, in dem Bestreben 
z. B., in Kleidung und Haartracht usw. dem 
Erwachsenen zu gleichen, weiterhin in dem 
gesteigerten Selbstgefühl, das in großen 
uferlosen Ideen, Plänen und häufig in einer 
Neigung zum Dichten und Komponieren 
äußerlich in Erscheinung tritt. Gleichzeitig 
macht das rücksichtslose und schroffe Ur¬ 
teil des Jünglings den Eitern und Erziehern 
oft viele Schwierigkeiten. Das Elternhaus 
und Schule werden als unangenehmer 
Zwang bekämpft. Der Vater ist rückstän¬ 
dig, der Lehrer ein Tyrann usw.; bei dem 
weiblichen Geschlechte findet man das be¬ 
kannte eigentümlich gezierte und über¬ 
schwängliche Wesen der Backfische. Mit 
dem weiteren Fortschreiten der Pubertät 
erwirkt der Mensch bei normaler Entwick - 
lung allmählich immer mehr die Fähigkeit, 
abstrakt zu denken und auf Grund selb¬ 
ständiger Schlüsse zu handeln; gleichzeitig 
bilden sich die nötigen Hemmungen, die 
ethischen und altruistischen Vorstellungen 
aus. In der Pubertät differenziert sich auch 
die individuelle Neigung und Veranlagung, 
wie auch die ersten kriminellen Ausschläge 
fast immer in die Pubertät fallen. Aller¬ 
dings spielt aber auch das Milieu eine 
Rolle, denn eine große Anzahl unserer 
Jugendlichen ist nach dem Verlassen der 
Schule ohne jede Zucht und Aufsicht und 
nichts imponiert der Jugend in diesem 
Alter mehr, als die Auflehnung gegen alles, 
was Ordnung und Gesetz heißt. Es kann 
daher nicht dringend genug eine gesetz¬ 
liche Fürsorge für diese jugendliche Für¬ 
sorge gefordert werden, nur so läßt sich 
die zunehmende Kriminalität erfolgreich 
bekämpfen. 


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Oktober 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


457 


Große Schwierigkeiten entstehen, wenn 
psychopathische Erscheinungen hinzutreten. 
Die Psychopathie tritt häufig erst in der 
Pubertät deutlich hervor, auch können 
später auftretende ausgesprochene psychi- i 
sehe Störungen und Schwachsinnzustände 
mit ihren Wurzeln bis in den Beginn der 
Pubertät zurückreichen. Der Schwachsinn 
ist in dieser Zeit oft schwer nachzuweisen, 
zeichnet sich aber manchmal in dieser Zeit 
schon durch kriminelle Ausschläge aus; 
ein anderer Teil fällt durch Reizbarkeit, 
Unfähigkeit abstrakt zu denken ünd zu¬ 
nehmendes Versagen in den höheren 
Klassen auf. Deutlich treten gewöhnlich 
in der Pubertät die klinisch als Degenera¬ 
tion bezeichneten psychopathischen Züge 
und Charaktereigenschaften zutage: Zwangs- 
zuständö, Angstaffekte, außerordentlich ge¬ 
steigerte Impulsivität, labile Stimmung und 
starke ethische Defekte. Hierher gehören 
auch die Fälle von Schülerselbstmorden, 
bei denen zum großen Teil sicher der 
psychopathische Charakter und die degene- 
rative Veranlagung die Hauptrolle spielen. 

Eine leichtere Form psychopathischer 
Störung bilden die bei beiden Geschlech¬ 
tern im Beginn der Pubertät oft auftretenden 
Fälle auffallender Zerstreutheit; falls keine 
intellektuellen Störungen vorliegen, bessern 
sich diese Zustände später häufig wieder. 
Wichtig sind auch die gerade in der Puber¬ 
tät einsetzenden, durch zu rasches Wachsen 
und Stoffwechselveränderungen bedingten 
anämischen Störungen und auch gewisse 
hysterische Züge. Befreiung von Schul¬ 
unterricht oder wenigstens von den nicht 
unbedingt erforderlichen Stunden und Be¬ 
lehrung der Erzieher über den Zustand der 
Patienten, Aufenthalt im Hochgebirge oder 
an der See, womöglich in noch weiter aus¬ 
zubauenden höheren Lehranstalten, wirken 
bei ausgesprochen anämischen Zuständen 
äußerst vorteilhaft, während viele Psycho¬ 
pathen leicht verbummeln und später nur 
schwer wieder lernen können, wenn man 
sie aus der Schule nimmt. Es muß des¬ 
halb in solchen Fällen streng individuali¬ 
siert werden. 

Die aus diesen Betrachtungen sich er¬ 
gebenden Lehren sind dahin zusammen¬ 
zufassen: Nicht allzuviel Milde gegenüber 
der heranwachsenden Jugend in der Puber¬ 
tät, sondern stramme Schuldisziplin, für 
den Erzieher aber die Notwendigkeit, sich 
selbst mit der Klinik der Pubertät immer 
vertrauter zu machen, um schwachsinnige 
und psychopathische und beim weiblichen 
Geschlecht namentlich auch hysterische In¬ 
dividuen zu deren eigenem und der an- 

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deren Kinder Besten zu berücksichtigen 
und eventuell, wo das erforderlich ist, aus 
dem gemeinsamen Unterricht zu entfernen. 

Aus der Abteilung für Innere Medizin, 
Balneologie und Hydrotherapie. 

Ewald (Berlin) bespricht die Anwen¬ 
dung des Rekto-Romanoskops und macht 
erneut auf das Vorkommen schwerer, 
scheinbar idiopathischer Anämien aufmerk¬ 
sam, deren Quelle in hochsitzenden, nur 
durch das Romanoskop nachzuweisenden 
Varizen, bezw. den aus ihnen erfolgenden 
perpetuierlichen Blutungen besteht. Die¬ 
selben sind nicht groß genug, um den 
Fäzes äußerlich das Ansehen bluthaltiger 
Stühle zu geben. Dagegen läßt sich 
dauernd Blut im Stuhl auf chemischem 
Wege nachweisen, zum Unterschied gegen 
die kryptogenetische (perniziöse) Anämie. 

Die Behandlung besteht in erster Linie in 
der Verödung der Varixknötchen mit dem 
Paquelin unter Leitung des Romanoskops. 

Diskussion: Schreiber (Königsberg): 

Ob am Rektoskop der Beleuchtungsapparat 
innen oder außen angebracht ist, erscheint 
ziemlich nebensächlich. Das Einführen des 
Instrumentes bis über eine Höhe von mehr 
als 10—12 cm macht im allgemeinen keine 
Schwierigkeiten. 

Mosse (Berlin): Die Anbringung des 
Beleuchtungsapparates im Innern des Rekto- 
Romanoskops empfiehlt sich deshalb nicht, 
weil das Gesichtsfeld durch Gase verdun¬ 
kelt werden kann. Die Methode kann nicht 
als ganz harmlos angesehen werden, wie 
es seitens des Herrn Vortragenden ge¬ 
schehen ist, da Todesfälle danach schon 
beobachtet sind. Die Diapnose der per¬ 
niziösen Anämie wird durch die Blutunter¬ 
suchung und nicht durch die Rektalunter¬ 
suchung gestellt 

Ewald erklärt, daß es ihm natürlich 
nicht eingefallen wäre, die Diagnose der 
perniziösen Anämie durch das Rekto- 
Romanoskop zu stellen. 

Wolf (Reiboldsgrün): Die neueren 
Fieberuntersuchungen und dasTuber- 
kulosefieber. 

Temperaturerhöhung und Fieber sind 
nicht identisch, da erstere sich künstlich 
erzeugen läßt Die Temperaturerhöhung 
kann die Heilkraft bei der Tuberkulose 
heben durch Produktion der Bakteriolysine 
usw. Sie kann demnach bei dieser auch 
günstig wirken. Bei jedem Fieberverdacht 
ist zweistündliches Messen, möglichst rektal, 
notwendig. Jede Temperaturerhöhung über 
37 ° bei Achselhöhlenmessung ist suspekt 
Weitere Fiebersymptome sind erhöhte 

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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


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Pulszahl, nervöse Dyspepsie, Appetitlosig¬ 
keit, Nachtschweiße, Gewichtsabnahme. Es 
gibt schweres Fieber mit geringer, leichtes 
mit hoher Temperatursteigerung. 

Diskussion: Moll er (München): Es gibt 
chronische Zustände mit leichtem Fieber 
ohne Tuberkulose, z. B. bei hyperthyreoi- 
den Zuständen, bei fettsüchtigen Knaben 
usw. Die rapide Gewichtsabnahme bei 
jungen Mädchen, die man mitunter beob¬ 
achtet, ist durch mangelhafte Nahrungsauf¬ 
nahme bedingt. 

Ewald (Berlin): Die Gewichtsabnahme 
bei jungen Mädchen ist oft dadurch be¬ 
dingt, daß dieselben sich schlank machen 
wollen. Sie kann mitunter einen recht be¬ 
denklichen Charakter annehmen. 

E. Neißer (Stettin): Ueber Mikro- 
gastrie. 

Bei Leuten, die durch ihren Beruf ge¬ 
zwungen sind, rasch zu essen, findet man 
mitunter, daß sie rasch abmagern, ohne 
daß die Untersuchung der Organe einen 
Grund dafür auffinden kann. Die Ursache 
liegt in einer ungenügenden Entfaltung des 
Magens. Während nach einer Röntgen¬ 
mahlzeit der Magen in 6 Minuten entfaltet 
sein soll, ist das hier nicht der Fall. Die 
Leute zeigen vorzeitige Sättigung. Das 
läßt sich auch bei jungen Mädchen, die 
rasch abmagern, röntgenologisch nach- 
weisen. Die Ursache liegt in dem Tragen 
des Korsetts, das die Entfaltung des Magens 
hindert. Auch der Schmachtriemen der 
Handwerksburschen bewirkt etwas Aehn- 
liches. Experimentelle Untersuchungen 
lehrten, daß die Vitalkapazität des Magens 
beim Schnüren für per os aufgenommene 
Flüssigkeit auf % der Norm herabgesetzt 
ist. Bei der hier besprochenen Form der 
Mikrogastrie ist sie noch wesentlich ge¬ 
ringer. 

Kraus (Berlin) schlägt zum Unterschied 
von der anatomischen Störung für die ge¬ 
schilderten Zustände den Namen funk¬ 
tionelle Mikrogastrie vor. 

Neißer bemerkt, daß es ihm weniger 
darauf ankam, einen passenden Namen zu 
finden, als auf die Schilderung der patho¬ 
logischen Vorgänge. 

Ans der Abteilung für Geburtshilfe und 
Gynäkologie. 

Döderlein (München): Ueber Indi¬ 
kation und Technik der Hystero- 
stomatomia vaginalis anterior. 

Vortragender berichtet über die Er¬ 
fahrungen, welche er mit dem von 
Dührßen angegebenen vaginalen Kaiser¬ 
schnitt gemacht hat. Der Name Kaiser¬ 


schnitt ist nicht zweckmäßig; bezeichnender 
ist der Name Hysterostomatomia vaginalis 
anterior. Vortragender betont die Neuheit 
der Dührßenschen Operation in Technik 
und Indikation, welche sich wesentlich von 
den früher angewandten kleinen Inzisionen 
unterscheidet. Die Dührßen sehe Ope¬ 
ration ist für Mutter und Kind gleich 
segensreich. — Zwar sind 25 Fälle von 
Eklampsie mit nicht gutem Resultat be¬ 
handelt, da 5 Mütter gestorben sind, aber 
sie starben nicht an der Operation, sondern 
an der Eklampsie. Die schnelle Entbin¬ 
dung vermag also bei schwerer Eklampsie 
nicht stets heilend zu wirken. Wichtiger 
ist die Anwendung der Hysterostomatomia 
bei Placenta praevia. Von 34 Frauen starb 
nur 1. Die Schnittmethode und die Schnell¬ 
entbindung ist also bei Placenta praevia 
der sicherste Schutz gegen Verblutung. 
Ob das Kind ausgetragen ist, ob es ab¬ 
gestorben ist, ist gleichgültig für die 
Stellung der Indikation. Eine Gebär¬ 
muttertamponade ist anzuschließen. Im 
Gegensatz von Dührßen betont aber 
Verfasser, daß die Operation nicht im Pri¬ 
vathause ausgeführt werden darf. Die In¬ 
dikationsbreite für die Schnellentbindung 
mit dem Schnitte in der vorderen Gebär¬ 
mutterwand ist aber eine größere. Sie 
kommt in Betracht in allen Fällen, in denen 
eine augenblickliche Entbindung, gleich¬ 
gültig in welchem Stadium der Geburt, 
notwendig wird. So führte sie Vortragen¬ 
der u. a. in 17 Fällen wegen primärer 
Weichteilschwierigkeiten ohne Todesfall 
aus, 7 mal wegen vorzeitiger Lösung der 
normalsitzenden Plazenta, 3 mal wegen 
Nabelschnurvorfall, 3 mal wegen Schief läge, 
bei der eine Wendung nicht möglich war. 
Auch bei Pyelitis, Nephritis, Hyperemesis 
gravidarum, Tuberkulose ist die Operation 
indiziert in den Fällen, in denen eine 
Schnellentbindung im Interesse der Mutter 
oder des Kindes notwendig wird. Vor¬ 
tragender gibt eine Schilderung seiner 
Technik, welche eine möglichste Schonung 
der Gewebe bezweckt. Das Kind wird 
durch Wendung entwickelt. 

Diskussion. 

Pankow (Freiburg) sah von dem vor¬ 
deren Gebärmutterschnitte nicht so gute 
Resultate bei der Placenta praevia. Unter 
9 Frauen starben 2 durch Verblutung durch 
Weiterreißen des Schnittes, obwohl er 
gleichfalls den Schnitt hoch hinaufführte 
und einen Schnitt der hinteren Uteruswand 
hinzufügte. 

Seil heim gibt eine Differenzierung 
zwischen dem klassischen Kaiserschnitt, 


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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


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dem extraperitonealen und dem vaginalen 
Uterusschnitt. Seilheim hat bei Placenta 
praevia häufiger den extraperitonealen 
Uterusschnitt ausgeführt; der Schnitt von 
oben greift wie der vaginale den Aus¬ 
führungsweg der Gebärmutter an, ist aber 
übersichtlicher, und der Arzt kann ohne 
Gefahr langsamer operieren. 

Frank hält wie Döderlein die rasche 
Methode der Entbindung bei Placenta 
praevia für die beste Operation. Die rasche 
Entbindung kann aber gefährlich werden, 
wenn die Kranke vollständig ausgeblutet 
in Behandlung kommt, hier gewinnt man 
durch die Wendung Zeit und macht die 
Entbindung ungefährlicher. Bei Erstge¬ 
bärenden, namentlich bei engem Becken 
ist der Weg von oben dem Gebärmutter¬ 
schnitt vorzuziehen. 

Jung wendet zwar die Hysterostoma- 
tomia bei denselben Erkrankungen wie 
Döderlein seit langer Zeit an, bei Pla¬ 
centa praevia jedoch scheute er sich lange, 
sie auszuführen. Bei sehr engen Weich¬ 
teilen führt er sie jedoch aus, wenn Kol- 
peuryse und Wendung nicht in Betracht 
kommen. Bei der Operation von oben 
zieht Jung den klassischen Kaiserschnitt 
bei Placenta praevia dem extraperitonealen 
Uterusschnitt vor. 

Fränkel (Breslau) hält als Indikations¬ 
stellung die Einleitung einer künstlichen 
Schnellentbindung bei Tuberkulose für 
nicht richtig, da hier gewöhnlich eine so 
schnelle Operation nicht erforderlich ist, 
namentlich aber bei künstlicher Fehlgeburt 
ist eine Schnittmethode behufs schneller 
Entleerung des Uterus nicht angebracht. 

E. Martin: Während auf der Bumm- 
schen Klinik der vaginale Uterusschnitt 
häufig zur Einleitung einer künstlichen Früh¬ 
geburt angewendet und der vaginale Kaiser¬ 
schnitt auf breitester Basis ausgeführt wird, 
wird er bei Placenta praevia wegen Gefahr 
der Verblutung durch queres Einreißen 
nicht gemacht 

Döderlein: Die Gefahr eines Einrisses 
läßt sich durch hohes Einschneiden bis 
über den inneren Muttermund vermeiden. 
Die Krönigsche Klinik, über deren Re¬ 
sultate Pankow berichtete, schafft ein kom¬ 
pliziertes Wundgebiet durch Hinzufügen 
der Schnitte in der hinteren Uteruswand. 
Hierdurch sind die schlechten Resultate von 
Pankow zu erklären. Daß man den Schnitt 
in das untere Uterinsegment legt, wie 
Sellheim, ist notwendig, aber der Weg 
von der Scheide ist ungefährlicher als von 
oben. Bei Erstgebärenden sind in der Tat 
die Schwierigkeiten bedeutendere. 

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Rosinski (Königsberg): Ueber Pye¬ 
litis gravidarum. 

Im Verlauf der Schwangerschaft tritt 
nicht selten eine Nierenbeckeneiterung auf, 
die, durch die Schwangerschaft veranlaßt, 
mit Aufhören der Schwangerschaft von 
selbst ausheilt. Die Fälle, in denen der 
Beginn der Pyelitis vor Eintritt der Kon¬ 
zeption fällt, haben andere Prognose und 
eine andere Aetiologie; die eigentliche 
Pyelitis gravidarum aber erfolgt durch 
Stauung im Nierenbecken oder Ureter und 
Eintritt einer Infektion. Am klarsten treten 
die Symptome bei Erstgebärenden auf, bei 
ihnen findet sich der Prozeß stets auf der 
rechten Seite lokalisiert und beschränkt sich 
auf den abdominalen Teil des Ureters — 
bis zur Linea innominata. Die Pyelitis be¬ 
ginnt gewöhnlich im 5. Monat, selten später, 
fast nie früher. Eine schiefe Einmündung 
des Harnleiters in die Blasen wand (Mira- 
beau) kann also nicht die Ursache für die 
Erkrankung sein, ebensowenig wie die 
Schwellung der Blasenschleimhaut. Im 
ersteren Falle müßte auch der pelvine Teil 
des Harnleiters beteiligt sein, im letzteren 
müßte die Erkrankung doppelseitig auf- 
treten. Auch ein abnormer Tiefstand der 
Niere ist nicht Veranlassung einer Ab¬ 
knickung des Ureters. Ausschlaggebend 
für das Auftreten einer Pyelitis kann nur 
eine Kompression des Ureters durch Druck 
oder Abknickung des Ureters durch Zug 
sein. Bei letzterem soll der Uterus beim 
Emporsteigen die Blase mitnehmen, so einen 
Zug auf den Ureter ausüben und zur Er¬ 
zeugung einer verstärkten Winkelbildung 
beitragen. Rosinski neigt mehr der Kom¬ 
pressionstheorie zu, sie erklärt den ein¬ 
seitigen Sitz und ferner die Erfolge, welche 
durch Linkslagerung der Kranken erzielt 
werden. Fast ausnahmslos läßt sich durch 
diese einfache Therapie ein voller Erfolg 
erzielen. Die Infektion durch Bacterium 
coli erfolgt wahrscheinlich nicht von der 
Blase aus, sondern auf hämatogenem Wege. 

Das ultimum Refugium der Therapie ist die 
Entleerung des Uterus; das kindliche Leben 
muß im Interesse des mütterlichen geopfert 
werden. 

Jung (Göttingen): Ueber dasAszen- 
dieren korpuskulärer Elemente ohne 
Eigenbewegung im weiblichen Ge¬ 
nitalkanal. 

Experimentell ist es möglich, bei Tieren 
eine aszendierende Genitaltuberkulose zu 
erzeugen. Baumgarten bestritt die Mög¬ 
lichkeit, Jung erhärtete seine Annahme 
durch neue Versuche, und zwar durch In¬ 
jektion von Perlsucht in das linke Horn 

58* 

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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Oktober 


und sah unter 33 Kaninchen 5 mal Auf¬ 
steigen der Infektion in das rechte Horn. 
Ferner unterband er Portio beziehungs¬ 
weise Scheide, machte eine Aufschwemmung 
unterhalb der Ligatur und löste alsdann 
später die Umschnürung. Das Aszeadieren 
der experimentellen Genitaltuberkulose läßt 
sich durch antiperistaltische Bewegungen 
oder durch Verschleppung durch Leuko¬ 
zyten erklären. Um den Ein wand, daß es 
sich um hämatogene Verschleppung handelt, 
zu widerlegen, ließ Jung durch Engel- 
h o r n Karmin- Kakaokügelchen in die Scheide 
bringen, und auch hier ließ sich ein Hin¬ 
aufwandern der korpuskularen Elemente 
nicht nur in die Uterushöhle, sondern auch 
in die Uterusschleimhaut und in die Lymph¬ 
spalten der Muskulatur nachweisen. Das 
Hinaufwandern der Tuberkulose auf dem 
Lymphwege ist hierdurch experimentell 
gestützt. Die menschliche Genitaltuber¬ 
kulose entsteht allerdings gewiß in den 
meisten Fällen auf hämatogenem Wege, die 
Möglichkeit ist aber gegeben, daß Tuberkel¬ 
bazillen aus der Scheide in den Uterus ge¬ 
langen können. 

Diskussion. 

Zuntz berichtet über einen Fall von 
Pyelitis bei einer Erstgebärenden im 3. Mo¬ 
nat, in dem eine Kompression durch den 
Uterus nicht anzunehmen ist. Ferner be¬ 
richtet er über einen Fall, in dem, als eine 
rechtsseitige Pyelitis nach Behandlung durch 
Linkslagerung geheilt war, eine linksseitige 
Pyelitis sich anschloß. 

May er weist auf die Differentialdiagnose 
zwischen Pyelitis und Perityphlitis hin, 
beide machen ähnliche Symptome. Auch 
Verwechslung mit Pneumonie kommt vor. 

Th. Cohn: Die Pyelitis tritt häufig so 
schleichend auf, daß in der ersten Zeit die 
Diagnose schwer zu stellen ist. Die Frage, 
ob die Infektion eine aufsteigende oder 
hämatogene ist, läßt sich nur lösen durch 
den Nachweis, ob die Bakterien sich zu¬ 
erst in der Blase oder im Nierenbecken 
finden. 

Füth weist auf die Möglichkeit hin, 
Pyelitis mit Influenza zu verwechseln. 

Neu: Nicht allein das mechanische Mo¬ 
ment durch Druck des Uterus kann die 
Pyelitis veranlassen, auch schwere Obsti* 
pation kann die Ursache sein. 

Zangenmeister: Das Hindernis ist 
bei Pyelitis sicher nicht sehr groß, denn 
die Ureteren lassen sich auch bei Pyelitis 
leicht sondieren; aber der Urin kann auch 
dieses leichte Hindernis nicht überwinden. 
Eine große Anzahl der Fälle ist sicher 
hämatogenen Ursprungs. Die Nierenbecken- 

4 i b> Go gie 


Spülungen wirken durch Freimachen der 
Passage. 

Rosinsky führt aus, daß die häma¬ 
togene Infektion durch das eruptionsartige 
Auftreten wahrscheinlich wird. Das Gros 
der Fälle, die eine gewisse Gesetzmäßig¬ 
keit zeigen, können nur durch Druckkom¬ 
pression entstehen. Therapeutisch sollen 
wir uns nicht mit der Behebung der mani¬ 
festen Symptome begnügen; auch nach der 
Entbindung müssen die Frauen beobachtet 
und eventuell behandelt werden. 

Kombinierte Sitzung mit der Abteilung für 
innere Medizin. 

Hof bauer (Königsberg): Tuberkulose 
und Schwangerschaft. 

Die Klarstellung der Rückwirkung von 
Generationsvorgängen auf die tuberkulöse 
Infektion ist nur auf dem Boden großer 
empirischer Reihen möglich. Außerdem 
müssen die Erfahrungen der Chirurgen, 
Urologen und Dermatologen herangezogen 
werden. Von diesen Leitsätzen ausgehend, 
wurden in der Königsberger Klinik sämt¬ 
liche Schwangere und Gebärende auf 
Lungenaffektionen untersucht, in zweifel¬ 
haften Fällen von spezialärztlicher Seite. 
Außerdem wurden die tuberkulösen Kranken 
der inneren Kliniken und Abteilungen zur 
Kasuistik verwertet, ferner der Bestand der 
Fürsorgestelle, wo genaue anamnestische 
Erhebungen, das Ergebnis sorgfältiger phy¬ 
sikalischer und Sputumuntersuchung, An¬ 
gaben über Einfluß des Aufenthaltes in der 
Lungenheilstätte und über das Befinden 
nachher vorliegen. Außerdem kamen Fälle, 
welche längere Zeit während der Gravidität 
in Privatkliniken beobachtet wurden, zur 
Verwertung. Unter den gesamten 235 
Fällen zeigte sich eine Verschlimmerung 
der Tuberkulose durch die Gravidität in 
55,7 °/ 0 . Bei chirurgischer Tuberkulose und 
bei Lupus tritt häufig Verschlechterung 
ein; die Urogenitaltuberkulose bleibt meist 
unbeeinflußt. Bei der Beantwortung der 
Frage nach der Häufigkeit der echten 
Schwangerschaftstuberkulose muß in Er¬ 
wägung gebracht werden, daß nur selten 
der Ausgang von latenten Herden ausge¬ 
schlossen werden kann. Ob erhöhte Dis¬ 
position zur tuberkulösen Erkrankung 
durch Schwangerschaft gegeben ist, ist in 
bejahendem Sinne zu beantworten. Von 
Bedeutung für den Verlauf sind der ana¬ 
tomische Charakter der Lungenerkrankung 
und die sozialen Verhältnisse. In progno¬ 
stischer Richtung kommt die gleichzeitige 
Berücksichtigung von Temperatur, Puls und 
Gewicht in Betracht. 

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Oktober 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


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Die diagnostische und prognostische 
Seite muß damit rechnen, daß die Gravi¬ 
dität an sich Zustände schafft, wie sie sonst 
der Tuberkulose eigentümlich sind, Ab¬ 
sinken des opsonischen Index, Aktivierung 
der Kobrahämolyse. Für die ätiologische 
Erklärung der gesteigerten Disposition 
kommen nach Hofbauers Untersuchungen 
in Betracht: 

1. Herabsetzung des lipolytischen Ver¬ 
mögens des Blutes in der Gravidität (wahr¬ 
scheinlich im Zusammenhang mit den de- 
generativen Zellschädigungen der Leber) 
und Hyperglykämie. 

2. Bestimmte physikalische Momente, 
welche am ausgeprägtesten im Larynx 
während der Gravidität auftreten (Hyper¬ 
ämie, Oedem, Infiltrate), aber auch in der 
Lunge nachweisbar sind, als Hyperämie 
und peribronchiale Infiltrate. Die günstigen 
Erfahrungen, welche mit der frühzeitigen 
Unterbrechung der Gravidität bei pro¬ 
gredienter Erkrankung gemacht sind, er¬ 
klären sich aus dem Wegfall der ätiologi¬ 
schen Faktoren. 

Diskussion: 

v. Müller: Der Einfluß der Schwanger¬ 
schaft auf die Tuberkulose macht sich 
häufig erst nach der Entbindung geltend, 
erst in dieser Zeit macht häufig die Tuber¬ 
kulose rapide Fortschritte. 

Wolff-Eisner: Die Volkslungenheil¬ 
stätten schließen Gravide gewöhnlich aus, 
weil sie nur prognostisch günstige Fälle 
aufnehmen, die Schwangerschaft setzt aber 
für die Tuberkulose eine ungünstige Pro¬ 
gnose, da sie inaktive Tuberkulose auf¬ 
flackern läßt. Die Konjunktivalreaktion ist 
naturgemäß auch bei Gravidität verwert¬ 
bar, aber gerade bei prognostisch ungünsti¬ 
gen Fällen tritt nicht selten keine Reaktion 
ein, sie. fällt daher bei Gravidität häufig 
negativ aus und wird nach Unterbrechung 
der Gravidität positiv. 

Wolff (Reiboldsgrün) befürwortet als 
Heilstättenarzt die Aufnahme von Tuber¬ 
kulös-Graviden so lange wie irgend mög¬ 
lich in einer Volksheilstätte, besonders 
auch die Wiederaufnahme nach der Ent¬ 
bindung, da die Frauen in der Zeit nach 
der Entbindung besonders gefährdet sind. 

E. Martin: Wir wissen noch keinen 
Grund, warum in einem Falle die Schwan¬ 
gerschaft so ungünstig wirkt, im anderen 
nicht. Die Bumsche Schule unterbricht 
die Schwangerschaft nur, wenn ein Internist 
den Rat gibt. Die Unterbrechung hat aber 
nur in den ersten 3 Monaten Wert. Vom 
4. Monat ab hat dieselbe keinen günstigen 
Erfolg. Der Unterbrechung der Schwanger¬ 


schaft wird eine Sterilisation —• durch 
Totalexstirpation mit Entfernung der Ad¬ 
nexe — angeschlossen. 

Jaschke: So radikal der Vorschlag 
einer Totalexstirpation auch aussieht, ist er 
doch wenigstens für besonders schwere 
Fälle der richtige, wie Untersuchungen an 
der Rosthorn sehen Klinik ergaben; häufig 
aber ergibt eine Tubensterilisation dieselben 
guten Resultate. 

Asch (Breslau) betont, daß die Gynä¬ 
kologen häufig deshalb die Schädigung der 
Graviden durch Tuberkulose nicht fest¬ 
stellen können, weil gerade die schwersten 
Schädigungen erst nach der Entbindung 
eintreten. Die Internisten vermögen ein 
viel besseres Urteil zu gewinnen, und zwar 
dadurch, daß sie in jedem Falle von Tuber¬ 
kulose durch genaue anamnestische Fest¬ 
stellung nachforschen, wie weit die früheren 
Schwangerschaften einen schädigenden 
Einfluß auf die Tuberkulose gehabt haben, 
nur so können wir zu präziser Indikations¬ 
stellung kommen. 

Kraus: Durch Unterbrechung einer 
Gravidität allein wird die Tuberkulose nur 
selten günstig beeinflußt. Wichtig ist eine 
Sterilisation ohne Entfernung der Ovarien, 
damit nicht wieder Schwangerschaft ein- 
tritt. 

Fischer: Die Indikationsstellung für 
Unterbrechung der Schwangerschaft ist 
heute noch dieselbe wie vor 10 Jahren. 
Der Charakter, der Wunsch der Kranken 
spielt häufig eine große Rolle für den Verlauf 
der Erkrankung. Man muß in jedem Falle 
individualisieren, jede tuberkulöse Gravide 
soll auf die Gefahren, die ihr durch die 
Schwangerschaft drohen, aufmerksam ge¬ 
macht werden. 

Mayer: Einzelne Fälle von Tuberkulose 
erfordern sofortige Unterbrechung, andere 
hingegen müssen längere Zeit auf Puls, 
Temperatur und Gewicht beobachtet wer¬ 
den. Zur Sterilisation genügt die Tuben¬ 
sterilisation nach Seil heim scher Methode, 
welche die Möglichkeit gibt, später eine 
Konzeptionsfähigkeit wieder herzustellen. 

Döderlein: Die Indikationsstellung für 
Unterbrechung der Schwangerschaft ist 
Sache der Internisten. Als Operationsme¬ 
thode kommt die Kastration in Frage, 
wegen der Ausfallserscheinungen wird diese 
jedoch von Döderlein verworfen. Die 
Tubensterilisation ist die gegebene Me¬ 
thode. 

Neu: In der Heidelberger Klinik 
wird bei jeder tuberkulösen Schwangeren, 
die nach Beratung mit den Internisten den 
Gefahren einer progredienten Tuberkulose 


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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Oktober 


ausgesetzt ist, nach Einleitung eines Aborts 
eine Tubensterilisation vom Leistenkanal 
aus vorgenommen. Das wichtigste ist, eine 
Basis zu schaffen, auf der wir zu einer 
sicheren Indikationsstellung kommen können. 

Kraus: Aus dem physikalischen Befund 
läßt sich keine Indikationsstellung fQr Unter¬ 
brechung der Schwangerschaft herleiten. 
Gefährlich ist die Annahme, daß man durch 
eine Kastration, welche eine Gewichtszu¬ 
nahme hervorruft, eine Besserung der 
Tuberkulose erzielen kann. 

Dützmann schlägt vor, um in einer 
Sitzung Ausräumung und Sterilisation zu 
ermöglichen, eine vaginale Inzision der 
vorderen Uteruswand mit Ausräumung und 
direktem Anschluß der Sterilisation vorzu¬ 
nehmen. 

Hofbauer: Auch die Königsberger 
Klinik verwirft die künstliche Frühgeburt, 
empfiehlt den künstlichen Abort. So früh 
und so schonend wie möglich soll operiert 
werden. Internisten und Gynäkologen sollen 
Zusammenarbeiten. Die Seil he im sehe 
Operationsmethode scheint für die Konzep¬ 
tionsverhinderung die günstigste. 

Aus der Abteilung für Chirurgie. 

Garre (Bonn): Zur Aetiologie 
des intermittierenden Gelenkhydrops 
und der Gelenkneuralgie. 

Unter den durch Staphylokokken her¬ 
vorgerufenen Osteomyelitiden gibt es auch 
chronische, nicht zur Eiterung führende 
Formen: Sklerosierende Formen der Dia- 
physenosteomyelitis nur mit Granulations¬ 
herden im Knochen ohne Sequesterbildung. 
Solche Herde kommen nun aber auch in 
den Epiphysen vor und machen dann 
vorwiegend Gelenksymptome. Diese sind 
im Gegensatz zu denen bei den eitrigen 
Formen: hauptsächlich der rezidivierende 
intermittierende Gelenkhydrops und die 
Gelenkneuralgie. Vortr. teilt drei Fälle mit. 
Beim ersten Fall (nach Trauma) traten 
während sechs Jahren neuralgische Schmerz¬ 
anfälle im Knie auf, jedesmal mit lokaler 
Schwellung und Wärme der Haut. Besse¬ 
rung, schließlich Heilung durch Hülsen¬ 
apparat. 

Der zweite Fall (ohne äußere Ursache) 
verlief unter dem Bilde eines Hydrops im 
Knie mit Schmerzen bei Bewegungen, ohne 
Druckschmerz. 

Beim dritten Fall (Unfallpatient) Knie¬ 
schmerzen nach Anstrengungen mit eben 
nachweisbarer Periostitis der Tibia. 

In allen drei Fällen half das Röntgen¬ 
bild zur Diagnose: bohnengroße Herde 
sklerosierten Knochens in der Tibiaepi¬ 


physe. Operation des Herdes, wenn dieser 
(wie in Fall 2 und 3) lokalisierbar, hilft 
prompt. 

Diskussion. 

Ludloff, der einen gleichen Fall sah, 
weist auf die Wichtigkeit des Perkussions¬ 
schmerzes bei der Diagnose solcher Er¬ 
krankungen hin. 

Lex er stimmt Gar res Ausführungen 
bei. Die Herde sitzen meist in der Meta- 
physe. Die Patienten werden in der 
Regel auf Lues oder Tuberkulose behan¬ 
delt. Die Bedeutsamkeit des Perkussions¬ 
schmerzes kann Lexer bestätigen. 

Bergemann (Königsberg): Behand¬ 
lung der Radius- und Malleolen- 
frakturen. 

Bei dem von Lexer vor einigen Jahren 
angegebenen Verfahren der Behandlung 
typischer Radiusfrakturen, das sich in der 
chirurgischen Klinik in Königsberg gut be¬ 
währt hat, genügte fast immer eine Flanell¬ 
binde, um eine neue Dislokation zu ver¬ 
hüten. Nur bei wenigen schweren Frak¬ 
turen wurde der Verband durch eine Papp¬ 
schiene gefestigt. Bei Nachuntersuchung 
war in 88% der Fälle die Heilung anato¬ 
misch korrekt, bei 85% war vollkommene 
Beweglichkeit vorhanden, 95,5 % sind voll¬ 
ständig erwerbsfähig geworden. Durch¬ 
schnittliche Heilungsdauer drei Wochen. — 
Das gleiche Prinzip des Bandagierens in 
korrigierter Stellung ist von Lexer neuer¬ 
dings bei Behandlung der Knöchelbrüche 
angewandt worden. Es werden steigbügel¬ 
artig zwei Heftpflasterstreifen angelegt, die 
bei Abduktionsbrüchen den Fuß in geringe 
Supinations- und Adduktionsstellung zwin¬ 
gen. Um die Stellung regulierbar zu ma¬ 
chen, wird auf der medialen Seite unten 
an das Heftpflaster ein Gummizug an¬ 
genäht, der Haken trägt und mittels dieser 
oben an am Heftpflaster angebrachte Oesen 
unter starkem Zug fixiert werden kann. 
Am Tage nach der Verletzung verlassen 
die Kranken mit Krücken das Bett, sollen 
aber erst in der zweiten Woche versuchen, 
aufzutreten. Volle Belastung erst in der 
dritten Woche erlaubt. Bei schweren Per¬ 
sonen stets Plattfußeinlage. Der Verband 
eignet sich auch für die doppelten Knöchel¬ 
brüche sowie für die supramalleolären Fi¬ 
bulabrüche. Nachuntersuchung in 20 Fällen 
hat volle Heilung ergeben, bei zwei Ver¬ 
letzten geringe Knickfußstellung. — Durch 
den Fortfall des starren Verbandes bleibt 
das Fußgewölbe in der richtigen Form, die 
Muskulatur bleibt ungeschädigt. Die Kon¬ 
trolle durch das Auge ist stets leicht mög- 




tized by 


Gov gle 


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Oktober 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


463 


lieh. Es können früh Bewegungsübungen 
gemacht werden. 

Diskussion. 

Storp (Danzig) weist auf seine schon 
vor Jahren angegebene Methode hin, bei 
der nach Reposition oberhalb des Hand¬ 
gelenks eine Heftpflastermanschette ange¬ 
legt wird, an der der Arm mittels einer um 
den Hals gelegten Schlinge suspendiert 
wird. Er zieht die Methode allen an¬ 
deren vor. 

Paetzold (Graudenz) kann die Lexer- 
sche Methode der Radiusfrakturbehandlung 
warm empfehlen. In einem Falle hat er in 
14 Tagen völlige Heilung erzielt. 

Stieda (Halle) berichtet ebenfalls Ober 
günstige Erfahrungen mit der Lexerschen 
Methode aus der Klinik von Bram an n. 
Bei starker Dislokation legt Stieda drei 
Tage einen Pappschienenverband an. Lex er 
sagt, die Storp sehe Methode eigne sich 
nur für intelligente Personen, die ihren 
Arm in der ihm gegebenen Stellung halten, 
was bei dem Lexerschen Verband eben 
durch den Verband erzwungen wird. 

Samter (Königsberg i. Pr.): Demon¬ 
strationen zur Exartikulatio pedis 
mit dem Zirkelschnitt wegen Gangrän. 

Vortr. spricht über die von ihm auf den 
Chirurgenkongressen 1902, 1903, 1906 emp¬ 
fohlene und demonstrierte Exarticulatio pedis 
mit dem Zirkelschnitt (mit Krankendemon 
stration), bei der die Malleolen (quer oder 
bei Hautmangel schräg) abgetragen, die 
Knorpelfläche der Epiphyse der Tibia er¬ 
haltenbleibt, und die bei 20 Fällen zur An¬ 
wendung gelangt ist Samter empfiehlt die 
Methode als tiefe Absetzung bei steiler 
Gangrän auf Grund günstiger Mortalitäts¬ 
und Heilungsverhältnisse. Der Stumpf ist 
belastungsfähig, was für seine gute Ernäh¬ 
rung spricht. Die Operation hat zur Hei¬ 
lung geführt, auch wenn keine spritzenden 
Gefäße vorhanden waren, ebenso wie bei 
den hohen Absetzungen, die nach Gritti 
ausgeführt werden. 

Samter hat bei Zermalmungen «und 
Erfrierungen bis zur Sprunggelenkgegend, 
in denen mit den üblichen Absetzungen 
die untere Epiphyse der Tibia hätte ge¬ 
opfert werden müssen, die plastische 
Deckung mit einem Steigbügellappen vor¬ 
genommen, wenn es sich um wachsende 
Individuen handelte. Bericht über einen 
1906 auf dem Chirurgenkongreß vorge¬ 
stellten Fall (noch heute normales Längen¬ 
wachstum). 

Joachimsthal (Berlin): Angeborene 
Wirbelanomalien und ihre Be¬ 
ziehungen zur Skoliose. 


Vortragender berichtet über einegrößere 
Zahl von angeborenen Skoliosen. Offen¬ 
bar bedingt durch mechanische Momente, 
einen Raummangel im Uterus, sind die 
Fälle aufzufassen, in denen sich kurze Zeit 
nach der Geburt ausgeprägte Abweichungen 
der Wirbelsäule nachweisen lassen und das 
Skelett keinerlei Verbildungen an den Wir¬ 
beln nachweisen läßt. Kongenitale Sko¬ 
liosen begleiten vielfach andere Anomalien' 
z. B. Halsrippen und den angeborenen 
Schulterblatthochstand. Die eigentlichen 
Wirbelverbildungen bestehen entweder in 
Spalt- oder Doppelbildungen oder in ab¬ 
normen Verwachsungen oder in Defekten. 
Bei Entwicklungsstörung des lateralen 
Knochenkerns des Wirbelkörpers entstehen 
sogenannte Schalt- oder Halb wir bei, die 
sich wie Keile zwischen zwei Vollwirbel 
einschieben. Eine operative Behandlung 
verbietet sich schon wegen Gefährdung der 
Stabilität und Mechanik der Wirbelsäule. 

Wrede (Königsberg): Ueber erb¬ 
liche angeborene Kniescheibenver¬ 
renkung. 

Vortragender stellt einen Mann mit 
seinen zwei Kindern vor, die mit dem ge¬ 
nannten Leiden behaftet sind. (Der Vater 
des Mannes, eines seiner Geschwister so¬ 
wie eines seiner Stiefgeschwister hatten 
dasselbe Leiden.) Die Kniescheiben finden 
sich im Stehen ganz nach außen disloziert. 
Femurkondylen stehen einwärts rotiert. 
Es bestehen geringe Bewegungsbeschrän¬ 
kungen, die Erregbarkeit des M. vastus ex- 
ternus fehlt, die Knochenkerne der Knie¬ 
scheibe bei den Kindern sind ungenügend 
entwickelt. Es bestehen bei den Patienten 
noch andere Mißbildungen: Verunstaltungen 
der Finger, Impressionen am Thorax, Sko¬ 
liosen, Subluxationen des Radiusköpfchens. 
Vortragender erklärt die Mißbildungen durch 
Raumbeengung im Uterus, die, durch Enge 
der Eihäute, Fruchtwassermangel usw. be¬ 
dingt, auch im Mannesstamm vererbt werden 
kann. 

Frangenheim (Königsberg i. Pr.); 
Chondrodystrophischer Zwerg (hy¬ 
perplastische Form). 

13jähriger intelligenter Knabe mit hoch¬ 
gradiger Wachstumsstörung des ganzen 
Skeletts. Die Epiphysen fehlen selbst an 
den großen Röhrenknochen noch vollstän¬ 
dig. Das Skelett entspricht dem eines 
3—4jährigen Kindes. Besserung der Stel¬ 
lungsanomalien der Beine durch Osteo¬ 
tomien. 

Diskussion. 

Joachimsthal (Berlin) hält den Fall 
gleichfalls für eine Chondrodystrophie, 


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464 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Oktober 


wenngleich die für diese Erkrankung typi¬ 
sche, so auffallende Verkürzung der Glied¬ 
maßen im Verhältnis zum Rumpfe fehlt. 
In einem von ihm beobachteten Falle hat 
Joachimsthal im Alter von 12 Jahren 
beiderseitige Osteotomien der verbogenen 
Schienbeine gemacht. Die Kranke hat in 
ihrem 20. Lebensjahre noch vollkommen 
^gerade Unterschenkel gehabt. 

E. Rehn (Königsberg): Gelenkchon¬ 
drome. 

Ohne Trauma hatte sich bei einem 
28jährigen Manne die Geschwulst im linken 
Ellbogengelenk entwickelt. Drei größere 
Tumormassen sind primär aus den Kapsel¬ 
umschlagsstellen hervorgegangen. Diesen 
folgte eine multiple miliare Aussaat über 
die ganze Innenfläche der Kapsel. 

Im Anschluß wird das Präparat des 
Lex ersehen Falles von Kniegelenkschon¬ 
drom demonstriert. 

Sohler (Königsberg i. Pr ); Trypsin - 
behandlung bei chirurgischer Tuber¬ 
kulose. 

Vortragender kommt auf Grund seiner 
hauptsächlich an tuberkulösen Gelenken 
gemachten Untersuchungen zu einem ab¬ 
lehnenden Standpunkt aus folgenden Grün¬ 
den: 1. Die Injektionen sind sehr schmerz¬ 
haft. 2. Sie sind wegen der Unreinheit 
der Präparate und der geringen Haltbar¬ 
keit der Lösungen nicht gefahrlos. 3. Im 
Anschluß an die Injektionen treten teilweise 
toxische Erscheinungen auf. 4. Die Proteo¬ 
lyse macht vor dem Gesunden nicht Halt; 
der Gelenkknorpel wird abgeledert, die 
Heilung verzögert. 5. Die Nebenwirkung 
der Injektionen, bestehend in lokaler Hyper¬ 
ämie und dem Reiz auf das Gewebe zur 
Bildung gesunder Granulationen, wird durch 
einfachere chemische Mittel ebensogut und 
gefahrloser erreicht. 

In der Diskussion spricht sich Herr 
Schaack (Petersburg) auf Grund von Ver¬ 
suchen von Grekow und Wiedemann am 
Obuchowkrankenhaus in Petersburg eben¬ 
falls gegen die Trypsinbehandlung aus. 

Port (Nürnberg): Leimverband¬ 
demonstrationen. 

Vortragender stellt Patienten mit Leim¬ 
verbänden vor und bespricht die Technik 
sowohl wie die Verwendung derartiger 
Verbände. Ihr Wert liegt in der Elastizität 
und der gleichmäßigen Kompression, welche 
sie auf das Glied ausüben, so daß sie Ver¬ 
wendung finden bei allen Erkrankungen, 
bei denen Oedeme verhindert oder vor¬ 
handene beseitigt werden sollen, Distor¬ 
sionen, Frakturen kleiner Fuß wurzelknochen, 
Varizen mit und ohne Ulkus. Als ortho¬ 


pädischer Verband, mit Eisenteilen ver¬ 
stärkt, dient er zu Etappenredressement und 
als Schienenhülsenapparat. 

E. Rehn (Königsberg): Ueber freie 
Fettransplantation. 

Unter Hinweis auf seine gelegentlich 
des letzten Chirurgenkongresses gemachten 
Mitteilungen über die freie Fettransplan¬ 
tation im Tierexperiment stellt Vortragen¬ 
der 5 Patienten vor, bei welchen die auto¬ 
plastische Fettransplantation viermal wegen 
tiefeingesunkener Narben im Gesicht (nach 
Zertrümmerung des Jochbeins zweimal, 
nach Noma der Wange, nach traumatischem 
Substanzverlust des Os frontale) und ein¬ 
mal beim Vogelgesicht Verwendung ge¬ 
funden hatte. Beobachtungsdauer der vor¬ 
gestellten Patienten 4 Wochen bis 1 Jahr. 

Ueber die Technik hat Vortragender 
folgendes zu sagen: Ein kleinster Schnitt 
genügt, um von ihm aus, teils stumpf, teils 
scharf, je nachdem wir narbige Verwach¬ 
sungen haben oder nicht, die für die Auf¬ 
nahme des Fettes bestimmte Tasche zu 
bilden. Das Material wurde entweder den 
Bauchdecken oder dem Oberschenkel ent¬ 
nommen. Unsere bisherigen praktischen 
Erfahrungen haben uns gelehrt, daß auch 
bei der autoplastischen Fettransplantation 
eine gewisse Schrumpfung unvermeidlich 
ist; doch ist es ein leichtes, den nach¬ 
teiligen Folgen dieser durch Wahl eines 
größeren Fettlappens vorzubeugen. 

Diskussion. Stieda (Halle) sagt, daß 
Prof. v. Bram ann vor 8 Jahren Wangen¬ 
fett bei Narbenzug nach Noma in die Gegend 
des Jochbeins verpflanzt und er selber 
kürzlich nach EntfernungeinesFibroadenoms 
der Mamma den Defekt mit Fettgewebe der 
Bauchhaut ausgefüllt habe. 

Hage mann (Greifswald): Zu der von 
Payr empfohlenen Dauerdrainage (bei 
Elephantiasis, Hydrozephalus) mittels in 
Formol gehärteter Kalbsarterien hatVortr. 
Versuche gemacht mit steril entnommenen 
Arterien frisch geschlachteter Kälber, die in 
10o/oiger Formollösung gehärtet, dann mit 
Ammoniak behandelt, gewässert, über Nacht 
in absoluten Alkohol gelegt und in Koch¬ 
salzlösung vor Gebrauch abgespült worden 
waren. Bringt man so behandelte Arterien 
in den Kaninchenkörper, so ist schon nach 
6 Monaten die bindegewebige Organisation 
vollendet. Bessere Resultate bekommt 
man, wenn man, wie Voitr. gefunden hat, 
die Arterien aus dem Alkohol in Xylol und 
Paraffinum liquidum bringt und sie so di¬ 
rekt verpflanzt. Hier erfolgt die Resorp¬ 
tion, wenn überhaupt, sehr langsam. 


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Oktober 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


465 


Demonstration in der chirurgischen 
Klinik am 20.September durch Herrn 
Lexer. 

1. Zur Nachbehandlung der Mamma¬ 
amputationen. Der schon von Ebner 
Aeröffentlichte einfache Verband, wobei der 
Arm in einem Trikotschlauch in erhobener 
Stellung am Bett festgebunden wird, hat 
sich ausgezeichnet bewährt. Es wird eine 
Patientin vorgeführt, die vor einigen Tagen 
wegen Mammakarzinom operiert ist. Sie 
kann schon jetzt den Arm frei heben. 

2. Vorführung des Verbandes mit 
beschränkter Feststellung bei einer 
frischen typischen Radiusfraktur. 

3. Demonstration zweier Fälle von 
künstlichem Oesophagus wegen 
Aetzstrikturen der Speiseröhre. Die 
Rouxsche Operation ist mit gleichartiger 
Peristaltik der Darmschlingen nur mit einem 
Darmrohr geglückt, das etwa dreifinger¬ 
breit unterhalb der Mammilla endete. Der 
übrige Teil ist durch einen Hautschlauch 
gebildet worden. 

4. Demonstration eines genau vor drei 
Jahren eingepflanzten vollständigen 
Kniegelenks; ferner eines vor 5 Monaten 
eingepflanzten, ebenfalls gut geheilten und 
funktionierenden Kniegelenks und schlie߬ 
lich eines Falles, in welchem das obere 
Tibiadrittel, samt Gelenkfläche wegen Sar¬ 
kom reseziert und durch ein entsprechen¬ 
des Stück aus einem amputierten Glied er¬ 
setzt worden ist. Die Funktion der vor 
b k Jahren operierten Patientin ist voll¬ 
kommen normal. 

Bei einem Falle von Chondrosarkom im 
oberen Humerusdrittel mit Durchwachsung 
der Schultermuskulatur, bei welchem die 
Radikaloperation den Erfolg hatte, daß 
nach t/a Jahr ein Rezidiv noch nicht auf¬ 
getreten war, wurde das fehlende Humerus¬ 
stück, um dem schlotternden Arm eine 
Stütze zu verleihen, durch ein frisches 
Knochenstück samt Gelenkkopf ersetzt. Es 
ist gute Heilung eingetreten seit 3 Monaten. 

5. Vorführung einer Patientin, bei wel¬ 
cher ein großes Oesophagusdivertikel 
y or Va Jahr entfernt worden ist. Das 
Divertikel wurde daumenbreit neben der 
Oesophaguswand zuerst mit einer Abschlu߬ 
naht versehen und sodann der überstehende 
Teil reseziert. Die Abschlußnaht mit dem 
noch sitzenden Stiel wurde durch zwei 
Etagennähte eingestülpt. Gleichzeitig Gastro¬ 
stomie. Heilung pp. 

6. Demonstration mehrerer Nasen¬ 
plastiken der verschiedensten Formen 
und in den verschiedensten Stadien. 

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7. Demonstration eines Kindes, an wel¬ 
chem beiderseits wegen spinaler Kinder¬ 
lähmung die Lex ersehe Knochenbolzung 
vorgenommen worden war, und Demon¬ 
stration verschiedener Röntgenbilder solcher 
Fälle. 

JB. Vorführung eines Patienten mit Myo¬ 
sitis ossificans progressiva. Lange 
dauernde Fibrolysinbehandlung ohne jeden 
Erfolg. 

9. Demonstration einer Patientin mit aus¬ 
gedehnter rechtsseitiger Lungenakti- 
nomykose. Die infiltrierte Brustwand wurde 
erst weitgehend Umschnitten und samt 
6 Rippen entfernt. Darauf wurden schicht¬ 
weise fingerdicke Scheiben aus den infil¬ 
trierten Lungenpartien, solange es der Zu¬ 
stand der Patientin erlaubte, ausgeschnitten. 

Der Rest wurde kauterisiert. Zurzeit sind 
keine Aktinomyzesdrusen mehr im Sputum 
nachzuweisen und die rechtsseitige Wund¬ 
höhle ist fast vollständig vernarbt. Fisteln 
bestehen nicht. Es ist dementsprechend 
Ausheilung zu erwarten. 

10. Ein Mann mit fast faustgroßem 
Epiglottis- und Zungenbasiskarzi¬ 
nom, bei welchem trotz ausgedehnter 
Drüsen am Halse die Radikaloperation aus¬ 
geführt worden ist. Seit 2 Jahren rezidiv¬ 
frei. Der Patient kann verständlich sprechen 
und ausgezeichnet schlucken. 

11. Demonstration eines nach dem 
Lexerschen Verfahren operierten Nabel¬ 
bruches. Bis jetzt sind bei derartig ope¬ 
rierten Fällen niemals Rezidive aufgetreten. 

Die von Ebner beschriebene Operations¬ 
methode, bei welcher durch einen dicken 
Aluminiumbronzedraht eine ausgedehnte 
Tabaksbeutelnaht durch die ganze Dicke 
der Bauchdecken gelegt wird, ist außer¬ 
ordentlich einfach und hat sich auch bei 
großen Brüchen gut bewährt. 

12. Präparate von resezierten Knie¬ 
gelenken, welche wegen Fungus mit 
Trypsin behandelt worden waren. Die Re¬ 
sektion mußte in 8 von 9 Fällen ausgeführt 
werden, weil unter tuberkulöser Eiterung 
sehr schwere Gelenkzerstörungen aufge¬ 
treten waren. Besonders instruktiv sind 
die Präparate durch den Befund einer Ab¬ 
lederung des Gelenkknorpels in großen 
Lappen. 

Garre (Bonn): Zur Operation der 
Akromegalie. 

Der transsphenoidale Weg zur Operation 
der Hypophysentumoren ist leider noch 
nicht als ideal zu bezeichnen. Vortragender 
schildert einen Fall einer 31jährigen Pa¬ 
tientin. Beginn der Erkrankung vor zehn 
Jahren mit Anschwellung der Finger; vier 

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466 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Oktober 


Jahre später typische akromegalische Er¬ 
scheinungen im Gesicht, Sehstörungen, 
weiterhin Schwindel, Atemnot, Herzbeklem¬ 
mungen. Der Türkensattel zeigt sich auf 
dem Röntgenbild um mehr als das Dop¬ 
pelte erweitert. 

Operation: Umschneiden der Nase, 
diese nach links umgeklappt. Entfernung 
der Vorderwand der Stirnhöhle. Ausräu¬ 
mung der Nasenhöhle bis auf die Sieb¬ 
beinzellen. Aufmeißlung der oberen Wand 
der Keilbeinhöhle. Es wird der Tumor 
(papilläres Adenom) in Form eines grau¬ 
rötlichen Breis ausgelöffelt. Tamponade. 
Darauf wesentliche Besserung. Aber nach 
wenigen Monaten Rückkehr der alten Be¬ 
schwerden. Erneute Operation entfernte 
neue Tumormassen, mußte aber vor radi¬ 
kaler Entfernung des Tumors abgebrochen 
werden. Nach zwei Wochen Exitus. 

Sektion: Keine Meningitis, ein zwar 
abgeschlossener, gutartiger, aber so aus¬ 
gedehnter Tumor, daß ihm gegenüber die 
transsphenoidale Methode auf jeden Fall 
versagen mußte. Auch die anderen Me¬ 
thoden hätten ihre Bedenken gehabt. Es 
gibt eben Hypophysentumoren, die unse¬ 
rem Können ein Ziel setzen. 

Diskussion: v. Eiseisberg teilt mit, 
daß in seiner Klinik bisher acht Hypo¬ 
physentumoren operiert wurden: vier Ty¬ 
pus adiposogenitalis, drei acromegalicus, 
eine Mischform. Letzere zeigt, daß die 
frühere Ansicht, die beiden Typen seien 
Gegensätze, nicht berechtigt ist. 

v. Eiseisberg hat einen gleichen Fall 
wie Gar re, der eben inoperabel war. Er 
ist übrigens immer mehr zu der Ansicht 
gelangt, daß eine weniger ausgedehnte 
Freilegung meist zum Ziele führt. Denn 
es kommt in der Regel nicht auf Radikal¬ 
entfernung der Hypophysentumoren an. 
Die nasale Methode ist daher immer noch 
die beste. 

Leischner (Wien): Zur Frage der 
Schilddrüsen - Epithelkörperchen- 
Transplantation bei Tieren. 

Vortragender stellte zusammen mit 
Köhler zahlreiche Versuche von Homöo¬ 
transplantation der Epithelkörperchen bei 
Ratten an und fand, daß dieselben auf die 
Dauer nicht erhalten blieben, sondern nach 
einiger Zeit resorbiert wurden. Dagegen 
üben die körperfremden Drüschen so lange 
einen Einfluß auf den Organismus aus, als 
dieselben noch vorhanden sind. Dasselbe 
gilt auch von Homöotransplantationen der 
Schilddrüse. Die günstige Beeinflussung 
durch Epithelkörperchenverpflanzungen der 
menschlichen postoperativen Tetanie ist 


daher nur darauf zurückzuführen, daß in 
diesen Fällen noch eigenes Epithelkörper¬ 
chengewebe, wenn auch stark geschädigt, 
zurückgeblieben war und das verpflanzte 
Drüschen so larjge funktionierte, bis sich 
die eigenen Epithelkörperchen erholt hatten. 
Aber die Transplantation wirkte nur die 
Heilung unterstützend. 

Diskussion: v. Eiseisberg sagt, daß 
nach diesen Versuchen die gehegte Hoff¬ 
nung, die Tetania idiopathica durch Homöo¬ 
transplantation zu heilen, sich wohl als 
trügerisch erwiesen hat. 

v. Haberer (Wien): Verpflanzung 
der Fibula nach Oberarmresektion. 

Vortragender berichtet über die ge¬ 
glückte Verpflanzung der Fibula in einen 
Defekt des Humerus nach Resektion des 
rechten Oberarmknochens bis nahe an das 
Eilenbogengelenk heran. Der Malleollus 
externus wurde mit seiner überknorpelten 
Fläche in die Schulterpfanne eingepaßt, 
glatte Heilung, gute Funktion des Armes 
jetzt, nach fast fünf Monaten. Die ana¬ 
tomische Untersuchung des Resektions¬ 
präparats ergab Ostitis fibrosa. In An¬ 
lehnung an seinen 1904 mitgeteilten Fall, 
für den Vortragender die Diagnose Ostitis 
fibrosa mit Sarkombildung aufrecht erhält, 
erkennt er drei Genesen für die Knochen¬ 
zysten an: 1. Verflüssigung von Neoplas¬ 
men, 2. Ostitis fibrosa, 3. Kombination 
beider Prozesse. 

Stieda (Halle): Beitrag zur Osteo¬ 
plastik. 

Vortragender berichtet zunächst über 
einen Fall von Myxochondroma cysticum 
mit Gefäßektasien und Hämorrhagien am 
Oberarm eines achtjährigen Knaben, bei 
dem es zu einer Spontanfraktur gekommen 
war. Der Oberarm wurde in Ausdehnung 
von 13 cm reseziert, in den Defekt vor 
133 Tagen ein Stück Tibia desselben Pa¬ 
tienten von 14 cm Länge mit Periost und 
Teilen des Markes eingepflanzt. Nach zehn 
Wochen bereits Gebrauchsfähigkeit des 
Armes. Jetzt fast normale Funktion. Vor¬ 
tragender ist nach eigenen Untersuchungen 
der Ansicht, daß das Einheilen solcher 
überpflanzter Knochen in erster Linie dem 
erhaltenen lebenden Perioste zuzuschreiben 
ist. Es gibt aber auch Fälle, wo toter 
Knochen völlig einheilt. Bei dem Fall von 
Grosse, operiert v. Bramann (Chirurgen¬ 
kongreß. 1900), der öfter schon Gegenstand 
der Besprechung gewesen ist, zeigen neuer¬ 
liche Röntgenaufnahmen (11 s /4 J a ^ ir nac ^ 
der Operation), daß die Stelle der Implan¬ 
tation in die Tibia nicht mehr aufzufinden 
ist. Das Bein ist zwar etwas verkürzt, aber 


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Oktober 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


467 


vorzüglich gebrauchsfähig. Daß aber die 
Verpflanzung toten Knochens unsichere 
Resultate gibt, zeigt ein Fall des Vortra¬ 
genden, wo Y 2 Jahr nach anscheinender 
Einheilung eine Fistel sich bildete, bis 
schließlich der ganze implantierte Knochen 
entfernt werden mußte. Lebender Knochen 
ist daher unbedingt vorzuziehen. 

Diskussion: Garre stimmt mit der 
Ansicht des Vortragenden Oberem. Er hat 
in einem Falle von Sarkom der oberen 
Tibiahälfte eines fünfjährigen Jungen V 2 Jahr 
nach Exstirpation des Tumors einen 14 cm 
langen Spahn mit Periost und Mark der 
anderen Tibia eingepflanzt Glatte Ein¬ 
heilung und Zunahme an Masse. 

Tilmann (Köln) hat in zwei Fällen 
zum Ersatz des resezierten Unterkiefers 
(Karzinom und Aktinomykose) Tibiateile 
mit Periost eingepflanzt. Einmal stieß sich 
der eingepflanzte Knochen teilweise, ein¬ 
mal ganz ab; trotzdem bildete in beiden 
Fällen das mitüberpflanzte Periost einen 
neuen knöchernen Ersatz des Unter¬ 
kiefers. 

Bergei (Hohensalza): Das Fibrin des 
Blutes regt nach Knochenbrüchen das 
Periost in spezifischer Weise zur Kallus¬ 
bildung an. Bei Pseudarthrose und ver¬ 
zögerter Kallusbildung hat sich Injektion 
von Fibrin gut bewährt. 

Braun (Göttingen): Ueber lebens¬ 
gefährliche Blutungen bei Verletzung 
der vorderen Bauchwand und deren 
Behandlung. 

Gelegentlich kommt es zu tödlichen Blu¬ 
tungen mit Verletzung der vorderen Bauch¬ 
wand. Meist ist es die Art. epigastrica inf., 
die verletzt ist. Aber auch die Art. cir- 
cumflexa ilei kann die Ursache zu sol¬ 
chen Blutungen werden: zu zwei solchen 
Fällen aus älterer Zeit kann Vortragender 
zwei eigene Beobachtungen fügen, wo die 
Verletzung durch schneidende Instrumente 
geschah, ohne daß Eingeweide angegriffen 
waren. Vortragender berichtet dann über 
einen Fall von gefahrbringender Verletzung 
der Epigastrika durch Probepunktion und 
über zwei Fälle von Verletzung derselben 
durch stumpfe Gewalt (Pfählung, Kuhhorn). 
Trotz reichlich vorhandenen Blutes in der 
Bauchhöhle ergab sich, daß die ganze Blu¬ 
tung aus der Bauchwand stammte. 

Bei Punktionen des Bauches sollte stets 
die Medianlinie gewählt werden. 

Hoffmann(Greifswald): DieUrsachen 
der Bauchdeckenspannung. 

Die Unklarheit über Ursache und Wesen 
der Bauchdeckenspannung hat den Ver¬ 
fasser veranlaßt, experimentell an die Lö- 

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sung dieser Fragen heranzugehen. Die 
wichtigsten Resultate seiner Untersuchun¬ 
gen sind folgende: 

Die Bauchdeckenspannung ist ein Re¬ 
flexvorgang, der ausgelöst wird durch die 
Nn. intercostales und lumbosacrales. Sie 
kann daher eintreten bei Reizung dieser 
Nerven an jeder beliebigen Stelle ihres 
Verlaufes. Bei abdominalen Afiektionen 
tritt sie nur ein bei Reizung des parietalen 
Peritoneums. Bei gesundem Peritoneum 
kann Bauchdeckenspannung zustande kom¬ 
men, bei Pleuritis und Pneumonie, durch 
Irradiation; bei Pneumonie nur dann, wenn 
eine Reizung der Pleura parietalis erfolgt. 

Bei ausgedehnter Läsion hinterer Wurzeln 
tritt keine Bauchdeckenspannung ein, wenn 
das Peritoneum parietale gereizt wird, je¬ 
doch bei Querdurchtrennung des Markes 
in Höhe des oberen und mittleren Brust¬ 
abschnittes, so lange der kurze Reflex¬ 
bogen intakt ist. In tiefster Narkose er¬ 
lischt die Bauchdeckenspannung. 

v. Eiseisberg (Wien): Zur Kasu¬ 
istik des Magengeschwürs. 

Die Gastroenterostomia rectocolica po¬ 
sterior bei Ulcus ventrifculi oder gutartiger 
Stenose hat in seltenen Fällen trotz Aus¬ 
heilung des die Operation indizierenden 
Ulkus zur Folge, daß im Jejunum ein 
neues Ulkus entsteht, ln ganz wenigen 
Fällen kann ein solches im Magen auf- 
treten. In diesem Falle kann man natür¬ 
lich ein Rezidiv annehmen. Solche Ulcera 
jejuni können noch nach Jahren auftreten. 

So in des Vortragenden erstem Falle, wo 
ein Jahr nach der Operation bei anfäng¬ 
lichem Wohlbefinden Tod durch Ulkus ein- 
trat. Im zweiten Falle hatte das die Ope¬ 
ration veranlassende Magengeschwür bis 
ins Duodenum gereicht. Nach anfänglicher 
Besserung durch Operation trat im Jeju¬ 
num an der typischen Stelle ein Geschwür, 
weiter unten drei kleinere auf; außerdem 
bildete sich eine Magenkolonfhtel. Im 
dritten und vierten Falle ausgedehnte Ste¬ 
nose des P^lorus; nach der Operation in 
einem Falle Ulcus jejuni, im anderen Ulcus 
ventriculi, das vorher nicht vorhanden ge¬ 
wesen. In vier weiteren Fällen traten in¬ 
folge des Ulcus jejuni Verengerungen der 
Anastomose auf. Der Verdacht liegt nahe, 
daß solche Ulzera überhaupt vielfach die 
Ursache sind, daß die Anastomose zuwächst. 
Betreffs der Therapie der Ulcera jejuni 
sind wir in ungünstiger Lage, weil bei den 
Patienten offenbar eine Disposition vorliegt 
und eine neue Anastomose herbeiführt. 
Möglich, daß die von Neißer empfohlene 
Verabreichung von Atropin günstig wirkt. 

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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Oktober 


Diskussion. Hadek(Wien) hat in einem 
Falle von Pylorusstenose mit Gastroenter¬ 
ostomie durch das Röntgenbild ein Ulkus 
an der Stelle der Gastroenterostomie nach- 
weisen können (kleiner abnormer Wismut¬ 
schatten, Gasblase). (Vergl. Vortrag 2 der 
gemeinsamen Sitzung vom 21. September.) 

Noetzel (Völklingen): Zur Frage der 
Bakterienausscheidung durch den 
Harn und durch die Galle. 

Experimentelle Untersuchungen des 
Vortragenden haben ergeben, daß in den 
ersten 10—20 Minuten nach der intra¬ 
venösen Infektion des Kaninchens mit Pyo- 
zyaneus und Milzbrand diese Bakterien im 
Urin nicht nachzu weisen sind. Damit 
stimmen auch die Ergebnisse klinischer 
bakteriologischer Untersuchungen des Vor¬ 
tragenden an einer großen Zahl von 
Streptokokken- und Staphylokokkeninfek¬ 
tionen Qberein. 

Vortragender erblickt in Uebereinstim- 
mung mit Kruse, Jos. Koch u. a. in dem 
Auftreten der Bakterien im Urin und in 
der Galle einen pathologischen Vor¬ 
gang, welcher als eine durch die physio¬ 
logische Sekretion 'dieser Organe bewirkte 
Schutzvorrichtung des Körpers nicht aner¬ 
kannt werden kann. 

Völker (Heidelberg): Transduode¬ 
nale Drainage des Ductus hepaticus 
bei Choledochusplastik. 

Legt man bei der Choledochusresektion 
ein Rohr von der Leber in den Darm, so 
weiß man nicht, ob das Rohr abgeht. Vor¬ 
tragender kam nun auf den Gedanken, 
dieses Rohr vom Darm aus wieder nach 
außen zu leiten, indem er es durch eine 
Oeffnung der Darmwand nach außen führte 
und über dieser Oeffnung einen Witzel- 
schen Kanal bildete, der den Schlauch 
durch die Bauchdecken nach außen treten 
ließ. Man kann den Schlauch auch durch 
eine Oeffnung des Choledochus unterhalb 
der Resektionsstelle nach außen leiten. 

Läwen (Leipzig): Ueber Sakral¬ 
anästhesie. 

Vortragender verwendet Novokain (mit 
Zusatz von Natrium bicarbonicum). Es 
werden 20 ccm einer zweiprozentigen oder 
25 ccm einer 1 */2 prozentigen Lösung in¬ 
jiziert. Man läßt die Kranken sitzen und 
belaßt sie in halb sitzender Stellung wah¬ 
rend der Operation. Man richtet sich nach 
den Cornua sacralia, die bei mageren 
Leuten zu sehen sind, bei fetten ist die 
Methode schwierig auszuführen. Die An¬ 
ästhesie erstreckt sich auf die drei untersten 
Sakralsegmente und die Kokkygealnerven, 
die Damm, After, äußere weibliche Geni- 

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talien, untersten Mastdarm, Penis, Harn¬ 
röhre, nicht aber die Hoden versorgen. 
Unter 84 Fallen wurde 45 mal absolut 
schmerzlos operiert. Bei 9 Fallen war die 
Technik noch nicht in Ordnung. Es wur¬ 
den operiert: 20 mal Hämorrhoiden, 6 mal 
periproktitische Abszesse, 9 Analfisteln, 

1 Douglasabszeß, 1 Prostataabszeß, 1 Rek¬ 
tumkarzinom, 2 Phimosen; 1 Nadel aus 
der Glutaalmuskulatur entfernt und einige 
Operationen an den äußeren weiblichen 
Genitalien gemacht. Nur eine kleine Zahl 
von Fallen zeigte überhaupt eine Reaktion. 
Niemals machte die „Extraduralanästhesie* 
die bedrohlichen Erscheinungen, die man 
bei der lumbalen Anästhesie gelegentlich 
beobachtet. 

In der Diskussion berichtet Herr E. 
Erhardt (München • Königsberg) über 83 
gelungene Rückenmarksanüsthesien mit 
dem von ihm angegebenen arabinsauren 
Tropakokain. 

Frangenheim (Königsberg): Dauer¬ 
erfolge der Osteoplastik im Tier¬ 
versuch. 

Versuche an langen Röhrenknochen 
(Ulna) von Kaninchen und Hunden. Nach 
Kontinuitätsresektionen wurden periost¬ 
gedeckte, periostlose und tote (macerierte) 
Knochenstücke an demselben Tier ausge¬ 
tauscht oder von einem Tier auf ein an¬ 
deres der gleichen Art verpflanzt. Eine 
Anzahl der Tiere blieb ein Jahr und langer 
am Leben. Röntgenaufnahmen zeigen die 
Einheilung, den Ersatz des transplantierten 
Materials, sowie die ideale Wiederher¬ 
stellung der äußeren Form des Knochens. 

Das auf dem verpflanzten Knochen er¬ 
haltene Periost behalt auch nach der Ver¬ 
pflanzung die Fähigkeit der Knochenneu¬ 
bildung, auch wenn auf ein anderes art¬ 
gleiches Tier transplantiert wird. Die vom 
verpflanzten Periost neugebildete Knochen¬ 
substanz ist nicht so ausgedehnt, wie die 
vom Mutterboden, z. B. von der Resek¬ 
tionsstelle ausgehende; sie ist auch nicht 
in der ganzen Zirkumferenz des ver¬ 
pflanzten Röhrenknochenstückes gleich¬ 
mäßig stark entwickelt. 

Die Schonung des Knochenmarks bei 
der Knochentransplantation hat sich als 
vorteilhaft erwiesen, weil die dem Knochen¬ 
marke zukommende Eigenschaft der Kno¬ 
chenneubildung auch in verpflanzten Röhren¬ 
knochenstücken erhalten bleibt. Außerdem 
beobachteten wir Regeneration der spezi¬ 
fischen Markelemente, unabhängig vom 
Mark des Mutterbodens. 

Bei Verpflanzung von periostlosem, 
lebenden Knochen sehen wir Regeneration 

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Oktober 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


469 


des Periosts vom Mutterboden aus, denn 
wir finden periostlos verpflanzten Knochen 
nach einiger Zeit von einer bindegewebigen 
Hülle umgeben, die mit dem Perioste des 
Mutterbodens zusammenhängt. 

Mazerierter (toter) Knochen kann zum 
Ersat z von Knochendefekten benutzt werden, 
wenn der Defekt vollständig ausgefüllt ist 
und das Knochenstück den Mutterboden 
exakt berührt. Resorption und Ersatz von 
toten Knochen erfolgen langsam. Festere 
Beziehungen zu den umgebenden Weich¬ 
teilen gewinnt toter Knochen oft erst nach 
langer Zeit. Zu einer Zeit, wo lebend 
verpflanzter Knochen bereits eingeheilt und 
substituiert ist, finden wir toten Knochen 
noch fast lose im Gewebe liegend mit den 
ersten Anfängen des Ersatzes. 

Da schon die primäre aseptische Ein¬ 
heilung von totem Knochen schwieriger ist 
als die von lebendfrisch verpflanztem, soll 
toter Knochen nur ausnahmsweise verwen¬ 
det werden. 

Gemeinschaftliche Sitzung der Abteilungen 

für innere Medizin und für Chirurgie. 

Haudek(Wien): Das penetrierende 
Magengeschwür und der Wert seines 
Nachweises. 

Während das Magenkarzinom schon 
lange der Diagnose durch die Radiologie 
zugänglich ist, hat die Röntgendiagnose 
des Magengeschwürs bisher versagt. Auch 
experimentell durch Exzision der Schleim¬ 
haut und Muskularis gesetzte Ulzera bei 
Hunden machten keinerlei Veränderungen, 
die sich radiologisch nachweisen ließen. 
Dagegen konnte der Vortragende bei pene¬ 
trierenden Magengeschwüren im Röntgen¬ 
bild Veränderungen feststellen, die er für 
ganz charakteristisch hält. Beim pene¬ 
trierenden Magengeschwür verlötet die Se- 
rosa des Magens mit einem Nachbarorgan, 
gewöhnlich Leber oder Pankreas, in das 
das Geschwür dann durchbricht In diesen 
Organen entsteht dann durch die peptische 
Wirkung des Magensafts eine Nische, die 
sich radiologisch darstellen läßt. Während 
beim Karzinom eine Ausfransung des Wis¬ 
mutschattens entsteht, die wie eine unebene 
Delle in der normalen Magenform erscheint, 
ist der Schatten des Wismuts, das diese 
Nische ausfüllt, als divertikelartige Aus¬ 
stülpung oder Appendix im Radiogramm 
zu sehen. Ueber dem Schatten sieht man 
eine kleine Luftblase. Der Vortragende 
hat bereits in 17 Fällen die Diagnose des 
penetrierenden Magengeschwürs auf diese 
Weise stellen können. Klinisch imponieren 
die Fälle oft als Karzinome mit fühlbaren 


Tumoren. In 12 Fällen wurde die Diagnose 
durch die Operation bestätigt. 

Diskussion. Ewald (Berlin) fragt, ob 
nicht übergelagerte Leber und Rippen¬ 
bogen das Bild beeinträchtigen würden. 

Haudek erwidert, daß gegenüber dem 
sehr dichten Wismut die sehr durchlässige 
Leber absolut nicht in Betracht komme. 

Kümmell (Hamburg) bestätigt, daß es 
niemals Schwierigkeiten macht, die kleine 
Kurvatur röntgenologisch aufzunehmen. 

Haudek erinnert noch, unter Hinweis 
auf den Vortrag des Freiherrn v. Eisels- 
berg in der zweiten Sitzung der chirur¬ 
gischen Abteilung, daran, daß er nach den 
angegebenen Gesichtspunkten imstande ge¬ 
wesen sei, ein Ulcus pepticum jejuni nach 
Gastroenterostomie zu diagnostizieren. 

Kümmell (Hamburg): Ueber Nieren¬ 
tuberkulose. (Erscheint unter den Ori- 
ginalien dieses Blattes.) 

Meinertz (Rostock): Beziehungen 
des tuberkulösen Prozesses zur Blut¬ 
strömung. 

Das Studium der experimentellen Tuber¬ 
kulose unter geänderten Zirkulationsbedin¬ 
gungen ist bis jetzt kaum in Angriff ge¬ 
nommen, obgleich die Wichtigkeit der¬ 
artiger Beziehungen durch viele klinische 
Tatsachen (Einfluß der Blutströmungsver¬ 
hältnisse auf die Lungentuberkulose beim 
Menschen, Herzfehler und Lungentuber¬ 
kulose, Bier sehe Stauungshyperämie) be¬ 
wiesen wird. Es ist nun gelungen, durch 
eine experimentelle Verlangsamung der 
Blutströmung in den Kapillaren der Niere 
typische Abweichungen im Verlaufe des 
tuberkulösen Prozesses in diesem Organ 
hervorzurufen. Es ist neuerdings aber auch 
gelungen, durch eine Beeinflussung der 
kapillären Blutströmung in den Lungen 
(Erweiterung der Lungenkapillaren und da¬ 
durch bewirkte beschleunigte Blutströmung 
als Folge einer experimentellen Atelektase) 
derartige Abweichungen im Bilde des tuber¬ 
kulösen Prozesses zu erzielen, und zwar 
in dem Sinne, daß die atelektatischen Par¬ 
tien, in denen die beschleunigte Blutströ¬ 
mung stattfindet, in auffälliger Weise von 
der Tuberkulose verschont bleiben, indem 
die Zahl wie die Größe der Tuberkel hier 
geringer ist. Die Ursache ist, daß die 
langsamere Blutströmung die kapilläre 
Thrombose, die die Grundlage des Tuberkels 
ist, begünstigt. Das Wesentliche ist nicht 
die Blutfülle, sondern die Stiömungs- 
geschwindigkeit. Die Anwendung auf kli¬ 
nische Verhältnisse liegt nahe. 

Tilman (Cöln): Zur Chirurgie der 
Kleinhirntumoren. 


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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


. Oktober 


Vortragender berichtet zunächst über acht 
Fälle von Kleinhirntumoren. In drei Fällen 
ging der Tumor vom 4. Ventrikel aus (Pa¬ 
pillom, Fibrosarkom, Gliom), in zwei weite¬ 
ren Fällen war er doppelseitig (ein Fall 
Tuberkulose, ein Fall Zystizerken), in den 
drei letzten Fällen einseitige Tumoren. 

Von den acht Fällen sind sechs operiert 
worden, hiervon sind zwei gestorben — 
der eine Fall Papillom des 4. Ventrikels, 
der andere Zystizerken. In beiden Fällen 
war die Diagnose lange zweifelhaft ge¬ 
wesen. Es mußten ferner bei der Ope¬ 
ration beide Hemisphären bloßgelegt 
werden. 

Vortragender wirft die Frage auf, ob 
nicht die doppelseitige Bloßlegung das 
Gefährliche sei; vielleicht zerre das Klein¬ 
hirn an der Medulla. In den vier Fällen, 
die den Eingriff überstanden haben, lag 
einseitiger Tumor, einseitiger Eingriff vor : 

1. Solitärtuberkel, 2. Fibrom des Kleinhirn¬ 
brückenwinkels. 3. und 4. Zyste; Fall 2 
und 3 sind dauernd geheilt. 

Wo mit Sicherheit die Diagnose auf 
Einseitigkeit gestellt war* bestätigte sich 
dies; wo diese Diagnose unsicher war, lag 
entweder Tumor des Ventrikels oder ein 
doppelseitiger Tumor vor. Besonderer dia 
gnostischer Wert kommt der Punktion zu. 

Wo man kann, sollte man besser osteo¬ 
plastisch operieren; unbedingt notwendig 
ist dies bei doppelseitiger Freilegung. 

Vortragender empfiehlt, einzeitig zu 
operieren. 

Diskussion: Leischner berichtetüber 
sieben Fälle von Kleinhirntumoren aus der 
Eiselsbergschen Klinik. Vier erlagen dem 
Operationsschock, von vier anderen starben 
zwei mit Tuberkulose vier Monate p. o. an 
tuberkulöser Meningitis, ein Sarkom sieben 
Monate p. o. an Rezidiv. Eine Zyste ist 
seit 1*/ 2 Jahren wesentlich gebessert. Von 
Kleinhirnbrückenwinkeltumoren wurden 
acht Fälle operiert: zwei an Eingriff, zwei 
an sekundärer Infektion gestorben, zwei 
geheilt, zwei Fälle sind neu. Es wurde 
stets zweizeitig operiert, nie die Knochen¬ 
platte erhalten. 

Abteilung für Kinderheilkunde. 

Langstein (Breslau): Die Rolle der 
Kohlehydrate bei der Ernährung des 
Säugli ngs. (Referatthema.) 

Es ist notwendig, die Rolle der Kohle¬ 
hydrate bei der Ernährung des gesunden 
Säuglings scharf von der bei der Ernährung 
des kranken zu trennen und die Bedeutung 
des Zuckers und Mehles in der Nahrung 
nur unter steter Berücksichtigung der Kor¬ 
relation zu diskutieren, in der sie zu an¬ 


deren Bestandteilen der Nahrung stehen. 
Die Frage nach dem absoluten Kohle¬ 
hydratbedarf muß in den Vordergrund ge¬ 
stellt werden; nicht nur deswegen, weil 
wir einem Zuviel an Zucker in der Patho¬ 
genese der Ernährungsstörungen eine be¬ 
deutsame Rolle einräumen, sondern :weil 
es — beim ernährungsgestörten Kinde 
wenigstens — sichergestellt ist, daß Kohle¬ 
hydratmangel in der Nahrung das Leben 
bedroht. Für den Säugling ist Kohlehydrat¬ 
mangel kürzer zu vertragen als für den 
Erwachsenen, denn der Säugling kann das 
Eiweiß nur in allerbeschränktestem Um¬ 
fange zur Kohlehydratbildung heranziehen. 
Für den absoluten Kohlehydratbedarf bei 
unnatürlicher Ernährung kann kein anderer 
Gesichtspunkt maßgebend sein als der, dem 
Säugling in einem Volumen, das dem bei 
natürlicher Ernährung gegebenen möglichst 
gleichkommt, soviel Nährwert zuzulühren, 
wie es das Energiegesetz des Säuglings 
verlangt. Bei zweckmäßiger Dosierung ist 
auch der Milchzucker für die Anreicherung 
der Nahrung des gesunden Säuglings ge¬ 
eignet. Jedenfalls berechtigt der gegen¬ 
wärtige Stand der Frage nicht dazu, plötz¬ 
lich den Milchzucker aus der Ernährung 
des gesunden Säuglings zu verbannen. Die 
reine Maltose scheint, selbst wenn ihr 
Preis kein so hoher wäre, trotz theoreti¬ 
scher Voraussetzungen kein ideales Kohle¬ 
hydrat für die Säuglingsernährung zu sein. 
Gleichviel, ob wir Milchzucker oder Rohr¬ 
zucker verwenden, empfiehlt es sich, den 
Nahrungsmischungen ein zweites Kohle¬ 
hydrat in Form von Schleim oder Mehl 
hinzuzufügen. (Natürliche Mehle, nicht prä¬ 
parierte Kindermehle!) Voraussetzung da¬ 
für, daß die Kohlehydrate ihre Aufgaben 
erfüllen, ist der normale Ablauf jener Vor¬ 
gänge enzymatischer, bakterieller und os¬ 
motischer Natur, die sich im Magendarm¬ 
kanal abspielen. Als das auslösende Mo¬ 
ment der Schädigung durch Kohlehydrate 
beschuldigt man in erster Linie die aus 
ihnen im Magendarmkanal durch bakterielle 
Zersetzung entstehenden Fettsäuren. Auch 
die direkte Schädigung der Darmwand 
durch den Zucker wird verantwortlich ge¬ 
macht. Indes ist die schädigende Wirkung 
des Zuckers nur im Verband mit anderen 
Nährstoffen sichergestellt. Schweren Scha¬ 
den bringt eine Ueberernährung mit Zucker, 
gleichviel mit welchem, sowie eine lang¬ 
dauernde, ausschließliche Ernährung mit 
Mehl (Mehlnährschaden). 

In der Pathogenese des Mehlnährscha¬ 
dens spielt die Inanition, insbesondere der 
Mangel an Stickstoff und Salzen, eine be- 


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Oktober 


471 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


deutende Rolle. Auch scheint sich dabei 
eine chemische Abartung des Organismus 
zu entwickeln, die mit einem Verlust der 
Immunität verbunden ist. 

Die größte Bedeutung besitzen die Kohle¬ 
hydrate bei der Ernährungstherapie des 
Milchnährschadens; sie besteht darin, daß 
reichlichere Kohlehydratzufuhr die Seifen¬ 
bildung im Darm verhindert und so den 
Organismus vor weiterem Erdalkaliverlust 
schützt. Einen besonders günstigen Ein¬ 
fluß hat dabei Malzextrakt, und zwar 
scheint die beste Kombination die von 
Mehl und malzhaltigen Präparaten zu sein. 
Der bedeutsame therapeutische Effekt der 
richtig dosierten Kohlehydratzufuhr beim 
ernährungsgestörten Kind wird durch das 
klinische Verhalten klar demonstriert. 
Vollständiger Verlust der Kohlehydrattole¬ 
ranz ist mit der Dauer des Lebens unver¬ 
einbar. Die Bedeutung kurz dauernder Er¬ 
nährung von Kohlehydraten bei Tetanie, 
die große Tauglichkeit dieses Nährstoffes 
bei Säuglingen mit exsudativer Diathese 
und bei Rachitikern sind weitere Beispiele, 
wie segensreich die zweckmäßige Dosierung 
der Kohlehydrate auch in pathologischen 
Fällen ist. 

Diskussion: L. F. Meyer (Berlin) be¬ 
spricht die Beziehung der Kohlehydrate zum 
alimentären Fieber und zur Intoxikation 
und berichtet über Untersuchungen be¬ 
treffend das Kohlehydratminimum. H e u b n e r 
(Berlin) legt Gewicht auf den viel zu wenig 
beachteten Unterschied, ob man wirklich 
reinen oder den so häufig verunreinigten 
Milchzucker verabreicht Noeggerath 
(Berlin weist auf seine Versuche über den 
Zuckergehalt des Blutes hin und wendet 
sich gegen die übertriebene Furcht ekto- 
gen eingeführter Bakterien mit der Nahrung. 
In speziell daraufhin gerichteten Unter¬ 
suchungen am poliklinischen Material er¬ 
gaben sich ganz enorme Zahlen von Bak¬ 
terien, die in der Milch knapp vor dem 
Trinken festgestellt wurden, ohne daß da¬ 
bei die Säuglinge erkennbaren Schaden 
litten. Klotz (Straßburg) hält das alimen¬ 
täre Fieber im wesentlichen für ein bak¬ 
terielles, hervorgerufen durch Darmbak¬ 
terien, die durch kleinste Darmläsionen in 
die Blutbahn eindringen: eine Anschauung, 
die von L. F. Meyer zu widerlegen ver¬ 
sucht wird. Ferner sprachen Rietschel 
(Dresden), Bahr dt (Berlin), Soltmann 
(Leipzig), Langenstein. 

Bahrdt (Berlin): Zur Pathogenese 
der Verdauungs- und Ernährungs¬ 
störungen, mit besonderer Berück¬ 
sich igung der organischen Säuren. 


Ausgedehnte Untersuchungen über die 
pathogenetische Rolle der an den Zer- 
setzungs- resp. Gärungsprozessen in derNah- 
rung und im Verdauungskanal entstehenden 
organischen Säuren, insbesondere niederen 
Fettsäuren. Zunächst wurde die Wirksam¬ 
keitsgrenze der in Frage kommenden Fett¬ 
säuren im Tierversuch festgestellt. Ver¬ 
gleichsweise ergab sich dann, daß die in 
verdorbener Milch enthaltenen Mengen viel 
geringer sind, als die wirksamen; hingegen 
nähert sich bei unzweckmäßiger Mischung 
und Dosierung der Nahrung die Menge 
organischer Säuren im Magen schon sehr 
den toxisch wirksamen Dosen. Im Dünn¬ 
darm finden sich viel geringere Mengen als 
im Magen (Schutz durch Pylorusverschluß?). 
Höchstwahrscheinlich besteht ein ursäch¬ 
licher Zusammenhang zwischen einer ver¬ 
mehrten Entstehung niederer organischer 
Säuren und vermehrter Peristaltik. Aber 
nicht so sehr die ektogen zugeführten 
Fettsäuren, sondern jene, die bei der 
Stagnation im Magen entstehen, kommen 
dabei in Betracht. Die Untersuchungen 
sprechen also gegen eine wesentliche ße^. 
teiligung der verdorbenen Milch an der 
Sommermorbidität, wohl aber stützen sie 
die Auffassung, daß Ueberfütterung und 
falsche Zusammensetzung der Nahrung 
durch vermehrte Bildung organischer, nie¬ 
derer Säuren im Magen, zu der häufigsten 
Form der akuten Störungen, nämlich zur 
Dyspepsie, führen. 

Diskussion. Heubner (Berlin) gibt 
seiner Befriedigung darüber Ausdruck, daß 
hier eine von ihm schon seit langem ver¬ 
tretene Anschauung ihre experimentelle 
Bestätigung findet. Rietschel (Dresden) 
und Moro (München) sprachen sich im 
Gegensätze zu Soltmann (Leipzig) gegen 
die gefürchteten Gefahren der ektogenen 
Infektion aus. Moro (München) weist ins¬ 
besondere darauf hin, daß die Milch fast 
stets in abgekochtem Zustande gereicht 
und daß eine zersetzte, ranzige Milch vom 
Säugling überhaupt nicht aufgenommen, 
sondern zurückgewiesen wird. 

Erich Müller (Berlin-Rummelsburg): 
Ueber Ernährung debiler Säuglinge 
mit molkenreduzierter Milch an der 
Hand von Stoffwechselversuchen. 

Bisher haben sich eigentlich nur die 
Milchderivate dauernd bewährt, denen 
eine Reduktion „des Salzanteiles der Molke“ 
gemeinsam ist und die auf dem Boden 
dieser Salzarmut eine Anreicherung mit 
einem oder mehreren der anderen Milch¬ 
nährstoffe erfahren haben. Dazu gehören 
vor allem die Keil ersehe Malzsuppe, die 


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472 


Oktober 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


sogenannte Fettmilchen und schließlich 
die Eiweißmilch. Insbesondere bewährt hat 
sich die molkenreduzierte Milch bei Auf¬ 
zucht debiler Säuglinge. Die Nahrung ent¬ 
hielt die vollen Werte der Kuhmilch an 
Fett und Zucker, dagegen nur % des Ei¬ 
weißes und der Salze der Molke. Haupt¬ 
vorteil: Zwar langsames, aber solides und 
zuverlässiges Wachstum, Gefahrlosigkeit 
(z. B. gegenüber der salzreichen Butter¬ 
milch). Stoffwechselversuche zeigten, daß 
Salzangebot und Retention bei Verfütte- 
rung dieser salzarmen Nahrung für einen 
physiologischen Gewebsansatz nicht zu ge¬ 
ring war. Auch das Bedenken, daß durch 
eine reichliche Ausscheidung von Fett¬ 
säuren eine den Körperbestand gefährdende 
Kalkentziehung stattfinden könne, hat sich 
als unbegründet erwiesen. 

Schloß (Berlin): Ueber Ernährungs¬ 
versuche mit künstlichem Milchserum 
nach Friedenthal. 

Das „künstliche Muttermilchserum nach 
Friedenthal“ ist eine in ihrem Molken¬ 
gehalt der Frauenmilch angenäherte Milch. 
Jüngere Säuglinge kommen bei dieser 
Nahrung nicht recht vorwärts; bei Kindern 
jenseits des 1. Vierteljahres, besonders bei 
solchen durch chronische Ernährungs¬ 
störungen oder langdauernde fieberhafte 
Erkrankungen stark heruntergekommenen, 
zeigten sich hingegen wiederholt glänzende 
Erfolge. Auffallend war besonders eine 
günstige Wirkung auf die Haut; die Kinder 
blieben vor Hautaffektionen dauernd be 
wahrt, Furunkulosen wurden gut beeinflußt. 
Schloß bittet die mitgeteilten Ernährungs¬ 
versuche nur als Vorversuche entgegenzu¬ 
nehmen, hofft aber auf diesem Wege weiter 
zu kommen. 

Langstein (Berlin): Die Einwirkung 
des Kampfers auf den Säugling. 

Kampfer ist in therapeutischen,' und 
selbst in großen Gaben für den gesunden 
Säuglingsorganismus ungiftig. Er wird 
durch vollständige Paarung zu Karopfer- 
Glykuronsäure ziemlich rasch inaktiviert und 
entgiftet im Urin ausgeschieden und der nor¬ 
male Säugling hat jederzeit ausgiebige Men¬ 
gen von Glykuronsäure zur Verfügung. Bei 
schweren Ernährungsstörungen ist hingegen 
die Ausscheidung der gepaarten Glykuron¬ 
säure verzögert. Dit se Verzögerung könnte 
herbeigeführt sein durch eine verminderte 
Fähigkeit, die Glykuronsäure zu bilden, oder 
diese zu paaren. Beim schwer ernährungs¬ 
gestörten Säugling ist demnach der unbe¬ 
schränkte Gebrauch des Kampfers (und auch 
des Chlorals) zum mindesten theoretisch als 
bedenklich zu bezeichnen. 


Diskussion. Hochsinger (Wien) sah 
nach größeren Kampfergaben per os an 
Säuglinge mit Cholera infantum Steigerung 
der Aufregungszustände. 

Freund (Breslau): Zur Kenntnis des 
Stoffwechsels beim Säuglingsekzem. 

Dieser zeigt nach einer Untersuchung 
von L. F. Meyer gewisse Abweichungen 
von der Norm, während er sich nach Bruck 
nicht vom Stoffwechsel des gesunden Säug¬ 
lings unterscheidet. In den Versuchen von 
Freund zeigten bei einer im Liter 35 g 
Mondamin, 30 g Butter, 10 g Nutrose, 40 g 
Milchzucker, 3 g NaCl enthaltenden Nahrung 
3 Ekzemkinder tägliche Zunahmen von 40 
bis 50 g unter starker Oedembildung, wäh¬ 
rend diese bei vier von Erscheinungen der 
exsudativen Diathese freien Säuglingen nur 
unbedeutend schwankten. Alle Fälle hatten 
negative Gesamtaschebilanzen. Die Ekzem¬ 
kinder zeigten (mit einer Ausnahme) er¬ 
hebliche Chlorretention, durchwegs starke 
Natronretention, während ein physiologi¬ 
sches Kontrollkind negative Chlor- und nur 
ganz schwach positive Natronbilanz hatte. 
Es erscheint also als eine Sondereigenschaft 
der Ekzemkinder, bei der angewendeten 
Versuchsanordnung in großen Mengen 
Wasser zurückzuhalten. 

Rietschel (Dresden): Ueber Klinik, 
Therapie und Prophylaxe des Som¬ 
merbrechdurchfalles. 

Die entscheidende Rolle spielt die hohe 
Wohnungstemperatur, die ohne Verderbnis 
der Nahrung, auf das Kind einwirkt und 
zwar, entweder als echter Hitzschlag, als 
allmählige, mit Choleraanfällen kombinierte, 
Hyperthermie oder als direkte Schädigung 
des Körpers, besonders des Verdauungs- 
apparates. Rietschel unterscheidet 3 kli¬ 
nische Bilder: 1. Die rein hyperthermisch¬ 
konvulsivische Form (echter Hitzschlag ge¬ 
sunder und kranker Kinder), 2. die hyper- 
thermisch- diarrhoisch- konvulsivische Form 
(Cholera infantum gesunder und kranker 
Kinder), 3. die rein diarrhoische Form, so¬ 
genannte Sommerdiarrhöe. Die erste Form 
kann ohne Erbrechen und ohne jeden 
Durchfall verlaufen, wird hierzulande kaum 
beobachtet, indes steht dieses Krankheits¬ 
bild nach den Angaben der älteren Lite¬ 
ratur fest. Der weitaus größte Teil der 
Todesfälle gehöit in die dritte Gruppe und 
betrifft wohl ausschließlich ernährungsge- 
störle Kinder. 

Die Therapie muß dieser klinischen 
Auffassung gerecht werden. Für die beiden 
ersten Formen stellt daher die Herab¬ 
setzung der Körperwärme, die Zufuhr von 
Flüssigkeit und die Belebung der Herzkraft 


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wart 1909, Nr. 11. 

Dr. E. Hellmuth (Würzburg), Allg. Med. Central-Zeitung 1909, Nr. 29. 

Dr. Abramowskl (Schwarzort), Therapeutische Rundschau 1909, Nr. 38. 

Dl. 6. stehlick (Prag—Smicho), Cas. L4k. Cesk. 1909, Nr. 44 u.L^k.Rozhl. 1909, Nr.. 

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gleichzeitig so stark^sedaüv dassi es^^^^ßnmchialsetaets S 
macht: es lockert den Husten l durch l Verihuagm Sekretneubildung | 

und mildert den Hustenreiz durch Beschrank g Bronchial- • 

und Herabsetzung der Reflexerregbarkeit in den Nerven aer J 

SChl Hr5;i.dilr.«0.s 8 ehi.,: As,hm. bronch.ale, Perhrssis, Pneumonie. | 
Influenza, Bronchitis chromca, auch tuberculosa. j 

2. Di. mild-antifebrile Eigenschaft tSc^mS- 5 

hemÄng dn°e mtSc“».'Sch"X» “kwächendcn Schweis.- f 

aUS *Hauptdndikationenf TyplÄ ‘abdomös, Masern. PhUdsis pnlm., | 

3. “maUschen und 1 

tät der Wirkung den sogenannten Analgetieis Mturgem ^ j 

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auch herzkranken Rheumatikern usw. in der vollen therapeuuscn * 

wochenlang ohne Bedenken gegeben werden kann. ? 

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1 


















Oktober 


473 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


die notwendigsten Maßregeln dar. Die re¬ 
lativ geringe Toleranzstörung dieser Kinder 
nach der Entfieberung ist oft erstaunlich. 
Zufuhr von Flüssigkeit wird am besten mit 
Kochsalz gegeben. Glänzende Ei folge mit 
Karotten suppe. Bei der dritten Form be¬ 
steht hingegen die Kunst des Arztes 
wesentlich darin, die Toleranz des Kindes 
gegen Nahrungsschädigung richtig zu treffen 
und, sowohl das Zuwenig als das Zuviel 
zu vermeiden. Selbstverständlich kommen 
alle Uebergänge zwischen 2 und 3 vor. 

Prophylaktisch ist das wichtigste die 
Verhinderung der hohen Wohnungstempe¬ 
ratur. Daneben Aufklärung aller Berufs¬ 
stände über die Gefahren dtr Hitze für 
das Kind, Errichtung von freistehenden 
Krippen. Die Hygiene der Milch ist selbst¬ 
verständlich dabei nicht außer acht zu lassen, 
allerdings stellt die hohe Einschätzung der 
Kindermilch mitihien enormen Preisen eine 
Ueben pannung eines an sich richtigen Prin¬ 
zips dar. Die Milchküchen sind nicht ge¬ 
eignet eine wirksame Waffe gegen die Säug¬ 
lingssterblichkeit darzustellen. 

Diskussion. Hochsinger (Wien) be¬ 
tont, wie gefährlich in der Sommerhitze 
selbst kleinste Diätfehler (ein kleines Stück¬ 
chen Obst oder Wurst) werden können. 

Moro (München) bezeichnet die Auf¬ 
stellung der drei klinischen Formen dts 
Sommerbrechdurchfalls nach Rietschelals 
nicht glücklich. Ein Krankheitsbild, wie 
der reine Hitzschlag, das weder mit Er¬ 
brechen noch mit Durchfall einhergeht, 
kann unmöglich dem semiotischen Begriff 
des Sommerbrechdurchfalles untergeordnet 
werden. Besser wäre der Hitzschlag in den 
Gruppen der Nervenkrankheiten, Krämpfe 
oder Konstitutionsanomalien unterzubringen. 
Die Hitze wirkt wahrscheinlich direkt oder 
indirekt auf den Verdauungsapparat selbst 
ein und man braucht in der Anamnese gar 
nicht nach einem kleinen Diätfehler zu 
fahnden. 

Heubner (Berlin) hat die erste Form 
bei Säuglingen niemals gesehen und meint 
ebenfalls, daß sie sich nicht gut in den 
Rahmen des Sommerbrechdurchfalles ein- 
fügen läßt. Die Hauptsache in der Patho¬ 
genese der Ernährungsstörungen liegt in 
einem Mißverhältnis zwischen Nährstoffzu¬ 
fuhr und Verdauungskraft, wie dies un¬ 
längst auch Pfaundler auseinandergesetzt 
hat. Die Verdauungskraft wird aber durch 
die Hitze zweifellos in hohem Grade herab¬ 
gesetzt Deshalb läßt Heubner in seiner 
Klinik an heißen Tagen nur Vs der Nahrung 
geben, wobei dann die gefürchteten Ge¬ 
wichtsstürze auszubleiben pflegen. 

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Tugendreich (Berlin) erinnert sich 
einer Literaturangabe, wonach selbst die 
Frauenmilch im Sommer dünner fließen soll. 

Rietschel gibt im Schlußwort Heub¬ 
ner und Moro recht. 

Ri sei (Leipzig): Der therapeutische 
Wert der Heilsera (Referatthema). 

Die Serumtherapie ist seit ihrem Erfolge 
bei Diphtherie auf fast sämtliche bei uns 
endemischen bakteriellen Infektionen des 
Menschen und der Tiere übertragen wor¬ 
den. Den antitoxischen Seris gegen Di¬ 
phtherie, Tetanus und Schlangenbiß stehen 
die antiinfektiösen Sera gegenüber. Der 
Einfluß der ersteren Sera zeigt sich in 
einer Milderung der Intoxikationssymptome, 
sowie in der Herabsetzung der Pulsfrequenz 
und des Fiebers. Abheilung bestehender 
Krankheitsprozesse wird weniger erzielt 
als ein Weitergreifen der Erkrankung ver¬ 
hindert. Machtlos ist die Serumtherapie 
gegen Affektionen, die schon vor ihrer Ein¬ 
leitung als Komplikation hinzugetreten 
waren oder die bedingt sind durch bereits 
gesetzte irreparable Organerkrankungen, 
daher steigt der Wert der Serumtherapie, 
je früher sie angewandt wird. Durch die 
prophylaktische Benutzung sind in Kranken¬ 
häusern die früher so gefürchteten Di¬ 
phtherieepidemien unbekannt geworden; 
und ebenso läßt sich durch Serum mit großer 
Sicherheit der Ausbruch eines Tetanus bei 
Verletzten verhüten. 

Die Erfahrungen mit den antiinfektiösen 
Seris sind widersprechend. Hier sind so 
viel theoretische Fragen noch ungeklärt, 
daß zusammen mit dem wechselnden kli¬ 
nischen Bild (der Pneumonie, des Erysipels, 
der Tuberkulose) sich Schwierigkeiten bei 
der BeurteÜung-des therapeutischen Effektes 
ergeben müssen. 

Um den Heilwert auszunutzen, soll man 
gegen Diphtherie nicht nur 3—50001. E. 
injizieren, sondern gegebenenfalls auf das 
Zehnfache steigen. Wegen der günstige¬ 
ren Resorption soll die subkutane Methode 
durch die intramuskuläre ersetzt werden, 
wo Lebensgefahr besteht durch die intra¬ 
venöse, bei Tetanus und Zerebrospinal- 
meningitis durch die subdurale. 

Statistische Belege für die ausgezeich¬ 
nete Wirkung des Diphtherieheilserums an 
der Hand zahlreicher Tabellen. Statistische 
Zusammenstellung über den Wirkungswert 
der übrigen Sera. 

Diskussion: Theodor (Königsberg) 
betont die günstige Beeinflussung von Ne¬ 
phritis und Lähmungen, wenn man am 
ersten Tage einspritzt. 

60 

Original from 

UNIVERSITY 0F CALIFORNIA 




474 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Oktober 


Noeggerath (Berlin) vermißt im Vor¬ 
trag die Behandlung der postdiphtherischen 
Lähmungen mit übergroßen Serummengen 
und wünscht die intramuskuläre und intra¬ 
venöse Injektion nicht nur erwähnt, son¬ 
dern unterstrichen erwähnt. Wir sollen 
überhaupt nur intramuskulär injizieren. 
Desgleichen blieben die einfache Serum¬ 
wirkung und die Versuche über die Ver¬ 
hütung der sofortigen Reaktion durch Vor¬ 
injektion minimaler Mengen unberück¬ 
sichtigt. 

Hochsinger (Wien) warnt vor den 
Gefahren der Serumkrankheit, besonders 
bei Anwendung großer Mengen, wie bei 
Scharlach. E. Müller (Berlin• Rummels¬ 
burg) empfiehlt bei Säuglingen die Injek¬ 
tion in die Schädelvene vorzunehmen. 

Klotz (Straßburg): Ueber Mehl¬ 
abbau. 

Die Anschauung, daß die Mehlwirkung 
als Zuckerwirkung zu erklären sei, kann 
nicht befriedigen. Die Beziehungen der 
Gärungssäuren zum Stoffwechsel weisen 
vielmehr darauf hin, den Mehlabbau unter 
diesem Gesichtspunkte zu studieren. 

Klotz bediente sich der Rosen feld- 
schen Versuchsanordnungen am Phloridzin¬ 
hungerhund und fand, daß die einzelnen 
Mehle sich sehr verschieden verhalten. 
Weizenmehl wurde als Zucker, Hafermehl 
dagegen als Kohlehydratsäure resorbiert. 
Ersteres geht den „transglykogenen“, letz¬ 
tere beiden hingegen den „aglykogenen“ 
Weg Rosenfelds. Das Problem der para¬ 
doxen Wirkung des Hafers beim Diabetiker 
ist damit gelöst. Hafermehl wird, wie 
Klotz unabhängig von S. Lang gefunden 
hat, etwas schneller diastasiert und bildet 
größere Maltosemengen als Weizenmehl. 
Es stellt infolgedessen ein qualitativ und 
quantitativ besseres Nährsubstrat für die 
Darmflora dar. als das Weizenmehl. Diese 
Annahme ist experimentell leicht nachzu¬ 
prüfen. Werden dextroseäquivalente Men¬ 
gen von Weizen- und Hafermehl diastasiert 
und bakteriell vergärt, dann tritt beim 
Hafer eine weit intensivere Säurebildung 
auf, als beim Weizen. 

Diskussion: Bahrdt (Berlin) frägt 
nach dem Anteil, den die Darmbakterien 
beim Mehlabbau nehmen und ob Unter¬ 
schiede dabei vorliegen. Klotz spricht 
ihnen die ausschlaggebende Rolle zu. 

Zappert (Wien): Ueber Heine- 
Medinsche Krankheit. (Referatthema.) 

Die Heine- Med in sehe Krankheit ist 
eine ausgesprochene Infektionskrankheit, 
bei welcher ein Inkubations-, Prodromal- 
und Floritionsstadium zu unterscheiden ist. 

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Die Inkubation dürfte ca. 1 Woche dauern, 
die ca. 3—5 tägigen Prodromalsymptome 
können den Charakter einer Influenza, An¬ 
gina, Enteritis, Koryza, Meningitis, selbst 
Skarlatina annehmen. Bei abortiven Fällen 
(Wickman) kommt es zu keinen weiteren 
Krankheitserscheinungen. Das Floritions¬ 
stadium zeichnet sich zumeist durch heftige 
Schmerzen, Schweißausbrüche, spinale oder 
zerebrale Symptome aus. Die anfänglichen 
spinalen Lähmungen umfassen nicht nur 
die Extremitäten (Beine häufiger als Arme), 
sondern sondern sehr oft Nacken-, Rücken-, 
Thorax-, Bauchmuskeln. Lähmungen der 
Stammuskeln können auch isoliert auftreten 
und isoliert bestehen bleiben. Die Sehnen¬ 
reflexe sind an den minder betroffenen 
Partien oft geesteigert. Zerebrale Sym¬ 
ptome treten nicht selten ohne spinale auf 
(in 10,68% unter 543 Fällen des Vortra¬ 
genden). Dieselben sind entweder rein 
meningitisch oder pontin, bulbär, enzepha- 
litisch (Halbseitenlähmung). 

Eine pontine Fazialislähmung (Nuklear¬ 
lähmung) ist nicht selten. Die Kombination 
verschiedenartiger und verschieden starker 
Hirnsymptome läßt mannigfaltige Krank¬ 
heitsbilder entstehen, die bisher ätiologisch 
unklar waren. Die Mortalität war in Wien 
und Niederösterreich 10,45%. Todes¬ 
ursachen; aufsteigende Landrysche Para¬ 
lyse, Meningitis, Vaguslähmungen. Knaben 
erkranken und sterben häufiger. Epidemio¬ 
logisch stützt Vortragender seine Erfah¬ 
rungen auf 543 Fälle aus den Epidemien 
1908 und 1909 in Wien und Niederöster¬ 
reich. Rapiper Anstieg im September, 
Oktober, dazwischen aber kein völliges 
Schwinden. Herdweises Auftreten, Ver¬ 
schontbleiben der 1908 stärkst befallenen 
Provinzteile im folgenden Jahr und umge¬ 
kehrt. Kontagiosität sehr gering, Ueber- 
tragung durch gesunde Zwischenträger 
nach Meinung Wickmanns, Müllers 
möglich. Wahrscheinlich bei uns seit 
langem endemische Krankheit mit gelegent¬ 
lichen Steigerungen. Virus unbekannt 
(„invisibles Virus“ wie bei Lyssa) doch 
Erzeugung der verschiedenartigen Krank¬ 
heitsformen beim Affen möglich (Land- 
steiner u. A.). Wahrscheinlich Erzeugung 
einer passiven Immunität. Anatomisch: In¬ 
filtrative dessiminierte Entzünduug der 
grauen Substanz des Rückenmarkes, des 
Bulbus, Hirnstammes, weniger der Gro߬ 
hirnrinde mit starker Beteiligung der Me¬ 
ningen und der Gefäße. Anerkennung der 
großen Verdienste Wickmanns, dessen 
vorgeschlagener Name Heine-Medinsche 
Krankheit zu akzeptieren ist. 

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Oktober 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


475 


Diskussin: Wi c km an n (Stockholm) 1 ) 
gibt seiner Genugtuung darüber Ausdruck, 
daß die Ergebnisse seiner Untersuchungen 
fast in allen Punkten bestätigt und akzep¬ 
tiert wurden. Wenn Zappert die atak¬ 
tischen Symptome im allgemeinen auf bul- 
bäre, resp. zerebrale oder zerebellare Ver¬ 
änderungen zurückfahrt, so ist dagegen ein¬ 
zuwenden, daß es Fälle gibt, wo keine 
Zeichen einer solchen Affektion bestehen 
und bei denen die Entscheidung über den 
Sitz der pathologischen Prozesse unmög¬ 
lich ist. Es ist deshalb wenig zweckmäßig, 
die ataktische Form einfach der pontinen 
anzugliedern. Zappert will auch die poly- 
neuritische Form nicht ohne weiteres gelten 
lassen, weil sie anatomisch nicht erwiesen 
ist und die Symptome zwanglos als von 
zentralen Störungen bedingt angesehen 
werden können. Es ist aber notwendig, 
die praktischen Aerzte darüber aufzuklären, 
daß es eben Formen der Heine-Medin- 
Krankheit gibt, die klinisch mit der soge¬ 
nannten akuten idiopathischen, infektiösen 
Neuritis vollkommen übereinstimmen. Das 
wird am besten und sichersten durch Auf¬ 
stellung einer markanten Bezeichnung für 
dieses Krankheitsbild erreicht. Daß end¬ 
lich die Bezeichnung einer Krankheitsform 
nach Autorennamen nicht, wie von man¬ 
chen Seiten eingewendet wird, Schwierig¬ 
keiten mit sich bringen muß, beweist am 
besten der Name: Morbus Basedow, der 
viel besser ist als etwa Struma exophthal- 
mica, seitdem man die Form es frustes 
kennen gelernt hat, in denen weder Struma 
noch Exophthalmus besteht.* 

Peiper (Greifswald) betont die geringe 
Kontagiosität. Selter (Solingen) erwähnt, 
daß in den Rheinlanden, diejenigen Ort¬ 
schaften, wo vor Jahren Mening. cerebr, 
spin. herrschte, von der letzten Poliomye¬ 
litisepidemie verschont blieben. 

Leiner und v. Wiesner (Wien): Ex¬ 
perimentelle Untersuchungen über 
Poliomyelitis acuta. 

Als sicheres Versuchstier hat sich nur 
der Affe bewährt. Mit geeigneter Impf¬ 
methode läßt sich die Erkrankung von Tier 
zu Tier übertragen und durch beliebig viele 
Generationen fortführen. Eine Abschwä¬ 
chung des Virus trat bisher nicht ein. Das 
Poliomyelitisvirus weist eine große Aehn- 
lichkeit mit dem Lyssavirus auf; eine Reihe 
wichtiger Eigenschaften desselben sind be¬ 
reits bekannt, das Virus selbst ist noch un¬ 
bekannt. Es ist filtrierbar, äußerst resi¬ 
stent gegen Kälte- und Glyzerineinwirkung, 

*) Verlesen durch Klotz (Straßburg). 

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wenig resistent gegen Erwärmen und Aus¬ 
trocknen in dünner Schicht. Die experi¬ 
mentell erzeugte Poliomyelitis ist ebenso 
wie die Poliomyelitis des Menschen durch 
das Auftreten von schlaffen Lähmungen 
und * Fehlen der Reflexe charakterisiert. 

Die Erkrankung kann auf eine Extremität 
beschränkt bleiben oder auf mehrere Ex¬ 
tremitäten übergehen oder den Typus der 
La n dry sehen Paralyse annehmen und mit 
Lähmung der Blasen- und Mastdarmmusku- 
latur, der Kehlkopf- und Atmungsmuskeln 
oder mit isolierten Kernlähmungen (Faszialis- 
lähmung) kombiniert sein. In einzelnen 
Fällen kam es nicht zur Ausbildung des 
typischeu Krankheitsbildes, sondern die 
Tiere gingen unter Marasmus, lähmungs¬ 
artiger Schwäche der Extremitäten und 
Diarrhöen ein. Diese sogenante maranti¬ 
sche Form kann bei der Weiterimpfung 
wieder in das typische Krankheitsbild über¬ 
geführt werden. 

Dte Infektion des Tieres ist von jeder 
tieferen Gewebsverletzung aus möglich, sie 
kann aber auch ohne besondere Gewebs¬ 
verletzung von der Schleimhaut aus er¬ 
folgen. Hierfür spricht der positive Aus¬ 
fall der Fütterungs- und Inhalations ver¬ 
suche. Zwischen Viruseintritt und Ein¬ 
setzen der Lähmungen scheint ein gesetz¬ 
mäßiger Zusammenhang zu bestehen. Bei 
Impfung in den Respiratioestrakt beginnt 
die Lähmung an der vorderen Körper¬ 
hälfte, bei Impfung in den Digestionstrakt 
an der hinteren Körperhälfte. Das Virus 
wandert von der Impfstelle ziemlich rasch 
zum Rückenmark; mit dem Rückenmark 
eines am 5. Inkubationstag getöteten Tieres 
gelingt schon die Weiterimpfung. Die 
Wanderung des Virus erfolgt wahrschein¬ 
lich längs der Nerven resp. der die Ner¬ 
ven begleitenden Lymphgefäße. Vom 
Rückenmark wird das Virus in die dem 
Rückenmarkskanal zunächst gelegenen 
Drüsen und, was für die Frage der Kon¬ 
taktübertragung von besonderer Bedeutung 
ist, auch in die Schleimhaut des Nasen¬ 
rachenraums ausgeschieden. In den Speichel¬ 
drüsen, im Stuhl und Harn läßt sich das 
Virus nicht nachweisen. Das Ueberstehen 
der Erkrankung führt fast ausnahmslos 
zum Auftreten von Immunität; dieselbe 
läßt sich durch den negativen Ausfall von 
Reinfektionen bereits gelähmter Tiere und 
durch das Vorhandensein von viruziden 
Stoffen im Blutserum nachweisen. Diese 
Befunde bilden den Ausgangspunkt zum 
Studium der wichtigen Frage der Serum- 
und Vakzintherapie, deren Lösung noch 
nicht geglückt ist. 

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476 


Oktober 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Hochsinger (Wien): Ueber Ernäh¬ 
rungsneurosen im frühen Kindesalter 
- und nervöse Kauunfähigkeit der 
Kinder. 

Hochsinger bespricht eine zwar be¬ 
kannte, aber in ihrem Wesen bisher* noch 
nicht analysierte Form von Ernährungs- ; 
neurose des Kindesalters, welche bei neuro- | 
pathisch belasteten Kindern vorkommt, 1 
immer in das erste Lebensjahr zurück¬ 
reicht lyid auf der psychogenen Fixierung 
in frühen Lebensperioden zustande ge¬ 
kommener Unlustaffekte beruht. Diese Un¬ 
lustaffekte sind durch eine fehlerhafte Er¬ 
nährungstechnik im Säuglingsalter oder 
während der Entwöhnungsperiode piovo- 
ziert. (Ueberfütterung und Aufzwingung 
der Nahrung.) Die so zustande gekommene 
Ernährungsneurose unterscheidet sich von 
anderen Ernährungsstörungen durch früh¬ 
zeitiges Auftreten von Nahrungsverweige¬ 
rung (nervöse Anorexie), von Abwehrreak¬ 
tionen bei der Nahiungszufuhr, lückständige 
Entwicklung der Kaufähigkeit und habi¬ 
tuelles Erbrechen vor, während oder nach 
der Nahrungsaufnahme. Besonders charak¬ 
teristisch ist das sich im zweiten und dritten 
Lebensjahre entwickelnde Symptom der 
Kauunfähigkeit oder Kaufaulheit. 
Dieses Symptom kommt dadurch zustande, i 
daß gerade in jener Lebensperiode, welche | 
der Entwicklung der Kautätigkeit gewidmet | 
ist, infolge fehlerhafter Ernährungstechnik 


nervöser Mütter und Kinderpflegerinnen 
andauernde Unlustaffekte bei der Ernährung 
entstehen, welche ein psychisches Trauma 
beim Kinde setzen. Durch dieses wird die 
Ausbildung des sehr komplizierten Koordi¬ 
nationsmechanismus der Kautätigkeit im 
Gehirn zurückgedrängt, während die Un¬ 
lustaffekte fixiert werden und zu Abwehr¬ 
reaktionen mit dauernder Anorexie führen. 
Die Neurose bedingt eine fortschreitende 
Unterernährung (Dystrophia neurotica), 
häufige dyspeptische Störungen und Ueber- 
erregbarkeit der gesamten Nervensphäre. 
Die meisten Kinder zeigen das Chvostek- 
sche Fazialisphänomen. Auf solche Weise 
nervös gewordene Kinder können mitunter 
sogar im schulpflichtigen Alter noch nicht 
kauen und keine feste Nahrung nehmen. Ent¬ 
fernung aus dem nervösen Milieu, Nahrungs¬ 
zufuhr nur bei Eßlust und richtiger päda¬ 
gogischer Einfluß können Heilung bringen. 
Die meisten dieser Kinder aber bleiben für 
alleZeiten nervöse, zu Verdauungsstörungen 
disponierte Menschen. Die Verhütung dieser 
Kinderneurose ist leichter als ihre Beseiti¬ 
gung. Rigor ose Einhaltunggroßer Nahrungs¬ 
pausen vom ersten Lebenstage angefangen, 
besonders bei Kindern nervöser Eltern und 
Nahrungszufuhr nur bei Nahrungsbedürfnis 
schützen vor dieser Nutritionsneurose, 
welche nur in begüterten Kreisen und in 
einem schwer nervösen Milieu zur Ent¬ 
wicklung gelangt. 


Therapeutischer Meinungsaustausch. 

Klimatisches über Ajaccio. 

Von Dr. Pet. Balzer. 


Ueber Ajaccio ist von berufener Seite 
schon viel geschrieben worden und obwohl 
sämtliche Beobachter die außerordentlich 
günstigen klimatischen Verhältnisse her¬ 
vorheben, hat der Kurort bis jetzt noch 
nicht die Stellung ei halten, die derselbe in 
Anbetracht seiner Vorzüge verdienen würde. 

Unkenntnis der dortigen Verhältnisse 
und mit Intention verbreitete, unrichtige 
Angaben haben ihr Möglichstes dazu bei¬ 
getragen. 

Was hat man nicht schon von den 
Ueberfahrten hören müssen, als gelte es, j 
eine Reise um die Welt zu machen! t 

Allerdings in früheren Jahren, als noch i 
die „Ville de Bastia“ oder wie man sie mit j 
Recht getauft, die „wilde Bestie“ die I 
Ueberfahrten besorgte, hatte man Grund zu j 
klagen. Sie hat ihren Namen verdient. | 
Jetzt besitzt die Compagnie Fraissinet i 
gute, komfortable Schiffe, die allen An¬ 
forderungen genügen. 


Gewiß, vieles läßt, wie an manchen 
Orten im Süden, zu wünschen übrig. Der 
öffentlichen Hygiene wird nicht die Be¬ 
achtung zuteil, wie dies an einem Kurort 
wünschenswert. Es ist schwer, in dieser 
Hinsicht gegen die Indolenz und Unver¬ 
nunft der Eingeborenen anzukämpfen. Ein 
einzelner kann dagegen nicht viel ausrichten 
und von seiten der einheimischen Aeizte 
findet man wenig Unterstützung. 

In letzter Zeit haben sich besonders 
Dr. A. Moll (Zeitschrift für Balneologie) 
und Dr. R. Baßenge (Zentralblatt für 
Thalassotherapie) eingehend mit dem Kur¬ 
orte beschäftigt. Die ausgezeichneten Aus¬ 
führungen dieser Herren verdienen alle 
Anerkennung. 

Nachdem ich zehn Winter als Arzt 
dort zugebracht, dürfte es mir erlaubt sein, 
auch meine Beobachtungen und Erfahrungen 
mitzuteilen, und liegt es mir ganz speziell 
daran, darüber zu berichten, was für Aerzte 


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Oktober 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


477 


von Interesse sein könnte, um Ober den 
Kurort ein richtiges Urteil zu bekommen 
und demselben denjenigen Platz in klima¬ 
tischer Hinsicht einzuräumen, den derselbe 
infolge seiner günstigen Lage verdient. 

Zum voraus möchte ich bemerken, daß 
sich meine Beobachtungen auf die eigent¬ 
lichen Wintermonate beziehen, weil die¬ 
selben speziell für Kranke in erster Linie 
in Betracht kommen. 

Ajaccio, 41,55° nördlicher Breite, 8,44° 
östlicher Breite, hat eine mittlere Jahres¬ 
temperatur von 17° C. Es gehört zu den 
Inseln des westlichen Mittelmeeres, welche 
eine höhere Wärme haben, als ihrem 
Breitengrade entspricht Die Wärmever¬ 
hältnisse sind zum Teil durch die hohe 
Temperatur des Wassers des Mittelmeeres 
bedingt, welches dem Einfluß des warmen 
Golfstromes unterliegt Ein Vergleich der 
Mitteltemperatur der einzelnen Monate er¬ 
gibt: November 14,1°, Dezember 11,8°, 
Januar 10,8°, Februar 11,8°, März 12 5°, 
April 15°, im Mittel also beinahe 13° C. 

Diese Zahlen beweisen deutlich, daß 
die Teroperaturdiflerenzen der einzelnen 
Monate für eine große Wärmekonstanz 
sprechen. 

Aber nicht bloß die hohe Mitteltempe¬ 
ratur, sondern die durch die insulare Lage 
bedingte Milderung der Extreme geben 
Ajaccio als Winterstation eine besondere 
Stellung. 

Die absolut höheren Temperaturen und 
die geringeren Schwankungen des Tages¬ 
mittels ergeben für den Kranken zur Frei¬ 
luftkur eine möglichst große Ausnutzung. 

Die gewaltigen Bergmassen, die sich im 
Osten und Norden der Stadt auftürmen, 
verleihen dem Orte einen Windschutz, wie 
er selten zu finden ist. 

Ajaccio ist nur Südwestwinden zugäng¬ 
lich; dieselben bringen jedoch, da sie vom 
Meere kommen, keine Kälte und sind vor 
allem nicht trocken und staubig, sondern 
feucht. 

Die tiefe, ganz nach Süden offene Bucht 
läßt keine nördlichen Strömungen zu, und 
Temperaturstürze im Norden, die an der 
Riviera noch oft recht empfindlich sind, 
kommen hier nicht mehr zur Geltung, da 
die Kältewelle während der Meerfahrt ihre 
Schärfe einbüßt. 

Absolute oder sagen wir lieber relative 
Staubfreiheit, bedingt durch den festen 
Granitboden, ist eine der besten Eigen¬ 
schaften des Kurortes. Dezember, Januar 
und Februar sind wirklich staubfrei, da 
gegen sind die Verhältnisse von Mitte März 
an nicht mehr so günstig. 


Im Winter ist Ajaccio beinahe auto¬ 
mobilfrei. Wer wird bei diesem Gedanken 
nicht einen tiefen Atemzug machen! Diese 
Herrlichkeit dauert leider nur bis Ende 
März. Im April fängt der Passantenver¬ 
kehr an und damit kommen auch die 
Autos, aber sie sind noch zu zählen. 

Die relative Feuchtigkeit ist ziemlich 
groß und schwankt zwischen 70 und 75. 
Sie wird aber durch die höhere Temperatur 
und große Zahl klarer Tage zum Teil 
kompensiert. Sie trägt wesentlich zur 
Gleichmäßigkeit des Klimas bei und gibt 
demselben seinen ausgesprochenen seda¬ 
tiven Charakter. Nebel habe ich nie be¬ 
obachtet, Schneefall während zehn Jahren 
zweimal. Zahl der Regentage im Durch¬ 
schnitt 35 auf die Saison. 

Drei Faktoren sind es also, die Ajaccio 
besonders auszeichnen: Eine auffallende 
Gleichmäßigkeit in der Wärmeverteilung 
der einzelnen Wintermonate, verbunden 
mit minimalen Tagesschwankungen, totaler 
Windschutz gegen Nord und Ost, relative 
Staubfreiheit, hoher Ozon- und Salzgehalt 
der Luft. 

Bei einem Vergleich mit Kurorten an 
der Riviera ergibt sich für Ajaccio eine 
gleichmäßigere und höhere Wärmekonstanz 
der einzelnen Wintermonate, weniger Staub 
und Wind, größere relative Feuchtigkeit. 
Ajaccio kann, was den Charakter des 
Klimas anbetrifft, nur mit Madeira oder 
Teneriffa verglichen werden. An Wärme 
kommt es denselben nicht gleich, dagegen 
hat es den großen Vorteil, nicht erschlaffend 
zu wirken und speziell die Rückkehr im 
Frühjahr nach dem Norden weniger emp¬ 
findlich zu gestalten. 

Die Nähe der Schneeberge und das 
Meer geben der Luft im Winter eine Rein¬ 
heit und Frische, daß man sich im Hoch¬ 
gebirge wähnt 

Sedativ und zugleich tonisierend, dies 
ist hier wirklich der Fall! Dieser Umstand 
sollte in der therapeutischen Würdigung 
von Ajaccio viel mehr Beachtung finden. 
Es darf mit voller Berechtigung gesagt 
werden: Von sämtlichen Stationen im 
Mittelmeer ist Ajaccio nicht nur die nächste, 
sondern auch eine der besten! 

Nach dem Gesagten sind die Indikationen 
für Ajaccio leicht zu stellen. Dieselben 
sollten eine viel größere Breite bekommen, 
als dies bisher der Fall war. 

In früheren Jahren galt Ajaccio speziell 
als Eldorado für Lungenkranke. Dies ist 
längst anders geworden und man sieht 
dort nicht mehr Kranke als anderswo. Es 
sind zudem hauptsächlich Fälle geschlosse- 


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478 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Oktober 


ner Tuberkulose. Die Furcht vor An¬ 
steckung ist also ganz grundlos, die Ge¬ 
fahr ist nicht geößer als anderswo. Immer¬ 
hin scheint es mir, daß Kranke, die fQr 
das Hochgebirge nicht passen, in Ajaccio 
besser überwintern, als an vielen anderen 
Orten. 

Nur sollte man eben keine Fälle von 
progressivem Verlauf mit starken Tempe¬ 
raturdifferenzen an das Meer schicken. 

Besonders da, wo Komplikationen von 
seiten des Kehlkopfs bestanden, waren die 
Resultate günstig. 

Ebenso bei Reizzuständen in den Bron¬ 
chien. Von zirka 100 Patienten, die sich 
im ersten und zweiten Stadium befanden, 
konnte man bei 50 °/ 0 einen günstigen Ein¬ 
fluß während eines Winteraufenthaltes 
nachweisen. 

Dieselben waren unter ständiger Kon¬ 
trolle und lebten genau nach Vorschrift, 
so wie es in Sanatorien üblich ist. Unter 
diesen befinden sich eine Anzahl, die 
mehrere Winter dort zugebracht und 
Dauerresultate erreichten. Bei genauer 
zweckmäßiger Lebensweise ließe sich noch 
vieles erwirken. Hier möchte ich auch 
einige Fälle von Skrofulöse bei erethischer 
Konstitution erwähnen, bei welchen ein 
sehr günstiger Erfolg zu verzeichnen war. 

Zu diesen längst bekannten Indikationen 
zu einem Aufenthalt am Meere sollte man 
aber andere nicht vergessen. 

Ein Klima, das eine solche Gleichmäßig¬ 
keit in der Meteoration zeigt, dürfte für 
alle, die eine Schonung ihrer Schleimhäute 
bedürfen und Grund haben, einen rauhen 
Winter zu meiden, von hohem Werte sein. 

Erkältungskrankheiten, speziell der Bron¬ 
chien, gehören zu den größten Selten¬ 
heiten. 

Ebenso wird das große Heer der Ruhe¬ 
bedürftigen und Rekonvaleszenten dort 
alles finden, was zu einer Erholung not¬ 
wendig. 

Bei vielen Formen von Neurasthenie, 
die sich durch große Reizbarkeit und Er¬ 
regung im Gefäß- und Nervensystem aus¬ 
zeichnen, kommt der beruhigende, seda¬ 
tive Charakter des Klimas ganz auffallend 
zur Geltung. Solche, die im Hochgebirge 
keinen Schlaf finden, sind hier am richtigen 
Ort. 

Und seitdem es erwiesen, daß der 
systolische Blutdruck am Meere nicht er¬ 
höht wird, dürfte speziell Arteriosklerose 
mehr in Betracht kommen. Sowohl der 
beruhigende Einfluß des Klimas, als 
die geringeren Barometerschwankungen 
sprechen dafür. Dazu könnte man noch 


gewisse Formen von nervöser Erregbarkeit 
des Herzens rechnen. 

Nicht geeignet scheinen dagegen ner¬ 
vöse Zustände mit depressivem Charakter. 
Reizmildernd und beruhigend, sowohl auf 
die Schleimhäute, als auf das Nervensystem, 
das ist der Grundzug. 

Und wenn man bedenkt, daß Ajaccio 
außerhalb der großen Verkehrsstraße liegt 
und ein wirklich ruhiger Aufenthalt ist, so 
kann man begreifen, daß es für Ruhe- und 
Erholungsbedürftige ein Eldorado sein muß. 

Wenn auch in gesellschaftlicher Hin¬ 
sicht nicht viel geboten wird, so sorgt die 
herrliche Vegetation und die große Zahl 
heiterer Tage für fröhlichen Sinn. 

Kranke, welche den Winter in Ajaccio 
zubringen wollen, sollten Anfang November 
| kommen; im Oktober beginnt die eigent- 
j liehe Regenperiode, die vieles gut zu 
1 machen hat und eine gründliche Reinigung 
besorgt. 

Die Ueberfahrten geschehen am besten 
von Marseille aus in zwölf oder von Nizza 
aus in acht Stunden. Die Fahrt über 
Livorno-Bastia ist zu umständlich, obwohl 
sie bloß fünf Stunden dauert. 

Die Compagnie Fraissinet, welche den 
Postdienst nach Korsika besorgt, besitzt 
jetzt drei neue, gute und komfortable 
Dampfer, die allen Ansprüchen genügen. 
Nur diese sind zu empfehlen. Sie heißen 
„Corte“, „Golo“ und „Liammone“. 

Was die Unterkunft anbetrifft, so kommt 
in erster Linie das Grand Hotel d’Ajaccio 
ersten Ranges, ein großer Frontbau nach 
Süden, vorzügliche, ganz freie Lage, 100 m 
über dem Meere, mit großartigem Natur¬ 
park von über 2000 qm ^mfang, absolut 
windgeschützt und staubfrei, mit gedeckten 
Liegehallen im Freien. 

Die Verpflegung ist einfach, aber solide. 
Dabei wird für Kranke auf ärztliche Vor¬ 
schrift jede wünschbare Rücksicht ge¬ 
nommen, ohne Extraberechnung. Jede 
Diät kann gegeben werden. Warmwasser¬ 
heizung in sämtlichen Zimmern und Korri¬ 
dors. Der Aufenthalt im Hotel ist gemüt¬ 
lich, die Bedienung durchweg deutsch. 
Kein Toilettenzwang. Der volle Pensions¬ 
preis für Südzimmer — nur solche kommen 
in Betracht — ist 12 bis 18 Frcs. Der 
Arzt wohnt im Hause. 

Dr. Baßenge, der durch seine vielen 
Reisen ein maßgebendes Urteil haben dürfte, 
schreibt wörtlich: „Nach den Erfahrungen 
eines zweimonatlichen Aufenthaltes kann 
ich behaupten, daß ich mich während der 
ganzen Dauer des Aufenthaltes in keinem 
Hotel der Riviera oder einer sonstigen 


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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


479 


Station des Mittelmeers andauernd so wohl | Die „Pension des Etrangers“ liegt in 
befunden habe, wie im Grand Hotel I freundlicher Lage, Pension 6—10 Frcs.; 
d’Ajaccio.“ Dies sollten sich hauptsäch- i ebenso Pension Stalder (Schweizer), ein- 
lich diejenigen merken, welche man — wie fache, aber gut bürgerliche Küche, 
dies leider oft geschieht — vor Ajaccio Die Hotels in der Stadt und am Salario 
warnte. Man merkt die Absicht! sind mehr für Gesunde als für Kranke. 

Von den übrigen Hotels ist als gut ge- Auch zu Privatwohnung ist Gelegen- 
führtes Haus zweiten Ranges das „Hotel heit, aber aus sanitären Gründen sollten 
Suisse“ zu empfehlen. Besitzerin Frau dieselben nicht in der Stadt, sondern nur 
Hohmann, Schweizerin. Pension von 7 bis im eigentlichen Fremden viertel CoursGrand- 
12 Frcs. , val genommen werden. 

Zur Behandlung der Syphilis mit Asurol. 

Von Dr. Eduard Bäumen Berlin. Arzt fQr Hautkrankheiten. 


Meiner ersten vorläufigen Mitteilung 
über die Behandlung der Lues mit dem 
neuen Quecksilberpräparat Asurol 1 ) habe 
ich einige ergänzende Bemerkungen hin¬ 
zuzufügen. 

Ich habe bisher 45 Patienten mit intra¬ 
muskulären Asurolinjektionen behandelt, 
wobei die zweiten Kuren nicht mitgezählt 
sind. Um unnötiges Wiederholen und 
Selbstzitieren zu vermeiden, will ich hier 
an das in meiner ersten Veröffentlichung 
Gesagte unmittelbar anknüpfen. 

Die Wirkung des Asurols auf die sy¬ 
philitischen Symptome ist nach wie vor 
prompt und hat mich bisher noch in keinem 
Falle im Stich gelassen, während doch bei 
löslichen Injektionen von Hydrargyrum 
cyanat und Sublimat nicht selten eine ge¬ 
wisse Resistenz der Symptome gegen das 
Hg. beobachtet wird. 

Die mit den Asurolinjektionen verbun¬ 
denen Schmerzen sind im allgemeinen ge¬ 
ring, geringer jedenfalls als bei den unlös¬ 
lichen Präparaten; und in den meisten 
Fällen ließen sich die Schmerzen durch ein 
protrahiertes warmes Vollbad wesentlich 
reduzieren. Nur sehr empfindliche Patienten, 
zumal Frauen, klagten gelegentlich über er¬ 
heblichere Schmerzen nach der Einspritzung. 

Die Bildung von Knoten und Infiltraten 
habe ich nur ganz vereinzelt beobachtet, 
was ja um so wahrscheinlicher ist, als das 
Asurol kein Eiweiß fällt. 

Die von mir schon (1. c.) beschriebenen 
Allgemeinerscheinungen, wie allgemeine 
Mattigkeit, Benommenheit und Neigung 
zum Schlafen kamen auch weiterhin ver¬ 
einzelt vor, ich schätze die Häufigkeit dieser 
Nebenwirkung auf 5—10 o/o der Fälle. 

Albuminurie habe ich niemals beob¬ 
achtet, gelegentlich aber, wie ja auch bei 
allen anderen Hg-Präparaten, mehr oder 
weniger starke Durchfälle, zumal dann, 
wenn Diätfehler (Genuß von Obst und 
sauren Speisen) begangen worden waren. 

*) Berliner Klinik, H. 264, Juni 1910. 


Stomatitis habe ich bisher in keinem 
Falle gesehen, es muß hier freilich be¬ 
merkt werden, daß die Häufigkeit der 
Stomatitis mercurialis viel weniger von 
dem Merkurpräparat abhängig ist als von 
der sozialen Stellung der Patienten. In der 
Privatklientel, wo eine regelmäßige Mund¬ 
pflege Lebensgewohnheit ist, tritt viel sel¬ 
tener eine Stomatitis auf, als bei den sozial 
ungünstiger gestellten Patienten, zumal da, 
wo auch noch der Kautabak, schlechte 
Zähne, schlechte Ernährung und Verdauung 
das Auftreten der Stomatitis direkt be¬ 
günstigen. 

Was nun die Nachhaltigkeit der Wir¬ 
kung des Asurol betrifft, so hatte ich an¬ 
fangs, als ich 10—12 Injektionen der 
50/oigen Lösung machte, nicht selten bald 
nach der ersten Kur auftretende Rezidive. 
So traten z. B. in einem Falle nach 
10 Asuroleinspritzungen 7 Tage später 
bereits wieder Papeln am After auf, in 
einem anderen Falle nach 14 Injektionen 
der 5o/oigen Lösung nach 4 Wochen wieder 
Papulae ad anum auf. 

Seitdem verwende ich nur noch die 
10%ige Lösung, von der ich bei der ersten 
Injektion 3 Teilstriche der 2 ccm fassenden 
Spritze gebe, dann jedesmal, etwa alle 3 bis 
4 Tage, 5 Teilstriche und im ganzen min¬ 
destens 15 Injektionen. 

Bei diesem Modus leistet das Asurol 
Befriedigendes und auf alle Fälle Besseres 
als die löslichen Injektionen. In ganz 
frischen, unbehandelten Fällen treten die 
ersten Rezidiverscheinungen nach 2 bis 
3 Monaten auf. 

Ich möchte mein Urteil über das Asurol 
nach meinen bisherigen Beobachtungen 
dahin zusammenfassen, daß es seiner thera¬ 
peutischen Dignität nach in der Mitte steht 
zwischen löslichen und unlöslichen Präpa¬ 
raten. Es wirkt zwar prompt auf die Er¬ 
scheinungen, wird aber schneller ausge¬ 
schieden als unlösliche Präparate. Deshalb 
ist das Asurol nicht geeignet, die unlös- 


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480 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Oktober 


liehen Hg-Präparate entbehrlich zu machen, 
ich glaube aber, daß es wegen seiner 
besseren Wirkung die löslichen Präparate 
nach und nach verdrängen dürfte. 


Besonders geeignet scheint es mir auch 
zur Behandlung von Frauen, weil hier un¬ 
lösliche Präparate nur selten in Anwendung 
gebracht werden können. 


Escalin zur ambulanten Behandlung des Magengeschwürs. 

Von Q. Klemperer. 


Es ist eine unbestrittene Forderung, daß 
man Kranke mit Magengeschwüren zu Bett 
legen soll, da vollkommene körperliche Ruhe 
die besten Aussichten der Ausheilung dar-. 
bietet. Ebenso unbestritten ist die Tatsache, 
daß die Durchsetzung dieser Forderung oft 
an äußeren Umständen scheitert und daß 
man in der ärztlichen Praxis oft genug ge¬ 
zwungen ist. Kranken möglichst gut zu 
raten, die ein sicheres Magengeschwür 
haben und sich doch nicht dazu verstehen 
wollen oder können, sich ins Bett zu legen. 
Ich möchte nun freilich glauben, daß der 
Schaden in solchen Fällen nicht allzugroß 
ist; mäßige Bewegung braucht nicht immer 
die Heilung eines Magengeschwürs aufzu 
halten; eine mäßige Beschleunigung der Zir¬ 
kulation, wie sie durch Bewegung unterhalten 
wird, mag sogar zur schnelleren Heilung 
beitragen. Wenn nur der Hauptgrundsatz i 
der Magengeschwürstherapie genügend be¬ 
rücksichtigt wird, daß die Nahrungsauf¬ 
nahme jedesmal nur in kleinsten Mengen 
stattfindet und daß die Nahrung so fein 
präpariert und namentlich im Munde so fein 
zerkaut und durchspeichelt wird, daß sie als 
ein wasserähnlicher Brei mit staubfeinen 
Partikelchen im Magen ankommt. Selbst¬ 
verständlich, daß jede grobe Speise ver¬ 
boten ist, daß am besten nur breiige 
Nahrung in feinster Zubereitung gegeben 
wird und daß auch die Milch nur in ganz 
kleinen Schlucken genommen werden darf. 
Wird nun noch die übermäßige Säure¬ 
menge im Magen durch kleine Gaben 
Natron bicarbonicum abgesättigt, so wird 
man — bei im allgemeinen ruhigen und 
hygienischen Verhalten — den Magenge¬ 
schwürkranken auch ohne Bettruhe Heilung 
in Aussicht stellen dürfen. Man wird sich 
dieser Hoffnung noch sicherer hingeben, 
wenn man den natürlichen Vorgang der 
Geschwürsheilung durch künstliche. Schorf¬ 
bildung unterstützt. In dieser Absicht 
wurden insbesondere von Kußmaul die 
großen Wismutgaben, in Emulsionen von 
15—25 g auf nüchternen Magen gegeben. 


Ich selbst habe vor 3 Jahren unter dem 
Eindruck von schweren Wismutvergiftun- 
gen als Ersatzmittel das feinpulverisierte 
Aluminium in Form einer Glyzerinpaste 
unter dem Namen Escalin in die Therapie 
eingeftlhrt (vergl. diese Zeitschr. 1907, 
Nr. 5). Ursprünglich galt meine Empfehl¬ 
ung nur der Magenblutung; ich habe seither 
über hundert Fälle frischer Blutung bei 
Magengeschwür nach der ursprünglich an¬ 
gegebenen Methode behandelt und noch 
keinen Fall verloren; dieTodesfälle erwiesen 
sich bei der Obduktion sämtlich als‘anderen 
Ursprungs (Carcinom und Leberzirrhose). 
Ich halte auch heute noch das Escalin für 
das zur Zeit beste Mittel zur Stillung von 
Magenblutungen. Allmählich aber bin 
ich dazu übergegangen, besonders in 
der Privatpraxis, das Escalin in jedem 
Fall von Magengeschwür zu verordnen, bei 
welchem ich die Leube-Ziemssensche 
Ruhekur nicht durchsetzen konnte. Die 
Diagnose stelle ich im Fall von Magen¬ 
schmerzen, wenn sich Blut im Stuhl 
nach fleischfreier Diät nachweisen ließ 
Ich verordne dann auf nüchternen Magen 
vier Escalinpastillen in einem halben Glas 
Wasser aufs feinste aufgeschlämmt zu 
nehmen, und lasse die Prozedur an vier 
aufeinander folgenden Tagen wiederholen. 
Dazu gebe ich natürlich die Verordnung 
möglichst ruhigen verständigen Lebens und 
die oben erwähnten diätetischen Verord¬ 
nungen. Ich verfüge jetzt über Notizen von 
52 Fällen von Magengeschwür, in denen 
Bettruhe nicht eingehalten wurde und trotz¬ 
dem nach Escalingebrauch und breiiger, 
bezw. Milchdiät vollkommenes Schwinden 
aller subjektiven Beschwerden, sowie des 
okkulten Blutes aus dem Stuhl in 2—4 
Wochen erzielt worden ist. Ich möchte doch 
glauben, daß das Escalin an diesen guten 
Resultaten nicht unbeteiligt ist und möchte 
dies Medikament auch in Zukunft als 
gutes Unterstützungsmittel der ambu¬ 
lanten Behandlung des Magengeschwürs 
betrachten. 


INHALT: Umber, Duodenalgeschwür S. 433. — Baginsky, Allgemeine Therapie der 
Infektionskrankheiten der Kinder S. 435. — Weiß. Asthma S. 443. — Jacobsohn, Adrenalin 
S. 446. — Balzer, Ajaccio S. 476. — Bäumer, Asurol S. 479. — G. Klemperer, Escalin S. 480. — 
Therapeutisches von der 82. Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte S. 456. 


Für die Rodaktion verant wörtlich Prof. Dr. G. Klemperer in Berlin. - Verlag von Urban&Sch warzenberg inWien u. Berlin. 
Di uck von Julius b i 11 e n fc I <1. Hofbuchdrurker., in Berlin \Y. S. 


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Die Therapie der Gegenwart 

jg|Q herausgegeben von Prof. Dp. Q. Klemperer November 

In Berlin. 


Nachdruck verboten. 


Ernst von Leyden f. 

Am 5 . Oktober ist Se. Exzellenz der Wirkl. Geheime Rat Prof. Dr. 
Ernst von Leyden, 1876 bis 1907 Direktor der Berliner I. medizinischen 
Klinik, im 79 . Lebensjahr nach langem Siechtum sanft entschlafen. 

Im Aprilheft des Jahres 1902 , zur Feier von Leydens 70 . Geburtstag, 
haben wir eine Ueberschau seines wissenschaftlichen Werkes gegeben, der 
wir heut nichts hinzufügen können. 

Was damals in begreiflicher Scheu vor lauter Huldigung zurückgehalten 
wurde, sei heut als immergrüner Kranz dem verewigten Meister aufs frische 
Grab gelegt. 

Er war ein Arzt von Gottes Gnaden, scharfsinnig, wissensreich und 
geschickt, guten Herzens und milden Wesens, durchglüht von Menschenliebe 
und Schaffensdrang; er übersah viel Schicksal, hatte die Seelen erforscht 
und leiten gelernt und hatte ein feines Maß in der Wertung der Dinge wie 
der Menschen; er war liebenswert auch in den kleinen Schwächen, die er 
lächelnd eingestand und die niemals verletzten. 

Er war ein klinischer Lehrer, der die Ausbildung der jungen Aerzte 
als eine große und heilige Aufgabe betrachtete; er ehrte die Wissenschaft 
als Grundlage der Heilkunst, aber die Ueberlieferung wissenschaftlicher 
Kenntnisse war ihm nicht Endzweck der ärztlichen Erziehung, sondern nur 
ein Mittel zur Befestigung und Vertiefung des ärztlichen Könnens, des 
Helfens und Dienens am Krankenbett. Am fruchtbarsten wirkte seine Lehre 
im engeren Kreise seiner Assistenten, denen Leyden ein väterlicher Freund, 
Berater und Helfer war; sie werden sein Andenken heilig halten und in 
ihren Schülern fortpflanzen. 

Der Herausgeber dieser Zeitschrift hat 10 Jahre lang als Assistent 
an Leydens Klinik gewirkt und bleibt sein Leben lang dem verblichenen 
Meister zu unaussprechlichem Dank verpflichtet; nicht zum wenigsten auch 
dafür, daß er diese Zeitschrift als eine Emanation seiner Schule betrachtet 
und mit tätiger Teilnahme geehrt hat. 

Leydens Schwanengesang ist die säkulare Ueberschau im vorigen 
Jahrgang dieser Zeitschrift, in welcher er die Therapie als „eine enge 
Verbindung von Wissenschaft, Kunst und Menschenliebe“ bezeichnet. 
Mögen die deutschen Aerzte diese Worte als Leydens Vermächtnis be¬ 
trachten! In ihrem Geiste soll unsere Zeitschrift auch in Zukunft dem 
Fortschritt der Therapie dienen, deren Förderung Leydens reiches Leben 
vor allem geweiht war. 


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482 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


November 


Einige Bemerkungen über Digitalis. 


Aus einer klinischen Vorlesung von 

„Kaum ein Arzneimittel wird öfters von 
den Aerzten angewandt als die Digitalis 
bei Herzkranken. Dennoch glaube ich, 
daß nicht jeder Arzt, der dies Mittel an¬ 
wendet, sich der Verantwortlichkeit bewußt 
ist, die die Verordnung desselben ihm auf¬ 
erlegt. Vielleicht sind deswegen einige 
Bemerkungen, die ich aus vieljähriger Er¬ 
fahrung schöpfe, nicht ganz unnütz. Für 
manche Aerzte, namentlich die jüngeren, ist 
die Verschreibung eines Digitalisinfus eine 
Art Reflexaktion. Einen dyspnoischen 
Herzkranken sehen und Digitalis verordnen 
ist so häufig eins. Stets warne ich meine 
Schüler vor solcher Eile. Digitalis gehört 
zu den Mitteln, an deren Wirkung 
sehr leicht und schnell eine Gewöhnung 
eintritt; je öfter es angewendet wird, desto 
eher versagt es. Bekanntlich werden aber 
die Kompensationsstörungen um so ernst¬ 
hafter und um so schwerer zu behandeln, 
je öfter sie wiederkehren. Wer schon bei 
den ersten Attacken Digitalis gibt, wird in 
spätem Anfällen von Dyspnoe die volle 
Wirkung schmerzlich missen; er hat eben 
sein Pulver zu früh verschossen. Deswegen 
rate ich meinen Schülern, wenn sie eben 
die Feder angesetzt haben, um Digitalis zu 
verschreiben, doch noch einmal innezu¬ 
halten und diese Medikation mindestens 
24 Stunden aufzuschieben. Kommt es aus 
äußern Gründen auf ein Medikament an, 
so verordne man etwas Indifferentes oder 
doch Schwachwirkendes wie Valeriana 
oder Konvallaria. Aber besser ist es viel¬ 
leicht auf das Arzneimittel ganz zu ver- 

Anmerkung des Herausgebers: Die vor¬ 
stehenden Bemerkungen entstammen einer klinischen 
Vorlesung Leydens aus dem Jahre 1899; sie sollten 
nach Leydens Willen im Zusammenhang mit weiteren 
Ausführungen über Behandlung von Herzkrankheiten 
in dieser Zeitschrift publiziert werden; die Veröffent¬ 
lichung unterblieb unter dem Einfluß der bekannten 
Kuß mau Ischen Publikation im Januarheft 1900 
über chronische Digitaliskuren, welche Leyden in 
großem Umfange nachzuprüfen beabsichtigte. Aus 
äußern Gründen kam dann die Ergänzung bezw. 
Fortführung des Vortrags ins Stocken. In diesen 
Tagen steten Gedenkens veröffentliche ich die seit 
11 Jahren verwahrten Bemerkungen, weil sie die 
Art von Leydens ganz aufs Praktisch-Aerztliche 
gerichteten Unterweisungen in der Klinik treffend 
illustrieren. Der unabgeschlossene Charakter der Be¬ 
merkungen erklärt sich aus der Entstehungsart. 
Leyden liebte es nicht, wie z. B. Frerichs, in der 
Klinik den jeweilig vorgetragenen Gegenstand in 
einem Zuge erschöpfend zu behandeln; sondern er 
fügte dem Bilde das eine Mal diesen, das andere Mal 
jenen Zug hinzu. Die Klinik gewann dadurch an 
Abwechslung und Interesse, und am Schluß des 
Semesters hatte der Student meist doch alles Wesent¬ 
liche erfahren. 


weiland Prof. Ernst von Leyden. 

zichten und erst einmal auszuprobieren, 
wie die Ruhe auf das erschöpfte Herz 
wirkt. Der junge Arzt, der im Hospital 
die Isolierung und Ruhe des Patienten als 
etwas Selbstverständliches ansieht, vergißt 
oft, wie wesentlich diese Faktoren für viele 
Krankheiten, insbesondere des Herzens 
sind und wie oft es in der Privatpraxis die 
größten Schwierigkeiten hat, den Patienten 
in vollkommene Ruhe zu versetzen. Ein 
zweiter gerade bei Herzkranken oft nicht 
genügend geschätzter Faktor ist die Beein¬ 
flussung auch des erkrankten Herzens auf 
dem Wege des Nervensystems. Daß Rei¬ 
zungen des Vagus und des Sympathikus 
die Schlagfolge des Herzens verlangsamen 
bezw. beschleunigen, ist altbekannt. Daß 
aber auch Reizungen peripherischer Nerven 
wie des Laryngeus und Ischiadikus die 
Herzaktion deutlich beeinflussen, ist jüngst 
durch Arbeiten aus dem Laboratorium von 
v. Basch gezeigt worden. Es bietet dem 
Verständnis also keine Schwierigkeit, wenn 
wir sehen, daß von der Vorstellung Ein¬ 
wirkungen auf das überarbeitete Herz aus¬ 
geübt werden, sodaß die Tätigkeit des¬ 
selben verlangsamt und vertieft wird. Ich 
halte es nicht für eine Redensart, wenn 
ein Herzkranker sagt, daß der bloße An¬ 
blick des Arztes sein Herz stärke; ich 
glaube vielmehr bestimmt, daß Haltung und 
Ansprache des Arztes einen außerordent¬ 
lichen Einfluß auf die Herzarbeit ausüben. 
Unruhe und Unsicherheit des Arztes 
schädigt den Herzkranken direkt, Zuspruch 
und Ermutigung regen die Herztätigkeit 
günstig an. Und wenn ich vorher geraten 
habe, vorerst auf Digitalis zu verzichten, so 
meine ich, der Arzt müsse zuerst die psy¬ 
chischen Mittel des Trostes und der Be¬ 
ruhigung an wenden und auch die Umgebung 
des Kranken mit solchem Mute versehen, 
daß dieselbe auch in Abwesenheit des 
Arztes dem Patienten zu gute kommt. Oft 
genug gelingt es unter solchem Traitement 
moral leichterer Herzattacken ganz Herr 
zu werden. Verfehlt aber solche psy¬ 
chische Behandlung ihren Zweck, so hat 
man nach 24 Stunden oder noch später 
immer noch Zeit, Digitalis zu geben. 

Der psychischen Einwirkung an die 
Seite stellen möchte ich direkte Nerven¬ 
reize, wie wir sie durch heiße Hand- und 
Fußbäder, durch Frottieren der Extremi¬ 
täten, durch Senfteige ausüben. Auch diese 
sollen versucht werden, ehe das differente 
Medikament an die Reihe kommt. 


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November 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


483 


Wenn ich also der Meinung bin, man 
soll Digitalis nicht ohne zwingende Nöti- | 
gung und vor allem nicht zu früh geben, J 
so möchte ich noch einige andere Kontra- { 
Indikationen nennen. Mit meinem Lehrer 
Traube halte ich es für ausgemacht, daß 
Digitalis nur auf den linken Ventrikel 
•einwirkt; neuerdings hat Openchowski 
durch eine bemerkenswerte Hypothese 
diese wunderbare Tatsache zu erklären ge- j 
sucht Er meint, daß Digitalis eine Kon¬ 
traktion der rechten Koronararterie ver- | 
Ursache, sodaß eine verringerte Blutmenge j 
und also auch nur ein geringer Teil des j 
Medikaments in die Muskulatur des rechten 1 
Ventrikels gelangte. Diese Hypothese kann j 
natürlich bestritten werden; aber daß der 
rechte Ventrikel weniger von Digitalis be¬ 
einflußt wird als der linke geht aus vielen 
klinischen Beobachtungen hervor. Bei vor¬ 
wiegender Schwäche der rechten Herz¬ 
kammer wirkt Digitalis eher schädlich als 
nützlich; es kann dadurch die Dyspnoe be¬ 
trächtlich vermehrt werden. Ich halte es 
also für kontraindiziert ja für verkehrt, bei j 
Mitralstenosen dies Mittel zu geben; ebenso i 
empfiehlt es sich nicht bei Emphysem, beiKy- i 
phoskoliotischen. Wenn es in diesen Kate- | 
gorien doch einmal wirkt, so erklärt sich das 
aus der sekundär vorhandenen Schwäche des 
linken Ventrikels, welcher dann zum Angriffs¬ 
punkt wird. Es scheint weiter sicher, daß 
Digitalis nur auf die Muskulatur des Herzens 
wirkt; die Wirkung wird also ausbleiben, 
wenn ein großer Teil des Muskels entartet 
ist Bei chronischer Myokarditis versagt j 
Digitalis nicht selten. Auch bei Klappen- ! 
fehlem ist die Wirkungslosigkeit oft da- j 
durch zu erklären, daß zugleich mit dem ( 
•endokarditischen Prozeß mehrfache isolierte , 
myokarditische Herde sich etabliert haben, i 

Schließlich halte ich die Digitaliswirkung 
für unsicher und zweifelhaft beim Fieber. 
Traube pflegte Fiebernden gern Digitalis 
zu geben; er wandte auch schon die neuer¬ 
dings wieder aufgenommenen besonders ho¬ 
hen Dosen an. Ich habe mich von der Wirk¬ 
samkeit weder kleiner noch großer Gaben 
im Fieber überzeugen können; große Dosen 
scheinen mir nicht ungefährlich zu sein. 
Mit Vorliebe wende ich zur Kräftigung des 
Herzens Tinctura Strophanti an, von wel¬ 
cher ich täglich 2 mal 5—8 Tropfen gebe. 

In welcher Dose sollen wir Digitalis 
geben? Gewöhnlich wird von einem Infus von 


1:200 zweistündlich 1 Eßlöffel dargereicht. 
Eine solche Dose wird gewiß oft keinen 
Schaden stiften. Ich möchte aber sagen, 
daß ich, je älter ich werde, desto kleinere 
Dosen anwende. Es scheint mir doch nicht 
genug beachtet zu werden, daß das ge- 
schwächtete und überarbeitete Herz gegen 
dies Mittel überempfindlich wird und daß 
schon kleine Dosen anstatt der verlang¬ 
samenden Wirkung eine Beschleunigung 
des Herzschlages herbeiführen können. 
Deshalb beginne ich bei hochgradiger Er¬ 
schöpfung mit Infusen von 0,5 ja 0 2 g und 
gehe dann langsam in die Höhe. 

Daß Digitalis kumulierende Wirkung hat, 
ist allgemein bekannt. Jeder weiß, daß 
man nach dem dritten Gramm am besten 
für mehrere Wochen pausiert. Uebrigens 
rate ich auch schon vor dem dritten Gramm 
stets dann auszusetzen, wenn voller und 
langsamer Puls mit starker Diurese die er¬ 
freuliche Wirkung anzeigt. Erst wenn diese 
Wirkung nachläßt, soll man von neuem mit 
der Darreichung beginnen. 

Acetum und Tinctura Digitalis sind sehr 
unsichere Arzneiformen. Auch zu der Dar¬ 
reichung in Pillenform habe ich gar kein 
Vertrauen; es scheint sehr unsicher, ob im 
Darm aus den Pillen eine genügende Re¬ 
sorption stattfindet. Die im Handel vor¬ 
kommenden Blätter der Digitalis haben ver¬ 
schieden starke Wirkung. Das rührt wohl 
zum Teil vom Heimatsort, zum Teil vom 
Zeitpunkt des Sammelns her. Durch langes 
Lagern verschwindet ein Teil der wirk¬ 
samen Substanz. In der Charite haben 
wir viel gute Wirkungen, weil der Ver¬ 
brauch von Folia Digitalis ein enormer und 
deshalb stets frische Zufuhr vorhanden ist. 
Zeigt sich Digitalis unwirksam, das aus 
einer kleinen Apotheke bezogen ist, so 
versuche man erst noch einmal dasselbe 
Medikament aus einer großen Offizin zu 
beziehen. 

Es mögen diese wenigen Bemerkungen 
zeigen, daß es sich mit der Digitalis ver¬ 
hält wie mit vielen anderen Dingen in der 
Medizin: so leicht die Anwendung auf den 
ersten Blick erscheint, so kompliziert er¬ 
scheint sie bei näherem Eingehen auf ihre 
besonderen Eigenschaften. Gerade in der 
verständigen und besonnenen Anwendung 
der Digitalis kann der Arzt zum Nutzen 
des Kranken das Maß seiner Kritik und 
seine Erfahrung beweisen.“ 


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484 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


November 


Die Prognose der Basedowschen Krankheit. 

Von Prof. Dr. L* Syllaba-Prag. 


Die Prognose der Basedowschen 
Krankheit ist eine der aktuellsten Fragen 
der klinischen Medizin. Von der Prognosen¬ 
stellung hflngt in Zukunft die Richtung ab, 
in der sich die Therapie bewegen soll und 
muß. Sowie auf anderen Gebieten, be¬ 
haupten auch hier die Chirurgen, daß sie 
durch einen operativen Eingriff helfen 
können, und so wie anderswo, wollen auch 
hier die Vertreter der internen Medizin — 
wenigstens einige von ihnen — der chi¬ 
rurgischen Behandlung einen Vorzug vor 
der internen Behandlung nicht zugestehen. 
Und doch gibt es nur eine Medizin mit 
einem einheitlichen Ziel: zu helfen, zu 
heilen. Dieses Ziel schwebt in ganz glei¬ 
cher Weise den Internisten wie den Chi¬ 
rurgen vor. Wenn auch momentan die 
Ansichten auseinandergehen, muß doch 
später einmal das gemeinsame Ziel Chi¬ 
rurgen und Internisten wenigstens prinzi¬ 
piell zu einem gemeinsamen Standpunkt 
führen. Bevor aber dieses Ziel erreicht 
ist, bleibt nichts anderes übrig, als daß 
beide Lager die Berechtigung ihres gegen¬ 
wärtigen Standpunktes prüfen, daß sie in 
gerechter Weise die Kraft ihrer Beweise 
messen und ehrlich deren Schwächen auf¬ 
suchen. 

Eines jener Mittel, die eine solche Re¬ 
vision des Standpunktes herbeiführen kön¬ 
nen und müssen, ist eben die Frage der 
Prognose. Der Chirurg muß seine ope¬ 
rierten Fälle jahrelang beobachten und der 
Internist darf keinen einzigen Patienten aus 
den Augen verlieren, bei dem er einmal 
mit der internen Behandlung ohne Ope¬ 
ration begonnen hat. Wir müssen zu¬ 
geben, daß die Chirurgen diesen Weg be¬ 
reits betreten und ihn den Internisten ge¬ 
wiesen haben. 

Damit soll aber keineswegs gesagt sein, 
daß die interne Medizin nicht über eine 
genügend große Anzahl von Arbeiten ver¬ 
fügt, die sich mit der Prognose der Base¬ 
dowschen Krankheit befassen. Busch an 
allein hat im Jahre 1894 aus der Literatur 
900 Fälle gesammelt, auf Grund deren er 
die Mortalitätsziffer berechnete. Aber schon 
in den 60er Jahren waren es Charcot, 
v. Dusch und später Cheadle, Belling- 
ham, Gaill 1 ), H. Mackenzie 2 ), Wil- 


*) Alle zitiert nach Möbius, Die Basedowsche 
Krankheit. Wien 1906, S. 72. 

3 ) a) Clinical lecture on Graves disease. Lancet 
1890, II, S 545 u. 601. — b) A lecture on Graves 
disease. Brit. med. Journ. 1905, II, S. 107 7. 


liamson 1 ), Thompson 2 ), die unter Zu¬ 
grundelegung einer größeren oder kleineren 
Reihe von Fällen zu Zahlen gelangten, 
welche die Mortalität der Basedowschen 
Krankheit resp. die Heilung nach derselben 
in Prozenten angaben. Aber diese Stati¬ 
stiken genügen nicht. Sie haben zwei 
Kardinalfehler. Busch an selbst bemerkt 
ganz richtig, daß der ganze Komplex der 
in der Literatur vorhandenen Fälle hin¬ 
sichtlich der Prognose kein genaues Bild 
ergibt; denn die leichteren Fälle werden 
gewöhnlich nicht publiziert und wurden in 
früheren Zeiten überdies nicht immer 
richtig diagnostiziert. Ein zweiter Fehler 
ist meiner Ansicht nach der, daß die in 
den zitierten Statistiken angeführten Pa¬ 
tienten nicht immer genügend lange beob¬ 
achtet worden sind. Ein Jahr oder zwei 
Jahre genügen nicht. Kommen doch nach 
Möbius 3 ) in der Regel Rezidiven und 
zwar manchmal erst nach vielen Jahren vor. 

Es ist nun Tatsache, daß manche Inter¬ 
nisten , die über eine lange Krankenhaus¬ 
und Privatpraxis verfügen, zahlreiche aus¬ 
schließlich intern behandelte Fälle kennen 
und deren Schicksal eventuell viele Jahre 
lang verfolgt haben. Es steht weiter fest, 
daß diese Erfahrung, auf die sich der In¬ 
ternist stützt, der der operativen Therapie 
einen Vorzug oder gar die Exklusivität 
nicht einräumen will, von den Chirurgen 
nicht gering geschätzt werden darf. 

Andererseits steht es nicht weniger fest* 
daß das, was der Internist bis jetzt nur 
zufällig und nur bei einigen Fällen ge¬ 
tan hat, beim Chirurgen bezüglich eines, 
jeden operierten Falles zur Regel gehört. 
Th. Kocher (A. Kocher), Mayo, Riedei 
(Schultze), John Berg (Landström), Krön¬ 
lein (Briner, B. Witmer), Kümmell (Schulz 
und Friedheim), Mikulicz (Reinbach) und 
Andere 4 ) inaugurierten Arbeiten, in denen 
über die weiteren Schicksale aller von 
ihnen operierten Fälle berichtet wird. Man 
mag über den Wert der operativen Be« 
handlung der Basedowschen Krankheit 
wie immer denken, es ist jedenfalls ein 
Verdienst, wenn man eine längere Reihe 
von Jahren über den Zustand des Pa« 
tienten genau orientiert bleibt; für eine an- 

l ) Remarks on prognosis in exophtbalmic goitre^ 
i Brit. med. Journ. 1906, II, S. 1373. 

tJ ) Zitiert nach Landström, Ueber Morbus Base¬ 
dow». Stockholm 1907, S. 149. 

*> L. c. S. 72 

4 ) Zitiert nach Möbius S. 97 und nach Land.- 
ström S. 75 und 76. 


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November 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


485 


sehnliche Reihe von operierten Fällen trifft 
dies bereits auch zu. Die Chirurgen haben 
es sich zur ausnahmslosen Regel gemacht, 
jeden operierten Patienten mindestens 
ein Jahr lang im Auge zu behalten. 
Zwar wird manchmal bei dieser Ober eine 
längere Zeit ausgedehnten Kontrolle der 
Kranken die Freude des Operateurs ge¬ 
trübt, wenn ein Rezidiv konstatiert wird, 
das nach einigen Monaten, ja sogar auch 
noch nach mehreren Jahren post opera- 
tionem auftreten kann; aber daß diese Kon¬ 
trolle schließlich doch zur Lösung der Frage 
wesentlich beitragen kann, ist über eden 
Zweifel erhaben. 

Zu einer Zeit, wo der Chirurg das wei¬ 
tere Schicksal eines jeden einzelnen Falles 
genau bucht, genügt es nicht, daß sich der 
Internist auf den allgemeinen Eindruck, 
den seine Praxis auf ihn macht, oder auf 
eine mehr oder minder lange Reihe von 
eventuell längere Zeit beobachteten Fällen 
oder auf die Statistiken verlasse, deren 
Unvollständigkeit in die Augen springt. 
Auch er muß jeden einzelnen Patienten, 
der ihm in seiner Praxis begegnet, mag 
derselbe schwer oder leicht sein, genau 
verfolgen, auch wenn derselbe wieder ge¬ 
sund wird, und zwar muß sich die Beob¬ 
achtung auf mehrere Jahre erstrecken. 
Dies muß die Aufgabe eines jeden Inter¬ 
nisten sein, mag derselbe auf der Klinik 
oder in der Stadtpraxis wirken. 

Als Resultat meiner Beobachtungen er¬ 
stattete ich im Jahre 1908 auf dem IV. Kon¬ 
gresse der böhmischen Naturforscher und 
Aerzte ein Referat über das weitere Schick¬ 
sal von 50 Fällen der Basedowschen 
Krankheit. Dieses Material stammte: 

1. aus meiner eigenen Privatpraxis in 
den Jahren 1896—1907; 

2. aus meiner neunjährigen Tätigkeit an 
der unter der Leitung Prof. Thomayers 
steheqden böhmischen Universitätspoliklinik 
während der Zeit von 1895 bis 1903; 

3. aus dem ersten Quinquennium der 
Tätigkeit Prof. Thomayers an der II. böh¬ 
mischen internen Klinik in den Jahren 
1903—1907; 

4. aus der Klientel des Kollegen Pel- 
näf in den Jahren 1903—1907. 

Selbstverständlich habe ich unter diese 
50 Kranken nur solche Fälle eingereiht, bei 
denen die Krankheit mit aller Sicherheit 
diagnostiziert wurde, mag nun das Leiden 
im Sinne von Möbius primär oder sekundär 
aufgetreten sein, d. h. mag es bei Leuten 
entstanden sein, die niemals vorher eine 
Struma hatten, oder mag es zu einer alten, 
eventuell jahrelang bestehenden Struma 


hinzugetreten sein. Die Zahl der sekun¬ 
dären Fälle der Basedowschen Krankheit 
bildet nur einen kleinen Bruchteil der Ge¬ 
samtzahl. 

Ueber das weitere Schicksal der meiner 
Klientel entstammenden Fälle war und bin 
ich bis auf wenige Ausnahmen fast dauernd 
orientiert. Entweder hatte ich selbst die 
Behandlung des Kranken bis zu seinem 
Tode inne oder ich stand mit dem Arzte, 
der den Kranken bis zu dessen Tode be¬ 
handelte, in dauerndem Kontakt, oder ich 
bekomme die Patienten, auch wenn es ihnen 
besser geht oder wenn sie frei von Sym¬ 
ptomen der BasedowschenKrankheit sind, 
von Zeit zu Zeit zu Gesicht. Dasselbe gilt 
vom Kollegen Pelnäf. Ueber das Schick¬ 
sal der klinischen und poliklinischen Pa¬ 
tienten mußte ich natürlich erst ad hoc 
Nachforschungen anstellen. Wer sich je¬ 
mals einer solchen Arbeit unterzogen hat, 
der weiß, wie groß oft die Schwierigkeiten 
und Hindernisse sind, mit denen man zu 
kämpfen hat. Auch bei einigen wenigen 
meiner eigenen Patienten mußte ich nach¬ 
trägliche Forschungen anstellen, da mir ihr 
gegenwärtiger Zustand nicht genau be¬ 
kannt war. Selbstverständlich habe ich 
mich in keinem von diesen ad hoc kon¬ 
trollierten Fällen mit den Angaben der 
Kranken allein begnügt. Ueberall wurde 
eine genaue ärztliche Untersuchung vor¬ 
genommen und zwar entweder von mir 
selbst, oder von praktischen Kollegen, 
denen ich zu diesem Zwecke präzis for¬ 
mulierte Fragebogen zugeschickt habe. In 
einem Falle wurde mir die Information 
durch Herrn Prof. Jaksch, der mir in 
liebenswürdiger Weise die Krankheits¬ 
geschichte überließ, zuteil, in einem an¬ 
deren Falle verdanke ich das Sektions¬ 
protokoll der Freundlichkeit des Herrn 
Prof. Slavfk. Einen von den zur Zeit des 
Kongresses vorhanden gewesenen 50Fällen, 
nämlich jenen, von dem ich trotz eifrigster 
Nachforschungen nur einen ungenügenden 
Bericht erhalten konnte und von dem ich 
nur soviel weiß, daß er lebt, aber nicht, 
in welchem Zustande, habe ich hier aus¬ 
gelassen. Von jenen Fällen, die mir seit 
der zweiten Hälfte 1907 neu zugewachsen 
sind, habe ich 2 Fälle, die ich zum ersten¬ 
mal vor 3 resp. 2*/s Jahren gesehen habe, 
in diesen Bericht aufgenommen, so daß ich 
heute über 51 Fälle verfüge. 

Von großer Bedeutung ist nunmehr die 
Frage, welcher Fall als geheilt und welcher 
als gebessert anzusehen ist. Nach Möbius 1 ) 
ist eine wi rkliche Restitutio in integrum 

l ) Loc. cit. S. 72. 


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486 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


November 


nicht wahrscheinlich. Manche Autoren be¬ 
richten, daß ihre Patienten nicht bloß die 
krankhaften Symptome verloren haben, 
sondern auch lange Zeit gesund geblieben 
sind. Chvostek, Cheadle, Mackenzie, 
Rüssel und Andere sahen Heilungen, die 
10 resp. 20 Jahre anhielten; in solchen 
Fällen könne man im Sinne der Praxis 
wohl von einer Heilung sprechen, wenn 
auch hie und da leichtere Störungen noch 
auftreten sollten. Aber derartige Fälle 
sollen sehr selten sein; was man gewöhn¬ 
lich als Heilung bezeichne, sei eigentlich 
nur eine Besserung, die etwa mit Wieder¬ 
erlangung der Erwerbsfähigkeit gleich¬ 
bedeutend sei. Häufig blieben ein leichter 
Exophthalmus, nachweisbare Veränderun¬ 
gen der Schilddrüse, eine dauernde 
Schwäche des ganzen Körpers und Schwan¬ 
kungen des Körpergewichts zurück; ein 
geringfügiger Reiz rufe Pulsbeschleunigung 
und Gliederzittern hervor; die Patienten 
würden leicht müde und matt. Nach der 
Ansicht des Chirurgen Landström 1 ) ist 
weder der zurückgebliebene Exophthalmus, 
noch die Herzhypertrophie ein Hindernis 
dafür, den Fall, wenn er sonst keine Base- 
dowsymptome aufweist, für geheilt zu er¬ 
klären. Nach seiner Ansicht ist der Pa¬ 
tient gesund, wenn der Puls langsamer ge¬ 
worden ist, wenn die Störungen der Er¬ 
nährung und der Sekretion, das Glieder¬ 
zittern und die allgemeine Nervosität ver¬ 
schwunden sind und der Patient arbeits¬ 
fähig geworden ist. 

Bei der Klassifikation meiner Patienten 
wandte ich einen Maßstab an, der ungefähr 
in der Mitte zwischen, dem Maßstab des 
Internisten (Möbius) und jenem des Chi¬ 
rurgen (Landström) liegt. 

Ich bezeichne einen Fall als gesund, 
wenn 

1. die Tachykardie aufgehört hat, der 
Puls sich im Zustande der Ruhe in nor¬ 
malen Grenzen hält und höchstens 80 beträgt 
und Herzklopfen nur unter entsprechenden 
Umständen auftritt; 

2. der Exophthalmus verschwunden oder 
soweit zurückgegangen ist, daß er dem 
Gesichte keinen pathologischen Ausdruck 
(Landström) verleiht und der Umgebung 
nicht auffallend erscheint; 

3. die Struma verschwunden oder be¬ 
deutend kleiner geworden ist, und die Pul¬ 
sationen und Gefäßgeräusche derselben 
aufgehört haben; 

4. das Gliederzittern aufgehört hat; 

5. das Körpergewicht bedeutend ge¬ 
stiegen ist; 

*) Loc. cit. S. 5. 


6. die nervösen und sekretorischen Stö¬ 
rungen verschwunden sind; 

7. der Kranke weder aufseine Umgebung, 
noch auf seinen Arzt den Eindruck eines 
kranken Menschen macht; 

8. der Kranke sich subjektiv gesund 
fühlt und 

9. zur Arbeit ebenso fähig ist wie vor 
der Erkrankung. 

Bei den Fällen von sog. sekundärer 
Basedowscher Krankheit, d. h. dort, wo 
sich die Symptome des Basedow bei 
einer alten, schon jahrelang bestehenden 
Struma entwickelt haben, spreche ich be¬ 
greiflicherweise auch dann von einer Hei¬ 
lung, wenn die Struma fortdauert, wenn 
nur die übrigen Bedingungen erfüllt er¬ 
scheinen. 

Als gebessert bezeichne ich einen Fall, 
in welchem die Tachykardie nachgelassen 
und die Ernährung sich gehoben hat, wo 
sich überhaupt alle Symptome augen¬ 
scheinlich gebessert haben oder gänzlich 
verschwunden sind, der Kranke auf seine 
Umgebung und den Arzt einen besseren 
Eindruck macht, sich selbst besser oder 
ganz gesund fühlt und arbeitsfähiger ist als 
früher. 

Als unverändert bezeichne ich unter an¬ 
derem auch jene Fälle, in denen die Sym¬ 
ptome des Basedow trotz zeitweiliger 
Besserung immer wiederkehren, also die 
rezidivierenden Fälle, mag auch momentan 
gerade eine Besserung zu konstatieren sein. 

Bei der Anlegung dieses Maßstabes 
ging ich sehr streng vor, indem ich in 
jedem einzelnen Falle alle oben angeführten 
Momente genau erwog. 

Gestorben sind bis jetzt von 51 Fällen 
14; von diesen stammen 3 Fälle aus der 
Klinik, 6 aus der Poliklinik, 2 aus der 
Praxis Pelnäfs und 3 aus meiner eigenen 
Praxis. Der Tod trat ein: 6 mal unter dem 
Bilde der Asystolie, die in einem Falle von 
temporären Diarrhöen resp. Enterorrhagien 
und Erbrechen begleitet war; 3 mal plötz¬ 
lich, unvorhergesehen infolge von Herzläh¬ 
mung, 1 mal infolge Bronchopneumonie, 
1 mal nach hartnäckigen Diarrhöen, 1 mal 
nach einem akuten, mehrmonatigen Ver¬ 
lauf, der durch temporäre Temperatur¬ 
anstiege ausgezeichnet war, 1 mal an 
Kachexie, 1 mal im Verlaufe einer Psy¬ 
chose und schließlich einmal an chronischer 
Nephritis, die durch ein Erysipel kompli¬ 
ziert war. 

Von den 6 unter dem Bilde der Asy¬ 
stolie gestorbenen Fälle . behandelte ich 
einen bis zu seinem Tode, den zweiten 
konnte ich als Konsiliarius fast bis ans 


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November 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


487 


Ende beobachten und über die übrigen 
Fälle (1 aus der Klinik, 2 aus der Poliklinik 
und 1 aus der eigenen Praxis) besitze ich 
verläßliche Berichte von praktischen Aerzten. 
Bei diesen 6 Fällen steht es fest, daß die 
Herzschwäche und der nachfolgende Exitus 
ihre Ursache in der Basedowschen 
Krankheit und in nichts anderem hatten. 
In dem klinischen Falle wurde die Herz¬ 
schwäche nicht einmal durch die Operation 
verhütet; die Patientin hatte die Resektion 
der Struma gewählt; 5 Monate nach der¬ 
selben starb die Patientin unter den Sym¬ 
ptomen der Asystolie, der allmählichen Ab¬ 
magerung und unter zeitweiligen tetani- 
schen Anfällen. 

Von den 3 plötzlich verstorbenen Kranken 
stammten 2 aus der Poliklinik und einer 
aus der Praxis Pelnäfs. Der erste Fall, 
eine Frau, die bei ihrem ersten Besuche in 
der Poliklinik im Jahre 1896 das klassische 
Bild der Basedowschen Krankheit dar bot, 
kränkelte nach den Angaben des Mannes 
in gleicher Weise weiter; 3 Wochen vor 
dem Tode wurde die Frau bettlägerig und 
starb, ohne einen Arzt berufen zu haben, 
plötzlich im Jahre 1902. In den Aufzeich¬ 
nungen des seither verstorbenen Kollegen 
ist als Todesursache Vitium cordis an¬ 
gegeben. Die zweite Patientin, die die 
Poliklinik im Jahre 1899 aufsuchte, über¬ 
stand wegen eines Uterustumors in der 
Klinik Rosthorns eine Hysterektomie mit 
Entfernung der Ovarien und der Tuben, 
worauf sie sich bis 8 Wochen vor ihrem 
Tode im Jahre 1905 ganz wohl fühlte. Um 
die genannte Zeit begann sie nach den 
Angaben des Mannes über kurzen Atem 
zu klagen, der sie auch beim langsamen 
Gehen auf der Ebene belästigte; einen Arzt 
konsultierte sie aber nicht, ging aus und 
starb plötzlich auf der Straße. Die Sek¬ 
tion, die im böhmischen gerichtlich-medizi¬ 
nischen Institute vorgenommen wurde, 
konstatierte Hypertrophie und Dilatation 
der linken Kammer, beginnendes Atherom 
der Aorta, Verdickung der Mitralklappe 
mit Verkürzung der Sehnen, akutes Lungen¬ 
ödem und eine Struma höheren Grades. 
Die Patientin Pelnäfs schließlich erkrankte 
nach der Schilderung ihres Vaters wäh¬ 
rend einer Typhusepidemie, die das Dorf 
heimsuchte; eines Tages bekam sie im 
Sitzen einen Erstickungsanfall, in dem sie 
starb. 

In keinem einzigen dieser drei Fälle 
können wir mit Bestimmtheit sagen, ob 
und bis zu welchem Grade der tötliche 
Ausgang der Basedowschen Krankheit 
zuzuschreiben ist. Bei den beiden poli¬ 


klinischen Fällen verstrich von dem Be¬ 
ginne unserer Beobachtung bis zum Tode 
der Kranken eine lange Zeit, aus welcher 
wir keine genügenden und verläßlichen 
Nachrichten über den weiteren Verlauf des 
Basedowschen Syndroms besitzen. Wenn 
im ersten Falle der Leichenbeschauer ein 
Vitium cordis als Todesursache angegeben 
hat, so ist damit für unsere Zwecke be¬ 
greiflicherweise nichts gesagt Aber im 
allgemeinen kann man auf Grund der An¬ 
gaben des Mannes doch mit einer gewissen 
Wahrscheinlichkeit annehmen, daß die 
Kranke, die seit ihrem Besuche in der 
Poliklinik in gleicher Weise weiter kränkelte, 
schließlich doch dem in der Poliklinik dia¬ 
gnostizierten Leiden, d. i. der Basedow¬ 
schen Krankheit erlegen sei. Die andere 
poliklinische Patientin aus dem Jahre 1899 
starb nach dem Sektionsbefund an akutem 
Lungenödem infolge Hypertrophie und Di¬ 
latation des linken Ventrikels. Da sie aber 
während der letzten Lebensjahre keinen 
Arzt konsultiert hatte, kann man nicht ent¬ 
scheiden, ob die Basedowsche Krankheit 
eventuell in mäßigem Grade bis zum Tode 
gedauert und den letzteren mit verursacht 
hat, oder ob derselbe nur durch die Arterio¬ 
sklerose herbeigeführt wurde. Auch im 
Falle Pelnärs läßt es sich nicht entschei¬ 
den, ob der plötzliche Tod durch Typhus 
oder durch den Basedow verursacht 
wurde, denn jede dieser Krankheiten kann 
einen plötzlichen Tod herbeiführen, est ist 
aber auch möglich, daß beide Krankheiten 
gemeinsam den Tod verschuldet haben. 
Eines aber geht aus dem Falle Pelnärs 
mit Sicherheit hervor: daß nämlich eine 
jede Infektionskrankheit, die geeignet ist, 
das Herz zu schwächen (namentlich Typhus 
und Diphtherie), bei einem mit Basedow¬ 
scher Krankheit behafteten Patienten eine 
viel ernstere Bedeutung besitzt als bei 
einem sonst gesunden Menschen und daß 
daher die Prognose der Infektionskrankheit 
bei dieser Komplikation ceteris paribus 
ernster zu stellen ist. 

Bei jenen Fällen, wo der Tod nach 
hartnäckigen Diarrhöen, nach einem akuten, 
fieberhaften mehrmonatigen Verlaufe und 
im Zustande der charakteristischen Kachexie 
eintrat, ist der Zusammenhang des Todes 
mit der Basedowschen Krankheit un¬ 
zweifelhaft. In dem Falle, in welchem die 
Krankheit fieberhaft verlief, wurde in der 
Klinik auch der Zustand der Lungen genau 
kontrolliert, aber das Resultat war stets 
negativ. 

Es erübrigt noch die Epikrise zweier 
Fälle. Der eine von ihnen besuchte seit 1892 


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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


November 


von Zeit zu Zeit die poliklinische Ordina¬ 
tion und wurde von Prof. Thomayer öfters 
bei den poliklinischen Vorlesungen als ty¬ 
pisches Beispiel der Basedowschen Krank¬ 
heit demonstriert. Sein Zustand besserte 
sich mit der Zeit derart, daß der Patient 
nach der Photographie, die auf dem Höhe¬ 
punkte der Erkrankung angefertigt wurde, 
nicht zu erkennen war. Im Jahre 1898 no¬ 
tierten wir uns, daß der Kranke nur einen 
unbedeutenden Exophthalmus, von der 
Struma nur Reste, 88 Pulse und kein 
Zittern mehr aufweist. Schließlich starb 
der Kranke in der Klinik Jaksch unter 
der Diagnose: Morbus Basedowii peractus. 
Nephritis chronica recidivans. Hypertro- 
phia cordis, praecipue ventriculi sinistri. 
Hydrothorax duplex. Bezüglich der Ba- 
sedowsymptome enthält die Krankheits¬ 
geschichte folgende Angaben: auffallend 
starke Vorquellung beider Bulbi, Stell- 
wagsches und Graefesches Symptom 
nicht vorhanden, keine Vergrößerung der 
Schilddrüse; Puls bei der Aufnahme 115, 
bei der klinischen Vorlesung 120; kleinste 
Pulszahl 84, größte 134, in einem Anfalle 
von Stenokardie einmal 54; die Schwei߬ 
absonderung und die elektrische Leitungs¬ 
fähigkeit der Haut zeigten keine Abwei¬ 
chungen von der Norm. Der Kranke war 
ganz geschwollen, kurzatmig, die Zahl der 
Atemzüge schwankte zwischen 16 und 24, 
später im Erysipelfieber zwischen 28 und 
36; die Herzdämpfung war verbreitert und 
dementsprechend auch skiaskopisch der 
Schatten vergrößert, die Diurese war herab¬ 
gesetzt, im Harn fand man Eiweiß, Blut 
und mikroskopisch neben zahlreichen aus¬ 
gelaugten roten und vielen weißen Blut¬ 
körperchen auch granulierte hyaline Zy¬ 
linder und Nierenepithelien. In diesem 
elenden Zustande gesellte sich noch ein 
Erysipel hinzu, das das Bild abschloß. 

Eine Albuminurie resp. eine chronische 
Nierenentzündung beobachteten bei Kranken 
mit Basedowscher Krankheit verhältnis¬ 
mäßig häufig Buschan, Röper, Macken¬ 
zie, Landström; dagegen Kocher nur 
2 mal unter 59 Fällen. 1 ) Die Basedowsche 
Krankheit ist, wie jetzt allgemein gelehrt 
wird, eine Vergiftung des Organismus in¬ 
folge einer krankhaft veränderten Tätigkeit 
der Schilddrüse. Die zukünftige Forschung 
wird zu konstatieren haben, ob die Gifte, 
die diese Vergiftung verursachen, das 
Nierengewebe in ähnlicher Weise reizen 
wie die Toxine bei den Infektionskrank- 

l ) Zit. nach Möbius S. 50, nach Landström 
S. 112 und nach H. Mackenzie, zit. bereits, 1905, 
II, S. 1080. 


heiten. Sollte dies der Fall sein, dann 
wäre der Tod in dem eben geschilderten 
Falle durch die Basedowsche Krankheit 
in analoger Weise bedingt wie etwa — sit 
venia comparationi — durch den Schar¬ 
lach bei jenen Fällen von chronischer Ne¬ 
phritis, die sich an einen Scharlach an¬ 
schließen. Bei der gegenwärtigen Unvoll- 
ständigkeit unserer diesbezüglichen Kennt¬ 
nisse vermögen wir nicht sicher zu be¬ 
urteilen, bis zu welchem Grade die Base¬ 
dowsche Krankheit im vorliegenden Falle 
den Tod verursacht hat. 

Im letzten Falle verlor die Patientin 
nach dem Berichte des behandelnden 
Arztes im Jahre 1904 die Basedowsym¬ 
ptome, die in der Poliklinik im Jahre 1901 
noch in charakteristischer Weise vorhan¬ 
den waren, und bot dann ein ganz anderes 
Bild dar. Sie verlor das Gedächtnis, ver¬ 
mochte die einfachsten Rechenexempel 
nicht zu lösen, obwohl sie früher eine vor¬ 
zügliche Rechnerin war, und ihre Schrift 
änderte sich, nach den mir eingesandten 
Proben zu schließen, in charakteristischer 
Weise; bei der Visitierung durch den In¬ 
spektor wurde die Patientin in der Schule 
ohnmächtig, so daß sie hinausgetragen wer. 
den mußte, zum Schlüsse wurde sie dement, 
mußte zum Essen und zur Reinlichkeit an¬ 
gespornt werden und starb schließlich nach 
der offenbar richtigen Diagnose des be¬ 
handelnden Arztes an progressiver Para¬ 
lyse. 

Es ist bekannt, daß die mit Basedow¬ 
scher Krankheit behafteten Personen selten 
geistig normal sind. Nach Möbius viel¬ 
leicht nie. Es ist ferner bekannt, daß 
auch wirkliche Psychosen neben der Ba- 
sedowschenKrankheit Vorkommen können. 
Ich selbst habe in einem a. a. O. publi¬ 
zierten Falle 1 ) eine temporäre manische 
Exaltation beobachtet. Entweder geht die 
Psychose der Basedowschen Krankheit 
voran oder sie folgt derselben nach. Im 
letzteren Falle hält man gewöhnlich die 
Basedowsche Krankheit für die Ursache 
und die Psychose für die Folge. Die nach 
einer Basedowschen Krankheit beobach¬ 
teten Psychosen sind sehr verschiedener 
Art: Manie, Melancholie, Amenz, Zwangs¬ 
vorstellungen, Paranoia, ja sogar progressive 
Paralyse. Aber mit Recht bemerkt Mö¬ 
bius 2 ), daß nicht alle Fälle von Psychose 
bei mit Basedow behafteteten Kranken 


*) Sbornik poliklinick^. 1898, S. 37—42. 
Ziemssens Behandlungsmethode mit arseniksauerem 
Natrium in großen Dosen. — Auch Allg. Wien. med. 
Zeitung 1900. 

a ) L. c. S. 36. 


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November 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


489 


Fälle von Basedowscher Psychose seien. 
Oft handele es sich um eine zufällige Kom¬ 
plikation. So z. B. werde niemand die 
progressive Paralyse für eine Folge der 
Basedowschen Krankheit halten. Aber 
man kann beide Krankheiten als parallele, 
auf gemeinsamer, prädisponierender Basis 
entstandener Ausläufer betrachten. Man 
könnte ferner einwenden, daß die psychi¬ 
schen Symptome bei unserer Patientin 
eigentlich die initialen Erscheinungen des 
Myxödems darstellen, wie sie im Rahmen 
der Basedowschen Krankheit Vorkommen 
können. Gegen diese Annahme sprechen 
die vorhandenen Daten, die viel zu be¬ 
stimmt sind. Nach allen diesen Erwägun¬ 
gen bleibt also nichts anderes übrig als 
der Schluß, daß der Tod in dem eben 
analysierten Falle von der Basedowschen 
Krankheit keineswegs abhängig war. 

Demnach entfielen von den 14 Todes¬ 
fällen, die bei 51 Fällen von Basedow¬ 
scher Krankheit konstatiert wurden, einzig 
und allein auf diese Krankheit 10, das ist 
19,6%. Bei ausschließlich interner The¬ 
rapie starben 9 Kranke, das ist 17,6%, bei 
interner und chirurgischer Therapie starb 
eine Patientin. Bei den restlichen Fällen 
war der Einfluß der Basedowschen Krank¬ 
heit auf den Tod entweder ein indirekter 
(Nephritis) oder nur ein unterstützender 
(bei Typhus, Arteriosklerose) oder er fehlte 
ganz und gar (progressive Paralyse). 

Es muß darauf hingewiesen werden, 
daß sich unsere Zahlen aus einer langen, 
12—13jährigen Beobachtungsdauer ergeben. 
Natürlich muß da die Mortalität größer 
sein. Wenn wir aber unser Material in 
zwei gleiche Zeiträume von öjähriger Dauer 
einteilen, von denen der eine von 1896 bis 
1901 und der andere von 1902 bis 1907 
reicht, ohne daß wir einen Fall aus dem 
ersten Zeitraum in den anderen her¬ 
übernehmen, dann verzeichnen wir im 
ersten Zeitraum unter 15 Fällen 2 Todes¬ 
fälle, das ist 13,3% und im zweiten 
Zeitraum unter 35 Fällen 5 Todesfälle, das 
ist 14,3%. 

Busch an, der, wie oben erwähnt, aus 
der Literatur 900 Fälle von Basedow¬ 
scher Krankheit gesammelt hat, bestimmt 
die Mortalität mit 11,6%; andere Autoren 
geben entweder ähnliche oder viel größere 
Zahlen an, z. B.: Cheadle 9.6%, Thomp¬ 
son 10%, v. Graefe 12%, v. Dusch 
12,5%, Bellingham 18,1%, Gaill 21,3%, 
Charcot 25%, H. Mackenzie 25%, 
Williamson 25%. Nach H. Mackenzie 
wird die Mortalitätsziffer speziell durch die 
Fälle von akutem Basedow verschlechtert, 


an welchem nach seinen Angaben 30% 
sterben 1 ). 

Diese Verschiedenheit in den Angaben 
erklärt sich außer durch die qualitative 
und quantitative Ungleichheit des Materials 
und durch den Zufall auch durch die un¬ 
gleiche Länge der Beobachtiingsdauer. 
Thompson 2 ), der seine Patienten schein¬ 
bar nicht genügend lang beobachtet hat, 
schätzt bei einem Material von 80 Fällen 
die Mortalität auf nur 10%. Dagegen be¬ 
rechnet Williamson, der vom Beginne 
der Krankheit 5 Jahre verstreichen läßt, 
bevor er entscheidet, ob ein Fall als ge¬ 
heilt, gebessert oder unverändert anzu- 
sehen ist, die Sterblichkeit mit 25 °/ 0 . 
Allerdings verfügt er aber über ein Ma¬ 
terial von nur 24 Fällen. H. Mackenzie 
fixierte bei der verhältnismäßig geringeren 
Erfahrung seiner jüngeren Jahre die Mor¬ 
talität mit 12.5%, bei größerer Erfahrung 
aber im Jahre 1905 mit 25 o/ 0 . Streng ge¬ 
nommen sollte allen Statistiken, sowohl 
den internistischen, als auch den chirurgi¬ 
schen der Vorgang Williamsons zu¬ 
grunde gelegt werden 8 ). Dann würden 
aber begreiflicherweise viele Fälle der 
Beobachtung entgehen. Man könnte dann 
nur durch Zusammenzählung einer größeren 
Anzahl von Statistiken eine allgemein gül¬ 
tige Ansicht über diese Sache gewinnen. 

Inzwischen kann man als Regel auf¬ 
stellen, daß bei einer nur einigermaßen 
länger dauernden Behandlung von den an 
Basedowscher Krankheit leidenden Pa¬ 
tienten etwas mehr als ein Sechstel stirbt. 
Dafür spricht einerseits meine eigene Er¬ 
fahrung, andererseits das arithmetische 
Mittel fremder Statistiken. 

Unverändert blieben von 51 meiner 
Fälle 4, das ist 7,8%. Hierzu rechne ich 
noch 6 weitere Fälle, also weitere 11,8% 
von rezidivierendem Basedow, mag auch 
bei dem einen oder dem anderen gegen¬ 
wärtig eine Besserung zu konstatieren 
sein; ist doch bei einem Falle die erste 
Rezidive nach 7, die zweite nach 5 Jahren 
aüfgetreten. Auf diese Weise halte ich im 
ganzen 10 Personen, das ist 19,6% meiner 
Fälle für krank,' mag ihre Krankheit dau- 

t) Die Zahlen sind zitiert nach Buschan, Die 
Basedowsche Krankheit, Wien und Leipzig 1894; 
Williamson loc. cit. S. 1374; H. Mackenzies 
Arbeit aus dem Jahre 1905, S. 1081; Möbius S. 72 
und Landström S. 148. 

2 ) Zit. nach Landström S. 149. 

3 ) Nach der Methode von Williamson wQrde 
ich bis zum Ende der ersten Hälfte des Jahres 1904 
über 25 Fälle mit 6 Todesfällen verfügen, von denen 
nur 4, das ist 16%, direkt durch den Basedow be¬ 
dingt wären. 


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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


November 


ernd unverändert bleiben oder mit tempo¬ 
rärer Gesundheit abwechseln. 

Die Statistik von Williamson (1. c.) 
weist einen Prozentsatz auf, der etwas 
kleiner ist als der meine; unter 24 eigenen 
Fällen, über die er erst nach 5 Jahren ent¬ 
scheidet, fand er „condition much the sam“ 
in 3 id est 12,5%. Nach H. Mackenzie 1 ) 
bleiben „in a condition of chronic illness“ 
25 o/ 0 der Fälle. 

Als gebessert bezeichne ich unter 
51 Fällen 10 = 19,6°/ 0 , als geheilt 17 = 
33,3 o/ 0 oder zusammen 27 = 52,9 o/ 0 . 

Von fremden Statistiken berechnet 
v. Graefe 30% gebessert, 20% geheilt, 
zusammen 50%; v. Dusch 25% gebessert, 
46%geheilt, zusammen 71%; Williamson 
29,1 % sowohl bei den gebesserten als 
auch bei den geheilten Fällen, zusammen 
also 58,2°/°; nach Mackenzie 50% „make 
a very good recovery 2 ).“ 

Demnach kann ich auf Grund meiner 
eigenen und der fremden Erfahrung als 
« Regel aufstellen, daß die größere Hälfte 
der Fälle von Basedowscher Krank¬ 
heit dauernd und ohne daß Rezidiven 
auftreten, gebessert wird und daß von 
diesen Fällen ein bedeutender Teil und 
zwar zirka ein Drittel aller Fälle zusammen- 
genommen vollständig oder höchstens mit 
einem zurückbleibenden Exophthalmus ge¬ 
heilt wird. In höherem Grade blieb der¬ 
selbe nur bei zwei unserer Fälle zurück. 
Es muß noch bemerkt werden, daß von 
unseren geheilten 17 Fällen nur 4 oder 5 
als leicht zu bezeichnen sind, während da¬ 
gegen andere in stürmischer, ja sogar be¬ 
unruhigender Weise begannen; so z. B. 
zweimal mit hartnäckigem Erbrechen und 
Durchfall, einmal mit einer hochgradigen 
seelischen Erregung, mit Schlaflosigkeit 
und Appetitlosigkeit, zweimal mit einem 
beträchtlichen und raschen Gewichtsverlust, 
so daß man in dem einen Falle anfangs an 
ein Magenkarzinom, in dem anderen Falle 
bei einer Frau, deren Mann Arzt war, an 
beginnende Tuberkulose dachte, was im 
letzteren Falle um so begründeter war, als 
hie und da Fieber vorhanden war. Schlie߬ 
lich will ich bemerken, daß ich bei An¬ 
legung eines weniger strengen Maßstabes 
so manchen meiner gebesserten Fälle unter 
die geheilten einreihen könnte, da z. B. bei 
vier derselben der Zustand momentan ein 
ausgezeichneter ist. 

* 


Es entsteht nun die Frage, auf welche 
Weise die interne Therapie die Prognose 
der Basedowschen Krankheit ändern resp. 
verbessern kann. Bei unseren Fällen 
wurde alles mögliche gemacht: wir gaben 
Antithyreoidin oder Serum Möbius in 
Form von Injektionen und per os, Roda- 
gen, Natrium phosphoricum, Natrium sul- 
phanilicum, Arsen, Eisen, Chinin, Brom¬ 
präparate, Belladonna, Kardiaka, wir elek¬ 
trisierten den Sympathikus, wir wen¬ 
deten die Hydrotherapie an, empfahlen 
einen Aufenthalt in hochgelegenen Gegen¬ 
den, Bettruhe, Mastkuren usw. Mein Urteil 
über den Wert aller dieser Maßnahmen 
kann ich kurz folgendermaßen zusammen¬ 
fassen: alles hilft und alles versagt. Bei 
dem einen Falle erzielen wir mit einer 
jeden Methode einen Erfolg, bei dem an¬ 
deren Falle mit keiner einzigen. Im all¬ 
gemeinen aber ist die B a s e d o w sehe Krank¬ 
heit, wie Möbius 1 ) mit Recht meint, kein 
undankbares Objekt der Therapie. 

In 3 Fällen beobachtete ich ein Auf¬ 
flammen der Symptome des Basedow nach 
Jodpräparaten und zwar einmal nach dem 
innerlichen Gebrauche des Jodkali und 
zweimal nach länger dauernden Einpinse¬ 
lungen des Halses mit Jodtinktur. Obwohl 
anderseits der eine oder andere Patient 
die Jodpräparate lobte, stimme ich doch 
mit Möbius, Kraus und Landström 2 ) 
darin vollständig überein, daß Patienten mit 
Basedowscher Krankheit dieses Medika¬ 
ment möglichst vermeiden oder höchstens 
sehr vorsichtig damit umgehen sollen. Es 

ist tatsächlich manchmal Gift für sie 3 ). 

* *• 

Welchen Standpunkt sollen wir nun auf 
Grund unserer Statistik gegenüber der 
operativen Therapie einnehmen? 

Von unseren Patienten wurden zwei 
operiert. In dem einen Falle, der seiner¬ 
zeit von Prochäzka 1 ) publiziert wurde, 
trat nach 2 Jahren ein Rezidiv ein, der 
andere Fall starb 5 Monate nach der Ope¬ 
ration an Asystolie, nachdem zu deren 
Beschwerden die Operation noch eine Te¬ 
tanie und Rekurrenslähmung hinzugefügt 
hatte. 

Aus zwei Fällen lassen sich allerdings 
keine weitreichenden Schlüsse ziehen und 


! ) Loc. cit. S. 79. 

■ *) I-OC. cit. S. 137. 

3 ) Möbius loc. cit. S. 88. 

Prochäzka, Ein chirurgisch behandelter Fall 
von Basedowscher Krankheit. (Öasop. 16k. öesk. 
1895, S. 991 u. 1012.) Dieser Fall ist unter die 
51 Fälle der vorliegenden Statistik nicht eingereiht, 
da er sich der weiteren Beobachtung entzogen 
hatte. 


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1 ) Zitierte Arbeit aus dem Jahre 1905, S. 1081 
a ) Zahlen zitiert nach Möbius S. 72, William¬ 
son 1. c. und H. Mackenzie 1905 1. c. 


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November 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


491 


wir müssen daher unsere Zahlen mit den 
Zahlen der Chirurgen genauer vergleichen. 
Hierbei wollen wir die geheilten Fülle von 
den gebesserten nicht unterscheiden, da 
hier der subjektiven Ansicht ein größerer 
Spielraum eingeräurot wird, als wenn man 
die Fälle beider Kategorien in eine Gruppe 
zusammenfaßt. Dieselben betrugen bei 
51 Fällen unserer Statistik 52,9 % und nach 
den chirurgischen Statistiken 3 ) von Land- j 
ström 65,8% bei 52 resp. 41 Fällen, von | 
Rehn 79,7% bei 319 gesammelten Fällen, 
von Heydenreich 82% bei 61, von Rie¬ 
del 84% bei 50, von Garr£ 85% bei 35, 
von Mayo 87,8% bei 57, von Kocher 
(ältere Statistik) 93% bei 59 und (jüngere 
Statistik) 76,3% bei 97 Fällen. Demnach 
würden die Resultate unserer internen 
Therapie hinter den Erfolgen der chirur¬ 
gischen bedeutend Zurückbleiben. 

Aber die Beweiskraft der Zahlen 
Kochers oder Riedels wird durch meh¬ 
rere Momente geschwächt und zwar: 

1. durch die Fälle, die unmittelbar nach 
der Operation sterben, und die Zahl der¬ 
selben beträgt nach der älteren Statistik 
Kochers 6,7% von 59 Fällen und nach 
dessen neuerer Statistik 5,3% von 167 
Fällen (97 Fälle von typischem Basedow 
4- 70 Fälle von gefäßreicher Struma), nach 
der Statistik Landströms 7,4% von 52 
resp. 41 Fällen, nach Riedel 12% von 50, 
nach Rehn 13,1% von 319 gesammelten 
Fällen, nach Sorgo 13,9% von 172 ge¬ 
sammelten Fällen, nach Allen Starr 16% 
von 140 gesammelten Fällen. Die traurige 
Bedeutung dieser Zahlen fühlen wir alle, 

a ) Diese Zahlen, sowie auch die Zahlen der post¬ 
operativen Mortalität, die gleich folgen, sind teils 
nach der Monographie Landströms S. 75, teils 
nach den folgenden Quellen zitiert: Heydenreich, 
Le traitement chirurgical de la maladie de Basedow. 
(Semaine m6d. 1895. S. 269.) — Rehn, 71. Kon- , 
greß deutscher Naturforscher und Aerzte in München 
1899. (Deutsche med. Wschr. 1899, Vereinsbeilage i 
S. 259.) —Kocher, Verhandlungen des Kongresses | 
für innere Medizin zu München. (Wiesbaden 1906, j 
Auch Semaine m6d. 1906, S. 211.) — Garre, La j 
strumectomie dans la maladie de Basedow, ses resul- 
tats 6loign6s. (Revue neurologique 1908. S. 677.) — ■ 
Oppenheim, Lehrbuch der Nervenkrankheiten. 

V. Aufl., S. 1569 (Allen Starr, Sorgo). 

Kocher (zit. nach Landström) verzeichnete 
bei 59 Fällen in 93,3% Heilungen und Besserungen 
und in 6,7% einen letalen Ausgang. Bei 97 Fällen 
(zit. nach Semaine m£d. 1906) verzeichnete er 74 mal 
= 76,3% ein günstiges Resultat und zwar wenig I 
gebessert 8 Fälle, sehr gebessert 10, geheilt 56, da¬ 
von 8 vollständig. Von 97 Fällen des typischen 
Basedow -f- 70 Fällen von gefäßreicher Struma, d. i. 
also von 167 Fällen verlor er 9 = 5,3%. Mit an¬ 
deren Worten: mit fortschreitender Technik sank das 1 
Sterblichkeitsprozent, mit wachsender Erfahrung sank j 
aber auch der Prozentsatz der Geheilten und Ge¬ 
besserten. 


fühlen auch die Chirurgen, aber am meisten 
muß sie der Praktiker fühlen, wenn er 
einen Fall zur Operation empfiehlt und 
derselbe an dieser stirbt; 

2. durch jene Fälle, die einige Zeit nach 
der Operation sterben, z. B. 2 Fälle Land¬ 
ströms (Nr. 10 u. 22) noch nicht ganz 
einen Monat, 1 Fall Landströms (Nr. 15) 
und 1 Fall unserer Statistik nach 5 Monaten 
und ein Fall Landströms (Nr. 6) nach 
2 Jahren „an Rezidive“. Diese Fälle be¬ 
zeichnen die Chirurgen analog den durch 
die Operation nicht veränderten Fällen als 
Mißerfolge. Wenn wir aber, was ich für 
richtiger halte, die Mortalität einer chirur¬ 
gischen Statistik, z. B. jener von Land¬ 
ström auf Grund jener Fälle bestimmen, 
die unmittelbar nach der Operation und 
einige Zeit nach derselben sterben, dann 
beträgt dieselbe 18,4%. also eine Zahl, die 
unserer Mortalitätsziffer nahekommt; 

3. durch die Existenz von Rezidiven 
auch nach der Operation. Landström 
sah sie bei 52 Fällen 6 mal (mit dem oben 
erwähnten Fall, der an der Rezidive starb), 
Riedel bei 50 Fällen 7 mal, Kümmell bei 
20 Fällen 3 mal. Die Rezidive stellt sich 
4 Monate bis 2 Jahre, aber auch 4 Jahre 
(Torek) und sogar 9 Jahre (Riedel) nach 
der Operation ein; 1 ) 

4. durch die ungenügend lange Beob¬ 
achtungsdauer bei manchen Fällen. Nicht 
bei allen. Man führt, wie ich bereits an¬ 
fangs gesagt habe, geheilte Fälle an, die 
eine längere Reihe von Jahren beob¬ 
achtet wurden 2 ) — von Landström über 

i IOV 2 Jahre, fast 10 Jahre, über 9 Jahre, 

1 über 5 ! /o Jahre, 5 Jahre 2 Monate, 4V 2 Jahre, 
über 4 Jahre; von Riedel 9 Jahre, Rezi¬ 
dive; von Friedheim 4 Jahre; von Torek 
4 Jahre, Rezidive; von Bri ner, Branden¬ 
burg, Lemke u. A.; aber die sind doch 
in der Minderzahl. Viel größer ist die 
Zahl jener Fälle, die nach der Operation 
nur eine kürzere Zeit beobachtet wur¬ 
den. Während wir von unseren 51 Fällen 
25 mehr als 5 Jahre verfolgen konnten, 
trifft dies unter den 52 Fällen Land¬ 
ströms nur für 11 zu. Ich habe oben be¬ 
reits gezeigt, wie mit der Abnahme der 
Beobachtungsdauer das Mortalitätsprozent 
sinkt und die ganze Prognose der Krank¬ 
heit sich ändert. 

Legen wir nun die sieghaften Zahlen 
Kochers u. A. auf die eine, die vier an¬ 
geführten Momente aber, speziell die Ge¬ 
fährlichkeit der Operation auf die andere 

l ) Zit. nach Landström S. 133 u. 134. 

9 ) Zit. nach Möbius S. 97 und Landström 


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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


November 


Wagschale, dann ist es klar, daß die Zeit 
noch nicht gekommen ist, um entscheiden 
zu können, ob bei der Basedowschen 
Krankheit der Vorzug der chirurgischen 
oder der internen Therapie gehört, und 
dies um so weniger, als die bisher publi¬ 
zierten Statistiken der Internisten nicht ge¬ 
nügen. Daran ändert auch die Tatsache 
nichts, daß auch manche Internisten die 
operative Therapie sehr hoch einschätzen. 
Nach Möbius 1 ) „ist die Gefahr der Ope¬ 
ration der einzige vernünftige Einwand; 
wenn dies nicht wäre, müßte die Operation 
als die eigentliche Therapie der Base¬ 
dowschen Krankheit anerkannt werden." 
Auch nach Krause 2 ) ist es die Chirurgie, 
die berufen zu sein scheint, die Therapie 
des Basedow zu übernehmen und dieselbe 
immer mehr und mehr in eine operative 
überzuführen. Andererseits sprechen sich 
manche ausgezeichnete Internisten wie z. B. 
Strümpell, Oppenheim, H. Macken¬ 
zie, Buschan u. A. reserviert aus. 


Zuerst muß die Lehre von der Prognose 
der Basedowschen Krankheit ausgebaut 
werden. Die vorliegende Arbeit stellt in - 
dieser Hinsicht nur einen schwachen Ver¬ 
such dar. Die von mir gesammelten 51 Fälle 
genügen nicht. Aber ich wollte nur eine 
Anregung geben und schließe mit einem 
Appell an alle Internisten nach dem Bei¬ 
spiele der Chirurgen nicht einen einzigen 
intern behandelten Fall aus den Augen 
zu verlieren. Sowohl in den Anstalten, 
als auch in der Privatpraxis sollten Register 
der mit schwerer und leichter Basedow¬ 
scher Krankheit behafteten Patienten an¬ 
gelegt und diese in regelmäßigen Inter¬ 
vallen jahrelang revidiert werden und zwar 
auch dann, wenn es ihnen gut geht. Auf 
diese Weise wird es uns in Zukunft mög¬ 
lich sein, auf Grund eines größeren Mate¬ 
rials und einer genügend langen Beobach¬ 
tungsdauer die Prognose der Basedow sehen 
Krankheit zu erhärten und deren Behand¬ 
lung eine bestimmte Richtung zu geben. 


Neue Gesichtspunkte für Entfettungskuren mittels 
diätetischer Küche. 

Von Dr. Wilhelm Sternberg» Spezialarzt in Berlin. 


Ueberblickt man sämtliche Entfettungs¬ 
kuren, dann fällt die Fülle der Wider¬ 
sprüche auf. Die eine Kur gebietet an 
Nahrungsstoffen und Nahrungsmitteln das 
als indiziert, was die andere als kontra¬ 
indiziert verbietet. Und dies bezieht sich 
auf alle Teile der Diät: Viel Eiweiß, viel 
Fett, viel Kohlehydrate, viel Wasser, viel 
körperliche Arbeit und viel mechanische Be¬ 
wegung ist ebenso oft als Indikation für 
Entfettungskuren geboten, wie für andere 
Entfettungsküren als Kontraindikation ver¬ 
boten worden. Schon aus dieser einen 
Tatsache folgt der zwingende Schluß, daß 
es grundsätzliche Einseitigkeiten sein 
müssen, welche der ganzen wissenschaft¬ 
lichen Methode der Entfettung zugrunde 
liegen. Und das ist auch tatsächlich der 
Fall. Bei den Entfettungskuren hat man 
lediglich die Theorie der Diät berück¬ 
sichtigt, die praktische Technik der 
Küche aber teilweise vergessen. Daher 
kommt es, daß man ausschließlich den ob¬ 
jektiven Faktor ins Auge faßt. Die sub¬ 
jektiven Momente sind übersehen worden. 
Das ist es, was die gesamte Wissenschaft der 
Ernährung versäumt hat, sodaß, wie ich 3 ) 
wiederholt dargelegt habe, die Physiologie 

J ) Loc. cit. S. 99. 

2 ) Zit. nach LandstrOm S. 150. 

3 ) „Diätetische Kochkunst* 1908, S. VI. — „Die 
Küche in der modernen Heilanstalt* 1909, S. XI. 


der menschlichen Ernährung auf einem toten 
Punkt angelangt ist. Das, was man bloß in 
Rechnung zieht, ist der Nahrungs bedarf. 
Das Nahrungsbedürfnis wird nicht ge¬ 
nügend erörtert. Nun sind aber die subjek¬ 
tiven Empfindungen, welche das Nahrungs¬ 
bedürfnis darstellen, recht zahlreich und 
äußerst wichtig. So kommt es, daß der, 
der die physiologischen Grundlagen der 
Küche gibt, zugleich die Physiologie der 
Gefühle und der Allgemeinempfindungen 
begründen wird. Diese subjektiven Ge¬ 
meingefühle der Ernährung: Sättigungs¬ 
gefühl, Appetit, Hunger- und Durstgefühl 
kommen ganz besonders bei jeder Ent¬ 
fettung in Betracht. 

Die Einwirkungen auf das Sättigungs¬ 
gefühl, auf Erhaltung des Appetits und auf 
Verhütung des Ekelgefühls bedenkt unbe¬ 
wußt der technische Fachmann der Küche 
schon in jedem alltäglichen Fall. Daher 
ist die Zusammenstellung und die Reihen¬ 
folge, welche er den Speisen zur Mahl¬ 
zeit gibt, allüberall zu allen Zeiten die 
nämliche geblieben trotz des lebhaften 
Wechsels aller anderen Gepflogenheiten 
bei Tische. Albu 1 ) j nimmt freilich den 
gegenteiligen Standpunkt ein, indem er 
folgendes bemerkt: „Die gleiche Willkür in 
der Auswahl und Zusammenstellung der 

*) „Einige Fragen der Krankenernährung". Berl. 
Klinik 1898, H. 115. 


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November 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


493 


Nahrungsmittel und der Mahlzeiten sehen 
wir auch in der Ernährung des Einzelnen. 
Sie spottet oft geradezu aller Grundsätze 
der physiologischen Ernährungslehre. 
Welcher Widersinn starrt uns z. ß. aus 
jenen im großen und ganzen sich stets 
gleich bleibenden Speisekarten entgegen, 
wie sie auf den landesüblichen Fest- und 
Zweckessen dargeboten zu werden pflegen. 
Oer Hummer oder der in Remouladensauce 
getauchte Lachs am Anfang, das Trüffel¬ 
filet und der Geflügel- und Wildbraten in 
der Mitte, Eis und Käse am Ende! Wer 
hätte je gelehrt, daß diese Speisenfolge 
gesundheitsmäßig sei?“ Ich 1 ) habe Albus 
Ansicht wiederholt versucht zu widerlegen. 

Seit jeher unterscheidet die Küche Vor¬ 
kost, Entrees, Mittelgang, Mittelgerichte, 
Entremets und Nachtisch. Die Eingangs¬ 
gerichte werden als Vorgerichte der eigent¬ 
lichen Hauptmahlzeit vorausgeschickt. Der 
Nachtisch beschließt die Mahlzeit. 

An den Schluß der Mahlzeit setzt die 
Kochkunst Süßspeisen, Schokolade, Kaffee. 

Schon bei den Alten wurden als Nach¬ 
tisch, mensa secunda dsdr spat rpdneCai, Süßig¬ 
keiten und Obst gereicht. Daher stammt 
die Redenart „ab ovo usque ad mala“, 
welche im übertragenen Sinne gleich¬ 
bedeutend mit dem Satz ist: „Von Anfang 
bis zu Ende“. So heißt es im Horaz 3 ): 
„Vom ersten Gericht bis zum Nachtisch“ 

.ab ovo usque ad mala .... 

Bezüglich der Verlegung von Süßspeisen 
an den Schluß der Mahlzeit äußert sich 
Pawlow 4 ) folgendermaßen: „Der gewöhn¬ 
liche Schluß der Mahlzeit ist auch vom 
physiologischen Standpunkt leicht begreif¬ 
lich. Das Mittagessen wird gewöhnlich 
durch irgend etwas Süßes beschlossen, und 
jeder weiß, daß die Süßspeise etwas an¬ 
genehmes ist. Der Sinn hiervon ist leicht 
zu erraten. Die Mahlzeit, die infolge des 
lebhaften Nahrungsbedürfnisses mit Freuden 
begonnen wurde, muß auch trotz der Be¬ 
friedigung des Hungers mit einem ange¬ 
nehmen Eindruck schließen; hierbei darf 
jedoch dem Verdauungskanal keine Ar¬ 
beit aufgebürdet werden, sondern es sollen 
lediglich — wie durch den Zucker — die 
Geschmacksnerven angenehm gereizt 


J ) Ztschr. f. Sinncsphysiologic 1908, S. 342: 
„Geschmack und Appetit*. — „Die Küche in der 
modernen Heilanstalt* 1909, S. 72. — »Die Alkohol¬ 
frage im Lichte der modernen Forschung*. Leipzig, 
Veit & Co., 1909, S. 31. 

*) „Krankenernährung und Krankenküche* 1906, 
Stuttgart, F. Enke, S. 13. 

3 ) Sat. I, 3, 6, Beurteilung eigener und fremder 
Fehler. 

4 ) „Die Arbeit der Verdauungsdrüsen*, S. 185. 


werden.“ Diese Begründung von Pawlow 
habe ich 1 ) bereits zu widerlegen versucht. 

Erstlich legen gerade Süßspeisen dem 
Verdauungskanal sogar eine große Arbeit 
mitunter auf. Dies bedingt der hohe Fett¬ 
gehalt, den die Küche gerade zu den 
Süßspeisen oft verwendet, sodann aber 
auch das die Gestalt oder den Körper 
gebende Mittel, das Konstituens, das Mehl 
Ferner kann man wohl auch nicht annehmen, 
daß nur deshalb, weil der Geschmack des 
Süßen der angenehme ist, die Kochkunst 
aller Zeiten und aller Völker die Süßig¬ 
keiten an den Schluß der Mahlzeit verlegt. 
Denn dann wäre es ja gar nicht zu be¬ 
greifen, warum die Kochkunst nicht mit 
der Darbietung des angenehmen Geschmacks 
gleich die Mahlzeit beginnt. Andererseits 
vermag doch die Kochkunst in ihrer viel¬ 
gestaltigen Zubereitung auch alle anderen 
Geschmacksqualitäten außer der süßen zu 
Sinnesgenüssen zu verwenden. Deshalb 
könnte sie auch andere Geschmacksquali¬ 
täten zum Schluß bieten, wenn sie bloß 
den Zweck verfolgte, am Schluß den Ge¬ 
schmack zu reizen. Diese Gründe scheinen 
mir 2 ) Pawlows Behauptung zu entkräften. 

Somit dürfte doch noch ein ganz 
anderer physiologischer Faktor in Betracht 
kommen. Das ist auch tatsächlich der Fall. 
Soße Speisen verlegen nämlich den Appetit 
und rufen das Sättigungsgefühl hervor. Da¬ 
bei ist es nicht etwa der Nährwert des 
Zuckers, welchem diese Wirkung zukommt. 
Denn auch Saccharin führt diesen Sätti¬ 
gungszustand herbei, ein weiterer Beweis 
dafür, daß es lediglich der süße Geschmack 
ist, dem diese Wirkung auf den Appetit zu¬ 
kommt. Das scheint auch Plinius 2 ) schon 
angenommen zu haben, sodaß diese An¬ 
sicht aus dem Altertum mehr physiolo¬ 
gische Berechtigung hat als die des mo¬ 
dernen Physiologen. Und das ist um so 
wichtiger, als Plinius den Zucker ja noch 
gar nicht kannte und außer Honig noch 
andere Süßstoffe verwendet, z. B. Gly- 
zyrrhicon oder Glycyrrhizon Süßholz, La¬ 
kritze (XXII, 9u. XI, 54), sowie Glycoside: 
Paeonia aut Pentorobos Pfingtblat, Süßblat 
(XXV, 4 u. XXVII, 16); Süßholzdorn Adip- 
satheon (XXIV, 13), Süßigkeiten Hedys- 
mata (XIII, 1), quod oleo constat unguenti 
genus. So verdient die Angabe von Pli¬ 
nius doppelte Beachtung: „Einige Speisen 
stillen, wenn man auch nur wenig davon 
genießt, Hunger und Durst und erhalten 

*) „Kochkunst und ärztliche Kunst", Stuttgart, 
F. Enke, 1907, S. 104. 

9 ) Ztschr. f. phys. u. diät. Therapie 1907/08, 
Bd. 11: „Geschmack und Appetit“, S. 5. 


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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


November 


zugleich die Kräfte. Dahin gehören Butter 
und die Kräuter Hippace, Glycyrrhizon.“ 
Quaedam rursus exiguo gustu famem ac 
sitim sedant conservantque vires ut butyrum 
hippace glycyrrhizon. Ja, diese SOßmittel 
wurden geradezu als Durststillmittel ge¬ 
geben, und zwar bei Hydrops. So sagt 
Plinius 1 ): 

Alii eryngen falso eandem putaverunt 
esse et glycyrrhizam, quare fubjungi eam 
protinus refert. Et ipsa sine dubio inter 
aculeatas est, foliis echinatis, pinguibus, 
tactuque gummosis, fruticosa, binüm cubi- 
torum altitudine, flore hyacinthi, fructu 
pilularum platani magnitudinis. Praestan- 
tissima in Cicilia, fecunda Ponto, radice 
dulci, et hac tan tum in usu. Capitur ea 
Vergiliarum occasu, longa ceu vitium: co- 
loris buxei melior, quam nigra: quaeque 
lenta, quam quae fragilis. Usus in fub- 
dictis decoctae ad tertias, cetero ad mellis 
crassitudinem, aliquando et tufae: quo 
genere et vulneribus imponitur, et faucium 
vitiis omnibus. Item voci utilissimo succo, 
sic ut spissatus est, lingae subdito. Item 
thoraci, jocineri. Hac diximus sitim fa- 
memque sedari Ob id quidam adipson 
appellavere eam, et hydropicis dedere, ne 
sitirent. 

„Andere haben fälschlich geglaubt, daß 
das Kraut Erygne dasselbe wie Glycyrrhiza 
sei. Deshalb soll sie auch sofort abgehan¬ 
delt werden. Diese gehört auch zu den 
Stachelkräutern ohne Zweifel. Sie hat 
stachlige und fette Blätter, die sich wie 
Gummi anfahlen. Sie ist strauchartig, zwei 
Kubitus hoch, hat eine HyazinthenblQte 
und trägt kleine kugelförmige Früchte wie 
der Ahornbaum. Am schönsten wächst die 
Glycyrrhiza in Cilicien. Die in Pontus 
wächst, kommt erst in zweiter Reihe. Die 
Wurzel, die immer gebraucht wird, hat 
süßen Geschmack. Sie wird nach Unter¬ 
gang der Vergilien aufgenommen. Sie ist 
mit den Wurzeln der Weinstöcke von glei¬ 
cher Länge und besser, wenn sie Buchs¬ 
baumfarbe hat und zähe ist, als wenn sie 
schwarz ist und leicht bricht. Sie wird 
bis auf ein drittel Teil eingekocht. Auch 
läßt man das Dekokt wohl bis auf Honig¬ 
konsistenz einkochen. Zuweilen wird die 
Wurzel vorher erst gestoßen. Sie wird 
für allerlei Schäden in der Kehle ange¬ 
wandt. Der Saft ist der Stimme sehr zu¬ 
träglich und wird zu dem Ende verdickt 
auf die Zunge gelegt Auch ist er der 
Brust und der Leber dienlich. Ich sagte 
schon oben, daß sie das Hunger- und 


] ) Nat. hist. lih. XXII, § 11. 


Durstgefahl vertreibt. Deswegen nannte 
man sie Adipsos, die Durstlose, welche 
wider den Durst ist.“ 

Offenbar meint Plinius die Glycyrrhiza 
echinata Lin. Der eingedickte Saft ist 
Lakritzensaft, Reglise. Theophrast sagt 
diese Wirkung einer Radix scythica nach, 
welche man ebenfalls als Süßholzwurzel 
anspricht. 

Plinius 1 ) kommt sogar nochmals auf 
diese seltsame Wirkung von Glycyrrhiza 
zurück: 

(32) Invenere herbas et universae gen- 
tes, Scythiae primam eam, quae Scythice 
vocatur circa Maeotim nascens, praedulcem 
aliam utilissimamque . .. magna et ea com- 
mendatio quod in ore eam habentes sitim 
famemque non sentiunt. — (44) 83 (33) Idem 
praestat apud eosdem hippace, distincta 
quod in equis quoque eundem effectum 
habeat, traduntque his duabus herbis Scy- 
thas etiam in duodenis dies durare in fame 
sitique. 

„Scythien entdeckte zuerst die Pflanze» 
welche Scythice genannt wird und um 
Böotien wächst. Sie ist sehr süß .. . Auch 
ist es eine Empfehlung für sie, daß Leute» 
welche etwas davon im Munde führen, 
weder Hunger noch Durst merken (33). 
Das bei den Scythen sogenannte Hippace 
leistet dasselbe und hat auch bei Pferden 
diese Wirkung. Man sagt, daß die Scythen 
vermittels dieser beiden Kräuter bis zum 
zwölften Tage Hunger und Durst ertragen.“ 

Hippace war ein Käse, aus Pferdemilch 
zubereitet, wie wir aus Hippocrates und 
Dioscorides wissen. Daher mag sich Plinius 
hier wohl geirrt haben, zumal er sich ja 
ohnehin nicht durch größte Genauigkeit 
gerade auszeichnet. 

Wegen dieser durststillenden Wirkung 
wurde Glycyrrhizon und ebenso auch eine 
Art Dattel Adipsos (= a> dtya ohne Durst) 
genannt. So hieß ja auch eine Stadt 
Adipsos, wie Plinius 3 ) angibt, wegen ihres 
Mangels an Wasser „Adipsos“: „Etiam 
Gerrhon Aegypti opidum ab aquarum in- 
opiam cognomen habet Adipson“. Diese 
Wirkung der Süßmittel auf das Durst- und 
Sättigungsgefühl ist sowohl in der Pharma¬ 
kologie wie in der Diätetik vollkommen 
übersehen worden aus dem einfachen 
Grunde, weil man die subjektiven Gemein¬ 
gefühle der Ernährung bisher gar nicht 
beachtet hat. So findet sich in den Lehr¬ 
büchern von Schmiedeberg 8 ), Tap- 

XXV (8) 43. 

a ) Hist. Nat. 

8 ) Schmiedeberg, „Grundriß der Arzneimittel¬ 
lehre". 1888. 


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Original fram 

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November 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


495 


peiner 1 ), Ewald 2 ), Clötta (Filehne) 3 ) 
nicht eine einzige Bemerkung über diese 
seltsame Wirkung der Dulcia oder des Gly- 
cyrrhizins. Die Praxis hingegen hat die 
Wirkungen der Süßigkeiten doch schon 
geahnt. Es ist physiologisch durchaus 
richtig, wie ich 4 ) bereits ausgeführt habe, 
wenn die Eltern die Genäschigkeit der 
Kinder bei Tisch verhindern und bestrafen, 
zumal wenn sie sich bei Beginn der Mahl¬ 
zeit zeigt. Nietzsches 5 ) Bemerkung be¬ 
ansprucht demnach durchaus physiologische 
Berechtigung: „Wenn wir die Mahlzeit mit 
dem Nachtisch beginnen und Süß über Süß 
kosten, was Wunders, wenn wir uns den 
Magen und selbst den Appetit verderben. 

Ist es daher für Kinder und für Appetit¬ 
lose verboten, mit Süßigkeiten und dem 
Nachtisch die Mahlzeit zu beginnen, so ist 
diese Umkehr für Entfettungskuren geradezu 
geboten. Dabei eignet sich zum Süßmittel 
für Fettleibige besonders Mannit, wie ich 6 ) 
dies angegeben habe, da dieser Süßstoff 
zugleich laxiert, oder auch aus demselben 
Grunde das schwacher abführende Glycosid 
des Süßholzes. 

Ein weiteres Unterstützungsmittel für 
Diätkuren gegen Adipositas ist die Dar¬ 
bietung von Kaffee. Auch den Brauch der 
Kochkunst, mit dem Genuß von Kaffee die 
Mahlzeit zu beschließen, hat man versucht, 
wissenschaftlich zu begründen. 

Bei der Wichtigkeit, welche die moderne 
Diätetik nun einmal auf die sekretorischen 
und chemischen Bedingungen der Nahrung 
ausschließlich legt, hat man zunächst die 
Magensaftsekretion auch zur Erklärung 
dieser Tatsache herangezogen. Nachdem 
FujitaniJ) den ziffernmäßigen Beweis ge¬ 
liefert hatte, daß Infuse von Kaffee und 
Tee schon in sehr großer Verdünnung 
deutlich die Verdauung hemmen, hat Pin- 
cussohn 8 ) nachgewiesen, daß der Kaffee 
die Magensaftsekretion steigert. Durch 
diese Beobachtung soll nach Harnack 9 ) 
die Tatsache verständlich gemacht sein, 

J ) H. Tapp einer, .Lehrbuch der Arzneimittel¬ 
lehre und Arzneiverordnungslehre 11 . 2. Aufl. Leipzig 
1895. 

а ) Ewald, „Handb. d. allgem. u. speziellen 
Arznei verordnungslehre11. Aufl. Berlin 1887. 

3 ) Cloetta, .Lehrb. d. Arzneimittellehre u. 
Arzneiverordnungslehre". 4. Aufl. v. Filehne. Frei¬ 
burg 1887. 

4 ) .Geschmack u. Appetit." Ztschr. f. physik. 
u. diät. Therap. 1907/08. Bd. XI, S 5. 

5 ) .Menschliches, allzu Menschliches." 

б ) .Ueber Dulcinol-Schokolade." Dtsch. med. 
Wochenschr. 1906, Nr. 42. 

7 ) Archives internationales de Phannacodynamie 
1905. Bd. 14. 

8 ) Münch, med. Wochenschr. 1906, Nr. 26. 

9 ) Dtsch. med. Wochenschr. 1907, S. 37. 


daß der Genuß von Kaffee nach reichlichen 
Mahlzeiten besonders beliebt ist. Damit 
wäre dann aber eine und dieselbe Erschei¬ 
nung, nämlich die Magensaftsekretion, zur 
Erklärung für zwei Erscheinungen heran¬ 
gezogen, und zwar für diametral entgegen¬ 
gesetzte. Denn einmal hat die Diätetik in 
der Human* Medizin nach Pawlows Tier¬ 
experimenten die Magensaftsekretion als 
physiologische Begründung des Reizes 
für den Appetit allgemein angesehen, und 
nun betrachtet man dieselbe Erscheinung 
als physiologische Begründung für den 
Reiz, den die Kochkunst zum Schluß der 
Mahlzeit ausübt. 

Es liegt deshalb auch hier nahe, an die 
Beeinflussung des psychischen Allgemein¬ 
gefühls zu denken, das in den beiden zu¬ 
ständigen Wissenschaften der Diätetik und 
Pharmakologie überhaupt noch nicht in 
Rechnung gezogen ist, an das Sättigungs¬ 
gefühl. Ich 1 ) habe dies bereits eingehend 
erörtert. Tatsächlich beeinflußt Kaffee in 
so hohem Maße das Sättigungsgefühl wie 
Kokain ja das gewöhnliche Schmerzgefühl 
und auch das schmerzliche Hungergefühl. 
Darin sehe ich auch den Grund für den 
allgemeinen Brauch des Kaffeegenusses am 
frühen Morgen. Wenn Hueppe 2 ) erklärt, 
daß auch für starke Leute der Genuß von 
Kaffee am Morgen ganz unsinnig erscheine, 
weil er das Gefühl der Nüchternheit zwar 
überwinde, aber dem Organismus, der von 
der Nacht her ausgeruht und ohne weiteres 
arbeitsfähig sei, schon überflüssige Reize 
zuführe, oder wenn Albu 3 ) meint, „die 
Erfrischung der Nerven am Morgen durch 
Kaffee kann durch eine kalte Waschung 
viel energischer ersetzt werden“, „die Sitte, 
das erste Frühstück mit dem Genuß von 
Kaffee oder Tee zu beginnen, läßt sich 
physiologisch gar nicht rechtfertigen“, so 
haben diese Forscher die Beeinflussung 
des Sättigungsgefühls gar nicht in Rech¬ 
nung gezogen. Unter diesem Gesichts¬ 
punkt erscheint der Kaffeegenuß doch nicht 
so unsinnig. 

Den Hunger zu verlegen, ist für den 
beruflichen Küchenmeister gar keine so 
schwierige Aufgabe. Wer vor der Mahl¬ 
zeit ein Täßchen Kaffee trinkt, kann sicher 
sein, zur Mahlzeit viel weniger Appetit zu 
haben. Deshalb verlohnt es sich, diesen 
einfachen Kunstgriff systematisch zu Ent- 

*) .Kochkunst und Ärztliche Kunst* 1907, Stutt¬ 
gart, F. Enke, S. 105. 

2 ) .Blätter für Volksgesundheitspflege." 1906, 
Heft 6. 

3 ) .Grundzüge der Ernährungstherapie", 26. Heft 
der .Physikal. Therap." v. Marcuse - Strasser 
1908, S. 43. 


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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


November 


fettungskuren anzuwenden, vorausgesetzt, 
daß der Genuß von Kaffee nicht aus be¬ 
sonderen Rücksichten verboten ist, etwa 
wegen seiner Wirkung auf das Herz. An¬ 
dernfalls ist aber das Genußmittel des 
Kaffees ein wahres Heilmittel. 

Der Kaffee verlegt den Appetit, und 
zwar wird das Genußbedürfnis nach Kaffee 
selber schon nach einer auffallend kurzen 
Zeit und bereits nach einer verhältnismäßig 
geringen Menge Kaffee gestillt. Dabei ist 
es auffallend, daß diese Wirkung sogar 
ziemlich lange anhält. Die Verführung zu 
übermäßiger Fortsetzung im Genuß besteht 
also beim Kaffee nicht wie beim Alkohol. 
Es ist darum eine ganz übertriebene Furcht 
von Sanitätsrat Lohmeyer, wenn er dem 
jungen Leopold Treibei in Fontanes 1 ) 
Roman so überaus streng warnt, nie mehr 
als eine Tasse Kaffee zu trinken. Eine 
Gewöhnung an Kaffee tritt auch nicht so 
leicht ein, wie eine solche an Alkohol oder 
Morphium sich schnell einstellt. 

Man muß beim Sättigungsgefühl wie 
beim Appetit zwei verschiedene Zustände 
unterscheiden, wie ich 2 ) schon hervor¬ 
gehoben habe: 

1. Sättigung, Appetitlosigkeit oder gar 
Ueberdruß der Nahrungsaufnahme desselben 
Nahrungsmittels gegenüber, 

2. Sättigung, Appetitlosigkeit oder gar 
Ueberdruß auch allen anderen Nahrungs¬ 
mitteln gegenüber. 

Der Kaffeegenuß befriedigt auch das 
Bedürfnis nach anderen Nahrungsmitteln. 
Kaffee verdirbt, verlegt den Appetit, er 
„zehrt“, wie der Volksmund sagt. In diesem 
Sinne ist Kaffee ein wahres Sparmittel. 

Der entgegengesetzte Fall tritt beim 
Genuß der alkoholischen Genußmittel eip. 
Denn einmal verführen diese Genußmittel 
zu übermäßiger Fortsetzung des Genusses. 
Sodann machen sie auch Appetit auf an¬ 
dere Nahrungsmittel. 

Ein weiterer Fall steht in dieser Be¬ 
ziehung dem Kaffee gegenüber in den 
Süßigkeiten. Der Genuß der süßen Genuß- 
mittel, welche jeder gern nascht, ladet 
zur Fortsetzung des Genusses ein. Süßig¬ 
keiten „schmecken nach mehr“, wie sich 
der Volksmund ausdrückt. Die süße Ge¬ 
schmacksqualität ist allgemein beliebt beim 
Menschen und beim Tier. Allein anderer¬ 
seits sättigen Süßigkeiten oder rufen wenig¬ 
stens das Sättigungsgefühl hervor und ver¬ 
legen den Appetit. 

Schließlich ist aber noch ein vierter 

*) »Frau Jenny Treibei“, 8. Kapitel. 

2 ; »Geschmack und Appetit". Ztschr. f. diät. u. 
phys. Th. 1907/08, Bd. 11, S. 4/5. 


Fall möglich. Bittermiltel wirken unange¬ 
nehm und können selbst Ekel hervorrufen. 
Kein Mensch verlangt etwa fortzufahren 
mit ihrem Geschmack. Trotzdem oder viel¬ 
leicht sogar deswegen machen die Bitter¬ 
mittel Appetit auf andere Geschmacks¬ 
qualitäten. Es ist bemerkenswert, daß 
diese Wirkung allen Bittermitteln ohne 
Ausnahme zukommt. Entstammen doch die 
arzneilichen Bittermittel den allerheterogen¬ 
sten chemischen, physiologischen und phar¬ 
makologischen Klassen. Daraus geht schon 
hervor, daß es lediglich der bittere Ge¬ 
schmack ist, dem diese Wirkung auf den 
Appetit zukommt. Das allein deutet bereits 
die hervorragende Einwirkung des Ge¬ 
schmacks auf den Appetit an. 

Es besteht also in beiden Punkten eine 
Gegensätzlichkeit zwischen den süßen und 
bitteren Geschmacksmitteln. Ebenso be¬ 
steht in beiden Punkten eine Gegensätz¬ 
lichkeit in der Wirkung von Kaffee und 
Bier auf den Appetit. Zwar schmeckt auch 
das wirksame Prinzip im Kaffee, das Kof- 
fein-Trimethylxanthin, wie alle Alkaloide, 
bitter, wenngleich bloß in geringer Inten¬ 
sität. Daher müßte man wohl annehmen, 
daß dieser bittere Geschmack den Kaffee 
wie alle anderen Amara zu einem appetit¬ 
anregenden Mittel macht. Allein diese 
direkte Wirkung des bitteren Geschmacks, 
die äußere und örtliche Beeinflussung des 
Sinnes mit ihren Reflexen auf den Appetit 
wird aufgehoben und noch übertroffen 
durch den Antagonismus, welcher die in¬ 
direkte, innere entfernte Wirkung auf das 
Sättigungsgefühl nach der Resorption des 
Koffeins bedingt. Wird ja auch der Hun¬ 
ger offenbar von zweierlei ganz verschie¬ 
denen entgegengesetzten Zuständen be¬ 
herrscht. Erregt und beseitigt wird das 
Hungergefühl sowohl von äußeren Zu¬ 
ständen, welche in der Magenschleimhaut 
vor sich gehen (Magendusche), wie von 
inneren, die im Blut vor sich gehen. Schon 
diese eine Tatsache drängt zu der An¬ 
nahme, daß das Hungergefühl, worauf ich 1 ) 
schon wiederholt hingewiesen habe, zu den 
Kitzelgefühlen zuzuzählen ist. Denn die 
Kitzelgefühle sind neben manchen anderen 
Besonderheiten noch dadurch ausgezeich¬ 
net, daß sie gleichermaßen von äußeren 
wie von inneren Reizen erregt und be¬ 
seitigt werden können. So erklärt sich die 
sättigende und durstlöschende Wirkung 
des Kaffees trotz der Flüssigkeitszuführung, 
trotz der diuretischen Wirkung und trotz 
des angenehmen leicht bitteren Geschmacks. 

*) »Die physiologische Begründung des Hunger¬ 
gefühls", Ztschr. f. Sinnesphysiolog. 1910. 


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November 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


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Dem Kaffee steht in pharmakologisch- 
diätetischer Wirkung und in seiner sinn¬ 
physiologischen Eigenschaft auf den Ge¬ 
schmack die Schokolade sehr nahe. Ist ja 
auch das wirksame Prinzip Theobromin- 
Diraethylxanthin mit dem Koffein-Trimethyl- 
xanthin selbst chemisch sehr eng ver¬ 
wandt. Der Geschmack ist angenehm und 
leicht bitter. Aber auch abgesehen von 
dieser Bitterkeit ist der Charakter im Ge* 
schmack der Schokolade dem des Kaffees 
sehr ähnlich, so daß man Kaffee Schokolade 
zum Essen überall anfertigt und sogar 
Trinkschokolade mit einer Tasse Kaffee in 
den Cafes mischt. Die Örtliche Wirkung 
des bitteren Geschmacks der Schokolade 
auf den Appetit wird durch die innere re- 
sorptive Wirkung aufgewogen, diese ist 
sogar überwiegend. So kommt es, daß auch 
Schokolade auf das Sättigungsgefühl wirkt. 

Eine Umfrage bei vielen in Schokolade¬ 
fabriken beschäftigten Herren und Mädchen, 
welche Schokolade sehr gern essen, ergab 
folgendes Resultat: Uebereinstimmend war 
das Urteil, daß Schokolade jedenfalls nicht 
Appetit macht. Weder auf andere Nah¬ 
rungsmittel wirkt sie appetitanregend, noch 
verlockt sie zu besonderer Fortsetzung des¬ 
selben Genusses, wenigstens nicht für 
längere Zeit. Im Gegenteil, so gab man 
allgemein an, verlegt der Genuß von auch 
nur geringen Quantitäten Schokolade den 
Appetit auf die spätere Mahlzeit. Ueber- 
einstimmend lautete das Urteil regelmäßig, 
daß Schokolade sättigt, dermaßen, daß. 


wenn man etwa zur Unzeit, z. B. kurz vor. 
dem Mittagbrot, Schokolade gegessen oder 
auch nur gekostet hat, zu gewerblichen 
Zwecken „abgeschmeckt“ hat, man sicher 
sein kann, sich den Appetit auf das Mittag¬ 
essen verdorben zu haben. Einstimmig 
war die Antwort, daß die Tatsache in den 
fachgewerblichen Kreisen längst allgemein 
bekannt sei. Ebenso ausnahmslos lautete 
die regelmäßige Antwort, daß dagegen der 
Genuß von Bier die gegensätzliche Wir¬ 
kung habe. Alle die Fragen wurden völlig 
unbefangen ohne irgendwelche Beeinflussung 
gestellt. Die Befragten hatten natürlich 
nicht die geringste Ahnung, weshalb ich 
diese Fragen an sie richtete. Die von 
j ihnen angegebenen Tatsachen erschienen 
ihnen so selbstverständlich und auch so all- 
| gemein bekannt, daß sie schon über die 
I bloße Anfrage verwundert erschienen und 
! an den Ernst der Fragen zuerst gar nicht 
recht glauben wollten mitunter. 

Es verlohnt sich, diese Tatsachen syste¬ 
matisch und methodisch für Entfettungs- 
1 kuren heranzuziehen. Diese Maßnahmen 
| im Verein mit meinen früheren Ratschlägen 
! der Verwendung von Anästheticis, um durch 
| die Einwirkung auf die Zunge, wie ich 1 ) 

| bereits angegeben habe, den Appetit herab- 
| zusetzen, und durch ihre Einwirkung auf 
I die Magenschleimhaut das Hungergefühl 3 ) 

I zu vermindern, bilden meine neuen Gesichts- 
I punkte für Entfettungskuren, welche ich 
| den bisherigen, kürzlich von Bergmann 3 ) 

| zusammengefaßten hinzufüge. 


Prinzipien der Behandlung von Hernien. 

Von F. Karewski-Berlin. 


Die Lehre von der Behandlung der 
Darmbrüche gehört zu den wenigen Ka¬ 
piteln der Medizin, welche nach feststehen¬ 
den Grundsätzen geregelt sind. Es gibt 
keine Differenz der Ansichten daiüber, wie 
im allgemeinen mit Personen zu verfahren 
ist, welche Träger einer freien oder einer 
immobilen Hernie sind, oder infolge einer 
Brucheinklemmung in Lebensgefahr schwe¬ 
ben. Aber es wäre ein Irrtum, daraus zu 
schließen, daß es für den Arzt eine ein¬ 
fache Aufgabe ist, im Einzelfalle seine 
Pflicht gegenüber dem Klienten ausreichend 
zu erfüllen. Wer allerdings glauben würde, 
seine Schuldigkeit getan zu haben, wenn 
er bei Konstatierung eines Bruchleidens 
dem Patienten die Adresse eines guten 
Bandagisten, oder falls ein Eingriff vorteil¬ 
hafter erscheint, einen vertrauenswürdigen 
Operateur empfiehlt, hätte schnelle Arbeit 
getan. In dem Wesen des gewissenhaften 


Arztes jedoch liegt es, bei jeder Ausübung 
| seiner Kunst die Individualität zu berück¬ 
sichtigen, nicht zu schematisieren. Diese 
Art heilbringender Tätigkeit bedeutet zwar 
1 eine Erschwerung, zugleich indessen die 
| wahre Freude im Beruf, und sie ist vor 
| allen Dingen die Grundlage des Erfolges, 
j Auch die wirksame Behandlung 
von Hernien ist abhängig davon, 
daß der Arzt alle Verhältnisse des 
jeweiligen Falles nicht nur in bezug 
auf die Form und Oertlichkeit des 
Leidens, sondern auch die äuße¬ 
ren Lebensbedingungen des davon 
Befallenen in Betracht zieht und 
nach diesen seine Indikationsstel- 

i l ) »Geschmack und Appetit - , Ztschr. f. Sinnes- 
i physiologie 1908, Bd. 43. S. 332. 

2 ) „Anästhetika als Genußmittel und Arzneimittel 
fflr Diätkuren - , MQnch. med. Wochschr. 1910. 

I 3 ) „Neuere Gesichtspunkte bei Entfettungskuren - , 

I Berl. klin Woch. 1910, Nr. 14. 

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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


November 


lung richtet. Das lokale Uebel ist in 
seiner Bedeutung verschiedenartig zu be¬ 
urteilen. Nicht bei allen Menschen er¬ 
fordert die gleiche anatomische Abnormität 
dieselbe Behandlungsmethode und nicht 
immer ist das äußerlich gleichartig erschei¬ 
nende Krankheitsbild von analoger Be¬ 
schaffenheit. Lebensalter, Konstitution, so¬ 
ziale Lage der Patienten schaffen ebenso* 
viele Varietäten, wie Oertlichkeit, Inhalt, 
sekundäre Veränderungen der Hernie. Es 
ist nicht Sache des Geschmacks oder 
des Temperaments in dem Sinne, 
daß der eine mehr der konservativen, 
der andere mehr der blutigen The¬ 
rapie zuneigt, sondern Aufgabe 
gründlicher Beobachtung und aus¬ 
reichender Kenntnisse darüber zu 
entscheiden, ob Bruchband oder 
Bruchmesser in Aktion zu treten 
haben. 

Eröffnen schon diese Tatsachen dem 
Praktiker eine weite und abwechslungs¬ 
reiche Perspektive für seine Betätigung, so 
hat er überdies viel Gelegenheit, seinen 
diagnostischen Scharfsinn zu beweisen und 
sozusagen prophylaktisch zu wirken, durch 
Erkennung von Hernien, die in der Ent¬ 
stehung begriffen, noch nicht die Kardinal¬ 
symptome, Geschwulst und Reponibilität 
zeigen, und von solchen, die an ungewöhn¬ 
lichen Stellen auftreten. Beanspruchen 
letztere wegen der Schwierigkeit ihrer Er¬ 
kennung besonderes Interesse, so ver¬ 
dienen auch die Anfänge der Ingui¬ 
nal-, Crural- und medianen Bauch¬ 
brüche wegen der Leichtigkeit diagnosti¬ 
scher Fehler Beachtung. Bei Mangel äußerer 
Erscheinungen täuschen sie durch allerlei 
quälende, von den gezerrten inneren Ab¬ 
dominalorganen herrührende Symptome 
Krankheitsbilder vor, die so lange mit 
vielerlei medikamentösen oder physikali¬ 
schen Methoden vergeblich behandelt wer¬ 
den, bis die sorgfältige und kritische Ex¬ 
ploration an der Nachgiebigkeit einer Bruch¬ 
pforte oder mit der Entdeckung eines kleinen 
subkutanen Tumors das Krankheitsbild auf¬ 
klärt, wenn nicht gar eine — bei rechtzei¬ 
tiger Erkennung vermeidbar gewesene — 
Inkarzeration plötzlich herausgepreßter Ein¬ 
geweide eine überaus ernste Situation 
schafft. Wenngleich diese Vorkommnisse 
nicht eigentlich in den Rahmen unserer 
Betrachtung liegen, erinnern wir wegen 
ihrer Wichtigkeit an die Verwechslung 
von Appendizitis mit Hernia inguinalis in- 
cipiens, von Magengeschwür oder Gallen¬ 
steinkolik mit kleinsten Hernien der linea 
alba, von neuralgischen oder hysterischen 


Zuständen mit unentwickelter Hernia cru- 
ralis. Verschwindend an Zahl gegenüber 
diesen sehr gewöhnlichen Vorkommnissen 
sind die darum nicht minder wichtigen, 
aber gerade wegen ihrer Seltenheit meist 
übersehenen Ausstülpungen des Bauch¬ 
felles am Foramen obturatorium und 
ischiadicum, ferner die lumbalen und 
perinealen, welche gleichfalls oft lange 
Zeit unbestimmte und schwer zu erklärende 
Beschwerden vermitteln, auf deren Ursache 
aber ein gewissenhafter und auf der Höhe 
wissenschaftlicher Ausbildung stehender 
Arzt unter solchen Umständen auch nach 
der Richtung fahnden muß, daß er die 
Möglichkeit eines Bruches erwägt. 

In all diesen Fällen bedeutet seine Auf¬ 
findung nicht nur die Möglichkeit einer 
ätiologischen Therapie, da mit der kunst¬ 
gerechten Versorgung der Hernie die augen¬ 
blicklichen Klagen der Kranken beseitigt 
werden, sie hat den noch viel größeren 
Wert, daß der Arzt es dann in der Hand 
hat, seine Patienten vor lebensgefährlichen 
Zufällen zu schützen. 

Wenn also auch im wesentlichen 
von einer Behandlung der Hernien 
erst die Rede sein kann, sobald eine 
Geschwulstbildung den davon Be¬ 
fallenen auf sein Leiden aufmerksam 
gemacht und zum Arzt geführt hat, 
so haben wir doch stets im Auge zu 
behalten, daß eine gewisse Zahl von 
Gesundheitsstörungen im Bereich der 
Abdominalorgane und der Becken¬ 
nerven für die klinisch nicht ohne 
weiteres ein Substrat gefunden wer¬ 
den kann, auf die sogenannten „An¬ 
lagen“ zu einem Bruch oder auf 
kleine noch im Entstehen begriffene 
durch dicke Gewebsschichten ver¬ 
borgene Hernien zurückzuführen 
sind. 

Die Gelegenheiten dazu sind groß an 
Zahl, nämlich überall wo das Bauchfell 
über „schwache“ Stellen der Abdominal¬ 
wand hinwegzieht. Lassen wir die durch 
krankhafte Veränderungen in der Musku¬ 
latur, also Eiterungen, Lähmungen, Traumen, 
entstandenen außer Rechnung, so hat auch 
der gesunde Mensch einmal an jedem 
Punkte, wo aus dem Bauchraum sich Ge¬ 
fäße, Nerven und Bandapparate nach außen 
begeben, in der Regel freilich gut ver¬ 
schlossene OefFnungen, alsdann durch die 
anatomische Anordnung der Muskelwand 
bedingte widerstandsunfähige Gebiete, durch 
welche das Bauchfell sich ausstülpen kann. 
Von ihnen sind der Inguinal- und Krural- 
kanal und die Nabelnarbe praktisch die 


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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


499 


wichtigsten. Aber die Muskelbedeckung 
der Lumbalgegend und des Beckenbodens 
präsentiert Spalten, die Vereinigung der 
Musculi recti in der Linea alba leicht dehn¬ 
bare Partien. An all diesen Orten kann 
durch einmalige vehemente oder öfter sich 
wiederholende Steigerung des Binnen¬ 
druckes im Bauche ein Darmvorfall be¬ 
günstigt werden. Es ist erwiesen, daß bei 
prädisponierten, aber scheinbar bis dahin 
gesunden Individuen infolger sehr starker 
Anstrengung der Bauchpresse in nicht sel¬ 
tenen Fällen ganz plötzlich ein Austritt 
von Eingeweiden durch eine Bruchpforte 
zustande kommen kann, und daß bei Leuten 
mit Schwierigkeiten der Stuhl- und Harn¬ 
entleerung sich häufig Brüche ausbilden. 
Wenn diese Behauptung mangels statisti¬ 
scher Nachweise nicht unbestritten ge¬ 
blieben ist, so besteht sie darum nicht 
minder zu Recht. Die Untersuchungen von 
Hans Schmidt und mir, die ich seither 
unzählige Male sich bestätigen gesehen 
habe, haben einen unzweifelhaften Zu¬ 
sammenhang zwischen Phimose und Hernie 
kleiner Knaben ergeben. Bei mit Prostata¬ 
hypertrophie behafteten alten Männern 
entwickelt sich infolge des vermehrten 
Pressens beim Urinieren, die an sich sel¬ 
tenere direkte Leistenhernie, der Geburts¬ 
akt vergrößert kleine Nabelbrüche oder 
bringt latente zur Erscheinung. Stenosen | 
in den unteren Darmabschnitten, welche 
bei der Defäkation übermäßiges Pressen 
erfordern, können an den verschiedensten 
Bauchabteilen Hernien hervorbringen. Das 
wird nun um so leichter der Fall sein, je 
dünner und mangelhafter ausgebildet die 
Muskulatur in der Umgebung der Lücken 
sind, je weniger sie also dem auf sie aus¬ 
geübten Druck Stand halten können. 

Die Schlußfolgerung ist eine gegebene: 
Besteht schon bei allen Menschen 
Ursache die Darmtätigkeit zu regeln, 
Hindernisse für die Kot- und Urin¬ 
entleerung zu beseitigen, so ist das 
besonders der Fall bei denjenigen, 
welche Symptome einer Bruchanlage 
oder einen fertigen Bruch haben. 
Man verhüte bei ihnen übermäßige An¬ 
strengung der Bauchpresse und halte sie 
fern von Beschäftigungen, welche die Bauch¬ 
muskulatur erheblich in Anspruch nehmen. 
Da aber auf der anderen Seite die Bruch¬ 
anlage durch nichts besser bekämpft wird, 
als durch Stärkung der Bauchwand, so an¬ 
empfehle man alle Uebungen, welche in 
vernünftigem Maße ausgeführt, die Musku¬ 
latur zu kräftigen geeignet sind. Rumpf- 
heben und -beugen, gymnastisches Turnen 


aller Art, Körperbewegungen jeden Genres, 
so weit sie in das Gebiet orthopädischer 
Uebungen fallen, sind am Platze — andere 
wie Springen, Uebungen am Reck, Spiele, 
die Körpererschütterungen bedingen, ver¬ 
biete man. 

Besitzen wir demnach in diätetisch¬ 
physikalischen Maßnahmen einen Heilfaktor 
gegen beginnende Brüche, so erheischt die 
Vorsicht weitere Vorbeugungsmittel. 
Denn auch die gewissenhafteste Innehal¬ 
tung ärztlicher Verbote garantiert keine 
Sicherheit gegen alle Ereignisse und auch 
der bedächtigste Mensch kann nicht so auf 
der Hut sein, daß er jederzeit auf einen 
ihm kaum zum Bewußtsein kommenden 
körperlichen Fehler Rücksicht nimmt. Und 
gerade Hernien mit kleinen Bruchpforten 
bieten bei plötzlichem Austritt von Ein¬ 
geweiden die größte Möglichkeit zur In¬ 
karzeration. Der Reisende, welcher einen 
Koffer vom Gepäckrast ins Kupee langt, 
der Vater, der ein ihm entgegenspringen¬ 
des Kind hochhebt, die Hausfrau, welche 
einen zur Erde gefallenen Gegenstand an 
Ort und Stelle zurückbringt, schwebt, so¬ 
fern eine Bruchanlage vorhanden ist, in 
dieser Gefahr. Deswegen bedarf jede er¬ 
weiterte Bruchpforte mehr noch jede, wenn 
auch noch so kleine ausgebildete Hernie 
des Schutzes durch ein geeignetes Bruch¬ 
band. Und es ist Aufgabe des Arztes 
die sachgemäße Anfertigung der Bandage 
ebenso wie deren korrekte Applikation 
sorgfältig zu beaufsichtigen. 

Es ist ein großer, aber leider noch 
häufig vorkommender Fehler, daß 
die Auswahl und die Vorschriften 
für die Benutzung des Bruchbands 
dem Bandagisten überlassen werden. 
So simpel wie die Sache zu sein scheint, 
ist sie durchaus nicht. Es ist im Gegen¬ 
teil geradezu erstaunlich, welche Monstra 
von Bruchbändern, und welche Verkehrt¬ 
heiten bei ihrer Benutzung man zu sehen 
bekommt. Wenn auch in vielen Fällen die 
fabrikmäßig hergestellten Instrumente aus¬ 
reichen, so sollte doch zur unbedingten 
Forderung erhoben werden, daß jedes ein¬ 
zelne der Individualität angepaßt wird, und 
daß jeder Bruchkranke genau in der An¬ 
legung seines Schutzmittels unterwiesen 
wird. 

Wie aber soll eine gute Bruchbandage 
beschaffen sein? Sie muß eine Pelotte 
haben, die, aus weichem, elastischem und 
resistentem Material gefertigt, gerade groß 
genug ist, um den Defekt in der Bauch¬ 
wand zu decken, in ihrer Form und Polste¬ 
rung sich der Gestalt der Bruchpforte 

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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


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und ihrer Umgebung anschmiegt. Die 
Feder muß der Gestaltung des Körpers 
entsprechend gebogen sein, damit sie 
keinen unnötigen und lästigen Druck aus* 
Qbt, sie darf keine stärkere Kompression 
der Pelotte bewirken, als gerade der 
Pressung austretender Eingeweide ent¬ 
spricht, auch ohne Hilfsriemen soll die 
Bandage festen Halt haben. 

Die Unzahl verschiedener Modelle und 
der täglich noch sich häufenden Neuerfin- 
dungen auf diesem Gebiet verdankt ihre 
Herkunft den Schwierigkeiten, dieser For¬ 
derung gerecht zu werden. Aber der Haupt¬ 
grund liegt weniger an der mangelhaften 
Brauchbarkeit der vorhandenen Formen als 
an der geringen Intelligenz mit der sie 
für den einzelnen Fall ausgenutzt werden. 
Unrichtige Form der Pelotte sucht man 
durch kräftigere Federn auszugleichen, zu 
gewaltsam einwirkenden Federdruck durch 
dickere Polsterung. Falsche Berechnung 
der Bruchöfthung fahrt zur Vergiößerung 
der Deckplatte, Unbequemlichkeiten, welche 
von diesen hervorgerufen werden, veran¬ 
lassen die Patienten, auf eigene Faust 
Unterlagen einzufagen, oder die Applika¬ 
tionsstelle zu wechseln, und damit den 
Druck auf eine verkehrte Oertlichkeit zu 
bringen. Vielfach wird zu wenig Akkura¬ 
tesse auf die Reposition der vorgefallencn 
Eingeweide ausgeQbt, oder ein irreponibler 
Teil mit dem Bruchband sozusagen ver¬ 
steckt. 

Die Konsequenzen falsch kon¬ 
struierter Bruchbänder sind leicht zu 
abersehen. Entweder wird die Hernie 
nicht ordentlich zurackgehalten, schlüpft 
bei geeigneter Gelegenheit unter der Ban¬ 
dage hervor, so den Zweck der ganzen 
Anordnung verhindernd, oder die unge¬ 
hörige Gewalteinwirkung erzeugt Reizung 
nicht nur der Haut, sondern auch des 
Bruches selbst und fahrt zu adhäsiven Pro¬ 
zessen in seinem noch partiell vorliegen¬ 
den Inhalt, oder Druck auf bereits irre- 
ponible Eingeweide erzeugt unerträgliche 
Beschwerden, oder aber die unförmige und 
zu heftig federnde Pelotte bringt Atrophie 
der Bedeckungen hervor, vergrößert das 
Leiden, anstatt es zu verringern. 

Was den kurativen Effekt betrifft, so 
muß man überhaupt an der Tatsache fest- 
halten, daß ein Bruchband mit ganz ver¬ 
schwindenden Ausnahmen niemals ein 
Heil-, sondern nur ein Schutzmittel dar¬ 
stellt. Wir können seiner, so lange wir 
konservative Therapie üben wollen, nicht 
entbehren, aber wir müssen uns bewußt 
sein, daß seine Wirkung auch als Prohi- 


bitiv gegen Einklemmung gewaltsam vor¬ 
gedrängter Teile eine beschränkte ist, daß 
sie abhängig ist von der gleichzeitigen Be¬ 
folgung der oben genannten anderen Vor¬ 
schriften für Bruchkranke und von dem 
guten Sitz des Instrumentes. Am Nabel 
und in der Linea alba ist es überaus 
schwer eine geeignete Bandage zu kon¬ 
struieren, weil diese Region keine Fixie¬ 
rung gestattet, bei vielen Kranken wider¬ 
spricht zu große Fettansammlung oder zu 
erhebliche Magerkeit seiner Benutzung, 
bei keinem Menschen kann am Perineum 
am Foramen obturatorium und ischiadicum 
ein brauchbares Bruchband angebracht 
werden. Hierzu kommt, daß seine Appli¬ 
kation auch an anderen Stellen nur dann 
erlaubt ist, wenn der Bruchinhalt völlig in 
die Bauchhöhle zurückgebracht werden 
kann, was durchaus nicht immer der Fall 
ist. Sobald verändertes Netz oder am 
Bruchsack ar gewachsene Eingeweide nicht 
mehr zurückschlüpfen können, ist die An¬ 
legung eines Bruchbandes kontraindiziert. 
In Ausnahmefällen kann allerdings die Ver- 
lötung des vorgefallenen Teiles mit der 
Bruchpforte wohl so fest sein, daß sie an 
sich eine solide, dem Andrängen der 
Bauchpresse festen Widerstand leistende 
Pelotte darstellt, meist aber hindert dieses 
Verhältnis einen guten Verschluß und er¬ 
laubt ein Herauszerren von Darm oder 
Omentum neben der Adhärenz. Man kann 
sich dann hin und wieder wohl damit be¬ 
helfen, daß bei kleiner irreduzierbarer 
Bruchgeschwulst eine konkave Pelotte ge¬ 
wählt wird, die nach Reposition der be¬ 
weglichen Teile in ihrer Höhlung die 
fixierten aufnimmt, und mit ihren aufge- 
polsterten Rändern das Ganze bedeckt. 

Schließlich kann auch die Bruchpforte 
so groß, die Eventration so umfangreich 
werden, daß kein mechanisches Zurück¬ 
halten möglich bleibt. Man muß sich häufig 
damit begnügen von einem Suspensorium 
oder ähnlichen beutelförmigen Vorrich¬ 
tungen die Last des Vorfalls tragen zu 
lassen, aber einen Schutz gegen Einklem¬ 
mung gewinnt man natürlich damit nicht. 

Aus alledem geht hervor, daß ein 
Nutzen der Bruchbänder nur bei 
sorgfätiger ärztlicher Beobachtung 
zu erwarten ist, daß sie an sich ein 
oft recht zweifelhaftes Palliativ¬ 
mittel darstellen und vielfach gar 
nicht in Benutzung genommen wer¬ 
den können. Es kann indessen nicht ge¬ 
leugnet werden, daß bei vernünftiger Bruch¬ 
bandbehandlung viele nicht zu umfang¬ 
reiche Hernien jugendlicher Individuen 


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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


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sonst korrektes Verhalten der Patienten 
vorausgesetzt, zur Dauerheilung gebracht 
werden, daß viele andere Bruchleidende 
ihr Leben lang durch die mechanische Zu¬ 
rückhaltung der Eingeweide von allen 
schädlichen Folgen ihrer Mißbildung be¬ 
wahrt bleiben. Namentlich Kranke der 
ersten Lebensjahre, bei denen das Wachs¬ 
tum ein physiologisches Bestreben die 
fehlerhafte Anlage auszugleichen mit sich 
bringt, die Kräftigung der Muskulatur, die 
Verdickung des Fettpolsters zum Verschluß 
der Bruchpforte beitragen, haben die gün¬ 
stigsten Chancen. Gerade bei ihnen ist 
aber peinliche Fernhaltung aller Schädlich¬ 
keiten dringendes Erfordernis. Es wäre 
müßig, diese Schädlichkeiten und ihre Be¬ 
seitigung zu erörtern, denn sie sind gleich- | 
bedeutend mit den Vorschriften für die i 
Hygiene des Kindesalters, gute Hautpflege, | 
vernunftgemäße Ernährung, Förderung der 
gesamten Entwicklung, und mit der The- j 
rapie von Störungen des Respirations- und 
des Magendarmtraktus. I 

Schwieriger zu beantworten ist die 
Frage, wie lange, bis zu welchem 
Lebensjahre man Kinder ein Bruch¬ 
band tragen lassen soll. Es können 
nämlich die äußeren Erscheinungen einer 
Hernie völlig verschwunden, aber deren 
anatomische Grundlagen noch vorhanden 
sein. Es mag also so lange keine Bruch¬ 
geschwulst auftreten, wie keine Körper¬ 
anstrengungen gemacht werden, während 
doch in dem unvorhergesehenen Wieder¬ 
austritt von Eingeweiden die Gefahr der 
Einklemmung liegt. Eine präzise Vorschrift 
läßt sich nicht geben. Bei dem einen Fall 
kann die Verödung der Bruchpforte 4 bis 
6 Wochen, bei dem anderen ebenso viele 
Monate, bei vielen anderen mehrere Jahre 
erfordern. Man hilft sich am besten so, 
daß man nicht eher erlaubt, auf die Ban¬ 
dage zu verzichten, als bis jede Andeutung 
einer Darmvorwölbung auch bei Husten 
und Schreien verschwunden ist, daß man 
auch dann noch täglich durch die wohl in¬ 
struierten Eltern den dauernden guten Zu¬ 
stand kontrollieren läßt, und sobald auch 
nur die Vermutung einer neuen Anschwel¬ 
lung sich bemerkbar macht, das Bruch¬ 
band wieder anlegt. Nicht gar so selten 
hat eine ängstliche Mutter Recht mit ihren 
Angaben, die durch den ärztlichen Unter¬ 
suchungsbefund widerlegt zu sein scheinen, 
weil oft nur ganz vorübergehend die Er¬ 
scheinung bemerkt wird. 

Immerhin sieht man, daß der Wunsch 
nach radikal wirkenden Methoden ein 
sehr berechtigter ist Sie intendieren eine 


feste Obliteration der Bruchpforte, derge¬ 
stalt, daß kein Bauchinhalt mehr heraus¬ 
kommen kann. 

ln das Gebiet historischer Kuriositäten 
gehören die vielfachen Versuche durch 
subkutane Verletzungen den Bruch¬ 
sack zur Entzündung und Verödung 
zu bringen. Zu gleichem Zweck hat 
man mit mehr oder weniger Glück die Ein- 
Spritzung entzündungserregender 
und feste Narben bildender Mittel aus¬ 
geführt. Velpeau, Jobert u. A. brachten 
Jodtinktur in den Bruchsack mit nicht 
größerem Erfolg und mit nicht geringeren 
Nachteilen, als man bei Hydrozelen damit 
erzielt hat. Luton umgab den Sack mit 
starken Salzlösungen, Schwalbe irri¬ 
tierte die Bruchpfeiler durch Alkohol, 
Lannelongue erzeugte sklerotisches Ge¬ 
webe mit Chlorzink, ln den letzten 
Jahren wurde auch mit Paraffininjek¬ 
tionen nach Gersuny ein Verschluß der 
Bruchpforte intendiert. Derartige Depöts 
stellen natürlich nichts anderes dar wie 
eine subkutane Bruchpelotte, sie haben so¬ 
gar dieselbe Eigenschaft wie Bandagen, 
nämlich die, daß sie sich durch Wanderung 
des Paraffins verschieben können. 

Die wirksamste Art scheint die der In- 
jektion von Alkohol zu sein, aber auch 
sie hat den Nachteil, daß sie sehr viel Zeit 
beansprucht, weil die Einspritzung vor¬ 
herige und bleibende Reposition des In¬ 
halts voraussetzt, und deshalb nach jeder 
Applikation 2—3 Wochen Bettruhe erfor¬ 
derlich ist, ferner in der Regel das Ver¬ 
fahren mehrere Male wiederholt werden 
muß, und endlich nicht immer der asep¬ 
tische Verlauf garantiert ist, sondern Ver¬ 
eiterungen sich ereignen. 

Nichtsdestoweniger kann bei jugend¬ 
lichen Individuen diese Behandlungsart 
versucht werden, sofern bei ihnen die 
Scheu vor einer Operation oder irgend ein 
ernsthafter Grund gegen diese spricht. 

Denn das Idealverfahren der radi¬ 
kalen Beseitigung ist und bleibt 
blutiges Eingreifen. Seine Gefahren 
sind in Händen eines geschickten Opera¬ 
teurs und unter selbstverständlicher Be¬ 
herrschung moderner Technik nicht 
größer als die subkutaner Einspritzungen. 
Die Einfachheit der neuen Methoden, 
die Sicherheit der Dauerheilung, die 
kurze Zeit des Krankenlagers, die von 
Jahr zu Jahr sich verringernde Zahl der 
Mißerfolge machen es begreiflich, daß die 
Mehrzahl aller Chirurgen, das Messer als 
einzige rationelle Therapie der Hernien 
betrachtet, und mit Ausnahme kleiner Kin- 


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502 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


November 


der alle Bruchleidenden als Gegenstand 
seiner Betätigung ansieht, daß viele auch 
diese Eximierung nicht anerkennen. Die 
von Czerny inaugurierte, von Mac Ewen, 
Bassini, Kocher, Graser und Anderen 
ausgebildete Radikaloperation freier und 
immobiler Hernien ist eine eigene Wissen¬ 
schaft geworden, basiert auf der feinsten 
Kenntnis anatomischer Verhältnisse, auf 
der künstlerischen Beherrschung chirurgi¬ 
scher Manipulationen und auf der Wucht 
statistischer Zahlen. Sie stellt dem Lei¬ 
denden volle funktionelle Heilung in Aus¬ 
sicht und befreit ihn mit einem Schlage 
von allen Bedenklichkeiten seiner lästigen 
Anlage. Sie eröffnet dem einen Beruf 
wählenden Menschen die Möglichkeit, jede 
Tätigkeit, die ihm sonst verschlossen war, 
auszusuchen und dem im Kampf ums Da¬ 
sein durch das fatale Leiden unterliegen¬ 
den, seine volle Arbeitsfähigkeit wieder zu 
erlangen. Sie hat aus diesem Grunde einen 
hohen sozialen Wert 

Es kann deswegen nicht Wunder neh¬ 
men, daß die Radikaloperation der Hernien 
zu den häufigsten und mit den glücklichsten 
Ausgängenfausgeführten blutigen Eingriffen 
gehört. Aber nie htsdestoweniger soll 
der Arzt nicht kritiklos jeden Bruch¬ 
leidenden dem Messer überweisen. 
Auch die allerbesten Erfahrungen werden 
durch gelegentliche Fehlschläge, sei es in 
dem unmittelbaren Effekt der Operation, 
sei es in nicht ganz vermeidbaren Rezi¬ 
diven hin und wieder zu Schanden gemacht. 
Deshalb tut eine weise Vorsicht nach zwei 
Richtungen not. Man soll Patienten, 
die voraussichtlich auf konserva¬ 
tivem Wege geheilt werden können, 
zunächst abwartend behandeln, und 
andere, die in ihrem Allgemeinzu¬ 
stand Kontraindikationen bieten, 
überhaupt von der Operation aus¬ 
schließen. 

Wie wir schon erwähnten, kann bei 
Kindern und jugendlichen Individuen ge¬ 
eignetes Verhalten eine Verödung der 
Bruchforte herbeiführen. Bei ihnen würde 
also nur eine bedingte Anzeige zur 
Radikaloperation anzuerkennen sein, deren 
Grundlagen im wesentlichen Undurchführ¬ 
barkeit der anderen Methode abgibt. 

Das Alter ist an sich gleichgültig, 
selbst Kinder in den ersten Lebensmonaten 
werden durch sachgemäßen, d. h., mög¬ 
lichst unkomplizierten blutigen Verschluß 
der Bruchpforte wenig gefährdet. Die ein¬ 
zige Bedenklichkeit liegt in Erhaltung der 
Asepsis. Da man aber bei ihnen, wie ich 
gezeigt habe, mit dem Abbinden der mög¬ 


lichst hoch abgetragenen Peritonealaus¬ 
stülpung, der man allenfalls einige Suturen 
an den Bruchpfeilern hinzutügt, auskommt, 
also eigentlich nichts weiter als eine ober¬ 
flächliche fest vernähte Wunde setzt, so 
genügt ein häufiger bei jeder Durchnässung 
vorzunehmender Verbandwechsel, um In¬ 
fektionen zu umgehen. Es sind denn auch 
in der Kasuistik nur ganz vereinzelte 
Todesfälle zu verzeichnen gewesen und 
nur sehr wenig Rezidive beobachtet wor¬ 
den. Das was die Vis medicatrix naturae 
bei Kindern an sich zu leisten imstande 
ist, wird ihr erleichtert durch Schaffung 
günstiger Verhältnisse, d. h. durch Ent¬ 
fernung der Bauchfellausstülpung. Die ge¬ 
ringe Zahl von Mißerfolgen betrifft Kinder, 
die schon durch ihren Zustand sehr be¬ 
droht waren und wird reichlich aufgewogen 
durch die große Menge von durch den 
radikalen Eingriff verhinderten Bruchein¬ 
klemmungen, die gerade kleine Kinder aufs 
äußerste gefährden. OhneaufdemStand- 
punkt zu stehen, daß jede Hernie so 
früh wie möglich operiert werden 
soll, betrachten wir vielmehr als 
maßgebende Indikation, die ver¬ 
gebliche oder behinderte Anwendung 
der mechanisch hygienischen Heil¬ 
faktoren. 

Wenn also die Anbringung einer Ban¬ 
dage auf Schwierigkeiten stößt, weil sie 
nicht gut sitzt, oder wegen Größe der 
Bruchpforte oder Adhäsionen im Bruchsack 
nicht genügend zurückhält, wegen hart¬ 
näckiger Ekzeme nicht angelegt werden 
kann, wenn sie durch ihren Druck Peri¬ 
tonitiden im Bruchsack verursacht, infolge 
von Katarrhen der Bronchien den bei 
Hustenstößen andrängenden Eingeweiden 
nicht genug Widerstand entgegensetzt, so 
beendige man die aussichtslose Behandlung. 
Insbesondere zwingen wiederholte, wenn 
auch leicht reponierbare Inkarzerationen 
absolut zur Operation, und man kann 
sicher sein, daß kunstgerechte, hohe, feste 
Abbindung der Serosa selbst bei Pertussis 
durch die Bauchpresse nicht gesprengt 
wird. Jenseits des zweiten Lebensjahres 
und bis zur Pubertät kann die immer¬ 
währende Rücksichtnahme auf Vermeidung 
körperlicher Anstrengungen die Entwicklung 
der jungen Wesen derart hemmen, daß 
diesem Umstande in gleicher Weise Rech¬ 
nung getragen werden muß, über die Zeit 
der Geschlechtsreife hinaus ist nur noch so 
selten auf spontane Genesung zu rechnen, 
daß schon die Wahrscheinlichkeit, den 
Kranken dauernd mit Bruchband leben 
lassen und ihm mancherlei Beschränkungen 


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November 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


503 


in der Berufswahl und im Genüsse sport¬ 
licher Uebungen auflegen zu müssen, die 
strenge Berechtigung zur endgültigen Be¬ 
seitigung des Fehlers gibt. 

Ebenso wie für das Kindesalter, aner¬ 
kennen wir für Individuen jenseits des 
60. Lebensjahres ausschließlich eine 
relative Zuständigkeit des Eingriffs. 
So lange das Bruchband seine Schuldigkeit 
tut, bleibe man bei seiner Anwendung. 
Durch richtige Bandagen, gleichviel aus 
welcher Ursache nicht retenierbare Even¬ 
trationen müssen indessen auch dann noch 
beseitigt werden, wenn die Verhältnisse 
eine wirkliche Dauerheilung infolge atro¬ 
phischer Bauchdecken, oder allzu umfang¬ 
reicher Oeffnungen unwahrscheinlich er¬ 
scheinen lassen, — vornehmlich wegen der 
schlechten Prognose eventueller Inkarze¬ 
rationen, dann aber auch wegen der oft 
recht hochgradigen Beschwerden, durch 
welche die Träger derartiger Hernien ge¬ 
quält oder in ihrem Lebensgenuß beein¬ 
trächtigt werden. Nicht selten kann schon 
die Garantie, daß nach der Operation ein 
Bruchband seine Schuldigkeit tun wird, zu 
dieser drängen, man übt also zwar keine 
radikale aber eine in ihrem Effekt sicher 
wirkende palliative Therapie. Man hat 
überdies die große Chance in den meisten 
Fällen in der Tat permanente Hilfe zu 
bringen. 

Die Kontraindikationen sind sehr 
gering einzuschätzen, nachdem viele frühere 
Bedenken hinfällig geworden sind. Man 
kann fast jede Bruchoperation unter lokaler 
Anästhesie ausführen, braucht also die Nar¬ 
kose bei Herzkranken und Artenosklero¬ 
tikern nicht mehr zu fürchten. Man hat ge¬ 
lernt, nach Laparatomien den Patienten 
schon wenige Tage nach dem Eingriff die 
Bettruhe aufgeben lassen zu können, hat 
daher keine hypostatischen Pneumonien 
und Verschlechterung chronischer Bronchi¬ 
tiden zu befürchten. Aseptisch behandelte 
Diabetiker leichten Grades laufen keine er¬ 
heblich größere Gefahr als Gesunde. Aber 
man darf in dieser Beziehung auch nicht 
leichtsinnig sein. Höhere Grade von 
Arteriosklerose, zumal wenn neph- 
ritische Prozesse konkurrieren, 
schwer Zuckerkranke, mehr noch 
wenn sie Azetonurie oder gar Azet- 
essigsäure ausscheiden, Bronchitiker 
mit Dyspnoe, Leute mit Angina pec¬ 
toris, marantische Individuen, kurz 
alle Menschen, bei denen man auch 
andere Operationen nur unter dem 
Gesichtspunkt der Indicatio vitalis 
unternimmt, überlasse man lieber der 


Eventualität einer Brucheinklem¬ 
mung, die ja schlimmstenfalls noch 
immer durch die Herniotomie be¬ 
kämpft werden kann. 

Die Radikaloperation kann man 
als einen Vorschlag der Zweck¬ 
mäßigkeit, die Herniotomie muß man 
als ein Gebot der Notwendigkeit be¬ 
zeichnen. Jede Einklemmung von Darm¬ 
teilen bedroht das Leben, gleichviel an 
welchen Körperstellen, in welchem Lebens¬ 
alter und in welcher Gesundheitsverfassung 
sie zustande kommt. Sie muß so schnell 
wie möglich beseitigt werden. Wenn man 
frühzeitig, d. h. unmittelbar nach ihrer Ent¬ 
stehung zu einer Inkarzeration gerufen wird, 
wird man selbstverständlich versuchen, das 
vorgefallene Organ manuell zu re- 
ponieren, man soll aber nicht allzu viel 
Vertrauen auf das Gelingen der bekannten 
Manöver setzen. Insbesondere ist es fehler¬ 
haft zu glauben, daß man durch anämi- 
sierende (Eisblase, Aufträufeln von Aether) 
Mittel so viel Vorteil erzielen kann, wie 
die bei ihrer Benutzung vergeudete Zeit 
Schaden bringen mag. Ist man nicht durch 
vorsichtige, knetende, drückende, schie¬ 
bende Manipulationen, die man zur Ent¬ 
spannung der Bauchdecken und behufs 
Entleerung des unteren Bauchraumes in 
Beckenhochlagerung vornehmen mag, zum 
Ziel gelangt, so reüssiert man manches 
Mal durch Wiederholung der Handgriffe 
im warmen Bade. War auch das erfolglos, 
so mag man bei sonst Gesunden die Nar¬ 
kose zu Hilfe nehmen. Man hüte sich aber 
vor gewaltsamen Einwirkungen, weil man 
stark geblähte Darmschlingen zum Platzen 
bringen, oder bei gehörigem Kraftaufwand 
den ganzen inkarzerierten Bruch in die 
Bauchhöhle zurückdrängen kann. (Schein - 
reduktion, Reposition en bloc.) In letz¬ 
terem Falle beseitigt man wohl die äußere 
Erscheinung der Abnormität, aber nicht 
diese selbst. In beiden Fällen verringert 
man nicht, sondern steigert die Gefahr ins 
Ungemessene. Geben bei dem nicht be¬ 
täubten Patienten dessen Schmerzäuße¬ 
rungen und seine Widerstandsbewegungen 
einen gewissen Maßstab für die Grenze 
der erlaubten Bemühungen ab, so fällt 
dieses Signal nach Anwendung* der An¬ 
ästhesierung fort. Wenn also auch die 
Narkose unzweifelhaft sehr häufig die Re¬ 
position dann noch ermöglicht, wenn sie 
vorher nicht durchführbar war, so birgt sie 
den Nachteil in sich, daß der Ungeübte 
Schädigungen verursachen kann, die das 
Gegenteil einer rationellen ärztlichen Tätig¬ 
keit bedeuten. Da überdies flem vergeh 


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504 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


November 


liehen Versuch ohne Operation auszu- 
kommen die Herniotomie auf dem Fuße 
folgen muß, so sollte man nur nach 
gehöriger Vorbereitung eines even¬ 
tuellen sofortigen blutigen Eingriffs 
die Narkose einleiten, und immer dann, 
wenn der Allgemeinzustand Chloroform¬ 
oder Aetherinhalation verbietet, lieber sofort 
unter lokaler Anästhesierung mit dem Messer 
Vorgehen. Schließt man an die Herni¬ 
otomie alsbald den kunstgerechten Ver¬ 
schluß der Bruchpforte an, verbindet also 
den lebensrettenden mit dem vorbeugenden 
Eingrift, so leistet man seinen Klienten 
viel mehr, als man mit dem zwar konser¬ 
vativen jedoch nur scheinbar milderen Ver¬ 
fahren erreichen kann. 

Hat nun gar die Inkarzeration schon 
einige Zeit bestanden, sind vielleicht bereits 
Zeichen von Entzündung im Bruch¬ 
sack vorhanden, so verbietet sich jedes 
Unternehmen unblutiger Behandlung. Denn 
die Lebensfähigkeit des Darmes hat ge¬ 
litten und auch wenig kraftvolles Drücken 
und Pressen kann ihn zum Bersten bringen, 
während die schonende Behandlung, die 
ihm bei der Herniotomie zu Teil wird, 
selbst bei ziemlich vorgeschrittenen Zirku¬ 
lationsstörungen nach Herstellung des nor¬ 
malen Kreislaufs, welche die Durchtrennung 
des einschnürenden Ringes vermittelt, eine 
schnelle und vollkommene Erholung seiner 
Wände bewerkstelligt. Vor allen Dingen 
aber gestattet die direkte Besichtigung des 
Organs ein Urteil darüber, ob es über¬ 
haupt erlaubt ist, dasselbe in die Bauch¬ 
höhle zu reponieren, oder ob man je nach 
Lage der Verhältnisse die befreite Schlinge 
vor der Bauchhöhle aseptisch versorgt 
liegen lassen kann oder sofort resezieren 
resp. durch oberhalb der geschädigten 
Stelle ausgeführte Darmanastomose aus¬ 
schalten muß. 

Man sieht, daß die Herniotomie 
immer da das rationelle Verfahren 
ist, wo die unblutige Reposition nicht 
ohne weiteres gelingt. Das trifft auch 
dann zu, wenn die Inkarzeration nicht un¬ 
mittelbar bedrohliche Zustände erzeugt hat, 
also nicht sofort Symptome von Kollaps, 
Ileus odey gar Peritonitis aufereten. Wenn 
auch die meisten Menschen bei einer Bruch¬ 
einklemmung sofort das Gefühl einer 
schweren Erkrankung haben, so bieten doch 
viele andere zunächst nicht das Bild ge¬ 
fahrdrohender Symptome. Die Umschnü¬ 
rung des herausgepreßten Darmes kann un¬ 
vollkommen sein, Zirkulationsstörungen ent¬ 
wickeln sich erst nach gemessener Zeit, 
die Schädigung durch den gestauten und 

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sich zersetzenden Inhalt tritt erst allmählich 
ein. Außer Schmerz und Spannungsgefühl 
in dem Bruch hat der Kranke anfangs über 
nichts zu klagen, sein Allgemeingefühl 
bleibt ungestört. Insbesondere kann die 
Darmpassage scheinbar ungehindert sein, 
sei es, daß aus den Abschnitten unterhalb 
einer Dickdarminkarzeration noch die Reste 
entleert werden, sei es, daß nicht das ganze 
Darmrohr, sondern nur ein Teil seiner 
Wand abgeknickt wurde, also in der Tat 
die Durchgängigkeit des Lumens erhalten 
bleibt. In solchen Fällen pflegt auch die 
Bruchgeschwulst sehr klein zu sein, so 
klein, daß sie dem oberflächlichen Unter¬ 
sucher, namentlich dann, wenn der Patient 
nichts von seiner vorher symptomenlos ge¬ 
tragenen Mißbildung weiß, entweder ganz 
entgeht oder als eine harmlose Drüsen¬ 
schwellung imponiert. Gründliche Ab¬ 
tastung der Bruchpforte zeigt allerdings, 
daß der Sitz des Tumors nicht so ganz 
der Annahme einer Adenitis entspricht und 
daß er einen für solche nicht erklärlichen 
Fortsatz zur Bauchhöhle präsentiert. Und 
der gewissenhafte Arzt wird im Zweifels¬ 
falle besser tun, eine vielleicht durch Anti- 
phlogistika zu beseitigende Drüse zu ex- 
stirpieren, als eine Hernie unbehandelt zu 
lassen, die innerhalb kurzer Zeit gangrä- 
neszieren würde. Vielfach kann freilich 
eine Abklemmung von Netz ohne Vorfall 
von Eingeweiden die Ursache der Gering¬ 
fügigkeit der klinischen Zeichen sein, und 
es brauchen dann keine ernsten Folgen 
sich zu zeigen, sondern unter Nachlaß der 
durch die anfängliche Behinderung der 
Zirkulation hervorgerufenen Schwellung 
kommt Spontanheilung zustande. Da aber 
auch im Netz der Gefäß Verlegung Gangrän 
mit all ihren Konsequenzen für die Nach¬ 
bargewebe folgen kann, würde auch unter 
solchen Umständen die Herniotomie zum 
mindesten keinen Schaden stiften. 

Im übrigen bedarf es wohl keines 
Wortes, daß man bei allen Leuten, 
die aus voller Gesundheit mit hef¬ 
tigem Schmerz im Abdomen, Er¬ 
brechen, Meteorismus erkranken, 
unter Ausschluß anderer Ursachen 
alle Bruchpforten kontrollieren soll, 
selbst dann, wenn aus früherer Zeit 
nichts lür eine Hernie spricht. Tor¬ 
pide, ängstliche und unüberlegte Personen 
lokalisieren den Sitz ihrer Leiden falsch, 
andere haben zwar gelegentlich eine kleine 
Geschwulst bemerkt, ihr aber keine Be¬ 
deutung beigelegt, oder sich eigene fehler¬ 
hafte Vorstellungen von ihrem Charakter 
gemacht. Die objektive Beurteilung darf 

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November 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


505 


allein maßgebend sein und wird davor 
schützen, später in einer Kotphlegmone 
und daran sich anschließender Peritonitis 
die wahre Ursache einer vermeintlichen 
„Dyspepsie“ zu einer Zeit zu erkennen, wo 
die vorher sicher wirkende Hilfe des Messers 
nur noch als letztes, oft aussichtsloses 
Mittel herangezogen wird. 

Eine Gegenanzeige für die Herniotomie 
gibt es überhaupt nicht und die Einschrän¬ 
kungen, welche wir für die Radikalbehand¬ 
lung freier Hernien anerkennen, kommen 
für die blutige Beseitigung der einge¬ 
klemmten gar nicht in Frage. Im Gegen¬ 
teil dürften die Allgemeinerkrankungen, 
welche dort zur Vorsicht in bezug auf 
allzu aktives Vorgehen mahnen, hier gegen 
jedes Zögern sprechen. Denn eine In¬ 
karzeration, die nicht alsbald aufgehoben 
wird, befördert all die bedenklichen Folgen 
des argen Zwischenfalls, Thrombose und 
Embolie bei Leuten mit Zirkulations¬ 
störungen, Brand bei Diabetikern usw. Die 
Herniotomie ist eine „lebensrettende“ Ma߬ 
nahme xar egorfv, der gegenüber alle 
anderen Rücksichten schwinden müssen. 

So viel über die Prinzipien der Behand¬ 
lung von Hernien in summarischen Sätzen. 
Sie haben eine allgemeine und fast aus¬ 
nahmslose Gültigkeit. Aber nichtsdesto¬ 
weniger bedarf es auch für eine fehlerfreie 
Therapie der Kenntnis gewisser Besonder¬ 
heiten der einzelnen Bruchformen. 

Beginnen wir mit der alltäglichsten, der 
indirekten Leistenhernie. Sie ist der 
Typus des Bruchleidens kleiner Knaben, 
die häufigste und harmloseste, aus dem 
intrauterinen Leben übernommene Ent¬ 
wicklungsstörung, charakterisiert durch das 
Offenbleiben des mit dem Descensus testi- 
culi sich nach außen begebenden Processus 
vaginalis Peritonei. Oft schon unmittelbar 
post partum bemerkt, tritt sie ebenso 
häufig erst nach mehr oder weniger langer 
Zeit in den ersten Lebensmonaten zu Tage. 
Sie ist das dankbarste Objekt der Bruch¬ 
bandbehandlung, vorausgesetzt, daß sie so 
frühzeitig wie möglich, das heißt sofort 
nachdem sie bemerkt wurde, derselben 
unterworfen wird. Leider ist der Irrtum 
weit verbreitet, daß man kleine Kinder, 
besonders wenn sie atrophisch sind, an 
Ekzem oder Intertrigo leiden, nicht mit 
einer Bandage quälen soll — und doch 
erzielt diese falsche Humanität in den 
meisten Fällen nichts weiter, als eine Ver¬ 
größerung des Leidens und die Wahr¬ 
scheinlichkeit später benötigter operativer 
Eingriffe. Denn nur selten verbietet sich 
der Gebrauch eines gegen Durchnässung 

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vermittels Kautschuküberzug geschützten 
Bruchbandes, sofern die genügende Sorg¬ 
falt für die bekannte Behandlung der ge¬ 
sunden oder kranken Haut aufgewendet 
wird. Ist das aber dennoch der Fall, weil 
die Bandagenbehandlung trotz aller Vor¬ 
sicht nicht vertragen wird, so drängt ge¬ 
rade dieses mißliche Verhältnis zur Ra¬ 
dikalbehandlung, besonders wenn wieder¬ 
holte Einklemmengen vorgekommen sind. 

Sie ist ebenso wenig zu fürchten, wie die 
schleunige Herniotomie nach vergeblichen 
Repositionsmanövern. Wir haben bei 
zahlreichen Eingriffen der einen wie der 
anderen Art bei Säuglingen bis zum Alter 
von 14 Tagen herab nie einen Todesfall 
zu beklagen gehabt, trotzdem die über¬ 
wiegende Menge nur ambulant behandelt 
wurde. 

Es sei gestattet, auf zwei oft vorkom¬ 
mende diagnostische Verwechslungen hin¬ 
zuweisen, die nachteilige Heilversuche ver¬ 
anlassen können. Der eine betrifft die 
Ectopia testis inguinalis, welche an 
dem Fehlen des Hodens im Skrotum bei 
einiger Aufmerksamkeit bemerkt werden 
müßte, aber doch recht häufig als Leisten¬ 
hernie angesehen wird. Ein gewöhnliches 
Bruchband reponiert den Hoden in die 
Bauchhöhle, verursacht also das Gegenteil 
von dem, was Not tut, während eine mit 
vorderem halbmondförmigem Ausschnitt 
versehene Pelotte angebracht werden 
kann, deren Konkavität den Hoden nach 
unten drängt und gleichzeitig die häufig 
diese Störung begleitende Hernie zurück¬ 
hält. Seltener und schwieriger in ihrer 
Wesenheit zu erkennen, ist die Hydro- 
cele bilocularis, die alle Charaktere des 
freien Bruches zeigen kann, aber sich da¬ 
durch unterscheidet, daß erstens die 
Bruchgeschwulst ohne Gurren reponiert 
werden kann, dann bei guter Betastung in 
der Beckenhöhle oberhalb des inneren 
Leistenrings zu fühlen ist, und zweitens 
bei Fortnahme des die Bruchpforte ver¬ 
schließenden Fingers der Tumor momentan 
in seiner ganzen Größe widererscheint 
Ein Bruchband kann selbstverständlich das 
Leiden in keinem Falle erfolgreich be¬ 
kämpfen, die Operation beseitigt es durch 
Total exstirpation dauernd, und erlaubt 
eventuell Verschluß gleichzeitiger Bruch- 
anlage. 

Bei kleinen Mädchen, wie bekanntlich 
bei Frauen überhaupt, ist der Leistenbruch 
relativ selten, enthält dann hin und wieder 
das Ovarium als Bruchinhalt, kann aber 
fast ausnahmslos durch Bracherium so gut 
zurückgehalten werden, daß Spontanheilung 

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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


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erfolgt. Geschieht das jedoch nicht, so 
wird die Hernie adhärent. Die jüngsten 
weiblichen Patienten, die ich aus dieser 
Ursache operiert habe, standen ira Alter 
von 5 respektive 7 Jahren und bei beiden 
war der Eierstock fest mit der Bruchhülle 
verlötet. 

Jenseits der ersten Lebensjahre wird, 
abgesehen von Varietäten, die den Prak¬ 
tiker wenig interessieren können, die Be¬ 
handlung der Inguinalhernie so von den 
oben dargestellten Grundsätzen beherrscht, 
daß sie keiner weiteren Erörterung bedarf. 
Bei schwer retenierbaren Leistenbrüchen, 
besonders aber bei solchen mit großer 
Pforte und bei ins Skrotum hinabreichen¬ 
den, sollte man keine überflüssigen Ver¬ 
suche mit konservativer Therapie machen, 
es sei denn, daß diese wegen großer 
Eventration als Vorbereitungskur nützlich 
erscheint. Noch weniger wenn Adhärenzen 
im Bruchsack vorhanden sind. Hingegen 
können reine Netzbrüche, bei denen knol¬ 
lige Verdickung des Omentum die Reposi¬ 
tion hindern, gar nicht so selten in die 
Bauchöhle zurückgebracht werden, wenn 
man genügend lange Zeit Bettruhe inne- 
halten läßt, die meist sehr fetten Menschen 
auf Entziehungsdiät setzt, gleichzeitig stark 
abführen läßt und durch sachgemäß aus¬ 
geführte Massage das vorgefallene ver¬ 
dickte Netz verkleinert. Derartige Kuren 
sind harte Geduldsproben für Patienten 
und Arzt, empfehlen sich aber bei Leuten, 
die man nicht überflüssiger Weise der Ge¬ 
fahr eines blutigen Eingriffs aussetzen mag. 

Die vornehmlich dem weiblichen Ge¬ 
schlecht eigentümliche Cruralhernie ist 
ein Stiefkind der Bandagenbehandlung, 
indem sie in ganz hervorstechender Weise 
mit falsch sitzenden Bruchbändern ver¬ 
sehen wird. Die Feder der möglichst 
kleinen Pelotte muß nach abwärts geknickt 
und auf die Fläche gebogen sein, damit 
sie korrekt, bequem und sicher die Bruch¬ 
pforte verschließt. 

Der Schenkelbruch gibt weniger drin¬ 
gende Gelegenheit zur Radikaloperation, 
weil er frühzeitig erkannt, auf konser¬ 
vativem Wege gut versorgt werden kann. 
Um so häufiger erlebt man Einklemmun¬ 
gen, da die ßruchgeschwulst lange Zeit 
sehr klein bleibt, geringe Belästigung 
verursacht, und deswegen von den Pa¬ 
tienten so lange nicht beachtet wird, 
bis die stürmische Erkrankung durch In¬ 
karzeration schleunigste ärztliche Inter¬ 
vention erfordert. Auch dann noch können 
die örtlichen Erscheinungen im Vergleich 
zu den Störungen des Allgemeinbefindens 


und der aufgehobenen Peristaltik so wenig 
die Aufmerksamkeit erregen, daß folgen¬ 
schwere Irrtümer Vorkommen, die dazu 
mahnen, nicht nur die Bruchpforte bei dem 
geringsten Verdacht einer Brucheinklem¬ 
mung zu observieren, sondern auch sich 
bewußt zu sein, daß schon mäßige Schmerz¬ 
haftigkeit und nicht sehr auffallende 
Intumeszenz in der Fossa vasorum crur. 
ausreichende Merkmale für die Annahme 
eines ausgetretenen Schenkelbruchs sind. 

Auf der andern Seite ist die blutige 
Beseitigung kleiner freier Schenkelhernien 
eine so einfache Sache, ereignen sich 
Rezidive so selten, setzen vernachlässigte 
und deswegen umfangreich gewordene, der 
Technik so erhebliche Schwierigkeiten ent¬ 
gegen, daß man gut täte, auch bei geringen 
Beschwerden dazu zu raten. Im Crural- 
kanal immobil gewordene Eingeweidevor¬ 
fälle, namentlich Netzknoten, können aller¬ 
dings die Bruchpforte so fest verschließen, 
daß außer durch den Bestand einer kleinen 
Geschwulst die Patienten durch nichts be¬ 
lästigt werden. Dann würde der Umstand, 
ob beim Husten oder Pressen der Tumor 
sich vergrößert, über die Frage der Be- 
nötigung eines Bruchbandes mit hohler 
Pelotte, oder wenn dieses, wie sehr oft, 
nicht vertragen wird, über die Indikation 
zur Radikaloperation zu entscheiden haben. 

Am häufigsten von allen Bruchformen 
kommt wohl dem Praktiker die Hernia 
umbilicalis zu Gesicht, weil die Disposi¬ 
tion dazu bei kleinen Kindern beiderlei 
Geschlechts infolge mangelhafter Oblitera¬ 
tion des Nabelringes immer vorhanden ist, 
und alle Noxen, welche die Entwicklung 
begünstigen, wie Obstipation, Katarrhe der 
Bronchien, Phimose zu den allergewöhn¬ 
lichsten Säuglingskrankheiten gehören. Des¬ 
halb sind alle diese Afiektionen auch aus 
prophylaktischen Rücksichten ernsthaft zu 
bekämpfen, und die geringste Vorwölbung 
des Nabels bedarf guter Versorgung. Man 
konstruiert sich selbst aus gepolsterter 
Pappe eine Pelotte und befestigt diese 
unter Vermeidung zu festen Zuges mittels 
zirkulärer Heftpflasterstreifen, welche sich 
am Rücken über der Wirbelsäule kreuzen 
müssen. Einfaches Aufkleben der Pelotte, 
wie auch immer vorgenommen, ist unzu¬ 
reichend, weil an der Bauchdecke kein 
fixer Punkt vorhanden ist, welcher der 
Bauchpresse ausreichend Widerstand leisten 
kann. Aus gleichem Grunde sind auch die 
verschiedenartigen in den Handel gebrach¬ 
ten Nabelverbände unzweckmäßig. Mit 
gutem Kautschukheftpflaster gemachte Ver¬ 
bände hindern nicht das Baden der Kinder. 


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November 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


507 


Nicht zu verwechseln mit dieser ge¬ 
wöhnlichen Form ist der immer kongenital 
vorhandene Nabelschnurbruch. Er hat 
entweder den Charakter einer Entwick¬ 
lungsstörung, indem während des intra¬ 
uterinen Lebens die Eingeweide ihre Lage 
im Anfangsteil der Nabelschnur beibehalten 
und den Verschluß der Bauchhöhle ver¬ 
hindert haben, sodaß eine dauernde Ver¬ 
lagerung der Intestina nach außen bestehen 
blieb — oder aber es ist nach rechtzeiti¬ 
ger Verwachsung der Bauchwand Perito¬ 
neum in die Insertion der Nabelschnur 
vorgetrieben worden, es hat sich also vor 
der Geburt das ereignet, was sonst nach 
Abfall der Nabelschnur die Hernie hervor¬ 
ruft. Bei größeren Nabelschnurbrachen 
ist ihre Verkennung schon bei der Geburt 
nicht gut möglich. Da die mangelhaft 
zirkulierten Bruchhüllen sehr schnell bran¬ 
dig werden, und eine tötliche Peritonitis 
die unausbleibliche Folge ist, so kann nur 
die alsbaldige blutige Reposition der Ein¬ 
geweide und Naht des Bauchdefektes das 
Leben erhalten, wenngleich auch dann die 
Mortalität nicht gering ist. 

Weniger umfangreiche Nabelschnur¬ 
brache, welche als kleine gestielte oder 
zylindrische Geschwülste in ihrer äußeren 
Erscheinung sich wenig von der erwor¬ 
benen Umbilikalhernie unterscheiden, können 
zur Spontanheilung unter gewöhnlichen 
Maßnahmen gelangen. Ihre Hauptgefahr 
besteht darin, daß sie bei der Abnabelung 
nicht bemerkt werden, und der Geburts¬ 
helfer oder die Hebamme bei der Abbin¬ 
dung des Funiculus umbilicalis den vor¬ 
liegenden Darmteil wandständig mit um¬ 
schnürt. Dann ergibt sich eine Darm¬ 
fistel. Sie kann sich als nur kleiner 
hochroter, dem Nabelgranulom ähnlicher 
Pfropf präsentieren, der keine Tendenz zur 
Vernarbung zeigt, wird aber bei sorgfältiger 
Beobachtung an der überreichen und fä- 
kulanten Sekretion erkannt, gleich den 
durch persistierende Meckelsche Diver¬ 
tikel entstandenen Nabelfisteln. Eine dritte 
Art ist die Nabelurachusfistel, welche 
ebenfalls dem Granulom auf einer kleinen 
Hernie gleich sieht, und sich durch Aus¬ 
tritt von Urintropfen verrät. Aetzungen 
können diese Zustände beseitigen, oft aber 
erfordern sie operative Hilfe. 

Wenn die Nabelhernien der Kinder 
trotz Behandlung mit gutem Heftpflaster¬ 
verband und Fernhaltung von Schädlich¬ 
keiten die ersten Lebensjahre überdauern, 
so trägt entweder Adhäsion eines Darm¬ 
teiles oder allzu große Bruchöffnung Schuld, 
und dann tritt die Operation in ihr Recht. 

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Sollen Bandagen benutzt werden, weil 
Heftpflaster nicht vertragen wird, oder weil 
die häufige Wiederholung der Verbände 
lästig wird, so sorge man dafür, daß die 
Pelotte eine flach konvexe Gestalt habe, 
und nicht etwa konisch oder kugelig ge¬ 
formt ist, damit nicht der vorspringende 
Zapfen die Ränder der Bruchpforte aus¬ 
einandertreibe, also anstatt sie zu ver¬ 
schließen, sie erweitere. Sehr schwierig 
ist es, die Pelotte an der richtigen Stelle 
festzuhalten, am besten gelingt es noch 
durch je 2 von beiden Seiten verlaufende 
elastische Riemen, die sich hinten auf einer 
Rückenplatte treffen und eine Falte der 
Bauchhaut zwischen sich nehmen. Auch 
breite, aus porösem Gummigewebe herge¬ 
stellte Gurte, die sich der Bauchwölbung 
genau anschmiegen, können zum Ziel 
führen. Oft aber drängt gerade die Un¬ 
möglichkeit eine geeignete Bandage zu kon¬ 
struieren im Einzelfalle zur Operation. Man 
ermüde zwar nicht mit immer neuen 
Versuchen konservativer Therapie, 
weil diese oft noch nach Jahren er¬ 
folgreich ist, so lange keine ernsteren 
Gesundheitsschädigungen durch den 
Bruch bedingt sind, man lasse aber 
aus dem Kindesalter keinen Nabel¬ 
bruch in die Zeit der Pubertät mit 
hinübernehmen. Denn hat die Bandagen¬ 
behandlung schon bei Kindern ihre Grenzen, 
so ist das in viel höherem Maße bei Er¬ 
wachsenen der Fall. Es gehört geradezu 
zu den Ausnahmen, daß bei ihnen ein 
Nabelbruchband an der korrekten Stelle 
sitzt. Das ist auch leicht verständlich, wenn 
man bedenkt, daß jede Atembewegung, 
jede Veränderung in der Stellung des Kör¬ 
pers, jeder Wechsel in der Darmfüllung 
Variationen des Bauchumfanges verursacht, 
denen die Bandage sich anpassen soll. 
Dazu gesellt sich der mißliche Umstand, 
daß bei vielen Personen mit Nabelbruch 
durch eine abnorme Fettentwicklung und 
hochgradigen Meteorismus die Gestalt des 
Bauches kugelig oder faßförmig geworden 
ist, andere ausgesprochenen Hängebauch 
haben. Man kann sich hin und wieder 
durch Kombination des Bracheriums mit 
einer Leibbinde behelfen, aber nur allzu 
oft erschöpft sich an der gestellten Auf¬ 
gabe die größeste Intelligenz des Arztes, 
die höchste Geschicklichkeit des Banda¬ 
gisten und die frömmste Geduld des 
Kranken. 

Das aber ist um so schlimmer, als die 
Nabelbrüche der Erwachsenen eine aus¬ 
gesprochene Tendenz haben, sich zu ver¬ 
größern, das Ueberhautfettgewebe der 

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508 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


November 


Bruchhalle zum Schwund zu bringen und 
dicht unter der Haut kolossale buchtige 
Höhlen zu bilden, in die hinein durch eine 
mehr oder weniger große Pforte sich aus¬ 
gedehnte Dannteile mit dem Netz begeben. 
Es können sich geradezu monströse Tu¬ 
moren entwickeln, die dem Bauch wie 
riesige Pilze aufsitzend oder sackförmig 
herabhängend, von papierdünner Haut 
überzogen sind. Störungen der Peristaltik, 
Kotstauungen, entzündliche Vorgänge kon¬ 
kurrieren, um allerschwerste Gesundheits¬ 
störungen und gefahrdrohende Zustände 
herbeizuführen. Die Bedeckungen ulze- 
rieren, die Hernie wird immobil. Ein¬ 
klemmungen folgen auf Einklemmungen, 
die zwar durch, wenn auch nur partielle, 
Reposition behoben werden können, aber 
wenn dies nicht gelingt, die schlimmste 
Art der inkarzerierten Hernie dem Messer 
zu nicht selten vergeblichen Eingriffen über¬ 
liefern. Ja selbst mühselige, wenn auch 
korrekt ausgeführte, unblutige Reduktion 
kann unter ungünstigen Bedingungen be¬ 
denkliche Folgen haben, sei es, daß durch 
den vorhergegangenen Shock infolge Ein¬ 
schnürung hochgelegener Darmabschnitte 
die Herzkraft bereits erlahmte und durch 
das in Narkose vorgenommene Repositions¬ 
manöver völlig erschöpft wird, sei es, 
daß die heftige Zirkulationsstörung im Darm 
unberechnet schnelle Gangrän herbeiführte, 
sodaß brandige Teile in die Bauchhöhle 
zurückgebracht werden. 

Gegen diese üblen Zufälle kann zwar 
konsequent durchgeführte Regelung der 
Diät und Kotentleerung viel ausrichten, 
aber es ist Gewissenspflicht des 
Arztes, darauf zu dringen, daß jede 
Nabelhernie, die einen gewissen, 
durch Bandagen nicht mehr sicher 
zu beherrschenden Umfang ange¬ 
nommen hat, radikal entfernt werde, 
und das um so mehr, als nicht allzu große, 
nicht zu häufig von Inflammationen heim¬ 
gesuchte Umbilikalhernien auf äußerst ein¬ 
fache und ungefährliche Weise rezidivfrei 
geheilt werden können, ausgedehntere 
Eventrationen, mit vielfachen Verwachsun¬ 
gen komplizierte, in multilokuläre Bruch¬ 
säcke eingewanderte, nicht nur die Technik 
ins Ungemessene erschweren, sondern auch 
den Dauererfolg in Frage stellen. 

Harmloserer Natur sind die Hernien 
der Linea alba, namentlich die der Ober¬ 
bauchgegend (Herniae epigastricae). Sie 
enthalten meist kleine Netzzipfel, hin und 
wieder auch in sie hineingetriebene diver¬ 
tikelartige Ausstülpungen von Magen, Dick¬ 
oder Dünndarm, oder sind sogar nur keinen 

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Inhalt bergende, mit dem subserösen Fett 
herausgezogene Bauchfell - Ausstülpungen. 
Die durch sie hervorgerufenen Zerrungen 
der Bauchorgane erzeugen höchst unan¬ 
genehme kolikartige Sensationen, Ohn¬ 
machtsanfälle, Oppressionen, Herzklopfen, 
Erbrechen, Stuhlverstopfung, während In¬ 
karzerationen recht selten sein dürften. Die 
meist sehr geringfügige Bruchgeschwulst 
kann auch aufmerksamen Beobachtern leicht 
entgehen, sodaß diagnostische Irrtümer an 
der Tagesordnung sind und die Kranken 
oft jahrelang vergeblich „spezialistisch“ 
kuriert werden. Hat man aber den Be- 
j stand dieser Bruchart festgestellt, so zögere 
man nicht mit der operativen Behandlung, 
da eine Bandage, die sich nicht verschiebt, 
an den bezüglichen Punkten überhaupt 
kaum hergestellt werden kann, und die Pa¬ 
tienten schließlich unter den quälenden 
Symptomen arg leiden. Allerdings kann 
kunstvolle Heftpflasterein Wicklung hin und 
wieder passagere Besserung bewirken. 

Von den selteneren Bruchformen ist die 
am leichtesten erkennbare die lumbale, 
welche entweder am oberen oder am unte¬ 
ren Lendendreieck außen vom Latiss. dorsi 
zutage tritt und leicht durch Bandagen zu¬ 
rückgehalten werden kann. Man hat sie mit 
Kongestionsabszessen und Lipomen ver¬ 
wechselt, kann solche Fehler aber durch 
i Beachtung der Perkussionsphänomene und 
i der Reponibilität des Tumors wohl ver- 
i meiden. Ebenso und auf gleiche Weise 
dürfte die an der Vorderwand des Rektum 
oder bei der Frau am hinteren Umfang der 
großen Schamlippe zutage tretenden Her- 
| nia perinealis, die meist mit recht er¬ 
heblichen Beschwerden verläuft, der Er¬ 
kennung immer zugänglich sein, wenn man 
sich ihres Vorkommens erinnert. Wenn¬ 
gleich Bandagen keine große Erleichterung 
bringen, weil sie wirksam nicht anzubringen 
I sind, muß man auch die Operation nur auf 
diejenigen Fälle beschränken, bei denen 
die Bruchpforten (Erweiterung des Dou¬ 
glas sehen Raumes) nicht allzu umfangreich 
, sind, weil andernfalls der plastische Ver¬ 
schluß unsicher ist. Oft muß man sich mit 
dem Gebrauch von Suspensorien behelfen 
oder mit Apparaten, die denen bei Schei¬ 
den- und Mastdarm vor fall benutzten nach¬ 
gebildet sind. 

Zu den diffizilsten Aufgaben der Dia¬ 
gnostik und demgemäß kunstgerechter Be¬ 
handlung gehört die rechtzeitige Erkennung 
der Hernia obturatoria. Sie kann in 
der Regel erst festgestellt werden, wenn 
sie inkarzeriert ist und wird auch dann 
noch oft verkannt. Sie liegt so verborgen. 

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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


509 


ihre Erscheinungen sind zo unbestimmte ! 
und wechselnde, daß es bisher nur ganz | 
ausnahmsweise gelungen ist, sie in freiem > 
Zustande zu diagnostizieren. Immerhin 
beachte man, daß sie in der überwiegen¬ 
den Mehrzahl bei älteren Frauen beobachtet 
wird, daß, wenn eine Schwellung von ihr 
verursacht wird, diese unter dem Scham¬ 
bein, innen von den großen Gefäßen ge¬ 
funden wird, und zwar nach außen oben 
von dem absteigenden Schambeinast. Bei 
Einklemraungen ruft sie durch Druck auf 
den Nervus obturatorius das sogenannte 
Rombergsche Symptom hervor, das sich 
in Schmerzen an der Innenseite des Ober- j 
Schenkels, die bis zum Knie ausstrahlen 
und sich bei der Flexion und Adduktion 
der Hüfte steigern, sowie in Parästhesien 
(Taubheitsgefühl, Kribbeln) äußert. Aus¬ 
schlaggebenden Weit kann man angesichts 
der vielen anderen Ursachen, welche gleiche 
Symptome aufweisen, diesen Klagen nur 
dann beilegen, wenn gleichzeitig das Krank¬ 
heitsbild des beginnenden Ileus auftritt, für 
den andere Lokalisationen nicht nachweis¬ 
bar sind. Konservative Therapie ist aus¬ 
sichtslos, die operative bringt auch nur bei 
schneller Anwendung sichere Hilfe, um so 
mehr erinnere man sich unter gegebenen 
Verhältnissen der Möglichkeit einer Hernia 
obturatoria. 

Die sehr seltenen Hernien der In- 
cisura ischiadica liegen gleichfalls ver¬ 
steckt; solange sie klein sind, werden sie 
durch die Fascia glutaea und die dicke Ge¬ 
säßmuskulatur völlig verborgen gehalten. 
Bei ihrem Wachstum erscheinen sie als 


eine den After überdeckende Prominenz, 
deren Natur zweifelhaft sein kann, deren 
Therapie aber auch dann am richtigsten 
in blutiger Freilegung und Exstirpation be¬ 
steht, wenn sie als Bruch angesprochen 
werden muß. Wird die Hernia ischiadica 
Ursache eines Dannverschlusses, so gibt 
örtlicher, durch Druck sich vermehrender 
Schmerz den erforderlichen Hinweis und 
die strikte Indikation zur Herniotomie. 

Wir unterlassen es, auf die sogenannten 
inneren Hernien einzugehen. Sie kom¬ 
men praktisch nur bei Inkarzerationen in 
Betracht, wenn man also auf Grund von 
Ileuserscheinungen laparotomiert hat und 
den Sitz des Darm Verschlusses sucht. Ihre 
Kenntnis hat ausschließlich ein spezial chi¬ 
rurgisches Interesse. Bedeutungsvoller für 
den Praktiker ist die Tatsache, daß oft 
genug innere Einklemmungen vermutet 
werden, wo unscheinbare äußere Hernien 
inkarzeriert sind, und die andere, daß 
Träger mehrfacher Brüche an einer Stelle 
einen deutlich in die Augen fallenden 
freien, an einer anderen einen unsichtbaren 
strangulierten haben können. Diese können 
dicht nebeneinander liegen, so Inguinal- und 
Schenkel-, Schenkel- und Obturatorhernie, 
und demjenigen, der nur den reponier- 
baren Darmvorfall beachtet, die Krankheits¬ 
erscheinungen um so rätselhafter machen, 
Vor fehlerhafter Therapie schützt 
sorgsames Absuchen aller Bruch¬ 
pforten, auch derjenigen, an denen 
der Austritt von Eingeweiden zu 
den Raritäten gerechnet werden 
darf. 


Therapeutisches aus Vereinen und Kongressen. 

IV. Jahresversammlung der Gesellschaft Deutscher Nervenärzte. 

Bericht von L.CO Jacobsohü-Charlottenburg. 


Unter dem Vorsitz der Herren Exzellenz 
Erb und H. Oppenheim tagte die Ge¬ 
sellschaft Deutscher Nervenärzte vom 6. 
bis 8. Oktober in Berlin. Aus der Fülle 
der mitgeteilten Tatsachen, die zum Teil 
von den berufensten Spezialforschern vor¬ 
getragen wurden, soll dem Rahmen dieser 
Zeitschrift entsprechend, von einer detail¬ 
lierten Wiedergabe der einzelnen Verhand¬ 
lungsergebnisse abgesehen werden. Viel¬ 
mehr will ich mich darauf beschränken, 
mit besonderer Berücksichtigung des thera¬ 
peutisch Wertvollen allgemeine Fragen 
der Neurologie, wie sie die Tagesord¬ 
nung der Gesellschaft aufgestellt hatte, 
ausführlich zu referieren * und Spezial¬ 
forschungen nur nebenbei zu erwähnen. 


Aus diesem Grunde muß ich mir versagen, 
auf das erste Referat, Ueber die neue¬ 
ren Fortschritte in der topischen 
Diagnostik der Erkrankungen des 
Pons und der Oblongata, das in 
A. Wallenberg (Danzig) und O. Mar¬ 
burg (Wien) zwei berufene Vertreter ge- 
j funden hatte, an dieser Stelle einzugehen. 

Das eigentliche Hauptthema war das am 
I zweiten Versammlungstage von Oppen- 
1 heim (Berlin) und Hoche (Freiburg) er- 
l stattete Referat, Die Pathologie und 
Therapie der nervösen Angstzu¬ 
stände, dessen Besprechung ich hier vor¬ 
wegnehmen will. 

Die auf ein reiches Beobachtungs¬ 
material gegründeten, mit bekannter Prä- 


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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


November 


zision vorgetragenen Ausführungen unseres 
Berliner Meisters führten zu folgenden Er¬ 
gebnissen : 

Die große Verbreitung, die Intensität 
und Hartnäckigkeit des Leidens begründet 
die Wahl des Themas zum Referat. 
Oppenheim hat im letzten Jahr 180 Per¬ 
sonen an Angstzuständen behandelt. Ur¬ 
sachen: in erster Linie die neuropathische 
und psychopathische Diathese. Den Anstoß 
gibt dann meist die akute Gemütserschüt¬ 
terung oder gehäufte Emotionen, seltener 
die Erschöpfung, ausnahmsweise Beschäfti¬ 
gungslosigkeit durch Aufgabe des Berufs. 
Auffallend das Zurücktreten des Leidens 
bei dem poliklinischen Publikum. Die 
sexuelle Aetiologie wurde von Oppen¬ 
heim meist vermißt. Er wendet sich 
scharf und bestimmt gegen die Lehren 
Freuds und seiner Schüler. Das Ver¬ 
fahren der Psychoanalyse im Sinne 
Freuds ist eine geistige Vergewaltigung, 
eine moderne Foltermethode, die eine 
große Gefahr für den Kranken bildet. Die 
Leiter von Sanatorien usw. sollten klipp 
und klar erklären, ob sie mit dieser Me¬ 
thode arbeiten. Die Bekämpfung der 
Freud sehen Lehren sei um so erforder¬ 
licher, als sie bereits ins Publikum, in die 
schöngeistige, juristische und theologische 
Literatur gedrungen seien. 

Bei der Definition der Angst ist auf die 
fließenden Uebergänge zwischen dem 
Physiologischen und Pathologischen zu 
verweisen, wie es z. B. die Gewitterangst, 
die Künstlerangst, die Angst vor dem 
Schuß auf der Bühne zeigt. In der Angst 
steckt ein (primäres) selisches Moment und 
körperliche Vorgänge. Es handelt sich 
nicht um Mangel an Einsicht und Logik, 
sondern um pathologische Assoziationen 
und um eine abnorme Erregbarkeit der 
vasomotorisch - viszeralen - sekretorischen 
Nervenapparate. Dafür spricht: 1. das 
Vorkommen einer rein körperlich ausge¬ 
lösten Angst (z. B. bei Angina pectoris); 
2. die Häufigkeit anderer Zeichen der vaso¬ 
motorischen Diathese bei den Angst¬ 
kranken; 3. die Bedeutung des sogenann¬ 
ten Abreagierens bei diesen Patienten. 

Prognose zweifelhaft; Leiden oft sehr 
hartnäckig, chronisch. Aber auch Abortiv¬ 
formen, Spontanheilungen, Heilungen durch 
die Therapie. 

Es gibt kein Allheilmittel, aber mannig¬ 
fache Heilmethoden. Obenan steht die 
Psychotherapie, aber der Begriff ist sehr 
weit zu fassen. Es handelt sich weniger 
um Belehrung, Ueberzeugung,Ueberredung, 
als um geistige Führung oder Suggestion. 


Auch die Hypnose hat gelegentlich Be¬ 
rechtigung. Ferner Aufklärung des Kran¬ 
ken und der Angehörigen, Entscheidung, 
ob Uebung oder Schonung am Platze. 
Schilderung des eigenen Verfahrens. 
Zwang immer von Uebel, aber ablenkende 
Beschäftigung heilsam. Erschöpfung und 
Hetze zu vermeiden. Entfernung aus 
Häuslichkeit oft wirksam. Antineurasthe- 
nische Allgemeinbehandlung wichtig. Im 
Angstanfall können Medikamente (Brom, 
Valeriana, Opium, Hyoscin. Vasotonin, 
Digitalis usw.) erforderlich sein. Von spe¬ 
ziellen Heilmethoden wird die Hemmungs¬ 
gymnastik und die Kauterisation der Ner¬ 
venpunkte in der Nasenschleimhaut be¬ 
sprochen; von 12 mit letzterem Verfahren 
behandelten Patienten Oppenheims hatten 
nur 2 einen temporären Erfolg. Ausnahms¬ 
weise erfolgt Heilung nach Aus setzen jeder 
Therapie. Autoreferat H. Oppenheim. 

Ho che behandelt das Thema der ner¬ 
vösen Angstzustände mehr vom Stand¬ 
punkte des Psychiaters. 

Das Wesen der Angst läßt sich nur 
erleben, nicht beschreiben. Angst wird 
oft mit Furcht und Sorge verwechselt. 
Sie kann im Gegensatz zu diesen Zu¬ 
ständen völlig objektlos sein und stellt 
einen intensiven Unlustaffekt dar, der von 
körperlichen Symptomen begleitet wird. 
Angstneurosen sind bei kulturell niedrig¬ 
stehenden Völkern selten. Die Ursache ist 
das geringere Verantwortlichkeitsgefühl des 
Naturmenschen. 

Angstzustände werden vorübergehend 
bei einer Anzahl von Geisteskrankheiten, 
namentlich Dementia praecox, Melancholie, 
alkoholischer, epileptischer und hysterischer 
Geistesstörung beobachtet. Auf toxischer 
Basis begegnet man ihnen bei übermäßi¬ 
gem Kaffee- und Tabakgenuß, sowie bei 
C02*Intoxikation (Erstickungsangst). Re¬ 
flektorisch werden Angstzustände vom 
Herzen und Intestinum ausgelöst. 

Leichtere Grade, wie sie besonders bei 
Frauen Vorkommen, sind ungemein häufig. 
Sie treten bald in Form von Beklemmungs¬ 
zuständen auf, bald tragen sie den Cha¬ 
rakter unbewußter Umdeutungen, wie 
Heimweh, Ahnung und Ratlosigkeit. Diesen 
leichteren Formen fehlt die Zwangsmäßig¬ 
keit des Denkens, welche die eigentliche 
Angstneurose kennzeichnet. Doch finden 
sich Uebergänge zu dieser sowie den 
paroxysmalen Angsattacken, wie sie beson¬ 
ders bei Geisteskranken beobachtet werden. 

Ho che vertritt den Standpunkt, daß 
sich die psychischen und somatischen Er¬ 
scheinungen und Ursachen der Angst nicht 


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November 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


511 


voneinander trennen lassen, und erinnert an 
den Circulus vitiosus der Präkordialangst 
bei Herzleidenden. Die Angst wird häufig 
in die Herzgegend, auch in das Abdomen 
und die Beine lokalisiert. Körperliche 
Begleiterscheinungen sind Erweiterung 
der Pupillen, Herzklopfen, Anhalten des 
Atems, Schweißausbruch und Diarrhoen. 
Seltener ist Aufhebung der Milchsekretion 
und Ausbleiben der Menses. Die ob¬ 
jektlose Angst kann mit qualvollen Emp¬ 
findungen ausgefüllt werden. Bisweilen 
suchen die an Angstneurose Leidenden 
ihren Zustand durch unmotiviertes Fragen 
und Erzählen zu verbergen. Heftige Angst¬ 
affekte können zum Suizid führen. Dies 
ist besonders bei Geisteskranken der Fall. 

Die Diagnose wird meist durch den 
Kranken gegeben. Der Grad der Angst 
ist für den Arzt nicht sicher bestimmbar, 
da manche Patienten sich dem Arzte gegen¬ 
über nicht umfassend äußern und auch ihre 
Umgebung vielfach über den wahren Cha¬ 
rakter ihres Leidens täuschen. Die ätio¬ 
logische Diagnose hat vor allem zu entschei¬ 
den, ob die Angst auf dem Boden einer 
Psychose entstanden ist, oder ob eine Angst¬ 
neurose sensu strictiore vorliegt. 

Therapeutisch hat Ho che von der dia¬ 
lektischen Methode Dubois bei eigentlichen 
Angstzuständen wenig Gutes gesehen. Die 
psychoanalytische Methode Freuds wird 
ebenfalls abgelehnt. Medikamentös sind 
die Bromalkalien, ferner Veronal und Opium 
zu versuchen. Empfehlenswert ist auch 
das Pantopon sowie bei schweren Angst¬ 
zuständen das Skopolamin. Bäder werden 
meist schlecht vertragen. Lokale Proze¬ 
duren, Faradisierung der Herzgegend, Auf¬ 
legen von Senfteigen wirken durch Ablen¬ 
kung der Aufmerksamkeit. 

Anschließend an das erörterte Thema 
sprach Hatschek (Gräfenberg) über die 
ver gl eich ende Psychologie der Angst¬ 
affekte. Die interessanten Ausführungen 
des Vortragenden beschäftigten sich vor¬ 
wiegend mit den Aeußerungen der Angst 
bei Tieren. Die Angst der Tiere löst in¬ 
stinktmäßige Reflexakte aus (Abwehrbewe¬ 
gungen, Flucht, Regungslosigkeit). Je tiefer 
man in der Tierreihe hinabsteigt, desto 
stärker sind die vasomotorischen und se¬ 
kretorischen Reaktionen. Angst ist unab¬ 
hängig von der Funktion des Großhirns; 
doch wirkt die Ueberlegung modifizierend 
auf das primäre Angstgefühl ein. Die 
pathologische Angst des Menschen ist ana¬ 
log der der Tiere. Sie ist ein Rückschlag 
in die primäre Angst der Aszendenten. 
Viele körperliche Begleiterscheinungen 


I lassen sich phylogenetisch auf Erschei- 
I nungsformen in der Tierreihe zurückführen 
! (Sträuben der Federn, Gänsehaut, Urin- 
I und Kotentleerung usw.). 

I Aschaffenburg (Cöln): Die Bedeu¬ 
tung der Angst für das Zustande¬ 
kommen des Zwangsdenkens. Zwangs¬ 
vorstellungen, so vielseitig sie auch sein 
können, sind in jedem Falle durch primäre 
I Angst bedingt. Die Angst bezieht sich 
I weniger auf das eigene Subj ekt als auf andere 
j Personen. Wo das Gefühl der Verant¬ 
wortung am stärksten ausgeprägt ist, be¬ 
gegnet man ihr am häufigsten. Dies er¬ 
klärt die relative Seltenheit von zwangs¬ 
mäßigem Denken bei poliklinischen Pa¬ 
tienten. Geringere Grade von Zwangs¬ 
denken sind das Lampenfieber, die Er¬ 
rötungsangst, das Klinkenfieber der Reisen¬ 
den usw. Meist handelt es sich um emp¬ 
findsame Menschen, häufig um Psycho¬ 
pathen. Im Gegensatz zu Dubois, der die 
Hypnose gänzlich verwirft und Oppen- 
i heim, der sie bedingt anerkennt, wendet 
Aschaffen bürg diese Methode häufig 
und mit gutem Erfolge an. 

Stransky (Wien): Myopathie und 
Psychoses, sah in einem Falle von fa¬ 
miliärer Muskeldystrophie eine vorüber¬ 
gehende Psychose mit paranoischen Wahn¬ 
vorstellungen. Stransky sieht hierin einen 
Uebergang der durch ein organisches Lei¬ 
den bedingten Störungen des Gefühlslebens 
in das Gebiet des Pathologischen. 

Die Diskussion, an der sich Trömner 
(Hamburg), Friedländer (Hohe Mark), 
Raimann (Wien), Stransky (Wien), 
Bruns (Hannover), Bunnemann (Ballen¬ 
stedt), Kohnstamm (Königstein), Roth- 
mann (Berlin) und Rosenbach (Peters¬ 
burg) beteiligten, zeigte, daß in der 
Auffassung der nervösen Angstzustände 
ziemliche Uebereinstimmung herrscht. Die 
Lehren Freuds und seiner Schüler fan¬ 
den bei ruhiger und sachlicher Kritik eine 
bestimmte Ablehnung. Wenn auch an¬ 
erkannt wurde, daß in der Psychoanalyse 
nach Freud und Jung ein brauchbares 
i Prinzip enthalten ist, so wies man die Lehre 
des infantilen sexuellen Traumas und die 
verwirrende Symbolik Freuds energisch 
zurück. — Gegenüber den Ausführungen 
Hatscheks hält Rothmann es nicht für 
erwiesen, daß großhirnlose Tiere Angst- 
affekte äußern. — Stransky bekennt sich 
als bedingter Anhänger Dubois’. Er tritt 
für die Internierung der Kranken mit Angst¬ 
neurose ein, da häufig verkannte Zyklo¬ 
thymien vorliegen. — Kohnstamm vertritt 
auf Grund hypnotischer Experimente die 


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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


November 


Anschauung, daß Zwangsimpulse dann zu 
Angstaffekten führen, wenn sie in ihrer 
Ausführung gehemmt werden. 

H. Oppenheim (Schlußwort) lehnt die 
von Stransky geforderte Internierung ab. 
Hat auch vom Pantopon gutes gesehen. 
Hoche (Schlußwort): Echte Melancholien 
sind der Psychotherapie nicht zugänglich. 
Hat ebenfalls Suizidversuch bei Errötungs¬ 
angst beobachtet. 

Unter den Vorträgen des ersten Tages 
sind besonders die Ausführungen des Sir 
Victor Horsley (London) hervorzuheben, 
der als Diagnostiker und Chirurg sich sel¬ 
tener Erfolge auf dem Gebiete der endo- 
kraniellen Neubildungen rühmen kann und 
der eigentliche Begründer der operativen 
Behandlung der Hirngeschwülste genannt 
werden darf. Als Ehrenmitglied der Ver¬ 
sammlung sprach Horsley über Opera¬ 
tive versus expectant treatment in 
deseases of the nervous System. 

Horsley faßt seine Ausführungen in 
folgende Leitsätze zusammen: 

Behandlung mit Arzneimitteln ist nutzlos. 

Jeder Fall von lokalisierter Epilepsie, die 
nicht zweifellos idiopathischen Ursprungs 
ist, muß mit explorativer Operation behan¬ 
delt werden. 

Jeder Fall einer progressiven motori¬ 
schen oder sensiblen Lähmung intrakra¬ 
niellen Ursprungs muß mit explorativer 
Operation behandelt werden. 

Jeder Fall von sicher diagnostiziertem 
Hirntumor muß je nach seiner Lokalisation 
entweder mit Entfernung des Geschwülst- 
gewebes oder mit Herabsetzung der endo- 
kraniellen Drucksteigerung behandelt wer¬ 
den. 

Entfernung des Geschwulstgewebes. 

a) Meningeale Geschwülste einschlie߬ 
lich Endotheliome und Zysten. 

b) Gliome und Gliosarkome. 

Behandlung durch Ligatur der Gefäße 
und Druckentlastung. 

Beseitigung der intrakraniellen Druck¬ 
steigerung. 

Objekte: Beseitigung (Besserung) der 
Papillitis, des Kopfschmerzes, des Er¬ 
brechens. 

Plan und Methode. 

Antisyphilitische Behandlung der Fälle 
ist falsch. 

Die klassische Behandlung von syphili¬ 
tischen Erkrankungen des zentralen Nerven¬ 
systems ist unzweckmäßig. 

Operation und subdurale Irrigation ist 
erforderlich. 

An den Vortrag schloß sich eine leb¬ 


hafte Diskussion. Namentlich wurde die 
ForderungHorsleys, bei Hirngumma unter 
allen Umständen operativ vorzugehen, leb¬ 
haft diskutiert. 

Oppenheim empfiehlt in Anbetracht 
der Schwere des Eingriffes möglichste Re¬ 
serve bei Ausführung der Radikaloperation. 
Die Erfahrung hat gelehrt, daß spontan 
zur Ausheilung kommende Zustände, wie 
Meningitis serosa und Enzephalitis haemor- 
rhagica, das Symptomenbild des Hirntumors 
hervorrufen können. Allerdings wird man 
bei Progredienz der Symptome auf alle 
Fälle operieren. Syphilitische Neubildungen 
am Gehirn und seinen Häuten sollen stets 
einer antiluetischen Kur unterzogen werden. 
Versagt diese, so ist erst die Berechtigung 
zur Operation gegeben. Die operative Be¬ 
handlung der Epilepsie erscheint ihm nicht 
aussichtsreich. Nonne und Sänger 
(Hamburg) schließen sich bezüglich der 
Hirnsyphilis den Ausführungen Oppen¬ 
heims an. Beide haben in mehreren Fällen 
durch spezifische Therapie völlige Heilung 
erzielt. Nonne ist nach dreimonatlicher er¬ 
folgloser Kur für die Operation. — Bruns 
teilt den Standpunkt Horsleys, da er von 
der Hg- und Jk-Behandlung keinen Erfolg 
gesehen hat — Schüller (Wien) hält die 
antisyphilitische Behandlung unter Um¬ 
ständen für gefährlich. Er hat zwei Todes¬ 
fälle erlebt, die er auf plötzliche Hirndruck¬ 
steigerung bezieht. — Allgemein wurde die 
Berechtigung der Palliativtrepanation an¬ 
erkannt. Sie ist namenlich bei drohender 
Erblindung angezeigt und kommt bei hoff¬ 
nungslosen Tumorfällen, sowie Tumoren 
mit nicht bestimmbarem Sitz in Frage. Den 
Balkenstich empfielt Anton (Halle) in 
gleicher Indikationsstellung. — Förster 
(Breslau) ist bei zirkumskripter Tuberkulose 
des Gehirns für die Operation. Er hat in 
drei Fällen Heilung gehabt. — Ueber große 
operative Erfahrungen verfügt v. Eiseis¬ 
berg (Wien). Bei 65 Operationen, die am 
Großhirn, Kleinhirn, Brückenwinkel und 
der Hypophyse ausgeführt wurden, hat er 
10 Kranke geheilt. Bemerkenswert sind 
die Resultate Eiseisbergs bei Hypophysis¬ 
tumoren, 6 Heilungen bei 8 Operationen. 
Eiseisberg warnt vor zu langer expekta- 
tiver Behandlung bei syphilitischen Neu¬ 
bildungen. 

M. Rothmann (Berlin): Zur Funk¬ 
tion des Kleinhirns, berichtet über 
neuere, auf das Tierexperiment gestützte 
Erfahrungen über die Funktion der einzel¬ 
nen Kleinhirnabschnitte. 

Minkowski (Berlin): Zur Physiologie 
der kortikalen Sehsphäre. Angaben 


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November 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


513 


über die Beziehungen der Okzipitalwindun¬ 
gen zur Rindenblindheit. 

Pfeiffer (Halle); Zur Lokalisation 
der motorischen und sensorischen 
Aphasie, tritt für die ältere Auffassung 
der Sprachlokalisation ein. 

Sänger (Hamburg): Die Genese der 
Stauungspapille. Die Stauungspapille ist 
weniger durch entzündliche Veränderungen 
als durch Oedem der Papille bedingt. Aetio- 
logisch ist neben intrakranieller Druck¬ 
erhöhung gleichzeitige Abschnürung des j 
Sehnerven im Canalis opticus maßgebend. 

Marinesco (Bukarest): De la noci- 
vite de la ponction lombaire dans 
certains cas de tumeurs ceröbrales, 
warnt vor Ausführung der Lumbalpunk- | 
iion bei Tumoren der hinteren Schädel¬ 
grube. Marinesco verlor zwei Kranke 
im Anschluß an die Punktion. 

Nonne (Hamburg): Serologisches | 
zur multiplen Sklerose. 1200 Kranke 
wurden nach der Much-Holzmannschen 
Methode untersucht. Positiv fiel die Re¬ 
aktion bei psychisch Kranken in zirka 70% 
aus, bei Degenerierten in fast 90 %. Auch 
bei multipler Sklerose hat Vortragender 
in 60% der Fälle ein positives Resultat. 
Die Reaktion hat für den Neurologen und 
Psychiater mehr wissenschaftliches als dia¬ 
gnostisches Interesse. 

Förster (Breslau): Ueber die Beein¬ 
flussung spastischer Lähmungen 
durch Resektion hinterer Rücken¬ 
markswurzeln. 1 ) 

An dem Bestehen des normalen Muskel¬ 
tonus sind drei Komponenten beteiligt, 
eine zerebrale, eine zerebellare und 
eine spinale. Ausfall der Pyramiden¬ 
bahnen bedingt spastische Lähmungen in¬ 
folge Unterbrechung reflexhemmender 
Bahnen. So kommt es zu Hypertonien und 
Kontrakturen. Die Idee, die Förster bei 
seinem kühnen Vorgehen leitete, war die 
Absicht, durch Unterbrechung des Reflex¬ 
bogens die pathologische Reflexsteigerung 
und somit den spastischen Zustand zu be¬ 
seitigen. Dieses gelingt durch Durchtrennung 
der zugehörigen hinteren Wurzeln. Die Art 
der radikulären Innervation eines Muskel¬ 
gebietes erlaubt eine Auswahl von Wurzeln, 
deren Durchschneidung gröberen Sensibili¬ 
tätsausfall verhütet. Die Ausführung der 
Operation erfordert genaue Kenntnis der 
kraniovertebralen Topographie. Zur Ver¬ 
meidung der Blutung, welche die Orientie- 

*) Theorie, Ausführung, Indikation und Erfolg 
dieser neuen Operationsmethode, Alles nähere in dem 
Originalartikel des Autors in der Dezembernumraer 
dieser Zeitschrift. 


rung sehr erschwert, empfiehlt Förster 
zweizeitige Operation. Für die Operation 
sind schwere Grade von spastischen Para¬ 
plegien geeignet, wie sie besonders bei 
Littlescher Krankheit Vorkommen. 

Schüller (Wien): Ueber operative 
Durchtrennung der Wurzeln und 
Stränge desRückenmarks. Anschließend 
an die Methode Försters macht Schüller 
einen neuen Behandlungsvorschlag. Er rät, 
die Wurzeldurchtrennung durch Strang- 
j durchschneidung der korrespondierenden 
Bahnen innerhalb des Rückenmarkes (ge¬ 
kreuzter Vorderseitenstrang eventuell gleich¬ 
seitiger Hinterstrang) zu ersetzen. Die 
Indikationen sind dieselben wie bei der 
I Försterschen Operation. Die Methode 
soll den Vorzug haben, daß bei ent¬ 
sprechend hoher Leitungsunterbrechung 
des Rückenmarks die fortlaufende Durch- 
i schneidung der einzelnen Wurzeln ver¬ 
mieden wird. 

Diskussion über die Vorträge von 
Förster und Schüller. Rothmann 
spricht sich gegen den Vorschlag Schüllers 
aus. Die Leitungsunterbrechung der sen¬ 
siblen Bahnen schafft komplette, nicht seg¬ 
mentäre Anästhesie. Dieses ist ein nicht 
unbedenklicher Zustand. Bei Wirbelsäulen¬ 
tumoren mit heftigen ausgebreiteten Schmer¬ 
zen ist unter Umständen die Durchschnei¬ 
dung der Leitungsbahnen anzuraten. — 
Auerbach (Frankfurt a. M.) hat bei der 
Försterschen Operation einen Todesfall 
an Herzlähmung erlebt. — Nonne verfügt 
über vier Beobachtungen. Bei drei Ta¬ 
bikern ein Todesfall, eine Paraplegie, eine 
Heilung. Bei Little guter Erfolg. — 
v. Frankl-Hochwart (Wien) empfiehlt die 
Durchtrennung der 7. bis 9. Dorsalwurzeln 
bei gastrischen Krisen. Förster (Schlu߬ 
wort): Man darf von seiner Operation nicht 
zu viel verlangen. Behoben wird nur der 
neurogene Spasmus, nicht die eingetretene 
Muskel- und Sehnenschrumpfung. Ortho¬ 
pädische Nachbehandlung ist notwendig. 
Beeinflußt werden nur echte spastische Zu¬ 
stände, nicht Chorea und Athetose. Hält 
die Frage der gastrischen Krisen noch 
nicht für spruchreif. In welchem Niveau 
reseziert werden soll, ist noch nicht ganz 
sicher. Mißt dem Vagus gelegentliche Be¬ 
deutung bei Auslösung der Krisen bei. 
Den Vorschlag Schüllers hält er für nicht 
empfehlenswert. 

H. Schlesinger (Wien): Zur Klinik 
des intermittierenden Hinkens. Wich¬ 
tig ist nicht nur das Verhalten der Fu߬ 
pulse, sondern auch die Untersuchung der 
A. poplitea und A. femoralis. In 22 % der 

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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


November 


Fälle fand Schlesinger Anomalien an 
den Femoralarterien. Mehrmals waren 
hierbei die Fußpulse normal. Das Sym¬ 
ptom des intermittierenden Hinkens sah 
Schlesinger auch bei Persistenz des 
Isthmus aortae sowie bei Kavathrombose. 
Die Prognose des Leidens ist nicht so un¬ 
günstig wie man früher annahm. Spon¬ 
tane Remissionen, auch Heilungen werden 
beobachtet. Günstig wirkt unter Umstän¬ 
den Rauchverbot und antiluetische Behand¬ 
lung. Einmal schwand das Hinken im An¬ 
schluß an eine Hemiplegie. Einigemale 
war Dyspraxie an den oberen Extremitäten 
vorhanden. Schmerzen und Bewegungs¬ 
störungen gingen hier den Gefäßverände¬ 
rungen voraus. Die Mehrzahl der Patienten 
waren Männer. Aetiologisch an erster Stelle 
steht der Tabakmißbrauch, sodann Lues und 
Diabetes. Die Krankheit entwickelt sich 
meist oberhalb des 50. Lebensjahres. 

Diskussion: Erb eikennt die bedeu¬ 
tende ätiologische Rolle des Nikotins an. 
Syphilis war in seinen Fällen seltener. Das 
Goldfamsche Symptom, Erblassen der 
Haut nach Muskelarbeit, sah er dreimal. 

Kurschmann (Mainz) hat das Vaso- 
torim mehrfach ohne Erfolg angewandt. — 
Oppenheim erinnert, daß es eine angio- 
neurotische Form des Leidens, ohne end- 
arteriitische Veränderungen gibt. Sie ist 
nicht selten mit Degenerationszeichen kom¬ 
biniert. — Bychowski (Warschau) weist 
auf das häufige Bestehen eines Plattfußes 
hin. — K. Mendel (Berlin) sah intermit¬ 
tierendes Hinken bei Tabakarbeitern, die 
selbst nicht rauchten. 

O. Maß (Buch): Zur Kenntnis der 
familiären Nervenkrankheiten. Mit¬ 
teilung eines bisher nicht bekannten Krank¬ 
heitsbildes, das ein Geschwisterpaar im 
Alter von 14 Jahren betraf und zwischen 
amyotrophischerLaberalsklerose und Fried- 
r eich scher Ataxie stand. Mikroskopisch 
Degenerationen der Vorderstränge mit 
Atrophie der Vorderhörner. Geringes Hirn¬ 
gewicht 

Frenkel-Heiden: Die Anwendung 
des Ehrlich-Hataschen Mittels bei 
Nervenkrankheiten. Die Besserungen 
organischer Nervenkrankheiten nach Injek¬ 
tion mit 606 sollen von Spezialisten über¬ 
wacht werden. Wesentlich für die Be¬ 
urteilung sind Rückbildungen objektiv nach¬ 
weisbarer Symptome. Weniger beweisend 
ist subjektive Besserung. Die Ehrlich- 
sche Forderung, das Mittel bei pro- 
gressen Hirnveränderungen fortzulassen, 
ist zu theoretisch. Frenkel-Heiden hat 
das Präparat achtmal zum Teil mit gutem 


Erfolge angewandt. Er sah Rückgang von 
Ptosis und Besserung einer Labyrinth¬ 
taubheit. 

Trömner (Hamburg): Zur Patho¬ 
logie einiger Schlafstörungen. Mit¬ 
teilungen krankhafter Zustände, die wäh¬ 
rend des Schlafes auftreten, insbesondere 
Enuresis nocturna und Somnambulismus. 

E. Raimann (Wien): Herzstörung 
bei Neurosen. Störungen der Herztätig¬ 
keit kommen bei vielen Neurosen vor. Be¬ 
sonders ist dies bei Epilepsie der Fall. 
Herzklopfen, Oppressionsgefühl usw. bilden 
nicht selten die Aura. Als Aequivalente 
werden synkopale Anfälle und paroxysmale 
Tachykardien beobachtet. Epileptiker neigen 
allgemein zu Irregularität des Pulses und 
erhöhter Frequenz. Auch die Hysterie hat 
manche Beziehungen zu kardialen Sym¬ 
ptomen. Den Symptomenkomplex der 
Phrenokardie rechnet Raimann zur Hy¬ 
sterie. 

Friedländer (Hohe Mark): Psycho- 
neurose und Diabetes insipidus. 
Ueber die Auffassung des Diabetes insipi¬ 
dus herrscht keine Einheit. Der Lehre von 
der primären Polyurie, bedingt durch se¬ 
kretorische Insuffizienz der Niere, steht die 
Auffassung vom nervösen Ursprung des 
Leidens gegenüber. Friedländer be¬ 
richtet über einen Fall von Diabetes insi¬ 
pidus, der den Charakter einer Zwangs¬ 
neurose trägt. 

Mörchen (Altweiler): Ueber eine 
seltene Form der Epilepsia minor. 
Schilderung eines Falles, den Mörchen 
trotz abweichender Züge der Epilepsie zu- 
rechnet. Heilung durch Brom-Opiumkur. 

W. Alexander (Berlin): Weitere Er¬ 
fahrungen über die Behandlung der 
Neuralgie, besonders des Gesichtes 
mit Alkoholinjektionen. 

Zur Alkoholinjektion, die den Nerven 
zerstört, eignen sich besonders Neuralgien 
sensibler Nerven und solcher gemischter, 
bei denen der eventuelle Ausfall der mo¬ 
torischen Funktion nicht bedeutungsvoll 
ist, z. B. Interkostalnerven. Vortragender 
hat außer einigen 60 Fällen von Trige¬ 
minusneuralgie mehrere Fälle von Inter¬ 
kostalneuralgie solche des Okzipitalis und 
Auricularis magnus behandelt; auch einmal 
den Laryngus superior (zur Anästhesierung 
der Larynxschleimhaut bei Kehlkopftuber¬ 
kulose). Alle Fälle hatten die üblichen Be¬ 
handlungsmethoden vergeblich durcbge- 
macht und bestanden bis zu 33 Jahren. Ein 
Teil dieser schweren Fälle heilt bei peri¬ 
pherer Injektion; nützt diese nichts, muß 
basal injiziert werden. Die periphere ist 


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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


absolut, die basale fast gefahrlos bei guter | 
Technik, die an der Leiche geübt werden 
muß. 

Alle peripheren Resektionen sind 
durch Alkoholinjektion zu ersetzen, 
die in bezug auf Heilungsdauer dasselbe 
leisten und schonender sind. Rezidive sind 
sicherer mit Alkohol als mit Resektion zu 
bekämpfen. Es läßt sich fast stets die ge¬ 
fährliche Exstirpation des Ganglion ver¬ 
meiden. Die wenigen Patienten, die mit 
Alkohol auch nicht zeitweise zu heilen sind, 
haben durch weitgehende Besserung den 
Vorteil, daß sie zur Operation aufgefüttert , 
und gekräftigt werden können, was auf j 
keine andere Weise möglich ist. Es sollte | 
keine Ganglionexstirpation gemacht | 
werden ohne vorherigen Versuch mit i 
Alkohol. — Autoreferat. | 

L. Hirschlaff (Berlin): Ueber Ruhe- j 
Übungen und Ruheübungsapparate. | 

Die von Hirschlaff ersonnenen Ruhe- I 
Übungen bezwecken in systematischer Weise 
Entspannung der Muskulatur bei Fern¬ 
haltung von Sinnesreizen und Konzen¬ 
trierung der Aufmerksamkeit. Zu diesem 
Zwecke werden die Augen des Patienten 
durch ein Kissen verschlossen, der Rhythmus 
der Atmung durch ein Metronom ange- i 
geben und jede Muskelbewegung durch das ! 
sogenannte Hesychoskop sichtbar gemacht. j 
Die Uebungen sollen bei funktionellen Er¬ 
krankungen, Angstzuständen, nervöser 1 
Schlaflosigkeit und funktionellen Sprach¬ 
störungen in Anwendung kommen. 

W.Graves (St.Louis): Scaphoid sca- j 
pula, eine häufig vorkommende Ano¬ 


malie des Schulterblattes, bedingt 
durch Syphilis des Aszendenten. 

An der Hand einer großen Reihe von 
Photographien und Knochen präparaten 
sucht Graves die Richtigkeit seiner durch 
die tJeberschrift gegebenen Anschauungen 
zu beweisen. 

Nach Beendigung der Vorträge fanden 
am 8. Oktober im großen Hörsaal der 
Nervenklinik der Charite eine Anzahl von 
Demonstrationen statt. 

Imposant war die Demonstration der 
geheilten Tumorfälle am Hirn- und Rücken¬ 
mark durch H. Oppenheim. — Borchardt 
(Berlin), kommunizierende traumatische 
Schädelhämatome, Ko eher sehe Ventil¬ 
bildung bei Hirndruck, Besteck zur Hirn¬ 
punktion nach Neisser. — Pfeiffer, 
Photogramme von Präparaten, gewonnen 
durch Neisserpunktionen (Gliom, Kar¬ 
zinom, Zystizerkus usw.). — Rothmann, 
Schußverletzung des Gehirns, Kleinhirn¬ 
blutung mit akuter Ataxie und Sprach¬ 
störung. — Liepmann (Dalldorf), Demon¬ 
stration apraktischer Patienten. — Förster 
(Berlin), Rückenmarkstumor, Lues heredi- 
taria. — O. Mass, Achondroplasie. — 
Gräffner (Berlin), Trophische Störungen 
am Oberkiefer bei Tabikern. — Reich 
(Berlin), Neue Färbemethoden des B. N.- 
Systems, gestützt auf mikrochemische 
Reaktionen. — Sänger, Entstehung 
der Stauungspapille durch Karotissklero- 
sierung. 

Zu Ehrenmitgliedern der Gesellschaft 
wurden ernannt Kocher (Berlin), Munk 
(Berlin) und Röntgen (München). 


Therapeutisches aus der 8a. Versammlung deutscher Natur¬ 
forscher und Aerzte, Königsberg i. Pr. 18.—34. September 1910. 

Nach den Berichten der Vereinigung der medizinischen Fachpresse. 

Paul Ehrlich über sein Syphilisheilmittel J ). 


Hochverehrte Anwesende! Ich hatte 
eigentlich die Absicht, nur zum Schluß der 
Diskussion ganz kurz zu sprechen, weil die 
heutige Tagung den Klinikern gehört, 
denen, die wirklich über den Wert und den 
Unwert des Mittels zu entscheiden haben. 
Ich bitte daher um Verzeihung, wenn ich 
ganz kurz spreche, weil ich wirklich nicht 
präpariert bin. 

Was nun das neue Mittel anbetrifft, so 
sind die Generalia Ihnen allen als berufenen 
Fachleuten genau bekannt. Ich kann mich 

l ) Herr Geheimrat Ehrlich hat seinen Vortrag 
selbst bearbeitet und der Vereinigung der medizi¬ 
nischen Fachpresse zur Verfügung gestellt 


daher auf einige kurze Mitteilungen be¬ 
schränken. Es handelt sich hier — ich 
will auch nicht die Geschichte der Ent¬ 
deckung, die Beteiligung der verschiedenen 
Autoren, Vorgänger und Mitarbeiter er¬ 
wähnen und will gleich in medias res ein- 
gehen — zunächst um die spezifische Wir¬ 
kung des Mittels. Es ist Ihnen allen be¬ 
kannt, daß die Wirkung besonders zutage 
tritt bei Anwendung einer genügenden 
Dosis; die in den Säften vorhandenen Spi¬ 
rochäten verschwinden und zwar bei aus¬ 
reichender Dosis in 24—48 Stunden. Dauert 
das Verschwinden länger, so ist das meiner 
Ansicht nach ein Zeichen, daß die Dosis 

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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


zu klein, die Resorptionsbedingungen un¬ 
genügend oder daß es sich um einen 
arsenfesten Stamm handeln kann, wofür 
gewisse Anzeichen sprechen. 

Eine zweite Tatsache, die für die mit¬ 
geteilte Eigenschaft spricht, ist die Bildung 
spezifischer Antikörper. Es ist ja bekannt, 
daß man bei der Syphilis schon lange und 
ziemlich vergeblich gesucht hat, spezi¬ 
fische Antikörper, die eine spezifische 
Heilwirkung auszuüben imstande sind, 
nachzu weisen. Besonders Ne iß er hat einen 
Teil seiner besten Arbeit bei diesem Pro¬ 
blem geleistet. Nun, meine Herren, es 
scheint, als ob bei Heilwirkungen mit „606“ 
aus Gründen, die ich gleich besprechen 
werde, die Chancen für den Nachweis 
dieser Stoffe günstigere sind. Er beob¬ 
achtete bei einer Mutter, die syphilitisch 
war und mit „606“ behandelt worden war, 
daß das Stillen der Mutter einen außer¬ 
ordentlich günstigen Einfluß auf die here¬ 
ditäre Syphilis des Kindes ausübte. Die 
Affektionen verschwanden ziemlich rasch; 
später haben Duhot und verschiedene an¬ 
dere Autoren dieselben Erfahrungen ge¬ 
macht, und auch Raubitschek hat eine 
größere Anzahl dieser Beobachtungen fest¬ 
gestellt. 

Nun ist ja der Arsengehalt der Milch 
ein außerordentlich geringer. Außerdem 
wirkt das Präparat kaum in so ungenügen¬ 
den Mengen, so daß man ohne weiteres 
darauf hingelenkt wird, daß Antikörper 
entstanden und hier resorbiert sind. In¬ 
teressante Ergänzungen nach dieser Rich¬ 
tung sind von mancher Seite erfolgt 
und Marinescu, Plaut, Scholtz, Mi¬ 
chaelis, Meirowsky haben mir brieflich 
mitgeteilt, daß Serum von mit 606 behan¬ 
delten Patienten geeignet erscheint, die 
luetischen Affektionen zur Resorption zu 
bringen. Meine Herren, es geht hieraus 
hervor, daß spezifische Antikörper sich 
bilden, die imstande sind, zunächst einen 
Heilungsvorgang einzuleiten. Ich bin der 
Ansicht, daß diese Serumheilung im allge¬ 
meinen nicht ausreicht, um eine definitive 
Heilung herbeizuführen, denn wenn von 
1000 Spirochäten eine zurückbleibt, so ge¬ 
nügt diese einzige, um ein Rezidiv her- 
horzurufen. Die Säugungsimmunität ist 
aber von großer Bedeutung für die Be¬ 
handlung der Kindersyphilis, insbesondere 
der hereditären. Wenn man solche Kin¬ 
der injiziert, so beobachtet man, wie dies 
Wechsel mann zuerst getan hat, einen 
außerordentlich prompten und schönen 
Heilungsverlauf, aber nach 6—7 Tagen 
kommen bei einem Teil der Kinder schwere 


Erkrankungen vor, die wohl durch die frei- 
gewordenen Endotoxine der massenhaft 
zugrunde gegangenen Spirochäten bedingt 
sind; die in die Blutbahn gelangten Toxine 
sind so die Ursache für die schweren 
sekundären Schädigungen. Nun glaube 
ich, daß beim Steigen der Antikörper das 
ausgeschlossen ist. Es wird hier der Haupt¬ 
teil der Spirochäten abgetötet und, da die 
Antikörper neutrale Eigenschaften haben, 
der Rest in eine unschädliche Form über¬ 
geführt. Man hat dann ein relativ gesun¬ 
des, kräftiges Kind, welches einige Spiro¬ 
chäten hat. Hier glaube ich, ist die Indi¬ 
kation gegeben, einem solchen Kinde gleich 
eine genügende Injektion mit „606“ zu 
machen, um zu versuchen, den Rest abzu¬ 
töten. Das wäre die eine spezifische Wir¬ 
kung. 

Eine zweite spezifische Wirkung, die 
vielleicht noch von größerem praktischen 
Wert ist, ist die Seroreaktion, die zuerst 
von Wassermann, Neißer und Bruck 
aufgefunden wurde und eine große Rolle 
spielt. Es ist aus allen jetzigen Beobach¬ 
tungen ganz sicher, daß diese Reaktion 
mit der Anwesenheit und dem Vegetieren 
der Spirillen in engem Zusammenhänge 
steht. Es ist dies eine bekannte Tatsache, 
und ich brauche hier nicht darauf einzu¬ 
gehen. Nun aber ist eine Reihe von sehr 
interessanten Beobachtungen von verschie¬ 
denen Seiten gemacht worden, die dahin 
gehen, daß eine negative Reaktion unter 
dem Einflüsse der Injektion zunächst posi¬ 
tiv wird und dann eventuell wieder ver¬ 
schwindet. Das findet statt bei gewissen 
primären Schankern in einer gewissen 
Periode. Aehnliches findet man, wenn 
auch seltener, bei gewissen Formen der 
latenten Syphilis. Es gibt Formen, in 
denen eine negative Wasser mann sehe 
Reaktion vorhanden ist. Wenn man inji¬ 
ziert, so tritt zunächst die positive Reak¬ 
tion ein. Wie ist das zu erklären? Ich 
glaube in ihrem Sinne zu denken, wenn 
ich annehme, daß in diesen Formen die 
Zahl der Spirochäten minimal ist, so daß 
sie nicht imstande ist, die Wasser- 
mannsche Reaktion auszulösen. Wenn 
aber mit einem Schlage die Spirochäten 
sich auflösen und wenn diese zur Resorp¬ 
tion gelangen, so ist der Ictus immunisa- 
torius ein so großer, daß die vorher nega¬ 
tive Reaktion in eine positive umschlägt. 
Es ist also in einem solchen Falle das Auf¬ 
treten der Reaktion ein Beweis der wirk¬ 
lich syphilitischen Natur dieser Erkran¬ 
kung. Nun können wir beurteilen, welche 
Bedeutung diese Reaktion für die „606“- 


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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Behandlung haben kann; man kann die¬ 
selbe nicht hoch genug einschätzen. Das 
darf man ohne weiteres sagen, daß ein 
Fall, welcher die Reaktion trotz Behand¬ 
lung bietet, ungeheilt ist. Ich glaube, ich 
werde damit den hier Versammelten aus 
dem Herzen sprechen. Wir haben aber 
eine Anzahl von Fällen, in welchen die 
Reaktion negativ bleibt. Daß sie negativ 
bleibt, bedeutet gar nichts; es kann sich 
hier, wie Neißer auseinandersetzte, nur 
um ein temporäres Verschwinden der Re¬ 
aktion handeln. Es kann eben bei dem 
Actus therapeuticus bei einer Million Spiro¬ 
chäten sich darum handeln, daß 100 Qbrig 
geblieben sind. Es genügt diese Zahl zu¬ 
nächst nicht, die Reaktion auszulösen. 
Erst wenn diese 100 Spirochäten sich all¬ 
mählich vermehren, kommt eine Reaktion 
zustande. Es ist daher jedes Positiv¬ 
werden einer negativen Reaktion analog 
zu setzen einem Rezidiv ohne äußere Er¬ 
scheinungen, und daher eine Indikation, 
eine Behandlung vorzunehmen. 

Wie sie sehen, ist durch diesen Stand¬ 
punkt diese Behandlung nicht so einfach 
wie man glaubte. Ich habe auch nie ge¬ 
sagt, daß man einen Patienten nur inji¬ 
zieren und dann geheilt entlassen kann. 
Es wird die Aufgabe der Aerzte in der 
Zukunft sein, diese Fälle sukzessive in ge¬ 
wissen Zeiträumen zu untersuchen und die 
Wirkung vielleicht bei jedem zu verfolgen. 
Es liegt da eine ganz schwere Aufgabe 
der Zukunft vor, und in diesem Sinne wäre 
es sehr zu begrüßen, wenn es den ange¬ 
strengten Bemühungen, und ich glaube, 
Wassermann stimmt da auch mit mir über¬ 
ein, gelingen würde, einen Weg zu finden 
derart, daß auch der Fachmann stets imstande 
ist, diese Prüfung fortlaufend am Patienten 
vorzunehmen. Das wäre die zweite spezi¬ 
fische Beeinflussung, die das Mittel ausübt. 

Dann kommt noch eine andere Wir¬ 
kung hinzu, die außerordentlich schwer zu 
erklären ist Es ist mir von vielen Seiten 
berichtet worden, daß das Mittel eine oft 
wunderbare schnelle Wirkung ausübt. Von 
verschiedenen Seiten habe ich die Nach¬ 
richt bekommen, daß Patienten z. B., die 
monatelang wegen luetischer Erkrankung 
keinen festen Bissen schlucken konnten, 
bald nach einer Injektion erheblich weniger 
Schmerzen hatten. Zum Beispiel in einem 
bekannten Fall, der 2 Monate vergeblich 
behandelt worden war, wurde um 2 Uhr 
eine Injektion gemacht bei einem Gumma 
der Tonsille. Um 7 Uhr, 5 Stunden später, 
konstatiert der behandelnde Arzt, daß der 
Patient ein Butterbrot essen konnte. 


Analoge Fälle können, glaube ich, von 
den zahlreich versammelten Herren ergänzt 
werden. Aehnliche wunderbare Erschei¬ 
nungen findet man öfter. Ich weiß von 
einem Fall, daß Roseolen binnen 3 Stun¬ 
den verschwunden sind, Fälle von Knochen¬ 
schmerzen in wenigen Stunden verschwun¬ 
den sind, unangenehme Sensationen, welche 
viele Luetiker im Rachen haben, auch 
momentan verschwinden. Ich kenne einen 
Fall, eine chronische Makrochilie, der Pa¬ 
tient hatte immerfort Jucken auf der Zunge. 
Eine Stunde nach der Injektion war die 
unangenehme Erscheinung verschwunden. 
Bei einer gummösen Erkrankung der Zunge 
war dies ebenfalls konstatiert. Anato¬ 
mische Veränderungen können noch nicht 
eingetreten sein. Wenn ein solcher Mann 
imstande ist, Kaubewegungen zu machen, 
so muß doch etwas weggenommen sein; 
es muß die Schmerzhaftigkeit weggenommen 
sein. Man kommt daher zu der Anschau¬ 
ung, daß es sich hier um Sekretionspro¬ 
dukte der Spirochäten handelt, die als 
solche Schmerzhaftigkeit bedingen. 

Wenn man annimmt, daß die Substanz 
606 sich in irgendeiner Weise verbindet 
mit dem Toxin und auf diese Weise anti¬ 
neuralgisch wirkt, so erklären sich diese 
Beobachtungen in einfachster Weise. Man 
kann annehmen, daß die Substanz sich mit 
den Sekretionsprodukten verbindet und 
nach Art eines Antitoxins wirkt. 

Nun gibt es gewisse Beobachtungen, 
die dagegen zu sprechen scheinen, näm¬ 
lich die Tatsache, daß man gelegentlich 
beobachtet, daß das Umgekehrte eintritt, 
nämlich eine erhöhte Reizung. 

Diese Beobachtung ist schon alt, sie ist 
auch beim Quecksilber vorgekommen. Sie 
scheint darin zu bestehen, daß nach einer 
Injektion eine starke Rötung, Hyperämie, 
eintritt. Die erste Beobachtung über 606 
in dieser Richtung, von der ich gehört 
habe, stammt aus Italien. Dort war man 
im allerersten Beginn außerordentlich vor¬ 
sichtig, injizierte den Patienten nur Dosen 
von 0,025 und 0,05, anscheinend mit gutem 
Erfolge. Es trat die H erxheimersehe 
Reaktion ein. Die Spirochäten verschwan¬ 
den momentan, um nach kurzer Zeit, 5 bis 
10 Tagen, wieder aufzutauchen und lokale 
Rezidive hervorzurufen. In diesen Fällen 
handelt es sich nach meiner Ansicht darum, 
daß die Parasiten nicht abgetötet, sondern 
daß sie gereizt werden. Diese Erhöhung 
der Giftsekretion unter dem Einfluß der 
Reizung bedingt die lokalen Erscheinungen. 
Ich fasse also die Herxheim er sehe Re¬ 
aktion und ähnliche Erscheinungen als eine 


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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


November 


ungenügende Wirkung, als ein Zeichen 
auf, daß die verwendete Dosis zu klein ist. 
Das wäre das, was ich über die Spezifi- 
zität sprechen wollte. 

Dann wollte ich noch kurz über die 
therapeutische Taktik sprechen. Ich habe 
immer und immer alle Arsenikalien als ge¬ 
fährliche Mittel angesehen und habe mir 
gesagt, daß es notwendig sein müßte, ein 
solches gefährliches Mittel erst auszupro¬ 
bieren in ausgedehntestem Maße. Man 
kann nicht verlangen, daß ein Mittel, wel¬ 
ches im Körper die Parasiten abtötet, voll¬ 
kommen unschädlich sein soll. Aber, meine 
Herren, der Giftbegriff ist ein relativer. 
Nehmen Sie Chloroform und wählen Sie 
Soldaten aus. Sie können vielleicht 50000 
chloroformieren ohne Todesfall. Wählen 
Sie gewöhnliches Krankenmaterial aus, so 
ist die Mortalität genau 1 : 2060—2080 seit 
vielen Jahrzehnten. Würden Sie aber 
Herzkranke chloroformieren, so würden Sie 
1 o/o bis 2°/o oder noch mehr haben. Die 
Mortalität des Chloroforms ist nicht kon¬ 
stant, sondern hängt ab von der Art der 
Patienten. Dieses Gesetz gilt auch für alle 
therapeutischen Präparate. 

Man hat nun eine Erprobung vorzu¬ 
nehmen. Diese Erprobung hat ihre be¬ 
sonderen Schwierigkeiten insofern, als 
jeder, der solche unbekannte Mittel pro¬ 
biert, in die Lage versetzt werden kann, 
Patienten zu finden, die eine angeborene 
Ueberempfindlichkeit besitzen und daher 
durch die Anwendung des Mittels zu Tode 
kommen können und den Arzt großen Un¬ 
annehmlichkeiten aussetzen. Ich habe nun 
das Glück gehabt, in Deutschland Herrn 
Prof. Alt und Herrn Prof. Iversen in 
St. Petersburg zu finden, die mich auf das 
beste unterstützt haben. Herr Prof. Alt 
hat vorwiegend an Paralysen und später 
mit Hoppe und Schreiber an frischer 
Syphilis gearbeitet und als erster die 
wunderbaren Heilerfolge konstatiert, wäh¬ 
rend Iversen unabhängig davon Rekur- 
rensstudien gemacht hat und den Nach¬ 
weis erbrachte, daß unter einer Injektion 
Rekurrens definitiv heilt und alle Rück¬ 
fälle vermieden werden. 

Aber, meine Herren, mit diesen Fest¬ 
stellungen war nur ein kleiner Teil der 
Aufgaben erfüllt, insofern, als ich, bevor 
ich das Mittel in die Praxis geben wollte, es 
für notwendig hielt, daß an 10000—20 000 
Fällen Beobachtungen vorliegen, damit 
man ganz genau wissen konnte, wie groß 
die Gefahrchancen sind, unter welchen 
Umständen sie auftreten. Solche Aufgabe 
war schwer zu erfüllen, insofern als die 


Erprobung eines solchen Mittels seine 
großen Schwierigkeiten hat, weil man nicht 
überall mitwirken kann, weil in einem 
größeren Betriebe Schäden auftreten können, 
die im Anfang und bei kleinerem Umfang 
von den Autoren durch große Sorgfalt 
vermieden werden können. 

Ich habe eine Reihe von Herren mit 
dieser Aufgabe betraut. Ich muß gleich 
hinzufügen, daß es nur möglich ist, Er- 
prober zu finden, wenn die Resultate fort¬ 
laufend veröffentlicht werden, denn man 
wird keinen finden, der sich entschließt, 
auf eine mündliche Mitteilung der Resul¬ 
tate hin Versuche anzustellen. Erst wenn 
öffentliche druckschriftliche Mitteilungen 
erfolgt sind, kann der Betreffende mehr 
Mut haben, Versuche anzustellen. Ich habe 
nun die Herren Wechselmann, Stern, 
Pick, Neißer und Schreiber gebeten, 
diese Versuche anzustellen; diese und 
später noch eine Reihe von anderen be¬ 
währten Fachmännern haben sich dieser 
Aufgabe unterzogen. Ich verfüge jetzt über 
Berichte von ungefähr 10000 Fällen, glaube 
aber 12000 dürften wahrscheinlich in vero 
injiziert sein. 

Es hat sich herausgestellt, daß im all¬ 
gemeinen das Mittel keine besonderen Ge¬ 
fahren bietet. Insbesondere darf ich wohl 
sagen, daß unter der großen Zahl von Fällen 
nur ein einziger, der injena, beobachtet wor¬ 
den ist, sich befunden hat, wo es sich um eine 
Patientin handelte, die ihrem Leiden nicht 
hätte erliegen müssen. Aber das hing so 
zusammen: Es handelte sich um eine 
schwächliche Person mit tertiärer Lues des 
Kehlkopfes, bei der eine Injektion mit einer 
sauren Lösung aus äußeren Gründen ge¬ 
macht wurde, eine Lösung, die besonders 
stark lokal reizte. Ich glaube es handelt 
sich um einen Shok, der mit den neueren 
Präparaten wird vermieden werden können. 

Die andere Gruppe von Todesfällen, 
die kaum ein Dutzend erreichen dürfte, 
betrifft ausschließlich Fälle von ganz 
schweren Störungen des Nervensystems, 
also Tabes mit Kachexie, Fälle verblödeter 
Menschen mit Erweichungen im Gehirn, 
schwerer Tabes mit paralytischen Erschei¬ 
nungen usw. 

Es sind dies alles Fälle, in denen die 
Injektion offenbar den Tod hervorgerufen 
hat, insofern als die Patienten wenige 
Stunden nach der Injektion gestorben sind. 
Aber es betraf Patienten, die auch ohne 
Injektion schon Todeskandidaten waren. 

Nun, meine Herren, bin ich durchaus 
der Meinung, daß man einen Patienten, 
auch einen verlorenen Fall injiziert, wenn 


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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


man die Hoffnung hat, daß er sich bessern 
kann. So verfährt auch der Chirurg, der 
einfach eine Operation vornimmt, auch 
wenn sie sehr gefährlich sein sollte. Aber 
wenn unter diesen Umständen etwas 
passiert, wenn der Retter selbst ins Wasser 
fällt, soll man das nicht auf das Mittel 
schieben und sagen, das Mittel ist gefähr¬ 
lich, wie das jQngst von Buschke ge¬ 
schehen ist, der unter 5 Fällen 2 mal 
Arsenvergiftung beobachtet hat. Das wird 
jedem, der auch mit 606 behandelte Pa¬ 
tienten beobachtet hat, höchst verwunder¬ 
lich erscheinen. 

Ich bin auch der Ansicht, daß man einen 
solch hochgefährlichen Versuch unter¬ 
nehmen kann und muß, wenn man der 
Ueberzeugung ist, man kann den Patienten 
dadurch retten. 

So ist z. B. ein Fall einer schweren 
Epilepsie. Patient war 2 Jahre in einer 
Irrenanstalt, erkannte seine eigene Mutter 
nicht. Es wurde eine Injektion gemacht. 
Patient bekam danach einen furchtbaren 
epileptischen Anfall, sodaß der Arzt glaubte, 
daß er jede Minute sterben könnte. Der 
Patient kam davon, ist nach 4—5 Tagen 
in erheblichster Weise gebessert, kann 
sprechen, schreiben und liest. Ein Fall 
schwerster Lues mit Pneumonie, wo der 
betreffende Arzt die Injektion zunächst 
verweigerte, weil der Patient zu schwach 
war. Er beschloß am nächsten Tage es 
zu tun. Patient entfieberte in wenigen 
Stunden und war am nächsten Tage so 
wohl, daß er das Krankenhaus verlassen 
wollte. 

Bei schweren Paralytikern aber glaube 
ich, daß es doch sehr gefährlich ist, In¬ 
jektionen zu machen. Wenn es selbst ge¬ 
länge, einen zu heilen, so wird doch sein 
Zerebrum so zerstört sein, daß er vielleicht 
kein nützliches Mitglied der menschlichen 
Gesellschaft werden kann. Das wäre mein 
Standpunkt dem gegenüber, der eine In¬ 
jektion vornimmt 

Eine zweite Kontraindikation sind die 
Herzerkrankungen und die der Gefäße. 
So ist mir z. B. ein Fall bekannt, wo ein 
Patient injiziert wurde und unmittelbar da¬ 
nach starb. Es zeigte sich ein Aneurysma, 
dessen Wandung geplatzt war. Der Patient 
wäre natürlich auch so gestorben. Daß 
«in Aneurysma platzt, kommt vor. Ich 
habe selbst einen Epileptiker sterben sehen, 
bei dem das Fallen einer Schüssel einen 
tödlichen epileptischen Anfall hervorge¬ 
rufen hat. Wenn man eine Injektion vor¬ 
nimmt, können schwere Unfälle eintreten. 
ich glaube, daß man überhaupt bei Gefä߬ 


erkrankungen, die zu Aneurysma geführt 
haben, vorsichtig sein soll. Selbst wenn 
man die Spirochäten entfernt, wird das 
Aneurysma bestehen bleiben. 

Vielleicht darf ich noch sagen, daß viel¬ 
leicht der wesentliche Nutzen der heutigen 
Diskussion erreicht würde, wenn sich die 
versammelten Fachmänner besonders über 
die Technik aussprechen wollten. Ich ver¬ 
stehe darunter sowohl die Art der Lösung 
als die Höhe der Dosen. Im allgemeinen 
wirkt ja immer am schnellsten die intra¬ 
venöse Injektion und scheint auch mit 0,4 
bis 0,5 g gut ertragen zu werden. Weiter¬ 
hin wirkt am besten die alkalische Lösung, 
die zuerst von Alt und Iversen erprobt 
wurde und nur den kleinen Nachteil hat, 
daß sie ziemlich schmerzhaft ist. Dagegen 
hat die neutrale Emulsion von Michaelis 
und Wechselmann den Vorzug, daß die 
Schmerzhaftigkeit geringer ist. Es besteht 
die Wahl zwischen den beiden Formen, 
sie hängt zum Teil ab nach meiner An¬ 
sicht von der Beschaffenheit des Indivi¬ 
duums. 

Bei Neurasthenikern, bei Alkoholikern, 
bei Leuten, die sehr schmerzempfindlich 
sind oder bei denen der Schmerz eine un¬ 
angenehme Reaktion des Herzens hervor¬ 
ruft, glaube ich, wird die neutrale Lösung 
vorzuziehen sein, während in allen anderen 
Fällen, wo man auf die Schmerzhaftigkeit 
nicht Rücksicht zu nehmen hat, wohl die 
alkalische Injektion als die am meisten 
wirksame und theoretisch beste in Betracht 
zu ziehen wäre. 

Ich glaube, daß in Zukunft eine Kom¬ 
bination beider Injektionsformen, intra¬ 
venös und subkutan, angebracht wäre, die 
zuerst von Iversen ausgeführt, mir aber 
unabhängig von verschiedenen Seiten, von 
Neißer, Alt und noch anderen als in 
Vorbereitung stehend bezeichnet worden 
ist. Ich glaube daher, daß bei sonst ge¬ 
sunden Individuen die Doppelinjektion, wie 
sie Iversen ausgeführt hat, zu empfehlen 
ist. Dem Patienten werden 0,4—0,5 g 
intravenös injiziert und an zweiter Stelle 
eine Dosis subkutan oder intramuskulär, 
die langsam resorbiert wird. Man braucht 
zu letzterer neutrale Lösungen oder ver¬ 
fährt nach den neueren Vorschriften von 
Volk, Kromeyer, die mit einer Paraffin¬ 
emulsion arbeiten. Das ist die Frage der 
Injektion. 

Außerordentlich wichtig ist dagegen die 
Frage der Dose. Die Dose hängt nach 
meiner Ansicht ab von der Art der Kranken. 
Ich kann keine allgemeine Direktive an¬ 
geben. Ich glaube aber, daß bei Nerven- 


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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


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erkrankungen man die Dosis klein wählen 
muß und hier nicht über 0,4 g hinausgehen 
soll, denn wir müssen uns eben klar wer¬ 
den, daß wir hier solchen Individuen 
gegenüberstehen, die überempfindlich sind 
und von seiten ihres Herzens oder des 
zentralen Nervensystems unangenehm rea¬ 
gieren könnten. Dann ist auch in Betracht 
zu ziehen, daß bei diesen Kranken offen¬ 
bar die Zahl der Spirochäten in außer¬ 
ordentlich geringem Maß vorhanden zu 
sein scheint, sodaß wahrscheinlich kleinere 
Mengen ausreichen, um eine eventuelle 
Abtötung der Spirochäten zu erreichen, 
ln dieser Beziehung darf ich wohl auf eine 
ganz wichtige Frage aufmerksam machen. 

Es ist notwendig, um einen klaren Ein¬ 
blick in die Heilmöglichkeit zu gewinnen, 
diese mittels der Wassermannschen 
Reaktion fortlaufend zu kontrollieren. Es 
ist dies die wichtigste Frage in der The¬ 
rapie. Leider ist die Zeit, die bisher ver¬ 
strichen ist, bei der Syphilis viel zu un¬ 
genügend, um etwas sagen zu können. Ich 
betrachte es daher als ein besonderes 
Glück, daß wir durch die vorhergehenden 
Arbeiten Alts über die Paralyse Beobach¬ 
tungsmaterial haben, welches bezüglich der 
Behandlung mit Arsenophenylglyzin sich 
über 2 Jahre erstreckt. Das letztere be¬ 
sondersist intensiv untersucht von Ne iß er, 
ist im Wesen genau von denselben Wir¬ 
kungen wie 606, nur mit dem Unterschied, 
daß das Präparat häufiger Nebenwirkungen 
ausübt, die die Anwendung des Präparates 
im großen hindert. Im Prinzip ist die Wir¬ 
kung der Substanz genau wie die von 606. 

In Uchtspringe ist festgestellt worden, 
daß ungefähr 16% der Paralytiker ihre 
Wasser m an nsche Reaktion verloren 
haben und ein ebenso großer Teil, 20%, 
eine Abschwächung erkennen ließ. Bei 
der Beurteilung kommen nur die 16 0/ 0 in 
Betracht. Es hat sich nun gezeigt, daß 
diese Patienten in einem Zeitraum von 
2 Jahren die Reaktion nicht wieder ge¬ 
wonnen haben, und ich glaube, das ist eine 
Tatsache, die uns mit den besten Hoff¬ 
nungen in die Zukunft blicken läßt. 

Ich komme nochmals zurück auf die 
Behandlung. Ich sage also, bei gewissen 
Formen mit wenig Spirochäten, Paralyse, 
Tabes und spinaler Syphilis wird man mit 
geringen Dosen auskommen können, um 
so mehr, als man ein zweites Mal, falls die 
Affektionen nicht heilen, insbesondere nach 
Wechselmann die Injektion wiederholen 
kann. Dagegen bin ich der Ansicht 
Neißers, daß man versuchen soll, bei 
sonst kräftigen Individuen durch die erste 


Injektion möglichst den vollen Effekt zu 
erzielen. Wie hoch soll man gehen? Ich 
glaube, daß man bei gesunden Individuen 
dieDosis vielleicht auf 0,8—1,0 wird steigern 
können, ohne besondere Gefahr. Ja, ich 
glaube, daß man vielleicht noch weit höher 
wird gehen können und eventuell auch ver¬ 
suchen kann, noch durch eine zweckmäßige 
Kombinationsbehandlung den Effekt, der 
fortlaufend zu kontrollieren sein wird, zu 
verstärken. Das sind Aufgaben, die noch 
sehr viel Zeit und Arbeit erfordern wer¬ 
den. Es ist unmöglich, bei einer so schwie¬ 
rigen Frage im ersten halben Jahre zu 
definitiven Resultaten zu gelangen. Das 
war das Wesentlichste, was ich sagen 
wollte. 

Vielleicht darf ich noch anführen, daß 
das Mittel auch bei anderen Affektionen 
wirkt. Ich möchte anschließen an den 
schönen Vortrag, den Herr Wassermann 
gehalten hat. Es ist möglich, daß dieses 
Mittel, wenn es auch auf Spirochäten ein¬ 
gestellt ist, auch eine Reihe anderer Affek¬ 
tionen sozusagen im Streuungskegel trifft. 
Die Gründe, die maßgebend sind, sind aus¬ 
führlich von Wassermann auseinander¬ 
gesetzt worden. Als solche Leiden möchte 
ich an erster Stelle die Framboesie nennen* 
die ja der Syphilis so nahe steht. Der 
Tierversuch hat nachgewiesen, daß man sie 
mit 606 behandeln kann. Auch bei Menschen 
(in Manila) hat man gefunden, daß 606 
außerordentlich gut wirkt. Ich glaube, daß 
606 auch hier in kleineren Dosen wirk¬ 
sam ist. 

Eine zweite Affektion sind die vielen 
Spirochätenerkrankungen, insbesondere die 
Hühnerspirillosen, bei denen zuerst von 
Uhlenhuth der Wert des Atoxyls erprobt 
worden war. Also auch hier heilt 606 in 
glänzender Weise. 

Weiterhin käme in Betracht Rekurrens* 
überweiches Iversen Beobachtungsmaterial 
gesammelt hat. Dann scheint noch eine 
weitere Erkrankung, die Malaria, gut be¬ 
einflußt zu werden. Hier ist gleichzeitig 
von verschiedenen Seiten, von Nocht und 
Iversen, mitgeteilt worden, daß bei ge¬ 
wissen Formen auch 606 eine Heilwirkung^ 
ausübt. Iversen spricht darüber, und sa 
bitte ich diesen Teil übergehen zu dürfen* 
Dann scheint es noch, als ob vielleicht bei 
einer anderen Erkrankung ein gewisser 
Effekt zu erzielen wäre. Das ist nämlich 
Variola. Wie mir Dr. Haller aus Saratow 
berichtete, hat er unter „606“ einen Fall 
von Variola zur Heilung kommen sehen, 
wie er einen von gleicher Schwere noch 
nie hat ausheilen gesehen. 


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November 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


521 


Also, da es sich um zwei Fälle handelt 
und um einen zuverlässigen Arzt, so kann 
man vielleicht Hoffnungen hegen. 

Ich darf vielleicht erwähnen, daß ganz 
unabhängig hiervon mein Mitarbeiter Marks | 
die Idee hatte, 606 bei mit Vakzine in- i 
fizierten Kaninchen zur Anwendung zu i 
bringen. Er rasierte die Rückenhaut nach j 


! dem Calmetteschen Verfahren und sah 
dann an den rasierten Stellen eine starke 
Vakzination auftreten, während bei Tieren, 
die 606 erhalten, die Reaktion vollkommen 
| ausblieb. Es scheint Marks gelungen zu 
i sein, den Nachweis für die Wirksamkeit 
i des Mittels für den Tierversuch zu er- 
| bringen. 


Aus der Diskussion über Ehrlichs Vortrag. 


Alt (Uchtspringe) gibt einen Ueberblick 
über die ersten Nachprüfungen 606. Zuerst 
hat er Tierversuche an Hammeln und Hunden 
aufgestellt, um über die Resorptionsweise, 
Toleranz, Ausscheidung und örtliche Wir¬ 
kung etwas zu erfahren. Dann wurde das Mit¬ 
tel zwei Menschen (Assistenten) ä 0,1 g inji¬ 
ziert mit nur örtlicher Reaktion. Er wieder¬ 
holt dann die Resultate seiner ersten Be¬ 
handlungen (mitgeteilt in der Münch, med. 
Wochschr., 15. März 1910) und hebt noch¬ 
mals die 100 erstbehandelten Fälle, die von 
Schreiber auf dem Internistenkongreß in 
Wiesbaden vorgestellt sind, hervor. Er 
macht darauf aufmerksam, keine Depots im 
Körper von Kranken von neuem zu setzen, 
ehe die alten aufgebraucht sind, um eine 
chronische Arsen Vergiftung zu vermeiden. 
Besondere Vorsicht rät er an, wenn es sich 
um Patienten mit chronischen Nervenleiden 
handelt. 606 hat nicht nur eine große 
Affinität zur Leibessubstanz der Spirochäten, 
sondern zu allen syphilitischen Neubildungen. 
Es setzt um einen syphilitischen Herd eine 
Hyperämiezone und wenn das z. B. in einer 
geschlossenen Kapsel, wie der Schädel¬ 
kapsel, geschieht, kann es zu Druckschwan¬ 
kungen Anlaß geben, die zuweilen ver¬ 
hängnisvoll werden können. Aehnliche Zu¬ 
stände wurden auch bei der Behandlung 
mit Arsenophenylglyzin beobachtet. Bei 
Paralytikern der sogenannten spastischen 
Form rät er deshalb von dem Gebrauch 
ab, weil zu leicht ein Anfall ausgelöst 
werden kann. Nur bei Paralysen ganz im 
Anfang und bei Taboparalyse ist es mit 
Erfolg anzuwenden. Gehirnlues bietet gute 
Aussichten auf Heilung durch 606. Die 
venöse Injektion des Präparates muß mit 
der von Schreiber angegebenen Vorsicht 
ausgeführt werden. Bei Tabikern tritt ein 
Nachlassen der Schmerzen gewöhnlich erst 
nach einer Zeit der Reizung ein, in welcher 
die subjektiven Beschwerden vermehrt sind. 
Optikusatrophie hat Alt nie beobachtet. 

Schreiber (Magdeburg): Die Schmerz¬ 
haftigkeit der anfangs üblichen intramusku¬ 
lären Injektion, besonders aber die Be¬ 
obachtung, daß die stark alkalische Lösung, 
sowie die Pulveremulsion Nekrosen macht, 


veranlaßten zur intravenösen Injektion. 
Schreiber gibt seine jetzige Technik an 
unter Demonstration einer besonders kon¬ 
struierten Kanüle. Die intravenöse In¬ 
jektion ist, wenn technisch richtig ausge¬ 
führt, unter Anwendung einer stärkeren 
Verdünnung nicht gefährlicher, als die In¬ 
jektion anderer differenter Mittel. Besondere 
Zustände sah Schreiber bei über 400 
Fällen nicht, auch nicht bei zweimaliger 
Einspritzung. Das Präparat läßt sich in 
50°/o*ger Salbe sehr gut bei Kondylomen 
zur lokalen Behandlung benutzen, da es 
ätzend wirkt. Buschke gegenüber betont 
Schreiber, daß die von Buschke zitierten 
Fälle auf die Technik zurückzuführen sind, 
nicht aber auf die Giftigkeit des Mittels. 
Er hat nie behauptet, das Mittel sei un¬ 
giftig. Wichtig ist, daß man bei desolaten 
Patienten, besonders solchen mit Hirn¬ 
erscheinungen, zunächst kleine Dosen nimmt, 
weil große Dosen stärkere Reaktionser¬ 
scheinungen hervorrufen, die bedenklich 
werden können. 

Iversen (St. Petersburg) verwandte 
bei Lues zuerst die intravenöse Injektion, 
jetzt die Kombination der intravenösen 
mit der intramuskulären, im ganzen 
0 8—1,0 g Arsenobenzol. 100 Fälle. In 
6 Fällen bemerkte er Rezidive, die nach 
wiederholter Injektion verschwanden, 
diese hatten weniger als 0,4 erhalten. 
Für alle Stadien der Lues ist die Wir¬ 
kung eine eklatante; besonders für die 
Spezifität des Mittels spricht der Erfolg 
bei maligner Lues, die jahrelang allen 
Quecksilberpräparaten getrotzt hat. Punk¬ 
tion der. Leistendrüsen ergab nach 3 bis 
5 Tagen keine Spirochäten mehr. Iversen 
hat das Mittel auch bei Malaria angewendet, 
nachdem anfänglich einige Fälle von ter¬ 
tiana gut heilten, hat er seine Versuche 
weiter im Kakasus angestellt. 27 Fälle ter¬ 
tiana, 4 quartana, 27 tropica, 2 gemischt 
tertiana und tropica. 0,45 bis 0 8 Dosis 
intravenös und subkutan. Tertiana heilt in 
700 j 0 der Fälle bei intravenöser Injektion; 
nach 12 bis 24 Stunden verschwinden die 
Plasmodien aus dem Blut für immer, der 
Milztumor wird kleiner, nur in ganz alten 

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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


November 


Fällen wird der Milztumor nicht kleiner. 
In 30% hören die Paroxysmen auf, aber 
die Parasiten bleiben im Blut. Quartana 
hat er nur 4 Fälle behandelt, 2 davon re¬ 
agierten nicht, 2 hatten nach der Injektion 
schwächere Paroxysmen und geringeren 
Fieberanstieg. Auch Tropika reagiert 
schlecht auf die Injektion, die Besserung 
ist nur vorübergehend. Die Parasiten ver¬ 
schwinden nicht aus dem Blute und in 
einigen Tagen kommt es wieder zu Fieber. 
In 4 Fällen hat er Reizzustände beobachtet, 
ähnlich wie sie bei Verwendung subthera¬ 
peutischer Dosen bei Lues beschrieben 
worden sind: Fieber, stärkere Anfälle und 
Auftreten von jungen Ringen in den Ery¬ 
throzyten — in zwei anderen Fällen stieg 
das Fieber wieder nach 5 Tagen an, und 
an Stelle der vorher kleinen Ringe traten 
nun Semilunarformtn. Eine Kombination 
des 606 mit Chinin kann zu einem Angriff 
der Parasiten von zwei Seiten führen und 
damit zur Heilung. 

Wechsel mann (Berlin): Es ist fest¬ 
stehend, daß Ehrlichs Dioxydiamidoarseno- 
benzol ein den anderen überlegenes spe¬ 
zifisches Mittel gegen alle Manitestationen 
der Lues ist. Es ist unzutreffend, daß es 
nur etwas stärker als Kaiomel wirkt, sondern 
es greift dort heilend ein, wo Kaiomel durch 
Jahre vergeblich gegeben wurde (Kranken¬ 
vorstellung). Die unvollkommene Wirkung 
einer zu kleinen Dose kann durch Reinjek- 
tion kompensiert werden. Rezidive scheinen 
seltener und mehr als Herdrezidive auf¬ 
zutreten. Bei Tabes sind Besserungen zu 
konstatieren. In einem Falle kehrten die 
erloschenen Patellarsehnenreflexe wieder, 
möglich, daß es sich um Pseudotabes 
handelt; diese wird nicht durch Queck¬ 
silber, aber durch 606 gebessert. Aehnlich 
geht es vielfach auch mit Pseudoparalysen 
im Sinne Fourniers. Untersuchungen mit 
Nikolai haben ergeben, daß das Mittel 
nicht das Herz schädigt, gelegentlich sinkt 
der Blutdruck, Vorsicht ist bei schwachen 
Herzen am Platz. Verbreiterte Aorten und 
Aortenaneurysmen sind ohne Schaden in¬ 
jiziert worden. Zu fürchten sind am 8. und 
9. Tage auftretende Arzneiexantheme mit 
hohem Fieber. Schädigungen des Seh¬ 
nerven sind nicht beobachtet worden. Auch 
bei Neuritis optica und Sehnervenatrophie 
wurde das Mittel vertragen. Mehrfach trat 
Nekrose des Unterhautzellgewebes auf. 

Orth (Berlin) demonstriert zwei Prä¬ 
parate von Injektionsstellen des Ehrlich 
606-Präparates in die Glutäalmuskulatur. 
Bei dem ersten Fall bestand eine Tabes, 
der Tod ist 12 Tage nach der Injektion ein¬ 


getreten. Man sieht in der Muskulatur 
mehrere verschieden gestaltete, insbesondere 
aber einen walnußgroßen Herd mit gelber 
Peripherie und rotem Zentrum. Trotz des 
eiterähnlichen Aussehens ergab weder die 
bakteriologische Untersuchung Mikroorga¬ 
nismen in diesem Herde, noch konnte 
mikroskopisch von einer eigentlichen Eite¬ 
rung die Rede sein, da sich zwar einige 
Leukozyten in der Peripherie befanden, 
der Herd aber wesentlich aus ausge¬ 
storbenem Muskelgewebe bestand. Der 
zweite Fall bot einen anatomisch ganz ähn¬ 
lichen Befund. Der Tod war hier 6 Wochen 
nach der Injektion infolge Karzinoms des 
Pharyngo Larynx eingetreten. Beide Fälle 
zeigen, daß durch die Injektion mit Dioxy- 
diamidoarsenobenzol nicht sowohl entzünd¬ 
liche Infiltrate als ausgedehnte Gewebs- 
nekrosen verursacht werden können, welche 
lange Zeit bestehen bleiben. 

Mickley (Berlin): Mickley hat an der 
Lesserschen Klinik in Gemeinschaft mit 
Stroscher und Tomaczewski etwa 150 
Syphilisfälle mit dem Ehrlich sehen Mittel 
behandelt und durchweg gute, zum Teil 
glänzende Erfolge erzielt Der Primär-, 
affekt überhäutet sich schnell. Von der 
sekundären Lues reagieren besonders gut 
die papulösen Exantheme, ferner die 
Schleimhauterkrankungen. Die auffälligsten 
Erfolge zeigen sich bei der tertiären Lues. 
Mickley hat einen Patienten mit fünfmark- 
stückgroßem, zerfallenem Gummi auf dem 
Schädel, Sequesterbildung daselbst und 
spezifisch schwer veränderten Kniegelenken 
behandelt. Das Gummi war 17 Tage nach 
der Einspritzung geheilt, und der Patient 
der fast % Jahr bettlägerig gewesen war, 
konnte 2—3 Wochen nach Beginn der Be¬ 
handlung aufstehen. Aehnlich wirkte das 
Präparat bei einem Mann, der infolge der 
langen Erkrankung und der vielen Kuren 
körperlich total heruntergekommen war. 
Bei ihm begann schon am zweiten Tage 
nach der Einspritzung sich der Allgemein¬ 
zustand zu heben und 4 Wochen später 
konnte er wesentlich gebessert die Klinik 
verlassen. Auch bei Neugeborenen mit 
kongenitaler Lues wirkte das Mittel aus¬ 
gezeichnet. Mißerfolge waren nicht zu ver¬ 
zeichnen, dagegen sind zwei Rezidive vor¬ 
gekommen. Nebenwirkungen wesentlicher 
Art wurden — abgesehen von der übrigens 
nicht stets vorhandenen Schmerzhaftigkeit 
der Einspritzung —, nicht beobachtet. 
Mickley kommt zu dem Schluß, daß die 
Ehrlichsche Entdeckung die Behandlung 
der Syphilis in einer ganz außerordentlichen 
Weise gefördert hat und daß sie für die 


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November 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


523 


Behandlung und Bekämpfung der Lues 
einen gewaltigen Fortschritt bedeutet. 

Uhlenhuth (Berlin) berichtet kurz über 
seine Versuche mit Atoxyl. Er hält das 
Atoxyl in seiner Wirkung dem Queck¬ 
silber bei weitem überlegen. Trypano¬ 
somentiere wurden prompt geheilt. Bei 
Hühnern tritt nach Atoxylinjektion eine 
Immunität gegen Spirillosen ein. Auch bei 
Lues hat er gute Erfolge mit der Atoxyl- 
behandlung gesehen. Verglichen mit dem 
606 Präparat ist dieses in der Schnellig¬ 
keit der Wirkung dem Atoxyl bei weitem 
überlegen. 

Stern (Düsseldorf): Gegenüber den 
glänzenden Ergebnissen, die sich bei einer 
erheblichen Anzahl der Fälle erzielen lassen, 
lenkt der Vortragende die Aufmerksamkeit 
auf diejenigen doch nicht so ganz seltenen 
Beobachtungen, in denen trotz relativ 
großer Dosis doch das Mittel versagt Aus 
seinen Beobachtungen und Studien muß 
Stern schließen, 1. daß die Durchschnitts¬ 
dosis von 0,5 in einmaliger Anwendung 
sich doch in manchen Fällen als zu klein 
erweist, 2. daß selbst bei Anwendung von 
0,7—0,8 sich arsenfeste Spirochätenstämme 
bilden können, und daß 3. die vielfach 
gerade im Publikum herrschende Meinung, 
die Syphilis könne nunmehr mit einer ein¬ 
maligen Injektion geheilt werden, nicht 
richtig sei. Gegenüber dem oft geradezu 
phantastischen Optimismus, der auch in 
Aerztekreisen sich gegenüber dem neuen 
Mittel bemerkbar mache, hält der Vor¬ 
tragende es doch für Pflicht, darauf auf¬ 
merksam zu machen, daß selbst bei hoher 
Einzeldosis ein Erfolg ausbleiben kann. 
Da die lange Remanenz des Arsens erwiesen 
sei und an den von Orth demonstrierten 
Präparaten auch die intensive lokale Ein¬ 
wirkung des Mittels feststehe, sei die Frage 
wohl berechtigt, ob es so ganz ungefähr¬ 
lich sei, die hohe Einzeldosis in kurzen 
Abständen zu wiederholen. Gerade nach 
dieser Richtung hin mahnten die Versager 
zum Nachdenken. 

W. Scholtz (Königsberg) erwähnt zu¬ 
nächst drei von ihm beobachtete Versager 
mit 606, von denen zwei offenbar auf zu 
geringe Dosis, 0,3 und 0,4, einer auf einen 
arsenfesten Stamm zurückgeführt werden 
mußten. Dann geht er kurz auf die Tech¬ 
nik ein und bemerkt, daß dieselbe seiner 
Ansicht nach noch nicht zur Zufriedenheit 
gelöst ist, denn bei den Injektionen Mi¬ 
chaelis und Alt sind die Schmerzen doch 
noch oft recht erheblich, bei den Injektionen 
nach Wechsel mann geht die Resorption 
durch Bildung abgekapselter Infiltrate bis¬ 


weilen nicht gleichmäßig und schnell genug 
vonstatten. Scholtz konnte nach fast 
7 Wochen nach der Injektion in wenigen 
Kubikzentimetern eines verflüssigten faust¬ 
großen Infiltrates mehrere Zehntel Milli¬ 
gramm Arsen nachwiesen. 

Dann berichtete Scholtz über einen 
Fall von hereditärer Lues, bei dem nach 
dem Vorgang von Ta ege der Mutter 
eine Injektion von 0,5 Arsenobenzol ge¬ 
macht wurde, und bei dem von der Mutter 
gesäugten Kinde hierauf innerhalb von 
10 Tagen ein vollkommenes Abheilen des 
papulo-squamösen Exanthems und der übri¬ 
gen luetischen Erscheinungen erfolgte. In 
der Milch der Mutter konnten 48 Stunden 
nach der Injektion nur ganz minimale 
Spuren von Arsen (weniger als ^io mg) 
nachgewiesen werden, die für die Hei¬ 
lung wohl sicherlich nicht in Betracht 
kommen. 

Daraufhin versuchte Scholtz bei Pa¬ 
tienten mit florider akquirierter Lues eine 
Serumbehandlung direkt durch Injektion 
des Blutserums von Syphilitikern, die 
48 Stunden vorher eine Injektion mit 606 
erhalten hatten. In der Tat konnte aut 
diese Weise bei zwei Patienten eine nahezu 
völlige Abheilung des Exanthems und der 
nässenden Papeln erzielt werden, während 
bei drei anderen Patienten nur in den 
ersten Tagen eine Besserung eintrat, dann 
aber kein weiterer Fortschritt erfolgte und 
zu anderer Behandlung übergegangen wer¬ 
den mußte. Die Spirochäten nahmen 
in allen Fällen nur an Zahl und Beweg¬ 
lichkeit ab, verschwanden aber nur vor¬ 
übergehend, nicht dauernd. Die Spiro¬ 
chäten werden offenbar durch diese Serum¬ 
behandlung nicht sehr erheblich beeinflußt, 
es handelt sich vielleicht nur um die Bil¬ 
dung antitoxischer Stoffe im Serum. 

Eine Arsenwirkung kommt jedenfalls 
nicht in Frage, denn in 20 ccm des ver¬ 
wandten Serums konnten nur minimale 
Spuren (weniger als Vio mg) Arsen nach¬ 
gewiesen werden, und den Kranken wur¬ 
den bisher nur 30—50 ccm injiziert. (Auto¬ 
referat.) 

L. Michaelis (Berlin) tritt für die Ver¬ 
wendung der neutralen Suspension ein, 
und bestreitet, daß die Wirkung der alka¬ 
lischen Lösung schneller als die der Sus¬ 
pension sei. Das Arsenobenzol sei ein 
amphoterer Elektrolyt, der im freien Zu¬ 
stand eine minimale Löslichkeit besitzt. 
Die Löslichkeit hänge von der Reaktion 
der Lösung ab, bei der neutralen resp. 
spurweise alkalischen Reaktion des Blutes 
und der Gewebe hat die Löslichkeit des 

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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


November 


606 ein Minimum. Daher fällt die alkali¬ 
sche Lösung, wenn man sie in die Gewebe 
njiziert, nachträglich zum größten Teile 
doch aus, und stellt somit ebenso eine 
Depotbehandlung dar, als die reizlosere 
neutrale Suspension. Die Injektion in den 
Rücken wird besser nicht subkutan, son¬ 
dern tiefer in die oberflächliche Rücken- 
vnuskulatur gemacht. Es entstehen hier 
kaum Infiltrate. 

Grün fei d (Odessa) führte etwa folgen¬ 
des aus: In Rußlend sei die Lues sehr 
verbreitet, es gibt Ortschaften, deren Be¬ 
wohner zu 80% als Luetiker bezeicnet 
werden können. Da 606 besonders für 
die massenhafte Behandlung der Syphilis 
geeignet sei, so sei es in Rußland bereits 
.zur Gründung sogenannter „fliegender 
Kolonnen" zur Behandlung der Syphilis 
gekommen, wenigstens unter der ländlichen 
Bevölkerung. In Tausenden von Fällen sei 
das Arsenobenzol als ein ausgezeichnetes 
Mittel besonders bei hereditärer, schwer 
ulzeröser und maligner Lues erprobt. 
Grünfeld hegt die Hoffnung, daß die 
verblüffenden und rasch auftretenden Re¬ 
sultate im russischen Volke wieder das 
Vertrauen zur Heilkraft der Arzneien er¬ 
wecken mögen. 

Grouven (Halle) hält das Mittel nach 
seinen Erfahrungen, die er aus der Be¬ 
handlung von 200 Fällen gewonnen hat, 
allen bisherigen Luesheilmitteln überlegen. 
Bei schweren Störungen des Gefäß- und 
Nervensystems rät er von der Anwendung 
ab. Geringe Intoxikationserscheinungen 
sind sowohl bei intravenöser als auch bei 
intramuskulärer Applikation möglich, wegen 
einer Reihe unbekannter Faktoren, die bei 
der venösen Injektion mitspielen, empfiehlt 
er diese nicht. Bei Kopfschmerzen, Fieber, 
gastrointestinalen Störungen, Gicht, muß 
man vorsichtig verfahren. Die neutrale 
Injektion ist weniger schmerzhaft, aber der 
Erfolg auch zögernder. Bei wiederholten 
Injektionen wurde niemals bis auf zwei 
Fälle eine kumulative Wirkung beobachtet. 
Die Wassermann sehe Reaktion ver¬ 
schwindet bei parasyphilitischen Erkran¬ 
kungen sofort, in frühen Stadien der Lues 
langsam. Ein Negativwerden der Wasser¬ 
mann reakdon ist nicht gleichbedeutend 
mit einer Heilung. Verfasser berichtet 
über zwei Rezidive und über drei Fälle 
von Primäraffekt, bei denen der Ausbruch 
sekundärer Erscheinungen nicht verhindert 
werden konnte. Das Mittel ist sicherlich 
ein Fortschritt bezüglich der Schnelligkeit 
der Wirkung als auch der Spezifität, wo 
Quecksilber versagt. 


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Glück (Sarajewo) berichtet über 417 
mit 606 behandelte Fälle und zeigt viele 
Abbildungen schwerster Lues. Davon sind 
47 Primäraffekte mit einer Durchschnitts¬ 
heilungsdauer von 8—9 Tagen. 281 sind 
rezent Syphilitische mit einer Behandlungs¬ 
dauer von 10 Tagen, 99 sind tertiäre Lues 
mit einer durchschnittlichen Behandlungs¬ 
dauer von 12 Tagen. Unter den behan¬ 
delten Fällen finden sich 7 Rezidive, alle 
diese sind mit der Dosis 0,3 gespritzt. Bei 
den Rezidiven war von Anfang an die 
Heilung etwas verzögert. Glück knüpft 
hieran die Mahnung, auf alle Fälle mit 
langsamer Heilung besonders zu achten. 
Am hartnäckigsten sind Sklerosen an der 
Portio, die 18 Tage im Durchschnitt zur 
Heilung benötigen. Glück macht die 
Heilungsdauer direkt von der Größe der 
Dosis abhängig. Trotz 0,7—0,8 ist nur 
einmal eine Arsenintoxikation ohne Folgen 
vorgekommen. 

Friedländer (Berlin) berichtet über 
80 Fälle, 15 Primäraffekte, darunter 12 ge¬ 
nitale, 3 andere mit Drüsenschwellungen, 
teils mit Gangrän. Bei einer Dosis von 
0,3—0,6 in 6—24 Tagen verschwanden die 
Erscheinungen, einige waren von Sekundär* 
erscheinungen gefolgt. 48 Fälle mit 
schweren Hauterscheinungen und häufig 
schwerer Kachexie gingen prompt zurück. 
Die Patienten nahmen sehr an Gewicht zu,. 
ein Rezidiv unter diesen 28 Fällen, das 
mit 0,6 gespritzt war, wurde durch eine 
Dosis von 0,3 beseitigt. 15 Fälle von 
schweren Schleimhauterkrankungen mit 
Zerstörungen an Tonsillen, Epiglottis, 
Uvula, mit Papeln am ganzen Körper 
heilten nach 0,4. Gummata im Rachen und 
Trachea nach 0,3, ein Herr mit schweren 
Zerstörungen an der Zunge nach 0,5. 
Nervenfälle (Tabiker, Pseudotabiker, Mus¬ 
kellähmungen) wurden insofern gut beein¬ 
flußt, als die Schmerzen verschwanden, vor 
allem die Kopfschmerzen. Eine Tabes 
initialis mit Blasenstörungen wurde be¬ 
schwerdefrei nach 8 Tagen. 606 ist den 
Quecksilberpräparaten sicher überlegen. 
Friedländer schlägt für Primäraffekte 
große Dosen vor, bei Rezidivbehandlung 
je nach der Schwere der Sekundärerschei¬ 
nungen. Der Wert des Ehrlich sehen 
Präparates beruht in der Fähigkeit, schnell 
die Erscheinungen zum Schwinden zu 
bringen. 

Pick (Wien) weist auf die Verschieden¬ 
heit hin, mit der das Mittel vertragen wird 
bezüglich der Temperatursteigerung. Er 
findet, daß hauptsächlich hysterische und 
neurasthenische Personen stark reagieren, 


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November 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


525 


die auch auf eine einfache Wasserinjektion 
schon Fieber bekommen. Er zieht hier 
einen Vergleich mit den Tuberkulininjek¬ 
tionen, die auch zuweilen bei nervösen 
Menschen Fieber machen, ohne daß diese 
einen tuberkulösen Herd haben. Er 
empfiehlt probatorische Injektionen ambu¬ 
latorisch vorzunehmen von 0,05 und wenn 
die Patienten darauf reagieren, nur kleine 
Dosen zu verwenden. 

Schindler (Berlin) hebt hervor, daß 
man die refraktären Fälle von Primär¬ 
affektionen, die mit 606 behandelt sind, 
doch nicht vergessen soll. Er hat einen 
Patienten mit einem Primäraffekt am Prä¬ 
putium und einem größeren ulzerierten am 
linken Mundwinkel mit großen regionären 
Drüsen mit 0,45 des Ehrlichschen Mittels 
gespritzt. Nach 48 Stunden war der 
Primäraffekt am Präputium abgeheilt, der 
an der Lippe aber nur zurückgegangen, 
und ebenso die regionären Drüsen, 
und erst auf Quecksilberpflaster und In¬ 
jektion von grauem Oel verschwand alles 
restlos. 

Emmery (Paris) berichtet über 50 In¬ 
jektionen, die er gemacht hat. Er hält das 
Mittel für vollkommen unschädlich. Die 
Schmerzen und die lokalen Entzündungs¬ 
erscheinungen in der Umgebung der In¬ 
jektionsstelle sind sehr unbedeutend. Tem¬ 
peratursteigerung war selten, und auch 
dann nur bis 38°. Von den Erfolgen ist 
zu sagen, daß Primäraffekte verhältnis¬ 
mäßig langsam verschwanden, die Sekundär¬ 
erscheinungen schnell zurückgingen. Alte 
Knochen- und Gelenkprozesse heilten in 
geradezu wunderbarer Weise. Ueber die 
Beeinflussung nervös - syphilitischer Pro¬ 
zesse gibt Verf. noch kein abschließendes 
Urteil. 

Volk (Wien) schlägt eine Suspension 
des Präparates 606 in Paraffinum liquidum 
oder in Oleum olivarum vor. Nach seiner 
Meinung heilen Sklerosen und die sekun¬ 
dären Krankheitsformen der Syphilis 
schneller als bei Quecksilberbehandlung, 
besonders bei ulzerösen Syphiliden zeigt 
sich die überlegene Heilwirkung des neuen 
Mittels. Bei Palmar- und Plantarsyphiliden 
ist 606 dem Hg nicht wesentlich überlegen, 
bei papulösen und makulösen Exanthemen 
leistet das Hg mehr. Oftmals muß man 
mehrere Injektionen mit 606 machen, da 
auf die erste Injektion die Rückbildung un¬ 
genügend ist. Nebenerscheinungen wurden 
wenig beobachtet, nur manchmal Blutdruck¬ 
senkungen und Temperaturen bis 39,6°, 
schnell vorübergehende Exantheme und 
Urinverminderung in den ersten Tagen. 


Selten trat die Herxheim ersehe Reaktion 
auf. Das Allgemeinbefinden und das 
Körpergewicht bessern sich gewöhnlich 
sehr schnell. Die Wassermannsche Re¬ 
aktion wurde nur im Verlauf von Wochen 
und Monaten beeinflußt. Auch Volk hält 
das Verschwinden der Wassermannschen 
Reaktion nicht unbedingt für ein Signum 
sanationis. Vier Rezidive wurden beob¬ 
achtet. Zum Schlüsse empfiehlt Volk die 
kombinierte Behandlung mit Hg. 

H. Citron (Berlin) berichtet über ein 
von ihm gemeinsam mit Mulzer im Kaiser¬ 
lichen Gesundheitsamte ausgearbeitetes, an 
Tieren wie an Patienten bereits erprobtes 
Verfahren zur Herstellung gebrauchsfertiger 
606 Lösungen. Letztere werden ausschlie߬ 
lich in der Spritze selbst bereitet und mit 
CaCO 3 * Aufschwemmung gefällt. Citron 
charakterisiert die Vorteile der Methode 
dahin, daß 1. die bereitete Lösung absolut 
steril ist, 2. die Emulsion unter allen Um¬ 
ständen auch ohne quantitative Abmessungen 
neutral wird, daher reizlos wirkt, 3. das 
Injektionsquantum sich auf ein Minimum. 
(6—8 ccm) beschränken läßt, 4. durch Ver¬ 
meidung von Aetzalkalien und Säuren jede 
Dekomposition des diffizilen Präparates 
tunlichst vermieden wird. Die bisher er¬ 
zielten Resultate sprechen für die Richtig» 
keit der Schlußfolgerungen. 

Nagelschmidt (Berlin) hatte Gelegen¬ 
heit, eine größer? Anzahl initialer Tabes¬ 
fälle zu behandeln. Die Mehrzahl der 
Neurologen steht auf dem Standpunkt, die 
spezifische Behandlung der Tabes mit Hg 
zu widerraten wegen der foudroyanten 
Verschlimmerungen, die oft nach geringen 
Dosen schon eintreten und sogar stationär 
bleiben können. Nagelschmidt hat da¬ 
her schon seit Jahren in Fällen, welche 
sich für eine antiluetische Behandlung 
zu eignen schienen (insbesondere die 
Fälle mit positiver Wassermannscher 
Reaktion), einen anderen Modus der 
spezifischen Behandlung zunächst mit 
Quecksilber, dann mit Arsazetin und 
schließlich mit 606 angewandt. Er beginnt 
mit einer ganz schwachen Injektion; jedoch 
sieht man nicht selten auch darnach schon 
eine deutliche Exazerbierung objektiver 
und subjektiver Symptome auftreten. Nach 
Ablauf dieser Reaktion, d. h. nach einer 
oder mehreren Wochen, erfolgt eine zweite 
vorsichtige Dosis von derselben Größe 
oder etwas größer und so fort mit ge¬ 
nügenden Intervallen, wobei man sich in 
jedem Falle nach der individuellen Reak¬ 
tion richten muß. Er empfiehlt daher drin¬ 
gend, in derartigen Fällen von der Dosis 


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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


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magna sterilisans, die ja in diesen Fällen 
nicht mehr in Betracht kommt, abzusehen 
und sich der individuellen, einschleichen¬ 
den Methode zu bedienen. Wiederholte 
Injektionen bis zu der Gesamtdosis von 
1,5 oder 2,0 des Mittels werden hierbei gut 
vertragen und ausgezeichnete Besserungen 
beobachtet. 

Ledermann (Berlin) hat mit 606-Be- 
handlung Erfolg gehabt bei Ozaena. Bei 
Infiltraten der Stimmbänder ist die Aphonie 
in 5—6 Wochen einer normalen Sprache 


gewichen. Manchmal hält er eine zweite 
Dosis des Mittels für notwendig, in Fällen, 
die gegen Jod und Quecksilber refraktär sind. 

! Saal feid (Berlin) macht die Bemerkung, 

daß die syphilitischen Hauterscheinungen 
! langsamer zurückgehen als die anderen 
i Erscheinungen. 

j Joseph (Berlin) hält das Ehrlichsche 
! Präparat reif für die Praxis. In neutraler Sus¬ 
pension subkutan gegeben, zwischen Wirbel¬ 
säule und Skapula, macht es nicht stärkere 
J Schmerzen als Hydrargyrum salicylicum. 


Therapeutischer Meinungsaustausch. 

Ueber Purinstoffwechsel bei Gichtkranken unter Radiumemanations¬ 
behandlung. 1 ) 

Von Dr. P. Mesernitsky, Assistenzarzt der I. medizinischen Klinik zu Petersburg und 
Dr. J. Kernen, dirigierender Arzt der inneren Abteilung des Krankenhauses MarienwOrtb, Bad Kreuznach. 2 ) 


Schon früher ist von verschiedenen j 
Forschern die Tatsache festgestellt worden, 
daß bei Gichtkranken unter der Behand¬ 
lung mit Radiumemanation eine vergrößerte 
Ausscheidung von Harnsäure nachzuweisen 
war. 

Wir möchten nun in unserer Arbeit die 
wirksame Minimaldosis von Emanation fest¬ 
setzen, durch welche die Menge der end¬ 
ogenen Harnsäure und Purinbasen im 
Urin nachweisbar zunimmt. Zur Bestim¬ 
mung der Harnsäure und Purinbasen be- | 
nutzten wir die Methode von v. Krüger 
und Wulft. Die Patienten erhielten milch¬ 
vegetabilische Nahrung, sogenannte purin- 
freie Kost. Die Vorperiode (purinfreie 
Kost ohne Behandlung) dauerte 4 bis 
7 Tage. 

Nach der Vorperiode bekamen die Pa¬ 
tienten in allmählich steigender Dosis 
100—200—400 Mache-Einheiten Emana¬ 
tionswasser pro Tag zu trinken, in 25 bis 
100 ccm gewöhnlichem Wasser, welches 
dem Neu mann sehen Aktivator entnommen 
wurde. 

Außer der Trinkkur wurden noch Ema- 
nationsbäder verabreicht. Sonst wurde 
keine andere Therapie angewandt. 

*) Anmerkung des Herausgebers: Die vor¬ 
stehende Arbeit habe ich trotz ihres aphoristischen 
Charakters aufgenommen, um die Aufmerksamkeit der 
Leser auf die Wirksamkeit der Radiumbehandlung 
zu lenken. Im nächsten Heft wird dieses Thema in 
umfassender Weise von Herrn Dr. Gudzent behan¬ 
delt, der bekanntlich auf der Hissahen Klinik in 
grundlegenden Untersuchungen das Verschwinden der 
Harnsäure aus dem Blut der Gichtkranken nach Ra¬ 
diumemanationskuren festgestellt hat. (Vergl. diese 
Zeitschrift, Maiheft S. 236.) 

*) Vortrag, gehalten auf dem internationalen Kon¬ 
greß für Radiologie und Elektrizität in Brüssel (12. bis 
15. September 1910). 


Die Ergebnisse unserer Behandlung sind 
aus den nachfolgenden Krankengeschichten 
ersichtlich. 

Der Einfachheit halber werden im folgen¬ 
den Harnsäure und Purinbasen zusammen 
| als Purinkörper bezeichnet. 

1 Fall I. Patient Zim. bis 1903 stets gesund. 
Von da ab typisches Podagra. Anfälle erst im 
rechten, später auch im linken Großzehgelenk. 
Bis jetzt jährliche Rezidive, die sich schlie߬ 
lich auch auf Fuß- und Handgelenke erstreckten. 
Bei der Aufnahme bestehen Schwellungen und 
Schmerzen der Hand-, Finger- und Großzeh¬ 
gelenke. Nach der ersten Trinkdosis heftige 
Reaktionsschmerzen in allen Gelenken, dann 
Nachlassen derselben und gleichzeitige Besse¬ 
rung der Schwellung in den Gelenken. Am 
Ende der fünfwöchigen Behandlung völlig 
schmerzfrei. 

Schon bei 100 Mache-Einheiten ließ sich 
eine Zunahme der ausgeschiedenen Purin¬ 
körper erkennen, welche sich bei höherer 
Dosis noch steigerte und bei 400 Mache-Ein¬ 
heiten die dreifache Höhe der anfänglichen 
Menge erreichte. 

Fall II. Patient Sch.: Seit einem Jahr an 
typischem Anfall von Podagra im rechten Gro߬ 
zehgelenk, außerdem an Schrumpfniere leidend. 
Augenblicklich Schwellung und Schmerzhaftig¬ 
keit der Großzeh-, Fuß- und Kniegelenke. 

Nach der ersten Dosis geringe Reaktion, 
die bald verschwindet. Bei Steigerung der 
Dosis erneutes Auftreten der Reaktion, die 
allmählich nachläßt. Bei der Entlassung (nach 
4 Wochen) nur noch zeitweise auftretende ge¬ 
ringe Beschwerden in den Großzehgelenken. 

Bei diesem Falle kann man deutlich den 
Einfluß des Radiumbades bemerken, wie die 
Kurve II zeigt. Noch stärkere Ausscheidung 
von Purinkörpern bewirkte das Trinken von 
400 Mache-Einheiten Emanationswasser. 

Erwähnt sei hier, daß nach der Dosis von 
400 Mache-Einheiten stärkere Mengen von 
Albumen nachzuweisen waren. 

Fall III. Patientin Jan. leidet seit 10 Jahren 
an chronischer Gicht, die, von den Großzeh¬ 
gelenken ausgehend, sämtliche Gelenke be¬ 
fallen hat. 


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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


527 


Bei der Aufnahme bestehen geringe Fassen wir die drei Fälle zusammen, 
Steifigkeit und Schmerzen in den Knie- und so können wir sagen, daß bei allen Pa- 
Ellenbogengelenken, sowieTophi andenFin- tienten neben der klinisch beobachteten 
gergelenken. Starke Reaktionsschmerzen Besserung des Leidens eine vermehrte 
im Anfang der Kur. Nach dreiwöchiger Ausscheidung der Purinkörper unter Erna- 


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Beobachtung/jJ bedeutende Besserung der 
Schmerzen und Beweglichkeit der Gelenke. 
DieTophiderFingergelenke sind verkleinert. 

Wie in den beiden anderen Fällen war 
schon bei 100 Mache-Einheiten vermehrte 
Ausscheidung der Purinkörper zu konsta¬ 
tieren, die bei 400 Mac he-Einheiten noch 
-deutlicher in die Erscheinung trat. 


nationsbehandlung bei purinfreier Kost zu 
konstatieren war. 

Um die Ausscheidung von exogenen 
Purinkörpern während der Emanationskur 
zu bestimmen, haben wir im Fall I dem 
Patienten 5 g Natrium nucleinicum ein¬ 
gegeben. Es trat sofort ein starker Gicht¬ 
anfall aut, währenddem im Urin keine 


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528 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


November 


Vermehruvg von Purinkörpern zu beob¬ 
achten war. 

Erst zwei Tage später, nachdem der 
Anfall vorüber war, trat vermehrte Aus¬ 
scheidung von Purinkörpern auf. 

Nach dem ungünstigen Ausfall dieses 
Versuches sahen wir von weiteren Ver¬ 
suchen ab. ( 

Zum Schluß wollen wir die Resultate i 
unserer Versuche wie folgt kurz zusammen¬ 
fassen. 

I. Die Radiumemanation bewirkt bei 
harnsaurer Diathese vermehrte Ausschei- 
scheidung von Purinkörpern im Urin. 


II. Die wirksame Minimaldosis beim 
Trinken schwankt zwischen 50—100 Mache- 
Einheiten. 

III. Die deutlich wirksame Dosis liegt 
zwischen 100 und 400 Mache-Einheiten. 

IV. Die Wirkung der Emanationsbäder 
(10—11 000 Mache-Einheiten) auf die Aus¬ 
scheidung von Purinkörpern ist schwächer 

| als die Wirkung der Trinkkur (100 bis 
400 Mache-Einheiten). 

V. Ein günstiger Erfolg der Behandlung 
von Gichtkranken ist durch die Kombina¬ 
tion der Radiumemanationskur mit purin- 
freier Kost zu erzielen. 


Zur Bewertung des Jothions in der Laryngologie« 

Von Dr. Adolf Mühsam, Spezialarzt für Hals-, Nasen- und Ohrenkrankheiten in Berlin. 


Jod bezw. Jodjodkalilösungen gehören 
zum Rüstzeug des Laryngologen, der diese 
Lösungen hauptsächlich zu Pinselungen im 
Halse verwendet. Ohne Frage besitzen 
diese Lösungen, wie wir sie in der Lugol- 
schen und in den M and Ischen Lösungen 
anwenden, einen guten therapeutischen 
Effekt, der jedoch durch einige Nachteile, 
die diese Lösungen im Gefolge haben, be¬ 
einträchtigt wird. Diese sind die starke 
Färbekraft des Jods, der unangenehme 
Jodgeschmack und häufig auch unerwünschte 
Reizwirkung. 

Auf der Suche nach einem Ersatzmittel 
wurde an die entfärbte Jodtinktur gedacht, 
die aber durch ihre Entfärbung den größten 
Teil der Wirksamkeit eingebüßt hat. Jod- 
vasogen kommt für eine Indikation im 
Halse nicht in Betracht. Das einzige Prä¬ 
parat, welches sich mir in therapeutischer 
Hinsicht als einen vollwertigen Lugolersatz 
bewährte, war Jothion. 

Aus der ziemlich umfangreichen Lite¬ 
ratur über dieses Präparat geht hervor, 
daß dasselbe in verschiedenen Gebieten 
mit gutem Erfolg zur Anwendung gelangt, 
und zwar wird es perkutan vor allen Din¬ 
gen dort gebraucht, wo eine konzentrierte 
Jodwirkung an der erkrankten Stelle eta¬ 
bliert werden soll. Die Anwendung des 
Jothion anstelle von Lugol- bezw. Mandl¬ 
scher Lösung in der Laryngologie finde 
ich nirgends aufgezeichnet. Die kleine 
Mitteilung möge dazu dienen, die Kollegen 
auf die Verwertbai keit des Jothions auf¬ 
merksam zu machen. 

Kurz erwähnen möchte ich, daß es sich 


bei dem Jothion um einen 80°/oigen Jod¬ 
wasserstoffester handelt, der farblos ist 
und sich durch gute Resorptionsbedin¬ 
gungen auszeichnet. Wie pharmakolo¬ 
gische Versuche ergeben haben, kann im 
Speichel und Harn bereits nach einer hal¬ 
ben Stunde Jod nachgewiesen werden; es 
gelangen ca. 50% des Präparates zur Re¬ 
sorption. Die in der Praxis gemachten 
. Erfahrungen stehen, wie aus der Literatur 
| ersichtlich, mit den pharmakologischen 
1 Berichten im Einklang. 

] Ich verwende für laryngologische Zwecke 
i in meiner Privat-Sprechstunde und in der 
I Poliklinik an Stelle von Sol. Lugol seit 
| einiger Zeit ausschließlich eine 4%ige 
Jothion-Glycerin* Mischung. Diese wasser- 
helle Flüssigkeit wird vor dem Gebrauch 
geschüttelt und mit einer Tamponschraube 
nach Hartmann, an die etwas Watte ge¬ 
wickelt ist, auf die hintere Rachenwand 
sowohl im nasalen wie oralen Teile auf¬ 
getragen. Patienten, die früher beim An¬ 
blick der braunen Sol. Mandl in den Aus¬ 
ruf des Entsetzens ausbrachen: „nur kein 
Jod“, lassen sich das Jothion, das nur ein 
kurzandauerndes leichtes Brennen verur¬ 
sacht, gern gefallen und fürchten auch 
nicht ihre Kleider damit zu beflecken wie 
beim Jod. Der therapeutische Effekt ist 
der Gleiche wie bei der Lugol sehen und 
der MandIschen Lösung. 

Ich verordne das Jothion in folgender 
Formel: 


Rp. Jothion . 2 g 

Glycerin ad SO g 

s. Uro schütteln! 


INHALT: Ernst von Leyden f S. 481. — v. Leyden, Digitalis S. 482. — Syllaba, 
Prognose des Morbus Basedowii S. 483.— Sternberg, Entfettungskuren S 492.— Karewski. 
Hernien S. 497. — Mesernitsky-Kemen, Radiumbehandlung der Gicht S. 526. — Mühsam, 
Jothion in der Laryngologie S. 528. — Neurologenkongreß S. 509. — Naturforscher-Versammlung 
Ehrlichs Syphilisheilmittel S. 515. ____ 

Pttr die Redaktion verantwortlich Prof. Dr.G. Klempererin Berlin.- Verlag von Urban & Sc h warten berg inWien a. Berlin. 
Diuck von Julius Sitten! old, 1 lofbuclidr urkrr., »n Berlin W.8. 


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Die Therapie der Gegenwart 


1910 


herausgegeben von Prof. Dr. G. Klemperer 

in Berlin. 


Dezember 


Nachdruck verboten. 

Ans der I. mediz. Universitätsklinik, Berlin. 

(Direktor: Geh. Med.-Rat Prof. Dr. His). 

Ueber den gegenwärtigen Stand der Radium-Emanations- 

Therapie. 

Von Dr. F. Glldzent, Assistent der Klinik. 


Nach zwei Richtungen hin haben die 
Arbeiten der letzten Jahre auf dem Gebiete 
der Radium - Emanations - Therapie Fort¬ 
schritte gebracht. Einerseits ist die Kennt¬ 
nis von dem physikalischen und physio¬ 
logischen Verhalten der Radium-Emanation 
im Organismus weitergefördert, andererseits 
als indirekte Folge hiervon das Indikations¬ 
gebietschärfer abgegrenzt und die Technik 
der Anwendung der Emanation weitgehend 
verbessert worden. 

Der Anteil an diesem Fortschritt von 
seiten der Badeorte als den berufenen 
Sachwaltern natürlicher emanationshalti¬ 
ger Quellen ist auffallenderweise gering 
gegenüber den Untersuchungen und Fest¬ 
stellungen, die von einzelnen Aerzten und 
Klinikern mit künstlicher Radium-Emana¬ 
tion gemacht worden sind. Das hat zu 
ausgedehnter und von den üblichen Bade¬ 
kuren vollkommen abweichender Anwen¬ 
dung künstlicher Radium-Emanation ge¬ 
führt. 

Der gegenwärtige Stand unserer Kennt¬ 
nisse über das Verhalten der Radium- 
Emanation setzt uns in die Lage, sowohl 
die Technik der Anwendung als auch die 
Indikationen aus dem physikalischen und 
physiologischen Verhalten der Emanation 
im Organismus herzuleiten und einiger¬ 
maßen scharf zu umschreiben. 

Physikalisches und physiologisches Ver¬ 
halten im Organismus. 

Die Radium-Emanation verhält sich dem 
menschlichen Organismus gegenüber wie 
ein indifferentes Gas. Auch von sehr großen 
Dosen hat man bisher keinerlei Schädi¬ 
gungen gesehen. Die in den Körper (At¬ 
mung, Verdauungstraktus, Injektion) auf¬ 
genommene Emanation verläßt ihn mit der 
Ausatmungsluft innerhalb weniger Minuten 
fast restlos. Nur ein äußerst geringer Pro¬ 
zentsatz wird im Urin ausgeschieden. Eine 
Aufnahme und Abgabe durch die Haut er¬ 
folgt nicht in erkennbarer Weise, wie es 
Loewenthal (Braunschweig) in überzeu¬ 
gender Weise hat dartun können. Das 
Blut transportiert die aufgenommene Ema¬ 


nation bis an die Zellen des Organismus, 
wo sie selbst nebst den immerfoit ent¬ 
stehenden festen Zerfallsprodukten ihre 
biologische Wirkung entfalten kann. 

Wie lange Zeit die festen Zerfalls¬ 
produkte im Körper verbleiben, läßt sich 
vorläufig noch nicht genau angeben. Nach 
den Arbeiten von Ramsauer und Caan 
über Radiumausscheidung im Urin ist aber 
anzunehmen, daß die Ausscheidung sich 
über einen Zeitraum von mehreren Jahren 
hinziehen kann. 

Worin bestehen nun die Einwirkungen? 
Bei der Röntgen- und Radiumbestrahlung 
hat man mit Sicherheit bakterientötende 
und wachstumshemmende Wirkungen be¬ 
obachten können. Es lag demnach nahe, 
an bakterizide Eigenschaften der Emana¬ 
tion zu denken. In der Tat haben eine 
Reihe von Autoren eine solche geglaubt 
nachweisen zu können. Loewenthal 
(Braunschweig) hat dann aber durch über¬ 
zeugende Experimente dargetan, daß bei 
den therapeutisch angewandten Emanations¬ 
mengen (Mineralwasser oder Radiogen¬ 
wasser) ein bakterizider Effekt ausge¬ 
schlossen ist. Ebenso unhaltbar haben 
sich durch die Untersuchungen des ge¬ 
nannten Autors die Behauptungen er¬ 
wiesen, daß das Lezithin der Zellen durch 
Emanation zersetzt und durch autolytische 
Fermente angreifbar wird, daß Toxine 
im Tierkörper durch Emanation zerstört 
und daß rote Blutkörperchen, Ambozeptoren, 
Komplement verändert werden können. 

Dahingegen hat sich der Gedanke, die 
spezifische Einwirkung der Emanation auf 
den Organismus in einer Beeinflussung 
der Körperfermente zu suchen, als richtig 
erwiesen. Neuberg hat durch Radium¬ 
bestrahlung am Karzinom, Wohlgemuth 
an tuberkulösem Lungengewebe eine er¬ 
hebliche Steigerung der Autolyse gesehen 
und auf eine Aktivierung der autolyti¬ 
schen Fermente zurückgeführt. Alsbald hat 
man diese aktivierende Eigenschaft des 
Radiums auch für die Radium-Emanation 
nachweisen können, so Braunstein und 
Bergell für das Pankreasferment, Ber- 

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530 


Dezember 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


gell und Bickel für das Pepsin, Richet 
für die Milchsäuregärung. 

Eine Sicherung der bisherigen Kennt¬ 
nisse nach dieser Richtung und ihre weitere 
Vertiefung brachten aber erst die syste¬ 
matischen Untersuchungen von Loewen- 
thal (Braunschweig) in Gemeinschaft mit 
Edelstein und Wohlgemuth. Das Er¬ 
gebnis dieser Arbeit war der überzeugende 
Nachweis, daß die Radium-Emanation die 
autolytischen Fermente, ferner das dia- 
statische Ferment aktiviert. 

Von ganz anderen Gesichtspunkten aus 
unternommene Studien sollten weiterhin zur 
Entdeckung neuer andersartiger Wirkungen 
der Radium - Emanation führen. Unter¬ 
suchungen über das physikalisch-chemische 
Verhalten der Harnsäure und ihrer Salze, 
die von His und Paul begonnen und von 
mir fortgeführt worden waren, hatten mich 
nämlich bezüglich der Harnsäure zur Fest¬ 
stellung geführt, daß diese im Blut nur 
als Salz, und zwar als Mononatrium¬ 
urat existieren kann. Ich fand nun weiter, 
daß dieses Mononatriumurat in zwei iso¬ 
meren Formen auftritt, von denen die zu¬ 
erst entstehende Form, das Lactamurat, 
zwar löslicher, aber unstabil ist und sich 
allmählich in die stabile, aber weniger lös¬ 
liche Form, das Lactimurat, umlagert. Die 
Löslichkeit der zuerst entstehenden Form 
beträgt im 100 ccm Serum 18,4 mg, die 
der umgewandelten stabilen Form nur 
8 3 mg. Das hervorstechendste Symptom 
bei der Gicht ist nun die Urikämie, die 
dauernde Anwesenheit von Harnsäure im 
Blut. 

Ich vermochte nun auf Grund der ge¬ 
fundenen Löslichkeitswerte zahlenmäßig 
festzustellen, daß bei dieser Krankheit, bei 
der das Urat in seiner stabilen, aber 
weniger löslichen Form anwesend sein 
muß, das Blut zu gewissen Zeiten mit 
Harnsäure übersättigt ist. Diese Er¬ 
kenntnis veranlaßte mich, nach Mitteln zu 
suchen, durch die diese für den Organismus 
offenbar schädlichen Vorgänge verhindert 
werden konnten. Systematische Unter¬ 
suchungen führten mich dann auch zur 
Feststellung der Tatsache, daß durch eines 
der Zerfallsprodukte der Radium-Emanation, 
und zwar durch Radium D, von dem vor 
kurzem Dr. Hahn nachgewiesen hat, daß 
es bei seinem Zerfall ganz weiche /9-Strahlen 
emittiert, das Mononatriumurat in sehr 
viel löslichere Körper umgewandelt 
und dann weiter bis zu Kohlensäure 
und Ammonniak zersetzt wird. 

Einer unserer Mitarbeiter, Dr. F o f a n o w- 
Kasan, studierte nun diejenigen Verände¬ 


rungen, welche durch Radium-Emanation 
auf künstlich erzeugte Ablagerungen von 
Mononatriumurat im Organismus hervor¬ 
gerufen wurden. Vor langer Zeit hatte 
His gezeigt, daß Harnsäuredepots, natür¬ 
liche und künstliche, nicht allein auf chemi¬ 
schem oder physikalischem Wege beseitigt 
werden, sondern daß bei ihrer Entfernung 
die Phagozytose eine bedeutende Rolle 
spielt. Die dabei vor sich gehenden Pro¬ 
zesse sind namentlich von Freudweiler 
eingehend studiert worden. 

Spritzt man bei Kaninchen eine Auf¬ 
schwemmung von Mononatriumurat unter 
die Haut, dann entsteht zunächst eine 
reaktive Leukozyteninfiltration in der Um¬ 
gebung mit allen Zeichen hochgradiger 
Entzündung, zu der aber später Nekrose 
des Gewebes hinzutritt. In 12—14 Tagen 
schaffen die Phagozyten die gesamte Harn¬ 
säure, die sie in sich aufnehmen, fort. 

Fofanow fand nun, daß unter dem 
Einfluß der Radium-Emanation das Bild 
ein wesentlich anderes ist: Die reaktive 
Leukozyteninfiltration fehlt vollständig, 
oder fast vollständig, die sämtlichen ent¬ 
zündlichen Erscheinungen sind reduziert. 
Dagegen ist die Nekrose der Gewebe 
eine weit heftigere und weiter¬ 
reichende. Gleichzeitig läßt sich kon¬ 
statieren, daß das Urat trotz Fehlens der 
Phagozytose sowohl von der Peripherie 
als auch aus den zentralen Teilen des 
Tophus verschwindet. Die Radium-Ema¬ 
nation löst und zerstört also auch 
im Organismus, wie im Reagenz¬ 
glase, das Mononatriumurat. Diese 
erhöhte Löslichkeit ließ sich auch ge¬ 
wichtsanalytisch feststellen. Aus der 
schnellen und erhöhten Auflösung erklärt 
sich auch die gesteigerte Nekrose, da nach 
His gelöstes Mononatriumurat ein inten¬ 
sives Gewebegift ist. Während diese 
Untersuchungen also einerseits eine Be¬ 
stätigung der von mir gefundenen Ein¬ 
wirkung der Radium-Emanation auf Mono¬ 
natriumurat brachten, führten sie anderer¬ 
seits zur Feststellung derbisher unbekannten 
Tatsache, daß Radium-Emanation entzün¬ 
dungshemmend wirkt. 

Nunmehr erschienen uns genügend 
Grundlagen dafür gegeben zu sein, das 
Verhalten des Purinstoffwechsels im mensch¬ 
lichen Organismus unter dem Einfluß der 
Radiuraemanation zu studieren. In Ge¬ 
meinschaft mit Dr. Loewenthal (Braun¬ 
schweig) unterwarf ich Purin stoffwechsel¬ 
gesunde, also vorwiegend Rheumatiker, und 
Purinstoffwechselkranke, also Gichtkranke, 
einer Stoffwechsel Untersuchung; vor uns 


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Dezember 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


531 


hatten Krieg und Wilke bereits im Ver- 1 
such an einem Gesunden und in einem i 
Selbstversuch eine Vermehrung der Harn* i 
Säureausscheidung durch die stark radio- | 
aktive Bottqnelle in Baden - Baden bezie- j 
hungsweise durch Radiogenwasser finden | 
können. Doch in beiden Fällen sind die , 
Versuchsbedingungen nicht ganz einwand- I 
frei; will man den Faktor der Emanation j 
isoliert prüfen, so muß man ihn ganz rein 
verwenden, das heißt, alle mitwirkenden 
Faktoren nach Möglichkeit ausschalten. 
Diese Bedingungen werden erfüllt, wenn j 
man die Emanation ein atmen läßt. Da i 
nun aber bekanntlich die eingeatmete 
Emanation mit den nächsten Atemzügen j 
den Körper wieder verläßt, ist es not- j 
wendig, den Organismus in eine Atmo- j 
Sphäre von konstantem Emanationsgehalt j 
zu bringen und darin zu belassen. Diese 
Ueberlegung hat uns zur Konstruktion des ! 
auf Seite 534 genau beschriebenen Radiogen- 
Emanatoriums geführt. | 

Die Versuchspersonen wurden auf eine [ 
möglichst gleichmäßige purin freie Diät 
gesetzt und alsdann im Urin in einer Vor- ! 
periode in 5—8 Tagen, in einer Ema¬ 
nationsperiode von etwa durchschnitt¬ 
lich 14tägiger Dauer und, soweit als mög¬ 
lich, in einer 5—8 tägigen Nachperiode 
der Gesamtstickstoff, die Harnsäure und i 
die Purinbasen bestimmt. Wir konnten ! 
nun in der Tat bei 7 untersuchten Fällen j 
6 mal zum Teil ganz erhebliche Ab- l 
weichungen der Harnsäure bezie- , 
hungsweise Purinbasenwerte gegen¬ 
über der emanationsfreien Vorperiode kon¬ 
statieren; nur in einem Fall ließ sich aus 
den gefundenen Zahlen ein Einfluß nicht 
ersehen. 

Wir glauben die Ursache dieser i 
Beeinflussung am besten durch die | 
Annahme zu erklären, daß eine Ak- j 
tivierung der Fermente stattfindet, i 
ähnlich wie beim autolytischen und 
diastatischen Ferment. Die Deutung 
unserer Beobachtungen im Einzelfalle be¬ 
reitet aber deswegen einige Schwierig¬ 
keiten, weil wir ja beim Purinstoffwechsel 
nicht lediglich in einer Richtung wirkende 
Fermente haben, sondern 2 gewissermaßen | 
gegensätzlich eingestellte Fermentgruppen, 
von denen die eine harnsäureaufbauend, 
die andere harnsäurezerstörend wirkt. 
Rein theoretisch ist demnach zu erwarten, 
daß bei einer gleichmäßigen Aktivierung 
aller Fermente aus den Harnsäure- und 
Purinbasenwerte im Urin überhaupt kein 
Einfluß erkennbar wird, obwohl ein solcher 
schon stattfindet, ln diese Gruppe könnten 


wir etwa den Fall rubrizieren, bei dem 
Harnsäure- und Purinbasen werte gegenüber 
der emanationsfreien Vorperiode keine 
Veränderung gezeigt haben. Offenbar ist 
es aber sehr viel häufiger, daß nicht eine 
gleichmäßige Aktivierung aller Fermente 
stattfindet, sondern nach Analogie der Be¬ 
obachtungen bei Störungen des Stoff¬ 
wechsels, die eine Gruppe mehr, die andere 
weniger beeinflußt wird. Nach unseren 
Resultaten scheinen durch die Radium¬ 
emanation die harnsäureaufbauenden 
Fermente ein gewisses Uebergewicht über 
die harnsäurezerstörenden zu er¬ 
langen. In 4 von den 7 untersuchten 
Fällen sahen wir nämlich ein deutliches, 
zum Teil recht erhebliches Ansteigen der 
Harnsäure- und Purin basenwerte und nur 
in zwei Fällen eine Abnahme. Hier scheint 
also das urikolitische Ferment am stäiksten 
aktiviert worden zu sein. 

Besonderes Interesse beanspruchen aber 
unsere Untersuchungen an Gichtkranken. 
Nach neueren Anschauungen ist die Gicht 
der Ausdruck einer ausgesprochenen 
Störung des ganzen fermentativen Systems 
des Purinstoffwechsels, die in einer ver¬ 
langsamten Harnsäurebildung, ver- 
langsam tenHarnsäurezerstörung und 
verlangsamten Harnsäureausschei¬ 
dung besteht und zu einer dauernden 
Anhäufung von Harnsäure im Blut, zur 
Urikämie, führt. 

Unsere auf ihren Purin Stoff Wechsel ge¬ 
prüften Gichtkranken wiesen in der Vor¬ 
periode ebenfalls diese Störungen auf, 
sie schieden exogen zugeführtes purin¬ 
haltiges Material verschleppt aus und 
hatten Härnsäure im Blut Nach einer 
etwa dreiwöchentlichen Behandlung mit 
Emanation unterzogen wir einen Patienten 
einer erneuten Prüfung und konnten nun 
feststellen, daß er exogen zugeführtes 
purinhaltiges Material prompt ausschied 
und aus seinem Blut die Harnsäure ver¬ 
schwunden war. Ferner konnten wir kon¬ 
statieren, daß die bei einem andern Gichtiker 
vorhandenen Ohrtophi erheblich kleiner 
geworden waren. 

Die jetzt fortlaufend angestellten Unter¬ 
suchungen an Gichtkranken brachten eine 
ausgezeichnete Bestätigung unserer Beob¬ 
achtungen. Wir hatten Gelegenheit, bis 
zum Abschluß des Sommersemesters in 
14 Fällen bei Gicht vor und nach der Be¬ 
handlung im Emanatorium eine Harnsäure¬ 
analyse des Blutes vorzunehmen und dabei 
zu konstatieren, daß in 13 Fällen nach der 
Behandlung die Harnsäure aus dem Blut 
verschwunden war. Wir konnten weiter- 

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532 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Dezember 


hin beobachten, daß Ohrtophi von Gicht¬ 
kranken ganz offensichtlich kleiner wurden, 
in 2 Fällen sogar ganz verschwanden. 

Ob das Verschwinden der Harnsäure 
aus dem Blut in allen Fällen zu erreichen 
sein wird, wagen wir trotzdem nicht zu 
behaupten. Bei etwas veränderten Ver¬ 
suchsbedingungen, wir gingen mit der Zahl 
der Sitzungen und mit der der Emana¬ 
tionsmenge herab, haben wir neuerdings 
2 Fälle zu verzeichnen, bei denen nach 
Beendigung der Kur die Menge der Blut¬ 
harnsäure zwar heruntergegangen, aber 
noch nicht ganz verschwunden war. 

Eine Untersuchung des Purinstoffwech¬ 
sels, wie in dem einen Falle, war hier nicht 
durchführbar. Doch hatte ich in Gemein¬ 
schaft mit Loewenthal Gelegenheit, bei 
einem Patienten mit Polyarthritis chronica, 
der zwar keine Harnsäure im Blute hatte, 
aber trotzdem exogen zugeführtes purin¬ 
haltiges Material verschleppt ausschied, 
nach der Behandlung abermals seinen 
Purinstoffwechsel zu prüfen. Wir fanden, 
daß auch dieser Patient nunmehr exogen 
zugeführtes purinhaltiges Material prompt 
ausschied. 

Durch diese Tatsache ist einerseits eine 
schöne Stütze für unsere Annahme ge- 


spirationsapparat durch. In 2 Fällen fand 
er gar keinen Einfluß; in 3 Fällen da¬ 
gegen konnte er einen Anstieg des Og- 
, Verbrauches und der CO 2 Produktion kon¬ 
statieren; die Werte blieben unter 10o/ 0 
Diese Erhöhung ließ sich noch mehr oder 
weniger lang nach Aussetzen der Radium- 
I Emanation verfolgen. Gleichzeitig wuchs 
I mit dem Anstieg des Gaswechsels der re- 
! spiratorische Quotient. Eine Deutung 
dieser Befunde im einzelnen vermögen wir 
noch nicht zu geben. Wenn wir aber be¬ 
rücksichtigen, daß bei keinem der unter¬ 
suchten Fälle eine Abnahme des O 2 - 
Verbrauchs, beziehungsweise der CO 2 - 
Produktion gefunden wurde, müssen wir 
zum Schluß kommen, daß mit großer 
Wahrscheinlichkeit der Gesamtstoff¬ 
wechsel des Menschen durch Ra« 
I dium-Emanation in Einzelfällen er- 
] höht wird. 

Die Technik der Anwendung. 

Um ein leichteres Verständnis für die 
folgenden Ausführungen zu finden, ist es 
notwendig, die physikalischen Eigen¬ 
schaften der Radium Emanation und ihrer 
Zerfallsprodukte kurz wiederzugeben. Fol¬ 
gendes Schema sei vorangestellt: 


o oc 


t r 

O““* 

Emanation 4 

Z8Tg J‘ 


o 

B 

2V 


q ß weiche 0 

\b'r t 

O—O— : 

D 


c 

28' 


r/ ' 
O—► 
E 


o a 




geben, daß die Radium-Emanation die Fer¬ 
mente des Purinstoffwechsels höchstwahr¬ 
scheinlich aktiviert, andererseits erwiesen, 
daß die von mir gefundene Eigenschaft 
der Radium-Emanation, auf das Mono¬ 
natriumurat lösend und zerstörend einzu¬ 
wirken, auch für den menschlichen Orga¬ 
nismus seine Giltigkeit hat. 

Es lag bei diesen Befunden nahe, nun 
auch den Gesamtstoffwechsel unter 
dem Einfluß der Radium Emanation zu 
prüfen. Sil bergleit hat als erster der¬ 
artige Versuche an drei Patienten ange¬ 
stellt; während er nun bei dem einen ein 
negatives Resultat erhielt, fand er bei den 
beiden andern eine sukzessiv ansteigende 
Erhöhung sowohl des O 2 Verbrauches, als 
auch der CO 2 - Produktion. Gleichzeitig 
stieg der respiratorische Quotient. Einer 
unserer Mitarbeiter, Dr. Kikoji, prüfte 
nun unter Beobachtung sämtlicher Kautelen 
den Gesamtstoffwechsel in 5 Fällen syste¬ 
matisch in unserem von Prof. Staehelin 
nach Jaquets Prinzip konstruierten Re- 


F 

W Jahre 6 Tg. MTg. 

Die Radium-Emanation ist ein Gas mit 
allen Eigenschaften eines solchen; sie zer¬ 
fällt unter Abgabe von a-Strahlen so, daß 
nach 3,8 Tagen nur noch die Hälfte ihrer 
ursprünglichen Masse vorhanden ist. Die 
entstehenden Zerfallsprodukte Radium A, 
B, C, D, E und F sind im Gegensatz zu 
ihrer Muttersubstanz feste Körper, die 
mehr oder weniger schnell sich nachein¬ 
ander umwandeln und hierbei mit Aus¬ 
nahme von Radium B ebenfalls Strahlen 
emittieren. Bis vor kurzem hat man auch 
bei Radium D eine Emission von Strahlen 
nicht nach weisen können. Dr. Hahn Berlin 
hat aber gefunden, daß Radium D bei 
seinem Zerfall weiche ß -Strahlen abgibt. 

Radium A, B und C haben eine Halb¬ 
wertszeit von nur einigen Minuten; sie 
trennen sich also als eine besondere Gruppe 
ab von Radium D, E und F, von denen D 
eine Halbwertszeit von 40 Jahren, E von 
6 Tagen und F von 144 Tagen hat. 

Die biologische Wirkung der Radium- 
Emanation geht aus von den beim Zerfall 


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Dezember 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


533 


emittierten « Strahlen und den weiteren 
Zerfallsprodukten, die bei ihrem Zerfall 
a-, ß- und y Strahlen abgeben und im Gegen¬ 
satz zur Emanation feste Körper sind. 
Eine besonders interessante Stellung kommt 
dem langlebigsten der Zerfallsprodukte, 
dem Radium D, zu; es hebt sich von den 
anderen Zerfallsprodukten dadurch ab, daß 
es nach den Feststellungen von Dr. Hahn 
ß Strahlen von sehr geringer Durch¬ 
dringungskraft emittiert, und nach 
meiner Feststellung Mononatriumurat in 
leichter lösliche Körper umzuwandeln und 
bis zu Kohlensäure und Ammoniak zu zer¬ 
setzen vermag. 

Aus diesen Tatsachen im Verein mit 
den über das biologische Verhalten der 
Emanation gewonnenen Kenntnissen lassen 
sich nunmehr leicht die Forderungen für 
eine rationelle Anwendung der Emanation 
ableiten. 

Es muß dafür Sorge getragen 
werden, daß die Radium-Emanation 
wirklich in den Organismus hinein¬ 
kommt und alsdann möglichst lange 
in ihm verbleibt. 

Von dieser Basis aus seien nun die 
einzelnen Anwendungsmethoden einer 
kritischen Betrachtung unterzogen. 

a) Die Darreichung der Emanation 
als Zusatz zum Bad. 

Wie bereits gesagt, gelangt durch die 
Haut Radium-Emanation nicht in me߬ 
barer Weise in den Körper; soll sie also 
beim Bad wirksam werden, wird man dafür 
zu sorgen haben, daß sie möglichst bald 
und vollständig in die Atemluft gelangt 
und nun eingeatmet werden kann. Des¬ 
halb sind bei dieser Anwendungsform fol¬ 
gende Bedingungen zu erfüllen: 

1. Der Baderaum soll nur mäßig groß 
und von der Außenluft gut abschlie߬ 
bar sein, 

2. das Badewasser soll vor dem Baden 
tüchtig umgerührt werden, der Patient 
sich aber alsdann möglichst ruhig 
verhalten, 

3. der Patient soll möglichst lange im 
Baderaum verweilen. 

Da bisher diese Bedingungen bei der 
gegenwärtigen Einrichtung der Baderäume 
und bei der üblichen Verabfolgung der 
Bäder nur höchst unvollkommen erfüllt 
werden können, muß die Anwendung der 
Radium-Emanation als Zusatz zum Bad als 
nur wenig rationell bezeichnet werden. Die 
angewandten Emanationsmengen pflegten 
bisher 150 000—580 000 Volteinheiten (oder 
1290—5000 Macheeinheiten) zu betragen. 

Die Versuche von Kohl rausch und 


Mayer, die Emanation mittels Kataphorese 
durch die Haut in den Körper zu bringen, 
erscheinen uns als ein kostspieliger und 
wenig aussichtsvoller Umweg. 

b) Die Darreichung per os. 

Die Verabfolgung der Radium-Emanation 
per os als Radiogenwasser, Radiogentrink¬ 
kur, Keiltabletten u. a. ist unstreitig eine 
recht bequeme Methode. Wir wissen, 
daß die Emanation verhältnismäßig lang¬ 
sam aus dem Verdauungstraktus in das 
Blut diffundiert. Es wird somit die Forde¬ 
rung, dem Organismus möglichst lange Zeit 
hindurch Emanation zuzuführen, erfüllt. 
Aber da ja die ins Blut gelangende Ema¬ 
nation mit den nächsten Atemzügen den 
Körper wieder verläßt, wird die wirklich 
zur Wirkung gelangende Menge recht 
winzig sein im Vergleich zu der, die ver¬ 
abfolgt wird. Dieser Nachteil ist teilweise 
dadurch auszugleichen, daß man in kurzen 
Zeiträumen, etwa fünfmal am Tage, die 
Präparate verabfolgt; eine andauernde 
Ueberschwemmung des Organismus 
mit größeren Emanationsmengen läßt 
sich aber nicht erreichen. Die Grenze 
für die anzuwendende Emanationsmenge 
kann sich in großer Breite bewegen; wir 
verwenden gegenwärtig höhere Dosen 
als früher, weil wir bessere Erfolge ge¬ 
sehen haben. So geben wir als Trinkkur 
116000 Volteinheiten bzw. etwa 1000 Mache¬ 
einheiten täglich, in einzelnen Fällen ver¬ 
suchsweise noch mehr. Von der Radiogen- 
Gesellschaft in Charlottenburg wird diese 
Trinkkur als dauernd haltbares Radiogen¬ 
wasser bereits auf unsere Veranlassung in 
den Handel gebracht. 

c) Inhalation von Radiumemana¬ 
tion. 

Der Gedanke, die Radium-Emanation 
mittels der Atmungsluft in den Körper zu 
bringen, hat schon vor längerer Zeit zur 
Konstruktion mancherlei Apparate geführt, 
die das Inhalieren von Radium-Emanation 
gestatten. Nachdem wir nun wissen, daß 
fast die gesamte Emanation mit den näch¬ 
sten Atemzügen den Organismus wieder 
verläßt, ist ihre Anwendung als höchst un¬ 
zweckmäßig zu bezeichnen. 

Will man diesen Uebelstand bei der 
sonst so äußerst bequemen Methode ver¬ 
meiden, so muß man den Patienten in eine 
Atmosphäre von konstantem Emanations¬ 
gehalt bringen und ihn darin belassen; 
dann ist anzunehmen, daß der Emanations¬ 
gehalt im Körper sich mit dem der um¬ 
gebenden Luft in ein Gleichgewicht ein- 
sttUt und während des ganzen Versuchs 
in diesem Gleichgewicht bleibt. 


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534 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Dezembe r 


Tierversuche von unserem Mitarbeiter 
Fofanow haben zweifelsfrei bestätigt, daß 
bei dieser Methode eine erhebliche Menge 
Emanation (es wurden in 1000ccm Kaninchen¬ 
blut 8 Macheeinheiten gefunden) in den 
Körper gelangt. 

Diesem Gedankengange folgend, haben 
nun Loewenthal und ich das sogenannte 
„Radiogen-Emanatorium“ konstruieren 
lassen. 

Wir ließen uns eine von der Außenluft 
gut abgedichtete Kammer von etwa 10 cbm 
Inhalt hersteilen. In diese Kammer kam 
der Apparat zu stehen, welcher folgenden 
Zwecken dient: 1. die Emanation zum Ein¬ 
atmen zu liefern, 2. den verbrauchten Sauer¬ 
stoff nachzuliefern, 3. die ausgeatmete CO 2 
zu absorbieren, 4. die überschüssige Wärme 
zu binden, 5. den Wasserdampf der Atem¬ 
luft zu kondensieren. 

Diese Apparate werden von der Radiogen- 
Gesellschaft Charlottenburg hergestellt, die 
uns damals in dankenswerter Weise ihr Ma¬ 
terial zu unseren Versuchen überlassen hatte. 

So ist es möglich, 6—8 Versuchspersonen 
in diesem geschlossenen Raume 2 und mehr 
Stunden hintereinander ohne Belästigung 
atmen zu lassen. 

Wir halten für das Minimum der zu 
entwickelnden Emanationsmenge 200 Volt¬ 
einheiten (1,72 Mache Einheiten) pro Liter 
Luft und für das Minimum der täglichen 
Sitzungsdauer 2 Stunden. 

Der Patient kann in dem Raum beliebig 
lange sitzend oder liegend verbleiben. Da 
man den Raum beliebig groß wählen kann, 
wenn man nur die nötige Radium-Emana¬ 
tionsmenge zur Verfügung hat, ist das 
Emanatorium für Kliniken und Sanatorien 
die gegebene Einrichtung. 

Ein Emanatorium en miniature ist das 
von der Radiogen - Gesellschaft in den 
Handel gebrachte Masken-Emanatorium. 
Seine Brauchbarkeit muß aber erst durch 
ausgedehntere Versuche erwiesen werden. 

Von den Badeorten mit radioaktiven 
Quellen ist zur besseren Ausnutzung ihres 
Emanationsreichtums meines Wissens bis¬ 
her Teplitz-Schönau diesem Gedanken- 
gange gefolgt. Dort sind auf Veranlassung 
von Päßler sogenannte Dunstkammern 
hergestellt, in denen das radioaktive Quell¬ 
wasser an den Wänden herunterläuft und 
so seine Emanation an die Luft der Kam¬ 
mern abzugeben vermag. 1 ) Der Nachteil 
dieser Einrichtung gegenüber dem Radiogen- 
Emanatorium liegt auf der Hand; weder 
ist eine halbwegs genaue Dosierung, noch 
ein mehrere Stunden andauernder 

! ) Anm. der Red. Vergl. das Referat S. 569. 


Aufenthalt derPatienten in diesen Räumen 
möglich. 

Immerhin steht zu erwarten, daß diese 
Uebelstände durch technische Vorrichtungen 
beseitigt werden können. 

d) Radioaktive Kompressen und 
radioaktiver Schlamm. 

Biologische Wirkungen können wir, da 
die Emanation nicht in Frage kommt, nur 
von den beim Zerfall der radioaktiven Pro¬ 
dukte emittierten o-, ß- und y Strahlen er¬ 
warten. Es ist deshalb zu verstehen, wenn 
wir bei dieser Methode nur in jenen Fällen 
therapeutische Effekte sehen, die einerseits 
leichter Natur sind, andererseits sich auf 
ganz umschriebene Stellen des Körpers be¬ 
schränken. 

e) Injektion von Radiumsalzen. 

Auf dem diesjährigen Kongreß für 

innere Medizin in Wiesbaden habe ich (in 
meinem Vortrag über die Beeinflussung 
der Löslichkeit der Harnsäure und ihrer 
Salze durch physikalische und chemische 
Agenden) darauf hingewiesen, daß intra¬ 
venöse bzw. subkutane Injektionen von 
kleinen Mengen radioakdver Substanzen 
aussichtsvoll zu sein scheinen. Weitere 
Versuche haben ein so vielversprechendes 
Resultat ergeben, daß ich über diese neue 
Methode schon gegenwärtig näheres mit- 
teilen möchte. 

Durch Tierversuche und durch Arbeiten 
im Krebsinstitut in Heidelberg war schon 
früher festgestellt, daß Injektionen geringer 
Mengen gelöster und auch ungelöster Ra¬ 
diumsalze für den Organismus unschädlich 
sind. Durch Versuche an mir selber und 
anderen gesunden Menschen habe ich 
mich von der Richtigkeit dieser Beob¬ 
achtungen überzeugen können. Ich möchte 
noch besonders hervorheben, daß ich bis¬ 
her niemals Albumen im Urin auftreten sah. 

Ich verwende zu den Injektionen sowohl 
lösliche als unlösliche Radiumsalze. 
Die Radiogen-Gesellschaft, Charlottenburg, 
der ich für die freundliche Ueberlassung 
ihrer Präparate danke, bringt die löslichen 
Salze als Radiogeninjektion, die un¬ 
löslichen als Rad io gen ol in Ampullen 
ä 2 ccm unter Garantie der Sterilität in 
den Handel. Die Menge der in jeder Am¬ 
pulle enthaltenen Salze entspricht beim Ra¬ 
diogen einer Aktivität von etwa 116 000 
Volt — bzw. 1000 Mache-Einheiten, beim 
Radiogenol etwa 30000 Volt — bzw. 348 
Mache-Einheiten. 

Diese Art der internen Radium-Therapie 
unterscheidet sich von der bis jetzt ge¬ 
übten Emanations-Therapie dadurch, daß 
wir neben der All gemein Wirkung durch die 


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Dezember 


535 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Radium-Emanation eine mächtige Lokal¬ 
wirkung durch die von den Radium¬ 
salzen und deren Zerfallsprodukte emit¬ 
tierten a«, /?- und y Strahlen erhalten. 
Gerade von dieser, wenn auch nur ver¬ 
hältnismäßig kurze Zeit andauernden Lokal¬ 
wirkung dürfen wir nach unserer gegen¬ 
wärtigen Kenntnis über die biologischen 
Wirkungen der Radiumstrahlen (Beschleuni¬ 
gung der Autolyse, Aufhebung bzw. Ver¬ 
hinderung entzündlicher Prozesse) schnelle 
therapeutische Effekte erwarten. 

Dementsprechend kommen als Injek¬ 
tionsstellen vornehmlich die Umgebung 
der erkrankten Körperteile in Frage. 

Ueber die genauere Technik, das physi¬ 
kalische Verhalten im Organismus und das 
Indikationsgebiet kann erst in einer späte¬ 
ren Arbeit Mitteilung gemacht werden. 

Anwendungsgebiet und therapeutische 
Wirkungen der Radium-Emanation. 

Auf Grund der bisherigen Erfahrungen 
hält man die therapeutische Anwendung 
bei folgenden Krankheiten angezeigt: 

1. chronischer Gelenk- und Muskel- 
Rheumatismus. 

2. subakuter Gelenk* Rheumatismus, 

3. lanzinierende Schmerzen der Tabes, 

4. Neuralgien, speziell Ischias, 

5. Eiterungen und Entzündungen, 

6. Gicht und harnsaure Diathese. 

Neuerdings sind diesen Krankheiten hin« 

zugefügt worden: 

1. Erkrankungen des Herzens und Ge¬ 
fäße, 

2. Katarrhe der Schleimhäute, 

3. Nervosität und Schwächezustände. 

Wieweit diese Indikationen zu Recht 

bestehen, soll im folgenden einer kritischen 
Betrachtung unterzogen werden. 

Ein großer Teil der Mitteilungen, welche 
die klinischen Erfolge bzw. Mißerfolge 
mit Radium-Emanation zum Gegenstand 
haben, muß äußerst vorsichtig bewertet 
werden. Es ist ja selbstverständlich, daß 
bei einem so neuartigen Heilmittel Ver¬ 
suchsfehler, Fehler in der Technik, Mangel¬ 
haftigkeit der verwendeten Präparate und 
manchmal auch mehr kommerzielle als 
wissenschaftliche Interessen die Beurteilung 
trüben. Ich stütze deshalb im wesentlichen 
mein Urteil auf unsere Beobachtungen an 
der I. medizinischen Klinik, die nunmehr 
einen Zeitraum von fast zwei Jahren um¬ 
fassen und sich auf über 200 Kranken- 
beobachtungen beziehen. 

Es ist hiernach nicht mehr zu be¬ 
zweifeln, daß wir in der Radium- 
Emanation ein Mittel besitzen, wel- 


| ches bei richtiger Anwendung in 
einer Reihe von Krankheitszuständen 
bessernde und heilende Wirkungen 
ausübt. 

Die Domäne für die Behandlung mit 
Radium-Emanation war bis vor kurzem der 
chronische Rheumatismus. Loewen- 
thal (Braunschweig) machte als erster auf 
die unter der Behandlung auftretende Re¬ 
aktion, die eine mehr weniger große Ver¬ 
schlimmerung des Zustandes darstellt, auf¬ 
merksam. Wir wissen heute, daß sie weder 
in allen Fällen auftritt, noch daß ihr Fehlen 
eine schlechtere Prognose für den Erfolg 
der Kur abgibt. Im allgemeinen läßt sich 
aber sagen, daß ihr Auftreten mit einiger 
Sicherheit auf guten Erfolg hoffen läßt. 

Wir beobachteten bei der Mehrzahl der 
erfolgreich behandelten Fälle in der dritten 
Woche Abnehmen der Schmerzen, Zurück¬ 
gehen der Schwellungen, Verbesserung der 
Beweglichkeit in den Gelenken. Bei ein¬ 
zelnen Patienten traten diese Erscheinungen 
früher auf, fast ausnahmslos gehörten diese 
dem jüngeren Alter an, bei anderen fast 
ausnahmslos älteren Kranken machte sich 
eine Besserung erst nach Beendigung der 
Kur, also etwa in der 5., 6., ja 8 Woche 
nach Beginn der Behandlung bemerkbar. 
Eine Erklärung dieser zum Teil rtcht weit¬ 
gehenden Besserungen (in leichteren Fällen 
darf man sogar von Heilung sprechen) bei 
Patienten dieser Art vermögen uns die auf 
S. 529 ff. näher besprochenen Eigenschaften 
der Radium-Emanation (Autolysebeschleu¬ 
nigung, entzündungshemmende Wirkung) in 
hinreichender Weise zu geben. 

Bei einer Reihe von Patienten blieb ein 
Erfolg aus. Hier nun irgendwelche Zahlen 
von statistischer Bedeutung angeben zu 
wollen,halte ich beider bekanntenVielgestal- 
tigkeit des chronischen Rheumatismus und 
bei der Unkenntnis der Aetiologie desselben 
zunächst für zwecklos. Es gibt aller Wahr¬ 
scheinlichkeit nach bestimmte Formen, die 
von Radium vorläufig nicht zu beeinflussen 
sind; sie aber irgendwie näher zu charak¬ 
terisieren, wird solange unmöglich sein, als 
unsere Kenntnis über diese Krankheit nicht 
eine eingehendere und sicherere sein wird. 

Es ist selbstverständlich, daß in den 
fortgeschrittensten Formen, wo an Stelle 
des normalen Gewebes Narbengewebe ge¬ 
treten ist, ein Erfolg überhaupt nicht er¬ 
hofft werden darf. In den weniger schwe¬ 
ren Fällen sahen wir Besserungen bei An¬ 
wendung der Emanationskur, womög¬ 
lich unterstützt mit lokalen Radiogen¬ 
injektionen, wenn der Erfolg mit einer 
Trinkkur ausgeblieben war. 


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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Dezember 


Dementsprechend wenden wir gegen¬ 
wärtig die Trinkkur nur in den leichtesten 
Formen des chronischen Rheumatismus an, 
in allen übrigen Fällen verordnen wir die 
Eraanationskur und unterstützen diese 
gegebenenfalls mit Radiogeninjektio¬ 
nen. Die Technik ist auf S. 534 be ¬ 
schrieben. 

Bei Arthritis deformans haben wir 
eine überzeugende Heilwirkung der Ema¬ 
nation nicht gesehen. 

Bei lancinierenden Schmerzen der 
Tabes, bei Neuralgie, speziell Ischias 
sind die Bedingungen für eine Beurteilung 
der Wirkung der Emanation noch un¬ 
günstiger, wie beim Rheumatismus. Man 
hat über Erfolge berichten können und 
auch wir haben solche gesehen; sie 
lassen sich auch im gewissen Sinne aus 
der entzündungshemmenden und die Auto¬ 
lyse beschleunigenden Wirkung der Ema¬ 
nation verstehen, wenn wir die Anschau¬ 
ung gelten lassen, daß diese Krankheits¬ 
erscheinungen durch Einschnürung der 
Nervenfasern, durch entzündliche Ver¬ 
dickung des Bindegewebes hervorgerufen 
werden. Bei dem so variierenden Bild 
der Tabes und bei der Vielgestaltigkeit 
der Aetiologie der Neuralgien und der 
Ischias darf es aber nicht wundernehmen, 
wenn Mißerfolge durchaus nicht selten 
sind. 

Ueber den Einfluß der Radium-Emana¬ 
tion auf chronische Eiterungen und 
Entzündungen liegen nur wenige Mit¬ 
teilungen vor. Aber gerade auf diesem 
Gebiete lassen sich bei der entzündungs¬ 
hemmenden und der die Autolyse beschleu¬ 
nigenden Wirkung der Radium-Emanation 
Erfoge erwarten. Vielversprechend er¬ 
scheint mir die Behandlung chro¬ 
nischer Frauenleiden. Wir verfügen 
über einen gut beobachteten Fall von Para- 
metritis und Pelveoperitonitis. Es bestand 
starker übelriechender Ausfluß, große 
Schmerzhaftigkeit, die insbesondere bei der 
meist sehr stark und unregelmäßig auf¬ 
tretenden Menses sich steigerte, allgemeine 
Mattigkeit. Mit Einverständnis eines er¬ 
fahrenen Gynäkologen wurde eine Ema¬ 
nationskur mit gleichzeitiger Anwendung 
von Kompressen verordnet. Nach drei 
Wochen war eine so weitgehende Besserung 
aller Beschwerden, wie Verringerung des 
Ausflusses, Auf hören der Schmerzen, 
Hebungdes Allgemeinbefindens, eingetreten, 
daß Patientin selber von einer weiteren 
Fortsetzung der Behandlung Abstand nahm. 

Wir stellen gegenwärtig nach dieser 
Richtung Versuche auf breiterer Basis an. 


Andere Beobachtungen über Beein¬ 
flussung von Pleuritiden und Exsudaten in 
der Brusthöhle (Salzmann-Reiboldsgrün) 
von chronischen Katarrhen der Nase, des 
Rachens und der Nebenhöhlen (Bartels) 
bedürfen der Nachprüfung. 

Die neuerdings aufgestellte Indikation, 
Radium-Emanation beiErkrankungen des 
Herzens und der Gefäße, bei nervösen 
und Schwächezuständen anzuwenden, 
entbehrt zunächst jeder sicheren Grundlage. 
Wir haben im Gegenteil beobachtet, daß man 
bei Kranken mit nervöser Komponente 
äußerst vorsichtig in der Dosierung der 
Emanationsmenge sein muß, da diese bei 
schematischer Anwendung der üblichen 
Dosen mit leichten Aufregungszuständen, 
Schlaflosigkeit und einer Reihe anderer 
unangenehmer Sensationen zu reagieren 
pflegen. 

Zum Schluß sei nun noch die Krank¬ 
heit behandelt, bei der man bislang die 
Anwendung von Radium - Emanation auf 
Grund einer Reihe von Krankheitsberichten 
für kontraindiziert hielt, nämlich die Gicht» 

Erst die von mir gemachte Feststellung, 
daß eines der Zerfallsprodukte der Radium- 
Emanation, das Radium D, das Mono¬ 
natriumurat in leichter löslichere Körper 
umzuwandeln und bis zu Kohlensäure und 
Ammoniak zu zersetzen vermag und die 
sich daran anschließenden Arbeiten in Ge¬ 
meinschaft mit Loewenthal und Fofanow 
gab die Grundlage ab für die gegenwärtige 
so erfolgreiche Behandlung dieser Krank¬ 
heit mit Radium-Emanation. Wie auf S. 531 
näher ausgeführt ist, läßt sich zeigen, daß 
nach einer gewissen Behandlungsdauer die 
Harnsäure aus dem Blute verschwinden 
kann. Nach der gegenwärtigen Auffassung 
von dem Wesen der Gicht müssen wir 
annehmen, daß demnach die Stoffwechsel¬ 
störung durch die Einwirkung der Radium- 
Emanation beseitigt werden kann. Ueber 
die Dauer dieser Wirkung vermögen wir 
noch nichts auszusagen. 

Wir hatten Gelegenheit, das Blut eines 
Gichtkranken nach einer Trinkkur, ferner 
nach einer Behandlung in Kreuznach 
und nach einer solchen in Pistyan zu 
untersuchen und dabei festzustellen, daß 
die Harnsäure aus dem Blut nicht ver¬ 
schwunden war. Diesen Effekt scheint 
also nur die Behandlung der Patienten im 
Radium - Emanatorium zu haben. Nach 
unseren Ausführungen in den Abschnitten 
über das physikalische und biologische Ver¬ 
halten der Radium-Emanation wird das ver¬ 
ständlich. Es kommt eben darauf an, den 
Emanationsgehalt des Blutes für mehrere 


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Dezember 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


537 


Stunden täglich auf einer gewissen Höhe 
zu halten. 

Unsere klinischen Beobachtungen er¬ 
strecken sich gegenwärtig auf etwa 40 Fälle. 

Bei dem größten Teil der behandelten 
Gichtkranken traten in den ersten 8 bis 
14 Tagen der Kur Gichtanfälle auf, oft 
auch dann, wenn der Patient jahrelang vor¬ 
her anfallsfrei war; in etwa 3 bis 4 Wochen 
kam dann das subjektive Gefühl der Er¬ 
leichterung und Befreiung, so daß bei Be¬ 
endigung der Behandlung eine Aenderung 
des Zustandes zur Norm konstatiert werden 
mußte. Dieses erstaunliche klinische Re¬ 
sultat war naturgemäß bei den Gicht¬ 
kranken, die bereits erhebliche arthritische 
Veränderungen aufwiesen, nicht in gleicher 
Welse zu erzielen. In einigen ganz 
schweren Fällen dieser Art mußte eine 
klinische Besserung verneint werden; in 
einer Reihe anderer Fälle vermochte ich 
aber noch Beseitigung der Schmerzen, Zu¬ 
rückgehen der Anschwellungen in den Ge¬ 
lenken, bessere Beweglichkeit durch Kom¬ 
bination der Emanationsmethodik mit 
direkten Injektionen von löslichen reinen 
Radiumsalzen herbeizuführen. 

In ganz veralteten Fällen, wo gewaltige 
Ablagerungen von Harnsäure einhergehen 
mit schweren arthritischen Veränderungen 
dürfte eine Emanationskur zu widerraten 
sein. Solche Patienten kann man infolge 
der auftretenden Reaktionen in einen recht 
unangenehmen Zustand bringen, ohne ihnen 
erheblich helfen zu können. 


Obwohl wir nun eine recht gute Kenntnis 
von dem physikalischen und biologischen 
Verhalten der Radium Emanation haben, ob¬ 
wohl die Technik verfeinert und vereinfacht 
ist, die Indikationen strenger gestellt wer¬ 
den können, ist mit einer schematischen 
Anwendung der Radiumtherapie den Pa¬ 
tienten vielfach nicht gedient. Wenn also 
gegenwärtig Institute für Emanationsbehand¬ 
lung eingerichtet werden, in denen wahllos 
alles mit Inhalation behandelt wird, so 


ist mit Sicherheit zu erwarten, daß dort 
Erfolge ausbleiben, die unter der Behand¬ 
lung eines denkenden und mit der Radium¬ 
therapie erfahrenen Arztes zu erreichen 
gewesen wären. So sieht man oft Besse¬ 
rungen erst bei der Kombination der Ema¬ 
nationskur mit der Injektionskur, manchmal 
bei Variierung der Dosis. Insbesondere ist 
bei Kranken mit nervöser Komponente 
Vorsicht angeraten. Diese finden nach 
eigener Beobachtung Besserung bei einer 
geringeren Dosis als die übliche, während 
ihnen die übliche Dosis offenbar unzu¬ 
träglich ist Demgegenüber gibt es Patien¬ 
ten, die augenfällig erst auf eine höhere 
Dosis reagieren. 

Irgendwelche bestimmte Zahlen lassen 
sich vorläufig nicht angeben, da unsere 
Erfahrungen noch zu gering sind. Der 
neuerdings von Mesernitzky und Kernen 
unternommene Versuch, die wirksame Mi¬ 
nimaldosis festzustellen, ist also schon 
wegen des offenbar verschiedenen Ver¬ 
haltens des Einzelindividuums gegen Ra¬ 
dium-Emanation als verfehlt zu bezeichnen. 
Er wird aber dadurch vollkommen belang¬ 
los, daß die Autoren von der falschen 
Voraussetzung ausgehen, daß die Radium- 
Emanation die Menge der Harnsäure und 
Purinbasenausscheidung in allen Fällen 
vermehrt Daß dieses tatsächlich nicht der 
Fall ist, geht aus unseren eigenen Ver¬ 
suchen (Stite 531) mit Sicherheit hervor. 

Bei einem so neuartigen Heilmittel kann 
es auch nicht ausbleiben, daß einerseits 
unzuverlässige Radiumpräparate auf 
den Markt geworfen, andererseits in 
schwindelhafter Weise die Wirkun¬ 
gen der Radium - Emanation über¬ 
trieben werden. Dem denkenden Arzt 
wird es aber nicht schwer fallen, hier die 
Spreu vom Weizen zu sondern. 

Aufgabe der Zukunft wird es sein, auf 
dem gewiesenen Wege unsere Kenntnisse 
über das Verhalten und die Wirkungen 
des Radiums im Organismus zu erweitern 
und zu vertiefen. 


Zur Behandlung der intestinalen Oärungsdyspepsie 
mittelst Taka-Diastase. 

Von Dr. Alfred Alexander, Spezialarzt für Magen- und Darmkrankheiten in Berlin. 


Nicht nur dem praktischen Arzte, son¬ 
dern auch dem Spezialarzte werden hie 
und da Fälle begegnen, bei denen, trotz 
genauest eingthaltener Diät, trotz Medika 
mentverabreichung, Durchfälle nicht schwin¬ 
den wollen. Patienten, die unter dieser 
Krankheit — der intestinalen Gärungsdys¬ 
pepsie — leiden, gehen oft von Arzt zu 


Arzt, werden — bei fast stets gleichblei¬ 
be nder Diät strengster Form — mit allen den 
Mitteln behandelt, die die heutige Chemie 
dem Arzte zur Verfügung stellt (es sind 
dies die Tannine und Wismuthpräparate 
in ihrer Komposition oder in Eiweißverbin¬ 
dungen), und doch werden die momentan 
auf kurze Zeit eingetretenen Erfolge bald 

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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Dezember 


hinfällig; das alte Leiden ist wieder da, 
und die Patienten kommen stets weiter 
herunter, sodaß mancher Arzt eine bös¬ 
artige Grundkrankheit, sei es Ca, sei es 
Tbc annimmt. 

Und doch handelt es sich oft um eine 
eigentlich harmlose Störung der fermen¬ 
tativen Prozesse im Darmtraktus, deren 
Beseitigung oft leicht möglich ist, wenn 
man die Ursache erkannt hat. 

Die Klagen dieser Patienten gehen meist 
dahin, daß sie sehr unter den sie schwächen¬ 
den Durchfällen zu leiden haben, da diese 
meist von voraufgehenden Leibschmerzen 
begleitet sind und auch nachher häufig 
starker Teresmus entsteht, sodaß sie nach 
einiger Zeit gezwungen sind, wieder aus¬ 
zutreten, wobei nur wenig Stuhl produziert 
wird. 

Sehr oft hört man dann auch, daß 
früher Obstipation bestanden hat und daß 
dann im Anschluß an längerem Gebrauch 
von Abführmitteln die Durchfälle ein¬ 
getreten sind. Die Annahme der Patienten, 
daß die Durchfälle eine Folge der Abführ¬ 
mittel sind, ist natürlich unberechtigt, denn 
die sonstigen Beschwerden dieser Darm 
Störungen, die da sind, Aufstoßen und Fla¬ 
tulenz, Völlegefühl, Appetitlosigkeit, soge¬ 
nanntes Magendrücken, bestanden auch 
schon während der Obstipation. Diese 
Obstipation ist der Begmn der Erkrankung, 
die in einer isolierten Störung der Kohle¬ 
hydratverdauung besteht, die zu starken 
Gärungs- und Fäulnisvorgängen im Darm 
führt und in der weiteren Folge einen 
Dünndarmkatarrh herbeiführt, der die Durch¬ 
fälle bedingt. Der Stuhl, den uns diese 
Patienten zur Untersuchung übergeben, ist 
fast stets von gleicher Beschaffenheit, ist 
mehr oder weniger dünnbreiig, von gelb¬ 
lich brauner Farbe, schaumig, von stark 
sauerstinkendem Geruch und weist schon 
makroskopisch kleinere und größere Kohle¬ 
hydratreste, wie Kartoffelstücke, Gemüse- 
(Karotten)reste auf. Mikroskopisch findet 
man stets neben geringen Schleimmengen 
eine große Menge sich mit Jod blaufärben¬ 
der Kartoffelzellen und anderes Amylum. 
Die Gärungsprobe nach Straßburger ist 
natürlich stark positiv. 

Hebert man diesen Patienten den Magen 
aus, so findet man sehr häufig eine Ver¬ 
ringerung oder gar ein Versiechen der 
Salz^äureabsonderung. Eine ebenfalls oft 
auftretende Klage der Patienten ist die, 
über große Trockenheit im Munde, welche 
sie meist zwingt, zu den Speisen reichlich 
Flüssigkeit zu sich zu nehmen. 

Normalerweise werden nun die aufge¬ 


nommenen stärkehaltigen Nahrungsmittel 
schon im Munde giündlich mit Speichel 
durchtränkt und wirkt hier schon, wie 
Burger nachwies, während des Kauens 
das Ptyalin des Speichels reduzierend. 
Diese Einwirkung geht auch im Magen 
weiter vor sich, da ja nur die ersten Bissen 
gleich mit der Schleimhaut des Magens 
und somit auch mit der Salzsäure in Be¬ 
rührung kommen, während die Haupt¬ 
menge im Fundus einen kaum bewegten 
Klumpen, der nur vom Rande her durch 
Magensaft aufgelöst wird, bildet. Im Innern 
herrscht neutrale oder ganz schwach alka¬ 
lische Reaktion des Speichels, die für das 
Ptyalin, das Optimum seiner Wirksamkeit 
bildet (Cohnheim, S. 142). Die so be¬ 
gonnene Verdauung der Stärke (Aroylolyse) 
wird dann im Magen durch die Invertie¬ 
rung der Stärke und des Rohrzuckers 
durch die Salzsäure fortgeführt *) Die 
noch nicht vollständig zur Resorption ge¬ 
eigneten Kohlehydrate, die im Dünndarm 
stattfindet, werden dann im oberen Teile 
des Dünndarms durch das Ptyalin des Pan¬ 
kreassaftes und durch die Fermente des 
Dünndarms (Maltase, Laktase und Invertin) 
respektive bei der Resorption in der Dünn¬ 
darmwandung in die für den Körper 
brauchbaren Kohlehydrate umgewandelt. 

Wir sehen aus diesen nach dem Cohn¬ 
heim sehen Buche kurz zusammengefaßten 
Bemerkungen über die Kohlehydratverdau¬ 
ung, daß diese an verschiedenen Stellen 
im Verdauungstraktus -vor sich geht; es 
ei klärt sich auch dann hieraus, daß die 
Kohlehydratdyspepsie ihre Ursache auf ver¬ 
schiedener Basis haben kann. Abgesehen 
davon, daß zu schnelles Verschlucken 
großer Bissen eine Durchdringung der 
Speisen mit Speichel unmöglich macht, 
ebenso wie ein Versiegen der Speichel¬ 
sekretion. daß ferner Mangel an Salzsäure— 
Subazidität respektive Achylie — die Ur¬ 
sachen der sogenannten gastrogenen Di- 
arrhoeen — eine Spaltung der Kohlehydrate 
im Magen ausschließen, kann eine Pan¬ 
krease! krankung die Produktion des Ptya¬ 
lins stören, ebenso wie eine Ei krankung 
der Dünndarmschleimhaut die Absonderung 
der diastatischen Dünndarmfermente unter¬ 
bindet und die Resorption der Kohlehydrate 
hindert. 

Je nach der eventuellen Lokalisierung 
der Verdauungsstörung würde nötig sein 
die medikamentöse Behandlung einzuleiten. 
Es ist ja selbstverständlich, daß man auch 
in der ersten Zeit der Behandlung noch 
eine Einschränkung der Kohlehydrate ein- 

l ) Cohnheim: Die Physiologie der Verdauung. 


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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


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treten läßt, jedoch ist man nicht mehr ge¬ 
zwungen, eine vollständige Enthaltung der 
Kohlehydrate anzuordnen oder längere Zeit 
durchzuführen, was bei den meisten Pa¬ 
tienten auf den größten Widerstand stieß. 
Bei Störung der HCl-Absonderung (Achylie 
und hochgradiger Subazidität), die eine 
Invertierung der Stärke und des Rohr¬ 
zuckers im Magen hindert, wird häufig 
noch durch alleinige HCl-Verabreichung 
eine normale Kohlehydratverdauung wieder 
herbeigeführt werden können. Anders 
wird es aber sein, wenn schon infolge der 
Magensaftstörung eine Störung des Dünn¬ 
darms eingetreten ist. In diesen Fällen ist 
eine Behebung der Kohlehydratstörung 
nicht mehr allein durch HCl-Darreichung 
möglich, da hier dann auch die Resorp* 
tionsfähigkeit des Darmes gelitten hat, und 
zugleich die Bildung und Absonderung der 
diastatischen Fermente des Dünndarms ge¬ 
stört wird. Die an anderen Steilen im 
Darmtraktus gebildeten diastatischen Fer¬ 
mente sind allein wohl nicht imstande die 
ganze normale Kohlehydratverdauung zu 
bewältigen, abgesehen davon, daß auch 
reflektorisch eine isolierte Fermentbildungs¬ 
störung im Dünndarm die Fermentbildung 
im Pankreas und Speicheldrüse beeinflussen 
kann. 

Vor einiger Zeit hat Riehl in der Mün¬ 
chener Medizinischen Wochenschrift einige 
Erfahrungen „(Jeher Kohlehydratverdauung 
und Distasepräparate* niedergelegt. Er hat 
dabei auch Versuche veröffentlicht, die er 
in vitro vorgenommen hat und wobei er 
fand, daß die Taka-Diastase und das Diamal- 
taseextrakt unter geeigneten Bedingungen 
sehr gioße Mengen Stärke in Zucker zu 
verwandeln vermögen. Seine Bemerkung, 
daß die Behandlung der Kohlehydratdys¬ 
pepsie bei uns im Gegensätze zu Amerika 
und England, wenig bekannt ist, hat mich 
veranlaßt, hier kurz meine Erfahrungen über 
Taka-D astasebehandlung wiederzugeben: 

Die Taka-Diastase, welche von der Firma 
Parke, Davis & Co., London, in den Handel 
gebracht wird, hat die Eigenschaft wie das 
Ptyalin des Speichels Zucker, Stärke, Maltose 
usw. in Dextrin, Dextrose und Maltose umzu¬ 
wandeln. Nach den Untersuchungen von 
Riehl ist 1 g Taka Diastase imstande, aus 
einer 0,4°/ 0 igen salzsauren gekochten 
Stärkelösung das 300fache ihres eigenen 
Gewichtes reduzierender Substanz zu liefern. 
Meine Erfahrungen, welche ich im Laufe 
von 21/2 Jahren mit der Taka Diastase ge¬ 
macht habe, möchte ich im folgenden zu¬ 
sammenfassen. Bei starken D.arrhoen, wo 
der Stuhl reichlich Stärkereste aufweist, 


ist eine längere, Zeit dauernde Verabrei¬ 
chung von Taka-Diastase von großem 
Nutzen gewesen. Schon nach kurzer Zeit, 
zirka 8—10 Tagen, waren die stark stinken¬ 
den, stärkehaltigen, dünnbreiigen Stühle 
geschwunden und waren kaum noch Kar¬ 
toffelzellen zu finden. Nach ungefähr vier 
Wochen wurde auch nach Aussetzen von 
Taka-Diastase im normalen Stuhle kein 
Amylum und kein Schleim gefunden. In 
2 Fällen, bei denen nach einiger Zeit wieder 
Neigung zu Durchfällen auftrat, wurden 
längere Zeit wieder kleinere Dosen von 
Taka-Diastase gegeben und schwanden auch 
bei diesen die Diarrhoen schließlich ganz. 

In zwei Fällen, bei denen ich neben 
den stark amylumhaltigen Stühlen eine 
vollständige Achylie feststellen konnte, habe 
ich erst nach Verabreichung von Taka- 
Diastase die Durchfälle schwinden sehen. 
Die alleinige Verabreichung von Salzsäure 
brachte in dem einen Falle gar keine und 
in dem anderen nur ein geringes Nach¬ 
lassen der Durchfälle. Nachdem ich Taka- 
Diastase neben Salzsäure gab, trat die 
Heilung ein. In dem letzterwähnten Falle, 
wo der Patient 16 Pfund abgenommen hatte, 
nahm das Körpergewicht im Laufe von 
6 Wochen 12 Pfund zu. Dieser Patient hat 
seit ungefähr 4 Monaten täglich durch¬ 
schnittlich zwei normale Stühle, doch 
treten hier und da, wenn er reichlich Brot 
zu sich genommen hat, Durchfälle auf. 
Diese konnten aber in letzter Zeit dadurch 
vermieden werden, daß Patient stets, wenn 
er nach seiner Meinung eine zu große 
Menge Kohlehydrate zu sich genommen 
hatte, 1—2mal täglich eine Tablette Taka- 
Diastase mit 10 Tropfen Salzsäure nahm. 
In einem anderen Falle, bei dem Verdacht 
eines Ca. des Magens bestand — Achylie, 
gestörte Amylolyse, reichlich Amylum im 
Stuhl, jedoch keine Durchfälle, starke Ge¬ 
wichtsabnahme —, konnte ich nach Ver¬ 
abreichung von Taka Diastase mit Pepsin 
und Strychnin (ich gebrauchte die von der 
Firma Parke, Davis & Co. hergestellten 
Tabletten der Formel: Taka Diastase 0,13, 
Pepsin. 1:3000 0.13, Strychnin, phosphoric. 
0,00065) neben Salzsäure, später von reiner 
Taka Diastase und Salzsäure eine erheb¬ 
liche Besserung der Beschwerden, Steige¬ 
rung des Gewichts und Verschwinden des 
Amylums aus dem Stuhle herbeiführen. 
Da ich diesen Patienten seit 8 / 4 Jahren 
nicht gesehen habe, kann ich über den 
weiteren Verlauf nichts berichten. In einem 
Falle von Hyperchlorhydrie mit Dünndarm¬ 
katarrh, bei dem ebenfalls reichlich Amy¬ 
lum im Stuhl nachzuweisen war, konnte 

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Oie Therapie der Gegenwart 1910. 


Dezember 


ich unter Verabreichung der Taka Diastase 
neben Pankreon eine Gewichtszunahme von 
15 Pfund in 7 Wochen und vollständiges 
Verschwinden der Durchfalle herbeitühren. 
Diese Patientin, welche ich vor einiger Zeit 
nach Verlauf von einem Jahre seit der Be¬ 
handlung zu sehen Gelegenheit hatte, ver¬ 
trägt jetzt jegliche Nahrung, und ist der 
Darmkatarrh jetzt vollständig gehoben. 
Ueb#r den Verlauf eines weiteren Falles 
von KohleHydratdyspepsie bei einem zwei¬ 
jährigen Kinde, welches keine Kohlehydrate 
neben Milch verträgt und dem ich jetzt bei 
Milchzulage Taka-Diastase gebe, werde ich 
an anderer Stelle berichten. —- Außer diesen 
hier angeführten Fällen habe ich sowohl 
privat als auch als Assistent des Herrn 
Professor Albu in seiner Poliklinik eine 
Reihe weiterer Fälle von Kohlehydratdys¬ 
pepsie mit ähnlichem Erfolge behandelt. 

Ich komme somit zum Schlüsse, daß in 
einer großen Reihe von Fällrn, in denen 
Durchlälle, welche auf eine intestinale 


Gärungsdyspepsie zurückzuführen sind, ein 
Versuch mit Taka Diastase gemacht werden 
soll. In den Fällen der gastrogenen Diar¬ 
rhoen ist eine Kombination der Taka- 
Diastasebehandlung mit Salzsäuremedikation 
zu empfehlen. 

Selbstverständlich hat Hand in Hand 
mit der medikamentösen Behandlung die 
Diätbehandlung zu gehen, die hier in einer 
feinstverteilten Kohlehydratverabreichung 
(Pürreekost) besteht. Vorsichtig geht man 
durch Zulagen von Brötchen, Brot und 
festen kohlehydrathaltigen Gemüsen lang¬ 
sam zur normalen Kost über, während man 
weiter die Taka* Diastase verabreicht. Ich 
lasse dann langsam mit der Taka-Diastase 
zurückgehen und oft nur no* h eine Tablette 
nach der Hauptmahlzeit wochenlang neh¬ 
men, bis — auch nach tagelangem Aus¬ 
setzen der Taka Diastase — bei normaler 
Verabreichung von kohlehydrathaltiger Nah¬ 
rung kein Amylum im Stuhle nachzu¬ 
weisen ist. 


Aus der L chirurgischen Abteilung des Allgemeinen Krankenhauses Hamburg-Eppendorf. 

Die operative und spezifische Behandlung: der Nieren- und 

Blasentuberkulose. 

Von Prof. Dr. Hermann Kümmell. 


Die Krankheiten der Nieren und der 
ihnen untergeordneten Organe bilden eines 
der interessantesten Gebiete unserer mo¬ 
dernen Chirurgie. Trotz der gewaltigen 
Fortschritte, welche wir bei diesen erst 
spät in das Bereich unseres chirurgischen 
Könnens gezogenen Erkrankungen im letz¬ 
ten Dezennium erzielt haben, bleibt noch 
manche Aufgabe zu lösen, manches fest- 
zusttllen übrig. 

Wie würde es sonst zu erklären sein, 
daß ein anscheinend kleines und abge¬ 
schlossenes Gebiet sich vom großen Stamm¬ 
land trennt, um sich zu einem eignen 
Wissenszweig auszuwachsen. Trotz aller 
Vervollkommnung unserer technischen Hilfs¬ 
mittel, trotz des weiteren Ausbaus der 
funktionellen Nierendiagnostik treten uns 
immer wieder noch nicht beseitigte Schwie¬ 
rigkeiten entgegen. Dies ist in besonderer 
Weise bei der tuberkulösen Erkrankung 
der Niere der Fall, welche zweifellos die 
für die Diagnose schwierigste, aber auch 
für die Therapie dankbarste Art der an 
den Chirurgen herantretenden Nieren 
erkrankungen bildet. Schwierig einmal 
durch den Polymorphismus, mit welchem 
uns die Nierentuberkulose entgegentritt, 
von der beginnenden Infektion der Papillen¬ 
spitze und der primären, oft jahrelang den 
ersten klinischen Symptomen der Krank¬ 


heit vorausgehenden Blutungen bis zu der 
über die ganze Niere sich erstreckenden 
miliaren Aussaat, den großen kä^gen 
Herden und den auf ihren Durchbruch mit 
Mischinfektionen kombinierten, die ganze 
Niere mehr oder weniger zerstörenden 
tuberkulösen Abszessen. 

Schwierig weiterhin und eigenartig für 
die Diagnose deshalb, weil sich meistens 
die ersten subjektiv empfundenen und ob¬ 
jektiv nachweisbaren Symptome in der 
Blase ab-pielen und dadurch der eigent¬ 
liche primäre Sitz des Leidens nicht in 
der Niere, sondern in einem anderen Aus¬ 
gangspunkt, sei es in der Blase selbst oder 
in einer etwa gleichzeitig vorhandenen 
Genitaltuberkulose, gesucht wird. Erst seit¬ 
dem wir durch eingehendes Studium der 
Tuberkulose des Urogenitalaj parates ge¬ 
lernt haben, daß es eine primäre Nieren¬ 
tuberkulose gibt und daß von da aus die 
Infektion des Harnleiters und der Blase 
zustande kommt, war der Gedanke nahe¬ 
liegend, durch möglichst fiühzeitige Ent¬ 
fernung des infektiösen Herdes die tiefer¬ 
liegenden Teile des Harnapparates vor In- 
fcktion und den mit ihr zusammenhängen¬ 
den, oft irreparabeln Schäden zu schützen. 

Bei unseren 125 wegen Nierentuberku¬ 
lose operativ behandelten Patienten hatten 
wir den Eindruck, daß ein primärer tuber- 


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Dezember 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


54 1 


kulöser Herd, der öfter in den Lungen, in 
froher aberstandener DrOsentuberkulose, in 
einem Falle in einem Leichentuberkel des 
Fingers oder anderweitig nachgewiesen 
werden konnte, die Qaelle der Nieren¬ 
erkrankung bildete, und daß von hier aus 
die tuberkulöse Infektion der Niere durch 
Verschleppung von Tuberkelbazillen auf 
dem Wege des Blutstroms zustande ge 
kommen war. Sehr oft jedoch fehlte jede 
nachweisbare Erkrankung der Lungen oder 
anderer Organe, und nur die Niere und 
Bla^e wurden tuberkulös erkrankt gefunden. 
Solange man annahm, daß die Nierentuber¬ 
kulose vielfach durch aufsteigende Infektion 
von der Blase aus entstehe, konnte von 
einem operativen erfolgreichen Einschreiten 
gegen ein sekundär erkranktes Organ nur 
in beschränktem Maße und unter besonde¬ 
ren Verhältnissen die Rede sein. Diese 
Anschauungen sind später durch zahlreiche 
wissenschaftliche Arbeitet von Baum¬ 
garten, Kramer, Steinthal u. A., sowie 
durch pathologisch - anatomische Befunde 
und klinische Beobachtungen widerlegt 
Durch die interessanten Tierexperimente 
Baumgartens, Hausers u. A. wurde fest¬ 
gestellt, daß die Ausbreitung der tuberku¬ 
lösen Infektion dem Wege der Drüsen¬ 
sekrete folgt, also bei primärer Nieren¬ 
tuberkulose dem Harnleiter nachgehend 
zur Blase absteigt, bei primärer Hoden¬ 
tuberkulose dem Vas deferens entlang zur 
Samenblase und Prostata aufsteigt, der 
umgekehrte Weg „gegen den Strom“ 
jedoch ausgeschlossen ist. 

Wir wissen jetzt, daß bei der Tuber¬ 
kulose des Harnsystems die Niere 
der primäre Sitz des tuberkulösen 
Leidens ist, von der aus die In¬ 
fektion des Ureters und der Blase 
allmählich erfolgt. Daß bei ausgedehn¬ 
ter Genitaltuberkulose, wenn Hoden, Pro¬ 
stata und Samenblase ergriffen sind, auch 
eine von dort ausgehende tuberkulöse Er¬ 
krankung der Blase eintreten kann, ist 
'nicht ausgeschlossen, jedenfalls aber sehr 
selten. Daß jedoch gleichzeitig mit der 
Tuberkulose der Genitalien auch eine 
solche der Nieren einhergehen kann, von 
welch letzteren alsdann die tuberkulöse 
Zystitis entsteht, ist mehrfach von uns be¬ 
obachtet worden. Fanden wir eine Genital- 
und Blasentuberkulose, so nahmen wir eine 
gleichzeitige Nierentuberkulose an, und die 
eingehende Untersuchung bestätigte stets 
unsere Annahme, daß es sich um zwei 
nebeneinander hergehende tuberku¬ 
löse Erkrankungsformen mit zwei 
verschiedenen primären Ausgangs¬ 


punkten handelte. Dies haben wir in 
mehreren Fällen festzustellen Gelegenheit 
gehabt. 

Auch bei der häufiger von uns ope¬ 
rierten Genitaltuberkulose des Weibes, die 
zu ausgebreiteter Tuberkulose des Peri¬ 
toneums mit Aszitesbildung führte, haben 
wir kaum eine Mitbeteiligung der Blase zu 
beobachten Gelegenheit gehabt, wenn nicht 
gleichzeitig eine Tuberkulose der Niere 
bestand. 

Daß bei doppelseitiger Nierentuberku¬ 
lose die zweite Niere von der Blase aus 
sekundär, also durch einen aufsttigenden 
Prozeß infiziert werden kann, wie beispiels¬ 
weise Tuffier annimmt, ist ja möglich, er¬ 
scheint aber nicht wahrscheinlich. In den 
von uns beobachteten Fallen doppelseitiger 
Nierenerkrankung schien vielmehr eine 
gleichzeitige Infektion beider Organe auf¬ 
getreten zu sein, wenn auch die Schwere 
der Erkrankung der einen Seite die der 
anderen zurücktreten ließ. Immerhin über¬ 
wiegt ja, wie uns die klinische Eifahrung 
und die langanhaltenden Heilungen nach 
Nrphrektomie des erkrankten Organs be¬ 
weisen, bei weitem die einseitige Tuber¬ 
kulose der Niere. Auch in den zahlreichen 
Fällen, in welchen die Nierentuberkulose 
in der Blase schwere Störungen anrichtet 
und selbst zur Schrumpfblase geführt hat, 
bleibt die zweite N.ere von der tuberku¬ 
lösen Infektion sehr oft verschont. Aber 
schon die Möglichkeit der Infektion der 
zweiten Niere von der Blase aus durch 
einen aufsteigenden Prozeß läßt eine frühe 
Entfernung der erkrankten Niere geboten 
erscheinen. 

In einwandfreier Weise kann man durch 
das Zystoskop die allmähliche Infektion 
der Blase von der Niere aus beobachten. 
Bei Betrachtung einer im Anfangsstadium 
der tuberkulösen Infektion sich befindenden 
Blase sieht man im zystoskopischen Bilde 
kleine Ulzerationen sich um den von der 
kranken Niere ausgehenden Ureter grup- 
gieren, während die Umgebung des gesun¬ 
den Harnleiters vollständig frei ist. Bei 
der weiter dauernden Berührung der Blasen¬ 
schleimhaut mit dem Tuberktlbazillen ent¬ 
haltenden Urin sieht man im vorgeschritte¬ 
nen Stadium der Erkrankung die Ulzera¬ 
tionen sich mehr und mehr ausbreiten und 
allmählich einen großen Teil der Blasen¬ 
schleimhaut einnehmen. Vor längeren Jah¬ 
ren, als man noch eine primäre Blasen¬ 
tuberkulose annahm, beobachtete ich einen 
in mehrfacher Beziehung sehr instruktiven 
Fall, in dem ein anscheinend zirkumskriptes 
tuberkulöses Ulkus bei sonst gesunder Blase 


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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Dezember 


entfernt und geheilt und erst später die 
Niere als der primäre Sitz des Leidens er¬ 
kannt wurde. 

Eine 26 Jahre alte Patientin klagte über 
häufigen Harndrang und entleerte einen 
trüben Urin. Ueber Schmerzen in der 
Nierengegend wurde nicht geklagt. Patientin 
kam 1894 in Behandlung. Im Urin konnten 
spärliche Tuberkelbazillen nachgewiesen 
werden. Das Zystoskop ließ zunächst eine 
vollständig normale Blase erkennen. Unter¬ 
halb der rechten Uretermündung saß ein 
längliches, ca. 1 cm breites und U /2 cm 
langes Geschwür, welches wir als die 
Quelle der Tuberkelbazillen im Urin an¬ 
sahen. Das Ulkus wurde nach Eröffnung 
der Blase durch Sectio alta exzidiert und 
durch die Naht vollständig vereinigt. Es 
erfolgte eine glatte Heilung; auch durch 
das Zystoskop konnten vollkommen nor¬ 
male Blasenverhältnisse, sowie die Heilung 
der intravesikalen Operationswunde fest¬ 
gestellt werden. Da wir damals noch die 
Möglichkeit einer primären Blasen tuberku¬ 
löse annahmen, glaubten wir nach der 
radikalen Beseitigung einer so zirkum¬ 
skripten und selten früh in Behandlung 
gelangten Blasentuberkulose eine Heilung 
annehmen zu dürfen. Die Patientin kehrte 
nach einigen Monaten in unsere Behand¬ 
lung zurück. Sie hatte weiter trüben Urin 
entleert, klagte über Schmerzen in der 
linken Seite und war in ihrer Ernährung 
sehr heruntergekommen. In der Blase ließ 
sich außer einem mäßigen Blasenkatarrh 
keine tuberkulöse Ulzeration nachweisen, 
dagegen war die rechte Niere stark ver¬ 
größert und schmerzhaft. Wir legten das 
kranke Organ frei und entfernten es durch 
Nephrektomie am 15. Februar 1895. Das 
Organ war durch zahlreiche käsige und 
eitrige Herde fast vollständig zerstört, nur 
wenig normales Nierengewebe noch vor¬ 
handen. Rascher Heilungsverlauf. Patientin 
erholte sich bald und ist lange gesund und 
arbeitsfähig geblieben. Bei dieser Patientin 
war es als ein glücklicher Zufall anzusehen, 
daß die später auftretenden Beschwerden 
sich auf die Nieren bezogen und durch die 
Palpation des vergrößerten Organs den 
Sitz des Leidens eikennen ließen. 

Ich erwähne diesen Fall ausführlicher, 
weil er aus einer Zeit stammt, in welcher 
man anfing, die erkrankte tuberkulöse Niere 
mit Erfolg zu entfernen, in welcher aber 
andererseits auch von hervorragenden Chi¬ 
rurgen noch vor einem operativen Eingriff 
energisch gewarnt wurde. So schreibt, wie 
schon öfter zitiert, der erfahrene Wiener 
Chirurg Albert 1895: „Der Nephrektomie 


bei Nierentuberkulose erwähne ich zum 
Schluß als einer warnenden Verirrung der 
Zeit. Es haben sich Menschen gefunden, 
diese Operation auszuführen und ein Fall 
soll von Erfolg gewesen sein." In dieser 
Zeit hatte ich bereits vier tuberkulöse 
Nieren operativ mit Erfolg entfernt, die 
erste im Jahre 1888. In allen diesen Fällen 
handelte es sich um Dauerheilungen, da 
sämtliche Patienten noch heute, jedenfalls 
noch vor nicht sehr langer Zeit lebten und 
gesund waren. So günstig auf den pri¬ 
mären Sitz des Leidens hinweisend, wie 
in dem oben erwähnten Falle, liegen aller¬ 
dings die Verhältnisse grade in den frühe¬ 
ren Stadien der Tubeikulose des Urogeni¬ 
talsystems selten, und es bedarf vielfach 
sehr eingehender und mühsamer Unter¬ 
suchungen, um das Leiden in einem Zeit¬ 
punkt zu erkennen, in welchem klare Sym¬ 
ptome noch nicht im Vordergrund stehen. 

Wie bei allen Leiden, so ist besonders 
für die Nierentuberkulose eine früh¬ 
zeitige Diagnose für den Erfolg der 
einzuschlagenden Therapie — wel¬ 
cher Art sie auch sein mag — von 
der größten Wichtigkeit 

Als frühes Stadium der Tuberku¬ 
lose der Harnorgane möchte ich das¬ 
jenige bezeichnen, in welchem subjektive 
Beschwerden nicht auf den Sitz des Lei¬ 
dens hinweisen und äußere objektive dia¬ 
gnostische Anhaltspunkte, palpatorischer 
Nachweis des vergrößerten Organs, Schmerz¬ 
haftigkeit desselben und anderes mehr feh¬ 
len, der Prozeß noch vor allem auf die 
Niere beschränkt ist und womöglich noch 
nicht den Harnleiter, jedenfalls die Blase 
gar nicht oder nur im geringen Maße in 
Mitleidenschaft gezogen hat. Als ein immer¬ 
hin relativ frühes und günstig zu beein¬ 
flussendes Stadium würde ich überhaupt 
die primäre Tuberkulose der Niere be¬ 
zeichnen, solange sie auf diese selbst be¬ 
schränkt ist. Nach einer günstig verlaufe¬ 
nen frühen operativen Entfernung der er¬ 
krankten Niere pflegt meist eine definitive 
Heilung einzutreten. 

Eine einmal vorhandene Blasen¬ 
tuberkulose ist am besten durch die 
Beseitigung der erkrankten Niere, 
vorausgesetzt, daß die andere funktions¬ 
fähig ist, zur Heilung zu bringen. Wir 
kennen ja alle zur Genüge die lebhaften 
Beschwerden, welche die Blasentuberkulose 
von den anfangs leichten Reizerscheinun¬ 
gen des Blasenkatarrhs, dem häufigen 
Biasendrang bis zur hochgradigen Schrumpf¬ 
blase mit fast vollständiger Inkontinenz 
und dauerndem Harnträufeln dem Träger 


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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


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verursacht. Wir kennen auch die Unzu¬ 
träglichkeit der lokalen Therapie, die Emp¬ 
findlichkeit der tuberkulösen Blasen gegen 
Blasenspülungen aller Art, ihre lebhafte 
Reaktion gegen Höllensteinlösung, sowie 
die Unwirksamkeit operativer Eingriffe. Es 
ist auch schwer verständlich, wie ein chi¬ 
rurgisches Vorgehen gegen die Blasen¬ 
tuberkulose, sei es, daß dasselbe in Aus¬ 
kratzung, in Kauterisation oder in Exzision 
mehr oder weniger großer Teile der 
Schleimhaut besteht, einen mehr als vor¬ 
übergehenden Erfolg haben kann, da stets 
neue Infektion durch den aus der kranken 
Niere herabfließenden tuberkelhaltigen Urin 
stattfindet Die Blasen tuberkulöse als das 
sekundäre Leiden sollte niemals operativ 
behandelt, dagegen möglichst früh gegen 
die Ursache derselben, gegen die kranke 
Niere vorgegangen werden. 

Selbst bei weiter vorgeschrittener, mit 
den lebhaftesten Beschwerden verknüpfter 
Blasentuberkulose, selbst bei hochgradiger 
Schrumpfblase haben wir bei Nephrektomie 
ohne irgendeine Behandlung der Blase sehr 
gute Resultate erzielt, die Kranken geheilt, 
die qualvollen Blasenbeschwerden beseitigt 
oder wenigstens in den schwersten Fällen 
wesentlich gebessert. 

Wieviel günstigere und rascher zu er¬ 
zielende Resultate würden wir bei früh¬ 
zeitiger Beseitigung des primären tuberku¬ 
lösen Nierenleidens, ehe dasselbe auf die 
Blase übergegriffen hat, erzielen. Dazu 
bedarf es in erster Linie einer möglichst 
frühen Diagnose, einer frühen Feststellung 
und richtigen Deutung der ersten Sym¬ 
ptome. Gerade die Tuberkulose der Harn¬ 
organe bleibt oft lange Zeit latent oder 
geht mit nur geringen subjektiven Be¬ 
schwerden und wenig deutlichen objektiven 
Symptomen einher, welche vielfach un¬ 
richtig gedeutet werden. In den von uns 
in einem früheren Stadium der Erkrankung 
zur Beobachtung gelangten Fällen bildeten 
die ersten Krankheitserscheinungen Störun¬ 
gen von seiten der Blase. Vor allem war 
es leicht trüber Urin, welchen die 
Kranken selbst oder der Arzt oft nur zu¬ 
fällig entdeckt hatten, ohne daß subjektive 
Blasenstörungen, Harndrang, Brennen am 
Ende der Entleerung und ähnliches be¬ 
standen hätten. Grade bei Frauen bedarf 
eine derartige Abweichung von der nor¬ 
malen Urinbeschaffenheit einer häufigen 
und gründlichen Untersuchung, man soll 
sich nicht mit der Diagnose eines Blasen¬ 
katarrhs zufrieden erklären, sondern die 
Ursache desselben festzustellen versuchen. 

Nach meiner Erfahrung ist jeder Blasen¬ 


katarrh speziell bei Frauen, welcher nicht 
auf gonorrhoischer Erkrankung beruht oder 
durch Infektion von außen durch einen 
eventuellen Katheterismus veranlaßt ist, sehr 
verdächtig auf Tuberkulose und eine wieder¬ 
holte eingehende Untersuchung auf Bazillen, 
sowie die Anwendung unserer modernen 
Untersuchungsmethoden ist dringend ge¬ 
boten. Auch bei einem chronischen go¬ 
norrhoischen Blasenkatarrh sollte man nach 
Tuberkelbazillen suchen, da die Gonorrhöe 
ein ätiologisches Moment für spätere In¬ 
fektionen bildet. In fast allen Fällen ist 
es uns oft nach längerem Suchen gelun¬ 
gen, Tuberkelbazillen nachzuweisen und 
damit die vermutete Diagnose zu sichern. 

Oft ist nur der trübe Urin ohne andere 
subjektive Erscheinungen des Blasenkatarrhs 
das einzige auf Störung des Harnsystems 
hinweisende Moment. Kommen dazu noch 
leichte Lungenerscheinungen und sonstige 
auf Tuberkulose verdächtige Symptome, 
Drüsenschwellungen und dergleichen, so 
ist der Verdacht auf eine Tuberkulose des 
Harnsystems sehr groß. 

Bei einer 23jährigrn Patientin deutete 
nur der leicht trübe Urin auf ein Blasen¬ 
leiden hin. Kein palpatorischer Befund, 
keine Beschwerden irgendwelcher Art. Erst 
der Ureterenkatheterismus und der Nach¬ 
weis der Bazillen stellten die Tuberkulose 
der linken Niere fest. Die Patientin ist 
nach-Entfernung der kranken Niere voll¬ 
kommen geheilt, blühend und kräftig. Die 
exstirpierte Niere zeigt weitgehende tuber¬ 
kulöse Zerstörungen. 

Bei einer 45jährigen Patientin entfernten 
wir die auffallend kleine, mit vielen tuber¬ 
kulösen Herden besetzte Niere. Sie klagte 
nur über allgemeine Schwäche und Mattig¬ 
keit Unterleibsbeschwerden wurden län¬ 
gere Zeit gynäkologisch ohne Erfolg be¬ 
handelt, im trüben Urin wurden Bazillen 
nachgewiesen. Mäßiger Blasenkatarrh, keine 
Ulzerationen in der Blase. Ureterenkathete¬ 
rismus stellte die tuberkulöse Erkrankung 
der rechten Niere fest. Jetzt vollkommen 
gesund und arbeitsfähig. 

Oft sind es beim Fehlen subjektiver, 
auf eine Erkrankung des Harnsystems 
hinweisender Symptome Unterleibsbe¬ 
schwerden, welche die Patienten ver- 
anlaßten, die gynäkologische Hilfe in An¬ 
spruch zu nehmen. Es ist nicht selten, 
daß bei dem latenten, im Anfang wenig 
charakteristischen Verlauf der tuberkulösen 
Zystitis und Nephritis bei Frauen die vor¬ 
handenen Beschwerden auf eine Erkran¬ 
kung der Geschlechtsorgane zurückgeführt 
werden und als solche lange Zeit behandelt 


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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Dezember 


werden. Stoeckel bat in sehr richtiger 
und eingehender Weise auf diesen Punkt 
aufmerksam gemacht, und ich kann seine 
Anschauungen nur voll und ganz bestäti¬ 
gen. Vorhandene leichte Blasenbeschwerden 
werden oft auf eine etwaige Retroflexio, 
eine leichte Zystozele als Folge von Adnex¬ 
erkrankungen und anderes mehr bezogen 
und als solche behandelt, ohne der Blasen¬ 
erkrankung die nötige Aufmerksamkeit zu 
schenken. In jedem Falle von Blasen¬ 
beschwerden und auch ohne solche sollte 
der gynäkologisch behandelnde Arzt den 
Urin einer genauen Untersuchung unter¬ 
ziehen und jeden auch nur leicht trüben 
Urin nicht nur als einfachen Blasenkatarrh 
betrachten und behandeln, sondern die 
Grundursache desselben zu entdecken 
suchen. Ich habe eine größer« Anzahl 
Patientinnen mit ausgesprochener Nieren- 
und Blasentuberkulose operiert, welche 
lange Zeit erfolglos gynäkologisch be¬ 
handelt waren. Eine einseitige, sich nur 
auf die Genitalorgane beseht änkende Be¬ 
handlung kann die schwerwiegendsten 
Folgen für die Patienten haben. 

Daß gonorrhoische Infektion so- 
wohlbeimManneals auchbei der Frau 
ein ätiologisches Moment für spätere- 
Tuberkulose des Harnapparats, so¬ 
wie der Geschlechtsorgane bildet, ist be 
kannt, und haben wir unter unseren Kranken 
mehrfach die Gonorrhoe in der Anamnese 
vorgefunden. Auch Hodentuberkulose ist 
von anderen und von uns mehrfach im An¬ 
schluß an Epididymitis gonorrhoica beob¬ 
achtet. Daß beim Voihandensein einer 
chronischen Gonorrhoe des Mannes oder 
bei einem auf derselben Infektionsbasis 
beruhenden Zervixkatarrh der Frau eine 
Zystitis als gonorrhoisch angesehen werden 
und dadurch eine tuberkulöse Erkrankung 
übersehen wird, ist sehr naheliegend. 

Bei einer Patientin bestanden keinerlei 
Lungenerscheinurgen; der Ernährungszu¬ 
stand war ein guter, etwas blasses Aus¬ 
sehen. Der Urin war tiübe; es bestand 
mäßiger Harndrang, welcher die einzige 
Klage der Kranken ausmachte. Ein vor¬ 
handener Zervixkatarrh hatte lange Zeit 
zur Annahme einer gonorrhoischen Zystitis 
geführt. Die lokale Behandlung war ohne 
jeden Erfolg geblieben. Trotz der langen 
Dauer des Leidens war keine nennenswerte 
Erkrankung der Blase vorhanden. Im 
zystoikopischen Bilde fanden sich nur am 
linken Offizium des Ureters am unteren 
Rande einige kleine Ulzerationen. Erst 
der Ureterenkatheterismus sicherte voll¬ 
kommen die Diagnose einer linksseitigen 


beginnenden Nierentuberkulose, während 
gleichzeitig die fast vollständige Intaktheit 
der Blase festgestellt wurde. Die entfernte 
Niere zeigte, daß die Operation in einem 
recht frühen Stadium vorgenommen war. 
Nur kleine Herde im Nierengewebe waren 
vorhanden, während einzelne miliäre Knöt¬ 
chen auf der Schleimhaut des etwas er¬ 
weiterten Nierenbeckens zu sehen waren. 
Der Ureter war kaum infiziert, die Heilung 
der Operationswunde daher eine relativ 
rasche. 

In dieser kurz skizzierten Symptomen¬ 
gruppe treten krankhafte Erscheinungen 
von Seiten des Urins in den Vordergrund. 
Es sind weniger Störungen der Urinentlee¬ 
rung, abnorme Häufigkeit oder Schmerz¬ 
haftigkeit der Entleerung als vielmehr 
trübes, von der Norm abweichendes 
Aussehen des Harns, welches teils zu¬ 
fällig von der Patientin, teils bei der ein¬ 
gehenden Untersuchung der Kranken vom 
Arzt fest gestellt wurde; die subjektiven 
Beschwerden sind gering, sie fehlen meist 
vollständig, auch solche, welche auf die 
Niere hinwiesen. 

In einer andern Gruppe sind es mehr 
Störungen des Allgemeinbefindens, 
schlechtes Aussehen, Mattigkeit, Abmage¬ 
rung und deigl., kurz allgemeine Krank¬ 
heitserscheinungen, welche Verdacht er¬ 
regen, während die Diagnose oder der 
Hinweis auf eine Erkrankung des Harn¬ 
systems durch den bei oberflächlicher 
Beobachtung anscheinend klaren und 
normalen Urin noch erschwert wird. 
Dies trat z. B. in auffallender Weise bei 
einer Patientin zutage, welche wegen eines 
Beinleidens in unsere Behandlung kam. 
Die auffallende Blässe und das elende Aus¬ 
sehen ließen uns nach der Ursache suchen. 
Wir entdeckten im Urin einige Bazillen. 
Der Ureterenkatheterismus stellte eine 
tuberkulöse Niere fest, welche entfernt 
wurde. Patientin wurde gehejlt. Wir 
waren überrascht, bei der relativ geringen 
Veränderung des Urins, bei dem fast voll¬ 
ständig fehlenden pathologischen Befund 
der Blase eine so weitgehende Zerstörung 
der exstirpierten Niere zu finden. Das 
ganze Nierengtwebe war mit eibsen- bis 
haselnußgroßen käsigen Herden durchsetzt 
und zerstört, das Nierenbecken etwas er¬ 
weitert, mit einzelnen miliaren Knötchen 
bedeckt. 

Wenn bei so relativ geringen äußeren 
Symptomen schon so weit vorgeschrittene 
Zerstörungen der Niere vorhanden sein 
können und tatsächlich sind, so spricht 
das für einen in einzelnen Fällen rasch 


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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


545 


und unbemerkt fortschreitenden Prozeß, 
welcher sehr bald sein Zerstörungswerk 
auch auf die Blase ausgedehnt haben wird. 
Daß in einzelnen Fällen lange Zeit die pri¬ 
märe Nierentuberkulose vollkommen latent 
ohne jegliches Symptom bleiben kann, daß 
sie nach Krämers Untersuchungen sogar 
vielfach bis in die späteren Lebensjahre 
verborgen bleiben kann, um erst durch 
einen äußeren Einfluß infolge einer Ge¬ 
legenheitsursache aus dem schlummernden 
Zustand erweckt, zu weiterem Fortschreiten 
angeregt zu werden, ist nicht zu bezweifeln. 
Jedenfalls fordern uns diese relativ weit 
vorgeschrittenen Zerstörungen auf, den 
frühesten, anscheinend geringfügigen Sym¬ 
ptomen, vor allem einer Trübung des 
Urins, den anscheinend leichten zystitischen 
Beschwerden, besonders beim weiblichen 
Geschlecht, leichten Schmerzen, in der 
Nierengegend, gestörten Allgemeinbefinden 
aus zunächst unbekannten Gründen eine 
besondere Aufmerksamkeit zu widmen, den 
Urin auf Tuberkelbazillen zu untersuchen 
und die sonstigen gleich näher zu erwäh¬ 
nenden Untersuchungsmethoden anzuwen¬ 
den, um dadurch die Diagnose zu sichern. 
Wir dürfen nicht warten, bis ein palpabler 
Nierentumor, hohes Fieber, schwer gestörte 
Blasenfunktion oder Erscheinungen von 
tuberkulöser Schrumpfblase die Diagnose 
von vornherein zweifellos erscheinen lassen 
und der dauernde Erfolg der operativen 
Therapie alsdann ein sehr zweifelhafter 
ist. Je früher die Diagnose gestellt 
und je früher die in dem Anfangs¬ 
stadium der Erkrankung befindliche Niere 
entfernt wird, um so sicherer ist bei dem 
zu dieser Zeit meist noch vorhandenen 
guten allgemeinen Befinden der direkte 
Erfolg der Operation, um so günstiger die 
Aussicht auf Dauererfolg. Die Ulzerationen 
in der Blase heilen zwar nach Entfernung 
der Ursachen, wenn sie nicht zu weit aus¬ 
gebreitet, auch vielfach von selbst. Weit 
sicherer und schneller ist der Erfolg der 
Entfernung der tuberkulösen Niere zu einer 
Zeit, wo noch keine oder nur geringfügige 
Infektion der Blase stattgehabt hat. An¬ 
dererseits finden wir, wenn auch seltener 
bei weitgehenden Zerstörungen der Blase, 
einen schwerkranken Ureter und ein mit 
Tuberkelknötchen ausgefülltes Nieren¬ 
becken, während in der Niere selbst nur 
verhältnismäßig wenige und kleine käsige 
Herde vorhanden sind. 

Bei den erwähnten oft wenig markanten 
Symptomen, welche uns die Tuberkulose 
der Harnorgane in ihren frühen Stadien 
vorführt, bietet naturgemäß die Frühdia¬ 


gnose manche Schwierigkeiten, welche wir 
jedoch stets überwunden haben. In den 
weiter vorgeschrittenen Stadien ist die Dia¬ 
gnose der Blasen- und Nierentuberkulose 
nicht schwierig, wenn es sich z. B. um ab¬ 
gemagerte kachektisch aussehende Patienten 
handelt mit einer vergrößerten schmerz¬ 
haften Niere, oder mit verdicktem, palpabeln 
Ureter, mit häufigem und quälendem Urin¬ 
drang u. a. m. Kommen dazu noch Fieber¬ 
bewegungen, die Entleerung eitrigen trüben 
Urins, in welchem Tuberkelbazillen nach¬ 
gewiesen werden, so ist die Diagnose ge¬ 
sichert. Aber gerade bei beginnender Er¬ 
krankung, wenn die einzelnen Symptome 
wenig ausgeprägt, wenn kein Schmerz, 
keine Vergrößerung des Organs auf die 
erkrankte Seite hinweist, wenn der Ureter 
noch nicht infiziert und palpabel ist, müssen 
wir die Diagnose stellen und können sie 
tatsächlich stellen. Sie werden nach der 
kurzen Skizzierung einiger charakteristi¬ 
schen Paradigmata, welche aus einer großen 
Anzahl analoger Fälle herausgenommen 
sind, den Eindruck gewonnen haben, daß 
es selbst bei der genausten Palpation 
unter den günstigsten äußeren Bedingungen, 
selbst bei schlaffen Bauchdecken magerer 
Individuen, unmöglich ist, diese krankhaften 
Veränderungen an nicht vergrößerten Or¬ 
ganen festzustellen, ausgedehnte Herde, 
welche selbst an der exstirpierten Niere, 
ehe sie gespalten war, durch den äußeren 
Anblick nicht zu erkennen waren. Daß 
Tuberkelbazillen selbst bei sicher tuber¬ 
kulöser Niere nicht immer nachzuweisen 
sind, da zurzeit keine Kommunikation 
des Herdes mit dem Harnleiter besteht, 
ist genügend bekannt. Daß es oft zahl¬ 
reicher Präparate bedarf, um einzelne Ba¬ 
zillen nachzuweisen, gehört nicht zu den 
Seltenheiten. Immerhin ist der Nachweis 
der Bazillen der sicherste Beweis 
und eine der wichtigsten diagnosti¬ 
schen Erfordernisse zur Feststellung 
der Tuberkulose der Harnorgane. 
Durch das Anreicherungsverfahren, durch 
Tierimpfung, durch häufige Untersuchung 
des aus größeren Urinmengen gewonnenen 
Sediments und durch verschiedene andere 
Methoden ist uns bis jetzt der Nachweis von 
Bazillen in allen Fällen und auch speziell 
in den frühen Stadien gelungen. Die Ver¬ 
wechselung mit Smegmabazillen ist durch 
sterile Entnahme des Urins, sowie durch 
die Art der Färbemethode auszuschließen. 

Mit dem Nachweis der Tuberkelbazillen 
wissen wir, daß es sich um eine Tuber¬ 
kulose der Harnorgane handelt, aber nichts 
weiter. Ob es sich um eine bereits ein- 

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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


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getretene, mehr oder weniger weit ver¬ 
breitete Tuberkulose der Blase handelt, 
welche der Nieren der Ausgangspunkt ist, 
ob beide erkrankt sind oder eine gesund 
ist, erfahren wir nicht und können es 
durch unsere gewöhnlichen klinischen Me¬ 
thoden nicht feststellen. 

Diese diagnostischen Schwierigkeiten 
bestätigt uns das Zystoskop und vor allem 
das Ureterenzystoskop, welches uns 
über die Beschaffenheit der Blase und Nieren 
Aufschluß giebt. In vorgeschrittenen Fällen 
zeigt uns das Zystoskop die in mehr oder 
weniger weiter Ausdehnung ulzerierte Blase. 
In dem Anfangsstadium der von der Niere 
ausgehenden Infektion der Blase sehen wir 
kleine charakteristische, in der Umgebung 
der kranken Harnleitermündung sitzende 
tuberkulöse Geschwürchen oder zuweilen 
ein ektrioponiert aber gezackt und an¬ 
genagt aussehendes, oft als unregelmäßig¬ 
trichterförmiges Loch erscheinendes Ure- 
terorificium. Im großen und ganzen sind 
es sehr charakteristische, nicht zu verken¬ 
nende Bilder. Handelt es sich aber um 
eine primäre Nierentuberkulose ohne kli¬ 
nische Erscheinungen, ehe die Blase in 
Mitleidenschaft gezogen ist, genügt das 
einfache Zystoskop nicht, wohl aber bringt 
uns der Ureterenkatheterismus, in welchem 
die Zystoskopie ihre größten Triumphe 
feiert, rasch und sicher die gewünschte 
Diagnose und die volle Klarheit. 

Die von Schwalbe, Achard u. A. in 
die Nierendiagnostik zuerst eingeführte 
Verwendung von Farbstoffen, welche von 
Völkers und Joseph durch Injektion von 
Indigokarminlösung zur Chromozystoskopie 
weiter ausgebildet wurde, bildet eine vor¬ 
zügliche Bereicherung unserer Methoden 
der Nierendiagnostik. Sie ist als eine 
wesentliche Erleichterung für den Ureteren- 
katheterismus zu begrüßen, indem es den 
Anfängern die oft nicht leicht zu findende 
Uretermündung durch den blau ausspritzen¬ 
den Harnstrahl deutlicher markiert und 
den Geübten in den schwierigen Fällen 
von ulzeröser Zystitis, wie wir sie so oft 
bei Tuberkulose der Blase beobachten, die 
Auffindung der verborgenen oder sich im 
Geschwürsfeld nicht deutlich kennzeich¬ 
nenden Harnleitermündungen erleichtert 
Ob zwei Uretermündungen und damit vor¬ 
aussichtlich zwei Nieren vorhanden sind 
und ob dieselben Urin entleeren, werden 
wir ebenfalls mit Anwendung des Indigo¬ 
karmins nachweisen können. Auch das 
etwaige Vorbeifließen des Urins neben dem 
eingeführten Ureterkatheter wird sie den 
Augen in deutlicher Weise zur Anschauung 


bringen. Einen ungefähren Anhalt über 
die Funktion der Nieren bildet uns die 
Chromozystoskopie, in den meisten Fällen 
leider zeigte sie jedoch einige Male un¬ 
gleichmäßige Resultate, indem bei dem¬ 
selben Individuum mit einer tuberkulösen 
Niere die Farbstoffausscheidung erst nach 
Stunden, nach 1—2 Wochen später jedoch 
zu normaler Zeit nach zirka 15 Minuten 
aus der gesunden Niere erfolgte. 

Es ist mehrfach davor gewarnt, die ge¬ 
sunde Niere zu sondieren, um eine In¬ 
fektion derselben zu vermeiden. Wir haben 
niemals bei dem in vielen zahlreichen 
Fällen ausgeführten Ureterenkatheterismus 
eine Infektion gesehen, nachdem wir die 
Kranken Wochen- und monatelang weiter¬ 
hin beobachtet haben. Den Ureteren¬ 
katheterismus und die funktionelle 
Nierendiagnostik wird auch die In¬ 
digokarminmethode nicht über¬ 
flüssig machen können. Damit, daß wir 
wissen, daß beide Nieren Urin entleeren, 
die eine vielleicht mehr als die andere, 
können wir keinen vergleichenden Auf¬ 
schluß über das Verhalten der beiden 
Nieren zu einander, über die Dichte, die 
Harnstoff konzentration, die molekulare Be¬ 
schaffenheit, kurz über den Zustand des 
jeder einzelnen Niere gesondert entnom¬ 
menen Sekrets erhalten. Das ist vor jeder 
eingreifenden Nierenoperation notwendig. 
Wir müssen mit Bestimmtheit wissen, ob die 
zurückbleibende Niere gesund und im¬ 
stande ist, die Funktion der zu entfernen¬ 
den mit zu übernehmen. Das sagt uns mit 
Sicherheit der Ureterenkatheterismus und 
die eingehende Untersuchung des Urins 
jeder einzelnen Niere; die alleinige Beob¬ 
achtung des aus den Uretermündungen 
sich entleerenden Urins und die danach 
zu schätzende funktionelle Leistung er¬ 
scheint mir nicht sicher. Die Infektions¬ 
gefahr bei einem sachgemäß ausgeführten 
Ureterenkatheterismus ist sehr gering. 
Grade bei der Frühdiagnose ist die¬ 
selbe absolut notwendig, da wir vor¬ 
her nicht wissen, welches die kranke 
Niere ist. Keine Ulzeration um das Ori- 
fizium, kein Schmerz, kein palpatorischer 
Befund weisen auf den vermutlichen Sitz 
hin. Anderseits ist die Gefahr der Ver¬ 
wechselung der kranken und der gesunden 
Niere, besonders bei weitergehenden Ulze- 
rationen in der Blase sehr groß. Mehrfach 
katheterisierte ich einen anscheinend ge¬ 
sunden Ureter. Um das Orifizium der an¬ 
deren Seite waren ausgedehnte Geschwüre. 
Der durch den Ureterkatheter entleerte 
Urin erschien makoskopisch klar, gelb ge- 


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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


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färbt und anscheinend der gesunden Niere 
entstammend, der indirekt, d. h. der aus 
der nicht katheterisierten Niere durch die 
Blase gleichzeitig aufgefangene trüb, eitrig, 
blutig. Die Untersuchung stellte Tuberkel¬ 
bazillen in dem klaren Urin fest. Als ich 
dann die andere als krank angenommene 
Niere katheterisierte, erwies sich diese als 
vollkommen gesund. Die Operation be¬ 
stätigte die Richtigkeit der Diagnose. Der 
indirekt aufgefangene Urin gibt naturgemäß 
keine absolute Sicherheit, da er durch die 
Ulzerationen der Blase und ihre Absonde¬ 
rungen getrübt wird. Dies ist auch der 
Grund für die oft unsicheren Resul¬ 
tate bei Anwendung der Harnsegre- 
gatoren. Die Gesundheit oder die Funk¬ 
tionsfähigkeit der zurückbleibenden Niere 
vor der Operation festzustellen und ihr 
Schicksal nicht mehr oder weniger dem 
Zufall zu überlassen, ist die Errungenschaft 
der neuen Methoden der Nierendiagnostik. 
Es ist mit Freude zu begrüßen, daß sich 
dieselbe mehr und mehr Anhänger erwirbt 
und immer mehr Verbreitung findet. Ich 
halte es für ausgeschlossen, daß ein Chi¬ 
rurg, welcher den Ureterenkatheterismus 
beherrscht und die Methode der funktio¬ 
nellen Nierendiagnostik kennt und fehler¬ 
frei ausführen kann, nicht ein warmer An¬ 
hänger derselben ist. Auf dem gegne¬ 
rischen Standpunkt können nur diejenigen 
stehen, welche die Methoden nicht in ge¬ 
nügender Weise beherrschen. Daß noch 
manches an der Methode gebessert, noch 
mancher streitige Punkt geklärt werden 
muß, bezweifele ich nicht, und es wird 
diekes Ziel bei der zunehmenden Verbrei¬ 
tung der Methode bei gemeinsamer Arbeit 
mehr und mehr erreicht werden. Gerade 
bei der Tuberkulose der Harnwege 
ist der Ureterenkatheterismus nicht 
zu entbehren, besonders wenn es sich 
um eine Frühdiagnose handelt, Erschei¬ 
nungen von seiten der Blase nicht vorhan¬ 
den sind und sonstige objektive Anhalts¬ 
punkte und subjektive Klagen nicht auf 
den Sitz des Leidens in den Nieren Hin¬ 
weisen. Wenn einzelne Autoren den Ure¬ 
terenkatheterismus bei Nieren- und Blasen¬ 
tuberkulose für untunlich oder gar für nicht 
ungefährlich halten, so muß ich nach un¬ 
serer Erfahrung dem widersprechen. Es 
gibt keine Art der Nierenerkrankung, bei 
welcher der Ureterenkatheterismus zu einer 
sicheren Diagnose so unentbehrlich ist, wie 
bei der Tuberkulose. Nachteile haben wir 
davon nicht gesehen. Der Unterschied 
des aus der tuberkulös erkrankten und der 
aus der gesunden Niere direkt entleerten 


Urine ist schon makroskopisch sehr auf¬ 
fallend. Der tuberkulöse Urin ist meist 
weiß, hell, wäßrig, der gesunde von be¬ 
kannter Farbe und Beschaffenheit. Wir 
wissen, welches die kranke Niere ist, wir 
können durch Dichtigkeits- und Gefrier¬ 
punktsbestimmung, durch Feststellung der 
Harnstoffmengen annähernd konstatieren, 
ob noch viel normales funktionsfähiges 
Nierengewebe vorhanden ist oder ob die 
Zerstörung weiter vorgeschritten ist; wir 
erkennen durch dieselbe Methode die In¬ 
taktheit der anderen Niere und die Fähig¬ 
keit, die Arbeit der zu exstirpierenden mit 
zu übernehmen. 

Selbst bei nicht vollkommen ge¬ 
sunder zweiter Niere haben wir die 
Entfernung der schwer erkrankten 
vorgenommen, wenn ihre Funktion 
als ausreichend festgestellt werden 
konnte. 

In den weiteren vorgeschrittenen 
Fällen der Blasentuberkulose bei be¬ 
stehender Schrumpf blase bieten sich oft 
große Schwierigkeiten für den Ureteren¬ 
katheterismus; diese zu überwinden, ist 
mir bisher fast stets gelungen, selbst bei 
einer Kapazität von 50—80 g. Bei Patienten 
im frühen Stadium der Erkrankung ist die 
Technik des Ureterenkatheterismus nicht 
schwierig. Bei Anwendung von Eukain 
und Einspritzung von Antipyrinlösung in 
die Blase mit eventuellem Hinzufügen einer 
subkutanen Skopolamin-Morphium-Injektion 
kann die Empfindlichkeit auf ein Minimum 
herabgemindert werden. Nur bei Kindern, 
bei Mädchen von zirka 10 und Knaben von 
zirka 14 Jahren, halten wir die Narkose 
für nötig. Auch bei diesen gelang der 
Ureterenkatheterismus und gab uns sicheren 
Aufschluß über die Beschaffenheit jeder 
einzelnen Niere. Wenn wir mit dem Ka¬ 
theterismus der kranken Niere auskommen 
und das indirekt aufgefangene Sekret der 
als gesund angenommenen uns den ge¬ 
nügenden Aufschluß gibt, verzichten wir 
auf die Sondierung dieser letzteren. Ist 
der Zustand der als gesund angenommenen 
Niere ohne direkten Katheterismus nicht 
festzustellen, so zögern wir nicht, denselben 
in der bereits geschilderten Weise anzu¬ 
wenden. Nachteile haben wir auch hier 
bis jetzt niemals gesehen. Theoretische 
Erwägungen müssen hier hinter den prak¬ 
tischen Erfahrungen zurückstehen. 

Leider ist der Ureterenkatheteris¬ 
mus trotz aller Uebung und Erfahrung in 
einzelnen, wenn auch seltenen Fällen 
absolut unmöglich. Auch hier müssen 
wir eine sichere Diagnose stellen, um eine 

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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Dezember 


erfolgversprechende Therapie einzuleiten. 
Wie kommen wir in diesen schwierigen 
Fällen zum Ziel? Ich möchte 3 Gruppen 
von Nierentuberkulose je nach den ver¬ 
schiedenen Stadien unterscheiden. Die 
erste Gruppe bilden die erwähnten Fälle, 
in welchen wir die FrQhoperationen recht¬ 
zeitig ausfQhren konnten. 

Zu der zweiten Gruppe gehören die 
Fälle, in denen die eine Niere nach den 
Resultaten des Ureterenkatheterismus 
schwer erkrankt, die andere aber auch 
nicht intakt ist. Der elende Zustand des 
Patienten, das vorhandene Fieber verlangen 
einen Eingriff, und es fragt sich, ob die 
weniger kranke Niere imstande ist, nach 
der Nephrektomie die Arbeit für die zu 
entfernende andere Niere zu übernehmen. 
Außer den bekannten erwähnten Methoden 
zur Feststellung der Nierenfunktion, vor 
allem der Harnstoffbestimmung, und der 
Kryoskopie des Urins gibt als wesentlicher 
Faktor die Gefrierpunktbestimmung des 
Blutes in diesen Fällen den Ausschlag. 
Dieselbe hat uns bisher niemals im Stich 
gelassen. Ist ein normaler Gefrierpunkt 
d = — 0,56 bis 0,57 vorhanden, so legen 
wir die schwer erkrankte Niere frei. Ist 
sie weitgehend zerstört, so entfernen wir 
sie, und haben stets die andern funktio¬ 
nieren sehen. Nach unserer Erfahrung 
müssen wir hier annehmen, daß die schwer 
zerstörte Niere nicht mehr für die Aus¬ 
scheidung der Stoffwechselprodukte in Be¬ 
tracht kommt und daß der günstige Ge¬ 
frierpunkt nur durch die gut funktionierende 
andere Niere bedingt sein kann. Bewegt 
sich dagegen der Gefrierpunkt unter —0,6, 
so stehen wir nicht etwa von jedem 
Eingriff ab, wie es irriger Weise von 
anderer Seite von uns behauptet ist, son¬ 
dern wir legen die am meisten erkrankte 
Niere frei, machen eine Nephrotomie, 
entfernen die tuberkulösen und eitrigen 
Massen und tamponieren sie. Erweist sich 
dann im Laufe der nächsten Zeit die Niere 
als funktionsfähig, übernimmt dann die re¬ 
lativ gesunde Niere allmählich die Funktion 
der anderen, und wird der Gefrierpunkt 
vor allem normal, so nehmen wir alsdann 
die Entfernung der nephrotomierten Niere 
vor. Dies haben wir in einigen wenigen 
Fällen, wie ich es anderweitig bereits mit¬ 
geteilt habe, ausgeführt und zwar mit Er¬ 
folg. Derartige Kranke haben meist noch 
längere Zeit über ein und mehrere Jahre 
gelebt und sich noch einer relativen Ge-r 
sundheit erfreut. 

Eine dritte Gruppe von Fällen, welche 
uns grade bei der Tuberkulose häufig ent-. 


gegentreten, sind diejenigen, bei denen in¬ 
folge von Schrumpfblase von weitgehen¬ 
den Ulzerationen, von nicht zu beseitigen¬ 
der Inkontinenz oder wegen jugendlicher 
Enge der Urethra u. a. m. trotz allerUebung 
und Erfahrung der Ureterenkatheterismus, 
überhaupt die Zystoskopie unmöglich ist. 
Wenn es mir, wie erwähnt, auch mehrfach 
gelungen ist, schon bei einer Kapazität von 
nur 50—80 g den Ureterenkatheterismus 
auszuführen, so war dieser in einzelnen 
Fällen aus den eben angeführten Gründen 
schlechterdings unmöglich, da die Blase 
überhaupt keine Flüssigkeit aufnahm. Auch 
in diesen Fällen fehlte trotz des weit vor¬ 
geschrittenen Krankheitsbildes jeder weitere 
Anhaltspunkt, Vergrößerung der einen oder 
anderen Niere oder Schmerz in derselben, 
welcher auf den Sitz in der rechten oder 
linken Seite hinleitete. Unter diesen un¬ 
günstigen Umständen haben wir meist 
durch die Palpation des verdickten Ureters 
einen ungefähren Anhaltspunkt gefunden, 
welche Seite die erkrankte war; vorher 
war natürlich der Gefrierpunkt des Blutes 
festgestellt. Bewegte sich dieser in den 
normalen Grenzen, so legten wir die als 
krank angenommene Niere frei, fanden wir 
sie, wie dies meist der Fall war, weit¬ 
gehend zerstört, so haben wir von vorn¬ 
herein die Nephrektomie gemacht, da nach 
unseren Beobachtungen die andere genü¬ 
gende Funktionsfähigkeit besitzen mußte. 
Einen Mißerfolg haben wir dabei nicht zu be¬ 
klagen gehabt. Die zurückbleibende Niere 
erwies sich stets als gesund und funktio¬ 
nierte gut. War der Gefrierpunkt unter 
0,6, ersahen wir daraus, daß beide Nieren 
nicht vollkommen funktionierten, daß zu 
Zeiten wenigstens eine Niereninsuffizienz 
bestand, so machten wir zunächst die 
Nephrektomie bei der am meisten erkrankt 
erscheinenden Niere, Spaltung derselben 
und Entfernung der kranken Massen, Tam¬ 
ponade. Erholte sich dann die andere 
Niere, funktionierte sie, wurde der Gefrier¬ 
punkt normal, so konnten wir später die 
Nephrektomie vornehmen; blieb der Ge¬ 
frierpunkt niedrig, entleerte sich auch durch 
die Blase der nicht operierten Seite eitriger 
Urin oder drängte Fieber und dergl. weiter 
zu dem Eingriff, so haben wir auch durch 
die andere Seite, wenn notwendig, ge¬ 
spalten. Die Patienten mit doppelseitiger 
Erkrankung sind nach einigen Wochen 
oder Monaten gestorben. Bei Beobachtung 
dieser Gesichtspunkte und vor allem bei 
Berücksichtigung der Kryoskopie des Blutes 
haben wir auch in den schweren Fällen, 
in denen der Ureterenkatheterismus un- 


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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


549 


möglich war, eine sichere Diagnose ge¬ 
stellt. 

Die Kryoskopie soll niemals, wie wir 
gesehen haben, die anderen Methoden er¬ 
setzen, sondern dieselben ergänzen. In 
den Fällen, in welchen der Ureterenkathe- 
terismus unmöglich ist, wird sie dies in 
hervorragender Weise tun. Bei den übrigen 
wird uns der normale Gefrierpunkt über 
die Funktionsfähigkeit belehren und die 
Erniedrigung desselben 6 = —0,6 und 
darunter vor Ausführung einer Nephrek¬ 
tomie warnen. 

Was nun den außer der Diagnose wich¬ 
tigsten Punkt die Therapie anbetrifft, so 
haben sie aus dem Tenor des bisher ge¬ 
sagten entnehmen können, daß ich ein An¬ 
hänger einer aktiven chirurgischen Therapie 
bei der Nierentuberkulose bin. Dieser sub¬ 
jektive Standpunkt ist jedoch nur gerecht¬ 
fertigt, wenn er auf positiven Tatsachen 
und zahlenmäßigen Unterlagen über die 
mit der operativen Therapie erzielten 
günstigen Erfolge aufgebaut ist. 

Daher gestatten Sie mir Ihnen zu¬ 
nächst kurz über die Resultate zu be¬ 
richten, die wir durch die operative The¬ 
rapie bei der Nierentuberkulose erzielt 
haben. 

Es wurden 125 Operationen wegen 
tuberkulöser Erkrankung der Nieren aus¬ 
geführt davon wegen Erkrankung beider 
Nieren 7 Nephrotomien, bei einer Patientin 
doppelseitigen Nephrotomien. 

Nephrektomien bei Erkrankung der einen 
Seite wurden 118 vorgenommen und zwar 
vor Einführung der neuen Untersuchungs¬ 
methoden 12 mit 3 Todesfällen (Peritonitis- 
Embolie — angeborener Defekt einer Niere), 
nach Anwendung des Ureterenkatheteris- 
mus und der Funktionsprüfungen 106 mit 
4 operativen Todesfällen (2 Pneumonie, 
Sepsis, Myokarditis, Miliartuberkulose). 

Innerhalb der ersten 6 Monate starben 
18, von den überlebenden 84 sind in den 
folgenden 2—4 Jahren 9 gestorben, nach 
tO und 13 Jahren je einer, nach unbekannter 
Zeit 3, Nachrichten fehlen von 4. Die 
übrigen leben und erfreuen sich nach den 
Nachrichten eines guten resp. sehr guten 
Befindens. Bei 3 Patientinnen trat Gravidität 
und Partus ein. 3 sind noch in Behandlung. 
Erste Nephrotomie wegen Nieren tuberkulöse 
1888. Patientin lebte vollkommen gesund 
noch vor wenigen Jahren; spätere Nach¬ 
richten fehlen. 

Wie steht es nun mit den Erfolgen der 
medizinischen Behandlung der Nierentuber¬ 
kulose? Dieselbe hat zweifellos eine weit¬ 
gehende Berechtigung, wenn durch sie 


Heilungen erzielt werden können. Es ent¬ 
spricht auch unserm konservativ chirur¬ 
gischen Denken, ein lebenswichtiges Organ 
nicht radikal zu entfernen, sondern zu er¬ 
halten, wenn seine Heilung und damit die 
Gesundung des gesamten Organismus auf 
unblutigem Wege sich bewirken läßt 

Zunächst glaube ich, ehe wir in die Be¬ 
sprechung über die Wirkung einer spezi¬ 
fischen Behandlung der Nierentuberkulose 
eintreten, die Frage ventilieren zu müssen, 
ist eine spontane Heilung der Nieren¬ 
tuberkulose möglich und einwands¬ 
frei beobachtet. Ich selbst habe früher 
über einen damals 39jährigen Patienten 
berichtet, bei welchem in der entfernten 
Niere die Residuen alter tuberkulöser Herde 
nachgewiesen werden konnten. Bei dem 
Kranken war vor 13 Jahren die Exstirpation 
eines rechtsseitigen tuberkulösen Testis 
vorgenommen. Seitdem vollkommen be¬ 
schwerdenfrei. Vor 7 Jahren Gonorrhoe 
und Zystitis, damals 6 Monate in ärztlicher 
Behandlung. Vor 2 Jahren Gelenkrheuma¬ 
tismus. Seit 6 Monaten Schmerzen beim 
Wasserlassen, häufiger Harndrang, längere 
Zeit auf der medizinischen Abteilung ohne 
Erfolg in Behandlung. In den letzten Tagen 
Verschlimmerung, allgemeine Mattigkeit, 
dumpfe Schmerzen im Kreuz. 

Die nähere Untersuchung zeigt uns 
einen Status: Etwas blasser, ziemlich gut 
genährter Mann ohne pathologischen Lun¬ 
genbefund, Nieren nicht palpabel, linke 
Nierengegend leicht druckempfindlich. Urin 
trübe, enthält massenhaft Eiter, keine Tu¬ 
berkelbazillen, Kryoskopie d = — 0,56 J 
= 1,42; U = 19,6. 

Zystoskopie fand Blasenschleimhaut in¬ 
jiziert, linke Uretermündung zeigt einen 
rötlichen Hof, rechte normal, ihre Sondie¬ 
rung ergibt: 


Rechte Niere: 
Gefrierpunkt des 
Urins A 1,5 
Harnstoff —23,0 %o 
klarer Urin 
Mikr.: ganz vereinzelte 
frische rote Blut¬ 
zellen. 


Linke Niere: 

A — 0,9 

Harnstoff —7 > 
trüber Unn 
Mikr. zahlreiche Eiter¬ 
körperchen, keine 
T uberkelbazillen. 


Nephrektomie des erkrankten linken Organs, 
welches sich als normal große Niere mit 
vielfach gebuckelter Oberfläche darstellte. 
Die vorgewölbten Partien haben eine gelb¬ 
liche Färbung. Neben dieser Erhebung 
finden sich tiet eingezogene Partien mit 
granulierter Oberfläche, unter der vereinzelt 
kleine Hohlräume sichtbar sind. Beim Auf¬ 
schneiden sieht man, daß die Vorwölbungen 
gebildet werden durch glattwandige Höhlen 
mit homogenem Inhalt, welche mit dem 


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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Dezember 


Nierenbecken in keinem Zusammenhang 
stehen. Die Rinde ist an den meisten 
Stellen von normaler Breite. An den ein¬ 
gezogen en narbigen Partien ist sie erheb¬ 
lich verschmälert, die Hohlräume werden, 
besonders an ihrer Basis, von einer schmalen 
Zone von Nierengewebe überzogen. Rin¬ 
denzeichnung an den normalen Partien 
deutlich. Papillen o. B. Die Schleimhaut des 
Nierenbeckens ist größtenteils o B. An einigen 
Stellen dagegen fi nden sich reichliche, reihen • 
weise angeordnete grauweiße Knötchen in 
der Schleimhaut, welche intakt über ihnen 
ist. Alle Knötchen sind von etwa gleicher 
Größe (Nadelknopfgröße). Die mikrosko¬ 
pische Untersuchung der Knötchen im 
Nierenbecken ergibt, daß es sich um An¬ 
sammlung lymphoider Elemente in Knöt¬ 
chenform handelt, nicht um Tuberkeln. 
Keine Epithelrinde, keine Riesenzellen. 
Die zystischen Hohlräume sind nicht ohne 
epitheliale Auskleidung, nur stellenweise 
findet man einzelne epithelähnliche kubische 
Zellen an der Innenwand. Das Parenchym 
der Rinde zeigt zahlreiche verödete Glo- 
meruli, ektatische Kanälchen mit hyalinem 
Inhalt, stellenweise Rundzellenherde, an 
anderen Stellen Bindegewebsentwicklung, 
nirgends Andeutung von Tuberkulose. An 
einzelnen Stellen der Rinde finden sich 
Knötchen, welche aus einem derben, fase¬ 
rigen Gewebe mit einzelnen epitheloiden 
Zellen bestehen. Stellenweise Riesenzellen, 
deren Kerne jedoch unregelmäßig verteilt 
sind, die anatomische Diagnose wurde auf 
Residuen alter tuberkulöser Herde gestellt. 
Es handelte sich im vorliegenden Falle nach 
Ansicht unseres pathologischen Anatomen 
um eine ausgeheilte Nierentuberkulose. 

Einen weiteren Fall ähnlicher Art be¬ 
schreibt Eckehorn. Er betrifft eine Pa¬ 
tientin, die in zwei 8 t/a Jahre auseinanderlie¬ 
genden Zeiträumen im Sunswaller Kranken¬ 
hause beobachtet wurde. Bei der ersten 
Behandlung 1901 zeigte sie ausgesprochene 
Symptome von Nierentuberkulose mit hoch¬ 
gradigen Beschwerden von seiten der 
Blase, Tuberkelbazillen wurden in großer 
Menge im Urin nachgewiesen. Der Krank¬ 
heitsprozeß befand sich damals in einem 
anscheinend relativ frühen Stadium. Die 
vorgeschlagene Operation wurde von den 
Eltern der Patientin abgelehnt. Anfang 
1909 kommt die Patientin aus anderen 
Gründen ohne die geringsten subjektiven 
Beschwerde von seiten des Harnapparates 
zur Aufnahme. Sie fühlt sich vollkommen 
gesund, der Urin erweist sich als normal. 
Der Ureterenkatheterismus findet eine 
kranke rechte und gesunde linke Nieren¬ 


nephrektomie. Die exstirpierte Niere ist 
in einen aus Kavernen bestehenden Sack 
verwandelt, welcher mit dicken Detritus¬ 
massen angefüllt ist. Diese Massen sind, 
soweit die Untersuchung ergeben hat, asep¬ 
tisch frei von Tuberkelbazillen und an¬ 
deren Bakterien, von dem Nierenparenchym 
ist nicht die geringste Spur mehr vorhan¬ 
den, der Ureter von diesem pyonephrotischen 
Sack an bis zur Blase war nicht ver¬ 
schlossen. Auch in diesem Falle war die 
vorher konstatierte Nierentuberkulose aller¬ 
dings mit fast vollständiger Zerstörung des 
Organs ausgebildet. 

v. R ihm er berichtet über drei Spontan¬ 
heilungen, die er bei den später notwendig 
gewordenen Nephrektomien beobachtete, 
ln den 3 Fällen handelte es sich um junge 
Mädchen mit isolierter Nierentuberkulose 
d. h. ohne andere nachweisbaren tuber¬ 
kulösen Herde im Organismus, die Heilung 
trat durch Vernarbung oder durch Verkal¬ 
kung des Kaverneninhalts ein. Diese Hei¬ 
lung war stets eine unvollständige. Mit 
dem Heilungsvorgang trat ein mehr oder 
weniger ausgesprochen narbiger Ureteren- 
verschluß, ein und die Niere ging als Organ 
r mehr oder weniger zugrunde. Gleichzeitig 
wurde die Blase durch den deszendieren¬ 
den Prozeß infiziert. Auffallend war, daß 
nach der später erfolgten Entfernung der 
zuweilen fast gänzlich ausgeheilten Niere 
eine rasche Zunahme des Körpergewichts 
zu verzeichnen war. 

Ich habe Ihnen diese Fälle, denen sich 
noch manche anreihen ließen, vorgeführt, 
um zu zeigen, daß eine spontane Aus¬ 
heilung einer Nierentuberkulose im ge¬ 
wissen Sinne wohl zur Beobachtung ge¬ 
kommen ist, daß diese Ausheilung aber 
mit einer schweren Zerstörung des ganzen 
Organs, welche meist dem Verlust des¬ 
selben gleichkam, einherging. Es ent¬ 
standen pyonephrotische Säcke, in denen 
wohl bei der Mischinfektion die Tuberkel¬ 
bazillen durch die anderen vernichtet wur¬ 
den, jedenfalls blieb in allen Fällen ein 
krankes Organ vorhanden, welches mehr¬ 
fach die Blase infizierte, den Organismus 
als solchen schädigte, und erst nach der 
Entfernung die Patienten definitiv gesunden 
ließ. Diese Fälle lehren uns auch, daß ein 
tuberkelfreier Urin nicht immer auf eine 
Gesundheit beider Nieren schließen läßt, 
sondern daß man sich in allen Fällen dar¬ 
über orientieren muß, ob nicht der Ureter 
verschlossen ist und hinter dieser Striktur 
eine schwer veränderte tuberkulöse oder 
jedenfalls pyonephrotische Niere verborgen 
ist. Die Fälle zeigen uns ferner, daß die 


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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


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subjektiv und objektiv erscheinende Besse¬ 
rung sehr trügerisch sein kann und daß 
die Spontanheilung, falls eine solche ein- 
tritt, langsam und unvollkommen vor sich 
geht und meist mit der vollkommenen Zer¬ 
störung des Organs und oft mit der gleich¬ 
zeitigen Infektion der Blase verbunden ist, 
daß andererseits aber durch eine recht¬ 
zeitige Beseitigung des erkrankten Organs 
eine raschere Heilung herbeigeführt wird, 
als durch das unsichere Warten auf eine 
scheinbare und trügerische Spontanheilung. 

Was nun die medizinische Behand¬ 
lung der Nierentuberkulose anbetrifft, 
so will ich auf die allgemeine, den Orga¬ 
nismus kräftigende Tuberkulosebehandlung, 
die auch den Nierenkranken mit und ohne 
Operation nur vorteilhaft sein kann, auf 
die klimatischen, diätetischen und der¬ 
artigen genügend bekannten roborierenden 
Behandlungsmethoden nicht näher eingehen, 
ebenso nicht auf die Behandlung mit den 
verschiedenartigsten Medikamenten, Zimt¬ 
säure, Guajakolum u. a. Durch Hetolinjek- 
tionen erzielten Clerc-Dandry (Brüssel) 
in 3 Fällen ohne Operation sehr gute Re¬ 
sultate, indem die vorhandenen Tuberkel¬ 
bazillen schwanden und die Patienten 
kräftig und beschwerdefrei wurden. Die 
Resultate, die nach diesen Methoden er¬ 
zielt sind, sind im allgemeinen wenig gün¬ 
stige. Eine sehr interessante Zusammen¬ 
stellung über die Resultate der medizini¬ 
schen Behandlung der Nierentuberkulose 
hat uns Blum aus der v. Frischschen 
urologisehen Abteilung geliefert. Von 
40 Fällen diagnostizierter Nierentuberku¬ 
lose konnte über den späteren Krankheits¬ 
verlauf von 26 Patienten genaue Auskunft 
erlangt werden. 24 Kranke waren ge¬ 
storben, 3 lebten noch, litten jedoch in 
hohem Grade an den Beschwerden der 
Blasen und Nierentuberkulose. In fast allen 
diesen nicht chirurgisch behandelten Fällen 
wurde die Operation von den Kranken 
oder ihren Angehörigen verweigert oder 
der Krankheitsprozeß war bereits ein der¬ 
artiger, zum Teil doppelseitiger, daß von 
einer operativen Behandlung Abstand ge¬ 
nommen wurde. 

Günstiger gestalten sich anscheinend 
die Resultate mit der spezifischen Be¬ 
handlung, mit der Tuberkulinthera¬ 
pie der Nierentuberkulose. Da diese 
Frage in letzter Zeit mehr und mehr in 
den Vordergrund getreten ist und auch 
bereits zu interessanten Diskussionen in 
wissenschaftlichen Versammlungen Veran¬ 
lassung gegeben hat, so möchte ich noch 
einmal kurz die Frage aufrollen,ist eine Hei¬ 


lung der Tuberkulose durch Tuber¬ 
kulininjektion objektiv nachgewiesen 
und sind wir berechtigt, dieselbe in 
geeigneten Fällen anzuwenden. Ein¬ 
zelne günstige Resultate, das heißt Dauer¬ 
heilungen der Nierentuberkulose wurden 
schon von Schede, Fenwick und Rosen¬ 
feld berichtet, leider fehlt in diesen Fällen 
der Nachweis einer positiven Heilung der 
vorher festgestellten Nierentuberkulose 
durch den Befund am Operations- und 
Sektionstisch, denn es kann nicht als posi¬ 
tive Heilung angesehen werden, wenn das 
Allgemeinbefinden der Patienten sich län¬ 
gere Zeit wesentlich hebt und der Urin 
klar und frei von Tuberkelbazillen wird. 
Ich habe Gelegenheit gehabt, einen dieser 
als geheilt angeführten Fälle später meh¬ 
rere Jahre zu beobachten und gesehen, 
wie bei relativ gutem Allgemeinbefinden 
der lokale Prozeß sich immer weiter ent¬ 
wickelte und zur Schrumpfblase und schlie߬ 
lich zur Inkontinenz führte. Auch in den 
Fällen von Lenhartz, Pielicke, Leed- 
ham-Green und Karo fehlt zurzeit noch 
der anatomische Nachweis einer dauernden 
Heilung im wissenschaftlichen Sinne und 
erst nach einer längeren Reihe von Jahren 
ungestörter Heilung wird man berechtigt, 
ein endgültiges Erloschensein der Krank¬ 
heit anzunehmen. Ich gebe zu, daß die 
Fälle von Leedham-Green und Karo, 
die sich hauptsächlich auf Kinder beziehen, 
sehr günstig erscheinen. Die vorhandenen 
Tuberkelbazillen sind verschwunden, das 
Allgemeinbefinden der Kinder ein sehr 
günstiges. Es wäre sehr erfreulich, wenn 
diese guten Erfolge sich später als dauernde 
bewiesen und wir grade bei der Tuberku¬ 
lose der Kinder, welche nach Leedham- 
Greens Auffassung weit häufiger zu sein 
scheint als man gemeinhin annimmt, im 
Tuberkulin ein spezifisches Heilmittel be¬ 
säßen. Dabei soll man jedoch nicht ver¬ 
gessen, daß die Nierentuberkulose im 
Kindesalter im allgemeinen relativ leicht 
verläuft und selten schwere Erscheinungen 
macht, wir haben unter unseren 120 Fällen 
nur einen Knaben operiert. 

Was ich persönlich von der Wirkung 
der Tuberkulininjektion, die von anderer 
Seite bei Nierentuberkulose ausgeführt 
wurden, gesehen habe, war nicht sehr er¬ 
freulich. Einmal wurde die günstigste Zeit 
zur Operation versäumt und dieselben 
mußten dann unter schwierigen Verhält¬ 
nissen, wenn auch mit schließlichem Erfolg 
ausgeführt werden nach langen Leiden der 
Patienten, oder die Kranken gingen zu¬ 
grunde, leider zuweilen ohne vorherige 


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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Dezember 


uretroskopische Untersuchung und sicher¬ 
gestellte Diagnose. 

Wichtiger erscheinen mir für die ob¬ 
jektive und wissenschaftliche Beob¬ 
achtung, ob eine Heilung der Nierentuber¬ 
kulose durch Tuberkulininjektionen möglich 
ist, diejenigen Fälle, bei welchen 
nach genügend langer sachgemäßer 
Anwendung des Mittels die später 
vorgenommene Nephrektomie eine 
einwandfreie Untersuchung der ent¬ 
fernten tuberkulösen Niere vorge¬ 
nommen werden konnte. 

So berichtet Kraemer über eine wäh¬ 
rend 7 Monaten mit Tuberkulin behandelte, 
an rechtsseitiger Nierentuberkulose leidende 
Patientin. In der später wegen nichtein- 
getretener Besserung operativ entfernten 
Niere fanden sich keine Zeichen einer 
Heilung. Ausgedehnte Tuberkulose mit 
frischen Tuberkeln und Verkäsungen, keine 
anatomischen Befunde von Heilungsvor¬ 
gängen. Auch in den makroskopisch noch 
nicht deutlich veränderten Partien finden 
sich mikroskopisch frische Tuberkel. 

Wichtig für die Frage der Heilung der 
Nierentuberkulose durch Tuberkulinbehand¬ 
lung ist die jüngst erschienene Mitteilung 
von Wildbolz, der 5 mal Gelegenheit 
hatte, tuberkulöse Nieren nach Tuberkulin¬ 
behandlung eingehend zu untersuchen. 
Keiner von den 31 mit Tuberkulin be¬ 
handelten leichteren und schwereren Fällen 
konnte durch das Mittel geheilt oder auch 
nur von seinen Lokalbeschwerden dauernd 
befreit werden. Eine Schädigung der Kran¬ 
ken durch die Tuberkulinkur wurde nicht 
beobachtet. Bei den exstirpierten Nieren 
war in keinem Falle irgendeine Spur einer 
lokalen Heilwirkung des Tuberkulins* zu 
erkennen. Wildbolz glaubt, daß bei 
dieser negativen Heilungstendenz der 
Nutzen des Tuberkulins bei Behandlung der 
Nierentuberkulose eher in der allgemeinen 
Giftfestigung des Organismus als in einer 
Anregung lokaler Heilfaktoren zu suchen sei. 

Was meine eigenen Erfahrungen an¬ 
betrifft, so habe ich in 4 Fällen Gelegen¬ 
heit gehabt, nach längerdauernder Tuber- 
kulinbehandiung die später entfernten Nieren 
eingehend zu untersuchen, respektive einer 
eingehenden sachgemäßen pathologisch¬ 
anatomischen Untersuchung unterziehen zu 
lassen. 

Der erste Fall betraf einen 24jährigen 
iungen Mann, bei welchem nach Feststellung 
der Nierentuberkulose eine entsprechende 
Tuberkulinkur eingeleitet wurde. Bei den 
zunehmenden Beschwerden des Patienten 
wurde eine eingehende uretroskopische 


Untersuchung vorgenommen, welche eine 
schwer zerstörte Blase und eine rechts¬ 
seitige Nierentuberkulose feststellte. Da 
sich die linke Niere als gesund erwies, 
wurde die Nephrektomie der schwer er¬ 
krankten rechten Niere vorgenommen. Es 
zeigte sich, daß von einer Heilung nicht 
die Rede sein konnte, weitgehende käsige 
Zerstörung der ganzen Niere mit Nachweis 
zahlreicher Tuberkelbazillen war vorhanden. 

Noch wichtiger ist der zweite Fall, bei 
welchem wir cystoskopisch das weitere 
Fortschreiten des tuberkulösen Prozesses 
in der Blase trotz Tuberkulininjektionen 
verfolgen konnten. Es handelte sich um 
eine 30jährige Patientin, welche vor 2 V 2 Jah¬ 
ren von heftigen krampfartigen Blasen¬ 
schmerzen nach dem Urinlassen befallen 
wurde. Nach vorübergehender Besserung 
traten heftige Beschwerden auch in der 
rechten Niere ein, welche die Patientin 
veranlaßten, Aufnahme auf der inneren 
Abteilung unseres Krankenhauses zu suchen. 
Nach ihrer Aufnahme wurde eine Tuber¬ 
kulinkur eingeleitet und gleichzeitig eine 
zystoskopische Untersuchung der Harn¬ 
organe vorgenommen. Im Gesamturin 
waren trotz sorgfältigen Suchens keine 
Tuberkelbazillen nachzuweisen, während 
der durch den Ureterkatheter aus der 
kranken Niere entleerte Harn reichlich 
Bazillen aufwies. Um die Mündung des 
rechten Ureters waren bei der ersten Unter¬ 
suchung einige wenige kleine Ulzerationen 
festzustellen, während bei der nächsten, 
nach einigen Wochen stattgehabten Uretro- 
skopie eine weitere Verbreitung des tuberku¬ 
lösen Prozesses auf die Blasenschleimhaut 
festzustellen war. Die vorgeschlagene Ope¬ 
ration wurde nicht ausgeführt, sondern die 
Tuberkulinkur weiter fortgesetzt. Bei jeder 
späteren cystoskopischen Untersuchung 
konnte man ein immer weiteres Umsich¬ 
greifen des tuberkulösen Prozesses auf die 
Schleimhaut der Blase feststellen. Nach 
172 jähriger Tuberkulinbehandlung, nach¬ 
dem die vorübergehende anscheinende 
Besserung auch einer subjektiven Ver¬ 
schlimmerung gewichen war und objektiv 
der immer weiter fortschreitende Prozeß 
in der Blase festgestellt war, wurde end¬ 
lich die Nephrektomie ausgeführt. Die in 
noch leidlich gutem Ernährungszustände 
befindliche Patienten überstand den Ein¬ 
griff relativ gut und erholte sich vorüber¬ 
gehend. Ein Vierteljahr später ging sie an 
allgemeiner Tuberkulose, an einer sich auf 
die meisten Organe erstreckenden miliaren 
Aussaat zugrunde. Die Niere zeigt, wie 
Sie an der gutgelungenen Zeichnung sehen 


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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


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(Demonstration), ausgedehnte tuberkulöse 
Herde, einen großen tuberkulösen Abszeß 
im oberen Pol und ein schwer zerstörtes 
erweitertes Nierenbecken. Kleine miliare 
Knötchen am oberen und unteren Pol in 
großen Mengen sichtbar, Tuberkelbazillen 
in großer Zahl nachweisbar, von einer be¬ 
ginnenden Heilung ist nichts zu sehen. 

Der dritte Fall betrifft ein 22jähriges, 
anscheinend blühend und gesund aus¬ 
sehendes Mädchen. Etwa l 1 /? Jahre zuvor 
hatte sie über zunehmende Beschwerden 
bei der Urinentleerung zu klagen. Bei der 
Untersuchung des Urins konnten Eiter und 
Tuberkelbazillen festgestellt werden. Die 
eingeleitete Tuberkulinbehandlung hatte in 
der ersten Zeit einen günstigen Erfolg und 
verringerte die vorhandenen subjektiven 
Beschwerden, später nahmen dieselben 
jedoch wieder wesentlich zu und der ge¬ 
steigerte Urindrang belästigte die Patientin 
im höchsten Grade. Bei der zystoskopi- 
schen Untersuchung fanden wir die Gegend 
um den linken Ureter und einen weiteren 
Teil der Blase tuberkulös zerstört. Die rechte 
Niere erwies sich als tuberkulös zerstört, die 
andere als gesund. Am 9. Juni 1909 wurde 
die Nephrektomie vorgenommen und eine 
schwer erkrankte Niere entfernt Wie Sie 
an der Zeichnung (Demonstration) sehen, 
handelt es sich um mehrere Käseherde 
und größere Gruppen kleinerer miliarer 
Knötchen. Das erweiterte Nierenbecken 
ist mit Tuberkelknötchen dicht übersät, 
auch hier ist an keiner Stelle eine be¬ 
ginnende Heilung zu konstatieren. 

Die Patientin ist jetzt vollkommen gesund, 
auch die Blasen- und Nierenbeschwerden 
sind geschwunden. 

Der vierte Fall betrifft ein 20jähriges 
junges Mädchen, bei welchem wegen aus¬ 
gedehnter Blasentuberkulose und schwerer 
Zerstörung der rechten Niere die Nephrec- 
tomia dextra im Oktober 1905 ausgeführt 
werden mußte. Da sich die hochgradigen 
Blasenbeschwerden nicht besserten, wurde 
neben einer entsprechenden lokalen Be¬ 
handlung eine längerdauernde Tuberkulin¬ 
kur eingeleitet und die Patientin dann ge¬ 
bessert entlassen. Wir haben dann die 
Kranke später in Zwischenräumen von 
etwa einem Jahre noch zwei weiteren 
Tuberkulinkuren unterzogen, ohne eine 
Besserung zu erzielen; im Gegenteil machte 
der Prozeß in der Blase immer weitere 
Fortschritte, auch die übrigen Organe 
wurden tuberkulös infiziert und Patientin 
ging dann an Tuberkulose der Lungen 
und des Peritoneums, sowie der noch vor¬ 
handenen Nieren zugrunde. In diesem 

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Falle hatte die Tuberkulinbehandlung auch 
nach Entfernung des primären, in der 
Niere gelegenen tuberkulösen Herdes den 
Blasenprozeß nicht günstig zu beeinflussen 
vermocht. 

Wie Sie aus meinen Mitteilungen sehen, 
ist der objektive wissenschaftliche Nachweis 
einer wirklichen Heilung der Tuberkulose 
durch die Tuberkulinbehandlung in keinem 
Falle erbracht. Es sind vorübergehende 
Besserungen zu verzeichnen, welche, wie 
mir scheint, bei Beginn der Tuberkulinkur 
fast stets beobachtet wurden, denen dann 
aber meist eine wesentliche Verschlimme¬ 
rung folgte. In den Fällen, welche nach 
längerer erfolgloser Tuberkulinbehandlung 
zur Nephrektomie nötigten und eine ein¬ 
gehende einwandfreie Untersuchung der 
erkrankten Organe ermöglichten, sind keine 
Anzeichen einer beginnenden oder an ein¬ 
zelnen Stellen schon abgeschlossenen Hei¬ 
lung zu konstatieren gewesen. In allen Fällen 
handelte es sich um schwerkranke tuber¬ 
kulöse Nieren, die nicht im geringsten von 
der Tuberkulinbehandlung beeinflußt waren. 

Mögen die von Leedham-Green be¬ 
sonders bei Kindern mit der Tuberkulin¬ 
behandlung erzielten günstigen Resultate 
zu einer vorsichtigen Nachprüfung auf¬ 
fordern und die von Karo, Pielicke u. A. 
mitgeteilten klinischen Besserungen in Fällen 
leichter Erkrankung im Anfangsstadium 
einen Versuch mit Tuberkulin oder den 
Hetolinjektionen Clerc-Dandrys ge¬ 
statten, niemals soll man jedoch dabei 
vergessen, daß noch kein Fall einer aus 
diesen Mitteln erzielten Heilung objektiv 
nachgewiesen werden konnte, daß aber 
manche Patienten, wenn sie nicht recht¬ 
zeitig durch die Operation von dem kranken 
Organ befreit wurden, allmählich unter 
großen Beschwerden zugrunde gingen. 
Wenn nach der meist trügerischen anfäng¬ 
lichen Besserung nach Tuberkulininjektionen 
kein weiterer deutlich wahrnehmbarer Fort¬ 
schritt in der Heilung zu beobachten ist, 
sollte man das bis jetzt am sichersten eine 
definitive Heilung herbeiführende Mittel der 
operativen Entfernung des kranken Organs 
anzuwenden nicht mehr zögern und nicht 
durch unnützes Warten die weitere Ver¬ 
breitung des tuberkulösen Prozesses för¬ 
dern. Je früher wir in der Lage sind, die 
Tuberkulose der Niere zu diagnostizieren 
und dementsprechend das kranke Organ 
in einem möglichst frühen Stadium zu ent¬ 
fernen, um so günstiger werden nicht nur 
unsere operativen Resultate, sondern auch 
um so zahlreicher werden auch die defini¬ 
tiven Dauerheilungen werden. 

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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Dezember 


Vorträge 

über die Orundzüge der modernen Psychologie und Psychiatrie, 
veranstaltet vom preußischen Zentralkomitee für das ärztliche 

Fortbildungswesen. 

Bericht von Leo JacobSOhfl-Charlottenburg. 


Den diesjährigen größeren Vortrags¬ 
zyklus, welcher sich mit einem in neuerer i 
Zeit wesentlich erweiterten und vertieften 
Spezialgebiet beschäftigen wird, leitete 
Ziehen mit dem Thema: Die psychologi- j 
sehen Probleme in der Heilkunde, ein. i 
ln der Mitte des vorigen Jahrhunderts 
führten die Erfolge der aufblühenden 
Naturwissenschaften zu einer materialisti¬ 
schen Betrachtungsweise des psychischen 
Geschehens. Man gewöhnte sich das 
Psychische durch direkte oder indirekte 
Einwirkungen eines physischen Vorganges j 
auf die Sinnesorgane und deren überge- j 
ordnete Hirnzentren zu erklären und kam ! 
in konsequenter Weiterführung dieses Ge- J 
dankens zu dem Schluß, daß alles Psychi¬ 
sche nichts weiter als ein Reflexvorgang 
sei, bei dem freilich der Zusammenhang 
von Reizursache und psychischer Erschei¬ 
nung nicht immer so leicht erkennbar 
wäre, wie man es bei körperlichen Vor¬ 
gängen zeigen konnte. Eine Bestätigung 
dieser Anschauung schienen die Erfahrun¬ 
gen der Neuropathologie insbesondere der 
topischen Hirndiagnostik zu geben, indem 
man sah, daß bei Läsionen bestimmter 
Hirnabschnitte ganz bestimmte psychische 
Ausfallserscheinungen auftraten. 

ln dieses einheitliche, festgefügte System 
schienen nun einige Tatsachen nicht zu 
passen; insbesondere war die relative Selb¬ 
ständigkeit des handelnden Subjekts sowie 
die mit jeder Empfindung verbundene 
Gefthlsbetonung mit der Auffassung des 
psychischen Reflexes nicht ohne weiteres 
vereinbar. Immerhin waren die Besonder- 
lichkeiten der relativen Willensfreiheit und 
der Gefühlsbetonung im Sinne der älteren 
Lehre keine so fundamentale, daß sie zu 
einer Nichtigkeitserklärung der materiali¬ 
stischen Betrachtungsweise führen mußten. 

An andrer Stelle sollte das feste Ge¬ 
bäude der materialistischen Anschauung 
erschüttert werden. Das tiefere Eindrin¬ 
gen in die Pathologie zeigte, wie wenig 
die anatomische und physiologische Wis¬ 
senschaft imstande ist, das so überaus 
komplizierte psychische Geschehen zu er¬ 
klären. Abseits von der Erkenntnis der 
Unzulänglichkeit der materialistischen Be¬ 
trachtungsweise waren auch einige Tat¬ 
sachen der Klinik geeignet, die Unvoll¬ 


kommenheit der älteren Lehre zu zeigen 
und dem lange vernachlässigten seelischen 
Momente Geltung zu verschaffen. 

So versagte die von dem Psychischen 
abstrahierende Auffassung völlig bei der 
Analysierung gewisser Schmerzarten, die 
von dem kürzlich verstorbenen Brissaud 
als Gewohnheitsschmerzen bezeichnet wur¬ 
den. Man versteht hierunter schmerzhafte 
Empfindungen, welche mit dem Fortfall 
der schmerzerregenden Ursache nicht auf¬ 
hören, sondern gleichsam aus dem Ge¬ 
dächtnisse unbewußt reproduziert werden. 
So kann es geschehen, daß bei Hyste¬ 
rischen der durch ein Trauma veranlaßte 
Schmerz nach anatomischer Heilung des 
lokalen Prozesses noch Wochen und 
Monate lang seinen Träger quält. Auch 
ist es nicht ganz selten, daß nach Auf¬ 
hören einer Otitis media über Schmerzen 
im Ohr geklagt wird. Charakteristisch 
für diese anatomisch nicht erklärbaren 
Schmerzen ist ihre diffuse Ausbrei¬ 
tung über den primären Schmerzherd 
hinaus, weshalb sie auch als regionäre 
Schmerzen oder Topalgien bezeichnet 
werden. Will man nach einer Erklärung für 
diese Erscheinungen suchen, so wird man 
die Wurzel der Topalgien um so eher im 
Psychischen zu sehen haben als das Fehlen 
körperlicher Veränderungen, die Unabhän¬ 
gigkeit der Schmerzen von den bekannten 
Innervationsgebieten und ihre Heilung 
durch Suggestion eine physio-pathologische 
Deutung nicht zulassen. 

Das gleiche gilt für jene Kranken, die 
nach partieller Heilung von Taubheit oder 
Blindheit sich wie völlig Taube, beziehungs¬ 
weise Blinde benehmen. Auch hier han¬ 
delt es sich um die abnorme Nachwir¬ 
kung eines früheren Erinnerungsbildes. Die 
Kenntnis dieser sogenannten Gewohnheits¬ 
blindheit oder Taubheit ist insofern thera¬ 
peutisch wichtig, als bei zweckmäßiger 
Behandlung der Rest der latenten Sinnes¬ 
empfindungen erhalten werden kann. Aehn- 
| lieh liegen die Verhältnisse bei den krank- 
| haften Erscheinungen der motorischen 
| Sphäre, wie man sie besonders bei Hyste- 
j rischen zu sehen bekommt. Hysterische 
; Lähmungen, dann auch die Astasie und 
Abasie sind reine Vorstellungslähmungen. 
| Die vielfach unter der Einwirkung eines 


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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


555 


froheren Traumas dominierend auftretende 
Vorstellung von der funktionellen Minder¬ 
wertigkeit eines bestimmten Organs ver¬ 
mag, ohne daß sie ihrem Träger bewußt 
wird, dauernde Funktionsstörungen zu 
hinterlassen. 

Zusammenfassend läßt sich sagen, daß 
der Arzt wohl berechtigt ist, physiologisch¬ 
psychologisch zu denken, daß jedoch eine 
Anzahl anatomisch physiologisch nicht er¬ 
klärbarer Tatsachen ihn, wenn er nicht 
ein non liquet sprechen will, zwingen, 
diesen Standpunkt im einzelnen zu verlassen 
und von dem Physischen abstrahierend, das 
psychische Moment in den Vordergrund zu 
stellen. 

II. Sommer (Gießen) über die Bezie¬ 
hungen der experimentellen Psycho¬ 
logie zur praktischen Medizin. 

Der Autor, den wir als erfolgreichen 
Forscher auf dem Gebiete der experimen¬ 
tellen Psychologie kennen, gab an der 
Hand von Apparaten und Projektionsbil¬ 
dern einen Einblick in dieses jüngste und 
modernste Gebiet der Seelenkunde. Es 
gelang ihm, in überzeugender Weise zu 
zeigen, wie eine Reihe von Krankheits¬ 
erscheinungen auf psychischem Gebiete 
mit graphisch darstellbaren abnormen 
Muskelspannungen und Ausdrucksbewegun¬ 
gen einhergeht. So läßt sich diekataleptische 
Muskelspannung der Hebephreniker durch 
Hebelübertragung graphisch registrieren. 
Sie gibt ganz charakteristische Kurven, 
welche diagnostisch verwertbar sind. Das 
gleiche gilt für die mimischen Ausdrucks¬ 
bewegungen bei Hebephrenie und anderen 
Psychosen. 

Eine andere Methode der experimentellen 
Psychologie ist die Prüfungder Denkfähigkeit, 
insbesondere die Feststellung der Assozia¬ 
tionen und der geistigen Reaktionszeit. Hier¬ 
zu bedient man sich gedruckter Fragebögen, 
welche Lücken im Worttext aufweisen und 
ausgefüllt werden müssen. Andere mehr 
elementare Methoden arbeiten mit einfachen 
optischen Reizen, indem farbige Scheiben 
mit besonders konstruierten Apparaten be¬ 
stimmte Zeit exponiert werden und die 
zugehörige Reaktionszeit festgestellt wird. 
In gleicher Weise werden Zahlen, Buch¬ 
staben und Worte exponiert. Auf Grund 
dieser Prüfungen gewinnt man Unterlagen 
für die geistige Reaktionsfähigkeit in quan¬ 
titativer und qualitativer Hinsicht. Es er¬ 
geben sich hier für den geistig Gesunden 
und Kranken ganz überraschende Gesetz¬ 
mäßigkeiten. Unter pathologischen Ver¬ 
hältnissen werden derartige Untersuchungen 
vorwiegend bei Epileptikern, Idioten und 


Paralytikern angestellt und führen zu wich¬ 
tigen praktischen Ergebnissen. 

Neuere Erfahrungen haben gezeigt, daß 
Veränderungen der Patellarreflexe, wie 
sie in gleicher Weise bei funktionellen 
und organischen Nervenerkrankungen Vor¬ 
kommen, bei graphischer Registrierung 
zu ganz bestimmten Umformungen der 
Zuckungskurve führen. Bei diesen Unter¬ 
suchungen wendet man den sogenannten 
Reflexmultiplikator an. Die Konstanz der 
so gewonnenen Resultate hat für die Neu¬ 
rosen diagnostische Bedeutung. Es läßt 
sich beispielsweise durch die objektive 
Reflexprüfung zeigen, daß ein auf ein 
organisches Leiden verdächtiger Zustand 
hysterischer Natur ist. Charakteristisch 
für die hysterische Steigerung des Knie¬ 
sehnenreflexes sind bestimmte Nachzuckun¬ 
gen, welche auf der Kurve registriert 
werden. Interessant ist die Tatsache, daß 
durch Alkoholwirkung die Zuckungskurve 
typisch verändert wird. Und zwar äußert 
sich die Wirkung des Alkohols in einer 
Umformung des Zuckungsablaufes in der 
Weise, daß die einzelnen Ausschläge wie 
bei einer Pendelbewegung kleiner und 
kleiner werden und allmählich auf den 
Nullpunkt fallen. Es sind dies Verhältnisse, 
wie man sie am toten Körper vor findet. 
Diese Feststellung hat großes wissenschaft¬ 
liches Interesse, zeigt sie doch in objek¬ 
tivster Weise, daß der Alkohol auf die 
physiologischen Hemmungen und Bremsun¬ 
gen lähmend einwirkt und so am Muskel¬ 
apparat einen Zustand schafft, wie er am 
toten Körper vorhanden ist. 

Eine andere Methode, die zur Analysie- 
rung komplizierter Vorstellungskomplexe 
von Freud ausgearbeitet ist, ist die Psycho¬ 
analyse. Vortragender formuliert gegenüber 
den Freudsehen Lehren seinen Standpunkt 
dahin, daß die psychoanalytische Methode 
durch einseitige Betonung des sexuellen 
Moments nicht der Mannigfaltigkeit der ver¬ 
schiedenen Affekte gerecht wird und des¬ 
halb die Bedeutung eines Dogmas gewinnt. 
Auch weist Sommer daraufhin, daß schon 
vor Freud bei epileptischen und maniakali- 
schen Personen die Veränderung der Vor¬ 
stellungskomplexe psychoanalytisch unter¬ 
sucht worden ist. 

Bei der Neurasthenie sind experimen¬ 
telle Untersuchungen am Muskelsystem ge¬ 
eignet, die primäre abnorme Ermüdbarkeit 
des Neurasthenikers zu objektivieren. 
Dieses wird durch den Reßexmultiplikator 
oder durch ergographische Methoden er¬ 
reicht. 

Interessant ist es, daß es gelingt, auf 

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556 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Dezember 


experimentellem Wege die Erscheinungen 
der Angst zur Anschauung zu bringen. 
So läßt sich die Pulsbeschleunigung 
akustisch demonstrieren; das Stocken der 
Atmung verrät sich auf der Zwerchfell¬ 
zuckungskurve durch einen Rückgang auf 
den Nullpunkt, während die kostale At¬ 
mungskurve einen deutlichen Anstieg er¬ 
kennen läßt. 

Vasomotorische Begleiterscheinungen 
der Neurosen und Psychosen zu registrie¬ 
ren, ist bisher nicht einwandsfrei gelungen. 
Das Plethysmogramm hat zu große Fehler¬ 
quellen. Es wird eine dankenswerte Auf¬ 
gabe der experimentellen Psychologie sein, 
an dem Ausbau einer exakten Methode zu 
arbeiten. 

Vortragender kam noch kurz aut die 
neuerdings von Aerzten und Laien studier¬ 
ten Erscheinungen der Hautelektrizität zu 
sprechen und zeigte, daß die Stärke des 
bei Berührung eines Kupfer- und Zink- 
poles entstehenden elektrischen Stromes 
nur von der Größe der Oberfläche und 
dem Elektrodendruck abhängt. Daher ist 
die diagnostische Verwertbarkeit dieser 
Methode sehr gering. 

Ein besonderes Anwendungsgebiet für 
die experimentellen psychologischen Me¬ 
thoden ist die Simulation. Hier gelingt es 
vielfach, vorgetäuschte Zustände als will¬ 
kürlich hervorgerufen zu erkennen. Auch 
für die Entlarvung von Medien und ande¬ 
rer spiritistischer Phänomene kann die 
experimentelle Psychologie mit Erfolg ver¬ 
wendet werden. 

III. Cramer (Göttingen): Psychothe¬ 
rapie. 

Psychotherapie muß jeder Arzt treiben. 
Der Erfolg des Arztes ist größtenteils von 
seinen psychotherapeutischen Fähigkeiten 
abhängig. Auch organische Leiden sind 
bis zu einem gewissen Grade psychothera¬ 
peutischer Behandlung zugänglich, da sie 
fast immer eine psychische Quote ent¬ 
halten. Redner zeigt an zwei Beispielen 
von zerebraler Erkrankung, wie weitgehend 
scheinbar somatisch bedingte Symptome 
durch Psychotherapie beeinflußt werden 
können. 

Wann und wie soll der Arzt Psycho¬ 
therapie treiben? Das dankbarste Anwen¬ 
dungsgebiet für die psychische Behandlung 
bilden die Neurosen. Wenig vermag die 
Psychotherapie bei Psychosen zu leisten. 
Vortragender warnt vor einseitiger Ueber- 
treibung der Methode. Das nihil nocere 
muß auch hier oberster Grundsatz der Be¬ 
handlung sein. Namentlich gilt dies für 
nervöse Erschöpfungszustände. Hier ist 

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die somatische Therapie in erster Linie 
am Platze, psychische Behandlung kommt 
nur nebenbei in Frage. Verkehrt ist es, 
durch Ueberspannung des psychischen Ein¬ 
flusses einen erschöpften Nervösen zu 
größerer Arbeitsleistung stimulieren zu 
wollen. Die Wirkung der Psychotherapie 
ist hier die gleiche wie die eines Exzitans 
(Kaffee, Nikotin), das heißt vorübergehende 
Besserung mit folgendem Zusammenbruch. 

Von den verschiedenen Arten der Psycho¬ 
therapie erwähnt Cramer zunächst die 
Hypnose. Im Gegensatz zu anderen 
Autoren, welche bei großer Erfahrung über¬ 
zeugte Hypnotherapeuten sind,, hat Cra¬ 
mer diese Methode aufgegeben. Einmal 
hält er die Hypnose nicht für unbedenk¬ 
lich, da sie einen veränderten Gehirn¬ 
zustand schafft, andererseits vertritt er den 
Standpunkt, daß die häufig guten Erfolge 
der Hypnose auch durch andere, weniger 
eingreifende Methoden erzielt werden kön¬ 
nen. 

Dagegen ist hier zielbewußter sug¬ 
gestiver Einfluß bei gleichzeitiger kör¬ 
perlicher Behandlung vielfach von Nutzen. 
Falsch ist es, zuviel auf einmal erreichen 
zu wollen. Deshalb verwirft Redner auch 
die sogenannte Ueberrumplungstherapie, 
mit der zwar eklatante Augenblickserfolge 
erzielt werden können, die jedoch meist 
wenig nachhaltig sind. 

Die Freudsche Methode der Psycho¬ 
analyse wird abgelehnt. Zugegeben wird, 
daß die Methode einen guten Kern ent¬ 
hält. Einseitig ist die Hervorhebung des 
sexuellen Momentes. Das inquisitorische 
Fragen auf diesem Gebiete hat bei 
einigen nach Freud behandelten Patienten 
Cramers sehr unerfreuliche Wirkungen 
gehabt. 

Die Methode Dubois, der auf logischem 
Wege, das heißt durch Belehrung und 
. Ueberzeugung, seinen Kranken zu helfen 
bestrebt ist und die Suggestion durch die 
Persuasion ersetzt wissen will, wendet er 
vielfach an und rühmt ihren erzieherischen 
Wert. 

Bei Hysterikern empfiehlt es sich, den 
einzelnen Symptomen nicht zuviel Beach¬ 
tung zu schenken, namentlich nicht durch 
zu intensive Lokalbehandlung die Idee des 
Kranken auf ein umschriebenes Gebiet zu 
fixieren. Ein wichtiger Heilfaktor ist hier 
ablenkende Tätigkeit. 

IV. Moli über Sexualpsychologie und 
-Pathologie. 

Moll unterscheidet zwei Komponenten 
des Geschlechtstriebes, den Kontrektations- 
und den Detumeszenztrieb. Ersterer ist 

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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


557 


die mehr seelische Liebe, das sich Hin- 
gezogenfQhlen zum anderen Geschlechte. 
Der Detumeszenztrieb hingegen ist ein 
Gemeingefühl, das wie Hunger oder Durst 
nach Befriedigung verlangt und mit der 
Ejakulation erlischt. Unter normalen Ver¬ 
hältnissen stehen die beiden Komponenten 
des Geschlechtslebens in enger Relation. 

Im speziellen zeigt das Geschlechtsleben 
bei Männern und Frauen mancherlei Ab¬ 
weichungen. Inhalt der Kontrektationvor- 
stellungen des Weibes ist der Mann. Ein 
eigentlicher Detumeszenzakt ist nicht vor¬ 
handen. Hingegen ergießt sich aus den 
Bartholinischen und ZervizdrQsen wäh¬ 
rend des Geschlechtsaktes ein schleimiges 
Sekret Der Geschlechtstrieb des Mannes 
zeigt größere Aktivität. Das Weib verhält 
sich mehr passiv. Dagegen ist das Weib 
in sexueller Hinsicht mehr elektiv veranlagt. 
Das Weib neigt mehr zur Mono-, der Mann 
zur Polygamie. Andere Unterschiede liegen 
in der Periodizität des Geschlechtstriebes 
und der Geschlechtsfunktionen beim Weibe. 

Bei beiden Geschlechtern lassen sich drei 
Perioden des Geschlechtslebens aufstellen, 
die Periode der Neutralität beim Kinde, 
die des indifferenzierten Geschlechtstriebes 
während der Pubertät und die des diffe¬ 
renzierten beim Erwachsenen. Es ist be¬ 
merkenswert, daß die Periode des indiffe¬ 
renzierten Geschlechtstriebes zu anschei¬ 
nend perversen Trieben führt, die sich 
später von selbst ausgleichen. 

Während früher der Sitz des Ge¬ 
schlechtstriebes in das Kleinhirn verlegt 
wurde, trat Krafft-Ebing für die Lokali¬ 
sation in die Nähe des Gyrus unzinatus 
ein. Moll hält die Annahme eines diffuseren 
Verbreitungsgebietes für wahrscheinlicher. 

Die Weckung des Geschlechtstriebes 
kommt teils von der Peripherie, teils auf 
zentralem Wege zustande. Peripherische 
Reize sind stärkere Samenfüllung, Kitzel¬ 
empfindungen an der Glans penis, Gesichts-, 
Tast- und Geruchseindrücke. Zentral wird 
der Geschlechtstrieb durch wollüstige Vor¬ 
stellungen geweckt, welche durch periphe¬ 
rische Reize vermittelt werden, aber auch 
ohne diese auf dem Wege der Phantasie 
entstehen können. 

Das geschlechtliche Leben des Mannes 
und Weibes zeigt große Schwankungen in 
quantitativer Hinsicht So kann der Ge¬ 
schlechtstrieb beim Kinde schon frühzeitig 
auftreten, beim Greise noch lange Zeit be¬ 
stehen, ohne daß man berechtigt ist, von 
Abnormitäten zu sprechen. Dieselben liegen 
erst vor, wenn das Kind durch Masturba¬ 
tion oder gelegentlich auf geschlechtlichem 


Wege den Geschlechtstrieb befriedigt. 
Pathologisch ist der Geschlechtstrieb des 
Greises, wenn er nach mehrjähriger Pause 
übergroß auftritt und zu schamverletzenden 
Handlungen führt. 

Satyriasis und Nymphomanie sind unter 
allen Umständen krankhafte Erscheinungen. 
Sie sind dadurch charakterisiert, daß der 
abnorm gesteigerte Geschlechtstrieb keine 
Befriedigung findet. Das Gegenstück hier¬ 
zu ist die sexuelle Anästhesie des Weibes. 
Beim Manne ist sie sehr selten. 

Von eigentlichen Perversionen und Per¬ 
versitäten des Geschlechtstriebes unter¬ 
scheidet Vortrageuder die Homosexualität, 
den Fetischismus, Sadismus, Masochismus, 
Tierliebe und den Exhibitionismus. 

Homosexualität ist gleichgeschlechtliche 
Liebe. Sie ist unter Männern mehr ver¬ 
breitet als unter Frauen. Bevorzugte Ob¬ 
jekte sind Kinder im 11.—13. (Pädophilie) 
respektive 17.—20. Lebensjahre. Homo¬ 
sexuell veranlagte Männer zeigen in bezug 
auf Beckenbau und Kehlkopfanlage viel¬ 
fach femininen Typus. Homosexuelle An¬ 
lage schließt heterogenen Geschlechtsver¬ 
kehr keineswegs aus. Die häufigste Form 
des homosexuellen Verkehrs ist Mastur- 
batio mutua, Koitus per anum (Päderastie) 
ist seltener. 

Fetischismus ist die krankhafte Liebe 
zu Gegenständen, mit denen meist Mastur¬ 
bation getrieben wird. Bevorzugt werden 
Taschentücher, Stiefel, Haarbänder usw. 
Zu den Fetischisten gehören auch die Zopf¬ 
abschneider. 

Sadismus ist die Form der geschlecht¬ 
lichen Perversion, die Geschlechtsgenuß an 
grausamen Handlungen findet und die sich 
bis zum Lustmord steigern kann. Ihr 
Gegenstück ist der Masochismus, die skla¬ 
vische Unterwürfigkeit unter ein geliebtes 
Wesen. Eine Form des Masochismus ist 
auch die sexuelle Hörigkeit. 

Tierliebe ist nicht immer ein Zeichen 
von perverser Anlage. Besonders auf dem 
Lande findet man sie bei erotisch ver¬ 
anlagten Individuen, denen Gelegenheit zur 
normalen Geschlechtsbefriedigung fehlt. 
Relativ häufig ist Tierliebe bei Idioten und 
Schwachsinnigen. 

Die bisher erwähnten geschlechtlichen 
Perversitäten können sich mannigfach kom¬ 
binieren. Eine häufige Kombination ist 
der Päderastie mit Sadismus. 

Den Exhibitionismus rechnet Moll nur 
teilweise zu den sexuell perversen Hand¬ 
lungen, da Exhibitionismus mitunter auch 
ohne erotische Betonung als reine Zwangs¬ 
handlung vorkommt. 


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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


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Für die Aetiologie der beschriebenen 
Störungen kommen ererbte und erworben 
Faktoren in Betracht. Moll hält es bei 
der mangelnden Willensbetätigung und 
Zügellosigkeit sexuell Perverser nicht für 
richtig, wenn der begutachtende Arzt 
Vergehen gegen das Strafgesetzbuch nur 
unter dem Gesichtswinkel der häufig vor¬ 
handenen degenerativen Anlage beurteilt 
und seinen Klienten ohne weiteres für un¬ 
zurechnungsfähig erklärt. Hier soll die Ent¬ 
scheidung von Fall zu Fall getroffen wer¬ 
den ; milde Beurteilung ist meist am Platze. 

Bei der Behandlung der sexuellen Per¬ 
versitäten leistet die Hypnose gutes. Die 
Psychoanalyse Freuds lehnt Moll ab, 
dagegen wendet er gelegentlich die Me¬ 
thode Dubois’ mit Erfolg an. Am besten 
ist die sogenannte Assoziationstherapie, 
welche darauf hinausgeht, krankhafte Asso¬ 
ziationen zu lockern, normale zu verstärken. 
Dieses wird erreicht durch psychische 
Führung des Kranken, Erziehung und Lek¬ 
türe, eventuell mit Wechsel des Milieus. 

Daneben empfiehlt sich ablenkende Be¬ 
schäftigung und allgemeine Kräftigung. 

V. Moeli über die Aufgaben der ärzt¬ 
lichen Praxis bei der Fürsorge für 
psychisch Kranke. 

Die Aufgaben des Arztes bei der Für¬ 
sorge psychisch Kranker decken sich viel¬ 
fach mit den Bestrebungen der Prophylaxe 
auf diesem Gebiete. Der Arzt hat die 
Pflicht, soweit er es vermag, die Ent¬ 
stehung psychischer Erkrankungen zu ver¬ 
hindern und ihr weiteres Fortschreiten auf¬ 
zuhalten. Eine Psychose entwickelt sich 
häufig auf dem Boden einer hereditär de¬ 
generativen Anlage. Von erworbenen Fak¬ 
toren sind Traumen, akute und chronische 
Infektionen sowie Stoffwechselstörungen 
von Bedeutung. Es ist bekannt, daß Psy¬ 
chosen respektive die Disposition zu psy¬ 
chischen Erkrankungen erblich sind, ohne 
daß hinsichtlich der Art der Vererbung 
und dem verwandtschaftlichen Grade eine 
Gesetzmäßigkeit besteht. Im allgemeinen 
wird die Bedeutung der hereditären An¬ 
lage überschätzt Vererbung kommt in 
der Regel nur bei schweren Psychosen 
und doppelseitigen Belastung vor. 

Zu den häufigsten angeborenen psychi¬ 
schen Erkrankungen gehören die Formen 
von intellektueller Schwäche, die wir nach 
ihrem Grade als Imbezillität oder Idiotie 
bezeichnen. Bei den Eltern findet man 
in diesen Fällen nicht selten Lues oder 
chronischen Alkoholismus. Für den Arzt 
ist es notwendig, die Eigenart schwach¬ 
sinniger Kinder zu erkennen und Eltern 


und Lehrer auf die geistige Minderwertig¬ 
keit hinzuweisen. Gerade in diesem Punkte 
ist Aufklärung der Umgebung notwendig, 
da die Imbezillität sich vielfach unter Eigen¬ 
sinn, störrischem Wesen und Hang zum 
Lügen verbirgt. Bei leichteren Graden von 
Schwachsinn kann man mit Ernährungs¬ 
kuren, Beseitigung hyperplastischer Ton¬ 
sillen und allgemein roburierender Diät 
manches erreichen. Wichtiger ist der er¬ 
zieherische Einfluß des Arztes und der 
Familie. Die Kinder sollen vor geistiger 
und körperlicher Uebermüdung bewahrt 
werden. Es ist darauf zu achten, daß das 
intellektuell minderwertige Kind nicht von 
der Außenwelt abgeschlossen wird, son¬ 
dern mit Altersgenossen häufig zusammen¬ 
kommt. Ist es nicht imstande, dem Lehr¬ 
plane der Schule zu folgen, so empfiehlt 
sich private Unterweisung oder Unter¬ 
bringung in eine Anstalt für geistig Zurück¬ 
gebliebene. 

Die psychischen Alterationen, welche 
mit beginnender Pubertät aufhreten und 
noch in das Bereich des Normalen fallen, 
äußern sich in schwärmerischen Ideen, Emp¬ 
findsamkeit, Neigung zu exzentrischen Hand¬ 
lungen, Verschrobenheit und Ueberschätzung 
der Persönlichkeit. Ferner werden Angst¬ 
zustände und hysterische Erscheinungen 
beobachtet. Auch hier ist sachverständige 
Leitung und Unterweisung die Hauptsache. 
Bei schweren Fällen kommt Erziehung auf 
dem Lande in Betracht. Am Ausgange 
der Pubertät sieht man von eigentlichen 
Psychosen besonders hebephrenische Pro¬ 
zesse. 

Von den im späteren Alter auftretenden 
Geisteskrankheiten steht die Paralyse nach 
Häufigkeit und sozialer Bedeutung an erster 
Stelle. Sie bevorzugt das 30.—40. Lebens¬ 
jahr und ist bei Frauen seiten. Vortragen¬ 
der warnt vor zu hoher Bewertung der 
körperlichen Symptome, welche nur für 
überstandene Syphilis beweisend sind. Bei 
der Diagnose darf der psychische Anteil 
der Erkrankung nicht zu kurz kommen. 

Die Entscheidung, wann bei Psychosen 
Anstaltsbehandlung stattfinden soll, muß 
von Fall zu Fall getroffen werden. Zu 
fordern ist sie bei Gefahr für andere Per¬ 
sonen und Gefahr für den Erkrankten 
selbst. Nur bei Gutsituierten läßt sich unter 
diesen Umständen eine Behandlung im 
Hause durchführen. Aus familiären Gründen 
empfiehlt es sich jedoch meistens den 
Kranken einer Anstalt zu überweisen. 
Die häufig geübte Täuschung bei Ueber- 
führung in eine Anstalt ist meist unnötig. 
Stärkere Erregungszustände werden durch 


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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


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Hyoszin herabgesetzt. Das gesetzlich vor¬ 
geschriebene Zeugnis soll kurz gefaßt sein. 
Es genügt zu bescheinigen daß der Kranke 
an einer krankhaften Geistesstörung leidet, 
die eine Unterbringung in eine Anstalt not¬ 
wendig macht. Empfehlenswert ist ein 
gleichzeitiger Bericht des früheren Arztes 
an den Anstaltsarzt. 

Bei vorübergehenden Erregungszustän¬ 
den, namentlich Alkoholdelirien ist Bett¬ 
ruhe notwendig. Daneben sind Sedativa 
und Hypnotika zu geben. Bäderbehandlung 
ist bei Alkoholdeliranten mit Vorsicht an¬ 
zuwenden. 

VI. Aschaffenburg (Cöln) ober: Die 
psychiatrische Sachverständigentätig¬ 
keit. 

Vortragender .begann mit einigen all¬ 
gemeinen Bemerkungen über die Pflichten 
des Sachverständigen. Der begutachtende 
Arzt ist an die Gesetze des Landes 
gebunden. Er soll weder aus rein mensch¬ 
lichen Erwägungen, noch einer Theorie zu 
Liebe das Recht beugen. Der Sachver¬ 
ständige soll der Gehilfe des Richters sein, 
nicht das Recht selber sprechen, er soll 
den Richter überzeugen, nicht überreden. 
Er muß unparteiisch sein, genügend Kennt¬ 
nis der den Medizinern interessierenden 
Gesetzesparagraphen haben und sich streng 
auf sein Thema beschränken. Erörterungen 
darüber hinaus müssen unter allen Um 
ständen vermieden werden. Die Tätigkeit 
des psychiatrischen Sachverständigen ist 
dadurch eine schwierige und undankbare, 
daß die Mehrzahl der Richter den Aerzten 
gegenüber in bewußter Opposition steht. 
Diese Animosität hängt vielfach mit der 
geringen psychologischen und psychiatri¬ 
schen Schulung der Richter zusammen. 
Das gleiche gilt für die Geschworenen, 
die dem Arzte nicht selten eine vorgefaßte 
Meinung entgegenbringen. 

Zwei Probleme sind es vornehmlich, die 
für den ärztlichen Sach verständigen in Frage 
kommen, die Zurechnungsfähigkeit und die 
Geschäftsfähigkeit. Die Bedeutung des ersten 
Momentes geht daraus hervor, daß nur bei 
erhaltener Zurechnungsfähigkeit Verurtei¬ 
lung erfolgen darf. Ergeben sich aus dem 
Vorleben des Angeklagten oder im Laufe 
der Gerichtsverhandlung Zweifel an der 
Zurechnungsfähigkeit des Inkulpierten, so 
hat das Gericht die Pflicht, sich davon zu 
überzeugen, ob der Angeklagte bei Be¬ 
gehung der strafbaren Handlung zurech¬ 
nungsfähig gewesen ist. 

Vortragender weist darauf hin, daß der 
§51 des Str.G.B. im einzelnen recht un¬ 
glücklich gefaßt ist. Namentlich muß ärzt- 


I licherseits beanstandet werden, daß dem 
Wortlaut des Paragraphen zufolge eine 
Handlung im Zustande der Bewußtlosig¬ 
keit begangen werden kann. Der § 51 ver¬ 
langt von dem Arzte ferner die Beant¬ 
wortung der Frage, ob bei Begehung des 
Deliktes die freie Willensbestimmung aus¬ 
zuschließen war. Erfahrene Gutachter wie 
Mendel haben die Beantwortung dieser 
Frage abgelehnt mit der Begründung, daß 
sie die freie Willensbestimmung leugnen 
und in der Erörterung der Frage eine 
juristische und nicht medizinische Aufgabe 
l sehen. Demgegenüber betont Asch affen- 
1 bürg, daß es sich hier nicht um metaphy- 
| sische Erwägungen, .sondern um praktische 
j Fragen im Sinne des § 51 handelt, zu denen 
j auch der von der primären Willensunfreiheit 
überzeugte Arzt Stellung nehmen kann und 
soll, da der Richter weniger als der Arzt 
befugt ist, hierüber zu entscheiden und ohne 
die Hilfe des Arztes ein erstattetes Gut¬ 
achten häufig nicht verwerten kann. 

Von prinzipieller Wichtigkeit sind die Er¬ 
örterungen über die Frage der verminderten 
Zurechnungsfähigkeit, welche früher in den 
Gesetzesvorschriften der meisten Bundes¬ 
staaten anerkannt worden ist, heute je¬ 
doch im Strafrecht nicht berücksichtigt 
wird. Die Anerkennung der verminderten 
Zurechnungsfähigkeit ist ein schreiendes 
Bedürfnis. So ist es mit Freude zu be¬ 
grüßen, daß der Vorentwurf des neuen 
Strafgesetzbuches verminderte Zurech- 
nungssfähigkeit prinzipiell anerkennt. 

Kommt der Sachverständige auf Grund 
seines Materials zu keinem Schluß über 
die Zurechnungsfähigkeit des Angeklagten, 
so ist er nach der Strafprozeßordnung ver¬ 
pflichtet, einen Antrag auf Ueberführung 
des Betreffenden in eine Irrenklinik zu 
stellen. Die in dieser Bestimmung liegende 
Härte ist nicht so groß, wie von Laien 
meist angenommen wird. Auch ist eine 
Gefährdung der Psyche geistig Gesunder 
durch den gesetzlichen sechs wöchentlichen 
Beobachtungsaufenthalt in der Klinik nicht 
zu befürchten. 

Ist das Gericht auf Grund des Sachver¬ 
ständigengutachtens zu einem freisprechen¬ 
den Urteil gelangt, so bietet, von Gefähr¬ 
dung der Oeffentlichkeit abgesehen, das 
Gesetz dem Richter keine Handhabe, das 
weitere Schicksal des psychisch Kranken 
zu bestimmen. Hier ist eine offenbare Lücke 
des Gesetzes vorhanden, die in dem neuen 
Strafgesetzbuch durch einen Paragraphen 
ausgefüllt werden wird, der dem Richter 
die weitere Versorgung des Freigesproche¬ 
nen überträgt. 


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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Dezember 


Das Seitenstack des §51 des Str.G.B. 
ist der § 6 des B.G.B. Es handelt sich um 
die Frage der Entmündigung. Der Wort¬ 
laut des Paragraphen ist: Entmündigt kann 
werden, wer infolge von Geisteskrankheit 
oder von Geistesschwäche seine Angelegen¬ 
heiten nicht zu besorgen vermag. Ziffer 2 
und 3 des Paragraphen, die Verschwen¬ 
dung und Trunksucht als Grund zur Ent¬ 
mündigung angeben, haben kein ärztliches 
Interesse. 

Die Entmündigung ist keine Strafe, son¬ 
dern ein Schutz in vermögensrechtlicher 
Beziehung. Die Unterscheidung zwischen 
Geisteskrankheit und Geistesschwäche, ist 
vielfach nicht durchzuführen. Mangelhaft 
ist auch die summarische Fassung, welche 
sich auf die Besorgung der Angelenheiten 
richtet, da, abgesehen von ausgesproche¬ 
nen Verblödungszuständen, bei den meisten 
Psychosen eine teilweise Besorgung der 
persönlichen Angelegenheiten möglich ist. 

Seltener hat der psychiatrische Sach¬ 
verständige zu § 1509 des B.G.B. Stellung 
zu nehmen. Es handelt sich um den Ehe¬ 
scheidungsparagraphen, der vorschreibt, 
daß eine Ehe geschieden werden kann, 
wenn Geisteskrankheit bei einem Ehe¬ 
gatten mindestens drei Jahre während der 
Ehe bestanden hat und einen solchen Grad 
erreicht hat, daß jede Aussicht auf Wieder¬ 
herstellung der ehelichen Gemeinschaft ge¬ 
schwunden ist. Bei Beantwortung des 
letzten Passus empfiehlt sich insofern Vor¬ 
sicht, als auch bei vorgeschrittenen Demenz¬ 
zuständen, selbst bei Paralyse eine weit¬ 
gehende Besserung mitunter spontan ein- 
tritt. 

Alles in allem ist die psychiatrische 
Sachverständigentätigkeit eine verantwor¬ 
tungsreiche, undankbare und nebenbei 
schlecht bezahlte Sache. 

VII. Hoche (Freiburg) über: Einfache 
Seelenstörungen. (Melancholie, Manie, 
Paranoia). 

Die Ausführungen Hoches bilden die 
Einleitung zu den speziellen Formen der 
psychischen Erkrankungen. Redner wies 
darauf hin, daß in den letzten 20 Jahren 
in die Psychiatrie eine gewisse Unruhe 
gekommen ist. Frühere Dogmen werden 
angezweifelt, in der Tradition gut charak¬ 
terisierte Krankheitsbilder sind heute um¬ 
stritten, und mehr denn je ist auf dem 
Gebiet der Psychiatrie alles im Fluß. 
Schuld hieran ist die moderne, durch 
Kräpelin eingeführte, sogenannte klini¬ 
sche Betrachtungsweise der Psychopathien. 
Es ist die Aufgabe Kräpelins gewesen, die 
einzelnen Psychosen nach Ursache und Ver- 


laufzu klassifizieren. Mögen Psychosen ihrem 
Inhalte nach noch so verschieden sein, im 
Sinne Kräpelins sind sie zusammenge¬ 
hörig, wenn Uebereinstimmung in den ur¬ 
sächlichen Faktoren und dem klinischen 
Verlaufe besteht. Hoche betont ange¬ 
sichts der meist unbekannten Aetiologie 
der Psychosen die Schwierigkeit einer 
Klassifizierung nach ätiologisch klinischen 
Gesichtspunkten. 

Fruchtbarer ist die von Möbius be¬ 
gründete Einteilung von Krankheiten nach 
ihrem exogenen oder endogenen Ursprünge. 
Auf psychischem Gebiete wird man die 
traumatischen Psychosen sowie die Seelen¬ 
störungen im Gefolge von Syphilis, Arterio¬ 
sklerose, Alkoholismus, Morphium und 
Kokain als endogene bezeichnen und 
ihnen die große Gruppe von exogenen 
Psychosen gegenüberstellen, die mit schick¬ 
salsmäßiger Notwendigkeit infolge inneren 
Ursachen heraus hereinbrechen. Eine 
dieser endogenen Ursachen ist die Dege¬ 
neration. Bei den objektiven Zeichen der 
Entartung ist weniger auf die sogenannten 
Stigmata degenerationis Wert zu legen, 
als auf gewisse, schon frühzeitig sich 
äußernde psychische Abweichungen. 

So fallen Degener€s nicht selten schon 
im frühen Kindesalter durch lebhaftes 
Träumen, Pavor nocturnus, Onanie und 
schwere Erziehbarkeit auf; sie neigen 
später zu Verschrobenheit und Hypo¬ 
chondrie. Die Bedeutung der Heredität 
für die Entartung wird von Hoche mit 
Rücksicht auf die interessanten genealogi¬ 
schen Ergebnisse Fourniers in Zweifel 
gezogen. 

Als Melancholie bezeichnet man einen 
Zustand einer objektlos deprimierten Ge- 
mütsstimmung. Melancholiker haben einen 
müden, schlaffen Gesichtsausdruck, spre¬ 
chen mit leiser Stimme, antworten zögernd 
und lassen vielfach innere Hemmungen 
erkennen. Sie neigen zu hypochondrischen 
Vorstellungen und Selbstvorwürfen, die 
nicht selten zu Suizid führen. Die Me¬ 
lancholie ist eine Erkrankung der zweiten 
Lebenshälfte, sie ist bei Frauen häufiger 
und entwickelt sich vielfach im Klimakte¬ 
rium. Daneben gibt es eine im jüngeren Alter 
entstehende, mit Unterbrechungen durch 
das ganze Leben bestehende Form. Krä¬ 
pelin vertritt die Anschauung, daß diese 
Melancholie nur eine Phase des manisch- 
depressiven Irreseins darstellt 

Leichte, an die Grenze des Normalen 
heranreichende Grade der Melancholie sind 
nicht selten und werden vielfach falsch 
gedeutet. Als Typus einer solchen „kon- 


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Die Therapie der Gegenwart 1910. 


561 


stitutionellen Verstimmtheit* fahrt Hoche 
den Philosophen des Pessimismus Schopen¬ 
hauer an. 

Das Gegenbild der Melancholie ist die 
Manie. Sie ist ein Zustand gehobener 
Stimmung mit Bewegungsdrang und Ideen¬ 
flucht. In einer Anzahl von Fallen ver 
lauft die Manie zyklisch und alternierend 
mit Melancholie. Trotz aller Verschieden¬ 
heiten haben diese beiden Psychosen eine 
gemeinsame Wurzel. Diese Tatsache ist 
nicht nur ein logisches Postulat, sondern 
auch durch die Existenz von Mischformen 
begründet 

Wegen ihrer Beziehungen zur Para- j 
noia geht Vortragender auf die Hebe- I 
phrer.ie ein. Dieselbe ist eine Psychose 
vorwiegend des Pubertats- und Jünglings¬ 
alters und kommt in mehreren Variationen 
vor. Einmal finden sich hebephrenische 
Zustande mit erheblicher Abstumpfung des 
Gefühles und Taktes bei leidlicher Intelli¬ 
genz mit oder ohne katatonische Span- j 
nungsveranderungen der Muskulatur. Er- ! 
regungszusiände, negativistisches Verhalten ! 


sind hierbei häufig, ohne daß das geistige 
Leben erhebliche Einbuße ei leidet. Dem¬ 
gegenüber kennt man Formen von Hebe- 
phrenie, die in 2—3 Jahren zu völliger 
Verblödung führen. Als Dementia para¬ 
noides bezeichnet man endlich eine Abart 
des hebephienischen Irreseins, in der Er¬ 
innerungstauschungen und Wahnbildungen 
hervortreten. Hand in Hand geht eine 
auffallende Schwache des Urteils und Zer¬ 
fall der geistigen Persönlichkeit. Es sind 
dies Formen, die man früher der Paranoia 
zurechnete. 

Heute bezeichnet man als Paranoia ein 
in sich geschlossenes Wahnsystem, das bei 
erhaltener Besonnenheit meist im minieren 
Alter auftritt, sich über das ganze Leben 
ausdehnt und nicht zu geistigem Zerfall 
führt. Halt man sich an diese Begriffs¬ 
bestimmung, so gehört die eigentliche 
Paranoia nicht zu den häufigen P*>ychosen. 
Eine Form der echten Paranoia ist der 
Querulantenwahn, bei dem die Betinträchti- 
gungsideen wesentlich auf rechtlichem Ge¬ 
biete gelegen sind. 


Therapeutisches aus Vereinen und Kongressen 

Ehrlichs Syphilis-Heilmittel') 
in der Berliner Dermatologischen Gesellschaft. 

(Sitzungen am 8. u. 22. November 1910.) 


Herr Lesser bespricht zuerst die klini¬ 
sche Wirkung des Mittels. Er hat seine 
Erfahrung an 287 Fällen gemacht. Er¬ 
scheinungen im Frühsta iium gehen meistens i 
rasch ohne örtliche Behandlung zuiück. I 
Bei der malignen Syphilis sah er bei der 
Anwendung von Hata noch Heilung, wo 
Hg versagte; auch bei der Behandlung der 
kongenitalen Syphilis hatte er gute Erfolge. 
Von einer Therapia sterilisans magna sei i 
man aber noch weit entfernt, denn auch er '■ 
habe bei 114Männern 12Rezidive schon jetzt I 
beobachtet. Eine Beeinflussung derWasser- 
mannschen Reaktion trete nicht immer ein. 

Allgeraeinschadigungen hat Lesser nie 
gesehen; in 2 Fällen beobachtete er 8 Tage 
anhaltendes Fieber bis 39,4° und in einem 
Falle 10 Tage nach der Injektion Auftreten 
einer Angina mit starken Belagen, Steige¬ 
rung der Temperatur bis 40 ° und später 
Auftreten eines scharlachähnlichen Aus¬ 
schlages. Die lokale Reaktion an der In¬ 
jektionsstelle ist sehr verschieden. Arsenne- 


*) Anmerk. d. Red. Ehrlichs Mittel, Salvarsan 
genannt, kommt in den nächsten Tagen in den Handel; 
um so erwünschter werden unsern Lesern die Berichte 
über die in der letzten Zeit stattgefundenen Erörte¬ 
rungen sein. 


krose hat Lesser nur bei der Verwendung 
neutraler Suspensionen nach Wasser¬ 
mann gesehen, während nach der Alt- 
schen Methode Nekrosen nicht auftraten. 
Lesser wendet deshalb die Altsche Me¬ 
thode mit der Abänderung an, daß nur so¬ 
viel Natronlauge zugesetzt wird, bis eine 
leichte Trübung entsteht. Paraffin- und 
Oelemulsion scheinen langsamer zu wirken 
und geben früher Rezidive. Zum Schluß 
betont Lesser, man dürfe nicht vergessen, 
daß wir in der planmäßigen Behandlung 
mit Hg und Jod eine vorzügliche Syphilis- 
therapie besitzen, und wir dürfen die Er¬ 
fahrungen, die damit gemacht sind, heute 
nicht über Bord weifen. Wir können die Be¬ 
handlung mit 606 mit einer Kur vergleichen, 
die vielleicht manchmal einer Quecksilber- 
kur überlegen ist, die aber immer nur als 
ein einzelnes Glied in der Kette der Be¬ 
handlung angesehen werden darf. 

Alt (Uchtspringe) befürwortet nach 
mannigfachen Versuchen mit anderen Me- 
I thoden die intravenöse Injektion mit später 
anschließender intramuskulärer. 

Mit dem Ehrlichschen Mittel sei wohl 
eine Therapia sterilisans magna zu er¬ 
reichen. Alt empfiehlt, nicht zu große 

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562 


Dezember 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Dosen zu nehmen, er gehe nicht über 0,4 
hinaus. Bei der Epilepsie mit positivem 
Wassermann werde dieser in 50% ne¬ 
gativ und die Krankheit auch klinisch in 
vielen Punkten gebessert. Alt unterscheidet 
zwei Formen von Paralysen, die Tabo- 
Paralyse und die spezifische Paralyse. Da 
bei der letzteren Form nach Anwendung 
des Mittels Anfälle aufgetreten seien, solle 
man sie von der Behandlung ausschließen. 
Tabo-Paralysen dagegen können erheblich 
gebessert werden. Ataxien gehen zurück, 
Patellar- und Pupillarreflcxe können wieder¬ 
kehren. Sehr günstig beeinflußt wird die 
Hirnsyphilis, besonders auffallend sei die 
Besserung der Sprachstörung. Da nicht 
alle Fälle von Tabes- und Hirnsyphilis 
einen positiven Wassermann geben, emp¬ 
fiehlt Alt zunächst die Injektion einer so¬ 
genannten Reizdosis (0,05—0,1), wodurch 
oft ein positiver Wassermann erzeugt wird. 

Herr Hoppe (Uchtspringe): Von den 
drei Injektionsmethoden wirkt die saure 
Lösung im Tierexperiment toxischer, zeigt 
aber keine bessere spezifische Wirkung. 
Die neutrale Suspension macht geringere 
Beschwerden, führt aber zur Bildung eines 
Depots, von dem aus unkontrollierbare 
Mengen in den Blutkreislauf gelangen. Die 
alkalische Lösung ist schmerzhafter; die 
Schmerzhaftigkeit kann aber herabgesetzt 
werden durch Zusatz von Olivenöl zur 
alkalischen Emulsion. Die idealste Injek¬ 
tion ist die intravenöse, da sich hier keine 
Depots bilden können. Bei intravenöser 
Injektion ist das Arsen in 3—4 Tagen aus 
dem Blut geschwunden; der Stoffwechsel 
wird durch die Injektion wenig beeinflußt. 

Herr Schreiber (Magdeburg) spricht 
ebenfalls für die intravenöse Injektion, die 
er in über 600 Fällen ausgeführt hat. Auf¬ 
treten von Urtikaria 8—10 Tage nach der 
Injektion beweist, daß die Ausscheidung 
des Arsens auch bei intravenöser Injektion 
nicht immer schnell vor sich gehe. Tem¬ 
peratursteigerung, häufig kombiniert mit 
der Herxheimerschen Reaktion, faßt 
Schreiber nicht als Nebenerscheinung, 
sondern als Reaktionserscheinung auf. 
Ebenso seien die vorübergehenden Seh¬ 
störungen als spezifische Reaktionserschei¬ 
nungen aufzufassen. Reaktionsprozesse 
können, wenn sie an lebenswichtigen Or¬ 
ganen sitzen (Gehirn, Herz), eventuell ver¬ 
hängnisvoll werden, man soll daher in 
Fällen, wo solche zu erwarten sind, kleine 
Dosen (0 1) anwenden und später zu größe¬ 
ren übergehen. Schreiber hat bisher bei 
intravenöser Injektion keine „Versager" 
beobachtet und nur einmal ein Rezidiv 


bekommen. Die intravenöse Injektion ist 
überall da angezeigt, wo es auf rasche Wir¬ 
kung ankommt. 

Herr O. Rosenthal (Berlin): Es ist 
bereits von einer Seite das Wort „Kunst- 
fehler“ geprägt worden, es ist aber wohl 
eher ein Kunstfehler, schon heute einen der¬ 
artigen Ausdruck zu gebrauchen. Aber auch 
andere Schlagwörter, wie „Assanierung der 
Prostitution“ usw., wären besser unterblieben. 

Die Wirkung des Mittels beruht darauf, 
daß man mit 0,5 der Substanz das 50 fache 
der Maximaldosis der arsenigen Säure in 
den Körper einführen kann. Am besten 
beeinflußt werden die ulzerösen Prozesse, 
besonders der Schleimhaut, in zweiter Linie 
die Roseola und drittens die Primäraffekte. 
Es ist sicher, daß bei Lues maligna, bei 
ulzerösen Prozessen usw. auf der Haut 
wunderbar schnelle Heilung zustande kommt. 
Man darf aber nicht vergessen, daß man 
ähnlich gute Wirkungen auch bei Queck¬ 
silberbehandlung erreichen kann. Rosen - 
thal spricht seine Verwunderung über die 
große Zahl der jetzt auftretenden Hg*refrak¬ 
tären Fälle aus. Wenn man die Wasser¬ 
mann sehe Reaktion in Betracht zieht, so 
dürfe man von einer Heilung nur dann 
sprechen, wenn diese ständig negativ bleibt. 
Rosenthal hat sowohl bei subkutaner als 
bei intramuskulärer Injektion mit 0,5—0,65 
keine Nekrosen und Abszesse gesehen, 
wohl aber Infiltrationen in verschiedener 
Stärke. In letzter Zeit verwendete Rosen¬ 
thal als Suspensionsmittel wasserfreies 
Vasenol (Köpp), das leichter resorbiert 
wird als Paraffin. Das Medikament 606 ist 
zwar, wie Rosenthal sagt, unbedingt eine 
Bereicherung der Syphilistherapie, aber 
nicht über unser bisheriges Syphilismittel, 
das Quecksilber, zu stellen. Ob eine Kom¬ 
bination der beiden Mittel von Nutzen sein 
werde, müsse die Zukunft lehren. 

Sitzungsbericht vom 22. November. 

Herr Bruhns (Berlin) berichtet über die 
von ihm an 97 Fällen gemachten Erfahrungen. 
Die Wirkungen auf die vorhandenen Er¬ 
scheinungen waren im allgemeinen gute. 
Bei tertiären Fällen öfters etwas schneller, 
als es sonst bei Quecksilber und Jod der 
Fall ist, bei Primäraffekten und Sekundär¬ 
symptomen im Durchschnitt ebenso schnell. 
Wohl gingen gewisse Erscheinungen, zum 
Beispiel Plaques im Munde sehr schnell 
zurück, dagegen andere wieder langsamer 
als bei Quecksilbertherapie, so besonders 
die Psoriasis specifica. 

Die Methode der Anwendung war die 
intramuskuläre. Am besten vertragen wurde 


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Dezember 


563 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


relativ die Oelemulsion. Brüh ns sah 
7 Rezidive bei Patienten, die im ersten Jahre 
nach der Inftktion standen, und zwei bei 
Kranken, bei denen die Ansteckung zirka 
2 Jahre her war. Bei Beurteilung der 
Rezidive muß immer berücksichtigt werden, 
in welchem Stadium seiner Syphilis sich 
der Patient befindet, und man darf nicht 
vergessen, daß gerade nach der ersten 
Quecksilberkur die Rezidive außerordent¬ 
lich rasch einzutreten pflegen. Brüh ns 
stellt folgende vorläufige Indikationen für 
die Verwendung von 606, wenn es dem¬ 
nächst allgemein freigegeben werden soll, 
auf: Da es in vielen Fällen nicht gelungen 
ist, mit 606 allein die Syphilis dauernd ab¬ 
zutöten, kommt es neben dem Quecksilber 
in Betracht und kann uns hier wahrschein¬ 
lich wertvolle Dienste leisten. Das neue 
EhrlichscheMittelwirdinBetracht kommen, 
besonders in tertiären Fällen, ferner bei der 
geringen Zahl von Kranken, deren Erschei¬ 
nungen sich refraktär gegen Qaeckstlber 
verhalten, namentlich scheint sich auch die 
Kombination von 606 und der Q lecksilber- 
behandlung überall dort zu empfehlen, wo 
wir mit besonders energischer Therapie 
Vorgehen wollen, also bei frischen durch 
Spirochätenbefund sichergestellten Primär- 
affekten und vor allem bei tertiären und 
inneren Erkrankungen. Durch die Kombi¬ 
nation der beiden Behandlungsmethoden 
kommen wir vielleicht unserm Ziel, eine 
Dauerheilung zu erreichen, einen Schritt 
näher. 

Blaschko hat bei allen 3 Formen der 
Anwendung Abszesse beobachtet; intravenös 
wendet er es nicht an. Er schränkt das 
Indikationsgebiet ein. Er will diejenigen 
Fälle mit 606 behandeln, in denen Hg nicht 
vertragen wird und in denen trotz Hg 
häufig Rezidive Vorkommen. Er hält es 
nicht für richtig, das Mittel für eine so¬ 
genannte interkurrente Kur anzuwenden, 
wo z. B. nur positiver Wassermann bei 
sonstigem negativen objektiven Befund vor¬ 
liegt. Ira Interesse der Wissenschaft möchte 
er vorläufig Hata nicht kombiniert mit Hg 
angewendet sehen, um zunächst noch Ge¬ 
naueres über die Wirkung von 606 zu 
sammeln. 

Besonders rät er davon ab, Hata bei 
den nervösen syphilitischen Erkrankungen 
zu verwenden. 

Herr Heller hält die Zeit der Aufstel¬ 
lung von Theorien für noch nicht gekom¬ 
men. Er berichtet über 48 nach der Me¬ 
thode Wechselmann behandelte Fälle. 
In letzter Zeit wurde nach Ar gäbe 
Hoppes alkalische Lösung unter Zufüh¬ 


rung von Lezithinöl intramuskulär injiziert; 
auch bei diesem Modus wurden starke In¬ 
filtrate gesehen. Schädliche Nebenwirkun¬ 
gen wurden nicht festgestellt Einmal 
wurde ein dem Erythema multiforme grave 
Lewins entsprechendes und mit Störung 
des Allgemeinbefindens Erythem kons a- 
tiert. Gegen 606 refraktär war kein Fall. 
Heller hat Erfolge gesehen, die er jeden¬ 
falls bei der bisherigen Therapie nie beob¬ 
achtet hat. Ein seit 6 Wochen bestehen¬ 
des Zungengeschwür heilte in 24 Stunden; 
seit I 1 /* Jihr vorhandene Konvolute von 
hypenrophischon Papeln der Zunge waren 
nach 72 Stunden verschwunden. Ein 
schwerer Ikterus wich nach 3 Tagen, der 
vorher tiefgrüne Harn wurde völlig normal. 
Dreimal wurden Rezidive festgestellt. In 
allen Fällen heilten die Rezidive trotz ihres 
relativ schweren Charakters bei spezifischer 
Behandlung auffallend schnell. Heller 
tritt in der Würdigung von Ehrlich 606 
völlig der Ansicht Bruhns bei, betont 
auch die Häufigkeit der Rezidive bei der 
Hg-Behandlung und warnt, auf die recht 
problematische prognostische Bedeutung der 
Wassermann sehen Reaktion hin die Be¬ 
urteilung der therapeutischen Wirksamkeit 
eines Mittelszu beweisen. Schließlich erwähnt 
er noch einen Fall von kleinapfelgroßem 
Angiosarkom der Zunge, das durch eine 
Hata-Injektion von 0,55 fast völlig ge¬ 
schwunden ist. 

Herr Citron. Die erste Frage, die ge¬ 
stellt werden muß, ist die, ob das Präparat 
606 überhaupt wirksam ist. Diese Frage 
muß unbedingt bejaht werden. Syphilitische 
Erscheinungen jeder Art können durch 606 
zum Verschwinden gebracht werden, da¬ 
gegen müssen die ersten Angaben über 
die Heilung von Paralysen stärkstem Mi߬ 
trauen begegnen. Bei der Behandlung von 
Tabes dorsalis gelingt es, bei frischen 
Fällen einige Symptome zum Verschwinden 
zu bringen. Bei Herzsyphilis, Aorteninsuf¬ 
fizienz und Aneurysma sind wesentliche 
klinische Besserungen nicht erfolgt. 

Ein wichtiges Anwendungsgebiet ist die 
Lues asymptomatica activa, worunter 
Citron die vorwiegend bei den Angehöri¬ 
gen von Luetikern sich findende Form der 
Lues versteht, die keinerlei Manifestationen 
macht und sich nur durch die positive 
Wassermannreaktion offenbart. Es ge¬ 
lingt fast stets, diese Fälle leicht durch 
606 zu einer negativen Reaktion zu brin¬ 
gen. Natürlich darf man sich mit diesem 
Erfolge nicht begnügen, sondern muß weiter 
beobachten, um bei Wiederansteigen der 
Reaktion erneut spezifisch zu behandeln. 

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564 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Dezember 


Hier hat 606 den großen Vorzug, daß 
die sich selbst für gesund haltenden Luetiker 
sich leicht entschließen, sich einige Injek¬ 
tionen machen zu lassen, dagegen sehr oft 
nicht zu einer systematischen Hg-Kur zu be¬ 
wegen sind. Bezüglich der Indikation schließt 
sich Citron ßlaschko an. Als Kontra¬ 
indikation möchte er schwere Lebersyphilis 
und Ikterus gravis ansehen. Es sei durch 
die Arbeiten Ehrlichs zweifellos dargetan, 
daß prinzipiell im Tierversuch eine Therapia 
sterilisans magna möglich ist. Erwiesen ist, 
daß sie bei Menschen in den meisten Fällen 
sich noch nicht hat erreichen lassen. Die 
Kritik sei notwendig und berechtigt, aber 
sie darf sich nicht gegen Ehrlich richten, 
dessen Versuche unwiderleglich dastehen, 
sondern sie müsse sich gegen den Über¬ 
eifer einiger klinischer Autoren wenden, 
denen Ehrlich das Mittel an vertraute, um 
sich von ihnen objektiv überden klinischen 
Effekt berichten zu lassen. Hier sei gefehlt 
worden und dadurch das Mittel zu Unrecht 
vielfach in M ßkredit geraten. 

Herr M. Friedländer erwähnt im Gegen¬ 
satz zu den anderen Rednern nur Fälle, in 
denen Hata ausgezeichnet gewirkt hat und 
meint, daß die Rezidive bei Hg 100% (!) be¬ 
tragen. Im übrigen empfiehlt er als Injek- 
tion&methode der Zukunft wöchentliche In¬ 
jektionen ä 0,1. 

Herr W. Friedländer: Die Lues- | 
erscheinungen aller Stadien werden prompt 
beeinflußt, aber nur bis zu einem gewissen 
Grade, dann hört die Rückbildung, be¬ 


sonders der vergrößerten Lymphdrüsen, 

| auf, bei tertiären Prozessen, sowohl ulze¬ 
rösen wie serpiginösen und geschlossenen 
Gummiknoten scheint 606 die verblüffend¬ 
sten Erfolge zu haben. Friedländer hat 
in mehreren hierher gehörigen Fällen, 
welche auf Hg und Jod zum Teil monate¬ 
lang nicht reagierten, nach einer einzigen 
Dose von 0 5 promptes Verschwinden ge- 
! sehen. Von Einzelerscheinungen Ver¬ 
schwinden von nächtlichen Kopfschmerzen 
nach 24 Stunden und Rückgang der von 
Ehr mann beschriebenen syphilitischen Ge¬ 
fäßzeichnungen. 

Bei Metasyphilis, beginnender Tabes und 
auch bei „Wetterleuchten der Paralyse* 
(Alt) sah er erhebliche subjektive, aber 
keinerlei objektive Erfolge. 

Friedländer glaubt, daß in der Ab¬ 
kürzung der Behandlungszeit und in dem 
Fehlen der dem Hg und Jod eigentümlichen 
Nebenwirkungen, welche für den Patienten 
subjektiv unerwünscht sind, und in der 
glücklichen Kombination von spezifischen 
und analeptischen Wirkungen die Zukunft 
des Ehrlichschen Mittels liegt. 

Für die Technik empfiehlt Fried¬ 
länder besonders die Verteilung der 
Suspension durch langsame Drehung der 
Kanüle unter der Haut. Die etwa trotz 
der Verteilung noch resistierenden Infiltrate 
| hat Fried länder durch Thiosinamin be¬ 
ziehungsweise Fibrolysin-Injektion prompt 
verschwinden sehen. 

' M. Held (Berlin). 


Ehrlichs Syphilis-Heil mittel im Verein für innere Medizin. 


(Sitzung vom 28. 

Nachdem Lewin aus der medizinischen ! 
Abteilung des Urbankrankenhauses einen 1 
Fall von Osteomalazie, Heller einen durch 
„606“ günstig beeinflußten Fall von Angio- 
sarkom der Zunge, das allerdings nicht 
histologisch beglaubigt war, vorgestellt 
hatten, erstattete Michaelis ein Referat 
über das Ehrlich-Hatasche Heilmittel in 
der inneren Medizin. i 

Das Arsobenzol ist ein doppelter Benzol- ' 
ring in dem 2 H-Atome durch As ersetzt sind. 
Im Gegensatz zum fünfwertigen Atoxyl ist j 
es dreiwertig und vereinigt in sich Säuren- j 
und Basennatur. In seinen Salzen, also 
auch in dem zu therapeutischer Verwen¬ 
dung gelangenden Chlorhydrat, ist es gut 
löslich. Zur Verabreichung gelangt es in 
alkalischer Lösung oder als neutrale Auf¬ 
schwemmung mit Wasser, Paraffin oder 
Oelen, ersteres bei intravenöser und intra¬ 
muskulärer, letzteres bei intramuskulärer 


November 1910) 

und subkutaner Beibringung. Wenn die 
oberflächlichen Hautschichten vermieden 
werden, kommen auch bei subkutaner In¬ 
jektion keine Hautnekrosen vor. Im Ge¬ 
samtblut des Menschen ist 0.5 des Präpa¬ 
rats löslich. Die intravenöse Darreichung 
erfordert eine Verdünnung mit 150 bis 
200 ccm Flüssigkeit; sie hat sich auch dem 
Vortragenden in 35 Fällen als gefahrlos 
erwiesen. Sie verursacht zudem keinerlei 
Schmerzen, doch während zweier Tage 
Temperaturen bis 38° und darüber, sowie 
nicht selten Schüttelfröste, d»e aber nach 
Schreiber bei wiederholten Injektionen 
fortfallen sollen, Uebelkeit, Erbrechen und 
! dergl. Die intramuskuläre Beibringung ist 
mit großen Schmerzen verbunden, die ge- 
I wöhnlich drei Tage anhalten und nach 
I kurzer Pause als Nachschmerz mit Ausbil¬ 
dung eines Infiltrats nochmals auf einige 
Tage wiederkehren können. Aehnlich sind 


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Dezember 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 565 


die Folgeerscheinungen der subkutanen 
Verabreichung, bei der bloß der eigent¬ 
liche Injektionsschmerz wegfallt. Als nicht 
unerheblich reizloser dürfen die Suspen¬ 
sionen mit Paraffin und nach neuerer 
Empfehlung mit Sesamöl gelten. Ein Vor¬ 
zug der intravenösen Beibringung ist die 
rasche, völlige und gleichmäßige Resorp¬ 
tion, der schnelle Ausscheidung — in 3 bis 
4 Tagen — gegenübersteht. Intramusku¬ 
läre Depots lassen noch nach 6 Wochen 
Arsenspuren im Muskel nach weisen; zudem 
geht die Resorption aus ihnen ungleich¬ 
mäßig vor sich. Das Präparat wird ohne 
wesentliche schädliche Nebenwirkungen 
vertragen; jedenfalls scheint Idiosynkrasie 
dagegen fast seltener als gegen Hg zu 
sein. Amaurosen sind nie, Pulabeschleuni 
gung und Ikterus gelegentlich nach sub¬ 
kutaner Injektion wässeriger Aufschwem¬ 
mungen beobachtet worden, wobei es sich 
jedoch um die Wirkung eines wohl bei 
Anwesenheit von Leukozyten entstehenden, 
giftigen Oxydationsproduktes von „606" 
handeln dürfte. Schwere Stoffwechsel und 
Zirkulationsstörungen bilden Kontraindika¬ 
tionen, wohl auch akute Nephritiden, nicht 
aber chronische und vollends nicht lueti¬ 
sche Augenerkrankungen. Im großen 
ganzen läßt sich sagen, daß, wen man 
nicht zu chloroformieren wage, auch zur 
Behandlung mit dem Ehrlichschen Mittel 
ungeeignet sei. Manche Erfahrungen, so 
von Finger, sprechen dafür, daß die nach 
„606“ häußger als die nach Hg auftreten 
den Rezidive das Augen- und Grenzgebiet 
vor allem in Form nervöser Erkrankungen 
zu befallen scheinen. Das Präparat ent¬ 
faltet eine rasche Wirksamkeit gegen alle 
echt syphilitischen Produkte; freilich gibt 
es auch refraktäre Fälle. Immerhin wird 
wenigstens ebenso oft wie durch Hg- 
Behandlung der positive Wassermann in 
einen negativen verwandelt, tritt aber ge¬ 
wöhnlich nach einiger Zeit wieder auf. 
Eine zweite Injektion beeinflußt ihn dann 
meist ebenso günstig und bisweilen mit 
größerer Nachhaltigkeit. Unter den Fällen 
des ersten Erkrankungsjahres, die Vortra¬ 
gender 3—7 Monate beobachten konnte, 
ibt in 24 % der Wassermann negativ ge¬ 
worden und geblieben, in 29% ein Rezi¬ 
div aufgetreten. Der Behandlung mit „606“ 
sollen vorzugsweise Patienten unterworfen 
werden, die gegen Hg resistent sind oder 
eine Idiosynkrasie dagegen haben. Für 
die Mehrzahl der Fälle laßt sich noch keine 
Norm aufstellen. Sicher ist, daß eine 
Sterilisierung mit Hilfe der jetzigen Me¬ 
thodik nicht zuverlässig zu erreichen ist; 


möglicherweise haben Dauerformen der 
Spirochäte Schuld daran, die nach Analogie 
der mangelnden Wirkung des Chinins auf 
die Halbmonde der Malaria vom Arso- 
benzol nicht angegriffen werden. Am 
meisten zu befürworten ist eine intermit¬ 
tierende Behandlung, die intravenös durch¬ 
zuführen wäre. Schreiber hat immerhin 
aus einer großen Reihe so behandelter 
Falle nur ein Rezidiv gesehen. Auch die 
Kombinationsbehandlung Neißers („606“ 
und Hg) verspricht Erfolg. 

Im eigentlichen Bereich der inneren 
Medizin sind voi zugsweise die echt syphili¬ 
tischen Erkrankungen, sofern sie nach Ver¬ 
nichtung der Erreger noch rückbildbar 
sind, Gegenstand der Behandlung mit dem 
Ehrlichschen Heilmittel. Hg und Jod 
sind in solchen Fällen ja auch von vor¬ 
trefflicher Wirkung, doch bleiben immer 
noch viele, wo sie versagen. Oft erweist 
sich dann „606“ noch von Nutzen, vor 
allem dort, wo, wie etwa bei Gummen der 
Trachea, rascheste Hilfe nottut. Bleibende 
Veränderungen, z. B. Rektalstenosen oder 
Aneurysmen, sind natürlich ungeeignet; 
bei letzteren scheint, wenn es sich um 
gerade entstehende Formen handelt, ein 
Versuch immerhin angezeigt. Die gum¬ 
möse Hirnlues reagiert überraschend schnell 
auf Verabreichung des Präparats: schon 
vom 2. oder 3. Tag an gehen gewöhnlich 
alle Symptome stetig zurück. So hat Vor¬ 
tragender fünf Stauungspapillen zum 
Schwinden gebracht, nur eine weitere in 
der Besserung infolge einer interkurrenten 
Erkrankung verloren. Obwohl niemals un¬ 
angenehme Reizerscheinungen zu beob¬ 
achten sind, geht man vorsichtigerweise 
doch am besten mit einer ersten kleineren 
und nach 6—8 Wochen einer zweiten 
größeren Dosis vor. In einem Falle von 
Ponslues, der aut d^r Grundlage von Bi߬ 
verletzungen durch Kaumuskelkrämpfe eine 
schwere Stomatitis zeigte und also (ür Hg 
nicht in Frage kam, wurde mit „606“ Hei¬ 
lung erzielt. Luetische Hemiplegien wer¬ 
den durch Ehrlichs Mittel nicht günstiger 
als durch Hg beeinflußt. In der Therapie 
der Tabes dorsalis hat „606“ etwa die 
gleiche Indikation und den gleichen Erfolg 
wie Hg. bloß lanzinierende Schmerzen und 
Ataxie werden nach kurzer, anfänglicher 
Steigerung der parästhetischen Phänomene 
oft auffällig gebessert Freilich tritt nach 
einigen Wochen wieder Verschlimmerung 
ein. Utber Wirkung wiederholter Injek¬ 
tionen liegen noch keine ausreichenden Er¬ 
fahrungen vor. Ebensowenig läßt sich be¬ 
züglich der progressiven Paralyse ein auch 


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566 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Dezember 


nur vorläufig abschließendes Urteil fallen, geringer sind. Jedenfalls sollte Hg und 
Jedenfalls sollte auch hier angesichts der Jod neben „606“ nicht vernachlässigt wer- 
nicht seltenen Unmöglichkeit einer siche* den. Die Tabes wird in einem Bruchteil 
ren Abgrenzung gegen Hirnlues eine inter- der Fälle bezüglich einzelner Symptome, 
mittierende Behandlung mit „606“ versucht auch des Mal perforant, und des Allge- 
werden. meinbt findens nicht unerheblich gebessert, 

Gegen Typhus recurrens ist das Präparat nie aber als solche geheilt. Einem so be- 
ein zuverlässiges Spezifikum. Gegen Malaria merkenswerten Ei folge wie Wiederkehr der 
tertiana leistet es ähnliches wie Chinin, bereits zu Verlust gegangenen Pupillen- 
gegen Lymphosarkom und Leukämie nichts, lichtreaktion stehen andererseits auch un- 

In der Diskussion kommt einstweilen kennbare Schädigungen gegenüber. Die 
nur Oppenheim zum Wort, der seine Entscheidung über die Verwendung des 
Erfahrungen in einem, wie ausdrücklich be- Mittels sollte nach Darlegung der Chancen 
tont wird, bloß vorläufigen Resümee zu dem tabischen Patienten selbst überlassen 
sammenfaßt. Bei echt luetischen Erkran- bleiben. Bei Paralyse rechtfertigt die Hoff- 
kungen des Zentralnervensystems ist von nungslosigkeit der Sachlage allenfalls einen 

„606“ nicht mehr als von Hg zu erwarten, Versuch, die bisherige Erfahrung kaum 

am ehesten noch bei gummösen, während irgendwelche Erwartungen, 
bei endarteriitischen die Aussichten weit Meidner (Berlin). 

Referate. 

Clairmont und v. Haberer berichten i selbstverständlich nach Tunlichkeit zu 
über Anurie nach Gallensteinopera- ! vermeiden. 

tionen und resümieren ihre teils klinischen, | Eugen Jacobsohn (Charlottenburg), 

teils experimentellen Erfahrungen in fol ( Mitt - a * d - Grenzgeb. Bd. 22, H. 1.) 

genden Sätzen: 1. Es gibt Fälle von Einen Schritt vorwärts auf dem Wege, 

. schwerer Gallensteinkrankheit mit Chole* eine Narkose ohne Inhalation von Medi- 
dochusverschluß, bezw. Narbenstenose der- kamenten durchzuführen, bedeutet die 
selben, bei denen im Anschluß an die Ope intravenöse Aethernarkose, wie sie von 
ration bedenkliche Oligurie, bezw. letale Burckhardt ausgeprobt und empfohlen 
Anurie auftritt. 2. Diese schwere Schädi* wurde. Küttner hat sie in 23 Fällen nach- 
gung der Harnsekretion ist auf eine paren- geprüft, aber wieder aufgegeben, weil er 
chymatöse Degeneration der Nieren zurück- einmal wegen eines erbsengroßen Throm- 
zuführen, welche, vorbereitet durch die bus an der Infusionsstelle unterbrechen 
Schädigung des Leberparenchyms, durch mußte und einmal eine bedrohliche Lungen¬ 
ein der Niere zugemutetes Plus (Operation 
und Narkose) ausgelöst wird. 3. Die voll¬ 
ständige Anurie ist begleitet von einem 
Versiegen der Gallensekretion, bedingt 
durch ein gleichzeitiges Sistieren der Leber¬ 
funktion. 4. Das Auftreten der Störung 
der Nierenfunktion läßt sich nicht auf ein 
einzelnes Moment, wie z. B. langdauernden 
Ikterus allein zurückführen, sondern ist 
entschieden durch eine Summe von, aus 
der Schwere der Krankheit resultierenden, 

Momenten bedingt. 5. Besonders zu be 
tonen ist, daß in solchen Fällen jedwedes 
Symptom von seiten der Niere fehlt. 6. Es 
ist daher im einzelnen Fall von seiten des 
Chirurgen eine bestimmte Prognose nicht 
zu verlangen. 7. Man kann sich gegen 
solche Zufälle nur schützen, wenn die 
Gallensteinkranken vor Eintritt einer 
schweien Leberschädigung operiert werden. 

8. Spezifische Schädigungen der paren¬ 
chymatösen Organe, wie sie größere 
operative Eingriffe, langdauernde Nar 
kosen, Anämie mit sich bringen, sind 


embolie danach sah. Besser sind die Er¬ 
fahrungen, die Kümmell an 40 Fällen 
machte und die Schmitz-Peiffer mitteilt. 
Die Kranken standen im 22.—74. Jahr. Es 
handelte sich um große Operationen an 
Bauch und Beckenorganen, Hals, Schädel, 
Extremitäten. Alle Kranken erhielten eine 
Stunde vor der Operation Scopolamin 
0,0005 und Morphin 0 005, was zur Erzie¬ 
lung einer guten Narkose sehr wesentlich 
erscheint, Dabei fiel das Exzitationsstadium 
ganz weg, das bei alleiniger Darreichung 
von Morphin in leichtem Grade auftrat. 
Es wird unter Lokalanästhesie eine Vene, 
gewöhnlich die Vena mediana cubiti frei¬ 
gelegt und hier die Infusionsnadel einge- 
tührt. Das Narcoticum besteht in einer 
5 %igen Aethermischung in physiologischer 
Kochsalzlösung. Um nun die Thromben¬ 
bildung durch Unterbrechung des Infusions¬ 
stroms nicht zu begünstigen, ließ man 
durch ein Y-förmiges Glasrohr Kochsalz¬ 
lösung einflitßen, wenn die Aethermischung 
wegen genügender Narkose ausgeschaltet 


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567 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


wurde. Das Stadium der Toleranz tritt 
nach 10—15 Minuten ein; bis dahin wurden 
200 —300 ccm der Mischung, also 10—15 g 
Aether verbraucht Läßt man zuviel Aether 
zufließen, so kann man Zyanose und 
Asphyxie erleben. Atmung und Puls waren 
stets gleichmäßig gut, die Narkose ruhig, 
üble Zufälle traten nicht auf. Die längste 
Narkose dauerte 140 Minuten und erfor¬ 
derte 1700 ccm Mischung = 85 g Aether; 
bei einer Operation eines Schädelbasis¬ 
tumors wurden in 105 Minuten 900 ccm 
«= 45 g Aether verbraucht. Die Kranken 
lobten die Narkose sehr. Kopfschmerz, 
Erbrechen oder sonstige üble Nachwirkun¬ 
gen kamen nicht vor. Komplikationen von 
Seiten des Herzens oder der Lunge oder 
Nieren wurden nicht beobachtet. Das 
Blut zeigte auch während der Narkose 
weder mikroskopisch noch spektroskopisch 
eine Veränderung. Der eingeführte Aether 
verläßt wohl durch die Lungen sehr schnell 
wieder den Körper. Dreimal war die In¬ 
fusionsstelle mehrere Tage verdickt und 
schmerzhaft. Von den 40 Fällen sind 15 
an ihrer Krankheit gestorben, von denen 
11 seziert wurden: Lungen, Herz und 
Nieren waren gesund, aber stets fand sich 
an der Infusionssttlle ein Thrombus, der 
nach der geschilderten Art der ununter¬ 
brochenen Infusion nur klein war, nach 
unterbrochener Infusion aber viel stärker. 
Sie waren aber nicht stärker als nach der 
Infusion von Digalen- oder Adrenalin- oder 
anderen medikamentösen Zusätzen zur 
Kochsalzlösung. Jedenfalls sind die Ver¬ 
suche „in geeigneten Fällen 11 fortzusetzen. 

Klink. 

(v.Brun8 Beitr. z. klin. Chir. 1910, Bd.69, Heft 3.) 

Der Säuglings- und der Kinderarzt 
werden für ihre Praxis eine wichtige Lehre 
aus der Arbeit von Dr. Usuki aus Japan 
ziehen, die die Fettverdauung im Magen 
und Dünndarm und ihre Beein¬ 
flussung durch Lezithin behandelt. 
Bekanntlich ist ja die Frage noch immer 
strittig, ob man Eigelb zu den schwer oder 
leicht verdaulichen Nahrungsstoßen rechnen 
soll? Der eine erfahrene Praktiker befür¬ 
wortet es ebenso warm für Säuglinge gegen 
Ende des ersten Jahres, wie es andere 
energisch ablehnen. Und wenn man sieht, 
wie magen- und darmgesunde Säuglinge 
von 8, 10 oder 12 Monaten Ei prompt er¬ 
brechen oder mit schweren Darmstörungen 
auf Einahrung reagieren, Milch aber an¬ 
standslos vertragen, wird man sich wohl 
eher auf die Seite der Eigelbgegner schla¬ 
gen. Zu unserem Staunen verläuft aber 
nach den ganz exakten Feststellungen von 


Usuki die Fettverdauung nach Fütterung 
von Milch — wenigstens beim Hunde — 
viel langsamer als nach Fütterung von Le¬ 
zithinmilch oder Eigelbmilch. Während in 
den Tierversuchen von der aufgenomme¬ 
nen reinen Milch nach 6 Stunden erst die 
Hälfte aus dem Magen verschwunden war, 
wurde dieselbe Leistung bei lezithinhaltiger 
Milch schon in 4 Stunden bewältigt. Die 
Gegenwart des Lezithins und des Eigelbs 
wirkt offenbar begünstigend auf die Ver¬ 
seifung und Emul&ionierung des Neutral- 
fettes. Unsere Pädiater werden jedenfalls 
nicht umhin können, ihre Erfahrungen über 
die Bekömmlichkeit von Eigelb neuerlich 
einer Revision zu unterziehen und die 
Frage nochmals experimentell beim Säug¬ 
ling und im zartesten Kindesalter anzu¬ 
gehen, zumal die besprochene Arbeit aus 
der Breslauer Kinderklinik stammt. 

K. Reicher. 

(Archiv f. experim. Pathol. u. Pharmak. 1910, 
Bd. 63, S. 270.) 

Um bei Frakturen mit stärkerer Ver¬ 
kürzung die Zug Wirkung der einfachen Längs¬ 
extension zu erhöhen, empfiehlt Wildt die 
Unterbrechung der Längszüge durch Ein¬ 
schaltung von Gummizügen. Diese sollen 
in Höhe der Fraktur liegen, sie werden 
am besten auf die nicht bestrichene Seite 
des Pflasters aufgelegt und durch Zwirn¬ 
naht befestigt. Bei Anlegung der zirku¬ 
lären Touren ist darauf zu achten, daß sie 
in Höhe der Frakturstelle nicht überein¬ 
ander, sondern nebeneinander zu liegen 
kommen; die Einklemmung der Haut ist 
nicht zu fürchten, da diese bei der nach¬ 
folgenden Streckung stark gedehnt wird. 
Nach Anlegung der zirkulären Touren wird 
das Sr geltuchpflaster durchtrennt. Durch 
die durch Einfügung der Gummizüge er¬ 
höhte Zugkraft gelingt es leicht, die Ver¬ 
kürzung auszugleichen, auch bei Brüchen, 
die schon leicht konsolidiert sind; häufig 
erlebt man sogar eine Ueberdehnung, die 
man nicht zu sehr übertreiben soll, damit 
es nicht zur Weichteilinterposition kommt. 
Ueberdehnung von 1 cm genügt in den 
meisten Fällen, es muß deshalb die Dehn¬ 
barkeit des Gummibandes das Maß der 
Verkürzung plus 1 cm betragen. Auch eine 
zu lange Ueberdehnung ist nicht angezeigt, 
da die Frakturen locker bleiben; es genügt, 
die unterbrochene Strecke solange liegen 
zu lassen, bis bei Wegfall des Zuges für 
einen halben Tag sich keine Neigung zur 
Verkürzung mehr bemerkbar macht. Die 
seitlichen Verschiebungen der Bruchenden 
lassen sich ebenfalls durch den durch 
Gummizug unterbrochenen Streckverband 


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568 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Dezember 


gut beeinflussen; wird nur auf einer Seite 
der Heftpflasterstreifen unterbrochen, so 
ist die Dehnung hier größer als auf der 
anderen Seite; man kann die Wirkung 
auch abstufen, indem man eine Seite mehr 
nachgiebiger macht als die andere. Der 
unterbrochene Streckverband kann auch 
in Anwendung kommen bei komplizierten 
Frakturen; der durch Abhängen der Ge¬ 
wichte entspannte Gummizug läßt sich so¬ 
weit abheben, daß das Unterschieben von 
Verbandstoffen ganz gut möglich ist 

Hohmeier (Altona). 

(Deutsche Ztschr. f. Chir. Bd. 107, H. 1—3.) 

Trotz der reichen Erfahrungen, die wir 
bei den verschiedensten Krankheiten Ober 
die Jodwirkung besitzen, wissen wir nicht, 
woraut sie in letzter Linie beruht. Von 
den uns zur Verfügung stehenden mannig¬ 
faltigen Jodpräparaten sind wir daher auch 
— abgesehen von subjektiven Faktoren — 
nur imstande, über die sie charakterisie¬ 
renden Resorption sVerhältnisse etwas aus¬ 
zusagen. 

So wird das Jodkalium nach Bröking 
schnell und fast vollständig im Dünndarm 
resorbiert, und 80% der aufgenommenen 
Menge sind nach zirka 60 Stunden mit dem 
Urin wieder eliminiert. 75% etwa sind 
schon in den ersten 12 Stunden im Urin 
nachweisbar, ln den Fäzes ist es nur in 
Spuren aufzufinden. 

Bei dem Jodival, dem a-Monojod4so- 
valerianylharnstoff wird kaum Jod durch 
die Magen-Darmverdauung abgespalten. 
Die Ausscheidungsverhältnisse sind unge¬ 
fähr dieselben wie beim Jodkalium; die 
Ausscheidung dauert nur etwas länger. 
Mit dtn Fäzes gehen zirka 2% verloien. 

In den jodierten Pflanzeneiweißver¬ 
bindungen, den Jodglidinen, ist das Jod 
teilweise nur locker gebunden. Die Ein¬ 
wirkung des Tageslichtes, stärker noch der 
Magen Darmsaft, spaltet es ziemlich ab. 
Im übrigen verhält es sich nicht wesentlich 
anders, wie die vorher erwähnten Präpa¬ 
rate. 3—4% des aufgenommenen , Jods 
werden mit den Fäzes ausgeschieden. 

Weitgehende Verschiedenheiten gegen¬ 
über diesen Präparaten zeigen die Jod 
fettsäureverbindungen Jo dipin und Sa- 
jodm. Die Ausscheidungsdauer ist sehr 
lang. Beim Sajodin ist Jod nach Aufnahme 
von 3 g noch nach 15 Tagen im Urin 
nachweisbar. Die Jodabspaltung ist eine 
sehr gleichmäß ge. Die Quantität des mit 
dem Urine ausgeschiedenen Jodes beträgt 
beim Jodipin zirka 55—70%. beim Sajodin 
35—50% der aufgenommenen Dosis. Bei 
der Darreichung der Tabletten gehen 


durchschnittlich 7—10 %• mit den Fäzes 
verloren. Rahel Hirsch (Berlin). 

(Ztschr. f. exp. Path. u. Ther., Bd. VIII, H. 1, Sp. 1 25 .) 

UeberTuberkulinbehandlungdei Nieren- 
tuberkulose äußert sich Widboiz auf 
Giu id eigener Eifahrungen sehr zurück¬ 
haltend *) Vor allem darf sie bloß bei ganz 
initialen Fällen angewendet werden, bei 
doppelseitigen eher als bei einseitigen, da 
jene ja doch der aussichtsreicheren, blutigen 
Therapie nicht zugänglich sind. Um mit 
der Nephrektomie konkurrieren zu können, 
muß die Tuberkulinkurmethode Heilung, 
nicht nur Besserung gewährleisten. Aber 
selbst bei Konstatierung bloßer Besserun¬ 
gen durch Tuberkulinbehandlung muß Vor¬ 
sicht obwalten, wenn man die Neigung 
der Nierentuberkulose zu längerem Still¬ 
stand, wie sie Verfasser an drei unspezi- 
fisch behandelten Fällen demonstriert, be¬ 
rücksichtigt. Heilung vollends hat er von 
Tuberkulininjektionskuren nach Koch, De- 
nys und Beraneck nie beobachtet, wohl 
betiächtliche Hebung des Allgemeinbefin¬ 
dens mit Körpergewichtszunahme, jedoch 
stets nur vorübergehende Beseitigung der 
Lokalbeschwerden und an keiner von fünf 
nach längerem Tuberkulingebrauch histo¬ 
logisch untersuchten Nieren hinreichend 
extensive Vernarbungsprozesse, um von 
Heilungstendenz reden zu können. 

Meidner (Berlin). 

(Bcrl. klin. Woch. 1910, Nr. 26) 

Das von Sahli in die Therapie einge¬ 
führte und neuerdings in dieser Zeitschrift 
auch von Zinn empfohlene P&ntopon hat 
C. A. Ewald einer klinischen Prüfung 
unterzogen. Ewald bestätigt, daß Panto- 
pon wie Opium respektive Morphium wirkt, 
doch treten weniger Nebenerscheinungen 
a if. Subkutan gegeben stopft es nicht, 
innerlich wirkt es in kleinen Dosen auf 
nüchternen Magen gegeben antidiarrhoisch, 
selbst bei Durchfällen auf tuberkulöser Basis. 
Bei subkutaner Injektion wirkt es viel 
rascher als per os; Reizungserscheinungen 
an der Einstichstclle wurden nicht beob¬ 
achtet. In je einem Fall von tabischen 
Analkrisen und von Lungentumor, in denen 
Morphium versagt hatte, wirkte Pantopon 
prompt. Ferner wirkte es gut in einem 
Fall von Diabetes insipidus. in welchem 
die Urinmenge von etwa 9000 ccm bei 
einer Medikation von 2 Tabletten Pantopon 
täglich in 15 Tagen aut 3500 ccm zurück¬ 
ging, während sich die subjektiven Be¬ 
sch werdr n verloren. Pantopon ist dem Opium 
und Morphium in manchen Fällen überlegen. 
Sein hoh^r Preis — 12 Ampullen k 0 02 

Vergl. die Arbeit von K0mme 11 S. 540. 


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569 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Pantopon kosten 4 M., die gleiche Dosis 
Morphium 1.50 M. — steht seiner Einfüh¬ 
rung in die Praxis im Wege. Ernst Mayer. 

(Berl. klin. Woch. Nr. 35.) 

Ueber den Ersatz der sogenannten in¬ 
differenten Thermalbäder durch Inhala¬ 
tion ihrer Radiumemanation bei rheu¬ 
matischen Krankheiten macht Prof. 
Päßler (Dresden) beachtenswerte Mit¬ 
teilungen 1 ). Nachdem Versuche, die er mit 
der Emanationstherapie in Dresden an¬ 
stellte, im großen und ganzen keinen Er¬ 
folg ergeben hatten (vergl. Gör ne r, Münch, 
med. Woch. 1910, Nr. 27), prüfte Verf., ob 
nicht mittels Inhalation der den natürlichen 
Heilquellen direkt entnommenen gasigen 
Produkte bessere therapeutische Resultate 
zu erzielen sind, als durch die Inhalation 
von künstlich gewonnener Radiumemana¬ 
tion. Die Prüfung wurde in Teplitz i. B. 
durchgeführt. In der Nähe des im Teplitzer 
Stadtbadehaus gelegenen Quellschachtes 
wurde eine Kammer eingebaut, deren Raum 
inhalt zirka 5,75 cbm betrug, die also ge¬ 
nügend groß war, um einen oder selbst 
zwei Menschen eine Stunde lang ohne be¬ 
sondere Ventilationsvorrichtung aufzu¬ 
nehmen. Die Wände wurden mit einem 
luftdichten Harzanstrich versehen. Aus 
dem Hauptquellrohr führte eine direkte 
Nebenleitung in die Kammer und gestattete, 
die Wände dauernd mit Thermalwasser zu 
berieseln. Dabei mußte ein großer Teil 
der in dem Thei malwasser enthaltenen 
Emanation in die Kammerluft übertreten, 
die Kammer stellte also ein Inhalatorium 
für die Quellemanation dar. Messungen 
ergaben, daß während anhaltender Be¬ 
rieselung und bei geschlossener Tür ein 
Emanationsgehalt von 5,1 Macheeinheiten 
in 1 1 Luft der Kammer vorhanden war. 
Die Temperatur der Kammer stieg bei 
längerer Inbetriebsetzung bis auf 35° C.— 
die Temperatur der Teplitzer Stadtquelle 
beträgt an ihrem Ursprung 48° C — die 
Luft war mit Wasserdampf gesättigt. 

Die Patienten, die dem Einfluß der 
„Emanationskammer" ausgesetzt wurden, 

— durchgehends Fälle von schwerer chro¬ 
nische r Po ly arthritis und Ischias, deren 
Zustand schon längere Zeit stabil und durch 
die vorausgegangene, oft monatelange Be¬ 
handlung nicht oder kaum beeinflußt war 

— verblieben täglich zweimal 1 / 3 — 3 / 4 
Stunden in der Kammer; jeder andere 
therapeutische Eingriff wurde prinzipiell 
ausgeschlossen, nur leichte passive Be¬ 
wegungen in einigen Fällen ausgeführt. 

l ) Vergl. die Arbeit von Gudzent an der Spitze 
dieses Heftes. 


Von physiologischen Wirkungen 
des Kammeraufenthaltes verzeichnet*; 
Päßler bei längerem Aufenthalt im Inha¬ 
lationsraum, entsprechend der hohen Tem¬ 
peratur der Kammer, eine Steigerung der 
Körpertemperatur, meist um 0,8—1,0°, selten 
nur um 0,2—0,4°, gelegentlich bis 1,2° C. 
Eine analoge Steigerung wies auch die 
Pulsfrequenz auf, meist um 12—28 Schläge, 
ohne daß dabei unangenehme Empfindungen 
von Herzklopfen oder Oppressionsgefühl 
auftraten. Wie bei den Thermalbädern 
bestand auch bei der Inhalationskur eine 
starke Neigung zum Schwitzen. Nach den 
ersten Sitzungen wurde wiederholt über 
Mattigkeit geklagt; bald jedoch trat Ge¬ 
wöhnung ein und die Patienten fühlten sich 
bei der Fortsetzung der Kur durchaus 
frisch. Der Appetit war bei allen Kranken 
dauernd gut, die meisten nahmen während 
der Kur erheblich an Gewicht zu. Der 
Schlaf, der beim Gebrauch der stärkeren 
radioaktiven Bäder häufig gestört ist, war 
im allgemeinen gut; manchmal wurde er 
durch eine Steigerung der Krankheitser¬ 
scheinungen beeinträchtigt, einigemal jedoch 
war er auch ohne andere erkennbare Ur¬ 
sachen als den Aufenthalt in der Inhala¬ 
tionskammer zeitweise unruhig. 

Die therapeutische Wirkung der In¬ 
halationskur war in allen Fällen eine 
ganz unverkennbar günstige. Von 
7 Kranken mit chronischer Polyarthritis 
waren 6 bei der Entlassung völlig frei von 
rheumatüchenSchmerzen und Schwellungen, 
der 7. Kranke wurde wesentlich gebessert; 
3 Ischiasfälle wurden geheilt entlassen. Bei 
den Rheumatikern nahmen die Schmerzen 
im Anfang der Kur ausnahmslos zu, die 
„Reaktionen", die oft mit frischer Rötung 
und Zunahme der Schwellungen verbunden 
waren, dauerten meist nur einen oder 
wenige Tage. Bei dem schwersten der 
behandelten Fälle traten während der ersten 
Kurwoche nach jeder Inhalation mehrere 
Stunden anhaltende, sehr heftige Schmerzen 
auf. In einem Falle zwangen die Schmerzen 
zum vorübergehenden Aussetzen der Kur, 
in einem anderen mußte man sich mit täg¬ 
lich einmaliger Inhalation begnügen, bis die 
Reaktion vorüber war. Die Besserung er¬ 
folgte meist rasch, gewöhnlich in unmittel¬ 
barem Anschluß an die Reaktionen. Im 
ganzen brachten die ersten Wochen fast 
stets rasche Fortschritte, während sich nach 
dieser Zeit noch vorhandene Resterschei¬ 
nungen zunehmend langsamer besserten. 
Die sekundären Gelenkveränderungen (An¬ 
kylosen, Deformationen) wurden nicht weiter 
beeinflußt, auch wenn die Kur nach Schwin- 

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570 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Dezember 


den aller Schwellungen und Schmerzen 
noch längere Zeit fortgesetzt wurde. Drei 
Patienten, die bis zum Beginn der Kur 
dauernd gefiebert hatten, verloren das 
Fieber in 8, 10 und 17 Tagen vollständig, 
ohne daß ein höherer Anstieg vorauf¬ 
gegangen war. Die Kurdauer betrug bei 
den Patienten mit Rheumatismus 44—116 
Tage, im Durchschnitt 69 Tage, wobei zu 
bedenken ist, daß es sich um ganz chro¬ 
nische, schwere Fälle handelte und daß die 
Behandlung zu Versuchszwecken absicht¬ 
lich lange ausgedehnt und in der Regel 
nach dem Verschwinden der Schmerzen 
und Schwellungen noch 2—4 Wochen fort¬ 
gesetzt wurde. Die 3 Ischiasfälle wurden 
in 11, 36 und 67 Tagen geheilt; nur bei 
einem waren vor Beginn der Besserung 
die Schmerzen 2 Tage lang deutlich ge¬ 
steigert. 

Nach diesen Versuchsergebnissen hält 
Päßler es für zweifellos, daß die be¬ 
kannte Heilwirkung der radioaktiven 
Bäder auf Ischias und rheumatische 
Affektionen auch ohne den Gebrauch 
der Bäder selbst durch eine bloße 
Inhalation der Quellgase erzielt 
werden kann. Wieweit bei den erzielten 
Erfolgen die in der Kammer herrschende 
höhere Temperatur beteiligt ist, soll an 
„kalten Kammern" von gewöhnlicher 
Zimmertemperatur oder nur ganz leicht 
erhöhter Temperatur erprobt werden. Daß 
die Erfolge der Inhalationskur nicht etwa 
bloße Wirkung der Wärmetherapie sind, 
ist ganz sicher, da die Kranken vorher 
lange Zeit ohne Erfolg mit verschiedenen 
Wärrm Prozeduren behandelt waren. Ob 
die Heilwirkung der Inhalationskur der¬ 
jenigen einer Badekur im gleichen Quell¬ 
ort überlegen ist, will Päßler noch nicht 
entscheiden; aber stlbst wenn sie nur die 
gleiche wäre, läge ein unverkennbarer Vor¬ 
zug der Inhalationskur darin, daß dieselbe 
eine täglich mehrmalige längere Anwendung 
erlaubt, ohne den Patienten anzustrengen. 
Auch solchen Patienten, deren Schwer¬ 
beweglichkeit den Gebrauch der Badekur 
ausschließt, ist die Benutzung der Emana¬ 
tionskammern zugänglich. Dieser Vorteil 
der Inhalationskur dürfte mit einer Herab 
Setzung der Kammertemperatur noch stärker 
hervortreten, da selbst schwere Herzaffek¬ 
tionen dann keine Kontraindikation gegen 
die Kur mehr bilden würden 

Felix Klemperer. 

(MQnch. med Woch. 1910, Nr. 35.) 

Die Röntgen - Diagnostik chirur¬ 
gischer Magenkrankheiten bespricht 
ein Aufsatz von Finckh aus der Bruns- 


schen Klinik. Der Magen wird mit der 
Ried ersehen Mahlzeit gefüllt ; in neuerer 
Zeit wurde statt Bismutum subnitricum 
Bismutum carbonicum verwandt. Auch 
das Zirkonoxyd (Kontrastin), das billig und 
ganz ungiftig ist, gibt bei Darreichung von 
70 g gute Bilder, steht aber dem Wismut 
etwas nach. Aufnahmen von l /io—1 bis 
2 Sekunden Dauer sind für alle Fälle aus¬ 
reichend; sie sind mit einem guten Instru¬ 
mentarium, besonders bei Verwendung von 
Films zwischen Verstärkungsschirmen, leicht 
zu erreichen. Auch der neue Verstärkungs¬ 
schirm „Sinegran“ gibt gute Bilder. Viele 
Bilder können durch Verstärkung mit Uran- 
nitrat verbessert werden. Zur Diagnose 
der Magenerkrankungen reicht meist eine 
einmalige Durchleuchtung mit folgender 
Aufnahme aus; nur zur Darstellung des 
Sanduhrmagens und Ulcus ventriculi, sowie 
bei Motilitätsprüfungen wird in angemes¬ 
senen Zeitabständen die Aufnahme wieder¬ 
holt. Zur Ersparung kostspieliger Appa¬ 
rate wird die Aufnahme vielfach im Stehen 
odef Sitzen gemacht. Dabei rücken auch 
Tumoren tiefer, der Magen entfaltet sich 
besser, die wichtige Pars pylorica füllt sich 
mehr. Seitliche Aufnahmen sind zu ent¬ 
behren. — Für das in der Regio pylorica 
sitzende Ulkus gibt es kein röntgenologi¬ 
sches Charakteristikum, das es mit Sicher¬ 
heit vom Karzinom unterscheiden läßt. 
Wenn ein solches Ulkus lange besteht, 
zur Stenose und Magenerweiterung führt, 
so kann die Schleifenform des Organs ein 
guter diagnostischer Fingerzeig sein, aber 
er schließt ein Karzinom auf dem Boden 
eines Ulkus nicht aus. Perigastritische 
Prozesse erschweren die Diagnose noch 
mehr. Für die Lokalisation des Ulkus hat 
der Nachweis von Wismutresten eine ge¬ 
wisse Bedeutung; auch die Störungen der 
Motilität kommen differentialdiagnostisch 
gegen Karzinom nicht in Betracht. Bei 
den Ulkusfällen sind von röntgenologischem 
Interesse die meist die Gegend der kleinen 
Kurvatur einnehmenden Einziehungen, ent¬ 
sprechend der Prädilektionsstelle der 
Ulzera, seltener wurden solche am Pylorus 
und Magenausgang zur Darstellung ge¬ 
bracht. Bei Ulkus soll im Stehen und 
Liegen untersucht werden. Die Schleifen - 
form des Magens hat sich, auch bei jahr¬ 
zehntelang bestehender Stenose, nur ver¬ 
einzelt gefunden. Für die Diagnose von 
einschnürenden Adhäsionen und Sanduhr¬ 
magen leisten die übrigen Untersuchungs¬ 
methoden nur Unsicheres und Zweifel¬ 
haftes, die Durchleuchtung liefert die Dia¬ 
gnose spielend und mit einer Klarheit, daß 


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Dezember 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


571 


oft die Art und Ausdehnung der Opera¬ 
tion danach bestimmt werden kann. Schirm¬ 
untersuchung oder photographische Auf¬ 
nahme sind hierzu gleich gut. Durch An¬ 
regung der Peristaltik (Massage) kann man 
sich schnell darüber unterrichten, ob es 
sich um mangelhafte Entfaltung des Magens 
oder ein Hindernis handelt. Das Gemein¬ 
same der vielgestaltigen Bilder ist eine 
Einengung des Magenlumens oder ein 
völliges Absetzen des Schattens, der bei 
längerer Beobachtung einen trichter- oder 
bandförmigen Fortsatz erhält; auch beim 
Umhergehen füllen sich die einzelnen 
Magenabschnitte sehr gut. Eine funktionell 
vorkomraende Einengung ist die Kontrak¬ 
tion des Sphincter pylori. — Von Magen¬ 
karzinomen wurden 90 Fälle untersucht. 
An der Kardia und am Pylorus saß das 
Karzinom nur 2 mal. An der Stelle des 
Tumors findet sich durch das Fehlen des 
Wismutbreis eine Schattenaussparung. Für 
Pyloruskarzinom ist neben dem Fehlen 
eines ausgesprochenen Autrum pyloricum 
die halbmondförmige, häufig gezackte Ab¬ 
setzung des Wismutsehattens sehr charak¬ 
teristisch. Bei vorgeschrittenem Karzinom 
erhält man die bizarrsten Bilder. Eine 
stärkere Einziehung an der kleinen Kur¬ 
vatur ist oft das einzige Anzeichen für 
Karzinom der kleinen Kurvatur oder der 
hinteren Magenwand. Die Tumor bilden¬ 
den Karzinome bieten für die radikale 
Operation bessere Aussichten, als diejeni¬ 
gen, bei denen kein Tumor zu fühlen ist. 
Die Karzinome der kleinen Kurvatur, der 
Hinterwand, der großen Kurvatur hinter 
dem Rippenbogen und des ganz unzugäng¬ 
lichen Fundus sind die Domäne der Rönt¬ 
gendiagnose. Ist ein Tumor nicht fühlbar, 
so muß man sich meist mit der sicheren 
Röntgendiagnose Karzinom begnügen, ohne 
Schlüsse auf die Operabilität ziehen zu 
können. Die Durchleuchtung ist das 
sicherste und leistungsfähigste Verfahren 
zur Frühdiagnose des Magenkarzinoms; es 
steht nicht im Gegensatz zur Probelaparo¬ 
tomie, sondern veranlaßt dieselbe oft. 

Klink. 

(v. Bruns Beitr. z. klin. Chir. 1910, Bd. 68, Heft 1.) 

Bei der Bekämpfung des Typhus ab¬ 
dominalis ist das Erkennen und U nscnädlich- 
machen der Dauerausscheider von Typhus¬ 
bazillen von größter Wichtigkeit. Während 
bisher fast nur auf die Dauerausscheidung 
der Bazillen im Kot Wert gelegt wurde, 
machte L. Pick in einem Vortrag im Ver¬ 
ein für innere Medizin und Kinderheilkunde 
in Berlin auf die Dauerausscheidung der 
Bazillen im Urin aufmerksam. Während 


der Typhuserkrankung findet man häufig 
infolge einer spezifischen Erkrankung der 
Nieren und harnleitenden Wege im Urin 
Typhusbazillen, die meist nach überstande¬ 
ner Krankheit daraus verschwinden. Es gibt 
aber Fälle, in denen sich noch lange nach 
überstandenem Typhus Bazillen im Urin 
finden; meist handelt es sich um eine 
Zystitis oder Pyelitis typhosa, welche unter 
geeigneter interner oder chirurgischer Be¬ 
handlung, letzteres bei Vorhandensein von 
Steinen, ausheilt. In anderen Fällen, bei 
denen es in der Rekonvaleszenz oder noch 
später, wenn Blut und Stuhl frei von 
Typhusbazillen gefunden werden, zum Auf¬ 
treten von solchen im Urin kommt, nimmt 
Pick an, daß die Typhuserreger sich in 
bestimmten appendikulären Apparaten der 
Harnwege festgesetzt haben, von wo aus 
sie immer wieder in den Urin nach¬ 
geschoben werden können. Die Infektion 
der Appendizes der eigentlichen Harnwege 
geschieht durch den Urin, während die 
akzessorischen Genitaldrüsen, wie Samen¬ 
bläschen und Prostata auf dem Blutweg 
infiziert werden. In 2 Fällen fand Pick eine 
nur durch Typhusbazillen bedingte eitrige 
Spermatozystitis und Prostatitis. Es ist 
denkbar, daß bei im übrigen gesunden 
Männern das Sperma mit Typhusbadlien 
infiziert wird und infolgedessen eine Ueber- 
tragung des Typhus beim Koitus in den 
Bereich der Möglichkeit gezogen wird. — 
Therapeutisch wurde die Dauerbakteriurie 
von Urotropin und Hetralin nicht beein¬ 
flußt, dagegen erfolgte in einem Falle Hei¬ 
lung unter Borovertin, das offenbar auf 
den Gesamtorganismus ein wirkte. 

Ernst Mayer (Berlin). 

Die Klärung der Pathogenese der 
Wurmfortsatzentzfindangr auf Grund ex¬ 
perimenteller und baktenoiogischer Unter¬ 
suchungen ist durch Heile (Wiesbaden) 
in bemerkenswerter Weise gefördert wor¬ 
den. Die Experimente wurden am Hunde¬ 
blinddarm ausgeführt. Der blinde Anhang 
desselben gleicht makroskopisch und mikro¬ 
skopisch durchaus dem Wurmfortsatz des 
Menschen; auch können sich an ihm ähnlich 
verlaufende Entzündungen abspielen, wie 
am menschlichen Wurmfortsatz. Es mußte 
daher von Wert sein, Entzündungen am 
Blinddarmanharg des Hundes künstlich aus¬ 
zulösen. Verfasser ging nun in der Weise 
vor, daß er den Appendix durch einen 
Seidenfaden ligierte (mit Schonung der Me¬ 
senterialgefäße). Dabei kam es zu lokalen 
Schädigungen, welche das Befinden des 
Versuchstieres nur vorübergehend beein¬ 
flußten. Der Seidenfaden löste sich also 

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572 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Dezember 


bald und die Kontinuität des Schleimhaut¬ 
rohres stellte sich wieder her. Wurden 
in das peripher abgeschnürte Ende größere 
Mengen von Bakterien, z. B. Streptokokken, 
hineingebracht, so erkrankten diese Hunde 
zwar schwerer als die nicht künstlich in¬ 
fizierten, aber auch sie erholten sich nach 
einigen Tagen und zeigten, wenn sie nach 
8—14 Tagen getötet wurden, an Ort und 
Stelle ebenso geringe Veränderungen, wie 
die Hunde, deren Blinddarm nur mecha¬ 
nisch verletzt war. Auf diese Weise konnte 
gezeigt werden, daß vorübergehende Ab¬ 
schnürung des Blinddarmanhangs wohl zu 
leichteren lokalen Entzündungen führte, 
aber nie schwere destruierende Vorgänge 
auszulösen imstande war. Um nun den 
vorübergehenden Verschluß mittels der Li¬ 
gatur zu einem länger anhaltenden zu ge¬ 
stalten, spritzte Heile peripher von dem 
Seidenfaden durch die Darmwand flüssiges 
Paraffin ein. Dieser Fremdkörper schädigt 
die Darmwandungen nicht, hält aber doch 
mechanisch den Verschluß des Schleim¬ 
hautrohres aufrecht. — Wenn nun diese 
Maßnahmen in einem Blinddarmanhang ge¬ 
macht werden, der frei ist von kotigem In¬ 
halt, so führen die lokalen Schädigungen 
wohl zu umschriebenen Entzündungen, 
kleinen Wandeiterungen, Hydrops respek¬ 
tive Empyem, die Tiere sterben aber nie 
infolge dieses Eingriffes. Damit war also 
bewiesen, daß auch dauernder, absoluter 
Verschluß von Blinddarmteilen beim Hunde 
ohne allgemeine Gefährdung des Gesund¬ 
heitszustandes des Tieres und ohne schwe¬ 
rere lokale Zerstörung überstanden wird 
dann, wenn der abgeschnürte Blinddarm¬ 
teil frei ist von normalem Kotinhalt. An¬ 
ders aber gestaltet sich das Bild, wenn in 
dem künstlich abgeschlossenen Teil nor¬ 
male Kotreste in mehr oder minder großen 
Mengen mit abgeschnürt sind. In diesen 
Fällen kommt es zu richtigen Nekrosen 
der Wandung mit schwerster sequestieren 


der Eiterung, zu allgemeiner Infektion der 
umgebenden Bauchhöhle, zu diffuser, jauchig 
putrider Peritonitis, an der die Hunde 
unter dem klinischen Bilde schwerer all¬ 
gemeiner Vergiftung zugrunde gehen. 
— Destruierende Wurmfortsatzentzündung 
kann im Experiment nur dann hervor¬ 
gerufen werden, wenn außer den Bakterien 
auch Kotreste zurückgehalten werden; es 
muß zur Eiweißfäulnis kommen können. 
Bakterien allein, auch in den größten Massen, 
erzeugen nie destruierende Zerstörungen. 

Eugen Jacobsohn (Charlottenburg). 

(Mitt. a. d. Gr. Bd. 22, Heit 1.) 

E. Jürgensen (Bad Kissingen) macht 
auf die durch Zwerchfellhoch Stand her¬ 
vorgerufenen Kreislautötöi ungen aufmerk¬ 
sam. Bei einer Reihe von korpulenten 
Herren mit Ueberdehnung des Magens und 
Kolons durch Gasbildung stellte er Kreis¬ 
laufstörungen fest, welche ziemlich starke 
subjektive Beschwerden machten. Die 
Atmung war bei diesen Patienten ober¬ 
flächlich; tiefere Atmung war mit erheb¬ 
licher Anstrengung verbunden. Das Zwerch¬ 
fell stand hoch. Das Herz war besonders 
nach links verbreitert, der erste Ton an 
der Spitze war dumpf und unrein, 
selten fand sich ein leises systolisches 
Hauchen über der Spitze und Aorta. Der 
zweite Aortenton war meist klingend und 
akzentuiert. Die Herzaktion war frequent, 
manchmal irregulär, der Puls klein und 
schlecht gefüllt. Besonders auffallend war 
der hohe Blutdruck. — Auch experimentell 
war Jürgensen imstande, den gleichen 
Symptomenkomplex durch Aufblähung des 
Magens bei geeigneten Personen hervorzu¬ 
rufen. — Unter hygienisch-diätetischer Be¬ 
handlung und systematischen Atemübungen 
verbunden mit leichtem Steigen schwanden 
ziemlich rasch die subjektiven Beschwerden 
und nachweisbaren Krankheitserschei¬ 
nungen. Ernst Mayer. 

(Arch. f. Verdauungskrankh. Bd. 16, H. 4, 1910.) 


Therapeutischer Meinungsaustausch. 

Airolvaseline auf frischen Wunden. 


Von Dr. Karl Gerson- 
Seit Einführung des Airols haben wir 
es besonders in Salbenform auf infizierten, 
eiternden Wunden angewandt. Die Beob¬ 
achtung, daß 5 %ige Airolvaseline eiternde 
Wunden schnell reinigte und zur Verhei 1 
lung brachte, ermutigte uns, sie auch auf 
frischen Wunden zu versuchen. I 

Man ist bei Anwendung des Airols in 
5°/ 0 iger Salbenform auch sicher vor I 
Wismutintoxikationen, wie sie durch Auf¬ 
streuen reinen Airolpulvers auf Ulcera 


'Schlachtensee b. Berlin. 

mollia und durch eine 10%ige Emulsion 
von Aemmer 1 ) und Goldfarb 2 ) beobach¬ 
tet wurden. 

In etwa 500 Fällen eiternder sowohl 
als frischer Wunden haben wir durch An¬ 
wendung von 5°/oiger Airolvaseline nie 
eine Intoxikation erlebt. Die frischen mit 
Airolvaseline behandelten Wunden waren 

') Korrespondenzbl. f. Schweizer Ärzte 1897, 

Nr. 16 . 

2 ) Mon. f. prakt. Dermat. 1897, Bd. 25, Nr. 5. 


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Dezember 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


durch unreine Gegenstände, Wagenräder, 
Pferdehufe, Beile, Küchen u. Taschenmesser 
und Nägel verursacht. Auf eine ausgiebige 
Desinfektion dieser Wunden wurde in 
jedem Falle verzichtet; sie wurden nur 
einige Male mit einem in Seifenspiritus 
getränkten Wattebausch betupft, ihre Um¬ 
gebung aber mit Seifenspiritus gründlich 
gereinigt. Dann Auflegen eines mit 
5°/ 0 iger Airolvaseline reichlich be¬ 
strichenen Verbandmulls oder Watte¬ 
bausches. Letzterem wird wegen seiner 
größeren Weichheit der Vorzug gegeben. 
Beim Ausbleiben von Infektionserscheinun¬ 
gen (Fieber, Wundschmerz, Schwellung), 
läßt man den Salbenverband zwei Tage 
liegen, nimmt ihn dann ab, säubert Wunde 
und Umgebung mit Benzin und legt einen 
neuen Salbenverband an, der je nach Aus¬ 
dehnung und Tiefe der Wunde noch mehr 
oder minder oft gewechselt werden muß. 
Bei solchen meist infizierten frischen Ver¬ 
wundungen durch unreine Gegenstände 
wurde fast stets eine schnelle Heilung 
sogar per primam erzielt. 

Frisch inzidierte und mit der Saug¬ 
glocke behandelte Furunkel wurden reich¬ 
lich mit 5 %iger Airolvaseline bedeckt, die 
meist auch eine Infektion der umgebenden 
Haut verhinderte. 

Weniger gut waren die Erfolge der 
5%igen Airolvaseline bei Ulcus cruris; 
hier regte ein Kampferzusatz, Camphor. 
trit. 0 5, Airol 2 5, Vasel. flav. ad. 50.0, die 
Granulationsbildung kräftig an. 

Besonders gute Erfolge aber hatten wir 
mit der 5°/ 0 igen Airolvaseline bei frischen 
Operationswunden. Hier bietet die 
Salbe nennenswerte Vorteile gegenüber 
dem üblichen Verfahren, denn 5 °/ 0 ige 
Airolvaseline auf die frische Wunde ge¬ 
strichen, lindert den Wundschmerz erheb¬ 
lich, was zumal bei größeren Operations¬ 
wunden, z. B. Laparotomien, den Patienten 
sehr wohltuend ist. Zugleich wird eine 
Verklebung der Wunde mit dem Verband¬ 
material durch die Salbe vermieden. Klei¬ 
nere Bewegungen des Operierten, wie sie 
bei der Defäkation, dem Umbetten, Hoch¬ 
heben, beim Husten unvermeidlich sind, 
werden an der Operationswunde weniger 
schmerzhaft empfunden. Fast schmerzfrei 
vor allem aber gestaltet sich durch den 
Salbenverband der so gefürchtete Ver¬ 
bandwechsel, der durch Aufreißen der 
festen Verklebung der Wunde und Ver¬ 
bandstoffe dem Kranken sehr empfindlich 
ist. Die Salbe verhindert durch Aufsaugen 
des Wundsekrets dessen Eindringen in 
den Verbandstoff, sodaß eine Verklebung 


573 


nicht staufinden kann. Klebt beim Ver¬ 
bandwechsel doch irgendwo der Verband¬ 
stoff an der Wunde an, so war die Salbe 
zu dünn aufgestrichen. 

Auch das Ein- und Ausführen von 
Gumraidrains, die mit dem Wundkanal oft 
verkleben, wird durch vorheriges Einfetten 
der Drains mit Salbe leichter und schmerz¬ 
loser. In unserer Zeit, die so viel Wert 
auf Schmerzfreiheit während der Opera¬ 
tion legt, muß man auch zur Linderung 
der Schmerzen nach der Operation alle 
Mittel in Anwendung ziehen. Dazu er- 
| scheint aber nach unseren Erfahrungen 
, reichliches Bestreichen der Wunde mit 
| 5°/oiger Airolvaseline gleich nach Beendi- 
| gung der Operation ein sehr brauchbares 
Mittel. 

Käme es nur darauf an, durch den 
Salbenverband eine Verklebung der Wunde 
mit dem Verbandstoff und die damit ver¬ 
bundenen Nachteile zu vermeiden, so ge¬ 
nügte dazu auch wohl jede andere Salbe, 
sogar nur einfache Vaseline. Aber der 
Airolgehalt gibt der Salbe roch eine anti¬ 
bakterielle Wirkung. Wie diese Salbe bei 
eiternden Wunden die Infektion zum Still¬ 
stand und Rückgang bringt, so verhütet 
sie bei Operationswunden direkt eine In¬ 
fektion. Diese Wirkung kommt einesteils 
dem Jodgehalt des Airols zu, aus dem 
sich bei Berührung mit dem Wundsekret 
freies Jod abspaltet. Andernteils besitzt 
auch das im Airol enthaltene Wismut 
antiseptische Eigenschaften, die so¬ 
wohl auf der Abgabe von Halogen, als 
auch auf der Labilität des vom Wismut 
ausgehenden, eine fortgesetzte Aktion be¬ 
dingenden Sauerstoffs beruht. Indes 
möchten wir der Airolsalbe eine direkt 
bakterizide Kraft nicht zuschreiben, viel¬ 
mehr annehmen, daß die Bakterien in der 
Salbe gebunden und so in ihrer Weiter¬ 
entwicklung gelähmt werden. Bakteriolo¬ 
gische Versuche nach dieser Richtung 
stehen noch aus. Tatsache ist jedenfalls, 
daß in hunderten von Fällen bei eiternden 
Wunden eine schnelle Reinigung, bei infi¬ 
zierten frischen und Operationswunden 
nach Anwendung von 5°/ 0 iger Airolvase¬ 
line fast stets glatte Heilung erfolgte. 

Die Vorteile der 5°/ 0 igen Airolvaseline 
auf frischen Wunden gegenüber den üb¬ 
lichen Verfahren bestehen also in: 

1. Linderung des Wundschmerzes in¬ 
folge der 

2. Hinderung von Verklebungen, daher 

3. Schmerzfreiheit beim Verbandwechsel,. 

4. Vermeidung von Wundinfektion und 
| schnellere Heilung. 


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574 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Dezember 


Aus der Prof. v. Bardelebenschen Poliklinik für Frauenkrankheiten. 
Praktische Methode zur Hyperämieerzeugung. 

Von Dr. M. Rosman und Dr. T. Kuttner, Assistenten der Klinik. 


Den Wert der Behandlung entzündlicher | 
Zustande mittels Hyperämie hat Bier ! 
unwiderleglich bewiesen. Sie ist zwar 
schon längst in verschiedenen Arten, wie 
durch Umschläge, Vesikantien, Bäder usw. 
auf empirischem Wege erzeugt worden, 
aber es blieb Bier das Verdienst, seine 
empirischen Beobachtungen auf wissen¬ 
schaftlicher Basis zu begründen. Die Wich¬ 
tigkeit der hyperämischen Vorgänge in 
Entzündungsprozessen deutet Bier in fol- 
genden Worten an: „Es gibt keinen ein- | 
zigen Krankheitsherd, welchen der Körper 
selbst zu beseitigen oder unschädlich zu 
machen sucht und vermag, der Anämie 
erzeugt, er ist stets von Hyperämie durch¬ 
setzt oder umgeben.“ 

Hyperämie kann durch mechanische 
(Saugapparate, Gummibinden), thermische 
und medikamentöse Prozeduren hervorge¬ 
rufen werden. Die ersteren ergeben eine 
passive Hyperämie, auf die wir hier nicht 
näher eingehen wollen, letztere erzeugen 
aktive Hyperämie, das heißt also eine Er¬ 
weiterung der Gefäße, infolgedessen einen 
lebhafteren, lokalen Blut- und Lymphstrom. 
— „Diesen lebhaften Blutstrom wünschen 
wir in erster Linie, denn er ist bei den 
meisten Krankheiten nach meiner Ansicht 
das eigentliche Heilmittel.“ (Bier.) 

Die Wirkung der arteriellen Hyperämie 
ist eine bessere Ernährung des Gewebes, 
Steigerung des lokalen Stoffwechsels, mit¬ 
hin also eine Vergrößerung des zellulären 
Abbaues, wie aber auch eine Verstärkung 
der regenerativen Funktionen. 

Für den praktischen Arzt beteht aber nun 
die Frage: „Wie kann man bequem diese ge¬ 
wünschte arterielle Hyperämie hervorrufen?“ 

Einerseits erfordert die Behandlung 
kostspielige Apparate oder Einrichtungen, 
Heißluftapparate, Moor- und Fangobäder 
usw.; einfacher andererseits und bequemer 
auszuführen sind die Vesikantien und Um¬ 
schläge verschiedener Art. Letztere sind 
allerdings mehr oder weniger mit Nach¬ 
teilen verbunden. Die einfachen warmen 
Umschläge müssen oft gewechselt werden, 
werden technisch nicht immer richtig aus¬ 
geführt und stören dadurch dem Patienten 
die Ruhe, die bei Entzündungszuständen 
so erwünscht ist; oder es wird dem Um¬ 
schlag die ursprüngliche Temperatur da¬ 
durch erhalten, daß Gummischlauchkom¬ 
pressen in den Umschlag eingeschoben 
werden, durch welche entsprechend tempe¬ 


riertes Wasser konstant fließt. Moor- und 
Fangoumschläge sind etwas kostspielig, 
nicht überall zu erhalten und wirken auch 
hautreizend (Reindl). Dabei darf man 
Moorbäder oder -Umschläge nicht länger 
als 20—30 Minuten, Fango höchstens 
45 Minuten anwenden. Auch bedarf nach¬ 
her die Haut einer Reinigung. 

Die medikamentöse Behandlung lassen 
wir hier außer acht, da sie sehr hautreizend 
beziehungsweise pustelbildend und nur vor¬ 
übergehend wirkt. 

Vor längerer Zeit haben wir durch ein 
Referat von Prof. Rabow 1 ) ein Präparat 
kennen gelennt, das uns an Moor und 
Fango erinnert, aber die Nachteile dieser 
beiden nicht besitzt, dagegen viel kräftiger 
wirkt und sich bedeutend bequemer an- 
anwenden läßt als diese. Dasselbe' wird 
unter dem Namen „Antiphiogistine“ her¬ 
gestellt und zwar aui folgende Weise: 
Fein pulverisiertes Aluminiumsilicat wird 
durch hohe Temperatur wasserfrei gemacht, 
mit Glyzerin zur Konsistenz einer Paste 
unter Zutaten von kleinen Mengen Bor- 
und Salizylsäure nebst Spuren von Jod 
und ätherischen Oelen verrieben« (Euka¬ 
lyptus, Gaultheria, Menth. Piperit.) Diese 
graue homogene Paste wird in den Ori¬ 
ginalbüchsen in heißem Wasser erwärmt, 
wobei jede Berührung mit Wasser ver¬ 
mieden werden muß, da die Paste hydro¬ 
phil ist und bleiben soll. Nachdem die 
Paste durch Umrühren gleichmäßig er¬ 
wärmt ist, wird sie etwa kleinfingerdick 
auf die betreffende Stelle gestrichen, darauf 
eine dünne Lage Watte und, wenn nötig, 
ein Befestigungsverband; der Umschlag 
bleibt zirka 12—24 Stunden liegen, dann 
ist seine Wirkung erschöpft und er kann 
jetzt mit Leichtigkeit, ohne zu kleben, ent¬ 
fernt werden: jedoch kann dieses auch zu 
jeder Zeit mittels Wasser geschehen. 

Wir haben dieses Präparat experimen¬ 
tell und praktisch erprobt. Wie schon 
früher Joseph und Schliep in ihren ex¬ 
perimentellen Untersuchungen über „Der 
Gewebsstrom unter der Stauungshyper¬ 
ämie“ 2 ) haben wir Kongorot ebenfalls in 
Kaninchenohren eingespritzt. Wir bedien¬ 
ten uns einer Aufschwemmung in physio¬ 
logischer Kochsalzlösung von 1 :50 Kongo- 


J ) Prof. Dr. Rabow, Therapeut. Monatsh., Fe¬ 
bruar 1908. 

a ) Deutsche med. Wschr. 1908, Nr. 17. 


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Dezember 


575 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


rot. In den öfters wiederholten Versuchen 
haben wir in jedes Ohr des Kaninchens 
0,2 ccm der Lösung eingespritzt und dann 
nur das rechte Ohr mit Antiphiogistine 
behandelt. Nach 24 Stunden wurden die 
Kaninchen getötet und durch die bekannte 
Blaufärbung mittels HCl das Kongorot 
nachgewiesen. 

Deutlich ist zu sehen, daß das Kongo¬ 
depot auf dem behandelten Ohr heller und 
schwächer ist, als auf dem unbehandelten; 
in einigen Fällen war es allerdings etwas 
mehr verbreitet, aber ebenfalls dünner. Da 
das Kongo in Bindegewebe eingespritzt 
wurde, so konnten die Kongokörnchen ent¬ 
weder durch den Lymphstrom, phagozy¬ 
tären Zellen oder durch beide Faktoren 
entfernt werden. Also glauben wir, daß 
eine Beschleunigung der Resorption statt¬ 
gefunden haben muß, wie auch Klapp in 
einer früheren Arbeit gezeigt hat, daß die 
aktive Hyperämie solches verursacht. Daß 
dieselben Prozesse mit den injizierten 
Mikroorganismen ebenso gut wie mit Farb¬ 
stoffen sich abspielen, geht aus den 
Arbeiten von Wyssoko witsch 1 ) und 
Schwarz 2 ; hervor. „Kieselstaub und 
Kohlenstaub passieren die Lymphbahnen 
der Lunge und in den Bronchialdrüsen 
genau so, wie die Tuberkelbazillen.“ 

Auf praktischem Wege haben wir „ Anti- 
phlogistine“ in zahlreichen Fällen ange¬ 
wandt, wo wir aktive Hyperämie wünsch¬ 
ten, da, wie bewiesen, der warme Dauer¬ 
umschlag von Antiphiogistine eine Durch¬ 
flutung der behandelten Körperteile mit 
einem schnellfließenden arteriellen Blut er¬ 
zeugt. Die oberflächliche Hyperämie dringt 
auch in die Tiefe und beeinflußt auch 
Hyperämie der Eingeweide, wie aus den 


Arbeiten von Klapp 1 ) und Kowalski 3 ) 
hervorgeht. 

Wir haben es in chirurgischen und all¬ 
gemein medizinischen, jedoch hauptsäch¬ 
lich in gynäkologischen Fällen angewandt. 

Von unseren Erfahrungen können wir 
erwähnen, daß die Exsudate im weiblichen 
Becken, welche man als Para und Peri¬ 
metritis bezeichnet, sehr günstig beeinflußt 
werden und infolgedessen schnell ver¬ 
schwinden, auch häufig, wo das elektrische 
Lichtbad im Stich ließ. Auffallend ist im 
Anfang schon die merkwürdige schmerz¬ 
stillende Wirkung des Umschlags. 

Bei unseren vielfachen und vielseitigen 
Anwendungen haben wir gefunden, daß 
wir das Präparat empfehlen dürfen und 
zwar infolge seiner aktiv Hyperämie er¬ 
zeugenden Wirkung, seiner sauberen, be¬ 
quemen, einfachen Anwendung (es läßt 
sich gleichwohl an allen Körperteilen, z.B. 
an den großen Labien, Analgegend usw. 
ohne Unterschied und ohne jede Schwierig¬ 
keit auftragen), und wegen der außer¬ 
ordentlich beruhigenden, schmerzstillenden 
Wirkung. Der Verband bleibt 12 bis 
24 Stunden liegen, je nach der Dicke der 
Pastelage, und verschafft dadurch dem Pa¬ 
tienten physische nnd psychische Ruhe, 
ferner reizt er die Haut absolut nicht. Die 
hygroskopische Kraft des Antiphiogistine 
ist sehr groß. Aus diesem Grunde haben 
wir dasselbe auch als Tampon angewandt. 
Die Pasta kann Tage und Wochen die 
Hyperämie fortsetzen, ohne die Haut zu 
makerieren. Niemals haben wir Ekzeme 
oder Pustelbildung beobachtet. Weiter ist 
zu bemerken, daß die Pasta kein Fett ent¬ 
hält, die Wäsche nicht verunreinigt und 
die Haut nicht beschmutzt. 


Aus Goldscheiders Antrittsrede. 

Der Nachfolger Senators hat bei der Uebernähme seines Lehramtes ein ebenso gro߬ 
zügiges als im einzelnen fein pointiertes Programm entwickelt , welches die lebhafte 
Zustimmung der zahlreichen Hörerschaft fand . Wir entnehmen der Antrittsvorlesung B ) 

die folgenden Sätze: 


Vergessen wir nicht, daß wir uns mit 
jeder Verfeinerung der diagnostischen Me¬ 
thoden auf ein immer schwierigeres Terrain 
begeben, in welchem auch die Fehler¬ 
quellen und Täuschungsmöglichkeiten immer 
größer werden. Wie verführerisch es auch 
ist, die Methoden exakter physiologischer 
Beobachtung auf die krankhaften Vorgänge 

l ) Wyssoko witsch, Ztschr. f. Hyg. u. Infek- 
tionskr. 1886, Bd 1. 

*) C Schwarz, Ueber das Verschwinden von 
Mikroorganismen aus dem strömenden Blute. Ztschr. 
f. Heilk. 1905. 


beim Menschen anzuwenden, so wird es 
doch jedem, der die Fallstricke des phy¬ 
siologischen Experiments kennt, bedenk¬ 
lich erscheinen, die Beurteilung des leiden¬ 
den Menschen und die ungeheure ärztliche 
Verantwortlichkeit von Präzisionsmaßnah¬ 
men abhängig zu machen, bei welchen die 
Fehlermöglichkeiten dicht am Wege liegen 
und winzige methodische Abweichungen 
zu ernsten Täuschungen führen können. 

l ) Klapp, Münch, med. Wochschr. 1900, Nr. 23. 

3 ) Kowalski, Blätter f. klin. Hydroth. I 898 . 

3 ) Berl. klin. Woch. Nr. 45 u. 46. 


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576 


Die Therapie der Gegenwart 1910. 


Dezember 


Hüten wir uns vor einem übertriebenen 
Physiologismus! 


Die Arbeitsteilung in der Praxis darf 
nicht zur Zersplitterung der Praxis führen. 
Auch durch die moderne Verfeinerung der 
Diagnostik wird die bisherige ärztliche 
Untersuchung und Beobachtung mit den 
traditionellen einfacheren Mitteln, und wird 
der persönliche Kontakt des Arztes mit 
dem Kranken keineswegs überflüssig ge¬ 
macht! Im Gegenteil, es ist mehr als je 
notwendig, daß der Kranke in einer Hand 
bleibt. Der Patient läuft Gefahr, daß die 
Diagnose von der Hauptsache auf Neben¬ 
wege abirrt; nur der persönliche Kontakt 
mit seinem Arzt kann dieser Gefahr Vor¬ 
beugen und bewirken, daß unter zahl¬ 
reichen Detailuntersuchungen die Persön¬ 
lichkeit des Kranken, seine Konstitution 
und Individualität berücksichtigt bleibt. 

* •* 

* 

Je mehr Apparate, desto geringer die 
Kunstfertigkeit in der unmittelbaren Beob¬ 
achtung, in der Behandlung mit einfachen 
Mitteln, in der ärztlichen Kombination. 
Möge uns der Fortschritt der Technik nicht 
an ärztlicher Kunst und Geschicklichkeit 
rauben, was er uns an erhöhter Präzision 
gewährt. Mögen uns vielmehr die Präzi¬ 
sionsmethoden unter anderem auch dazu 
dienen, durch die Möglichkeit der kontrol¬ 
lierenden Vergleichung die einfacheren 
Methoden zu vervollkommnen und ihnen 
eine höhere Sicherheit zu geben. 

* * 

4t. 

Wenn wir jetzt auch weit vom Hippo- 
kratismus von ehedem entfernt sind, so 
halten wir doch den Grundzug desselben, 
unsere Therapie der natürlichen Krank¬ 
heitsheilung einzufügen, fest. Wir wissen, 
daß es nicht richtig ist, eine rein physio¬ 
logische Therapie zu betreiben, das heißt 
alle krankhaften FunktionsVeränderungen 
ohne weiteres zu beseitigen: Fiebermittel 
anzuwenden, sobald die Bluttemperatur 
fieberhaft erhöht ist, die Blutgefäße zu 
verengern, wo Hyperämie besteht, zu er¬ 
weitern, wo sie kontrahiert sind, den Blut¬ 


druck künstlich zu erniedrigen, wo er er¬ 
höht ist, zu kühlen, was sich heiß anfühlt 
usw. Vielmehr muß sich die physiologi¬ 
sche Therapie den Tendenzen der Selbst¬ 
regulierung einfügen. 

-X- X 

* 

Wo die Kunst in der Therapie fehlt, 
läuft sie stets Gefahr, dogmatisch zu wer¬ 
den. Die Behandlung soll sich eben nicht 
einseitig auf Regeln stützen, welche von 
dem einen oder anderen Krankheitssym¬ 
ptom abgeleitet sind, sondern muß stets 
das gesamte Krankheitsbild und den Men¬ 
schen selbst erfassen. An der dogmati¬ 
schen Therapie erkennt man den Mangel 
ärztlichen Talents, welches für unsere 
Kunst durchaus erforderlich ist; an der 
Verachtung der Wissenschaft den 
Charlatan. Wissenschaft und Kunst in 
gegenseitiger Ergänzung machen die ärzt¬ 
liche Behandlung. 

Unzweifelhaft muß es andererseits unser 
Bestreben sein, die Therapie so weit wie 
irgend möglich, zu einer wissenschaft¬ 
lichen zu gestalten, ja sogar mit der Be¬ 
strebung, auch für die individuellen 
Unterschiede zum Teil einen wissenschaft¬ 
lichen Ausdruck zu finden. Die wesent¬ 
liche Voraussetzung für eine wissenschaft¬ 
liche Therapie ist die Sicherheit der Dia¬ 
gnose, die Erkenntnis der Ursachen und 
des Wesens der Krankheitsprozesse, 
die Feststellung des natürlichen Ver¬ 
laufes der Krankheiten und der Natur 
der Selbstheilungsvorgänge, die Prü¬ 
fung der Wirksamkeit der Mittel 
und kritische Sichtung der Erfah¬ 
rungen am Krankenbett. 

* •* 

X- 

Wer da bestreiten möchte, daß in unse¬ 
rer heutigen Zeit der ärztliche Beruf immer 
noch im Idealismus wurzele, der mache 
sich nur klar, was die Prophylaxe bedeu¬ 
tet, und ob sich etwas Aehnliches in den 
reale Werte schaffenden Berufsarten vor¬ 
findet. 

Mögen die Faktoren des öffentlichen 
Lebens stets dessen eingedenk sein, was 
die Menschheit dem Idealismus des ärzt¬ 
lichen Standes schuldet! 


INHALT: Gudzent, Radium-Emanationstherapie S. 529. — Alexander, Gärungs¬ 
dyspepsie und Takadiastase S. 537. — Kümmell, Nierentuberkulose S. 540. — Gerson, Airol- 
vaseline S. 572. — Rosman-Kuttner, Autiphlogistin S. 574. — Vorträge über Psychiatrie 
S. 554. — Syphilisheilmittel S. 561. 564. — Referate S. 566. — Aus Goldscheiders 
Antrittsvorlesung S. 575. 

Für die Redaktion verantwortlich Prof. Dr. G. K1 cm p e r e r in B'-rlin. - Verlag von Urban&Sch warzenberg inW’ien u. Berlin. 

Druck von Julius Sittenfeld, Hofbuclulrueker., in Ilerlin W.8. 


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Original fram 

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INHALTS-VERZEICHNIS. 


Originalmitteilungen, zusammenfassende Uebersichten, und 
therapeutischer Meinungsaustausch. 


Acetonkörperausscheidung, Einige Bemerkun- 
gen zur Bewertung der — beim Diabetiker, sowie 
aber den Wert von Haferkuren. Hugo Lüthge 8. 

Aegypten, Aertliche Erfahrungen in —. Lilien- 
atein 381. 

Airolvaseline auf frischen Wunden. Karl Qeraon 
572. 

Ajaccio, Klimatisches aber —. Pet. Baiser 476. 

Alkohol - Verbände, Ueber — . C. Köhler 379. 

Alsol, Ueber die Anwendung des —s bei Haut- 
und Geschlechtskrankheiten. M. Lewitt 95. 

p-AminobenzoösAure, Pharmakologisches aber 
die Ester der — mit besonderer Berücksichtigung 
des Cydoforms. E. Impens 348. 

Amöben-Dysenterie, Die Behandlung der —. 
Edgar Azisa 263. 

Aperitol, Erfahrungen mit — als schmerzloses Ab* 
führmittel. A. Hirschberg 335. 

Arsentherapie, Zur — mit der Dürkheimer Max¬ 
quelle. L. Katzenstein t86. 

Ascites tuberculosus, Kochsalzarme Diftt zur Be¬ 
seitigung des-. Walter Alwens 100 . 

Asthma, Ueber den Stand der heutigen Lehre 
vom —. Oskar Weil) 443. 

Asthmabehandlung, Ein neuer Apparat zur —. 

G. Zuelser 157. 

Asurol, Zur Behandlung der Syphilis mit —. Eid. 
Biumer 479. 

Azidose, Zur therapeutischen Bewertung der dia¬ 
betischen — in der Praxis. L. Blum 97. 

Baldrian-Therapie bei nervösen Störungen. Theo 
Knttner 377. 

Basedowsche Krankheit, Eineintravenöse Chemo¬ 
therapie der-. Felix Mendel 61. 

-Die Prognose der — n —. L. Syllaba 484. 

Cholelithiasis, Zur medikamentösen Therapie der 
— . Felix Sichler 146. 

Coryfin, ein reizloses Mentholderivat. Br&itmayer 
143. 

Delirium tremens, Die Behandlung des — — 
mit Veronal. Ernst von Porten 270. 

Desmoidreaktion, Die Brauchbarkeit der Sahli- 
schen — in Klinik und Praxis. Weiland und 
Sandelowsky 255. 

Diabetes insipidus, Zur Therapie des —. O. 
Minkowski 4. 

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— mellitus, Beitrag zur medikamentösen Behand¬ 
lung des — —. Lennl 188. 

— — Ueber die Behandlung des — — bei Kindern. 

Marius Lauritzen 289. 

Digistrophan, Ueber —, ein neues Kardiakum. 

O. Boelke 153. 

Digitalis, Einige Bemerkungen aber —. weil. 

Ernst von Leyden 482. 

Diphtherie, Die intravenöse Injektion des Heil¬ 
serums bei —. Hermann Tachau 346. 

Duodenalgeschwür, Bemerkungen zur Pathologie 
und Therapie des —s. Umber 333. 

EntfettungsdiAt, Indikation und Kontraindikation 
vegetarischer —. B. Latz 140. 

— Erwiderung auf vorstehenden Aufsatz. A. Alba 142. 

Entfettungskuren, Neue Gesichtspunkte für — 

mittels diAtetischer Küche, Wilhelm Sternberg 492. 

Epilepsiebehandlung, Ueber ambulante — mit 
besonderer Berücksichtigung des Sabromin. Froeh- 
lich 70. 

Escalin zur ambulanten Behandlung des Magen- 
geschwQrs. G. Klemperer 480. 

Qangstockung (intermittierendes Hinken), Ueber 

—. Gustav Muskat 273. 

GArungsdyspepsie, Zur Behandlung der intestinalen 
— mittels Taka-Diastase. Alfred Alexander 537. 

Gastroptose, Zur Therapie der —. Carl v. Noor¬ 
den 1. 

Gelenkrheumatismus, Die Serumbehandlung des 

—. Hans Ratzebarg 110. 

Genug undGe nußmittel. Wilhelm Sternberg 158. 

Geschmack und Schmackhaftigkeit in der 
Hygiene und in der Küche. Wilhelm Stern¬ 
berg 300. 

Gonorrhoe, Die Behandlung der — und ihrer 
Komplikationen. Alfons Nathan 124. 

Gy noval, Zur Bewertung des —s. Georg Flatau 336. 

tfaltungsanomalien, Zur Prophylaxe der habi¬ 
tuellen —. Georg Müller 351. 

Harnröhrentripper, Bemerkungen zur Behand¬ 
lung des —s des Mannes. Bruno Glaserfeld 353. 

Hartleibigkeit, Ist die Ausdrucksweise .Ange¬ 
borene —* eine richtige Bezeichnungsweise. 

Roger Baron Badberg 287. 

Hernien, Prinzipien der Behandlung von. F. Ka- 
rewski 497. 

Original fram 

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IV 


Inhalts -V erzeichnis. 


Herzstörungen, Ueber — im Kindes- und Puber» 
tdtsalter. C. Hirsch 193. 

Herztherapie, Aphorismen zur —. C. A. Ewald 
26. 74. 

Hyperämieerzeugung, Praktische Methode zur 

—. M. Rosman u. T. Kuttner 574. 

Ilyperftmisierendes Mittel, Ein altes in Ver¬ 
gessenheit geratenes-. Carl Richter 271. 

Infektion, Vorträge über die —, ihre Erkennung 
und Behandlung, veranstaltet vom preußischen 
Zentralkomitee für das ärztliche Fortbildungswesen. 
Bericht von Leo Jacobsohn 34 u. 79. 

Infektionskrankheiten, Allgemeine Grundzüge 
in der Behandlung der akuten — der Kinder. 
A. Baginsky 435. 

Jodomenin, Ueber — bei Arteriosklerose. E. Gum- 
pert 92. 

Jodthion, Zur Bewertung des —s in der Laryn- 
gologie. Adolf Mühsam 528. 

Keuchhusten, Heiße Bäder bei—. Schrohe 429. 

— Zur Therapie des —s. Gustav Bradt 305. 

Klystier-Ersatz-Therapie, Ueber —. W. Unna 

261. 

Kongreß, 27. — für innere Medizin. Bericht von 
G. Klemperer 226. 

— 39. — der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie. 
Bericht von W. Klink 208. 

— 6. — der Deutschen Röntgengesellschaft. Bericht 
von E. Jacobsohn 223. 

— 4. — der Gesellschaft deutscher Nervenärzte. 
Bericht von Leo Jacobsohn 509. 

— 82. — der deutschen Naturforscher und Aerzte, 
Therapeutisches 456 u. 515. 

— Süd westdeutscher Neurologen und Irrenärzte in 
Baden-Baden. Bericht von LUienstsln 361. 

Morbus Basedowii, Zur Frage der operativen 
Behandlung des —. Julius Lowinsky 60. 

Nagelextension, Die Leistungsfähigkeit der — 
in der Frakturenbehandlung und Knochenchirurgie. 
Willy Anschüts 22. 

Nasenbluten, Ueber die Entstehung des spontanen 
— s und seine Behandlung mit Digitalis. Focke 402. 

Nebennierenpräparate, Die Bedeutung der — 
für die ärztliche Praxis. Leo Jacobsohn 446. 

Nieren- und Blasentuberkulose, Die operative 
und spezifische Behandlung der —. Hermann 
Kümmell 540. 

Oesophagoskop, Ein handliches —. F. Schilling 
430. 

.Oxygar", Ueber die Wirkung des H»Oi-Präparates 
— auf die Sekretion des Magens. Kan KatO 105. 

Ozetbad, Die Größe der Bläschen im — e und im 
Kohlensäurebade. L. Sarason 286. 

Pantopon (Sahli), Ueber die Anwendung des —. 

Julius Hallervorden 206. 

Pergenol, Einige Bemerkungen über —. Robert 
Meyer 190. 

Pleuraexsudate, Ueber abgekapselte, insbesondere 
interlobäre — nebst Bemerkungen über Empyema 
putridum. A. Fraenkel 337. 


Pleuritis, Ueber die Behandlung der serösen — 
mit Lufteinblasung. L H. Gesellschap 396. 

Pneumothorax, Ueber eine Prioritätsfrage bezüg¬ 
lich des künstlichen — bei der Behandlung der 
Lungenschwindsucht und über den Mechanismus 
! seiner Wirkung. Carlo Forlanini 198 u. 245. 

— Anhang zu meinem Aufsatz. Carlo Forlanini 
331. 

— Entgegnung auf Forlaninis Artikel über eine 
Prioritätsfrage bezüglich des künstlichen — bei 
der Behandlung der Lungenschwindsucht. 8. Daus 
333. 

Psychologie und Psychiatrie, Vorträge über 
die Grundzüge der modernen —, veranstaltet 
vom preußischen Zentralkomitee für das ärztliche 
Fortbildungswesen Leo Jacobsohn 554. 

Psychotherapie, Grundlagen der —. P. Dubols 
385. 

Purinstofiwechsel, Ueber — bei Gichtkranken 
unter Radiumemanationsbehandlüng. P. Meser- 
nitzky 526. 

Radium-Ernanations-Therapie, Ueber den 
gegenwärtigen Stand der —. F. Gudzent 529. 

Reklame, Ueber — durch Sonderdrucke. G. Klem¬ 
perer 239. 

Ren vers, Zum Andenken an—. G. Klemperer 191. 

Röntgenstrahlen, Die Bedeutung der in der 
Gynäkologie. Manfred Fraenkel 310. 

8 a r t o n, Ueber —, ein neues Nährpräparat für Zucker¬ 
kranke. C. von Noorden u. Ed. Lampd 145. 

Sauerstoffbad, Das — in der ärztlichen Hauspraxis. 

Julius Baedecker 54. 

Scharlach, Die Behandlung des -*-s. Adolf Ba¬ 
ginsky 16 u. 49. 

Subazide Zustände, Behandlung —r — mit 
mechanisch reizender Kost mit Zitronensäure. 
Roemheld 285. 

Syphilisheilmittel, Ebrlichs — bei einigen Fällen 
innerer Lues. Meldner 407. 

— — — und die ärztliche Praxis, G. Klemperer 
432. 

-in der Berliner Medizinischen Gesellschaft, 

Bericht von G. Klemperer 316. 

— — — in der Berliner dermatologischen Gesell¬ 
schaft. Bericht von Held 563. 

-im Verein für innere Medizin. Bericht von 

Meldner 564. 

Syphilisbehaadlung. Ueber die Ehrlichsche —. 
W. Fischer 411. 

Tabes, Krisenartig auftretende Bewußtlosigkeit mit 
Atemstillstand bei —. Leo Jacobsohn 298. 

Tenazität, Ueber die — der Zelltättgkeif and ihre 
Beziehungen zur Pathologie. W. Leube 241. 

Tuberkulinbehandlung, Ueber —. F. Kühler 
356. 

Tuberkulose, Die chirurgische Behandlung der —. 
W. Kausch 111 u. 160. 

— Bemerkungen zu der Arbeit von Kausch über 
chirurgische —. Fr. König 239. 

Tuberkulosetherapie, Ueber —. Bericht von 

Felix Klemperer 29. 

Ulcus cruris, Ueber die Behandlung des — 
mit Scharlachrot. Kurt Pein 121. 

j Veronalnatrium bei Seekrankheit. Galler 94. 




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Inhalts -Verzeichnis. 


V 


Sachregister. 


Acetonkörperausscheidung 8. 

-säurebestimmung 99. 

Aderlaß 322. 

Adrenalinempfindlichkeit 366. 
Aegypten 381. 

Aetbernarkose, intravenöse 566. 
Aggressinsubstanzen 29. 
Airolvaseline 572. 

Ajaccio 476. 

Akromegalie 465. 

Aktinomykose 85. 

Albargin 124. 

Albuminurie 278. 

Alkohol Verbinde 379. 

Alsol 95. 

Alttuberkuline 30. 
p-Aminobenzoösäure 348. 
Aminosäuren 48. 
Amosüendysenterie 263. 

Anämie 211. 232. 

^Angst 511. 

-zustäade 509. 

Ankylosen 220. 
Antifermentbehandlung 324. 
Antimeristem 41. 

Anurie 566» 

Aperitol 335. 

Aphasie 513. 

Appendikostomie 86. 

Appendizitis 216. 

— -behandlung 173. 

Arsazetin 134. 

Arsentherapie 186. 

Arteria vertebral. 210. 
Arteriosklerose 92. 

Arthritis gonorrhoica 37. 
Ascendieren 459. 

Ascites tbc. 100. 

Asthma 443. 

-behandlung 157. 

— bronchiale 325. 

Asurol 479. 

Atlas: bösartige Geschwülste 418. 
Azidose 97. 

Bad und Infektion 418. 

Baldrian, Therapie 377. 
Basedowsche Krankheit 484. 

— Syndrom 366. 

Bauchdeckensaht 218. 

-deckenspamtung 467. 

-wandblutungen 467. 

Beckenhochlagerung 278. 

— -Operationen 419. 

Bilharzia 383. 

Blasentuberkulose 540. 
Bleivergiftung 362. 

Blinddarmfistei 278. 
Blutgefäßklemme 419. 

- Untersuchungen 42. 

- Zuckergehalt 236, 

Botulismus 36. 

Bovovakzin 228. 

Bromtherapie 42. 

Bronchialasthma 237. 

Brüche 131. 

Chemotherapie, intravenöse 61. 
Chirosoter 376. 

Chirurgie, spezielle 277, 

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Chlorose 86. 367. 

Cholelithiasis 146. 276. 
Cholsäuresapfen 263. 
Chondrodystrophie 463. 

Coxitis 281. 

— tbc. 220. 

Cydoform 348. 

Cystoskopie 41. 

Darmblutung 420. 

-Infektionen 34. 

-Verschluß 278. 

-, operativer 420. 

Dauerdrainage 464. 

Delirium tremens 270. 

Dermatol. Diagnostik 277. 
Desmoidreaktion 255. 

Diabetes 8. 325. 

— insipidus 4. 514. 

— mellitus 188. 289. 

Diathesen 420. 
Dickdarmerkrankungen 325. 

-katarrhe 87. 

Digalen 28. 

Digistrophan 153. 

Digitalis 27. 482. 

Digitalysat 405. 

Dioxydiamidodiarsenobenzol 316. 
Diphtherie 346. 

Duodenalblutungen 179. 

-geschwür 433. 

Dyspepsia uterina 45. 

Dysthyreosis 61. 

Bhrlich-Hatasches Mittel 316. 407. 

411. 432. 515. 561. 564. 
Eisenchloridreaktion 8. 

Eklampsia gravid. 180. 

Empyema putrid. 337. 
Endobronchiale Therapie 237. 
Endometritis 325. 
Entfettungsbehandlimg 173. 

-diflt 140. 

--kuren 279. 492. 

Epidemie, psychische 361. 
Epidurate Injektion 422. 

Epilepsie 42. 129. 208. 368. 
Epilepsia minor 514. 
Ernährungsneurosen 476. 

Erysipel 326. 380. 

Escalin 480. 

Exarticulatio pedis 463. 

Facialislähmung 131. 
Fersenneuralgie 280. 

Fettembolie 219. 
Fetttransplantation 464. 
Fettverdauung 567. 
Fibrolysinbehandlung 131. 

Fieber aus unbekannter Ursache 83. 

-Untersuchungen 457. 

FingergangrSn 44. 

Frakturen 567. 

Frakturbehandlung 22. 
Fremdkörper des Magendarmkanals 
129. 

Fußgeschwüre 421. 

Qalle 89. 

Gallenblase 422. 


Gallenfistel 218. 

-gangskarzinom 45. 

Gärungsdyspepsie 537 
Gastroptose 1. 

Gelatineinjektionen 422. 
Gelenkchondrome 464. 

— -entzündungen 380. 

-erkrankungen 174. 

-hydrops 462. 

-Infektionen 37. 

-neuralgie 426. 

— -rheumatismus 110. 224. 

-tub. 175. 

Genußmittel 158. 

Geschwülste, maligne 215. 
Geschwulsttransplantation 138. 
Gibbus 280. 

Gicht 236. 

Gonorrhoe 130. 366. 

Grundriß nnd Atlas (Chirurgie) 277. 
Gynäkologie (Atlas) 208. 

Gynoval 336. 

Haferkur 8. 293. 
Haltungsanomalien 351. 
Hämophilie 44. 

Harnröhrentripper 353. 
Hartleibigkeit, angeborene 287. 
Hautdefekte 326. 
Heißwasserbehandlung 89. 
Heilserum 346« 

Heine-Medinsche Krankheit 4 74. 
Hernien 497. 

Herpes zoster 380. 

Herzstörung 514. 

Herztherapie 26. 

Hinken, intermittierendes 513. 
Hirnpunktion 210. 

Hormone 236. 

Humorale Kampfmittel 371. 
Hüftgelenksluxation 281. 369. 
Hydrocepbalus 131. 

Hyperaemicum 271. 
Hyperämieerzeugung 574. 
Hyperthyreosis 61, 

Hypnose 134. 

Hypophyse 211. 

Hypophyson 188. 
Hysterostomatomia 458« 

Infektion 34. 

Infektionskrankheiten 435. 

Infusion 132. 

Intubation 176. 

Ischias 422. 

Jod-Arsentherapie 66. 

Jodarsyl 67. 

Jodglidine 568. 

Jodipin 183. 

Jodival 568 
Jodomenin 92. 

Jodothyrin 180. 

Jodthion 528. 

Jod Wirkung 568. 

Kalter Abszeß 160. 

Karzinom 177. 

Karelische Kur 173. 


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Inhalts -Verzeichnis. 


V! 


Keuchhusten 133 305. 429. 
Ketonurie 292. 

Kleinhirn, Funktion 512. 

-tumoren 469. 

Klima 369. 

Klumpfußbehandlung 370. 
Klystierersatztherapie 261. 
Kniescheibenverrenkung 463. 
Knochenchirurgie 22. 

Kochbuch für Magen-Darmkranke 
170. 

Kochsalz-Infusion 423. 

— -therapie 42. 

— — -hydrate 470. 

Kongenitale Erkrankungen 129. 
Kongreß (82.) deutscher Natur¬ 
forscher usw. 456. 

— Deutscher Nervenärzte 509 

— für Chirurgie 208: 

— für innere Medizin 226. 

— der Röntgengesellschaft 223. 

— süd westdeutscher Neurologen 
361. 

Kossam 264. 

Kropf, Aetiologie 214. 

-thyreoidismus 61. 

Küche 300. 

Laparotomieschnitte 219. 
Leberabszesse 383. 

Lehrbuch d. Augenheilkunde 171. 

— der Ernährung und der Stoff¬ 
wechselkrankheiten 40. 

— Haut- und Geschlechtskrank¬ 
heiten .172. 

— Pharmakologie 363. 
Leimverband 464. 

Lepra 84. 

Leukozytäre Heilmittel 371. 
Leukozytose 418. 

Littlesche Krankheit 210. 
Lokalanästhesie 282. 364. 
Luftbäder 371. 

— -druckerkrankungen 235. 
Lumbalanästhesie 222. 372. 
Lungenruptur 178. 

— saugmaske 237. 

— tuberkulöse 373. 

Lyssa 35. 

Madenwürmer 326. 

Magen- uud Frauenleiden 45. 

-atonie 1. 

-blutungen 179* 

-geschwür 89. 222. 373. 423. 

467. 

-ptose 1. 216. 

Malleolarfrakturen 462. 

Mehlabbau 474. 

Meniferescher Symptomenkomplex 
46. 

Meningitis 179. 

— serosa 326. 
Menschenfettinjektionen 424. 
Metritis chron. 89. 

Mikrogastria 458. 
Milchserumernährung 472. 

-zucker 425. 

Milzexstirpationen 425. 
Mißbildungen 129. 

Momburgsche Blutleere 419. 
Morbus Basedowii 60. 61. 215. 
Muskelinfektionen 37. 

* Myom 364. 

Myopathie 511. 

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Nagelextension 22. 221. 

Narkosen 373. 

-gefahren 133. 

Nasenbluten 402. 

-plastik 216. 

Nebennierenpräparate 446. 
Negrische Körper 35. 

Nephritis haemoglobin. 327. 
Nephropexie 91. 

Nephrektomie 47, 
Nervenkrankheiten 512. 514. 

— therap. Taschenbuch 85. 
Neuralgie 514. 

Neurasthenie 417. 

Neurochirurgie 374. 

Neurose, Traumatische 238. 
Neutuberkuline 30. 
Nierenabsonderung 327. 

— -dekapsulation 374, 

-Insuffizienz 327. 

-tuberkulöse 540. 568. 

-Verletzung 375. 

.Nil nocere* 133. 
Novokain-Suprarenin 450. 

Oberschenkelbrüche 47. 

Oedeme 327. 

Oelsäure 180. 

Oophorin 91. 

Operationslehre 364. 

Orthopädie 364. * 

Osteoplastik 466. 

Ovogal 152. 

Oxybuttersäurebestimmung 15. 97. 
Oxygar 105. 

Pankreasnekrose 218. 375. 
Pantopoo 206. 586. 
Paraffineinläufe 261. 

Paralysis agitans 363. 
Patellarfrakturen 283. 

Pellagra 383. 

Perikarditis 328. 

Perityphlitis 329, 420. 

Pergenol 190. 

Pharmakologie, Experimentelle 207. 
' Phlebotonömeter 322. 

Pirquetsche Reaktion 39. 

Plattfuß 283. 

Pleuraexsudate 337. ? 

Pleuritis 396. 

Pneumomassage 46. 

Pneumothorax 198. 333. 
Poliomyelitis 475. 

Polyurie 5. 

Ponserkrankungen 509. 

Prolapsus uteri 329. 
Prostatahypertrophie 376. 
Protozoenkrankheiten 233 
Pruritus 48. 

Psoriasis 329. 

Psychiatrische Sachverständigkeit 
559. 

Psychoanalyse 134. 

Psychologie, experiment 555. 
Psycholog. Probleme 554. 
Psychoneurose 514. 

Psychose 511. 

Psychotherapie 134. 385. 556. 
Pubertät und Schule 456. 
Pubertätsstörungen des Herzens 
193. 

Puerperale Infektion 82. 
Purinstoffvvechsel 526. 

. Pyelitis gravid. 459. 


Pyelotomie 136. 

Pyloroptose 1. 

Radium 177. 

— -emanation 526. 
Radiusfrakturen 462. 

Raynaudsche Krankheit 44. 
Rektale Ernährung 48. 
Rekto-Romanoskop 457. 

Reklame 239. 

Rhino-laryngol. Winke 85. 
Röntgenbehandlung der Myome 

326. 

-bilder chron. Arthritiden 174. 

!-diagnostik d. Magenkrankheiten 

570. 

-strahlen in der Gynäkologie 

310. 

-Idiosynkrasie 224. 

— — und Wachstumsstörungen 
225. 

| —therapie von gynäk. Krank- 
j heiten 224. 

! -bei Pruritus 48. 

:-des Sarkoms 223. 

-ulzera 225. 

Rückenmarkschirurgie 210. 513. 
— Wurzelnresektionen 513. 
Ruheübungen 515. 

Salizylsäure 148. 

Sarton 145. 

Sakralanästhesie 468. 
Sauerstoffbad 54. 
Säuglingsernährung 470. 471. 
Scaphoid scapula 515. 
Schädelschüsse 210. 

Scharlach 16. 418. 

— -rot 121. 

-serum 19. 

bchenkelhalsbrüche 330. 
Schilddrüse 180. 

—ntransplantation 466. 
Schläfenbein 376. 

| Schmierseifenkur 112. 
Schulterluxation 220. 

Seeldima 369. 

-krankheit 94. 

Seelenstörungeni einfache 560. 
Sehnennaht 180. 

-transplantation 219. 

Sehsphäre 512. 

Sepsis, Otogene 330. 

Seröse Häute 181. 

Serumdosen bei Diphtherie 136. 
Sexualpathologie 556. ' 
Sexualpsychologie 556. 

Sexuelle Infektionen 79. 

Sklerose multipl. 513. 

Skoliose 463. 

—nbehandlung 284. 

Solbäder 112. 

Sonnenbestrahlung 91. 
Spirochätennachweis 130. 
Spondylitis tbc. 182. 
Stauungshyperämie 118. 

-papille 513. 

Sterilität 91. 

Streptokokkenserum 107. 

-virulenz 221. 

— -sepsis 185. 

Strychnin 20. 

Stuhlzapfen 262. 

Subazidität 285. 

Suggestivnarkose 184. 


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Inhalts •Verzeichnis. 


VII 


Suggestion in gynfikol Praxis 183. 
Suprareninanfimie 282. 

Syphilis 366. 407. 411. 479. 

— späte 172. 

— congenit. 330. 

— -diagnose 130. 

— -heilmittel 316. 407. 411. 432. 

515. 561. 564. 

— -therapie 526. 

Tabakvergiftung 238. 

Tabes 298. 

Taka-Diastase 537. 

Taubstumme 330. 

Taubstummheit 427. 

Tauruman 228« 

Tenazittt 241. 

Tetania parathyreopriv. 185. 
Tetanus 35« 

Tetanustoxin 35. 

Thoraxdilatation 211. 

-Stenose 211. 

Thymusexstirpatioo 214. 

— p£rsistens 215. 

Thyreoglobulin 180. 


Thyreotropie 68. 

Tonsillarbehandlung bei Rheuma 
137. 

Traktionsdivertikel 345. 

Trion 189. 

Trypanosomiasis 36. 

T rypsinbehandlung 
Typhlitis stercoral. 331. 
Tuberkelbazillen 427. 

Tuberkulin 29. 

-behandlung 239. 356. 

Tuberkulose 38. 111. 227. 

— Chirurg. 239. 464. 

— und Schwangerschaft 460. 

— -lieber 457. 

— rtherapie 29. 

Tumeurs cdr6brales 513. 

Typhus 427. 571. 

Ulcus cruris 121. 

(J nterkieferresektion 185. 
UnterschenkelbrOche 47. 
Urotropin 52. 

Uterusruptur 185. 


Vasotonie 238. 

Variköser Symptomenkomplex 41. 
426. 

Vakzineerkrankungen 139. 
Verbrennungen 376. 
Verdauungskrankheiten 236. 
Veronalnatrium 94. 
Vibrationsmassage 46. 

Vitiligo 92. 

Waldheilstfitten 113. 

Wasfiermannsche Reaktion 80. 130 
Webersche Probe 434. 

Widalsche Reaktion 34. 
Wirbelanomalien 463. 

Wismut 186. 

— -paste 165. 
Wochenbettpathologie 171. 
-^-Physiologie 171. 
Wundbehandlungstechnik 

— «Infektion 81. 
Wurmfortsatzentzündung 571. 

Zahnkrankheiten 428. 
Zwerchfellhochstand 572. 


Autorenregister. 

(Die Seitenzahlen der Original-Mittellangen sind fett gedruckt.) 


Abderhalden 48. 
Albers-Schönberg 224. 
Albu 142. 

A. Alexander 537. 

W. Alexander 514. 

— u. Kroner 85. 

Alwens 100. 

Anschütz 22. 221. 
Arnsperger 420. 
Aschafienburg 511. 559 
Aschnew 211. 

Aschofi u. Bacmeister276. 
Assen 131. 

Auerbach 374. 

Axenfeld 171. 

Axisa 253. 

Bab 91. 

Baedecker 54. 

Baginsky, A. 16.435- 
Balzer 476. 

Bardenheuer 283. 

Baum 283. 

Bfiumer 479- 
Bennecke 418. 
Beigemann 462. 
v. Bergmann 279. 

Berlin 136. 

Berliner 133. 

Benster 327. 

Biedert und Langermani 
170. 

Birnbaum 129. 

Blum 97. 

Boas 87. 

Boelke 153. 

Borelius 45. 

Bornstein 369. 

Bradt 305. 


Braitmeyer. 143. 

Brandes 369. 

Braun 419. 467. 

Brodnitz 374. 
v. Brunn 218. 

Brunner 221. 

Budberg 287. 

Bumm 82. 

Burkhardt 373. 376. 
Buschke 92. 

Caan 177. 

Caspar 375. 

Cathelin 422. 

Clairmont u. Haberer 566. 
Clemm 325. 

Qufi 368. 

I Cordes 331. 

I Cramer 456. 556. 

| Cronheim 369. 

I Czerny 215. 

Dahlgreen 44. 

Danielsen 185. 

Daus 333- 
Doederlein 458. 

Dohan 224. 

Dollinger 220. 
Dövenspeck 327. 

Dubois 385. 

Ebner 173. 

Ebstein! W. 84. 

Eckstein 325. 

Ehrlich 515. 

— u. HaU 233. 

Eichler 145. 
v. Ebelsberg 467. 
Ephraim 237. 


; Elsässer 183. 

Ewald 28. 420. 457. 568. 

Faber 278. 

Fein 85. 

| Finckh 570. 

I Finsterer 179. 423. 

Fischer, W. 411. 

I Flatau 335. 

Floerken 376. 

Flügge 81. 

Focke 402. 

Forlanini 196. 331. 
Förster 513. 

Försteriing 225. 
i Fournier 172t 
1 Fraenkel, A. 337- 
j — M. 310. 

Frangenheim 463. 

Frank u. Schiftenhelm 4f 
Franz 210. 
Frenkel-Heiden 514.. 
Freund, W. A. 211. 
i Friedlfinder 514. 

Fritsch 375. 

Froehlich 70. 366. 

Gabele 215. 

Galler 94. 

Garr6 462. 465. 
Gerhardt 232. 

Göronne 139. 

Gerson 572. 

| Gesellschap 396. 

Girard 216. 

Gliflner u. Singer 89. 
Glaserfeld 353. 
Graefenberg 133. 
j Grau 422. 


Graves 515. 

Grünwald 327. 

Gudzeut 236. 529. 
Gumpert 92. 

Hagemann 464. 

Haglund 370. 

Hailauer 183. 
Hallervorden 206. 
Hannes 418. 

Hansberg 330. 

1 v. Hansemann 211. 418. 
| Hfirtig 422. 

| Hatschek 511. 

1 Heeger 131. 

Held 561. 
i Heüe 571. 

Herischlaff 515. 

Hetzer 46. 

Hesse 210. 324. 

Heubner 330. 

Hüdebrand 37. 210. 
Hirsch 193. 

Hirschberg, A. 335. 

, Hirschfeld 325. 

Hoche 509. 560. 
Hochsinger 476. 
Hofbauer 460. 

Hoffmann 467. 
Hofmebter 419. 
Höftmann 421. 

Hollfinder 329. 424. 
Hörsley 512. 

Impens 348. 

Jacobsohn. E. 174 223. 

- L 34 298. 446 509. 

554. 


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Got gle 


Original from 

UNIVERSiTY 0F CALIFORNIA 






VIII 

Inhalts -Verzeichnis 

1 

Jessen 427. 

Loewy 369. 

Peuckert 262. 

Sommer 555. ! 

Jianu 131. 

Lorenz 281. 330. 

Pfeiffer 513. 

Sonnenburg 216. I 

Joachimsthal 463. 

Lorinsky 60. 

Philippson 277. 

Sprengel 219. | 

Jochmann 35. 

Löwenfeld 134. 

Pick 571. 

Steinthal 89. 

JoDy 208. 329. 

Lüthge 8. 

Pick u. Pineies 180. 

Stern 380. f 

Jung 459. 


Plehn 83. 

— R. 42 

Jargensen 572. 

Maß, O. 5t4. 

Polano 180. 

Sternberg 158. 300. 492 | 


Makkas 136. 

Poulsson 363. 

Stieda 466. i 

Kan Kato 105. 

Manasse 376. 

Port 464. 

Stransky 511. t 

Karewski 497. 

Mann 373. 

v. d. Porten 270 

Strauß 173, j 

Kaspar 176. 

Marburg 509. 


Sudeck 185. 

Katzenstein, L. 186 

Marinesco 513. 

Quincke 235. 

Sultan 277. 1 

Kausch 111. 131. 

Matsuoka 


Syllaba 484 j 

Kayser 426. 

Mayer 225. 

Rabinowitsch 427. 

V 

Klapp 220. 

Meidner 407. 564. 

Raimann 514. 

Tabora 322. 

Klapps 420. 

Meißen 38. 

Ratzeburg 110. 

Tachau 346. 

Klemperer, F. 29. 220 

Meiaicke 234. 

Rehn, E. 464. 

Thieß 132. < 

- G. 191. 226.230.816. 

Melchior 175. 

jr. 219. 

Tietze 218. 

432. 480. 

Mendel, F. 61. 

Reicher u. Stein 236. 

Tilmann 469. 

Klink 208. 

Mesernitzky 526. 

Rietschel 472. 

Timofeew 327. 

Klose u. Vogt 214. 

Meyer, R. 190. 

Risel 473. 

Trfinner 514. 

Klotz 474. 

— u. Gottlieb 207. 

Rider 271. 


Kocher 216. 

Minkowski 4. 512. 

Ritter 326. 

Unna, W. 261 

Köhler, C. 379. 

Moeli 556. 

Roemheld 285 

Umber «0. 438. s 

- F. 356. 

Mohr 211. 

Romberg 229. 

Urbantschitsch 427. x 

König, Fr. 239. 280. 

Moll 556 

Römer 234. 

Usuki 567. ' ^ 

— u. Hohmeier 222. 

Morawitz 367. 

Rosinski 459. 

* 1 

Krause 234. 

Mörchen 514. 

Rosenthal, O. 89. 

Valentini 427. | 

— u. Tilmann 208. 

Mosler 181. 

Rosman u. Kuttner 574. 

von den Velden 42. 211. ! 

Krukenberg 284. 

Mühsam, A. 528. 

Rothmann 512. 

Veraguth 417. 

Kuchendorf 366. 

Müller 369. 

Rubens 329. 

Vogt 129. 

Kuhn 237. 

— E. 471. 

Rubritius 371. 

Voß 326. 

Kulbs 372. 

— G. 351. 364. 

Rumpel 41, 


Kümmel 210. 216. 540. 

— u. Fellner 238. 


Wallenberg 509. 

Kuttner 210. 

Mulzer 130. 

Samter 463. 

Weiland u. Sandalowsky 

- P. 377. 

Muskat 273. 

Sftnger 513. 

256. i 

Küttner 566. 


Sarason 286. 

Weiß, O. 443 ? 


Naegeli 238. 

Sauerbruch 211. 

Wiekham u. Oegrais 277. 

Landau, P. 364. 

Nathan, A. 124. 

Schanz 281. 

Wideröe 423. 

Lange, B. 280. 

Neißer 526. 

Scheuer 366. 

Widmer 91. 

Langstein 470. 

— E. 458. 

Schichhold 137. 

Widbolz 568. 

Latz 140 

Neuber 220. 

Schilling 430. 

Wiesner 475. 

Lauritzen 289. 

Neumann 182. 

Schindler 326» 

Wildt 567. 

Läven 468. 

Neumayer 376. 

Schlesinger 364. 

Willinger 428. 

Lehndorf 425. 

Nobl 41. 

— H. 513. 

Wilms 86. 219. 

Leischner 466. 

Noesske 44. 

Schloß 472 

— u. Bircfcer 214. 

Lenier 475. 

Nonne 513. 

Schmidt 326. 

Winkler 41. 

Lenk 91. 

v. Noorden 1. 86 . 

— A. 34. 

Wirz 326. 

Lenn6 188. 

— u. Lamp4 145. 

— H. E. 48. 223. 

Wolf 178. 457. 

Lenzmann 84. 

Nordmann 278. 

Schmiz 278. 

Wolfler u. Lieblein 129. 

Leser 277. 


Schöne 138. 

Wölfler 85. 

Lesser 79. 

Oppenheim 133. 509. 

Scholtz, W. 130. 

Wrede 463. 

Leube 241. 

— u. Borchardt 179. 

Schrote 429 

Wyss u. Ulrich 42. 

Levisohn 45. 

Ortner 328. 

Schüller 513. 


Levy-Dom 224. 

Pankow 89. 325. 

Schütz 227. 

Zak 425. 

Lewitt 95. 

Paschkis 47. 

Schwarz 373. 

Zappert 474. \ 

v. Leyden f 482. 

Pflßler 569. 

Sdpiades 185. 

Zickgraf 371. 1 

Lexer 216. 

Payr 222. 

Seidel 218. 

Ziegler 425. 

Lilienstein 301. 381. 

Pein 121. 

Siccard 422. 

Ziehen 554. 

Litzenfrey 374. 

Pels-Leusden 364. 

Slajmer 372. 

Zuelzer 157. 236 

Loewi 366» 

Penzoldt 227. 229. 

Sohler 464. 

Zuppinger 47. 


--- 


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