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DIE THERAPIE DER GEGENWART
MEDIZINISCH CHIRURGISCHE RUNDSCHAU
FÜR PRAKTISCHE ÄR2TE.
( 51 . Jahrgang.)
Unter Mitwirkung hervorragender Fachmänner
herausgegeben von
PROF. DR. G. KLEMPERER
BERLIN.
Neueste Folge. XII. Jahrgang.
Alle Rechte Vorbehalten
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Gedruckt bei Julius Sittenfeld, Hof buchdrucker-, Berlin W
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Die Therapie der Gegenwart
1910
herau8gegeben von Prof. Dr. G. Klemperer
in Berlin.
Januar
Nachdruck verboten.
Aus der I. medizinischen Klinik der Universität Wien.
Zur Therapie der Gastroptose. 1 )
Von Carl von Noorden»
Unsere Vorstellungen über Gastroptose
und über Magenatonie haben seit der Einfüh¬
rung der Röntgoskopie in die Diagnostik
eine gründliche Wandlung erfahren. Eine
echte Gastroptose kommt zweifellos vor;
sie ist dann stets Teilerscheinung einer
auch auf andere Bauchorgane, insbesondere
auch auf die Leber sich erstreckenden
Ptose. Das ist aber, von ausgesprochenem
Hängebauch abgesehen, selten, ln den
ungemein zahlreichen Fällen, wo wir früher
bei normaler Beschaffenheit der Bauch¬
wand, bei normaler Lagerung der übrigen
Organe oder höchstens bei gleichzeitiger
abnormer Beweglichkeit der rechten Niere,
aus dem Ergebnis der Palpation, aus der
Verbreitung des Plätschergeräusches, aus
dem Resultat der Magenaufblähung Ma-
genptose diagnostizierten, handelt es sich
fast immer nur um eine Verlängerung
des ganzen Magens. Da dieselbe am
kaudalen Magenabschnitt natürlich am
stärksten zum Ausdruck kommt, fällt im
Röntgenbilde der Tiefstand der Pars pylo-
rica besonders stark in die Augen. Die
Pars pylorica erscheint gleichzeitig abnorm
beweglich, schlecht fixiert. Es hat daher
eine gewisse Berechtigung, wenn F. M.
Groedel geneigt ist, den Namen „Gastro¬
ptose 41 überhaupt fallen zu lassen, und da¬
für den Namen „Pyloroptose“ einführen
will. Er deckt mit diesem Worte das, was
im Schattenbilde zweifellos am meisten im¬
poniert. Da aber — mit seltenen Aus¬
nahmen — auch höher gelegene Teile des
Magens tiefer als normal gerückt sind, liegt
kaum ein Grund dafür vor, den alten gut
eingebürgerten Namen „Gastroptose 44 fallen
zu lassen. Man muß sich nur erinnern,
daß jede Gastroptose die Pars pylorica am
stärksten betreffen wird.
DieimRöntgenbildestark ausgesprochene
Ptose des kaudalen Magen teils ist fast
immer verbunden mit einer abnormen Dehn¬
barkeit der Magenwände und beruht wahr¬
scheinlich in erster Stelle auf dieser ab¬
normen Dehnbarkeit; das Organ erscheint,
wenigstens bei aufrechter Körperstellung,
*) Nach einer Demonstration mit Lichtbildern in
der K. K. Gesellschaft der Aerzte, Wien, 3. Dezem¬
ber 1909.
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abnorm lang gestreckt, wie ein langer, 5
bis 7 cm dicker Schlauch, während die
Pars pylorica in der Regel nach oben ge¬
richtet bleibt. Es resultiert gewissermaßen
eine Uebertreibung der so häufig bei Ge¬
sunden vorkommenden „Angelhakenform 11
des Magens. Manchmal rückt auch der
Pylorus an die tiefste Stelle des Magens.
Niemals sieht man bei der Pylorusptose
die andere, von Holzknecht beschriebene
normale Form desMagens: „Stierhornform 11 .
Bei Belastung des mit Pylorusptose behaf¬
teten Magens in aufrechter Stellung sieht
man oft den der Pars pylorica benachbarten
Teil der großen Kurvatur sich sackförmig
nach unten ausbauchend, ein weiteres Zei¬
chen für die abnorme Dehnbarkeit des
Organs.
Außer primärem Verlust an elastischer
Kraft kann wohl auch mangelhafter Vorrat
an stützendem Bauchfett die Ursache der
Pylorussenkung sein. Wenigstens spricht
die bekannte Tatsache dafür, daß wir ge¬
rade bei sehr mageren Personen aus dem
klinischen Symptomenbilde und aus dem
Durchleuchtungsbefund auf abnormen Tief¬
stand des kaudalen Magenteils schließen
müssen und dies bei der Durchleuchtung
bestätigt finden. Aber auch hier ist ab¬
norme Dehnbarkeit in der Längsrichtung
die Voraussetzung dafür, daß es wirklich
zur Pylorusptose kommt.
Die beiden, früher mit vieler Kunst aus¬
einander gehaltenen Begriffe: Magenptose
(respektive Pylorusptose) und Magenatonie
lassen sich heute nicht mehr scharf tren¬
nen. Die neueren klinischen und röntgo-
logischen Erfahrungen gestatten beide Be¬
griffe miteinander zu verbinden und von
„atonischer Pyloroptose“ zu reden. Damit
kennzeichnet man den weitaus häufigsten
Tatbestand.
Wo im klinischen Sinne des Wortes
Atonie des Magens besteht, wird auch stets
Pylorusptose gefunden werden. Umgekehrt
ist aber nicht jeder Tiefstand der Pars py¬
lorica mit Atonie vergesellschaftet, d. h. bei
weitem nicht immer findet man bei der
Ausheberung verlangsamte Entleerung und
bei der röntgologischen Untersuchung ver¬
spätete und träge Peristaltik.
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2
Die Therapie der Gegenwart 1910.
Januar
Besonders hervorzuheben ist, daß die
Beschwerden, die wir gewohnt sind auf
Magenatonie zu beziehen, sehr häufig aus
den Resultaten der objektiven Untersuchung
nicht befriedigend erklärt werden können.
Oft freilich lehren sowohl Magenspülung
wie Durchleuchtung, daß die Entleerung
des Magens wirklich verlangsamt ist; z. B,
die Durchleuchtung zeigt, daß die peri¬
staltischen Wellen abnorm flach verlaufen
oder zu spät einsetzen oder daß nach an¬
fangs normaler Peristaltik eine lange Pe¬
riode der Untätigkeit des muskulären Ma¬
genschlauches folgt. Aber das Gefühl der
Völle und des allzulangen Verweilens der
Speisen im Magen wird oft auch geklagt,
wenn der tatsächliche Ablauf der Magen¬
entleerung nichts zu wünschen übrig
läßt. Die Beschwerden spielen sich dann
nur auf subjektivem Gebiete ab, es
besteht nervöse Dyspepsie, gemäß der von
Leube seinerzeit gegebenen Deutung des
Wortes. Der Patient empfindet die Be¬
lastung des Magens, während er —
wenigstens bei mäßiger Füllung des Or¬
gans — keine Empfindung davon haben
sollte. Diese Empfindung der Belastung
des Mageninnern scheint eng verknüpft mit
dem Tiefstand der Pars
pylorica und vielleicht
mit dem auf ihr tasten¬
den Druck zu sein.
Unter den therapeu¬
tischen Hilfsmitteln, die
zur Bekämpfung der
atonischen Pyloroptose
dienen, sind als wich¬
tigste zu nennen:
1. Vermeidung star¬
ker Belastung des Ma¬
gens. Daher sind ko-
piöse Mahlzeiten und
allzu schnelle Füllung
des Organs zu meiden.
Kleinere häufige Mahlzeiten sind, meist
größeren seltenen vorzuziehen. Meist ist
die gleichzeitige Aufnahme von festen und
flüssigen Stoffen zu verbieten.
2. Erleichterung schneller Magenent¬
leerung durch Rückenlage nach den Haupt¬
mahlzeiten, am besten mit leichter Wen¬
dung des Körpers nach rechts.
3. Anwendung solcher Arzneimittel, die
erfahrungsgemäß und auch nach experi¬
menteller Prüfung den Vagustonus der Ma¬
genmuskulatur erhöhen. Mein Assistent
Alb. Müller 1 ) hat darüber entscheidende
*) Müller und Saxl, Ueber den Tonus der
glatten Muskulatur und die Kapazität des Magens
^Wien. med. Woch. 1909, S. 1640).
Versuche angestellt. Als tonuserhöhend
erwiesen sich vor allem: Strychnin und
Physostigmin, ferner Pilocarpin.
4. Aufbesserung des gesamten neuro¬
tischen Zustandes der Patienten. Die meisten
Individuen mit Magenätonie sind Neuro¬
tiker. A. Müller und P. Saxl 1 ) erkannten
in der Atonie „eine Störung des normalen
Umschichtungsprozesses der Magenmusku-
latur“. Der bei Ausdehnung und bei Zu¬
sammenziehung des Magens erfolgende Um¬
schichtungsprozeß wird vom Nervus vagus
beherrscht. Tatsächlich bessern sich fast
immer, mit Besserung des Allgemein¬
zustandes die Erscheinungen der atonischen
Pyloroptose — wenigstens die mit ihr ver¬
bundenen subjektiven Beschwerden.
Neben diesen Maßnahmen hat es die
Therapie stets als wichtige Aufgabe be¬
trachtet, den gesunkenen Magen wieder zu
heben. Zwei Methoden kommen in Be¬
tracht:
5. Die Anlegung von stützenden Binden.
6. Die Fettanreicherung der Bauchhöhle.
ad 5. Was den Einfluß der Binden auf
die Hebung des Magens betrifft, so haben
mich Beobachtungen am Röntgenschirm
recht skeptisch gemacht. Bei allgemeiner
Enteroptose (bei Hängebauch) freilich wurde
der untere Saum des verzehrten Wismut¬
breies stets beträchtlich gehoben, wenn
man eine die untere Bauchhälfte gut
stützende Binde anlegte. Die Unterschiede
betrugen 3—5 cm. Da handelte es sich
stets um Frauen mit erschlafften Bauch¬
decken. Wo aber der Bauch normale For¬
men und die Bauchdecken normalen Tonus
hatten, wurde durch kunstgerecht angelegte
Bauchbinden verschiedener Konstruktion
nicht die geringste Hebung des Magens
bewirkt. Leider habe ich frühere Befunde
nicht aufzeichnen lassen, sodaß ich augen-
*) Müller und Saxl, Ueber den Vorgang der
Magenfüllung (Wien. klin. Woch, 1908, Nr. 14),
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Januar
Die Therapie der Gegenwart 1910.
3
blick lieh nur Ober zwei Bilder verfüge, die
dies illustrieren (cf. Abb. 1 und 2). Im
Gegensatz zu der Unveränderlichkeit
des objektiven Befundes ist aber her¬
vorzuheben, daß die meisten Patienten eine
wesentliche Erleichterung der sub¬
jektiven Beschwerden hatten, wenn sie
die die untere Bauchhälfte mäßig kompri¬
mierende Binde tagsüber trugen. Diesen
Vorteil wird sich die Therapie natürlich zu
nutze machen, insbesondere bei nervösen
Individuen. Worauf der gute Einfluß auf
die subjektiven Beschwerden zurückzuführen
ist, muß noch festgestellt werden.
Natürlich will ich nicht in Abrede stellen,
daß man auch bei normaler Bauchform die
untere Bauchhälfte so bandagieren kann,
daß ein atonisch-pyloroptotischer Magen
gehoben wird. Dies setzt aber eine Kom¬
pression voraus, die auf die Dauer nicht
vertragen wird. Die gewöhnlichen Bauch¬
binden, auch bester Konstruktion, erreichen
das angestrebte Ziel nicht.
ad 6. Ich habe vor langer Zeit, ge¬
stützt auf Resorptions- und Stoßwechsel¬
untersuchungen begründet, daß es bei zahl¬
reichen chronischen Magenkrankheiten nicht
zweckmäßig sei, ausschließlich auf die Scho¬
nung des erkrankten Organs bedacht zu
sein und diese durch weitgehende Nahrungs¬
einschränkung zu erreichen, sondern daß
man viel besser zum Ziele komme, wenn
man — natürlich unter sorgfältiger Aus¬
wahl der Nahrung — in erster Linie auf
die möglichste Steigerung der Zufuhr und
auf Kräftigung des ganzen Körpers aus¬
gehe 1 ). Die Besserung des Ernährungs¬
zustandes werde dann auch dem erkrankten
Organ zugute kommen. Unter den Magen¬
krankheiten, die solcher Therapie zugäng¬
lich seien, wurde auch die Magenatonie
und das Ulcus ventrieuii genannt. Ich bin
diesen Grundsätzen seitdem treu geblieben
— ohne freilich soweit zu gehen wie Len-
hartz — und die mästende Ernährung auch
auf Magengeschwüre mit frischen Blutungen
auszudehnen. Was die Magenatonie be¬
trifft, so galt es damals noch als etwas
Neues und Kühnes, die Rücksicht auf den
Magen beiseite und die Aufmästung in
den Vordergrund zu schieben. Inzwischen
ist die Methode der Aufmästung bei Magen¬
atonie zu allgemeiner Wertschätzung ge¬
langt; wenn sie freilich nicht immer zum
Ziele führt, so liegt dies nicht am Prinzip,
sondern daran, daß ihrer Durchführung
doch recht viele praktische Schwierigkeiten
*) von Noorden, der Stoffwechsel bei Magen¬
kranken und seine Ansprüche an die Therapie. Ber¬
liner Klinik 1893, H. 55.
entgegenstehen, die zu Hause nur selten
in Krankenhäusern und Sanatorien nur
unter Aufbietung größter Sorgfalt umgangen
werden können.
Es ist mir aus vergleichenden Aushebe¬
rungen des Magens schon seit langem be¬
kannt, daß trotz starker und während der
Behandlung langsam wachsender Bean¬
spruchung des Magens die Entleerungszeiten
anfangs atonischer Mägen immer kürzer
wurden. Ich muß mich dabei auf ältere
Krankengeschichten beziehen, da ich jetzt
bei Magenatonien von Magenausheberungen
fast gänzlich absehe und höchstens im An¬
fänge der Behandlung am späten Abend
eine solche vornehmen lasse, um den Magen
vor der physiologischen Ruhezeit, d. h.
nachts, gänzlich zu entlasten. Ich fand
unter meinen No tizenl 1 Krankengeschichten,
in denen vermerkt ist, daß der Magen
morgens eine Stunde nach der Aufnahme
von 400 ccm Tee und 4 Zwiebäcken noch
reichliche Mengen der Mahlzeit enthielt,
während nach einer mehrwöchigen diäteti¬
schen mästenden Behandlung der Magen
schon nach 40 Minuten leer gefunden wurde.
Eine viel größere Serie gleichsinniger Be¬
obachtungen stellte mir mein Freund und
Schüler C. Dapper (Kissingen) zur Ver¬
fügung, der sich der gleichen Behandlungs¬
und Untersuchungsmethoden wie ich be¬
diente.
Das Röntgen verfahren gibt uns jetzt die
Möglichkeit an die Hand, viel genauer den
Einfluß der Behandlung auf Stand und
Verhalten des Magens kontrollieren zu
können. Aus früherer Zeit besitze ich
leider keine Bilder. Bei 9 Fällen von ato¬
nischer Pyloroptose, die ich im vorigen
Sommer mittels Mastkuren behandelte, ließ
ich die Magenformen vor und nach der
Behandlung aufzeichnen 1 ). Es ist kaum
nötig zu erwähnen, daß beide Aufnahmen
unter völlig gleichen Bedingungen gemacht
wurden (gleiche Tageszeit, gleiche Be¬
lastung mit Wismutbrei usw.). Die Re¬
sultate sind überzeugend: in allen Fällen
wurde eine bemerkenswerte Hebung der
Pars pylorica gefunden. Wo sich vor der
Behandlung der an die Pars pylorica gren¬
zende Magenteil sackförmig unter der Be¬
lastung ausbauchte, war diese Ausbauchung
später verschwunden. Wo man bei der
ersten Aufnahme abnorme Weitung der
mittleren Magenpartien und schlechte Um¬
spannung des Inhalts fand, waren diese
Verhältnisse später erheblich besser ge-
l ) Die Röntgenaufnahmen wurden von ver¬
schiedenen Röntgologen gemacht (Holzknecht,
v. Schmarda, Schwarz, Robinsohn).
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Die Therapie der Gegenwart 1910.
Januar
worden oder völlig normaler Anspannung
gewichen.
Die Dauerhebungen des unteren Magen¬
saumes betrugen:
in einem Falle (Herr O.) 3 cm. — Zunahme
4 kg,
in einem Falle (Frl. W.) 4 cm. — Zunahme
4,8 kg,
in drei Fällen (Herr V., Herr H., Frl. C.)
5 cm. — Zunahme 5 bzw. 6 kg,
in einem Falle (Frau H., straffe Bauch¬
decken) 6 cm. — Zunahme 7 kg,
in zwei Fällen (Frl. M., Herr v. St.) 7 cm.
— Zunahme 3,4 bzw. 6,3 kg,
in einem Falle (Frl. R.) 8 cm. — Zunahme
6 kg.
Kfr 3.
i
Bauchhöhle an der Hebung des Magens
mitbeteiligt. Der größte Teil des Erfolges
dürfte aber wohl auf die Besserung der
Atonie selbst zurückzuführen sein. Voll¬
kommenes Schwinden der Magenbeschwer-
den, die in allen Fällen Vorlagen und die
Patienten zu mir führten, ferner eine aus¬
gezeichnete und nachhaltige Besserung des
allgemeinen Zustandes wurden ausnahmslos
erreicht. Die sämtlichen Patienten wurden
während des Sommers 1909 behandelt; ich
habe inzwischen von ihnen allen die Nach¬
richt erhalten, daß die erzielte Heilung der
Magenbeschwerden eine dauernde geblieben
ist. Bei 7 von den 9 Patienten sind zu
Hause weitere Steigerungen des Gewichtes
(zwischen 2 und 8 kg) eingetreten.
Fig. 4 . Es gibt, wie oben an-
\
— Ursprünglicher Stand des Magens.
. Magen nach der Mastkur, 7 cm Hebung.
(Fall VHI.)
Ursprünglicher Stand des Magens.
Magen nach der Mastkur, 8 cm Hebung.
(Fall IX.)
gedeutet, ja noch andere
Methoden die günstig
auf die atonische Py-
loroptose ein wirken. Ich
glaube aber nach eignen
Erfahrungen nicht, daß
irgend eine andere Me¬
thode bessere und
dauerhaftere Resultate
gibt, als die Aufbesse¬
rung des allgemeinen
Ernährungszustandes.
Für deren tatsächlichen
Nutzen ist jetzt der
Ich kann die Abbildungen hier nicht röntgologische Beweis erbracht. Ich fand
alle wiedergeben und wähle daher nur zwei in der Literatur keine anderen röntgo-
Bilder aus, die das erreichte Resultat deut- logischen Nachweise über therapeutisch
lieh zur Veranschaulichung bringen (Abb. 3 erzielte Hebung bei Magensenkungen,
und 4). Sicher ist die Fettanreicherung der
Aus der medizinischen Klinik der Universität Breslau.
Zur Therapie des Diabetes insipldus 1 ).
Von O. Minkowski.
Suchen wir uns über die Grundsätze I Einzelfalle zu entscheiden: ist die ge-
klar zu werden, von denen wir uns in der
Therapie des Diabetes insipidus leiten
lassen wollen, so müssen wir vor allem
darauf Rücksicht nehmen, daß unter dem
Namen dieser Krankheit ziemlich hetero¬
gene Zustände zusammengefaßt werden,
deren Scheidung voneinander sich nicht
immer leicht durchführen läßt. Bezeichnen
wir als Diabetes insipidus, wie das üblich
ist, eine Krankheit, bei der „andauernd eine
vermehrte Absonderung eines nicht zucker¬
haltigen Harns ohne Erkrankung der Niere*
erfolgt, so kommt es für das praktisch
ärztliche Handeln vor allem darauf an, im
*) Nach einem in der schlesischen Gesellschaft
für vaterländische Kultur am 16. Juli 1909 gehaltenen
Vortrage.
steigerte Harnabsonderung als die
primäre Störung aufzufassen, die zu einer
Verarmung des Organismus an Wasser
führen müßte, wenn der Wasser Verlust nicht
durch reichliche Wasserzufuhr gedeckt
würde, oder ist es nur die krankhafte
Steigerung des Durstgefühls und die
übermäßige Wasserzufuhr, die ihrer¬
seits die Zunahme der Harnmenge zur
Folge hat, oder ist schließlich das Eine wie
das Andere nur die Begleiterscheinung
irgend eines anderen Leidens. Es
liegt auf der Hand, daß die Aufgabe der
Therapie unter so verschiedenen Verhält¬
nissen eine verschiedene sein muss: es
kann z. B. eine Einschränkung der Wasser¬
zufuhr nur im zweiten Falle nützlich und
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Die Therapie der Gegenwart 1910.
5
geboten sein, während sie im zuerst ge¬
nannten Falle leicht schaden könnte, wenn
nicht gleichzeitig noch in anderer Weise der
bestehenden Funktionsstörung Rechnung ge¬
tragen wird; in dem zuletzt erwähnten Falle
aber könnte nur von einer Bekämpfung des
Grundleidens ein Erfolg erwartet werden.
Daß die Krankheitszustände, die der
oben angeführten Definition des Diabetes
insipidus entsprechen, sich in dieser Be¬
ziehung sehr verschieden verhalten können,
unterliegt keinem Zweifel. Ich führe als
Beispiele 3 Fälle an, die ich gerade in den
letzten Tagen hier in Breslau zu beobachten
Gelegenheit hatte:
Der Eine: eine wohlbeleibte, kräftige, aber
sehr nervöse Dame, anfangs der 30 er Jahre,
hat vor einiger Zeit die von Rosenfeld emp¬
fohlene Entfettungskur unter ärztlicher Leitung
mit Erfolg durchgeführt. Als sich später wieder
eine Gewichtszunahme einstellt, will die Pa¬
tientin die Kur auf eigene Faust wiederholen.
Sie erblickt das Wirksame in der reichlichen
Wasserzufuhr, trinkt in ihrem Eifer mehrere
Liter täglich und gewöhnt sich dabei das Wasser¬
trinken bald so an, daß sie es nicht mehr lassen
kann. Jetzt entleert sie täglich 8—10 1 Ham
bei entsprechender Flüssigkeitszufuhr und sie
leidet sehr unter dem unstillbaren Durstgefühl
und dem starken Harndrang. Dabei vorzüg¬
liches Allgemeinbefinden und zunehmende
Körperfülle. Die Patientin „glaubt nicht an die
Aerzte“ und alle ärztlichen Verordnungen, auch
die kochsalzarme Diät, erwiesen sich bis jetzt
als erfolglos. Dagegen soll ein Tränkchen, das
irgend eine Kurpfuscherin verordnet hat, den
Zustand sehr erleichtert haben.
Der Zweite: ein schwächlicher Knabe von
9 Jahren, Körpergewicht nur 21 kg, wird von
seinen Eltern zum Arzt gebracht, weil er „trotz
aller Prügel das Bettnässen nicht lassen will“.
Der Arzt stellt fest, daß der Knabe täglich
9—10 1 Urin von einem spezifischen Gewicht
von 1002 entleert. Natürlich trinkt er auch ent¬
sprechende Mengen. Ein Versuch, das Wasser
gewaltsam zu entziehen, muß bald aufgegeben
werden, weil der Kleine dabei bedenklich elend
wird. In den ersten Tagen der Wasserent¬
ziehung scheidet er ein paar Liter mehr aus,
als er zu trinken bekommt, und verliert dabei
in 2 Tagen mehr als 2 kg, also 10% seines
Körpergewichts. Die Wasserentziehung wird
besser ertragen, als gleichzeitig auch die Koch¬
salzzufuhr eingeschränkt wird. Im übrigen aber
trotzt der Fall jeder Therapie.
In dem dritten Falle handelte es sich um
einen 50jährigen Herrn, bei dem eine mit
Polydipsie verbundene Polyurie sich gleichzeitig
mit den Erscheinungen einer organischen Er¬
krankung des Zentralnervensystems — gastri¬
schen Krisen, einseitigem Fehlen des Prä-
patellarsehnenreflexes, Okulomotoriuslähmung
— einstellte. Wasserentziehung wurde sehr
qualvoll empfunden. Salzarme Diät brachte
etwas Erleichterung. Eine antiluetische Be¬
handlung, die auf die tabischen Symptome ohne
Einfluß blieb, beseitigte die Polyurie und Poly¬
dipsie fast vollständig.
Entsprechend der üblichen Einteilung
hätten wir den ersten Fall als eine „pri¬
märe Polydipsie“, den zweiten als einen
„echten idiopathischen Diabetes insipidus“,
den dritten als eine „symptomatische Poly¬
urie“ bei organischer Erkrankung des Zen¬
tralnervensystems zu bezeichnen.
Muß in den Fällen der letzteren Art
das Hauptgewicht auf die spezielle Diagnose
der Nervenläsion gelegt werden, so hat
man für die übrigen Fälle vor allem zu
entscheiden gesucht, ob die Polydipsie oder
die Polyurie als die primäre Störung anzu¬
sehen ist. In der Praxis gestaltet sich
diese Unterscheidung aber keineswegs
einfach:
Ebstein hat vor kurzem gemeint, daß
man in den meisten Fällen aus der
Anamnese entscheiden könnte, was zu¬
erst aufgetreten ist. Das wird aber sicher
nur ausnahmsweise möglich sein. Selten
dürften die Verhältnisse so liegen, wie in
unserem ersten Falle. Da jede übermäßige
Wasserzufuhr sofort eine Harnflut er¬
zeugt, und jede Steigerung der Diurese
sofort ein größeres Bedürfnis nach Wasser¬
zufuhr erweckt, so wird man in der Regel
durch die Anamnese höchstens erfahren
können, was dem Patienten zuerst auf¬
gefallen ist, nicht was zuerst dagewesen ist.
Im allgemeinen sucht man die Entschei¬
dung danach zu treffen, wie sich der
Patient gegenüber einer Einschrän¬
kung der Wasserzufuhr verhält. Da¬
bei pflegt man vor allem Wert darauf zu
legen, ob die Polyurie nach der Ein¬
schränkung der Wasserzufuhr noch
andauert. Eine solche Fortdauer der ge¬
steigerten Harnsekretion beweist aber, selbst
wenn sie von einer auffallenden Gewichts¬
abnahme begleitet ist, noch durchaus nichts
für eine primäre Polyurie. Es kann sich dabei
auch ebensogut um eine nachträgliche und
verzögerte Ausscheidung vorher im Ueber-
maße zugeführter Wassermengen handeln.
Wichtiger ist es schon darauf zu achten,
welche Rückwirkung die Wasser¬
entziehung auf den Organismus aus¬
übt. Die Intensität der dabei auftretenden
subjektiven Beschwerden kann dabei
aber nicht entscheidend sein. Diese hängen
sehr wesentlich von der Empfindlichkeit
der Patienten ab, und sie können z. B. bei
einer hysterischen Polydipsie unter Um¬
ständen sehr groß sein und sehr stürmisch
in die Erscheinung treten. Als maßgebend
kann aber eine durch die Wasserentziehung
bewirkte Eindickung des Blutes an¬
gesehen werden. In den meisten Fällen
von Diabetes insipidus vermißt man in¬
dessen sowohl die Erhöhung des spezi¬
fischen Gewichts wie die stärkere Gefrier-
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Januar
Die Therapie der Gegenwart 1910.
punktserniedrigung des Blutes, weil offen¬
bar der Organismus gegen Aenderungen
der Blutkonzentration sehr empfindlich ist
und bestrebt ist, den Wasserverlust des
Blutes durch Wasseraufnahme aus den
Geweben möglichst bald zu ersetzen. Merk¬
liche Abweichungen von der Norm erzielt
man erst, wenn man bei der Einschrän¬
kung der Wasserzufuhr so energisch vor¬
geht, daß dadurch erhebliche Beschwerden
und Gefahren für den Kranken herbei¬
geführt werden können.
Wie schwierig es ist, den Begriff einer
primären Polydipsie von dem einer pri¬
mären Polyurie abzugrenzen, beweisen am
besten die Ausführungen von Ebstein 1 ),
der sich bemüht darzutun, daß in allen
Fällen von Diabetes insipidus die Poly¬
dipsie als das primäre angesehen werden
kann, und darauf hinweist, daß man selbst
bei der Schrumpfniere die Zunahme der
Harnmenge nicht auf eine primäre Steige¬
rung der Harnabsonderung beziehen darf.
Hier führe die Funktionsstörung der Niere
zunächst zu einer Retention von festen
Harnbestandteilen, deren Anhäufung im
Blute den Durst steigere und zu einer ver¬
mehrten Wasserzufuhr Anlaß gebe; erst
durch diese werde die Erhöhung der Harn¬
menge bewirkt, und so sei es auch hier
die Polydipsie, die der Polyurie voraus¬
gehe.
Durch eine solche Auffassung wird in¬
dessen die Unterscheidung der verschie¬
denen Formen des Diabetes insipidus nach
ihrer Pathogenese nicht gegenstandslos.
Nur die Formulierung des Unterschiedes
wird eine andere. Mag die gesteigerte
Harnsekretion auch in allen Fällen erst
durch eine vermehrte Wasserzufuhr her¬
vorgerufen sein, so fragt es sich immer
noch: Wird diese vermehrte Wasserzufuhr
nur durch eine übermäßige Empfindlichkeit
der Durstnerven, durch psychische Ein¬
flüsse oder dergleichen herbeigeführt, ohne
daß ein gesteigertes Bedürfnis nach
Wasser im Organismus vorliegt, oder
dient vielmehr die vermehrte Wasserzufuhr
zum Ausgleich für irgend eineTu]nk-
tionsstörung. Es ist klar, daß es in
letzterem Falle vor allem darauf ankommen
muß, diese Funktionsstörung zu erkennen
und zu bekämpfen, ehe man es wagen
darf, die Wasserzufuhr zu verringern.
Für gewisse Fälle des Diabetes insipi¬
dus haben nun eine Reihe von Autoren,
unter denen, außer v. Koränyi und
Tallqvist, namentlich Erich Meyer zu
nennen ist, auf Grund ihrer Untersuchungen
1) Deutsch. Arch. f. klin. Med. 1908, Bd. 95, S. 1.
die Annahme einer besonderen Funktions¬
störung von seiten der Nieren wahrschein¬
lich gemacht, die man als „Verlust des
Konzentrationsvermögens für den Harn*
bezeichnet hat. Während der normale
Organismus die Fähigkeit besitzt, die Kon¬
stanz seiner Säftemischung durch Aende¬
rungen der Harnkonzentration zq regulieren,
bei einem Ueberschusse an festen Bestand¬
teilen einen konzentrierteren, bei einem
Ueberschusse an Wasser einen verdünn-
teren Harn zu produzieren, scheint dieses
Anpassungsvermögen in vielen Fällen von
Diabetes insipidus verloren gegangen zu
sein. Soll eine größere Menge von festen
Harnbestandteilen ausgeschieden werden,
so bewältigt dieses die Niere nicht durch
Steigerung der Harnkonzentration, sondern
nur durch eine Zunahme der Harnmenge.
Dazu müssen größere Mengen von Wasser
eingeführt werden. Stehen diese nicht zur
Verfügung, dann kommt es zu einer Wasser¬
verarmung des Organismus oder zu einer
Retention von festen Bestandteilen, die
unter Umständen einen gefahrdrohenden
Charakter annehmen kann, sodaß selbst
der Urämie ähnliche Zustände sich ein¬
stellen können.
Die praktischen Konsequenzen, die sich
aus diesem Verhalten ergeben, sind in
neuerer Zeit von verschiedenen Seiten er¬
örtert worden. Ich selbst hatte diesem
Gegenstände schon vor längerer Zeit meine
Aufmerksamkeit zugewandt. Schon vor
dem Erscheinen der Meyer sehen Publi¬
kation hatte auf meine Veranlassung Win¬
kelmann im Jahre 1904 in Cöln, von ähn¬
licher Fragestellung ausgehend, Unter¬
suchungen an einem Patienten angestellt,
der später von Cöln nach München kam
und dort auch E. Meyer als Versuchs¬
objekt gedient hat. Aus äußeren Gründen
konnten die Untersuchungen von Winkel-
mann erst später publiziert werden. 1 ) In
Greifswald hat dann S. Weber 2 ) und in
Breslau Forschbach an Patienten meiner
Klinik weitere Beobachtungen angestellt,
die noch nicht ausführlich publiziert sind.
Auf Grund dieser Beobachtungen und
unter Berücksichtigung der mittlerweile in
der Literatur vorliegenden Mitteilungen
möchte ich den gegenwärtigen Stand der
Frage wie folgt zusammen fassen:
Es gibt zweifellos Fälle von Diabetes
insipidus, in denen sich die Unfähigkeit
den Harn zu konzentrieren in auf-
l ) Med. Klinik 1907, Nr. 34.
a ) Siehe Weber und Groß, Die Polyurien. Er¬
gebnisse der inneren Medizin und Kinderheilkunde
Bd. III, 1909.
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Januar
Die Therapie der Gegenwart 1910.
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fallender Weise bemerkbar macht, nament¬
lich gegenüber dem Kochsalz. Verab¬
folgt man solchen Kranken 10—20 g Chlor¬
natrium mit der Nahrung, so steigt, selbst
wenn die Wasserzufuhr nicht gleichzeitig
erhöht wird, die Konzentration des Koch¬
salzes im Harne nur wenig an, z. ß. nicht
über 0,1—0,2% unter Verhältnissen, unter
denen ein Gesunder mehr als 1 % CINa im
Harne ausscheidet. Es bedarf daher auch
weit größerer Harnmengen und einer sehr
viel längeren Zeit, als bei Gesunden, bis
die Kochsalzzulage vollständig im Harne
wieder erschienen ist.
Daß dieses Verhalten nicht in allen
Fällen in gleichem Maße hervortritt,
kann nicht weiter auffallen; es braucht eben
die Intensität der krankhaften Funktions¬
störung nicht in allen Fällen die gleiche zu
sein. Aber es muß hervorgehoben werden,
daß auch in demselben Falle die Beein¬
trächtigung des Konzentrationsvermögens
nicht unter allen Umständen in gleich
hohem Grade ausgesprochen ist.
Untersucht man in kürzeren Intervallen,
etwa zweistündlich, so zeigt sich oft in den
ersten Perioden ein Ansteigen der Koch¬
salzkonzentration, die aber durch eine nach¬
folgende Konzentrationsabnahme so aus¬
geglichen werden kann, daß in der 24stün-
digen Harnmenge die Kochsalzkonzentra¬
tion nur wenig beeinflußt erscheint. Noch
bemerkenswerter ist, daß bei interkur¬
rentem Fieber, wie es bereits von ver¬
schiedenen Autoren erwähnt wird, und wie
wir es auch haben beobachten können, mit der
Abnahme der Harnmenge die Salzkonzen¬
tration im Harne sehr erheblich zunehmen
kann. Es erscheint sehr auffallend, daß die
Niere gerade unter krankhaften Verhält¬
nissen eine Funktion wieder erlangen soll,
die ihr verloren gegangen war.
Gegenüber dem Harnstoff ist in den
betreffenden Fällen eine Störung des Kon¬
zentrationsvermögens ebenfalls vorhanden,
doch tritt sie in der Regel viel weniger
hervor. Wir haben, um hierüber ein Ur¬
teil zu erlangen, die Harnmenge und die
Stickstoffkonzentration nicht nur in ihrer
Abhängigkeit von dem Eiweißgehalt der
Nahrung untersucht, sondern vor allem
auch den Einfluß einer Zufuhr von 20 bis
30 g chemisch reinen Harnstoffs ge¬
prüft. Eine solche führte zwar zu einer
beträchtlichen Zunahme der Harnmenge,
jedoch war diese nicht so groß wie nach
der Zulage einer entsprechenden Koch¬
salzmenge.
Auch gegenüber anderen Salzen, wie
Phosphaten und Nitraten ist das Konzen¬
trationsvermögen weniger gestört, wie
gegenüber dem Chlornatrium.
In Fällen dieser Art, in denen jede Koch¬
salzzufuhr zu einer beträchtlichen Steigung
der Diurese führt, bewirkt häufig die Ver¬
ordnung einer kochsalz- und stick¬
stoffarmen Diät eine Verringerung
des Durstes und der Polyurie. So sank
z. B. in einem Falle unserer Beobachtung
die Urinmenge von 12—14 auf 3—4 1, ob¬
gleich dem Kranken gestattet war, so viel
zu trinken, wie er wollte. Solche Erfolge
werden aber nicht immer erreicht. In man¬
chen Fällen, in denen die Kochsalzzufuhr
zwar eine Beschränkung des Konzentra¬
tionsvermögens erkennen läßt, bewirkt die
Kochsalzentziehung nichts weiter als ein
noch stärkeres Sinken der Kochsalz¬
konzentration. Bei dem oben erwähnten
Knaben z. B. sank bei einer sehr weit¬
gehenden Einschränkung des Kochsalz¬
gehalts der Nahrung der prozentische
Chlornatriumgehalt des Harns bis auf 0,01,
während die Polydipsie und Polyurie sich
kaum merklich verminderten.
Offenbar spielen auch noch andere
Momente bei dem Zustandekommen der
Polyurie mit. Daß dieses möglich ist,
geht aus den Versuchen von Finkeln¬
burg 1 ) hervor, die einerseits gezeigt, daß
Störungen des Konzentrationsvermögens
auch bei solchen Polyurien vorhanden sein
können, denen unzweifelhaft organische Er¬
krankungen des Zentralnervensystems zu¬
grunde liegen, andererseits aber auch, daß
die durch Läsionen bestimmter Hirnteile
hervorgerufene Polyurie unzweifelhaft eine
primäre ist, und unabhängig von der
Wasser- und Salzzufuhr zustande kommt.
Erscheint somit die Pathogenese der
Polydipsie und Polyurie auch durch die
neueren Untersuchungen noch durchaus
nicht in einer befriedigenden Weise klar¬
gestellt, so haben uns doch diese Unter¬
suchungen gewisse Handhaben gegeben,
durch welche es möglich wird, verschiedene
Fälle des Diabetes insipidus auseinander¬
zuhalten und die therapeutischen Ma߬
nahmen den bestehenden Funktionsstörun¬
gen anzupassen.
In der Praxis wird es sich empfehlen,
zunächst in jedem Falle von Diabetes
insipidus zu prüfen, wie sich nach einer
größeren Kochsalzgabe bei gleichbleibender
Wasserzufuhr die Harnmenge, das spezifi¬
sche Gewicht und der Chlorgehalt des
Harns verhält. Es ist dieses leichter aus¬
führbar als die Prüfung des Einflusses einer
Wasserentziehung, deren Wirkungen lang-
i ) Deutsches Arch. f. klin. Med. 1907, Bd. 91, S.345.
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8
Die Therapie der Gegenwart 1910.
Januar
samer zutage treten, schwerer zu kontrol¬
lieren sind und von den Patienten unan¬
genehmer empfunden werden. Zeigt eine
Steigerung des spezifischen Gewichts und
der Kochsalzgehalt im Harne an, daß das
Konzentrationsvermögen erhalten ist, so
darf zunächst eine Einschränkung der
Wasserzufuhr angestrebt werden. Zeigt
es sich aber, daß die Kochsalzzufuhr
weniger den Kochsalzgehalt, wie die Harn¬
menge zu beeinflussen vermag, dann ist
ein Versuch mit einer kochsalz- und stick¬
stoffarmen Diät geboten. Diese schafft
dann in der Regel den Patienten eine
große Erleichterung, namentlich dann, wenn
die Nachtruhe durch die Polydipsie und
Polyurie gestört ist. Allerdings läßt sich
eine solche Diät nicht beliebig lange durch¬
führen, nicht nur weil die fade Nahrung
den Kranken bald widersteht, sondern
weil eine allzu energische Einschränkung
der Kochsalz- und Stickstoffzufuhr auch
Gefahren bedingen kann. Man wird sich
darauf beschränken müssen, die strengere
Diät nur für kürzere oder längere Perioden
zu verordnen. Aber schon eine zeitweise
Erleichterung wird wohltätig empfunden,
und mancher Fall scheint durch eine solche
Behandlung auch nachhaltig gebessert zu
werden.
Bleibt der Erfolg der Kochsalzent¬
ziehung aus, obgleich unzweifelhaft eine
BeschränkungdesKonzentrationsvermögens
besteht, so ist die Aussicht gering, mit
irgend einem anderen Mittel einen Erfolg
zu erzielen. Es sei denn, daß es sich um
solche Fälle handelt, in denen der Diabetes
insipidus sich auf dem Boden einer Lues
entwickelt hat, ob mit oder ohne organische
Läsion des Nervensystems. In solchen
Fällen kann eine antiluetische Behandlung
nicht selten das Leiden beseitigen.
Aas der medizinischen Klinik der Universität Kiel.
Einige Bemerkungen zur Bewertung der Azetonkörper¬
ausscheidung beim Diabetiker sowie über den Wert von
Haferkuren.
Von Hugo Lüthje.
Es kann wohl als gesicherte Tatsache
gelten, daß immer dann, wenn im Stoff¬
wechsel des Menschen Kohlehydrate nur
in geringem Umfange oder überhaupt nicht
mehr zum Umsatz kommen, Azetonkörper
mit dem Harn zur Ausscheidung kommen,
und zwar Azeton, Azetessigsäure und ß-Oxy-
buttersäure. Im Körper entstehen wahr¬
scheinlich ausschließlich Azetessigsäure und
0-Oxybuttersäure; das Azeton entsteht da¬
gegen wenigstens zur Hauptsache erst se¬
kundär durch Zersetzung der Azetessig¬
säure. In welchem Umfange diese Ab¬
spaltung des Azetons aus der Azetessig¬
säure bereits innerhalb des Organismus
statthaben kann, ist nicht sicher bekannt.
Sicher aber wissen wir, daß jedenfalls der
größere Teil des Azetons erst außer¬
halb des Körpers, resp. der Blutbahn,
im Harn, resp. in den Lungen aus der
Azetessigsäure entsteht. Kommt wenig
Azetessigsäure zur Ausscheidung, so zer¬
fällt sie in der Regel vollkommen, so daß
wir im Harn nur Azeton und daneben
Spuren von /?-Oxybuttersäure finden. Der
Harn gibt dementsprechend nur die Aze¬
tonreaktionen, aber nicht die Eisenchlorid-,
d. h. die Azetessigsäurereaktion.
Man kann deshalb, wenn dieEisen-
chloridreaktion fehlt mit für prakti¬
sche Zwecke hinreichender Genauig¬
keit annehmen, daß die vorhandene
abnorme Säuerung des Körpers zu¬
nächst nicht ernstere Gefahren in¬
volviert.
Diese leichteren Grade der Azeton¬
körperausscheidung beobachtet man be¬
kanntlich auch — abgesehen vom Diabetes
mellitus — bei einer ganzen Reihe von
anderen Zuständen, die in letzter Linie
wohl alle das gemeinsam haben, daß eine
irgendwie verminderte Kohlehydratver¬
brennung im Körper statt hat. Wir beob¬
achten sie vor allem auch dann, wenn eine
gesunde Person ausschließlich mit Fleisch
und Fett, resp. mit diesen und einigen ganz
kohlehydratarmen Gemüsen ernährt wird.
Wenn bei einer solchen Ernährung ge¬
legentlich stärkere Azetonkörperausschei¬
dung vorkommt, so daß selbst die Eisen¬
chloridreaktion positiv wird, so erreicht sie
doch niemals solche Grade, daß etwa für
den Körper die Gefahr der Säurevergiftung
entstände. Diese relativ geringe Bildung
der betreffenden Körper ist verständlich,
wenn wir bedenken, daß der gesunde Or¬
ganismus, auch wenn ihm mit der Nahrung
keine Kohlehydrate zugeführt werden,
immer noch in ziemlich reichlichem Maße
Gelegenheit hat, Kohlehydrate zu ver¬
brennen, nämlich diejenigen, die bei der
Umsetzung der Eiweißmoleküle aus diesen
im Körper entstehen. Diese Tatsache ist
aber, wie wir weiter unten noch ausführ-
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Januar
Die Therapie der Gegenwart 1910.
9
licher sehen werden, auch für die Behand¬
lung des Diabetes mellitus wichtig: so lange
der Diabetiker bei seiner Fleisch-Fettkost
keinen Zucker ausscheidet, also den aus
dem Eiweiß gebildeten Zucker noch ver¬
brennt, hält sich die Azetonkörperausschei¬
dung, resp. die Azetonkörperbildung x ) nach
unseren Erfahrungen fast immer — viel¬
leicht läßt sich das sogar für alle Fälle be¬
haupten — in Grenzen, die dem Organis¬
mus nicht gefährlich werden.
Im Allgemeinen gibt die Größe der
Azetonkörperausscheidung im Harn ein Bild
über die Schwere der entsprechenden Stoff¬
wechselstörung und damit auch über die
Größe der Gefahr, die dem Organismus droht.
Die Größe dieser Gefahr wurde bisher
in der Regel lediglich an den Gramm Aze¬
ton gemessen, die man im 24 stündigen
Urin bestimmen konnte; wir werden weiter
unten sehen, wie weit die Azetonmenge
des Harns allein einen zuverlässigen Ma߬
stab abgibt, zunächst aber einmal wie bis¬
her mit der Annahme rechnen, daß die
Azetonmenge im Harn tatsächlich einen
brauchbaren Maßstab liefere. Es mtfißte
dann also die Frage so gestellt werden, von
welcher Grenze ab zeigen die Azetonwerte
im Harn eine dem Organismus nahe bevor¬
stehende Gefahr (nämlich die der Säure¬
vergiftung) an? Man kann sagen, daß wohl
in der Regel Azetonwerte bis zu 3 g pro
Tag im Harn an sich kaum je eine ernste
Gefahr für den erwachsenen Organismus
bedeuten. Unter gewissen Umständen aber
beobachtet man viel größere Azetonmengen
im Ham (und auch entsprechend große
Mengen 0-Öxy buttersäure), ohne daß irgend¬
welche klinischen Erscheinungen einer be¬
vorstehenden oder bereits vorhandenen
Säure Vergiftung sich bemerkbar machen,
während in anderen Fällen bereits Azeton-
werte von 3—4 g und etwas mehr zur
Säure Vergiftung, d. h. zum Coma diabeti-
cum führen können.
Es müssen bezüglich der Beurteilung
der Gefährlichkeitsgrenze zwei Momente
beachtet werden, nämlich einmal und vor
allem die Tatsache, daß Alkalieinfuhr die
Azetonkörperausscheidung steigern kann
l ) Wir sprechen hier wie auch im folgenden von
„Azetonkörperbildung", obgleich ja die Frage, ob
nicht auch normalerweise die Verbrennung der Aze¬
tonkörperbildner im Organismus Ober die Azeton¬
körper geht, noch nicht sicher entschieden ist. Ge¬
meint ist natürlich hier nur immer diejenige Azeton¬
körperbildung, die unter Umständen erfolgt, unter
denen es zu einer Weiterverbrennung der Azeton¬
körper jedenfalls nicht kommt, so daß sie also mit
dem Harn ausgeschieden werden, resp. ihre schäd¬
liche Wirkung im Körper entfalten können, wie das
beim schweren Diabetes der Fall ist.
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und zwar erheblich, ohne daß eine ver¬
mehrte Bildung dieser Substanzen statt¬
gefunden hätte. Man kann diesen ver¬
mehrenden Einfluß der Alkalizufuhr be¬
sonders gut beobachten in den Fällen, die
erst einige Zeit, nachdem sie analytisch
genauer kontrolliert werden, Alkali be¬
kommen. Man sieht dann die Azetonaus¬
scheidung, die vielleicht bis dahin 2—3—4 g
pro Tag betrug, plötzlich in die Höhe
steigen bis event, auf Werte von 7—9 g, ohne
daß die Situation für den erfahrenen Arzt
wesentlich ernster wird als bis dahin: klini¬
sche Erscheinungen der Säurevergiftung
treten denn auch selbst bei diesen ex¬
zessiven Werten nicht auf. Die Steigerung
im Harn betrifft dabei meist in gleicher
Weise wie die Azeton-, resp. Azetessig-
säureausscheidung auch die /?-Oxybutter-
säureausscheidung.
Zur Erklärung der steigernden Wirkung
des Alkalis auf die Azetonkörperausschei¬
dung liegen zwei Möglichkeiten vor. Ein¬
mal kann man sich vorstellen, daß das zu¬
geführte Alkali die in Betracht kommenden
Säuren (Azetessigsäure und 0-Oxybutter-
säure) durch Bildung der entsprechenden
Salze erst in einen für die Nieren aus¬
scheidungsfähigen Zustand bringt. Denn
die Säuren verlassen wohl nie in freiem
Zustande den Körper.
Weiter aber wäre an die Möglichkeit
zu denken, daß ein Teil der Azetessigsäure,
der sonst in der Ausatmungsluft als Azeton
zur Ausscheidung kommt, durch die Niere
als azetessigsäure Alkaliverbindung ausge¬
schieden wird, sobald das erforderliche
Alkali zur Verfügung steht.
Gegen diese letztere Annahme spricht
allerdings der Umstand, daß bei diesen
Ausschwemmungen nicht nur die Azeton-
werte, sondern auch die /^-Oxybuttersäure¬
werte steigen, wie Tabelle I erkennen läßt.
Aber noch ein zweites Moment ist offen¬
bar für die „Gefährlichkeitsgrenze“ von
Bedeutung, nämlich ein kaum anders als
durch „Gewöhnung“ zu erklärendes Mo¬
ment. Man kann immer wieder beobachten,
wie beim Diabetiker die schädliche Wir¬
kung der pathologischen Säuren abhängig
ist von der Zeitdauer, während welcher
die Azetonurie dauerte. Diabetiker, die
erst kurze Zeit an Azetonurie leiden, kön¬
nen bereits bei relativ niedrigen Azeton¬
werten ihr Koma oder wenigstens einleitende
Erscheinungen der Säurevergiftung be¬
kommen, während andere, die seit langer
Zeit an Azetonurie leiden, bei viel höheren
Werten unter sonst ganz gleichen Um¬
ständen von solchen Erscheinungen frei
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10
Die Therapie der Gegenwart 1910.
Januar
Datum
Tabelle I.
U., 23 Jahre, Dr. phil. Seit 5 Jahren an Diabetes erkrankt; nie Anstaltsbehandlung; ambulant behandelt
mit Kohlehydratbeschränkung. Hat vorher kein Alkali bekommen.
I i .C
Zucker °/ 0 Zucker absoi.
T»./20. Nov. ISOü 1 1034 I 4,0 4,7o 73,26 1 85,72 0,14 2,55 -+- 8,82 14,94 1 2,53 12,84 Strenge Kost, 30 g Na. bic.
s. | IO) g Fleisch,
I ; | 200 g Schinken,
■ I 'X'g Weißbrot
20/21. Nov. 3000 I 1032 3,85 4,31 115,50 129,21 0,15 4,63 -f \ 22,89 \ 10,«»8 3,431 31,17 Strenge Kost, 40 g do.
s. I 30U g Fleisch,
2 Eier
21./22. Nov 3200 1030 1,65 2,52 52,80 80,61 0,21 6,S6 + 26,14 18,27 2,80 38,41 Strenge Kost, 0 g do
s. i .300 g Fleisch.
4 Eier
222/23. Nov. ! 4100 1030 2,20 3,11 99,22 127,61 0.19 7,Sb -f 29,03 13,53 2,01 43,09 150 g Hafer, 50 g do.
s. i 3 Eier
23-/24. Nov. 3900 1032 2,64 3,23 l02/>6 ' 125,97 0,17 6,67 -f | 21,25 «,*3 0,62 : 33,18 200 g Hafer, 75 g do.
alk 2 Eier
24. /25. Nov. 3600 1030 1,87 2,67 67,32 96,07 0,15 5,51 + , 21,5o Q,94 0,32 , 31,42 ICO g Hafer, 75 g do.
alk 2 Eier,
500 g Gemüse
25. /26. Nov. 4000 1(>24 1,98 2,62 79,20 104,SS 0,11 4,40 + 17,44 U,0tS 0,15 ; 25,31 150 g Hafer, 75 g do.
alk i 2 Eier,
| | j | 500 g Gemüse
In den folgenden 7 Tagen sinkt bei Gemüse- und Haferperioden die Zucker- und
Azetonkörperausschciung allmähli h, und zwar am 7. Tage bis auf
2./3. Dez. | 264M) I 1030 I 0,11 I 0,5«* j 2,86 | 13,<H* <*,*>4 I «»,94 | -t ! 5,o7 6,55''*,'»7 7,35 Gemüse ohne 75g Na. bic.
'anges. i Fleisch
I ! | ; i +2 Eiern
bleiben. Ein kurzer tabellarischer Auszug denen ich andere anreihen könnte, mögen
aus den beiden folgenden Beobachtungen, das zeigen.
Tabelle II.
M.. 20 Jahre, Arbeiter. Seit etwa */a Jahr zuckerkrank; behandelt wegen „Karbunkel am Halse“; entzog
sich nach einigen Tagen der stationären Behandlung und kam am 15. November wieder in die Klinik.
Deutliche Zeichen einer Säurevergiftung.
•- Zucker % Zucker absoi.
red. polar, red.
Azeton -J
~ uO ! *J=
C :0 (w U «
SS-sSi
17./IS. Scpt.
J8./19. Sept*
19./20. Sept. 3
3200 1011
3200 1020
20i/21. Sept. 3 3100 1020
21./22. Sept. 4100
22-/23. Sept. 3200
34.7 0,1621 4,1
33.7 10,176 5,6
116,5 0,078 2,42
166,3 0,081 3,34 -f
I Gemüse -f-3 Eier
do.
' 100 g Hafer.
2 Eier,
1 35 g Zucker,
1 I Milch.
25 g Lävulose
230 g Hafer,
2 Eier,
100 g Sperk,
g Butter
do.
do.
/'lg Na. bic.
per os
30 g per in-
trar Infus
30g Na. bic.
do.
22-/23. Sept. | 3200 j 1021 | 3,6 | 4.13 | M5,2 | 132 | 0,12 | 3,85 | -f | 13,5 | 10,9 | 4,1 [ 20,39 | do. j 40g Na. bic.
*) Abends Wohlbefinden. -) 1«) Uhr Kopfschmerzen, motorische Unruhe, tiefe Atmung, Azetongeruch. *) In¬
fusion von Na. bic., Besserung, Durchfälle.
Tabelle III.
S., 47 Jahre. Bankier. Seit langer Zeit zuckerkrank; seit mehreren Monaten in Beobachtung gewesen; ohne
alle Zeichen einer Säurevergiftung.
20./21. Mai
5750
1024
0,8
1,57
46,1*
90,1
12,3
3,0
Strenge Diät
90
g Na. bic.
21./22. Mai
4200
1025
1,1
1,79
46,2
75,1
V
+
' V '
do.
do.
22./23. Mai
50(0
1024
0,8
1,54
40,0
75,0
12,0
+
—
do.
85
g Na. bic.
23./24. Mai
41(0
1025
0,7
1,44
2s,7
^9,n
Q.o
+
3,0
do.
6<_>
g do.
24./25. Mai
42(0
1026
bl 1
1,76
46,2
73,9
8,7 1
-+-
3,2
do.
do.
25/26. Mai
62CO
1025
1,4
2,16
86,8
135,9
13,6
+
4,96
do
do.
26-/27. Mai
5200
1024
1,6
2,29
83,2
119,0
°|7 !
4-
2,9
do.
do.
Anmerkung. Beobachtung aus dem Jahre I C HI7, wo tägliche quantitative 3-Oxybuttersäurebestimmungcn
noch nicht gemacht wurden. Es lassen sich also zum Vergleich mit Tabelle II lediglich die Azetonwerte heranzielien.
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- —
Zucker %
Zucker
absoi.
Azeton
FeCl.i
NH.
Diät
polar. red.
polar.
red.
S
Medikamente
Januar
Die Therapie der Gegenwart 1910.
11
Wir können uns jedenfalls zunächst
dies gegensätzliche Verhalten, wie es in
Tabelle II und III zum Ausdruck kommt,
nicht anders erklären, als durch die An¬
nahme einer gewissen Gewöhnung der
Körperzellen an die Gifte, eine Annahme,
die ja durch zahlreiche Analoga aus der
Toxikologie leicht zu stützen wäre.
Es war bereits oben kurz erwähnt, daß
vermutlich beim Gesunden auch bei aus¬
schließlicher Fleisch-Fettkost deshalb die
es möglich war, schon vorher die Ver¬
hältnisse quantitativ zu verfolgen.
Daß in der Tat eine gefährliche Azi-
dosis selbst bei wochenlang durchgeführter
strenger Kost nicht auftritt, haben wir in
allen unseren Fällen, in denen wir seit län¬
gerer Zeit alle Azetonkörper, also so*
wohl das Azeton als auch die /?-Oxybutter-
säure täglich quantitativ bestimmen, 1 ) stets
bestätigt gefunden. Tabelle IV zeigt die
Gestaltung der Azetonkörperbildung bei
Tabelle IV.
R., Referendar. Diabetes Ende Juli 1909 entdeckt, seitdem in Behandlung mit Hafer-Gemüseperioden, seit
3 Wochen reine Fleisch-Fettkost.
Datum
_ , ... i Zucker
Zack " '» j absol.
polar, red. polar, red.
Azeton ■ (J
£
°/o i e
1 • a
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!ÄC N.
i°3.~
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NHs 5 i'
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Diät
Me¬
dika¬
mente
3 -./3I. Okt.
,3C0
1011 j —
a
-
-
<v i
0,54 Spur —
S,32 0,20
06,2
Gemüse -f 2u g
Glutenbrot
40 g N a.
bicarb.
31. Okt. bis
j . Novbr.
3300
luO<> —
a
0,02
0,5 , -
1
S.12 0,15
Gemüse 4- i'Og
Fleisch. ISO g
Butter, 100 g
Sahne, 30 g :
Glutenbrot
do.
J./2. Novbr.
isöü
1.01» _
a
'-V'3
1.1,V. .
12, 4r, 0,10
3, f )S
Gemüse -j- ‘00g
Fleisch, Fett
wie ge-tern
do.
‘J./3. Novbr.
B‘.Q
1010
a
0,03
<’,*7 „ 2,'».
11,5 ! 0,22
3,° 5
o3,0
Gemüse -4- 2'X)g 1
Fleisch, 40 g
Glutenbrot, j
Fett wie gestern |
do.
|;|4, Novbr.
iszO
10 Ir» —
a
0, 2
0,4'■ . !,'»
1
11,1 j -
2,77
Gemüse -f :00 g
Fleisch, : 0 g
Fisch, 40 g
Glutenbrot, Y ett
wie gestern
do.
4jf. r . Novbr.
>s r i l
101N -
a
o,02
-V. 4 3,1
19,24 • i,22
4,37
Gemüse _0Üg
Fleisch, 1 0 g
Fisch, 40 g
Glutenbrot, Fett
do.
wie gestern
Azetonkörperbildung nie bedenkliche Grade ;
annimmt, weil hier ja immer noch eine, |
wenn auch nicht allzu umfangreiche Kohle¬
hydrat Verbrennung stattfindet, nämlich die
Verbrennung des aus dem Eiweiß abge¬
spaltenen Zuckers. Es war weiter ange¬
deutet, daß daher auch beim Diabetiker
die Azidosis keine bedenklichen Formen
annimmt, solange bei strenger Fleisch-Fett-
kost kein Zucker ausgeschieden wird, daß
heißt, also der Eiweißzucker noch ver¬
brannt wird. Und so sieht man dann auch
in der Tat selbst bei wochenlanger stren¬
ger Diät in solchen Fällen keine erheb¬
lichen oder bedrohlichen Azetonkörperwerte
im Harn auftreten. Voraussetzung für die
Ungefährlichkeit ist allerdings, daß in der
unmittelbar vorangegangenen Periode nicht
so große Mengen von Azetonkörpern ge¬
bildet sind, daß bereits eine Schädigung
des Organismus im Sinne einer Säurever¬
giftung vorliegt. Das klinische Befinden
des Patienten gibt dafür eine einigermaßen
zuverlässige Handhabe; eine sicherere Be¬
urteilung ist natürlich dann gegeben, wenn
einer solchen langdurchgeführten strengen
Kost:
Die Möglichkeit einer täglich gewon¬
nenen quantitativen Uebersicht über die
Verhältnisse der Azetonkörperbildung, und
die uns, wenigstens für viele Fälle, als
sicher geltende Tatsache, daß eine gefähr¬
liche Höhe der Azetonkörperbildung erst
dann erreicht wird, respektive erreicht wer¬
den kann, wenn auch der Eiweißzucker
*) Das Azeton wurde quantitativ bestimmt nach
Messinger-Huppert. Die ^-Oxybuttersäure wurde
täglich bestimmt nach der von E mb den modifizierten
Methode, die es gestattet, innerhalb 3—4 Stunden
aus 200 ccm Urin die gesamte ^-Oxybuttersäure aus-
zuäthern. Alle unsere Bestimmungen wurden doppelt
gemacht; außerdem wurde die Embdensche Me¬
thode auf ihre Brauchbarkeit ad hoc besonders ge¬
prüft und als zuverlässig erwiesen. Das Nähere dar¬
über und über die dieser kurzen Mitteilung zugrunde
liegenden ausführlichen Beobachtungen siehe in der
demnächst erscheinenden Publikation meines Assi¬
stenten Dr. Weiland. Wir sammeln den Urin der
Diabetiker von 8—8 Uhr morgens, ungefähr um
11 1 /% Uhr sind die quantitative Azeton- und ß-Oxy-
buttersäurebestimmung beendigt, so daß ihr Ausfall
bereits an demselben Tage die Richtung für die ein¬
zuschlagende Diät ergibt.
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12
Die Therapie der Gegenwart 1910.
Januar
nicht mehr oder nicht mehr vollkommen Richtung hin unsern Zweck vollkommen
verbrannt wird, erlaubt es, unbekümmert erreicht; denn je größer die Zuckermengen
um die alten landläufigen Anschauungen sind, die im Körper verbrennen, desto ge-
über die Notwendigkeit, die strenge Kost ringer ist die Gefahr der Azidosis. Man
zu ändern, sobald Eisenchloridreaktion auf- müßte also a priori annehmen, daß bezüg-
tritt, von der strengen Kost solange einen lieh der Azidosis die günstigsten Verhält-
unbeschränkten Gebrauch zu machen, so- nisse dann vorliegen, wenn bei größtem
lange dabei kein Zucker zur Ausscheidung Eiweißumsatz kein Zucker ausgeschieden
kommt. Damit ist natürlich für die Besse- wird. Aber wir wollen ja nebenher — so-
rung des Oxydationsvermögens des Diabe- weit das möglich — auch die Toleranz
tikers für Kohlehydrate viel gewonnen, möglichst heben; und das erreichen wir
Auch da, wo quantitative Bestimmungen bekanntlich dadurch, daß die täglich zur
nicht möglich sind, also gemeinhin in der Zersetzung kommende Kohlehydratmenge
allgemeinen Praxis wird man aus den mit möglichst gering wird. Schon aus diesem
geteilten Erfahrungen vorsichtig Nutzen Grunde erscheint eine unbegrenzte Eiwei߬
ziehen können, indem man sich bei der i zufuhr nach allseitigem Urteil unzweck-
Kostverordnung nicht so ängstlich mehr mäßig. Dazu kommt aber weiter, 2 ) daß im
um das bloße Auftreten der Eisenchlorid- i Eiweißmolekül Azetonbildner sitzen, vor
reaktion respektive einer stärkeren Azeton- allem das Leuzin. Also auch aus diesem
reaktion kümmert, sondern vielmehr dar- Grunde muß es wünschenswert erscheinen,
auf in erster Linie Gewicht legt, ob bei mit der Eiweißzufuhr möglichst an der un-
der strengen Kost Zucker ausgeschieden tersten, eben noch zulässigen Grenze zu
wird oder nicht. Im ersteren Fall wird bleiben.
man jedenfalls in der Praxis wohl besser Die zweckmäßigste untere Grenze muß
tun, sofort Kohlehydrate mit der Nahrung offenbar da liegen, wo eben noch genug
zuzuführen, 1 ) obgleich damit die Chancen, Zucker gebildet wird, und entsprechend
Tabelle V.
Fräulein S., 43 J. Mitte September in die Behandlung eingetreten, bald darauf ausgesprochenes Koma, erholt
sich; mit eingeschobenen Haferperioden gleiche Kost und annähernd gleiche N-werte im Harn seit 30 Tagen,
wie sie für die nächsten sechs Tage in der Tabelle verzeichnet sind (bei 'dauernd konstantem Körpergewicht
Datum
Harnmenge
Spez. Ge¬
wicht und
Reaktion
Zucker %
polar, red. I
Zucker
absol.
polar. [ red.
Azeton
% | g
d
u.
ß-Oxy-
butter-
säure
N.
NH 3
Gesamtaze¬
tonkörper
als ß-Oxy-
buttersäure
berechnet
Körper¬
gewicht
Diät
31. Okt. bis
3700
1006
0,11
0,65
4,07
| 24,09
0,05
1,87
_
10,06
*»,55
! 1,08
13,4
1 43,5
Gemitse -f- 1 Ei,
1 lüOg Hackfleisch
1. Novbr.
J./2. Novbr.
, 2600
s
1015
0,11
j 0^7 |
2,86
: 14,72
0,07
1,77
+
12,74 |
4,65 |
1,04
15,o
42,7
-p 1) gr Fett
do.
2./3. Novbr.
1 3150
1012
0,22
0,6 j
6,93
IS, 87 ;
0,05
1,58
+ :
12.00
5,29 1
1,16 |
14,82
43,6
do.
3./4. Novbr.
2200'
1016
0,44 1
0,74
9,68
16,39 ,
0,07
1,57
+
10,78
4,62
0,93
13,59
43,8 ;
do.
4,/5. Novbr.
3250
1010
Nyl-h
0,4 |
_
1 13,10 !
0,07
2,13
+
17,71
4,65 !
1,0
21,52
43,3
do.
5./6. Novbr.
2950 J
8
loos
Nyl
0,44 j
| 12,83
0,05
1,58
+ !
12,86
; 4,34
1,0 |
15,68
44,0
Gemüse -f- 1 Ei,
ohne Fleisch
•
pos.
+ 150 gr Fett
die eigentliche diabetische Stoffwechsel- verbrannt werden kann, um eine größere
Störung zu bessern, natürlich wesentlich Azetonkörperbildung hintenan zu halten,
vermindert werden. Diese Grenze in allgemeingültiger Weise
Bei der Verordnung strenger Fleisch- anzugeben, ist unmöglich, sie muß in jedem
Fettkost ist allerdings noch ein weiterer einzelnen Falle ermittelt werden, am besten
Punkt beachtenswert: je mehr Fleisch, daß und sichersten durch tägliche quantitative
heißt also Eiweiß, wir geben, desto größer Analysen, die wenigstens solange fortzu-
sind die Zuckermengen, die daraus ge- setzen sind, bis man den vorliegenden Dia-
bildet werden. Wird trotz großer Eiweiß- betesfall in seiner besonderen Individualität
mengen Zucker nicht ausgeschieden, so kennt.
haben wir ja nach der eben besprochenen Bei in dieser Weise quantitativ genau
*) Man ist natürlich immer wieder versucht zu ’ J ) Zwar ist der direkte Einfluß von Fleischnah¬
fragen, was denn eine Kohlehydratzufuhr nützen soll, rung auf die Größe der Azetonkörperbildung noch
wenn nicht einmal mehr der Eiweißzucker verbrennt. nicht sicher bekannt, und die Prüfung stößt auch
Aber die Zweckmäßigkeit dieses Verfahrens wird auf große Schwierigkeiten, weil für diese Bildung
durch die Erfahrung, namentlich die bezüglich der noch eine Reihe von anderen, im Einzelfall nur
Haferkuren gewonnenen, gelehrt. Ueber eine Er- selten klar zu übersehenden Faktoren mit in Betracht
klärungsmöglichkeit s. w. u. kommen.
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UNiVERSITY 0F CALIFORNIA
Januar
Die Therapie der Gegenwart 1910.
13
verfolgten Fällen kann man dann oft sehen,
daß man mit tiberraschend kleinen Eiwei߬
mengen Wochen hindurch auskommen kann,
was ja übrigens bekannt ist Der vor¬
stehende Tabellenausschnitt zeigt das.
Wie die Tabelle zeigt, sind außer den
geringen Fleischmengen, vorwiegend Fett
und die „erlaubten* Gemüse verabreicht
worden.
Aber ohne genaue tägliche quantitative
Analysen, die zum vollkommenen Herrn
der Situation machen, ist eine derartige
Behandlung des irgendwie schwereren Dia¬
betes unmöglich. Dieser Umstand bedeutet
allerdings eine Einschränkung der Behand¬
lung des Diabetes in der allgemeinen
Praxis, aber gegen jeden Fortschritt der
Therapie müssen alle sonstigen Interessen
in den Hintergrund treten.
Die Grenze zu ziehen, von der ab ein
Diabetiker rationell nur in einer mit den
nötigen Vorkehrungen ausgestatteten An¬
stalt zu behandeln ist, ist natürlich, nament¬
lich, wenn es mit wenigen Worten ge¬
schehen soll, sehr schwer. Wir stehen mit
v. Noorden auf dem Standpunkt, daß
jeder Diabetiker, auch der leichte, einmal
eine mehrwöchentliche Anstaltsbehandlung
durchmachen sollte, und zwar aus Gründen
der Schulung und weiter zwecks möglichst
exakter Bestimmung der Art und Schwere
des vorliegenden Falles.
Wie weit ein Diabetiker, der bereits an
Azidosis leidet (also in der Regel Fälle
mit bereits hochgradiger Toleranzreduk¬
tion!) ohne genauere analytische Kontrolle
der Zucker- und Azetonkörperausscheidung
rationell behandelt werden kann, ist in den
letzten Jahren Gegenstand eingehender Be¬
obachtungen gewesen. Zur vollen Klarheit
kommen wir ja, wenn wir täglich die Kost¬
zufuhr genau überblicken und außerdem
täglich die Zucker-, Azeton-, /f-Oxybutter-
säure-, N- und NH*-Werte des Harns be¬
stimmen können; aber das ist nur selten
(eben nur in Anstalten) und bezüglich der
0-Oxybuttersäure überhaupt erst seit eini¬
ger Zeit möglich (wenigstens eine schnelle
tägliche Bestimmung). Und selbst unter
solchen günstigsten Bedingungen bleibt
immer noch ein Postulat unerfüllt, nämlich
die gleichzeitige quantitative Bestimmung
des mit der Atmungsluft ausgeschiedenen
Azetons. Nach unseren Beobachtungen
scheint es uns allerdings, daß man auf die
Bestimmung des letzteren verzichten kann,
ohne daß die Beurteilung der ganzen Sach¬
lage hinsichtlich der Azidosis wesentliche
Einbuße erleidet
Dagegen ist man überall, wo quanti¬
tative Harnanalysen nicht möglich sind,
lediglich angewiesen auf den Ausfall der
betreffenden qualitativen Reaktionen, re¬
spektive auf die klinischen Symptome.
Leider ist ja aber die Gefahr, wenn erst
einmal solche klinischen Symptome der
Azidosis vorhanden sind, oftmals schon so
groß, daß sie nicht mehr zu beseitigen ist.
Was sagen uns nun die qualitativen
Reaktionen, und wie weit darf man aus
ihrem Ausfall Rückschlüsse machen auf die
Größe der Azetonkörperbildung in all den
Fällen, in denen quantitative Analysen
nicht möglich sind? Die Antwort darauf
ist im wesentlichen schon im vorhergehen¬
den gegeben; wir wollen aber die in Be¬
tracht kommenden Punkte noch einmal
kurz zusammenfassen.
Bei fehlender Eisenchloridreaktion
braucht man eine ernstere Gefahr nicht
zu fürchten, selbst wenn die Azeton¬
reaktionen sehr stark positiv ausfallen.
Denn Eisenchloridreaktion tritt ja nur dann
auf, wenn größere Mengen von Azeton-
körpera ausgeschieden werden, sodaß ein
Teil der Azetessigsäure unzersetzt bleibt.
Daß bei fehlender Eisenchloridreaktion auch
die täglich ausgeschiedenen 0-Oxybutter-
säuremengen gefährliche Grade nicht er¬
reichen, können wir auf Grund unserer
Beobachtungen mit Sicherheit sagen.
Wie ist es aber, wenn die Gerhardt-
sche Reaktion positiv ist? Die bekannte
Färbung des Harns auf Eisenchloridzusatz
bedeutet fast ausnahmslos eine stärkere
Azidosis als die bloße Azetonreaktion. Es
läßt sich auch weiter sagen, daß die Eisen¬
chloridreaktion um so intensiver ausfällt,
je größer die Azetonkörperausscheidung
ist. Aber die Hoffnung, auf kolorimetri-
schem, jedem Arzte zugänglichem Wege
aus der Intensität der Eisenchloridreaktion
ein approximatives Urteil über die Stärke
der Azetonkörperausscheidung zu gewinnen,
ist uns jedenfalls bisher trotz vielfacher, in
dieser Richtung hin aufgewandter Mühe
nicht gelungen. Die Breite zwischen dem
ersten eben noch erkennbaren Auftreten
der Eisenchloridreaktion und intensiver, in
ihren einzelnen Abstufungen nicht mehr
erkennbarer Färbung des Harns ist außer¬
ordentlich gering und entspricht keines¬
wegs irgendwie erheblichen Unterschieden
in der Quantität der vorhandenen Azeton¬
körpermengen; während also, um ein Bei¬
spiel zu wählen, ein Harn mit einer Tages¬
menge von 2 g Azeton vielleicht eine eben
erkennbare Rotfärbung ergibt, ergibt ein
solcher mit 2,5 oder 3,0 g bereits eine außer¬
ordentlich intensive Färbung, sodaß weitere
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Original frnm
UNIVERSiTY 0F CALIFORNIA
14
Die Therapie der Gegenwart 1910.
Januar
Steigerungen auf 3,5 bis 4,5 g und mehr
an der Färbungszunahme nicht mehr erkenn¬
bar sind.
Die ersten, eben noch als solche er¬
kennbaren positiven Ausfälle der Eisen¬
chloridreaktion dürfen demnach mit einigem
Vorbehalt in dem Sinne quantitativ ver¬
wandt werden, daß eine erheblichere
Azidosis nicht vorliegt. Aber darüber hin¬
aus versagt die Abschätzung der Färbungs¬
intensität vollkommen, und ebenso jeder
Rückschluß aus dieser auf den Grad der j
Säurung. j
0 -Oxybuttersäure oder alle drei Körper
zusammen, respektive wenigstens zwei von
ihnen?
Die Bestimmung des Ammoniaks, dem
ja als Indikator der Säurung bisher immer
ein besonderes Gewicht beigelegt wurde,
versagt nach unseren Untersuchungen in
vielen Fällen, ja in den meisten vollkommen.
Wir haben wiederholt außerordentlich hohe
Azetonkörperwerte gefunden bei ganz auf¬
fallend niederen NH 3 - Werten. Ein Ab-
| schnitt aus einer hierher gehörenden Be-
j obachtung folgt:
Tabelle VI.
R. vergl. Tabelle IV.
Datum
! &
1 E
1 c
I 5
I
Spcz.
Gewicht u.
Reaktion
Zuck
pol.
%
red.
Zucker absol.
polar, red.
Azeton
0 / <r
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1
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: 250 g Hafer
150 « Fleisch
J./l'-- .
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1,32
1,63
67,2 ^ 58,75
0,058
2,09
11,77'
17,49
0,27
15,51
Gemüse
|-f J5U g Fleisch
Auch in den folgenden !0 Tagen gehen bei Azetonmengen, die bis 2,'>S steigen, die Ammoniakwerte nicht
über 0,34 g pro die hinaus. Es sind dabei in der ganzen Zeit Doppelanalysen des NH 3 gemacht worden; da wegen
der alcalischen Reaction des Harns Ammoniakverluste eingetreten sein konnten, wurden zur Kontrolle nach -4stündigem
Siehen von dem gleichen Harn Ammoniakbestimmungen angesetzt, die bis aut minimale Unterschiede die gleichen
Werte gaben; ferner wurde der alkalische Urin in saurer Flüssigkeit aufgefangen und darin die Bestimmungen gemacht;
auch dabei ergaben sich keine wesentlichen Differenzen der Resultate gegenüber dem alkalischen Urin.
Die dritte Möglichkeit, um auch ohne
quantitative Analysen ein wenigstens an¬
nähernd zuverlässiges Urteil darüber zu er¬
langen, ob eine vorhandene Azidosis dem
Körper gefährlich ist oder gefährlich
werden kann, beruht auf der oben er¬
wähnten Erfahrung, daß die Gesamtsäure¬
ausscheidung (Azetessigsäure und /?-Oxy-
buttersäure) im Harn so lange keine ge¬
fährlichen Grade anzunehmen scheint, als der
Harn bei Fleischfettdiät zuckerfrei bleibt.
Wo aber bei Fleischfettkost und gleich¬
zeitiger Azidosis Zucker ausgeschieden
wird, hört jede Möglichkeit, auch nur ein
annähernd approximatives Urteil über die
Größe der Azidosis sich zu bilden, auf.
Deshalb ist in solchen Fällen eine
rationelle Behandlung ohne quanti¬
tative Analysen überhaupt nicht
mehr möglich.
Fragen wir uns jetzt, was quantitativ
unbedingt bestimmt werden muß, um ein
genaues Urteil über die Säürebildung zu
erlangen: das Ammoniak, das Azeton, die
Diese auffallende Differenz zwischen
Ammoniakwerten und Säurewerten bedarf
nebenbei gesagt übrigens durchaus einer
besonderen Aufklärung. Wir hoffen in
einiger Zeit vielleicht nähere Aufklärung
bringen zu können.
Das zweifellos genaueste Urteil über
die Säuerungsgefahr dürften wir, wie ohne
weiteres einleuchtend, durch gleichzeitige
quantitative Bestimmung des Gesamtazetons
und der gesamten /J-Oxybuttersäure im
Harn erhalten. Wir machen diese Be¬
stimmungen seit einiger Zeit an allen
schweren Diabetikern täglich. Es ist diese,
allerdings außerordentlich Zeit und Arbeit
raubende Kontrolle, eine Methode, die bei
der Behandlung schwererer Fälle von Dia¬
betes eine Sicherheit gibt, die bisher ge¬
fehlt hat, eine Methode, die es uns ermög¬
licht, unbekümmert um alles andere nur
den einen Weg zu verfolgen, nämlich den
der möglichsten Toleranzhebung des be¬
treffenden Kranken. Die einzige Ver¬
anlassung, diesen Weg zu verlassen, er-
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UNIVERSITY 0F CALIFORNIA
Januar
Die Therapie der Gegenwart 1910.
15
gibt im wesentlichen eine Steigerung der
absoluten Säurewerte über eine bestimmte
Grenze hinaus, nicht aber die Eisenchlorid¬
reaktion und die Ammoniakwerte.
Die ausschließliche tägliche quantitative
Bestimmung des Azetons würde vielleicht
hinreichende Sicherheit geben, wennAzet-
essigsäure und /?-Oxybuttersäure in kon-
stantemVerhältnis zueinander ausgeschieden
würden. Das ist nach unseren Beobach¬
tungen häufig der Fall, aber keineswegs
immer; zu Zeiten kommen sogar sehr
große Differenzen vor, also z. B. bei ganz
niedrigen Azetonwerten sehr hohe ß-Oxy-
buttersäurewerte, sodaß die quantitative
Azetonbestimmung allein vollkommen irre¬
führen würde. Und so möchte ich be¬
haupten, daß eine wirklich rationelle
Behandlung der mit Azidosis einher¬
gehenden Diabetesfälle nur möglich
ist bei täglicher quantitativer Azeton -
und /?-Oxybuttersäurebestimmung.
Zum Schluß möchten wir noch ein Wort
über die in den letzten Jahren vielfach er¬
wähnten Haferkuren hinzufügen.
v. Noorden hat ja bekanntlich darauf
aufmerksam gemacht, daß eine Reihe von
Diabetikern eine auffallend gute Toleranz
gegen die Haferstärke zeigen: sie vertragen
Mengen von Haferstärke, ohne Zucker aus¬
zuscheiden, die, in anderer Form, z. B. als
Weizenstärke, dargereicht, viel schlechter
oder gar nicht vertragen werden. Allseitig
ist diese v. Noordensehe Erfahrung nicht
anerkannt, aber wir müssen dieselbe auf
Grund unserer Erfahrungen auf das an¬
gelegentlichste unterstützen. Es kann un¬
seres Erachtens keinem Zweifel unter¬
liegen, daß die Haferstärke besser vom
Diabetiker ausgenutzt wird als andere
Stärkesorten.
Nicht immer zeigt sich das freilich,
worauf v. Noorden bereits selbst hin¬
gewiesen hat. Aber die verschiedene
Toleranz verschiedener Diabetiker gegen
Haferstärke beruht, wie uns scheint, nicht
auf Zufälligkeiten oder auf Gründen, die
wir noch nicht übersehen, sondern sie
hängt ab von der Schwere des Falles,
respektive von der Besserungsfähigkeit des
Toleranzvermögens. Ist eine solche
Besserungsfähigkeit überhaupt vor¬
handen, so wird Haferstärke besser
vertragen als andere Stärkesorten,
ja wir möchten sogar sagen, die Fälle, in
denen — trotzdem sie zunächst vielleicht
sehr schwer aussehen — Hafer in einer
ersten oder auch erst in einer zweiten
oder dritten Periode vertragen wird, doku¬
mentieren sich eben hierdurch als besse-
| rungsfähige, ja unter Umständen heilungs¬
fähige Fälle, während die Fälle, in denen
Tabelle VII.
R., 58 J., Arbeiter, kam unbehandelt mit schwerer Azidosis Anfang Mai in die Behandlung; zuckerfrei
nach Hafer-GemOseperioden bei strenger Fleisch-Fettkost. Besserung der Toleranz bis auf 1 l /a 1 Milch pro Tag.
Datum
Harnmenge j
Spez. j
Gewicht u.
Reaktion .
Zucker
1
| polar.
%
red.
Zucker absol.
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Azeton
°/o
FeCl 3
Diät
•
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2000
1015
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-
-
-
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Gemüse und 15o g Fleisch
-
1400
1021
do.
-
-
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-
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2I./22. ,
15-0
1010
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1,6*
8,0
-
2 r g Hafer
22./23 ,
2200
1010
0,22
0,57
4,S 4
12,5
-
-
do.
-
1800
1« GO
Nyl.neg.
-
-
Gemüse wie vorher
-
1000
l'i23
do.
-
“
-
-
do.
25./20. ,
2500
102'
3,08
3,66
77,0
61,5^
-
268 g Weißbrot
2Ö./27 .
LiJt'X»
1031
5/2S
5,44
1 lo,!6
11", 61
-
-
do.
27./28 „
1000
1024
1,21
1,83
13,31
20,00
-
-
Gemüse und 150 g Fleisch
2\/2 r '. _
1200
102"
0,11
0,6
1,32
7,10
-
do.
2 9./30. ,
220.'
l,o 5
V>3
36,3
42,’iO
250 g Hafer
30. Nov.*
200.)
1013
2,13
2,' *5
4', °
*
5'\ 04
do.
1. Dez.
Kj-l Dez.
1D «0
s
1015
Nyl nrg.
—
• 1
Gemüse und '0 g Fleisch
Wir sehen also bei Verabreichung von Hafer wesentlich geringere Zuckermengen im Harn auftreten als bei
Verabreichung äquivalenter Mengen von W eißbrot. Wir sehen weiter, wie die WeiÜbrotperiode die Toleranz geschädigt
hat, denn es tritt in der der WeiObrotperiode folgenden Gemüseperiode Zucker in ziemlich erheblichen Mengen wieder
auf, während nach der ersten Haferperiode bei nachfolgender Verordnung von Gemüsetagen der Harn sofort wieder
zuckerfrei wurde.
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16
Die Therapie der Gegenwart 1910.
Januar
Hafer nicht besser toleriert wird als andere
Stärkesorten, von vornherein sehr viel
weniger aussichtsvoll liegen.
Daß die Haferstärke in geeigneten
Fällen besser vertragen wird, läßt sich
durch ziemlich einwandsfreie Unter¬
suchungen zeigen. Ich gebe hier ein
kurzes Beispiel aus den Tabellen monate¬
lang quantitativ untersuchter Diabetiker,
bei denen wir die Toleranz des betreffen¬
den Kranken genau überblicken und gut
beurteilen konnten.
Daß Verabreichung von Hafer auch die
Azidosis günstig beeiflußt, ließ sich in
unseren Fällen nur da erweisen, wo eine
gewisse Toleranz gegen Haferstärke be¬
stand. Das ist ja nach dem, was wir über
die Bedeutung der Kohlehydratverbrennung
für die Azetonkörperbildung wissen, ohne
weiteres verständlich.
Der Versuch, die merkwürdige, zunächst
paradox erscheinende Tatsache der beson¬
ders guten Verträglichkeit der Haferstärke
zu erklären, ist bisher nicht einwandsfrei
gelungen. Außer den bereits vorhandenen
Erklärungsmöglichkeiten möchten wir ein¬
mal hin weisen auf die neueren chemischen
Anschauungen, nach denen die verschie¬
denen Pflanzenstärken keineswegs als che¬
misch einheitliche Körper zu gelten haben,
(was schon aus der verschiedenen Größe
ihres wasserlöslichen Anteils hervorgeht
und aus ihrem verschiedenen tinktoriellen
Verhalten gegenüber Jod).
Ich möchte unter einigem Vorbehalt
noch auf eine andere Möglichkeit hin weisen.
Bei richtiger Würdigung aller Tatsachen
und Erfahrungen muß in betreff der Patho¬
genese wenigstens der meisten Formen
von Diabetes diejenige Anschauung als die
wahrscheinlichste gelten, nach der die
mangelhafte Ausnutzung des Zuckers die
Folge einer fermentativen Erschöpfung,
resp. in den schwersten Fällen die Folge
der mehr oder weniger vollkommenen Ver¬
nichtung der hier in Betracht kommenden
Fermentfunktion ist. Bei dieser Auffassung
wird uns die große Bedeutung der Funk¬
tionsschonung für die Toleranzhebung am
besten verständlich. Sehen wir doch bei
einer solchen konsequenten, durch Monate
hindurch durchgeführten Toleranzschonung
selbst Fälle, die zunächst durchaus dem
schwersten Typus des Diabetes zugerechnet
werden müssen, außerordentlich viel besser
werden, ja unter Umständen zu einer rela¬
tiven Heilung kommen.
Wir können uns aber weiter auch vor¬
stellen, daß eine geschädigte oder er¬
schöpfte Fermentfunktion durch bestimmte
exzitatorische Mittel gereizt und gestärkt
werden kann. Daß dieser Gedankengang
nicht so absurd ist, beweisen z. B. die
Folgen der Darreichung größerer Milch¬
mengen an erwachsene Hunde. Während
diese bei den ersten Darreichungen reiner
Milchnahrung fast immer eine sehr erheb¬
liche Milchzuckerausscheidung mit dem
Harn zeigen, werden sie nach Ablauf einer
Woche oder einer etwas längeren Zeit
wieder zuckerfrei trotz gleichbleibender
Milchernährung. 1 ) Der Milchzucker wird
jetzt ausgenutzt, und zwar wie wir in An¬
lehnung an andere Versuche annehmen
dürfen, wohl infolge der durch den Reiz
der Milchzuckerzufuhr im Darm wach¬
gerufenen Sekretion des Laktasefermentes.
Hier hat also der entsprechende Reiz im
Darm des erwachsenen Tieres zur Er¬
zeugung, resp. zur „Wiedererweckung“
einer fermentativen Aktion geführt, die,
wie wir wissen, in der Säugungsperiode
dauernd vorhanden ist.
Sollte es nicht denkbar sein, daß eine
ähnliche exzitatorische Wirkung der Hafer¬
stärke, resp. irgend einem Bestandteil des
Hafers zukommt in bezug auf die fermen¬
tativen Vorgänge, die vielleicht bei der
Verarbeitung desTraubenzuckers eine Rolle
spielen?
Manche Erfahrungen mit Haferkuren
können jedenfalls zugunsten einer solchen
Auffassung herangezogen werden, Er¬
fahrungen, auf die in der ausführlichen
Mitteilung des Näheren eingegangen wer¬
den soll.
Die Behandlung des Scharlachs.
Von Adolf Baglnsky-Berlin.
Meine Herren! Die Behandlung des
Scharlachs Sie zu lehren, in kurzer Dar¬
stellung, und gleichsam in einem Zuge und
Zusammenhang, ist vielleicht eine der
schwierigsten Aufgaben, die dem klinischen
Lehrer zuteil werden kann, und ich glaube
auch nicht, daß es mir glücken kann, alles
so geordnet, so abgeschlossen Ihnen zum
Vortrag zu bringen, daß Sie nun wirklich
gerüstet sein könnten, allen den Fährlich-
keiten, den überraschenden und wechsel¬
vollen Zufällen gewappnet gegenüber¬
zustehen, die Ihnen der Scharlach zu bieten
imstande ist, und die er Ihnen in Ihrer
praktischen Tätigkeit in einer größeren
l ) Durch eigene Versuche bestätigt
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Die Therapie der Gegenwart 1910.
17
Epidemie sicher bieten wird. Mir selbst
ist der Scharlach eine der interessantesten
und gleichsam am meisten zu Herzen
gehende Krankheit geworden, habe ich doch
als ganz junger Arzt in der Landpraxis
wenige Wochen, ja wenige Tage nach Be¬
ginn meiner praktischen Tätigkeit im
Jahre 1868 als Landarzt mit einer furcht¬
baren und sehr ausgedehnten Scharlach¬
epidemie zu tun bekommen, die mir in
kurzen Wochen gegen 300 Falle — wenn
meine Erinnerung mich nicht tauscht —
und darunter viele schwere und manche
ganz maligne, in wenigen Stunden zum
Tode führende Falle, in die Hände führte.
Ich habe damals den Scharlach als eine
der heimtückischsten und verderblichsten
Krankheiten des kindlichen Alters ein¬
zuschätzen gelernt; und haben auch die
vielen, vielen ausgedehnten Erfahrungen
der späteren Jahre bis auf den heutigen
Tag mich gelehrt, gegenüber den Heim¬
tücken der Krankheit auf der Hut zu sein,
und mich nicht mehr so leicht überraschen
zu lassen, wie seinerzeit im Anfang meiner
Tätigkeit, so muß ich doch auch heute noch
sagen, daß ich sie in der Reihe der aller¬
schlimmsten Feinde der Kinderwelt auch
heut noch ziemlich weit obenan setze, noch
dazu seitdem es geglückt ist, der Seuchen
allerschlimmsten, der Diphtherie, durch
die so glücklich inaugurierte spezifische
Serumtherapie ein Ziel zu setzen. Ob wir
beim Scharlach zu einem gleich glücklichen
Erfolge Vordringen werden, ob es uns
glücken wird auf den bisher eingeschlagenen
Wegen zu einer spezifischen Therapie zu
gelangen, steht noch dahin. Wir werden
von den bisherigen Versuchen dazu auch
alsbald in dieser unserer Unterhaltung zu
sprechen haben.
Sie wissen, meine Herren, und das
werden Sie aus unseren klinischen Vor¬
stellungen und Visiten gelernt haben, daß
der Scharlach sich trotz einer gewissen
Monotonie des Gesamtbildes und trotz ge¬
wisser charakteristischer und unverkennbar
ihn kennzeichnenden Erscheinungen in
immerhin wechselvollen Formen sich dar¬
stellt. — Sie haben zur Genüge Gelegen¬
heit hier schon die leichtesten Formen
kennen zu lernen, die nach dem ersten Ein¬
setzen der Krankheit unter Erbrechen,
mehr oder weniger hoher Fiebertemperatur
und gelinder Angina das charakteristische
feingesprenkelte rote Exanthem zur An¬
schauung bringt; ohne daß irgend etwas
Komplizierendes hinzutritt, klingen bei
dieser leichten Form Angina und Fieber
in 2—3 Tagen ab, die Kinder liegen an-
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scheinend gesund frohen Muts im Bett,
kaum noch krank zu nennen, und sähe man
nicht auf der Haut in den nächsten Tagen
eine mehr oder weniger ausgedehnte Ab¬
schuppung, fühlte man nicht vielleicht noch
unter den Kieferwinkeln leichte Schwel¬
lungen der cervicalen Drüsen, man könnte
sich veranlaßt sehen, die Kinder als wirk¬
lich geheilt aufstehen zu lassen und als
wirklich geheilt zu betrachten. — Viele, ja
die Mehrzahl dieser leicht Erkrankten bleibt
auch wirklich unangefochten und die mit
der Tücke des Leidens unbekannte Um¬
gebung der Kranken lacht gar oft der
Fürsorge des verständigen und gewissen¬
haften Arztes; nur leider diejenige Fa¬
milie nicht, der passiert ist, was ich gerade
bei den anscheinend allerleichtesten Fällen
mehrere Male erlebt habe, daß diese an¬
scheinend so gesunden Kinder in der
dritten oder im Anfänge der vierten Woche
nach der anscheinend so unwesentlichen
Attacke plötzlich unter Erbrechen eine
Verringerung der Diurese erkennen lassen,
als Zeichen einer ernsten Nierenerkrankung;
einer Erkrankung die alsbald in ein voll¬
kommenes Versiegen der Diurese, in An-
urie überzugehen vermag, die trotz aller
angewendeten Mittel unüberwindlich am
5., 6., oder 7. Tage zum Tode führt. Un¬
aufhaltsam, rettungslos. — Meine Herren!
Lassen Sie sich belehren! — Es gibt so
keine eigentlich leichten, d. h. leicht¬
hin zu behandelnden Scharlachfälle,
— wenigstens nicht für den gewissenhaften
Arzt. Jeder Scharlachfall ist eine ernste
und ernst zu nehmende Krankheit. Dies
muß für Sie der oberste und erste Grund¬
satz aller Scharlachbehandlung sein.
Was soll nun mit diesen anscheinend
so leichten Krankheitsfällen geschehen?
Nicht das einsetzende Erbrechen, noch auch
das Fieber, noch auch selbst die leichte
Angina oder gar die Abschuppung er¬
heischen irgend welche wirkliche thera¬
peutische Maßnahmen. Die Natur wird eben
gar leicht im kindlichen Organismus mit
all den anscheinend passageren leichten
Erkrankungsformen fertig. Nur dessen
muß man sich bewußt bleiben, daß der
Kranke wirklich und ernstlich krank ist,
krank an einem heimtückischen Leiden,
ergriffen von einem unheimlichen, und noch
nicht bekannten Virus, gegen welches der
Organismus sich selbst immun machen
muß, und daß man Fürsorge treffen muß,
den Organismus darin nicht zu stören.
Die Aufgabe des Arztes bei diesen Fällen
ist zumeist lediglich die, zu verhüten, daß
der Kranke sich schade. — Nil nocere!
3
Original from
UNIVER3ITY 0F CALIFORNIA
18
Januar
Die Therapie der Gegenwart 1910.
ist hier die eigentliche Aufgabe des Arztes;
dazu bedarf es kaum irgend welcher eigent
licher therapeutischer Maßnahmen. Will
man gegen die Angina örtlich etwas an¬
wenden, so versorge man den Kranken mit
kühlen Umschlägen um den Hals, besser
noch mit einer für 1—2 Tage gut ange¬
legten (!) Eiskrawatte, in der Art, wie
Sie es bei uns sehen, und üben allenfalls
die örtliche Behandlung mit Gurgelungen
bei älteren Kindern, mit dem Spray
(Einstäubungen) bei jüngeren Kindern, mit
Kal. hypermanganicum oder mit 1V 2 °/oigem
Wasserstoffsuperoxyd, oder auch mit
2 —3 % iger Borsäurelösung. Dies wird
leicht die anginösen Beschwerden be¬
seitigen, — und mit ihnen auch das Fieber.
— Wichtiger aber, meine Herren, als diese
örtliche Behandlung ist das allgemeine, dem
Kranken unerbittlich (!) aufzuzwingende
Regime der ruhigen Bettlage, des Auf¬
enthaltes im Bette, trotz alsbald em-
getretener Entfieberung, für die nächsten
Wochen, und einer absolut reizlosen,
möglichst wenig salzhaltigen Kost; hierzu
eignet sich in erster Reihe die Milchdiät.
Ich suche nicht, auch nicht nach den
jüngsten Erörterungen über die salzlose
Kost von Widal, in dem Kochsalzgehalt
der Nahrung die größte Noxe; viel mehr
als den Kochsalzgehalt der Nahrung halte
ich die Extraktivstoffe des Fleisches für
schädlich; für das schädlichste freilich,
wenn beide vereint dem Kranken in der
Nahrung dargeboten werden; daher meide
man Bouillon, jede Fleischnahrung und
beschränke den Kranken vorerst auf reine
Milchdiät; etwas, was gerade bei Kindern
sehr gut angeht. — Ich lasse es nie durch¬
gehen, daß Kinder keine Milch wollen, und
habe bisher jedesmal den angeblichen
Widerstand überwunden; den schlechtesten
Milchtrinkern habe ich bis zu 2—3 1 Milch
als Nahrung angewöhnt; wobei freilich im
Verlauf der dritten Woche und gar der
vierten Woche Kakao, Mehlsorten aller Art,
Zwiebackgebäck, auch leichteste Gemüse,
wie Spinat, Karotten, Blumenkohl, Kartoffel¬
püree der Milchdiät hinzugefügt werden
können. Also! Alles in allem, Bettruhe
und blandeste, laktovegetabilische
Diät. — Das ist die eigentliche Therapie
der leichten Scharlachformen. — In der
vierten Woche kann der Kranke, wenn der
Harn stets frei von Albumen und anderen
krankhaften Bestandteilen, insbesondere
auch morphotischen, wie Blutkörperchen,
Zylindern, zahlreichen Lymphkörperchen
geblieben ist, warm gekleidet und gehalten,
das Bett zuweilen verlassen. Vor vollen
6 Wochen entlasse man die Kleinen nicht
aus der Beobachtung und bei geringsten
Veränderungen im Allgemeinbefinden,
leichten Fieberbewegungen oder krankhaften
Beimischungen im Harn, bringe man inner¬
halb dieser Zeit dieselben unweigerlich
wieder zu Bett. — Dies wird Sie, meine
Herren, vor so furchtbarenUeberraschungen
schützen, wie ich angedeutet habe, vor
Nephritis und Anurie mit Urämie; denn
diese letztere habe ich, wie ich später
Ihnen noch ausführlicher auseinandersetzen
werde, eigentlich nur bei den, durch ver¬
fehltes Regime und nachlässiger Beobach¬
tung der dringendsten hygienischen Ma߬
nahmen schlecht versehenen Kranken be¬
obachtet. — Ich habe, wie Sie sehen, der
Geschäftigkeit des Arztes bisher wenig
Raum gegeben; tatsächlich ist die mehr
negative, die prophylaktische Tätigkeit des
Arztes bei der bisher ins Auge gefaßten
Krankheitsform die eigentlich heilbrin¬
gende. — Soll man die Kranken baden?
Diese Frage kann zur Erörterung stehen.
— Notwendig ist nur zeitweilig ein Rei¬
nigungsbad, namentlich, wenn sich trotz
des leichten Ablaufs des Exanthems doch
eine etwas stärkere Schuppung einstellt;
ich bin von vielem Baden, weil es über¬
flüssig ist, und durch zufällige Erkältungen,
oder anderen unbekannten Wirkungen von
der Haut aus vielleicht gar schädlich werden
kann, mehr und mehr zurückgekommen.
Jedenfalls wende man, wenn man die kranken
Kinder baden läßt, die größte Vorsicht an,
keine Erkältungen zustande kommen zu
lassen. An sich sind zwar die Scharlach¬
kranken nicht gar so empfindlich, wie man
bei einer Dermatitis erwarten möchte, bei
weitem nicht so empfindlich wie Masern¬
kranke, und man kann sie selbst im kühlen
Zimmer liegen lassen, freilich eher, wie
wir ersehen werden, die Fiebernden;
weniger, und mit größerer Vorsicht die
Entfieberten. — So, meine Herren, wäre
mit den leichten unkomplizierten Scharlach¬
fällen zu verfahren.
Lassen Sie uns eine zweite Gruppe von
Erkrankungen, die sogenannten malignen,
perniciösen Scharlachformen ins Auge
fassen. Sie kennen diese furchtbare Er¬
krankungsform mehr aus der Beschreibung
in den Büchern, als aus der eigenen An¬
schauung. Zum Glück sind die Fälle nicht
allzu häufig, wenngleich sie während einer
größeren Epidemie immerhin in einigen
Exemplaren zur Beobachtung kommen. Wer
sie je gesehen hat, wird den schrecklichen
Eindruck nimmer wieder los. — Mitten aus
dem frohen, frischen Leben werden da die
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Original frnm
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Jauuar
Die Therapie der Gegenwart 1910.
19
Kinder hingeworfen, unter Uebelkeit, Er¬
brechen und selbst profusen Diarrhöen,
plötzlich kollabiert, cyanotisch, livide, fast
pulslos oder mit einem kaum zählbaren
engen, verfallenen Pulse, alsbald besinnungs¬
los, bis tief komatös. — So liegen die Kin¬
der, die kurz vordem noch froh gespielt,
die Schule besucht hatten, darnieder, und
so sterben sie nicht selten schon innerhalb
der ersten 24 Stunden, noch bevor ein Ex¬
anthem sich gezeigt hat. Nut* die Kenntnis
der Krankheit, dazu die Kenntnis der
herrschenden Epidemie, gibt die Möglichkeit
der Diagnose, und selbst erfahrene Aerzte
sind kaum imstande, sich immer dem eigen¬
artigen und seltsamen Krankheitsbilde
gegenüber zurecht zu finden. Ich will hier
ja nicht die Pathologie, ich will die The¬
rapie des Scharlach Ihnen zur Kenntnis
bringen; ich will deshalb auch nicht aus-
spinnen, daß zum Glück immerhin nur we¬
nige Fälle gar so fondroyant, so pestartig
giftig, als ganz augenscheinliche akuteste
Vergiftungen verlaufen; es gibt Varianten;
so daß bei einigen Sopor, Delirien, Koma
sich auf etwas längere Zeitdauer, auf zwei
bis drei Tage hin, ausdehnen, daß der Livor
und die Cyanose, dem eigentlichen Schar¬
lachexanthem, welches herausbricht und die
Haut dunkelviolettrot oder braunroth färbt,
weichen, daß eine unverkennbare, mit mehr
oder weniger starker Schwellung der
Schleimhautgebilde und der Lymphdrüsen
einhergehende Angina das Krankheitsbild
ergänzt. Freilich bleiben Prostration und
Verfall der Herzaktion noch bestehen; da
indessen Erbrechen und Durchfälle nach-
lassen, so hebt sich die Spannung der Ar¬
terien und die Füllung derselben ein wenig,
und die bisher ganz dumpfen Herztöne er¬
halten exakteren, lauteren Charakter, so daß
die Hoffnung aufkeimt, daß der Organismus
die Gewalt des in ihm zur Wirkung ge¬
langten Giftes zu meistern, zu neutralisieren
beginnt. — Eine wirkliche, ganz augen¬
scheinliche schwere Intoxikation ist es, mit
der wir zu tun haben; keine andere Auf¬
fassungvermag sonst den plötzlich herein¬
gebrochenen Zustand zu erklären; wenn
wir gleich über Art und Wesen des Toxins
noch nicht die geringste sichere Vorstellung
haben. Kennen wir doch nicht den Krank¬
heitserreger und begreiflicherweise dann
ebensowenig auch das etwa von ihm er¬
zeugte Gift. Es kann nur sein Vorhanden¬
sein aus den Krankheitserscheinungen und
seinen Wirkungen supponiert werden. Sie
wissen, daß wir selbst bei den raschest ver¬
laufenden Fällen der geschilderten Art
Streptokokken im Blute nachgewiesen
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haben, und wir wissen auch, daß Strepto¬
kokken Produzenten furchtbarer Gifte sind.
— Wem kommt wohl unter diesen Ein¬
drücken und Erfahrungen der Gedanke
nicht nahe, der Krankheit, nach Analogie
der bei der Diphtherie gewonnenen Er¬
fahrungen und glücklichen Errungen¬
schaften, hier ein Antistreptokokkenserum
zu schaffen, wie dort ein Diphtherieanti¬
toxin geschaffen worden ist, um damit den
Kranken giftfest zu machen, gleichzeitig
aber, da die Streptokokken im Blute zir¬
kulieren, mit bakterizider Wirksamkeit
Das führt uns, meine Herren, mitten in
die jüngsten der therapeutischen An¬
strengungen hinein. Nachdem die Anti¬
streptokokkensera von Marmorek, Moser
sich als gar nicht, oder nicht irgendwie
bedeutsam wirkungsvoll erwiesen haben,
und trotz mancher gegenteiliger Behaup¬
tungen mehr und mehr aus der klinischen
Therapie wieder verschwunden sind, fangen
neuerdings von Aronson, von Meyer
hergestellte, mit anerkennenswertem Eifer
stetig hochwertiger produzierte polyvalente
Scharlachsera an, in der Behandlung des
Scharlachs Fuß zu fassen. Wir selbst stehen
mitten in den Versuchen; sind wir gleich
in der Privatpraxis ebenso wie hier im
Krankenhause einzelnen Fällen begegnet,
die wenigstens die Möglichkeit der Deutung
zulassen, daß diese Sera subkutan, intra¬
muskulär oder wie neuerdings zumeist
intravenös angewendet, von Nutzen waren,
so kann ich doch irgend ein zu Gunsten
der Serumwirkung ausfallendes, abschließen¬
des Urteil Ihnen nicht geben. Wir wenden
jetzt das Meyer sehe, von den Höchster
Farbwerken hergestellte Serum nach An¬
gabe des Autors intravenös in Mengen von
50—100 ccm an; die Erfolge sind leider bei
den wirklich turbulenten und schweren
Fällen, die ich Ihnen geschildert habe, zu
allermeist ausgeblieben. Auf der anderen
Seite habe ich aber auch mich nicht der Er¬
fahrung verschließen können, daß die Sera,
wenigstens in einzelnen Fällen, sehr schweren
Schaden stiften. — So bleibt Ihnen die
schwere Wahl, ob sie der Krankheit ihren
Weg lassen, oder bei der Ungunst der Pro¬
gnose in den verzweifelten Fällen zur Serum¬
anwendung greifen; möge Ihnen wenig¬
stens, wenn Sie sich zur Anwendung des
Serums entschließen, das Bewußtsein blei¬
ben, mit allem, was die Kunst bietet, dem
Kranken beigesprungen zu sein. — Begreif¬
licherweise werden sie sich aber damit allein
nicht befriedigen wollen und können. Sie
werden bei den Fällen alles das außerdem
anwenden, was die Lage des Kranken,
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Januar
Die Therapie der Gegenwart 1910.
außerhalb der Anregung zu spezifischer
Therapie, nach langjähriger Erfahrung als
Indikation an die Hand gibt. Sie werden
bei Fällen, die mit hohen oder gar ex-
cessiven Temperaturen, mit Sopor und
Delirien verlaufen, kühlende Bäder von
28—30° C eventuell in Verbindung mit
kalten Uebergießungen versuchen und die
Herzkraft nebenher mit reichlichen Kamp-
pherinjektionen zu beleben versuchen. An¬
dere Kranke können Sie, unter Dar¬
reichung von feurigem Wein, wie Sherry,
Portwein, mit kühlen, dreimal nach je zehn
Minuten wiederholten Einpackungen aus
Prostration und Sopor zu wecken, durch
Anregung der Reaktion des Hautorganes
zu beleben versuchen. Auch hierbei können
Sie zwischendurch noch subcutane Injec-
tionen von Kampfer oder von Coffein natr.-
benzoicum zur Anwendung ziehen; (0,01
bis 0,05 pro dosi.) Ist die Prostration mit
Cyanose besonders hervortretend, dabei die
Temperatur nicht allzu hoch, die Körper¬
wärme so schlecht verteilt, daß die Extre¬
mitäten kalt, blau und livide erscheinen,
so werden Sie dem Kranken vielleicht ge¬
rade, im Gegensätze zu der Kältetherapie,
mit einem heißen, hochtemperierten Bade
(bis 38—39° C) beizuspringen versuchen,
wobei nebenher der Applikation von Eis¬
blasen auf den Kopf nichts im Wege steht.
Auch hierbei brauchen Sie Kampfer, Koffein,
Wein nicht zu schonen. — Viel ist die
Rede von der Anwendung von Strychnin
als eigentlichem Herztonikum, und unsere
amerikanischen Kollegen würden das Mittel
kaum entbehren wollen; ich habe es eigent¬
lich immer in den verzweifelten Fällen wir¬
kungslos gesehen; indessen weiß ich auch
keinen Grund anzugeben, dasselbe zu ver¬
werfen; Sie mögen es also immerhin hier
und da anwenden, wenn Sie selbst Ver¬
trauen dazu haben; Sie werden es sub¬
kutan in —2 mg zur Anwendung
bringen können, 2—3mal am Tage. — Noch
weniger Sicheres kann ich Ihnen von dem
jüngst so in den Vordergrund gebrachten
Adrenalin sagen. Ob es wirklich leistet,
was man sich von ihm verspricht, wage
ich nach meinen bisher noch nicht aus¬
giebigen Erfahrungen mit dem Mittel nicht
zu entscheiden. Die Not wird Ihnen das
Mittel freilich bei den verzweifelten Fällen
in die Hand drücken, und so können Sie
ja mit der innerlichen und subkutanen An¬
wendung desselben immerhin einen Ver¬
such wagen. — Sie werden innerlich meh¬
rere Male am Tage 10—15—20 Tropfen der
1 %oigen Lösung zur Anwendung bringen
können; zur subkutanen Anwendung wer¬
den Sie 2—3mal am Tage von der zehn¬
fach verdünnten Lösung je V 2 —I ccm zu
gebrauchen vermögen. Auch die Anwen¬
dung physiologischer Kochsalzlösungen,
oder besser gesagt, die von uns zumeist
gebrauchten hypotonischen (3—4%o) Lösun¬
gen, in nicht allzu großen Mengen kann
von großem und lebensrettendem Nutzen
werden, insbesondere bei den mit Diarrhoe
und Erbrechen sich ergehenden Fällen.
Aber, meihe Herren, machen Sie sich
bei allem, was Sie tun und anwenden, wirk¬
lich klar, was Sie damit wollen. Nichts
Schlimmeres gibt es für den Kranken und
auch für dessen Umgebung, als ein ver¬
zweiflungsvolles Umherspringen des Arztes
mit Mitteln und Methoden; alles, was Sie
tun, muß ruhig, konsequent und ausgiebig
geschehen, so mit dem Serum, so mit Bä¬
dern und Einpackungen, so auch mit Ex-
citantien; denn wenn überhaupt, so liegt
darin das Heil des Kranken. Leider ist
ja das, was wir wirklich vermögen, da wir
das eigentliche Antitoxin nicht besitzen,
minimal. — Schließlich, vergessen Sie nicht
den Kranken auch in diesem Zustande aus¬
reichend zu ernähren, mit Milch, die Sie,
wenn der Kranke nicht schlucken kann
oder will, eventuell mit der Schlundsonde
einbringen, oder, wenn Erbrechen und
Diarrhoe eine eigentliche Ernährung ver¬
bieten, mit kaltem Tee und etwa schleimi¬
gen Suppen. Von Rektalernährung bin
ich nie ein Freund gewesen und meide sie,
solange ich irgend kann; sie führt in der
Regel nicht zum guten, und man kann
Kinder, mit ganz wenigen Ausnahmen, bei
guter Pflegehilfe doch wohl meist per os
ernähren. Ich habe bisher die Behandlung
der Angina bei den so bedrohlichen Fällen
nicht erwähnt. — Tatsächlich läßt bei den
Fällen das bedrohte Allgemeinbefinden
hierzu keine Zeit; auch eilt es damit nicht
so; erst wenn die äußerste Gefahr des
immer drohenden toxischen Herzkollapses
und der Intoxikation der Centralorgane
überwunden ist, kann man sich mit Eifer
der Bekämpfung der skarlatinösen An¬
gina zuwenden. Wir werden alsbald die
von ihr indizierte Therapie bei der gleich¬
sam mittleren, der Hauptgruppe der Schar¬
lachfälle ins Auge fassen.
Die Mittelgruppe, freilich das Gros der
Scharlacherkrankungen umfassend, ist rund
herausgesagt, diejenige Gruppe von Schar¬
lacherkrankungen, die mit komplizierenden
örtlichen Erkrankungsherden, mit an den ein¬
zelnen Organen hervortretenden Krankheits¬
erscheinungen einhergeht; selbstverständ¬
lichgeschieht dies nicht, ohne daß dasAU-
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Original frnm
UNIVERSiTY OF CALIFORNIA
Januar
Die Therapie der Gegenwart 1910.
21
gemeinsymptom der Krankheit, das Fieber,
sich mehr oder weniger bedeutungsvoll, in
mannigfachen Variationen zur Geltung
bringt.
Lassen sie uns, meine Herren, bevor
wir in die Betrachtung der einzelnen Phä¬
nomene der mannigfachen Komplikationen,
die den Verlauf des Scharlachs schließlich
gestalten, eingehen, die Frage erörtern, ob
wir imstande sind, die Komplikationen durch
irgend eine, insbesondere durch eine spe¬
zifische Behandlung zu verhüten. Viel¬
leicht ist Ihnen bekannt, daß die Alten
empirisch, wie sie nun eben nicht anders
bei der früheren Unkenntnis der Vorgänge
bei den Infektionskrankheiten konnten, die
verschiedensten Mittel und Prozeduren an¬
wendeten, zu dem Zwecke, die Verhütung
der Komplikationen zu erzielen. Ich er¬
innere nur an die innere Anwendung von
Belladonna, von Ammoniak, an die Speck¬
einreibungen usw.; heut wird niemand mehr
der Hoffnung sich hingeben, mit diesen
Mitteln etwas zu erreichen; freilich haben
auch die neuen zu dem Zwecke angewen¬
deten Mittel, wie Universalinunktionen mit
Unguent.Arg. colloidale nicht im entferntesten
die Fähigkeit erwiesen, die man erhofft hat.
Ja, es haben sich die letztgenannten eher
als direkt schädlich gezeigt; eine nutzlose
Quälerei für Patienten und Pflegerinnen;
man meide sie unbedingt. — Aber auch das
Mittel, von dem man der ganzen Art der
Krankheit nach sich etwas hätte versprechen
können, und das ich jahrelang ausgiebig
selbst angewendet habe, das methodische
Warmbaden, hat sich als nutzloserwiesen,
ob man nun bei den bereits gänzlich oder
fast gänzlich entfieberten Kranken danach
schwitzen läßt oder nicht. Man kann mit
den Schwitzbädern selbst einer Nephritis
nicht Vorbeugen, geschweige den anderen
Komplikationen. Man wird deshalb ein hin
und wieder angewendetes warmes Bad nicht
meiden, im Gegenteil, indessen nur zu dem
allgemein hygienischen Zweck der Reini¬
gung wird es von Nutzen sein können,
namentlich zur Zeit der Desquamation, wo
massenhaft abgestoßene Epidermislamellen
den Kranken bedecken. — Und nun, wie
steht es auch hier mit der Serumtherapie?!
Ich habe Ihnen bereits mitgeteilt, daß die
Antistreptokokkenserumtherapie bei den
malignen Fällen nichts Besonderes leistet;
indes auch die Hoffnungen bezüglich der
Minderung der Komplikationen hat sie, so¬
weit es mir möglich war, Erfahrungen zu
sammeln, getäuscht; ich habe trotz der An¬
wendung von ausgiebigen intravenösen
Seruminjektionen Drüsenschwellungen, Ver¬
eiterungen der Drüsen und Nephritis auf-
treten sehen, das Mittel ist, wie wir es bis
jetzt in den Händen haben, nicht das eigent¬
liche souveraine wie das Diphtherieantitoxin
bei Diphtherie; wobei vielleicht doch im
Einzelfalle einmal eine gewisse Wirkung auf
besondere Lokalaffektionen zutage treten
mag, etwas freilich, wovon ich mich bis jetzt
auch noch nicht zu überzeugen vermochte. —
Von weiteren prophylaktischen Mitteln gegen
die schwerste Komplikation des Scharlachs,
die Nephritis, werden wir noch zu reden
haben. — Tatsächlich ist und bleibt das
souveränste Mittel, so viel wie möglich den
Scharlachkomplikationen den Boden abzu¬
graben, wie schon erwähnt, das hygienische
Regime — Reinlichkeit, Licht, Luft und
die Milchdiät. — Ein besseres vermag ich
Ihnen leider noch nicht an die Hand zu
geben.
Nun zur Frage des Fiebers. Die Fieber¬
bewegungen im Scharlach sind zweierlei
Natur. Sie sind 1. in den ersten Tagen un¬
zweifelhaft der Ausdruck der Infektion und
Intoxikation. Dieses Fieber kann mit
sehr hohen Temperaturen einhergehen und
all den häßlichen Erscheinungen, die dem
hochtemperierten toxischen Fieber auch
sonst anhängen, gerade, wie im Typhus,
bei Influenza, bei Pneumonien usw. Diesem
Fieber gegenüber wird man denn auch be¬
greiflicherweise mit antipyretischen Pro¬
zeduren, wie kühlen Bädern, kühlen Ein¬
packungen zu begegnen versuchen; es wird
auch dagegen nichts einzuwenden sein,
hier und da innerlich antipyretische Mittel
wie Antipyrin, Chinin, Pyramidon, Phena¬
zetin zur Anwendung zu ziehen; offen ge¬
standen liebe ich sie alle nicht, und komme
auch ohne sie durch; will man sie aber
anwenden, und muß man sie vielleicht in
der so erschwerten Landpraxis zu Hilfe
nehmen, so freilich nur mit den für die
Kinderwelt überhaupt notwendigen Kautelen
der Anwendung, in Dosierung und Gesamt¬
quantität. — Auch die zuweilen enorm ge¬
steigerte Pulsfrequenz kann Indikationen
zum Einschreiten bieten, und so sind selbst
kleinere Digitalisgaben, als Digitalisinfus.
(0,5 —1,0:100) 2—3stündlich oder Digalen
oder Digitalysat in entsprechender Gabe an¬
wendbar; auch hier liebe eine allzu frei¬
gebige Geschäftigkeit nicht und rate dezu
sich auf das Notwendigste zu beschränken.
Schwächezustände des Herzens können
nebenher gern mit einzeln angewendeten
Kampfergaben bekämpft werden; und auch
der Wein wird hier auf der Höhe der
Intoxikation als ein gutes Unterstützungs¬
mittel sich erweisen. Mit einem Worte,
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Die Therapie der Gegenwart 1910.
Januar
die Bekämpfung dieser toxischen Fieber¬
bewegungen unterscheidet sich beim Schar¬
lach in nichts von der, wie wir sie sonst
bei den akuten Infektionskrankheiten ge¬
wöhnt sind. Sie wissen ja, daß meine
Devise hier ein für allemal ist: Ne quid nimis!
Eins können Sie noch festhalten, Schar¬
lachkranke vertragen Abkühlungen recht gut,
und sie können gern auch in kühleren
Zimmern gehalten werden; im geraden
Gegensätze zu Masernkranken, deren emp¬
findliche und angegriffene Respirations¬
organe kühle Umgebung schlecht vertragen.
Im weiteren Verlaufe des Scharlachs sind
nun aber die Fieberbewegungen zumeist
abhängig und unterhalten von Komplika¬
tionen und sie sind der Ausdruck für die
Anwesenheit solcher; je nach der Art der
Komplikationen ist das Fieber schwankend
in der Art, wie die Temperaturen sich
zeigen, schwankend auch in der Hart¬
näckigkeit.
Sie werden verstehen können, daß eine
kontinuierlich eiternde Otitis das Fieber
unterhält, daß das Fieber intermittierend
oder remittierend so lange vorhält, als eine
mehr oder weniger maligne geschwürige
Angina besteht, als Phlegmonen, Lymph¬
adenitiden, Gelenkaffektionen, Endokarditis
usw. bestehen, und Sie werden sofort
einzusehen vermögen, daß es absolut nutz¬
los sein muß, das Fieber an sich bekämpfen
zu wollen, solange derartige Krankheits¬
herde nicht beseitigt sind.
Darum werden Sie bei dem länger sich
hinziehenden Fieber im Scharlach von
Hause aus von der Anwendung von eigent¬
lichen antifebrilen Mitteln sich nicht viel
versprechen dürfen. Wir können freilich
bei der Krankheit ein eigenartiges, mit fast
kontinuierlicher intermittierender Kurve
einhergehendes Fieber, dessen Tempera¬
turen unter Umständen stets zwischen 37
und 39 bis 40 o C und selbst darüber
schwankt, ohne daß es glückt, einen lo¬
kalen Krankheitsherd nachzuweisen, ohne
daß selbst, wie sonst doch so häufig, die
cervikalen Lymphdrüsen noch Schwellun¬
gen aufweisen. Man hat das Fieber als
pyämisches oder septikämisches Scharlach-
nachfieber bezeichnet. — Es ist lediglich
der Ausdruck dafür, daß Toxindepots;nur
locker verankert, sei es in den Lymph¬
drüsen, sei es in anderen Organen, viel¬
leicht gar in der Leber gelagert sind, von
denen aus stets kleine Toxinmengen in die
Blutbahn hineingelangen und dort zur Ver¬
brennung, zur Vernichtung bzw. Ausschei¬
dung kommen. Auch gegen dieses Fieber
sind unsere üblichen Antipyretika, wie
Chinin, Antipyrin, Phenazetin usw. so gut
wie wirkungslos. Es weicht zumeist der
allmählich fortschreitenden Immunisierungs¬
arbeit des Organismus.
Sie werden bei diesen Fällen die Mittel
immerhin versuchen können, weil Sie da¬
mit bei vorsichtiger Anwendung nicht
schaden werden; aber, wie gesagt, auf
einen wesentlichen Nutzen werden Sie
nicht rechnen können. So sehen Sie, wie
leider hilflos wir noch der Scharlachinfek-,
tion bezw. Intoxikation gegenüberstehen.
Es ist aber besser, sich damit abzufinden,
und lediglich durch ein vernünftiges hygie¬
nisches Regime dem Kranken zur Seite zu
sein, als ihn durch eine quälerische An¬
wendung von Mitteln stetig zu behelligen,
die, weil sie nicht nützen, an sich schon
schaden. Ich kann Ihnen, meine Herren,
gar nicht genug ans Herz legen — nur keine
nutzlose Polypragmasie! und nil nocere!
(Schluß folgt im nächsten Heft.)
Ans der Ghirnrgisclien Klinik der Universität Kiel.
Die Leistungsfähigkeit der Nagelextension in der Fraktur¬
behandlung und Knochenchirurgie.
Von Willy Anschfitz.
Im letzten Jahre haben wir einige höchst
erfreuliche Erfolge auf dem Gebiete der
Knochenchirurgie und besonders in der
Frakturbehandlung zu verzeichnen gehabt,
Erfolge von mehr als kasuistischem Inter¬
esse. Wir danken sie der Nagelextension.
Das neue Verfahren ist sehr einfach zu
schildern. Bei einer Fraktur z. B. werden
in das untere Fragment durch die Weich¬
teile hindurch zwei seitliche Nägel einge-
trieben und an diesen der Extensionszug
direkt angebracht; man kann auch einen
großen, den Knochen perforierenden Nagel
benutzen oder aber an einem durch den
Knochen getriebenen Bohrer, den man
liegen läßt, ziehen. Diesem letzteren Ver¬
fahren geben wir den Vorzug, weil Locke¬
rungen nicht Vorkommen und die Ausfüh¬
rung eine ebenso bequeme wie schnelle ist,
wenn man mit dem Elektromotor arbeitet.
Das Prinzip bleibt bei allen Modifikationen
das gleiche: Ansetzen des Extensions¬
zuges an zwei kleinen zirkumskripten
Stellen, Möglichkeit, die Zugkraft
und -Wirkung aufs höchste Maß zu
ste igern.
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Januar
Die Therapie der Gegenwart 1910.
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Idee und Methode der Nagelextension ist, zweifelsohne anhaftet. Sie ist ebenfalls
stammen von Codi villa-BoIogna; Stein- weit geringer, als man a priori annehmen
mann-Bern hat sie von sich aus aufs neue möchte, aber sie besteht. Wir haben ein¬
entdeckt und in mehrfachen aufsehener- mal bei einer Unterarmfraktur eine von der
regenden Publikationen allgemeiner bekannt Nagelstelle ausgehende leichte Infektion ge-
gemacht, das haben wir ihm zu danken, sehen, welche allerdings nach Inzision
Die Modifikation mit dem perforierenden schnell und ohne jede Störung ausheilte.
Bohrer stammt von Becker. Immerhin, die Gefahr der Infektion ist vor-
Die Nagelextension stößt auf gewisse handen und die Nagelextension sollte
begreifliche, aber auch widerlegbare Be- deshalb nur bei strikter Indikation,
denken. Ja, sie mag auf den ersten Blick nämlich dann, wenn allen anderen Exten-
wohl etwas roh und auch gefährlich er- sionsmethoden versagt haben, angewendet
scheinen! Auch ich habe sie das erste Mal werden. Ich kann mich deshalb denen
mit Sorge und Scheu angewendet, gezwun- nicht anschließen, welche die Nagelexten-
gen durch die wenig guten Aussichten aller sion zum Normalverfahren bei frischen
mirbisdatobekanntenBehandlungsmethoden Frakturen erheben wollen, sie sollte reser-
bei einer 8 Wochen alten, mangelhaft viert bleiben für gewisse noch zu be-
konsolidierten Unterschenkelfraktur mit 4cm sprechende Gruppen von Brüchen, bei
Verkürzung. Als dann nach zehntägiger denen man mitunter trotz eifrigen Be¬
mühens und guten Könnens
mit den üblichen Behand¬
lungsmethoden schlechte
Resultate nicht vermeiden
kann. Ein vorheriger Ver¬
such mit anderen Ver¬
fahren ist fast immer ge¬
stattet; die Nagelextension
kommt nicht leicht zu spät.
Den Nachteilen des Ver¬
fahrens stehen aber auch
große offenbare Vorzüge
gegenüber. Es greift am
unteren Fragment an zwei
kleinen Stellen an, läßt das
übrige Glied vollständig frei
und nun kann mit jeder be¬
liebigen Kraft die Bruchstelle
distrahiert werden. Der erste
Umstand erleichtert die Be-
hanolung schwerer kompli-
Extension an dem durch die Tibia gelegten zierter Frakturen, der zweite ermöglicht
Nagel die Fraktur ohne Verkürzung federnd die Bekämpfung der schwersten Dis¬
fest ward, ohne daß der Patient nennens- lokationen, denn die Zugkraft ist so
werte Schmerzen oder auch nur die Spur stark, daß sie noch nach Wochen und
einer Infektion gehabt hatte, habe ich dem Monaten bedeutende Verkürzungen der
Verfahren mein volles Interesse zugewendet Weichteile überwindet. Ja, man kann
und es in weiteren 22 Fällen erprobt. Diese mit ihm Diastasen frakturierter Knochen
Zahl ist nicht groß, aber alle Fälle waren, erzielen, welche nach Entlastung wieder
wie wir noch sehen werden, ausgesucht zurückgehen, welche uns aber anderer¬
schwere und ungünstige und trotzdem waren seits eine neue Möglichkeit geben, ope-
die Resultate fast immer gute. Was die rativ gegen alte Verkürzungen vorzugehen.
Schmerzhaftigkeit betrifft, so kann ich Ich habe in einer früheren Publikation 1 )
sagen, daß sie ganz gewiß keine Kontra- eine Anzahl meiner Beobachtungen genau
indikation gegen das neue Extensionsver- beschrieben und an den Röntgenskizzen
fahren bildet. Schmerzen sind an der die schönen Erfolge demonstriert. Ich will
Nagelstelle selbst so gut wie gar nicht vor- erst kurz diese früheren Erfahrungen re-
handen, sie entsprechen nur der Stärke sümieren, um dann auf neue Erfolge etwas
der extendierenden Kraft. Bedenklicher näher einzugehen. Die Fälle teilen sich in
steht es mit der Infektionsgefahr, 6 Gruppen.
welche der Methode, da sie eine operative | b Deutsche Ztschr. f. Chir. Bd. 101 .
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Die Therapie der Gegenwart 1910.
Januar
1. Veraltete Frakturen mit Pseud-
arthrosen und verschleppte Fälle
(4 Fälle).
Außer dem obenerwähnten Fall wurden
noch 2 Oberschenkelpseudarthrosen 4 resp.
4Vs Monate nach dem Unfall mit Nagel¬
extension behandelt. Der eine mit 4 cm
Verkürzung wurde nach vier Wochen langer
Extension federnd ohne jede Verkürzung
fest. Bei dem anderen wurde die Ver¬
kürzung von 10 cm auch vollkommen korri¬
giert. es trat aber keine Festigung ein.
Nach operativer Entfernung der Interposi¬
tion und Knochennaht Heilung mit nur 2 cm
Verkürzung. Mir scheint danach die Nagel
extension zur Behandlung gewisser
Pseudarthrosenformen sehr geeignet
zu sein.
Hierher gehören auch alle jene Fälle,
bei denen wegen interkurrenter Krankheiten
oder anderer komplizierter Verletzungen
die üblichen Extensionsmethoden nicht
dauernd durchführbar sind. Ein Beispiel:
Ein 63 jähriger Mann mit Oberschenkelbruch,
bei dem wir mit Heftpflasterextension die Ver¬
kürzung bereitsgut ausgeglichen hatten, bekam
eine schwere Pneumonie und Pleuritis mit
Herzschwäche. Nach drei Wochen langer Unter¬
brechung der Extension Verkürzung und
schlechte Stellung, welche durch eine erneute
Heftpflasterextension nicht ausgeglichen werden
konnte, deshalb Nagelextension: Nach 9 Wochen
federnd fest ohne Verkürzung.
Jeder kennt solche traurigen Fälle, wo
durch Erysipele, Delirium, Infarkte, Pneu¬
monie usw. gute Heilungsaussichten durch
Unterbrechung der Extension vernichtet
wurden. Bei solchen unvermeidlichen un¬
glücklichen Zufällen scheint mir die Nagel¬
extension von ganz besonderem Nutzen
sein zu können. Wie man überhaupt wohl
hoffen darf, daß sich die Prognose der
verschleppten veralteten Frakturen
durch die Nagelextension ganz er¬
heblich bessern wird.
2 . Schwere komplizierte Frakturen
(5 Fälle).
Wenn möglich wenden wir auch bei
komplizierten Frakturen die Heftpflaster¬
extension an, bei großen Hautwunden ist
diese aber nicht immer möglich oder aber
sie ist wegen sich entwickelnder Phlegmone
oder Hautgangrän nicht durchführbar. Dann
tritt die Nagelextension in ihre Rechte,
weil sie ohne der Wundbehandlung hinder¬
lich zu sein, für dauernden Zug sorgt.
Sie konnte sogar in einem Falle von Unter¬
schenkelbruch wochenlang beibehalten werden,
bei dem sich eine schwere Phlegmone an der
Bruchstelle abspielte, die mehrfache Inzisionen
nötig machte. Heilung ohne Verkürzung.
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Früher war man bei derartigen schweren
Fällen unter Vernachlässigung einer guten
Steilung auf Schiene oder gefensterten Gips¬
verband angewiesen. Schlechte Resultate
waren dann nahezu die Regel. Jetzt im
Besitze der Nagelextension können wir in
doppelter Hinsicht die Prognose dieser
schweren Verletzungen günstiger gestalten
als früher. Wir können entweder bald am
Nagel extendieren oder aber bei besonders
unglücklichen lokalen Verhältnissen zunächst
in der Schiene behandeln und die Korrek¬
tur der Dislokation auf eine spätere Zeit
verschieben. Ich verweise dabei auf einen
Fall der 4. Gruppe s. u. Auf diesem Ge¬
biete wird die Nagelextension gewiß noch
große Triumphe Jeiern.
3. Frische einfache Frakturen mit
unbefriedigendem Resultat bei der
üblichen Behandlung (4 Fälle).
Wir haben ein sehr großes Frakturen¬
material und erzielen mit der so bald und
so energisch wie möglich angelegten Heft¬
pflasterextension im allgemeinen sehr be¬
friedigende Resultate. Aber bei aller
Uebung in dieser Methode gibt es doch hin
und wieder Fälle, wo wir mit ihr nicht zum
Ziele kommen. Und was uns passiert,
werden auch andere wohl erleben. Da
kann dann die Nagelextension manchmal
noch zu einem guten Resultate verhelfen.
Bei einem fettleibigen Patienten mit starkem
Pannikulus am gebrochenen Oberschenkel
kamen wir trotz wiederholter Reposition in
Narkose und hoher Belastungen nicht zu einer
guten Stellung. Erst die Nagelextension be¬
seitigte die Verkürzung und korrigierte die seit¬
liche Verschiebung in nahezu idealer Weise.
Unsicherer sind die Erfolge der Heft¬
pflasterextension bei den Fußgelenksbrüchen
mit Luxationen oder Subluxationen, be¬
sonders wenn die Dislocatio ad longitudinem
erheblich ist. Ein stark wirksamer Heft¬
pflasterlängszug ist bei derartigen Frakturen
ungemein schwer anzubringen. Bei diesen
Fällen zögere ich jetzt nicht mehr lange,
wenn ich mit dem Pflasterzug nicht aus¬
komme, den Kalkaneus zu durchbohren und
an ihm zu extendieren, was ungemein ein¬
fach und auch für den Kranken das be¬
quemste ist Die seitlich dislozierten Frag¬
mente treten heran, der Talus wird unter
dem wirksamen Längszug nach unten ge¬
zogen und kann durch einen zweiten Zug
leicht nach vorn oder hinten, je wie
es der Fall erheischt, dirigiert werden. Be¬
wegungen im Fußgelenk sind, während der
Nagel liegt, leicht ausführbar, da der Kal¬
kaneus sich um ihn drehen kann. Drei
derartige Luxationsfrakturen im Fußgelenk,
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Die Therapie der Gegenwart 1910.
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darunter ein schwerer komplizierter Knöchel -
resp. Fußgelenksbruch, welcher unter In¬
zision des Gelenkes und der Wade sehr
schön geheilt ist, veranlassen mich, für
derartige Falle einer frühzeitigen Nagel¬
extension vom Kalkaneus aus das Wort
zu reden. Aber auch hier versäumt man
nichts, wenn man erst die üblichen Be¬
handlungsmethoden versucht, mit denen
auch wir in dieser Zeit vier gute Resul¬
tate erzielten. Aber es ist von uns immer
wieder als größte Annehmlichkeit emp¬
funden worden, daß wir jetzt in der Nagel¬
extension eine Methode haben, die uns
noch hilft, wenn wir auf dem gewöhnlichen
Wege nicht vorwärts kommen — sie ist
das Ultimum refugium, das uns bisher nicht
im Stich gelassen hat: eine treffliche Er¬
gänzung der altbewährten Methoden, die
durch sie in meiner Klinik ganz und gar
nicht verdrängt werden!
4. Korrekturen von Verkürzungen
der Extremitäten infolge alter Frak¬
turen, Verbiegungen, Wachstums¬
störungen oder anderer Ursachen
(6 Fälle).
Ausgehend von der obenerwähnten Be¬
obachtung, daß es gelingt, bei starker Be¬
lastung Diastasen der Fragmente her¬
beizuführen, habe ich im März vorigen
Jahres versucht, bei einem 10jährigen Mäd¬
chen, welches infolge von Enchondromen
eine Verbiegung des Femur und eine
Wachstumsverkürzung des rechten Beines
um 10 cm (9 cm Femur, 1 cm Tibia) hatte,
diese nach treppenförmiger frontaler Osteo¬
tomie durch Nagelextension auszugleichen.
Es gelang tatsächlich, den Oberschenkel
um 8 cm zu verlängern. Das war ein
höchst bemerkenswerter Erfolg.
Danach mußte es bei Verkürzung
infolge alter schlecht geheilter Frak¬
turen erst recht gelingen, die ge¬
wünschte Verlängerung zu erzielen.
Derartiger Fälle gibt es ja eine große
Menge, sie hinken nach dem Unfall durchs
Leben, mehr oder weniger schwer ge¬
schädigt in ihrer Erwerbsfähigkeit; ihr
Leiden fällt ihnen selbst und den Unfall¬
kassen zur Last. Die großen Verkürzungen
entstehen meist nach Oberschenkelfrakturen
kräftiger Männer, die entweder nicht sach¬
gemäß behandelt wurden oder es nicht
werden konnten, weil irgend einer der
obenerwähnten Gründe vorlag (komplizierte
Fraktur, interkurrente Krankheit, schlechte
äußere Verhältnisse U3W.). In solchen
Fällen werden die Osteotomie und Nagel¬
extension oft noch Besserung oder gar
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volle Heilung bringen können: Resultate,
die mit den bisher bekannten Operations¬
methoden nicht zu erzielen waren, die einen
großen schönen Fortschritt in der Knochen¬
chirurgie darstellen.
Der nachfolgende Fall illustriert aufs
deutlichste die große Leistungsfähigkeit der
Nagelextension.
Ein 16 jähriger Knabe erlitt am 23. Juli 1908
durch Ueberfahrung einen sehr schweren kom¬
plizierten Oberschenkelbruch, bei welchem in
der verschmutzten Wunde die Fragmente und
die großen Gefäße weit bloß lagen. Epiphysen¬
lösung der Tibia am Fußgelenk. Die Versuche,
eine leidliche Stellung der Bruchstücke herbei¬
zuführen, scheiterten wegen der schweren sep¬
tischen Wund- und Allgemeininfektion, welche
zuerst nur Schienen später Gipsbehandlung zu¬
ließ. Nach Abstoßung eines 8 cm langen, dicken
und mehrerer kleinerer Sequestern allmähliche
Heilung der Wunde. Entlassung 11 Monate
nach dem Unfall im Gipsverbande mit Verbie¬
gung des Femurs und 8 cm Gesamtverkürzung.
Wir waren sehr froh in diesem verzweifelten
Falle um die Amputation herumgekommen zu
sein und ließen, da wir damals die Nagelexten¬
sion noch nicht gebrauchten, die Fraktur zu¬
nächst einmal heilen. Die Verbiegung konnte
später nach Refraktur ausgeglichen werden —
der Erfolg schien uns in Betracht der Schwere
des Falles ein relativ guter.
Bei der Wiederaufnahme September 1909
war die Verbiegung noch stärker. Die Ver¬
kürzung infolge nachträglicher Verschiebung
und Wachstumsstörung noch größer geworden,
15 cm im ganzen, wovon etwa 2 1 /*—3 cm auf
die Tibia (Epiphysenlösung) entfielen. 26. No¬
vember 1909 Operation. Von der Außenseite
her wird nach entsprechendem Durchtrennen
der vorliegenden Knochenhälfte unter Einsetzen
von Hebeln in die Knochenlücke und Torsion
ein Spiralbruch gesetzt von etwa 12—14 cm
Länge. Durchbohrung des Femur handbreit
über dem Gelenkspalt. Extension am Bohrer
mit 10—30 Pf. Temperatursteigerung, Schmer¬
zen infolge des Zuges. Nach nochmaliger Mo¬
bilisierung und erneutem Zuge bestehen jetzt
noch 4 cm Verkürzung im ganzen (Ober¬
schenkel 2 cm, Tibia 2 cm). Der Knochen ist
federnd fest, im Röntgenbilde nahezu normal
geformt. Die Verkürzung der Tibia wird durch
Osteotomie und Nagelextension auch noch aus¬
geglichen werden.
Weniger eindruckvoll aber nicht minder
wichtig ist der Fall eines Kavallerieoffiziers,
der nach Oberschenkelbruch 3Va cm Ver¬
kürzung behalten hatte. Auch hier haben
wir nach Bloßlegung des Kallus allein von
außen zwischen den Muskeln in gleicher
Weise wie oben einen Spiralbruch von
etwa 8 cm gesetzt, der durch Nagelexten¬
sion distrahiert wurde zur vollkommen
gleichen Länge des Beines, wie auf der
anderen Seite. Gleichzeitig wurde noch
das längst bestehende Genu valgum korri¬
giert. Knochen fest nach 7 Wochen, Geh¬
fähigkeit ohne j eden Verband nach 9 Wochen.
Energische mediko-mechanische Therapie
zur Kräftigung der Muskulatur und Mo-
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26
Januar
Die Therapie der Gegenwart 1910.
bilisierung des Kniegelenkes noch not¬
wendig.
Auch bei einer difform geheilten Unter¬
schenkelfraktur half uns nach der Osteo¬
tomie die Nagelextension vom Kalkaneus
aus schnell und bequem der Ausgleich
herbeizuführen.
Ein weniger gutes, aber für andere
Fälle mehr versprechendes Resultat haben
wir erzielt bei einer Verkürzung infolge
poliomyelitischer Wachstumsstörung
bei einem 15 jährigen Knaben mit fast to¬
taler Lähmung der Unterschenkelmuskula¬
tur, und schwerem nicht korrigierbarem
Klumpfuß. Nach Talusexstirpation und Re¬
dressement des Klumpfußes Bolzung des Fu߬
gelenkes vom Kalkaneus her (fremde Fi¬
bula) wurden Tibia und Fibula frontal
treppenförmig durchsägt. Durchbohrung
der Tibia oberhalb des Fußgelenkes, Nagel¬
extension. Es resultierten 4 cm Verkürzung,
fast genau die gleiche Differenz wie vor¬
her. Es ist aber der Talus weggefallen
und der äußere Fußrand gehoben worden
und Patient hat den Vorteil, nunmehr auf
flacher Sohle ohne Apparat fest auftreten
zu können. Der Erfolg ist mangelhaft, aber
er zeigt, daß der Weg, den wir wählten,
gangbar ist. Im nächsten derartigen Falle
glaube ich sicher die Verlängerung des
Unterschenkels viel besser zu erreichen,
dadurch, daß ich, wie schon Codivilla
angab, 2 Nägel, einen ober- einen unterhalb
der Osteotomie einschlage und diese gegen¬
einander mit Schrauben wie Kirchner
extendiere. Der Versuch nach einer Kon¬
tinuitätsresektion wegen Tibiakopf-
sarkomes die Verkürzung durch die Dia-
stasierung des Femurs auszugleichen, ist
mißglückt, weil wegen Hautgangrän ampu¬
tiert werden mußte.
Man sieht, es eröffnen sich für die
zweckmäßige Anwendung der Nagelexten¬
sion immer neue Gebiete, wo sie viel Nutzen
bringen kann! Speziell auf ihre Anwen¬
dung bei subtrochanteren Osteoto¬
mien möchte ich noch hin weisen.
5. Nicht gut waren die Erfolge bei
alten Luxationen, hier lagen die Ver¬
hältnisse ungünstig (Luxatio antibrachii
posterior mit Fraktur der Trochlea, zehn
Wochen alte Luxatio centralis femoris,
Luxatio congenita irreponibilis bei einem
4jährigen Kind). Vielleicht kann sie auch
hier manchmal die anderen therapeutischen
Maßnahmen unterstützen, denn die exten¬
dierende Kraft ist groß und für kurze Zeit
unter genauer Kontrolle enorm steigerungs¬
fähig.
Zum Schluß will ich noch auf die letzte
6 . Gruppe hinweisen, auf die Schuß-
frakturen.
Besonders segensreich wird sich die
Nagelextension bewähren können in der
Kriegschirurgie. Die erste Forderung des
Noli tangere der Wunden und der abso¬
luten Immobilisation der Fraktur im Gips-
verbande wird jetzt streng durchgeführt
werden können. Man kann die Wunde
heilen lassen ohne allzu große Sorge um
die spätere Verkürzung. Entsprechende
Fälle kann ich leider noch nicht mit-
teilen.
Nach alledem stehe ich nicht an, die
Nagelextension aufs wärmste zu empfehlen,
für die Fälle aber nur wo andere Exten¬
sionsmethoden versagen würden oder ver¬
sagt haben. Das Verfahren ist ein opera¬
tives und es haften ihm deshalb Gefahren
an, welche mir seine sofortige prinzipielle
Anwendung gerade bei frischen Frakturen
nicht zweckmäßig erscheinen lassen.
Zusammenfassende Uebersicht
Aphorismen zur Herztherapie. 1 )
Von C. A. Ewald-Berlin.
Im Jahre 1901 habe ich in der Berliner
klinischen Wochenschrift 3 ) einen sehr in¬
struktiven Fall besprochen, bei dem ein
langdauernder, schließlich aber doch vor¬
übergehender Zustand schwerster Herz¬
insuffizienz, die den Patienten an den Rand
des Grabes gebracht hatte, offensichtlich
nicht nur durch die vis medicatrix naturae,
*) Nach einem Vortrag im Aerztekurs.
9 ) C. A. Ewald, Ueber subakute Herzschwäche
im Verlaufe von Herzfehlern nebst Bemerkungen
zur Therapie der Herzkrankheiten. Berl. klin. Wocli.
1901, Nr. 42.
sondern durch die angewandte Therapie
zur Heilung gebracht wurde. Es handelte
sich um eine subakute Myokarditis, die
auf dem Boden einer seit geraumer Zeit
bestehenden Mitralinsuffizienz erwachsen
war. Große Morphiumdosen in Verbin¬
dung mit ausgiebiger über drei Wochen
durchgeführter Drainage der hochgradigen
Oedeme ließen die vorher vollkommen
versagende Digitalis wieder zur Wirkung
kommen mit dem Erfolge, daß sich der
Kranke, allerdings nach fast einjährigem
Krankenlager — es kam noch eine Lungen-
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Januar
Die Therapie der Gegenwart 1910.
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embolie dazwischen —, so vollständig er- l
holte, daß er nachher noch über 6 Jahre
seinem anstrengenden Berufe in voller
Rüstigkeit nachgehen konnte.
Dieser Fall gab ein ausgezeich¬
netes Beispiel dafür, was die Herz- ■
therapie unter Umständen leisten
kann. Ich will im folgenden an ihn an¬
knüpfend einige Fragen der Herztherapie
besprechen.
Als Aufgabe der Therapie gegen¬
über den verschiedenen Affektionen des
Herzens kommen in Betracht: 1. die |
Herzklappenfehler als solche, also das |
eigentliche Vitium cordis; 2. die entzünd- |
liehen Zustände am Herzen, die myokar-
ditischen Prozesse eventuell in Verbindung
mit arteriosklerotischen Veränderungen; i
3. das Fettherz; 4. die Herzstörungen, so¬
weit sie sich im Anschluß an akute und |
chronische Infektions- und Organkrankheiten I
zu entwickeln pflegen, und 5. die nervösen
Herzleiden. Die erstgenannten Verände¬
rungen am Herzen sind selbstverständlich
erst dann Gegenstand ärztlicher Behandlung,
wenn ein Versagen des Herzmuskels ein-
tritt. Solange der Herzmuskel imstande
ist, die etwa vorhandenen Störungen aus- |
zugleichen, solange werden sie sich auch
nach außen hin nicht manifestieren, so¬
lange wird also eine Indikation für thera¬
peutische Leistungen nicht vorhanden oder
richtiger gesagt, der Kranke wird nicht
Gegenstand ärztlicher Behandlung sein.
Erst wenn der Herzmuskel versagt, d. h.
wenn sich eine Herzmuskelschwäche, eine
Insuffizienz des Herzmuskels einstellt, ist I
der Augenblick gekommen, in dem wir \
therapeutisch einzugreifen haben. Die j
Herzinsuffizienz ist aber im ganzen und j
großen abhängig erstens vom Herzmuskel |
respektive dem Klappenapparat, und zwei¬
tens von den Widerständen, die sich der
Bewegung des Blutes, der Leistung der
Herzpumpe in den peripheren Gefäßen, i
entgegenstellen. Unsere Aufgabe wird |
daher sein, einmal die Arbeit des Herzens
nach Möglichkeit zu erleichtern, zweitens 1
seine Leistungsfähigkeit zu steigern. Das
eine Mal haben wir dabei, wenn wir die
Arbeit des Herzens erleichtern, die peri¬
pheren Gefäßgebiete im Auge, das andere i
Mal, wenn wir seine Arbeit kräftigen wollen, j
den Herzmuskel selbst in Angriff zu nehmen.
Zu diesem Zweck stehen uns die
Arzneimittel im engeren Sinne und Ma߬
nahmen, die durch eine allgemeine Beein¬
flussung des Organismus eine indirekte
Wirkung auf das Herz beabsichtigen, zu
Gebote.
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Zu den Arzneimitteln gehören 1. die
Herztonika. Hier haben wir in erster Linie
die Folia Digitalis und ihre Präparate, Di¬
gitalin, Digitalein, Digitoxin (Digalen), Digi¬
talen usw., in zweiter Linie den Strophantus,
das Strophantin (event. Convallamarin) und
dann erst kommen nach meinen Erfahrun¬
gen die übrigen Herztonika, das Spartein,
die Adonis vernalis, die Convallana ma-
jalis, das Koffein, ferner die Kalisalze, die
Scilla, das Helleborein und das Strychnin.
Letztere Mittel haben weitaus nicht die
prompte und verläßliche Wirkung, wie sie
der Digitalis und dem Strophantus eigen
ist. 2. die Gefäßtonika. Dahin gehören
die Präparate der Digitalisgrupp; und Ver¬
wandter, das Strychnin und eventuell das
Eisen, 3. die Herzreizmittel: Alkohol,
Aether, Kainpher, die Temperaturreize, vor
allem die Wärme, 4. die Gefäßreiz¬
mittel. Dahin rechnen wir den Alkohol,
den Aether, den Aether nitrosus und den
Ammoniak; endlich 5. diejenigen Mittel,
die auf die Peripherie wirken durch
Dilatation der peripheren Gefäße, die Ni¬
trate, also das Kalium nitricum, das Nitro¬
glyzerin, das Amylnitrit, das Natriumnitrat
und das Erythrolnitrat.
Zu den allgemein wirkenden Mitteln ge¬
hören die hygienisch - diätetischen
Maßnahmen: Ruhe und Schonung des
Herzens auf der einen Seite, auf der an¬
deren die leichten gymnastischen Hebungen,
Terrainkuren, Herzmassage, die Sauerstoff¬
inhalationen, Hydrotherapie, die elektri¬
schen, kohlensauren und anderen Bäder
usw. sowie dasf ür die Therapie der Herz¬
leiden sehr wesentliche diätetische Ver¬
halten.
Zunächst ein Wort über den Ge¬
brauch der Digitalis und ihrer Prä¬
parate. Als allgemeine Wirkung der Di¬
gitalis gilt: 1. ihre Wirkung auf den Herz¬
muskel, indem sie die Systole kräftigt, die
Diastole verlangsamt und dadurch eine
bessere Füllung des Herzens während der
Diastole gestattet; 2. ihre regulierende
Wirkung auf die Schlagfolge des Herzens
durch Erzielung einer regelmäßigen Herz¬
aktion; 3. die Erhöhung des Blutdrucks,
die durch die tonussteigernde Wirkung
der Digitalis auf die p;ripheren Gefäße
zustande kommt. Wir müssen daran fest-
halten, daß wir bei der Digitaliswirkung
zwei Momente zu unterscheiden haben:
einmal die Wirkung auf das Vaguszentrum
und damit die Regulation der Schlagfolge,
sodann die direkte Wirkung auf den Herz¬
muskel als solchen. Auf die Frage, wie
weit es sich dabei um neurogene oder
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Die Therapie der Gegenwart 1910.
Januar
myogene Reize handelt, gehe ich hier nicht
ein. Zweifellos kommt der Digitalis aber
außerdem noch eine Wirkung auf das
vasomotorische Zentrum bezw. auf die peri¬
pheren Gefäßnerven zu.
Welche Präparate der Digitalis
empfiehlt es sich nun, zu gebrauchen, und
welches sind die Momente, die uns im
Einzelfall eine möglichst prompte Wirkung
der Droge garantieren können?
Seit langem wird bekanntlich Klage
darüber geführt, daß die Digitalisblätter
eine wechselnde pharmakodynamische Wir¬
kung haben. Je nach ihrer Provenienz,
je nach dem Standort, an dem die
Pflanze Fingerhut gewachsen ist, je nach
der Länge der Zeit, die sie aufbewahrt
worden ist, je nach der Jahreszeit, zu der
die Blätter gepflückt worden sind, ist ihre
Wirkung bei gleicher Dosis eine verschie¬
dene. Und doch wird man das Galenische
Präparat nicht gern entbehren wollen, weil
es uns die Summe aller in den Blättern
vorhandenen wirksamen Stoffe giebt, aus
denen die sogenannten Reinpräparate immer
nur einen, wenn auch den vornehmlichst
wirksamen Teil herausziehen.
Man hat deshalb in letzter Zeit ver¬
sucht, diesen Fehler auszugleichen und die
Digitalis gewissermaßen physiologisch zu
titrieren, indem man Digitalisinfuse, Dialy-
sate und -tinkturen bestimmter Provenienz
auf das Froschherz einwirken ließ, beob¬
achtete, in welcher Dosis und Stärke ein
Stillstand des Herzens in der Systole er¬
folgte und sie dann auf eine bestimmte
Einheitswirkung einstellte. So lassen sich
die ungleichen Blätter auf ein gleichmäßig
wirkendes Präparat bringen. Ich erinnere
an die zahlreichen Arbeiten, die von Gott¬
lieb und Focke nach dieser Richtung hin
gemacht worden sind und zu der fabrik¬
mäßigen Herstellung solcher Präparate ge¬
führt haben. Ich nenne die Fol. digital,
conc. et pulv. von Siebert und Ziegen-
bain (Marburg), von Caesar und Loretz
(Halle), die Digitalisdialysate von Bürger,
Golatz u. a., die Digitalone von Parke,
Davis & Cie. (alkoholfrei!), die alle auf
eine bestimmte Menge wirksamer Substanz
eingestellt sind. Reiner, d. h. frei von
etwaigen anderen Beimengungen sind aber
die aus den Digitalisblättern resp. aus
ihrem wäßrigen oder alkoholischen Extrakt
hergestellten amorphen oder Kristallisa¬
tionsprodukte, die sogen. Glykoside der
Blätter, also das Digitoxin, Digitalin, das
Digitalein, welche zum Teil die Namen
ihrer Darsteller tragen und als Digitoxine
und Digitaline Cloetta, Nativelle, Kili-
ani, Homolle et Quevenne, Merck,
Böhringer usw. in den Handel kommen.
Diese verschiedenen Digitaline ähneln
sich untereinander, sind aber nach einer
Richtung hin fundamental verschieden,
denn abgesehen von der Wirkung auf das
Herz, die allen gemeinsam ist, bringen Di¬
gitalin und Digitalein nur die Gefäße
des Sympatikusgebietes zur Kontraktion,
lassen aber die peripheren Gefäße un¬
verändert, während das Digitoxin seine
Wirkung auf das gesamte Gefäßgebiet aus*
dehnt.
Nach meinen Erfahrungen scheint von
diesen Präparaten, die ich fast alle im
Laufe der Jahre angewandt habe, vorläufig
dem Digalen (und dem Strophantin)
die sicherste und schnellste Wirkung zuzu¬
kommen. Ich sage „vorläufig", weil wir
streng genommen keine Garantie dafür be¬
sitzen, daß wir das Digalen, also das von
Cloetta dargestellte Digitoxinum solubile,
auch immer in einem gleichwertigen Präparat
in Händen haben. Wir sind dabei ganz
abhängig von der Fabrik, der wir auf Treu
und Glauben zunächst zusprechen, daß ihre
Präparate stets dieselben sind. Es müßte
irgendwo eine amtliche Prüfungs¬
stelle existieren, an der dieses Prä¬
parat und andere Präparate ähn¬
licher Art, die auf den Markt kommen,
einer zuverlässigen, dauernden und
regelmäßigen Kontrolle unterzogen
werden. Zunächst aber hat sich in der Tat
das Digalen als ein sehr gutes und brauch¬
bares Mittel erwiesen und wird von den
verschiedensten Seiten als solches gerühmt.
Ich selbst kann mich diesen Empfehlungen
anschließen. Das Digalen enthält im Kubik-
zentimer 0,3 mg, also 0,0003 g Digitoxin.
Man kann es innerlich geben, sodann intra¬
muskulär (nicht subkutan) und endlich intra¬
venös. Von diesen drei Formen der Dar¬
reichung ist die intramuskuläre die am
wenigsten zu empfehlende. Es stellen sich
leicht Schmerzen an der Injektionsstelle,
auch wohl Schwellungen ein. Besser ist die
Darreichung per os und die intravenöse
Verabfolgung, die, wo es die Verhältnisse
erlauben, einen sehr prompten und
schnellen Erfolg hat. Ich erwähne eine
Patientin mit einer schweren Mitralinsuf¬
fizienz und Stenose, welche mit Lungen¬
ödem halb erstickt in das Hospital ein¬
geliefert wurde. Fünf Minuten nach einer
intravenösen Injektion von 2 g Digalen
konnte man den Puls wieder zählen, der
bis dahin unzählbar war. Die Dyspnoe
ließ nach und es war zweifellos, daß die
Patientin einem sicheren Tode entrissen
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Januar
Die Therapie der Gegenwart 1910.
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war. Derartige Fälle haben wir zu wieder¬
holten Malen beobachtet und mit steigen¬
den Dosen — einmal sind 8 cm! mit bester
Wirkung auf einmal intravenös injiziert
worden — behandelt. In dieser unmittel¬
baren, augenblicklich erfolgenden Beein¬
flussung des Zirkulationsapparates liegt
denn auch der außerordentliche Vorzug
der intravenösen Digalen- (Digitalone und
Strophantin ) Injektion vor anderen Dar¬
reichungen und anderen Herzmitteln. Wir
haben uns im Augustahospital jetzt fast aus¬
schließlich auf diese beiden eben genannten
Darreichungsformen desDigalens beschränkt
und geben es nur per os oder intra¬
venös. Die intravenöse Injektion ist außer¬
ordentlich leicht und man muß sich nicht
durch die scheinbaren Schwierigkeiten der
Technik irritieren lassen, die in Wahrheit
nicht vorhanden sind. Sorgfältige vorherige
Antisepsis ist selbstverständlich. Wir
pflegen, wie gesagt, 1 bis 3 ccm auf einmal
resp. per Tag ein zu spritzen. In chroni¬
schen Fällen sind 0,25—0,5 (event. bis 0,75)
pro die zu geben. Es hat sich nach
einigem Tasten herausgestellt, daß man
als innerlich gegebene Dose etwa 2—3,
ausnahmsweise und nur vorübergehend,
auch wohl bis zu 5 und selbst 8 ccm pro
Tag geben, also daß man bis zu 2,4 mg Digi¬
toxin täglich als Digalen verabfolgen kann.
Die Digitalispräparate wirken aber selbst¬
verständlich nur so lange, als der Herz-
' muskel bezw. die Gefäße angreifbar sind.
| Sobald eine so starke Degeneration des
, Myokards eingetreten ist, daß der Herz¬
muskel nicht mehr oder nicht in genügendem
Maße ansprechbar ist, hört auch die Wirkung
der Digitalis und ihrer Präparate auf. Nun
können wir aber die Herzarbeit erleichtern,
indem wir die peripheren Widerstände ver¬
ringern. Dann wird der Nutzeffekt eines Herz¬
mittels wieder zur Geltung kommen, das den
höheren Ansprüchen gegenüber bereits
versagte. Wo sich ein starkes Oedem der
Extremitäten, Anasarka der Bauchdecken,
Erguß in den Pleuraraum, selbst in den
Herzbeutel, eingestellt hat, wird es vor
allem nötig sein, die Gefäße von dem auf
ihnen lastenden Druck des transsudierten
Blutwassers zu befreien. Dies erreichen
wir durch: 1. die mechanische Drainage
des Oedems, 2. die Ableitung nach dem
Darmkanal, besonders durch salinische Ab¬
führmittel, 3. die Diuretika.
(Schluß folgt lm nächsten Heft.)
Therapeutisches aus medizinischen Vereinen.
Ueber Tuberkulosetherapie.
Referat über den Vortrag von J, Citron: Kritisches und Experimentelles zur Tuberkulose¬
therapie und die zugehörige Diskussion in der Berliner medizinischen Gesellschaft
(Sitzungen vom 10 , 24. November und 1. Dezember 1909) .*)
Die verschiedenen Tuberkuline teilen
sich in zwei Arten: Alttuberkulin und
Neutuberkulin. Das erstere ist im
wesentlichen die einfache filtrierte Bouillon,
in der der Tuberkelbazillus gewachsen ist,
enthält also die in der Tuberkelbazillen¬
bouillon löslichen Substanzen, während
das Neutuberkulin eine Gruppe von Prä¬
paraten umfaßt, welche alle das Gemein¬
same haben, daß sie die Substanzen des
Bazillenleibes selbst mit enthalten.
Das Tuberkulin ist kein Toxin, da es
im Tierkörper kein Antitoxin bildet. Es
ist auch kein Endotoxin, denn es teilt
nicht die Eigenschaft aller Endotoxine, daß
sie, dem gesunden Tier injiziert, eine
Vergiftung hervorrufen. Nach Citron
steht es den Aggressinsubstanzen
außerordentlich nahe, jenen von Bail zu¬
erst dargestellten bakteriellen Stoffen,
welche selbst ungiftig, die Fähigkeit haben,
die Intensität einer Infektion derart zu
steigern, daß eine für sich allein subletale
Dosis eines Bakteriums zu einer letalen
*) Berl. klin. Woch. 1909, Nr. 49, 50, 51.
wird. Das Tuberkulin unterscheidet sich
freilich in manchen Punkten von den
Aggressinen im eigentlichen Sinne, aber
es steht ihnen in der Wirkung doch am
nächsten, und Citron denkt deshalb an
die Möglichkeit, daß aus dem Tuberkulin
| im Organismus erst das Aggressin wird.
Die Wirkung des Tuberkulins ist eine
mehrfache; es bewirkt beim Tuberkulösen
an der Einstichstelle eine Rötung, die so¬
genannte Stichreaktion, ferner in allen
tuberkulösen Herden eine sogenannte Herd¬
reaktion und drittens, bei Injektion einer
genügenden Dosis, die Fieberreaktion.
Für die Frage nun, welche von diesen
Wirkungen für die Heilung wichtig ist,
zieht Citron zwei Möglichkeiten in Be¬
tracht. Zu einem Teil beruht die Heil¬
wirkung des Tuberkulins sicherlich auf der
Herdreaktion, die eine akute Entzündung
darstellt und als solche zweifellos ein
Faktor der Heilung sein kann. Der zweite
Faktor ist der der Immunisierung gegen
das Tuberkulin; es soll durch sie die
toxin- oder aggressmähnliche Wirkung
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Die Therapie der Gegenwart 1910.
Januar
des Tuberkulins, das im Körper des Tuber¬
kulösen selbst sezerniert wird und dann
schädliche Folgen hat, ausgeschaltet werden.
Zwischen den beiden Arten von Tuber¬
kulin, den Alt- und Neutuberkulinen, nimmt
Citron eine Differenz in der Wirkung an
in dem Sinne, daß die Alttuberkuline
eine stärkere Herdreaktion hervor-
rufen als die Neutuberkuline, während
die letzteren dadurch, daß sie neben den
löslichen auch noch unlösliche Substanzen
des Tuberkelbazillus enthalten, gegen die
gleichfalls immunisiert werden kann, eine
vielseitigere Immunität erzeugen
können. Citron gibt deshalb, da die
Dosierung der Herdreaktion sehr schwierig
ist, für alle generalisierten Fälle, insbeson¬
dere für die Lungentuberkulose, dem Neu¬
tuberkulin den Vorzug.
Von den vorhandenen Neutuberkulin¬
präparaten hält Citron die Kochsche
Bazillenemulsion, das sogenannte Neu¬
tuberkulin B. £., für das vollständigste
und darum auch wertvollste. Sie hat nur
den einen Nachteil, daß sie nicht immer
gut von den Patienten vertragen wird;
Fiebersteigerungen und stärkere Herd¬
reaktionen verursacht sie seltener als das
Alttuberkulin, aber die Injektion des Prä¬
parates ist namentlich in etwas größeren
Dosen schmerzhaft, weil Infiltrate ent¬
stehen. Diese Schwierigkeit wird über¬
wunden durch ein nach den Angaben von
Fr. Meyer und Ruppel in den Höchster
Farbwerken hergestelltes neues Präparat,
welches die Infiltratbildung auf ein Minimum
beschränkt. Dieses Präparat besteht aus
einer Mischung der Koch sehen Bazillen¬
emulsion mit einem Antituberkulin ent¬
haltenden Tuberkuloseserum (siehe unten)
und wird als sensibilisierte Bazillen¬
emulsion (S. B. E.) bezeichnet. Citron
hat sich davon überzeugt, daß das sen¬
sibilisierte Neutuberkulin von den
meisten Tuberkulösen nahezu reaktionslos
vertragen wird.
Bezüglich der Dosierung des Tuber¬
kulins, — die praktisch wichtigste Frage, in
der die Ansichten der Tuberkulintherapeuten
extrem auseinandergehen, — hält Citron
es auf jeden Fall für zweckmäßig, mit den
kleinsten Dosen zu beginnen. Aber es
scheint ihm nicht richtig, wie es Wright
will, bei den kleinen Dosen ständig zu
bleiben, vielmehr soll der Tuberkulöse
möglichst auch gegen größere Dosen Tu¬
berkulin immunisiert werden, damit er die
unberechenbaren Mengen Tuberkulin, die
er bei allen möglichen Gelegenheiten im
Körper selbst produziert und in den Kreis¬
lauf bringt, im gegebenen Falle zu neutra¬
lisieren vermag. Für unnötig aber hält es
Citron, übermäßig große Mengen, wie sie
Schloßmann, Bauer, Engel und Andere
neuerdings anraten, dem Körper einzuver¬
leiben, weil solche im Körper spontan nicht
gebildet werden und man die gleichen Er¬
folge, die von jenen Autoren mit den sehr
großen Dosen berichtet werden, auch mit
kleinen Dosen erreichen kann.
Was die Intervalle anlangt, in wel¬
chen man das Tuberkulin injizieren soll,
so ergibt sich daraus, daß das Tuber¬
kulin kein Schutzstoff ist, vielmehr
den kranken Organismus anregen
soll, selbst die Schutzstoffe neu zu
bilden, die Forderung: nach jeder Injek¬
tion dem Organismus Ruhe zu lassen.
Citron empfiehlt deshalb, in Intervallen
von 5, 6, 8 und mehr Tagen zu injizieren.
Diese Art des Vorgehens gestattet nach
seiner Erfahrung auch, selbst große Sprünge
zwischen den einzelnen Dosen zu machen,
ohne daß der Patient eine Reaktion erleidet.
Nur einzelne Tuberkulöse fanden sich, als
Ausnahmen, unter Citrons Fällen, welche
selbst auf die kleinsten Dosen von S. B. E.
(Viooooooccm) noch fieberhaft reagierten.
Woran das liegt, vermag Citron nicht
zu sagen; er weist nur darauf hin,
daß bei einzelnen dieser Individuen vor¬
her Antituberkulin im Serum gefunden
wurde.
Auf die Frage: Wer soll behandelt
werden, welches sind die Indikationen
derTuberkulintherapie, welches die K o n tr a •
indikationen? antwortet Citron fol¬
gendes :
Die günstigste Chance haben die Pa¬
tienten, welche im Beginne der Tuberku¬
lose stehen, die rein klinisch nur zweifel¬
hafte Symptome haben, deren Tuberkulose
aber durch eine diagnostische Tuberklin-
injektion gesichert ist; diese kann man
nahezu sicher von allen ihren Beschwerden
befreien. Eine zweite Gruppe, für die die
Tuberkulintherapie sehr zweckmäßig ist,
umfaßt die Menschen mit geringen lokalen
Veränderungen und bazillärem Auswurf.
In diesen Fällen wird, wenn sie lange ge¬
nug und in zweckmäßiger Weise behandelt
werden, fast stets ein Verschwinden der
Bazillen aus dem Auswurf, meist auch des
Auswurfs selbst erzielt; dem Patienten wird
also wenigstens sehr erheblich genutzt,
aber keineswegs wird in allen diesen Fällen
noch völlige Heilung erreicht. Es folgt die
große Gruppe der Fälle zweiten Grades,
in denen ausgedehntere Veränderungen,
aber noch keine Kavernen bestehen; hier
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Die Therapie der Gegenwart 1910.
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ist nach Citron noch in sehr vielen Fallen,
aber nicht in allen, ein Erfolg zu erreichen.
In der Gruppe der schweren Tubeikulösen
endlich, insbesondere der Kavernösen sind
die Erfolge nur sehr gering; bei einigen
Fallen sah Citron vorübergehende Besse¬
rung. — Als Kontraindikationen laßt
Citron Hämoptoe, Fieber, ferner kompli¬
zierende Krankheiten, wie Herzkrankheiten,
Epilepsie, Neurasthenie, Diabetes und an¬
dere nicht ohne weiteres gelten. Wer
freilich sichere Erfolge haben will, schließt
besser alle derartigen Falle von der Tu¬
berkulintherapie aus; aber es ist nicht an¬
gängig zu sagen, daß es Kontraindikationen
sind, da man sehr wohl Leute, die allerlei
derartige Schaden haben, trotzdem durch
die Tuberkulintherapie im gegebenen Falle
sich bessern sieht. Nur Mischinfektio¬
nen rat Citron nicht zu behandeln; Er¬
folge hat er bei solchen in keinem Falle
gehabt. — Für die Dauer der Tuber¬
kulintherapie stellt Citron eine zeitliche
Begrenzung nicht auf. Er rat, mit der Be¬
handlung aufzuhören, wenn innerhalb vier
Wochen keine Besserung oder zum min¬
desten kein Stillstand der Erkrankung sich
zeigt; bei günstigem Verlauf ist die ein¬
zige Grenze für das Aufhören die Be¬
sch Werdefreiheit des Patienten und das
Verschwinden der objektiven Symptome.
— Die Behandlung soll nach Citrons An¬
sicht zum Beginn — wo das genaueste
Studium der Herdreaktion, der Temperatur¬
kurve, die genaueste Ueberwachung, die
genaueste Dosierung des Tuberkulins not¬
wendig ist — nur in einer geschlossenen
Anstalt stattfinden; nach den ersten 4 bis
6 Wochen kann der Arzt die Behandlung
draußen weiterführen; nur die allerleichte¬
sten Falle dürfen von Anfang an ambulant
behandelt werden. Für eine spezialisti-
sche Therapie aber, die nur von wenigen
ausgeübt werden kann, will Citron die Tu¬
berkulintherapie nicht angesehen wissen.
Zum Schluß seines Vortrages erörtert
Citron die Frage: Welche Kriterien
haben wir für den Erfolg der Tuber¬
kulintherapie? Er bespricht die Opso¬
nine und betont, daß wir noch zu wenig
von ihnen wissen und daß es zum minde¬
sten verfrüht ist, auf Grund der Opsonin¬
kurven schon jetzt ein Urteil über die Er¬
folge der Tuberkulintherapie abzugeben.
Auch die von Wassermann und seinen
Schülern mittelst der Komplementbindungs¬
methode nachgewiesenen Antikörper können
nicht als Maßstab der Wirksamkeit des
Tuberkulins gelten. Das sogenannte Anti-
tuberkulin entsteht wohl im Blute unter
der Behandlung mit Tuberkulin und steigt
an Menge mit zunehmender Besserung;
aber andere Tuberkulöse bilden ohne
Tuberkulinbehandlung spontan Antituber¬
kulin und von diesen reagieren manche
schon auf die kleinsten Tuberkulin dosen
hoch. Unter diesen Umstanden — schließt
Citron — müssen wir heute sagen: Wir
haben keine biologischen Kriterien
für die Wirksamkeit des Tuberku¬
lins. Die Kriterien, die wir haben,
sind die klinischen: Gewichts¬
zunahme, Besserung des lokalen Be¬
fundes, Fieberverlust. Jedes einzelne
dieser Symptome kann tauschen; aber alle
drei zusammengenommen bedeuten etwas:
Das Kriterium der Tuberkulinthera¬
pie muß die klinische Besserung sein.
* *
*
Aus der umfang- und gehaltreichen
Diskussion, die an Citrons Vortrag sich
anschloß, seien nur die Bemerkungen Joch -
manns wiedergegeben, dessen Beobach¬
tungen im Rudolf Virchow • Krankenhause
unter den Augen von Rob. Koch ange¬
stellt sind.
Jochmann ist der Ansicht, daß es wohl
ein biologisches Kriterium dafür gibt, ob mit
der Tuberkulinbehandlung die erstrebte
Immunisierung erreicht wird oder nicht.
Das ist die kutane Reaktion, Vor der Be¬
handlung wird eine Kutanreaktion sowohl
mit Alttuberkulin, wie mit der Bazillen¬
emulsion (und zwar einer Verdünnung der
Trockensubstanz auf 1 :50; die im Handel
erhältliche B.E. ist zu schwach) angestellt;
beide fallen in der Regel positiv aus. Nun
wird l zuerst mit Alttuberkulin behandelt,
und zwar wird die Dosierung nur so hoch
gesteigert, bis die kutane Reaktion ver¬
schwindet. Dann wird eine Behandlung
mit der Bazillenemulsion angeschlossen,
und zwar ebenfalls so lange, bis die ent¬
sprechende Kutanreaktion verschwindet.
Auch dem Auftreten von Antikörpern,
welches bei der Behandlung mit B.E. bei
einer gewissen Höhe der Immunisierung
regelmäßig zu beobachten ist, legt JOch¬
mann größeren Wert bei. Daß bei der
Behandlung mit sensibilisiertem Tuberkulin
keine oder nur so selten Antikörper sich
bilden, spricht nach seiner Meinung mehr
zugunsten der alten Bazillenemulsion. Bei
vorschriftsmäßigem, vorsichtigem Steigen
der Dosen lassen sich auch mit dieser In¬
filtrationen an der Impfstelle vollständig
vermeiden, die Steigerung bis zur Maximal¬
dosis läßt sich ohne jede Fieberreaktion
erreichen, die klinischen Erfolge sind die¬
selben, wie die von Citron angegebenen
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Die Therapie der Gegenwart 1910.
Januar
— so kann Jochmann einen Vorteil des
neuen Präparates oder ein unbedingtes Be¬
dürfnis nach einem solchen vorläufig nicht
erkennen.
Fr. Kraus widerspricht Jochmanns
Anschauung von der Bedeutung der Anti¬
körper. „Es ist leider nicht so, daß wir
(bei Verwendung aller jetzt gebräuchlichen
Tuberkuloseantigene} aus den vorhandenen
Antikörpern bis jetzt wirklich einen Schluß
ziehen könnten auf die eingeschlagene The¬
rapie, auf die Art und Weise der Durch¬
führung der Therapie und auf das, was er¬
reicht ist Es bleibt tatsächlich nichts an¬
deres übrig, als uns zu halten an das kli¬
nische Gesamtergebnis 41 . Im übrigen
richtet Kraus einen warmen Appell an die
Aerzte, die Tuberkulintherapie wieder auf¬
zugreifen.
* *
*
Ueber die Herstellung des sensi¬
bilisierten Neutuberkulins machte
Fr. Meyer in der Diskussion folgende
Mitteilungen.
Die Serumbehandlung der Tuberkulose
hat die Gefahr der Serumüberempfindlich-
keit, die Tuberkulinbehandlung die Gefahr
toxischer Schädigungen. Durch die Kom¬
bination beider Methoden erstrebt Meyer,
ihre Nachteile durcheinander zu kompen¬
sieren, ihre Vorteile zu verbinden. Das
antikörperhaltige Serum soll mit den
Bazillenleibern derart verbunden werden,
daß durch die Antikörper die Giftigkeit
der Bazillenleiber herabgesetzt wird, dann
aber die Serumflüssigkeit selbst wieder
entfernt wird. Das geschieht auf die
Weise, daß zuerst durch leichte tuberku¬
löse Infektion von Tieren, Heilung der¬
selben durch Tuberkulinbehandlung, er¬
neute Infektion mit wieder folgender Tuber¬
kulinbehandlung und so durch mehrfache
Wiederholung des Prozesses ein Tuber¬
kuloseimmunserum gewonnen wird,
welches reichlich Tuberkuloseantikörper ent¬
hält Dann wird eine auf flüssigen Nährböden
gezüchtete, einige Wochen alte, abgetötete
Tuberkelbazillenkultur mit dem Serum ge¬
mischt, 48 Stunden bei Brutschranktempe¬
ratur gehalten und danach 10 Tage lang
mit Glasperlen geschüttelt. Nachdem so
die Antikörper an die Bazillenreste ge¬
bunden sind, wird das überflüssige Serum
durch Zentrifugieren entfernt, die Mischung
mehrfach sorgfältig gewaschen und der
Bodensatz, d. h. die mit ihren Antikörpern
verbundenen Bazillen zu einer Emulsion
mit 40% Glyzerin und etwas Karbolsäure
verarbeitet. 1 ccm der Emulsion enthalten
5 mg Bazillentrockensubstanz; von dieser
Normallösung (=1) werden Verdünnungen
bis herunter zu 1:1 Million angefertigt.
Das Präparat wird als sensibilisierte Ba¬
zillenemulsion bezeichet nach dem franzö¬
sischen Sprachgebrauche, weil es ein durch
Verbindung mit seinen Antikörpern sen¬
sibles, d. h. für die Wirkung des Komple¬
mentes empfängliches Antigen darstellt.
Meyer und Ruppel überzeugten sich
von der relativen Ungiftigkeit ihrer S.B.E.;
tuberkulöse Tiere vertrugen die fünf- bis
sechsfache Menge derjenigen Dosis, die
als gewöhnliche Bazillenemulsion den akuten'
Tuberkulintod herbeiführte. Sie konnten
ferner feststellen, daß beim Zusammen-
bringen von Serum und Bazillen tatsäch¬
lich Gift in das Serum übergeht, in dem
es dann durch Antikörper neutralisiert
wird. Daß endlich in der S.B.E. tatsäch¬
lich eine Verbindung von Antigen und
Antikörpern vorliegt, ließ sich durch den
Komplementbindungsversuch erweisen. Das
von den Höchster Farbwerken hergestellte
Präparat scheint also die Voraussetzungen,
von denen Meyer und Ruppel ausge¬
gangen sind, tatsächlich zu erfüllen.
Ueber seine Erfahrungen an Menschen
berichtet Fr. Meyer nur kurz^ Erbeginnt
die Behandlung mit einem zehnmillionstel
Teil der Stammlösung und geht in Ab¬
ständen von 8—10 Tagen unter Verdoppe¬
lung und, wenn die Injektionen gut ver¬
tragen werden, unter Vervierfachung der
Dosis vorwärts. Die Injektion wird in der
Regel an der Injektionsstelle reaktionslos
vertragen. Die allgemeine Reaktion ist
gering, sie besteht in Mattigkeit, Abge-
schlagenheit und Kopfschmerzen, die am
Tage der Injektion, oft erst am dritten
Tage geklagt werden. Stärkere Fieber¬
reaktionen wurden nicht beobachtet; nur
bei Säuglingen und kleinen Kindern tritt
ziemlich schnell ein deutlicher Temperatur¬
anstieg ein, aber das Gewicht nimmt dabei
zu und bald nachher zeigt sich eine deut¬
liche subjektive Besserung. Herdreaktionen
sind sicher vorhanden — wie an Kehlkopf¬
tuberkulosefällen von Edm. Meyer kon¬
statiert wurde — aber sie sind schwächer
und klinisch bedeutend milder als die ge¬
wöhnlichen Tuberkulinreaktionen. — Eine
Kontraindikation gegen das Präparat
scheint in der Vorbehandlung mit Alt¬
tuberkulin gegeben zu sein. Meyer sah
unter 100 Patienten 5, bei denen nach 4
bis 6 Wochen die Behandlung mit S.B.E.
ausgesetzt wurde, weil der Zustand sich
verschlechterte; diese 5 Fälle betrafen
sämtlich Kranke, welche lange mit Alt¬
tuberkulin vorbehandelt worden waren.
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Die Therapie der Gegenwart 1910.
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Als geeignet fQr sein Präparat sieht
Meyer alle initialen Fälle an, ferner alle
vorgeschritteneren, welche fieberlos ver¬
laufen, und sämtliche Fälle von Lokal¬
tuberkulose. Auch schwere Fälle, welche
zwar initial sind, aber in der Art ihres
Verlaufes durch Fieber und schnelle Ge¬
wichtsabnahme Neigung zu Bösartigkeit
erweisen, werden nach Meyers Erfahrun¬
gen durch das Präparat günstig beeinflußt.
•X- •*
*
ln seinem Schlußwort betont Citron
gegenüber Jochmann, daß das Ver- !
schwinden der Kutanreaktion nicht als
biologisches Kriterium für die heilende
Wirkung des Tuberkulins angesehen wer¬
den kann. Es beweist freilich eine hohe
Tuberkulinimmunität, aber diese und Hei- j
lung der Tuberkulose sind leider keines-
wegs identische Begriffe. |
Die Behandlung, wie er sie jetzt übt, \
skizziert Citron in folgender Weise: Er ;
beginnt mit kleinen Dosen von S.B.E. und I
steigt unter möglichster Vermeidung von j
Fieberreaktionen bis 1,0 ccm. Patienten, I
welche 1,0 ccm S.B.E. reaktionalos ver¬
tragen, reagieren in der Regel auch nicht i
auf 0,1 ccm der gewöhnlichen B.E. Mit j
dieser oder einer etwas kleineren Dosis ,
von B.E. fährt Citron dann fort und steigt I
allmählich auf 1,0 oder höchstens 1,5 B.E. I
Zum Schluß macht er Injektionen von un¬
erhitztem Alttuberkulin T.O.A., bis auch j
hiervon 1,0 reaktionslos vertragen wird.
Um die Tuberkulinimmunität möglichst j
lange zu erhalten, setzt er letztere Injek- j
tionen noch einige Monate hindurch in 1
Abständen von 4 Wochen fort.
!
*
Es erübrigt, in eine kritische Besprechung j
des vorstehend Wiedergegebenen einzu¬
treten; ich verweise nur auf den Aufsatz,
den ich vor einem Jahre an dieser Stelle
(1909, S. 55) veröffentlicht habe und dessen
Anschauungen ich auch heute vertrete.
Die Tuberkulinwelle steigt rasch an.
Dafür ist Citrons Mitteilung ungemein
charakteristisch. Stammt sie doch aus der¬
selben Klinik, deren damaliger Assistent
Jürgens 1 ) 1905 noch als Resultat seiner
Tuberkulinerfahrungen aussprach, daß
„durch eine noch so vorsichtig durchge- |
führte Tuberkulinkur offenbar nichts anderes j
erzeugt wird, als daß die Tuberkulose noch 1
! ) Zeitschr. f. exper. Path. u. Therapie I., 3. |
kompliziert wird durch eine Tuberkulin¬
vergiftung. 41
Der Arzt, will er nicht Zurückbleiben,
muß an dieser von Jahr zu Jahr sich weiter
ausbreitenden Bewegung teilnehmen. Er
kann dabei der S. B. E. sich bedienen —
und deshalb habe ich Citrons und
Fr. Meyers Mitteilungen so ausführlich
referiert — aber er vergesse nicht, daß es
sich nicht so sehr darum handelt zu prüfen,
ob das neue Präparat besser wirkt als eines
der älteren, sondern daß noch immer die
Frage lautet: ist Tuberkulin überhaupt
ein Heilmittel?
Kraus und Citron sprechen es mit
erwünschter Bestimmtheit aus, daß wir kein
anderes Kriterium für den Wert der Tuber¬
kulinbehandlung haben als den klinischen
Erfolg. Im Einzelfalle aber und in einer
beschränkten Anzahl von Fällen, wie sie
der einzelne Kliniker sieht, kann auch der
Erfolg nichts entscheiden, denn er wird in
gleicher Weise auch ohne Tuberkulin er¬
zielt. Jeder der Kurven, die Citron de¬
monstrierte, kann eine gleiche zur Seite
gestellt werden von einem nicht mit Tuber¬
kulin behandelten Falle. Ich verweise be¬
sonders auf den Passus oben, in dem
Citron die Indikationen und Aussichten
der Behandlung mit S. B. E. darlegt. Nun
genau die gleichen Chancen ihrer Behand¬
lung nehmen auf Grund ihrer Erfolge mit
Recht auch die Vertreter der ausschließlich
hygienisch-diätetischen Therapie für sich in
Anspruch!
Die große Mehrzahl der Tuberkulin¬
therapeuten geht bewußt oder unbewußt
davon aus, daß das Tuberkulin ein Heil¬
mittel ist, und jeder Fall, der unter Tuber¬
kulinbehandlung heilt oder sich bessert,
scheint ihnen durch Tuberkulin günstig
beeinflußt. Das aber muß erst bewiesen
werden. Der klinische Erfolg allein kann
es beweisen. Er aber kann es nur, wenn
Tausende von Aerzten viele Zehntausende
von Fällen ein Menschenalter hindurch be¬
handeln, durch die Abnahme der Tuber¬
kulose-Mortalität und -Morbidität, die ekla¬
tant in Erscheinung treten muß, wenn wirk¬
lich das Tuberkulin alle oder die meisten
initialen Fälle von Tuberkulose zu heilen
vermag. Ein anderer Weg zur Entschei¬
dung der Tuberkulinfrage scheint vorläufig
nicht vorhanden. Deshalb ist es gut und
notwendig, daß die Tuberkulintherapie in
immer weitere Kreise dringt, und ich möchte
wohl durch diesen Bericht zu ihrer Aus¬
breitung beitragen. Felix Klemperer.
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34
Januar
Die Therapie der Gegenwart 1910.
Vorträge
über die Infektion, ihre Erkennung und Behandlung,
veranstaltet vom preußischen Zentralkomitee für das ärztliche
Portbildungswesen.
Bericht von Leo Jacobsohn-Charlottenburg. II. Folge.
IX. Ad. Schmidt ober die akuten In¬
fektionen des Darmes.
Während gewisse Stellen des Verdau-
ungstraktus, so die Tonsillen, die Gegend
des Kolotyphlon und das Rektum fQr in¬
fektiöse Erkrankungen besonders disponiert
sind, ist der Magen, sowie das Kolon den
meisten Infektionserregern gegenüber recht
resistent.
Redner kam zuerst auf die ätiologisch
sichergestellten infektiösen Erkrankungen
des Darmes zu sprechen. Die am meisten
interessierenden sind die Tuberkulose, der
Typhus, die Cholera und die Dysenterie.
Die Tuberkulose befällt nur in einem ge¬
ringen Prozentsatz den Darm primär. Meist
wird die Darmschleimhaut bei gleichzeitig
bestehender Lungenphthise durch ver¬
schlucktes bazillenhaltiges Sputum infiziert
In gleicher Weise vertritt Ad. Schmidt
die Auffassung, daß auch bei Typhus die
lokalen Darmerkrankungen sekundäre Lo¬
kalisationsstätten der schon frühzeitig im
Blut kreisenden Typhusbazillen sind.
Ad. Schmidt ist der Ansicht, daß der
Typhusdiagnosewert der Wi dal sehen Re¬
aktion für die Praxis überschätzt wird.
Der Praktiker muß frühzeitig entscheiden,
ob eine diagnostisch zweifelhafte Erkran¬
kung ein Typhus ist oder nicht. Da nun
die Agglutinationsprobe in der Regel erst
am Ende der ersten oder Anfang der
zweiten Woche positiv wird, ist die Wi-
dalsche Reaktion keineswegs für eine
Frühdiagnose brauchbar. Ihr Wert wird
auch dadurch eingeschränkt, daß sie bei
Bazillenträgern und, wenn auch selten, unter
nicht näher gekannten Umständen positiv
werden kann, ohne daß klinisch Typhus j
vorliegt. Dieser Reaktion ebenbürtig, wenn
nicht überlegen, ist der bazilläre Nachweis
der Typhusbazillen aus dem Blute mit Hilfe
des Galleanreicherungsverfahrens, das völlig !
eindeutige Resultate gibt und schon in den !
ersten Tagen eine sichere Diagnose ermög¬
licht.
Wie bei allen Infektionen, muß auch bei
denen des Darmes der Wunsch auf ein
spezifisches Heilmittel gerichtet sein. Leider
befindet sich die spezifische Behandlung
der Darmkrankheiten mit Hilfe der Immun¬
sera noch in den ersten Anfängen.
Eine zweite Gruppe von Darminfek¬
tionen bilden all die Erkrankungen, für die ,
wir aus klinischen und pathologisch - ana¬
tomischen Tatsachen einen spezifischen,
bisher nicht gekannten Erreger in Anspruch
nehmen müssen. Es ist dies vor allem die
Cholera nostras, die bei uns endemische Dys¬
enterie und die akute infektiöse Gastroente¬
ritis. Die Cholera nostras wird aller Wahr¬
scheinlichkeit nach durch einen dem Gärt¬
ner sehen Bazillus nahestehenden Erreger
hervorgerufen. Ganz unklar liegen die Ver¬
hältnisse bei der akuten Gastroenteritis.
Unter gewissen Umständen kann das
Bacterium coli commune, gewöhnlich ein
harmloser Darraschmarotzer, zu schweren
Diarrhoen, ja zu allgemeiner, prognostisch
nicht ungünstigen Sepsis führen.
Eine andere Gruppe von Darminfektionen
kommt dadurch zustande, daß durch Stö¬
rung vornehmlich der Kohlehydratverdau¬
ung fakultative Darmparasiten, ähnlich wie
wir es beim Bacterium coli gesehen haben,
für den Menschen pathogen werden und
Reizzustände des Darmes hervorrufen. Mo¬
torische und sekretorische Magenstörungen
sowie die funktionelle Pankreasinsuffizienz
begünstigen diese als Gärungsdyspepsien
bezeichneten Darmstörungen, welche die
häufigste Form der chronischen Durchfälle
darstellen. Mikroskopisch sieht man in den
Fäzes eine enorme Vermehrung der Darm¬
flora, insbesondere der Sarzinen, Hefe¬
zellen, Lepthotrixrten, des Pyozyaneus,
Proteus usw. Es ist jedoch nicht anzu¬
nehmen, daß diese Mikroben die primäre^
Erreger der chronischen Diarrhoen sind;
vielmehr sind es die stagnierenden und
gärenden Kohlehydrate, seltener Eiweiß
oder Fette, welche die Vermehrung der
obengenannten Darmbakterien begünstigen,
indem sie denselben einen geeigneten Nähr¬
boden darbieten.
Vortragender ist auch der Ansicht, daß
bei der akuten Appendizitis ähnliche Ver¬
hältnissevorhanden sind. Auch für die Blind¬
darmentzündung postuliert Ad. Schmidt
eine Stagnation der Kotmassen mit sekun¬
därer Darminfektion. Allerdings ist dies
nicht der alleinige Infektionsmodus.
Ueber die Behandlung der akuten Darm¬
infektionen läßt sich nichts einheitliches
sagen. Neben einer zweckmäßigen, der
betreffenden Erkrankung angepaßten Er¬
nährung kann die medikamentöse Therapie
mitunter von Nutzen sein. Bei den auf
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Januar Die Therapie der Gegenwart 1910. 35
Gärungsdyspepsie beruhenden Diarrhoen
kann insofern eine kausale Therapie ge¬
trieben werden, als durch Einschränkung
der Kohlehydrate beziehungsweise Behand¬
lung der bestehenden Magenatonie oder
Sekretionsstörung den Krankheitserregern
der Boden entzogen wird. Bei Achylia
gastrica soll kein rohes oder geräuchertes
Fleisch y auch kein rohes Hühnerei weiß ge¬
nossen werden, da diese Speisen bei Ab¬
wesenheit von Salzsäure schwer verdaut
werden. Bei Störungen der Fettverdauung
wird man die Fettzufuhr verringern. Von
Wichtigkeit ist es, in allen Fällen die
ganze Persönlichkeit des Kranken zu be¬
rücksichtigen.
X Jochmann über die vornehmlich
mit Krankheitserscheinungen des Zen¬
tralnervensystems einhergehenden aku¬
ten Infektionen.
Bei vielen akuten Infektionskrankheiten
treten gelegentlich Zeichen psychischer
oder organischer Nervenläsion hervor.
Jochmann beschränkt sich auf die akuten
infektiösen Erkrankungen, die vorwiegend
das Zentralnervensystem alterieren. Der
Grund der vorwiegenden Beteiligung des
Nervensystems bei bestimmten Infektionen
ist in der Affinität der Nervensubstanz zu
bestimmten Körpergiften gelegen. Der
experimentelle Beweis für diese, die spezifi¬
sche Wirkung der Toxine erklärenden Tat¬
sache wurde durch Wassermann er¬
bracht, welcher zeigen konnte, daß die
gleichzeitige Einspritzung einer zehnfach
tötlichen Dosis von Tetanustoxin zusammen
mit 1 ccm Hirnsubstanz eines Meerschwein¬
chens empfängliche Versuchstiere nicht
schädigt
Von den akuten Infektionskrankheiten,
welche sich vorwiegend im Bereiche des
Zentralnervensystems abspielen und die
als schwere Toxin Vergiftungen verlaufen,
kennen wir den Tetanus, den Botulismus
und die Poliomyelitis.
Das auf dem Wege der Nervenbahnen
zentripetal vordringende Tetanusgift geht
auf die motorischen Zentren der Medulla
und des Zerebranus über und bewirkt eine
starke Uebererregbarkeit der Ganglien¬
zellen, so daß geringe Reize von tonischen
Krämpfen der Muskulatur beantwortet
werden.
Der Tetanusbazillus beziehungsweise
seine Dauerform ist in der unbelebten Natur
weit verbreitet. Besonders findet er sich
in der Gartenerde, dem Straßenstaube und
auch in den Dejektionen der Haustiere.
Er wächst streng anärob und bildet im Tier¬
körper wie in Kulturen ein starkes Nervengift.
Nach einer Inkubationszeit von einer bis
drei Wochen beginnt der Tetanus für ge¬
wöhnlich mit tonischen Krämpfen der Mas-
seteren (Trismus), die dann auf die Hais¬
und Nackenmuskeln (Opisthotonus) über¬
gehen und auch die Muskulatur des Bauches
und der Beine befallen können, während
die oberen Extremitäten meist frei bleiben.
Werden die Schlingmuskeln betroffen, so
kommt es zu einem der Lyssa ähnlichen
Krankheitsbilde (Tetanus hydrophobicus).
Bei qualvollen Schmerzen ist das Sen-
sorium meist ungetrübt. Die Temperatur
bewegt sich für gewöhnlich zwischen 38° bis
39°, um gegen Ende der Krankheit zu
steigen und kurze Zeit nach dem Tode
exzessiv hohe Grade zu erreichen.
Je kürzer die Inkubationszeit, desto
weniger Aussicht hat der Kranke, einen
Tetanus zu überstehen, während eine Inku¬
bation von zwei Wochen und darüber eine
bessere Prognose rechtfertigt. Diese Eigen¬
tümlichkeit hat die Lyssa mit dem Starr¬
krampf gemein.
Wie beim Tetanus findet auch bei der
Lyssa ein Transport des Nervengiftes auf
dem Wege der Nervenbahnen zu den zen¬
tralen Ganglien statt. Charakteristisch für
Lyssa sind die als Negrische Körper be-
zeichneten Gebilde, welche sich mit großer
Regelmäßigkeit in den Ganglienzellen des
Ammonshornes finden und nach der An¬
sicht einiger Forscher Abkömmlinge der
Lyssaerreger sein sollen. Die Inkubations¬
dauer dieser Krankheit schwankt von 2 bis
9 Wochen. Angaben über eine längere
Inkubationszeit beruhen auf irrtümlichen
Beobachtungen. Im Anfang der Erkrankung
besteht eine enorme Hyperästhesie aller
Sinnesnerven. Beim Versuch zu trinken,
kommt es zu quälenden Schluck- und
Schlingkrämpfen, sodaß die bedauerns¬
werten Kranken keinen Tropfen hinunter¬
bringen und schon durch den Anblick von
Wasser heftig erregt werden können. Die
allgemeine Unruhe steigert sich im weite¬
ren Verlauf zu ausgesprochenen Tobsuchts¬
anfällen. Seltener ist die stille Wut. Häufig
tritt der Tod nach einem kurz vorhergehen¬
den Lähmungsstadium ein.
Die Therapie des Tetanus sowie der
Lyssa muß darauf hinausgehen, die Erreger,
wenn möglich, an der Eingangspforte zu
vernichten, den Gifttransport nach den
übergeordneten Ganglienzellen zu unter¬
brechen und endlich die Uebererregbarkeit
des Nervensystems symptomatisch zu be¬
kämpfen. Dem ersten Gesichtspunkt wird
durch Ausbrennen resp. Ausschneiden des
Primärherdes Rechnung getragen. Den
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36
Die Therapie der Gegenwart 1910.
Januar
Transport der Nervengifte zu den zentralen
Ganglien sucht man beim Tetanus durch
Injektion eines Antitoxins zu erreichen, das
von Behring in zwei Stärken zu 20 und
100 Immunisierungs-Einheiten hergestellt ist
Es wird am besten intradural injiziert. Auch
die endoneurale Methode hat gute Resultate,
ist aber umständlicher. Durch die mit diesem
Serum dem Körper zugeführten Schutz¬
stoffe sollen die Tetanustoxine auf dem
Wege vom Primärherd zum Zentralnerven¬
system abgefangen und unschädlich gemacht
werden. Daher ist es erklärlich, daß die
Heilwirkung dieses Serums auf der Höhe
eines Tetanus keine allzugroße sein kann,
indem zurzeit der Injektion bereits eine
größere Toxinmenge in den Ganglienzellen
verankert ist. Immerhin sterben nach
Jochmann unbehandelt 85% aller an
Tetanus Erkrankten, während bei Serum¬
behandlung die Sterblichkeit auf 45%
herabgehen soll. Aussichtsreicher ist die
prophylaktische Injektion des Tetanus¬
serums, das hier auch subkutan gegeben
werden kann.
Die von Pasteur geschaffene Behand¬
lung der Lyssa kommt auf eine aktive
Immunisierung der Infizierten vor Ablauf
der Inkubationszeit hinaus. Das von einem
tollwütigen Hunde gebissene Individuum
wird möglichst frühzeitig mit steigenden
Dosen eines Bouillonauszuges des Lyssa¬
giftes behandelt Die Pasteursche Schutz¬
impfung ist ein Triumph der Bakteriologie.
Während ohne Behandlung 40—50% der
Infizierten der Lyssa erliegen, stirbt von
den Behandelten kaum ein Prozent.
Symptomatisch werden Narkotika, ins¬
besondere das Morphin, Skopolamin, Chloral-
hydrat per os oder Klysma angewandt
Bisweilen muß man zu Aether oder Chloro¬
formnarkose schreiten. Bei der außer¬
ordentlichen Hyperästhesie der von toll¬
wütigen Hunden Infizierten empfiehlt es
sich, den Boden des Krankenraumes mit
dicken Teppichen zu belegen und die
Fenster zu verdunkeln.
Während bei den bisher erwähnten
Infektionen die Uebererregbarkeit des
Nervensystems hervortritt, wird das klinische
Bild des Botulismus wie der Poliomyelitis
von Lähmungserscheinungen beherrscht.
Unter Botulismus verstehen wir eine
durch den Bacillus botulinus verursachte
Vergiftung. Dieses Gift findet sich beson¬
ders in verdorbenen Würsten, Schinken
und Fischspeisen. Die Krankheit ver¬
läuft teils mit teils ohne Fieber mit
Mydriasis, Ptosis, Schlucklähmung und
Trockenheit im Munde. Daneben besteht
meist Durchfall und Erbrechen. Das neuer¬
dings dargestellte, in Pulverform erhält¬
liche Botulismusserum hat sich allem An¬
schein nach bisher bei der Bekämpfung
der durch den Bacillus botulinus bedingten
Fleischvergiftung durchaus bewährt.
Eine andere Infektionskrankheit, die
ausschließlich das Zentralnervensystem be¬
fällt, ist die Poliomyelitis anterior, auch
spinale Kinderlähmung genannt. Das
Krankheitsgift des noch unbekannten Er¬
regers schädigt elektiv die Vorderhorn¬
ganglien des Rückenmarks. Nach einem
akut einsetzenden Fieberstadium, das nicht
selten mit Magendarmstörungen einher¬
geht, entwickeln sich ziemlich plötzliche
Extremitätenparesen, die eine gewisse
Heilungstendenz erkennen lassen, jedoch
meist nur teilweiser Rückbildung fähig
sind. Frühzeitig zeigt sich in den befalle¬
nen Muskelgebieten Entartungsreaktion und
Atrophie. Eine spezifische Behandlung
gibt es nicht.
Zu der Gruppe von Erkrankungen, bei
denen weniger die Toxine als die Erreger
selbst die Krankheit beherrschen, gehört
die Trypanosomiasis und die epidemische
Meningitis.
Die Trypanosomenkrankheit, welche
unter den Eingeborenen Afrikas nach
Millionen zu beziffernde Opfer fordert,
wird durch ein Protozoon verursacht, das
durch eine Stechmückenart (Glossina pal-
palis) auf den Menschen übertragen wird.
Die Trypanosomiasis beginnt mit einer
Schwellung der Hals- und Nackendrüsen,
an welche sich eine Reihe nervöser Störun¬
gen anschließt. Neben allgemeinen und
isolierten Muskelatrophien wird Schluck¬
lähmung, sowie Blasen- und Mastdarm¬
insuffizienz beobachtet. Charakteristisch
ist die Apathie der Infizierten sowie das
intensive Schlafbedürfnis (Schlafkrankheit).
Bei der Behandlung dieser Krankheit hat
sich das Atoxyl glänzend bewährt, das in
Uebereinstimmung mit experimentellen Er¬
gebnissen den Parasiten im Blute und den
Lymphdrüsen abzutöten vermag.
Die praktisch wichtigste Infektion im
Bereiche des Zentralnervensystems ist die
epidemische Genickstarre (Meningitis cere¬
brospinalis epidemica). Der Erreger dieser
Krankheit ist der in morphologischer und
kultureller Hinsicht dem Gonokokkus sehr
nahestehende Meningokokkus.
Die epidemische Genickstarre führt aus
voller Gesundheit im Laufe weniger Tage
zu dem charakteristischen Symptomen-
komplex der Nackensteifigkeit, des Kernig-
schen Symptomes, der basalen Lähmungen
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Januar
Die Therapie der Gegenwart 1910.
in Verbindung mit Kopfschmerz und Be¬
wußtseinstrübung. Klinisch wichtig ist auch
die allgemeine Hyperästhesie auf optische,
akustische und Schmerzreize. Sie erlaubt
besonders bei Säuglingen, bei denen die
meningitischen Erscheinungen meist nicht
eindeutig sind, die Diagnose Meningitis zu
stellen. Gegenüber anderen meningealen
Infektionen ist der häufige Herpes naso-
labialis von Bedeutung. Die epidemische
Meningitis ist reich an Nachkrankheiten.
Hydro- und Pyozephalus, Imbezillität,
Blindheit und Taubheit sind häufige Aus¬
gänge der Krankheit.
Die durchschnittliche Mortalität beträgt
60% bis 70%. Die spezifische Behandlung
durch das vom Vortragenden sowie Kolle
und Wassermann dargestellte Immun¬
serum ist aussichtsreich, denn sie ver¬
ringert die Sterbeziffer auf 33o/ 0 bis 50%.
Das Serum muß intradural angewandt
werden. Vorher wird durch Spinalpunktion
20—30 ccm Liquor entleert und dann lang¬
sam die gleiche Menge des auf Körper¬
temperatur erwärmten, im Handel erhält¬
lichen Serums injiziert. Je nach der Schwere
des Falles wiederholt man an den nächsten
Tagen die Serumeinspritzungen. An der
Hand zahlreicher Fieberkurven suchte
Jochmann die günstige Wirkung dieser
Behandlungsmethode zu erhärten. An¬
gesichts der ablehnenden Haltung mancher
Autoren gegenüber der Serumbehandlung
bei Meningitis epidemica kann nicht be¬
zweifelt werden, daß die klinischen Fällu
Jochmanns für die Brauchbarkeit des
Meningitisserums sprechen.
XI. Hildebrand über die akuten In¬
fektionen der Gelenke und der Mus¬
keln.
Der Gelenkapparat kann primär infolge
infizierenden Traumas oder auf hämato¬
genem Wege von akuten Infektionen be¬
fallen werden. Bei den sekundären, meta¬
statischen Gelenkentzündungen kann es
sich entweder um eine Einschleppung der
Krankheitserreger selbst oder ihre Toxine
handeln. Die Entzündung der artikulieren¬
den Gelenkenden nimmt stets von der
Synovialmembran ihren Ursprung und geht
erst sekundär auf den Knochen selbst über.
Die klinischen Zeichen der Arthritis
bestehen in Schmerzen, gestörter Funktion,
lokaler Hitze und einem mehr oder minder
beträchtlichen Ergüsse. Die Behandlung
der akuten Gelenkinfektionen richtet sich
nach der Art des Erregers, der Beschaffen¬
heit des Exsudates und der Intensität der
Krankheitserscheinungen im allgemeinen.
Komprimierende Verbände, lokale Ab-
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37
leitungen, Heißluft- und Stauungsbehand¬
lung, Punktionen, Eröffnungen der Gelenke
und Drainagen, in seltenen Fällen Re¬
sektionen und Amputationen kommen haupt¬
sächlich in Frage.
Die eitrige durch Staphylokokken oder
Streptokokken verursachte Gelenkentzün¬
dung kann auf direktem Wege durch
penetrierende Verletzungen und Frakturen
entstehen. Sie führt meist unter erheb¬
lichen lokalen Störungen zu schweren sep¬
tischen Erscheinungen. In gleicher Weise
kann durch Uebergreifen eines eitrigen
Prozesses (Phlegmone, Erysipel) der Um¬
gebung ein Gelenk eitrig infiziert werden.
Vortragender sah bei 130 Erysipelen fünf
Kontaktirifektionen der großen Gelenke.
Als die häufigste Form einer sekundären
hämatogenen Gelenkentzündung muß man
den gewöhnlichen akuten Gelenkrheumatis¬
mus bezeichnen. Der noch unbekannte Er¬
reger dringt häufig durch die Tonsillen in
die Blutbahn ein und bewirkt ein seröses,
sehr-selten eitriges Gelenkexsudat.
Bekannt ist das Vorkommen hämato¬
gener metastatischer Gelenkeiterungen bei
Septikopyämie. Doch kann auch im An¬
schluß an einen Furunkel, eitrige Zystitis
und Urethritis gelegentlich eine Gelenk¬
vereiterung beobachtet werden. Die Behand¬
lung der eitrigen Gelenkentzündungen kann
nach unseren heutigen Grundsätzen nur
eine rein chirurgische sein.
Die gonorrhoische Arthritis zeichnet sieb
durch große Mannigfaltigkeit des klinischen
Bildes aus. Intensität und Dauer ist bei
den einzelnen Formen des Tripperrheuma¬
tismus sehr verschieden. Man unterscheidet
eine gutartige, mit Hydrops einhergehende
Form ohne besondere Schmerzen und
Funktionsstörungen, eine sero-fibrinöse,
welche durch starken Schmerz und lang¬
samen Verlauf ausgezeichnet ist, endlich
eine eitrige Entzündung und wohl auch
eine phlegmonöse Form, welche auch die
Gelenkkapsel, die Weichteile und die an¬
grenzende Haut ergreifen kann. Bei der
phlegmonösen gonorrhoischen Entzündung
bleibt meist eine definitive Deformität mit
partieller oder totaler Ankylose zurück.
Im großen ganzen läßt der Tripper¬
rheumatismus den monartikulären Typ er¬
kennen, das heißt, es werden in der Regel
1—2 Gelenke befallen. Jedoch kommen
zahlreiche Ausnahmen vor, indem die go¬
norrhoische Arthritis nach Art des Gelenk¬
rheumatismus in mehreren Gelenken zu¬
gleich einsetzt, sich dann jedoch meist auf
wenige Gelenke zu beschränken pflegt.
Die gonorrhoische Gelenkerkrankung wird
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Januar
38 Die Therapie der Gegenwart 1910.
nicht immer durch die Gonokokken selbst
verursacht. Häufig kommt nur Toxin¬
wirkung in Frage.
Die Prognose der Gelenkgonorrhoe ist
im allgemeinen quoad restitutionem günstig
zu stellen. Defektheilungen sind, abgesehen
von der phlegmonösen Form, seit Ein¬
führung der Stauungsbehandlung seltener
geworden. Jedoch besteht in den meisten
Fällen eine ausgesprochene Neigung zum
Rezidivieren. Der Tripperrheumatismus
kann in jedem Stadium der Gonorrhoe
auf treten. Die Mehrzahl der Erkrankungen
wird im akuten Stadium beobachtet, jedoch
kann auch bei chronischer Gonorrhoe mit
kokkenhaltigen Fäden eine Gelenkinfektion
zustande kommen.
Die Behandlung hat zunächst dem
Lokalprozesse Rechnung zu tragen und
durch Injektion gonokokkentötender Mittel
einen weiteren Transport von Kokken oder
Toxinen zu den Gelenken zu verhindern.
Bei Hydrops der Gelenke empfiehlt sich
ein komprimierender Verband, Einpinselung
mit Jodtinktur, eventuell Punktion. Die
beste Therapie ist jedoch die Stauungs¬
behandlung, welche in Verbindung mit der
aktiven Hyperämisierung der Gelenke
durch Heißluft alle übrigen Methoden ver¬
drängt hat und weiteste Anwendung ver¬
dient. Zur Vermeidung von Ankylosen
lasse man frühzeitig aktive und passive
Bewegungen machen. Massage und mediko-
mechanische Behandlung ist gleichfalls von
Nutzen.
Die Lues kann mono- oder polyartikulär
bald in akutester Weise, bald in langsam
progredientem Verlaufe den Gelenkapparat
ergreifen. Salizyl ist unwirksam, dagegen
wirkt Jod und Quecksilber spezifisch.
Gegenüber den bisher beschriebenen
Formen der originären akuten Gelenk¬
infektionen treten die Prozesse an Häufig¬
keit zurück, im Verlaufe derer es gelegent¬
lich zu einer komplizierenden Gelenk¬
entzündung kommt. Die Gelenkbeteiligung,
die gelegentlich bei Typhus meist im Re¬
konvaleszenzstadium beobachtet wird, ist
entweder eine polyartikuläre ohne Erguß
und Temperaturerhöhung oder eine auf
1—2 Gelenke sich erstreckende, mit be¬
trächtlichen Lokalerscheinungen einherge¬
hende Entzündung. Bevorzugt wird das
Hüftgelenk. Infolge des starken Gelenk¬
ergusses kommt es bei dieser Form nicht
selten zu Spontanluxationen des Femur¬
kopfes. Das Exsudat kann serös oder
eitrig sein.
Aehnlich wie beim Typhus kommen
auch bei der Pneumonie, hier meist auf
der Höhe der Erkrankung mono- und
polyartikuläre Gelenkentzündungen vor.
Die Prognose ist keine schlechte, auch
nicht, wenn der Erguß eitrig ist.
Relativ häufig ist eine Beteiligung der
Gelenke bei Scharlach vorhanden. Selten
kommt es zu Vereiterung. In der 2. bis
3. Woche sieht man in einer gewissen An¬
zahl von Scharlacherkrankungen eine meist
in mäßigen Grenzen sich haltende, mit be¬
trächtlichen Schmerzen einhergehende
Rötung und Schwellung der verschiedensten
Gelenke, den sogenannten Scharlachrheu¬
matismus.
Viel seltener findet man Gelenkentzün¬
dungen bei Masern und Röteln. Bei
Variola handelt es sich meist um mon¬
artikuläre Formen mit Neigung zu Ver¬
eiterung. Auch bei Dysenterie, Meningitis
epidemica, Mumps und Rotz kommen ent¬
zündliche Prozesse in den Gelenken vor.
Zum Schlüsse streifte Hildebrand das
Kapitel der akuten Muskelinfektionen. Die
akute eitrige Erkrankung des Muskels
(Myositis purulenta) kann primär durch
Trauma entstehen oder sich sekundär an
einen Eiterprozeß der Umgebung an¬
schließen. Die häufigere Form der Myo¬
sitis purulenta ist die metastatische bei
Sepsis. Die Behandlung der akuten Muskel¬
vereiterung ist eine chirurgische. Meistens
kommt es mit eintretender Heilung zu be¬
trächtlichen Muskelkontrakturen.
XII. Meißen (Hohenhonnef) über die
spezifische Diagnose und Therapie der
Tuberkulose.
Der lange Zeit vernachlässigten spezi¬
fischen Therapie der Tuberkulose hat man
in den letzten Jahren wieder größere Auf¬
merksamkeit zugewendet, jedoch sind auch
heute noch die Meinungen über die Wirk¬
samkeit der Tuberkulinbehandlung sehr
geteilt. Die Mehrzahl der Aerzte steht in
der Mitte zwischen fanatischen Anhängern
dieser Behandlungsmethode und solchen,
die ihr jeden Wert absprechen.
Die Grundlage für eine spezifische Tuber¬
kulosetherapie wurde durch die Entdeckung
des Erregers dieser Infektionskrankheit ge¬
schaffen. Der Kampf gegen die Tuberku¬
lose kann von zwei Seiten aufgenommen
werden. Einmal darf man erwarten, daß
durch diätetische und klimatische Kuren
die Widerstandsfähigkeit des Organismus
erhöht und so eine günstige Wirkung auf
das Grundleiden erzielt wird. In der Tat
gelingt es vielfach, durch reichlichere Er¬
nährung und Ueberführung des Kranken in
eine staubfreie, ozonreiche Atmosphäre die
Heilungsbedingungen der Tuberkulose zu
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Januar Die Therapie der
verbessern, jedoch warnt Redner vor ein¬
seitiger Ueberschätzung der klimatischen
Kuren, bei denen nicht nur das günstige
Klima, sondern auch zum nicht geringen
Teile das Hinauskommen aus hygienisch
ungesunden Verhältnissen für den Erfolg
der Kur verantwortlich zu machen ist. An
dem Beispiele des klimatisch ungünstig ge¬
stellten Englands, welches gegenüber dem
durch seine Lage bevorzugten Frankreich
nur die halbe Tuberkulosesterbeziffer auf¬
weist, zeigte Vortragender, daß der klima¬
tische Faktor nicht überschätzt werden darf.
Die medikamentöse Therapie der Tuber¬
kulose sucht durch Zuführung von Arseni¬
kalien die Zell Vitalität zu erhöhen oder durch
bakterizide Mittel, von denen namentlich
die Kreosotpräparate sich großer Beliebt¬
heit erfreuen, den Tuberkelbazillus selbst
zu schädigen, eine Vorstellung, welche an¬
gesichts neuerer experimenteller Unter¬
suchungen nicht länger aufrecht erhalten
werden darf.
Der Gedanke, die Tuberkulose auf dem
Wege aktiver Immunisierung zu bekämpfen,
stammt von Robert Koch. Selten ist eine
medizinische Entdeckung in der Aerzte-
weit sowie in der Oeffentlichkeit mit
größerem Enthusiasmus aufgenommen wor¬
den, als die von der ersten Autorität der
Welt in Aussicht gestellte Heilung jener
Volksseuche mit Hilfe des Tuberkulins.
Das aus abgetöteten Bouillonkulturen
hergestellte sogenannte Alttuberkulin wirkt,
wie Koch zeigen konnte, in spezifischer
Weise auf den Tuberkuloseherd ein. Es
kommt nach Tuberkulininjektionen häufig
zu einer lokalen und mit großer Regel¬
mäßigkeit zu einer allgemeinen Reaktion,
welche sich in Mattigkeit und Temperatur¬
erhöhung kundgibt. Dadurch, daß die
Tuberkulineinverleibung nur bei Tuberku¬
lösen manifeste Reaktionen auszulösen ver¬
mag, haben wir in dem Tuberkulin ein
wertvolles Diagnostikum der Tuberkulose.
Im Anfang der Tuberkulinära machte
man speziell zu Heilungszwecken aus¬
giebigen Gebrauch von dem neuen Mittel.
Als jedoch die Erfolge der Tuberkulinkuren
nicht den hochgespannten Erwartungen
entsprachen, machte sich überall eine große
Enttäuschung geltend; gleichzeitig setzte
eine übergroße Skepsis ein, die der objek¬
tiven Würdigung dieser Behandlungsme¬
thode vielfach geschadet hat und unter
deren Eindruck wir noch heute stehen.
Es kann nicht bezweifelt werden, daß
bei einer Tuberkulinkur gelegentlich infolge
übermäßiger Lokalreaktion der Verlauf
einer vorhandenen Tuberkulose ungünstig
Gegenwart 1910 39
beeinflußt wird. Daher empfiehlt sich vor
allem Vorsicht in der Dosierung; es muß
stets mit kleinsten Mengen Viooooo— Vioooooo g
begonnen werden, sodaß man immer unter
der Reaktionsgrenze bleibt. Jedoch ist man
auch bei sachgemäßer Anwendung des Prä¬
parate eines Mißerfolges nicht absolut
sicher, da die individuelle Empfindlichkeit
dem Tuberkulin gegenüber sehr verschieden
und mitunter schwankend ist. Als obere
Grenze einer Tuberkulindosis gelten durch¬
schnittlich 5—10 mg Alttuberkulin. Neuer¬
dings sind diese Dosen von Schloßmann
wesentlich überschritten worden, der als
Enddosis bei Kindern bis auf V 2 g auf ein¬
mal injizierte.
Da nun reine Tuberkulinkuren kaum ge¬
macht werden, vielmehr gleichzeitig die
günstigen Faktoren einer besseren Ernäh¬
rung, größererRuhe eventuell, des Klima¬
wechsels in Anwendung kommen, ist die
Kritik der therapeutischen Brauchbarkeit
des Tuberkulin Verfahrens sehr erschwert.
So viel ist jedoch sicher, daß die spezifi¬
sche Behandlung nicht vor Rückfällen zu
schützen vermag. Wenn auch die persön¬
lichen Erfahrungen Meißens keinen deut¬
lichen Erfolg erkennen lassen, rät Vor¬
tragender doch zur weiteren . vorurteils¬
freien Anwendung des Tuberkulins. Das
an geeigneten Fällen unter sorgfältiger
Kontrolle des Gewichtes, Lokalbefundes
und der Temperatur vorgenommene Ver¬
fahren ist nach Ansicht des Vortragenden
noch nicht soweit ausgebildet, daß es einst¬
weilen dem praktischen Arzt überlassen
werden könnte.
Der zweite Teil des Vortrages beschäf¬
tigte sich eingehender mit der spezifischen
Tuberkulosediagnose. Trotz der zahlreichen
Tuberkulinpräparate ist das Kochsche Alt¬
tuberkulin noch immer das beste. Die
älteste Methode ist die subkutane Injek¬
tion, welche bei vorhandener Tuberkulose
mit einer allgemeinen und einer lokalen
Reaktion beantwortet ist. Letztere ist am
Larynx, dem Auge, der Haut und dem ka¬
riösen Knochen unter Umständen der di¬
rekten Betrachtung zugänglich.
Eine wertvolle Bereicherung hat die Tu¬
berkulosediagnostik durch eine Anzahl
neuerer Methoden erfahren, die sich aui
die bekannte Ueberempfindlichkeit (Allergie)
des mit Tuberkulose infizierten Körpers
gegenüber den Giften des Tuberkelbazillus
gründet.
Als erster trat v. Pirquet mit seiner
Hautreaktion hervor. Er konnte zeigen,
daß nach oberflächlicher Impfung mit konzen¬
trierter Tuberkulinlösung nach anfänglicher
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Die Therapie der Gegenwart 1910.
Januar
Hyperämisierung der Haut eine tastbare
Papel entsteht, die er als beweisend für
Tuberkulose ansah. Spätere Untersuchun¬
gen haben jedoch das Anwendungsgebiet
dieser Reaktion wesentlich eingeschränkt
(cf. Vortrag II).
Die später eingeführte Salbenreaktion
sowie die intrakutane Zuführung des Tuber¬
kulins kommen der von Pirquet geübten
Anwendungsart ziemlich nahe.
Eine andere Form, deren Priorität von
Wolff-Eisner und Calraette gleichzeitig
in Anspruch genommen wird, ist die kon-
junktivale Anwendung, d. h. die Einträuf-
lung einer 1 °/oo igen Tuberkulinlösung in
den Bindehautsack. Neuerdings verwendet
Wolff-Eisner anstatt wäßriger Lösung
eine Tuberkulinsalbe von gleicher Konzen¬
tration. Bei richtiger Auswahl der Fälle,
insbesondere bei Ablehnung aller mit akuten
Bindehautkatarrhen Behafteten, ist die
Konjunktivalreaktion völlig ungefährlich.
Meißen hat bei mehreren hundert Reak¬
tionen niemals irgendwelche unangenehmen
Nebenwirkungen gesehen.
Zusammenfassend bemerkte Meißen hin¬
sichtlich der diagnostischen Brauchbarkeit
der neuen Reaktionen, daß die Pirquet¬
sche Methode der Injektionsanwendung
nahezu gleichwertig ist, eine Ansicht, die,
wie Ref. bemerken möchte, von den meisten
Autoren nicht geteilt wird. Der positive
Ausfall der Konjunktivalreaktion beweist
mit Wahrscheinlichkeit aktive Tuberkulose;
ist sie negativ, so darf aktive Tuberkulose
nicht unbedingt ausgeschlossen werden.
Die prognostische Bedeutung der beiden
Reaktionen ist darin gelegen, daß Dauer¬
reaktion bei Pirquet gutartige Tuberkulose
beweisen soll, während der negative Ausfall
der Konjunktivalreaktion allem Anschein
nach eine schlechte Voraussage rechtfertigt.
Bücherbesprechungen.
F. Umber, Lehrbuch der Ernährung
und der Stoffwechselkrankheiten
für Aerzte und Studierende. Berlin-
Wien 1909, Verlag Urban & Schwarzen¬
berg. M. 12,50.
Kaum ein anderes Gebiet der speziellen
Pathologie und Therapie ist dank den
Arbeiten der letzten Jahrzehnte so ge¬
fördert, wie das der Ernährung und der
Stoffwechselkrankheiten. Dabei sind wir
zu so klaren Grundlagen für eine rationelle
Therapie gekommen, daß der, der diese
Grundlagen beherrscht, gerade hier seine
erfolgreichste und darum erfreulichste the¬
rapeutische Betätigung am Krankenbette
findet. Daß man auch heute noch in weiten
ärztlichen Kreisen so oft einem Mangel an
Verständnis für die Bedeutung dieser Ge¬
biete begegnet, ist besonders auffallend. Es
ist daher in hohem Grade dankenswert,
daß F. Umber es unternommen hat, die
hier bestehende Lücke auszufüllen durch
eine monographische Darstellung, die nach
der Auswahl des Stoffes, nach Umfang der
Darstellung und durch sorgsame kritische
Beleuchtung der gegenwärtigen Anschau¬
ungen unseres Erachtens den Bedürfnissen
des praktischen und des Anstaltsarztes in
außerordentlich zweckentsprechender Weise
entgegenkommt.
Das Buch bringt zunächst eine kurze
Darstellung der Physiologie der Ernährung
und des Stoffwechsels, sodaß auch der¬
jenige Leser, dem diese Dinge aus dem
Gedächtnis entschwunden sind, ohne wei¬
tere Voraussetzungen an die Lektüre des
Gesamtbuches gehen kann. Und eine
Kenntnis der physiologischen Tatsachen ist
für das Verständnis der Stoffwechselkrank¬
heiten ebenso unerläßlich wie z. B. die der
Normalanatomie und -physiologie des Zen¬
tralnervensystems für das Verständnis der
Erkrankungen des Rückenmarks und des
Gehirns.
Es folgen Kapitel über „Ernährungs¬
kuren*, „künstliche Ernährung“, „Fettsucht 41 ,
„Diabetes mellitus“, „seltenere Störungen
im Kohlehydratstoffwechsel“, „Diabetes insi-
pidus“, „Gicht“, „Steinbildung in den Harn¬
wegen“ und „seltenere Störungen des inter¬
mediären Eiweißabbaus“.
Wir dürfen vielleicht dem Verfasser für
fernere Auflagen empfehlen, an einzelnen
Stellen eine etwas schematisierend ere
äußerliche Darstellung des Stoffes zu
wählen, und zwar lediglich aus didaktischen
Gründen. So z. B. in dem Abschnitt „The¬
rapie des Diabetes“. Es erleichtert doch
ein gewisser Schematismus für den dem
Gegenstand zunächst Fernerstehenden, von
diesen schematisierten Grundlagen aus zu
einer individualisierenden Behandlung vor¬
zudringen.
Das Buch Umbers muß Aerzten wie
Studierenden in gleichem Maße aufrichtig
empfohlen werden. Er findet hier alles,
was er am Krankenbett nötig hat, von
einem Autor dargestellt, der, abgesehen
von seinen eigenen Erfahrungen, den großen
Vorzug hatte, vieljähriger Assistent Nau-
nyns gewesen zu sein.
Lüthje (Kiel).
Digitized by
Gck gle
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Die Therapie der Gegenwart 1910.
41
6* Nobl. Der variköse Symptomen-
komplex (Phlebektasie, Stauungs¬
dermatose, Ulcus cruris). Seine
Grundlagen und Behandlung. Mit 68 teils
farbigen Abbildungen im Text und
2 Farbentafeln. Berlin-Wien 1910. Urban
u. Schwarzenberg. M. 10,—.
Nobl hatte Gelegenheit, an einem sehr
reichen Krankenmaterial ausgedehnte Er¬
fahrungen über Varizen und Ulcus cruris
und deren Komplikationen zu sammeln.
Hierbei drängte sich ihm die Ueberzeugung
von der praktisch- medizinischen und sozialen
Bedeutung dieser ja meistens als uninter¬
essant und therapeutisch undankbar ange¬
sehenen und vielfach rein schematisch be¬
urteilten Affektion auf; und er gewann die
Anregung, den Gegenstand in eingehender
Weise zu bearbeiten. Als Frucht dieser
Studien liegt eine mit ungemeinem Fleiß,
großer Sachkenntnis und Kritik zusammen¬
gestellte Monographie vor, in welcher die
Anatomie und Physiologie, die Pathologie
und Klinik, die Geschichte des Gegenstandes,
die Aetiologie, Diagnose in gesonderten
Kapiteln erörtert wird. Ein großer Raum
ist — was ja hier und für den Praktiker
das größte Interesse hat — der Prophylaxe
und Therapie gewidmet. Es werden die
chirurgischen, dermatologischen, physika¬
lischen Behandlungsmethoden eingehend
kritisch erörtert und auch gezeigt, daß bei
nicht schematisierender und alle Methoden
be rücksichtigender Fraktation die Prognose
doch vielfach nicht so schlecht ist, wie das
im allgemeinen angenommen wird. Be¬
sonders weist der Autor auf den engen
Zusammenhang zwischen Varizen und Ul¬
kus hin und betont, wie gerade an diesen
Beziehungen die ätiologische Prophylaxe
und Therapie ihren Angriffspunkt findet.
Gerade das letzte große Kapitel über Pro¬
phylaxe und Therapie dürfte für den Prak¬
tiker, der sich ja mit der Behandlung des
Ulcus cruris so häufig quälen muß, viel
Anregung, Belehrung und Direktiven bieten.
Mit der mustergültigen und mühevollen
Darstellung dieser ganzen Frage hat sich
der Autor ein Verdienst erworben und eine
Lücke ausgefüllt. Würden sich alle Aerzte
in so liebevoller und eingehender Weise
mit diesem Leiden beschäftigen, dann würde
die Kurpfuscherei nicht gerade auf diesem
Gebiete einen so großen Wirkungskreis
finden. Es ist zu hoffen, daß das anregend
und klar geschriebene Buch auch nach
dieser Richtung hin nützlich wirken wird.
Buschke (Berlin).
0. Rumpel« Die Cystoscopie im Dienste
der Chirurgie. Berlin und Wien 1909,
Urban & Schwarzenberg. 30 M.
Die Verfeinerung der Diagnosen hat ge¬
steigerte Ansprüche an den Chirurgen zur
Folge gehabt. Die Fortschritte in der
Chirurgie fordern aber auch von dem
Chirurgen eine feinere Ausbildung in
der Diagnosenstellung. Zu den Organen,
wo sich die Zahl der Eingriffe sehr
vermehrt hat, und zwar zum Segen der
Kranken, gehört in erster Linie mit die
Niere und Blase. Wo man früher sich mit
einer Wahrscheinlichkeitsdiagnose behelfen
mußte oder erst eine Probefreilegung vor¬
nehmen mußte, da stellt jetzt in den meisten
Fällen das Zystoskop die sichere Diagnose.
Dabei ist es in der Hand des einigermaßen
Geübten ein unschädliches Werkzeug. In
der Großstadt kann der Arzt seiner ent-
raten, denn da gibt es Spezialisten, zu
denen der Kranke unaufgefordert läuft.
Aber in kleineren Städten gehört das Zysto¬
skop zu den Apparaten, die dem Arzt be¬
kannt sein sollen und die er öfters anwen¬
den muß. Wer sich für die Zystoskopie
interessiert, dem kann der Rumpe Ische
Atlas nur warm empfohlen werden. Die
85 farbigen Abbildungen sind so vorzüglich
ausgeführt, daß man glaubt, durch das Zysto¬
skop in die Blase zu sehen. Zur Erklärung
ist ein kurzer Text beigegeben. Klink.
Referate.
Auf Grund der Ausführungen von
Rieh. Winckler über seine Mißerfolge
mit Antimeristem (Cancroidin Schmidt)
muß man vor der weiteren Anwendung
dieses Präparates warnen.
Das Cankroidin besteht aus dem Preß-
saft eines zur Klasse der Myzetozoen ge¬
hörigen Protozoon zusammen mit den
Sporen von Mucor racemosus. Während
der Erfinder und eine Anzahl von Aerzten
einen Erfolg bei inoperablen Karzinomen
gesehen haben wollen, sind andere Autoren
sowie Verfasser zu der Ansicht gelangt,
daß das Cankroidin bei sachgemäßer An¬
wendung und Beachtung der zahlreichen
Kontraindikationen behandlung ohne jeden
Einfluß auf den Verlauf des Karzinom¬
leidens ist.
Auf Grund eigener Beobachtungen
(3 Fälle von Oesophaguskarzinom) verwirft
Winkler die Antimeristemtherapie, die
schmerzhaft und teuer ist.
Leo Jacobsohn (Charlottenburg).
(Med. Klinik 1904, Nr. 44.)
6
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42
Die Therapie der Gegenwart 1910.
Januar
Von den Velden berichtet über Blut¬
untersuchungen nach Verabreichung von
Halogensalzen. (Ein Beitrag zur hämostyp-
tischen Wirkung der Bromide und Chlo¬
ride.)
Unsere therapeutischen Maßnahmen sind
größtenteils rein, empirische und es ist die
Aufgabe der m odernen Pharmakologie den
Zusammenhang zwischen Ursache und Wir¬
kung aufzudecken, eine rationelle wissen¬
schaftlich fundierte Therapie zu schaffen.
Es gibt eine Reihe von alten Volksmitteln,
die lange Zeit hindurch von Aerzten nicht
anerkannt worden sind, weil man sich,
ohne sich über die Wirksamkeit orientiert
zu haben, von vornherein skeptisch ab¬
lehnend verhielt.
Eines dieser der alten Volksmedizin ent¬
stammenden Mittel ist das Kochsalz als
Hämostyptikum.
Die stomachale Anwendung eines E߬
löffels voll NaCl in Wasser gelöst wird
als Mittel in allen therapeutischen Abhand¬
lungen über Hämoptoe angeführt, aller¬
dings, obwohl einwandfreie Beobachter die
sehr günstige Einwirkung betont hatten,
wird sehr häufig der Wert des Kochsalzes
in seiner hämostyptischen Bedeutung unter¬
schätzt oder überhaupt bestritten.
Aus diesem Grunde erklärt sich auch
die Tatsache, daß man die Bedeutung der
Sache von wissenschaftlicher experimen¬
teller Forschung aus wenig berücksichtigt
hat.
Die wenigen Autoren, die sich bemüht
haben eine Erklärung für diese Wirkung
des Kochsalzes zu finden, vertreten die An¬
sicht, daß es sich um einen Reiz des Salzes
auf die Magendarmschleimhaut handele, und
daß dadurch reflektorisch ausgelöst eine
Erweiterung der Bauehgefäße zustande
komme, die ihrerseits einen niedrigeren
Blutdruck im großen und kleinen Kreislauf
bedinge.
Es ist das Verdienst von v. d. Velden,
die Aufmerksamkeit wieder auf die hämo-
styptische Eigenschaft des Koch¬
salzes gelenkt zu haben.
Er bemühte sich, nachdem er sich von
dieser Wirksamkeit des Kochsalzes über¬
zeugt hatte, eine wissenschaftliche Grund¬
lage für die „Kochsalztherapie“ zu
schaffen und ging dabei von der Voraus¬
setzung aus, daß der Gerinnungsakt an
und für sich durch das NaCl beeinflußt
werde.
Die Untersuchungen haben nun er¬
geben, daß Salzzusatz die Blutgerinnung
außerhalb des Organismus nicht för¬
dert, was aber der Fall ist, sobald sto-
machal, subkutan oder intravenös Kochsalz
dem Organismus zugeführt wird. Obwohl
nun die Bestimmung des entstandenen Fi¬
brins „eindeutig eine Verminderung
des Fibrins“ erkennen ließ, kommt
v. d. Velden dennoch zu der Ueber-
zeugung, daß es sich um eine „verstärkte
Fermenttätigkeit“ handele. Den Wider¬
spruch, der sich durch die „verminderte
Fibrinmenge“ ergibt, sucht er dadurch
aufzuheben, daß er die Hilfshypothese, daß
Nebenreaktionen die Fibrinbildung hemmen
könnten, heranzieht. Die Wirkung des
Kochsalzes ist nach v. d. Velden im
wesentlichen eine „Konzentrations¬
änderung des Blutes“, und die ver¬
stärkte Fermenttätigkeit ist auf Ausschwem¬
mung der vermehrten Thrombokinase zu¬
rückzuführen.
Nach v. d. Velden wird der beste Erfolg
durch die intravenöse Anwendung, die
ja speziell bei Magendarmblutungen indi¬
ziert ist, erzielt. Aber auch das per
os zugeführte Kochsalz — 10—30 g —
erweist sich äußerst wirksam. „Salzfieber“
konnte in keinem Falle konstatiert werden,
dagegen gelegentlich einmal „Reizerschei¬
nungen von seiten des Magendarmkanales
und einmal auch von der Niere“.
Rahel Hirsch (Berlin).
(Zeitschr. f. exp. Patb. u. Ther., Bd. 47, H. 1,
S. 290.)
Die Ausführungen von H. v. Wyss
und A. Ulrich über die experimentellen
Grundlagen der Bromtherapie bei Epi¬
lepsie sind geeignet, in theoretischer so¬
wie praktischer Hinsicht mancherlei An¬
regungen zu geben.
Alle gegenwärtigen Behandlungsmetho¬
den der Epilepsie bezwecken die Unter¬
drückung der Krampfanfälle, die zwar ein
Hauptsymptom, jedoch nicht die Krankheit
selbst sind. Diese Therapie, welche ab¬
seits von allen theoretischen Vorstellungen
über das Wesen der Epilepsie liegt, ist
schon aus dem Grunde gerechtfertigt,
weil, wie die Erfahrung lehrt, mit zuneh¬
menden Anfällen die Intelligenz in höherem
Grade gefährdet wird.
Die empirisch gefundenen Behandlungs¬
methoden der Epilepsie lassen sich in
zwei Gruppen gliedern; es sind dies die
medikamentösen Maßnahmen einerseits, die
diätetischen andererseits.
Die antiepileptische Diätetik bezweckt
eine kochsalzarme beziehungsweise koch¬
salzfreie Diät. Von den Arzneimitteln
steht das Brom seit langem in dem Rufe,
die Krampfanfälle zu unterdrücken. Die
Frage nach der Art der Wirksamkeit des
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Januar
Die Therapie der Gegenwart 1910.
43
Bromes ist noch nicht entschieden. Die
einzig nachweisbare Veränderung im Stoff*
Wechsel ist die nach Bromzuführung auf¬
tretende Chlorverarmung des Organismus.
Dieselbe kommt dadurch zustande, daß
das eingefQhrte Brom das Chlor aus dem
Blute verdrängt und seine Ausscheidung
durch den Urin bewirkt, ln dem gleichen
Sinne, das heißt den Chlorgehalt des Or¬
ganismus herabsetzend, wirkt auch die
Verabreichung einer kochsalzarmen Kost
Es liegt nahe, den Chlorgehalt des Blutes
in eine bestimmte Relation zu den Krampf¬
anfällen zu setzen, derart, daß im Organis¬
mus des Epileptikers Zunahme des Koch¬
salzgehaltes krampfauslösend wirkt, wäh¬
rend Herabsetzung des Chlorwertes das
Auftreten des Anfalls verhindert.
Die Chlortoleranz des Epileptikers
richtet sich nach der Schwere des Einzel¬
falles. Je häufiger und intensiver die An¬
fälle, desto tiefer muß der Reduktionswert
des Kochsalzes liegen. Es gibt also für
jeden Einzelfall einen Schwellenwert, bei
dessen (Jeberschreitung Krämpfe auftreten.
Dieser Schwellenwert wird empirisch ge¬
funden, indem man mit zirka 8 g Brom
pro die beginnt und allmählich mit dieser
die Anfälle meist kupierenden Dosis herab¬
geht. Gleichzeitig ist es notwendig, die
Chlorzufuhr durch Vermeidung stark salz¬
haltiger Speisen zu vermindern und durch
Einschränkung der Wasserzufuhr einer
übermäßigen Bromausscheidung vorzu¬
beugen. Der gesuchte Schwellenwert kann
durch die Zahl ausgedrückt werden,
welche diejenige Tagesmenge von Brom-
natrium in Gramm angibt, unter welche
nicht gegangen werden darf, ohne daß
Anfälle auftreten. Es wird hierbei eine in
ihrer Zusammensetzung möglichst konstante
salzarme Diät und gleichzeitige Reduktion
des Wasserquantums vorausgesetzt.
Auf Grund eines großen Beobachtungs¬
materials sind Wyss und Ulrich zu der
Ansicht gelangt, daß die Bromtherapie,
auch wenn sie monatelang fortgesetzt wird,
dem Körper unschädlich ist. Die Verfasser
haben Dosen bis 30 g pro die ohne irgend
welche Störungen gegeben. Sie empfehlen
die gelegentliche Zuführung des Broms
per Klysma.
Als Zeichen einer Bromintoxikation
werden gewöhnlich angegeben herab¬
gesetzte Reflexerregbarkeit, Schwindel,
Schlafsucht, Abnahme des Gedächtnisses
und geistige Stumpfheit. Ein erheb¬
licher Teil dieser Erscheinungen ist nach
Ansicht der Verfasser auf das Grundleiden,
bei welchem sie hauptsächlich in Anwen-
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düng kommen, zurückzuführen. Unter Um¬
ständen kann sogar bei Epilepsie durch
energische Bromzuführung eine Besserung
des geistigen Zustandes erzielt werden.
Das Auftreten der Bromakne im Verlaufe
einer Bromkur ist ganz bedeutungslos und
kann durch sorgfältige Hautpflege häufig
vermieden werden. Es empfiehlt sich, die
Bromsalze und nicht organische Brom¬
präparate zu geben.
Leo Jacobsohn (Charlottenburg).
(A. f. Psych. u. Nerv. Bd. 46, H. 1.)
Richard Stern ist der Frage der ^Prog¬
nose der Epilepsie“ in der Weise nacn-
gegangen, daß er über das Schicksal der
entlassenen Patienten mit Hilfe der Polizei
katamnestische Erhebungen anstellte. Bis¬
her erschien ihm beachtenswert, daß gute
ätiologische Erklärbarkeit der An¬
fälle gemeinsam mit dem Mangel an
spezieller Belastung eher für die An¬
nahme einer vorübergehenden Form
sprächen, während umgekehrt ein un¬
erklärliches Verhalten in der Aus¬
lösung gemeinsam mit dem Nach weis
familiärer Epilepsie eher den Ver¬
dacht einer Dauererkrankung er¬
weckten.
Der ausschließlich nächtliche Typus der
Anfälle spricht eher für Gutartigkeit. Stern
erinnert daran, daß die Zeit des Ein¬
schlafens und Erwachens besonders für
Anfälle disponiert und daß ein Halbwachen,
charakterisiert durch nächtliche Unruhe,
wie auch allgemeine Schreckhaftigkeit der
Patienten, die sich im Zusammenfahren
äußert, eine Prädisposition für günstige Wir¬
kung der Brommedikation bedingen soll,
was recht einleuchtend ist. Bei dieser Ge¬
legenheit erwähnt Stern kurz die inter¬
essanten Uebergänge des nächtlichen Auf¬
schreckens zum epileptischen Anfall. (Aus¬
führlicher: Wiener klin. Woch. 1909, Nr. 12).
Wenn Brom durch eine Herabsetzung
der Reflexerregbarkeit wirkt (vielleicht
meßbar an der Stärke der Patellarsehnen-
reflexe) so ist es plausibel, daß Fälle, die
bei fehlenden oder seltenen Krampfattaken
häufige Absenzen hatten, durch Brom un¬
günstig beeinflußt wurden. Stern glaubt,
hier durch Thyreoidin genützt zu haben.
Theoretisch stellt er sich vor, daß die
Herbeiführung eines Thyreoidismus das
Nervensystem in einen Erethismus versetze,
welcher der Schlafverwandtschaft der Epi¬
lepsie entgegengesetzt sei. Jedenfalls meint
er beobachtet zu haben, daß die Mehrzahl
jener gutartigen Krankheitsfälle, an denen
sich das epileptische Leiden dauernd er¬
schöpft hatte, später bei der Wiederunter-
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44
Januar
Die Therapie der Gegenwart 1910.
suchung Zeichen von Thyreoidismus an
sich trugen.
Oscar Kohnstamm (Königstein i. Taunus).
(Jahrb f. Psych. u. Neur. Bd. 30, 1. Heft).
Zur Prophylaxe und Therapie drohender
Fingergangrän bei Raynaudscher
Krankneit gibt Noeßke (aus der Kieler
chirurgischen Klinik) bemerkenswerte Rat¬
schlage. Ermutigt durch die Erfolge der
Saugbehandlung in Fallen von schweren
Fingerverletzungen und Erfrierungen wandte
er dasselbe Verfahren bei mehreren bis
dahin vergeblich behandelten schwer zya¬
notischen und sehr schmerzhaften Finger¬
gliedern eines an Raynaud scher Krank¬
heit leidenden Patienten an. Es gelang
bei dieser Behandlungsart, Fingerglieder,
die absolut kalt und gefühllos waren, da
durch am Leben und bei guter Funktion
zu erhalten, daß frontal über die Finger¬
beere, hinter dem Nagel und parallel
seinem Saum, von der uluaren zur radialen
Seite ein bis auf den Knochen reichender
Schnitt geführt, die Wunde tamponiert
und das so behandelte Glied in einer
Saugglocke 2—3 mal täglich einem nega¬
tiven Druck ausgesetzt wurde. Der Erfolg
in dem Falle von Raynaud scher Krank¬
heit war überraschend. Die Zyanose ver¬
lor sich völlig, desgleichen die Schmerzen;
Gangrängefahr war behoben.
Dieser Versuch eines chirurgischen
Eingreifens bei einem prognostisch so un¬
günstig zu beurteilenden Leiden erscheint
sehr beachtenswert und verdient möglichst
bald und oft wiederholt zu werden.
Eugen Jacobsohn (Charlottenburg).
(Münch, med. Wochschr. 1909, Nr. 47.)
Ueber Hämophilie sind in den letzten
Jahren verschiedene Arbeiten erschienen,
die trotz der interessanten Ergebnisse der
Untersuchung des hämophilen Blutes über
das eigentliche Wesen der Krankheit
keinen Aufschluß gegeben haben. Einen
neuen Beitrag liefert Dahlgren. Die
eigentliche Hämophilie im strengeren Sinne
ist, zum Unterschied von Skorbut, Purpura,
Morbus maculosus, Peliosis, angeboren.
Man spricht auch von einer erworbenen
Hämophilie, die sich durch eine ähnliche
Resistenz gegen jede Behandlung aus¬
zeichnen soll, es fehlt jedoch das Angeboren¬
sein und die Vererbung. Sie kommt auch
kongenital bei Kindern gesunder Voreltern
vor und vererbt sich dann weiter. Die
Krankheit ist die erblichste aller erblichen
Krankheiten. Sie wird fast ausschließlich
durch die Frauen fortgepflanzt, auch durch
die, die selbst nicht krank sind. Frauen
werden viel seltener befallen, als Männer,
etwa wie 1 :13. Die Erblichkeit ist etwa
folgende: 1. Männer aus Bluterfamilien, die
selbst Bluter sind, erzeugen mit Frauen, die
nicht aus Bluterfamilien stammen, bei weitem
nicht immer hämophile Kinder; im Gegen¬
teil sind diese Kinder häufiger gesund.
Umgekehrt scheinen unter den Kindern von
Frauen, die selbst Bluterinnen sind, sich
ganz regelmäßig auch wieder hämophile zu
finden. 2. Männer, die aus Bluterfamilien
stammen, ohne selbst Bluter zu sein, er¬
zeugen mit Frauen aus anderen Familien
fast niemals hämophile Kinder. Dagegen
finden sich unter den Kindern von Frauen,
die Bluterfarailien angehören, ohne selbst
zu bluten, fast ausnahmslos solche, die an
ausgesprochener Hämophilie leiden. — Die
Ursache der Krankheit hat man in Ano¬
malien der Gefäße und des Gefäßsystems
oder des Blutes gesucht. Die von Virchow
gefundene Dünnheit und fettige Degene¬
ration der Gefäßwände und Enge der Aorta
findet sich auch bei Chlorose. Eine Ver¬
größerung der linken Herzkammer und
vermehrter Blutdruck ist nicht immer vor¬
handen und findet sich bei anderen Krank-
keiten in höherem Maße. Als toxische
Infektionskrankheit und dem Skorbut iden¬
tisch kann die Hämophilie nicht betrachtet
werden. Nennenswerte Veränderungen in
der Morphologie und dem Alkalitätsgrad
des Blutes, im Wassergehalt und osmo¬
tischen Druck des Serums bestehen nicht.
Das Blut lieferte mindestens ebensoviel
Fibrin beim Gerinnen wie normales. Die
Gerinnungszeit des Blutes fand sich, so¬
wohl Beginn als Beendigung der Gerin¬
nung, zweifellos verlängert, wenn nicht
gerade eine Blutung bestand. Während
einer starken Blutung aber zeigte das der
Wunde entnommene Blut eine enorm ge¬
steigerte Gerinnungsgeschwindigkeit, wäh¬
rend Blut, das gleichzeitig einer unverletzten
Körperstelle entnommen wurde, höchstens
eine leichte Steigerung der Gerinnungs¬
geschwindigkeit zeigte. Zwischen zwei Blut¬
verlusten war die Gerinnung verlangsamt,
wenn das Blut aus einer unmittelbar vorher
gesetzten Wunde genommen wurde, schon
nach 11 Minuten war die Gerinnungs¬
geschwindigkeit gesteigert. Es scheint also,
daß das Blut aus einer nicht ganz frischen
Wunde Fibrinferment oder andere gerin¬
nungsfördernde Stoffe aufnimmt. Also
Herabsetzung der Gerinnungsgeschwindig¬
keit kann nicht das eigentliche Wesen der
Krankheit sein. Zusatz schon von Spuren
von definiertem normalem Blut zu hämo-
philem Intervallärblut beschleunigt die Ge¬
rinnungsdauer bis zur normalen; es ist das
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UNIVERSiTY OF CALIFORNIA
Januar
Die Therapie der Gegenwart 1910.
45
wohl die Wirkung zugesetzter Thrombo-
kinase oder zymoplasti scher Substanzen.
Bei der Blutung aus einer Wunde bildet
sich ein starkes Gerinnsel, aber dasselbe
sitzt nicht fest, die Gefäße thrombosieren
nicht, vermutlich da sie nicht genügend
Thrombokinase oder zymoplastischer Sub¬
stanz liefern, um aus dem vorhandenen
Thrombogen bzw. Betaprothrombin an Ort
und Stelle Fibrinferment zu erzeugen.
Zwischen den Blutungen, wo die reaktive
Wirkung des Blutverlustes fehlt, spalten
auch die Blutzellen zu wenigThrombokinase
oder zymoplastische Substanz ab. Vielleicht
enthält der ganze hämophile Organismus
infolge vererbbarer Fehlerhaftigkeit des
Keimplasmas seiner Zellen weniger von
diesen Stoffen oder gibt sie schwerer ab.
In derselben Weise wäre die lokale Hämo¬
philie zu erklären. Aus kleinen Wunden
können große Blutungen auftreten, während
große Wunden bisweilen nur wenig bluten.
Bisweilen tritt die unstillbare Blutung erst
einige Zeit, bis zu 3 Tagen, nach Ent¬
stehung der Wunde auf. Sektionsbefunde
haben keine Aufschlüsse gegeben. Manch¬
mal zeigt sich die Krankheit schon bei der
Abnabelung. In % der Fälle zeigt sie sich
zuerst gegen Ende des 2. Jahres. Die
meisten Kranken erliegen ihrem Leiden in
den ersten Jahren; selten erreichen sie ein
hohes Alter; mit dem Alter nimmt die
Krankheit an Stärke ab. Spontane Blutungen
gehen meist von den Schleimhäuten aus.
Gelenkveränderungen kommen oft vor, die
zu schwerer Deformation führen können.
Das beste Mittel zur Blutstillung ist die
Kompression; manchmal wirkt ein Verband
mit frischem Blutserum (Antidiphtherie¬
serum); subkutan (20—30 ccm) wirkt das¬
selbe erst nach 24 Stunden, intravenös
(1Qr-20 ccm, bei Kindern die Hälfte)
schneller. Ergotin wirkt gar nicht. Gela¬
tine, Zymoplasma, Kalksalze, Ovarialextrakt,
Thyreoideaextrakt wirken bisweilen.
Klink.
(v. Bruns Beitr. z. kl. Chir. LXI, 3.)
Borelius hat 14 Fälle von primärem
Karzinom der Hauptgallengänge zusam¬
mengestellt. Ein ätiologischer Zusammen¬
hang mit Gallensteinen ließ sich, im Gegen¬
satz zum Gallenblasenkarzinom nicht fin¬
den; es handelt sich also um primäre Kar¬
zinome im strengsten Sinne. Der klinische
Krankheitsverlauf beträgt durchschnittlich
einige Monate; jedenfalls besteht der An¬
fang des Leidens latent. Die klinischen
loitialsymptome sind auffallend oft heftig ein¬
setzende, anfallsweise auftretendeSchmerzen
mit scheinbarem Rückgang zu voller Ge¬
nesung. Ein charakteristisches Bild haben
diese Anfälle nicht und dürften am häufig¬
sten als Gallensteinschmerzen gedeutet
werden. In den meisten Fällen zeigte sich
bald nach dem ersten Anfall Ikterus; völlig
fehlt er nie, wechselt an Stärke und kann
vorübergehend verschwinden. Er ist das
einzige konstante Symptom, unterscheidet
sich aber von Ikterus aus anderer Ursache
nicht. Im Schlußverlauf treten cholämische
Symptome und allgemeine Kachexie hinzu.
In fast allen Fällen war Lebervergrößerung
nachzuweisen, wohl zum großen Teil in¬
folge Gallenstauung und Erweiterung der
intrahepatischen Gallengänge. Beim Kar¬
zinom des Ductus hepaticus oder an der
Zystikusmündung ist die Gallenblase eher
eler, beim Karzinom des Choledochus oder
der Vater sehen Papille pflegt sie stark
gespannt zu sein. Bei längerem Ikterus
treten oft cholämische Blutungen ein, so¬
wohl spontan als nach Operationen. Die
Diagnose läßt sich meist nur mit Wahr¬
scheinlichkeit stellen, kann aber selbst bei
der Laparotomie schwer sein. Im Beginn
ist das Karzinom an diesen Stellen sicher
und eine lokale Erkrankung; trotzdem wird
man bei einem Ikterus auf zweifelhafter
Basis sich nicht leicht zu einer frühen La¬
parotomie entschließen. Von den ange¬
führten Fällen ist die Radikaloperation mit
primärem Erfolg in einigen Fällen gemacht,
kein Fall hat aber die Operation, soweit
festzustellen, mehr als drei Jahre überlebt.
Sehr wichtig ist vorerst die Feststellung,
ob es eine zirrhöse Form des Leidens gibt,
die längere Zeit lokal bleibt. Klink.
(v. Bruns Beitr. z. klin. Chir. Bd. 61, H. 1.)
Ueber den Zusammenhang vonMagen-
und Frauenleiden, der in den letzten
Jahren vielfach Gegenstand eingehender
Untersuchungen war, bringt Levisohn aus
der Senator sehen Poliklinik eine be¬
merkenswerte Arbeit, die das Ergebnis
gründlicher literarischer Studien und klini¬
scher Beobachtungen darstellt. Die Beob¬
achtung, daß unterleibskranke Frauen häufig
magenleidend sind (nach Engelmann 25%,
nach Graily-Hewitt 11—14%) hat viele
Autoren zu der Annahme eines ursäch¬
lichen Zusammenhanges zwischen den beiden
Affektionen und sogar zur Aufstellung eines
besonderen Krankheitsbildes der „Dyspep-
sia uterina* (Kisch) geführt, von anderen
hingegen (Giovanni und Sommer) wird
jeder Kausalnexus zwischen beiden Krank¬
heiten geleugnet.
Daß die physiologischen Vorgänge im
weiblichen Geschlechtsleben häufig mit
Aenderung der sekretorischen und moto-
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UNIVERSiTY 0F CALIFORNIA
46 Die Therapie der Gegenwart 1910. Januar
rischen Funktion des Magens einhergehen,
ist eine den Internisten sowohl wie Gynä¬
kologen wohlbekannte Tatsache, die durch
zahlreiche exakte Untersuchungen erhärtet
ist (Riegel, P. Müller, Elsner, Kehrer
usw.). So übt die Menstruation zweifellos
einen herabsetzenden Einfluß auf dieMagen-
und Darmtätigkeit aus, die sich objektiv
vor allem in Abnahme der Magensaftazidi¬
tät manifestiert. Aehnlich ist nach Kehrer
die Rückwirkung von Schwangerschaft und
Wochenbett. Praktisch ergibt sich hieraus
der Schluß, daß eine Mageninhaltsprüfung
während dieser Perioden kein klares Bild
von der Magenfunktion ergibt.
Bei der Schwierigkeit der Diagnose einer
genitalen Reflexneurose verlangt L. eine
scharfe Absonderung aller Fälle, die sich
auf irgendeine andere Weise erklären
lassen, und zwar auf Grund folgender
Fragestellung: 1. Liegt eine selbständige
Magenerkrankung vor (Ulkus, Gastritis, Ek¬
tasie, Karzinom usw.); 2. Ist das Magen¬
leiden durch eine andere organische Er¬
krankung oder ein Allgemeinleiden verur¬
sacht? (Herz-,Lungen-,Nierenleiden, Gallen¬
steine, Tabes, Fieber, Anämie usw.); 3. Sind
Magen- und Sexualaffektionen nur koordi¬
nierte Erkrankungen, einer ersten Ursache
untergeordnet? Hier kommt vor allem die
Enteroptose in Betracht, bei der häufig
Senkung des Magens mit Lageveränderung
des Uterus zusammentrißt; auch die häufig
dabei bestehende Ren mobilis kann an und
für sich zu dyspeptischen Beschwerden
führen. — Auf Grund dieser Gesichtspunkte
mußte der Verfasser von 100 Patientinnen,
bei denen Magen- und Unterleibsbeschwer¬
den gleichzeitig bestanden, 66 ausschalten;
in den übrigen 34 Fällen, in denen es sich
vorwiegend um chronisch-entzündliche Ver¬
änderungen und Lageanomalien der Geni¬
talorgane handelte, fand L. bei der in der
üblichen Weise angestellten Funktions¬
prüfung des Magens sehr verschiedene Ver¬
hältnisse : 9 mal Achlorydie, 7 mal Hypo-
chlorydie mit Subazidität, 11 mal Hypochlo-
rydie mit normaler Gesamtazidität, 6 mal
normale Sekretion und in 10 Fällen Hyper¬
azidität. Von der Art der gynäkologischen
Affektion sind die Funktionsstörungen un¬
abhängig. Da andere Autoren zu ab¬
weichenden Resultaten gelangt sind, die
der Verfasser auffallenderweise dadurch
erklärt, daß sie in verschiedenen Gegenden
(Graz, Heidelberg, Berlin usw.) angestellt
sind, zieht L. aus seinen Untersuchungen
keine allgemeingültigen Schlüsse. Nur be¬
streitet er das Vorkommen einer Dyspepsia
uterina als eines einheitlichen Krankheits¬
bildes. Gleichwohl hält er einen Kausalzu¬
sammenhang zwischen beiden Erscheinungen
in vielen Fällen für wahrscheinlich und zwar
in dem Sinne, daß den Magenstörungen,
die im wesentlichen unter dem Bild einer
Sensibilitäts- oder Sekretionsneurose ver¬
laufen, eine Alteration des gesamten Nerven¬
systems vorausgeht, an deren Zustande¬
kommen das Genitalleiden als auslösendes
Moment wesentlich beteiligt ist.
Wenn auch durch sachgemäße gynäko¬
logische Behandlung häufig die Magen¬
beschwerden beseitigt werden können, so
ist doch im allgemeinen vor einer gynäko¬
logischen Polypragmasie zu warnen. The¬
rapeutisch hat vor allem die Allgemein¬
behandlung einzusetzen, nötigenfalls nach
Orientierung über die Sekretionsverhält¬
nisse durch die Sonde eine medikamentöse
Behandlung.
Die durchdachte, kritische Arbeit Le vi-
sohns ist für Gynäkologen und Internisten
lesenswert. Namentlich muß Ref. der War¬
nung des Verfassers vor der von Gynäko¬
logen leider vielfach so kritiklos geübten
polypragmatischen Lokalbehandlung bei¬
pflichten, welche das unerfreulichste Zeichen
einseitigen Spezialistentums bildet.
B. Hall au er (Charlottenburg).
Berl. klin. Woch. 1909, Nr. 24, S. 1103.
Zur Behandlung des Meni&reschen Sym-
ptomenkomplexes emptieht Dr. H. Herz er
(Rheinieldenj Vibrationsmassage der
Nasenschleimhaut, Vibration und Pneumo-
massage der um das äußere Ohr ge¬
legenen Kopfpartien. „Die Begründung des
Heilerfolges scheint mir vor allem in der
nach Behandlung der Nasenschleimhaut re¬
flektorisch erzielten starken aktiven Hyper¬
ämie des Kopfes zu liegen, deren Anwesen¬
heit lokal und in der Hyperämie der Kon¬
junktiven zu erkennen ist; möglicherweise
findet auch gleichzeitig eine Reizung tro-
phischer Nervenfasern statt, indem die Wir¬
kung der Vibration vielfach als eine dem
galvanischen Strome ähnliche bezeichnet
wird.“ Das letztere ist eine Hypothese,
das erstere eine Tatsache. Auch durch
Beklopfen des knöchernen Schädels kann
man nach unseren Erfahrungen Schwindel¬
erscheinungen bis zu Menidreschen Sym¬
ptomen erfolgreich bekämpfen, die dadurch
erzielte starke Hyperämie ist direkt sicht¬
bar. Daneben empfiehlt sich, als auf den¬
selben Effekt herauskommend, Schüttei¬
bewegungen, wechselnde Tief- und Hoch¬
lagerung, heiße Prozeduren, sowohl lokal
als allgemein, nicht zu vergessen die Be¬
einflussung der wechselnden Blutfüllung
im Schädel durch Atmung. Interessant ist
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Original frnm
UNIVERSiTY 0F CALIFORNIA
Januar
Die Therapie der Gegenwart 1910.
47
es nun, daß Otto in einem Vortrag in der
Dorpater medizinischen Gesellschaft berich¬
tet, daß Menstruation eine aniallauslösende
Wirkung ausübt, dagegen gebückte Haltung
bei anstrengender Arbeit, Bäder von 38° C,
Aspirin, also kongestivierende, hyper-
ämisierende Einflüsse, eine allmähliche
Besserung bis zur dauernden Heilung her¬
vorbrachten. Hauff e (Ebenhausen).
(Manch. med.Wochschr. 1909, Nr. 20, St. Peters¬
burger Med. Wochschr. 1909, Nr. 39, S. 525.)
Die Versorgung des Ureters bei
Nephrektomie wegen Tuberkulose ist von
größter Wichtigkeit. Paschkis empfiehlt
ein von Zuckerkandl geübtes Verfahren,
bei dem die Wunde vor Kontakt mit
tuberkulösem Eiter gut zu bewahren ist.
Es wird die Niere durch Lumbalschnitt
freigelegt, wenn möglich luxiert, die Ge¬
fäße des Stiels einzeln unterbunden. Nach¬
dem ein Drain oder Gazestreifen auf den
Stumpf des Stiels gelegt ist, wird die in
eine Kompresse gehüllte Niere samt dem
Ureter in den unteren Wundwinkel gelegt;
die Fascia transversa und die Muskulatur
in 2—3 Schichten durch Katgutnähte ver¬
näht. Am unteren Wundwinkel fassen die
Nähte die Muskelschicht des Ureters auf
beiden Seiten mit; so ist der Ureter in
einen Kanal von Muskulatur eingebettet.
Es folgt dann die Naht der oberflächlichen
Faszie und der Haut. Der Ureter, neben
den ein Drain gelegt ist, wird 1 cm über
dem Hautniveau unterbunden und mit dem
Thermokauter durchschnitten. Die Eröffnung
des mit infektiösem Material gefüllten
Ureters erfolgt auf diese Weise erst nach
vollständigem Verschluß der Wunde. Der
vorgelagerte Ureterteil stößt sich ab, die
Wunde pflegt sich in 2—3 Wochen zu
schließen. Um den Heilungsprozeß zu be¬
fördern, empfiehlt sich eine Aetzung des
Stumpfes mit 6% Karbolsäure.
Hohmeier (Altonaj.
{Deutsche Ztschr. f. Chir. Bd. 102, H. 1—3.)
Die Behandlung der Oberschenkel- und
Unterschenkelbrüche hat durch die
Zuppingerschen Apparate in verschiede¬
ner Richtung große Fortschritte gemacht.
Wenn Bardenheuer das Verdienst gehört,
immer wieder für die Extensionsbehandlung
eingetreten zu sein, so hat Zuppinger
mit seinem Apparat, der auch auf dem
Extensionsprinzip aufgebaut ist, die Behand¬
lung außerordentlich vereinfacht, sie in
jedem Bett, in jedem Haus, durch jeden
Arzt möglich gemacht. Dabei wird der
Kranke niemals über zu großes Extensions¬
gewicht klagen und die Umgebung infolge¬
dessen nie das Gewicht abhängen, weil das
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verletzte Glied durch sein eigenes Gewicht
die Extension ausübt. Die Apparate sind
sehr vervollkommnet worden und lassen
einen Dekubitus sicher vermeiden. Jede
neue Verbesserung gerade auf diesem Ge¬
biet ist freudig zu begrüßen, da trotz reich¬
licher Anwendung der Durchleuchtung die
Resultate der Frakturenbehandlung nicht
besser geworden sind. Eine erhebliche
Muskelatrophie tritt bei der Apparatbehand¬
lung nicht ein und bleibende Gelenkver¬
steifung läßt sich auf dem mobilen Apparat
mit ziemlicher Sicherheit vermeiden. Die
relativ starre Immobilisation der Gelenke
in Streckstellung und übermäßige Bean¬
spruchung der Elastizität der Weichteile,
besonders der Muskeln durch Ueber-
dosierung des Längszuges machen es
möglich, daß trotz guter anatomischer Re¬
sultate das funktionelle Resultat Barden-
heuers doch hinter den Erwartungen
zurück bleibt; es bleibt oft eine Verminde¬
rung der Arbeitsfähigkeit durch Beuge¬
behinderung und Muskelschwäche zurück;
die Ursache liegt in der Methode. Besser,
als die Stauung ist für die funktionelle
Frakturbehandlung die Anwendung des
Zuppingerschen Apparates. Die Resultate
sind so gut oder besser, als die besten
bisher bekannten. Die Extension geschieht
dabei bei gebeugter Hüfte, gebeugtem Knie
und leichter Spitzfußstellung des Fußes;
man kann dabei jede Verkürzung aus-
gleichen mit einem effektiven Zug von
3—4 kg für den Unterschenkel, 4 bis vor¬
übergehend 6 kg für den Oberschenkel.
Man vergleiche damit die Bardenheuer-
schen Gewichte! Das Glied liegt bei
Unterschenkelbrüchen 3—4 Wochen, bei
Oberschenkelbrüchen 5—6 Wochen auf dem
Apparat; wenige Tage nach der Abnahme
des Apparates besteht ganz freie Beweg¬
lichkeit aller Gelenke; das kommt daher,
daß vom ersten Tage ab, ohne Beeinflussung
der Extension, aktive Bewegungen in
mäßigem Umfange möglich sind. Aus dem¬
selben Grund treten Muskelatrophie, längere
Oedeme, Degeneration und schwielig fettige
Durchwucherung der Muskeln, Phlebitis,
Venektasien, Ischaemie nicht ein; Schlotter¬
gelenke und Gelenkergüsse sind auch un¬
möglich. Die leichte Spitzfußstellung ist
das beste Mittel, um die gefürchtete Rekur-
vation nach Unterschenkelbrüchen zu ver¬
meiden. — Die Apparate sind zu beziehen
von Hausmann A. G.-St. Gallen (Schweiz)
und kosten für Oberschenkel 34 Fr., für
Unterschenkel 32,50 Fr. ausschließlich Zoll. ‘
Klink.
(v. Bruns Beitr. z. kl. Chir. LX, 3.)
Original fram
UNIVERSITY 0F CALIFORNIA
48
Der Pruritus localis und universalis Ernährungstherapie — die Aminosäuren als
nervosus gehört zu den unangenehmsten das Nährpräparat der Zukunft bezeichnet,
und vielfach therapeutisch sehr schwer zu- Abderhalden und seine Mitarbeiter be-
gänglichen Affektionen. Vorübergehend richten nun in der vorliegenden Arbeit, daß
lassen sich bei einer Anzahl von Fällen, ja sie vollkommen verdautes Rindfleisch zu
durch die gewöhnlichen antipruriginösen Nährklystieren benutzt haben. Das Präparat
Medikamente Besserungen, selten Heilungen war in den Höchster Farbwerken dar¬
erzielen. H. E. Schmidt weist nun auf gestellt worden, indem fettfreies Rindfleisch
die vortreffliche Wirkung der Röntgen- 6 Wochen lang mit Pankreassaft und fünf
strahlen bei diesen Affektionen hin. Für Wochen mit Darmpreßsaft verdaut wor-
die lokalen Pruritusformen — Pruritus vul- den war. Danach ergab das Präparat
vae, ani, scrotalis — werden dieselben keine Biuretreaktion mehr. Versuchsobjekt
schon vielfach verwendet und Referent war ein zwölfjähriger Knabe, der vor
kann aus eigener Erfahrung über gute V 2 Jahr sich eine Laugenverätzung des Oeso-
Effekte nach dieser Richtung berichten, phagus mit nachfolgender Striktur zuge-
Bei Pruritus universalis sind die X-Strahlen zogen hatte, danach Pneumonie, Empyem
bisher nur wenig benutzt worden. Schmidt mit Rippenresektion und schließlich wegen
teilt auch über die röntgenologische Be- vollständigen Verschlusses des Oesophagus
handlung dieser ja sehr quälenden Affek- Gastrotomie durchgemacht hatte und auf
tion günstige Erfahrungen mit; ebenso wird Fistelernährung angewiesen war. Durch
nach ihm das häußg lang anhaltende all dieses Mißgeschick war der Knabe auf
postskabiöse und pruriginöse Jucken gün- 25 kg, fast auf die Hälfte des ihm zu-
stig durch die Behandlung beeinßußt. Es kommenden Körpergewichts, herabgekom-
genügt meist die halbe Erythemdosis, selten men und also in einem Zustand von Ei¬
ist mehr erforderlich. Die Wirkung tritt weißhunger, der ihn zu Eiweißansatz-
erst nach einer Latenzzeit von 4—8 Tagen versuchen sehr geeignet erscheinen ließ,
ein. Sie hält 3—6 Wochen, aber auch Der Knabe bekam nach einigen Vorver-
Monate und Jahre an, vielleicht ist auch suchen 15 Tage lang durch seine Magen¬
eine Dauerheilung möglich. Bei Rezidiven fistel 90 g Hafermehl, 150 g Fett, 50 g
kann das Verfahren immer wieder ange- | Traubenzucker, 25 g Stärke, worin im
wandt werden. Buschke. j ganzen 2,1 g N enthalten sind, und in je
(Berl. kl. Wochschr. 1909, Nr. 37.)
Das Problem der rektalen Ernährung
hat eine wesentliche Förderung erfahren
durch Versuche von Abderhalden, Frank
und Schittenhelm, welche neuerdings
mit gutem Erfolg ganz verdautes Fleisch
per clysma zugeführt haben. Bekanntlich
ist zuerst durch Loewi gezeigt worden,
daß Hunde aus vollkommen verdautem
Fleisch ihren Eiweißbedarf decken können,
d. h. daß der tierische Organismus aus
einem Gemisch von Aminosäuren Eiweiß
aufzubauen vermag. Um die endgültige
Feststellung dieser fundamentalen Tatsache
hat sich besonders Abderhalden große
Verdienste erworben. Für die praktische
Ernährung namentlich kranker Menschen
ergaben sich aus der neuen Erkenntnis
neue Fragestellungen. Insbesondere lag
es nahe, Gemische von Aminosäuren für
die künstliche Ernährung zu verwerten und
so habe ich schon vor 6 Jahren — in meiner
Bearbeitung der Nährpräparate in Leydens
INHALT: Noorden, Gastroptose S. 1. — Minkowski, Diabetes insipidus S. 4. —
Lüthje, Azetonkörper und Haferkuren beim Diabetiker S. 8. — Baginsky, Scharlach S. 16. —
Anschütz, Nagelextension bei Frakturen S. 22. — Ewald, Herztherapie S. 26. — F. Klemperer,
• Tuberkulosetherapie S. 29. — Vorträge über Infektion S. 34. — Bücherbesprechungen S. 40.
— Referate S. 41.
Für die Redaktion verant wörtlich I'rof. Dr. G.Klemperer in Berlin. - Verlag von Urban&Schwarzenberg in Wien u. Berlin.
Druck von Julius Sittenfcld, Hofbuchdrucker., in Berlin W.8.
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2 täglichen Klystieren 72,4 g verdautes
Fleisch und 10 g Hafermehl, worin 7,2 g N
enthalten sind. Die Klystiere wurden im
ganzen gut vertragen; von dem darin ent¬
haltenen N wurden nach Ausweis der Kot¬
bestimmungen täglich 5,7 g, d. h. etwa$0°/o
resorbiert. Da das kalorische Gesamt¬
angebot für das reduzierte Körpergewicht
ein relativ hohes war, so erklärt sich die
beträchtliche N-Retention von 35 g in
15 Tagen, welche sich aus der N-Bestimmung
im Urin berechtet und welche ungefähr
1100 g Muskelfleisch entsprechen würde. Die
wirkliche Gewichtszunahme betrug indes in
diesen 15 Tagen nur 500 g, sodaß auch mit
der Möglichkeit der Retention N-haltiger
Vorstufen des Eiweißes im Sinne Lüthjes
gerechnet werden muß.—Die Beobachtungen
der Verfasser sind jedenfalls von großer prak¬
tischer Bedeutung und werden gewiß zu er¬
neuter Bearbeitung der Fragen von der rek¬
talen Ernährung führen. G. Klemperer.
(Zeitsehr. f. physiol. Chem. Bd. 63. S. 215.)
Die Therapie der Gegenwart 1910.
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Die Therapie der Gegenwart
1910
herausgegeben von Prof. Dr. G. Klemperer
in Berlin.
Februar
Nachdruck verboten.
Die Behandlung des Scharlachs.
Von Adolf Baglnsky-Berlin. (Schluß).
Wenden wir uns nunmehr der Behänd- I entgegensetzen, verwendet man mit großem
lung der den Scharlach komplizierenden
Affektionen zu.
Es tritt uns in erster Reihe die Schar¬
lachangina entgegen. Sie ist, wie Sie
wissen, ein Frühsymptom der Scharlach¬
erkrankung überhaupt und kann von der
einfachen katarrhalischen Rötung und
Schwellung bis zur starren Infiltration der
Pharynxschleimhaut und Lymphorgane, wie
Tonsillen und Retropharyngeallymph-
apparat, weiterhin bis zu pseudodiphtheri¬
schen schmierigen Belägen und ulzerösem
und gangränös-ulzerösem Zerfall der ge¬
samten Pharynxgebilden fortgeschritten in
die Erscheinung treten. Lediglich schmerz¬
haft, von Fieber begleitet, den Schluckakt
behindernd, als einfach entzündliche Form,
können die maligen Formen durch septische
Allgemeininfektion dem Kranken lebens¬
bedrohend und gefährlich werden. So
muß deshalb jede Angina von vornherein
ein Gegenstand aufmerksamster therapeuti- j
scher Encheirese des Arztes sein. Hier
also soll der Arzt ganz gewiß nicht die
Hände in den Schoß legen; denn hier
hat er hinreichend Mittel, und gute Mittel
an der Hand, den Kranken zu Hilfe zu
kommen. Bei den einfachen Formen ge¬
nügt es, den Kranken mit der Eiskrawatte
zu behandeln, die aber geschickt wohl¬
anliegend gemacht werden muß; zum Gur¬
geln, zum Spülen oder bei jüngeren Kin¬
dern zur Verwendung im Spray mittels
Doppeltgebläses verwende man 2—3°/ 0 ige
Borsäurelösungen. Die schweren Erkran¬
kungsformen, wie Diphtheroid und ulzeröser
Zerfall bedürfen sorgsamer lokaler An¬
wendung einer Reihe anderer Mittel;
1. der örtlichen Einstäubungen mit Sozo-
jodoInatrium und Schwefelpulver zu gleichen
Teilen, mittels des Pulverbläsers, oder
2. der Betupfung mittels Ichthyol. Sub¬
limat.
Ammon. sulfo-ichthyolic. . .10
Hydrargyr. bichlorat. corrosiv. 0.05
Aq. destillat . ad 100.
oder
3. des Sprays mit Wasserstoffsuperoxyd
1V2-2o/ 0 .
Bei Kindern, welche einer örtlichen Be¬
handlung unüberwindlichen Widerstand
Vorteil Formaminttabletten, die wie Bon¬
bons den Kindern 3—4—5 Stück pro die
angeboten und in der Regel von denselben
gern genommen werden; ich habe dieselben
in schweren Fällen von ausgezeichneter
Wirkung gesehen, wobei noch ihre bequeme
Anwendungsweise als besonderer Vorteil
sich geltend macht.
Im Anschlüsse an die mehr oder weni¬
ger schweren Anginen kommt nun gar
nicht selten eine analog mehr oder weni¬
ger schwere Erkrankung der Mundschleim¬
haut vor; auch gegen diese sind insbeson¬
dere die erwähnten Spraymittel von guter
Wirkung, indes haben sich bei den aller¬
schwersten, ebenfalls mit gangränösem
Zerfall der Wangenschleimhaut oder des
Zahnfleisches einhergehenden Formen noch
besonders Kombinationen von Menthol
oder Thymol mit Wasserstoffsuperoxyd in
örtlicher Anwendung bei uns bewährt.
Man verordne:
Thymol oder Menthol . . .0,5
Alkohol absolut.
Wasser Stoff super oxyd( 3%) aa 20.
! und tupfe mit dem Medikament die ulzerö¬
sen oder nekrotischen Stellen 3—4mal täg¬
lich. Wir haben mit dem Mittel bei den
schwersten, der Stomakace und Noma
sich annähernden Fällen, den vortrefflich¬
sten Erfolg und raschen Uebergang zur
Heilung gesehen. Erwähnen muß ich aber
bei dieser Gelegenheit noch, daß der auf-
I merksame Arzt bei all den genannten
Mund- und Pharynxaffektionen Bedacht
| nehmen muß, auch auf wirkliche, echte
Diphtherie zu fahnden. Es handelt sich zu
allermeist nicht um Diphtherie, nicht um
! Anwesenheit von Löffler-Bazillen in den
Belägen; indessen kommen doch auch
Kombinationen des (Streptokokken-)Diph-
theroids mit echter (Löffier-)Diphtherie vor.
Ist letzteres der Fall und hat man den
Löffler-Bazillus nachgewiesen, so darf man
selbstverständlich bei dieser Kombination
von echter Diphtherie mit Scharlach-
diphtheroid nicht zögern, die entsprechen¬
den Mengen von Diphtherieantitoxin neben
der beschriebenen örtlichen Medikation zur
Anwendung zu bringen. Man wird ferner
gut tun, nebenher innerlich als tonisieren-
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UNIVERSiTY OF CALIFORNIA
50
Die Therapie der Gegenwart 1910.
Februar
des innerliches Medikament Decoct Chinae
4—10:100 2stQndl. bis 3stQndl. zu verab¬
reichen.
Zwei weitere Komplikationen schließen
sich gern an diese schweren Stomatitiden
und Anginen an, — die mit Schwellung,
Rhagaden und ulzerösem Zerfall einher¬
gehende Schwellung und Entzündung der
Lippen (Cheilitis), die sehr quälend wird,
insbesondere, wenn auch die Mundwinkel
ulzerös werden, und — die Infiltration und
Schwellung der cervikalen Lymphdrüsen
und des umgebenden Zellgewebes — die
cervikale Lymphadenitis und Phlegmone.
Bei den einfachen Rhagadenbildungen
an den Lippen kommt man in der Regel
mit der Applikation von Borvaseline (2 bis
3%) aus; die weiter greifenden ulzerösen
Erkrankungen der Lippen wird am besten
mit Aufstreichen von Zink-Borsäurepaste
behandelt. Man verwende die bekannte
Paste:
Zinc . oxydat. . . . 20—25
Amyli aa
Acid. borici ... 3
Vaselini . ad 100
oder, wo man mit dieser nicht auskommt
und der Prozeß nicht sistiert und zur Hei¬
lung neigt, pinsele man Rhagaden und Ul-
cera mit 1 —2°/ 0 iger Arg. nitric.-Lösung, oder
endlich, wo auch dieses Mittel nicht Hei¬
lung zu bringen scheint, appliziere man,
und dies geschieht zumeist mit sehr gutem
Erfolg eine 1- bis 2%ige Arg. nitric.-Salbe
folgender Zusammensetzung:
Rp. Argent nitric.... 0,5
Balsam Peruvian. . 0,25 — 0,5
Vaselini flavi ... ad 20,
eine Heilsalbe von zuweilen wundervoller
Wirksamkeit, die auch sonst bei rhagaden¬
bildenden Prozessen gar nicht hoch genug
ein geschätzt werden kann.
Die andere Komplikation, die Schwel¬
lungen der cervikalen Lymphdrüsen, sind
ja im Scharlach wie auch sonst die Be¬
gleiter der Naso-Pharynxerkrankungen, sie
sind sekundäre Affektionen und heilen
spontan ab, sobald die Schleimhaut-
affektionen weichen; somit liegt auch ihre
Behandlung schon mit in der gegebenen
Therapie der ersteren. — Die Applikation
der Eiskravatte genügt dann zumeist als
Unterstützungsmittel« auch um die Schmerz¬
haftigkeit, die die Schwellung meist macht,
zu beseitigen. Will man örtlich noch
etwas Besonders anwenden, in der Idee die
Rückbildung der geschwollenen Drüsen zu
fördern, so ist gegen die Applikation von
Ichthyolsalben (10—20 %), auf Mull ge¬
strichen, aufgelegt, nichts einzuwenden.
Der Nutzen freilich ist zweifelhaft, so lange
der Schleimhautprozeß nicht abheilt. —
Weit schlimmer ist nun freilich der zur
Eiterung führende Schwellungsprozeß der
cervikalen Lymphdrüse, noch dazu dann,
wenn das periglanduläre Gewebe mit er¬
griffen wird und auch die Fascien mit in
den Prozeß der Eiterung mit hineingezogen
werden. Man hat es dann mit den ge¬
fürchteten skarlatinösen Halsphlegmonen
zu tun, gegen welche kaum noch anders
als chirurgisch vorzugehen ist. Man prüfe
sorgsam auf Fluktuation, die in der Regel
sehr tief liegt, und incidiere frühzeitig und
ausgiebig, entferne auch bereits in vollem
Zerfall befindliche Drüsen; alles übrige ist
rein chirurgische Encheirese. — Es ist be¬
kannt, daß die Halsphlegmonen beim Schar¬
lach in der Tiefe gern und rasch an die
Gefäßscheiden Vordringen und selbst Arro-
sionen der großen Halsvenen oder gar der
Carotis herbeizuführen vermögen. Man
wird also auch chirurgisch auf der Hut sein
müssen und eventuell selbst vor einer
Karotisunterbindung nicht zurückscheuen
dürfen. — Freilich gilt auch hier das
ne quid nimis!; indeß kann man be¬
greiflicherweise dem einschreitenden Chi¬
rurgen keine Vorschriften machen; nur soll
auch dieser sich auf das Mindestmaß des
Notwendigen beschränken.
Man hat es, meine Herren, bei diesem
ganzen, zum Teil, wie Sie wissen, gefähr¬
lichen Komplex von Affektionen in erster
Linie mit der Wirksamkeit von hoch-
virulenten Streptokokken zu tun; dieselben
zirkulieren im Blute, und so darf es nicht
wundernehmen, daß nunmehr im Anschluß
an die mehr örtlichen begrenzten Prozesse
auch an entfernteren Gebieten, mehr oder
weniger bedrohliche Affektionen auftreten;
so sind denn die Gelenke gar gern ein
Angriffspunkt der Scarlatina Streptokokken;
auch hier kann man, wie bei den Anginen,
die leichten und schweren Formen in die
Erscheinung treten sehen, die ersteren un¬
gefährlich, passager, lediglich zu Rötung,
Schmerzhaftigkeit des Gelenkes mit Schwel¬
lung des Synovialgewebes führend, ein
Prozeß, der sich in Kürze wieder zurück¬
bildet, während die letzteren, die schweren
Erkrankungen, rapid und unter erheblicher
Schwellung des periartikularen Gewebes,
zur Vereiterung der Gelenke Anlaß geben.
Sie sind alsdann der Ausdruck pyämischer
Allgemeinerkrankung, gegen welche zumeist
auch energische chirurgische Eingriffe sich
als unwirksam erweisen. — Gegen die
leichteren Erkrankungsformen wendet man
sich schon um der Höhe des Fiebers willen
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Februar
Die Therapie der Gegenwart 1910
51
und um der Schmerzhaftigkeit willen, welche
die Affektion begleitet, gern an die An¬
wendung der Salizylprflparate. Wie bei
akuter Polyarthitis rheumatica wird man
Acid. salicylicum, oder Aspirin zur An¬
wendung bringen, hier beim Scharlach meist
auch mit gutem, dem gleichen Erfolg wie
beim Rheumatismus, und unter Anwendung
derselben gaben von 1—2—3 g pro die,
je nach Schwere der Affektion und Alters¬
stufe der Kinder. Leider werden die
schweren, die zur Eiterung fahrenden Er¬
krankungen von dem Mittel so gut wie gar
nicht beeinflußt, vielmehr gehen diese ihren
verhängnißvollen Weg; sie lassen sich auch
nicht, wie ich dies leider in einigen Fällen
zu beobachten vermochte, durch die ener¬
gischeste Anwendung von allgemeinen Ein¬
reibungskuren mittelst Unguent Argenti
colloidalis Ci6d£ beeinflussen. — Wir
werden alsbald auch auf die mit den Gelenk¬
affektionen hier, wie beim Rheumatismus,
einhergehenden Herzerkrankungen einzu-
gehen haben.
Vorerst sei indeß noch einer anderen,
als Glied der gleichen Streptokokkus¬
infektion angehörenden Komplikation, der
Otitis media gedacht, und der mit dieser
sich verquickenden Erkrankungen der
Nebenorgane des Ohres, des Processus
mastoideus und seiner Höhlen, des inneren
Ohres, der Gefäße bis hinauf an die
Schädelbasis, der Sinus des Schädels. —
Leichtere Mittelohrenerkrankungen sind,
wie bei dem Vorkommen der Anginen be¬
greiflich, ziemlich häufig beim Scharlach;
sie machen sich meist frühzeitig durch
Schmerzen, Schwerhörigkeit und vor allem
durch das Fieber bemerldich und ein auf¬
merksamer Arzt wird Qberdieß die häufige
Untersuchung des Ohres mittelst des
Spiegels beim Scharlach kaum je unter¬
lassen. — Man wird versuchen müssen,
sofern die Erscheinungen der Mittelohr¬
entzündung, Rötung des Trommelfells, Ver¬
wölbung und Empfindlichkeit sich kund
geben, durch Applikation von Eisblasen
auf Ohr und Umgebung und vielleicht auch
durch Einträufelungen von Carboiglyzerin
(1—2%) des Prozesses Herr zu werden.
Es glückt dies bei konsequenter Anwendung
auch in vielen Fällen. — Bei eingetretenen
Zeichen von Eiterung im Mittelohr, ins¬
besondere bei begleitenden hohen, oder
in der Höhe der Temperatur schwankendem
Fieber wird man keinen Augenblick zögern
dürfen, die Parazentese des Trommelfells
zu machen; die weitere Behandlung dürfte
dann die übliche mittelst antiseptischer
Mittel, Karbolglyzerin, Drainage mit Jodo¬
form- oder Xeroformgaze, Borsäurelösungen
usw. sein. — Bleiben die Nebenorgane des
Ohres intakt, der Processus mastoideus
frei von Schmerz und Schwellung, mäßigt
sich langsam die Eiterung, so darf man
hoffen, daß der ganze Prozeß ohne wesent¬
liche Schädigung abläuft. Anders, wenn
Druckschmerz am Processus mastoideus
und Schwellungszustände eintreten und
das Fieber intermittierenden Charakter
(echter Streptokokkenkurven) behält, dann,
meine Herren, seien Sie wohl auf der Hut.
Die Mittelohrentzündungen gehören dann
im Scharlach mit zu den allergefährlichsten
Komplikationen, weil unter rapider Ein¬
schmelzung des Knochens weitgehende
Eiterinfiltrationen, Veijauchung, Throm¬
bosen der Gefäße eintreten, die nach der
Schädelbasis sich fortsetzend zu pyämischer
Sinusinfektion mit Thrombose und der Ge¬
fahr allgemein pyämischer Infektion führen.
— Das alles kann im Scharlach so rapid
geschehen, daß man bezüglich der statt¬
gehabten Zerstörungen geradezu in
Schrecken gesetzt wird. Hier bleibt nichts
übrig, als schleunigstes kunstgerechtes
chirurgisch otiatrisches Eingreifen. Jede
Versäumnis kann den Tod oder zum min¬
desten den dauernden Verlust des Gehör¬
vermögens bei dem erkrankten Kinde nach
sich ziehen. In die detaillierten Fragen
der otiatrischen Technik beziehentlich der
weiteren Behandlung der Fälle kann ich
begreiflicherweise hier nicht eingehen; sie
liegen uns ferner und gehören tatsächlich
in das Gebiet wohlgeschulter Ohrenärzte.
— Was nun aber jeder Praktiker wissen
muß, ist die Kenntnis der Vorgänge am
Ohre selbst und die rechtzeitige Erkenntnis
der Gefahren, in denen der Kränke bei
der Erkrankung des Ohres schwebt. Sie
dürfen sich, meine Herren, nicht von
pyämischen Consequenzen der skarlatinösen
Mittelohrerkrankungen überraschen lassen;
Sie dürfen nicht durch Schüttelfröste und
Temperaturstürze erst aufmerksam gemacht
sein, daß der Kranke pyämisch zugrunde
zu gehen in Gefahr ist. —
Meine Herren! Ich gehe nicht des wei¬
teren ein auf eine Reihe von zum Teil sel¬
tenen, in manchen Epidemien freilich ge¬
häuft auftretenden Komplikationen, wie
Diarrhöen, Ikterus, Schwellung der Leber,
Bronchopneumonien, Pleuritis usw. Alle
diese werden entweder mit Abklingen der
Infektion spontan besser oder sie werden,
wo ein Eingreifen sich als notwendig er¬
weist, nach den üblichen Behandlungs¬
methoden und Indikationen behandelt,
ohne Rücksicht darauf, daß sie auf dem
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Original fram
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52
Die Therapie der Gegenwart 1910.
Februar
Boden der Scharlacherkrankung entstanden
sind.
Wir wenden uns vielmehr der bedeut¬
samsten aller Komplikationen, der Nephritis,
zu. Man sagt nicht zu viel, wenn man be¬
hauptet, daß von der zweiten oder zum
mindesten von der dritten Woche an der
Verlauf der Krankheit von der Beschaffen¬
heit der Niere dominiert wird. Darum ja
von vornherein die auf die Beschaffenheit
des Harnes gerichtete Aufmerksamkeit des
sachverständigen Arztes, darum auch die
Ihnen schon gekennzeichnete Notwendig¬
keit in der Strenge der Diät, der Abstinenz
von animalischer Kost. Ich darf Sie, meine
Herren, bezüglich der skarlatinösen Ne¬
phritis auf zwei aus dieser Krankenabtei¬
lung unserer Klinik hervorgegangenen Ar¬
beiten hinweisen, auf die im Jahre 1893
im Archiv f. Kinderheilkunde erschienene
Studie von meinem Assistenten Stamm,
die sich mit den anatomischen Verhält¬
nissen der Nierenentzündung und mit dem
Werdegange derselben beschäftigte, und
auf die von mir selbst publizierte im 33ten
Bande aus dem Jahre 1902. In letzterer
ist neben der anatomischen Seite der
Frage die klinische Pathologie und ins*
besondere auch die Therapie der skarlati¬
nösen Nephritis aufs eingehendste gewür¬
digt. Ich vermag auch kaum demjenigen,
was ich damals aus der Erfahrung und Be¬
obachtung heraus publiziert habe, wesent¬
lich neues hinzuzufügen, und möchte Sie
bitten» diese, wie ich glaube, sehr ein¬
gehende Studie sorgsam zu lesen, um sich
zu belehren. Was mich vielleicht heute
dazu drängt, auf die Frage der scarlati-
nöseu Nephritis noch einzugehen, ist die
nochmalige Erörterung der Prophylaxe der
Affektion, Es wird Ihnen nicht unbekannt
geblieben sein, daß seit einer Reihe von
Jahren therapeutische Versuche gemacht
werden, die Scharlachnephritis mittelst sol¬
cher Mittel, welche in den Harnwegen
antiseptische Wirkungen entfalten, zu ver¬
hüten, der Entstehung derselben vorzu¬
beugen. Ich erinnere Sie hier an die Vor¬
schläge vonWidowitz, zu diesem Zwecke
Urotropin zur Anwendung zu bringen,
Baläzs hat dafür das Helmitol empfohlen,
welches ebenso wie Urotropin im Harn
Formaldehyd abspaltet und dadurch anti-
septische Wirkungen zuwege bringen soll.
Seither sind die Meinungen der verschie¬
densten Beobachter über die Wirkung
dieser Mittel sehr voneinander abweichend
geblieben, so lehnt Schöneich nach Er¬
fahrungen an 340 Scharlachkranken die
Behauptung der Wirksamkeit des Urotropin
durchaus ab; die prophylaktische Dar¬
reichung von Urotropin hat nach seinen
Beobachtungen die Entstehung der Nephritis
nicht zu verhüfen, auch den Verlauf nicht
günstig zu beeinflussen vermocht; auch
Garlipp spricht sich in ähnlichem Sinne
aus. Auf der anderen Seite haben Pr ei¬
sich, Patschkowski, Buttersack,
Thompson und jüngst erst Grawitz
sich zum Teil sehr warm für die Anwen¬
dung des Urotropin ausgesprochen. Butter¬
sack empfiehlt sogar die fortlaufende Dar¬
reichung von dreimaligen Tagesgaben von
0,05—0,5 g Urotropin. — Ich verweise Sie
auf diese hier einschlägige Literatur. —
Wie steht nun, meine Herren, diese Frage
hier nach unseren Beobachtungen und bei
unserem Krankenmaterial? Lassen Sie
mich Ihnen zunächst die Tatsache betonen,
daß nichts schwieriger ist, als gerade beim
Scharlach derartige Fragen aus beschränk¬
ten kleineren Beobachtungsziffern zur Ent¬
scheidung zu bringen. Die Epidemien
haben, ohne daß wir wissen warum, wesent¬
lich von einander verschiedene Charaktere;
eine Scharlachepidemie tritt von vornherein
mit zahlreichen Nephritisfällen auf, in einer
anderen kommt Nephritis kaum je zur Be¬
obachtung; was aber noch merkwürdiger
ist, das ist, daß in derselben Epidemie die
Zahl der Nephritiden auffallend wechselt;
so kommt es vor, daß wir hier zuweilen
monatelang keinen Fall von Nephritis zur
Beobachtung bekommen, während plötzlich
die Nephritiden gehäuft erscheinen; ganz
gewiß ist man hierbei nicht allein von dem
unbekannten „Etwas* in dem Genius epi-
demicus abhängig, sondern auch der Zufall
spielt dabei mit, sodaß wir eine Zeitlang
von Hause aus diätetisch besser besorgte,
besser verpflegte, ein andermal diätetisch
schlecht behandelte, vernachlässigte Kinder
zur Beobachtung bekommen; auch die kon¬
stitutionelle Beschaffenheit der Kinder mag
überdies eine Rolle spielen. So ist in sich
schon, unter der anscheinend möglichst
gleichmäßigen Qualität der Beobachtungen
an ein und derselben Heilstätte kaum ein
vergleichbares Material zu erhalten. So»
viel steht ein für allemal fest, und ich habe
dies in der oben erwähnten Arbeit bereits
präzis ausgesprochen, daß 1. die Zahl der
bei unserem Regime im Krankenhause
selbst entstehenden Nephritiden eine mini¬
male ist, 2. und dies ist vielleicht noch
wichtiger, daß bösartige Nephritiden mit
malignem Verlauf, Nephritiden, die Hydrops
und urämische Attacken machen und in
diesen Affektionen zum Tode führen, bei
uns nahezu unbekannt sind. — Lassen Sie
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Februar
Die Therapie der Gegenwart 1910.
53
uns einmal unser Krankenmaterial nach
dieser Richtung hin prüfen. Wir haben in
den Jahren 1906, 1907, 1908 = 729 Schar¬
lachfälle zu behandeln gehabt. Von diesen
sind 88 bereits mit NephHtis ins Kranken¬
haus hineingekommen. — In dem Kranken¬
hause selbst haben 36 Nephritis im Ver¬
laufe des Scharlachs bekommen, das ist
nach Abzug der 88 Fälle bei 641 Fällen
5,6%. Von den 36 Fällen haben wir 26
vollkommen geheilt zu entlassen vermocht.
Kein einziger der 36 Fälle hat einen urä¬
mischen Insult gehabt, und Hydrops kam
kaum je anders, und auch dies vereinzelt,
als in Form leichter Oedeme um die Augen
und an den Knöcheln zum Vorschein. —
Gestorben sind von den 36 Nephritikern 4;
die Sektion ergab bei einem der Verstorbe¬
nen Tuberkulose der Mesenterialdrüsen
und tuberkulöse Geschwüre im Ueum; bei
einem anderen eine echte croupöse Pneu¬
monie; bei dem dritten eine schwere ne¬
krotische Angina mit septischen Infarkten
in der Lunge. Die Sektion des vierten
durfte nicht gemacht werden, die klinische I
Diagnose war: Angina Ludovici, septische
Allgemeininfektion.
Kein einziger Fall ist an den Nephritis
oder den Folgen derselben gestorben, ja |
auch nur an den ernsteren Folgen der Ne¬
phritis erkrankt.
So unsere Beobachtungen. Wenn ich
dieselben, ohne gerade etwa vergleichen
zu wollen, den Allgemeinbeobachtungen
von Scharlach an anderen Heilstätten,
gegenüberstelle, so halten sie nicht allein
jeden Vergleich aus, sondern ich glaube
kaum, daß es mit irgend einer Behandlungs¬
methode möglich gewesen wäre, zu einem
besseren Ergebnis zu kommen.
Jetzt, meine Herren, werden Sie mich
verstehen, daß ich mich von der angeblich
spezifisch prophylaktischen Therapie mittels
Helmitol oder Urotropin ferngehalten
habe. Ich will die Mittel nicht perhorres-
zieren und werde vielleicht auch gelegent¬
lich einmal eine Versuchsreihe aufnehmen;
vorerst habe ich aber keinen Anlaß, von
gut erprobten Methoden unserer Therapie
abzuweichen, und immerhin zweifelhafte
Medikamente in Anwendung zu bringen.
Wir behandeln die Nephritis höchst
einfach, mit konsequenter strenger Milch¬
diät, und mit täglich oder zum mindesten
je nach Bedarf gegebenen Schwitzbädern.
Damit verhütet man zuverlässig das Auf¬
treten von Hydrops, und scheidet so alle
häßlichen den Hydrops so gern begleiten¬
den Komplikationen, wieBronchitis, Broncho¬
pneumonien, Pleuritiden, Phlegmonen usw.
aus. Nur selten werden zur Anspornung
der Diurese andere Mittel als der Gebrauch
alkalischer Wässer, wie Wildunger, Fachin-
ger, Vichy nötig.
Von eigentlicher Diureticis, wie Theocin,
Diuretin ist meines Wissejis nie Gebrauch
gemacht worden, und ich widerrate Ihnen,
diese sonst für Herzkranke so hoch von
mir geschätzten Mittel, bei akuter Nephritis
anzuwenden.
Bei allzu gesteigerter Diurese lasse ich
sogar die Milchmenge auf 1—1*/2 1 pro
Tag beschränken und lasse dafür den
Kranken Breiformen, Griesbrei, Reisbrei
verabreichen. Mit dieser einfachen diäteti¬
schen Therapie bekämpfen Sie die Mehr¬
zahl der Nephritiden, wenigstens die ein¬
fachen, und wenn Sie sie früh in Behand¬
lung bekommen. — Schwieriger werden
nun freilich die Verhältnisse, wenn starke
hydropische Kranke in Ihre Behandlung
kommen, oder wenn Anomalien des Her¬
zens die Nierenentzündungen begleiten. Sie
werden dann beim Hydrops neben Schwitz-
I bädern vielleicht mitunter von diuretischen
Mitteln Gebrauch machen müssen, und bei
hydropischen Kranken, die gleichzeitighoch¬
fiebrig sind, bei denen Sie also es nicht
| wagen wollen, heiße Schwitzbäder anzuwen¬
den, werden Sie wohl gar den Mut haben
müssen, den Kranken in ein kaltes Laken
einzuschlagen und in der kalten Einpackung
zum Transpirieren zu bringen. Es sind Mi¬
nuten ernster, schwerer Entschließung, bei
dem unter Dyspnoe, schlechtem Puls, und
Stauungssymptomen, wie Schwellung der
Leber, Milz usw. schwerleidenden Kranken
zu so heroischen Anwendungen schreiten
zu müssen, und doch werden Sie, wenn
Sie mit Ausdauer und steter Beobachtung
der Kräfte, dem Kranken zur Seite sind,
vielleicht auch zur ernsten Zeit ihm selbst
einen Schluck Champagner gönnen, eine
Kampferinjektion dazwischen schieben,
wundervoll glückliche Erfolge, selbst in
anscheinend schon verzweifelten Fällen er¬
leben. Ich will hier nicht, meine Herren,
vieles wiederholen, was ich bereits in
meiner Ihnen zitierten Abhandlung nieder¬
gelegt habe; indes soll doch Eines Erwähnung
finden, weil es mich noch auf die Berück¬
sichtigung der Herzanomalien führt, welche
die Nephritis begleiten; d. i. die Kombina¬
tion der drohenden Anurie bei schwerer
haemorrhagischer Nephritis mit myokardi-
tischen Störungen, mit Dilatatio cordis
und vielleicht auch mit Endokarditis.
Hier muß der Gebrauch der Digitalis in
ausreichender Gabe, sei es, daß Sie nun
Digitalisinfuse oder Dialysate oder auch
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54
Die Therapie der Gegenwart 1910.
Februar
Digalen, letzteres selbst in intravenöser
Anwendung zu Hilfe nehmen, Schwitzbad
oder Einpackungen unterstützen.
Freilich können Ihnen von mir ihr den
einzelnen Fall allgemeingültige bestimmte
Vorschriften nicht gegeben werden; hier
liegt alles in der Hand des geschickten,
sorgsamen Arztes, der auch wohl die
Dosierung der Mittel nach der augenblick¬
lichen Sachlage zu modifizieren verstehen
muß. Nur tasten Sie auch nicht vielgeschäftig
umher, springen Sie nicht von einem Mittel
zum andern, von Digitalis zum Koffein,
vom Koffein zu Diuretin oder Theocin usw.;
bei diesen schweren, acut lebensbedrohen¬
den Krankheitserscheinungen kann vielmehr
nur ruhiges, konsequentes Handeln dem
Kranken zum Heil werden.
So auch bei den erschreckend herein¬
brechenden urämischen Symptomen, bei
Erbrechen, Amblyopie,Koma und Konvul¬
sionen. Ich habe frühzeitig schon die
Anwendung von Blutziehungen empfohlen
und habe seit Jahren in der Anwendung
der Venaesektion das eigentliche Heil
mittel der urämischen gefunden und ge¬
lehrt. Tatsächlich reißt die Blutentleerung
von 80—100—150 ccm Blut, je nach dem
Alter und der Konstitution des Kindes,
dasselbe aus der akuten Lebensgefahr.
Ich komme wohl, meine Herren, gelegentlich
der Besprechung der Behandlung derNieren-
erkrankungen einmal noch ausführlich auf
die Uraemie und deren Therapie zurück.
Hier möchte ich es mit diesen Anmerkungen
genug sein lassen.
Damit, meine Herren, habe ich, wie ich
eingangs Ihnen sagte, gewiß nicht die
Therapie des Scharlachs erschöpft. Hun¬
dertfältig sind die Variationen von Krank¬
heitsprozessen, die sich im Scharlach an
Haut, Schleimhäuten und serösen Häuten
darbieten. Die sekundären (Streptokokken-)
Infektionen verschonen, da das Virus in
Blut- und Lymphbahnen * sich befindet,
kaum irgend einen Körperteil, kaum irgend
ein Gewebe; so hieße es, alles erdenklich
Pathologische in die Betrachtung der
Therapie des Scharlachs mit hineinziehen,
wollte man allen Vorkommnissen gerecht
werden. Das Wichtigste glaube ich Ihnen
mitgeteilt zu haben, und darf nur noch
hinzufügen, daß Sie auf Kinder, die Schar¬
lach überstanden haben, noch lange Zeit
ein wachsames Auge haben müssen, daß
Sie insbesondere den Harn stetig unter
Kontrolle behalten müssen, weil sich her¬
ausgestellt hat, daß die chronischen Nephri¬
tiden des kindlichen Altuss, und auch viele
Herzaffektionen dem Scharlach ihren Ur¬
sprung verdanken. Daher sei man vorsichtig
genug, Kinder nach überstandenen Scharlach
nicht rauhen klimatischen Einwirkungen
aussetzen zu wollen, selbst mit dem Ge¬
brauch von Seeklima und Seebädern, auch
vor Aufenthalt in feuchter Waldgegend
zurückzuhalten. Scharlachrekonvaleszenten
dürften Sie am besten an milde, sonnige
Plätze schicken, in Deutschland etwa nach
Thüringen, in den Taunus oder die nicht
zu tief im Walde liegenden Kurorte des
württembergischen und badischen Schwarz¬
waldes. In Tirol und Schweiz nur in mitt¬
lere Höhenlagen, die möglichst frei von
Nebel und raschen Wetterstürzen sind,
Dies alles gehört mit in das Gebiet
der Behandlung der chronischen Nieren¬
erkrankungen, auch davon, meine Herren,
ein andermal Ausführlicheres und Ein¬
gehenderes.
Das Sauerstoffbad in der ärztlichen Hauspraxis.
Von Dr. Julius Baedeker, prakt. Arzt in Berlin.
In der Julinummer 1909 der „Ther. der
Gegenwart" veröffentlichte Stabsarzt Dr.
Scholz einige von ihm im hydrotherapeuti¬
schen Institut der Universität Berlin ge¬
sammelte Erfahrungen über Sauerstoffbäder.
Als wesentlichstes Moment dieser Arbeit
erschien mir die Tatsache, daß nach der¬
selben Sauerstoffbäder überhaupt eine
wichtige differente physiologische und da¬
her bei richtiger Anwendung auch thera¬
peutische Wirkung ausüben.
Deshalb hielt ich es für geboten, auch
außerhalb der Klinik, lediglich auf dem
Felde der allgemeinen ärztlichen Haus¬
praxis, einmal nachzuprüfen, ob und unter
welchen Indikationen Sauerstoffbäder ge¬
eignet seien, das therapeutische Arsenal
des praktischen Arztes zu bereichern.
Gerade auf dem Gebiete der häuslichen,
das heißt in der Wohnung des Patienten
durchzuführenden Badekuren, hat sich ja
in den letzten Jahren ein neues, sehr
dankbares Feld für die Tätigkeit des prak¬
tischen Arztes ergeben!
Seit Jahren lasse ich mit bestem Er¬
folge die bekannten künstlichen Kohlen¬
säurebäder „mit den Kissen" im Hause
nehmen.
Was nun speziell die Handhabung der
Sauerstoffbäder in der Wohnung des
Patienten betrifft, so verfuhr ich dabei
also:
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Februar
Die Therapie der Gegenwart 1910.
55
Die Badekur wird möglichst zu einer
Zeit vorgenommen, wo der Patient einen
mehrwöchentlichen Urlaub hat, den man
ihm, wenn angflngig, durch ärztliches Attest
verschafft! Während der Urlaubszeit
können wir zahlreiche der Badekur ent¬
gegenwirkende, oft in der Berufsarbeit zu
erblickende ungünstige Bedingungen aus¬
schalten und ihn unter die möglichst
günstigsten Bedingungen bezüglich eines Er¬
folges stellen. Dazu gehört, daß der
Patient nicht badet, wenn die vitale Tages¬
energie seiner Nerven schon zu 2 /$ ver¬
braucht ist, sondern zu einer Zeit, wo sie
noch fast unverbraucht ist, das heißt,
zwischen 10 und 12 Uhr vormittags!
Anfangs, um erst mal die individuelle
Wirksamkeit des Bades festzustellen, be¬
suchen wir den Patienten behufs Unter¬
suchung vor und tyg Stunde nach dem
Bade. Das erfordert nicht so viel Zeit,
wie es den Anschein hat. Wir lassen
nach vorheriger Angabe das Bad bis zum
Einsteigen und Hineinlegen des Kissens
mit dem Katalysator fertig bereit halten,
besuchen bei Beginn unserer Vormittags¬
besuchstour unseren Badepatienten, geben
unsere Vorschriften betreffs Dauer und
Verhalten nach dem Bade nach vorheriger
Untersuchung und gehen dann wieder fort,
um inzwischen einen oder mehrere andere
in der Nachbarschaft des Badenden woh¬
nende Patienten zu besuchen. V 2 Stunde
nach dem Bade suchen wir unseren Pa¬
tienten zwecks unmittelbarer Kontrolle der
Wirkung wieder auf und, wenn nötig,
lassen wir ihn am Nachmittag noch in die
Sprechstunde kommen, um die spätere
Nachwirkung festzustellen.
Unmittelbar nach dem Bade ruht der
Patient 1—2 Stunden in liegender Lage,
ohne daß eigentliches Schlafen notwendig
ist Ebenso wenig notwendig ist es aber,
wie es häufig geschieht, direkt das Gegen-
ankämpfen gegen den Schlaf nach dem
Bade anzuordnen. Eine kleine Mahlzeit
nach dem Bade, Tasse Kakao, Milch,
Bouillon, empfiehlt sich; eine größere
Mahlzeit vermeide man 2 Stunden vor wie
nach dem Bade. Längere Spaziergänge
von mehr als einer Stunde empfehlen sich
bei der Mehrzahl der für Sauerstoffbäder
in Betracht kommenden Patienten nicht,
wenigstens nicht am Badetage.
Wer am Vormittag gebadet hat, mache
nachmittags zwischen 4 und 7 Uhr bei
gutem Wetter einen halb- bis einstündigen
Spaziergang. Bei Herzneurasthenikern ist
das Verbot des Rauchens, des Genusses
von Bier — mit Ausnahme von bis 1°/o
Alkohol haltigem Malzbier — und anderen
alkoholischen Getränken, sowie koffein¬
haltigen Getränken nach 5 Uhr nachmittags
sehr zu empfehlen.
Unter diesen Bedingungen pflegt die
Kur mit Sauerstoffbädern nach meinen Er¬
fahrungen am meisten Effekt zu haben.
Doch habe ich bei Patienten mit halb¬
tägiger Berufsarbeit, z. B. Lehrern mit
nur Vormittagstätigkeit, Bankbeamten mit
Tätigkeit bis 3 Uhr — die dann nach dem
Essen bis V 26 Uhr erst ruhen mußten — auch
Erfolge mit Sauerstoffbädern gehabt, die erst
nachöUhr nachmittags genommen wurden.
Bäder unmittelbar vor dem Schlafen¬
gehen machten mir den Eindruck, als wenn
diese Tageszeit den Erfolg beeinträchtige;
auch bei Anwendung gegen Schlaflosigkeit
ließ ich nicht nach 6*/2 Uhr baden.
Vor meinen therapeutischen Anwen¬
dungen suchte ich zunächst die physio¬
logische Wirksamkeit der Sauerstoffbäder
festzustellen. Die objektive Kontrolle er¬
streckte sich hierbei naturgemäß auf die
Kreislauforgane respektive Atmung, da
hier dem praktischen Arzt noch am ehesten
objektive Untersuchungsmethoden, die ein¬
fach und schnell anzuwenden sind, zur
Verfügung stehen.
Vor allem also kontrollierte ich:
1. Pulszahl und Stärke
2. Blutdruck an der Radialis
3. Beschaffenheit der Herztöne
4. Herzgrenzen
5. Dauer der Atemzüge
6. Tiefe der Atemzüge
vor,
5 Minuten
sowie
1 Stunde
nach
dem Bade.
Zum Messen des Blutdrucks empfiehlt
sich für den praktischen Arzt der Sphygmo¬
manometer nach Herz (Wien).
Die weiter angeführten diagnostischen
Kontrollen führt der praktische Arzt nach
den bekannten Methoden der auskultativen
Perkussion respektive Pulspalpation aus.
Für die Untersuchung der Herzdämpfung
halte ich die übliche Perkussionsmethode
wegen der feinen Größenunterschiede, die
hier meist in Betracht kommen, als etwas zu
grob. Da jedoch für den praktischen Arzt
die Untersuchung mittels des Orthodia-
graphen nach Moritz in der Regel prak¬
tisch nicht durchführbar ist, so muß er
sich leider meist auf die Perkussion be¬
schränken. Nach meinen eigenen persön¬
lichen Erfahrungen halte ich bei den dazu
geeigneten Personen — und da wir es
hier zunächst mit physiologischen Ver¬
suchen zu tun haben, konnte ich mir dazu
ja die geeigneten Personen aussuchen —
zur Feststellung der Herzbreite die so¬
genannte phonendoskopische Herzunter¬
suchungsmethode für ganz ausgezeichnet.
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56
Die Therapie der Gegenwart 1910,
Februar
Verschiedenes
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was voller.
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was weniger ge¬
spannt.
eidet an Menor¬
rhagien.
öte der Sklerae
nach Bad nach¬
gelassen.
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niger Schlagen
der Temporalis.
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weniger pulsie¬
rend.
atte kurz vorher
Digitalisbehand¬
lung erhalten.
n Herzklopfen
leidend.
eidet an Kon¬
gestionen zum
Kopf.
Leidet sehr an
Neuralgien.
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Menstruationsersehei-
nungen. Nasenbluten.
eidet an Frösteln
in den Gliedern.
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Die Therapie der Gegenwart 1910.
57
Mir ist völlig bekannt, welche begrün¬
deten Angriffe die phonendoskopische
Untersuchungsmethode erfahren hat. Trotz¬
dem sind bei Personen mit minimalem
Fettpolster und minimaler Brust-, ins¬
besondere Pektoralismuskulatur die Fehler¬
quellen, die selbst die Autoren dieser
Methode, Hornung und Smith, tragisch
in die Irre führten, nach gründlicher
Uebung der Methode, ausgeschlossen. Ich
selbst habe als Leiter einer Anstalt für
Herzkranke hunderte Male meine phonendo¬
skopisch gewonnenen Herzbilder mit dem
Orthodiagraphen kontrolliert, und bis auf
den Millimeter deckten sich beide Bilder
in allen geeigneten Fällen. Geeignete
Fälle sind nach obigem vor allem jugend¬
liche Personen bis 18 Jahre, insbesondere
magere Frauen, und an diesen habe ich
auch meine Untersuchungen über die Wir¬
kung der Sauerstoffbäder auf die Herz¬
größe mit Vorliebe gemacht.
In vorstehender Tabelle nun habe ich das
Resultat meiner physiologischen Versuche
über Sauerstoffbäder, das heißt der Wir- i
kung des einzelnen Bades, im Gegen¬
satz zu der weiter untenstehenden einer
längeren Behandlung, angeführt. Es be- >
trifft zumeist jugendliche Personen mit
meist leichteren oder schwereren neur-
asthenischen Beschwerden, zwei Personen ,
mit organischen Herzfehlern, zwei mit ;
Morbus Basedow, eine mit Arterio¬
sklerose. |
Die Resultate stammen vom dritten bis ,
fünften Bad, da bei einigen zunächst eine |
gewisse Idiosynkrasie gegen Baden über¬
haupt überwunden werden mußte.
Wie aus der Tabelle ersichtlich, suchte
ich mir zu den dort aufgezeichneten Unter¬
suchungen vorwiegend Personen aus, bei
denen
1. die Blutdruckbestimmung einen hohen
Blutdruck ergab, wozu mich die Resultate
von Dr. Scholz anregten,
2. wie schon erwähnt, Personen, bei
denen das Fehlen von Fettpolster respek¬
tive Pektoralismuskulatur Fehlerquellen bei
der phonendoskopischen und perkutorischen
Herzgrenzenbestimmung möglichst aus¬
schloß. Die dort angegebenen Herzgrenzen
entsprechen der sogenannten „relativen“
Herzdämpfung.
Als wichtigstes Resultat ersieht man,
daß bei Personen mit erhöhtem Blut¬
druck — über 150—160 — eine Ernie¬
drigung desselben durch das Sauerstoff-
bad bewirkt wurde, die nach einer Stunde
zwar nachließ, aber immer noch in ge¬
wissem Grade nachzuweisen war.
Bei Personen mit normalem oder nie¬
drigem Blutdruck — unter 160 — kon¬
statierte ich keine oder nur so geringe
Veränderungen desselben, daß diese unter
Umständen durch kleine, nicht völlig zu
vermeidende, Fehler in der Messung zu
deuten wären.
Ferner fand ich in den Fällen, wo der
Blutdruck sich wesentlich veränderte, meist
auch eine Aenderung der Herz grenzen
durch das Sauerstoffbad, nämlich ein Zu-
saramenrücken der linken und rechten
Herzgrenze von zusammen 1 —2 cm. Diese
Verkleinerung der Herzgrenze hielt in
den meisten Fällen eine Stunde lang an.
In Fällen, wo keine wesentliche Verände¬
rung des Blutdrucks stattfand, oder wo
trotz hohem Blutdruck die Herzgrenzen
schon an sich ziemlich niedrige Masse er¬
gaben, wurde keine oder keine wesent¬
liche Verengerung der Herzgrenzen fest¬
gestellt.
Wichtig ist schließlich noch die Ver¬
langsamung des Pulses durch das Sauer¬
stoffbad in Fällen, wo gleichzeitig der
Blutdruck erniedrigt wurde, sowie das
Tieferwerden und Längeranhalten der At¬
mung in diesen Fällen.
Die in obiger Tabelle erwähnten wie
auch die anderweitigen Folgen des Sauer¬
stoffbades halten zunächst, das heißt
nach den ersten Bädern in nachweisbarem
Maße nur einige Stunden vor.
Je häufiger das Sauerstoffbad wieder¬
holt wird—vorausgesetzt, daß diese Wieder¬
holungen in nicht zu großen Zwischen¬
räumen einander folgen —, desto nach¬
haltiger pflegt die Wirkung zu sein. Nach
einer Anzahl von durchschnittlich 15—20
Bädern können wir, wenn wir die richtigen
Fälle aussuchten, meistens sehr nachhaltige,
ja nach menschlichem Urteil sogenannte
dauernde physiologisch wie therapeutisch
höchst bedeutende Wirkungen feststellen.
Es möge deshalb hier eine Anzahl beson¬
ders interessanter therapeutischer Resultate
mitgeteilt sein, die zum Teil als Dauer-
resultate einer längeren Sauerstoffbadekur
bei denselben Personen zu betrachten sind,
von denen in obiger Tabelle zunächst nur
die physiologische Wirkung eines ein¬
zelnen Bades angeführt wurde.
Fall 1. Herr Robert M., Lehrer, 32 Jahre,
leidet an Atemnot, Blutandrang zum Kopf,
Schmerzen in der Herzgegend. Kein organi¬
sches Herzleiden, Blutdruck 175 vor Beginn
der Badekur, Herzbreite 14,5.
Nach 12 Sauerstoff bädern Atemnot dauernd
gehoben, Kongestionen zum Kopf nicht mehr
beschwerlich. Schmerz in Herzgegend ganz
beseitigt. Herzbreite nachhaltig 13—13,5, Blut¬
druck nachhaltig 165.
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Februar
Die Therapie der Gegenwart 1910.
Fall 2. August F., 14 Jahre alt, steht vor
Konfirmation, anämisch, leidet an täglichem
Nasenbluten, kalten Füßen, Kopfschmerz.
Kein organischer Herzfehler. Herzbreite 11,
Blutdruck 150.
Nach 14 Sauerstoffbädern Kopfschmerz
und Nasenbluten ganz fort, Kältegefühl an
Füßen subjektiv und objektiv geringer. Herz¬
breite und Blutdruck nicht verändert.
Fall 3. Obige Tabelle Fall 9, Herr August
M.. 50 Jahre, Hausbesitzer, Arteriosklerose
incipiens, starke Kongestionen zum Kopf, ins¬
besondere Sklerä und Wangen stark gerötet,
leidet an kalten Füßen, Aufregungszuständen.
Blutdruck bei Beginn der Kur 180, Herz-
breite 17 cm. Klappen: Herztöne klappend,
aber nicht unrein.
Nach 20 Sauerstoffbädern Sklerä gar nicht
mehr gerötet, Wangen weniger hyperämisch,
Kälte an Füßen ganz verschwunden, bedeutend
ruhigeres Temperament wird zur Schau ge¬
tragen.
Blutdruck nach Ende der Kur dauernd 165;
Herzbreite dauernd 15,5, Herztöne nur wenig
klappend.
Fall 4. Obige Tabelle Fall 3, Frau Frieda
M., 23 Jahre alt, Menses treten sehr profus auf
und halten 8 Tage an; leidet an Schlaflosig¬
keit. Blutdruck vor Beginn der Kur 190, Herz-
breite 14 cm. Nach 10 Sauerstoff bädern wegen
beginnender Menses Badekur ausgesetzt. Diese
ersten Menses während der Kur halten 6 Tage
an und sind nach Angabe der Frau entschieden
weniger profus wie sonst stets. 3 Tage nach
Aufhören dieser Menses wird Badekur fort¬
gesetzt und weitere acht Bäder genommen.
Dann wird mit Baden wieder ausgesetzt und
die neue Menstruation abgewartet, die nach
3 Tagen sich zeigt. Dieselbe dauert nur
4 Tage im ganzen und ist deutlich weniger
profus als sonst auch geringer als die vorige
Menstruation. Dann wird 4 Tage nach Be¬
endigung dieser Menstruation die Badekur
noch um 3 Bäder fortgesetzt, sodaß im ganzen
21 Sauerstoffbäder genommen wurden.
Die darauf und weiterhin folgenden Menses
überdauern jetzt nie 5 Tage und sind von
mittlerer Ergiebigkeit. Ganz zweifellos ist
außerdem die Schlaflosigkeit der Frau
eheilt. Vor Beginn der Kur konnte die
rau oft 10 Nächte nacheinander — weil sie
beständig es in den Ohren pulsieren hörte —
nicht schlafen ohne Schlafmittel. Nach der
Kur hat die Erscheinung dieses Pulsierens
und damit die Schlaflosigkeit ganz aufgehört,
schläft, ohne zu erwachen, 7 Stunden.
Blutdruck nach Ende der Kur dauernd 170,
Herzbreite 13 cm.
Fall 5. Walter H. — obige Tabelle Fall 6 —,
17 Jahre alt, Insuffizienz der Aortaklappe!
Starkes Pulsieren der Karotiden, fühlt beim
Liegen alsbald Brausen im ganzen Kopf, das
Schlaf völlig raubt.
Blutdruck vor Kurbeginn 200, Herzbreite 14,
Puls 100 in der Minute, in der Minute 4 bis
5 Arythmien.
Nach 17 Sauerstoffbädern Geräusch an
Aortaklappe weniger stark. Nachlassen des
Brausens im Kopf bei Beginn des Einschlafen-
wollens. Sehr erhebliche Besserung der
Schlaflosigkeit. Karotiden pulsieren weniger
rasch und deutlich.
Blutdruck dauernd 175—185, Herzbreite 13,5,
Puls 92 in der Minute, selten mehr als
1 Arythmie in der Minute. Bedeutende Besse¬
rung des subjektiven Wohlbefindens, insbeson¬
dere auch der Atembeschwerden.
Fall 6 . Siehe obige Tabelle Fall 8 . Frau
Else B., 31 Jahre alt. Kein organisches Leiden.
Bekommt beim Treppensteigen Herzklopfen,
kann nachts infolge Herzklopfens nicht
schlafen. Blutdruck vor Beginn der Kur 175,
Herzbreite 13,5.
Nach 14 Sauerstoff bädern Schlaf dauernd
ausgezeichnet, auch am Tage, insbesondere
beim Treppensteigen kein Herzklopfen.
Blutdruck dauernd 160, Herzbreite 13.
Fall 7. Obige Tabelle Fall 10, Fr. Marga¬
rete G., 48 Jahre alt, Klimakterium, leidet sehr
an Neuralgien, besonders Interkostal-, sowie
Subskapularisneuralgien. Krankhafter Auf¬
regungszustand. Schlaflosigkeit.
Blutdruck vor der Kur 155. Herzbreite 13,5.
Nach 12 Sauerstoffbädern Schlaf stets 5 bis
6 Stunden meist ununterbrochen. Subskapu-
larisneuralgie ganz geheilt, Interkostalneuralgie
sehr erheblich gebessert. Fühlt sich viel
ruhiger.
Blutdruck und Herzbreite unverändert.
Fall 8 . Obige Tabelle Fall 4, Frau Rosa B.,
30 Jahre alt, Morbus Basedowii. Subjektiv:
leidet an Herzklopfen, Kopfschmerzen, Schlaf¬
losigkeit.
Vor der Kur beträgt Blutdruck 200, Herz-
breite 15 cm. Puls 120.
Nach 16 Sauerstoffbädern Schlaflosigkeit
völlig gebessert, Kopfschmerzen desgleichen,
Herzklopfen nur noch sehr selten.
Struma und Protusio bulbi scheinen ent¬
schieden weniger ausgesprochen als vor
der Kur.
Blutdruck dauernd 170—180, Herzbreite
14 cm. Puls selten über 100.
Fall 9 . Kuno B., 25 Jahre, Kaufmann, kein
organisches Leiden. Klagt über Kälte an
Händen und Füßen, in Verbindung damit
Rheumatismus in Waden, Wadenkrämpfe und
Oberarm. Bei jeder Barometerschwankung
unerträgliche Ischiasschmerzen. Schlaf sehr
schlecht. Blutandrang zum Kopf.
Blutdruck vor der Kur 160, Herzbreite
13 cm. Puls 86 .
Nach 10 Sauerstoffbädern hat die Kälte¬
empfindung in den Extremitäten und damit
die rheumatischen Beschwerden völlig nach¬
gelassen, desgleichen die Kopfkongestionen.
Schlaf ist auch gebessert. Bei den vielfachen
Barometerschwankungen, die in den nächsten
5 Wochen nach der Kur auftreten, hat sich
Ischias nur einmal, und zwar sehr wenig be¬
merkbar gemacht.
Blutdruck und Herzbreite unverändert. Puls
70—74. __
Fall 10. Wilhelm G., 20 Jahre. Bronchial¬
asthma, Interkostalneuralgie in Verbindung mit
objektiver und subjektiver Kälte an der Körper¬
stelle der Neuralgien. Wöchentlich 2 —3 Asthma¬
anfälle stets nachts. Blutdruck vor der Kur
185, Herzbreite 15 cm. Puls 70.
Nach 17 Sauerstoffbädern haben asthmati¬
sche Anfälle entschieden nachgelassen, treten
durchschnittlich nur alle 14 Tage einmal auf,
also 4 —6 mal seltener. Neuralgien und Kälte
der betreffenden Körperstellen ganz ver¬
schwunden. Blutdruck dauernd 170, Herzbreite
14 cm, Puls 65—70.
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Februar
Die Therapie der Gegenwart 1910.
59
Im großen und ganzen sprechen diese 1
Falle für sich. Besonders hervorgehoben I
zu werden verdient noch, daß sich aus |
ihnen ergibt, daß die Möglichkeit thera¬
peutisch erfolgreicher Sauerstoff Bade- j
kuren durchaus nicht auf Personen mit |
•erhöhtem Blutdruck beschränkt ist |
und daß andererseits der objektive Nach¬
weis eines dauernden Sinken des Blut¬
druckes durch die Kur durchaus nicht I
die unerläßliche Vorbedingung für einen j
Dauer-Erfolg der Sauerstoff Badekur ist.
Im Gegenteil ergeben Fall 2, Fall 7 und
Fall 9, daß gerade Störungen von seiten
des Nervensystems, insbesondere Neuralgien I
und Schlaflosigkeit, sowie Störungen von 1
seiten des Zirkulations-Apparates — Nasen¬
bluten, kalte Extremitäten, Kongestionen —
auch bei solchen Personen durch Sauer¬
stoff-Badekuren gebessert und geheilt
wurden, deren Blutdruck von Anfang an
völlig oder nahezu normal war und auch
durch die Kur gar nicht oder fast gar nicht
beeinflußt wurde.
Jedoch erscheinen mir Personen, deren I
Blutdruck sehr erheblich unter der
normalen Größe liegt, insbesondere mit |
Mitral-Fehlern behaftete und Personen mit
•direkt bedrohlichen Anämieen nicht ge- j
eignet zu Sauerstoff-Bädern. j
Auch Neurastheniker, deren Blutdruck
sehr erheblich unter der Norm liegt,
sollen nicht mit Sauerstoff Bädern behandelt
werden. Sonst erschien mir aber gerade
das große Heer der Neurastheniker und
Herz-Neurastheniker mit normalem oder
•erhöhtem Blutdruck als ganz hervorragend
geeignet zu erfolgreichen Sauerstoff Bade¬
kuren. Gegen Schlaflosigkeit undBronchial-
Asthma erscheinen mir Sauerstoffbäder
geradezu als Spezifikum, umsomehr, als
man gerade bei Bronchialasthma so sehr
oft Blutdruckerhöhung finden wird. Von
Klappenfehlern liegen Aorta-Insuffizienz
sehr, Mitralfehler weniger günstig für
Sauerstoffbäder.
Ganz besonders aussichtsreich ist ferner
die Prognose der Sauerstoff-Bade-Therapie
bei morbus Basedow, sowie bei Arterio¬
sklerose, sofern sie noch nicht Coronar-
Sklerose und Blutdruckerniedrigung zeigt.
Auf die überaus günstige Wirkung auf Neu¬
ralgien und Blutzirkulations-Störungen —
— dazu gehören auch Menstruations-Stö¬
rungen — wurde schon oben hingewiesen.
Auch mehrere Fälle von chronischen
Gelenk- und Muskel Rheumatismus reagier¬
ten auf die Sauerstoff badekur überraschend
schnell mit völligem Auf hören der subjek¬
tiven und objektiven Symptome.
Um noch einige technische Winke zu
geben — das wichtigste wurde schon weiter
oben gesagt — so ist vor allem nötig, daß
man die Gewißheit einer wirklich reichlichen
und die Badezeit über im Wasser sich
haltenden Sauerstoffmenge hat. Vor allem
sind die Sauerstoff-Bomben ganz von der
Hand zu weisen, da im Gegensatz zur
Kohlensäure gerade Sauerstoff in gas¬
förmiger Zuführungsform sofort an die
Wasserobei fläche gleitet, ohne daß eine
irgendwie nennenswerte Menge vom Wasser
resorbiert wird. Nur chemisch zube¬
reitete Sauerstoffbäder mit Sauerstoffent¬
wicklung in statu nascendi lassen eine
spezifische Wirkung erwarten, die auch die
Badewannen in keiner Weise angriffen
oder verschmutzten, und zwar bewährten
sich mir zweifellos die BioxBäder (Dr.
Zuckers Sauerstoffbäder) am besten.
Mit diesen allein gewann ich meine
positiven Ergebnisse. Was die Herstellungs¬
weise derselben betrifft, so wird zunächst
Natrium Perborat, das labilen Sauerstoff
gebunden enthält, im Badewasser gelöst.
Um nun den Sauerstoff zu befreien,
wird ein organisches enzymhaltiges Pulver,
das in ein Kissen ein geschlossen ist, in
diesem Kissen auf den Grund des Bades ge¬
bracht. Alsdann wird das Kissen ausgedrückt
I und alsbald entwickelt sich der Sauerstoff,
i Obwohl die Fabrik von Max Elb, Dresden,
angibt, daß dieses Kissen bereits vor Ein¬
steigen ins Bad in demselben auszudrücken
sei und erst nach einigen Minuten das Bad
zu beginnen habe, empfahl ich lieber fol¬
gende Methode: Erst beim Einsteigen ins
| Bad nehme der Badende das Kissen mit
1 ins Bad. Alsdann drücke er dasselbe der
Reihe nach am Grund des Bades an
seinem Rücken, an seiner Bauchseite, an
seiner rechten und linken Körperseite aus,
nach dem Ausdrücken immer erst das Voll-
! füllen des Kissens mit dem Badewasser
abwartend. Gerade ängstliche und neu-
j rasthenische Personen gewöhnen sich so
besser an das Bad und überwinden eine
eventuelle Indiosynkrasie besser, wenn der
Sauerstoff erst nach ihrem Einsteigen sich
allmählich entwickelt.
Unter diesen Umständen beginne man
das Bad mit 10 bis 12 Minuten, steigere
jedesmal um 2 Minuten bis auf 25 Minuten.
Empfindlichere Personen jedoch lasse man
15 Minuten nicht überschreiten. Die Tem¬
peratur sei 26 bis 28° R. Was die Auf¬
einanderfolge der Bäder angeht, so lasse
ich die ersten 5 Bäder einen um den
andern Tag nehmen, dann 2 Tage nach¬
einander baden und den dritten Tag aus-
8 *
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UNIVERSiTY 0F CALIFORNIA
60
Die Therapie der Gegenwart 1910.
Februar
setzen. Die letzten 3 Bäder werden wieder in der Woche in die Sprechstunde zur
einen um den andern Tag genommen. Die Kontrolle.
Badekur im ganzen beträgt — je nach dem Unter diesen Kautelen wird man finden,
Fall — 10 bis 25 Sauerstoffbäder. Bei den daß das Sauerstoffbad ein sehr wertvoller,
ersten 2 bis 3 Bädern empfiehlt es sich, nicht zu unterschätzender Faktor für das
vor und nach dem Bade den Patienten in therapeutische Arsenal des praktischen
der Wohnung selbst zu besuchen, später Arztes bedeuten muß, dem eine aussichts¬
bestelle man ihn während der Kur 1 —2 mal volle Zukunft offensteht.
Zur Frage der operativen Behandlung des Morbus Basedowii.
Von Dr. Julius LowiflSky, Nervenarzt in Berlin.
In einer Zeit, in der viele Chirurgen die
Behandlung des Morbus Basedowii als ihre
spezielle Domäne reklamieren und die
Unterlassung der Operation bereits als
einen Kunstfehler hinstellen möchten, sollte
man mindestens auch alle Mißerfolge der
Operation, alle üblen Ausgänge und Re¬
zidive ebenso der Oeffentlichkeit unter¬
breiten, wie die Heilerfolge, die man ja
schließlich auch unter der früheren in¬
ternen Behandlung oft genug zu sehen
bekam. Gehört doch die Basedowsche
Krankheit zu denj enigen allgemeinen Nerven -
krankheiten, die — abgesehen von einer
verhältnismäßig kleinen Gruppe bösartiger
Fälle — eine recht günstige Prognose er¬
geben und bei denen die verschieden¬
artigsten Behandlungsmethoden zum Ziele
führen können, weil eben die Krankheit die
verschiedensten Ursachen haben kann.
Wollte man nun gar mit Rücksicht auf
die chirurgischen Heilerfolge die ganze
Theorie der Krankheit auf der Funktion
der Schilddrüse basieren lassen und aus¬
schließlich, wie es viele Chirurgen tun, von
der thyreogenen Entstehung der Krank¬
heit reden, so dürften die Beobachtungen
der inneren Klinik sehr bald dieser ein¬
seitigen Anschauung Unrecht geben.
Daß es zweifellos Fälle von Morbus
Basedowii gibt, in denen die Schilddrüse
gar keine Rolle spielt, in denen also von
operativer Behandlung und chirurgischem
Heilerfolg gar keine Rede sein kann, dürfte
die nachfolgende Krankengeschichte zur
Evidenz erweisen.
Frau Margarete Fr., Schneiderin, 33 Jahre
alt, gibt an, bis vor 8 Jahren ganz gesund ge¬
wesen zu sein; sie habe bereits mit 17 Jahren
geheiratet und habe fünf ganz gesunde Kinder;
ein Kind ist gestorben, einmal hat ein Abort
stattgefunden.
Im 25. Lebensjahre soll sich ganz rasch ein
Kropf entwickelt haben, der hochgradige Atem¬
beschwerden verursachte, weil die Drüse unter
dem Brustbein besonders stark geschwollen
gewesen wäre.
Es sei daher in Breslau bei Mikulicz eine
große Operation vorgenommen worden, bei der
auf beiden Seiten und unter dem Brustbein
alles Drüsengewebe entfernt worden sei mit
Ausnahme eines kleinen Restes auf der linken
Halsseite, der seitdem unverändert geblieben
sei. Ausdrücklich erklärt die sehr intelligente
Patientin, daß damals bereits auf Symptome
von Basedow scher Krankheit gefahndet wurde,
die sich jedoch durchaus nicht gefunden hätten.
Nun sei sie nach der Operation vier Jahre
ganz gesund geblieben, dann aber hätten sich
ohne bekannte Ursache nervöse Symptome
eingestellt, nämlich Schreckhaftigkeit, Mattig¬
keit, Herzklopfen und dergleichen. Jetzt sei
. B a s e d o w sehe Krankheit diagnostiziert worden,
die dann drei Jahre bestanden habe. Sie sei
I in dieser Zeit verschiedentlich, auch in der
Charite, behandelt, und so weit gebessert
worden, daß sie jetzt ein ganzes Jahr von allen
Beschwerden frei gewesen wäre. Vor kurzem
habe sich wieder ohne erkennbare Ursachen
das alte Leiden, speziell das Herzklopfen, ein¬
gestellt.
| Objektiv findet sich von den Kardinalsym-
! ptomen des Morbus Basedowii beiderseitiger
I Exophthalmus mittleren Grades, ferner mäßiges
| feinschlägiges Zittern der Hände und ständige
I Tachykardie von etwa 140 Schlägen. Am Halse
! findet sich links der schon erwähnte kleine
, Rest der Schilddrüse von zirka Wallnußgröße,
ferner eine außerordentlich ausgedehnte Narbe,
die bogenförmig in den beiden seitlichen Hals¬
dreiecken nach innen abwärts bis auf die Mitte
; des Manubrium sterni zieht und so einen
| großen, etwa schürzenförmigen Hautlappen um-
1 faßt, durch den sicher die ganze vordere Hals¬
partie freigelegt worden war. Von der sub-
sternalen Geschwulst ist sonach bei der Ope¬
ration gewiß nichts zurückgelassen, worden.
Es unterliegt nun der Anamnese und
dem Befunde nach keinem Zweifel, daß es
sich ursprünglich um Struma ohne Base¬
dowsche Krankheit gehandelt hat und dafi
jetzt Basedowsche Krankheit ohne Struma
vorliegt. Die Strumektomie hat also den
Ausbruch der Basedowschen Krankheit
mindestens nicht verhütet.
Unabhängig von der Existenz oder
besser Nichtexistenz der Schilddrüse ist
die Basedowsche Krankheit entstanden,
später ist der Morbus Basedowii auch ohne
Strumektomie (die eben hier zufällig nicht
, mehr möglich war), zeitweilig wieder ver¬
gangen. Man dürfte sich bei diesem Ver¬
laufe nicht wundern, wenn der Laie auf
den Gedanken käme, daß die große Ope-
: ration erst das Nervenleiden hervorgerufen
habe.
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Februar
Die Therapie der Gegenwart 1910.
61
Jedenfalls ist bei dem jetzigen Zustande
dieses Falles von Morbus Basedowii eine
operative Behandlung ausgeschlossen. Er
wird voraussichtlich auch so, durch interne
Behandlung, auf den früheren Zustand zu¬
rückzubringen sein.
Der Fall beweist aber meines Erachtens
einwandfrei, daß der Basedowsche Syra-
ptomenkomplex auch dann vorliegen kann,
wenn nur noch ein unschädliches Rudi¬
ment der Schilddrüse vorhanden ist, wenn
; also von einer „Hyperthyreoidisation* und
| von einer übermäßigen inneren Sekretion des
„Basedow-Giftes* seitens der vergrößerten
, Schilddrüse gar keine Rede sein kann.
I Morbus Basedowii kann also ohne
\ Struma entstehen und bestehen, er ist
demnach durchaus nicht immer thyreogenen
Ursprungs und muß nicht durchaus ope¬
rativ behandelt werden, ja in gewissen
Fällen, wie dem vorliegenden, kann er
; gar nicht chirurgisch beeinflußt werden.
Eine intravenöse Chemotherapie der Basedowschen Krankheit.
Von Dr. Felix Mendel-Essen (Ruhr).
Obwohl die Pathogenese des Mor¬
bus Basedowii gerade in der neuesten
Zeit in zahlreichen Publikationen und Dis-
kusssionen erörtert wurde, so sind doch
<lie Ansichten über die Aetiologie
dieser Erkrankung immer noch als geteilt
zu bezeichnen. Während die Chirurgen
nach dem Vorgang Kochers, des ver¬
dienstvollsten Forschers auf dem Gebiete
der Schilddrüsenerkrankungen, als ein¬
zige Aetiologie eine krankhaft gestei¬
gerte und dabei chemisch veränderte
Sekretion der Glandula thyreoidea
annehmen, beharren die Neurologen auf
dem Standpunkt, daß es zwar Basedow¬
ähnliche Erkrankungen gibt, die rein
thyreogenen Ursprungs sind, daß aber die
echten Basedow-Erkrankungen als eine
primäre Neurose aufgefaßt werden
müssen.
Der rein thyreogenen Form des
Basedow, die man nach Kraus 1 ) auch
treffend als Kropfthyreoidismus be¬
zeichnen kann, geht eine oft schon lange
bestehende krankhafte Vergrößerung
der Schilddrüse voraus, zu der sich,
nicht selten erst beträchtlich später,
außer den charakteristischenVeränderungen
an den Augen und im Gefäßsystem, die
thyreotoxischen Symptome hinzugesellen.
Beim genuinen, echten Basedow
hingegen tritt die Vergrößerung der
Schilddrüse gleichzeitig mit den übrigen
Symptomen in die Erscheinung, während
als Grundursache meist neben einer neu-
ropathischen Veranlagung psychi¬
sche Affekte oder auch Infektions¬
krankheiten mit ihren toxischen Schädi¬
gungen des Nervensystems nachzuweisen
sind.
Danach würden also die charakteristi¬
schen Erscheinungen des Morbus Base¬
dowii (Exophthalmus, Struma, Herz pal pi-
tatio nen) n ur einen Symptomenkomplex
*) Kongreß för innere Medizin (Mönchen 1906).
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bilden, der ätiologisch nicht auf eine
einheitliche, sondern auf verschiedene
Ursachen zurückgeführt werden kann. Bei
dieser Divergenz der Meinungen ist es
nicht zu verwundern, daß auch über die
Therapie bisher keine Einigung erzielt
werden konnte.
Entsprechend der Annahme eines rein
thyreogenen Ursprungs der Basedow¬
schen Erkrankung, den Kocher für beide
Formen in Anspruch nimmt, sehen die
Chirurgen in der operativen Verklei¬
nerung der Schilddrüse das einzig
wirksame Heilmittel, obwohl a priori
angenommen werden muß, daß mit dieser
Behandlungsmethode nur die pathologisch
gesteigerte Funktion der Schilddrüse, die
Hyperthyreosis, herabgesetzt wird, wäh¬
rend die chemisch veränderte Sekretion,
die Dysthyreosis, wenn auch in ver¬
mindertem Maße, bestehen bleibt.
Wenn demnach die chirurgische The¬
rapie auch in der thyreogenen Theorie,
wie sie besonders von Möbius verfochten
wurde, keine nach allen Richtungen hin
fest begründete Stütze findet, so sind
doch die Erfolge dieser Behandlungs¬
methode nicht von der Hand zu weisen.
Kocher 1 ) hat bei97 typischen Basedow¬
kranken, die er mit operativer Verkleine¬
rung der Schilddrüse behandelte, 72 °/ 0
Heilung erzielt, während in allen anderen
Fällen, welche die Operation überlebten,
teils eine bedeutende, teils eine nur
mäßige Besserung erzielt wurde.
Trotz dieser glänzenden Heilungsziffern
haben gerade unsere hervorragendsten
Neurologen und Internisten 2 ) ihre An¬
sicht über die zweckmäßigste Behandlung
der Basedowschen Krankheit dahin ab¬
gegeben, daß zuerst das ganze Arsenal
der diätetischen, physikalischen und
*) Th. Kocher, Kongreß für innere Medizin
(München 1906).
3 ) Siehe Med. Klinik 1908. Nr. 1 u. 2.
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62
Die Therapie der Gegenwart 1910.
Februar
medikamentösen Therapie in Anwen- i
düng zu ziehen ist, und die chirurgische
Therapie erst dann empfohlen werden
kann, wenn trotz aller nicht operativen
Maßnahmen keine Besserung erzielt
wurde.
Diese auffallende Ablehnung der ope¬
rativen Therapie, die gleichsam nur als
Ultimum refugium betrachtet wird, findet
ihre Begründung zunächst darin, daß doch
die Prognose des Basedow erwiesener¬
maßen nicht als so ungünstig zu bezeich¬
nen ist, als es bisher geschah, daß eine
ganze Reihe, anscheinend schwerer Er¬
krankungen, spontan oder nach der |
nicht operativen Behandlung zur
Ausheilung gelangt oder sich soweit
bessert, daß die Patienten sich als ge¬
heilt betrachten, wenn auch der Arzt immer
noch die Stigmata des Basedow an ihnen
nachzuweisen vermag.
Ferner fehlt bei den Chirurgen die
strenge Scheidung der rein thyreogenen
und der genuinen, neurogenen Basedow¬
erkrankungen. So hält Kocher 1 ) immer
noch an der Wesensgleichheit beider
Formen fest; die erstere, die thyreogene
Form, die sich an einen bereits vorhandenen
Kropf anschließt, erscheint ihm nur des¬
wegen gemildert, weil sie durch weniger
schwere Schädlichkeiten herbeigeführt ist
oder weil sie sich noch im Anfangsstadium
befindet, oder weil nach seiner Ansicht
der bereits bestehende Kropf einen
Grund zur Mitigation der gesamten Er-
krankheitserscheinungen bildet.
Nun ist aber gerade diese Form des
Basedow, bei der die partielle Strumekto-
mie ihre glänzendsten Heilerfolge erzielt,
gleichzeitig auch ein günstiges Heil¬
objekt der medikamentösen Therapie.
Bedenken wir weiter, daß die thyreo¬
gene Form des Basedow auch die bei
weitem häufigste ist, daß bei der neuro¬
genen schlimmeren Form die Thyreo -
dektomie sehr häufig versagt oder
doch nur relative Besserung schafft, daß
schließlich die operative Behandlung nicht
ohne Gefahr ist und immer noch ein
relativ hoher Prozentsatz der Operation
und ihren Folgen (hohes Fieber, Tetanie,
Kachexie) erliegt, so können wir die Zu¬
rückhaltung der Neurologen begreifen, die
nur diejenigen Fälle der chirurgischen
Therapie überweisen, die allen anderen
Mitteln gegenüber sich als refraktär er¬
wiesen haben.
Es ist deswegen auch nicht zu ver¬
wundern, daß trotz der chirurgischen Er-
‘fMT"“
folge immer wieder neue Heilmethoden
nicht operativer Art gegen die Base¬
dowsche Krankheit empfohlen werden.
Wir müssen allerdings zugeben, daß alle
sogenannten spezifischen Heilmittel des.
Basedow, welche die neuere Forschung
zutage gefördert, in ihren Erfolgen einer
ernsten Kritik nicht Stand halten, weder
das Rodagen noch das Antithyreoi-
din, noch die übrigen der Serumthera¬
pie entnommenen Präparate. Auch die
Organotherapie (Schilddrüsenpräparate,.
Parathyreoidin, Thymus, Ovarin, Sperrain)*
die immer wieder gegen die Basedow¬
sche Krankheit empfohlen wird, ist als.
unwirksam jetzt wohl völlig verlassen
worden. Neben den physikalisch-diäteti¬
schen Maßnahmen nehmen in der medi¬
kamentösen Therapie immer noch unsere
altbewährten Nervina, vor allen anderen
das Arsen, eine hervorragende Stelle
ein, ferner Eisen, Chinin, Phosphor*
und als symptomatische Mittel Brom,
Strophantus, Baldrian und andere mehr.
Eine völlige Divergenz der Anschauungen
scheint bei Durchsicht der Literatur über
die Anwendung der Jodpräparate zu
bestehen. Während die einen (Erb,
Kocher) sie als schädlich verwerfen*
[ sehen andere (Strümpell, Kraus) in be¬
stimmten Fällen eine günstige Wirkung
i dieser Medikation.
Welche Art der Behandlung wir aber
auch in Anwendung ziehen, sicherlich wird
nur diejenige Basedow-Therapie einen Er¬
folg erzielen können, die berücksichtigt,
daß die Schilddrüse nicht immer das
primär erkrankte Organ ist, und die
deswegen nicht nur auf die Veränderungen
der Glandula thyreoidea, sondern auch auf
das geschädigte und zu Erkrankungen dis¬
ponierte Nervensystem einwirkt.
Dieser Forderung scheint mir eine
medikamentöse Behandlungsmethode des
Morbus Basedowii zu entsprechen, die ich
nun schon mehr als 2 Jahre in einer
ganzen Reihe von Basedow-Erkrankungen
als erfolgreich erprobt habe. Sie besteht
in der gleichzeitigen intravenösen
Applikation von Jod und Arsen,
zweier Heilmittel, die in der Therapie des
Basedow schon längst eine Rolle spielen,
deren hervorragende Wirksamkeit
aber erst durch ihre Kombination und
ganz besonders durch die spezielle Art
ihrer Zuwendung bedingt wird.
Es ist das Verdienst Ehrlichs, zuerst
darauf hingewiesen zu haben, daß die
Verteilung der Arzneistoffe im tieri¬
schen Organismus keine gleichmäßige
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Februar
Die Therapie der Gegenwart 1910.
63
ist, sondern daß viele Medikamente zu be¬
stimmten Organen eine besondere Affini¬
tät besitzen und daß sie gerade dieser
elektiven Speicherung in ausgewählten
Zellterritorien ihre pharmakologische Wirk¬
samkeit verdanken. Diese normale Ver¬
teilung der Arzneistofle erleidet aber
nicht selten eine Veränderung, die
durch verschiedene Gründe endogener
oder exogener Natur bedingt sein kann.
Zunächst sind pathologische Vorgänge
im Organismus imstande, die Affinität
einzelner Organe zu bestimmten Arznei--
stoffen zu erhöhen, wie das Jakoby 1 ) für
die Salizylsäure bei infizierten Tieren
festgestellt hat, Loeb 2 ) für Jod bei eitrigen
Prozessen und tuberkulös erkrankten Or¬
ganen, während van den Velden 3 ) eine
verstärkte Ablagerung von Jod in karzino-
matösen Geweben und erkrankten Drüsen
nachgewiesen.
Zweitens können wir ein Arznei¬
mittel in von uns beabsichtigte Bahnen
dadurch lenken, daß wir es, wie Ehrlich
in den Grundzügen seiner Chemothera¬
pie gelehrt, mit einem geeigneten Stoffe
verkoppeln, der ihm als Lastwagen
dient und es mit Hilfe seiner Affinität
zu bestimmten Organen dorthin bringt,
wo es seine Heilwirkung ausüben soll.
Von dieser exogenen Möglichkeit der
Direktionsänderung unserer Heilmittel
habe ich bereits in der von mir 4 ) ein¬
geführten Arsen-Tuberkulinbehand¬
lung der Tuberkulose erfolgreich Gebrauch
gemacht
Schließlich kann auch noch, wie ich
das an anderer Stelle nachgewiesen, die
Art der Applikation von Einfluß sein
auf den Grad der Affinität der Arznei¬
körper zu bestimmten Organen. Insbeson¬
dere bewirkt die intravenöse Injektion
der Medikamente 5 ) eine verstärkte Ab¬
lagerung und festere chemische Ver¬
ankerung körperfremder Stoffe in den¬
jenigen Organen, zu denen sie eine che¬
mische Affinität besitzen.
Alle diese Momente müssen in Be¬
tracht gezogen werden, um die Heilwirkung
unserer Behandlung Methode zu erklären.
Die organischen und lunkiionellen Verän¬
derungen der SchiMJpise, J». L kombinierte
') M. Jacoby, Zt -t i. L 1 .;. 1 PC ..
J ) LocV SchiT'riV i .-5 A
*) ’- a i Vc • c.’ • . k' i N rscherver-
sammlung 1908. — i» , B: Zechj-, Bd. 21
H. 1 u 2
4 ) F. Mendel, Mönch, rae.l. Wr . iisrhr. 1909, Nr. 1.
& ) h Mensel, l’rber die Aus heidung und
Wirkur. ; "■*: 'venös injizierter Mcdiknr.f nte. (Ther.
d. Gej --nwi-.rt 1908, II 7. i
Anwendung von Jod und Arsen und ganz
besonders ihre intravenöse Applikation
sind Faktoren, welche die Richtung und
Verteilung dieser Medikamente im Sinne
einer verstärkten Thyreotropie und
Neurotropie beeinflussen und dadurch
erst ihre heilsame Wirkung auf die Base¬
dowsche Krankheit bedingen.
1. Fall: Fräulein A., 20 Jahre alt, stammt
aus gesunder Familie und einer Gegend, in
der Kropf sehr selten ist. Sie ist stets gesund
gewesen, seit ihrem 14. Lebensjahre menstruiert
und meist regelmäßig. Im 14. Jahre war es
auch, als sie zum ersten Male eine leichte
Anschwellung der Schilddrüse bemerkte,
die trotz Anwendung von Jod salben und Be-
inselung mit Jodtinktur sich nicht zurück-
ildete, aber auch keine weiteren Beschwerden
verursachte. Im 18. Lebensjahre stellten sich
Atmungsbeschwerden und Herzbeklemmungen
ein, ohne daß die Schilddrüse erheblich an
Umfang zunahm. Dabei fühlte sich Patientin
schwach und nahm an Gewicht ab. Auf Jod¬
tropfen Verschlimmerung der Symptome, ins¬
besondere starkes Herzklopfen und große
Schwäche. Nun wurde erst, da auch das Aus¬
sehen der Augen sich veränderte, Basedow
diagnostiziert und Eisumschläge auf das Herz
und Antithyreoidin Möbius verordnet, wo¬
von in zirka 8 Wochen 15 (?) Original¬
fläschchen verbraucht wurden, ohne sonder¬
lichen Erfolg: nur die Herztätigkeit wurde, be¬
sonders durch die Eisumschläge, vorüber¬
gehend beruhigt. Als nach einem halben Jahre
der Zustand sich weiter verschlimmerte und
Schwäche und Müdigkeit immer mehr Zu¬
nahmen, sich außerdem Zittern und verstärkte
Schweißbildung einstellten, wurde 4 Wochen
lang Rodagen verordnet. Als auch dieses
keinen Erfolg zeitigte, wurde als letztes Mittel
die Operation vorgeschlagen, die aber vom
Chirurgen abgelehnt wurde, weil er wegen
des schwachen Herzens die Narkose fürch¬
tete. Durch einen Höhenaufenthalt trat
leichte Besserung ein, die aber wieder ver¬
schwand, als Patientin nach Hause zurück¬
kehrte. Die Patientin hat während ihrer
Krankheit mehr als 10 kg an Körpergewicht
abgenommen.
Status: Patientin ist ein kräftig entwickeltes
Mädchen von zirka 162 cm Größe und 58 kg
Körpergewicht. Schleimhäute von normaler
Farbe, Haut etwas blaß. Es besteht eine
diffuse Anschwellung der Schilddrüse, und
zwar besonders in ihrer rechten Hälfte, die’
ungefähr die Größe eines Hühnereies erreicht
hat. Die Konsistenz ist prall-elastisch, über
dem rechten Lappen deutliches Blasen und
Pulsation. Ebenso starke Pulsation der Hals¬
venen; mäßiger Exophthalmus, deutliches
Graefesches Symptom, Herzdämpfung von
normaler Größe, leichtes systolisches Geräusch
an der Herzspitze, sonst Herztöne rein. Herz¬
aktion stark beschleunigt. Puls regelmäßig,
bis 140 Schläge in der Minute. Muskulatur
schlaff, Hände feucht, leichter Tremor. Pa¬
tientin klagt über Herzklopfen, große Schwäche
und starke Schweißbildung am ganzen Körper.
Melancholische Gemütsstimmung.
Therapie: Zunächst wurde Patientin meh¬
rere Wochen lang mit intravenösen Atoxyl-
injektionen in steigender Do^is behan¬
delt. Es trat eine leichte Besserung des All-
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UNIVERSiTY 0F CALIFORNIA
64 Die Therapie der Gegenwart 1910. Februar
gemeinzustandes ein, ohne daß die objektiven
Symptome irgend eine Aenderung erfuhren.
Erst intravenöse Injektionen von Atoxyl + Jod¬
natrium brachten eine deutliche Besserung
aller Basedowschen Erscheinungen, und
zwar schon nach den ersten Injektionen.
Zunächst ließ der Tremor nach, dann war auch
eine deutliche Verkleinerung der Struma zu
erkennen, während der allerdings nur geringe
Exophthalmus während der ganzen Behandlung
keine deutliche Aenderung erfuhr.
Auffallend war die Besserung des Allgemein¬
befindens. Die Patientin, vorher stets auf¬
geregt und in trüber Gemütsverfassung, wurde
ruhiger, hoffnungsvoller, der Appetit besserte
sich und hatte eine allmähliche Gewichts¬
zunahme zur Folge. Nach 20 Jod-Arsen¬
injektionen war der Puls von 140 auf 90 zu¬
rückgegangen. Die Struma war bedeutend
kleiner geworden, das Allgemeinbefinden nach
einer Gewichtszunahme von 6 kg so gebessert,
daß die Patientin in ihre Heimat zurückkehrte.
Erkundigungen bei Verwandten haben ergeben,
daß eine Verschlimmerung des Leidens nicht
wieder eingetreten ist.
2. Fall. Elise K., 31 Jahre alt, Dienst¬
mädchen, ist stets gesund gewesen und stammt
von gesunden Eltern. Ihre Mutter, die an
einer akuten Krankheit gestorben ist, litt viel
an Kopfschmerzen. Patientin hat im 26. Lebens¬
jahre einen Partus durchgemacht und sich von
diesem eigentlich niemals wieder recht erholt.
Sie glaubt, daß die Aufregungen jener Zeit
und die Vorwürfe ihrer Familie die Krankheit
verschuldet hätten. Sie magert seitdem stark
ab, hat stets ein unerträgliches Hitzegefühl am
ganzen Körper, besonders am Kopfe, starkes
Schwitzen, rasendes Herzklopfen, Zittern,
Durchfälle, die periodisch ohne jede Ver¬
anlassung auftreten. Dabei ist sie stets auf¬
geregt, streitsüchtig, schlaflos, schwach und
unfähig zur Arbeit.
Status: Patientin sieht sehr leidend und
verfallen aus, Haut runzelig, von gelbgrauer
Farbe, dabei stark gerötetes Gesicht. Am
ganzen Körper profuse Schweißbildung. Starker
Exophthalmus, Graefesches und Stellwag-
sches Symptom vorhanden. Ziemlich beträcht¬
liche Struma, beiderseits gleich, von gleich¬
mäßiger, weicher Konsistenz und deutlicher
Pulsation. Ebenso starkes Pulsieren der Hals¬
gefäße. Herz deutlich nach links verbreitert.
Der Spitzenstoß ist außerordentlich stark, diffus
verbreitert. Herztöne rein, wilde Herzaktion.
Puls während der Untersuchung kaum zu
zählen, sicher über 200 in der Minute, in der
Ruhe zirka 180 Schläge. Patientin ist sehr
mager, bei 167 cm Körperlänge nur 52 Vs kg
mit Kleidung. Große Schwäche, stark be¬
schleunigte Atmung, besonders bei Anstrengung
und Aufregung.
Therapie: Jod-Arseninjektionen, zunächst
alle 2 Tage, dann zweimal wöchentlich. Im
ganzen 18 Injektionen. Schon nach den ersten
Injektionen bessere Stimmung, ruhigere Herz¬
aktion und geringere Schweißbildung. Im
weiteren Verlauf der Behandlung schnelle Ab¬
nahme aller Basedowsymptome, auch der
Diarrhöen, ohne Diätvorschriften. Nach sechs
Wochen Gewichtszunahme von 13 Pfund, der
Tremor hat ganz aufgehört. Das Hitzegefühl
und die abnorme Schweißsekretion sind ver¬
schwunden* die Patientin ist nicht mehr auf¬
geregt und fühlt sich so gekräftigt, daß sie
gegen meinen Willen die Injektionskur ab¬
bricht. Sie nimmt noch täglich 6 Nukleogen-
tabletten. Objektiv ist von den Krankheits¬
symptomen nur noch eine mäßige Ver¬
größerung der Schilddrüse vorhanden,
die aber nicht mehr pulsiert. Exophthalmus
bedeutend gebessert. Puls schwankt zwischen
70 und 80, ist regelmäßig und von guter
Qualität. Die Patientin hat vor kurzem be¬
richtet, daß die Besserung bis heute angehalten
hat (3 Monate nach der Jod-Arsenkur.)
3. Fall. Prau O., 42 Jahre alt, Kaufmanns¬
frau, ist stets gesund gewesen und hat 13 ge¬
sunde Kinder geboren. Sie hat sich immer
sehr wohl gefühlt und während ihrer Ehe von
92 bis zu 140 Pfund zugenommen. Seit 2 Mo¬
naten bemerkt sie, daß der Hals an Umfang
zunimmt, auch stellten sich Müdigkeit und
Herzklopfen ein. Gleichzeitig bekam sie Zittern
der Hände, starke Schweißbildung und perio¬
disch heftige Durchfälle ohne nachweisbare
Ursache. Dabei eine Gewichtsabnahme von
8 kg in kurzer Zeit.
Status: Kleine, ziemlich gut genährte Frau,
Gesicht stark kongestioniert, schwitzend, leichter
Exophthalmus, mäßige Vergrößerung der Schild¬
drüse mit leichter Pulsation und von ziemlich
derber Konsistenz. Herzdämpfung normal.
Herztöne rein, aber sehr beschleunigte Herz¬
aktion. Puls regelmäßig, 120, leicht zu unter¬
drücken. Die Haut am ganzen Körper feucht,
besonders an den Händen, die sich auffallend
heiß anfühlen und einen leichten Tremor
zeigen. Täglich 3—4 flüssige Stuhlgänge.
Therapie: Schon nach den ersten Jod-
Arseneinspritzungen bedeutende Besserung,
besonders der Herzaktion. Auch das Schwitzen
und Zittern nimmt nach 8tägiger Behandlung
bedeutend ab, während die Durchfälle erst in
der dritten Behandlungswoche authören. Im
weiteren Verlauf verkleinert sich die Schild¬
drüse, der Exophthalmus geht bedeutend zu¬
rück. Puls viel kräftiger, schwankt zwischen
90 und 100 in der Minute. Langsame, aber
stetige Gewichtszunahme seit Beginn der Be¬
handlung. Nach 4 Wochen langer Kur geht
Patientin auf Reisen, sie nimmt noch 4 Wochen
lang Nukleogen, dreimal täglich 2 Tabletten,
und fühlt sich weiter vollkommen wohl. Ihr
Körpergewicht hat im Verlauf von 3 Monaten
die frühere Höhe fast wieder erreicht.
4. Fall. 47jährige Gutsbesitzersfrau aus
B., ist früher stets gesund gewesen, heiratete
im Alter von 37 Jahren, seitdem viel Arbeit
und Unruhe in der ausgedehnten Wirtschaft.
Vor zirka 2 Jahren stellten sich Herzklopfen,
Aufregungszustände und Schlaflosigkeit ein.
Gleichzeitig magerte sie stark ab und war in¬
folge allgemeiner Schwäche bald nicht mehr
in der Lage, ihrem Hauswesen vorzustehen.
Der Arzt erklärte sie für herzkrank, verordnete
ihr Digitalis, und als danach eher eine Ver¬
schlimmerung der Krankheitserscheinungen
auftrat, eine Kur in Soden im Taunus. Die
Kur war aber ohne Erfolg.
Status: Stark abgemagerte Frau mit allen
Zeichen der Basedowschen Krankheit:
Mäßiger Exophthalmus, Graefe und Stell¬
wag positiv, Schilddrüse vergrößert, beider¬
seits gleichmäßig, von weicher Konsistenz,
Herzpalpitationen, Schweiße, Zittern, stark aus¬
gesprochenes Schwächegefühl. Herzdämpfung
etwas nach links verbreitert, Herztöne rein,
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Februar
Die Therapie der Gegenwart 1910
65
Puls 140, regelmäßig, aber doch zuweilen aus¬
setzend. Gewicht 59 kg.
Therapie: Patientin wurde zunächst mit
allmählich ansteigenden Atoxyldosen intra¬
venös behandelt, jedoch ohne ausgesprochenen
Erfolg, der erst einsetzte, als mit der
kombinierten Jod - Arsentherapie begonnen
wurde. Von da ab stetig fortschreitende
Besserung und starke Gewichts-zunahme.
Nach vier Wochen sind alle Symptome
bedeutend gemildert, aber immer noch deut¬
lich zu erkennen. Als wegen häuslicher Ver¬
hältnisse die Kur unterbrochen werden mußte,
trat ein Rückfall ein und gleichzeitig wieder
eine rapide Gewichtsabnahme. Nach erneuter
Kur, zweimal wöchentlich eine Injektion, drei
Wochen lang, Besserung ; nach starken Ge¬
mütsbewegungen wieder Verschlimmerung, die
eine Entfernung aus dem Haushalte notwendig
machte. Von da ab bei fortgesetzter Jod-
Arsenbehandlung ungestörte Besserung. Der
Exophthalmus ist bedeutend zurückgegangen,
aber noch deutlich zu erkennen. Graefe und
Stell wag jetzt negativ. Die Herzaktion ist
ruhig. Schwitzen und Zittern sind ganz ver¬
schwunden, ebenso die Kongestionen zum
Kopf. Schlaf ist ruhig, völlige Arbeitsfähigkeit,
Gewichtszunahme 12 kg. Nach einer Höhen¬
kur in Oberhof kehrte sie im besten Wohl¬
befinden zurück. Sie nimmt jetzt noch
Nukleogentabletten und fühlt sich andauernd
wohl.
5. Fall. Frau K., 36 Jahre alt, stets gesund
gewesen, hat 3 gesunde Kinder gehabt und ist
jetzt im 5. Monat schwanger. Im Beginn der
Schwangerschaft bemerkte sie eine An¬
schwellung am Halse, die trotz Einreibung mit
Jodsalbe immer mehr zunahm. Es stellten
sich Atembeschwerden, heftige Hustenanfälle,
sowie Herzklopfen und Erstickungsnot ein, die
besonders in der Nacht oft eine solche Heftig¬
keit erreichte, daß die Frau aus dem Bette
springen mußte.
Status: Etwas abgemagerte Frau, gravida
im 5. Monat. Leichter Exophthalmus, am
Halse eine stark entwickelte Struma, rechts
von der Größe eines Hühnereies, links be¬
deutend kleiner, auch der mittlere Lappen
stark vergrößert; deutlicher Stridor bei der
Inspiration, besonders bei Anstrengung und
Auflegung. In den Bronchien laute Rhonchi.
Herzaktion stark beschleunigt. Puls wechselnd,
130 bis 150 Schläge in der Minute. Leichtes
Oedem an den Fußknöcheln.
Therapie: Nach wenigen Injektionen von
Jod-Arsen, die wegen der Kompression der
Trachea zunächst täglich vorgenommen
wurden, Verkleinerung der Struma, Nachlassen
des Stridors und des Hustens, gegen den
gleichzeitig Kodein verordnet wurde Nach
10 täglichen Einspritzungen nur noch alle zwei
Tage Jod-Arsen, nach 4 Wochen nur noch
zweimal wöchentlich. Nach 8 Wochen wird
die Kur abgebrochen. Der Exophthalmus ist
verschwunden, die Struma bedeutend kleiner,
keine Atemnot, kein Herzklopfen mehr. Der
Partus verlief glatt, das Befinden hat sich nach
der Entbindung noch weiter gebessert und ist
dauernd gut geblieben.
6. Fall. Frau W. aus B., 52 Jahre alt,
Beamtenwitwe, war früher eine blühende und
auffallend kräftige Frau; hat viel Unglück im
Leben gehabt, fast ihre ganze Familie durch
den Tod verloren. Seit 4 Jahren machte sich
ein starker Kräfteverfall bemerkbar, dabei
rapide Abmagerung uni zirka 25 kg, die auch
jetzt noch nicht zum Stillstände gekommen ist.
Ferner Herzklopfen, Kopfschmerzen, Zittern,
Schweiße und Hitzegefühl am ganzen Körper.
Stets Durchfall, auch bei strengster Diät. Viel
ärztlich behandelt, bald wegen Nervosität, bald
wegen chronischen Darmkatarrhs. Auch eine
Badekur in Neuenahr war ohne Erfolg.
Status: Patientin sehr mager, wiegt 49 kg.
Starker Exophthalmus, Graefe und Stellwag
positiv. Kleine, prall-elastische Struma, beider¬
seits gleich, stark ausgedehnte Venen des
Halses, mit deutlicher Pulsation. Herzdämpfung
nach links verbreitert, blasendes, systolisches
Geräusch an der Herzspitze. Puls 140, un¬
regelmäßig. Gesicht stark gerötet, stets auf¬
geregt. schlailos. Starker Tremor. Haut, be¬
sonders an den Händen, heiß und feucht an¬
zufühlen. Täglich 3 bis 4 wässerige Stuhl¬
entleerungen.
Therapie: Schon nach den ersten Jod-
Arseninjektionen Besserung des Allgemein¬
befindens, mehr Ruhe und Schlaf, allmählich
auch Beruhigung der Herzaktion und Ver¬
kleinerung der Struma, die jetzt eine derbe
Konsistenz annimmt. Auch der Exophthalmus
weniger frappant, die Durchfälle hören ohne
diätetische Einschränkung auf. Allmähliche
Gewichtszunahme (4 kg in 3 Wochen). Die
Patientin unterbricht die Kur, weil sie ihren
Wohnsitz verlegt.
7. Fall. Fräulein H., Handarbeitslehrerin,
30 Jahre alt, fühlt sich schon seit längerer Zeit
schwach und müde, ohne den Sitz ihrer Krank¬
heit angeben zu können. Bald stellten sich
Schwindelantälle ein, die sich zuweilen bis zur
momentanen Bewußtlosigkeit steigerten. Dabei
oft rasendes Herzklopfen, verbunden mit Atem¬
not, besonders während der Nacht, die sie im
Bette mehr sitzend als liegend zubringen
mußte. Appetit schlecht, allmählich zunehmende
Abmagerung, dabei aufgeregt und unruhig.
Status: Blasses, schlecht genährtes Mädchen,
leichter Exophthalmus, Schilddrüse nur wenig
vergrößert, Herzdämpfung etwas nach rechts
und links verbreitert, stürmische Herzaktion,
sodaß die einzelnen Töne kaum zu isolieren
sind. Puls klein, unregelmäßig, schwankt
zwischen 180 und 200; oft kaum zu zählen.
Haut feucht, starkes Zittern der Hände.
T he rapie: Unter Bettruhe.Tinct. Strophanti,
Brom, kalten Umschlägen auf das Herz trat
eine Besserung und Beruhigung der Herzaktion
ein, auch das Angstgefühl und die Schwindel¬
anfälle verloren ihre Intensität. Als beim Ver¬
lassen des Bettes alle Symptome sich mit er¬
neuter Heftigkeit einstellten und alle Herzmittel
ohne Erfolg waren, Jod-Arseninjektionen, zu¬
nächst dreimal wöchentlich 4 Wochen lang,
dann 4 Wochen lang zweimal wöchentlich, und
darauf noch mehrere Monate alle 8 Tage. Die
Wirkung, besonders auf die Herzstöiung, war
eine eklatante. Der Puls, der nun schon fast
2 Jahre lang zwischen 150 bis 200 geschwankt
hatte, ging auf 96 herunter, wurde regelmäßig,
kräftig. Die geringe Anschwellung der Schild¬
drüse ist verschwunden, ebenso der Ex¬
ophthalmus, der allerdings nur einen geringen
Grad erreicht hatte. Die Patientin ist seit
3 Monaten völlig arbeitsfähig trotz ihres
schweren Berufes.
8. Fall. Fräulein M., 27 Jahre alt, hat
häufig an Bleichsucht gelitten, ist aber im
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66
Februar
Die Therapie der Gegenwart 1910.
übrigen stets gesund gewesen. Vor etwa zwei
Jahren bemerkte sie eine allmählich immer
stärker sich entwickelnde Anschwellung am
Halse, die auf Schilddrüsentabletten, Jod¬
behandlung innerlich und äußerlich, bedeutend
zurückging. Allmählich schwoll jedoch der
Hals wieder an, es stellte sich Herzklopfen
und allgemeine Schwäche ein, die besonders,
als Patientin sich verlobte, sehr zunahm. Jod¬
natrium innerlich bewirkte zwar eine Ver¬
kleinerung der Schilddrüse, aber das Allgemein¬
befinden, insbesondere das Herzklopfen, wurde
schlimmer, weshalb die Behandlung wieder
ausgesetzt wurde.
Status: Bleichsüchtiges, aber gut genährtes
Fräulein. Die Schilddrüse ist nach beiden
Seiten hin gleichmäßig vergrößert, leicht ver¬
schieblich und von weicher Konsistenz. Leichter
Exophthalmus, links stärker als rechts. Graefe
und Stell wag negativ. Herzdämpfung normal,
aber sehr beschleunigte Herzaktion. Lautes,
blasendes Geräusch an der Herzspitze. Puls
schnellend, 120, regelmäßig.
Therapie: Intravenöse Jod-Arseninjek¬
tionen, 6 Wochen lang, zweimal wöchentlich.
Danach allmähliche Verkleinerung der Struma,
die während der Behandlung eine derbe Kon¬
sistenz annimmt. Beruhigung der Herzaktion,
Puls sinkt allmählich bis auf 80 Schläge in der
Minute. Gutes Allgemeinbefinden. Patientin
ist jetzt verheiratet und fühlt sich ganz wohl,
wenngleich die Struma in mäßigem Umfange
noch immer vorhanden ist.
9. Fall. Frau G., 67 Jahre alte Witwe,
leidet seit ihren Entwicklungsjahren an einem
Kropfe. Auch sind ihre beiden Töchter mit
Kröpfen behaftet. Sie ist stets gesund ge¬
wesen, trotz eines arbeitsvollen und an Ent¬
behrungen reichen Lebens. Seit 5 Jahren trat
ein rapider Verfall ein, sie magerte zum Skelett
ab, hatte stets heftiges Herzklopfen, starke
Atembeschwerden, Hitzegefühl im Gesicht und
an den Händen, profuse Schweiße, sehr häufig
Anfälle von Erbrechen und Durchfall, die ihre
Kräfte oft in bedrohlicher Weise reduzierten.
Status: Abgemagerte, elend aussehende
Frau. Exophthalmus, Graefe und Stellwag
positiv. Die Struma hat den Charakter einer
Struma colloides mit multiplen Knoten, beider¬
seits gleich, von je Hühnereigröße. Starkes
Pulsieren der Halsgefäße. Haut bräunlich ver¬
färbt, feucht. Gesicht kongestioniert, Hände
heiß, zitternd. Herzdämpfung nach rechts und
links verbreitert, über allen Ostien blasende
Geräusche, scharf akzentuierter zweiter Pul¬
monal- und Aortenton, Herzaktion vollkommen
irregulär, Puls in Reihenfolge und Qualität der
einzelnen Schläge stetig wechselnd, sehr be¬
schleunigt, aussetzend. Bald melancholische,
bald aufgeregte Gemütsstimmung.
Therapie: Nachdem sich die Patientin von
einer sehr heftig ein setzenden Attacke von
seiten des Magendarmkanals einigermaßen er¬
holt hatte, Jod-Arseninjektionen intravenös.
Anfangs täglich 1 Injektion, später alle 2 Tage.
Im ganzen 12 Injektionen. Danach allmähliche
Besserung der Herzaktion, die zwar unregel¬
mäßig, aussetzend blieb, aber bedeutend
ruhiger wurde. Die Struma wurde kleiner,
blieb aber immer noch in beträchtlicher Größe
bestehen. Exophthalmus wenig gebessert,
ebenso die Kongestionen nach dem Kopfe.
Gewichtszunahme in 3 Wochen zirka 3 kg.
Patientin bricht die Kur ab, um nach ihrer
Heimat in Thüringen abzureisen. Sie hat sich
vor kurzem wieder vorgestellt, ist immer noch
schwach, aber die Basedowsymptome haben
sich nicht wieder in der früheren Stärke ein¬
gefunden.
10. Fall. 21 jähriger Schlosser, stets gesund
und aus gesunder Familie, merkt seit einiger
Zeit, besonders an seinem Kragen, daß sein
Hals an Umfang zunimmt, obwohl er an Körper¬
gewicht verliert. Gleichzeitig hat er bei jeder
Anstrengung Herzklopfen und Schweißaus¬
bruch. Trotzdem wird er zum Militär aus¬
gehoben, aber nach nochmaliger Untersuchung
durch den Oberstabsarzt als untauglich wieder
entlassen.
Status: Kräftig gebauter Mann, sehr ge¬
ringer Panniculus adiposus, die Schilddrüse ist
in allen Teilen und nach allen Richtungen hin
gleichmäßig vergrößert, von weicher Konsistenz.
Geringer Exophthalmus. Herz normal, nur in
seiner Tätigkeit beschleunigt. Puls regelmäßig,
kräftig, 110 in der Minute; Haut feucht,
schwitzend.
Therapie: Jod-Arseninjektionen, alle zwei
Tage, darauf schnelle Besserung, nach 16 In¬
jektionen ist Patient frei von Basedow¬
symptomen und hat um 4,5 kg zugenommen.
Die Schilddrüse hat eine feste Konsistenz und
wieder ihre normale Größe. Herzaktion be¬
ruhigt.
Diese 10 Krankengeschichten, die einer
größeren Reihe von Beobachtungen als
besonders charakteristisch entnommen sind,
liefern uns den Beweis, daß die kombinierte,
intravenöse Jod - Arsenanwendung
nicht nur für die thyreogene, sondern
auch für die neurogene Form des Basedow
sich als eine prompt und sicher wir¬
kende Behandlungsmethode bewährt
hat. Zwar führt sie in vielen Fällen, be¬
sonders wenn es sich um rein neurogene
Erkrankungen handelt, nicht zur endgültigen
Heilung, aber sie bildet doch immerhin ein
wirksames Palliativmittel, selbst für
solche Erkrankungen, die jeder anderen
medikamentösen Therapie Trotz geboten
hatten. Häufig vermag auch die chirur¬
gische Behandlung, besonders in solchen
Fällen, welche der genuinen, neurogenen
Form zugerechnet werden müssen, nicht
mehr zu leisten.
Am schnellsten und gründlichsten
weichen der Jod-Arsenbehandlung die so¬
genannten thyreotoxischen Symptome,
während die organischen Veränderungen,
wie leicht erklärlich, zu ihrer Rückbildung
einer längeren Einwirkung der Medi¬
kamente bedürfen. Besonders auffällig ist
es, wie gleich nach den ersten Injektionen
das Allgemeinbefinden sich bessert,
die Eßlust sich hebt und schon nach
wenigen Tagen das vorher stets sinkende
Körpergewicht zu steigen beginnt. Auch
Zittern, Schwitzen, Kongestionen
und Durchfälle sistieren bald nach Be-
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UNfVERSITY OF CALIFORNIA
Februar
67
Die Therapie der Gegenwart 1910.
ginn der Behandlung. Die Struma ver¬
kleinert sich in den meisten Fällen ganz
beträchtlich, bleibt dann aber häufig in
einem Umfange bestehen, der doch noch
die Grenzen des Normalen bedeutend über¬
steigt. Aber die veränderte Konsistenz
der Schilddrüse, die auffällige Derbheit
des vorher blutreichen und weichen Organs,
gibt uns den Beweis, daß auch in diesen
Fällen die vorher abnorm gesteigerte Funk¬
tion der Schilddrüse, die Hyperthyre-
osis, wieder in normale Bahnen ge¬
lenkt ist.
Die Uebererregbarkeit des Herzens, die
Tachykardie, die wir ebenfalls zu den
thyreotoxischen Symptomen rechnen
müssen, bessert sich bald nach Beginn der
Behandlung, während die übrigen Symp¬
tome von seiten des Herzens sich erst
ganz allmählich zurückbilden. Am hart¬
näckigsten erweist sich der Exophthal¬
mus, der meist geringer wird, aber doch
nur so weit zurückgeht, daß er sachkundigen
Beobachtern immer noch als Basedow-
Zeichen imponiert. Das ist aber eine Er¬
fahrung, die auch bei allen anderen Be¬
handlungsmethoden, selbst bei der opera¬
tiven, gemacht wird.
Auf die Methodik der intravenösen
Therapie brauche ich wohl nicht näher
einzugehen, sie ist stets in derselben Weise
ausgeführt worden, wie sie von mir wieder¬
holt beschrieben wurde. Zur Injektion
wurde die Liebergsche 2 G ramm spritze
mit Platin-Iridiumnadel benutzt. Da
das injizierte Medikament für die Venen¬
intima sowie für das Blut und seine kor¬
puskularen Elemente unschädlich ist, so
können wir, wie ich es stets empfohlen,
die Stauungsbinde ruhig bis nach Be¬
endigung der Injektion liegen lassen, ohne
die Entwickelung von Thromben an der
Injektionsstelle oder Gerinnungen im Blute
befürchten zu müssen.
Injiziert wurden stets 2 ccm folgender
Lösung:
Rp. Atoxyl ./,ög
Natr. jodat . 4,0 g
Aq. destill . ad ... . 20,0 ccm
D ad vitr. nigr.
Jede Einzeldosis enthält dann 0,1 At¬
oxyl + 0,4 Natrium jodat und wird je
nach der Intensität der Erkrankung täglich
oder alle 2 Tage und mit fortschreitender
Besserung wöchentlich zwei und schließlich
nur einmal injiziert.
Beide Arzneistoffe erfordernabereine
besonders vorsichtige Handhabung,
wenn man ihre Zersetzung verhüten und
doch eines sterilen Medikaments sicher
sein will. Sie vertragen keine hohen
Hitzegrade; nach den Untersuchungen
von Blumenthal 1 ) spaltet das Aloxyl
bei zu langem Erhitzen Arsensäure ab,
welche die Ursache vieler der gefürchte¬
ten Intoxikationserscheinungen bilden
soll. Sicher ist, daß derart zersetzte
Lösungen schon eine Stunde nach ihrer
intravenösen Injektion heftigen Schüttel¬
frost mit vorübergehenden Fiebererschei-
nungen hervorrufen, während sie bei sub¬
kutaner Anwendung starke Reiz¬
erscheinungen, Schwellung und Rötung
an der Injektionsstelle im Gefolge haben,
unwillkommene Nebenwirkungen, welche
bei Benutzung des unzersetzten Prä¬
parates niemals zu befürchten sind.
Das Jodnatrium nimmt bei zu energi¬
schem Sterilisieren eine gelbliche Färbung
an, ein Beweis, daß Jod sich abspaltet.
Die Folge davon ist, daß die sonst bei
kunstgerechter Ausführung absolut schmerz¬
lose Injektion ein ziemlich heftiges
Brennen im Verlauf der Vene hervor¬
ruft.
Da Luft und Licht auf unsere Lösung
oft schon nach kurzer Zeit, besonders bei
warmer Temperatur, eine gleich zer¬
setzende Wirkung besitzen, so ist es rat¬
sam, die Lösung als Einzeldosen in
zugeschmolzenen Ampullen herzu¬
stellen, um eines dauernd sterilen und
dabei unzersetzten Medikaments sicher zu
sein und so alle unangenehmen Neben¬
wirkungen völlig auszuschließen.
Bei Beobachtung dieser Vorsichtsma߬
regeln verläuft die intravenöse Injektion
der von mir angegebenen Arzneimischung
absolut schmerzlos, ohne jede örtliche
oder allgemeine Schädigung, und
völlig frei von unerwünschten Neben¬
wirkungen.
Dem Praktiker, der die Behandlungs¬
methode nachprüfen will, muß es deswegen
sehr willkommen sein, daß die in der Her¬
stellung steriler Medikamente rühmlichst
bekannte Firma Bernhard Hadra in Berlin
sich bereit erklärt hat, das von mir erprobte
Medikament ganz nach meiner Vorschrift
und mit all den Vorsichtsmaßregeln, welche
die leicht zersetzbaren Arzneistoffe erfor¬
dern, herzustellen und unter dem Namen
Jodarsyl als Einzeldosen in zugeschmol¬
zenen Glastuben in den Handel zu bringen.
Es bedarf nun noch einer eingehenden
pharmakologischen Erörterung, um
die Wirkungsweise der angegebenen
Behandlungsmethode zu erklären und da-
l ) Atoxyl und seine Anwendung in der Medizin,
Charlottenburg 1907.
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68
Die Therapie der Gegenwart 1910.
Februar
durch die Möglichkeit einer medikamen¬
tösen Einwirkung auf den Krankheits¬
prozeß des Morbus ßasedowii darzulegen.
Die von altersher bewährte Wirkung
des Arsen auf die verschiedenartigsten
Erkrankungen des zentralen und peripheren
Nervensystems, sein gleichzeitig gün- |
stiger Einfluß auf den Stoffwechsel und [
die Ernährungsvorgänge im Organis- j
mus, haben ihm eine hervorragende Be¬
deutung in der Behandlung des Morbus
Basedowii gesichert. Das Arsen wird des- i
wegen bis auf den heutigen Tag von I
unseren hervorragendsten Klinikern (Erb,
Strümpell, Eulenburg u. a. 1 ) unter den
gegen den Basedow empfohlenen Mitteln
an erster Stelle genannt. Obwohl also
seine Wirksamkeit bei dieser erschöpfen¬
den Nervenkrankheit als hinreichend be¬
wiesen gelten kann, so waren es doch vor
der Herstellung und Anwendung der
organischen Arsenpräparate die un¬
angenehmen Nebenwirkungen des Medika¬
ments, welche seine Heilwirkung beein¬
trächtigten und nicht selten seine in bezug
auf Zeit und Dosis ausreichende Verwendung
verboten. Dagegen sind die organischen
Arsenpräparate, insbesondere das At-
oxyl, bei zweckentsprechender Herstellung
und Anwendung, besonders in Form der
intravenösen Injektion, imstande, die
Heilwirkungen des Arsen in vollkommen¬
ster Weise ohne jede störende Neben¬
wirkung zur Geltung zu bringen. Wir
können deswegen gerade von der intra¬
venösen Atoxylbehandlung einen be¬
sonders günstigen Einfluß auf die neu¬
rogenen Momente des Morbus Basedowii
erwarten. Aber die Erfolge, welche die
verschiedenen Autoren mit der Atoxyl¬
behandlung des Basedow erzielt haben,
betreffen in gleicher Weise die thyre¬
ogenen wie die neurogenen Krankheits¬
erscheinungen, sodaß sie in der roborierenden
Wirkung des Arsen auf das Nervensystem
allein keine genügende Erklärung finden.
Wir müssen deswegen dem Arsen, beson¬
ders in den relativ großen Dosen, deren
gefahrlose Einführung das Atoxyl gestattet,
auch eine günstige Heilwirkung auf
den gestörten Stoffwechsel der
Thyreoidea zuschreiben.
Der von Gautier erhobene Befund von
Arsen in der Schilddrüse ist bisher
von keinem anderen Forscher bestätigt
worden. Er kann deswegen nicht als
Beweis für die von uns angenommene
Bedeutung des Arsen für die Anomalie
J ) S. Med. Klinik 1908, Nr. 1 und 2.
der Schilddrüsenfunktion herangezogen
werden.
Ein gleiches gilt von der Behauptung
Ewalds, daß die unangenehmen Neben¬
wirkungen der Thyreoidbehandlung, der
künstliche Thyreoidismus durch
Solutio Fowleri erfolgreich bekämpft
werde.
Viel wichtiger scheint für diese Frage
die von Kocher 1 ) festgestellte Tatsache,
daß der Phosphor eine anregende
Wirkung auf die Schilddrüsenfunk¬
tion besitzt, daß er insbesondere eine
gesteigerte Fixierung von Jod in der
jodarmen Basedowstruma bewirkt. Phos¬
phor und Arsen besitzen aber in phar¬
makologischer Hinsicht und nach dem
Charakter ihrer Wirkungen auf das Nerven¬
system, den Stoffwechsel und die Ernäh¬
rungsvorgänge im Organismus soviel
Analogien, daß wir, besonders mit Rück¬
sicht auf die praktischen Erfolge,
welche zahlreiche zuverlässige Beobachter
mit dem Arsen und in neuester Zeit mit
dem Atoxyl bei Basedow erzielt haben,
wohl mit Recht diesem Medikamente eine
gleiche oder ähnliche Wirkung wie
dem Phosphor auf den Jodchemismus
der Schilddrüse zuschreiben dürfen.
Diese direkt thyreotrope Wirkung
des Arsens erfährt aber in unserer Be¬
handlungsweise eine therapeutisch be¬
deutungsvolle Steigerung durch das
Zusammenwirken zweier Faktoren, durch
die intravenöse Injektion, welche die
Affinität des Medikaments zur Schilddrüse
erhöht, und durch den Blutreichtum der
Basedow-Struma, die ebenfalls eine ver¬
stärkte Ablagerung des Arsen in dem er¬
krankten Organ zur Folge hat. Deswegen
bedürfen wir zur Heilwirkung in jeder
Einzelinjektion nur einer Atoxylmenge, die
weit entfernt bleibt von der Dosis, bei der
wir die bekannten toxischen Folgeerschei¬
nungen dieser Arsenmedikation befürchten
müssen.
Um die Wirkungsweise der Jodkom¬
ponente unseres Heilmittels zu erklären,
müssen wir näher auf die Beziehung des
Jods zur Schildrüse eingehen.
Seitdem Baumann in Uebereinstim-
mung mit einer schon vorher von Kocher
ausgesprochenen Vermutung das regel¬
mäßige Vorkommen von Jod in der
normalen Schilddrüse der Erwachsenen
nachgewiesen, ist der Chemismus der
Thyreoidea Gegenstand zahlreicher Unter¬
suchungen gewesen, ohne daß dadurch
*) Th. Kocher, Kongreß für innere Medizin
(München 1906).
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UNIVERSiTY 0F CALIFORNIA
Februar
69
Die Therapie der Gegenwart 1910.
die Funktion dieses Organs in ihrer Be¬
ziehung zum Organismus völlig klar gestellt
wurde. Soviel steht aber fest, daß die
Schilddrüse ein starkes Selektions¬
vermögen für das in die Säftemasse ge¬
langende Jod besitzt, daß es dasselbe in
sich aufspeichert und daß nach Exstir¬
pation von Drüsenteilen die zurückbleiben¬
den Partien eine Steigerung ihres Jod¬
gehaltes erfahren, ein Beweis, welch
hohe Bedeutung diesem für die normale
Schilddrüsenfunktion zufällt.
Ferner hat eine Reihe von Forschern,
insbesondere auch Albert Kocher 1 ), fest¬
gestellt, daß kropfig entartete Drüsen meist
einen abnorm geringen Jodgehalt auf¬
weisen, daß aber keine Schilddrüse so jod¬
arm gefunden wird wie die Basedow-
Struma, in der das Jod oft bis auf V 30
der Norm vermindert ist. Die Schild¬
drüse des Basedow hat also *die
Fähigkeit verloren, dasjod zu fixie¬
ren. Diese Tatsache steht fest, sie läßt
aber eine Reihe viel umstrittener Fragen
offen. Zunächst kann trotzdem eine Jod¬
sekretion vorhanden sein, es kann sogar
in Anbetracht der abnorm starken Vasku¬
larisation des Organs eine gesteigerte
Sekretion von Jod stattfinden, das aber
zu schnell von der mangelhaft aufspeichern¬
den Drüse [in die Blutbahn abgegeben
wird. Oder es kann angenommen werden,
daß das Jod überhaupt in der Drüse fehlt
und sich infolgedessen eine Vergiftung
des Körpers mit schädlichen Stoff¬
wechselprodukten vollzieht, die von
der normalen Schilddrüse durch Jodie¬
rung entgiftet werden.
Ohne Rücksicht auf diese divergieren¬
den Theorien muß es das Ziel einer wirk¬
samen medikamentösen Therapie sein, den
Jodchemismus der Schilddrüse, dessen
Bedeutung für den Basedow von allen
Forschern, zu welcher Theorie sie sich
auch bekennen mögen, anerkannt wird,
zur Norm zurückzuführen.
Theoretisch scheint die Möglichkeit ge¬
geben, dieses durch stomachale Verab¬
reichung von Jodpräparaten zu erreichen,
deren Einwirkung auf kropfig entartete
Schilddrüsen ja fest steht.
Nun ist aber schon von älteren Autoren,
so z. B. von Lücke 2 ) (1862), in einer
Reihe von Fällen beobachtet worden, daß
unter dem Gebrauch von Jodpräparaten
und insbesondere auch von Jodkalium bei
Patienten, die mit Kropf behaftet waren,
unter gleichzeitiger Verkleinerung der
l ) Alb. Kocher, Mitt. a. d. Gr. 1902, Bd. 9.
3 ) Lücke, Krankheiten der Schilddrüse.
Struma Symptome hervortraten, die mit
denen des Morbus Basedowii fast iden¬
tisch sind (Abmagerung, Pulsbeschleuni¬
gung, Zittern, Aufregungszustände, Schlaf¬
losigkeit).
Auch Albert Kocher 1 ) berichtet, daß
zweifelsohne durch die Jodtherapie eine
ganze Anzahl Basedowerkrankungen
gefördert worden ist, während Theodor
Kocher 2 ) nach Jodmißbrauch, d. h. nach
monate- oder jahrelangem Jodgebrauch, so
starke histologische V eränderungen des ge¬
sunden Schilddrüsenparenchym beobachten
konnte, daß unter Erlöschen der Drüsen¬
funktion sich Erscheinungen von Myxoedem
einstellten.
Eine Erklärung des Thyreoidismus
nach Jodgebrauch der Kopfkranken und
der Steigerung der Basedowsymptome gibt
uns eine interessante Untersuchung von
Kraus 8 ), der sah, daß unter dem Einflüsse
eines fortgesetzten Jodgebrauchs das
Kolloid der Follikel selbst frischer Kol¬
loidstrumen die Schilddrüse verläßt
und so eine Ueberschwemmung des Orga¬
nismus mit Schilddrüsensekreten zustande
kommt.
Auf Grund dieser Beobachtungen ist das
Jod seit langer Zeit als schädlich aus
der Basedow-Therapie verbannt worden.
Dennoch berichtet Albert Kocher 4 ) auch
über einzelne Basedowerkrankungen, die
unter dem Gebrauch von kleinen Jod¬
dosen eine Besserung erfuhren; auch
Kraus erzielte beim Kropfthyreoidis-
mus nach Jodgebrauch Milderung der
Herzsymptome. Ferner sah Strümpell 5 )
nicht immer von Jodpräparaten eine üble
Wirkung, in einer Reihe von Fällen er¬
wiesen sich ihm kleine Dosen Jod¬
natrium sogar nützlich.
Sicherlich sind große Dosen Jod nach
den soeben angeführten Beobachtungen
als schädlich zu verwerfen. Anders ver¬
hält es sich mit kleinen Dosen, die keine
Gefahr für das gesunde Drüsenparenchym
bedeuten, an deren Wirkungsmöglich¬
keit aber nicht zu zweifeln ist, wenn wir
bedenken, wie geringe Mengen von Jodo-
thyrin ausreichen, um den gesamten
Ausfall der Schilddrüsensekretion
zu decken. Nur müssen wir, wenn wir den
Jodchemismus der Basedow-Schilddrüse
bessern wollen, dafür Sorge tragen, daß
*) Albert Kocher, Mitt. a. d. Gr., 1902, B. 9.
2 ) Theodor Kocher, Kongreß für innere Me¬
dizin (München 1906).
A ) Kraus, Kongreß für innere Medizin (München
1906).
4 ) Albert Kocher, 1. c.
5 ) Med. Klinik 1908, Nr. 2.
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70
Die Therapie der Gegenwart 1910.
Februar
die minimalen Jodmengen nicht zu
schnell den Körper wieder verlassen, son¬
dern mit der erkrankten Schilddrüse eine
feste Verankerung eingehen nach dem
Grundsätze Ehrlichs: 1 )
„corpora non agunt, nisi fixata“.
Die Thyreotropie des Jod wird aber
durch nichts mehr gesteigert, wie wir an
anderer Stelle nachgewiesen haben 2 ), als
durch die intravenöse Injektion, die
eine verzögerte Ausscheidung des ein¬
geführten Jod und eine festere Fixierung
dieses Arzneistoffes in denjenigen Organen
zur Folge hat, zu denen er eine besondere
chemische Affinität besitzt.
Das ist aber vor allen anderen Organen
die Schilddrüse und ganz besonders, in¬
folge ihrer vermehrten Vaskularisation, die
Struma Basedowiana.
Atoxyl und Jodnatrium, die Kompo¬
nenten unserer Medikation, erfahren also
durch die intravenöse Applikation eine
Verstärkung ihrer Thyreotropie und
dadurch eine verstärkte Einwirkung auf die
Anomalie des Schilddrüsenstoffwechsels,
welche dem Basedow eigentümlich ist.
Gleichzeitig dient das Jodnatrium dem
mit ihm verbundenen Atoxyl als Last¬
wagen, um es vermöge seiner großen
Affinität zur Schilddrüse dorthin zu brin¬
gen, wo es seine heilende Wirkung aus-
üben soll.
Diese pharmakologischen Darlegun¬
gen lassen es erklärlich erscheinen, daß
unsere Behandlungsmethode die besten
und schnellsten Erfolge, ja an Heilung
grenzende Besserung bei der thyreogenen
Form des Basedow erzielt. Ob es uns bei
der neurogenen Form gelingt, gleich¬
zeitig mit der Anomalie der Schilddrüsen¬
funktion auch die Schädigung des
Nervensystems dauernd zu beseitigen,
muß natürlich trotz der anerkannt günsti¬
gen Einwirkung des Arsen und ganz be¬
sonders des intravenös injizierten Atoxyl
auf das Nervensystem, von der Art
i
l
seiner Schädigung abhängen. Ist die¬
selbe durch vorausgegangene Infektions¬
krankheiten oder durch phsychische Affekte
hervorgerufen, so werden wir sie unter
gleichzeitiger Anwendung der diätetisch¬
physikalischen Therapie (reizlose Diät,
Ruhe, Luftkuren, Luftliegekur, Elektrizität),
die nie außer acht gelassen werden darf,
leichter überwinden, als wenn eine heredi¬
tär neuropathische Disposition die Grund¬
ursache der Erkrankung bildet. In solchen
Fällen werden wir eine längere inter¬
mittierende Jod - Arsenbehandlung
durchführen müssen. Da selbst dann noch
Rückfälle zu befürchten sind, so habe ich,
um diese zu verhüten, anscheinend mit
gutem Erfolge, in den Intervallen der Jod-
Arsenbehandlung den Patienten Nukleogen
verabreicht, ein in Tablettenform hergestell¬
tes Arzneipräparat, das eine glückliche
Komposition von Arsen, Phosphor und
Eisen darstellt, also eine Reihe von Heil¬
mitteln enthält, welche erfahrungsgemäß
und nach unseren obigen Darlegungen eine
günstige Einwirkung sowohl auf die
thyreogenen wie die neurogenen Symp¬
tome des Morbus Basedowii besitzen.
Die von uns beobachteten Basedow¬
erkrankungen stellen zwar meist leichtere
oder mittel-schwere Fälle dar, teils thyre¬
ogenen, teils neurogenen Ursprungs; aber
die hierbei erzielten und prompt einsetzen¬
den Erfolge berechtigen uns wohl zu der
Annahme, daß auch bei schweren Erkran¬
kungen, die das Leben bedrohen, durch
unsere kausale Therapie eine Besserung
erzielt werden kann. Sollte aber der Heil¬
erfolg wider Erwarten ausbleiben oder
sich nicht als ausreichend erweisen, so
bleibt uns immer noch die operative
Verkleinerung der Schilddrüse als
letzter Heilversuch übrig, dessen Re¬
sultate, falls sie nicht zur völligen Resti¬
tutio ad integrum führen, immer noch durch
eine postoperative Jodarsylkur ge¬
bessert werden können.
Ueber ambulante Epilepsiebehandlung; mit besonderer
Berücksichtigung des Sabromln.
Von Nervenarzt Dr. Frochlich -Berlin.
Die ambulante Behandlung Epileptischer
ist für Arzt und Patienten mit manchen
Schwierigkeiten verknüpft; für den Arzt,
weil er bezüglich der wichtigsten Krank¬
heitserscheinungen zumeist auf Schilderung
des Kranken respektive seiner Umgebung
angewiesen ist; für den Kranken vor allem
*) Siehe Ther. d. Gegenwart 1909, H. 12.
2 ) F. Mendel, Ther. d. Gegenwart 1908, H. 7.
deshalb, weil die Forderungen der modernen
Epilepsietherapie nur schwer in der Häus¬
lichkeit sich verwirklichen lassen. Im all¬
gemeinen spielen ja heut bei unseren
therapeutischen Maßnahmen drei Punkte
eine Rolle: Ruhe des Körpers wie des
Geistes, Diät, Medikamente.
Wir bekommen Epileptiker zumeist bei
gehäuften Anfällen in Behandlung. Das
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Februar
71
Die Therapie der Gegenwart 1910.
soziale Milieu ist gerade bei Behandlung
dieser Erkrankung besonders zu berück¬
sichtigen: Einen Arbeiter, der in engen,
dunklen und schlecht ventilierten Räumen
sich aufhält, werden wir oft schon in einem
Stadium einer geeigneten Anstalt über¬
weisen müssen, in dem wir den besser
gestellten Kranken ruhig zu Hause lassen
können. Andererseits werden wir aber
auch nicht jeden Arbeiter sofort mit der
Arbeit aussetzen lassen müssen, vielmehr
nur Arbeiter in gefährlichen Maschinen- I
und dergleichen Betrieben, denen ihre bis- !
herige Arbeit dauernd zu untersagen ist.
ln ungefährlichen Betrieben arbeitende
Kranke werden wir hingegen oft noch
weiter arbeiten lassen, wenn wir wissen,
daß sie die ärztlichen Maßnahmen ge¬
wissenhaft befolgen und vor allem sich
von jeglichen Erregungen — Lektüre,
Politik usw. — fernhalten.
Gehäufte Anfälle rechtfertigen natürlich
eine Arbeitspause.
Der begüterte Patient ist zumeist Kopf¬
arbeiter. Ihm werden wir während der
Periode gesteigerter Anfälle auf jeden Fall
alle Tätigkeit untersagen, da geistige Arbeit ;
entschieden die Häufigkeit der Anfälle be- I
günstigt. Ein schwerer Anfall erfordert
am besten einige Tage Bettruhe, das Ver¬
bot jeder Lektüre und jeden Besuches,
auch wenn am Tage nach dem Anfall
das Wohlbefinden ein noch so gutes
ist. Bei gehäuften Anfällen dringen wir :
am besten auf einen Landaufenthalt und
lassen auch dort den Kranken sich aller
geistigen Tätigkeit und aller Besuche ent¬
halten. Die Anfälle werden durch diese
Maßnahmen oft in einer Zeit seltener, in 1
der ähnliche Fälle in der Stadt noch un¬
verändert bleiben. Wir sehen hier häufig,
wie weit mehr empfindlich der geistige
Arbeiter gegenüber dem körperlich Arbei¬
tenden ist: kaum je wird durch körperliche
Atbeit allein eine Verschlimmerung auf- !
treten, während dies bei fortgesetzt geistiger j
Arbeit oft der Fall ist. Die Zeit der s
Ruhe ist nicht zu kurz zu bemessen.
Halbe Maßnahmen nützen hier nicht; darum
ist einem Arbeiter auch mit einem kurzen
Landaufenthalt wenig gedient. Zudem
bleibt der Bemittelte auch außerhalb seiner
Wohnung in ständiger ärztlicher Behand¬
lung, ein Arbeiter kann sich dies nicht !
leisten; die Erholungsstätten und Sanatorien
der Städte, Landes Versicherungsanstalten
usw. nehmen Epileptiker grundsätzlich
nicht auf; so ist der Arbeiter, der Land¬
aufenthalt bekommt, nur auf sein erhöhtes
Krankengeld angewiesen, mit dem er sich
weder kurgemäß beköstigen kann, noch
einen Arzt zu Rate zu ziehen in der Lage
ist. Darum ist es für den Arbeiter zweck¬
mäßiger, wenn er bei ungefährlicher Arbeit
nach kurzer Ruhepause seine Arbeit wieder
aufnimmt, wenn der Fall ein schwerer
wird, daß er eine geeignete Anstalt auf¬
sucht. Diese Maßnahme ist bei dem sozial
Bessergestellten wiederum erst dann an¬
gebracht, wenn die Krankheit besonders
! schwere Formen annimmt.
Eine ganz wesentliche Rolle spielt dann
die Diät, zumal die vegetarische Kost,
welche in größerer oder geringerer Strenge
von den meisten Autoren bei Epilepsie als
dringendes Erfordernis angesehen wird.
Eine ganz besondere Diät hat Rosenberg
empfohlen, der nur bei äußerst strenger
Befolgung seiner diätetischen Vorschriften
für einen Erfolg mit seinem Epileptol ein¬
zustehen vermeint, ein Mittel, über das be¬
kanntlich die Meinungen noch sehr aus¬
einandergehen ; aber auch er ist im wesent¬
lichen für Einschränkung des Fleisch¬
genusses. Im wesentlichen wird es aber
wohl darauf ankommen, in der Diät nicht
zu schematisieren und sich nach der Be¬
sonderheit und Schwere des vorliegenden
Falles zu richten; jedenfalls soll das
Körpergewicht keine großen Schwankungen
erleiden, eine Unterernährung darf nicht
stattfinden. Ich lasse in allen Fällen ge¬
häufter Krarapfzustände sofort eine streng
lakto-vegetabilische, möglichst salzfreie Diät
ausführen, die sich auf mehrere Wochen
zu erstrecken hat.
Eier vermeide ich im Anfang auch nach
Möglichkeit. Der Uebergang zur gemisch¬
ten Kost hat dann ganz allmählich zu
erfolgen.
Es hat sich mir — wenn durchführbar —
als zweckmäßig erwiesen, daß der Kranke,
auch wenn gar keine Anfälle mehr auftreten,
noch auf mehrere Monate 1—2 vegetarische
Tage beibehält. Von Getränken sind Kaffee,
Tee und Alkohol in jeder Form auf lange
Zeiten zu verbieten. Rauchen habe ich
in mäßiger Weise immer bald wieder ge¬
statten können, ohne je einen Schaden
hiervon zu sehen; im Beginn der Kur ver¬
biete ich es. Endlich ist für genügende
Defäkation zu sorgen; eventuell sind leichte
Abführmittel zu reichen. Leichte hydro¬
therapeutische Maßnahmen sind zu emp¬
fehlen.
Diese kurzen Bemerkungen mögen ge¬
nügen; diese Dinge sind ja in der letzten
Zeit ausführlich von den verschiedensten
Autoren behandelt worden, ohne daß aller¬
dings bisher eine Uebereinstimmung er-
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UNIVERSiTY 0F CALIFORNIA
72
Februar
Die Therapie der Gegenwart 1910.
zielt wurde, vor allem, wie erwähnt, hin- ]
sichtlich des Nutzens einer strengen vege- i
tarischen Diät. |
In den meisten ambulant, respektive in
der Häuslichkeit zu behandelnden Fällen
— und nur von diesen soll ja die Rede
sein — ist auch eine medikamentöse The¬
rapie erforderlich. Das souveräne Mittel
war bisher stets das Brom, nach dem Vor¬
schläge von Toulouse und Richet bei
chlorarmer Diät, um ein Bromdepot im
Körper zu schaffen. Ich bevorzuge mehr
das Natron- wie das Kalisalz; auch das
Strontiumsalz ist vereinzelt empfohlen
worden und vor allem die Mischung von
Bromalkalien. Brom in Brot verbacken
kommt als Spasmosit (Schnitzer) und
Bromopan (Bälint) in den Handel. So
prompt Brom nun auch bei richtiger Do¬
sierung und langer Darreichung zu wirken
pflegt, haften ihm doch recht viele Mängel
an, sodaß man seit langem eifrig nach
Ersatzmitteln für dasselbe gesucht hat.
Diese haben jedoch fast alle den not¬
wendigen Anforderungen nicht genügt, wir
sahen immer wieder Bromismus auftreten,
Bromakne und vor allem Verschlechterung
des psychischen Befindens, Abnahme der
Intelligenz, erschwertes Denken, Müdigkeit,
Unvermögen geistig zu arbeiten.
Ausführlichere Mitteilungen sind über
die Epilepsiebehandlung mit Bromipin ge¬
macht worden, eine Verbindung von
Brom und Sesamöl, das als 10%iges und
33 l / 3 %iges Präparat in den Handel kommt.
Eulenburg, Losio, Haymann und An¬
dere haben wohl günstige Erfolge be¬
obachtet, die notwendigen Mengen sind
aber sehr große, und vor allem sind toxi¬
sche Nebenwirkungen nicht zu vermeiden;
zudem ist der Geschmack kein guter, so¬
daß sich das Bromipin nicht recht in die
Therapie hat einführen lassen. Noch
weniger Anklang hatten andere Präparate
gefunden, wie das Bromokoll, das Bromalin,
das Bromalbazid und andere mehr. Auch
die Opiumbehandlung wird wohl nur noch
vereinzelt angewendet.
Die organotherapeutische Behandlung
endlich, die Lion in die Therapie ein¬
geführt hat und Eulenburg nachprüfte,
hat nur sehr unsichere Resultate ergeben.
Ich habe in den letzten Monaten Ver¬
suche mit zwei neuen Mitteln gemacht, der
Darreichung von Natrium biboracicum und
von Sabromin. Ueber das erstgenannte
Mittel, das zuerst von Gowers schon
1870 in die Therapie eingeführt, von
Ocrum (Kopenhagen), von Fe re (aller¬
dings nur mit Erfolg in 9,1 %) und von
Lange empfohlen wurde, habe ich keine
Aufzeichnungen, ich verwandte es nur in
2 Fällen, in denen jede Therapie seit
Monaten erfolglos geblieben war; das
Leiden bestand in beiden Fällen seit
Jahren, Brom blieb, selbst in stärkeren
Gaben, ohne jede Wirkung. Auch die
Boraxtherapie ließ die Anfälle nicht zum
Verschwinden bringen, diese wurden aber
entschieden seltener. Sabromin habe ich
hier nicht versucht.
Ausgedehntere Versuche machte ich
nun mit Sabromin, wozu mir die Firma
Friedrich Bayer & Co. das nötige Material
liebenswürdigerweise zur Verfügung stellte;
im ganzen wurden 3500 g = 3 1 /» kg an
i 14 Patienten verabreicht. Um das Resultat
vorwegzunehmen, so waren die Erfolge
mit diesem Mittel geradezu glänzend, so¬
daß es mir nicht ausgeschlossen scheint,
daß Sabromin mit der Zeit die anderen
Brompräparate ersetzen wird, sobald sich
seine billigere Darstellung ermöglichen
; lassen wird. Chemismus und Pharmako-
: dynamik sind von anderen Autoren wieder-
| holt und erschöpfend mitgeteilt worden,
sodaß sich diesbezügliche Angaben hier
erübrigen. Auch diese Autoren rühmen
übereinstimmend die prompte Wirkung
des Sabromins, seine völlige Ungiftigkeit,
seine gute Einnehmbarkeit und das Fehlen
jeglicher Nebenwirkungen. Ich nenne die
Arbeiten aus der Meringsehen Klinik,
von Eulenburg, Kalischer, Kroner,
Haymann, Schlockow, Schuster und
jüngst eine gemeinsame Arbeit von Br atz
und Schlockow.
Die Menge der nötigen Sabromingaben
variiert natürlich nach Lage des Falles.
Wie bei jedem Brompräparat muß man
diejenige Menge erst ausprobieren, die
I imstande ist, Anfälle zu coupieren, respek¬
tive die Häufigkeit herabzusetzen. Im
Durchschnitt kamen wir mit täglichen
Gaben von 3—4 g aus, auf mehrere Male
i verteilt. Die Tabletten müssen zerkaut
. und mit Wasser heruntergespült werden,
j Empfindliche Patienten nehmen das Mittel
im Anschluß an die Mahlzeiten, ich habe
j aber auch keine unangenehmen Zwischen-
I fälle gesehen, wenn Sabromin auf weniger
| vollen Magen genommen wurde. Es ist
I wichtig, Sabromin einige Monate hindurch
j zu geben und nur sehr allmählich mit
! der Quantität herunterzugehen. Müssen
wir doch bedenken, daß Sabromin nur bei
gleichen Mengen 7* der Bromsalzmengen
enthält wie die Bromalkalien, und daß
diese geringe Brommenge die gleiche Wir¬
kung wie die Bromalkalien auszuüben hat.
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F ebruar
73
Die Therapie der Gegenwart 1910.
Das Sabromin wurde mir in Tabletten -
und in Pulverform geliefert. Merkwürdiger¬
weise wurden die Tabletten weit lieber ge¬
nommen als die Pulver, obwohl ja die Ta¬
bletten auch erst im Munde zerkaut werden
müssen. Jedenfalls wurde das Mittel aus¬
nahmslos gern genommen, nie wurde Über
schlechten Geschmack geklagt, nie über
schlechte Bekömmlichkeit, ich hatte keine
Gelegenheit, eine Bromakne zu beobachten,
und vor allem blieb das psychische Verhalten
vollkommen unbeeinflußt. Ich beobachtete
im ganzen 14 Fälle, alle längere Zeit hin¬
durch, bis zu 10 Monaten4) Ich möchte es
nicht unterlassen, einige Krankengeschichten
kurz zu skizzieren:
F. K., 31 J., Kassenbote. 26. Mai 1909. Lues¬
infektion November 1908, eine energische Kur
8 Wochen; seitdem ohne spezifische Behand¬
lung. Keine Erscheinungen: sonst nie erheb¬
lich krank gewesen; erblich nicht belastet. Am
24. und 25. Mai je einen Krampfanfall mit tiefer
Bewußtlosigkeit und Kopfverletzungen; Dauer
der Anfälle je 10 Minuten. 3mal 2 Tabletten.
6. Juni 1909. Bisher Sabromin gut vertragen,
kein Bromismus; gestern einen leichten Anfall
gehabt. Weiter 3mal 2 Tabletten.
7. Juni 1909. Gestern schwerer Anfall. 4 mal
2 Tabletten.
13. Juli 1909. Gestern Abend ein ganz leich¬
ter Anfall.
17. Juli 1909. Gestern wieder ein leichter
Anfall.
27. Juli 1909. Allgemeinbefinden gut: gestern
ein ganz leichter Anfall. Weiter 4 mal 2 Ta¬
bletten.
1. Oktober 1909. Hat weiter mit allmählicher
Abnahme der Quantität bis Ende August Sa¬
bromin genommen. Seither anfallsfrei, fühlt
sich kräftig, leistungsfähig, ohne jede Be¬
schwerden. Die im Beginn der Behandlung
vorgeschriebene Diät und hydrotherapeutischen
Maßnahmen führt K. weiter durch.
F. S., Arbeiter. 28 J. 16. Mai 1909. Seit dem
7. Jahre epileptische Anfälle, gewöhnlich alle
14 Tage, besonders nachts, häufiger Zungen¬
biß. Verschlimmerung seit Februar 1909, seit¬
dem wöchentlich 2mal ziemlich schwere An¬
fälle: deprimiert.
Hat seit Dezember 1908 (Beginn meiner Be¬
handlung) dauernd 3,5 g Natr. bromat. pro die
genommen. Statt des Brom wurde Sabromin
gegeben, täglich 6 Tabletten ä 0,5 g.
23. Mai 1909. Keinen Anfall mehr gehabt:
links leichte Konjunktivitis; Wohlbefinden, kein
Bromismus, psychisch ohne Störungen.
6. Juni 1909. Anfallsfrei geblieben, ist kräftig
und leistungsfähig.
1.Oktober 1909. Dauernd anfallfrei geblieben,
hat bis in die letzte Zeit regelmäßig täglich
3mal 2 Tabletten genommen. Die Sabromin-
Therapie soll weiter durchgeführt werden.
M. K., Arbeiterin, 20 J. 27. Mai 1909. Seit
dem 9. Lebensjahre epileptische Anfälle, ge¬
wöhnlich in 8 wöchentlichen Pausen. Jetzt in
einer Woche 3 Anfälle; Zungenbiß. Brom hat
1 ) Anm. bei der Korrektur. Mehrere in der
jüngsten Zeit beobachtete Fälle hatten auch nur
günstige Ergebnisse.
wohl stets geholfen, es hat die Patientin aber
auch immer sehr mitgenommen; sie hatte
darum in letzter Zeit die Bromtherapie ausge¬
setzt und nur Eisen genommen. 3mal 2 Ta¬
bletten Sabromin.
4. Juni 1909. Keine Anfälle mehr gehabt.
Leichte Kopfschmerzen, sonst aber vollkommenes
Wohlbefinden, keine Magenbeschwerden, kein
Bromismus.
Patientin war noch einige Wochen in Beob¬
achtung; die Besserung hielt bei guter Verträg¬
lichkeit des Sabromin an.
R. B.. Tischler, 36 J. 18 Mai 1909. Erster
Anfall Anfang Mai, tiefe Bewußtlosigkeit und
Zungenbiß. Täglich Anfälle, nur nachts. Stets
gesund gewesen, erblich nicht belastet. 3mal
2 Tabletten Sabromin.
20. Juni 1909. Bedeutend besser. Die Anfälle
j waren allmählich seltener und leichter gewor-
j den. Nie Bromismus, allgemeines Wohlbefinden.
I Sabromin weiter.
! 11. Juli 1909. Hat in den letzten Wochen
I keinen Anfall mehr gehabt; heut früh ein ganz
leichter Anfall.
j 27. Juli 1909. Hat nur einmal einen kleinen
i Anfall gehabt. Sabromin weiter.
I 31 Oktober 1909. Anfälle in Intervallen von
ca. 3 Wochen, bis auf einen schweren nur
! ganz leichte Anfälle. Sabromin wurde stets gut
vertragen, in letzter Zeit leichte Abnahme des
| Gedächtnisses. Im allgemeinen Wohlbefinden.
. Kann arbeiten, während im Mai die Arbeitskraft
I völlig darniederlag,
M. P.. Schlosser, 27 J. 27. Juli 1909. Erster
Anfall mit 20 Jahren, gewöhnlich in ca. sechs-
wöchentlichenlntervallen. HäufigeVerletzungen.
! Jahrelang regelmäßig Brom, täglich 1 Teelofi'el
1 voll Salz. Im Laufe der Jahre starke Abnahme
des Gedächtnisses. Keine erbliche Belastung.
! Sabromin 3 mal 2 Tabletten,
i 3. Oktober 1909. Hat dauernd bisher Sabro-
! min in gleicher Dosis genommen. Die Anfälle
sind bedeutend leichter aufgetreten und waren
1 von kürzerer Dauer. Entschieden besseres All-
| gemeinbefinden gegen früher. Kein Bromismus,
i Appetit stets in Ordnung. Früher waren im
' Anschluß an die Anfälle stets Kopfschmerzen
! von etwa 2 Stunden Dauer anfgetreten, seit der
, Sabromin-Therapie sind diese Kopfschmerzen
’ geschwunden.
H. W., Primaner, 18 J. 2. April 1909. Im
; Jahre 1905 und 1907 je ein leichter Anfall, der
als Ohnmacht gedeutet wurde. Erster typischer
| Anfall mit Zungenbiß März 1909 in der Schule.
i Bisher nie erheblich krank, keine hereditäre
i Belastung. Heut ein besonders schwerer An-
I fall. Seit März 3 g Natr. brom. pro die, jetzt
I 6g. Strenge vegetarische Diät; sollte allmählich
! wieder auf 3 g Brom zurückgehen.
5. Mai 1909 Erneuter schwerer Anfall; hatte
im April am Schulunterricht nicht teilnehmen
können, da der sonst äußerst begabte Schüler
psychisch so mitgenommen war, daß er nicht
I mehr imstande war, *zu denken und das Ge-
! dächtnis ihn völlig im Stich ließ: kann am
I Schulunterricht nicht teilnehmen: äußerst depi-
j miert und reizbar; Bromismus. Aussetzen des
j Brom, dafür Sabromin 4 g pro die. Landaufent-
■ halt 4 Wochen verordnet,
j 10. Juni 1909. Kommt sehr erholt zurück:
hat nur einen ganz leichten Anfall gehabt.
Kein Bromismus, guter Appetit, kann wieder,
wie früher arbeiten.
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74
Februar
Die Therapie der Gegenwart 1910.
23. Juni 1909. Ein ganz leichter Anfall;
bestes Wohlbefinden, nur noch 6 Tabletten
Sabromin pro die.
25. August 1909. Ein ganz leichter Anfall.
Sabromin in gleicher Dosis weiter.
3. Oktober 1909. Hat dauernd die Schule
besuchen können, ohne jede geistige Anstren¬
gung die Arbeiten zum Abiturientenexamen
geschrieben, sodaß er vom mündlichen Examen
dispensiert wurde. Keinen Anfall mehr gehabt.
Allerbestes Wohlbefinden. Soll noch einige
Monate Sabromin nehmen.
M. R., Tischler, 40 J. 4. Februar 1909. Seit
längerer Zeit Krampfanfälle mit Zungenbiß.
Lues mit 19 Jahren, eine Kur. Natr. bromat.
20,0, Natr. jodat. 10,0, Aqu. ad 200,0 3mal täg¬
lich 1 Eßlöffel.
20. Juni 1909. Besserung, aber noch häufig
Anfälle; Bromismus,Gedächtnisschwäche; 3mal
2 Tabletten Sabromin.
27. Juni 1909. Ein ganz leichter Anfall;
Wohlbefinden.
11. Juli 1909. Weder Anfälle noch Schwindel¬
anfälle gehabt.
10. Oktober 1909. Bis jetzt andauernd Sa¬
bromin genommen; kein Bromismus, das Ge¬
dächtnis hat sich gehoben und ist dauernd gut
geblieben; hat keine schweren Anfälle mehr
gehabt, nur ganz leichte ohnmachtsartige Zu¬
stände ohne tiefe Bewußtseinsstörung und ohne
Zungenbiß.
Zusammenfassung: Ich möchte auf
Grund vorliegender Mitteilungen dahin
resümieren:
Ein Heilmittel gegen Epilepsie in dem
I Sinne, daß wir mit Sicherheit dauernd An¬
fälle verhüten, d. h. eine Heilung zu erzielen,
ist bisher nicht gefunden worden. Auch
die chirurgische Therapie hat uns hier im
Stich gelassen. Wir sind neben diätetischen
Maßnahmen auf medikamentöse Behandlung
angewiesen. Die Brompräparate sind hier
dominierend geblieben. Den Bromalkalien
haften aber derartige Mängel an, daß sie
bei den Kuren, die sich nun einmal auf
lange Zeiten zu erstrecken haben, als
äußerst störend empfunden werden. Das
Sabromin scheint hier die vorhandene
Lücke auszufüllen, es hat sich anderen
Autoren und mir glänzend bewährt. Es
ist freilich noch kein Heilmittel in obigem
Sinne, es wirkt aber gut und rasch auf die
Anfälle ein, es ist bei langem Gebrauch
nicht toxisch und führt mit erheblich gerin¬
geren Brommengen zu dem gleichen Resultat
wie die Bromalkalien, ohne deren üble Nach¬
wirkungen. Seine weitere sorgfältige Er¬
probung ist deshalb dringend geboten.
Zusammenfassende Uebersicht.
Aphorismen zur Herztherapie.
Von C. A. Ewald-Berlin. (Schluß).
Die mechanische Drainage ist das
sicherste und ausgiebigste Mittel zur Ent¬
fernung der Oedeme, das wir besitzen.
Welche Methoden man anwendet, ob man
scarifiziert oder die von Curschmann oder
von mir angegebenen Punktionsnadeln be¬
nutzt u. s. f. ist ziemlich gleichgültig. Haupt¬
sache ist, daß man dfen Kranken vor Durch-
nässung schützt, weil sonst leicht Dekubitus
eintritt und selbstredend streng antiseptisch
vorgeht. Ich habe bei zahlreichen Punktionen
nur einmal vor Jahren ein Erysipel von der
Stichstelle bei einem alten decrepiden Mann
ausgehen sehen. Auf diese Weise lassen
sich viele Liter Wasser entfernen und
durch Einstich in die Beine (Ober- oder
Unterschenkel, eine oder mehrere Nadeln
gleichzeitig eingelegt) die unteren Extre¬
mitäten sowie Skrotum, Bauch und Brust
drainieren. Aber die mechanische Drainage
ist nicht immer auszuführen. Es gibt eine
Reihe von Fällen, in denen durch Finger¬
druck eine starke Delle in den ödematösen
Partien erzeugt werden kann, wo aber doch
bei der Punktion nur wenig oder gar kein
Wasser abläuft. Unter solchen Verhält¬
nissen ist die Spannung derGewebsmaschen,
zwischen die sich die Flüssigkeit ergossen
! hat, so gering, daß nicht der zum Abfließen
| nötige Druck besteht. Man kommt aber selbst
| dann noch gelegentlich zum Ziel, wenn man
zuerst durch Diuretika und Ableitungen auf
den Darmkanal die Herzkraft so weit ge¬
hoben hat, daß der Turgor der Gewebe ein
stärkerer und damit der Ablauf der Oedem-
flüssigkeit ein besserer wird. Auf die An¬
wendung der Abführmittel gehe ich hier
nicht ein, will aber bemerken, daß man sich
unter allen Umständen davor hüten muß,
I Purgantien und Drastika anzuwenden, es
i sei denn, daß man bei hochgradiger Ver¬
stopfung vorübergehend ein solches Mittel
1 gibt, um den Darm frei zu machen. Im
übrigen sind nur die salinischen und die
milden pflanzlichen Aperentien am Platze.
Was die Diuretika betrifft, so haben sich
I in der letzten Zeit — früher mußten wir
uns auf das Kalium aceticum, die Scilla,
i den Juniperus und ähnliche harntreibende
Mittel beschränken — besonders das Diu-
retin, das Agurin und das Theocin bewährt.
Das Diuretin ist der Repräsentant für die
I Verbindungsform des Theobromins, eines
I Dimethyl^anthins, mit den Natriumsalzen
| der Salizyl- und der Essigsäure. Ich gebe
| das Diuretin mit Digitalis zusammen in
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Februar
Die Therapie der Gegenwart 1910.
75
Pulverform und verschreibe Fol. Digitalis
pulv. 0,1, Diuretin 1,0, in capsula operculata
oder amylacea, weil das Diuretin einen sehr
schlechten Geschmack hat. Außerdem wirkt
das Pulver, obgleich man a priori das
Gegenteil annehmen sollte, scheinbar besser
als die Lösung, so daß z. B. von Eichhorst
die Darreichung der Digitalis in Pulverform
der im Infus vorgezogen wird. Das tue
ich nun nicht immer, aber in den Fällen,
wo es sich um eine vorübergehende starke
Digitaliswirkung handelt, namentlich mit
Rücksicht auf die Verstärkung oder über¬
haupt die Anbahnung der Diurese, pflege
ich die Digitalis in Pulverform zu geben.
Wenn das Diuretin nicht von Erfolg ist, so
kann man auch das Agurin (Theobrominum
natrioaceticum) oder Eustenia (Theobromin¬
jodnatrium) verwenden. Recht gute Erfolge
hatte ich mit dem Theophyllinum synthetic.
oder Theocin, in Lösung oder als essig¬
saures Salz, als Theocinum natrioaceticum
gegeben, welches von vielen Patienten
besser vertragen wird. Alle diese Mittel
können per os oder im Suppositorium ver¬
abfolgt werden.
Ein weiteres Unterstützungsmittel der
Herzspezifika ist das Morphium. Schon
in einer früheren Publikation sprach ich
mich folgendermaßen aus: „Sie finden nicht
so selten Herzfehler, welche zunächst auf
Digitalis nicht reagieren, bei denen weder
die Diurese zu vermehren, noch eine regel¬
mäßige Herzaktion, noch eine Steigerung
des Blutdrucks, also eine Kräftigung der
Herzsystole hervorzurufen ist, wenn wir
nicht vorher dem aufgeregten und un¬
ruhigen Kranken durch einige Morphium¬
dosen Ruhe verschafft haben. Meist sind
das Fälle, wo starke Atemnot, Schlaf¬
losigkeit, Angina pectoris, wo vielleicht
schon Cheyne-Stokessche Respiration vor¬
handen ist. Wenn hier eine dreiste sub¬
kutane Morphiumgabe verabreicht wird,
tritt der langentbehrte und sehnlichst her¬
beigewünschte Schlaf ein, die psychische
Aufregung, die auf das Allgemeinbefinden
zurückwirkt, wird gemildert, das Herz findet
Zeit und Ruhe langsamer und regelmäßiger
zu schlagen, die Systole wird besser, die
Dyspnoe und die anderen Folgen der elenden
Herzaktion werden herabgemindert, mit
einem Wort, es tritt eine schnelle und aus¬
giebige Wendung zum Besseren ein. Nun
wirkt Hand in Hand damit auch die Digi¬
talis und entwickelt ihren tonisierenden
Effekt auf das Herz. Man soll unter solchen
Umständen mit dem Morphium nicht zu
ängstlich sein. Es ist in derartigen Fällen
geradezu unschätzbar, es schädigt den
l Kranken nicht, sondern es stärkt ihn und
wirkt lebensverlängernd, ja lebensrettend,
wenn dies überhaupt möglich ist.“ Diesen
I Worten hätte ich auch heute nur hinzuzu-
| fügen, daß ich sie je länger je mehr be-
I stätigt finde, aber immer wieder Fällen be-
; gegne, wo aus einer ungerechtfertigten
Angst vor dem Morphium dies Labsal und
I Heilmittel dem Kranken über Gebühr lange
vorenthalten wurde.
[ Als eine sehr unangenehme Eigenschaft
der Digitalis gilt nun bekanntlich ihre ku¬
mulative Wirkung. Die einzelnen Dosen
summieren sich und nach einiger Zeit kommt
ein ungewollt starker Effekt zustande. Nach
meinen Erfahrungen wird diese kumulative
Wirkung der Digitalis sehr übertrieben. Sie
geht wie ein Gespenst durch die Kranken¬
berichte, Lehrbücher usw. hindurch. Ich
habe von einer kumulativen Wirkung
der Digitalis sehr selten etwas ge¬
sehen, und nur, wenn wir in verzweifelten
Fällen Massivdosen geben, treten uner¬
wünschte Nebenerscheinungen ein: sehr
hochgradige Verlangsamung des Pulses,
starkes Sinken des Blutdruckes und schlie߬
lich eine bedenkliche Beschleunigung des
Pulses durch Vaguslähmung. Ich kann nicht
sagen, daß ich nach dieser Richtung hin
unangenehme Erfahrungen gemacht hätte.
Man muß ja doch jeden Kranken, dem man
ein Herzmittel gibt, unter Augen haben, man
muß täglich und womöglich mehrmals täg¬
lich seinen Puls kontrollieren und sieht be¬
treffenden Falls aus dem veränderten Puls¬
bilde, ob die unerwünscht toxische Wirkung
der Digitalis eingetreten ist. Dann wird
man das Mittel alsbald absetzen müssen.
Viel mehr zu fürchten ist nach meiner
| Erfahrung die Wirkung, die die Digitalis¬
anwendung auf den Magen- und Darm¬
kanal äußert, so daß die Kranken nach
einiger Zeit den Appetit verlieren, auch wohl
direkt über Uebelkeit, Nausea klagen, event.
leichte Brechneigung und selbst Erbrechen
sowie Diarrhoen bekommen und aus diesem
Grunde die Digitalis abgesetzt werden muß.
Diese Wirkung der Digitalis ist eine zen¬
trale, nicht etwa eine periphere, im Magen
gelegene. Gibt man nämlich die Digitalis
unter solchen Verhältnissen als Klysma
oder subkutan oder intravenös, so tritt die
Uebelkeit ebenso ein wie vorher, es wird
also offenbar ein zentraler Punkt durch die
gleichviel wo resorbierte Digitalis ange¬
griffen, der durch Reflexwirkung den Ver¬
dauungstrakt schädigt. Will man die Digi¬
talispräparate längere Zeit hintereinander
geben — und ich lege ein großes Gewicht
mit Kußmaul, Naunyn und anderen aufdie
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76 Die Therapie der Gegenwart 1910. Februar
chronische Darreichung der Digitalis— so tut
man am besten, von Zeit zu Zeit eine Pau3e
einzuschalten und auf eine längere Zeit der
Darreichung eine Periode folgen zu lassen,
in der das Mittel ausgesetzt wird, um dann
nach etwa 5—8—10 Tagen wieder aufs neue
mit ihm zu beginnen. Dann kommt man
auch mit relativ kleinen Dosen aus. Für
die Digitalis, im Infus oder als Pulver ge¬
geben, eignet sich am besten eine einmalige
Dosis entsprechend 0,05 g Foliorum Digi¬
talis, 3—4 mal am Tage. Was die Anwendung
des Digitalin und des Digitoxin betrifft, so
schwanken die Dosen zwischen 0,3 und
1 mg wie schon oben bemerkt.
Ist dieDigitalis bei gewissen Herz¬
erkrankungen kontraindiziert? Als
Regel gilt, die Digitalis bei den Mitralfehlern,
hauptsächlich bei der Mitralinsuffizienz, in
großen Dosen zu geben, bis 0,8, ja bis 1 g
und 1,5 g pro die. Dagegen soll man sie
bei der Aorteninsuffizienz in sehr viel
kleineren Mengen verwenden, 0,25 bis 0,4 g
pro die; ja einzelne, wie z. B. Lander-
IS r unton, warnen überhaupt vor der Digi¬
talis bei der Aorteninsuffizienz, und zwar
ausgehend von dem Gedanken, daß durch
die verlängerte Diastole der Rückfluß des
Blutes in den linken Ventrikel gefördert
wird, also leicht eine Anämie des Gehirns
eintreten kann und eine Ueberfüllung des
linken Ventrikels in noch höherem Maße,
als dies ohnehin schon stattfindet, bewirkt
wird. Es ist gar keine Frage, daß man
sich gerade bei den Aortenfehlern außer¬
ordentlich vor synkopeartigen Zufällen
hüten muß. Wenn sich ein Mann mit einer
Aorteninsuffizienz plötzlich aufrichtet, so
kann es geschehen, daß er eine Ohnmachts¬
anwandlung oder eine wirkliche Ohnmacht
bekommt. Ich habe gesehen, daß bei Ent¬
leerung der gefüllten Blase ähnliche Zu¬
stände eintreten können. Das ist leicht er¬
klärlich: die gefüllte Blase drückt auf die
Unterleibsgefäße und infolgedessen ist der
Zufluß des Blutes in dieselben erschwert,
die Blutmasse bleibt in den oberen Regio¬
nen. Wenn aber die Blase plötzlich ent¬
leert wird, können sich die Unterleibs¬
gefäße ausdehnen, das Blut fließt in sie
hinein und es kann eine momentane Gehirn¬
anämie die Folge sein. Es ist also eine alte
Erfahrung, daß man bei Aorteninsuffizienz
mit der Digitalis sich eine gewisse Beschrän¬
kung auferlegen soll. Ich bin aber nicht der
Meinung und habe es auch nicht bewahrheitet
gefunden, daß man nun überhaupt keine
Digitalis und andere in diese Gruppe ge¬
hörigen Herzpräparate geben dürfte.
Noch ein Wort über die Anwendung
I des Strophantus. Der Strophantus oder
I vielmehr die ausschließlich gebrauchte Tinc-
! tura Strophanti und das Strophantin (man
; verwende als Reinpräparat das Strophanti-
num crystallisat. Thoms) sollten sich nach
früherer Anschauung von der Digitalis da-
i durch unterscheiden, daß ihnen die Wirkung
: auf die peripheren Gefäße fehle. Man pflegte
t sie also in solchen Fällen zu geben, in denen
| eine starke Kontraktion der peripheren Ge¬
fäße schon von vornherein besteht, z. B.
bei schweren dispnoetischen Zuständen,
bei denen durch den Reiz der Kohlensäure
auf das vasomotorische Zentrum eine Kon¬
traktion der peripheren Gefäße eintritt. In¬
dessen ist nach neueren Forschungen auch
das Strophantin (resp. die T. Strophanti)
als ein Digitaliskörper anzusehen, dem die
gleichen Wirkungen wie den anderen Digi¬
talispräparaten zukommt, von denen die
meisten eine starke Gefäßwirkung zeigen.
A. Fränkel (Badenweiler) hat die intrave¬
nöse Anwendung des Strophantins in Dosen
von b / 4 —1 mg in 24 h besonders gerühmt,
weil es konstanter als das Digalen sein soll.
Ich habe keinen Unterschied gefunden, doch
hat die Strophantinlösung (1:1000, Böh-
ringer & Söhne), von der 1 ccm äquivalent
20 ccm Digalen ist, den Vorteil, daß man
mit geringeren Mengen auskommt.
Auf die übrigen oben angeführten Herz¬
mittel, also die Convallaria majalis und
das aus ihr hergestellte Convallamarin,
ferner die Adonis vernalis, das Hele-
borein und das Spartein, will ich hier
nicht eingehen, weil ich sie selbst wenig
gebraucht habe und ihre Wirkung allgemein
als unzuverlässig gilt. Es sei nur bemerkt,
daß soeben aus der Convallaria ein angeb¬
lich chemisch reines, von allen emetisch
wirkenden Stoffen befreites Convallamarin
dargestellt und in wässriger Lösung unter
dem Namen „Kardiotonin“ auf den Markt
gebracht ist, welchem dieselben Eigen¬
schaften wie dem Digalen nachgerühmt
werden. Es ist um einerseits die Herzwir¬
kung zu unterstützen, andererseits die Diu¬
rese zu befördern mit Coffein. Natrioben-
zoic., und zwar 0,025 g Koffein im ccm
verbunden. Als therapeutische Anfangs¬
dosis kann 1 ccm p. os gegeben werden.
Boruttau hat dasselbe mit gutem Erfolg
auf seine pharmakodynamischen Eigen¬
schaften hin geprüft. Ich habe bei der bis¬
herigen Anwendung des Kardiotonin den
Eindruck gehabt, daß es eine etwas ener¬
gischere Wirkung wie das Digalen hat.
Dies gilt namentlich von einem kürzlicn
mir zur Prüfung übergebenen „Neu - Kar¬
diotonin“, über welches der folgende
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Februar
Die Therapie der Gegenwart 1910.
Auszug aus der Krankengeschichte einer
an Mitralinsuffizienz mit leichter myokar-
ditischer Degeneration leidenden Frau von
52 Jahren berichten möge.
,25. Oktober 1909: Das Befinden war eine ;
Zeit lang recht bedrohlich; das Herz war j
trotz Digalen in seiner Aktion sehr unregel- 1
mäßig, die Pulsfrequenz sehr beschleunigt und j
viele frustrane Kontraktionen vorhanden. Trotz- I
dem war die Diurese eine gesteigerte und die |
Oedeme nahmen ab. Da das Digalen gar nicht
auf die Regelung der Herzaktion wirkte, wurde i
vom 7.—15. Oktober Neukardiotonin gegeben I
mit dem Erfolge, daß die Herzaktion nahezu I
geregelt und ruhig wurde, die Oedeme und die |
' subjektiven Beschwerden ganz schwanden. I
Heute hat die Patientin 78 kleine, ganz regel- |
mäßige Pulse, keine Dyspnoe, Herzstoß breit, j
kräftig und etwas hebend. Es besteht eine leichte |
Verbreiterung der absoluten Herzdämpfung nach j
rechts: sie beginnt im dritten Interkostalraum
am rechten Rand des Sternums, links nach ;
innen von der Mamillarlinie. Spitzenstoß im i
fünften Interkostalraum in der Mamillarlinie.
Lautes systolisches Blasen an der Spitze, nach
dem Sternum hinaufgehend."
Wie weit der obige bei einem schweren |
Klappenfehler mit Myokarditis immerhin |
3 Wochen anhaltende günstige Einfluß auf |
das Herz dem Convallamarin, wie weit dem
beigemengten Koffein beizumessen ist, wie
weit noch eine Nachwirkung des Digalens,
das freilich wochenlang vorher ohne Nutzen
gegeben war, in Frage kommt, dürfte schwer
zu entscheiden sein. Immerhin kann das
Kardiotonin als zeitweiliger Ersatz und als j
ein berechtigter Versuch’ in den Fällen, wo
die Digitalis und ihre Präparate versagen, j
in Anwendung gezogen werden.
Ueber das von F. Mendel neuerdings
warm empfohlene Digitalon habe ich keine
eigenen Erfahrungen, da ich mich bisher
auf die galenischen und die genannten
Reinpräparate beschränkt habe. Es ist ein
wäßriger, titrierter Auszug der Blätter, der
als amerikanisches Präparat ebenfalls keiner
Kontrolle über die Beständigkeit seines
Gehaltes unterliegt.
Auch über die Herzreizmittel kann ich
kurz hinweggehen und will nur hervorheben,
daß meiner Erfahrung nach die subkutane
Kampherinjektion, da, wo es sich um
Fälle hochgradiger Herzschwäche handelt,
immer noch viel zu zaghaft angewendet
wird. Halbstündige Injektionen einer ganzen
Kampherspritze (Kampheröl), wenn erforder¬
lich Tag und Nacht fortgesetzt, mit kleinen
Unterbrechungen, sind bei uns nichts seltenes.
Ihre Wirkung kann durch die innerliche Dar¬
reichung von Koffein, am besten als Doppel¬
salz, Coffeinum natrio-benzoicum, verstärkt
werden.
Im Gegensatz zu der gefäßverengenden
Wirkung der Digitalis und ihrer Präparate
sei auf die gefäßerweiternde Wirkung
hingewiesen, die wir da brauchen, wo starke
Spannungen und Kontraktionen in den peri¬
pheren Gefäßen bestehen. Ich habe vorhin
schon die Nitrate, also vor allem das Ni¬
troglyzerin und das Amylnitrit genannt.
Letzteres eignet sich nicht zu längerem
Gebrauch, ist aber bei plötzlichem Gefä߬
krampf (Angina pectoris) oft von prompter
Wirkung. Das Nitro glyzerin gibt man
entweder in Form der Tabletten, die
1 mg Nitroglyzerin enthalten oder, was
noch besser,, in Form einer alkoholi¬
schen Lösung. Wenn Sie Nitroglyzerin
0,5 g und Alkohol absolut. 12 g zusammen
geben, so enthält ein Tropfen von dieser
Mischung 1 mg Nitroglyzerin und Sie
können davon 2—3—5 Tropfen verab¬
folgen. Das Nitroglyzerin hat aber nach
meinen Erfahrungen die Schattenseite, daß
es leicht Kongestionen zum Kopfe hervor¬
ruft, und zwar nicht nur, wie in den Lehr¬
büchern angegeben, bei chronischer Nephri¬
tis, sondern auch bei Angina pectoris auf
Grund einer Arteriosklerose. Die Kranken
klagen über Kopfschmerzen, ein Gefühl von
Pulsation im ganzen Körper, auch wohl über
Schwindelerscheinungen, die nach dem Ni¬
troglyzerin auftreten. Daß das Mittel bei
Fällen von Asthma cardiale resp. An¬
gina pectoris zunächst oft ganz zauberhaft
wirkt und man mit dem Nitroglyzerin, wenn
man es richtig anwendet, eklatante Erlolge
erzielen und die Anfälle geradezu coupieren
kann, will ich als allgemein bekannt nur
kurz anführen.
Zum Schluß noch einige Bemerkungen
über allgemein therapeutische Ma߬
nahmen bei Herzfehlern. Da sind zu¬
nächst die gymnastischen Methoden;
einmal die sogenannten Terrainkuren, die
auf eine vermehrte Bewegung der Kranken
durch abgestuftes und dosiertes Spazieren¬
gehen auf ansteigendem Terrain hinaus¬
laufen, und das andere Mal die mediko-
mechanischen Maßnahmen, die eine ge¬
steigerte Arbeit einzelner Muskelgruppen
aktiver oder passiver Art bezwecken. Die
Terrainkuren sind seinerzeit durch den ver¬
storbenen Münchener Kliniker Oertel ge¬
schaffen worden. Ihr eventueller Nutzen
ist darin gegeben, daß durch die stärkere
Bewegung der Kranken der Stoffwechsel
angeregt wird, daß durch die Anregung
des Stoffwechsels eine Reihe von gebildeten
toxischen Produkten unschädlich gemacht
und eine Ausscheidung der giftigen An¬
häufungen im Körper bewiikt wird. Es
wird die Atmungsmechanik gebessert, der
periphere Kreislauf wird auf diese Weise
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Die Therapie der Gegenwart 1910.
Februar
angeregt und erleichtert, die Wasseraus¬
scheidung durch Haut, Lungen und Nieren
vermehrt und so kann auch eine Entlastung
der Herzarbeit und indirekt eine Kräftigung
des Herzens zustande kommen. Den naiven
Standpunkt, den Oertel seinerzeit einnahm
und den viele nachgebetet haben, daß näm¬
lich durch die vermehrte Bewegung direkt
eine Trainierung des Herzmuskels statt¬
finde, etwa so wie man seinen Bizeps trai¬
niert, wenn man alle Tage Hantelübungen
macht, habe ich von Anfang an bekämpft.
Wenn man sich vorstellt, daß der Herz¬
muskel pro Tag bei 72 Schlägen in der
Minute 103680 Kontraktionen ausführt und
eine Arbeit leistet, die viele Hunderte von
Kilogrammmetern beträgt, dann erkennt
man, wie gänzlich unbegründet die Vor¬
stellung ist, daß nun durch das wenige
Spazierengehen das Herz direkt, rein
mechanisch noch weiter gekräftigt werden
könne. Eine so oberflächliche Anschauung
ist ganz von der Hand zu weisen. Es ist
vielmehr der Nutzen der Oertelkuren nur
in dem oben angegebenen Sinne zu ver¬
stehen.
Zu den mediko-mechanischen Ma߬
nahmen gehört die schwedische Heilgym¬
nastik, die Vibrationsmassage, die ander¬
weitigen Massagekuren, die Kuren mit den
Atmungsapparaten, die eine methodische
Atmung und dadurch eine Regelung der
Zirkulation bezwecken. Im allgemeinen
wirken diese Maßnahmen in erster Linie
dadurch, daß sie die Stauungen in der Pe¬
ripherie mittels aktiver und passiver Be¬
wegungen beseitigen. Sie sind also überall
da angezeigt, wo Kardiopathien bestehen,
die eine Anwendung der eigentlichen Herz¬
mittel nicht erlauben und wo auch Terrain¬
kuren nicht angezeigt sind. Da kann man
durch diese Methoden rein mechanisch ein¬
wirken. Sie können des weiteren zur Unter¬
stützung der medikamentösen Therapie her¬
angezogen werden. In diesen Bereich ge¬
hören auch die vorhin schon genannten
Thermal-, Sool- und Gas-Bäder, die An¬
wendung der Elektrizität, besonders das
jetzt so beliebte Vierzellenbad und ähnliche
Prozeduren.
Noch ein Wort über die Diät. Die
Diät bei den Herzkrankheiten im Stadium
der Dekompensation hat zweierlei Auf¬
gaben. Einmal soll sie die Flüssigkeit,
die innerhalb des Blutes zirkuliert, auf ein
möglichstes Mindestmaß setzen, um dem
Herzen, grob ausgedrückt, unnütze Arbeit
zu ersparen. Das andere Mal soll sie die
Kräfte des Patienten erhalten, leicht ver¬
daulich und an Menge mäßig sein, ohne ihm
nach irgendeiner Richtung hin eine Unter¬
ernährung einzubringen. Was die Regelung
der Flüssigkeitszufuhr betrifft, so bitte ich
über dieses Kapitel und die Erfolge, die man
mit der Flüssigkeitsbeschränkung eventuell
erzielen kann, die eingehende Darstellung
sich anzusehen, die Kraus in dem Handbuch
der Ernährungstherapie von Leyden ge¬
geben hat. Man muß zunächst versuchen,
ein gewisses Gleichmaß zwischen der Zu¬
fuhr und dem Ausgeben der Flüssigkeit
herzustellen. Ich helfe mir in der Praxis
dabei so, daß ich die Patienten ausmessen
lasse, wieviel Flüssigkeit sie innerhalb
24 Stunden zu sich nehmen und wieviel
Urin sie in derselben Zeit ausscheiden.
Die Flüssigkeitszufuhr ist derart zu regeln,
i daß sich Zufuhr und Ausscheidung unge¬
fähr das Gleichgewicht halten. Selbst wenn
dies der Fall ist, nimmt der Kranke immer
noch mehr Wasser auf, als er im Harn
ausscheidet, doch geht ein erheblicher Teil
dieses Plus durch die Perspiration, durch
die Lungenatmung, durch den Schweiß,
durch die Sekrete, soweit sie nicht den
Harn betreffen, verloren. Es ist in der Tat,
wiedas schon Oertel seinerzeit angegeben
hat, erstaunlich, welchen Einfluß auf die
Diurese man unter Umständen durch eine
geregelte Wasserzufuhr erzielen kann. Da¬
bei lasse man aber die Kranken nicht ver¬
dursten, wie das bei den sogenannten
Schrot sehen Kuren stattfindet. Das Mindest¬
maß, unter das man nicht heruntergehen
sollte; beträgt 800 ccm bis 1 Liter Flüssig¬
keit pro Tag. Sonst leiden die Kranken
derartig unter dem Durst, daß sie ihn
nicht ertragen können.
Was die Kost als solche betrifft, so
soll die notwendige Zufuhr von Brenn¬
werten in derselben gewahrt bleiben. Um
die Flüssigkeiten von vornherein möglichst
zu beschränken, wird man also im wesent¬
lichen mehr feste, wenigstens breiige Speisen
und wenig Suppen, wenig stark wasser¬
haltiges Gemüse wie Gurken, Tomaten,Kohl,
Kürbis, Melonen und dgl. geben. Zu stark
gesalzene Speisen sind zu vermeiden, weil
sie den Durst erhöhen und die Wasserauf¬
nahme und Wasserretention gesteigert wird,
blähende Kost, besonders die Kohlgemüse,
aus der Diät zu streichen, weil sie Hochstand
des Zwerchfells und dadurch eine Erschwe¬
rung der Herzaktion bewirken. Da die
Extraktivstoffe des Fleisches eine schä¬
digende Wirkung auf das Herz und die
Gefäße haben und die Kalisalze, die im
Fleisch enthalten sind, als direkte Herz¬
gifte anzusehen sind, so wird man ohne
weiteres den Fleischkonsum des Herzkranken
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Februar
Die Therapie der Gegenwart 1910.
79
sich innerhalb sehr mäßiger Grenzen halten Bier oder andere moussierenden Getränke,
lassen, und ihm das Eiweiß, das er bean- deren Kohlensäuregehalt den Magen auf-
Sprüchen muß, in Form von Eiern, von bläht und indirekt die Herzarbeit erschwert
Milch und Molkereiprodukten und in Form —dem Herzen nicht unzuträglich sind. Eben-
von Zerealien resp. Leguminosen oder Ober- so vermeide ich es auch, den gewohnten Ge-
haupt von Vegetabilien zuführen. Die Milch nuß des Tabaks völlig zu verbieten, zumal
hat den Uebelstand, daß sie dem Organis- wenn der Herzfehler schon im Stadium der
mus sehr viel Flüssigkeit bringt. Man kann Dekompensation ist. Bei arteriosklerotischen
sich dadurch helfen, daß man sie eindampft, Prozessen rate ich allerdings völlige Ent-
z. B. auf ein Drittel oder die Hälfte ihres haltung vom Nikotin und Alkohol an, weil
Volumens, auch Rahmgemenge und der- behauptet wird, daß Nikotin wie Alkohol
artiges verabfolgt, wogegen die Kranken auf die Gefäß Wandungen eine schädliche
auf die Dauer aber leicht Widerwillen emp- ; Wirkung ausüben. Eine rein vegetarische
finden. Eine ausschließliche Milchdiät, etwa Diät dem Kranken zu geben, halte ich nicht
in der strengen Form der sogen. Karellkur i für notwendig. Es ist bekannt, daß bei
(viermal tägl. 150 bis höchstens 200 ccm Vegetariern eine sehr geringe Pulsfrequenz
Milch), halte ich wegen der damit verbundenen gefunden wird. Man könnte also meinen,
Unterernährung — auch wenn sie nur kurze daß in den Fällen, wo eine sehr hohe Puls-
Zeit durchgeführt wird— für nicht geeignet frequenz besteht, eine rein vegetarische
obgleich sie sich in Fällen schwerer Iosuf- t Diät von besonderem Nutzen sei. Indessen
ficienz oft von selbst aufdrängt, weil die kommen wir mit einer lakto vegetabilischen
Kranken nichts anderes wie etwas Milch zu Diät bei den Herzfehlern, wo wir das Fleisch
nehmen mögen. Unter allen Umständen soll ganz vermeiden wollen, aus und können
der Herzkranke in seiner Nahrung mäßig sogar in der Mehrzahl der Fälle geringe
sein und stärkere Reizmittel ganz vermeiden. Mengen Fleisch — 75—100 g tischfertiges
Schwere Alkoholika, scharfe Gewürze, viel leichtes Fleisch p. d., also im wesentlichen
Rauchen sind vom Speise- resp. Genuß- sogenanntes weißes Fleisch, Geflügel und
zettel des Herzkranken zu streichen. Ob Fisch — erlauben. Es wäre dabei noch
er überhaupt den Alkohol vollkommen zu bemerken, daß man die Mahlzeiten in
meiden soll, ob er keine Zigarren oder möglichst regelmäßigen Intervallen geben
keinen Tabak mehr rauchen darf, das ist i soll und daß sich der Herzkranke sowohl
eine Frage, die man von Fall zu Fall ent- vor Tisch wie nach Tisch hinzulegen hat,
scheiden muß. Im allgemeinen stehe ich jedesmal eine halbe bis dreiviertel Stunde,
auf dem Standpunkt, daß ich meinen Herz | Das ist für die Verwertung der Nahrung,
kranken kleine Mengen von Alkohol nicht für die Schonung des Herzens, wie dies ja
versage, da kleine Mengen von gutem, I auf der Hand liegt, unter allen Umständen
leichtem, nicht moussierendem Wein — nicht eine zweckmäßige Anordnung.
Therapeutisches aus medizinischen Vereinen.
Vorträge
über die Infektion, ihre Erkennung und Behandlung,
veranstaltet vom preußischen Zentralkomitee für das ärztliche
Portbildungswesen.
Bericht von Lao Jacobsohn-Charlottenburg. (Schluß).
XIII. Lesser über die sexuellen Infek- I ein neues Zeitalter der Syphilisforschung
Honen mit besonderer Bciücksichugung angebrochen ist.
der spezifischen Erkennung und Behänd- • Die erste Tat war das lange vergeblich
lung der Syphilis. j versuchte Experiment der Luesübertragung
Während sich unsere Kenntnisse über auf ein Versuchstier. Im Jahre 1903 zeigte
das Ulcus molle und die Gonorrhöe seit Metschni ko ff in Gemeinschaft mit Roux,
Entdeckung der spezifischen Erreger dieser daß die anthropoiden Affen für mensch-
Infektionen in dem letzten Dezennium nicht liehe Syphilis empfänglich seien. Später
wesentlich gemehrt haben, hat die Syphilis- wurde auch an niedrigstehenden Affen so-
forschung eine so ungeahnte Fülle von An- wie Meerschweinchen und Kaninchen der
regungen und Vertiefungen unserer theore- Beweis der Uebertragbarkeit der Lues er-
tischen Auffassungen und der sich hieraus bracht. Hiermit war die Grundlage für eine
für die Praxis ergebenden Gesichtspunkte experimentelle Forschung dieser Volks¬
erfahren, daß mit den neuen Entdeckungen | seuche und Bekämpfung auf serotherapeu-
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Februar
80 Die Therapie der Gegenwart 1910.
tischem Wege gegeben. Zwei Jahre später
konnten Schaudinn und Hoffmann den
lange vergeblich gesuchten Erreger der
Syphilis in Gestalt einer zierlichen Spiro¬
chäte der wissenschaftlichen Welt prä¬
sentieren.
Den Schlußstein der neuen Entdeckungen
bildet die als Wassermannsche Reaktion
bezeichnete serodiagnostische Probe, an
deren Ausarbeitung neben Wassermann
auch Neißer und Bruck beteiligt sind.
Durch diese drei Entdeckungen sind
wir weit über das hinausgekommen, was
die Syphilisforschung in den letzten 80
Jahren dank der Mitarbeit hervorragender
Gelehrter wie Sigmund, Virchow und
Fournier an Erfolgen aufzuweisen hatte.
Betrachten wir zunächst die Fortschritte
in diagnostischer Hinsicht. Während man
in Frühfällen und bei zweifelhaften Primär¬
affekten vor Entdeckung des Syphiliserregers
auf ein Abwarten der Sekundärerscheinun¬
gen angewiesen war, sind wir heute meist
in der Lage, durch Nachweis der Pallida-
spirochäte aus einer winzigen Sekretmenge
mit aller Sicherheit die Frage zu ent¬
scheiden, ob Lues vorliegt oder nicht. Zum
Nachweis des Erregers bedient man sich
entweder der Giemsafärbung oder der di¬
rekten Betrachtung im Dunkelfeld. Sehr
zweckmäßig ist auch die Bur rische Tusch¬
methode, die ohne komplizierte Apparate
in der Sprechstunde eine schnelle Diagnosen¬
stellung ermöglicht.
Während die Wassermannsche Re¬
aktion nicht zur Frühdiagnose zu gebrau¬
chen ist, da sie frühestens 6 Wochen
nach Auftreten des Primäraffektes positiv
wird, kann sie im Sekundärstadium neben
dem Spirochätennachweis zur Sicherung
der Diagnose herangezogen werden. Der
positive Ausfall dieser Reaktion ist mit einer
an die Gewißheit grenzenden Wahrschein¬
lichkeit für Lues beweisend. Das gelegent¬
liche Vorkommen der Reaktion bei Ma¬
laria, tropischer Framboesie und Scharlach
tangiert ihren Wert in keinerlei Weise.
Lessers eigene Untersuchungen, die sich
auf 3000 Fälle stützen, zeigen, daß bei
manifesten Erscheinungen der Lues diese
Reaktion in 95 % positiv ausfällt. Hingegen
läßt der negative Ausfall Lues nicht mit Sicher¬
heit ausschließen. Dies gilt besonders für
latente Lues (Näheres cf. Vortrag II).
Fragen wir uns, zu welchen praktischen
Ergebnissen die neuen Entdeckungen der
Luesforschung geführt haben, so können
und dürfen wir heute in allen sicheren
Fällen von Lues schon frühzeitig eine
energische lokale Behandlung des Primär¬
affektes beginnen. Findet sich in einer
verdächtigen sklerotischen Stelle die Spiro-
chaeta pallida, so liegt Lues vor. Wir
sind somit in der Lage, schon sehr frühzeitig
die Infektionsquelle durch Exzidieren oder
Ausbrennen zu beseitigen. Wie wertvoll
eine solche Behandlung sein kann, zeigen
einige seit mehreren Jahren sicher beob¬
achteten Fälle, bei denen 4 Jahre nach früh¬
zeitiger Exzision der Initialsklerose, ohne
daß irgend eine antiluetische Behandlung
stattgefunden hat, keine Erscheinungen von
Lues aufgetreten sind und auch die Wasser¬
mannsche Reaktion nicht positiv ge¬
worden ist.
Ueber den Zeitpunkt der spezifischen
antiluetischen Behandlung bestehen nach
wie vor Meinungsverschiedenheiten zwischen
erfahrenenSyphilidologen.Während Neißer
sofort nach Sicherung der Diagnose die
Einleitung einer antiluetischen Kur fordert,
stehen Lesser und ardere auf dem Stand¬
punkt, in allen Fällen den Eintritt der Se¬
kundärerscheinungen abzuwarten.
Auch über die Art der Behandlung
herrscht unter den berufenen Autoren noch
keine Einigkeit. Während die einen rein
symptomatisch, das heißt nur bis zur Rück¬
bildung der manifesten Lueserscheinungen
die antiluetische Behandlung fortsetzen
wollen, steht die größere Mehrheit auf dem
von Fournier begründeten Standpunkt
der chronisch intermittierenden Kuren, die,
ohne daß manifeste Luessymptome bestehen,
in Intervallen auf einige Jahre ausgedehnt
werden. Nach Ansicht einiger Autoren
soll die Wassermannsche Reaktion zur
Entscheidung dieser Frage heran gezogen
werden. Lesser steht dieser Art der Ver¬
wendung der Luesreaktion sehr skeptisch
gegenüber.
An der medikamentösen Behandlung der
Syphilis hat sich in den letzten Dezennien
wenig geändert. Eine gewisse Bereiche¬
rung der antiluetisch wirkenden Mittel
stellen die Arsenikalien, besonders das
Atoxyl dar. Jedoch hält Lesser die Arsen¬
behandlung nicht für aussichtsreich, da zur
Erreichung eines therapeutischen Effektes
große, sehr differente Dosen erforderlich
sind.
In einer Schlußbetrachtung wies Vor¬
tragender auf die Tatsache hin, daß trotz
besserer Erkennung und Behandlung der
Syphilis die Gesamtzahl der mit dieser
Seuche Infizierten nicht abgenommen hat.
Schuld hieran ist die Prostitution und das
geringe Verständnis, das die Behörden be¬
gründeten ärztlichen Forderungen gegen¬
über gezeigt haben.
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Februar
Die Therapie der Gegenwart 1910.
81
XIV. Flügge ober Aetiologie und Pro¬
phylaxe der Wundinfektion.
Während die Chirurgie noch bis vor
ungefähr 30 Jahren in ihren Grundan¬
schauungen von den emporblQhenden
Schwesterwissenschaften der Hygiene und
Bakteriologie unbeeinflußt blieb, hat sie
seit den klassischen Untersuchungen Robert
Kochs Ober die Wundinfektion von ihnen
eine ungeahnte Fülle von Anregungen und
Bereicherungen in theoretischer sowie prak¬
tischer Hinsicht erhalten.
Seit der Entdeckung der Staphylo- und
Streptokokken im Jahre 1881 haben sich
unsere Ansichten über die Bedeutung jener
Bakterien als Krankheitserreger in manchen
Punkten geändert. Während man früher
mit der Ubiquität der Staphylokokken rech¬
nete und diese Anschauung auf ihr gleich¬
zeitiges Vorkommen in Furunkeln, Akne¬
pusteln, Phlegmonen, sowie auf gesunden
Schleimhäuten, im Staub und in der Luft
stützte, weiß man heute, daß die Mehrzahl
der in der freien Natur vorhandenen Sta¬
phylokokken harmlose Schmarotzer sind.
Die experimentellen Ergebnisse der mo¬
dernen Bakteriologie haben uns in Ueber-
einstimmung mit klinischen Tatsachen ge¬
lehrt, daß es zwei verschiedene Arten von
Staphylokokken gibt, die eigentlichen Eiter¬
erreger und die saprophytisch fortwuchern¬
den Kokken. Erstere sind stets pathogener,
letztere saprophytischer Provenienz. Ein
Uebergang beider kommt nicht vor.
Der pathogene Kokkus ist durch zwei
Eigentümlichkeiten ausgezeichnet; er wirkt
hämolytisch und wird durch ein ihm spezi¬
fisches, das heißt durch Vorbehandlung mit
Eiterkokken gewonnenes Serum agglutiniert.
Der saprophytisch lebende Staphylokokkus
hingegen hat keine hämolytischen Eigen¬
schaften und wird nur durch ein auf ihm
abgestimmtes Serum agglutiniert. Prüft
man einen Kokkus zweifelhafter Provenienz
auf diese beiden Eigenschaften, so wird
man nicht mehr im Zweifel sein, ob es
sich um einen pathogenen Mikroorganismus
oder einen harmlosen Schmarotzer handelt.
Der Umschwung unserer theoretischen
Anschauungen hinsichtlich der Ubiquität der
pathogenen Staphylokokken und die Er¬
kenntnis, daß die wirklichen Eitererreger
immer nur von erkrankten Menschen
stammen, darf, wie Vortragender eindring¬
lich hervorhob, nicht ohne Einfluß auf das
ärztliche Handeln bleiben. Im Lichte dieser
neuen Forschungen winkt uns die Mög¬
lichkeit, durch Vernichtung der von einem
infizierten Menschen stammenden Staphylo¬
kokkenkeime die Zahl der Eiterinfektionen
herabzusetzen. Dieses Ziel kann bis zu
einem gewissen Grade durch die Vernich¬
tung der eitrigen Sekrete, Verbrennung
der gebrauchten Verbandstoffe und Be¬
lehrung der Kranken erreicht werden.
Aehnliche Verhältnisse wie bei den Sta¬
phylokokken finden wir bei den Strepto¬
kokken. Auch hier gibt es eine pathogene
und eine saprophytische Art von Mikro¬
organismen. Die frühere Anschauung von
der Artverschiedenheit der Erysipelerreger
und der Streptokokken ist nicht mehr halt¬
bar, vielmehr ist die Virulenz der Bakterien
sowie die Lokalität, auf der die Infektion
entsteht, für den weiteren Verlauf des In¬
fektes maßgebend. Die Abgrenzung der
pathogenen und nichtpathogenen Strepto¬
kokkenstämme nach den für die Staphylo¬
kokkenidentifizierung maßgebenden Unter¬
scheidungsmerkmalen ist leider nicht mög¬
lich, da dieselben hier versagen oder keine
zuverlässigen Resultate geben.
Für die Bekämpfung der Streptokokken
besitzen wir einige spezifische Sera. Die¬
selben werden jetzt polyvalent hergestellt,
das heißt durch Behandlung von Tieren
mit verschiedenen Streptokokkenstämmen
gewonnen.
Ueber die Heilwirkung der Strepto¬
kokkensera bestehen große Meinungsver¬
schiedenheiten (cf. Vortrag XVI). Erschwert
wird die Beurteilung ihrer Wirksamkeit
durch die Unmöglichkeit, ihren Titre ex¬
perimentell zu bestimmen, da Versuchstiere
gegen den für den Menschen pathogenen
Streptokokkus nahezu immun sind.
Den Weg der aktiven Immunisierung
hat Wright bei den Eiterinfektionen be¬
schritten, indem er unter Kontrolle des
, opsonischen Index den Kranken mit abge-
I töteten Keimen, die womöglich von diesem
| selbst stammten, behandelte. Wenn die
i herrschende Anschauung über das Wesen
I der Opsonine richtig ist, hätten wir in dem
opsonischen Index einen objektiven Ma߬
stab für die vermutlichen Chancen aktiver
Immunisierungsmethoden.
Den Schluß des Vortrages bildeten einige
Bemerkungen über den Tetanus, der auch
zu den Wundinfektionen gehört. Tetanus
schließt sich besonders an infizierende
Traumen an, welche durch Schaffung be¬
sonderer Wundverhältnisse den Tetanus¬
bazillen anaerobe Existenzbedingungen dar¬
bieten.
Namentlich sind es Hieb-, Stich- und
Schußwunden sowie komplizierte Frakturen,
welche tiefe Gänge in den Weichteilen
hinterlassen und so ein anaerobes Wachs¬
tum begünstigen.
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82
Die Therapie der Gegenwart 1910.
Februar
Die Therapie des ausgebrochenen Te¬
tanus besteht neben der symptoma¬
tischen Behandlung des Krampfzustandes
in der intraduralen respektive endoneu-
ralen Injektion des spezifischen Serums.
Ein gewisser Erfolg ist dem Tetanusserum
nicht abzusprechen, weshalb man es in
jedem Falle versuchen sollte. Die pro¬
phylaktische Wirkung des Serums ist über
jeden Zweifel erhaben.
XV. Bumm über die puerperale In¬
fektion und ihre Behandlung.
Wahrend seit Einführung der Antisepsis
die Wundinfektion auf allen Spezialgebieten
der gesamten Medizin erheblich abgenommen
haben, ist dies bei den puerperalen Infek¬
tionen nur in beschranktem Maße der Fall.
In Deutschland sterben noch immer jährlich
5—6000 Frauen am Kindbettfieber. Die
Gründe hierfür liegen in den ungünstigen
Bedingungen, unter denen die Frauen der
niederen Klassen gebären, sowie der größe¬
ren Vernachlässigung der wichtigsten hy¬
gienischen Forderungen von seiten der
ärmeren Bevölkerung. Die Errichtung von
Gebäranstalten, wie sie entweder selbständig
oder als Spezialabteilungen größerer
Krankenhäuser bestehen, kann die Ziffer
der puerperalen Infektionen nicht wesent¬
lich herabdrücken, da die Zahl der in diesen
Anstalten erfolgenden Partus nur ein kleiner
Bruchteil der Gesamtgeburten darstellt.
Wird der Arzt zu einer fiebernden
Wöchnerin gerufen, so genügt es nicht,
eine puerperale Infektion festzustellen,
sondern die Diagnose muß auch die spe¬
zielle Art des Kindbettfiebers sowie die Aus¬
breitung der Krankheit berücksichtigen.
Hierzu gehört zunächst eine genaue In¬
spektion der Vulva, Scheide und des
äußeren Muttermundes. Speziell ist auf
Risse, schmierig belegte Wunden und auf
die Beschaffenheit der Lochien zu achten.
Es folgt die bakteriologische Untersuchung
des Lochialsekretes, das man am besten
mit einem feinen Glasrohr dem Zervix ent¬
nimmt. Eine Platinöse hiervon wird in
Bouillon übertragen, der Rest zu Ausstrich¬
präparaten verwandt. Die direkte mikro¬
skopische Betrachtung gibt meist wichtige
Fingerzeige für die Art der vorliegenden
Infektion. Sind polymorphe Stäbchen vor¬
handen, so handelt es sich um harmlose
Saprophyten und das Fieber pflegt nach
einigen Tagen beendigt zu sein. Gono¬
kokken rechtfertigen als Erreger des Kind¬
bettfiebers eine relativ günstige Prognose,
während Streptokokken in Reinkultur den
Fall von vornherein zu einem sehr bedenk¬
lichen stempeln.
Bumm tritt warm für diese leicht und
schnell auszuführende Untersuchung des
Lochialsekretes ein. Daneben muß das Blut
auf das Vorhandensein von Keimen unter¬
sucht werden. Lassen sich pathogene Keime
aus dem Blute züchten, so muß die Er¬
krankung als eine wenig aussichtsreiche
bezeichnet werden.
Die Behandlung des Kindbettfiebers
richtet sich nach der Art des Einzel¬
falles. Die Lokalbehandlung der Genital¬
organe hat bisher wenig geleistet. Desto
häufiger wird durch Eingehen mit Instru¬
menten, Spülungen usw. geschadet. Eine
zielbewußte konservative Therapie ist meist
die beste; vor jeder Polypragmasie muß
eindringlich gewarnt werden.
Handelt es sich um eine einfache Lochial¬
stauung, so fließt nach Einführung eines
Sondenröhrchens in den Zervix das Sekret
meist im Strahle heraus und das Fieber
geht in einigen Stunden herunter. Uterus¬
spülungen verwirft Bumm, da sie häufig
von Schüttelfrösten gefolgt sind und andrer¬
seits Keimireiheit durch Einführung anti¬
septischer Lösungen in das Uteruskavum
nie zu erzielen ist.
Bei septischer Endometritis soll gleich¬
falls weder mit der Kürette noch mit anderen
Instrumenten in den Uterus eingegangen
werden. Spülungen sind zu unterlassen,
da durch dieselben neue Infektionserreger
in dieLymphbahnen eingeschwemmt werden
können. Besteht Verdacht auf Retention
von Plazentarresten, so ist einmaliges Ein¬
gehen in den Uterus und unter Umständen
manuelles Ausräumen der Cavum Uteri ge-
| boten.
In der Allgemeinbehandlung ist Bumm
bedingter Anhänger der traditionellen Al¬
koholzufuhr. Der Weg der Zukunft ist
nach Ansicht des Vortragenden in der
Serumtherapie gelegen. Die Wirksamkeit
der heutigen Antistreptokokkensera ist da¬
durch beeinträchtigt, daß die tierischen
Antikörper der Streptokokken mit den
menschlichen nicht identisch sind. Aber
auch in seiner heutigen Gestalt muß dem
Serum bei richtiger Indikationsstellung ein
gewisser Wert zuerkannt werden. Vor¬
tragender erinnert an einige Puerperal¬
erkrankungen, bei denen 12 Stunden nach
der Seruminjektion das Fieber für immer
abfiel.
Obgleich die Kollargolbehandlung nicht
das gehalten hat, was man sich anfangs
von ihr versprach, sollten gelegentliche
gute Erfolge den Praktiker ermutigen, einen
Versuch mit einer Injektion von 2 ccm
einer 5o/ 0 igen Lösung zu machen und er-
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Februar
83
Die Therapie der Gegenwart 1910.
forderlichen Falles dieselbe einige Male zu
wiederholen.
Außerdem sind hypodermatische oder
rektale Kochsalzinfusionen von Nutzen. Die
operative Behandlung des Kindbettfiebers
ist zunächst dort indiziert, wo zirkumskripte
Eiterungen nachweisbar sind. In diesem
Falle ist die Eröffnung von Abszessen be¬
ziehungsweise eitrigen Exsudaten leicht
und von gutem Einfluß auf den Verlauf
der Erkrankung.
Mehrfach ist die Exstirpation des sep¬
tischen Uterus mit Erfolg ausgeführt worden.
Geeignet erscheinen Frühinfektionen, ver¬
ursacht durch septische Endometritis, wenn
gleichzeitig schmierige Beläge vorhanden
oder die Uteri sehr zerrissen sind. Die
Gefahren der Operation bestehen in einer
Verschleppung pathogener Keime, die zu
Peritonitis führen kann. \
Bumm steht auf dem Standpunkt, daß |
jede im Wochenbett entstehende, durch
Puerperalinfektion hervorgerufene Peri- I
tonitis operativ behandelt werden soll. Der
hierzu notwendige chirurgische Eingriff ist \
sehr geringfügig. Es genügt, mehrere Ein- ;
schnitte zu machen und das peritoneale j
Exsudat nach außen zu drainieren. Spü- j
lungen sollen nicht gemacht werden, da j
dadurch dieselben eine stärkere Toxin- >
resorption verursacht wird. Die Resultate
der chirurgischen Behandlung der Wochen¬
bettsperitonitis sind recht befriedigend.
Vortragender hat Heilung in 30% seiner |
Fälle. Die eitrige Form der Peritonitis gibt ;
ceferis paribus eine bessere Prognose als j
die serofibrinöse.
Eine wertvolle Bereicherung der opera¬
tiven Behandlung bei Puerperalinfektionen |
bildet die von Freund, Trendelenburg
und Bumm empfohlene Unterbindung der !
Vena hypogastrica. Diese Operation kommt !
bei subakuten oder chronischen Pyämien in j
Frage, während bei stürmischen Eiter fiebern i
die Unterbindung der Venen erfolglos bleibt, j
Der Trendelenburgschen Operation liegt ,
die Idee zugrunde, durch Verlegung der !
venösen Zirkulation den Transport von
Bakterien oder Toxinen nach dem Herzen
zu erschweren. Während man ursprüng¬
lich die eine Hypogastrika ligiert hat, wird
jetzt meistens eine Vena femoralis zu¬
gleich mit der einen Vena spermatica unter¬
bunden.
XVI. Plehn über die klinische Beur¬
teilung von Fiebern aus zweifelhaften
oder unbekannten Ursachen und ihre
Behandlung.
Der Kreis der diagnostisch unklaren
Erkrankungen ist mit der Verbesserung
der Untersuchungstechnik sowie der Er¬
weiterung unserer Kenntnisse mehr und
mehr ein geengt worden. Während z. B.
noch vor 20 Jahren die kryptogenetische
Sepsis eine große Rolle gespielt hat, sind
wir heute meistens imstande, den Ausgangs¬
punkt einer septischen Infektion nachzu¬
weisen sowie diese Erkrankung gegen
andere mit septischen Erscheinungen einher¬
gehende Krankheitszustände abzugrenzen.
Hierzu gehört auch die akute Leukämie,
die mit hohem Fieber, Schüttelfrösten und
Knochenschmerzen ganz an eine Sepsis
erinnern kann. Fehlt ein beträchtlicher,
über die septische Milzschwellung hinaus¬
gehender Milztumor, so kann die Diagnose
nur aus dem Blutbilde gestellt werden.
Jedoch kann gerade bei den akuten Formen
das Blutbild ein aleukämisches, d. h. ein
solches ohne Vermehrung der weißen Blut¬
zellen sein und nur eine numerische Ver¬
schiebung der einzelnen Leukozytenformen
zeigen.
Eine gewisse Verwandschaft mit der
Sepsis ist auch in den ätiologisch völlig
unklaren Erkrankungen vorhanden, wo unter
Fieber Blutungen auf der Haut, Schleim¬
haut, Retina und in den Gelenken ent¬
stehen. Die Prognose ist in diesen Fällen
eine günstige.
Handelt es sich darum, die Quelle eines
unklaren Fiebers aufzusuchen, so soll man
in keinem Fall unterlassen, bei Männern
die Prostata, bei Frauen das Pyelon zu
untersuchen. Ebenso ist auf tiefliegende
Abszesse (Leber, Milz) zu fahnden.
Nicht außer Acht darf man lassen, daß
auch die tertiäre Lues namentlich in der
Form des Lebergumma mit lang anhalten¬
dem Fieber einhergehen kann. Vortragen¬
der ist auch der Ansicht, daß bei Frauen
habituelle Verstopfung gelegentlich zu rezi¬
divierenden Fiebern führt.
Die Malaria ist an den regelmäßig wie¬
derkehrenden Schüttelfrösten mit Intervallen
bei nahezu vollständiger Gesundheit zu er¬
kennen. Gesichert wird die Diagnose durch
den Nachweis der Malariaplasmodien im
Blute sowie durch die spezifische Wirkung
des Chinins. Therapeutisch empfiehlt Plehn
die intramuskuläre Injektion von Chinin in
nicht zu kleinen Dosen.
Das in den Mittelmeerländern und in
manchen tropischen Ländern vorkommende
Maltafieber wird durch einen spezifischen
Kokkus (Mikrokokkus melitensis) verursacht
Das Krankheitsbild erinnert sehr an die In¬
fluenza, das Fieber ist anfangs remittierend,
später intermittierend. Die Krankheit hat
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84 Die Therapie der Gegenwart 1910. Februar
große Neigung zum Rezidivieren. Gesichert
wird die besonders gegen Tuberkulose,
Typhusund Febris recurrens abzugrenzende
Diagnose durch den Nachweis der Malta¬
kokken aus dem Blute, während die Ag¬
glutination weniger eindeutige Resultate
gibt.
Große diagnostische Schwierigkeiten sind
häufig vorhanden, wenn es gilt, bei einer
fieberhafte Erkrankung zu entscheiden, ob
Typhus, Miliartuberkulose oder Sepsis vor¬
liegt. Auch der geübte Diagnostiker wird
hier bei einmaliger Untersuchung meist
keine sichere Diagnose stellen können. In
diesen Fällen müssen alle diagnostischen
Hilfsmittel der Chemie, Bakteriologie und
Mikroskopie erschöpft werden.
Zum Schlüsse machte Redner noch
einige Angaben über die Diagnose der
Tuberkulose. Plehn warnt vor zu hoher
Bewertung der Ophthalmoreaktion. Er ver¬
fügt über 4 Fälle, bei denen trotz positiver
Reaktion autoptisch die Lungen frei von
tuberkulösen Veränderungen gefunden
wurden.
Nicht selten ist im Kindesalter die Drüsen¬
tuberkulose die Quelle eines unklaren Fie-
| bers. [Hier leistet das Röntgen verfahren
! diagnostisch gute Dienste.
Um die Pubertät sieht man bei Kindern
beiderlei Geschlechtes bisweilen länger an¬
haltende Fieberbewegungen, ohne daß der
Ernährungs- und Kräftezustand wesentlich
1 leidet. Der Ausgang ist immer ein gün¬
stiger. Die Ursache des Fiebers ist un¬
bekannt und vielleicht in einer latenten,
benignen Tuberkulose zu suchen.
In der Behandlung der Infektionskrank¬
heiten ist man mehr und mehr davon ab-
| gekommen, das Fieber selbst zu bekämpfen.
Der Umschwung in der die Beurteilung
der Antipyrese wurde durch die Erkenntnis
herbeigeführt, daß das Fieber nur ein Sym¬
ptom sei und der vermehrte Eiweißzerfall
nicht durch das Fieber als solches, sondern
durch die Wirkung von Toxinen verursacht
i werde.
Mit der Besprechung der wichtigsten
ernährungstechnischen Fragen, einigen Hin¬
weisen auf die medikamentöse sowie Bäder¬
behandlung und einem Ausblick auf die
Fieberbehandlung der Zukunft schloß Redner
den Vortrag und somit den Zyklus der hier
l referierten Vorträge.
Bücherbesprechungen.
Wilhelm Ebstein. Die Pathologie und
Therapie der Lepra. Bibliothek me¬
dizinischer Monographien. Bd. 9. Leipzig
bei Dr. Werner Klinkhard.
Ein Allmeister der medizinisch-klinischen
und medizinisch - historischen Forschung
bringt in dieser rund 100 Seiten umfassen¬
den Monographie eine — weniger auf eigene
Erfahrungen, basierte — als auf eingehen¬
den literarischen Studien beruhende Dar¬
stellung der Lepra. Wenn auch diese
Krankheit für uns keine große praktische
Bedeutung hat, so muß sie doch jeden Me¬
diziner als eins der interessantesten Kapitel
unserer Wissenschaft fesseln. Der Gegen¬
stand kann naturgemäß in diesem Buche
nicht völlig erschöpft sein, aber alles
Wesentliche, auch die modernen Forschungs¬
ergebnisse (mit Ausnahme der serologi¬
schen) sind berücksichtigt; besonders sind
auch die allgemein wichtigen geographi¬
schen Verhältnisse, die vielfach erörterten
Beziehungen der Lepra zur Kunst wenig¬
stensin wichtigeren Punkten dargestellt. Das
Buch wendet sich nicht an den Spezialisten.
Aber jeder Arzt, der die allgemeinen Fragen
unserer Kunst im Auge behält, wird das
ungemein fesselnd und ansprechend ge¬
schriebene Buch mit Interesse lesen.
Buschke (Berlin).
R. Lenzmann. Die Pathologie und
Therapie der plötzlich das Leben
gefährdenden Krankheitszustände.
II. Auflage. Jena 1909. Gustav Fischer.
584 S.
Das schnelle Vergriffensein der vor
2 Jahren erschienenen ersten Auflage des
Lenzmann sehen Werkes zeigt, daß das
Buch einem praktischen Bedürfnis ent¬
spricht. Wenn auch an guten Lehr- und
Handbüchern kein Mangel ist, aus denen
man sich erschöpfend über die durch den
Titel des Werkes bezeichneten Krankheits¬
zustände orientieren kann, so ist es doch
für den Praktiker angesichts eines plötz¬
lich das Leben bedrohenden Leidens ein
nicht zu unterschätzender Vorteil, sich
schnell über ein Krankheitsbild informieren
zu können.
In lebendiger Schilderung läßt Lenz-
mann die meist aus eigener Beobachtung
gewonnenen, mit zahlreichen Kranken¬
geschichten illustrierten Krankheitszustände
vorüberziehen, welche in wenigen Stunden
oder Tagen für ihren Träger lebens¬
gefährlich werden können. Der Gliederung
des Stoffes ist der Organursprung der
einzelnen Krankheiten zugrunde gelegt.
Den größeren Raum des Lenzmann-
sehen Werkes nimmt das Gebiet der
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Februar
Die Therapie der Gegenwart 1910. 85
inneren Medizin ein, aber auch chirurgische
Erkrankungen sowie die das Leben ge¬
fährdenden Krankheitszustände, wie sie
durch abnormen Verlauf der Schwanger- |
schaft, der Geburt und des Wochenbettes |
bedingt werden, sind gleichfalls erschöpfend j
abgehandelt. j
Eine wesentliche Erweiterung gegenflber
der ersten Auflage bedeutet die Einfügung
eines Abschnittes über die wichtigsten |
akuten Vergiftungen.
Es sei noch darauf hingewiesen, daß I
Verfasser überall eingehend die Diffe¬
rentialdiagnose berücksichtigt hat. Hierbei
hat ihn die Idee geleitet, kein „Vademekum
für die Rocktasche“ zu schreiben, sondern
die Grundlage für ein ernstes Studium
jener den Praktiker besonders interessie¬
renden Krankheitszustände zu geben.
Leo Jacobsohn (Charlottenbur§).
Therapeutisches Taschenbuch der Ner¬
venkrankheiten. VonDr.W.Alexander
und Dr. K. Krön er. Berlin 1910. Fischers
Medizinische Buchhandlung.
Das in der Serie der therapeutischen
Taschenbücher erschienene 164 Seiten
starke Büchlein bezweckt den Praktiker
mit den in der Neurologie herrschenden
therapeutischen Grundsätzen und Behand¬
lungsmethoden vertraut zu machen. Daß
ein solches Unternehmen einem praktischen
Bedürfnisse entspricht, hat Gold scheid er
in dem den Ausführungen der beiden
Autoren vorausgeschickten Vorworte dar¬
getan. Der Aufgabe, in knapper Form mit
Weglassung alles Unwesentlichen, eine
kompendiöse Zusammenstellung neuerer
und neuester Heilmittel zu geben, sind
Alexander und Kroner in jeder Hinsicht
gerecht geworden. Nebenbei enthält das
kleine Buch mehrere Abbildungen und eine
Reihe von Angaben über die Bezugs¬
quellen, der in der Neurologie therapeutisch
brauchbaren Apparate mit Angabe des
Preises. Wo es nötig ist, haben die
Autoren die Ausführung therapeutischer
Methoden bis ins Einzelne geschildert.
Gleichzeitig gibt das Büchlein differentiell
diagnostische Hinweise der wichtigsten
Nervenkrankheiten. Alles in allem ein für
die Praxis sehr brauchbares und empfehlens¬
wertes Buch.
Leo Jacobsohn (Charlottenburg).
Johann Fein. Rhino- und laryngolo-
gische Winke für praktische Aerzte.
Mit 40 Textabbildungen und 2 Tafeln.
Verlag von Urban & Schwarzenberg,
Berlin und Wien 1910. M. 5,— geb,
Referent hat das Büchelchen mit vielem
Vergnügen durchgelesen und mit einem
Gefühl der Befriedigung aus der Hand gelegt.
Man merkt es auf jeder Seite: es ist das
i Werk eines Arztes, der aus der Praxis
' heraus für die Praxis geschrieben hat.
Gerade dem Praktiker wird Fe ins Buch
i ein willkommenes Vademekum sein. Dem
! Charakter und der eigentlichen Bestimmung
des Buches entsprechend, hat Fein auf alle
theoretisierenden Erörterungen und selbst¬
verständlich auch auf die sonst üblichen
Literaturangaben verzichtet und nur die¬
jenigen Krankheitsprozesse der Nase und
des Halses ausführlicher abgehandelt, die
der Medicus practicus häufiger zu sehen
Gelegenheit hat. Sehr praktisch ist dabei
wieder das von Fein befolgte Einteilungs¬
prinzip, das die Krankheiten nach gewissen
besonders hervorstechenden Symptomen
gruppiert. Ein Lehrbuch will das Feinsche
Opus ja nicht sein; aber als Ratgeber für
die dringendsten Bedürfnisse der täglichen
Praxis wird es eine wertvolle Bereicherung
der ärztlichen Bibliothek bilden.
Ob in dem umgrenzten Rahmen des
Büchelchens zwei Tafeln ausschließlich zur
Illustration der Dauerresultate bei der
Paraffinbehandlung der Sattelnasen er¬
forderlich waren, mag dahingestellt bleiben.
Im übrigen sind Druck und Ausstattung
von einwandfreier Güte. A. Bruck (Berlin.)
Referate.
Die Aktinomykose wird an der Wölf-
1 ersehen Klinik konservativ oder operativ j
oder kombiniert behandelt. Zur konser¬
vativen Behandlung dienen die Jodpräpa¬
rate: Jodkalium, in letzter Zeit Jodnatrium,
innerlich zu 2—5 g täglich in Pulvern oder
von einer 5%igen Lösung 3 mal 1 E߬
löffel, oder am ersten Tag 1 g, am zweiten
2 g, am dritten 3 g, dann 3 Tage Pause,
dann wieder von vorn. Aeußerlich wurde
10% ige Jodkalilösung zum Verbinden der
kranken Stellen benutzt; ferner wurde ver- |
sucht Sajodin 3 mal 1 g, Jodvasogen 6°/ 0
| zu Pinselung und Umschlägen. Die Ope¬
ration bestand in Inzision, Exkochleation,
Exstirpation. Durch die Jodbehandlung
wurden 18 Fälle von Kopf-Halsaktinomy-
kose geheilt, 5 gebessert, 4 starben. Der
Einfluß des Jods führte in den meisten
Fällen zu Abszedierung und Rückgang der
i Infiltration. Es kann aber auch trotz Jod¬
darreichung neue Infiltration auftreten. Daß
durch gründliche Operation die Behandlungs-
1 dauer gegenüber der Jodbehandlung ab-
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86 Die Therapie der
gekürzt wird, ist zweifellos. Also bei der
Kopf-Halsaktinomykose hat sich die Jod-
behandlung sehr bewährt. Von 7 Kranken
mit Bauch aktin omy kose hatten 4 in ihrem
Beruf sicher mit Getreide zu tun. Die
Diagnose ließ sich in allen Fällen ganz
sicher stellen. Als Ausgangspunkt kann in
allen Fällen der Darm betrachtet werden.
Sitz waren 2 mal die Bauchdecken, 3 mal
der Darm bezw. Proc. vermif., 2 mal das
große Becken. Die Form war 6 mal die
gewöhnliche, nämlich chronische Phleg¬
mone mit Fisteln, einmal war die Erkrankung
ganz zirkumskript. Einige Tage oder
Wochen vor Auftreten der tastbaren Ge¬
schwülste waren Schmerzen im ganzen
Unterleib oder an der betreffenden Stelle
vorausgegangen; einmal bestand Aszites.
Neben der chirurgischen Behandlung wurden
Jodpräparate und Tuberculinum vetus an¬
gewandt. 3 wurden geheilt, 3 gebessert,
1 starb; der mit Tuberkulin behandelte ge¬
nas. Sitzt die Erkrankung nur in den
Bauchdecken, so ist die Prognose sehr gut;
chirurgisch kommt man dann mit Inzision
und Exkochleation aus. Bei diffusen Herden
in der Bauchhöhle genügt die Exkochlea¬
tion nicht und noch weniger das Jod;
Tuberkulin hat sich bei längerem Gebrauch
günstig erwiesen. Bei den seltenen zirkum¬
skripten Formen kommt nur die Exstirpa¬
tion in Betracht. Eine Dauerheilung konnte
erzielt werden bei umschriebenen Darm¬
tumoren und isolierten Organerkrankungen,
wie Niere und Tube, ferner bei Bauch-'
deckeninfiltration ohne intraperitoneale Be¬
teiligung und in einzelnen Fällen von diffus
infiltrierenden vom Processus vermiformis
oder vom Zökum ausgehenden Formen.
Für die begrenzten Darmtumoren und die
isolierten Organerkrankungen war nötig
und genügte die Exstirpation. Bei den
Bauchdeckeninfiltrationen wurde Heilung
herbeigeführt durch bloße Inzision, durch
Inzision und Verabreichung von Jodpräpa¬
raten, durch Tuberkulininjektionen, durch
Exkochleation allein oder kombiniert mit
Jodmedikation und durch radikale Exstir¬
pation. Klink.
(v. Bruns Beitr. z. kl. Chir., Bd. 63, H. 3)
Die von Amerikanern und Engländern
schon seit einiger Zeit angewandte Appen-
dikostomie hat Wilms an einigen t allen
erproben können. Er empfiehlt ihre Ver¬
wendung bei allgemeiner Peritonitis mit
starkem Meteorismus und beginnender
Darmschwäche, ferner bei Ileus, wo der
Darm ebenfalls stark gebläht und die
Darm wand geschwächt ist — bei diesen
beiden Krankheitsformen dann, wenn die
Gegenwart 1910. Februar
Anlegung einer Dünndarmfistel in Frage
kommt; da die Appendikostomie aber
leichter und ungefährlicher anzulegen ist,
so ist sie einer solchen vorzuziehen —
und endlich noch zur Behandlung der
Kolitis. Der Darminhalt läßt sich durch
die Appendikostomie gut entleeren, Koch¬
salzlösung und Nährklistiere können durch
sie leicht in den Darm eingeführt werden.
Geht die Peritonitis nicht von der Appen¬
dix aus, so muß eventuell ein besonderer
Schnitt zur Anlegung der Appendixfistel
gemacht werden; ist Appendizitis die Ur¬
sache der Peritonitis, so läßt sich der
Wurmfortsatz, wenn er nicht völlig gan¬
gränös ist, doch ganz gut zur Fistelaniegung
verwenden. Derartige Fisteln pflegen sich
rasch zu schließen. Um bei völlig gesun¬
der Appendix das zu lange Bestthen-
bleiben der Fistel zu verhüten, empfiehlt
es sich, den Wurmfortsatz so zu fixieren,
daß das Mesenteriolum bis zur Basis unter¬
bunden und nun dieser schlecht ernährte
Fortsatz als Rohr benutzt wird. Auf diese
Weise wird allmählich die Wand der
Appendix zerstört, hält aber doch so lange
stand, bis sich Adhäsionen bilden können,
die das Auftreten einer Bauchfellentzündung
verhindern. Eine Knickung des Darmes
ist bei der Appendikostomie nicht zu be¬
fürchten, dahingegen kann es, wie Wilms
sich in einem Fall überzeugen konnte,
Vorkommen, daß die Appendix stark aus¬
gezogen wird und nun als dünner Strang,
der jederzeit die Ursache eines Strangu-
lationsileus werden kann, durch die Bauch¬
höhle zieht. Man könnte dies verhindern,
wenn man breite Adhäsionen durch eine
Art Kolopexie um die Appendix schaffte;,
da aber hierdurch die Operationsdauer
verlängert wird, so wird man in den
meisten Fällen davon Abstand nehmen
müssen. Hohmeier (Altona).
(Deutsche Ztschr. f. Chir. Bd. 102, H. 4—6.)
In einer kürzlich veröffentlichten Vor¬
lesung übet Chlorose weistC.vonNoorden
auf die bei dieser Krankheit häufige hart¬
näckige Obstipation hin, die des öfteren
den Gebrauch von Eisen in jeder Form
verhindert, und bespricht deren Bekämpfung.
Dabei warnt er vor dem häufigen Gebrauch
von Klistieren, die er als „die weitaus schäd¬
lichste und folgenschwerste Bekämpfungs¬
form der chronischen Stuhlträgheit“ be¬
zeichnet, weil nach seiner Meinung aus ihr
fast immer eine abnorme Erschlaffung, Er¬
weiterung und Trägheit des Mastdarms re¬
sultiere. Die gewöhnliche Obstipation be¬
ruht nach Noorden auf Bewegungsstörung
des Dickdarms, besonders der Flexura
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87
Februar Die Therapie der Gegenwart 1910..
sigmoidea und ist durch eine systematische
diätetische Behandlung ausnahmslos leicht
und dauerhaft heilbar. Wenn aber durch
häufige, insbesondere auch große Klistiere
eine Mastdarmerschlafiung hinzugekommen,
dann sieht man durch die diätetische Kur
wohl die Sigmoidalobstipation zur Heilung
kommen, die Kotmassen rücken ordnungs¬
mäßig bis in die Ampulle des Rektums vor,
bleiben dort aber ohne Reflexauslösung
lange liegen und es bedarf noch einer
langen und peinvollen Nachbehandlung, oft
durch abnorme Reizmittel, wie Glyzerin¬
zäpfchen, kleine Oelklystiere usw., um diese
Mastdarmträgheit zu überwinden.
Die obstipierende Wirkung ist nicht bei
allen Formen der Eisentherapie die gleiche.
Am häufigsten führen nach Noordens Er¬
fahrung die Präparate der Pharmakopoe
zur Obstipation. Viel weniger ist dies der
Fall beim Gebrauch der kohlensauren Stahl¬
quellen (Langenschwalbach, Franzens¬
bad usw.), die aber für häusliche Behand¬
lung sich nicht eignen, sondern stets an
der Quelle getrunken werden müssen. Die
Wässer mit schwefelsaurem Eisen (Levico,
Roncegno, Guber quelle, Val Sinestra)
stehen zwischen beiden in der Mitte. Die
von Quincke angeregte subkutane Einver¬
leibung des Eisens, von der die moderne
Therapie namentlich in den romanischen
Ländern ausgedehnten Gebrauch macht,
bewährt sich oft, aber durchaus nicht immer;
nach Noordens Erfahrung kommt es auch
dabei oft zu starker Stuhlträgheit.
In solchen Fällen, wo Eisen schlecht
vertragen wird, ist es angezeigt, sich des
Arsen zu bedienen — um so mehr als ja
das Eisen bei der Chlorose nicht etwa
wirkt, weil es im Körper oder in der Nah¬
rung des Chlorotischen an Eisen mangelt,
sondern beide, Eisen und Arsen, ebenso
wie manche anderen therapeutischen Ma߬
nahmen, die bei Chlorose mit Nutzen an¬
gewandt werden, als direktes Reizmittel auf
die blutbildenden Organe wirken. Die Wahl
des Arsenpräparates ist nicht gleichgültig.
Acid. arsenicosum und Liqu. Kal. arsenicosi,
die, innerlich dargereicht, häufig gut ver¬
tragen werden, sind bei Hyperästhesie des
Magens, an der viele Chlorotische leiden,
zu vermeiden. Die obengenannten arsen¬
haltigen Eisenwässer werden vom Magen
zwar durchschnittlich besser vertragen, sind
aber eben wegen der obstipierenden Wir¬
kung des Eisens kontraindiziert. Die Ka-
kodylatinjektionen sind unsicher in ihrer
Wirkung, dabei nicht ungefährlich; auch
bei den Atoxylinjektionen sind überraschende
Vergiftungen nicht ausgeschlossen. Sehr
empfehlenswert ist nach Noordens Er¬
fahrungen die fast eisenfreie Dürkheimer
Maxquelle, auf welche v. d. Velden und
Brenner kürzlich hingewiesen haben. Die¬
selbe enthält im Liter 13,8 g Chlornatrium
und 0.017 g Arsentrioxid; sie bringt die
Arsenwirkung vortrefflich zur Entfaltung
und ist dabei ohne jede Reizwirkung für
Magen und Darm. Auch Chlorotische mit
beträchtlicher Magenhyperästhesie vertragen
dieses Mineralwasser, welches infolge seines
Kochsalzgehaltes die Darmperistaltik ent¬
schieden anregt. Man beginnt mit der
Verordnung von dreimal täglich 20 ccm
(nach den Mahlzeiten zu nehmen) und steigt
allmählich auf dreimal 100 ccm, womit die
Tagesdosis von 5 mg Arsenik erreicht wird.
Bezüglich der Ernährung der Chlo¬
rotischen hältNoorden an seiner früheren
Empfehlung eiweißreicher Kost fest. Be¬
sonders ein eiweißreiches erstes Frühstück,
gleichgültig ob man Eier oder, was N o o r d e n
bevorzugt, Fleisch nehmen läßt, ist von
ausgezeichnetem Einfluß auf das subjektive
Wohlbefinden der Chlorotischen. Die neuer¬
dings aufgekommene Mode, Chlorotische
und überhaupt anämische Patienten vor¬
wiegend mit Vegetabilien, also eiweißarm
zu ernähren, verurteilt Noorden scharf als
unbegründet und schädlich; das Optimum
der Eiweißzufuhr für Chlorotische scheint
ihm zwischen 100 und 120 g zu liegen.
F. Klemperer.
(Med. Klinik 1900, Nr. 2.)
In einem Aufsatze über dielndikationen
und Kontraindikationen von Dick-
darmeinläufen und Klistieren wendet
sich J. Boas gegen die Ueberschätzung
dieser, wie er glaubt, häufig schädlichen
Prozeduren bei der Behandlung der ver¬
schiedenen Formen der Dickdarmkatarrhe.
Von den gewöhnlichen Wassereinläufen
kann bei ihnen ein Nutzen nur dadurch er¬
wartet werden, daß stagnierende Residuen
und diesen beigemengte Noxen schnell aus
dem Darme entfernt werden. Das kann
zweifellos bei obstipativen Katarrhen und
vermehrter Flatulenz, aber auch bei soge¬
nannten Sterkoraldiarrhöen sicherlich von
Nutzen sein; bei mit stark gesteigerter
Peristaltik einhergehenden chronischen Ka¬
tarrhen dagegen kann nach Boas von einem
Erfolg von Wasserinjektionen selbstver¬
ständlich keine Rede sein. In diesen letzt¬
genannten Fällen wird nun vielfach von
medikamentösen Einläufen Gebrauch
gemacht; besonders werden adstringierende
Zusätze (Tannin, Argentum nitricum, Wis¬
mut und andere) bevorzugt, und zwar teils
ihrer stopfenden Wirkung wegen, teils um
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88
Die Therapie der Gegenwart 1910.
Februar
die erkrankte Darmschleimhaut „umzu¬
stimmen". Boas hält dem entgegen, daß
eine stopfende Wirkung durch Adstringen¬
den unbedingt leichter erreicht wird, wenn
sie per os gereicht werden; daß ferner eine
adstringierende Wirkung von Injektions-
flüssigkeiten überhaupt nicht erwiesen und
die „umstimmende“ Wirkung, die bei Darm¬
katarrhen zustande kommen soll, doch wohl
recht fragwürdig ist, da von diesen Mitteln
niemals beim Magenkatarrh Gebrauch ge¬
macht wird, bei welchem die Chancen
einer therapeutischen Beeinflussung doch
sehr viel günstiger liegen.
Gänzlich kontraindiziert sind die Tannin-,
Blei- und ähnliche Präparate bei der Co¬
litis membranacea. Auch bei Kranken
mit gewöhnlicher muköser Kolitis, be
sonders solchen mit Diarrhöen, wird durch
Tanninklistiere nicht nur nichts genutzt,
sondern es treten erst infolge der adstrin¬
gierenden Einläufe Membranen auf. Wie
nachTannininjektionen, sah Boas Membran-
bildung auch nach Injektion von Höllen¬
stein, Alaun, Bleiessig. Da Boas weiter
beobachtet hat, daß selbst gewöhnliche
Wasserklistiere, in abundanter Weise appli¬
ziert, das Krankheitsbild der Enteritis mem¬
branacea ungünstig beeinflussen, ist er da¬
zu gekommen, bei dieser Krankheit von
der Applikation von Klystieren und Wasser¬
einläufen, mit oder ohne adstringierende
Zusätze, überhaupt Abstand zu nehmen;
die rein diätetische Behandlung, wenn es
ihr gelingt, die Obstipation oder umgekehrt
die Diarrhöen zum Schwinden zu bringen, j
erzielt die besten Erfolge. |
Bei der chronischen Kolitis be¬
schränkt Boas die Indikation der Darm¬
infusionen auf Grund seiner Erfahrungen
nur auf wenige Fälle. Von nicht medika- j
mentösen Infusionen haben die ganz kleinen
Darminfusionen, in Form von Bleibe¬
klistieren, einen gewissen Wert, und zwar
in Fällen von chronischer Kolitis mit Diar¬
rhöen, gelegentlich aber auch mit Obstipa¬
tion, die mit mehr oder weniger heftigen
Schmerzen oder auch Brennen in weiten
Bezirken des Kolon einhergehen. Kleine
Infusionen von etwa 200—300 ccm warmen
Wassers, auch Karlsbader oder anderen
Wassers, oder eines der karminativen Tees
üben hierbei einen kalmierenden Einfluß
auf die katarrhalisch afßzierte Schleimhaut,
den Boas einem „inneren Kataplasma“ ver¬
gleicht. Auf die objektiven Zeichen des
Katarrhs, speziell auf die Schleimproduktion
der Dickdarmschleimhaut aber haben weder
diese noch andere Klistiere einen irgend¬
wie nachweisbaren Effekt, wie denn Boas
überhaupt niemals die Beobachtung machen
konnte, daß der fein verteilte Darmschleim
sich durch medikamentöse Einwirkungen
von oben oder unten wesentlich beein¬
flussen läßt, selbst wenn die sonstigen kli¬
nischen Symptome des Darmkatarrhs eine
deutliche Besserung zeigen.
Im Gegensatz zu den kleinen Bleibe¬
klistieren, die einen wenigstens palliativen
Wert in der Behandlung der chronischen
Dickdarmkatarrhe haben, hält Boas den
Erfolg großer und dann nur kurze Zeit
zurückgehaltener Darminfusionen, mit oder
ohne medikamentöse Zusätze, für äußerst
gering. Er hat dieselben jahrelang nament¬
lich bei chronischen Diarrhöen, die ihren
Sitz besonders im Dickdarm hatten, ange¬
wandt, ohne irgendwie einen Einfluß auf
den Verlauf der Dickdarmkatarrhe zu er¬
kennen, abgesehen von den Schmerzen,
welche speziell die medikamentösen Zusätze
zu den Darmeinläufen den Patienten ver¬
ursachen.
Dagegen ist eine gewisse Einwirkung
durch medikamentöse Zusätze möglich bei
tiefsitzenden Dickdarmprozessen,
etwa Rektum bis zur oder über die Flexura
sigmoidea hinaus. Für diese Zwecke emp¬
fiehlt Boas speziell kleine Einläufe mit
Wismutsuspensionen (im Verhältnis von
10:200), mit denen er in einigen Fällen
von schwerer eitriger Kolitis und Ge¬
schwürsbildung günstige Resultate erzielt
hat. Das Eingießen der Wismutsuspension
mittels Mastdarmschlauch und Trichter oder
durch das Rektoskop, beziehungsweise
Sigmoskop ist dabei ebenso wirksam, wie
das Einblasen durch geeignete Pulverbläser.
Eine wesentlich größere Indikationsbreite
schreibt Boas den sogenannten Darm¬
waschungen oder Darmspülungen bei hoch¬
gradiger akuter oder chronischer Kopro¬
st ase zu. Das Verfahren, das erst ange¬
wendet werden soll, wenn Abführmittel oder
gewöhnliche Klistiere erfolglos gegeben
worden sind, besteht darin, daß man in
Seiten- oder Knieellenbogenlage mittels
einfacher Mastdarmsonde und längerem
Schlauch und Trichter (oder mittels des
Zweigschen Glasrohres ä double courant)
den Darm in gleicher Weise, wie es beim
Magen üblich, mit mehreren Litern Seifen-
wasser, dem man zweckmäßig noch einige
| hundert Gramm Olivenöl zusetzt, so lange
auswäscht, bis der Darminhalt erweicht ist
I und das Spülwasser rein abfließt. Dieses
| Verfahren, welches nach Boas Erfahrungen
sehr erheblich die Wirkung von .Oel-
klistieren übertrifft, die in schweren Fällen
häufig ausbleibt oder sehr geringfügig ist,
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Februar
89
Die Therapie der Gegenwart 1910.
vermag mit einem Schlage eine schwere
und mit schmerzhaften Sensationen einher¬
gehende Koprostase zu beseitigen und ver¬
dient eine häufigere Anwendung in der
Praxis. F. Klemperer.
(Med. Klinik 1910, Nr. 2 )
Glaeßner und G. Singer konstatierten
bei ihren Versuchen eine peristaltische
Wirkung der Galle, die sich ausschließlich
auf den Dickdarm beschränkte. Als wirk¬
samen Bestandteil der Galle in dieser
Richtung fanden sie die Gallensäuren und
empfehlen daher letztere als Abführmittel.
Damit aber deren Wirkung voll zur Geltung
komme, verwendeten sie sie in Form von
Suppositorien (ä 0,1—0,3 g). In allen Fällen
stellte sich nach 5—10 Minuten Stuhldrang
ein und es kam zur Entleerung groß knolliger
oder säulenförmiger Fäzes, deren Form,
Konsistenz und Farbe vollständig dem
Obstipationsstuhl entspricht. Nie trat eine
Verflüssigung des Stuhles ein. Mit Rück¬
sicht auf die ausschließliche Dickdarmwirkung
der Gallensäuren stellen die Autoren als
Indikation für deren Anwendung jene Fälle
auf, bei denen eine Störung im Rektum
oder eine Schwäche der austreibenden Kraft
im Dickdarm vorliegt, also bei paralytischem
Ileus, bei postoperativer Darmparese und
bei hartnäckigen Formen von Darmträgheit
bei chronischer Peritonitis. H. W.
(Wiener klin. Wochenschr. Nr. 1).
Die Heißwasserbehandlong in der
Dermatologie bespricht O. Rosenthal
(Berlin) und empfiehlt ihre Anwendung in
reichem Maße. Wenn der Autor bei allen
Formen akuter Ekzeme und bei Artherio-
sklerotikern das heiße Wasser scheut, so
stimmt das mit unseren Erfahrungen nicht
überein, auch gibt Rosenthal eine Be¬
gründung dafür nicht an.
Hauffe (Ebenhausen).
(Med. Klinik 1909, Nr. 36.)
Die Aussichten einer Operation bei per¬
foriertem Magengeschwür bessern sich
immer mehr. Das zeigen weiter die Mit¬
teilungen von Steinthal über 15 Fälle.
Spontanheilungen gehören zu den größten
Seltenheiten. Einen derartigen Fall hat
Steinthal aber erlebt, wo 10 Tage nach
der Perforation ein gutabgekapselter gas¬
führender Abszeß im Epigastrium eröffnet
wurde. Es handelt sich in diesen Fällen
wohl um eine sehr kleine Perforationsöff¬
nung, die sich dureh einen Fibrinpfropf
schließt. Die besten Erfolge bringt eine
möglichst frühe Operation. Der Schock nach
der Perforation dauert nur kurz und kann
fehlen, der verlängerte Kollaps ist ein
Zeichen der beginnenden Peritonitis; einen
Aufschub der Operation wegen eines Schocks
darf es deswegen nicht geben. Stein thal
hat 58,3% gerettet, die übrigen 41,6 0/ 0
starben. Von den in den ersten 12 Stunden
Operierten wurden 60 % gerettet, 40 %
starben. Es wurde stets Chloroform-Aether-
narkose angewandt. Stein thal hat nie¬
mals die Geschwürsränder exzidiert, ge¬
schweige denn die weitere infiltrierte Um¬
gebung herausgeschnitten; die Perforations¬
öffnung wurde nur übernäht und die Naht
hat immer gut gehalten; die Perforation
hatte einmal die Größe eines Zehnpfennig¬
stückes, sonst Erbsengröße. Vor einer Re¬
sektion des kranken Magenteils ist sehr zu
warnen. Das Ulkus ist nur dann zu ex-
zidieren, wenn seine harten Wundränder
die Nähte durchreißen lassen. In einem
Fall, wo eine Narbe von Pfenniggröße mit
halblinsengroßer Perforation genäht war
und Gastroenterostomie gemacht war, war
bei der nach 3 1 2 Monaten ausgeführten
Autopsie nichts mehr von dem Geschwür
zu finden. Wurden durch den Sitz der
Perforationsstelle und deren Entfernung
mechanisch ungünstige Entleerungsverhält¬
nisse für den Magen geschaffen, so wurde
die Gastroenterostomie hinzugefügt. Die
Drainage und Tamponade nach der Ope¬
ration muß gründlich durchgeführt werden.
In 4 Fällen war die Perforation ganz plötz¬
lich bei Leuten eingetreten, die niemals
Magenbeschwerden gehabt hatten. Diese
Erfahrungen mahnen daran, bei Erfolg¬
losigkeit der inneren Behandlung das Magen¬
geschwür chirurgisch anzugreifen, ehe es
zur Perforation kommt. Klink.
(v. Bruns Beitr. z. kl. Chir., Bd. 65, H. 2.)
Pankow hat sich der dankenswerten
Aufgabe unterzogen, das Dunkel der chro¬
nischen Metritis zu lichten und die Uterus¬
blutungen nicht allein vom deskriptiv-ana¬
tomischen, sondern auch vom funktionellen
Standpunkte zu beleuchten. Es ist ganz
zweifellos, daß der Tatbestand der soge¬
nannten chronischen Metritis seinem Namen
nicht entspricht und es sind bis jetzt die
Definitionen stets an der Mannigfaltigkeit
der Befunde und des Krankheitsbildes ge¬
scheitert. Bis jetzt rechnete man zur Me¬
tritis chronica nicht die echt entzündlichen
Formen, sondern die profusen Blutungen
bei Vergrößerung des Uterus.
Pankow hat im ganzen 52 Uteri mit
profusen Blutungen untersucht, das heißt
die Uteri der Frauen, die das klinische Bild
der idiopathischen chronischen Metritis dar¬
geboten haben. Seine Fragestellung, die
logisch durchgeführt ist, ist folgende:
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90
Die Therapie der Gegenwart 1910.
Februar
1. Ist die Ursache der Blutungen auf
eine einheitliche anatomische Grundlage
zurQckzufQhren?
2. Liegt diese Ursache im Myometrium
oder Endometrium?
3. Entsprechen bestimmten anatomischen
Veränderungen des Myometriums oder des
Endometriums auch charakteristische klini¬
sche Symptome?
4. Liegt die Ursache der klinischen Sym¬
ptome vielleicht in den Ovarien?
5. Sind auch extragenitale Ursachen zu
berücksichtigen?
Die makroskopische Vergleichung der
exstirpierten Uteri ergab, daß die Größen-
und Konsistenzverhältnisse des Uterus bei
Frauen, die geblutet haben, nicht abhängig
voneinander sind und daß dasselbe klini¬
sche Bild sich auch bei dem diflerentesten
Verhalten bezüglich Konsistenz und Große
fand.
Die Theorie Theilhabers von der Be¬
deutung des Bindegewebes zurückweisend,
findet Pankow, daß weder ein gut ent¬
wickeltes Myometrium vor Blutungen schützt,
noch daß eine sehr reichliche Bindegewebs¬
vermehrung unbedingt Blutungen zur Folge
haben muß. In der Vermehrung des Binde¬
gewebes liegt also nichts Charakteristisches
für die vergrößerten Uteri und die Diagnose
„Metritis chronica“ läßt sich daraufhin nicht
stellen.
Auch in bezug auf die Gefäße hat der
Vergleich der blutenden und nichtblutenden
Uteri einen Unterschied nicht ergeben; auch
vergrößerte, sogenannte metritische Uteri
zeigten das gleiche Verhalten wie die nor¬
malgroßen Uteri. Also haben Gefäßver¬
änderungen für die chronische Metritis
nichts Charakteristisches. Und das Gleiche
gilt vom elastischen Gewebe des Uterus,
auch hier ließen sich keine charakteristi
sehen Unterschiede feststellen.
Von vielen Untersuchern wurde das Endo¬
metrium als Ursache der Blutungen ange¬
schuldigt. In der Tat fand Pankow Ver¬
änderungen im Endometrium bei blutenden
Frauen häufiger als bei nichtblutenden,
Veränderungen, von denen er aber zeigen
konnte, daß sie mit einer vorausgegangenen
Entzündung nichts zu tun haben und die
er als Hyperplasia mucosae bezeichnet.
Trotzdem besteht ein ursächlicher Zu¬
sammenhang mit den Menorrhagien nicht,
es sind zufällige Begleiterscheinungen oder
Folgen der profusen Blutung. Sehr bald
nach einer Abrasio können die Blutungen
wieder einsetzen, obwohl die Schleimhaut
sich noch gar nicht regeneriert haben kann,
und die Totalexstirpation zeigt dann, daß
eine Mukosa fehlt. Bei blutenden Frauen
finden sich diese Veränderungen, die Hyper¬
plasie, in gleicherweise in den vergrößerten
wie in den nichtvergrößerten Uteri und
stellen somit nichts für die sogenannte Me¬
tritis chronica Charakterisches dar.
Aus diesen Tatsachen schließt Pankow,
daß es eine idiopathische Metritis chronica
in dem Sinne, daß die Vergrößerung des
Uterus allein auch mit bestimmten klinischen
Krankheitserscheinungen einhergehe, über¬
haupt nicht gebe.
Auch in anatomischen Veränderungen
der Ovarien ist die Ursache nicht zu suchen,
wohl aber könnten gewisse Beobachtungen
dafür sprechen, daß eine funktionelle Störung
der Ovarialtätigkeit ursächlich sei. Wir
finden die profusen Blutungen gerade in
der Pubertät und im Klimakterium, das
heißt zu einer Zeit, wo die Tätigkeit der
Ovarien beginnt und auf hört. Vielleicht
kommt sogar nicht nur die sekretorische
Tätigkeit der Ovarien allein in Frage, son¬
dern auch Störungen des physiologischen
Gleichgewichts der verschiedenen blut¬
drucksteigernden und blutdruckherabsetzen-
den innersekretorischen Drüsen. Mit dieser
Theorie wären auch die Widersprüche er¬
klärt, warum bei chlorotischen Mädchen
bald Amenorrhoe, normale Menstruation,
bald profuse Blutung vorhanden ist.
Als ein Beweis für die Blutungen infolge
Störungen der vasomotorischen Regulierung
zieht Pankow auch die Blutungen aus
psychogener Ursache herbei, wie sie bei
hysterischen und neurasthenischen Frauen
beobachtet wird; vielleicht liegt hier eine
gesteigerte Erregbarkeit der vasomotori¬
schen Zentren vor.
Für möglich hält es Pankow, daß die
Gesamtheitder geschilderten Veränderungen
im Uterus imstande sei, den Ablauf einer
durch andere Einflüsse verursachten Blutung
zu steigern.
Aschoff hat vorgeschlagen, den Namen
Metritis chronica nur für die Fälle zu be¬
halten, in denen eine voraufgegangene Ent¬
zündung nachweisbar ist, im übrigen aber
für das Leiden den Ausdruck Metropathia
chronica respektive, weil die Blutung das
hervorstechendste Symptom ist, Metropathia
haemorrhagica anzunehmen. Pankow emp¬
fiehlt zur weiteren Spezialisierung ein cha¬
rakterisierendes Beiwort wie Metropathia
haemorrhagica senilis, juvenilis.
Die Arbeit, deren Wert durch gute Ab¬
bildungen erhöht wird, ist auch in den
Einzelheiten der Ausführung wertvoll und
kann besonders denjenigen Gynäkologen
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Februar
91
Die Therapie der Gegenwart 1910.
empfohlen werden, die bei der Diagnose
Blutung bereits an die Curette denken.
P. Meyer.
(Ztschr. f. Geb. u. Gyn., Bd. 65, H. 2.)
Eine neue Methode der Nephropexie
hat Lenk in 3 Fflllen erproben können,
Ober deren Dauerresultate er allerdings
noch nichts Endgültiges mitteilen kann. Er
benutzt als Aufhängeband der Niere den
Muse, psoas niinor beziehungsweise eine
ihm entsprechende, leicht auffindbare und
zu isolierende Sehne. Nachdem durch einen
Schrägschnitt die Muskulatur und Fascia
abdominalis gespalten und das Peritoneum
medianwärts abgeschoben ist, kann man
sich leicht von dem Vorhandensein des
Psoas minor überzeugen. Die Sehne wird
nun mittels einer stumpfen Unterbindungs
nadel isoliert, möglichst tief unten quer
durchschnitten und mit einer Klemme fixiert.
Die Niere wird dann reponiert und in die
schon vor der Operation als richtig fest¬
gestellte Lage gebracht, die Fettkapsel auf
3—4 cm weit längs gespalten. An den
Enden dieses Schnittes durchtrennen zwei
kleine Querschnitte die Capsula propria
der Hinterwand des unteren Nierenpols.
Zwischen diesen Querschnitten wird die
Kapsel unterminiert, durch den Kanal die
freigemachte Sehne hindurchgezogen, das
freie Sehnenende um die 12. Rippe herum¬
geschlagen, die Schlinge in sich und mit
dem Periost der Rippe fest vernäht. Durch
feine Nähte wird dann die Capsula propria
mit der Sehne an ihrer Berührungsstelle
vereinigt; weiter folgt die Naht des Fett¬
kapselschnittes, bei der auch die Sehne
roitgefaßt wird. Um eine Pendelbewegung
der Niere nach vorn oder hinten zu ver¬
hüten, wird möglichst hoch oben die Fett¬
kapsel mit der seitlichen Rumpfwand ver¬
näht. Ein allzuscharfes Anspannen der
Sehne ist zu vermeiden. Ein Atrophieren
der Sehne ist nicht zu befürchten, da ihr
proximales Ende in der natürlichen Ver¬
bindung bleibt. Der Haut- und Muskel¬
schnitt kann ganz geschlossen werden.
Die Nephropexie läßt sich nach dieser
Methode mit größter Schonung der Niere
ausführen; die intakte Belassung der Niere
in ihrer Fettkapsel hält Lenk für äußerst
wichtig. Hohmeier (Altona).
(Deutsche Ztschr. f. Chir. Bd. 102, H. 1—3.)
C. Widmer berichtet über die narben¬
lose Heilung eines Hautkrebses durch
viermal V 2 stündige Sonnenbestrahlung.
Zur Konzentrierung des Sonnenlichtes be¬
diente er sich Reflektoren von Trichter¬
form. Er erwähnt, daß das Sonnenlicht
viel öfter zur Verfügung steht, als man ge¬
wöhnlich annimmt Sehr richtig bezieht er
die Wirkung nicht nur auf die Lichtstrahlen,
sondern weist auch den Wärmestrahlen ihren
guten Anteil zu. „Die Quellen kurzwelligen
ultravioletten Lichtes haben vorzugsweise
nur destruktiven Charakter, das Sonnen¬
licht hat neben diesen destruktiven Strahlen
eine Mehrzahl mit exquisit produktiven und
restitutivem Charakter* (cf. Referat 1907,
S. 423). Hau ff e (Ebenhausen).
(Manch, rned. Wochschr. 1908, Nr. 39.)
Bab berichtet über einen Vorschlag zur
medikamentösen Therapie der infan-
tilistischen Sterilität; es leitet ihn dabei
der Wunsch, ein Mittel in die Hand zu
bekommen, welches sich weniger gegen den
Infantilismus bei Uterus, als gegen den der
Ovarien wendet. Die Wirkung des Oophorins
ist zweifellos zuerst als eine lokale, d. h.
auf das Ovarium lokalisierte zu erkennen.
Die Möglichkeit, die Menstruation hervor¬
zurufen, spricht für eine Verbesserung,
nicht für eine Verschlechterung des folli¬
kulären Apparates, wie auf Grund von Tier¬
versuchen Bucura annahm. Ist dieMenstru-
ation allerdings normal, dann ist Oophorin
kontraindiziert. Ebenso wichtig ist die
Allgemeinbeeinflussung des Stoffwechsels
durch das Oophorin, welches die noch
mangelhafte innere Sekretion der ungenü¬
gend funktionierenden Ovarien ersetzt und
den Stoffwechsel in normale Bahn lenkt
Um die Blutversorgung der ganzen Geni¬
tale zu bessern und damit einen Wachs¬
tums- und Funktionsreiz auszulösen, er¬
gänzt Bab die Oophorindarreichung durch
Yohimbinum hydrochloricum Spiegel, be¬
sonders wenn die infantilistische Sterilität
auf einer leichten Hypoplasie und funk¬
tioneilen Schwäche der Genitalien beruht.
Dazu kommt gerade durch das Yohimbin
eine Beseitigung der Frigidität und dadurch
eine vermehrte Konzeptionsmöglichkeit
Die Oophorin-YohimbinWirkung ergänzt
Bab weiter durch das Lezithin. Für Er¬
zeugung und Entwicklung einer Frucht muß
eine umfangreiche Lezithinproduktion ein-
setzen und außerdem ist Lezithin als Nerven-
tonikum wirksam.
Bab empfiehlt also bei geeigneten Fällen
infantilistischer Sterilität eine kombinierte
Oophorin-Yohimbin-Lezithinmedikation; zu
diesem Zweck hat er durch die Firma
Freund und Redlich Tabletten von folgender
Zusammensetzung herstellen lassen:
Oophorin (Landau) . . 0,5
Yohimbin, hydrochl. . 0,0005
Lezithin . 0,025
Mftabl. D. tal. Dos. Nr. 12 pro die.
12 *
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92
Februar
Die Therapie der Gegenwart 1910.
Jede Packung ist für 10 Kurtage be¬
rechnet. Eine reine Oophorinkur ist der
kombinierten Kur vorauszuschicken; dabei
darf eine Verschlechterung der Menstruation
nicht eintreten.
Ueber Versuche oder irgendeinen Er¬
folg berichtet Bab nichts, es ist auch nicht
zu ersehen, ob Versuche angestellt sind
oder ob seine Vorschläge nur einer theo¬
retischen Ueberlegung entspringen. Immer¬
hin dürfte — das nil nocere vorausgesetzt —
eine medikamentöse Behandlung der Steri¬
lität für viele Praktiker eine Bereicherung
bedeuten. * P. Meyer.
(Zentralbl. f. Gyn., 1909. Nr. 45).
Die Vitiligo war bis vor kurzem der
Behandlung völlig unzugänglich. Buschke
ist es zuerst gelungen, mittels der Quarz¬
lampe Pigment in vitiliginösem Gebiet zu
erzeugen, das sich mehrere Monate hielt
und dann allerdings wieder verschwand.
Referent hatte selbst Gelegenheit, weitere
Fälle in dieser Weise zu behandeln und
fand dabei seine zuerst gemachten Beob¬
achtungen bestätigt. Angeregt durch die
Mitteilung des Referenten hat Stein an
der Jadassohnschen Klinik die Versuche
nachgeptüft und hat im wesentlichen die
Angaben Buschkes als richtig befunden;
in der Deutung der histologischen Befunde
ist seine Anschauung eine etwas abwei¬
chende. Er hat nun diese Versuchsergeb¬
nisse noch dahin erweitert, daß es auch
durch thermische Irritationen (Kohlensäure-
Scbneebehandlung)gelingt, Pigment in vitili¬
ginösem Gebiet zu erzeugen. Buschke
hat diese Versuche nachgeprüft und kann
sie bestätigen. Allein es ergab sich, daß hier¬
bei nicht so regelmäßig wie mit der Quarz¬
lampe Pigment zu erzielen ist. (Schon bei
seinem ersten Versuche sah Buschke, daß
das Finsenlicht hier wirkungslos ist; das hat
sich auch bei weiteren Versuchen ergeben.)
Leider verschwindet das künstlich erzeugte
Pigment wieder. Ob vielleicht durch häufig
ausgeführte Bestrahlungen eine bleibende
Heilung der kosmetisch gelegentlich doch
recht störenden Vitiligo zu erzielen ist,
muß weiteren Versuchen überlassen blei¬
ben. Zunächst bietet das Verfahren immer¬
hin theoretisch dermatologisches Interesse.
Buschke (Berlin).
(A. f. Dermat. u. Syph. Bd. 97, H. 2 u. 3).
Therapeutischer Meinungsaustausch.
Ueber Jodomenin bei Arteriosklerose.
Von Dr. E. Qumpert-Berün.
Durch die Arbeiten von Otfried Müller
und R. Inada 1 ) ist Licht geworfen auf die
Wirkung, die dem Jod im Organismus zu¬
kommt. Die Annahme Huchards, daß die
Jodsalze die kleinen Gefäße erweitern, da¬
durch die Durchblutung der einzelnen
Organe begünstigen und so das mit der
erhöhten Gefäßspannung Hand in Hand
gehende Fortschreiten der Arteriosklerose
hemmen, ließ sich, wie Boehra und Berg 2 )
und später Stockman und Charteris 8 )
zeigten, experimentell nicht bestätigen. Die
ganze Anschauungsweise aber erwies sich
als unrichtig und unhaltbar, als Hasen-
feld 4 ) und C. Hirsch 5 ) anatomisch und
Sawada 6 ) klinisch fanden, daß bei der
Mehrzahl der Fälle von Arteriosklerose
weder Hypertension im arteriellen Gebiete
noch dauernd erhöhter Arteriendruck über¬
haupt vorhanden sind, wenn nicht gleich¬
zeitig Nierenerkrankungen das Krankheits¬
bild beeinflussen. Romberg sprach im
Jahre 1904 zuerst die Ansicht aus, daß die
Jodsalze vermutlich eher einen Einfluß auf
i) Deutsche med. Wschr. 1904, H. 48, S 1751.
2 j A. f. Phar. u. exp. Path. Bd. 5.
Brit. med. J. 1901 (23. NovJ.
4 ) D. A. f. kl. Med. Bd. 57, S. 193.
Ebenda Bd. 68, S. 56.
6 ) Deutsche med. Wschr. 1902, Nr. 12.
die Beschaffenheit des Blutes, als auf die
Gefäße selbst ausübten und Otfried
Müller und R. Inada (loc. cit.) konnten
diese Annahme bestätigen, indem sie nach¬
wiesen, daß die Viskosität des Blutes durch
Jodgebrauch abnimmt, daß das Blut also
flüssiger wird, ohne nennenswerte wäßrige
Verdünnung zu erleiden. Im gleichen Ver¬
hältnis zur Abnahme der Viskosität steigt
dann nach der Poiseuillesehen Formel
die Stromgeschwindigkeit des Blutes.
Unter allen Jodverbindungen, welche
für die Medikation von Jod in Frage
kommen, sind die Jodalkalien (Jodkalium
und Jodnatrium) zweifellos die geeignetsten,
weil das Jod im Blutkreislauf in Form von
Jodalkali zirkuliert, somit bei Darreichung
von Jodalkali eine weitere Assimilation des
Jods im Organismus nicht mehr erforder¬
lich ist. Nun ist aber jedem Arzt bekannt,
daß Jodkalium und Jodnatrium, besonders
bei fortgesetztem Gebrauch, wie dies bei
arteriosklerotischen Erkrankungen unbe¬
dingt erforderlich ist, sehr unliebsame
Nebenwirkungen hervorrufen können, als
da sind; Koryza, Konjunktivitis, schwere
gastrische Erscheinungen u. a. m. Es ist
deshalb das Bestreben der Aerzte und
Chemiker gewesen, die Jodalkalien durch
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Februar
Die Therapie der Gegenwart 1910.
93
Präparate mit organisch gebundenem Jod
zu ersetzen. Unter die Zahl dieser Mittel
zählt das Jodomen in, auf welches ich
schon früher 1 ) aufmerksam gemacht habe
und welches ich nun speziell auf seine
Anwendbarkeit bei Arteriosklerose geprüft
habe, wo ja bekanntlich Jod sehr lange an¬
gewandt werden muß.
Jodomenin ist eine Verbindung von Jod¬
wismut und Eiweiß, welche die charakte¬
ristische Eigenschaft besitzt, durch verdünnte
Sauren und saure Agentien nicht angegriffen
von Alkalien und alkalischen Flüssigkeiten
aber glatt in Jodalkali und Wismuteiweiß
zerlegt zu werden.
Jodomenin wird im Einklang mit seinem
chemischen Verhalten auch vom Magensafte |
nicht angegriffen, belästigt also den Magen j
in keiner Weise, sondern wird erst bei |
fortschreitender Verdauung im Darm, be- ;
sonders durch den Einfluß des alkalischen |
Darmsaftes unter Abgabe von Jodalkali ge- !
spalten. Das sich gleichzeitig bildende !
Wismuteiweiß verhält sich indifferent und
beeinflußt den Darm in keiner Weise; das i
Jodoroenin ist daher der sicherste Ersatz |
für alle Jodalkalien bei sämtlichen für Jod- j
medikation in Betracht kommenden Fällen.
Als erwünschte Beigabe ist besonders noch
der gute Geschmack des Präparates zu er¬
wähnen.
Es lag mir nun daran, die Wirkung des
Jodomenins, dessen theoretische Grundlage
ja im Vorangehenden erörtert worden ist,
an einem größeren Material eingehend zu
prüfen.
Es kamen im ganzen 35 Fälle von
Arteriosklerose in Betracht, welche von mir
längere Zeit beobachtet worden sind; ich
bemerke ausdrücklich, daß solche Patienten,
bei denen die Beobachtungsdauer weniger
als zwei Monate betrug, für meine Statistik
nicht in Betracht kamen, da dieser Zeit¬
raum wohl als das Minimum der Beobach¬
tungszeit einer Jodwirkung bei Arterio¬
sklerose anzusehen ist. Man kann die be¬
obachteten Fälle in doppelter Hinsicht
gruppieren:
A) I. Fälle, bei denen Jodomenin als |
einzige Jodtherapie angewendet
wurde.27
II. Fälle, bei denen vorher andere
Jodpräparate (Jodalkalien, be¬
ziehungsweise andere Jodver¬
bindungen als Ersatzmittel
dafür) angewendet wurden und
Jodismus erzeugten .... 8
35
*) Ueber Jodomenin. A. Busc h und E. G u m per t,
Thcr. d. Gegenwart 1908, H. -1.
B) Eine andere Gruppierung richtet sich
nach der Aetiologie der Arterioskle¬
rose, und zwar kommen hier in
Betracht:
I. Fälle von verschiedener Ursache
(körperliche und geistige Ueber-
anstrengung, Stoffwechselerkran¬
kungen, Alkoholismus und Tabak¬
mißbrauch usw.).32
IL Fälle von Arteriosklerose nach
Lues.3
"35
Betrachtet man die Beobachtungen von
dem Gesichtspunkt der Jodwirkung bzw.
-Nebenwirkung, so zeigt sich, daß in allen
Fällen die Durchschnittsdosen von 3 bis
6 Tabletten pro die dauernd gut vertragen
wurden; nur in einem einzigen Falle von
Arteriosklerose bei einer 60jährigen Pa¬
tientin, die bereits früher dauernd an
Magenstörungen gelitten hatte, stellte sich
nach vierwöchigem Gebrauch von Jodomenin
ein leichter Schnupfen ein. Nachdem das
Jodomenin aber 14 Tage dann ausgesetzt
wurde, wurde es in der Menge von 2 mal
täglich 1 Tablette anstandslos dauernd gut
vertragen. Abgesehen von diesem Fall, der
wohl nicht als eigentlicher Jodismus zu
deuten ist, ist das Jodomenin stets gut ver¬
tragen worden; ja in einem Falle (Arterio¬
sklerose nach Lues bei einem 42 jährigen
Maurer) wurden 8 Wochen hindurch an-
j fänglich 6, dann 9 und späterhin 12 Tabletten
I pro Tag ohne die geringsten Nebenerschei-
I nungen vertragen. Mit diesen Resultaten
| stimmen die Beobachtungen von Fried-
i mann 1 ) und Cassel 2 ) durchaus überein.
' Ersterer hat bei einer großen Reihe von
Patienten, denen er Jodomenin in großen
Dosen gab, niemals einen Fall von Jodis¬
mus bemerkt, Cassel hat sogar Kindern
bis 200 Tabletten, ohne das Mittel auszu¬
setzen, verabreicht. Gerade die Beobach¬
tungen an Kindern scheinen mir von großer
i Wichtigkeit für die Beurteilung der Neben-
i Wirkung eines Medikaments zu sein, da ja
die große und leichte Reaktionsfähigkeit
des kindlichen Organismus zweifellosNeben-
wirkungen — also Jodismus in diesem Falle
— am ehesten zeitigen würde.
Was die Wirkung des Jodomenins bei
den einzelnen Formen der Arteriosklerose
(in ätiologischer Hinsicht) betrifft, so ist
kein wesentlicher Unterschied in der Art
der Beeinflussung feststellbar gewesen. Er¬
wähnt sei nur, daß in allen Fällen, mit
einer Ausnahme, eine Besserung erzielt
wurde, die sich nicht nur in der Ab-
1 ) Friedmann. Bcr). klin. Woch. 1909. Nr. 11
2 ) Cassel, Ther. d. Gegenwart 1908, Nr. 7.
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94
Die Therapie der Gegenwart 1910.
Februar
nähme der subjektiven Beschwerden zeigte
— das könnte ja unter Umständen viel¬
leicht auf Suggestion bzw. Autosuggestion
beruhen —, sondern auch objektiv z. B. aus
dem Befunde des Herzens, der Herztätig¬
keit, dem Blutdruck usw. festzustellen war.
Es hat nur in einem Falle von Kompensations¬
störungen des Herzens ganz versagt.
Es war schon von anderer Seite (Fried¬
mann) betont worden, dafi mit Jod in Form
von Jodomenin in erheblich geringeren
Dosen (bezogen auf Jodkalium) dieselben
Resultate erzielt wurden, wie mit größeren
Jodkali- und Jodnatriumgaben. Am besten
zeigte sich das u. a. bei einem meiner Fälle
von Arteriosklerose nach Lues, in dem sich
ein gleichzeitig bestehendes Gumma am
rechten Unterschenkel von zirka Dreimark-
stQck-Größe ohne sonstige Therapie nach
dreimal täglich 2 Tabletten Jodomenin
schloß. Ferner ist ein Fall von Arterio¬
sklerose nach Lues noch von Interesse, in
welchem die vorher schwach positive
Wassermannsche Reaktion nach drei¬
monatlichem Gebrauch von 3 mal 1, dann
3 mal 2 Tabletten Jodomenin negativ wurde.
Natürlich können aus diesem einen Falle
keine Schlüsse gezogen werden, zweifellos
verdient er aber Beachtung.
Was die Darreichung des Jodomenins
anbetrifft, so muß es jedenfalls längere Zeit
genommen werden, soll es seine volle Wir¬
kung entfalten. Man macht, wie esHuchard
bei der Jodmedikation empfiehlt und wie ich
es fast immer gemacht habe, in jedem Monat
eine 8—14 tägige Pause, oder man setzt
nach mehreren Wochen das Mittel für
längere Zeit aus. Auch nachdem es
während eines Zeitraumes von 1—2 Jahren
gegeben worden ist, sollte man es mit an¬
gemessenen Unterbrechungen noch weiter
darreichen.
Veronalnatrium bei Seekrankheit.
Von Dr. Galler, Schiffsarzt
Bei der beträchtlichen Anzahl von ver¬
schiedenen Theorien, welche die Ent¬
stehungsursache der Seekrankheit erklären
sollen, kann es nicht wundernehmen, daß
auch mannigfache Methoden zu ihrer Be¬
handlung vorgeschlagen worden sind.
Die neueste Theorie hat ziemlich viel
Wahrscheinlichkeit für sich, nach der näm¬
lich die Seekrankheit im wesentlichen als
eine Folge von Reizungen angesehen wird,
welche die ungewohnten Schifisbewegungen
auf das Gleichgewichtsorgan (Labyrinth)
ausüben. Damit finden auch die von
seiten des Nervensystems und des Ver¬
dauungstraktes hauptsächlich auftretenden
Symptome am besten eine Erklärung;
andererseits ist es einleuchtend, daß alle
bisher angewandten Behandlungsmethoden,
auch die medikamentösen, verhältnismäßig
wenig erfolgreich waren. Solange es
nicht möglich ist, auf technischem Wege
die rein physikalische Wirkung der Schifis¬
bewegungen auf den Körper zu paraly¬
sieren, werden wir bei Behandlung der
Seekrankheit immer auf symptomatische
Hilfsmittel beschränkt bleiben. Diese sind
der Hauptsache nach Ruhe, entsprechende
Lagerung (Verschiedenheit derselben bei
Anämie oder kongestiver Hyperämie des
Gehirns), vorsichtige Nahrungszufuhr (wenig
Flüssigkeit), psychische Beeinflussung und
Darreichung von Beruhigungsmitteln.
Was die letzteren anbetrifft, so er¬
freuen sich, abgesehen von den vielen
Produkten, die namentlich von der fremd¬
ländischen Industrie in Spezialpackung zu
der Hamburg-Ämerika-Linie.
übermäßig hohen Preisen auf den Markt
geworfen werden und deren Wert meist
ein äußerst fragwürdiger ist, zumal fast
immer die Zusammensetzung dieser Prä¬
parate nicht angegeben wird, unsere Bal¬
drian- und Brompräparate ziemlicher Be¬
liebtheit. Bei ganz schweren Fällen
(Gravidität) ist man oft sogar gezwungen,
zum Morphin zu greifen.
In neuerer Zeit findet auch das Veronal
ausgedehnte Verwendung, über das sich
Schepelmann 1 ) mit zur Nachprüfung er¬
munternden Ergebnissen äußerte.
Auch ich habe dieses Präparat längere
Zeit mit guten Erfolgen angewandt. Noch
vorteilhafter als dieses erscheint mir je¬
doch nach meinen Erfahrungen des
letzten halben Jahres seine Natrium¬
verbindung, das Veronalnatrium. Die be¬
deutend leichtere Löslichkeit desselben in
Wasser (1 :5 gegen 1 :145) und die damit
zusammenhängende schnellere Resorbier-
und Wirksamkeit sind Eigenschalten, die
besonders in den Fällen von größtem Wert
sind, wo infolge ständigen Brechreizes,
des häufigsten und unangenehmsten
Symptomes der Seekrankheit, alles in den
Magen eingeführte sofort wieder erbrochen
zu werden droht.
Da ja Zufuhr größerer Flüssigkeits¬
mengen an und für sich schon das Er¬
brechen begünstigt, ist die Möglichkeit,
das Veronalnatrium mit außerordentlich
wenig Flüssigkeit zu verabfolgen, sicher
l ) Therapeut Monatsh. 1907, Nr. 8.
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Februar
Die Therapie der Gegenwart 1910.
95
ein nicht zu unterschätzender Vorteil.
Dazu kommt noch, daß mit dem prompteren
Eintritt der Wirkung diese Gefahr noch
weiter erheblich herabgesetzt wird.
Meine Anwendungsweise des Mittels
war im allgemeinen die, daß ich bei
länger dauerndem schweren Wetter inner¬
halb 24 Stunden 2 mal je 0,5 g in mög¬
lichst wenig Wasser selbst darreichte.
Gelingt es dem Patienten, das Präparat
zirka 10 Minuten bei sich zu behalten,
was mit wenigen Ausnahmen stets der
Fall ist, so darf man sicher sein, daß er
für die nächsten 10—12 Stunden Ruhe hat.
In leichten Fällen genügt eine einmalige
Anwendung am besten abends und zwar
nach dem Zubettgehen.
Veronalnatriumkann in Form von Pulvern
oder Tabletten verabreicht werden. Die
letzteren sind für den Schiffsgebrauch be¬
sonders praktisch und handlich; sie werden
zweckmäßig vor dem Wasserzusatz etwas
zerdrückt, was die Auflösung noch be¬
schleunigt.
Wenn nach meinen Erfahrungen auch
selbstverständlich zugegeben werden muß,
daß man mit Veronalnatrium wie mit
irgend einem anderen Arzneimittel den
Eintritt der Seekrankheit nicht immer
verhüten oder die schweren Erscheinungen
absolut beseitigen kann, so ist es doch
zweifellos, daß gerade Veronalnatrium
relativ in den häufigsten Fällen den
Seekranken eine bedeutende Erleichterung
von allen Beschwerden bringt und somit
verdient, unter den Arzneimitteln zur Be¬
kämpfung der Seekrankheit an erster Stelle
! empfohlen zu werden.
Ueber die Anwendung des Alsols bei Haut- und Geschlechtsleiden.
Von Dr. M. Lewitt- Berlin.
In der Wundbehandlung hat sich das
Interesse in neuerer Zeit wieder den vor¬
übergehend in Vergessenheit geratenen
Tonerdepräparaten zugewandt und unter
diesen war das von Athenstaedt darge¬
stellte Doppelsalz von essigsaurer und
weinsaurer Tonerde berufen, eine nicht zu
unterschätzende Rolle als ungiftiges Anti¬
septikum zu spielen.
Die therapeutische Anwendung des Al¬
sols ist in der Literatur durch eine große
Zahl von Veröffentlichungen behandelt wor¬
den. Noch spärlich sind die Berichte über
die Erfolge des Alsols in der dermato¬
logischen Praxis, sodaß ich mich in
folgenden Zeilen veranlaßt sehe, auf die
vielseitige Verwendbarkeit des Mittels hin¬
zuweisen, zum Teil auf Grund meiner Er¬
fahrungen, die ich früher als Abteilungsarzt
am Ostkrankenhause (dirigierende Aerzte:
Prof. Dr. Kromayer, Dr. v. Chrismar) I
zu machen Gelegenheit hatte.
Die Arzneiform, welche den Dermato¬
logen am meisten interessiert, ist Alsol-
Creme. Unter diesem Namen wird das
Alsol in Form einer Salbenzubereitung in
den Handel gebracht. Wegen seiner Leicht¬
löslichkeit eignet sich Alsol zur Inkorpo¬
rierung in Salben sehr gut. Alsol* Creme
enthält V2°/o Alsol in wässeriger Lösung,
und diese Lösung ist aufs feinste mit den
fettigen Bestandteilen der Creme emulgiert,
so daß die antiseptische Wirkung des Al¬
sols voll und ganz zur Geltung kommt.
Alsol-Creme ist eine kühlende, milde,
absolut ungiftige und reizlose Wundsalbe,
welche vermöge ihrer Zusammensetzung
nicht ranzig wird und auch bei längerer
Aufbewahrung ihre Wirkung nicht verliert.
Sie ist leicht von der Haut zu entfernen
und beschmutzt die Wäsche nicht. Da sie
ein angenehm kühlendes Gefühl verursacht,
ist sie bei zahlreichen mit Juckreiz ein¬
hergehenden Hautaffektionen indiziert Und
so sieht man in der Tat, daß der Juckreiz
verschwindet und bei Intertrigo, nässender
Dermatitis und akuten Ekzemen die lästigen
subjektiven Beschwerden, wie Brennen und
Schmerzen, erheblich nachlassen, während
bei der Behandlung mit Zink- oder Bor¬
salben der Zustand sich eher verschlimmert
hatte. Allem Anschein nach wurde auch
die Dauer der Behandlung erheblich ab¬
gekürzt.
Ein weiteres Gebiet für die Anwendung
in Salbenform wäre die Behandlung der
Akne vulgaris. Nachdem die Pusteln er¬
öffnet worden, ließ ich Alsol-Creme auftra¬
gen. Weder vermehrte Knotenbildung noch
Reizung wurde beobachtet, wie dies zu¬
weilen nach Salbenapplikation vorkommt,
da nicht alle Aknekranken Fett gut ver¬
tragen. Günstige Erfolge erzielt man auch
bei den verschiedenartigsten Dermatitiden.
OberflächlicheHautentzündungen besonders
nach Reizung durch Salben sind für die
Behandlung mit Alsol-Creme sehr geeignet.
Nur bei Individuen, die Salben und Pasten
nicht vertragen, verwende man „ Alsol-
puder", der in handlichen Blechdosen
mit Streudeckeln im Handel ist und infolge
des Gehalts an Talkum die Haut weich
und geschmeidig macht.
Bei Erythema exsudativum multi-
forme wurde Alsol-Creme zur äußeren
Applikation vielfach benutzt.
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Februar
96
Die Therapie der Gegenwart 1910.
Um die Umgebung der Furunkel gegen
Infektion zu schützen, ist gleichfalls Alsol-
Creme ein sehr geeignetes Mittel, indem es
der Desinfektion der Hautoberfläche Rech¬
nung trägt.
Bei Hyperhydrosis der Hände und
Füße genügen oft zur lokalen Behandlung
in leichteren Fällen Fußbäder und Waschun¬
gen mit Liquor Alsoli und dann werden
statt der alten Hebraschen Salbe mit Also!-
Creme bestrichene Wattebäusche zwischen
die Zehen eingelegt und täglich mehrmals
erneuert. Doch verdient der Alsolpuder
gleichfalls eine ausgedehntere Anwendung
bei der Behandlung des Fußschweißes.
Bei Impetigo contagiosa, nachdem
man die Krusten entfernt hat, bewies sich
Alsol-Creme als ein wertvolles Heilmittel,
das den Präzipitatsalben an Wirkung keines¬
wegs nachstand.
Bei Intertrigo, auch der Säuglinge,
empfiehlt es sich zunächst durch Alsolpuder
die Hautentzündung mit ihren lästigen Er¬
scheinungen zu lindern. Bei sehr schmerz¬
haften Rhagaden ist die Salbenform (Alsol-
Creme) am Platze.
Bei Verbrennungen leichteren Grades
wirkte Alsol-Creme sehr angenehm kühlend
und schmerzlindernd, die Reizerscheinungen
ließen bald nach, auch wurden überraschend
schnelle Heilerfolge erzielt. Ich gebe hier
unbedingt der Salbenbehandlung den Vor¬
zug vor den Trockenverbänden. Erwähnt
sei jedoch, daß Blaschko (Taschenbuch
für Haut- und Geschlechtsleiden 1908) zur
Behandlung von Brandwunden auch Um¬
schläge mit 2°/ 0 iger Alsollösung empfiehlt.
Bei Unterschenkelgeschwüren sieht
man zuweilen gute Resultate, indem die
Sekretion eingeschränkt wird und gesunde
Granulationsbildung rasch erfolgt.
Von Fritsch 1 ) bereits wurde das Alsol
zu Scheidenspülungen bei Pessarbehand¬
lung und zur Nachbehandlung bei akuter
Gonorrhoe der Frauen verordnet. Daß
an der desinfizierenden Wirkung des Alsols
und besonders seiner bakteriziden Wirkung
auf den Gonokokkus nicht zu zweifeln, be¬
weisen die Versuche von Aufrecht (Deut-
*) Fritsch, Die Krankheiten der Frauen, Berlin,
8. Aufl , und Volkmanns Sammlung klinischer Vor¬
träge, Leipzig 1899, H. 235.
I sehe Aerztezeitung 1900, H. 4). Es genügten
i schon 0,2% ige Alsollösungen, um Gono¬
kokken in einer Minute abzutöten. Ein Vor¬
zug des Alsols ist ferner, daß es die
I Schleimhaut nicht reizt; das Epithel der
Scheide ist gegen Alsol ganz unempfind-
; lieh. Auch fleckt es keine Wäsche, es
riecht nicht und greift Gummischläuche
nicht an. Im Ostkrankenhaus hat es bei
akuter Gonorrhoe sich uns bestens be¬
währt; meist benutzten wir zu Spülungen
1 Eßlöffel des 50%igen Liquor Alsoli auf
1 Liter lauwarmen Wassers. Alsdann wur¬
den Tampons eingelegt, die in 1 o/ 0 jger
i Lösung getränkt, mehrere Stunden, oft auch
bis zum nächsten Tage liegen blieben, oder
die Wattetampons wurden mit Alsol-Creme
bestrichen, und später, als die Firma Athen-
staedt & Redeker Alsol-Vaginalkapseln an-
' fertigte, machten wir Versuche mit dieser
Arzneiform, die uns außerordentlich befrie-
: digten. Es werden salbenhakige und fett¬
freie Kapseln hergestellt, die statt der Tam¬
pons zweckmäßig jeden zweiten Tag im
| Spiegel eingeführt werden. Welcher von
| beiden Formen, der salben haltigen oder
der fettfreien, der Vorzug gebührt, darüber
I läßt sich noch kein endgültiges Urteil fällen;
wir fordern daher zur sorgfältigen Nach¬
prüfung auf.
In einfachen Fällen von Fluor albus
(ohne Gonokokkenbefund) bewährten sich
gleichfalls Ausspülungen mit V 2 %igen Alsol¬
lösungen und Kapselbehandlung.
Bei dem durch gonorrhoischen Ausfluß
1 erzeugten Ekzem der Vulva ist Alsol-
Creme von nicht zu unterschätzendem Vor-
: teil, indem die Salbe gleichzeitig das
Ueberfließen der Sekrete verhindert und so
| einer Mastdarmgonorrhoe vorbeugt.
Schließlich sei noch erwähnt, daß Alsol
! zur lokalen Behandlung bei syphilitischen
| Schleimbauterkrankungen im Mund und
j Rachen, ferner als Gurgelwasser bei Sto¬
matitis mercurialis, bei Stomatitis aph¬
thosa und skorbutischen Affektionen des
Zahnfleisches, sowie als prophylaktisches
Mundwasser bei Merkurialkuren angewendet
werden kann.
So lernte ich das Alsol als ein ganz
| vorzügliches und empfehlenswertes Mittel
bei zahlreichen Erkrankungen aus dem Ge¬
biete der Dermatologie kennen und schätzen.
INHALT: Baginsky, Behandlung des Scharlach S. 49. — Baedeker, Sauerstoffbäder
S. 54. — Löwinsky, Basedowsche Krankheft S. 60. — Mendel, Basedowsche Krankheit S. 61. —
Froehlich. Epilepsie S. 70. — Ewald, Herzkrankheiten S. 74. — Gumpert, Jodomenin S. 92. —
Gail er, Seekrankheit S. 94. — Lewitt, Alsol S. 95. — Vorträge über Infektion S. 79. —
Bücherbesprechungen S. 84. — Referate S. 85.
Für die Redaktion verantwortlich Prof. Dr. K 1 em p e r e r in B-rlin. - Verlag von Urban&Sch warzenberg in Wien u. Berlin.
I)i uck von Julius S 1 1 t e n f r I d , I lofhuclidrucker., in Berlin W.8.
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Die Therapie der Gegenwart
1910
herausgegeben von Prof. Dr. G. Klemperer
in Berlin.
März
Nachdruck verboten.
Aus der medizinischen Klinik der Universität Strassburg.
(Direktor: Geh. Hed.-Rat Prof. Dr. Moritz).
Zur therapeutischen Bewertung der diabetischen Azidose
in der Praxis.
Von Privatdozent Dr. L. Blum.
Es ist eine heutzutage wohl allgemein
anerkannte Tatsache, daß beim schweren
Diabetes die Hauptgefahr fQr die Kranken
in der sogenannten Azidose liegt, in dem
Vorhandensein großer Säuremengen und
in dem Unvermögen, sie zu verbrennen.
Bei der für die Behandlung und Beurtei¬
lung des Diabetes so wichtigen Einteilung
der Erkrankung in Formen verschiedener
Schwere, ist es gerade das Bestehenbleiben,
trotz sachgemäßer Behandlung, der die
Azidose kennzeichnenden Eisenchloridreak-
tion, das die schweren Fälle von den mittel¬
schweren und leichten unterscheidet.
Für eine zweckmäßige Therapie des
schweren Diabetes ist daher die richtige
Einschätzung des Grades der Azidose eine
notwendige Voraussetzung, ln einer vor
kurzem erschienenen Abhandlung hat
Lüthje 1 ) an der Hand von Krankenbeob¬
achtungen wiederum ausdrücklich auf diesen
Punkt hingewiesen, und in einer fast gleich¬
zeitig erschienenen Mitteilung hat Geel-
muyden 2 ) den gleichen Gegenstand be¬
handelt. Ueber diese Tatsache werden die
Meinungen kaum geteilt sein, und der Vor¬
schlag Lüthjes, daß in allen Fällen von
schwerem Diabetes die Stärke der Azidose
genau festgelegt werden müsse, wird eben¬
falls die volle Zustimmung aller auf dem
Gebiet des Diabetes bewanderten Aerzte
erfahren. Nur wird man über die Axt, wie
diese Bewertung in der Praxis erfolgen
solle, wohl zu einer verschiedenen und, wie
ich vorausschicken will, zu einer viel ein¬
facheren Auffassung kommen.
Bekanntlich erfolgt in den Zuständen,
die wir nach Naunyns Vorschlag als
Azidose bezeichnen, eine Ausscheidung
von ß Oxybuttersäure, Azetessigsäure und
Azeton im Harn. Diese Körper stehen nach
ihrer chemischen Konstitution in inniger
Beziehung zueinander, auf die ich hier
nicht eingehen möchte. Von diesen 3 Sub¬
stanzen lassen sich allein das Azeton und die
Azetessigsäure im Harn durch Farbenreak¬
tionen nachweisen, während die Anwesenheit
*) Ther. d. Gegenw. Januar 1910.
9 ) Berl. klin. Woch. 17. Januar 1910.
von Oxybuttersäure auf anderm Wege be¬
urteilt werden muß.
Zur Schätzung der ausgeschiedenen
Mengen von Azeton und Azetessigsäure
haben sich nun die kolorimetrischen Ver¬
fahren auf Grund der Le gal sehen Nitro-
prussidnatriümprobe und der Gerhardt-
schen Eisenchloridreaktion als nicht brauch¬
bar erwiesen. Höchstens vermag der Ge¬
übte, der täglich Diabetikerharne zu unter¬
suchen hat und gleichzeitig quantitative
Untersuchungen mit denselben Urinen an¬
gestellt hat, aus der Stärke der Eisen¬
chloridreaktion die Menge der Azetessig¬
säure ungefähr zu beurteilen. Aber ganz
abgesehen davon, das eine solche Schätzung
nur sehr approximativ ist, kann sie doch
nur für Ausnahmefälle gelten und ist da¬
her nicht als maßgebend anzusehen. Die
quantitative Azetonbestiromung vermag uns
allein sichere Werte sowohl über die Mengen
des vorgebildeten Azetons als auch der in
Azeton zerfallenden Azetessigsäure zu
geben. Nun genügt aber die Bestimmung
des Azetons bez. der Azetessigsäure keines¬
wegs zur Beurteilung der Azidose, wie
dies die Untersuchungen der Naunyn-
schen Schule, vor allem von Magnus-
Levy gezeigt haben. Die nach ihrer Menge
am stärksten ins Gewicht fallende Säure,
die ß- Oxybuttersäure, bleibt hierbei unbe¬
rücksichtigt, denn es besteht kein kon¬
stantes Parallelgehen zwischen Azeton¬
oder Azetessigsäureausscheidung und der
Oxybuttersäureausscheidung; ein Rück¬
schluß von den Azetonmengen auf die
Oxybuttersäuremengen ist daher unmöglich.
Das nächstliegende würde daher sein,
auch die Oxybuttersäure direkt quantitativ
zu bestimmen, und sicherlich bietet dieses
Verfahren keine allzu großen Schwierig¬
keiten und verlangt bei einiger Uebung
auch nicht allzu viel Zeit. Immerhin ist
Uebung schon erforderlich und fernerhin
ist auch eine gewisse Laboratoriumsein¬
richtung (Polarisationsapparat, Aetherex-
traktionsapp arate) dazu nötig l ).
*) Die Schlitzung der ausgeschiedenen Oxybutter¬
säuremengen aus der Linksdrehung des Harns nach
13
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UNIVERSITY OF CALIFORNIA
98
Die Therapie der
Man hat daher statt der etwas umständ¬
lichen direkten Bestimmung der einzelnen
Säuren im Ham eine indirekte, kürzere Me¬
thode vorgeschlagen: die Messung der täglich
ausgeschiedenen Ammoniakmengen. Zur Ab-
Sättigung der im Ueberschuß vorhandenen
Säuren benutzt der Organismus, sobald ihm
fixes Alkali nicht zur Verfügung steht,
Ammoniak, das der Harnstoffbildung ent¬
zogen wird. Die Schätzung der Ammoniak¬
mengen gibt ein sicheres Maß der Ver¬
mehrung der Säureausfuhr; war es doch
ihre Feststellung, die zur Entdeckung der
Azidose geführt hat.
Die Methoden zur Ammoniakbestimmung
sind nun höchst einfach, benötigen, da sie
titrimetrisch ausgeführt werden können,
nur geringe Apparatur und sie vollziehen
sich ohne Ueberwachung in kurzer Zeit.
Von neuen Methoden führe ich an die von
Folin und Moritz, deren letztere wir
ständig anwenden.
Von den quantitativen Methoden würde
daher die Bestimmung des Ammoniaks
praktisch zur Bewertung der Azidose von
höchstem Werte sein, wenn sie unter allen
Umständen anwendbar wäre. Sie ist es
aber nur so lange, als der Organismus auf
seinen eigenen Alkalivorrat angewiesen ist,
und ihm kein Alkali von außen zugeführt
wird. Erhält der schwere Diabetiker Natron
bicarbonicum per os, so verwendet er dieses
Natron zur Absättigung der Säuren, und
die Ammoniakausscheidung sinkt. Es können
daher bei staiker Azidose, sobald alle Säuren
mit Natron abgesättigt sind, die Werte für
Ammoniak normal sein und trotzdem sehr
große Säuremengen aus dem Organismus
ausgeführt werden.
Die folgende Beobachtung (Tabelle 1)
Tab
Gegenwart 1910. März
zeigt dies in schönem Maße. Es werden hier
bei einem im beginnenden Koma aufge¬
nommenen Patienten sehr große Oxybutter-
säuremengen ausgeschieden (in 3 Tagen
360 g), Mengen, die zu den höchsten be¬
obachteten gehören (siehe Magnus-Levy,
Ergebnisse der inneren Medizin, I).
Die Ammoniakwerte sind zwar hoch,
stehen aber infolge der hohen zugeführten
Natrondosen (340 g in 3 Tagen) in keinem
Verhältnisse zu den großen ausgeschiedenen
Oxybuttersäuremengen. Am 12. Tage ist
trotz der immerhin noch beträchtlichen
Azidose die Ammoniakausfuhr fast normal.
Noch beweisender ist die folgende Be¬
obachtung (Tabelle 2), in der man anderer
Untersuchungen halber mit den Mengen
des Natron bicarbonicum ziemlich rasch
herunterging. Bei 50 g Natron sind die
Werte für Ammoniak annähernd normal
(6. und 7. Tag), bei Darreichung von 30
und 20 g am 8. und 9. Tag schnellen sie
stark in die Höhe, in den Tagen 10, 11
und 12, an denen kein Natron gereicht
wurde, übertreffen sie ebenfalls die nor¬
malen Werte um ein Vielfaches, gleich¬
zeitig macht sich eine Tendenz zum Steigen
der NHs-Werte bemerkbar. Am 13. Tage,
wo wieder Natron gegeben wurde, sinkt
das Ammoniak wieder auf einen viel
niedrigeren Wert. Die Schwankungen in
der Oxybutterausscheidung in diesem Ver¬
suche hängen mit anderen, hier nicht zu
erörternden Bedingungen zusammen.
Die Tatsache, daß nach Zufuhr von
Natron bicarbonicum die Ammoniakausfuhr
trotz starker Azidose sinkt, ja normale
Werte annehmen kann, bietet daher nichts
Auffallendes. Sicherlich liegt hierin auch
die Erklärung der Tatsache, auf die Lüthje
Ile 1.
Tag
Harn¬
menge
Reaktion
Stick¬
stoff
in g
Zucker j
in g
Azeton
in g
Azeton als
Oxy butter¬
säure
in g :
Oxy-
butter-
säure
in g
Gesamt-
oxybutter-
säure
in g
NH,
in g
Verord¬
nung
NaHCOi
g
1 .
7800
1 1
amphoter
22,27
180.9 1
16,809
30,24
96,36
1 126,60
5,34 '
150
2.
6500
schwach alk.
15,57
130,0
14.93 1
25,87
97,54
123,40
6,74
110
3.
5000
alk.
13.58
105,0
14.32
25,27
89,63
1 114.90
3,44
80
4.
3200
11,3
64
9,67
17,06
58,82
! 75,88
2,27
70
5.
3400
10,57
92
10,49
18,84
59,57
i 78,41
2,43
60
6.
3200
1 10,08
67
7,37
13,66
57,33
1 70,99
2,66
50
7.
3200
1 10,53
! 83 1
6,61
11,89
44.51
1 56,40
1,95
40
8.
2700
10,55
1 89
5,43
9,89
33,08
1 42,97
2,11
30
9.
3500
1
10,74
i 94
6,46
14,63
49,03
l 63,66
2,45
30
10.
2600
10 87
1 84
4,03
7,22
28,62
1 35,84
1,68
30
11.
2400 ;
amphoter
10,58
1 72
6,72
12,15
33,8
; 45,9
1,08
30
12 .
2300
sauer
—
1 70 .
4,63
8,30
25,3
33,6
0,72
30
. ~ , . « : besonders hinweist, daß die Ammoniak-
Vergärung des Zuckers kommt wegen der zur Ver- ,
gärung nötigen Zeit und der Ungenauigkeit der Me- bestimmung zur Bewertung der Azidose
thode praktisch nicht in Betracht. | versagt. Die Beobachtung, die er als
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Man
99
Die Therapie der Gegenwart 1910.
Beispiel hierfür anführt (Tabelle 6), scheint
wenigstens hierfür zu sprechen: der Patient,
der im Harn trotz starker Azidosekörper¬
ausfuhr nur niedrige Ammoniakwerte auf¬
wies, erhielt täglich 40 g Natron bicar-
bonicum; der Harn war alkalisch, es war
demnach eine Absättigung der Säure durch
das von außen zugeführte Alkali erreicht
worden.
Auf Grund dieser Tatsachen kommt
Lüthje zu dem Schluß, daß eine „wirkliche
rationelle Behandlung der mit Azi¬
dose einhergehenden Diabetesfälle
nur möglich ist bei täglicher quan¬
titativer Azeton- und Oxybutter-
säurebestimmung“. Zu einer ganz ähn¬
lichen Schlußfolgerung gelangt auch Geel-
muyden 1 ).
Tabelle 2.
1
■ Reaktion
NM,
Oxybutter-
säure
' in g
Zufuhr
j von
! Natr. bic.
in g
1. schwach sauer
1,86
1 31.45
! 90
2. alkalisch
1,09
49.80
! 70
3.
1,34
i 38.97
70
4. • „
1.59
38.69
! 50
o. ,,
0.92
42,22
50
6. ,
0,56
18,16
50
7.
0,68
17.32
50
8.
3,33
| 10,66
30
9. amphoter
5.48
13.62
20
10. sauer
2,10
27,15
—
11. 1
i 3,64
41,33
—
12.
4,36
13.84
i —
13. schwach sauer
1,30
7,59
1 25
Es würde hiernach eine völlig sach¬
gemäße Behandlung des schweren Diabetes
nur mehr unter ganz besonderen Um¬
ständen möglich sein, in Anstalten, die
über die nötigen Hilfskräfte zur Ausfüh¬
rung sämtlicher quantitativer Bestimmungen
verfügen. Aber selbst dann würde eine
solche Regel schwer durchzuführen sein,
wenn, wie es uns zum Beispiel schon vor¬
gekommen ist, eine Reihe schwerer Fälle,
zum Beispiel 4—6, gleichzeitig in Behand¬
lung steht.
Es dürfte indessen die Forderung täg¬
licher quantitativer Acidosekörperbestim
mungen für die schweren Diabetesfälle doch
zu weit gehen. Man kann, wie wir glauben,
in praxi sogar auf recht einfache Weise
zum Ziele kommen, indem man die Auf¬
gabe der Säurebestimmung gewisser¬
maßen dem Organismus*selbst über¬
läßt. Es genügt in praktischer Beziehung,
folgendes zu beachten:
Wird dem Organismus im Zustand der
Azidose Alkali von außen zugeführt, so
*) loc. cit.
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Gck gle
benutzt er dieses, um die Säuren zu neu¬
tralisieren. Die völlige Neutralisation der
Säuren können wir an der Reaktion des
Urins, die zuerst amphoter und bei Ueber-
schuß von Alkali alkalisch wird, leicht er¬
kennen. Sobald der Harn alkalisch ist,
ist demnach der Organismus mit Alkali
abgesättigt. Die Mengen von Alkali,
die zur Erzeugung einer alkalischen
Reaktion des Harns nötig sind,
geben uns daher einen sehr brauch¬
baren Indikator für die Stärkender
Azidose; • Je, '‘größere; Mengen ; Na¬
tron -bicarbonicunr zur- ferzielung
einer ’a}kajiscb-pq Reaktion , nöfig
sind, fti’.stfirkje^ jii:e:Ä£idö$e
Die folgenden Tabellen, die wir aus
einer großen Reihe von Beobachtungen
herausgegriffen haben, seien als Beispiele
hierfür angeführt, die quantitativen Azidose¬
körperbestimmungen wurden aus anderen
Gründen ausgeführt.
Tabelle 3.
Harn¬
menge
Re¬
aktion
7 . Azeton
Zucker,
1 I in g
Oxy-
butter¬
säure
»n g
Ges&mt-
oxy-
butters.
in g
:
Natr.
bicarb.
in g
2000
alkal.
1
11,6 | 1,42
4.31
7,8
2x5
2000
1 »»
6,0 1,28
! 4,43
6,68
2x5
1600
1 »»
9,6 0,90 |
I 1,99
1 3,56
2x5
10 g Natron bicarbonicum genügen, um
den Urin alkalisch zu machen; die Azeton¬
körperausscheidung ist dementsprechend
sehr
gering.
Tabelle 4.
Hai n-
mengc
Re¬
aktion
j
Zucker ! A2Cton !
| ;
j in g
Oxy- ,
butter¬
säure
in g !
Gesamt-
oxy-
butters.
in g |
Natr.
bicarb.
in g
2400
alkal.
i
1 0
1.41
5.3
7,8
25
2800
»t
0
1,61
6,1
9,2
25
2200
i **
0
1,55
10,2 |
13,3
25
In diesem Falle sind bereits 25 g Natron
bicarbonicum nötig, um den Harn dauernd
alkalisch zu erhalten, dementsprechend sind
die Werte der Azidosekörper höher und
die Azidose ist bereits als mittelschwere
zu bezeichnen.
Tabelle 5.
Harn-
menge
Re-
aktion
i
~ , ! Azeton
Zucker|
l*ng
Oxy- ( >e9anit . jj atr
butter- oxy-
säure 1 butters. bicarb.
in g i in g | in g
i 2350 alkal. , 9,5 3,19 24.0 29,8 30
! 2000 „ 17,0 | 2,75 ' 16,5 ' 21,4 30
1950 | „ 21,5 | 3,18 | 17,5 j 23,0 30
| Die Azetonkörperausscheidung erreicht
; bei diesem Patienten höhere Werte, so
I daß der Fall schon als ein schwerer gelten
13 *
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März
100
Die Therapie der Gegenwart 1910.
kann; zur Absättigung der Säuren sind 30 g
NaHC0 3 nötig.
Im folgenden Falle wird der Urin erst
mit 50 g alkalisch. Die Azetonkörper¬
ausscheidung zeigt dementsprechend hohe
Werte.
T abeile
6 .
1
Harn¬
menge
^ e " 7 , Azeton
'Zucker
aktion
! in g
Oxy-
butter-
säure
in g
Gesaint-
oxy- ?
Lutters
in S i
1 H Jg
in g
270Q<
[ alkal/ .60 ...5,95
1 .40,64 !
L 5J31.
50
280Q ;
53 .:a34
*4036
:S2pZ
50
2700 '
• 12 -5:53
38,96
50
3J50.J .* v : J..5Q- 6,58. # 41„8. .59,83«. 50
..: IjV dpij’in.iX^ello /.’^ngefhhrttJi ‘Falle
ist die Reaktion des Urins nach‘Zufuhr von
150 g Natron bicarbonicum noch amphoter,
die Säuremengen, die an diesem Tage
ausgeschieden sind, erreichen einen Wert,
der nur in seltenen Fällen beobachtet
worden ist.
Während beim normalen Menschen
5—10 g Natron bicarbonicum eine deut¬
lich alkalische Reaktion des Harnes be¬
wirken, sind bei leichter Azidose bis 20 g
nötig, bei mittelschwerer 20—30 g und bei
schwerer 50 g und darüber, ja in den
schwersten Fällen von Säureintoxikation, im
Coma diabeticum, kann eine alkalische Reak¬
tion überhaupt nicht mehr erzielt werden.
Abgesehen von seiner Einfachheit hat
diese Art der Beurteilung der Stärke
der Azidose, die an unserer Klinik seit
den Zeiten Naunyns geübt wird, noch
den Vorteil, eine direkte Handhabe für
unser therapeutisches Handeln zu bieten.
Namentlich wird die Beachtung der Re¬
aktion des Harns dazu führen, daß ein
Punkt mehr berücksichtigt wird, als dies
oft geschieht. In allen Fällen von Diabetes,
bei denen die Gefahr des Coma diabeticum
infolge Azidose vorhanden ist, soll nicht
eher eine völlige Entziehung der Kohle¬
hydrate stattfinden, als der Urin durch
Zufuhr genügender Mengen von Natron
bicarbonicum alkalisch geworden ist. Bei
Berücksichtigung dieser Tatsache werden
üble Zufälle vermieden werden, die oft
zum Tode führen, und die nur bei rasche¬
stem Eingreifen noch rückgängig gemacht
werden können. Der in Tabelle II von
Lüthje angeführte Fall bietet ein
typisches Beispiel hierfür.
Weiterhin wird bei Berücksichtigung
der Reaktion des Harns auch der weniger
mit der Therapie des Diabetes sich Be¬
fassende bald die Ueberzeugung gewinnen,
welche große Mengen von Natron not¬
wendig sind, um durchschlagende Erfolge
zu erzielen, und daß dann auch solche
Erfolge in der Tat erzielt werden können.
Aus der medizinischen Klinik der Universität Tübingen.
(Direktor: Professor Dr. v. Romberg.)
Kochsalzarme Diät zur Beseitigung des Ascites tuberculosus 1 ).
Von Dr. med. Walter Alwens, ehern. Assistenzarzt der Klinik;
jetzt Sekundärarzt an der Medizinischen Klinik des Städtischen Krankenhauses zu Frankfurt a. M.
Die engen Beziehungen, die bei öde- |
matösen Nierenkranken zwischen Retention
von Kochsalz und Wasser bestehen, vor
allem die bekannte Erscheinung, daß Ent¬
ziehung von Kochsalz in vielen Fällen die
Oedeme deutlich zum Rückgang zu bringen
vermag, gaben den Anlaß auch bei der
Behandlung des tuberkulösen Aszites einen
Versuch mit der Kochsalzentziehung zu
machen.
Die chirurgische Behandlung dieses Lei¬
dens, welche nach den Veröffentlichungen
Königs, Czernys u. a. viele Anhänger
gefunden hatte, ist im Laufe der Jahre mehr
und mehr verlassen worden. Namhafte
Chirurgen verhalten sich heutzutage der
operativen Therapie gegenüber sehr reser¬
viert. Die interne Therapie stellt die Hebung
*) Erweiterung eines in der Tübinger Natur¬
wissenschaftlich-Medizinischen Gesellschaft ans 11. No¬
vember 1907 gehaltenen Vortrages (Münch. Med.
Wochschr. 1908, Nr. 1, S. 50).
des Kräftezustands an die erste Stelle, sie
bekämpft in erster Linie die Tuberkulose
als solche nach den heute allgemein gül¬
tigen hygienisch diätetischen Regeln. Die
| Beseitigung des Ascites tuberculosus, eine
der lästigsten Erscheinungen für den Pa¬
tienten, ist auf mancherlei Weise angestrebt
worden. Neben lokalen Applikationen auf
das Abdomen und in neuster Zeit der
Röntgenbestrahlung hat man arzneiliche
Diuretica in jeder Form angewendet. Diese
Diuretica lassen meist vollkommen im Stich
oder sind wegen der unangenehmen Magen¬
darmstörungen, die sie fast immer bei der¬
artigen Kranken verursachen, nicht zu ver¬
werten. Von 14 in den letzten Jahren in
der Medizinischen Klinik mit Diuretizis und
lokalen Applikationen behandelten Fällen
sind 8 gar nicht beeinflußt worden, bei 5
I war ein mäßiges Abnehmen des Aszites
| zu konstatieren. Nur in einem Fall war
nach 5 Wochen der Aszites beinahe be-
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März
Die Therapie der Gegenwart 1910.
101
s«itigt. In 13 Fallen wurden die Diuretika I
nicht vertragen. Wieviel in den 5 etwas
gebesserten Fällen auf die lokalen Appli¬
kationen, wieviel auf die allgemeinen
hygienisch-diätetischen Maßnahmen zu be¬
ziehen ist, dürfte schwer sein zu entschei¬
den. Im allgemeinen wird man demnach
berechtigt sein zu sagen, daß die medi- !
kamentöse Therapie des Ascites tubercu-
losus keine großen Erfolge zu verzeichnen
hat. Um so näher lag es, auf diätetischem
Wege vorzugehen und einen therapeuti¬
schen Versuch mit kochsalzarmer Ernäh¬
rung zu machen.
Eine^solche Kost im strengen Sinn des
Wortes setzt sich zusammen aus Hafer-
mus, Reisschleim, gekochtem Obst, Eiern,
Milch und ungesalzener Butter, sie enthält
pro die ca. 2—3 g Kochsalz. Um die Kost
für den Patienten abwechselungsreicher zu |
gestalten, wurde gelegentlich auch eine
etwas salzreichere Kost von Fleisch, Brot
und Gemüsen gegeben, welche mit einem
möglichst kleinen Quantum Kochsalz zu¬
bereitet worden war. Diese Kost enthält
ca. 4 g Kochsalz als Tagesmenge im Ver¬
gleich zu 13—14 g Kochsalz der gemischten
Durchschnittskost. Die kochsalzarme Kost
wurde entweder längere Zeit hindurch ohne
Unterbrechung gegtben oder aber immer
nur auf einige Tage und dann wieder von
einigen Tagen normaler Kost unterbrochen.
Die letztere' Form der Anwendung empfahl
sich weit mehr, da die Patienten dabei den
Appetit nicht /verloren.
Unter normalen Verhältnissen scheidet
die gesunde Niere das in der Nahrung ein¬
geführte Kochsalz im Urin annähernd
quantitativ wieder aus, wenn man absieht
von den recht unbedeutenden Kochsalz¬
verlusten in Schweiß und Kot. Die durch¬
schnittliche Kochsalzmenge im Urin pro
die beträgt 12—15 g und je nach der Größe
der Einfuhr^ gestaltet sich im allgemeinen
auch die Ausfuhr. Das Verhalten der Koch¬
salzausscheidung beim Gesunden während
kochsalzarmer und kochsalzreicher Kost
zeigt beifolgende Kurve.
In der kochsalzarmen Periode übersteigt
die Kochsalzausfuhr die Einfuhr um bei¬
nahe das doppelte. In der daran sich an¬
schließenden kochsalzreichen Periode da¬
gegen bleibt die Ausfuhr hinter der Ein¬
fuhr wesentlich zurück. Es wird also der
Kochsalzbestand des Organismus, welcher
in der^kochsalzarmen Periode in Anspruch
genommen war, in der kochsalzreichen
Periode wieder ergänzt. Man sieht aus
den u unten beigesetzten Zahlen der Urin¬
menge, wie bei diesem Wechsel schon
beim Normalen in der Flüssigkeitsausschei¬
dung beträchtliche Schwankungen unter
gleichbleibender Zufuhr (ca. 2 1 pro die)
eintreten.
Noch viel ausgeprägter treten diese Ver¬
hältnisse bei den nachstehend wieder¬
gegebenen Krankengeschichten der Fälle
Ausfuhr BEinfuhr
lia.CI Oktober November
A25 26 27 28 M30 31 1 2 S 5 , 6 . 7 . B . 9 IQ.
Urinmen9e|s|||||§|S|S|||||§|||||§|S|||g|S|$|§
von tuberkulösem Aszites in Erscheinung,
die nach der angegebenen Methode be¬
handelt wurden.
Kall 1. 29jährige Frau, Behandlungsdauer
vom 12. Dezember 1906 bis 17. Januar 1907. 5Mo-
nate vor der Aufnahme in die Medizinische
Klinik war Patientin wegen länger bestehendem
Aszites punktiert und es waren mehrere Liter
abgelassen worden. Seit 14 Tagen bemerkt
Patientin erneute Anschwellung des Leibes und
heftige stechende Schmerzen in der rechten Seite.
Befund: Mittlerer Kräfte- und Ernährungs¬
zustand. Lungen: Geringe doppelseitige tuber¬
kulöse Spitzenaflektion, rechtsseitige Pleuritis
exsudativa. Abdomen: Mäßig frei beweglicher
Aszites, keine Tumoren: zu Beginn der Er¬
krankung Fieber, später fieberfreier Verlauf.
Am 8. Tage Punktion des rechtsseitigen Pleura¬
exsudats. Bei der Entlassung ist der Aszites
vollkommen beseitigt.
Auf die schlechte Diurese, welche in
den ersten drei Tagen bei gemischter
salzreicher Kost besteht, folgt alsbald
mit dem Einsetzen der kochsalzarmen
Diät ein Ansteigen der Urinmenge. Bei¬
nahe vier Wochen wird in derselben
Weise ununterbrochen fortgefahren. Die
Diurese erreicht ihren Höhepunkt am An¬
fang der dritten Woche der Behandlung.
Erst gegen Schluß der kochsalzarmen
Periode setzt ein mäßiges Absinken der
Diurese ein. Zu diesem Zeitpunkt ist bei
der Patientin der Aszites bereits bis auf
geringe kaum noch nachweisbare Reste
zurückgebildet. Darum kann ein Ansteigen
der Diurese nicht mehr erfolgen. Die koch-
salzaime Kost ruft vielmehr jetzt eine ge¬
ringe Verminderung der Diurese hervor, wie
dies der Norm entspricht. Die von da an
einsetzende kochsalzreiche gemischte Kost
läßt eine genügende gleichmäßig anhaltende
Diurese zustande kommen (s. Kurve 1).
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102
März
Die Therapie der Gegenwart 1910.
Fall 2. 26jähriges Mädchen, Behandlungs¬
dauer vom 14. April bis 18. Juni 1907. Beginn
der Erkrankung vor einem halben Jahr mit
Leibschmerzen und allmählich zunehmender
Anschwellung des Leibes, Atemnot und Schwel¬
lung der Beine.
Befund: Doppelseitige geringfügige tuber¬
kulöse Lungenspitzenaffektion, starke Dyspnoe
bedingt durch llochdrängung des Zwerchfells,
Cyanose, Oedeme der Beine infolge Aszites¬
druckwirkung, beträchtlicher freibeweglicher
Aszites. Leibesumfang 94 cm. keine Tumoren,
Urin o. B. Beinahe fieberfreier Verlauf. Bei
der Entlassung ist der Aszites nicht mehr nach¬
weisbar. Leibesumfang 84 cm.
der Haut und sichtbaren Schleimhäute, links¬
seitiges Pleuraexsudat. Frei beweglicher As¬
zites, Leibesumfang 86 cm. fieberhafter Ver¬
lauf bis auf die letzten 2 Wochen. Bei der
Entlassung Aszites nicht mehr nachweisbar,
Leibesumlang 71 cm. Pleuraexsudat kleiner,
noch deutlich nachweisbar.
Bei dieser Patientin, bei der der be¬
trächtliche Aszites im Laufe der Behand¬
lung völlig verschwand, erreichte die Di¬
urese erst bei der zweiten viertägigen
Periode kochsalzarmer Kost beträchtliche
Werte, stieg aber von da ab jedesmal beim
Kurve 1.
Na CI drme^osh
Dezember^ Januar \
2000 -
Hier wurde die kochsalzarme Diät inter- I
mittierend gegeben und zwar immer für
die Dauer von 3—4 Tagen, dann folgte
eine 4tägige Pause, in der normale Kost
verabreicht wurde. Sofort mit dem ersten
Einsetzen der kochsalzarmen Kost steigt
die Diurese stark an. Dasselbe wiederholt
sich späterhin noch zweimal, am Schluß
ist der Aszites verschwunden.
Fall 3. 15jähriges Mädchen, Behandlungs- [
dauer vom 2. Juli bis 2. August 1907.
Seit 4 Monaten bemerkt Patientin An- ;
Schwellung des Leibes, seit 6 Wochen leidet
sie an Husten und Auswurf. Vor 6 Wochen
wurden durch Punktion des Abdomes 6 1 I
Flüssigkeit entleert. Seit 3 Wochen beginnt
der Leib von neuem anzuschwellen.
Befund: Mittlerer Kräfte- und Ernährungs¬
zustand. Lungen: Keine sichere Veränderung;
frei beweglicher Aszites mittleren Grades, Lei¬
besumfang 76 cm, keine Tumoren, fieberfreier
Verlauf. Bei der Entlassung am 2. August
1907 Aszites nicht mehr nachweisbar.
Auch hier stieg die Diurese nach Ver¬
abreichung der intermittierend gegebenen
kochsalzarmen Kost jedoch erst am vierten
Tage, um dann von da an sich durch¬
schnittlich auch weiterhin auf guter Höhe
zu halten.
Fall 4. 17jähriges Mädchen. Behandlungs¬
dauer 28. Januar bis 28. März 1909.
Seit 4 Wochen bemerkt die Patientin An¬
schwellung des Leibes, kann nur wenig Urin i
lassen. Allgemeine Müdigkeit, Nachtschweiße,
Menses cessieren seit 4 Monaten.
Befund: Schlechter Kräfte- und Ernährungs¬
zustand. Geringe Oedeme der Beine. Blässe
Einsetzen der kochsalzarmen Kost prompt
an. Interessant an der weiteren Beobach¬
tung dieses Falles ist, daß zu einer Zeit,
da der Aszites schon vollständig geschwun¬
den ist, die wieder eingeführte kochsalz¬
arme Diät immer noch ein Ansteigen der
Diurese zur Folge hatte (im Gegensatz zu
Fall 1). Die Erklärung für dieses an¬
scheinend abweichende Verhalten ist zu
suchen in dem neben dem Aszites noch
vorhandenen Pleuraexsudat, dessen Re¬
sorption jetzt von statten geht.
Zwei weitere Beobachtungen betreffen
zwei Kinder mit Ascites tuberkulosus, von
denen keine Kurven aufgenomen sind, da
bei dem jugendlichen Alter der Patienten
die Gesamtmenge des Urins nicht ohne
Verlust aufgefangen werden konnte.
Fall 5. öjähriges Kind. Behandlungsdauer
6 Wochen.
Anamnese: Seit 3 Wochen Anschwellung
des Leibes, allgemeine Abmagerung und übler
Geruch des Urins.
Befund: Schlechter Kräfte- und Ernährungs¬
zustand.
Lungen: O B. frei beweglicher Aszites, keine
Tumoren. Nebenbei Bakteriurie (Bakterium
coli). Während des Verlaufs von Zeit zu Zeit
Temperatursteigerungen, bei der Entlassung ist
der Aszites völlig verschwunden.
Fall 6. 8jähriges Kind. Behandlungsdauer
7 Wochen.
Anamnese: Seit 1 Jahr besteht Anschwellung
des Leibes und Atemnot.
Befund: Schlechter Kräfte- und Ernäh
rungszustand,j Blässe des ^Gesichts, Drüsen
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März
Die Therapie der Gegenwart 1910.
103
Schwellungen, frei beweglicher Aszites, keine
Tumoren.
Temperatur: Während der 7 wöchigen Be¬
handlungsdauer stets etwas erhöht. Zum
Schluß der Behandlung kein Aszites mehr
nachweisbar.
Bei beiden Kindern war unter der inter¬
mittierenden Behandlung mit kochsalzarmer
Kost der Aszites ebenso rasch zurück¬
gegangen, wie bei den vier ersten Fällen.
Daran schließen sich noch zwei weitere
Beobachtungen, in denen ebenfalls ein
deutlich vorhandener allerdings nicht großer
Ascites tuberkulosus während einer Be¬
handlung mit kochsalzarmer Kost rasch
zurückging. In diesen Fällen tritt jedoch
der Zusammenhang mit der Art der Be¬
handlung nicht so überzeugend hervor,
wie in den ersten, eben geschilderten, und
ganz besonders ließ sich in keinem der
beiden Fälle der Einfluß der kochsalzarmen
Diät auf die Diurese so deutlich erkennen
wie dort. Der Aszites verschwand viel¬
mehr ohne daß irgendwie nennenswerte
[ geringen Grades, fieberfreier Verlauf. Bei der
: Entlassung am 1. Mai 1908 ist kein Aszites
mehr nachweisbar.
Hier wurde nur einmal für 3 Tage koch¬
salzarme Kost gegeben, die Diurese war
von vornherein recht gut und stieg wäh¬
rend der kochsalzarmen Periode noch et-
' was an.
In zwei weiteren Fällen schließlich blieb
die kochsalzarme Kost ganz ohne Einfluß
auf den Verlauf der Dinge.
Fall 9. 19jähriges Mädchen. Behandlungs¬
dauer vom 26. März bis 17. Juni 1908.
I Anamnese: Seit 14 Tagen bestehen An-
| Schwellung des Leibes und Leibschmerzen, hie
und da Erbrechen, Fieber; Appetit ist schlecht,
| Gewichtsabnahme. Früher nie ernstlich krank.
Befund: Schlechter Kräfte-und Ernährungs¬
zustand, Blässe der Haut und sichtbaren
: Schleimhäute. Lunge: Ueber der linken Spitze
leichte Schallverkürzung und unreines Vesi¬
kuläratmen. kein Rasseln. Abdomen: Aufge¬
trieben, frei beweglicher Aszites, Umfang 84 cm.
i Fieberhafter Verlauf.
Der Verlauf gestaltete sich folgender¬
maßen: Nach einer kurzen Periode mäßigen
stärkere Diureseperioden aufgetreten wären.
Fall 7. 26jähriges Mädchen. Behandlungs¬
dauer vom 18. Januar bis 22. Februar 1908.
Anamnese: Beginn der Erkrankung vor
3Va Wochen mit Fieber und Brustfellentzün¬
dung, seit 10 Tagen Anschwellung des Leibes.
Patientin konnte nur wenig Urin lassen.
Starkes Durstgefühl. Nachtschweiße. Früher
nie krank.
Befund: Schlechter Kräfte* und Ernährungs¬
zustand, Blässe der Haut und sichtbaren
Schleimhäute, keine Drüsenschwellung.
Lungen: Linksseitige Pleuraschwarte, links¬
seitige tuberkulöse Spitzenaffektion.
Abdomen : Mäßiger, freibeweglicher Aszites,
ln der linken Unterbauchseite fühlt man eine
unbestimmte gegen die Umgebung nicht deut¬
lich abgrenzbare Resistenz. Leibesumfang
84 cm. Urin: Spur Eiweiß, hyaline Zylinder.
Neigung zu Durchfällen, Fieberhafter Verlauf.
Bei der Entlassung am 22. Februar 1908 All¬
emeinzustand gebessert. Patientin ist ent-
ebert, Leibesumfang 78 cm. Aszites nicht
nachweisbar.
Die Patientin hatte einen starken Wider¬
willen gegen die kochsalzarme Kost. In
den Zeiten kochsalzarmer Diät war die
Nahrungsaufnahme mangelhaft. Die Di¬
urese schwankt sehr stark, ist meist recht
niedrig. Ein Einfluß der intermittierend
gegebenen kochsalzarmen Diät auf die
Urinmenge ist nicht zu erkennen. Der
Aszites ist jedoch während der Behand¬
lung geschwunden.
Fall 8. 14jähriger Junge. Behandlungs¬
dauer vom 8. April bis 1. Mai 1908. Anamnese:
Seit 10 Wochen krank, Abmagerung und Nacht-
schweisse. Seit 4 Wochen Anschwellung des
Leibes, früher nie ernstlich krank.
Befund: Schlechter Kräfte- und Ernährungs¬
zustand. Lungen: Geringfügige linksseitige
tuberkulöse Spitzenaffektion. Abdomen: Meteo-
ristisch aufgetrieben , i frei beweglicher Aszites
[ spontanen Ansteigens der Diurese sank sie
wieder rasch auf niedere Werte. Koch¬
salzarme Kost änderte daran nichts. Da¬
gegen rief Natr. salicyl. (2 g pro die) wie¬
derholt sehr starke Polyurie mit Ausschei¬
dung von großen Kochsalzmengen hervor.
Die nun gegebene kochsalzarme Kost
steigerte diese Polyurie nicht, sondern die
Urinmenge sank, und erst erneute Gaben
von Salicyl riefen wieder starke Diurese
hervor, so daß am Schluß der Behandlung
der Aszites beseitigt war. Gleichzeitig
waren jedoch unter andauerndem, mittlerem
Fieber Resistenzen im Abdomen palpabel
geworden und der allgemeine Kräftezustand
nahm sichtlich ab.
Fall 10. 19jähriges Mädchen. Behandlungs¬
dauer vom 7. Mai bis 10. Juni 1908.
Anamnese: Seit 6 Wochen allmählich zu¬
nehmende Anschwellung des Leibes, dabei
Durchfälle, etwas Husten und wenig Auswurf,
Abmagerung, allgemeine Müdigkeit, ab und zu
Nachtschweisse. Vor einem Jahr Lungen¬
katarrh, sonst nie krank.
Befund: Mittlerer Kräfte- und Ernährungs¬
zustand. Lunge: Doppelseitige tuberkulöse
Spitzenaffektion, linksseitige Pleuraschwarte.
Abdomen: Frei beweglicher Aszites, starke
Neigung zu Durchfällen, fieberhafter Verlauf.
Bei der Entlassung keine wesentliche Aende-
rung im Befund, die Durchfälle sind nicht zu
beseitigen, Gewichtsabnahme um 37a kg.
In diesem Falle versagte die kochsalz-
arme Kost vollkommen. Die Diurese blieb
während der ganzen Dauer der Behand¬
lung gleich niedrig.
Es zeigt sich demnach, daß die koch¬
salzarme Diät keineswegs in allen Fällen
von Ascites tuberculosus zur Entleerung
desselben führte. Sie kann gelegentlich
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104
Die Therapie der Gegenwart 1910.
März
vollkommen versagen. Wenn es gestattet
ist, aus den beiden Fällen mit negativem
Erfolg, die wir beobachteten, einen Schluß
zu ziehen, so dürfte dieses Versagen am
ehesten da zu erwarten sein, wo entweder
der Prozeß sehr aktiv und fortschreitend
ist (Fall 9), oder aber da, wo Kompli¬
kationen schwererer Art vorliegen, die den
Ernährungszustand resp. den Wasserhaus¬
halt stark beeinflussen (Darmtuberkulose in
dacht werden mußte, so erhielt die Patientin
reichlich Digitalis, jedoch ohne jeden Er¬
folg. Als dann nach 8 Tagen kochsalz¬
arme Kost eingeführt wurde, stieg die Urin¬
menge ebenso wie das Kochsalz auf das
prompteste sehr stark an (Kurve 2). Das
wiederholte sich bei der zweiten und
dritten kochsalzarmen Periode. Es wurden
keine anderweitigen Arzneimittel gegeben,
deshalb ist die Kurve besonders demon-
Kurve 2.
Na CI. Februar
Einfuhr!
März,
ITT5I 6T7TBTgnQTHI El BITOT5T751
|lJrinmenge
2000f
iNlhraiujitlimigkeit
FallJIO). Bemerkenswert ist, daß im ersten |
Fall das Natr. salicyl. nach dem Versagen
der kochsalzarmen Kost noch einen starken
diuretischen Effekt aufwies.
Man wird demnach auch hier unter¬
scheiden müssen zwischen Menschen mit
noch hinreichend guter Ernährung ohne
stärkeres Fieber und solchen, die bereits
weitgehend heruntergekommen sind und
dauernd höheres Fieber aufweisen. In den
letzteren Fällen kann die kochsalzarme
Kost geradezu schaden, da sie den ohne¬
hin sehr labilen Appetit solcher Patienten
schwer beeinträchtigen kann.
Hier sei noch angefügt, daß Versuche
mit kochsalzarmer Kost auch bei Aszites
anderer Genese unternommen wurden. Mit
einer einzigen Ausnahme blieben sie bis¬
her sämtlich resultatlos. Der eine Fall sei
kurz angeführt.
Fall 11. 32jährige Frau. Behandlungs¬
dauer vom 10. Februar bis 17. März 1909.
Anamnese: Vor 3 / 4 Jahren bemerkte die
Patientin Anschwellung der Beine, 4 Wochen
später Anschwellung des Leibes. Auf ver¬
schiedenartige Behandlung hin trat Besserung
ein. Von Zeit zu Zeit jedoch stellten sich Re¬
zidive ein. Seit 4 Wochen wieder erhebliche
Anschwellung des Leibes und Kurzatmigkeit.
Von früheren Krankheiten ist nichts zu eruieren.
Befund: Mittlerer Kräfte- und Ernährungs¬
zustand, Zyanose, Dyspnoe. Keine Oedeme.
Herz: Mitralinsuffizienz und -Stenose, Trikuspi-
dalinsuffizienz. Abdomen: Beträchtlicher frei
beweglicher Aszites, Umfang 101 cm. Derbe
Leber- und Milzschwellung. Blut: Wassermann
negativ. Urin: Spur Eiweiß, keine Zylinder.
Fieberfreier Verlauf.
Da wegen des Herzfehlers zu Anfang
an ein Ueberwiegen kardialer Stauung ge-
strativ. Bei der Entlassung hat der Leibes¬
umfang um 10 cm abgenommen (91 cm).
Hier kann es sich offenbar nicht um
eine rein kardiale Stauung gehandelt haben;
das zeigt das Versagen des Digitalis. Es
muß hier noch ein anderer Einfluß im
Spiele gewesen sein. Man könnte ihn ein¬
mal in den Nieren suchen. Allerdings
waren keine Erscheinungen von Nephritis
nachweisbar, aber ein ähnliches torpides
Verhalten der Nieren hat Strauß auch
ohne Nephritis bei lange bestehenden Herz¬
fehlern beobachtet. Wahrscheinlicher ist je¬
doch, daß neben dem Herzfehler noch eine
Polyserositis bestand. Dafür würde be¬
sonders die Milzschwellung sprechen. Jeden¬
falls handelt es sich nicht bloß um Herz¬
insuffizienz.
Um sich eine Vorstellung von dem gün¬
stigen Einfluß kochsalzarmer Kost auf den
Ascites tuberculosus machen zu können,
wird man vielleicht annehmen dürfen, daß
das Blut, welches zur Aufrechterhaltung
des osmotischen Gleichgewichts einen kon¬
stanten Kochsalzgehalt braucht, denselben
bei Einschränkung der Kochsalzzufuhr zu
ergänzen sucht durch Aufnahme von Koch¬
salz aus den Geweben. Wenn sich nun
im Körper ein größeres Kochsalzdepot in
Gestalt eines tuberkulösen Aszites vorfin¬
det, so geht von dort die entsprechende
Menge Kochsalz ins Blut über. Dies kann
nur in Lösung, also unter Mitnahme von
Wasser geschehen. Entsprechend dem so
erhöhten Wassergehalt des Blutes scheidet
die gesunde Niere erhöhte Urinmengen in
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März
Die Therapie der Gegenwart 1910.
105
entsprechender Konzentration aus. Die
Diurese kommt in Gang, es wird Wasser
und Kochsalz im Urin vermehrt abgegeben.
Offenbar kommt dies jedoch nur dann zu¬
stande, wenn die Resorptionswege in der Peri¬
tonealhöhle noch nicht zu weitgehend durch
Veränderungen des Peritoneums verlegt
sind. Theoretisch interessant ist, daß auch
in den Fällen, wo kochsalzarme Diät die
Diurese nicht steigerte, die Kochsalzaus¬
fuhr gegenüber der Einfuhr trotzdem genau
so stark überschoß, als beim Normal ver¬
such. (Vergl, die Kochsalzkurve beim Ge¬
sunden.) Kochsalz und Wasser gehen dem¬
nach nicht immer zusammen.
Ueber die Dauerresultate dieser Thera¬
pie läßt sich noch nichts Abschließendes
sagen, da ausgedehnte Nachuntersuchungen
bisher nicht gemacht werden konnten; eine
Umfrage vor D /2 Jahren hat aber ergeben,
daß bei Fall 1, 2, 3. 5, 6 nach einer Zeit
von 2 Monaten im Minimum, 10^2 Monaten
im Maximum ein Rezidiv nicht eingetreten
war. Das hier angegebene Verfahren hat
gegenüber den anderen empfohlenen nach
unseren Erfahrungen vor allem einen
Hauptvorzug, nämlich den eines relativ
raschen Effektes. Wenn ich in dieser
Richtung unser klinisches Material der
letzten Jahre noch einmal durchsehe, so
ergibt sich, daß von 14 mit Schmierseifen¬
einreibungen und arzneilichen Diureticis
behandelten Fällen 8 nach einer Behand¬
lungsdauer von durchschnittlich 5^2 Wochen
gar keine Veränderungen aufwiesen, 5 nach
durchschnittlich 37* wöchiger Behandlung
einen geringen Rückgang ihres Aszites
zeigten und gebessert entlassen werden
konnten und nur in einem Fall (9) nach
ca. 5 Wochen der Aszites fast vollkommen
beseitigt war. Zum Vergleich mit den
Zahlen anderer Autoren möchte ich einer
im Jahrbuch für Kinderheilkunde 1907,
Seite 399 erschienenen Arbeit von Hans
Schmid in Basel Erwähnung tun, aus der
zu entnehmen ist, daß von 12 an Peritonitis
tuberculosa (aszitische Form) leidenden
Patienten unter konservativer Behandlung
4 zum Exitus kamen, 3 nach durchschnitt¬
lich 7 monatlicher Behandlungsdauer geheilt,
5 nach durchschnittlich 472 monatlicher Be¬
handlung gebessert entlassen wurden. Dem¬
gegenüber haben wir unter 10 Fällen, die
mit kochsalzarmer Diät behandelt wurden,
8, in denen nach 5—7 Wochen der Aszites
vollständig beseitigt war. Man wird aus
diesen Vergleichszahlen den Schluß ziehen
dürfen, daß die Behandlung mit kochsalz¬
armer Kost in einem beträchtlichen Pro¬
zentsatz eine schnelle und vollständige
Resorption des Aszites zustande bringt.
Aber auch hier wird der Erfolg, wie noch¬
mals betont sei, ganz ausschlaggebend von
einer sorgfältigen Auswahl der Fälle ab-
hängen. Die weitere Erfahrung dürfte ge¬
statten, noch präzisere Indikationen zu
stellen, als dies an unserem kleinen Ma¬
teriale möglich war.
Aus der medizinischen Klinik der Universität Halle.
(Direktor: Prof. Dr. Ad. Schmidt).
Lieber die Wirkung des H 2 0 2 -Präparates „Oxygar“ auf die
Sekretion im Magen.
Von Dr. Kan KatO aus Japan.
Das Wasserstoffsuperoxyd hat in dem I
letzten Dezennium als Dcsinfizienz und I
Desodorars eine bevorzugte Stelle in un- |
serem Arzneisatze gewonnen. Bei Angina, ,
Diphtherie, Stomatitis, Otorrhoe und Rhi- 1
nitis, ferner in der Chirurgie ist es mehr
und mehr in Aufnahme gekommen. Es
lag deshalb nahe, auch seine innerliche
Anwendung bei Magen- und Darmleiden zu
versuchen.
Petri 1 ) stellte als erster in der Hallenser |
Klinik Versuche mit H 2 O 2 Lösungen bei
Magenleiden an, welche ergaben, daß das
H 3 O 2 den HCl-Gehalt des Mageninhalts
deutlich herabsetzt. Wie diese Wirkung
zustande kommt, ist in Tierexperimenten
unter Bickels Leitung von Togami 2 ;
•) Arch. f. Verdauungskrankh. 1908, Nr. 14, S.478.
s ) Bcrl. klin. Wochenschr. 1908, Nr. 33. !
untersucht worden, wobei sich ergab, daß
infolge der HjOj-Einwirkung eine starke
Schleimsekretion im Magen hervorgerufen
wird, deren Alkaleszenz die Azidität her¬
absetzt. Zu demselben Endergebnis kommt
eine unter Leitung von H. Winternitz
angefertigte Dissertation von Rocco l ).
Petri und Rocco empfehlen auf Grund
ihrer Beobachtungen den Gebrauch dünner
H 2 O 2 - Lösungen gegen Hyperaziditätsbe¬
schwerden.
Da jedoch, worauf Rocco bereits hin¬
wies, bei dieser Art der Verabreichung des
Wasserstoffsuperoxyds sich in praxi ge¬
wisse Schwierigkeiten geltend machen (der
Patient muß 3 mal täglich 2 Tassen einer
V 4 % ig en U 2 O 2 Lösung zu sich nehmen),
habr ich Versuche mit dem an Agar ge-
*) Rocco, Inaugural-Dissertation. Halle 1909.
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106
Die Therapie der Gegenwart 1910.
März
bundenen Wasserstoffsuperoxyd, dem
„Oxygar* (Helfenberg) gemacht. Dieses
Präparat ist bereits von Berger und
Tsuchiya *) hinsichtlich seiner Einwirkung
auf die Zersetzungsvorgänge im Darmkanal
geprüft worden und hat sich dabei als das
einzige wirklich leistungsfähige Mittel zur
Unterdrückung resp. Herabsetzung der
pathologischen Gärungsvorgänge bewährt.
Berger und Tsuchiya haben bei Gelegen¬
heit ihrer Untersuchungen auch auf die Wir¬
kung desOxygars im Magen geachtet und da¬
bei konstatiert, daß es im Gegensatz zu
reinen H 2 O 2 Lösungen keine Herabsetzung
der Magensäure bewirkt, was sie auf eine
langsame Abspaltung von H 2 O 2 zurück¬
führen, welche nicht ausreicht, eine Schleim¬
produktion seitens der Magenwand anzu¬
regen. Gerade diese langsame Abspaltung
von H 2 O 2 ist es, welche dem Präparat die
Fähigkeit verleiht, bis in den Darm hinab
wirksam zu bleiben.
Ich verabfolgte den Patienten morgens
nüchtern ein Probefrühstück nach Ewald,
heberte nach 1 Stunde aus und bestimmte
die freie Salzsäure und die Gesamtazidität
des Magensaftes.
Ein zweites Mal gab ich denselben Pa¬
tienten gleichzeitig mit dem Ewald sehen
Probefrühstück oder auch V 2 Stunde vor¬
her 1 g Oxygar und heberte ebenfalls nach
1 Stunde aus.
Folgende Werte erhielt ich bei meiner
Versuchsreihe:
I. Versuchsreihe.
Normalazidität.
Nr.
Nach Probefrühstück
Nach Probefrühstück
und Oxygar
Freie HCl
Gesamt-
Azidität
Freie HCl ■
Gesamt-
Azidität
1
22.0
34,0
I
25.0
46,0
2
32,0
52.0
44.0 ;
62,0
3
11.0
34,0
14.5 1
36.5
4
320
44.0
42,0
60.0
5
32,0
44,0
33 0 |
48,0
6
24,0
50,0
27.0 1
71,0
7
24.0
50.0
46,0 |
68,0
8
14.0
46,0
340 1
50,0
9
240
44 0
30.0
55,0
10
5.0
25.0
16.0 ;
50,0
11
41,0
57.0
45.0 |
67,0
12
31.0
57.0
32.5 !
88,5
13
20,0
47.0
22,0 !
60,0
Somit beobachtete ich nach Oxygarein-
gabe fast stets eine sich in mäßigen
Grenzen bewegende Zunahme der Säure¬
werte.
*) Zeitschr. f. exper. Path. u. Ther. 1909, Nr. 7.
II. Versuchsruhe.
Hypazidität.
Nr.
Nach Probefrühstück
p • Gesamt-
Freie HCl A ..._
Azidität
Nach Prob
und O
Freie HCl
efrühstück
xygar
Gesamt-
Azidität
1
30,0
72,0
42.0
74,0
2
56,0
79,0
67.0
84,0
3
46.0
70.0'
70,0
87,0
4
36,0
68,0
40,0
90,0
5
46,0
62,0
84.0
98,0
6
41,0
67.0
30,0
73,0
7
49,0
62,0
33.0
53,0
8
46,0
72,0
28,0
42,0
Auch hier zeigt sich fast regelmäßig
Vermehrung der Säure; nur in 2 Fällen
(7 und 8) trat eine geringe Herabsetzung
der Säurewerte nach Oxygareingabe ein.
III. Versuchsreihe.
Hypazidität.
Nr.
Nach Probefrühstück
Nach Probefrühstück
und Oxygar
Freie HCl
Gesamt-
Azidität
Freie HCl 1
j Azidität
1
16,0
2,0
23,0
2
—
16.0
10.0
30.0
3
_
20,0
*26,0
54,0
4
20.0
14.0
34,0
5
—
12.0
11,0
29,0
6
—
120
- 4,0
7
—
33.0
j 26,0
8
—
38,0
— i 10,0
9
—
9.0
6,0
10
10,0
- 10,0
i • I >
In der Hälfte der Fälle trat freie HCl
nach Oxygareinnahme auf, wo sie vorher
gefehlt hatte. — Nur viermal wurde
die Gesamtazidität nach Oxygareingabe
kleiner.
Das Gesamtergebnis dieser Versuche
bestätigt also die Angabe von Berger und
Tsuchiya, daß das H 2 O 2 in der Form des
Oxygars die HCl des Mageninhalts nicht
herabsetzt, wie es Lösungen von H 2 O 2
ziemlich regelmäßig tun. Nur in wenigen
i Versuchen (6 unter 31) konnte eine gering¬
fügige Herabsetzung der Säurewerte kon¬
statiert werden. Weiterhin zeigte sich aber,
daß das Oxygar im Gegensatz zum reinen
H 2 O 2 in der Regel sogar eine Erhöhung
der Säureabscheidung bewirkt, welche teil¬
weise nicht unerhebliche Werte erreicht
und bei fehlender freier Säure zu einem
Auftreten derselben führen kann. Daß diese
Wirkung nicht von dem ganz indifferenten
Agar-Agar, dem Vehikel des H 2 O 2 ab¬
hängt, ist eigentlich selbstverständlich,
immerhin habe ich noch durch einige spe¬
zielle Versuche mich davon überzeugt. Es
ist das H 2 O 2 , welches in dieser Form der
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Kärz
Die Therapie der Gegenwart 1910.
107
Darreichung leicht erregend auf die sezer-
nierenden Zellen wirkt, während es in
reinen Lösungen im pathologischen Sinne
reizend einwirkt und dann eine Schleim¬
absonderung auslöst, welche die Magen-
sfture neutralisiert.
Die Serumbehandlung des Gelenkrheumatismus.
Von Dr. med. Hans
Wir haben zwar in den verschiedensten
Salizylpräparaten ein im großen und ganzen
ausgezeichnetes Mittel zur Behandlung des
akuten Gelenkrheumatismus; aber trotzdem
läßt uns die therapeutische Wirkung oft
genug im Stich, sodaß es verständlich ist,
wenn die chemischen Fabriken immer
neue Präparate auf den Markt bringen,
deren letztes das vorletzte natürlich immer
bedeutend an Wirksamkeit zu Obertreffen
pflegt. Die meisten der modernen Mittel
gegen Gelenkt heumatismus sind Salizyl-
präparate; besonders modern sind die zur
percutanen Anwendung empfohlenen (Salit,
Mesotan, Spirosal usw.). Etwas prinzipiell
anderes ist schon die Empfehlung des
Kollargols in intravenöser oder rektaler
Anwendung. Ich habe persönlich keine
Erfahrung Ober die Wirkung des Kollargols,
will aber erwähnen, daß verschiedene
Autoren schon vor einigen Jahren Ober
ausgezeichnete Resultate berichtet haben.
In der Med. Klinik (1907, Nr. 42) berichtet
Witthauer Ober 25 mit Kollargolklysmen
behandelte Fälle, von denen 21 geheilt
wurden, nachdem die gewöhnlichen Mittel
versagt hatten. Die neueste Arbeit stammt
wohl von Fabian und Knopf (Berl. klin.
Woch. 1909, Nr. 30), die zu dem Schluß
kommen, daß Kollargolklysmen anzuwenden
sind, wenn die Salizyltherapie versagt hat.
Die Kollargoltherapie des Gelenkrheuma¬
tismus ging wohl von dem Gedanken aus,
•daß der echte akute Rheumatismus durch
Streptokokken hervorgerufen wird. Man
nimmt an, daß in der Mehrzahl der Fälle
die Tonsillen die Eingangspforte der In¬
fektion dar stellen, da in den meisten Fällen
-eine Angina dem Auftreten des Gelenk¬
rheumatismus vorangeht. In diesem Ge¬
dankengang haben wir auch die Brücke
zur Serumbehandlung des Gelenk¬
rheumatismusgefunden. Menzer machte
am 14 Mai 1902 in der Berliner medizi¬
nischen Gesellschaft Mitteilungen Ober eine
von ihm geübte Behandlung des Gelenk¬
rheumatismus mittels Streptokokkenserums.
Er kam zu dem Schluß, daß die Serum¬
behandlung auch chronisch gewordene Er¬
krankungen noch zu heilen beziehungs¬
weise zu bessern vermöchte, und daß auch
die akuten Rheumatismen günstigere Hei¬
lungsbedingungen fänden, wenn sie mit
Ratze b urg- W ismar.
Serum behandelt würden. Rückfälle sollten
seltener werden, und auch auf bestehende
Endokarditiden sollte ein entschieden gün¬
stiger Einfluß ausgeübt werden (Münch,
med. Wochschr. 1904, Nr. 33). Die Methode
ist natürlich von verschiedener Seite nach¬
geprüft worden. Es ist mir nicht möglich,
alle Literaturangaben anzuführen, die über
Serumbehandlung berichtet haben. Er¬
wähnen will ich nur, daß mir bei dem
Studium der Methode außer den grund¬
legenden Arbeiten Menzers eine Arbeit
von Schaefer (Ther. d. Gegenwart 1904,
H. 3) in die Hände gefallen ist, der
die Serumbehandlung warm empfiehlt.
Schaefer hat zwar nur über eine geringe
Anzahl von Fällen berichtet, doch kommt
er zu dem Resultat, daß unter dem Ein¬
fluß der Serumbehandlung die
Attacken viel kürzer waren und daß
die Serumbehandlung einen Zustand
subjektiven Wohlbefindens hinter¬
ließ, wie er seit Jahren nicht be¬
standen hatte.
Ich bin nun in der Lage, über einen
Fall zu berichten, in dem ich durch die An¬
wendung des Menzer sehen Streptokokken¬
serums einen geradezu eklatanten Erfolg
erzielt habe. Ich halte die Veröffentlichung
dieses — wenn auch nur einzigen — Falles
gerade deshalb für so wichtig, weil er aus
der Praxis des praktischen Arztes stammt
und dadurch beweist, daß gerade in der
Allgemeinpraxis unter bestimmten Bedin¬
gungen die Anwendung des Serums zweck¬
mäßig ist. Der Fall ist 2 Jahre lang ein¬
gehend beobachtet, sodaß das Urteil über
den Erfolg ein absolut unzweideutiges ist.
Ich will die Krankengeschichte eingehend
darstellen, da sich so am besten die In¬
dikation für die Anwendung des Serums
in der Praxis ergibt.
Der jetzt 56 Jahre alte Lokomotivführer a. D.
H. hierselbst erkrankte 1893 an Influenza,
deren Folge das erstmalige Auftreten eines
Anfalles von Gelenkrheumatismus war: beide
Füße stark geschwollen und schmerzhaft.
Thtrapie: Salizyl intern. 4 Wochen Er¬
werbsunfähigkeit. 1895 trat der zweite
Anfall ein, ebenfalls wieder in beiden Fu߬
gelenken. Nach Salizylgebrauch trat in drei
Wochen Heilung ein. Dieselbe Therapie
führte 1896 bei einem beide Fußgelenke und
das linke Kniegelenk heimsuchenden Anfall
in 6 Wochen zum Ziel. 1897 trat ein be-
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108
Die Therapie der Gegenwart 1910.
März
sonders heftiger Anfall auf: Starke Schwellung
und Schmerztlaftigkeit beider Fuß- und Knie¬
gelenke zwangen den Patienten zu 6wöchiger
Bettruhe. Der Anfall wurde mit Salizyl, später
mit Massage, Sool- und Dampfbädern be¬
handelt; die Dienstunfähigkeit dauerte
10 Wochen. Nach 4jähriger Pause trat 1901
ein Anfall in beiden Füßen, im linken Knie
und in der linken Schulter auf. Außer der
bewährten Salizyltherapie wurden diesmal
heiße Breiumschläge verordnet. Die Dauer
dieser Erkrankung betrug 14 Wochen.
1902 machte Patient eine Soolbadekur (15 Bäder)
mit Massage durch. Trotzdem trat 1903 wieder
ein Anlall im linken Ellbogen und in der
linken Hand auf; Therapie: Ichthyolpinselungen,
Einreibungen mit Kampferspiritus. Dienst¬
unfähigkeit: 3 Wochen. 1904 erkrankten
die meisten der Gelenke: beide Fuß-, beide
Knie-, beide Schulter-, beide Handgelenke, so¬
wie endlich das linke Ellbogengelenk waren
Sitz der Erkrankung. Interne Behandlung:
Salizyl und Jod. Aeußere Behandlnng:
6 Wochen täglich elektrisiert (laradischer
Strom). 24 8%ige Solbäder in Segeberg. Da
die linksseitige Schultermuskulatur mangelhaft
funktionierte, so wurde eine 4 wöchige mediko-
mechanische Behandlung in der Wasserheil¬
anstalt Kleinen verordnet; außerdem Massage
und heiße Dampfduschen. Die Dienst¬
unfähigkeit betrug in diesem Jahre
10 Monate. 1906 nahm H. wieder 24 8%ige
Solbäder in Segeberg. 1907, im Mai und Juli,
zunächst 2 kleinere Anfälle von je 14 tägiger
Dauer (linke Hand und linker Fuß). Am
2. Oktober 1907 endlich trat ein Anfall auf (im
Anschluß an Ueberanstrengung beim Umzug?),
der zu den schwersten gehörte, die Patient
überhaupt durchgemacht. Beide Füße, beide
Kniegelenke und das linke Ellbogengelenk
waren stark geschwollen. Ich ordinierte zu¬
nächst Aspirin, später Pyrenol, Thiokol,
wandte heiße Umschläge sowie Einpinselungen
von Ichthyolglyzerin an. Wohl gelang es, für
wenige Tage eine geringe Abschwellung der
Gelenke und damit natürlich auch ein Nach¬
lassen der so heftigen Schmerzen zu erzielen,
doch traten Rezidive Über Rezidive auf; war
das eine Gelenk abgeschwollen, so begann das
andere unter geringen Temperaturanstiegen
wieder zu schwellen und schmerzhaft zu
werden. Da die üblichen Mittel nahezu er¬
schöpft waren und der Patient auch keine Lust
verspürte, noch andere Medikamente zu pro¬
bieren, so entschloß ich mich, die Anwendung
des Menzerschen Streptokokkenserums zu
empfehlen. Um dem Patienten zu dieser Kur
etwas Mut einzuflößen, gab ich ihm selbst die
Arbeiten von Menzer (Münch, med. Wochschr.
1904, Nr. 33) und Schaefer (Ther. d. Gegen¬
wart 1904, Märzhefi) an die Hand. Der Patient
ersah aus diesen Arbeiten die Zweckmäßigkeit
der Anwendung, für die er sonst keinen An¬
haltspunkt gehabt hätte, und entschloß sich so¬
fort zu einem Versuch der Anwendung. Ich
erwähne diese näheren Umstände gerade des¬
halb so genau, weil es für den Praktiker im
allgemeinen nicht ganz so leicht ist wie für
den Kliniker, die Patienten zu eingreifenden
Kuren zu bewegen.
Bevor ich mich zur Anwendung entschloß,
orientierte ich mich über die von Menzer
selbst (loco sup.) angegebenen Kontraindika¬
tionen. Diese sind gegeben in „erheblichen
Stenosen an der Mitralis" und in allgemeiner
Körperschwäche. Eine einfache Endokarditis
sieht Menzer selbst nicht als Kontraindikation
für die Verwendung des Serums an. Arterio¬
sklerose höheren Grades kontraindiziert eben¬
falls die Anwendung. Da mein Patient von
geradezu robustem Körperbau war und am
Herzen weder Erscheinungen von Stenose
noch von Arteriosklerose (letztere auch nicht
an den peripheren Gefäßen) bestanden, ich
mithin annehmen mußte, daß die nötige Re¬
generationskraft, die Menzer vom Patienten
verlangt, vorhanden war, so entschloß ich mich
zur Anwendung des Serums (von Merck in
Darmstadt in Fläschchen ä 2, 5 und 10 ccm
bezogen). Besonders hervorheben möchte
ich noch, daß während der Anwendung
des Serums weder ein innerliches
Mittel gereicht noch eine äußerliche
Behandlung angewandt wurde.
Ich lasse hierunter zunächst die Temperatur¬
kurve folgen:
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Anschließen will ich dann sogleich die
Krankennotizen, die der Patient selbst fast all¬
täglich aufgeschrieben hat, und zwar mit den¬
selben Worten, die der Patient notiert hat:
8. Januar. Leichte Schwellungen an beiden
Knien, beiden Füßen und an der linken Hand.
Die Schwellungen im Laufe des Tages ge¬
steigert.
9. Januar. Schwellungen am rechten Knie
und an der linken Hand haben etwas nach¬
gelassen.
10. Januar. Schwellungen an beiden Knien
und der linken Hand haben bedeutend nach¬
gelassen. In lektionsstelle etwas ge¬
schwollen, brennende Schmerzen an
derselben, Schlaf bisher sehr gut.
11. Januar. Sehr unruhig; abends
7 Uhr kalter Schweiß und Brustbeklem¬
mung, leichter Schmerz in allen Glie¬
dern; Körper sehr schlaff, Appetit gut,
hat nachgelassen.
12. Januar. Schmerzen im rechten Fuß.
13. Januar. Schmerzen in beiden Füßen,
große Unruhe, Appetit hat nachge¬
lassen.
14. Januar. Nachts wenig Schlaf; Schmerzen
in beiden Füßen, im rechten Knie und im
rechten Handgelenk.
15. Januar. Schmerzen in denselben Ge¬
lenken; rechtes Knie sehr steif.
16. Januar. Schmerzen im linken Fuß
heftiger, in den anderen Gelenken weniger
heftig.
17. Januar. Schmerzen in den Finger¬
gelenken der rechten Hand; linker Fuß sehr
stark geschwollen; während des Nach¬
mittags große Unruhe, gegen Abend
starker Schweiß.
18. Januar. Rechtes Handgelenk sehr
schmerzhaft; starke Schwellung auch an den
Fingern; während der Nacht kein Schlaf.
19. Januar. Heftige Schmerzen in allen
Gelenken haben bedeutend abgenommen.
Schlaf und Appetit wieder gut. Während
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März
109
Die Therapie der Gegenwart 1910.
des Tages fortwährender leichter
Schweiß.
20. Januar. Rechte Hand abgeschwollen,
gut beweglich, ebenfalls beide Knie und Füße;
während der Nacht Schweiß.
22. Januar. Am Abend und während
der Nacht Schweiße.
Ab 23. Januar traten keine außergewöhn¬
lichen Erscheinungen mehr auf, die Besserung
schritt langsam fort.
Am 22. Februar konnte Patient das Bett
verlassen.
Vom 29. Februar ab zur Nachbehandlung
26 Massagen.
April 1908 ist Patient so weit, daß er
1V* Stunden ohne Schmerzen gehen kann.
So weit die Notizen, die Patient selbst auf¬
geschrieben hat. Ergänzend will ich hinzu¬
fügen, daß Patient seit der Behandlung niemals
wieder ein Rezidiv bekommen hat trotz großer
körperlicher Anstrengungen, die er sich zu¬
gemutet hat. Ich habe den Patienten noch
kurz vor Anfertigung dieser Arbeit (Anfang
November 1909) nach seinem Befinden gefragt,
worauf er mir erwiderte, es gehe ihm gro߬
artig, er fühle sich wohler als je und könne
4 Stunden hintereinander marschieren, ohne
auch nur irgend welche Beschwerden zu ver¬
spüren. Auch die Frau bekundete mir kürz¬
lich ihre Zufriedenheit mit dem Resultat.
Wenn wir nun eine kritische Wür¬
digung der vorliegenden Behandlung
unternehmen wollen, so müssen wir zu¬
nächst feststellen, daß wir in der Tat eine
Reaktion durch die Serumeinspritzung
erzielt haben. Das ist mit Sicherheit be¬
wiesen dadurch, daß vom 9. Januar ab
(also demjenigen Tage, an dem die größte
Dosis, gleich 10 ccm Serum, injiziert
wurde) ein rapider Anstieg der Temperatur
erfolgte, der am 10. Januar abends schon
38,5 °, dann mit morgendlichen Remissionen
am 16. Januar abends 39° erreichte, um
dann unter Schweißausbruch vom 17. Ja¬
nuar ab kritisch zur Norm abzufallen. Be¬
wiesen ist die Reaktion ferner durch das
Auftreten heftiger und äußerst schmerz¬
hafter Gelenkschwellungen, die um die
Zeit der Temperaturakme ihren Höhepunkt
erreichten. Bewiesen ist die Reaktion
endlich meines Erachtens gerade durch
die Nebenerscheinungen, die mit der In¬
jektion zumal der größeren Dosen des
Serums auftraten: Unruhe, Appetitlosigkeit
und Schlaflosigkeit. Wir haben also
durch die Seruminjektion eine deutliche
Reaktion erzielt, die ihren Ausdruck fand
in einer akuten Verschlimmerung des Pro¬
zesses: während vor der Einspritzung die
Erscheinungen im Bilde eines subakuten
Gelenkrheumatismus auftraten, d. h. unter
ganz geringen vorübergehenden Tempe¬
raturerscheinungen kommende und wieder
gehende Schwellungen an diesem und
jenem Gelenk sich zeigten, traten an fast
allen Gelenken, die jemals den rheumati¬
schen Prozeß gezeigt hatten, unter dem
Einfluß der Seruminjektion lebhafte Schwel¬
lungen und Schmerzen mit hohem Tempe¬
raturanstieg auf — unter verhältnismäßig
leichten Störungen des Allgemeinbefindens,
mit anderen Worten: aus einem Rheuma¬
tismus, der schon entschieden subakut war,
ja der schon chronisch zu werden drohte,
wurde ein akuter Rheumatismus unter dem
Einfluß der Serumbehandlung. Damit
haben wir schon das Prinzip der Strepto¬
kokkenserumbehandlung ausgesprochen:
das Serum soll gewissermaßen alles Bös¬
artige, was in den Gelenken respektive in
den Körpersäften steckt, sich * austoben “
lassen, damit dadurch die Möglichkeit zum
Chronischwerden genommen wird. Wir
haben also vom 9. Januar ab (vergleiche
die Fieberkurve!) einen akuten Gelenk¬
rheumatismus, der nun natürlich der Durch¬
schnittsdauer bedarf, um zur gänzlichen
Heilung zu gelangen: 4 Wochen Bettruhe
und Nachbehandlung mit Massage durch
weitere 4 Wochen; von da ab kein Schmerz
mehr, keine Störung.
Was die Dosierung des Serums
betrifft, so schreibt Menzer (1. c.) darüber
folgendes: „Die Dosierung des Strepto¬
kokkenserums beim akuten Gelenkrheuma¬
tismus besteht im allgemeinen in der An¬
wendung von Einzeldosen k 5 ccm. Chro¬
nische Fälle von sehr langem Bestehen
müssen in einzelnen Etappen behandelt
werden. Ich empfehle hier zunächst in
2—3 tägigen Intervallen Dosen k 5 ccm
einzuspritzen, nach Injektion von 30 ccm
eine längere, ein- bis mehr wöchentliche Pause
zu machen und dann in ähnlicher Weise
fortzufahren. In Fällen, in welchen aus
den oben dargelegten Gründen besondere
Vorsicht in der Behandlung geboten ist,
muß die Dosierung eine wesentlich ge¬
ringere sein (Va, 1, 2 ccm). a In den 6 von
Schäfer-Pankow (1. c.) veröffentlichten
Fällen handelt es sich (mit 2 Ausnahmen)
um Kinder. Bei dem 13 jährigen Knaben
Sch. (Fall 1) wurden im ganzen nur 2 mal
5 ccm im Zwischenraum von 1 Tag injiziert.
Bei dem 12 jährigen Knaben O. (Fall 2)
wurde zuerst 1 ccm, am 2. Tag (mit 1 Tag
Zwischenraum, 2, am 3. Tag 3 ccm injiziert,
im ganzen also 6 ccm. Bei der 34 jährigen
Frau Schw. (Fall 3) wurden zuerst 2 ccm,
am übernächsten Tag 5 ccm, nach 4 Tagen
5 ccm, am Tage darauf noch einmal 5 ccm,
zusammen 17 ccm injiziert In Fall 4
(14 jährig. V.) wurden im ganzen 17,5 ccm,
in Fall 5 (40 jährig. S.) wurden 30 ccm in
4 Injektionen ä 2,5 und 4 Injektionen
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UNIVERSiTY OF CALIFORNIA
110
Die Therapie der Gegenwart 1910.
März.
ä 5 ccm eingespritzt, in Fall 6 (5 jährig. H.)
7 ccm Serum ifijiziert. Fall 5 war im
ganzen wohl etwas schwach (schwache
Herztöne) und hatte Komplikation mit
Pleuritis und systolischem Geräusch an der
Aorta, deshalb wohl die sehr vorsichtige
Dosierung (4 mal 2 1 /* ccm mit je 1, zuletzt
sogar 2 Tagen Zwischenraum). Fall 3
hatte offenbar Komplikation mit Mitral¬
insuffizienz, die unter der Serumbehand¬
lung besser wurde (schwächere Herz¬
geräusche). Auch Fall 1 und 2 hatten
Herzkomplikationen, die ebenfalls durch
die Serumbehandlung gebessert wurden,
ln meinem Fall ging ich, obwohl keine
Komplikationen bestanden und der Körper
sehr kräftig war, zunächst sehr vorsichtig
vor, indem ich am 3. Januar 2 ccm in¬
jizierte, ohne jede Wirkung. Da auch die
nächsten beiden Injektionen ä 5 ccm keinen
sichtbaren Reaktionseffekt erzielten, so
ging ich, abweichend von der sonst üb¬
lichen Dosierung, zur Injektion von 10 ccm
auf einmal über. Das genügte, um einen
sofortigen Effekt zu erzielen. Die Reaktion
wurde durch nochmalige 2 Injektionen von
je 5 ccm auf der Höhe erhalten. Ich bin
der Ueberzeugung, daß ich ohne die In¬
jektion der 10 ccm nicht einen so prompten
Erfolg erzielt hätte.
Was nun die Nebenwirkungen der In¬
jektion betrifft, so sind dieselben als äußerst
geringfügig zu bezeichnen. Immerhin fiel
es dem Patienten auf, daß er infolge der
Behandlung an Appetitlosigkeit, Unruhe
und Schlaflosigkeit litt, was ihm bei seinen
rheumatischen Beschwerden sonst nicht
passiert war. Er selbst bezeichnete aber
die Störungen als so gering, daß sie für
die Beurteilung der Zweckmäßigkeit der
Serumanwendung überhaupt nicht in Frage
kommen; außerdem dauerten die unan¬
genehmen Erscheinungen nur einige wenige
Tage. Was die Schweißausbrüche betrifft,
so wurde von Schaefer-Pankow (1. c.)
betont, daß dieselben auffallend gering
seien. In meinem Fall waren sie zwar
bedeutend, wurden aber vom Patienten
nur registriert, ohne daß über das Un¬
angenehme solchen Schweißausbruches ge¬
klagt wurde. Die Rötung an der Injektions¬
stelle, die sich am 10. Januar am Ober¬
schenkel einstellte, ging durch Bepudern
mit Amylum schnell zurück.
Epikrise: Ein 54jähriger Mann, der
1893 zuerst an Gelenkrheumatismus er¬
krankte, von häufigen und heftigen Rezi¬
diven geplagt wurde, bekam Oktober 1907
einen besonders langwierigen, zu andau¬
ernden Rückfällen neigenden Gelenk-
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rheumatismus, der der Behandlung mit
den üblichen Mitteln trotzte. Es wurden
deshalb 32 ccm Menzersches Strepto¬
kokkenserum injiziert, wodurch ein all¬
mähliches Abklingen des Prozesses ohne
jeden weiteren Zwischenfall erzielt wurde.
Die wichtigste Frage für die allgemeine
Verwendung des Serums ist die: wann
soll der praktische Arzt das Serum gegen
Gelenkrheumatismus verwenden? M e n z er
selbst empfiehlt die Anwendung des Serums
besonders in akuten Fällen, indem er die
Salizyltherapie ganz verwirft. In leichteren
akuten Fällen soll exspektativ verfahren
werden, in schwereren mit der Serum¬
injektion sofort begonnen werden, da ge¬
rade in diesen Fällen die Chancen beson¬
ders günstig sind. Es leuchtet jedem
Praktiker ohne weiteres ein, daß dieser
Standpunkt unhaltbar ist. Wir müssen
unter allen Umständen die Salizyltherapie,
die wie keine andere Therapie bei irgend
einer Krankheit sicher fundiert und daher
fest eingebürgert ist, zur Anwendung
bringen. Gerade in leichten Fällen ver¬
langt der Kranke Linderung seiner
Schmerzen, die wir ihm bei der Unschäd¬
lichkeit des Mittels keineswegs vorenthalten
dürfen. Wir brauchen ja darum noch
nicht den Körper mit Salizyl zu über¬
schwemmen, sondern können die Dosierung
beliebig abstufen — je nach der Intensität
des Falles. Auch bei subakuten Fällen
werden wir zunächst die Salizylmedikation
versuchen, die wir später mit Hydro¬
therapie und medikomechanischen Ma߬
nahmen wirkungsvoll unterstützen können.
Sobald aber die Nutzlosigkeit der Salizyl-
und mechanischen Therapie klar zutage
tritt, sollen wir dem Patienten die Anwen¬
dung des Serums empfehlen und zwar so¬
wohl in akuten wie in subakuten Fällen.
Ebenso müssen wir beim chronischen
Rheumatismus verfahren, das heißt auch
hier gilt es zunächst, einen Versuch mit
altbewährten Mitteln (Heißluftbäder, Dampf¬
bäder, Sandbäder, Massage) zu machen;
versagen diese Mittel, so müssen wir auf
die Anwendung des Serums dringen.
Zum Schluß noch einige kurze Bemer¬
kungen über die Technik der Injektion.
Ich verfahre genau wie bei der Injektion
des Diphtherieheilserums. Sorgfältige Des¬
infektion der Außenseite des Oberschenkels
sowie der Hände des Arztes. Auskochen
der Spritze (Pravaz 2 ccm) mit 2 Kanülen.
Die Injektion wird subkutan gemacht; die
eine Kanüle bleibt drin, während mit der
anderen die Spritze neu aufgefüllt wird.
Die zu injizierende Menge richtet sich
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UNIVERSITÄT OF CALIFORNIA
März
Die Therapie der Gegenwart 1910.
111
nach der Körperkonstitution des Kranken.
Bei Kindern wird man mit 2 ccm Einzel¬
dosis. bei Erwachsenen im allgemeinen
mit 5 ccm auskommen. Doch kann es
nötig werden, wie in meinem Fall, 10 ccm
zu injizieren. Wenn 30 ccm injiziert sind,
empfiehlt es sich, eine längere Pause
(1—2 Wochen und mehr) zu machen.
Ich bin weit entfernt, aus dem vor¬
liegenden einzelnen Fall Schlosse ziehen
zu wollen für die allgemeine Verwendbar¬
keit des Menzersehen Serums, doch hat
mir der Fall gezeigt, daß wir in ver¬
zweifelten Fällen von Polyarthritis die
Möglichkeit haben, mit der Seruminjektion
einen eklatanten dauernden Erfolg zu er¬
zielen; und darauf allein kommt es an:
der Erfolg entscheidet alles!
Ams der chirurgischen Abteilung des städtischen Auguste Viktoria-Krankenhauses
zu Schöneberg.
Die chirurgische Behandlung der Tuberkulose.
Von W. Kausch.
I. Die Gelenk- und Knochen¬
tuberkulose* |
Unter chirurgischer, d. h. der chirurgi¬
schen Behandlung zugänglicher Tuberku¬
lose verstand man früher in der Haupt¬
sache die Tbc. der Knochen und Gelenke,
ferner die der Sehnenscheiden, der äußeren
LymphdrOsen, der Hoden; die der Haut j
ist ja bereits ein Grenzgebiet zur Derma- |
tologie. Heute, wo der Chirurg zahlreiche j
innere Organe erfolgreich operativ angreift, |
ist das Gebiet der chirurgischen Tbc. weit
umfangreicher, gibt es doch kaum ein Or¬
gan, dessen chirurgische Behandlung bei
tuberkulöser Erkrankung nicht in Betracht
käme. Wegen der Verschiedenheit der
Behandlung erscheint es zweckmäßig, die
Tbc. der Gelenke und Knochen getrennt
von der der übrigen Organe zu besprechen.
Die Ansichten der Chirurgen über die
Behandlung der Knochen- und Gelenk-
Tbc. gehen auch heute noch weit
auseinander. Wenn es auch Chirurgen,
die prinzipiell jede Tbc. operativ angreifen
oder prinzipiell jede Operation verwerfen,
heute nicht mehr gibt, so ist doch recht
scharf ein radikaler und ein konservativer
Flügel zu unterscheiden. Zu ersterem
rechne ich König sen. und seine Schule
(Riedel, Hildebrand, Martens usw.),
Gar re und viele andere, zu letzterem
Bier, die Mikuliczsche Schule und andere.
Zwischen den beiden Extremen liegen zahl- j
reiche Zwischenstufen.
Aus dem radikalen Lager sind in den ,
letzten Jahren häufiger Publikationen über 1
die Behandlung der Tbc. erfolgt. Ich will 1
nur die von König sen., Martens (in |
dieser Zeitschrift), Garr£ nennen. Spär- j
licher sind die Arbeiten aus dem konser- ,
vativen Lager; sie stammen fast sämtlich
von Bier und seiner Schule (Klapp). Es
scheint mir um so zweckmäßiger, der Be- |
handlung der Knochen- und Gelenk-Tbc. '
auch von anderer konservativer Seite nahe |
zu treten, als die Bi er sehe Schule wesent¬
lich anders vor geht als z. B. die Mikulicz sehe.
Aus dieser ist in letzter Zeit wenig hier¬
über publiziert worden; Tietze hat über
die kindliche Tbc. geschrieben, Henles
umfassende Arbeit liegt bereits 12 Jahre
zurück.
Besonderes Gewicht lege ich in
meiner Abhandlung auf das Vor¬
gehen bei Abszessen und bei Fisteln;
namentlich letztere werden meiner Erfah¬
rung nach meist vernachlässigt oder wenig¬
stens nicht systematisch behandelt. Manche
erwähnen, wenn sie ausführlich die Be¬
handlung der Tbc. besprechen, die Fisteln
überhaupt nicht, woraus ich schließe, daß
sie außer der radikalen Therapie, zu der
sie sich meist alsdann auch bekennen,
überhaupt keine für die Fisteln würdigen
oder üben.
ln Breslau, auf der Mikulicz sehen Klinik, wo
ich in der konservativen Behandlung der Tbc.
aufwuchs und sie während 9 Jahren sab,
nahmen wir an, daß vielleicht örtliche und so¬
ziale Verhältnisse mitsprächen, wenn manche
Chirurgen mit der konservativen Behandlung
so unzufrieden waren, trotz erneuter Versuche
mit ihr sie immer wieder fallen ließen und zur
radikalen zurückkehrten. Es war mir daher
wertvoll, ein anderes Material, das Schöneberger,
d. h. das Groß-Berliner, kennen zu lernen. Die
sozialen Verhältnisse der ärmeren Bevölke¬
rungsschichten in Breslau und Berlin, nament¬
lich Schöneberg, sind zweitellos verschieden,
in Schöneberg wesentlich günstiger. So könnte
man sagen: Der Aufenthalt im Krankenhause
als solcher muß auf sozial schlechter Gestellte
günstiger einwirken als auf die besser Situierten.
Nachdem ich das Schöneberger Material über
3 Jahre lang kenne, muß ich sagen, die kon¬
servative Therapie der Tbc. gibt mir im ganzen
dieselben zufriedenstellenden Resultate wie in
Breslau. Ich bin, wie ich sogleich vor¬
wegnehmen will, im allgemeinen der
konservativen Behandlung der Gelenk-
und Knochen-Tbc. treu geblieben, wenn
ich auch in einigen Tunkten etwas
aggressiver geworden bin.
Ich will nun sogleich zur Behandlung,
wie ich sie ausführe, übergehen, wobei ich
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UNIVERSiTY 0F CALIFORNIA
112
März
Die Therapie der Gegenwart 1910.
natürlich auch das Vorgehen anderer be¬
sprechen werde; ich beginne mit der all¬
gemeinen Behandlung, weil sie in
mancher Beziehung die lokale beeinflußt.
Im ganzen finde ich und habe es ge¬
sehen , wo ich auch tätig war und wo ich
sonst hingekommen bin, wird der allge¬
meinen Behandlung von den Chirurgen zu
wenig Gewicht beigelegt. Es gilt das
übrigens keineswegs allein für die Tbc.,
sondern auch sonst. Der Chirurg, über¬
haupt jeder Spezialist, jeder nicht allge¬
meine Arzt, neigt nur allzu sehr dazu,
allein das örtliche Leiden zu behandeln,
das für ihn von Interesse ist, nicht den
ganzen Menschen. Bei der Tbc. kommt es
auf die allgemeine Behandlung aber ganz
besonders an. Wohl wird überall, in Lehr¬
büchern „und Publikationen, Vorträgen und
Diskussionen betont, wie wichtig sie sei, in
praxi wird sie aber meist sehr vernach¬
lässigt.
Luft, Licht, Sonne braucht jeder ge¬
sunde Mensch, noch mehr jeder Kranke,
zumal der an einer chronischen Krankheit
Leidende. Darum soll der Tuberkulöse
nur wenn es besser für ihn ist an das Bett
gefesselt werden; es soll sorgsam abge¬
wogen werden, ob die Bettruhe dem lo¬
kalen Leiden mehr nützt als sie der allge¬
meinen Verfassung schadet. Bei einer
floriden Erkrankung der unteren Extremi¬
täten und der Wirbelsäule ist ohne Zweifel
die Ruhe angezeigt.
Muß der Kranke aber das Bett hüten,
so sei das Zimmer hell und luftig. Nach
Möglichkeit werde er ins Freie gefahren,
in die Sonne, bei schlechtem Wetter unter
gedeckte Veranden. Martens scheint mir
der einzige Großstadt- oder überhaupt
Stadtchirurg zu sein, der dies im Kranken¬
hause konsequent, selbst nachts, durch¬
führt. Ich stoße auf die größten Schwie¬
rigkeiten, es bei mir durchzusetzen. Den
Schwestern und dem übrigen Personale ist
das Hin- und Herfahren der Betten unbe¬
quem, offenbar sind es auch die weiten
Gänge, die sie dabei machen müssen, um
zu ihren Patienten zu gelangen. Und die
Stationsärzte interessieren sich nach meiner
Erfahrung auch nur wenig für die Frisch¬
luftbehandlung. Gern setze ich auch die
kranke Stelle unbedeckt oder nur leicht zu¬
gedeckt den Sonnenstrahlen aus, zweck¬
mäßig gelagert und bedeckt erkältet sich
der Patient auch bei kühler Witterung so
durchaus nicht.
Von größter Bedeutung ist selbstver¬
ständlich die Ernährung. Eine regel¬
rechte Mastkur halte ich nach meinen Er¬
fahrungen bei der chirurgischen Tbc. sicht
für notwendig. Viel Milch und sonstige
kräftige Ernährung; Nährpräparate, wenn
der Appetit darniederliegt; bei kleinen
Kindern Lebertran, kommen hier in Be¬
tracht. Klapp gibt Malz und sah beson¬
ders bei der Schrothschen Kur gute
Erfolge.
Großes Gewicht lege ich auf die Be¬
handlung mit Solbädern oder mit der sie
ersetzenden Schmierseife. Da wird nach
meiner Erfahrung viel zu wenig auf die
regelrechte Durchführung der Kur ge¬
achtet. Die meisten Aerzte geben einfach
an, der Patient solle Solbäder erhalten; wie
sie gemacht werden sollen, ordnen sie
nicht an. Die Folge davon ist, daß das
Personal die ihm richtig erscheinende Salz¬
menge in Wasser tut von ihm richtig
scheinender Temperatur. Meist wird viel
zu wenig Salz und das Wasser viel zu
heiß genommen. Es ist durchaus erfor¬
derlich, daß das Personal genau instruiert
und kontrolliert wird.
Das Salzbad soll nach Möglichkeit die Be¬
schaffenheit haben, die wir von dem natür¬
lichen, dem Seebade her, als die beste kennen.
3 7*% sei der Salzgehalt, bis zu 4°/o kann er
steigen. Verhältnismäßig gleichgültig ist es,
welches Salz genommen wird, ob Steinsalz
oder Viehsalz, Staßfurter Abraumsalz oder
Sole. Ich bevorzuge eine Mischung von
gleichen Teilen Staßfurter Salz und des billig¬
sten zu erlangenden Kochsalzes, meist ist das
wohl rotes Viehsalz.
Die Temperatur sei lau, sie sei bei Schwäch¬
lichen anfangs höher, gehe im Laufe der Zeit
kälter werdend bis auf 22° C herab. Der
Patient bleibe nicht zu lange im Bade, anfangs
5 Minuten, allmählich zunehmend bis 10 Minuten.
Jeden zweiten Tag werde ein Bad genommen,
der Sonntag wird ausgelassen, also 3 Bäder in
der Woche.
Wo auf die Kosten gesehen werden muß,
wird das Badewasser mehrmals, bis 3 und 4mal
benutzt; es bleibt in der — meist hölzernen —
Wanne und ein Teil desselben wird jedesmal
bis zum Kochen erhitzt.
Einen ganz außerordentlichen Fort¬
schritt stellt meines Erachtens die Schmier¬
seifenkur nach Kapesser dar, deren Ein¬
führung wir Hoffa hauptsächlich verdanken.
Sie ersetzt vollständig die Solbadkur, ist
viel billiger als diese und läßt sich auch
bei Patienten, die ihrer Wunden oder Ver¬
bände (Gips, Extension) wegen Solbäder
nicht nehmen können, ausgezeichnet durch¬
führen. Namentlich in der Praxis paupe-
rum, wenn die Patienten aus der Kranken¬
hausbehandlung entlassen sind, ist diese
Kur zweckmäßig. Aber auch sie muß
regelrecht durchgeführt werden, soll sie
helfen.
Beim Erwachsenen wird ein Eßlöffel Schmier¬
seife (Sapo calinus venalis) genommen and in
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UNIVERSITY OF CALIFORNIA
März
Die Therapie der Gegenwart 1910.
113
die Haut mit der flachen Hand eingerieben
solange, bis die Seile verschwunden ist und
die Haut eine glänzende Fläche darstellt. Dies
dauert etwa 5—10 Minuten. Nun läßt man den
Patienten eine halbe Stunde lang liegen und
wäscht dann mit einem Lappen oder Schwamm
und lauem Wasser oberflächlich die Seife ab,
trocknet dann den Patienten. Diese Waschung
soll keine energische sein, damit die in der
Tiefe sitzende Seife nicht wieder heraus¬
geholt wird. Die Einreibung findet, wie das
Solbad, jeden zweiten Tag statt, abwechselnd
wird die vordere Rumpfseite, die Rückseite,
die unteren Extremitäten, diese eventuell
auch zusammen mit den oberen herange¬
nommen. Gern bevorzuge ich bei der Ein¬
reibung den befallenen Körperteil, so nament¬
lich hei Peritoneal-Tbc. den Bauch.
Wird die Haut empfindlich oder droht Ek¬
zem, so reibe ich am nächsten Tage Vaseline
ein oder ich lasse diese Körperstelle bei der
nächsten Einreibung weg.
Die allgemeine Behandlung läßt sich
zweifellos am besten an den Orten ge¬
stalten, die von jeher unserer Erfahrung
nach bei Tbc. die günstigsten Erfolge auf¬
weisen. Ich nenne sie in der Reihenfolge,
wie ich sie für die chirurgische Tbc. ein¬
schätze: die See, das Solbad, das
Höhenklima, Waldheilstätten. Zweifel¬
los ist die See, und zwar für uns die Nord¬
see, weniger die Ostsee, bei Knochen ,
Gelenk- und Drüsen Tbc. weit vorzuziehen.
Früher war eine solche Seekur nur für
wohlhabende Leute zu erschwingen, heute
haben sich aber auch hierin die Verhält¬
nisse geändert. Es gibt Stellen an der
Nordsee, wo auch gegen billiges Entgelt
Patienten untergebracht und ärztlich be¬
handelt werden können.
Die Stadt Schöneberg ist die erste
Deutschlands, die ihr eigenes Nordseesana¬
torium besitzt; ihre armen Kranken wer¬
den hier unentgeltlich, zahlende zu ge¬
ringen Pflegesätzen 6 Wochen und länger
aufgenommen. Es ist das im vergangenen
Sommer eingeweihte Tbc.Sanatorhim in
Boldixum bei Wyk auf der nordfriesi¬
schen Insel Föhr. Der Arzt des Sanatoriums
ist chirurgisch ausgebildet, so daß die not¬
wendigen Eingriffe dort vorgenommen
werden können. Patienten, bei denen
große Eingriffe in Betracht kommen, wer¬
den natürlich nicht hingeschickt. Gerade
für die Gelenk- und Knochen-Tbc. ver¬
spreche ich mir von solchen Seehospizen
viel. Auch die Winterkur kommt bei uns
immer mehr auf; im Schöneberger Sana¬
torium ist der Betrieb im Winter nur wenig
eingeschränkt.
Wer die Nordsee nicht verträgt,» den
schicke ich an die Stellen der Ostsee, wo
natürliche Solquellen vorhanden sind, so in
Kolberg und anderen Orten.
□ igitized by Google
Kontraindizieit ist die See, wenigstens
die Nordsee, bei gleichzeitg bestehender
Tbc. der Lunge, sei sie auch geringen
Grades. Hier kommen eher die Solbäder
in Betracht, hauptsächlich aber die Höhen¬
kurorte und die abseits der großen Städte,
meist im Walde angelegten Heilstätten.
Von den Solbädern habe ich so ausge¬
zeichnete Erfolge bei der uns hier inter¬
essierenden Tuberkulose gesehen, daß ich
sie der See fast gleichwertig halte; bei
letzterer muß aber doch noch etwas hin¬
zukommen: Patienten, die überhaupt nicht
baden, erholen sich an der See ungleich
mehr als im Solbade, wenn sie dort auch
nicht baden.
Erst spät, nachdem längst der Nutzen
des Höhenklimas für die Lungen Tbc. er¬
kannt, begann man auch chirurgische Tbc.
im Gebirge zu behandeln. Die namentlich
im Hochgebirge, auch im Winter, von Chi¬
rurgen, so von Bernhard im Engadin,
ferner in Leysin (Wallis) erzielten Er¬
folge sind jedenfalls sehr bemerkenswert.
Offenbar kombiniert sich hier die Höhen¬
wirkung mit der Insolation.
Waldheilstätten, die chirurgische
Tbc. aufnehmen, besitzen wir in Deutsch¬
land bisher kaum; ich kenne nur Hohen-
lychen.
Vom Standpunkte der guten Luft aus
sollte man auch die chirurgische Tbc. eigent¬
lich nach Möglichkeit nicht im Kranken¬
hause behandeln. Da wir aber nun ein¬
mal nicht alle diese Kranken in Kurorten
unterbringen können, muß man doch zu
den Krankenhäusern greifen. Für die
ärmeren, dicht aufeinander wohnenden Be¬
völkerungsklassen steht das Krankenhaus
übrigens, wie ich oben bereits andeutete,
heute zweifellos eine Art Kurort dar. Und
die schwereren Fälle von Tbc., namentlich
die der unteren Extremitäten, werden schon
aus dem Grunde, wenigstens bis das floride
Stadium vorbei ist, am zweckmäßigsten im
Krankenhause behandelt, weil die zur Be¬
handlung erforderlichen Einrichtungen hier
die besten sind und die Krankenhausärzte
auch die größte Erfahrung darin haben.
Das Ideal für die Behandlung schwerer
Knochen- und Gelenk-Tbc. wäre meiner
Ansicht nach folgendes: Krankenhäuser,
für das nördliche Deutschland an der See,
für das mittlere und südliche im Gebirge
gelegen, mit allen Mitteln und Aerzten zur
chirurgischen Behandlung auch der schwer¬
sten Tbc. ausgestattet (ähnlich wie Berck-
sur-mer). Der Aufenthalt müßte bis zur
völligen Genesung ausgedehnt werden
können; Kinder müßten daher Schulunter-
15
Original fram
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
IM
Die Therapie der Gegenwart 1910.
März
rieht erhalten, je nach der sozialen Lage
verschiedenen. Das Gmelinsche Päda¬
gogium bei Wyk auf Föhr ist meines
Wissens bisher das einzige deutsche See¬
sanatorium mit höherer Schulbildung.
Solche Anstalten, wie ich sie im Auge
habe, in größerer Zahl erfordern freilich
ungeheuere Kosten und stehen in ferner
Zukunft.
Kleine Kinder, die getragen werden
können und müssen, und Erwachsene, die
an Tbc. der oberen Extremitäten leiden,
abgesehen von den ganz schweren Formen,
ferner solche der unteren, wenn das floride
Stadium vorübergegangen ist, werden am
besten ambulant behandelt.
Als weitere Methode der Allgemeinbe¬
handlung ist dann die mit spezifischen,
gegen die Tbc. gerichteten Mitteln anzu¬
führen. An erster Stelle ist da das Tuber¬
kulin zu nennen. Seit die Hochflut vor¬
bei, als es vor nunmehr fast zwei Dezen¬
nien auf kam, sind immer wieder von ein¬
zelnen Versuche mit ihm angestellt wor¬
den. Es sind auch unzweifelhaft Erfolge
bei der chirurgischen Tbc. damit erzielt
worden, anscheinend auch bei der Gelenk-
und Knochen-Tbc., und zwar mit den
kleinen, keine Reaktion hervorrufenden
Dosen. Es kann sowohl das Alt- wie das
Neutuberkulin angewandt werden. Im ganzen
ist die Behandlung aber doch zu unsicher
und langwierig; sie wird wohl auch nur
von wenigen Chirurgen richtig und kon¬
sequent durchgeführt; ich zweifle aber nicht,
daß sie noch eine Zukunft hat. Dasselbe
läßt sich über andere Tuberkuline und über
die Tbc. Sera sagen.
Der Behandlung mit Medikamenten,
werden sie subkutan, intravenös (Zimt¬
säure, Kantharidin) oder per os (Kreosot,
Guajakol) eingegeben, kommt heute keine
erhebliche Bedeutung mehr zu.
Ich gehe nun zur lokalen Behand¬
lung der erkrankten Gelenke und Knochen
über. Man kann da den Stoff verschieden
angreifen. Die verschiedenen Behandlungs¬
methoden können nacheinander besprochen
werden, oder ich kann die tuberkulösen
Erkrankungen ihrer Art und Schwere nach
abhandeln, oder ich kann schließlich die
einzelnen Gelenke und Körperabschnitte
nacheinander durchgehen. Mir erscheint
als das zweckmäßigste, ersteres Vorgehen
einzuschlagen; ganz starr kann ich mich
aber nicht hieran halten. Selbstverständ¬
lich ist es, daß ich mich, soweit es mög¬
lich und nötig ist, auch auf die einzelnen
Körperabschnitte und auf die Schwere der
Erkrankung beziehen werde. Ich beginne
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mit den physikalischen Heilmethoden,
die ich den operativen gegenüber stelle.
Ruhigstellung und Entlastung ist
seit lange und war bis vor kurzem allge¬
mein üblich bei der Behandlung der Gelenk-
Tbc. In neuerer Zeit, seit der Aera der
Stauung und Saugung, weichen manche, in
ester Linie Bier selbst, davon ab; sie
fixieren die erkrankten Gelenke überhaupt
nicht mehr, um einer Versteifung vorzu¬
beugen. Bier (Klapp) fixiert nur noch
bei Koxitis, und zwar ausschließlich durch
den Gipsverband. Nach meiner und wohl
der Mehrzahl Erfahrung ist aber die Ruhig¬
stellung bei der beginnenden Tbc. und
überhaupt bei allen schwereren Formen
von so außerordentlich günstiger Wirkung,
daß ich ihr unbedingter Anhänger geblieben
bin; trotz der Stauung, die ich viel und
gern anwende, fixiere ich. Das einzige
Gelenk, bei dem ich hier eine gewisse
Ausnahme mache, ist das Schultergelenk.
Hier genügt mir, abgesehen von den ganz
schweren Formen, die Mitelia.
Die Ruhigstellung kann in sehr verschie¬
dener Weise durchgeführt werden. In
erster Linie stehen sich hier zwei Metho¬
den gegenüber: Der Extensions verband
und der Gipsverband. Jeder von ihnen
hat Vorzüge und Nachteile; ich will sie zu¬
erst aufzählen.
Von vornherein sei bemerkt, daß der Ex¬
tensionsverband an den tuberkulös erkrankten
oberen Extremitäten kaum je Anwendung
findet aus dem einfachen Grunde, weil hier
sein Nachteil, die Fesselung des Patienten an
das Bett, in keinem Verhältnis steht zu seinen
hier meist geringen Vorzügen. Auch am Fuße
kommt er nicht in Betracht; es bleibt also das
Hüft- und Kniegelenk, ferner die Wirbelsäule in
ihrer ganzen Länge. Und auch bei der Tbc.
des Kniegelenks wende ich ihn in der Regel
nur an, wenn pathologische Stellungen vorhan¬
den sind. Bei keiner der Erkrankungsformen
des Kniegelenks an sich scheint die Entlastung
durch Zug wesentlich mehr zu wirken als die
Ruhigstellung und das Auf hören der Belastung.
Es bleibt demnach ein verhältnismäßig kleines
Gebiet für den Extensionsverband übrig.
Mittels des Extensionsverbandes wird
eine Entlastung des erkrankten Gelenkes
erzielt, wie das bei keiner anderen Methode
möglich ist.
Eine gewisse Entlastung stellt übrigens be-
' reits die Bettruhe dar für die Wirbelsäule
und die unteren Extremitäten; es ist aber nur
eine Entlastung vom Druck der physiologi-
1 sehen Belastung. Sie reicht bei schwerer Tbc.
| nicht aus; die durch den Extensionsverband
gesetzte Entlastung ist weit wirkungsvoller.
Ich finde, daß heute auf die Distrak-
tion 1 ) der Gelenkenden, die der Zugver-
*) Die Ausdrücke Extensionsverband, Streck¬
verband haben mir, solange ich Chirurg bin, nie
recht gefallen wollen. Das Wort „extendere“ ist
Original from
UNIVERSUM OF CALIFORNIA
März
Oie Therapie der Gegenwart 1910.
115
band herbeiführt, nicht genügend Gewicht
gelegt wird. Nur F. Krause würdigt sie.
Nach meiner Ueberzeugung ist sie das
beim Extensionsverband ausschlaggebende,
auf ihr beruht seine Ueberlegenheit gegen¬
über anderen entlastenden Methoden. Daß
bei einem gut angelegten und längere Zeit
stark ziehenden Extensionsverband eine
Diastase der Gelenkenden zustande kommt,
ist unzweifelhaft (F. Krause), und daß
eine solche bei Erkrankung der Gelenke,
namentlich, wenn die überknorpelten Flä¬
chen gelitten haben, günstig wirken kann,
ist recht plausibel. Auf diese Distraktion
der Gelenkenden, die absolute Entlastung,
lege ich mehr Gewicht als auf die absolute
Ruhigstellung.
Die Ruhigstellung, die der Eztensions¬
verband herbeiführt, ist im allgemeinen
keine vollständige, soll es auch nicht sein,
ich will ja sogar durch den Streckverband
eine Korrektion pathologischer Stel¬
lungen herbeiführen. Es ist dies ein
weiterer ganz außerordentlicher Vorzug
des Zugverbandes; der Gipsverband er¬
laubt nur ein gewaltsames Redresse¬
ment, und ein solches ist bei florider Tbc.
so außerordentlich gefährlich, daß ich es
vollständig verwerfe. Ich habe selbst bei
anscheinend ausgeheilter Tbc. nicht gar so
selten ein Aufflackern erlebt, wenn gewalt¬
sam redressiert wurde. Wie spielend und
schmerzlos, ohne Narkose, beseitigt dem¬
gegenüber der Zugverband pathologische
Stellungen!
Der bei Kozitis angelegte Zugverband
erlaubt, namentlich so wie ich ihn anlege,
bei horizontal suspendiertem Beine Bewe¬
gungen der Hüfte. Es ist auffallend, wie in
Fällen, wo zuvor jede geringste Bewegung
unmöglich oder sehr schmerzhaft war,
kurze Zeit nach Anlegung des Extensions¬
verbandes seitwärts pendelnde Bewegungen
ohne jeden Schmerz ausführbar sind und
nach einiger Zeit auch vom Patienten selbst
medizinisch festgelegt für Strecken als Gegensatz zu
Beugen. Das wesentliche des Extensionsverbandes
ist aber nicht die Streckung der Extremität, sondern
der Zug. Ich kann den Extensionsverband anlegen
bei lauter gebeugten Gelenken, z. B. wenn ich wegen
Humerusfraktur extendiere und der Patient halb auf¬
recht im Bette sitzt, der Ellbogen rechtwinklig ge¬
beugt ist. Einen solchen Verband hatten wir als
typischen auf der Mikuliczschen Klinik. Ich habe
auch schon, um Streckkontrakturen des Knies zu be¬
zwingen, Extensionsverbftnde angelegt, die seine Beu¬
gung bezweckten. Die bei Oberschenkel fraktur
kleiner, noch unreiner Kinder Qbliche vertikale Sus¬
pension ist ein Extensionsverband in rechtwinkliger
Beugestellung des Hüftgelenks. Ich würde am lieb¬
sten den Ausdruck Extensionsverband durch Dis¬
traktionsverband, Streckverband durch Zugver¬
band ersetzt sehen.
□ igitized by Google
vorgenommen werden. Schaden habe ich
nie davon gesehen, ich glaube, es beugt
dies hingegen der Versteifung vor.
Der Distraktionsverband erlaubt eine
ständige Beobachtung der erkrankten Kör¬
perstelle. Er laßt ferner eine Behandlung
mit Stauung, Punktion, eine Fistelbehand¬
lung zu, was alles beim Gipsverband nicht
oder doch nicht ordentlich möglich ist,
man mag ein noch so schönes Fenster in
ihn schneiden. Es ist keine Frage, daß die
vorstehenden Behandlungsmethoden sich
nicht entfernt so gut wie beim Zugverband
durchführen lassen.
Ein zweifelloser Nachteil des letzteren
ist, daß er den Patienten an das Bett fesselt.
Deshalb soll er auch nur angewandt wer¬
den, solange seine Vorteile diesen Nach¬
teil übersteigen. Ich benutze ihn bei allen
frischen Fällen, ferner bei den schweren
Fällen so lange, bis der floride Prozeß
vollständig abgelaufen ist, was ich nach
der Schmerzhaftigkeit beurteile; dann bei
pathologischen Stellungen zur Beseitigung
dieser. Sobald es möglich ist, ersetze ich
ihn durch einen Gipsverband oder durch
Apparate.
Ein weiterer Nachteil ist, daß er, am
Hüftgelenk angewandt, gelegentlich ein
schlotterndes Kniegelenk zur Folge hat,
ferner auch Versteifungen der unterhalb
des erkrankten Gelenkes gelegenen Ge¬
lenke. Was letztere betrifft, so sind sie
jedenfalls meist harmloser als die durch
den Gipsverband herbeigeführten Verstei¬
fungen. Und von Schlottergelenken, die
man bei gut angelegtem Streckverband
überhaupt nur selten sieht, habe ich nie
dauernde Schädigung gesehen.
Ich möchte an dieser Stelle einiges über
die Technik des Gewichtszugverbandes
bemerken.
Ich lege ihn im ganzen so an, wie wir es
auf der Mikuliczschen Klinik taten. Es wird
eine dorsale Gipsschiene aus gestärkter Gaze
angefertigt, die genau auf das Bein modelliert
wird; nach 12—24 Stunden ist sie trocken.
Nun wird der Extensionsverband angelegt. 1 )
Ich nehme entweder Segeltuch heftpflaster¬
streifen, Leukoplast oder gewöhnliches, oder
ich nehme auch die Filzstreifen und die
Heusnersche Klebemasse. In neuerer Zeit
verwende ich auch viel eine von Nordmann
auf meiner Abteilung eingeführte Methode:
weiche Flanellstreifen werden mit Celli tlösung
am Beine befestigt; sie halten unzweifelhaft weit
besser als das vorher erwähnte, haben aber
doch mehrmals Blasen abgegeben, hauptsäch¬
lich an den Stellen, wo Luft hinzutreten konnte,
l ) Nicht unzweckmäßig ist es, namentlich bei
Frakturen, sogleich die Extensionsstreifen anzulegen
und -wickeln und auf ihnen die dorsale Gipsschienc
zu modellieren.
15 *
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
116 Die Therapie der Gegenwart 1910. März
seltener im ganzen Verlaufe der Streifen. Zur-
zeit nehme ich meist Flanellstreifen und die
Mastixlösung v. Oettingens, was sich mir
bisher vorzüglich bewährte. Bei den Heusner-
sehen Streifen nehme ich den Metallbügel,
sonst das hölzerne Spreizbrett.
In jedem Falle von Extension an den Beinen
wegen Tbc. lasse ich die Extremität frei schwe¬
ben. Die 3teiligen Matratzen, die besonders für
diesen Zweck bestimmt sind, werden so gelagert,
daß der Patient nur vom Kopf bis einschlie߬
lich dem Gesäß auf ihnen liegt. Im unteren
Teile des Bettes befindet sich nichts als die
stählerne Matratze; das gesunde Bein wird auf
eine weiche Unterlage gelegt. Das kranke Bein
wird an einem eisernen Galgen aufgehängt,
der an dem Kopf- und Fußende des Bettes be¬
festigt ist. Ich habe diese Galgen seinerzeit
in Breslau konstruiert, damit die Patienten
Fig. 1.
ohne Aenderung an der Extension zum Rönt¬
genapparate gefahren werden können. Zuvor
hatten wir auf der Breslauer Klinik nur höl¬
zerne Galgen, die auf dem Fußboden standen,
oberhalb und unterhalb des Bettes. In die
dorsale Gipsschiene sind Ringe eingegipst;
durch Karabinerhaken und starken Bindfaden
wird das an die Schiene gewickelte Bein am
Galgen aufgehängt.
Im allgemeinen schwebt das Bein parallel
zum Bette (Fig. 1), je nach dem Bedürfnis
wird es aber auch in jede andere Stellung ge¬
bracht. So beseitige ich starke Beugekontrak¬
turen der Hüfte, namentlich wenn sich eine
Lendenlordose ausgebildet hat, in folgender
Weise: Die Matratzen werden hoch aufein¬
ander getürmt; damit sie sich nicht eindrücken,
wird unter die oberste ein Brett gelegt. Nun
wird das Bein allmählich immer mehr nach
unten gezogen, so daß ein Winkel von bis 45°
entsteht (siehe Fig. 2). Gibt der Patient mit
seiner Wirbelsäule nach, indem er den Bauch
vorwölbt, so lege ich auf ihn einen Sandsack.
Ein weiterer Vorteil der Lagerung ist. daß
der Patient sich leicht hin- und herbewegen
kann, daß das Bett bequem zu machen geht und
daß die Bettschüssel sich leicht unterschieben
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läßt, ferner wird nur ein geringer Teil der an¬
gehängten Gewichte durch die Reibung in An¬
spruch genommen.
Die Extension an sich führt gleichzeitig
ohne weiteres zur Abduktion. Dies kann nur
erwünscht sein, wenn das Bein zuvor in Ad¬
duktion stand oder wenn es reell zu kurz ist;
die Abduktion führt ja eine scheinbare Ver¬
längerung des Beines herbei. Eine bestehende
Abduktion muß in besonderer Weise ausge¬
glichen werden: es wird ein Zugverband an
beiden Beinen angelegt, eine Kontraextension
auf der kranken Seite; das gesunde Bein wird
nun stärker belastet als das kranke. F. Krause
beschreibt dies von Volkmann stammende
Verfahren genau und bildet es ab.
Bei Subluxation des Kniegelenks füge ich
zum Längszuge noch zwei vertikale hinzu, der
am Tibiakopfe angreifende zieht nach oben,
Fis- 2.
der an den Femurkondylen angreifende nach
unten.
Zur Kontraextension stelle ich das Fu߬
ende des Bettes hoch. Ich benutze hierzu in¬
einander passende Holzklötze (siehe Fig. 1),
seltener besondere eiserne Vorrichtungen, die
hochschraubbar sind (Fig.2): letztere stehen nicht
so fest. Der Rumpf bleibt in der gewöhnlichen
Lage, nur der Kopf wird erhöht. Diese Kontra¬
extension durch die Körperschwere erscheint
mir viel zweckmäßiger und für den Patienten
angenehmer als die durch eine um die gesunde
oder kranke Hüfte gelegte Schlinge. Ich füge
diese Schlinge gerne bei Kindern, die sonst
nicht ordentlich liegen bleiben, zur Kontraexten¬
sion durch Schrägstand des Bettes hinzu: als¬
dann muß aber, wenn die Schlinge um die ge¬
sunde Hüfte gelegt wurde, meist durch eine
locker um das Fußgelenk gelegte weitere
Schlinge verhindert werden, daß die Kinder
das gesunde Bein aus der Hüftschlingc heraus¬
ziehen. Die Schlinge zur Kontraextension be¬
festige ich stets fest am Bettpfosten. Es ist
völlig zwecklos, an dieser Stelle auch noch ein
Gewicht anzuhängen, wie das meist geschieht.
Zur Extension an der Wirbelsäule
nehme ich die Glisson sehe Schlinge. In der
Regel hänge ich kein Cewicht an sie, sondern
ich befestige sie fest am Bette, dessen Kopf¬
ende ich hoch stelle. Sitzt die Erkrankung
tiefer als etwa am vierten Brustwirbel, so füge
ich die Achselschlinge hinzu und stelle das
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
März
Die Therapie der Gegenwart 1910.
11 7
Bett wesentlich höher. Von der unteren Brust¬
gegend an bevorzuge ich die Extension an
beiden Beinen bei hoch gestelltem Fußende des
Bettes; ich führe sie aber nicht aus, wenn sen¬
sible oder trophische Störungen an den Beinen
bestehen. Alsdann beschränke ich mich auf
die ruhige Rückenlage. Liegt ein Gibbus vor,
so wird in jedem Falle ein Kissen unter ihn
gelegt; das Kissen wird am besten mit Heft¬
pflaster am Rücken des Patienten befestigt,
damit es stets richtig liegt. Die Rauchfufi¬
sche Schwebe habe ich seit langer Zeit nicht
mehr angewandt.
Der Gipsverband hat unzweifelhaft
den Vorzug, daß er eine Fixation herbei¬
führt wie keine andere Vorrichtung. Da¬
für ist unter ihm aber auch die Atrophie
der Muskulatur eine stärkere, ferner wer¬
den die Gelenke leichter steif, und zwar
nicht allein das erkrankte, sondern über¬
haupt die von ihm eingeschlossenen.
Ein weiterer Nachteil ist, daß er meist
keine vollständige Entlastung herbeiführt.
Bei liegenden Patienten bewirkt er in dieser
Beziehung kaum mehr wie die einfache
Bettruhe, bei Herumgehenden schützt er aber
meines Erachtens im allgemeinen nicht völlig
vor der durch das Auftreten bedingten Be¬
lastung. Man mag den Gipsverband noch so
zweckmäßig anlegen, die Fußsohle nach
D o 11 i n g e r polstern oder, wie ich und viele es
auch oft machen, einen eisernen Bügel ein¬
gipsen, der den Fuß frei bewegen läßt und
vor Belastung schützt; an den Femur- und
Tibiakondylen muß der Verband doch
einigermaßen fest sitzen, sonst ist eben das
Bein nicht fixiert, und so pflanzt sich der
Druck der Belastung auf die Hüfte fort. Von
einer Entlastung durch das Gewicht des
Beines kann bei einem gut sitzenden Gips¬
verband keine Rede sein, das ist Illusion!
Im übrigen läßt sich meiner Ansicht
nach das Hüftgelenk des Herumgehenden
auch durch keinen Gipsverband, sei er
noch so gut angelegt, vollständig fixieren,
aus dem Grunde, weil sich durch keinen
solchen Verband das Becken auf die Dauer
absolut feststellen läßt. Da müßte man
schon den anderen Oberschenkel und den
Rumpf bis zur Achselhöhle mit eingipsen.
Eher läßt sich durch einen gut angelegten
Gipsverband das Knie- und noch besser
das Fußgelenk von dem Drucke der Be¬
lastung beim Auftreten freihalten.
Das eben über das Hüftgelenk Gesagte
gilt in gleicher Weise für die Wirbelsäule.
Kein noch so gut angelegtes Gipskorsett,
kein noch so sinnreich konstruiertes ortho¬
pädisches Korsett fixiert die Wirbelsäule
vollständig, von Entlastung gar nicht zu
reden. Am ehesten ist dies noch bei der
Erkrankung der Halswirbelsäule möglich,
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wenn sich der Verband gut an den Hinter¬
kopf und das Kinn anstemmt. Bei den
tieferen Teilen der Wirbelsäule führt das
feste Gipskorsett, auch wenn es dem Pa¬
tienten in Suspension angelegt wird, keine
ausreichende dauernde Entlastung herbei.
Der Extensionsverband leistet da weit mehr
und deshalb bevorzuge ich ihn bei allen
floriden Fällen und allen schweren an der
Wirbelsäule wie auch sonst.
Die übrigen Nachteile des Gipsverban¬
des gegenüber dem Zugverbande habe ich
schon oben angeführt.
Aus meiner Darstellung geht bereits
hervor, daß und warum ich den Exten¬
sionsverband bei Tbc. der Hüfte, Wirbel¬
säule, weniger des Knies, ausgiebig an¬
wende. Die Mehrzahl der Chirurgen läßt
den Zugverband heute bei der Koxitis vor
dem Gipsverbande zurücktreten und wendet
ihn fast nur zur Korrektion pathologischer
Stellungen an wie König, manche wie
Bier selbst hierzu nicht; zur Heilung der
Tbc. an sich wird der Zugverband fast
nirgends benutzt. Ich kenne aber für
schwere Fälle von Koxitis kein besseres
Mittel.
In recht zweckmäßiger Weise kann man
die Fixation und Entlastung durch Appa¬
rate herbeiführen. In erster Linie stehen
da die Hessingschen Schienenhülsen-
Apparate. Niemals ist bei ihnen aber die
Fixation eine so sichere wie beim Gips¬
verbande, niemals die Entlastung eine so
energische wie beim Streckverbande. Im
übrigen erlauben die Apparate dadurch,
daß sie abnehmbar sind, jede lokale Be¬
handlung. Vorrichtungen zum Feststellen
sorgen dafür, daß die gesunden Gelenke
bewegt werden können, in späteren Stadien
auch die kranken. Durch weitere ange¬
brachte Vorrichtungen können auch patho¬
logische Stellungen bis zu einem gewissen
Grade korrigiert werden, so namentlich die
Adduktionsstellung. Ich verwende die Ap¬
parate gern in den späteren Stadien. Sie
sind aber leider sehr kostspielig und
lassen sich nur von Patienten, die leidlich
zahlungsfähig sind, anschafien, allenfalls
von Kassen und Armenverbänden.
Ferner kommen alle Formen der
Schienenverbände in Betracht; an den
unteren Extremitäten die Volkmannsche,
an den oberen Papp-, Holz- und Blech¬
schienen. Gern gebe ich abnehmbare Gips¬
verbände, die ich zu den Schienenverbän¬
den rechne, namentlich beim Fuß- und
Kniegelenk; ich tue dies aber erst in den
späteren Stadien, wenn ich dem Patienten
bereits eine Belastung zumuten kann. Das
Original frnm
UNIVERSITY 0F CALIFORNIA
118
Die Therapie der Gegenwart 1910.
Mäiz
Gipsbett lege ich bei kleinen Kindern an,
die noch nicht extendiert werden können.
Das Redressement mit Gewaltanwen¬
dung habe ich bereits oben gestreift (S. 115).
Ich verwerfe es prinzipiell in den frischen
Stadien, halte es später, mit Vorsicht an¬
gewandt, für zulässig; es darf dann aber
nicht etwa eine Ankylose bestehen und es
muß Narkose angewandt werden, damit die
Muskulatur vollständig ausgeschaltet ist.
Gerne henutze ich dazu beim Hüftgelenk
die Dittelschen Stangen, auf denen dann
der Gipsverband angelegt wird.
Vom Redressement der Wirbelsäule
nach Calot, mit Anwendung starker Ge¬
walt, ist man heute allgemein ganz zurück¬
gekommen. Ein vorsichtiges Redressement
in Etappen, das weniger ein Aufrichten der
eingeknickten Wirbel als eine kompen¬
sierende Lordose der dicht oberhalb und
unterhalb gelegenen Partien beabsichtigt,
wird jedoch mit gutem Erfolge ausgeführt.
Gaugele hat selbst Lähmungen dadurch
geheilt.
Die mobilisier ende Behandlungkommt
bei Tbc. erst in Betracht, wenn der Prozeß
lange Zeit und sicher ausgeheilt ist. Man
kann da keine bestimmten Vorschriften
machen. Je schwerer der Fall ist, um so
länger muß damit gewartet werden; in
leichten Fällen beginne ich vorsichtig mit
manuellem Bewegen, wenn eine voll¬
ständige Schmerzlosigkeit etwa */4 Jahr
lang besteht, bei schweren warte ich Jahr
und Tag ab. Und überhaupt beginne man
nicht gleich mit Heilgymnastik und mediko-
mechanischen Apparaten, sondern zunächst
mit manueller Bewegung; sobald eine Ver¬
schlimmerung auftritt, muß selbstverständ¬
lich mit den Bewegungen aufgehört wer¬
den. Die Reaktion der Tbc. auf passive
Bewegungen ist ja so charakteristisch, daß
man sie in manchen Fällen geradezu diffe¬
rentialdiagnostisch gegenüber anderen Ge¬
lenkerkrankungen verwerten kann. Früher
kann man die Massage anwenden, wobei
aber sorgfältig die erkrankten Partien aus¬
zulassen sind. Eine nicht übertriebene
Massage des Quadrizeps wird auch bei
noch bestehender schmerzhafter Erkran¬
kung des Kniegelenks, die aber bereits im
Rückgänge sein muß, kaum je schaden.
Einen großen Fortschritt in der Be¬
handlung der Gelenk- und Knochen Tbc.
stellt meines Erachtens die Erfindung der
Stauungshyperämie durch Bier dar;
ich bin ein warmer Anhänger derselben
und wende sie in Kombination mit der
Jodoformbehandlung in großem Umfange
an. Gerade von dieser Kombination hält
□ igitized by Google
Bier nichts, während wir auf der Miku-
liczschen Klinik und auch ich jetzt gute
Resultate dabei erzielten. Viele haben gar
keine Erfolge von der Stauung gesehen,
bei keiner Form der Tbc. (König, Hilde¬
brand.) Man hat ihr auch direkt Vor¬
würfe gemacht: nach Bier selbst soll die
Stauung das Entstehen kalter Abszesse be¬
günstigen. Ich habe dies nicht finden
können, würde es aber auch — mit Bier —
für gar keinen Nachteil halten; im Gegen¬
teil, mir sind die Formen von Tbc., bei
denen sich kalte Abszesse bilden, im all¬
gemeinen gar nicht unlieb. Ich habe da¬
mit einen Weg gewonnen, den tuberku¬
lösen Herd selbst fn bequemer Weise an¬
zugreifen, denn der Abszeß führt zu
ihm hin.
Die meisten und auch Bier selbst ver¬
werfen das Stauen bei bestehenden Fisteln.
Ich staue auch hier und habe gerade hier¬
von im Zusammenhang mit der Mikulicz-
schen Behandlungsmethode der Fisteln
(vergl. später) außerordentlich günstige Er¬
folge gesehen. Ich habe durchaus den
Eindruck, als wenn die Fistelbehandlung
ohne gleichzeitiges Stauen nicht so günstige
Resultate gibt.
Sorgfältig sehe ich darauf, daß Biers
Vorschriften erfüllt werden. Der gestaute
Körperteil darf sich nicht kühler anfühlen
als die andere Extremität, wobei selbstver¬
ständlich beide in gleicher Weise bedeckt
oder offen sein müssen. Es darf kein
Schmerz entstehen, vorher bestandener
darf auf keinen Fall stärker werden.
Nicht recht will mir das Befolgen von
Biers Vorschrift gelingen: Die Stauung
soll kräftig sein, die Extremität stark blau
und dabei heiß, jedenfalls nicht kühler als
die symmetrische. Sobald ich kräftig staue,
werden mir die Extremitäten kühl, und ich
staue daher schwächer, offenbar schwächer
als Bier; gerade hiermit habe ich zufrie¬
denstellende Resultate erzielt. Uebrigens
hat Bier auch Schwierigkeiten, bei Tbc.
Wärme durch Stauung zu erzeugen. Klapp
empfiehlt aus diesem Grunde, die Extremi¬
tät zuvor in den Heißluftkasten zu stecken
oder nach Lannelongue 1—2 ccm
60%ige Chlorzinklösung in die Umgegend
zu injizieren.
Ich lasse die Stauungsbinde in der
Regel nur eine Stunde liegen, nicht bis
3 Stunden wie Bier. Ueber das Aussetzen
der Stauung vor und nach der Punktion
und Injektion vergl. S. 120, bei Fisteln
vergl. später.
Schwierigkeit bereitet die Stauung des
ScluiUergelenks und der lliifte, unmöglich ist
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
März
Die Therapie der
sic an der Wirbelsäule außer dem obersten
Teile des Halses. Am Hüftgelenk habe ich
immer wieder versucht, durch einen als Spica
angelegten Gummischlauch zu stauen; ich war
davon nie recht befriedigt. Hingegen habe ich
beim Schultergelenk durch einen in derselben
Weise angelegten Schlauch außerordentlich zu¬
friedenstellende Resultate erzielt sowohl bei
Tbc. als auch in anderen Fällen, wo ich Dauer¬
stauung (22 Stunden) anwandte.
Die aktive Hyperämie, die heiße
Luft und das Saugen, wenigstens soweit
es den gesamten erkrankten Körperteil be¬
trifft, sollen bei Tbc. nicht angewandt wer¬
den. Ueber das Saugen tuberkulöser
Fisteln mittels Schröpfkopf vergl. später.
Auch die Röntgenbestrahlung ist
zur Behandlung der Gelenk-Tbc. versucht
worden. Die Erfolge sind noch recht spär¬
lich und unsicher, auch ist das Verfahren
namentlich bei Kindern nicht unbedenklich.
Nach Moser ist die Röntgenbestrahlung
nur berechtigt bei reiner Kapsel Tbc.,
ferner bei Gelenkversteifungen, wenn die
Tbc. ausgeheilt ist
Ich komme nun zur operativen Be¬
handlung der Gelenk- und Knochen-Tbc.
Hier ist scharf zwischen konservativen
und radikalen Methoden zu unterscheiden.
Die wichtigste der konservativen ist die
Injektion von Jodoform-Glyzerin, die
unzweifelhaft bereits zu den operativen
Methoden zu rechnen ist; häufig wird sie
mit der Punktion verbunden. Die konse¬
quente Durchführung dieser Behandlung
verdanken wir Billroth und seiner Schule,
insbesondere wurde sie von Mikulicz
weiter ausgebildet — eingefahrt in die Chi¬
rurgie wurde das Jodoform bekanndich
von Mosetig-Moorhof, der es auch be¬
reits gegen Tbc. anwandte. Ich bin ein
überzeugter Anhänger dieser Behandlungs¬
methode. Ich weifi wohl, daß sie sehr ge¬
wichtige Gegner hat, wie König und seine
Schule. Ich komme später noch auf die
Gründe zurück, warum ich glaube, daß
manche nicht zufriedenstellende Resultate
mit ihr erzielen. Henle hat seinerzeit das
Vorgehen der Mikuliczschen Klinik be¬
schrieben. Ich führe die Behandlung im
wesendichen in derselben Weisenaus, möchte
aber, abgesehen von kleinen Abweichungen,
noch genauer auf einige Punkte, die mir
besonders wichdg erscheinen, wie die
Technik der Punktion und der Fistelbe¬
handlung eingehen.
Ich verwende die Injektion von Jodo¬
formglyzerin in allen Fällen von Knochen-
und Gelenk-Tbc., in denen ich den
Knochenherd oder das Gelenk erreichen
kann. Wo es sich um die Injektion in das
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Gegenwart 1910. 119
Gelenk selbst handelt, wird von bestimmten
Stellen ausgegangen, am besten und wenn
es möglich ist, bei jeder Punktion von einer
anderen, damit, namentlich bei Gelenken,
die Taschen besitzen, alle Teile allmählich
unter Jodoform gesetzt werden.
Beim Hüftgelenk bevorzuge ich den
v. Büngnersehen Punkt: Man zieht von der
Kreuzungsstelle der A. femoralis mit dem hori¬
zontalen Schambeinaste eine Linie zur Spitze
des Trochanter major; wo sie den Innenrand
des Sartorius schneidet, sticht man senkrecht
in die Tiefe. F. Krause sticht bei möglichst
gestrecktem, adduziertem und leicht nach innen
rotiertem Oberschenkel oberhalb des großen
Trochanters senkrecht zur Femurachse in der
Frontalebene ein. Man kann auch vom hinteren
Rande des Trochanters eingehen; die Haupt¬
sache ist, daß man die großen Gefäße nicht
verletzt.
Beim Kniegelenk steche ich in der Regel
abwechselnd — medial und lateral in den
Gelenkspalt unterhalb der Kondylen, bei Er¬
güssen quer unter die Patella oder in die ein¬
zelnen Rezessus.
In das Sprunggelenk geheich unter den
Malleolen ein, nach oben stechend Beiden kleinen
Fußwurzelgelenken wähle ich die Stelle, wo nach
dem Röntgenbilde oder nach dem klinischen Be¬
funde die Erkrankung am schwersten ist. Da^
gleiche gilt für das Handgelenk. Am Ellen¬
bogen gehe ich beiderseits vom Olekranon
oder dicht über dem Radiusköpfchen ein. Am
Schultergelenk steche ich nach Krause
lateral vom Processus coracoideus ein, oder
auch von seitwärts oder hinten unter das
Akromion.
In die Wirbelgelenke und Wirbel injiziere
ich im allgemeinen nicht. Ich habe es einige
Male getan, doch war der Erfolg zweifelhaft
und ich hatte stets ein ungemütliches Gefühl
dabei.
Handelt es sich um fungöse Gelenke,
so injiziere ich mitten in die Fungusmassen
hinein, bei jeder Punktion an mehreren
Stellen. Sehe ich auf dem Röntgenbilde
Knochenherde, die außerhalb des Gelenks
liegen, so suche ich in diese selbst das
Jodoformglyzerin einzuspritzen, sofern ich
nicht radikal vorgehe.
Zur Injektion nehme ich Spritzen aus
Glas und Metall mit anschraubbarer Kanüle;
die Spritze muß Griffe für zwei Finger
besitzen, damit man große Kraft anwenden
kann. Das Quantum Jodoformglyzerin,
welches in ein Gelenk oder in Gewebe ge¬
spritzt wird, soll beim Erwachsenen 20 ccm
nicht übersteigen. So viel Inhalt muß auch
die Spritze fassen.
Ich nehme 10% Jodoformglyzerin. Es
wird nicht sterilisiert wie das manche tun,
da sich im Glyzerin keine Bakterien halten.
Auf dem Boden der Flasche, die natürlich
vor dem Gebrauche geschüttelt werden
muß, befinden sich Glaskugeln von Klein¬
erbsengröße, die verhindern, daß das Jodo¬
form sich auf dem Boden der Flasche fest
Original fram
UNIVER3ITY OF CALIFORNIA
120
Die Therapie der Gegenwart 1910.
März
zusammenbackt; bei fehlenden Kugeln hilft
das kräftigste Schütteln nichts* und so in¬
jiziert man dann statt des 10%igen Jodo¬
formglyzerins weit schwächeres.
Auf jede Injektion von Jodoformglyzerin
folgt eine Reaktion. Die lokale äußert sich
in Schmerzen, Rötung und Schwellung, die
allgemeine in Temperatursteigerung bis 390
und darüber. Die Reaktion tritt bald nach
der Injektion auf und vergeht nach 1 bis
3 Tagen, doch bleibt die erhöhte Tempe¬
ratur zuweilen auch länger bestehen. Ich
will eine gewisse Reaktion haben, bleibt sie
aus, so injiziere ich das nächste Mal mehr.
Herumgehende Patienten, die an Tbc.
der unteren Extremitäten leiden, müssen
sich legen, bis die Reaktion vorüber. Die
Extensionsbehandlung wird nicht unter¬
brochen.
Zwei bis drei Tage vor der beabsich¬
tigten Injektion des Jodoformglyzerins höre
ich mit dem Stauen auf und beginne erst
nach Ablauf der lokalen Reaktion wieder
damit. Nach meiner Erfahrung unterlassen
dies die meisten; ich halte es für sehr
wichtig. Alles dieses gilt in gleicher Weise
auch für Patienten, denen Abszesse punk¬
tiert und injiziert werden.
Zur Anästhesierungnehme ichSchleich-
sche Lösung, gern auch den Aetherrausch.
Es ist ürigens auffallend, wie Kinder sich
in der Regel die doch recht schmerzhafte
Injektion lieber ohne Narkose machen
lassen, wenn sie beides, mit und ohne
Narkose, kennen gelernt haben.
Wo kalte Abszesse bestehen oder Ge¬
lenkergüsse. ist die Punktion anzuwenden.
Sind die Ergüsse serös, so werden sie mit«
einer Spritze (dicke Kanüle) oder einem
dünnen Troikart punktiert und es werden
10—20 cm Jodoformglyzerin eingespritzt.
Tuberkulöse Ge'enkabszesse werden in
derselben Weise wie sonst kalte Abszesse
behandelt.
Beim kalten Abszeß stehe ich nach
wie vor auf dem Standpunkte, daß er nicht
eröffnet werden darf, daß er nur mit Punk¬
tion und Injektion zu behandeln ist. Daß
die einfache Eröffnung und Drainage zu
verwerfen ist, darauf brauche ich nicht ein¬
zugehen; die Gründe sind schon oft ent¬
wickelt worden, so auch von He nie. Ich
halte die einfache Spaltung kalter
Abszesse für schlecht, die von Sen¬
kungsabszessen, d. h. von Abszessen,
die weit vom Erkrankungsherde ent¬
fernt liegen, für einen groben Kunst¬
fehler.
Bier, der die kalten Abszesse prinzipiell
nicht mit Jodoform behandelt, empfiehlt sie
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nicht einfach zu inzidieren, sondern dabei
in folgender Weise vorzugehen: Der Ab¬
szeß wird mit kleinem Schnitt gespalten,
ausgedrückt, offen gehalten. Sobald sich
Eiter wieder ansammelt, wird wieder aus¬
gedrückt und mit dem Schröpfkopf gesaugt.
Ich kann mich auch für diese Behandlungs¬
methode nicht erwärmen und halte sie für
einen Rückschritt. Ein inzidierter kalter
Abszeß läßt sich ebensowenig wie eine
aseptische Wunde, auch bei strengster
Asepsis, steril halten, man mag ausdrücken
oder saugen, selbst Tag und Nacht
saugen, was übrigens Bier nicht ein¬
mal tut. Früher oder später wandern aus •
der Haut die Bakterien ein, wenn sie nicht
auf andere Weise hinein gelangen, und die
Sekundärinfektion ist da. Auf deren Ver¬
hütung kommt es aber an, wenn man bei
der Tbc. mit konservativen Methoden et¬
was erreichen will. Biers Empfehlung
wird dazu führen, daß die praktischen
Aerzte wieder mit dem Inzidieren der
kalten Abszesse beginnen, was viele —
leider auch manche Chirurgen — stets ge¬
tan haben. Wieviel Schaden habe ich
nicht davon gesehen! Liegt der Abszeß
nahe dem Knochenherde, so gelingt es
häufig, der Sekundärinfektion wieder Herr
zu werden oder den Patienten durch radi¬
kales Eingreifen zu heilen. Für den Kranken,
bei dem der kalte Abszeß weit ab vom
Herde liegt, wie z. B. der Psoasabszeß bei
der Wirbel-Tbc., bedeutet die Inzision des
Abszesses in der Regel das Todesurteil.
Ich will nur den folgenden Fall, den ich
vor kurzem erlebte, schildern; es ist leider
nicht der einzige.
William W., 34 Jahre alt, Handlungs¬
gehilfe aus Schottland.
Kamilienanamnese, Vorleben ohne Beson¬
derheiten. Vor 1 Jahre Lungenkatarrh. Vor
3 Wochen Anschwellung in der linken Bauch¬
gegend, die langsam an Größe zunahm. Der
zugezogene Arzt vermutete, daß es sich um
einen Drüsenabszeß handelte, die Probepunk¬
tion ergab angeblich guten Eiter, er inzidierte
und fand dann, daß der Abszeß weit in die
Tiefe ging. Er nahm nunmehr einen Senkungs¬
abszeß an und schickte den Patienten am fol¬
genden Tage in das Schöneberger Kranken¬
haus.
18. Januar 1908. Aufnahme. Kräftiger,
etwas blaß aussehender Mann, mittlerer Ernäh¬
rungszustand. 65 kg Gewicht, Temperatur leicht
erhöht, bis 37,8°. Innere Organe ohne Beson¬
derheiten; an der Wirbelsäule und dem Becken
nichts pathologisches bemerkbar, das Röntgen¬
bild auch negativ.
In der linken Inguinalgegend eine 6 cm
lange schräge Wunde, die wenig trübes Sekret
entleert. Sondierung gelingt 16 cm weit.
Ophthalmotuberku'inreaktion 2% stark positiv.
Trotz des negativen Befundes an der
Wirbelsäule zweifelte ich nicht daran, daß es
Original from
UNIVER5ITY OF CALIFORNIA
März
121
Die Therapie der Gegenwart 1910.
sich in diesem Falle um einen Psoasabszeß,
ausgehend von einer Wirbel-Tbc., handelte.
Da der Abszeß nun einmal geöffnet war, be¬
schloß ich, ihn nach Bier zu behandeln- Ich
möchte noch bemerken, daß die Behandlung
von einem Assistenten begonnen und später
überwacht wurde, der bis vor kurzem Volontär
an der Bi ersehen Klinik gewesen war. Die
Wunde wurde täglich % Stunden gesaugt,
5 Minuten Saugen, 3 Minuten Pause. In die
Wunde wurde nichts eingeführt.
29. Januar. Temp. plötzlich 39,2 °, von nun
an jeden Abend erhöhte Temp , bis 39,5°.
4. Februar. Da die Wunde offenbar misch¬
infiziert und die Infektion durch Saugen nicht
zurückgeht, das Fieber bleibt, schreite ich zu
der Methode der Fistelbehandlung, wie ich sie
später beschreibe: Jodoformglyzerininjektion
unter mäßigem Druck, Einführung eines 16 cm
langen Drains, um den Sekretabfluß zu sichern;
das Drain sollte nur so lange liegen bleiben,
als hohe Temp. besteht.
26. Februar. Die Temp. nahm ab, zuweilen
auch ein fieberfreier Tag. Daher beschließe ich
ein Verfahren, von dem ich zuweilen Erfolge
sah: Ich exzidiere in Schleich scher Anästhesie
die Wundränder, fülle den Fistelgang unter
Druck mit Jodoformglyzerin (120 ccm) und
vernähe die Wunde fest und vollständig mit
Draht.
3 Tage lang Temp. bis 39,2°, dann Abfall
zu der Höhe, wie die Temp. vor dem Eingriffe
war. Sonst keine Reaktion.
14. März. Gewicht 56 kg. Da die Nähte
zum Teil durchschneiden und sich Sekret ent¬
leert, lege ich an der auseinander gewichenen
Partie noch zwei weit ausgreifende Draht¬
nähte an.
25. März. Geringe Sekretion, Temp. jetzt
meist normal, gelegentlich Steigerung bis 38°.
9. April. Geringe Sekretion, doch schließt
die Wunde sich nicht. Daher wird wieder zum
Saugen übergegangen.
5. Mai. Da das Saugen keinen Fortschritt
bringt mache ich einen neuen Versuch, den
Schluß der Wunde zu erreichen, und zwar
durch folgendes Verfahren: Ich steche einen
Troikart zwei Querfinger oberhalb der Wunde
durch die Bauchdecke in die Höhle ein, lasse
das Rohr liegen. Dann exzidiere ich die Wund¬
ränder und vernähe sie fest. Ich beabsichtige,
hierdurch die alte Wunde vollständig zum
Schluß zu bringen, ohne daß das Wundsekret
sich ansammelt und die Heilung verhindert.
11. Mai. Die Naht bleibt trocken und heilt.
Der Troikart wird heute entfernt, da in seiner
Umgebung eine Infiltration beginnt; er wird
durch ein dünnes Drainrohr ersetzt. In die
Wunde wird häufiger Jodoformglyzerin in¬
jiziert.
30. Mai. Die alte Wunde, die bereits völlig
verschlossen war und es auch blieb, wenn
Jodoformglyzerin unter mäßigem Druck injiziert
wurde, beginnt wieder zu sezernieren. Von
jetzt ab wird die Wunde jeden zweiten Tag
mit Todoformglyzerin durchgespült, indem es
duren das im Troikartkanale liegende Drain¬
rohr eingespritzt wird und durch die alte In-
zisionswundc herausfließt. Der Patient ist an¬
dauernd fieberfrei.
12. Juli. Der Ernährungszustand geht kon¬
stant zurück, obwohl Patient völlig fieberfrei
ist. Gewicht 50 kg. Es fließt Eiter und Jodo¬
formglyzerin nur aus dem Drain, nicht aus der
Wunde, die sich nicht schließt und offenbar
tuberkulös infiziert ist.
15. Juli. Heute zum ersten Male Spur Al-
bumen im Urin, welches gestern noch fehlte.
Der Eiweißgehalt nimmt täglich und rapid zu:
Am 17. Juli 7 s °/oo, am 20. Juli am
22. Juli 4°/oo> am 24* Juli 7 °/oo bei 1000 ccm
1018 ccm spez. Gew. 30. Juli 1 %, das Urin¬
quantum nimmt ab, Oedeme treten auf, das
Körpergewicht nimmt zu, obwohl der Ernäh¬
rungszustand zurückgeht, Gewicht 51,7 kg.
6. August 1,4%, 9. August 2,8%, es beginnen
häufige, unstillbare Durchfälle 30. August 4%,
Gewicht 55,6 kg. 2. September 1908. Exitus.
Patient war andauernd fieberfrei, reichliche
Eitersektretion.
Die Sektion (Prosektor Dr. Hart) ergibt:
Ausgedehnte Karies der Lenden- und Kreuz¬
beinwirbel, rechts ein geschlossener Psoas¬
abszeß, links führt die Fistel zum Erkrankungs¬
herde. Amyloid von Niere, Milz, Darm; alte
verkäste Lungenherde.
Ich habe diesen Fall ausführlicher ge¬
schildert, um zu zeigen, welche Mühe ich
mir gebe und welche Mittel ich anwende,
um eröffnete mischinfizierte kalte Abszesse
wieder zum Schlüsse zu bringen.
(Ein zweiter Artikel folgt im nächsten Heft).
Aus der Dermatologischen Abteilung des Rudolf Virohow-Erankenhauses zu Berlin.
(Dirigierender Arzt: Prof. Dr. Buschke.)
Ueber die Behandlung des Ulcus cruris mit Scharlachrot.
Von Dr. Kurt Pein.
B. Fischer 1 ) teilte 1906 seine äußerst |
interessanten Beobachtungen über atypische
Epithelwucherungen mit und den intensiven
Wachstumsreiz, den das Scharlachrot auf
das Plattenepithel ausübt. Er injizierte es j
in öliger Lösung zwischen Ohrknorpel und |
Haut von Kaninchen in der Hoffnung, so i
der Frage der experimentellen Krebserzeu¬
gung näher zu kommen, und sah, daß das
Hautepithel die Fetttröpfchen mit großer
Schnelligkeit umwuchs. I
Seiner Anregung, diesen durch das j
Scharlachrot hervorgerufenen Reiz zur
□ igitized by Google
Epithelisierung von Wundflächen zu ver¬
werten, folgte als erster Schmieden 2 ).
Er stellte sich eine 8%ige Scharlachrot¬
vaseline her, legte sie mittels Mullläppchen
auf Wunden, sobald sie flache, frischrote
Granulationen zeigten, und deckte mit
wasserdichtem Stoffe ab. Es trat eine re¬
aktive Entzündung ein, die ein sehr rasches
Wachstum des Epithels vom Wundrande
her zur Folge hatte. Wenn der entzünd¬
liche Prozeß zu heftig wurde, auf die Um¬
gebung Übergriff und stärkere Sekretion
der Wundfläche eintrat, setzte er das
Ordinal frem
UNIVER5ITY OF CALIFORNIA
Marz
122 Die Therapie der Gegenwart 1910.
Scharlachrot aus und machte indifferente
Salbenverbände. In ähnlicher Weise be¬
nutzte er Zinkpflasterverbände, die mit
Scharlachrot in 10%iger Konzentration
versetzt waren.
Schmiedens gute Erfolge forderten
zur Nachahmung auf. So benutzte Kaehl er 8 )
die Salbe, ohne mit wasserdichtem Stoff
abzudecken. Er sah dabei weniger die
stärker entzündlichen Nebenwirkungen auf-
treten, und der Heileffekt war gleich gut.
Er wandte die Salbe auch bei Wunden an,
die noch nicht völlig gereinigt waren, und
fand sie dabei „nicht ganz zwecklos".
Zwei sehr günstig verlaufene Fälle teilt
Krajcä 4 ) mit, bei denen die Scharlachrot¬
behandlung mit inselförmiger Hauttrans¬
plantation kombiniert wurde. Auch
Sprecher 5 ) sah gutes und schnelles
Epithelwachstum, wies jedoch entschieden
auf die bereits von Schmieden mitge¬
teilte Ansicht hin, daß nur bei rein granu¬
lierenden Wunden ein Erfolg zu er¬
zielen sei, da sonst jede chorioplastische
Wirkung fehle.
Durch Verwendung einer 4°/ 0 igen
Scharlachrotsalbe vermied Auerbach 6 )
jede übermäßige Reizung und brauchte
daher niemals auszusetzen und indifferente
Salben anzuwenden wie alle anderen. Die
Heilung soll ebenso schnell von statten
gegangen sein. Stärkere Sekretion soll
unter der Salbe bald versiegt sein.
Hermann 7 ) sah gute Erfolge des
Scharlachrot bei Trommelfellperforationen,
Wolfrum und Cords 8 ) in 5%iger Vaseline
bei Substanzverlusten der Kornea.
Welcher Bestandteil im Scharlach den
wirksamen Reiz auf das Epithel ausübt,
ist noch nicht sicher bekannt. Bei experi¬
mentellen Versuchen über Geschwülste fand
ihn Stöber 9 ) im a-Naphthylamin. Für die
Therapie erwies sich nach Hayward 10 )
dieser Körper als unbrauchbar, da er schon
nach 24 Stunden viel zu starke Reizungen
verursachte, dagegen fand er im Amido-
azotoluol eine Komponente des ursprüng¬
lich verwendeten Scharlachs, die in 8%iger
Salbe noch bessere Wirkungen erzielt
haben soll als das Scharlachrot. Diese
neue Salbe ist unter dem Namen Schar¬
lachsalbe im Gegensatz zu der früheren
Scharlachrotsalbe in den Handel ge¬
kommen.
Auf unserer Abteilung wurde eine ganze
Anzahl von varikösen Ulcera cruris mit
Scharlachrot behandelt. Wir benutzten
8 % ige Scharlachrotvaseline, die wir mittels
Mullkompressen den Wunden auflegten,
ohne mit wasserdichtem Stoff abzudecken.
Wir machten stets in je 24 Stunden
wechselnd einen Verband mit Scharlach¬
rot und mit Borvaseline. Durch dies Ver¬
fahren vermieden wir die stärkeren entzünd¬
lichen Wirkungen, wenn es sich um frisch
granulierende Wunden handelte. Auffallend
war, welch große Trockenheit eine solche
mit Scharlachrot behandelte Fläche sehr
bald zeigte. So lange noch stark eitrige
Sekretion bestand oder nekrotische Be¬
läge den Geschwürsgrund bedeckten,
konnten wir nie eine günstige Wirkung
des Scharlachrot konstatieren, vielmehr
trat eine akute Verschlechterung und Ver¬
zögerung des Heilungsvorganges ein. Wir
setzen deshalb jetzt mit der Scharlach¬
behandlung stets erst dann ein, wenn es
uns gelungen ist, durch feuchte oder Bor¬
salbenverbände das Ulcus zu reinigen.
In den oben zitierten Arbeiten wird auf
Mitteilung von Krankengeschichten fast
völlig verzichtet. Auch bei unserer Dar¬
stellung wollen wir auf keine Einzelheiten
eingehen, sondern nur in aller Kürze einen
Ueberblick geben, mit welch großer
Schnelligkeit die Epithelisation unter dem
Scharlachrot fortschreitet.
Wir behandelten 25 Ulcera cruris vari-
cosa bei 19 Patienten mit folgendem Erfolge:
Patient
12. Mai
1 .
8x5*) cm
und 10x5*) c
21.
Mai
77s x 4 % -
10x4»/,
26.
Mai
6 1 /* x 4
., 10x4»/,
5. i
funi
37a x 3
27a X 2
8x2»/.
12.
uni
6>/,xiy,
.. 3’/, x 3 A
17. J
uni
2 x 1 Vs ..
27. J
uni
VtxV* *
.. 3 3 /< x 3 lt
Auf Wunsch Entlassung. Patient schien vor
Beginn der Behandlung schlechte Heilungs¬
aussichten zu bieten, da er seit 18 Jahren an den
Geschwüren litt und der ganze Unterschenkel
elephantiastisch verändert war. Das eine Ulkus
reagierte nicht sofort auf das Scharlachrot,
vielmehr trat bis zum 26. Mai stärkere Sekre¬
tion ein, da es bei Beginn der Behandlung
noch nicht genügend gereinigt war.
Patient 2 (60 Jahre alt).
28. Mai 12x5 cm, 11. Juni 5x3 cm, 25. Juni
geheilt.
Patient 3.
5. Juni 7 l /iX5Va cm, 10. Juni 57a x 2 cm.
23. Juni geheilt.
Patient 4.
12. Juni 7x4 3 / 4 cm, 20. Juni 6x47* cm,
27. Juni 1x7* cm > 14. Juli geheilt. Es bestand
Elephantiasis.
Patient 5.
16. Juni 4x27 a cm und 3 xU/* cm, 1- Juli
geheilt.
P a t i e n t 6.
20. Juni 8x4 cm, 30. Juni 3x27* cm,
24. Juli geheilt.
I|| bedeutet Breite.
Digitized by Google
Original fram
UNIVERSiTY OF CALIFORNIA
März
Die Therapie der Gegenwart 1910.
123
Patient 7.
29. Juni 2 5x2 cm, 2. Juli 1,5x1 cm, 11. Juli
geheilt.
Patient 8 (71 Jahre alt).
29. Juni 3,5x3 cm, 10. Juli geheilt.
Patient 9.
1. Juli 10x3,5 cm, 10. Juli 5x2 cm, 20. Juli
geheilt.
Patient 10.
6. Juli 25x8 cm, 20. Juli 12x4 cm. Auf
Wunsch Entlassung.
Patient 11 (62 Jahre alt)
24. Juli 3 X 1 cm, 3. August 2 x 3 / 4 cm. Auf
Wunsch Entlassung.
Patient 12
6. August 8x4Yi cm und 4x3 cm, 15. Sep¬
tember geheilt.
Patient 13.
1. September 4 X 1 cm, 12. September ge¬
heilt.
Patient 14 (79 Jahre altj.
1. September 2x2 cm, 14. September ge¬
heilt.
Patient 15.
4. Oktober 6x3 3 /i cm. 10. Oktober 5x1 X U cm,
14. Oktober 3X 1 /* cm, 18. Oktober 2 1 / a x */« cm,
22. Oktober geheilt.
Die Ulcera waren seit 6 Jahren behandelt,
ohne sich völlig zu schließen.
Patient 16.
14. Oktober.
8x3 cm
und
5-3
18. Oktober.
2 x 2 1 /« „
4 — 3
25. Oktober.
4x1
3 - 1 »4
31. Oktober.
1 X l U
2 — 1
9. November geheilt
V
V*-l 4
Patient 17.
14. Oktober 5X4 cm, 18 Oktober 4X3’/* cm,
25. Oktober 2*/iX Va cm, 30. Oktober 1 1 ' 4 X \U cm.
Auf Wunsch Entlassung.
Patient 18.
29. Oktober 3 1 /* X 2 cm uud 1 X */* cm und
3 , /jX2 , /a cm, 20. November geheilt.
Patient 71 Jahre alt, litt seit 30 Jahren an
Beingeschwüren.
Patient 19.
30. November 6x7 cm, 24. Dezember geheilt.
Aus den mitgeteilten Daten ergibt sich,
daß die Epithelisierung unter dem Scharlach¬
rot außerordentlich schnell vor sich geht,
und zwar ist die Wachstumsschnelligkeit
im Anfänge der Behandlung größer als im
weiteren Verlaufe. Auch Fälle, die progno¬
stisch sehr ungünstig erschienen, zeigten
gute Heilung. Das gebildete Epithel
zeichnete sich durch seine gute Solidität aus.
Ueber Rezidive stehen uns noch keine
Erfahrungen zu Gebote. Immerhin können
wir das Scharlachrot für die Ulcus cruris-
behandlung als oft brauchbares Mittel
empfehlen.
Ermutigt durch die guten Erfolge bei
Beingeschwüren wandten wir das Schar¬
lachrot auch bei einer Anzahl anderer
Ulcera und Wunden an.
Ulcera mollia, Wundflächen von ope¬
rierten Bubonen, luetische Ulzerationen
heilten nicht, so lange noch das spezifische
Virus aktiv war. Waren jedoch die
Flächen durch die spezifischen Mittel resp.
die Allgemeinbehandlung gereinigt, so wurde
die Epithelisierung durch das Scharlachrot
wesentlich beschleunigt.
Nur zwei Fälle will ich noch kurz hervor¬
heben. Im ersten handelte es sich um ein
gangränöses Ulcus glandis, das % der Glans
völlig zerstört hatte. In 16 Tagen war die
ganze Wunde mit festem Epithel über¬
kleidet. Im zweiten Falle bestanden aut
den Streckseiten beider Ellenbogen je ein
5X5 cm großes, kreisrundes luetisches
Ulcus. Nach Beendigung einer Hg-Kur,
durch die das luetische Agens zerstört war,
zeigten die Ulcera reine Granulationen und
heilten dann unter Scharlachrot in auf¬
fallend kurzer Zeit ab.
In drei Fällen gelang es uns nicht, reine
Wund Verhältnisse zu bekommen. Ein Ver¬
such mit Scharlachrot ließ hier völlig im
Stich. Einmal lagen luetische serpiginöse
Ulcerationen vor, die jeder antiluetischen
Behandlung trotzten und allmählich die
ganze Bauch- und Gesäßhaut ergriffen
haben, im zweiten Falle ein Ulcus cruris
varicosum in steinharten alten Narben mit
sehr ungünstigen Ernährungsverhältnissen.
Bei dem dritten Fall handelt es sich um
einen 70jährigen Mann mit Tabes und
starker Arteriosklerose. Derselbe zeigte am
Unterschenkel ein etwa talergroßes Ulcus
mit schmutzigen, hypertrophischen Granu¬
lationen. Hier brachte auch schwächere
Scharlachrotsalbe nur stärkere Reizung und
Sekretion zustande. Bemerkenswert war,
daß eine durch Trauma entstandene Haut¬
verletzung neben dem Geschwür auf die
Methode gut reagierte, daß aber die Epithe¬
lisierung am Rande des primären Ulcus
prompt Halt machte. Man muß wohl auch
in diesem Geschwür ein aktives Virus an¬
nehmen, das die Heilung unmöglich machte.
Karzinom lag. nicht vor.
Literatur: 1) Münch, med. Wochschr. 1906,
Nr. 42. — 2) Zbl. f. Chir. 1908. Nr. 6. — 3) Med.
Klinik 1908, Nr. 22. — 4) Münch, med. Wochschr.
1908, Nr. 22. — 5) Gaz. degliosped 1909, Nr. 23.
Referat in Klin. therap. Wochschr. 1909, Nr. 13.
— 6) Klin. therapeut. Wochschr. 1909, Nr. 13.
— 7) Deutsche med. Wschr. 1909, Nr. 22. —
8) Münch, med. Wochschr. 1909, Nr. 5. —
9) Münch, med. Wochschr. 1909, Nr. 3. --
10) Münch, und Wochschr. 1909, Nr. 36.
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.März
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Die Therapie der Gegenwart 1910.
Die Behandlung der Gonorrhoe und ihrer Komplikationen.
Von Alfons Nathan-Berlin.
I.
Nach der Entdeckung des Gonokokkus
Neißer im Jahre 1879 war die Gonorrhoe
als eine spezifische Erkrankung präzisiert,
und es war nicht mehr angängig, jeden
Ausfluß aus der Harnröhre als Tripper zu
bezeichnen, sondern diese Diagnose war
an den Nachweis der wohl charakteri¬
sierten Krankheitserreger geknüpft. Seit¬
dem hat dank den immer mehr verfeinerten
Untersuchungsmethoden die Kenntnis dieser
so weit verbreiteten Krankheit in anatomi¬
scher und klinischer Beziehung ungeheure
Fortschritte gemacht, die auch der Therapie
in hervorragendem Maße zu gute gekom¬
men sind. Allein nur langsam sind die I
neuen Behandlungsmethoden in die Kreise
der Praktiker gedrungen, und immer noch
spielen alle möglichen Adstringenden und
Balsamika in der Gonorrhoetherapie eine
große Rolle, so daß es sich wohl der Mühe
verlohnt, die moderne Therapie dieser
Krankheit zu betrachten, wobei ich mich
hauptsächlich auf meine langjährigen an
einem großen privaten und poliklinischen
Material gewonnenen Erfahrungen stütze.
Die Anatomie und Physiologie der
Harnorgane sowie die Biologie des Gono¬
kokkus darf ich als bekannt voraussetzen.
Wir unterscheiden nun heute in therapeu¬
tischer Hinsicht nicht mehr den akuten und
chronischen Tripper, sondern das infek¬
tiöse vom Vorhandensein der Gonokokken
abhängige Stadium, und den postgonor¬
rhoischen Katarrh, das aseptische Sta¬
dium. Ferner unterscheiden wir, je nach
der Ausdehnung der Erkrankung,
1. die Gonorrhoea superficialis, wenn
die Erkrankung sich nur an der Oberfläche
der Schleimhaut abspielt,
2. die Gonorrhoea profunda, wenn die
tieferen Schichten der Urethra mit ihren
Drüsen (Morgagnische Krypten und
Littresche Drüsen) affiziert sind.
3. die Gonorrhoea complicata (Affek-
tionen der Prostata, Nebenhoden, Samen¬
blasen usw.).
Selbstverständlich können diese Formen
im Laufe der Erkrankung neben- und nach¬
einander auftreten, wir müssen sie jedoch,
um erfolgreich Vorgehen zu können, scharf
auseinander halten. Das A und O der Be¬
handlung ist die Kontrolle unserer thera¬
peutischen Maßnahmen mit dem Mikroskop, !
d. h. die ständige Untersuchung des Se- |
krets auf Gonokokken; nur so können wir j
hoffen, die moderne, von Neißer und
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seiner Schule eingeführte antiseptische
| Behandlung durchzuführen. Das Prinzip
der antiseptischen Behandlung wird von
Jadassohn kurz und bündig dahin prä-
| zisiert: „Vernichtung der Gonokokken an
allen Punkten, an denen ihre Anwesenheit
i bewiesen oder sicher anzunehmen ist, mit
| möglichst geringer oder ohne alle Schädi-
I gung der Schleimhaut, eventuell sogar mit
günstiger Beeinflussung der entzündlichen
| Veränderungen.“ Wenn dieses ideale
| Postulat auch schwer zu erreichen ist, so
können wir ihm doch einigermaßen nahe¬
kommen, da wir in den Silbersalzen Mittel
kennen gelernt haben, welche die Gono¬
kokken abtöten. Da das Argentum nitri-
cum, das am frühesten angewandte Silber¬
salz, mit den Gewebsflüssigkeiten Nieder¬
schläge gibt und daher keine Tiefenwirkung
ausüben kann, hat die chemische Industrie
die sog. Silbereiweißverbindungen herge¬
stellt, die diesen Fehler nur in geringem
Maße haben. Nachdem ich alle Silber¬
albumin ate, wie das Argonin, Protargol,
Largin, das Ichthargan usw. durchprobiert
habe, wende ich seit 6 Jahren nur noch
das von Liebrecht hergestellte, von den
Höchster Farbwerken in den Handel ge¬
brachte Albargin an. Dies ist eine Ver¬
bindung von Argentum nitricum mit Gela-
tose. Es ist in kaltem und warmem Wasser
leicht löslich, reizt die Schleimhaut fast
garnicht und ist, was bei poliklinischer und
i Kassenpraxis ja auch mitspricht, dreimal
billiger, als Protargol. Man wendet es in
1 °/oo 1 g er Lösung an, die man sich leicht
aus einer 10o/ 0 igen Mutterlösung herstellt.
Es empfiehlt sich, die antiseptische Be-
I handlung mit der Irrigationsmethode aus¬
zuführen, die allerdings vom Arzte seibst
gehandhabt werden muß. Allein wer da
weiß, wie schlecht und nachlässig Injek¬
tionen vom Patienten gemacht werden, und
wer andererseits die vorzüglichen Resul¬
tate dieser Methode kennt, wird diese Un¬
annehmlichkeit leicht in den Kauf nehmen,
und auch die Patienten sind bald damit
einverstanden. Am meisten zu empfehlen
sind die sog. Janetschen Spülungen, da
bei ihnen kein Instrument in die Urethra
eingeführt zu werden braucht und zu der
Wirkung des Medikaments noch die mecha¬
nische, die Schleimhaut spannende, kommt.
Ursprünglich empfahl Jan et zu diesen
Spülungen heiße Kaliumhypermanganat-
lösungen, wovon er große Mengen irri-
gierte; jetzt macht man eine Janetsche
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März
Die Therapie der Gegenwart 1910.
125
Spülung mit jedem beliebigen Medikament
und versteht darunter nur die Art der
Applikation. Die Technik ist sehr einfach:
ein Irrigator gefüllt mit der Lösung, in un¬
serem Falle also 1°/oo!ges Albargin, hängt
ca. 1V 2 m über dem Sitze des Patienten;
der Schlauch trägt einen olivenförmigen
Glasansatz, der bei Nichtgebrauch in Sub¬
limat aufbewahrt wird. Der Arzt faßt die
Glans mit der linken Hand und setzt mit
der rechten den Ansatz fest auf das Orifi-
zium auf. Nach mehrmaliger Ausspülung
der Anterior läßt man nach und nach den
vollen Druck auf den Kompressor ein¬
wirken und fordert den Patienten auf, Urin
zu lassen. Der Kompressor gibt dann
bald nach, und man irrigiert 250—300 g
der Lösung, die der Patient dann aus¬
uriniert. Erleichtern kann man die Proze¬
dur durch vorherige Injektion einer 1%igen
Kokainlösung (eventuell mit Zusatz von
einigen Tropfen Suprarenin) in die Urethra,
die man ca. 5 Minuten ein wirken läßt. —
Wenn ich im folgenden von Spülungen
spreche, so verstehe ich stets darunter die
eben beschriebenen Jane tsehen Spülungen.
Die Anwendung einer großen Spritze dazu
ist nicht zu empfehlen, weil man die Stärke
des Druckes nicht so gut kontrollieren
kann. Diese Spülung wird gewöhnlich
täglich einmal gemacht und wird mit dieser
Behandlung sofort begonnen, sobald Gono¬
kokken vorhanden sind, ganz gleichgültig,
wo sie sitzen und ob die Infektion schon
längere Zeit besteht. Nur bei Oedem der
Glans oder des Präputium warte ich 1 bis
2 Tage und lasse inzwischen kalte Um¬
schläge machen. Ich halte es für einen
direkten Kunstfehler, die beste Zeit für
die Vernichtung der Gonokokken mit der
internen Therapie zu vertrödeln, was leider
noch täglich geschieht. Immer noch be¬
kommt man Patienten in Behandlung, die
entweder auf eigene oder ärztliche Ver¬
ordnung monatelang irgendwelche Kapseln
genommen haben, ohne ihre Gonokokken
zu verlieren. Ich perhorresziere die An¬
wendung der Balsamika vollständig, wenn
diese allein, ohne lokale Behandlung, die
Gonorrhoe heilen sollen, ich gebe sie nur
bei dysurischen Beschwerden, sei es, daß
diese von der Anterior oder Posterior aus-
gehen; und zwar bin ich stets mit dem
einfachen Ol. santali ausgekommen, da es,
falls man nur ein gutes Präparat erhält,
dasselbe leistet, wie alle anderen mit so
großer Emphase und Reklame empfohlenen
Balsamika. — Die Albarginspülungen wirken
ganz ausgezeichnet: die Schmerzen und
der Harndrang lassen nach, der dünn¬
flüssige grüne Eiter wird gelb und rahmig,
die Gonokokken verschwinden in 6—8 bis
14 Tagen. Das Sekret enthält dann Leuko¬
zyten, Muzin und Epithel, um dann ganz
schleimig zu werden. Die Gonorrhoe heilt
bei glattem Verlauf in 5—6 Wochen völlig
aus. Je früher man mit der lokalen Be¬
handlung beginnt, um so milder und gün¬
stiger ist der Verlauf, desto seltener treten
Komplikationen hinzu.
Verschwinden die Gonokokken nicht,
so ist an das Vorhandensein para- oder
periurethraler Gonorrhoe zu denken. Die
erstere erscheint seltener in Form infizier¬
ter paraurethraler Gänge; sie zeigt sich
vielmehr meistens so, daß die Lippen des
Orificium ext. intensiver geschwollen sind;
drückt man den Eiter aus der Urethra und
tupft ihn vom Orifizium ab, so sieht man
auf der Innenseite des Lippenrandes steck-
nadelkopfgroße OefFnungen, aus denen sich
bei Druck Eiter mit Gonokokken entleert.
Am besten spaltet man dann die kleinen
Gänge galvanokaustisch nach der Urethra
zu. Bei periurethralen Infiltraten ist die
lokale Behandlung auszusetzen, auf graue
Salbe sowie feuchtwarme Umschläge gehen
sie meist zurück. Etwaige Abszesse, die
sich meist seitlich vom Frenulum zeigen,
sind zu inzidieren und antiseptisch zu be¬
handeln.
Sind diese Komplikationen auszu¬
schließen, verschwinden die Gonokokken
aber trotzdem nicht, oder bekommen wir
die Patienten in einem späteren Stadium
in Behandlung, nachdem wiederholte Rezi¬
dive mit Gonokokken vorangegangen sind,
oder enthält das Sekret trotz sorgfältiger
Behandlung fast nur Leukozyten, so ist an¬
zunehmen, daß die Gonokokken in die lie¬
feren Schichten der Mukosa gedrungen
sind und die Morgagnischen Lakunen
und Littreschen Drüsen befallen haben.
Wir müssen sie dann aus der Tiefe an
die Oberfläche bringen, um sie vernichten
zu können. Zu diesem Zweck rate ich,
sich erst nicht lange mit anderen Ma߬
nahmen aufzuhalten, sondern die instrumen-
teile Behandlung zu Hilfe zu nehmen, und
zwar in Form der Dehnungen mit dem
Spüldilatator, so ungern ich auch sonst
Instrumente in die Urethra bei Gonorrhoe
einführe. Je nach der Reaktion macht man
wöchentlich 1 —2 Spüldehnungen und spült
die anderen Tage.
Jedoch die häufigste und wichtigste
Komplikation ist die Erkrankung der Ure¬
thra posterior. Nach den verschiedenen
Statistiken tritt sie in 70 —75% der Fälle
auf, bei unzweckmäßiger Behandlung und
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Die Therapie der Gegenwart 1910.
März
unpassendem Verhalten des Patienten so¬
gar noch öfter. Die frühere Anschauung
der Guyonsehen Schule, daß der Com-
pressor urethrae dem Fortschreiten der
Gonorrhoe mechanisch ein Ziel setzt, wird
heute allgemein verworfen. Durch die
Untersuchungen von Finger und Bier¬
hoff wissen wir, daß der gonorrhoische
Prozeß sich mit Vorliebe in den Follikeln
und Drüsen festsetzt und an einer follikel-
armen Stelle Halt macht. Die Pars mem-
branacea ist frei von Follikeln und Drüsen,
während in der pars prostatica um dem
Colliculus seminalis herum zahlreiche Drü¬
sen, die Glandulae prostaticae, münden.
Die hinter dem Kollikulus liegende Partie
der Pars prostatica ist wieder drüsenfrei.
Der Prozeß überschreitet nicht den Kom¬
pressor, wenn nicht noch andere schädi¬
gende Momente hinzukommen, die Bier¬
hoff in einer Kongestion der Urethra
posterior sieht. Die Urethritis posterior
ist also stets mit einer Prostatitis gonor¬
rhoica vergesellschaftet. Sie setzt schlei¬
chend ein und macht nicht immer so stür¬
mische Symptome, wie man sie früher mit
dem Begriff einer Urethritis posterior ver¬
band. Die gonorrhoische Prostatitis tritt
in drei Formen auf, die ineinander über¬
gehen können:
1. Die endoglanduläreoderkatarrhalische
Form, mild verlaufend. Der Urin wenig
oder gar nicht verändert, geringe Beschwer¬
den; die Prostata wenig vergrößert, weich
und teigig. Im Prostatamassat wenig Leu¬
kozyten und isolierte Gonokokken.
2. Die follikuläre Form. Die Gono¬
kokken sind in das subepitheliale Gewebe
um die Tubuli gedrungen; durch Verschluß
der Lobuli kommt es zu einer Eiteransamm¬
lung in diesen Taschen, weiter zur Ein¬
schmelzung der Zwischenwände und dann
zum Durchbruch mit Entleerung des Eiters.
Der Urin ist stark getrübt. In der Pro¬
stata fühlt man verhärtete Stellen oder
Knötchen, nach Durchbruch des Eiters
weiche, eindrückbare Stellen. Im Sekret
findet man erst nach wiederholten Unter¬
suchungen Gonokokken. Die Symptome
sind viel stürmischer: Dysurie, Tenesmus,
terminale Hämaturie. Der Verlauf kann
jedoch auch ein subakuter sein, nach schein¬
barer Ausheilung kehrt diese Form sehr
häufig wieder, wenn eine neue Eitertasche
sich gebildet hat, die durchbricht und auch
die Anterior wieder infiziert.
3. Während dies die häufigsten Formen
sind, ist die parenchymatöse Form sehr
selten: ca. 3%; Schüttelfröste. Fieber,
Schmerzen im Rektum, Tenesmus vesicae
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et alvi charakterisieren sie; die Drüse ist
nicht in toto geschwollen, sondern nur
ein Lappen ist befallen, der sehr schmerz¬
haft ist und sich prall elastisch anfühlt.
Es bildet sich oft ein Abszess, der meist
in die Urethra, seltener in das Rektum
perforiert. Die Abszedierung ist meist auf
eine Mischinfektion zurückzuführen.
Ich habe die Pathologie der Prostata¬
gonorrhoe etwas genauer geschildert, weil
sie die Ursache der häufigen Rezidive ist und
trotzdem so oft übersehen wird, während
der Arzt viel Unheil verhüten kann, wenn
er nur daran denkt, die Prostata zu unter¬
suchen; denn gerade sie verursacht die
konjugalen Infektionen, wenn der Ehekon¬
sens in leichtsinniger Weise erteilt wird.
Die Therapie der Wahl bei der ersten
und zweiten Form der Prostatagonorrhoe
sind Spülungen und Massage. Die Spülung
zerlege ich in zwei Akte: Ausspülung der
Anterior und Vorspülung der Posterior
mit ca. 60—70 g, dann Durchspülung der
ganzen Urethra, bis der Patient Harndrang
verspürt; dazwischen schalte ich die Mas¬
sage ein. Letztere soll nur mit dem Finger,
nie mit einem Instrument ausgeführt wer¬
den, einmal, um Verletzungen zu vermeiden,
dann aber ersetzt kein Hilfsmittel das feine
Gefühl des Fingers. Gespült wird täglich,
massiert einen Tag um den andern. Die
Massage muß leicht und milde sein und
soll sich nur auf die erkrankten Drüsen-
teile erstrecken. Bei starken Reizerschei¬
nungen warte man einige Tage mit dem
Beginn der Massage. Unterstützt wird
diese Behandlung, besonders bei der folli¬
kulären Prostatitis, durch Hitzeapplikation;
Patient führt sich täglich einen Prostata-
psychrophor in das Rektum ein und läßt
1—2 1 warmen Wassers, so heiß als er es
verträgt, durchlaufen. Der Eiter bricht
dann leichter durch. Auch heiße Sitzbäder
sind zu empfehlen. Noch günstiger wirkt
diese Hitzeanwendung beim Abszeß und
beschleunigt dessen Durchbruch, der zum
Glück meist in die Urthra erfolgt; dann
kann mit der Massage auch hier begonnen
werden. Hat der Abszeß keine Neigung,
nach der Urethra durchzubrechen, so
macht man die Dittelsche Operation, das
heißt die Bioslegung der Prostata von
einem Perinealschnitt aus. Irrigationen und
Massage müssen sehr lange, mitunter
monatelang, fortgesetzt werden, und wer¬
den an die Geduld des Arztes und des
Patienten große Anforderungen gestellt.
Man werde nicht müde, bei der Neigung
zu häufigen Rezidiven, immer und immer
wieder das Prostatasekret auf Gonokokken
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Mfirz
Die Therapie der Gegeawart 1910.
127
zu untersuchen und beruhige sich erst, <
wenn nach Provokationen durch starken
Alkoholgenuß, nach chemischer und mecha
nischer Irritation sich keine Gonokokken
mehr zeigen. Erst nach Heilung der Pro j
statagonorrhoe sind die anderen Erkran¬
kungen der Urethra in Angriff zu nehmen.
Was die Abortivkur anbetrifft, so be¬
kommen wir die Patienten gewöhnlich zu
spät in die Behandlung, um die Kur noch
erfolgreich durchzuftlhren. Hat das Sekret
erst die spezifische grüne Farbe ange¬
nommen, so ist unsere Mühe vergeblich;
nur in einem Falle glückte mir die Kur.
Der Patient kam 24 Stunden nach der In¬
fektion mit gonokokkenhaltigem, schleimig¬
eitrigem Sekret zur Behandlung. Die Ab¬
ortivkur führe ich aus, indem ich 3mal
täglich mit 1%oigem Albargin irrigiere.
Selbstverständlich geht mit dieser lo¬
kalen Behandlung eine allgemeine und
symptomatische Behandlung Hand in Hand.
Bei Fieber ist das Bett zu hüten. Blande
Diät muß angeordnet, für leichten Stuhl
gesorgt werden. Bei heftigen Schmerzen
sind Narkotika (Morphium, Belladonna als
Suppositorien), bei dysurischen Beschwer¬
den Balsamika, bei schmerzhaften Erek¬
tionen Heroin oder Brom anzuwenden; bei
Tenesmus und terminaler Hämaturie ist
eine vorsichtig ausgeführte Spülung der
Posterior nach Diday (Einführung eines
Katheters, bis das Auge desselben den
Kompressor passiert hat, dann Durch¬
spülung mit einer 200 g fassenden Spritze)
mit 7*°/oo Arg. nitr. oft von zauberhafter
Wirkung. Retentio urinae ist durch Ka¬
theterismus zu beseitigen.
Wenn die Gonokokken erst einmal in
die Posterior gedrungen sind, dann ist die
Möglichkeit gegeben, daß sie auch die dort
mündenden Nebenhoden und Samenblasen
und weiter aufsteigend die Blase und das
Nierenbecken infizieren. Nicht eindring¬
lich genug kann ich raten, die Epididymitis
sorgfältig zu behandeln, besonders die
doppelseitige. Die ersten Tage ist Bett¬
ruhe am besten; sind die ersten stürmi¬
schen Symptome vorbei, so ist eine vor¬
sichtige Spülung der ganzen Urethra ent¬
schieden von Nutzen. Wenngleich dieses
Vorgehen noch nicht allgemeine Zustim¬
mung findet, so habe ich doch nie davon
nachteilige Folgen gesehen. Schmerzen
sind mit großen Salizyldosen (Aspirin) und
Pinselungen des Skrotums mit Monotal zu
bekämpfen. Vor allen Dingen jedoch ist
ein gut sitzendes Suspensorium, und zwar
das Neißer-Langlebertsche, anzulegen,
das die Hoden und auch den meist mitbe-
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teiligten Samenstrang ruhig stellt. Vor
Anlegung des Suspensoriums wird ein
Prießnitzscher Umschlag appliziert und
dann auf das Suspensorium ein Thermo¬
phor oder ein heißer Sandsack gelegt Die
Eisbehandlung ist nicht zu empfehlen, da
sie meist derbe Infiltrate hinterläßt, ein
sehr wichtiges Moment bei der wenig aus¬
sichtsreichen Behandlung der Azoospermie.
Es ist erstaunlich, wie wohl sich die Pa¬
tienten mit dem Suspensorium fühlen und
wie gut sie nach einigen Tagen ihrem Be¬
rufe nachgehen können. In jüngster Zeit
werden auch Punktionen des Nebenhodens,
und zwar der Cauda, unter antiseptischen
Kautelen empfohlen. Im späteren Stadium
sind Resorbentien (Jodvasogen, Ichthyol)
und Moorumschläge anzuwenden, womit
man oft eine Resorption älterer Infiltrate
> erzielt; auch Massage und Bi ersehe Stau¬
ung ist empfehlenswert.
Die Spermatozystitis, die oft übersehen
wird, ist wie die Prostatitis mit Massage
und rektaler Hitzeanwendung zu behandeln.
' So häufig eine gonorrhoische Zystitis dia-
| gnostiziert wird, so selten ist sie; es han¬
delt sich meist um die Urethritis posterior.
Kurz erwähnen will ich noch, daß wir eine
Pyelitis gonorrhoica, falls sie der internen
Therapie nicht weicht, vermittels des Ure-
terenkatheterismus mit Spülungen behan¬
deln, und wir in der Bi ersehen Stauung
ein vorzügliches Mittel zur Behandlung der
gonorrhoischen Arthropathien besitzen.
II.
Sind die Gonokokken beseitigt, so ist
unsere Aufgabe damit noch nicht beendet,
sondern wir haben uns mit den Verände¬
rungen, die die Gonokokken und ihre
Toxine auf der Schleimhaut der Urethra
und ihrer Anhänge gesetzt haben, zu be¬
schäftigen, wir haben den postgonorrhoi¬
schen Katarrh mit seinen Folgen zu be¬
handeln. Dazu müssen wir uns über die
Ausdehnung des Prozesses der Oberfläche
und Tiefe nach klar werden. Die Unter¬
suchung des Urins, des Sekrets, der Fäden
und des Prostatasekrets geben uns wichtige
Anhaltspunkte, ob die Anterior oder Poste¬
rior oder beide erkrankt sind. Der Ge¬
brauch der Knopfsonde (Bougie ä boule)
ist dringend zu empfehlen; ihre Anwen¬
dung wird leider häufig verabsäumt, ob¬
gleich sie dem Arzt wichtige Aufschlüsse
geben kann. Am wichtigsten ist jedoch
die Endoskopie der Harnröhre, um deren
Ausbau sich Oberländer, Kollmann
und in letzter Zeit Goldschmidt Ver¬
dienste erworben haben. Diese Methode
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128
März
Die Therapie der Gegenwart 1910.
läßt uns erkennen, ob der katarrhalische
Prozeß nur die Oberfläche oder die tieferen
Schichten der Schleimhaut mit ihren Drüsen
befallen hat. Man unterscheidet zwischen
weichen und harten Infiltraten; beim wei¬
chen Infiltrat ist die Mukosa kleinzellig in¬
filtriert, das Zylinderepithel geht in Pflaster¬
epithel über. Im Endoskop erscheint die
Schleimhaut hyperämisch, entzündet und
geschwollen. Die Entzündung lokalisiert
sich mit Vorliebe um die Drüsen; ihre
Ausführungsgänge verstopfen sich ent¬
weder, das Sekret wird retiniert und es
kommt zur sogenannten Follikelbildung;
oder sie sind stärker infiltriert und liegen
im Endoskop klaffend mit geschwollenen
Rändern zutage. Bei genügender Energie
des Entzündungsprozesses verwandelt sich
das weiche Infiltrat in das harte durch
Umwandlung der Rundzellen in Bindege¬
websfasern, ein Vorgang, dessen Ende die
Bildung einer Striktur ist. Beim harten
Infiltrat ist die Schleimhaut blasser, je nach
der Menge des vorhandenen Bindegewebes,
' und hat ihre Elastizität verloren. Diese Pro
zesse können sich nebeneinander abspielen
und befallen in der Posterior auch den Kolli-
kulus mit den Ductus ejaculatorii und können
dadurch Störungen der Potenz (Ejaculatio
praecox, Spermatorrhoe) herbeiführen.
Es kann hier unmöglich eine genaue
Schilderung der Details, welche uns das
Endoskcp erkennen läßt, gegeben werden,
jedoch muß betont werden, daß eine ex¬
akte Behandlung nur mit endoskopischer
Kontrolle möglich ist. Bei oberfläch¬
lichen Erkrankungen kommen wir mit Spü¬
lungen mit Arg. nitr., beginnend mit Vio°/oo
und steigend bis 7s %o aus; auch Kalium-
hypermanganicum in derselben Konzen¬
tration tut oft gute Dienste. Die Rück¬
bildung der Schleimhaut können wir durch
Pinselungen in der Anterior resp. durch
Instillationen in der Posterior mit 7* bis
2%igen Kupfersulfatlösungen unterstützen.
Bei tiefer greifenden Infiltraten und Drüsen-
erkrankungen jedoch muß instrumentell
behandelt, und zwar dilatiert werden; am
besten dilatiert man mit Metallsonden. Ich
empfehle besonders die mit Guyon scher
Krümmung, weil sie in ihrer Form am
meisten der Konfiguration der Urethra
ähneln und so am wenigsten reizen. Die
Sonden steigen um Vs mm an, die nach
Charriere kalibrierten um 7$ mm, dies ist
bei den Nummern zu berücksichtigen. Zum
Beispiel ist Guyon Nr. 40 = Charri&re
Nr. 20; bei engem Orificium ext. ist vor¬
her die Meatotomie zu machen. Bei sehr
deiben Infiltraten, die der Sondenerweite¬
rung nicht nachgeben, ist die Urethrotomia
interna mit dem Ko 11 mann sehen Urethro-
tom vorzunehmen und dann nach einigen
Tagen weiter zu bougieren. Ist bis Nr. 60
bougiert und ergibt die Endoskopie noch
Veränderungen, besonders im Bulbus, so
sind Spüldehnungen mit schwachen Argen¬
tumlösungen empfehlenswert; etwaige da¬
nach noch vorhandene Drüsenerkrankungen
sind durch Schlitzung mit dem Kollmann-
sehen Messer, galvanokaustisch oder elek¬
trolytisch im Endoskop zu behandeln. Enge
Strikturen dürfen nie mit Dehnern behan¬
delt werden.
Sehr oft bleibt nach Erkrankungen der
Posterior eine chronische Prostatitis zu¬
rück, die Prostata erscheint etwas ver¬
größert, das Massat enthält Leukozyten.
Weitere Symptome sind Prostatorrhoe,
meist bei der Defäkation, seltener am
Ende der Harnentleerung, und das große
Heer der sexualncurasthenischen Erschei¬
nungen. Die Therapie besteht in Spü¬
lungen, Massage und eventuell in einer
äußerst vorsichtigen instrumentellen Be¬
handlung (dicke Sonden, Winternitzsche
Kühlsonde usw.). Veränderungen am Colli-
culus seminalis, die uns jetzt das Gold-
schmidtsche Urethroskop zeigt, sind en¬
doskopisch mit Jodtinktur oder starken
Argentumlösungen zu behandeln. Die
Spermatozystitis chron. erfordert dieselbe
Behandlung wie die Prostatitis. Der All¬
gemeinbehandlung ist besondere Sorgfalt
zu widmen (Hydrotherapie).
Selbstverständlich müssen alle Eingriffe
mit peinlichster Sauberkeit ausgeführt wer¬
den, nach gehöriger Säuberung der Glans
und einer Ausspülung der Urethra mit
einem Desinfiziens. Denn die veränderte
Schleimhaut gibt einen sehr günstigen
Nährboden für die Bakterien, in unserem
Falle das Bact. coli und ihm ähnliche Bak¬
terien ab, die die Entzündung wieder an¬
fachen, eitrige Sekretion und Kompli¬
kationen wie die Gonorrhoe herbeiführen
können. Spülungen mit Hydrargyrum
oxycyanatum 1 : 5000—4000 beseitigen diese
Infektionen rasch, wenn sie früh erkannt
werden, wozu die Anwendung des Mikro¬
skops notwendig ist.
Während der Arzt im infektiösen Sta¬
dium der Gonorrhoe möglichst aggressiv
zu Leibe gehen muß, soll er im asep¬
tischen Stadium, gleich weit entfernt von
einem laisser aller, wie von einer allzu
großen Polypragmasie, als Erstes und Letztes
das nil nocere beherzigen.
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Mirz
Die Therapie der Gegenwart 1910.
129
Bücherbesprechungen.
Die Epilepsie im Kindesalter, mit be- j Absicht, sich recht gründlich über den Ge-
sonderer Berücksichtigung er- genstand zu unterrichten, hat, der lese das
zieherischer, unterrichtlicher und Buch. Und wem dann noch nicht Genüge
forensischer Fragen. Von Prof. Dr. geschehen ist, der findet im Literaturver-
H. Vogt. Berlin 1910. S. Karger. zeichnis von 34 Seiten Länge sicher das
Da der Verfasser auf eine jahrelange prak- gewünschte. Jeder Praktiker sollte das
tische Anstaltstätigkeit zurückblickt und da- Buch sich anschaffen, denn es wird ihm
neben das Hilfsschulmaterial der Stadt Frank- manchesmal einen gesuchten Rat geben,
furt a.M. sowie deren mustergültige soziale wenn ihm schwül zumut ist, wie er sich
Einrichtungen auf den hier interessierenden einem Gegenstand gegenüber verhalten
Gebieten genau studieren konnte, war es 1 soll, der seine eigenen Wege gewandert
ihm möglich, in der vorliegenden Mono- ist an Plätze, wo er nicht hingehört,
graphie eine umfassende Darstellung der Brechmittel sollen zur Entfernung der
Klinik, pathologischen Anatomie und sozialen Fremdkörper nur selten angewendet wer-
Bewertung der kindlichen Epilepsie zu den, desto häufiger Magenspülungen. Diese
geben. sind am Platz bei ätzenden Flüssigkeiten,
Von dem reichen Inhalte des Buches Fischgräten, Obstkernen, Glassplittern,
sei an dieser Stelle nur auf das Kapitel Gallensteinen im Magen, Abführmittel kön-
„ Prophylaxe, Erziehung und Unterricht, nen direkt gefährlich wirken; sie sind am
Schule und Anstalt, Soziale Fürsorge" Platz bei Ansammlung unverdaulicher Nah¬
kurz eingegangen. Der Verfasser schil- rungsmittel, meist im Zökum und Dick-
dert darin, wie sich der Arzt den Heiraten | darm, im Verein mit Einläufen. Die beste
Epileptischer gegenüber zu verhalten hat Methode, den Fremdkörper unschädlich zu
und wie die Entwicklung epileptischer | machen, ist die Einhüllung in verschiedene,
Kinder sorgfältig zu überwachen ist ; schwer verdauliche Substanzen, wie Kar-
(ruhige geistige und körperliche Entwick- j toffel, Reis, Gerste, Hirse, Brot, Hülsen-
lung). Die Frage des Schulunterrichts Epi- früchte, Mehlklöße, Sauerkraut. Einmal er-
leptischer wird erörtert und dabei beson- ! wiesen sich Kartoffel mit Baumwollfäden
ders das enge Zusammenarbeiten von Arzt | als gutes Mittel zur Einhüllung eines ver-
und Lehrer betont. Verfasser will Epilep- j schluckten Gebisses. Man sieht, verschluckte
tiker nicht generell von der Normalschule I Fremdkörper sind keine Sache für Schlem-
ausschließen, glaubt allerdings, daß nur ein | mer. Nach 3—4 Tagen darf man den Ein¬
kleiner Teil für dieselbe geeignet ist. Ein | hüllungsmitteln ein Abführmittel folgen
anderer Teil kann in den Hilfsschulen ; lassen und wird hiermit in den meisten
unterrichtet werden. Das Gros der Kran- j Fällen zum Ziel kommen. Verschluckte
ken, darauf kommt dieses Kapitel des Nadeln werden in mindestens l /s der Fälle
Buches hinaus, endet in Anstalten, und j per vias naturales entleert. Von 151 Fällen
darum ist die Frage der Anstaltsbehand- starben aber 15, meist infolge Perforation
lung die wichtigste. Verhältnismäßig weni- des Magendarmkanals. Beim Gallenstein-
gen von ihnen gelingt es, sich einen Beruf ileus ist das Resultat der konservativ Be-
zu schaffen (Landwirtschaft, Gärtnerei), und handelten etwas günstiger als das der Ope-
auch von diesen kommt im Laufe der Jahre rierten, was Mortalität betrifft, doch han-
noch ein beträchtlicher Teil in Anstalten, delt es sich bei den Operierten um schwe-
weil sie sich infolge ihrer Reizbarkeit und rere Fälle. Die Prognose bei dieser Er-
Neigung zu unsozialen Handlungen auf die krankung ist mit Vorsicht zu stellen. Die
Dauer in der Freiheit nicht halten können, interne Behandlung ist zu versuchen, doch
Hübner (Bonn). von vornherein eine Operation in betracht
A. Wolfler und V. Lieblein. Die Fremd- zu ziehen; Abführmittel sind unzweck¬
körper des Magendarmkanals des mäßig; sehr zu empfehlen sind hohe Ein-
Menschen. Deutsche Chirurgie, Liefe- laufe mit heißem oder kaltem Wasser oder
rung 46b. Stuttgart 1909, F. Enke. 402 Oel, sowie Magenausspülungen. Klink.
Seiten mit 10 Abbildungen. R. Birnbaum. Klinik der Mißbildungen
Die Fremdkörper des Verdauungstraktus und kongenitalen Erkrankungen
werden in den Lehrbüchern meist stief- des Fötus. Mit 43 Textabbildungen
mütterlich abgetan, aber mit Unrecht. Wenn und 1 Tafel. Berlin, Julius Springer,
man das vorliegende Buch durchstudiert, Preis geb. 13,60 M.
so Endet man, daß man auf diesem Gebiet Aus der reichhaltigen Sammlung der
recht viel dazu lernen kann. Wer diese Göttinger Frauenklinik hat Birnbaum ein
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UNIVERSITY 0F CALIFORNIA
130
März
Die Therapie der Gegenwart 1910.
Material zusammengetragen, welches ihn be¬
fugt erscheinen läßt, eine Klinik der Mi߬
bildungen und kongenitalen Erkrankungen
des Fötus als Monographie zu schreiben.
Wer sich selbst mal mit Mißbildungen be¬
schäftigt hat, der weiß, durch welche Un- I
menge von Arbeiten man sich hindurch- j
winden muß, die noch dazu in der weiten
Literatur zerstreut sind. Hier setzt nun
Birnbaums Werk ein, das eine schnelle
Orientierung, vor allem für den Praktiker, ;
bietet. Birnbaum ist in erster Linie Gy¬
näkologe und Geburtshelfer, und die ge¬
burtshilfliche Seite des Themas ist von
ihm in besonders ausgiebiger Weise be- 1
arbeitet worden. Das an und für sich j
trockene Gebiet der Mißbildungen ist da- |
durch, daß nicht nur die pathologisch-ana¬
tomische Seite, sondern auch die klinische
Bedeutung zur Beurteilung herangezogen
wurde, nicht nur interessanter, sondern
auch leichter verständlich gemacht worden.
Daß die rechtlichen Verhältnisse der Mi߬
bildungen von Birnbaum nicht über¬
gangen worden sind, ist wiederum ein be¬
sonderes Verdienst des Autors, aber ge¬
rade hier wäre vielleicht eine genauere Be¬
sprechung am Platze gewesen; sie hätte
zweifellos den Wert des Buches erhöht,
das dem Praktiker als Nachschlagewerk von
großem Nutzen sein wird, das aber auch
in der Bibliothek eines Geburtshelfers nicht
fehlen sollte. P. Meyer.
W. Scholtz. Pathologie und Therapie
der Gonorrhoe in Vorlesungen. Ein
Lehrbuch für Aerzte und Studierende.
Mit 2 Tafeln und 22 Abbildungen im Text. ;
Zweite erweiterte und umgearbeitete Auf- |
läge. Gustav Fischer in Jena, 1909.
Bereits beim ersten Erscheinen dieses
Werkes vor 6 Jahren habe ich dasselbe in !
dieser Zeitschrift als eine gute und für den !
praktischen Arzt zweckmäßige Darstellung
der Gonorrhoe empfehlen können. Die j
zweite Auflage ist in der Anlage nicht ;
wesentlich verändert. Dagegen sind alle
neueren Fortschritte kritisch verwertet und |
gesonderte Kapitel über die Gonorrhoe 1
des Weibes (ich finde den auch hier ge- |
brauchten Ausdruck weibliche Gonorrhoe
dem Sprachgefühl nicht entsprechend, Vir-
chow würde ihn sicher gerügt haben) und
die gonorrhoischen Metastasen hinzuge¬
treten. Das Buch ist die einzige als ge¬
sonderte Monographie erscheinende Dar¬
stellung der Gonorrhoe nach der Auffassung
der Ne iß ersehen Schule. Dabei sind aber
doch auch die von anderen Seiten emp¬
fohlenen Methoden der Behandlung, be¬
sonders der chronischen Gonorrhoe, in
völlig ausreichender und Zutreffender Weise
erwähnt und ihre Anwendungsweise selbst
bis in Details erörtert. Man kann dem Autor
beistimmen, wenn er in der Vorrede die
Erwartung ausspricht, „daß das Buch dem
Studierenden und Praktiker bei der Be¬
handlung der Gonorrhoe ein klarer und
übersichtlicher Führer sein dürfte*.
Buschke (Berlin).
P. Mulzer. Praktische Anleitung zur
Syphilisdiagnose auf biologischem
Wege. (Spirochätennachweis, Wasser-
m an n seheReaktion. Berlin 1910. Julius
Springer.
Ueber die Bedeutung und den Wert,
welche die neuesten Syphilisforschungs¬
ergebnisse für die Praxis haben, herr¬
schen nach meinen Erfahrungen unter
den Praktikern vielfach nicht ganz rich¬
tige Anschauungen. Gegenüber der einfach
klinischen Beobachtung und klinischen
Diagnose wird vom Spirochäten nach weis
und der Wassermannschen Reaktion zu
viel erwartet. Als ich die obige kleine
| Monographie in die Hände bekam, ging
! ich deshalb mit einem gewissen Vor-
| urteil an deren Lektüre, ich fürchtete, daß
durch eine für den Praktiker bestimmte
handliche Darstellung der Materie noch
mehr die gesunde klinische Richtung in
der Syphilisdiagnostik zu Schaden käme.
Aber ich wurde angenehm enttäuscht. Der
Autor begrenzt wesentlich im Sinne des
Referenten den praktischen Wirkungskreis
der modernen Methoden und führt dieselben
gegenüber der klinischen Untersuchung auf
das richtige Maß zurück. Unter dieser
Flagge ist das Erscheinen des Buches nur
zu begrüßen und es wird eine Lücke aus¬
füllen. Sind doch die einschlägigen Tat¬
sachen in der immensen Literatur so zer¬
streut, daß selbst der Spezialist sie kaum
beherrschen kann. Der Autor hat es ver¬
standen, auf kleinem Raum in geschickter,
übersichtlicher Form klar und leicht ver¬
ständlich und auch sachlich und in bezug
auf die Technik kritisch die Materie dar¬
zustellen. Für jeden, der sich mit diesen
Dingen speziell beschäftigt, aber auch für den
praktischen Arzt, in dessen Tätigkeit ja diese
Fragen häufig ein greifen, wird das Buch
ein gutes Orientierungs- und Nachschlage¬
werk sein. Die gute Ausstattung auch in
bezug auf Abbildungen trägt das ihrige
dazu bei, um die kleine Monographie emp¬
fehlenswert und zweckentprechend er¬
scheinen zu lassen. Buschke.
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UNIVERSiTY 0F CALIFORNIA
März
Die Therapie der Gegenwart 1910.
131
Referate.
Aus der Amsterdamer Klinik gibt i
von Assen einen Bericht Ober 100 ein¬
geklemmte Brfiche und beweist daran die
Richtigkeit der Forderung von Lanz, daß
die Taxisversuche heute nicht mehr an¬
gebracht sind. Es gibt Falle von Darm¬
inkarzerationen, wo man nicht die kleinsten
klinischen Symptome drohender Gangrän
sieht, während bei der Herniotomie eine
Verlegung der Zirkulation durch Throm¬
bose der Mesenterialgefäße, also drohende
Gangrän gefunden wird. Die einzig richtige
Therapie der eingeklemmten Hernie ist die
Herniotomie. Die verhältnismäßig häufigen
ernsten Folgen nach einer Taxis raten
immer mehr zur Operation statt Taxis,
auch in der Landpraxis. Jeder Taxis¬
versuch beeinflußt das Allgemeinbefinden
schlecht, allein schon wegen der Schmerz¬
haftigkeit. Die angeführten Fälle wurden
gleich nach ihrer Einlieferung operiert.
Kinder wurden erst operiert, wenn durch
Beckenhochlagerung während einiger
Stunden eine spontane Reposition nicht
erzielt wurde. In 6 Fällen bestand nicht
eine der gewöhnlich angeführten Kontra¬
indikationen gegen Taxis und die Operation
zeigte doch, daß die Taxis gefährlich ge¬
wesen wäre. In 19 Fällen war ein Bruch¬
band getragen worden, ein guter Beweis,
wie wenig ein Bruchband eine Einklemmung
verhütet. Die Mortalität betrug 2%, aber
ohne ursächlichen Zusammenhang mit der
Operation; dabei ist zu berücksichtigen,
daß vier Kranke unter 1 Jahr, achtzehn
60—70, siebzehn 70—80, drei über 80 Jahre
waren. 7 mal mußte drainiert werden, J
sonst war immer prima reunio. Das I
seltene Auftreten von Pneumonie ist wohl I
auf die ausgedehnte Verwendung der ;
Lokalanästhesie zurückzuführen. Die Taxis |
ist nur zu versuchen bei florider Lues und j
Infektion des Operationsfeldes, wenn keine i
spezielle Kontraindikation besteht; bei
kleinen Kindern ist beim Fehlen von be- I
unruhigenden Allgemeinerscheinungen eine !
Spontanreduktion durch Beckenhoch- |
lagerung vor der Operation zu versuchen.
Klink.
(Bruns B. 1909. Bd. 65, H. 2.)
Ist bei Fazialislähmung: die Neuro-
plastik erfolglos geblieben, so kommen
royoplastische Operationen in Betracht, die
den Zweck haben, die Gesichtsstatik zu
korrigieren. Jianu gibt für eine solche
eine neue Methode an, die in einem Falle
mit einem befriedigenden Erfolg aus-
geführt wurde. Nachdem ein schwach
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bogenförmiger Schnitt längs dem hinteren
Rand des Unterkiefers bis zur Mitte des¬
selben angelegt ist, wird die Haut nach oben
und vorn bis nahe an die Kommissur ab-
präpariert. Sodann wird vom Masseter
ein Bündel isoliert, mit dem Unterkiefer¬
periost abgelöst und nach oben geschoben
bis zur Mitte. Dabei ist zu beachten, daß
der Nervus massetericus nicht durch¬
gerissen wird. Es wird nun die Kommissur
vorgeschoben und an ihr das Muskelbündel
mit Katgutfeden befestigt. Eventuell kann
man das Muskelbündel spalten und beide
Bündel isoliert am Orbicularis sup. et
inf. annähen. Die Haut wird darüber voll¬
ständig geschlossen. Außer dieser Methode
läßt sich auch die von Gomocu an¬
gegebene Plastik verwenden. Hierbei wird
ein Muskellappen aus dem Sternokleido-
mastoideus gebildet, der nach Unterminie¬
rung der Haut an der Kommissur befestigt
wird. Die Nähte dürfen dabei, um eine
Infektion zu verhüten, die Mundschleimhaut
nicht durchbohren. H oh m ei er (Altona).
(Deutsche Ztschr. f. Chir. Bd. 102, H. 4—6.)
Sehr günstige Resultate bei einer größe¬
ren Reihe ankylosierender Gelenker-
krankungen erzielte P. Heeg er (Oeyn¬
hausen) mittels Fibrolysin. Die Injektionen
wurden nach vorheriger Erwärmung der
Ampulle auf 45° C in die Glutäalgegend
gemacht, und zwar täglich, im ganzen 10
bis 20 mal. Die Patienten gebrauchten da¬
bei die Badekur und wurden von der
zehnten Injektion an außerdem mit Massage
und mediko mechanischen Uebungen be¬
handelt. Irgendwelche unangenehmen Neben¬
erscheinungen kamen nicht zur Beobach¬
tung. Das Allgemeinbefinden wurde in
allen Fällen vorzüglich beeinflußt, wofür
He eg er allerdings besonders auch die
Bäderbehandlung in Betracht zieht. Die
Besserung der Gelenkprozesse aber, die in
keinem Falle ausblieb, wenn sie auch nicht
in allen gleich groß war, führt Heeger
vornehmlich auf das Fibrolysin zurück, dem
er eine große Zukunft bei der Behandlung
der chronischen Arthritiden voraussagt.
F. K.
(Münch, med. Wochschr. 1910, Nr. 5.)
Kausch gibt auf Grund seiner Beob
achtungen bemerkenswerte Ratschläge für
die Behandlung des Hydrozephalus mit
konsequenter Punktion. Er faßt seine Er¬
fahrungen in folgende Sätze zusammen:
1. Bei weit offenem Schädel soll die Ven¬
trikelpunktion energisch von den offenen
Stellen aus vorgenommen werden. 2. Stets
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UNIVERSUM 0F CALIFORNIA
132
Die Therapie der
ist der Druck am Anfang und Ende der
Punktion zu bestimmen. 3. Beim ersten
Male sind in schweren Fallen bis 100 ccm
abzulassen, der erhöhte Druck soll um
etwa 20 cm Wasser sinken, aber nicht
tiefer als auf + 5 cm; verträgt das Kind
dies gut, so soll der Druck beim nächsten
Male auf 0, später auf Minus gebracht
werden. Die einmalig abgelassenen Quanten
können schließlich mehrere Hundert Kubik¬
zentimeter, bis 300 ccm betragen. 4. Die
Punktion ist jedenfalls zu wiederholen, so¬
bald wieder ein höherer positiver Druck
vermutet wird; wenn erforderlich täglich,
sonst nach einigen Tagen, so lange bis der
Schädel normale Größe erreicht. 5. Bei
negativem Drucke, ferner bei infolge der
Entleerung abstehenden Schädelknochen
ist die Kompression anzuwenden. 6. Lum¬
bal punktiere man bei offenem Schädel
nur in leichten Fällen oder in schweren
später, wenn durch Ventrikelpunktionen er¬
hebliche Besserung erzielt wurde, und das
Ablassen großer Quanten nicht mehr in
Betracht kommt. 7. Je weiter der Schluß
des Schädels fortgeschritten ist, um so vor¬
sichtiger sei man, besonders mit dem Her¬
beiführen negativen Druckes; letzterer über¬
steige nicht die Fontanellenbreite (der ne¬
gative Druck übersteige in Zentimetern
Wasser nicht das Klaffen der Fontanelle,
das heißt ihren größten Durchmesser; also
bei einer Fontanellenbreite von z. B. 5 cm
übersteige er nicht 5 cm). 8. Bei ge¬
schlossenem Schädel ist sehr vorsichtig um¬
zugehen, negativer Druck völlig zu ver¬
meiden, auch jede stärkere Herabsetzung
des erhöhten Druckes in einer Sitzung;
man lasse häufiger und jedesmal weniger
ab. Zunächst ist die konsequente Lumbal¬
punktion zu versuchen. Erreicht sie nichts,
so ist auch hier die konsequente Ventrikel¬
punktion von kleinen Bohrlöchern aus vor¬
zunehmen, am besten in der Stirngegend.
9. Die komplizierten Operationsmethoden
sollen bei offenem wie geschlossenem
Schädel erst versucht werden, wenn die
konsequente und energische Punktion nicht
zum Ziele führt.
Eugen Jacobsohn (Charlottenburg).
(Mitt. a. d. Gr. 1910, Bd. 21, H. 2.)
In einer Studie über die Infüsion
physiologischer Salzlösungen unter¬
zieht A. Thieß die Bedingungen der Salz¬
aufnahme bezw. -abscheidung einer sorg¬
fältigen Kritik und kommt hierbei zu dem
Schlüsse, daß die subkutane Zuführung
größerer Salzmengen für den Organismus
keineswegs immer unbedenklich sei.
Er stützt sich hierbei auf die experi¬
Gegenwart 1910. März
mentell erhärtete Tatsache, daß nach In¬
fusion hypertonischer und öfters auch iso-
tonischer Salzlösungen trotz der anfäng¬
lichen Steigerung der Diurese eine Chlor¬
retention erfolgt. Erheblicher erscheint der
Einwand, daß durch das in größeren Men¬
gen zugeführte NaCl eine Ausscheidung
von Kalium und Kalzium verursacht werde.
Da diese beiden Elemente zum Aufbau des
Eiweißmoleküls notwendig sind, so wirkt
jede Kochsalzinfusion nach Thieß im Sinne
der Verarmung des Körpers an diesen
lebenswichtigen Bestandteilen. So kommt
Verfasser zu dem Schluß, daß reine Chlor¬
natriumlösungen unter Umständen ein
Körpergift sind. Er hält es für unbedingt
notwendig, der Infusionsflüssigkeit genügend
Kalzium und Kalium zuzusetzen, daß ein
etwaiges Defizit dieser Stoffe mit Sicher¬
heit gedeckt wird.
An der Hand zahlreicher Experimente
sucht Verfasser die Richtigkeit dieser For¬
derung zu erhärten. Sieht man von der
durch das Eingehen auf die verschiedensten
theoretischen Möglichkeiten übermäßig be¬
lasteten Beweisführung ab, so lassen sich
die Ergebnisse der Thieß sehen Ausfüh¬
rungen in folgende Sätze zusammenfassen.
Die Infusion größerer Kochsalzmengen
kann unter Umständen zu schweren Schä¬
digungen führen. Kontraindiziert ist sie
bei kleinen Kindern, bei Erkrankungen, die
mit starkem Salzverlust einhergehen, bei
Hungerzuständen, bei Kachexie, sowie bei
Erkrankungen, die von Veränderungen der
Nieren, des Herzens und der Gefäße be¬
gleitet sind. Zu vermeiden ist die Infusion
sodann bei allen Zuständen, die mit Chlor¬
retention oder vermehrter Ausscheidung
anderer Salze einhergehen, hauptsächlich
also im Fieber. Ferner ist sie bei Chol¬
ämie auszu schließen.
Davon metallischen Bestandteilen Kalium
und Kalzium zum Aufbau der Zelle unbe¬
dingt notwendig sind, muß die Infusions¬
flüssigkeit diese beiden Körper in Lösung
enthalten, damit eine Verdrängung dieser
Metalle aus ihren organischen Verbindungen
vorgebeugt werde.
Die Menge der Salze des Kalium und
Kalzium muß so groß gewählt werden, {daß
sie ungefähr ihrer Konzentration in den
tierischen Geweben entspricht. Dieses ist
bei einem Prozentgehalt von 0,6 NaCl,
0,02 CaCl 2 und 0,02 KCl der Fall.
Wenn es auch dankenswert ist, die Re-
sorptions- und Ausscheidungsverhältnisse
bei Kochsalzinfusionen, die ja auf dem
Boden der Praxis entstanden sind, einer
genauen Kritik zu unterziehen, so scheint
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UNIVERSiTY OF CALIFORNIA
März
Die Therapie der Gegenwart 1910. 133
Referenten die Art der Behandlung des
Themas, sowie die Aufstellung präziser In¬
dikationen und Kontraindikationen zu theo¬
retisch. Die tausendfältige erfolgreiche An¬
wendung der Kochsalzinfusionen bei Zu¬
ständen, bei denen nach Ansicht des Ver¬
fassers dieses Verfahren kontraindiziert
wäre, hat ergeben, daß die Infusion nicht
so schlimm ist als ihr Ruf und daß die
geäußerten Bedenken wenigstens teilweise
theoretischer Natur sind.
Leo Jacobsohn (Charlottenburg).
(Mitt. a d. Grenzgeb. d. Med. u. Chir., Bd. 21, Heft 2.)
L.Berliner (Reinickendorf-Berlin) emp¬
fiehlt die Behandlung des Keuchhustens
mit Chininsalbe auf dem Wege durch die
Nase. Von der Salbe, die je nach dem
Alter des Kindes 1—2,5 auf 10—15 g Adip.
suill. verschrieben wird, läßt er mit einem
Glasstäbchen 3—4mal täglich eine etwa
bohnengroße Portion in jedes Nasenloch
einfQhren; danach soll das Kind, damit die
Salbe nach hinten fließt, auf dem RQcken
liegen. Bei dieser Methode beobachtete
Berliner in einigen Fällen schön nach
3—4 Tagen eine wesentliche Besserung,
meist trat der Erfolg einer fortschreitenden
Abnahme der Zahl und Intensität der An
fälle erst nach zirka acht Tagen deutlich
in Erscheinung. Die Wirksamkeit der Me¬
thode ist nach Berliners Erfahrungen um
so deutlicher, je jünger die Kinder sind.
Universelle Krämpfe im Gefolge der Stick¬
hustenanfälle bei Kindern in den ersten
beiden Lebensjahren pflegten wegzubleiben,
sobald die Salbenbehandlung eingeleitet war.
Felix Klemperer.
(llünch. mcd. Wochschr. 1910, Nr. 7.)
Auf die Gefahren der Narkosen bei
künstlich verkleinertem Kreislauf
macht Graefenberg aufmerksam. Nach
dem Vorschläge Klapps (vergl. diese
Zeitschrift 1909, August) wurden in der
Kieler Universitäts-Frauenklinik eine Zeit¬
lang Narkosen bei gleichzeitiger Abschnü¬
rung der Gliedmaßen ausgeführt. Dabei
wurde eine auffällige Häufung von post¬
operativen Thrombosen festgestellt. In
ca. 1/2 Jahr kamen bei 75 Laparotomien
6 Thrombosen vor. Diese Zahl mußte
überraschen, weil nach anderen Erfahrungen
ebenso wie an den in der Kieler Klinik
gemachten ein so hoher Prozentsatz
nicht beobachtet worden war. Die be¬
obachteten Erscheinungen haben Veran¬
lassung gegeben, auf die Abschnürung der
unteren Extremitäten nach der Vorschrift
Klapps völlig zu verzichten.
Eugen Jacobsohn (Charlottenburg)
(Deutsche med. Wschr. 1910, Nr. 5.)
Dem „Nil nocere“ in der Neurologie
widmet Oppenheim einen kurzen inhalt¬
reichen Artikel, der weit über das von
diesem Autor vertretene Spezialgebiet hin¬
aus von Bedeutung ist. Aus den Ausfüh¬
rungen des Berliner Meisters spricht die
ernste Mahnung, in den therapeutischen
Bestrebungen nicht über die durch das Nil
nocere gezogenen Grenzen hinauszugehen.
Gestützt auf seine reichen Erfahrungen
zeigt Oppenheim, wie mit der Einführung
neuer Behandlungsmethoden die Verant¬
wortlichkeit des Arztes sich nicht unbe¬
trächtlich gesteigert hat.
Namentlich gilt dies für die Neurochi¬
rurgie. Wenn auch nicht zu verkennen
ist, daß durch das siegreiche Vordringen
der Chirurgie auf ein ihr bis vor kurzem
verschlossenes Gebiet eine Reihe von
Kranken dem sicheren Tode entrissen
werden, so darf man sich andererseits nicht
darüber täuschen, daß hier auch eine An¬
zahl von Todesfällen sowie schweren
Schädigungen der Gesundheit auf das
Konto einer zu weiten Indikationsstellung
zu setzen sind.
Die von chirurgischer Seite geäußerte
Meinung, daß eine Probeöffnung des Schä¬
dels zu diagnostischen Zwecken in gleicher
Weise erlaubt sei wie eine Probelaparo¬
tomie, wird von Oppenheim scharf ab¬
gelehnt mit der Begründung, daß die Ge¬
fahren einer Trepanation ungleich größer
seien als die einer Leibesöffnung. „Die
Funktion der Sprache, des Sehens und
Denkens steckt im Gehirn und nicht im
Abdomen. Und das bedingt den funda¬
mentalen Unterschied." Im Anschluß an
diese Erörterung zitiert Oppenheim einen
Fall seiner Praxis, wo eine dekompressive
Trepanation sich als notwendig heraus¬
stellte. Der Operateur hielt sich nicht an
die von Oppenheim vorgeschlagene Stelle
des rechten Schläfenlappens, als des für
die Hirnfunktion irrelevantesten Teiles, und
trepanierte über der linken Stirnschläfen¬
gegend. Die Folge war eine totale Aphasie,
durch welche die bis dahin intelligente und
ausdrucksfähige Patientin bis zu ihrem ein
Jahr später erfolgenden Tode von der
sprachlichen Verständigung mit der Außen¬
welt abgeschnitten wurde.
Gegen den Grundsatz des Nil nocere
wird ferner dadurch gefehlt, daß Eingriffe
als harmlos hingestellt werden, die recht
folgenschwer sein können. Hiermit nimmt
Oppenheim Stellung gegenüber der Hirn¬
punktion und verlangt, daß die Methode auf
die Fälle beschränkt bleibe, die sonst der
Diagnose nicht zugänglich sind, voraus-
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134 Die Therapie der Gegenwart 1910. März
gesetzt, daß überhaupt eine exakte Diag¬
nosenstellung für das Leben des Patienten
von Bedeutung ist. Auch die Lumbal¬
punktion hat sich, seitdem man eine erhöhte
Aufmerksamkeit den Gefahren dieser Me¬
thode zugewandt hat, als ein durchaus
nicht immer harmloser Eingriff erwiesen.
Dieses wird durch vier eigene Erfahrungen
belegt. Insbesondere warnt Oppenheim ;
vor Anwendung der Punktion bei Polio¬
myelitis und Rückenmarkstumor.
Den Schluß der Ausführungen bildet
eine Kritik der modernen Arsenpräparate,
deren Gebrauch wiederholt zu schweren
Schädigungen der Gesundheit, insbesondere
zu Erblindung geführt hat. Den Bestre¬
bungen der Chemotherapie, möglichst ak¬
tive Arsenverbindungen herzustellen, ver¬
danken wir das Atoxyl und das neuerdings
von Ehrlich empfohlene Arsazetin. Die
mehrfach bekanntgegebenen Fälle von
Atoxylamaurosen haben dann auch zur
Einschränkung bezw. vorsichtigeren Dosie¬
rung dieses Präparats geführt. Das Ars¬
azetin, das im Rufe einer weniger giftigen
Arsenverbindung steht, ist, wie neuere Er¬
fahrungen lehren, ein keineswegs indiffe¬
renter Körper. Nachdem bei den anfäng¬
lichen Dosen von 0,5—0,8 (Einzeldosis)
einige Male Erblindung eingetreten war,
ist man in der Dosierung mehr und mehr
herabgegangen. Trotzdem hat Oppen¬
heim bei Einzeldosen von 0,1 und einer
Gesamtmenge von 1,8 Arsazetin verteilt
auf einen Zeitraum von sechs Wochen eine
erhebliche Ambliopie nicht vermeiden kön¬
nen. Auf Grund dieser Erfahrung warnt
Oppenheim vor der Anwendung der
neuen Arsenpräparate nachdrücklichst.
Einen ablehnenden Standpunkt nimmt
ebenfalls Hannes den neuen Arsenpräpa¬
raten gegenüber ein. In einer Mitteilung
über die Einwirkung des Ars&zetins auf
den Sehnerven erwähnt er den Fall
Iversens, bei dem allerdings nach großen
Arsazetinmengen Erblindung sich einstellte.
Gleichzeitig stützt sich Verfasser bei
der Verwerfung der genannten Arsenikalien
auf eine eigene Beobachtung. Es handelte
sich um einen 66jährigen Kranken, bei dem
wegen schwerer sekundärer Anämie eine
vorsichtige Arsazetin kur eingeleitet wurde.
Nach 8 Injektionen von 0,1 Arsazetin die im
Laufe von 2 Wochen gegeben wurden, zeigten
sich Sehstörungen, die nach 2 Monaten in
komplette Optikusatrophie ausgingen. Auch
hier wurde wie im Falle Oppenheims von
größeren Dosen abgesehen.
Auf Grund dieser Erfahrung kommt
Verfasser unter kritischer Sichtung der
| bisherigen Literatur, die sicher nur einen
j Teil der eingetretenen Arsenschädigungen
! enthält, zu folgenden Schlußsätzen:
Die neuen Arsenderivate sind vorläufig
| noch nicht geeignet, die frühere Form der
Arsenbehandlung zu verdrängen. Der in
kleineren Beobachtungsreihen erreichte
Nutzen steht in keinem Verhältnis zu den
bisher bekanntgegebenen schweren Schädi¬
gungen, welche diesen Medikamenten zu¬
zuschreiben sind. Besonders empfiehlt es
sich den praktischen Aerzten, gegenüber
diesen Mitteln weitgehende Zurückhaltung
zu beobachten.
Leo Jacobsohn (Charlottenburg).
(Berl. klin. Wochschr. 1910, Nr. 5. — Deutsche
med. Wschr. 1910, Nr. 6.)
Ueber den gegenwärtigen Stand der
Psychotherapie bringt L. Löwenfeld
eine umiassende kritische Uebersicht.
Trotz der Entwicklung, welche die
Psychotherapie in den letzten Dezennien
erfahren hat, ist dieser Zweig der Heil¬
kunde noch nicht genügend anerkannt; es
liegt das nicht in letzter Linie an den
fundamentalen Meinungsverschiedenheiten,
die sich auf diesem Gebiet — wie auf
keinem andern — geltend machen. Selbst
unter Neurologen und Psychiatern gehen
die Ansichten über den Wert der einzelnen
psychotherapeutischen Methoden derart
auseinander, daß die einen als ungemein
wichtige Errungenschaft betrachten, was
andere als vollständigen Unsinn belächeln.
Man kann die p ychischen Behandlungs¬
methoden in zwei Gruppen sondern, solche,
deren Anwendung besondere Studien und
praktische Uebung verlangen, und solche,
bei denen diese nicht erforderlich sind.
Zur ersten Gruppe gehört die hypnotische
Behandlung und die psychoanalytische
Methode nach Freud; zur letzten alle
übrigen Verfahren. Von diesen erfordern
jedoch selbst die einfachsten, wie die Auf¬
klärung des Kranken und der tröstende
Zuspruch Erfahrung und psychologischen
Takt. Der Erfolg hängt hier wesentlich
von dem Auftreten und der Persönlichkeit
des Arztes ab. Die scheinbar einfache
suggestive Behandlung im Wachzustand
kann außerordentlich schwierig sein. Die
eingehenden Vorschriften Ziehens, der
die Hervorrufurg der Autoritätsvorstellung
hierbei als erste Aufgabe des Arztes be¬
trachtet, sind den Anforderungen der Praxis
gegenüber völlig unzulänglich. Die „Tech¬
nik“ Ziehens, welche Löwenfeld aus¬
führlich bespricht, ist als zu schematisch
und zu primitiv zu verwerfen. Bei der
Suggestivbehandlung muß der Arzt unbe-
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März Die Therapie der
dingt in hohem Maße individualisieren. —
Wahrend nun die einfachen psychothera¬
peutischen Methoden, Aufklärung, Ueber-
redung, Willenstherapie, Ablenkung, Arbeit,
Ruhe, verbale und larvierte Wachsuggestion
usw. zwar verschieden bewertet, im allge¬
meinen jedoch anerkannt werden, bilden
die Hypnotherapie und die Psychoanalyse,
welche weit höhere Anforderungen an das
Können und die Qualitäten des Arztes
stellen, den Gegenstand der widersprechend¬
sten Meinungen. Wenn diese beiden Me¬
thoden von manchen Neurologen ohne
weiteres verworfen werden, so liegt das
fast immer an Voreingenommenheit oder
mangelnder Sachkenntnis. Manche Autoren
gelangen auch dadurch zu einem abspre¬
chenden Urteil, daß sie, bestimmt durch
gute praktische Erfolge, dieses oder jenes
Verfahren einseitig bevorzugen und in den
anderen nicht von ihnen kultivierten nur
die Schattenseiten erblicken. Während
noch hervorragende Kliniker, wie Bene¬
dikt und Ri eg er, die Hypnotherapie als
wertlose oder gefährliche Spielerei oder als
„Altweiberkur“ hingestellt haben, beginnt
in der neuesten Zeit eine sachgemäßere
Beurteilung sich anzu bahnen. Immerhin
werden auch jetzt noch die Gefahren der
Hypnose bei weitem Qberschätzt. Bei rich¬
tiger Anwendung dieses Heilverfahrens
sind Gefahren Oberhaupt nicht zu be¬
fürchten.
Auch von einigen hervorragenden
Psychotherapeuten wird von der Anwen¬
dung der Hypnotherapie abgesehen; so
von Freud und Dubois. Freud erkennt
die Erfolge der Hypnosebehandlung voll
kommen an, beschränkt sich jedoch auf
die von ihm und Breuer geschaffene
„analytische“ oder „kathartische“ Methode.
Dubois, welcher das Hauptmoment in der
Genese der funktionellen und psychopathi¬
schen Störungen in der „primären Fühls-
lage“ erblickt, glaubt, daß diese durch er¬
zieherische Einflüsse umzugestalten ist. Er
verwirft daher die Erweckung der Autori¬
tätsvorstellung, die Suggestion und die
Psychoanalyse als Mittel der Beeinflussung
und erkennt als einziges Verfahren, die
Dialektik, d. h. den vernünftigen Zuspruch
an. Die Ausstellungen, welche Dubois
gegen die Hypnotherapie geltend macht,
werden eingehend besprochen und wider¬
legt. Löwenfeld betont, daß die Beein¬
flussung in der Hypnose sich prinzipiell
durchaus nicht von den anderen psycho
therapeutischen Methoden unterscheidet
und mindestens so wirksam wie die „Per¬
suasion“ die Fühlslage beeinflußt; nament-
Gegenwart 1910. 135
lieh, wenn man — wie dies neuerdings
nach dem Vorbild von Großmann fast
allgemein geschieht — die Suggestionen
im Schlaf- sowohl wie Wachzustand durch
entsprechende Motivierungen stützt. Die
überzeugende Dialektik allein, auf die Du¬
bois die ganze Psychotherapie reduzieren
will, genügt auf keinen Fall. Vorstellungen
und Impulsen gegenüber, die unter dem
Bild des Zwangscharakters auftreten, kann
man durch Ueberredung und Aufklärung
nur temporäre Erfolge erzielen. Die Ein¬
sicht in das Krankhafte und Absurde ihrer
Vorstellungen hindert die Kranken nicht,
immer wieder darauf zurückzukommen, wie
man dies z. B. typisch bei der Zweifel- und
Grübelsucht beobachtet. Während nun
Zwangsneurosen — ein Gebiet, auf dem
Löwenfeld besondere Erfahrungen ge¬
sammelt hat, — durch Hypnose in manchen
Fällen zweifellos geheilt werden können,
sind Heilungen mittels des Dubois sehen
Verfahrens sicher nicht zu erreichen. Bei
Störungen anderer Art bestreitet Löwen¬
feld die von Dubois erzielten Erfolge
nicht, glaubt jedoch, daß sie nicht seiner
Dialektik als solcher zuzuschreiben sind,
sondern, daß sie durch die sehr wirksamen
Suggestionen, welche in den geschickt
formulierten Aufklärungen Dubois* ent¬
halten sind, erklärt werden müssen. —
Sicherer als von der Hypnotherapie ist bei
Zwangsneurosen eine radikale Heilung von
der Freudschen Methode zu erwarten,
welche sich gegen die im „Unterbewußten“
ruhenden Wurzeln des Leidens richtet.
Obschon eine große Reihe von Unter¬
suchungen über die psychoanalytische Me¬
thode vorliegt, stehen sich die Ansichten
über den Wert dieses Verfahrens noch
sehr schroff* gegenüber. Wenn Oppen¬
heim es als eine moderne Form des
Hexenwahns bekämpft, so geht er ent¬
schieden zu weit. Diese geistvolle Methode
verlangt eine große Vertiefung, ohne die
eine vorurteilsfreie Prüfung nicht möglich
ist. Die Lehre Freuds enthält zwei funda¬
mentale Theorien; die erste, die Theorie
von dem infantilen sexuellen Trauma als
Ursache der Psychoneurose, die zweite,
umfassendere, die Lehre von dem „einge¬
klemmten Affekt“, der „Unbewußtheil“ ge¬
wisser seelischer Vorgänge und der Beseiti¬
gung der daraus resultierenden Krank¬
heitserscheinungen durch die Ueberführung
der unbewußten Elemente in das Bewußt¬
sein. Wenn Freud wohl auch die Bedeu¬
tung der infantilen Sexualität zu sehr ver¬
allgemeinert und überschätzt, so darf man
darum doch nicht — wie dies in Fach-
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Gck gle
Original frnm
UNIVERSiTY OF CALIFORNIA
136 Die Therapie der Gegenwart 1910. Mäiz
kreisen fast allgemein geschieht — die
Grundtheorie seines Systems verwerfen.
Am meisten verspricht sich Löwenfeld
von der Verbindung der Psychoanalyse
mit der Hypnose, für die besonders Muth-
mann eingetreten ist. Denn es unterliegt
keinem Zweifel, daß in der Hypnose die
Reproduzierbarkeit von Kindheitserinne¬
rungen in vielen Fällen — unabhängig von
der Schlaftiefe — gesteigert ist.
Die Domäne der Psychotherapie bilden
nach Löwen fei d vor allem die Neurosen
und Psychoneurosen. Ihre sachgemäße
Behandlung erfordert, daß man den ganzen
Apparat der psychotherapeutischen Metho¬
den beherrscht, deren jede ihre Besonder¬
heit in der Wirkung hat.
Der Nutzen der unzähligen modernen
physikalisch-diätetischen Mittel und phar¬
mazeutischen Präparate, der teils physio¬
logischer, teils suggestiver Natur ist, ist
nicht zu leugnen, darf jedoch nicht über¬
schätzt werden.
Löwenfeld, der auf Grund seiner her¬
vorragenden und vielseitigen Arbeiten auf
dem Gebiet des Hypnotismus, der Lehre
von den Neurosen usw. als ein Mitbegrün¬
der der modernen Psychotherapie genannt
werden muß, ist durch seine besonnene
und objektive Art wohl besonders berufen,
uns eine kritische Uebersicht über den
Stand dieser schwierigen Fragen zu geben
Gerade gegenüber den zahlreichen Anfein¬
dungen, welche die Hypnotherapie in ärzt¬
lichen Kreisen vielfach ohne Sachkenntnis
erfährt, ist das kritische Expose Löwen¬
felds — auch wenn es nichts eigentlich
neues bringt — als eine bedeutungsvolle
Arbeit zu begrüßen.
B. Hailauer (Charlottenburg).
(MQnch. med. Wochschr. 1910, Nr. 3 u. 4.)
In seiner Arbeit „Zur Wahl der Ope¬
rationsmethode bei der Behandlung der
Nephrolithiasis“ berichtet M a k k a s über die
in der Garreschen Klinik ausgefühlten
Pyelotomien. Seitdem es durch das
Routgenvertahren ermöglicht ist, nicht nur
die Zahl der Steine, sondern auch ihren
Sitz genau zu bestimmen, scheint diese
Operationsmethode wieder mehr Anhänger
zu gewinnen. Selbst große Steine lassen
sich durch das eröffnete Nierenbecken ent¬
fernen; reicht die Oeffnung im Nieren¬
becken nicht aus, so kann der Schnitt in
das Nierenparenchym hinein verlängert
werden; auf diese Weise wird nur ein
kleiner Teil des Parenchyms vom Schnitt
getroffen. Das Zurücklassen von Kon¬
krementen läßt sich am besten dadurch ver¬
hüten, daß man den Schnitt im Nieren¬
becken nicht zu klein anlegt und mit dem
durch die Schnittöffnung eingeführtea
Finger die Nierenkelche abtastet. Bei hoch¬
sitzenden Uretersteinen empfiehlt es sich,
den Stein in das Nierenbecken zurück¬
zuschieben und ihn dann durch Pyelotomie
zu entfernen. Handelt es sich um sehr
große, stark verzweigte Korallensteine oder
ist durch das Röntgenbild nachgewiesen,
daß der Stein tief im Nierenparenchym
sitzt, so wird die Nephrotomie in An¬
wendung kommen. Dieser Operations¬
methode wird man auch ferner den Vor¬
zug geben bei schwerer infektiöser Pyelitis,
bei pyonephrotisch veränderten Nieren oder
bei in der Niere fortschreitender Ent¬
zündung; auch in den Fällen, wo eine
Freilegung des Nierenbeckens wegen skle-
rosierender Prozesse in dem das Nieren¬
becken umgebenden Fettgewebe unmöglich
ist. Die Nachteile der Nephrotomie gegen¬
über der Pyelotomie sind bekannt, es sind
dies einmal die nach Nierenschnitten auf¬
tretenden nekrotischen Vorgänge im Paren¬
chym, ferner aber die gefährlichen, oft
neue Eingriffe erfordernden Nachblutungen.
Auch bei Unmöglichkeit der Naht des
Nierenbeckens ist das Zurückbleiben einer
Fistel, wenn keine Abflußhindernisse vor¬
liegen, nach den bisherigen Erfahrungen
nicht zu befürchten; wenn möglich, soll
das eröffnete Nierenbecken durch dreifache
Nahtreihe geschlossen werden.
Hohmeier (Altona).
(Deutsche Ztschr. f. Chir., Bd. 103, H. 3—6.)
Ueber intravenöse und intramusku¬
läre Anwendung hoher Serumdosen bei
der Behandlung der Diphtherie berichtet
Berlin. Es wurden bei 120 Kranken hohe
Serumdosen, und zwar 4000 AE bis
16000 AE intravenös oder intramuskulär
in die Glutäen eingespritzt. Der Gesamt¬
eindruck von der Wirkung dieser Therapie
war ein durchaus günstiger, besonders im
Vergleich mit den Resultaten früherer
Zeiten (es handelte sich um das Augusta-
Hospital in Köln). In 62 Fällen war eine
ganz auffällige Einwirkung auf .das Fieber
zu konstatieren: bei 34 Kranken erfolgte
bereits am ersten Tage nach der Injektion
ein meist ganz steiler Abfall der Tempe¬
ratursteigerung. In 28 Fällen sank die
Temperatur bis zum zweiten Tage Staffel-
förmig zur Norm herab. Mit dem Abfall
des Fiebers ging fast immer ein Absinken
der Pulsfrequenz einher; auch das Allge¬
meinbefinden besserte sich ganz merklich.
— Berlin faßt seine Erfahrungen folgen¬
dermaßen zusammen; 1. Der günstige Ein-
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Original from
UNIVERSiTY 0F CALIFORNIA
März
Die Therapie der Gegenwart 1910.
37
fluß hoher Serumdosen bis zu 16000 AE
bei der Behandlung der Diphtherie ist un¬
verkennbar. 2. Intravenöse oder intra¬
muskuläre Injektionen sind der subkutanen
Anwendung vorzuziehen. 3. Die großen
Serummengen, auch mit Karbolzusatz, sind
nach der bisherigen Erfahrung unschädlich.
Eugen Jacobsohn (Charlottenburg).
(Deutsche med. Wschr. 1910, Nr. 5.)
Auf die tonsill&re Behandlung der
rheumatlsehen Erkrankungen, welche
1904 von Gürich angeregt wurde, lenkt
P. Schichhold in einem in der Leip¬
ziger Medizinischen Gesellschaft gehaltenen
Vortrage erneut die Aufmerksamkeit. Bei
rheumatischen Erkrankungen, ganz be¬
sonders bei häufig rezidivierenden,
soll man an eine Eiteransammlung in
den Mandeln denken und die Behand¬
lung der Gelenkerkrankung von den Ton¬
sillen aus vornehmen. Die bloße Inspektion
der Mundhöhle mit Hülfe des Spatels ge¬
nügt in solchem Falle nicht. Es ist unbe¬
dingt nötig, durch Hinwegziehen des vor¬
deren Gaumenbogens mit einem geeigneten
Häkchen die ganze Vorderfläche der Man¬
del dem Blick zugänglich zu machen, be¬
sonders auch die Mandelspitze, den oberen
Pol der Mandel, der sich infolge des Zu¬
sammentreffens der beiden Gaumenbögen
in der Fossa supratonsillaris am meisten
dem Gesicht entzieht und in dem sich in
sehr vielen Fällen die Hauptherde finden.
Schon bei dem leichten Druck, den die
Mandel durch das Abziehen des Gaumen¬
bogens erfährt, fließt oft Eiter in mehr
oder weniger großen Mengen aus den
Lakunen heraus. Unter 70 Fällen, die
Schichhold nach Gürichs Methode ton-
sillar behandelte, fand er in fast allen Eiter
in sichtbaren, zum Teil sogar in meßbaren
Mengen (1—2 ccm); und dabei gaben viele
der Kranken an, daß sie nie an Mandel¬
entzündung gelitten hätten, manchen waren
sogar schon vor Jahren die Mandeln her¬
ausgeschnitten. Zur Feststellung, ob in den
Mandelgruben sich Eiter befindet, wird am
besten die von Gürich angegebene sichel¬
förmig gebogene Hohlsonde in die Lakunen
eingeführt; bei Vorhandensein von Eiter
füllt sich die Rinne mit diesem. Es ist
hierbei zu beachten, daß meist die Gruben
der unteren Hälfte der Mandel sich nach
unten, die der oberen nach oben hin er¬
strecken. Neben den Mandeln rät Schich¬
hold auch die Zähne und die Nebenhöhlen
der Nase zu beachten. Er selbst sah in
einigen Fällen, in denen nach beendeter
tonsillärer Behandlung die rheumatischen
Beschwerden nicht ganz wichen, nach Ent-
Digitized by Google
fernung bezw. Behandlung der erkrankten
Zähne die Heilung eintreten, und Gürich
berichtet über einen Fall, der nach erfolg¬
loser tonsillärer Behandlung erst durch
Beseitigung eines Empyems der Ober¬
kieferhöhle geheilt wurde. Auch in der
Luschkaschen Drüse (adenoide Wuche¬
rungen) oder anderwärts sitzende Eiter¬
herde können in Betracht kommen.
Die tonsillare Behandlung beginnt
mit der Spaltung der aufgesuchten Mandel¬
gruben. Schichhold empfiehlt, dabei die
ganze Mandel durch möglichst frontale
Schnitte in einzelne Scheiben zu zerlegen
und diese dann mittels der Hartmann-
schen Konchotome oder auch anderer
Modelle abzu tragen. Tonsillen quetscher
zur Entleerung der Lakunen sind gänzlich
unzulänglich; auch die Aussaugung nach
Bi er scher Methode reicht nicht aus. Die
Spaltung kann mit dem Schieihäkchen vor¬
genommen werden, besser bedient man
sich eines Mandelmessers; das Gürichsche
Messer ist besonders empfehlenswert. Die
Spaltung der Tonsillen allein hält Schich¬
hold nicht für ausreichend, einmal, weil
trotz sorgfältiger Durchsuchung der Man¬
deln gewöhnlich eine Anzahl Gruben un-
entdeckt und ungespalten bleibt, zweitens,
weil zu leicht die gespaltenen Teile wieder
verkleben und verwachsen und so neue
Taschen bilden. Deshalb schließt Schich¬
hold stets an die Spaltung der Lakunen
die radikale Entfernung der Tonsillen an.
Dabei ist es dann natürlich nicht erforder¬
lich, wie es Gürich vorschlug, alle sicht¬
baren Lakunen aufzusuchen und zu spalten;
vielmehr spaltet und entleert Schichhold
nur diejenigen Lakunen, die nachweislich
Eiter enthalten, um vorerst einmal die
wesentlichen infektiösen Depots zu ent¬
fernen, und dann schließt er die Abtragung
der Tonsille an. Was die Methode der
Abtragung anlangt, so verwirft Schich¬
hold die Tonsillotomie, ob sie mit der
Guillotine oder mit Hakenzange und Messer
ausgeführt wird, als unzulänglich, weil mit
ihr nur der vorderste Teil, das Dach der
Mandel entfernt wird und die Hauptmasse
stehen bleibt. Er verlangt die möglichst
ausgiebige Abtragung mit der Doppel-
kurette, mit dem Konchotom oder ähnlich
wirkenden Instrumenten, die ein Eindringen
zwischen die Gauraenbögen gestatten und
eine Zerstückelung der Mandel bewirken.
Die Abtragung wird in einer Sitzung so
weit ausgeführt, als es die eintretende
Blutung gestattet; sie wird dann in weiteren
Sitzungen, am besten mit Pausen von je
einer Woche, fortgesetzt, bis von der
18
Original frnm
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
138
März
Die Therapie der Gegenwart 1910.
ganzen Mandel nur die Basalplatte übrig
ist. Die Dauer der Tonsillarbehandlung
beträgt im allgemeinen 3—5 Sitzungen.
Der Schmerz des Eingriffes ist nach
Schichholds Erfahrungen im allgemeinen
nicht groß; Kokain hat keinen Zweck, da
es wenig oder gar nichts erreicht. Wegen
des Brechreizes gibt Schichhold nach
der Angabe von Gürich sehr empfindlichen
Personen mehrere Tage lang Brom. Die
Blutung ist im allgemeinen nicht so schlimm;
wird sie durch ihre Dauer bedrohlich, so
ist, falls die üblichen lokalen Styptika nicht
genügen, das Kompressorium von Miku-
licz-Stoerck anzuwenden. Als weitere
Behandlung empfiehlt Schichhold Hals¬
umschlag, eventuell Eisschlauch, Gurgeln
mit Wasserstoffsuperoxyd, wo Gurgelungen
nicht möglich sind, Formamint.
Der Erfolg der Behandlung äußert
sich nach Schichholds Erfahrung meist
unmittelbar nach dem ersten Eingriff in
einem Nachlass der Schmerzen und der
Temperatur; am zweiten oder dritten Tage
aber tritt dann eine Art Rückfall auf —
Gürich bezeichnet dies als Reaktion— nach
dessen Ablauf sich eine fortschreitende und
andauernde Besserung aller Symptome ein¬
stellt. Die späteren Operationen pflegen
keine oder nur geringe Temperaturer¬
höhungen hervorzurufen.
Schichhold empfiehlt diese Behand¬
lungsmethode nicht nur für rezidivierende
Gelenkrheumatismen, bei welchen sie seiner
Ansicht nach kategorisch gefordert werden
muß, sondern für jeden Fall von Gelenk¬
rheumatismus überhaupt, auch im ersten
Anfall. Alle von ihm operierten Fälle
blieben von Rezidiven verschont. Dabei
ließ Schichhold die Patienten frühzeitig
aufstehen, zum Teil schon am sechsten
Tage. Durch langes Liegen wird nach
seiner Ansicht die Heilung nicht befördert;
vielmehr rät er, nebenbei die befallenen
Gelenke zu massieren und passiv zu be¬
wegen. Von den üblichen Watteeinpackun¬
gen nahm er Abstand, meist auch von der
Darreichung von Salizylpräparaten. Die
Einwirkung der tonsillaren Behandlung auf
die Komplikationen von Seiten des Herzens
hält Schichhold für günstig; frischere
Endokarditiden und Myokarditiden heilen
völlig ab; ältere verruköse Auflagerungen
bleiben natürlich unbeeinflußt. Auch eine
komplizierende Pleuritis sah Schichhold
in einem Falle nach der Tonsillarbehand¬
lung sehr schnell zurückgehen.
In einer Diskussionsbemerkung zu
Schichholds Vortrag begrüßt H. Cursch-
mann (Leipzig) den Hinweis auf die Be-
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Ziehungen der chronischen „fossu-
lären“ Angina tonsillaris zur Polyarthri¬
tis als einen wichtigen diagnostischen Fort¬
schritt und bezeichnet die Unterlassung
der Mandeluntersuchung in der von Gü¬
rich und Schichhold angegebenen Weise
als einen Kunstfehler. Er selbst hat eine
ganze Reihe von Fällen gesehen, bei denen
der tonsilläre Ursprung der Polyarthritis
sich nicht wegleugnen ließ. Daß aber nicht
nur die häufig rezidivierenden Fälle mit
komplizierender Endokarditis tonsillären
Ursprungs sind, sondern auch die gewöhn¬
liche Polyarthritis rheumatica öfters oder,
wie Gürich und Schichhold meinen, fast
stets mit Tonsillitiden in ätiologischem Zu¬
sammenhang steht und tonsiliär zu be¬
handeln ist, erscheint zum mindesten sehr
zweifelhaft; Curschmann hält es fdr wahr¬
scheinlich, daß diese Auffassung zu weit
geht. Dagegen erscheinen ihm die Be¬
ziehungen der eiterigen Erkrankung der
Tonsillen zur Entstehung septischer Pro¬
zesse als sehr wichtig — Curschmann
glaubt, daß die Verlegenheitsdiagnose
„kryptogenetische Septikämie“ wesentlich
seltener werden könnte, wenn man in jedem
Falle den Mandeln besondere Aufmerksam¬
keit widmete — und besonders hält er die
entzündliche oder eiterige Tonsillaraffektion
für eine sehr häufige Ursache gewisser
Formen von Nephritis. Auch in diesen
Fällen ist die Erkennung des Zusammen¬
hanges nicht nur theoretisch, sondern
therapeutisch von Wichtigkeit; die ton¬
silläre hämorrhagische Nephritis wird nach
Curschmanns Erfahrungen durch aus¬
giebige operative Mandelbehandlung auf¬
fallend rasch und dauernd geheilt.
Felix Klemperer.
(Münch, med. Wochschr. 1910, Nr. 6.)
Schöne kommt in seinen Untersuchun¬
gen über Transplantation von Ge¬
schwülsten und normalen Geweben zu
folgenden Schlüssen: Die Transplantation
von Geschwülsten kann bei Mäusen durch
die Vorbehandlung der Tiere mit Ge¬
schwulstmaterial und normalem Gewebe
vereitelt werden. Mäuseembryonen können
subkutan und intraperitoneal, bei einmaliger
und wiederholter Injektion immunisierend
wirken. Die Embryonen grauer Mäuse sind
in ihrer Wirkung auf weiße Mäuse den
weißen Embryonen unterlegen, aber auch
ihre Wirkung ist deutlich nachweisbar.
Noch weniger wirken Rattenembryonen.
In der immunisierenden Wirkung von nor¬
malem und Geschwulstgewebe ließ sich
kein qualitativer Unterschied nachweisen,
vielmehr ließen sich die zutage tretenden
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
März
Die Therapie der Gegenwart 1910.
139
Verschiedenheiten im wesentlichen auf quan¬
titative Unterschiede zurückführen. Für das
häufige Mißlingen artgleicher Transplanta¬
tionen normaler Gewebe sind schwere pri¬
märe toxische Wirkungen nicht verant¬
wortlich zu machen, während sich leichte
und schleichend wirkende derartige Ein¬
flüsse nicht ausschließen lassen; die hier
wirksamen Momente fallen weg bei Be¬
nutzung junger gleichgeschlechtlicher Ge-
schwisterzu den Transplantationsversuchen.
Auch das regelmäßige Mißlingen artfremder
Transplantationen ließ in den besonderen
Fällen der Transplantation von Maus auf
Ratte und von Kaninchen auf Maus eine
schwere primäre toxische Schädigung als
Ursache nicht erkennen; wohl aber mußte
bei der Wahl anderer Tierspezies mit der
Möglichkeit einer solchen Wirkung ge¬
rechnet werden. Die natürliche Resistenz
der Versuchstiere zeigte normalen Gewebs-
und Geschwulsttransplantationen gegenüber
keinen erheblichen Unterschied. Es ließ
sich nachweisen, daß entsprechend der ak¬
tiven Geschwulstimmunität sich wenigstens
zwischen bestimmten artverschiedenen
Tieren (Maus, Ratte — Kaninchen, Maus)
eine aktive Immunisierung mit normalen
oder Geschwulstgeweben auch gegenüber
der Implantation eines normalen Gewebes
wirksam zeigte. Das Wesen der natür¬
lichen und künstlichen (aktiven) Geschwulst¬
immunität ist uns noch dunkel und zwar
weniger klar als z. B. gegenüber Diphtherie
oder Cholera oder roten Blutkörperchen
einer anderen Art. Sehr wahrscheinlich
ist aber, daß die ImmunitätsWirkungen, wie
sie durch Geschwülste erzeugt werden und
gegen sie wirksam sind, nicht auf Parasiten
in diesen Geschwülsten oder deren Stoff¬
wechselprodukte zurückzuführen sind. Dar¬
aus, daß man mit normalem Gewebe gegen
Geschwulstgewebe, und umgekehrt, immu¬
nisieren kann, darf man vermuten, daß
unsere Immunitäten im wesentlichen durch
Körperzellen und deren Produkte bedingt
sind, bezw. an ihnen angreifen. Anti¬
körper als Ursachen dieser Immunitäten
konnten im Blut noch nicht nachgewiesen
werden; trotzdem können sie vorhanden
sein, denn die Immunitäten sind noch schwach
und die fraglichen Zytolysine gewiß sehr
empfindlich und schwer nachweisbar. Das
häufige Ausbleiben der Immunität nach
einer innerlichen Injektion von körper¬
fremdem, artgleichen Gewebe erinnert an
die Unregelmäßigkeit, mit der sich z. B.
Isohämolysine nach Injektion körperfremden,
artgleichen Blutes entwickeln. Auch die
anscheinend stärkere Ausbildung der Immu-
Digitized by Google
nität zwischen artverschiedenen Individuen
kann im Sinne der Antikörper verwertet
werden. Die Immunität ist bisher nur nach¬
gewiesen als Folge der Einwirkung eines
körperfremden, normalen oder Geschwulst¬
gewebes. Damit wird die Aussicht auf eine
wirksame aktive Immunisierung gegen eine
im kranken Körper autochthon entstandene
Geschwulst nicht gefördert. Klink.
(v. Bruns Beitr. z. kl. Chir., Bd. 61, H. 1.)
Anläßlich einer eigenen Beobachtung
berichtet Gerönne über schwere Vakzine¬
erkrankungen und ihre Prophylaxe. Das
Interesse, das man neuerdings den artifi-
ziellenVakzineerkrankungenentgegenbringt,
datiert von der bekannten Publikation des
Tübinger Zoologen Blochmann, dessen
Kind durch Uebertragung der Impfvakzine
des Augenlichtes beraubt wurde (vergl. diese
Zeitschrift 1904, S. 173).
Die Aufsehen erregende Schrift Bloch-
manns faßt 140 Publikationen zusammen,
die sich mit dem Thema der Vakzine¬
erkrankungen beschäftigen. Berücksichtigt
man, daß es sich hierbei ausnahmslos um
Publikationen gehandelt hat, die irgend ein
klinisches oder diagnostisches Interesse dar¬
geboten haben, so muß man die Anzahl
der insgesamt zur Beobachtung gelangten
Fälle wesentlich höher veranschlagen.
Es ist das Verdienst Blochmanns, mit
Nachdruck darauf hingewiesen zu haben,
daß der Impfling durch Uebertragung der
Vakzine unter Umständen seiner Umgebung
gefährlich werden kann. Besonders ge¬
fährdet sind Kinder, die an chronischen
Ekzemen leiden, zumal wenn sie noch nicht
geimpft sind. Erwachsene sind jedoch der
Vakzineübertragung gegenüber keineswegs
immun. Im Anschluß an die artifizielle
Vakzination kommt es zu lokalisierter oder
allgemeiner Bildung von Pusteln, die mit
der echten Variola große Aehnlichkeit haben.
Schwere Schädigungen der Gesundheit, Er¬
blindungen und selbst Todesfälle sind bei
der Vakzineübertragung nichts Ungewöhn¬
liches.
Angesichts dieser Tatsache hat der
Impfarzt die Pflicht, soweit es in seinen
Kräften steht, der sekundären Vakzination
vorzubeugen. Dieser Pflicht nachzukommen,
muß um so eher Sache der gesamten Aerzte-
schaft sein, als das Vertrauen des Publikums
zu der obligatorischen Schutzimpfung durch
diese und andere unangenehme Zufälle er¬
heblich erschüttert worden ist.
Um Vakzineinfektionen zu verhüten,
muß man zunächst verlangen, daß der Arzt
über diese Krankheit orientiert ist. Sodann
18 *
Original fram
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HO
Die Therapie der Gegenwart 1910. März
muß der Arzt die Impfung unterlassen, des Impfstoffes auf Gesunde möglich ist
wenn nachgewiesenermaßen ein mit Ekzem und daß namentlich nicht geimpfte, an
behaftetes Kind sich in der Umgebung des Hautausschlägen leidende Kinder gefährdet
Impflinges befindet. Auch das Publikum sind. Leo Jacobsohn (Charlottenburg),
muß belehrt werden, daß eine Uebertragung (Beri. klin. Woch. 1910, Nr. 4.)
Therapeutischer Meinungsaustausch.
Indikation und Kontraindikation vegetarischer Entfettungsdiät.
Von Dr. B. Latz- Charlottenburg.
Die Arbeit Albus über „Entfettung
durch vegetarische Diät“ (Ther. d. Gegen¬
wart, November 1909, nach einem auf der
Salzburger Naturforscherversammlung ge¬
haltenen Vortrage) veranlaßt mich, einige
Bemerkungen Ober die Indikation und
Kontraindikation dieser „Entfettungsdiät“
zu machen, damit nicht im großen Publikum
und in weiten Aerztekreisen der Glaube
entsteht, in der vegetarischen Lebensweise
ein neues, leicht anwendbares und überall
nützliches Entfettungsmittel zu besitzen.
Schon bei der in Salzburg dem Vor¬
trage folgenden Diskussion wurde mit
Recht der Einwand erhoben, daß diese
Art der Behandlung fettsüchtiger Patienten
seit Jahren bekannt und in gewissen Sana¬
torien mit mehr oder weniger großem Er¬
folge angewandt würde. Was aber unter
besonders günstigen Kautelen in einer An¬
stalt durchzuführen ist, kann deshalb keines¬
wegs stets für die Allgemeinpraxis emp¬
fohlen werden. Die Resultate der in vege¬
tarischen Sanatorien entfetteten Patienten
schienen mir ferner häufig recht bedenk¬
lich; die Nachkur der Entfettungskur be¬
stand meistens in einer Beseitigung der
unangenehmen Folgezustände, die sich bald
bemerkbar machten.
Es ist überflüssig, an dieser Stelle be¬
sonders darauf hinzuweisen, daß in sämt¬
lichen, in den letzten Jahren angegebenen
Entfettungsdiäten derGedanke vorherrschte,
das Sättigungsbedürfnis des Patienten mehr
oder weniger durch eine Bevorzugung der
Vegetabilien zu decken. In dem Al hu¬
schen Vorschläge ist also nichts weiter als
eine extreme Steigerung früherer Forde¬
rungen zu erblicken. Albu schaltet das
Fleisch völlig aus und verlangt eine streng
grob vegetarische Kost, die viele schwer
und unverdauliche Nahrungsmittel, zum
großen Teil sogar in rohem Zustande,
enthalten soll. Ist dies eine ideale Diät,
um fettsüchtige Patienten schonend und
ohne gesundheitsschädigende Folgezustände
zu entfetten, eine Diät, die die Patienten
diszipliniert, auch nach der Kur das nor¬
male Gewicht dauernd erhalten zu können?
Als Kontraindikationen vegetarischer
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Entfettungskuren bezeichnet Albu selbst
alle Komplikationen der Fettleibigkeit,
insbesondere das Fettherz und die Stö¬
rungen des Verdauungskanals. Durch diese
Einschränkung, die sicherlich zu Recht
besteht, ist die Zahl der Fettleibigen, die
für eine vegetarische Entfettungskur im
Albu sehen Sinne in Betracht kommen,
von vornherein eine sehr geringe. Die
Fälle von Fettleibigkeit, die ohne jede
Komplikation (nur aus Schönheitsgründen)
zur Behandlung gelangen, sind als seltene
Ausnahmen zu bezeichnen. Wenn ich die
von mir klinisch und ambulant behandelten
Fettsüchtigen auf die Möglichkeit einer so
eingreifenden Behandlungsmethode, wie
sie in jedem Falle die rein vegetarische
Diät darstellt, nachprüfe, so bleibt kaum
ein einziger übrig, dem ich unbedenklich
diese Kur empfehlen könnte.
Daß die vegetarische Kostform imstande
ist, das Leben und oft auch die Gesund¬
heit dauernd zu erhalten, ist durch Stoff¬
wechseluntersuchungen erwiesen. Ferner
ist bekannt, daß viele Menschen lange Zeit
hindurch vegetarisch leben und sich dabei
einer angeblich guten Gesundheit erfreuen.
Auch können strenge Vegetarier gelegent¬
lich große körperliche Anstrengungen gut
vertragen; diese Leute haben aber ihren
Körper systematisch an die vegetarische
i Lebensweise gewöhnt. Aber kein Arzt
wird wagen, eihem schwer arbeitenden
Menschen ein vegetarisches Leben zu emp¬
fehlen, da die plötzliche Unterernährung
schwere organische Schädigungen herbei¬
führen kann. Der Fettsüchtige ist während
einer Entfettungskur fast stets als schwer
arbeitender Mensch zu betrachten; die
meistens verordneten physikalischen Ma߬
nahmen beanspruchen einen Mehraufwand
von Kräften im Vergleich mit der der Kur
vorangegangenen Zeit. Auf die vegetarische
Kost muß sich selbst der gesunde Körper
gewissermaßen erst einstellen, bis er das
neue Regime ohne Beschwerden verträgt.
Diese Zufälligkeiten des Ueberganges von
einer Diät zur anderen gerade an den Be¬
ginn einer Entfettungskur zu verlegen,
scheint mir nicht geraten.
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UNIVER5ITY 0F CALIFORNIA
März
Die Therapie der Gegenwart 1910.
141
Wenn Albu sagt, daß bei den meisten
Fettleibigen ein starker Erfolg nur auf
diätetischer Basis zu erreichen ist, so kann
man ihm hierin sicher zustimmen, obgleich,
meines Erachtens, die aktive Muskelarbeit
in dem Rahmen einer Entfettungskur ein
der Diät fast gleichwertiger Faktor ist.
Ich bin überzeugt, daß fettleibige Patienten
nur mit rein vegetarischer Diät behandelt,
sogar im Bette abnehmen können, wieviel
mehr, wenn sie ihrer gewohnten Beschäf¬
tigung nachgehen. Derartige Erfolge lassen
sich aber von jeder Einschränkung der
Diät in diesem oder jenem Sinne be¬
richten, ein Beweis für die absolute Güte
einer Entfettungskur kann die Ausführung
einzelner gelungener Resultate nicht sein.
Jede Entfettungskur muß eine Dauer¬
behandlung vorstellen. Nicht, wie es
noch vielfach betrieben wird, darf eine
plötzliche Entlastung des Körpers durch
einen starken Gewichtsverlust herbeigeführt
werden. Das Wichtigste jeder Ent¬
fettungskur, mag sie nun heißen, wie sie
will, bleibt die Disziplinierung des
Patienten. Diese Disziplinierung setzt
aber voraus, daß der Arzt für die Dauer
nichts Unmögliches verlangt, sondern daß
seine Wünsche sich tunlichst mit denen
des Padenten begegnen, das heißt, daß in
dem Rahmen der gewohnten bürgerlichen
Küche eine Reform entworfen wird, die
ohne besondere Schwierigkeiten und Un¬
zuträglichkeiten jahrelang hindurch ein¬
gehalten werden kann.
Diesem Wunsche, dieser anerkannten
Forderung entspricht das von Albu emp¬
fohlene Regime nicht. Das Beispiel einer
täglichen Kostordnung, das ich Albus
Arbeit entnehme, weicht von unseren
landesüblichen Gebräuchen erheblich ab
und kann daher nicht als besonders zweck¬
mäßig erscheinen.
Frühstück:
Tee m. Saccharin
50 g Simonsbrot
10 g Butter
500 g Aepfel
Mittag:
Bouillon mit 1 Ei
200 g Spinat
100 g geröstete Kartoffeln
200 g Aepfelkompott
*/j Pfd. Weintrauben
Abendbrot:
1 Pfd. Spargel
20 g Butter
60 g Simonsbrot
200 g Pfirsiche.
Drei Mahlzeiten täglich sind für eine
Entfettungskur nicht genügend. Es ist
von Bedeutung, daß die Pausen zwischen
den Mahlzeiten nicht zu lang bemessen
sind, besonders bei Fettsüchtigen, die an
stetem Hungergefühl leiden, an vieles
Essen gewöhnt sind, leicht zu Schwäche¬
zuständen neigen und zumal bei einer Ent¬
fettungskur, wo der reelle Wert der zu¬
geführten Nahrangsstoffe ein sehr geringer
ist und dem Magen eine vorübergehende
Sättigung nur durch eine größere Quan¬
tität vorgetäuscht wird. Es ist demnach
zweckmäßig, kleinere Mahlzeiten in Form
eines Apfels, einer Tasse Bouillon oder
Tee usw. einzuschieben.
Das von Albu empfohlene Frühstück
besteht aus Tee, etwas Brot und Butter
und 500 g Aepfel. Ich glaube, daß die
wenigsten Menschen, selbst die, die sich
einer vegetarischen Entfettungskur unter¬
ziehen, auf die Dauer imstande sind, des
Morgens 500 g Aepfel zu verzehren. Der¬
selben unvorteilhaften Anordnung von Ge¬
müse, Kompott und Obst begegnen wir
bei der Mittags- und Abendmahlzeit. Diese
enormen Quantitäten überfüllen den
Magen, müssen in relativ kurzer Zeit un¬
vermeidlich zu einer Ueberdehnung der
Organe, zu einer Atonie des Magens
und eventuell auch des Darmes führen.
Die Kartoffel spielt auch bei Albu
eine wichtige Rolle; sie kehrt bei den für
Mittags- und Abendmahlzeiten angegebenen
Menüs in allen möglichen Variationen
wieder, die Kartoffel ist eine Hauptstütze
der vegetarischen Entfettungskur. Diese
neue Kur ist also eigentlich nichts anderes
als eine Variante der Rosenfeld-
schen Kartoffelkur. Aber gerade Rosen-
feld und nach ihm P. F. Richter legten
aus verschiedensten Gründen den größten
Wert auf die richtige Kombination von
Kohlehydraten und Eiweiß. Wie zweck¬
mäßig und für jeden Fall modifizierbar
und brauchbar ist die Diäteinteilung bei
der Kartoffelkur; nur wenige Kontra¬
indikationen sind zu beachten. Im Gegen¬
sätze zu dem oben angeführten Diätzettel
| von Albu lasse ich an dieser Stelle das
Diätschema von P. F. Richter folgen; der
Unterschied ergibt sich von selbst und be¬
darf keines Kommentars.
Morgens 8 Uhr: 1 Tasse Tee oder Kaffee
(ohne Milch), 50 g mageren Schinken, 1 Brötchen.
10 Uhr: 1 bis 2 Eier.
12 Uhr: Obst (zirka 100 g).
2 Uhr: Vor dem Essen 1—2 Glas Zitronen¬
limonade (ohne Zucker), 1 Teller Bouillon mit
150 - 200 g Kartoffeln (Salzkartoffeln), 100 bis
125 g mageres Fleisch, dazu eine saure Gurke
und viel Radieschen, grünen Salat usw.; even-
, tuell 100 g Gemüse (ohne Mehl und Butter), in
dem Verhältnis, wie die Menge Kartoffelu
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Mär2
142
Die Therapie der Gegenwart 1910.
herabgesetzt wird, kann die Gemüseportion er¬
höht werden.
4 Uhr: 1 Tasse Kaffee.
6 Uhr: Frisches Obst (eventuell 1 Tasse
Bouillon).
8 Uhr: 100 g mageres kaltes Fleisch oder
1 Hering, dazu 150 g Kartoffeln (eventuell als
Salat), rote Rüben, Rettich, etwas mageren
Käse. Vor dem Essen wieder 1—2 Glas
Zitronenlimonade.
Die Kartoffelkur ist demnach nicht, wie
Albu sagt, eine mildere Abart der vege¬
tarischen Kost, sondern die vegetarische
Entfettungskur ist eine gröbere Abart der
Kartoffelkur.
Wenn ich nochmals meine Bedenken
gegen die vegetarische Entfettungskur kurz
zusammenfasse, so sind es folgende:
1. Nur unkomplizierte Fälle von Fett¬
sucht kommen in Betracht. Diese sind
äußerst selten, die Anwendungsmöglichkeit
ist eine beschränkte.
2. Die rein vegetarische Entfettungskur
kann leicht eine Schädigung des Ver¬
dauungskanals (Atonie, Diarrhöen) hervor-
rufen.
3. Jede Entfettungskur muß so an¬
geordnet sein, daß der Patient die Kur mit
geringen Modifikationen sein ganzes Leben
hindurch fortsetzen kann. Die vegetarische
Entfettungskur repräsentiert eine Lebens¬
weise, die für europäische Begriffe vorläufig
nicht befolgt werden kann.
4. Jede Entfettungskur muß auch eine
Disziplinierkur sein, das heißt der Fett¬
süchtige, der meistens ein Vielesser ist,
muß systematisch an eine normale Nah¬
rungszufuhr gewöhnt werden. Die vege¬
tarische Kur erreicht das Gegenteil, sie
gewöhnt den Patienten an eine Ueber-
füllung des Magens.
5. Verschiedene moderne Entfettungs¬
kuren bevorzugen gleichfalls die Vegeta-
bilien, besitzen alle Vorteile der vege¬
tarischen Entfettungskur ohne ihre evidenten
Nachteile.
Erwiderung auf vorstehenden Aufsatz.
Von Prof. Dr. A. Albu - Berlin.
Die obige Darstellung erweckt den Ein¬
druck, als ob ich den Fettleibigen die vege¬
tarische Kost als eine — „ideale Diät" für
die Dauer ihres Lebens empfohlen hätte,
ln meinem Aufsatze ist aber nachdrücklich
betont, daß die rein vegetarische Ernäh¬
rung nie länger als 4—6 Wochen ausge¬
dehnt werden soll, um als Vorbereitung zu
einer dauernden fleisch- und fettarmen Er¬
nährung zu dienen. Der Begriff der „Kur*
schließt ja eine zeitliche Begrenzung in
sich! Das gilt in gleichem Maße für die
Bantingkur, die Oertelkur, die Ebstein¬
kur, die Kartoffelkur, die Milchkur u. dgl.,
und die Behauptung: „Jede Entfettungskur
muß eine Dauerbehandlung vorstellen" ist
eine Contradictio in adjecto. Jede Ent¬
fettungskur soll den Patienten nur den Weg
zu einer vernünftigeren Regelung ihrer Er¬
nährung weisen, und das tut gerade die
vegetarische Entfettungskur durch die Man¬
nigfaltigkeit der dabei möglichen Ernäh¬
rungsweisen in weit höherem Maße als die
meisten diätetischen Entfettungskuren. Jede
derselben ist so einseitig, daß sie als eine
Dauerbehandlung gar nicht in Frage kommen
kann. Die im Beginne jeder Entfettung
nicht nur erwünschte, sondern auch not¬
wendige stärkere Gewichtsreduktion läßt
sich qben nur durch solch einseitige, über¬
triebene Ernährungsformen erreichen, die
sich von einander nur dadurch unterschei¬
den, daß die eine leichter durchführbar ist
oder stärkere Nachwirkung hat, oder einen
zweckmäßigeren Uebergang zu der späteren
Normalkost gewährleistet als die andere.
Keine der seit einem halben Jahrhundert
empfohlenen Entfettungsmethoden hat das
fertig gebracht, was Latz als „Ideal" be¬
trachtet; „Im Rahmen der gewohnten bür¬
gerlichen Küche eine Reform durchzu¬
führen, welche ohne besondere Schwierig¬
keiten und Unzuträglichkeiten jahrelang
hindurch eingehalten werden kann." Eine
solche Entfettungskur muß noch erfunden
werden! Freilich wird die Wissenschaft auf
diesem Gebiete keine Fortschritte zu erwarten
haben, wenn man ängstlich an „landesüblichen
Gebräuchen“ festhält und Neuerungen „für
europäische Begriffe“ aus dem Wege geht.
Daß unkomplizierte Fälle von Fettsucht
„äußerst selten“ sind, werden erfahrene
Aerzte unmöglich zugeben. So empfiehlt
z. B. von Noorden (Die Indikationen der
Entfettungskuren. Berlin, 1900. S. 8 u. ff.)
die Einleitung von Entfettungskuren selbst
bei geringen Graden von Fettleibigkeit,
namentlich bei jüngeren Leuten, schon um
prophylaktisch zu wirken. Aus kosmeti¬
schen Rücksichten allein soll der Arzt
überhaupt nie Entfettungskuren machen.
Aber die Mehrzahl selbst der nur wenig
Fettleibigen hat eben Beschwerden bei
körperlichen Anstrengungen, ist in ihrer
Beweglichkeit beschränkt u. dgl. m. Die
Anwendungsfähigkeit für die vegetarische
Entfettungskur ist deshalb nicht geringer
als für jede andere.
Schädigungen des Verdauungskanals
(Atonie und Diarrhoen) können nicht ein-
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März
Die Therapie der Gegenwart 1910.
143
treten, wenn die Kur unter ärztlicher Kon- |
trolle durchgefQhrt wird. Den gesunden
Magen passieren, wie die bekannten syste¬
matischen Untersuchungen von Penzoldt
erwiesen haben, die GemQse und Kompotts, (
selbst in größerer Menge, ebenso schnell
als die verschiedenen Fleischarten. Auf
die Notwendigkeit der individuellen Varia- I
tionen und des ständigen Wechsels der I
Kost habe ich in meiner Arbeit nachdrück¬
lich hingewiesen. Die Mannigfaltigkeit der
mitgeteilten Speisenfolgen läßt auch er- 1
kennen, daß die Nahrungsmengen der ein- j
zelnen Mahlzeiten sehr schwanken und
meist geringer sind, als Fettleibige, nament¬
lich wenn sie im Fleischgenuß zu schwelgen
gewohnt sind, zu sich zu nehmen pflegen.
Die theoretisch konstruierten Bedenken
gegen die' vegetarische Entfettungskur
werden im übrigen am besten durch die
günstigen praktischen Erfolge widerlegt. Des¬
halb kann auch auf die Besprechung einiger
unrichtigen Angaben in obigem Aufsatz, so
z. B. das angebliche Fehlen der Zwischen¬
mahlzeiten in meinem Kostordnungsplane
u. a. m., Verzicht geleistet werden.
Coryfin, ein reizloses Mentholderivat
Von Dr. med. Braitraaier-Kie!.
Das Menthol in seinen verschiedenen
Zubereitungen hat sich längst einen dau¬
ernden Platz in der Therapie erworben.
In Gestalt des Migränestiftes gegen Neu¬
ralgien, als „Mentholin* gegen Schnupfen,
in Oellösung zu Nasenpinselungen oder
Inhalationen, in Form von Dragees gegen
Laryngitiden oder Pharyngitiden, in Gestalt
von Pillen gegen Gastralgien ist es bei dem
einen oder anderen Praktiker beliebt.
Gewiß verdient das Menthol diese Beliebt¬
heit, denn wenn es auch kein Mittel ist, mit
dem man im Kampfe gegen schwere Krank¬
heiten entscheidende Erfolge erringen
kann, so ist es doch von hervorragender
Bedeutung in der symptomatischen Therapie
bei jenen kleinen Beschwerden, auf deren
Beseitigung oft so ungemein viel ankommt
und bei denen der Arzt doch nicht gern
gleich zu eingreifenderen Mitteln seine Zu¬
flucht nimmt.
Die Mentholwirkung ist die eines
schwachen Antiseptikums, Anästhetikums
und Antiphlogistikums; sie nimmt gewisser¬
maßen eine Mittelstellung ein zwischen der
von Kokain und Phenol. Während jedoch
das erstere wegen seiner relativen Giftig¬
keit gefürchtet ist, hindert die Aetzwirkung
eine ausgedehnte Verwendung des Phenols.
Von einer Giftigkeit des Menthols kann
man nun wohl nicht sprechen, dagegen ist
eine gewisse Aetzwirkung unleugbar noch
vorhanden, die seine Verwendung oft ein¬
schränkt, wenn nicht ganz verbietet. In¬
folge seiner leichten Flüchtigkeit ist die
Wirkung auch nur eine momentane und
rasch vorübergehende. Es waren daher
Versuche mit Freuden zu begrüßen, welche
darauf hinzielten, das Menthol auch seiner
Reizwirkung zu entkleiden und seinen
Effekt zu einem protahierteren zu gestalten.
In vollkommener Weise ist dieses Ziel
im Coryfin, dem Aethylglykosäureester des
Menthols erreicht, welches seit dem Jahre
1 1906 von den Elberfelder Farbenfabriken
I in den Handel gebracht wird. Das Coryfin
ist eine farblose, ölige Flüssigkeit, die in
ganz frischem Zustande nahezu geruchlos
ist. Durch schwache Alkalien, sowie durch
die Lebenstätigkeit der die Oberfläche der
Haut bildenden Tegumentzellen wird das
Produkt verseift und dann macht sich ein
deutlicher Mentholgeruch bemerkbar. — Die
| verschiedene Fermentwirkung der lebenden
| und toten Tegumentzellen ist von Impens 1 )
an lebenden und toten Fröschen sehr schön
I nachgewiesen worden. Hand in Hand mit
j der allmählichen Verseifung auf der Haut-
| ober fläche geht jedoch auch eine Resorp-
> tion vor sich, denn es läßt sich zirka zwei
| Stunden nach Applikation von Coryfin auf
i die Brust Mentholglykuronsäure im Harn
| nachweisen.
Infolge der erst allmählich eintretenden
| Mentholwirkung merkt man daher direkt
nach Einpinselung von Coryfin fast nichts;
erst allmählich tritt das dem Menthol eigene
Kältegefühl auf, das dann jedoch auch be¬
deutend länger vorhält, und demzufolge ist
auch die damit Hand in Hand gehende
schmerzstillende Wirkung eine bedeutend
protahiertere. Infolge der Resorption und
der darauf folgenden Spaltung des Esters
kommt auch die Gefäßwirkung des Menthols
zur Geltung. Es tritt eine Volumverenge¬
rung derselben ein und demzufolge eine
Abschwellung der hyperämischen Mukosa,
wodurch die entzündungswidrigen Eigen¬
schaften des Coryfins bedingt sind. Dem¬
nach vereinigt das Coryfin sämtliche Wir¬
kungen des Menthols in eklatanter Weise in
sich, während die subkutanen Aetzwirkungen
desselben völlig ausgeschaltet sind.
In der seither erschienenen Literatur äußert
sich in dieser vergleichenden Hinsicht Baum¬
garten 1 ). Er erzielte bei Schnupfen sogar eine
J ) Therap. Monatsh. 1908 No. 1.
Klin. therap. Wochenschr 1907, 51.
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144
März
Die Therapie der Gegenwart 1910.
derartig vorzügliche Wirkung mit Coryfin, wie \
sie weder mit 5°/ 0 igem Mentholöl noch durch .
Menthulin oder andere Mentholverbindungen
zu erreichen gewesen war. I
Auch Seifert, Würzburg *), bezeichnet
Coryfin als ein sehr angenehm wirkendes
Schnupfenmittel. Pollak 1 2 ) konstatierte ein
promptes Nachlassen der Beschwerden bei
nervösen Kopfschmerzen. Saenger 3 ) bevor- .
zugt es bei Inhalationen gegen akute Katarrhe j
der oberen und unteren Luftwege und rühmt
den geringen Reiz, den es auf die Schleimhäute
ausübt, sowie seine Sparsamkeit im Verbrauch,
v. Kirchbauer 4 ) hat Coryfin in verschiedener
Hinsicht angewandt und äußert sich ebenfalls
recht anerkennend darüber.
Ich selbst habe nun von Coryfin, seit¬
dem es im Handel ist, in der verschieden¬
sten Weise Gebrauch gemacht und es ist
mir zu einem so lieben Medikament ge¬
worden, daß ich es nicht mehr entbehren
möchte. Eine brillante Wirkung entfaltete
es stets bei Stirnpinselungen, besonders
gegen neuralgische Schmerzen, aber auch
in verschiedenen Fällen von rheumatischem
Kopfschmerz erzielte ich damit bedeutende
Erleichterung. Besonders schätze ich auch
diese Pinselungen gegen jenes dumpfe Ge¬
fühl im Kopf bei nervöser Abspannung
oder Ueberreizung, das jede geistige Ar¬
beit völlig unmöglich machen kann. Eine
baldige bedeutende Erleichterung tritt ein
und dem Abgespanntsein macht ein ange¬
nehmes Gefühl der Frische Platz. Gewarnt
werden muß davor, zuviel von dem Prä- I
parat auf die Stirn aufzutragen oder es
gar direkt ans Auge zu bringen, da es
naturgemäß das Auge stark reizt, sodaß
man dasselbe eine Zeitlang nicht öffnen
kann.
Bei Schnupfen wende ich es mit Vor¬
liebe in der Weise an, daß ich einen
Tropfen auf Watte vorn in die Nase
plaziere und wenn irgend möglich Luft
durchziehen lasse. — Bei stärkerem Husten¬
reiz infolge von Halsentzündungen oder
Kehlkopfkatarrh bringen Inhalationen von
wenigen Tropfen Coryfin auf heißem Wasser
rasche Linderung oder auch das langsame
Zergehenlassen eines Stückchen Zuckers,
auf das man etwas Coryfin aufgetropft hat.
1 ) Deutsche med. Wschr. 1907 Nr. 20.
2 ) Allg. Wiener med. Ztg. 1908 Nr. 48.
3 ) Therapeut. Monatsh. 1908 Nr. 6.
4 ) Deutsche med. Wschr. 1907 Nr. 20.
Eine angenehme Ergänzung dieser letzten
Methode bilden die Coryfinbonbons, welche
noch den Vorteil haben, daß sie bedeutend
langsamer im Munde zergehen und so eine
andauerndere Wirkung ausüben, als auch
das Coryfin bedeutend gleichmäßiger ver¬
teilt enthalten. Die beruhigende Wirkung
des intern verabreichten Coryfins auf die
Magennerven kam in einigen Fällen von
nervösem Erbrechen Gravider eklatant zur
Geltung. Gerade in letzter Hinsicht habe
ich einige charakteristische Fälle erlebt.
In einem solchen, der allen Maßnahmen
(Extr. chinae Nanning, Kokain, Eisbeutel
usw.) getrotzt hatte, war ich nach Beratung
| mit einem Kollegen schon zum künstlichen
Abort entschlossen, als ein letzter Versuch
mit Coryfin bei dauernder Bettruhe es er¬
möglichte, die Patientin über die kritischen
Monate hinweg zu bringen.
Das Coryfin hat sich mir also als ein
ganz vorzügliches Mittel bewährt, wo es
galt, lästige und quälende Begleiterschei¬
nungen einer Erkrankung dem Patienten
erträglicher zu machen. — Es kann überall
da angewandt werden, wo die Beschwerden
in der Nähe der Hautoberfläche oder er¬
reichbarer Schleimhautbezirke sich ab¬
spielen.
Auf eine erst ganz kürzliche Neuerung
in der Packung des Coryfins möchte ich an
dieser Stelle noch hinweisen. Anstelle des
in Kork befestigten Pinselchens sind jetzt
etwas respektabler aussehende Glaßtopfen-
fläschchen verwandt worden, in denen sich
ein längerer Glasansatz befindet, der z. B.
zum Bestreichen der Stirn gegen Kopf¬
schmerzen vorteilhaft Verwendung findet.
Außerdem liegt jeder Packung ein geriefel¬
ter Nickeldraht bei, der mit einem Watte-
bäuschchen armiert zur Verteilung des
Coryfins in der Nase dient. Das Watte-
bäuschchen kann so beliebig groß oder
klein gewählt und vor allen Dingen stets
gewechselt werden, sodaß die ganze Mani¬
pulation dadurch zu einer viel reinlicheren
gestaltet wird.
Zweck dieser Zeilen war, auf die viel¬
seitige Anwendungsweise des Coryfins
einmal hinzuweisen; es sollte mich freuen,
wenn dieselben zu weiteren Nachprüfungen
Veranlassung geben sollten.
INHALT: Blum, Azidosis S. 97. — Alwens, Tuberkulöse Aszites S. 100. — Kan Kato,
Oxygar S. 105. — Ratzeburg, Gelenkrheumatismus S. 107. — Kausch, Chirurgische Tuber¬
kulose S. 111. — Pein, Scharlachrotsalbe S. 121. — Nathan, Gonorrhoe S. 124. — Latz,
Vegetarische Entfettung S. 140. — Albu, Erwiderung S. 142. — Breitmayer, Coryfin S. 143. —
Bücherbesprechungen S. 129. — Referate S. 131.
Für die Redaktion verantwortlich: Prof. Dr. G.KIempererin Berlin. - Verlag von Urban&Sch warxenberg in Wien u. Berl in.
Druck von JuliuiSittenfeid, Hofbuchdrucker., in BerlinW.8.
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UNIVERSiTY 0F CALIFORNIA
Die Therapie der Gegenwart
1910
herau8gegeben von Prof. Dr. G. Klemperer
in Berlin.
April
Nachdruck verboten.
Ueber Sarton, ein neues Nährpräparat für Zuckerkranke.
Von C. von Noorden -Wien und Ed. Lampd-Frankfurt a. M.
- Die vortrefflichen Erfahrungen, die wir
mit Hafermehl bei Diabetikern gemacht
hatten, und die inzwischen von vielen Seiten
bestätigt wurden, veranlagten uns, auch
zahlreiche sonstige Vegetabilien darauf zu
prüfen, ob sie von Diabetikern besser als
andere, ähnlich zusammengesetzte Nah¬
rungsmittel vertragen würden. Unter den
vielen amylazeenreichen Stoffen war keiner,
der den Vergleich mit Hafer aushielt.
Allerdings erwies sich der Einfluß der ver¬
schiedenen Vegetabilien auf die Zucker¬
ausscheidung durchaus nicht proportional
ihrem Stärke- und Eiweißgehalt. Wir be¬
obachteten trotz gleichen Stärkegehaltes
bemerkenswerte Unterschiede der Wir¬
kung, die sich als konstant erwiesen. Aber
die Versuche sind noch nicht umfangreich
genug, um schon jetzt die Aufstellung einer
Skala zu gestatten.
Außer den amylazeenreichen wurden
auch die eiweißreichen Vegetabilien in Be¬
tracht gezogen. Dies war um so wichtiger,
als nach den Erfahrungen der letzten Jahre
Diabetiker die vegetabilischen Eiweißkörper
oft besser vertragen, als die animalischen.
Die isolierten Pflanzenkleber, wie Aleuro-
nat, Roborat, Glidin, Tutulin usw. haben
den Nachteil, den Geschmack der Speisen
zu beeinträchtigen. Grüne Gemüse ver¬
tragen einen kleinen Zusatz dieser Präpa¬
rate, im übrigen sind die letzteren nur in
Gemeinschaft mit größeren Mengen von
Kohlenhydrat genießbar, z. B. in Form
von kohlenhydratreichen Suppen oder in
Form von Brot. Mit den eiweißreichen
Hülsenfrüchten (trockene Erbsen, Linsen,
Bohnen) machten wir, ebenso wie alle Vor¬
gänger, schlechte Erfahrungen.
Ein Zufall spielte uns die Soja hispida
(Sojabohne), japanischer Provenienz, in die
Hände. Die ersten Versuche liegen schon
viele Jahre zurück. Sie wurden von uns
gemeinsam an unserer Privatklinik in
Frankfurt begonnen, später von dem einen
von uns in Frankfurt, von dem anderen in
Wien fortgesetzt
Die Soja hispida liefert eine Frucht, die
dem Aussehen nach zwischen Erbse und
Bohne steht. Sie gehört zu den Legumi¬
nosen. Es gibt zahlreiche Arten der Soja¬
bohne, an Güte außerordentlich verschie¬
den. Nur wenige Sorten sind in der Küche
verwendbar. In Japan bereitet man daraus
die japanische Bohnensauce, Shoyu ge¬
nannt. Sie findet auch in der feineren
europäischen Küche Verwendung. Außer¬
dem wird in Japan aus Sojabohnen eine
eigenartige Speise, Tofou, bereitet. Sie ist
sehr reich an Proteiden; fast alle anderen
Bestandteile der Bohnen werden bei der
Zubereitung entfernt. In einfach abge¬
kochtem Zustande, als Gemüse oder Salat,
wird die Sojabohne in Japan nur von der
ärmeren Bevölkerung als Nahrung benutzt.
Auch im südöstlichen Europa baut man die
Sojabohne seit etwa drei Dezennien an;
doch erreicht sie hier nicht die gleiche
Güte wie in Japan.
Der hohe Gehalt der Sojabohne an Ei¬
weiß (30 bis 35%), der geringe Gehalt an
Stärke und an gärungsfähigem Kohlen¬
hydrat (ca. 6 °/ 0 ) veranlaßte uns, die Bohne
bei Diabetikern zu versuchen. Aber die
unveränderte Bohne sagte, trotz aller kor¬
rigierenden Zusätze, dem europäischen Ge¬
schmack nicht zu. Einige Male wird sie
zwar von den Diabetikern, die jeder Ab¬
wechslung hold sind, gerne genommen;
dann wird sie zurückgewiesen. Sie hinter¬
läßt einen unangenehmen, nur langsam
schwindenden Nachgeschmack. Außerdem
stellten wir fest, daß die unveränderte
Bohne die Zuckerausscheidung des Dia¬
betikers ungünstig beeinflußt.
Schließlich wurde eine Methode gefun¬
den, die einerseits dem Sojabohnenmehl
fast alle Kohlenhydrate entzieht, anderer¬
seits die unangenehm schmeckenden Stoffe
beseitigt. Da dieses Verfahren viel zu um¬
ständlich ist, um im Haushalt durch geführt
zu werden, übernahmen die Farbenfabriken
vorm. Bayer & Co. in Elberfeld die Her¬
stellung im großen. Das Präparat wurde
zunächst in Form eines dicken Pürees her¬
gestellt, das in Blechbüchsen sterilisiert
abgegeben wird (ca. 18—19 °/ 0 Trocken¬
gehalt, darunter 8 bis 9°/ 0 Eiweiß). In¬
zwischen ist es gelungen, die bei Herstellung
eines trockenen Pulvers entgegenstehenden
Schwierigkeiten zu überwinden, und die
Firma teilt uns soeben mit, daß sie es vor¬
aussichtlich vorziehen werde, das Präparat
in Pulverform abzugeben.
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146
Die Therapie der Gegenwart 1910.
April
Dieses Sojabohnenpüree, von der Fabrik
mit dem Namen „Sarton“ belegt, enthält
weder Substanzen, die sich mit Lugol-
scher Lösung bläuen oder röten (Stärke,
Erytrodextrin), noch enthält der wäßrige
Auszug mehr als Spuren von reduzieren¬
dem und gärungsfähigem Kohlenhydrat.
Erst durch Kochen mit verdünnter Salz¬
säure wird, wie aus den meisten Eiwei߬
körpern, Zucker abgespalten.
Man verwendet das Püree am besten
zur Bereitung von Suppen. Man dünstet
das Püree mit Butter, dann gibt man
Fleischbrühe hinzu und kocht 10 Minuten
lang. Salz und andere Gewürze werden
nach Belieben hinzugefügt. Für einen
Teller Suppe, von angenehm dicker Kon¬
sistenz, genügen zirka 80 g des Pürees.
Will man die Speise als Beilage zu Fleisch
oder Gemüse benützen, so gibt man ihr
eine entsprechend stärkere Konzentration.
In Aussehen und Geschmack steht die
fertige Speise einem aus gewöhnlichen
weißen Bohnen bereiteten Gerichte nahe.
Der Geschmack ist bei guter Zubereitung
ausgezeichnet. Alle Patienten und auch
Gesunde nahmen es gern. Natürlich wird
man die Sojabohnensuppe dem Diabetiker
nicht jeden Tag vorsetzen dürfen, sonst
träte bald Ueberdruß ein. Aber ein- bis
zweimal die Woche wird es sehr gern ge¬
nommen und bringt namentlich für die
Diabetiker, die nur ungern auf Hülsen¬
früchte verzichten, eine sehr willkommene
Abwechslung. Aehnlich den Erbsen- und
Linsensuppen erlaubt die Sojabohnensuppe
auch eine starke Belastung mit Butter und
anderen Fetten und dient damit zur Ein¬
verleibung hoher Nährwertsummen.
Besondere Sorgfalt wurde natürlich der
Frage gewidmet, ob das Sojabohnenpüree
in seiner jetzigen Form auf die Zucker¬
produktion des Diabetikers Einfluß ge¬
winne. Es liegen darüber Erfahrungen an
mehr als 100 Diabetikern vor. Im allge¬
meinen ist die Frage zu verneinen. Bei
leichteren Formen von Diabetes läßt es
die Zuckerausscheidung völlig unbeeinflußt.
In mittelschweren Fällen, wo strenge Diät
den Urin gerade zuckerfrei macht, und wo
die geringste Zulage von Stärkemehl
Glykosurie nach sich ziehen würde, werden
80—100 g des Pürees gleichfalls gut ver¬
tragen. Auch in den noch weiter vor¬
geschrittenen Fällen, wo neben dem Ver¬
zicht auf Kohlenhydrate auch die Eiwei߬
zufuhr beschnitten werden muß, um den
Harn zuckerfrei zu erhalten, treibt die Zu¬
lage der genannten Menge des Sojapürees
in der Regel keinen Zucker in den Harn.
Immerhin gibt es einzelne, besonders eiwei߬
empfindliche Fälle, wo dies der Fall ist.
Aber die Wirkung ist bedeutend geringer
als die von Fleischmengen gleichen Stick¬
stoffgehaltes. Wenn man daher, mit Rück¬
sicht auf die große Eiweißempfindlichkeit
dieser Fälle, eine Zeitlang vegetabilische
Ernährung für angezeigt hält und trotzdem
die Eiweißzufuhr nicht zu tief sinken lassen
will, so ist gerade dieses Präparat ein
wertvolles Hilfsmittel.
Alles in allem dürfen wir sagen, daß
durch das Sarton die Diabetesküche wesent¬
lich bereichert wird. Die Praxis wird
noch andere Anwendungsformen kennen
lehren. Natürlich beschränkt sich die An¬
wendung nicht auf die Zuckerkrankheit.
Ueberall, wo man dem vegetabilischen
Eiweiß den Vorzug vor animsdischen gibt,
z. B. bei Gicht und harnsaurer Diathese,
bei Nierenkrankheiten und bei manchen
Störungen der Verdauungsorgane, wird es
willkommen sein. Auf die Darmperistaltik
hat das Sojabohnenpüree einen ähnlich an¬
regenden Einfluß, wie Hülsenfrüchte, ohne
aber — wie diese — der Gasbildung Vor¬
schub zu leisten. Diese Nebenwirkung ist
auch beim Diabetiker recht willkommen.
Der wesentliche Vorteil für die Diabetes¬
küche liegt freilich darin, daß es dem
Zuckerkranken eine neue Abwechslung
bietet und daß es ein angenehmes, leicht
bekömmliches, nicht zuckerbildendes Ge¬
richt liefert, welches in Form, Geschmack
und Anwendungsweise für die schmerzlich
entbehrten Hülsenfrüchte eintritt.
Genauere Mitteilungen über die Soja¬
bohne, über die Chemie des Präparates,
über seine Resorptionsfähigkeit usw. wird
demnächst Dr. E. Jürgensen aus der
Wiener I. medizinischen Klinik veröffent¬
lichen.
Aus dem Laboratorium des med. poliklin. Instituts der Universität Berlin.
(Direktor: Geh. Rat Prof. Senator.)
Zur medikamentösen Therapie der Cholelithiasis.
Von Felix Eichler, Spezialarzt für Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten in Berlin-Charlottenburg.
Ueber die Entstehung der Gallensteine
ist viel gestritten worden. Zurzeit hat
wohl die „infektiöse Theorie“ bei weitem
die meisten Anhänger. Das Primäre ist die
Stagnation der Galle, die dann durch Ein¬
wandern niederer Organismen, vom Darm¬
kanal her (die sogenannte „deszendie¬
rende“ Infektion auf dem Wege der Blut-
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April
Die Therapie der Gegenwart 1910.
147
bahn dürfte äußerst selten sein) infiziert
wird und zu einem Katarrh der Gallenblase
und der ableitenden Gallenwege führt,
tiallenstammg und bakterielle Infektion
bind die notwendigsten Bedingungen lür
die Bildung der Gallensteine. Daß Gallen¬
stauung allein nicht zur Steinbildung ge¬
nügt, das lehren die Fälle, in denen
monatelang totale Verschlüsse des Chole-
dochus bestehen, ohne daß es auch nur
zur Eindickung der Galle kommt. Der
infektiöse Katarrh der Gallenblase verbun¬
den mit Gallenstauung führt zu einer Zer¬
setzung der Galle und zur Desquamation
der Epithelien, die Lösungsbedingungen
für das Cholesterin werden ungünstiger,
es fällt Bilirubinkalk aus und aus dem
Konglomerat der verschiedensten Zerfalls¬
produkte entsteht dann der Kern zum
Gallenstein. Dieser kann nach eventuellem
Abklingen der akuten Entzündung ohne
Beschwerden zu machen in der Gallen¬
blase ruhig liegen bleiben oder wieder zu
•einer Entzündung der Wand der Gallen¬
blase führen.
Daß es möglich ist, große verkalkte
Gallensteine durch Verabreichung irgend¬
welcher Medikamente wieder zur Lösung
xu bringen, daran glaubt jetzt wohl kein
verständiger Arzt mehr. Hier können wir
nur durch geeignete Verordnungen ein
möglichst dauerndes Stadium der Latenz
erzielen. Principiis obsta! Wir müssen
mehr als bisher darauf bedacht sein, in¬
fektiöse Katarrhe der Gallenwege und ein¬
fache katarihalisch-ikterische Erkrankungen
erfolgreich zu bekämpfen und so zu ver¬
hindern suchen, daß sich Konkremente
bilden oder daß sich bereits vorhandene
Steine weiter vergrößern. Meistens ent¬
wickelt sich aber ein Gallensteinleiden
ganz schleichend und Viele beherbergen
jahrelang Dutzende von Steinen in ihrer
Gallenblase, ohne von deren Existenz eine
Ahnung zu haben. Oftmals geben die ganz
plötzlich auftretenden Koliken erst Kennt¬
nis von dem Vorhandensein von Gallen¬
steinen und sind die Veranlassung, zum
erstenmal wegen dieses Leidens einen Arzt
zu Rate zu ziehen. Die pathologische
Grundlage dieser Anfälle besteht zweifel¬
los in Entzündungen und Muskelkrämpfen
der Gallenwege. Es fragt sich nun, wo¬
durch diese entstehen. In einer Anzahl
von Fällen wohl dadurch 1 ), daß kleine
Steine in die Gänge gelangen und deren
Wände reizen. Sicher kommen aber, wie
wir durch Riedel wissen, auch Koliken
zu stände, ohne daß überhaupt die Mög-
*) Zitiert n. Krehl, Path. Physiologie,
lichkeit einer Steineinklemmung besteht.
Das Maßgebende ist dann die Entzündung
der Schleimhaut an Blase oder Gängen,
und es spricht vieles dafür, im Auftreten
dieser Entzündung überhaupt die
Grundlage der Gallensteinanfälle zu
sehen. Abgesehen davon, daß durch das
Verlegen des Lumens eines größeren
Gallenausführungsganges durch ein Kon¬
krement Ikterus entstehen kann, wird Gelb¬
sucht bei Cholelithiasis auch häufig durch
Ausbreitung der Entzündung von der
Gallenblase aus auf die großen und kleinen
Gallenwege beobachtet. Es findet hier
derselbe Vorgang, nur in umgekehrter
Richtung, statt, wie beim Fortschreiten der
katarrhalischen Entzündung der Darm¬
innenfläche auf die Choledochusmündung
und den Ductus choledochus selbst
Das an sich schon kleine Lumen dieses
Ganges wird durch die entzündlich ge¬
schwollene Schleimhaut stark eingeengt,
und diese an sich geringen Hemmungen
genügen meist schon, die unter sehr
schwachem Drucke abgesonderte Galle zu
stauen, zur Resorption zu bringen und
Ikterus zu erzeugen.
Unser Hauptaugenmerk im Kolikanfall
sowie bei einfacher Cholezystitis und beim
katarrhalischen Ikterus muß also neben
Beheben des Schmerzes darauf gerichtet
sein, wenn möglich, die Entzündung der
Gallenwege direkt durch geeignete Des-
infizientien zu bekämpfen und eine
dünnflüssige Galle zu produzieren,
die durch die geschwollenen Ausführungs¬
gänge ihren Weg leichter nach dem Darm
findet, als eine von schleimig-dickflüssiger
Konsistenz. Dabei erscheint es aber bei
Bestehen von Ikterus nicht ratsam, eine
starke Hypersekretion von Galle anzuregen,
da bei dem geringen Sekretionsdrucke der
Galle eventuell doch eine Passage nach
dem Darm zu nicht möglich sein könnte,
und somit die Spannung in der Gallenblase
nur vermehrt und die Gelbsucht verstärkt
würde.
Die Frage ist nun, ob wir ein Medika¬
ment besitzen, das, ohne einen starken
Gallenfluß anzuregen, die Galle zu ver¬
flüssigen imstande ist, und das desinfi¬
zierend auf die Gallenwege wirkt. Viele
Autoren stellen dies strikte in Abrede.
Nach einigen neueren Untersuchungen ist
jedoch eine günstige Beeinflussung der
Galle in obengenanntem Sinne durch ge¬
wisse Medikamente nicht so ohne weiteres
von der Hand zu weisen.
Kuhn hat sich, nachdem früher Pr 6 vost
und Bin et den Einfluß von Medikamenten
19 *
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UNIVERSiTY 0F CALIFORNIA
148
Die Therapie der Gegenwart 1910.
April
auf die Galle geprüft hatten 1 ), in letzter
Zeit eingehend mit dem Studium der des¬
infizierten Wirkung einer größeren Zahl |
als innere Antiseptika empfohlener Mittel j
befaßt. Zur Bestimmung der Desinfektions- |
Verhältnisse einzelner Mittel wurde unter¬
sucht, bei welchem °/ 0 * Gehalt von Des- j
infizientien die in die Gallenblase abgeson¬
derte Gallenflüssigkeit keinerlei lebendes
Material mehr zu beherbergen fähig war.
Als Maßstab für das Aufhören des Lebens in
den Versuchsproben dienten zwei Kriterien:
Das erste besteht in der Kontrolle der
Abtötung der Keime bei einem gewissen
Gehalt an Desinfektionsmaterial durch Ab¬
impfen auf sterile Nährböden und Züchtung. !
Das zweite besteht in der Kontrolle der ]
Gasbildung. Zu diesem Zwecke wurde
eine Probe Galle mit Zucker im Verhältnis
von 1 % versetzt, dann wurden abge¬
messene Mengen mit gewissen Mengen
von Desinfektionsmitteln gemischt, in Gä¬
rungsröhrchen gefüllt und bebrüten lassen.
Das Ergebnis der Versuche war fol¬
gende Skala der Desinfektionsmittel der
Gallenwege:
Desinfiziens
Verzögerung der
| Sterilisation
!
Gasbildung
Thymol. .
0,05-0,1
0,1
Menthol. .
0,1
0,25
Na salicyl. .
0,1
0,6
Naphthol .
0,1
0,5
Aspirin . . ,
1.0
2,5
Citarin . .
2.5
5,0
Thymol und Menthol bewiesen sich wohl
in Hinsicht ihrer Desinfektionskraft, nur
werden sie nicht in Mengen in den Gallen-
wegen zur Ausscheidung kommen, die an j
oben festgelegte Zahlen heranreicht An¬
ders steht es nach Kuhn mit der Salizyl- I
säure und ihren Salzen. Sie geht in be- ;
trächtlicher Menge, wie in alle Körper- f
säfte, so auch in die Galle über und ent¬
faltet bereits bei einer Konzentration von
0,1 % einen sehr erheblichen Einfluß auf
die Fäulnisvorgänge der Galle.
Kuhn stellte sodann auch Versuche an
einem Patienten mit Gallenfistel an. Zu- |
nächst untersuchte er die Gärung der
Galle, ohne vorher Salizyl zu verabreichen:
Stunden der Gärung: 4 12 24 I 36 48 j
! ' j
Gasmenge in cm 1 3 ! 5 8 10 j
1 3 j 5 | 8 ; 10
Hierauf erhielt der Patient 4 stündlich 1 g
Na salicyl. (pro Tag 6 g). Das Versuchs¬
ergebnis in Tabellenform war folgendes:
*) Revue de m6d. de la Suisse Romande 1888, Nr. 5. ’
Größe der Gasmengen nach Salizylverordnung:
Stunden nach
Beginn der Stunden nach der Bebrütung
Salizylverab--
reichung
4 |
12 1
24
| 36 '
48
12
1.0 1
3,0 !
4,0
| 4,5 |
5.0
24
1. Tag
1.0 1
2.8
3,8
8,0
8,0
48
2. „
0.4 ,
0,5
0,7
2,25 :
2,27
72
3. .
0,1 !
1.5 ]
2.5
3,5
3,8
Es zeigte sich also eine deutliche Ab¬
nahme der Gärfähigkeit der Galle nach
Salizylmedikation, und Kuhn hält hiernach
den Einfluß der Salizylsäure allen Zweifeln
entgegen für bewiesen.
Die Resultate Useners ähneln ganz
denen von Kuhn. Die Gärungsgröße sank
nach Salizylgaben bedeutend, das anfangs
zähflüssige fadenziehende Sekret
wurde immer weniger mucin- und
eiterhaltig bis endlich klar und wasser¬
flüssig. Usener kommt auf Grund seiner
Versuche zur Ueberzeugung, daß die
Salizylsäure nicht nur eine desinfizie¬
rende Wirkung auf die in den Gallen¬
wegen zirkulierende Galle, sondern auch
einen spezifischen Einfluß auf die
Schleimhäute der Gallenwege, ihre Se¬
kretion und ihre katarrhalischen Prozesse
hat. Er empfiehlt daher praktisch durch¬
aus bei katarrhalischem Ikterus, Gallen¬
steindisposition, Gallensteinanfällen, Ent¬
zündungen und Empyem der Gallenblase
das Natrium salicyl. zu geben.
Ich möchte nicht verfehlen, gleich an
dieser Stelle auf die Bemerkung Useners
nochmals besonders hinzuweisen, daß die
Galle, die anfangs zäh und dickflüssig war,
unter Einwirkung von Na salicyl. klar und
dünn wurde. Es ist dies eine Bestätigung
einer bereits von älteren Autoren gemach¬
ten Beobachtung, die in neuester Zeit
übrigens auch Le wasche w wieder kon¬
statieren konnte.
Neben Na salicyl. wurden von anderer
Seite als wirksame Gallenantiseptika Kalo-
mel, Sublimat, Karbolsäure, Salol, Menthol,
Naphthol u. a. m. empfohlen. Doch sind
diese Mittel für innerliche Anwendung ent¬
weder zu gefährlich, oder ihre Wirkung
erschien bei exakter Nachprüfung zu wenig
intensiv oder ganz illusorisch.
In neuester Zeit hat nun Crewe aus
dem pharmakologischen Institut der Johns
Hopkins-Universität Untersuchungen über
die Ausscheidung des Formaldehyd direkt
durch die Leber und die Wand der Gallen¬
blase und seine antiseptische Wirkung ge¬
macht. Die Resultate dieser Versuche sind
sehr interessant; sie haben etwa folgendes
ergeben:
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April
Die Therapie der Gegenwart 1910.
149
Beim Gallenfistelhunde, dem 1 g Hexa-
methylenamin per os verabreicht worden
war, gab die Galle bereits 24 Stunden
spater eine deutliche Formaldehydreaktion.
Um den Nachweis zu erbringen, daß
ein Teil des Hexamethylenamins direkt
durch die Wand der Gallenblase ausge¬
schieden würde, legte Crewe den Ductus
eystic. bloß und unterband ihn. Sodann
wurden in den nächsten 2 Stunden 3 g
Hexamethylenamin in die Schenkelvene des
Hundes injiziert und die Galle, die durch
den Ductus choledochus auslief, wurde
mittels eines Katheters gesammelt. Am
Ende der Versuchszeit wurde die Gallen¬
blase entfernt und der darin befindliche
Inhalt sowie die aus dem Ductus chole¬
dochus ausgeflossene Galle mittels der
Formaldehydprobe untersucht Es stellte sich
heraus, daß die aus der Blase stammende
Galle eine intensivere Formaldehydreaktion
gab, als die aus dem Ductus gesammelte.
Zum Nachweis des Formaldehyds be¬
diente sich Crewe folgender Methode:
4—6 Tropfen Milch werden zu wenigen
ccm dem zu untersuchenden Material zu¬
gesetzt, und diese Mischung wird unter¬
schichtet mit der gleichen Menge eines Rea¬
gens, das aus 100 ccm 99°/ 0 iger Schwefel¬
säure und 1 Tropfen einer 3%igen Eisen¬
chloridlösung besteht. Die Schwefelsäure
zerlegt das Hexamethylenamin in Form¬
aldehyd und Ammoniak und ein amethyst¬
farbiger Ring entsteht an der Berührungs¬
stelle der beiden Schichten. Da die Eigen¬
farbe der Galle die Farbentinktion stört,
so wird vorher eine Portion Galle mit
Wasser verdünnt, mit Schwefelsäure sauer
gemacht und destilliert. Das Formaldehyd
geht ins Destillat über. Bei großer Form¬
aldehydkonzentration versagt die Probe.
Crewe hatte Gelegenheit, bei drei
Patienten, denen aus therapeutischen Rück¬
sichten Gallenblasenfisteln angelegt worden
waren, die antiseptische Wirkung des
F ormaldehyds auf die abgeschiedene Galle
zu studieren:
Fall 1. Eröffnung der Gallenblase wegen
Gallensteine; Sekundärinfektion der Galle.
Impfung von Gelatineplatten mit Galle:
'
1 Zahl der ge- I
Geimpft mit
’ schätzten Ko- (
1 lonien nach j
Organismen
|
24 Stunden
Platte 1 1 Tropf.Galle
12C0
B. typhös.
. 23 . ,
4000
B pyocyan
und andere
»35,
8000
i
nicht näher
bestimmte
Bakterien
Sogleich nach Anfertigung der Kulturen er¬
hielt der Patient die erste Dosis Hexamethylen¬
amin. Innerhalb der nächsten 24 Stunden er¬
hielt Patient 5 mal 0,63 g, also insgesamt 4,5 g.
4 Stunden nach der letzten Dosis wurde eine
zweite Probe Galle entnommen und auf Platten
ausgesät. Das Resultat war folgendes:
Geimpft mit
Nach 24 stQnd.
Bebrütung
Platte 1 j 1 Tropf. Galle keinWachstum
2 * 3
» Ä a » » » n
n 3(5 „ „ „ „
Die Platt,
bleiben
auchnach
4täg. Be¬
brütung
steril
NB. Die destillierte Galle gab die Formaldehyd-
reaktion.
Fall 2. Wegen häufiger Attaken von Gelb¬
sucht von langer Dauer Eröffnung der Gallen¬
blase; kein Stein gefunden. Um die Gelbsucht
zu beheben, wird die Fistel offen gelassen.
10 Tage nach der Operation wird Galle auf
Platten geimpft:
1
Zahl der ge-
Geimpft mit '
i
schätzten Ko- |
lonien mich j
24 Stunden
Organismen
Platte 1
: 5 :
i
1 Tropf.Galle j
3 * »
5 „ » |
6000
12 000
20000
B. coli, dicke
Kokken und
Luft - Orga-
| nismen
Auch dieser Patient erhielt in den folgen¬
den 24 Stunden im Ganzen 4,5 g Hexamethylen¬
amin. Sodann wurden wieder Galleaussaaten
gemacht:
| Geimpft mit
I
Zahl der ge¬
schätzten Ko¬
lonien nach
24 Stunden
i
i
Organismen
1
Platte 1 jl Tropf.Galle
40
Nur B. coli
„ 2 13 .
75
war aufge-
■ '3|5 „ „
90
gangen
9 4 |1 ccm
500
Wie aus obigen Tabellen zu ersehen
ist, nahm bei allen drei Patienten schon
kurze Zeit nach Verabreichung von 4,5 g
Hexamethylentetramin pro die der Gehalt
der Galle an bakteriellen Elementen ziem¬
lich rasch ab (Fall 2) bezw. verschwand
vollkommen (Fall 1 und 3).
Wenn dies günstige Resultat auch nicht
einzig und allein auf die desinfizierende
Wirkung des Hexamethylentetramins zu¬
rückzuführen ist, sondern wenn hierbei
auch der Umstand eine höchst wichtige
Rolle mitspielt, daß nach Anlegen der
Fistel die infizierte Galle nach außen hin
gut abfließen und so schon rein mecha¬
nisch alle pathologischen Keime mit fort¬
spülen konnte und ihnen keine Zeit zur
Ansiedlung ließ, so ist doch die Zeit, die
nötig war, um die Galle wieder vollkommen
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150
Die Therapie der Gegenwart 1910.
April
Fall 3. Eröffnung der Gallenblase wegen eitriger Gallenblasenentzündung mit Gallenstein:
Datum
Verabreichte Mengen
Hexamethylen-
tetiamin in 24 Stund.
g
Platte
Geimpft
mit
Zahl d geschätz¬
ten Kolonien
nach 24 Stunden
Bemerkungen
Dezember 4.
—
1
1 Tropf. Galle
150,000
B.coli, B. typhös, u. andere
nicht bestimmte.
n
5.
0,6
2
i „
n
150,000
Entleerung von dunkel¬
brauner Galle mit faulig.
Geruch.
n
6.
1,2
3
1 ,,
100,000
—
»
7.
2,1
4
1 „
75,000
Galle von brauner Farbe-
n
8.
2,7
5
i .
n
60,000
Farbe der Galle hat sich
verbessert.
9.
3,6
6
1 *
20,000
—
w
10.
3,6
7
i .
n
12,000
Drain wird entfernt;
Wunde heilt u. beginnt
sich zu schließen.
V
11.
4,5
8
i .
«
300
Galle ist vollkommen klar
in 24 Stunden.
»
12.
4,5
9
1 „
ft
8
Nur noch B. coli; Wunde
heilt rasch.
ff
13.
14.
4,5
4,5
10
1 11
1 ccm
1 .
steril!
n
15.
4,5
12
i . •
»
Wunde ist geheilt
steril zu machen, auffallend kurz, und diese ! legen sein. Bei der Umsetzung des Prä-
Beschleunigung der Heilung ist doch wohl , parates, die eventuell im Organismus vor
wenigstens zum Teil dem verabreichten sich gehen kann, bilden 100 Teile Sali-
Hexamethylenamin zugute zu halten. formin ungefähr 65 Teile Formaldehyd.
Weshalb sollte auch das Formaldehyd, Ich benutzte zu meinen Versuchen einen
das sich schon seit einer Reihe von Jahren Hund mit kompletter Gallenfistel und stu-
als Desinfiziens der Harnwege (Urotropin, dierte zunächst den Einfluß des Saliformins
Helmitol, Hetralin usw.) bewährt hat, und ! auf die aus der Fistel ausfließende Galle,
das in Form von Stoman- und Formamint- j Der Hund erhielt morgens 9 Uhr 250 g
tabletten als bakterizid wirkendes Mittel I Fleisch und 100 g Wasser, nachmittags
gegen akute und chronische Streptomykosen 5 Uhr 250 g Fleisch, 250 g Kartoffeln,
vielfach mit Erfolg angewendet wurde, 400 g Wasser. Um 9 Uhr morgens wurde
nicht auch auf die infizierte Galle eine der Hund in einem Gestell angeschnallt
salutäre Wirkung auszuüben imstande und die während der nächsten 8 Stunden
sein, nachdem ihr Uebergang in diese ! aus der Fistel fließende Galle würde-
sicher erwiesen ist? Uebrigens hat schon t sorgfältig gesammelt. Bereits 15 Stunden
vor mehreren Jahren Wm. Bain (Medical j nach Verabreichung von Saliformin gab-
Magazine, London, Februar 1906) bei { die Galle deutliche Formaldehydreaktion,
frischen Gallensteinanfällen, die auf Typhus- ; Die Ergebnisse dieses Versuches sind
bazillen zurückzuführen sind, das Hexa- 1 tabellarisch zusammengestellt folgende:
methylentetramin als ein Spezifikum emp- I (siehe Tabelle I S. 151).
fohlen. | Bei Betrachtung obiger Tabelle erkennt
Angeregt durch Kuhns und Useners i man, daß die Menge der abgesonderten
günstige Versuche mit Na salicyl. und die | Galle nach Verabreichung von Saliformin
guten Erfahrungen, die Crewe mit Hexa- ; nicht anstieg, sondern eher ganz wenig
methylentetramin bei eitrigen Gallenblasen- I geringer war (physiologische Schwankung),
entzündungen machte, ging ich daran, im j Dagegen trat eine deutliche Verflüssi-
Tierexperimente eine Vereinigung beider ; gung der anfangs ziemlich stark schleim-
Mittel, das Saliformin (salizylsaures Hexa- i haltigen Galle ein, was sich auch in der
methylentetramin) auf seine eventuelle des- ■ Abnahme des spezifischen Gewich-
infizierende Kraft zu erproben. Das Sali- j tes und der festen Gallenbestand¬
formin ist ein weißes, in Wasser und Al- j teile, sowie in der Erniedrigung des
kohol leicht lösliches, angenehm säuerlich I Gefrierpunktes dokumentiert,
schmeckendes kristallinisches Pulver. Es | Nunmehr prüfte ich die Gärfähigkeit
wurde bisher als harnsäurelösendes Anti- der an Normal- und Saliformintagen ab-
septikum bei Gicht, Blasenstein und bak* geschiedenen Galle mittels der von Kuhn
teriellen Erkrankungen der Harnwege j angegebenen Methode und kam zu folgen¬
empfohlen und soll dem Urotropin über- den Resultaten:
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April
Die Therapie der Gegenwart 1910.
151
Tabelle I.
Einfluß des Saliformins auf die Gallensekretion.
Ver¬
suchs¬
tag
Verordnung
Galle
in
8 Stdn.
ccm
Spez.
Ge¬
wicht
Ge¬
frier¬
punkt
In Prozenten
Gesamt-
abscheidung
Bemerkung
Trok-
ken-
substanz
Asche
Trok-
ken-
substanz
Asche
1 .
Früh 9Uhr 250 g Fleisch, 100Wasser
110
1020
0,60
6,015
0,631
6,617
0,694
Schleimig, fa-
Abend5 , 500 „ „ 400 „
denziehend.
250 „ Kartoffeln
2.
do.
110
1020
0,60
5,894
0.538
6,383
0,592
do.
3.
do.
120
1021
0,61
6,052
0,580
7,262
0,696
Ziemlich stark
schleimhaltig.
4.
do.
95
1022
0,60
6,095
0,845
5,790
0,803
5.
do. + 3 mal täglich 1,0 Saliformin
Galle nicht aufgefangen
6.
do.
80
1020
0,58
6,366
0,576
5,083
0,461
Weniger
Schleim.
7.
do.
80
1019
0,58
6,234
0.756
4,987
0,605
do.
8.
do.
90
1019
0,59
6,208
0,564
5,559
0,508
Dünnflüssig,
ohne Schleim-
beimengung.
9.
do.
95
1019
0,57
6.384
0,584
6,065
0,555
do.
10.
Normalkost
75
1020
0,58
7.440
0,732
5,396
0,549
Schleimfrei.
11.
| do.
60
1020
0,59
7,126
0,912
4,276
0,547
12.
i do.
75
1021
0,58
8,031
0,879
6,023
0,659
Etwas dick-
1
flüssig.
In 7 Normal- \ -r_
645
41,747
4,540
In 4 Saliformin- f Ta * en
345
21,694
2,129
Durchtchnilt { “*,. 8
92
86
1021
1019
0,60
0,58
6.665
6,199
0,731
0,620
5,9641 0,649
5,4241 0,532
i
Tabelle U.
Gär u ngs versuch.
Galle vom Versuchstag
1. Tag
2.
Tag
3.
Tag
4
Tag
4 Uhr
p. m.
9 Uhr
a. m.
5 Uhr
p. m.
9 Uhr
a. m.
5 Uhr
p. m.
9 Uhr
a. m.
5 Uhr p. m.
4. Versuch a . . .
0,2 cm
5,4 cm
5.8
cm
6,2 cm
6,6 cm
6,9
cm
ausgegoren
= 7,2 cm
Kontrollversuch a 1
0)3 n
5,5 „
5.8
n
6.4 „
6,8 „
6,8
9
»
8. Versuch b . . .
0,2 „
2,6 *
2,9
ff
2,9 „
3,0 „
3,3
n
3,3 cm
Kontrollversuch b 1
0,2 ,
29 n
3.2
w
3,3 ;
3,3 ^
3,4
M
3.3 ,
12. Versuch c . . .
0.5 .
3.6 .
3,7
n
4,6 „
5,8 ff
63
»
ausgegoren
Kontrollversuch c l
Spur
4.7 „
4,7
n
4.7 ,
5,0 „
5,6
n
6,4 cm
Während die maximale Gärung am
4. Tag ohne Saliformin 7,2 cm (bezw.
6,4 Versuch c 1 ) betrug, war sie unter Sali-
forminwirkung 3,3 cm.
Es ist also eine Abnahme der Gär¬
fähigkeit der Galle von Ober die Hälfte zu
konstatieren.
Ich prüfte endlich die desinfizierende
bezw. Wachstumshemmende Eigenschaft
der Saliformingalle in der Art, daß ich
Kartofielnährböden, die nach Robert
Kochs Vorschrift vorbehandelt waren, mit
1 ccm steril aufgefangener Galle bezw.
mit 1 ccm Saliformingalle bestrich, die
Galle 20 Minuten lang eintrocknen ließ
und dann in Kartoffelscheiben mit Bac.
prodigios. beimpfte. Dieser Bazillus ist zu
diesem Zwecke besonders geeignet. Er
hat bekanntlich die Eigenschaft, bei seiner
Verpflanzung auf Kartoffelnährböden einen
roten Farbstoff zu produzieren, der die
Kartoffeln erst rosarot und später intensiv
dunkelrot erscheinen läßt. Am besten ent¬
wickeln sich die Kulturen bei Temperaturen
von 200 C.
Ich teile die Resultate dieser Versuche
in der folgenden Tabelle mit: (siehe Ta¬
belle III S. 152).
Es ist hieraus deutlich ersichtlich, daß
normale Galle keinerlei nennenswerten
Einfluß auf das Wachstum von Bac.
prodigios. hat. Waren die Kartoffelscheiben
jedoch mit Saliformingalle vorbehandelt,
so wurde dadurch auf ihnen das Wachs¬
tum des Bac. prodigios. bedeutend ge¬
hemmt oder die Nährböden blieben
sogar völlig steril.
Nach dem Tierexperiment sind wir also
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152
Die Therapie der Gegenwart 1910.
April
Versuchs-1
tag I
Tabelle III.
Bakteriologischer Versuch mit Bac. prodigiosus.
Kartoffelscheibe
geimpft mit
Bac. prodigiosus
Nach 1 Tag
Nach 2 Tagen
Nach 3 Tagen
a ohne Galle
a 1 Kontrollprobe
b mit 1 ccm Galle
bestrichen
b 1 Kontrollprobe
c ohne Galle
c 1 Kontrollprobe *
d mit 1 ccm Galle
bestrichen
d 1 Kontrollprobe
e ohne Galle
e 1 Kontrollprobe
f mit 1 ccm Galle;
bestrichen
f 1 Kontrollprobe
g ohne Galle
g l Kontrollprobe
h mit 1 ccm Gallei
bestrichen
h 1 Kontrollprobe ]
Deutliche vier rosa¬
rote Impfstriche
J Bakt. Wachstum
i gegen a und a 1
) gering behindert
Deutliche rosarote
Impfstriche
do.
Vier deutlich sicht¬
bare Impfstriche
do.
Vier deutliche rote
Striche
do.
Drei blaßrote an¬
gedeutete Striche
Kein Wachstum
Vier deutliche rosa¬
rote Striche
do.
Kein Wachstum
Kein Wachstum
Starke dunkelrote
Striche
do.
Deutliche, saftige, rote
Impfstriche
Wellige rote Impf¬
striche
do.
Wachstum gegen c
l und c 1 mäßig behin¬
dert
Dicke, saftige, rote
Impfstriche
do.
Zwei zarte rote
Striche
Kein Wachstum
' Vier,starke, wulstige
\ Impfstriche
Ganz zartrosafarbene,
feine Striche
Kein Wachstum
Erhabene, wulstige,
dunkelrote Striche
do.
Dunkelrote, erhabene
Impfstriche
Striche konfluierend
dunkelrot
Dunkelrote, saftige
Striche
| Flacher Belag
I Erhabene, wulstige,
l dunkelrote, z. T. kon-
I fluierende Striche
Zwei feine, blaßrosa
Striche
Kein Wachstum
Die Striche konfluieren
do.
Zwei feine, graurosa¬
farbene, dünne Striche
Kein Wachstum
in der Lage, durch Verabreichen von Sali-
formin eine dünnflüssige Galle zu er¬
zielen, die sowohl antifermentativ als
auch antibakteriell von recht beachtens¬
werter Wirkung ist, und ich halte daher
dies Mittel für geeignet, bei äkut entzünd¬
lichen Affektionen der Gallenblase und
Gallengänge angewendet zu werden. Man
verordnet es in Dosen von 0,5—0,75 3 bis
4 mal täglich.
Haben wir nun das akute Aufflackern
der Cholelithiasis, den Kolikanfall, bezw.
die Cholezystitis und den Ikterus durch
innerliche Mittel usw. erfolgreich bekämpft
oder operiert, so bleibt uns noch die wich¬
tige Aufgabe, das chronische Leiden zu
behandeln, möglichst lange ein Stadium
der Latenz zu schaffen, bezw. den
Patienten vor einer Neubildung von Steinen
zu schützen. Denn mit der künstlichen
Entfernung pathologischer Konkremente
ist noch nicht der eigentliche Quell des
Leidens, der Katarrh, behoben, sondern
vorläufig erst das Produkt der katarrhali¬
schen Entzündung beseitigt. Riedel meint
zwar, niemals echte Rezidive nach der
Operation gesehen zu haben, die nur durch
übersehene und zurückgebliebene Steine
veranlaßt würden. Kehr, Homans,
v. Hansemann, Körte und andere haben
jedoch auch Neubildung von Steinen post-
operativ beobachtet.
Sind die frisch entzündlichen Erschei¬
nungen abgeklungen, und ist die Passage
nach dem Duodenum wieder vollkommen
frei, so werden wir vor allem einer neuen
Eindickung und Stauung der Galle Vor¬
beugen müssen und zu versuchen haben,
eine gesteigerte Sekretion von physiolo¬
gisch vollwertiger und dabei dünnflüssiger
Galle zu erzielen. Gelingt dies, so spülen
wir dadurch die noch in den Gallenwegen
vorhandenen Bakterien mechanisch fort
und lassen ihnen keine Zeit zur Ansied¬
lung. Die Zahl der als sogenannte Chola¬
goga empfohlenen Mittel ist sehr groß;
aber nur ganz wenige davon können einer
ernsthaften Kritik standhalten. Pr€vost
und Bin et sagen: „la bile est le plus
constant et le plus efficace des chola-
gogues.“ In neuerer Zeit haben unter der
Leitung von Stadelmann, Nissen, Man¬
delstamm, Gertner, Loevenson, Go-
rodezky, Glaß und Dombrowsky Beob¬
achtungen über die Wirkung zahlreicher
Medikamente auf die Quantität und Be¬
schaffenheit der Galle angestellt. Als Re¬
sultat vieler Untersuchungen erwiesen sich
nur Galle und gallensaure Salze als echte
Cholagoga; alle anderen Mittel wurden als
vollständig indifferent befunden. Auch
Wörner hat mit gallensaurem Eiweiß
(Ovogal) Versuche am Gallenfistel¬
hunde angestellt und fand ein Ansteigen
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UNIVERSiTY 0F CALIFORNIA
April
Die Therapie der Gegenwart 1910.
153
der Gallenmenge von weit über 1OO°/ 0>
dabei war die Galle an „Ovogaltagen M viel
weniger zähflüssig als an „Normaltagen“.
Zu ganz ähnlichen Resultaten gelangte
ich selbst und Latz 1 ) beim^Tierexperiment
Auch wir konnten nach Verabreichung von
Ovogal ein deutliches Ansteigen der Ab¬
sonderung dünnflüssiger Galle und eine
Vermehrung des taurocholsauren Natriums
konstatieren. Gerade auf dieses letzte
Moment möchte ich einiges Gewicht legen,
da eine an gallensauren Salzen reiche
Galle gute Lösungsbedingungen für
Cholesterin bietet. Die Befürchtung, daß
nach Verordnung von Galle leicht Haemo-
lyse auftreten kann, trifft bei richtiger Dosie¬
rung nicht zu. Ry wosch hat auf Roberts
Veranlassung die gallensauren Salze phar¬
makologisch geprüft, und bedauert, daß sie
trotz ihrer cholagogen Wirkung so wenig
therapeutisch verwendet werden.
Man verordnet das Ovogal am besten
in Gelatinekapsel ä 0,5 3—4 mal täglich,
anfangs 2 später 1 Kapsel, und läßt davon
zunächst 2 Originalschachteln ä 50 Stück
ausnehmen. Nach einigen Monaten wieder¬
holt man die Kur, und später nochmals.
Um weiterhin noch leicht antiseptisch auf
die Galle einzuwirken, kann man nebenbei
zeitweise noch Na salicyl., Urotropin oder
Saliformin geben. Daß man natürlich außer¬
dem alle wohlerprobten diätetischen, hy-
driatischen, hygienischen und sonstige
Maßregeln beachtet und geeigneten Falles
eine mehrmalige Brunnenkur anordnet,
bedarf wohl keiner besonderen Betonung.
Aus der Inneren Abteilung des Städtischen Krankenhauses in Ratibor.
Ueber Digistrophan, ein neues Kardiakum.
Von Dr. O. Boelke, Dirigierender Arzt.
Unter den Herzmitteln nehmen von jeher
Digitalisblätter und Strophantussamen mit
Recht die erste Stelle ein. Beide haben
jedoch den bekannten Nachteil einer außer¬
ordentlichen Inkonstanz in ihrer Wirkung,
der um so störender bei der Therapie
wird, weil er völlig unkontrollierbar ist, da
er auch bei äußerlich einwandfrei erschei¬
nender Droge gefunden wird. Um diesem
Uebelstande abzuhelfen, hat die Industrie
eine Reihe von Präparaten hergestellt, die
teils Ertrakte der Rohdroge herstellen,
teils die kristallinischen oder amorphen
wirksamen Toxine rein verwerten. Doch
nur ein kleiner Teil dieser Produkte ist
ohne Einbuße an typischer Wirkung ge¬
wonnen und hat den Uebelstand der In¬
konstanz mehr oder weniger verloren.
(Ich nenne die gebräuchlichsten, Digitalis
dialysat., Digalen, Strophantin.) Die
beiden letzteren haben sich vornehmlich
aus dem Grunde in der Therapie gut ein-
geführt, weil ihre subkutane beziehungs¬
weise intravenöse Anwendbarkeit und des¬
halb schnelle Entfaltung der Wirkung zur
Behebung plötzlicher Zirkulationsstörungen
bisher unübertroffen ist. Aus gleichem
Grunde jedoch ist ihr Anwendungsgebiet zu¬
gleich eingeengt und mehr oder weniger an
klinischen Betrieb gebunden. Für eine länger
dauernde Digitaliskur und besonders für
den Praktiker muß aber die Verabfolgung
eines Mittels per os die Norm bleiben.
Auf meine Anregung hin bringt die Firma
Goedecke & Co„ Berlin, ein nach einem
patentierten Verfahren für diesen Zweck
J) Archiv“ f. Verd. Kr. XV. 5.
hergestelltes kombiniertes Digitalis-Stro-
phantus-Präparat in den Verkehr, das allen
an ein derartiges Mittel zu setzenden An¬
forderungen nach meinen bisherigen Be¬
obachtungen genügt — das Digistrophan —,
das tatsächlich bei exakter Dosierbarkeit
und absoluter Haltbarkeit volle Digitalis-
Strophantuswirkung entfaltet und eine be¬
queme Anwendungsweise in Tablettenform
per os ermöglicht.
Die leitenden Gesichtspunkte, die zur
Herstellung des Digistrophan führten, waren
einmal aus der vorliegenden Literatur ge¬
geben, aus der hervorgeht, daß Strophantus
in gewissem Sinne die störende Kumu¬
lativwirkung der Digitalis mildern soll, an¬
dererseits lag die Vermutung nahe, daß
die Kombination dieser beiden ähnlich,
schließlich doch längst nicht absolut gleich¬
wirkenden Herzmittel einen besseren Heil¬
effekt erzielen müsse, als jedes gesondert,
eine Voraussetzung, die sich völlig be¬
stätigt hat.
Für die Herstellung des Digistrophan
im pharmazeutischen Sinne war die be¬
kannte Tatsache grundlegend, daß bei der
Darstellung von Fluidextrakten und trocke¬
nen Extrakten von Digitalis und Stro¬
phantus wirksame Bestandteile dieser
Drogen in Verlust geraten, da sie flüchtige
Substanzen enthalten, welche durch das
bei der Darstellung der Extrakte, beson¬
ders der trockenen, notwendige Erhitzen
naturgemäß verloren gehen müssen. In¬
folgedessen existieren bisher feste Extrakte
von Strophantus und Digitalis mit voll¬
wertiger Wirksamkeit noch nicht. Bei
20
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UNIVERSiTY 0F CALIFORNIA
154
Die Therapie der Gegenwart 1910.
April
dem obigen Verfahren ist folgender Weg
eingeschlagen worden, um Verlust von
wirksamer Substanz zu vermeiden: Es wer¬
den 100 Teile Fol. Digitalis und 50 Teile
Strophantus in der in den Pharmakopoen
üblichen Weise zu einem Fluidextrakt her¬
gestellt. Dieses Fluidextrakt wird nun im
Vakuum bei einer sehr niedrigen Tempe¬
ratur, welche 40o nicht überschreiten darf,
mit einem genau abgemessenen Quantum
eines technischen Bindemittels, z. B. Milch¬
zucker, derart verdunstet, daß das erhal¬
tene feste Extrakt entsprechend dem Ge¬
wicht der Drogen eingerichtet ist. Sind
also 100 g Fol. Digitalis und 50 g Sem.
Strophanti in Arbeit genommen worden,
so müssen 1000 Tabletten von 0,5 g = 150 g
Extrakt entsprechen. Der Arzt erhält auf
diese Weise die Möglichkeit, die beiden
Drogen Strophantus und Digitalis sehr
genau dosieren zu können, denn jede ein¬
zelne Tablette entspricht demnach 0,1 g
Fol. Digitalis und 0,05 g Sem. Strophanti
von so voller konstanter Wirksamkeit, wie
sie die frische Droge niemals bieten kann.
Neben diesen reinen Digistrophantabletten
sind für bestimmte Zwecke — Verstärkung
der Diurese — noch solche Tabletten her¬
gestellt worden, die neben 0,1 g Digitalis
und 0,05 g Strophantus noch 0,2 g Natrium-
azetat, respektive Coffein natrio acet. 0,35 g
enthalten, Kardiakum und Diuretikum
können hier also in denkbar bequemster
Weise in einer Tablette verabfolgt
werden.
Das Digistrophan erwies mir zunächst
seine prompte tonisierende Wirkung an
isolierten Kaltblüterherzen, wurde dann an
Kurve 1.
10 gesunden kräftigen Männern und dar¬
aufhin bei allen geeigneten Herz- und Ge¬
fäßkranken unter genauer Registrierung
von Blutdruck, Pulskurve, Pulszahl und
-stärke sowie Diurese eingehend geprüft
und, wie die nachfolgenden Fälle beweisen,
von einer außerordentlich prompten und
konstanten Wirkung befunden.
Die Vorversuche mit Herzgesunden
bieten nur insofern Interesse, als bei der
Digistrophandarreichung eine der besten
Droge gleiche Wirkung auf die Herzarbeit
erzielt wurde. Der Blutdruck, der bekannt¬
lich bei Gesunden unter der Digitalis¬
therapie nur wenig steigt, erhöhte sich in
unseren Fällen ebenfalls nur gering; die
an und für sich normale Pulswelle zeigte
typische und auffällig schnell einsetzende
Digitaliswirkung, während die Zahl der
Pulse im Durchschnitt von 80 auf 66 her¬
unterging. Die Diurese stieg entsprechend
dem erhöhten Blutdruck in allen Fällen.
— Nebenwirkungen traten auch bei
mehrwöchentlicher (14 Tage) Darreichung
nie auf.
Weit eklatanter dokumentierte sich die
Wirkung des Digistrophan bei Kranken
mit Kreislaufstörungen. 85 derartige Fälle
kamen im Laufe von 10 Monaten zur Be¬
handlung, und zwar 44 organische Klappen¬
fehler, 18 Herzmuskelerkrankungen, 1 Herz¬
beutelverwachsung mit Herzverlagerung,
3 Fälle von schweren Störungen der Herz¬
arbeit durch Raumbeengung im Brustkörbe,
und außerdem 19 Fälle von Herzermüdung
bei akuten Infektionskrankheiten, vornehm¬
lich bei Typhus abdominalis. Die instruk¬
tivsten Krankheitsfälle aus diesen ver¬
schiedenen Gruppen seien zur genauen
Dokumentierung der prompten Wirkung
des Digistrophan hier kurz zusammen¬
gestellt:
1 . W. K., 16 Jahre, Schlosserlehrling. Seit
2 Jahren schwerer Herzfehler nach Veitstanz.
Klinische Diagnose: Stenosis et Insufficientia
aortae et Mitralis incompensata.
Herzspitzenstoß in
der mittleren Axillarlinie.
Stauungslunge, -leber,
-milz und -niere. Zy¬
anose des Gesichts. As¬
zites. Anasarka. Puls¬
frequenz 140—160. starke
Arythmie; Blutdruck 136.
Drei Digitaliskuren
(je 3 g) mit vorüber¬
gehender Besserung, je¬
doch sank der Puls nie
unter 116. Am 27. No¬
vember 1909 bei schwer¬
ster Dekompensation
Blutdruck 138, Puls 140.
3 bis 4 mal täglich 1 Ta¬
blette Digistrophan; am
4. Dezember sämtliche Störungen verschwun¬
den; Puls 90, voll und rythmisch, Blut¬
druck 154, Diurese von 600 auf 2300 ge¬
stiegen. Zum ersten Male seit Monaten
4 Wochen rezidivfrei.
2 . G. A., 12 Jahre. Insufficientia aortae et
mitralis nach rezidivierender Polyartritis rheu-
matica. Blutdruck 113, Puls 100, Diurese 900,
beginnende Dekompensation. Ordination: Digi-
Moodteteq
Krankbeifsteg
170 Wo
160? ilo
9.170 5
150 * i60 ^ *1
160 &
IW i*o -rSO
- 130 —»
130 120 c 39
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80 37
70 ■*
60 36
30
58 51
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Die Therapie der Gegenwart 1910.
8 Tagen Puls 86, völlig rhythmisch, Blutdruck 154,
Diurese 1800 Patientin bleibt während ihres
14 tägigen Krankenhausaufenthaltes rezidivfrei.
Kurve 2.
Mooatelag | isv ] i6 j i? I ia I 19 I 20 I 21 1 22 1 Z3 I 2 V | 25. I 26 I u I 28.
später 3 Digistrophan-
tabletten, nach 5 Tagen
Blutdruck 160, Puls 112,
Diurese 1000. Am 12. Tage
Blutdruck 154. Puls fast
völlig rhythmisch 88,
bleibt ohne Beschwerden:
fernerhin normale Urin¬
mengen (2 Monate hin¬
durch beobachtet).
4. J. K.. Arbeiter, ^
24 Jahre. Myokarditis un- c
bekannter Ursache.
Spitzenstoß 2Vs cm außer- g.
halb der Warzenlinie.
Puls 126, qualitativ und
quantitativ stark aryth-
misch. Blutdruck 134,
Diurese 750. Ordination:
3 mal 1 Digistrophan-
tablette. Nach 5 'lagen
Puls 84, nahezu regulär,
Blutdruck 168, Diurese
1800, vom 10. Tage ab
normale Verhältnisse.
5. J. P., Lehrling.
14 Jahre. Pleuritis retra-
hens, Herzbeutelver¬
wachsung. Verlagerung i
des Herzens in toto um |
3 cm nach rechts (kon- g
trolliert durch Röntgen¬
bild). Beginnende Aryth-
mie, wohl bedingt durch
Zerrung und Abknickung
der großen Gefäße. Puls
periodisch irregulär
ca. 112, Blutdruck 126,
Diurese normal. Ordina¬
tion: 3 mal 1 Digistro-
phantablette. Nach 5 Ta¬
gen Blutdruck 144, Puls
100, gleich arythmisch wie
vorher. Später 80 Pulse,
jedoch kenrt trotz guten ö
Allgemeinbefindens der c
normale Herzrhythmus
nicht zurück, weil die Ur- £
sache der Erkrankung 5
nicht beeinflußt werden
konnte.
6. B. G., 34 Jahre alt.
Myokarditis mit Stauungs¬
erscheinungen im kleinen
Kreislauf bei schwerer
Kyphoskoliose. Stauungseiweiß. Knöchelödeme.
Puls 120, Blutdruck 126, Diurese 650. Ordi¬
nation: 3 Digistrophantabletten täglich. Nach
Kurve 3,
Monatstaq 113VH 1 1 «t 1 IS 1 16 1 17 [ 16 I 19 ] 20 \ 21 . 22. 23. 2<r 25 26.
Krankbetrsl
Stuhl
Urin
Monatstdq 3JX V 5 6
! Krankheitstag | 1 2 3
1100
MonaKstaq. |5VI 1 6 [ 7, | fl. | 9. 1 10 1 11 |12 1 IS | 14 | 15. 1 16. 1 17 1 18.
Krankheitsl
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156
Die Therapie der Gegenwart 1910.
April
Blutdruck 144. 2 Tage später kritischer Abfall,
schnelle Resolution.
8. A. St., 16 ! /a Jahre. Herzermüdung bei
Typhusrekonvaleszenz. Doppelseitige Throm¬
bose der Vena femoralis. Puls ca 160, jagend,
fast unfühlbar. Blutdruck 104, tiefe Zyanose.
24 Stunden hindurch nach Eintritt der bedroh¬
lichen Symptome Annaleptika und fortlaufend
Digistrophan. 4 Tabletten täglich. Am 5. Tage
der Therapie Blutdruck 140. Puls 84, voll und
rhythmisch. Weitere Rekonvaleszenz ungestört.
In ähnlicher Weise zeigte sich die hervor¬
ragend tonisierende Wirkung der Digitalis-
Strophantuskombination auf die Herz¬
tätigkeit in allen anderen Fällen. Wenn
der klinische Herzbefund überhaupt noch
eine Besserung erwarten ließ, erfolgte sie
unter der Wirkung des neuen Mittels in
weitgehendem Maße. Besonders deutlich
spricht sie sich im Falle 1 aus, weil hier
der Heilerfolg der Digistrophankur mit der
vorangegangenen The¬
rapie der reinen Digi¬
talisdroge einen Ver¬
gleich gestattet, der so¬
wohl in Stärke als auch
Dauer der Wirkung zu¬
gunsten des Digistro¬
phan ausfällt. Sehr gut
läßt auch Kurve 7 (Pneu¬
monie) diese Wirkung
erkennen. Trotzdem die
Temperatur in continua
auf 40 Grad bleibt, sinkt
die Pulszahl von 130
auf 90 ab. — Der Voll¬
ständigkeit wegen sei
noch hinzugefügt, daß
Herzinsuffizienz bei pri¬
mären Nierenleiden, wie
zu erwarten war, eben¬
so wie durch Digitalis
auch Jjdurch Digistro¬
phan im allgemeinen
keine Beeinflussung er¬
fuhr, speziell blieb die
Steigerung der Diu¬
rese aus.
Der allgemeine Ueber-
blick über die Wir¬
kungsweise des letzte¬
ren bringt folgende
Punkte des therapeuti¬
schen Effektes haupt¬
sächlich zur Geltung:
Erhöhung der Schlag¬
tiefe und Herabminde¬
rung der Schlagzahl des
Herzens, Verschwinden
der Arythmie in denk¬
bar weitestem Maße. Der
Blutdruck (gemessen
nach Riva-Rocci mit Recklinghausen-
scher Manschette) wird konstant und ent¬
sprechend einer guten Digitaliswirkung er¬
höht. Bei der Beobachtung einiger Myo¬
karditiden konnte das auch von anderen
Autoren als paradox bezeichnete Verhalten
— erhöhter Blutdruck bei außerordentlich
kleiner Pulswelle — bestätigt werden; es
erfuhr unter der Therapie eine Einstellung
auf die Norm, d. h. trotz Kräftigung des
Pulses und Erniedrigung der Schlagzahl
mit schwindender Arythmie sank der ur¬
sprünglich erhöhte Blutdruck in mehreren
Fällen infolge der gebesserten Herzarbeit
auf die Norm ab. Konform der Besserung
der Herztätigkeit war stets eine Steigerung
der Diurese auf resp. über die Norm zu
Temperatur 40°. Ordination: 4 Tabletten täg¬
lich, nach 5 Tagen Temperatur 39,9 u , Puls 94,
Kurve 6.
Kurve 7.
Mondtag
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April
Die Therapie der Gegenwart 1910.
157
verzeichnen, die sich durch die Darreichung
von Digistrophandiuretikum noch erhöhen ’
ließ. Betont muß bei der Digistrophan- |
therapie der schnelle Eintritt und die re- j
lativ lange Dauer der Wirkung werden, j
zwei Faktoren von großem therapeutischen
Werte. Das Digistrophan wird von den
Verdauungsorganen auch bei schweren
Infektionskrankheiten stets gut vertragen; 1
es hat keinen schädigenden Einfluß, vor I
allem nicht auf die Nieren. Bei einzelnen I
Kranken mit schweren Stauungserschei- I
nungen der Baucheingeweide trat wohl j
durch die Wirkung des Strophantus auf
den Nervus splanticus (vergl. Magnus
und Gottlieb) in den ersten Tagen 2 bis
3 mal ohne jede subjektive Störung oder
gar Schmerz breiiger Stuhl auf, eine j
Nebenwirkung, die in diesem Falle ge¬
radezu erwünscht sein muß. Störende
Kumativwirkung wurde in keinem Falle
beobachtet. Die Dosierung ist denkbar
einfach, da die wirksame Substanz, wie aus
dem chemischen Teil hervorgeht, für jede
Tablette feststeht. Täglich 3 mal 1 Tablette
genügt für die Mehrzahl der Fälle; wo es
nötig ist, erhöhen 4 Tabletten diese Wir¬
kung und werden gut vertragen.
Kurz zusammengefaßt stellt danach das
Digistrophan ein nach speziellem Verfahren
gewonnenes Herzmittel dar, das alle wirk¬
samen Bestandteile bester Digitalisblätter
und Strophantussamen entfaltet und dabei
doch störende Kumulation ausschaltet. Das
Herstellungsverfahren sichert dem Mittel
neben absoluter Haltbarkeit und bequemster
Dosierbarkeit eine dauernde Konstanz und
Intensität der Wirkung, welche der der
Droge weit voransteht. Infolge dieser
Vorzüge verdient das Digistrophan bei
allen geeigneten Herzkranken in Anwen¬
dung zu gelangen.
Ein neuer Apparat zur Asthmabehandhing.
Von Dr. G. Zuelzer - Berlin.
Auf meine Veranlassung haben die
Drägerwerke in Lübeck einen Apparat
konstruiert, welcher speziell den Forde¬
rungen, die bei Behandlung des Asthmas
aufzustellen sind, gerecht wird; daneben
kann er auch zweckmäßig zur Behandlung
des Emphysems benutzt werden. Als das
wesentlichste Moment im akuten asthma¬
tischen Anfall betrachte ich — in Ueber-
einstimmung mit einer Reihe von Autoren —
die primäre Lungenblähung, während die
Fluxionshyperämie der Bronchialschleim¬
haut, die, wie ich zeigen konnte, 1 ) bei dem
sonst typischen Bilde des Bronchialasthmas
fehlen kann, nur von sekundärer Bedeu¬
tung ist. Ich hatte deshalb seinerzeit zur
Beseitigung der Lungenblähung im Anfall
die Atropininjektion (mindestens 1 mg)
empfohlen. Es ist klar, daß es in jeder
Beziehung günstiger für den Kranken ist,
wenn man dasselbe Ziel auf mechanischem
Wege erreichen kann. — Eine Folge der
Lungenblähung (Talma, Strübing) nach
anderen jedoch eine Ursache derselben,
ist der veränderte Atemtypus im Anfall.
Der Asthmatiker atmet im Anfall mit ver¬
längertem und vertieftem Inspirium und
verkürztem und forciertem Exspirium.
Talma, Strübing, Saenger u. A. haben
auf verschiedene Weise versucht, diesen
Atemtypus durch die Willensenergie des
Kranken umzuändern. Es ist dieses jeden¬
falls leichter zu erzielen, wenn wir dem
Kranken den richtigen Atemtypus durch
einen mechanisch einstellbaren Apparat
*) Therapie der Gegenwart, September 1906.
quasi aufoktroyieren können. — Zur Er¬
reichung dieser beiden therapeutischen
Forderungen ist die Ein- und Ausatmung
bei dem Apparat vollkommen voneinander
getrennt, sowohl was die zeitliche Dauer,
als was den Druck während der einzelnen
Phasen anbelangt. Der Kranke kann unter
einem beliebigen positiven Druck (bis zu
40 cm Wasser höhe) einatmen, und unter
einem, davon unabhängigen, beliebigen
negativen Druck (ebenfalls bis zu 40 cm
Wasserhöhe) ausatmen. Die Atmungsdauer
ist gleichfalls in beiden Phasen unabhängig
voneinander und beide Faktoren sind
jederzeit leicht regulierbar. — Man läßt den
Kranken beispielsweise zu Anfang unter
einem niedrigen Ein- und Ausatmungsdruck
etwa während 2 Sekunden ein- und 3 Se¬
kunden ausatmen, steigert dann allmählich
den negativen Ausatmungsdruck bis auf 30,
selbst bis auf 40 cm Wasserhöhe, und steigert
gleichzeitig die Ausatmungsdauer auf 4, 6, 8,
10, ja selbst 15 Sekunden. Die Erfahrung
lehrt, daß die Kranken sich sehr schnell
dem Apparat anzupassen lernen. Auch in
der anfallsfreien Zeit ist der analoge Atem¬
typus anzuwenden. Nach einer Atmungs¬
dauer von 3—4 Minuten an dem Apparat
läßt sich ein Zurückgehen der Lungen¬
grenzen beim Asthmatiker um 2—3 Quer¬
finger auf der Höhe des Exspiriums nach-
weisen. Die Kranken fühlen sich ganz auf¬
fällig erleichtert. Eine gleichzeitig mög¬
liche Einatmung von ätherischen Oelen,
wobei der herrschende positive Druck das
Eindringen der Gase in die kleinsten Bron-
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UNIVERSiTY 0F CALIFORNIA
158
Die Therapie der Gegenwart 1910.
April
chien begünstigt, ist ein Heilungsfaktor für
die häufigen bronchitischen Komplikationen.
Der Apparat ist folgendermaßen konstruiert:
Komprimierte Luft oder Oj bilden das Betriebs¬
mittel; der Hochdruck in dem Zylinder wird
Atlrtfu«
SfdKut
*******
durch ein Ventil A auf 5 Atmosphären redu¬
ziert Unter diesem konstanten Druck strömt
das Gas in eine Zweigleitung zu zwei Saug-
bezw. Druckdüsen. Die Saug- und Druckwir¬
kung der einen Düse B dient dazu, die Lunge
mit der nötigen Luft zu füllen und wieder zu
entleeren. Die Saug- und Druckwirkung der an¬
deren Düse C dient dazu, die Ein- und Ausatmung
genau nach der gewünschten Zeit zu regulieren
und umzuschalten. Die Umschaltung geschieht
mittels eines Lederbalgs D nach dem beim
„Pulmotor* angewendeten Prinzip.
Die Zeitregulierung wird bewirkt durch zwei
Drosselungshähne E, welche die Luft in einer
bestimmten Zeit in den Lederbalg hineinpressen
bzw. heraustreten lassen.
Die Regulierung des
Ein- und Ausatmungs¬
drucks geschieht mittels
mehr oder weniger zu
belastender Ventilklap¬
pen F, die sich öffnen
resp. schließen; der ge¬
wünschte Ueber- oder
Unterdrück wird auf
einem Manometer ange¬
zeigt. Die Ein- und Aus¬
atmungsluft wird in ge¬
trennten Schläuchen zur
Maske geleitet resp. von
derselben abgeführt.
Schlechte Ausatmungs¬
luft kann auf diese
Weise nicht zum zwei¬
ten Male in die Lungen
gelangen. Auch diese
Art der Zu- und Ableitung ist dem Prinzip des
„Pulmotor“ entnommen. In die Luftzuleitung
ist ein Verdunster G eingeschaltet, der mit
Wasser zwecks Anfeuchtung oder mit einem
flüchtigen Medikament beschickt werden kann.
Auch kann der Medikamentenvemebelungs-
apparat nach Spieß dem Einatmungsrohr ein¬
gefügt werden H. Der Apparat ersetzt voll¬
kommen eine pneumatische Kammer.
Genuß und Genußmittel.
Von Dr. Wilhelm Sternberg, Spezialarzt für Zucker- und Verdauungs-Kranke in Berlin.
Die moderne Physiologie der Ernährung
beurteilt den Wert der Nahrung lediglich
nach zwei Werten, dem physikalischen
Brennwert und chemischen Nährwert.
Uebersehen wird dabei ein Wert. Das ist
der Genuß wert. Daß man diesen Wert bis¬
her übergangen hat, ist in der Tatsache be¬
gründet, daß man die Aufgaben der Küche
außer acht gelassen hatte. Wenn man da¬
her fortfährt, die Technik der Küche zu
übersehen, dann bleibt nicht bloß die Be¬
wertung der Nahrungsmittel und Lebens¬
mittel, sondern auch das Urteil über die
Genußmittel einseitig. Denn die praktische
Ernährungstechnik in der Küche und die
theoretischen Wissenschaften der Ernäh¬
rung im Laboratorium, die Verdauungs¬
und Stoffwechsellehre, nehmen in der Be¬
trachtung ihrer Objekte einen grundsätzlich
abweichenden Standpunkt ein, worauf ich 1 )
bereits hingewiesen habe.
Die Technik hat einzig und allein die
Eigenschaften ins Auge zu fassen, wäh¬
rend die Theorie die Wirkungen aus-
x ) „Stoffwechsel, Verdauung und Ernährung".
Zbl. f. Physiologie u. Pathologie des Stoffwechsels
1909, Nr. 16. — „Ernährungslehre und Ernährungs¬
technik". Ztsch. f. physik. u. diät. Ther. 1909.
schließlich betrachtet. Und daß diese Ver¬
schiedenheit zu den abweichendsten Re¬
sultaten führen muß, das zeigt die Bewer¬
tung der Genußmittel in der Wissenschaft
einerseits und in der alltäglichen Praxis
des Lebens andererseits. Wenn aber ein
Widerspruch zwischen Wissenschaft und
Leben entsteht, so sagt Liebig, dann hat
die Wissenschaft Recht und das Leben
Unrecht.
In dem neuesten Werk über Physiologie
von Zuntz-Loewy 1 ) macht Zuntz fol¬
gende Angabe: „Von den Würzstoffen
müssen wir eine zweite Gruppe von Ge¬
nußmitteln scheiden, welche nicht so sehr
auf den Verdauungsapparat“ — also
nicht so sehr auf den Magen und Darm —
„vielmehr nach ihrer Resorption* — also
noch jenseits des Darms — „auf das
Nervensystem wirken. Bei den alkohol¬
haltigen Getränken, bei dem Wein, wie bei
den alkaloidhaltigen Genußmitteln, Tee,
Kaffee, Schokolade, ebenso beim Tabak
sind es die letzteren Wirkungen* —
also die Wirkungen jenseits der Verdauung
und jenseits der Aufsaugung — „haupt-
x ) Lehrbuch der Physiologie des Menschen 1909,
S. 708.
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April
Die Therapie der Gegenwart 1910.
159
sächlich, wegen deren die betreffenden
Mittel genommen werden. Wir erstreben
eine Anregung unseres Zentralnerven¬
systems, Beseitigung des Ermüdungsgefühls
und unbehaglicher Stimmung. 11
Allein diese in der Wissenschaft heut¬
zutage allgemein herrschende Ansicht Ober
den Zweck und Wert des Genusses erschöpft
den Begriff des Genusses durchaus nicht.
Der Genuß beschränkt sich nämlich keines¬
wegs bloß auf die Wirkung.
Wäre es richtig, daß die Wirkung einzig
und allein oder auch nur hauptsächlich den
Genuß ausmachte, dann würde ja der Ge¬
nuß ebenfalls auch dann eintreten, wenn
nicht durch die erste Mündung des Ver¬
dauungsschlauches uns die Genußmittel und
Leibgerichte einverleibt würden, sondern
mittels der Magenpumpe in den Magen
oder durch Klystier in die dem Munde ent¬
gegengesetzte Mündung, in den After, wie
dies Wiel 1 ) tatsächlich vorgeschlagen hat.
Und doch bestimmen die kaufmännischen
Sachkundigen den wirklichen Wert ihrer
Genußmittel dadurch, daß sie eine Probe
gerade in den Mund und nur in den Mund
nehmen, die sie alsbald wieder ausspeien,
vor jeglicher Einwirkung auf Magen, Darm
oder gar Nervensystem.
Wäre die Ansicht der modernen Ernäh¬
rungsphysiologie richtig, wie sie auch von
Zuntz geteilt wird, dann würde die Wirkung
der Genußmittel es sein müssen, welche
ihren Preiswert bestimmt. Das ist aber
tatsächlich keineswegs der Fall. Der Preis¬
wert der Weine, der Biere, der Liköre und
so fort hängt durchaus nicht vom Alkohol¬
gehalt ab, der Preiswert des Kaffees und
der Teequalitäten nicht vom Gehalt an
Alkaloiden.
Wäre die allgemeine Ansicht der theo¬
retischen Forschung richtig, dann würde
auch der Geldwert aller gleichartigen Ge¬
nußmittel, z. B. aller Weine, aller Kaffee¬
sorten, aller Teequalitäten und so fort unter¬
einander stets der gleiche sein. Aber auch
dies widerspricht allen Tatsachen des täg¬
lichen Lebens.
Andererseits gibt es Genußmittel, welche
gar keine Wirkung entfalten. Das Koch¬
salz übt so wenig Wirkung auf den ge¬
sunden Körper aus, daß wir seine Lösung
die „physiologische Salzlösung" nennen und
dem einfachen oder gar destillierten Wasser
in gewissen Fällen vorziehen. Und doch
ist der Genuß des Salzes ein unleugbarer,
und das Bedürfnis nach diesem Genüsse seit
jeher ein so allgemeines, daß es eine eigene
Bezeichnung führt „Salzhunger".
l ) „Tisch für Magenkranke“. Karlsbad 1880, S.65.
In manchen Fällen von Diabetes kann
der Genuß von mäßigen Mengen Rohr¬
zuckers ohne jede Wirkung bleiben, so
daß der Zucker quantitativ wieder ausge¬
schieden wird. Dennoch hat der Zucker
einen Genuß geboten, trotzdem er gar
keine Wirkung gehabt hat.
In manchen Darmkrankheiten kann der
Genuß mancher verbotenen Genußmittel
ohne Wirkung bleiben, so daß diese quan¬
titativ aus dem Darm entleert werden. Und
dennoch hat das Genießen der Genußmittel
einen Genuß bereitet.
Ein tatsächlicher Genuß ist unverkenn¬
bar, auch wenn die Wirkung überhaupt
gar nicht eintritt. Der Genuß der alkaloid-
oder alkoholhaltigen Genußmittel tritt auch
dann ein, wenn die Anregung oder die
Beseitigung des Ermüdungsgefühls und der
unbehaglichen Stimmung gar nicht von¬
nöten ist oder überhaupt nicht gewünscht
wird, möglicherweise gar vermieden werden
soll.
Nicht nur die von den Genußmitteln
bieten einen Genuß, deren Wirkung null
und nichtig ist, sondern sogar die Ge¬
nußmittel, welche eine schädliche Wir¬
kung zeigen, deren Wirkung also einen
negativen Wert bedeutet. Das ist es ja,
weshalb man neuerdings als „Gifte" die Ge¬
nußmittel ansieht und von „Giftwirkung“ des
Genusses spricht Aber der gegenteilige
Fall tritt höchst bezeichnenderweise nicht
ein. Es ist durchaus nicht etwa der Fall,
daß die Mittel, welche eine nützliche Wir¬
kung zeigen, deren Wirkung also einen posi¬
tiven Wert nach einer gewissen Richtung
hin bedeutet, nämlich die Heilmittel, einen
Genuß auszuüben vermögen. Von all den
zahlreichen Arzneimitteln der humanen und
der veterinären Medizin aller Länder und
aller Zeiten ist nicht ein einziges ein Ge¬
nußmittel. Vielmehr ist das diametral Ent¬
gegengesetzte der Fall. Beim Genießen
der Arzneimittel tritt nicht wie beim Ge¬
nießen der Genußmittel ein Genuß ein,
sondern das polare Gegenteil. Das ist der
Ekel, der sich zum Genuß verhält wie po¬
sitiv zu negativ. Und dieses Unbehagen
stellt sich sogar bei Tieren ein, so daß die
Einnahme von Arzneimitteln in der Vete¬
rinärmedizin noch viel mehr Sorgfalt er¬
fordert, als in der Humanmedizin. Selbst
wenn die Beschwerden und Schmerzen noch
so quälende und lästige gewesen sein
mögen, und die Medizin wirklich schon
ihre Beseitigung sicher bewirkt hat, so ist
damit doch noch kein Genuß eingetreten.
Denn die Freiheit von Beschwerden und
die Schmerzlosigkeit, also der Nullpunkt,
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160
Die Therapie der Gegenwart 1910.
April
ist bei weitem noch nicht ausreichend für
den Genuß. Vielmehr verlangt der Genuß
noch einen positiven Wert. Ja, der
Unterschied geht noch viel weiter. Wenn
eine Koffeindosis oder Alkoholgabe, Ni¬
kotindarreichung wirklich schon die „An- !
regung unseres Zentralnervensystems, Be¬
seitigung des Ermüdungsgefühls und un¬
behaglicher Stimmung" bewirkt hätte, so
wäre diese arzneiliche Wirkung doch noch
kein Genuß. Wäre dies tatsächlich der
Fall, dann würde ja die moderne Wissen¬
schaft die technische Herstellung solcher
Dosen von diesen wirksamen Prinzipien
der Genußmittel erstreben. Dann würde
also die gerade entgegengesetzte Richtung
der heutigen Abstinenzbewegung einsetzen.
Wenn dies aber tatsächlich trotzdem noch
nicht eingetreten ist, dann ist dies nur in
der unbewußten Einsicht begründet, daß
der einzige Genuß doch nicht die von Zuntz
angenommene Wirkung ist. Nicht einmal
der Genuß des Morphiumsüchtigen liegt in
der Beseitigung der Beschwerden und in der
Anregung. Die Anregung allein ist jedenfalls
nicht der Genuß im eigentlichen Sinne.
Bei dem Genuß kommt es hauptsächlich
oder zuerst gerade nicht auf die Wirkung
der Genußmittel an, wie ich 1 ) bereits
bewiesen hatte. Vielmehr sind es ihre
Eigenschaften, also die örtlichen Reiz-
! Wirkungen gerade in den ersten Wegen,
auf die es beim Genuß ankommt. Kinder
machen sich ein Vergnügen aus dem Ge¬
nuß von Bonbons, Näschereien, Schokolade.
Einen Genuß haben sie so lange und nur
so lange, so lange diese Genußmittel im
Munde verweilen. Sofort hört der Genuß
auf, mit dem Moment, mit dem das Genu߬
mittel den Mund verlassen hat. Wenn die
Kinder, wie das öfter vorkommt, etwa aus
Unachtsamkeit die Bonbons oder die Genu߬
mittel verschluckt haben, bevor sie sie mit
dem Speichel aufgelöst und im Munde auf¬
gesaugt haben, so haben sie sofort den
Genuß eingebüßt, trotzdem der Zucker
seine Wirkung voll und ganz entfalten
kann.
Daraus ergibt sich, daß die Auffassung
der modernen exakten Wissenschaft und
der theoretischen Forschung über den Ge¬
nuß prinzipiell unrichtig ist.
Ans der chirurgischen Abteilang des städtischen Angaste ViktoriarKr&nkenh&ases
za Schöneberg-Berlin.
Die chirurgische Behandlung der Tuberkulose.
Von W.
Den mischinfizierten geschlossenen
tuberkulösen Abszeß behandele ich, so lange
es irgend geht, genau in derselben Weise
wie den gewöhnlichen; es gelingt mir im
allgemeinen, wenn die Mischinfektion keine
zu schwere ist, ihrer Herr zu werden, und
ihn in einen gewöhnlichen kalten zu ver¬
wandeln. Gelingt dies nicht, oder sind die
Erscheinungen des Abszesses von vorn¬
herein zu stürmische, ist er zu heiß, so
lege ich eine kleine Inzision an, ein Drain¬
rohr ein und gehe, nachdem die akuten
Erscheinungen abgelaufen sind, wie bei der
Fistelbehandlung vor.
Nun einiges zur Technik der Punk¬
tion und Injektion! Der kalte Abszeß
darf nie, wie das noch vielfach geschieht,
auf seiner Höhe punktiert werden. Ich
gehe grundsätzlich von der Peripherie, vom
gesunden Gewebe aus. Von hier aus
steche ich schräg ein und vermeide so
mit großer Sicherheit, daß der Stichkanal
fistulös wird. Besonders wichtig ist dies,
wenn der Abszeß der Perforation nahe
ist, wenn seine Decke papierdünn und
stark gerötet ist. Ich bringe solche
Abszesse in der Regel ohne jede Narbe
zur Ausheilung, was besonders an kos-
Kausch. (Schluß).
metisch in Betracht kommenden Stellen
wichtig ist.
Bei kleinen Abszessen, ferner bei solchen
von großer Tiefe, wo ich Neben Verletzungen
fürchte, nehme ich die oben bereits er¬
wähnte Spritze. Sonst benutze ich grund¬
sätzlich den Troikart und richte mich bei
dessen Kaliber nach der Größe des Ab¬
szesses. Im allgemeinen enthält der kalte
Abszeß, je größer er ist, um so mehr Ge-
websfetzen und läßt sich infolgedessen
schwerer vollständig entleeren.
Sobald ich den Troikart nehme, mache
ich zuvor mit einem kleinen Skalpell eine
ganz kleine Inzision durch die Kutis, die
soeben den Troikart ohne Spannung der
Haut durchtreten läßt. Man erlebt zu leicht
ohne diese Inzision, daß die Haut durch
das auch nur kurze Zeit liegende Instru¬
ment in ihrer Ernährung gestört wird in¬
folge der starken Auseinanderdrängung;
eine kleine Nekrose genügt aber, um zur
Fistel und damit zur Sekundärinfektion zu
führen. Die kleine Inzision wird durch
l ) „Grundsätze für den Genuß der Genußmittel. “
Thcrap. d. Gegenwart, März 1909. — «Die Alkohol¬
frage im Lichte der modernen Forschung.“ 1909.
Leipzig, Veit & Co.
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Die Therapie der Gegenwart 1910.
161
eine Drahtnaht verschlossen. Bei sehr
großen Abszessen, namentlich zwerchsack¬
förmigen, punktiere ich auch gleichzeitig an
zwei Stellen.
Nehme ich die Spritze, so aspiriere ich
den Abszeßinhalt, schraube alsdann die
Spritze ab, fülle sie mit Jodoformglyzerin
und spritze ebensoviel davon ein, wie die
Eitermenge betrug. Verwende ich den
Troikart, so lasse ich zunächst den Eiter
spontan ablaufen, dann komprimiere ich
den Abszeß, um ihn möglichst vollständig
zu entleeren. Ich tue dies im bewußten
Gegensatz zum Vorgehen bei heißen Ab¬
szessen, bei denen ich das Ausdrücken,
wie es noch immer vielerorts geübt wird,
vollständig verwerfe: es nützt nichts,
schadet vielleicht und verursacht dem Pa.
tienten ganz unnötige Schmerzen. Ver¬
stopft sich das Troikartrohr, so führe ich
eine gerade Sonde durch oder ich stoße
den Mandrin noch einmal vor; hilft auch
dies nicht, so injiziere ich Kochsalz oder
Sublimat.
Der kalte Abszeß soll stark mit
Jodoformglyzerin gefüllt werden,
dieses soll unter Druck stehen, so
daß es in die Wandung eingepreßt
wird. Im allgemeinen genügt das soeben
bereits erwähnte, dem abgelassenen Eiter
gleiche Quantum. Grundsätzlich injiziere
ich nicht mehr als 100 ccm, von dieser
Menge habe ich nie Schaden gesehen.
Der kalte Abszeß besitzt eine derbe, aus
starken Bindegewebsschichten bestehende
Wandung, die außerordentlich langsam re¬
sorbiert und so fest ist, daß sie erst bei
sehr hohem Drucke birst. Es ist etwas
völlig anderes, ob ich dasselbe Quantum
Jodoformglyzerin in einen kalten Abszeß
injiziere, oder in eine Gelenkhöhle, einen
Fungus und anderes Gewebe.
Ist die Abszeßhöhle so groß, daß ich
zur Füllung unter Druck mehr als 100 ccm
benötige, so gehe ich anders vor. Ich
lege jetzt weit größeres Gewicht auf die
völlige Entleerung des Abszesses von allen
Bröckeln und Gewebsfetzen; ich spüle den
Abszeß mit Sublimatlösung 1/1000 so oft
durch, und zwar auch mit Druck, bis die
Flüssigkeit ziemlich sauber und frei von
Brocken zurückfließt. Das Sublimat ent¬
ferne ich durch Kochsalz. In den voll¬
ständig von Kochsalz entleerten Abszeß
spritze ich nunmehr 100 ccm Jodoform¬
glyzerin, verschließe ihn mit Drahtnaht
und lege einen stark komprimierenden
Verband an, damit auch jetzt das Jodoform¬
glyzerin unter Druck steht. Ich wiederhole
dies Manöver öfter, als wie ich sonst die
kalten Abszesse punktiere, etwa alle acht
Tage, und es gelingt mir auf diese Weise
in der Regel schnell, große Abszesse zur
Verkleinerung zu bringen. Ist dies er¬
reicht, so gehe ich wie gewöhnlich vor.
Nicht prall gefüllt werden darf ferner
ein Abszeß mit dünner Decke; die Per¬
foration wäre sonst die sichere Folge. In
solchen Fällen wird sorgfältig alles ent¬
leert, nur ganz wenig Jodoformglyzerin
injiziert und erst parallel mit der zu¬
nehmenden Dicke der Wandung Druck an¬
gewandt.
Die Punktion des gewöhnlichen kalten
Abszesses wird wiederholt,- sobald sich
wieder eine stärkere Füllung bemerkbar
macht, im allgemeinen in zwei bis vier
Wochen.
Die Reaktion des Organismus ist die¬
selbe wie bei der Injektion von Jodoform¬
glyzerin in ein Gelenk. Die Anästhesierung
geschieht mit Schleichscher Lösung oder
Aetherrausch.
Nun noch einiges über Abszesse an be¬
sonderen Körperstellen.
Bei Abszessen, die oberhalbdesPou part¬
seben Bandes liegen, und die nicht so groß
»ind, daß ich sicher bin das Peritoneum zu
vermeiden, lege ich eine größere Inzision an,
schiebe das Bauchfell zurück und steche erst
jetzt ein. Selbstverständlich wird die Wunde
durch Naht verschlossen.
Re t ro pharyngeal ab szesse punktiere ich
von der Mundhöhle aus und injiziere nur wenig
Jodoformglyzerin. Liegt der Abszeß mehr
seitlich, so daß ich ihn von der Seitenwand des
Halses leicht erreichen kann, so ziehe ich dies vor.
Ich will mich über die Wirkungsweise
des Jodoformglyzerins nicht eingehender
auslasse n, um so weniger, als ich hierüber
nichts neues bringen könnte. Das wirk¬
same Prinzip ist offenbar die bereits er¬
wähnte intensive Reaktion, die der Injek¬
tion folgt. Der kalte Abszeß ist indolent,
sein Inhalt besteht hauptsächlich aus De¬
tritus, seine Wand ist eine derbe, geföß-
arme, wenig durchlässige Membran. Analog
verhalten sich die tuberkulösen Fisteln;
schlaffe, blasse Granulationen kleiden ihre
Wand und Mündung aus. Die Reaktion
führt zu lebhafter Hyperämie und zum
Einwandern von Leukozyten. Heile ver¬
danken wir es in erster Linie, wenn wir
heute einen klareren Einblick in die Wir¬
kungsweise des Jodoformglyzerins haben:
es werden dadurch Leukozyten in den
Abszeß gezogen, die dessen Bestandteile
verdauen und so resorptionsfähig machen;
dem kalten Abszesse fehlen diese Stoffe,
während der heiße deren zuviel besitzt.
Daß die Reaktion energischer wird, wenn
das Jodoformglyzerin mit Gewalt in die
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Die Therapie der Gegenwart 1910.
April
Wand des Abszesses und der Fisteln ge¬
preßt wird, ist erklärlich. Wir haben
jedenfalls regelmäßig gefunden, daß die
Resultate weit ungünstiger waren, wenn
wir nicht typisch in der Weise, wie ich
das soeben für den Abszeß ausführte und
für die Fisteln sogleich beschreiben werde
vorgingen: wenn zu wenig Jodoform¬
glyzerin genommen, wenn der Abszeß
nicht völlig oder gar nicht entleert, wenn
die Wandung nicht unter Druck gesetzt
wurde. Und darauf führen wir auch die
Differenzen in den Resultaten zwischen uns
und anderen, die weniger konsequent ver¬
fuhren, zurück.
Von den zahlreichen Ersatzmitteln,
die sowohl für das Jodoform wie für das
Glyzerin angegeben worden sind, kann ich
mich für keines begeistern. Ich gebe aber
zu, daß ich wenig Erfahrung darin habe,
ich urteile mehr nach den Mitteilungen
anderer. Ich sehe jedenfalls im Augen¬
blick keine Ursache, vorausgesetzt, daß
man vorsichtig ist, vom Jodoform sowohl
wie vom Glyzerin abzugehen. Ich habe
schwere Intoxikationen oder gar Todes
fälle bei meinem Vorgehen nie gesehen.
Besteht Albuminurie, die ja nicht immer
gleich auf Amyloid der Niere zu beruhen
braucht, so ersetze ich das Glyzerin durch
Gummiarabikum oder Olivenöl. Bekannt¬
lich reizt Glyzerin die Niere und ruft selbst
bei Gesunden, in zu großen Mengen an¬
gewandt, Methämoglobinurie hervor. Vor
dem Ersatz des Glyzerins durch Aether
kann ich nur warnen. Liegt Idiosynkrasie
gegen Jodoform vor, so versuche man es
mit Isoform oder mit der von Franz
König warm empfohlenen Karbolsäure;
auch Formol oder Knochenkohle, Jod¬
tinktur oder Jod-Jodkaliumlösung sind ver¬
wandt worden. Ueber Wismut bei tuber¬
kulösen Fisteln vergl. Seite 165.
An Stelle des Jodoforms sind dann
auch ganz andersartige Stoffe in die tuber¬
kulösen Abszesse injiziert worden: Leuko¬
zytenferment, Trypsin (Jochmann) letz¬
teres in 1 %iger Lösung. Die Wirkung
dieser Stoffe beruht auf demselben Prinzip
wie beim Jodoform, auf der Verdauung und
Resorption des Abszeßinhaltes.
Außerordentlich wichtig ist die Be¬
handlung der tuberkulösen Fisteln.
Gerade bei ihnen erziele ich durch die
Behandlung, wie sie auf der Mikulicz sehen
Klinik üblich war, ganz vorzügliche Erfolge,
und gerade diese Behandlung wird nach
meiner Erfahrung fast nirgends, wo sie in
dieser Weise versucht wird, richtig durch¬
geführt.
Die meisten Chirurgen betrachten heute
die Fistelfälle als die ungünstigen, als zur
konservativen Therapie ungeeignet, und
gehen sogleich oder doch nach sehr kurzen
konservativen Versuchen radikal vor.
Bier behandelt sie mit dem Schröpfkopf;
anfangs wird er täglich 3 bis 4 Stunden
lang angewandt, immer abwechselnd 5 Mi¬
nuten gesaugt und 3 Minuten pausiert;
allmählich, wenn die Granulationen gut,
rot und hart, wird seltener gesaugt. Die
Saugmethode hat uns auf der Mikulicz-
schen Klinik, wo wir sie öfters versuchten,
keine zufriedenstellenden Resultate gegeben,
jedenfalls der Mikuliczschen Injektions¬
methode nachstehende. Auf diese Methode,
die Henle seinerzeit beschrieben hat, lege
ich das größte Gewicht und bespreche sie
deshalb eingehend, so wie ich sie ausführe.
In die tuberkulösen Fisteln wird unter
starkem Druck Jodoformglyzerin injiziert.
Auf diesen Druck kommt es an, in die
Fistelwandung und in den Herd, zu dem
die Fistel führt, soll das Jodoformglyzerin
hineingepreßt werden; ich besprach dies
bereits Seite 161.
Ein intensiver Druck kann nicht herbei¬
geführt werden, wenn nicht die aufgesetzte
Spritze ganz fest die Fistelöffnung ver¬
schließt. Das Einführen eines Schlauches
in die Oeffnung zur Verbindung mit der
Spritze ist völlig unzureichend.
Die Fisteln haben nun sehr verschieden
gestaltete äußere Mündungen; bald sind sie
eng, bald weit. Der Rand ist meist hart,
zuweilen aber auch weich und dehnbar;
nicht selten ist die Haut am Rande unter¬
miniert. Da nun das Bestreben ist, die
Fistel nicht nur bakterienfrei zu machen,
sondern auch sie möglichst bald zum Schluß
zu bringen, folgt hieraus schon, daß eine
Erweiterung der Fistelmündung aut jeden
Fall unerwünscht ist. Bringt man eine ge¬
wöhnliche Spritze an die Fistelöffnung, so
daß ihre Spitze diese sicher verschließt,
so gelingt das nur durch Einführung der
konischen Spitze in den Anfangsteil der
Fistel. Hierdurch wird aber unfehlbar
dieser Teil erweitert.
Mikulicz hat, um dies zu vermeiden,
seine sogenannten Oliven aus Glas kon¬
struiert, olivenähnliche Glasansätze, die
exakt auf die Mündung der Spritze passen.
Die Oliven dringen nicht in die Fistel ein,
sondern werden fest auf ihre äußere Um¬
randung aufgesetzt. Für enge Fisteln ge¬
nügen die gewöhnlichen kleinen Oliven
(Fig. 3) 1 ); eine schmälere, dafür längere
Olive (Fig. 4) wird sonst bei der Wund-
*) Die Figuren 3—7 stellen die halbe Größe dar.
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Die Therapie der Gegenwart 1910.
163
behandlung verwandt. Je breiter die
Fistelöffnung ist, um so größer muß die
Olive sein. Die größeren Mikulicz sehen
Oliven waren hohle Glaskugeln, die im
Innern denselben Kanal für die Spritzen¬
spitze und das Injektionsmittel hatten, wie
die kleinen Oliven. Sie zerbrachen häufig,
weniger gelegentlich der Injektion als so
im Gebrauche. Ich habe daher Oliven aus
Hartgummi konstruiert, die genau den¬
selben Dienst erweisen (Fig. 5, 6)*). Ich
besitze sie in mehreren Formen; sie sind
völlig unzerstörbar, werden natürlich aus¬
gekocht. Sie haben freilich den Nachteil
der Undurchsichtigkeit. Die untere Oeff-
nung der Olive läßt sich daher nicht so
leicht auf die Fistelöffnung aufsetzen, sie
verschiebt sich eher; auch sieht man
nicht, wie das Jodoformglyzerin durch den
Fig. 3. Fig. 5.
Hohlraum der Olive in die Fistel fließt.
Man erkennt ja aber das richtige Funk¬
tionieren der Injektion leicht daran, daß
die Spritze leer wird und kein Jodoform¬
glyzerin vorbeifließt.
Als Spritze verwende ich meine ge¬
wöhnliche Wundspritze aus Hartgummi und
Glas (Fig. 7). Man kann natürlich auch
die an sich idealere Spritze aus Glas und
Metall nehmen, die den großen Vorzug
der Auskochbarkeit hat; nach meiner Er¬
fahrung eignet sich diese aber weniger.
Es gelingt heute noch durchaus nicht, die
stets gute Funktion der auskochbaren
Spritzen zu garantieren, außer bei den
Rekordspritzen; solche von dieser Größe,
die 20 ccm fassen, sind aber recht schwer
und unhandlich. Ferner lassen sich Oliven
aus Glas nur sehr schwer wasserdicht auf
eine metallene Spritze aufsetzen, sie
springen leicht. Die Spritze zur Jodo r orm-
glyzerininjekdon unter Druck muß sehr
dicht halten, was ja selbstverständlich ist;
sie muß auch leicht gehen, sonst hat man
den Druck nicht in der Hand, unter dem
man injiziert. Der Nachteil, daß meine
*) Fig. 5 zeigt das weitere Kanalende, auf welches
die Spritze gesetzt wird, Fig. 6 das engere Ende,
welches auf die Fistelöffnung kommt.
Hartgummispritze nicht auskochbar ist,
wird erstens dadurch ausgeglichen, daß
grundsätzlich mit der Spritze niemals aspi¬
riert wird, ihr inneres wird infolgedessen
nie infiziert Zweitens wird niemals das
Ende der Spritze auf eine Wunde oder
Fistel gesetzt, stets wird die Olive ver¬
wandt. Man muß nur darauf achten, daß
niemals ein Rückfluß in die Spritze da¬
durch erfolgt, daß am Ende der Injektion
der Druck am Stempel nachläßt.
Die mit Jodoformglyzerin gefüllte Spritze
mit aufgesetzter Olive (Fig. 7) wird, nach¬
dem sorgfältig die Luft entfernt, auf die
Fistelöffnung gesetzt, und nun wird mit
Druck eingespritzt. Den Druck, den man
an wenden darf, muß man gewissermaßen in
der Hand haben. Er soll erheblich sein,
aber auch nicht so stark, daß er die Fistel¬
wandung sprengt; er darf nicht zu schwach
sein, sonst hilft die Injektion nichts. Ich
kann mich nur eines Falles besinnen, in
dem ich glaube die Fistelwandung ge¬
sprengt zu haben; es floß, nachdem zu¬
nächst ein erheblicher Widerstand nach
Injektion eines gewissen Quantums erreicht
war, plötzlich verhältnismäßig viel Jodo¬
formglyzerin ohne Widerstand ein; ich
hörte natürlich sofort mit der weiteren In¬
jektion auf. Es erfolgte eine sehr starke
Reaktion, viel erheblicher wie sonst; einen
weiteren Schaden sah ich aber nicht davon.
Am Ende der Injektion wird mit großer
Schnelligkeit die Spritze samt der Olive
entfernt und gleichzeitig ein kleiner Tupfer,
den man mit der linken Hand bereit ge¬
halten hat, auf die Fistelöffnung gesetzt.
Geht man dabei geschickt vor, so entleert
sich überhaupt kein Jodoformglyzerin aus
der Fistel. Die Fistelöffnung wird nun
wenigstens 5 Minuten lang fest zugehalten,
und zwar von dem Arzte selbst, der die
Injektion ausführte; noch besser ist es,
10 Minuten zu warten.
Hiergegen wird meist verstoßen. Die meisten
überlassen das Zuhalten ganz jungen Aerzten
oder dem Pflegepersonal; wenn sie selbst zu¬
halten, wird dabei nicht nach der Uhr gesehen,
sie werden bald ungeduldig und lassen zu
früh los.
Läßt man j etzt die Fistelöffnung frei, so
soll sich fast reines Glyzerin entleeren;
das spezifisch schwerere Jodoform hat sich
auf der Wand der Fistel niedergeschlagen,
soweit es nicht in die Wandung selbst hin¬
eingepreßt worden ist. Sieht man, daß
irgend erhebliche Mengen von Jodoform
mit herausfließen, so war die Injektion
nicht richtig ausgeführt und man muß das
nächste Mal länger zuhalten.
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Die Therapie der Gegenwart 1910.
April
Bestehen mehrere Fisteln in derselben
Gegend, so geht man folgendermaßen vor:
Es wird in eine Fistel in obiger Weise in¬
jiziert, und zwar nimmt man hierzu an
jedem Injektionstage eine andere; nun
werden sämtliche Fisteln genau beobachtet.
Kann dies nicht einer allein tun, so müssen
andere dabei helfen. Sobald aus einer der
anderen Fisteln Jodoformglyzerin heraus¬
fließt, hält der Injizierende diese Fistel zu.
Man kann so bei einiger Geschicklichkeit
und bei günstiger Lage der Fisteln mit
seiner linken Hand fünf Fisteln fest ver¬
schließen; liegen mehr Fisteln vor, so muß
ein Assistent helfen. Entleert sich aus
einer der Fisteln kein Jodoformglyzerin
während des Einspritzens, so muß diese
Fistel gesondert behandelt werden.
Die Injektionen werden wöchentlich 1-
bis 2mal ausgeführt. Ich richte mich da¬
bei nach der Schwere der Reaktion: je
schwerer diese ist, um so seltener nehme
ich die Einspritzung vor. Sie ist etwas
schmerzhaft, aber nicht sehr, eine Anästhe¬
sierung wende ich kaum je dazu an.
Das Sondieren der tuberkulösen Fisteln
wird nach Möglichkeit vermieden. Vor
der ersten Injektion ist die Sondierung
nicht zu umgehen; es wäre sogar ein Fehler,
sie zu unterlassen. Die Spritze muß näm¬
lich während des Injizierens in der Rieh
tung der Fistel, d. h. ihres Anfangsteiles,
gehalten werden. Verläuft, um einen ex
tremen Fall anzuführen, die Fistel schräg
unter der Haut allmählich in die Tiefe und
injiziere ich unter Druck in zur Haut senk¬
rechter Richtung oder gar die Spritze
schräg aufsetzend, so daß der Winkel zwi¬
schen ihr und der Fistel noch spitzer wird,
so wird die Fistel zugepreßt und niemals
mit Jodoformglyzerin gefüllt werden. Kenne
ich einmal den Verlauf der Fistel, so ist
natürlich jede Sondierung zwecklos und
sogar schädlich. Deshalb lege ich auch
Gewicht darauf, daß die Person des Inji¬
zierenden möglichst selten wechselt und bei
einem Wechsel eine regelrechte Uebergabe
des Patienten stattfindet. Drainage wende
ich bei der Fistel nur an, wenn schwerere
Mischinfektion mit erheblicher Temperatur¬
erhöhung besteht; sonst wird einfach
Jodoformgaze aufgelegt, wenn die Granu¬
lationen außen zu üppig sind, auch Argen¬
tumsalbe und der Stift benutzt.
Unter dieser Art der Fistelbehandlung
sehe ich im allgemeinen tuberkulöse Fisteln
ganz außerordentlich günstig beeinflußt
werden und heilen. Ich habe die feste
Ueberzeugung, daß die Resultate aller
derer, die nicht günstig sind, auf der fehler¬
haften Technik beruhen. Ich sage dies
nach dem, was ich gesehen habe. Die
Fistelbehandlung richtig durchzuführen, ist
weit schwieriger, als die der kalten Ab¬
szesse. Ich habe noch keinen Chirurgen
gesehen, weder jüngeren noch älteren, der
nach einfacher Beschreibung die Injektions¬
therapie richtig ausführt; kaum je sah ich
es auch, wenn ich die Injektion vormachte.
Ich verlasse mich daher auf die Richtigkeit
der Durchführung dieser Methode erst
dann, wenn ich mich durch Augenschein
davon überzeugt habe, daß der Betreffende
alles richtig macht. Ich möchte nur folgende
zwei Fälle aus meiner Breslauer Zeit kurz an¬
führen, die ich in lebhafter Erinnerung habe.
Frau von ea. 50 Jahren, jahrelang krank,
ausgedehnte Fistelbildung um das linke Schulter-
gelenk. Fs blieb zweifelhaft, auch nach dem
Röntgenbilde, ob eine Tbc. oder O>teomyelitis
vorlag, wenn auch ersteres nach der Anamnese
und dem klinischen Befunde wahrscheinlicher
war. Die Patientin lag auf meiner Station; ich
war damals Oberarzt der Klinik und überließ
auf meiner Station die einfacheren Dinge
jüngeren Aerzten. Ich ordnete die Behand¬
lung mit Bierscher Stauung und Jodoform-
glvzerininjektionen in die Fisteln an. Obwold
dies 4 Wochen lang durchgeführt wurde, zeigte
sich keinerlei Besserung, so daß ich mehr zur
Diagnose Osteomyelitis neigte und bereits ein
radikales Vorgehen erwog. Da sah ich eines
Tages zu, wie die jüngeren Aerzte, denen ich
öfters, unter anderem auch an diesem Falle,
die 1 echnik. deren Kenntnis ich überdies aut
unserer Klinik voraussetzen mußte, gezeigt
hatte, die Injektion von Jodoformglyzerin Vor¬
nahmen: sie injizierten ohne Druck, spärlich,
hielten die Fisteln nicht ordentlich und nicht
lange genug zu. Ich nahm daher von jetzt an
die Einspritzungen selbst vor; prompt zeigte
sich Besserung, sämtliche Fisteln heilten im
Verlaufe von etwa 6 Wochen. Patientin behielt
eine leidliche Beweglichkeit der Schulter.
Kaufmann von ca. 60'Jahren. Seit mehreren
Jahren Erkrankung des linken Ellenbogen- und
Handgelenks Im Laufe der Zeit haben >ich
zahlreiche Fisteln gebildet, auch im Bereiche
des Unterarms, im ganzen etwa 10. weithin
Unterminierungen der Haut. Der Ellenbogen
ist spindelförmig aufgetrieben. gleichfalls das
Handgelenk Patient ist viel behandelt worden,
zuletzt wurde ihm überall, wo er hin kam, zur
Amputation geraten, auch in der chirurgischen
Universitäts-Poliklinik. Als ich den Fall zu (ie-
sicht bekam, sah er ganz verzweifelt aus. und
auch ich glaubte kaum, daß ich in diesem Falle
durch konservative Behandlung etwas erreichen
würde. Ich versuchte sie aber doch, mn so
mehr, als der Patient bat, ihm doch den Arm,
wenn es irgend möglich wäre, zu erhalten. Ich
behandelte ihn mit Bier.scher Stauung und In¬
jektion von Jodofonnglyzerin in die Fisteln:
Patient erhielt zunächst eine Pappschiene, die
Ellenbogen und Handgelenk fixierte, späterhin
wurde nur noch das Handgelenk fixiert Im
Laufe von etwa 2 Monaten schlossen sich sämt¬
liche Fisteln und Patient behitlt einen ge¬
brauchsfähigen Arm; Ellenbogen und Handge¬
lenk blieben ziemlich gut beweglich.
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UNtVERSITY OF CALIFORNIA
April
Die Therapie der Gegenwart 1910.
165
Ich lege auf diese beiden Fälle ganz beson¬
ders großes Gewicht. Auch recht konserva¬
tive Chirurgen, wären in ihnen wahrscheinlich
radikal vorgegangen.
Zu den unangenehmsten tuberkulösen
Fisteln gehören solche mit weiter Unter¬
minierung der Haut. Zuweilen gelingt
es mir, auch solche Stellen mit Jodoform¬
glyzerin unter Druck zu füllen, zumal
mittels der großen Oliven (vergl. S. 163),
sonst lasse ich das Jodoformglyzerin ein¬
fach einfließen oder ich reibe die Hohl¬
räume mit Jodoformbrei aus (Jodoform¬
gazestückchen, die ich in ein noch wesent¬
lich dickeres Gemenge von Jodoform und
Glyzerin einlege). Gelegentlich kratze ich
solche Unterminierungen vorsichtig aus,
fast nie spalte ich sie. Im Gegenteil, ich
suche die unterminierten Stellen zum An¬
heilen auf die Unterlage zu bringen, indem
ich sie nach der jedesmaligen Jodoform¬
behandlung anpresse.
E. G. Beck (Chicago) hat kürzlich eine
andere Behandlung von Fisteln, auch tuber¬
kulösen, empfohlen. Er füllte sie mit
Wismutpaste, um ihren Verlauf auf dem
Röntgenbilde festzustellen. Dabei erlebte
er überraschende Heilungen von Fisteln,
die vorher jeder Therapie getrotzt hatten.
Die Wismutpaste (Bismut. subnitric., das
doppelte Vaselin) wird unter mäßigem
Druck in die Fisteln injiziert und dies jeden
zweiten Tag wiederholt. Der günstige Er¬
folg der Injektion ist von anderer Seite
bestätigt worden, doch sind auch viele
schwere Vergiftungen durch Wismut beob¬
achtet, sogar Todesfälle (bisher V 2 Dutzend).
Ich würde Wismut nur wählen, wenn Jodo¬
form und auch Isoform nicht vertragen
wird, oder wenn ich unter meiner Behand¬
lung mit der Fistel nicht fertig werde.
Dann ist auch empfohlen • worden, in
die Umgebung der Fisteln Substanzen zu
injizieren, so von König Jodoformglyzerin,
von Klapp Alkohol; Klapp injiziert ihn
auch in tuberkulöse Herde. Er soll eine
Bindegewebsablagerung herbeiführen und
den Herd dadurch abkapseln. Ich habe
keine Erfahrung über diese Prozeduren.
Die Alkohol Injektion soll jedenfalls sehr
schmerzhaft sein und muß häufig, anfangs
täglich, wiederholt werden.
Die Auskratzung stellt den Ueber-
gang von den konservativen operativen
Eingriffen zu den radikalen dar, indem
durch eine ausgiebige Auskratzung ja der
ganze tuberkulöse Herd aus dem Körper
entfernt werden kann. Das Auskratzen ist
gegen früher entschieden im Rückgänge
begriffen, wie mir scheint, mit Recht Vom
Injizieren und Auskratzen der kalten Ab¬
szesse halte ich gar nichts, gleichgültig, ob
man sie darnach verschließt, mit Jodoform¬
glyzerin füllt oder offen läßt. Tuberkulöse
Fisteln kratze ich im allgemeinen nicht aus.
Ich tue es gelegentlich, namentlich bei
weithin unterminierten, wenn ich mit der
gewöhnlichen Behandlung nicht weiter
komme, und wenn die schlaffen Granula¬
tionen geradezu dazu auffordern. Liegt
der Knochenherd nahe der Fistelmündung,
so daß man ihn bequem von hier aus er¬
reicht, so mag man es versuchen; ich halte
es auch dann für berechtigt, wenn sehr
verdünnte Haut über fungösen Massen liegt.
Das Auskratzen tuberkulöser Gelenke,
auch wenn Fisteln vorhanden sind, lasse
man aber im allgemeinen; bei kleinen Ge¬
lenken, namentlich an den Zehen, erzielt
man manchmal etwas damit, bei den großen
kaum je. Bei der Tbc. gehe man in der
Regel ganz konservativ oder ganz radikal
vor, radikal aber nur dann, wenn man auch
wirklich den ganzen tuberkulösen Herd
entfernen will und kann; das allerschlimmste
ist das Anoperieren der Tbc.
Es gibt aber auch Fälle, in denen man
schließlich gezwungen ist, operativ vorzu¬
gehen, den ganzen Herd aber doch nicht
entfernen kann, man müßte denn zur Ab¬
latio schreiten. Ich habe jedenfalls von
sehr ausgiebigen Operationen, Kombination
von Auskratzung mit Abmeißelung usw.,
ganz breiter Eröffnung der Herde, ohne
daß die Operation aber eine radikale ge¬
wesen wäre, in ganz verzweifelten Fällen
Erfolge gesehen. Ich fülle in solchen
Fällen das ganze mit Jodoformglyzerin und
vernähe bis auf kleine Oeffnungen.
So habe ich zurzeit ein Kind in Be¬
handlung mit schwerer Tbc. des Ellen¬
bogengelenks und des ganzen Unterarmes.
Die Fisteln, die bestanden, wurden lange
mit Einspritzungen behandelt, aber ohne
Erfolg. Dann wurde einmal ein größerer
Sequester entfernt, es blieb eine Pseu-
darthrose des Radius. Schließlich eröffnete
ich die Herde breit, legte das Ellenbogen¬
gelenk und die beiden Vorderarmknochen
frei, verfolgte die Gänge; von einer radi¬
kalen Operation konnte keine Rede sein,
da hätte ich amputieren müssen. Es ist
mir in diesem Falle gelungen, sämtliche
Wunden zum Schluß zu bringen. Das
Ellenbogengelenk ist ziemlich gut beweg¬
lich, nur die Streckmuskulatur am Unter¬
arm funktioniert nicht recht, weil die Mus¬
keln sehr gelitten haben, nicht etwa der
N. radialis. Ich glaube, daß in diesem
Falle wohl jeder andere amputiert hätte.
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166
Die Therapie der Gegenwart 1910.
Apiil
Die radikale und frühzeitige Entfernung
von Knochenherden ist heute, wo wir
über das Röntgenverfahren verfügen, ganz
ungeheuer gegen früher erleichtert. Wir
vermögen mit großer Sicherheit auch kleine
Knochenherde zu erkennen, wenn das
Bild auch manchmal täuscht. Und bei be¬
stehendem Herde bereitet die Differential¬
diagnose zuweilen dann noch Schwierig¬
keit, ob es sich um Tbc., Lues oder viel¬
leicht einen Tumor handelt.
Herde, die in der Nähe von Gelenken
lidgen und es bedrohen, ohne daß das Ge¬
lenk bisher ergriffen wurde, halte ich für
das günstigste Objekt für die radikale Ent¬
fernung. Der Herd soll womöglich ent¬
fernt und zur Heilung gebracht werden,
ehe er in das Gelenk durchbricht. Wo
kein Gelenk in Gefahr, versuche ich auch
bei Knochenherden öfters zunächst die
konservative Behandlung: ich staue, injiziere
Jodoformglyzerin in den Herd selbst, stelle
die Extremität ruhig.
Auf keinen Fall gibt 'mir ein auf dem
Röntgenbild erkennbarer Sequester an sich
die Ursache zum radikalen Vorgehen, oder
wenigstens zu seiner Entfernung, gleich¬
gültig, ob ein Gelenk erkrankt ist oder
nicht. Tuberkulöse Sequester können sehr
wohl einheilen, ich glaube sogar, daß misch¬
infizierte dies vermögen.
Die operative Behandlung der Knochen¬
herde, wie sie heute meist geübt wird, be¬
steht in der radikalen Entfernung des Her¬
des mit folgender Plombierung des Kno¬
chens. Es gibt zahlreiche Plombenmassen;
die ursprüngliche, von Mosetig-Moorhof
stammend, ist mir noch immer die liebste.
Doch muß ich sagen, daß die Plomben oft
im Laufe der Zeit wieder herauskommen,
und die Höhlen, die nach Entfernung tuber¬
kulöser Knochenherde Zurückbleiben, heilen
in der Regel und im Gegensätze zu denen
bei Osteomyelitis auch ohne Plombierung
aus.
Im übrigen lassen sich auch heute noch
keineswegs alle Knochenherde eliminieren,
andere wenigstens nicht leicht. In den
Wirbelkörpern sitzende zu entfernen, würde
auch an Stellen, wo es technisch möglich
ist, z. B. von der Bauchhöhle aus, einen
derart ungeheuren Eingriff darstellen, daß
ich nur dringend vom Versuche abraten
kann. Auch greife ich nicht Herde an bei
intaktem oder verhältnismäßig intaktem
Gelenk, wenn der Herd schwer erreichbar
ist, wie z. B. am Hüftgelenke
Eine andere Kontraindikation geben
kosmetische Gründe. Im Gesicht, z. B. auf
der Stirn, am Orbitalrande, habe ich tuber¬
kulöse Abszesse und Knochenherde unter
konservativer Behandlung ausheilen sehen,
wo die meisten operiert und den Patienten
durch Narben verunstaltet hätten. Wo hin¬
gegen die Herde leicht erreichbar sind, wo
kalte Abszesse direkt über ihnen liegen,
wie am Schädeldache, an der Rippe, da
schreite man meinetwegen zur radikalen
Entfernung des Herdes; ich würde es auch
in diesem Falle nur tun, nachdem ich das
konservative Vorgehen versuchte und nichts
erreichte.
Die Exstirpation kalter Abszesse
ist schon seit langer Zeit ausgefuhrt wor¬
den, in neuerer Zeit redet ihr Tietze das
Wort. Ich halte sie, wie ich soeben be¬
merkte, für zulässig in den Fällen, in denen
gleichzeitig mit dem kalten Abszesse der
Knochenherd entfernt werden kann. Den
Abszeß total, d. h. im Gesunden zu exstir-
pieren und den tuberkulösen Knochenherd,
der seine Ursache ist, nicht zu entfernen,
halte ich nicht für richtig, in manchen
Fällen für gefährlich. Hieraus folgt schon,
daß diese Methode nur für eine sehr be¬
schränkte Zahl der Abszesse ernstlich in
Betracht kommt: der kalte Abszeß darf
nicht weit entfernt vom Herde sitzen, der
außerdem gut zugänglich sein muß, wie
das für die Rippen- und die Schädel¬
karies gilt.
Die typische und häutigst angewandte
radikale Operation bei der Gelenk-Tbc. ist
die Resektion. Durch sie wird, wenn
die Heilung in normaler Weise erfolgt, der
Krankheitsprozeß wesentlich abgekürzt und
der hauptsächliche tuberkulöse Herd — der
einzige ist es ja fast nie — aus dem Kör¬
per entfernt. Menschen mit schweren tuber¬
kulösen Gelenkauftreibungen, die jahrelang
leidend und auf das höchste herunter¬
gekommen waren, sieht man nicht selten
in kurzer Zeit genesen und durch die Ent¬
fernung des ausgedehnten tuberkulösen
Herdes geradezu aufblühen. Das sind un¬
leugbare Vorteile der Resektion wie jeder
anderen radikalen Methode.
Sie hat aber auch Nachteile. Die Re¬
sultate nach der Resektion sind keineswegs
stets gute. Ich will nicht einmal von
meinen eigenen reden, zumal ich nur ver¬
hältnismäßig selten reseziere. Ich habe im
Laufe der Jahre zahlreiche von anderen
Chirurgen resezierte Fälle gesehen, die
recht viel zu wünschen übrig ließen. Das
resezierte Gelenk war steif, völlig ankylo-
tisch, wo ein bewegliches dringend er¬
forderlich gewesen wäre, oder es war
vollkommen schlotternd, wo ein festes weit
eher am Platze gewesen wäre.
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167
April
Die Therapie der Gegenwart 1910.
Das Schicksal der Gelenke nach den* Resek¬
tion ist ein recht verschiedenes. Es hän^t dies
nicht allein von der Art der ausgeführten Re¬
sektion ab, sondern noch von anderen Dingen,
die der Operateur nicht in der Hand hat. Ich
will nur folgende anführen: Das Gelenk an
sich, seine Zugänglichkeit; die Infektion;
Schmerzen, die der Patient nach der Operation
hat und die eine beabsichtigte Mobilisierung
verhindern : die Knochenneubildung, die Bildung
einer neuen Gelenkpfanne: die Atrophie der
das Gelenk umgebenden Muskeln. Nun sind
aber die Anforderungen,die an die verschiedenen
Gelenke gestellt werden, um von einer guten
Funktion zu sprechen, recht verschiedene: Er¬
ziele ich am Schulter- oder Hüftgelenk ein
Schlottergelenk, d. h. ein nach allen Richtungen
bewegliches, mit gut funktionierender Musku¬
latur, so ist dies ein recht gutes Resultat. Das¬
selbe Schlottergelenk am Knie, Ellenbogen oder
an den Interphalangealgelenken wäre ein mise¬
rabler Erfolg, am Knie unzweifelhaft weit
schlechter a*s eine Ankylose. Ein steifes, völlig
schmerzloses Knie behindert den Menschen
nicht gar so sehr, ein absolut steifes Schulter¬
gelenk weit mehr.
Oder die Extremität war derart ver¬
kürzt, sei es infolge davon, daß zur radi¬
kalen Entfernung alles Erkrankten viel
Knochen weggenommen werden mußte, sei
es, daß im Bereiche der Epiphysenlinie
operiert werden mußte. Es ist leicht ge¬
sagt: man schädige bei der Operation die
Epiphysenlinie nicht! Zeigen sich in ihrem
Bereiche tuberkulöse Herde, so läßt man
sich, um radikal zu operieren, doch leicht
dazu verführen, sie anzugreifen. Der
Knochen bleibt im Wachstum zurück oder
er wächst schief.
Und dann heilen auch keineswegs nach
der radikalen Operation alle Fälle aus;
manche werden infiziert, in anderen geht
die lokale Tbc. weiter, obwohl man im ge¬
funden zu operieren glaubte; in wieder
anderen schreitet die Tbc. der Lungen fort
oder es kommt zur allgemeinen.
Die Resektion der großen Gelenke stellt
ferner einen recht schweren Eingriff dar;
namentlich gilt dies für das Hüftgelenk,
bei dem die unmittelbare Mortalität eine
sehr erhebliche ist.
Die Vorteile der Resektion muß auch
jeder konservative Chirurg, die Nachteile
jeder radikale anerkennen. Die Stellung
zur Gelenkresektion ist im wesentlichen der
Punkt, der die beiden Flügel von einander
trennt. Mir scheint, die Entscheidung, in
welchem der beiden Lager der Chirurg
steht, wird heute weniger durch seine Er¬
fahrungen und sein Urteil über die Resek¬
tion bedingt als durch seine Erfolge mit
der konservativen Behandlung: wer mit ihr
schlechte Erfahrungen macht, wird eben
radikal. Jedenfalls gehen aber auch die
radikalen Chiiurgen bei den einzelnen Ge¬
lenken sehr verschieden vor und weichen
auch dabei wieder sehr erheblich vonein¬
ander ab; der eine reseziert lieber dieses,
der andere jenes Gelenk, respektive er re¬
seziert es prinzipiell nicht oder doch ungern.
Am radikalsten geht König sen. vor,
der alle erreichbaren Gelenke reseziert.
Gar re bevorzugt die Resektion am Knie,
Fuß, Ellbogen; an der Hüfte, Schulter,
Hand geht er lieber konservativ vor.
Küttner und neuerdings auch Tietze
resezieren das Handgelenk gerne; Müller
(Rostock) reseziert überall gerne, besonders
bei Kindern außer der Hüfte und dem Knie.
Bier sah an der Hand, dem Ellbogen und
dem Fuße gute Resultate bei der konser¬
vativen Behandlung, am Knie schlechte.
Ich bin, wie ich oben bereits ausführte,
mit den Resultaten der konservativen Be¬
handlung, wie ich sie ausübe, sehr zu¬
frieden. Mir heilen die tuberkulösen Ge¬
lenke aus, abgesehen von den schweren
Erkrankungen des Knies und bei alten
Leuten außerdem des Fußes. Die geheilten
Gelenke sind nicht oder wenig verkürzt;
in den schweren Fällen sind die Gelenke
meist steif, in den mittelschweren mäßig,
in den leichten gut beweglich. Warum
sollte ich da resezieren?
Ich habe noch nie eine Hüftgelenk¬
resektion wegen Tbc. ausgeführt und, wie ich
gestehen will, diese Operation überhaupt am
Lebenden noch nicht gesehen, weder auf
der Mikuliczschen Klinik noch sonst. Ich
bin mit meinen Fällen von Koxitis, auch
schweren und fistulösen, stets fertig ge¬
worden; und die überwiegende Mehrzahl
der von anderen operierten Fälle, die ich
sah, schreckte mich geradezu von der Ope¬
ration ab.
Das Schultergelenk habe ich auch
noch nie reseziert; in meiner Abwesenheit
wurde in meinem Krankenhause einmal ein
Schultergelenk wegen Karies reseziert; das
Resultat war ein leidliches. Als nach
einiger Zeit das andere Schultergelenk
auch erkrankte, behandelte ich es konser¬
vativ mit Stauung und Injektion; es heilte
prompt und glänzend aus. Ich zweifle nicht
daß die andere Seite unter dieser Behand¬
lung auch ausgeheilt und daß das Resultat ein
noch besseres gewesen wäre als nach der
Resektion.
Eine typische Resektion des Ellbogens
habe ich auch nie vorgenommen, wohl
aber in ganz vereinzelten Fällen, mit denen
ich sonst nicht fertig wurde, atypische, wo¬
bei ich nur das kranke entfernte. Der
S. 165 angeführte Fall ist ein Beispiel
dafür.
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UNIVERSiTY 0F CALIFORNIA
168
Die Therapie der Gegenwart 1910.
April
Niemals habe ich das Handgelenk
reseziert. Die Fuß re Sektion fahre ich
gelegentlich wegen Fungus aus, meist bei
alten Menschen, jedenfalls nie bei jungen.
Soweit es geht, bin ich auch hier konser¬
vativ, d. hi ich reseziere gerne osteopla¬
stisch nach Wladimiroff-Mikulicz oder
ich amputiere nach Pirogoff. Leichter
entschließe ich mich an den Zehen und dem
Mittelfuße dazu, einen Knochen oder ein
Gelenk herauszunehmen.
Es bleibt so von den Extremitäten das
Kniegelenk übrig; bei ihm schreite ich
häufiger zur Resektion. Die Grande sind
folgende:
An die unteren Extremitäten werden
unzweifelhaft weit höhere Anforderungen
gestellt als an die oberen; ihre Gelenke
werden ja belastet. Sie müssen fest und
schmerzlos sein; sind sie es nicht, so ver¬
mag der Patient nicht herumzugehen und
erleidet die dadurch bedingten Schädi¬
gungen.
Diese beiden Punkte gelten in gleicher
Weise für das Hüft-, Knie- und Fußgelenk;
bereits in weit geringerem Maße für den
Mittelfuß und für die Zehen. Reseziert man
das Hüft-, Knie- oder Fußgelenk, so werden
die Gelenke entweder steif oder beweglich.
Ein Kniegelenk nach der Resektion so be¬
weglich zu machen, daß es wie ein nor¬
males, als Scharniergelenk funktioniert,
d. h. nur Beugung und Streckung erlaubt,
ist bisher noch keinem Menschen gelungen;
mit dem seitlichen festen Bandapparate
fällt die Stabilität des Knies. Ob wir je
durch Lexers freie Gelenktransplantation
mit einiger Bestimmtheit brauchbare Knie¬
gelenke herstellen werden, ist heute noch
nicht zu entscheiden. Vorläufig müssen
wir zufrieden sein, wenn wir durch die
Resektion ein steifes, ausgeheiltes Knie er¬
zielen; das können wir aber gerade beim
Knie mit großer Sicherheit garantieren.
Ein solches Knie behindert den Patienten,
wie ich bereits S. 167 sagte, verhältnismäßig
wenig, weniger als ein steifes Hüft- oder
Fußgelenk. Bei schwerem Fungus des
Knies erreiche ich nun, selbst wenn ich
ihn, was äußerst selten ist, durch konser¬
vative Therapie zur Heilung bringe, nie¬
mals ein bewegliches Gelenk, es wird stets
steif. Darum reseziere ich hier lieber so¬
gleich und erziele so eine schnelle Heilung,
Ist die Patella — was durch das seitliche
Röntgenbild zu erkennen — knöchern mit
der Unterlage verwachsen, so wird das
Knie wohl auch nie wieder beweglich. Da¬
her reseziere ich alsdann, falls die Resek¬
tion irgend angezeigt ist.
Ein festes Hüftgelenk behindert den Pa¬
tienten, wie ich bereits sagte, ungleich
mehr als ein steifes Knie. Wer daran
zweifelt, der vergleiche nur den Patienten,
dessen beide Hüften versteift sind mit dem
Patienten, dessen beide Kniee ankylotisch
sind. Daß die Hüfte nach der Resektion
willkürlich beweglich wird, hat der Opera¬
teur nicht in der Hand.
Das Bein wird nach der Resektion des
Kniegelenks beim Erwachsenen in der Regel
nur wenig verkürzt, bei der Hüfte muß
man meist die Pfanne und den ganzen
Kopf, oft den Hals, zuweilen noch mehr
entfernen.
Das Knie ist ein leicht zugängliches
Gelenk, seine Resektion stellt einen nicht
sehr großen Eingriff dar — beides im
Gegensatz zur Hüfte.
Und schließlich, und das ist die Haupt¬
sache: Mit der Tbc. der Hüfte und des
Fußes — wenn ich bei letzterer von ganz
alten Leuten absehe — werde ich unter
konservativer Behandlung fertig, mit ge¬
wissen Formen der Knie-Tbc. nicht. Es
ist das der schwere Fungus, gleichgültig,
ob Fisteln bestehen oder nicht. Hier rate
ich dem Patienten sofort zur Resektion und
versuche die konservative Behandlung nur,
wenn die Operation verweigert wird, meist
ohne Erfolg.
Mit der Caries sicca, die ich am Knie
verhältnismäßig oft sah, und mit der fistu¬
lösen Tbc., mit dem Hydrops und dem
kalten Gelenkabszeß werde ich in der
Regel fertig. Manche Chirurgen resezieren
auch bei diesen Formen prinzipiell, nur
wenige allerdings beim Hydrops.
So kommt es, daß ich dem Knie eine
Sonderstellung in bezug auf die Resektion
vor allen anderen Gelenken zuerkenne und
ich handle danach: Ich führe die Resektion
des Knies aus bei jedem Fungus, außer bei
ganz leichter Form desselben. Niemals re¬
seziere ich vor völlig oder annähernd voll¬
endetem Wachstum, d.h. vordem 14.—16.
Lebensjahre.
Die Knieresektion führe ich als typische
Operation aus nach der Mikuliczschen Me¬
thode. Lokale Anämie, Querschnitt mitten über
die Patella von einem Kondylus zum andern,
die Patella wird sogleich durchgesägt, breite
Durchschneidung der Kapsel und Ligamente,
besonders der Seitenbänder, so daß das Gelenk
weit klafft. Nun wird zunächst die obere
Hälfte des Erkrankten radikal entfernt. Dann
werden die Ligamenta cruciata durchschnitten,
die hintere Gelenkpartie exstirpiert, zum
Schluß die untere Gelenkhälfte. Jetzt wird
das untere Femurende abgesägt, und zwar so,
daß der Knochen die Form eines Konvexzylin¬
ders erhält. Es wird sorgfältig darauf geachtet,
daß alles Kranke und Verdächtige entfernt wird.
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UNIVERSiTY OF CALIFORNIA
April
Die Therapie der Gegeawart 1910.
169
besonders auf einzelne Knochenherde und
Gänge, die ausgekratzt und ausgebrannt, even¬
tuell plombiert werden müssen, falls bei ihrer
Entfernung durch Absägen des Knochens gar
zu viel von letzterem verloren ginge. Das
obere Tibiaende wird konkavzylindrisch abge¬
sägt. Die beiden Knochenenden müssen exakt
aufeinander passen, so daß das physiologische
Genu valgum erhalten bleibt, die Belastungs¬
linie des Beines die richtige ist. Die hintere
Hälfte der Patella wird abgesägt, die erhaltenen
Stücke um so viel verkürzt, wie es etwa der
Verkürzung des Knochens entspricht. Mit 3 bis
4 Drahtnähten werden die beiden Stücke ver¬
einigt und die eine Hälfte auf dem Femur an¬
genagelt. Fortlaufende Hautnaht mit Seide, in
den beiden Ecken bleibt eine kleine Oeffnung
zum Abfluß des Wundsekrets, Verband, Fixa¬
tion auf einer Holzschiene in richtiger Stellung.
Leicht komprimierende Gummibinde über Knie
und Holzscniene, die 12—24 Stunden liegen
bleibt. Erst nach Anlegung dieser Gummi¬
binde wird die Esmarchsche Binde entfernt,
Gipshanfschiene, mittels deren das Bein hori¬
zontal oder noch besser ein wenig ansteigend
aufgehängt wird, wie das oben (Seite 116) beim
Zugverband beschrieben wurde. Bei normalem
Heilungsverlauf bleibt dieser Verband 3 Wochen
liegen. Dann Verbandwechsel, wobei das Bein
auf der Holzschiene fixiert bleibt, Entfernung
der Hautnaht. Patient erhält zunächst einen
festen Gipsverband, der, um das Knie nicht zu
bewegen, am besten in folgender Weise ange¬
legt wird: bei noch liegender Holzschiene wird
eine leichte dorsale Gipsschiene angefertigt,
getrocknet, auf das Bein gelegt, jetzt erst die
Holzschiene abgenommen und nun ein zirku¬
lärer Gipsverband angelegt, in den die dorsale
Gipsschiene eingegipst wird. Im Gips verband,
der den Fuß umschließt, das Becken frei läßt
und keinen Sitzring hat, steht Patient auf. Das
Knie soll belastet werden; um beim Heben des
Beines eine Distraktion zu verhindern, wird
eine um die Fußsohle gehende Schlinge ange¬
legt, die der Patient in der Hand hält und mit
der er beim Gehen jedesmal das Bein passiv
anhebt. Nach 4 Wochen wird der feste Gips¬
verband durch einen abnehmbaicn ersetzt, der
den Fuß frei läßt.
Die extrakapsuläre Entfernung des
Kniegelenks — wie anderer Gelenke nach
Bardenheuer — ohne die tuberkulös er¬
krankten Stellen zu eröffnen, ist theoretisch
schön und einleuchtend; sie gelingt aber nur
in den leichten Fällen; in den schweren,
wo kalte Abszesse und Fisteln außerhalb
des Kapselbereiches bestehen, gelingt sie
nicht, es sei denn, man entfernt weit mehr
Knochen als erforderlich ist.
Auch die Arthrektomie, worunter die
Entfernung der Kapsel verstanden wird,
während die Gelenkenden, die Knorpel er¬
halten bleiben, habe ich noch nie ausge-
führt; Fälle, in denen das Gelenk so wenig
erkrankt ist, daß diese Operation in Frage
kommt, reseziere ich nicht.
Zur Amputation wegen Knochen-und
Gelenk-Tbc. schreite ich nur sehr ungern.
Im jüngeren Lebensalter verwerfe ich sie
vollständig, im mittleren könnte mir höch¬
stens eine vorgeschrittenere, aber noch
aussichtsvolle Lungenphthise die Indikation
geben. Ich habe sie noch niemals in einem
solchen Falle ausgeführt.
Anders liegen die Verhältnisse im
höheren Alter, welches ich hier von 50 Jah¬
ren an rechne. Da entschließe ich mich
eher dazu, je älter das Individuum ist, um
so leichter, tue es aber auch hier im all¬
gemeinen erst, wenn die konservative
Methode und die kleineren radikalen Ein¬
griffe erfolglos sind. Am ehesten ampu¬
tiere ich das Fußgelenk, schreite zur
Pirogoffschen Operation oder zur tiefen
Unterschenkelamputation. An den oberen
Extremitäten habe ich noch nie wegen Tbc.
amputiert. Ein noch so schlecht geheilter
Arm ist besser wie gar keiner, ohne ein
Bein kann ein Mensch besser existieren als
ohne einen Arm.
Als letzte Gruppe von operativen Ein¬
griffen muß ich noch solche anftihren, die
nach erfolgter Ausheil ungderTbc. not¬
wendig werden können, also nicht gegen das
Leiden als solches gerichtet sind. Ist eine Ge¬
lenk-Tbc. in schlechterStellung und mit voll¬
ständiger Ankylose, d. h. fester, knöcherner
Verwachsung ausgeheilt — man sollte es
natürlich nicht erst soweit kommen lassen,
doch geraten manche Patienten erst in
solchem Zustand in unsere Hände — so
| muß die Extremität auf operativem Wege
I in eine brauchbare Stellung gebracht werden.
Beim Hüftgelenke wird die subtrochantere
! Osteotomie, beim Knie die Keilresektion
oder die Resektion ausgeführt; beim Ell¬
bogengelenke wird man die Resektion mit
dem Bestreben, ein bewegliches Gelenk zu
schaffen, versuchen.
; Bei ausgeheilter Tbc. können ferner
] entlastende Operationen in Frage kom-
j men. Da ist in erster Linie die Lamin-
; ektomie zu nennen. Daß ein Nerv oder
| anderes Organ, das vom Knochen umwachsen
| wird, leidet, und daher der Entlastung be¬
darf, kommt wohl kaum vor.
Die Laminektomie ist angezeigt, wenn
bei Wirbel-Tbc. eine erhebliche Parese
oder gar eine vollständige Lähmung der
unteren Extremitäten besteht, und diese Er¬
scheinungen unter dem Extensionsverband
nicht zurückgehen. Man erzielt durch die
Laminektomie gelegentlich sehr schöne Er¬
folge, namentlich, wenn der tuberkulöse
Prozeß bereits ausgeheilt ist. Bestand die
Lähmung zu lange, so bleibt die Operation
häußg nutzlos; ist der tuberkulöse Prozeß
noch nicht ausgeheilt, so kann ein Rezidiv
der Lähmung erfolgen, was mich allerdings
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UNIVERSITY 0F CALIFORNIA
April
no
Die Therapie der Gegenwart 1910.
nicht abhalten würde, noch einmal einzu¬
greifen. Bei florider Tbc. gibt die Lamin-
ektomie kaum je einen dauernden Erfolg.
Ich verfüge neben einigen Mißerfolgen oder
geringen Erfolgen über einen ausgezeichnet ge¬
lungenen Fall von Laminektomie, den ich noch
auf der Breslauer Klinik operierle. Bei dem
jungen Manne bestand seit einigen Monaten
eine Parese beider Beine, zuletzt eine voll¬
ständige Lähmung. Der Gibbus saß in der
unteren Brustwirbelsäule. Durch eine ausge¬
dehnte Laminektomie brachte ich den Patienten
so weit, daß er ohne Unterstützung gehen
konnte, wenn die Kraft der unteren Extremi¬
täten auch nicht normal wurde. Ein Rückfall
trat, solange ich von dem Patienten hörte
(3 Jahre), nicht ein.
Zum Schlüsse möchte ich noch kurz
auf Komplikationen und andere Gründe
eingehen, die von Einfluß sind für die Be
handlung der Knochen- und Gelenk-Tbc.,
namentlich auf die Indikation zum konser¬
vativen und radikalen Vorgehen.
Bei Kindern gehe ich noch konser¬
vativer vor, reseziere noch seltener als bei
Erwachsenen. Einmal tue ich dies, z. B.
am Knie, um das Wachstum nicht zu schä¬
digen. Ein weiteier Grund ist, daß die
Tbc. zweifellos um so günstiger verläuft,
je jünger das Individuum ist.
Aus diesem Grunde reseziere, respek¬
tive amputiere ich bei alten Leuten an
den unteren Extremitäten häufiger, wenn
es sich um schwere Fälle handelt, oder
wenn ich mit der konservativen Behand¬
lung nicht bald Erfolge erziele. Die Tbc.
verläuft bei alten Leuten ungünstiger,
außerdem liegt mir gerade bei solchen
daran, sie bald auf die Beine zu bringen.
Besteht eine Lungen-Tbc., und ist sie
eine leichte, ohne oder mit spärlichen Ba¬
zillen, so beeinflußt sie mein Vorgehen
nicht. Bei schwerer, progressiver, die
aber noch die Heilung aussichtsvoll er¬
scheinen läßt, gehe ich radikaler vor als
ich es sonst tue. Bei aussichtsloser Tbc.
unterlasse ich jeden irgend größeren und
den Patienten quälenden Eingriff. Ebenso
würde ich bei komplizierter Darm-Tbc. Vor¬
gehen.
Bei Amyloid verhalte ich mich so, wie
ich es für schwere Lungenphthise soeben
angab. Ich habe noch nie eine amyloide
Erkrankung heilen sehen, weder bei radi¬
kaler noch bei konservativer Therapie.
Bei bestehendem Diabetes mellitus
behandele ich diesen diätetisch und suche
den Patienten zuckerfrei zu machen. Gegen
die Tbc. gehe ich im ganzen wie sonst
vor; bei älteren Leuten würde ich mich
eher als sonst zur Ablatio entschließen.
Ein wichtiges Moment bildet für viele
Chirurgen die soziale Lage des Patienten:
Sie gehen bei schlecht Situierten eher ra¬
dikal vor, um die Patienten schneller ge¬
sund und arbeitsfähig zu machen, um den
Krankenhausaufenthalt und damit die Zeit
der absoluten Arbeitsunfähigkeit zu kürzen.
Ich erkenne dies Moment an, habe mich
aber doch selten dadurch in meinem Vor¬
gehen beeinflussen lassen.
Nicht gelten lasse ich Momente wie den
entfernten Wohnort des Patienten, wo¬
durch sich manche eher zum radikalen Vor¬
gehen entschließen; es sei denn, der Pa¬
tient sei außerdem arm, dann ist aber die
soziale Lage wieder das Ausschlaggebende.
Daß ich mich in meinem Vorgehen nicht
durch die Wünsche des Patienten oder der
Angehörigen beeinflussen lasse, ist selbst¬
verständlich.
Bücherbesprechungen.
Biedert und Lang’ermann. Diätetik und
Kochbuch für Magen- und Darm¬
kranke, nebst einem Abriß über Unter¬
suchung und Behandlung, neu heraus¬
gegeben gemeinsam mit Dr. G. Langer¬
mann und Dr. F. Gernsheim, ehema¬
ligen Assistenten von Geh. Ob.-Med.-
Rat Prof. Dr. Biedert. Stuttgart 1909.
F. Enke.
Das Buch trägt auch in seiner neuen,
etwas erweiterten Gestalt das Gepräge
Prof. Biederts, eines unserer verehrungs¬
würdigsten Aerzte, der in vorbildlicher
Weise praktisches Denken mit wissen¬
schaftlichem Sinn in sich vereinigt. Es
enthält einen kurzen Abriß der Pathologie,
Diagnostik und allgemeinen Therapie der
Magen- und Darmkrankheiten, während der
Hauptanteil der Diätetik gewidmet ist.
Voraus geschickt ist die eigene Kranken¬
geschichte Biederts, die angenehm und
nützlich zu lesen ist. Bei Erwähnung der
von „Kohnstamm warm empfohlenen an¬
fangs fleischfreien, später fleischarmen
Kost“, die sich auch den Verfassern gegen
Obstipation gut bewährt hat, fehlt der im
Interesse der Sache hier anzufügende
Hinweis, daß Milch oder Milchkakao in
! hinreichender Menge ein integrierender
Bestandteil der Diät ist. Nur bei Beach¬
tung dieser Vorschrift wird man ihre vollen
Vorteile ernten, die nicht zum wenigsten
in der Möglichkeit einer gleichzeitigen
Ueberernährung bestehen. Auch gegen
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UNIVERSiTY 0F CALIFORNIA
April
Hie Therapie der Gegenwart 1910.
171
Colica mucosa, selbst schwerer Art, ist
sie nach neueren Erfahrungen des Refe¬
renten ein wahres Spezifikum. — Der
Schwerpunkt des Werkchens liegt in den
zahlreichen mit Nährwertberechnungen ver¬
sehenen Kochrezepten und Speisezetteln,
die für eine ganze Woche variiert sind.
Dadurch erscheint auch die Absicht ge
rechtfertigt, dem Patienten selbst das Buch
in die Hand zu geben, der von dem mehr
theoretischen Teil, so gemeinverständlich
er abgefaßt ist, doch keinen Vorteil davon¬
tragen wird. Für den Arzt hingegen, so¬
fern er der täglichen Uebung in diäteti¬
schen Dingen ermangelt, ist gerade die
praktische Diätetik von großem Nutzen.
Er wird den Verfassern der sorgfältigen
und mühsamen Arbeit reichen Dank wissen.
O. Kohnstamm (Königstein i. Taunus).
Lehrbuch der Augenheilkunde» bear¬
beitet von Azcnfciu, Bach, Biel-
schowsky, Elschnigg,Gre eff, Heine,
v. Hip pel, Krflckmann, Peters, Schir¬
mer, herausgegeben von Axenfeld.
Verlag von Gustav Fischer in Jena 1909.
15 M.
Durch Zusammenarbeit der hervor¬
ragendsten unter den jüngeren Ophthal¬
mologen ist ein Werk entstanden, das
ebenso ein Lern- und Lehrbuch ist, wie,
— ich möchte fast sagen — ein komprimiertes
Handbuch, ein kleiner Graefe-Saemisch.
Eine Zusammenarbeit vieler Autoren hat zwar
immer etwas mißliches; Widersprüche lassen
sich nicht immer vermeiden. So sagt
Krückmann auf S. 437: „Ein Lymphgefä߬
system fehlt dem Glaskörper, auch einen
Canalis hyaloideus gibt es nicht* und
Peters auf S. 485: „Aus dem Glaskörper
fließt die Lymphe durch den Zentralkanal,
der nach Resorption der fötalen Arteria
hyaloidea persistiert, in die Lymphscheiden
der Zentialgefäße des Optikus*.
Was aber an dem Buch besonders
gelobt werden muß, ist die stetige Be¬
zugnahme auf das Ziel, das es verfolgt,
ein Lehrer der Studierenden und ein Rat¬
geber der Aerzte zu sein. Es stellt nicht
eine Zusammenfassung des heutigen Wissens
dar, sondern bringt mit Bildern und Ueber-
sichtskapiteln das Wesendiche und Wich¬
tige dem Leser so dar, daß er allmählich
und ohne Mühe mit den Schwierigkeiten
seiner Aufgabe veitraut wird. Als muster¬
gültig in dieser Hinsicht muß ich das Ka* !
pitel Erkrankung der Uvea von Krück¬
mann bezeichnen, das nicht Symptome
aufzählt, sondern das Zustandekommen der¬
selben erklärt und sie auf diese Weise dem
Studenten nachdrücklich einprägt. Er zeigt
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durch typische anatomische Bilder, wie das
jeweilige ophthalmoskopische Bild zustande
kommt und weckt dadurch das Verständnis
und die Anregung zur geistigen Durch¬
arbeit des Spiegelbefundes.
Leider stehen nicht alle Kapitel auf
dieser Höhe; aber trotz dieser Ungleichheit
kann das Buch aufs beste empfohlen werden.
C. Adam (Berlin).
Fromme. Die Physiologie und Patho¬
logie des Wochenbetts. Mit 31 Ab¬
bildungen im Text und 2Tafeln. Berlin 1910.
S. Karger. Preis 8,40 M.
Es war ein außerordentliches Verdienst
Frommes, in zusammenhängender Weise
über die Physiologie und Pathologie des
Wochenbetts zu berichten; sein Buch bringt
nicht allein den Aerzten ein guten Ueberblick,
sondern auch diejenigen, die sich mit dem
gleichen Thema beschäftigen, können das
Buch als einen Markstein betrachten, an dem
man nicht so ohne weiteres vorbei kann.
In der Physiologie des Wochenbetts
werden zuerst die Rückbildungsvorgänge
der Genitalien besprochen, dabei besonders
dem Bochialsekret der gesunden Wöch¬
nerin mehrere Seiten gewidmet Es folgen
die Beschreibung der Milch, die klinischen
Erscheinungen des puerperalen Zustandes,
Pflege, Behandlung und Hygiene im Wochen¬
bett, Physiologie und Pflege der Neu¬
geborenen.
Der Schwerpunkt des Buches liegt in der
Pathologie des Wochenbetts.
Fromme definiert das Kindbettfieber als
ein Wundfieber, das gewöhnlich verursacht
wird durch das Eindringen pathogener hä¬
molytischer Streptokokken in die Genitalien
der Frau. Da er die Mikroorganismen in
Eigenkeime und Fremdkeime trennt, d. h.
solche, die unter normalen Verhältnissen
an den äußeren Genitalien und in der Vagina
leben, und andere, die mit Fingern und
Instrumenten von außen hereingeschleppt
werden, so stellt er zuerst den normalen
Keimgehalt fest und findet, daß die Fremd-
keime ganz besonders in Frage kommen.
Der häufigste dieser Fremdkeime ist zweifel¬
los der Streptococcus pyogenes, dessen
wichtigste Eigenschaft die Hämolyse ist
Fromme hat ein Verfahren angegeben (im
Blutschwammversuch) das „mit Leichtigkeit*
entscheiden läßt, ob man es mit einem sapro-
phytären hämolytischen Sin ptokokken-
! stamm, also einem Eigenstreptokokkus
oder mit einem pathogenen Fremdstrepto¬
kokkus zu tun hat. Neuerdings verwendet
Fromme zur Unterscheidung dieser beiden
Streptokokkenarten eine 2°/o-ig e Lecithin¬
emulsion, die in 24 Stunden entscheiden
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UNIVER5ITY 0F CALIFORNIA
172
Die Therapie der Gegenwart 1910.
April
läßt, ob virulente oder saprophytische Strep¬
tokokken im Spiele sind. Daß saprophytäre
Streptokokken sich innerhalb weniger Tage
in virulente Keime umwandeln können,
hält Fromme entgegen Ahlfeld für un¬
bewiesen. Der Nachweis der Streptokokken
bedeutet noch kein Puerperalfieber, erst der
positive Ausfall der von Fromme ange¬
gebenen Reaktionen erweist die Pathogenität
des Streptococcus.
Die Saprophyten fließen gewöhnlich mit
dem Lochialfluß ab; erst wenn eine Stauung
zustande kommt, so daß eine Resorption
der Gifte eintritt oder wenn Fäulnis (durch
Eihautreste) statthat, tritt Fieber auf:
Stauungsfieber, saprämisches Fieber, Intoxi¬
kationsfieber).
Die pathogenen Freradkeime dagegen
dringen als Parasiten von der Wunde aus
in die normalen Gewebe ein. Auf diesen
Untersuchungen basiert Frommes Schema
des Kindbettfiebers:
I. Bedingt durch saprophytäre (Eigen)
Scheidenkeime.
1. Saprophyten auf Geburtswunden, Ei-
hautfetzen, Plazentarresten (Wund¬
fäulnis, Eintagsfieber usw.).
2. Saprophyten wuchernd in Thromben
der Plazentarstelle (Thrombophlebitis,
Thrombose der Becken venen, Pyaemia
chronica.
II. Bedingt durch pathogene Fremdkeime
(virulente Streptokokken).
A. Lokalisierte Infektion.
1. Kolpitis, Endometritis septica(strepto-
coccica).
2. Gangraena Uteri puerperalis.
B. Fortschreitende Infektion.
Auf Tubenwege.
1. Pyosalpinx streptococcica.
2. Peritonitis circumscripta (Ovarial-
abszess, Douglasabszess, diffuse Peri¬
tonitis).
Auf Blutwege.
1. Reine Septikämie (Bakteriämie.)
2. Pyaemia acuta und chronica (Thrombo-
. phlebitis).
Auf Lymphwege.
1. Peritonitis puerperalis.
2. Parametritis puerperalis.
Auf Einzelheiten in der Ausführung
dieses Schemas einzugehen, muß ich mir
leider an dieser Steile versagen. Aber
der Arzt, der sich nicht mit der Diagnose
Wochenbettfieber begnügt, findet in
Frommes Buch manche Anregung.
Konservative und chirurgische Therapie
werden gegeneinander abgewogen, der
Wert der Serum- und Kollargolbehandlung
kritisch beleuchtet Da Fromme neue
Wege in der Erforschung des Puerperal¬
fiebers gefunden hat, kann man ihm nicht
den Vorwurf eines gewissen Subjektivismus
machen, das ist wohl ganz natürlich; es
gehört eben Kritik und Erfahrung des
Lesenden dazu, nicht alles zu unterschreiben,
was Fromme sagt. Schematische Ab¬
bildungen und Kurven erhöhen den didak¬
tischen Wert des Buches, das aufs wärmste
empfohlen werden kann. P. Meyer.
Max Joseph. Lehrbuch der Haut- und
Geschlechtskrankheiten. Zweiter
Teil. Geschlechtskrankheiten. Sechste
vermehrte und verbesserte Auflage.
Leipzig 1909 bei Georg Thieme.
Es dürfte unnötig erscheinen, diesem
allgemein anerkannten Lehr buche, das in
einem Zeitraum von 15 Jahren sechs Auf¬
lagen erlebt hat, noch besondere empfeh¬
lende Geleitworte auf den Weg zu geben,
zumal bei früheren mehrfachen Besprechun¬
gen desselben in dieser Zeitschrift seitens
des Referenten die Vorzüge des Werkes
und seine hervorragende Brauchbarkeit
besonders für den praktischen Arzt charak¬
terisiert wurden. Es genügt, hervorzuheben,
daß auch in dieser neuesten Auflage alle
Fortschritte der Forschung auf den ein¬
schlägigen Gebieten verwertet und speziell
der Wassermannschen Reaktion ein be¬
sonderes kurzes Kapitel gewidmet ist, in
dem Technik und praktische Bedeutung
der Serodiagnostik summarisch besprochen
wird. Ohne die große theoretische Be¬
deutung der Wassermannschen Ent¬
deckung und ihren praktischen Wert für
diagnostische Fragen, die wertvolle Hilfe,
welche die Klinik durch diese Methode
erfährt, im geringsten zu bestreiten, muß
allerdings der Referent in der Bewertung
für Prognose und Therapie den Schlu߬
folgerungen von Max Joseph — wenig¬
stens nach seinen eigenen Erfahrungen und
dem zeitigen Stand unserer Kenntnisse —
entschieden widersprechen. Wenn der
Autorauch nach dieser Richtung dem
Verfahren „enorme Bedeutung“ zu¬
spricht, so kann Referent das nicht gelten
lassen. Vielleicht bringt uns hierin der
weitere Ausbau der Methodik weiter; zur¬
zeit dürfte aber gerade nach dieser Rich¬
tung eine gewisse Reserve am Platze sein.
Buschke.
Alfred Fournier. Sekundäre Spät¬
syphilis. Uebersetzt von De. Bruno
Sklarek. Mit fünf mehrfarbigen Tafeln.
Berlin 1909 bei Julius Springer.
Daß die landläufige Einteilung der
Syphilis in das primäre, sekundäre und
tertiäre Stadium ein Schema darstellt, von
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April
Die Therapie der Gegenwart 1910.
173
dem Abweichungen Vorkommen, ist den
Spezialisten wohlbekannt; besonders das
Auftreten klinisch als solcher anzu¬
sehender Früherscheinungen zu einer
Zeit, wo regulär Tertiärschema bestehen
sollte, haben auch wir zeitweise beobachtet.
Besonders Schleimhauterscheinungen die- |
ser Art sind mir aus meiner Erfahrung !
bekannt, Roseolen sind mir sehr selten |
begegnet. In der vorliegenden Mono- i
graphie stellt einer der erfahrensten
Syphilidologen seine diesbezüglichen Beob- >
achtungen zusammen, und wir sehen zu
unserem Erstaunen, wie häufig ihm diese I
Dinge begegnet sind. Mit einem großen I
Teil dieser Beobachtungen kann man sich [
wohl einverstanden erklären; und sie wer¬
den den Praktiker veranlassen, vorsichtig
in der Abgrenzung der Früh- und Spät¬
symptome, besonders auch in bezug auf
die Frage der Infektiosität zu verfahren.
Andere Fälle erscheinen nicht so ge¬
sichert. Aber jedenfalls wird dies lehr¬
reiche Buch veranlassen müssen, mit neuen
Forschungsmethoden diese praktisch so
wichtigen Fragen zu untersuchen. Es ist
Sklarek zu danken, daß er zur Verbreitung
dieser wichtigen Monographie durch seine
geschickte Uebersetzung beigetragen hat;
sie wird zweifellos zur Klärung dieser
wichtigen Probleme der Syphilisforschung
anregen. Buschke.
Referate.
Neuerungen aus dem Gebiete der chi¬
rurgischen Appendizitisbehandlongr teilt
Ebner aus der Lexersehen Klinik mit;
sie betreffen die Schnittführung bei An¬
legung des Bauchschnittes und die Technik
bei der Amputation und Stumpfversorgung
der Appendix. Bei der Operation wird hoch¬
gradige Schräglagerung des Patienten nach
der linken Seite hin angewendet; durch
diese fallen Dünndarm und Netz nach links
herüber, die Appendix kommt dadurch
leichter zu Gesicht. Da bei der Lanz-
schen Schnittführung die Abgangsstelle
der Appendix nicht mit Sicherheit getroffen
wird, wird nach Lexer der Hautschnitt
mehr oberhalb der bispinalen Falte, vom
Mc. Burneysehen Punkte aus beginnend,
angelegt. Der Muskelschnitt durchtrennt
nur die bindegewebigen Bestandteile der
Bauchwand im Faserverlauf, der fleischige
Teil der Muskulatur bleibt unberührt; auf
diese Weise wird eine Atrophie der
Muskelfasern, ein Durchschneiden der
Nähte, das Blutergüsse im Gefolge haben
kann, vermieden. Die Faszienränder lassen
sich durch die von Lexer geübte Vier¬
stichknopfnaht leicht und fest wieder ver¬
einigen. Die Appendix wird durch eine
um die Basis gelegte Ligatur fixiert, läßt
sich an dem Faden mit einem kleinen Teil
des Zökum gut vorziehen. Nach Unter¬
bindung des Mesenteriolum wird die Appen¬
dix nach oben gezogen, seine Abgangs¬
stelle durch eine von unten her an die
Basis der Appendix herangehende, die
Serosa breit fassende seromuskuläre
Schlupfnaht gut eingestülpt; durch Zug an
der hochgehaltenen Appendix wird die
Abgangsstelle aus der Falte emporgehoben
und die Appendix proximalwärts von der
Ligatur durchtrennt, der Stumpf verschwin¬
det in der Serosafalte, durch die Ligatur
am Wurmfortsatz wird ein Ausfließen seines
Inhaltes verhütet. Zum völligen Verschluß
werden noch einige Lembertnähte ange¬
legt: Ebner nennt dies von Lexer ge¬
übte Verfahren die Abnabelung der Appen¬
dix vermittelst der zweietagigen rückläufi¬
gen Schlupfnaht. Ebner glaubt, daß auf
diese Weise Stumpfabszesse, wie sie von
anderer Seite bei Einstülpung des unter¬
bundenen Appendixstumpfes beobachtet
wurden, vermieden werden; außerdem
rühmt er die Sicherheit, Bequemlichkeit
und außerordentliche Schnelligkeit dieses
Verfahrens. Hohmeier (Altona).
(Deutsche Ztschr. f. Chir., Bd, 103, H. 3—6.)
Ueber die Stellung der Karelischen
Milchkur in der Entfettungsbehandlungv
auf welche Lenhartz, Moritz u. a. in den
letzten Jahren die Aufmerksamkeit gelenkt
haben (vergl. diese Zeitschrift 1908, S. 329,
380 und 427), sprach H. Strauß auf der
diesjährigen Versammlung der Balneologi-
schen Gesellschaft. Strauß hat die Karell-
kur bei Fettleibigen mittleren und höheren
Grades anfangs in der Form durchgeführt,
daß er täglich — meist für die Dauer von
5—8 Tagen — in 2 1 /? ständigen Pausen 4 bis
5 mal ein Wasserglas voll gewöhnlicher
Milch nehmen ließ, außerdem nichts, höch¬
stens in den letzten Tagen täglich einmal
eine Apfelsine oder einen Apfel. Die Pa¬
tienten lagen während der ganzen Dauer
der Kur zu Bett und wurden in der Mehr¬
zahl der Fälle täglich massiert. Von fast
allen Patienten wurde diese Kur außer¬
ordentlich gut vertragen; kaum einer klagte
über Hunger und Durst, einige über Ver¬
stopfung. Der Erfolg war meist ein schöner,
zum Teil sogar ein überraschender. Stets
war der Erfog in den ersten 3 Tagen
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174
Die Therapie der Gegenwart 1910.
April
am größten. Die Gewichtsabnahmen be¬
trugen in den ersten 3 Tagen meistens
2-3 kg. einmal sogar 5,5 kg. Bis zum
7. Tage erreichte die Abnahme meistens
4—5 kg, in dem einen Falle volle 10 kg.
Die Urinmenge sank meistens schon am
3. bis 4. Tage auf 400—500 ccm, in einigen
Fällen betrug sie um diese Zeit noch
600—800 ccm. Der Kochsalzgehalt war am
3 Tage schon auf wenige Gramm ab¬
gesunken und hielt sich in den weiteren
Milchtagen auf 1—2 g täglich. Während
der „Nachkur“ erhielten die Patienten Zu¬
lagen von kleinen Mengen Obst, Grau¬
brot, fettarmem Fleisch, fettarm zubereitetem
Gemüse, wobei das Milchquantum meist
herabgesetzt wurde, oder es wurde eine
milchfreie, kalorienarme gemischte Diät
unter Beschränkung der Flüssigkeit
und des Kochsalzgehaltes der Nahrung
gegeben. Die Mehrzahl der Patienten nahm
auch während dieser Nachkur ab, doch in
erheblich geringerem Maße als während der
eigentlichen „Kur“; es gab aber auch Tage,
an welchen die Patienten sogar bis
7s Pfund Zunahmen.
Der Gewichtsverlust in den ersten Tagen
der Kur ist zweifellos in erster Linie durch
einen Flüssigkeitsverlust verursacht —
wenn auch daneben fraglos noch eine Ein¬
schmelzung von Fett stattfindet — und diese
Entwässerung ist auf zwei Momente zurück¬
zuführen, die geringe Flüssigkeitszufuhr
und die geringe Kochsalzzufuhr. Die
letztere gibt Anlaß zur Abgabe entbehrlichen
Kochsalzes aus dem Körper. Mit dem Koch¬
salz aber verläßt auch ein entsprechendes
Wasserquantum den Organismus, und zwar
derart, daß auf 6 g Kochsalz etwa 11 Wasser
aus dem Körper verschwindet. Die Koch¬
salzarmut der knappen Milchdiät hält Strauß
auch für einen der Gründe, warum die
Patienten trotz der geringen Flüssigkeits¬
zufuhr im allgemeinen nur ein geringes
Durstgefühl empfinden.
Trotz der im allgemeinen den Patienten
außerordentlich imponierenden Erfolge der
Karellkur ist dieselbe keinesfalls als gene¬
relle Entfettungsmethode anzu wenden,
sondern soll für spezielle Zwecke reser¬
viert bleiben. Sie eignet sich für schwere
Fälle von Fettsucht mit Herzstörungen;
schon für mittelschwere Fälle ohne kardiale
Kompensationsstörungen aber ist sie meistens
entbehrlich und es ist rationeller, diese Fälle
zum Gegenstand einer individualisie¬
renden Entfettungsbehandlung zu machen.
Für mittelschwere Fälle von Fettsucht kann
die Karellkur dann mit Vorteil herange¬
zogen werden, wenn es sich um Nephritiker
oder Gichtkranke handelt. Insbesondere
bei fettleibigenNephritikern mitBlutdruck-
steigerung hat Strauß von „Milchtagen“
(s. unten) Nutzen gesehen. Auch bei manchen
Fällen von Adipositas mit Glykosurie hält
er einen Versuch mit der Karellkur für
ratsam. Von diesen Spezialfällen aber ab¬
gesehen empfiehlt er, die Karellkur als eine
sehr energische Kur nur für sehr schwere
Fälle von Fettsucht zu reservieren, die auf
anderen Wegen schwer zu bekämpfen sind,
ln mittelschweren Fällen von Fettsucht
mit kardialen Kompensationsstörungen und
auch in schweren Fällen ohne kardiale
Störungen hat Strauß in der letzten Zeit
die Karellkur mehrfach nur in der Form
einer 3—4 tägigen Kur durchgeführt, weil
in dieser Zeit ja der Haupteffekt der Kur
erzielt wird; solche „Miniatur-Kuren“
wurden nach einer Reihe von Wochen
oder Monaten wiederholt, wenn das Ge¬
wicht des Patienten unterdes wieder stärker
angestiegen war. Mit Erfolg hat Strauß in
einigen Fällen auch von den von Römheld,
Tobias u. a. empfohlenen „Milchtagen“
Gebrauch gemacht, die er einmal wöchent¬
lich, ausnahmsweise nur zweimal befolgen
ließ. Solche „Miniaturformen“ der Karell¬
kur empfiehlt Strauß mehr, als eine lang
hingezogene Durchführung der Karelischen
Prinzipien, ferner empfiehlt er dringend,
in allen Fällen Bettruhe durchzuführen und
die Patienten in genauer ärztlicher Ueber-
wachung zu halten. Unter diesen Kautelen
und in der Beschränkung ihrer Anwendung
auf die zur Ruhe verurteilten schweren,
die anämischen und schlaffen Fettleibigen,
bei denen von der Arbeitsentfettung
gar nicht oder nur in geringem M aße Ge
brauch gemacht werden kann, stellt nach
Strauß’ Erfahrungen die Karellkur nicht
nur in ihrer ursprünglichen Form, sondern
auch in der Miniaturform, sei es als eine
3 tägige „Einleitungskur“, sei es in Form
der sogen. „Milchtage“, eine wirksame Be¬
handlung dar. Felix Klemperer.
(Med. Klinik 1910, Nr. 13.)
E Jacobsohn gibt einen Ueberblick
über die chronischen Gelenkerkr&n-
kungen im Röntgenbilde (mit Ausnahme
der Tuberkulose und Lues). Bei den
chronisch rheumatischen Gelenkaffektionen
unterscheidet er nach dem Röntgenbilde
scharf zwischen der Arthritis hypertrophicans
und der Arthritis atrophicans. Bei der
ersten Form finden sich geringe Knochen¬
atrophie, stets Proliferationen, oft knorpelige
oder knöcherne Gelenkkörper, meist ein
breiter Gelenkspalt auch in vorgeschrittenen
Fällen, nie Ankylosenbildung, gute Ent-
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April
Die Therapie der Gegenwart 1910.
175
faltung der Gelenkkapsel bei Sauerstoff-
insufflationen. Im Röntgenbilde zeigen sich
oft schon bei kurz bestehender Krankheit
große Veränderungen. Die zweite Form
ist ausgezeichnet durch starke Knochen¬
atrophie, seltene Ausbildung von Prolifera¬
tionen, Fehlen knorpeliger oder knöcherner
Gelenkkörper, durch den engen Gelenk¬
spalt in vorgeschritteneren Fällen, öfters
durch Ankylosenbildung und schlechte Ent¬
faltung der Gelenkkapsel bei Sauerstoff-
insufflationen. Im ganzen sind bei dieser
Form die Veränderungen im Röntgenbilde,
selbst bei lange bestehender Krankheit, nur
geringfQgig. — Den röntgenologischen
Unterschieden dieser beiden Formen ent¬
sprechen klinische und pathologisch-ana¬
tomische. Was die klinischen Unterschiede
anbetrifft, so sind bei der Arthritis hyper-
trophicans zu erwähnen: mon- oder olig-
artikulärer, nicht exquisit progredienter
Typus, Bevorzugung des männlichen Ge¬
schlechts, oft deutlich palpable Prominenzen
und fühlbare Corpora libera, meist starkes
Gelenkknarren, nie Ankylose, keine sehr
ausgeprägte Muskelatrophie, selten andere
trophische Störungen, selten starke Störung
des Allgemeinbefindens. Bei der Arthritis
atrophicans finden sich: Polyartikulärer,
exquisit progredienter Typus, Bevorzugung
des weiblichen Geschlechtes, keine fühl¬
baren Prominenzen oder Corpora libera,
kein auffallendes Gelenkknarren, oft Anky¬
lose, fast immer starke Muskelatrophie, oft
andere trophische Störungen, oft starke
Störung des Allgemeinbefindens. — Die
pathologisch - anatomischen Unterschiede
sind für die Arthritis hypertrophicans: Be¬
ginn in der Knorpelsubstanz, stets Wuche¬
rungsprozesse, keine Synechien, nie Anky¬
losen, Zottenwucherung und Corpora libera
cartilag. et ossea, für die Arthritis atro¬
phicans: Beginn in der Synovialis, keine
oder nur sehr geringfügige Wucherungs¬
prozesse, oft Synechien, öfters Ankylosen,
Zottenwucherung und Corpora libera fibri-
nosa. Die Einteilung chronisch-rheuma¬
tischer Gelenkaffektionen in hypertrophische
und atrophische Formen hilft nach Ansicht
des Verfassers bei der Differenzierung der
übrigen chronischen Arthritiden insofern,
als man meistens sagen kann, daß eine be¬
stimmte Art chronischer Gelenkerkrankung
mehr den hypertrophischen Charakter an¬
nimmt, eine andere wiederum mehr dem
atrophischen entspricht. Zur hypertrophi¬
schen Form wären die neuropathischen
Gelenkaffektionen zu rechnen, zur atro¬
phischen die chronisch-infektiösen Arthri¬
tiden (der sekundär - chronische Gelenk¬
rheumatismus, die Arthritis gonorrhoica,
andere im Gefolge von Infektionen auf¬
tretende chronische Gelenkentzündungen,
z. B. bei S?psis, Typhus, Influenza, Skar-
latina), die Gicht und gewisse Formen der
Arthritis senilis.
Der Arbeit sind eine g ößere Anzahl
von Röntgenbildern beigegeben. Sie stützen
die von dem Verfasser angeführten Beob¬
achtungen hinsichtlich des Röntgenbefundes
chronischer Gelenkprozesse.
Autoreferat.
(Mitt. a. d. Gr. 1909, Bd. 20, H. 5.)
Seine aus der inneren Abteilung des
städt Krankenhauses Moabit herrührenden
Beobachtungen von tuberkulösem Gelenk¬
rheumatismus hat E. Melchior um einen
neuen Fall aus der Berliner chirurgischen
Klinik vermehrt.
Es handelt sich bei der letzten Beob¬
achtung um ein 19 jähriges Mädchen mit
tuberkulöser Heredität, welches als Kind
an skrofulösen Drüsen litt. Vor 2 Jahren
stellte sich eine Tuberkulose des Unter¬
kiefers ein, welche wegen fortschreitender
Knochennekrose die Exartikulation not¬
wendig machte. Etwa 3 Wochen nach der
ohne Komplikationen verlaufenen Opera¬
tion begann das linke Sprunggelenk unter
Schmerzen und Fieber anzuschwellen und
es folgten nach 14 Tagen Schwellungen im
linken Knie und Ellenbogen. In allen Ge¬
lenken war ein deutlicher Erguß vorhanden.
Das Allgemeinbefinden der Patientin war
befriedigend, die Funktionsstörung der be¬
fallenen Gelenke unbedeutend.
Nach Ausschluß von Gonorhoe, Lues
und Ablehnung eines akuten Gelenkrheuma¬
tismus kommt Melchior zur Diagnose eines
tuberkulösen Gelenkrheumatismus, wie er
zuerst von Grocco und Poncet be¬
schrieben ist. Melchior gründet die Dia¬
gnose hauptsächlich auf das gleichzeitige
Bestehen einer konstitutionellen tuberkulösen
Erkrankung, und auf den Nachweis von
Tuberkelbazillen, die nach einem neuen von
Zieschl angegebenen Verfahren im Blute
gefunden wurden.
Das in Deutschland wenig bekannte
Bild des tuberkulösen Gelenkrheumatismus
erinnert, abgesehen von der miliaren Form
der Synovialtuberkulose, die als Teiler¬
scheinung der akuten Miliartuberkulose eine
infauste Prognose gibt, am meisten an einen
subakuten Gelenkrheumatismus mit schlech¬
ter Heilungstendenz. Befallen werden fast
ausschließlich Individuen, die entweder an
einer klinisch manifesten Organtuberkulose
leiden oder durch Heredität und Habitus
tuberkulös suspekt sind.
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April
Die Therapie der Gegenwart 1910.
Poncef, dem wir neben Grocco die
eingehenddien Ansichten über den tuber¬
kulösen Gelenkrheumatismus verdanken,
vertritt die Auffassung, daß die Gelenk¬
entzündungen toxischen Ursprunges sind.
Dem gegenüber ist es in neuerer Zeit,
wenn auch nur in wenigen Fallen, gelungen,
durch Verimpfung des Gelenkpunktates bei
Meerschweinchen Tuberkulose zu erzeugen.
Wenn auch zuzugeben ist, daß derartige
Versuchsergebnisse die toxische Natur des
tuberkulösen Gelenkrheumatismus in Frage
stellen, so kommt dem von Melchior
erbrachten Nachweis einer tuberkulösen
Bazillämie keine Beweiskraft, weder im
positiven, noch negativen Sinne zu, da in
Fällen von manifester Organtuberkulose,
an der Patient leidet respektive gelitten hat,
Tuberkelbazillen öfters im Blute angetroffen
werden. Leo Jacobsohn (Charlottenburg).
(Berl. klin. Woch. No. 11.)
K. Kaspar macht auf Grund der in dem
Cnopfschen Kinderspital in Nürnberg
gewonnenen Erfahrungen auf die Fort¬
schritte in der Intubationsbehandlung
der diphtheritischen Larynxstenose
aufmerksam, welche der von O’Dwyer,
dem Erfinder der Methode, 1897 eingeführ¬
ten Alaunheiltube zu danken sind.
Die Vorzüge der Intubation vor der
Tracheotomie sind jetzt allgemein aner¬
kannt; die Intubation ist leicht zu erlernen
und stellt einen weit geringeren Eingriff
dar, als die Tracheotomie, sie hat weiterhin
nicht die Gefahren für die Atmungsorgane,
die dieser anhaften. Als Nachteil der In¬
tubation wird geltend gemacht, daß sie in
der Hauptsache auf das Krankenhaus
beschränkt bleiben muß, weil die rasche
Erreichbarkeit des Arztes Bedingung ist.
Dies fällt nicht so sehr ins Gewicht, weil
einmal bei den heutigen Verhältnissen die
Mehrzahl der Kruppatienten im Spital be¬
handelt wird. Ferner kann sich der Arzt
draußen mit Hilfe der Intubation die Trache¬
otomie sehr erleichtern, indem er dem
Patienten erst einmal schnell über einen
gefahrdrohenden Erstickungsanfall hinweg
hilft. Der geübte und erfahrene Arzt kann
bei günstigen äußeren Verhältnissen sehr
wohl auch in der Privatpraxis die Heil¬
behandlung mit der Tube durchführen.
Nicht selten verläuft die Sache so, daß man
die Tube einführt und dadurch eine Pseudo¬
membran lockert; ein heftiger Hustenstoß
wird ausgelöst, bei dem Tube und Pseudo¬
membran herausfliegen, und die Stenose
ist dauernd behoben. Unentbehrlich ist
ferner die Tube in den Fällen, wo trache-
otomierte Kinder infolge irgendwelcher
pathologischer Verbildungen die Kanüle
nicht mehr entbehren können; hier dient
die Tube direkt als Bougie, welche den
deformierten und stenosierten Kehlkopf
wieder in die richtige Form bringt.
Der einzig gewichtige Nachteil des In¬
tubationsverfahrens besteht darin, daß die
Tube auf der diphtheritisch entzündeten
Kehlkopfschleimhaut bei manchen Kindern
einen Dekubitus verursacht, welcher unter
Umständen schwere Folgen nach sich zieht.
Die meisten dekubitalen Geschwüre liegen
in derZirkumferenz des Ringknorpels,haupt¬
sächlich an der vorderen Seite, an der Stelle
also, welche nachgewiesenermaßen die
engste im Laryngo-Trachealrohr ist und
welche eigentlich die Tube im Kehlkopf
festhält, indem sie sich fest um die bauchige
Anschwellung derselben zusammenschließt.
Die durch den diphtheritischen Prozeß ge¬
schädigte Schleimhaut ist in ihrer Wider¬
standskraft wahrscheinlich herabgesetzt und
leichte Arrosionen, öfter noch kleine, durch
den Druck anämische Stellen sind ziemlich
häufig zu finden. Solche Läsionen sind
meist unbedenklich, sie machen keine Sym¬
ptome und sind in ihrer Bedeutung für den
Patienten sicher geringer anzuschlagen, als
eine Tracheotomiewunde. Aber manchmal
kommt es doch innerhalb kurzer Zeit zu
vollständiger Zerstörung der Schleimhaut,
ja zu Arrosion und Durchlöcherung des
Ringknorpels und die Heilung gestaltet
sich dann ungemein schwierig und lang¬
wierig.
Das Auftreten solcher Folgeerscheinun¬
gen hat dazu geführt, daß man Kinder,
die nach einer gewissen Zeit, gewöhnlich
3 mal 24 Stunden, die Tube nicht definitiv
entbehren konnten, sekundär tracheoto-
mierte, ob sie nun einen Dekubitus hatten
oder nicht.
Gegen diesen Standpunkt, den heute
noch die meisten Kinderspitäler einnehmen,
wendet Kaspar ein, daß einmal die Re¬
sultate der sekundären Tracheotomie quoad
vitam durchaus nicht die besten sind; ferner
daß dabei zweifellos auch Kinder tracheo-
tomiert werden, die mit der Tube allein
noch zu heilen gewesen wären; und drittens
daß damit nicht einmal immer mehr das Auf¬
treten von schwerem Dekubitus vermieden
wird, da dieser sich gelegentlich schon
in den ersten 2—3 Tagen entwickelt. Die
Schwierigkeit liegt darin, daß es nicht
möglich ist, eine exakte Diagnose zu stellen,
ob ein Dekubitus da ist, wann er eintritt,
wie groß er ist. Von dem Kehlkopfspiegel
kann bei den kleinen Kindern, zumal bei
der bestehenden Erstickungsgefahr, kaum
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April
Die Therapie der Gegenwart 1910.
177
je Gebrauch gemacht werden. Es bleiben
gewisse klinische Anzeichen, die jedoch
nicht absolut zuverlässig sind. Als ein
Hauptsymptom des Dekubitus gilt das häu¬
fige Aushusten der Tube sowie die immer
kürzer werdende Zeit, in der das Kind
ohne Tube atmen kann. Indessen kamen
auf der Cnopfschen Abteilung Kinder zur
Beobachtung, welche die Tube nie aus¬
husteten, nach der Extubation 2—3 Tage
ohne Tube aushielten und dennoch schwere
Geschwüre acquiriert hatten, andere da¬
gegen, welche die Tube sehr oft aushusteten
und keine Geschwüre hatten. Von Neu¬
mann aus Baginskys Klinik ist auf das
Verhalten der Temperatur hingewiesen
worden. Normaler Weise fällt bei der
Diphtherie die Temperatur am 2. oder
3. Tage zur Norm ab; kommt es zum De¬
kubitus, so beginnt ein neuer Anstieg.
Kaspar findet diese Beobachtung in seinem
Material des öfteren bestätigt, sehr häufig
aber treten sonstige fieberhafte Kompli¬
kationen störend dazwischen. Einen ge¬
wissen diagnostischen Wert für die Er¬
kennung des Dekubitus schreibt Kaspar
der Albuminurie zu. Er nimmt an, daß
die Vulverabilität der Schleimhaut in di¬
rektem Verhältnis zur toxischen Schädigung
der Gewebe durch die Diphtherie steht,
und den Grad dieser letzteren glaubt er
ermessen zu können an dem Auftreten
einer Albuminurie sowie an der Stärke
derselben. In Fällen mit schwererer Albu¬
minurie wendete Kaspar die Tube nur
mit Vorsicht an und tracheotomierte sehr
frühzeitig, wenn die Extubation nicht ge¬
lang. Ueberhaupt nicht recht zur Intu¬
bation geeignet sind schwammige, sehr
junge (sogenannte pastöse, lymphatische)
Kinder, ferner solche, die kurz vorher eine
andere Infektionskrankheit (Masern, Schar¬
lach) überstanden haben oder gleichzeitig
mit der Diphtherie an einer solchen leiden.
Bei diesen Kindern ist die Kehlkopfschleim¬
haut besonders empfindlich, und die Tube
darf nicht lange, höchstens 24 Stunden,
liegen; besteht dann noch Stenose, so muß
zur Tracheotomie geschritten werden.
Einen wesentlichen Fortschritt in dieser
Situation bedeuten die neuen Tuben, die
O’Dwyer 1897 konstruiert hat, die aber
bei uns noch wenig Eingang gefunden
haben. O’Dwyer machte den Halsteil der
Tube schlanker und verlegte ihre bauchige
Hervorwölbung etwas tiefer, so daß sie
außerhalb der gefährlichen Stelle am Ring¬
knorpel zu liegen kommt; außerdem umgab
er den Halsteil mit einer alaunhaltigen
Gelatine, wodurch die Heilung von Ge¬
schwüren befördert werden sollte. Diese
Tuben werden auf der Cnopfschen Ab¬
teilung seit 1 Jahr angewendet. Die Kinder
werden zuerst mit der normalen Tube in-
tubiert und zwar mit der Ebonittube; ge¬
lingt nach 2 mal 24 Stunden die Extabation
nicht definitiv, so wird zur Alaunheiltube
übergegangen, besonders dann, wenn es
sich um die vorerwähnten empfindlichen
Kinder handelt. Der Erfolg dieses Ver¬
fahrens war ein eklatanter: schwerer
Dekubitus kam nur noch ganz seiten vor
und die Zahl der notwendig gewordenen
Tracheotomien ging sehr stark zurück (von
22—33% in den Vorjahren auf 6°/ 0 ). Kaspar
empfiehlt deshalb die Anwendung der
Alaunheiltube, durch welche voraussichtlich
die Tracheotomie auf wenige Ausnahme¬
fälle zu beschränken sein wird.
Felix Klemperer.
(Münch. Med. Woch. 1910, No. 11.)
Nach den Erfahrungen Czernys, die
von Caan mitgeteilt werden, ist das
Radium ein wichtiges Mittel zur Be¬
kämpfung von bösartigen Tumoren, z. B.
Karzinomen, Sarkomen, besonders Melano-
Sarkomen, sowie malignen Lymphomen.
Bisher wurden von malignen Tumoren ge¬
wöhnlich nur oberflächlich gelegene klei¬
nere Tumoren (Epitheliome, isolierte Knöt¬
chen bei Mammakarzinomrezidiven usw.)
mit Radiumbromid behandelt. Hinderlich
war die Seltenheit und Kostspieligkeit
dieses Präparates. Neuerdings stellt das
Wiener Arbeitsministerium in beschränktem
Maße Radiumpräparate zur Verfügung,
die einen geringen Prozentsatz angeblich
reinen, aus Joachimsthaler Pechblende her¬
gestellten Radiumbromids enthalten sollen
und verhältnismäßig preiswert erscheinen.
Die Versuche Czernys bezogen sich
namentlich auf Radiolpräparate aus dem
Kreuznacher Quellsinter und Präparate der
Berliner Radiogengesellschaft, die durch
ihre Menge und Billigkeit weitgehende
Verwendung erlauben. Die Ungiftigkeit
der Präparate wurde durch Tierversuche
festgestellt, während zahlreiche histologische
Untersuchungen darauf hinwiesen, daß es
sich bei der Radiumwirkung auf maligne
Tumoren, wenn auch nicht um eine spezi¬
fische, so doch um eine elektive Wirkung
insoweit handelte, als in der Regel zuerst
die eigentlichen Tumorzellen, in zweiter
Linie das Bindegewebe und die Gefäße
angegriffen wurden. Die weißen Blut¬
körperchen nahmen während der Behand¬
lung zu, rote Blutkörperchen und Hämo¬
globin nahmen ab. Die kurze Behandlungs¬
zeit läßt nicht von Dauerheilungen sprechen,
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178
April
Die Therapie der Gegenwart 1910.
aber die vorübergehenden bezw. vor¬
läufigen Erfolge bedeuten schon einen
großen Fortschritt. In etwa 50% von
130 Fällen hatte die Radiumbehandlung
nennenswerten Erfolg (Verflüssigung, Er¬
weichung, Schrumpfung der Tumoren,
Hebung des subjektiven Befindens), be¬
sonders bei malignem Lymphom. Die
Radiumbehandlung allein stand in ihren
Erfolgen aber weit zurück hinter der kom¬
binierten Behandlung durch Radium zu¬
sammen mit Röntgenbestrahlung oder Ful-
guration oder medikamentöser Behandlung
oder Forestisierung oder Toxinbehandlung.
Bei einigermaßen operierbaren Fällen kommt
die blutige Operation oder die Ignioperation
in erster Linie in Betracht. Durch bieg¬
same Radiumsonden und besonders kon¬
struierte rohrförmige Behälter kann man
das Radium an sonst schwer zugängliche
Stellen bringen. Das Radiolpulver besteht
aus hochwertigen Radiumsalzen, die in
hochkonzentriertem Zustand in eine wasser¬
unlösliche Form gebracht werden. Mit diesem
Pulver wurden offene Karzinomgeschwüre
bestreut, doch wirkt es nicht bakterizid
und wird deshalb besser mit Borsäure zu
gleichen Teilen verwandt. Radioldauer-
kompressen enthalten Radiol in einer im
Wasser aufquellenden Grundmasse, die in
Stoff eingenäht ist; sie werden täglich
6—8 Stunden feucht bei geschlossenen
Karzinomen, Drüsenanschwellung und ex¬
sudativen Karzinosen aufgelegt; die Er¬
folge waren bisweilen überraschend.
10%ige Radiolgaze brachte nur vorüber¬
gehenden Erfolg. Radiolgelatineverbände
hatten keinen Einfluß. Sonden wurden mit
Radiolschellack oder steriler emanations¬
wasser- oder radiolsalbehaltiger Gaze
armiert und mehrere Stunden eingelegt.
In den Handel kommen noch 20 g schwere
Vaginalkugeln als Ovuli Radioli und 5 g
schwere Kugeln als Globuli Radioli aus
10% bei Körpertemperatur schmelzender
Radiolgelatine. Die von dem Radiolpulver
ausgehende Emanation kann auf Wasser
übertragen werden. Solche emanations¬
haltige Kochsalzlösung sowie Radiolemul-
sion wurden in Tumoren eingespritzt, er¬
wiesen sich aber durch ihren Bakterien¬
gehalt als nachteilig, führten allerdings
eine Verflüssigung und Nekrose im Tumor
herbei; von dem Radiogen läßt sich eine
sterile emanationshaltige Flüssigkeit her-
stellen. Die Magenkarzinome wurden durch
Darreichung von Radiol- beziehungsweise
Radiogenemanationswasser, bis 100 ccm
pro die, und Radioldauerkompressen be¬
handelt, zum Teil mit Besserung des sub¬
jektiven und objektiven Befindens, zum
Teil mit Verschlechterung. Bei Oesophagus¬
karzinom besserten sich die Beschwerden,
bei Uteruskarzinom nicht. Klink.
(Bruns B. 1909, Bd. 65, H. 3.)
Die primäre Lungenruptur hat bei kon¬
servativer Behandlung eine Mortalität von-
63%, Nebenverletzungen mitgerechnet Des¬
wegen empfiehlt Wolf(-Trendelenburg>
die operative Behandlung. Kleine Lungen¬
wunden heilen leicht von selbst, größere
heilen gut, wenn sie genäht werden. Das
Lungengewebe hat keine Regenerations¬
fähigkeit und heilt mit einer Narbe. Schuß-
und Stichwunden heilen leichter spontan»
als Risse. 3 Indikationen bestehen für die
Naht: drohende Verblutung beziehungs¬
weise rasches Anwachsen des Hämothorax,
starke Hämoptoe mit drohender Aspiration
des Blutes in die andere Lunge und zu¬
nehmendes bedrohliches Emphysem. Die
Gefahren des Eingriffes sind Infektion und
Pneumothorax; der letztere läßt sich durch»
Herausziehen der Lunge aus der Wunde
vermeiden; man kann dieselbe nachher so¬
gar in die Thoraxwunde einnähen, wodurch
eine Wiederausdehnung begünstigt, das
Schwinden des Pneumothorax beschleunigt
wird; das Operieren mit Druckdifferenz¬
apparaten ist natürlich sehr angebracht.
Die Wunde ist möglichst immer zu nähen,
die Tamponade nur auf den Notfall zu be¬
schränken, daß die Quelle der Blutung am
Hilus sitzt und für eine Naht nicht zu er¬
reichen ist. Selbst auf die Gefahr hin,
später wegen eines Exsudates wieder öffnen
zu müssen, soll man die Pleura schließen,
um die Kranken über die gefährliche Zeit
der Zirkulationsstörung wegzubringen. Von
einem prinzipiellen sofortigen Operieren
jeder Lungenverletzung darf keine Rede
sein; der erste Shock darf nur nicht ver¬
leiten, und eine Probethorakotomie ist
noch nicht spruchreif. Läßt sich aus der
zunehmenden Blässe und Cyanose, aus der
immer mühsamer werdenden Atmung, dem
kleinen frequenten Puls, dem angsterfüllten
Gesichtsausdruck auf die Fortdauer der
Blutung schließen, so ist die unbedingte
Indikation zur Thorakotomie gegeben,
gleichviel, ob nebenher Spannungspneumo¬
thorax und bedrohliches Hautemphysem
besteht oder nicht. Die Haemoptoe fehlt
oft. Die Thorakotomie muß ausgiebig sein,
damit man mit der Hand eingehen, die
Lunge hervorziehen und die Oberfläche
absuchen kann. Dazu ist gewöhnlich Re¬
sektion einer oder mehrerer Rippen nötig.
Auch die Lungenschüsse geben bei kon¬
servativer Behandlung eine Mortalität von
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April
Die Therapie der Gegenwart 1910.
179
30%, die Stichverletzungen von 38%;
Kriegs- und Friedensverletzungen sind
hierin gleich, auch die modernen Geschosse
geben keine bessere Prognose als die
alteren deformierenden Weichbleigeschosse.
Die innere Verblutung nach Schußverletzung
kann noch nach einem Monat zum Tode
führen. Klink.
(Bruns B. 1910, Bd. 66, H. 1.)
Eine Arbeit von Finsterer aus der
Hackerschen Klinik faßt den heutigen
Standpunkt der Behandlung lebensbedrohen¬
der Hagen- und Duodenalblutungen zu¬
sammen. Danach bestehen die von Leube
und Mikulicz aufgestellten Leitsätze für
die chirurgische Behandlung dieser Er¬
krankung im großen und ganzen noch zu
recht: Bei akuter einmaliger Magenblutung
innerliche Behandlung mit völliger Ruhig¬
stellung des Magens; nach neuerlicher
oder chronisch in kleineren Mengen sich
wiederholender Blutung wegen der Ge¬
fahren schwerer Anämien operative Be¬
handlung. Als solche kommen in Betracht:
die Exzision des GeschwQrs bei günstigem
Sitz (Pylorus, kleine Kurvatur); wenn diese
nicht möglich ist, die Unterbindung der
blutenden Gefäße nach Eröffnung des
Magens oder die Unterbindung der zu-
führenden Kranzarterien nach Witzei.
Zur Bestimmung des Sitzes des blutenden
Ulkus kann die Beobachtung Hackers
wertvoll sein: eine diffuse, oft in Strahlen
auslaufende ßammige Rötung, die durch
perigastritische, außerordentlich gefäßreiche,
tiefrote Pseudomembranen bedingt ist. Sie
kommt in ähnlicher Weise auch bei Chole¬
zystitis auf der Serosa der Gallenblase vor.
Hacker hat sie nur beim Ulkus, nicht
beim Karzinom, auch nicht beim Ulkus¬
karzinom gesehen. Die Gastroenterostomia
retrocolica posterior ist beim Sitz des
Ulkus am Pylorus indiziert, wünschenswert
beim Ulkus an der kleinen Kurvatur zur
Erzielung eines guten Abflusses des Magen¬
inhalts. Eine blutstillende Bedeutung kommt
ihr bei den kleinen, nicht die ganze Dicke
der Magenwand einnehmenden Ulzera zu,
während bei den kallösen Ulzera kein Er¬
folg zu erwarten ist. Zur Vermeidung der
wegen der hochgradigen Anämie schäd¬
lichen Narkose soll entweder die Lokal¬
anästhesie oder die Lumbalanästhesie ver¬
wendet werden. Der Tod durch Verblutung
bei innerer Behandlung tritt in 5—12%
der Ulkusfälle ein. Der Prozentsatz der
Heilungen durch Operation bedeutet einen
großen Fortschritt. Klink.
(Bruns B. 1909, Bd. 65, H. 3.)
H. Oppenheim und M. Borchardt
veröffentlichen einen interessanten Beitrag
über das bisher unbekannte Krankheitsbild
der Meningitis chronica serosa circum-
skripta.
Diese nicht nur den Neurologen inter¬
essierenden Mitteilungen sind ein neuer
Beweis für das erfolgreiche Zusammen¬
gehen der Chirurgie und Neurologie.
Den Ausgangspunkt der Betrachtungen
bildete ein siebenjähriges Mädchen, bei
welchem sich im Laufe einiger Monate das
Bild einer zerebellaren Neubildung ent¬
wickelte. ImAnschluß an ein schwereres Kopf¬
trauma stellten sichKopfschmerz, Erbrechen,
Doppelsehen und zeitweise auch Nacken¬
steifigkeit ein. Der von H. Oppenheim
erhobene Befund ergab Parese des rechten
Abduzens, mäßige Nackensteifigkeit, leichte
zerebellare Ataxie, Verlust der Kniephäno¬
mene, Herabsetzung der Hörfähigkeit rechts
und doppelseitige Stauungspapille. Auf
Grund dieser Symptome wurde ein Tumor
resp. Zyste der rechten hinteren Schädel¬
grube angenommen und trotz fehlender
Anhaltspunkte für Lues eine Jodquecksilber¬
kur eingeleitet.
Unter dieser Behandlung trat eine fast
völlige Rückbildung aller Symptome ein.
Auch die Stauungspapille ging zurück.
Die Patientin erholte sich rasch und nahm
25 Pfund zu.
Einige Monate später kam es wieder zu
Anfällen von Kopfschmerz und Erbrechen,
die sich wieder auf Jod besserten. Ein
halbes Jahr darauf stellten sich die früheren
Symptome in gleicher Stärke wieder ein
und auch der Nervenstatus entsprach, ab¬
gesehen von einer neu hinzugekommenen
Adiadokokinesis der rechten Hand im
wesentlichen dem früheren Untersuchungs¬
ergebnis. Im Anschluß an eine Spinal¬
punktion erfolgte rapide Verschlimmerung
des Zustandes. An neuen Symptomen
fanden sich Nystagmus beim Blick nach
rechts, rechtsseitige Fazialisparese und aus¬
gesprochene zerebellare Ataxie.
Das Kind wurde unter der Diagnose
Tumor oder Zyste der rechten hinteren
Schädelgrube M. Borchardt zur Operation
überwiesen. Die zweizeitig ausgeführte
Operation ergab an der Unterfläche der
rechten Kleinhirnhemisphäre eine zystische
Degeneration der Arachnoidea. Aus der
Meningealzyste entleerte sich etwa ein
Weinglas Liquor. Darauf wurde die Dura
vernäht und der Hautknochenlappen ge¬
schlossen. Nach drei Monaten wegen neuer
Drucksymptome nochmalige Trepanation
und Entleerung einer Zyste an derselben
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180
Die Therapie der Gegenwart 1910.
April
Stelle und des gleichen Charakters. Darauf
schnelle Wundheilung und Rückbildung
aller Symptome bis auf eine auf teil weiser
Optikusatrophie beruhende Sehstörung.
Das Wesentliche und Neue des hier
zitierten Falles liegt in dem Nachweis einer
umschriebenen chronischen serösen Menin¬
gitis, die sich im Anschluß an Traumen,
vielleicht auch auf anderer Grundlage, ent¬
wickeln kann. Die Symptomatologie dieses
Zustandes steht der des Hirntumors so
nahe, daß eine sichere Abgrenzung nicht
möglich ist. Vielleicht sind meningeale
Reizerscheinungen bei Neigung zu längeren
Remissionen von Bedeutung für die DifFe-
rentialdiagnose. Ist Jod und Quecksilber
ohne Erfolg, so soll operiert werden. Wie
bei allen Neubildungen der hinteren Schädel¬
grube muß die Spinälpunktion bei Verdacht
eines solchen Zustandes vermieden werden.
Leo Jacobsohn (Charlottenburg).
(Deutsche med. Wschr. 1910, Nr. 2.)
Polano gibt uns in seiner Arbeit über
Oelsäurewirkungen als Ursache der
Eklampsia gravidarum die Ergebnisse
seiner Versuche wieder. Basierend auf
den Arbeiten von Faust und Tallquist,
die als Ursache der Botriozephalus-
anämie die Oelsäure erkannt hatten,
glaubten Freund und Mohr die Oelsäure
auch als ätiologischen Faktor für die
Eklampsie gefunden zu haben, indem sie
dieselbe in der Eklampsieplazenta nach¬
wiesen. Mit Recht weist Polano darauf
hin, daß der qualitative Nachweis aber
nicht genügt, sondern daß es vielmehr auf
eine quantitative Bestimmung der Oelsäure
in der Eklampsieplazenta ankommt. Bei
der Botriozephalusanämie handelt es sich
um eine lange Zeit andauernde schädigende
Wirkung der Oelsäure auf die roten Blut¬
körperchen, von denen stets eine kleine
Anzahl untergeht: es kommt dabei nie zu
akuten Erscheinungen. Wenn man nun
annimmt, daß die eklamptischen Krampf¬
anfälle durch eine plötzlich erfolgende
Zerstörung der roten Blutkörperchen ent¬
stehen, sie also als Erstickungskrämpfe
deutet, dann müßte nachgewiesen werden,
daß dieses hämolytische Gift bei der
Eklampsie nun wirklich in großer Menge
auf einmal zur Wirkung gelangt.
Polano schließt aus seinen Analysen,
daß Oelsäure sich sowohl in der normalen
wie in der eklamptischen Plazenta findet,
und zwar nicht nur im eigentlichen Zellen¬
gewebe, sondern auch in den Eihäuten und
der Nabelschnur. Ein Ueberwiegen der
Oelsäure bei der Eklampsie konnte Polano
nicht feststellen. Im Blut einer Eklampti¬
schen fand sich nicht mehr Oelsäure als
bei einer Nichteklamptischen. Im Urin
wurde ein Unterschied in bezug auf den
Oelsäuregehalt nicht festgestellt.
Nach Zangemeister ist die Zahl der
roten Blutkörperchen im Blut der Eklampti¬
schen in der Regel vermehrt, niemals aber
verringert, während es bei der Oelsäure-
vergiftung gerade zu einer Verminderung
der Erythrozytenzahl und des Hämoglobin¬
gehaltes kommt.
Pol an os Resultate sprechen also gegen
die von Freund und Mohr aufgestellte
Oelsäurehämolysetheorie der Eklampsie.
P. Meyer.
(Ztschr. f. Geburtsh. und Gynftk., Bd. 65, H. 8.)
In ihren „Untersuchungen über die
physiologisch wirksame Substanz der
SchUddpfise“ prüften Pick und Pineies
die Wirksamkeit von Schweineschild¬
drüsen, Thyreoglobulin, Jodothyrin,
sowie von Präparaten, die durch Spaltung
von Schilddrüseneiweiß (Säure-Pepsin-
Trypsinspaltung) gewonnen worden waren.
Testobjekt waren myxödematöse Ziegen,
deren Ausfallserscheinungen je nach der
Beeinflussung durch die genannten Präpa¬
rate als Maßstab diente.
Daß Schweineschilddrüsen sehr günsti¬
gen Erfolg zeigten, entspricht den allge¬
meinen Erfahrungen.
Auch von dem nach Oswald darge¬
stellten Thyreoglobulin sahen Pick und
Pineies das gleiche prägnant günstige
Resultat. Dagegen waren das nach
Baumann von Bayer dargestellte Jodo¬
thyrin ebenso wie die durch längere
Verdauung gewonnenen Pepsin-Trypsin-
Präparate wirkungslos.
Auch nach Baumanns großer Ent¬
deckung, als man zunächst geglaubt im
Jodothyrin die wirksame Substanz ent¬
deckt zu sehen, hatte man praktisch doch
nur von den Organpräparaten, wie sie
fabrikmäßig dargestellt werden, Gebrauch
gemacht. Entweder handelt es sich hier¬
bei um getrocknete, pulverisierte Drüsen¬
substanz oder um bei Zimmertemperatur
mit Kochsalzlösung dargestellte Extrakte.
Am besten sind naturgemäß die Organ¬
präparate, die möglichst ohne chemische
Eingriffe alle Stoffe der Drüse unverändert
enthalten. Denn was das wirksame Prinzip
der Gl. thyreaidea ist, wissen wir nicht.
Rahel Hirsch (Berlin).
(Ztschr. f. exp. Path. u. Therapie, Bd. 7, H. 2,
S. 518.)
Eine Operation, die der praktische Arzt
oft machen muß, ist die Sehnenn&ht. Sehr
oft sieht er sich auch in die Lage versetzt.
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April
Die Therapie der
eine Sehnenplastik machen zu müssen.
Deshalb werden die Tierversuche, die
Kirschner angestellt hat, sehr interessieren.
Eine Achillessehne, die einem Kaninchen
entnommmen und demselben Tier zwischen
die Beuger des Oberschenkels lose ein¬
gepflanzt wurde, blieb einmal zum Teil
erhalten, ein anderes Mal wurde die Sehne
so aufgelockert und verändert, daß von
Weiterleben keine Rede war. Die auf¬
lösenden Leukozyten dringen auf dem
Wege des physiologischen Saftstroms in
dem Peritenonium in die Sehne. Bei allen
Transplantationen tritt der große Unter¬
schied zwischen Periost und Peritenonium
zutage; das Periost ist ein wichtiges Ge¬
webe, das Peritenonium nur ein nicht
spezifisches Bindegewebe, das nur als
Blut- und Lymphgefäßträger eine neben¬
sächliche Rolle spielt und dessen Schädi¬
gung keine schlimmen Folgen hat. Wurde
bei Hunden die Achillessehne exstirpiert
und durch das entfernte oder ein anderes
Stück Sehne ersetzt, so heilte es gut ein
und die Funktion war gut, wenn die Sehne
nicht zu sehr gequetscht und nicht gleich
zu sehr belastet wurde. Sehr gute Erfolge
lieferten die Versuche, Sehnen durch
Faszienstücke zu ersetzen. Die überpflanz¬
ten Sehnen haben die unangenehme Eigen¬
schaft, sich allmählich zu verlängern zum
Schaden der Funktion; zweifellos sind die
Stellen der Dehnung die Sehnennarben.
Der Versuch, aus Sehnen dünne Bänder
zu schneiden, mißlang. Die Muskelfaszien,
besonders dieFascia lata des Oberschenkels,
mit ihrem stärksten Zug, dem Tractus ileo-
tibialis (Massiatscher Streifen), sind ein
Sehnengewebe als dünne Platte, das sich
leicht in Bänder von jeder Breite und
Länge schneiden läßt, sehr fest ist und in
beliebiger Menge ohne Funktionsstörung
entnommen werden kann. Die Faszien
zeigten sich für die freie Transplantation
sehr geeignet Sie bleiben in ganzer Aus¬
dehnung am Leben und lassen — im Gegen¬
satz zu den Sehnen — nekrotische Stellen
fast ganz vermissen. Erst nach Wochen
und Monaten verlieren die Faszien ihre
charakteristische Struktur und nehmen das
Aussehen eines festen, straffen, sehnen¬
artigen Bindegewebes an. Die Versuche
haben gezeigt, daß die Faszie zum Sehnen¬
ersatz mindestens ebenso brauchbar ist,
wie die Sehne selbst und die anderen bis¬
her verwandten Materialien. Sie kann
ferner in Anspruch genommen werden,
als körperfremdes Material, bei dem das
Durchwachsenwerden auf lange Strecken
natürlich lange braucht. Die Faszie kann
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Gegenwart 1910. 181
auch als Mantel um eine Sehnennaht als
Verstärkung herumgelegt werden. Der
Versuch, die Bauchdecken, mit alleiniger
Erhaltung von Haut und Peritoneum auf
eine große Fläche durch Faszie zu er¬
setzen, glückte sehr schön; ein andermal
wurde nur die Haut erhalten und das
Peritoneum und die übrigen Schichten
durch je ein Faszienblatt ersetzt und hier
bildete sich in kurzer Zeit annähernd die
normale Wandstärke. Das die Muskellücke
ausfüllende Blatt wird in ein festes Narben¬
gewebe umgewandelt, dem ein großer Teil
deF Festigkeit der neuen Bauchdecke zu
danken ist. Auch als Ersatz der Dura zur
Vermeidung von Hirnprolaps bewährte sich
die Faszie. Auch zur Ueberdeckung von
Leberwunden und zur Erleichterung der
Lebernaht bewährte sich die Faszie gut.
Die große Stärke der Faszie ergibt sich
daraus, daß ein Streifen von 1 cm Breite
eine Belastung von 50 Pfund ohne Schädi¬
gung vertrug. Die Faszien werden zu
versuchen sein als Ersatz für Sehnen,
Gelenkbänder, Wand von Körperhöhlen
(Bauchdecken, Peritoneum, Perikard,
Zwerchfell, Dura, Gelenkkapsel), großen
Hernien, zur Wundnaht parenchymatöser
Organe, zur Verhinderung der knöchernen
Verwachsung von Gelenkenden, zur Um¬
hüllung von Nervennahtstellen und Gefä߬
nähten, zur Verstärkung der Wand inope¬
rabler Aneurysmen. Klink.
(Bruns B. 1909, Bd. 65, H. 2.)
Ueber die rheumatische Entzündung
der serösen Häute berichtet E. Mosler.
An der Hand von 18 Beobachtungen am
Material des RudolfVirchow-Krankenhauses
führt Mosler den Nachweis, daß es eine
wohl charakterisierte Form von Entzündung
der serösen Häute gibt, welche ätiologisch
mit dem Polyarthritis rheumatica identisch
ist, jedoch sich von dem klinischen Bilde
des akuten Gelenkrheumatismus soweit ent¬
fernt, daß man berechtigt ist, in derartigen
Fällen von Polyserositis rheumatica zu
sprechen.
Die Entzündung der Gelenke kann hier¬
bei gänzlich fehlen oder sie ist nur leicht
angedeutet. Im Gegensatz zu den be¬
kannten serösen Ergüssen, die den Verlauf
eines von vornherein meist schweren Ge¬
lenkrheumatismus unterbrechen, setzt die
Polyserositis aus voller Gesundheit mit
Schmerzen in der Herzgegend, Seiten¬
stechen und Dyspnoe ein. Im Anfang sind
die Zeichen trockener Entzündung am Peri¬
kard und den Pleuren festzustellen. Sehr
bald kommt es dann zu serösen Ergüssen.
Der Puls ist durch die ziemlich konstante
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UNIVERSUM 0F CALIFORNIA
182
Apri
Die Therapie der Gegenwart 1910.
muskuläre Beteiligung des Herzens frequent
und unregelmäßig. Mehrmals wurde Di-
krotie sowie Bigeminie festgestellt Eiwei߬
ausscheidung mit und ohne Zylindrurie ist
recht häufig.
Sehr quälend ist die ausgesprochene
Dyspnoe, welche Verf., gestützt auf die
Mitteilungen Pawinskis, auf die trockene
Perikarditis bezieht. Der intensive Luft¬
mangel, das Angstgefühl über der Brust,
die heftigen ausstrahlenden Schmerzen,
wie sie bei trockener Perikarditis Vor¬
kommen, können unter Umständen an einen
stenokardischen Anfall erinnern.
Die Prognose ist bei Erwachsenen fast
immer eine günstige. So darf der Arzt
auch gegenüber stürmischen und bedroh¬
lichen Erscheinungen, wie sie bei der Poly¬
serositis häufig sind, mit der Wahrschein¬
lichkeit eines guten Ausganges rechnen.
Die Therapie der Polyserositis ist eine
vorwiegend symptomatische. Pinselungen
mit Jodtinktur und eine auf die Herzgegend
applizierte Warmwasserblase lindern die
heftigen Stiche, während Eis weniger gut
vertragen wird. Daneben wirken wieder¬
holte kleinere Morphiumdosen wohltuend.
Bei muskulärer Insuffizienz des Herzens
wird Digalen, Kampfer und Kofiein ge¬
geben. Punktionen des Herzbeutels oder
der Pleuren kommen nur ausnahmsweise in
Frage.
Als Antirheumatikum wurden 1,5—3,0 g
Antipyrin in Lösung auf den Tag ver¬
teilt, gegeben.
Ref. ist der Ansicht, daß die Wirkung
der Antirheumatika bei Polyserositis recht
ungleich ist. Während z. B. eine Anzahl
von Kranken dem Aspirin gegenüber sich
refraktär verhält, sieht man in anderen
Fällen nach Dosen von 2—3 g pro die
ganz auffallende Besserungen. Offenbar
handelt es sich, wie auch beim akuten
Gelenkrheumatismus selbst um Krankheits¬
erreger, die in bezug auf die salizylotrope
Wirkung sich recht verschieden verhalten.
Leo Jacobsohn (Charlottenburg).
(Berl. klin. Woch. 1910, Nr. 7.)
Die operative Behandlung der Spon¬
dylitis tnbepenlosa behandelt ein Aufsatz
von Neumann. Am häufigsten wird
operativ eingeschritten wegen bestehender
oder drohender Lähmung, die die Prognose
stark trübt. Die Lähmung wird hervor¬
gerufen durch mechanische Kompression
des Rückenmarks. Die Bedingungen für
diese liegen am klarsten bei der Tuberku¬
lose der Wirbelbogen; deswegen hat hier
auch die Laminektomie guten Erfolg. Die
noch unklaren Fälle, wo die Laminektomie
wenig oder nichts nutzt, finden wir bei
Erkrankung der Wirbelkörper. Diese ist
die häufigere, in engem Zusammenhang
mit dem Charakter ihrer Gefäße als End¬
arterien. Das Rückenmark kann nach
langdauernder Kompression — beobachtet
istHeilung nach 17 Jahren durch Operation—
sich wieder erholen nach Beseitigung der
Ursache, aber es können auch durch
kurzen Druck unheilbare Veränderungen
eintreten. Oft findet sich als Zeichen
starker Kompression eine deutliche Quer¬
schnittsverringerung der Medulla, aber mit
ganz unversehrten Fasern. Nach allem
scheint das schnelle Einsetzen und die
Heftigkeit des Drucks viel wichtiger zu
sein als die lange Dauer. Weiß man doch,
daß schon kleinste, plötzlich in den Rücken¬
markskanal gebrachte Fremdkörpermengen
von dem Rückenmark mit einem Funktions-
ausfall beantwortet werden. Ob das Mark
erholungsfähig ist, läßt sich im einzelnen
Falle nicht entscheiden. Deswegen ist
man heute in jedem Fall von Lähmung
verpflichtet, mit allen Mitteln dem Rücken¬
mark die Bedingungen zu schaffen, die
seine Erholung ermöglichen. In fastKX)o/ 0
aller Spondylitisfälle findet sich ein prä¬
vertebraler Abszeß, der sich Hand in
Hand mit der Einschmelzung des Wirbel-
körpers und der Ausbildung des Gibbus
bildet. Der Druck in diesem Abszeß steigt
immer mehr. Besonders ungünstige Ver¬
hältnisse finden diese Abszesse im Tho-
rakakeil, da das fest anliegende Mediastinum
ihrer Ausbreitung außerordentliche Schwie¬
rigkeiten entgegensetzt. Das immerhin
häufigste Vorkommen wird sein, daß diese
Abszesse nach Abheben der Pleura costalis
zwischen den Rippen sich vorwölben und
hier perforieren oder zur Eröffnung kommen.
Nach Zerstörung des Wirbelkörpers sendet
der Abszeß einen Fortsatz in den Wirbel¬
kanal und komprimiert das Rückenmark.
Bei großem Abszeß ohne Lähmung muß
man annehmen, daß der Abszeß durch
Knochen noch von dem Wirbelkanal getrennt
ist. 80°/o von spondylitischen Lähmungen
fallen der Brustwirbelsäule zu; an der
Lendenwirbelsäule sind komplette Läh¬
mungen wegen des fehlenden Marks nicht
möglich, an der Halswirbelsäule finden die
Abszesse viel bessere Bedingungen für
ihre Ausdehnung. Die ältere Ansicht,
daß allein durch das Zusammensinken der
Wirbelsäule bei der Bildung des Gibbus
eine mechanische Verengerung des Wirbel¬
kanals zustande kommt mit sekundärer
Kompression der Medulla, ist aufgegeben;
vielmehr sprechen die neueren Beobach-
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UNIVERSiTY 0F CALIFORNIA
183
-April Die Therapie der Gegenwart 1910.
tungen eher für eine Erweiterung. Kom¬
pression durch Sequester ist selten. Eine
selbständige Gruppe bilden die reparatori-
sehen Gewebsneubildungen. Sie erscheinen
als sekundär in den Wirbelkanal hinein¬
produzierte Vorsprünge, die eine Kom¬
pression wohl erzeugen können. Für ihre
Diagnose ist der Zeitpunkt ihres Auftretens
wichtig; eine irgend nennenswerte Knochen¬
neubildung erfolgt erst mit dem Stillstand und
Rückgang des Krankheitsprozesses. Sie
gibt eine Indikation für die Laminektomie.
Die Peripachymeningitis hängt innig zu¬
sammen mit der Ausbildung des präverte¬
bralen Abszesses, und sie geht möglicher¬
weise mit seiner Entleerung zurück; aber
auch hier besteht in vorgeschrittenen
Fällen Indikation für die Laminektomie.
.Zuerst soll man immer auf den Abszeß
fahnden, weil er die früheste Kompressions¬
möglichkeit bildet. Besteht keine Lähmung,
so kann man den Abszeß konservativ be¬
handeln, denn er kann sich eindicken und
resorbiert werden. Eine bestehende Läh¬
mung kann durch die Eztension schwinden,
kehrt aber wieder, wohl infolge Wachsens
des Abszesses. Also soll der Abszeß bei
Lähmung immer eröffnet werden. Die
Abszeßdrainage ist relativ ungefährlich, und
man kann damit nur nützen, sollte sie also
auch bei fehlender Lähmung prophylaktisch
ausführen. Man kommt an den Abszeß
durch Resektion des Processus transversus
und eines Stückchens Rippe. Die Drainage¬
öffnung ist so lange offen zu halten, bis
man sicher ist, daß die Krankheit zum
Stillstand gekommen ist. Man hat so in
80% Heilung erzielt Die sichere Diagnose
und Lokalisation des prävertebralen Ab¬
szesses ist erst durch die Röntgendurch¬
leuchtung möglich geworden. Auch am
Lenden- und Halsteil ist dieses Verfahren
für die Frühdiagnose sehr schätzenswert.
Die Perkussion ist nur für große Brust¬
abszesse mit großer seitlicher Ausdehnung
verwendbar. Bei wahrscheinlich vorhan¬
denen sekundären peripachymeningitischen
Veränderungen ist zuerst die Kostotrans-
versektomie zur Eröffnung des Abszesses
zu machen; die Laminektomie kann im
Bedarfsfall später gemacht werden. Die
Indikationen wären also folgende: 1. Spon¬
dylitis ohne Lähmung: konservativ, eventuell
Drainage. 2. Spondylitis mit Abszeß und
Lähmung: Abszeßdrainage in absoluter In¬
dikation. 3. Aeltere Fälle ohne Abszeß
mit sekundären Veränderungen im Wirbel¬
kanal, wie Peripachymeningitis und Knochen¬
neubildung: Laminektomie, Beseitigung der
«Ursache. 4. Fall 2 und 3 kombiniert:
Drainage und Laminektomie, wobei man es
zunächst mit der Abszeßdrainage allein
versuchen mag. Klink.
(v. Bruns Beitr. z. Chir. 1909, Bd. 65, H. 2.)
Das Ideal der Behandlung der Strepto¬
kokkensepsis ist eine spezifisch immuni¬
sierende. Aktive Immunisierung ist für die
fertige Infektion praktisch nicht verwertbar;
aber eine passive sollte möglich sein. Bei
Tieren kann man eine gegen Streptokokken
wirksame spezifische Immunisierung er¬
reichen. Beim Menschen müßte das Serum
schon in den ersten 24—48 Stunden ange¬
wandt werden. 24 Stunden post infectionen
rettet die 100fache Menge der prophylak¬
tisch wirksamen Dosis nur noch 50% der
Fälle. Artfremde Sera können direkt
schaden. Elsässer hat in 2 Fällen schwer¬
ster Sepsis von Jodipin auffallend gute
Wirkung gesehen. Jodipin Merek (25%) ist
eine Verbindung von Sesamöl und Chlor¬
jod mit 25% Jodgehalt und wird zu 5—15 ccm
subkutan gegeben. Es verträgt Erhitzen im
Wasserbade. Bei ungenügender Wirkung
werden nach 48 Stunden wieder 5 ccm in¬
jiziert. Das Jodipin bildet ein Joddepot,
das den Organismus für Wochen unter
Jodwirkung hält. Intoxikationserscheinun¬
gen oder Jodismus wurde nie beobachtet.
Es tritt eine starke Hyperleukozytose auf
mit andauernder Mononukleose. Schon
Potheau kam zu folgendem Schluß: Bei
toxischen Infektionen, die mit Fieber und
schweren Allgemeinerscheinungen einher¬
gehen, führt Jodipin einen schnellen Tem¬
peraturabfall und Besserung des Allgemein¬
befindens herbei und unterstützt den Körper
im Kampf gegen die Toxine. Auch bei
Staphylokokkenpyämie, Puerperalsepsis,
Osteomyelitis, Perityphlitis, Erysipel, Milz¬
brand, Lungenaktinomykose sah Elsässer
sehr gute Wirkung des Jodipins. (Ref.
möchte die Vermutung aussprechen, daß
es doch wohl nur leichtere, zur Selbst¬
heilung neigende Fälle von Streptokokken¬
infektion sind, in denen Jodipin wirksam
ist. In den bekannten schweren Fällen
von Sepsis läßt es regelmässig im Stich.)
Klink.
(v. Bruns Beitr. z. kl Chir. LX. 3.)
Neuere Erfahrungen über die von ihm
systematisch erforschte Scheinnarkose
mit kleinen Chloroformmengen bringt B.
Hailauer in seinen Ausführungen über
eine neue Anwendungsform der Suggestion
in der gynäkologischen Praxis.
Auf Grund einer größeren Versuchs¬
reihe ist Hall au er zu der Ansicht gelangt,
daß die Scheinnarkose, zu der durch¬
schnittlich 1—2 ccm nötig sind, zumal bei
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184
Die Therapie der Gegenwart 1910.
April
den leichter suggerierbaren Frauen ge¬
eignet ist, bis zu einem gewissen Grade
die Inhalationsnarkose zu ersetzen. Das
Chloroform soll hierbei ein larviertes Sug¬
gestionsmittel sein, mit dem besonders
wirksame hypnotische Vorstellungen ver¬
bunden werden.
Die speziellere Technik der sog. Sug-
gestiernarkose besteht in der Anwendung
der üblichen hypnotischen Verbalsuggestion
in Verbindung mit kleinsten Chlorofonp-
mengen, die von Zeit zu Zeit auf die
Maske geträufelt werden. Ist Somnolenz
eingetreten, so wird Anaesthesie für den
Unterleib suggeriert und die Schlaftiefe
durch entsprechende Eingebungen vertieft.
Nach Beendigung des im Stadium der
Analgesie vor genommenen Eingriffes ge¬
nügt es, der Kranken zu versichern, daß
sie wach sei, um die Hypnose zu unter¬
brechen. Die Erinnerung an die Vorgänge
während des hypnotischen Schlafes fehlt
oder ist unvollständig. Gelingt die Sug-
gestiernarkose nicht, so kann man ohne
Schaden des Patienten zur wirklichen Chloro-
formierung schreiten. Zuvor empfiehlt es
sich nach Hallauer, bis zum ersten Eintritt
von Betäubungserscheinungen die Narkose
fortzusetzen und dann das Chloroform fort¬
zulassen. Mitunter gelingt es hierdurch,
einen länger dauernden Toieranz- und Schlaf¬
zustand hervorzurufen.
Den Beweis dafür, daß es sich bei seinen
Patienten um hypnotische Zustände ge¬
handelt hat, sieht Hallauer in dem Auf¬
treten von Katalepsie und Drehautomatismus.
Hallauer hat die Suggestivnarkose in
gegen 300 Fällen bei Probekurettagen, Zer¬
vixdilatation , Auf richtung des retioflektierten
Uterus, Einleitung und Ausräumung von
Aborten mit Finger oder Kürette, Aus¬
brennen von Karzinomen und anderen
Eingriffen der kleinen Gynäkologie ange¬
wandt. Refraktär erwiesen sich nur 10 o/ 0
der Behandelten, in 20 o/o war ein halber,
für die Ausführung des Eingriffes aber ge¬
nügender Erfolg vorhanden, während in
60—70o/ 0 ein voller Erfolg zu verzeichnen
war.
Ein besonders geeignetes Anwendungs¬
gebiet für die Scheinnarkose bietet die
Geburtshilfe. Fast ausnahmslos konnte
Verfasser einen schmerzlosen, von den
Patienten entweder gar nicht oder nicht un¬
angenehm empfundenen Geburtsverlauf er¬
zielen. Namentlich rühmt Hallauer den
regulatorischen Einfluß der Wehentätigkeit.
Ganz besonders scheint die Methode
auch als Ersatz für die Narkosenunter¬
suchung geeignet zu sein, indem im hyp¬
notischen Schlaf völlige Erschlaffung der
Bauchdecken eintritt. Hierdurch ist die
Suggestivnarkose auch für Unterrichts¬
zwecke von Bedeutung. In diagnostischer
Hinsicht verspricht die Suggestivnarkose
durch Ausschaltung des psychisch bedingten
Schmerzgefühles die objektive Bewertung
eines schmerzhaften Zustandes zu ermög¬
lichen. Ebenso ist die Methode in Ver¬
bindung mit der Lumbalanaesthesie und
als Einleitung einer gewöhnlichen Chloro¬
formnarkose recht geeignet.
Im zweiten Teile seiner Ausführungen
kommt Verfasser auf die therapeutische
Bedeutung der Suggestivnarkose zu
sprechen. Die erhöhte Suggestibilität der
Patienten hat Hallauer zur therapeutischen
Beeinflussung funktioneller Sexualstörungen,
insbesondere Vaginismus, Hyperemesis
i gravidarum, sowie bei Perversionen des
| Sexualtriebes benutzt. Auch bei organi-
i sehen Erkrankungen der Genitalsphäre,
| welche eine wesentlich psychische Kompo-
1 nente des Krankheitsbildes erkennen lassen,
kann die Suggestivnarkose, ohne auf die
organische Grundlage des häufig gering¬
fügigen Leidens einzuwirken, ein Heilmittel
sein, das, wie Hallauer an mehreren Fällen
zeigen konnte, bei veralteten, jeder Be¬
handlung trotzenden Leiden noch erfolg¬
reich ist.
In theoretischer Hinsicht hat Referent,
ohne die schönen, auf ein größeres Be¬
obachtungsmaterial gestützten Erfolge Hal-
i lauers in Frage zu ziehen, gewisse Be¬
denken, die Suggestivnarkose als eine nur
larvierte Form der Hypnose aufzufassen.
Wenn auch die verwandten Chloroform-
mengen gering waren und im Durchschnitt
einige Kubikzentimeter nicht überstiegen, so
muß namentlich nach älteren französischen
Erfahrungen, die mit der Narkose ä la reine
gewonnen worden sind, sowie mit Rück¬
sicht auf die jüngst erfolgte Publikation
von Eisenberg, der bei Gebärenden ohne
Anwendung von Verbalsuggestion mit
kleinen Chloroformgaben ähnliche Erfolge
wie Hallauer erzielt hat, doch mit der
Möglichkeit einer narkotischen Wirkung des
Chloroforms gerechnet werden. Referent
ist der Ansicht, daß es sich in den Fällen
Hallauers um eine Kombination von Nar¬
kose und Hypnose handelt, wie sie Ver¬
fasser für einige seiner Fälle selbst in
Anspruch nimmt. Die Auffassung des
Chloroforms als besonders wirksamen
suggestiven, den Eintritt der Hypnose be^
günstigenden Mittels scheint Referent nicht
für die Erklärung der weitgehenden sen¬
siblen Lähmung, wie sie bei operativen
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April
Die Therapie der Gegenwart 1910.
185
Eingriffen erforderlich ist, hinreichend zu
sein, um so mehr als die besten Kenner des
Hypnotismus den praktischen Wert der
Hypnose für chirurgische Eingriffe nur
gering einschätzen.
Leo Jacobsohn (Charlottenburg).
(Deutsche med. Woch. 1910, Nr. 6.)
Danielsen(-Küttner) berichtet einen
Fall von erfolgreicher Epithelkörperchen¬
transplantation bei Tetania parathyreoi-
prlva. Frau, bei der wegen starker Atem¬
not schnell eine mächtige Kolloidstruma
zum größten Teil entfernt werden mußte;
vom 6 Tage an schwere Tetanie mit allen
klassischen Zeichen: Muskelkrämpfe, mecha¬
nische Uebererregbarkeit der motorischen
Nerven, Trousseau und Chvostek. Zu¬
nächst Narkotika, Bäder, Schilddrüsen- und
Nebenschilddrüsentabletten; Verschlechte¬
rung, Krämpfe der Atemmuskeln, lebens¬
gefährlicher Zustand. Zwischen Faszie
und Peritoneum werden 2 Epithelkörperchen,
die bei 2 anderen Strumektomien gewonnen
waren, eingepflanzt Danach allmähliche
Besserung, nach 7 Monaten völlige Heilung.
Postoperative Tetanien sind nicht so sehr
selten. Je weniger Epithelkörperchen er¬
halten sind, desto schlechter die Prognose;
es müssen mindestens 2 Zurückbleiben.
Neuerdings werden auch die Kindertetanie,
die idiopathische Arbeitertetanie, Tetanie
der Graviden, bei Infektionskrankheiten
usw. auf den Funktionsausfall der Epithel¬
körper zurückgefÜhrt. Von pathologischen
Veränderungen dieser Organe kennen wir:
Blutungen, atrophische und zystische De¬
generationen, Adenome und Tuberkulose.
Vor der Heterotransplantation, etwa vom
Affen, ist zu warnen. Ein Versuch mit
Material von frischen Leichen ist erlaubt;
am besten ist natürlich Uebertragung vom
Menschen; man soll 2 Körperchen ein¬
pflanzen, darf aber nie mehr als eins weg¬
nehmen, da man nicht weiß, ob der Be¬
treffende 4 hat. Klink.
(Bruns B. 1910, Bd. 66, H. 1.)
Sud eck berichtet über einen Fall von
Unterkleferresektion, bei dem er als Er¬
satz die König-Roloffsche Elfenbeinpro¬
these nyt gutem Erfolge angewendet hat.
Diese Prothese wird in verschiedenen
Größen vorrätig gehalten, sie wird mit einem
Zäpfchen in die Sägefläche des Kiefers,
mit dem Gelenkende in das Kiefergelenk
eingestellt. Es handelte sich in diesem
Falle um eine 83jährige Frau, die an einem
Spindelzellensarkom des rechten Unter¬
kiefers erkrankt war. Bei dem vollkommen
zahnlosen Kiefer gelang es Sudeck, die
Resektion ohne Eröffnung der Mundschleim¬
haut auszuführen; für die reaktionslose
Einheilung der Prothese ein großer Vor¬
teil; denn wird die Mundschleimhaut in
größerer Ausdehnung eröffnet, so kann
natürlich eine vom Munde aus leicht ein¬
tretende Infektion der Wunde die Ein¬
heilung der Prothese sehr erschweren, ja
unmöglich machen. Sud eck glaubt, daß
man auch bei noch vorhandenen Zähnen
eine Operation ohne Eröffnung der Mund¬
schleimhaut ermöglichen kann, wenn man
die Zähne extrahiert und die Operation
erst nach Ausheilung der Extraktionswunde
vornimmt. Bei Sudecks Patientin heilte
die Prothese gut ein, sie konnte schon
nach einigen Tagen den Kiefer gut be¬
wegen. Drei Monate nach der Operation
ist die Patientin einem Rezidiv erlegen.
Das bei der Sektion gewonnene Präparat
zeigte eine die Prothese fest umhüllende
Bindege websnarbe, an der sich die Kau¬
muskeln ansetzten. Diese Vereinigung der
Kaumuskeln mit der Bindegewebsnarbe
zeigt, daß die Prothese nicht nur durch die
Muskeln der gesunden Seite, sondern auch
durch die eigenen Kaumuskeln bewegt wird.
Hohmeier (Altona).
(D. Zeitschr. f. Chir., Bd. 100, H. 5 u. 6.)
Scipiades (aus der 2. Frauenklinik in
Budapest) gibt uns einen Beitrag zur
Therapie der Utenisruptur, der auf der
Beobachtung von im ganzen 97 Fällen
basiert.
Selbstverständlich ist die prophylakti¬
sche Behandlung der Uterusruptur der
wichtigste Punkt, das heißt die sichere Er¬
kennung der beginnenden Zervixdehnung.
Wenn aber eine Ruptur eingetreten ist,
sei es eine inkomplette, sei es eine kom¬
plette Ruptur, dann ist nach Scipiades
die konservative Therapie die beste.
Nach Entleerung der Blase muß die
Geburt auf vaginalem Wege mit der
schonendsten Operation beendet werden.
Dann hält ein Assistent von außen den
Uterus in normaler Anteflexio fixiert, und
ohne Ausspülung wird die Wundhöhle und
die Scheide mit steriler Jodoformgaze fest
tamponiert; bei Atonia uteri ist auch der
Uterus selbst lose zu tamponieren. Danach
wird ein Druckverband auf das Abdomen
gelegt; Analeptika, Ergotin usw. werden
verabreicht, eine Eisblase kommt außerdem
auf den Bauch. Da der Transport un¬
günstig auf den Zustand wirkt, muß diese
Behandlung sofort an Ort und Stelle vor¬
genommen werden und die Frau bleibt 2,
möglichst 8 Tage in ihrer Wohnung, so¬
dann ist es am besten, die Patientin in
die Klinik zu überführen. Hier wird statt
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186
Die Therapie der Gegenwart 1910.
April
des Gazetampons jetzt ein Glasdrain ein¬
gelegt, das nach wiederum 6—8 Tagen
durch ein Gummidrain ersetzt wird. Des¬
infizierende Ausspülungen der Scheide
werden ausgeführt, bis die Wundhöhle ver¬
schlossen ist.
Mit dieser Behandlungsmethode sind
seit 1906 alle Uterusrupturen ausnahmslos
geheilt worden, obwohl unter diesen 6 Fällen
4 komplette Rupturen vorhanden waren,
von denen die eine durch einen Blasenriß,
die andere durch einen Vorfall von Netz
und Darm in die Vulva kompliziert war.
In einem 2. Teil seiner Arbeit wendet
sich Scipiades gegen eine Arbeit Hart¬
manns: „Ein Beitrag zur Aetiologie und
Therapie der Uterusruptur“, in welcher
Hartmann die Tamponade zwar für das
verhältnismäßig beste zur momentanen
Blutstillung hält, sie aber zur Behandlung
der Ruptur für nicht ausreichend erklärt.
Nur in der kleineren Zahl von Fällen ist
aber überhaupt nach Scipiades eine stär¬
kere Blutung vorhanden; in 95% seiner
Fälle ließ die Blutstillung nichts zu wün¬
schen übrig; bei den wenigen Rupturen,
bei denen die Blutung nicht stand, wäre
auch, wie Scipiades zeigen konnte, eine
sofort ausgeführte chirurgische Blutstillungs¬
methode zu spät gekommen.
Genauere Einzelheiten der Polemik
gegen Hartmann sind im Original nach¬
zulesen; ich habe die Methode der Tam¬
ponade etwas genauer referiert, weil sie,
wie ich glaube, dem praktischen Arzt ein
Hilfsmittel sein wird, wenn er allein einer
Uterusruptur gegenübersteht. P. Meyer.
(Volkmanns klinische Vorträge Nr. 553. Gynä¬
kolog. Nr. 206, 1909.)
Von verschiedenen Seiten ist über Ver¬
giftungserscheinungen bei Injektion von
Wismut berichtet worden. Matsuoka teilt
drei neue Fälle mit, von denen zwei tödlich
verliefen. Die injizierte größte Dosis war
8 g, die Vergiftungserscheinungen traten
erst am 12.—32. Tage auf. In zwei Fällen
war das erste Symptom der Vergiftung
eine Stomatitis, im dritten Falle klagte die
Patientin über nervöse Symptome, Kopf¬
schmerz, Schwindelgefühl, Schlaflosigkeit.
Im weiteren Verlauf traten Erscheinungen
von seiten des Magendarmkanales hinzu —
Durchfall oder Verstopfung, in einem Fall
dysenterieähnliche Durchfälle. — Diese
Fälle zeigen, daß das Wismut in Absze߬
höhlen injiziert, resorbiert wird, und daß
schon relativ kleine Dosen schwere Intoxi¬
kationen hervorrufen können.
Hohmeier (Altona).
(Deutsche Ztschr. f. Chir., Bd. 102, H. 4—6.)
Therapeutischer Meinungsaustausch.
Zur Arsentherapie mit der Diirkheimer Maxquelle.
Von Dr. L. Katzenstein-Wiesbaden.
ln unserem Arzneischatz fehlte bis jetzt
ein Arsenmittel, das es ermöglichte, dem
Organismus Arsen in größerer Menge und
dabei in ungiftiger, keine unangenehmen
Nebenerscheinungen mit sich bringender
Form einzuverleiben, ein Mittel, das eine
reine Arsenwirkung zu entfalten imstande
wäre. Das Arsen, das ja besonders bei
der Behandlung der Blutkrankheiten, Ner¬
venkrankheiten, bei vielen Hautaffektionen
und manchen Konstitutionsanomalien als
wertvolles Heilmittel geschätzt wird, ruft
in Form des Acidum arsenicum oder der
Fowlerschen Lösung häufig empfindliche
Magenstörungen hervor, die bei der ohne¬
hin bei Anämischen und Chlorotischen
schon vorhandenen Hyperästhesie des
Magens besonders unangenehm ist. Die
Injektionen von Natrium und Ferrum
cacodylicum, sowie von Atoxyl, die die
Eidverleibung des Arsen unter Umgehung
des Magens ermöglichen sollten, haben
nach v. Noorden in manchen Fällen
schwere Schädigungen hervorgerufen, so
z. B. eine Neuritis optica mit Amblyopie
und eine Polyneuritis mit Lähmungen;
außerdem ist das Freiwerden der arsenigen
Säure, worauf die Wirkung dieser Prä¬
parate beruht, individuellen Schwankungen
unterworfen, die Wirkung der Injektionen
also auch nach dieser Richtung hin keine
zuverlässige. Am besten werden noch die
natürlichen Arsenwässer vertragen, wie
z. B. die arsenhaltigen EisensulphatWässer
Roncegno, Levico und Guberquelle und
der arsenhaltige erdige Säuerling Val
Sinestra; aber diejenigen, die so viel Arsen
enthalten, daß man mit ihnen eine aus¬
reichende Arsenwirkung bei mittleren
Tagesmengen erreichen könnte, wie
Roncegno und Levico, enthalten so viel
Eisensulphat, das ja bekanntlich leicht
Magenbeschwerden und lästige Obstipa¬
tionen hervorruft, daß sie nur eßlöffelweise
genommen werden können, diejenigen
Arsenwässer aber, die nur einen geringen
Gehalt an Eisensulphat haben, wie Guber¬
quelle und Val Sinestra, enthalten anderer¬
seits auch so geringe Mengen Arsen, daß
eine kräftige Arsenwirkung nur mit großen
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April
Die Therapie der Gegenwart 1910.
187
Mengen Wassers, bei Val Sinestra z. B. mit
8 /4 1 täglich, hervorgerufen werden kann.
Wir haben daher schon lange nach
einem Arsenwasser gesucht, das sich durch
hohen Arsengehalt und geringen Eisen¬
gehalt auszeichnet Dasselbe ist in der
DQrkheimer Maxquelle gefunden worden.
Die Maxquelle ist ein arsenhaltiger, warmer
erdmuriatischer Kochsalzsäuerling, der
1857 zuerst von Bunsen und Kirchhoff
analysiert wurde, die zwar bei dieser Ge¬
legenheit die Entdeckung des Rubidium
und Cäsium machten, aber das Arsen nicht
fanden. Erst 1906 fand E bl er-Heidelberg
Arsen in der Maxquelle und zwar die
große Menge von 17,35 rag arseniger
Säure (As 2 Os) im Liter, neben 13,36 g
Kochsalz und nur 0,00365 Fe 2 Os. Zum
Vergleich sei gesagt, daß nur Roncegno
mehr As 2 Os, nämlich 42,6 mg bei der
großen Menge von 3,0 g Eisensulphat ent¬
hält, dagegen Levico nur 6,0, Guberquelle
nur 6,0 und Val Sinestra nur 3,7 mg
As 2 Os.
Die mit der DQrkheimer Maxquelle von
Brenner, von der Velden, von Noor¬
den, Kaufmann-Dürkheim, Neißer und
anderen angestellten experimentellen und
klinischen Untersuchungen ergaben fol¬
gende Resultate:
Es wurde neben einer Hebung des
Allgemeinbefindens und dem Schwinden
subjektiver Beschwerden eine Erhöhung
des Hämoglobingehaltes — z. B. von 48
auf 70, von 40 auf 68, von 24 auf 54, von
55 auf 90% —, eine Vermehrung der
roten Blutkörperchen bis um 2 Millionen,
eine Verminderung des antitryptischen
Ferments des Blutes (Brenner), eine Er¬
höhung des Körpergewichts bis um 5 kg
in 6 Wochen, eine Beseitigung bestehender
Obstipation der Blutarmen und eine spezi¬
fische Einwirkung auf viele Dermatosen
erreicht. Besonders wichtig ist auch die
leicht abführende Wirkung der Maxquelle,
im Gegensatz zu anderen Blutmitteln, die
meist Obstipationen herbeiführen. Diese
Wirkung ist eine Folge des Kochsalz¬
gehaltes der Quelle, die, wie Brenner
durch das Tierexperiment nachwies, die
Magensaftsekretion, die Motilität des
Magens und die Peristaltik des Darms an¬
regt. Wahrscheinlich ist neben der Eisen¬
freiheit auch der Kochsalzgehalt der Max¬
quelle daran schuld, daß das Wasser nach
dem einstimmigen Urteil aller Autoren aus¬
gezeichnet vertragen wird und fast nie
irgendwelche Beschwerden von seiten des
Verdauungstraktus hervorruft. Nicht nur
Kinder vertragen es vorzüglich nach dem
Urteil von Kaufmann, der es in 800 Fällen
bei Kindern von 4—16 Jahren anwandte,
sondern es zeigten auch einige Erwachsene,
die es entgegen der Vorschrift nüchtern bis
zu einem Liter täglich tranken, keinerlei
Beschwerden.
Diese gute Bekömmlichkeit und der
hohe Arsengehalt ermöglichen es uns also,
dem Körper große Mengen Arsen in un¬
schädlicher Form zuzuführen und so eine
kräftige Arsen Wirkung zu erreichen. Die
Maxquelle wird in steigender Dosis ge¬
nommen und zwar so, daß man mit 50 ccm
täglich beginnt und täglich um 25 ccm
steigt bis zu einer Höchstdosis von 300 ccm,
bei dieser etwa 3 Wochen verbleibt und
dann wieder in gleicher Weise rückwärts
geht; bei Kindern beginnt man mit 10 bis
20 ccm und geht bis zu 30—60 ccm. Diese
Dosen werden in 3 Portionen geteilt und
nach dem Essen eingenommen. Der Ge¬
schmack des Wassers ist ein leicht salzi¬
ger und bedeutend angenehmer als bei
anderen Arsenwässern.
Die überaus günstigen therapeutischen
Erfolge, die allgemein bei der Anwendung
der Dürkheimer Maxquelle erreicht wurden,
möchte ich auf die hohen Arsendosen
zurückführen, die dabei den Patienten zu¬
geführt wurden. Ich will an einer Tabelle
zeigen, daß die Maxquelle auch nach
dieser Richtung hin eine souveräne Stel¬
lung unter den Arsenwässern einnimmt.
Es werden in 6 Wochen an arseniger
Säure eingenommen bei Gebrauch von:
1. Dürkheimer Maxquelle 173,0 mg AsjO*
(Schema nach v. d. Velden)
2. Val Sinestra.107,3 „ „
(Schema nachGlax. Balneo¬
therapie bei gleichbleiben¬
der Menge von 700 ccm
täglich)
3. Roncegno.80,9 „ „
(Bei einer Menge von drei
Eßlöffeln täglich im Durch¬
schnitt)
4. Guberquelle.16,38 „ „
i Nach Glax, Balneotherapie)
-evico.10,3 „ „
(SchemaIV für erwachsene
Patienten von guter Ver¬
dauung nach Dr. Lierm-
berger, Levico)
6. Levico. 6,4 „ „
(Schema III für erwachsene
schwächliche Patienten).
In Anbetracht dieser Tatsachen darf
man wohl die Dürkheimer Maxquelle ein
Arsenwasser von idealen Eigenschaften
nennen, das wohl berechtigt ist, schnell in
unseren Arzneischatz aufgenommen zu
werden.
24*
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UNIVERSITY OF CALIFORNIA
188
Die Therapie der Gegenwart 1910.
April
Beitrag zur medikamentösen Behandlung des Diabetes mellitus.
Von Sanitätsrat Dr.
. Trotz aller Mißerfolge ist neben der
als wirksam allgemein anerkannten Diät¬
regelung — die Suche nach spezifischen
Heilmitteln gegen Diabetes mellitus mit
Eifer fortgesetzt worden. Von französischer
Seite 1 ) sind die Röntgenbestrahlungen der
Leber bei schwereren diabetischen Erkran¬
kungen mit dem Erfolge einer Verminde¬
rung der Zuckerausscheidung angewandt
worden. Ich erwähne dieses Vorgehen,
welches natürlich der Nachprüfung bedarf,
weil dasselbe außerordentliche Aehnlichkeit
hat mit der von mir 2 ) im verflossenen
Jahre in Vorschlag gebrachten Bestrahlung
der Nieren bei Insuffizienz ihrer Tätigkeit
infolge chronischer Nephritis. Hier wie
dort war nach der Bestrahlung eine Kräfti¬
gung der Funktion der betreffenden Organe
zu verzeichnen. Reichen unsere Kenntnisse
auch nicht aus, diese Vorgänge zu erklären,
so wird uns eine solche Wirkung immerhin
verständlicher, wenn wir den Anschauungen
Schades 8 ) bezüglich der Kolloidchemie
folgend annehmen, daß die Röntgenstrahlen
eine spezifische Wirkung auf das Kolloid des
Zellenprotoplasmas ausüben.
Vor allem aber suchte man die Pro¬
dukte der inneren Sekretion auch für die
Therapie des Diabetes mellitus nutzbar zu
machen. Ich habe bereits mehrfach Ge¬
legenheit genommen, über diesbezügliche
Versuche (Pankreatin, Pankreon, Hepa-
toidin, Thyreoidin, Enteridin, Adrenalin)
zu berichten, leider waren nur Mißerfolge
zu verzeichnen. Auch das Produkt, welches
aus der Hypophyse, deren Tätigkeit un¬
streitig mit dem Kohlenhydratstoffwechsel
in näherer Relation steht, bereitet wird,
habe ich bereits im Jahre 1903 angewandt
und zwar das Mercksche Präparat, jedoch
konnte ich keine erkennbare Wirkung mit-
teilen. Nach einer Besprechung mit ihrem
Vertreter stellte mir die Chemische Fabrik
Rhenania, Aachen, ein Präparat Hypo-
physon zur Verfügung, welches ähnlich
wie das Pankreon erst im Darm in seine
wirksamen Komponenten zerfällt. Wie ich
nach dem Versuche erfuhr, führt Bor-
chardt die bei pathologischen Verände¬
rungen der Hypophysis beobachtete Glykos-
urie auf Hypersekretion des Organes
zurück. Dafür liefert mein Versuch keinen
Anhalt, den n die im Laufe der Behandlung
1 ) M6n£trier, Actions des rayons chez les dia-
b6tiques. (S6m. mdd. 1909, Nr. 48 u. 49.)
s ) Lenn6, Baineologenkongreß, Berlin 1909.
3 ) Schade, Zur Einführung der Kolloidchemie
in die Balneologie. (Zeitschr. f. Balneol. Klimatol.
1909, Nr. 17.)
Leoni, Neuenahr.
mit Hypophyson eintretende Steigerung
der Glykosurie möchte ich auf nervöse Ein¬
flüsse (Pat. litt in den Tagen an heftigen
Zahnschmerzen) zurückführen. Im Gegen¬
teil, anfangs trat eine deutliche Verminde¬
rung der Zuckerausscheidung auf und ich
würde einen günstigen Einfluß des Präpa¬
rates unbedingt anerkennen, wenn nicht
ein zweiter Versuch bei derselben Patientin
ohne Einfluß geblieben wäre, während Ge¬
müsetage aber in der folgenden Periode stets
prompten Erfolg hatten, wenn auch nur
vorübergehend, da es sich um einen aus¬
gesprochen schweren Diabetes handelte —
vielleicht liegt auch darin der Grund, daß
das Mittel versagte.
Fräulein H. L, 19 Jahre alt. Stets gesund,
fühlte Anfang Herbst 1908 gesteigerten Frost
bei großer Erschlaffung, ihr schlechtes Aus¬
sehen und die auffallende Abmagerung führte
zum Arzt, welcher 8% Zucker im Harn fest¬
stellte. 9. August 1909 tritt die Kranke in meine
Behandlung. Die Untersuchung ergibt normale
Organe — soweit erkenntlich —, Funktionen
verlaufen normal bis auf die Menses, welche
seit September 1908 zessiert haben. Sie ist eine
sehr gewissenhafte Kranke und beobachtet die
vorgeschriebene Diät aufs ängstlichste. Bei
ewohnter Lebensweise, welche 100 g Schrot¬
rot (40 g, 20 g, 40 g) gestattete, ergab die
erste Analyse vom 10/11. August 1909:
2400 ccm Harn, 1032 spez. Gew., 5,1 % =
122,4 g Zucker, 1,71 % = 41,04 g Harnstoff,
1,13 °/oo = 2,71 g Harnsäure.
Nach Beschränkung der Eiweißkost unter
Erhöhung der Fettnahrung fanden sich am
16/17. August:
3000 ccm Harn, 1027 spez. Gew., 4,1 °/o =
123,3 g Zucker, 1,32% = 39,6 g Harnstoff, 0.62 0 oo
= 1,86 g Harnsäure.
Nunmehr wurde mit der Medikation ein¬
gesetzt und drei Tage täglich dreimal 2 und
drei Tage dreimal 3 Tabletten zu 0,1 g reinem
Hypophyson bei sonst völlig gleicher Lebens¬
weise verabreicht. Am 23/24. August wurden
festgestellt:
2500 ccm Harn. 1030 spez. Gew., 3,8% =
95 g Zucker, 1,32 % — 33 g Harnstoff, 2,55 %o
= 6,3 % Harnsäure.
Bei gleicher Diät drei Tage dreimal 4,
drei Trage dreimal 5 Tabletten Hypophyson.
Untersuchung am 30/31. August:
2350 ccm Harn, 1028 spez. Gew., 3,3% =
77,5 g Zucker, 1.08% — 25,38 g Harnstoff,
2,65 °/oo = 6,23 g Harnsäure.
Nächste Verordnung sechs Tage dreimal
6 Tabletten, sonst keine Aenderung —
leider traten in diesen Tagen die heftigsten
Zahnschmerzen ein, welche freilich am Sammel¬
tage selbst fast geschwunden waren. Das
Untersuchungsresultat war entsprechend dem
körperlichen Befinden am 6/7. September:
3100 ccm Harn, 1032 spez. Gew., 5,1 % =
158.1 g Zucker, 1,02 % = 30,7 g Harnstoff,
2,35 %o = 7,28 g Harnsäure.
Da nebenbei der Gedanke aufstieg, die
Dosis des Medikamentes konnte zu hoch ge¬
griffen sein, wurde die Gabe wieder herabge-
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UNIVERSiTY OF CALIFORNIA
April
Die Therapie der Gegenwart 1910.
189
setzt auf dreimal 5 und dreimal 4 Tabletten
je drei Tage lang. Untersuchungsresultat vom
14/15. September:
2650 ccm Harn, 10.32 spez. Gew., 4,2 % =
111,3 g Zucker, 1.32 °/o = 34.18 g Harnstoff,
1,89 °/oo = 5,00 g Harnsäure.
Azeton und Azetessigsäure wurden stets
trotz regelmäßiger reichlicher Natrongaben (50
bis 100 g pro die) in reichlicher Menge ausge¬
schieden.
Das Körpergewicht zu Beginn 51,3 kg mit
Kleidung betragend, stieg bis 52,1 kg am
6. September; auf 51,4 kg am 14. September
zurückgehend.
Ein mehrere Wochen später erneuter
V< rsuch mit Hypophyson bei derselben
Patientin ließ nicht den geringsten Einfluß
erkennen — ich gebe zu, daß die Krank¬
heit vielleicht zu weit fortgeschritten war.
Jedenfalls dürften die ersten Unter¬
suchungsergebnisse zu weiteren Versuchen
in geeigneten Fällen Anlaß geben, da
nicht nur die Zuckerausscheidung
herabgesetzt, sondern auch der Ei¬
weißumsatz erheblich eingeschränkt
wurde und gerade der letztere Umstand
dürfte bei der Beurteilung der Wirksam¬
keit eines Mittels bei Diabetes mellitus von
ausschlaggebender Bedeutung sein.
Ein zweites Mittel, welches mir eben¬
falls von der Rhenania übergeben wurde,
ist nach Befunden von Cohnheim, Hei¬
delberg und anderen Forscher zusammen¬
gesetzt; es ist ein Gemisch von Leber-,
Muskel- und Pankreasextrakt und führt den
Namen Trion. Ich versuchte das Mittel
bei zwei Kranken. Der eine, Herr S., in
den vierziger Jahren, 90 kg wiegend, kräf¬
tiger, stattlicher Mann mit leichter Arterio¬
sklerose, worauf wohl auch die vorhandene
Albuminurie zurückzuführen ist, scheidet
bei 50 g — 30 g — 50 g Schrotbrot und
reichlicher Fleischkost etwas über 50 g
Zucker aus, also fast die ganze eingeführte
Kohlehydratmenge. Unter leider nicht
energisch genug durchgeführter Eiweißbe¬
schränkung sank die Zuckerausscheidung
auf 30 g pro die. Nunmehr wurden in
zwei Perioden von sechs Tagen täglich
dreimal 6 Tabletten Trion bei sonst
gleicher Lebensweise verabreicht. Die
Untersuchung nach den ersten sechs Tagen
zeigte eine Zuckerausscheidung von 13,5 g,
die nach der zweiten sechstägigen Periode
16,8 g. Ob dieser Erfolg auf die Tabletten
oder auf die Regelung der Diät (Eiwei߬
beschränkung) zurückzuführen ist, lasse ich
dahingestellt.
Die zweite Versuchsperson war ein 54jäh-
riger Diabetiker von gesundem Aussehen und
82 kg Körpergewicht Er besucht schon längere
Jahre Neuenahr, wurde anfangs immer zucker¬
frei, bis er vor vier Jahren eine schwere In¬
fluenza durchmachte. Seitdem ist der Zucker
nicht mehr völlig aus dem Harn geschwunden,
auch bei strenger Enthaltung von Kohlehydraten,
Bei seiner letzten Anwesenheit klagte er über
verminderte Eßlust, träge Darmtätigkeit und
ein „unlustiges“ Gefühl in den Eingeweiden.
Die Untersuchung ließ keine Organerkrankungen
usw. erkennen; das Körpergewicht blieb kon¬
stant. Bei seiner Ankunft 23/24. Juli 1909
wurden 80 g Zucker im Harn festgestellt bei
einer Zufuhr von 20—30 g Kohlehydrat am
Morgen und etwa 10 g am Abend. Bei gleicher
Lebensweise, nur mittags wurden in letzter
Zeit auch 10 g Kohlehydrat gewährt, um die
Eßlust zu steigern, schwankte die Zuckeraus¬
scheidung während der ersten vier Wochen
zwischen 41 und 58 g in 24 Stunden. Nun
wurde mit der Verabreichueg von Trion be¬
gonnen und zwar wurden zunächst dreimal
6 Tabletten sechs Tage lang verordnet.
Die darauf folgende Harnuntersuchung ergab
64,8 g Zucker, sonst wie bisher keine patho¬
logischen Bestandteile. Hierauf wurde die
Trionmenge auf dreimal 10 Tabletten erhöht,
aber auch diesmal zeigte sich kein Erfolg:
Nach mehrtägigem Gebrauche waren 65 g
Zucker im Ham ausgeschieden worden. Eine
Wirkung des Trion ist demnach in diesem
Falle nicht zu erkennen gewesen.
Es möchte fast scheinen, daß in der
bisherigen Weise angewandt, die Organ-
therapie der erfolgreichen Behandlung des
Diabetes mellitus nicht dienstbar gemacht
werden kann; ob die subkutane oder intra¬
venöse Anwendung bessere Resultate zei¬
tigen würde, scheint mir zweifelhaft; ich
glaube, daß wir, wenn wir das richtige
Organ sollten wirklich gefunden haben,
das wirksame Prinzip noch nicht genügend
rein herzustellen vermögen.
Von Rudisch 1 ) wird dem Atropinum
sulfuricum und dem Atropinum methylbro-
matum Merck eine Erhöhung der Toleranz
für Kohlehydrate beim Diabetiker zuge¬
schrieben. „Die Glykosurie verschwindet
bei Atropin bedeutend schneller als bei
kohlehydratfreier Diät." Dosis 0,008 bis
0,032 g dreimal täglich.
Der erst angeführten Patientin, welche
übrigens Ende Januar 1910 im Koma zu¬
grunde ging, trotz der sehr frühzeitig be¬
gonnenen regelmäßigen reichlichen Alkali¬
zufuhr, wurde das Atropinum methylbro-
matum Merck in zwei wöchentlichen Pe¬
rioden in der vorgeschriebenen Dosis ver¬
abreicht, ohne daß die geringste günstige
Beeinflussung des Kohlehydratstofiwechsels
zu erkennen gewesen wäre.
So dankbar sich uns daher die diäte¬
tische Behandlung des Diabetes mellitus
erweist, so wenig positiven Nutzen hat uns
bisher die medikamentöse Behandlung dieses
Leidens gebracht. Das muß uns nicht ent-
*) Rudisch, Archiv f. Verdauungskrankh., Bd.1 5
H. 4.
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Original fram
UNIVERSiTY OF CALIFORNIA
190
Die Therapie der Gegenwart 1910.
Apri
mutigen, sondern anspornen, durch immer
tieferes Eindringen in das Wesen dieser
krankhaften Veränderung doch schließlich
ein wirklich heilendes Mittel zu erschließen,
welches meiner Ansicht nach in erster
Linie die Organtherapie liefern wird.
Einige Bemerkungen über Pergenol.
Von Dr. Robert Meyer, Hals-,
Pergenol, ein leicht lösliches, festes und
haltbares Wasserstoffsuperoxyd - Präparat,
das von den Chemischen Werken vormals
Dr. Heinrich Byk, Charlottenburg, neuer¬
dings in den Handel gebracht wird, ist
geeignet, die Anwendungsmöglichkeiten des
Wasserstoffsuperoxyds so ziemlich auf allen
Gebieten der Medizin wesentlich zu er¬
weitern.
Pergenol ist ein weißes, kristallinisches
Pulver, das aus einer Mischung von mole¬
kularen Mengen Natriumperborat und
Natriumbitartrat besteht; beim Lösen in
Wasser liefert es Wasserstoffsuperoxyd
und Borsäure, und zwar die letztere an
weinsaures Natrium gebunden in Form von
Natriumborotartrat. Zahlenmäßig entspre¬
chen 100 Teile Pergenol 12 Teilen H 2 O 2
und 22 Teilen HsBOs. Pergenol löst sich
mit größter Leichtigkeit in kaltem, ebenso
in lauwarmem Wasser. Da die desinfizie¬
rende Kraft des Wasserstoffsuperoxyds in
warmer Lösung bekanntlich beträchtlich
gesteigert wird, so empfiehlt es sich, wo
angängig, warme Pergenollösungen zur Ver¬
wendung zu bringen.
In erster Linie aber möchte ich die Auf¬
merksamkeit auf die außerordentlich be¬
queme Anwendung des Pergenols in Pulver¬
form hinlenken, wenn Schorf oder eiterige
Beläge aus nicht leicht zugänglichen Höh¬
lungen zu entfernen sind. Mir hat diese
handliche Anwendungsweise ausgezeichnete
Dienste geleistet, wenn es sich darum han¬
delte, bei chronischen Mittelohreiterungen
festhaftenden zähen Eiter aus den Gehör¬
gängen, Trommelfell oder Mittelohr zu ent¬
fernen. Mit dem Pulverbläser blies ich eine
kleine Quantität Pergenol. medicin. pulv.
auf die zu reinigende Stelle und brachte
dann vermittels Sprays eine schwache Bor¬
säurelösung auf das Pergenol, das jetzt
prompt seine Wirkung, die typische des
Wasserstoffsuperoxyds, entfaltete. Die feine
Verteilung des Pergenols erleichtert und
ermöglicht das Eindringen in die versteck¬
testen Buchten und Höhlungen. Ebenso
förderte, wo es mir darauf ankam, Brand¬
schorfe nach Kauterisationen einzelner
Nasenmuscheln zu entfernen, ein Einblasen
von Pergenol mit nachfolgendem Spray die
Entfernung dieser Schorfe außerordentlich.
Es ist freilich notwendig, den Pulver¬
bläser nach jeder Applikation des Pergenols
Nasen- und Ohrenarzt in Berlin.
sehr sorgfältig zu reinigen, da das Mittel
sehr hygroskopisch ist und das Instrument
sonst verkleben könnte. Eventuell kann
das reine Pergenol auch mit Borsäure,
Talkum oder ähnlichen Mitteln gemischt
eingeblasen werden.
Abgesehen von dieser Hygroskopizität
aber läßt die Haltbarkeit des Pergenols
nichts zu wünschen übrig. Namentlich ist
das Präparat gegen Temperatureinflüsse
durchaus beständig, was man ja bekanntlich
leider von den flüssigen Wasserstoffsuper¬
oxyd-Präparaten nicht behaupten kann.
Nicht unerwähnt bleibe, daß das Per¬
genol auch ein ausgezeichnetes, seiner
Handlichkeit wegen für den ambulanten
Gebrauch sehr geeignetes Hämostatikum
darstellt.
Die feste Form des Mittels gestattet den
Aerzten die ex tempore Darstellung von
Lösungen mit genau bekanntem Gehalte
an Wasserstoffsuperoxyd. Für die Her¬
stellung solcher Lösungen sind besonders
die Pergenol. medicin.-Tabletten des Han¬
dels geeignet, die es ermöglichen, die gerade
benötigte Menge Wasserstoffsuperoxyd¬
lösung jeweils frisch herzustellen.
Eine fernere Verwendungsform des
Pergenols stellen die Pergenol - Mund¬
pastillen dar, die je 0,1 g Pergenol mit
Zucker und Pfefferminz enthalten. Hier ist
zum ersten Male Wasserstoffsuperoxyd in
die neuerdings so beliebte Form von
Pastillen gebracht, die der Patient langsam
im Munde zergehen läßt. In Fällen von
Erkrankungen der Mund- und Rachen¬
organe, wo ein Gurgeln nicht gewünscht
wird, oder mit Schwierigkeiten verknüpft
ist, wie z. B. in der Kinderpraxis, halte ich
die Darreichung dieser Mundpastillen für
sehr angebracht. Auch Gotthilf hat sich
neuerdings (Medizinische Klinik 1910, Nr. 8)
in gleichem Sinne geäußert. Reizwirkungen
irgend weicher Art fehlen den Pergenol-
Mundpastillen gänzlich, was ja bei einem,
bei aller Wirksamkeit doch so milden Des-
infiziens, wie es das Wasserstoffsuperoxyd
ist, nicht verwunderlich erscheint.
Eine andere spezielle Form des Per¬
genols sind die Pergenol-Mundwasser-
tabletten, die sich von den Pergenol.
medicin.-Tabletten nur durch einen Zusatz
von Pfefferminz unterscheiden. Sie liefern
beim Auflösen ein treffliches Mundwasser
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April
Die Therapie der Gegenwart 1910.
191
fQr die Zwecke der täglichen Mundpflege.
Auch leisten sie in entsprechenden aku-
ten Fällen als Gurgelwasser gute Dienste;
der sehr milde Geschmack der Lösung
wird von den Patienten angenehm ver¬
merkt.
Im Pergenol besitzen wir also ein
Wasserstoffsuperoxyd Präparat, das diesem
geschätzten Desinfiziens meines Erachtens
eine noch ausgedehntere Anwendung ge¬
währleistet, als es bisher schon der Fall
war.
Zum Andenken an Renvers.
Von Q. Klemperer. 1 )
Meine lieben Kollegen! Heut ist ein
Jahr vergangen, seit der vormalige Direktor
der inneren Abteilung unseres Kranken¬
hauses von uns geschieden ist. Sie wissen,
welche hervorragende Stellung er in der
ärztlichen Welt eingenommen hat; der
Glanz seines Namens hat auch auf unser
Krankenhaus einen leuchtenden Schein ge¬
worfen; uns ziemt es vor anderen, seiner
zu gedenken, sein Andenken wach zu
halten.
Vor einem Jahre hat Herr Geheimrat
Sonnenburg in unserm Kreise mit be¬
redten Worten ein Charakterbild des uns jäh
Entrissenen gezeichnet. Heute will ich ver¬
suchen auseinanderzusetzen, welchen be¬
sonderen Umständen Renvers seinen
glänzenden Aufstieg verdankt hat. Es ist
Ihnen wohl bekannt, daß die meisten Führer
unseres Standes durch wissenschaftliche
Arbeit emporkommen, in der inneren Me¬
dizin meist durch Laboratoriumsarbeit, die
nicht immer in unmittelbarer Beziehung zu
den praktischen Zielen unserer Kunst steht.
Bei Renvers war das nicht der Fall; vom
Laboratorium hat er sich geflissentlich
ferngehalten; eigentlich wissenschaftliche
Arbeiten hat er nicht hinterlassen. Und
doch ist er unbestritten der erste Arzt in
Berlin gewesen, dessen Ruf zeitweise
Forscher und Gelehrte in den Schatten
stellte.
Sind es nur äußere Glücksumstände
gewesen, die ihn zur Höhe führten, nur
die edle Schönheit seines Antlitzes und
seiner Haltung, seine Kunst, die Menschen
zu verstehen und zu lenken? Nun, meine
Herren, es ist wohl schon vorgekommen,
daß äußere Gaben und Fügungen einen
Arzt vorübergehend in die erste Reihe
stellten und in die Mode brachten, aber
daß ein Arzt länger als ein Jahrzehnt der
anerkannte Vertrauensmann von Hoch und
Gering ist, daß bei seinem jähen Hintritt
eine tiefe Trauer durch eine ganze Bevöl¬
kerung geht, das ist nur möglich, wenn
ein ungewöhnliches Können dauernd be¬
sondere Leistungen hervorbringt.
*) Ansprache, gehalten bei der ärztlichen Gedenk¬
feier am 22. März 1910 im Krankenhaus Moabit.
Renvers war in Wahrheit ein ärzt¬
licher Könner. Nicht nur, daß er die ge¬
wöhnlichen Untersuchungs- und Behand¬
lungsmethoden des inneren Arztes und des
Neurologen in meisterhafter Weise be¬
herrschte, er verstand auch Augen, Ohren
und Kehlkopf wie ein geübter Spezialist
zu spiegeln und zu beurteilen. Des sind
Sie alle oft Zeuge gewesen. Dazu war er
ein ausgebildeter Chirurg. Als er noch
Stabsarzt beim Friedrich Wilhelms-Institut
war, da schwankte er lange, ob er sich
für innere Medizin oder Chirurgie ent¬
scheiden sollte; er hätte sicher auch unter
den Chirurgen seinen Weg gemacht, wenn
ihn das Schicksal dorthin geführt hätte.
Als wir an der Leydenschen Klinik As¬
sistenten waren, war es uns noch erlaubt,
manche Operationen selbst auszuführen; es
war ein Vergnügen, Renvers z. B. ein
Empyem oder einen Leberechinokokkus
operieren zu sehen. Er war auch in der
Gynäkologie und Geburtshilfe wohl er¬
fahren. Eines Tages kam er strahlend in
die Klinik — es war Ende der 80er Jahre; er
war des Nachts zu einer kreißenden Portiers¬
frau gerufen worden, es handelte sich um
Plazenta praevia; er hatte die Entbindung
allein durchgeführt; Mutter und Kind lebten.
Diese vielseitigen Kunstfertigkeiten
waren ihm nicht mühelos zu eigen gewor¬
den; er hat sie mit eisernem Fleiß errun¬
gen. Als Stabsarzt an der Leydenschen
Klinik und noch als junger Direktor in
Moabit hat er unermüdlich gearbeitet und
geübt, bis er Meister jeder Technik war.
Renvers war ein glänzender Tech¬
niker, aber niemals ein Routinier. Die
Ausübung seiner Künste unterstand stets
der gereiften Kritik eines durchgebildeten
Denkers. Er war ein Gelehrter in der Be¬
herrschung der wissenschaftlichen Grund¬
lagen unserer Kunst. Als pathologischer
Anatom hat er durch seine reichen Kennt¬
nisse oft Fachmänner in Erstaunen gesetzt;
bis die Wogen seiner praktischen Tätig¬
keit fast über ihm zusammenschlugen, hat
er selten versäumt, den Sektionen seiner
Abteilung beizuwohnen. Er hatte sehr ge¬
diegenes physiologisches Wissen und klare
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April
192
Die Therapie der Gegenwart 1910.
chemische Vorstellungen. Dazu kam ein
scharfes Gedächtnis, das ihn Ober den un¬
gewöhnlichen Reichtum seiner ärztlichen
Erfahrungen mühelos gebieten ließ, und
eine glänzende Kombinationsgabe, mit der
er oft wie inspiriert dunkle Symptomen-
bilder zu erhellen, unzugänglich erschei¬
nende Krankheiten der Behandlung zu er¬
schließen vermochte.
Aus so weitverzweigtem Wurzel werk
großen Könnens und reichen Wissens er¬
wuchs die Selbstsicherheit und das Selbst¬
bewußtsein, die ein Teil seines Wesens
wurden, daraus auch die künstlerische
Grazie in der ärztlichen Betätigung, die
wir so oft an ihm bewundert haben. Nur
aus vollendeter Kraft blicket die Anmut
hervor.
So vielseitig und tiefgehend Renvers’
praktische und wissenschaftliche Interessen
waren, fast stets machte er Halt an der
Grenze der Produktivität. Er beherrschte
die Technik der literarischen und mancher
experimentellen Arbeit und seinem Scharf¬
sinn, seinem Fleiß wie seiner manuellen
Geschicklichkeit wären gewiß auch auf dem
Gebiet selbständigen Schaffens Erfolge be-
schieden gewesen. Aber trotz vielerlei An¬
regung zur Produktion hielt er sich bewußt
im Rezeptiven. Hierin wiederum war er
äußerst vielseitig. Er las sehr viel, nicht
nur am Schreibtisch in später Stunde, im
Wagen und auf Reisen war er stets von
medizinischer Literatur begleitet; er suchte
sich über alle Fortschritte in Diagnostik
und Therapie auf dem Laufenden zu er¬
halten und führte alle guten Neuerungen
alsbald im Krankenhause ein. Lumbal-
und Hirnpunktion, Widal und Wassermann,
Blutfärbungen und Blutaussaat wurden
regelmäßig ausgeführt, Stauungsbinden,
Wärmekapseln, Sauerstoffballons und vieles
andere wurden neben vielen neuerprobten
Arzneimitteln angewandt. Ueber seine Er¬
fahrungen berichtete er gelegentlich in
Fortbildungskursen, früher auch in Vereins¬
vorträgen, häufiger in kollegialer Unter¬
haltung und bei Konsultationen. Geschrieben
hat er wenig, fast nie aus eigenem Antrieb.
In den kurzen Aufsätzen, die er verfaßt
hat, sind viele klare Fragestellungen für
experimentelle Weiterarbeit enthalten. Aber
für sein Teil lehnte er jede Laboratoriums¬
arbeit aufs bestimmteste ab. Welches war
der Grund dieser auffallenden und un¬
gewöhnlichen Selbstbeschränkung? Es war
nicht etwa Zeitmangel, denn schon als
junger Assistent trennte er sich bewußt
von den Genossen, die ins Laboratorium
strebten, und verbrachte auch dienstfreie
Stunden im Krankensaal. Es war auch
nicht Geringschätzung vor der Arbeit kli¬
nischer Laboratorien, denn obwohl er ge¬
legentlich den dilettantischen Charakter
mancher klinischen Experimentalstudien
hervorhob, erkannte er doch mit Ernst an,
daß für den Fortschritt der inneren Medizin
die tätige Mitarbeit der Kliniker unbedingt
erforderlich sei. Unserer Vorgesetzten Be¬
hörde gegenüber hat er die Notwendigkeit
der wissenschaftlichen Arbeit im Kranken¬
haus stets betont; es war der Stolz seines
letzten Lebensjahres, daß uns ein neues
pathologisches Institut bewilligt wurde, in
dem jede wissenschaftliche Arbeit Platz
und Förderung finden wird.
Wenn ich dem Grund seiner Labora¬
toriumsfremdheit nachsinne, so kann ich nur
das tiefe Bedürfnis nach innerer Harmonie,
das Renvers beseelte, dafür verantwortlich
machen. In seiner Beschränkung auf die
praktische ärztliche Arbeit war ihm ver¬
gönnt, Vollkommenes zu leisten; gleich
Hohes in der Wissenschaft zu leisten,
wäre ihm unmöglich gewesen; so wäre
eine Ungleichmäßigkeit in seine Leistung,
vielleicht ein Ringen und eine Unruhe in
sein Wesen gekommen, die seiner ruhigen
Abgeklärtheit fremd und unsympathisch
waren.
Ein Jahr ist seit Renvers’ Tode ver¬
flossen; noch steht sein Bild in frischer
Lebendigkeit vor uns. Er war ein großer
Arzt, der in seltener Universalität und
Vollendung unsere Kunst beherrschte, ein
bedeutender Mensch, der seine reichen
Gaben zu harmonischer Vollkommenheit
auszugestalten vermochte. Möge jeder von
uns, zum Heile unserer Kranken, diesem
leuchtenden Vorbild in nimmer ruhender
Selbstvervollkommnung nacheifern. „Keiner
sei gleich dem andern, doch gleich sei
jeder dem Höchsten! Wie das zu machen?
Es sei jeder vollendet in sich.* In solchem
Sinne möge Renvers’ Geist in alle Zukunft
über unserm Krankenhause walten!
INHALT: Noorden-Lampe, Sarton S. 145. — Eichler, Cholelithiasis S. 146. — Boelke,
Digistrophan S. 153. — Zuelzer, Asthmabehandlung S. 157. — Sternberg, Genuß und Genußmittel
S. 158. — Kausch, Chirurgische Behandlung der Tuberkulose S. 160. — Katzenstein, Arsen¬
therapie S. 186. — Lenne, Diabetes mellitus S. 188. — Meyer, Pergenol S. 190. — Klemperer,
Zum Andenken an Renvers S. 191. — Bücherbesprechungen S, 170. — Referate S. 173:
Für die Redaktion verantwortlich Prof. Dr. G. K lern pe rer in Berlin.- Verlag von Urban&Schwarzenberg inWien tu Berlin.
Druck von Julius Sittenfcld, Hofbuchdrucker., in BerlinW.8.
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Die Therapie der Gegenwart
1910
herausgegeben von Prof. Dr. G. Klemperer
ln Berlin.
Mai
Nachdruck verboten.
Ans der medizinischen Klinik der Universität Göttingen.
Ueber Herzstörungen im Kindes- und Pubertätsalter.
Von C.
Auch die Gespenster sind der Mode
unterworfen. Gegenwärtig herrschen in
der ärztlichen Praxis zwei Gespenster: das
Myokarditis- und das Atherosklerose¬
gespenst. Auch das Kindesalter wird von
beiden heimgesucht, vorwiegend natürlich
von dem ersteren. Aber die von Krehl
und Germain See angeregte Diskussion
über die sogenannte Wachstumshyper¬
trophie des Herzens, d. h. eine scheinbar
sprungweise Massenzunahme des Kreis¬
laufmotors (Beneke), hat andererseits zu
der interessanten Frage geführt, ob nicht
schon im Kindes- beziehungsweise Puber¬
tätsalter funktionelle (nicht immer anato¬
misch nachweisbare) Aenderungen der Ge¬
fäßwand von pathologischer Bedeutung
Vorkommen.
Ich sehe hier völlig ab von luetischen
Veränderungen der Gefäße und von se¬
kundärer Atherosklerose bei Nephritis im
Kindesalter. Im höheren Kindes- bezie¬
hungsweise im Pubertätsalter sind diese
merkwürdigen Fälle von sogenannter Wachs¬
tumshypertrophie gar nicht so selten.
Herzklopfen und Druckgefühl auf der
Brust führen die Patienten zum Arzt. Durch¬
aus nicht immer findet man die Symptome
einer wirklichen Hypertrophie (hebender
Spitzenstoß, akzentuierter zweiter Aorten¬
ton, eventuell auch systolische Geräusche).
Dagegen ist in vielen Fällen besonders
auffallend die Spannungszunahme und Ver¬
dickung der Arterienwand. Der Blutdruck
ist aber meist nicht wesentlich erhöht.
Die Tübinger Schule Rombergs läßt
die Frage offen, ob es sich hier um athero-
sklerotische Veränderungen oder lediglich
um eine Verdickung der Muskularis han¬
delt. Die wichtigen Untersuchungen
O. Müllers und Schlayers haben aber
auch für eine Anzahl hierhergehöriger
Fälle gezeigt, daß die Arterien solcher In¬
dividuen — ganz ähnlich wie bei der wahren
Atherosklerose — auf thermische Reize ent¬
schieden schlechter reagieren. Was aber
ist die Ursache dieser funktionellen Stö¬
rungen? Sieht man die eigenen und frem¬
den Kasuistiken durch, dann scheinen doch
häufige nervöse Erregungen auch hier
eine wichtige ätiologische Rolle zu spielen.
Hirsch.
Man hat aber auch an primäre Nieren¬
störungen gedacht und die orthostatische
Albuminurie in Beziehung zu dieser Gefä߬
anomalie gebracht.
Die orthostatische Albuminurie tritt
aber viel häufiger ohne derartige Herz-
und Gefäßstörungen auf.
In der Zeit nach Eintritt der Pubertät
aber kann sicher die Masturbation zu
ganz den gleichen Herz- und Gefäßerschei¬
nungen führen. Sie wird in der Anamnese
immer sorgfältiger zu suchen und bei der
Therapie immer mehr zu berücksichtigen
sein. Gewiß ist die Bedeutung der Mastur¬
bation für das Nervensystem früher viel¬
fach übertrieben worden, häufig ist ja die
Masturbation auch nicht Ursache, sondern
Symptom neuropathischen Wesens. An¬
dererseits muß man sich aber hüten,
die Bedeutung exzessiver Grade von
Masturbation für das Herz- und Gefä߬
system zu unterschätzen. Fortgesetzte
starke nervöse Erregungen können selbst¬
verständlich zu einer vermehrten Inanspruch¬
nahme des Kreislaufapparates und dadurch
zu Veränderungen der Gefäßwand, insbe¬
sondere auch der Muskularis führen.
Bonnet und Triepel haben uns in
neuester Zeit auf die schon physiologischer
Weise verschiedene Beschaffenheit hin¬
sichtlich des Aufbaues der Wand in den
verschiedenen Gefäßprovinzen hingewiesen.
Die physiologisch angestrengteren, Druck
und Zug ausgesetzten Arterien haben im
Gegensatz zu Organ-, speziell zu den Herz¬
gefäßen eine mächtig ausgebildete Musku¬
laris. Die Funktion wirkt bestimmend
auf die Entwicklung der Media. Die
pathologisch gesteigerte Funktion muß nicht
nur zur Massenzunahme, sondern wohl
sicher auch zunächst zu physikalischen
Aenderungen der Media führen, auf die neuer¬
dings Schlayer und Fischer in einer
ausgezeichneten Abhandlung hingewiesen
haben. Sie konnten zeigen, daß die Skle¬
rose der Intima für die Palpabilität der
Arterien eine weit geringere Rolle spielt,
als man seither annahm.
ln einer großen Zahl von Fällen konnten
sie nachweisen, daß die Dickwandigkeit
der Arterien sicher nicht durch anatomisch
25
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UNIVERSiTY OF CALIFORNIA
194
Mai
Die Therapie der Gegenwart 1910.
nachweisbare Arteriosklerose bedingt war.
„Es gibt Veränderungen an den Arterien,
welche sie hochgradig verdickt erscheinen
lassen und vermindert funktionstüchtig
machen, ohne daß sie anatomisch arterio¬
sklerotisch sind."
Zu diesen Arterienverdickungen
nicht arteriosklerotischer Natur mit
Mediaverdickung gehören auch die
Fälle von sogenannter juveniler
Sklerose.
Die Anatomen werden daher in Zukunft
mehr als seither auf das Verhalten der
Media zu achten haben.
Auch in der Kinderpraxis wird man
sich mit diesen wichtigen Feststellungen
beschäftigen müssen.
Derartige Arterien mit Mediaverdickung
scheinen sich hinsichtlich der Funktions¬
verschlechterung wie gesagt ähnlich wie
wirklich atherosklerotische Arterien zu ver¬
halten.
In dieser Studie möchte ich mich aber
vor allem mit einer Reihe von Symptomen
beschäftigen, die, an sich harmloser Natur,
doch bei vielen das Gespenst der Myokard¬
oder Gefäßerkrankung auftauchen lassen,
weil man eine Zeitlang geneigt war, ein¬
zelnen Symptomen eine zu weitgehende
Bedeutung bei der Diagnose einzuräumen.
Bei der Diagnose der Herz- und Ge¬
fäßerkrankung muß man aber stets der
alten Forderung des großen William
Stokes eingedenk sein: Untersucht den
ganzen Menschen und diagnostiziert
nicht auf Grund einzelner Erschei¬
nungen.
Etwas geradezu Alarmierendes
aber hat für viele Aerzte und Laien
die geringste Arythmie des Herz¬
schlages, der aussetzende Puls.
Man wird daher nicht selten von Kol¬
legen oder von besorgten Eltern konsul¬
tiert, die bei einem Kinde — manchmal
ganz zufällig — eine mehr oder weniger
ausgesprochene Unregelmäßigkeit des Pulses
entdeckt haben.
Das Fehlen einer Herzvergrößerung,
von Geräuschen, die normale Größe der
Leber, das in keiner Weise gestörte sub¬
jektive Wohlbefinden (auch nicht beim
Laufen, Turnen, Singen) machen dabei die
Annahme einer organischen Läsion von
vornherein unwahrscheinlich. Auch die
Anamnese (keine vorausgegangene Angina,
Diphtherie usw.) ergibt in solchen Fällen
häufig keinerlei Grund zur Beunruhigung.
Trotzdem läßt aber die „ominöse“ Arythmie
die Angehörigen und auch die Aerzte nicht
zur Ruhe kommen: gilt doch leider viel-
! fach noch die Unregelmäßigkeit des Herz¬
schlages als wichtiges Symptom der so
l gefürchteten „Myokarditis".
In einer Reihe von Fällen mit Arythmie
i erscheint den Aerzten die Sorge um so
berechtigter, als hier in der Tat die Un¬
regelmäßigkeit des Herzschlages nach einer
fieberhaften Erkrankung einsetzt. Die
Erfahrung lehrt aber, daß diese Arythmien
oft ebenso schnell wieder verschwinden
können, wie sie aufgetreten sind.
Kinder zeigen zweifellos eine beson¬
dere Neigung zu Arythmien. Ich erinnere
nur an die so häufigen Unregelmäßigkeiten
des Pulses bei harmlosen Magen - Darm¬
erkrankungen, bei Darmparasiten, bei Ap¬
pendizitis, bei Migräne der Schulkinder usw.
Treten die Arythmen bei solchen Er¬
krankungen oder nach leichteren Infektionen
auf, dann läßt sich ja immer noch eine
„organische Schädigung leichtesten Grades",
„toxische Schädigung des Herzmuskels“
oder gar eine „Vagusbeeinflussung“ kon¬
struieren.
Und das geschieht auch in vielen Lehr¬
büchern.
Aber wie verhält es sich mit der
Erklärung der Arythmien anschei¬
nend völlig gesunder oder nicht
ernstlich erkrankter Kinder?
Eine große Reihe von Beobachtungen
in der Sprechstunde und in der Konsular¬
praxis haben mich veranlaßt, diesem inter¬
essanten Gegenstände einmal nachzugehen.
Schon in den älteren Darstellungen der
Herzkrankheiten finden sich hierher ge¬
hörige Beobachtungen, so bei Stokes,
Friedreich, v. Bamberger, v. Dusch
und Anderen.
In der älteren pädiatrischen Literatur
sind die Ansichten sehr geteilt. Die einen
behaupten, der aussetzende Puls sei im
Kindesalter eine Rarität und fast stets ein
Zeichen einer beginnenden Meningitis
(Roger).
Die andern sagen: das ist falsch; es
gibt im Kindesalter durchaus harmlose
Irregularitäten des Pulses (Bouchat).
In den neueren Darstellungen derKinder-
heilkunde liest man nur wenig oder an¬
deutungsweise über die Unregelmäßig¬
keiten des Pulses im Kindesalter
ohne nachweisbare Läsion des Her¬
zens. Die moderne Pädiatrie ist so sehr
durch die Probleme des Stoffwechsels und
der Ernährung des Säuglings in Anspruch
genommen, daß leider die klinische Durch¬
forschung mancher gerade für das Kindes¬
alter wichtigen Erkrankung anscheinend in
den Hintergrund tritt.
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Die Therapie der Gegenwart 1910.
195
Mai
Es ist deshalb auch kein Zufall, daß die
wirklich grundlegende Abhandlung Ober
die Herzarythmien im Kindesalter den
Forscher zum Autor hat, der in einzig¬
artiger Weise den modernen Pädiater mit
dem Kliniker im Sinne Wund erlich s in
seiner Person vereinigt: O. Heubner.
O. Heubner hatte noch im Jahre 1880
in seiner Abhandlung über die tuberkulöse
Meningitis (in Eulenburgs Realenzyklo¬
pädie) gesagt, daß er die Irregularität des
Herzens außer bei dieser Erkrankung im
Kindesalter für etwas sehr Seltenes halten
müsse.
ln seiner klassischen Abhandlung aber
über den uns hier beschäftigenden Gegen¬
stand betonte er (1894), er könne zwar
Ashby nicht beistimmen, wenn dieser sage,
„der Puls ist beim Kinde öfter irregulär
als beim Erwachsenen, und zwar ohne Be¬
einflussung durch eine Krankheit 11 , er
müsse aber das häufigere Auftreten
einer harmlosen Irregularität zu¬
geben.
Auf Grund eines ausgezeichnet beob¬
achteten Krankenmaterials führt er dann
alle Ursachen an, die bei einer vorüber¬
gehenden Irregularität in Betracht kommen
können. Sieht man von den organischen
Erkrankungen des Herzens ab, dann be¬
obachtet man Irregularität:
1. Nach Vergiftungen. Heubner sah
Arythmien nach Vergiftung mit Stechapfel¬
samen, Digitalis, Opium.
2. Bei Digestionsstörungen (Verstopfung!
Bouchat).
3. Nach heftigem Erbrechen und Unter¬
leibserkrankungen (Appendizitis!).
4. Im Rekonvaleszenten Stadium von In¬
fektionskrankheiten (natürlich abgesehen
von den Fällen, wo eine schwere Myokar¬
ditis z. B. bei Diphtherie Ursache der Ir¬
regularität ist). Hier muß man aber be¬
sonders vorsichtig sein hinsichtlich der
Abgrenzung der Myokardaffektion.
Heubner sah harmlose, vorüber¬
gehende Arythmien in der Rekon¬
valeszenz bei fast sämtlichen Infek-
tionskrankeiten des Kindesalters.
5. Bei anämischen und nervösen Kindern.
6. Bei Darmparasiten.
Heubner diskutiert auch schon die
Frage einer sogenannten physiologi¬
schen Arythmie im Kindesalter.
So können Gemütsbewegungen bei
vielen Kindern Arythmien hervorrufen.
Die während des Schlafes nicht sel¬
ten zu beobachtende Herzarythmie,
die in neuerer Zeit von Czerny genauer
studiert wurde, war schon dem alten Stoll
bekannt.
Da Costa beschrieb geradezu fami¬
liäres Auftreten von Arythmie bei
gesunden Kindern, das merkwürdigerweise
bei jeder fieberhaften Erkrankung ver¬
schwand. Wir werden hierfür nach Mit¬
teilung der Mackenzieschen Beobach¬
tungen über den prinzipiellen Unterschied
zwischen der sogenannten kindlichen und
der Arythmie der Erwachsenen eine plau¬
sible Erklärung finden.
In neuester Zeit hat sich Mackenzie
sehr eingehend mit der kindlichen Aryth¬
mie beschäftigt. Er geht in seinen Aus¬
führungen von der Tatsache aus, daß der
Puls für jedes Lebensalter eine cha¬
rakteristische Erscheinung darstelle.
So nimmt bekanntlich die Pulsfrequenz
von der Geburt bis zum 21. Lebensjahr
allmählich ab. Der Einfluß der Körper¬
größe — aber auch klimatischer Faktoren —
ist dabei unverkennbar.
Tigerstedt (Lehrbuch der Physiologie
des Kreislaufes) gibt für die verschiedenen
Lebensalter folgende Tabelle:
Lebensjahr
mittlere Pulsfrequenz
0-1
134
1-2
111
2—3 I
108
3-4 I
108
4-5 !
103
5-6
98
6-7
93
7-8
| 94
8-9
! 89
9—10
i 91
10—11
87
11—12
89
12—13
88
13-14
87
14—15
82
15—16
83
16-17
j 80
17—18
j 76
18-19
77
19—20
74
Rollet 1 ) gibt folgende Zahlen:
Ende des Total¬
lebens . . . 144—133 Pulse pro Minute
Neugeborener
im 1. Lebens¬
jahr . . . 143-123 „ „ „
10.—15. Lebens¬
jahr. . . . 91-76 „
20.—60. Lebens¬
jahr .... 73-69 „ „ „
Selbstverständlich wird die Pulsfrequenz
vorübergehend beeinflußt durch thermische
Einflüsse, Bewegungen, Uebergaug von der
l ) Hermanns Handbuch der Physiologie Bd. 4, 1.
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Die Therapie der Gegenwart 1910.
Mai
Rückenlage in aufrechte bzw. stehende Hal¬
tung, Nahrungszufuhr. Warm eingewickelte
Kinder haben eine höhere Pulsfrequenz
als nackte.
Mackenzie sieht nun in der Nei¬
gung des kindlichen Herzens zu
Arythmien geradezu etwas „Physio¬
logisches“.
Sicher zeigt ja das Herz des Kindes
Infektionen gegenüber eine größere Wider¬
standsfähigkeit als das Herz des erwachse¬
nen beziehungsweise älteren Individuums.
Das kindliche Herz ist eben ein „unver¬
dorbenes Herz“.
Gewisse Giftwirkungen, wie Alkohol,
Tabak usw., spielen in der kindlichen
Anamnese keine Rolle. Ebensowenig die
echte Atherosklerose.
Curschmann hat auf Grund eines
außerordentlich großen Beobachtungsmate¬
riales für den Typhus nachweisen können,
daß kindliche Herzen durchgehends viel
widerstandsfähiger sich erweisen als die
Herzen Erwachsener.
Wir können daher Unruh keineswegs
beistimmen, wenn er dem kindlichen Herzen
eine überaus große Empfindlichkeit gegen¬
über Infektionen zuschreibt.
Mackenzie betont mit Recht, daß die im
kindlichen Alter auch im Anschluß an fieber¬
hafte Erkrankungen auftretenden Bradykar¬
dien und Arythmien durchaus nicht ohne
weiteres als Ausdruck einer schwereren
Myokardschädigung aufgefaßt werden dür¬
fen. Er vertritt die Anschauung, daß im
Kindesalter in der Zeit, wo die Puls¬
zahl physiologischerweise eine aus¬
gesprochene Abnahme zeigt (vom
dritten Lebensjahr bis in die Puber¬
tät hinein!), meistens und am deut¬
lichsten zwischen dem 8. und 15. Le¬
bensjahr Schwankungen des Ryth¬
mus aufzutreten pflegen.
Diese Unregelmäßigkeit des Pulses
aber hat gegenüber einer Arythmie
infolge organischer Herzerkrankung
beziehungsweise Herzschwäche ein
ganz charakteristischesKennzeichen.
Bei diesen „kindlichen Arythmien“
sind die einzelnen Pulsschläge in der
Regel gleichmäßig, voll und kräftig
ausgebildet; nur die Dauer der Dia¬
stole ist eine verschieden lange.
Diese Arythmie verschwindet auch
meistens bei beschleunigter Herz¬
tätigkeit, weil dann die abnorm
langen Diastolen verkürzt werden.
So erklärt sich wohl auch zwanglos das
Verschwinden der familiären Arythmien
da Costasbei fieberhafter Erkrankung des
betreffenden Kindes.
Mackenzie hat Fälle beobachtet, wo
eine derartige kindliche Arythmie
bis über die Pubertät hinaus bestehen
blieb. Ich kann das auf Grund vielfacher
Erfahrung bestätigen. Insbesondere bei
jungen graviden Frauen wirkt die zufällige
Entdeckung einer solchen harmlosen Aryth¬
mie oft besorgniserregend. Schon Stokes
hat solche Fälle beobachtet.
Im Gegensatz hierzu zeigen die
auf organischer Schädigung des
Herzmuskels beruhenden Arythmien
einen ganz anderen Charakter. Hier
wird die Arythmie in der Regel durch
Extrasystolen bedingt.
Extrasystolen sind bekanntlich vorzeitig
(nahe der refraktären Periode) auftretende
Herzkontraktionen. Sie stellen schwächere
Kontraktionen (kleine, oft gar nicht fühlbare
Pulswelle!), frustrane Kontraktionen im
Sinne von Hochhaus und Quincke dar.
Die Extrasystolen sind die Folge einer ab¬
normen Erregung des erkrankten Herz¬
muskels (myokrethisch im Sinne Herings).
Es muß aber betont werden, daß Extra¬
systolen auch bei Nervösen auftreten kön¬
nen. Man sagt, bei nervösen Affektionen
seien sie vom Patienten empfunden, bei
nicht nervösen sei das nicht der Fall. Diese
Art der Unterscheidung ist natürlich höchst
mangelhaft. Man kann wohl sagen, Extra¬
systolen allein beweisen noch nicht eine
organische Läsion, aber sie sind doch sehr
verdächtig in dieser Richtung (Romberg).
Sehr treffend bemerkt F. Müller: Extra¬
systolen können auch bei sogenannten Ner¬
vösen das erste Zeichen einer später mani¬
fest werdenden organischen Nerven¬
erkrankung sein! Zudem ist es bis jetzt
im Experiment noch nicht gelungen, Extra¬
systolen durch Reizung der Herznerven zu
erzeugen.
Wir dürfen also aus dem Auf¬
treten einer Arythmie im Kindes¬
alter nicht ohne weiteres auf eine
organische Läsion des Herzens
schließen. Die sogenannte kindliche
Arythmie ist nach dem Pulsbilde etwas
ganz anderes als die durch Extrasystolen
bedingte Arythmie. Und selbst Extra¬
systolen können bei nervösen Individuen
Vorkommen, ohne die Folge einer ernste¬
ren Erkrankung des Herzens darzustellen.
Die genaueste Untersuchung und indi¬
viduelle Beurteilung ist daher in jedem
Falle unerläßlich. Pulszählen und gleich¬
zeitige Auskultation am Herzen! Aufnahme
eines Splygmogrammes.
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Mai
Oie Therapie der Gegenwart 1910.
197
Mackenzie ist überzeugt, daß fast I erregter Herzaktion und im Exspirium
jedes Kind zu gewissen Zeiten Arythmien
hat als charakteristische Begleiterschei¬
nung der „natürlichen Abnahme der Puls¬
frequenz“.
Interessanterweise hat die Arythmie bei
der Meningitis tuberculosa auch infantilen
Charakter, das heißt sie beruht lediglich
auf verschieden langen Diastolen.
Bei organischen Herzerkrankungen
stellen sich auch im Kindesalter Arythmien
mit Extrasystolen ein, die zu sogenannten
frustranen Kontraktionen führen und leicht
zu erkennen sind.
Von Wichtigkeit ist ferner die richtige
Einschätzung von Herzgeräuschen bei
Kindern, die nachweislich keine Endo¬
karditis durchgemacht haben. Es ist das
Verdienst von Lüthje, in neuerer Zeit
die Aufmerksamkeit auf die sogenannten
akzidentellen Herzgeräusche bei Kin¬
dern gelenkt zu haben. Es handelt sich
dabei keineswegs immer um sogenannte
Nervöse, bei denen schon Stokes harmlose
Arythmien neben sogenannten akzidentellen
Geräuschen am Herzen beschrieben hat.
Lüthje untersuchte 854 Kinder, be¬
ziehungsweise jugendliche Individuen (801
im Alter von 6 bis 13 Jahren; 53 zwischen
14 und 20 Jahren). Er fand 623mal systo¬
lische Geräusche; in 564 Fällen war das
Geräusch nur über der Pulmonalis deutlich.
14 mal war es nach anderen Ostien deut¬
lich fortgeleitet. Nur 2 % der Untersuchten
hatten sichere Zeichen von Klappenfehlern.
Die überwiegende Mehrzahl hatte also
„akzidentelle“ Geräusche.
Ich habe seinerzeit Herrn W. Beyer ver¬
anlaßt, diese Daten an den Dresdener
Schulen nachzuprüfen.
Beyer hat in außerordentlich gründ¬
licher Weise 830 Schulkinder (Knaben und
Mädchen) im Alter von 6 bis zu 14 Jahren
untersucht. Er fand 352 mal ein systoli¬
sches Geräusch (= 42 % aller untersuchten
Kinder). Verhältnismäßig häufiger fand er
systolische Geräusche bei den Mädchen
(161 mal unter 336; bei den Knaben 191
mal unter 494).
Am häufigsten waren die Geräusche bei
Kindern im Alter von 9 bis 14 Jahren.
Von 352 Fällen hatten 253 = 61 % das
Geräusch auch in der Ruhe von vorn¬
herein; 99 = 39% bekamen es erst nach
Turnübungen.
In der Mehrzahl der Fälle hatte das
Geräusch sein Punctum maximum über
der Pulmonalis.
35% aller Kinder hatten „Pulmonal“-
geräusche. Diese Geräusche werden bei
lauter, zum Teil treten sie dann erst auf.
7,4% hatten „Mitralgeräusche“, das heißt
das Punctum maximum war über der Mi¬
tralis. Beyer sah diese „Mitralgeräusche“
bei verstärkter Herzaktion zum Teil erst
auftreten, zum Teil aber auch verschwinden.
! vereinzelten Fällen finden sich wohl Pul¬
monal- und Mitralgeräusche kombiniert.
Nach dem Blutbefund geht die Häufig¬
keit des Auftretens der Geräusche durch¬
aus nicht der Verbreitung der Anämie par¬
allel.
Viele Anämische hatten keine ausge¬
sprochenen Geräusche. Nur in 14 Fällen
seines Materials ließen sich einwandfrei
Herzfehler nach weisen.
Ich möchte gegenüber der von Lüthje
und Beyer geübten präzisen Abgrenzung
von sogenannten reinen „Pulmonalge¬
räuschen“ einigen Zweifel äußern. Schon
Traube lehrte uns, daß systolische
Geräusche, die an der Mitralis ent¬
stehen, oft am besten an der Herz¬
basis nach der Pulmonalis zu gehört
werden. Das ändert aber natürlich nichts
an der bemerkenswerten Tatsache, daß
im Kindesalter ebenso häufig wie harmlose
Arythmieen auch „harmlose Geräusche“ zu
finden sind.
Es liegt der Gedanke nahe, das Auf¬
treten solcher akzidentellen, das heißt nicht
auf organischer Läsion beruhenden Ge¬
räusche auf bestimmte physiologische und
anatomische Eigentümlichkeiten des kind¬
lichen Kreislaufes zurückzuführen.
Lüthje denkt bei der Erklärung dieser
häufig anzutreffenden Pulmonalgeräusche
an Stenosengeräusche infolge eines sehr
flachen Thorax.
Da die Geräusche häufig bei der for-
zierten Exspiration lauter werden, so
denkt er an eine durch die Exspiration be¬
dingte weitere Verkleinerung des sterno-
vertebralen Durchmessers. Also stärkere Ste-
nosierung des Gefäßes! Aehnlich wie in
dem bekannten Stethoskopdruckversuch von
Henoch und Steffen.
Dem möchte ich gegenüber halten, daß
auch organisch bedingte Pulmonalgeräusche
und auch Mitralgeräusche bei nichts weniger
als verflachtem Thorax nur im Exspirium
lauter werden — wohl durch Entblößung
der Pulmonalis und des Herzens von der
Lunge und dadurch bedingte Annäherung
an die Brustwand.
Beyer plädiert im Anschluß an Be-
neke und Kreyssig an ein Mißverhältnis
zwischen Herz volumen und Gefäß weite. Er
faßt die Pulmonalgeräusche daher als „Di-
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198
Mai
Die Therapie der Gegenwart 1910.
latationsgeräusche“ auf. Beneke sprach
ja schon vor vielen Jahren von einem
„kardiovaskulären Typus“ bei Kindern:
geringe Herzhöhlung und weite große Ge¬
fäße. Nach der Pubertät erst wird nach
ihm das Verhältnis umgekehrt. So wächst
das Herzvolumen von der Geburt bis zur
Pubertät um das 12fache, der Aorten¬
umfang nur um das 3 fache.
Ich möchte hier nicht die noch immer
nicht befriedigend zu beantwortende Frage
der Entstehung sogenannter akzidenteller
Geräusche aufrollen. Ich glaube, daß eine
einheitliche Erklärung aus dem einfachen
Grunde nicht möglich sein wird, weil die
sogenannten akzidentellen Geräusche ganz
verschiedene Ursachen haben können.
So treten ja auch die einen für den rein
anämischen Charakter (Beschleunigung des
Blutstroms bei der Anämie) ein, die andern
denken an passagere muskuläre Mitral¬
insuffizienzen (v. Leube, Krehl).
Romberg möchte in Uebereinstimmung
mit v. Bamberger die akzidentellen Ge¬
räusche wenigstens zum Teil auf abnorme
Schwingungen des Herzmuskels und der
Wand der großen Gefäße zurückführen.
Er gibt aber auch die Schwierigkeiten einer
einheitlichen Erklärung zu, lehnt den Sehr¬
wald sehen Versuch, sie als Venengeräusche
zu deuten, ab und gibt zu, „daß bei Kindern
namentlich eine relative Weite der Pulmo-
nalis im Vergleich zu ihrem Ostium für
die Geräuschbildung verantwortlich gemacht
werden könne“.
Wir sehen also jedenfalls, daß im
kindlichen Lebensalter relativ sehr häufig
„harmlose“ Herzgeräusche auftreten können,
deren einheitliche Erklärung nicht möglich
ist. Ich persönlich bin der Meinung, daß
es sich in sehr vielen Fällen doch um
| leichte passagere muskuläre Mitralinsuffi-
I zienzen handelt.
Hinsichtlich der richtigen Beurteilung
des einzelnen Falles gilt auch heute noch
, das Wort des erfahrenen W. Stokes:
I „Die Kunst, eine richtige Diagnose
! zwischen funktionellen und organi-
| sehen Herzleiden zu stellen ist nicht
, soleicht, wie neuere Schriftsteller an¬
geben, und wir gelangen öfters durch
instinktartige Geschicklichkeit — das
Resultat der Erfahrung und des Ur-
! teils — zueinem richtigeren Schlüsse,
] als durch diagnostische Regeln.“
j Literatur.
1) Krehl, Erkrankungen des Herzmuskels
j in Nothnagels Handbuch. — 2) Krehl, Patho-
I logische Physiologie VI. Aufl. Leipzig 1910. —
' 3) Romberg, Krankheiten des Herzens. II. Aufl.
Stuttgart 1909. — 4) Schlayer und Fischer*
Arteriosklerose und Fühlbarkeit der Arterien¬
wand. D. Arch. f klin. Med. 98. Bd., H. 1—3,
| S. 164ff. — 5) Heubner, O., Ueber Herz-
I arythmie im Kindesalter. Zeitschr. f. klin. Med.
Bd. XXVI, S. 493. — 6) Czerny, Beobach¬
tungen über den Schlaf im Kindesalter. Jahr-
| buch f. Kinderheilkunde Bd. XXXII, S. 28. —
! 7) Mackenzie. J., Die Lehre vom Puls.
Deutsch von Adolf Deutsch. Frankfurta. M.
I 1904. Johannes Alt. — 8) Unruh, Ueber die
| sogenannte Schulanämie. Freie Vereinigung
| f. inn. Med. i. Kgr. Sachsen 1906. D. med. W.
| 1906, Nr. 41. — 9) Lüthje, H.. Beitrag zur
I Frage der systolischen Geräusche am Herzen.
I Med. Klinik 1906, Nr. 16/17 und Offizielles
Protokoll d. Sitzung d. ärztl. Vereins zu Frank-
i furt a. M. v. 17. Dezember 1906. Münch, med.
1 W. 1907, Nr. 495. — 10) W. Beyer, Unter¬
suchungen über das häufige Vorkommen von
1 systolischen Herzgeräuschen bei Kindern. J. D.
| Leipzig 1907. (Ausführliche Literatur.) —
11) Stokes, Krankheiten des Herzens an der
Aorta.
Ueber eine Prioritätsfrage bezüglich des künstlichen Pneumo¬
thorax bei der Behandlung der Lungenschwindsucht — und
über den Mechanismus seiner Wirkung.
Von Prof. Carlo Forlanini, Direktor der medizinischen Klinik der Kgl. Universität in Pavia.
Veranlassung zu der vorliegenden Arbeit
geben eine im Mai vorigen Jahres in dieser
Zeitschrift erschienene Veröffentlichung
von Dr. Daus 1 ) und das Urteil, das der¬
selbe über meinen Vorschlag der Behand¬
lung Jer Lungenschwindsucht mit dem
künstlichen Pneumothorax fällt, worin ich
ihm nicht beistimmen kann: — daß ich
seither so viel Zeit verstreichen ließ, findet
seinen Grund in den großen Schwierig¬
keiten, denen ich bei den Literaturnach-
*) S. Daus (Berlin-Gütergotz), Historisches und
Kritisches über künstlichen Pneumothorax bei Lungen¬
schwindsucht (Die Ther. d. Gegenw. Mai 1909).
forschungen begegnete, die dann leider
doch nicht den gewünschten Erfolg hatten:
wie Daus, so war es auch mir nicht mög¬
lich direkte An gaben über den Vorschlag von
Carson zu sammeln, noch mir seine Ori¬
ginalarbeit zu verschaffen; hingegen gelang
es mir, einige Mitteilungen zu finden, die mir
von Nutzen erschienen. Zuvor will ich
aber wiedergeben, was Daus über den
strittigen Punkt schreibt:
„Die neuerdings viel diskutierte Be¬
handlung der Lungentuberkulose durch
künstlichen Pneumothorax stellt keineswegs,
wie ihr Neuentdecker Forlanini angibt,
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Mai
Die Therapie der Gegenwart 1910.
199
eine neue Methode dar, sondern ich stelle
hiermit fest, daß die Priorität Carson ge¬
bohrt." — Und zur Stotze seiner Behaup¬
tung bringt Daus folgende Dokumente
herbei: Im Lehrbuch der speziellen Patho¬
logie und Therapie von Canstatt, heraus¬
gegeben im Jahre 1843, stehe: „Unausführ¬
bar ist die Idee von Carson, durch Eröff¬
nung einer Seite der Pleura künstlichen
Pneumothorax und hierdurch Kompression
der kavernösen Lunge zu erzeugen und
später dasselbe Verfahren auf der anderen
Seite zu wiederholen, sowie auch Piorrys
Vorschlag, durch eine Binde Kompression
der einen Seite der Brust zu bewirken und
dadurch die Wandungen der Tuberkel¬
höhlen zum Behufe der Adhäsion einander
näher zu bringen." Auch Wunderlich
bezeichne in seinem Lehrbuch der Patho¬
logie und Therapie vom Jahre 1856 „so¬
wohl die Kompression von außen her nach
Piorry, wie die Eröffnung des Thorax und
Herbeiführung eines künstlichen Pneumo¬
thorax nach Carson als nicht nachahmens¬
wert". Köhler schreibe in seinem Hand¬
buch der speziellen Therapie vom Jahre
1867: „Der (der Idee, durch Steigerung der
Atemtätigkeit die Tuberkelbildung zu ver¬
hüten) entgegengesetzte Vorschlag Car-
sons, durch künstliches Herbeiführen eines
Pneumothorax auf einer Seite, oder der
Piorrys, durch einen Druckverband oder
durch Auflegen von Gewichten die Brust¬
wände niederzudrücken, um die Wände
der Eiterhöhlen miteinander in Berührung
zu bringen und auf diese Weise ihre Ver¬
narbung zu bewerkstelligen .... verdient
keine klinische Prüfung, geschweige, daß
die Einführung dieser Methode in die all¬
gemeine Praxis zu erwarten ist." — Zum
Schluß bemerkt Daus: „Im Zusammen¬
hänge hiermit sei noch hinzugefügt, daß
man nach H. E. Richter (Grundriß d. inn.
Klinik, Leipzig 1856) das Einsinken der
Brust über den Eiterhöhlen zuweilen durch
angelegte Binden oder Pflasterstreifen för¬
dern könne. Indessen, wenn man sich in
desperaten Fällen zur Kompressionstherapie
entschlossen hat, so geht wohl aus allem
hervor, daß man der Carson sehen Me¬
thode der „inneren" Kompression in Form
des künstlichen Pneumothorax den Vorzug
geben wird.“ — Weiter unten dann, daran
erinnernd, wie schon die alten Aerzte den
wohltätigen Einfluß bemerkt hätten, den
ein spontan aufgetretener Pneumothorax
auf die Symptome und den Verlauf der
Schwindsucht ausübe, drückt er (in einer
Fußnote) folgende Ansicht aus: „Möglicher¬
weise waren diese Fälle auch Carson be¬
kannt und haben ihn zu seiner Methode
vielleicht mit inspiriert.“
Die soeben erwähnten Dokumente be¬
stehen also im wesentlichen in dem Urteil
von vier Autoren über eine von Dr. Carson
vorgeschlagene Methode zur Behandlung
der Lungenschwindsucht mit einem Pneumo¬
thorax, den man durch Eröffnung der
Pleurahöhle erhält: drei von ihnen, Can¬
statt, Wunderlich und Köhler, halten
den Vorschlag für klinisch unausführbar;
der vierte, E. Richter, spricht sich dahin
aus, daß, wenn man seine Zuflucht zu einer
Kompressionsbehandlung nehmen wolle,
die Carsonsche Methode jener von Piorry
vorgeschlagenen mit Heftpflasterstreifen
vorzuziehen wäre. Aber aus den ange¬
führten Stellen geht nicht hervor, worin
die Methode besteht, und vor allem, ob
der Vorschlag — wie es sich für jenen von
Piorry tatsächlich ergibt — je ausgeführt
worden ist und mit welchem Erfolge. Wenn
ich nun auch davon absehe, daß der
Carsonsche Vorschlag seit fast einem
halben Jahrhundert in Vergessenheit ge¬
raten war, als ich im Jahre 1881 meinen
eigenen Vorschlag vorbrachte, so scheint
mir dennoch, daß die Zitate von Dr. Daus
nicht hinreichen, um eine Priorität zu¬
gunsten Carsons daraus abzuleiten; um
so mehr, als es heute unter Berücksichti¬
gung der pathologischen Kenntnisse und
der chirurgischen Technik jener Zeit
nicht anzunehmen ist, daß es damals mög¬
lich gewesen wäre, eine therapeutische
Maßnahme zu ersinnen und vor allem aus¬
zuführen, die dem Begriffe des modernen
künstlichen Pneumothorax entsprochen
hätte. Daher entschloß ich mich noch
selber zu Nachforschungen in zahlreichen
Bibliotheken; aber es gelang mir nicht,
irgendwelche direkte Notiz über diesen
Gegenstand zu finden. Hingegen hatte ich
das Glück, das Werk eines piemontesi-
schen Arztes, eines Zeitgenossen von
Carson, in die Hände zu bekommen, der
ungefähr in jener Epoche zu seiner weiteren
Ausbildung einige Zeit in London ver¬
brachte. Es ist dies Dr. Luigi Parola,
leitender Arzt des Spitals von Cuneo, der
im Jahre 1849 ein 700 Seiten starkes Werk
über die Lungenschwindsucht veröffent¬
lichte 1 ); darin kommt eine Stelle vor, die
l ) L. Parola, Von der Tuberkulose im allge¬
meinen und der Lungenschwindsucht im speziellen;
historische und praktisch-theoretische Untersuchungen
zur Beantwortung der 10 Fragen, die von der Kgl.
medizinisch-chirurgischen Akademie in Turin aufge¬
stellt und von derselben mit dem Garbigliettischen
Preise gekrönt worden sind. (Turin 1849. G. Favale
& Comp. 700 S. 8° m. 4 Taf.)
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UNIVERSiTY 0F CALIFORNIA
200
Die Therapie der Gegenwart 1910.
Mai
ich weiter unten wiedergeben werde, in
welcher — leider ohne Quellenangabe —
Car so n kurz erwähnt wird. Nachdem der
Verfasser von der Thorakozentese als
Mittel zur Entleerung innerer Eiteransamm¬
lungen im Brustraume gesprochen und
daran erinnert hat, daß bereits Baglivi sie
„für die besonderen Fälle von ulzerösen
Prozessen in den Lungen“ empfohlen hätte,
„in Anlehnung an einen von ihm selbst in
Padua beobachteten Falle mit glücklichem
Ausgang“ und sich „mit Recht“ dar¬
über beklagt hätte, „daß bei der Lungen¬
schwindsucht die Aerzte viel eher daran
dächten, die Reihe der wertlosen Medika¬
mente zu vergrößern oder sich schmäh¬
licher Untätigkeit hinzugeben, statt diesen
genannten Heil weg zu versuchen“, fährt er
folgendermaßen fort (S. 617):
„In der Tat hatte ihn (die Thorako¬
zentese) bereits vor mehr als hundert
Jahren der Engländer Barry angedeutet.
Nach seiner Ausdrucksweise sei es un¬
menschlich, die armen Kranken mit Deri-
vantien oder Expektorantien hinzuhalten,
da es doch notwendig sei, der inneren
Eiteransammlung auf dem kürzesten Wege
Abfluß zu schaßen durch Eröffnung des
Thorax direkt über dem Tuberkel. Ra¬
in ad ge machte dann von dieser Operation
einen besonderen Gegenstand und einen
Bestandteil seiner Behandlung jndem er
bekannte, daß das beste Mittel zur Heilung
der Schwindsucht darin liege, so viel als
möglich die Ruhigstellung des erkrankten
Organs oder wenigstens der tuberkulösen
Partie desselben zu erreichen; die Oeßnung
in der Brustwand und die Verbindung des
Krankheitsherdes mit der Außenluft be¬
wirkten nun durch ein Zusammenziehen
der darüberliegenden Brustwandpartie diese
Unbeweglichkeit, was zur Folge hätte, daß
der Respirationsakt aufgehoben würde 1 ).
*) Von Arbeiten von Ram ad ge konnte ich nur
eine von Dr. Holmbaum im Jahre 1836 ins Deutsche
und von Dr. Lebe au ebenfalls 1836 ins Französische
übersetzte mir zugänglich machen. (Meine Nach¬
forschungen ergaben nicht, daß er noch anderes ge¬
schrieben hätte.) Aber ich fand darin nicht die von
Dr. Parola ihm zugeschriebene Aeußerung; im Gegen¬
teil, es kamen ganz entgegengesetzte Gedanken darin
zum Ausdruck, und zwar daß »jeder auf die obere
Brustwand ausgeübte Druck eine Gelegenheitsursache
zur Entstehung von Tuberkeln darstelle 41 (Seite 11 j
der französischen Ausgabe), ferner wird darin an die
alte Beobachtung der Kliniker von der geringen
Schwindsuchtdisposition der Asthmatiker und Eraphys-
matiker erinnert (Seite 2, 3 und 4); cs wird darin
erwähnt, daß er bei der Autopsie von geheilten
Schwindsüchtigen, die an einer andern Krankheit zu¬
grunde gingen, stets Emphysem nachgewiesen hätte;
es wird die Ueberzeugung ausgedrückt, daß „ulzeröse
Lungenprozesse radikal ausheilen und neue Tuberkel-
Aehnliche Ueberlegungen waren schon von
Dr. Carson in Liverpool ausgesprochen
worden, der die Schwierigkeit der Ver¬
narbung von Geschwüren in den Lungen
dem Umstand zuschrieb, daß die Lungen
fortwährend gezwungen wären sich aus¬
zudehnen und zusammenzuziehen. Und
nachdem einige Beobachtungen, die er am
Menschen gemacht hatte, und Tierversuche
ihm gezeigt hatten, daß man ohne Gefahr
Luft in die eine der beiden Brusthälften
einbringen könne, schlug er seine Punktion
für die Fälle von Schwindsucht vor, damit
die kranke Lunge, indem sie von der Außen¬
luft zusammengedrückt würde, zu einer heil¬
samen Ruhe gezwungen werde. Wenn
dann durch dieses Mittel ihre Ausheilung
erzielt worden wäre, solle dieselbe Punktion
auf der andern Seite wiederholt werden,
sofern die Natur des Falles es verlange.
Solcherlei Betrachtungen werden bekräftigt
durch die Tatsachen und durch die Be¬
obachtungen des Dr. Houghton (Encic.
cit.) und vor allem durch einen in der
Dubliner Zeitung mitgeteilten Fall, der einen
Maurer betrifft, welcher ein und ein halbes
Jahr lang nach Anlegung der Fistel lebte
und sicherlich noch sehr lange Zeit am
Leben geblieben wäre, hätte er nicht die
Unklugheit begangen, bei seinem mühsamen
Beruf zu verharren, wodurch er zunächst
eine Pleuropneumonie der entgegengesetzten
Seite durchzumachen hatte, und, dieser
glücklich entronnen, an den Folgen wieder¬
holter akuter Entzündungen der andern
Lunge und des Pneumothoraxsackes schlie߬
lich zugrunde gehen mußte. Während des
erwähnten Zeitraumes zog sich die aus¬
gedehnte Seite zusammen, kehrte aber
schließlich zur anfänglichen Ausdehnung
wieder zurück. Die hektischen Schweiße
verschwanden fast vollständig von dem
Zeitpunkt der Perforation an; die Kräfte
und das Allgemeinbefinden nahmen derart
zu, daß sie dem Patienten sogar die Wieder¬
ausübung seines Berufes gestatteten. Der
hier dargelegte Fall veranlaßte Houghton
bildungen verhindert werden können durch künstliche
Ausdehnung des Lungengewebes*'; und gestützt auf
diese Beweggründe wird der Vorschlag gemacht
(Seite 39) die Lungenschwindsucht zu heilen, indem
man den Kranken durch eine lange und schmale
Röhre forciert atmen lasse.
F. H. Ra m ad ge. Die Lungenschwindsucht ist
heilbar, oder Entwicklung des Prozesses, den Natur
und Kunst einzuschlagen haben, um diese Krankheit
zu heilen; nebst Empfehlung einer neuen und einfachen
Heilmethode. (Aus dem Englischen übersetzt von Dr.
C. Holmbaum 1836. — Amsterdam und New-York.)
F. H. Ramadge. Trait6 sur la nature et le
traitement de la consomption pulmonaire. (Trad. de
Tanglais par H. Lebe au, Bruxelles 1836.)
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Die Therapie der Gegenwart 1910.
201
Mai
zu folgenden Betrachtungen Ober die gün¬
stige Wirkung der komprimierenden Luft
auf den tuberkulösen Zustand der kom¬
primierten Lunge: die durch die Atmungs¬
tätigkeit bedingte fortwährende Bewegung
der Lunge und die daraus resultierende
Reibung derselben unterhalten eine be¬
ständige Reizung und einen vermehrten
Blutandrang um die Tuberkel herum; die
Folge davon ist deren Wachstum und deren
fortschreitende Entwicklung. Umgekehrt
fehlt beim Pneumothorax der Einfluß dieser
Ursachen, da die Lunge in fast vollkommener
Ruhe und in einem Zustande verhältnis¬
mäßiger Anämie der Wirbelsäule anliegt."
Der hier wiedergegebene Abschnitt läßt
zweierlei Folgerungen zu: erstens, daß
wahrscheinlich der von Carson vor¬
geschlagene Pneumothorax nicht geschlossen
und nicht unter Druck ist, wie es conditio
sine qua non für den modernen Pneumo¬
thorax ist, sondern ein offener Pneumo¬
thorax ist. ln der Tat sagt R am ad ge —
nach Parola — daß die beste Art, „die
Unbeweglichkeit der Lunge zu erreichen,
die Eröffnung der Thoraxwand und die
Verbindung des Krankheitsherdes mit der
Außenluft darstelle." . . . „Aehnliche Ueber-
legungen", fährt Dr. Parola fort, „waren
schon von Dr. Carson in Liverpool aus¬
gegangen, welcher „seine Punktion für die
Fälle von Schwindsucht vorschlug, damit
die Lunge von der Außenluft zusammen¬
gedrückt," usw.; und weiter vorn: „solcher¬
lei Betrachtungen werden bekräftigt durch
die Tatsachen" und hauptsächlich durch
den Fall von Houghton, „der anderthalb
Jahre lang nach der Anlegung der Fistel
am Leben blieb." — Uebrigens schreibt
auch Canstatt (zit. nach Dr. Daus) Carson
den Gedanken der „Eröffnung der Pleura"
(„durch Eröffnung einer Seite der Pleura")
zu — und Wunderlich spricht „von der
Carsonschen Methode der Eröffnung des
Thorax.“
Die andere Folgerung ist die, daß der
Vorschlag von Carson wohl niemals tat¬
sächlich ausgeführt worden ist, oder nur
in Form eines vereinzelten Versuches, aber
nie als methodisch durchgeführte Praxis.
Es muß in der Tat auffallen, daß, während
Parola im Kapitel über die Thorakozentese
des weiten und breiten mit vielen Details
die einzelnen Fälle von Entleerungen von
inneren Eiteransammlungen des Thorax
(ohne Unterschied zwischen pleuralen und
pulmonalen) wiedergibt, er für die Carson -
sehe Operation nur eine kurze Andeutung
übrig hat und sie erklärt als „Betrachtungen
ähnlich jenen von Ramadge", welche ihn
„mit der Beihilfe von einigen Beobachtungen
am Menschen und von Tierversuchen" dazu
brachten, „seine Punktion der Pleura vor¬
zuschlagen", — „Betrachtungen", so fährt
Parola fort, „welche bekräftigt werden
durch die Tatsachen und durch die Be¬
obachtungen des Dr. Houghton". Bei dem
Interesse und der Wichtigkeit des Gegen¬
standes ist anzunehmen, daß Parola mehr
und klarer davon gesprochen hätte, wenn
er es eben gekonnt hätte. Wer möchte
übrigens glauben, daß zur Zeit von Carson,
vor der Listerschen Epoche jemand es
gewagt hätte einen chirurgischen Pneumo¬
thorax therapeutisch anzulegen, bei der
großen Gefahr des Fluktuierens des Media¬
stinums und der unvermeidlichen Gefahr
der Infektion der Pleura? oder wenn er
in Form eines einzelnen Versuches aus-
geführt worden wäre, das Ergebnis nicht
derart gewesen wäre, um gründlich vor
einer Wiederholung desselben abzu¬
schrecken?
* *
*
Nachdem im vorhergehenden die aus
der Literatur geschöpften Beweisgründe
dargelegt worden sind, ist es nun not¬
wendig zu prüfen, ob man es hier wirklich
mit einer eigentlichen Prioritätsfrage zu
tun hat, davon ausgehend, daß die Grund¬
lage einer solchen Streitfrage die Identität
des therapeutischen Gedankens der beiden
Vorschläge sein müsse.
Kein Zweifel, daß, wenn Carson 1843,
ich 1882 und Murphy 1898, jeder ohne
Kenntnis des anderen, den identischen
therapeutischen Gedanken gehabt hätten,
der erste Prioritätsanspruch hätte Carson
zuerkannt werden müssen; eine zweite
Priorität würde mir zukommen, nachdem
fast für ein halbes Jahrhundert jede Er¬
innerung an Carsons Vorschlag verloren
gegangen war; und eine dritte Priorität
müßte Murphy zukommen, sofern er —
wie ich annehme — von meinem Vorschlag
keine Kenntnis hatte, wiewohl derselbe auf
einem internationalen Kongreß mitgeteilt
und gleich darauf in einer verbreiteten
Zeitschrift, der Münchener medizinischen
Wochenschrift, veröffentlicht worden war.
Nun, ich zögere nicht zu behaupten,
daß dem nicht so ist; zwischen dem thera¬
peutischen Gedanken von Carson und
jenem von Murphy besteht tatsächlich eine
gewisse Analogie, aber der meinige ist
davon grundsätzlich verschieden. Der
chirurgische Akt des Pneumothorax, der
allen drei gemeinsam ist, stellt nur einen,
nicht einmal wesentlichen Berührungspunkt
vor, oder vielmehr nur eine äußerliche
26
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UNIVERSiTY OF CALIFORNIA
202
Die Therapie der Gegenwart 1910.
Mai
Aehnlichkeit des Ausführungsmittels, die
den wesentlichen Unterschied zwischen dem
erläuternden Begriff der Methode und der
Methode selbst in keiner Weise verringert.
Daher ist es mir nicht möglich, hier eine
Prioritätsfrage zu entdecken; nach meiner
Ansicht sind die Vorschläge von Car so n
und Murphy und der meinige wesentlich
verschieden, und es besteht unter denselben
nur eine rein äußerliche Aehnlichkeit.
Ich bezwecke nun, diesen Unterschied
darzulegen und zu veranschaulichen, nicht
etwa um eine Priorität festzustellen, die an
sich wertlos und für den Leser ohne Inter¬
esse ist, sondern weil ich es für natürlich
erachte und es mein Wunsch ist, den er¬
läuternden Begriff und die Natur meines
Vorschlages recht deutlich darzustellen,
wozu ich durch zwei Beweggründe ge¬
trieben werde: — erstens, weil, wie ich
schon 1882 sagte: mein Vorschlag von
einer Reihe von Gedanken über die Natur
des phthisiogenen Prozesses sich herleitet,
die mir eigen und vollständig neu sind;
diese Gedanken haben, nach meinem Dafür¬
halten, eine noch größere Bedeutung für
die Pathologie als sie die Methode selbst
für die Therapie besitzt; — und zweitens
weil es nur mit einem nach diesem Ge¬
danken aufgebauten Technizismus möglich
ist, den ganzen Erfolg, den die Methode
gestattet, zu erreichen, und die Unan¬
nehmlichkeiten und die Gefahren, die ihr
anhängen, zu vermeiden.
* *
*
Die Heilung der Phthise durch den
Pneumothorax ist notwendigerweise das
Ergebnis von zwei getrennten Vorgängen:
der eine ist die Aufhaltung des der Krank¬
heit zugrunde liegenden Prozesses, des
Zerstörungsprozesses, — der andere die
Vernarbung der schon eingetretenen Zer¬
störungswerke, der Höhlenbildungen. Der
eine wie der andere sind ebenso unent¬
behrlich, um eine vollkommene Heilung zu
erreichen. Nehmen wir beispielsweise und
in Form einer rein abstrakten Hypothese
an, daß der Pneumothorax nur den Zer¬
störungsprozeß zum Stillstand bringen
würde, die schon eingetretenen Zerstörungen
aber weiterbestehen ließe, so würde daraus
nicht eine Heilung, sondern nur eine Ver¬
änderung der anatomischen und klinischen
Form des Prozesses folgen; die fort¬
schreitende Zerstörung der Lunge wäre
wohl aufgehalten und unterdrückt, aber die
schon erfolgten Zerstörungen würden immer
fortbestehen, die Kavernen unaufhörlich
weiter Eiter bilden; ein Krankheitszustand
also, in seinen Wirkungen analog jenem
der Bronchiektasien, an sich schon schwer
und genügend, um zum Exitus letalis zu
führen. Ebenso, den umgekehrten Fall
angenommen, daß ein Pneumothorax die
Kavernen zur Vernarbung bringen würde,
aber den Zerstörungsprozeß weiterbestehen
ließe, würden die schon erfolgten Zer¬
störungen und die unaufhörlich frisch ent¬
stehenden vernarben, aber der stets tätige
Zerstörungsprozeß würde nach und nach
im verbleibenden Parenchym immer weiter
um sich greifen, um es schließlich ganz zu
vernichten: — Endresultat also: Umwand¬
lung des ganzen Organs in eine narbige
Masse, das ist seine gänzliche Aufhebung.
Es sind dies zwei reine Hypothesen, denen,
besonders was die zweite anbetrifft, in der
Wirklichkeit nichts entspricht; aber sie
deuten uns an, auf welche Weise die
Heilung der Phthise vor sich gehen muß,
um wirklich eine vollständige zu sein.
Nun heilt auch der nach bestimmten
Regeln und in einer gegebenen Form er¬
zeugte Pneumothorax die Phthise im
ganzen: den Zerstörungsprozeß wie die
schon erfolgten Zerstörungen, — wofür
man nunmehr hinreichende anatomische
und klinische Beweise besitzt Daraus läßt
sich schließen, daß seine Wirkung eine
zusammengesetzte ist und aus zwei ge¬
trennten Einzelwirkungen hervorgeht: eine,
welche die Kavernen zur Vernarbung
führt — eine andere, welche den Zer¬
störungsprozeß verhindert und zum Still¬
stand bringt.
Welches ist nun der Mechanismus einer
jeden dieser zwei Wirkungen? Deijenige
von der Vernarbung der Kavernen ist
selbstverständlich: der Pneumothorax löst
die Lunge von der Brustwand ab, drückt
sie zusammen, bringt die Höhle der
Kavernen zum Schwinden, entleert sie und
erhält sie leer, bringt und erhält ihre
Wandungen in direkte Berührung und be¬
wirkt dadurch ihre endgültige Verklebung:
derselbe Mechanismus also, wonach jeder
andere Substanz vertust vernarbt. 1 ) Für
die noch in Bildung begriffenen Kavernen,
das heißt für die großen, noch nicht er¬
weichten und daher noch nicht entfern¬
baren Käseherde, ist der Mechanismus,
1 ) Nach den allgemeinen Anschauungen sollte es
als sehr unwahrscheinlich erscheinen, dafi bei Sub¬
stanzdefekten tuberkulöser Natur der fortdauernde
Kontakt der Wände genüge, um deren dauernde
Vereinigung zu erreichen: welch* andere tuberkulöse
Kontinuitätstrennung heilt denn durch einfaches An¬
einanderlegen von deren Wänden oder Rändern?
Dieser Zweifel wird aber hinfällig, wenn man, wie
ich es tue, der tuberkulösen Neubildung in diesem
Prozesse nur einen nebensächlichen Anteil zuschreibt.
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Original fram
UNIVERSITY 0F CALIFORNIA
Mai
Die Therapie der Gegenwart 1910.
203
wenn auch nicht in der Form, so doch im
Resultat derselbe; der komprimierte Käse¬
haufen wird verkleinert ausgepreßt und
durch eine narbige Bindegewebsneubildung
eingehallt und sequestriert und der Rest
verfällt schließlich der Kalkdegeneration.
(In dieser selben Arbeit werde ich ein
schönes Beispiel davon mitteilen.)
Und welches ist der Mechanismus der
zweiten Wirkung des Pneumothorax, des
Auftretens des Zerstörungsprozesses? Hier
liegt der Hauptpunkt in dieser Frage, denn
von den zwei Wirkungen des Pneumo¬
thorax ist diese allein die eigentlich wesent¬
liche, wie ja beim phthisischen Prozeß der
erste und wesentlichste Faktor der Zer¬
störungsprozeß ist; hier müssen daher der
Carsonsche Gedanke, der von Murphy
und der meinige geprüft werden.
Was Carson anbetrifft, so zeigen die
wenigen Mitteilungen, die wir über ihn
haben, übereinstimmend, daß er sich dies¬
bezüglich gar keinen Gedanken gebildet
hatte.
Daus schreibt: „Aus den obigen Zitaten
geht indes hervor, daß die Anwendung
der Kompression seitens der alten Aerzte
weniger den Motiven einer absoluten
Ruhigstellung der Lunge entsprungen zu
sein scheint. Man dachte sich die Heilung der
Lungenkavernen analog der der äußerlichen
Geschwüre: Annähern der Wundränder,
damit bedingtes Verkleinern der Wund¬
flächen usw., so etwa, wie man den £rfolg
von Heftpflasterstreifen bei Beingeschwüren
sah.* Und Parola: „Die Eröffnung der
Thoraxwand und die Verbindung des
Krankheitsherdes mit der Außenluft be¬
wirken diese Unbeweglichkeit (der Lunge)
durch eine Zusammenziehung der darüber
liegenden Wandpartien; was zur Folge
hat, daß der Respirationsakt aufgehoben
wird ... .; Dr. Carson, davon ausgehend,
daß die Lungen fortwährend zu einem Zu¬
stand der Dilatation und zu einem solchen
der Zusammenziehung gezwungen werden,
schrieb diesem Umstand die Schwierigkeit
der Vernarbung der Lungenkavernen zu."
Dr. Carson hat also nur die Vernar¬
bung der Kavernen erstrebt, nicht die Be¬
handlung des Zerstörungsprozesses selbst,
folglich nicht die Heilung der Schwind¬
sucht. Wenn er wirklich einen derartigen
öperativen Eingriff gewagt hat, so könnte
er allerhöchstens als ein Vorläufer jener
Aerzte angesehen werden, die später eine
Behandlung der Kavernen begründeten
(Quincke, Bier, Turban, Länderer,
K. Spengler) durch Mobilisierung des
Thoraxanteils ihrer Wandung, oder durch
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Erzeugung einer Zusamraenziehung des
Thorax über der Kaverne durch Entfernung
einer oder mehrerer Rippenstücke: aber
er ist nicht ein Vorläufer jener, die außer
nach Heilung der Kavernen auch und
zwar vor allem nach Heilung des der
Schwindsuchtzugrunde liegenden Prozesses,
des Zerstörungsprozesses, trachten.
Murphys Gedanke erscheint voll¬
kommener. Er schreibt dem Pneumo¬
thorax die Vernarbung der Kavernen
durch Berührung ihrer Wände infolge
Kompression der Lunge sowie gleichzeitig
eine günstige, heilende Wirkung auf den
Grundprozeß zu; der Mechanismus dieser
letzteren beruhe auf der Ruhe des Organs.
Murphy, als Chirurg, stellt durch ein
Pneumothorax die phthisische Lunge, um
sie zu heilen, in Ruhe, ebenso wie er ein
tuberkulöses Gelenk durch einen Apparat
immobilisiert und ruhigstellt. Murphy
drückt sich aber nicht ganz klar aus; er
behauptet nicht grundsätzlich, daß die
Ruhe den Zerstörungsprozeß aufhalte;
aber da tatsächlich dies der Fall ist, so
muß, wer seinem Gedankengang zustimmt,
sich fragen, durch welchen Mechanismus
die Ruhe einen so großen Erfolg erziele,
und zuvor noch, was man in diesem Falle
unter Ruhe verstehen müsse. Das oben
angeführte Beispiel von der Gelenktuber¬
kulose scheint mir nicht scharf genug.
Man begreift leicht, wie das Aufeinander¬
reihen kranker Gelenkflächen unter Druck,
insofern es ein Trauma darstellt und eine
mechanische Reizung bewirkt, die Reizungs¬
vorgänge im Gelenk unterhält und ver¬
stärkt, die Reparationsvorgänge aber stört
und hintanhält; und daß infolgedessen die
Aufhebung derselben die Heilung begün¬
stigt oder zum mindesten ermöglicht. Aber
welche nur entfernte Analogie besteht
zwischen dem Aufeinanderreiben unter
Druck von kranken Gelenkflächen und der
feinen Bewegung des Lungenparenchyms
bei der Atmung? Dr. Hougthon hat sich,
nach dem Zitate von Parola, in ähnlichem
Sinne ausgedrückt: „Die beständige Be¬
wegung der Lunge und die Reibung der
Luft bei der Atmungstätigkeit unterhalten
fortwährend eine Reizung und einen
stärkeren Blutandrang in der Umgebung
der Tuberkel: daher deren Wachstum und
fortschreitende Entwicklung; umgekehrt
feilt beim Pneumothorax der Einfluß dieser
Momente weg, weil die Lunge in fast voll¬
ständiger Ruhe und im Zustande einer
entsprechenden Anämie der Wirbelsäule
anliegt.* Aber wie sollte man sich denken,
daß diese, obendrein hypothetische,
26 *
Original from
UNIVER5ITY OF CALIFORNIA
204
Die Therapie der Gegenwart 1910.
Mai
Hougthonsche Hyperämie und Reizung
durch die Luftreibung genügen sollten, um
den phthisischen Prozeß qualitativ und
quantitativ so zu unterhalten, daß es ge¬
nagte, sie auszuschalten, um die Heilung
zu erzielen?
Der Ausdruck „Ruhe*, der im gewöhn¬
lichen Sprachgebrauch eine so klare und’ein-
deutige Bedeutung hat, wird somit in dem uns
beschäftigenden speziellen Falle vag und un¬
genau und gibt nicht Rechenschaft — mag
er mit der Bedeutung der Ausschaltung von
mechanischen Reizungsmomenten oder mit
jener von Arbeitsersparnis des Organs ge¬
braucht werden — über die beachtenswerte,
ich möchte sogar sagen, überraschende
Tatsache, daß die mit dem Pneumothorax
erlangte „Ruhe“ der Lunge die Schwind¬
sucht heile 1 ).
Ich kann hier nicht umhin, zu bemerken,
daß im allgemeinen die Auslegung von
Murphy nicht als genügend angesehen
wird; daß viele von denen, die sich mit
diesem Gegenstand beschäftigt haben, die
Notwendigkeit empfunden haben, ihn zu
erklären, und andere Hypothesen vorge¬
bracht haben, und daß diese nicht nur von
jenen von Murphy, sondern auch unter¬
einander sehr verschieden und sogar direkt
einander entgegengesetzt sind 3 ).
l ) Aus der Ruhigstellung der Lunge ergeben sich
zwei Tatsachen, die mächtig zu deren Heilung bei-
tragen, ohne trotzdem die bestimmenden Ursachen da¬
für zu sein. Welches auch immer die Eingangspforte
in die Lunge für die ursprünglichen Erreger der
Schwindsucht ist, so erfolgt die weitere Ausbreitung des
Prozesses vorwiegend auf dem Luftweg. Ein Teil des
auszuwerfenden septischen Materials wird leicht auf
seinem Wege nach außen durch die Atembewegungen
in die tieferen Luftwege aspiriert, was die Bildung
immer neuer Herde zur Folge hat. Die Ruhig¬
stellung der Lunge unterdrückt diese, wenn nicht
einzige, so doch gewiß vorwiegende Ursache der
fortwährenden Ausbreitung des Prozesses.
Gleichzeitig mit der Lunge immobilisiert der
Pneumothorax auch das septische Material in den
Luftwegen; dessen fortwährende Erneuerung auf den
Resorptionsflächen wird dadurch vermindert und
schließlich ganz aufgehoben und letztere werden auf
ein Minimum ihrer Ausdehnung reduziert; womit die
Resorption von toxischen Substanzen bedeutend ver¬
ringert wird. Der Fieberabfall und die subjektive
Besserung, die man vom ersten Beginn der Behand¬
lung als eine der konstantesten Erscheinungen beob¬
achtet, und die daher nicht dem anatomischen Hei¬
lungsprozeß zugeschrieben werden kann, ist wahr¬
scheinlich die Folge der starken Einschränkung der
Resorption toxischer Substanzen und muß ohne
Zweifel in großem Maße, wenn auch indirekt, zur
Heilung beitragen. Aber ich wiederhole, diese beiden
Tatsachen, die Beschränkung der Ausdehnung des
Prozesses auf dem Luftwege und die Verringerung
der toxischen Resorption, genügen nicht, um für sich
allein die Heilung der Phthise mit dem Pneumothorax
zu erklären.
*) Nach Toussaint soll der Pneumothorax
durch die Kompression eine Anämie der Lunge be-
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Ich habe meinen Vorschlag des künst»
liehen Pneumothorax im Jahre 1882 1 ) ge¬
macht — zunächst nur theoretisch und erst
einige Jahre später ihn in die Tat umge¬
setzt —, indem ich von einem wohl defi¬
nierten theoretischen und aprioristischen
Grundgedanken ausging und ausschließlich
dazu geführt wurde durch Beobachten und
Abwägen der mechanischen Bedingungen,
welche sich für die Lunge ergeben aus der
wirken und die entzündliche Hyperämie in den Bron¬
chen und Lungen zum Schwinden bringen. Auch
nach Stokes (zitiert nach Daus) soll die günstige
Wirkung des Pneumothorax von der durck die Kom¬
pression erzeugten Obliteration der Pulmonalgefäße
herrühren. Nach Adams hebt der Pneumothorax in
der gleichen Weise den venösen Lungenkreislauf auf,
der die entzündlichen Prozesse begünstigt, und läßt
nur den ernährenden Kreislauf der Bronchialarterien
fortbestehen. Im Gegensatz hierzu soll nach Sackur
und Sauerbruch (zitiert nach Lenormand und
Lew) der Pneumothorax die Zirkulation übermäßig
steigern und so eine venöse Hyperämie nach Bier
erzeugen, die die Gewebe in ihrem Kampf gegen den
Bazillus unterstützt. Lemke stellt die Hypothese
einer Verlangsamung der Blut- und Lymphzirkulation
auf, was eine verminderte Resorption der Toxine zur
Folge hätte. Entsprechend drücken sich Brauer,
Beneke, Graetz aus, nachdem Shingu experi¬
mentell die Verlangsamung der Lymphzirkulation nach¬
gewiesen hatte. Nach Späth ist die Wirkung des
Pneumothorax eine kompliziertere: sie leitet sich her
von der Aufhebung der Bewegung und der Dehnung
des Lungengewebes bei der Atmung, aus der Ver¬
langsamung der Lymphzirkulation, aus der arteriellen
Ischämie und der daraus resultierenden geringeren
Sauerstoffzufuhr, wodurch die Lebensbedingungen für
den Bazillus und die übrigen Keime verändert wer¬
den, aus der Obliteration der Bronchialwege durch
Kompression von außen und durch Sekretstauung,
wodurch die Aspiration von Bazillen in entfernte ge¬
sunde Lungenpartien verhindert und jede weitere
Ausbreitung des Prozesses aufgehoben wird. Daus
endlich, gestützt auf die bekannten Untersuchungen
von Auclair, wirft die Hypothese auf, daß der
Pneumothorax die mit Aether extrahierbaren kaseo-
genen Toxine einschränkt und die mit Chloroform
extrahierbaren sklerogenen dagegen begünstigt.
Beiläufig bemerkt, läßt sich ohne Schwierigkeit
einwenden, daß von diesen Deutungen jene von
Daus, von der antikaseogenen Wirkung des Pneumo¬
thorax, vollständig auf Hypothese beruht, daß ebenso
hypothetisch sind jene der ischämisierenden und kon-
gestionierenden Wirkung, da wir ja noch in Un¬
kenntnis sind Ober den Zustand des Lungenkreislaufs
beim Pneumothorax, und daß die andern, obschon-
sie eine reelle Grundlage besitzen, wohl eine über¬
zeugende Erklärung für die Besserung des Schwind¬
süchtigen, aber gar keine für den Stillstand des Zer¬
störungsprozesses geben. Alle zusammen aber (mit
Ausnahme jener vagen und ungenügenden von
Murphy) erscheinen und sind viel eher gesuchte Er¬
klärungen für eine dunkle, aber unleugbare Tatsache,
das ist die günstige Wirkung des Pneumothorax und
der Pleuraergüsse auf den Verlauf der Schwindsucht,
als für die aprioristischen Grundgedanken, welche
zum Vorschläge des therapeutischen Pneumothorax
geführt haben.
*) C. Forlanini, Beitrag zur Behandlung der
Phthise. — Abtragung der Lunge? — Künstlicher
Pneumothorax? (Gazetta degli Ospedali, Milano 1882,
Aug.-Nov.)
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UN1VERSITY OF CALIFORNIA
Hai
Die Therapie der Gegenwart 1910.
205
Ansammlung in derselben der anatomischen
Produkte der verschiedenen sie befallenden
infektiösen Prozesse 1 ).
In meiner Arbeit vom Jahre 1882 habe
ich die allgemeinen Züge dieses Grund-
gedankens dargelegt. Diesen selben Ge¬
danken habe ich dann, in drei kurze, notwen¬
digerweise schematische Sätze zusammen-
gefaßt, in meiner neulichen Arbeit in dieser
Zeitschrift wiederholt 2 ). Ich führe sie mit
einigen Erläuterungen hier nochmals an:
1. Satz. Die infektiösen Prozesse der
Phthise äußern sich anfänglich — mit Aus¬
nahme vielleicht des primitiven Tuberkel -
knötchens, dem ich übrigens keine wesent¬
liche Bedeutung zuzuschreiben vermag —
in der Form und mit den anatomischen
Produkten der „Entzündung“, die, un¬
wesentliche Unterschiede ausgenommen,
jenen der anderen Organe und Gewebe
analog sind: flüssige Exsudate mit koagu¬
lierenden Substanzen, Leukozyteninfiltra¬
tion, Proliferation der fixen Zellen und
ganz besonders vorwiegend des Alveolar¬
epithels. Diese Produkte und — was von
grundsätzlicher Bedeutung ist — das sie
beherbergende Lungengewebe verfallen
dann sekundär in käsige Degeneration, zu
einer einzigen Masse zusammenschmelzend,
welche durch die sich anschließende Re-
*) Bis zu jenem Zeitpunkt (1882) hatte ich noch
nicht Gelegenheit gehabt, persönlich den Einfluß des
spontanen Pneumothorax auf den Verlauf der Schwind¬
sucht zu konstatieren; aber ich kannte die von
Meusnier und H^rard veröffentlichten Fälle, so¬
wie die von Toussaint in seiner These de Paris
1880 zusammengestellten 24 Fälle verschiedener an¬
derer Beobachter. Da nun diese, Fälle meine theo¬
retische Behauptung bekräftigen, so erwähnte ich sie
in meiner Arbeit — als Hilfsbeweise —, indem ich
freilich die Toussaintsche Erklärung zurQckwies
und vor allem auf den Unterschied aufmerksam
machte zwischen dieser Erklärung und dem theoreti¬
schen und aprioristischen Gedanken, mit welchem ich
meinen Vorschlag des kQnstlichen Pneumothorax be¬
gründete. Ich schrieb damals (S. 666): „Für mich
können die Tatsachen von Toussaint ohne weiteres
angenommen werden und bedflrfen nicht der klini¬
schen Dokumente von Hörard, Meusnier und
Toussaint, um geglaubt zu werden* — und weiter
unten, nachdem ich die allgemeinen Züge meines Ge¬
dankens dargelegt hatte, fügte ich hinzu (S. 667): * So wer¬
den die Fälle vonToussaint, Herard und Meusnier
für mich ohne weiteres verständlich: in der durch
den Pneumothorax ruhiggestellten Lunge muß der
phthisiogene Prozeß erlöschen. Und so läßt mich
die volle Uebereinstimmung zwischen dem, was ich
meine Anschauungsweise der Phthise nennen will
und wozu ich mit aprioristischen Begründungen ge¬
langte, und den klinischen Tatsachen von Toussaint,
Htrard und Meusnier, die ich später kennen
lernte, den Vorschlag, den Pneumothorax künstlich
bei Phthisikern zu erzeugen, verständlich erscheinen.*
*) C. Forlanini, Die Indikationen und die
Technik des künstlichen Pneumothorax bei der
Behandlung der Lungenschwindsucht. (Ther. d.
Gegenw. Nov.-Dez. 1908.)
Sorption oder Ausstoßung des verkästen
Materials die für die Phthise charakteristische
besondere Zerstörungsform des Lungen¬
parenchyms einleitet und das darstellt, was
ich mit dem Ausdruck „destruktiver Pro¬
zeß“ bezeichnen will.
Ohne bestreiten zu wollen, daß bio¬
chemische Eigenschaften der Infektions¬
keime und ihrer Produkte und des neu¬
gebildeten anatomischen Materials einen
Anteil bei der käsigen Degeneration des
letzteren und des dasselbe einschließenden
Lungengewebes hafipn, behaupte ich nun,
daß dieser Anteil nur nebensächlich und
nicht notwendig ist, und daß der haupt¬
sächliche, notwendige und für sich allein
hinreichende Grund für diese Erscheinung
in der einzigen Bewegung von Ausdehnung
und Zusammenziehung besteht, die die
kompromittierte Organpartie infolge der
Atmungstätigkeit beständig auszuführen
gezwungen ist: eine Behauptung, welche
selbstverständlich und notwendig zur
Schlußfolgerung führt, daß die Unter¬
drückung der respiratorischen Bewegung,
wie sie auch erreicht werden mag, den
Zerstörungsprozeß der Schwindsucht
aufhebt.
2. Satz. — Die respiratorischen Be¬
wegungen der Lunge üben auch einen vor¬
bereitenden Einfluß aus auf das Feld —
wenn ich mich so ausdrücken darf — und
das Material für den zukünftigen Zer¬
störungsprozeß; er kommt durch diesen
zweiten und durch den dritten Satz zum
Ausdruck:
Die Zunahme der Intensität der respi¬
ratorischen Bewegungen setzt etwelchen
Widerstand der Entwicklung und vielleicht
auch der Ausbreitung der vorbereitenden
Prozesse der Phthise entgegen; unter be¬
stimmten Umständen und innerhalb gewisser
Grenzen kann dieser Einfluß therapeutisch
verwertet werden. Wie wir später sehen
werden, ist dies bei der Pneumothorax¬
behandlung der Fall.
3. Satz. — Die Herabsetzung der Inten¬
sität der respiratorischen Bewegungen be¬
günstigt die Entwicklung der den Zer¬
störungsprozeß vorbereitenden Prozesse, be¬
günstigt also die Entwicklung der Phthise.
Bei der Pneumothoraxbehandlung ist es
unerläßlich, auf diesen dritten Satz ganz
besonders Rücksicht zu nehmen.
Es wäre nun hier am Platze, den Me¬
chanismus darzulegen, wodurch die Be¬
wegung der Lunge zur käsigen Degene¬
ration ihres Parenchyms und des in ihm
angesammelten Materials der infektiösen
Prozesse führt; aber ich behalte mir diese
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206
Mai
Die Therapie der Gegenwart 1910.
Darlegung, welche für die klinische Aus¬
führung des Pneumothorax nicht notwendig
ist, für eine passendere Gelegenheit vor.
An dieser Stelle ist hingegen eine klinische
Illustration der drei Sätze zweckent¬
sprechender und für den Augenblick auch j
genügend. Alle drei haben bei der Be- |
handlung mit dem Pneumothorax An- |
Wendung gefunden: die erstere immer, weil !
sie die Grundlage bildet, die zwei andern |
nur in bestimmten Fällen und unter be¬
stimmten Bedingungen; und die Erfolge
sind in allen drei Fällen der theoretischen
Annahme entsprechend ausgefallen und er¬
langen daher fast den Charakter eines ex- !
perimentellen Beweises. 1
* *
#
Hinsichtlich des ersten Satzes könnte
der Erfolg selbst der Behandlung, der nie
ausbleibt, wenn die gewünschten Bedin¬
gungen, das ist die vollkommene und an¬
dauernde Ruhigstellung der Lunge, tat¬
sächlich erreicht werden, für sich allein
genügen, um — jedem, der wie ich die
andern vorgebrachten Erklärungen nicht
für ausreichend hält — zu zeigen, wie wohl
begründet meine Anschauungen sind.
Derselbe Beweis wird nun aber auch
auf anderem Wege erbracht. Der genannte
Satz hat diesen selbstverständlichen Folge¬
satz: wenn die Bewegung der Lunge die
wesentliche und unerläßliche Bedingung
für den phthisiogenen Prozeß ist, so muß
deren Ruhigstellung nicht nur die schon
vorhandene Phthise aufhalten, sondern
auch verhindern, daß sie sich in einer ge¬
sunden Lunge entwickelt, wenn auch alle
andern Bedingungen dazu vorhanden wären;
ein Gedanke, der mit größerer Klarheit
noch so sich ausdrücken ließe, daß, wenn
die Lunge — nach einer absurden Hypo¬
these — ein unbewegliches Organ wäre,
sie nicht phthisisch werden könnte.
(Schlufi folgt im nächsten Heft.)
Ans der IL inneren Abteilung des Städtischen Krankenhauses Moabit zu Berlin.
(Dirigierender Arzt: Professor Dr. Zinn.)
(Jeber die Anwendung des Pantopon (Sahli).
Von Dr. Julias Hallervordsn.
Das Pantopon, welches Sahli in die
Therapie eingeführt hat (Therap. Monatsh.
1909, Jan.), ist ein wasserlösliches Opium¬
präparat, in welchem sämtliche Alkaloide
des Opiums an Chlor gebunden enthalten
sind. Es wird von der Firma HofFmann—
La Roche & Co. in den Handel gebracht
in Form von Tabletten zu 0,01, in 2°/oiger
Lösung, als Pulver zur Herstellung von
Lösungen, sowie steril in Ampullen von
1,1 ccm (*= 0,02) zur subkutanen Injektion.
Ein besonderer Vorzug ist die leichte Ste-
rilisierbarkeit der Lösung — sie kann ohne
chemische Veränderung gekocht werden —
und uie schnelle Wirkung. Sahli gibt das
Pantopon als Beruhigungsmittel mit den¬
selben Indikationen wie Morphium und
Opium. Da bisher wenig Berichte über
die Wirkung des neuen Mittels vorliegen 1 ),
haben wir eine Reihe von Versuchen da¬
mit angestellt, welche die von Sahli ge¬
hegten Erwartungen durchaus bestätigen.
Wir führen einige Ergebnisse an:
Sehr geeignet erwies sich das Pantopon
bei schwerer Darmtuberkulose, bei welcher
die starken Diarrhöen und Schmerzen nicht
genügend durch die üblichen Mittel be-
f ) Rodari, Experimentell - biologische Unter¬
suchungen Ober das Pantopon; Therap. Monatsh. |
1909, Oktober, und Heimann, Klinische Beobach¬
tungen Ober die Wirkung des Pantopon; Mönch, med.
Wochenschr. 1910, No. 7.
kämpft werden konnten. Wurde morgens
und abends 1 Pravazspritze (= 0,02) Pan¬
topon gegeben, so genügte dies nicht nur,
um die Durchfälle zu beseitigen oder doch
auf ein Minimum herabzusetzen, sondern
auch die Hustenbeschwerden ließen nach,
und es trat eine allgemeine Beruhigung
ein, so daß von allen anderen Mitteln ab¬
gesehen werden konnte. In einem Falle
schwerster Lungenphthise mit Amyloid der
Nieren, starken Oedemen und lebhaften
subjektiven Beschwerden genügten 2 mal
0,02 g Pantopon in 24 Stunden, um den
Patienten 2 Wochen lang (bis zum Tode)
vollkommen beschwerdefrei zu erhalten.
Auch innerlich wurde in leichteren Fällen
von Darmtuberkulose das Präparat in Ta¬
bletten verabfolgt, die sehr gern genommen
wurden; doch konnte in den wenigen Fällen,
wo es gegeben wurde, ein Vorzug vor der
gewöhnlichen Form der Darreichung des
Opiums als Tinct. op. spl. nicht konstatiert
werden.
Als allgemeines Beruhigungsmittel be¬
sitzt es durchaus die von Sahli hervor¬
gehobenen Vorteile vor dem Morphium.
Bei einem Tabiker mit sehr lebhaften lan-
zinierenden Schmerzen mußte schließlich
zu Morphium gegriffen werden, da durch
Antipyretika und alle anderen üblichen
Maßnahmen eine Linderung der Beschwer¬
den nicht mehr herbeizuführen war. Aber
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Mai
Die Therapie der Gegenwart 1910.
207
der Patient vertrug das Morphium schlecht, er
bekam danach Uebelkeit und Unruhegefühl.
Hier konnte durch Pantopon Hilfe ge¬
bracht werden. Es genügten wieder 2 x 0,02g
subkutan, um 24 Stunden hindurch den
Kranken in einem fast schmerzfreien und
vor allem ruhigen Zustande zu halten.
Wurde ihm ohne sein Wissen wieder
Morphium gegeben, so stellte sich gleich
das alte Unbehagen wieder ein. Zwar
nahm das Morphium die Schmerzen auch,
aber das Pantopon wirkte länger und inten¬
siver auf das psychische Verhalten, der Pat.
fohlte sich wohler und ruhiger und schlief
besser und länger, ganz abgesehen da¬
von, daß unbequeme Nebenwirkungen
fehlten. Bei einem schweren Phthisiker
mit chronischer Hämoptöe, Herzleiden
und Nephritis versagten alle Narkotika:
nach der ersten Morphiuminjektion bekam
er leichte Vergiftungserscheinungen, nach
Skopolamin Halluzinationen und Erethis¬
mus. Patient war mehrere Nächte schlaf-
os, unruhig, aufgeregt und gereizt. Nach
0,02 g Pantopon wurde er ruhig und ver¬
fiel in tiefen Schlaf. Jetzt gelingt es seit
2 Wochen, durch täglich 2 Spritzen den
sehr empfindlichen Kranken euphorisch zu
erhalten. —
Von der subkutanen Anwendung wurden
Nachteile nie beobachtet; die auch nach
längerem Aufbewahren stets klaren Lösun¬
gen verursachten keine lokale Reizwirkung.
Unangenehme Allgemeinerscheinungen sind
auch bei wiederholter Anwendung nicht
beobachtet worden, außer etwa Kopf¬
schmerzen bei der leicht entstehenden Ob¬
stipation, welcher bei einiger Aufmerksam¬
keit unschwer entgegengewirkt werden kann.
Das Pantopon bedeutet nach den bis¬
herigen Erfahrungen demnach im Gegen¬
satz zu vielen Eintagserzeugnissen mancher
chemischen Industrien einen wirklichen Fort¬
schritt für unsere Therapie. Es verdient
eine ausgedehnte Anwendung in der inne¬
ren Praxis. Namentlich aber dürfte es sich
auch zu Opiumkuren bei Geistes-und Nerven¬
kranken empfehlen.
Bücherbesprech ungen.
Hans H. Meyer und R. Gottlieb, Die ex¬
perimentelle Pharmakologie als
Grundlage der Arzneibehandlung.
Für Studierende und Aerzte. Mit 61 Text¬
illustrationen und 1 farbigen Tafel. Berlin
und Wien 1910 Urban & Schwarzen¬
berg. 483 S. 12,00 M., geb. 13,50 M.
Das Erscheinen des vorliegenden Buches
ist für die wissenschaftliche Pharmakologie
und damit für die experimentelle Medizin
ein Ereignis von nicht geringer Bedeutung.
Im Gegensatz zu den bisherigen Lehr¬
büchern der wissenschaftlichen und prakti¬
schen Arzneimittellehre wird der Stoff
nach einem gewissermaßen natürlichen
System, nach den Organen und Krank¬
heitsursachen, auf die die Arzneistoffe
wirken, behandelt, und zwar nach der Be¬
einflussung des Nervensystems, des Auges,
der Verdauung, der Uterusbewegungen, des
Kreislaufs, der Atmung, der Nierenfunktion,
der Schweißsekretion, des Stoffwechsels,
der Muskeln, des Blutes, des Wärmehaus¬
halts, der Entzündungsvorgänge und der
Krankheitsursachen (Helminthen, Bakterien,
Toxine, Protozoen usw.) durch chemische
Agentien geordnet. Diese Einteilung gibt
dem Buche nicht nur ein eigenartiges Ge¬
wand, sondern hat auch die Darstellung
des Stoffes von Grund auf umgestalten
lassen, indem in den einzelnen Kapiteln —
gewiß zur Befriedigung des ärztlichen
Lesers — die physiologischen Vorgänge
als Grundlage mehr oder weniger eingehend
besprochen werden müssen, aus denen
dann die therapeutisch zu behandelnden
Störungen der Organfunktionen ab¬
geleitet werden können. Die Meyer-
Gottlieb sehe „experimentelle Pharma¬
kologie", die auf jahrzehntelangen eige-
! nen Laboratoriumsforschungen aufgebaut
ist und nur die gesicherten ärztlichen
Beobachtungen und das Ergebnis des
exakten Versuchs anerkennt, sucht das
verbindende Band um Pathologie und
Pharmakologie zu schlingen. „Mit der
Pathologie gemeinsam soll die Pharma¬
kologie verstehen lehren, wie pathologische
Aenderungen von Organfunktionen durch
Arzneimittel sich beeinflussen und zur
Norm zurückführen lassen." Von einheit¬
lichen großen Gesichtspunkten aus, immer
den Blick auf das Wirken der einzelnen
Organe in ihren Beziehungen zu einander
und zum gesamten Organismus gerichtet,
wollen die Verf. dem Arzt die gesicherte
theoretische Grundlage für die Anwendung
der Arzneimittel geben und das Verständnis
der Pharmakologie als eines Teils der Bio¬
logie ermöglichen.
Möchte dieses neue und eigenartig^
Buch, das formvollendete Darstellung und
großzügige Auffassung mit Selbständigkeit
und Gediegenheit des Inhalts vereint, bald
für den Arzt ebenso ein willkommener
und zuverlässiger Berate* sein, wie es für
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208
Die Therapie der Gegenwart 1910.
Mai
den Spezialfachmann und Forscher ein
Werk von bleibendem Wert genannt
werden darf. E. Rost (Berlin).
R. Jolly. Atlas der mikroskopischen
Diagnostik der Gynäkologie nebst
einer Anleitung mit erläuterndem Text.
Mit 52 farbigen Lithographien und 2 Ab¬
bildungen im Text. Berlin, Wien 1910.
Urban & Schwarzenberg. Preis geb. 20 M.
Jolly widmet die ersten Seiten seines
Buches der Anwendung und Technik der
mikroskopischen Untersuchung und be¬
ginnt mit der Indikation zur Abrasio und
Exzisio, basiert ja doch sein Buch auf der
von Olshausen in die Gynäkologie ein-
geführten Abrasio. Und deshalb ist meiner
Meinung nach der Titel des Buches ein zu¬
viel versprechender, denn Jolly beschreibt
nur die mikroskopischen Bilder von Aus¬
kratzungen und Probeexzisionen, sein Titel
jedoch spricht allgemein von mikrosko¬
pischer Diagnostik in der Gynäkologie.
Das soll den Wert des Buches nicht schmä¬
lern, denn was Jolly sowohl ira Text wie
in Abbildungen bringt, ist einwandfrei
gut. Die Bilder sind bis ins kleinste hinein
instruktiv und vom Verlag in wundervoller
Weise reproduziert.
Der Hauptwert des Buches ist wohl im
Unterricht zu suchen, denn ein ausgebil¬
deter Gynäkologe, der eine pathologisch¬
anatomische Vorbildung besitzen sollte,
wird ein Buch mit typischen Abbildungen
nicht nötig haben, der Allgemeinpraktiker
hat meist das Instrumentarium zur patho¬
logisch-anatomischen Untersuchung nicht
zur Hand: aber um dem Studenten die
spezielle pathologische Anatomie der Aus¬
kratzungen zu zeigen, ist Jollys Buch sehr
geeignet.
Ich möchte empfehlen, die kurettierten
Stückchen nicht mit Wasser, sondern mit
dünnen Formalinlösungen vom Blut zu
reinigen’; die Struktur leidet zweifellos
weniger. Schwierigkeit der Paraffineinbet¬
tung habe ich nie gesehen, kann auch
nicht finden, daß das Präparat darunter
leidet. Man wird diese Dauer einbettungs-
methoden gerade bei der Abrasio nicht
ganz aufgeben können, denn die Gefrier¬
methode leistet bei sehr geringen Mengen
kurettierten Materials zu wenig.
Hervorzuheben ist, daß Jolly den Be¬
griff einer Endometritis hypertrophica ohne
Beziehung zur Menstruation aufrecht hält;
die Abbildung der Plasmazellen ist recht
gut. Bei seinen Krebsbildern vermisse ich
ein Kankroid der Portio mit Hornperlen;
letztere bringt Jolly allerdings beim Kor¬
pus-Karzinom. Interessant und sehr instruk¬
tiv ist d^s Täuschungsbild Fig< 42; gerade
solche Bilder sind für den Unterricht sehr
wertvoll.
Ich habe selten so ausgezeichnete Ab¬
bildungen gesehen und möchte dem Buche
gerade wegen seiner Instruktivität eine
weite Verbreitung wünschen. P. Meyer.
Therapeutisches aus Vereinen und Kongressen.
Bericht über die 39. Versammlung der Deutschen Gesellschaft
ffir Chirurgie zu Berlin, 30. März bis 2. April 1910.
Von w. Klink -Berlin.
Die diesjährige Sitzung der Deutschen
Gesellschaft für Chirurgie fand unter der
vorzüglichen Leitung von Bier statt. Der
große Saal des Langenbeckhauses ist viel
zu klein für die Versammlung. Deshalb
wurde ein Ausschuß beauftragt, über einen
Neubau zu beraten, vielleicht im Anschluß
an das von der Berliner medizinischen Ge¬
sellschaft geplante Virchowhaus. Das Ver¬
mögen der Gesellschaft beträgt rund
550000 Mark.
Das erste Hauptthema war die chirur¬
gische Behandlung der Epilepsie ; F. K r a u s e
(Berlin) sprach über die nicht traumatischen
Tilmann (Köln) über die traumatischen
Formen. Auf keinem Gebiet der Hirn¬
chirurgie, die noch in ihren ersten An¬
fängen steckt, sind wir nach Krauses Aus¬
führungen so weit, wie in der Behandlung
der Jacksonschen Epilepsie. Seine Erfah¬
rungen beziehen sich auf 80 Kranke wäh¬
rend I 6 V 2 Jahren. Im wesentlichen sind
die Zentralregionen des Großhirns be¬
fallen; ganz selten gehen die Anfälle von
anderen Hirnstellen aus. Der alte Satz
von Hitzig, daß nur die vordere Zen¬
tralwindung elektrisch erregbar ist, gilt
auch für den Menschen. Zur Erregung be¬
nutzt Krause ein Schlitteninduktorium und
einen so schwachen Strom, daß er an der
Zungenspitze eben Geschmacksempfindung
erregt, keine Zuckungen. So fand er den
oberen Teil der vorderen Zentralwindung
als Zentrum für die untere Extremität, den
mittleren für die obere Extremität und den
unteren ftlr Kau- und Kehlkopfmuskeln.
Zwischen diesen Focis gibt es große
Zwischenstellen, die nicht erregbar sind,
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Mai
Die Therapie der Gegenwart 1910
209
entgegen den Ergebnissen der Tierver- j unterschätzen. Die Zahl der Epileptiker
suche. Manchmal folgt die Muskelzuckung in Preußen beträgt etwa 1 % 0 der Bevöl-
sofort der zentralen Reizung, manchmal kerung. Die innere Medizin hat hier ver-
ist sie nur schwer auszulösen oder bleibt sagt, deshalb muß die Chirurgie Vorgehen,
ganz weg. Die elektrische Reizung stellt Die Operation ist bei Kindern gefährlich,
einen schweren Eingriff dar, der starke Unter 31 Operierten hat er eine Heilung
Kollapse nach sich ziehen kann. Diese fa- j von 3 Jahren; 2 sind gestorben, beides
radische Reizung ist die einzige Möglich- i Kinder. Man darf mit der Operation nicht
keit, sich auf der Hirnoberfläche zu orien- warten, bis die Kranken verblödet sind,
tieren; bei ihrem Versagen ist man dem Nach Tilmanns Ausführungen ist das
Zufall überlassen, zumal man die Pia j Trauma als Ursache der Epilepsie wohl
nicht abziehen darf. Eine anatomische überschätzt worden. Die Frage der Aetio-
Orientierung ist selbst bei Knochenlappen logie ist sehr dunkel. Man muß bei den
von 9 x 9 cm nicht möglich und darauf Anfällen vorbereitende (wie Erblichkeit)
ist wohl eine große Reihe von Mißerfolgen und auslösende Momente unterscheiden,
zurückzuführen. Die Richtigkeit seiner Allgemeine Krämpfe können bei lokalen
Schlußfolgerungen ergeben in einigen Fällen Rindenverletzungen, lokale Krämpfe bei
die Sektion, ferner die mikroskopische allgemeiner Rindenreizung eintreten. Unter
Untersuchung von entfernten Stücken, wo- 20 Eingriffen fand er 10 mal eine ver-
bei der Umstand ins Gewicht fällt, daß die mehrte Spannung der Dura. Läßt sich die
vordere Zentralwindung einen ganz Arachnoidea nach Eröffnung der Dura
anderen Bau hat, als die hintere; schließ- schonen, so zeigt sie sich nur leicht ange-
lich war beweisend das postoperative Auf- feuchtet, ohne freie Flüssigkeit, auch bei
treten von kurz dauernder motorischer Oedem der Pia. ln 4 Fällen war das Oedem
Aphasie, selbst Agraphie, auch ohne Läh- der Pia so stark, daß man die Hirnober-
mung des Arms; das wäre bei Operation fläche nicht sehen konnte. Nach Einstechen
an der hinteren Zentral Windung nicht zu entleert sich das Oedem sehr schnell. Es
verstehen. Bei der Jacksonschen Epilepsie besteht eine Vermehrung der Zerebrospinal-
verbreitet sich der Krampf immer von fiüssigkeit, die hauptsächlich ihren Sitz in
einer Körperstelle auf die dem Zentrum, den Maschen der Arachnoidea hat. Eine
nach benachbarte, niemals sprungweise auf I Schrumpfung des Hirns kann hierfür nicht
entfernte Gebiete. Nicht operiert werden die Ursache sein, denn dann bestände
soll Jacksonsche Epilepsie, die auf Intoxi- | keine Druckerhöhung in der Arachnoidea,
kation, Infektion, Hysterie beruht; alle an- sondern das Gegenteil. Es besteht wohl
deren Formen sind zu operieren. Neu- j ein Vermehrung der Zerebrospinalflüssig-
bildungen verursachen selten den reinen | keit von vornherein. Unter 20 Fällen fanden
Jacksonschen Typus. Einmal fand er ein i sich 19 mal Veränderungen an Knochen
Angiom, einmal eine solide Geschwulst I oder Hirnhäuten oder Gehirn, nur einmal
als Ursache. Bei der zerebralen Kinder- i war der Befund negativ. 3 mal bestanden
lähmung kann nach vielen Jahren in den ! Zysten, offenbar als Reste einer alten Blu-
gelähmten Gliedern Epilepsie auftreten; tung, 1 mal ein Angiom, 1 mal Periostitis
aber auch für diese Fälle ist eine epilep- ossificans. In den Fällen, wo ein beein-
tische Disposition anzunehmen, sie sind flußbarer Lokalbefund vorhanden war, hatte
nach Auftreten der Krämpfe zu operieren, die Operation Erfolg. Man soll es nicht
ln manchen Fällen findet man bei der so weit kommen lassen, sondern soll bei
Operation gar keine Veränderungen; hier | frischen Schädelverletzungen eingreifen,
ist man auf die Exzision des Zentrums an- | denn fast alle traumatischen Epilepsiefälle
gewiesen; danach tritt große Lähmung und Tilmanns waren anfangs konservativ be-
Aphasie ein; die letztere schwindet zuerst, handelt worden. Die Operationsgefahr
die erstere später. Die vordere Zentral- kommt bei der ausgebildeten Epilepsie
Windung ist als sensomotorisches Zentrum auch nicht in betracht, deshalb ist sie stets
zu betrachten. Von 49 Kranken mit Jack- zu empfehlen. Man soll stets an der Stelle
sonscher Epilepsie hat er 5 dauernd ge- der Verletzung eingehen. Aseptische Ope-
heilt. — Für die allgemeine Epilepsie rationen lösen fast nie Epilepsie aus. Die
herrscht noch weniger Klarheit, als für die Dura ist stets zu eröffnen. Nur bei Narben
Jacksonsche. Die Kochersche Theorie ist die veränderte Hirnstelle zu entfernen,
der intrakraniellen Drucksteigerung als Tilmann operiert einzeitig und hat hierbei
Ursache der Anfälle hält er nicht für rieh- keine nennenswerte Blutung. Von 20 Fällen
tig, aber die praktische Bedeutung der sind 60 o/o seit Vs bis 3 Jahren geheilt;
Kocherschen Ventilmethode darf man nicht 20% boten keine Erfolge; Mortalität 5°/o.
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Mai
210
Die Therapie der Gegenwart 1910.
Friedrich (Marburg) hat im ganzen
25 Fälle von Epilepsie operiert. 11 Fälle
vor 7—11 Jahren: 1 geheilt, 1 fast geheilt,
3 jahrelang gebessert, 5 ohne Erfolg;
6 Fälle vor 3—7 Jahren, davon 2 bis jetzt
anfallsfrei und 1 längere Zeit gebessert;
5 Fälle in den letzten 3 Jahren: 2 ganz
anfallsfrei, 1 gebessert, 2 ohne Erfolg. Die
ältesten Fälle sind im wesentlichen nach
Kocher operiert; von einer Ventil Wirkung
ist nur noch bei 1 wenig vorhanden;
die anderen sind alle fest verheilt. In
neuer Zeit hat er mehrfach Rindenexzisi¬
onen gemacht. Ein Fall, der erfolglos nach
der Ventilmethode operiert war, wurde
durch Exzision des Armzentrums auf der
linken Seite außerordentlich gebessert.
Wir dürfen aber nur das Hauptfocusgebiet
angreifen, niemals das ganze Zentrum weg¬
nehmen. Die verschiedenen Zentren
spielen in einander über, so daß z. B. das
Zehenzentrum dicht bei dem Daumenzentrum
liegt, auch ohne daß man Stromschleifen
zur Erklärung heranzieht.
K ü m m e 11 (Hamburg) hat dieArteria verte-
bralis unterbunden, das Rindenzentrum
exstipiert, ohne Erfolg. Erst seit 1896,
seit er die Kochersche Methode an¬
wendet, hat er bessere Erfolge. Er hat
22 mal operiert. 2 Kranke sind seit 11
Jahren frei von Anfällen und geistig normal;
3 sind wesentlich gebessert. Verschiedent¬
lich fanden sich Folgen von Verletzungen,
z. B. Zysten, wo von Verletzungen nichts
bekannt war. Das Ventil versagte in den
meisten Fällen; deswegen mußte mehr¬
mals zweimal operiert werden. Solange
das Ventil wirkte, waren die Kranken an¬
fallsfrei. Gar re (Bonn) ist von den Er¬
folgen der Entfernung des Rindenzentrums
nicht befriedigt. Er rät erst dann zu ope¬
rieren, wenn die innere Behandlung ganz
versagt. Kocher (Bern) betont, daß er
die Druckerhöhung nur für einen Teil der
Fälle von Epilepsie annimmt und daß für
diese Fälle die Ventilbildung von Wert sei.
Hesse (Stettin) sprach über die diag¬
nostische und therapeutische Hirnpunktion
nach Neißer-Pollak. Ihr Hauptgebiet
sind intrakranielle Blutungen nach Trau¬
men. Die Punktion ist an mehreren Stellen
des Schädels vorzunehmen, bis eine Besse¬
rung ersichtlich wird, in einer oder mehreren
Sitzungen. Besonders angezeigt ist sie bei
fortgeschrittenem Hirndruck, wenn die
Trepanation Gefahr bringen würde.
Franz (Berlin) kann 3 neue Fälle von
Krönleinschen Schädelschüssen, lauter
Selbstmörder, beibringen, so daß die Ge¬
samtzahl jetzt 11 beträgt. 2 unter den
neuen waren Vertikalschüsse. In seinen
Versuchen von Nahschüssen auf Menschen-
und Ochsenschädel wurde das Gehirn nie¬
mals zu Brei zermalmt. Als Ursache für
den eigenartigen Befund bei den Krönlein¬
schen Schüssen folgert er aus seinen Ver¬
suchen die direkte Uebertragung der Ar¬
beitsleistung des Geschosses auf das Ge¬
hirn.
O. Hildebrand (Berlin) berichtet über
seine Erfahrungen in der Rfickenmarks-
chirurgie. Er möchte mehr operativ vorge¬
gangen sehen. Blutungen in die Rücken¬
markshäute hat er nach Verletzungen oft
gesehen. Eine Vermehrung der Blutung
um oder in das Rückenmark ist bei vor¬
sichtigem Operieren nicht zu erwarten.
Treten bei Wirbelsäulen-Verletzungen
Rückenmarkserscheinungen auf und gehen
dieselben nicht bald zurück, so ist zu ope¬
rieren, da die Verletzten sonst an Blasen-
und Mastdarmlähmung zugrunde gehen.
4 mal hat er bei Verletzung der Halswirbel¬
säule operiert: 3 starben bald, 1 später;
5 mal bei Verletzungen der Brustwirbel¬
säule: 1 zeigte leichte Besserung; 3 wurden
unwesentlich gebessert, starben nach einen
Jahr; 1 mal bei Verletzung der Lenden¬
wirbelsäule, starb. Bei spondylitischen
Lähmungen ist zu operieren, wenn ortho¬
pädische Maßnahmen nicht bald helfen.
In 5 von 9 Fällen fand er ausgedehnte
Granulationsmassen, flächenhaft bis wall-
nußgroß. Gegen sie ist die Extension natür¬
lich wirkungslos. Sie komprimieren und
lähmen ebenfalls das Rückenmark. Von
9 Operierten blieben 4 unverändert, 3 wur¬
den gebessert, bei 1 sind die Erscheinungen
geschwunden, 1 wurde vollkommen geheilt.
Beim Vorhandensein von Rückenmarks-
tumoren ergibt die Diagnose die Therapie.
Die Meningitisserosa kann hier vollkommene
Täuschung bringen. Extra-und intramedul-
lare Neubildungen sind nicht leicht zu
unterscheiden. Die Segmentdiagnose hat
große Fortschritte gemacht. Er verfügt über
15 Fälle, die fast alle richtig diagnostiziert
waren. Von 13 operablen Fällen starben
3. In den übrigen Fällen gingen die Rücken¬
markserscheinungen nur so weit zurück,
als sich das Mark erholen konnte. Die
Festigkeit der Wirbelsäule wird durch die
Laminektomie nicht geschädigt.
Kuttner (Breslau) stellte 9 Kinder vor,
bei denen er wegen weit vorgeschrittener
Littlescher Krankheit die von Förster vor¬
geschlagene Durchschneidung der hinteren
Wurzeln von Spinalnerven ausgeführt hat.
Zweck der Operation ist die Beseitigung
der spastischen Kontraktur. Von drei be -
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Mai
Die Therapie der Gegenwart 1910.
211
nachbarten Wurzeln dürfen nur 2 durch¬
schnitten werden. Die Erfolge waren sehr
gut. Unter 10 Operationen kein Todesfall.
Die Operation ist nicht gefährlich. Die
operierten Fälle wären durch orthopädische
Maßnahmen allein nicht gebessert worden.
Auch nach der Ausführung der Förster -
schen Operation soll man nicht zu früh
mit orthopädischen Operationen beginnen.
Eine Regeneration der durchschnittenen
Wurzeln ist nicht zu fürchten. Auch bei
gastrischen Krisen hat er die Operation
mehrfach mit gutem Erfolg gemacht. Auch
Gottstein hat die Förstersche Operation
5 mal mit befriedigendem Erfolg gemacht, dar¬
unter waren zwei Erwachsene. AuchBier hat
6 mal erfolgreich bei Littlescher Krankheit
operiert; mehrfach wurde beobachtet, daß j
die Spasmen ganz schwanden unmittelbar |
nach der Operation und später etwas wieder- |
kehrten. Klapp empfiehlt, erst plastische
Operationen zu machen und dann erst die |
Förstersche. Tietze (Breslau) hat die
Operation 9 mal gemacht, 5 mal bei Er¬
wachsenen; zweimal handelte es sich um
multiple Sklerose. Kinder vertragen die
Operation viel leichter, als Erwachsene;
3 starben, davon 2 im Operationsshock.
Göbell (Kiel) machte die Operation mit
gutem Erfolg bei Hydrocephalus internus
mit spastischer Lähmung eines Beines.
Wendel (Magdeburg) operierte nach För¬
ster bei einer Stichverletzung des Rücken¬
marks mit hochgradiger spastischer Läh¬
mung im Bein; bis jetzt fortschreitende
Besserung der Beweglichkeit und Schwinden
der Spasmen.
Aschner (Wien) hat die Hypophyse
oft bei Hunden entfernt; die Tiere leoten
weiter, aber Wachstum, Zahnbildung, Ge¬
nitalien blieben infantil. Auch bei 3 bis
jetzt ausgeführten Sektionen von mensch¬
lichen Zwerchen fand sich eine Zerstörung
der Hypophyse. Aschner schließt, daß die
Hypophyse kein unbedingt lebenswichtiges
Organ ist, daß aber ihre völlige Entfernung
die erwähnten Störungen hervorruft. Hirsch
(Wien) ist nur unter Kokainanästhesie an
die Hypophyse herangegangen in 5 Sitzun¬
gen; 1. Entfernung der mittleren Muschel,
2. Ausräumung des Siebbeins, 3. Entfer¬
nung der Vorderwand der Keilbeinhöhle,
4. Freilegung der Dura, 5. Eröffnung der
Dura, Punktion des Hypophysentumors;
jetzt nach 3 Wochen ist ein sehr guter
Erfolg vorhanden. Wullstein (Halle) geht
an die Hypophyse nach breiter Aufklappung
des Stirnbeins heran. Hochenegg (Wien)
hat 3 Fälle von Akromegalie operiert; einer
davon gestorben. Die vor 2 Jahren vorge-
> stellte Kranke ist ganz gesund und hat
ihre Menses wieder. Der 2. Fall ist vor
5 /4 Jahr operiert, nachdem die Krankheit
7 Jahre bestand; sie war einseitig blind.
Die Blindheit blieb bestehen, aber die akro-
megalischen Erscheinungen gingen stark
zurück, die Menses traten wieder auf; nach
8 Monaten trat wieder Kopfschmerz auf,
Hände und Füße nahmen wieder zu. Je¬
denfalls ist der Tumor nach der Sella
| nicht weiter gewachsen, wohl aber nach
I dem Gehirn.
| Sauerbruch (Marburg) sprach über
lokale Anämie und Hyperämie durch
I künstliche Veränderung der allgemeinen
Blutverteilung. Wird der Körper unter
einen geringeren Außendruck gebracht, so
läßt sich am Schädel fast blutleer arbeiten;
besonders stark zeigte sich das an der
Dura. Eine schädliche Wirkung ließ sich
bei Tieren nicht feststellen. Der Blutdruck
in den großen Arterien sinkt nur ganz
wenig, nur die Venen werden blutarm. Das
Blut sammelt sich in Brust und Bauch an.
Auch am Menschen bewährte sich die Me¬
thode mehrmals, in einigen Fällen ver¬
sagte sie. An schütz (Kiel) hat die Me¬
thode 11 mal mit zum Teil gutem Erfolg
angewandt.
Das zweite Hauptthema war die chirur-
! gische Behandlung der Stenose und der
| starren Dilatation des Thorax.
! W. A. Freund (Berlin) besprach die
I zwei von ihm beschriebenen Thoraxano-
! malien, als primär und lungenschädigend.
1. Die Stenose der oberen Thoraxapertur
I beruht auf einer Entwickelungshemmung
| des ersten Rippenknorpels. Sie bewirkt
, eine Gestaltveränderung und funktionelle
| Störung der Lungenspitze. Hat sie einen
| gewissen Grad erreicht, so entwickelt sich
eine Hypertrophie der Scaleni; geht sie
I noch weiter, so kann eine Ruptur des
! Knorpels stattfinden und es bildet sich eine
Pseudarthrose. — 2. Bei der starren Dila¬
tation des Thorax besteht eine gelbe Zer¬
faserung des Knorpels; der Knorpel ver¬
größert sich in jeder Richtung und gibt
dem Thorax eine andere Form, eine dau¬
ernde Inspirationsstellung. Es kommt zum
Lungenemphysem, später zur Erweiterung
der unteren Apertur, das Zwerchfell wird
gespannt, verdünnt, atrophisch. — Bei der
ersten Affektion empfiehlt er nur dann einen
Eingriff wegen bestehender Lungentuber¬
kulose, wenn dieselbe die zweite Rippe
nicht überschreitet. Im 2. Fall will er nur
operiert wissen, wenn Zwerchfell und
Lunge noch nicht atrophiert sind.
Mohr (Halle) faßte sein Urteil folgen-
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212
Mai
Die Therapie der Gegenwart 1910.
dermaßen zusammen: Die starre Dilatation
des Thorax ist in 30 Fällen operiert. Das
Ergebnis lautet in allen Fällen dahin, daß
der vorher starre Thorax beweglich wurde.
Der Grad der Beweglichkeit war natürlich
ein verschiedener. Fast alle Operierten
waren jahrzehntelang krank und es be¬
standen atrophierende Prozesse in den
Lungen selbst. Es war deshalb nicht zu
erwarten, daß die Lunge wieder normal
würde. Die emphysematose Blähung der
Lunge bleibt bestehen oder geht nur wenig
zurück. Die Beweglichkeit des Thorax wird
aber erreicht und nur mit dieser Durch¬
schneidung der Knorpel. Die Besserung
erstreckte sich auf Atmung, Blutzirkulation,
Herzbewegung. Bronchitis, Entzündungen
und ähnliche sekundäre Erkrankungen der
Lunge beeinflussen den Erfolg natürlich
auch, aber in erster Linie ist für den Er¬
folg nötig eine richtige Auswahl der Fälle
und richtige Operation. Weitere Ursachen
für die Starrheit des Thorax sind Alter,
Thorax paralyticus, Hypertonie der Muskeln.
Bei der letzten Form sind die Knorpel
normal, es ist nicht zu operieren, sondern
es ist mit Atemgymnastik und Mechanik zu
behandeln. Der paralytische Thorax ist
auch nicht zu operieren. Bei ihm sind die
Rippen starr, abgeflacht und die Zwischen¬
räume verengt. Nach einer Durchschnei¬
dung der oft degenerierten Knorpel ver¬
ringert sich hier der Thorax noch mehr.
Die Atemmuskeln sind hier jedenfalls schon
von Natur schwach angelegt. Auch der senil
starre Thorax, der auch verengt ist, soll
nicht operativ behandelt werden. Das ty¬
pische Bild des Habitus emphysematosus
ist das folgende: Sämtliche oder einzelne
Knorpel sind vorgetrieben; diese Auftrei¬
bungen sind unregelmäßig, haben Ein- und
Ausbuchtungen; sie sind spontan oder bei
Belastung empfindlich; die Knorpel fühlen
sich hart an und man kann nicht hinein¬
stechen. Klaren Aufschluß über die Ver¬
änderungen gibt die Durchleuchtung, aller¬
dings nur Blendenaufnahmen einzelner
Rippen. Sehr wichtig ist die Beobachtung
des Zwerchfells: es ist abgeflacht und be¬
wegt sich nur wenig. Nach der Operation
bewegt es sich wieder sehr gut. Wichtig
für die Indikationsstellung ist die Stärke
der Bronchitis, ihre Art und die Folgen
derselben. Die Bronchitis und das Asthma
bronchiale selbst verbieten die Operation
nicht, vielmehr wird die Bronchitis ge¬
wöhnlich durch die Operation sehr ge¬
bessert, während das Asthma wenig be¬
einflußt wird. Lassen sich Kreislauf¬
störungen vor der Operation durch innere
Behandlung nicht bessern, so ist von
der Operation abzuraten. Auch bei be¬
stehendem Aneurysma ist die Operation
verboten. Im übrigen ist zu operieren, wenn
der Thorax überhaupt noch ausdehnungs¬
fähig ist und wenn man sich mit der in¬
neren Behandlung keine Erfolge verspricht.
Das Alter spielt keine Rolle. Die Verän¬
derung der Knorpel kommt schon bei Kin¬
dern vor. Ueber die Operation im Greisen-
alter kann man zweifelhaft sein. — Zur Beur¬
teilung derEnge der oberenThoraxapertur ge¬
nügt Inspektion und Palpation nicht. Wenn die
Operation auch nicht gefährlich ist, so soll
man sie doch erst nach längerer Beobach¬
tung ausführen.
v. Hansemann (Berlin) gab höchst
wertvolle Erläuterungen zu diesem Kapitel,
da er sich mit Freund zusammen besonders
mit dem Thema beschäftigt hat: Die ana¬
tomische Disposition für die Tuberkulose
des^ Lunge kann sehr verschieden sein.
Die Enge der oberen Thoraxapertur ist
nur eine Form derselben. Daher muß man
von diesem Gesichtspunkte aus eine ganze
Reihe von Formen der Schwindsucht unter¬
scheiden. Er kam immer mehr zu der
Ueberzeugung, daß die typische Lungen¬
schwindsucht, bei der die enge obere Tho¬
raxapertur sich findet, von der atypischen
zu trennen ist. Bei der ersteren fängt die
Erkrankung etwas unterhalb der Spitze an.
Bei den atypischen Fällen läßt sich auch
immer der Grund finden, weshalb die Krank¬
heit nicht in der Spitze, sondern an einer
andern Stelle anfängt: Die Lunge ist außer¬
ordentlich empfindlich gegen die Anwesen¬
heit von Tuberkelbazillen, aber nur die
pathologische Lunge. Bei fast jeder chro¬
nischen Lungenerkrankung irgend welcher
Art kann man makro- oder mikroskopisch
Tuberkulose nachpreisen. Deshalb stellen
sie klinisch oft das Bild der Tuberkulose
vor und erst die Sektion zeigt, daß die
primäre Erkrankung Lues oder Neubil¬
dung war und die Tuberkulose erst die se¬
kundäre Erkrankung. Für alle Fälle, die
zur Lungenphthise, d. h. zum Schwund von
Lungengewebe führen, ließ sich eine Ur¬
sache finden. Wenn an einer Stelle der
Lunge z. B. ein Druck ausgeübt wird, so
kann hier eine Phthise entstehen, z. B. an
der Stelle einer alten Lungenverletzung,
an der Stelle eines alten Rippenbruchs,
durch Druck einer pathologisch geformten
Rippe. Gegenstand der Freundschen Ope¬
ration können nur die typischen Fälle von
Spitzentuberkulose sein; an anderen Stellen
können höchstens die nachweisbaren Rip¬
penanomalien angegriffen werden. Dietuber-
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Die Therapie der Gegenwart 1910.
213
Mai
kulose Veränderung darf höchstens bis zur
3. Rippe reichen. Man muß allerdings be¬
denken, daß die Tuberkulose noch aus¬
heilen kann, wenn schon Kavernen von
recht beträchtlicher Größe vorhanden sind
und wo zeitlebens Tuberkelbazillen in der
von Narben umgebenen Kaverne vorhanden
sind. — Für die chirurgische Behandlung
des Emphysems kann natürlich nicht das
interstitielle Emphysem in Betracht kommen,
d. h. die Ruptur von Lungengewebe bei
starken Hustenanfällen. Auszuschließen ist
auch das sekundäre entzündliche Emphy¬
sem bei anderen Entzündungen der Lunge.
Die frühere Annahme, daß chronischer
Bronchialkatarrh zu Emphysem führt, ist
falsch; die Entzündung kommt erst zu dem
Emphysem hinzu. Das Asthma ist auch
keine umschriebene Krankheit, sondern ein
Symptom verschiedener anderer Krank¬
heiten. Die Rarefikation des Lungenge¬
webes spielt erst in den letzten Stadien
des Emphysems eine Rolle. Die Prozesse,
die sonst das Gewebe zum Schwund brin¬
gen, sind eben nicht in einer emphyse-
matösen Lunge vorhanden. Hier liegt kein
degenerativer Prozeß vor, noch sind die
elastischen Fasern geschwunden; man
findet ebensoviele und ebensostarke elasti¬
sche Fasern, wie in einer gesunden Lunge.
Die Erweiterung der Lungenblasen erfolgt
zunächst rein mechanisch und auch die
Alveolarporen erweitern sich. Dadurch ent¬
stehen Lücken und schließlich Löcher, die
man sondieren kann. Erst im späteren
Stadium des Emphysems reißen auch die
elastischen Fasern und schnurren zusam¬
men; also keine Rarefikation, sondern ein
rein mechanischer Vorgang. Der Thorax
dehnt sich immer mehr aus und die Lunge
folgt und dadurch kommt der beschriebene
Zustand der Lunge zustande. Diese Form
kann man als Freundsches Emphysem be¬
zeichnen. — Eine zweite Form des Em¬
physems ist das kongenitale Emphysem;
es ist nicht angeboren, sondern entsteht
auf angeborener Basis, indem die elastischen
Fasern nicht genügend entwickelt sind.
Bei dieser Form hat natürlich eine Ope¬
ration keinen Zweck, da der Thorax
elastisch ist Das Freundsche Emphysem
fängt nicht vor dem 30. Lebensjahr an;
was vorher auftritt, gehört dem kongeni¬
talen oder einer anderen Form an. Das
Altersemphysem unterscheidet sich anato¬
misch in nichts von dem Freundschen Em¬
physem. Beim Altersemphysem besteht eine
Starrheit des Thorax, aber keine Erweite¬
rung, aber auch keine Verengerung, son¬
dern eine Mittelstellung. Das Emphysem
selbst kann sich nach theoretischer Ueber-
legung nach der Operation zurückbilden,
da es ja eine Ueberdehnung der Lunge
darstellt; nur muß man früh genug ope¬
rieren, ehe die elastischen Fasern einge¬
rissen und geschrumpft sind. Der Gefäßbau
eines Organs paßt sich dem Bedürfnis an
und die Gefäße können sich nach der Ope¬
ration zurückbilden. Etwas anders steht
es mit der Hypertrophie des rechten
Herzens. Es kann da theoretisch nach der
Operation zur Degeneration des Herz¬
muskels kommen, da er weniger Arbeit zu
leisten hat. Daher soll man nicht warten,
bis das Herz stark hypertrophiert ist. Im
übrigen wird die Operation sicher das Herz
günstig beeinflussen.
Van der Velden (Düsseldorf) berichtet
über 10 operierte Fälle von starrer Dila¬
tation des Thorax. Stets kam man mit der
einseitigen Operation aus, auf der Seite
der größten Degeneration, fast immer
rechts. Die erste Rippe wurde nie ange¬
griffen, nur der 2. bis 4. Rippenknorpel.
Der Knorpel wurde stets ganz entfernt,
doch kann man auch gezwungen sein, ein
Stück Rippe wegzunehmen. An der Stelle
der Operation bildet sich eine Pseud-
arthrose, nach einigen Monaten schon eine
sehr gut bewegliche bindegewebige Brücke.
Eine Perichondritis ossificans und Kalkein¬
lagerung darf nicht ein treten, weswegen
das Perichondrium sorgfältig entfernt wer¬
den muß. Befund nach der Operation: die
Rippen sinken ein und atmen mit. Die dau¬
ernde Veränderung zeigt sich in einer
dauernden Vermehrung der vitalen Kapa¬
zität der Lunge. Der Husten wird bedeu¬
tend leichter; die Bronchitis heilt aus wenn
nicht schon Bronchectasen bestehen. Der
Atemtypus nähert sich dem kostalen; rein
kostal wird er nicht; die Kranken können
wieder tiefer liegend schlafen. Die Beweg¬
lichkeit des Zwerchfells ist nach der Ope¬
ration nicht vermehrt, was auch bei der
Entfernung nur oberer Rippen nicht zu er¬
warten ist. Die Zirkulation bessert sich.
Der Thorax wird auf der operierten Seite
kleiner, flacher. Für die Operation ist es
ohne Belang, ob die Thoraxstarrheit primär
oder sekundär ist; in beiden Fällen ist
die Operation angezeigt und hat sich be¬
währt.
Die gleichen günstigen Folgen sah
Seidel (Dresden) bei zwei Operierten; die
vorher unbeweglichen unteren Lungen¬
grenzen verschieben sich jetzt um mehrere
Zentimeter. — Friedrich (Marburg) ist
von seinen Erfolgen nicht so sehr entzückt.
Ein Kranker starb bald nach der Ope-
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214
Die Therapie der Gegenwart 1910.
Mai
ration infolge Bronchopneunomie und Pleu¬
ritis infolge der Operation. 3 andere Falle
sind vor IV 2 —2 l /2 Jahren operiert. Schon
nach der Durchtrennung einer Rippe emp¬
fanden die Kranken eine große Erleichte¬
rung und zwar bei der Einatmung; mit
weiterer Durchtrennung (2. bis 6. Rippe)
wird die Atmung immer leichter. Bisweilen
kann man den Kranken schon am nächsten
Tage aus dem Bett lassen. Die Zyanose
der Lippen bildet sich in Tagen oder
Wochen zurück. Die Entfernung des Peri-
chondriums macht die Operation recht
schwierig. Die Kranken zeigen nach der
Operation große Besserung. Das Prinzip
der Operation ist richtig, aber unsere
Technik und Methoden lassen noch viel zu
wünschen übrig, vor allem läßt sich das
Spiel von Beweglichkeit nicht auf die Dauer
erhalten. Auch Körte (Berlin) bezeichnet
die Entfernung des Perichondriums als
sehr schwierig; er hat nach 4 Monaten
schon die Regeneration des Knorpels er¬
lebt. Stieda (Halle) verfügt über 6 Ope¬
rierte mit starrem Thorax, darunter 2 von
28 und 29 Jahren; kein Exitus; Erfolge gut.
Lex er (Königsberg) hat beiderseits die
1. bis 5. Rippe reseziert mit gutem vor¬
läufigen Erfolg. Hirschberg (Frankfurt
a./M.): 12 jähriges Mädchen mit Bronchial¬
asthma; Rippenresektion; sehr guter un¬
mittelbarer Erfolg; nach einigen Monaten
leichte Asthmaanfälle; Pseudarthrosenbil-
dung im Sternum; seit 1V 2 Jahr völlig frei
von Asthma. Wullstein (Halle) schlägt
vor, statt der Rippen einen Teil des Ster¬
num zu resezieren.
Wilms (Basel) berichtete über hoch¬
interessante Versuche über die Aetiologie
des Kropfes, die er und Bireher ange¬
stellt haben. Der Kropf findet sich in der
Schweiz endemisch, wo das Meer der
Tertiärzeit war, er fehlt auf dem Eruptiv¬
gestein. Für die experimentelle Kropfer-
zeugung ist die Ratte das beste Versuchs¬
tier. Sie zeigt bei Fütterung mit Wasser
aus Kropfbrunnen schon nach 3 Monaten
Kropfbildung, die mit der des Menschen
übereinstimmt. Filtration des Wassers durch
Berkefeldfilter ist ohne Einfluß; hingegen
bleibt die Kropfbildung aus, wenn das
Wasser auf 80 0 erhitzt wird. Das Wasser
ist durch nichts sonst von gewöhnlichem
Wasser zu unterscheiden, nur ist der Am¬
moniakgehalt unwesentlich erhöht. Wilms
zieht den Schluß, daß an den befallenen
Stellen die ganze zugrunde gegangene
Fauna im Boden steckt und deren Toxine
von dem Wasser ausgelaugt werden und
eine Vergrößerung der Schilddrüse ver-
' Ursachen. Die Schilddrüse vernichtet die
| Toxine in sich oder sie produziert Gegen¬
gifte, die im Körper die Toxine vernichten.
Es ist schon lange bekannt, daß das Wasser
1 in Kropfgegenden durch Abkochen un-
! schädlich wird. Durch Eindickung des
1 Wassers im Vakuum wurde seine Giftwir¬
kung herabgesetzt. — In der Diskussion
wird die Trinkwasser- und ähnliche Theo¬
rien angezweifelt. Gegen die Toxintheorie
! spricht die verschiedene Häufigkeit des
| Kropfes bei Frauen und Männern, die Sel-
i tenheit in der Kindheit und anderes.
| Kocher weist auf die Verschiedenheit
| der Basedowkranken gegenüber der Jod-
| darreichung hin. Manche sind sehr empfind-
[ lieh, bekommen erst nach Joddarreichung
einen Kropf; selbst Aufenthalt an der See
! kann nervöse Erscheinungen bei ihnen her-
vorrufen. Hier ist natürlich Joddarreichung
verboten.
Klose und Vogt (Frankfurt a./M.) stu¬
dierten die Folgen der Thymusexstir-
pation beim Tier. Es eignen sich hierzu nur
Hunde; sie müssen am 10. Tag operiert
werden. Die Tiere werden nach der Ope¬
ration eigentümlich aufgeschwemmt, in ihren
Bewegungen plump, breitspurig; die Mus¬
kulatur fühlt sich wie durch Fett ersetzt
an. Dieses Stadium adipositatis dauert drei
Monate. Danach werden die Tiere kachek-
tisch, können nicht mehr laufen, es tritt
Muskelzittern ein. Dabei ist das Sentorium
ganz frei. Dieses Stadium dauert durch¬
schnittlich 4 Monate, bis 14 Monate: Sta¬
dium thymoprivum. Der Ausgang ist ein
Zustand von tiefer Bewustlosigkeit von 4
bis 5 Tagen, Coma thymicum, das mit dem
Tod abschließt. Im Stadium cachecticura
treten Spontanfrakturen ein. Die Diaphysen
zeigen massenhafte Zysten, Verdickung der
Epiphyse, Osteoporose, abnorme Biegsam¬
keit der Knochen. Die Rippen bleiben viel
länger knorpelig. Es besteht Rachitis, Osteo¬
malazie und Osteoporose an demselben
Tier. Das prozentuale Verhältnis von phos-
| phorsaurem und kohlensaurem Kalk ist un¬
verändert aber die absolute Menge der
Erden ist nur die Hälfte, wie beim gesun¬
den Tier. Jedenfalls wird diese Salzauf¬
lösung durch Nukleinsäure bewirkt. Eine
Zuführung von Thymussubstanz hat keinen
| therapeutischen Wert, denn dann würde
man noch mehr Säure zuführen, da die
| Thymus sehr reich an Nukleinsäure ist.
Das Ersatzorgan für die Thymus ist die
! Milz. Wird die Thymus erst entfernt, wenn
l die Milz schon gut ausgebildet ist, so
I bleiben die üblen Folgen aus. Die Thymus
| ist ein lebenswichtiges Organ, das im Kör-
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Mai
Die Therapie der Gegenwart 1910. 215
per kreisende Stoffe neutralisiert und das
wir niemals vollständig in der ersten Pe¬
riode entfernen dürfen. Die Ausfallserschei¬
nungen sind Folgen einer Säureintoxi¬
kation. — Die Veränderungen der nervösen
Organe im besonderen waren: Im Stadium
adipositatis Störung der Beweglichkeit, der
Sensibilität, der Reflexe; schwere Verän¬
derung der elektrischen Erregbarkeit;
schwere psychische Veränderungen bis zur
völligen Verblödung. Man findet die Ver¬
änderungen der Neuritis, Entwicklungs¬
hemmung des Zentralnervensystems, inten¬
sive Quellung der Zellelemente des Zentral¬
nervensystems. Dementsprechend tritt eine
Vergrößerung des Hirnvolums durch einen
Quellungszustand ein. Stauung ist nicht
die Ursache, sondern innere Veränderungen,
Aufquellung der Kolloidsubstanz durch
Säureeinfluß. Die vermehrte Säuremenge
läßt sich schon durch Lakmuspapier in dem
kranken Hirn nachweisen. Das Gehirn ge¬
sunder Hunde gibt makro- und mikrosko¬
pisch denselben Befund, wenn es in Säure
gelegt wird. Durch Verabreichung von
Thymus läßt sich eine Verschlechterung
des Zustandes herbeifQhren.
Ge bei e (München) sprach zur Frage
der Thymus persistens bei Morbus Base¬
dow. Das Thymusgewicht ist viel größer,
als man bisher annahm. Die Zeit des Rück¬
gangs der Thymus ist ganz verschieden.
Man sollte nicht von Thymus persistens,
sondern von supranormalem Gewicht der
Thymus reden. Thymusfütterung schädigt
nicht, auch nicht ihre Einpflanzung. Thymus-
exsdrpation ergibt die von Klose beschrie¬
benen Bilder. Die Thymus kann die feh¬
lende oder veränderte Schilddrüse ersetzen
die Thymus persistens ist eine Kompen¬
sation für die kranke Schilddrüse; tritt der
Tod ein, so ist das kein Thymustod, son¬
dern ein Herztod.
König (Berlin): Große bösartige Neu¬
bildungen können nur mit dem Messer ge¬
heilt werden. Unter den bösartigen Ober¬
kiefergeschwülsten sind die große Mehrzahl
Sarkome. Geheilte Oberkieferkarzinome
sind sehr selten. Die Oberkieferneubildun¬
gen geben so gut wie keine Drüseninfek¬
tionen. Er ist stets sehr radikal vorge¬
gangen. Man muß den ganzen Oberkiefer
einer Seite wegnehmen, muß oft über die
Mittellinie hinausgehen, die Orbita aus¬
räumen, oft noch deren Dach wegnehmen,
weit nach der Basis cranii Vordringen, darf
eine Verletzung der Dura nicht scheuen,
muß den Jochbogen entfernen. Von 48
totalen Oberkieferresektionen wegen Kar-
cinom sind 19 gestorben; bei Vermeidung
jeder Narkose werden wohl die Resultate
besser werden. 8 sind seit 10 und mehr
Jahren rezidivfrei und werden cs also wohl
auch bleiben. Sticker berichtet aus der
BierschenKlinik über 53 Oberkiefertumoren,
von denen 8 nach der Operation starben.
Von 26 Karzinomen bekamen 5 bald Reci-
dive, 9 blieben geheilt.
Czerny (Heidelberg) wendet Radium
und Röntgenbestrahlung gegen bösartige
Geschwülste reichlich an und hat auch gute
Erfolge damit gesehen. Auch bei malignem
Lymphom hat sich Radium bewährt. Mit
Antimeristem Schmidt hat er 45 Fälle be¬
handelt; 15 davon haben die Kur ganz
durchgemacht, die nicht gleichgültig ist.
Bei starker Konzentration entwickelt sich
an der Injektionsstelle eine Anschwellung,
die sich öffnen und eine eiterartige Flüssig¬
keit entleeren kann, die allerdings asep¬
tisch ist. Ferner tritt danach öfters Fieber
ein. Es sind gewisse Rückbildungen, auch
objektiv, in etwa 50 % der Fälle beobachtet.
Zweifelhaft ist allerdings, ob das Anti¬
meristem ein spezifisches Antitoxin ist; es
handelt sich wohl überhaupt um eine
Toxinwirkung, denn die Toxine verursachen
alle fieberhafte Zustände, nach deren
Schwinden eine Erleichterung eintritt. Bei
schwachen Leuten ist die Gefahr zu groß,
weil die Kranken danach rascher zugrunde
gehen. Die Fulguration hat Czerny einge¬
schränkt zugunsten der Diathermie und Elek¬
trokaustik. Aber man kann durch nichts ein
jauchendes Krebsgeschwür so schön in
I eine gut aussehende Wunde verwandeln,
wie durch Auskratzen mit folgender Ful¬
guration. Für Rezidive ist die Fulguration,
auch bisweilen angezeigt. In Körperhöhlen,
z. B. Vagina, ist sie schlecht anzuwenden,
weil die Blitze den nächsten Punkt des
Körpers treffen und nicht in die Taschen
dringen. Praktischer ist die von Forest
angegebene Methode, die Diathermie und
Elektrokaustik erlaubt. Mit Hilfe einer
kleinen Platinnadel kann man so eine
Mammaamputation ebenso schnell machen,
wie mit dem Messer. Dabei schneidet nicht
das Instrument, sondern der Lichtbogen,
der herauskommt. Die Wunden heilen p.
p. Durch richtige Anwendung und Auswahl
der Elektroden kann man durch die Dia¬
thermie eine tiefgehende Wärmewirkung
erzielen, wodurch die Krebszellen geschä¬
digt werden.
Wendel und Sauerbruch empfehlen
ein aktiveres Vorgehen bei Oesophagus-
und Cardiacarcinom, obwohl ihre Erfolge
bisher nicht schlechter sein konnten.
Küttner hat die Operation des Oesopha-
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216
Die Therapie der Gegenwart 1910.
Mai
guskarzinoms im Brustteil aufgegeben, nach¬
dem er alle Operierten verloren hat.
Kümmell empfiehlt zweizeitige Operation
und schiebt die schlechten Erfolge auf die
schlechte Nahtmöglichkeit.
Lotsch, Kuhn, Henle, Schoemaker
zeigen Apparate für Ueberdrucknarkose.
Girard (Genf) spricht zur Behandlung
der Mastoptose (Mamma pendula). Dieselbe
ist unschön, führt zu Intertrigo und kann
Schmerzen verursachen, die letzteren infolge
Stauungsanschwellung; sie lassen sich durch
Hochbinden und Mastopexie beseitigen.
Zur Vermeidung einer sichtbaren Narbe
empfiehlt er unteren Bogenschnitt, Hoch¬
klappen der Mamma und Fixation an der
zweiten Rippe.
Lexer (Königsberg) empfiehlt zur
Nasenplastik das vereinfachte Schimmel-
buschsche Verfahren. Er stellt zwei Ope¬
rierte mit eingepflanztem Kniegelenk vor,
die eine vor 2 l / 2 Jahren operiert, mit
idealem Ergebnis. Ein Kranker, dem das
untere Ende der Ulna durch Tibia ersetzt
wurde, zeigt sehr gute Funktion. Einem
Mädchen wurden vor 9 Monaten 9 1 / 2 cm
vom oberen Tibiaende entfernt wegen
Sarkom und durch eine amputierte Tibia
ersetzt, mit sehr gutem Erfolg. Einer der
voriges Jahr vorgestellten Kranken mit
eingepflanztem Kniegelenk bekam eine Psy¬
chose mit der Wahnvorstellung, dafi der
fremde Knochen niemals einheilen könne
und war nur durch die Amputation zu be¬
ruhigen. — Küttner hat das obere Ober¬
schenkelende, das er wegen Sarkom ent¬
fernen mußte, durch den gleichen Knochen
aus einer Leiche ersetzt. Er entnahm den
Ersatzknochen 12 Stunden post mortem
aseptisch, hob ihn 24 Stunden in Kochsalz
und Cloroform auf. Die Einheilung erfolgte
reaktionsios. Jetzt, 5 Wochen nach der
Operation zeigt die Durchleuchtung gute
Stellung. Dies ist die erste geglückte
Ueberpflanzung von der Leiche und eröff¬
net große Perspektiven.
Eine eingehende Besprechung fand auch
wieder die Behandlung der Appendizitis.
Kümmel (Hamburg) will die in letzter
Zeit von verschiedenen Seiten ausge¬
sprochene Neigung für ein zu konservatives
Verfahren bekämpft wissen. 1903—1907 hat
sich die Zahl der Appendizitiskranken in
den Anstalten verdoppelt. Die Mortalität
ist von 9,6 o/o auf 6,3 o/ 0 herabgegangen.
Das Eintreten eines Rezidivs ist bei nicht
operierten Kranken die Regel. Er fand in
51 o/ 0 Rückfälle, wenn er die leichten Fälle
nicht mitrechnete. Heilungen ohne Ope¬
rationen kommen vor, aber nur ausnahms¬
weise. Die Angabe Aschoffs, daß 4 /o aller
Menschen an Appendizitis gelitten haben,
stimmt mit seinen Erfahrungen überein;
es braucht nur eine Veranlassung hinzuzu¬
kommen und der Anfall ist da. Die Ap¬
pendizitis ist eine Infektionskrankheit; sie
zeigt auch eine Anschwellung zurzeit der
Erkältungskrankheiten. Die Angaben der
Pathologen Ober die Zahl der gesund ent¬
fernten Wurmfortsätze sind übertrieben.
Abgesehen von dem Druckschmerz gibt es
kein beständiges Symptom bei der Appen¬
dizitis. Die anderen Symptome können alle
fehlen, selbst bei durchgebrochener Appen¬
dizitis. Die Diagnose ist oft sehr unsicher
und solange werden auch Abszesse und
Peritonitis nicht vermieden werden. Die
Frühoperation ist wissenschaftlich anfecht¬
bar, aber praktisch einzig richtig. Die Vis¬
kositätsbestimmung des Blutes ist sehr gut
und gibt relativ sicheren Aufschluß über
den Inhalt der infizierten Bauchhöhle, auch
über die Differentialdiagnose gegenüber
Extrauteringravidität. Die Viskosität steigt
bei schwerer Infektion des Peritoneums.
Aber die Methode stellt uns nur vor fertige
Tatsachen, gibt uns aber keinen Ausblick
für die nächsten Stunden; sie sagt uns
nichts über die Beschaffenheit des Appendix.
Das gleiche gilt von dem Arnethschen
Blutbild. Deswegen ist stets die Frühope¬
ration am Platz. Das Ricinusöl ist eine sehr
zweischneidige Waffe und außerhalb des
Krankenhauses sehr gefährlich. Es ruft auch
ein gewisses subjektives Wohlbefinden her¬
vor und bewirkt ein ablehnendes Verhalten
des Kranken gegenüber der Operation. Es
ist nicht zu empfehlen. Die Kranken lassen
sich heute gern operieren und es gehört
Mut dazu, von der Operation .abzuraten.
In den letzten Jahren hatte Kümmell bei
Operation in den ersten 50 Stunden 0,5 %
Mortalität. 1600Intervalloperationen ergaben
1 % Mortalität, in den letzten Jahren 0,5 °/o.
Die Intervalloperationen werden von den
Aerzten im ganzen zu leicht genommen;
noch nach Vs Jahr können sich Absceßreste
finden; deswegen ist die Frühoperation
vorzuziehen. Seine gesamten Appendizitis¬
operationen, 2650 Fälle, Peritonitis einge¬
schlossen, ergaben 6,8% Mortalität. Die
Spätoperation bei Peritonitis ergab in den
letzten Jahren 25 % Mortalität. Wir müssen
operieren, sobald wir den Kranken bekom¬
men. Die Punktion ist zu verwerfen; sie
ist überflüssig, denn man findet oft nichts,
oft saugen sich die Abszesse auf, oft muß
man nachträglich inzidieren; und sie ist
nicht ungefährlich. Die innere Medizin be¬
handelt, die Chirurgie heilt die Appendizitis.
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Mai
Die Therapie der Gegenwart 1910.
217
Auch Sonnenburg (Berlin) betrachtet
die Appendizitis als Infektionskrankheit
enterogenen oder hämatogenen Ursprungs.
Bei der enterogenen Infektion setzt der
Katarrh sich aus dem Darm auf die Appen¬
dix fort, der dann die Erscheinungen der
entzündlichen Reizung zeigt. Dieselbe geht
aber bei einer normalen Appendix vor¬
über, weil hier die Bedingungen für eine
Lokalisation fehlen. Das sind die einfachen
Katarrhe des Wurmfortsatzes, die nach
einigen Tagen vergehen, von denen
Aschoff spricht. In den anderen Fällen
besteht eine anatomische Disposition der
Appendix; hier stauen sich die Sekrete
beim Katarrh; er kann nicht so schnell
schwinden; es kommt zu den Erscheinungen
der akuten Appendizitis. Sobald die Ab¬
flußmöglichkeit für die Sekrete eintritt,
schwinden die Erscheinungen. Entwickelt
sich der Katarrh öfter, so kommt es zu
anatomischen Veränderungen in der Wan¬
dung und im Innern der Appendix. Die
pathologisch-anatomische Diagnose vor der
Operation läßt sich nicht immer durch¬
führen. Wir stellen heute diese Forderung
nicht mehr. Die Entzündung am Wurm¬
fortsatz führt zu einer Hyperleukozytose.
Ist die Virulenz der Infektion hochgradig,
so werden die Leukozyten schnell ver¬
braucht und es werden Reserven heran¬
gezogen in Gestalt von jüngeren, unfertigen,
fragmentierten Zellformen. Die Leuko¬
zytenzählung genügt in vielen Fällen zur
Klarstellung der Heftigkeit der Infektion;
genügt dieselbe nicht, so läßt Sonnen¬
burg noch die Arnethsche Methode der
Blutbildbestimmung ausführen. Es konnte
so immer wieder gezeigt werden, daß die
qualitativen Veränderungen des Blutes desto
größer waren, je schwerer die Infektion
war; je größer die Zahl der einkernigen
Leukozyten, desto ernster die Prognose.
Ein Fallen der Leukozytenkurve und ein
Steigen des Arnethschen Blutbildes ist
ein sehr übles Zeichen. Mit Hilfe dieser
Blutuntersuchung werden die Fälle aus¬
gesucht, die operiert werden können und
sollen. Ist das richtige Urteil so gefällt,
so kann man dreist ein Abführmittel geben.
In 300 Fällen hat Sonnenburg Ol. Ricini
gereicht mit Oo/ 0 Mortalität, zum Beweis,
daß er mit der Differenzierung der Fälle
auf dem richtigen Wege ist. Die Fälle
heilten, weil sie leicht waren, nicht infolge
des Abführmittels. Die Entscheidung über
den Zeitpunkt der Operation und die Be¬
handlung der Appendizitis gehört nur dem
Chirurgen. Sonnenburg ist im Prinzip
auch ein Anhänger ganz früher Operation.
Er glaubt aber durch die Blutuntersuchung
einst dem Arzte etwas Praktisches bieten
zu können, so daß derselbe strenge Indi¬
kationen für die Operation im Anfang der
Erkrankung stellen kann. Er hofft, daß die
Chirurgen sich ihm allmählich an schließen
werden. Seine Erfolge sind so gut, wie
die der anderen. Er will nur einem kritik¬
losen Frühoperieren aller Fälle entgegen-
treten.
Kocher bekennt sich vollständig zu
den Ausführungen von Kümmell. Das
Rizinusöl von Sonnenburg hat ihm Leib¬
schmerzen verursacht. Dadurch ist die
Gefahr entstanden, daß die Behandlung der
Appendizitis wieder in die Hände der
Internisten gerät. Die Bezeichnung als
Angina des Abdomens trifft zu. Die katar¬
rhalische Appendizitis spielt eine viel zu
große Rolle, sie kommt nur als sekundäre
Erkrankung vor. Die Pathologen sehen
vor Bäumen den Wald nicht, wenn sie
nur geschlossene Wurmfortsätze unter¬
suchen. Man findet schon ganz im Anfang
Veränderungen im Wurmfortsatz, die die
akute Appendizitis als hämorrhagisch gan¬
gränöse Entzündung charakterisieren. Die
strenge Unterscheidung in simplex und
destructiva läßt sich nicht durchführen.
Die Blutung zeigt sehr häufig eine segmen¬
täre Anordnung, genau entsprechend der
Anordnung eines Gefäßgebietes; sie breitet
sich allmählich aus, bis sie die ganze
Appendix einnimmt. Das Exsudat in der
Appendix hat die allergeringste Bedeutung.
Aus den hämorrhagischen Infiltrationen
kann Nekrose hervorgehen und daraus
kann bei dem infektiösen Inhalt der Appen¬
dix Gangrän werden. Hier kommt es zum
Durchbruch. Wenn nun die Gangrän
immer droht, so muß man früh operieren
und nicht erst mit Blutuntersuchungen die
Zeit verlieren. Küttner empfiehlt auch
aufs dringendste die Frühoperation. Seit¬
dem er die Fälle früher in die Klinik be¬
kommt, ist die Gesamtmortalität der akuten
Anfälle von 29,4 % auf 8,5 °/ 0 gefallen.
Kunkel (Fulda) hat es durch die Volks-
tümlichmachung der Operation erreicht, daß
in der dortigen Gegend kein Appendizitis¬
kranker mehr außerhalb des Krankenhauses
stirbt! Sprengel (Braunschweig): Der
praktische Arzt wendet nach dem Vor¬
gehen Sonnenburgs jetzt schon wieder
zu häufig das Rizinusöl an. Die Anwen¬
dung des Oeles ist gefährlich und über¬
flüssig. Die Frühoperation ist eine Reak¬
tion auf eine vorhergehende falsche Be
handlung durch das Publikum, namentlich
mit Rizinusöl. Die Leukozytenzählung
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218
Die Therapie der Gegenwart 1910.
Mai
versagt und wird in den meisten Anstalten
nicht mehr geübt. Die Untersuchung des
Blutbildes ist zu kompliziert, besonders für
den praktischen Arzt Die Diagnose der
Appendizitis ist die leichteste Unterleibs¬
diagnose im Frühstadium. Bei der Inter¬
valloperation gehört die Prognose zu den
Unmöglichkeiten; gerade deshalb ist die
Frühoperation am Platz. Intervallopera¬
tionen dürfen nicht kritiklos gemacht wer¬
den. Die Statistik von Albu ist ganz un¬
zuverlässig und falsch. Auf die Kritik
Albus will er nicht eingehen. „Wir
Chirurgen sind höfliche Leute und sagen:
Herr Albu versteht in dieser Sache nichts.“
F. König (Altona) ist auch Anhänger der
Frühoperation. Die wissenschaftlichen Un¬
tersuchungen, wie z. B. die Untersuchung
der Viskosität, können nur einseitige Auf¬
klärung geben, namentlich über die ent¬
zündlichen Faktoren im bakteriologischen
Sinne. Im praktischen Sinne ist aber die
Appendizitis keine bakterielle Erkrankung.
M ei sei (Konstanz): Segmentäre Erkran¬
kungen führen zur Perforation und die
segmentären Erkrankungen sind die Folge
von Gefäßverschlüssen. Man findet im
Mesenteriolum dann nicht nur Thrombosen,
sondern sogar Obliteration der Venen; es
sind das chronische Erkrankungen.
v. Brunn (Tübingen) erhielt bei der
Bauchdeckennaht nach Eröffnung appen-
dizitischer Abszesse unter 87 Fällen 33 mal
sekundäre Abszesse, davon zwei intraperi¬
toneale. Die offene Behandlung ergab in
69% Narbenbrüche, die Naht in 20%.
Rehn (Frankfurt a. M.) rät im Gegensatz
zu Nord mann, bei der Eröffnung alter
Absesse, wenn es nötig ist, die Bauchhöhle
wohl zu öffnen. Von 60 alten Abszessen sind
ihm 25 gestorben, ohne daß er die Ad¬
häsionen löste, davon nur einer an Peri¬
tonitis, keiner infolge der Operation. Auch
bei Abszessen empfiehlt er die primäre
Naht mit Drainage. Langemak spricht
sich gegen die primäre Naht aus; man soll
nach spätestens viermal 24 Stunden die
Tampons entfernen und erlebt dann auch
keine Brüche. Körte näht auch nur Peri¬
toneum und Faszie und eventuell Musku¬
latur mit einigen Nähten nach eitrigen
Bauchoperationen. Die Haut läßt er offen
oder näht sie sekundär. Fabricius (Wien)
weist darauf hin, wie oft eine Appendizitis
die Ursache scheinbar gynäkologischer Er¬
krankungen ist; bei der Appendizitisopera¬
tion soll man auch immer die Genitalien
kontrollieren. Heile (Wiesbaden) stellte
an Hunden Versuche zur experimentellen
Erzeugung von Appendizitis an; auf häma¬
togenem Wege gelang ihm das nicht. Die
Veränderungen, die er bei seinen Unter¬
bindungen und Injektionen erzielte, bieten
nichts unerwartetes und tragen nichts zur
Klärung der Appendizitisfrage bei.
Rotter (Berlin) wendet sich gegen die
Naht mit Drainage bei Peritonitis, da un¬
gefähr von der 12. Stunde nach der Ope¬
ration an eine Drainage der freien Bauch¬
höhle nicht mehr möglich ist, weil dann
schon Verwachsungen vorhanden sind.
Erst vom dritten Tage ab tritt wieder eine
Sekretion ein, und zwar aus den Granula¬
tionen. Rehn führt demgegenüber aus,
daß er bei 62 freien Peritoniten, die er
nach seiner Methode drainiert hat, nur
dreimal sekundäre Abszesse, niemals einen
Douglasabszeß erlebt hat. Er hatte bei allge¬
meiner Peritonitis eine Mortalität von 47 %.
Hirschei (Heidelberg) hat in verzwei¬
felten Fällen große Mengen vonl %Kampfer-
öl in die Bauchhöhle gebracht und ist mit
der Wirkung sehr zufrieden. Nößke hat
sogar bis zu 300 g 5—10% Kampferöl in
die Bauchhöhle eingeführt und war eben¬
falls sehr zufrieden; aus dem Oel müssen
erst die ranzigen Produkte entfernt werden.
Borchard (Posen) hat weitere Fälle von
Peritonitis durch Einführung von Olivenöl
in die Bauchhöhle mit gutem Erfolg be¬
handelt. Die Methode ist ungefährlich.
Der Puls hebt sich bald danach.
Tietze (Breslau) hält die Diagnose der
Pankreasnekrose für gut möglich. Von
7 Fällen hat er zwei geheilt. Der Chirurg
muß auf dem Standpunkt stehen, daß für
die disseminierte Fettnekrose Erkrankungen
des Pankreas die Ursache sind. Man muß
das Pankreas freilegen und den Bauch im
übrigen wie bei einer Peritonitis behandeln,
Polya (Budapest) hält die Pankreasnekrose
für die Folge einer Infektion des Pankreas
mit aktivierenden Bakterien, die den
Pankreassaft verdauend machen und so zu
einer Selbstverdauung der Drüse führen.
Rosenbach (Berlin) meint, daß zur
Pankreasnekrose nötig ist 1. eine mechani¬
sche oder bakterielle Schädigung des Or¬
gans, 2. das Hinzutreten von aktivierenden
Substanzen. In das Duodenum einge¬
pflanzte Pankreasstückchen wurden erst
verdaut, wenn sie vorher mit Adrenalin¬
lösung bestrichen waren.
Seidel sah bei zwei Leuten mit jahre¬
lang bestehender Gallenfistel Knochen¬
störungen auftreten; in dem einen Falle
kam es zu multiplen Spontanfrakturen, die
aber wieder heilten; in dem anderen Falle
bestanden Knochenschmerzen und Geh¬
störungen. Der eine Fall ist durch Sektion
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Mai
Die Therapie der Gegenwart 1910.
219
bestätigt. Auch bei Hunden ist bei lange
bestehender Gallenfistel Osteoporose beob¬
achtet, die nach Schluß der Fistel in wenigen
Wochen heilte. Das fordert auf, Gallen¬
fisteln nicht zu lange bestehen zu lassen.
Noetzel (Völklingen) hat durch Tier¬
versuche bestätigt, daß die Gallenblasen¬
peritonitis auch beimTier eine sehr schlechte
Prognose hat.
Sprengel sucht eine Aenderung in der
bisherigen Richtung der Laparotomie¬
schnitte herbeizuführen. Am meisten geübt
werden bisher die Längsschnitte. Dabei
werden die Aponeurosen, Faszien und
Nerven meist quer getroffen. Man soll
mehr zu Querschnitten übergehen. H e u s n e r
legt seit 4 Jahren bei Bauchoperationen
Querschnitte an. Die Bauchdecken klaffen
dabei sehr gut. Sehr * zeitraubend und
schwierig ist die Naht der dicken Schichten.
Die Narben sind sehr fest.
Rehn jr. (Königsberg) bat seine Ver¬
suche über freie Sehnentransplant&tion
fortgesetzt. Das Peritonium spielt eine
wichtige Rolle entsprechend dem Peri-
chondrium und Periost und ist nicht nur
Blut- und Lymphgefäßträger. Es hat eine
sehnenbildende Eigenschaft, aber nur, wenn
sofort funktioneller Reiz und Anspannung
eintritt. Das Peritonium ist zum Zusammen¬
heilen der Stümpfe unbedingt nötig. Lex er
hat die Ueberpflanzung beim Menschen
mehrfach ausgeführt: Ersatz der Quadri-
zepssehne durch eine ebensolche durch
Amputation gewonnene; ebenso die Achilles¬
sehne zweimal; desgleichen an einem para¬
lytischen Klumpfuß; Uebertragung vom
amputierten Unterschenkel auf die Hand;
selbst auf Syphilitische glückte die Ueber¬
tragung vorübergehend; Nabel- und epi¬
gastrische Hernien wurden durch Sehnen
geschlossen. — Freie Fetttransplantation
ergab beim Tier gute Resultate. Nach
8 Tagen war es schon gut eingeheilt; nach
mehreren Monaten war der Hauptteil noch
gut erhalten, ein Teil resorbiert. Das Fett
zeigte sich dem künstlichen Material über¬
legen zur Ausfüllung der verschiedensten
Lücken. Läwen (Leipzig) hat eine Hernie
der Linea alba durch einen großen Periost¬
lappen von der Tibia gedeckt. Kirschner
(Greifswald) empfiehlt die Transplantation
von Faszien zur Deckung von Defekten der
verschiedensten Art. Das Material wird
der Fascia lata femoris entnommen. Man
kann so Autoplastik machen und ist von
der Homoplastik unabhängig. Einmal be¬
währte sie sich auch zur Deckung einer
Blasenektopie. v. Saar bespricht die er¬
folgreiche Einpflanzung von Peritoneum,
Periost und Faszie in die Dura. Bauer
(Breslau) hat Versuche über die Ein¬
pflanzung konservierter Knochen gemacht.
Die Knochen wurden aseptisch entnommen
und bei dauernd 0—1° aufbewahrt in
physiologischer Kochsalzlösung mit oder
ohne Antiseptikum, oder im Serum ge¬
töteter Tiere, oder in Ringerscher Lö¬
sung. Alle Knochen heilten reaktionslos
bei Hunden ein; nach 14 Tagen schon be¬
stand innige Verwachsung mit den um¬
gebenden Weichteilen im Gegensatz zu
Elfenbein und ausgeglühtem Knochen. Am
besten bewährte sich die Aufbewahrung in
Ringerscher Lösung. Kraus (Charlotten¬
burg) hat gestielte Hautlappen in das Peri¬
toneum eingeheilt; es bildete sich keine
Metaplasie in Serosa, sondern es entstanden
Epithelzysten. Bier hat Fettgewebe oft
mit gutem Erfolg übertragen.
Gulecke (Straßburg) will aus seinen
Hundeversuchen die Möglichkeit der Naht
der Aorta ascendens beweisen. Sie ist
sehr brüchig und kann nicht länger kom¬
primiert werden wegen der Schädigung der
nervösen Zentren und des Herzens. Er
beschränkte sich daher auf die seitliche
Naht Fünf Tiere von 17 sind geheilt, da¬
von drei mit glatter Narbe; in einem Fall
bildete sich ein wandständiger Thrombus,
einmal entstand nach 2 Tagen ein Aneu¬
rysma.
Unger (Berlin) hat mit Erfolg die Nieren
mit Kava und Aorta von Hund auf Hund
transplantiert; bei Uebertragung von Hund
auf Schwein entstand sofort Thrombose in
der Kava; Uebertragung von einem Neu¬
geborenen, U /2 Stunde p. ra., auf Affen
erregte keine Gerinnung. Die Nieren eines
großen Affen wurden einer schwer urämi¬
schen Frau eingepflanzt: Thrombose trat
nicht ein; aus den Ureteren sickerte am
anderen Tag Flüssigkeit, unentschieden,
ob Urin oder Oedemflüssigkeit; Tod nach
36 Stunden; die Nieren waren lebensfrisch,
hätten funktionieren können.
Wilms hält die Gefahr der Fettembolie
für abwendbar. Da der Transport des
Fettes auf dem Lymphwege geschieht, so
läßt es sich im Ductus thoracicus abfangen.
Bei einem Verletzten mit viel Quetschungen
und Knochenbrüchen und mit den be¬
ginnenden Erscheinungen der Fettembolie
legte er den Ductus thoracicus frei und
drainierte ihn; zwei Tage floß Lymphe mit
dicken Fettropfen ab; nach sechs Tagen
war die Wunde trocken. Der Mann genas,
Die Schwierigkeit liegt in der Diagnose.
Clairmont (Wien) empfiehlt auch die
Behandlung der Luftaspiration, deren
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220 Die Therapie der Gegenwart 1910. Mai
Diagnose leichter ist als bei der Fett¬
embolie. Es kommen nur die ganz akut
verlaufenden Fälle in Betracht. Die Pro¬
gnose ist ungünstig. Es gelang ihm nicht,
ein Tier zu retten. Er machte erst die
Aspiration der Luft aus dem Herzen, wenn
dasselbe schon Stillstand. Das Herz fing
wieder an zu schlagen, aber die Tiere
blieben tot.
Dollin ger (Budapest) fand als Haupt¬
hindernis für die Reposition der veralteten
Schulterluxation eine Verkürzung der
Sehne des M. subscapularis. Nach dessen
Durchschneidung ließ sich unter 36 Fällen
31 mal die Reposition ausführen, ln 5
Fällen bestand zugleich eine schlecht ge¬
heilte Fraktur am Collum chirurgicum;
hier mußte reseziert werden. Die Operation
dauert 15—20 Minuten und ist einfach.
Bei der präkorakoiden Form ist allerdings
große Vorsicht nötig, da dann die großen
Gefäße dem Kopf aufliegen und damit ver¬
wachsen sein können. Ein schon bestehen¬
der Bruch des Tuberculum maius muß zu¬
gleich festgenäht werden. Reluzation trat
nur einmal ein, am 2. Tag, dann nicht
mehr. Die Endergebnisse ließen natürlich
viel zu wünschen übrig, da ja schon die
frischen Luxationen oft wenig erfreuliche
Resultate liefern. Schlange und Landow
bestätigen die Ausführungen Dollingers.
Neuber (Kiel) empfiehlt bei Coxitis
tuberculosa ein operatives Vorgehen, wenn
die konservative Behandlung nicht bald
Erfolg hat; die Kranken heilen dann
schneller und mit besserem Resultat. Er
eröffnet das Gelenk von vorn, weil da¬
durch die Funktion weniger gestört wird.
Vor der Operation sind Jodoforminjektionen j
zu machen, da sie die dankbarere Form,
die derbere, schafft. Die Gelenk wunde des¬
infiziert er mit 5% Formalinseifenlösung,
füllt das Gelenk mit 5% Jodoformemulsion.
Bis auf den Tampon wird die ganze Wunde
geschlossen. Die Erfolge sind gut; im all¬
gemeinen wird ein gut bewegliches Gelenk
erzielt. In der Bierschen Klinik wird das ;
Hüftgelenk möglichst konservativ behandelt.
Auf die Fixation wird dabei großer Wert
gelegt; die Verbände werden 4—10 Monate
und länger durchgeführt. Eine Ankylose soll
man nur da erstreben, wo eine ständige
Neigung zu Kontraktur besteht. Das Knie¬
gelenk gibt für die konservative Behand¬
lung die schlechtesten Ergebnisse und ist
für Stauung am undankbarsten. Die Ent¬
lastung ist hier sehr wichtig. Beim Fu߬
gelenk ergibt die konservative Behandlung
bessere Erfolge als die operative. Man
braucht nicht zu fixieren, sondern nur zu I
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entlasten und stauen. Die Kontrakturen
schwinden unter der Stauung von selbst.
Die zahlreichen vorgezeigten Fälle zeigen
alle sehr gute Resultate. Alapy operiert
die Koxitis bei Kindern nur bei infizieren¬
den Fisteln. Die Funktion ist viel besser
und die Verkürzung viel kleiner, als nach
Operation. Kniegelenkstuberkulose operiert
er nur bei Vorhandensein von Eiter.
Spitzig operiert die Coxitis tuberculosa
nur bei Indicatio vitalis. Eine Beweglich¬
keit ist nur zu erreichen bei serösem Er¬
guß, niemals bei Zerstörung des Knochens.
Müller (Rostock) empfiehlt die möglichst
frühe Entfernung der käsigen Herde bei
großen Kindern und Erwachsenen; nur dann
bekommt man gute Erfolge.
Die Esmarchsche Binde wird gewöhn¬
lich viel zu fest angelegt und verursacht
dadurch Beschwerden oder Schädigungen.
Ihr Druck braucht den arteriellen Blutdruck
nur wenig zu übertreffen, also etwa 20 mm
Quecksilber. Deshalb hat Perthes (Leip¬
zig) eine auskochbare Hohlmanschette aus
Durit hersteilen lassen, die um das Glied
gelegt und dann mit einem kleinen Blase¬
balg einfach aufgeblasen wird. Der Druck
ist einfach abzulesen. Die Lösung geschieht
ebenso einfach. Es tritt nur ein Gefühl von
Schwere, nach etwa 25 Minuten motorische
und sensorische Lähmung ein. Zur Aus¬
führung der Bierschen Stauung empfiehlt
er eine Hohlmanschette in Verbindung mit
einem Irrigator. Momburg empfiehlt den
Druck zu regeln, indem man die Haut an
der Stelle der Abschnürung erst reibt und
die Binde so fest anlegt, bis die Rötung
schwindet. In der Diskussion wird das
Unterlegen von Gummikissen unter die
Binde empfohlen, besonders bei der Um¬
schnürung des Abdomens, da nach der ein¬
fachen Umschnürung einmal starke Darm¬
blutung bei einem Kind beobachtet wurde.
Röpke (Jena) beschreibt die in Jena
übliche winkelige Durchmeißelung des
Oberschenkels bei Genu valgum, wodurch
gleich ein besserer Halt erzielt wird.
Klapp beschreibt seine Methode der
Mobilisierung von Ankylosen im Kniege¬
lenk. Dieselbe ist nur anwendbar, wenn
noch die Stützfähigkeit vorhanden ist. Er
bringt nach Lösung aller Verwachsungen
das Knie in starke Bewegung, so daß die
Tibia auf den unversehrten Knorpelflächen
an der Hinterseite der Oberschenkelkon-
dylen stellt. Durch Herausnahme eines
Keils aus dem Oberschenkel wird das
Knie dann gestreckt gestellt; sehr genaue
Vereinigung ist nötig. Die Erfolge waren
zum Teil recht gut.
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Mai
221
Die Therapie der
An schütz (Kiel) empfiehlt wieder aufs
wärmste die Nftgelextension zur Verlänge¬
rung von Gliedern, die durch schlecht ge¬
heilte Frakturen oder Wachstumsstörungen
verkürzt sind. Bei irischen Frakturen wird
die Frakturstelle mobilisiert, bei alten wird
osteotomiert, schräg oder treppenförmig,
und dann nagelextendiert. Besonders die
alten Oberschenkelbrüche soll man an-
greifen. Er hat so Verlängerungen um
8 bis 9 cm am Oberschenkel erzielen
können.
Die Diskussion über die Knochennaht
bei Frakturen zeigte, daß dieselbe doch
schon viele Freunde hat, aber in ihrer
Technik noch sehr zu vervollkommnen ist
und in ihren Ergebnissen noch viel zu
wünschen läßt Auch bei der Naht ist sehr
große Sorgfalt auf die Erhaltung des Pe¬
riost zu legen. Wilms empfiehlt die Naht
bei jedem stark dislozierten Vorderarm¬
bruch; zur Bolzung nimmt er hier einen
einfachen Nagel, dessen Kopf und Spitze
abgekniffen wird; für den Unterschenkel
nimmt er Elfenbein. Bergei (Langensalza)
hat Versuche mit Fibrin angestellt. Durch
subkutane Injektion erzeugte er Leukozytose
und Granulationsbildung; nach subperi¬
ostaler Injektion bildete sich Kallus. Fibrin-
Mer ck ist ganz steril und stets gebrauchs¬
fertig. Es stellt eine Unterstützung der
physiologischen Vorgänge bei Wund¬
heilung und Kallusbildung dar.
Nehrkorn (Elberfeld) berichtet über
Osteosklerose der langen Röhrenknochen
bei einer Frau, wohl auf anämischer Basis,
die sehr große Schmerzen machte. Wasser¬
mann sehe Reaktion war negativ; Rachitis
bestand nicht. Die Kranke war an Armen
und Beinen fast ganz gelähmt. Er trepa¬
nierte alle langen Röhrenknochen ausge¬
dehnt und räumte die Markhöhle aus, wo¬
nach die Schmerzen schwanden und die
Beweglichkeit wiederkehrte. Die Mark¬
höhle war nur noch sehr klein.
Durch die Laparotomie werden beson¬
ders die serösen Formen der B&uchfell-
tuberkulose günstig beeinflußt. Glycerin,
offic. in die Bauchhöhle eines Tieres in¬
jiziert, bewirkt eine Exsudation von 5 bis
10% des gesamten Körpergewichtes an
Flüssigkeit in die Bauchhöhle; dieser Aszites
wird in 12—16 Stunden wieder aufgesaugt.
Friedrich schlägt nun vor, bei der Lapa¬
rotomie der serösen Formen 25 bezw. 40 g
Glyzerin in die Bauchhöhle zu bringen;
später injiziert er bis achtmal Glyzerin in
die Bauchhöhle. Man wird durch die Zu¬
nahme des Körpergewichts und die Besse¬
rung des subjektiven Befindens danach
Gegenwart 1910.
überrascht. Die tuberösen Formen ope¬
riert man besser nicht. Evler (Treptow)
hat bei wiederkehrendem tuberkulösen
Aszites eine Dauerdrainage unter die
Bauchhaut mit gutem Erfolg ausgeführt.
In der Diskussion wird auf den großen
Wert der dauernden Ruhigstellung der
Kranken hingewiesen. Alapy empfiehlt
vor der Operation einige Wochen Tuber¬
kulinbehandlung, die sich ihm sehr be¬
währt hat.
Brunner (Münsterlingen) hat eine große
Umfrage über die Wundbehandlungs¬
technik veranstaltet und folgendes zusammen¬
gestellt: Die meisten Chirurgen reinigen die
Hände mit Wasser, Seife, Sublimat; es
folgt der Zahl nach Heißwasser, Alkohol;
wenige mit Seifenspiritus; noch weniger
Jodbenzin. Gummihandschuhe trägt die
Hälfte grundsätzlich. — Desinfektion des
Operationsfeldes wird am häufigsten mit
Wasser, Seife, Sublimat ausgeführt; manche
pinseln danach Jodtinktur; das Jodbenzin
hat sich etwas eingebürgert. Ein Drittel
trägt Masken oder Schleier; verschiedene
haben die Maske wieder weggelassen, (na¬
türlich) ohne Verschlechterung des Resul¬
tats. Katgut wird von fast allen benutzt;
die Jodpräparation ist die häufigste. Die
meisten operieren trocken, doch ist die
antiseptische Waschung nicht ganz ver¬
lassen. Jodoformgaze wird noch reichlich
angewandt. Operationswunden werden
meist mit steriler Gaze bedeckt. Unfall¬
verletzungen werden fast von allen anti¬
septisch behandelt; die Umgebung wird
viel mit Jodtinktur gepinselt. Bei offenen
Knochenbrüchen wird oft Perubalsam an¬
gewandt.
Bürgers (Königsberg) hat zur Bestim¬
mung der Virulenz von Streptokokken
folgende Methode ausgebildet: Herstellung
einer gleichmäßigen Emulsion aus einer
14 Stunden alten Reinkultur aus der Wunde.
Mit Menschenblut bei 37 o im Brutschrank.
Ausstrich-Bestimmung des Prozentsatzes von
Leukozyten, die Kokken gefressen haben.
Diese Methode würde 14 Stunden nach der
Entnahme des Materials ein Urteil erlauben.
Hagemann (Greifswald) hat in 46 Fällen
Antistreptokokkenserum Höchst möglichst
früh gegeben, zum erstenmal 50 ccm, bei
Wiederholung 10—25 ccm, immer unter
die Haut. Eine Heilwirkung trat nie ein.
Schwere Sepsis wurde überhaupt nicht be¬
einflußt. Dauernde Schädigung durch das
Serum trat nicht ein, wohl aber vorüber¬
gehende. Wo es günstig wirkte, war es
wohl einfach die Wirkung des artfremden
Serums durch Anregung der Phagozytose.
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222
Die Therapie der Gegenwart 1910.
Mai
Lotheisen (Wien) glaubt in dem Anti-
streptokokkenseram Paltauf ein brauchbares
Mittel gefunden zu haben. Schädigung
durch dasselbe hat er nicht gesehen.
Nößke hat bei 20 Fällen von schwerer
Staphylokokken- und Streptokokkeninfektion
an der Hand breite oberflächliche Inzisionen
an der Innenseite des Oberarms unterhalb
der Achselhöhle gemacht, um aus den sich
hier sammelnden Lymphgefäßen die in¬
fizierte Lymphe sich entleeren zu lassen.
Er war mit dem Erfolg zufrieden; die
Schnitte müssen früh gemacht werden.
Ritter (Posen) behandelt das Erysipel mit
aktiver Hyperämie in Gestalt von Heißluft,
dreimal täglich s / 4 —Stunde, mit gutem
Erfolg. In der Diskussion wird auf das
genau periodische Ab- und Anschwellen
der Fieberkurve bei Sepsis hingewiesen,
die Perioden sind in den einzelnen Fällen
verschieden, wohl abhängig von den
Kokkenstämmen; es handelt sich wohl
jedesmal um eine neue Generation. Schöne
(Marburg) berichtet über seine Versuche,
die Wundbehandlung und das Geschwulst¬
wachstum durch Stoffwechselstörungen und
Vergiftungen zu beeinflussen.
König und Hohmeier (Altona) haben
eine Umfrage über die Lumbalanästhesie
veranstaltet: Eine große Zahl Chirurgen
haben die Methode wegen ihrer Gefahren
verlassen. 2400 Fälle gesammelt. Skopol¬
amin-Morphin gibt ein Teil vorher. Die
meisten Chirurgen wenden die Methode
nur bei Kranken von über 14 Jahren an;
zweimal wurde sie bei Tabes ohne Schä¬
digung angewandt. Die Mittel waren
Stovain, Novokain, Tropakokain mit und
ohne Adrenalin. Das Pohlsche Präparat
hat die meisten Versager gebracht und
deshalb wird das Mercksche viel ver¬
wendet. Im ganzen waren 9% Versager.
Nachwirkungen: Kopfschmerzen fehlten
selten und traten nach allen drei Mitteln
auf, sie sind durch die gewöhnlichen Mittel
und Stauung nicht zu beeinflussen. Son¬
stige Störungen traten selten und nur vor¬
übergehend auf. Drei Abduzenslähmungen
gingen nicht zurück. Nierenstörungen
wurden nicht beobachtet. Asphyxie machte
viermal künstliche Atmung nötig. 41 Fälle
von Lungenerkrankung, darunter 0,70 %
Pneumonie im ganzen, also wie bei Inhala¬
tionsnarkosen. 12 Todesfälle = 0,5 °/ 0 , d. h.
15 mal so viel wie bei Allgemeinnarkose:
viermal Atmungslähmung, dreimal Kollaps,
einmal Anurie, einmal Apoplexie, dreimal
Meningitis spinalis purulenta; die letzteren
37 Stunden bezw. 11 Tage bezw. 11 Tage
nach der Operation.- Die hohe Zahl von
Todesfällen Hegt an der Ungunst des Ma¬
terials. Einer weiteren Verbreitung der
Methode kann nicht das Wort geredet wer¬
den. Sie ist nur anzuwenden, wenn Aether-
rausch und Lokalanästhesie nicht ausreichen
und strenge Gegenanzeigen gegen Allge¬
meinnarkose bestehen. Bei Arteriosklerose
sind die Nebennierenpräparate am gefähr¬
lichsten. Diabetes ist eine Indikation für
Lumbalanästhesie. Die Lumbalanästhesie
schädigt dieselben Organe, wie die All¬
gemeinnarkose, aber sie schädigt außerdem
das nervöse Zentralorgan, das dort unver¬
sehrt bleibt Müller (Rostock) hat etwa
2000 mal Lumbalanästhesie angewandt und
ist ein großer Anhänger der Methode; er
nimmt immer Stovain. Kopfschmerzen hat
er auch viel gesehen und das ist das un¬
angenehmste dabei. Meningitis sah er
niemals. Bei Kopfschmerz wird der intra¬
durale Druck gemessen; ist er gesteigert,
so wird abgelassen, ist er, wie gewöhnlich,
herabgesetzt, so wird eine Kochsalzinfusion
gemacht und die Kopfschmerzen schwinden
nach einer Stunde. Strauß hat über
19000 Lumbalanästhesien zusammengestellt
mit 0,5 °/qo Mortalität; bei 30 000 Fällen fand
er eine solche von 1:1800. Dönitz
(Berlin): Die Nacherscheinungen werden
hauptsächlich durch meningitische Reizung
verursacht. Das Tropakokain reizt am
wenigsten. Die Nebennierensubstanzen
lösen im zersetzten Zustand üble Nach¬
wirkungen aus. Viel Suprareninzusatz er¬
zeugt viel Kopfschmerz und Erbrechen.
Kalte Lösungen erregen auch Kopf¬
schmerzen; deshalb ist körperwarm einzu¬
spritzen. Die langdauernde Lähmung der
Beine, die Par- und Anästhesien, die Blasen¬
lähmung hängen davon ab, wo die Cauda
equina auf ihrem Querschnitt getroffen ist;
die Injektion muß dieselbe an der Hinter¬
seite treffen.
Coenen macht auf die Massenblutungen
in das Nierenlager aufmerksam, wovon elf
Fälle bekannt sind. Die Ursache waren
perforierte Tumoren oder Tuberkulose,
Nephritis, Arteriosklerose. Man muß
essentielle Blutungen, meist bei Nephritis,
und sekundäre Blutungen unterscheiden.
Die Diagnose wurde nur einmal gestellt,
obwohl die Erscheinungen charakteristisch
sind. Heftiger, anfallsweiser Schmerz,
Zeichen der inneren Blutung, Ausbildung
eines Nierentumors; der Urin kann ganz
normal sein. Prognose sehr schlecht.
Durch Operation 44% geheilt. Das Häm¬
atom kann sich auch abkapseln.
Payr (Greifswald): Durch Eingriffe am
Gefäßsystem läßt sich ein Magengeschwür
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Mai
Die Therapie der Gegenwart 1910.
223
nur schwer erzeugen, weil die Gefäß Ver¬
sorgung am Magen so gut ist. Er injizierte
2—10%ige Formalinlösung in Magen¬
arterien und -Venen; danach entstanden
Geschwüre mit wenig Neigung zur Heilung
und großer Neigung zum Fortschreiten und
Perforieren. Eine Selbstverdauung kann
das nicht sein, denn die Perforation er¬
folgte in der fünften bis sechsten Woche.
Er hat 30 Ulzera reseziert und exzidiert.
Die Ulkusschwielen sind zum Teil ganz ge¬
fäßlos, obwohl sie bis 3 cm dick sind.
Selbst Hauptarterien können darin ganz
verschlossen sein. Die Blutungsgefahr ist
bei Ulcus simplex viel größer als bei Ulcus
callosum. Die Schwiele dehnt sich weit
über die Grenzen des Geschwürs hinaus,
sie kann um den ganzen Magenumfang sich
herumziehen. Payr ist deshalb immer
mehr zur Resektion des mittleren Magen¬
teils gekommen. In 26% von 30 Ulcera
callosa ließ sich eine sichere, teils be¬
ginnende, teils fortgeschrittene Umwand¬
lung im Karzinom feststellen; dabei hat er
nicht einmal Serienschnitte gemacht. Die
Mortalität der Resektion betrug 10%.
Nach der Resektion verminderte sich der
Pylorospasmus bedeutend; bei einfacher
Exzision kann er weiter bestehen. K ü 11 n e r
kam zu folgenden Ergebnissen: Es gelingt
auch dem Erfahrenen nicht, das Ulcus
callosum makroskopisch vom Karzinom zu
unterscheiden; 43,4 % erwiesen sich mikro¬
skopisch als sichere Karzinome. Von den
wegen Ulkus resezierten, wo aber mikro¬
skopisch ein Karzinom nachgewiesen wurde, |
sind viele jahrelang geheilt geblieben. Von
den wegen Ulcus callosum gastroentero- |
1 stornierten sind 41 % an Karzinom ge¬
storben. Das Ulcus callosum darf also nur
mit Resektion behandelt werden. Ewald
I (Berlin) glaubt auch an eine sehr häufige
> Umwandlung des Ulkus in Karzinom. Die
| chemische Untersuchung liefert keine
I strengen Beweise für Gut- oder Bösartig¬
keit des Ulkus. Schoemaker legte bei
Hunden eine Duodenumfistel an. Genossene
Milch tritt nach 10 Minuten aus; Ein¬
spritzung von Säure in den Darm sistiert
den Abfluß um etwa 9 Minuten. Bei ge¬
mischter Kost kommt nach 10 Minuten der
erste Guß in Form von Wasser, nach
weiteren 10 Min. bröckchenhaltiges Wasser
und erst viel später die anderen Speisen.
Nach Entfernung des Pylorus kommt auch
nach 10 Minuten der erste Guß, obwohl der
Sphincter pylori fehlt; dann kommen die
Güsse regelmäßig, nur etwas rascher und
etwa viermal so stark; bei gemischter Kost
i derselbe Vorgang. Also ist eine Funktion
, der Peristaltik anzunehmen, die so auf den
| Inhalt wirkt, daß das zuerst austritt, was
I am leichtesten herausgebracht werden kann.
Aber bei Einspritzung von Säure in den
Darm erfolgt dann ein ununterbrochener
, Austritt aus dem Magen. Also es ist durch
die Pylorusresektion nur der Säurereflex
vom Darm aus gestört. Daher schlägt Schoe¬
maker bei Hyperazidität Gastroenterosto¬
mie, bei Hypazidität Sphinkterektomie vor.
Reichel (Chemnitz) hat die Flexura
sigmoidea mit gutem Erfolg durch eine
Dünndarmschlinge ersetzt.
Meisel hat in 17 Fällen von Gastro-
enteroptosis die Kolorrhapie mit befriedi¬
gendem Erfolg ausgeführt.
VI. Kongreß der Deutschen Röntgengesellschaft,
Berlin« 3. April 1910.
’ Bericht von Dr. Bugen Jacobsohfl-Charlottenburg.
Der VI. Röntgenkongreß unter der Lei¬
tung Holzknechts brachte eine Menge
von Vorträgen und Demonstrationen. Trotz¬
dem kann nicht behauptet werden, daß die
einzelnen Themata besonders nennenswerte
und neue Aufschlüsse ergaben. Neben
einigem Interessanten und Anregenden hörte
man mancherlei, was selbst dem Spezial-
röntgenologen weniger wichtig und wert¬
voll erscheinen mußte.
Die Einteilung des reichlichen Stoßes
— es handelte sich um 53 Vorträge, die
an einem Tage zur Besprechung kamen —
gliederte sich in die therapeutischen Vor¬
träge, die Vorträge aus der inneren Me¬
dizin, die chirurgischen, technischen und
Projektionsvorträge.
Die Röntgentherapie hat weitere Er¬
folge zu verzeichnen. H. E. Schmidt
(Berlin) bestrahlte ein inoperables Sarkom
der Hals- und Achseldrüsen und ein inoper¬
ables Sarkom der Tonsille mit Metastasen.
Die Geschwülste verkleinerten sich schon
nach wenigen Sitzungen und schrumpften
bis auf kleine, harte, anscheinend binde¬
gewebige Reste. Die verabfolgten Einzel¬
dosen waren gering; sie betrugen nur %
bis % Erythemdose der Sabouraud-
Noiraschen Skala. — In einem Falle von
Angiom der Wange bei einem 1%jährigen
Kinde erzielte Schmidt schon nach sechs
Sitzungen ein völliges Schwinden des Tu¬
mors. Von der das Hautniveau 1 cm über¬
ragenden Geschwulst blieb nichts mehr
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Die Therapie der Gegenwart 1910.
Mai
übrig, als eine zarte, wenig auffallende
Narbe. Vortragender glaubt, daß beim
Naevus vasculosus die Resultate der
Röntgenbehandlung ebenso gute sein wer¬
den, wie bei der Applikation des Radiums.
Albers-Schönberg (Hamburg), der
sich schon auf dem vorigen Röntgen¬
kongresse in ausführlicher Weise Ober die
Röntgentherapie bei gynäkologischen Krank- !
heiten ausgesprochen hatte, stellte auf
Grund seiner früheren und neueren Be¬
obachtungen folgende Thesen auf: 1. Die
Ovarien werden durch die Röntgen¬
bestrahlung zur Atrophie gebracht. Am
meisten betroffen werden die Graafschen
Follikel. Es tritt infolge dieser Schädi¬
gungen eine künstliche Menopause ein.
Bei älteren Frauen, welche dicht vor oder
in den klimakterischen Jahren stehen, ist !
die Atrophie des Ovariums leichter und *
dauernder zu erreichen, als wie bei jüngeren I
Personen. 2. Die Erzeugung der künst- !
liehen Klimax wird zur Verkleinerung von |
Myomen und zur Beseitigung der durch die
Myome hervorgerufenen Blutungen, fernei; i
zur Beseitigung prä- und postklimakteri- |
scher Blutungen und Beschwerden benutzt.
Die Ursache der Verkleinerung der Myome
und der Beseitigung der Blutungen ist zum I
größten Teil in der Einwirkung auf die
Ovarien, zum kleineren Teil in der Ein¬
wirkung auf die Myome selbst zu suchen.
3. Für den Erfolg der Myomtherapie ist
die Beschaffenheit des Myoms von Bedeu¬
tung. Am besten beeinflußt werden die
intramuralen Myome. Kontraindiziert ist
die Röntgentherapie bei submukösen Myo-
men wegen der oft dabei eintretenden sehr
starken Blutung. 4. Ausgeblutete Frauen
mit sog. Myomherzen oder mit Myokardi¬
tiden dürfen auf keinen Fall bestrahlt wer¬
den, da die im Anfänge der Behandlung
oft auitretende gesteigerte Blutung Lebens¬
gefahr im Gefolge haben kann. 5. Es gibt
refrakträre Fälle, die auf Röntgenbestrah¬
lung nicht reagieren. Erreicht man nach
einer gewissen Zeit, eine gute Technik
vorausgesetzt, keinen Erfolg, so soll man
die Röntgentherapie nicht weiter fort¬
setzen. Anderenfalls läuft man Gefahr,
infolge der langedauernden Bestrahlungen
andere Organe zu schädigen. 6. Auch in
solchen Fällen, in denen keine Menopause
erreicht wird, ist oft eine Besserung der
Blutung und der Periodenbeschwerden zu
erzielen. 7. Die Myome verkleinern sich
oft, in geeigneten Fällen verschwinden sie
sogar ganz; doch gehört dazu lange Zeit.
8. Das Hauptanwendungsgebiet der Röntgen¬
therapie in der Gynäkologie sind die kli¬
makterischen Blutungen und Schmerzen
bei Frauen, die das 50. Lebensjahr über¬
schritten haben. 9. Nur bei gichtiger
Technik sind gute Erfolge zu erzielen,
und Schädigungen mit Sicherheit zu ver¬
meiden.
Gauß (Freiburg i. Br.) weiß über ähn¬
lich günstige Resultate zu berichten. Er
sah gute Erfolge bei Bestrahlung von
Myomen, Metrorhagien, Amenorrhöen und
Dysmenorrhöen. Ein Karzinom, dessen
Operation abgelehnt war, wurde vorüber¬
gehend gebessert. Das Rezidiv trat erst
nach 2 Jahren ein. Die Bestrahlung von
fünf Graviden erzielte in drei Fällen missed
abortion.
Reifferscheid (Bonn) untersuchte
Mäuseovarien, welche vorher bestrahlt
waren. Es zeigte sich Degeneration des
Follikels und Zerstörung der Eizelle. Die
schweren Veränderungen betrafen nicht
nur das Parenchym, sondern auch das
Stroma, dessen Kerne geschrumpft und
dessen Zeichnung verschwommen war. Bei
einem Aflenovarium waren die Erschei¬
nungen fast die gleichen. Die Unter¬
suchung von 6 Menschenovarien, die später
entfernt werden mußten, ergab Degenera¬
tion der Primordialfollikel und Schrumpfung
der Eizelle. Letztere bildeten entweder
eine hyaline Scholle oder schwammen frei
im Follikel. Vortragender glaubt durch
seine Untersuchungen die Uebereinstim-
mung der mikroskopischen mit den klini¬
schen Ergebnissen bewiesen zu haben.
Dohan (Wien) berichtet über günstige
Beeinflussung des chronischen Gelenk¬
rheumatismus. Bei 11 von 13 bestrahlten
Fällen ließ sich ein Nachlassen der Schmer¬
zen und der Schwellung, sowie eine bessere
Beweglichkeit erzielen.
Heßmann (Berlin) sieht in der Haut¬
reaktionsstufe ein Hindernis für die oft
| notwendige Massendosierung bei Tumoren.
Er empfiehlt sehr große Dosen zu verab¬
reichen und eventuell die Haut an der zu
bestrahlenden Stelle zu exzidieren. Ein auf
| diese Weise vorbehandelter inoperabler
Brustkrebs wurde soweit gebessert, daß
er nunmehr operiert werden konnte.
Levy-Dorn berührt die interessante
Frage der Idiosynkrasie gegen Röntgen¬
strahlen. Diese Frage ist bis jetzt weder
nach der positiven noch negativen Seite
hin exakt entschieden worden; Levy-
Dorn hat unter vielen Tausenden von Be¬
strahlungen keinen Fall gesehen, bei dem
eine für die Mehrzahl der Menschen un¬
schädliche Dosis großen Schaden ange¬
richtet hätte. Hingegen gibt er zu, daß
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Mai
Die Therapie der Gegenwart 1910.
225
nicht alle Menschen qualitativ gleich Operation am Handrücken verlief aller-
# rea ^ leren * dings insofern nicht befriedigend, als sich
Försterling(Mörs)erstattete den Bericht jedesmal am zentralen Rand der exzidierten
der Kommission zur Erforschung der Partie ein neues Ulkus entwickelte. Gi 1 -
Wachstumsschädigungen durch Röntgen- mer (München) beobachtete an sich ein
strahlen. Wie erinnerlich wurde das Schwinden von Hyperkeratosen und Rha-
Thema der Wachstumsstörungen beim gaden nach Entwicklung eines septischen
Tiere auf dem vorjährigen Röntgenkongreß Ekzems; er denkt infolgedessen an die
von Försterling und Krukenberg aus- Möglichkeit, durch die Erzeugung einer
führlich besprochen. Die außerordentlich aseptischen Eiterung eine ähnliche Heil¬
schweren Schädigungen, wie sie zuweilen Wirkung zu erzielen,
beim Tiere gefunden werden, ließen einer Von den diagnostischen Vorträgen seien
Nachforschung nach der Richtungais notwen- nur die interessanteren hervorgehoben,
dig erscheinen, ob sich beim wachsenden Men- Rieder (München) sprach über Kavernen
sehen analoge Störungen nachweisen lassen bei Anfangstuberkulose der Lungen. Die-
würden. Die in diesem Sinne erfolgte selben sind, wenn sie tiefer liegen und von
Umfrage hatte glücklicherweise das erfreu- normalem Lungengewebe überdeckt sind,
liehe Resultat, daß Wachstumsstörungen auf gewöhnliche Weise schwer zu diagnosti-
beim Menschen nicht zu befürchten sind, zieren. Infolge ihrer bindegewebigen Hülle
Eine gewisse Vorsicht ist nur bei ganz ist jedoch eine Differenzierung auf dem
kleinen Kindern anzuwenden. Röntgenbilde möglich.
Schwarz (Wien) gibt praktische Winke Lichtenberg (Straßburg) und Voelcker
für die von ihm angegebene Desensibilisie- berichteten über ca. 100 Fälle, bei denen
rung der Haut. Eine solche läßt sich durch die von ihnen eingeführte Methode der
Kompression, und zwar in einfacher Weise Pyelographie zur Anwendung kam. Durch
bei den Extremitäten durch Gummibinden Kollargolinjektionen in die Ureteren und
{geeignet sind die Bi ersehen Stauungs- Blase erhält man einen guten Ueberblick
binden) , beim Halse und bei der Axilla über Lage, Verlauf und Form der gefüllten
durch einen aufgeblähten und durch Binden- Partien. Man kann auf diese Weise die
touren fixierten Gummiballon erzielen, verschiedenen Formen des Stauungsbeckens
Unter Anwendung einer derartigen Kom- | sowie die Insuffizienz der Ureterenmündun-
pression kann man etwa die dreifache der j gen bei nervösen Störungen und Prostata¬
bisherigen Erythemdosis verabfolgen. ! hypertrophie erkennen. Irgendwelche un-
Walter (Hamburg) macht darauf auf- | angenehmen Erscheinungen sind bei An¬
merksam, daß man sein Augenmerk auch i Wendung der Methode nicht beobachtet
auf die schädigende Wirkung der Sekundär- worden.
Strahlung richten müsse. In Betracht j Kästle (München) spricht über die
kommt die Strahlung vom Glase der » kontrastbildenden Mittel in der Röntgeno-
Röntgenröhre und die von den getroffenen * logie. Er empfiehlt als Ersatz für die Wis-
Gegenständen ausgehende Strahlung, ins- I mutpräparate und den Magneteisenstein das
besondere die Blendenkisten - und die | Zirkonoxyd. Dasselbe ist billig (Kilogramm
Körperstrahlung. Um die von dem Innern j 11 M.) und selbst in konzentrierten Säuren
der Blendenkiste ausgehenden Strahlen zu ! fast unlöslich, also auch ungiftig. Man
unterdrücken, hat W. eine technische Neue- , gebraucht ungefähr einhalbmal soviel vom
rung angebracht derart, daß die Sekundär- ' Zirkonoxyd, um bei Durchleuchtungen oder
strahlen vor ihrem Austritt aus dem Kasten Photographien dieselben Dichtigkeiten zu
abgefangen werden. j erreichen, wie mit den Wismutpräparaten.
Mayer (Basel) behandelte seine eigenen j Die Projektionsvorträge brachten Bilder-
Röntgenulzera in der Weise, daß er Kohlen- I demonstration aus der Pathologie > der
säureschnee wiederholt ca. 5—10 Sekunden i Brustorgane (Levy-Dorn-Berlin), aus der
auf die erkrankten Partieen einwirken ließ, j Pathologie der Eingeweide (Köhler-Wies-
Es erfolgte Heilung mit einer kosmetisch j baden und Holzknecht-Wien), ferner
befriedigenden Narbe. Von den Diskussions- | Bilder der Rachitis, der Akromegalie sowie
rednern empfiehlt Albers - Schönberg, der Thierpathologie (Gottschalk-Stutt-
<iurch Erfahrungen am eigenen Körper j gart): Frakturen, Rachitis bei Haustieren,
belehrt, die möglichst frühzeitige operative i Tendinitis beim Pferde.
Entfernung bei Kankroiden und Deckung j Zum Vorsitzenden des nächsten Kon-
desDefekts durch Thierse h sehe Transplan- ! gresses wurde Prof. Walter (Hamburg)
Nation; eine derartige bei ihm ausgeführte | gewählt.
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Die Therapie der Gegenwart 1910.
Mai
27. Kongreß für innere Medizin in Wiesbaden
18.— 21. April 1910.
Bericht von G. Klemperer.
Die 27. Tagung bedeutet einen Mark¬
stein in der Entwicklung des Kongresses
für innere Medizin, weil sie eine lange
vorbereitete Statutenänderung zum Ab¬
schluß gebracht hat, welche vielleicht die
äußere und innere Verfassung der Körper¬
schaft wesentlich beeinflussen wird. Die
Organe des Kongresses sind der 4gliedrige
Vorstand und der 25gliedrige Ausschuß,
Beide Körperschaften ergänzten sich bisher
durch Selbstzuwahl, welche traditions¬
gemäß der Zustimmung des Kongresses >
gewiß war. Nach den neuen Statuten bleibt
dem Ausschuß ein Vorschlagsrecht für alle I
Neuwahlen, aber diese werden vom Plenum !
durch Stimmzettel vollzogen. Im übrigen
dürfen von je 30 Mitgliedern selbständige j
Vorschläge zur Wahl des Ausschusses ge¬
macht werden. Damit ist einer Beschränkung
der Kongreßleitung auf allzu enge Gruppen
vorgebeugt. Wesentlicher noch ist die
Aenderung der Geschäftsordnung. Von
nun an sind die Themata mit kurzer In¬
haltsangabe dem Vorsitzenden 4 Wochen
vor Beginn der Tagung einzureichen, und
dieser hat das Recht, ungeeignet erschei¬
nende Mitteilungen zurückzuweisen. Den
Zurückgewiesenen steht die Berufung an
den Ausschuß frei. Vorträge, deren wesent¬
licher Inhalt bereits publiziert ist, dürfen
nicht zugelassen werden. Vorträge und
Demonstrationen dürfen nur 15 Minuten
dauern; der Vorsitzende ist verpflichtet,
den Rednern bei Ueberschreitung der zu¬
lässigen Redezeit das Wort zu entziehen.
Die Vorträge müssen frei gehalten werden.
Es ist wohl ohne weiteres ersichtlich, daß
die Befolgung dieser neuen Ordnung dem
Kongresse eine neue Blüte sichern wird.
Nun hat der Vorsitzende die Möglichkeit,
Vorträge, die Phantastisches oder Unwissen¬
schaftliches oder gar Schlimmeres enthalten,
von vornherein zurückzuweisen; nun kann
er auch auf die Zahl der Anmeldungen
einen Einfluß ausüben und durch den
Hinweis auf die eventuelle Ueberfülle des
Vorhandenen so Manchen zur Zurücknahme
seines Vortrages bewegen; vielleicht könnte
die Publikation im Tageblatt des Kongresses
in solchen Fällen als Kompensation dienen.
Es ist jedenfalls nach den neuen Statuten mehr
als früher die Möglichkeit gegeben, jedem,
der wirklich auf die Tagesordnung kommt,
eine gewisse Wahrscheinlichkeit zu sichern,
daß er zum Worte gelangt. Geradezu un¬
schätzbar aber erscheinen die neuen Be¬
stimmungen über die Vortragsart. Wenn
frei vorgetragen werden muß und wenn
niemandem, er sei auch wer er sei, mehr
als 15 Minuten zustehen, so wird jeder die
Verpflichtung fühlen, seine Mitteilung für
diese Zeitdauer ordentlich zu präparieren.
Man kann in 15 Minuten sehr viel sagen.
Es wird das beklagenswerte Schauspiel
aufhören, daß Redner, die ängstlich an
ihrem Manuskript kleben, ganz hilflos vom
Schlußzeichen des Vorsitzenden überrascht
in der Mitte ihre Rede abbrechen müssen.
Der Kongreß hat u. a. auch den Zweck,
den jungen akademischen Nachwuchs zu
sichten; der akademische Lehrer bedarf
der Vortragskunst, und auch der junge
Dozent sollte sie soweit beherrschen, daß
er im Stande ist, verwickelte Probleme
und Tatsachen in freier Rede und be¬
grenzter Zeit anschaulich zu berichten!
Satzungen stehen auf dem Papier; alles
kommt auf den Geist an, in dem sie an¬
gewandt werden. Man darf das Vertrauen
hegen, daß der neugewählte Vorsitzende
Herr v. Krehl, der sich um das Zustande¬
kommen der neuen Statuten das größte
Verdienst erworben hat, mit ihrer Hilfe
den Kongreß der erhofften Vollkommen¬
heit näher führen wird.
Der diesmalige Kongreß ist im Geiste
der Wissenschaftlichkeit und der Freiheit
geleitet worden, aus dem die neuen Sta¬
tuten geboren sind. Herr Fr. Kraus war
ein strenger aber toleranter Vorsitzender;
er begrenzte fast ausnahmslos die Rede¬
zeiten und unterdrückte unwissenschaftliche
Vorträge; ausgedehnte R ekapitulationen
bekannten Stoffes wies er mit der Be¬
merkung zurück: „Wir sind keine didak¬
tische Versammlung." Dabei suchte er
jedem Vortragenden zum Worte zu ver¬
helfen und bemühte sich gelegentlich her¬
vorgetretene Gegensätze auszugleichen.
Es ist kein Zweifel, daß das allseitig an¬
erkannte Gelingen des 27. Kongresses nicht
zum wenigsten der umsichtigen und uner¬
müdlichen Arbeit des Vorsitzenden zuzu¬
schreiben ist.
Der Kongreß brachte Referate mit großen
Diskussionen über das Tuberkulin und
über die sekundären Anämien. Außerdem
eine außerordentliche Fülle von Vorträgen
aus den verschiedensten Wissenszweigen
der inneren Medizin. Wenn mehrfach von
praktisch ärztlicher Seite klagend hervor¬
gehoben wurde, daß die Themata theoreti-
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Die Therapie der Gegenwart 1910.
227
sehen Inhalts so sehr an Zahl überwogen,
so darf doch nicht vergessen werden, daß
dies Verhältnis aus dem Wesen des inneren
Kongresses entspringt und kaum wesent¬
licher Aenderung fähig ist. Auf dem
Kongreß soll nur Neues berichtet werden.
Gewiß wäre es am schönsten, wenn wir
recht viel von neuen Behandlungsmethoden
und Heilungen erführen. Aber die Früchte
reifen nur dem, der in langer, geduldiger
Arbeit den Acker bestellt; sie werden oft
an Stellen gewonnen, die kaum eine Ernte
versprachen. Der Kongreß, welcher einen
Ueberblick über den Gesamtgewinn unserer
Kunst im vergangenen Jahre gewähren
soll, muß scheinbar entlegene theoretische
Forschung über irgend ein Krankheits¬
wesen ebenso einschätzen, wie eine un¬
mittelbare Bereicherung der praktischen
Therapie. Das Motto unseres Kongresses
heißt: Alles ist Frucht und alles ist
Samen.
Der folgende Bericht wird kein getreues
Spiegelbild des Kongresses darbieten, son¬
dern dem engeren Programm dieser Zeit¬
schrift entsprechend wie in früheren Jahren
diejenigen Themata hervorheben, welche
eine nähere Beziehung zur praktischen Aus¬
übung unserer Kunst darbieten.
In seiner Eröffnungsrede gab Kraus
zuerst einen Ueberblick über die Arbeiten
des verstorbenen großen Physiologen Eduard
Pflüger und erörterte dann einige den
Kongreß besonders angehende Zeitfragen.
Er betonte von neuem die alte Frerichs-
sche Forderung von der Selbstherrlichkeit
der inneren Medizin, der die wissenschaft¬
lichen Hilfsfächer und die Spezialitäten
sich ohne Trennungsgelüste ein- und unter¬
zuordnen hätten. In der praktischen Medi¬
zin sei das persönliche Vertrauensverhältnis
des Pflegebefohlenen zu seinem Arzt höher
einzuschätzen als die Vorteile des Spezia-
lisierens; es sei hierzu notwendig genaue
Beobachtung und Kenntnis der familiären
Erblichkeitsverhältnisse, des persönlichen
Entwicklungsganges und der Einblick in
den Gesamtorganismus. Dieser Gesichts¬
punkt müsse auch in der neuen Reichs¬
versicherungsordnung zu gunsten der Ein¬
führung der freien Arztwahl maßgebend
sein. Des weiteren bedauerte Kraus die
spärliche Teilnahme der praktischen Aerzte
an dem Kongreß, der einen wesentlich
akademischen Charakter trage. Von einer
Bevorzugung der Demonstrationen sowie
therapeutischer Themata hoffte er eine
Besserung, die die Frequenz des inneren
Kongresses der der Chirurgen annähern
möchte.
Das Referat über die spezifische Er¬
kennung und Behandlung der Tuber¬
kulose 1 ) erstattete Prof. Schütz (Berlin)
vom veterinärärztlichen Standpunkt. Für
die Verbreitung der Tuberkulose unter den
Rindern, so führte er aus, spielt die Ver¬
erbung keine größere Rolle; nur 70 Fälle von
plazentarer Infektion sind bekannt. Mit
zunehmendem Lebensalter tritt die Erkran¬
kung in steigendem Maße hervor — bei
Tieren bis zu 6 Wochen findet sich nur
0,4 % Tuberkulose und bei solchen von
6 Wochen bis 1 Jahr 0,3%. dagegen bei
Tieren von 1—3 Jahren 1,4 % und von 3
bis 6 Jahren schon 33,5%; von allen älteren
Milchkühen endlich sind 50—70% tuber¬
kulös. Die Häufigkeit der Tuberkulose bei
den geschlachteten Tieren im Deutschen
Reiche, die 1907 21,2 % betrug, hat sich in
den letzten 12 Jahren verdoppelt. Die
spezifische Erkennung der Tuberkulose
beim Tiere wird erreicht durch die ge¬
wöhnliche Tuberkulinprobe, die beim
Rinde in der subkutanen Einverleibung von
0,5 ccm Alttuberkulin (verdünnt mit der
vierfachen Menge 0,5%iger Karbolsäure)
besteht. Die Einspritzung findet abends
statt; die Temperatur wird am folgenden
Tage morgens 6 und 9, dann um 12 und
um 3 Uhr nachmittags gemessen. Zeigen
die Temperaturen nach und vor der In¬
jektion eine Differenz von mindestens 1,5°,
so ist die Diagnose auf Tuberkulose zu
stellen. Alle Tiere, die in solcher Weise
reagierten, erwiesen sich bei der Schlach¬
tung als tuberkulös bis auf 2—3%. Die
Methode hat also eine außerordentliche
Sicherheit. Ihre praktische Anwendung in
den Quarantänestationen, die an der Nord¬
grenze zur Verhütung der Einfuhr tuber¬
kulösen Viehs aus Dänemark errichtet
wurden, stieß aber auf eine große Schwie¬
rigkeit. Tritt nämlich bei einem Tiere eine
Reaktion ein, so gibt dieses Tier nach Ein¬
spritzung derselben Dosis in den nächsten
2—3 Wochen keine Reaktion. Diese Tat¬
sache nutzten die Händler aus, indem sie
den Tieren kurz vor der Einfuhr 0,5 ccm
Tuberkulin subkutan einspritzten. In den
Jahren 1899—1905 wurden in den Nord¬
quarantänestationen insgesamt 448 353
Tiere eingespritzt. 1899 reagierten davon
3,4% und ebenso viel wurden bei der
nachherigen Schlachtung als tuberkulös er¬
mittelt. 1905 dagegen reagierten nur 0,8 %;
1) Berichterstatter Ober Tuberkulosereferate und
Diskussion ist Prof. Felix Klemperer.
29 *
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228
Die Therapie der Gegenwart 1910.
Mai
als tuberkulös durch die Schlachtung er¬
mittelt aber wurden 24,7 %. Auf Ehrlichs
Rat versuchte man dieser Täuschung da¬
durch zu begegnen, daß zur diagnostischen
Tuberkulinprobe 2 ccm Tuberkulin sub¬
kutan eingespritzt wurden. Dies half je¬
doch nur vorübergehend, denn bald wurden
den Tieren vor der Einfuhr ebenfalls 2 ccm
eingespritzt. Man stieg auf 4 ccm. Das
Resultat war, daß die Händler den Tieren
auch 4 ccm injizierten. Es bleibt nun
nichts übrig, als die Dosis noch weiter zu
steigern — was unbedenklich ist, da die
gesunden Tiere selbst nach kolossalen
Dosen ganz gesund bleiben, nur ihr Milch¬
ertrag wird etwas geringer — oder aber
mit der Tuberkulinprobe nach der Einfuhr
3—4 Wochen zu warten.
Ein Ersatz der gewöhnlichen (subkutanen)
Tuberkulinprobe, die immerhin unbequem
und mit nicht unwesentlichen Kosten ver¬
knüpft ist, durch die lokalen Proben
nach v. Pirquet und Wolff-Eisner ist
beim Tiere nicht möglich. Die kutane und
die intrakutane Probe haben bis zu 50%
Fehlergebnisse gegeben, die Ophthalmo¬
reaktion nach den Angaben einiger Autoren
zwar nur 2—7%, nach anderen jedoch
32% Fehlergebnisse.
Ueber die Agglutinationsprobe
liegen sehr widersprechende Angaben vor;
nach Kochs eigenen Feststellungen aber
ist sie zur diagnostischen Entscheidung nicht
zu verwerten, da der Agglutiningehalt auch
beim gesunden Tiere nicht fehlt und beim
tuberkulösen in weiten Grenzen schwankt.
Noch weniger gibt die Präzipitation ein
diagnostisches Mittel an die Hand. Die
Untersuchungen über die Komplement¬
ablenkung sind noch nicht abgeschlossen;
sie scheinen aber nach allen bisherigen
Erfahrungen sehr aussichtsvoll und diese
Methode wird vielleicht in der Zukunft eine
entscheidende Bedeutung gewinnen. Vor
der Hand aber bildet die subkutane Tuber¬
kulinprobe unter den oben genannten Kau-
telen unsere beste Methode zur frühen Er¬
kennung der Tuberkulose.
ln theoretischer Hinsicht stehtSchütz
auf dem Standpunkt, daß das eingeführte
Tuberkulin mit einem im Körper des tuber¬
kulösen Tieres, im tuberkulösen Herd, sich
bildenden Gegenkörper, dem sogenannten
Antituberkulin, unter Komplementbindung
sich vereinigt. Dieser Prozeß hat zwei
Wirkungen im Gefolge, Flüssigkeitsver¬
mehrung (Durchtränkung) und Chemotaxis
(Leukozytenanziehung), im pathologisch¬
anatomischen Sinne Entzündung. Das Rind
bildet den Gegenkörper leicht und hat ihn
im Blute. Die Eutstehung des Fiebers bei
der Reaktion ist damit nicht erklärt.
Für die Behandlung der Tuberkulose
ist die Bangsche Methode, welche die Ab¬
schlachtung aller tuberkulösen Tiere und
Aufzucht der Jungen mit gekochter Milch
fordert, wegen der zu starken Verbreitung
der Krankheit nicht durchführbar Es kann
sich bei uns nur darum handeln, nach
Ostertags Verfahren alle Fälle von
offener Tuberkulose durch Tötung aus¬
zuscheiden. An den Kosten würde dieses
Verfahren nicht zu scheitern brauchen, da
ein Reichsgesetz vom Juni 1909 die Ent¬
schädigung des für die Züchter entstehen¬
den Verlustes vorsieht. Eine vielleicht un¬
überwindbare Schwierigkeit für die Durch¬
führung aber liegt in der Diagnose. Nur
in 3 % wurde trotz gründlicher Unter¬
suchung durch geübte Tierärzte die
Diagnose auf offene Tuberkulose gestellt;
das Schlachtresultat ergab 10% — bei 7%
also versagt die klinische Diagnose.
Die prophylaktische Impfung gegen
Tuberkulose nach v. Behring mittels
Bovovakzin (Menschentuberkelbazillen in
trockenem Zustande; zweimalige Injektion)
oder nach Koch und Schütz mittels
Tauruman (Menschentuberkelbazillen in
feuchtem Zustande, einmal zu injizieren)
hat keine günstigen Resultate erzielt. Wohl
wird eine Immunität des Tieres herbei¬
geführt, aber dieselbe hält nur 1—2 Jahre
an und müßte dann wieder erneuert wer¬
den. Das ist aber nicht angängig, weil die
Bazillen mindestens 6 Monate lang im Tier¬
körper leben bleiben und mit der Milch
ausgeschieden werden, so daß die Milch
und auch das Fleisch zur Verwertung un¬
tauglich sind.
Als zweiter Referent besprach der
Erlanger Kliniker, Prof. Penzoldt die spe¬
zifische Erkennung und Behandlung der
Tuberkulose beim Menschen. Der spezi¬
fische Nachweis des Erregers der Krank¬
heit kommt für die Frühdiagnose weniger
in Betracht, da in den frühesten Stadien
meist kein Untersuchungsmaterial (Sputum)
vorhanden ist. Bedeutungsvoller ffcr die
frühe Erkennung der Tuberkulose ist das
von Rob. Koch dargestellte Tuberkulin.
Dasselbe ist als spezifisch anzusehen, trotz¬
dem Albumosen (die im Tuberkulin ent¬
halten sind) die gleiche Wirkung haben;
diese aber geben die charakteristische Re¬
aktion erst bei weit größeren Dosen,
praktisch ist Tuberkulin spezifisch. Das
Tuberkulin ist sicher kein chemisch ein¬
heitlicher Körper; als Tuberkulin wird
es dadurch charakterisiert, daß 0,1 bis
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Mai
Die Therapie der Gegenwart 1910.
229
0,3 ccm tuberkulöse Meerschweinchen in
24 Stunden töten; nach der Virulenz der
Bazillen aber, nach der Herstellung der
Nährböden usw., von denen das Tuber¬
kulin gewonnen wird, ist der Gehalt an
spezifisch wirksamen Bestandteilen schwan¬
kend.
Zur Tuberkulindiagnostik stehen zur
Verfügung die kutane, die intrakutane, die
konjunktivale und die subkutane Methode.
Die kutane Methode nach v. Pirquet
gibt eine örtliche Reaktion, doch ist eine
geringe allgemeine (Fieber-)Reaktion dabei
möglich. Das Eintreten ausgesprochener
kutaner Reaktion stellt die Diagnose auf
Vorhandensein von Tuberkulose fast ab¬
solut sicher. Für die Beurteilung nega¬
tiver Reaktion aber kommt in Betracht, daß
auch bei frühester, bei ganz abgeschlossener,
ferner bei vorgeschrittener Tuberkulose,
dann bei Meningealtuberkulose, bei gleich¬
zeitigem Vorhandensein von Masern und
bei Tuberkulinfestigkeit die Reaktion aus-
bleibt.
Die intrakutane (Stich-) Reaktion hat
den Vorzug sicherer Dosierung (0,1 mg);
sie ist die eigentliche örtliche Reaktion.
Ihre diagnostische Bedeutung ist im posi¬
tiven wie im negativen Ausfall die gleiche,
wie die der kutanen Reaktion.
Die Ophthalmoreaktion macht vor¬
übergehende örtliche Störungen (gefährlich
ist sie bei genügender Beachtung der
Wolff-Eisnerschen Vorschriften nicht; be¬
denklicher ist ihre Wiederholung); auch
sie ist nicht ganz eigentlich örtliche Reak¬
tion, gelegenüich kommt Fieber vor. Ihre
Bedeutung wird geschmälert durch ihren
positiven Ausfall in 30 % bei Typhus, Diph¬
therie u. a., durch die Möglichkeit der
Simulation und die erheblich geringere
Anwendungsmöglichkeit.
Bei der subkutanen Methode fehlen
Schädigungen nicht ganz und die Dosierung
bereitet sehr große Schwierigkeiten. Sie
soll deshalb nur da angewendet werden,
wo sie wirklich zur Entscheidung unum¬
gänglich nötig ist Ihr positiver Ausfall
(jede Temperatursteigerung) spricht fast
sicher für Tuberkulose; der negative Aus¬
fall aber beweist nicht das Fehlen von
Tuberkulose, wenn er auch mit Wahrschein¬
lichkeit für das Fehlen von fortschreitender
Tuberkulose spricht
Für die Diagnostik der verschiedenen
Formen und Lokalisationen der tuberkulösen
Erkrankung gibt P e n z o 1 d t folgende Regeln:
1. Bei sichtbaren auf Tuberkulose ver¬
dächtigen Veränderungen (der Haut und
Schleimhäute) sichert nur die nach sub¬
kutaner Inj ektion auftretende Herdreaktion
die Diagnose. Die lokalen Methoden sind
unzureichend. (Bei verdächtiger Augen¬
erkrankung kontraindiziert).
2. Bei verdächtigen chirurgischen
Affektionen besagen die lokalen Methoden
ebenfalls nichts. Die subkutane Probe ist
kontraindiziert bei Wirbel- und bei Ohr¬
erkrankung. Ihr negativer Ausfall gibt
keine Entscheidung.
3. Bei meningealer Erkrankung ver¬
sagen die lokalen Methoden, die subkutane
ist kontraindiziert. Erkrankung der serösen
Häute ist mittelst anderer Methoden leichter
der diagnostischen Entscheidung zugänglich.
4) Bei fieberhaften Erkrankungen sind
nur die lokalen Methoden mit Vorsicht zu
verwerten; ihr negativer Ausfall sagt mehr,
als der positive, gibt aber auch keine
sichere Entscheidung.
5. Lungenerkrankungen: Die lokalen
Methoden besagen bei Kindern viel; bei
Erwachsenen ist die subkutane Probe an¬
zuschließen. Es ist nicht angängig, einen
strengen Unterschied zwischen aktiver und
inaktiver Tuberkulose zu statuieren. Der
positive Ausfall der subkutanen Probe
weist auf größere Neigung des Prozesses
zum Fortschreiten hin; der negative Aus¬
fall läßt einen fortschreitenden Prozeß un¬
wahrscheinlich erscheinen; doch müssen
die klinischen Symptome damit überein¬
stimmen, um die Diagnose auf Aktivität
bezw. Passivität des Prozesses zu sichern.
Im allgemeinen ist zu sagen, daß die sub¬
kutane Methode mehr bietet als die lokalen.
Die übrigen biologischen Methoden
(Agglutinationsprüfung, opsonischer Index,
Komplementablenkung, Anaphylaxieüber¬
tragung) sind in ihren Resultaten unsicher
und für diagnostische Zwecke bisher nicht
zu verwerten.
Der Tuberkulinbehandlung steht
Penzoldt persönlich wohlwollend gegen¬
über. Er ist selbst 1890 mit Tuberkulin
behandelt worden und er verfügt über
9 weitere Fälle, von denen jetzt nach
17 Jahren nur 2 gestorben sind, 2 sich re¬
lativ gut befinden, die anderen ganz ge¬
sund sind. Er verkennt aber nicht, daß die
Frage nach dem Wert der Tuberkulin¬
therapie objektiv sehr schwer zu ent¬
scheiden ist 20 verschiedene Tuberkuline
sind in Gebrauch und werden in verschie¬
denster Methodik angewandt — daraus allein
erhellt schon die Unsicherheit dieser The¬
rapie. Als die geeignetsten Präparate sind
das Alttuberkulin, die Bazillenemulsion und
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230 Die Therapie der
das Beraneksche Tuberkulin anzusehen;
die Hauptschwierigkeit aber ist nicht, wel¬
ches Präparat, sondern wie dasselbe an¬
gewendet werden soll. Die Einführung per
os ist wegen der Unsicherheit der Do- j
sierung und der Beeinträchtigung der Wirk¬
samkeit durch die Verdauungsfermente zu
verwerfen. Bei der subkutanen Injektion ist
festzuhalten, daß größere Dosen Gefahr
bringen können und zum Erfolge nicht
nötig sind; leichtere Reaktionen aber sind
nie ganz vermeidlich; das Verbleiben auf
minimalen Dosen hat noch keinen ent¬
scheidenden Erfolg erzielt, das einschlei¬
chende Verfahren ist zurzeit als das beste
anzusehen. Penzoldt empfiehlt den Be¬
ginn mit 0,1 mg.; die Injektion findet mor¬
gens 2 mal wöchentlich (eventl. in längeren
Pausen; niemals darf die Pause weniger als
2 mal 24 Stunden betragen) in der langsamen
Steigerung nach Sahlis Vorschriften 1 )
statt. Die absolute Maximaldosis, bis zu der
gestiegen werden soll, ist unsicher, doch
ist es kaum nötig, über 0,1 g zu gehen.
Das Stehenbleiben bei der optimalen Dosis
im Sinne von Sahli 1 ) hält Penzoldt für
ratsam. Die Dauer der Behandlung muß
mehrere Monate betragen; die jahrelange
Fortsetzung nach Petruschkis Vorschrift
(Etappenbehandlung) ist empfehlenswert.
Die Heilwirkung des Tuberkulins
führt Penzoldt sowohl auf die Anregung
der Antikörper Wirkung und Giftfestigung
als auf die Einwirkung auf den Krankheits¬
herd (formative Entzündung) zurück. Er
sieht in der Tuberkulin Wirkung eine Unter¬
stützung der natürlichen Heilbestrebungen
und will sie nur als Unterstützung aller
bisherigen therapeutischen Methoden an¬
gewandt wissen.
Der Erfolg der Tuberkulintherapie bei
Lungentuberkulose ist in den initialen
Fällen der beste, doch ist nicht zu ver¬
kennen, daß auch manche initiale Fälle,
die ganz frisch in Behandlung kommen,
nicht günstig beeinflußt werden. Auf der
andern Seite können selbst unheilbare
Fälle noch Besserung erfahren. Bei fieber¬
haften Fällen ist die Beurteilung schwierig;
daß Entfieberung eintritt, beweist nur die
Unschädlichkeit der Behandlung. Bei fort¬
schreitender Erkrankung im Kindesalter ist
nach Penzoldts Erfahrungen die Tuber¬
kulinbehandlung nicht erfolgreich. — Bei
den sichtbaren Tuberkulosen (Lupus usw.)
hat die Tuberkulinbehandlung nur den
Wert eines Unterstützungsmittels der son¬
stigen Therapie und ist sehr selten von
Erfolg begle itet. Bei chirurgischerTuber-
l ) cfr. diese Zeitschr. 1909. S. 105 u. 106.
Gegenwart 1910. Mai
kulose ist sie nur dann zuzulassen, wenn
eine konservative Therapie überhaupt rat¬
sam ist. Die Tuberkulose der serösen
Häute ist nach Ablauf des Fiebers nach
| denselben Regeln zu behandeln, die für
initiale Lungentuberkulose gelten. Bei
Darmtuberkulose ist die spezifische Behand¬
lung von recht zweifelhaftem Werte, bei
Meningealtuberkulöse ist sie verboten.
Von der passiven Behandlung durch
Serum (Marmorek u. a.) ist ein Nutzen nicht
erwiesen; jedenfalls steht sie weit hinter
dem Tuberkulin zurück.
Penzoldt schließt: Die Tuberkulin¬
therapie ist geeignet, die bisherige Thera¬
pie wirksam zu unterstützen. Mehr ist
vorderhand nicht zu sagen; Jahre und
Jahrzehnte werden vergehen, bis zu
einem abschließenden Urteil genügendes
Material gewonnen ist. Die Tuberkulin¬
therapie stammt aus dem Laboratorium und
dieses darf und soll ihr die Richtungslinie
geben; aber es soll nicht jede neue, theo¬
retische kleine Erkenntnis die praktische
Tätigkeit gleich beeinflussen und ändern
wollen; an Stelle der bisherigen Extensität
der Arbeit muß die Intensität treten. Die
Frage, ob die Tuberkulintherapie bereits
dem praktischen Arzte gehört, ist nur
sehr bedingt mit J a zu beantworten. Wohl
kann jeder Arzt diese Therapie handhaben,
aber er muß sie erst unter Anleitung eines
Erfahrenen erlernen. Und nur da darf er
sie anwenden, wo eine geeignete hygienisch¬
diätetische Behandlung und Ueberwachung
des Kranken möglich ist. Gewöhnlich wird
dies nur in Kliniken und Anstalten oder
unter besonders günstigen privaten Ver¬
hältnissen möglich sein; eine ambulante
Behandlung jedenfalls ist ausgeschlossen.
Nur bei Berücksichtigung dieser Kautelen,
durch Geduld und Vorsicht kann der gute
Kern erhalten werden, der nach Penzoldts
Ueberzeugung in der Tuberkulintherapie
steckt; ohne sie ist ein neues Fiasko un¬
vermeidlich.
Aus den anschließenden Tuberkulose-
Vorträgen und der sehr umfangreichen,
leider vielfach in Einzelheiten zersplittern¬
den Diskussion mag hier nur das kurz
wiedergegeben werden, was zu den prak¬
tischen Hauptfragen der Tuberkulin¬
diagnostik und -therapie in Beziehung steht.
In diagnostischer Hinsicht sei er¬
wähnt, daß Romberg (Tübingen) den
größten Wert für die Diagnose auf die Herd¬
reaktion in den Lungenspitzen legt;
er injiziert sukutan in 48stündigen Pausen
Vio— 5 /io—1—5—10 mg Tuberkulin. Die
Herdreaktion erkennt er an der Zunahme,
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Mai
Die Therapie der
bezw. am Auftreten von Dämpfung in der
verdächtigen Spitze bei möglichst leiser
Perkussion. Bei a /4 seiner positiv reagie¬
renden Fälle stellte er die Herdreaktion
in dieser Weise (ausschließlich perkutorisch)
fest, nur ein Teil hatte gleichzeitig Rassel¬
geräusche; diese waren bald voraber¬
gehend, die Dämpfung blieb 12—36 Stunden
bestehen. — Stintzing (Jena) hält bei
subkutaner diagnostischer Anwendung des
Tuberkulins 3 mg für die obere Grenze.
Die Reaktion nach Gaben bis 3 mg hat
spezifische Bedeutung, nach höheren Dosen
nicht mehr. Von der Konjunctivalreaktion
sah er günstige Resultate, er empfiehlt, sie
stets vor der subkutanen Probe zu machen.
Litzner (Schömberg) hält es bei Pa¬
tienten mit labilem Nervensystem zur Be¬
urteilung der Temperatursteigerung nach
einer diagnostischen Tuberkulininjektion
für erforderlich, derselben eine sogenannte
Injectio vacua voranzuschicken. — Refe¬
rent wies darauf hin, daß der Unter¬
schied zwischen der Cutireaktion und der
Ophthalmoreaktion nicht sowohl in der
Verschiedenheit von Haut und Auge zu
liegen scheint, als in der verschiedenen
Konzentration der zu beiden Reaktionen
verwandten Lösungen. Wenn man neben
der gewöhnlichen Pirquetimpfung mit un¬
verdünntem oder 1 :5 verdünntem Tuber¬
kulin eine zweite Cutanimpfung am anderen
Arm mit Tuberkulin in der Verdünnung
1:100 vorniromt, so geht die letztere in ihrem
Resultate stets parallel mit der Ophthalmo¬
reaktion. Auf diese Weise kann man die
Augenimpfung, die zwar ungefährlich, doch
immerhin oft unbequem ist, sich ersparen.
Im übrigen glaubt Referent nicht, daß man,
wie Wolff-Eißner meint, durch ver¬
gleichende Haut- und Augenimpfung aktive
und latente Prozesse von einander trennen
könne. Er sah vielfach Patienten, beson¬
ders Kinder mit tuberkulösen Drüsen, die
deutlich am Auge — und ebenso am Arm
nach Cutanimpfung 1 : 100 — reagierten
und sicher nach Befund und Verlauf nicht
aktiv tuberkulös waren. — Auch Sahli
(Bern) empfiehlt, die Lokalreaktion abzu¬
stufen durch Verdünnung des Tuberkulins
bis Viooo- Der Ausfall gewährt einen An¬
haltspunkt für die Tuberkulinempfindlich¬
keit des Patienten, welcher für die Bestim¬
mung der therapeutischen Dosierung von
Wert sein'kann. — Jessen (Davos) hält
die Lokalreaktionen für relativ wertlos. Er
weist auf die Diagnose durch den Nach¬
weis von Tuberkelbazillen im Blute hin,
die auch in frühen Fällen gelegentlich
gelingt.
Gegenwart 1910. 231
In therapeutischer Hinsicht verdienen
die Mitteilungen Jochmanns (Berlin) Be¬
achtung, auf dessen Abteilung im Rudolf
Virchow-Krankenhause Koch seine klini¬
schen Beobachtungen fortsetzt. Joch¬
mann beginnt die Behandlung mit Alt¬
tuberkulin, meist mit 1 mg; unter Vermei¬
dung stärkerer Reaktionen wird in 3 tägigen
Pausen bis 10 mg, dann weiter in längeren
Pausen bis zur Höchstdosis von 1 ccm ge¬
stiegen. Bei 300— 500 mg verschwindet
gewöhnlich die Pirquet-Reaktion. Es folgt
die Behandlung mit Bazillenemulsion, be¬
ginnend mit Vioo mg, steigend in Intervallen
von 5—8 Tagen bis 10 mg; dabei ver¬
schwindet auch die Kutanreaktion auf BE 1 ).
Auch dieser zweite Teil der Behandlung
ist möglichst fieberlos durchzuführen; ge¬
legentlich treten nach den Injektionen In¬
filtrate, selbst ein Abszeß ein. Die Erfolge
dieser Therapie sind bei Drüsentuberkulose
der Kinder und Skrophulose sehr gute,
bei Knochentuberkulose nicht deutlich. Bei
der Lungentuberkulose der Säuglinge
wurden ungünstige Erfahrungen gemacht,
bei der der Erwachsenen überwiegend gute.
Schloßmann (Düsseldorf) empfiehlt die
allerkleinsten Anfangsdosen, event. noch
weniger als Vioo mg, dann aber Ansteigen
bis weit über die bisher gebräuchliche
Höchtdosis von 1 ccm. Auf diese Weise
hat er bei kleinen Kindern außerordentlich
gute Resultate erzielt.
F. Klemperer wies bezüglich der bio¬
logischen (immunisierenden, entgiftenden)
Wirkung des Tuberkulins darauf hin, daß
es von allen bisher bekannten Antikörpern
erwiesen oder doch sehr wahrscheinlich ist,
daß sie gar keine Beziehung zu dem Heilungs¬
prozeß haben. Anders steht es mit der
lokalen, der sogen. Herdwirkung. Diese
kann nützlich wirken, indem sie zu forma-
tiver Entzündung um den Krankheitsherd,
zum Abschluß desselben führt Sie kann
aber auch schaden — indem sie den Herd
erweicht, aufrührt, verbreitet — und wir
haben es nicht sicher in der Hand, die
Wirkung nach der einen oder anderen
Richtung zu leiten. Darum bleibt die
Tuberkulintherapie stets eine zweischneidige
Waffe. Darum sind aber auch mindestens
leichte lokale Reaktionen notwendig; ganz
ohne Reaktion — im Sinne Sahlis —
kann die Behandlung auch nichts nutzen.
Einige wenige Fälle werden auf diese Weise
der Heilung zugeführt. Das Gros der Fälle
aber, die angeblich durch Tuberkulin ge¬
heilt werden, sind nur unter der Behand¬
lung, nicht durch dieselbe geheilt. Es
x ) cf. diese Zeitschr. 1910, S. 31.
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2S2
Mai
Die Therapie der Gegenwart 1910.
sind das Fälle, die in derselben Zeit auch
ohne das Tuberkulin geheilt wären, denen
aber doch wohl noch eine Wirkung des
Tuberkulins zu gute kam, die fraglos als
dritte neben der biologischen und der
Herdwirkung besteht, d. i. die Suggestiv¬
wirkung.
Sahli (Bern) hält es für den größten
Fortschritt, daß die Behandlung ohne
Reaktion durchgeführt wird. In theoreti¬
scher Hinsicht glaubt auch er, daß die Anti¬
körper überschätzt werden, und er schreibt
jetzt neben der Giftfestigung der Reiz¬
wirkung eine größere Bedeutung zu (womit
er die Bedeutung der Herdwirkung aner¬
kennt, nur daß er sie unter der Schwelle
klinischer Wahrnehmbarkeit gehalten wis¬
sen will!). Er empfiehlt das B e r a n e k sehe
Tuberkulin, das von eiweißarmen Nähr¬
medien stammend, von geringerer Giftigkeit
sein soll. Ein dankbares Objekt für die
Tuberkulintherapie bietet die Urogenital¬
tuberkulose in ihren Anfangsstadien.
Stintzing (Jena) bekennt sich als Freund
der Tuberkuiintherapie. Bei Lupus hat
dieselbe keine Erfolge gehabt und ist längst
aufgegeben. Auch bei Darm- und Peri¬
tonealtuberkulose sind die Resultate sehr
wenig befriedigende, bei Urogenitaltuber¬
kulose dagegen gute, z. T. glänzende.
v. Jaksch (Prag) steht der Tuberkulin¬
therapie ablehnend gegenüber; er hat sich
nicht davon überzeugen können, daß er
seinen Patienten mit derselben irgendwie
genutzt hat. Auch Rumpel (Hamburg) ist
skeptisch; einen eindeutigen, entscheiden¬
den Erfolg hat er niemals gesehen. Er
empfiehlt, jeden Fall erst mit allen diäte¬
tisch-physikalischen Faktoren, Freiluftkur
usw., zu behandeln und nur, wenn alle
Mittel erschöpft sind, es mit Tuberkulin
in vorsichtiger Form zu versuchen. —
Eine ähnliche Stellung nimmt Jessen
(Davos) ein, der es im allgemeinen für
besser hält, ohne Tuberkulin zu behandeln;?
bei scheinbar tuberkulingeheilten Fällen
sind später schwere Rezidive eingetreten.
Führt die Allgemeinbehandlung nicht zum {
Ziele und wird Tuberkulin nötig, so em¬
pfiehlt Jessen eine milde Behandlung
ohne große Dosen. Demgegenüber treten
Edm. Meyer (Berlin), der das sensibili¬
sierte Tuberkulin (F. Meyers Serovaccin-
Höchst) bei Kehlkopftuberkulose mit Erfolg
anwandte, Rothschild (Soden), welcher
mit polygener Bazillenemulsion behandelt
und die Steigerung der Dosen, die nur zur
Gewöhnung führt, als überflüssig verwirft,
Landmann (Leipzig), der sein Tuberkulol
in minimalen Dosen und längeren Pausen
(von 8—21 Tagen) injiziert, u. a. wärme#
für die Tuberkulintherapie ein. — Clemens
(Chemnitz) spricht de$n Tuberkulin eine
spezifisch antifebrile Wirkung #u.
Die Frage, ob die Tuberkulinbehand*
lung schon für die ärztliche Praxis
reif sei, wurde mehrfach verneint, so von
Sobotta (Görbersdorf), Jessen (Davos)
und von Stintzing (Jena), welcher vor der
ambulanten Behandlung, die er als sehr
gefährlich bezeichnet, geradezu warnt
Erst wenn ein Patient 6—10 Wochen in
der Klinik, im Krankenhaus oder ähnL
beobachtet, wenn die Reaktionsgrenze fest¬
gestellt sei, dürfe er sekundär vom Arzte
zu Hause weiterbehandelt werden. Auch
Meinertz, der über die Erfahrungen der
Rostocker Klinik berichtete, empfiehlt dem
praktischen Arzte große Zurückhaltung
gegenüber der Tuberkulintherapie, wäh¬
rend Jochmann der ambulanten Behand¬
lung weniger ängstlich gegenüber steht und
Sahli in ihr geradezu die Zukunft der
Tuberkulintherapie sieht.
In diesem Punkte, wie in vielen anderen
gingen die Meinungen ziemlich auseinander.
Im allgemeinen aber schien die Versamm¬
lung einer mittleren Stellung zuzuneigen,
wie sie Penzoldt auch in seinem Schlu߬
wort einnahm, in welchem er sich als vor¬
sichtigen Anhänger der Tuberkulintherapie
bekannte, ihrer allgemeinen Ausbreitung
gegenüber aber noch Zurückhaltung zu
üben anriet.
Das zweite Referat über sekundär*
Anämien und ihre Behandlung wurde von
Gerhardt (Basel) erstattet. Es behandelte
diejenigen Anämien, welche sich an vorher¬
gegangene Krankheiten anschließen, oder
durch dem Körper innewohnende Schädlich¬
keiten (wie z.B. Eingeweidewürmer) bedingt
wird. Die Butarmut kann dadurch zustande
kommen, daß die Blutflüssigkeit des Körpers
im ganzen vermindert sein kann, oder daß
die Zahl der roten Blutkörperchen herab¬
gesetzt ist, oder auch daß der Blutfarbstoff
in den roten Blutkörperchen nicht in ge¬
nügender Menge vorhanden ist Die Blut¬
armut, die sich an große Blutungen und
Blutverluste anschließt, wird vom gesunden
Organismus in einigen Wochen repariert
von einem erschöpften Organismus aber
viel langsamer, besonders wenn die Blut¬
verluste sich häufiger wiederholt haben;
das Knochenmark kann dann die Fähigkeit
verlieren, denVerlust wieder zu ersetzen. Es
ist deshalb genau zu unterscheiden, ob nur
ein vermehrter Untergang der roten Blut¬
körperchen stattfindet, oder ob zugleich
eine verminderte Neubildung durch Funk-
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Mai
Die Therapie der Gegenwart 1910.
233
tionsschädigung der blutbildenden Organe
vorhanden ist. Dies letztere dürfte der
Fall sein bei vielen Leuten der arbeitenden
Klasse, bei denen infolge mangelhafter Er-
n^hrung, sowie des Mangels an Licht und
Luft eine verminderte Blutbildung zur Blut¬
armut führt. Für die Blutbildung ist eine
genügende Eisenzufuhr, sowie ein geregel¬
ter Eisenstoffwechsel unbedingt notwendig.
Bei Kindern besonders kann durch man¬
gelnde Eisenzufuhr Anämie entstehen, und
auch Säuglinge, die zu lange Zeit nur mit
Milch ernährt worden sind, werden leicht
blutarm und man muß ihnen eisenhaltige
Nahrung zuführen. Auch die perniziöse
Anämie scheint durch gestörte Eisenresorp¬
tion zustande kommen zu können, indem
bei Erwachsenen durch Achylia gastrica
die Eisensalze unlöslich bleiben. Schwere
Anämien kommen nach Infektionskrank¬
heiten leicht vor, besonders nach Malaria
und Sepsis; die Tuberkulose führt nur in
extremsten Fällen, besonders durch Amy¬
loid, zu einer schweren Blutarmut. Da¬
gegen findet sie sich häufig bei Krebs¬
kranken, und wenn die Krebsgeschwulst
auf das Knochenmark übergreift, so erfährt
das Blut eine Umwandlung, die dem des
Embryonallebens entspricht. Auch Schwan¬
gerschaft und Wochenbett können zu
schwerer Blutarmut führen. Unter den Er¬
krankungen einzelner Körperorgane, welche
Anämie bedingen, sind Lebererkrankungen
und die sogenannte Ban tische Milz¬
erkrankung zu nennen. Eine Gruppe
für sich bilden die Anämien nach Ver¬
giftungen; als wesentlichste Blutgifte kom¬
men in Betracht chlorsaures Kali, Anilin,
Nitrobenzol, Pyrogallol. Man sieht dann
die an das embryonale Blut erinnernden
Formen und kommt infolgedessen zu der
Frage, ob nicht auch sonst, wenn solche
Formen auftreten, es sich um Vergiftung
handelt, z. B. um Vergiftung durch Stoffe,
die sich im Darme erst gebildet haben,
oder, wie bei gewissen Bandwürmern, durch
Verdauung abgestorbener Bandwurmteile.
Man hat aus Bandwurmgliedern Extrakte
dargestellt und dabei lipoide Stoffe ge¬
funden, besonders Oelsäureverbindungen.
Spritzt man solche Extrakte Tieren ein,
so kann man schwere Anämien hervor*
rufen. Die abgestorbene Schleimhaut des
Menschen enthält ebenfalls solche Lipoide,
man kam daher auf den Gedanken, daß
die sekundäre Anämie des Menschen durch
Verdauung abgestorbener Schleimhautteile
bewirkt werde. Sichergestellt sind diese
Anschauungen aber noch nicht.
Unter den Behandlungsmitteln steht in
! erster Reihe das Eisen, das nicht nur auf
I die Chlorose, sondern auch auf die sekun¬
dären Anämien sehr günstig einwirkt.
I Ebenso bewährt sich das Arsen, sowohl in
anorganischen als den neuen organischen
Verbindungen. Ob die Höhenluft durch
allgemeine Kräftigung oder die Vermehrung
der Blutkörperchenzahl wirke, sei zweifel¬
haft. Die Kuhn sehe Saugmaske scheine
in ähnlichem Sinne zu wirken. Bluttrans¬
fusionen, sowohl intravenöse wie subkutane,
hätten oft nur vorübergehende Wirkungen
gezeigt, die Injektionen von Blutserum
seien unsicher.
Die Diskussion brachte nur wenig Er¬
gänzungen des ausgezeichneten Referates
So wurden die Anämien nach Gelenk¬
rheumatismus und Nephritis erwähnt,
zur Differentialdiagnose der Ban tischen
Krankheit wurde die Milzpunktion empfoh¬
len. Für häusliche Arsentherapie wurde
auf die neue Dürkheimer Maxquelle auf¬
merksam gemacht. Die subkutane Bluttrans¬
fusion fand viele Lobsprecher. Ein großer
Teil der Diskussion drehte sich um die
ätiolbgische Bedeutung der Oelsäure, die
fast durchgehend zurückgewiesen wurde.
Auch die Möglichkeit des protozoären Ur¬
sprungs der perniziösen Anämie wurde
-Jiervorgehoben und durch die Analogie zu
der sicher protozoären Kala-azar wahr¬
scheinlich gemacht. In dieser Analogie
findet die Anwendung der neuen hoch-
wirksamen Arsenpräparate ihre starke
Stütze. Auch auf die Wasseranreicherung
der Gewebe bei vielen Anämien wurde
hingewiesen und daraus die Berechtigung
zu wasserarmer Diät sowie Schwitzkuren
hergeleitet. Desgleichen wurden systema¬
tische Atemübungen empfohlen, da die
Anämischen oft oberflächlich atmen. Her¬
vorzuheben sind die Mitteilungen Schau¬
manns, der auf Grund seiner Beob¬
achtungen für die Botryozephalusanämie
eine besondere Disposition als notwendig
erklärte.
Rein therapeutischen Inhalts waren die
Mitteilungen Ehrlichs und seines japani¬
schen Mitarbeiters Hata über ein neues
Arsenpräparat zur Bekämpfung der Proto¬
zoenkrankheiten. Bekanntlich hat Ehrlich
zuerst das Arsacetin, dann das Arseno-
phenylglycin dargestellt und mit diesen
Präparaten im Tierversuch Abtötung der
Spirochäten ohne Schädigung des erkrank¬
ten Tiers erreicht; als diese Mittel bei
menschlichen Protozoenkrankheiten, bei
Schlafkrankheit, Rekurrens und Syphilis
versucht wurden, zeigten sie zwar auch
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UNIVERSiTY 0F CALIFORNIA
234
Die Therapie der Gegenwart 1910.
Mai
unverkennbare Wirkungen, aber es waren
allzu große Dosen erforderlich, die zu be¬
denklichen Vergiftungserscheinungen führ¬
ten. Insbesondere traten manchmal schon
nach mäßigen Gaben der neuen Mittel un¬
heilbare Optikusatrophien auf, sodaß diese
Präparate für die Bekämpfung der mensch¬
lichen Protozoenkrankheiten kaum geeignet
erscheinen. Einen neuen verheißungsvollen
Schritt auf der der Forschung eröffneten
Bahn bedeutet das neue Präparat, welches
die Nummer 606 trägt — man kann daraus
erkennen, mit welcher Energie und mit
welchen Mitteln im Ehrlichschen Institut
gearbeitet wird. Chemisch charakterisiert
sich das neue Mittel als Dioxydiamido-
diarsenobenzol. Wie Dr. Hata berichtete,
entfaltet es in der Sterilisierung des Tier¬
körpers bei verschiedenen Spirillosen ganz
ausgezeichnete Erfolge. Inzwischen ist es
von Iversen in Petersburg bei Rekurrens
mit vorzüglicher Heilwirkung angewandt
worden. In Deutschland hat es Alt in der
Irrenanstalt in Uchtspringe bei luetischen
Paralytikern angewandt; die Anwendungs¬
weise geschah so, daß 0,3 g des Präparats
in 20 ccm alkalischen Wassers gelöst, auf
einmal in die Glutäen eingespritzt wurde.
Die Injektion ist schmerzhaft, aber sie
braucht nicht wiederholt zu werden. Alt
erzielte den Effekt, daß in vielen Fällen
die vorher positive Wassermannsche
Reaktion nach einiger Zeit verschwand.
Auf dem Kongreß berichtete nun Schreiber
(Magdeburg) im Anschluß an die Hataschen
Tierversuche, daß er das Diarsobenzol in
100 Fällen von frischer Syphilis mit über¬
raschendem Erfolg angewandt hatte; die
Sekundärerscheinungen seien in auffallen¬
der Weise danach zurückgegangen. Auch
Schreiber hat nur je eine Einspritzung
von 0,3 g gemacht, die mäßige lokale und
fieberhafte Reaktionen verursacht hätten.
Natürlich ist die Zeit noch viel zu kurz,
um über die endgültige Beeinflussung der
syphilitischen Infektion etwas aussagen zu
können, auch kann natürlich noch nicht
beurteilt werden, ob sich nicht doch noch
giftige Nebenwirkungen der allgemeinen
Einführung des neuen Präparats entgegen¬
stellen werden. Daß aber die Forschungs¬
richtung, welche uns früher oder später
ein unfehlbares Heilmittel der Syphilis lie¬
fern wird, mit allen Kräften zu fördern ist,
darüber kann wohl kein Zweifel sein.
Ehrlich selber sprach einige Worte über
die Giftigkeit der neuen Heilsubstanzen
und verglich die Anwendung derselben mit
den lebensgefährlichen Operationen der
Chirurgen, welche die Gefahren der Krank¬
heit und des Eingriffs gegeneinander abzu¬
wägen hätten. Diese Erwägung trifft zwei¬
fellos zu bei unbedingt tödlichen Krank¬
heiten. Man würde bei inoperablen Kar¬
zinomen oder bei perniziöser Anämie gern
Heilmittel an wenden, die bei großen Chancen
des Erfolges geringe Vergiftungsgefahr
einschließen. Aber bei an sich nicht tod¬
bringenden Krankheiten, wie Rekurrens
und Syphilis, muß die vollkommene Un¬
gefährlichkeit des Heilmittels gefordert
werden.
Hiernach berichte ich die Vorträge über
die epidemische spinale Kinderlähmung»
welche von Krause (Bonn), Meinicke
(Hagen) und Römer (Marburg) gehalten
wurden. Krauses Beobachtungen er¬
strecken sich auf 633 Fälle. Die Krankheit
mit den auf Veränderungen des Rücken¬
marks beruhenden Lähmungen wurde zu¬
erst 1840 in ausgezeichneter Weise von
Jacob v. Heine in Stuttgart beschrieben.
Die mit dem Gehirn zusammenhängende
Form beschrieb zuerst Eisenlohr. Die
westfälischen Erfahrungen haben wiederum
gezeigt, daß das erste und zweite Lebens¬
jahr am meisten betroffen werden, ver¬
einzelt erkranken auch Erwachsene. Mit
Pockenimpfung und Zahnen hat die Krank¬
heit nichts zu tun. Am meisten erfolgt die
Uebertragung von Mensch zu Mensch, ohne
daß die übertragenden Personen selbst zu
erkranken brauchen. Sehr merkwürdig ist,
daß zu gleicher Zeit durch ganz Rheinland
und Westfalen ein großes Hühner- und
Kaninchensterben beobachtet wurde, auch
unter Lähmungserscheinungen. Etwas Ge¬
naues über die Zusammenhänge weiß man
aber nicht. Man kann bei der Krankheit
drei Stadien unterscheiden, zuerst Allge¬
meinsymptome verschiedener Art häufig
fieberhafter, oft gastrischer Natur, dann die
Lähmungen, die meist sehr umfangreich
sind, sodann das Stadium des Abfalls, in
dem ein großer Teil der gelähmten Muskeln
wieder gesund wird. In etwa 25 v. H. der
Fälle kamen Heilungen vor, zweimal Rück¬
fälle. Das epidemiologische Studium ergab,
daß die Seuche fast ausschließlich von
Mensch zu Mensch verbreitet wurde und
zwar sowohl durch an der Krankheit lei¬
dende Personen als durch Rekonvaleszenten
von der Krankheit sowie insbesondere auch
durch klinisch gesunde Zwischenträger.
Das ätiologische Studium der Seuche konnte
einen zu der Klasse der leicht züchtbaren
und leicht färberisch darstellbaren Bakterien
gehörigen Erreger ausschließen. Das Gift
gleicht in seinen Eigenschaften auffallend
dem der Hundswut. So wurde festgestellt.
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UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Mai Die Therapie der
daß es mit Sicherheit nur im lebenden
Körpsr (Affe) züchtbar ist, daß es vorläufig
unsichtbar ist, daß es zur Klasse der so¬
genannten filtrierbaren Mikroorganismen
gehört, daß es sich um ein gegen Aus¬
trocknung, gegen niedrige Temperaturen,
gegen Glyzerineinwirkung äußerst wider¬
standsfähiges, für höhere Temperaturgrade
(55 Grad) aber sehr empfindliches Gift
handelt. Als Versuchstier für tierexperi¬
mentelle Studien kommt im wesentlichen
nur der Affe in Betracht. Mäuse, Ratten,
Meerschweine, Rinder, Schafe, Ziegen,
Pferde, Schweine, Katzen, Hunde, Geflügel
sind gegen das Gift unempfindlich. Die
wahrscheinliche Eingangspforte sind die
lymphatischen Aufnahmeapparate im Nasen -
Rachenraum und Magen-Darmkanal. Von
der Eintrittspforte aus findet rasch Kon¬
zentration des Giftes nach dem Zentral¬
nervensystem hin statt, zu dem es offenbar
besondere Beziehungen besitzt. Von der
Eintrittsstelle aus findet die Verbreitung
nach dem Zentralnervensystem hin wahr¬
scheinlich auf dem Lymphwege oder auf
dem Blutwege statt. Für die hygienische
Bekämpfung empfiehlt sich tunlichste Ver¬
meidung des Kontaktes mit an Kinder¬
lähmung erkrankten Personen und ihrer
Umgebung, sorgfältige Mundpflege sowohl
bei den Erkrankten, den Rekonvaleszenten
und ihrer Umgebung als auch — zu prophy¬
laktischen Zwecken — in Epidemienzeiten
bei den Gesunden; Desinfektion der Ab¬
gänge der erkrankten Personen, Formalin-
Wohnungsdesinfektion. Das Ueberstehen
der natürlich erworbenen oder experi- |
mentell erzeugten Kinderlähmung hinterläßt
spezifische Immunität, ein für das Ver¬
ständnis einiger epidemiologischer Tat¬
sachen wichtiger Befund. Aussichten auf
eine spezifische Prophylaxe durch Schutz¬
impfung bietet die experimentell nachge¬
wiesene künstliche Immunisierungsmöglich¬
keit von Affen gegen für Kontrollaffen
rasch tödliche Infektion. Von solchen wirk¬
samen Immunisierungsverfahren sind bisher
beschrieben worden: subkutane Injektion
getrockneten Giftes; für praktische Zwecke j
ist dies aber zu gefährlich, da es sich um
gelegentlich Lähmungen veranlassendes Gift
handelt, Immunisierung mit durch Hitze
abgeschwächtem oder mit karbolisiertem
Giftstoff und Immunisierung durch Injektion
einer unschädlichen Mischung von Gift und
antikörperhaltigem Serum. Das Serum
immunisierter Affen enthält spezifisch wirk¬
same Antikörper, die das Gift der epide¬
mischen Kinderlähmung bei Mischung im
Reagensglas seiner Infektionseigenschaften
Gegenwart 1910. 235
berauben. Indessen sind noch keine Er¬
fahrungen über den Heil- oder Schutzwert
dieses Serums gewonnen.
Römer demonstrierte eine Reihe von
Photographien von Affen, die an Kinder¬
lähmung durch künstliche Uebertragung
des Giftes erkrankt waren, und besonders
die kinematographischen Bilder dieser Affen
erregten das lebhafteste Interesse.
Geh. Rat v. Leube, jetzt wohl der ver¬
ehrte Nestor des Kongresses, sprach über
„die Beharrungstendenz der Zellt&tigkeit
und ihre Beziehungen zur Pathologie 1 *. Die
Körperzelle hat die Tendenz, in ihrer Tätig¬
keit zu verharren (Tenazität der Zelle), das
gilt auch für den Fall, daß durch neue
Reize die Zelle zu einer ungewohnt neuen
Tätigkeit angeregt wird. Diese Ueberlegung
ist wichtig bei der Antikörperbildung gegen
Infektionsprozesse, für die Dauer der Im¬
munität bei Immunisierungen, für die gerin¬
gere Intensität der Rezidive. Zusammen¬
hängend hiermit ist auch die Frage, ob das
Fieber bei Infektionen als ein für den
Körper nützlicher oder schädlicher Vor¬
gang anzusehen sei. Heiße Bäder, die die
Temperatur auf 40° beim Menschen für
längere Zeit brachten, erwiesen sich von
gutem Einfluß auf den infektiösen Prozeß,
und es waren auch objektiv vermehrte
Antikörper im Blut nachzuweisen. Als
praktisches Resultat hieraus dürfte sich er¬
geben, daß ein nicht zu hohes Fieber nicht
unter allen Umständen bekämpft werden
muß.
Geh. Rat Quincke, der nach Nieder-
| legung seines klinischen Lehramts in Kiel
nunmehr in Frankfurt wissenschaftlicher
Arbeit lebt, berichtete Experimentelles zur
Frage der Luftdruck - Erkrankungen.
Bei den Bauten, die im laufenden oder
Grundwasser aufgeführt werden müssen,
wird das wasserhaltige Erdreich durch
Preßluft unter hohem Druck zurückgedrängt.
Die Arbeiter, die sich in dieser Luft auf¬
halten müssen, zeigen oft Erkrankungen
des Nervensystems und andere Erschei¬
nungen, die als Caisson-Krankheit bekannt
sind. Den Ursachen dieser Erkrankung
ist Quincke nachgegangen, und er fand, daß
die Körpergewebe den Stickstoff viel ge¬
ringer an sich reißen als das Wasser, und
im Körper selbst nimmt die Hirn Substanz
und das Fettgewebe sechsmal mehr Stick¬
stoff auf als das Muskelgewebe. Weil das
Gehirn und das Rückenmark schwach mit
Blut durchflutet wird, wird der Stickstoff
nur schwer daraus entfernt, und er gibt
die Veranlassung zu den Erscheinungen
von seiten des Zentralnervensystems.
30 *
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236 Die Therapie der Gegenwart 1910. Mai
Plesch (Berlin) empfiehlt zur Verhütung
der Preßluft-Erkrankungen, nur die Hälfte
des bisher angewandten Druckes anzu
wenden und zu der Luft in den Caissons
Kohlensäure zuzuleiten. Die Atmung und
damit die Zirkulationsgeschwindigkeit wird
dadurch beschleunigt und der Organismus
von dem Stickstoff befreit.
Aus dem Gebiet der Stoffwechselerkran¬
kungen seien die Untersuchungen von
Gudzent aus der Hisschen Klinik über die
Einwirkung der Radiumemanation auf
die Gicht hervorgehoben. Gudzent konnte
nachweisen, daß nach geeignet applizierten
Radiumbädern das sonst stets im Blut der
Gichtiker nachweisbare Natriuriurat in
zwei Fällen von Gicht verschwandt. Dies
ist eine außerordentlich wichtige Feststel¬
lung, deren wissenschaftlich bedeutsamen
Charakter His noch besonders hervorhob.
Ob nun die Radiumbäder auf den die
Harnsäurestauung bedingenden Prozeß ein¬
wirken und also wirkliche Gichtheilung her¬
beiführen, muß in weiteren Versuchen fest¬
gestellt werden. Ins theoretische Gebiet
führten die Mitteilungen von Umber
(Altona), welcher Gesunden wie Gicht¬
kranken Lösung einer Harnsäure-Piperazin¬
verbindung intravenös injizierte. Er konnte
feststellen, daß die Gesunden die Harn¬
säure fast ganz ausschieden, während die
Gichtkranken große Mengen retinierten.
Die Bedeutung dieser Versuche für das
Problem des Wesens der Gicht wurde in
einer lebhaften Diskussion erörtert, ohne
daß die Anhänger entgegengesetzter An¬
schauungen zur Einigung gelangten.
In bezug auf den Diabetes hat der Kon¬
greß praktisch verwertbare Ergebnisse nicht
gezeitigt. Vielversprechend ist eine von
Reicher und Stein angegebene neue Me¬
thode zur Bestimmung des Blutzucker¬
gehaltes. welche an sehr kleinen Blutmengen
genaue Resultate ergibt. Reicher stellte
mit dieser Methode fest, daß im Blute nicht
immer die gleiche Menge Zucker verhanden
ist, wie man bisher stets glaubte, sondern
daß im nüchternen die kleinste Menge
Zucker im Blute sich findet, nach Zucker¬
nahrung aber die Blutzuckermenge steigt,
dann wieder abfällt. Zuckerkranke besitzen
unter allen Umständen viel mehr Zucker
im Blute als gesunde Menschen, nach
Zuckernahrung steigt bei ihnen auch der
Blutzuckergehalt viel höher an als beim Ge¬
sunden. Ebenso ist die Verbrennung des
Zuckers beim Zuckerkranken gegenüber
dem gesunden Menschen bedeutend ver¬
langsamt. Es ist zu hoffen, daß aus den
Aufschlüssen, welche die neue Methodik
geben wird, auch für die Prognose und
Therapie des Diabetes Früchte erwachsen
werden.
Von Porges (Wien) wurde mitgeteilt,
daß nach doppelseitiger Exstirpation der
Nebennieren das Glykogen aus der Leber
verschwinde. Es wäre möglich, daß die
Adynamie bei Addisonscher Krankheit auf
diesem Glykogenschwund beruhe, man sollte
also hierbei reichliche Kohlehydrate in der
Nahrung zuführen.
In seinem Vortrag über Hormone (Reiz¬
stoffe innerer Sekretion) sprach Zülzer
speziell über das Nebennierenextrakt. Ad¬
renalin verursacht Zuckerausscheidung und
Blutdruckerhöhung. Durch Z ü 1 z e rs Unter¬
suchungen ist wahrscheinlich gemacht, daß
beide Wirkungen von derselben Molekül¬
gruppe hervorgerufen werden. Sobald man
nämlich auf das Adrenalin das Extrakt der
Bauchspeicheldrüse einwirken läßt, das eine
antagonistische Bedeutung hat, so wurde
nicht nur diese Zuckerausscheidung unter¬
drückt, sondern das so gewonnene Adre¬
nalin rief eine dauernde Verbesserung
des Kreislaufs hervor, während durch das
gewöhnliche Adrenalin zwar eine vorüber¬
gehende Kreislauf Verbesserung bewirkt
wird, die indessen schnell einer Ver¬
schlechterung (Blutdruckabfall und Collaps-
puls) Platz macht. Das neu verwendete
Adrenalin stellt also ein besseres Mittel zur
Regulierung der Herztätigkeit dar als das
bisher gebrauchte. Zülzer ist überhaupt
der Ansicht, daß das Adrenalin nur in
dieser Form in unserem Organismus kreist.
Aus den Vorträgen über die Ver¬
dauungskrankheiten hebe ich die Mit¬
teilung von Curschmann jun. (Mainz)
hervor, welcher festgestellt hat, daß die
Salzsäurebestimmung nach den reizlosen
Probefrühstücken und Mahlzeiten, besonders
bei nervösen Personen, nicht die richtigen
Werte angibt. Wenn man eine Mahlzeit
zusammenstellt, die sowohl dem örtlichen
als auch persönlichen Geschmack entspricht,
werden andere Salzsäurewerte gefunden.
Baumstark (Homburg v. d. H.) hat nach¬
geprüft, ob die Meinung zu Recht besteht,
daß Bindegewebe nur im Magen aufgelöst
wird; er konnte im Hundeversuch fest¬
stellen, daß die Lösung bis zur Mitte des
Dünndarms stattfindet.
Bei den Versuchen von Vogt hat sich
gezeigt, daß nach Milzexstirpationen die
Pepsinausscheidung aufhört, daß indessen
nach einiger Zeit infolge der vikarierenden
Lymphdrüsentätigkeit sich die Pepsinaus¬
scheidung wieder einstellt und bis fast an
die Normgrenze ansteigt.
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Mai
Die Therapie der Gegenwart 1910.
237
Elsner (Berlin) und Löning (Halle)
zeigten Bilder der Magenschleimhaut, welche
mit ihren Gastroskopen aufgenommen war;
Elsner konnte auch Abbildungen von Ge¬
schwüren und Karzinomen, die er gastro-
skopisch gefunden hat, demonstrieren. Beide
Instrumente sind entsprechende Modifika¬
tionen des Oesophagoskops, also starre
Röhren, deren Einführung trotz der An¬
gaben der Erfinder nicht gerade angenehm
ist. In der Diskussion wurde auf das neue
Gastroskop von Sußmann (Berlin) hin¬
gewiesen, welches in biegsamer Form
wie eine Schlundsonde eingeführt und da¬
nach durch einen entsprechenden Mecha¬
nismus starr gemacht wird.
Ueber endobronchlale Therapie sprach
Ephraim (Breslau). Er erklärte die bis¬
herige Art der Inhalation und Insufflation
auf Grund seiner endoskopischen Befunde
für wertlos. Zur wirksamen Behandlung
sei vielmehr die direkte Anbringung von
Medikamenten auf die erkrankte Schleim¬
haut erforderlich, die am besten in Form
des feinsten Verspritzens erfolge. Man
kann dies durch Einführung geeigneter
Röhren oder durch einen biegsamen Zer¬
stäuber bewirken, den man nach Belieben
in die rechte oder linke Seite und beliebig
tief einführen kann, und der den Patienten
angeblich gar nicht belästigt. Redner be¬
richtet über günstig behandelte Fälle von
eitriger Bronchitis, bei denen er Terpentin
oder Suprarenin-Novocain-Lösung einge¬
stäubt hat. Noch besser seien die Erfolge
beim Bronchialasthma. Hier werde nicht
nur eine sofortige Beseitigung der asthma¬
tischen Erscheinungen herbeigeführt, son¬
dern angeblich, zum Teil durch einmalige
Behandlung, langdauernde Heilung erreicht
Kuhn (Berlin) empfahl dagegen seine
Lungensaugmaske auch als Heilmittel für
Bronchialasthma. Bisher zielte man bei
einer solchen Behandlung meist darauf
hin, durch Zusammenpressen des Brust¬
kastens auf die Ausatmung einwirken.
Nach Kuhn komme es vielmehr auf eine
Verbesserung der Einatmung und damit
zugleich auf eine bessere Durchblutung
der Lungen an. Da gewöhnliche, ver¬
stärkte und verlängerte Tiefeinatmung die
Lungenblähung vermehren würden und
auch infolge des bei Asthmatikern auf¬
tretenden Hustenreizes nicht möglich sind,
so sei die Einatmung zu erschweren, denn
dadurch werde ein ähnlicher physiolo¬
gischer Einfluß auf Blutansaugung und Zir¬
kulation erzielt, wie durch tiefe Ein¬
atmungen, und gleichzeitig komme auto¬
matisch dabei auch eine Verlängerung der
Einatmung zustande. Es müsse also ge¬
wissermaßen das beim Asthmatiker vor¬
wiegend bei der Ausatmung vorhandene
Hindernis auch in die Einatmung einge¬
schaltet werden, damit die erschwerte Aus¬
atmung ausgeglichen werde. Praktisch be¬
währt hat sich zu diesem Zweck die At¬
mung vermittels der Lungensaugmaske,
durch welche sich ohne Vorübung und in
therapeutisch abgestufter Weise die ge¬
wünschte Einatmungserschwerung und -Ver¬
längerung ohne weiteres erzielen läßt.
Bei der Beurteilung dieser Erfolge in der
Asthmatherapie wird man gut tun, sich an
die launische Natur dieses Leidens zu er¬
innern, dem jede neue eingreifende Me¬
thode in der Regel für einige Zeit im¬
poniert, um leider zu bald ihre Wirksam¬
keit einzubüßen.
Zahlreiche Vorträge über Herz« und
Nierenerkrankungen bezogen sich auf die
verfeinerten Methoden der funktionellen
Diagnostik. Ich bringe ein ausführliches
Referat über einen Vortrag von Nikolai
(Berlin), welcher einen gewissen Einblick
in die neueren Anschauungen über die
Funktionsstörungen des Herzens gestattet.
Das Thema des Vortrages betraf die Dis¬
soziation zwischen Vorhof und Herzkammer
beim Menschen und in Verbindung damit
über den Begriff der Allodromie.
Das Herz hat die einzige Funktion, das
Blut umzutreiben. Als Herzkrankheit ist
daher jeder Zustand — und nur ein solcher
zu bezeichnen, bei dem diese Funktion
weniger gut als in der Norm erfüllt wird.
Da diese Funktion eine rein mechanische
ist, lassen sich die Herzkrankheiten dem¬
entsprechend auch nach rein mechanischen
Gesichtspunkten einteilen. Wie eine Pumpe
schlecht arbeitet, wenn ihre Ventile un¬
brauchbar sind, wenn ihre Kraft nach¬
gelassen hat, oder wenn der Rhythmus der
einzelnen Teile verändert ist, so auch beim
Herzen. Wir unterscheiden also die
Klappenfehler, die muskulöse Herzschwäche
und die Arythmien.
Eine weitere Schädigung der Herz¬
arbeit wäre denkbar, wenn das Herz sich
in fehlerhafter ungünstiger Weise zusammen¬
zieht. Die Möglichkeit, eine solche Gruppe
als Krankheitseinheit zu beschreiben, lag
nicht vor, solange wir keine Mittel hatten,
auch nur den normalen Erregungsablauf
im Herzen zu verfolgen, geschweige denn
irgend eine Abweichung von der Norm
zu diagnostizieren. Es ist also nicht wun¬
derbar, daß alle derartigen Schädlichkeiten
bisher unter dem Sammelnamen der ner¬
vösen Herzerkrankungen zusammengefaßt
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238
Die Therapie der Gegenwart 1910.
Mai
worden sind. Heute haben wir in dem
Elektrokardiogramm die Möglichkeit, den
Kontraktionsablauf zu verfolgen, und können
daher eine neue Gruppe von Herzerkran¬
kungen, die wir als Allodromien (ver¬
änderter Ablauf) den Nomodromien (regel¬
mäßiger Ablaut) gegenüberstellen, abson¬
dern.
„Ob eine solche Absonderung praktisch
erscheint, kann allein die Erfahrung ent¬
scheiden; auf Grund unserer bisherigen
Erfahrungen glauben wir es. In bezug auf
die Allodromien möchten wir folgendes
behaupten:
1. Die Allodromien können für sich
gesondert auftreten und sind dann häufig
die einzige objektiv nachweisbare Schädi¬
gung, die wir in gewissen, bisher als nervös
bezeichneten Erkrankungen nachweisen
können. Die Aussonderung der Allodro¬
mien ist deshalb nicht ganz belanglos, weil
bei ihnen — im Gegensatz zu den sonstigen
Herzneurosen — in therapeutischer Be¬
ziehung Ruhe angebracht erscheint.
2. Die Allodromien können wie jeder
andere Herzfehler durch eine mäßige
Hypertrophie kompensiert erscheinen, und
sie treten dann in Verbindung mit einem
etwas großen Herzen bei an sich völlig
gesunden Personen auf; sie sind aber auch
dann der Hinweis auf ein minderwertiges
Herz, was in solchen Fällen bei Funktions¬
prüfungen zu Tage tritt.
3. Die Allodromien können mit anderen
Herzerkrankungen vergesellschaftet sein
und sind in gewissem Sinne notwendige
Folgen bestimmter anderer Erkrankungen;
sie können also für diese Erkrankungen
als pathognostische Symptome verwertet
werden. Da jetzt durch das Elektrokardio¬
gramm die Möglichkeit einer physikalisch
gesicherten Diagnose gegeben ist, wird sich
dann die Therapie auf gesicherte Grund¬
lagen stellen lassen.
Erwähnt sei ferner die Mitteilung von
Frz. Müller (Berlin) und Fellner (Fran¬
zensbad) über ein neues Mittel zur Herab¬
setzung des Blutdrucks und Gefä߬
erweiterung, welchem die Erfinder den
Namen Vasotonin beilegen. Es ist eine
Verbindung von Yohimbin und Urethan,
in welcher das letztere die aphrodixische
Wirkung des ersteren unterdrücken soll,
ohne die vorzüglichen angiodilatatorischen
Effekte zu beeinträchtigen. Müller und
Fellner empfehlen ihr Vasotonin gegen
den gesteigerten Blutdruck bei Arterio¬
sklerose, sowie bei Asthma und Angina
pectoris; das Yohimbin-Urethan soll durch
bessere Durchblutung der Hirngefäße die
Intelligenz und Lebhaftigkeit schon halb
verblödeter Sklerotiker steigern. Die
Mahnung zur Vorsicht, die Prof. v. Krehl
dieser Mitteilung folgen ließ, möchte ich
sehr unterstützen, denn in den Versuchen,
die ich selbst im Krankenhaus Moabit mit
Vasotonin habe anstellen sehen, konnte ich
nichts von den gerühmten Erfolgen wahr¬
nehmen.
Zum Schluß berichte ich über einige
interessante Mitteilungen, die außerhalb der
bisherigen Kategorien standen. Prof. Pick
(Prag) sprach über chronische T&b&k-
verglftung. Bei dieser findet man manch¬
mal eigenartige Atmungsstörungen, die sich
durch Nikotinwirkung nicht erklären lassen.
Auch weiß man, daß, besonders bei den
österreichischen Zigarren, die sogenannte
Schwere der Zigarre mit dem Nikotingehalt
nichts zu tun hat. Aus der Tatsache, daß
der Tabak geringe Mengen von Blausäure
enthält, daß Blausäure die Atmung beein¬
flußt, daß bei der Blausäure Vergiftung im
Körper vermehrte Rodanbildung eintritt
und diese sich auch bei Gewohnheits¬
rauchern zeigt, glaubt Pick schließen zu
dürfen, daß in der Tat die Blausäure zu
der chronischen Tabaksvergiftung beiträgt.
Nägeli (Zürich) berichtet über „End¬
ergebnisse bei der traumatischen
Neurose in der Schweiz“. Die Schweiz
kennt keine Rentengewährung, sondern ge¬
währt den L nfallverletzten eine einmalige
Abfindung. Nägeli hat nun das Schicksal
von 138 Fällen sog. traumatischer Neurose
verfolgt und gefunden, daß 115 voll erwerbs¬
fähig geworden waren; bei 80 ließ sich
dies durch genaue Feststellung des Lohnes
beweisen, da sie Lohnarbeiter waren. 17
hatten ihren Beruf gewechselt und sind
voll erwerbsfähig gewesen und nur zwei
der Geschädigten verdienen ein Jahr nach
der ersten Begutachtung noch nicht den
früheren Lohn. In der Diskussion betonte
Schultze (Bonn), daß auch nach seinen
Erfahrungen die Prognose der traumatischen
Neurose bedeutend besser sei, als man
im allgemeinen annehme.
Dies Referat enthält nur die praktisch
einigermaßen wichtigen Mitteilungen und
übergeht eine große Reihe interessanter
und wichtiger Vorträge theoretischen In¬
halts, die gewiß auch manchem praktischen
Arzte von großem Interesse sein würden.
Auch der Inhalt der Diskussionen, die zum
Teil sehr inhaltreich und fesselnd waren,
konnte vielfach nur andeutungsweise wieder¬
gegeben werden. Sie sind ausführlich ent¬
halten in dem ausführlichen Bericht über
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Mai
Die Therapie der Gegenwart 1910.
239
die Verhandlungen, welcher jedem Mitglied
des Kongresses unentgeltlich zugeht. Dieser
alljährlich im August erscheinende Band
bietet ein getreues Spiegelbild der Fort¬
schritte der inneren Medizin und bildet
sicherlich eine Zierde jeder ärztlichen Biblio¬
thek. Der Wunsch nach dem Erwerb dieser
Verhandlungen sollte ein lebhafter Anreiz
für viele Kollegen sein, Mitglieder des
Kongresses für innere Medizin zu werden!
Es ist einigermaßen beschämend, daß unsere
Mitgliederzahl so sehr weit hinter der des
Chirurgenkongresses zurückbleibt, während
doch jeder Arzt sich als innerer Mediziner
! fühlen und an den Veranstaltungen zur Förde-
I rung dieses Faches tätigen Anteil nehmen
1 sollte. Der Kongreß für innere Medizin wird
jetzt zum eingetragenen Verein; er erwirbt
die Rechte einer juristischen Persönlichkeit.
In seiner neuen Organisation wird er mehr
i als früher in der Lage sein, die wissen-
| schaftlichen und praktischen Interessen der
innern Medizin fördern zu können. Er öffnet
seine Pforten allen Aerzten deutscher
Sprache; möchten sie sich ihrer Zugehörig¬
keit zur innern Medizin, der alma mater
ärztlicher Kunst, mehr als bisher bewußt
; werden!
Bemerkung zu der Arbeit von Kausch über chirurgische Tuberkulose.
Von Prof. Fr,
Herr Prof. Kausch (Schöneberg) hat
im 3. und 4. Heft dieser Zeitschrift einen
Aufsatz veröffentlicht, in welchem er kund
gibt, wie er die Tuberkulose der Knochen
und Gelenke behandelt. Es ist nicht meine
Absicht, eine Kritik dieser Kundgebung zu
schreiben, aber ich halte es für meine
Pflicht, Stellung zu nehmen zu einer voll¬
kommen unrichtigen Bemerkung, welche
er (3. Heft, S. 119) über mich und meine
Schule macht: Bei seiner Besprechung der
Vorzüge der Jodoformglyzerininjektion sagt
er: „ich weiß wohl, daß dieselbe sehr ge¬
wichtige Gegner hat, wie König und
seine Schule.“
Ich kann niemanden, auch HerrnKausch
nicht zumuten, daß er meine viele Jahre
zurückliegenden Arbeiten über Jodoform
und die Vortrefflichkeit seiner Wirkungen,
zumal in der Verbindung mit Glyzerin ge-
König-Berlin.
lesen hat. Er würde dann freilich wissen,
daß ich nicht der letzte von denen bin,
welche die Verbreitung dieser Methode ge¬
fördert haben, längst vorher, ehe es über¬
haupt eine Mikulicsche Schule gab.
Aber ich bin nicht so bescheiden zu
| glauben, daß meine jüngsten Arbeiten
| wenigstens unberücksichtigt bleiben dürften,
| wenn jemand einen belehrenden Artikel
i über Gelenktuberkulose schreiben will. Hätte
i Herr Prof. Kausch das getan, dann würde
i er in meiner Monographie aus dem Jahre
i 1906 gefunden haben, wie hoch ich die
Jodoformglyzerininjektion für die
Heilung der Tuberkulose einschätze.
Unter anderen Aeußerungen darüber ver-
| weise ich auf S. 48, 49, 103—105.
Ich kann die Versicherung hinzufügen,
daß meine Schüler genau so darüber denken
wie ich.
Ueber Reklame durch Sonderdrucke.
Vom He
Unter der obigen Ueberschrift hat vor
kurzem Prof. W. Heubner (Göttingen)
in den Therapeutischen Monatsheften einen
Aufsatz veröffentlicht, in welchem er die
oft beklagten Mißstände auf dem Gebiet
der Arzneimittelfabrikation von neuem
geißelte. Er erklärt es aber auch — was
bisher nicht geschehen ist — als eine der
Würde des ärztlichen Standes nicht ent¬
sprechende Sitte, daß pharmazeutische
Firmen mit den Prospekten über neue Prä¬
parate auch Sonderabdrücke von Publi¬
kationen an die Aerzte versenden. Er
glaubt, daß eine solche Versendung in jeder
Form nur den suggestiven Reklamezwecken
der Industrie diene, und daß die Orien¬
tierung, die der Arzt durch dife ihm von
der Fabrik übermittelten Sonderabdrücke
erfährt, eine verfälschte sei, da doch stets
ausgeber.
nur empfehlende Publikationen vertrieben
, würden. Da nun auch die Titel der Zeit¬
schriften, aus denen die Sonderdrucke
stammen, zumHilfsmittelderReklame werden,
so tun die Redaktionen dem Interesse der
1 Aerzte an vorurteilsloser Berichterstattung
Abbruch und machen sich den Interessen
I der Industrie dienstbar, wenn sie die Liefe-
I rung von Sonderdrucken an pharmazeu-
| tische Firmen gestatten. Heubner fordert
| also von der Redaktion einer periodischen
j Zeitschrift, welche allen ihr zufallenden
j ideellen Aufgaben Genüge tun will, beson-
i ders von einer solchen, welche die Bericht-
! erstattung über das Gebiet der Arznei-
f Wissenschaft pflegt, daß sie jede Lieferung
von Sonderdrucken an industrielle Firmen
i einstellt. Er hofft, daß eine solche Maß-
| regel ein Schritt auf einem segensreichen
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UNIVERSiTY OF CALIFORNIA
240 Die Therapie der Gegenwart 1910. Mai
Wege sei. Dadurch wird es allmählich der Kern der ganzen Frage zu liegen. Die
tiefer in das Bewußtsein der Aerzte ein- | Verantwortung liegt bei den Redaktionen,
dringen, „daß der heute bestehende Ein- I Die sollen unnachsichtig allen Schund und
fluß der pharmazeutischen Industrie auf ! alle Reklame zurQckweisen. Ich glaube für
ärztliches therapeutisches Denken und | mich sagen zu dürfen, daß in den 12 Jahren
Handeln vielfach mächtiger ist, als im In- i meiner publizistischen Tätigkeit kein Ku-
teresse der Kranken und der Wissenschaft | kuksei in die Spalten der Therapie der
liegt. Eine Verringerung dieses Einflusses | Gegenwart eingeschmuggelt ist. Was ich
wird den wahren Fortschritt in der Therapie j aufgenommen habe, war immer so, daß die
eher fördern als hemmen.“ , Versendung in Sonderdrucken auch vor
Als Herausgeber der „Therapie der | der strengsten Kritik standhalten durfte.
Gegenwart* halte ich mich für verpflichtet, ! Mit Vergnügen bekenne ich auch, daß ich
zu der dankenswerten Anregung des Herrn j mich nicht erinnere, in den Therapeutischen
Prof. H e u b n e r Stellung zu nehmen. Aber Monatsheften jemals eine Publikation ge-
obwohl ich dem Grundgedanken derselben j funden zu haben, deren Versendung ich
gern zustimme, bedaure ich doch, mich da- : hätte beanstanden sollen,
gegen aussprechen zu müssen. Erstens halte Danach scheint es mir, alsobHeubner
ich den Gedanken praktisch für kaum aus- mit seinem Vorschläge das Kind mit dem
führbar, denn ich kann mir nicht vor- Bade ausschüttet. An der Besserung der
stellen, wie wir die Fabriken an der Mißstände, die er mit Recht beklagt, arbeitet
Versendung von Abdrücken hindern die medizinische Fachpresse seit langem,
können; an die Autoren wird ja von jeher | und es wird vielleicht möglich sein, für die
eine unbegrenzte Zahl von Abdrücken ge- j Gesamtheit der Redaktionen Grundsätze in
liefert und diesen müssen wir wohl die j der Aufnahme von Arzneimittelempfehlungen
Verwendung freistellen; wir können ihnen j einzuführen, wie sie die vornehme Publi-
nicht verbieten, ihre Arbeiten jedem Arzt zistik von jeher als verbindlich anerkennt,
zusenden zu lassen. Zweitens können wir Dann wird auch der besonnenste Kritiker
auf gar keinen Fall die Fabriken hindern, * nichts mehr gegen die Verwendung von
ihren Prospekten beliebige Auszüge aus j Sonderdrucken durch die herstellenden
literarischen Arbeiten beizufügen. Wenn Firmen etwas einwenden können. Vielleicht
sie nun keine Sonderabdrücke mehr schicken hätten die verehrten Kollegen von den „The-
können, werden sie von dieser zweiten rapeutischen Monatsheften“ besser getan,
Möglichkeit ganz uneingeschränkten Ge- Heubners Vorschläge dem berufenen
brauch machen. Sie werden nun natürlich Forum, der Vereinigung der medizinischen
nur das abdrucken, was ihnen aus den be- Fachpresse, zu unterbreiten, ehe sie sich für
treffenden Arbeiten ganz besonders in den ein Vorgehen entschieden, das in seiner
Kram paßt und die Aerzte werden dann Vereinzeltheit doch wirkungslos bleiben
viel einseitiger und viel weniger objektiv muß. Uebrigens hat auch der Ausschuß
informiert werden als zuvor. des Kongresses für innere Medizin sich mit
Der Hauptgrund aber, den ich gegen Heubners Anregung beschäftigt und sie
Heubners Anregung ins Feld führen einer Kommission zur Berichterstattung
möchte, liegt darin, daß ich es durchaus überwiesen. Sollte die illustre Körperschaft
für berechtigt und keineswegs für ver- des Kongresses zu einem Votum kommen,
urteilenswert halte, wenn den Aerzten gute so wird dasselbe natürlich auch für die
Publikationen über gute Arzneimittel zu- „Therapie der Gegenwart“ absolut ver-
gesandt werden. Schließlich ist das doch bindlich sein. Vorläufig aber möchte
auch eine Art der Information, die manchen ich meinen persönlichen Standpunkt dahin
Aerzten nicht unerwünscht ist und die doch präzisieren, daß ich in der Verwendung
nicht unbedingt zur Einschläferung der von Sonderdrucken aus der von mir
Selbstkritik und zur willenlosen Suggestion herausgegebenen Zeitschrift auch durch
führen muß. pharmazeutische Firmen nichts Unrechtes
Es kommt eben nur darauf an, daß es oder Schädliches erblicken kann,
gute Publikationen sind. Hier scheint mir
INHALT: Hirsch. Herzstörungen im Kindes- und Pubertätsalter S. 193. — Forlanini,
Pneumothorax S. 198. Hallervorden. Pantopon S. 206. — Bücherbesprechungen S. 207.
— Chirurgenkongreß S. 208. — Röntgenkongreß S. 223. — Kongreß für innere Medizin S. 226. —
König, Bemerkung zu der Arbeit Kausch S. 239. — Reklame durch Sonderdrucke S. 239.
Für die Redaktion verantwortlich Prof. Dr. (i.Klempcrerin Berlin. - Verlag von Urban&Schwarienbcrg in Wien u. Berlin.
Di uck von Julius Sittenfcld, 1 lofbuclidruckcr., in Berlin W. 8.
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UNfVERSITY OF CALIFORNIA
Die Therapie der Gegenwart
1910
herau8gegeben von Prof. Dr. G. Klemperer
In Berlin.
Juni
Nachdruck verboten.
Robert Koch f
Am 27. Mai ist Robert Koch einem arteriosklerotischen Herzleiden er¬
legen. Mit ihm ist einer der Großen dahingegangen, deren Werk für alle
Zeiten dauert. Die Früchte seiner Arbeit kommen der ganzen Menschheit zu
gute, in erster Reihe aber den Aerzten, deren Ideenkreis und deren Macht¬
bereich er erweitert hat. Die Erkenntnis und die Verhütung der Infektions¬
krankheiten sind durch Robert Koch auf neue Grundlagen gestellt worden,
auf welchen auch ihre Behandlung in Zukunft noch größere Erfolge zeitigen
wird als bisher. Wir neigen uns in Ehrfurcht vor dem Andenken des dahin¬
gegangenen Meisters, den wir mit freudigem Stolz aus unseren Reihen hervor¬
gehen sahen. Schwebt sein Genius in unerreichbarer Höhe, so suchen wir ihm
nachzustreben in der unermüdlichen und opferfreudigen Arbeit für das Wohl
unserer Mitmenschen, die das schönste Attribut des ärztlichen Standes bildet.
Ueber die Tenazität der Zelltätigkeit und Ihre Beziehungen
zur Pathologie.
Von Prof. W. Leube-WOrzburg 1 ).
Die Lebensvorgänge vollziehen sich nach
unseren heutigen Anschauungen in letzter
Instanz durch die Tätigkeit der Zellen, die
„Elementarorganismen**. Zu ihrer Existenz
bedürfen dieselben bekanntlich allgemeiner
Lebensbedingungen (Sauerstoff, Tempera-
turoptima, Nahrung usw.), deren Verände¬
rungen als „Reize* für die Zellen wirken,
auf welche dieselben mit einer Aenderung
ihres stofflichen und dynamischen Gleich¬
gewichts reagieren.
Da bei Vorhandensein der Reizbarkeit
und Reaktionsfähigkeit der Zellen die ver¬
schiedenartigsten Reize immer dieselbe der
betreffenden Zellenart speziell zukommende
Wirkung hervorrufen, so muß voraus¬
gesetzt werden, daß der lebendigen Sub¬
stanz eine „spezifische Energie** d. h.
eine Spezifität ihrer Tätigkeitsrichtung
innewohnt. Die letztere wird unter nor¬
malen Verhältnissen von den verschiedenen
Reizen lediglich quantitativ in bezug auf
ihre Leistun gsgröße, nicht auch qualitativ
*) Auf dem letzten Kongreß für innere Medizin habe
ich einige Gedanken über das Beharrungsvermögen
der Zellen zum Vortrag gebracht, von welchen ich
glaube, daß sie auch für das praktische Handeln am
Krankenbett einigen Nutzen bringen können. Ich
komme deswegen gern der Aufforderung des Her¬
ausgebers dieser Zeitschrift nach, einen Auszug
meines Vortrages an dieser Stelle zu veröffentlichen.
Die ausfQhrliche Publikation meiner Arbeit mit den
experimentellen Belegen erscheint demnächst in der
Zeitschrift für klinische Medizin.
d. h. in bezug auf die Natur der Zellpro¬
dukte beeinflußt Es zeigt sich also eine
unverkennbare Tendenz der Zelle in der
für sie charakteristischen Richtung zu ar¬
beiten, eine in der Organisation und Ent¬
wicklung der Zelle begründete immanente
Eigenschaft, an der sie das ganze Leben
unverrückt festhält, was ich seit langer
Zeit als Beharrungstendenz „Tena¬
zität** der Zelltätigkeit bezeichnet habe.
So liefern beispielsweise ganz exklusiv
die Zellen der Magenschleimhaut Pepsin,
die Leberzellen die Gallenbestandteile —
so geht der Stoffwechsel unter normalen
Verhältnissen immer nach fest bestimmten,
der Assimilation und Dissimilation dienen¬
den Gesetzen vor sich, die von der Ze 11-
arbeit streng eingehalten werden. Stoffe
werden dabei regelmäßig als Endprodukte
der Stoffzersetzung ausgeschieden, d. h.
nicht weiter umgesetzt, trotzdem sie noch
weiterer Oxydation fähig wären usw.
Abweichungen von dieser normalen
spezifischen Tätigkeit der Zellen existieren
unter physiologischen Verhältnissen nicht
oder nur in ganz untergeordnetem Maße.
Dagegen kommt bei den Körper
krankmachenden Schädlichkeiten
eventuell eine quantitative Verände¬
rung der Zelltätigkeit als Ausdruck
der Krankheitswirkung vor. Ist die
Veränderung nur kurzdauernd, so macht
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UNIVERSITY OF CALIFORNIA
242
Die Therapie der Gegenwart 1910.
Juni
sie nach Ablauf der Krankheit wieder dem
quantitativ normalen Verhalten der Zell¬
tätigkeit Platz. Hält dagegen die quantita¬
tive Veränderung der Zellarbeit nach einer
bestimmten Richtung hin an, so wird damit
ein pathologischer Zustand geschaffen, der
nur schwer redressierbar ist, weil die ab¬
norme Zellarbeit kraft ihrer Tenazität in
Permanenz tritt und als dauernde krank¬
hafte Lebensäußerung erscheint.
Wenn unter gewissen krankhaften Ver¬
hältnissen auch qualitative Veränderungen
der Zelltätigkeit sich einstellen, so ist dies
jedenfalls viel seltener und nur so zu er¬
klären, daß sehr intensive, ungewohnte und
längere Zeit einwirkende Reize vom nor¬
malen abweichende Atomgruppierungen
und damit eine qualitative Veränderung
der Zelltätigkeit zustande bringen. Ist
diese durch Atomumstimmung neu¬
geschaffene Zelltätigkeitsrichtung
erst fest entwickelt, so wird auch sie
kraft der allgemeinen Beharrungs¬
tendenz der Zellfunktion mit großer
Konsequenz eingehalten.
Gewöhnlich gereicht die Veränderung
der Zelltätigkeitsrichtung dem Gesamtorga¬
nismus zum Schaden, selten zum Nutzen.
Daß und wie das letztere möglich ist, wird
klar werden, wenn wir den Vorgang der
Immunisierung an der Hand des suppo-
nierten Gesetzes der Tenazität der Zell¬
tätigkeit analysieren und die Richtigkeit
desselben unter Benutzung klinischer und
experimenteller Erfahrungen näher prüfen.
Indem die natürliche oder künstliche
aktive Immunisierung in den Zellen des
Körpers spezifische Reaktionen auslöst,
wird durch Bildung von Antikörpern ein
Impfschutz erreicht, der um so länger an¬
hält, je längere Zeit die Körperzellen in
der erworbenen spezifischen Tätigkeit der
Antikörperproduktion verharren. Bei später
verminderter oder aufgehobener Abgabe
von Antikörpern kann die spezifische
Tätigkeit der Zellen im Sinne einer Anti¬
körperbildung dank der Beharrungstendenz
der veränderten Zelltätigkeit leicht, das heißt
leichter und energischer als das erstemal
durch dieselben Reize spezifischer Art
(Bakterien und Bakterienextrakte) gesteigert
oder aufs neue in Gang gebracht werden.
Bekanntlich nimmt die Menge der im
Verlauf eines Typhus abdominalis ge¬
bildeten Agglutinine und Bakteriolysine im
Blut rasch ab, so daß sie gewöhnlich schon
nach Wochen oder Monaten nicht mehr
nachweisbar sind und das Individuum nach
kurzer Zeit seine Immunität scheinbar ver¬
loren hat. In Wirklichkeit ist dies aber
nicht der Fall; denn bei einer neuen In¬
fektion schnellt der Serumtiter für die Ag¬
glutinine und die bakteriziden Stoffe rasch
wieder zur alten Höhe hinauf.
Bei vorher mit Typhus vorbehandelten
Kaninchen genügt eine minimale Menge
von Typhusbazillenkultur, die beim intakten
Kaninchen keine Agglutination hervorruft,
um die abgesunkene Agglutinationsfähigkeit
des Serums sofort beträchtlich hinaufzu¬
treiben. Diese Tatsache ist, wie ich glaube,
mit der Annahme der Tenazität der spe¬
zifischen Zellarbeit in bezug auf die Bil¬
dung von Schutzstoffen, nachdem dieselbe
gering oder latent geworden ist, am un¬
gezwungensten zu deuten.
In gleicher Weise lassen sich die bei
der Vakzination und neuerdings bei der
Serumkrankheit gewonnenen Erfahrungen
erklären. Auch hier ist man zu der An¬
nahme berechtigt, daß die einmal erlangte
Fähigkeit der Antikörperbildung durch einen
neuen spezifischen Anstoß leichter als
früher wieder geweckt werden kann.
Aber nicht nur auf den spezifischen
Reiz, der seinerzeit den Zellen die be¬
stimmte Tätigkeitsrichtung d. h. die Pro¬
duktion von Schutzstoffen aufzwang, rea¬
gieren die zur Bildung von Antikörpern
befähigt gewordenen Zellen mit erneuter
stärkerer Produktion derselben. Auch
nicht spezifische starke Zellreize schei¬
nen die einmal angeregte Bildung von
Schutzstoffen dank der Tenazität der spezi¬
fischen Zelltätigkeit gelegentlich wieder in
Gang zu bringen, so Pilocarpin, Hetol, Bier-
sche Stauung, längere dauernde Einwirkung
hoher Wärmegrade u. a. Mit solchen nicht
spezifischen Zellreizen gelang es mir in
der Tat bei Menschen, die vor kürzerer
oder längerer Zeit einen Typhus über¬
standen hatten, die Agglutination im Serum,
wenn sie nicht mehr nachweisbar war, wie¬
der positiv zu machen.
Die ungezwungenste Deutung für diese
experimentell erhärtete Tatsache scheint
mir die zu sein, daß dabei ein stärkerer
Reiz auf zur Agglutininbildung befähigte
Zellen ausgeübt wird, auf den sie mit
einer stärkeren Bildung von Agglutininen
reagieren, auch dann, wenn die Agglutinin¬
produktion latent geworden ist. Zu dieser
Tätigkeit sind aber die Zellen in höherem
Maße nur dann befähigt, wenn sie durch
einen vorausgehenden Typhus zur ekla¬
tanten Reaktion von Agglutininen ange¬
regt worden sind und diese spezifische
Tätigkeitsrichtung mit einer gewissen Zähig¬
keit einhalten. Ist diese Vorbedingung,
die Immunisierung gegen Typhus, nicht er-
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Juni
Die Therapie der Gegenwart 1910.
243
füllt, so kann auch keine spezifische Agglu¬
tininbereitung auf jene Reize erfolgen und
kein positives Resultat erzielt werden. Ein
Kontrollversuch am Gesunden, an einem
22jährigen Studenten, der bis jetzt nie
krank gewesen war und namentlich nie
einen Typhus überstanden hatte, ergab denn
auch in den vor und nach einer energi¬
schen Bierschen Stauung entnommenen
Blutproben dasselbe negative Resultat.
Die im Voranstehenden entwickelten
Anschauungen über die Tenazität der Zell¬
tätigkeit sind, wie ich glaube, geeignet,
einen Einblick in die verschieden starke
Entwicklung und Dauer der Immu¬
nität zu geben. Je weniger tiefgreifend
im einzelnen Falle die Beeinflußung der
Zelltätigkeit durch die Bakterienprodukte
ist, um so leichter und rascher wird die
Zelle die in Berührung d. h. nach den
üblichen Vorstellungen im Kampf mit den
Bakterien neu erworbene Richtung ihrer
Tätigkeit verlieren und später, wenn die¬
selbe latent geworden ist, auch nicht durch
neue spezifische oder starke nichtspezifische
Reize wieder gewinnen. In solchen Fällen
wird auch der Versuch, die Antikörper
künstlich wieder zu erwecken, nicht ge¬
lingen. Umgekehrt wird eine schwere In¬
fektion und eine lange Dauer derselben die
Zellen zu stärkerer Schutzstoffbildung an¬
regen, und die spezifische Arbeitsrichtung
wird in diesem Fall um so länger als Folge
der Beharrungstendenz der Zelltätigkeit an-
halten. So würde sich die klinische Tat¬
sache, daß in der Regel je länger und
schwerer ein Infektionsprozeß einwirkt, um
so weniger rasch den Organismus von der¬
selben Krankheit später auis neue befallen
wird, aufs einfachste erklären.
Als weitere Konsequenz müßte ange¬
nommen werden.daß die einzelnen Infek¬
tionsstoffe sich in bezug auf die Einwirkung,
auf die Zelltätigkeit und ihre Anregung zur
Bildung der die Immunisierung bewirkenden
Antikörper verschieden verhalten, so daß
bei der einen Infektionskrankheit die spe¬
zifische Reaktion der Zellen mit einer
weniger, bei der anderen mit einer mehr tief¬
greifenden Atomgruppierung in den Zellen
verbunden wäre und die letztere deswegen
kraft der Tenazität der Zelltätigkeitsrichtung
um so intensiver und länger anhielte.
Weiterhin kann die Theorie von der
Tenazität der Zelltätigkeit eventuell auch
die viel ventilierte, theoretisch wie prak¬
tisch wichtige Frage von der verderb¬
lichen oder salutären Bedeutung des
Fiebers in Infektionskrankheiten der
Lösung näherbringen.
Die Auffassung des Fiebers, insbeson¬
dere die Frage, ob das Fieber dem Kör¬
per gefährlich oder ob es eine zweckmäßige
und daher nicht zu bekämpfende Reaktion
des Organismus sei, wurde in den letzten
vier Jahrzehnten verschieden beantwortet.
Durch zahlreiche Experimente ist erwiesen,
daß hohe Temperaturen, das heißt solche
über 400 C, eine Steigerung des Eiwei߬
zerfalles bewirken. Wenn also die höheren
Grade des Fiebers namentlich bei längerer
Dauer in Berücksichtigung des stärkeren
Eiweißzerfalles schädlich wirken, so ist
damit nicht gesagt, daß etwaige durch die
erhöhte Körpertemperatur auf der anderen
Seite zustande kommenden Wirkungen
nicht nützlich sein und die bei hohem
Fieber eintretende Schädigung nach anderer
Richtung hin verringern könnten.
Experimentell hat sich erweisen lassen,
daß künstlich erhitzte Tiere im allgemeinen
Infektionen besser überstehen als nicht er¬
hitzte, insbesondere daß durch künstliche
Hyperthermie eine stärkere Bildung von
Antikörpern erzielt werden kann und zwar
von Agglutininen als auch von Hämolysinen
und Bakteriolysinen. Meine Versuche über
den Einfluß höherer Temperaturen auf die
Hämolysinbildung bei Tieren, bei welchen
die letztere im Abklingen begriffen war,
ergaben, daß kurz dauernde Erhöhung der
Körpertemperatur beim Tier auf 400 C
wirkungslos ist, daß dagegen die Hämo¬
lysinanregung nicht ausbleibt, sobald die
Temperatur der Tiere nach Injektion von
10%igen Deuteroalbumosenlösungen län¬
gere Zeit, das heißt tagelang, hochgehalten
wird.
Sind wir also nach alledem berechtigt,
beim Tier in einer längerdauernden Er¬
höhung der Körpertemperatur eine der
Ursachen für eine Steigerung der Anti¬
körperbildung zu sehen, so wird die Ueber-
tragung dieser Annahme auf den Menschen
erst dann erlaubt sein, wenn es gelingt,
auch bei Kranken eine Steigerung der Pro¬
duktion der Antikörper im Fieber experi¬
mentell nachzuweisen.
Meine nach dieser Richtung angestellten
Versuche ergaben zunächst, daß mäßig
heißeBäder und kurz dauern deKörper-
temperaturerhöhung auf 40° keinen
Einfluß auf die Antikörperbildung ausüben.
Wenn ich bei Menschen, die vor einiger
Zeit einen Typhus überstanden hatten, und
jetzt kein Agglutinin mehr oder nur Spuren
davon im Blut hatten, ein mäßig heißes
Bad (40° C, Dauer V 2 Stunde) nehmen
ließ, wodurch die Körpertemperatur kurze
Zeit (V 2 —I Stunde) auf 39 bis 40° C er-
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Die Therapie der Gegenwart 1910.
Juni
höht wurde, so zeigte sich nie ein po¬
sitiver Erfolg.
Anders wenn eine wiederholte, also
längerdauerndeTemperaturerhöhung
durch heiße Bäder erzielt wurde. Hierbei
zeigte sich eine deutlich gesteigerte Agglu¬
tininbildung.
Ebenso wie eine nicht rasch vorüber¬
gehende Temperatursteigerung scheint auch
eine einmalige exzessive Erhitzung des
Körpers (Hitzegrad von 48—50° C) als star¬
ker Zellenreiz zu wirken, auch wenn dabei
die Körpertemperatur nur kurze Zeit auf 40°
erhöht ist.
Nach den bisher im Versuch und am
Krankenbett gemachten Erfahrungen scheint
mir der Schluß erlaubt zu sein, daß eine
exzessive, wenn auch kurzdauernde
Hitzeeinwirkung und ebenso ein
längerdauerndes Fieber von zirka
400 C die Schutzstoffbildung begün¬
stigen. Zweifelsohne wird dadurch ein
starke* (nichtspezifischer) Reiz auf die
Zellen ausgeübt, so daß dieselben zu
stärkerer Tätigkeit und, wenn sie dazu von
früher her vorbereitet sind, speziell auch
zur Bildung von Antikörpern angeregt
werden.
Aus dem Erörterten dürften sich im
Allgemeinen folgende Grundsätze für unser
Vorgehen gegen das Fieber bei Infektions¬
krankheiten ergeben:
Bei Körpertemperaturen von unter 39,0
bis 39,5 C ist eine Bekämpfung des Fiebers
weder vom theoretischen noch vom prakti¬
schen Standpunkt aus indiziert. Anders
bei Temperaturen über 39,5 o. Hier ver¬
langen nicht nur die Störungen des All¬
gemeinbefindens: die Appetitlosigkeit, die
Schwere der nervösen Symptome (Kopf¬
schmerz, Delirien usw.), sondern auch der
bei dieser Temperaturhöhe eintretende
stärkere Eiweißzerfall ein antipyretisches
therapeutisches Eingreifen. Aber wir
brauchen selbst diese höheren Temperatur¬
grade nicht mehr so ängstlich wie früher
um jeden Preis herabzudrücken. Wir wissen
jetzt, daß dieselben neben den genannten
Schädigungen des Organismus durch
stärkere Anregung der Antikörperbildung
sogar Nutzen schaffen können, und werden
daher zweckmäßigerweise im einzelnen Fall
individuell verfahren, d. h. nur dann kon¬
sequent und sehr energisch antipyretisch
vorgehen, wenn die allgemeinen schädigen¬
den Folgen der anhaltenden Temperatur¬
steigerung einen höheren oder gar bedenk¬
lichen Grad annehmen. Es hat dies bald
mit Anwendung einer konsequenten aber
nicht zu heroischen hydriatischen Be¬
handlung (abgekühlten Bädern oder kalten
Wickeln), bald mit Antipyreticis zu ge¬
schehen, wobei man aber unter allen Um¬
ständen die großen Dosen von Phenazetin,
Pyramidon u. a. wegen der unangenehmen
Nebenwirkungen derselben (Appetitver¬
schlechterung, Nierenreizung, interkurrente
Schüttelfröste und Kollaps) zu vermeiden hat.
Noch möchte ich die Frage streifen, ob
nicht bei geringem Fieber geradezu die
Anwendung heißer Bäder indiziert ist,
von denen wir gesehen haben, daß sie die
Zellen zu stärkerer Antikörperbildung an¬
zuregen imstande sind, um so mehr als ein
Teil der „Fiebersymptome“ gar nicht auf
die hohe Körpertemperatur des Fieber¬
kranken, sondern auf die Infektion zurück¬
zuführen ist Daß mit heißen Bädern
und Wickeln bei Fiebernden zuweilen
bessere Erfolge als mit kalten Prozeduren
erzielt werden können, ist nicht zu be¬
zweifeln, doch scheint mir die Frage noch
nicht spruchreif zu sein. Jedenfalls aber
steht nichts im Wege, in Fällen, wo die
wärmeentziehenden Mittel schlecht ver¬
tragen werden, einen Versuch mit heißen
Wickeln u. a. zu machen.
Die entwickelten Grundsätze einer ein¬
geschränkten, individualisierenden Fieber¬
behandlung werden heutzutage von den
meisten Aerzten befolgt. Sie haben sich
aus der praktischen Erfahrung im Laufe
der letzten 2 Jahrzehnte entwickelt und
waren maßgebend schon zu einer Zeit, als
die Beförderung der Antikörperbildung
durch hohe Temperaturen noch nicht fest¬
gestellt war. Auch ich selbst habe seit
langen Jahren bei der Behandlung des
Fiebers nach den geschilderten Regeln ge¬
handelt und kann nur empfehlen, sich im
allgemeinen an dieselben zu halten.
Wahrscheinlich spielt die „Tenazität
der Zelltätigkeit“ nicht nur auf dem Ge¬
biet der Infektionskrankheiten, sondern
auch sonst in der Pathologie, speziell bei
den Stoffwechselkrankheiten, hier
nicht zum Nutzen, sondern zum Schaden
des Organismus eine bedeutsame Rolle —
so bei der Fettsucht, der Gicht und
beim Diabetes mellitus. Ich gehe auf
diese Fragen in der Zeitschrift für klinische
Medizin ausführlicher ein.
Die Annahme, daß bei den genannten
Stoffwechselkrankheiten die Beharrungs¬
tendenz der quantitativ und eventuell auch
qualitativ fehlerhaft gewordenen Zellfunk¬
tion eine wichtige Rolle spielt, erklärt es,
warum diese Stoffwechselstörungen so hart¬
näckig anhalten und unseren therapeuti¬
schen Bestrebungen einen so schwer
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Juni
Oie Therapie der Gegenwart 1910.
245
überwindbaren Widerstand entgegensetzen,
warum ihre „Heilung“ gewöhnlich nur eine
scheinbare ist und die Zelltätigkeit bei
jeder Gelegenheit in den alten Fehler
zurückfällt.
Es ist möglich, daß künftig medikamen¬
töse Mittel gefunden werden, die auf die
perverse Zellfunktion in der betreffenden
Stoffwechselstörung umstimmend und hei¬
lend einwirken. Bis jetzt wissen wir aber von
der Existenz und Wirksamkeit solcher Mittel
recht wenig oder gar nichts. Dagegen
ist es von vornherein wahrscheinlich, daß
eine Rückkehr der gestörten Zelltätigkeit
in die richtige Bahn am ehesten erwartet
werden darf, wenn den funktionell krank
gewordenen Zellen zunächst keine oder
nur das geringste Maß von Arbeit in der
Richtung zugemutet wird, in der ihre Funk¬
tion geschädigt ist. Dieses Prinzip der
spezifischen Schonung ist von klinischer
Seite längst als die wichtigste therapeu¬
tische Maßregel bei den uns beschäftigen¬
den Stoffwechselkrankheiten anerkannt
Dem Diabeteskranken wird allgemein eine
kohlehydratfreie Kost verordnet, dem Fett¬
süchtigen werden die Fettbildner in der
Nahrung entzogen, dem Gichtkranken der
Alkohol und eine an Purinbasen reiche
Nahrung verboten. Diese Ernährungsvor¬
schriften müssen im einzelnen Fall längere
Zeit durchgeführt werden. Ist es dann im
Verlaufe der Behandlung unter stetiger
Kontrolle des Stoffwechselverhaltens wahr¬
scheinlich geworden, daß die Zellen von
der quantitativen Herabsetzung und Fehler¬
haftigkeit ihrer Tätigkeit sich erholt haben,
so versuche man ganz langsam mit
leichtesten Aufgaben die Zelltätig¬
keit wieder nach der Richtung ihrer
Schädigung hin in Anspruch zu neh¬
men und sich mit größeren Zumutungen
an die Zelltätigkeit allmählich einzu¬
schleichen. Man kann auf diese Weise
die Zellen zur Wiederaufnahme ihrer
regelrechten Tätigkeit erziehen, d. h.
eine allmähliche Anbahnung und Be¬
festigung der letzteren herbeiführen. Diese
in ihren Grundlagen angedeutete, natur¬
gemäße Behandlungsmethode stellt zwar
die Geduld des Arztes und Patienten auf
eine harte Probe, ist aber, wie ich glaube,
bis jetzt unzweifelhaft die rationellste. Sie
lässt, wenn man Jahre darauf verwendet,
am ehesten erwarten, daß die in Insuffizienz
und falsche Richtung geratene Zelltätigkeit
wieder dauernd der normalen Platz machen
wird, die sonst fast immer eintretenden
Rückfälle der Stoffwechselstörung ausbleiben
werden und der Kranke nicht bloß schein¬
bar, sondern wirklich gesund werden wird.
Die entwickelten Grundsätze der „Ten-
azität der Zelltätigkeit“ dürften vielleicht,
wie ich hoffe, zur Erklärung des Zustande¬
kommens der Immunität und des Wesens
gewisser Stoffwechselkrankheiten beitragen
und auch bei unserem therapeutischen
Vorgehen von Wert sein. Ich würde mich
freuen, wenn meine Arbeit zu weiterer
Forschung Veranlassung gäbe.
Ueber eine Prioritätsfrage bezüglich des künstlichen Pneumo-
thorax bei der Behandlung der Lungenschwindsucht — und
Ober den Mechanismus seiner Wirkung. (schins.)
Von Prof. Carlo Forlaninl, Direktor der medizinischen Klinik der Kgl. Universität in Pavia.
Wir besitzen nun eine nicht unbe¬
deutende Anzahl von klinischen und anato¬
mischen Beobachtungen 1 ) (sämtliche nach
1882 gesammelt), welche mit diesen Ge-
l ) In der Behandlung dieses Gegenstandes habe
ich mir einen bestimmten Plan vorgenommen. Nach
der summarischen Mitteilung vom Jahre 1906 habe
ich mich an die Zusammenstellung einer vollständigen
Monographie gemacht Davon habe ich bereits den
Abschnitt Ober das Instrumentarium für den operativen
Eingrifi, Ober die Technik dieses letzteren und Ober
seine Zufälle veröffentlicht (op. cit ). Es werden
nun die rein klinischen Abschnitte folgen Ober die
Fortführung der Behandlung, aber die Zufälle im
Verlaufe derselben und Ober die Ausgänge; ab-
schliefien werde ich mit meiner Statistik. Auf eine
letzte Veröffentlichung werde ich schließlich meine
Anschauungen über die Natur des phthisiogenen Pro¬
zesses und Ober die Wirkungen der Ruhigstellung
der Lunge versparen, da ihnen eine allgemeinere
und gewissermaßen abschließende Bedeutung zu¬
kommt und sie ein ausgedehnteres Feld als jenes des
danken übereinstimmen: nämlich Beobach¬
tungen von Fällen, bei denen die ruhig¬
gestellten Lungenpartien — bei Ausbruch
der Phthise 1 ) nach der Ruhigstellung —
therapeutischen Pneumothorax besitzen. Uebrigens
gelangt jeder, der die Lfebens- und Funktions¬
bedingungen des Lungenparenchyms und jene, die
durch das Material der infektiösen Prozesse der
Phthise darin erzeugt werden, prüft, mit Leichtigkeit
von selbst zu dem Schluß, daß jenes Parenchym ab¬
sterben müsse: ein Schluß, der noch bekräftigt wird
durch die für die käsige Degeneration der Lunge
charakteristischen anatomischen Eigentümlichkeiten.
C. Forlanini. Zur Behandlung der Lungen¬
schwindsucht durch künstlich erzeugten Pneumo¬
thorax. (Deutsche med. Wschr. 1906, Nr. 35.)
*) Es ist nicht unnütz zu bemerken, daß, während
ein ähnlicher Gedanke von den andern, oben an¬
geführten Deutungen der Wirkung des Pneumo¬
thorax, — welche wohl die lokale und allgemeine
Besserung des Phthisikers erklären können, aber
nicht die der gesunden Lunge durch die Richtig-
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246
Die Therapie der Gegenwart 1910.
Juni
vollständig frei davon blieben, während die
beweglich gebliebenen Partien in ihrer
ganzen Ausdehnung davon befallen wurden.
Ich erinnere an die Fälle von Späth 1 ),
Schmorl 2 ), Palasse 3 ) und Westen¬
höffe r 4 ), bei welchen die Phthise beide
Lungen in ihrer Totalität ergriff und nur
jene Partien vollständig verschonte, die
durch schon vorhandene Pleuraergüsse
ruhiggestellt und so gegen sie geschützt
waren. Einen analogen, aber meiner An¬
sicht nach noch bedeutungsvolleren Fall
habe ich selbst voriges Jahr beobachtet
(Fall 42 meiner Statistik); ich gebe dessen
Krankengeschichte hier kurz zusammen-
gefaßt wieder.
Franz B., 17 Jahre alt, Schlosser, aus Pavia,
wird am 30. November 1907 in die Klinik auf-
f enommen. — Die Krankheit begann in akuter
orm rechtsseitig im vergangenen Juli.
Status praesens. — Grazile Konstitution;
phthisischer Habitus mit zylindrischem, schiefem
Thorax. Starke Abmagerung und Prostation;
Blässe (Fleischl 65%); hektisches Fieber, 38,5
bis 39°; Frösteln, Schweiße. 200—350 g Sputum
täglich, eitrig, großballig, wird leicht ausge¬
worfen; zahlreiche Bazillen und elastische
Fasern. Puls 102; R. 26; arterieller Blutdruck
112 mm Hg; Körpergewicht 34,7 kg.
Thoraxbefund. Rechts vorn: Tieferliegen
der ganzen oberen Lungengrenze. Gedämpft-
tympanitischer Schall, mit Wintrich-Fried-
reichschem Phänomen, mit bronchial-ampho¬
rischer Atmung und stark klingenden und gur¬
gelnden Rasselgeräuschen in der Supra- und
Infraklavikulargegend; abgeschwächter Per¬
kussionsschall bis zur Basis, nach unten zu
sich aufhellend; mit verschärftem, unbestimmten
Atmen und verschiedenblasigen klingenden
Rasselgeräuschen, nach unten zu an Zahl ab¬
nehmend; hochstehender unterer Lungenrand
(in der Mammillarlinie an der 5. Rippe). Rechts
unten und in der Axilla: Analoger Perkussions¬
und Auskultationsbetund; weniger deutlich
jedoch die Kavernensymptome; die Ab¬
schwächung des Perkussionsschalles und die
Rasselgeräusche erreichen nicht die Basis und
Stellung verliehene Phthiseimmunität — sich nieth
ableiten und auch nicht mit ihnen in Uebereinstimmung
bringen ließe, dieser selbe Gedanke Hauptbestandteil
des ersten fundamentalen Satzes ist; denn es ist klar,
daß wenn die Bewegung der Lunge conditio sine qua
non für die Entfaltung ^es Zerstörungsprozesses ist,
dieser sogar nicht beginnen kann in einer gesunden
Lunge, der durch die Ruhigstellung jene Bedingung
genommen worden ist.
l ) Späth, Eßlingen. Ueber die Beziehungen der
Lungenkompression zur Lungentuberkulose (Med.
Korrespondenzblatt des Württemberg, ärztl. Landes¬
vereins 1888, Nr. 14).
Schmorl. Zur Frage der Genese der Lungen¬
tuberkulose. (Münch, med. Wochschr. 1902, Nr. 33
und 34.)
3 ) M. Palasse. Röle protecteur de l’6panchement
pleural, au cours de la granulie.* (Soc. m6d. des
Höpitaux de Lyon, S6ance du 26. Janvier 1909. —
La Presse m6d. 1909, Nr. 18.)
4 ) Westen ho eff er. Zur Frage der Disposition
bei der Lungentuberkulose mit Beziehung auf ihre
Therapie. (Die Ther. d. Gegenwart, Dezember 1906.)
lassen unten einen 3—4 cm breiten Streifen
hellen Schalles und fast normaler Atmung frei;
der untere Lungenrand in normaler Höhe, seine
aktive Beweglichkeit fast normal in der Skapu-
larlinie, nach vorn zu geringer werdend (2—3 cm
stark in der Axillarlinie); in der Fossa infra-
spinosa ausgedehntes, scharfes in- und ex-
spiratorisches Reiben. — Linke Lunge: Schall¬
abschwächung in der Supra- und Infraklavi-
kulargegend (bis zum zweiten Interkostalraum)
und in der Fossa supraspinata, ziemlich aus¬
geprägt oben, nach unten zunehmend; mit
rauhem, etwas konsonierenden Bronchialatmen
und verlängertem Exspirium; klein-und mittel¬
blasige, konsonierende, bewegliche, nicht gur¬
gelnde Rasselgeräusche, besonders zahlreich
in der Supraklavikulargrube. Im übrigen nor¬
maler Lungenschall mit verschärftem Atmen
und vereinzelten trockenen und feuchten Rassel¬
geräuschen; die Lungengrenzen normal, Lungen¬
ränder gut verschieblich. — Untersuchung des
Herzens, des Abdomens, des Urins ohne Be¬
sonderheiten.
Diagnose: Doppelseitige Phthise mit ziem¬
lich raschem Verlauf; rechts ausgedehnt (fast
total), vorgeschritten mit Kavernenbildung, mit
trockener Pleuritis und fast totalen Adhärenzen
vorn; links Spitzenerkrankung, mit deutlichen
destruktiven Veränderungen, aber noch nicht
mit Kavernenbildung.
Das nicht mehr initiale Stadium der links¬
seitigen Erkrankung, die teilweise Verwachsung
der Pleura rechts, die Schwere des Allgemein¬
zustandes hielten mich anfangs von der An¬
legung des Pneumothorax ab; da aber der Zu¬
stand sich rasch verschlimmerte (in zwei Wochen
weitere Gewichtsabnahme um 1 kg und Sinken
des Hämoglobingehaltes auf 50 %), so daß der
Exitus nahe und unvermeidlich erschien, und
unter Berücksichtigung, daß mit dem Pneumo¬
thorax wenigstens ein vorübergehender Still¬
stand hätte erreicht werden können, unternehme
ich am 26. Dezember 1907 eine erste Einführung
von 300 ebem Stickstoff, die ich nach meiner
gewohnten Methode an den nachfolgenden
Tagen wiederhole.
Wie gewöhnlich, sinkt rasch das Fieber
(schon nach der ersten Einführung erreicht es
nicht mehr 38°) und mit ihm verschwinden die
Schweiße, die Kräfte heben sich, die Gewichts¬
abnahme hört auf, ja am 17. Tage besteht
schon eine Zunahme von 200 g. Der Husten
nimmt ab und mit ihm der Auswurf, der rasch
sich modifiziert *
30. Dezember 1907 (5. Tag). Nachweisbarer
Pneumothorax von der 2. Rippe vorn und zwei
Querfinger unterhalb der Spina scapular bis
zur Basis; oberhalb davon bestehen die Ka¬
vernensymptome weiter.
4. Januar 1908 (10. Tag). Der Pneumothorax
nimmt vorn auch den 1. Interkostalraum ein
und überschreitet den linken Sternalrand. Die
perkutorischen Höhlen Symptome sind ver¬
schwunden; es bleiben noch die gurgelnden
Rasselgeräusche. Der Befund hinten unver¬
ändert.
14. Januar (20. Tag). Die gurgelnden Rassel-
eräusche beschränken sich auf die Supra-
lavikulargegend; sonst alles unverändert.
5. Februar (42. Tag). Befund rechts unver¬
ändert. Deutliche Abnahme der Rasselgeräusche
links. Auswurf auf 80—100 ebem vermindert;
bedeutend weniger eitrig, mit noch zahlreichen
Bazillen und elastischen Fasern. Seit längerer
Zeit Apyrexie. Große Besserung des Allgemein-
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Juni
Die Therapie der Gegenwart 1910.
247
zustandes; Gewichtszunahme um 3,9 kg. Der
Kranke steht auf. Es wird mit subkutanen
Injektionen von Fibrolysin begonnen.
19. Februar (55. Tag). Pneumothorax bis
zum Schlüsselbein. In der Supraklavikular¬
grube und hinten bis unter die Spina herunter
Dämpfung mit Schachtelton, sehr schwaches,
unbestimmtes Atmen; seltene kleinblasige,
konsonierende, nicht gurgelnde, ja wenig be¬
wegliche Rasselgeräusche. Links vereinzeltes,
klingendes, klein- und mittelbiasiges Rasseln
in der Supraklavikulargrube. Auswurf zirka
50 cbcm. Weitere allgemeine Besserung, Ge¬
wichtszunahme um 4,6 kg.
9. Mai (zirka 4 1 /* Monate). Sehr voluminöser
Pneumothorax; er erreicht die linke Parasternal¬
linie. Es besteht noch die Lungenverwachsung
in der Supraklavikulargrube und in der Fossa
supraspinata. Das Rasseln in der kompri¬
mierten Lunge hat immer weiter abgenommen.
Links ganz vereinzeltes Rasseln beim Husten
in der Supraklavikulargrube. Sputum 20 bis
25 cbcm, schleimig, mit einzelnen dickeren
Flocken, die vereinzelte Partikelchen von ela¬
stischen Fasern und ganz seltene Bazillen ent¬
halten (1 auf 2—3 Gesichtsfelder). Subjektives
Wohlbefinden: Patient ist den ganzen Tag auf
und geht spazieren, und hat nur bei Bewegungen
mäßige Dyspnoe. Gewichtszunahme 12,1 kg.
6. Juni (57t Monate nach Beginn der Kur).
Atmung rechts überall aufgehoben; es bestehen
noch seltene Rasselgeräusche in der Fossa
supraspinata in den Zwischenzeiten, die nach
jeder frischen StickstofTeinführung verschwinden.
Die Rasselgeräusche links sind ganz weg.
Allgemeinzustand immer gut; Patient macht
lange Spaziergänge. Gewichtszunahme 13,1 kg.
19. Juli (fast 7 Monate). Da der Zustand
immer sehr gut ist, verläßt Patient die Klinik
(um alle 10—15 Tage zur Stickstoffeinführung
zu erscheinen).
23. bis 29. Juli, 5. August. Ambulatorische
Stickstoffnachfüilung. Der objektive und sub¬
jektive Allgemeinzustand bleibt unverändert
gut Es besteht immer noch eine kleine, tief¬
liegende Gruppe von Rasselgeräuschen über
der Spina, die aber nach der Einführung von
200 cbcm Stickstoff verschwindet. Patient ist
fortwährend fieberlos, hat ganz seltene Husten¬
stöße, mit sehr wenig Auswurf.
Es handelt sich also um einen äußerst be¬
friedigenden und unverhofften Erfolg. Die
schon ziemlich vorgeschrittene und ausgebreitete
Erkrankung der linken Lunge war für den
Augenblick zum Schweigen gebracht w'orden;
sie bestand nur noch in einer Spitzendämpfung
und konnte als auf dem Wege stärkster Rück¬
bildung begriffen betrachtet werden. Die ge¬
schrumpfte rechte Lunge, an die Thoraxkuppel
angedrückt, war noch nicht vollständig ruhig
gestellt; sobald der Druck des Pneumothorax
etwas nachließ, traten wieder Rasselgeräusche
darin auf. Aber die großen Kavernen waren
aufgehoben, der bindegewebige Vernarbungs¬
prozeß war sicherlich in bestem Gang, und es
war eine bleibende Heilung zu erhoffen, wenn
nur mit Sorgfalt und auf noch lange Zeit
hinaus der Pneumothorax unterhalten und der
Kranke eine entsprechende Lebensweise be¬
obachten würde; das noch frische Narben¬
gewebe mußte noch wenig widerstandsfähig
sein; bei den bestehenden Verwachsungen mit
der Thoraxwand waren Zerreißungen und die
Eröffnung der Lunge in die Pleurahöhle möglich
bei heftigeren Thoraxbewegungen (ich habe
andere solche Fälle gesehen, die ich bei der
Besprechung der Zufälle im Verlaufe der Be¬
handlung mitteilen werde); der Kranke hätte
schon einer ruhigen Beschäftigung obliegen,
aber nicht heftige körperliche Ueberanstren-
gungen ertragen können ; in diesem Sinne wurde
ihm auch sehr ernstlich zugesprochen. Leider
ließ er sich durch sein vollständiges subjektives
Wohlbefinden, und da er sich über seinen
wahren Zustand nicht genau Rechenschaft
geben konnte, zu großen Spaziergängen zu Fuß
und auf dem Rad und selbst zu Ausflügen im
Ruderboot auf dem Tessin verleiten. Und der
befürchtete Zufall trat ein.
Am Morgen des 5. August kommt er zur
üblichen Stickstoffnachfüllung in die Klinik.
Gleich darauf fährt er auf dem Rad nach
Broni (21 Kilometer) und von hier steigt er zu
Fuß nach dem Schloß von Cicognola (200 m
über Broni), indem er weitere 5 Kilometer,
stellenweise mit starker Steigung, zurücklegt.
Während des Anstieges hat er ungewöhnliche
Dyspnoe und, auf der Höhe angekommen, einen
Erstickungsanfall; nachdem er sich einiger¬
maßen erholt hat, steigt er zu Fuß wieder den
Hügel herunter. Während der folgenden Tage
— er wird fiebernd in die Klinik wieder auf¬
genommen — wird Perforation der Lunge,
Verkleinerung des Pneumothorax, hernach
Empyem konstatiert, dem der Kranke am
13. September erliegt. In der Zwischenzeit
von mehr als einem Monat flackert die alte
linksseitige Spitzenaffektion wieder auf und er¬
greift rasch einen großen Teil der gesund ge¬
wesenen linken Lunge.
Leichenbefund. Rechte Pleura äußerst
verdickt, die Höhle enthält zirka 400 cbcm
Eiter. Die rechte Lunge ist zu einer soliden,
kompakten Masse geschrumpft, die ungefähr
Vs—Vio der Pleurahöhle einnimmt (der Rest
ist Pneumothorax), und aus zwei untereinander
durch einen dicken Isthmus verbundenen Teilen
besteht; der obere mit der Spitze verwachsene
Teil ist zudem durch zwei 3—4 mm dicke
Pleurafalten an die Thoraxwand festgeheftet;
der zweite Teil hat die Form eines dicken
abgeflacht zylindrischen Stranges und ist dem
Mediastinum und dem Zwerchfell adhärent.
Fig. 1 ist die Photographie eines großen Teiles
des mit der Lunge aus dem Thorax heraus¬
genommenen Pleurasackes; die obere Masse
mit dem Isthmus ist durch einen seitlichen
senkrechten Schnitt in zwei Teile geteilt; der
hintere Teil liegt in der Photographie links;
der vordere, nach außen gedreht, liegt rechts
zusammen mit dem dicken mediastin&len
Strange; letzterer ist ebenfalls quer durch¬
schnitten und seine Schnittflächen sind kaum
voneinander gedrängt. Durch Zurückdrehen
der rechten Hälfte der Photographie auf die
linke würde man die Lungenmasse wieder ver¬
einigen. — Auf der Schnittfläche erscheint die
fleischig aussehende obere Masse durch einen
dicken querverlaufenden Bind ege websstreifen
(wahrscheinlich das sehr verdickte obere inter-
lobäre Septum) in zwei Teile geteilt. Der
obere Teil ist von deutlich fleischigem Aus¬
sehen mit verschwommenen Flecken von ver¬
schieden intensiver blaß ziegelroter oder grauer
oder schwarzer oder gelblicher Farbe; es
kommen darin aber auch rein gelbe Flecken
vor, die einen mit scharfen, die anderen mit
mehr verschwommenen Rändern, von denen
der größte Teil den Durchmesser von 1 cm
nicht erreicht; sie bestehen augenscheinlich aus
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Die Therapie der Gegenwart 1910.
Juni
käsigen Massen. Diese Flecken sind vor¬
wiegend längs eines oberen peripherischen
Streifens, gewissermaßen sub¬
pleural, verteilt; aus einigen
von ihnen ist die käsige Masse
heraus gefallen, einen kleinen
Hohlraum zurücklassend. Der
andere Teil bringt in sehr ab¬
geschwächter Weise die Ver¬
hältnisse des oberen wieder; die
Farbensprenkelung tritt weniger
stark hervor; man erkennt darin
kaum einige gelbliche Flecken,
und es erscheinen Inseln von
vorher lufthaltig gewesenen,
jetzt atelektatischem Lungen
gewebe. Dasselbe gilt von der
Schnittfläche der zylindrisch-
mediastinalen Masse, in der die
lufihaltig-atelektatischen Lun¬
genpartien viel zahlreicher sind.
Die linke Lunge zeigt das
gewohnte Bild eines stark ausge¬
bildeten phthisischen Prozesses
in der Spitze; im übrigen Teil
sind überall, vorzugsweise an
der Basis, verstreute zahlreiche
kleine Herde.
Histologischer Lungen¬
befund. In der ganzen linken
Lunge wird der klassische Be¬
fund der floriden Phthise erho¬
ben; Herde von käsiger Pneu¬
monie in 'allen ihren Stadien.
Tuberkelknötchen mit Riesen-
und epitheloiden Zellen und frischer Rundzellen¬
infiltration. Weitere Einzelheiten halte ich für
überflüssig.
Rechte Lunge: Eme I cm dicke Scheibe
Fig. 2.
aus der oberen Partie, in 6 Würfel geteilt, gibt
uns in Oberflächen- und senkrechten Serien-
Fig. 1.
Die aus dem Thorax herausgenommene Pleura und Lunge des Franz B.
Die obere Lungenmasse ist durch einen senkrechten Schnitt quer durchtrennt und
der vordere Teil samt der unteren mediastinischen Masse und einem Teil des
Pleurasackes nach außen umgeschlagen (rechts in der Zeichnung). Die media-
stimsche Masse ist ebenfalls quer durchschnitten, aber in horizontaler Richtung,
und der Schnitt ist klaffend.
schnitten den Befund eines Gesamtdurch-
schnittes durch die ganze Masse: dasselbe ist
mit der in 3 Würfel zerteilten mediastinischen
Masse der Fall. — Der Befund entspricht jenem
der eingeleite¬
ten Heilung, die
noch nicht das
von mir 1906 be¬
schriebene End¬
stadium (op. cit.)
erreicht hat,
aber doch schon
Schnitt durch einen aus der oberen Lungenmasse des Franz B. entnommenen Würfel, wo die
Läsionen am vorgeschrittensten sind (siebenfache lineare Vcrgrösserung).
weiter vorge¬
schritten ist als
in den Fällen
von Graetz.
Fig. 2 gibt eine
Mikrophotogra¬
phie in 7facher
lineärer Ver¬
größerung eines
Schnittes durch
den die Spitze
betreffenden
Würfel wieder,
in dem die be¬
deutendsten
Reste der alten
Phthise enthal¬
ten sind. Eine
unregelmäßige
dicke käsige
Masse in der
Mitte ist um¬
geben von ver¬
schiedenen klei¬
neren ; alle sind
scharf abge¬
grenzt. Die kä¬
sige Substanz
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Juni
Die Therapie der Gegenwart 1910.
249
hat sich in der Härtungsflüssigkeit stark zu¬
sammengezogen und ist voll von Sprüngen;
größtenteils ist sie amorph und färbt sich nicht;
stellenweise sind noch die zusammengedrängten
deformierten zeitigen Elemente mit schwach
färbbaren Kernen zu erkennen. Diese Massen,
die wahrscheinlichen Ueberreste der früheren
großen Kavernen, sind umgeben und vonein¬
ander abgetrennt durch eine aus neugebildetem
Bindegewebe bestehende Masse, die bald da,
bald dort Reste von Lungenparenchym, Gefäße
und Bronchen einschließt. Bei entsprechender
Vergrößerung erscheint das Bindegewebe mehr
oder weniger jungen Datums, an einzelnen
Punkten schon von deutlicher Narbenstruktur
mit unregelmäßig zusammenliegenden Bündeln,
überall von zahlreichen gut färbbaren fixen
Zellen und einer reichlichen kleinzelligen In¬
filtration durchsetzt, die bald difius ist, bald
auch in mannigfach geformten Haufen ange¬
ordnet ist, zuweilen so dichtgedrängt wie bei
Abszeßknötchen. An einzelnen Stellen ist die
Bindegewebsneubildung scharf getrennt von
den käsigen Massen, mit dem Aussehen einer
Wandbildung; an andern Stellen scheint sie mit
der Käsesubstanz zu verschmelzen. Die
Bindegewebsneubildung ist besonders reichlich
um die Gefäße und um die Bronchen herum:
die Gefäßwände sind verdickt, besonders die
der Arterien, ohne aber den Grad der den
letzten Stadien der Narbenbildung eigen¬
tümlichen Mesarteriitis obliterans zu erreichen.
Auch hier begegnet man, wenn auch in wenig
hervorstechendem Maße, jenen interessanten
Gefäßneubildungen von angiomartigem Aus¬
sehen, wie sie von Guyot-Bourg für die
pleuralen Pseudomembranen bei der Phthise
beschrieben worden sind, wie man sie aber
auch, speziell bei der vorgeschrittenen narbigen
Bindegewebsbildung in der Lunge beobachtet.
— Ebenso verdickt und mit reichlicher klein¬
zelliger Infiltration durchsetzt sind die Bron¬
chialwände; ich habe keine besonderen Ver¬
änderungen an der Muskularis noch an den
Drüsen angetroffen; aber die Lumina sind de¬
formiert, stenosiert oder an einzelnen um¬
schriebenen Stellen dilatiert und durch dicke
Sekretpfropfen mit reicher Proliferation zylin¬
drischer Epithelien verstopft
Von besonderem Interesse sind die Reste
von Lungengewebe; sie treten in meistens
isolierten, unregelmäßigen, verschieden großen
und durch die Bindegewebsneubildung gut ab¬
gegrenzten Haufen auf; zuweilen sind hingegen
ihre Grenzen nicht scharf und verlieren sich
im Bindegewebe; das Parenchym ist überall
atelektatisch. stellenweise stark gedehnt, von
faszikuliertem Aussehen, mit reichlicher klein¬
zelliger Infiltration, und die Epithelzellen sind
stark zusammengedrängt stellenweise deutlich
erkennbar, Wo die Läsionen hochgradiger
sind, wie in Fig. 2, erscheinen viele jener
schon seit langer Zeit, speziell für die fibröse
Phthise beschriebenen Bilder, mit dem Aus¬
sehen von embryonalem Lungengewebe, zu¬
weilen verästelten Drüsenschläuchen gleichend
mit wohlerhaltenem kubischen Epithel und
g ’oßem, rundlichen, stark färbbaren Kern, deren
edeutung dunkel ist und die mir — speziell
bei der Beobachtung der älteren Fälle von
Lungenvernarbung — vorderhand den Eindruck
machen von atypischen Neubildungen von in
Parenchymzügen zurückgebliebenem Lungen¬
epithel, in welchem jeder infektiöse Prozeß er- j
loschen ist in denen aber gleichzeitig die t
Atmungsfunktion nicht wieder einsetzen kann.
Wo hingegen die Läsionen geringgradiger sind,
ist die Zellanhäufung geringer, die Lungen-
gewebspartien sind ausgedehnter, die klein¬
zellige Infiltration und die Atelektase geringer,
ja die Alveolen zeichnen sich deutlich ab und
ihr Epithel ist relativ gut erhalten. Wo endlich
die Läsionen der alten Phthise spärlich sind,
wie im untersten Teil der mediastinischen
Blasse, bildet das Parenchym ein kontinuier¬
liches Ganzes mit einer reichlichen Bildung
von Epithelien, die an vielen Stellen den
Charakter einer eigentlichen katarrhalischen
Pneumonie, hier und da mit den ersten An¬
fängen von käsiger Degeneration, annimmt.
Aber trotz sorgfältiger Untersuchung gelang
es mir nicht, eine Andeutung von fnschen
Phthiseprozessen nachzuweisen; keine Herde
von käsiger Pneumonie, wie sie typisch in der
linken Lunge zu sehen waren, sondern nur die
reiche Epithelzellenproduktion der media¬
stinischen Masse, da und dort mit Andeutungen
von käsiger Degeneration (hier muß bemerkt
werden, daß die genannte wenig erkrankte
Lungenpartie nach der Perforation und nach
dem Sinken des Pneumothoraxdruckes einen
gewissen Grad von funktioneller Bewegung
wieder erlangt haben muß); und vor allem
keine Tuberkelknötchen in ihrem charakte¬
ristischen anatomischen Aufbau, weder frische
noch alte; ich fand nur in der Nähe des Randes
der zentralen käsigen Masse von Abb. 2, in
den senkrechten Serienschnitten davon eine
Gruppe von weniger Tuberkelriesenzellen,
welche aber wegen ihres Aussehens und weil
sie isoliert im Bindegewebe lagen, ohne Be¬
gleitung der andern zarteren Elemente des
Knötchens, der epitheloiden Zellen und Spuren
des Retikulums, als Ueberbleibsel des alten
Prozesses angesehen werden mußten 1 ).
Der mitgeteilte Fall ist interessant wegen
seines klinischen Erfolges, der nur durch
den Kranken selbst kompromittiert wurde;
aber er ist vor allem wichtig mit Rück¬
sicht auf den anatomischen Befund und
dessen Bedeutung. Zweifellos war der in¬
fektiöse Prozeß noch nicht erloschen, weder
in der rechten noch in der linken Lunge;
es kam zu einem akuten Wiederaufflackern
gelegentlich der durch das Empyem ge¬
schaffenen neuen schweren Allgemeinbe¬
dingungen. ln der frei funktionierenden
linken Lunge ergriff derselbe rasch in
klassischer Weise das ganze Organ; in der
oberen Masse der durch die Vernarbung
ruhig gestellten rechten Lunge findet man
hingegen keine Spur davon; und er er¬
scheint in ganz initialer Form in der me¬
diastinischen Masse, welche, nahezu frei
von alten Läsionen, wahrscheinlich infolge
der Perforation und des Sinkens des Pneu¬
mothoraxdruckes einen gewissen Grad
*) Der Bazillennachweis in der rechten Lunge
fiel negativ aus. Da die Stücke in Formalinalkohol
aufbewahrt worden waren, hat dieser Befund na¬
türlich keinen absoluten Wert; er trifft aber zusammen
mit dem Fehlen der histologisch charakteristischen
Tuberkelknötchen.
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250
Die Therapie der Gegenwart 1910.
Juni
funktioneller Beweglichkeit wiedererlangt
hatte.
Der zweite und dritte meiner Funda¬
mentalsätze, daß nämlich die Lebhaftigkeit
der Atmungsbewegungen ein gewisses
Hindernis dem Sichfestsetzen der vorberei¬
tenden Prozesse der Phthise entgegenstelle
und die Abschwächung derselben ihm Vor¬
schub leiste, werden bereits durch ältere
klinische Beobachtungen illustriert; die Be¬
vorzugung der Spitzen, die Disposition zur
Phthise bei jenen, die ein ruhiges Leben
in geschlossenen Räumen führen, die rela¬
tive Immunität hingegen bei jenen, die viel
Bewegung, besonders im Gebirge, machen,
usw.; aber diese Sätze finden, wie ich
schon sagte, auch ihre praktische Anwen¬
dung und erfahren eine neue Illustration
durch die Behandlung mit dem Pneumo¬
thorax.
Der Pneumothorax der einen Seite übt,
wie ich bereits in meinen früheren Arbeiten
sagte, eine heilende Wirkung auch auf
eine eventuelle Läsion der anderen Lunge
aus; und die weitere Erfahrung bestärkt
mich immer mehr in dieser Ueberzeugung.
Es handelt sich hier um eine mehrfache
Wirkung, bei .welcher gewiß als mächtige
Faktoren die Aufhebung der Resorption
der Toxine aus der anderen Lunge, als
die unmittelbare Folge des Pneumothorax
und später ihre Ausheilung und ihre Be¬
einflussung des Allgemeinzustandes hervor¬
zuheben sind; aber mehrere Momente
lassen mich auch an die Beteiligung einer
rein mechanischen, vom Pneumothorax als
solchen sich herleitenden Wirkung denken,
wie wir sie a priori auffassen müßten; eine
Wirkung, die nicht direkt und absolut den
Prozeß verhindert, wie es jene der Ruhig¬
stellung des Organs ist, sondern eine die
Behandlung einfach unterstützende Wirkung
von ganz anderem Mechanismus. Indem
nämlich der Pneumothorax in vikariieren¬
der Form der anderen Lunge ein Ueber-
maß von respiratorischer Beweglichkeit
auferlegt 1 ), setzt er damit der Fortsetzung
l ) Daß eine Funktionsbebinderung einer Lunge
oder — allgemeiner — eine Verkleinerung der At¬
mungsoberfläche zu einer vikariierenden Zunahme der
anderen Lunge oder der übrigbleibenden Atmungs¬
oberfläche führe, muß schon a priori angenommen
werden; die Tatsache ist aber für die Pneumothorax¬
behandlung von solcher Wichtigkeit, daß es nötig ist,
sie in ihren Einzelheiten und speziell mit Rücksicht
auf ihr Maß zu studieren und klar zu legen. Eine
solche Untersuchung wurde zweimal in meiner
Klinik in Turin und in jener in Pavia vorgenommen.
1890 von den Proff. Riva-Rocci und Cavallero,
damaligen Assistenten der Klinik, und neuerdings
von Dr. Carpi, meinen jetzigen Assistenten. Riva-
Rocci und Cavallero benutzten 12 Fälle der
der vorbereitenden Prozesse der Phthise —
wie es mein zweiter Satz ausdrückt —
einen gewissen Widerstand entgegen; was
eine vorbeugende Wirkung bedeutet, wenn
die Lunge gesund ist, eine kurative, wenn
sie schon von der Krankheit befallen ist; eine
Wirkung, welche bei ihrer Natur und bei
ihrem Mechanismus nur innerhalb gewisser
Grenzen und nur unter bestimmten Bedin¬
gungen vor sich geht, vor allem nur, wenn
die Läsion noch nicht weiter vorgeschritten
ist und speziell, wenn es noch nicht zu
eigentlichen Zerstörungen gekommen ist.
Ich habe in meiner Statistik bereits eine
ordentliche Anzahl von Fällen, bei denen
eine Läsion der anderen Lunge zum Still¬
stand kam oder zurückging; in einigen
Fällen heilte die Läsion ganz aus, und für
einen Fall besitze ich den anatomischen
Beweis der Heilung (ich werde bei der
nächsten Gelegenheit diesen Fall — den
fünften meiner Statistik —, welcher inter¬
essante Einzelheiten über den Heilungs¬
prozeß bietet, detailliert mitteilen); es han¬
delt sich um ein Mädchen mit rechtsseitiger
kavernöser Phthise, bei welcher links in
der Supraklavikulargrube eine Gruppe
ziemlich fixierter, klein blasiger, klingender
Rasselgeräusche bestand, die einige Zeit
nach Einleitung der Behandlung für immer
Klinik, die an verschiedenen Krankheitsformen des
Atmungsapparates litten; darunter befanden sich vier
meiner ersten Fälle von künstlichem Pneumothorax.
Carpi hingegen benutzte 20 junge und gesunde
Individuen, bei denen er eine merkliche Reduktion
der Atmungsoberfläche mit dem von meinem früheren
Assistenten Dr. Scarpa in Turin vorgeschlagene
Emi-Eso-Torace erzielte; (es ist ein nach dem Prin¬
zip des alten pneumatischen Panzers konstruierter
Apparat, mit welchem man die Atmungsexkursionen
der einen Hälfte oder der ganzen Thoraxbasis ein¬
schränkt, mit der Absicht, in der anderen Hälfte oder
in den oberen Thoraxpartien vikariierend eine ver¬
mehrte Atmungstätigkeit hervorzurufen. Die Resul¬
tate der drei Beobachter sind übereinstimmend und
beweisen, 1. daß, welches auch die Reduktion der
respiratorischen Oberfläche ist, die ventilierte Luft¬
menge ungefähr den normalen Wert beibehält, —
2. daß die infolgedessen für die Einheit der vorhandenen
Atmungsfläche notwendige Atmungszunahme im Mittel
zu einem Viertel ihres Wertes von der Zunahme der
Atemfrequenz und zu drei Viertel von der Vertiefung
der Atembewegungen abhängig ist.
G. Cavallero und S. Riva-Rocci. — Die re¬
spiratorische Funktion bei den Individuen mit Re¬
duktion der Atmungsoberfläche in den Lungen. Ex¬
perimentelle Studie. (Gazz. internaz. di Scienze
Mediche, Anno XII, Napoli 1890.)
L. G. Scarpa. —Von einer physiotherapeutischen
Behandlung der Pleuritis und der Lungentuberkulose
vermittels eines neuen Apparates, genannt pneuma¬
tischer Emi-Eso-Torace. (Comunicaz. alla R. Accad.
di M6dicina di Torino. Seduta del 6. Luglio, 1906.)
M. Carpi. — Die Lungenventilation bei Gesunden
nach experimenteller Einschränkung der Atmungs¬
exkursionen. (Gazzetta Medica Italiana Nr. 6, 1910.
Pavia.
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Die Therapie der Gegenwart 1910.
251
verschwanden; bei der Autopsie konsta¬
tierte ich an der im übrigen normalen
Spitze eine leichte Narbenbildung, der
wahrscheinliche Ueberrest der vierzehn
Jahre vorher nachgewiesenen initialen
Läsion.
Klarer ist die Anwendung des dritten
Satzes bei der Behandlung mit Pneumo¬
thorax: „Die Abschwächung der Atmungs¬
bewegungen begünstigt die Festsetzung der
vorbereitenden Prozesse der Phthise®; und
diese Wechselbeziehung ist so groß und
von solcher Tragweite, daß man» um nicht
großen Unannehmlichkeiten zu begegnen,
sie bei jeder Behandlung mit Pneumothorax
gegenwärtig haben muß.
Ist der unter Druck stehende Pneumo¬
thorax gebildet, so wird durch ihn das
Mediastinum nach der anderen Seite ver¬
schoben; die Folge ist eine Verringerung
der Kapazität dieser Thoraxhälfte und eine
entsprechende Herabsetzung ihrer spiro-
metrischen Zahl, d. i. ihrer maximalen in¬
spiratorischen Ausdehnungsfähigkeit. Ge¬
wöhnlich ist die Herabsetzung nie so
stark, um zu verhindern, daß in der nicht
komprimierten Lunge die größte vikariie¬
rende respiratorische Aktivität, wie ich an¬
gedeutet habe, sich einstellt, und zwar in
genügender Masse, um die normale Venti¬
lation im Zustande der Ruhe zu gewähr¬
leisten. Aber es ist klar, daß, wenn der
Druck des Pneumothorax stark erhöht
werden muß, um Pleuraverwachsungen zu
erzwingen, es Vorkommen kann, daß die
Verschiebung des Mediastinums die respi¬
ratorische Kapazität der anderen Thorax¬
hälfte derart einschränkt, daß die Ausbil¬
dung des vikariierenden Uebermaßes der
für die normale Ventilation notwendigen
Motilität verhindert wird, und auch daß
die Motilität unter die Norm sinkt; mit
anderen Worten, daß der in Funktion
bleibenden Lunge ein auch für normale
Exkursionen zu kleiner Spielraum übrig
gelassen wird; in abstrakter Form kann
man sich sogar eine solche Verschiebung
des Mediastinums vorstellen, die die At¬
mung vollständig verunmöglicht. In solchen
Fällen wird nicht nur der heilende Einfluß
des vikariierenden Bewegungsübermaßes
der in Funktion bleibenden Lunge aus-
bleiben, sondern es kann sich die im dritten
Satz beobachtete Bedingung verwirklichen,
d. h. die Abschwächung der respiratorischen
Bewegungen, und somit die Bildung von
die Phthise vorbereitenden Herden oder
die weitere Ausdehnung der schon be¬
stehenden begünstigt werden, besonders,
wenn schon eine Läsion besteht.
Und tatsächlich beweist die Klinik des
Pneumothorax die Wahrscheinlichkeit dieses
aprioristischen Gedankenganges. In einigen
meiner Fälle, bei denen, sei es aus Not¬
wendigkeit für die Behandlung, sei es un¬
bemerkt, besonders gelegentlich der Bil¬
dung eines den Druck in schwer kontrollier¬
barer Weise verändernden pleuralen Er¬
gusses, der Druck im Pneumothorax unge¬
wöhnlich hochstieg, stellten sich in der
anderen Lunge in zeitlicher Uebereinstim-
mung und in progredienter Form die An¬
zeichen der verminderten Bewegungsfunk¬
tion ein, die Verengerung und die zuneh¬
mende Verlegung der Luftwege, und zum
Schluß die klassischen örtlichen und all¬
gemeinen Symptome der Bildung neuer
und fortwährend sich ausbreitender Krank¬
heitsherde. Und als Gegenbeweis hierzu
brachte die rasche Rückkehr des Druckes
zu einem angemessenen Grade das gleich¬
zeitige Verschwinden der neuen Erschei¬
nungen, so daß der Eindruck hervorgerufen
wurde, daß mit der Beschränkung der
respiratorischen Bewegungen gewisser¬
maßen künstlich neue Herde in der anderen
Lunge erzeugt worden waren, die dann
wieder unterdrückt wurden durch die Wieder¬
einsetzung der Bewegungen.
Im Laufe dieses Jahres kamen zwei
solcher Fälle zu meiner Beobachtung (58
und 60 meiner Statistik); ich gebe den
zweiten davon hier wieder, der genauer
verfolgt werden konnte.
Arthur M., 24 Jahre alt, aus einer Gemeinde
der Provinz Pavia, Gastwirt, wird am 22. No¬
vember 1908 in die Klinik aufgenommen. —
Ein Bruder an Schwindsucht gestorben; militär¬
untauglich wegen schwächlichem Körperbau.
— Krankheitsbeginn im Juni 1907, in akuter
Form, rechtsseitig. Er hat Perioden mit hohem
Fieber und reichlicher eitriger Expektoration
durchgemacht. Zunehmende Abmagerung, Un¬
fähigkeit zur Arbeit.
Status praesens: Sehr graziler Körper¬
bau; ungenügender allgemeiner Ernährungs¬
zustand. Nicht sehr lästiger Husten mit spär¬
lichem (5—6 g pro Tag), dickem, reineitrigen
münzenförmigen Sputum mit zahlreichen Ba¬
zillen und bündelförmigen elastischen Fasern.
Fieberfrei; Puls 100, Respiration 20. Arterieller
Blutdruck 125. Hämoglobin (Fleischl) 90 %.
Körpergewicht 50,6 kg.
Thorax: Zylindrisch, mager, asymetrisch,
bei der Atmung sich ungleichmäßig ausdehnend.
Rechte Seite: Oberer Lungenrand in toto
über 1 cm tiefer stehend, der untere an normaler
Stelle, überall aktiv verschieblich, nur vorn in
ziemlich abgeschwächtem Grade. Oben starke
Dämpfung, die in den Fossae supraclavicularis
und supraspinata fast absolut ist und nach
unten zu allmählich abnimmt bis zur 4. Rippe
vorn und zur Mitte der Skapula hinten; von
hier an lauter Lungenschlag bis zur Basis.
Ueber diesem Gebiete ist der Stimmfremitus
erhöht, die Atmung bald da bald dort unbe-
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252
Die Therapie der Gegenwart 1910.
Juni
stimmt, etwas bronchial klingend, mit ver¬
längertem Exspirium und stark klingenden,
nicht reichlichen, klein- und mittelblasigen
Rasselgeräuschen in den Fossae supraclavi-
cularisundsupraspinata, großblasiger, reichlicher
beim Hustenstoß gurgelnd in den Fossae infra-
clavicularis, interscapularis und infraspinata.
Linke Seite: Kaum nachweisbares Tiefer¬
stehen des obern Randes, der untere an nor¬
maler Stelle und normal verschieblich. Dämpfung
in den Fossae supraclavicularis und supra-
spinata. die bis unter die Klavikula reicht im
Sterno-klavikularwinkel, mit verschärftem In-
spirium, verlängertem Exspirium und klein¬
blasiges klingendes Rasseln fast nur bei Husten-
stoßen. Im übrigen normaler Befund.
Der Befund am Herzen und an den übrigen
Organen belanglos.
Radioskopische Untersuchung: Aus¬
gedehnter starker Schatten rechts innen oben;
eine leichte Schattenandeutung über der linken
Spitze.
Diagnose: Phthise beider Spitzen, im Be¬
ginne links; rechts viel ausgedehnter und vor¬
geschrittener, einen Teil des Ober- und des
Mittellappens interessierend; mehrere kleine
Kavernen rechts; Pleurahöhlen frei.
Die Indikation zur Behandlung mit dem
künstlichen Pneumothorax wird gestellt und
dieselbe am 29. November 1907 mit einer
ersten Einführung von 300 ccm Stickstoff ein¬
geleitet.
Unter fortgesetzten täglichen Nachfüllungen
erreicht der Pneumothorax am 6. Tage sein
größtes Volumen, ist aber noch nicht voll¬
ständig: bei der Durchleuchtung erkennt man,
daß die Lunge komprimiert ist, aber hinten
oben adhärent ist und daß sie entsprechend
dem obern Interlobärseptum bis in die hintere
Axillarlinie ausgezogen ist; über dieser Stelle
ist der Perkussionsschall noch gedämpft, wenn
auch mit ausgesprochenem Schachtelton, und
es wird noch ein deutliches Atmungsgeräusch
gehört, kein Rasselgeräusch. Ueber der linken
Lunge ist der Befund unverändert. Der Aus¬
wurf ist durch Speichelbeimengungen auf 10
bis 12 g gestiegen. Die Stickstoffnachfüllungen
werden in größeren Abständen fortgesetzt, in
der Absicht, das Volumen und den Druck des
Pneumothorax zu erhöhen und die Adhäsionen
zu bezwingen; zu letzterem Zwecke werden
auch Injektionen von Fibrolysin gemacht.
Ende Dezember 1907 ist der Eitergehalt des
Sputums fast völlig verschwunden, die Bazillen
sind äußerst spärlich und man findet nur wenige
zweifelhafte Fragmente elastischer Fasern. Der
Thoraxstatus ist unverändert.
Die Behandlung mit Stickstoffnachfüllungen
von 125—175 ccm alle 2—4 Tage wird fort¬
gesetzt bis zum März. In der Zwischenzeit
waren zwei blind endende Analfisteln aufge¬
treten, die operiert wurden. Der Ernährungs¬
zustand hatte sich verschlimmert (Anfangs
März war das Körpergewicht um 8 kg ge¬
sunken), aber örtlich hatte sich der Zustand
entschieden gebessert; trotz Bestehenbleibens
der rechtsseitigen Dämpfung mit etwelchem
Atmungsgeräusch und jener leichteren über
der linken Spitze mit etwas Atmungsver-
schäriung, verschwanden die Rasselgeräusche
auf beiden Seiten, und der Auswurf beschränkte
sich auf wenige Gramm, war schleimig-
speichelig, ohne Bazillen (bei zahlreichen Unter¬
suchungen) und frei von elastischen Fasern.
Zu dieser Zeit mußte ich für einige Zeit
von der Klinik wegbleiben; aber die Behand¬
lung war nunmehr vorgezeichnet: sorgfältige
Unterhaltung des Pneumothorax, und die Ver¬
narbung der rechten Lunge der Zeit über¬
lassen.
Ich sehe den Kranken am 9. April in schwerem
Zustande wieder infolge einer Mitte März be¬
gonnenen Verschlimmerung. Ich gebe hier die
klinische Krankengeschichte wieder:
12. März. In der linken Supraklavikular-
grube sind klein- und mittelblasige, klingende
Rasselgeräusche wieder aufgetreten; rechts
keine Veränderung. Zunahme des Auswurfs
(21 g), der wiederum eitrig ist, mit Bazillen
in ziemlicher Anzahl. Apyrexie.
30. März. Rechts Lungenbefund unver¬
ändert; ganz geringer Pleuraerguß. Links haben
die Rasselgeräusche an Zahl zugenommen und
sich auf die Fossae infraclavicularis und infra¬
spinata ausgedehnt. Die Temperatur seit vier
Tagen fiebrig mit Maxima zwischen 37,8 und
38,5, heute 39,2.
4. April. Ueber der linken Lunge sind die
Rasselgeräusche zahlreich und erstrecken sich
auch auf die Infraklavikulargrube und die
Achselhöhle; sie sind klingend; im Auswurf
sehr zahlreiche Bazillen und elastische Fasern.
Pneumothorax gespannt, der Erguß angestiegen;
die rechte Lunge unverändert. Abendtempe¬
ratur 39,0. Man diagnostiziert diffuse akute
Phthise links; mit Rücksicht auf die Zunahme
des Ergusses und die starke Spannung des
Pneumothorax wird mit den Stickstoffnach¬
füllungen aufgehört.
9. April. Ich sehe den Kranken wieder und
konstatiere: rechte Seite: Pneumothorax von
enormem Volumen (infolge des Hinzukommens
des Ergusses). (Fig. 3.) Vorn hat sich der
Fig. 3.
Perkussionsbefund des Arthur M. am 9. April 1909.
PP Grenzen des Pneumothorax bei Rückenlage; PP obere
und untere Grenze der Unken Lunge: m aktive Verschieb¬
lichkeit des unteren linken Lungenrandes; p ' normaler Sitz
des oberen Lungenrandes, der durch den Pneumothorax über
ragt wird.
Pneumothorax über die ganze innere Hälfte
der linken Thoraxseite ausgedehnt und über¬
schreitet die Brustwarze; nach unten reicht er
bis unter den epigastrischen Winkel in der
Mittellinie und erreicht (in Rückenlage) den
rechten Rippenbogen. Hinten (bei aufrechter
und stark nach vorn gebeugter Stellung, um
den Erguß zu verdrängen) sinkt er unter die
12. Rippe herunter. Erguß von beträchtlichem
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Juni
Die Therapie der Gegenwart 1910.
253
Volumen; beim Sitzen erreicht er die Brust¬
warze und den Angulus scapulae (man denke
an die Umstülpung des Zwerchfells nach unten!);
die Leber ganz nach unten vom Rippenbogen
und nach links verlagert Die frühere Dämpfung
in der oberen Partie besteht fort; über ihr und
längs der Projektion des oberen und des
unteren Interlobärseptums in der Achselhöhle
leichtes Atmungsgeräusch (wie früher) und ver¬
einzeltes Geräusch des fallenden Tropfens; im
übrigen herrscht auch in der das Sternum nach
links überragenden Partie vollständige Stille.
Linke Seite: Herz stark verlagert: der
Spitzenstoß ist jenseits der Mammillarlinie und
reicht bis zur mittleren Axillarlinie (hier im
8.Interkostalraum): kein Reiben oder Sch wirren;
die Herzdämpfung ist mit Rücksicht auf den
Lungenbefund nicht bestimmbar; die Töne sind
dumpf, entfernt, ohne Geräusche, rhytmisch.
Puls 120; arterieller Blutdruck 130; mäßige
Zyanose; Respiration 36. — Dyspnoe. — Tempe¬
ratur 39,6.
Linke Lunge: Unterer Rand an normaler
Stelle, seine Verschieblichkeit auf ein Drittel
reduziert; die Incisura cardiaca ist aufgehoben;
der Pneumothorax grenzt in der Mammillar¬
linie unmittelbar an die Lunge. Nirgends mehr
reiner, normaler Lungenschall; es bestehen
zwei weite Dämpfungszonen von verschiedener
Intensität und mit unbestimmten Grenzen; die
eine ist die alte Spitzendämpfung, die inten¬
siver geworden ist und bis in die Infra-
klavikulargrube und über die ganze Skapula
heruntersteigt, nur die Basis freilassend; die
andere ist an der Basis in der vordem Axillar¬
linie, überschreitet nach oben die Mammillar-
höhe und schließt die Herzgegend in sich ein.
Ueberall sehr scharfes, bronchiales, stellen¬
weise ziemlich konsonierendes Atmen mit auf¬
fallenden, tiefen Unterbrechungen; Stellen mit
krepitierenden Rasselgeräuschen und ganz
feinem Knisterrassein, vorzüglich vorn an der
Basis; und überall in verschiedener Stärke
reichliche, sehr bewegliche Rasselgeräusche
von jeder Blasengröße, die an einer Stelle nahe
der Herzgegend und an einer andern über dem
Schulterblatt einen stark klingenden und wasser¬
pfeifenartigen Charakter annehmen.
Ich diagnostiziere einen ausgedehnten links¬
seitigen bronchopneumonischen Prozeß, den ich,
wenigstens zu großem Teile, der Verringerung
des Spielraums und der Bewegungen der linken
Lunge infolge des enormen flüssigen und gas¬
förmigen Inhalts der rechten Pleura zuschreibe.
Die Folge davon ist, daß ich 500 ccm Stick¬
stoff entferne; 300 sofort und 200 am folgenden
Morgen.
10 April. Nach der Entfernung des Stick¬
stoffs subjektive Besserung; Reduktion des
Pneumothorax nach links und dem Epigastrium
zu; der auskultatorische Befund links abge¬
schwächt; die Rasselgeräusche und der bron¬
chialklingende Charakter des Atmungsgeräusches
haben abgenommen; der sakkadierte Charakter
fast ganz verschwunden. Leichte Temperatur¬
erniedrigung.
Eine Probepunktion ergibt eine klare Flüssig¬
keit, mit ganz seltenen Lymphozyten, und mit
negativem bakteriologischen Befund, auch hin¬
sichtlich Agar- und Gelatinekulturen.
Vom 10.—21. April schwächte sich der links¬
seitige Befund immer mehr ab; auch die Ba¬
zillen und die elastischen Fasern nahmen ab,
hingegen nahmen der Erguß und das Rasseln
auf der rechten Seite zu und in den letzten
Tagen auch das Fieber; weswegen man sich
zur Thorakozentese entschließt.
22. April. Thorakozentese von 1300 ccm
(fast vollständig; die kleine zurückbleibende
Menge ist gerade noch durch die Succussio
nachweisbar) und Ersatz der entfernten Flüssig¬
keit durch 1100 ccm Stickstoff. Abends Tem¬
peratur 40,1; subjektive Verschlimmerung,
merkliche Zunahme der Rasselgeräusche links,
Pneumothorax sehr gespannt. Es werden
daher 250 ccm Stickstoff wieder entfernt, was
eine sofortige Besserung zur Folge hat 1 ).
Von diesem Augenblick an nahm das Fieber
ab und trat andauernde Apyrexie ein; es ging
mit einigen Wechselfällen der linksseitige Be¬
fund bis zum fast völligen Verschwinden zurück.
Der ein wenig entspannte Pneumothorax wurde
noch dreimal mit je 50 ccm nachgefüllt (am
20. April, 6. und 16. Mai). Der Allgemein-
zustand besserte sich fortschreitend; das nach
der Pleuritis auf 40 kg gesunkene Körper¬
gewicht begann wieder anzusteigen; der
schleimig-seröse Auswurf zirka 10—15 g, ent¬
hielt ganz spärliche Bazillen.
Im Mai ist von der schweren Komplikation
der linken Lunge nur noch der geringe Befund
wie am Tage der Spitalaufnahme zurück¬
geblieben : leichte Spitzendämpfung mit seltenen
Rasselgeräuschen in der Fossa supraspinata;
im übrigen Teil der Lunge sind die Rassel¬
geräusche verschwunden und es besteht nur
noch eine leichte Verschärfung des Atem¬
geräusches. Der Kranke geht ms Freie. Es
begann zwar damals ein langsames Wieder¬
auftreten des Ergusses, das zweimal, am 19.
und am 25. Mai, die Herausnahme von 100 ccm
Stickstoff nötig machte, um neuen Kompli¬
kationen vorzubeugen.
18. Juli. Der Kranke verläßt die Klinik in
folgendem Zustand (die Kur wird ambulatorisch
fortgeführt): Es waren seit 58 Tagen keine
Entleerungen noch Nachfüllungen von Stick¬
stoff mehr notwendig gewesen: ein langsames
Ansteigen des Ergusses gleicht die langsame
Resorption des Stickstoffs aus. Subjektives
Wohlbefinden; der Kranke macht lange Fu߬
spaziergänge. Husten fast Null; spärlicher,
schleimig-seröser Auswurf; zahlreiche Unter¬
suchungen nach Bazillen und elastischen Fasern
im Juni und Juli hatten sämtlich negatives
Resultat. Das Gewicht ist auf 42,3 kg an¬
gestiegen.
Thoraxbefund (siehe Fig. 4). Pneumo¬
thoraxhöhle noch weit, ist, bei Rückenlage,
durch die dickausgezogene Linie P bezeichnet;
unten verläuft seine Grenzlinie noch auf der
linken Thoraxseite, mit Verlagerung des Herzens,
oben ist sie zum Teil überdeckt von der ver¬
größerten linken Lunge, welche über die rechte
Sternallinie herüberragt. Hinten erreicht sie
die 11. Rippe. Der Schall des Pneumothorax
ist nicht mehr der reine Schachtelton von
*) Es ist schwer, die zum Ersätze eines entleerten
Ergusses nötige Stickstoffmenge zu bestimmen; im
Einführungsapparat steht der Stickstoff unter einem
höheren Druck, als jener des Pneumothorax beträgt,
und auf einer viel niedrigeren Temperatur (in unserem
Fall 20°) und erfährt daher nach seiner Einführung
eine Ausdehnung und Volumen Vergrößerung; er muß
daher in geringerer Menge als die entleerte Flüssig¬
keit eingeführt werden; es ist aber schwierig, im
einzelnen Falle die Differenz zu bestimmen. Hier
war die Menge von 1100 ccm zu groß, daher die
Notwendigkeit einer Entleerung.
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254
Die Therapie der Gegenwart 1910.
Juni
früher, besonders nach unten zu, wahrscheinlich
infolge allgemeiner Pleuraverdickung; ebenso
erscheint auch die Spitzendämpfung der ad-
härenten rechten Lunge weniger deutlich als
früher. Es besteht ein sehr beweglicher
Pleuraerguß; in aufrechter Stellung erreicht er
fast die Brustwarze (Linie V) und bildet eine
Fig. 4.
Lunge; m aktive Verschieblichkeit ihres unteren Randes:
PP* normaler Sitz des oberen Lungenrandes, rechts vom
Pneumothorax und links vom effektiven oberen Lungenrand
überragt; V obere Grenze des Ergusses bei aufrechter Stellung.
Dämpfungszone, die mit der Herz- und mit
der Leberdämpfung verschmilzt; hinten erreicht
sie den Schulterblattwinkel. Das Atmungs-
§ eräusch ist überall aufgehoben mit Ausnahme
er Spitzendämpfung, wo ein schwaches, ent¬
ferntes, metallisch klingendes Atmungsgeräusch
(laryngo-tracheal?) hörbar ist.
Linke Lunge ziemlich vergrößert 1 ); ihre
Dämpfungsgrenze ist durch die schwach aus¬
gezogene Linie p bezeichnet; oben überragt
sie den rechten Sternalrand; die etwas nach
unten gerückte untere Grenze ist gut ver¬
schieblich (punktierte Linie m), in der mittleren
Axillarlinie um 5 cm. Hinten liegt die Grenze
an der 11. Rippe mit einer Verschieblichkeit
von 2 cm. Auch die obere Grenze liegt etwas
höher als in der Norm. Ueberall scharfes
pueriles Atmen; in der Supraskapulargegend
sehr scharf, bronchial, doch nicht konsonierend;
nicht sakkadiert; keine Rasselgeräusche, aus¬
genommen eine Stelle in der Fossa supra-
spinata neben der Wirbelsäule, wo man zeit¬
weise bei sehr tiefem Inspirium ein schwer zu
deutendes Knistern hört.
Das Herz noch leicht nach links verlagert,
ohne andere Besonderheiten. Kein weiterer,
hier in Betracht kommender Befund an den
übrigen Organen.
* *
*
Dieser Fall ist in verschiedenen Hin¬
sichten interessant; mir genügt es aber,
die Komplikation hervorzuheben, die eine
Zeitlang den regelrechten Verlauf der Be¬
handlung gestört hat. Diese war bereits
schön fortgeschritten, als sei es infolge
*) Die Vergrößerung der andern Lunge bei der
fortgeschrittenen Behandlung mit Pneumothorax ist
eine relativ häufige Beobachtung.
allzu starker StickstofTnachfQllung, sei es
wegen des akuten Auftretens einer ex¬
sudativen Pleuritis, der Pneumothorax ein
enormes Volumen erreicht; dadurch wird
der Bewegungsraum für die andere Lunge
aufs äußerste eingeschränkt, und daher
ihre Verkleinerung und die Stenose und
die Verlegung der Luftwege, dann die
diffuse Bronchopneumonie (mit zahlreichen
Bazillen), die bereits das Zerstörungs¬
stadium erreicht hat (zahlreiche elastische
Fasern). Das schwere Syndrom verzieht
sich dann vollständig und prompt mit der
Entleerung von Stickstoff und mit der Ver¬
kleinerung des Pneumothorax; und dieses
Zurückgehen der Symptome steht wie das
vorausgehende Aufbieten derselben in
direktem Parallelismus zur Volumenände¬
rung des Pneumothorax. Gerade so wie
es mein dritter Satz verlangt.
Ich schließe. Selbst angenommen, daß
der Vorschlag von Carson in die Tat
umgesetzt worden sei (streng genommen
müßte man sagen, „daß der Vorschlag ein
derartiger gewesen war, daß man, beson¬
ders in jener Zeit, dessen Verwirklichung
hätte annehmen können“), so besteht doch
zwischen jenem Vorschlag und dem
meinigen keinerlei Uebereinstimmung, weder
in dem zugrunde liegenden therapeutischen
Gedanken, noch in dem unmittelbaren
Zweck, noch in den Mitteln. Es scheint
mir also nicht in dieser Hinsicht eine
Prioritätsfrage zu bestehen.
Ich habe aber gerne die von Dr. Daus
heraufbeschworene Gelegenheit ergriffen*
um die beiden genannten Zwecke zu er¬
reichen; der erstere ist der, mit Hilfe kli¬
nischer Dokumente, und weiter ausholend,
als ich es in meinen früheren Mitteilungen
gemacht hatte, das fundamentale Prinzip
meiner Methode zu entwickeln — vor allem,
insoweit es dazu dient, die leitenden
Grundsätze der Behandlung fortzusetzen,
die heute, wie ich dargelegt habe, folgender¬
maßen sich zusammen fassen lassen: Der
Pneumotorax muß in absoluter Weise die
Lunge ruhigstellen; — die Ruhigstellung
muß ohne Unterbrechung bis zur erzielten
Heilung andauern, ohne Voreingenommen¬
heit wegen der Länge der Zeit; — der
Pneumothorax muß innerhalb solcher Vo¬
lumengrenzen unterhalten werden, daß der
Spielraum der anderen Lunge nie unter
eine bestimmte Grenze eingeschränkt wird,
im Gegenteil, daß derselbe immer womög¬
lich eine genügende Ausdehnung behält,
um der Lunge die größtmögliche vicariie-
rende Tätigkeit zu gestatten. — Ich kann
hinzufügen, daß diese Regeln im ganzen
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Die Therapie der Gegenwart 1910.
255
mit den Ergebnissen aus meiner Erfahrung |
zusaromenfallen.
Der zweite Zweck ist der, die Aufmerk¬
samkeit nochmals auf einen Teil dieses
Gegenstandes hinzulenken, der mir nicht
genügend berücksichtigt zu sein scheint.
Die Erfolge der Pneumothoraxbehandlung
zahlen sicherlich zu den bemerkenswertesten
in der Therapie; es handelt sich um Schwind¬
süchtige, bei denen alle Hoffnung unerbitt¬
lich verloren ist und die doch heilen kön¬
nen: ich zahle in meiner Statistik eine
ordentliche Anzahl von Fallen, die seit
einigen Jahren ihre gewohnte Lebensweise
und ihre Arbeit wieder aufnehmen konnten.
Nur scheint es mir, daß bei diesen Er¬
folgen der Therapie der Mechanismus der
Heilung vom Gesichtspunkt der Pathologie
aus nicht weniger bedeutungsvoll ist
Warum heilt die gegen alle Bemühungen
unserer Therapie so hartnäckige Lungen¬
tuberkulose durch die einfache Richtig¬
stellung des Organs? „Aus dem einzigen
Grunde, weil“ — wie ich 1882, mich auf
den spontanen Pneumothorax beziehend,
schrieb — „ein Lungenbläschen geplatzt
ist und die Pleurahöhle sich mit Luft ge¬
füllt hat“ Es ist eine Frage, welche die
Wesensfrage selbst der Tuberkulose und
der Phthise in sich einschließt, und welche
unter den gegenwärtigen Meinungen keine
befriedigende Antwort findet. Die Ruhe
des Organs im Sinne der Arbeitsersparnis
— die Ischämie oder die Ausschaltung des
venösen Kreislaufs, oder die Hyperämie
nach Bier — die Verlangsamung derLymph-
zirkulation — die Verminderung der Toxin¬
resorption — die der Ausbreitung des Pro¬
zesses durch aerogene Metastase gesetzte
Schranke — das den kaseogenen Aether-
extrakten entgegengesetzte Hindernis, alles
dies, soweit es nicht reine Hypothesen
sind, ist ungenügend, um den ganzen Me¬
chanismus dieser Erscheinung zu erklären;
höchstens verändern sie den Sinn der
Frage, aber sie lösen sie nicht.
Ich habe, wie ich mich schon ausge¬
sprochen habe, über diesen Gegenstand
meine eigenen Ansichten, die mich apho¬
ristisch zum Vorschlag des künstlichen
Pneumothorax geführt haben, und die ich
dann mit meiner Erfahrung übereinstimmend
fand. Aber welches auch die Aufnahme
und das Schicksal dieser Ansichten sein
mag, der Heilungsmechanismus der Phthise
durch die Ruhigstellung der Lunge bildet
heutzutage für die Pathologie einen Gegen¬
stand von nicht geringerem Interesse als
es für die praktische Medizin die Heilung
des Schwindsüchtigen selbst bedeutet.
Aus der medizinischen Klinik der städtKrankenanstalteu zu Frankfurt a. U. und der
medizinischen Klinik der Universität Kiel
(Direktor: Professor Dr. Lüthje).
Die Brauchbarkeit der Sahlischen Desmoldreaktion in Klinik
und Praxis.
Von Dr. Weiland und Dr. Sandelowsky, Assistenten der Klinik.
Im Jahre 1906 veröffentlichte Sahli
eine neue Methode der Prüfung des Magen-
chemismus unter natürlichen Verhältnissen
und ohne Anwendung der Schlundsonde.
Bei der großen Zahl der Veröffentlichungen,
die sich mit dieser sogenannten Desmoid-
reaktion befaßten und zum Teil die Resul¬
tate Sahlis heftig bekämpften, sah sich
Sahli noch in demselben Jahr veranlaßt
auf die Notwendigkeit hinzuweisen, seine
Methode mit allen von ihm angegebenen
Kautelen auszuführen, um über den Wert
oder Unwert der Reaktion richtig urteilen
zu können. Auch in der neuen Auflage
seines Lehrbuches der klinischen Unter¬
suchungsmethoden gibt er nochmals eine
detaillierte Schilderung der Technik der
Anfertigung der Desmoidbeutelchen.
Das Prinzip der Methode beruht darauf,
daß nach der Anschauung von Ad. Schmidt
rohes Bindegewebe nur im Magen ver¬
daut wird. Sahli gibt also dem verdauen¬
den Magen solches Bindegewebe in Gestalt
eines Katgutfadens; diesen schlingt er um
eine Gummimembran, in der eine methylen-
blau- odei jodoformhaltige Pillenmasse ver¬
schlossen ist Erfolgt in dem Pepsinsalz¬
säuregemisch des normalen Speisebreis die
Auflösung des Katguts, so tritt die Re¬
sorption des eingeschlossen gewesenen
Methylenblaus, respektive des Jodoforms
ein, und diese Körper werden mit Hülfe
einfacher chemischer Reaktionen im Urin,
respektive Speichel nachgewiesen.
Die zur Herstellung der Desmoidbeutel¬
chen erforderlichen Materialien sind Gummi¬
membran aus feinstem Paragummi, die als
„Cofferdam“ in der Zahnheilkunde Ver¬
wendung finden; ferner feinstes Katgut und
Pillen nach der Vorschrift:
Rp. Jodoform . 5,0
Succi liquir. depur. et pulv.
liq . aa . 2,0
M. f. p. Nr. 50.
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Die Therapie der Gegenwart 1910.
Juni
Rp. Methylenblau .2,5
Succi liquir. depur. et pulv .
liq. aa .2,0
M. f. p. Nr. 50.
Die Pillen, die Sahli neuerdings emp¬
fiehlt, die mit einem Wismutzusatz ver¬
sehen sind, damit sie auch in einem dick¬
flüssigen Magensaft untertauchen, halten
wir nicht für empfehlenswert, weil sie zu
groß und zu weich sind und sich ihr Ver¬
schluß durch den feinen Katgutfaden nicht
so sicher und einwandfrei herstellen läßt
wie bei den kleineren Pillen von festerer
Konsistenz.
Die Materialien können von der Firma
Hausmann A.-G., Sanitätsgeschäft, St. Gallen,
bezogen werden. Die Pillen werden in
ein etwa 16 qcm großes Stück Kautschuk¬
membran, das vorher mit Talkum respek¬
tive Reismehl eingerieben ist, so ein¬
geschlagen, daß sich die Membran über
der Pille spannt und etwas glänzend wird.
Während die linke Hand Beutelchen und
Pille fixiert, schlingt man mit der rechten
den vorher in Wasser aufgeweichten Kat¬
gutfaden um den Hals des Beutelchens in
drei parallel nebeneinander liegenden
Touren; dann knüpft man einen Doppel¬
knoten, ohne die Spannung der Membran
zu verändern. Die überstehenden Ecken
des Kautschuks werden dicht über dem
Faden abgeschnitten, dieser selbst etwa
auf 2—3 mm vom Knoten gekürzt.
Zur Prüfung auf Brauchbarkeit wird die
Pille in Wasser geworfen, in dem sie unter¬
sinken soll, ohne daß Methylenblau sich
dem Wasser mitteilt. Diese Probe ist nötig
zur Prüfung der Schwere, da die Pille, um
verdaut zu werden, auch im Magen unter¬
sinken soll, und der Dichtigkeit des Ver¬
schlusses, weil sonst Methylenblau auch
ohne Verdauung des Katgutfadens in
den Mageninhalt Übertritt und resorbiert
wird.
Diese Vorschriften von Sahli sind zwar
sehr ins einzelne gehend und nehmen in
der Schilderung seiner Methode einen
breiten Platz ein, aber wir haben uns über¬
zeugt, daß es zur Erzielung guter Resul¬
tate notwendig ist, sie strikt inne zu halten;
ferner ist es nach Anfertigung einiger
Pillen mit Leichtigkeit möglich, alle vor¬
geschriebenen Einzelheiten und Kautelen
innezuhalten, ohne daß es besondere Mühe
erforderte. Es ist einleuchtend, daß die
Verwendung fabrikmäßig hergestellter Des-
moidpillen zu einem verwertbaren Resultat
nicht führen kann; denn einmal hat man
bei solchen nicht die Sicherheit, zuverlässig
gearbeitete Beutelchen aus dem notwen¬
digen Material zu erhalten, andererseits
ist die Gummimembran und der Knoten
des Fadens bei längerem Liegen nicht
widerstandsfähig.
Die vorschriftsmäßig hergestellten Pillen
werden am besten zu einem gewöhnlichen
Mittagessen oder etwa V 2 Stunde nachher
gegeben; Sahli selbst empfiehlt, sie nach
der Suppe zu nehmen; sie sollen unge-
kaut mit einem Schluck Wasser herunter¬
geschluckt werden. Es empfiehlt sich, die
Patienten nicht rechte Seitenlage einnehmen
zu lassen, um zu verhüten, daß die Pille
zu früh den Magen verläßt. (Sahli).
In Abständen von je zwei Stunden
sollen die Patienten Urin lassen, respek¬
tive den Speichel in ein Reagenzglas ent¬
leeren. Gewöhnlich tritt die Anwesenheit
von Methylenblau durch Grünfärbung des
Urins in die Erscheinung. In Fällen, wo
der Urin ungefärbt bleibt, kann man durch
Kochen unter Zusatz von einigen Kubik¬
zentimetern konzentrierter Essigsäure die
Leukobase, als welche das Methylenblau
wieder ausgeschieden wird, in die grün-
gefärbte saure Lösung überführen.
Der Nachweis des Jodoforms geschieht
durch Stärkereaktion oder dadurch, daß
man den Urin, respektive Speichel mit
Chloroform ausschüttelt, dann einigeTropfen
1 % iger Natriumnitritlösung und 1 ccm
acid. sulf. dil. puriss. zusetzt. Bei Anwesen¬
heit von Jod tritt eine sehr schöne Rosa¬
färbung auf.
Sahli äußert sich über die mit seiner
Methode erzielten Resultate in dem Sinne,
daß ein positiver Ausfall ein Beweis für
das Vorhandensein eines pepsin- und salz¬
säurehaltigen Magensaftes und für den
normalen Verlauf des Magenchemismus sei.
Bleibt die Reaktion negativ, so hat keine
genügende Magenverdauung stattgefunden,
das heißt es ist entweder der Chemismus
des Magens gestört oder seine Motilität
gesteigert. Verspätete Desmoidreaktion
läßt auf zwar vorhandene, aber herab¬
gesetzte Pepsinwirkung schließen. Eine
Reagenz auf freie Salzsäure ist die Des¬
moidreaktion nicht; und wenn bei fehlen¬
der HCl im ausgeheberten Mageninhalt die
Desmoidreaktion positiv ausfällt, so erklärt
dies Sahli damit, daß die Verdauung eines
gewöhnlichen Probefrühstückes eine will¬
kürliche, ziemlich leichte Aufgabe für den
Magen sei, die gar nicht die normalen
Säureverhältnisse wiedergebe, die durch
die gewöhnliche Nahrung erzielt würden;
außerdem erhält man durch die Aushebe¬
rung nur den Einblick in den Stand der
Magenverdauung zu einem bestimmten
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Die Therapie der Gegenwart 1910
257
Zeitpunkt; dabei können die Verhältnisse
vorher und nachher ganz andere sein.
Dieser vorsichtigen Deutung der Ergeb¬
nisse und dem wiederholten Hinweis auf
die Wichtigkeit der Einhaltung der tech¬
nischen Vorschriften bei der Herstellung
der Desmoidbeutelchen haben eine Reihe
von Autoren nicht Rechnung getragen und
so ist es wohl gekommen, daß die Bewer¬
tung der Sahlischen Desmoidreaktion in
der Literatur so verschieden ausgefallen
ist. Ferner hat die Frage, ob Bindegewebe
einzig und allein vom Magensaft verdaut
werden können, zu Kontroversen Anlaß
gegeben.
Zu denjenigen Autoren, die in der
Sahlischen Desmoidreaktion ein ausge¬
zeichnetes diagnostisches Hilfsmittel sehen,
gehört Ktthn 1 ). Er verglich in 44 Fällen
die Resultate seiner angestellten Desmoid-
proben mit den Befunden der Aushebe¬
rung nach ProbefrQhstQck und fand in
jedem Fall Uebereinstimmung, das heißt
positive Reaktion, wo auch freie Salzsäure
nachgewiesen werden konnte. Deshalb
will er in der Desmoidreaktion ein Reagenz
auf freie Salzsäure sehen. Aber in dieser
Schlußfolgerung geht er weiter, als Sahli
selber, der Ober Fälle berichtet, wo trotz
fehlender freier Salzsäure die Reaktion
positiv blieb.
In ähnlicher Weise spricht sich Ka¬
liski 3 ) für die Brauchbarkeit der Sahli¬
schen Methode aus. Die Reaktion war
positiv, wo auch nach ProbefrQhstQck mit¬
tels der Ausheberung freie Salzsäure nach¬
gewiesen werden konnte. Nur in zwei
Fällen, wo keine freie Salzsäure gefunden
wurde, war ebenfalls die Reaktion positiv.
In diesen beiden Fällen ließ sich aber
durch einen stärkeren digestiven Reiz, wie
ihn eine reichliche Mittagsmahlzeit dar¬
stellt, freie Salzsäure feststellen. In einem
Karzinomfall, wo trotz des Vorhandenseins
von freier Salzsäure, die Reaktion negativ
ausfiel, konnte der Nachweis der erloschenen
Pepsinreaktion dafQr verantwortlich gemacht
werden. Der Autor geht aber in der Ver¬
wertung der Sahlischen Methode noch
einen Schritt weiter, indem er aus der
Schnelligkeit des Auftretens, der Grünfär-
bung und ihrer Intensität einen Schluß auf
die spezielle Form der vorliegenden funk¬
tionellen Magenstörung zieht Er stellt als
Norm hin, daß zwischen der siebenten
und zwölften Stunde nach Verabreichung
der Pille die Grünfärbung bei gesunden
Aziditätsverhältnissen des Magens auftreten
*) Münch. Med. Woch. 1906, Nr. 50.
2 ) Münch. Med. Woch. 1906, Nr. 5.
soll. Wird der Urin vorher grQn, so handele
es sich um eine Superazidität, tritt nachher
der Farbwechsel auf, so liege eine Sub¬
azidität, respektive eine motorische Magen¬
störung vor. Letztere Schlüsse dürften
aber eine Verallgemeinerung nicht zulassen,
weil doch recht häufig eine Atonie mit
einer Superazidität, und umgekehrt eine
Hypermotilität mit einer Subazidität kom¬
biniert sind.
Trottmann 1) hat sechzig Fälle unter¬
sucht und dieSahlische mit derSchmidt-
schen Probe verglichen. Er erwartete also
bei positiver Desmoidreaktion das Fehlen
von mikroskopisch nachweisbarem Binde¬
gewebe im Stuhl. In 55 Fällen fand er
Uebereinstimmung und nur in 5 Fällen
Widerspruch. Er kommt deshalb zu dem
Schluß, daß die Sahli sehe Desmoidreak¬
tion eine durch nichts zu ersetzende Be¬
reicherung unserer diagnostischen Hilfs¬
mittel sei.
Einen reservierten Standpunkt nimmt
Eichler 2 ) ein. Er hat an dreißig Fällen
die Sahli sehe Reaktion geprüft und be¬
zeichnet sie als einen ausgezeichneten Not¬
behelf. Der positive Ausfall der Probe be¬
weise, daß die Magenwand Pepsin und
Salzsäure in genügender oder annähernd
genügender Weise produziere. Der ver¬
zögerte Eintritt der Reaktion zeigt, daß
der eine oder der andere Faktor der
Magenverdauung nicht normal funktioniere
und „daß das Leiden kein allzu bedenk¬
liches sein wird 11 . Die negative Reaktion
aber deutet auf eine Störung der Magen¬
funktion hin, ohne daß es erlaubt wäre,
hinsichtlich der Natur der Störung irgend¬
einen Schluß zu ziehen.
v. Aldor 8 ) hat sich die Frage vorgelegt,
von welchem Bestandteile des Magensaftes
der positive oder negative Ausfall der Des¬
moidreaktion abhängig sei. Zu diesem
Zwecke hat er Reagenzglasversuche im
Thermostaten von Körpertemperatur mit
Salzsäurepepsinlösungen in verschiedenen
Konzentrationen angestellt und in jedes
Reagenzglas eine Pille hineingetan. Dabei
zeigte es sich, daß zur Auflösung des Kat-
gutfadens ein Pepsin- und Salzsäuregemisch
in einer Konzentration, wie sie im Magen
besteht, notwendig sei. Der Versuch fiel
negativ aus, befand sich die Pille nur in
einer Pepsinlösung, oder nur in einer Salz¬
säurelösung, ganz gleichgültig, in welcher
Konzentration diese Substanzen vorhanden
waren.
») Münch. Med. Woch. 1907, Nr. 52.
2 ) Berl. Klin. Woch. 1905.
3 ) Berl. Klin. Woch. 1906.
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Die Therapie der Gegenwart 1910.
Zur Entscheidung der Frage, ob die
Desmoidreaktion als ein Reagenz auf freie
Salzsäure zu betrachten sei, wie Kühn
und Kaliski es annahmen, hat er Ver¬
suche mit nativem Magensafte an gestellt
und gefunden, daß das Katgut auch in
einem Magensafte aufgelöst wurde, den er
vorher durch Zusatz von Vio n-Natronlauge
neutralisiert hatte. Deshalb erkennt v. Aldor
die Berechtigung nicht an, in der Sahli-
schen Probe ein Reagens auf freie Salz¬
säure zu sehen. An der Hand von
25 Fällen weist er des weiteren nach, daß
der positive Ausfall der Reaktion nur er¬
kennen lasse, daß der Magen Pepsin und
Salzsäure sezerniere, ohne Rücksicht darauf,
ob die Salzsäure frei oder gebunden ist.
Welche Art der Sekretionsstörung vor¬
liege, ob Superazidität oder Subazidität,
könne man aus der Desmoidreaktion nicht
ersehen, da der subazide Magensaft das
Katgut oft früher gelöst habe, als der
superazide. Seine Fälle mit negativer Re¬
aktion zeigten zwar alle eine mit Hilfe der
Ausheberungsmethode nachgewiesene Se¬
kretionsinsuffizienz, doch war es niemals
erlaubt, einen Schluß auf die nähere Natur
dieser Störung zu ziehen.
Er bezeichnet demgemäß mit Eichler
die Sahlische Probe als einen ausge¬
zeichneten Notbehelf, besonders in den
Fällen, wo die Anwendung der Schlund¬
sonde kontraindiziert ist, aber sie könne
diese nicht völlig ersetzen. In vielen Fällen
sei es doch zu wichtig, durch makrosko¬
pische, mikroskopische und chemische
Untersuchung des Mageninhaltes sich ein
Bild von der besonderen Natur der vor¬
liegenden Erkrankung zu machen.
Diesen Autoren, die die Sahlische Re¬
aktion ohne oder mit Bedingung akzep¬
tieren, steht eine Reihe anderer gegenüber,
welche der Methode jede Daseinsberechti¬
gung absprechen. Sie alle fußen auf der
nach ihrer Anschauung bewiesenen Be¬
hauptung, daß entgegen der Annahme von
A. Schmidt rohes Bindegewebe auch im
Darm verdaut würde.
Saito 1 ) hat im Reagensglas ein Ge¬
misch von Pankreassaft und Darmextrakt
auf Katgut einwirken lassen und fand, daß
dieses in 6—27 Stunden verdaut wurde.
Daß das Methylenblau nur vom Darm aus
resorbiert würde, bewies er indirekt, indem
er einen oben und unten geschlossenen
Hundemagen mit Methylenblau füllte, den
Hund nach 24 Stunden tötete und bei
der Sektion weder im Urin noch in den
O rganen ir gend eine Spur von Methylen-
') Berl. klin. Wocb. 1906.
blau entdecken konnte. Deshalb hänge der
Zeitpunkt des Auftretens der Reaktion nur
von der motorischen Tüchtigkeit des
Magens ab.
Diesen Einwendungen schließt sich auch
Einhorn 1 ) an. Er publizierte 4 Fälle von
Achylia gastrica, bei denen die Desraoid-
reaktion positiv ausfiel. Reichte er Katgut-
pillen, die mit Hammelfett, das der Magen¬
verdauung widersteht, überzogen waren,
so fiel die Reaktion auch in positivem
Sinne aus, so daß er den Wert der Sahli-
schen Probe nicht anerkennen konnte.
Alexander und Schlesinger 2 ) halten
ebenfalls die Methode für unbrauchbar.
Bei gleichbleibenden AziditätsVerhältnissen
hatten sie entgegengesetzte Reaktionen.
Bei normalen Säureverhältnissen war die
Reaktion dreimal negativ. Bei einem Fall
von Magenkarzinom einmal positiv und ein¬
mal negativ, während bei einem anderen
Karzinomfall bei vollständiger Anazidität
und motorischer Insuffizienz die Reaktion
positiv ausfiel. Ebenso hatten sie bei zwei
Fällen von Magenfisteln mit fehlender
Salzsäure eine Auflösung des Katguts ge¬
sehen. Die Autoren glauben, der Satiri¬
schen Probe keine Bedeutung beimessen
zu können, weil auch Reagenzglasversuche
mit Salzsäure und Trypsin die Verdauung
von Katgut gezeigt hätten.
Schwarz stellte röntgenoskopisch fest,
daß die mit Wismut gefüllten Beutelchen
bei auffallend vielen Personen, auch bei
Magengesunden, sich erst im Darm auf¬
lösten.
v. Tabora hatte bei Anazidität positive
Reaktion; er hält die Methode für nicht
einwandfrei und ist mit v. Aldor der An¬
sicht, daß man in vielen Fällen die dia¬
gnostische Ausheberung nicht entbehren
könne. Denn wichtiger als die Verdauungs¬
kraft festzustellen gilt es oft, die motorische
Funktion und die Wandveränderungen des
Magens zu erkennen. Demgegenüber steht
der Satz von Sahli: Jedenfalls wird gegen
Windmühlen gekämpft, wenn mir die nie
von mir ausgesprochene Ansicht unter¬
geschoben wird, die chemische Unter¬
suchung des Magens ganz durch die Des¬
moidreaktion zu ersetzen, während ich viel¬
mehr stets beide Methoden als sich er¬
gänzende Verfahren gleichzeitig übe . . .*
Die Arbeiten, welche die Brauchbarkeit
der Sahli sehen Methode anzweifeln oder
verneinen, vertreten sämtlich mit Saito
die Meinung, daß auch im Darm die Kat-
gutverdauung erfolge. Doch Saito hat
x ) Deutsche med. Wschr. 1906, Nr. 49.
9 ) Münch, med. Wochschr. 1906.
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Die Therapie der Gegenwart 1910.
259
seine Beweismittel nur aus Reagensglas¬
versuchen gewonnen, aus Versuchen, die
denen in vivo angestellten doch wohl nicht
absolut gleichen dürften.
Ueberdies hatte er, worauf Sahli hin¬
weist, statt Darmsaft einen Darmextrakt ge¬
nommen und auf diese Weise sich noch
mehr von natürlichen Verhältnissen ent¬
fernt. Seinen Ergebnissen stehen auch die
Resultate von Wolf er gegenüber, der bei
Gastroenterostomien den Nachweis er¬
brachte, daß direkt in den Dünndarm ge¬
schobene Desmoidbeutelchen nicht aufge¬
löst wurden.
Einen recht wertvollen Beitrag zur Ent¬
scheidung des Gegensatzes zwischen
Schmidt und Saito hat Max Gentzen 1 )
gebracht. Seine Versuche sind in vivo bei
Menschen und Kaninchen angestellt. Er
versenkte Desmoidpillen ins Duodenum
und in tiefere Dünndarmabschnitte von
Kaninchen, nachdem er bei einigen vorher
den Magen am Pylorusende abgebunden
hatte. Es fand sich mit Ausnahme von
einem Fall niemals eine Ausscheidung von
Methylenblau oder Chromogen, und in dem
einen Ausnahmefall wird wahrscheinlich
durch den nicht unterbundenen Pylorus
saurer Magensaft ins Duodenum über¬
getreten sein. Bei einem anderen Kaninchen
wurde die Reaktion im Duodenum geprüft
und als alkalisch bewertet. Um den Be¬
weis bei Menschen zu erbringen, gab
Gentzen die Desmoidpillen in eine Keratin¬
masse sorgfältig eingehüllt, die bekanntlich
vom Magensaft nicht angegriffen wird. Vier
Menschen hatten die so präparierte Pille
genommen und bei niemandem konnte Me-
thylenurie nachgewiesen werden, ein Be¬
weis, daß Katgut nach der Verdauung des
Keratins im Darm vom Darmsaft nicht an¬
gegriffen wird.
Was nun unsere eigenen Resultate
anbelangt, so haben wir im ganzen 145 Fälle
mit der Desmoidreaktion untersucht und
haben dazu ohne Ausnahme alle Magen¬
erkrankungen, die während einer be¬
stimmten Zeit in der Klinik behandelt
wurden, benutzt. Wir kamen zu dem Re¬
sultat, daß bei 102 Patienten = 70,4 o/ 0 eine
Uebereinstimmung des Ausheberungsbe¬
fundes mit dem Ausfall der Reaktion vor¬
handen war. Es handelt sich dabei einer¬
seits um Patienten, die wegen gutartiger
Magenstörungen aufgenommen waren. Es
waren Dyspepsia nervosa, Super- und Sub¬
azidität und Ulcus ventriculi. Hier war im
ausgeheberten Magensaft stets freie Salz¬
säure vorhanden. Die Zeiten, nach denen
Münch, raed. Wochenschrift 1907.
sich Methylenblau oder Jod im Urin nach-
weisen ließ, waren verschieden und
schwankten zwischen 6 und 16 Stunden,
ln manchen Fällen, bei denen durch Be¬
stimmung des Aziditätsgehaltes des Magen¬
saftes eine Vermehrung der freien Salz¬
säure und der Gesamtazidität erkannt wurde,
trat zwar schon nach 2 und 4 Stunden eine
positive Reaktion auf, aber es war kein
Parallelgehen von schnell eintretender Re¬
aktion und Superazidität einerseits zu ver¬
folgen, andererseits trat auch bei Sub¬
azidität keine verlangsamte Ausscheidung
auf, so daß wir glauben, daß es nicht an¬
gängig ist, aus den zeitlichen Verschieden¬
heiten einen diagnostischen Rückschluß auf
die Säureverhältnisse machen zu können.
Auf der anderen Seite stehen die ma¬
lignen, karzinomatösen Magenerkrankungen
und die Achylia gastrica. Bei Krebs¬
erkrankungen, bei denen die Ausheberungs¬
methode das Fehlen freier Salzsäure und
vpn Pepsin ergab, fanden wir ebenso aus¬
nahmslos negative Desmoidreaktion wie bei
den sieben untersuchten Fällen von Achylia
gastrica. Zwar hatten wir fünf Fälle von
Magenkrebs, bei denen die Ausheberung
keine freie Salzsäure ergab, mit positiver
Desmoidreaktion, aber hier waren oft
relativ hohe Gesamtsäurewerte und in den
darauf untersuchten Fällen auch Pepsin
vorhanden. Wenn Sahli angibt, daß es
ihm bei Achylia gastrica nie gelungen ist,
positive Desmoidreaktion zu erhalten, so
können wir uns dem entgegen den Be¬
funden von Eichhorn voll und ganz an¬
schließen.
In einem gewissen Gegensatz zu diesen
übereinstimmenden Resultaten stehen
34 Fälle — 24°/ 0 , bei denen die Unter¬
suchung mit der Magensonde das Fehlen
freier Säure, die Desmoidreaktion positives
Resultat zeigte. Jedoch läßt sich hier eine
Erklärungsmöglichkeit ungezwungen finden.
Es waren ausnahmslos benigne Erkran¬
kungen und die Fermentsekretion war bei
ihnen in allen Fällen, die wir daraufhin
untersuchten, stets ungestört. Ferner ge¬
lang es uns einige Male, wo wir Gelegen¬
heit hatten Probernahlzeit zu geben, bei
dieser positive Salzsäurebefunde zu er¬
heben, wenn auch bei Probefrühstück sie
gefehlt hatte. Man könnte also hier an¬
nehmen, daß die Verhältnisse so lagen,
daß bei genügend starkem, digestivem Reiz
immer freie HCl gefunden worden wäre,
oder daß die Ausheberung des Probe¬
frühstücks zu einer Zeit erfolgte, wo zwar
gebundene, aber keine freie Salzsäure vor¬
handen war. ln all diesen Fällen war der
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Die Therapie der Gegenwart 1910.
Juni
positive Ausfall der Desmoidreaktion ein
Hinweis darauf, daß der Gesamtchemismus
des Magens nicht wesentlich gestört und
nur eine unerhebliche, benigne Magen¬
erkrankung vorlag.
Im ganzen bei neun Fällen — 6% —
fanden sich Widersprüche in dem Aus¬
heberungsbefund und dem Ausfall der
Reaktion, die wir ohne weiteres nicht er¬
klären können. Es sind dies die fünf
Untersuchungen bei Krebskranken, die wir
vorher erwähnten, und vier Fälle von
benignen Magenerkrankungen mit positivem
Salzsäurebefund und fehlender Desmoid¬
reaktion. Bei den letzteren kann es sich
um Zufälligkeiten handeln, wie z. B., daß
die Desmoidpille im Mageninhalt nicht
untergesunken, oder durch ungeschickte
Lagerung des Patienten auf die rechte
Seite zu früh den Magen verlassen hat.
Eine Stütze dieser Ansicht sehen wir darin,
daß unter den eingangs angeführten
102 Fällen fünf waren, bei denen die erste
Anstellung der Reaktion ebenfalls negativ
war, bei Wiederholung unter allen Kautelen
aber immer positiv ausfiel.
Für die fünf Fälle von Karzinom bliebe
dann noch die Erklärung, daß es sich bei
ihnen um Erkrankungen gehandelt hat, bei
denen das Pepsinsalzsäuregemisch des
Speisebreies noch genug Kraft besaß, um
das Bindegewebe zu verdauen; es könnte
hieraus und aus dem Ausfall der Reaktion
in den 34 Fällen benigner Erkrankung mit
fehlender freier Salzsäure der Schluß ge¬
zogen werden, daß — wie Sahli es selbst
für seine Reaktion angibt — sie ein viel
sicherer und zuverlässiger Indikator für
den Ablauf der verdauenden Funktion des
Magens ist, als die einmalige Untersuchung
mit der Sonde.
Betrachtet man die Ergebnisse unserer
großen Untersuchungsreihe im ganzen, so
kann man sagen, daß die Desmoidreaktion
bei einer klinischen Prüfung alles das ge¬
halten hat, was Sahli von ihr in seinen
Publikationen aussagt.
Wir glauben, daß die Unterlagen, auf
denen sich das Prinzip der Methode auf¬
baut, durch die von Sahli mitgeteilten
Verdauungsversuche im Reagenzglas und
die durch Ad. Schmidt einwandfrei nach¬
gewiesene Bindegewebsverdauung im Magen,
breit genug sind und haben deshalb von
einer experimentellen Prüfung Abstand ge¬
nommen. Außerdem kam es uns darauf an, zu
zeigen, daß die Desmoidreaktion einejdinisch
brauchbare Untersuchungsmethode ist.
Es ist nach unseren Erfahrungen die
Desmoidreaktion ein Mittel, den normal
verlaufenden Verdauungsvorgang im Magen
festzustellen; sie ist dagegen kein Reagens
auf freie HCl.
Auf einige Punkte möchten wir jedoch
ganz besonders hinweisen.
Es erscheint uns durchaus notwendig,
die Desmoidbeutelchen selbst herzustellen
und keine Fabrikpräparate zu nehmen; die
Gründe dafür nach den Angaben Sahlis
haben wir eingangs angegeben.
Die Anfertigung genau nach der Vor¬
schrift, wie sie Sahli in seinen Veröffent¬
lichungen gibt, bildet ein zweites Er¬
fordernis, um gute Resultate zu bekommen;
besonders die Prüfung in einem Glase
Wasser auf Schwere der Pille und Un¬
durchlässigkeit der Gummimembran ist un¬
erläßlich.
Die Frage, ob und wann man die Des¬
moidreaktion anwenden soll, würden wir
dahin beantworten:
Bei klinischen Magenuntersuchungen
bildet die Desmoidreaktion eine verhält¬
nismäßig leicht anzustellende Untersuchung,
die über die verdauende Kraft des Magens
guten Aufschluß gibt. Sie soll selbstver¬
ständlich nur neben und mit der Sonden¬
untersuchung angewandt werden; daher ist
die Befürchtung, sie könne dazu verleiten,
wie Tabora und v. Aldor angeben, die
chemische Untersuchung und Mikroskopie
des Mageninhaltes zu vernachlässigen, un¬
begründet. In der Praxis ist sie ein wert¬
volles Hilfsmittel zu einer orientierenden
Untersuchung und zugleich bei positivem
Ausfall ein wertvoller Anhaltspunkt für
prognostische Beurteilung des Falles.
Im allgemeinen würden wir bei Fällen,
wo man aus äußeren Gründen nicht son¬
dieren kann, oder der Zustand des Kranken
die Einführung der Sonde verbietet, die
Anwendung der Desmoidpille unter allen
Umständen für angezeigt halten.
Ein besonderer Wert kommt der Des¬
moidreaktion aus dem Grunde zu, weil es
mit ihrer Hilfe leicht möglich ist, die
benignen Fälle von den bösartigen zu
trennen; denn in keinem Falle, wo Säure
und Fermentsekretion versiegt waren, ist
es möglich gewesen, positive Reaktion zu
erhalten.
Gegen die Reaktion läßt sich einwenden,
daß zu vielerlei präzisierte Vorschriften zu
ihrer Ausführung nötig sind, und daß eine
Menge äußerer Umstände am Krankenbett
das Resultat beeinflussen können. Doch
wird jeder, der einige Male selbst ein
Desmoidbeutelchen anfertigte, bald zu einer
Geschicklichkeit gelangen, die es ihm er¬
möglicht, in wenigen Minuten gute Pillen
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Die Therapie der Gegenwart 1910.
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herzustellen und die Herstellungsvor¬
schriften nehmen sich nur auf dem Papier
so kompliziert aus. Ferner ist es bei
einigermaßen intelligenten Kranken und
geschultem Personal leicht zu erreichen,
daß die Pillen nicht angekaut werden, die
Kranken nicht auf der rechten Seite
liegen usw.
Fassen wir das Resultat unserer Beob-
tung zusammen, so kommen wir zu folgen¬
den Schlußsätzen:
1. Die Sahli sehe Desmoidreaktion ist
eine brauchbare Methode zur Untersuchung
der Magenverdauung; ihre Anwendung als
ergänzende Untersuchung zur Magen¬
sondierung ist zu empfehlen; sie kann die
Magensondierung in gewissem Sinne er¬
setzen, wenn äußere Umstände die Son-
] dierung unmöglich machen, oder der Zu¬
stand des Kranken eine solche kontra¬
indiziert.
2. In 70% der Fälle fanden wir ab¬
solute Uebereinstimmung der Resultate der
Sondierung und Desmoidreaktion, in 24%
widersprechende Resultate, die sich aber
bei Ausschaltung der Fehlerquellen auf¬
klärten, und in 6 % war eine sichere
Uebereinstimmung nicht vorhanden.
3. Bei widersprechenden Resultaten er¬
gab eine angestellte Wiederholung stets
Uebereinstimmung mit dem Ausheberungs-
resultat; oder eine verabreichte Probemahl¬
zeit ergab entsprechende Säurewerte.
4. Um zu brauchbaren Resultaten zu
gelangen, muß man sich genau an Sahlis
Vorschriften halten.
Aus der inneren Abteilung des Krankenhauses der Jüdischen Gemeinde zu Berlin.
(Dirig. Arzt: Prof. R Strauss).
Ueber Klystier-Ersatz-Therapie.
Von Dr. W. Unna, Assistenzarzt.
Unter den fflr die Erleichterung der
Defäkation empfohlenen Darmeingießungen
erfreuen sich die seinerzeit von Fleiner 1 )
in die Therapie eingeführten Oeleinläufe
seit vielen Jahren in der Praxis besonderer
Beliebtheit. Allerdings ist die ihnen von
Fleiner ursprünglich nachgesagte Eigen¬
schaft, daß sie imstande sind, feste trockene
Fäzes aufzulösen, nicht unbestritten ge¬
blieben. 2 ) Ihre Wirkung beruht wohl vor¬
nehmlich darauf, daß sie die Passage
schlüpfrig und so für verhärtete Massen
besser durchgängig machen. Nach dieser
Richtung hin aber erfüllen sie ihre Auf¬
gabe anerkanntermaßen in vorzüglicher
Weise. Auch sind sie frei von manchen
Nachteilen, die man Klysmen von größerer
Masse wohl mit einem gewissen Recht
nachsagt. So ist z. B. bei ihnen nicht zu
befürchten, daß sie zu Ueberdehnungen
und damit zur Erschlaffung der unteren
Darmwege führen können, da hierfür die
zur Injektion verwandte Menge von Oel
viel zu gering ist
Allerdings sind auch den Oelklysmen
gewisse Schattenseiten eigen, so z- B. die
verschiedenen technischen Unbequemlich¬
keiten, die sich bei ihrer Verwendung mit¬
unter störend geltend machen. Denn nicht
ganz selten gibt es dabei eine Beschmutzung
der Wäsche, sei es, daß ein Teil des
Oeles gleich am Schlauchende entlang aus
l ) Fleiner, Berliner klin. Wochenschr. 1893,
Nr. 3 u. 4.
a ) Schilling, Zentralb!. für Stoffw. und Ver-
daunngs-Krkh. 1900, Nr. 5.
dem Anus wieder austritt, sei es, daß es
durch auftretende Flatus wieder ausgespritzt
wird. Auch bleibt zuweilen ein Teil des
Oeles an den Wänden des Irrigators und
des Darmrohres haften. Für alleinstehende
Personen ist weiterhin die Bereitung eines
Oelklystiers meistens mit gewissen Schwie¬
rigkeiten und Unannehmlichkeiten verknüpft,
so daß in solchen Fällen die Verordnung
zuweilen auf Widerstand stößt.
Aus solchen Gründen ist ein Ersatz¬
mittel für Oelklystiere, das deren zweck¬
dienliche Eigenschaften aufweisen konnte,
ohne gleichzeitig mit ihren Nachteilen be¬
haftet zu sein, als ein Fortschritt auf diesem
Gebiete herbeizuwünschen. Einen Versuch
nach dieser Richtung stellten die von
Lipowski!) angegebenen Paraffinein¬
läufe dar. Das Paraffin wird dabei in
recht handlichen kleinen Eimerchen ge¬
liefert, in denen es auch, durch Eintauchen
des Eimers in heißes Wasser, flüssig ge¬
macht wird. Mittels einer vorher an¬
gewärmten Spritze wird es durch einen
zirka 25 cm langen Schlauch ins Rektum
injiziert Während und auch noch etwa
3 Minuten nach dieser Prozedur soll sich der
Patient in Knie-Ellbogen-Lage halten.
Mit diesen Paraffineinläufen hatten auch
wir häufig Erfolg, insofern als danach ohne
Schmerzen eine massige breiige Defäkation
erfolgte. In etwa einem Drittel unserer
Fälle versagte allerdings die Wirkung, und
das flüssige Paraffin wurde sofort oder
bald nach der Injektion ohne Kotbeimen-
*) Lipowski, Berl. klin.Wochenschr. 1909, Nr. 29.
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UNIVERSITY 0F CALIFORNIA
262
Die Therapie der Gegenwart 1910.
Juni
gung wieder entleert. Was aber auch bei
diesen Paraffineinläufen häufig das Ver¬
fahren störte, war die nicht gut zu ver¬
meidende Beschmutzung der Hände, der
Wäsche usw. Nicht sehr brauchbar er¬
wiesen sie sich auch für solche Patienten,
die bei der Anwendung der Klystiere auf
sich allein angewiesen sind. Und schlie߬
lich dürfte für viele auch der nicht ganz
geringe Preis (60 Pfg. pro Eimerchen, das
ist für einen einmaligen Einlauf) ein
nicht ganz zu vernachlässigendes Moment
bilden; zumal in denjenigen Fällen, in
welchen die Anwendung — wie das ja
meistens der Fall sein wird — längere
Zeit hindurch geschehen soll.
Um die gekennzeichneten Unbequem¬
lichkeiten zu umgehen, hat mein Chef, Herr
Prof. H. Strauß, sich veranlaßt gesehen.
Versuche anzustellen mit großen Suppo-
sitorien aus Ol. Kakao, ähnlich wie sie vor
kurzem von Boas 1 ) als Nährsuppositorien
empfohlen worden sind. Er ging dabei
von der Voraussetzung aus — die uns
dann die Praxis auch bestätigt hat — daß
sich solche Zapfen, wenn deren Schmelz¬
punkt, niedriger ist als die Körpertempe¬
ratur im Mastdarm auflösen müssen
und daß die von ihnen gelieferte
Oelmenge ausreichen mußte, um die
Darmwand und Kotmassen genügend
schlüpfrig zu machen und ein mühe¬
loses Durchgleiten der letzteren durch das
Rektum zu ermöglichen. Herr Oberapo¬
theker Freundlich, Vorsteher unserer
Krankenhaus-Apotheke, hatte die Liebens¬
würdigkeit, mir über die Herstellung solcher
Mastdarmzapfen einige Angaben zu machen:
Die Zapfen haben eine konische Form, sind
8 cm lang (d. h. nicht länger als der Längs¬
durchmesser der Ampulle!) im Durch¬
messer 1V 2 —2 cm breit und an ihrem
vorderen Ende etwas zugespitzt. — Sie
werden in einem eigenen Suppositorien-
apparat aus je 15—20 g erwärmten Ol.
Kakao hergestellt Nach dem Erkalten
haben sie eine genügend feste Konsistenz,
um sich — an der Spitze mit etwas
Oel oder weicher Vaseline einge¬
fettet — mühelos in den After einführen
zu lassen. Dabei ist Knie-Ellenbogen-Lage
zwar dienlich, aber nicht unbedingt er¬
forderlich. In den allermeisten Fällen
reicht die linke Seitenlage vollkommen aus.
Zweckmäßig ist es, bei der Einführung des
Zapfens die Topographie des Rektums zu
berücksichtigen, also die erste Hälfte senk¬
recht zum After einzuführen, bei der zweiten
Hälfte aber, entsprechend der Richtung
*) Boas, Berl. klin. Wochschr.
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der Ampulle, den Weg etwas dorsalwärts
zu nehmen.
Wir haben diese Zapfen seit einiger
Zeit bei einer großen Anzahl von Patienten
in Anwendung gezogen, und zwar zunächst
in solchen Fällen, in denen es darauf an¬
kam, die Reibung des Kotes mit der Am¬
pulle, zumal mit ihrem distalen Teil, und
mit den Wänden der Pars sphincterica zu
vermindern, wozu schon ein geringes
Quantum von Oel völlig ausreichen muß;
also vornehmlich in den Fällen von so¬
genannter Proctitis ampullaris und
Proctitis sphi-ncterica 1 ), in denen die
Proktosigmoskopie eine entzündlich ge-
rötete, feucht-glänzende oder auch auf¬
fallend trockene, granulierte, eventuell auch
erodierte oder mit Schleim belegte Mu¬
kosa vor Augen führt. In derartigen Fällen
kommt es ja in erster Linie darauf an,
traumatische Insulte der Schleim¬
haut zu verhüten, durch die das Leiden
unterhalten oder gar gesteigert werden
oder durch welche nach schon erfolgter
Ausheilung Anlaß zu Rezidiven gegeben
werden könnte. Manchmal;, wenn auch
durchaus nicht in allen solchen Fällen,
handelt es sich um jenen Zustand, den
Strauß als „proktogene Obstipation“
beschrieben hat 2 ). Also überall da, wo es
zunächst genügt, die unteren Wege
schlüpfrig zu machen, sind die Stuhl¬
zapfen am Platze. Und daß sie diesen
Zweck erfüllen, beweist — neben der An¬
gabe der Patienten, die Defäkation sei
auffallend mühelos vor sich gegangen —
der Anblick des Stuhles, der gewöhnlich
nach der Entleerung von einer öligen
Masse umgeben ist, die in. dem den Stuhl
auf fangenden Gefäß bald zu einer schmalz¬
artigen Masse erstarrt. Selten nur war
das Oel mit dem Stuhl selbst vermischt —
anscheinend nur dann, wenn der Kot sich
im Mastdarm noch nicht allzu sehr ver¬
härtet hatte. In solchen Fällen erfolgte
die Defäkation nicht selten denn auch
' relativ bald, d. h. schon nach zirka 72 bis
2 Stunden, während sie sonst am häufigsten
4—8 Stunden auf sich warten ließ. In der
Mehrzahl der Fälle hatten die Stuhlzapfen
an sich keine kotaustreibende Wirkung,
sondern erleichterten nur die Absetzung des
Stuhles in ihrer Eigenschaft als Schmier¬
und Gleitmittel. Infolgedessen er¬
scheinen sie auch zunächst nur in den oben¬
genannten Fällen indiziert.
J ) cf. H. Strauß, Berl. klin. Woch. 1908, Nr. 31
und die Prokto-Sigmoskopie. Leipzig. Thieme 1910.
S. 95—98.
s ) H. Strauß, Therapeut Monatsh. August 1906.
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UNiVERSITY 0F CALIFORNIA
Juni
263
Die Therapie der Gegenwart 1910.
Ihr Indikationsgebiet läßt sich aber durch
verschiedene Zusätze zum Ol. Cacao be¬
liebig erweitern. So haben wir in solchen
Fällen, in welchen gleichzeitig noch eine
a d s t r i n g i e r e n d e Wirkung auf die Schleim -
haut der Ampulle und der Pars sphinc-
terica erwünscht ist, den Stuhlzapfen noch
eine Beimischung von 0,5—1,0 g des nach
den Angaben von Strauß hergestellten
zuckerfreien, neutralen, kalk- und menthol¬
haltigen Heideibeerextraktes gegeben,
wie es sich nach den Mitteilungen von
Läufer 1 ) aus der Strauß’schen Poliklinik
teils in Form kleiner Suppositorien, teils in
Form von Klysmen für die Behandlung ent¬
zündlicher Prozesse der untersten Darmab¬
schnitte bewährt hatte. Auch Ichthyol-
beimengungen (0,1 g) mit oder ohne Eukain
(0,03 g) und Extr. Beilad. (0,03 g) haben
wir mit Erfolg angewandt. Begreiflicher¬
weise kann man auch Argent. nitricum,
Protargol und ähnliches beimengen. Eine
eccoprotische Wirkung erzielt man durch
Zusatz von Glyzerin, Seife usw. Auf
Grund der Versuche von K. Glaeßner
und G. Singer 3 ) haben wir für diejenigen
Fälle, in welchen uns ein Peristaltik-an¬
regender Zusatz erwünscht schien, 0,1 bis
0,2 g Cholsäure beigemengt und sind
dabei in zahlreichen Fällen zu dem
gewünschten Erfolge gelangt Im
Laufe von einer halben bis zu fünf Stunden
kam es zu einer mühelosen Entleerung
eines normal geformten Stuhles, und der
ganze Vorgang glich sehr einer spontanen
physiologischen Defäkation, worauf auch
schon die beiden Autoren hinweisen. Die
Patienten äußerten meistens ganz von selbst.
Aus dem österreioh-nngarisolien
Die Behandlung der
Von Primararzt
Die bis jetzt bei Amöbendysenterie an¬
gewendeten Behandlungsmethoden geben
in der großen Mehrzahl der Fälle sehr
wenig befriedigende Resultate.
Das von vielen als Spezifikum geprie¬
sene Ipeca ruft bei Amöbendysenterie
höchstens Brechneigung oder Erbrechen
hervor. Dessen Wirkungslosigkeit bei
Amöbendysenterie ist übrigens schon von
Kartulis 3 ) hervorgehoben worden.
Purgantien haben wohl den Zweck, den
Darm von Schleim und Fäkalmassen zu be¬
freien, auf den Krankheitsprozeß selbst
Läufer, Therapeut. Monatsh., Mai 1908.
*) Wien. klin. Wochschr. 1910, Nr. 1.
3 ) Kartulis, Dysenterie, Nothnagel, Spezielle
Pathologie.
wie leicht ihnen die Entleerung geworden ist.
Wir haben allerdings auch Fälle gesehen, in
denen die Wirkung ausblieb, doch war
dies bei weitem die Minderzahl. Als An¬
wendungsgebiet der Cholsäure bezeichnen
Glaeßner und Singer alle jene Fälle,
bei denen eine Erschwerung der Defäkation
durch Störung im Rektum vorliegt oder
eine Schwäche der austreibenden Kraft im
Dickdarm anzunehmen ist; auch den para¬
lytischen Ileus, die postoperative Darm¬
parese und Darmparalyse sowie die hart¬
näckigen Formen der Darmträgheit bei chro¬
nischer Peritonitis glauben die genannten
Autoren mit Cholsäure beeinflussen zu
können. Jedenfalls sind die Erfolge, die wir
mit der Anwendung der Cholsäurezapfen im
allgemeinen erzielt haben, in solchem Grade
zufriedenstellend, daß wir die Cholsäure¬
zapfen in solchen Fällen empfehlen
können, wo zur Schonung des Magens
auf die Verabreichung eines Abführ¬
mittels verzichtet werden muß und
in welchen die gleichzeitige Anwen¬
dung eines Aperitiv- und Gleitmittels
angezeigt erscheint. 1 )
Da wir mit den hier beschriebenen
großen Stuhlzapfen, die wir bei den ver¬
schiedensten Krankheitszuständen des Dar¬
mes angewandt haben, nie irgendwelche
Belästigung des Patienten erlebt, aber in
ihnen ein sehr gutes Ersatzmittel für ge¬
wisse Arten von Klystieren kennen gelernt
haben, so nehmen wir keinen Anstand, sie
für die hier besprochenen Zwecke zur all¬
gemeinen Benutzung zu empfehlen. Jede
Apotheke wird sich leicht auf ihre Her¬
stellung einrichten können 2 )
Spital in Alexandrien-Aegypten.
Amöben - Dysenterie.
Edgar Axisa.
üben sie gar keine Wirkung aus. Ad¬
stringenden vermögen bei akuter Dysen¬
terie die Anzahl der Stühle nicht zu ver¬
mindern, bei chronischen Fällen ist deren
Wirkung eher schädlich, da sie unliebsame
Verstopfung herbeiführen, welche wieder
durch Purgantien behoben werden muß.
Dasselbe gilt vom Opium, welches bei
schweren Fällen von akuter Dysenterie
dessen lindernde Wirkung gänzlich einge-
*) Von den diätetischen Mitteln, welche eine Er¬
weichung des Stuhles erzeugen, möchte ich auf die
bei der Regulin-Anwendung gemachte Erfahrung
und die durch sie nahegelegte Verwendung von Agar-
Agar-Speisen statt Gelatine hinweisen, von denen
Herr Prof. Strauß reichlich Gebrauch machen ließ.
a ) Sie werden zurzeit in der Kopernikus-Apotheke,
Berlin W., Hohenstaufenstraße vorrätig gehalten.
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264
Die Therapie der Gegenwart 1910.
Juni
büßt zu haben scheint. — Am rationellsten
dürfte noch die lokale Behandlung der
Dysenterie durch hohe Darmeingießungen
sein. Dieselbe ist aber nur bei subakuten
und chronischen Fällen anwendbar. Bei
akuten Fällen im ulzerativen Stadium
scheitert dieselbe an den Schmerzen, welche
durch eine noch so kleine Eingießung her¬
vorgerufen werden. Erst wenn die akuten
Erscheinungen zurückgegangen sind, kann
die Enteroklyse in Betracht kommen.
Von französischen Kolonialärzten ist
in die Therapie der Dysenterie das
„Kossam“ eingeführt worden. Dasselbe
ist in Aegypten durch Legrand 2 ) bekannt
gemacht worden. — Jene Aerzte, welche
das Mittel bei ihren Fällen versucht haben,
sind über die Anwendung desselben sehr
verschiedener Meinung, da das „Kossam“
bei einigen Fällen eine sichtbare Heilwir¬
kung ausübt, ebenso frappant wie das
Chinin bei der Malaria, bei anderen da¬
gegen zu versagen scheint.
Die Ursache dieser Mißerfolge liegt
darin, daß bei der Wahl der Behandlung
die Aetiologie des Falles nicht in Betracht
gezogen wird, daß man sich nicht vor
Augen hält, daß es nicht „eine“ Dysen¬
terie gibt, sondern verschiedene dysen¬
terische Erkrankungen, welche durch ganz
verschiedene Erreger hervorgerufen werden,
und daß demnach von einer einheitlichen The¬
rapie der Dysenterie, wie eine solche in
allen Lehrbüchern beschrieben wird, keine
Rede sein kann. — Da aber bei jedem
Fall von Dysenterie aufs Geratewohl, bald
Ipeca, bald Kossam, bald Purgantien, bald
Adstringenden und Desinfizientien gereicht
werden, und nebenbei in den Darm aller¬
hand eingegossen wird, so ist es kein
Wunder, daß manches von den einen ge¬
priesen, von den anderen verworfen wird,
und daß trotz des vielen Einnehmens per
os et per rectum die Dysenterie einen
äußerst qualvollen und langwierigen Ver¬
lauf nimmt.
Das Kossam, wie schon Legrand in
seiner Mitteilung im internationalen Kongreß
zu Kairo hervorhebt, wirkt aber hauptsäch¬
lich bei Amöbendysenterie, und zwar bei
unkomplizierten Fällen. Bei derselben beob¬
achten wir bei Kossamtherapie, selbst bei
den schwersten Fällen, nach wenigen Tagen
das vollständige Verschwinden des Blutes
aus den Fäzes, und nach ungefähr drei
Wochen nach Beginn der Behandlung sind
die Stühle von normaler Beschaffenheit. —
Auch die heftigen subjektiven Erscheinun-
2 ) Legrand, Congr&s int. de medicine. Le
Cairo.
gen erfahren nach kurzer Zeit eine bedeu¬
tende Besserung, um in Bälde gänzlich
nachzulasen. — Die spezifische Heilwirkung
des „Kossam“ ist aber besonders bei chro¬
nischer Dysenterie ersichtlich. Ich habe
Fälle, welche jahrelang jeder Behandlung
getrotzt haben, durch „Kossam“ in wenigen
Wochen in vollständige Heilung übergehen
gesehen.
Das „Kossam“ ist der chinesische Name
des öligen Samens von „Brucea Suma
trana“, einer Simarubeae, und ist in Tonkin,
Cochinchina und Annam ein Volksmittel
gegen Dysenterie. — Dasselbe wurde von
den Eingeborenen den Europäern gegen¬
über streng geheim gehalten. Nach vielen
Bemühungen gelang es Dr. Mangeot,
Gefängnisarzt in Saigon, sich einige Samen
zu verschaffen. — Das Mittel wurde nun
von ihm vielfach und mit sehr gutem Er¬
folge anwendet. Ebenso von La Chapelle
und Teliier. In Aegypten wurde es zu¬
erst von Legrand angewendet. — Das
Mittel kommt im Handel in Form von
„Tabloid“ hergestellt, durch die Firma
„Collin“ in Paris. Das wirksame Prinzip
des „Kossam“ soll das von Bertrand im
Institut Pasteur dargestellte Glukoside „Ko¬
samine“ sein.
Das Kossam wirkt vor allem hämosta-
tisch. Wie erwähnt, verschwindet bei
schweren Fällen schon nach wenigen Tagen
das Blut aus den Fäzes. Bei leichten oder
chronischen Fällen nach 1—3 Tagen.
Während bei nicht ‘mit Kossam behandel¬
ten Fällen nach Weber-Schümm noch
2—3 Wochen nach makroskopisch nega¬
tivem Blutbefund in den Fäzes der Nach¬
weis desselben gelang, fällt die betreffende
chemische Probe bei Kossambehandlung
nach 6—10 Tagen negativ aus. Bei bazil¬
lärer Dysenterie verschwindet bei Kossam¬
behandlung auch rasch das Blut aus den
Fäzes, es treten aber oft im Laufe der
Krankheit Rezidivblutungen auf. — Bei
zwei Fällen von profusen Blutungen bei
Darmtuberkulose sah ich dieselben bei
Kossamdarreichung bald Stillstehen, ebenso
Hämorrhoidalblutungen. — Das Kossam
scheint aber direkt auf die Amöben schä¬
digend zu wirken. Unter 37 Stühlen, die
ich systematisch darauf untersucht habe,
sind nach 8—12 Tagen der Behandlung
meist keine Amöben mehr in den Fäzes
nachweisbar. Im Beginn der Erkrankung
waren aber dieselben in den betreffenden
Schleimflocken fast in Reinkultur und in
enormer Menge vorhanden.
Sonst konnten Amöben bisweilen noch
mehrere Wochen nach Aufhören der Blu-
♦'
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Juni
Die Therapie der Gegenwart 1910.
265
tungen nachgewiesen werden. Eine ad¬
stringierende Wirkung besitzt das Kos-
sam nicht. Das Nachlassen der Durch¬
fälle und schließlich das Auftreten geform¬
ter Stühle muß auf dessen spezifische
Wirkung bezogen werden. Bei nicht
dysenterischen Durchfallen ist das Kos-
sam vollständig wirkungslos. Durch das
Kossam ist an Stelle der froher bei der
Behandlung der Amöbendysenterie wal¬
tenden Polypragmasie eine bedeutende
Vereinfachung der Therapie eingetreten.
Die Behandlung ist hauptsächlich eine me¬
dikamentöse und besteht in täglicher Dar¬
reichung von Kossam. Ab und zu wird
ein Purgans, und in seltenen Fällen ein
Adstringens gereicht. Bei manchen Fällen
werden zur mechanischen Reinigung des
Darmes von Schleim DarmspQlungen mit
1 obiger Ichthyollösung gemacht. Bei an¬
deren Fällen wieder sind die hohen Darm¬
eingießungen von 0,5 %iger bis 1 °/ 0 iger
Tanninlösung, wie sie von Kartulis in
die Therapie der Dysenterie eingefQhrt
worden sind, nicht zu entbehren, deren
Anwendung hat aber nur bei bestimmter
Indikation zu geschehen. — Bevor wir auf
die Behandlung der Amöbendysenterie
eingehen, muß die Bemerkung vorausge¬
schickt werden, daß die Amöbendysenterie
als akute, subakute und chronische Amöben¬
dysenterie auftreten kann. Allerdings geht
oft die eine Form in die andere Ober, oft
aber auch dokumentiert sich die Amöben¬
dysenterie von Anfang an als akute, sub-
akute oder chronische.
Bei der akuten Form werden die Stahle
bald rein blutig oder blutig-schleimig, erst
nach mehreren Tagen enthalten dieselben
wieder geringe Mengen Fäzes. Die Stahle
erfolgen ungemein häufig, jede 10 Minuten
und noch öfter. Die Leibschmerzen sind
sehr heftig, der Tenesmus äußerst quälend.
Bei der Palpation der Fossa sigmoidea
fühlt sich der Darm weich an, und bei
günstig endenden Fällen ist an dem¬
selben keine Verdickung nachweisbar. Erst
beim Uebergang in die subakute Form,
nach schon wochenlang dauernder Krank¬
heit, ist eine Verdickung und ein Hart¬
werden des Darmes zu fühlen.
Bei der subakuten Form sind Leib¬
schmerzen und Tenesmus allerdings vor¬
handen, aber bei weitem nicht so heftig.
Anzahl der Stühle 12—20. Selten sind
dieselben rein blutig oder blutig-schleimig.
Meist ist der Stuhl breiig oder dünnflüs¬
sig, mit blutig-schleimiger Beimengung.
Bei der Palpation der Fossa sigmoidea
fühlt man den Darm deutlich verdickt und
etwas hart. Bei der chronischen Amöben-
dysenterie ist der Darm in der Fossa
sigmoidea hart, strangartig kontrahiert, der
Verlauf ist der gewöhnlich bekannte oder
sie verläuft unter dem Bilde einer Colitis
muco membranacea, oder einer Proctitis,
bei Lokalisation im Rektum usw.
Ferner gibt es, was die Aetiologie an¬
belangt, Mischformen von Amöben- und
bazillärer Dysenterie. Es sind jene Fälle,
wo im Stuhl necrotische Schleimhautfetzen
ausgestoßen werden, und wo schwere All¬
gemeinerscheinungen auftreten 1 ).
Bei der Besprechung der Therapie
wollen wir nun die akute, subakute und
chronische Amöbendysenterie einzeln vor¬
nehmen. — Die meisten Fälle von akuter
Amöbendysenterie bekommt der Arzt in
der größten Anzahl der Fälle erst dann
zu sehen, wenn Darmblutungen bereits
aufgetreten sind. Da in dem bei schweren
akuten Fällen nur wenige Tage anhaltenden
katarrhalischen Stadium Patient ohnedies
in der Regel Purgantien genommen hat, so
verliere man keine Zeit damit und reiche
sofort Kossam. Patient bekommt stündlich
ein Tabloid bis 8 Stück. Es können bis
12 Tabloid gereicht werden, ich habe die
Tagesgabe von 8 jedoch nie überschritten.
In den 2—3 ersten Tagen der Behandlung
ist eine Besserung, besonders dann, wenn
die Therapie in voller ulzerativer Periode
eingesetzt hat, kaum ersichtlich.
Die Anzahl der Stühle nimmt nicht ab,
die Entleerungen sind rein blutig oder
blutig-schleimig. Der Tenesmus und die
Leibschmerzen halten mit gleicher Intensität
an. Am 4., spätestens am 5. Tage der Be¬
handlung nehmen die subjektiven Be¬
schwerden ab, die Stühle erfolgen weniger
häufig. Zwischen einzelnen Stuhlentleerun¬
gen vergeht bisweilen V» Stunde. Patienten
können nachts einige Stunden schlafen.
Die Beschaffenheit der Stühle fängt an,
sich zu ändern. In einzelnen Stühlen sind
einige Klümpchen Fäzes vorhanden, welche
in einer fleischwasserähnlichen Flüssigkeit
schwimmen. Nun geht es der Besserung
rapid entgegen; nach weiteren 5—6 Tagen
ist makroskopisch meist kein Blut mehr
vorhanden. Die Anzahl der Stühle sinkt
auf 4—6. Subjektive Beschwerden haben
aufgehört, nur die Palpation des Darmes
kann manchmal noch etwas schmerzhaft
sein.
Patient, welcher sich bis jetzt bei reiner
Milchdiät befand, verlangt stürmisch nach
l ) Eine genauere Beschreibung dieser verschie¬
denen Formen wird an anderer Stelle erfolgen.
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266
Die Therapie der Gegenwart 1910.
Juni
Nahrung. Es empfiehlt sich jetzt, ein
Purgans zu reichen, Kalomel 1 g oder
Natr. sulfur. 30 g.
Darauf wieder Kossam, 8 Stück. Als
Diät Milch, Eier, Tapioka- oder Griessuppen
und später leichte Kartoffel-, Erbsen- oder
Linsenbreie, gut passiert. Nach weiteren
10—12 Tagen ist der Stuhl geformt, ohne
jede Schleim beimengung.
Wenn trotz Fehlens von Amöben und
von Schleim die Stühle dünnflüssig bleiben,
kann neben Kossam, welches längere Zeit
nach vollständigem Verschwinden der
Amöben gegeben wird, ein Adstringens
gereicht werden. Wir geben Simaruba
nach folgender Formel:
Dct. rud. Simarubae. . . /0,0:/00,0
Bism. subnitr .5,0
Mixt. gumm.
Syr. aurant. cort . aa 25,0
M. D. S. 3—4 stündlich ein Eßlöffel.
Eventuell können 30 gtt. Opiumtinktur hin¬
zugefügt werden.
Bevor ein Fall als geheilt entlassen
wird, bekommt derselbe ein Purgans, und
die Fäzes werden sorgfältig auf Amöben
untersucht. Ferner darf die Spülflüssigkeit
des Darmes keinen Schleim enthalten, und
endlich wird durch einige hohe Darmein¬
gießungen von 1 %iger Tanninlösung even¬
tuell Schleimabsonderung hervorgerufen.
Der Schleim wird nochmals auf Amöben
untersucht. Bei der Palpation darf der
Darm nicht druckempfindlich sein, muß
weich sein und keine Spur von Kontraktion
aufweisen.
Gegen die heftigen subjektiven Be¬
schwerden im ulzerativen Stadium sind wir
leider machtlos. Gegen den Tenesmus er¬
weisen sich nützlich öftere Waschungen
der Analgegend, das Auflegen von eis¬
kalten Bleiwasserkompressen oder der¬
gleichen, ebenso Morphium- oder Opium-
repositorien bringen keine Linderung her¬
bei. Eingießungen in das Rektum selbst
geringer Mengen Flüssigkeit steigern oft
die Schmerzen. Gegen die Leibschmerzen
kann man warme Kataplasmen auflegen,
bei drohender Perforation den Eisbeutel.
Bei dieser Behandlung sah ich in einer
ganzen Reihe von Fällen nach wenigen
Tagen das ulzerative Stadium, welches
sonst Wochen und Wochen anhielt, ab-
klingen, und nach spätestens 3 Wochen
konnte Patient gänzlich geheilt entlassen
werden, was bei sonstiger Behandlung
nicht vor 6—8 Wochen und darüber er¬
zielt werden konnte.
Es wäre müßig, die Krankengeschichten
aller mit Kossam behandelten Fälle
wiederzugeben. Es möge mir nur ge¬
stattet sein, einige Fälle gleichsam als Bei¬
spiele für die guten Resultate, die bei
dieser Behandlungsmethode erzielt wurden,
mitzuteilen.
A. Akute Amöbendysenterie.
Fall 1. Patient 18 Jahre alt, Seemann.
Am 9. September 1909 profuse Durchfälle
und Leibschmerzen. Am 13. September blutig¬
schleimige Stühle, dieselben sollen jede 10 Mi¬
nuten erfolgen. Tenesmus sehr heftig. Fieber.
Aufnahme am 15. Sptember.
Status: Lungen- und Herzbefund bietet
nichts Abnormes. Puls 116. Abdomen unter
dem Niveau des Thorax, Bauchdecken ge¬
spannt. Palpation äußerst schmerzhaft, beson¬
ders in der Fossa ileo-cöcalis. Leber- und
Milzgrenzen normal. Temperatur 39°. Zunge
belegt, trocken. Brennender Durst, Patient
klagt über heftige Schmerzen und Tenesmus.
Die Stühle erfolgen so häufig, daß die Anzahl
derselben nicht bestimmt werden kann. Stuhl
blutig-schleimig oder rein blutig. Im mikro¬
skopischen Präparat massenhaft Amöben. Be¬
handlung Kossam 8 Tabloids, je eins stündlich.
16. September. Patient hat die ganze Nacht
nicht geschlafen. Anzahl und Beschaffenheit
der Stühle wie tags vorher.
17. September. Leibschmerzen und Tenes¬
mus äußerst heftig. Patient muß jeden Augen¬
blick auf die Leibschüssel. Es werden nur
wenige Tropfen Blut entleert, oder es gehen
kleine Mengen Schleim und Blut ab. — Im
mikroskopischen Präparat massenhaft Amöben.
M - Suppositorien schaffen keine Linderung.
Eingießen von 200 ccm Wasser mit 4 g Antipyrin
und 30 gtts. Opiumtinktur wird nicht vertragen.
18. September. Stuhlgang jede 10 Minuten.
In einzelnen Stühlen sind geringe Mengen Fäzes
enthalten.
19. September. 26 Stühle. Blut in geringer
Menge. Tenesmus und Leibschmerzen haben
bedeutend nachgelassen. Palpation der Fossa
sigmoidea schmerzhaft.
20. September. Status idem. Im Stuhl fast
kein Blut vorhanden.
21. September. Patient hat in der Nacht
20 Stuhlentleerungen gehabt, mit ziemlich hef¬
tigem Stuhldrang. In zwei derselben war
etwas Blut vorhanden. Temperatur 37,1—37,8
22. September. 24—30 Stühle mit geringer
Blutbeimengung, jedoch heftiger Tenesmus.
Teperatur 36,5—37,4.
23. und 24. September. Spuren Blut.
25. September. 18 Stühle. Kein Blut. Tenes¬
mus in geringem Grade. Temperatur 36,9bis36,5.
26. September. 10—15 Stühle. Beschaffen¬
heit derselben breiig mit Schleimbeimengung.
Kein* Blut. Amöben spärlich. Weber-Schumm
positiv.
27. September. 12 Stühle. Kalomel 1 g.
28. September. 16 Stühle, dünnflüssig mit
sehr wenig Schleim. Keine Amöben. Weber-
Schumm schwach positiv. Kossam und Det.
Simarubae.
30. September. 6 Stühle. Palpation nicht
schmerzhaft. Darm weich.
1. Oktober. 3 Stühle, breiig. Weber-
Schumm negativ.
2. Oktober. 3 geformte Stühle, und von da
an täglich 1—2 geformte Stühle ohne Schleim¬
beimengung.
Krankheitsdauer ungefähr 17—20 Tage.
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Juni
Die Therapie der Gegenwart 1910.
267
Fall 2. Patient 20 Jahre alt. Am 5. Sep¬
tember 1909 Brechneigung, Leibschmerzen.
Am 8. September profuse Durchfälle. Am
13. September blutig-schleimige Stühle, welche
jede 10 Minuten unter heftigstem Tenesmus
erfolgen.
Aufnahme am 15. September.
Status: Abdomen unterhalb des Niveaus des
Thorax. Leiseste Palpation äußerst schmerz¬
haft. Zunge dick belegt und trocken. Leber
und Milzgrenzen normal. • Gesichtsausdruck
leidend. Anzahl der Stühle nicht bestimmbar.
Sobald Patient die Leibschüssel verlassen hat,
verlangt er wiederum stürmisch nach dersel¬
ben. Stühle rein blutig oder blutig-schleimig.
Meist gehen unter quälendstem Tenesmus nur
einige Tropfen Blut ab. Nachts vollständige
Schlaflosigkeit. Brennender Durst. Die Pal¬
pation des Abdomens ist so schmerzhaft, daß
Perforation befürchtet wird. Der Eisbeutel
muß jedoch entfernt werden, da durch den¬
selben die Schmerzen eine Steigerung erfuhren.
Um den Tenesmus zu lindern, wird eine Spü¬
lung des Rektums mit 4 g Antipyrin und
Opiumtinktur, 30gtts, versucht. Das Einführen
einer dünnen Nelatonsonde rief jedoch solche
Schmerzen hervor, daß davon Abstand ge¬
nommen wurde. 0,02 Morphium subkutan ohne
Wirkung.
16. September. Leibschmerzen und Tenes¬
mus äußerst heftig. Patient hat die ganze
Nacht schlaflos verbracht. Anzahl der Stühle
unbestimmbar. Die Stuhlentleerungen bestehen
aus etwas Blut oder sind blutig-schleimig. —
Einige nekrotische Schleimhautfetzen nachweis¬
bar. Temperatur 38,7—39,5. Um den Tenes¬
mus zu lindern Morphiumsuppositorien ohne
Erfolg. Kossam 8 St.
17. September. Status idem. Eine Eingie¬
ßung in das Rektum von <*50 ccm Wasser mit
4 g Antipyrin und 30 gtts. Opiumtinktur wird
sofort ausgestoßen. Dieselbe rief heftige
Schmerzen hervor. Es werden mehrere nekro¬
tische Schleimhautfetzen ausgestoßen.
18. September. Status idem. Temperatur
38—39.
19. September. Subjektive Beschwerden
haben etwas nachgelassen. Nachts konnte
Patient auf 0,02 Morphium subkutan einige
Stunden schlafen.
20. September. Anzahl der Stühle geringer.
Dieselben bestehen zeitweise aus einigen
Klümpchen Fäzes, welche in einer Fleisch¬
wasser ähnlichen Flüssigkeit schwimmen, zum
Teil aber sind dieselben noch rein blutig oder
blutig-schleimig. Die Schmerzen haben nach¬
gelassen. Die Zunge reinigt sich. Temperatur
37,8—39.
21. September. Anzahl der Stühle nimmt
ab. In fast jeder Entleerung sind geringe
Mengen Fäzes enthalten. Stuhl sehr übel¬
riechend. Patient hat nachts ohne Morphium
6 Stunden geschlafen. Temperatur 38,2—38,8.
22. September. Stuhlgang jede Va Stunde.
Blutbeimengung nimmt ab. Tenesmus weniger
quälend, doch noch immer heftig.
23. September. Im Stuhl sind nur Spuren
Blut enthalten. Temperatur 37,5—38,3.
24. September. Makroskopisch kein Blut.
Keine nekrotischen Membrane nachweisbar.
25. September. Kein Blut. Anzahl der
Stühle 18. Wenig Stuhldrang. Temperatur 36,8
bis 37,8.
26. September. Wohlbefinden. Stuhl breiig
mit Schleimbeimengung. Im mikroskopischen
Präparat keine Erythrozyten. Weber-Schumm
positiv. Bei der Palpation der Fossa sigmoidea
ist der Darm etwas schmerzhaft.
27. September. 4 Stühle, breiig, wenig
Schleim. Spärliche Amöben. Patient verlangt
nach Nahrung. Diät: 2 Tapiocasuppen, 1 Liter
Milch, 4 Eier, 2 leichte Kartoffelbreie.
28. September. Kalomel 1 g.
29. September. 4 Stühle, breiig, mit ge¬
ringer Schleimbeimengung. Keine Amöben.
Weber-Schumm schwach positiv. Neben
Kossam Dct. red. Simarubae.
4. Oktober. 3 Stühle, breiig, mit geformten
Stücken. Weber-Schumm negativ.
5. Oktober. 2 geformte Stühle. Weber-
Schumm negativ. Diät: */a Huhn, Suppe, Milch,
Eier, Erbsenbrei.
8. Oktober. 1 geformter Stuhl.
11. Oktober. Volle Diät. Am 16. Oktober
verläßt Patient das Spital. Wiederholte Unter¬
suchungen ergaben die Abwesenheit von
Amöben, von Blutspuren und von Schleim in
den Fäzes.
Bis zum 5. Oktober waren leichte Tempe¬
ratursteigerungen, 37,2—37,5, zu verzeichnen.
Diese beiden Fälle gehören entschieden
• zu den schwersten akuter Amöbendysen-
terie, und doch, wie aus der Kranken¬
geschichte ersichtlich, war der Ausgang
bei der einfachen Behandlung, ohne Opium,
Darmdesinfizientien, und Darmeingießungen
und Purgantien, ein ausnehmend günstiger,
auch was die Dauer der Erkrankung selbst
anbelangt. Bei meinen ersten, nicht mit
Kossam, sondern nach den in allen Lehr¬
büchern beschriebenen Methoden behan¬
delten Fällen war von einem Verschwinden
des Blutes aus den Fäzes vor 2—3 Wochen
und von einer definitiven Heilung vor
5—6 Wochen nicht die Rede.
Wenn auch bei der subakuten Amöben -
dysenterie das „Kossam* den Mittelpunkt
der Behandlung bildet, so macht sich bei
derselben die Anwendung von Darm¬
spülungen und Purgantien bisweilen not¬
wendig. Wie bereits erwähnt, sind bei
der subakuten Form sowohl die subjektiven
Beschwerden als auch die Darmerscheinun¬
gen bedeutend milder als bei der akuten
Dysenterie.
Dagegen hat die subakute Form Ten¬
denz zum Chronischwerden. Der Darm
fühlt sich in der Fossa sigmoidea von An¬
fang an deutlich verdickt und wird all¬
mählich hart.
Ferner ereignet es sich, daß, wenn auch
bei Kossamdarreichung nach 2—3 Tagen
das Blut vollständig verschwindet, die
Schleimabsonderung noch längere Zeit in
reichlichem Maße anhält und breiige oder
dünnflüssige Stuhlentleerungen 2—3 täglich
erfolgen, oder es bestehen Durchfälle mit
sehr geringer oder auch fehlender Schleim¬
beimengung. Der Darm ist jedoch bei der
Palpation immer schmerzhaft und fühlt sich
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268
Die Therapie der Gegenwart 1910.
Juni
etwas hart an. Bei diesen Fällen empfiehlt
sich, jeden 3. Tag 30 g Natr. sulfur. zu
reichen, und DarmspQlungen mit Ichthyol
zur mechanischen Reinigung des Darmes,
wobei 4—5 1 1°/oiger Ichthyollösung zur
Verwendung kommen, zu machen.
Oft genügt diese Behandlung allein, um
vollständige Heilung herbeizuführen.
Es ereignet sich aber bisweilen, daß
der Darm bei der Palpation schmerzhaft
und dessen Verdickung bestehen bleibt
Es erfolgen stets 2—4 breiige oder
dünnflüssige Stühle mit geringer Schleim¬
beimengung und spärlichen Amöben. Nun
werden statt der Spülungen mit Ichthyol
1—2 mal täglich hohe Darmeingießuagen
mit 0,5—1°/oiger Tanninlösung gemacht,
welche möglichst lange vom Patienten be¬
halten werden müssen.
Es kommt darauf zu reichlicher Schleim¬
absonderung in den Fäzes. Im Schleim
sind reichlich Amöben vorhanden. Die
Eingießungen werden fortgesetzt bis voll¬
ständigem Weich werden des Darmes und
negativem Amöbenbefund.
Endlich kommt es vor, daß bei weich
gewordenem Darme undFehlen von Amöben
leichte Durchfälle, 2—3 dünnflüssige Stühle
täglich, bestehen bleiben. Nur hier ist die
Anwendung von Adstringenden, wie Bis¬
mut, Tannin, anzuwenden.
B. Subakute Amöbendysenterie.
Patient, 42 Jahre alt, erkrankte am 6. De¬
zember 1909 an Durchfällen und Leib sch merzen.
Am 7. unter Tenesmus Blut- und Schleim¬
abgang, mehrere Stuhlentleerungen, ungefähr
16—24 mal täglich. Blut und Schleim nach des
Patienten Angaben mit den Fäzes untermengt.
Am 14. Aufnahme. Temperatur 37,9—38,7o.
Palpation des Darmes in der Fossa sigmoidea
schmerzhaft. Darm daselbst deutlich verdickt
und etwas hart. Leibschmerzen und Tenesmus
ziemlich heftig. 17 Stühle. Dieselben bestehen
aus geringen Mengen breiiger Fäzes, denen
Blut und Schleim untermengt ist. Bisweilen
sind die Fäzes von Blut und Schleim deutlich
getrennt, so daß man neben den Fäzes den
blutig-schleimigen Anteil unterscheiden kann.
Massenhaft Amöben. Therapie: Kossam
8 Stück.
15. Dezember. 11 Stühle, in 3 derselben
ist etwas Blut vorhanden.
16. Dezember. 4 Stühle, ohne Blut. Leib¬
schmerzen geringgradig. Kein Tenesmus.
17. Dezember. Kalomel 1 g.
18. Dezember. 3 breiige Stühle mit ge¬
formten Stücken. Wenig Schleim. Kossam
6 Stück.
19. Dezember. 2 geformte Stühle. Einzelne
Amöben nachweisbar.
20. Dezember. 1 geformter Stuhl. Kein
Schleim.
21. Dezember. 1 geformter Stuhl. Weder
Schleim noch Amöben. Weber-Schümm
negativ. Darm vollständig weich und schmerz¬
los. Im Spülwasser einzelne Schleimflocken.
Bei diesem Falle kam es also zu einer
glatten Heilung wenige Tage nach Kossam-
darreichung, ohne ohne irgend ein anderes
Medikament.
Beim folgenden Falle mußten neben Kossam
Darmspülungen gemacht werden.
Fall 2. Patient, 22 Jahre alt, erkrankte am
23. März an Leibschmerzen, Durchfällen mit
blutig-schleimiger Beimengung und Tenesmus.
Aufnahme am 31. März 1909.
Palpation des linken unteren Quadranten sehr
schmerzhaft. Darm daselbst verdickt und etwas
hart. Tenesmus gering. Temperatur 38°.
12 Stühle. Fäzes breiig in geringer Quantität
und mit reichlicher blutig-schleimiger Bei¬
mengung. Massenhaft Amöben.
Therapie: Kossam 8 Stück.
1. April. 7 Stühle. Temperatur 38,3—38,5°.
2. April. 5 Stühle. Blut bedeutend ab¬
genommen.
3. April. 4 Stühle. Blut in Spuren.
4. April. 3 Stühle. Kein Blut, jedoch reich¬
lich Schleim. Kein Tenesmus. Darm fühlt
sich weicher an. Temperatur 37,6°.
5. April. 1 Stuhl, breiig, viel Schleim. Im
Schleim einzelne Amöben.
6. April. Natr. sulf. 30 g. 5 Stühle mit
viel Schleim.
7. April. Kossam 8 Stück. 2 Darmspülungen
mit 4—5 1 1%iger Ichthyollösung. 1 Stuhl,
breiig, in der Spülflüssigkeit viel Schleim.
8. April. 1 Stuhl. Schleim nimmt ab.
9. April. 2 geformte Stühle, ohne Schleim.
In der Spülflüssigkeit wenig Schleim.
12. April. Darm vollständig weich. Stuhl
geformt. Weber-Schumm negativ. Keine
Amöben nachweisbar.
Darmspülung mit abgekochtem Wasser er¬
gibt nur einige Schleimflöckchen.
Fall 3. Patientin, 26 Jahre alt, erkrankte
am 20. November 1909 an Leibschmerzen und
Diarrhöen.
Am 25. November mehrere Stühle mit Blut-
und Schleimbeimengung. Patientin bekam
3 Tage nacheinander Ipeca. ohne Erfolg. Auf¬
nahme am 28. November 1909. Status: Ab¬
domen etwas aufgetrieben. Palpation des
Darmes in der Fossa sigmoidea sehr schmerz¬
haft. Darm verdickt und etwas hart. Tem¬
peratur 38,4—38,9°.
14—18 Stühle mit reichlicher Blut- und
Schleimbeimengung. Amöben sehr reichlich.
Patientin klagt über Leibschmerzen. Tenesmus
mäßig. Therapie: Kossam 8 Stück
29. November. 12 Stühle mit viel Schleim
und sehr wenig Blut. Temperatur 37,8—38,8°.
30. November. 8 Stühle, teils breiig, teils
dünnflüssig, mit viel Schleim, jedoch ohne Blut.
Schmerzen haben nachgelassen. Tenesmus
verschwunden. Temperatur 37,7—38,3.
1. Dezember. 6 Stühle mit wenig Schleim.
Temperatur 37,8—38,8°.
2. Dezember. Kalomel 1 g.
3. Dezember. 4 dünnflüssige Stühle mit
wenig Schleim. Patientin klagt über Schmerzen
im linken unteren Abdominalquadranten. Pal¬
pation des Darmes schmerzhaft, derselbe ver¬
dickt und etwas hart. Kossam 8 Stück, 2 Darm¬
spülungen mit 1°/oigem Ichthyol.
Bis zum 10. Dezember Status idem. Tem¬
peratur 37,2—37,8°.
Vom 11.—15. Dezember Simarubae mit 3 g
Bism. subnitr. und 20gtts. Tct. Opii, nebenbei
Kossam. Am 16., 17., 18. Dezember Korsam
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Juni
Die Therapie der Gegenwart 1910.
269
8 Stück. Bismut und Tannalbin 0,5, Ext. Opii
0,01, täglich 4 Pulver. Der Stuhl erfolgt trotz¬
dem 2—-4 mal täglich, ist dünnflüssig, mit ganz
geringen Schleimmengen. Sehr spärliche
Amöben nachweisbar. Der Darm in der Fossa
sigmoidea ist verdickt, aber hart und schmerz¬
haft.
Am 21.Dezember je 2 hohe Darmeingießungen
mit 1%iger Tanninlösung. Kossam 6 Stück.
Am 22. Dezember 2 breiige Stühle mit
reichlicher Schleimbeimengung und zahlreiche
Amöben.
Die Eingießungen werden bis zum 26. De¬
zember fortgesetzt. Stuhl geformt, mit ganz
minimaler Schleimbeimengung. Keine Amöben
nachweisbar. Bei der Palpation ist der Darm
nicht mehr schmerzhaft, fühlt sich jedoch noch
etwas verdickt. Am 28. Dezember ist derselbe
vollständig weich geworden.
1 Stuhl täglich, geformt. Im Spülwasser
kein Schleim.
C. Chronische Dysenterie.
Die Behandlung derselben besteht in
Darreichung von Kossam und Dafmspülun-
gen mit 1 °/oiger Ichthyollösung zur mecha¬
nischen Reinigung des Darmes. Bei Nei¬
gung zur Obstipation wird dann und wann
ein Purgans gereicht, am besten Natr.
sulfur. Gegen Ende der Behandlung emp¬
fiehlt es sich auch hier durch Eingießung
von Tanninlösung starke Schleimproduktion
hervorzurufen, und den Schleim sorgfältig
auf Amöben zu untersuchen.
Bei Vorhandensein derselben wird mit
den Tannineingießungen fortgesetzt, bis
wiederholte Untersuchungen das vollstän¬
dige Fehlen von Amöben ergeben haben.
Bei dieser Behandlung habe ich in 2 bis
3 Wochen Heilungen erzielt bei 3 bis
4jähriger chronischer Dysenterie, welche
hartnäckig jeder Behandlung getrotzt hatte.
Bei schon seit mehreren Jahren anhalten¬
der chronischer Amöbendysenterie verliert
der Darm seinen strangartigen Charakter,
es bleibt aber oft eine Verdickung des
Darmes bestehen, da sich eine Hyper¬
trophie des Darmes entwickelt hat.
Fall 1. Patient leidet seit 3 Jahren an Leib¬
schmerzen, Tenesmus. Oefters im Tag blutig¬
schleimige Stuhlentleerungen. Ab und zu
heftige Schmerzen im linken unteren Quadran¬
ten. Der Anfall endigt mit Abstoßung blutig
fingierter Schleimmembranen, Hämorrhoiden.
Patient wurde wegen Colitis muco-membranaea
und Proctitis vielfach behandelt, unter anderem
Trinkkur in Monte-Catini. — Am 22. Mai 1907,
nachts, heftiger Schmerzanfall im linken unte¬
ren Abdominalquadranten.
Status am 23. Mai. In der Fossa sigmoidea
Darm kontrahiert, nicht besonders schmerzhaft.
Am Anus mehrere Hämorrhoidalknoten. Di¬
gitaluntersuchung des Rektums muß wegen
heftiger Schmerzen unterbrochen werden. Am
herausgezogenen Finger blutiger Schleim.
Stuhlbefund: dunkelbraun, breiig, mit blutig¬
schleimiger Beimengung. Schleim in Fetzen
und blutig fingierten Membranen. Reichlich
Amöben.
Diagnose: rektale, chronische Amöben¬
dysenterie.
Therapie: Von Darm Spülungen mußte Ab¬
stand genommen werden, wegen der heftigen
Schmerzen, die das bloße Einführen der
Nelatonsonde hervorrief. Kossam 8 St. Diät:
Milch, Eier, Erbsen- und Linsenbreie, Tapioka,
Gries- und Reissuppen.
27. Mai. Tenesmus hat bedeutend nachge¬
lassen. 2—3 breiige Stühle ohne Blutbeimen¬
gung und sehr wenig Schleim.
29. Mai. Kein Stuhldrang. 2 geformte
Stühle, wenig Schleim.
1. Juni. Darmspülung mit 1 %iger Ichthyol¬
lösung. Dieselbe rief etwas Schmerz hervor.
In der Spülflüssigkeit sehr viel Schleim.
5. Juni. Das Einführen der Nelatonsonde
ist nicht mehr schmerzhaft. Schleimmenge
gering. Seit 2 Tagen hat Patient keinen Stuhl.
6. Juni. 30 g Natr. sulfur. 4 dünnflüssige
Stühle von gelber Farbe, mit ganz minimaler
Schleimbeimengung. Keine Amöben. ,
7. Juni. Kossam und Darmspülungen. Am
Anus nur einzelne Hämorrhoidalknötchen. —
Patient fühlt sich ganz wohl.
10. Juni. Ein geformter Stuhl von normaler
Beschaffenheit. Darm in der Fossa sigmoidea
vollständig weich. Die Behandlung wurde bis
zum 15. Juni fortgesetzt Bis heute ist Patient
vollkommen gesund.
Fall 2. Patient leidet seit mehreren
Jahren an chronischer Dysenterie und wurde
mit Ipeca, Adstringentien, Eingießungen mit
Tannin vielfach behandelt. Nach scheinbarer
Heilung, welche 1—2 Monate anhielt, traten
wieder die gewöhnlichen Beschwerden auf,
und zwar heftige Leibschmerzen links und
Entleerung unter mäßigem Tenesmus. breiiger
Stühle mit reichlicher blutig-schleimiger Bei¬
mengung, bisweilen ziemlich heftige Blutungen.
Patient ist sehr heruntergekommen und sieht
kachektisch aus. Im Stuhl Amöben in großer
Menge.
2. November 1907. Kossam 8 Stück.
5. November. 3 breiige Stühle. Kein Blut,
jedoch viel Schleim.
6. November. Kossam und eine Darm¬
spülung mit 1 %ig er Ichthyollösung.
10. November. 2 breiige Stühle mit sehr
geringer Schleimbeimengung. In der Spül¬
flüssigkeit viel Schleim.
13. November. Kein Stuhl. In der Spül¬
flüssigkeit nimmt der Schleim ab.
14. November. Natr. sulfur. 30 g. 5 Stühle
von gelber Farbe, dünnflüssig, sehr wenig
Schleim enthaltend. Keine Amöben.
17. November. 1 Stuhl geformt Kossam
6 Stück.
19. November. Eingießung 2 1 1 %iger
Tanninlösung.
20. November. 1 geformter Stuhl mit etwas
Schleim. Keine Amöben. Bis 25. November
nimmt Patient täglich Kossam, 4 Tabloids.
Patient ist bis heute gesund. Darm in der
Fossa sigmoidea etwas verdickt. Leichte Ob¬
stipation.
Was die Anwendungsweise des Kossam
anbelangt, so muß zum Schluß bemerkt
werden, daß dasselbe manchmal Brechreiz
hervorruft. Bei solchen Fällen empfiehlt
es sich, die Tagesgabe zu zerreiben und
in Suspension in einem schleimigen Vehikel
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270
Die Therapie der Gegenwart 1910.
Juni
zu reichen. — Kindern gibt man, je nach
dem Alter, 2 bis 6 Tabloids in Schüttel¬
mixtur.
Zusammenfassung.
Bei Amöbendysenterie besteht die Be¬
handlung in Darreichung von Kossam,
welches in kurzer Zeit die Blutungen zum
Stillstehen bringt, die subjektiven Be¬
schwerden lindert, und direkt auf die
Amöben schädigend wirkt Bei akuter
Amöbendysenterie wird ab und zu ein
Purgans gereicht. Bei Bestehenbleiben von
dünnflüssigen Stühlen ohne Schleim und
bei - negativem Amöbenbefund Adstrin¬
genden.
Bei subakuten Fällen Kossam und Darm¬
spülungen zur mechanischen Reinigung des
Darmes. Bei Bestehenbleiben dünnflüssiger
Stühle ohne Schleim und Amöben und bei
weich gewordenem Darme Adstringenden,
ist dagegen der Darm noch verdickt und
schmerzhaft, Eingießungen von 2 1 0,5 bis
1 %iger Tanninlösung.
Bei chronischer Dysenterie Kossam und
Darraspülungen, Ichthyol und später Ein¬
gießungen von 0,5%iger Tanninlösung.
Ans der Direktorialabteilnng des Allgem. Krankenhauses St. Georg, Hamburg.
(Prof. Deneke.)
Die Behandlung des Delirium tremens mit Veronal.
Von Dr. Ernst von der Porten.
Das Delirium tremens auf alkoholischer
Basis ist, selbst wenn es kräftige Männer
des mitüeren Lebensalters betrifft, als eine
ernste Erkrankung anzusehen. Die Gefahren,
die dem Herzen von der durch die Hallu¬
zinationen immer wieder frisch belebte
motorischen Unruhe drohen, sind ja recht
bedeutende. Die Mortalität des Deliriums
wird denn auch von den meisten Autoren
recht hoch beziffert; so gibt Kraepelin
3 —-5o/ 0 Mortalität, Bonhoeffer 9°/ 0 ,
Ziehen 12%, Jacobson gar 19% (bei
Ganser, Münch, med. Wochschr. 1907,
Nr. 3) und Eichelberg 5,5% Mortalität
an; Ganser berichtet, daß, bevor er den
Deliranten grundsätzlich Digitalis verab¬
reichte, er 6,37% Mortalität gehabt habe,
und daß nach Einführung der Digitalis¬
behandlung die Sterblichkeit auf 0,88%
gesunken sei.
Es wäre unrichtig, die Mortalitätsziffern
der verschiedenen Autoren ohne weiteres
miteinander zu vergleichen und daraus
etwa einen Schluß auf die therapeutischen
Erfolge ziehen zu wollen, die diesem oder
jenem gebrauchten Mittel in höherem oder
geringerem Maße zukämen. Dazu wird doch
das Material in den verschiedenen Städten
und Kliniken ein zu verschiedenes sein.
Wenn man aber an demselben Kranken¬
haus, bei demselben Material und bei
derselben Beurteilung die verschiedenen
Jahrgänge der Deliranten, bei denen nun
nur die Therapie gewechselt hat, mitein¬
ander auf die therapeutischen Erfolge ver¬
gleicht — wie z. B. bei der Ganserschen
Statistik — so wird man allerdings wohl
imstande sein, diese oder jene Therapie zu
empfehlen.
Wir können auf Grund eines derartigen
Vergleichs das Veronal als ein Hypnotikum,
I das auch in großen Dosen weder die Be¬
schaffenheit des Pulses noch die Atmung
ungünstig beeinflußt und dabei die psycho¬
motorische Erregung in ausgezeichnetem
Maße zu bekämpfen und damit dem Herzen
Arbeit zu sparen befähigt ist, für die Be¬
handlung des Delirum tremens empfehlen.
Unsere gesamte Statistik erstreckt sich
auf die Jahre 1901—1909 und umfaßt
660 Fälle von Delirium, wobei sowohl das
bereits außerhalb des Krankenhauses aus-
gebrochene, wie das hier ausgebrochene,
wie auch schließlich das Delirium imminens 1 )
einbegriffen ist. Von diesen 660 Fällen
entfallen 396 auf die Jahre 1901—1906, und
diese wurden mit Chloralhydrat und mit
, Bromsalzen behandelt. Im allgemeinen
wurden 1—2, seltener 3 g Chloralhydrat
gegeben, oft nur am ersten Tag, oft aber
wurde noch an den folgenden Tagen diese
Dosis wiederholt. Das Brom wurde in
Form einer Mixtur (10,0:200,0) so verab¬
reicht, daß der Patient 2stündlich 1 g be¬
kam; oft wurden beide Medikamente neben¬
einander gegeben. Digitalis wurde zwar
nicht systematisch und grundsätzlich jedem
Deliranten verabreicht, aber doch immer
da, wo die Qualitäten des Pulses irgend¬
wie zu wünschen ließen. Alkohol wurde
fast nie gegeben. Bei stärkerer Unruhe
wurde der Patient in diesen Jahren alsbald
in die Isolierzelle gebracht. Im Durch¬
schnitt verbrachte jeder Delirant 1,4 bis
1,7 Tage in der Isolierzelle.
Wir hatten in dieser Zeit 36 Todesfälle
(=9 0 / 0 ).
Nun ist für die Beurteilung einer The¬
rapie des Deliriums nicht nur die Mor¬
talitätsziffer maßgebend, sondern man wird
*) Zur Gruppe des Delirium imminens sind nur die
Fälle gerechnet, die Delirium imminens geblieben sind.
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Die Therapie der Gegenwart 1910.
271
auch in Betracht ziehen müssen, in welchem
Maße es gelingt, den Ausbruch des De¬
liriums zu verhindern. Es ergibt sich bei
einer derartigen Zusammenstellung, daß wir
in den Jahren 1901—1906
69 Fälle von Delirium imminens
(=17,4 0/o) und
72 Fälle von hier ausgebrochenem
Delirium (= 18,1 °/ 0 ) hatten.
In den Jahren 1907 bis 1909 hatten wir
264 Fälle von Delirium, welche fast ganz
ausschließlich mit Veronal behandelt wurden.
Der Modus der Behandlung war etwa fol¬
gender: Wir geben das Veronal — wie
v. Mering und Fischer es schon 1903 in
der Therapie der Gegenwart empfohlen
haben — in warmem Tee gelöst; gleich
nach der Aufnahme bekommt der Patient
1 g Veronal, eine oder zwei Stunden
später bereits das zweite Gramm. Damit
kommen wir beim Delirium imminens zu¬
meist aus: der Patient wird ruhiger, besser
traitabel und verfällt in einen vom nor¬
malen nicht zu unterscheidenden Schlaf.
Kommen wir mit 2 g nicht aus — und bei
den bereits ausgebrochenen Delirien pflegt
es so zu sein — so geben wir vor Ablauf
von 5 Stunden ein drittes Gramm; wir
scheuen uns auch nicht, in ganz resistenten
Fällen innerhalb der ersten 12 Stunden 4 g
Veronal zu verabreichen. Wir haben, wie
bereits erwähnt, niemals bei diesen Dosen
auch nur den geringsten nachteiligen Ein¬
fluß auf Puls oder Atmung konstatieren
können. Selbst bei einer Dosis von 10 g,
die in selbstmörderischer Absicht außer¬
halb des Krankenhauses genommen war,
wo bei tiefstem Schlaf alle Reflexe bis auf
den Pupillenreflex fehlten, Waren Puls und
Atmung durchaus normal. Die in der
Literatur bekannten Fälle von Veronal-
vergiftung bestätigen übrigens diese Be¬
obachtung. In den Jahren 1907 bis 1909
hielten wir es bei der Deliriumbehandlung
mit Digitalis und Alkohol wie früher, da¬
gegen wurde von der Isolierzelle möglichst
selten Gebrauch gemacht, so daß im Durch¬
schnitt jeder Delirant nur 0,38—0,83 Tage
in der Isolierzelle zubrachte.
Die Mortalität ist nun bei der Veronal-
behandlung bedeutend niedriger gewesen
als in den vorhergehenden Jahren: wir
hatten bei den 264 Deliranten 9 Todesfälle
[= 3,4 % (gegen 9,0)].
j Von diesen 9 Todesfällen betrafen vier
! sonst gesunde Individuen, Leute von 34,
66 , 52 und 32 Jahren; von den übrigen
5 zum exitus gekommenen Fällen wurden
zwei mit kruppöser Pneumonie eingeliefert,
zwei weitere mit Bronchopneumonie und
Arteriosklerose und einer endlich mit be¬
ginnender Leberzirrhose.
In erhöhtem Maße ist es uns gelungen,
den Ausbruch des Deliriums hintanzuhalten;
d. h. wir hatten mehr Fälle von Delirium
imminens und weniger von hier ausge¬
brochenem Delirium als in den vorher¬
gehenden Jahren. Wir hatten nämlich:
73 Fälle von Delirium imminens [= 27,6 %
gegen 17 °/ 0 )] und 15 Fälle von hier aus¬
gebrochenem Delirium [= 5,6 % (gegen
18 %)].
Diese Statistik, die mit der Einführung
des Veronals ein Sinken der Mortalität
von 9 % auf 3,4 %, ein Seltnerwerden der
im Krankenhause ausgebrochenen Fälle
von Delirium (von 18% auf 5,6%) und
eine dementsprechende relative Vermehrung
der Fälle von Delirium imminens von 17%
auf 27,6 % zeigt, beweist zusammen mit der
klinischen Beobachtung des Einzelfalles, daß
wir es beim Veronal wirklich mit einem
Mittel zu tun haben, daß den Verlauf des
Delirium tremens günstiger zu beeinflussen
imstande ist als Chloral und Brom (s. auch
Möller-Kopenhagen, BerL klin. Woch.1909,
Nr. 52). Es scheint, das wir im Veronal
ein Mittel haben, das — ohne Neben¬
wirkung — der psychomotorischen Er¬
regung spezifisch entgegenwirkt und einen
dem natürlichen durchaus ähnlichen Schlaf
hervorruft und das daher bei der Be¬
handlung des alkoholischen Deliriums Be¬
vorzugung verdient.
Aus dem Städtischen Krankenhause in Posen.
Ein altes in Vergessenheit geratenes hyperämisierendes Mittel.
Von Prof. Dr. Carl Ritter, dirigierender Arzt der chirurgischen Abteilung.
Vor kurzem habe ich über Versuche 1 ) I
berichtet, das Erysipel mit heißer Luft zu
behandeln.
Bekanntlich sind unsere bisherigen Er¬
folge auf diesem Gebiete nicht allzu glän- j
*) Ritter. Die Behandlung des Erysipels mit ]
heißer Luft. MQnch. med. Woch. 1910 und Chirurg.
Kongr. 1910.
zend gewesen. Die zahllosen Mittel, die
immer wieder von neuem angegeben wer¬
den auf der einen Seite und die noch
stets vorkommenden Todesfälle trotz der
Behandlung auf der anderen Seite sind
gute Beweise dafür.
Alle therapeutischen Maßnahmen gingen
bisher in der Hauptsache von dem einen
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272
Die Therapie der Gegenwart 19t0.
Juni
Gesichtspunkt aus: Man sucht bei dem
schnellen Umsichgreifen, dem Wandern und
dem Ueberspringen des Prozesses vor
allem das Erysipel an dem Ort der Er¬
krankung festzuhalten und eine weitere
Verbreitung und Resorption zu verhindern,
das gleiche Prinzip übrigens, das uns ja
auch im allgemeinen bei der Behandlung
akut infektiöser Prozesse Oberhaupt geleitet
hat. Aber schon seit längerer Zeit hatte
ich die Erfahrung gemacht, 1 ) daß eine künst¬
lich vermehrte Resorption bei diesen Pro¬
zessen nicht nur nicht schadet, sondern
sogar überaus günstig auf den Krankheits¬
prozeß einwirkt. Ich übertrug deshalb das
gleiche Prinzip auch auf das Erysipel, in¬
dem ich mich der heißen Luft, des kräftig¬
sten künstlichen Resorptionsmittels, das wir
besitzen, bediente. Die Resultate waren
überraschend gut. In lückenloser Reihe
konnten auch schwerste Formen der Rose
schneller Heilung entgegen geführt werden.
Ich glaubte, und ebenso wohl der Leser,
daß diese Behandlungsmethode neu sei.
Allerdings, die heiße Luft selbst ist bisher
bei Erysipel wegen der Gefahr einer
Weiterverschleppung des Prozesses nicht
angewandt worden. Aber etwas ähnliches
ist doch schon einmal therapeutisch ver¬
sucht worden.
Bei eingehender Durchsicht der Lite¬
ratur fand ich folgendes:
„Pierquin (Des fricdons avec lesfers
chauds. Gaz. med. du Montpellier 1853 und
Journal des conaiss. m€d. chir. Nov.1852) las
in einem 1694 von einem Herrn v.Coulanges
an eine Dame (Madame deS6vign£) geschrie¬
benen Briefe die Nachricht, daß ersterer,
an heftigem Rheuma der Schulter leidend,
von der Kammerfrau, der Frau von Saint
Gerau schnell geheilt wurde, indem letztere
ihn mit einem heißen Bügeleisen bügelte.
Seitdem hat Pi er quin dieses Verfahren
bei den verschiedensten Krankheiten mit
besonderem Erfolge angewandt. Auch
R£camier soll das Bügeleisen in seiner
Klinik und in der Privatpraxis erfolgreich
benutzt haben. In Deutschland soll das
Bügeleisen auch gegen Erysipelas und zahl¬
reiche andere Affektionen von diesem oder
jenem in Anwendung gezogen worden sein,
so bei verschiedenen nicht zur Eiterung
neigenden Entzündungen, bei Scharlach,
Rheumatismus, Katarrhen der Luftwege
und chronischer Aphonie, bei Störungen
der Menstruation, bei Entzündungen der
! ) Ritter. Die Behandlung der akut infektiösen
Prozesse mit möglichster Erhaltung der Funktion.
Berlin. Klin. Woch. 1909.
Sehnenscheiden, der Gelenke, bei Muskel¬
krankheiten usw.
Bei Erysipelas, welches rasch wanderte
oder die Neigung hatte, schnell zu ver¬
schwinden, und sobald üble Symptome
diese Neigung ankündigten, in solchen
Fällen traktierte man die Kranken mit dem
Bügeleisen, indem der Arzt mit nicht zu
großer Hitze eine Stunde lang über die
Haut an der Erysipelstelle hin und her
fuhr; diese Behandlungsweise habe hin¬
sichtlich des Erfolges alle anderen über¬
troffen. Nützlich sei es auch, die Anwen¬
dung des Bügeleisens für den ganzen Kör¬
per auszudehnen, besondersauf die Leber¬
gegend/ 1 )
Bezüglich der Technik des eigentüm¬
lichen Verfahrens wird bemerkt, daß „die
zu bügelnden Teile mit einfachem oder
doppeltem Flanell bedeckt und daß dann
mit dem mehr oder weniger heißen Bügel¬
eisen langsam oder schneller, stärker oder
drückend darüber hingefahren wurde.
Es wird der Rat erteilt, daß es sich
empfehle, die Wärme des Bügeleisens zu¬
vor an einem Tuche zu erproben. Nach
dem Bügeln, dessen Dauer sehr verschieden
war, wurden die Patienten in wollene
Decken gewickelt und so einige Zeit liegen
gelassen/
Weiteres habe ich leider bisher über
diese Behandlungsmethode nicht finden
können. Die Kritik ist sehr rasch mit
dieser Therapie fertig gewesen. So sagt
Tillmanns in seiner Monographie 2 ) über
Erysipelas:
„Wenn man Geschichte der Behandlung
des Erysipel schreiben wollte, so würde
das eine wenig dankbare, nutzbringende
Arbeit sein. Es würde sich konstatieren
lassen, daß oft planlos bald in diesen,
bald in jenen Mitteln experimentiert wurde,
daß nicht selten ganz abenteuerliche
Mittel angewandt wurden, welche heute
unser mitleidiges Lächeln erregen/
„Zu diesen kaum glaublichen Behand¬
lungsmethoden gehört z. B. unter anderem
die Anwendung des Bügeleisens gegen
Rotlauf, eine Methode, welche ihrer Aben¬
teuerlichkeit halber hier kurze Erwähnung
finden mag/
Ich kann diesem verdammenden Urteil
nicht beistimmen.
Ich meine vielmehr, daß wir es hier mit
einem nicht mit Unrecht angewandten, aber
wie es scheint, völlig in Vergessenheit gera¬
tenen stark hyperämisierenden Mittel zu tun
J ) Nach Tillmanns Erysipelas. Deutsche Chi¬
rurgie. 1880.
a ) Tillmanns 1. c.
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Juni
Die Therapie der Gegenwart 1910.
273
haben, das wir aber gut tun, der Vergessen¬
heit zu entreißen. Es ist wohl zweifellos, daß
mit dem Bügeln ziemlich der gleiche Effekt
hervorgerufen werden muß, wie mit der Hei߬
luftbehandlung, über deren physiologische
Wirkungen wir jetzt durch exakte Versuche
sehr genauen Einblick gewonnen haben.
Daß das Mittel praktisch von großem
Vorteil ist, haben wir in den letzten um
serer Gesichtserysipel - Fälle erfahren, bei
denen wir fast ausschließlich die Bügelung
verwandten.
Gerade im Gesicht ist die Anwendung
der heißen Luft oft schwierig. Die Augen
müssen sorgfältig mit Watte oder feuchten
Kompressen geschützt werden und der
breite heiße Strom, der aus dem Schorn¬
stein durch die Zimmerluft hindurchstreicht,
trifft die erysipelatöse Fläche oft nur unge¬
nügend, oft zu stark. Außerdem sind die
einzelnen Stellen bei den Vorsprüngen und
Vertiefungen des Gesichts von der Flamme
verschieden weit entfernt und um gleich¬
mäßig eine große Gesichtspartie zu behan¬
deln, gehört viel Aufsicht und Bedienung.
Bei den Extremitäten liegt es anders;
hier bleibt der Heißluftkasten die einfachste
Methode.
Aber auch bei ausgedehntem Erysipel der
Extremität und des Rumpfes zusammen
reichen die Kästen nicht aus. In allen diesen
Fällen scheint mir die Bügelung eine sehr
willkommene Ergänzung der Heißluftbe¬
handlung. Daß sie kräftig wirkt, brauche
ich wohl nicht zu betonen.
Wir machten die Erfahrung, daß die
Patienten das Bügeln ebenso angenehm
empfanden wie die heiße Luft. Wir haben
nur 10—15 Minuten gebügelt, aber 3 mal
am Tage die Prozedur wiederholt. Inwie¬
weit auch andere Prozesse mit dieser Me¬
thode zu beeinflussen sind, kann ich vor¬
läufig nicht sagen. Sehr handlich ist bis
jetzt das Instrumentarium nicht. Das medi¬
zinische Warenhaus wird aber in kurzem
ein bequemeres, leichteres und zweckent¬
sprechenderes Instrument hersteilen, bei
dem auch die Möglichkeit gegeben ist, die
Temperatur genau zu regulieren und schnell
zu ändern.
Ueber Gangstockung (intermittierendes Hinken).
Von Dr. Gustav Muskat* Berlin, Spezialarzt fQr orthopädische Chirurgie. 1 )
Die Dysbasia angiosderotica intermit-
tens (Erb), Claudication internlitten ie par
oblit^ration arterielle (Charcot), Para-
lysie douloureuse ischemique (Charcot),
angiosklerotische intermittierende Muskel¬
parese (Graßmann), Angina cruris
(Walton), arteriosklerotischer Rheumatis¬
mus (Zöge von Manteuffel). Dyspragia
intermittens angiosderotica (Ortner) ent¬
behrt noch immer eines deutschen Wortes,
welches die Eigentümlichkeit des Sym- ,
ptomenkomplexes wiedergibt
Wir möchten mit besonderer Berück- |
sichtigung des vorzugsweisen Befallenseins
der unteren Extremitäten und der dadurch
hervorgerufenen Störungen des Gehaktes
die Bezeichnung: „Gangstockung* bezw.
„Bewegungsstockung* vorschlagen.
Aus den vorzüglichen Arbeiten Erbs i
und anderer nach ihm beobachtender !
Autoren geht zur Genüge deutlich hervor, !
daß es sich bei der Erkrankung nicht um
ein eigentliches Hinken handelt wie es in
der Veterinär-Medizin zuerst von Boulley |
1831 als Boiterie intermittente des chevaux
beschrieben wurde.
Es besteht auch deshalb ein weiterer :
Unterschied, weil beim Tiere eine Throm- I
böse der größeren Gefäße, z. B. der Aorta j
l ) Nach einem Vortrage auf dem Kongreß für
innere Medizin in Wiesbaden. 1910. I
an ihrer Teilung in die beiden Darmbein-
bezw. Schenkelarterien (A. iliaca exterma
bezw. femoralis) und in die beiden Becken¬
arterien (A. hypogastrica), seltener der
Achsel- bezw. Armarterien, mitunter auch
der Lendenarterien vorhanden ist.
Dabei wird von Friedberger und
Fröhner 1 ) besonders hervorgehoben, daß
das Pulsieren der Schien- und Fesselbein¬
arterien nur bisweilen fehlt, während beim
Menschen, soweit überhaupt Veränderungen
der Gefäße selbst in Frage kommen, zu¬
nächst das Fehlen der Pulse am Fuß
und Unterschenkel als ausschlaggeben¬
des Symptom beobachtet wird.
Die subjektiven Empfindungen treten in
Form von ziehenden Schmerzen, die sich
mitunter, nicht immer, bis zu Muskel¬
krämpfen steigern können, und starker Er¬
müdung des Beines in die Erscheinung.
Ein Hinken ist weder von anderen
Autoren noch vom Verf. selbst, der häufig
Gelegenheit hatte, in seiner orthopädischen
Anstalt derartige Fälle zu sehen, festge¬
stellt worden.
Nach der klassischen Darstellung Erbs
ist das Symptomenbild folgendes:
„Meist langsam und allmählich beginnt
das Leiden; selten, daß es einmal plötzlich
*) Friedberger und Fröhner, Lehrbuch der
speziellen Pathologie und Therapie der Haustiere.
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274
Die Therapie der Gegenwart 1910.
Juni
und in großer Intensität einsetzt; wahr¬
scheinlich kommt es den Kranken dann
erst, nach leisen Vorstadien, einmal plötz¬
lich zum Bewußtsein. Manchmal beginnt es
nur einseitig und bleibt lange so bestehen,
greift dann auf die andere Seite Ober, ist aber
auch häufig von vornherein doppelseitig.
Zuerst sind es sensible Störungen, die
sich bemerklich machen: unangenehme
Sensationen im Fuß, den Zehen, den Sohlen
und Waden — Kribbeln, Kitzeln, Kälte¬
gefühl, zum Teil mit Hitzegefühl abwechselnd,
Spannungsgefühle in den Waden, selten
zunächst zu wirklichem Schmerz gesteigert.
— Alles dieses wesentlich zunächst beim
Gebrauch der Beine, nach längerem oder
kürzerem Gehen eintretend, in der Ruhe
bald wieder schwindend; doch können diese
Sensationen gelegentlich auch in der Ruhe,
des Nachts im Bett auftreten, vielleicht
durch Erregungen, durch Temperaturein¬
wirkungen u. dergl. ausgelöst.
Damit verbunden sind gewöhnlich schon
von vornherein zirkulatorische und vaso¬
motorische Störungen: die Kranken sehen
und fühlen, daß ihre Füße oft blau und
kalt werden, ausgesprochen zyanotisch
sind, besonders, wenn sie dieselben etwas
herunterhängen lassen, oder nach einigem
Gehen; dazwischen treten auch hellere,
rote Flecken auf, oder einzelne Hautstellen,
ganze Zehen werden blaß, weiß, leichen¬
ähnlich — „sterben ab“ —, alles dies bei
einigem Gehen stärker hervortretend, nach
kurzer Ruhe in horizontaler Lage meist
rasch wieder verschwindend. Gelegentlich
kommen auch diese wesentlich vasomotori¬
schen Störungen in der Ruhe, im Bett zur
Erscheinung.
Und nun pflegt es nicht lange zu dauern,
bis die Kranken im Gebrauch ihrer Füße und
Beine sehr erheblich beeinträchtigt werden
und ausgesprochene motorische Störungen
darbieten: unter Steigerung der sensiblen
Symptome, der Parästhesien, Spannungen
und Schmerzen tritt — nicht selten unter
anscheinendem Krampf in den Waden- und
Fußmuskeln — eine völlige Unfähigkeit zur
weiteren Bewegung ein; der Kranke kann
nur mit großer Mühe, unter Schmerzen
oder gar nicht mehr weiter; er muß stehen
bleiben oder sich niedersetzen und aus¬
ruhen; nach wenigen Minuten oder einer
Viertelstunde sind alle Erscheinungen vor¬
über und der Kranke geht — zunächst
ohne alle und jede Schwierigkeit — weiter,
um nach wenigen Minuten oder einer
Viertelstunde genau dasselbe wieder zu
erleben; er hat jetzt das Symptom des
.intermittierenden Hinkens“.
Auch in dieser Schilderung fehlt aber
auch die Schilderung des wirklichen Hin¬
kens, es kommt vielmehr nur zu einem
Stocken des Ganges und der Bewegung.
„Nicht bei allen Kranken ist das Bild
genau das gleiche: bald ist die sensible
Störung, bald die vasomotorische, bald der
Schmerz, bald der Krampf mehr ausge¬
sprochen; die Gebrauchsunfähigkeit der
Muskeln kann mehr oder weniger hoch¬
gradig sein; der Kranke kann mehr oder
weniger lange gehen, kann das Weiter¬
gehen erzwingen oder es wird ihm völlig
unmöglich — immer bleibt das Grund¬
legende des Symptomenkomplexes nachweis¬
bar: völliges oder fast völliges Wohlbefinden
in der Ruhe, Beginn des Gehens in ganz nor¬
maler Weise, nach wechselnder Zeit dann
Auftreten der Störungen, die schließlich
das Gehen verhindern; Verschwinden der¬
selben nach kurzer Ruhe und Wiederauf¬
treten, sobald das Gehen wieder fortgesetzt
wird; das ist also das „intermittierende
Hinken“, oder besser vielleicht die inter¬
mittierende, periodisch wiederkehrende
Abasie.
Nicht immer ist ferner der ganze Sym-
ptomenkomplex in gleicher Vollständigkeit
entwickelt: die einzelnen Bestandteile des¬
selben können in verschiedener Reihen¬
folge und Kombinationen, in wechselnder
Intensität auftreten; sie können sich mehr
oder weniger rasch zusammenfinden, mehr
oder weniger hohe Grade erreichen.
Der objektive Befund ist in solchen
Fällen meist ein recht charakteristischer.
Die Füße und Unterschenkel sind kalt,
blaurot, zyanotisch, gelegentlich auch etwas
gedunsen, besonders wenn sie längere Zeit
herabhingen; kleine, erweiterte Hautgefäß-
chen schimmern überall hindurch, die Haut
ist trocken, welk, die Nägel in ihrem
Wachstum gestört: vorübergehend können
auch hellrote in den mehr zyanotischen
Teilen auftreten, ein marmoriertes Aus¬
sehen entstehen, oder es treten ganz blasse,
anämische Stellen auf, ganze Zehen —
einzeln oder zu mehreren — werden bleich,
leichenähnlich, eiskalt, für kürzere oder
längere Zeit, und gewinnen dann unter
„Prickeln“ und „Bitzein“ ihre frühere rote
und zyanotische Färbung wieder. Bei
einiger Ruhe, im warmen Bett, können
aber alle diese Erscheinungen fehlen.
Von hervorragender Wichtigkeit ist nun
aber die Untersuchung der Fußarterien,
weil ihre Erkrankung und Veränderung
zum Teil direkt mit den Symptomen in
Beziehung zu bringen ist, zum Teil Rück¬
schlüsse erlaubt auf das Verhalten der
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Juni
Die Therapie der Gegenwart 1910.
275
tiefer oder weiter oben am Unterschenkel
gelegenen, der Palpation nicht zugäng¬
lichen Arterien, besonders auf diejenigen
der Muskeln. Hier zeigt sich nun gegen¬
über dem fast ausnahmslos bei gefäßgesun¬
den Personen normalen Verhalten des
Pulses in den vier der Palpation zugäng¬
lichen Arterien, den beiden Dorsales pedis
und Tibiales posticae hinter dem inneren
Knöchel —, daß in fast allen Fällen sich
mehr oder weniger deutlich Veränderungen
an diesen durch die Palpation nachweisen
lassen. Nicht selten findet man rigide Be¬
schaffenheit, Verdickung oder Verschmächti-
gung und Schlängelung der einzelnen Ge¬
fäße, Differenzen in ihrem Umfang und in
der Größe des Pulses auf beiden Seiten,
ganz besonders aber das Fehlen der Pul¬
sation in einer oder mehreren oder allen
von diesen Arterien; dieselben können da¬
bei noch als harte, dünne Stränge fühlbar
sein, aber lassen nicht eine Spur von Puls
erkennen; es kann auch Vorkommen, daß
der Puls von der gewöhnlichen Stelle nicht,
dagegen etwas mehr zentral noch schwach
zu fühlen ist.
Dieses Fehlen des Pulses kann zu ver¬
schiedenen Zeiten sich etwas verschieden
gestalten; der Puls kann zeitweilig, wahr¬
scheinlich nach dem vasomotorischen Ver¬
halten, gänzlich fehlen, zu anderer Zeit
wieder in schwacher Weise vorhanden
sein; das hängt wohl von der äußeren
Temperatur oder von den Funktions¬
zuständen der Füße ab. Der längere Zeit
verschwundene Puls kann mit der Besse <
rung des Leidens wiederkehren.
Jedenfalls verdient dieses objektive
Symptom, das sonst wohl nur bei hoch¬
gradiger seniler Arteriosklerose regelmäßig
gefunden wird, eine ganz besondere Be¬
achtung. (<
So leicht die Diagnose in ausge¬
sprochenen Fällen ist, so schwierig kann
sie im Anfangsstadium sein.
Es ist notwendig, folgende Möglichkeiten
sich vor Augen zu halten:
1. Die Beschwerden, welche zur „Gang-
stockung“ führen, beruhen nicht auf Ver¬
änderungen im Kreislauf, sondern auf andere
Erkrankungen, bei denen an erster Stelle
der Plattfuß, Ischias, Gelenkrheumatismus
zu nennen wären. Hier werden genaue
Untersuchungen des Fußgewölbes und des
Fußumrisses zur Feststellung führen können,
die Pulse sind vorhanden.
2. Eine bestimmte Erkrankung, besonders
der Plattfuß, ist auszuschließen, die Arterien
pulsieren und trotzdem treten die oben ge¬
schilderten Symptome der „Gangstockung“
ein.
Diese Fälle, welche von Erb, Oppen¬
heim u. A. schon früher beschrieben
wurden, dürften auf Angiospasmus zurück¬
zuführen sein.
Ortner (Innsbruck) hat auf dem Kon¬
greß für innere Medizin in Wiesbaden
(1910) in der Diskussion daraufhingewiesen,
daß solche Stockungen ohne Veränderung
der Gefäße im Darmtraktus Vorkommen,
die lediglich auf Einwirkung des Tabaks
beruhen. Jeder mißbräuchlichen Anwendung
von Tabak folgt eine entsprechende Re¬
aktion, während Aussetzen der Schäd¬
lichkeit sofortige Besserung, Wiederauf¬
nahme des Tabaksgenusses wieder die
alten Erscheinungen hervorruft. Es sind
dies rein vasomotorische Einflüsse. Be¬
kanntermaßen spielt das Nikotin eine her¬
vorragende Rolle bei der Entstehung der
arteriellen Veränderungen, die zur Gang¬
stockung führen, ja einzelne Autoren halten
es, besonders in Form des Zigaretten¬
rauchens für die einzig anzuschuldigende
Ursache, während zweifellos auch andere
Schädlichkeiten in Betracht kommen. Aller¬
dings wird häufig Ursache und Wirkung
verwechselt. So z. B. wenn Idelsohn 1 ) den
Plattfuß, den er bei vielen Patienten ge¬
funden hat, als Ursache der Erkrankung
anspricht, so erscheint es viel natürlicher,
den Plattfuß als das sekundäre zu be¬
trachten, der aus der zur Schonung des
schmerzhaften Fußes eingenommenen fal¬
schen Stellung entstanden ist.
Sehr wesentlich zur Klärung der Situ¬
ation dürfte das Röntgenbild sein, daß
in ausgesprochenen Fällen deutlich die
Veränderungen der Wandungen der Ar¬
terien zeigt.
3. Die Pulse sind wenig oder gar nicht
zu fohlen, das Röntgenbild zeigt aber
keine Veränderung der Gefäße. In solchen
Fällen fehlt noch die Kalkeinlagerung in
die Gefäßwand, diese selbst ist nur verdickt
und das Lumen derartig verengert, daß bei
stärkerer Inanspruchnahme durch Bewegung
die Blutzufuhr eine ungenügende wird.
4. Das Röntgenbild zeigt mehr oder
weniger große Teile der Fuß- und Schenkel¬
arterien deutlich in der Weise verändert,
daß Kalkeinlagerungen in die Gefäßwand
teils als Inseln, teils kontinuierlich sich ab¬
heben. Oft stehen die Kalkplättchen mit
! ) Idelsohn, Ueber intermittierendes Hinken.
D. Ztschr. f. Nervenheilkunde 24. cf. Bing, Ueber
das intermittierende Hinken. Beiheft z. Medizin.
Klinik 1907, H. 5.
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276
Die Therapie der Gegenwart 1910.
Juni
ihren feinen Spitzen scharf konturiert Ober
die äußere Gefäßumhüllung hinaus.
Ein Fall, in welchem Kalkeinlagerungen
röntgenologisch, Pulslosigkeit klinisch fest¬
gestellt wurde, der keine Beschwerden ge¬
habt hätte, ist niemals beobachtet worden,
wohl aber Fehlen aller Beschwerden, trotz
Fehlen der Pulse. Gerade in solchen
Fällen, welche Zufälligkeitsfunde sind, kann
eine geeignete Behandlung, Schonung,
leichte Massage, Jod, warme Bäder, elek¬
trische Behandlung mit Hochfrequenz, Vier-
Zellenbad u. a. m., welche besonders alle
weiteren Schädigungen, Nikotin, Alkohol,
körperliche Anstrengungen (Sport), geistige
und seelische Irritation, Kälte u. a. m., fern¬
hält, für den Patienten von unschätzbarem
Werte sein.
In der Diskussion auf dem Kongreß für
innere Medizin hat Payr (Greiftwald) über
derartige Fälle berichtet, bei denen die
drohende Gangrän durch Einpßanzen der
A. femoralis profunda in die vena femoralis
verhindert wurde, indem ein neuer Kreis¬
lauf geschaffen wurde.
Ein eigentliches Zurückgehen der Be¬
schwerden ist bei solchen Fällen, in denen
röntgenologisch einö Kalkablagerung in den
Gefäßen festgestellt wurde, nie beobachtet.
wohl aber ein Stehenbleiben auf derselben
Stufe, so daß die Befürchtung Zoege von
Manteuffels, daß alle Fälle zur Gangrän
führten, nicht gerechtfertigt erscheint.
Die Veränderung in den Gefäßen be¬
ginnt gewöhnlich an den periphersten
Teilen, den Zehenarterien, und setzt sich
dann weiter fort bis in die Kniekehle und
noch höher hinauf.
Im Journal de radiologie 3 Nr. 15 be¬
richtet Maurice d’ Hallniic über den
Nachweis einer verkalkten Arterie im Knie¬
gelenk, cf. auch Oppenheims Lehrbuch
der Nervenkrankheiten.
Albers-Schönberg 1 ) berichtet über
die Darstellung der verkalkten Arteria iliaca
und Aufrecht 2 ) über die sklerosierte Aorta
im Röntgenbilde.
Es ist zweifellos, daß die Röntgentechnik
auch hier ein wichtiges Hilfsmittel zur
Sicherstellung der im Anfangsstadium
schwierigen Difierentialdiagnose bildet.
Die Röntgenbilder zeigen am besten die
Veränderungen und die verschiedenartigen
Formen der Gefäßerkrankung, doch darf
auch beim Fehlen der röntgenologisch fest¬
zulegenden Veränderungen nicht der Ver¬
dacht auf „Gangstockung“ fallen gelassen
werden.
Bücherbesprechungen.
L. Aschoff und A. Bacmeister, Die Cho-
lelithiasis. Jena 1910, Fischer.
Das vorliegende Werk bringt eine Dar¬
stellung der histologischen und biologischen
Forschungen, durch welche die Verfasser
wesentliche Fortschritte in der Erkenntnis
der Ursachen der Gallensteinkrankheit an¬
gebahnt haben. Vorausgeschickt wird eine
ausführliche Darlegung des normalen Gallen¬
blasenbaus beim Fötus und Erwachsenen
unter besonderer Berücksichtigung der von
den Verfassern erhobenen und mittlerweile
von anderer Seite bestätigten, detaillierten
Befunde.
Der Hauptnachdruck liegt auf dem Nach¬
weis der abakteriellen Steinbildung in
Blasen, die aller Merkmale der Entzündung
entbehren und nur solche der Stauung
tragen. Diese reicht, möglicherweise von
einer vermehrten Cholesterindiathese unter¬
stützt, bereits durch ihre unmittelbaren
Folgezustände hin, um aus der Galle selber
das Cholesterin auszufällen; Naunyn hatte
seine Herkunft in desquamierte Blasenepi-
thelien verlegt. Auch die andern Kon¬
stituenten der Konkremente werden von
der uninfizierten, bloß gestauten Galle ge¬
liefert, die sie in ausreichender Menge ent¬
hält. Die in dieser Weise gebildeten „ra¬
diären Cholesterinsteine“ sind Solitär¬
konkremente mit den Kennzeichen fast rein
kristallinischer Genese und kristallinischen,
appositiven Wachstums. Sie werden be¬
schwerdelos getragen und nur dadurch ver¬
hängnisvoll, daß ihr bloßes Vorhandensein
oder vollends ihre gelegentliche Wirkung
als sog. Verschlußsteine das Auftreten des
entzündlichen Gallensteinleidens in hohem
Maße begünstigt. Die Folge dieser sekun¬
dären Infektion ist entweder der Hydrops
vesicae felleae oder aber häufiger die chro¬
nische, gewöhnlich rekurrierende Chole¬
zystitis mit Ausbildung multipler Pigment¬
kalkkonkretionen. Der Kalkgehalt der Steine
ist dabei direkt proportional dem Grade
und der Häufigkeit der sie produzierenden
Entzündungsschübe. Den klarsten Nachweis
eines (nicht infektiösen) Vorläuferstadiums
der chronischen Cholezystitis bilden jene
nicht seltenen Fälle, wo unter zahlreichen,
kalkreichen Steinen einer, und nur dieser,
als Einschluß einen Solitärkristall, den ra¬
diären Cholesterinstein, aufweist, für dessen
Albers-Schönberg, Röntgentechnik.
a j Aufrecht, Zur Pathologie und Therapie der
Arteriosklerose. Wien, Hölder, 1910.
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Juni
Die Therapie der Gegenwart 1910.
277
langsame, abakterielle Entstehung die Ver¬
fasser auf Grund zahlreicher Versuche ein-
treten. Den Schluß bildet eine Erörterung
der Ober die Bakteriologie des Gallenstein¬
leidens bekannten Tatsachen. — Das inhalt¬
reiche Buch wird für jeden, der Ober Patho¬
genese oder Klinik der Gallensteine arbeiten
will, unentbehrlich sein.
Meid ne r (Berlin).
E. Leser. »Die spezielle Chirurgie in
öOVorlesungen". Jena1909. G.Fischer;
ungeb. 26,50 Mk. 1418 Seiten mit 435 Ab¬
bildungen.
Das Buch hat in 19 Jahren 9 Auflagen
erlebt, was eine Empfehlung überflüssig
macht. Es hat die Absicht des Verfassers,
ein kurzgefaßtes Lehrbuch für Aerzte und
und Studierende vorzustellen, sehr gut er¬
füllt. Die neue Auflage ist der stetigen
Entwicklung der Chirurgie gerecht ge¬
worden. Zu den alten Freunden, nament¬
lich unter den Studierenden, wird das Buch
viele neue erwerben. Klink.
0. Sultan. Grundriß und Atlas der
speziellenChirurgie. ILTeil. München.
J. F. Lehmann. 1910. 16 Mk. 624 Seiten
mit 40 farbigen Tafeln und 261 Abbil¬
dungen.
Der vorliegende Band ist in der be¬
kannten Art der Lehmannschen Atlanten
abgefaßt und ausgestattet. Er ist, ebenso
wie der erste Band, das, was er sein will,
nämlich ein vorzüglicher Grundriß und
Atlas. Er umfaßt die Bauchorgane, Ge¬
schlechtsorgane und Extremitäten. Die Ab¬
bildungen sind sehr gut. Klink.
Louis Wickham und Degrais. Radium¬
therapie (Instrumentarium, Technik, Be¬
handlung von Krebsen, Keloiden, Naevi,
Lupus, Pruritus, Neurodermatiden, Ek¬
zemen, Verwendung in der Gynäkologie).
Autorisierte deutsche Ausgabe von Max
Winkler in Luzern mit Einführung von
Prof. Jadassohn. Mit 72 Textfiguren
und 20 mehrfarbigen Tafeln. Berlin bei
Julius Springer, 1910. 267 S.
ln diesem monumentalen Werk, das von
der Acad£mie de Mddecine de Paris preis¬
gekrönt ist, bringen die Autoren einen ein¬
gehenden Bericht ihrer mehrjährigen Stu¬
dien über die praktische Verwertbarkeit
des Radium in der Medizin. Durch Kon¬
struktion zweckentsprechender Apparate,
welche die Applikation des Radium unter
den verschiedensten Bedingungen leicht
und gut ermöglichen, durch Verwertung
geeigneter Filtrierapparate ist es ihnen ge¬
lungen, einerseits die schädigende Wirkung
der Substanz so auszuschalten und die
therapeutischen Effekte so zu dosieren, daß
jedenfalls nun durch die unermüdliche Ar¬
beit der Verfasser der Weg zum weiteren
Ausbau dieses immerhin aussichtsvollen und
zukunftsreichen Gebietes gebahnt ist In¬
wieweit die Indikationen, welche weite
Gebiete umgreifen, ganz der weiteren Er¬
fahrung Stand halten werden, ist nicht mit
voller Sicherheit zu sagen. Besonders gegen¬
über der Behandlung von Karzinomen (spe¬
ziell auch Lungenkrebs) dürfte eine gewisse
Vorsicht und Skepsis vielleicht nicht ganz
unangebracht sein. Der Inhalt des Buches
ist im übrigen in der Ueberschrift skizziert,
so daß mir nur noch zu erwähnen übrig
bleibt, daß durch ausgezeichnete Bilder die
theoretischen und praktischen Auseinander¬
setzungen aufs beste unterstützt werden.
Der weiteren unverzüglichenPr opagation und
Nachprüfung der Gedanken und Anregungen
der Verfasser steht ja leider bisher die
Kostspieligkeit und Seltenheit des Radium
im Wege. Sollte die weitere chemische
Forschung nach dieser Richtung Abhilfe
schaffen, so dürfte zweifellos das vorliegende
Werk, durch dessen Schöpfung sich Wick¬
ham und Degrais ein großes Verdienst
erworben haben, der Ausgangspunkt für
alle weiteren praktisch-medizinischen Ra¬
diumforschungen bilden. Buschke.
L. Philippson. Dermatologische Dia¬
gnostik. Anleitung zur klinischen Unter¬
suchung von Hautkrankheiten. Aus dem
Italienischen übersetzt von Fritz Julius¬
berg. Berlin bei Springer, 1910. 91 S.
In diesem kleinen Werk gibt der ver¬
diente Dermatologe in sehr klarer, leicht fa߬
licher und pädagogisch-geschickter Form
eine summarische und elementare Darstellung
der Hautsymptomatologie auf anatomischer
Basis, ferner die Entwicklung und Aetio-
logie der wichtigsten Dermatosen und gibt
den Weg an, wie man zu einer exakten
Diagnose gelangt. Ganz besonders für den
angehenden Dermatologen wird das Buch
ein guter Wegweiser sein und dazu bei¬
tragen, ihn zu einem denkenden Diagno¬
stiker zu machen, der von Augenblicks¬
und Zufallsdiagnosen nicht befriedigt wird.
Nach dieser Richtung sei das Buch aufs
angelegentlichste empfohlen. Buschke.
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278
Die Therapie der Gegenwart 1910.
Referate.
Dr. E. Fab er (Kopenhagen) macht darauf
aufmerksam, daß nach kalten Bädern
Albuminurie viel häufiger auftritt, als man
bisher wußte. Zwischen der Dauer des
Bades und dem Grade der Albuminurie
besteht keine direkte Beziehung. Die
Lordose nach Je hie ist nicht die Ursache
der Eiweißausscheidung, denn die Albumi¬
nurie tritt auch bei einfachem Untertauchen
oder Schwimmen auf dem Rocken ein. Die
Albuminurie wie die gleichzeitig oft beob¬
achtete Zylindurie erklärt Fab er als vaso¬
motorisches Phänomen. Das Allgemein¬
befinden ist bei Leuten, die kalte Bäder
regelmäßig nehmen, also oft zu Eiwei߬
ausscheidungen Gelegenheit haben, stets
dauernd ausgezeichnet und der Urin in
der Zwischenzeit stels normal, eine Schä¬
digung der Nieren kann also nicht statt¬
gefunden haben. Fab er erklärt die Al¬
buminurie nach kalten Bädern als das
prägnanteste Beispiel fOr eine nicht nephri-
tische vorübergehende Eiweißausscheidung,
von anderen Formen unterschieden durch
die oft großen Eiweißmengen und zahl¬
reichen Zylinder. Hauffe (Ebenhausen).
(Mon. f. phys.-diät. Heilmethode 1909. Bd. 12 )
Oberstabsarzt Dr.Schmiz (Saarbrücken)
berichtet einen Fall, wo er durch steile
BeckenhoeMagerung eine Blinddarmfistel
zum Verschluß gebracht hat. „Der Kot ist
bis zur Bauh in sehen Klappe in der Regel
dünnflüssig und kann durch geeignete Diät
leicht in dieser Form gehalten werden.
Bei steiler Beckenlagerung liegt der Blind¬
darm höher als die Einmündestelle des
Dünndarmes und der flüssige Kot muß,
seiner Schwere folgend, direkt abwärts
fließen und kann nicht durch die Blind¬
darmöffnung heraustreten." Dabei wird
die Nahrung an Menge und Wassergehalt
völlig ausgenutzt, die Wunde vom Kot
nicht berührt, der Verband bleibt sauber.
Referent kann der Aufforderung des Autors
zur größeren Ausnutzung der Lagerung
bei Kranken auf Grund zahlreicher eigener
Erfahrungen nur beistimmen.
Hauffe (Ebenhausen).
(Deutsche med. Wschr. 1910, Bd. 1.)
Zur Symptomatologie des spatischen
Darmverschlusses, der seit Heidenhain
in den letzten Jahren Gegenstand mehr¬
facher Unternehmungen geworden ist,
liefert Nordmann drei weitere Beiträge. —
Unter besonderen Umständen kann es
zu einem umschriebenen Spasmus der
Darmmuskulatur kommen, der bis zu
völliger Verlegung des Darmlumens führen
kann. Meistens entsteht der spastische
Ileus auf dem Boden eines nervösen
Grundleidens, insbesondere der Hysterie.
Die Erkennung der hysterischen Grund¬
lage bei diesem Leiden ist deshalb von
Wichtigkeit, weil die Prognose in diesen
Fällen eine günstige ist und die operative
Behandlung nicht in Frage kommen sollte.
Die erste Beobachtung Nordmanns
betrifft eine 25jährige Patientin, die auf
Grund der Anamnese und des Nerven-
status für eine schwere Hysterika gehalten
werden mußte. Einen Tag vor der Auf¬
nahme in das Krankenhaus stellten sich
heftige Schmerzen im Leibe und Diarrhöen
ein, worauf Stuhl und Flatus sistierten und
galliges Erbrechen erfolgte. Objektiv wurde
neben Fehlen des Korneal- und Rachen¬
reflexes und Hypästhesie an den Beinen,
Meteorismus und sichtbare Peristaltik fest¬
gestellt. Während das Allgemeinbefinden
nicht wesentlich gestört war, waren die
nächsten 4 Tage Stuhlgang und Flatus an¬
gehalten, während häufig galliges Erbrechen
erfolgte. Unter heißen Packungen und
Morphium erfolgte glatte Heilung.
In dem zweiten Falle, der ein ähnliches,
wenn auch schwereres Krankheitsbild dar¬
bot, wurde die Diagnose auf hysterisch
spastischen Darmverschluß wegen der Be¬
drohlichkeit der Erscheinungen namentlich,
mit Rücksicht auf eingetretenes Kotbrechen,
nicht gestellt und die Laparotomie gemacht.
Es fand sich von der Mitte der Kolon
aszendens eine spastische Kontraktur des
ganzen Dickdarms bis in das kleine Becken
hinein. Da auf Druck auf das Zökum Gas
in den kontrahierten Darmteil übertrat,
wurde von der Anlegung eines künstlichen
Afters Abstand genommen. In den nächsten
10 Tagen erfolgte täglich kotiges Erbrechen,
ohne daß das Allgemeinbefinden wesentlich
litt. Auch dieser Fall ging in Heilung aus.
Da nach der Operation bei der Patientin
Anästhesien von hysterischem Charakter
nachweisbar waren, nimmt Nordmann
auch hier einen auf Hysterie beruhenden
spastischen Ileus an.
Unklarer lagen die Verhältnisse bei
einer dritten Patientin, die eine 69jährige
robuste Frau war und keinerlei Zeichen
der Hysterie darbot. Die Patientin er¬
krankte plötzlich mit heftigen Schmerzen
in der rechten Bauchseite und Erbrechen,
während Stuhlgang und Flatus völlig
sistierten. Bei der Operation wurde im
untersten Teile des Ileum eine 10 cm lange
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Juni
279
Die Therapie der Gegenwart 1910.
Kontraktionsstelle von Bleistiftdicke ge¬
funden.
Oberhalb der Stenose wurde eine
Schrägfistel angelegt, um den Darminhalt
nach außen abzuleiten. Nach 24 Stunden
erfolgte der Tod. Die Autopsie ergab
keinerlei Anhaltspunkte für das Zustande«
kommen des spastischen Darmverschlusses.
Verfasser faßt seine Ausführungen in fol¬
gende Schlußsätze zusammen:
Durch einen Spasmus in der Muskulatur
eines Darmabschnittes kann ein Darmver¬
schluß entstehen. Die Ursache des Krampfes
liegt zuweilen in einer allgemeinen Nerven¬
erkrankung, besonders in der Hysterie. Es
gibt Fälle, in denen die sorgfältigste Unter¬
suchung des Kranken ergebnislos bleibt
und die Autopsie bei der Operation und
die Sektion keinen Aufschluß über das
Wesen des Spasmus bringt. Auch wenn
der Verdacht auf einen Darmverschluß
durch einen Krampf in der Muskulatur be¬
rechtigt ist, muß der Kranke unverzüglich
dem Krankenhaus überwiesen werden.
Die Therapie kann beim Vorliegen eines
nervösen Grundleidens konservativ sein,
solange das Allgemeinbefinden des Pa¬
tienten gut bleibt. Wenn es sich ver¬
schlechtert, ist die Enterostomie zur Ent¬
leerung der geblähten Schlingen indiziert,
um der Sterkorämie vorzubeugen. Die
Prognose des Eingriffs ist bei einem nicht
paralytischen Darm gut, besonders wenn
ein Nervenleiden die Ursache des Spasmus
ist. Sie ist schlecht, wenn die Darmläh¬
mung, die anscheinend häufig mit dem
Spasmus vergesellschaftet ist, nicht zu
überwinden ist
Referent sieht sich veranlaßt, darauf
hinzuweisen, daß die Unterscheidung zwi¬
schen hysterischem und spastischem Darm¬
verschluß, wie sie auch in der Ueberschrift
der Nordmannschen Arbeit zum Ausdruck
kommt, geeignet ist, falsche Vorstellungen
über den Mechanismus des betreffenden
Leidens zu erwecken. Hysterischer und
spastischer Darmverschluß sind keine Gegen¬
sätze, sondern nur in ätiologischer Hin¬
sicht verschieden. In beiden Fällen handelt
es sich um eine auf Spasmus der Darm-
muskularis beruhende Einengung bezie¬
hungsweise Verlegung des Darmlumens.
Es wäre demgemäß richtiger, von hyste¬
risch spastischem und einfach spastischem
Darmverschluß zu reden.
Leo Jacobsohn (Charlottenburg).
(Deutsch, med. Woch. Nr. 10.)
Die neueren Gesichtspunkte bei Ent¬
fettungskuren werden von G. v. Berg¬
mann m einem ausführlichen Aufsatz kri¬
tisch beleuchtet. DieEinteilung der Fälle von
Fettsucht nach ätiologischen Momenten,
das heißt in konstitutionelle und nicht kon¬
stitutionelle, darf nicht auf die Spitze ge¬
trieben werden. Zwar gibt es zweifellos
Menschen, die ständig oder zu Zeiten einen
ganz wesentlich niedrigeren Umsatz haben
als andere, doch bleibt dieses geringe
Umsatzniveau stets nur ein disponierendes
Moment unter mancherlei anderen und
kann durch kleinere oder größere Nahrungs¬
aufnahme und Muskelarbeit ausgeglichen
oder unterstützt werden. Eine solche Dis¬
position wird man als Hypofunktion der
Schilddrüse nur in Fällen ansprechen
dürfen, die sich klinisch auch sonst als
Formes frustes von Myxoedem manifestieren;
durch bloße Angaben der Patienten ohne
ausgedehnte Stoffwechselversuche gelangt
man jedenfalls nicht zur Aussonderung
dieser Kategorie disponierter Menschen.
Das ist auch für die Feststellung des rein
klinischen Begriffes der konstitutionellen
Fettsucht kaum von Belang. Unter ihn
fallen mehr die durch Behäbigkeit und
dabei gesteigerte Appetenz gerade für
Mehlspeisen und Fette zur Fettsucht prä¬
destinierten Individuen; eine solche Wesens¬
art erbt sich fraglos in ganzen Familien fort.
Die Prinzipien jeder Entfettungskur sind
Herabsetzung der Zufuhr unter Wahrung
des Sättigungsgefühls und Erhöhung des
Verbrauchs. Bei der Nahrungsbeschrän¬
kung soll mit der Eiweißzufuhr nicht unter
100—120 g pro die herabgegangen werden.
Allerdings sind in letzter Zeit, besonders
von Moritz und Lenhartz, Kuren mit
weit stärkerer Herabsetzung der Eiwei߬
mengen empfohlen worden. Solange hier¬
bei, vor allem durch die eiweißsparende
Wirkung von Muskelarbeit und reichlicher
Kohlehydratzufuhr, eine erhebliche Eiwei߬
schmelze vermieden wird, kann man, be¬
sonders bei den Kreislaufkomplikationen
der Fetten, auch davon Gutes sehn.
Immerhin ist die Gefahr größerer Eiwei߬
verluste nicht gerade gering zu veran¬
schlagen, wie man sich in der Therapie
des Magengeschwürs nach dem Vorgänge
von Lenhartz jetzt ja auch mehr und
mehr von der Unter- zur Ueberernährung
wendet Weit unbedenklicher und dabei
kaum weniger wirksam als die zu aus¬
giebige Beschränkung der Eiweißzufuhr
sind die von Boas eingeführten Karenz¬
tage.
Bei allmählichen Entfettungskuren ist
eine übergroße Eiweißarmut der Nahrung
noch weniger empfehlenswert als bei
strengen. Bei diesem milderen Verfahren
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280
Die Therapie der Gegenwart 1910,
Juni
spielt nach Rosenfelds und Richters
Beispiel die Kartoffel als kalorienarm,
sättigend und eiweißsparend eine große
Rolle. Variationen der Flüssigkeitszufuhr
haben wenig Wert, Mineralwasserkuren
höchstens mittelbaren durch schlechtere
Ausnutzung der Nahrung infolge schnellerer
Darmpassage.
Zur Verbrauchserhöhung leisten Muskel¬
übungen, Gehen, Reiten und Massage bloß
wenig; nur angestrengte Arbeit läßt mehr
erhoffen. Hydrotherapeutische Maßnahmen
mögen später einmal zur Erzielung direkter
Fettverluste wichtig werden; zurzeit haben
im Sinne erhöhten Verbrauchs durch
Wärmeentziehung nur halb protrahierte
Bäder in allen möglichen Kombinationen
eine gewisse Bedeutung. Mehr ist bei
herzgesunden, auch mastfettsüchtigen Pa¬
tienten von einer vorsichtigen, protrahierten
Schilddrüsenmedikation zu erwarten. Man
wird dabei auf besonders reichliche Eiwei߬
gaben Bedacht nehmen, obwohl die Um¬
satzsteigerung genau so gut auf Kosten
der Fette und Kohlehydrate wie des Ei¬
weißes geschieht. Meißner (Berlin)
(Bcrl. klin. Woch. 1910, Nr. 14.)
Die Fersenneur&lgie oder Achillodynie
macht der Altmeister der Chirurgie, Prof.
Fr. König, zum Gegenstand einer aus¬
führlichen Besprechung. Sie ist kein sehr
häufiges Leiden, schädigt aber ihre Träger,
meist junge Leute, sehr erheblich in ihrer
Leistungsfähigkeit. K. bringt die Krank¬
heitsgeschichten von 8 operierten Fällen
mit 12 von Neuralgie befallenen Füßen.
Viermal wurden als Ursache entzündete
Schleimbeutel allein, 4 mal daneben Ab¬
normitäten am Knochen und 4 mal schlie߬
lich bloß drückende Knochenkörper ge¬
funden, von denen 2 traumatisch entstanden
waren, 2 hingegen epiphysäre Exostosen
darstellten. Schleimbeutel, welche als an¬
nähernd konstante anatomische Bildungen
für die vorliegende Frage in Betracht kom¬
men, gibt es nur zwei: die Bursa mucosa
achilleo-calcanea an der Insertionsstelle der
Achillessehne zwischen ihr und der hinteren,
oberen Fläche des Process. post, calc., in
der die Sehne des Muse, plant, inseriert,
und die Bursa mucosa subcalcanea zwischen
dem Sohlenfett und dem prominentesten
Teile des Calcaneus, an deren vorderen
Seite ein Zweig der Rami calc. med. des
Nerv, tibial. vorbeiläuft. Den Anlaß zur
Entzündung dieser Schleimbeutel geben
chronische F ußbekleid ungstraumen, die
ihrerseits auch an anderen als den beiden
typischen Stellen Schleimbeutel überhaupt
erst zur Entwickelung bringen können, und
besonders Infektionen, Vor allem die Gonor¬
rhöe. Vom Knochen aus führen zur Ent¬
stehung neuralgischer Beschwerden an¬
geborene Verbildungen, Traumen und
wiederum Infektionen, zumal gonorrhoische,
indem sie auf dem Wege infektiöser
Reizung des Periosts Knochenproduktion
hervorrufen. Der sog. Calkaneussporn,
der in der Richtung der Plantaraponeurose
und durch sie ausgezogene Process. med.
tuberosit calc., kann, da er parallel der
Sohlenfläche verläuft, gleichfalls erst nach
Trauma oder Inf ektion benachbarter Schleim¬
beutel im Zustande einer infektiösen Osteo¬
periostitis beschwerlich fallen. Schleim -
beutelerkrankungen, besonders gonorrhoi¬
sche, werden mit äußerlicher Applikation
von Jodtinktur erfolgreich behandelt; bessere
Garantie für Dauerheilung gewährt ihre
gründliche, operative Zerstörung. Sind
Knochenauswüchse am Sohlenteil der Ferse
vorhanden, so bedient man sich mit Vor¬
teil des Sarazinschen Gummiluftkissens;
im übrigen operiert man, rezidivfrei jedoch
nur bei ausgiebiger Entfernung des Periosts.
Meißner (Berlin).
(Deutsche med. Woch. 1910, Nr. 13.)
Das gewaltsame kurze in einem Akt
ausgeführte Redressement des Pottschen
Buckels nach Calot ist wegen seiner
großen Gefährlichkeit längst allgemein ver¬
lassen worden. Wo es sich darum handelt,
einen zur Ausbildung gekommenen GibbtUS
wieder auszugleichen, kommt nur das
allmähliche Redressement in Frage.
B. Lange (Straßburg) verwendet zunächst
für die Dauer von 1—1V 2 Jahren ein nach
dem Gipsmodell hergestelltes Reklinations¬
bett. Läßt das Röntgenbild einen Knochen¬
sequester erkennen, so muß die Horizontal*
läge noch länger innegehalten werden. In
der zweiten Periode der Behandlung legt
Lange bei ganz leichter Suspension einen
mit Filz gepolsterten Reklinationsgipsver¬
band an. Ein Ausschnitt über dem Gibbus
ermöglicht langsam steigende Korrektur
mittels Wattepolster. Durch Einklemmen
von Korkstückchen in horizontale durch
den Gipsverband gelegte Sägeschnitte wird
das Resultat festgehalten. Die Korrektur
des Buckels im gefensterten Gipsverband
soll in 1—1 Va Jahren erreicht werden.
Dann folgt die Behandlung mit abnehm¬
barem Reklinationskorsett, das das Resultat
festhält und durch ein über dem Gibbus
angebrachtes Fenster mittels einlegbarer
Wattepolster noch eine letzte Korrektur
ermöglicht Nach Verlauf eines weiteren
Jahres erhält der Patient tagsüber einen
leichten Geradehalter mit mäßiger Rekli-
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Juni
Die Therapie der Gegenwart 1910.
281
nation, für die Nacht ein kurzes Gipsbett
mit Filzpölsterung. Senkungsabszesse wer¬
den in der üblichen Weise mit Punktion
und Jodoformglyzerininjektionen behandelt
Lähmungen der Beine hat Lange durch
Lagerung im Reklinationsgipsbett zurück¬
gehen sehen. Bergemann (Königsberg).
(Deutsche Zeitschr. f. orthopäd. Chir. Bd. 25,
S. 292.)
Schanz gibt eine Modifikation zu der
bisher als Normalverfahren geltenden un¬
blutigen Einrenkung der angeborenen
Hüftgelenkluxation nach Lorenz. An
der gesunden Seite des Kindes stehend
fixiert er mit der einen Hand die Sym¬
physe, mit der anderen faßt er das luxierte
Bein in der Kniekehle und beugt es so
weit, daß der Oberschenkel auf die Bauch¬
wand des Kindes zu liegen kommt. Dann
adduziert er ihn, bis das Femur in der
Richtung auf den Nabel steht In dieser
Richtung wird mit einem intensiven Ruck
unter gleichzeitiger Innenrotation ein Zug
ausgeübt, wodurch der Kopf in die Pfanne
hineingelangt. Unter fortdauerndem Zug
wird das Bein dann in rechtwinklige Abduk¬
tionsstellung gebracht, in der es durch
einen sofort angelegten Gipsverband er¬
halten wird; dieser umgreift den Rumpf
bis an die Brustwarzen und reicht bis unter
das Knie. Nach einer Woche wird er zur
Kontrolle der Stellung gewechselt, nach
6 Wochen durch die von HOftmann an¬
gegebene Bandage ersetzt, die nur die ge¬
fährlichen Bewegungen verhindern soll.
Nach 1—4 Monaten wird auch diese fort¬
gelassen.
Schanz läßt die Kinder weder im Ver¬
band noch in der Bandage umhergehen
und sucht auch nachher den Beginn des
Laufens möglichst hinauszuschieben; er
vermeidet jede passive Korrektur und
gymnastische Uebung der Muskulatur, weil
dadurch die Reposition gefährdet und
andererseits einer nachträglichen Defor¬
mierung des Hüftgelenks der Weg bereitet
werde.
Schanz hat von dieser Behandlung die
günstigsten Erfolge gesehen; als wesent¬
lichen Unterschied zwischen seinem Hand¬
griff und dem Lorenzschen hebt er her¬
vor, daß bei ihm die Dehnung der Kapsel¬
wand nur soweit erfolge, als für die Re¬
tention des Kopfes in der Pfanne nötig
sei. Damit werde die Ueberdehnung des
vorderen Kapselabschnittes und ihre Folgen,
Transposition und vordere Reluxation, ver¬
mieden.
Von gleichen Gesichtspunkten aus¬
gehend, sieht F. Lange (München) die
Hauptaufgabe der Verbandperiode darin,
die überschüssige Kopfhaube der Kapsel
nach Möglichkeit zu verkürzen, damit sie
dem andrängenden Kopf Widerstand leisten
kann. Diesem Bestreben wirken die ge¬
bräuchlichen Primärstellungen, namentlich
die meist geübte der rechtwinkligen Ab¬
duktion, direkt entgegen, da sie die Span¬
nung des Kapselschlauches erheblich er¬
höhen. Lange empfiehlt deshalb, das re-
ponierte Bein in Streckstellung bei starker
Innenrotation und einer Abduktion von
120—130° einzugipsen. Hierbei seien die
Bedingungen für die erwünschte Kapsel¬
schrumpfung die denkbar besten.
Nach dem Vorgang von Schede sieht
Reiner in der pathologischen Antetorsion
des Schenkelkopfes die Hauptursache für
die häufigen Reluxationen. Bei höherem
Grade der Antetorsion (bei 2jährigen über
90®, bei 4jährigen über 60—65°) hält er
deshalb die operative präliminäre Detor-
quierung für erforderlich. Er frakturiert
das Femur in der Mitte mittels des Lorenz¬
schen Osteoklastredressements und gipst
das Bein bei starker Auswärtsrotation des
distalen Fragmentes ein. Der Verband
bleibt 7 Wochen liegen, nach weiteren
7 Wochen wird erst die Reposition vor¬
genommen.
In den Fällen, bei denen auf unblutigem
Wege die Reposition nicht erreicht werden
kann,ist die Operation berechtigt. Deutsch¬
länder hat die blutige Reposition nach
dem Vorschläge von Ludloff in horizon¬
taler Abduktion ausgeftlhrt. Er geht von
einem Querschnitt in der Genitokrural-
furche aus und dringt hart am Becken¬
skelett auf die Incisura acetabuli vor, wo¬
nach die untere Gelenkkapsel über der
Luxationspfanne quer gespalten wird. Nach
der Reposition fixiert Deutschländer das
Gelenk bei Abduktion von etwa 45° nur
auf 3—4 Wochen; 1 Woche darauf beginnt
er schon mit Massage und Stehübungen.
Bergemann (Königsberg).
(Deutsche Zeitschr. f. orthopäd. Chir. Bd. 25,
S. 94, 164, 218, 775.)
Bei der konservativen Behandlung der
tuberkulösen Koxitis wird von der Mehr¬
zahl der Chirurgen und Orthopäden Fixa¬
tion und Entlastung des erkrankten Ge¬
lenkes durch einen das ganze Bein ein¬
schließenden Gips verband erstrebt. Fehler¬
hafte Stellung in Adduktion und Innen¬
rotation wird zunächst durch einen Streck¬
verband ausgeglichen, das Bein in leichter
Adduktion und Außenrotation eingegipst
Diese Grundsätze hat Lorenz seit einigen
Jahren verlassen. Er wirft der geschilderten
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Die Therapie der Gegenwart 1910.
Jun
Methode vor, daß sie ein end- und nutz¬
loser Kampf gegen die Adduktionsstellung
sei, daß die oftmalige Wiederholung der
Stellungskorrektur die Empfindlichkeit des
Gelenkes erhöhe und daß sie dem ihm
allein richtig erscheinenden Endziel, der
Ankylosenbildung durch eine möglichst
feste Verwachsung, entgegen wirke. Wichtig
erscheint ihm nur die vollständige Ruhig¬
stellung des Gelenkes, während er an
Stelle der Extension die Belastung des
fixierten Gelenkes treten läßt. Nur bei
Empfindlichkeit gegen Belastung wird das
Gelenk, nötigenfalls durch Suspension des
Beines, entlastet. Werden die Schmerzen
durch einen intraartikulären Abszeß ver¬
ursacht, so wird er punktiert. Die Patienten
erhalten einen vom Becken bis dicht Ober das
Knie reichenden exakt anliegenden Gips¬
verband, dem bei der geringsten Empfind¬
lichkeit des Gelenkes eine Unterschenkel¬
halse als Ersatz des Gehbügels angefügt
wird. Der Verband bleibt möglichst lange,
gelegentlich über U /2 Jahre liegen. Wäh¬
rend der Dauer des eigentlichen Krank¬
heitsprozesses wird die Stellung niemals
korrigiert, es sei denn, daß sie ein Herum¬
gehen überhaupt nicht zuläßt, ln diesem
Falle wird das Bein in Narkose ohne Ge¬
waltanwendung bis zur Mittelstellung ge¬
bracht. Erst nach Ablauf der Krankheit
wird die Adduktion und Innenrotation
durch die intertrochantere Osteotomia
femoris beseitigt.
Von dieser Behandlungsmethode, die
zum obersten Grundsatz die Vermeidung
von Schmerzen habe, hat Lorenz die
günstigsten Heilerfolge gesehen.
Sehr schroff abgelehnt wird die Lorenz-
sche Behandlungsweise von Vulpius, der
namentlich auf die mangelhafte Fixation
des Gelenkes in dem kurzen Gipsverband
und auf die Gefahren der Belastung hin¬
weist.
Auch Heusner kann sich aus ähnlichen
Gründen mit den kurzen Gipsverbänden
nach Lorenz nicht befreunden. Er nimmt
die Stellungskorrektur im Anfang der Be¬
handlung in tiefer Narkose auf dem Ex¬
tensionstisch vor. Bei starkem Widerstande
geht er in Etappen vor und hat Nachteile
dieses Redressements niemals gesehen.
Bei der Weiterbehandlung wendet er lange
Fixationsverbände an, die nach oben bis
an die Brustwarzen reichen, unten durch
einen Bügel abgeschlossen sind. Als
Material nimmt er für die innerste Schicht
weichen Filz, der mit Harz fest an die
Haut geklebt wird. Darauf folgen Stärke¬
binden, in die Aluminiumschienen neben
Stuhlflechtwerk und Schusterspan einge¬
legt werden. Bergemann (Königsberg).
(Deutsche Zeitschr. f. orthopid. Chir. Bd. 24,
S. 513, Bd. 25, S. 6, Bd. 26, S. 386.)
Aus der Braun sehen Abteilung in
Zwickau macht Peuckert wieder Mit¬
teilungen über die Lokalanästhesie und
Suprareninanämie,die beweisen,wie der
Geübte mit dieser höchst einfachen Me¬
thode erstaunliches leisten kann. Ohne
Suprareninzusatz ist die Lokalanästhesie un¬
denkbar. Aber auch ohne Anästhetikum wird
die Suprareninanämie reichlich mit bestem
Erfolg angewandt, während der Kranke
narkotisiert ist. Bei Schädeloperationen
erhält man durch zirkuläre, bezw. in der
Schläfen-, Supraorbital- und Hinterhaupt¬
gegend intermuskuläre Umspritzung des
ganzen Operationsfeldes mit sehr dünner
Suprareninlösung eine vortreffliche Anämie
des Schädeldaches. Die blutigen Opera¬
tionen an der Nase und ihren Nebenhöhlen,
die Ober- und Unterkieferresektionen, die
Resektionen oder Exzisionen der Zunge,
die Operationen im Mund und Alveolar¬
fortsatz sind geradezu spielend ausführbar
und gewinnen ein ganz anderes Aussehen.
Die Injektionstechnik ist dieselbe wie zur
Lokalanästhesie. Dabei sind auch die
kleinsten Gefäße zu unterbinden und eine
sorgfältige Naht auszuführen oder fest zu
tamponieren, dann erlebt man keine Nach¬
blutungen. Die Anämie dauert IV 2 bis
2 Stunden, meist länger. Die käufliche
0,1 %ige Suprareninlösung verwendet
Braun selten, z. B. bei Thierschschen
Transplantationen; oder zu subkutanen
oder intravenösen Injektionen bei Kollaps.
Im übrigen nimmt er, auch zur einfachen
Anämisierung, die Novokain-Suprarenin-
tabletten Höchst, die fast unbeschränkt
haltbar sind. Eine Tablette A wird in
25 ccm Kochsalzlösung gelöst und enthält
0,00016 Suprarenin. boric.; von dieser Lö¬
sung können 150 ccm ohne Schaden ein¬
gespritzt werden, also 0,00096 Suprarenin,
während die Maximaldose 0,0005 beträgt
Die Giftigkeit des Novokain ist sehr ge¬
ring — bis zu 0,75 kann man schadlos in¬
jizieren — so daß man das Novokain der
Tabletten nicht zu berücksichtigen braucht
bei der Anämisierung. Der Kochsalzlösung
zur Auflösung der Tabletten ist auf 1 1
2 Tropfen Acid. mur. dilut. zuzusetzen, dann
kann die fertige Lösung beliebig lange ge¬
kocht oder in Dampf sterilisiert werden.
Es geschieht dies wegen der Zersetzung
des Suprarenins durch Spuren von Alkali.
Homorenon hat sich nicht bewährt; das
neuerdings synthetisch hergestellte L-Supra-
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Die Therapie der Gegenwart 1910.
283
renin-Höchst scheint ebenso gut zu wirken,
wie das Organpräparat. Braun benutzt
zur Anästhesierung zwei Lösungen: Eine
Tablette A wird in 25 ccm aufgelöst:
V 2 °/oige Novokainlösung; eine Tablette A
wird in 10 ccm aufgelöst: etwas mehr als
1 °/oige Novokainlösung. Die V 2 %ige Lö¬
sung wird gewöhnlich benutzt, die 1°/oige
nur, wenn die Leitungsunterbrechung
großer Nervenstämme erstrebt wird. — Für
Schädeleröffnungen empfiehlt Braun all¬
gemeine Narkose mit lokaler Suprarenin-
anämie. Empyem der Stirnhöhle und Sieb¬
beinzellen operiert Braun nur noch in
Lokalanästhesie. Sehr gut gelingt die
Unterbrechung des N. maxillaris in der
FlQgelgaumengrube mit 1 %iger Lösung.
Sehr erleichtert wird die Oberkieferexstir¬
pation durch die Lokalanästhesie. All¬
gemeinnarkose wird hier nur nötig, wenn
die Grenzen der Neubildung nach der
Flügelgaumen- und Schläfengrube nicht
mehr sicher zu bestimmen sind. Exzision
eines Stückes Zunge nach querer Wangen¬
spaltung wird zu einem überaus einfachen
Eingriff. Klink.
(v. Bruns Beitr. z. klin. Chir. Bd. 66, H. 2.)
Die konservative Behandlung der Pa-
tell&rfrakturen bringt nicht immer sichere
Heilung, es bleibt oft eine Schwäche des
verletzten Beines und Unsicherheit beim
Gehen zurück; hierdurch kann es leicht zu
einer Refraktur kommen. Baum empfiehlt
deshalb in seiner Arbeit »Zur Technik und
Nachbehandlung der Patellarnaht* das
operative Vorgehen und er rät, bei der
Patellarnaht nach der Methode von Kausch
zu verfahren, d. h. das operierte Knie pri¬
mär in Beugestellung zu fixieren. Da¬
durch wird leicht und rasch ein befriedi¬
gendes funktionelles Resultat erzielt, das
sich früher beim Verbinden des Beines in
Strecksteilung nur mit grofier Mühe er¬
reichen ließ. Nachdem das Gelenk durch
unteren Bogenschnitt eröffnet ist, werden
die Knochenränder der Patella sorgfältig
von Blutgerinnsel und interponierten Ge*
websfetzen befreit und durch zwei Silber¬
oder Aluminiumbronzedrahtnähte vereinigt,
der zerrissene Bandapparat wird mit Seide
genäht Bei offener Wunde wird unter
Fixation und, wenn nötig, leichtem Herab¬
ziehen des oberen Fragmentes das Gelenk
in einen Winkel von 135o gestellt; in dieser
Stellung nach der Haut naht und Anlegung
eines Kompressionsverbandes in gebogener
Kram er scher Schiene fixiert. Am sechsten
Tage wird nach Abnahme des Verbandes
das Bein passiv bis zur Geraden gestreckt.
die Beugestellung um 200 vermehrt. Dann
wird das Bein in einer von einem eisernen
Bügel herabhängenden Lasche aufgehängt,
die Beugung durch tägliches Höherziehen
der Lasche gesteigert; mehrere Male am
Tage wird das Bein passiv gestreckt Am
14. Tage wird mit aktiven Streckversuchen
begonnen. Auffallend bei diesem Verfahren
ist die geringe Schmerzhaftigkeit der ersten
passiven Bewegungen. Die Patienten sollen
nicht zu früh auf stehen, damit die aktiven
Bewegungen sich unter Aufsicht des Arztes
energischer durchführen lassen. Eine
mediko-mechanische Nachbehandlung frisch
genähter Patellarfrakturen empfiehlt sich
nicht, da, wie Baum in zwei Fällen beob¬
achten konnte, Refrakturen durch diese
Behandlung eintreten können. Der Kranken¬
hausaufenthalt wird durch dies Verfahren
abgekürzt und, wie schon gesagt, ist die
zu erreichende Funktionsfähigkeit des
Knies eine vorzügliche gegenüber den
Fällen, die nach der alten Methode behan¬
delt wurden. Hervorzuheben ist noch, daß
bei der primären Beugung des Knies die
Knochen genäht werden müssen, eine
Periostnaht reicht nicht aus, sie kann bei
der Beugung zu leicht auseinanderreißen.
Baum erwähnt noch, daß an der Kieler
Klinik auch bei Olekranonfrakturen die
Beugefixation nach der Naht mit gutem
Erfolge angewendet wird.
Hohmeier (Altona).
(Deutsche Ztschr. f. Chir. Bd. 104, H. 3—4.)
In einer eingehenden Abhandlung über
den Plattfuß (Pes valgus und valgoplanus)
legt Bardenheuer den Hauptwert auf die
gymnastische funktionelle Behandlung der
Fußmuskeln. Sie besteht zunächst in me¬
thodischen Bewegungsübungen, verbunden
mit Massage der plantaren Muskeln. Die
Uebungen sollen exakt militärisch ausge¬
führt werden, eine Belastung des Herzens
durch Ueberanstrengung darf nicht statt¬
finden. Daneben ist von außerordentlicher
Wichtigkeit, daß bei der Fußbekleidung
jede funktions- und zirkulationshemmende
Einengung vermieden wird. Barden-
heuer empfiehlt sehr das Tragen von San¬
dalen, soweit es der Beruf zuläßt. Beim
Gehen ist die Abduktionsstellung der Füße
schädlich; hygienisch zweckmäßig ist der
Großzehengang, beim Aufsetzen des Fußes
soll nicht die Ferse, sondern der Zehen¬
ballen den Boden zuerst berühren. Bei
Kindern ist darauf zu halten, daß die Be¬
lastung der Füße nicht zu früh stattfindet.
Beim Erwachsenen soll für richtigen
Wechsel zwischen Arbeit und Erholung
der Fußmuskulatur gesorgt werden, ebenso
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Die Therapie der Gegenwart 1910.
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für Wechsel zwischen Retraktions- und
Dehnungszustand.
Ohne diese funktionelle Behandlung soll
die orthopädisch mechanische niemals allein
vorgenommen werden. Letztere ist selbst
nur entbehrlich beim beschwerdefreien
stationären Plattfuß. Die Plattfußeinlagen
dürfen die Gefäße und Nerven in der plan¬
taren Exkavation nicht drücken; das Talona-
vikulargelenk muß frei liegen. Die Unter¬
stützung muß an den widerstandsfähigsten
Abschnitten des Fußes, an der Basis und
nicht an der Spitze der Wölbung an¬
greifen. Hinten muß der Kalkaneus, na¬
mentlich das Sustentaculum tali, vorne
müssen die Metatarsalköpfchen gestützt
werden. Auf Weite des Vorderschuhes,
auf eine adduzierte Form der Sohle muß
gehalten werden, ln der Sohle soll sich
eine Vertiefung für die Ferse finden.
Das Brisement forc£ soll beim anky-
lotischen Pes valgo-planus vorgenommen
werden, wenn die Funktion stark behindert
ist, wenn große Plattfußbeschwerden be¬
stehen und einige Beweglichkeit in den
Tarsalgelenken vorhanden ist. Zur Aus¬
führung dienen maschinelle Apparate, emp¬
fohlen wird besonders der von Schultze-
Duisburg. Neben dem Brisement wird die
Tenotomie der Achillessehne ausgeführt.
Der nach der Korrektur angelegte Gips¬
verband wird von Barden heu er nach
5—6 Tagen entfernt, danach ein Exten¬
sionsverband angelegt, der für Supination
und Exkavation des Mittelfußes sorgt. In
diesem Verband muß der Patient funktionelle
Uebungen ausführen; nach 14—20 Tagen
wird die Extension fortgelassen, bestimmte
Uebungen bei Bettruhe fortgesetzt.
Beim entzündlichen Plattfuß beseitigt
Bardenheuer zunächst durch feuchte Um¬
schläge den Muskelspasmus und leitet dann
eine gymnastisch - orthopädische Behand¬
lung ein.
Die operative Behandlung der Muskel¬
verkürzung oder -Verpflanzung kommt beim
Plattfuß nur in Frage, wenn die funktionelle
Methode im Stich gelassen hat, wenn die
Beschwerden sehr groß sind und der pes
valgo-planus nicht absolut fixiert ist. Viel
darf von diesen operativen Eingriffen nicht
erwartet werden, da nicht nur einer, sondern
alle Muskeln des Fußes und des Unter¬
schenkels an der Erschlaffung beteiligt sind.
Von den operativen Behandlungs¬
methoden am Knochen kommt nur die
Trendel enburgsche supramalleoläre
Osteotomie und die Gleichsche Operation
in Betracht Erstere verwendet Barden-
heuer aber nur beim traumatischen Pes
planus post fracturam. Von der Gleich-
sehen Operation, der Verschiebung des ab¬
gemeißelten Processus calcaneus posterior
nach innen und oben hat Bardenheuer
in 2 Fällen einen guten Erfolg gesehen.
Als Plattfußeinlagen empfiehlt Höft¬
mann Korksohlen. Sie werden in Dicke
von 4 mm auf dem Gipsmodell gewalkt,
die Höhlung des Fußes wird mit einem
Korkstück ausgefüllt. Entsprechend den
druckempfindlichen Stellen des Fußes wird
in die Korkschicht eine Polsterung mit
Schwammgummi eingeführt. Zur Erhöhung
der Widerstandsfähigkeit werden diese
Sohlen mit Azetonzelluloidlösung durch¬
tränkt, mit einer dünnen Stahlfederunter-
lage versehen und mit Leinwand oder Leder
bezogen.
Krukenberg hat zur Heilung des Platt¬
fußes unter der Mitte eines gewöhnlichen
Schnürstiefels einen steigbügelähnlichen
Fortsatz angebracht. Er geht hierbei von
der Ueberlegung aus, daß die Belastungs¬
verhältnisse für den Fuß am günstigsten
sind, wenn er entweder nach vorn oder
nach hinten geneigt steht, und wenn gleich¬
zeitig die Körperlast nach vorn oder hinten
von der Mitte des Fußes geworfen wird.
Von ähnlichen Gesichtspunkten werden von
Krukenberg Vorrichtungen angegeben,
die Schwerkraft so umzusetzen, daß bei
jedem Schritt der Fuß beliebig in Klump¬
fuß- oder Plattfußstellung herübergehebelt
wird. Bergemann (Königsberg).
(D. Zeitschr. f. orthopfld. Chir., Bd. 25, S. 1,27,268.)
Zur Skollosenbehandlung empfiehlt
Krukenberg einen Apparat, der gleich¬
falls auf dem Prinzip der Verschiebung der
Schwerlinie beruht. Pelotten auf Brust-
und Lendenausbiegung werden unterein¬
ander verbunden und mit seitlichen Hebel¬
armen versehen, deren oberer durch einen
Gurt um den Hals eine weitere Befestigung
erhält. Gewichte an den Querstangen
sollen nach den Parallelogrammen der
Kräfte an den Pelotten angreifen und die
Schwerkraft beliebig nach rechts und links
ablenken. Krukenberg verwirft das
Stützkorsett wegen seiner bekannten schäd¬
lichen Einwirkung auf die Rückenmusku¬
latur. Zum Ersatz dafür dürfte sein Appa¬
rat aber kaum als portative Vorrichtung
in Betracht kommen.
Zur Mobilisierung der skoliotischen Wir¬
belsäule wendet Krukenberg die Heißluft¬
behandlung an, mit der gleichzeitig passive
Dehnungen der über Gurten schwebenden
Wirbelsäule einhergehen.
Das von Wahl bei fixierter Skoliose
benutzte Reklinationsbett besteht aus einem
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Juni
Die Therapie der Gegenwart 1910.
285
gepolsterten Brett mit 2—3 eingebauten
seitlichen Schiebern; durch kräftige Stahl¬
federn können letztere einen erheblichen
Druck auf den Thorax ausQben. Die
Patienten verbleiben in dem Bett die ganze
Nacht über. Bei der gymnastischen Be¬
handlung verwendet Wahl eine seitlich an¬
gebrachte Glissonsche Schwebe und eine
ebenfalls seitlich am Scheitel der Wirbel¬
säulenabbiegung angreifende Gabel. Neuer¬
dings hat er sich bei der Behandlung der
fixierten Skoliose dem — ohne Narkose
vorgenommenen — forzierten Redresse¬
ment mit nachfolgendem Kontentivgips-
verband zugewandt. Die Schädigung der
Rumpfmuskulatur vermeidet er durch täg¬
liche Erneuerung des Verbandes, wobei
eine intensive Massage und Gymnastik der
Rückenmuskulatur stattfinden kann.
Bergemann (Königsberg).
(Deutsche Zeitschr. f. orthopftd. Chir., Bd. 25,
S. 27, 321.)
Therapeutischer Meinungsaustausch.
Aus dem Sanatorium für innere und Nervenkrankheiten Schloss Homegg a. N.
Behandlung subazider Zustande mit mechanisch reizender Kost und mit
Zitronensäure.
Von San.-Rat Dr. Roemheld, Chefarzt der Anstalt
Es ist eine längst bekannte Tatsache,
daß die Wirkung einer Speise auf die
Magensaftsekretion um so geringer ist, je
feiner verteilt die Speise gereicht wird.
Wie erst Bickel 1 ) vor kurzem wieder be¬
tont hat, empfiehlt sich deshalb bei den
verschiedenen Formen der Supersekretion
besonders die Darreichung der Speisen in
Püreeform. Das umgekehrte Prinzip, bei
subaziden Zuständen, eine nicht nur che¬
misch, sondern auch mechanisch stärker
reizende Kost zu geben, um so die Magen¬
saftsekretion mehr anzuregen, scheint bis¬
her weniger Anwendung gefunden zu
haben. Hier spielt zweifellos nicht nur der
Kauakt mit, der bei gröberer Kost sich
intensiver gestaltet und schon allein da¬
durch die Saftsekretion anregt, sondern
namentlich die direkte Einwirkung der
physikalisch grobkörnigen Speisen
auf die Magenschleimhaut. Von den
chemisch als Sekretionserreger wirkenden
Nahrungsmitteln wissen wir mehr. Bickel
hat ein Diätschema für die Sekretions¬
störungen des Magens aufgestellt und ge¬
wissermaßen eine Skala der Sekretions-
erreger angegeben. Curschmann 2 ) hat
kürzlich gezeigt, daß die Salzsäurebestim¬
mung nach den reizlosen Probefrühstücken
und Mahlzeiten, besonders bei nervösen
Personen, nicht die richtigen Werte gibt.
Wenn man eine Mahlzeit so zusammen¬
stellt, wie es sowohl dem örtlichen, als auch
dem persönlichen Geschmack entspricht,
werden andere Salzsäurewerte gefunden.
Auf Grund ähnlicher, seit Jahren ge¬
machter Beobachtungen möchte ich nament¬
lich zu therapeutischen Zwecken bei
manchen subaziden Zuständen, vor¬
ausgesetzt, daß die Motilität normal ist,
eine mechanisch reizendere Kost
empfehlen. Besonders bewährt hat sich
mir diese Diät außer in Fällen von nervöser
Dyspepsie namentlich auch bei Gastritis
subacida, die mit reichlicher Schleimsekre¬
tion im Magen und nicht selten mit Darm-
atonie einhergeht. Hier wirkt eine grob¬
körnige Kost (Grahambrot, rohe undurch-
getriebene Grütze, Grütze mit Obst, Salate
usw.) ähnlich wie die von Noordensehe
Verordnung schlackenreicher Diät bei
Colitis mucosa. Gewiß handelt es sich bei
beiden Zuständen nicht immer um Katarrhe
im engeren Sinne, sondern oft auch um
Sekretionsneurosen. Die mechanisch grobe
Kost wirkt dann, ähnlich wie eine Spülung,
Schleim beseitigend und gleichzeitig er¬
regend auf die Drüsentätigkeit. Ich ver¬
füge über eine Reihe von Fällen von chro¬
nischer Gastritis, die subazid und selbst
anazid waren und bei Innehaltung strenger
* reizloser* Magendiät blieben, bei denen
sich aber bei Anwendung mechanisch
reizender Kost nach und nach wieder
normale Säurewerte stellten.
Als Beispiele für die Wirkung grobkörni¬
ger Kost mögen folgende Angaben genügen.
1. 27 jähriger Kaufmann mit Subazidität,
reichlicher Schleimbildung im Magen, Obstipa¬
tion. Nach gewöhnlichem Probefrühstück (Tee,
altbackenes Brödchen) fand sich:
Freie HCl 4. Gesamtazidität 24.
Nach Probefrühstück bestehend aus Tee und
Grahambrot:
Freie HCl 18, Gesamtazidität 28.
2. 46 jähriger Brauereidirektor, Potatoren-
gastritis mit sehr reichlichem Schleim morgens
in der Spülflüssigkeit.
Gewöhnliches Probefrühstück:
Freie HCl 20, Gesamtazidität 52.
Nach Probefrühstück bestehend aus Grütze
mit Obst:
Freie HCl 35, Gesamtazidität 92.
Ausführlichere Untersuchungen sollen
später veröffentlicht werden.
Aehnlich verhält es sich häufig mit der
Probemahlzeit. Fügt man derselben etwas
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286
Die Therapie der Gegenwart 1910.
Juni
Grahambrot und Salade mit Zitronensäure
zu, so erhält man nicht selten, wenn auch
nicht konstant, höhere Werte.
Ueberhaupt möchte ich hier auf die Be¬
deutung der Zitronensäure hin weisen.
Es gibt eine Menge Menschen mit sub-
aziden Zuständen, die Salzsäure absolut
nicht vertragen. Ueber diese Tatsache ist
wenig bekannt. Bei Flein er 8 ) fand ich
eine kurze Notiz darüber. Ich lasse dahin¬
gestellt, in wie weit es sich hierbei um
psychisch bedingte Unfähigkeit, Salzsäure
als Medikament zu vertragen, handelt, oder
in wie weit eine echte Idiosynkrasie vor¬
liegt. Die Tatsache steht jedenfalls fest,
und es ist falsch, in solchen Fällen, in denen
der sub- oder anazide Patient Salzsäure
nicht nehmen kann, diese Tatsache einfach
als Ausfluß eines hysterisches Zustandes
zu betrachten. Solche Patienten — man
denke nur an chlorotische Mädchen mit
Subazidität, — haben oft einen Heißhunger
nach sauren Speisen und vertragen meistens
Fruchtsäure, speziell Zitronensäure in jeder
Form gut. Ich verwende deshalb bei solchen
Patienten Zitronensäure geradezu als Ersatz¬
mittel für Salzsäure. Füttert man diese
Kranken ausschließlich mit der üblichen
„reizlosen“ Magendiät, mit Breikost usw.,
so erreicht man in vielen Fällen nichts, ja
man hat, um mit von Krehl 4 ) zu sprechen,
oft den Eindruck, daß es besser wäre,
wenn der Patient überhaupt nicht behandelt
würde, als wenn er von dem durch Vor¬
urteile beengten Arzt strenge, oft geradezu
lächerliche Diätvorschriften erhält, die sich
einfach auf die Tatsache stützen, daß der
Patient subazid ist
Gibt man solchen Subaziden morgens
ein kochsalzhaltiges Wasser zu trinken, so
riskiert man in vielen Fällen, daß eine Er¬
schlaffung des Magens eintritt Ganz anders,
wenn man gleich morgens nüchtern eine
sekretionsbefördernde Speise nehmen läßt,
Grütze mitObst, wie sie besondersBircher-
Benner 5 ) empfohlen hat,undurchgetriebene
Grütze, Grahambrot, Tee mit Zitronensaft
usw., und wenn man der übrigen gemischten
Magendiät mittags und abends etwas Salade
zufügt, der mit Zitronensaft versetzt ist. Auch
hier gilt es: naturam si sequemur ducem, non
aberrabimus. Die Gewohnheit der Englän¬
der, in der Frühe ihr kräftiges Porridge zu
essen, hat sicherlich etwas für sich.
Besonders empfohlen sei zu therapeuti¬
schen Zwecken die Kombination einer
mechanisch reizenden Kost mit Zu¬
gabe von Zitronensaft. Auch als Probe¬
frühstück oder Probemahlzeit kann diese
Kombination (z. B. Tee mit Zitronensaft
und Grahambrot) in Frage kommen, wenig¬
stens zur Bestimmung der Werte freier HCl.
Daß sich diese Diät naturgemäß nicht
für alle Fälle von Subazidität eignet, und
daß man dabei auf die Motilität des Magens
achten und diagnostische Irrtümer, be¬
sonders Ulcus ventriculi, vermeiden muß,
ist selbstverständlich.
Literatur:
1) Bickel, A., Grundlagen der Diätetik bei
Veraauungskrankheiten. Med. Klinik 1910, Nr. 12.
— 2) Curschmann, H., Verhandlungen des
Kongr. f. innere Med. 1910. — 3) Fl einer,
Magenkrankheiten 1896. — 4) v. Krehl, Grund¬
sätze der Ernährungsbehandlung. Ztschr. f.
ärztl. Fortbild. 1909, Nr. 17. — 5) Bircher-
Benner, Ernährungstherapie 1909.
Die Größe der Bläschen im Ozetbade und im Kohlensäurebade.
Von Dr. L. Sar&SOn, Berlin.
Unter Ozetbädern werden nach meinem
Vorschläge bekanntlich die auf chemischem
Wege durch Katalyse von Wasserstoff¬
superoxyd enthaltendem Wasser erzeugten
moussierenden Sauerstoffbäder verstanden,
im Gegensatz zu den sogenannten Perl¬
bädern, denen atmosphärischer Sauerstoff
von außen zugeführt wird, und meinen
Hydroxbädern, die auf elektrolytischer Zer¬
legung des Wassers beruhen. 1 )
Bereits in der ersten Mitteilung über
das Ozetbad 2 ) wies ich daraufhin, daß die
in ihm enthaltenen Gasbläschen zirka 3 bis
5 mal kleiner seien als die in Kohlensäure¬
bädern auftretenden Bläschen, daß somit
die Ozetgasbürste eine wesentlich feinere
sei als die Kohlensäuregasbürste. Unter
*) Berl. klin. Wochschr. 1907, 4.
a ) Deutsch, mediz. Wochenschr. 1904, 45.
den zahlreichen Autoren, die sich in der
Folge mit meinem Ozetbade beschäftigt
und meine Beobachtung bestätigt haben,
scheint Uebereinstimmung darin zu be¬
stehen, daß der geringere Durchmesser
der Ozetgasbläschen gegenüber den COg-
Bläschen für die physiologische Wirkung
der Bäder wesentlich mit in Betracht
kommt.
Um so mehr dürften die Resultate einer
vergleichenden, direkten Messung des Durch¬
messers der Ozetbläschen einerseits und
der Kohlensäurebläschen andererseits inter¬
essieren.
Es wurden sowohl aus dem in stärkster
Tätigkeit befindlichen Ozetbade als auch
aus einem aus Weinsäure und Bikarbonat
bereiteten Kohlensäurebade mit Hilfe eines
flachen, dünnwandigen Glasröhrchens, das
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Juni
Die Therapie der Gegenwart 1910.
287
senkrecht in die Badeflüssigkeit eingeführt
wurde, Proben entnommen, das Röhrchen
sofort horizontal und flach unter ein Mi¬
kroskop gebracht und es wurde dann in
einem mehrfach gewechselten Gesichtsfelde
die Anzahl und die Größe der Bläschen
abgelesen. Zur Messung der Größe war
eine Skala im Mikroskop angebracht, von
der je ein Teilstrich 0,0255 mm entsprach.
Beim Ozetbade sind die Beobachtungen
verhältnismäßig leicht zu machen, da die
Bläschen zwar sehr zahlreich, aber sehr
klein und von nahezu derselben Größen¬
ordnung sind und weil sie sich während
der Beobachtungsdauer nicht wesentlich
verändern.
Beim Kohlensäurebade dagegen ist ein
Aufschäumen der Flüssigkeit unter Bildung
sehr großer Blasen — von mehreren Milli¬
metern Größe — ganz zu Anfang nicht zu
vermeiden. Ferner nehmen die dann unter
das Mikroskop gebrachten Bläschen sehr
rasch an Größe zu. Endlich sind die
Größenunterschiede zwischen den einzelnen
Bläschen ganz gewaltig, so daß man hier
sehr auf Schätzungen angewiesen ist Man
sieht unter dem Mikroskop Blasen, die
mehr als das ganze Gesichtsfeld einnehmen,
neben solchen, die nicht größer sind als
die normalen Ozetbläschen.
Was die genaue Größe der Bläschen
betrifft so gelangte man zu folgenden Er¬
gebnissen :
Ozetbad: Es wurden z. B. folgende
Bläschen gezählt und beobachtet:
5 mit 2, 5 mit 4, 4 mit 5, 1 mit 7 Teil¬
strichgröße, 3 mit 2, 3 mit 3, 4 mit 5 Teil¬
strichgröße, 2 mit 1 Vs» 2 mit 3, 4 mit 4,
1 mit 5, 1 mit 8 Teilstrichgrößen.
Daraus ergeben sich im Mittel rund
4 Teilstriche für die einzelne Blase. 4 Teil¬
striche entsprechen ziemlich genau 0,1 mm.
Kohlensäurebad: Aus den vorher
geschilderten Gründen ist eine genaue
Messung und Zählung der Bläschen nicht
möglich gewesen. Man geht aber nicht
fehl, wenn man die Größe der Kohlen¬
säurebläschen im Mittel zu mindestens
1 mm annimmt; dabei sind die ganz großen
Blasen gar nicht berücksichtigt.
Mit diesen Zahlen kann man ganz inter¬
essante Rechnungen aufmachen. Da die
Ozetsauerstoffbläschen also den zehnten
Teil (nicht, wie früher von mir geschätzt,
den dritten bis fünften Teil) des Durch¬
messers von dem der Kohlensäurebläschen
aufweisen, so ist die von ihnen beanspruchte
Fläche also nur ein Hundertstel und ihr
Volumen nur ein Tausendstel. Auf einer
gegebenen Oberfläche, z. B. der Haut des
Badenden, haben also hundertmal soviel
Ozetbläschen Platz als Kohlensäurebläs¬
chen, Vorausgesetz, daß die großen Blasen
gleich gut haften wie die kleinen, was
durchaus nicht der Fall ist. Ferner aber
kann man aus einem gegebenen Gasvolumen
die tausendfach größere Anzahl Ozetbläs¬
chen bekommen als bei der Kohlensäure,
so daß im Ozetbade die etwa abgestreifte
Gasdecke sich tausendmal so leicht wieder
ersetzt als im Kohlensäurebade. Nimmt
man bei beiden Bädern eine gleiche Gas¬
menge von 25 Litern pro Vollbad an im
Zustande der Uebersättigung, so würden
sich in einem solchen Kohlensäurebade,
falls keine großen Schaumblasen auftreten,
50 Millionen Bläschen bilden können, beim
Ozetbad aber 50 Milliarden feiner Bläschen.
Physikalisch erklärt sich der Größen¬
unterschied beider Bläschenarten, die im
Augenblick der Entstehung gleiche Größe
besitzen, zum Teil dadurch, daß im Kohlen¬
säurebade neben dem Zustande der Ueber¬
sättigung ein stärkerer Gehalt des Wassers
an gelösten Gasen vorhanden ist als im
Ozetbade, daß also die Kohlensäurebläs¬
chen durch stärkere Diffusion aus der gas¬
reicheren Flüssigkeit rascher wachsen als
die in einer gasärmeren Flüssigkeit befind¬
lichen Ozetbläschen.
Ist die Ausdrucksweise „angeborene Hartleibigkeit“ eine richtige
Bezeichnungs weise ?
Von Dr. med. Roger Baron Budberg-Charbin (China).
Welchem Arzt haben nicht Mütter ihr
Leid vorgeklagt, daß ihre Kinder von Ge¬
burt an Obstipation litten, ja daß ohne ein
Klysma sie nie einen guten Stuhl hätten?
Gerade in bessern Ständen und unter
kultivierten Völkern hört man solche
Klagen, während wir habitueller Obstipa¬
tion der Kinder bei Völkern, die näher
der Natur stehen, kaum je begegnen. Wer
Völker und ihre Gewohnheiten zu beob¬
achten Gelegenheit hatte, der wird mir
hierin gewiß beistimmen und hinter die
Redensart „angeborene Hartleibigkeit 41 ein
berechtigtes Fragezeichen stellen!
Es gibt kaum ein anderes Organ des
menschlichen Körpers, das sich so prompt
an regelmäßige Funktionen gewöhnen läßt,
als der Darm, ebenso leicht aber auch
wird er aus der Ordnung gebracht, wenn
man Pünktlichkeit in seiner Entleerung
vernachlässigt. Das sind ja allgemein be¬
kannte Dinge. Naturvölker sind überzeugt
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288
Die Therapie der Gegenwart 1910.
Juni
von der Wichtigkeit, daß ihre Kinder eine
geregelte Entleerung haben und sie kennen
die Bedingungen, durch die sich solches
erreichen läßt. Auffallend gleichartig sind
die wesentlichsten Prinzipien bei den ver¬
schiedenen Völkern, durch die sie die
regelmäßige Darmfunktion erhalten. Mor¬
gens mit dem Aufstehen wird bereits das
Neugeborene zur Stuhlentleerung aufge-
gefordert. Zu diesem Zweck bringt die
Mutter das Kind in eine sitzende Lage,
indem sie mit beiden Händen die Ober¬
schenkel des Kindes von unten her erfaßt,
gegen den Leib des Kindes preßt, wobei
als Gegenstütze von seiten des kindlichen
Rückens, je nach der Größe des Kindes,
die Daumen der Mutter, ihre Knie oder
ihre Brust dient. Solch eine Lage veran¬
laßt unwillkürlich das Kind zu Anspannung
der Bauchpresse. Solches unterstützt die
Mutter durch Hervorbringen irgendwelcher
monotoner Töne, sei es durch Pfeifen oder
Laute wie „ä, ä a , „ps, ps“, was Zerstreu¬
ungen vorbeugt und die Gewöhnung er¬
leichtert. Die Methode, statt dessen das
Kind zu schrecken durch Rufen von Tieren
oder Personen, die das Kind fürchtet, wie
ich solches dazwischen zu beobachten Ge¬
legenheit hatte, erscheint natürlich nicht
zweckmäßig, obwohl auch hier das Kind,
durch diese Anregung seiner Phantasie,
die Atmung voll Spannung hemmt und
kräftiger preßt.
Der Erfolg, der durch Regelmäßigkeit
und Einnehmen dieser Position zu erreichen
ist, springt in die Augen. Kinder von
3—4 Monaten, die in die Windeln, selbst
ihr großes Bedürfnis, machen, sind ja im
kultivierten Europa etwas gewöhnliches,
nicht aber in China und Japan bei guten
Müttern. In der geschilderten Lage ent¬
leert das Kind indessen nicht nur seinen
Darm, sondern auch seine Blase, und
mancher Europäer wundert sich, daß in
guter Familie bei Chinesen und Japanern
erst 2 Monat alte Kinder auch nicht ein¬
mal ihre Windeln naß machen. So etwas
zu erlangen ist indessen in geschilderter
Weise nicht so schwer, es bedarf nur
einiger Beobachtungsgabe und der Regel¬
mäßigkeit, zu der das ganz kleine Kind
anzuerziehen ist.
Auch beobachten wir hier eine Methode
der Bauchmassage und allgemeiner Muskel¬
gymnastik, die von nicht geringem Einfluß
auf die Entwicklung des Kindes ist. Das
Kind wird mit dem Bauche auf die Hand¬
fläche so gelegt, daß diese quer über den
Leib unterhalb der Rippenbögen sich flach
erstreckt, während Daumen einerseits und
Fingerspitzen andererseits in die Flanken
zu liegen kommen. Die andere Hand
stützt, den Steiß und die Hüften umfassend,
das Kind in der halbhorizontalen Lage.
Das Kind wünscht dabei fest gefaßt zu
sein, ist dieses der Fall, dann ist ihm keine
Lage angenehmer, als die geschilderte.
Es setzt seine Hals-, Nacken-, Rücken- und
Bauchmuskeln ins Spiel, und so mancher
ist erstaunt, wie ein boshaft schreiendes
Kind, durch diese Lage allein, sofort zu
besänftigen ist, während sein ganzes Be¬
nehmen völlige Zufriedenheit ausdrückt
Es springt uns in die Augen, daß unter
chinesischen Kindern wir kaum je Rachitis
finden, und nur sehr selten sehen wir selbst
bei den ärmsten Leuten anämische und
elende Kinder, die meisten sind derartig
bausbackig, daß sie bei uns als Pracht¬
kinder bezeichnet würden. So etwas läßt
sich gewiß in erster Reihe der kräftigen
gelben Rasse zuschreiben, auch der mehr
vegetabilen Kost der stillenden Mütter,
nicht aber an letzter Stelle auch dem
Prinzip, von Geburt an das Kind an regel¬
mäßige Darmfunktion zu gewöhnen.
INHALT: Nachruf für Robert Koch S. 241. — Leube, Tenazität der Zelltätigkeit
S. 241.— Forlanini, Pneumothorax S. 245. — Weiland und Sandelowsky, Desmoidreaktion
S. 255. — Unna, Klystierersatz-Therapie S. 261. — Axisa, Dysenterie S. 263. — Porten. Veronal
bei Delirium S. 270. — Ritter, Bügeleisen bei Erysipel S. 271. — Muskat, Gangstockung S. 273.
— Roemheld, Subazidität S. 285. — Sarason, Ozetbäder S. 286. — Budberg, Hartleibigkeit
S. 287. — Bücherbesprechungen S. 276. — Referate S. 278.
Für die Redaktion verantwortlich Prof. Dr. G. Klempererin Berlin. Verlag von Urban&Sch warzenberg in Wien u. Berlin.
Druck von Julius Sittenfeld, Hofhuclidiuckcr., in BerlinW.8.
□ igitized by
Gck gle
Original from
UNIVERSITY 0F CALIFORNIA
Die Therapie der Gegenwart
1910
herausgegeben von Prof. Dr. G. Klemperer
In Berlin.
Juli
Nachdruck verboten.
Ueber die Behandlung des Diabetes mellitus bei Kindern.
Von Dr. Marius Lauritzen, Kopenhagen.
Bevor ich mit meinem Gegenstand, der
Diabetestherapie bei Kindern, beginne, muß
ich einige Bemerkungen Ober die Diagnose
und Prognose machen. Eigentlich ist es
nur die frühe Diagnose, die schwierig sein
und Erwähnung fordern kann; denn in den
Fällen, wo ausgesprochene diabetische Sym¬
ptome bestehen, ist ja die Diagnose klar.
Wenn im Anschluß an eine akute Krank¬
heit oder durch Zufall eine schwache Gly-
kosurie entdeckt wird, muß man entscheiden,
ob man einem beginnenden Diabetes gegen¬
übersteht 1 ). Wie beim Erwachsenen ist in
solchem Falle eine Funktionsprüfung nötig
und die Probemahlzeit, die ich bei größeren
Kindern anwende, besteht aus 30—50 g
Reis (mit Wasser gekocht), 25 g Fisch,
100—200 g Kartoffeln, 25—75 g Brot, je
nach dem Alter des Kindes. Der Urin
wird die nächsten vier Stunden nach der
Mahlzeit gesammelt und analysiert. Tritt
nach einer solchen Funktionsprüfung eine
ausgesprochene Vermehrung der Glykos-
urie ein, so halte ich es für notwendig, mit
einer antidiabetischen Behandlung zu be¬
ginnen. Es muß unsere Aufgabe sein,
die Diagnose so zeitig wie möglich zu
stellen. In Familien mit Diabetes oder
Stoffwechselkrankheiten die in näherer
Relation zur Zuckerkrankheit stehen, muß
der Urin der Kinder häufig auf Glykose
untersucht werden, und finden sich redu¬
zierende Stoffe im Urin, muß man die
Probemahlzeit benutzen, um eine möglichst
exakte Diagnose zu erhalten. Bei Kindern
mit Akne, Furunkeln. Pruritus, Ekzem,
Psoriasis und anderen Hautaffektionen muß
man auf seiner Hut sein und auf Glykos-
urie untersuchen. Nur, wenn man die
Krankheit in ihrem ersten Stadium ent¬
deckt, kann man eine wesentliche Besse¬
rung der Prognose oder eventuell eine Hei¬
lung erhoffen.
Die Prognose kann nämlich bei Kindern
mit leichten diabetischen Glykosurien gut
sein, wenn sie in einem frühen Stadium
entdeckt werden. Das zeigen die bekannten
l ) In bezug auf die Differentialdiagnose zwischen
Glykosurie und anderen Zuckerarten im Urin mochte
ich mir gestatten, auf meine Abhandlung Ober diesen
Gegenstand in Ugeskrift for Laeger 1908 und Nordisk
Tidsskrift for Terapi 1908 hinzuweisen.
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Fälle von Richard Schmitz. Bei einem
4jährigen und einem 15jährigen Kind aus
einer diabetischen Familie wies Schmitz
in einem frühen Stadium 5,8 bzw. 3%
Zucker im Urin nach, und eine energische
diätetische Behandlung brachte beiden Kin¬
dern «Heilung, v. Noorden hat einen ähn¬
lichen Fall. In den mittelschweren und
schweren Fällen, wo die Assimilation ge¬
ring oder äußerst gering ist, und wo daher
ein schwächere oder stärkere Azidose be¬
steht, ist die Prognose schlecht. Die aus¬
gesprochene Neigung zur Azidose oder
Ketonurie im Kindesalter ist (ebenso wie
bei ganz jungen Menschen) eine sehr
wesentliche Ursache der schlechten Pro¬
gnose des Diabetes bei Kindern.
In nachstehender Tabelle finden sich
27 Fälle von Diabetes mellitus bei Kindern,
die ich in der Privatpraxis und auch in
meiner Klinik zu sehen Gelegenheit hatte.
Es sind 15 Mädchen und 12 Knaben. Das
ist das gewöhnliche Verhältnis, daß die
Krankheit sich ebenso häufig bei Mädchen
wie bei Knaben findet im Gegensatz zu
dem, was wir bei Erwachsenen finden, wo
alle Autoren die weit größere Häufigkeit
beim Manne hervorheben. In 7 Fällen
konnte Heredität nachgewiesen werden,
also bei einer verhältnismäßig geringen
Zahl. Auch v. Noorden meint, daß die
Heredität weit geringer bei Kindern als
bei Erwachsenen ausgesprochen ist
Traumen (Gehirnerschütterung) als ur¬
sächliches Moment habe ich in keinem
meiner Fälle nachweisen können. Nur in
einem einzigen Fall war es mir möglich,
eine sogenannte Gelegenheitsursache zu
vermuten, die in der Tabelle angeführt ist.
Die Autopsie wurde in keinem Falle vor¬
genommen. Sichere Zeichen eines Pankreas¬
leidens fand sich bei keinem dieser Kinder.
Der Grad der Glykosurie — leicht,
mittelschwer und schwer — der in der
Tabelle angeführt ist, gilt für die erste
Untersuchung des Patienten. Ich habe im
wesentlichen v. Noordens Einteilungsprin¬
zip gebraucht:
Leichte diabetische Glykosurie bei
Kindern.
Der Zucker schwindet sehr schnell bei
kohlehydratarmer Diät Urin-N (als Maß
37
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290
Die Therapie der Gegenwart 1910.
Juli
Tabelle I.
Nr.
1
Name
Geschlecht
Alter
1 Glykosurie
bei erster
Untersuch.
i Azidose
bei erster
Untersuch.
Here¬
dität
Gelegenheits¬
ursache
Dauer
i
1 1
A. S.
Knabe
3
Jahre
schwer
stark
1 Jahr
2
! P. H.
Knabe
8
II
mittel
mittel
Ja
Verbrennung
U/i Jahr
3
A. P.
Knabe
13
ff
mittel
mittel
Vakzination
| 17s Jahr
4
N. K.
Mädchen
2
ff
schwer
stark
Ja
3 Monate
5
M. J.
Mädchen
7
ff
schwer
stark
Keuchhusten
7 Monate
6
C. T.
Knabe
15
ff
schwer
mittel
Ja
8 Monate
7
B. B.
Mädchen
10
ff
leicht
0
Ja
4 Jahre
8
G. S.
Mädchen
14
ff
mittel
schwach
Ja
1
2*/ 4 Jahre
9
A. N.
Knabe
13
ff
mittel
mittel
1 Jahr
10
A. T.
Knabe
8
Monate
schwer
stark
1
3 Monate
11
H. L.
Knabe
4
Jahre
mittel
mittel
I 8 /* Jahre
12
R. B.
Mädchen
11
f$
schwer
stark
Ja
i
1
1 fahr
13
E. B.
Mädchen
5
ff
mittel
mittel
1
1 Jahr
14
P. J-
Knabe
15
ff
mittel
mittel
1 Jahr
15
B. W.
Mädchen
5
ff
schwer
mittel
2 Jahre
16
M. A.
Mädchen
13
w
leicht
0
1
1
Von Jan. 1907. Lebt.
17
K. R.
Mädchen
12
ff
mittel
schwach
VonMärzI 907. Lebt.
18
P. H.
Knabe
4
ff
mittel
mittel
2V 4 Jahre
19
K. K.
Mädchen
4
ff
mittel
schwach
Ja
Von Jan. 1907. Lebt.
20
E. K.
Mädchen
3
ff
mittel
schwach
1 Jahr
21
F. C.
Mädchen
13
ff
schwer
stark
4 Monate
22
J. W.
Knabe
14
Monate
schwer
mittel
2 Monate
23
E. O.
Mädchen
10
Jahre
mittel
schwach
Herpes zoster
Von Nov.1908. Lebt.
24
E. P.
Knabe
6
ff
mittel
schwach
Von Aug.1909. Lebt.
25
M. N.
Mädchen
8
ff
mittel
stark
Von Juni 1909. Lebt.
26
B. G.
Mädchen
14
ff
mittel
schwach
Icterus simpl.
Von Okt. 1908. Lebt.
27
K. V.
Knabe
14
ff
mittel
mittel
1
VonAprill 909.Lebt.
des Eiweißumsatzes) darf dabei nicht 13 bis
15 g bei größeren Kindern übersteigen.
Danach wird längere Zeit hindurch Zulage
von 30—50 g Kohlehydrate ertragen.
Mittelschwere diabetische Glykos-
urie bei Kindern.
Der Zucker schwindet erst bei einer
kohlehydratarmen Diät, bei der die Eiwei߬
menge so gering ist, daß das N des Urins
unter 13 g sinkt, aber größer als 7 g ist.
Die Toleranz für Eiweiß und Kohlehydrat¬
zulage kann sich bessern.
Schwere diabetische Glykosurie bei
Kindern.
Der Zucker schwindet bei starker Ein¬
schränkung der N* Zufuhr nicht ganz, oder
nur, wenn der N-Gehalt dauernd unter 7 g
sinkt.
Bei der Behandlung des Diabetes melli¬
tus bei Kindern ist die diätetische Therapie
die wichtigste, aber, um das bestmögliche
Resultat zu erreichen, muß die Diätbehand-
iung mit anderen wichtigen therapeutischen
Faktoren vereinigt werden.
Im Beginn der Kur ist demnach Bett¬
ruhe nötig, besonders in den mittelschweren
und [schweren Fällen. Es gilt, dem dia¬
betischen Kind geistige und körperliche
Ruhe und möglichst geringen Stoffumsatz
zu verschaffen. So lange die Bettruhe
dauert, ist es in vielen Fällen am besten,
Körpermassage zu verabfolgen. Wenn die
Glykosurie beseitigt ist, sind Spaziergänge
in frischer Luft am Platze. Erst kleinere,
später längere Touren ein- oder zweimal
täglich. Selbstverständlich müssen die
Magen- und Darmfunktionen reguliert
werden. Medikamente wird man nur bei
Behandlung von Komplikationen gebrauchen,
nur die Alkalitherapie, die später besprochen
werden soll, ist ein sehr wichtiger Punkt
der Behandlung.
Zum Verständnis der modernen diäte¬
tischen Diabetestherapie ist es notwendig,
sich der Hauptpunkte der Untersuchungen
zu erinnern, die diese Therapie geschaffen
haben und besonders bei den Resultaten
zu verweilen» die für die Behandlung des
Diabetes bei Kindern Bedeutung haben.
Bekanntlich wurde die diätetische Dia¬
betestherapie von Rollo begründet, und
seine Diät (Fleisch, Fettstoffe, U /2 1 Milch,
etwas Butterbrot) wurde benutzt, fast bis
Claude Bernards und Bouchardats
Arbeiten die Diät modifizierten. (Die Milch
wurde aus der Diät gestrichen. Es wurde
vor großen Fleischrationen gewarnt, und
die kohlehydratarmen Gemüse und Früchte
wurden in die Diät eingeführt) Die meisten
folgten Bouchardats Vorschriften, nur
Cantani verlangte absolut strenge Diät
(Fleisch, Schinken, Fisch, Eier, Bouillon)
mehrere Monate hindurch und dann lang¬
samer Uebergang zu mehr gemischter Diät,
Der Engländer Donkin (1875) riet zu ab-
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Gck gle
Original frnm
UNIVERSiTY 0F CALIFORNIA
Juli
Die Therapie der Gegenwart 1910.
291
soluter Milchdiät (Magermilch) 6 Wochen
hindurch, und dann Zugabe von magerem
Fleisch, Gemüse, Bouillon und dies Mo¬
nate lang.
Diese verschiedenen Diätformen wurden
fast bis auf unsere Tage angewendet, nur
lernte man im Lauf der Zeit individuali¬
sieren, so daß man wußte, wo die eine oder
andere Diätform am besten paßte.
Die moderne Diabetestherapie ist dabei
nicht stehen geblieben, sondern hat sich
neue Formen geschaffen, die teils auf Er¬
fahrungen der alten Autoren gebaut waren,
teils auf die zahlreichen klinischen, experi¬
mentellen und chemischen Untersuchungen,
die seit den achtziger Jahren des vorigen
Jahrhunderts bis zu unseren Tagen vor¬
genommen sind. Die deutschen Schulen
haben hier an der Spitze gestanden (Külz,
Naunyn und v.Noorden und ihre Schüler),
v. Merings und Minkowskis epoche¬
machende Arbeiten über die Bedeutung
des Pankreas für Pathogenese und Patho¬
logie sind die Einleitung zu einem inten¬
siven Studium des Diabetes, das der The¬
rapie dieser Krankheit große Vorteile ge¬
bracht hat.
Die zwei Fragen, deren Klarstellung der
Therapie am meisten genutzt hat, sind:
1. Das Verhältnis des Eiweißumsatzes zur
Glykosurie und 2. die Entstehung und Vor¬
beugung der Azidose (der diabetischen
Autointoxikation). Es war auf Naunyns
Klinik (die Weintraudsehen Untersuchun¬
gen) die Frage des Verhältnisses des
Eiweißumsatzes zur Glykosurie 1 ) gründlich
untersucht worden, und das praktische Re¬
sultat dieser Untersuchungen war die Ein¬
führung der eiweißarmen Diät und die Er¬
kenntnis, daß man ohne Schaden die Dia¬
betiker lange Zeit mit einer solchen Diät
behandeln kann, die fast frei von Kohle¬
hydraten ist und weit weniger Eiweiß ent¬
hält, als man früher in der antidiabetischen
Diät brauchte. Mit dieser Behandlung glückte
es, den Urin bei Patienten zuckerfrei zu
machen, bei denen man es früher nicht für
möglich gehalten hätte, das Körpergewicht
nahm zu, das N-Gleichgewicht blieb bestehen
und der Stoffumsatz war wie bei normalen
Menschen. In einzelnen Fällen mußte die
Eiweißmenge in der Kost minimal werden,
um die letzten Zuckerspuren zu entfernen.
Naunyn benutzte hierzu „Hungertage*,
v. Noorden brauchte die sogenannten
„ Gemüsetage “, die später besprochen wer¬
den sollen. Die Behandlung mit einer
*) In Dänemark ist dies in meiner Doktordisser¬
tation behandelt worden.
Digitized by Google
solchen Diät kann innerhalb weniger Wochen
die Assimilation des Patienten für Kohle¬
hydrate und Eiweißzucker bessern, so daß
die Toleranz steigt. Naunyn hat neben¬
bei das Verdienst, zuerst betont zu haben,
wie wichtig es ist, den Gesamtstoffumsatz
so klein wie möglich zu machen; es gilt
nicht nur die für den Zuckerumsatz in¬
suffizienten Organe, sondern alle Zellen zu
schonen. Dies wichtige therapeutische
Moment hat auch Weintraud und später
K oh lisch befürwortet.
Gleichzeitig will ich auf den Einfluß der
verschiedenen Eiweißstofie auf die Glykos¬
urie aufmerksam machen, wo zahlreiche
Untersucher gezeigt haben (Th er man,
Lütje, v. Noorden, Mohr, Falta und
Gigou), daß nur in den Fällen, wo die
Glykosurie verhältnismäßig gering ist, ein
deutlicher Unterschied besteht, aber nicht
in den schweren Fällen. Das Milcheiweiß
und das Fleisch wirkt stärker auf die
Glykosurie als das Hühnereiweiß; das
Pflanzeneiweiß steht ungefähr in der Mitte.
Aber wie gesagt — das Wichtigste für
die Zusammensetzung der strengen Diät
ist, daß die Gesamteiweißmenge in jedem
Fall so abgepaßt wird, daß der Urin zucker¬
frei gehalten werden kann und daß die
Gesamtkostration nicht größer als notwen¬
dig gemacht wird. Wo es mit dieser Diät
oder der Haferkur, die später besprochen
werden soll, nicht glückt, den Urin zucker¬
frei zu machen, muß man die strenge kohle-
hydrat- und eiweißarme Diät verlassen und
eine weniger strenge Diät geben; man muß
jedoch ständig dafür sorgen, daß die Kost¬
ration nicht unnötig groß wird.
Bevor wir die Frage des Verhältnisses
des Eiweißumsatzes zur Glykosurie ver¬
lassen, muß ich ganz kurz erwähnen, daß
der Vergleich zwischen Kohlehydrat- und
Eiweißeinwirkung auf die Zuckeraüsschei-
dung (v. Noordens Schüler Falta, Gigou
u. a.) Resultate gegeben hat, die von prak¬
tischer Bedeutung sein können; in den
leichteren Fällen macht die Zulage von
Kohlehydraten meistens stärkere Glykos¬
urie als die Zulage von Eiweiß, in schwereren
Fällen erweist die Zulage von Eiweiß eine
verhältnismäßig weit stärkere Steigerung
des Zuckers als die Kohlehydratzulage.
Auch im Substitutionsversuch kann der
Ausscheidungskoeffizient in den eiwei߬
reichen Perioden höher liegen als in den
kohlehydratreichen. Der Koeffizient (Q)
wird hier nach folgender Formel berechnet:
^ D 100 •
Q ~5N + K,
wobei D = ausgeschiedenem Zucker, N =
37*
Original from
UNIVERSUM 0F CALIFORNIA
292
Die Therapie der Gegenwart 1910.
Jul»
N im Urin 1 ), K = zugeführte Kohle¬
hydrate ist.
Die zweite Frage, die Entstehung und
Bekämpfung der Azidose, ist in den letzten
Dezennien durch zahlreiche Untersuchungen
soweit klargelegt, daß die moderne Dia¬
betestherapie große Vorteile daraus gezogen
hat, und besonders bei der Behandlung des
Diabetes bei Kindern, wo erfahrungsgemäß
rasch stärkere Ketonurie als bei Erwachse¬
nen auftritt (Ausscheidung von Ketonen:
Azeton, Azetessigsäure und ß • Oxybutter-
säure), spielt die Bekämpfung der Azidose
eine sehr große Rolle. Die Ketonurie ent¬
steht ja bekanntlich dadurch, daß die Kohle¬
hydrate dem intermediären Stoffwechsel
entzogen werden. Gesunde Menschen be¬
kommen auch Ketonurie, wenn sie eine Ei¬
weiß- und Fettkost erhalten oder wenn sie
hungern. Kinder bekommen, wie erwähnt,
schneller und stärker Ketonurie als Er¬
wachsene, junge Menschen leichter als alte.
Die Diabetiker, die auf Eiweiß- und Fett¬
diät sind, bekommen stärkere Ketonurie
als die Gesunden, weil bei den Diabetikern
eine größere oder geringere Menge ihres
Eiweißzuckers in den Urin übergeht und
dem Stoffwechsel entzogen wird.
Es ist wichtig, den Grad der Ketonurie
zu kennen, da diese zur Beurteilung der
Stärke der Säureintoxikation beitragen kann,
die eine große Rolle für die Prognose und
Behandlung des Falles spielt. Man kann
hier verschiedene Wege gehen. Eine
quantitative Bestimmung des Azetons +
Azetessigsäure und Oxybuttersäure klärt
uns über den Grad der Ketonurie auf, aber
da diese Bestimmungen lange Zeit in An¬
spruch nehmen und ziemlich umständlich
sind, eignen sie sich für klinische Zwecke
nicht. Hier ist es notwendig, sich täglich
und früh am Tage ein sicheres Urteil
über die Größe der Ketonurie zu ver¬
schaffen, denn Aenderungen in der Zu¬
sammensetzung der Diät können mit einiger
Sicherheit nur vorgenommen werden, wenn
man den Grad der Azidose kennt. Eine
solche leicht anwendbare klinische Methode
ist kürzlich von Björn Andersen und
mir veröffentlicht 3 ). Hier bestimmt man
durch Titrierung die Totalazidität und Am¬
moniakmenge des Urins. Diese zwei Werte
*) Die Untersuchungen in schweren Fällen von
Diabetes haben es wahrscheinlich gemacht, daß die
größtmöglichste Zuclcerbilduog aus Eiweiß bei Menschen
derart ist, daß 5 g Traubenzucker aus 1 g N ent¬
stehen.
3 ) Ueber Säure- und Ammoniakbestimmung im
Urin und ihre klinische Anwendung (vgl. Hoppe-
Seylers Zeitschr. f. phys. Chemie, Bd. 64, Heft I,
1910).
□ igitized by Google
haben einen parallelen Verlauf und sind ein
guter Wegzeiger für die täglichen Schwan¬
kungen der Azidose (vgl. die umstehenden
Tabellen).
In bezug auf die Bildung der Azidose¬
stoffe wissen wir nun, daß ihre Muttersub¬
stanzen Fett- und Eiweißstoffe sind, während
die Kohlehydrate und der Eiweißzucker,
der im Organismus umgesetzt wird, der
Bildung der Azidosestoffe entgegenarbeitet.
Daher muß man in der Diät, wo wir das
Fett nicht entbehren können, zu große
Fettrationen vermeiden und dafür sorgen,
daß die Eiweißmenge nicht zu reichlich ist,
solange die Toleranz des Diabetikers für
Eiweißzucker gering ist. Haben wir erst
die Toleranz durch eine schonende diäte¬
tische Behandlung verbessert, dann wird
der vermehrte Umsatz von Eiweißzucker
der Bildung von Azidosestoffen entgegen¬
wirken, d. h. antiketoplastisch wirken.
Die Kohlehydrate, die umgesetzt werden,
wirken stark antiketoplastisch. Wie wir
sehen werden, hat die Haferstärke oft eine
sehr stark antiketoplastische Wirkung. Lä-
vulose und Mannit können manchmal eben¬
so wirken. Glyzerin gleichfalls, aber da
dies den Zucker im Urin vermehren und
vielleicht die Nieren reizen kann, ist es
zweifelhaft, ob es angewendet werden darf.
Außer der Bekämpfung der Azidose¬
stoffbildung kann es auch notwendig sein,
die Anhäufung dieser Stoffe im Organismus
zu verhindern. Hierzu benutzen wir die
von Stadelmann eingeführte Alkalithe¬
rapie. Die pflanzensauren Alkalien und
Natronbikarbonikum verbinden sich mit den
organischen Säuren und führen sie leichter
in den Urin über. Wenn wir keine Alkalien
geben, gehen die Säuren Verbindungen mit
dem Ammoniak des Organismus ein, der
dadurch der Harnstoffbildung entzogen
wird, und das Resultat kann sein, daß der
Organismus großer Mengen Alkali beraubt
wird. Die Zuführung von Alkalien ver¬
mindert also die Ammoniakmenge des
Urins.
In bezug auf den Einfluß der Fettstoffe
und der verschiedenen Kohlehydrate auf
die Glykosurie liegen aus denUntersuchungen
der neueren und neuesten Zeit Erfahrungen
vor, die für die Therapie von praktischer
Bedeutung sind. Einige von ihnen sind
minder wichtig, andere aber haben eine
eminente Bedeutung für die Diätetik der
schwereren Fälle von Diabetes gehabt.
Die Fettstoffe vermehren in der Regel die
Glykosurie nicht. Nur in einzelnen Fällen
zeigte sich in eiweißarmen und sehr fett¬
reichen Versuchsperioden eine Vermehrung
Original fram
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Juli
Die Therapie der Gegenwart 1910.
293
des Zuckers im Urin (Hesse, Bernstein,
Bolaffio und v. Westenrijk). In der
Praxis spielt das jedoch kaum eine Rolle.
Es ist wichtig, zu wissen, daß Maltose be¬
sonders schlecht ertragen wird, daß Lävu-
lose manchmal ganz gut ertragen wird und
daß einzelne Diabetiker eine ausgesprochene
Intoleranz gegen Milchzucker haben, so
daß selbst ganz kleine Portionen Milch
eine weit stärkere Glykosurie verursachen
können, als man nach dem Gehalt von
Milchzucker und Kasein erwarten sollte.
Von größter Bedeutung ist es, die gün¬
stige Wirkung der Haferstärke auf die
Glykosurie in vielen Fällen von Diabetes
und besonders bei Kindern zu kennen,
v. Noordens Mitteilungen im Jahre. 1903
über die rätselhafte Wirkung der absoluten
Hafersuppendiät auf die Glykosurie und
Ketonurie bilden die Grundlage für diese
neue Behandlungsmethode. Seit der Zeit
sind zahlreiche Beweise für die heilsame
und, wie es scheint, spezifische Wirkung der
Haferkur veröffentlicht (Heubner, Lang¬
stein, Ewald und' Siegel, H. Lüthje,
Weintraud, Umber, Falta und Lampe).
Schon im Jahre 1905 teilte ich 1 ) in Däne¬
mark 9 Fälle mit, die mit dieser Diät be¬
handelt waren (darunter ein Kind). Später
wurde die Anwendung der Haferdiät von
v. Noorden etwas modifiziert, wodurch
man eine sicherere Wirkung als früher be¬
kommt. Er braucht jetzt einige Tage lang
strenge eiweißarme Diät, darauf einen Ge-
roüsetag, dann einige Tage die Haferkur,
zwei bis drei Gemüsetage, zuletzt wieder
strenge Diät. Während der Haferkur
dürfen keine anderen Kohlehydrate und
kein Fleisch gegeben werden; auch Eier
können manchmal die günstige Wirkung
vermindern.
Für Kinder habe ich folgende Zusammen¬
setzung der Diät verwendet: Amerikanische
Haferflocken (100—200 g), Butter (100 bis
250 g), 2—6 Eier, 6 g Salz, Tee, Kaffee und
etwas Rotwein.
Die Haferflocken können zu Suppe oder
zu Grütze gekocht werden (mit Butterzu¬
satz); die Butter wird der Suppe bei jeder
Anrichtung zugesetzt, und gleichzeitig wird
etwas Zitronensaft dazu gegeben, (Roborat
und Reiseiweiß, das v. Noorden ab und
zu braucht, habe ich zur Suppe nicht zu¬
gesetzt, da die Kinder sie ohne Zusatz
lieber nehmen und Eier vorziehen.) In
keinem meiner Fälle bei Kindern trat
Diarrhoe oder Oedem ein, was, worauf ich
*) M. Lauritzen, lieber die Anwendung von
Kohlehydratkuren bei Zuckerkranken. Med. Klinik
1905.
□ igitized by Google
1905 aufmerksam machte, bei Haferdiät
vielleicht als Folge des reichlichen Salz¬
gehalts auftreten kann. Deshalb pflege ich
die Butter mit Wasser kneten zu lassen,
bevor sie der Suppe zugesetzt wird,
v. Noorden meint, daß das Oedem als ein
„toxisches Oedem" aufgefaßt werden muß,
und gibt während der Kur den Patienten,
die beginnendes Oedem zeigen, Theocin.
Wenn wir nun auf die spezielle Dia¬
betestherapie bei Kindern näher eingehen
sollen, ist es praktisch, die Behandlung der
1. jungen Kinder im 1. und 2. Lebensjahr
und 2. größeren Kinder jede für sich zu
besprechen.
1. Bei jungen Kindern ist der Verlauf
in der Regel so rasch und gewaltsam, daß
keinerlei Aussicht besteht, die Prognose zu
verbessern. Ich habe in solchen Fällen
Milchdiät gewählt, aber habe bisher keine
Buttermilch versucht, wie von Langstein
empfohlen ist, weil sie weniger fetthaltig
ist und so günstig auf die Azidose wirken
kann.
Bei einem 14monatigen Kinde von 8V2 kg
brauchte ich eine Milch - Sahne - Wasser¬
mischung (mit Abzug der ausgeschiedenen
Zuckerwerte, 140 Kalorien, repräsentierte
die Mischung etwa 1000 Kalorien). Es trat
eine kurzdauernde Besserung des Zustands
ein, aber da der Fall eine progressive
Tendenz hatte und die Azidose stark zu¬
nahm, trat 2 Monate nach Beginn der Be¬
handlung Koma ein. In diesem Fall glückte
es nicht, die Behandlung mit Hafersuppen¬
diät durchzuführen; aber sie mag kürzere
Zeit hindurch bei Kindern in diesem Alter
versucht werden.
2. Bei größeren Kindern, wo sich eine dia¬
betische, leichte Glykosurie findet, fährt man
am besten, wenn man streng zu Werke geht.
Eine kohlehydratfreie Diät mit mäßigem
Eiweißgehalt wird mindestens zwei Wochen
durchgeführt und gleichzeitig wird das
Körpergewicht und die in der Regel schnell
auftretende Ketonurie kontrolliert. Danach
pflege ich zu einer Diät mit Aleuronatbrot
oder Glutenbrot überzugehen 1 ). Die Diät
darf nicht mehr als 40—50 g Kohlehydrat
enthalten. Wenn der Patient nicht einmal
dies^, ohne Zucker in den Urin zu be¬
kommen, verträgt, muß die Kohlehydrat¬
menge bis auf die Hälfte oder noch mehr
eingeschränkt werden.
*) Eiweiß Fett Kohlehydrate
Aleuronatbrot. . ca. 20% ca. 6° 0 ca. 20%
Glutenbrot ... m 25% »5% »17%
(Leerbeck und
Holm, Kopen¬
hagen).
Original from
UNIVERSITY 0F CALIFORNIA
294
Die Therapie der Gegenwart 1910.
Juli
Als Beispiel kann angeführt werden: Glutenbrot = ca. 1300 Kalorien, d. h.
Ein 4jähriges Kind von 17 kg bekam 50 g 77 Kalorien pro Kilogramm.
Braten oder Fisch oder Schinken, 25gSpeck, Es ist vorteilhaft, jeden Monat einige
25 g Käse, 2 Eier, 200 g Gemüse und Tage strenge Diät nach einem Gemüsetag
zuckerarme Früchte, 50 g Butter, 1 /o Nösel einzuschieben. Sollte sich Zucker zeigen,
Sahne, 80 g Aleuronatbrot oder 100 g kehrt man sofort zur ganz strengen Diät
Tabelle II.
Obs. Nr. 23. E. O., lOjähriges Mädchen.
Datum
Kost
Eiweiß
Fett
Kohlehydrate
Kalorien pro Kilogramm
Gramm Bicarbonic. natr
Gramm Zucker im Urin .
Totalazidität des Urins
in Aequiv.
Gramm Ammoniaki. Urin
Eiscnchloridreaktion im
Urin
Reaktion des Urins
N im Urin
Körpergewicht in Gramm
00
n
B
n
H
fl
3
(N
o
9
17. 3. |
Gemischte Kost.
140 — -
— Pat.*ist zu-
hause
18. 3,
Diät mit Glutenbrot und
Porterzwieback . . . .
— —
—
—
_
—
—
1. 5.
Diät mit 100 g Aleuronatbrot i
vom 28. 4.
92 127
31 —
—
26,5, — 1,96
mittel
sauer
—
31200, Aufn. auf d.
4. 5.
50 g Aleuronatbrot, 50 g
Klinik 28.4
Glutenbrot.
94 127
29 —
—
19.8 — —
schwach
—
32000
5. 5.
Gemüsetag.
42! 94
27 —
—
1,2! —
»
—
32000
6. 5.
Diät ohne Brot.
65 108
12 —
—
1.3 — —
—
—
7. 5.
Diät ohne Brot.
71110
12 —
—
5,9, - -
„
—
—
8. 5.
Diät ohne Brot.
71 110
12! —
—
9,6 — —
—
31600
9. 5.
Gemüsetag.
42 94
27 -
—
0 - —
M
—
—
10. 5.
Diät ohne Brot.
71 110
12 —
—
0 — —
—
—
11. 5.
Diät ohne Brot.
71110
12 43*)
—
0 — —
_
32000
12.-15. 5.
Diät ohne Brot.
71110
12 43
_
0 — —
_
32100
16. 5.
Diät ohne Brot.
71 110
12 43
—
1.2 - -
_
32200
18. 5.
Gemüsetag.
42 94
27 —
—
0 — —
-H
—
32100
19.-22. 5.
Diät ohne Brot.
71 110
12 —
—
0 — —
- 4 -
_
32400
24. 5.
Diät mit 50 g Glutenbrot
_I —
— —
—
0 — —
- 4 -
::
—
32500
28. 5.
Diät mit 50 g Glutenbrot .
— —
— —
—
0 - -
—
32500 Entlassg.aus
7.6. — 18.10.
Diät mit 75 g Glutenbrot, 50g
„
der Klinik
Früchte. 100 g Sahne . .
—! —
— —
—
0 - -
-t-
,,
36000 Ist zu Hause
18. 11.
Diät mit 75 g Glutenbrot, 50g
Früchte, 100 g Sahne . .
—1 —
— —
—
8 I — -
-4-
•
—
36000 Ist zu Hause
22. 11.
?
_
_ _
—
_ _
_
-
_
— Aufn. auf d.
23. 11.
Diät mit 50 g Glutenbrot,
Klinik
100 g Sahne.
84'124
20 —
—
35,8 0,1524)1,78
mittel
.
12,9
35200
24. 11.
Gemüsetag.
47 129
32 -
—
16,8 0,1654 2,08
schwach
11,5
—
25. 11.
Diät ohne Brot.
71 110
12 —
—
14 ! 0,1445' 1,75
mittel
n,o
—
26. 11.
Diät ohne Brot.
71 110
12 —
_
20 10,1334:1,58
12,2
—
27. 11.
Gemüsetag.
47 129
32 —
—
6,6 0,0959 1,17
schwach
7,5
35800
28. 11.
Haferdiät.
33 158
92 —
—
12,5 0.1088 1,31
8,8
— 1
29. 11.
Gemüsetag.
471129
32 —
—
1.2 1 0.1144 1,35
mittel
9,3
_ ,
30. 11.
Ilaferdiät.
33 158
92 —
—
2 0,1063 1,23
schwach
6.9
1. 12.
Gemüsetag..
47 129
32 -
—
11.7 - -
mittel
8,0
—
2. 12.
Diät ohne Brot.
71 110
112 —
—
37,8 0,1853 2,12
stark
16,2
—
3. 12.
Diät mit 25 g Glutenbrot
77 111
16 —
5
32 0,19112,23
15,8
— Diätübertre-
tung?
4. 12.
Haferdiät.
22 102
64 —
5
1.1 — -
schwach
5,5
—
5. 12.
Haferdiät.
22102
64 —
5
1,4 — —
6,0
—
6. 12.
Gemüsetag.
471129
132 —
15
0 - -
mittel
—
35000
7. 12.
Diät ohne Brot.
61 131
117 -
20
0 — —
alkal.
_
— Entlassg.aus
der Klinik
10. 12.
Diät mit 25 g Glutenbrot .
73 137
21 —
20
0 — —
—
—
19. 12.
! Diät mit 50 g Glutenbrot .
80 138
25 —
15
0 — —
_
—
30. 12.
1 Diät mit 75 g Glutenbrot .
86 14C
30 —
10
1 0 I — —
*
1 l
—
36000|
*) Rubner hat folgende Zahlen (nach Abzug der Verbrennungsvvärme der Fäzes):
Kinder von 4,03 kg verbrauchen 91,3 Kal. pro Kilogr.
Kinder von
23,7 kg vcrbrauc
ien
39,5 Kal. pro Kilogr.
« it
11.8 „ . 81,5 „
n
» 11
30.9 „
9»
57,7 „ „
-
16.4 . . 73,9 ,
»
n »
40,4 ,,
19
52,1 „ . „
Dioitized bv O . »ölp
Original fram
~-
UNIVER5ITY OF CALIFORNIA
Juli
Die Therapie der Gegenwart 1910.
295
zurück, die 3—4 Wochen durchgeführt
werden muß. Zeigt sich kein Zucker im
Urin, muß man mindestens zwei Jahre bei
der oben angeführten Diät verbleiben. Erst
dann kann davon die Rede sein, weitere
Zugabe von kohlehydrathaltiger Nahrung
zu versuchen, wobei man mit großer Vor¬
sicht vorgehen muß und das nur während
eines Hospitalaufenthaltes.
In den leichten Fällen besteht eine
Möglichkeit der Heilung, die man um
keinen Preis durch zu frühen Uebergang
zur gemischten Kost verscherzen darf.
Selbst wenn sich keine Glykosurie zeigt,
muß man einen solchen Patienten ins
Hospital zur Revision aufnehmen. Nur auf
diese Art kann man sich Klarheit über die
Assimilationsfähigkeit des Kindes verschaffen
und die quantitative Zusammensetzung der
Diät nach den Erfahrungen regulieren, die
man durch genaue Untersuchung der Tole¬
ranz und der Neigung zur Ketonurie ge¬
winnt. Ich weiß sehr gut, daß diese Forde¬
rungen sehr weitgehend sind, und daß die
Eltern nicht verstehen können, warum ein
anscheinend gesundes Kind in die Klinik
aufgenommen werden soll. Aber nach
meiner Erfahrung ist es der einzige Weg,
auf dem es möglich ist, das Kind zur Hei¬
lung zu führen oder sein Leben so lange
wie möglich zu verlängern.
In den mittelschweren Fällen ist oft
begründete Aussicht, eine bedeutende Besse¬
rung der Prognose quoad durationem vitae
durch eine zweckmäßig geleitete Hospital¬
behandlung zu erwarten, die, wohl zu
merken, in modifizierter Form zuhause in
den Perioden, wo das Kind nicht auf der
Klinik ist, fortgesetzt wird. Selbst wenn
die Azidose ziemlich stark ist, unterlasse
ich es nie, eine Behandlung mit strenger
Diät zu versuchen, die nach folgenden
Prinzipien eingerichtet wird: Unter Bett¬
ruhe werden die Eiweißstoffe und Kohle¬
hydrate der Kost bei gleichzeitiger Ver¬
mehrung der Fettration methodisch einge¬
schränkt. Vor jeder neuen Einschränkung
wird ein sogenannter „Gemüsetag" einge¬
schoben. An einem solchen Tag bekommt
der Patient 400—600 g kohlehydratarme
Gemüse, auf drei Mahlzeiten verteilt, außer¬
dem 2—4 Eier, 50—100 g Speck, 1 Portion
Bouillon mit Gemüse, Tee, Kaffee ohne
Sahne, Sodawasser (vgl. Tabelle II).
Beob. Nr. 23. E. O m 10jähriges Mädchen.
Die Patientin, in deren Familie kein Diabetes
besteht, bekam im November 1908 Herpes zoster
über der rechten Hüfte und hatte im Januar
1909 einen Furunkel im Gehörgang. Am
17. März 1909 wurden 7% Traubenzucker im
Urin nachgewiesen, nachdem sie über Durst
□ igitized by Google
geklagt und sich einige Wochen müde gefühlt
hatte. Aus der Tabelle ersieht man, wie der
Urin allmählich weniger zuckerhaltig wurde,
um zuletzt, am 9. Mai. nach einem Gemüsetag
zuckerfrei zu sein. Das hält bei Uebergang zu
strenger Diät ohne Brot an. Die Ketonurie hat
sich währenddem fast verloren. Am 16. Mai
zeigt sich wieder etwas Zucker, der schnell
durch einen Gemüsetag entfernt wird und fort¬
bleibt bei andauernder Behandlung mit strenger
Diät mit 71 g Eiweiß. Das Gewicht nimmt zu
bei nur 43 Kalorien pro Kilogramm. Geringe
Zulage von Kohlehydraten wird ertragen. Wäh¬
rend eines halbjährigen Aufenthalts zuhause
bleibt sie zuckerfrei und das Gewicht steigt um
fast 5 kg. Sie darf einige Stunden in der
Schule sein. Am 18. November ist etwas Zucker
im Urin, der während der Reise ins Kranken¬
haus ansteigt und gleichzeitig nimmt die Keton¬
urie zu. Da der Zucker bei strenger Diät in
Verbindung mit eingeschobenen Gemüsetagen
nicht sofort schwindet, benutze ich Haferkur
und Gemüsetage, die zunächst mißglücken, aber
das nächstemal, wo die Haferration geringer
ist, schwindet der Zucker rasch und hat sich
seitdem nicht wieder gezeigt, selbst nach
kleinerer Zulage von Eiweiß und Kohlehydraten.
Die Eisenchloridreaktion ist geschwunden und
das Gewicht wieder gestiegen. Die letzten
Tage des Hospitalaufenthalts gebe ich recht
große Dosen Alkalien, um keine Verschlimme¬
rung der Azidose während der Reise nach
Hause zu riskieren.
Als ein zweites Beispiel eines mittel¬
schweren, nach denselben Prinzipien wie
die eben erwähnte Patientin behandelten
Falles mag Beobachtung Nr. 25 angeführt
werden. Diese Patientin ist im Gegensatz
zur ersten sehr abgemagert und hat bei
der Aufnahme starke Azidose und Glykos¬
urie von 100—150 g Zucker in 24 Stunden.
Hier glückt es auch, durch vorsichtigen
Uebergang zu strenger Diät mit einge¬
schobenen Gemüsetagen den Zuckergehalt
zu erniedrigen und mittels Haferkur kom¬
biniert mit Gemüsetagen wird dann das
auffallend günstige Resultat erreicht, was
jeder Kenner des Diabetes sofort bemerken
wird (vgl. Tabelle III).
Beob. 25. M. N., 8jähriges Mädchen. Kein
Diabetes oder Tuberkulose in der Familie. Sie
hat immer gekränkelt und war stets mager ge¬
wesen. Keine Kinderkrankheiten. Im Sommer
1909 wurde sie reizbar und litt viel an Durst.
Einen Monat vor der Aufnahme in die Klinik
wies der Hausarzt 10°/o Zucker im Urin und
eine Diurese von 1—21 nach. Sie wurde zu¬
hause mit Diäf -f- Glutenbrot und 7* 1 Sahne
ohne wesentliche Besserung behandelt. Die
Organuntersuchung zeigt nichts Abnormes. Der
Stuhlgang normal, makro- und mikroskopisch.
Auf der Klinik wird Eiweiß und Kohlehydrat
der Kost nach eingeschobenen Gemüsetagen
eingeschränkt und die Glykosurie fällt auf 36 g;
aber die Azidose bleibt fast unverändert. Nach
zweitägiger Haferkur und anschließenden Ge¬
müsetagen hält der Urin sich zuckerfrei und
die Ketonurie vermindert sich bedeutend. Nach
wiederholter Haferdiät, kombiniert mit Alkali¬
therapie, mit folgender geringer Kohlehydrat-
Original from
UNIVER5ITY OF CALIFORNIA
296
Die Therapie der Gegenwart 1910.
Juli
Tabelle III.
Obs. Nr. 25. M. N., 8jähriges Mädchen.
Datum
Kost
Eiweiß
Fett
Kohlehydrate |
Kalorien pro Kilogr |
Gramm Bicarb. natr. 1
GrammZucker i. Urin
Totalazidität des
Urins im Aequiv.
Gramm Ammoniak
im Urin
Eisenchloridreaktion
im Urin
Reaktion des Urins
Gramm N im Urin
•-
Je
•c s
£ 6
bC u
o O
Q.
u
O
X
Bemerkungen
1909
7. 10.
Diät mitGlutenbrot(zu Hause)
—
—
—
—
100
—
—
mittel
sauer
18 400 Aufgen. in d.
fcn.’rrilr
12. 10.
Diät mit 75 g Glutenbrot
85
133
25
_
_
48
0,2250
2,79
stark
»
17,3
18400
13. 10.
Gemüsetag.
56
160 32
—
_
8
0,1683
2,09
mittel
»
9,9
18 600
14. 10.
Diät mit 25 g Glutenbrot
74
131
21
—
—
38
0,1484
1,96
mittel
n
9,2
18 700
15. 10.
Diät mit 25 g Glutenbrot
74
131
21
—
36
0,1932
2,59
stark
n
13,4
18 500
16. 10.
Haferkur mit 50 g Roborat
69
120
80
—
12,8
0,0533
1.47
schwach
6.7
18 600,
17. 10.
Haferkur mit 4 Eiern . . .
45
142
80
—
_
0
0,1177
1,59
mittel
—
18200
18. 10.
Gemüsetag ... ...
49
152
32
—
—
0
0,1041
1,34
schwach
n
—
18 600
19. 10.
Gemüsetag.
49
152
32
—
—
0
0,1106
1,44
mittel
V
—
19100
20. 10.
Gemüsetag.
49
152
32
—
10
0
—
—
schwach
n
5,1
18 6C0
21. 10.
Haferkur mit 4 Eiern . . .
45
142
80
—
10
0
—
—
mittel
4,0
18 700
22. 10.
Diät mit 50 g Glutenbrot .
50
126
38
10
0
—
—
mittel
alkal.
3,6
19100
23. 10.
Diät mit 50 g Glutenbrot
50
126
38
—
10
0
—
—
mittel
n
5,9
19 200
24. 10.
Dieselbe mit 50 g Braten
65
131
38
_
10
0
—
—
mittel
sauer
—
19 200
25. 10.
Dieselbe mit 50 g Braten
65
131
38
—
10
0
0,0525
0,71
stark
alkal.
8.8
19 200
26. 10.
Gemüsetag.
49
152
32
—
10
0
0.0396
0,48
stark
sauer
4,8
19 300
27. 10.
Diät ohne Brot.
60
147
20
—
10
0
0,0531
0,63
stark
w
9.2
19 500
28. 10.
Diät ohne Brot.
60
147
20
—
10
0
0,0622
0,69
mittel
n
8,0
19 500
29. 10.
Dieselbe mit 25 g Gluten *+-
100 g Gemüse.
63
147
16
10
0
0.0576
0,69
mittel
—
19600
30. 10.
Gemüsetag.
49
152
32
—
10
0
0,0465
0,55
mittel
»
4,9
19 400 Entlassen a.
der Klinik
3. 11.
Diät mit 25 g Glutenbrot
63
147
16
—
10
0
—
—
mittel
—
19 500
10.-24.11.
Dieselbe -f 50 g Aepfel -j-
10. 11.
24.11.
2 Eier -f- 25 g Braten . .
58
138
22
—
10
0
0,0965
0,99
mittel
n
—
20 000
8. 12.
Diät mit 50 g Glutenbrot
64
140 27
—
10
0
—
—
schwach
V
—
20 000
24. 12.
Diät mit 50 g Glutenbrot
64
140
27
_
10
0
—
—
schwach
—
20 400
31. 12.
Dieselbe + 50 g Kartoffeln
65
140
37
10
0
—
—
mittel
—
20 400
1910
29. 1.
Dieselbe + 50 g KartotTeln
65
140
37
—
10
0
—
—
—
20 400 Urin kein Azet.
(Legals Pr.)
Zulage zur strengen Diät und Gemüsetagen
bleibt der Urin zuckerfrei und die Ketonurie
ist nur gering. Das Gewicht steigt um 1 kg.
Nach der Entlassung aus dem Krankenhaus am
30, Oktober 1909 blieb der Urin ständig zucker¬
frei und gab nach Zulage von größeren Kohle¬
hydratmengen mit der Legal sehen Probe keine
deutliche Reaktion auf Azeton. Das Gewicht
stieg weiter um 1 kg.
Ein dritter Patient mit mittelschwerer
Glykosurie und Ketonurie (Beobachtung 27)
war viel schwerer als die beiden vorange¬
gangenen zuckerfrei zu bekommen, aber
auch hier gelang es zuletzt durch wieder¬
holte Haferkuren, kombiniert mit Gemüse¬
tagen, Aglykosurie zu erzielen, die unter
starker Gewichtszunahme anhielt.
Beob. 27. K. V., 14jähriger Knabe. Kein
Diabetes in der Familie. Im Alter von zwei
Jahren hatte er „gastrische Anfälle“. Im siebenten
Jahr Scarlatina ohne Albuminurie. Häufig
Angina tonsillaris. Im Frühling 1909 beginnt
er zu kränkeln, im Sommer häufiges Urinieren
und starker Appetit, trotzdem Gewichtsverlust.
Anfang Dezember weist der Hausarzt 8,5 °/o
Zucker nach, die Diurese beträgt 2—2 l / 9 l. Durch
antidiabetische Diät mit Glutenbrot zuhause
geht die Zuckerausscheidung bis ungefähr auf
die Hälfte zurück und bleibt da einige Zeit
stehen. Patient ist mager und blaß. Hämo¬
globin 70. Die Organuntersuchung zeigt nichts
Abnormes außer leichter Dehnung des I. Herz¬
tons und Spaltung des II. Tons über der Basis.
Der Stuhlgang hart, schwer. Fäzes übrigens
normal, makro- und mikroskopisch.
Aus Tabelle IV kann man ersehen, wie
schwer es ist, die Glykosurie niedrig zu
halten, trotz Einschränkung von Eiweiß und
Kohlehydraten und Anwendung von Ge¬
müsetagen. Um die starke Ammoniakaus¬
scheidung zu vermindern, wird gleichzeitig
Alkalitherapie eingeleitet. Nach wieder¬
holten Haferkuren, gefolgt von Gemüse¬
tagen und strenger Diät, gelingt es, den
Zucker völlig aus dem Urin zu entfernen
und nun beginnt das Körpergewicht zuzu¬
nehmen ; bis dato ist es um 3 kg gestiegen.
Der Urin ist ständig zuckerfrei und die
Ketonurie sehr mäßig.
□ igitized by
Original fr&m
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Juli Die Therapie der Gegenwart 1910. 297
Tabelle IV.
Obs. Nr. 27. K. V., 14jähriger Knabe.
11.—15,1. Diät mit 75 g Brot . .
15. —16.1. Gemüsetag.
16. —17.1 Diät mit 50 g Brot . .
17. —18.1.; Diät mit 50 g Brot . .
18. —19.1.| Diät mit 50 g Brot ,
19. -— 20. 1. Gemüsetag.
20. —21.1.' Diät mit 50 g Brot . .
21. —24.1. Diät mit 50 g Brot 24. 1.
24. —25.1.1 Gemüsetag.
25. — 26.1.| Diät ohne Brot. . . .
26. —31.1. Diät ohne Brot . 31.1.
31.1. — 1.2.1 Gemüsetag.
1. —2.2. Haferdiät: 200 g Hafer.
2. —3. 2. 240 g Butter, 3 Eier, 10 g
Salz, 250 g Rotwein .
3. —4.2. Gemüsetag.
4. —5. 2. Gemüsetag mit 50g Fisch
5. —6. 2. Diät ohne Brot....
6. —7. 2. t Diät ohne Brot...
7. —8.2. Diät ohne Brot....
8. —9.2. Diät ohne Brot. .
9. —10.2. Haferdiät: 150gGr.,2Eier,
[ 60gButter,500Rotwein
10. —11.2. Haferdiät: 150gGr.,2Eier,
20g Butter, 500Rotwein
11. —12. 2J Gemüsetag.
12. —13. 2. Gemüsetag.
13. —14.2. Gemüsetag-f 75gBraten
14. —15.2. Diät ohne Brot. . . .
102 155!
38112!
82 154
82 154
82 154
38 112)
73 151
73 151
47,129
76 176
76176
47 129
51 245
48 18 46
32 18 34
39 18 50
39 18 —
39 18-
32 18 —
39 18 —
39:18 —
3218 —i
17jl8 —
17118 —!
32|18
12818 —
-|95
-125
— 22,7
-32,5
5 33
5 17,8
5 5,5
2,5 25,5
2,5 7,7
51 245 128118— 15 12,ß!
50 139) 32)18—15 5
65445 32 18 —15 ' 0,4
74162 17118 —15 Spar
74162! 17118 —15 „
74 162! 17(18 —15 „
74 162 1748- 15 „
! ! i | !
36 74 9636- 15 11 i
! ! ! ! | I
36 200 96 36 — 15 Spar '
40j 136' 37 18 - 10 0»
404 36 37 18— 10 i 0 |
62143 37 18 — 10 | 0
74462) 17 18— 10 0
5 0,2770
1,4 ! 0,1326
2,8 0,1834
1,7 0,1634
3,5 0,1588
1.7 0,1279
1.3 -
3.4 0,0929
2.8 0,0909
2,8 0,1198
3,2 0,0667
1,1 0,0331
4,4,0.0672
— !o,0296
0 0,0522
3 0,0534
0 10.0398
0 0,0548
— 0.0664
0,210,0660
3,7 |24
1.65 12,3
2,31 13,2
2,0313.3
1,86)14,4
1,50 —
0,9 11,2
0,92 10,6
1,21113,1
0,76i 8,7
0,29] 6,5
0,63 8,9
0,26 4,9
0,46 7,8!
0,66 8 , 2 ]
0,41 9,41
0,46 9,5!
0,62 13,3]
0,52 12,31
stark sauer
mittel
schwach
mittel
stark
j alkal.
I sauer
0 0,0349 0,15 5,8
0 0,0300 0,12 5,8
1,2 0,0279 0,1 5,7
2,7 0,0441 0.46 8,5
- — 0,42 -
schwach
0
schwach
mittel
39200 Bettruhe
39 300
39 500
39 800
40 000
40000)
40 300!
39 600
39800
39600
39800
39 800
39600
39600
39200]
39600
39 700
39700
39800
40200
39600j
39 300
39600
39800
40 000
Mittelschwere Diabetesfälle, die nach
der alten Behandlung nicht frei von Zucker
wurden, können also mit der modernen
Therapie mehr oder weniger leicht zucker¬
frei gemacht und die Prognose quoad du-
rationem kann bedeutend gebessert werden.
Wie bei den leichten Fällen gilt es auch
hier, die Hospitalbehandlung zuhause fort¬
zusetzen und selbst wenn sich kein Zucker
im Urin zeigt, mQssen diese Patienten jeden
dritten Monat zur Revision ihrer Assimi¬
lationsfähigkeit und des Grades der Keton-
urie in die Klinik aufgenommen und die
Diät danach reguliert werden.
In den schweren Fällen (vgl. die obige
Definition) muß die diätetische Behandlung
nach ungefähr denselben Prinzipien geleitet
werden, aber hier steht die Alkalitherapie
mehr im Vordergrund. Der Uebergang
zur strengen Diät muß äußerst vorsichtig
und unter großen prophylaktischen Dosen
Alkali geschehen, wie das Naunyn seiner¬
zeit angeraten hat. Durch allmähliche
Steigerung der Alkalidosis (Natr. bicarb.
in Fachinger oder Sodawasser) macht man
den Urin alkalisch oder schwach sauer,
erst dann geht man zur strengen Diät nach
der oben angegebenen Methode über. Auf
diese Weise kann man vermeiden, daß die
strenge Diät Symptome von beginnendem
Coma diabeticum macht. Will der Zucker
trotz starker Einschränkung des Eiweißes
der Kost und trotz Gemüsetage nicht ganz
schwinden, kann man—bei Bettruhe — einen
• Hungertag versuchender manchmal die letz¬
ten Zuckerspuren fortbringen und bewirken
kann, daß der Zucker beim Uebergang zur
strengen Diät mit einer kleinen Eiweißration
nicht wiederkommt. Das Körpergewicht
fällt bei einem Hungertag manchmal stark,
pflegt aber schnell wieder hochzukommen.
Die Haferkur nach dem oben bespro¬
chenen Schema mit einleitenden und ab¬
schließenden Gemüsetagen soll auch ver¬
sucht werden; nur muß der Uebergang zur
strengen Diät langsam vor sich gehen, da
man sonst von einer plötzlich starken Zu¬
nahme der Azidose mit .anschließendem
Koma überrascht werden kann.
Auf die Behandlung des Coma diabeti¬
cum und anderer Komplikationen will ich
in dieser Abhandlung nicht eingehen.
□ igitized by
Gck >gle
38
Original frnm
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Bemerkungen
298
Die Therapie der Gegenwart 1910.
Juli
Ans der I. inneren Abteilung des städt. Krankenhauses Moabit in Berlin.
(Direktor: Prot Georg Klemperer.)
Krisenartig auftretende Bewusstlosigkeit mit Atemstillstand
bei Tabes.
Von Dr. Leo Jacobsohll -Charlottenburg.
Die Monotonie des klinischen Bildes,
das wir gewöhnlich bei der Tabes zu
sehen bekommen, wird in einer Minderzahl
von Fällen durch den Eintritt trophischer
Störungen sowie krisenartiger Zustände im
Bereich des Vagus und der Splanchnici
unterbrochen. Weniger bekannt ist ein
eigenartiger Symptomenkomplex, welcher
in nahen Beziehungen zur Tabes steht und
durch krisenartig eintretende Bewußtlosig¬
keit mit Atemstillstand charakterisiert ist
Wir hatten des öfteren Gelegenheit, an
einer 46 jährigen tabischen Patientin, welche
wegen heftiger gastrischer Krisen das
Krankenhaus aufsuchte, jenen eigenartigen,
durch das Unvermittelte des Eintritts
sowie die Schwere des Krankheitsbildes
höchst bedrohlich erscheinenden Zustand
zu beobachten. Die Vorgeschichte unserer
Patientin, welche zum erstenmal vor
1 l h Jahren in das Krankenhaus aufgenom¬
men wurde, lautet:
15. Juni 1908. Frau V., hereditär, familiär
ohne Besonderheiten. Früher gesund, ab¬
gesehen von einer Extrauteringravidität, welche
eine Laparotomie erforderlich machte.
Beginn des jetzigen Leidens mit kolikartigen
Schmerzen und wäßrigem Erbrechen. Im Laufe
des nächsten Jahres reißende Schmerzen im Kreuz
und in den Beinen, daneben in Abständen von
14 Tagen bis 4 Wochen Brechanfälle in Ver¬
bindung mit kolikartigen Schmerzen. In den
letzten Monaten Unsicherheit des Ganges im
Dunkeln. 7 Aborte, ein lebendes Kind, das im
Alter von 3 Wochen starb. Letzte Regel aus¬
geblieben.
Der erste Untersuchungsbefund (16. Juni 1908)
lautete: Kleine blasse Frau in schlechten Er¬
nährungsverhältnissen. In der Linea alba vom
Nabel zur Symphyse alte Operationsnarbe.
Postoperative Hernie.
Herzgrenzen nicht verändert. Töne
rein, 2. Aortenton leicht akzentuiert.
Puls von normaler Frequenz, etwas hart.
Urin Spuren von Albumen, keine
Zylinder. Spezifisches Gewicht 1020.
Nervensystem: Pupillen beiderseits eng
und leicht verzogen. Reflektorische Starre
Pat.-Reflexe fehlen. Romberg positiv. Knie¬
hackenversuch beiderseits unsicher. Taktile
Sensibilität überall erhalten, dagegen werden
Nadelstiche am rechten Kalkaneus und linken
Malleolus int. nicht als schmerzhaft empfunden.
Gang ziemlich sicher, erst bei Augenschluß
mäßige Ataxie nachweisbar.
Wegen heftiger Leibschmerzen wurde
ein heißes Bad verordnet und, als dieses
wirkungslos blieb, 1 cgm Heroin injiziert.
Etwa 1 /2 Stunde später verfiel Patientin
ganz plötzlich, ohne alle Vorboten in einen
Zustand tiefer Bewustlosigkeit. Ebenso un¬
vermittelt setzte die bis dahin regelmäßige
und ruhige Atmung aus. Die Haut wurde
blaß und kühl, die Pupillen maximal weit
und lichtstarr; der Kornealreflex erlosch
und der Unterkiefer sank herab, so daß
die Patientin einen moribunden Eindruck
machte. Nur das Herz arbeitete kräftig
weiter. Herzrythmus und Pulsfrequenz
waren nicht gestört. Nach 2 Minuten
machte sich eine allgemeine Zyanose be¬
merkbar, 1 Minute später traten Zuckungen
von vorwiegend klonischem Charakter an
den unteren Extremitäten auf. Im ganzen
verblieb die Patientin 4 Minuten im Zu¬
stand der Bewußtlosigkeit und des Atem¬
stillstandes. Dann setzte, ebenfalls ganz
unvermittelt, die Atmung tief und voll wieder
ein, worauf Patientin bald zur Besinnung
kam. 1 Stunde später wiederholte sich der
geschilderte Zustand in gleicher Weise.
Die Atmung sistierte diesmal 2 Minuten.
Am folgenden Tage kam ebenfalls ein
Anfall von zwei Minuten Dauer zur Beob¬
achtung. Eür alle Anfälle bestand totale
Amnesie.
Die Deutung dieses eigenartigen, höchst
foudroyanten Krankheitsbildes ist für den,
der diese Zustände nicht kennt, nicht
leicht. Eine Morphium- respektive Heroin¬
wirkung konnte in unserem Falle zuerst
ausgeschlossen werden, indem der Typus
der Respirationsstörung sich von dem bei
toxischen Morphiumdosen beobachteten
wesentlich unterschied. Auch zeigte der
weitere Verlauf, daß Anfälle unabhängig
von Heroininjektionen auf traten, anderer¬
seits nach Heroin keine Anfälle beobachtet
wurden. Bei der vorhandenen chronischen
Nephritis war man berechtigt, an einen
urämischen Anfall zu denken. Indes ließ
das Rezidivieren des Zustandes bei symp¬
tomfreien Intervallen sowie das bei Urämie
unbekannte minutenlange Sistieren der
Atmung darauf schließen, daß es sich nicht
um Urämie handle. Für Epilepsie boten
sich ebenfalls keine Anhaltspunkte.
Uebersieht man die Literatur der bei
Tabes beobachteten Respirationsstörungen,
so findet man folgende Mitteilungen über
verringerte respektive aufgehobene Atem¬
frequenz. M. Egger 1 ) erwähnt einen Fall
Soci6t6 de neurol. de Paris, Sitzungsbericht
vom 5. Februar 1903; zitiert Neurol. Zbl. 1903, S. 891.
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Original fram
UNiVERSITY OF CALIFORNIA
Juli
Die Therapie der Gegenwart 1910.
299
einer gutartigen, über 30 Jahre sich er¬
streckenden Tabes, bei der in den letzten
Jahren sich eine habituelle Herabsetzung
der Atemfrequenz bis auf 4—5 Züge pro
Minute einstellte. Nach vorausgegangenen
tiefen Inspirationen konnte ein apnoischer
Zustand von 2 Minuten Dauer erzielt werden.
Es liegt auf der Hand, daß dieser apnoische
Atemstillstand kaum mehr als eine geringe
äußere Aehnlichkeit mit der von uns be¬
obachteten Unterbrechung der Atemtätig¬
keit hat.
Oppenheim 1 ) und Siemerling haben
bei einer seit einigen Jahren an Tabes
leidenden Frau einen 4 Wochen ante
exitum eintretenden komatösen Zustand be¬
obachtet, der mit einer erheblichen Ver¬
langsamung der Atemtätigkeit einherging.
Die durchschnittliche Zahl der Atemzüge
in der Minute ging nicht über 8 hinaus.
Daß auch der Cheine-Stokessche
Atemtypus auf dem Boden der Tabes ent¬
stehen kann, zeigt die Beobachtung von
Mac Bride 2 ), der bei einem Fall von Tabes
mit doppelseitiger Postikuslähmung habi¬
tuellen Cheine-Stokes sah.
Die erste Mitteilung eines krisenartig
auftretenden Zustandes von Atemstillstand
und Bewußtseinsschwund bei Tabes ver¬
danken wir Pal 3 ). Dieser Autor wies dar¬
auf hin, daß es im Verlaufe der Tabes
unter ganz besonderen Umständen zu einem
derartigen Symptomenkomplex kommen
kann. In der Monographie Pals über die
Gefäßkrisen (1905) findet sich eine Schilde¬
rung, die mit fast photographischer Treue
das Charakteristische unseres Falles wieder¬
gibt. „Die Erscheinungen des Zustandes
sind Atemstillstand und Bewußtlosigkeit,
rasch zunehmende Zyanose, Verbreiterung
des rechten Herzens und Muskelzuckungen.
Der Kranke macht den Eindruck eines
Sterbenden. Der Atemstillstand tritt meist
urplötzlich ohne Vorboten ein. Ebenso ist
auch der Rückgang zur Norm mitunter
ganz unvermittelt. Es besteht völlige
Amnesie. Die Kranken glauben geschlafen
zu haben.“ Wort für Wort ist auf unseren
Fall anwendbar. Bemerkenswert ist, daß
Pal [Atempausen bis zu 8 Minuten kon¬
statieren konnte.
Eine neuere zusammenfassende Arbeit
desselben Autors ist vor einem Jahre er¬
schienen 4 ), in welcher Pal gestützt auf eine
*) A. f. Psych. Bd. 18, S. 108.
a ) Edinb. Med. Journ. Bd. 31.
3 ) Ueber die Geffifikrisen und deren Beziehungen
zu den Magen- und Bauchkrisen der Tabiker. Mflnch.
med. Woch. 1903, S. 2135.
4 ) J. Pal, Atmungs- und Geffifikrisen. Wien,
med. Wochschr. 1909, Nr. 11.
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weitere Beobachtung seinen noch näher
zu besprechenden theoretischen Stand¬
punkt gegenüber den tabischen Atem¬
krisen präzisiert.
Einen weiteren typischen Fall von Atem¬
lähmung mit Bewußtseinsverlust bei Tabes
hat Loeb 1 ) aus der Straßburger Klinik
veröffentlicht. Es handelt sich wie bei uns
um einen an gastrischen Krisen leidenden
Tabiker, der im Anschluß an eine Morphium¬
injektion (0,01 g) in einen Zustand von
Bewußtlosigkeit mit Atemstillstand geriet
In den nächsten Stunden mehrfache Wieder¬
holungen der Anfälle. Da nach Zusatz von
Atropin zum Morphium keine weiteren An¬
fälle sich zeigten, ist Loeb geneigt, dem Mor¬
phium eine ursächliche Bedeutung für das
Zustandekommen der Anfälle beizumessen.
Aus der amerikanischen Literatur ist
von Hoover 2 ) über ähnliche Krankheits¬
bilder, wie wir sie in unseren Fällen kennen
gelernt haben, berichtet worden. Zwei von
den Patienten Hoovers waren tabisch,
während der dritte an schwerer Arterio¬
sklerose litt. Bei der Lektüre der Hoover¬
sehen Publikation, die ein fesselndes Bild
dieses eigenartigen, den Arzt und Kranken
in gleicher Weise überraschenden Zu¬
stande zu geben weiß, fällt wiederum die
völlige Uebereinstimmung aller bisher be¬
obachteter Fälle bis in die kleinsten Details
auf. Bemerkenswert ist, daß die Atem¬
pause während eines Anfalles 20 Minuten
währte. Allerdings erfolgten während
dieser Zeit einige oberflächliche Inspira¬
tionen. Bei einem anderen Patienten trat
auf der Höhe eines Anfalls der Tod ein.
Was unsere eigene Beobachtung an¬
betrifft, so hatten wir, da die betreffenden.
Patientin in der Folgezeit noch einigemale
das Krankenhaus aufsuchte, noch mehrfach
Gelegenheit, Attacken vom geschilderten
Typus zu sehen. Ein Auszug aus den
Krankenjournalen ergibt, daß
am 1 .Dezember 1908 ganz plötzlich ein Anfall
von 2 Minuten Dauer eintrat, der sich noch zwei¬
mal wiederholte. Am 30. Dezember änderte sich
der Typus der Anfälle in der Weise, daß nach
vorangegangenen gastrischen Krisen ein Zu¬
stand von Bewußtlosigkeit eintrat, welche
45 Minuten anhielt und in dessen Verlauf die
Atmung zehnmal für die Zeit von 60—80 Se¬
kunden sistierte.
Am 27. Juli 1909 wurden zwei 4 Minuten
dauernde Anfälle notiert Tags darauf kam es
zu mehrstündiger Bewußtlosigkeit mit häufigen
Atmungspausen von 2—4 Minuten.
Im Verlauf des letzten Jahres hat die Tabes
bei unserer Patientin weitere Fortschritte ge-
l ) Loeb, Ein Fall von Atemstillstand bei Tabes.
Deutsche med. Wschr. 1904 Nr. 41.
s ) Hoover, The Joura. of the Am. Med. Assoc.
20. Juli 1907.
38*
Original from
UNIVERSITY 0F CALIFORNIA
300
Die Therapie der Gegenwart 1910.
Juli
macht. Namentlich ist die Ataxie ziemlich be¬
trächtlich geworden, während Blasenstörungen
zurzeit nicht bestehen. Subjektiv hat Frau V.
viel unter ihrer Krankheit zu leiden, indem
gastrische Krisen mit heftigen Schmerzen im
Kreuz und den Beinen alternieren. Die letzte
Blutdruckmessung ergab 175 mm (Riva-Rocci).
Zusammenfassend drängt sich uns die
Tatsache auf, daß die bisher bekannten
Fälle von Bewußtseins Verlust mit Atem¬
stillstand mit einer Ausnahme bei Tabikern
beobachtet worden sind. Demgemäß ist
die Tabes, soweit wir berechtigt sind, aus
kleinen Zahlenreihen etwas Gesetzmäßiges
abzuleiten, die häufigste, wenn auch nicht
die alleinige Voraussetzung für das Zu¬
standekommen der geschilderten Anfälle.
Ihrem Wesen nach sind die hier in Frage
kommenden Zustände wohl der Ausdruck
einer temporären Lähmung des Atemzen¬
trums. Die Möglichkeit, daß hierbei ein
auf das Atemzentrum lähmend ein wirkendes
Alkaloid wie das Morphium oder Heroin
gelegentlich den Eintritt einer Atemkrise
begünstigen kann, ist nicht von der Hand
zu weisen.
Gestützt auf ein größeres Tatsachen¬
material sucht Pal, dem wir die um¬
fassendsten Untersuchungen über den
Mechanismus krisenartiger Zustände ver¬
danken, den Nachweis zu tühren, daß
die Atemkrisen bei Tabes ebenso wie
die gastrischen und Kehlkopfkrisen auf
akuter Hochspannung im arteriellen System
beruhen. Ich muß mir versagen, an dieser
Stelle auf die mit guten Gründen gestützten
Anschauungen Pals näher einzugehen. Pal
vertritt hierbei die Auffassung, daß nach
Art der Claudicatio intermittens eine der
arteriellen Drucksteigerung parallel gehende
Gefäßkontraktion im Gebiete der Medulla
oblongata den betreffenden Symptomen-
komplex hervorrufen soll.
Geschmack und Schmackhaftigkeit in der Hygiene
und in der Küche.
Von Dr. Wilhelm Sternberg, Spezialarzt für Zucker- und Verdauungs-Kranke in Berlin.
Wer in der Erforschung der Nahrung,
in der Ergründung der Frage nach dem
Wesen des Genusses der Genußmittel und
des Genießens der Nahrungsmittel, die
Praxis des täglichen Lebens nicht ganz
übersieht, der muß erkennen, daß die
theoretischen Prinzipien der modernen Er¬
nährungslehre für die Bewertung der Nah¬
rungsmittel oder gar der Genußmittel
durchaus noch nicht ausreichen. Denn die
Begriffe, mit deren Erkenntnis die exakte
Physiologie der Ernährung die Aufgaben der
Nahrung zu begrenzen vermeint, nämlich
chemischer Nährwert und physikalischer
Brennwert, erschöpfen die Probleme keines¬
falls, wie ich 1 ) des öfteren hervorgehoben
habe. Wird ja nicht einmal der wahre absolute
Wert, Preiswert, Geldwert und Marktwert
durch Nährwert und Brennwert bestimmt]
Es hängt vielmehr von ganz anderen Wer¬
ten der wahre Wert ab. Der Genuß wert
ist es, welcher den eigentlichen Wert in
der Praxis ausmacht. Und dieser Genuß.
*) „Appetit und Appetitlichkeit in der Hygien c
und in der Küche", Zeitschr. f. physik. u diätet
Ther. Bd. XIII, Nov. 1909, S. 3. — „Die moderne
Kochküche im Großbetrieb“, Zeitschr. f. Hyg. u.
Infektionskrankh. 1909, S. 181. — „Die Alkoholfrage
im Lichte der modernen Forschung.“ Leipzig, Veit
& Co. 1909, S. 3. — „Genuß und Gift“, Med. Klinik
1908, Nr. 45. — »Der Alkohol in der klassischen
Malerei" Fortschr. d. Med. 1909, Nr. 28. — „Grund¬
sätze für den Genuß der Genußmittel“, Ther. d. Geg.
März 1909. — „Grundirrtümer der Abstinenz“, Fort¬
schritte d. Med. 1910, Nr. 10/11. — „Genuß und
Genußmittel", Ther. d. Gegenw. 1910, April.
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wert wird zumeist und zunächst durch den
Geschmack — im weitesten Sinne des
Wortes — bestimmt. Tatsächlich ist auch
der Geschmackssinn ein so feines Reagenz,
daß die biologische Geschmacksprobe so¬
gar allen anderen exakten wissenschaft¬
lichen Proben weit überlegen ist. Es ge¬
nügt, bloß auf den sich in der alltäglichen
Praxis immer mehr einbürgernden Brauch
der biologischen Sinnesprobe durch die
Polizeihundehinzuweisen. In der Theorie war
dies bisher so wenig bedacht, daß der erst¬
malige Hinweis hierauf durch mich 1 ) in mei¬
nem Buch „Der Geschmack in der Wissen¬
schaft und Kunst“ auf fiel und Herrn Albu 2 )
in seiner kritischen Besprechung zur Ver¬
wunderung Anlaß gab, da er hier „Betrach
tungen über Geschmack, über das Geruchs¬
organ der Polizei-, Jagd- und Kriegsspür¬
hunde, über Blumenzucht u. dgl. m.“ fände.
Die Tatsache jedoch, daß die Geschmacks¬
probe jeder anderen Probe zum mindesten
gleichwertig ist, findet sogar schon im täg¬
lichen Sprachgebrauch seit jeher allgemeine
Verwendung.
In allen Sprachen bedeutet * Schmecken“
mittels des Geschmackssinns „Versuchen“,
„Kosten“ soviel wie „Versuchen“ über¬
haupt, „Prüfen“, ja geradezu „Genehmigent“
l ) Stuttgart 1907. F. Enke »Kochkunst u. ärzt¬
liche Kunst" S. 14—22.
s ) Berl. klin. Wochenschr. 2. Dezember 1907.
Nr. 48, S. 1558. — »Die Alkoholfrage", Leipzig 1909,
S. 34.
Original from
UNIVERSITY 0F CALIFORNIA
Juli
Die Therapie der Gegenwart 1910.
301
„Billigen“. In diesem Sinne gebraucht
auch der Lateiner das Wort „gustare“,
der Grieche „reuetrflat *, die französische
Sprache „goüter“. „Kiesen“ und „küren“
(„erkoren“) = „wählen“ ist urverwandt zu
„gustare“ = schmecken. Seit jeher be¬
deutet sogar im bildlichen, übertragenen
Sinne „Schmecken“ soviel wie „Fühlen“,
„Merken“, „Empfinden“ oder gar seeli¬
sches „Fühlen“. So heißt es im Homer: 1 )
„Aber er sollte zuerst den Pfeil aus den
Händen Odysseus’ kosten“.
Ferner heißt es in der Ilias: 2 ) „Jetzo
wohlauf denn kosten wir rasch von ein¬
ander die ehernen Kriegslanzen.“
Um so seltsamer ist es, daß der Ge¬
schmackssinn in der Theorie der Medizin
und in der Hygiene gar keine Würdigung
findet: Denn in der Hygiene ist dies nicht
einmal für die wissenschaftliche Bewertung
der Kunst der Fall, deren Aufgabe es ist,
dem Geschmackssinn zu schmeicheln; das ist
nämlich die Kochkunst, welche die ge¬
schmacklosen Nahrungsmittel zu schmack¬
haften Lebensmitteln herzustellen hat, da¬
mit sie uns munden.
Darauf weise ich 8 ) des öfteren hin.
Und doch hebt schon Horaz 4 ) die Bedeu¬
tung des Geschmacks für die Kochkunst
hervor:
Catius: Nec sibi cenarum quivis teroere arroget artem
Non prius exacta tenui ratione saporum
Auch nicht traue sich Jeder so leicht in der
Kochkunst,
Ehe er genau durchforschte die Regeln der
Geschmacks-Physiologie.
So kommt es, daß auch die wissenschaft¬
liche Praxis der Hygiene auf die Geschmacks¬
proben kaum besonderen Wert legt, soweit
wenigstens die Geschmacksproben in Be¬
tracht kommen, welche durch den gewerb¬
lichen Sachverständigen von Küche und
Keller ausgeführt werden. Auf diese Not¬
wendigkeit weist aber auch schon Plato 5 )
hin, indem er sagt: „Ueber den Geschmack
des Gastmahls kann nicht einmal der Gast¬
geber entscheiden, sondern der berufliche
Sachverständige, nämlich der Küchen¬
meister, wird das beste sachkundige Urteil
abgeben können.“ Das müssen die heutigen
Institutionen 6 ) sich noch aneignen.
!) Odyssee XXI, 98.
*) Ilias XX, 258.
*) „Die Küche im Krankenhaus" 1908, Stuttgart
F. Enke.
4 ) Sat. II, 4, 35. .Unterricht für Feinschmecker.*
*) Theaitet XXVI, 178d.
6 ) Amtl. stenogr. Ber. f. d. Sitzung d. Stadtver¬
ordnetenversammlung am 11. März 1909, Nr. 10.
Herausgegeben vom Magistrat von Berlin S. 131.
„Die Alkoholfrage" 1909, S. 40.
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Wenn schon die Vernachlässigung der Ge¬
schmacksproben seitens der Industrie für
die Bewertung der Nahrungsmittel seitens
der Nahrungsmittel-Chemie und Nahrungs¬
mittel-Chemiker falsche Werte ergibt, so
ist dies noch mehr der Fall für das Ueber-
sehen des Geschmacks bei der Bewertung
der Genußmittel. Denn der Genuß der Genu߬
mittel wird noch mehr durch die Schmack¬
haftigkeit bestimmt. Daher wird in der
Praxis der Industrie der Wert der Genu߬
mittel seit jeher durch die Geschroacksprobe
des beruflichen Sachkenners bestimmt. Dies
hebt ebenfalls Plato 1 ) bereits hervor. Sokra¬
tes: „So ist, glaube ich, über den in der Zu¬
kunft zu erwartenden süßen oder herben
Geschmack des Weines nicht etwa die
Meinung des Zitherspielers entscheidend,
sondern vielmehr das Urteil des Land¬
wirts.“ Theodoros: „Wie anders?“ So¬
krates: „Andererseits möchte auch über zu¬
künftige Mißklänge und Wohlklänge nicht
das Urteil des Turnlehrers maßgeblicher
sein, als das des Musikers, wenn auch viel¬
leicht dem Turnlehrer später selber das
Stück wohlklingend erscheinen wird.“ —
Denn der Geschmack ist es, der den Wert
des Weines bestimmt, so sagt schon Euri-
pides 2 ). Mit vollem Recht heben daher
Bidder 3 ) und du Bois-Reymond 4 ) die
feine Empfindlichkeit des Geschmacks bei
Weinkennern hervor. Ich 5 ) habe auch auf
die Feinschmecker, auf die gewerblichen
Koster, die Berufsköche, hingewiesen. Und
in der Praxis der Medizin und der Hygiene
werden diese Begriffe wie „Geschmack“,
„Schmackhaftigkeit“ von Küche und Keller,
„Geschmacksproben“ der Genußmittel, „Ge¬
nuß“, „Genußwert“ ebenso übergangen, wie
die Bezeichnungen und Begriffe des „Appe¬
tits“ und der „Appetitlosigkeit“, der „Appe-
titlichkeit“ und „Unappetitlichkeit“. Die
Schmackhaftigkeit wird sogar in der Litera¬
tur der Veterinärmedizin eingehender be¬
handelt als in der Humanmedizin. Ich 6 )
führe dies darauf zurück, daß die Hygiene
der Ernährungslehre die Ernährungstechnik
bisher vollkommen vernachlässigt, zum
Schaden der Erkenntnis dieser praktisch
») Theaitet XXVI, 178c.
Kyklops 150.
3 ) Bidder 1846, Wagners Handwörterbuch S. 10
„Schmecken*.
4 ) .Ueber dieUebung". Zur Feier des Stiftungs¬
festes der militär-ärztlichen Bildungsanstalten am
2. August 1881. Reden 2. Folge. Leipzig 1887.
S. 423.
5 ) .Die Küche in der modernen Heilanstalt."
Stuttgart, F. Enke 1909, S. 10.
•) .Appetit und Appetitlichkeit in der Hygiene
und in der Küche." Zeitschr. f. physik. u. diätet.
Therapie XI. 1909.
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
302
Die Therapie der Gegenwart 1910.
Juli
äußerst wichtigen Probleme. Es ist be¬
merkenswert, daß auch auf diesem Gebiete
mehr noch als die ärztliche Praxis die
juristische Praxis der Theorie vorausgeeilt
ist. Für mehrere andere Gebiete habe ich
dies schon nachgewiesen. Es bringen die
nichtmedizinischen Laien, die gewerblichen
Interessenten des Vertriebes der Genu߬
mittel und auch die juristischen Praktiker
den beregten Momenten ein viel größeres
Interesse entgegen, als die praktischen
Aerzte und die medizinischen Forscher
der Hygiene. Am deutlichsten tritt dieser
Gegensatz hervor bei der Bewertung der
Weine in der alltäglichen Praxis und vor
Gericht.
Seit Jahren verlangen die gewerblichen
Interessenten, daß — dem Sinne des Ge¬
setzes entsprechend — bei Beurteilung von
Weinen bezüglich der Beschaffenheit von
Aussehen, Geruch und Geschmack Zun¬
gensachverständige vernommen wer¬
den. Die Pfälzischen Weinproduzenten
haben den kgl. Amtsgerichten in der Pfalz
eine Anzahl zungensachverständiger Wein¬
leute namhaft gemacht und begrüßen es
dankbar, daß fast bei allen Beanstandungen
neuerdings eine Anzahl dieser Fachmänner
gehört und nach ihrem Gutachten ver¬
fahren wurde. In anderen Weinbaugebieten
scheint man nach diesem System noch
nicht zu handeln, obschon der Erlaß des
Reichskanzlers vom 28. Oktober 1903 haupt¬
sächlich darauf hinweist. Unzweifelhaft
braucht nicht all das „Wein 44 zu sein, was
die chemische Analyse besteht; gerade
darin liegt die Notwendigkeit der Ernen¬
nung unparteiischer Weinkenner. Man be¬
zweckt einmal, dem Weinfache das Recht
zu wahren, über sein Produkt selbst zu
urteilen und nicht auch dem Chemiker,
dem Nahrungsmittel-Chemiker, die Zungen¬
probe zu überlassen, dann aber auch, um
die in Massen angebotenen, auf irgend
welchem Wege analysenfest hergestellten
„kleinen Sachen“ „Spuren“ auf Grund der
Zungenprobe aus dem Verkehr zu bringen.
Es müssen eben die Gesamtanalyse und
das durch die Zungenprobe eines Weines
geschaffene Bild zugleich ausschlaggebend
sein. Noch weiter geht der Kanton Winter¬
thur, nach dessen Vorschriften selbst dann
noch Weine mit Erfolg beanstandet wer¬
den können, wenn die Analyse sie hatte
passieren lassen.
Der Teil lautet folgendermaßen:
Beurteilung von Weinproben durch eine
Degustationskommission und richter¬
liche Anerkennung dieses Verfahrens.
Ueber die Begutachtung von Wein-
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proben durch eine gemeinderätliche De¬
gustationskommission statt durch den
Chemiker und über die richterliche Gut¬
heißung dieses Vorgehens gegenüber er¬
folgter Einsprache wird im „Schweiz.
Zentralblatt für Staats- und Gemeindever¬
waltung“ von Dr. J. Weber in Winter¬
thur u. a. folgendes berichtet.
Einen die Weinbau treibende Bevölke¬
rung unseres Landes schwer schädigenden
Faktor im Wirtschaftsleben bildet die so
weit verbreitete Weinpantscher ei, durch
welche Wein in großen Quantitäten mit
geringen Kosten produziert wird und billig
abgegeben werden kann. Dieser beizu¬
kommen, hält schwer, da die Technik in
derselben große Fortschritte gemacht, so
daß auch der beste Chemiker mit der
schönsten Analyse dem im Winter, Früh¬
jahr oder Sommer produzierten Weine die
Realität nicht absprechen kann. So lange
bei der Beurteilung eines Weines nur auf
eine vom Kantons- oder Stadtchemiker
vorgenommene chemische Analyse ab¬
gestellt 1 ) wird, so lange werden auch die
wohlgemeinten Bestimmungen in der kan¬
tonalen züricherischen Verordnung, be¬
treffend die Kontrollierung des Weinver¬
kehrs (daß als Wein nur das durch Gären
aus dem Traubensaft ohne irgend wel¬
chen Zusatz gewonnene Getränk be¬
zeichnet werden dürfe, daß andere wein¬
haltige oder weinähnliche Getränke gemäß
ihrer Zusammensetzung oder Herstellung
als koupierte, gallisierte oder Kunstweine
deklariert werden müssen) nur auf dem
Papier stehen. Von derartigen Erfahrungen
ausgehend ist die Gesundheitsbehörde
Winterthur dazu gelangt, auf den Ent¬
scheid einer von ihr eingesetzten, aus an¬
erkannten Weinkennern bestehenden De¬
gustationskömmission abzustellen, 1 )
welche ihren Befund nach Kosten des
betreffenden Weines, gestützt auf Geruch
und Geschmack, abgibt. Die Gesundheits¬
behörde erkannte die Tatsache an, daß er¬
fahrene Weinkenner nicht bloß reale Weine
sofort von nicht realen, gallisierten Weinen
mit Leichtigkeit zu unterscheiden, sondern
auch die verschiedenen Weine nach der Ge¬
gend, aus welcher sie stammen, zu gruppieren
vermögen und zwar auf die durchaus ver¬
schiedene Reaktion von Zunge und Gau¬
men auf gewisse Eigentümlichkeiten des
Weines, nicht auf den subjektiven
Geschmack, sondern auf die ganz be¬
stimmten, einem Weinkenner nicht ent¬
gehenden Reize auf die Geschmacksorgane
*) Schweiz. Provinzialismus, gleichbedeutend mit:
„ urteilen*.
Original from
UNIVERSITY 0F CALIFORNIA
Juli
Die Therapie der Gegenwart 1910.
303
hin. Um diese Untersuchungsmethode zu
einer möglichst zuverlässigen und objek¬
tiven zu machen, ist die Gesundheits¬
behörde bei der Degustationskom¬
mission sehr sorgfältig vorgegangen und
hat ferner dafür Sorge getragen, daß dieser
je weilen unbekannt bleibt, von wem die
zu beurteilenden Weinproben stammen.
Um ferner die Prüfung durch Oberexperten
zu ermöglichen, werden jeweils Doppel¬
proben erhoben.
In diesem Frühjahr nun hat sich eine
Gelegenheit geboten, die Anwendbarkeit
dieser Untersuchungsmethode durch die
Gerichte beurteilen zu lassen. Der Inhaber
einer Verkaufsstelle für Wein ist nämlich
auf den Befund der Degustationskom¬
mission hin wegen unrichtiger Deklara¬
tion seiner Weine mit einer Polizeibuße
bestraft worden, obschon der Kantons¬
chemiker erklärt hatte, daß nach dem
Ergebnisse der chemischen Untersuchung
der Weine keine Anhaltspunkte vorliegen,
um die Richtigkeit der Deklaration zu be¬
anstanden. Der Bestrafte verlangte ge¬
richtliche Beurteilung der Buße. Der An¬
walt desselben wies in der Gerichtsver¬
handlung darauf hin, daß die betreffenden
Weine vom Kantonschemiker nicht be¬
anstandet worden seien, und bestritt die
Anwendung der Degustation als Unter¬
suchungsmethode für die Beurteilung eines
Weines mit der Begründung, daß über den
Geschmack nicht zu streiten sei: „de gu-
stibus non est disputandum“. Der Ge¬
schmack sei zu subjektiv, als daß er
ein zuverlässiges Untersuchungsmittel bil¬
den könnte. Eventuell wurde die Ein¬
setzung einer Oberexpertise verlangt, da
die von der Gesundheitsbehörde gewählten
Experten als Weinhändler und Wirte,
also Konkurrenten, befangen seien und
daher kein unparteiisches Urteil abgeben
könnten. Das Bezirksgericht erkannte
jedoch die Ausführungen der Gesundheits¬
behörde an und wies auch das Begehren
nach einer Oberexpertise zurück, das letz¬
tere mit dem Bemerken, daß die von der
Behörde gewählten Experten als Wein¬
kenner bekannt seien und nicht befangen
und parteiisch sein konnten, weil ihnen
die Inhaber der zu beurteilenden Weine
bei Abgabe ihres Urteils nicht bekannt
waren. Die verhängte Buße wurde daher
bestätigt.
Gegen dieses Urteil des Bezirksgerichts
reichte der Anwalt des Bestraften Nichtig¬
keitsbeschwerde bei der Appellationskam¬
mer des Obergerichts ein, wobei er neuer¬
dings ausführte, daß es nicht angehe, bei
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der Beurteilung eines Weines und der da¬
her rührenden Verhängung einer Buße auf
eine Geschmacksprobe, auf den Befund
einer Degustationskommission abzu¬
stellen, 1 ) welch letztere zudem aus Kon¬
kurrenten des Bestraften und erbitterten
Gegnern des Kleinverkaufes geistiger Ge¬
tränke über die Gasse bestehe. Jedes
Sachverständigengutachten müsse motiviert
sein, schon damit der Richter und die
Parteien dasselbe nach seiner tatsächlichen
Richtigkeit und nach seiner Logik nach¬
prüfen können. Ein Urteil auf ein nicht
motiviertes und nicht motivierbares Urteil
stützen, heiße die Rechte der Verteidigung
wesentlich beeinträchtigen.
Die Appellationskammer des Oberge¬
richts wies die Beschwerde ab (Beschluß
vom 7. Mai 1903), indem dieselbe das in
dem Befunde der Degustationskom¬
mission liegende Beweismittel als solches
anerkannte und den Einwand, daß die ge¬
nannte Kommission als befangen zu er¬
klären sei, zurückwies, wie das Bezirks¬
gericht. Der Standpunkt des Nichtigkeits¬
klägers, daß ein Befund über die Unter¬
suchung von Lebens- und Genußmitteln
nachgeprüft werden müsse, um beweis¬
kräftig zu sein, wird als unhaltbar be¬
zeichnet, da das Gesetz betreffend die
öffentliche Gesundheitspflege es vollständig
in die Kompetenz der Gesundheitsbehörde
lege, das Ergebnis einer Untersuchung auf
eigene Wahrnehmung oder auf den Bericht
eines Sachverständigen zu gründen, sofern
eine Gewähr dafür vorhanden sei, daß die
Untersuchung eine zweckentsprechende und
zuverlässige sei. Diese Voraussetzungen
seien im vorliegenden Falle unzweifelhaft
vorhanden.
Mit diesen Entscheiden wird es der Ge¬
sundheitsbehörde möglich gemacht, die
Kontrolle des Weinverkehrs vorzunehmen,
gestützt auf Urteile von Degustations¬
kommissionen und endgültig auf den
Befund der letzteren, sofern deren Zu¬
sammensetzung eine zuverlässige und für
die unparteiische Abgabe ihres Urteils ge¬
sorgt ist, abzustellen. 9 ) Damit ist auch die
Möglichkeit gegeben, der Weinpantscherei
energischer entgegenzutreten.
Von der königl. Kreis-Versuchsstation
Speyer wurden die gewerblichen Inter¬
essenten wiederholt auf die Zungenprobe
verwiesen, in Fällen, wo die Weine zwar
verdächtig waren, die Analyse jedoch be¬
standen hatten. Die Kaufleute beantragen
daher im Weinparlament die Errichtung
l ) Lies: „urteilen.“
*J Lies: „zu entscheiden.”
Original fram
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
30*
Juli
Die Therapie der Gegenwart 1910.
von Zungen probe-Kommissionen, welche
teils aus Weinhändlern, teils aus Produzenten
bestehen. Es wären also sowohl die
Handelskammern, als auch die landwirt¬
schaftlichen Korporationen um Vorschläge
zu ersuchen, und zwar hätte eine „Zun¬
genprobe-Kommission“ jeweils zu glei¬
chen Teilen aus Sachverständigen beider
Korporationen zu bestehen. Daß über die
Auswahl auch der Weinkontrolleur zu hören
wäre, ist aus nahe liegenden Gründen
empfehlenswert. Es muß noch auf den
§ 11 des ungarischen Weingesetzes, sowie
auf die §§ 20 und 21 des im Anhang zu
jenem Gesetz befindlichen Erlasses des unga¬
rischen Handelsministers 1 ) im Jahre 1897
hingewiesen werden, welche sich auch mit
den Aufgaben der Zungenprobekommis¬
sion beschäftigt. Vielleicht wird es auch
nötig, ein vollständiges Regulativ für diese
wichtige Einrichtung auszuarbeiten.
Auch in anderen Gebieten des Nah¬
rungsmittel-Verkehrs dringt die Einsicht
durch, daß die theoretische Wissenschaft
der Ernährungshygiene für die Praxis des
Lebens durchaus nicht genügt.
ln den Kreisen der Nahrungsmittel¬
gewerbe war darüber Klage geführt wor¬
den, daß in Strafverfahren, die den Ver¬
kehr mit Nahrungs- und Genußmitteln be¬
treffen, kaufmännische Sachverständige im
Verhandlungstermin zugezogen worden
sind, denen die erforderliche Objektivität
oder kaufmännische Befähigung fehlte, und
daß hierdurch in Einzelfällen Fehlsprüche
verursacht wurden. Die Handelskammer
zu Berlin hatte deshalb in einer Eingabe
1909 an den Oberstaatsanwalt bei dem
Kammergericht den Wunsch ausgesprochen,
daß in derartigen Prozessen von Anfang
an als kaufmännischer Sachverständiger
ein für die betreffenden Waren öffentlich
angestellter und beeidigter Gewerbetrei¬
bender oder mangels eines solchen eine
von den amtlichen Handelsvertretungen
vorzuschlagende Person zugezogen wird.
Der Oberstaatsanwalt hat diesem Ersuchen
durch eine Verfügung an die ersten Staats¬
anwälte und die Amtsanwälte Folge ge¬
geben. Es wird darin an einen früheren
Ministerialerlaß erinnert, in dem auf die
Bedeutung der Auswahl qualifizierter Sach¬
verständiger von Küche und Keller in
Strafprozessen über Nahrungsmittel hin¬
gewiesen und empfohlen wurde, bei Ver¬
fahren, in welchen Fragen des Handels¬
rechtes und des Handelsbrauches in Be
*) „lieber das Verbot der Weinfälschung und des
Verkehrs mit gefälschtem Wein“. 1909. Verlag
Mor. Röth (Budapest).
Ditjitized by Google
tracht kommen, sofern nicht von vorn¬
herein Sachverständige von unzweifel¬
hafter Befähigung zur Verfügung stehen,
mit den zuständigen Handelskammern
wegen Ernennung solcher Sachverständiger
in Einvernehmen zu treten. Im Anschluß
daran weist der Oberstaatsanwalt die
nachgeordneten Instanzen an, in Fällen,
in denen neben dem Chemiker, dem die
Beurteilung der wissenschaftlichen und
produktionstechnischen Fragen unterliegt,
noch ein besonderer kaufmännischer Sach¬
verständiger über die Fragen der eigent¬
lichen Handelstechnik und die im Verkehr
herrschenden Gebräuche und Gepflogen¬
heiten zuzuziehen ist, die Auswahl eines
solchen unter den öffentlich angestellten
und beeidigten Gewerbetreibenden oder
durch Angehung der amtlichen Handels¬
vertretungen zu treffen.
Ich meine daher, im Gegensatz zu
König 1 ) und Dr. H. Spieß 3 ), daß zur
Beurteilung des Wertes der Genußmittel
nicht bloß der Hygieniker und nicht bloß
der Chemiker berufen ist, sondern auch der
gewerbliche Fachmann in Küche und Keller.
Wenn die Wissenschaft der Hygiene
zur wahren Erkenntnis des Wertes der
Genußmittel von Küche und Keller und
des Wesens ihres Genusses gelangen soll,
dann darf die Theorie nicht mehr wie bis¬
her die Praxis vernachlässigen, dann darf
die Ernährungslehre nicht fernerhin die
Ernährungstechnik in Küche und Keller
übersehen, dann darf sich die Physio¬
logie der Ernährung nicht mehr mit der
Chemie der Nahrungsmittel und Nahrungs¬
stoffe begnügen, dann muß die Medizin
endlich einmal die Erfahrungen der juristi¬
schen Praxis und der Rechtswissenschaft
über die fertige Nahrung der Garküche ein¬
holen. Es ist vielleicht nicht bloß ein Zu¬
fall, daß die einzige Autorität über Ge¬
schmack von Küche und Keller, auf die sich
die moderne Medizin immer noch beruft, ein
Jurist ist: Brillat Savarin, „dessen lehr¬
reiches Buch heute viel zu wenig gekannt
ist“ vom ärztlichen Fachmann, wie Albu 8 )
meint! Durch diese Einsicht wird dann
auch die Wissenschaft der Ernährung ge¬
winnen. Denn es wird sich zeigen, daß
l ) „Ueber die einer geregelten Lebensmittel-
kontrollc zurzeit noch entgegenstehenden Hinder¬
nisse“. V. Jahresversammlung der Freien Vereini¬
gung Deutscher Nahrungsmittel-Chemiker. Mai 1906.
Ztschr. f. Untersuchung der Nahrungs- und Genu߬
mittel 1906.
a ) „Zur Nahrungsmittelkontrolle“. Chemiker-
Zeitung 29. März 1910, Nr. 37 S. 321.
3 ) „Grundzüge der Ernährungstherapie.“ 1908,
S. 62 u. S. 8.
Original from
UNIVERSITY 0F CALIFORNIA
Juli
Die Therapie der Gegenwart 1910.
305
und warum im allgemeinen schon fQr
das Genießen der Nahrungsmittel, nicht
bloß fQr den Genuß der Genußmittel, zu
den beiden bisher allein geltenden Werten,
chemischem Nährwert und physikalischem
Brennwert, ein dritter Wert hinzuzurechnen
ist, der Genußwert: Geschmack und
Schmackhaftigkeit
Zur Therapie des Keuchhustens.
Von Dr. Gustav Bradt-Berlin.
Wenn wir die große Zahl der Medika¬
tionen und Behandlungsmethoden über¬
sehen, die gegen den Keuchhusten emp¬
fohlen worden sind, drängt sich leicht der
Gedanke auf, daß keine den in sie gesetzten
Erwartungen entsprach, und daß infolge¬
dessen die Aerzte immer wieder nach
neuen Kampfmitteln gegen diesen Feind
der Kinder suchten. Besonders war es
die verschiedene Auffassung vom Wesen
der Krankheit, welche die einzelnen Beob¬
achter auf verschiedene therapeutische
Bahnen drängte. Erwägt man, daß die
Pertussis von dem einen als Nervenkrank¬
heit, von anderen als eine infektiöse Er¬
krankung der oberen Luftwege aufgefaßt
wurde, so ist die Divergenz der therapeu¬
tischen Bestrebungen nicht verwunderlich.
Heute besteht wohl insofern eine Ueber-
einstimmung in der Beurteilung der Er¬
krankung, als man sie als eine Infektions¬
krankheit auffaßt, und viele Aerzte glauben,
daß nur von einem im modernsten Sinne
geübten serotherapeu tischen Vorgehen
Hilfe gegen den Feind zu erwarten sei.
Da wir aber die Erreger der Pertussis
noch nicht sicher kennen, so sind die Aus¬
sichten dieser Therapie noch gering, ins¬
besondere: da, wenn wir die Bordet-
GengoiTsehen Bakterien als spezifisch
gelten lassen wollen, die serotherapeutische
Beeinflussung — worauf Arnheim hin¬
weist — wegen der technischen Schwierig¬
keiten und der geringen toxischen Eigen¬
schaften der Kulturen wenig Aussicht auf
Erfolg bieten! Es bleibt uns daher zu¬
nächst das große Feld chemischer oder
physikalischer Maßnahmen übrig, die ja
auch bei anderen Infektionskrankheiten wie
Malaria, Rheumatismus usw. Hilfe bringen.
— Es soll nun im folgenden durchaus nicht
zu den vielen Medikationen eine neue emp¬
fohlen werden, sondern nur auf die Wich¬
tigkeit einer längst geübten hingewiesen
und ihre ätiologische Begründung gegeben
werden.
Abgesehen von der charakteristischen
Art des Hustenanfalls auf der Höhe der
Erkrankung ist der Verlauf der Pertussis
doch ein sehr verschiedener. Diese Proteus¬
natur kann zum Teil auf der Verschieden¬
heit der Virulenz der Noxe beruhen (genius
□ igitized by Google
morbi), zum Teil im befallenen Individuum
selbst zu suchen sein, indem geschwächte
Organismen und in diesen wiederum die
geschwächten Organe besonders unter der
Noxe zu leiden haben und mit ihren Sympto¬
men das Krankheitsbild beherrschen. So er¬
gibt sich denn die große Verschiedenheit der
einzelnen Epidemien und der verschieden¬
artige Verlauf bei einzelnen Individuen
während derselben Epidemie.
Nichtsdestoweniger glauben wir mit
anderen Autoren auf Grund klinischer und
pathologisch anatomischer Beobachtungen
annehmen zu können, daß wenigstens im
Beginn der Erkrankung eine bestimmte
Körperregion der spezifischen Infektion
durch die Pertussisnoxe anheim fällt, und
daß von hier aus die ersten Anfälle aus¬
gelöst werden.
Der pathologisch anatomische Befund
ist kein einheitlicher. Da die Fälle erst
sehr spät zur Sektion kommen, gewöhnlich
nachdem Komplikationen aufgetreten sind,
ist die Unterscheidung von primären und
sekundären Veränderungen sehr schwierig,
fast immöglich. Eindeutiger schon ist der
Befund, den man durch Autopsie in vivo
mit Nasen- und Kehlkopfspiegel erhält
(Meyer-Hüni und v. Herff). Auf beiden
Wegen hat man häufig eine Entzündung
der Schleimhaut der oberen Luftwege beob¬
achtet. Im allerersten Stadium freilich
sieht man zuweilen gar keine deutliche
makroskopische Alteration, obwohl schon
unzweideutige Anfälle vorhanden sind;
doch sind relativ früh zirkumskripte Rötun¬
gen an den Choanen beobachtet worden.
Ferner fand man die Hinterwand des
Larynx verdickt und auch die supra- und
infraglottische Schleimhaut entzündet, ja
sogar nekrotisiert (Dominici). Weiter
wurden Veränderungen an der Trachea
und den Bronchien beobachtet — also das
Bild eines absteigenden Katarrhs der Luft¬
wege.
Diese objektiven Befunde weisen uns
darauf hin, daß der Sitz der ersten Er¬
krankung in den obersten Luftabschnitten
zu suchen sei. Dem entspricht eine von
uns in vielen Fällen immer wieder ge¬
machte Beobachtung, daß ein zäher glasiger
Schleiropfropf kurz vor dem Anfall bei der
39
Original frnm
UNIVERSUM OF CALIFORNIA
306
Juli
Die Therapie der Gegenwart 1910.
Inspektion des Rachens aus dem Nach¬
rachenraum herabhing, und dieser Schleim¬
pfropf scheint uns für die Attacke von
großer Bedeutung zu sein. Wir hören so
oft von Patienten, die an Pharyngitis Sim¬
plex leiden, daß der Schleimpfropf hinter
der Nase sie außerordentlich quäle, sie
zum Husten und Würgen veranlasse, ehe
sie ihn loswerden. Die Hustenattacken
bei solch einfacher Pharyngitis sind zu¬
weilen so heftig, daß man an Pertussis
denken möchte, und die Kranken fühlen
sich sofort befreit, wenn man mit dem
Pinsel diesen Pfropf aus dem Nasenrachen
entfernt hat. Zumeist hing auch bei der
weiter unten zu beschreibenden therapeu¬
tischen Pinselung des Rachens der Per¬
tussiskranken, am herausgezogenen Watte¬
träger ein zäher mehr oder weniger großer
glasiger Schleimpfropf.
Wenn weiter die Bakteriologen be¬
richten, daß die Stoffwechselprodukte der
Pertussiserreger stark ätzende Eigenschaften
besitzen, so können diese Aetzwirkungen
auf die Rachenschleimhaut die Schwere
des Hustenanfalls schon erklären im Gegen¬
sätze zu den gewöhnlichen Pharyngitiden,
bei denen ja in der Regel kein spastischer
Husten auftritt.
Eine weitere Beobachtung weist eben¬
falls auf die obersten Luftwege als Ein¬
gangspforte der Pertussisnoxe hin. Zu¬
weilen beobachtet man während einer Per¬
tussisepidemie Kinder, die an Niesanfällen
in ganz analoger Weise leiden, wie die
anderen erkrankten Kinder an Husten¬
anfällen. Bei diesen hat die Krankheit die
Schleimhaut der Nase ergriffen. In einem
solchen von mir beobachteten Falle war
nur eine Schwellung der Nasenschleimhaut
und geringe Rötung zu beobachten. Es
ist ferner bei unserer Betrachtung die kli¬
nische Erfahrung zu berücksichtigen, daß
die Hypertrophie des adenoiden Gewebes
im Nasenrachenraum die Intensität der An¬
fälle steigert.
Der Nasenrachenraum ist nun auch der¬
jenige Teil der obersten Luftwege, in
welchem der Krankheitsprozeß zuerst auf¬
tritt und sich am längsten abspielt. Früher
oder später werden auch die tieferen Teile
des oberen Lufttraktus ergriffen. Der Reiz
im Nasenrachenraum, dessen Ursachen wir
oben gekennzeichnet haben, ist so stark,
daß beim Keuchhusten zum Unterschied
vom gewöhnlichen Husten nicht nur die
Exspiration, sondern auch die Inspiration
bei verengter Stimmritze und gespannten
Stimmbändern erfolgt — daher auch die
für Keuchhusten charakteristische tönende
Inspiration, die nur durch das Vorüber¬
streichen der Luft an gespannten Mem¬
branen entstehen kann.
Diese Beobachtungen und Ueberlegungen
führen zu der Erkenntnis, daß die Versuche
bei Pertussis die obersten Luftwege, als
den primären Herd, lokal zu behandeln,
durchaus begründet sind. Gelingt es nun,
die ersten Folgezustände der Infektion im
Nasenrachenraum erfolgreich anzugreifen,
so hätten wir eine der ätiologischen Thera¬
pie sehr nahekommende.
Von diesen Gesichtspunkten aus haben
wir versucht, durch Touchierungen des
Rachens und Nasenrachens die Pertussis
zu bekämpfen, indem wir dabei gleichzeitig
den reizenden Schleimpfropf entfernten
und die ihn sezernierende Schleimhaut mit
adstringierenden resp. antiseptischen Lösun¬
gen behandelten. Einige Krankengeschichten
mögen die hierbei gemachten Beobachtun¬
gen erläutern.
1. Knabe C. F. hustet seit längerer Zeit
— kein erheblicher Befund an der Lunge —
Rachen gerötet. — Bisherige interne Medi¬
kationen ohne Erfolg. — Der Klang des Hustens
erweckt den Verdacht auf Pertussis. — Pinse¬
lung des Nasenrachens und Rachens mit Lugol-
scher Lösung und Inhalation von Emser Krähn-
chen mit dem Heryngschen Inhalationsapparate:
Besserung in ca. 14 Tagen — kein typischer
Pertussisanfall. Einige Tage später treten bei
der Schwester des Knaben, die schon einige
Tage vorher gehustet hatte, typische Pertussis-
anfälle auf, die zunächst medikamentös ohne
Erfolg behandelt werden. Nach etwa fünf
Pinselungen des Nasenrachens hört die Reprise
auf. Die Touchierung erfolgt erst täglich, dann
nach 2 resp. 3 Tagen,
2. Die Kinder Sp. waren seit einigen Tagen
an heftigem Husten mit Brechreiz und j, Er¬
stickungsanfällen* erkrankt. Bei dem einen
Kinde beobachtete ich einen typischen Pertussis¬
anfall. Beide Kinder wurden mit Lugolscher
Lösung von der Mutter morgens und abends
nach meiner Anweisung in Rachen und Nasen¬
rachen gepinselt. Brechen und Reprise (»Er¬
stickungsanfälle*, wie sie die Mutter nannte)
cessierten in wenigen Tagen. Am Ende der
zweiten Woche husteten die Kinder nicht mehr.
Die Mutter der Kinder, welche in langer
Samaritertätigkeit sich eine gute manuelle Ge¬
schicklichkeit angeeignet hatte und eine gute
Beobachtungsgabe besitzt, beschreibt die Er¬
krankung folgendermassen: »Meine Kinder —
damals fünf- und vierjährig — hatten einige
Tage lang Husten, Schnupfen, Halsschmerzen
— eine „Erkältung“. Plötzlich steigerte sich
der Husten sehr bedenklich — er trat nachts
besonders stark auf mit Brechreiz und Er¬
stickungsanfällen. Der Arzt verordnete Pinse¬
lungen des Rachens, die ich gewissenhaft
morgens und abends ausführte. Zusehends
besserte sich der Husten, der Brechreiz schwand
vollkommen, in zehn Tagen waren die Kinder
gesund. Wir waren kurz vor der Erkrankung
unserer Kinder bei einer befreundeten Familie
ewesen, deren Kinder heftigen Keuchhusten
ekamen und lange Zeit nach der Genesung
Digitized by
Gck gle
Original fram
UNIVERSiTY 0F CALIFORNIA
Juli
Die Therapie der Gegenwart 1910
307
unserer Kinder noch hatten. Ich möchte fast
sagen: bei meinen Kindern wurde durch die
Pinselungen der Keuchhusten im Keime er¬
stickt. Nach jedesmaligem Pinseln husteten
die Kinder stundenlang nicht, und nachts blieben
sie von dem für Keuchhusten so typischen Er¬
brechen fast ganz verschont.“
3. Die drei Geschwister W. kommen gleich¬
zeitig zur Behandlung: Irmgard W. bekommt
Bromoform, Hermann und Bernhard werden
im Nasenrachen mit Lugolscher Lösung be¬
handelt. Aus der von der Mutter vorgenommenen
Zählung der Anfälle entsteht folgende Tabelle
(der Zähler gibt die Zahl der Tages-, der
Nenner die der Nachtanfälle an):
Nach den Angaben der Mutter blieben die
Anfälle des Mädchens immer schwerer als die
der Knaben. Am 29. Juli gibt die Mutter an,
die Anfälle wären „so gut wie weg“ bei den
Knaben. Es geht aus der Tabelle hervor, daß
die nächtlichen Anfälle bei Irmgard relativ viel
langsamer wichen, als bei den Knaben, obwohl
bei Bernhard eine Bronchitis den Verlauf Mitte
Juli komplizierte und seine Anfälle ursprüng¬
lich quantitativ viel zahlreicher und qualitativ viel
schwerer waren.
fälle waren stets leichter geblieben, auch in den
Zeiten, in denen er entsprechend dem Stadium
seiner Krankheit f zahlreichere Anfälle hatte.
Kurt bekam auch eine Blutung in die Konjunk-
tiva. Am 2. Juli sagt die Mutter: „Der Ver¬
lauf bei Erich ist im ganzen leichter als bei
Kurt.*
5. Erwin L. Wally L.
1907
Juni
Erwin hustet seit zwei 25 6/6 4/4
Wochen mit Ziehen.
26 9/1
27 6 1
Erwin wird gepinselt, 28 6/1
Wally nicht.
29 6/1
30 5/1
Juli
1 9/0 11/4
2 9/0
3 7/0
4 5/0
5 5/0 7/5
6 5/0
7 5/0 7/3
1907
Irmgard
Hermann
Bernhard
2907
3274/07
5273/07
25. Juni
8/5
4/0
19/15
28. „
9/4
8/0
11/5
2. Juli
4/
4/0
10/4
7. „
4/3
5/0
9/4
12 . „
5/3
4/0
10/5
19. ,.
4/2
2/0
5/1
27. „
3/0
2/0
3/1
31. „
2/1
3/0
4/0
4. August
2/1
2/0
4/1
10 . „
2/0
1/0
2/0
17. ,,
0/0
0/0
1/0
Bronchitis
Lig. pectratis
Die Mutter sagt: „Die Anfälle sind so gut wie weg.
Ziehen nicht mehr zurück.“
Irmgards Anfälle sind schwerer, wie die der Knaben.
4. Erich und Kurt G. Erich wird gepinselt, j Auch hier sehen wir den Verlauf bei
Kurt erhält Bromoform. Beginn der Behänd- I dem lokal behandelten Kinde leichter sich
lung am 21. Juni 1907 : I gestalten. Auffallend war der Anstieg der
Erich (3229)
Juni
21
22 8/0
23 4/0
24 5/0
25 3/0
Anfälle an Zahl und Kraft ge- 26 6/0
ringer als bei Kurt. Dieser ist
länger und schwerer krank.
27 7/1
Anfälle ebenso häufig wie beim 28 11/1
Kontrollbruder, aber leichter.
29 5/1
30 11/1
Juli
Anfälle häufiger, aber leichter. 1 8/1
Angabe der Mutter: ,.Der Verlauf 2 7/1
bei Erich ist im ganzen leichter
als bei Kurt.“
3 7/0
4 5/0
Bei Erich können wir die drei Stadien der I
Pertussis verfolgen, da er im Beginn der Krank- ]
heit in Behandlung trat. Die Zahl der nächt¬
lichen Attacken hat eine nicht überstiegen. Er !
war ebenso schnell wiederhergestellt als der I
Bruder, der viel länger krank war. Seine An- |
Digitized by Google
Kurt (3230)
11/3
6/3
9/1
7/0
6/1 Besserung.
Dieser Knabe hat einen Bluterguß in
der Conjunctiva. Seine Einzelanfälle
7/2 waren stärker als bei Erich.
6/1
7/1
4/1
5/0
7/0
8/0
4/0
Zahl der Anfälle am 1. Juli. Der Knabe war
am 30. Juni nicht behandelt worden. Nach
Wiederaufnahme der Touchierungen schwin¬
den die nächtlichen Anfälle ganz, die Tages¬
anfälle viel schneller als beim Kontroll-
kinde.
39*
Drigiral from
UNIVERSITÄT OF CALIFORNIA
308
Die Therapie der Gegenwart 1910.
Juli
6. Geschwister Sch.:
Carl
Martha
Hertha
2. Juli
13/6
5. „
9/6
10 . „
9/5
15. „
4/5
8/6
16. „
10/7
5/5
20 . „
6/4
7/5
24. „
6/3
6/3
6/6
30. „
5/1
6 2
6/4
4. August
5/0
4/2
7/4
Aus der Krankengeschichte:
1 . Juli: Bei Karl Beginn der Pinselungen.
4. Juli: Bei Martha keine typischen Anfälle.
Medikation: Liq. pectoralis.
10. Juli: Bei Martha besteht eine Pharyn¬
gitis, die Hustenanfälle sind stärker, aber keine
Reprise.
15. Juli: Bei Martha typische Anfälle. Be¬
ginn der Rachenpinselungen.
16. Juli: Bei Karl tritt nach anfänglicher
guter Besserung plötzlich Fieber auf. Dieses
war bedingt durch einen Darmkatarrh infolge
übermäßigen Genusses von Kirschen.
14. Juli: Bei Hertha typische Anfälle — be¬
kommt Bromoform.
24. Juli: Bei Karl sind die Anfälle wieder
an Zahl geringer und leichter.
Bei Martha sind die Anfälle leichter.
Bei Hertha sind die Anfälle häufiger und
schwerer.
Wir ersehen aus dieser Kranken¬
geschichte, daß der Verlauf bei der mit
Bromoform behandelten Hertha "sich schwe¬
rer gestaltet, als bei der fast gleichzeitig
erkrankten Martha, welche lokal behandelt
wurde. Bei Karl tritt trotz der Kompli¬
kation mit dem fieberhaften Darmkatarrh,
die eine Verschlimmerung der Anfälle er¬
zeugte, schnell wieder eine Besserung ein,
die besonders durch die Erleichterung des
Einzelanfalles charakterisiert war.
7. Else K.
Datum
Anfälle
5. Juli
14/9
10 . „
18/8
14. M
12/5
18. „
16/8
24. „
9/5
26. „
10/3
31. „
10/2
4. Aug.
6/1
Hustet seit 14 Tagen mit
Ziehen und Brechen.
Typische Anfälle be¬
obachtet.
Nach anfänglicher Besse-
r un g Ausb ruch von Vari¬
cellen und Steigerung
der Anfälle.
Auch relativ schnelle und systematische
Abnahme der Anfälle trotz der durch das Auf¬
treten von Varicellen bedingten Verschlimme¬
rung. In der Varicellenperiode wurde das
Kind nicht zur Behandlung gebracht. Nach
Wiederaufnahme der Behandlung schnelle Besse¬
rung.
8. Willy
Willyhustetseit
drei Wochen
Keine Anfälle
P.
Juli
17
4/2
8/2
20
4/2
6/0
26
4/1
4/0
Aug.
4
0/0
0/0
5
Paul P.
Paul hustet
etwas länger
Keine Anfälle.
Relativ schneller Verlauf bei lokaler Be¬
handlung.
Bei einer sehr großen Anzahl von Per¬
tussisfellen haben wir Beobachtungen ana¬
loger Art machen können und stets ge¬
sehen, daß der Einzelanfall nach der
Pinselung sehr viel leichter wurde, er
dauerte nicht so lange wie vorher und er¬
schöpfte die Kinder nicht so sehr wie
früher. Der Einfluß der Pinselung auf die
Zahl der Anfälle war auch fast stets sehr
deutlich, wie ja auch aus den angeführten
Tabellen ersichtlich ist. Dieser Unterschied
in der Einwirkung auf Qualität und Quan¬
tität der Anfälle dürfte sich in folgender
Weise erklären lassen. Aus der kurzen
pathologisch anatomischen Skizze im An¬
fänge dieser Auseinandersetzungen geht
hervor, daß die beobachteten Veränderun¬
gen den Nasenrachen, den Rachen, Kehl¬
kopf und Trachea betreffen können. Eine
genaue Untersuchung der Kinder mit dem
Kehlkopfspiegel ist nur sehr selten mög¬
lich, daher auch nicht die Feststellung,
welche Partien im Einzelfalle betroffen
sind. Wir begnügen uns mit der Behand¬
lung eines locus affectionis, den wir als
Produktionsstätte des oben beschriebenen
Schleimpfropfes für den hauptsächlichsten
und ursprünglichen halten — nämlich
Rachen und Nasenrachen. Wenn außer
von dieser Stelle auch noch von anderen
erkrankten Stellen der oberen Luftwege,
die wir aber nicht sehen können, Husten¬
reize ausgehen sollten, so schalten wir
einen Herd durch unsere Therapie aus,
und mit der Verringerung der causa wird
auch der effektus verkleinert; die nicht be¬
handelten Stellen können darum ruhig
weiter und ebenso häufig die Anfälle aus-
lösen. Aber die Summe der Reize ist
quantitativ herabgesetzt und damit die
Stärke des Einzelfalles. In praxi allerdings
sehen wir auch schnell die Zahl der An¬
fälle geringer werden, und dies dürfte
seinen Grund darin finden, daß beim Aus¬
wischen des Rachens einige Tropfen des
Medikamentes in den Kehlkopf resp. die
Trachea gelangen und daselbst adstringie¬
rend wirken. Wenn man im SpiegelbildeVer-
änderungen am Latynx resp. der Trachea
zu erkennen Gelegenheit findet, so wird
□ igitized by
Gck gle
Original frnm
UNIVERSiTY OF CALIFORNIA
Juli
Die Therapie der Gegenwart 1910.
309
man gut tun, mit der Spritze einige Tropfen
des Medikamentes zu instillieren, nachdem
man vorher kokainisiert hat, um durch die
Injektion keinen Glottiskrampf auszulösen.
Allerdings eignet sich diese Maßnahme nur
für Erwachsene. Bei Erkrankung der Nase,
auf die wir oben hingewiesen haben, ist
es zweckmäßig, auch diese auszupinseln
oder eine starke Protargolsalbe (10%) ins
Naseninnere zu bringen; letzteres sollte man
als Unterstützung der Touchierungsbehand-
lung stets tun, wenn die Nase verstopft ist.
Da, wo eine Brochitis besteht, sind die
dabei üblichen, besonderen hydrotherapeu¬
tischen Maßnahmen nicht zu vergessen.
Man hat gegen die lokale Behandlung ein¬
gewendet, daß sie zu aggressiv sei und
leicht einen neuen Hustenanfall auslösen
könne. Nun, wenn ein Kind 20 Anfälle
gehabt hat, kann man ruhig den einund¬
zwanzigsten erzeugen, wenn man dadurch
erreicht, daß danach alsbald die Zahl und
Schwere der Attacken zurückgeht. Irgend¬
welche Schädigungen haben wir bei den
vielen hundert Pinselungen, die wir an
Pertussiskranken gemacht haben, nicht
beobachtet *
Als Medikament benutzten wir dieLö3ung:
Rp. Jodi pari.
Acid. carbol. aa . . . 0,5
Kali jodat . 1,5
Glycerin . 15,0
Aqua ad . 100,0
Aeußerlich.
Wie aus der Literatur ersichtlich, haben
andere Autoren sich anderer Medikamente
in prophylaktischer respektive kurativer
Absicht bedient, z. B. Calabro des Subli¬
mates in 0,05prozentiger Lösung, andere
des Karbols, der Salicylsäure, des Resor-
cins usw. Wir möchten aber nicht bloß
Wert legen auf die adstringierende, sondern
auch auf die mechanische Einwirkung, so¬
wie auf ein Medikament, bei dem keine
schädigendeNebenwirkung zu befürchten ist.
Einige Autoren haben das Medikament
in Spray- oder Dampfform appliziert, andere
die Insufflation von Pulvern in Nase und
Rachen bevorzugt. Uns scheint die Tou-
chierung, geschickt ausgeführt, den er¬
strebten Zweck am besten zu erfüllen. Die
Pinselung muß schnell erfolgen, zunächst
kurz den unteren Teil des Rachens treffen
und dann muß man den Watteträger in
den Nasenrachenraum bis ans Rachendach
hinaufführen, so daß durch die Würgbe¬
wegung das Medikament aus dem Watte¬
bausch ausgedrückt wird. Am besten
eignet sich der Baginskysche Watteträger
dazu, dessen mit Watte bewickeltes abge-
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bogenes Ende nur 2 cm lang sein soll.
Eine präzise mit sicherer Hand ausgeführte
energische Touchierung ist notwendig, sie
darf bloß 2 bis 3 Sekunden dauern, um die
Kinder so wenig wie möglich zu belästigen.
Versuche mit einer 2prozentigen Pro-
targollösung waren nicht so erfolgreich,
als die mit obiger Lösung.
Wir haben die Touchierungen täglich
nur einmal ausgeführt; man höre nicht zu
früh damit auf, da wir zuweilen nach mehr¬
tägigem Aussetzen eine Verschlimmerung
auftreten sahen, die allerdings auf erneute
Touchierung alsbald wieder zurückging.
Aus dem Gesagten geht hervor,
daß die Touchierung des Nasen¬
rachenraumes imstande ist, den Ver¬
lauf der Pertussis günstig zu beein¬
flussen. Dieser günstige Einfluß
tritt besonders stark in Erscheinung
bei frischen Fällen, bei welchen wir
eine derartig auffallende Abkürzung
der Krankheit erzielen konnten, daß
man wohl von einer Coupierung
sprechen kann. Stets aber war ein
Rückgang in der Schwere und Zahl
der Einzelfälle zu beobachten. Da
wo Komplikationen von seiten der
Lungen bestanden, war allerdings
der Einfluß unserer Therapie ge¬
ringer, eine Tatsache, die nach
unseren Betrachtungen über den Sitz
der Krankheit verständlich ist.
Die eben beschriebene Lokalbehandlung
darf uns natürlich nicht vergessen lassen,
daß die Toxine nicht bloß im Nasenrachen¬
raum liegen bleiben, sondern auch resor¬
biert werden. Wir müssen daher durch
die geeigneten hygienischen und hydro-
und ernährungstherapeutischen Maßnahmen
die Reaktionsfähigkeit des Organismus
stärken. In erster Linie kommt da der
möglichst ausgedehnte Aufenthalt im Freien
in Frage. Den Keuchhustenkranken eine
solche Freiluftkur zu ermöglichen, werden
die Aerzte stets bemüht sein müssen, und
speziell in den Großstädten müssen die
Behörden veranlaßt werden, gewisse Spiel¬
plätze für solche Kinder während der Epi¬
demie zu reservieren zur Heilung der
Kranken und zum Schutze der Gesunden.
Litteratur.
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310
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schen und der Tiere, 9. Jahrg., II. Abt., 1905.
Die Bedeutung der Röntgenstrahlen in der Gynäkologie.
Von Manfred Fraenkel- Charlottenburg.
Während bis zu meinen Veröffent¬
lichungen über den „Wert der Röntgen¬
strahlen in der Frauenheilkunde* dieselben
gerade auf diesem Gebiete kaum zur An¬
wendung gelangten; so daß — seit Deutsch,
1904, Beeinflussung eines Myoms — jede
Mitteilung in der Literatur fehlte, änderten
sich diese Verhältnisse wie mit einem
Schlage, als ich 1907 meine Tierversuche
und den „Fall von Abort beim Menschen*,
1908 „meine ersten 28 Fälle günstiger Be-
einflussung„ nicht nur von Myomen, sondern
auch aller anderen Blutungen, sowie der
Dysmenorrhöe, Fluor und nervös-sexualer
Zustände beschrieb und 1909 auf dem
Röntgenkongreß über nunmehr 80 Fälle
berichtete. Es folgten Nachuntersuchungen
besonders von Prof. Albers-Schönberg
(Hamburg), der gerade bei Myomblutungen
meine Beobachtungen bestätigte und auch,
was die Verkleinerung der Geschwülste
betrifft, dieselben glänzenden Resultate
veröffentlichte.
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Auch der letzte Röntgenkongreß 1910
stand wieder unter dem Zeichen dieser,
den Röntgenstrahlen neu erschlossenen,
so überaus aussichtsreichen therapeutischen
Verwendungen. Ja, ich hatte die Freude,
diesmal auch meine bereits 1907 aufge¬
stellte, 1909 noch angezweifelte Behauptung:
man könne — wie es mein damaliger Fall
deutlich bewies — mittels Röntgenstrahlen
auch beim Menschen einen Abort herbei¬
führen, von Gaus (Freiburg) an drei
Fällen bestätigt zu hören. Ferner trat
Gaus — neben Albers-Schönberg —
auf Grund seiner Beobachtungen an der
Krönigsehen Frauenklinik warm für die
Röntgentherapie bei den von mir ange¬
gebenen verschiedenen Frauenleiden ein.
Zuletzt veröffentlichte im März San .-Rat
Schindler (Görlitz) eine alle Zweifler
voll überzeugende Arbeit, in der er leider
gerade meine allerersten Publikationen über
diese therapeutische Frage unerwähnt ließ,
dessen Stimme mir um so gewichtiger er-
Origiral from
UNIVERS1TY OF CALIFORNIA
Juli
Die Therapie der Gegenwart 1910.
311
scheint, als er — als Fachgynäkologe —
sonst gegen Myome gewiß operativ vor¬
zugehen gewohnt und geneigt war, und so
bei ihm eine Voreingenommenheit zu¬
gunsten der Röntgenbestrahlungen fort¬
fällt. Seine Resultate sind so günstige,
daß er zu der Ueberzeugung kommt, „in
der Röntgenbehandlung ein mächtiges
Mittel gegen Myome zu sehen, das alle
bisherigen Behandlungsweisen — mit Aus¬
nahme der Operation — bei weitem über¬
trifft und häufig einen operativen Eingriff
den Patientinnen erspart.“
So halte ich mich denn für berechtigt,
unter Bezugnahme aller dieser neuen Nach¬
prüfungen meiner Ergebnisse aus den
Jahren 1907 bis 1909 und gestützt auf meine
in dem letzten Jahre wieder an 15 Fällen
gesammelten Erfahrungen und Erfolge, mich
in dieser Frage an den praktischen Arzt
zu wenden, — dessen Kreuz gerade jene
Frauenleiden darstellen, — weil — bei ge¬
ringen Beschwerden — Arzt und Patientin
sich zur Operation nicht entschließen
können, und der Arzt heute nun nicht mehr
wie bisher gezwungen ist, mit unzureichen¬
den Mitteln, also untätig, Zusehen zu müssen,
wie sich aus kleinen, unscheinbaren An¬
fängen ein lebensgefährliches Leiden ent¬
wickelt, bei dem schließlich die Operation
die einzige, die ultima ratio ist, mit all
ihren Fährnissen bei solch ausgebluteten
Frauen.
Betreffs der Myombehandlung kann ich
an acht meiner neuen Fälle meine früheren
Erfolge nur bestätigen: Prompte Sistierung
der oft unstillbaren Blutungen, die jeder
Tamponade trotzen und wo als ultimum
refugium oft schon nur die Operation noch
in Aussicht genommen war, ferner an¬
haltend langsames, aber deutliches Zurück¬
gehen der Geschwulst.
Fraglich nur erscheint mir die direkte
Beeinflussung des Myoms selbst.
Bei den Patientinnen mit Myom haben
wir es mit älteren Frauen zu tun, deren
Eierstöcke schon etwas geschwächt sind.
Es ist daher nicht zu verwundern, wenn
hier schon eine kurze Reihe von Bestrah¬
lungen so überaus prompte Erfolge hin¬
sichtlich der Blutungen zeitigt. Denn,
wenn mit der allmählichen Reifung des
Eis eine allmähliche Anschwellung und
Blutfülle der Uterusschleimhaut einhergeht,
so ist es erklärlich, daß die Blutfülle sich
gar nicht erst einstellt, wenn es uns gelingt,
die Eireifung zu verhüten. Bei jüngeren
Individuen mit noch ganz normalem Eier¬
stockgewebe wird naturgemäß mehr Zeit
und ein größeres Maß von Schädigung da-
□ igitized by Goosle
zu notwendig sein. Wenn man dagegen
Frauen, die ohnehin sich doch schon der
klimakterischen Zeit nähern, der Bestrah¬
lung aussetzt, so erkläre ich mir die Ein¬
wirkung eben so, daß die Herabsetzung
der Blutung einzig und allein auf dem Um¬
wege durch die Eierstöcke erfolgt. Das
Myom schwindet dann mangels reichlicherer
Ernährung und Blutzufuhr. Es fühlt sich
Gebärmutter und Myom härter an, weil die
Blutfülle abnimmt, das schwammartig durch¬
tränkte Gewebe sich zusammenzieht.
Daß die Eierstöcke trotz ihrer ver¬
steckten Lage eine äußerst elektive Nei¬
gung für Röntgenstrahlen zeigen, kann aus
verschiedenen Gesichtspunkten bewiesen
werden.
Einmal durch das makroskopische und
mikroskopische Bild.
Die mit (a) bezeichneten Eierstockprä¬
parate 1 ) sind durch Bleiplatten abgedeckt,
die mit (b) bezeichneten den Strahlen aus¬
gesetzt, beide nach einer Reihe von Be¬
strahlungssitzungen operativ entfernt. Die
Abbildungen 3 ) bieten in jedem Fall schon
makroskopisch deutlich erkennbare Größen¬
unterschiede bis auf einhalb des Normalen.
Ferner ist die Oberfläche der unbestrahlten
Eierstöcke (a) deutlich mit kleinen Höckern
versehen, die sich schon in dem Photo¬
gramm dokumentieren, das Organ fühlt
sich sofort nach der Entfernung — also
quasi in vivo — viel weicher und elasti¬
scher an, als die derben bestrahlten Eier¬
stöcke (b), die keinerlei Erhabenheit an
ihrer Oberfläche dem Auge mehr dar¬
bieten.
Genau analog ist das mikroskopische
Bild: Hier (a) noch eine ganze Reihe Fol¬
likel am Rand (die vorher gefühlten Er¬
habenheiten), Follikel in der Randzone wie
eingestreut, in allen Stadien der Reifung.
Dort (b) nichts derartiges, einige Reste
der ehemaligen Corp. lut., einige leere oder
mit Detritusmassen angefüllte Follikelreste,
sonst beiderseitig Degeneration des ganzen
stark verkleinerten Organs z. T. mit Oblite¬
ration der Gefäße. An einigen Präparaten ist
das Gefäßlumen noch nicht verschlossen, oft
sieht man es sogar eigenartig dilatiert mit
Wandungen, die degenerierte hyaline Ver¬
änderungen an einzelnen Stellen zeigen,
während wieder an anderen Stellen (ohne
wesentliche Veränderungen) die abwech¬
selnde Verengerung und Erweiterung der
Gefäße allein auffielen: Erscheinungen, die
*) Siehe auch Fortschritte auf dem Gebiete der
Röntgenstrahlen 1909, H. 2, Bd. XIV.
s ) Von Halberstädter freundlichst zur Ver¬
fügung gestellte Präparate.
Original from
UNIVERSITY 0F CALIFORNIA
312
Die Therapie der Gegenwart 1910.
Juli
noch von keiner Seite bisher beschrieben
sind und der Erklärung harren; es will
mir scheinen, als ob die Erweiterung das
Erschlaffungs- oder Läh¬
mungsstadium darstellt als
zweite Etappe in der Ein- -
Wirkung der Röntgen-
bestrahlung; das erste a
Stadium wäre der Reiz¬
zustand. Es ist mir über¬
haupt klar geworden,
daß die Röntgen¬
strahlen inrefract.dosi
anreizend wirken, so
erklärte ich auch die oft
von mir beobachtete und
beschriebene stärkere Blu- £
tung in der I. Serie der <5 ■
Bestrahlung, z. B. bei Myo¬
men als Anreiz, ein Zu¬
stand, dem dann erst, | 1 Ih»^ V -
wenn genügend Röntgen¬
strahlen verabfolgt sind, das Organ also
quasi mit Röntgenstrahlen geladen oder
überladen ist, die lähmende degenerative Ent¬
artung der Ovarien, als
Zeichen der wachstum¬
hemmenden Beeinflussung
der Röntgenstrahlen auf
Allen Präparaten je¬
doch ist gemeinsam: als
im Vordergrund der Er¬
scheinung stehend, jene
ausgedehnte Atrophie der
Grafschen Follikel, sowie
ein ganz deutlich in die _
Augen springender Man- ££>
gel an Primärfollikeln.
Schließlich bringe ich dl,
als Nr. 4a und b, die nach ^
meiner Kenntnis ersten
Ovarien menschlichen
Ursprungs 1 ), an denen die Differenz von
bestrahltem und unbestrahltem Organ deut¬
lich erkennbar ist.
Es war hier — was gewiß als Ausnahme
aufzufassen ist — gelungen, ein bestrahltes
und ein durch Abdecken unbestraftes
Organ operativ zu entfernen und so kann
ich im Bild ein Kuriosum zeigen:
Der linke Eierstock mit den schönsten
Grafschen Follikeln, wie man sie wohl
kaum deutlicher erkennen kann, daneben
eine große Anzahl Primärfollikeln — das
ganze Organ damit wie übersät — in allen
Stadien der Reifung.
Rechts ein absolut obliteriertes, binde-
*) Fortschritte auf dem Gebiete der Röntgen¬
strahlen 1909, H. 2. Bd. XIV.
geweblich degeneriertes Gewebe, ohne Fol¬
likel. (Das Genauere über diesen Befund
soll an anderer Stelle niedergelegt werden.)
Fig. 1.
Wir wissen und die Präparate zeigen
es deutlich, daß die schnell proliferierenden
epithelialen Zellen der Einwirkung der
Röntgenstrahlen am meisten unterliegen,
und es gibt wohl keine Zellgruppe im
menschlichen Körper, die mehr und
schnellere Arbeit leistet als die Eierstöcke.
Fig. 3 Nur durch diese elek-
====|^=j tive Wirkung ist es aber
^ I zu verstehen, daß ich
jSl J§§ z. B. — ganz unbeab-
a 5 sichtigt zuerst — Pe-
riodeneinschränkung in
Fällen beobachten
'L . ? .!■! konnte, wo ich z. B. die
Schilddrüse bestrahlt
habe oder eine Psoriasis des Arms, oder den
schmerzhaften Ischiadikus, wie ich es in
meinen früheren Arbeiten 1 ) geschildert habe.
Zentralbl. f. Gynäkologie 1907, 1908, 1909.—
Original from
UNIVERS1TY 0F CALIFORNIA
Juli
Die Therapie der Gegenwart 1910.
313
Aus meinen Beobachtungen ergab sich 1
für mich als Norm, daß die günstigste Zeit
der Bestrahlung gleich nach der letzten
oder wenigstens in der ersten Hälfte nach I
Fig. 4.
Menschliche Eierstöcke
a) unbestrahlt
b) bestrahlt
dieser Periode gelegen ist. In diesem Zeit
raum muß mit dem Bestrahlen begonnen
werden, will man einen sicheren Erfolg er¬
zielen. Die in der zweiten Hälfte dann
vorgenommenen zwei bis drei Nachbestrah¬
lungen sichern nur die anfangs erzielte
Wirkung und befestigen sie.
Schon um dem etwaigen Einwurf zu be¬
gegnen, daß ich ja keinen Maßstab habe
für die Größe der gesetzten „Schädigung“,
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habe ich stets nach einem zweimonatlichen
Turnus jede Bestrahlung ausgesetzt und
auch so noch eine Dauerbeeinflussung
während der dritten bis fünften Periode —
d. h. bis auf zirka V 2 Jahr — oft ver¬
zeichnen können.
Bislang ließ uns nun gerade bei
anämischen Frauen und jungen Mäd¬
chen mit starken Blutungen und
heftigen Periodenbeschwerden die
Therapie völlig im Stich. Ein sicheres
Mittel gegen Meno- und Metrorrhagien,
gegen Dysmenorrhöen und Ausfluß
auf nicht infektiöser Basis kennen
wir nicht. Andererseits muß gegen
alle diese Beschwerden, die die Frauen
bedeutend schwächen und zu schwe¬
ren allgemeinen Gesundheitsstörungen
führen, ihnen das Leben verbittern,
gegen all diese Beschwerden muß
etwas Energischeres getan werden,
will man nicht jeden Erfolg körper¬
licher Kräftigung durch Allgemein¬
therapie völlig illusorisch machen.
Der Vorteil meiner vorgeschlage¬
nen Behandlung liegt einmal in der
völligen Schmerzlosigkeit, die
die Frauen sehr zu würdigen wissen,
gerade wenn sie schon häu¬
fig mit anderen Methoden
vorher gequält und her¬
unter sind, zweitens in der
Sicherheit des Erfolges
und schließlich in der ab¬
soluten Ungefährlich¬
keit bei der nötigen Vor¬
sicht. Denn in keinem
meiner Fälle seit dem Jahre
1906 habe ich jemals eine
Verbrennung konstatieren
können.
Kehren wir nun zu un¬
seren Fällen zurück. Neben
den erwähnten 8 neuen mit
Myom und 3 Fällen mit
Ausfluß nehmen in meiner
Erfahrung einen breiten
Raum ein: 30 Fälle von
starken sechs- bis acht¬
tägigen Periodenblutungen,
bei denen in der Norm nach etwa acht
Bestrahlungen im ersten und etwa drei Be¬
strahlungen im zweiten Monat, die Perioden¬
einschränkung von nur drei Tagen mit ge¬
ringem Blutverlust eine Reihe von Monaten
bis zu fünf ohne jede weitere Therapie
bestehen blieb.
Ferner möchte ich eines Falles gedenken,
der eine besondere Stelle einnimmt, eines in
Berlin wohl selten beobachteten Falles von
QrigirSPffom
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
3? 4
Die Therapie der Gegenwart 1910.
Juli
Osteomalazie, den ich seit zirka vier Jahren
in Behandlung habe.
Patientin litt früher an äußerst starken
Blutungen, so daß sie häußg tamponiert
werden mußte. Die Periode war von hef¬
tigsten krampfartigen Schmerzen begleitet,
die osteomalazischen Beschwerden mit der
Zeit noch erheblich gesteigert. In der Zeit
der Behandlung, in der ich auf der einen
Seite eine völlige Sterilität nur ungern her¬
beiführen wollte, gelang es mir, durch ver¬
schiedene Bestrahlungsserien, die natürlich,
um Hautschädigungen zu vermeiden, zeit
weilig unterbrochen werden mußten, so¬
wohl die Schmerzhaftigkeit als auch die
Dauer der Periode auf 1^2 bis höchstens
2 Tage herabzusetzen. Ferner war in den
ganzen vier Jahren ein Zunehmen der
Osteomalazie nicht zu verzeichnen, im
Gegenteil traten schmerzfreie Intervalle
häußg auf, denen dann allerdings auch
solche mit gesteigerten Knochenschmerzen
folgten. Doch war Patientin imstande,
was sie seit sieben Jahren nicht mehr
ausführen konnte, Theaterbesuch mit stun¬
denlangem Sitzen, darunter eine „Fausts-
Vorstellung von über fünf Stunden Dauer,
ja, sogar stundenlange Spaziergänge.
Ich möchte nun keineswegs den Glauben
erwecken, als ob ich den Fall für geheilt
ansehe. Ich bin auch keineswegs mit dem
bisherigen Erfolge schon zufrieden. Denn
es ist für mich zweifelhaft und abzuwarten,
ob ein Dauererfolg wirklich erreicht werden
kann. Aber auf der anderen Seite eine
30jährige Frau ohne zwingenden Grund
kastrieren und den frühzeitigen Klimax her
beiführen, ist zu überlegen, und immerhin
vier Jahre ohne Fortschreiten der
Knochenerweichung trotz größerer körper¬
licher Anstrengungen und erhebliche Besse¬
rung des Allgemeinbefindens deuten doch
auf eine Beeinflussung hin. Ich hatte jetzt
zirka 1*/2 Jahre mit den Bestrahlungen
pausiert, die Periode blieb bis vor drei
Monaten U /2 bis 2 Tage schwach. Von
da an verstärkte sie sich sichtlich auf drei
bis vier Tage mit Schmerzen als Begleit¬
erscheinung, ferner Schmerzen im rechten
Knie und Unterschenkel. Sofort setzte ich
wieder mit der Bestrahlung ein und hatte
die Freude, schon die nächste Periode an
Stärke und Beschwerde ganz erheblich be¬
einflußt zu sehen und — was das wich¬
tigste ist — auch die deutlich osteomalazi¬
schen Beinschmerzen gingen prompt zurück.
Der Fall ist noch aus einem anderen
Grunde wichtig. Er beweist, daß bei der
nötigen Vorsicht selbst eine so lange sich
hinziehende Röntgenbehandlung ohne all-
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gemeinen Schaden vertragen werden kann,
denn die Haut zeigt bis auf leichte Pig¬
mentierung nicht die geringste Reizer¬
scheinung.
Schließlich habe ich über die Behand¬
lung der Dysmenorrhöe mit allgemeiner
Nervosität zu berichten. Absichtlich fasse
ich beide zusammen, da beide enge Be¬
ziehungen zueinander aufweisen, ja, das
eine aus dem andern als Folgeerscheinung
resultieren kann. 3 Fälle will ich hier aus
meiner Gruppe herausgreifen:
Fall 1. Ein 15jähriges Mädchen, seit zwei
Jahren Periode, die sich alle vier Wochen wieder¬
holt, seit I 1 /* Jahren von heftigen Schmerzen
begleitet ist, seit dieser Zeit stellen sich jedes¬
mal vor Einsetzen derselben epileptiforme
Anfälle ein, besonders am frühen Morgen des
ersten Tages der Periode. Daneben besteht
Ausfluß. Nach acht Bestrahlungen war die
Periode auf zwei Tage herabgemindert, Blutung
geringer, ohne jede Schmerzhaftigkeit und ohne
irgendeinen Anfall. Die Behandlung wurde
in dem nächsten Monat noch einmal wieder¬
holt, sistierte dann von März bis Oktober 1908,
ohne daß sich ein neuer Anfall einstellte. Ok¬
tober, November wurde die Behandlung er¬
neuert. Das junge Mädchen hat seit dieser
Zeit nie wieder einen Anfall, nie wieder eine
schmerzhafte Periode gehabt.
Fall 2. Line 26jährige Frau. Periode stets
7—8 Tage, heftigste Beschwerden, besonders
die ersten zwei Tage, sehr starke Blutungen.
Periode wiederholt sich alle drei Wochen, so
daß Patientin eigentlich nur 14 Tage frei ist.
Sechs Sitzungen des ersten Monats und sechs
der nächsten Bestrahlungsserie bewirken eine
dreitägige schmerzfreie geringe Blutung.
Patientin fuhr ins Bad. Die nach vier Wochen
sich einstellende Periode dauerte angeblich fünf
Tage, Blutung gering ohne Beschwerden. Aus
dem Bad zurückgekehrt, setzte die nächste
Periode mit einer leichteren Steigerung der
Blutung und der Schmerzen ein. Nach acht
Bestrahlungen war der Einfluß auf Stärke der
Blutungen und Schmerzen derart, daß Patientin
während der Periode einen Ball mitmachen
konnte, was ihr bis dahin nie möglich gewesen
war. Patientin kam zwei Monate darauf in
andere Umstände, hat also die befürchtete
Sterilität glänzend widerlegt.
Fall 3. Eine 45jährige, sehr blasse, schwache
Frau R. Seit acht Jahren an den heftigsten
Periodenstörungen leidend, Periode sehr stark,
von sehr langer Dauer. Infolge des starken
Ausgeblutetseins häufige Ohnmächten, Anfälle
j von Gedächtnisschwäche. Nach der Periode
mehrmals sich wiederholende Anfälle mit
Zuckungen. Patientin war wiederholt ausge¬
kratzt worden ohne jeden Erfolg. Patientin
steht seit acht Monaten bei mir in Behandlung,
hat im ganzen in vier Bestrahlungsserien
28 Sitzungen gehabt und hat in dieser ganzen
Zeit, und zwar nur in den ersten beiden Mo¬
naten, drei Anfälle durchgemacht. Seit dieser
Zeit ist Patientin ohne Beschwerden. Der Blut¬
verlust ist minimal. Anfälle sind seither nicht
wieder aufgetreten.
Diese drei Fälle sind so recht das Para¬
digma der durch Dysmenorrhöe nervös.
Original fram
UNIVERSITÄT OF CALIFORNIA
Juli
Die Therapie der Gegenwart 1910.
315
neurasthenisch gewordenen Frau. Auf der
einen Seite das junge Mädchen, von der
Mutter aus neuropathisch veranlagt, leidet
seit dem Einsetzen der starken und schmerz¬
haften Periode an epileptiformen Krämpfen;
dort eine vor der Zeit gealterte, durch
kolossalen Blutverlust und schmerzhafte
Perioden elend gewordene Frau mit krampf¬
artigen Anfällen und Zuckungen als End¬
resultat ihrer Periodenbeschwerden, und in
der Mitte eine kräftige jüngere Frau, deren
Nervensystem noch reichlich brauchbar ge¬
blieben ist, trotz der dysmenorrhöischen
Beschwerden.
Welche Behandlung schlägt der Gynäko¬
loge in solchem Falle vor?
Veit schreibt: „Unsere gynäkologische
Therapie scheint der Mode unterworfen zu
sein. Früher die ewige Sprechstunden¬
behandlung; dann die Diszision des äußeren
Muttermundes, dann die des inneren Mutter¬
mundes, die Amputation der Portio; die
Auskratzung. Jetzt die Retroflexionsope-
ration. Meist mit gutem Erfolg, aber bei
mancher Patientin schwere nervöse Folge¬
zustände. M
Hofmeister schreibt über Dysmenor¬
rhöe: „Wie auch die Erfolglosigkeit der
Behandlung am Uterus beweist, ist die
Quelle der Schmerzen in solchen Fällen in
den Ovarien zu suchen, besonders bei
chlorotischen Mädchen. Als Therapie:
Morphium, Opium, konstanter Strom, in
die Gebärmutter eingeführt (bei Virgi¬
nes nicht anzuwenden), Skarifikation der
Portio. 11
Und derselbe: bei Menorrhagien aller
Art: „Im allgemeinen ist der Erfolg der
Ausschabung sehr gering. Man ist im
wesentlichen auf eine symptomatische und
medikamentöse Therapie angewiesen.“
Damit ist dieser Medikation selbst das
Urteil gesprochen. Und gerade hier setzt
die neue Röntgenbehandlung mit über¬
raschend schnellem Erfolge ein.
Indem ich an die oft erfolgreiche Be¬
handlung der nervösen Form von Dys¬
menorrhöe durch Kokainisierung der Nasen -
muschel erinnere, möchte ich noch eine
Betrachtung betreffs der Behandlung der
daraus resultierenden allgemeinen Nervosi¬
tät bei Frauen hier anschließen.
Es handelt sich bei der Menstruation
um den Abort eines unbefruchteten Eis,
infolgedessen eine Reihe von ausgelösten
Impulsen überwunden werden müssen, wie
ich es seinerzeit auf dem Röntgenkongreß
1909 ausführte. Ich glaube und die Beob¬
achtung hat die Richtigkeit meiner An¬
nahme wohl bestätigt, daß in diesen Fällen
von überaus starken sexuellen unbefrie¬
digten Reizen dieselben durch Herab¬
setzung der intensiven Reifung des Eis
mittels Röntgen strahlen zum Nutzen der
schwer darunter leidenden Frauen einge¬
schränkt werden können.
Fasse ich die oben erwähnten Erfolge
zusammen, so dürfte die bei Aerzten und
Patientinnen noch häufig bestehende Furcht
gegen die Röntgenstrahlen nicht gerecht¬
fertigt erscheinen. Wir müssen daher
immer und immer wieder betonen, daß
Röntgenverbrennungen, noch dazu mit den
mittelharten Röhren, wie sie gerade die
gynäkologischen Anwendungen erfordern,
äußerst selten sind und daß eine Idiosyn¬
krasie gegen Röntgenstrahlen nur sehr
selten vorkommt, von einigen Autoren über¬
haupt sogar abgeleugnet wird.
Zweitens müssen wir aber auch die
Gynäkologen von der Wirksamkeit dieser
neuen Therapie überzeugen und aus Gegnern
zu Anhängern derselben machen. Denn
wenn wir heute z. B. gerade beim Myom
ohne operativen Eingriff mit all seinen
nicht zu unterschätzenden Gefahren, Nar¬
kose bei ausgebluteten Frauen, Herzmuskel¬
schwächen usw. dieselben Erfolge zeigen
können, als vorher mit der Operation er¬
reicht wird, so ist es klar, welchen Weg
therapeutischen Handelns der Arzt seinem
Patienten anzuraten berechtigt, ja sogar
verpflichtet ist.
Ich glaube bestimmt, und ich befinde
mich hier in guter Gemeinschaft mit Alb er s-
Schönberg, Schindler u. a., daß wir
vielen Frauen die Operation ersparen
können, wenn sie sich der Röntgentherapie
unterwerfen: vor allem können wir durch
das frühzeitige Einsetzen dieser Therapie
Zustände allgemeinen Ausgeblutet¬
seins ganz verhüten.
Aber nicht nur bei Myomen, sondern
auch in anderen Fällen von Blutungen ist
die Röntgentherapie beachtenswert, wie ich
oben ausführte.
So bietet sich ein neues hoffnungsreiches
Feld therapeutischen Handelns und der
Arzt wird sich gewiß den Dank seiner
Patientinnen erwerben, wenn er sie bei¬
zeiten der Röntgenbehandlung zuführt.
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Oric vollem
UNIVERSITY 0F CALIFORNIA
316
Die Therapie der Gegenwart 1910.
Juli
Therapeutisches aus Vereinen und Kongressen.
Aus der Berliner medizinischen Gesellschaft.
Sitzung vom 22. Juni 1910.
Paul Ehrlichs Syphilis-Heilmittel.
Auf dem letzten Kongreß für innere
Medizin (vergl. unsern Bericht H. 5., S. 226)
machte der Mitarbeiter Ehrlichs, Dr.Hata,
die ersten Mitteilungen über ein neues von
Ehrlich dargestelltes Arsenpräparat, das
Dioxydiamidodiarsenobenzol, durch
welches bei einmaliger Anwendung einige
Protozoenkrankheiten der Tiere sicher ge¬
heilt wurden. Auch die experimentelle
Syphilis der Kaninchen wurde durch das
neue Mittel zum Schwinden gebracht Auf
Grund dieser experimentellen Beobach¬
tungen hatte Ehrlich das Mittel an Prof.
Alt zur Erprobung an Paralytikern und
späterhin Prof. Schreiber zur Erprobung
an Syphilitikern gegeben. Wie in unserra
Bericht dargestellt ist, hatten die klinischen
Prüfungen überraschend günstige Resultate
ergeben, so daß schon auf dem Kongreß
die Meinung Boden fassen mußte, daß wir
es hier mit einem praktischen Fortschritt
von größter Wichtigkeit zu tun hätten. In¬
zwischen hatte Ehrlich im März d. J. sein
Präparat Herrn San.-Rat Dr. Wechsel¬
mann, dem Leiter einer dermatologischen
Abteilung des städtischen Rudolf-Virchow-
Krankenhauses, zur ausgiebigen Erprobung
an syphilitischen Menschen übergeben. Im
folgenden bringen wir ein ausführliches
Referat über Wechselmanns Vortrag, der
von der Medizinischen Gesellschaft mit
lebhafter Bewegung und wahrer Begeiste¬
rung aufgenommen wurde.
Es ist wohl anzunehmen, daß ein Teil,
vielleicht sogar ein großer Teil der mit
Syphilis Infizierten durch eine gute, spezi¬
fische Therapie geheilt wird, bestimmt er¬
weisen läßt sich dieses aber nicht, da uns
gegenüber einer so eminent chronisch mit
durch Jahrzehnte voneinander getrennten
Rezidiven verlaufenden Krankheit ein
sicheres Kriterium für die wirkliche Heilung
fehlt; auch dieWassermannscheReaktion,
welche ja die Lösung mancher Kernfrage
der Syphilidologie gebracht oder angebahnt
hat und welche auch hier in Betracht käme,
wird sich erst nach jahrzehntelanger Beob¬
achtung hierfür sicher bewerten lassen.
Fest steht jedenfalls, daß auch bei der besten
spezifischen Therapie manche Fälle — und
zwar weitaus mehr, als man gewöhnlich
annimmt — nach vielen Jahren noch sekun¬
däre und tertiäre inf ektiöseErscheinungen
bieten, abgesehen von den sogenannten
parasyphilitischen Erkrankungen, und daß
niemand, welcher einen syphilitischen Primär¬
affekt in Behandlung bekommt, die sichere
Gewähr für den Verlauf der Krankheit
übernehmen kann. Danach ist das Streben
nach Verbesserung der Syphilistherapie
vollauf gerechtfertigt. Die Forderungen
aber, welche man an ein neues derartiges
Mittel stellen muß, sind: 1. daß es zum
mindesten nicht schädlichere Wirkungen als
Quecksilber besitzt, und 2., daß es in einer
Wirkung auf die Symptome der Syphilis
dieses übertrifft. Das Ehrlichsche Mittel
leistet im Tierversuch dieses beides unbe¬
dingt, man kann es in dieser Hinsicht als
fast atoxisch ansehen, da Affen 0,15 pro
Kilo Körpergewicht subkutan anstandslos
vertragen, während die Spirochäten der
Kaninchensyphilis durch eine einzige und
viel niedrigere Dose prompt mit einem
Schlage vernichtet werden. Natürlich ist
damit für die menschliche Syphilis noch
nichts ausgesagt; denn einerseits könnte
das Mittel für den Menschen viel toxischer
sein, und andererseits könnte es für die
menschliche Syphilis, welche ja doch eine
viel schwerere ist, als die beim Tier ex¬
perimentell erzeugte, wenig wirkungsvoll
sein. Wechselmann überzeugte sich zu¬
nächst an einem elenden, dem Tode ver¬
fallenen Säugling mit möglicherweise auf
Lues beruhender Littlescher Krankheit,
daß 0,03, intramuskulär injiziert, anstands¬
los ohne jede Schädigung vertragen wurden,
und als das Kind einige Wochen später
starb, ergab die Sektion nichts, was irgend¬
wie auf Arsenintoxikation bezogen werden
konnte. Heute sind schon mehrere hundert
Fälle mit dem Mittel behandelt worden, so
daß man die Gefahr der Toxizität nicht
mehr hoch einzuschätzen braucht, und man
kann um so mehr das jedem neuen Mittel
naturgemäß anhaftende Risiko übernehmen,
da die wirksame Quecksilbertherapie, be¬
sonders die mit unlöslichen Salzen, Salizyl-
Quecksilber, Kalomel und vor allem dem
neuerdings wieder empfohlenen grauen Oel
keineswegs unbedenklich ist und die Lite¬
ratur eine große Zahl von schweren, auch
tödlichen Intoxikationen — die sich vor¬
her gar nicht berechnen lassen — bei
völlig korrekter Anwendung aufweist. Bei
der Prüfung ging Wechselmann von dem
Gedanken aus, ob das neue Mittel Fälle,
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Gov gle
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Juli
Die Therapie der Gegenwart 1910.
317
die der bisherigen Therapie absolut nicht
# weichen wollen, günstig beeinflußt. *
Wechselmann berichtete nun in ein¬
gehender Weise über eine Reihe der von
ihm behandelten Fälle. Bei der enormen
Bedeutung dieser Krankengeschichten schien
es mir von besonderer Wichtigkeit, sie
möglichst authentisch unseren Lesern unter¬
breiten zu können. Ich bin Herrn Kol¬
legen Wechselmann aufrichtig dankbar
für die Erlaubnis, diese Krankengeschichten
im Original bringen zu können.
1. Willy Dah. kam als löjähriger im Jahre
1906 in meine Behandlung im Städtischen Ob¬
dach wegen einer Lues maligna, welche trotz
Kalomelinjektionen, Zittmannkur nicht heilte.
Bei Eröffnung des Virchowkrankenhauses wurde
er auf die Station des Kollegen Buschke ver¬
legt, dessen Krankengeschichte ich entnahm,
daß er im Oktober 1906 noch kokardenförmige
Syphilide am Körper, ulzerösen Zerfall der
Rachenorgane, Knochenschwellungen und vor
allem an der Unterseite der Glans 8 tiefe, bis j
erbsengroße, speckig belegte Ulcera hatte.
Schmierkur, Sajodin, Kalomelinjektionen, Ar¬
senik (Pil. asiat. und Spritzen). Dampf- und
Schwefelbäder, Kal. jod. Seit dem Februar 1907
trat wochenlang Fieber bis 39° auf. der Rachen
mußte mit Anästhesin bepudert werden, wegen
der Schluckbeschwerden. Im März Schmierkur,
2 Touren. Am 28. April 1907 ein Teil der
Effloreszenzen abgeheilt, ein Teil granulierend,
die des Kopfes noch unverändert. Uvula ab¬
gefallen. Zittmann und Jodipin. 28. April bis
7. Mai Sublimatinjektion; 23. Mai Atoxylinjektion
ä 0,2 nur 3, dann ausgesetzt, zugleich 2 Touren
einer Schmierkur. Er wurde dann am 7. Juni
entlassen, weil er weitere Behandlung verwei¬
gerte. Der Rachen war mit riesigen Narben
ab geh eilt, die Hautsyphilide heil, außer mark¬
stückgroßen Effloreszenzen am Gesäß. Schon
am 12. Juni aber ging er wegen Auf brechen
der Hauterscheinungen in die Gharite. Zehn
Atoxylinjektionen, dann 6 Kalomelinjektionen.
Im November ging er in die Heilstätte Lichten¬
berg. 32 Einreibungen, Jodkali und Sajodin.
Etwa im April trat wieder ein Geschwür am
Penis auf, das sich langsam vergrößert hat.
Am 20. Mai 1908 Entlassung und Aufnahme
im Virchowkrankenhause. Arseninjektionen,
Kalomelinjektionen, Jodkasein, Jodkali, Schmier¬
kur. 31. August 19 >8 gebessert auf Wunsch
entlassen. November/Dezember 1908 in der
Charite Kalomel. Februar-Juni 1909 in Lichten¬
berg Schmierkur. Im August 1909 wieder im
Virchowkrankenhaus. Oktober/Dezember 1909
Lichtenberg Schmierkur und Kalomel. Januar/
März 1910 bei Dr. Max Joseph Schmierkur
und Kal. jodat. Am 2. April 1910 auf meiner
Station aufgenommen. Der sehr elende Patient
zeigte im wesentlichen auf der Innenseite des
Oberschenkels eine kleinhandtellergroße blau¬
rote, teils narbige, teils geschwürige Fläche,
eine gleiche, 2:6 cm winklig verlaufende mit
schmierig belegten serpiginösen Ulzerationen.
Verschiedene Knochenverdickungen. Am Penis
nimmt eine stark zerklüftete, schmierig belegte
Ulzeration die ganze Haut der Glans und der
ventralen Fläche der Penishaut tief bis auf die
Fascie ein; in derselben sind nur ab und zu
noch Hautinseln von Linsengröße. Patient gibt
an, daß seit Beginn der Krankheit, 1906, der
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Penis nur einige Tage oberflächlich geschlossen
gewesen sei. 13. April 1910 0,25 Ehrlich 606,
Temperatur 38,1 0 bei gutem Allgemeinbefinden,
nur heftige Schmerzen, Morphiuminjektion.
14. April 37,2, 38,2. Morphiuminjektion, dabei
gutes Befinden. 15. April 37,5, abends 39,3.
Morphium inj ektion. Allgemeines Befinden gut.
16. April 37,5, 38,5. Vom 17. Mai sinkt die
Temperatur, Schmerzen hören auf. Die Hei¬
lung setzt rapid ein. Am 20. April ist das
Kopfgeschwür und die Stelle am Oberschenkel
fast heil, die Ulzerationen des Penis reinigen
sich und verkleinern sich. Am 9. Mai ist alles
restlos heil, sodaß Patient nicht mehr im
Krankenhaus zu halten ist Am 20. Mai war
die Narbe am Penis am oberen Rand eine
Spur erodiert, da Patient sie offenbar ganz ver¬
nachlässigt hatte. Später stellte er sich trotz
Aufforderung nicht wieder vor.
Patient hat sich auffallend erholt. Körper¬
gewicht 6. April 50,5, am 16. April 50, 23. April
48,5, 30. April 50, 7. Mai 51,3 kg. Ebenso sicher
beweisend für die eminente, den bisher be¬
kannten Mitteln überlegene Wirksamkeit des
neuen Präparats ist folgende Beobachtung.
2. Die 25jährige Arbeiterin Flora Sie. wurde
im Juli 1905 mit Lues infiziert und hat mehr¬
fach Schmier- und Spritzkuren in der Charite
durchgemacht. Seit Jahren kann sie den Kot
nicht halten, und sie wird in einem erbärm¬
lichen Zustand am 5. Mai 1909 auf meiner Ab¬
teilung aufgenommen, mit zirka 2 cm tiefen,
stinkenden, bogenförmig angeordneten, von
der hinteren Kommissur hoch hinauf gegen
die Nates ziehenden je zirka 15 cm langen,
aus einzelnen Ulzerationsherden bestehenden
Geschwüren; zum Teil sind Heilungsvorgänge
in Form von ganz atrophischen Narben kennt¬
lich, an deren Rand die serpiginös unaufhalt¬
sam fortschreitenden Geschwüre sitzen. Der
Mastdarm ist stark infiltriert und zeigt zwei
Strikteren, für den Finger knapp durchgängig,
auf denen man tiefe Ulzerationen sieht. Wasser-
mannsche Reaktion sehr stark positiv, Gewicht
45 kg, 5 Kalomelinjektionen, wegen Durchfall
abgesetzt, zugleich immer Jodkali. Vom 12. Mai
ab Schmierkuren. Inkontinenz etwas gebessert;
Körpergewicht 40 kg. Lokale Röntgenbestrah¬
lung der Geschwüre. Am 3. Juli auf ihren
Wunsch in wenig verändertem Zustand ent¬
lassen, aber am 7. Juli 1909wieder aufgenommen,
weiter mit K.-J. und örtlich behandelt, da Hg
schlecht vertragen wurde. Am 4. Mai erhielt
Patientin in einem Zustand, der etwas schlechter
war, als die Moulage zeigt, 0,3 (606), worauf
schon nach wenigen Tagen eine Reinigung
und Heilung der großen Geschwüre begann,
welche am 18. Mai bis auf einige ganz kleine
Steilen der rechten Seite, welche auch jetzt
noch nicht ganz geheilt sind, vollständig war.
Zugleich haben sich die Erscheinungen des
Darmes sehr gebessert; die rektoskopische
Untersuchung ergibt nur noch eine flache Ero¬
sion an der Strikterstelle. Das Allgemeinbefin¬
den hat sich sehr gehoben; das Körpergewicht
ist stabil 40 kg geblieben.
Außerordentlich günstig war auch die Wir¬
kung des neuen Mittels in folgenden Fällen
maligner Lues, welche teilweise auf Queck¬
silber nicht oder nicht genügend reagierten.
3. Minna La . . ., 23 Jahre, wurde vom
17. Februar bis 1. April 1910 auf unserer Ab¬
teilung wegen Lues I/II mit Schmierkur be¬
handelt. Ende April erschienen bei ihr wieder
Ausschläge, und am 6. Mai wurde sie mit tiefen,
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
318
Die Therapie der Gegenwart 1910.
Juli
ulzero-krustösen zehnpfennigstück- und darüber
großen Effloreszenzen im Gesicht und am Kör¬
per wieder aufgenommen. Zugleich zeigten
die gesamten Rachenorgane tiefe, schmierig
belegte Ulzeration, und besonders das Zäpf¬
chen war an seiner Basis beiderseits zerstört,
so daß es nur noch an einem Stiel in der
Mitte hing und sein Verlust innerhalb weniger
Tage sicher bevorstand. Patientin hat schon
tagelang der Schmerzen halber nicht schlucken
können, und auch die Atmung war wesentlich
behindert. Am 10. Mai Injektion (606) 0,4. Schon
nach zwei Tagen gingen die Beschwerden
kolossal zurück; am 18. Mai war der Rachen
voll ausgeheilt, das Syphilid benarbt. Jetzt
bestehen nur noch Pigmentflecke. Noch in
Beobachtung.
4. Friedrich K . . ., 30 Jahre, wurde vom
2. März bis 10. April wegen einer sofort papulo-
ulzerös aufgetretenen Syphilis, die schon am¬
bulant mit Hg behandelt war, auf der Station
des Kollegen Buschke mit Schmierkur, Jod¬
kali und Arsen behandelt. Er trat später in
homöopathische Behandlung und war vom
11. März bis 30. April 1910 wieder hier im
Krankenhaus wegen eines zweimarkstückgroßen
Geschwürs am Rücken, ähnlicher Effloreszenzen
hinter den Ohren und auf dem Kcmf, Auftrei¬
bung des Schienbeins, hühnereigroßem Tumor
des linken Hodens; dabei bestand bei dem
heruntergekommenen Patienten Fieber von 39°.
Unter Schmierkur Besserung der Erscheinungen.
Am 12. April trat ein Anfall von Schlottern
des Unterkiefers und Unfähigkeit, zu sprechen,
auf. Aehnliche Anfälle sollen im letzten Jahr
schon öfter vorgekommen sein. Patient wird
am 30. April gebessert entlassen. 8 Tage später
trat der Ausschlag wieder auf, und sein Arzt
(Dr Adler) schickte ihn ins Krankenhaus, weil
er Hg nicht vertrug und das verordnete Levico
nicht viel wirkte. Am 21. Mai 606 0,405. Die
Temperatur steigt auf 39,3°; am 28. Mai alle
Gescnwüre völlig heil. Hoden am 5. Juni von
normaler Größe und Konsistenz. Schwindel
völlig geschwunden, ebenso Druckempfindlich¬
keit des Schädels. Körpergewicht 16. Mai 65,
3. Juni 66 kg.
5. Max D . . ., 45 Jahre. Dezember 1909
Schanker, 5 wöchentliche Schmierkur. Jetzt am
Rumpf zahlreiche, von früherem ulzerösen Ex¬
anthem herrührende, noch gerötete Narben.
Ulzeröses, papulo krustöses Syphilid am Rumpf
und Extremitäten. 27. Mai 606 0,5. Temperatur
steigt bis 38,8«; am 4. Juni alles abgeheilt.
Körpergewicht 29. Mai 48, 6. Juni 49,5 kg. Der
folgende Fall beweist, wie unmittelbar auf eine
nicht zum Ziel führende Schmierkur das Mittel
prompt wirkt
6. Grete H . . ., 18 Jahre. Januar 1909
Primäraffekt der Lippe, 6 wöchentliche Schmier¬
kur. 25. April 1910 ulzero-krustöse Papeln am
Rücken, Nates, Labien. (Spirochäten zahlreich.)
Auf dem Kopf zweimarkstückgroße, bis auf die
Galea reichende Ulzerationen. Nach 112 g Ugt.
einer, sind letztere nur etwas reiner und ver¬
kleinert; auch die anderen Effloreszenzen etwas
kleiner, aber durchaus nicht heil. 26. Mai 606
0,45. 31. Mai Effloreszenzen heil; von den beiden
Kopfgeschwüren eines heil; das zweite war
noch ganz oberflächlich, 7. Juni ganz heil.
Körpergewicht 29. Mai 53, 7. Juni 54 kg.
Schon in diesen Beobachtungen tritt —
was sich fast ausnahmslos speziell auch bei
Tuberkulosen bestätigte — klar zutage, daß
nach der Injektion sich das Allgemeinbefinden
kolossal hob. Selbst in den ersten Tagen, wo
die Sqjimerzhaftigkeit noch sehr lebhaft ist, hat
man diesen Eindruck, und die Patienten geben
es häufig spontan an. Vor allem tritt fast
immer eine Erhöhung des Körpergewichts ein,
manchmal allerdings erst, nachdem in den
ersten der Injektion folgenden Tagen wegen
der Schmerzen und der Temperatursteigerung
vorübergehend eine Abnahme stattgehabt hat.
Geradezu Verwunderung aber erregt diese
Hebung des Allgemeinbefindens in den beiden
folgenden Fällen, welche nach dem überein¬
stimmenden Urteil aller Aerzte, welche sie
beobachtet haben, so elend und herabgekom¬
men waren, daß man sie mit Sicherheit als
dem Tode in nicht zu ferner Zeit verfallen
bezeichnen konnte.
7. Arthur P. . . ., 23 Jahre. Vor sieben Mo¬
naten Primäraffekt; vier Wochen später Aus¬
schlag; vom 28. November 1909 bis Mitte März
1910 Spritzkur (35 Spritzen). Seit drei Mo¬
naten Gelenkschmerzen in beiden Kniegelenken.
Am 5. Mai 1910 kam Patient im Zustand höch¬
ster Entkräftung auf unsere Abteilung. Patient
war zum Skelett abgemagert, die Haut von
fahler Leichenblässe, das Gesicht einem Toten¬
kopf ähnlich mit höchst schmerzlichem Aus¬
druck. Ueberall im Gesicht und am Körper
zehnpfennig- und darüber große, mit Krusten
besetzte, durch die ganze Haut bis aufs Unter¬
hautzellgewebe reichende Ulzerationen neben
Narben. Aashafter Gestank aus der Nase, in
welcher das Septum perforiert, die linke untere
Muschel und der Vomer im Abstoßen begriffen
war. Ausgedehnte Ulzerationen im Nasen¬
rachenraum , welche auch das Zäpfchen in
seiner linken Hälfte zum Zerfall gebracht
haben. Patient kann gar nicht schlucken
wegen der großen Schmerzhaftigkeit und muß
mit Schlundsonde und Nährklystieren erhalten
werden. Puls sehr klein und von schlechter
Spannung, 120 und mehr. Wir wagten nicht,
die Einspritzung zu machen, doch als unter
Jodinjektionen stetige Verschlimmerung eintrat
und wir das Ende in absehbarer Zeit erwarte¬
ten, injizierten wir am 21. Mai 0,4. Keine Tem¬
peratursteigerung, mäßige Schmerzen. Schon
nach zwei bis drei Tagen deutliche Besserung
des Allgemeinbefindens. 26. Mai überall deut¬
lich beginnende Heilung. 30. Mai Zapfenheilung.
Ulzera in vollster Heilung und abgeheilt. Das
kranke knöcherne Nasengerüst hat sich in toto
ausgestoßen. Fötor geschwunden. Jetzt, 7. Juni,
hat sich Patient sehr erholt, fängt an, selbst zu
schlucken und kann schon umhergehen. Körper¬
gewicht 21. Mai 41,5, 28. Mai 41,5, 5. Juni 42,5 kg.
8. H.. .., 35 Jahre, Kassenbote (ophthalmo-
logische Station des Herrn Dr. Fehr). Sehr
herabgekommener Mann. Zahlreiche impetigi-
nöse Syphilide der Kopfhaut. Krustöse ulze¬
röse Syphilide überall im Gesicht, Rumpf und
Extremitäten zerstreut. Im Rachen ist die
Uvula völlig verloren gegangen, die Testieren¬
den Rachenorgane sind sehr infiltriert und ge¬
schwollen und stellen an ihren freien Teilen
mit schmierigem Belag versehene Ulzerations-
flächen dar. 24. Mai 606 0,4. Nach sechs Tagen
alles gereinigt, Syphilide in vollster Heilung.
Patient fühlt sich wohl und beginnt zu schlucken
und aufzustehen. 13. Juni alles heil.
9. Marie H. ..., 24 Jahre. 3. Januar 1910
wegen universellen papulösen Syphilids bis
9. Februar Schmierkur auf unserer Abteilung.
Damals Optikus beiderseits unscharf begrenzt,
venöse Hyperämie. Neuritis optica (Dr. Fehr).
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Juli
Die Therapie der Gegenwart 1910.
319
Am -13. April wurde Patientin wieder auf¬
genommen wegen eines dichten, am ganzen
Körper verbreiteten zehnpfennigstück- bis
fünfzigpfennigstückgroßen papulo-krustösen, ko¬
kardenförmigen Syphilids.
19. April 0,3 606. 22. Mai Krusten heben
sich ab. Abheilung in zwei bis drei Wochen
bis auf Pigmentierungen. 19. Mai Gesichtsfeld,
Augenhintergrund normal. Bleibt in Beob¬
achtung bis 8. Juni. Körpergewicht 23. April
50. 1. Mai 52,2, 15. Mai 54, 20. Mai 54, 25. Mai
55,5. 4. Juni 57 kg.
Ueber die Wirkungen bei Primäraffekten
und den gewöhnlichen Formen der sekundären
(auch rezidivierenden) Lues gibt folgende Zu¬
sammenstellung Auskunft.
1. Männer.
10. C . . ., 25 Jahre. Kolossaler Primär¬
affekt der Unterlippe. Kolossaler mannsfaust-
roßer Maxillarbubo. Universelles papulöses
yphilid. 23. April 0,3, 30. April Primäraffekt
und Drüsen au! die Hälfte verkleinert. 18. Mai
völlig heil, bis auf geringe Pigmentflecke am
Oberschenkel. Gewicht 7. Mai 69,5, 14. Mai 71,5.
11. G . . ., 30 Jahre. Ulc. dur. am Schaft
des Penis seit 14 Tagen. 3. Mai 0,3 606. 9. Mai
gereinigt, 26. Mai heil. Gewicht 30. April 62,
7. Mai 62,5, 14. Mai 62.
12. Sch . . ., 28 Jahre. Geschwür seit Mitte
Februar 1910. Syphilitische Phimose (später
auf Wunsch inzidiert), dichtes papulöses
Syphilid universell. 23. April 0,3. 16. Mai
Exanthem geschwunden. 26. Mai alles, auch
die Induration des Präputiums, heil. Gewicht
23. April 54,5, 30. April 55,5, 7. Mai 56, 14. Mai
55.5 (Tag nach der Phimosenspaltung), 26. Mai
57 kg.
13. No . . ., 27 Jahre. Geschwür der Glans
(Spir. ++); seit 4 Wochen. Univers. papul.
Syph. 30. April 0,3 (606). 6. Mai Schanker
geschlossen, Exanthem flach, bräunlich. 9. Mai
fast heil; auf Wunsch entlassen; 64 kg.
14. K ...» 24 Jahre. 23. Februar 1910 Ulc.
April Exanthem. Entzündliche Phimose, dar¬
unter große Ulcera mixt, und am Schaft sehr
oßer serpiginöser Schanker (Spir. -f-f)
1V* cm. Plaques muqueuses. Exanthem
nicht bemerkbar. 3. Mai 606 0,3 ; 6. Mai ge¬
reinigt, 15. Mai serpiginöse Geschwüre heil.
Weiche Schanker bestehen noch. 30. April 74,
7. Mai 75, 5. Juni 76 kg.
15. W . . ., 22 Jahre. Kolossaler Primär¬
affekt der Unterlippe, talergroß, sehr zerfallen,
apfelgroße Submaxillardrüsen. Schmierkur mit
mäßigem Erfolg. 21. Mai 0,4 (606). 2. Juni Ulc.
flach, zehnpfennigstückgroß. Drüsen ganz
klein, zum Teil vereitert. 8. Juni Ulc. fast neil,
51.5 kg; 4. Juni 51,5 kg.
16. G . . ., 31 Jahre. Seit 8 Wochen Ge¬
schwür am Glied. Tuberculos. pulm. 4. Sal.-
Inj. Geschwür vergrößert sich. Gonorrhoe,
Urethralmündung und Glans von markstück¬
großem, zerfallenem Ulc. dur. eingenommen.
Inguinaldrüsen sehr groß und hart. 27. Mai 0,5
(606). 30. Mai Geschwür rein, verkleinert sich.
3. Juni Pleuritis sicca. Auf Wunsch entlassen.
17. W . . ., 30 Jahre. Seit 6 Wochen Ge¬
schwür am Glied. Seit 3 Wochen papulöses
Syphilid am ganzen Körper, nicht sehr dicht.
Skleradenit. univer. Angina spec. An der
Corona glandis r. zerfallenes Geschwür. 1. Juni
0,4. 2. Juni kolossale, talergroße Erythemflecke
um zahlreiche Papeln. Jari sch-Herxheim er¬
sehe Reaktion, einen Tag anhaltend. 8. Juni
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Geschwür in Heilung, Papeln in Rückbildung.
29. Mai 61, 5. Juni 61,5 kg.
18. E . . ., 22 Jahre. Januar Schanker,
10 Salicylquecksilberinjektionen. Jetzt Angina.
Dichtes, mittelgroßfleckiges, universelles Exan¬
them. 3. Mai 0,4 (606). 6. Mai Angina heil.
Exanthem im Schwinden. 9. Mai heil. 23. Mai
entlassen. 30. April 61, 7. Mai 59, 14. Mai 60,
21. Mai 61,5 kg.
19. Sch ...» 33 Jahre. Am 18. März nach
Kur hier geheilt entlassen. 16. April Halsbe¬
schwerden, Plaques an der Zunge. Angina.
3. Mai 0,3 (606). 6 Mai fast alles heil. 9. Mai
heil; 20. Mai geheilt entlassen. 7. Mai 70 kg.
20. F . . ., 27 Jahre. Ausgebreitete klein-
bis mittelgroßfleckige Roseola. Skleradenitis.
Erosionen der Glans (Spir.). 27. Mai 0,5 (606);
am 2. Tag 38,2 Temperatur. 30. Mai Primäraffekt
geschlossen, Roseola besteht noch. 4. Juni alles
heil; an der Infektionsstelle Infiltrat. 28. Mai 61,
3. Juni 62,5 kg.
21. Pe . . ., 32 Jahre. Seit 8 Wochen am
Penisschaft charakteristisches Geschwür (kleine
Spir.). Kleinpapulöses universelles Syphilid.
27. Mai 0,5 (606). 2. Juni Rückbildung des Exan¬
thems deutlich. Primäraffekt geschlossen.
22. G . . ., 21 Jahre. Bohnengroße Indura¬
tion am Frenulum. Roseola. 1. Juni 0,4 (606).
9. Juni geheilt entlassen.
23. P . . ., 24 Jahre. Papulöses Syphilid.
1. Juni (606) 0,4.
24. M . . ., 16 Jahre. Sehr dichte, klein¬
fleckige Roseola. Angina spec. Plaques. Ero¬
sionen an Glans und Schaft-Penis (Spir. -f).
30. Mai (606) 0,45. 31. Mai sehr starke Jarisch-
Herxheimersche Reaktion. 2. Juni Primär¬
affekte geheilt. Exanthem geschwunden.
25. M . .., 22 Jahre. Phimosis specif. Sehr
dichtes papulöses Syphilid. Papeln am Scrot.
und Penanal. Angina mit starken Ohrschmerzen.
22. Mai 606 0,3. 25. Mai Ohrschmerzen ge¬
schwunden. 30. Mai Exanthem sinkt ein, Phi¬
mose geschwunden. 2. Juni Exanthem flacher,
bräunlich. Ulzerationen am Penis heil, Papeln.
8. Juni, da Exanthem noch nicht ganz resor¬
biert, noch Schmierkur verordnet 21. Mai 66,
29. Mai 63,5, 5. Juni 64 kg.
26. O . . . Makulöses Syphilid. Impetigo
capit. spec. 4. Juni 0,4 (606).
27. Sch . . . Papeln ad anum et scroti.
9. Juni 0,5 (606).
2a Krol .... 31 Jahre. 9. Juni (606) 0,5.
29. W . . ., 23 Jahre. Primäraffekt, Papeln.
9. Juni 606 0,5.
30. R . . . Rezidiv. 9. Juni 606 0,5.
II. Frauen.
31. Clara B . . ., 19 Jahre. Seit drei Mo¬
naten kolossale Papeln, zum Teil zerfallen,
zum Teil organisiert an Genitalien und Ober¬
schenkeln. 5. April (606) 0,3, 9. April noch
Spirochäten, 15. April Rückbildung deutlich,
2ö. April ganz abgeheilt Noch bis 24. Mai
beobachtet, kein Rezidiv. 17. April 62, 5. Mai
65 Kilo.
32. Clementine R . . ., 15 Jahre. Kolossal-
Oedem. Indurative und zahlreiche Papeln der
Genitalien. Roseola 30. April 03 (606), 3. Mai
sehr starke Rückbildung aller Erscheinungen.
10. Mai heil. 24. Mai entlassen. 5. Mai 45,
20. Mai 48 Kilo.
33. Ida H . . ., 20 Jahre. Vor 8 Wochen
Ulc. lab. pud. Jetzt sehr dichtgedrängtes uni¬
verselles. sehr derbes, mikropapulöses, liche¬
noides Exanthem, welches erfahrungsgemäß
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
320
Die Therapie der Gegenwart 1910.
Juli
der Therapie nur schwer weicht. Sklerad.
universal. Angina spec. Plaques der Zunge.
Papeln der großen Labien.
19. April 606, 0,3, 22. April deutliche Invo¬
lution, 26. Mai Papeln heil, des Exanthems
Plapues heil. Die Rückbildung schritt stetig
fort, sodaß nur noch kleine Pigmentierungen
im und unter dem Niveau der Haut nach drei
Wochen etwa behandelt. Vom 21. bis 26. Mai
wurde zur Resorption der Flecke noch 6x4 e
Ungt. ein. verrieben. 46—47 Kilo wechselnd.
34. Erna G ...» 20 Jahre. Papeln der Ge¬
nitalien, papulo-krustöses Syphilid. 28. April
6,06, 0,3, ä0. April Papeln in Rückbildung,
3. Mai heil, 14. Mai Exanthem fast geschwun¬
den, leichte Schuppung. 24. Mai ohne Erschei¬
nungen. Bekommt trotz negativer Wasser¬
mann-Reaktion noch 7 mal Ungt. ein. 4,0.
27. April 57. 1. Mai 57, 15. Mai 58, 4. Juni 60 Kilo.
Kein Rezidiv.
35. Hilda G. .. ., 17 Jahre. 1. November bis
4. Dezember 1909 makulöses Syphilid. Schmier¬
kur. 3. Mai wieder aufgenommen wegen Re¬
zidivpapeln der Genitalien. 7. Mai 0,3 606.
8. Mai Erbrechen. 18. Mai völlig geheilt. 5. Mai
45, 15. Mai 43, 20. Mai 43,5 kg.
36. Lydia G...., 20 Jahre. Condylomata
lata der Genitalien. Sklerad. inguinal. 7. Mai
0,3 (606), am 9. Mai Temperatur 39,2 abends.
14. Mai Papeln abgeheilt. 7. Mai 50, 15. bis
20. Mai 52 kg, 7. Juni stellt sich ohne Re¬
zidiv vor.
37. Marie G.22 Jahre. Seit März Ge¬
schwüre der Genitalien. Labien und Anal¬
gegend von großem Beet ulzerierter Papeln
bedeckt. Sklerad. inguinal. 23. Mai 606 0,4.
31. Mai Papeln heil, noch über dem Haut¬
niveau. 22. Mai 47,5, 4. .Juni 49 kg.
38. Elfriede Qu-- 20 Jahre. Ulzerierte
flache Genitalpapeln. Inguinaldrüsen. 24. Mai
606 0,3. 31. Mai fast heil. 3. Juni heil. 25. Mai
45,3, 5. Juni 47 kg.
39. Johanna H... ., 22 Jahre. Mai/Juni 1909
hier wegen Lues. Dezember 1909 Papeln.
Spritzkur bis 9. Februar 1910 in der Charitö.
21. März hier Schmierkur bis 2. Mai wegen
makulopapulösem Syphilid. Plaques der Ton¬
sillen. Schon am 24. Mai aufgenommen mit
Plaques der Tonsillen und Zunge, Rhagaden
der Mundwinkel, isolierte Papeln auf Striae
des Unterbauches. 26. Mai 606 0,456. 31. Mai
Rhagaden heil, Plaques heil. 3. .Juni Papeln
eingesunken. 24. Mai 52, 4. Juni 53,1 kg.
40. Bertha M... ., 21 Jahre., Schwächliche
Patientin, markstückgroßes schmieriges Ulc. dur.
der linken Lab. major, kolossales induratives
Oedem. Rechte Lungenspitze Dämpfung und
Rasselgeräusche. 26. Mai 0,456 (606). 31. Mai
Primäraffekt gereinigt, Oedem fast ganz ge¬
schwunden. 6. Juni nur noch fünfpfennigstück¬
große Fläche, reine Erosion. 25. Mai 41,5,
4. Juni 42 kg.
41. Martha G.22 Jahre. Angina specif.
Großfleckige Roseola. Konfluierte ulzerierte
Papeln der Labien und Perineum. 31. Mai
606 0,4. 7. Juni Papeln überhäutet, aber noch
nicht ganz resorbiert.
42. N . . ., 20 Jahre. Ulzerierte Plaques
der Tonsillen und Gaumenbögen. Papeln der
Zunge. 27. Mai 0,45, 31. Mai alles heil.
43. Auguste N . . ., 21 Jahre. Angina spec.,
zahlreiche bohnengroße ulzerierte Papeln der
Genitalien. 24. Mai 0,4 (606), 31. Mai Papeln
überhäutet, aber noch über dem Hautniveau.
44. Hedwig G . . ., 26 Jahre. Roseola.
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Plaques der Zunge. Papeln der Labien. 27. Mai
0,45 (606). 31. Mai Roseola verschwunden.
3. Juni alles heil.
45. Clara B . . ., 29 Jahre. Blasse Frau,
Lungenspitze Rasselgeräusche. Kleinpapulöses
lichenoides Syphilid seit 8 Tagen bemerkt.
Skleradenit. 1. Juni 606 0,4. 3. Juni Exanthem
sinkt ein, 7. Juni Rückgang fortgeschritten, nur
noch Pigmentflecke.
46. Emma R . . ., 27 Jahre. Mutter und
Bruder Tuberkulose. Rasselgeräusche über der
rechten Spitze. Roseola am Rumpf; makulo¬
papulöses Syphilid an den Extremitäten; zahl¬
reiche große konfluierende Papeln an den La¬
bien. Plaques im Rachen. 31. Mai 606, 0,4,
3. Juni Papeln gereinigt Syphilid im Rück¬
gang, Plaques fast geschwunden. 7. Juni Plaques
heil. Papeln überhäutet, aber noch erhaben.
Exanthem nur noch angedeutet.
47. Charlotte Schn . . ., 21 Jahre. Scabies.
Angina spec. Plaques tonsill. An der Labia
majora einzelne papulöse, teils nässende, teils
trockene kegelförmige Infiltrate, in denen Spiro¬
chäten nicht zu finden sind. (Zweifelhaft, ob
Papeln schon durch Scabies bedingt.) Wasser¬
mann-Reaktion -|—|—|—1-. 25. April 606, 0,3.
3. Mai Angina heil, 10. Mai Papeln (?) über¬
häutet, aber noch emporragend. Da sich diese
trockenen Wucherungen nicht weiter zurück¬
bilden, 24. Mai noch Schmierkur, trotzdem
Wassermann-Reaktion negativ eingeleitet.
5. Mai 51, 20. Mai 53, 5. Juni 54 kg.
48. Auguste D . .., 30 Jahre. Höchst elende
Frau. Mit 21 Jahren wegen eines Augenleidens
Spritzkur. Vor 3 Jahren 10 Spritzen wegen
Ausschlag (Prpf. Buschke). Geburt eines
Kindes, das nach 8 Tagen starb; danach wegen
neuer Erscheinungen 8wöchentliche Schmier¬
kur. Seit Herbst 1909 Reißen in der linken
Schulter, daselbst ein faustgroßes Gumma, ein
gleiches in der linken Hüftbcuge, beide in Zer¬
fall. Rechte Lunge bis zur zweiten Rippe
Dämpfung vorn, hinten bis zum oberen Rand
der Skapula, bronchiales Atmen, knackende
Geräusche. Unregelmäßige Temperatursteige¬
rungen. Jodkali mit leidlichem Erfolg, Gum-
mata werden etwas kleiner. 26. Mai 606, 0,44,
7. Juni Gumma etwas eingesunken, sonst wenig
geändert. 29. Mai 35 kg.
Eine besondere Betrachtung verdient
die hereditäre Lues der Säuglinge. Es
wurden gerade diese zuerst der Behand¬
lung unterworfen und solche ausgesucht,
welche kaum Aussicht hatten, am Leben
erhalten zu werden. Es sind dies Fälle
von Pemphigus syphiliticus neonatorum,
eine Form von Syphilis, bei welcher die
inneren Organe von Spirochäten so durch¬
wuchert sind, -daß die Kinder fast stets mit
und ohne Kuren sterben. Es ist gelungen,
zwei derartige Kinder zu heilen, drei
andere starben einige Tage nach der In¬
jektion; durch dieselbe waren die Er¬
scheinungen der Syphilis auf der Haut
rapid verschwunden, aber es trat Tempe¬
ratursteigerung, Anämie und in einem Fall
Opisthotonus auf. Die Sektion ergab in
einem Fall ausgedehnteste miliare Gumma¬
bildungen der Leber, im zweiten Gummata
des Herzens, im dritten Pädatrophie, keine
Original frnm
UNIVERS1TY OF CALIFORNIA
Juli
Die Therapie der Gegenwart 1910.
321
Zeichen von Arsenintoxikation. Nun ist ja
das Leben so schwer syphilitischer Säug¬
linge, zumal wenn man ihnen die Mutter¬
brust nicht geben kann, aufs höchste be¬
droht. Es starben z. B. zu gleicher Zeit
drei Säuglinge mit lange nicht so schwerer
Lues, von denen der eine Oberhaupt nicht
behandelt war, die beiden anderen der üb¬
lichen Hg-Kur unterworfen waren. Ebenso
erkrankten zwei Kinder, welche in den letz¬
ten Tagen mit Pemphigus syphyliticus und
papulöser Syphilis aufgenommen und zur In¬
jektion bestimmt waren, noch vor derselben
an Fieber, ohne daß man irgend einen das
Fieber erklärenden lokalen Krankheitsherd
aufweisen konnte, und der Pemphigus starb.
Immerhin ist es möglich, daß durch die
rapide Auflösung der kolossalen Spiro¬
chätenmengen bei Anwendung des neuen
Mittels eine solche Menge von Endotoxinen
frei wird, daß dadurch eine vorübergehende
Schädigung eintritt, welcher der schwache
kindliche Organismus nicht stand hält Man
wird auf diese Verhältnisse bei der Do¬
sierung achten müssen und zweckmäßig
nur Kinder, deren Ernährungsfrage tadellos
geordnet ist, vor der Hand der neuen Be¬
handlung unterziehen.
Aus diesen Beobachtungen und nach den
von andern Forschern gemachten Erfah¬
rungen, welche einige Hundert Fälle um¬
fassen, geht hervor, daß das Ehrlichsche
Mittel in den bisher gebrauchten Dosen
eine wesentliche Toxizität nicht hat. Ueble
Wirkungen auf das Herz, Eiweiß- und
Zuckerausscheidungen wurden nicht beob¬
achtet. Es ist für die allerskeptischste Be¬
trachtung klar, daß das neue Mittel in seiner
Heilwirkung auf die Symptome der Syphilis
den bisherigen weit überlegen ist. Sowohl
bei Primäraffekten, wie bei den üblichen
Manifestationen der sekundären Syphilis:
Roseola, Papeln, Plaques, Skleradenitis, ist
die Rapidität des Erfolges nach einer ein¬
zigen Injektion klar erwiesen, besonders
aber ist die Heilung der malignen, der
tertiären, der viszeralen Formen (Hoden¬
syphilis, Kopfschmerzen und eleptiforme
Zustände, Fall K.) erstaunlich; vor allem
aber grenzt die Wirkung auf die durch die
bisherige Behandlung unheilbaren Krank¬
heitsformen ans Wunderbare. Als beson¬
derer Vorteil ist die fast stets hervor¬
tretende sehr günstige Wirkung auf das
Allgemeinbefinden hervorzuheben, welche
besonders die Anwendung des Mittels bei
Tuberkulosen, wo das Hg immer als zweifel¬
haftes Mittel erscheint, wie aus mehreren
unserer Beobachtungen hervorgeht, emp¬
fehlenswert erscheinen läßt. Rezidive
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wurden bisher nicht beobachtet, doch ist
die Beobachtungszeit noch zu kurz, wenn
auch die ältesten Fälle, zwei Kinder, zirka
drei Monate in unserer fortgesetzten Be¬
obachtung stehen. Es kann diese Frage,
sowie die Frage, ob das Mittel mit einem
Schlage die Syphilis heilen kann, erst durch
fortgesetzte Beobachtung gelöst werden.
Wir haben aber den Eindruck gegenüber
kleinen Defekten in der Heilung einzelner
Fälle, daß die bisher verwendeten Dosen
nicht für alle Fälle ausreichend sind. Da¬
für spricht auch, daß die Wirkung bei den
malignen Formen uns bedeutender erscheint,
als bei papulösen Syphiliden. Wir haben
es eben mit einem ausgesprochen spirillen-
tötenden Mittel zu tun, und diese sind bei
den malignen Formen zwar vorhanden —
wie in dem einen unserer Fälle, entgegen
den bisherigen Angaben, nachgewiesen ist—,
aber doch weitaus spärlicher vorhanden.
Wahrscheinlich hängt der volle Erfolg, die
Sterilisatio magna, von der Dosis ab; dem¬
entsprechend hat Wechselmann auch die
Dosis schon wesentlich, auf 0.45, bei Frauen,
0,5 bei Männern erhöht. Toxisch wirken
auch diese Dosen nicht Geheimrat Ehrlich
meint nach den Erfahrungen an Tieren, wo
das schnellere oder langsamere Verschwin¬
den der Spirillen genau von der gebrauchten
Dosis abhängt, daß, wo am Tage nach der
Injektion noch Spirochäten nachzuweisen
sind, die Dosis zu klein ist, und man wird
in diesen Fällen versuchen müssen, eine
zweite Injektion folgen zu lassen.
Wahrscheinlich sind auch in den Fällen,
welche eine Jarisch-Herxheimersche
Reaktion zeigen, die angewandten Dosen
zu klein, um alle Spirochäten zu töten, und
die Reaktion ist dann der Ausdruck einer
durch zu kleine Dosen hervorgerufenen
biologischen Erregung derselben.
Was die Technik der Anwendung be¬
trifft, so hat Wechselmann die betreffen¬
den Dosen 0,25—0,5 in etwas Methylalkohol
angelöst, dann 10 ccm Aq. dest. sterilisata
zugefügt, dann langsam 1,5—2,0 Vio-Natron-
lauge zugesetzt und Wasser auf 20 ccm
aufgefüllt. Manchmal wurden auch nur 10 ccm
Wasser verwendet, teilweise auch ohne
Zusatz von Methylalkohol gelöst. In letzter
Zeit wurde unter Titrierung mit Phenol¬
phthalein die Flüssigkeit möglichst genau
mit Natronlauge neutralisiert und die etwas
trübe Aufschwemmung injiziert, was weniger
Schmerz hervorzurufen schien. Die In¬
jektion erfolgte nach Einpinselung der Haut
mit Jodtinktur in die Glutaeen langsam an
1—2 Stellen, möglichst außen fern vom
Ischiadikus. Die Injektion ist nicht sehr
Original fr;m
UN1VERSITY OF CALIFORNIA
322
Die Therapie der Gegenwart 1910.
Juli
schmerzhaft, viele empfinden dieselbe über¬
haupt nicht sehr. Die Schmerzen, welche
groß, aber erträglich sind und individuell
sehr verschieden empfunden werden, treten
meist erst nach einigen Stunden, manchmal
aber erst nach 1—2 Tagen auf, halten
etwa 3 Tage lebhaft an, um sich dann
mehr oder weniger schnell zu verlieren.
Narkotika eventuell Morphiuminjektionen
helfen darüber'weg. Am 1., 2. oder 3. Tage
steigt manchmal, nicht immer, die Tempe¬
ratur und erhebt sich auf 38—39°, dabei ist
das Befinden meist ein recht gutes. Meist tritt
ein pralles Oedem auf, und für 8—12 Tage
bilden sich mäßig harte, diffuse Infiltrate.
Dem bedeutungsvollen Vortrag von
Wechselmann folgten Mitteilungen von
Alt (Uchtspringe), Schreiber (Magde¬
burg), L. Michaelis, Kromayer und
Tomaszewski (Berlin). Sämtliche Vor¬
tragenden waren einig in der Anerkennung,
daß das neue Mittel ganz hervorragende
Heilwirkungen bei frischer Lues ohne ge¬
fährliche Nebenwirkungen entfalte. So war
es verständlich, daß eine tiefe Bewegung
der Verehrung und Dankbarkeit die Ge¬
sellschaft ergriff, als Ehrlich selbst die
Rednerbühne betrat und einige Worte des
Dankes an seine ärztlichen Mitarbeiter
richtete. Wie wir erfahren, besteht die
Absicht, das neue Mittel bis auf Weiteres
nur in Krankenhäusern anwenden zu lassen
und es erst der allgemeinen Praxis zu
übergeben, wenn es sich in vieltausend¬
facher Anwendung als absolut unschädlich
und frei von gefährlicher Nebenwirkung
erwiesen hat. Inzwischen dürfen wir heut
schon anerkennen — wenn auch über
Dauerwirkung, Rezidivverhütung, besonders
aber über die Einwirkung auf die Syphilis
innerer Organe ein Urteil noch nicht mög¬
lich ist — daß das Genie des großen Ent¬
deckers der ärztlichen Kunst einen außer¬
ordentlichen Fortschritt gebracht hat. G. K.
Referate
Ueber den Aderlaß bei Kreislauf¬
störungen und seinen unblutigen Er¬
satz, das „Abbinden der Glieder“, macht
D. v. Tabora (Straßburg i. E.) auf Grund
seiner Untersuchungen und Erfahrungen
an der Moritz sehen Klinik sehr beachtens¬
werte Mitteilungen.
Gegenüber den bisherigen rein empi¬
rischen und daher schwankenden Indi¬
kationen für die Ausführung des Ader¬
lasses und für seine quantitative Bemessung
gibt die Venendruckmessung, die sich
mittels des Phlebotonometers (erhältlich [
bei C. F. Streisguth, Straßburg i. E.) im j
einzelnen Falle leicht ausführen läßt, einen I
sicheren Wegweiser, der den rechten
Augenblick für den Eingriff, sowie die nach
der Lage des Falles erforderliche Dosie¬
rung der „Entlastung des venösen Systems“
deutlich erkennen läßt.
Ein abnorm erhöhter Druck in der
Mediana — dem Ort der Messung — läßt
auf eine mindestens ebenso große Druck¬
erhöhung im rechten Vorhofe, also auf
eine entsprechend stärkere Füllung des¬
selben schließen. Zunahme von Druck
und Füllung des Vorhofes haben aber auch
die Zunahme beider im Ventrikel zur Folge;
es resultiert also eine Steigerung des
Schlagvolumens des rechten Ventrikels und
erhöhter Druck und Füllung im Lungen¬
kreislauf. Auf zwei Wegen lassen sich
nun letztere therapeutisch beeinflussen.
Einmal durch Herabsetzung des Druckes
im rechten Vorhof, das heißt also im Hohl-
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venensystem, und das Mittel hierzu ist
eben die Venaesectio. Der zweite Weg
ist die Steigerung des Schlagvolumens des
linken Ventrikels und die damit einher¬
gehende bessere Ausschöpfung des Lungen¬
kreislaufs; dieser Weg ist dann indiziert,
wenn es in einem bestimmten Falle speziell
an der Kraft des linken Ventrikels fehlt.
Indem der Aderlaß den Druck im rechten
Vorhofe herabsetzt, vergrößert er auch
das Stromgefälle von den Arterien nach
den Venen hin und damit die Strömungs¬
geschwindigkeit des Blutes. Erhöhung des
Aortendruckes muß ebenfalls auf Ver¬
besserung des Gefälles hinwirken; jedoch
geht hierbei der größte Teil der Druck¬
zunahme in den Kapillaren verloren. Eine
dritte nützliche Wirkung des Aderlasses
liegt in der nachgewiesenermaßen durch
ihn zustande kommenden Verringerung der
Blutviskosität, welche ebenfalls zur Ver¬
besserung des Stromvolumen beiträgt. Aus
alledem folgt, daß die Anwendung des
Aderlasses bei Kreislaufstörungen nur
dann berechtigt sein kann, wenn derVenen-
(Vorhofs-)Druck erhöht ist; andererseits
aber folgt daraus auch, daß inbezug auf
die Herabsetzung des Venendrucks ein
analoger Effekt, wie durch den Aderlaß,
oft auch durch Herzmittel erzielt werden
kann. Mit anderen Worten: Eine Venae-
sektio ist bei bestehender Kreislaufstö¬
rung nur dann indiziert, wenn der
Venendruck erhöht ist; aber nicht in
jedem Falle vonVenendruckerhöhung
Original from
UNIVERSUM 0F CALIFORNIA
Juli
323
Die Therapie der Gegenwart 1910.
muß venaeseziert werden, andere Me¬
thoden fahren oft zum gleichen Ziel. Ganz
besonders intensiv muß die Kombination
von Aderlaß und Herzmitteln wirken; so
erklärt sich die Beobachtung, daß Digitalis¬
präparate zuweilen erst im Anschluß an
einen Aderlaß ihre volle Wirkung ent¬
falten.
Was die Menge des beim Aderlaß ab-
zul^ssenden Blutes anlangt, so ergaben fort¬
laufende Venendruckmessungen während
der Blutentziehung, daß die üblichen kleine- *
ren Aderlässe — von 150—200 ccm — einen
erhöhten Venendruck nur ganz unbedeutend
herabzusetzen vermögen. Erst die Ent¬
nahme größerer Blutmengen, die etwa 6 bis
10 °/ 0 der Gesamtblutmenge des be¬
treffenden Individuums betragen, also von
durchschnittlich 300—500 ccm Blut, führt
eine ausreichende Wirkung herbei.
Zum Beispiel: 65jähriger Patient mit Em¬
physem und Herzinsuffizienz. Venendruck
205 mm. Venaepunktio: Nach Entleerung von
100 ccm Venendruck 195, nach 200 ccm 185,
nach 300 ccm 175, nach 400 ccm 165, nach
450 ccm 155 mm.
Die Erniedrigung des Venendrucks bis
zum Normal wert von etwa 60—80 mm
Wasser gelang bei stärkeren venösen
Stauungen oft auch durch die großen Ader¬
lässe nicht — der größte von Tabora
ausgeführte Aderlaß, der übrigens einen
unmittelbar lebensrettenden Erfolg hatte,
betrug 750 ccm — aber die durch Ader¬
lässe von 300—500 ccm erzielte Druck¬
herabsetzung war doch stets eine beträcht¬
liche und von großem Einfluß auf den
Kreislauf.
Blutentziehungen von solcher Größe sind
natürlich bei schwächlichen und besonders
bei anämischen Kranken nicht erlaubt. Bei
solchen bietet eine andere Methode Ersatz,
die als „unblutiger Aderlaß 41 (v. Dusch)
bezeichnet werden kann, d. i. das soge¬
nannte „Abbinden der Glieder 44 . Durch
ein länger dauerndes Abbinden aller vier
Extremitäten läßt sich, wie auf der Moritz-
sehen Klinik festgestellt wurde, eine bis zu
5 /4 1 betragende Volumenzunahme der Ex¬
tremitäten erzielen, welche zum größten
Teil jedenfalls auf Blut zu beziehen ist.
Durch systematische Venendruckmessungen
stellte v. Tabora fest, daß das „Abbinden 44
den Venendruck erheblich, manchmal selbst
bis zur Norm herabsetzt; die größte Druck¬
herabsetzung, die er beim Abbinden beob¬
achtete, betrug 143 mm Wasser, d. h. es
wurde ein auf das dreifache erhöhter
Venendruck (217 mm) auf 74 mm, einen
noch normalen Wert, reduziert. Das Ab-
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binden kann nach dieser Richtung prinzi¬
piell den Aderlaß wohl stets ersetzen; der
letztere verdient trotzdem oft den Vorzug
aus folgenden Gründen. Einmal hängt die
Größe des Effektes der Ligatur von der
verschiedenen Ausbildung und Ausdeh¬
nungsfähigkeit der Extremitätenvenen ab.
Dann wirkt der Aderlaß momentan, der
maximale Effekt des Abbindens tritt erst
nach 10—15—20 Minuten oder noch später
ein; wo Gefahr im Verzüge, ist ceteris
paribus der Aderlaß zu wählen. Schlie߬
lich werden auch die schnürenden Gummi¬
binden, die zur Konsolidierung des Effektes
mindestens 1—2 Stunden liegen bleiben
müssen, zuweilen unangenehm empfunden.
Thrombosen in den abgestauten Venen sah
Tabora niemals auftreten. Bei der Lö¬
sung der Binden muß ganz „parzellen¬
weise 44 vorgegangen werden; bevor z. B.
die nahe der Leistenbeuge liegende Ober¬
schenkelligatur gelöst wird, muß eine
andere oberhalb des Knies angelegt werden,
damit so zunächst nur das im Oberschenkel
abgestaute Blut dem Kreisläufe wieder zu¬
geführt wird. Außerachtlassen dieser Vor¬
sicht, d. h. plötzliches Lösen aller Binden,
kann durch rasch einsetzende Ueberlastung
des rechten Herzens zu schweren Kollaps¬
zuständen Anlaß geben. Bei Beobachtung
dieser Kautelen leistet der „unblutige
Aderlaß 44 häufig Vorzügliches und Tabora
empfiehlt ihn zu ausgedehnterer Anwen¬
dung. Er benutzt ihn nicht nur als Ersatz-,
sondern oft auch als Ergänzungsmittel des
Aderlasses. In Fällen, wo ein zu aus¬
reichender Druckherabsetzung genügender
Aderlaß dem Patienten nicht zugemutet
werden kann, wird oft nach Entleerung von
300 ccm Blut und darüber ein stunden¬
langes „Abbinden 44 angeschlossen.
Die beiden Methoden zur Entlastung
des venösen Systems, Aderlaß und Ab¬
binden der Glieder, kommen bei 2 Gruppen
von Kreislaufstörungen in Anwendung; bei
kardialen Dekompensationen und bei
Pneumonien mit Kreislaufschäche.
Beide Gruppen geben verschiedene thera¬
peutische Indikationen.
Bei „kompensierten 44 Klappenfehlern
und Herzmuskelerkrankungen ist
der Venendruck normal (nur bei manchen
Fällen von Trikuspidalinsuffienz ist der
Venendruck bei noch ziemlich leistungs¬
fähigem Herzen bereits beträchtlich er¬
höht); jede bei einem Herzkranken auf¬
tretende Venendruckerhöhung darf als
Herzinsuffienzsymptom aufgefaßt werden.
Ist der Venendruckwert ein hoher —
150 mm H 2 O und darüber — besteht
41*
Origiral From
UNIVER5ITY OF CALIFORNIA
324
Juli
Die Therapie der Gegenwart 1910.
starke Dyspnoe und Zyanose, so kann
unter Umständen eine Herabsetzung des
Venendrncks durch Aderlaß allein genügen,
um alle bedrohlichen Symptome mit einem
Schlage zum Verschwinden zu bringen und
die Wiederherstellung der Kompensation
anzubahnen. Der Aderlaß ist in diesen
Fällen aber nur dann sofort vorzunehmen,
wenn eine erst nach Tagen zu erwartende
Digitaliswirkung nach Lage des Falles
nicht mehr abgewartet werden kann, ein
raschwirkendes Präparat aber, speziell die
intravenöse Strophantininjektion, zu be¬
denklich erscheint. In der Regel soll der
Aderlaß, beziehungsweise das Abbinden
der Glieder erst dann zur Anwendung
kommen, wenn eine ausreichende Digitalis¬
wirkung sich nicht erzielen läßt. Oft wirkt
nach dem Aderlaß dann das Digitalis in
ganz anderer Weise als vorher. Der Ader¬
laß soll den Venendruck tunlichst bis zur
Norm, mindestens aber um 50—80 mm
Wasser herabsetzen. Ein schlechter Puls
kontraindiziert hier die Blutentziehung in
keiner Weise; Tabora sah ihn ausnahms¬
los nach der Venaesectio sich bessern.
Die Kreislaufstörung bei Pneu¬
monie ist in der Regel nicht primär¬
kardialer Natur, sondern durch zentrale
Lähmung des Vasomotorentonus bedingt.
Dementsprechend ist der Druck im 'arte¬
riellen wie im venösen System herabgesetzt.
Im weiteren Verlaufe der Erkrankung kann
sich aber noch Herzschwäche im eigentlichen
Sinne hinzugesellen und diese führt dann
zu Venendruckerhöhung. Jetzt erst ist
eine Indikation zur Venaesectio, beziehungs¬
weise zum Abbinden gegeben. Entsprechend
dieser besonderen Entstehung der Venen¬
druckerhöhung durch späteres Hinzutreten
von Herzschwäche im Gegensatz zu der
gewöhnlichen kardialen Dekompensation,
wo die Venendruckerhöhung ein ganz
frühzeitiges Symptom ist, muß dies Symptom
bei Pneumonie stets als ein recht bedenk¬
liches aufgefaßt werden und die Wirkung
des Aderlasses hält bisweilen der zu
starken Erschöpfung des Herzens nicht
stand oder bleibt ganz aus. Stärker als
bei der kardialen Dyspnoe wird der
arterielle Druck bei der Pneumonie durch
den Aderlaß beeinflußt; in fast allen seinen
Fällen beobachtete v. Tabora deutliche,
manchmal sogar erhebliche Senkungen des
arteriellen Druckes. Deshalb muß bei
Pneumonie besonders darauf geachtet
werden, eine ausgiebige Herzstimulie¬
rung mit dem Aderlaß zu verbinden und
gleichzeitig durch Vasokonstringentien
(Adrenalin, Chlorbarium usw.) einen peri-
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pheren Ersatz für den fehlenden zentralen
Vasomotorentonus zu schaffen.
Felix Klemperer.
(Münch, med. Woch. 1910, Nr. 24.)
Hesse berichtet über den chirurgischen
Wert der Antifermentbehandlung eit¬
riger Prozesse; in 25 zum größten Teil
schwereren Fällen hat er diese Behandlungs¬
methode in Anwendung gebracht. Die Ent¬
leerung des Eiters durch Aspiration mit
einer Kanüle gelang vollständig nur lei
kleinen, mit dünnflüssigem Eiter gefüllten
Abszessen; bei größerer Eiteransammlung
oder bei mit Blutgerinnseln oder nekroti¬
schen Gewebsfetzen durchsetzten Eiter
reichte die Aspiration nicht aus, hier mußte
inzidiert werden. Um dem Prinzip der ge¬
schlossenen Behandlung nicht zu entsagen,
wurde nach Ablassen des Eiters das Serum
in die Abszeßhöhle hineingegossen und
die Wunde wieder durch Naht geschlossen.
Vor der Inzision wurde die Umgebung des
Abszesses gesäubert, dann die 3—8 cm
lange Inzision angelegt und der Eiter unter
sanftem Druck entleert. Ein Eingehen in
die Abszeßhöhle mit Instrumenten oder
Fingern wurde vermieden. Die Eitermenge
wurde bestimmt und hiernach die zu inji¬
zierende Serummenge bestimmt; die Serum¬
menge entsprach etwa der Hälfte bis einem
Drittel der Eitermenge. Nach nochmaliger
Säuberung der Wundnachbarschaft wurde
die Wunde durch möglichst nahe anein¬
andergesetzte Seidennähte geschlossen, um
ein Ausfließen des Serums zu verhüten.
Es folgt dann trockener Verband der
Wunde und Ruhigstellung des erkrankten
Teiles. Hesse punktierte in 10 und inzi-
dierte in 16 Fällen; bei ersterer Behand¬
lungsart hatte er fünf Mißerfolge, bei
letzterer nur zwei, im ganzen betrug die
Zahl der Mißerfolge 27°/ 0 . In sechs Fällen
wurde Aszitesflüssigkeit bzw. Hydro-
zelenwasser angewendet, von diesen mi߬
langen vier; von 20 Fällen, in denen das
Mercksche Leukofermantin gebraucht wurde,
mißlangen nur drei. In der Hälfte der
Fälle wurden Strepto- oder Staphylokokken
nachgewiesen, die Art der Eitererreger
scheint aber nach Hesses Ansicht für den
Verlauf belanglos zu sein. Die Serum¬
menge soll, wie schon oben angedeutet,
nicht zu gering sein, sie soll im Durch¬
schnitt ein Drittel der entleerten Eitermenge
betragen. Hesse injizierte, ohne daß üble
Nachwirkungen auftraten, bis 100 ccm.
Anaphylaktische Erscheinungen, Serum¬
exanthem sah Hesse bei seinen Fällen
nicht. Als wichtigstes Symptom trat der
Temperaturabfall und das Aufhören der
Original fram
UNIVER5ITY OF CALIFORNIA
Die Therapie der Gegenwart 1910.
Juli
325
Schmerzen hervor, die Druckempfindlich¬
keit in der Umgebung und die entzünd¬
lichen Erscheinungen gingen zurück. In
den nächsten zwei bis drei Tagen wurde
das Exsudat serös und es folgte leichte
Resorption. War am zweiten Tage die
Druckempfindlichkeit nicht zurückgegangen,
so ließ sich selten die Eröffnung des Ab¬
szesses vermeiden. Bei der richtigen
Phlegmone wurde von der Antiferment¬
behandlung abgesehen, weil durch die In¬
jektion die Eitererreger weiter in die Tiefe
gebracht werden und es zu einem Fort¬
schreiten der Phlegmone kommen könnte;
bei dieser Erkrankung könnte man den
Heilverlauf wohl beschleunigen durch Auf¬
legen in Serum getränkter Gaze auf die
Inzisionswunden. Bei der sogenannten um¬
schriebenen Phlegmone mit Erweichungs¬
herden leistete die Antifermentbehandlung
gute Dienste.
Daß die Antifermentbehandlung, wie
Hesse selbst an Kontrollversuchen zeigt,
in geeigneten Fällen günstige Resultate
liefern kann, ist sicher, immerhin ist aber
ihr praktischer Wert scheinbar geringer,
als man auf Grund der theoretischen Ueber-
legungen annnehmen könnte.
Hohmeier (Altona).
(Arch. f. klin. Chir., Bd. 92, H. 1.)
Eckstein berichtet über zwei günstig
beeinflußte Fälle von Asthma bronchiale
durch Röntgenbestrahlung, ln beiden Fällen
trat sehr rasch Besserung und Verschwin¬
den der Anfälle ein. Nach einigen Monaten
traten Rezidive ein, die wieder durch Be¬
strahlung geheilt wurden. H. W.
(Prager med. Wochenschr. Nr. 14.)
Auf Grund seiner Erfahrungen bringt
Felix Hirschfeld die Beziehungen zwi¬
schen Gravidität und Diabetes zu ein¬
gehender Darstellung. Er glaubt doch,
dafür eintreten zu müssen, daß die Ver¬
schlimmerung einer bestehenden Zucker¬
krankheit im dritten bis vierten Monat der
Schwangerschaft nicht selten ist, dabei
mehr die Azidosis, weniger die Glykosurie
betrifft. Gleichwohl kommt es in der Regel
weder während der Gravidität, noch im
Wochenbett zum Koma. Ueberhaupt kann
die Prognose relativ günstig gestellt wer¬
den, zumal die nach der Entbindung ge¬
reichte, knappe Diät das Verschwinden des
Zuckers begünstigt. Zur Stützung seiner
Anschauung vom verschlimmernden Einfluß
der Schwangerschaft auf den Diabetes
kommt Hirschfeld auf Versuche an gra¬
viden, nicht zuckerkranken Frauen zu
sprechen, von denen etwa 10% — aller¬
dings wohl unter der Wirkung einer An-
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läge zum Diabetes oder auch nervöser
Disposition — selbst bei gewohnter Er¬
nährungsweise gelegentliche Glykosurie auf¬
weisen. Freilich ist Hirschfeld geneigt,
ein solches Verhalten, bzw. eine alimen¬
täre Glykosurie bei Schwangeren bereits
als Ausdruck einer leichten, diabetischen
Stoffwechselstörung anzusehen; die Leichtig¬
keit der Affektion wird hierbei seiner An¬
sicht nach auch durch passageres Auftreten
von Azetessigsäure nicht in Frage gestellt.
Meidner (Berlin).
(Berl. klin. Wochenschr. 1910, Nr. 23.)
Zur Behandlung der verschiedensten
Dickdamerkrankungen insbesondere des
Meteorismus, der Atonie, der Colitis mem-
branacea und der Hämorrhoiden empfiehlt
C1 e m m die Anwendung trockener Kohlen¬
säure. Ein Schütteltrichter wird mit einer
Weinsäurelösung gefüllt. Der Auslauf des¬
selben taucht durch einen doppelt durch¬
bohrten Stöpsel in eine Flasche mit Natron¬
lösung, aus der ein Winkelrohr heraus¬
führt, das mit einem Kugeldarmrohr in
Verbindung steht. Durch Oeffnen des
Glashahnes des Schütteltrichters fließt die
Weinsäurelösung in die Flasche, es ent¬
wickelt sich Kohlensäure und diese wird
durch das Darmrohr in den Darm geleitet,
bis ein gelinder Druck im Colon verspürt
wird. Dann wird der Schlauch abgesetzt
und durch Massage der Darm entleert. In
den meisten Fällen genügten 6—8 Sitzun¬
gen, um alle Beschwerden zu beseitigen.
H. W.
(Wien, klin.-therap. Wochenschr. Nr. 31.)
Pankow berichtet über die Schnellig¬
keit der Keimverbreitung bei der
puerperal - septischen Endometritis.
Aus den Mißerfolgen der Hysterektomie
bei schwerer septischer Endometritis ist zu
ersehen, daß die Operation meist zu spät
ausgeführt wird: obwohl die bimanuelle
Palpation keine Veränderungen der Para¬
metrien und Adnexe hatte erkennen lassen,
zeigte es sich bei der Operation, daß die
Keime bereits weiter eingedrungen waren,
als angenommen war. Von diesen bereits
infizierten Teilen kann aber durch Ein¬
fließen von Oedemflüssigkeit in die freie
Bauchhöhle während der Operation eine
Peritonitis hervorgerufen werden und auch
nach der Operation kann der entzündliche
Prozeß noch auf das Peritoneum über¬
gehen. Alles deutet darauf hin, daß, wenn
überhaupt operiert werden soll, dieses sehr
frühzeitig zu geschehen hat. In 2 Fällen
hat sich Pankow zur Frühoperation ent¬
schlossen. Besonders wichtig erscheint
der 2. Fall: bereits 48 Stunden post partum
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
326
Die Therapie der Gegenwart 1910.
Juli
wurde die Operation ausgeführt und es
wurden Streptokokken im Blut, in allen
Schichten der Uteruswandung und in einem
Thrombus der linken Spermatika gefunden.
In ähnlich schneller Weise verbreitet sich
auch das gutartigere Bacterium coli. Beide
Fälle kamen zur Heilung.
Mit Recht hebt Pankow hervor, daß
für die Entscheidung, ob operieren oder
abwarten, ganz besonders das klinische
Bild zu verwerten sei. Bei 5 zu spät ope¬
rierten Fällen, die zum Exitus kamen, war
die supravaginale Amputation ausgeführt
worden; um dem infizierten parametranen
Gewebe einen guten Abfluß nach unten
verschaffen zu können, empfiehlt Pankow
nach seiner guten Erfahrung bei den beiden
erwähnten Fälle die Totalexstirpation des
Uterus. P. Meyer.
(Ztschr. f. Geb. u. Gyn., Bd. 66, H. 2.)
Professor C. Ritter (Posen) empfiehlt
die Behandlung des Erysipels mit
heißer Luft, die zu arterieller Hyper¬
ämie und dadurch zu vermehrter Re¬
sorption führt. Er berichtet über 19 Fälle,
die zum Teil sehr schwere waren; bis auf
1 Fall, der abends in schwerer Benommen¬
heit eingeliefert wurde und in der Nacht
starb, wurden alle geheilt. Auffallend war
bei allen Patienten der rasche Temperatur¬
abfall; bei den ganz frischen Fällen fiel
die Temperatur von 40° und darüber öfter
nach eintägiger Behandlung kritisch zur
Norm ab und blieb dann normal; in älteren
Fällen ging sie lytisch ganz allmählich,
aber gleichmäßig täglich immer mehr her¬
unter. Der Heißluftapplikation folgte oft
unmittelbar einTemperaturanstieg; Schüttel¬
frost wurde nie beobachtet. Die erysipe-
latöse Stelle heilte stets in der Weise, daß
zunächst der zentrale Teil abblaßte und
abschwol), meist zeigten zahlreiche zentral -
wärts verlaufende kleine lymphangitische
Streifen den Resorptionsvorgang an; erst
später folgte das Abblassen des peripheren
Abschnittes. Hierin und in dem Tempe¬
raturanstieg unmittelbar nach der Heißluft¬
behandlung erblickt Ritter einen sicht¬
baren Ausdruck der starken Resorption.
Von den Patienten wurde die heiße Luft,
die Ritter mindestens 2—3mal am Tage
V 2 —1 Stunde anwenden läßt, sehr angenehm
empfunden. Keiner klagte über die Hitze;
das Allgemeinbefinden wurde meist günstig
beeinflußt; diejenigen Patienten, welche
stark schwitzten, wurden im allgemeinen
schneller geheilt.
Was die Technik der Heißluftapplikation
anlangt, so benutzte Ritter bei den Glied¬
maßen die Bierschen Kästen; nur wenn
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Arm, Bein und Rumpf erkrankt war, ver¬
wendete er das Quinckesche Schwitz¬
bett. Fürs Gesicht wurde allein der Schorn¬
stein (mit im Kugelgelenk beweglichem An¬
satz) verwendet, der soweit vom Gesicht
entfernt aufgestellt wurde, daß der heiße
Luftstrom, der das Gesicht trifft, eben er¬
träglich empfunden wird; nur wenn die
Augen nicht mit verschwollen waren,
wurden sie besonders geschützt.
F. Klemperer.
(Münch, med. Wochschr. 1910, Nr. 21.)
Hautdefekte nach Verbrennungen
empfiehlt Dr. Wirz in Mühlheim a. Rh.
mit feuchten Umschlägen zu behandeln,
auch solche nach Wunden usw. und Ulcera
cruris hat er mit gutem Erfolg in dieser
Weise behandelt. Zahlenangaben fehlen.
Den theoretischen Erörterungen ist dafür
ein zu breiter Spielraum gewährt.
Hauffe (Ebenhausen).
(Therapeut. Monatsh., Juni 1909.)
Einen Herrn in mittleren Jahren, der
durch die Ausscheidung unzähliger Maden¬
würmer bei jedem Stuhlgang sehr belästigt
wurde, hat Schmidt durch tägliche Ver¬
abreichung von zwei bis drei je 1 g hal¬
tenden Estontabletten (Aluminiumsubazetat)
erfolgreich behandelt. Meidner (Berlin).
(Deutsche med. Wschr. 1910, Nr. 18.)
Einen Fall von Meningitis serosa
otogener Genese mit eigenartigem Verlauf
berichtet O.Voss (Frankfurt a.M.): In einem
Fall von Sinusphlebitis mit konkomitierender
Meningitis serosa der hinteren Schädelgrube
kam es während der Rekonvaleszenz unter
plötzlichem Auftreten von Kreuzschmerzen
und Kernigscher Kontraktur zu einer Infek¬
tion der spinalen Häute. Voss führt dieses
Vorkommnis auf Zerreißung von Adhäsionen
im Bereich der hinteren Schädelgrube zu¬
rück, ehe der Prozeß hier vollkommen ab¬
geklungen war und gibt dem zu frühen
Aufstehen des Patienten schuld hieran.
Er knüpft hieran die Mahnung zu striktester
Innehaltung von Bettruhe bis zu dem Mo¬
mente, in dem das letzte Anzeichen der
entzündlichen Exsudation vollkommen ver¬
schwunden ist.
(Otologen-Kongreß 1910.)
Schindler berichtet über günstige
Erfolge bei Röntgenbehandlung von
Myomen. Schon nach wenigen Bestrah¬
lungen konnte bei einer großen Anzahl be¬
strahlter Patienten ein Nachlassen in der
Stärke der Menstruation, Verkürzung der
Menses und Besserung des Allgemein¬
befindens konstatiert werden. Etwaige
Schmerzen im Unterleib ließen nach, das
Aussehen der Patienten besserte sichwesent-
Original fram
UNIVERSITY 0F CALIFORNIA
Juli
Die Therapie der Gegenwart 1910.
327
lieh, und ihre Leistungsfähigkeit nahm zu.
In den meisten Fällen konnte ein Rückgang
der Myomgeschwulst, in keinem Falle ein
Wachsen derselben festgestellt werden.
Bei einigen Patienten versagte die Methode,
aber trotzdem glaubt Verfasser in ihr ein
wirksames Mittel für die Myombehandlung
zu besitzen, ein Mittel, das alle bisherigen
Behandlungsweisen, mit Ausnahme der
operativen, bei weitem übertrifft und
häufig einen operativen Eingriff erspart.
Dr. Eugen Jacobsohn-Charlottenburg.
(Deutsche Med. Woch. 1910, No. 9.)
Doevenspeck berichtet über drei Fälle
günstig endender Unterlappenpneumonie
mit gleichfalls rasch abheilender Neph¬
ritis haemoglobinuriea im Sinne Sena¬
tors. Bei zweien spielten Erkältungs¬
schädlichkeiten die entscheidende Rolle;
im dritten möchte Doevenspeck hydri-
atischen Maßnahmen Schuld an der Blut¬
farbstoffausscheidung geben und so alle
drei unter dem bekannten Gesichtspunkt
der Abkühlung als Ursache für die Hämo¬
globinurie betrachten. In zwei Fällen
fahndete er auch auf Hämoglobinämie und
konnte sie feststellen; in einem gab der
spektroskopierte Harn die Oxyhämoglobin¬
streifen. Eiweiß und Formelemente wurden
nie vermißt; doch glaubt Doevenspeck,
sie bloß als Ausdruck einer Nierenreizung,
nicht einer eigentlichen Nephritis würdigen
zu sollen. Zur Bereicherung seiner Kasu¬
istik diskutiert Doevenspeck zum Schlüsse
noch einen älteren Fall von foudroyanter
Pneumokokkensepsis mit hämoglobinuri-
schem, Methämoglobin führendem Urin.
Die Annahme des damaligen Beobachters,
der Pneumokokkus könne für die Zythämo-
lyse verantwortlich gemacht werden, will
Doevenspeck nicht gelten lassen.
Meidner (Berlin).
(Deutsche med. Wschr. 1910, Nr. 20.)
Neue Kenntnisse zur Physiologie der
Nierenabsonderung bringt Grünwald.
Bei chlorarm gefütterten Kaninchen kann
man durch fortgesetzte Diuretindarreichung
immer wieder NaCl-Ausscheidung erzwingen
und bei genügend langer Durchführung
dieser Behandlung reflektorische Ueber-
erregbarkeit, fortschreitende Lähmung und
schließlich Tod hervorrufen. Das Auftreten
dieser Vergiftungserscheinungen läßt sich
nur durch NaCl-Gaben hintanhalten.
Salzdiurese, z. B. Natriumsulfat, bringt
keine starke NaCl-Ausschwemmung hervor.
Die NaCl-treibende Wirkung des Diuretins
ist eine primäre Nierenwirkung und zwar
bildet den Hauptangriffspunkt der Glome-
rulusapparat, wenn auch eine Lähmung der
Rückresorption in dem Epithel angesichts
der besonders intensiven und andauernden
Diuretinwirkung vermutet werden muß.
Doch bleibt letztere bei Schädigung des
Nierenepithels durch große Quecksilber¬
gaben erhalten. Die Ausscheidungsstelle
des NaCl ist jedenfalls der Glomerulus, der
prozentuelle NaCl-Gehalt der Nierenrinde
ist nur geringen, der des Nierenmarkes
beträchtlichen Schwankungen unterworfen.
K. Reicher, Berlin.
(Arch. f. exp. Path. u. Pharm. Bd. 60, H. 4. u. 5.)
Aus dem Urbankrankenhause zu Berlin
teilt Beuster einen Fall von akuter, trau¬
matischer Niereninsuffizienz mit. Zwei
Tage nach einem in den Einzelheiten nicht
bekannten Straßenbahnunfall verfiel ein
Patient in Krämpfe, die — insbesondere
mit Hilfe der Kryoskopie des Blutes — als
urämische erkannt wurden, und kam zum
Exitus. Bei der Obduktion wurden außer
hypostatischen Pneumonien und frischer
Lungenspitzen- und Lymphdrüsentuber-
kulose nur geringfügige Veränderungen
beider Nieren — Verfettung und Nekrose
— ermittelt. Dieser Befund sprach in
gleicherweise gegen ein zur Zeit des
Traumas schon bestehendes Nierenleiden,
wie gegen eine durch den Unfall erst her¬
vorgerufene — in ihrem Vorkommen ohne¬
dies bezweifelte — akute Nephritis. Der
ersten Annahme stand auch die Anamnese
entgegen, der zweiten die Kürze der Zeit,
in der die frische Erkrankung bereits zur
Urämie hätte geführt haben müssen. Umso
unerklärlicher bleibt die schwere Insuffizienz
der Nieren im Anschlüsse an ein Trauma,
das sie anatomisch nur wenig alteriert hatte.
Meißner (Berlin).
(Deutsche med. Wschr. 1910, Nr. 18.)
Zur Frage von der Pathogenese der
nephritischen Oedeme bringt Timofeew
neues Material. Die Ergebnisse seiner
fleißigen und interessanten Arbeit lassen
sich wenigstens teilweise in folgenden
Schlußsätzen zusammenfassen: Als Haupt¬
faktor für das Auftreten der nephritischen
Oedeme erscheint der Uebergang von
spezifischen lymphtreibenden Sub¬
stanzen ins Blut. Als Quelle dieser
Lymphagoga dienen die erkrankten Nieren,
deren zerfallende Zellbestandteile (Nephro-
blaptine) hierbei ununterbrochen ins Blut
übertreten. Zum Beweise dieser Annahme
sollen folgende Versuche dienen: Normales
arterielles oder venöses Blutserum besitzt
ebensowenig lymphagoge Wirkung beim
artgleichen Tier wie das von beiderseitig
nephrektomierten und an Urämie zugrunde
gehenden Tieren herstammende Blutserum.
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Original from
UNIVERSITY 0F CALIFORNIA
Juli
328 Die Therapie der Gegenwart 1910.
Dagegen rufen sowohl wäßrige Extrakte
aus gesunden Nieren als auch das Blut-
serum von Tieren, bei denen die Nieren¬
arterie oder der Ureter unterbunden wur¬
den, eine scharfausgeprägte Verstärkung
des aus dem Duct. thorac. ausfließenden
Lymphstromes hervor. Ferner kommt die
lymphtreibende Wirkung der Nephroblaptine
auch daran zum Ausdruck, daß statt der
normalen 1—3 ccm aus dem Duct. thorac.
in gleicher Zeit 8—9 ccm beim nieren¬
kranken Tiere selbst ausfließen, der
Lymphe dieser Tiere eine ungewöhnlich
große Anzahl von Erythrozyten beigemischt
und die Koagulationsföhigkeit der Lymphe
vermindert erscheint. Der Ausfall der
sekretorischen Nierenfunktion hat anderer¬
seits eine Störung des osmotischen Gleich¬
gewichts der Körperflüssigkeiten und weiter
die Retention einer abnorm hohen Wasser¬
menge in den Geweben zur Folge. In
Verbindung mit der abnormen Durchlässig¬
keit der Gefäße führt dies zum Oedem.
Letzteres kann auch dadurch in akuter
Weise verursacht werden, daß man einem
nierenkranken Tiere mäßige Mengen phy¬
siologischer NaCl - Lösung einführt. An
normalen Tieren wird die gleiche Wirkung
der physiologischen NaCl-Lösung nur nach
vorausgegangener Einführung von Nieren¬
emulsion beobachtet. K. Reicher, Berlin.
(Arch. f. exp. Path. u. Pharm. Bd. 60, H. 4 u. 5.)
Nach kursorischer Erörterung der für
die Diagnose der Perikarditis wichtigsten
Punkte legt N. Ortner seinen Standpunkt
hinsichtlich der Therapie der Herzbeutel¬
entzündung in einem klinischen Vortrage
dar. Er verlangt strenge Bettruhe, solange
die Erkrankung noch irgendwie physika¬
lisch nachweisbar ist, und empfiehlt für
dyspnoische Patienten eine eventuell bis
zu sitzender Stellung erhöhte Rückenlage.
Der Uebergang zum Aufstehen soll durch
gymnastische Uebungen im Bett vermittelt,
das Treppensteigen als schwierigste
Leistung erst ganz zuletzt, jedenfalls nur
zögernd eingeübt werden. Die Beköstigung
kann bei tuberkulöser und neoplasmatischer
Perikarditis eine gemischte, soll bei rheu¬
matischer eine vegetarische und muß bei
nephritisch-urämischer vor allem durch die
Rücksicht auf die Nierenerkrankung be¬
stimmt sein. Bei akuter, febriler Herz¬
beutelentzündung nicht rheumatischer
Natur braucht Fleisch nicht unbedingt ver¬
mieden zu werden. Geringe Mengen von
Wein sind für bisher nicht abstinente
Patienten zu empfehlen, nicht so starker
Thee und Kaffee. Die Flüssigkeitszufuhr
kann bei guter Herzkraft bis zu 2 1 pro die
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betragen, bei darniederliegender bis auf
1 1 eingeschränkt werden; treten Oedeme
auf, so bedient man sich daneben auch mit
Vorteil der mindestens periodischen Ver¬
abreichung kochsalzarmer Kost. Dieses
Regime bewährt sich auch zur Erzielung
endlicher Resorption des Exsudats chro¬
nischer, tuberkulöser Perikarditiden. Sorge
für leichte Stuhlentleerung ist Pflicht, nicht
minder Vermeidung jeder eigenen körper¬
lichen Leistung des Patienten bei der De-
fäkation. Zur Linderung der lokalen Be¬
schwerden finden Kälte, Hitze und örtliche
Blutentziehungen je nach Erfolg Anwen¬
dung. Verabreichung von Morphium läßt
sich häufig schon wegen begleitender
Schlatlosigkeit nicht umgehen; die Bei¬
bringung erfolgt subkutan, bei nicht ganz
vertrauenswürdiger Herzkraft zusammen
mit Koffein. Die medikamentöse Therapie
kann bloß bei syphilitischer und rheuma¬
tischer Perikarditis kausal sein. Diesen
kausalen Behandlungsmethoden steht die
Anwendung des Kollargols und Elekrargols
(letzteres 5—30 g intramuskulär oder intra¬
venös) nahe; wenigstens sprechen Ortners
Erfahrungen dafür. Im übrigen geht man
symptomatisch vor, vorzugsweise durch
Verabfolgung von kardiotonischen Mitteln;
je nach Veranlassung — dauernde Un¬
kräftigkeit oder plötzliche Erlahmung des
Herzmuskels — wird innerliche (Digitalis¬
präparate) oder intravenöse (Strophantin,
Digalen) Darreichung bevorzugt. Bei exsu¬
dativer Herzbeutelentzündung werden diu-
retische Medikamente, am besten aus der
Theobromingruppe, beigegeben. Auch im
Abheilungsstadium der Perikarditis will
Ortner Digitalis oder Strophantus nicht
missen, um durch Anregung kräftiger Herz¬
kontraktionen einer Concretio pericardii
cum corde vorzubeugen. Größe des Ex¬
sudats (Ausbildung der ominösen Dreiecks¬
form!) bei ausgeprägter Herzschwäche,
Ausbleiben der Resorption bilden eine
strikte Indikation zur Vornahme der Para¬
zentese des Herzbeutels. Sie wird im
fünften oder sechsten Interkostalraum ein
bis zwei Querfinger breit außerhalb der
linken Mamillarlinie im Bereiche der Däm¬
pfung nach positiv ausgefallener Probe¬
punktion durch milde Heberwirkung vor¬
genommen und kann bei großen Ergüssen
bis zu mehreren 100 cbcm entleeren. Be¬
gleitende pleurale Flüssigkeitsansamm¬
lungen müssen, wofern sie erheblich sind,
vorher punktiert werden, da oft schon ihre
Beseitigung das Herz genügend entlastet,
um die Parazentese des Perikards ver¬
meiden zu lassen. Sie ist ein verant-
Original fram
UNIVERSITY 0F CALIFORNIA
Juli
Die Therapie der Gegenwart 1910.
329
wortungsreicher, wenn auch nicht selten
dringend gebotener und dann auch — selbst
bei den hämorrhagischen Herzbeutelent¬
zündungen Skorbutischer — aussichtsvoller
Eingriff. Abgesackte, dextrokardiale Er¬
güsse sind in der rechten Parasternallinie
im vierten oder fünften Interkostalraum zu
punktieren, besser wohl durch Schnitt zu
entleeren; retrokardiale sind der Punktion
unzugänglich; eitrige oder jauchige sind
breit zu eröffnen. Die Concretio pericardii
cum corde et cum pleura kann nur durch
Kardiolyse und, falls sich schwerere Ver¬
änderungen der Leberkapsel und des
Peritoneums hinzugesellen, anschließende
Omentopexie nach Talma erfolgreich an¬
gegangen werden. Meidner (Berlin).
(Deutsche med. Woch. 1910, Nr. 20).
An der Hand einiger Fälle entwickelt
Holländer ein Bild der einzelnen Kom¬
binationsformen zwischen Perityphlitis und
Ikterus. Zuerst bespricht er das seltene
Vorkommnis einer leichten, katarrhalischen
Gelbsucht im Vorläuferstadium einer akuten
Epityphlitis und erklärt den Zusammenhang
durch die Annahme, daß eine vom Magen
ausgehende Erkrankungswelle erst den Ik¬
terus verursacht und später Typhlon mit
Appendix getroffen hat. Eine andere Mög¬
lichkeit ist die toxische Gelbsucht, die vor
oder nach der Operation auftritt, jedenfalls
aber durch sie oder unter den dabei ge¬
setzten, günstigeren Bedingungen meist
ziemlich rasch abläuft. Sie kann je nach
Intensität der Giftresorption skleral bis
universell sein und bedeutet nach Hol¬
länders Erfahrungen ante operationem
eine Mahnung zum Eingriff wegen Gefahr
der Totalnekrose des Wurms. Die schwerste
Form ist der unter dem Bilde einer fou-
droyanten Pyämie, nicht selten ohne all¬
gemeine Peritonitis, rasch tödlich aus¬
gehende, postoperative Ikterus, den Hol¬
länder zwar ausführlich diskutiert, schlie߬
lich aber doch nach Zusammenhang und
Entstehungsursachen für noch unaufgeklärt
ausgibt. Meidner (Berlin).
(Berl. klin. Wochenschr. 1910, Nr. 22.)
Jolly berichtet nach einem in der Ber¬
liner Gesellschaft für Geburtshilfe und
Gynäkologie gehaltenen Vortrage über die
Operation des Prolapsos uteri totalis.
Seine Modifikation der Totalexstirpation,
die er in 34 Fällen angewendet hat, be¬
steht im wesentlichen darin, daß er nach
der Exstirpation des Uterus die Stümpfe
stark vorzieht und das Peritoneum ver¬
einigt; dann werden die vorgezogenen
Stümpfe mit 4—5 kräftigen Knopfnähten
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zusammengezogen und bilden fest mit ein¬
ander vereinigt, eine dicke Pelotte, die vor
dem Peritoneum und hinter der Scheiden¬
wand liegt. Selbstverständlich legt auch
Jolly großen Wert auf eine ausgiebige
hintere Kolporrhaphie, besonders darauf,
daß ein hoher fester Damm zu Stande
kommt.
Zur Illustration der Indikation zur To¬
talexstirpation fügt Jolly 28, übrigens sehr
mäßig reproduzierte, Abbildungen der exstir-
pierten Uteri bei: bei myomatösem Uterus
ist die Totalexstirpation selbstverständlich
indiziert, weiter bei senilen Formen, die
als Stütze keinen Wert haben, und bei
großen metritischen Uteri; ein Teil der
exstirpierten Uteri ist normal. Jolly legt
größeren Wert auf die oberen Halte¬
apparate des Genitalrohres, die seitlichen
Ligamente, die erst dann wirksam sein
können, wenn sie, genügend gekürzt, die
Scheide nach oben ziehen. — Wenn der
Uterus noch fest sitzt, bleiben die einfachen
Kolporrhaphien die richtigen Operationen;
sind aber die Bänder gedehnt, so ist Jollys
modifizierte Totalexstirpation, d. h. die
Bildung einer kräftigen Pelotte durch die
zusammengezogenen Stümpfe indiziert.
Als Nahtmaterial wurde ausschließlich
Jodkatgut verwendet; die Patientinnen
bleiben 14 Tage im Bett.
Selbstverständlich ist die Operation für
die späteren Lebensjahre geeignet; bei
jungen Frauen muß der Uterus erhalten
bleiben. Mit Recht macht Jolly darauf auf¬
merksam, daß bei den Interpositions-
methoden (Schauta-Wertheim) die Gebär¬
fähigkeit des Uterus verloren geht.
3 Frauen starben; 2 am 12. resp. 14.
Tag an Lungenembolie, die 3. an den Folgen
eines Diabetes am 2. Tage. Die Ursache
der relativ häufigen Lungenembolie sieht
Jolly nicht in der modifizierten Stümpf-
versorgung, sondern in der Verletzung der
Venen des Beckenbodens bei der hinteren
Kolporrhaphie.
Für die Beurteilung der Dauerresultate
ist die Zeit zu kurz, nur 4 Fälle liegen
1 Jahr zurück, bei den meisten sind nur
wenige Monate seit der Operation ver¬
flossen. P. Meyer.
(Zeitschrift f. Geb. u. Gyn., 56. Bd. 1. Heft.)
Rubens (Gelsenkirchen) berichtet einen
Fall von Psoriasis, seit 14 Jahren be¬
stehend, bisher vielfach vergebens behan¬
delt, der bei einer Masernerkrankung plötz¬
lich am dritten Tage der Erkrankung die
Schuppen zu verlieren begann. Seit zwei
Monaten ist der Patient frei von Psoriasis,
42
Original from
UNIVER5ITY OF CALIFORNIA
330
Die Therapie der Gegenwart 1910.
Juli
Im Anschluß daran berichtet Fried -
jung (Wien) über einen Fall, wo nach
Masern seit 12 Jahren die bisher in Re¬
zidiven auftretende Psoriasisanfälle auf*
hörten und nur noch kleine Herde übrig¬
blieben. Wenn er aber den Vorschlag
macht, mit Serumexanthem analoge Heilungs*
versuche zu machen, so erscheint Referent
das künstliche Hervorrufen eines Exanthems
doch viel einfacher durch einen akuten
Sonnenbrand, der leichter beherrscht werden
kann. Darüber bestehen bereits genügend
Erfahrungen auch bei der Psoriasbehand-
lung. Cfr. auch Berichte des Lichterfelder
Kreiskrankenhauses 1900—1906.
Hau ff e (Ebenhausen).
(Deutsche med. Wschr. 1910, Nr. 3.)
Lorenz tritt für eine ambulante Be¬
handlung der Sehenkelhalsbrftelie ein.
Bei Patienten jugendlichen und mittleren
Alters gleicht er in Narkose die Dislokation
aus, indem er unter subkutaner Myotomie
der am stärksten gespannten Adduktoren
das Bein extendiert und adduziert. In
maximaler Adduktion, Streckung und Innen¬
rotation wird das Bein sodann in einem gut
anmodellierten Gipsverband fixiert; durch
Anfügung einer Fußsandale wird der Patient
gehfähig. Nach 3—4 Monaten erhält er
einen abnehmbaren Stützapparat, den er
bei gleichzeitiger Massagebehandlung min¬
destens 9 Monate lang tragen muß.
Bei veralteten deform geheilten Brüchen
hat Lorenz noch 7—8 Wochen nachdem
Unfall die Reinfraktion durch maximale
Abduktion zustande gebracht und die
weitere Behandlung in der geschilderten
Weise durch geführt. In den Fällen, bei
denen der Knochen nicht mehr refrakturiert
werden kann, sorgt Lorenz dafür, daß
die habituell gewordene Adduktionsstellung
in eine habituelle Abduktion übergeführt
wird.
Alte Personen erhalten während des
schmerzhaften Stadiums einen Gipsverband
ohne wesentliche Stellungskorrektur, der
ihnen wenigstens das Verlassen des Bettes
gestattet. Bergemann (Königsberg).
(Deutsche Zeitschr. f. orthopfid. Chir. Bd. 25,
S. 76.)
Zur Behandlung der akuten otogenen
Sepsis empfiehlt Hansberg (Dortmund) auf
dem letzten Otologenkongresse an der Hand
von 15 beobachteten Fällen akuter otogener
Sepsis die Frühoperation. In allen seinen
Fällen bestanden äußerlich keine Verände¬
rungen am Warzenfortsatz, 8 mal fehlte
sogar eine Empfindlichkeit auf Druck.
Eiter wurde in allen Fällen im Warzenfort¬
satz gefunden, 5 mal fand sich 4 Tage nach
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dem ersten Auftreten der Mittelohrerkran¬
kung bereits eine Thrombose im Sinus,
resp. krankhafte Veränderungen an der
Wand desselben.
Als Operation kommt zunächst die Er¬
öffnung des Warzenfortsatzes, dann die
Freilegung des Sinus, event. mit Eröffnung
desselben in Betracht. Hansberg hat
gewöhnlich sehr frühzeitig operiert, 2 mal
1V 2 . 4mal 3, 4mal 4, je 1 mal 6, resp. 10 Tage
nach dem ersten Auftreten der Mittelohr¬
erkrankung, in 3 Fällen wurde im Verlaufe
von Angina, resp. Scharlach operiert.
Die Diagnose ist in den Frühstadien
sehr schwierig, aber nicht unüberwindlich,
von großer Bedeutung sind Temperatur¬
erhöhung, Schlummersucht, Empfindlichkeit
am Warzenfortsatz. Aus der Höhe des
Fiebers läßt sich nicht immer ein Schluß
ziehen auf die Schwere der Erkrankung.
Jeder Fall muß streng individualisiert
werden, die Therapie muß immer dem je¬
weiligen Fall angepaßt sein. Ueber den
Zeitpunkt, wann eingegriffen werden soll,
lassen sich keine bestimmten Regeln auf¬
stellen, Erfahrung und Takt des Operateurs
entscheiden.
Von den Fällen Hansbergs wurden
13 geheilt, 2 starben.
(Otologen-Kongreß 1910.)
Die Behandlung der kongenitalen
Syphilis nach Immerwohl rühmt Heub-
ner auf Grund seiner Erfahrungen in der
Kinderklinik und Poliklinik der Charite.
Die Methode besteht in der intramusku¬
lären Einspritzung von 0,002—0,003 Subli¬
mat in möglichst kleiner Menge gelöst, also
etwa 0,1 einer 2%igen Lösung. Die In¬
jektion erfolgt alle 8 Tage. Die Ergeb¬
nisse sind sehr befriedigend, was Ref. an
eigenem Material bestätigen kann.
Finkeistein.
(Charit6-Annalen XXX.)
Fortschritte in der Ausbildung und
Fortbildung der Taubstummen berichtete
Hugo Stern (Wien) auf dem letzten Oto-
logen-Kongreß. Schon im vorschulpflich¬
tigen Alter muß man systematische Stimm¬
übungen vornehmen, wozu adäquate Vor¬
bilder (gleichaltrige hörende Kinder) her¬
anzuziehen sind. Große Beachtung ist der
Kehlkopfstellung und Kehlkopfbewegung
zuzuwenden, ferner der Verbesserung der
Vibrationsempfindlichkeit und einer richtigen
Atemtechnik. Im allgemeinen bewährt es
sich, beim Artikulationsunterricht nicht
vom einzelnen Laut, sondern von Silben
auszugehen. Vortragender* verweist weiter
auf die Wichtigkeit der Vornahme von
Original fram
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Die Therapie der Gegenwart 1910.
331
Juli
Hörübungen (Urbantschitsch) in geeig¬
neten Fallen, auf die phonetische Schrift
Gutzmanns, auf das Häufigkeitswörter¬
buch Kädings und Kobraks mimische
Schrift — alles Hilfsmittel für ein rascheres
und sichereres Absehenlernen. Das größte
Gewicht ist auf eine weitere Fortbildung der
Taubstummen in stimmlicher und sprach¬
licher Hinsicht zu legen, um eine reine und
modulationsfähige Sprache zu erzielen.
(Otologen-Kongreß 1910).
Cordes tritt lebhaft für das Vorkom¬
men der Typhlitis stercor&lis, das ja
in letzter Zeit stark angezweifelt worden
ist. Die primäre Typhlitis kann in zwei
Formen auftreten: 1. Durch spezifisch ge-
schwürige Prozesse; besonders Tuberku¬
lose, Aktinomykose; Typhus, Dysenterie
verursachten zur Perforation des Blinddarms
führende Typhlitis; 2. einfache von der
Schleimhaut ausgehende, in die Darmwand
eindringende oder dieselbe durchdringende
und auf die Umgebung weitergreifende Ty¬
phlitis verschiedener Aetiologie. An dem
Vorkommen der ersten Form zweifelt nie¬
mand; von der zweiten Form hat Cordes
zwei Fälle beobachtet. Das klinische Bild
war beidemal das der akuten Appendizitis,
das erstemal im ersten Anfall, das andere
Mal im Rückfall. Der Appendix war beide¬
mal unverändert, doch bestand an dem
Coecum eine zirkumskripte Entzündung, die
in dem einen Fall die ganze Wand betraf,
eiterig und emphysematös war, während
sie in dem anderen Falle schon älter war
und fast alle Wandschichten betraf. Nach
der Resektion erfolgte Heilung. Als Ur¬
sache der Entzündung betrachtet Cordes
in beiden Fällen den Reiz durch harte
Skybala. Die seltene Beobachtung der Ty¬
phlitis bei Operationen kommt wohl daher,
daß die Typhlitis so gelinde auftritt, daß
sie nicht zur Beobachtung kommt, oder daß
sie in vielen Fällen ganz abgeklungen ist,
wenn die Symptome einer schweren Appen¬
dizitis auftreten, da ja die Heilungsbedin¬
gungen für das Coecum viel besser sind,
als für die Appendix. (Das Vorkommen
der Typhlitis ist ja wohl nicht ganz zu
leugnen, doch ist sie wohl sehr selten und
man tut gut, in allen Fällen eine Appen¬
dizitis anzunehmen, damit nicht die recht¬
zeitige Operation unterbleibt. Ref.)
Klink.
(v. Bruns Beitr. z. kl. Chir., Bd. 63, H. 3.)
Therapeutischer Meinungsaustausch.
Anhang zu meinem Aufsatz „Ueber künstlichen Pneumothorax
bei der Behandlung der Lungenschwindsucht".
Von Prof. Carlo
Durch die besondere Freundlichkeit des
Herrn Dr. J. Melandri, Direktor des italieni¬
schen Krankenhauses zu London, gelangte ich
in den Besitz der langgesuchten Publikation
von Dr. James Carson aus Liverpool. Ans
derselben ergibt sich nun — wie ich dies an
dieser Stelle sogleich bemerken will —, daß
meine Vermutung, es hätte Carson einen rein
theoretischen Vorschlag, aber niemals eine prak¬
tische Anwendung davon gemacht, und daß er
jedenfalls nicht etwa die Heilung des der Lungen¬
schwindsucht zugrunde liegenden Prozesses,
sondern lediglich eine der Kavernen und Lungen¬
abszesse anstrebte, eine gerechtfertigte war.
Car so ns Arbeiten weisen daraufhin, daß
er hauptsächlich Physiolog war; zwei derselben
interessieren uns ganz besonders; die eine über
die Elastizität der Lunge, die andere über die
Behandlung der Lungenkavernen.
Erstere wurde von Dr. Thomas Young
in der Sitzung vom 25. November 1819 der
königl. Londoner Gesellschaft vorgelesen und
führt den Titel: „On the Elasticity of the
Lungs" (in Phylosophical Transactions of the
Roysu Society of London for the year 1820,
Bd. 1, S. 29—44). Die Elastizität der Lungen
war bereits seit längerer Zeit den Physiologen
bekannt; das Verdienst aber, die bei Eröffnung
des Thorax zur Wahrnehmung gelangenden
Vorkommnisse auf dieselbe zurückgeführt und
die ihr bei Kreislauf und Atmung zukommende
Rolle ins Licht gestellt zu haben, gebührt, so¬
viel es scheint, Carson; sicherlich gebührt
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Forlaninl-Pavia.
ihm — wie dies auch von Donders in seinem
1856 erschienenen klassischen Lehrbuche der
Physiologie (J. Donders, Physiologie des
Menschen. Leipzig, S. Hirzel, 1856. Bd. 1,
S. 402) anerkannt wird — jenes, durch Tier¬
versuche das Maß dieser Elastizität bestimmt
zu haben, was eben den Inhalt seiner in der
Londoner Royal Society gemachten Mitteilung
bildet In seinem Vortrage spricht Carson
der seiner Schätzung nach bei Rindern über
anderthalb, bei Schafen, Kälbern, großen Hun¬
den einen bis anderthalb Fuß, bei Katzen und
Kaninchen 6 bis 8 Zoll Wasser betragenden
Elastizität der Lungen — soweit letztere dem
Herzen und dem Zwerchfell unmittelbar an-
liegen — eine Mitbeteiligung an den Erschei¬
nungen des Blutkreislaufes zu und bedient
sich ihrer als Stütze, um die Atmungsbewe¬
gungen des Zwerchfells zu erklären.
Die Erkenntnis der Lungenelastizität ver¬
anlaßt ihn denn auch, gelegentlich einer im
November 1821 in der Society of Liverpool
gehaltenen Vorlesung eine von ihm ersonnene
Behandlung der Kavernen und Lungenabszesse
vorzuschlagen. Besagte Vorlesung ist betitelt:
„On lesions of the lungs“ (15 Seiten) und
wurde später — gleichzeitig mit zwei anderen,
nämlich der bereits angeführten: „On the
Elasticity of the Lungs* und einer zweiten:
„On the Vacuity of the Arteries after Death“
(19 Seiten stark) — in einem in der Bibliothek
des Londoner Royal College of Surgeon auf-
bewahrten Bändchen, das den Titel führt:
42*
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
332
Die Therapie der Gegenwart 1910.
Juli
„Essays Physiological and Practical by James
Carson M. Dr. Physician in Liverpool. Printed
by J. B. Wright of Castle St. Liverpool. 1822“,
veröffentlicht.
Im Hinblick auf das historische Interesse,
das Car so ns Anschauungen für unser Thema
besitzen, halte ich es für angezeigt, dieselben
hier kurz zusammenzufassen.
Wird bei einem Kaninchen — führt Carson
aus — auf einer Seite der Thorax zwischen
Rippe und Rippe so tief eingeschnitten, daß
die Luft frei eindringt, so kollabiert die Lunge;
das Tier scheint aber hierbei keine Schädigung
zu erleiden; wenn man aber fünf Tage nachher
bei demselben Tiere ganz den gleichen Ein¬
schnitt macht, jedoch auf der entgegengesetzten
Seite, so geht wohl mitunter das Tier zu¬
grunde, häufiger aber ist dasselbe nach einer
Periode von schweren Leiden und Atemnot
Soweit wieder hergestellt, daß es fünf Tage
nach dem zweiten Eingriff nichts mehr dar¬
bietet als einen schwachen Rest von Atemnot.
Wird da das Tier geopfert, so läßt sich fest¬
stellen, daß die beiden Wunden vernarbt sind
und — falls man den Unterleib früher als den
Thorax eröffnet — das Zwerchfell unten wohl
konkav ist, aber in geringerem Grade als in
der Norm. Werden hingegen die Einschnitte
am Thorax auf beiden Seiten desselben zu
gleicher Zeit ausgeführt, so geht das Tier so¬
fort zugrunde. Daraus schließt Carson, daß
der Kollaps einer Lunge allein im Leben gut
toleriert wird — was wahrscheinlich darin
seinen Grund hat, daß das Mediastinum eine
verhältnismäßig steife Scheidewand zwischen
den beiden Thoraxhälften bildet und ein Mecha¬
nismus da ist, der innerhalb einer gewissen
Zeit den Kollaps vermindert und der Lunge
zu ihrer Funktionsfähigkeit wieder verhilft, so
daß der fünf Tage später in der anderen Lunge
hervorgerufene Kollaps mit dem Leben noch
vereinbar ist; dies sei jedoch nicht mehr der
Fall, sobald beide Lungen zugleich zum Kolla¬
bieren gebracht werden.
Sich weiter einlassend, faßt nun Carson
den Einfluß der Lungenelastizität ins Auge, für
den Fall, daß im Organ Läsionen erzeugt wer¬
den oder es zur Bildung von Abszessen kommt.
Solche Läsionen vernarben bei weitem nicht
so leicht wie bei anderen Körperteilen und
haben einen höchst bedenklichen Ausgang, und
zwar nicht etwa, wie mehrfach angenommen
wird, weil die beständige respiratorische Be¬
wegung des betreffenden Teiles das notwen¬
dige Aneinanderhaften der Oberflächen hindert,
sondern wohl darum, weil infolge der mächti¬
gen Elastizität des Gewebes die Bänder der
einzelnen Kontinuitätstrennungen dahin streben,
sich immer mehr voneinander zu entfernen und
dadurch die Trennung immer mehr zu erweitern.
Der sich ansammelnde Eiter, der bei ge¬
wöhnlichen Abszessen entleert werden muß,
da er die Wände daran hindert, miteinander
in Berührung zu kommen, wird hier auf
bronchialem Wege herausgeschafft; dessen
ungeachtet erfolgt eine solche Berührung nicht,
weil infolge der Elastizität des Gewebes die
Wände dahin streben, sich nach jeder dem
Zentrum der Karität entgegengesetzten Rich¬
tung zurückzuziehen. Es tritt hier bei der
Lunge das gleiche ein, wie beim Reißen der
Achillessehne, wo die beiden Stümpfe infolge
der Muskelkontraktion gewaltsam voneinander
entfernt werden und deren Verheilung künst¬
lich, d. i. erst dann zu erzielen ist, wenn man
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dieselben durch Kraftanwendung wieder mit¬
einander in verharrende Berührung bringt
Es ist einleuchtend — bemerkt Carson
zum Schlüsse —, daß. wenn man eine der¬
artig erkrankte Lunge zum Kollabieren bringt
und die ihrer Heilung in unüberwindlicher
Weise entgegen wirkende Elastizität des Ge¬
webes ausschaltet, der Läsion die gleiche Hei¬
lungsfähigkeit verliehen wird, als wenn sie in
anderweitigen Körperteilen ihren Sitz hätte.
Und nachdem — wie es sich gezeigt hat —
das Zusammenfallen nur einer Lunge vom
Tiere gut toleriert wird, so dürfte meinem
Dafürhalten nach — für jene Fälle, wo eben
nur eine Lunge verletzt ist — das in Rede
stehende Verfahren eine erfolgreiche einfache
und vollständige Behandlung ermöglichen.
Sind aber beide Lungen verletzt, dann
sind auch die zu überwindenden Schwierig¬
keiten größere. Da es jedoch bei den Tieren
möglich ist, fünf Tage nach der Operation auf
der einen Seite noch eine zweite auf der ent¬
gegengesetzten ohne gar große Gefahr auszu¬
führen — was den Gedanken an eine in der
zuerst kollabierten Lunge allmählich vor sich
gehende Wiederausdehnung nahe legt —, so
ist auch beim Menschen Aussicht vorhanden,
daß nach Verlauf einer gewissen Zeit die Ope¬
ration an der zweiten Lunge ebenso sicher
ausgeführt werden könne, wie an der ersten.
„Sollte dies auch nicht der Fall sein“ — fügt
Carson hinzu —, „so müßte doch die Mög¬
lichkeit gegeben sein, denke ich, künstliche
Mittel zur Wiederausdehnung der als bereits
vernarbt geltenden ersten Lunge ausfindig zu
machen.“
Eine Einzelheit von Car so ns Operations¬
verfahren erscheint mir aber ganz besonders
erwähnenswert. „Wenn eine eine starke Eiter¬
ansammlung enthaltende Lunge,“ sagt er, „plötz¬
lich zum Kollabieren gebracht wurde, so würde
der Eiter in die Bronchialwege gedrängt wer¬
den und dadurch den Kranken in drohende,
unmittelbar bevorstehende Lebensgefahr setzen;
letztere ließe sich jedoch durch Anwendung
eines leicht einzusehenden, einfachen Mittels
verhüten, indem man nämlich das Zusammen¬
fallen der Lunge stufenweise, durch mehrmalige
Einführung (wiederholte Einschnitte...!?) kleiner
Luftmengen herbeiführt.“
Aus Inhalt und Form der Mitteilung Car-
sons geht nun also klar und deutlich hervor,
daß sein Vorschlag ein rein theoretischer, nie¬
mals zur Ausführung gebrachter gewesen ist.
Die einzige von ihm gemachte Angabe bzw.
praktische Demonstration entstammt den in
der alten Literatur verzeichneten Fällen von „an
Auszehrung leidenden“ Individuen, die durch
im Kriege erhaltene penetrierende, einen Zu¬
tritt der Luft gestattende Brustwunden wieder
gesund wurden. „Die Operation,“ sagt hierzu
Carson, „die ich, ein bestimmtes ziel ver¬
folgend, gewagt habe zu empfehlen, ist in
diesen Fällen — wenn auch in grober Weise
— durch den Zufall selbst ausgeführt worden.“
Wohl kaum unzweideutiger dürften die
Schlußworte der Mitteilung lauten: „Ob die
Methode,“ so schließt Carson, „sich als eine
anwendbare und daher zweckentsprechende
bewähren wird, oder ob sie von der Mehrzahl
nicht als eine solche wird anerkannt werden
und — nachdem sie eine Zeit hindurch die
Aufmerksamkeit in Anspruch genommen —
der allgemeinen Nichtbeachtung zum Opfer
fallen wird, wird die Zeit entscheiden.“
Original from
UNIVER5ITY OF CALIFORNIA
Juli
Die Therapie der Gegenwart 1910.
33*
Es sei mir nun gestattet, nochmals folgende
Schlüsse daraus zu ziehen:
1. Carsons Vorschlag ist nur der theore¬
tische Gedanke eines Physiologen gewesen.
Wohl schwerlich hätte zu jener Zeit — auch
heutzutage nicht — ein praktischer Arzt es
vermocht bzw. gewagt, einen solchen Vorschlag,
in der Weise wie er damals gemacht wurde,
praktisch zu verwerten — und ebenso wenig
würde er es heute wagen.
2. Immerhin besteht zwischen jenem Ge¬
danken und meinem Vorschläge ein wesent¬
licher Unterschied. Carson befaßt sich einzig
und allein mit der Behandlung der Exkavation,
die weiter nichts ist als ein anatomischer Aus¬
gang des Prozesses: ich dagegen fasse jenen
der der Krankheit zugrunde liegenden Prozesse
ins Auge und dies auf Grund einer die Natur
desselben betreffenden neuen Auffassung, deren
Priorität ich vor allen beanspruche.
Bemerkungen zu Forlaninis Artikel über eine Prioritätsfrage bezüglich des
künstlichen Pneumothorax bei der Behandlung der Lungenschwindsucht.
Von Dr. S. Daus, Leitender Arzt der Heimstätte der Stadt Berlin in Gütergotz.
Im diesjährigen Heft 5 und 6 dieser Zeit¬
schrift wendet sich Herr Professor Carlo
Forlanini 1 ) gegen Ausführungen, die ich 2 ) im
vorjährigen Heft 5 dieser Zeitschrift gemacht
hatte. Ich hielt mich auf Grund von Zitaten
aus den Handbüchern von Can statt 1843,
Wui^derlich 1856 und Köhler 1867 für be¬
rechtigt, Carson als erstem den Gedanken der
Bekämpfung der Lungentuberkulose mittels
künstlich zu erzeugendem Pneumothorax zu
vindizieren, denn die Idee von Carson bestand
darin, durch Herbeiführung eines künstlichen
Pneumothorax eine Kompression der kavernösen
Lunge zu erzeugen und damit die Krankheit
zu bekämpfen. Das ist ja doch nichts anderes,
als was auch unsere moderne Pneumothorax¬
therapie bei Lungenphthise beabsichtigt. Mag
man neute durch unsere modernen Hilfsmittel
die Sache vervollkommnet haben, der Kern ist
doch der gleiche: die Anwendung des künst¬
lichen Pneumothorax als therapeutisches Reme-
dium bzw. Agens bei Lungenschwindsucht.
Ob dabei die Empirie, die Carson seinerzeit
die Idee insuffliert hat, eine andere war, bzw.
ob die in meiner Arbeit geäußerte Vermutung,
daß ihn die eventuelle Kenntnis der von Stokes
bzw. Houghton mitgeteilten Fälle günstigen
Einflusses des natürlichen Pneumothorax auf
das Lungenleiden darauf gebracht hat, kommt
hierbei doch gar nicht in Betracht.
Ich behalte mir im übrigen vor, auf die
Frage noch einmal, möglichst bald an anderer
Stelle zurückzukommen, denn ich bin inzwischen
dank der Liebenswürdigkeit Herrn Prof. Par-
ker’s (Liverp.) in den Besitz eines Originalessays
von Carson: „On lesions of the lungs“, als Vor¬
trag im November 1821 in der „Liverpool Society“
gehalten, gekommen, der indes, da Carson erst
1843 gestorben ist, nicht genügenden Aufschluß
über Carsons Ansichten, Erfahrungen usw.
über diesen Gegenstand in seinen späteren
Lebensjahren gibt, der aber die von Parola
gemachten Angaben bestätigt, andererseits aber
eine eingehendere Zitierung erfordert, als mir
im Rahmen dieser Abwehr heute möglich ist. 3 )
*) Carlo Forlanini, lieber eine Prioritätsfrage
bezüglich des künstlichen Pneumothorax bei der Be¬
handlung der Lungenschwindsucht usw. Therap. d.
Geg. 1910, S. 198 bzw. S. 245, ferner Rivista delle
pubblicaz. sul Pneumotorace terapeutico Nr. 5, Giugno
1909, bzw. Gazzetta medica Italiana 1909, Nr. 38.
*) S. Daus, Historisches und Kritisches über
künstlichen Pneumothorax bei Lungenschwindsucht.
Therap. d. Geg. 1909, S. 221.
3 j Ausgehend von Tierversuchen schlägt Carson
seine Methode bei Schwindsucht und Abszeß (auch
hierzu vgl ForlaninisFall von Lungenabszefi: Münch,
med. Woch. 1910, Nr. 3) vor und sieht eine Stütze
dafür in dem günstigen Einfluß auf Schwindsucht durch
Dem weiteren Einwand Forlaninis, es
ginge aus meinen Zitaten nicht hervor, ob der
Vorschlag von Carson wirklich ausgeführt
worden sei, kann ich schon entgegen halten,
daß Wunderlich ihn für „nicht nadiahmens-
wert“ erklärt. Das Gegenteil aber aus meinen
Zitaten schließen zu wollen, wie es Forlanini
in der „Rivista etc.“ will, ist nicht gut an¬
gängig. Denn es hat zu allen Zeiten Männer
gegeben, die in ihrem Denken und Handeln
nicht bloß ihren Zeitgenossen, sondern auch
noch nächstfolgenden Generationen weit voraus
waren und zu ihrer Zeit nicht genügend ver¬
standen, bzw. gewürdigt wurden; aus diesem
Gesichtspunkte heraus ist das Urteil, das meine
Gewährsmänner über die Carson sehe Me¬
thode fällen, weder maßgebend, noch irgend¬
wie beweiskräftig, sondern wir haben nur aus
den Zitaten die nackte, für uns wesentliche
Tatsache herauszuschälen, daß Carson als
erster Vorläufer der heutigen modernen Pneu-
mothoiaxtherapeuten anzusehen ist. Uebrigens
hat ja auch heutzutage der therapeutische
Pneumothorax seine Gegner und findet leider
nicht überall den gleichen Beifall. Und es be¬
handelt auch heute ein Autor, der ein neues
Handbuch herausgeben will, darin das Kapitel
vom therapeutischen Pneumothorax je nach
seiner Meinung, Neigung und Erfahrung mehr
oder weniger wohlwollend und ausführlich.
Wir brauchen daher keineswegs von vornherein
das gleiche „Interesse“ und Einsicht in die
„Wichtigkeit des Gegenstandes“ bei dem von
Forlanini zitierten Parola vorauszusetzen,
wenn er hierüber nur so nebenbei etwas
dürftig, über die Thorakozentese dagegen mit
vielen Details berichtet. Das mag nun auch
der allgemein damals geltenden medizinischen
Zeitströmung entsprochen haben. Jene Zeit
war noch nicht reif für die von Carson emp¬
fohlene Therapie und darum geriet diese in
Vergessenheit. Mag auch sein, daß die spätere
Anwendung des therapeutischen Pneumothorax
aus Furcht vor pleuritischen Infektionen unter¬
lassen wurde, wie Pedrazzini 1 ) bereits in
seinem in der Mailänder medizinischen Gesell¬
schaft gehaltenen Vortrage ausführte. — Jedes¬
falls aber ist das Herbeiführen des künstlichen
Pneumothorax zur Bekämpfung der Lungen¬
phthise, wie es schon Carson vorschlug, doch
der Hauptakt, der dieser ganzen Therapie den
Namen gegeben hat, kann doch also nicht etwa
bloß einen — wenn ich recht verstanden habe
Stichverletzungen (z. B. Säbel) der kranken Lunge,
wo die Operation „was.., roughly indeed, made by
accident.“
*) Pedrazzini (Mailand, Via Valpetrosa): Sul
pneumotorace artificiale nella cura della tubercolosi
polmonare e della tisi. Sitzg. vom 27. Juli 1907.
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Gck gle
Original from
UNIVERSITY 0F CALIFORNIA
334
Die Therapie der Gegenwart 1910.
Juli
— „nicht einmal wesentlichen Berührungspunkt
oder vielmehr nur eine äußerliche Aehnlich-
keit des Ausführungsmittels" darstellen.
Was nun die Ueberlegungen Carsons an¬
langt, so schreibt Forlanini, daß Carson
nach dem Berichte von Parola in dem Um¬
stand, daß die Lungen fortwährend gezwungen
wären, sich auszudehnen und zusammenzu¬
ziehen, die Schwierigkeit der Heilung sah.
Und hierzu findet sich in Fori an in is Ge¬
danken eine gewisse Analogie. Ich will nichts
aus dem Zusammenhänge reißen. Aber als
Grundgedanke, auf dem sich seine weiteren
„Sätze" aufbauen, scheint mir doch Forlaninis
Ansicht im Vordergründe zu stehen, „daß der
hauptsächliche, notwendige und für sich allein
hinreichende Grund für diese Erscheinung in
der einzigen Bewegung von Ausdehnung und
Zusammenziehung besteht, die die kompro¬
mittierte Organpartie infolge der Atmungstätig¬
keit beständig auszuführen gezwungen ist. .
Ich möchte hierauf nicht weiter eingehen, son¬
dern nur noch das zusammenfassende Urteil
Pedrazzinis erwähnen: „Wir stehen also
nicht vor neuen Kriterien, noch vor ungebräuch¬
lichen therapeutischen Vorkehrungen." Und
weiterhin sagt derselbe Autor: „II merito del
prof.Forlanini e certo quello di aver fatto rivivere
tra noi la questione del pneumotorace artificiale
per la cura della tisi polmonare e di averne
studiato e perfezionato il modo di esecuzione.“
Bei dieser Gelegenheit möchte ich nicht
unterlassen, zu erklären, daß mir bei Abfassung
meiner vorjährigen Arbeit der Vortrag Pe¬
drazzinis im ganzen und natürlich auch sein
den Passus über Carson vollständig wieder¬
gebender Abschnitt aus der Arbeit Parolas
unbekannt gewesen war. Indes geht auch aus
Forlaninis Arbeit hervor, daß diesem der
Vortrag Pedrazzinis — beginnend mit den
Worten: „Es hallen noch in diesem Sale die be¬
währten Worte des berühmten Klinikers aus
Pavia wieder ... .**, womit Forlanini selbst ge¬
meint ist, der kurz vorher in derselben Gesell¬
schaft über dies Thema gesprochen hatte, und
obwohl im ganzen als Polemik gegen Forlanini
gehalten — nicht bekannt war, denn er hätte doch
sonst schon vor meiner Arbeit daraus die Kennt¬
nis der Parolaschen Arbeit gewonnen (also
schon 1907), während er in seiner jetzigen Arbeit
(H. 5, S. 199) es als Glück bezeichnet, das Werk
Parolas, das sich, wie ich bei meinem letzten
Aufenthalt in Mailand erfuhr, in der Bibliothek
des dortigen Ospedale Maggiore befindet, jetzt
nach Erscheinen meiner Arbeit in die Hände
bekommen zu haben. Daraus also schließe ich,
daß ihm dieser Vortrag und die Polemik Pe¬
drazzinis bisher unbekannt geblieben ist. Ich
jedesfalls sehe die Autorschaft von Carson
bestätigt. Nach meiner Ansicht ist man es den
Manen dieses Mannes schuldig, seinen Namen
auch in diesem Zusammenhänge aus der vor¬
märzlichen Literatur herüberzuretten und ihm
jetzt, wo seine Ideen wieder aufgenommen,
exakt ausgebaut und nach jeder Richtung hin
begründet, insbesondere in der Technik nach
modernsten Grundsätzen vervollkommnet wer¬
den, in der ihm zukommenden Weise gerecht
zu werden. Damit werden die Verdienste von
Forlanini, Brauer, Murphy, A. Schmidt
u. a. um die Pneumothoraxtherapie in keiner
Weise irgendwie tangiert.
Ans der Klinik und Poliklinik für Frauenkrankheiten von Prof. Dr. Nagel, Berlin.
Erfahrungen mit Aperitol als schmerzloses Abführmittel.
Von Dr. A. Hirschberg, Assistenzarzt.
Ueberblickt man die in den letzten
Jahren in den Arzneischatz eingeführten
Abführmittel, so fällt dabei in die Augen,
daß die alten pflanzlichen Mittel, wie Rha¬
barber, Senna und Aloe immer mehr zu¬
gunsten der synthetischen Präparate in den
Hintergrund treten. Unter diesen erzielt
die Gruppe der Oxyanthrachinone und des
Phenolphtaleins die Hauptrolle. Das Phenol-
phtalein besonders hat in den letzten Jahren
eine große Verbreitung als Abführmittel
gewonnen. Die Tatsache, daß man es hier
mit einer ganz ungiftigen Substanz zu tun
hat, die schon in relativ kleinen Mengen
eine sichere Wirkung erzeugt, die sich
genau dosieren läßt und nur einen schwach
bitteren Geschmack besitzt, sind so erheb¬
liche Vorzüge vor den pflanzlichen Drogen,
daß sie die überraschend schnelle Verbrei¬
tung des Mittels begreiflich machen. Was
speziell die Ungiftigkeit des Phenolphtaleins
l ) Carson: »The peculiar obstinacy observable
in the eure of injuries of the lungs, has generally
been attributed to the constant motions, and different
degrees of distension to which these organs are sub-
jected in the process of respiration.“ (Originalessay I.c.).
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betrifft, so sind letzthin einige Fälle be¬
schrieben worden, in denen Kinder bis zu
25Tabletten k 0,2Phenolphtalein genommen,
ohne andere schädliche Wirkung als starken
Durchfall dadurch zu bekommen. Die
meisten der in letzter Zeit dargestellten
neuen Abführmittel enthalten daher das
Phenolphtalein als wirksames Prinzip. Ein
Nachteil des Mittels besteht indessen darin,
daß es bei empfindlichen Personen fast
immer Leibschmerzen und Kullern erzeugt.
Um diese unangenehmen Nebenwirkungen
zu beseitigen, konnte man daran denken,
das Phenolphtalein mit einem Darmseda¬
tivum zu verbinden. Nach Hammer und
Vieth eignet sich dazu am besten die
Baldriansäure, da sie im Vergleich mit den
sonst gebräuchlichen Beruhigungsmitteln,
wie Opium oder Belladonna als völlig harm¬
los zu bezeichnen ist. Es genügt indessen
nicht, eine einfache Mischung von Baldrian
und Phenophtalein einzunehmen, da die
Baldrianbestandteile längst resorbiert wären
und ihre Wirkung erschöpft wäre, ehe die
abführende Wirkung des Phenolphtaleins
in Kraft treten kann. Es muß vielmehr
Original frnm
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Juli
Die Therapie der Gegenwart 1910.
335
eine feste Bindung beider zustande ge¬
bracht werden, die sich erst im Dickdarm
spaltet. Als solche wurde von den ge¬
nannten Autoren das Aperitol in den
Arzneischatz eingeführt. Die Autoren fassen
ihre Resultate mit diesem Mittel in folgende
Sätze zusammen:
1. Durch die chemische Einführung der
sedativen Baldriansäuregruppe in das ab¬
führend wirkende Molekül des Phenol-
phtaleins wurde eine Substanz erhalten,
welche eine schmerzlose Stuhlentleerung
auch bei solchen Personen hervorruft,
welche sonst bei Gebrauch auch sogenannter
milder Abführmittel Leibschmerzen zu be¬
kommen pflegen.
2 . Das Aperitol ist als ein völlig un¬
schädliches Abführmittel zu bezeichnen,
welches keine toxischen oder reizenden
Eigenschaften besitzt, insonderheit keine
Schädigung der Nieren hervorruft; es kann
also auch bei Nierenaffektionen verabreicht
werden. Im Darm wird es in seine Be¬
standteile zerlegt, von denen das Phenol-
phtalein nur in minimalem Grade resor¬
biert, zum größten Teile mit den Fäzes
wieder ausgeschieden wird.
3. Das Aperitol ruft, in geeigneter Dosis
angewandt, im allgemeinen nach 4 bis I
12 Stunden eine einmalige (selten mehr- |
malige) reichliche breiige Stuhlentleerung
hervor. Es scheint bei längerem Gebrauche
keine Angewöhnung zu erzeugen.
4. Die gewöhnliche Dosis für Erwachsene
beträgt 2 Bonbons oder Tabletten zu 0,2 g
Aperitol. Bei zu schwacher Wirkung kann
die Dosis unbedenklich erhöht werden.
Bettlägerige bedürfen oft 3 bis 4 Tabletten,
kleine Kinder erhalten einen halben bis
einen, größere 2 Bonbons.
Diese Angaben sind von verschiedenen
Seiten nachgeprüft und im großen und
ganzen als richtig anerkannt worden.
Ueber die Art und Weise, wie die ab¬
führende Wirkung des Aperitols zustande
kommt, hat Herschell (London), eine
Reihe Versuche angestellt. Durch Ver¬
abreichung von Probemahlzeiten, die mit
Karminpillen abgegrenzt waren, bestimmte
er den Einfluß des Aperitols sowohl auf
die Zeit zwischen Aufnahme und Aus¬
scheidung der Nahrung als auch auf die
Konsistenz und den Wassergehalt des
Stuhles. Er fand 1. daß Aperitol die
Darmperistaltik vermehrt und die Stoffe
schneller aus dem Darmkanal befördert,
daß jedoch die Wirkung selbst bei dem
gleichen Individuum noch durch unbekannte
Faktoren in ihrer Intensität beeinflußt
wurde; 2. daß nach Aperitol die Menge
des Wassers im Kot vermehrt wird, und
zwar annähernd proportional der ver¬
abreichten Menge des Aperitols.
Was die Auslösung von Schmerzen
nach der Einnahme des Aperitol betrifft,
so finden wir bei allen Autoren die über¬
einstimmende Angabe, daß es in der großen
Mehrzahl der Fälle gänzlich schmerzlos
wirkt, nur selten wird ein Unbehagen oder
Stechen, meist kurz vor der Entleerung
verspürt.
Was nun meine eigenen Beobachtungen
anbetrifft, so habe ich bei dem großen
Krankenmaterial unserer Klinik und Poli¬
klinik das Mittel mehrere Monate lang in
Anwendung gebracht. Da bei den Frauen
die Neigung zur Obstipation erfahrungs¬
gemäß eine bei weitem größere ist, als bei
den Männern, so muß die Dosis bei den
ersteren eine größere sein. Während bei
Männern bereits 1—2 Tabletten erfolgreich
wirken, bedarf es bei Frauen 2—3 Tab¬
letten. Die Frauen nehmen das wohl¬
schmeckende Aperitol sehr gern ein;
Schmerzen bei der Entleerung wurden in
keinem Falle beobachtet, ebensowenig
irgendwelche Reiz- oder Intoxikations¬
erscheinungen. Der Stuhlgang stellt sich
etwa 6—7 Stunden nach Einnahme des
Mittels ein, so daß es sich empfiehlt, das¬
selbe entweder abends vor dem Schlafen¬
gehen oder morgens zu nehmen. Auch
4—5 Tabletten pro dosi wurden von den
Patienten anstandslos vertragen, nur war
darnach die drastische Wirkung eine fulmi¬
nantere.
Unsere Erfahrungen bestätigen also die
Angaben der oben genannten Autoren, die
das Aperitol als ein völlig unschädliches
und schmerzloswirkendes Abführmittel be¬
zeichnen. Da es ferner sowohl in Form
der Bonbons wie der Tabletten auch von
empfindlichen Personen gern genommen
wird, so dürfte es besonders in der Frauen-
und Kinderpraxis den sonst üblichen Ab¬
führmitteln vorzuziehen sein.
Literatur.
Pronai, Universitätsfrauenklinik, Wien,
„Klinische Versuche mit Aperitol“, Wiener
klinische Rundschau, 1910. Nr. t. — Baedeker,
Berlin, „Aperitol als Abführmittel und spezi¬
fisches Darmheilmittel“, Zentralblatt für die
gesamte Therapie, Novemberheft 1909. —
Herschell, London, „Ueber die Wirkung des
Aperitols“, Folia Therapeutica, April 1909. —
Mj k 1 o s, Klinisch - therapeutische Wochenschr.
1909, Nr. 30. — Pickardt, Berlin, Therapeu¬
tische Rundschau 1908. — Hammer & Vieth,
„Aperitol ein schmerzlos wirkendes Abführ¬
mittel“, Med. Klinik 1908, Nr. 37.
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UNIVERSiTY OF CALIFORNIA
336
Die Therapie der Gegenwart 1910.
Juli
Zur Bewertung des Gynovals.
Von Dr. Georg Fla tau, Nervenarzt, Berlin.
In den letzten Jahren wurde wieder-
holentlich auf die Verschiedenheiten der
pharmakologischen Wirkung einiger Drogen
hingewiesen und betont, daß Schwankungen
in dem Gehalt an dem wirksamen Prinzip
bedingt sind durch den Standort der Pflanze
und durch das Verhältnis, in dem die ein¬
zelnen Glykoside, Alkaloide, Gehalt an
ätherischem Oel vorhanden sind. Diese
Verschiedenheit weist auch neben der Digi¬
talis unsere offizineile Baldrianwurzel auf.
Durch die Untersuchungen von Kionka
wissen wir, daß die in der frischen Wurzel
enthaltenen wirksamen Substanzen schon
beim Trocknen und Lagern veränderlich
und zersetzlich sind. Bei dieser durch die
Tierversuche exakt bewiesenen Differenz
an aktiven Prinzipien lag es nahe, die¬
jenigen Stoffe aus dem Baldrian zu iso¬
lieren, die den therapeutischen Effekt der
Wurzel bedingen. Die Baldnansäure be¬
sitzt die spezifische Wirkung nicht, da¬
gegen ist festgestellt (Versuche an Katzen),
daß sie dem Baldrianöl zukommt und dieses
setzt sich hauptsächlich aus Borneol und
Isoborneol zusammen, sowie aus zahlreichen
Estern, von denen derjenige der Baldrian-
und Isovaleriansäure die wichtigsten sind.
Unter Berücksichtigung dieser Erfahrungen
wurde aus dem Borneol und der Isover-
bindung der Valeriansäure ein [neues Bal¬
drianpräparat Gynoval-Bayer hergestellt,
das chemisch einen Isovaleriansäure-Iso-
borneolester vorstellt. Er enthält die beiden
aktiven Stoffe des Baldrians, besitzt einen
nur bis zu einem gewissen Grade an Baldrian
erinnernden Geschmack und wird daher als
Ersatz der Baldrianauszüge empfohlen.
Auch von mir wurde dieses Präparat,
das der Bequemlichkeit wegen in genau
dosierten Mengen in Gelatinekapseln in den
Handel kommt, bei geeigneten Indikationen
in Anwendung gezogen. Meine Unter¬
suchungen berücksichtigen etwa 20 Fälle
nervöser Zustände, insbesondere Herz¬
klopfen, Angstzustände und dann Herz¬
leiden, die mit Schlaflosigkeit einhergehen.
Bemerkenswert war die günstige Wirkung
in einem Fall von habituellem Erbrechen
bei Eisenbahnfahrt.
Meine Beobachtungen lassen sich dahin
zusammenfassen, daß die Gynovalperlen im
allgemeinen recht gut vertragen werden.
Die therapeutische Wirkung war recht be¬
friedigend, der Effekt auf die Schlaflosig¬
keit und auf die nervösen Symptome war
ein günstiger, so daß sich eine Empfehlung
der Gynovalperlen für die angegebenen
Erkrankungen durchaus rechtfertigen läßt,
dies um so mehr, als der Preis auch eine
Verwendung des Präparates bei den weniger
bemittelten Patienten zuläßt.
Erklärung.
Auf dem diesjährigen Chirurgenkongreß
hat Herr Professor Sprengel (Braun¬
schweig) sich am Schluß der Appendizitis-
Debatte gegen die Ausführungen des Herrn
Professor Albu (Berlin) in der Berl. klin.
Wochenschrift 1909, Nr. 27, in einer Dis¬
kussionsbemerkunggewandt, die auf Wunsch
der Beteiligten Gegenstand einer Verhand¬
lung vor dem Unterzeichneten Vorsitzenden
der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie
für das Jahr 1910 geworden ist.
Nachdem Herr Albu erklärt hat, daß
er die grundsätzliche Frühoperation von
seiten der maßvollen und kritischen Chi¬
rurgen, zu denen er mit den anderen wissen¬
schaftlichen Vertretern dieser Operation
Herrn Professor Sprengel rechnet, als
berechtigt anerkennt, erklärt Herr Spren¬
gel, daß er den Schlußpassus seiner Be¬
merkungen lediglich und ausdrücklich des¬
halb gebraucht hat, weil er das Prinzip der
Frühoperation durch die Ausführungen des
Herrn Albu sachlich und formell geschädigt
glaubte. Nach der obigen Erklärung des
Herrn Albu wird für Herrn Sprengel
der Grund einer persönlichen Abwehr gegen
Herrn Albu hinfällig. Er nimmt demnach
den gebrauchten verletzenden Schlußpassus
zurück und hat die Streichung desselben
im Sitzungsprotokoll veranlaßt.
Der Unterzeichnete Vorsitzende hält da¬
mit den Zwischenfall für erledigt. Bier.
INHALT: Lauritzen, Diabetes mellitus bei Kindern S. 289. — Jacobsohn, Tabes
S. 298. — Sternberg, Schmackhaftigkeit S. 300. — Bradt, Keuchhusten S. 305. — Fraenkel,
Röntgenstrahlen in der Gynäkologie S. 310. — P. Ehrlichs Syphilis-Heilmittel S. 316. — Forla-
nini, Pneumothorax S. 331. — Daus, Pneumothorax S. 333.— Hirschberg, Aperitol S. 334.—
Flatau, Gynoval S. 336. — Referate S. 322.
Für die Redaktion verantwortlich Prof.Dr.G.Klemperer in Berlin. — Verlag von Urban&Sch warxenberg inWien u. Berlin.
Druck von Julius Sittenfeld, Hofbuchdrucker., in Berlin W.8.
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UNIVERSiTY OF CALIFORNIA
Die Therapie der Gegenwart
1910
herausgegeben von Prof. Dr. G. Klemperer
ln Berlin.
August
Nachdruck verboten.
Ans der L medizinischen Abteilung des städtischen Krankenhauses am Urban ln Berlin.
Ueber abgekammerte. Insbesondere interlobäre Pleuraexsudate
nebst Bemerkungen über Empyema putridum.
Von A. Fraenkel.
Man braucht nicht viele Sektionen ge¬
sehen zu haben, um zu wissen, daß ab¬
gekammerte entzündliche Pleuraergüsse zu
den verhältnismäßig häufigen Befunden
gehören. Haben dieselben ihren Sitz an
derjenigen Stelle, an welcher auch ge¬
wöhnlich die Entwicklung umfangreicher,
den größeren Teil der Brusthöhle frei ein¬
nehmender Exsudate beginnt, nämlich in
den abhängigen hinteren Partien, und
handelt es sich um einfache serös-fibrinöse
Ausschwitzungen, so ist ihre klinische Be¬
deutung gering. Anders wenn die Lage
des Ergusses eine abweichende ist und in¬
folgedessen auf benachbarte Teile eine
stärkere Druckwirkung ausgeübt wird oder
auch, wenn die sonstige Beschaffenheit des
Exsudates, sei es eine umschriebene Eiter¬
ansammlung oder gar ein jauchiges Em¬
pyem, besondere Berücksichtigung er¬
fordert. In solchen Fällen erwächst der
Diagnostik die Aufgabe, sobald als mög¬
lich nicht bloß genau die Lage und Aus¬
breitung, sondern auch die Natur der Aus¬
schwitzung festzustellen, um sie durch
einen entsprechenden Eingriff zu beseitigen.
Was zunächst den Sitz der ab¬
gekapselten Pleuritiden betrifft, deren
Bestehen, wie sich von selbst versteht,
ohne das Vorhandensein umschriebener
oder ausgedehnterer Verklebungen bzw.
Verwachsungen beider Rippenfellblätter
nicht möglich ist, so können dieselben ge¬
legentlich an den verschiedensten Punkten
der Lungenoberfläche zur Entwicklung ge¬
langen. So kommen z. B. umschriebene
Flüssigkeitsansammlungen, sowohl serös¬
fibrinöse als auch eitrige, vorn oben
zwischen Klavikula und 3. bis 4. Rippe vor.
Sie können Tumoren, Aneurysmen, Ent¬
zündungen des Parenchyms Vortäuschen.
Die wahre Ursache der durch sie gesetzten
Dämpfungen wird meist erst durch Punk¬
tion erkannt. Vor allem aber sind es drei
Lokalisationen der umschriebenen Exsudat¬
bildung, welche wegen der mit ihnen ver¬
knüpften besonderen klinischen Symptome
genannt zu werden verdienen: die dia¬
phragmatischen Pleuritiden, die dem Me¬
diastinum benachbarten und endlich die
interlobären.
Bei der diaphragmatischen Pleu¬
ritis, d. h. den zwischen Lungenbasis
und Zwerchfellsoberfläche belegenen Aus¬
schwitzungen, bildet das Exsudat eine
flache, mitunter halbkugelförmige Flüssig¬
keitsblase. Wofern deren Durchmesser
nicht erheblich und der Erguß nicht eitrig
ist, können die Erscheinungen so gering¬
fügig sein, daß er leicht gänzlich über¬
sehen wird. Es braucht nicht einmal eine
Schallabschwächung im Bereich der ab¬
hängigsten Partien vorhanden zu sein. Am
ehesten werden unter solchen Umständen
noch Schmerzen im Epigastrium oder längs
des Rippenbogenrandes, namentlich beim
tiefen Luftholen, sowie die augenschein¬
lich behinderte oder gänzlich aufgehobene
Zwerchfellsatmung den Verdacht auf das
vorhandene supraphrenische Exsudat lenken.
Erheblicher gestalten sich die Symptome,
wenn der Erguß einen größeren Umfang
erreicht oder wenn selbst bei geringer
Größe Eiterbildung vorliegt Dann pflegen
vor allem die Schmerzen sehr viel be¬
trächtlicher und charakteristische Druck¬
punkte vorhanden zu sein. Französische
Aerzte, namentlich Guöneau de Mussy 1 )
und Bouveret 3 ), haben auf einen solchen
besonders häufigen Druckpunkt, welcher
an der Schnittstelle der vertikalen Ver¬
längerung des äußeren Brustbeinrandes
mit der horizontalen Verlängerung der
zehnten Rippe gelegen ist, aufmerksam
gemacht. Er wird von ihnen als „Bouton
diaphragmatique 11 bezeichnet Daneben er¬
weist sich, wie schon erwähnt, das Epi¬
gastrium druckempfindlich, und ebenso ist
auch der auf die untersten Zwischenrippen¬
räume ausgeübte Druck besonders schmerz¬
haft, zuweilen im Bereiche der ganzen
Ausdehnung des 10. und 11. Interkostal¬
raumes, zuweilen auf eine bestimmte Stelle,
z. B. einen dicht neben der Wirbelsäule
belegenen Punkt beschränkt Bei manchen
Kranken soll auch Druck auf den Stamm
des Nervus phrenicus am Halse empfindlich
sein. Diese Erscheinungen gehören in das
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UNIVERSiTY OF CALIFORNIA
338
Die Therapie der Gegenwart 1910.
August
Gebiet der sogenannten irradiierten Neur¬
algien. Dazu kommen andere Reizerschei¬
nungen, wie spontan sich äußernde Magen¬
schmerzen, Schmerzen beim Schlucken von
Speisen und Flüssigkeiten, sobald dieselben
das Foramen oesophageum im Zwerchfell
passieren,Singultus,Erbrechen und schmerz¬
hafte, auf die Gegend des Diaphragma hin¬
weisende Empfindungen beim Husten.
Sehrwald 8 ) hat einen Fall von Pleuritis
diaphragmatica nach Pneumonie beschrie¬
ben, bei welchem die Atmungsstörung
infolge der vollständigen Ausschaltung der
Zwerchfellstätigkeit beträchtlich war und
der Patient bei jedem Versuche, etwas zu
schlucken, von einem so heftigen und qual¬
vollen Husten befallen wurde, daß die
Nahrungsaufnahme per os schließlich ganz
unmöglich wurde und die Ernährung des
Kranken lediglich rektal bewirkt werden
konnte. Offenbar wurde dieser Husten
reflektorisch durch Reizung der entzün¬
deten Zwerchfellsserosa beim Durchtritt
der Speisen durch den untersten Teil des
Oesophagus ausgelöst. Ebenso sind der
Singultus und das Erbrechen als Reflex¬
wirkungen aufzufassen.
Vor einer längeren Reihe von Jahren be¬
obachtete ich einen an supradiaphragmatischem
Empyem leidenden Kranken, dessen hervor¬
stechendste Symptome zurzeit des Eintritts in
die Anstalt in stürmischem, nach dem
Genuß jeglicher Speise auftretendem
Erbrechen bestanden. Der 26jährige Mann
gab an, 14 Monate zuvor beim Heben einer
schweren Last plötzlich heftige spannende
Schmerzen in der Lebergegend verspürt zu
haben; er wurde auch mehrere Wochen hin¬
durch in der Charite als leberleidend behandelt.
Die Schmerzen in der Lebergegend ver¬
schwanden indes allmählich, um in der Folge
nur bei stärkeren körperlichen Anstrengungen
wiederzukehren. Ebenso verlor sich das ur¬
sprüngliche Fieber, und auch die vorhanden
ewesenen Nachtschweiße ließen nach, bis
Wochen vor der Aufnahme in das Urban¬
krankenhaus schmerzhafte Anschwellungen der
Hand-, Fuß- und Kniegelenke sich einstellten,
wozu sich dann noch das erwähnte hartnäckige
Erbrechen gesellte. Dieses stand zunächst so
im Vordergrund aller Beschwerden und son¬
stigen Erscheinungen, daß wir an eine Intoxi¬
kation mit verdorbener Nahrung, eine Fisch¬
vergiftung infolge eines kurz vorher genossenen
Bücklings dachten, um so mehr, als kurze Zeit
danach ein über den größeren Teil der Körper¬
oberfläche verbreitetes, kleinileckiges, teils
papulöses, teils pustulöses Exanthem auftrat.
Unter Anwendung wiederholter Magenaus¬
spülungen verschwand dieses Erbrechen nach
etlichen Tagen, und nun kamen neue Sym¬
ptome hinzu, welche die Deutung des Falles
in die richtige Bahn lenkten. Es stellten sich
subfebrile Temperaturen ein, der Patient be¬
gann zu husten und expektorierte manchen
Tag bis zu 300 g eines homogenen rahmig¬
eitrigen Sputums. Zugleich entwickelte sich
über dem untersten Abschnitt der rechten
hinteren Thoraxhälfte eine etwa 3 Querfinger
breite Dämpfungszone, innerhalb deren das
Atemgeräusch abgeschwächt und frei von
Nebengeräuschen war, während oberhalb kre-
itierendes Rasseln und Bronchialatmen hör-
ar waren. Später — etwa 3 Wochen nach
Beginn der Krankenhausbeobachtung — er¬
folgte ein neuer Exanthemausbruch in Form
E etechialer Flecken an den Unterextremitäten.
rie Diagnose wurde jetzt auf eine Eiter¬
ansammlung an der Basis der rechten Lunge
gestellt. Für das Vorhandensein dieser sprach
noch ganz besonders eine bei tieferem Ein¬
drücken des 8. Interkostalraumes an zirkum¬
skripter Stelle sich bemerkbar machende
Schmerzempfindung, welche der Mitte zwischen
rechter Mammillar- und vorderer Axillarlinie ent¬
sprach. In der Tat gelang es hier, bei tieferem
Einstechen einer langen runktionskanüle Eiter
zu aspirieren, nachdem vorher verschiedentliche
im Bereich der hinteren Dämpfung ausgeführte
Probepunktionen ergebnislos gewesen waren.
Die von W. Koerte ausgeführte Operation be¬
stätigte das Vorhandensein eines abgekapselten
Eiterdepots zwischen Lungenbasis und Zwerch¬
fellsoberfläche im Betrage von etwa 400 g,
nach dessen Beseitigung völlige Heilung er¬
folgte.
Noch eines letzten, von Sehrwald an¬
geführten, für die Erkenntnis der Pleuritis
diaphragmatica in Betracht kommenden
Reflexsymptoms sei schließlich gedacht,
des respiratorischen Bauchdecken¬
reflexes. Er besteht darin, daß während
einer tiefen Einatmung, gegen Ende der¬
selben, eine blitzartige Kontraktion in den
oberen Ansatzpartien des gleichseitigen
M. rectus abdominis erfolgt, die sich mit¬
unter bis zum 5. Interkostalraum erstreckt
und sich auch künstlich durch Druck auf
die schmerzhaften Zwischenrippenräume
hervorrufen läßt. Statt ihrer tritt manch¬
mal eine rasche Anspannung der gesamten
Bauchmuskulatur auf. —
Ueber abgekapselte Pleuritis des
dem Mediastinum anliegenden Brust¬
fellabschnittes hat Dieulafoy 4 ) be¬
achtenswerte Mitteilungen gemacht unter
Zugrundelegung zweier einschlägiger von
ihm selbst beobachteter Empyemfälle. Der
eine betraf einen jungen Arbeiter, welcher
plötzlich von Fieber und Oppressionsgefühl
befallen wurde. Die anfänglich anfallsweise
auftretende Atemnot wurde allmählich
ständig, es traten pertussisartige Husten¬
attacken hinzu, dann wurde die Stimme
rauh, und etwa 4 Wochen nach Beginn
der ersten Symptome machte sich eine
deutliche Dysphagie bemerkbar, bestehend
in dem Unvermögen, feste Speisen zu ge¬
nießen, welche durch ein Hindernis im
Oesophagus festgehalten zu werden schienen.
Besonderes Gewicht legt Dieulafoy auf
ein die Inspiration begleitendes keuchendes
oder sägendes Geräusch (Tirage et cornage).
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UNIVERSiTY OF CALIFORNIA
August
Die Therapie der Gegenwart 1910.
339
Auch entwickelten sich bei dem betreffen¬
den Kranken an der Thoraxhaut Venen¬
netze, die auf Kompression der Vena azygos
bezogen wurden. Hierzu kamen gewisse
durch die Palpation, Auskultation und Per¬
kussion gelieferte Zeichen: Druckempfind¬
lichkeit der oberen oder mittleren Processus
spinosi der Brustwirbelsäule, leichte ein¬
seitige Schallabschwächung in derselben
Höhe neben der Wirbelsäule und beson¬
ders deutlich hörbarer Stridor an dieser
Stelle der Thoraxhinterwand. Der oben
erwähnte Kranke expektorierte im weiteren
Verlauf an mehreren Tagen mäßig reich¬
liche Mengen fötiden Sputums, wonach die
subjektiven Symptome sich sofort er¬
mäßigten und schließlich unter leichten
Schwankungen des Befindens und der
fieberhaft erhöhten Temperatur Heilung
eintrat. Da das Blutserum des Patienten
eine agglutinierende Wirkung auf Pneumo¬
kokken ausQbte, so schließt Dieulafoy,
daß es sich bei dieser Beobachtung um
eine Pneumokokkeninfektion der das hin¬
tere Mediastinum begrenzenden Pleura¬
abschnitte, welche einseitig zu einer zirkum¬
skripten Eiterung ffihrte, gehandelt habe.
— Aehhlich waren die klinischen Erschei¬
nungen in einem zweiten Falle, der eine
44jährige Frau betraf, bei der die Krank¬
heit sich Ober 3 Monate hinzog; die Ent¬
stehung war ebenso dunkel wie im vorher¬
gehenden Falle, und nach voraufgegangenen
Anfällen schwerster, von Erstickungsgefahl
begleiteter Dyspnoe erfolgte ebenfalls plötz¬
licher Durchbruch des Eiters in die Luft¬
wege mit schnellem Rückgänge aller Er¬
scheinungen, insbesondere auch des be¬
trächtlichen Fiebers. Hier bestand noch
als ein weiteres, die Diagnose bereits vor¬
her befestigendes Symptom eine Ver¬
schiebung des Larynx und der Trachea
nach der gesunden Seite.
In der Literatur hat Dieulafoy vier
analoge Beobachtungen auffinden können.
Er betont den plötzlichen, brüsken Beginn
der fieberhaften Affektion, welche allemal
einseitig ist, meist auf einer Pneumokokken¬
infektion beruht und zu wenig umfänglichen
umschriebenen Eiteransammlungen führt,
die sich meist spontan einen Durchbruch
in die Bronchien bahnen. Die Diagnose
beruht auf den durch den Abszeß aus¬
geübten Druckwirkungen auf die Teile der
Nachbarschaft: Nervus vagus, recurrens,
Trachea bzw. Hauptbronchus, Oesophagus,
sowie auf dem Auftreten wenn auch wenig
ausgesprochener und wenig umfänglicher
Dämpfung neben der Wirbelsäule. Sie
wird ebenso wie bei den vorher be¬
sprochenen abgekapselten lokalen Flüssig¬
keitsansammlungen in der Pleura durch
die Zuhilfenahme der Durchleuchtung
und Röntgenphotographie wesentlich
befestigt werden können. —
Besondere Beachtung haben die etwas .
häufigeren interlobären Pleuraergüsse
gefunden, wovon die Publikationen Po-
tains 5 ), D. Gerhardts 6 ), Rochards 7 ) und
Dieulafoys 8 ), sowie eine Anzahl anderer
in der Literatur verstreuter kasuistischer
Beiträge, namentlich französische Disserta¬
tionen, Zeugnis ablegen. Schon Laönnec 9 )
kannte diese abgekammerten Exsudate und
hat eine genaue Beschreibung ihres anato¬
mischen Verhaltens gegeben. Häufig sind
sie eitrig oder jauchig und können, wenn
sie in die Bronchien durchbrechen, leicht
zu der irrtümlichen Diagnose Lungenabszeß
oder Lungengangrän Anlaß geben. In töd¬
lich verlaufenen Pneumoniefällen findet
man gar nicht selten zwischen den im
übrigen miteinander verklebten Serösen der
die Interlobärfurchen begrenzenden Lungen¬
abschnitten eine oder mehrere kleinere Eiter¬
ansammlungen im Betrage eines Teelöffels
oder Eßlöffels. Es kommen aber auch
serös-fibrinöse, der Hauptsache nach
auf die Interlobärspalten beschränkte
Ergüsse vor, welche in diesem Falle meist
einen stattlicheren Umfang erreichen als
selbst die größeren eitrigen oder putriden
Ausschwitzungen und auch diesen gegen¬
über ein etwas anderes anatomisches und
symptomatologisches Verhalten in ihrer Be¬
ziehung zur Lunge und Brustwand aufweisen.
Darauf habe ich 10 ) bereits vor mehr als
10 Jahren in einem in der Berliner medi¬
zinischen Gesellschaft gehaltenen Vortrage
aufmerksam gemacht und später durch
E. Flörsheim 11 ) in dessen Doktorarbeit
Beispiele solcher nicht eitrigen interlobären
Pleuritisformen veröffentlichen lassen.
Um die klinischen Erscheinungen der
interlobären Pleuritis klar erfassen zu
können, muß man mit der Topographie
der die Lungenlappen trennenden Spalten
vertraut sein. Nach Merkel 12 ) beginnt der
Sulcus interlobaris der linken Lunge neben
der Wirbelsäule in Höhe der Spina sca-
pulae oder des Dornfortsatzes des 3. Brust¬
wirbels, um schräg nach außen und ab¬
wärts verlaufend die hintere Axillarlinie im
4. Interkostalraum zu schneiden und in der
Mammillarlinie das vordere Ende des vierten
Rippenknochens zu erreichen. Der Ver¬
lauf der rechten Interlobärspalte ist hinten
oben bis zum äußeren Skapularrand der
gleiche wie der der linken.
Von da ab beziehungsweise etwas weiter
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UNIVERSiTY 0F CALIFORNIA
340
Die Therapie der Gegenwart 1910.
August
nach außen, von der hinteren Axillarlinie
an, verhält er sich, entsprechend dem zwi¬
schen Ober- und Unterlappen eingefOgten
Mittellappen, abweichend, indem die Furche
sich in der Höhe der 4. Rippe in zwei
Schenkel teilt, von denen der obere —
Sulcus interlobaris superior — annähernd
horizontal nach vorn verläuft, und in der
Höhe der 4. Rippe am rechten Sternalrand
endet, während der untere — Sulcus inter¬
lobaris inferior — sich stark nach abwärts
senkt und im Schnittpunkt der Mammillar-
linie mit der 7. Rippe den unteren Lungen¬
rand erreicht. Rochard wie Dieulafoy
betonen, daß der Verlauf der Interlobär¬
spalten nicht ganz konstant ist; insbeson¬
dere rechnet ersterer den Beginn des großen
oder schrägen Sulcus der rechten Seite
um zwei Interkostalräume tiefer, so daß dem¬
entsprechend auch der weitere Verlauf nach
vom nicht so steil ist als aus der vor¬
erwähnten Angabe hervorgeht.
Von vornherein leuchtet ein, daß der
klinisch - physikalische Befund der inter¬
lobären Pleuritis in Uebereinstimmung mit
dem geschilderten anatomischen Verhalten
der Spalten nicht in allen Fällen der gleiche
sein kann. Ich habe schon oben ange¬
deutet, daß eine große Zahl von Eiter¬
ansammlungen in diesen Bezirken der
Pleuren nicht sehr erheblichen Umfang er¬
reicht. Allerdings kommt auch das Gegen¬
teil vor — abgekapselte Empyeme im Be¬
trage von einem halben oder ganzen Liter
Eiter. Ist jedoch die Menge gering, d. h.
beträgt sie nur wenig mehr als 100 oder
200 Kubikzentimeter oder sinkt sie gar
darunter und liegt der Eiter infolge all¬
seitiger Verklebung der Spaltenränder an
keiner Stelle der Brustwand direkt an, so
können daraus nur geringe und zugleich
nicht allzu intensive Dämpfungen des Per¬
kussionsschalles resultieren. Diese werden
wiederum, je nachdem die Ansammlung sich
im hinteren, mittleren oder vorderen Ab¬
schnitt der entsprechenden Spalte befindet,
an verschiedenen Stellen auftreten, bald
am Rücken, bald an der Seitenwand oder
unter Umständen gar mehr nach vorn,
zwischen Axillar- und Mammillarlinie. Zu
Anfang läßt sich nur ein relativ schmaler,
der Gegend und dem Verlaufe der Inter¬
lobärspalte entsprechender Dämpfungs¬
streifen von unbedeutender Längenaus¬
dehnung nachweisen, ober- und unterhalb
dessen nicht selten abnorm tiefer oder
tympanitischer Lungenschall besteht; erst
allmählich nimmt die Dämpfung in beiden
Dimensionen zu. Innerhalb des Bezirkes
der Schallabschwächung ist das Atmungs- |
geräusch abgeschwächt oder fehlt auch
gänzlich, während in der Umgebung, in¬
folge der Kompression der angrenzenden
Lungenpartien Bronchialatmen und auch
wohl Rasselgeräusche hörbar sind. Die
Röntgenuntersuchung klärt aber die
Ausbreitung des Exsudates weiter auf, wo¬
für eine von Seufferheld 18 ) mitgeteilte
Beobachtung ein anschauliches Beispiel
liefert; eine absolute Sicherheit der Diag¬
nose gewährt jedoch auch sie nicht. Diese
ist erst gegeben, sobald — bei vorhandenem
Empyem — der gerade hier sehr häufig
zu beobachtende Durchbruch in die Bron¬
chien erfolgt oder wenn durch eine Probe¬
punktion der Verdacht des interlobären
Exsudats bestätigt wird.
Besonders charakteristische Zeichen
treten in denjenigen Fällen hinzu, in denen
es sich um große Flüssigkeitsansamm-
lung von mehr als einem halben bis zu
einem ganzen Liter und darüber handelt.
Zu dieser Gruppe gehören nicht bloß
eitrige, sondern der größere Teil der serös¬
fibrinösen interlobären Exsudate,
wie in dem oben zitierten Vortrage von
mir des Ausführlicheren dargelegt worden
ist Speziell bei den nichteitrigen, der
Hauptsache nach auf den Raum zwischen
den Lungenlappen beschränkten Ergüssen,
geschieht die Ausschwitzung mit solcher
Geschwindigkeit und in solcher Massen-
haftigkeit, daß das Exsudat an einer mehr
oder weniger großen Stelle der Pleura
parietalis direkt anliegt oder zum mindesten
von ihr nur durch eine dünne Schicht
komprimierten Lungengewebes getrennt
ist. In der Regel ist es die Seitenwand
des Torax — in der Axillarlinie —, in
welcher das Exsudat gewissermaßen frei
zutage tritt und durch die Punktionsnadel
unschwer erreicht werden kann; aber auch
bei größeren interlobären Empyemen kommt
das vor (vergl. die weiter unten folgende
Mitteilung eines hierher gehörigen Falles).
An allen anderen Stellen oberhalb und
unterhalb der Interlobärspalte sind die
beiden Pleurablätter fest miteinander ver¬
klebt oder durch ältere Adhäsionen mit¬
einander verwachsen, so daß auf einem
durch den Brustkorb gelegt zu denkenden
Frontalschnitt die Gestalt des Exsudates
einem Kegel- oder Keilschnitt ähnelt,
dessen stumpfe Kuppe gegen das Me¬
diastinum beziehungsweise das Herz ge¬
richtet ist, während die Basis der seitlichen
Brustwand anliegt. Da infolge der pleuralen
Verlötungen das Exsudat in keiner Rich¬
tung frei sich ausbreiten kann, so muß beim
weiteren Wachstum desselben die benach-
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Die Therapie der Gegenwart 1910.
341
barte Lunge eine erhebliche Kompression
und das Herz eine deutlich in die Erschei¬
nung tretende Verlagerung in der Richtung
gegen die gesunde Brusthälfte erfahren.
Daraus ergeben sich Oberaus wichtige
Unterschiede von dem Verhalten der den
Pleuraraum frei erfüllenden Exsudate. Wie
bei diesen findet sich auch dort intensive
Dämpfung an der Hinter- und Seitenwand
des Brustkorbes. Dieselbe kann sich sogar
hinten von der Spina scapulae bis zum
Rippenbogenrand erstrecken, sie ist aber
nicht durch das Exsudat selbst, sondern
zunächst durch die zwischen ihm und der
Brustwand befindliche komprimierte Lunge
verursacht. Im Bereich der Dämpfung be¬
steht natürlich wie bei großen freien Exsu¬
daten abgeschwächtes, unbestimmtes oder
aus der Tiefe kommendes bronchiales
Atmen. Punktiert man an verschiedenen
Stellen der Hinterwand des Thorax, so er¬
hält man, was im ersten Augenblick über¬
raschend wirkt, keine Exsudatflüssigkeit,
während das Ergebnis positiv ist, sobald
man in der Seitenwand in der Gegend des
4. bis 6. Interkostalraumes einsticht Dabei
können noch zwei Umstände zur Klärung
der Sachlage mitwirken; 1. die außerge¬
wöhnlich starke Verschiebung des Herzens,
2. bei linkseitigen Exsudaten das Erhalten¬
sein des Traubeschen Raumes. Die Ver¬
schiebung des Herzens muß begreiflicher¬
weise um so mehr in die Augen springen,
als vorn oben am Thorax lauter Perkus¬
sionsschall besteht, also die Größe des Ex¬
sudates — bei fälschlicher Annahme eines
freien Ergusses — an sich nicht genügen¬
den Grund für die erhebliche Lageverände¬
rung des Herzens abgibt. Ich teile hier
einen vor kurzem von mir in der Privat-
praxis beobachteten Fall von jauchigem
Empyem mit, bei welchem zwar aus gleich
anzuführendem Grunde die Verdrängung
des Herzens fehlte, die Gesamtheit aller
übrigen Symptome aber dem eben darge¬
legten Verhalten so vollkommen entsprach,
daß schon vor der bestätigenden Probe¬
punktion die Diagnose auf interlobäres
Empyem mit ziemlicher Sicherheit gestellt
werden konnte.
Der betreffende Patient, ein 27jähriger, von
Haus aus kräftiger, vorher nie lungenkranker
Mann, war vier Wochen, bevor ich ihn sah,
unter Fieber und ziemlich schwerer Beeinträch¬
tigung des Allgemeinbefindens erkrankt. All¬
mähliche Entwicklung einer schließlich die ganze
rechte Hinterwand von der Mitte der Skapula
bis zum Rippenbogenrand einnehmenden
Dämpfung mit aufgehobenem Atemgeräusch
und stark abgeschwächtem Stimmfremitus. An
verschiedenen Stellen, von anderer Seite — im
ganzen «neunmal — ausgeführte Probepunk¬
tionen im Bereiche der hinteren Dämpfung
hatten stets ein negatives Ergebnis gehabt
Man hatte beim Einstechen der Nadel allerorts
die Empfindung gehabt, als wenn dieselbe
durch derbes Gewebe drang. Bei der Konsul¬
tation am 26. April d. J. bestätigte ich zunächst
das Bestehen der geschilderten Dämpfung
hinten rechts nebst dem übrigen soeben er¬
wähnten physikalischen Verhalten. Nur im
oberen Drittel der rechten Hinterwand war
noch abgeschwächtes Atemgeräusch hörbar so¬
wie der Fremitus, wenngleich etwas verringert,
fühlbar. In der rechten Seitenwand bestand
ebenso intensive, in die Leberdämpfung über¬
gehende Schallabschwächung mit aufgehobenem
Atemgeräusch. Vorn rechts oben dagegen war
der Schall von der Klavikula bis zur 4. Rippe
tief tympanitisch, das Atemgeräusch rauh, ohne
Nebengeräusche. Von der 4. Rippe setzte wieder¬
um starke Dämpfung mit abgeschwächtem
Atmen ein. Im Bereich der tympanitisch
schallenden Zone erschien der Fremitus im
Vergleich zu links verstärkt. Das Herz war
nicht nach links verschoben. Der noch in leid¬
lichem Kräftezustand befindliche Kranke fiel
durch seine Blässe auf und war nicht beson¬
ders kurzatmig. Er expektorierte geringe
Mengen eines schleimigen, geruchlosen Spu¬
tums und gab an, auch beim Husten und Aus¬
werfen keinen, fauligen Geschmack zu ver¬
spüren. Es bestand andauernd ziemlich hohes
stark remittierendes beziehungsweise inter¬
mittierendes Fieber.
Bei der Beantwortung der Frage, wie
dieser Befund in Verbindung mit dem ne¬
gativen Ausfall der Punktion zu erklären
sei, gelangte ich zu dem Schluß, daß nur
zwei Möglichkeiten vorliegen könnten: ent¬
weder Verengerung oder Verschluß des
rechten Hauptbronchus unterhalb des Ab¬
ganges des den Oberlappen versorgenden
Astes oder ein abgekapseltes großes, haupt¬
sächlich den Raum zwischen dem rechten
Oberlappen einer- und dem Mittel- und
Unterlappen andrerseits einnehmendes
Pleuraexsudat Die Annahme der Broncho-
stenose erschien zwar geeignet, den perkut-
torischen und auskultatorischen Befund
(Luftleere des Mittel- und Unterlappens)
durch Atelektase zu erklären; sie gab aber
keinen befriedigenden Aufschluß über den
eigentümlichen tief tympanitischen Schall
über dem rechten Oberlappen; zudem
fehlte jeglicher Stridor. Anamnestisch
sprach ferner nichts für einen aspirierten
Fremdkörper. So blieb also allenfalls als ur¬
sächliches Moment der Bronchusverengung
nur noch die Annahme eines Tumors,
sei es eines Aneurysmas oder einer bös¬
artigen Geschwust — eines Bronchial¬
karzinoms — übrig. Ersteres kam mangels
aller sonstigen Erscheinungen nicht in Be¬
tracht. Bronchialkarzinome' können in
außergewöhnlichen Fällen allerdings ähn¬
liche Symptome bedingen, wie sie unser
Patient darbot. Ich erinnere an eine in
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UNIVERSiTY OF CALIFORNIA
342
Die Therapie der Gegenwart 1910.
August
meinem Handbuch der speziellen Patho¬
logie und Therapie der Lungenkrankheiten
(Seite 950) mitgeteilte Beobachtung, welche
einen 40jährigen Arzt betraf, dessen Lei¬
denszeit wenig mehr als 14 Tage betrug;
hier fand sich bei der Sektion ein etwa
kirschgroßer wandständiger Tumor in dem
vom rechten Stammbronchus abgehenden
unteren Aste, welcher dessen Lumen so
vollständig verlegte, daß die dadurch be¬
wirkte Sekretstauung die Entwicklung einer
subakuten Indurativpneumonie des Unter¬
lappens mit beginnender Erweichung zur
Folge gehabt hatte. Aber das ist ein Vor¬
kommnis von solcher Seltenheit, daß es
jedenfalls näher lag, bei unserem Kranken
ein großes interlobäresExsudat anzunehmen.
Nur die fehlende Dislokation des Herzens
nach links schien mit dieser diagnostischen
Auffassung des Falles nicht vereinbar ; doch
ließ sich dieselbe ohne allzugroßen Zwang
aus einer durch Mitbeteiligung an der Ent¬
zündung verursachten strafferen Fixierung
der Pleura mediastinalis an der vorderen
Brustwand erklären. Wies endlich das hohe
stark remittierende Fieber auf eitrige Be¬
schaffenheit des Exsudates hin, so glaubte
ich auf Grund des so auffälligen tiefen tym-
panitischen Schalles über dem rechten
Oberlappen noch einen Schritt weiter in
der Diagnose gehen und auf ein mit Gas¬
entwicklung verbundenes putrides Empyem
schließen zu dürfen. Die Richtigkeit dieser
Folgerung bestätigte die Probepunktion,
welche — an der in den meisten derartigen
Fällen zunächst empfehlenswerten Stelle —
nämlich in einem der mittleren Interkostal¬
räume der Seitenwand vorgenommen wurde,
und stinkenden Eiter zutage förderte.
Der Kranke wurde noch am selben Tage
in die Klinik des Herrn Prof. Karewski
übergeführt, welchem ich die folgenden Notizen
verdanke:
Operation am Vormittag des 27. April 1910
in leichter Aether-Sauerstoffnarkose. Ueber-
druckapparat. Vorher nochmals rechts hinten
vorgenommene Probepunktion ergebnislos,
während beim Einstechen im 6. Interkostal¬
raum der vorderen Axillarlinie Eiter erhalten
wird. Resektion eines 6 cm langen Stückes
der 5. Rippe. Nach Inzision der Pleura ent¬
leerte sich zirka V* 1 stinkender, mit Luft ver¬
mischter und zahlreiche nekrotische Lungen¬
fetzen enthaltender Eiter. In der Tiefe er¬
blickte man den Mittellappen der rechten
Lunge kollabiert; an seiner Vorderfläche be¬
fand sich eine Perforationsöffnung, aus der
reichlicher Eiter abfloß. Oberlappen leicht ge¬
bläht. Der in die Oeffnung eingeführte Finger
gelangt in eine tiefe Höhle; durch Vorschieben
einer Kornzange ließ sich feststellen, daß die¬
selbe sich bis an die hintere Thoraxwand er¬
streckte. Kontrainzision in der hinteren Axillar¬
linie mit nachfolgender Resektion eines Stückes
der 8. Rippe. Durchführen eines dicken Drains
durch die beiden Fistelöffnuneen der Pleura¬
höhle; ein zweites Drain wurde von der vor¬
deren Wunde aus in die Gangränhöhle ein¬
gelegt. — Am Abend war das Befinden leid¬
lich; Temperatur auf 38,2° C abgefallen, 80 bis
90 regelmäßige, kräftige Pulse nach mehrfachen
Kampfer- und Digaleninjektionen im Laufe des
Tages. Am nächsten Morgen, 28. April, Tem¬
peratur 36,7°, Puls 90, leidliches Befinden.
Verbandwechsel wegen starker Sekretion. Bald
danach lebhafte Dyspnoe und hochgradige
Zyanose; Pulsfrequenz stieg auf 130—140, Re¬
spirationsfrequenz 40. — 29. April. Andauern¬
der Kollaps. Temperatur = 35,3°, Puls 140,
fadenförmig. 36 Resp. Fortgesetzte Sauer¬
stoffinhalationen. Gegen 9 Uhr abends plötz¬
licher Exitus.
Epikritisch habe ich nur noch hinzu¬
zufügen, daß, nach dem Operationsbefunde
zu urteilen, die leichte Tympanie über
dem rechten Oberlappen sehr wahrschein¬
lich nicht bloß durch den Gasgehalt des
Empyems, sondern zum Teil auch durch
die Größe der vorhandenen Lungenbrand¬
höhle verursacht war.
Die Entstehung jauchiger Empyeme
beruht meist auf der Anwesenheit eines
Gangränherdes der Lunge. Dessen Per¬
foration in die Pleura macht sich oft durch
Auftreten besonders intensiver Brust¬
schmerzen bemerkbar, worin — falls der
Patient keine stinkenden Sputa entleert —
ein Fingerzeig für die mutmaßliche Natur,
des Exsudates gelegen ist Ein großer
Teil gerade der interlobären eitrigen
Pleuritiden ist fötide und ihre Entwicklung
mit so lebhaften Schmerzempfindungen
verbunden, wie man sie bei serös-fibrinöser
Exsudation oder selbst unzersetztem Em¬
pyem für gewöhnlich nicht beobachtet.
Daß die Patienten trotz der gleichzeitig
bestehenden Lungengangrän oftmals keine
brandigen Sputa auswerfen, ist eine zur
Genüge bekannte Tatsache, für die ich
schon vor Jahren eine, wie ich glaube,
befriedigende Erklärung gegeben habe 14 ).
Gewöhnlich erfolgt die Infektion der Pleura
von einem in der Nähe derselben befind¬
lichen, zu Anfang nur wenig umfänglichen
Gangränherd, welcher aus einer Broncho¬
pneumonie, z. B. einer Influenzapneumonie
oder einem embolischen Infarkt oder einer
Bronchiektasie hervorgegangen ist. Die
ihn umgebende entzündliche Infiltration
verhindert die freie Kommunikation mit
den Bronchien. Diese wird noch mehr
erschwert, wenn das an Menge zunehmende
Pleuraexsudat seine komprimierende Wir¬
kung auf die Lunge ausübt und die mit
dem Herde in Verbindung stehenden klei¬
neren Luftröhrenäste fest verschließt. Wird
bei weiterem Umsichgreifen des brandigen
Lungenprozesses die Perforation in dem
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August
Die Therapie der Gegenwart 1910.
343
Bronchialbaum nahegerückt,-so verrät sich
der Eintritt dieses Ereignisses nicht selten
schon einige Zeit vorher durch einen
fauligen Geschmack, welchen die Patienten
beim Husten bemerken.
Vor einigen Jahren hat Dieulafoy 15 )
die bisherigen Kenntnisse und Anschau¬
ungen über die Natur und Aetiologie der
putriden Pleuritis ergänzt. Er fät die
verschiedenen Formen dieser Erkrankung
unter der Kollektivbezeichnung Pleur^sies
oz£neuses zusammen und unterscheidet
drei zum Teil auch bakteriologisch vonein¬
ander abweichende Krankheitsbilder. Die
verhältnismäßig gutartigste Form ist die
„fötide“, welche zwar stinkend, aber weder
putride noch gangränös ist, d. h. sie geht
weder mit Gasentwicklung einher, noch ist
sie mit der Abstoßung brandig abgestorbe¬
ner Teile der Pleura oder mit einer Lungen¬
gangrän verbunden. Dementsprechend
zeigen auch die aus dem serös purulenten
Exsudat angelegten (anaöroben) Kulturen
keine Gasbildung, und die Injektion des
Eiters unter die Haut von Tieren erzeugt
keine gashaltigen Abszesse. Die Mehrzahl
dieser fötiden Pleuritiden ist abgekapselt
und giebt zwar keine absolut gute, aber
eine immerhin leidliche Prognose. In einer
der mitgeteilten Beobachtungen expek-
torierte der Patient, bei dem schließlich
die Thorakotomie mit Erfolg ausgeführt
wurde, exquisit stinkende, schmutzig* graue
zerfließende Sputa, ohne daß die Natur
der sie verursachenden Lungenaffektion
sicher festgestellt werden konnte; die
Sputa verloren nach der Operation ihre
fötide Beschaffenheit und die vorher stark
erhöhte Temperatur kehrte alsbald zur
Norm zurück. — Eine schwere und pro¬
gnostisch ungünstigere Erkrankung stellt
die zweite Form, die putride Pleuritis
(im engeren Sinne der Dieulafoyschen
Nomenklatur) dar. Sie bildet im Gegen¬
satz zur fötiden meist nicht abgekammerte,
sondern große, den Pleuraraum frei er¬
füllende Exsudate. Dieselben sind eben¬
falls dünneitrig. Bakteriologisch besteht
der Unterschied, daß die vorhandenen,
zum Teil anaöroben Bakterien Gasentwick¬
lung hervorrufen und dementsprechend
auch dem klinisch • physikalischen Sym-
ptomenbilde die Erscheinungen eines
Pneumothorax sich hinzugesellen können,
ohne daß eine Kommunikation mit den
Bronchien (Durchbruch) besteht. Ebenso
folgt der Probepunktion nicht selten die
Entwicklung eines gashaltigen Abszesses
der Thoraxwand. Mitunter geht, wie früh¬
zeitige Punktionen lehren, der Putreszenz
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ein Stadium voraus, in welchem die Ex¬
sudatflüssigkeit sich noch nicht wesentlich
von einem gewöhnlichen serös-fibrinösen,
an Leukozyten reichen, geruchlosen Erguß
unterscheidet. Die Symptome der Er¬
krankung, deren Beginn durch einen un¬
gewöhnlich heftigen Seitenschmerz aus¬
gezeichnet ist, ändern sich mit dem Ein¬
tritt der Zersetzung und Fäulnis; die
Kranken machen alsdann einen schwer
septischen Eindruck mit Neigung zu
schnellem Verfall, und der Ausgang kann,
wenn nicht alsbald radikal operiert wird,
leicht tödlich werden. Was die Ursache
betrifft, so entsteht diese Form der
jauchigen Pleuritis sowohl durch Trans¬
port der Erreger durch die Blutbahn, also
metastatisch im Verlaufe entfernt lokali¬
sierter putrider Prozesse, als auch durch
Fortpflanzung auf dem Lymphgefäßwege,
z. B. im Gefolge von Bronchiektasie, von
jauchigen Eiterungen der Bauchhöhle
(Appendizitis) usw. Es kommen aber Fälle
vor, in denen die Aetiologie unklar bleibt
und jedenfalls eine Lungenerkrankung
(Gangrän) als Ausgang nicht auffindbar
ist. Ueber diesen Punkt werde ich mich
gleich noch etwas weiter äußern. — Die
letzte, von Dieulafoy zur Gruppe der
Pleur£sies ozeneuses vereinten Brustfell¬
entzündungen ist endlich die gangränöse
Form, die wiederum, je nachdem die bran¬
dige Zerstörung bloß die Pleura oder zu¬
gleich das Lungenparenchym selbst be¬
trifft, in zwei Unterabteilungen geschieden
wird. Diese Trennung erscheint mir je¬
doch mehr auf theoretischen Gesichts¬
punkten zu beruhen, da es bei den als
rein pleurale Gangrän bezeichneten Fällen
doch im wesentlichen auf einen die ober¬
flächlichen Lungenpartien mitbeteiligende
bezw. sogar öfter von diesen selbst aus¬
gehenden Brand herauskommt. Das Charak¬
teristische ist jedenfalls, daß abgestorbene
Gewebsteile im Empyemeiter gefunden
werden. Die klinischen Symptome der
gangränösen und putriden Pleuritis stimmen,
wenn man von dem Vorhandensein oder
Fehlen grober Parenchymfetzen im Aus¬
wurf absieht, in den meisten Fällen über¬
ein, und auch Dieulafoy gesteht zu, daß
Uebergänge von der einen Form zur andern
Vorkommen.
Dies sind im wesentlichen die Anschau¬
ungen Dieulafoys. Es läßt sich nicht
leugnen, daß sie sowohl in ätiologischer
als auch klinischer Beziehung die Lehre
von den jauchigen Empyemen in einigen
nicht unwichtigen Punkten erweitern.
Immerhin fehlt es bislang an hinreichend
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344
Die Therapie der Gegenwart 1910.
August
sicheren Angaben über die Natur der be¬
teiligten Mikroorganismen. Aber auch so
lassen die Angaben Dieulafoys manche
Einwendungen zu und fordern zur Kritik
auf. Von Wichtigkeit ist, was über die
verhältnismäßig geringe Schwere der zur
ersten Gruppe, der fötiden Pleuritis ge¬
hörigen Fälle gesagt wird. Sie sind, wie
wir gehört haben, meist abgekapselt. Das
erinnert mich an verschiedene eigene Be¬
obachtungen kleiner, auf den hinteren,
untersten Teil des Pleuraraumes be¬
schränkter jauchiger Exsudate, bei denen
das Allgemeinbefinden der Patienten auf¬
fallend wenig beeinträchtigt war, so wenig,
daß wegen der Geringfügigkeit der
Dämpfung, des geruchlosen Auswurfes und
namentlich auch wegen der unbedeutenden,
subfebrilen Temperatursteigerung lange
Zeit mit der Punktion gewartet wurde.
Nur die Blässe der Betreffenden und die
ausbleibende Entfieberung veranlaßte
schließlich den die Sachlage aufklärenden
Probestich. Ich habe schon angeführt, daß
in dem als Beispiel von Dieulafoy an¬
geführten Falle auch die Sputa außerordent¬
lich fötide waren; sie verloren diese Be¬
schaffenheit bald nach der Operation, und
Dieulafoy erklärt selbst, daß hier das
jauchige Empyem durch eine Lungen¬
affektion bedingt war, über deren Natur
er nicht Auskunft geben könne. Vielleicht
lag eine fötide Bronchitis zugrunde; ich
halte es aber auch nicht für ausgeschlossen,
daß trotz des angeblichen Fehlens nekro¬
tischer Parenchymbestandteile im Auswurf
und im Pleuraeiter ein wenig umfänglicher
Gangränherd der Lunge den Ausgangs¬
punkt bildete.
Die meisten jauchigen Empyeme — das
betone ich nochmals — sind auf Lungen¬
brand zurückzuführen und es erscheint mir
willkürlich, als entscheidendes Merkmal für
die Trennung in putride und gangränöse
Exsudate den Umstand gelten zu lassen,
daß das eine Mal bei der Thorakozentese
Gewebsfetzen im Eiter gefunden werden,
das andere Mal nicht. Ein Erguß kann
schon geraume Zeit hindurch faulige Be¬
schaffenheit angenommen haben, bevor der
ihn verursachende Gangränherd in die
Pleurahöhle exfoliiert ist. In dem einen
der von Dieulafoy mitgeteilten Fälle, wel¬
cher eine 32jährige Frau betraf, bei der
sich das putride Empyem nach einem mit
Zersetzung verbundenen Geschwürs- und
Eiterungsprozeß in der Vagina entwickelte,
nimmt Dieulafoy selbst eine Lungen¬
embolie mit Putreszenz des Infarktes an.
Der Fall ist doch sicher mit demselben
Recht zur gangränösen wie zur putriden
Form des Empyems zu zählen, zu welcher
letzteren er nach Dieulafoy gehört Un¬
beschadet der seit Traube allgemein an¬
erkannten Tatsache, daß die bindegewebigen
Bestandteile gangränösen Lungengewebes
der Auflösung einen hartnäckigeren Wider¬
stand leisten als die elastischen Fasern,
muß man zugeben, daß namentlich kleine
brandige Fetzen schließlich durch längere
bakterielle oder fermentative Einwirkungen
gänzlich verschwinden können. — Wir
können also auf Grund des Befundes bei
der Operation, und zwar speziell mit Rück¬
sicht auf das Fehlen abgestorbener Gewebs-
teile im Eiter keineswegs allemal mit Sicher¬
heit behaupten, daß eine Lungengangrän als
Ursache der Putreszenz ausgeschlossen sei,
selbst dann nicht (cf. oben), wenn die Pa¬
tienten vor der Operation geruchlose Sputa
expektorierten. Nun gibt es zwar Fälle
von jauchigem Empyem, für welche diese
Aetiologie nicht in Betracht kommt, Fälle,
bei denen, wenn sie tödlich verlaufen, trotz
eifrigen Suchens eine Ursache der Putreszenz
des Pleuraexsudates überhaupt nicht ge¬
funden wird und namentlich die Lunge
sich durchaus unversehrt erweist. Dieu¬
lafoy führt einige, allerdings von anderen
Autoren beobachtete Beispiele dieser Art
als Beleg an. Sie zu erklären, macht ihm
augenscheinlich Schwierigkeiten und er ist
geneigt, obwohl er ihre Seltenheit zugibt,
bis auf weiteres, für sie die Bezeichnung
der primären putriden Pleuritis gelten zu
lassen. Indeß, es ist unmöglich, daß Fäul¬
niserreger durch die unversehrte Haut oder
Schleimhaut in das Innere des Körpers
dringen können und es muß allemal eine
Eintrittspforte in Gestalt einer patho¬
logischen Veränderungan irgend einer Stelle
vorhanden sein. Ihr Nichtauffinden ist kein
Beweis gegen die Berechtigung dieser Vor¬
aussetzung. Hier möchte ich deswegen
zum Schluß meiner Darlegungen auf eine
leicht übersehbare Quelle der Entwicklung
putrider Empyeme aufmerksam machen,
für die ich selber eine anschauliche Kranken¬
beobachtung beibringen kann. Es handelt
sich um den Ausgang von einem Trak¬
tionsdivertikel des Oesophagus. Der
betreffende Fall ist bereits im Jahre 1903
in einer unter meiner Leitung verfaßten
Dissertation 16 ) veröffentlicht worden:
Ein 15jähriger Kutscher erkrankte 8 Tage
vor seiner am 24. Juni 1899 in das Kranken¬
haus am Urban stattgehabten Aufnahme mit
Schüttelfrost, Stechen in der rechten Brust¬
hälfte und Kopfschmerzen. Wiederholung der
Fröste in den nächsten Tagen. Temperatur
bei dem Eintritt in die Beobachtung 40,2, Puls
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August
Die Therapie der Gegenwart 1910.
345
100, Resp. 40. Sanguinolentes Sputum. Vom
rechts von der 2. Rippe ab Dämpfung, welche
nach unten an Intensität zunimmt mit auf¬
gehobenem Stimmfremitus und abgeschwächtem
Atemgeräusch. Hinten von der Spina scapulae
dextrae bis zum Rippenbogenrand Dämpfung,
mit demselben auskultatorischen und palpatori-
schen Befund wie vom. Links mit Ausnahme einer
leichtenSchallabschwächung überder hinteren un¬
tersten Thoraxpartie nichts besonderes. Spitzen¬
stoß in der vorderen Axillarlinie des 5. Inter¬
kostalraumes, bis wohin auch die Herzdämpfung
reicht. In der ganzen Regio cordis perikardi¬
tisches Reiben. — Am 25. Juni abermals
Schüttelfrost. Die am nächstfolgenden Tage
rechts hinten vorgenommene Probepunk¬
tion ergibt seröses Exsudat. Temp. 41,2o,
P. 124, R. 52. — Am 28. Juni Symptome eines
Pneumothorax dexter; bei erneuter Probe¬
punktion erweist sich das Exsudat als dünn¬
eitrig, stinkend, von gelber, zum teil brauner
Farbe. Noch an demselben Tage Thorakotomie
mit Resektion der 8. Rippe und Entleerung von
2 Litern putriden Eiters. Den nächstfolgenden
Tag mehrere Schüttelfröste; am 30. Juni Exitus.
— Sektionsbericht: Parietales und viscerales
Blatt des Perikard, mit reichlichen fibrinösen,
zum Teil zottigen Auflagerungen. Herzgröße
normal. Rechte Lunge komprimiert, der Wirbel¬
säule anliegend. Der gesamte rechte Brust-
raum ist von einem dicken, weißlichen, fibrinös¬
eitrigen Belag ausgekleidet, der sich leicht von
der Pleura entfernen läßt. Rechter Oberlappen
hellrot und lufthaltig; rechter Unterlappen von
vermindertem Luftgehalt, derb, die Schnitt¬
fläche nicht gekörnt. Ungefähr in der Mitte
des Oesophagus, entsprechend der Bifurka¬
tion der Trachea, findet sich ein Traktions¬
divertikel. Die eingeführte Sonde gelangt
von demselben in einen zirka walnußgroßen
Eiterherd, welcher sich aus mehreren an der
Bifurkation gelegenen Lymphdrüsen gebildet
hat Eine Kommunikation des Eiterherdes
mit der rechten Pleurahöhle ist nicht sicher
nachzuweisen.
Beobachtungen wie diese gehören zu
den Seltenheiten. Die Entstehungsursache
der Veijauchung des pleuritischen Ergusses
ist in vivo bei ihnen begreiflicherweise nicht
diagnostizierbar. Nach der Einteilung Dieu-
lafoys würde unser Fall in die Gruppe
der putriden Pleuritiden einzureihen sein.
Die Lunge erwies sich, abgesehen von der
Kompression, als intakt; jedenfalls waren
Veränderungen derselben nicht die Ur¬
sache der Putreszenz, der faulige Eiter ent¬
wickelte Gas (Symptome des Pneumothorax)
und seine Bildung und Zersetzung erfolgte,
nachdem ein serös-fibrinöser Ergufi voraus¬
gegangen war.
Die Traktionsdivertikel des Oeso¬
phagus stellen bekanntlich im Gegensatz
zu den selteneren Pulsionsdivertikeln einen
außerordentlich häufigen Befund bei den
Sektionen dar, der oft in Fällen erhoben
wird, in welchen zu Lebzeiten der Patienten
nichts auf ihr Bestehen hinwies. Sie werden
meist durch Schrumpfung einer oder
mehrerer mediastinaler, in der Gegend der
Bifurkation der Trachea gelegener Lymph-
drüsen verursacht, deren narbiger Zug eine
trichterförmige Einziehung der Mukosa und
Submukosa des Oesophagus bewirkt. Durch
Zersetzung von Speiseteilchen, welche sich
in der Spitze des Trichters verfangen,
kann es zu Ulzerationen und schließlich zu
Durchbrüchen in die benachbarte Trachea,
in große Gefäße (Pulmonalarterie, Aorta),
gelegentlich auch zu einer Mediastinitis und
jauchigem Empyem kommen. Da wie ge¬
sagt, die Divertikel gewöhnlich in der Um¬
gebung des Endes der Trachea (an deren
hinteren Wand, nahe der Bifurkation) sitzen,
so ist es begreiflich, daß diese Bildungen
bei der gewöhnlichen Sektionstechnik, bei
welcher die Lungen am Hilus abgeschnitten
werden, leicht übersehen werden. Auf
diese Weise kann auch einmal die Ent¬
stehungsweise eines Empyema putridum
sich der Erkenntnis entziehen.
Literatur:
1) Guöneau de Mussy, Arch. gönörales
de M6d. 1853 u. 1879. — 2) Bouveret, Traite
de l’Empyeme 1888, S. 547; cf. auch: G. Zuel-
zer, Ueber Pleuritis diaphragmatica, Münch.
med.Wochschr. 1898, Nr. 47, S. 1496. — 3) Sehr¬
wald, Zur Diagnose der Pleuritis diaphrag¬
matica, Deutsche med. Wochschr. 1907, Nr. 52,
S. 2174. — 4) Dieulafoy, La Pleuresie media-
stine, Clinique mödicale de l’Hötel Dieu de
Paris, Tome III, Paris 1900, S. 1—25. —5) Po-
tain, La Pleuresie interlobaire, L’Union mdd.
1891, Nr. 27 und 1892, Nr. 49. — 6. D. Ger¬
hardt. Ueber interlobäre Pleuritis, Berl. klin.
Wochschr. 1893, Nr. 33. — 7. Rochard, Traite-
ment chirurgicale de la pleurösie purulente in¬
terlobaire, Gazette des höpitaux 1892, Nr. 31.
— 8. Dieulafoy, 1. c., Tome HI, p. 24—68. —
9. Laönnec, Traite de l’auscult. med. Tome. II.
36d, p. 502. — 10. A. Fraenkel, Ueber einige
Komplikationen und Ausgänge der Influenza,
Berl. klin. Wochschr. 1897, Nr. 15. —11. E. Flörs¬
heim, Ueber interlobäre Pleuraexsudate, Inaug.-
Diss., Berlin 1899. — 12. Fr. Merkel, Hand¬
buch der topographischen Anatomie, Bd. 2,
S. 404. — 13. Seufferheld, Ein Fall von
Pleuritis mterlobaris serosa, Münch, med.
Wochschr. 1907, Nr. 26, S. 1281; cf. auch:
D. Gerhardt, ibid. Nr, 18, S.911. — 14. A.
Fraenkel, Zur Lehre von der putriden Pleu¬
ritis, Berl klin. Wochschr. 1879, Nr. 17 u. 18. —
15. 1. c. Tome IV, p. 44—83. — 16. J. Salo-
mon, Ueber die Folgen der chronischen
Bronchialdrüsenaffektionen, Inaug.-Diss., Berlin
1903.
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Die Therapie der Gegenwart 1910.
August
Aus der Medizinischen Klinik des städtischen Krankenhauses zu Frankfurt a. M.
(Direktor: Prof. Sohwenkenbecher.)
Die intravenöse Injektion des Heilserums bei Diphtherie.
Von Dr. Hermann Tachau.
Die Italiener Gagogni und Zamboni 1 )
haben als die ersten im Jahre 1899 und
1900 bei schwerer Diphtherie die intra¬
venöse Injektion des Heilserums empfohlen.
Im Gegensatz zu ihren Erfolgen sah der
Franzose Richarviere 1 ) auch bei intra¬
venöser Applikation höchster Dosen keinen
besseren Ausgang der Erkrankung. — In
größerem Umfange wurden intravenöse
Seruminjektionen in England angewandt.
Cairus 2 ) berichtete 1902 über 20 Fälle, in
denen er nach intravenöser Seruminjektion
auffallend schnelles Zurückgehen der Tox¬
ämie, Schwinden der Drüsenschwellungen
und besonders erhebliche Besserung bei
mit Pneumonie komplizierten Fällen be¬
obachtete. Außer einer Zunahme der Fälle
von Serumkrankheit sah er keine un¬
angenehmen Nebenwirkungen. — 1904 be¬
richteten dann Biernacki und Muir 8 ) aus
dem Plaislow-Fever-Hospital in London
über 45 und 1906Bisson 4 ) aus demselben
Krankenhause über 200 mit dieser Methode
behandelte Fälle. Sie injizierten bis zu
100000 I.-E. In vielen Fällen, besonders
bei Beteiligung des Larynx, konnten sie
überraschende Wirkungen feststellen, eine
Anzahl erheblicher Stenosen ging zurück,
ohne daß eine Operation erforderlich
wurde. Es wurden aber auch wiederholt
unangenehme Nebenwirkungen beobachtet
(Kollaps, Schüttelfrost). Von den 200 Fällen
Bissons verliefen 35 letal.
In Deutschland hat die intravenöse In¬
jektion des Heilserums erst in neuerer
Zeit Anklang gefunden. Die Anregung
ging von experimentellen Untersuchungen
aus. Bergbaus 5 ), Morgenroth 6 ) und
Meyer 7 ) zeigten in übereinstimmender
Weise, daß Tiere, die mit der gleichen
Toxinmenge vergiftet waren, bei intra¬
venöser Injektion des Antitoxins mit einer
geringeren Dosis gerettet werden konnten
als bei subkutaner. Nach den Unter¬
suchungen von Berghaus entsprechen
der Wirkung einer subkutanen Injektion
von 40 I.-E. die einer intraperitonealen
von 7,0 I.-E. und die einer intrakardialen
von 0,08 I.-E. Die Forderung war also
berechtigt, bei schweren Diphtherien kli¬
nische Versuche mit intravenöser Einver¬
leibung des Serums zu machen.
Ueber derartige Versuche berichtete
zunächst Schreiber 8 ) (Magdeburg) an der
Hand von 21 Fällen, die er mit intra¬
venösen Injektionen von 3000—8000 I.-E.
behandelte. Er stellte die Unschädlichkeit
dieser Applikationsweise fest; auch der
übliche Phenolzusatz wurde stets ohne un¬
angenehme Nebenwirkungen vertragen.
Seine Fälle verliefen bis auf einen Todes¬
fall sämtlich gut, es wurde lediglich ein
häufigeres Auftreten von Serumexanthemen
beobachtet, das durch die Anwendung
höherer Dosen erklärt schien.
Gleich günstige Resultate erzielten
Fette 9 ) (Hamburg) und Berlin 10 ) (Köln).
Fette behandelte 145 Fälle mit einer Mor¬
talität von 14%, Berlin führte bei 145 Di¬
phtheriekranken intravenöse oder intra¬
muskuläre Injektionen aus; 17% verliefen
letal.
Wir haben in der hiesigen medizinischen
Klinik seit einem Jahre wegen Diphtherie
oder Diphtherieverdacht 100 intravenöse
Seruminjektionen ausgeführt. In 78 Fällen
wurde die Diagnose auch durch die bak¬
teriologische Untersuchung bestätigt. Die
Technik war die allgemein übliche; es
wurde besonders auf recht langsames In¬
jizieren geachtet. Zu einem operativen
Freilegen der Vene konnten wir uns nicht
entschließen; wir haben deshalb bei klei¬
neren Kindern, bei denen die direkte
Punktion unmöglich war, auf die Anwen¬
dung der intravenösen Injektion verzichtet.
— Als Dosis wurde das Dreifache der von
Baginski 11 ) angegebenen Menge gewählt,
für leichte Fälle 3000—4500 L-E., für
schwere 6000—9000 I.-E. Es kam ein
Serum von Merck zur Verwendung; je
2 ccm desselben enthielten 1000 I.-E. Im
allgemeinen wurde nur eine einmalige In¬
jektion ausgeführt; nur wenige schwerste
Fälle erhielten am nächsten Tage eine
zweite Einspritzung.
Hat die intravenöse Injektion des Heil¬
serums einen günstigeren Einfluß auf den
Ablauf der Diphtherie als die subkutane?
Die Frage ist wie jede Beurteilung
therapeutischer Maßnahmen, die nicht
eklatant wirken, schwer zu beantworten.
Sichere Anhaltspunkte gibt erst eine große
Statistik, die zeigt, ob Komplikationen und
Todesfälle bei intravenöser Applikation
des Serums seltener sind als bei sub¬
kutaner. Die bisher vorliegenden Mor¬
talitätszahlen bleiben nun jedenfalls nicht
hinter den Durchschnittszahlen zurück.
Bisson hat in 14%, Fette in 13,8%,
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August
Die Therapie der Gegenwart 1910.
347
Berlin in 17,8% der Fälle einen letalen
Ausgang. Wir haben von den 78 sicheren
Diphtherien 9 verloren (12,8%). In der
gleichen Zeit sind mit subkutanen Injek¬
tionen 170 Diphtherien mit 24 Todesfällen
behandelt (14%). Die Zahlen sprechen
nicht zugunsten der intravenösen Injektion,
zumal wenn man berücksichtigt, daß die
kleineren Kinder, bei denen die Diphtherie
ja viel häufiger einen ungünstigen Ausgang
nimmt, fast ausnahmslos mit subkutanen
Injektionen behandelt sind.
Die Ursache des letalen Ausganges
bildete entweder die Schwere der Diphtherie¬
intoxikation oder es traten Komplikationen
von seiten der Kreislaufsorgane und Nieren
hinzu. Diese zu verhindern gelingt also
auch bei intravenöser Injektion des Serums
nicht.
Bei den leichten Fällen hat man durch
die intravenöse Injektion des Serums einen
schnelleren Ablauf der Krankheitserschei¬
nungen zu erzielen gehofft. So wird be¬
sonders angegeben, daß die Temperatur
schneller zur Norm zurückkehren soll. Ein
genauer Vergleich der Kurven intravenös
Injizierter mit denen subkutan Injizierter
bestätigt diese Erwartung nicht. Das Fieber
besteht auch bei intravenöser Injektion oft
mehrere Tage lang. — Im Verlauf der
Rachenerkrankung, in der Abstoßung der
Beläge, dem Verschwinden der Bazillen aus
der Mundhöhle sind nie merkliche Unter¬
schiede beobachtet worden. So ist z. B. die
Zahl der Patienten, die trotz subjektiven
Wohlbefindens noch nach 3 Wochen Di¬
phtheriebazillen in der Mundhöhle beher¬
bergen, bei den intravenös gespritzten
nicht geringer als bei den übrigen.
Nach unseren Beobachtungen verdient
die intravenöse Injektion also in thera¬
peutischer Beziehung keinen Vorzug vor
der subkutanen. Soll sie überhaupt neben
dieser bestehen bleiben, so muß ent¬
schieden gefordert werden, daß sie frei
ist von jeglichen unangenehmen Neben¬
wirkungen.
Daß Zahl und Schwere der Serum-
exantheme bei Applikation höherer Dosen
eine größere ist, ist erklärlich. Da wir
außerdem durch Ohnacker 12 ) wissen, von
wie großer Bedeutung die Provenienz des
Serums für das Zustandekommen des Exan¬
thems ist, so erübrigt sich ein Vergleich
zwischen subkutaner und intravenöser In¬
jektion in dieser Beziehung.
Bei einer großen Zahl der Fälle ist die
intravenöse Injektion von einer anfänglichen
Steigerung der Körpertemperatur gefolgt.
Wir fanden sie in etwa der Hälfte unserer
Fälle. Dreimal sind gleichzeitig mit dieser
Temperatursteigerung im unmittelbaren
Anschluß an die Injektion ~ erheblichere
Störungen aufgetreten.
1. Carl Th., 19 Jahre. Seit 2 Tagen mit
Halsschmerzen erkrankt. Tonsillen, ein Teil
des Zäpfchens und weichen Gaumens mit
membranösen Auflagerungen bedeckt. Injek¬
tion von 8000 I.-E. (16 ccm) intravenös. Nach
l /i Stunde Schüttelfrost, Temperaturanstieg von
38,0° auf 40,0°. Puls kaum fühlbar, starke
Zyanose. Nach Darreichung von Kampfer und
Wein Besserung, nach 3 Stunden ist der Puls
wieder gut gefüllt; Wohlbefinden. Am 17.Krank¬
heitstage geheilt entlassen.
2. Peter R., 24 Jahre. Wegen einer diphtherie-
verdächtigen Angina 4000 I.-E. (in 8 ccm) intra¬
venös. Kurz nach der Injektion Schüttelfrost,
Temperaturanstieg von 38° auf 39,8°. Puls un-
fühlbar. Kampfer. Wein. Nach */* Stunde
allmählicher Rückgang der Symptome. Patient
klagt am Abend und folgenden Tage über
Kopfschmerzen, wird nach 8 Tagen geheilt
entlassen.
3. Joseph K., 15 Jahre alt. Seit einem Tage
Halsschmerzen. Tonsillen mit ausgedehnten
Membranen bedeckt, die auf Zäpfchen und
weichen Gaumen übergreifen. Temperatur
39,6°. Intravenöse Injektion von 6000 L-E.
(12 ccm). 10 Minuten später tritt unter großer
Unruhe des Patienten starke Zyanose an
Händen, Füßen und im Gesicht auf. Puls sehr
klein frequent, kaum fühlbar, Temperatur 38,4°.
Erbrechen. 15 Minuten nach der Injektion
zeigt sich eine erythematöse Rötung am
ganzen Körper. Nochmaliges Erbrechen. Nach
1 Stunde ist das Exanthem nur noch an
den unteren Extremitäten vorhanden, an den
Füßen zeigen sich einige Quaddeln. Der Puls
ist jetzt wieder gut gefüllt. Temperatur 39,4°.
Nach einer weiteren Stunde ist die Hautver¬
änderung völlig verschwunden. Puls gut ge¬
füllt, Temperatur 40,0°. Es treten keine wei¬
teren Nachwirkungen auf, Patient wird am
23. Krankheitstage gesund entlassen.
In den beiden ersten Fällen trat also
im Anschluß an die Injektion ein schwerer
Schüttelfrost und Kollaps ein. Im dritten
Falle folgte der Einspritzung ein Kollaps,
der von einem universellen Erythem be¬
gleitet war. In allen drei Fällen gingen
die Symptome zwar bald zurück, sie waren
aber für den Patienten und seine Um¬
gebung äußerst besorgniserregend. — Der
Gedanke lag nahe, daß es sich um Pa¬
tienten handelte, die durch eine frühere
Seruminjektion anaphylaktisch geworden
waren. Genaue Nachfragen ergaben je¬
doch bei keinem Anhaltspunkte für die
Möglichkeit einer früheren Seruminjektion.
Um eine erworbene Anaphylaxie kann es
sich also nicht handeln. Auch zur An¬
nahme einer angeborenen Ueberempfind-
lichkeit haben wir keinen Grund. Von
dem Exanthem möchten wir annehmen,
daß es überhaupt nicht ein eigentliches
Serumexanthem war, sondern eine den
Kollaps begleitende Vasomotorenstörung.
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Die Therapie der Gegenwart 1910.
August
Bisson 4 ) berichtet, daß in mehreren
seiner Fälle die intravenöse Injektion von
Schüttelfrost und Kollaps gefolgt war.
Bisson und Fette 9 ) teilen je einen Fall
mit, in dem kurz nach der Einspritzung
ein Exanthem aufgetreten ist, das dem im
Falle K. beobachteten völlig entspricht.
Wir haben also bei der intravenösen
Injektion des Heilserums keinen deutlichen
therapeutischen Vorteil gegenüber der
subkutanen Injektion gesehen, dagegen
aber einige recht unangenehme Neben¬
erscheinungen beobachtet. Wir haben des¬
halb, zumal da außerdem die Technik der
intravenösen Injektion komplizierter ist,
von dieser Applikationsweise wieder Ab¬
stand genommen.
Literatur:
1) Zitiert nach Bisson. — 2) Cairus, The
Lanzet 1902, S. 1685. — 3) Biernacki und
Muir, The Lanzet 1904, S. 1774. — 4) Bisson,
The Lanzet 1906, S. 929. — 5) Berghaus,
Zentralblatt für Bakteriologie Bd. 50, S. 87. —
6) Morgenroth, Therapeutische Monatshefte
1909, S. 1. — 7) Meyer, Berliner klinische
Wochenschr. 1909, S. 1890. — 8) Schreiber,
Münch, med. Wochenschr. 1909, S, 1597. —
9) Fette, Medizin. Klinik 1909, S. 1891. -
10) Berlin, Dtsche. med. Wochenschr. 1910,
S. 210. — 11) Bagin sky in Nothnagels Hand¬
buch d. spez. Pathologie u. Therapie Bd. II.
— 12) Ohnacker, Therapie d. Gegenw. 1909,
S. 511.
Pharmakologisches über die Ester der p-Aminobenzoesäure
mit besonderer Berücksichtigung des Cycloforms.
Von Dr. med. et phil. E. Impens.
Das Cycloform, der Isobutylester der
p-Amidobenzoesäure, ist eine weiße, bei
65° schmelzende, in glänzenden Schüppchen
krystallisierende Verbindung, welche in
Alkohol und Aether sehr leicht, in Wasser
dagegen nur wenig löslich ist.
Die Löslichkeit in Wasser habe ich
durch Titration mit einer 0,5%igen Natrium-
nitritlösung und durch direkte Wägung
bestimmt; sie beträgt bei 14° zirka 0,014,
bei 170 0,019 bis 0,02 und bei 22® 0 , 022 %
Diese Zahlen erheben keinen Anspruch auf
vollkommene Genauigkeit.
Trotz ihrer so schwachen Konzentration
weisen diese Lösungen eine nicht unbe¬
deutende physiologische Wirksamkeit auf,
welche man hauptsächlich an zwei Ob¬
jekten beweisen kann, nämlich an der
Hornhaut und am Fisch.
Träufelt man eine bei 17o gesättigte,
wäßrige, zirka 0,02%ige Cycloformlösung
in den Bindehautsack eines Kaninchenauges
ein, und läßt dieselbe etwa zwei Minuten
lang auf die Kornea ein wirken, so beob¬
achtet man, daß letztere auf ihrer ganzen
Fläche unempfindlich geworden ist. Die
Berührung und der Druck mit einer stumpfen
Spitze rufen keinen Reflex der Augenlider,
welche weit geöffnet bleiben, hervor. Diese
Anästhesie dauert vier bis sechs Minuten
an, nimmt dann von der Peripherie gegen
das Zentrum der Hornhautfläche allmählich
ab, um nach neun bis zehn Minuten ganz
zu verschwinden.
Die halbe Sättigung, also zirka 0,01 %
ruft nach zwei Minuten langer Berührung
eine leichte, ziemlich oberflächliche An¬
ästhesie der Kornea hervor; nach einer
Applikationszeit von drei Minuten entsteht
eine vollständige Insensibilität der Horn¬
haut, welche nach vorne zu, an der Stelle,
wo die Nickhaut sich schützend vorschieben
kann, ein wenig schwächer wird und in
Hypästhesie übergeht Die Unempfindlich¬
keit währt drei bis fünf Minuten, die dar¬
auf folgende Hypästhesie noch ungefähr
die gleiche Zeit. Die Drittelsättigung,
etwa 0,007%, hat eine ähnliche, aber
leichtere und flüchtigere Wirkung; die An¬
ästhesie bleibt oberflächlich und hält
höchstens zwei bis drei Minuten an. Nach
einer weiteren Verdünnung der Lösung
nimmt man keine nennenswerte Einwirkung
auf die Kornea mehr wahr; die Grenze
des Anästhesierungsvermögens des p Ami-
dobenzoesäureisobutylesters ist demnach
mit einer Konzentration von 0,007% er¬
reicht.
Der Aethylester der p Amidobenzoe¬
säure ist in Wasser löslicher als das Cyclo¬
form; seine bei Zimmertemperatur ge¬
sättigte Lösung enthält annähernd 0,079 g
auf Hundert. Die anästhesierende Wirkung
dieser Lösung ist nicht sonderlich stärker
als diejenige der Cycloformsättigung; sie
tritt nur ein wenig schneller ein — und
ist etwas nachhaltiger. Ihre Dauer beträgt
ungefähr sechs bis sieben Minuten; die
zurückbleibende Hypästhesie hält danach
noch acht bis zehn Minuten an.
Die Halbsättigung erzeugt nur in den
mittleren und hinteren Teilen der Kornea¬
oberfläche eine vollständige Anästhesie;
der von der Nickhaut bedeckte Teil weist
nur eine leichte Abstumpfung der Empfind¬
lichkeit auf.
Mit der Drittelsättigung, 0,026 %, nach
deren Einwirkung man eine leichte, sehr
bald erlöschende Anästhesie beobachtet,
ist man, wie beim Isobutylester, an die
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Die Therapie der Gegenwart 1910.
349
Grenze der Wirksamkeit des Aethylesters
gelangt.
Die Viertelsflttigung ruft nichts weiter
als eine flüchtige Hypästhesie hervor.
Die beiden Propylester der p Amido¬
benzoesflure nehmen in Betreff ihrer Lös¬
lichkeit in Wasser eine Mittelstellung
zwischen dem Aethylester und Cycloform
ein. Die gesättigte Lösung enthält je nach
der Höhe der Zimmertemperatur zwischen
0,03 und 0,04%; in ihren anästhesierenden
Eigenschaften gleicht dieselbe sehr den
entsprechenden Lösungen des Aethyl- und
Isobutylesters, und die Drittelsättigung
stellt ebenfalls die Grenze der Verdünnung
dar, welche noch imstande ist, Unemp¬
findlichkeit zu erzeugen.
Wir ersehen aus diesen Daten, daß die
bei gewöhnlicher Temperatur gesättigten
Lösungen der erwähnten vier p-Amido-
benzoesäurederivate ein fast gleichwertiges
Anästhesierungsvermögen aufweisen, ob¬
gleich ihr Gehalt an wirksamer Substanz
sehr verschieden ist und vom Aethylester
bis zum Isobutylester bedeutend abnimmt.
Die anästhesierenden Eigenschaften wachsen
demnach mit der Zahl der Kohlenstoffatome
des Alkoholradikals.
Diese Tatsache finden wir bei den
höheren p-Amidobenzoesäureestern, wie
den Amyl- und Benzylestern bestätigt;
diese Substanzen, welche in Wasser so
wenig löslich sind, daß ihre praktische
Verwendung als schmerzlindernde Mittel
kaum in Frage kommt, anästhesieren beide
sehr intensiv.
Die gleiche Steigerung läßt sich bei der
allgemeinen Wirkung der p-Amidobenzoe-
säureester auf die Fische beobachten. Sie
rufen nach kurzer Zeit einen narkotischen
Zustand hervor, welcher in vollständige
Paralyse mit Erlöschen der Atmung über¬
geht. Das Herz wird zuletzt angegriffen
und der Kreislauf ist noch lange in Tätig¬
keit, nachdem die Atmung aufgehört hat.
Bis in die Vierzigstelsättigung läßt sich
dieser lähmende Einfluß verfolgen.
Von der Zehntelsättigung ab können die
Fische (Ellritzen) sich noch erholen, wenn
man sie nach eingetretener Atemlähmung
in frisches Wasser versetzt. Die Erholung
tritt dann schnell ein; zwei bis drei Mi¬
nuten nach dem Wasserwechsel bewegen
sich die Kiemendeckel wieder und bald
darauf nimmt der Fisch seine normale
Haltung wieder ein.
Die Wirkung des Cycloforms am Frosch
läßt sich mit derjenigen am Fisch ver¬
gleichen: Lähmungssymptome beherrschen
ebenfalls das Bild. Die Wirksamkeit der
Substanz ist aber beim ersteren Versuchs¬
tier entschieden geringer; eine Dosis von
0,05 g als salzsaures Salz in den Rücken-
lymphsack injiziert, erzeugt nur eine un¬
vollständige und ziemlich schnell vorüber¬
gehende Paralyse.
Die Versuche am Frosch werden durch
die geringe Löslichkeit des Cycloforms in
Wasser sehr erschwert. Die Salze der
schwachen Base sind wohl löslicher; sie
dissoziieren aber — und ihre Lösungen
reagieren kongosauer. Die Einspritzung
solcher sauren Flüssigkeiten ruft immer
ausgedehnte Aetzungen hervor, welche das
Vergiftungsbild nicht unwesentlich trüben.
Der mit Hilfe eines Katheters entnom¬
mene Harn eines mit Cycloform vergifteten
Frosches enthält eine Substanz, welche sich
diazotieren läßt und dann mit 2-Phenyl-
amino - 5 - naphthol - 7 - sulfosäure gekuppelt
einen himbeerroten Farbstoff liefert. Es
handelt sich wahrscheinlich um p-Amino-
benzoesäure oder um unverändertes Cyclo¬
form.
Die Resorption der p-Aminobenzoe-
säureester, welche hier in Betracht kommen,
ist wegen ihrer Schwerlöslichkeit auch bei
den Warmblütern sehr träge; infolgedessen
sind die Symptome, welche man nach Ver¬
abreichung mäßiger Dosen per os auf den
ersten Blick wahrnehmen kann, sehr wenig
ausgeprägt. In dem Verhalten der Ver¬
suchstiere merkt man kaum eine Aende-
rung; bei näherer Untersuchung findet man
aber, daß die Schleimhäute mehr oder
weniger zyanotisch aussehen. Diese Zya¬
nose ist nach Darreichung der löslicheren
Ester, wie des Aethylesters z. B. von 0,5 g
aufwärts ab, sehr intensiv und wird dann
von Benommenheit, Schläfrigkeit, Dyspnoe
und von einem Schwächezustand, welcher
sich nach hohen Dosen bis zum Kollaps
steigern kann, begleitet. Bei den Katzen
ist nach 1 g p-Aminobenzoesäureäthylester
der tödliche Ausgang der Vergiftung keine
Seltenheit
Diese Erscheinungen werden vom Cyclo¬
form in geringerem Maße hervorgerufen;
die schwächere Wirkung beruht aber ledig¬
lich auf der sehr langsamen Resorption
dieses Esters.
Dosen von 0,2 g Cycloform erzeugen
im Durchschnitt bei den Katzen keine
sichtbare Zyanose; die Farbenveränderung
der Schleimhäute wird erst nach 0,4 bis
0,6 g per os wahrnehmbar; nach 1 g so¬
gar erreicht sie in den meisten Fällen nicht
die Intensität, weiche man nach Verab¬
reichung des Aethylesters beobachten kann.
Beim Kaninchen ist die Zyanose immer
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Die Therapie der Gegenwart 1910.
August
undeutlich; diese Tiere vertragen über¬
haupt große Dosen der p-Aminobenzoe-
säureester sehr gut
Die Hunde dagegen zeigen nach 1 g
Cycloform eine im Durchschnitt ziemlich
schnell vorübergehende Zyanose; sie können
aber die tägliche Wiederholung dieser
Dosis über eine Woche lang ohne nennens¬
werte Beeinträchtigung ihres Allgemeinbe¬
findens ertragen.
Die nach Eingabe von p-Aminobenzoe-
säureestern eintretende Zyanose ist eine
Folge der Umwandlung des Blutfarbstoffs
in Methämoglobin, welche diese Substanzen
nach Art der Aniline verursachen.
Die Sauerstoffkapazität des Blutes nimmt
im Verhältnis der umgewandelten Menge
Hämoglobin ab; ich habe diese Kapazität
bei Katzen nach Dosen von 0/75 bis 1 g
p-Aminobenzoesäureäthylester per os, von
17 auf 3% fallen sehen. Merkwürdiger¬
weise erholen sich die Tiere von dieser
Blutvergiftung relativ schnell und der
Sauerstoffkonsum wird nicht in dem Um¬
fang reduziert, den man bei erster Ueber-
legung erwarten könnte. Wenn die Tiere
ruhig sind, vermag der Organismus trotz
verhältnismäßig ausgedehnter Methämoglo-
binbildung seinen Sauerstoffbedarf zu
decken. In meinen Versuchen fand ich bei
ruhigen Katzen, welche nicht zu hohe Dosen
p-Aminobenzoesäureäthylester bekommen
hatten und stark zyanotisch aussahen,
keinen Unterschied im Sauerstoffkonsum.
Erst wenn der Sauerstoffbedarf durch
rasche und ausgedehnte Muskelbewegungen
stark zunimmt, kann ein Defizit in der
Versorgung der Gewebe mit Sauerstoff
eintreten; es stellt sich dann eine intensive
Dyspnoe ein.
In vitro rufen die Ester der p-Amino-
benzoesäure keine Methämoglobinbildung
in defibriniertem Ochsen- oder Katzenblut
hervor; die Sauerstoffkapazität bleibt un¬
verändert, wovon ich mich durch zahlreiche
Analysen überzeugt habe.
Die Ester der Aminooxybenzoesäure da¬
gegen wandeln das Oxyhämoglobin rasch
in Methämoglobin um, auch bei gewöhn¬
licher Temperatur. Setzt man z. B. zu
100 ccm Ochsenblut 0,02 g m-Amino-p-oxy-
benzoesäureäthykster zu, so fällt die Sauer¬
stoffkapazität von 16,60/ 0 nach drei Stun¬
den auf 12,5%, nach sieben Stunden auf
10,5%, nach 24 Stunden auf 7,5%.
In vivo wirken die Aminooxybenzoe-
säureester, wie man nach diesen Ergeb¬
nissen erwarten kann, intensiv auf den
Blutfarbstoff ein und erzeugen eine starke
Zyanose.
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Um den Widerspruch zwischen der Un¬
fähigkeit der p-Aminobenzoesäureester in
vitro Methämoglobin zu erzeugen und ihre
bedeutende Wirksamkeit in dieser Hinsicht
im Tierkörper aufzuklären, drängt sich die
Annahme auf, daß sie sich im Organismus
in Ester einer p-Aminooxybenzoesäure
durch Substitution eines Wasserstoffatoms
durch eine Hydroxylgruppe in dem Kern
umwandeln.
In der Tat ist es mir gelungen, aus dem
Harn der Hunde, welche p-Amidobenzoe¬
säureäthyl- oder Isobutylester per os be¬
kommen hatten, neben p-Amidobenzoesäure,
eine Substanz zu isolieren, welche alle
Eigenschaften einer p-Aminooxybenzoesäure
aufwies: intensive Reduktion des Silber¬
nitrats bei alkalischer Reaktion in der
Kälte, Violettfärbung mit Eisenchlorid, Un¬
fähigkeit mit 2 Naphthol-3‘6 Disulfosäure
nach dem Diazotieren einen Farbstoff zu
geben, Fähigkeit aber, sich nach dem Dia¬
zotieren mit 1 *8-Aminonaphthol-4-sulfosäure
zu einem intensiven violetten Farbstoff zu
kuppeln, endlich rasche Umwandlung des
Oxyhämoglobins in Methämoglobin in vitro.
Die morphologischen Aenderungen,
welche die p-Aminobenzoesäureester, nach
Heinz, in den Erythrozyten hervorrufen
und welche in der Bildung von stark re-
fringenten Kügelchen in der Blutkörperchen¬
scheibe bestehen, sind nicht die Ursache
der Erniedrigung der Sauerstoffkapazität,
denn sie treten erst spät auf, zu einer Zeit,
wo die Zyanose schon vorüber ist und die
Sauerstoffkapazität die Norm bald wieder
erreicht.
Im Reagensglas erzeugen die Ester der
p-Aminobenzoesäure keine Hämolyse; im
Gegenteil härtet das Cycloform z. B. die
roten Blutkörperchen und macht sie re¬
sistenter gegen die Hämolyse durch hypo¬
tonische Kochsalzlösungen.
Die Wirkung dieser Substanzen auf die
Blutkörperchen und auf den Blutfarbstoß
ist für die therapeutische Verwendbarkeit
derselben nicht von großer Bedeutung. In
der Tat werden sie hauptsächlich äußerlich
als Anästhetika bei Wunden und Läsionen
der Haut gebraucht; ihre innerliche An¬
wendung ist beschränkt, und die langsame
Resorption der relativ geringen verab¬
reichten Dosen schützt im allgemeinen vor
der Einwirkung auf das Blut.
Außer den anästhesierenden Eigen¬
schaften haben die Ester der p Amino¬
benzoesäure, u. a. das Cycloform, einen
deutlichen, wenn auch nicht besonders
starken, fäulniswidrigen Einfluß. In ge¬
sättigter Lösung bei 37° verzögert oder
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Die Therapie der Gegenwart 1910.
351
verhindert sogar das Cycloform die am-
moniakalische Gärung des Harns und die
Putrefaktion an der Luft infizierter Albu-
mosenlösungen; weiter besitzt es gegen¬
über Staphylokokken eine schwache ent¬
wicklungshemmende Wirkung.
Ich behalte mir vor, in einer demnächst
erscheinenden Veröffentlichung auf die
pharmakologischen Eigenschaften der p-
Aminobenzoesäureester des Aethylalkohols
und seiner Homologen in ausführlicher
Weise zurückzukommen.
Zur Prophylaxe der habituellen Haltungsanomalien.
Von Dr. Qeorg Müller-Berlin.
Unter den vielen Ursachen, die zur
Verkrümmung der Wirbelsäule führen,
spielt zweifellos eine Verschiebung der
physiologischen statischen Verhältnisse eine
hervorragende Rolle.
Niemand zweifelt heute noch daran, daß
durch zu starke Inanspruchnahme der Plan¬
tarfaszie und der kurzen plantaren Fu߬
muskeln Plattfuß entsteht, oder daß durch
zu anhaltendes breitbeiniges Stehen das
Lig. later, intern, überdehnt wird und ein
Genu valgum sich entwickelt.
Genau derselbe Vorgang spielt sich auch
in der Wirbelsäule ab, wenn durch habituelle
Abweichung von den physiologischen Ver¬
hältnissen, Druck und Zug an den Bändern,
Muskeln und Knochen verschoben werden.
Während Plattfuß und X-Bein durch zu
langes unzweckmäßiges Stehen hervor¬
gerufen werden, leidet die Wirbelsäule am
meisten durch lang anhaltendes Sitzen wie
es, außer bei gewissen Berufsarten, vor¬
wiegend beim Schulunterricht notwendig
ist. Erschwerend fällt bei der Schuljugend
noch ins Gewicht, daß es sich um Indivi¬
duen handelt, bei denen die Muskulatur
noch nicht voll entwickelt und das Knochen¬
wachstum noch nicht abgeschlossen ist,
so daß sich jede Schädigung doppelt
schwer bemerkbar machen muß.
Ueberhaupt sehen wir zwischen dem
Pes valgus, Genu valgum und der Coxa
vara adulescentium einerseits und den habi¬
tuellen Haltungsanomalien der Schuljugend
anderseits viele Anologien und zwar nicht
nur in bezug auf ihre Aetiologie, sondern
auch in bezug auf ihre Therapie und noch
mehr auf ihre Prophylaxe.
Das Kind benutzt in der Schule ent¬
weder die hintere oder die vordere Sitz¬
lage. Bei ersterer findet der Rumpf seine
Unterstützung in den beiden Tubera Ischii
und im Steißbein, während der Rücken
sich an die etwa vorhandene Rücklehne
anlehnt. Da aber letztere meist zu steil
steht und nicht kongruent den physiologi¬
schen Ausbiegungen der Wirbelsäule her¬
gestellt ist, so ermüden die Rückenmuskeln,
denen die Aufgabe zufällt, die Wirbelsäule
gewissermaßen abzusteifen, ganz allmählich
und fangen an zu schmerzen. Um dem zu
entgehen, schiebt das Kind das Gesäß nach
vorn, schaltet die ermüdeten und schmer¬
zenden Rückenmuskeln aus und läßt die
Wirbelsäule, die sich dann nur noch mit
einem einzigen Punkt an die Rücklehne
anlehnt, soweit in sich zusammensinken,
bis sie in den Bandhemmungen einen Halt
findet.
Ein ganz ähnlicher Vorgang spielt sich
bei der vorderen Sitzhaltung ab, bei der
der Oberkörper seine Unterstützung in den
beiden unteren Flächen der Oberschenkel
und in beiden auf dem Fußboden aufge¬
setzten Füßen findet. Den Rückenmuskeln
fällt auch hier wiederum die Aufgabe zu,
die einer Rücklehne völlig entbehrende
Wirbelsäule in ihrer physiologischen For¬
mation zu erhalten, was sie jedoch wiede¬
rum nur eine gewisse Zeit tun können, um
dann, wenn sie zu ermüden und zu schmer¬
zen beginnen, einfach außer Aktion zu
treten und die nach rückwärts konvex zu¬
sammensinkende Wirbelsäule der Band¬
hemmung zu überlassen.
Nun spielt sich hier derselbe Vorgang
ab, den wir vom Pes valgus und Genu val¬
gum her kennen. Die überanstrengten
Bänder überdehnen sich und gestatten eine
immer größere Konvexität, ehe sie als
Hemmungsmechanismen in Funktion treten,
die konvexseitigen Muskeln verlängern sich
und verlieren immer mehr ihren Tonus,
die konkavseitigen Bänder und Muskeln
dagegen verkürzen sich und stempeln all¬
mählich die wiederholte, wenn auch vor¬
übergehende pathologische Haltung, zu
einer dauernden. Auch die Wirbelkörper
reagieren auf die veränderte Belastung,
indem sie an der konkaven Seite, wo sie
einem vermehrten Druck ausgesetzt sind,
kallöser werden und auf der konvexen
Seite den verminderten Druck mit einer
größeren Porosität beantworten.
Eine Zeitlang vermag das Kind die be¬
ginnende Deformität wieder auszugleichen,
indem es nach beendetem Schulunterricht
sich reckt und dehnt, sich auf dem Nach¬
hausewege von der Schule herumtummelt
und mit den Schulfreunden herumbalgt und
auf diese Weise die vorübergehend außer
Funktion gesetzten Muskeln kräftig kontra-
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UNIVERSiTY 0F CALIFORNIA
352
Die Therapie der Gegenwart 1910.
August
hiert und die überanspruchten Bänder
wieder entlastet.
Aber allmählich tritt ein Stadium ein,
wo diese Selbsthilfe der Natur nicht mehr
genügt, um den Schaden eines überan¬
strengenden Sitzens während des Schul¬
unterrichts zu kompensieren, dann wird die
Haltungsanomalie eine dauernde.
Es fragt sich nun, wie kann man dieser
Gefahr, in die sich jeder Sahulrekrut
begibt, Vorbeugen. Zum Teil geschieht
es durch die Einführung rationell kon¬
struierter Schulbänke. Doch hat mich die
Erfahrung gelehrt, daß diese allein durch¬
aus nicht ausreichen, da die Kinder selbst
in den besten Schulbänken nicht immer
richtig sitzen und auch hier mit Vorliebe
ihre Wirbelsäule nach Ausschaltung der
Muskulatur der Bandhemmung überlassen.
Da kam mir vor einiger Zeit der Ge¬
danke, den Schultornister, den doch jedes
Kind tragen muß, als prophylaktisches
Hilfsmittel heranzuziehen. Freilich muß
derselbe zu diesem Zweck gewissermaßen
umgebaut werden, da er in seiner bis¬
herigen Form und Anwendungsweise von
unserem Gesichtspunkt aus nicht nur nichts
nützte, sondern geradezu Schaden anrich¬
tete. Ich will nicht von der Schulmappe
sprechen, die dadurch seitliche Ver¬
Fig. 1.
biegungen der Wirbelsäule züchtet, daß sie
ständig an oder unter demselben Arm ge¬
tragen wird, sondern nur von dem Tor¬
nister, der auf den Rücken geschnallt
wird, der sogenannten Buckelmappe (Fig.1).
Diese wird zumeist recht voll und schwer be¬
packt, und mit zwei Riemen befestigt, welche
von der Mitte der oberen Kante abgehen,
um die Schultern herumlaufen und unten
dicht neben dem äußeren Ende der unteren
Kante der Tornisterrückwand festgeschnallt
respektive -gehakt werden. Sobald das
Kind mit dieser Schultasche geht, stemmt
sich die untere Rückwandkante gegen die
normalerweise bereits bestehende lordoti-
sche Lendenausbiegung, während der obere
Teil des Tornisters nach rückwärts fällt
und das Kind nach rückwärts zieht. Diesen
Zug gleicht der Tornisterträger dadurch
aus, daß er den Oberkörper nach vorn
legt und die Schulter nach vorn zieht,
während gleichzeitig durch den Druck
der unteren Kante die Lendenlordose ver¬
größert wird, was wiederum eine kompen¬
satorische Vermehrung der physiologischen
Brustausbiegung nach rückwärts zur Folge
hat. Außerdem sitzt der Tornister so lose
auf dem Rücken, daß er bei jedem Schritt
in die Höhe fliegt, um dann mit einem
Stoß gegen die Wirbelsäule wieder auf den
Rücken zurückzufallen. Gelingt es also,
diesen Schultornister, der jetzt gewisser¬
maßen nur pathogene Qualitäten besitzt, in
einen, wenn auch nicht therapeutischen, so
doch prophylaktischen Faktor umzuwandeln,
so bedeutet dies einen doppelten Vorteil.
Nach jahrelangen Versuchen glaube ich
diese Aufgabe gelöst zu haben und zwar
lediglich durch eine Aenderung der Riemen¬
führung, derart, daß sie wie ein Gerade¬
halter wirkt und die durch zu langes
Sitzen herbeigeführte Haltunganomalie,
falls noch keine anatomischen Veränderun¬
gen vorliegen, beseitigt. Es würde hier¬
durch sowohl auf dem Nachhausewege,
als auch auf dem darauffolgenden Wege
zur Schule die dort angenommene fehler¬
hafte Haltung ausgeglichen, so daß, wenn
auch die Schädigungen des Sitzens immer
wieder von neuem auf den Rücken ein¬
wirken, sie doch gewissermaßen immer
wieder einen korrigierten Rücken vor¬
finden, so daß eine Kumulierung der
schädigenden Momente unter allen Um¬
ständen vermieden wird.
Das Charakteristische des Tornisters
liegt, wie schon erwähnt, in der Führung der
Riemen (Fig. 2). Sie beginnen zusammen
etwas unterhalb der Mitte der oberen Kante
der Rückwand, verlaufen dann durch zwei
Paar Ueberleger, von denen das eine Paar
etwas schräg gestellt, nicht ganz hand¬
breit vom äußern und etwa eine Hand
breit vom unteren Rande entfernt ange¬
bracht ist, während das andere Paar Ueber-
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August
Die Therapie der Gegenwart 1910.
353
leger mit Rollen versehen und in einem
Drehgelenk drehbar, am unteren Rande, senk¬
recht unter dem oberen Paare liegt. Nach-
Fig. 2.
dem die Riemen diese beiden Ueberleger
passiert haben, verbreitern sie sich zu
einem Gürtel und werden vorn durch ein
Gürtel- oder Koppelschloß geschlossen.
Die Anwendung ergibt sich ohne weiteres
(Fig. 3): Nachdem das Kind seine Arme
Fig. 3,
durch die oberen durch Zurückziehung
der Riemen beliebig weit zu machenden
Schlupfen hindurchgeführt hat, zieht es die
vom herabhängenden Gürtelteile fest an
und schließt das Schloß. Die Wirkung ist
eine eklatante und offensichtige. Die Schul¬
tern werden stark zurückgezogen, die Brust
wird vorgedrängt und der Rücken dadurch,
daß er in seiner ganzen Ausdehnung der
harten Tornister wand angelegt wird, ener¬
gisch aufgerichtet, kurz, die Haltungsano¬
malie wird beseitigt, vorausgesetzt natür¬
lich, daß derselben noch keine anatomischen
Veränderungen zugrunde liegen.
Doch noch weitere Vorteile bietet der
Tornister. Wir hören oft darüber klagen,
daß die Schultaschen mit viel zu vielen
Büchern bepackt werden und deshalb un¬
gebührlich schwer sind. Ist dies gewiß an
sich schon ein Uebelstand, so wird dieser
noch dadurch vermehrt, daß bei den bisher
üblichen Schultaschen die Last auf die
untere hintere Kante, die gegen die Lenden¬
wirbelsäule drückt, und die Schulterriemen,
die das Kind zwingen, den Zug nach rück¬
wärts durch Vorwärtsneigung des Kopfes
und Vorwärtsbeugung des Rumpfes zu
parieren, verteilt ist.
Bei dem von mir angegebenen Schul¬
tornister, den ich (aus dp#6s und nXd&iv ge¬
bildet), Orthoplast genannt habe, wird die
Last gleichmäßig auf den ganzen Rücken,
den Leib und die Schultern verteilt und des¬
halb subjektiv viel weniger unangenehm
und funktionell nicht nachteilig empfunden.
Schließlich liegt der Orthoplast, ohne
zu drücken, dem Rücken so fest an, daß
er selbst bei den wildesten Sprüngen der
Kinder sich nicht vom Fleck rührt und in¬
folgedessen die oben beschriebenen schäd¬
lichen Stöße gegen die Wirbelsäule voll¬
kommen vermeidet.
Auf Grund meiner bisherigen Beobach¬
tungen, die, wie schon oben erwähnt, sich
über eine Reihe von Jahren erstrecken,
glaube ich in dem beschriebenen Tornister
ein ebenso einfaches wie wirksames Pro-
phylaktikum gegen die durch vieles Sitzen
während des Schulunterrichts hervor¬
gerufenen Haltungsanomalien gefunden zu
haben.
Aus der inneren Abteilung des Auguste Viktoria-Krankenhauses in Schöneberg.
(Direktor: Dr. Huber.)
Bemerkungen zur Behandlung des akuten Harnröhrentrippers
des Mannes.
Von Dr. Bruno Glaserfeld, Arzt in Berlin-Schöneberg.
Daß die akute Gonorrhoe des Mannes
nur durch eine lokale Therapie zur voll¬
kommenen Heilung gebracht werden kann,
wird wohl von fast allen Aerzten anerkannt.
Es gibt ja sicher vereinzelte Fälle, die ohne
Lokalbehandlung mit diätetischen Ma߬
nahmen und Bettruhe zur Ausheilung kom¬
men; sie sind aber überwiegend in der
Minderzahl und bei den meisten dieser
nicht lokal in Angriff genommenen Gono-
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354
Die Therapie der Gegenwart 1910.
August
rrhöen handelt es sich um Scheinheilungen,
d. h. kurze Zeit nach der sogenannten Hei¬
lung tritt wieder Ausfluß auf, oder die be¬
treffenden Urethritiden waren nicht spezi¬
fischer Natur. Es ist daher meiner An¬
sicht nach bei jedem Tripper ein dringend
notwendiges Erfordernis, kurz nach Auf¬
hören der allerersten entzündlichen Er¬
scheinungen eine sachgemäße Injektionskur
mit einem der neueren Silberpräparate ein¬
zuleiten. Daß diese Kur trotzdem oftmals
nicht zum gewünschten Ziel führt, liegt fast
nur an der unrichtigen Ausführung des
Spritzens durch den Patienten. Hat der
Arzt dem Patienten die genauen Vorschriften
für die Technik des Spritzens gegeben, so
hat er, wenn er gewissenhaft und zum
Nutzen des Patienten handeln will, die
Pflicht, bald nach der Verordnung den
Patienten selbst während der Injektion zu
kontrollieren. Wer sich diese kleine Mühe
öfters macht, der wird die unglaublichsten
Fehler beim Spritzen des Patienten sehen
und erkennen, warum die Injektionskur bei
dem betreffenden Patienten bisher erfolglos
verlief. Die Art und Weise, wie gespritzt
werden soll, und die Fehler bei der Aus¬
führung hier näher zu besprechen, halte
ich für unnötig, da ich diese als bekannt
voraussetze; erwähnen will ich nur, daß
die Aseptik meist eine höchst mangelhafte
ist. Mir kommt es nur darauf an, darauf hin¬
zuweisen, daß der Arzt sich injedem ein¬
zelnen Falle von der richtigen Aus¬
führung der Spritzkur durch eigene
Kontrolle überzeugt. Er wird dann sehen,
daß manch ein Patient zu den beim Spritzen
notwendigen Manipulationen zu ungeschickt
ist und trotz nötiger Belehrung es nicht
lernt, oder daß andere sich bei weitem
nicht genügend Zeit zum Spritzen nehmen,
ln solchen Fällen sind durch die Injektions¬
kur gute Resultate nur zu erzielen, wenn
man sie durch einen zuverlässigen
geprüften Wärter ausführen läßt oder
persönlich das Spritzen stets überwacht.
Die hierdurch entstehenden Mehrkosten bei
der Behandlung spielen für die wohlhabende
Bevölkerung keine große Rolle; die Kranken¬
kassen . werden den Kassenpatienten die
Mehrausgabe, die ja den Etat nicht allzu
sehr belastet, vielleicht gern bewilligen,
wenn sie erfahren, daß sich durch diese
Maßnahme das Heer der chronisch Tripper¬
kranken, welche bekanntlich den Kassen
sehr zur Last fallen, vermieden wird.
Zu jeder Tripperbehandlung gehört in
den ersten 8—10 Tagen Bettruhe. Diese
selbstverständliche Verordnung wird leider
nicht überall durchgeführt: einmal liegt
dies an dem Unverstand der Laien, dann
aber auch an dem Umstande, daß diese
Forderung noch nicht Allgemeingut der
Aerzte geworden ist Ja, verordnen die
Aerzte nicht bei eitrigen Katarrhen anderer
Schleimhäute für gewöhnlich strenge körper¬
liche Ruhe? Warum soll der eitrige Ka¬
tarrh der Schleimhaut des Genitalapparates
des Mannes eine Ausnahme bilden? Bett¬
ruhe zu Beginn des Trippers verkürzt die
Tripperbehandlung erheblich und schützt
vor dem Auftreten von Komplikationen.
Daß die Verordnung der Bettruhe oftmals
auf Schwierigkeiten von seiten der Patien¬
ten stößt, gebe ich vollauf zu; diese
Schwierigkeiten sind insbesondere durch
Wohnungsverhältnisse oder Familienrück¬
sichten veranlaßt. Mit letzteren müssen wir
Aerzte sehr rechnen. Da es aus mannig¬
faltigen Gründen meist nicht angängig ist,
den tripperkranken jungen Mann in der
Behausung mit Bettruhe zu behandeln, so
müssen wir ihm diese durch Aufnahme in
eine Krankenanstalt verschaffen. Heutzu¬
tage bestehen ja glücklicherweise nicht
mehr die Schwierigkeiten wie vor 15 bis
20 Jahren, wo es fast unmöglich war, die
Aufnahme eines Tripperkranken in ein
Krankenhaus zu bewerkstelligen: so sind
jetzt in Groß-Berlin allein im Ostkranken¬
haus, im Rudolf-Virchow-, Charlottenburger
und Schöneberger Krankenhaus u. a. m.
zahlreiche Betten für Geschlechtskranke
reserviert. Und die wohlhabendere Bevölke¬
rung kann in Groß-Berlin mit Leichtigkeit
in den zahllosen Sanatorien oder Kliniken
Aufnahme finden.
Seit langer Zeit wird die lokale Behand¬
lung des Trippers durch eine interne medi¬
kamentöse unterstützt; was kann man über¬
haupt von einer inneren Behandlung ver¬
langen und erwarten? Es ist mit un¬
seren heutigen inneren Mitteln 1 ) un¬
möglich, Gonokokken abzutöten; wir
müssen den Worten Schwersenskis 2 )
absolut beistimmen: „Wenn man behauptet,
daß ein internes Mittel Gonokokken tötet,
so wird diese Wirkung ihm angedichtet/
Ein inneres Mittel, das für die Gonorrhöe
von Wert sein soll, muß folgende Eigen¬
schaften haben: 1. entzündungswidrig,
2. sekretionsbefördernd wirken, 3. durch
Niere und Blase ausgeschieden werden,
4. keine unangenehmen Nebenerscheinungen
l ) Ich sehe hier von dem Gonovaccin ab, da mir
Erfahrungen über dasselbe fehlen; vielleicht bedeutet
die EintQhrung dieses Mittels eine neue Etappe in
der Tripperbehandlung.
a j Schwersensky, Allosan, Berl. klin. Woch.
. 1908, Nr. 43.
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August
Die Therapie der Gegenwart 1910.
355
machen. Die gebräuchlichsten Mittel, die
bisher in solchen Fällen angewandt wurden,
waren pharmakologische Körper, welche
zü den Balsamen gehören; als Haupt¬
repräsentanten fungieren das Baisamum
Copatvae, Cubebae und Oleum Santali. Daß
diese Mittel, deren günstige Wirkung
pharmakologisch noch gar nicht erklärt ist,
den soeben aufgestellten Forderungen nahe¬
kommen, ist aus ihrer weiten Verbreitung
sichergestellt. Leider besitzen sie sämtlich
unangenehme Nebenerscheinungen, insbe¬
sondere auf den Verdauungstraktus und
die Nieren, so daß man öfters von ihrer
Anwendung Abstand nehmen muß und zu
anderen pharmakologischen Präparaten
greift, die zwar nicht alle Eigenschaften
der Balsame besitzen, äber doch ähnliche
Wirkungen enthalten: nämlich Salol, Uro¬
tropin usw.
Es ist daher als ein Fortschritt in der
internen Gonorrhöebehandlungzu begrüßen,
daß wir seit kurzem ein neues Balsamprä¬
parat im Handel haben, welches die Vor¬
teile der Balsame ohne ihre lästigen Neben¬
wirkungen aufweist; ich meine das Allo-
san, den Allophansäureester des Santalol.
Die chemische Konstitution glaube ich hier
übergehen zu dürfen und verweise auf die
Arbeiten von Regenspurgerund
Schwersenski 2 ). Das Allosan hat den
Vorzug, ein fester Körper zu sein und
kommt in Tablettenform zu 0,5 g in der
üblichen Glasröhrenverpackung in den
Handel. Angeregt durch die günstig lau¬
tenden Veröffentlichungen der soeben ge¬
nannten Autoren sowie von O’Brien 3 ),
Cracken 4 ), Pritchard 5 ) u. a. m. habe ich
während meiner Assistentenzeit Versuche
mit dem Allosan auf der Abteilung für
geschlechtskranke Männer des Schöne-
berger Krankenhauses gemacht; diese
Versuche wurden nach meinem Abgang
aus dem Krankenhause daselbst fortge¬
setzt, ich hatte ferner Gelegenheit, in der
Privatpraxis Allosan zu verordnen, sodaß
ich hier über die Wirkung des Allosans in
zirka 150 Fällen berichten kann. Es wurden
gewöhnlich dreimal täglich je 2 Tabletten
gegeben; die Patienten scheuten sich nie,
das Präparat zu nehmen und nahmen es
auch in der Tat — letzteres betone ich
ausdrücklich, da ich früher häufig die Be¬
obachtung gemacht habe, daß die Patienten
*) Regenspurger, Medizinische Klinik 1908,
Nr. 3.
2 ) Schwersenski, 1. c.
*) O’Brien, The Therapist 1909, Nr. 3.
4 ) Cracken, Medical Press and Circular 1909,
Nr. 3625.
5 ) Pritchard, The Therapist 1909, Nr. 10.
die schlecht schmeckenden oder in Kapseln
gegebenen Balsame wegwarfen, da der
Ekel, diese Präparate zu nehmen, unüber¬
windlich war, und dem Arzt nachher vor¬
redeten, sie hätten die Kapseln genommen.
Das Allosan ist ein fast geschmackloses
Präparat, reizt nicht im geringsten den
Verdauungstraktus; genaue Urinunter¬
suchungen zeigten in meinen Fällen, daß
keinmal irgendwelche Nierenreizung, ins¬
besondere Albuminurie, durch Allosan ent¬
stand. Es macht sich in der Exspirations¬
luft nicht unangenehm bemerkbar — ein
sehr wesentlicher Faktor, welcher leider
bei anderen balsamischen Mitteln nicht zu¬
trifft.
Wir sehen somit, daß das Allosan frei
von allen den Nebenwirkungen ist, welche
wir bisher bei der Verordnung von Balsam¬
präparaten kannten. Diese Eigenschaft
halte ich für den hauptsächlichen Vorzug
des Allosans. Im übrigen deckte sich seine
Wirkung beim akuten Tripper mit der der
übrigen Balsame. Die Schmerzen gingen
stets bei unserer Behandlung, die sich aus
Bettruhe, blander Diät, Protargolinjektionen,
und AUosandarreichung zusammensetzte,
prompt zurück, der dicke Ausfluß macht
bald dünnflüssigem Sekret Platz, das eben¬
falls schnell verschwand. Ich bin weit da¬
von entfernt zu sagen, daß in unseren
Fällen durch Allosan eine Beschleunigung
des Heilungsverlaufes eingetreten ist; ftlr
gewöhnlich dauerte die Heilung 4-5 Wochen.
Allosan ist ferner natürlich nicht imstande,
Komplikationen des Trippers hintanzuhalten;
daß wir im Schöneberger Krankenhause
letztere sehr wenig auf treten sehen, schiebe
ich vielmehr auf die Bettruhe und die sach¬
gemäßen Injektionen.
Statistiken und Krankengeschichten hier
zu geben, halte ich für inopportun: damit
ist bei der Beurteilung eines die
Hauptbehandlung nur unterstützen¬
den therapeutischen Mittels nichts
bewiesen. Wer will denn, selbst wenn
ich herausbekommen würde, daß in meinen
Fällen der Ausfluß schneller zurückging
oder die Schmerzen eher verschwanden
oder die Behandlungsdauer eine kürzere
war als in anderen, beweisen, daß diese
Besserungen nur eine Wirkung des Allo¬
sans waren? Ich halte unsere recht gün¬
stigen Heilerfolge für eine Wirkung sämt¬
licher von uns herangezogenen therapeu¬
tischen Maßnahmen. — Alles in allem ge¬
nommen, glaube ich ein Recht zu haben,
das Allosan für die Praxis in der Gonorrhoe¬
behandlung zu empfehlen, da es die Wir-
| kung eines guten Balsams hat, ohne die
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356
Die Therapie der Gegenwart 1910.
August
unangenehmen Nebenerscheinungen der
Balsame zu zeigen.
Das Allosan wurde fast ausschließlich
bei der Gonorrhoea acuta anterior gegeben.
Bei der Gonorrhoea acuta posterior sind
wir von der bei uns stets sehr bewährten
Medikation des Bärentraubentees und Uro¬
tropins nicht abgegangen, da hierzu kein
genügender Grund vorliegt und wir eben
mit den Erfolgen des Urotropins sehr zu¬
frieden waren. Die direkte Behandlung
der hinteren Harnröhre bestand in Irriga¬
tionen von schwacher Höllensteinlösung
mit dem Ultzmannschen Katheter; für ge¬
wöhnlich waren nach 5—7 Spülungen so¬
wohl die subjektiven Beschwerden ver¬
schwunden, als auch der objektive Befund
ein guter. Kommt man durch diese Lokal¬
behandlung nicht gut vorwärts, so ist in
solchen Fällen die Endoskopie der gesam¬
ten Harnröhre die wesentlichste Forderung,
ohne welche jede weitere Tripperbehand¬
lung unmöglich ist; wozu im Dunklen tappen,
wenn wir mit unseren modernen Instru¬
menten den Krankheitsherd einwandfrei
auflinden und streng lokalisiert in thera¬
peutischen Angriff nehmen können? Leider
ist die Kenntnis von dem Nutzen der En¬
doskopie bisher nicht in alle Kreise der
praktischen Aerzte gedrungen, so daß noch
viele Patienten die Vorteile dieser Unter¬
suchungsmethode entbehren müssen. Erst
durch Allgemeineinführung der Endoskopie
bei den über 5—6 Wochen dauernden
akuten Entzündungen der vorderen und
hinteren Harnröhre wird es uns in der
Mehrzahl der Fälle gelingen, den Ueber-
gang eines akuten Trippers in das chro¬
nische Stadium zu verhindern. Es ist daher
Pflicht darauf hinzuweisen, daß von der
Endoskopie in jedem zweifelhaften Fall Ge¬
brauch gemacht wird.
Die Behandlung der bei der Urethro-
skopie gefundenen Infiltrate besteht in
Aetzungen und Dehnungen mit dem Ko 11-
mannsehen Dilatator; ich will jedoch nicht
näher auf diese bekannten Einzelheiten
eingehen. Mir lag nur daran, hier die bei
der Tripperbehandlung für den Allgemein¬
praktiker wichtigsten Punkte zu besprechen
und unsere günstigen Erfahrungen über
das Allosan mitzuteilen.
Therapeutisches aus Vereinen und Kongressen.
Ueber Tuberkulinbehandlung. 1 )
Von Chefarzt Dr. F. Köhler« Heilstätte Holsterhausen bei Werden. Ruhr.
M. H.! Wenn ich im Aufträge des Vor¬
standes der Landesversicherungsanstalt der
Hansestädte es übernommen habe, Ihnen
heute in Kürze ein Referat zu erstatten
über das Thema: „Die Tuberkulinbehand¬
lung“, so bin ich nach meinem Dafürhalten
nicht in der Lage, Ihnen ein abgerundetes,
geklärtes Bild über eine wissenschaftliche
Frage zu liefern. Die Frage der Tuber¬
kulinbehandlung, ihre Zweckmäßigkeit, ihre
Grenzen, ihre theoretischen Grundlagen
befinden sich vielmehr noch im Flusse, und
alleweil tauchen neue Vorschläge, neue Er¬
fahrungen, neue Gesichtspunkte auf, denen
wir uns nicht entziehen dürfen, wofern wir
nicht der wissenschaftlichen Fortbildung
des Problems die Lebensader unterbindend,
im positiven Dogmatismus vorbehaltlos
stecken bleiben wollen.
Sie werden daraus entnehmen können,
wie sich zurzeit die Frage der Tuberkulin¬
behandlung im Stadium des heiß umstritte¬
nen Objektes befindet. Verfolgen Sie ein¬
gehend die Literatur über den Gegenstand,
so werden Sie auf der einen Seite eine
*) Referat, erstattet im Aufträge des Vorstandes
der Landesversicherungsanstalt der Hansestädte auf
der Konferenz derselben am 12. März 1910 zu Ham¬
burg.
begeisterte Anhängerschaft der Tuberkulin¬
behandlung finden, aus deren Reihen ein
„Lehrbuch der spezifischen Diagnostik und
Therapie der Lungentuberkulose“ hervor¬
gegangen ist, dessen Wert ich durchaus
nicht verkenne, Sie werden auf der an¬
deren Seite Vertreter einer Richtung fin¬
den, welche den gelegentlichen Nutzen
der Tuberkulintherapie durchaus nicht in
Abrede stellen, aber von dem Gesamt¬
effekt keineswegs genügend begeistert sind,
um sagen zu können, daß schon etwas
einigermaßen Vollkommenes erreicht sei.
Unter der Zahl dieser Untersucher findet
sich eine Reihe, welche den Gefahren,
die mit einer Tuberkulinbehandlung ver¬
bunden seien, ihre besondere Aufmerksam¬
keit widmen, da nach ihren Erfahrungen
in der Tat die Sache doch nicht so be¬
dingungslos gehandhabt werden kann, da
die Menschen sich außerordentlich ver¬
schiedenartig gerade diesem ungemein
different wirkenden Mittel gegenüber ver¬
halten, so daß von einer allgemeinen Ver¬
wendung nicht im entferntesten die Rede
sein kann.
Sie wissen, daß die erste Tuberkulin¬
ära im Jahre 1891 mit einem gewaltigen
Fiasko abschloß. Soviel ist heute sicher.
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August
Die Therapie der Gegenwart 1910.
357
daß dieser Fehlschlag in erster Linie dar¬
auf zurückzuführen ist, daß seinerzeit mit
zu hohen Dosen operiert worden ist und
daß ganz naturgemäß, als die Kunde von
einem wirksamen Tuberkuloseheilmittel die
Welt durcheilte, sich Schwer- wie Leicht¬
kranke herandrängten, um auch für sich
die frohe Botschaft nutzbringend werden
zu lassen. Diese weitgehende Hoffnung
ist seinerzeit nicht erfüllt worden, sie ist
auch heute nicht erfüllt und wir wissen
vorläufig noch nicht, ob sie jemals erfüllt
werden wird.
Wollte aber auch heute jemand er¬
klären, daß trotz alledem der Effekt der
Tuberkulinbehandlung ein außerordentlich
zufriedenstellender sei, so kann ich mich
nicht etwa der häufig geäußerten Ansicht
der Positivisten anschließen, es seien die
enttäuschenden Erfahrungen einer falschen
Anwendung des Tuberkulins zuzuschreiben.
Wer sich nur einigermaßen eingehend und
mit wissenschaftlicher Kritik an therapeu¬
tische Untersuchungen heranmacht, bei
dem festigt sich allerdings gar bald eine
wohlbegründete Einsicht und ein maßvolles
Urteil, wofern er nicht kraft seines Tempe¬
ramentes sich bestimmen läßt, von vorne-
herein dem Zug der Bejahung sich anzu¬
schließen und Hindernisse, Hemmungen
und Enttäuschungen zu übersehen, wo
solche in der Tat bestehen. „Gelehrsam¬
keit und Urteilsfähigkeit stehen in keinem
notwendigen Zusammenhang“, sagt Cham-
berlain in seinem prächtigen „Immanuel
Kant“.
Da dürfen auch nicht die Lehrbücher,
sofern sie Dogmen predigen, Lehrmeister
werden, auf deren Autorität man schwört,
da muß vielmehr das Vertrauen auf die Rich¬
tigkeit des eigenen Urteils den Wegweiser
bilden, selbst wenn hochverdiente Autori¬
täten sich für den positiven Standpunkt ohne
Vorbehalt insZeug legen sollten. Denn auch
diese können irren und unterliegen aus
psychologischen Gründen besonders leicht
der Tatsache, daß so gerne der Wunsch
der Vater des Gedankens ist Gewiß, wir
wünschen alle von Herzen, gerade unseren
Lungenkranken so bald und so eindrin¬
gend wie nur möglich, zu helfen, wir wollen
aber nicht dann schon den Zeitpunkt der
Erfüllung des Evangeliums als gekommen
ansehen, wenn die Zeit noch voll ist von
Kämpfen und Unklarheiten, wenn wir nicht
haben helfen können, wo wir helfen zu
können hofften, wo wir Rückschläge beob¬
achten, die wir außerhalb des Bereiches
der Möglichkeit wähnten, wo wir selbst
während der Behandlung neue Schößlinge
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emporstreben sehen, welche das in dem
kranken Körper wuchernde Unkraut ge¬
trieben.
Aus diesen Andeutungen werden Sie
bereits die Grundlinien meines Standpunktes
herauserkennen, den ich gegenwärtig in
der Frage der Tuberkulinbehandlung ver¬
trete.
Soll derselbe mit einem Namen belegt
werden, so möchte ich sagen, daß ich den
Standpunkt des vorsichtigen Skeptizismus
vertrete, den ich mit Schröder, Meissen,
Felix Klemperer und vielen anderen,
besonders aber solchen Heilstättenkollegen
vertrete, die nicht gerne durch literarische
Veröffentlichungen hervortreten, um in den
Kampf der Meinungen einzutreten und sich
einer Polemik speziell mit den positiv ge¬
richteten, begeisterten Verehrern der Tu¬
berkulinbehandlung auszusetzen. Ich mache
Sie ferner darauf aufmerksam, daß jetzt
erst allmählich unsere Kliniker an den Uni¬
versitäten aus der Reserve des Urteils her¬
austreten, und auch hier ist eine gewisse
Unschlüssigkeit, eine begreifliche Vorsicht
unverkennbar. Jedenfalls steht das eine
fest: Eine einmütige Begeisterung lassen
unsere akademischen Lehrer bislang noch
nicht erkennen. Zum Teil liegt das gewiß
daran, daß gerade an den Universitäts¬
kliniken das Tuberkulosematerial meist zu
schwer, zu weit fortgeschritten ist, um hier
die Tuberkulosetherapie in erster Linie auf
die Tuberkulinanwendung zu präzisieren,
zum Teil liegt es aber sicher daran, daß
die Tuberkulinwirkung keine grundsätzlich
durchgreifende, plötzlich einsetzende ist,
sondern höchstens eine langsam fortschrei¬
tende. Ja, selbst von solchen Kennern,
welche sich der von manchen Seiten ge¬
äußerten, meines Erachtens übertriebenen
Begeisterung nähern, wird hervorgehoben,
daß die üblichen dreimonatlichen Heil¬
stättenkuren gar nicht genügend Zeit bieten,
um die volle Wirksamkeit einer Tuberkulin¬
behandlung sich ausleben zu lassen.
Wenn ich nunmehr ein Resumg meiner
eigenen Erfahrungen zufflgen darf, so
möchte ich in Kürze Ihnen einen Ueber-
blick geben, in welchem Umfange an der
meiner Leitung unterstehenden Heilstätte
Holsterhausen bei Werden an der Ruhr
mit Tuberkulin gearbeitet worden ist. Mit
Alttuberkulin Koch sind bisher 1 ) 134 Per¬
sonen behandelt worden mit 2026 Spritzen,
mit der Kochschen Bazillenemulsion 14Per¬
sonen mit 75 Spritzen, mit dem Cal mette¬
schen Tuberkulin 65 Personen mit 578
Spritzen, m it JK Spengler 49 Personen
*) Anfang M&rz 1910.
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Die Therapie der Gegenwart 1910.
August
mit 803 Spritzen, mit Perlsuchttuberkulin
15 Personen mit 288 Spritzen, mit dem die
Bazillenemulsion Koch in Kapseln enthal¬
tenden Phthisoremid von Krause 49 Per¬
sonen mit 5485 Kapseln, mit den Tuber¬
kulinpillen Freymuth 33 Personen und
schließlich füge ich an: mit dem Serum
Mamorek 60 Personen mit 2590 Rektal¬
eingießungen.
Ich stehe nicht an, zu behaupten, daß
dieses Material geeignet sein muß, dem
ruhigen Beobachter genügend Unterlage
für ein kritisches Urteil an die Hand zu
geben.
Ganz allgemein gesprochen, kann ich
von den mit diesen vielfachen Mitteln er¬
zielten Resultaten behaupten, daß ver¬
blüffende Erfolge mit keinem Mittel erreicht
worden sind. Sie werden ferner aus der
großen Anzahl der gegenwärtig vorhande¬
nen Tuberkuline entnehmen, daß immer wie¬
der nach Neuem und Verbessertem gesucht
wird, weil es Vollkommenes und Vollbefrie¬
digendes noch nicht gibt. Ich habe gewiß
in manchen Fällen ganz befriedigende Wir¬
kungen gesehen, insofern der Gesamt¬
zustand des Patienten sich hob, eine gute
Gewichtszunahme erreicht wurde. Husten
und Auswurf sich minderte, auch hier und
da einmal Tuberkelbazillen verschwanden,
auch wohl, daß die pathologischen Ge¬
räusche sich minderten, aber daß in un¬
verhältnismäßig günstigem Gegensätze zu
der üblichen physikalisch-diätetischen Be¬
handlung eine gründliche Umwälzung der
organischen Verhältnisse geschah und ein
Kranker mit mäßig ausgebreiteter Lungen¬
tuberkulose mit annähernder Sicherheit als
ein Geheilter hätte bezeichnet werden kön¬
nen, das habe ich nahezu kaum ein ein¬
ziges Mal gesehen.
Aber, könnte man einwenden, vielleicht
kommt der nachhaltige Effekt der Tuber¬
kulintherapie erst später zur Geltung. Ich
verschließe mich diesem Einwand keines¬
wegs und verfolge die Dauererfolge der
spezifisch Behandelten, da ich alle meine
Patienten nach 2, 4, 6, 8 Jahren usw. kon¬
trolliere. Ich wage aber vorläufig noch
nicht, vergleichende Statistiken anzustellen,
da die Zahl der spezifisch Behandelten
noch zu gering ist.
Jedoch hat kürzlich Schröder recht
bemerkenswerte Mitteilungen veröffentlicht,
welche in dieses Gebiet fallen. Dieser Ar¬
beit entnehme ich auch einen Ausspruch
Finklers aus dem Jahre 1907. Er sagt:
„Ich sah, analog wie bei belasteten Indi¬
viduen, plötzliche Ausbrüche akuter Ver¬
schlimmerung einer latenten Tuberkulose
□ igitized by Google
und rapiden Verlauf ad exitum bei Tuber-
kulinisierten und zwar häufiger, wie ich
sonst ohne spezifische Therapie zu beob¬
achten pflegte/ Demgegenüber meint Lö¬
wenstein, daß Rezidive zu den Selten¬
heiten gehören und glaubt, daß, wo sie
Vorkommen, sich das tuberkulöse Gewebe
nicht genügend ausgestoßen habe. In sol¬
chen Fällen solle man den Hustenreiz
steigern.
Mit vollem Recht hält Schröder diesen
Rat für gefährlich. Er erblickt in den viel¬
leicht durch zu hohe Tuberkulindosen an¬
geregten Einschmelzungen eine hohe Ge¬
fahr für den Kranken und die Ursache für
die schweren Rezidive und akuten Aus¬
breitungen des tuberkulösen Prozesses, die
Schröder in den letzten Jahren bei einer
Reihe von Tuberkulösen beobachtete. Es
handelt sich um 25 Fälle, die sämtlich von
gewissenhaften Tuberkulintherapeuten in
sprungweisem Vorgehen zum größten Teile
bis zu hohen Dosen ohne wesentliche
Reaktionen lege actis immunisiert und
wesentlich gebessert, zum Teil geheilt ent¬
lassen waren. Nicht lange nach beendeter
Tuberkulinkur traten schwere Rezidive und
Ausbreitungen der Tuberkulose ein.
Mir selbst sind ähnliche Beobachtungen
nicht fremd. Ich habe mehrfach bei vor¬
sichtigster Steigerung der Dosis von Viooo
oder höchstens 5 /iooo mg anfangend, frische
Herde in der Umgebung des Spitzenherdes
und besonders auch im Unterlappen auf-
treten sehen. Aehnliche Erfahrungen
machte u. a. v. Müller in München,., auch
Geißler-St. Petersburg und Pel-Amster-
dam nach ihren Berichten auf dem Inter¬
nationalen medizinischen Kongreß in Buda¬
pest 1909.
Und damit komme ich auf Einzelheiten,
welche in der Tuberkulinbehandlung von
besonderer Bedeutung sind.
Ich halte es für eine außerordent¬
lich wichtige Tatsache, daß die Wirkung
des Tuberkulins in den einzelnen
menschlichen Organismen sehr ver¬
schiedenartig ist und einer unheimlich
scheinenden Unberechenbarkeit unter¬
liegt. Selbst bei vorsichtigem Vorgehen
werden wir nicht selten von plötzlich ein¬
setzenden heftigen Reaktionen überrascht,
die nicht immer in wenigen Stunden ab-
klingen. Ich habe bei vorher fieberfreien
Patienten wochenlang auftretendes Fieber
beobachtet. ,
Und diese Erscheinung scheint mir in
Parallele gesetzt werden zu müssen mit
der Tatsache, daß nicht selten völlig neue
Gebiete, ich erinnere an Kehlkopf, Zunge,
Original fram
UNIVERSUM OF CALIFORNIA
August
Pie Therapie der Gegenwart 1910.
359
Kniegelenk und Darm, von Tuberkulose
ergriffen werden können. Soll hier nicht
das Tuberkulin den Grund abgeben, so
muß man immerhin sagen, daß zum min¬
desten das Mittel, welches die Tuberkulose
beseitigen sollte, nicht imstande gewesen
ist, die Entstehung einer neuen Tuber-
kuloseansiedlung zu verhindern!
Nach Römer, Deycke und Much ist
denn auch höchst wahrscheinlich die Wirk¬
samkeit der Kochschen Tuberkuline gar
keine immunisatorische, sondern ledig¬
lich eine hyperämiesierende. Zu die¬
ser Auffassung drängt in der Tat die kli¬
nische Erfahrung. Kümmel berichtete am
15. Juni im Hamburger ärztlichen Verein
von Fällen, in denen trotz zunehmender
Tuberkulinfestigung die Tuberkulose in
Niere und Blase fortschritt. Auch die Tier¬
versuche von Pfuhl, Dönitz bis in die
neueste Zeit sprechen gegen aktive Im-
munisation.
Aber vielleicht sind auch diese Dinge
nicht so verwunderlich, wenn man daran
denkt, daß das Tuberkulin ja überhaupt
kein Bazillentöter, sondern ein giftparaly¬
sierendes Mittel ist. Darin liegt ja von
vorneherein ausgesprochen, daß unter Um¬
ständen trotz aller Giftabtötung die Bazillen
selbst völlig ungehemmt virulent bleiben
können. Und daran ändert auch die dem
Neutuberkulin Koch zugrunde liegende
Tendenz nichts. Ebensowenig wird eine
Mischinfektion irgendwie beeinflußt!
Jedoch wäre es einseitig, wollte man
übersehen, daß diesen geschilderten, vor¬
wiegend negativen Punkten Erfahrungen
geübter Phthisiotherapeuten, ich nenne nur
Bandelier, Röpke, Sahli, gegenüber¬
stehen, welche das Tuberkulin als ein recht
brauchbares Mittel erscheinen lassen. Und
doch welche Uneinigkeit! Ich erinnere nur
daran, daß Röpke das Tuberkulin bei
Kehlkopftuberkulose wirksam befand, wäh¬
rend Schröder schlimme Erfahrungen
machte, Besold und Gidionsen, auch
Clarus an den Weickerschen Heil¬
anstalten die völlige Wirkungslosigkeit her¬
vorheben !
Einzelne haben recht erfreuliche Er¬
folge beim Lupus gesehen, andere ver¬
mißten eine günstige Einwirkung völlig,
oder der Erfolg hielt nicht stand, ja es
kam zu schweren Rezidiven. Somit liegt
wohl die Wahrheit in der Mitte, dahin
lautend, daß in manchen Fällen recht
wohl befriedigende Erfolge erzielt werden
können, und dieser Erkenntnis entziehe ich
mich, wie ich schon betont habe, nicht.
Aber ich füge sogleich hinzu, welche Fälle
□ igitized by Google
gerade diesen Erfolg versprechen, ist noch
völlig unklar. Es fehlen die erforderlichen
Kriterien! Man sage unter keinen Um¬
ständen, daß etwa alle beginnenden Tuber¬
kulosen sich dem Mittel zugänglich zeigen,
man beobachtet vielmehr eine ganze Reihe
auch beginnender Tuberkulosen, welche
immer wieder eine Ueberempfindlichkeit in
Gestalt dauernd eintretender Fiebertempe¬
raturen und allgemeinen Unbehagens zei¬
gen. Man ist sich auch heute allgemein
darüber einig, daß besonders gern nervöse
Tuberkulöse das Tuberkulin schlecht ver¬
tragen, so daß damit schon eine ganze
Schar des uns zugehenden Tuberkulose¬
materiales ausscheidet.
Ferner ist noch lange nicht darüber
Klarheit gewonnen, welche Fälle, die nicht
mehr in den allerersten Anfängen stehen,
noch einem Versuche der Tuberkulinbehand¬
lung unterworfen werden dürfen. Jeden¬
falls ist bei diesen tastenden Unternehmun¬
gen besondere Vorsicht geboten. Das gilt
auch von den leicht fiebernden Fällen. Ich
habe bei solchen nur ganz vereinzelt mit
dem Alttuberkulin eine dauernde Beseiti¬
gung des Fiebers erreichen können. Viel¬
leicht liegen die Chancen für die Bazillen¬
emulsion günstiger, vielleicht empfiehlt sich
auch bei manchen Fällen ein Wechseln mit
dem Präparat, wenn das erst angewandte
keinen rechten Erfolg zeitigt. Jedenfalls
aber wird von keiner Seite den Tuber¬
kulinen eine durchschlagende Entfiebe¬
rungswirkung nachgerühmt, was nicht ge¬
rade die Erwartungen hochzuspannen ge¬
eignet sein dürfte.
Häufig ist der Einfluß des Tuberkulins
auf den Appetit günstig, der Kranke blüht
auf und fühlt sich subjektiv gehoben, das
Gewicht steigt. Aber man lasse sich, wo¬
rauf ich bereits in einer eingehenden Ab¬
handlung über das Phthisoremid Krause
hingewiesen habe, nicht dadurch bestimmen,
nun auch einen Stillstand des Lungenpro¬
zesses ohne weiteres anzunehmen. Gewiß
pflegen wir mit Recht im allgemeinen auf
den Gesamtzustand, die Wandlungen des
Gewichtes und den scheinbar normalen
Ablauf der Organfunktionen besonderen
Wert zu legen, aber zu der Stabilierung
eines Parallelismus dieser günstigen All-
f emeinverhältnisse mit der Besserung der
überkulose in den Lungen selbst bietet
die Erfahrung, welche gerade diesen sehr
wichtigen Punkt des Zusammenhanges auf
dem Gebiete der pathologischen Physio¬
logie ins Auge faßt, keine genügende
Grundlage. Es ist keinenfalls bewiesen,
daß ein gesteigerter Gewichtszuwachs eine
Orig mal from
UNIVER5ITY 0F CALIFORNIA
360
Die Therapie der Gegenwart 1910.
August
erhöhte Antikörperproduktion im Gefolge
haben muß.
Jeder Praktiker weiß, daß es in den
Heilstätten ein Kleines ist, die Patienten in
erheblichem Maße zunehmen zu lassen, er
hat aber bei kritischer Beobachtung sich
ebensowenig d6r Tatsache verschließen
können, daß trotz aller Hebung des Ge¬
samtzustandes eine entsprechende Aus¬
heilung der Lungentuberkulose nicht in
solchen Fällen durchweg erreicht werden
konnte. Die Dinge liegen also so: Die
Hebung des Gesamtzustandes ist zweifellos
der günstigste Untergrund für eine Aus¬
heilung der Lungentuberkulose, aber ein
gesetzmäßig bedingender Kausalnexus zwi¬
schen beiden, in dem Sinne, daß, wenn
das eine vorhanden, das andere logisch
folgen muß, besteht nicht.
Aehnlich aber müssen wir auch von
den übrigens keineswegs in den Einzel¬
heiten klargestellten biologischen Vor¬
gängen bei der Tuberkulinbehandlung
sagen: Wenn die Wirkung des Tuber¬
kulins, wie man annimmt, darauf beruht,
daß der Körper angeregt wird, Gegengifte
zu produzieren, so ist damit keineswegs
gesagt, daß nun nach Einverleibung des
Tuberkulins auch jeder Körper tatsäch¬
lich Antikörper produzieren muß. Es be¬
steht hier zweifellos eine Art von Akti¬
vitätsgrenze des Einzelorganismus. Der
Körper ist eben eine mit selbständigen und
individuellen Mitteln arbeitende Größe,
welche, trotz der Unterordnung unter all¬
gemeine biologische Gesetze, doch dem
gleichen Reize gegenüber keineswegs kon-
sonierend reagiert. Dieses Gesetz der
individuellen Reaktion, wie ich es
nennen möchte, macht sich ja wohl auf
zahlreichen Gebieten der Physiologie wie
der Pathologie geltend. Denken wir nur
an das Nervensystem, bei dem bekanntlich
am markantesten die individuelle Rea-
gibilität gegenüber gleichen Reizen von
außen hervortritt.
So möchte ich denn auch für die Tuber¬
kulinbehandlung als das vornehmste Gesetz
hinstellen, daß die Bedingungen für deren
günstigen Erfolg an die Individualität in
der Tat gebunden sind. Noch sind die
Grenzen nicht scharf markiert, innerhalb
deren die Tuberkulinbehandlung mit an¬
nähernder Sicherheit völligen Erfolg ver¬
spricht. Um so mehr aber soll es meines
Erachtens Aufgabe der wissenschaftlich ar¬
beitenden Aerzte sein, diesen Dingen nach¬
zuspüren, um von dem Tuberkulin als
einem unterstützenden Mittel Gebrauch
machen zu können.
Digitized by Google
Sie sehen aus diesen Ausführungen,
daß ich somit keineswegs geneigt bin, das
Tuberkulin in der Tuberkulosetherapie bei
Seite zu legen, wenn auch keineswegs fest¬
steht, ob die Lunge gerade zu den dem
Tuberkulin zugänglichsten Organen ge¬
hört.
Am meisten ermutigend sind wohl ohne
Zweifel die Wirkungen des Tuberkulins bei
Augenerkrankungen, so daß v. Hippels
erste günstige Erfahrungen kaum Wider¬
spruch gefunden haben. Bei Nierentuber¬
kulose widersprechen sich die Autoren
außerordentlich. Karo betont wiederholt
seine günstigenErgebnisse, während F. Krä¬
mer bei einem Fall 7monatiger Tuberkulin¬
behandlung in der späterhin exstirpierten
Niere jede Spur einer Einwirkung vermißte,
vielmehr frische Tuberkel in der Niere
nachweisen konnte. Aehnlich ist es Wild-
bolz ergangen.
Ich möchte Ihnen empfehlen, an der
wissenschaftlichen Erforschung des Pro¬
blems mitzuarbeiten und diesem Zwecke
auch die Volksheilstätten zu öffnen, die
meines Erachtens nicht nur berufen sind,
sich auf die gesicherten Behandlungs¬
methoden zu beschränken, sondern mitzu¬
arbeiten an der Klarstellung wissenschaft¬
licher Forschungsobjekte, damit die Förde¬
rung unserer Erkenntnis weiterhin unseren
anvertrauten Kranken möglichst bald zu¬
gute kommt.
Eine besondere Vorsicht in diesen Dingen
brauche ich wohl allen denen, welche an
den Anstalten wirken, nicht nochmals be¬
sonders ans Herz zu legen. Sie wird ohne
weiteres allen denen zu eigen, welche sich
einen offenen Blick für die Gefahren und
insbesondere auch für das individuelle
Prinzip in aller Therapie bewahren, wie es
dem kritischen, gewissenhaften Arzte ge¬
ziemt. Noch stehen wir in der Frage der
Tuberkulinbehandlung in zahlreichen un¬
gelösten Streitfragen. Ich erinnere nur •
kurz daran, daß es noch keineswegs sicher
ist, ob die nach der Empfehlung von Ro¬
bert Koch, von Bandelier und Röpke
häufig angestrebte Hoch-Immunisierung
wirklich den zweckmäßigen Modus der Tu¬
berkulinanwendung bedeutet, ob nicht die
von Nourney und namentlich neuerdings
von Schweder, auch von Benge und
Koranyi, ebenso von mir selbst bevor¬
zugte Anwendung kleiner Tuberkulindosen
die mannigfachen unbefriedigenden Mo¬
mente zu beseitigen geeignet ist. Die mit
kleinen Dosen arbeitenden Untersucher
sehen gerade in der Ueberempfindlichkeit
ein Mittel, um die Autoiromunisation nicht
Original frnm
UNIVER3ITY OF CALIFORNIA
August
Die Therapie der Gegenwart 1910.
361
herabzusetzen. Der Gegensatz dieser Me¬
thode zu der von Löwenstein empfohle¬
nen der zielbewußten Steigerung trotz star¬
ker Allgemeinreaktionen ist evident. Sollten
wir aber gerade nicht mit der letzteren
wieder in die Fehler der ersten Tuber¬
kulinära verfallen?
Nach Rdnon und nach Küß dient auch
in Frankreich, ebenso wie in England und
Amerika, das Tuberkulin fast ausschlie߬
lich in kleinster Dosis als Unterstützungs¬
mittel einer strengen hygienisch-diätetischen
Behandlung. Diese Dinge harren noch der
kritischen Bearbeitung.
Das aber soll gegenwärtig in den Heil¬
stätten entschieden werden, und darum
möchte ich allen denjenigen Stellen, wel¬
chen die Aufsicht über die Heilstätten ob¬
liegt, empfehlen, ihre Aerzte an dem Tu¬
berkulinproblem arbeiten zu lassen. Ob
die Tuberkulinbehandlung die Zahl der
Dauererfolge der Heilstättenkuren wesent¬
lich steigert, ist noch keineswegs sicher.
Wie dem auch sei, ich meine: das Fest¬
halten an dem Grundsätze, daß nur weit¬
gehend studierte und kritisch gehandhabte
Arbeit zu einer gefestigten Wissenschaft
und zu einem praktischen Erfolge führen
kann, muß auch in der Frage der Tuber¬
kulinbehandlung der Leitstern des Arztes
wie die Maxime der die Heilstätten ver¬
waltenden Obrigkeiten sein!
Therapeutisches von der Versammlung sQdwestdeutscher
Neurologen und Irrenärzte in Baden-Baden.
Bericht von Dr. Lilienstein, Arzt für innere und Nervenkrankheiten, Bad Nauheim.
Im Vordergrund der Verhandlungen
standen Vorträge der deskriptiven Patho¬
logie; so berichtete
Erb (Heidelberg) über einige Fälle von
akuter Arterienerkrankung 1 (Arteriitis ob-
literans?), die zu dem bisher anscheinend
noch nicht beschriebenen akuten Einsetzen
des intermittierenden Hinkens führte.
Schönborn (Heidelberg) stellte einen
Mann mit eigenartiger Myopathie vor.
Bumke und Kehrer (Freiburg) teilen
die Ergebnisse plethysmographischer Unter¬
suchungen bei Geisteskranken, Kohnstamm
und Hindelang (Königstein) anatomische
Untersuchungen am Nucleus intermedius
sensibilis mit.
Großes Interesse erweckte das Referat
vonEwald (Straßburg) überden Schwindel,
an das sich eine lebhafte Diskussion schloß.
Es hat den Anschein, als ob die Unter¬
suchung auf Schwindel bezw. Drehnystag¬
mus und kalorischen Nystagmus (Barany)
immer mehr Bedeutung für die Diagnostik
gewinnt. Auch die Vorträge von Rosen-
feld (Straßburg) und Barany (Wien) be¬
handelten dieses Gebiet.
Rosenfeld konnte z. B. durch die Prü¬
fung auf Drehnystagmus epileptische An¬
fälle von hysterischen unterscheiden und
fand typische Veränderungen desselben bei
multipler Sklerose und bei Hirntumoren.
Auch Bartels (Straßburg) demonstrierte
Drehnystagmus, der bei einem Kaninchen
in typischer Weise zu beobachten war,
dessen Akustikus vor einem Jahr experi¬
mentell durchschnitten worden war. Er
wies auf den Zusammenhang zwischen
Augenmuskellähmungen und Erkrankungen
des Ohrlabyrinths hin.
□ igitized by Google
Barany (Wien) selbst erörterte die
physiologische Bedeutung des von ihm be¬
schriebenen kalorischen Nystagmus und
demonstrierte einen neuen Versuch zur Prü¬
fung vestibulärer Innervationsstörungen.
Derselbe besteht darin, daß man die Ver¬
suchsperson einen vorgehaltenen Gegen¬
stand, z. B. einen Finger des Experimen¬
tators, mit dem Zeigefinger berühren läßt.
Dann zieht die Versuchsperson den Finger
zurück und versucht bei geschlossenen
Augen den Finger des Experimentators
wieder zu berühren. Das gelingt immer,
auch bei ungeübten und ungebildeten Per¬
sonen. Erzeugt man nun einen vestibulären
Nystagmus, etwa z. B. durch 10maliges
Umdrehen um die vertikale Achse, so
wird vorbeigezeigt und zwar stets in
der entgegengesetzten Richtung des Ny¬
stagmus.
Edinger (Frankfurt) berichtet über ver¬
gleichend anatomische Untersuchungen des
Zerebellums, das (ähnlich wie das Gro߬
hirn) entwicklungsgeschichtlich zerfällt, und
zwar in das Paläozerebellum (= nahezu
identisch mit dem Wurm und der Flocke
der Säuger) und das Neozerebellum.
Ohne Diskussion wurde der Vortrag von
Hoche (Straßburg): eine psychische Epi¬
demie unter Aerzten erledigt, der sich
mit dem aktuellen Thema der Freud sehen
Psychoanalyse beschäftigte: „Der Begriff der
psychischen Epidemie umfaßt, wenn von
den eigentlichen krankhaften Vorgängen ab¬
gesehen wird, auch die Uebertragung be¬
sonderer Vorstellungen von zwingender
Kraft in eine Anzahl von Köpfen mit der
Wirkung des Verlustes des eigenen Urteils
und der Besonnenheit. In diesem Sinne
Original frem
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
362
Die Therapie der Gegenwart 1910.
.August
gehört zu den psychischen Epidemien die
eigentümliche ärztliche Taumelbewegung,
die sich an die Namen Freud und die
Methode der sogenannten Psychoanalyse
anschließt. Fachgenossen gegenüber be¬
darf es keiner näheren Auseinandersetzung
über das Wesen der Anschauungen von
Freud und seinen Anhängern. In sach¬
licher Hinsicht darf die ganze Bewegung,
was die wissenschaftliche Seite derselben
anbetrifft, wohl als erledigt gelten. Die
zurzeit daran Beteiligten werden allerdings
von der Bedenklichkeit des Weges, den
sie gehen, nicht überzeugt werden. Die
Freud sehe Methode ist nicht nur für die
Patienten bedenklich, sondern zweifellos in
der Art, wie fanatische Anhänger sie zur¬
zeit ausüben, auch für die Neuropathologie
kompromittierend und wir können nicht
energisch genug von der vielerorts be¬
liebten und geübten Art des Betriebes ab¬
rücken. Es handelt sich dabei nicht um
eine „Schule* in wissenschaftlichem Sinne,
sondern um eine Art von Sekte, nicht um
beweisbare und prüfbare Tatsachen, son¬
dern um Glaubenssätze. Die Sekte zeigt
alle Merkmale, wie sie derartigen geistigen
Bewegungen eigen ist: die fanatische Ueber-
zeugtheit, die harte Unduldsamkeit gegen
Andersgläubige mit Neigung zur Beschimp¬
fung derselben, die hohe Verehrung für
den Meister mit der Bereitwilligkeit, auch
die ungeheuerlichsten Zumutungen in in¬
tellektueller Beziehung zu schlucken, die
phantastische L'eberschätzung des bereits
Erreichten und des auf dem Boden der
Sekte Erreichbaren. Die Frage, wie die
ganze Bewegung möglich ist, ist nicht ohne
Interesse. Eine der negativen Voraus¬
setzungen war der durchschnittliche Mangel
an historischem Sinn und philosophischer
Schulung bei den Anhängern; eine andere,
die durchschnittliche Trostlosigkeit der
Therapie der Nervenkrankheiten, bei wel¬
chen jetzt sowohl die arzneiliche wie die
physikalische Heilmethode, nachdem die¬
selben ihre suggestive Wirkung eingebüßt
haben, versagen. Für die Erfolge der
Freudschen Methode, die charakteristi¬
scherweise wiederum bei der Hysterie am
deutlichsten sind, bedarf es zur Erklärung
keiner spezifischen Heilwirkung der Psycho¬
analyse. Die Erfolge werden der eindring¬
lichen Wirkung des intensiven Befassens
mit den Patienten, dem großen Aufwand
an Zeit von Seiten des Arztes usw. in
erster Linie verdankt. Auch das entspricht
dem Wesen der Sekte, daß nur die gläu¬
bigen Jünger Erfolge haben, nur die gläu¬
bigen Jünger mitreden dürfen. Es ist zu
hoffen, daß die ganze Bewegung bald end¬
gültig abflauen wird. Die Hauptbereiche¬
rung wird die Geschichte der Medizin da¬
vontragen, die eine merkwürdige psychische
Epidemie unter Aerzten in ihren Blättern
zu verzeichnen haben wird.“ (Ausführliche
Veröff entlichung in der medizinischen Klinik.)
(Autoreferat)
Herr Straub (Freiburg i. Br.): Ueber
experimentelle chronische Bleiver¬
giftung* Vortragender erzielte an Katzen
durch einmalige subkutane Applikation
von etwa 0,2 g eines sehr schwer lös¬
lichen Bleisalzes eine chronische, im Laufe
von 7—10 Wochen tödlich endende Ver¬
giftung mit zentral*nervösen Symptomen,
beginnend mit Sensibilitätsstörungen,
Ataxie, sich steigernd zu Extremitäten¬
lähmungen und dem klinischen Bilde
der multiplen Sklerose und stets en¬
digend als Bulbärparalyse. Während die
meisten Erscheinungen funktionell ver¬
laufen, bot die terminale Bulbärparalyse
bei geeigneten Versuchsbedingungen ana¬
tomische Unterlagen, nämlich Degenera¬
tionen desGollschen und Burdachschen
Stranges, des Glossopharyngeus-Vagus-
kernes und des Nucleus ambiguus, kennt¬
lich durch den Untergang der nervösen
Bestandteile und Auftreten von reichlichen
Fettkörnchenzellen. (Mikroskopisch von Pro¬
fessor A s c h o ff untersucht.) Die chemische
Bilanzierung der aus dem Bleidepot zur
Herbeiführung solcher Wirkungen entnom¬
menen Mengen ergab, daß es sich um
wenige Milligramme (ca. 20 mg) handelt,
die aber in keinem Organ der Tiere wieder¬
gefunden wurden — insbesondere ist das
Organ der Wirkung, das Gehirn und
Rückenmark bleifrei. Die Gesamtmenge
wurde vielmehr im Laufe der Zeit aus¬
geschieden. Die chronische Vergiftung
kommt also nicht wie die akute durch Sum¬
mation von Giftmengen im empfindlichen
Organ zustande, sondern durch Summation
von Minimumeffekten, die das lange Zeit
in einem Bleistrom von gewisser Dichte
lebende empfindliche Organ erleidet. Diese
Stromdichte läßt sich messen, denn da pro
Sekunde etwa 8 Milliontel Milligramm das
Tier passierten, dürfte dieses etwa eine
jeweilige Bleikonzentration von 1 :200 Mil¬
lionen dargestellt haben.
Ein eigenartiges Symptomenbild bei
Hysterischen beschrieb Schütz (Wies¬
baden), nämlich schweren Colonsp&smus,
bei dem die Operation (Laparotomie) nur
durch einen Zufall unterblieb. Die recht¬
zeitige richtige Diagnose wurde durch eine
Röntgenaufnahme ermöglicht.
Digitized by
Gck gle
Original frnm
UNIVERSiTY OF CALIFORNIA
August
Die Therapie der Gegenwart 191Q.
363
Pfersdorf (Straßburg) hat stuporöse
Geisteszustände durch Assoziationsver¬
suche analysiert und teilt dieselben je
nach ihrer Reaktion in verschiedene
Gruppen ein.
Mit der neuen Alzheimer sehen Unter-
suchungsmethode (der Abbauprodukte im
Nervensystem) hat Spielmeyer (Freiburg)
Fälle von Paralysis agitans untersucht
und entsprechende Veränderungen im
Rückenmark — als Teilerscheinung einer
diffusen Erkrankung nachgewiesen. Alz¬
heimer selbst beschreibt Untersuchungen,
die er mit derselben Methode bei der
Degeneration und Regeneration peripherer
Nervenfasern vorgenommen hat. Wichtig
ist das Ergebnis, daß sich mit dieser
Methode nachweisen ließ, daß der Achsen¬
zylinder sich durch Auswachsen von
Seitensprossen aus dem zentralen Stumpf
regeneriert und daß die Schwannsche
Zelle sich biologisch wie eine Gliazelle im
Zentralnervensystem verhält.
Becker (Baden-Baden) weist auf die
biologische Zusammengehörigkeit der Re¬
flexe hin, die bei Störung der Verbindung
zwischen Gehirn und Rückenmark auftreten.
(Westphal-, Remak-, Schäfer-, Ba¬
binsky-, Oppenheim-Bechterer- und
Mendel-Reflex.)
Mit der Alzheimerschen Methode hat
Oppenheim (Frankfurt) auch multiple
Sklerose in Frühstadien untersucht.
Einen Fall von akqter absteigender
(L an dry scher) Paralyse beschreibt Sie gm.
Auerbach (Frankfurt a. M.).
Die Vorträge von Jacob (München):
Traumatische Veränderungen am Zentral¬
nervensystem, Weygandt (Hamburg): Pa¬
ranoiafrage und Gierlich (Wiesbaden):
Tuberkel im Hirnschenkel, boten ausschlie߬
lich neurologisches Interesse.
In einem Fall von Lues cerebrospinalis
konnte Straßmann (Heidelberg) die Spiro-
chaeta pallida im Gewebe des Zentral¬
nervensystems nachweisen.
Wittermann (Rufach) hat das Kranken¬
material einer großen Pflegeanstalt zur
„retrospektiven Diagnostik* verwandt, Ka-
tamnesen erhoben und dadurch bei ein¬
zelnen Krankheitsbildern, besonders bei der
Dementia praecox, typische Merkmale des
Verblödungsstadiums gewonnen.
Es wurde beschlossen, die Versammlung
im nächsten Jahr wieder in Baden-Baden
abzuhalten. Geschäftsführer:D. Gerhardt
(Basel) und L Laquer (Frankfurt a. M ).
Als Referatthema wurden die organi¬
schen Grundlagen der Altersverän¬
derungen im Nervensystem au £ die
Tagesordnung gesetzt. Spielmeyer (Frei¬
burg) wurde als Referent ernannt.
Bücherbesprechungen
E. Poulsson. Lehrbuch der Pharma¬
kologie. Für Aerzte und Studierende.
Deutsche Originalausgabe besorgt von
Dr. med. Fr. Leskien. Mit einer Ein¬
führung von Walter Straub. Mit 8 Fi¬
guren. Leipzig 1909. S. Hirzel. 574 Seiten.
13,80 M., geb. 15,50 M.
Bis zum Erscheinen dieses Buches im
vorigen Jahr fehlte es an einem Lehrbuch
der Arzneimittellehre, das, auf den Tatsachen
der wissenschaftlichen Forschung sich auf¬
bauend, die pharmakologischen Eigen¬
schaften der Arzneimittel darstellt, gleich¬
zeitig aber auch die klinisch zur Geltung
kommenden Wirkungen eingehend genug
beschreibt, um dem Praktiker ein Berater
zu sein, d. h. ein Buch, in dem versucht
wird, die von jeher und gewiß auch in
Zukunft wechselnde Anwendung und Wert¬
schätzung der Arzneimittel auf den ge¬
sicherten Boden des Experiments zu stellen,
wodurch allein die Wirkungen der als
Arzneimittel Verwendung findenden Stoffe
verstanden und der Mechanismus der Wir¬
kungen aufgedeckt werden kann.
Ein solches Buch konnte bis dahin nur
□ igitized by Google
auf den exakten Forschungen Schmiede¬
bergs und auf den Anschauungen seiner
zahlreichen, auch den Verfasser in sich
schließenden Schüler basieren, wie sie
in dem 1909, Seite 585 besprochenen
Grundriß Schmiedebergs niedergelegt
sind. Poulsson stützt sich außer auf
seine eigenen umfassenden Erfahrungen
als Professor der Pharmakologie und Prak¬
tiker in Kristiania im wesentlichen auf
Schmiedebergs genannten „klassischen“
Grundriß, auf Cushnys ausgezeichnetes
Lehrbuch und auf Penzoklts Klinische
Arzneibehandlung.
Poulssons Buch erfüllt in glücklicher
Weise die oben aufgestellten Bedingungen
und bietet in geschickter Form dem Arzt
die Ergebnisse der wissenschaftlichen For¬
schung als Richtschnur für sein therapeu¬
tisches Handeln; es darf deshalb als die
wissenschaftliche Arzneimittellehre für den
praktischen Arzt fast uneingeschränkt
empfohlen werden. Geradezu mustergiltig
sind — um nur ein Beispiel anzuführen —
die nach der Seite der Theorie und für
die praktischen Zwecke erschöpfend be-
46 *
Original from
UNIVERSUM OF CALIFORNIA
364
Die Therapie der Gegenwart 1910.
August
handelten Kapitel Ober die allgemeinen
Anästhetika, die Gruppe des Digitoxins
(Digitalis) und viele andere. Besonders
her vorgehoben sei, daß bei jedem Arznei¬
mittel die Tatsachen Ober die Aufnahme,
Schicksale und Ausscheidung zur Beur¬
teilung herangezogen, und daß die zahl¬
reichen neueren Arzneimittel kritisch ab¬
geschätzt werden.
Daß das Buch einen Ausländer zum
Verfasser hat und in Uebersetzung vorliegt,
macht sich in keiner Weise geltend: die
bei uns gebräuchlichen und offizinellen
Mittel sowie die im Deutschen Reich gel¬
tenden Maximaldosen sind berücksichtigt;
die Uebersetzung von Leskien in Leipzig
ist, dank auch der fachmännischen Durch¬
sicht des Textes durch den Freiburger
Pharmakologen W. Straub, ausgezeichnet.
E. Rost (Berlin).
Pels-Leusden* Chirurgische Opera¬
tionslehre für Studierende und
Aerzte. Berlin-Wien, 1910, Urban und
Schwarzenberg. 728 Seiten mit 668 Ab¬
bildungen. In Leinen geb. 20 Mk.
Es gehört Mut dazu, bei der großen
Zahl chirurgischer Operationslehren, die
schon vorhanden sind, eine neue zu
schreiben. Aber diese Mühe ist in dem
vorliegenden Buch reichlich belohnt. Es
hält die Mitte zwischen den Operations¬
kursen und den ausführlichen Handbüchern
für Spezialisten und ist so für Studierende
und Nichtspezialisten vorzüglich geeignet,
sich den Verlauf einer Operation zu ver¬
gegenwärtigen, wozu die klare Darstellung
noch viel beiträgt. Da in den Lehrbüchern
der Chirurgie über der Beschreibung der
Krankheiten die Beschreibung der Opera¬
tionen vernachlässigt zu werden pflegt, die
letztere aber nicht weniger wichtig ist, so
ist das vorliegende Buch als willkommene
und wertvolle Ergänzung der chirurgischen
Lehrbücher zu betrachten. Das Buch zer¬
fällt in einen allgemeinen und speziellen
Teil. Klink.
Arthur Schlesinger» Die Praxis der
lokalen Anästhesie. Berlin-Wien 1910,
Urban & Schwarzenberg. 160 Seiten mit
22 Abbildungen. Geb. 5 Mk.
Die großen Mißerfolge der Schleie hschen
Methoden haben die Aerzte gegen die
Lokalanästhesie mißtrauisch gemacht. Ganz
mit Unrecht, denn die Erfolge, die der
jetzige Hauptverfechter der Methode,
Braun-Zwickau, damit erzielt hat, und die
Einfachheit der Ausführung derBraunschen
Methode sind so in die Augen springend,
daß das Schlesinger sehe Büchlein mit
Freuden zu begrüßen ist, denn es gibt
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dem Praktiker eine sehr gute Uebersicht
über die Verfahren, die gerade in der All¬
gemeinpraxis, wo nicht eine Schar von
Assistenten zur Verfügung stehen, zur
Schmerzstillung bei kleineren und größeren
Operationen zu empfehlen sind. Das Buch
hilft einem großen Bedürfnis ab. Nur sollte
sich der Verfasser nicht mehr soviel mit
der Schleichschen Methode befassen,
denn von ihr gilt der Ausspruch Brauns,
daß jeder, der Lokalanästhesie treiben will,
die Schleichsche Methode gar nicht
schnell genug vergessen kann. Dann darf
der Verfasser im speziellen Teil ausführ¬
licher werden, denn der Praktiker operiert
heutzutage viel; auch die Anästhesierung
bei gynäkologischen Operationen dürfte
eingehender behandelt sein. Des weiteren
würde ich empfehlen, statt verschiedene
Methoden zu beschreiben und statt des
Zusatzes von Suprareninlösung eine ein¬
heitliche Methode durchzuführen, am besten
wohl die mit Novocain Suprarenintabletten-
Höchst, die sich vorzüglich bewährt haben.
Zum Schluß darf ich daraufhinweisen
(p. 104), daß die Anästhesierung des Ober¬
kiefers von der Fossa pterygopalatina aus
von Braun fünfmal mit bestem Erfolg aus¬
geführt ist; dieses Verfahren ist einfach
und kommt z. B. für Extraktionen zahl¬
reicher Oberkieferzähne in Betracht. Doch
tuen diese kleinen Fehler dem guten Büch¬
lein keinen Abbruch. Klink.
Georg Müller (Berlin). Die Orthopädie
des praktischen Arztes. Berlin-
Wien 1910, Urban & Schwarzenberg.
Geb. 10 Mark.
Der Verfasser verfolgt den Zweck, aus
seiner großen Erfahrung den praktischen
Arzt mit dem heutigen Stand der Ortho¬
pädie bekannt zu machen, soweit sie für
den Allgemeinpraktiker, der Lust am ortho¬
pädischen Arbeiten hat, in Betracht kommt.
Müller ist selbst früher praktischer Arzt
gewesen und weiß daher sehr genau, wo
es nottut. Man kann sagen, daß er seinen
Zweck sehr gut erreicht hat, und daß er
in 258 Seiten mit 151 vorzüglichen Ab¬
bildungen den Stoff klar, übersichtlich und
doch eingehend dargestellt hat. Das Buch
kann nur empfohlen werden. Klink.
Theodor Landau. Myom bei Schwan¬
gerschaft, Geburt und Wochen¬
bett. (Mit 17 Tafeln in Photogravure
und Begleittext.) Berlin und Wien 1910.
Urban & Schwarzenberg. 60 M.
Das vorliegende Werk, bestehend aus
einem vornehm ausgestatteten Bilderatlas
und einem knapp und klar gehaltenen Be-
Original fram
UNIVER5ITY OF CALIFORNIA
August
Die Therapie der Gegenwart 1910.
365
gleittext, bildet das Extrakt 20jähriger
Studien, welche den Verfasser befähigten,
an der Hand eines ausgezeichneten klini¬
schen Materiales ein instruktives Sammel¬
werk zu schaffen. Bei der Fülle der ge*
radezu ins Ungemessene angewachsenen
Literatur über den vorliegenden Gegen¬
stand wird jeder das Erscheinen dieses
Werkes mit Freude begrüßen, welcher
sich über die in Betracht kommenden
Fragen rasch orientieren will oder sie in
dem Unterricht seinen Hörern besonders
illustrativ klar machen möchte. Nicht jede
Klinik dürfte über ein so umfangreiches
Material von graviden Myomen verfügen,
als die Privat-Frauenklinik von Landau
in Berlin. Das der Arbeit zugrunde lie¬
gende Material umfaßt die in den letzten
5 Jahren durch den Verfasser ausgeführten
283 Myomoperationen, von denen nur 2
tödlich verliefen; gewiß ein ausgezeichnetes
Resultat. Der Umstand, daß der Text eine
Vereinigung von Vorträgen in Fortbildungs¬
kursen für praktische Aerzte darstellt, hat
der Klarheit und der Durcharbeitung der
Themata sehr genutzt. Man erkennt an
der lehrhaften schematischen Kürze, daß
das Ganze oft durchdacht, oft durchsprochen
und gefeilt worden ist. Im ersten Teil
des Buches werden die Beziehungen von
Myom und Sterilität, die Diagnosenstellung
und Symptomatologie und endlich die not¬
wendigen konservativen oder radikalen
therapeutischen Maßnahmen besprochen.
Der zweite Teil der Arbeit bringt die
Unterlagen für die Schlußfolgerungen. Die
283 Fälle sind in einer kurzen übersicht¬
lichen Tabelle zusammengestellt. Die wich¬
tigeren Krankengeschichten, welche die
Komplikation von Myom mit Schwanger¬
schaft, Geburt und Wochenbett betreffen,
sind ausführlich wiedergegeben; insbeson¬
dere sind die auf den Tafeln dargestellten
Präparate eingehend erläutert. Die Er¬
fahrungen des Verfassers gipfeln in fol¬
genden therapeutischen Vorschlägen: Bei
der Komplikation von Myomatosis mit
Schwangerschaft, Geburt und Puerperium
kommen folgende Verfahren in Betracht:
1. Die Entfernung des Myoms allein.
Myomotomie und Myomektomie. Bei
Myomen, die über den inneren Mutter¬
mund reichen, empfiehlt sich stets der ab¬
dominale Weg, bei Myomen unterhalb teils
vaginales, teils abdominales Vorgehen. Bei
gestielten Geschwülsten einfache Abtragung;
bei breitbasigen Tumoren empfiehlt sich
die Enukleation. Wenn aber die Frucht
lebensfähig ist und wenn bei der Aus¬
schälung das Cavum uteri eröffnet worden
ist, muß sofort durch Kaiserschnitt ent¬
bunden werden, weil die notwendige
Schlußplastik nur am leeren Uterus leicht
und sicher auszuführen ist. Gestielte sub¬
muköse Polypen werden von der Scheide
aus entfernt. Bei zervikalen Myomen ist
die vaginale Exstirpation vorzunehmen,
wenn die nicht zu große Geschwulst —
im kleinen Becken gelegen — in die Scheide
hineinragt oder die Scheide nach abwärts
drängt Auch hier muß sofort entbunden
werden, wenn das Eibett oder das Peri¬
toneum eröffnet ist oder ein zu zerfetztes
Geschwulstbett zurückbleibt. Der vaginale
Weg wird lieber zugunsten des abdomi¬
nalen aufgegeben, wenn der Tumor so
groß wird, daß er in das Becken eingekeilt
erscheint
2. Die Totalexstirpation, supravaginale
Amputation des Uterus, abdominale und
vaginale Hysterektomie, eventuell nach
vorangegangener Sectio caesarea. Die In¬
dikation ist für dieses Verfahren gegeben,
wenn durch die Enukleation unreparierbare
Wundverhältnisse im Uteruskörper ge¬
schaffen werden müßten oder wenn ent¬
zündliche Adnexerkrankungen den Fall
komplizieren, also stets dann, wenn auch
ohne Schwangerschaft eine radikale Ope¬
ration notwendig wäre. Dasselbe gilt für
alle septischen Vorgänge in der und um
die schwangere Gebärmutter. Der vaginale
Weg kann gewählt werden, wenn der
Uterus etwa bis zum Nabel reicht Bei in¬
fizierten Myomen ist der vaginale Weg
vorzuziehen, solange das Peritoneum noch
freigeblieben ist Ist das Peritoneum be¬
reits infiziert, so empfiehlt sich die ab¬
dominale Operation. In allen zweifel¬
haften Fällen kann die letzte Ent¬
scheidung nur bei der Laparotomie
getroffen werden.
Der Verfasser verwirft mit Recht die
als wertlos und gefährlich bezeichneten
Verfahren der Kastration, der Entfernung
der Frucht mit den Ovarien und der Enu¬
kleation der Myome mit gleichzeitiger
Kastration. Von den 21 durch radikale
Operation gewonnenen Präparaten sind 17
nach der Natur von dem verstorbenen
Maler Queißer gezeichnet und nach dem
modernen Verfahren der Heliogravüre in
vollendeter Treue reproduziert worden.
Die von der geschickten Hand Picks präpa¬
rierten Originale zu den Tafeln sind in dem
pathologisch-anatomischen Museum der
Landauschen Frauenklinik in Berlin auf¬
gestellt, dessen Vorzüge ja den Lesern
zum großen Teil durch den Besuch der
Klinik bekannt sein dürften. Die Bilder
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366
Die Therapie der Gegenwart 1910.
August
erläutern in glücklicher Weise alle bei
Schwangerschaft und Myom möglichen
Komplikationen; insbesondere geht aus
dem Studium derselben die Schwierigkeit
der Plazentaranlage und die Häufigkeit der
Lageabweichungen der Frucht bei Myomen
hervor. Die Ausstattung des ganzen Werkes
macht dem Verlage alle Ehre und erklärt
den Preis von 60 Mk., welcher bei der
Güte und Gediegenheit des Ganzen kein
Hindernis für eine rasche Verbreitung des
vorliegenden Werkes darstellen dürfte.
Der Atlas schließt als pathologische Folge
zwanglos an Leopolds physiologischen
Atlas „Uterus und Ei“ und dürfte bald wie
dieser in keiner Bibliothek fehlen.
Kroemer (Greifswald.)
Oskar Scheuer. Die Syphilis der Un¬
schuldigen (Syphilis insontium). Urban
& Schwarzenberg, Berlin u. Wien 1910.
Das mehrfach auch zusammenfassend
in der Literatur behandelte, praktisch ja
sehr wichtige Thema findet hier eine ein¬
gehende monographische Darstellung, in
der die Literatur bis in die neueste Zeit
verfolgt und sorgfältig kritisch gesichtet
mitgeteilt wird, ln dem klar und über¬
sichtlich angeordneten Material wird auch
der Praktiker eine Reihe von Dingen fin¬
den, die für ihn großes Interesse haben,
wie die Beziehungen der extragenitalen
Syphilis zur Unfallversicherung, zum Heb¬
ammenberuf, die Hygiene der Barbier¬
stube, Syphilis der Aerzte u. a. m. Be¬
sonders dürfte hier die Frage, wann der
infizierte Arzt wieder praktizieren, wann
die syphilitische Hebamme wieder ihren
Beruf aufnehmen darf, den praktischen
Arzt interessieren. Das flüssig geschriebene
Buch wird sicher die analoge bekannte
Monographie von Duncan Bulkley,
welche die modernen Forschungsergeb¬
nisse nicht enthält, ersetzen. Buschke.
Hans Wossidlo* Die Gonorrhoe des
Mannes und ihre Komplikationen.
Zweite um gearbeitete Auflage. Mit
54 Textabbildungen und 8 teils farbigen
Tafeln. Leipzig 1909 bei Georg Thieme.
In dieser neuen Auflage des Wossidlo¬
schen Lehrbuches hat der Autor die
Goldschmidt sehe Irrigationsurethrosko-
pie, welche ja für gewisse Affektionen der
Urethra posterior Vorzügliches leistet, be¬
sprochen, den Strikturen ein besonderes
Kapitel gewidmet und sonst alle modernen
Ergebnisse der Gonorrhoelehre verwertet.
Das Buch gibt die Erfahrungen eines aus¬
gezeichneten Praktikers in mustergültiger
Weise wieder und bringt von der Theorie
genug, um auch den Spezialisten aus¬
reichend zu orientieren. Besonderes Inter¬
esse bringt der Autor naturgemäß auch
der instrumentellen Behandlung entgegen;
gute Abbildungen illustrieren gerade diesen
Teil des Buches. Aber auch den bakterio¬
logischen Dingen wird in dem Buche reich¬
lich Raum gewidmet. Besonders rigoros
ist Wossidlo in der Erteilung des Ehe¬
konsenses, wo er nicht nur den negativen
Gonokokkenbefund, sondern auch .die Ab¬
wesenheit nennenswerter Leukozytenmen¬
gen in den Sekreten und das Fehlen
urethroskopisch nachweisbarer Verände¬
rungen in der Harnröhre verlangt. Auch
hieraus geht die große Sorgfalt hervor,
mit der der Verfasser dieses ausgezeich¬
neten Buches seine Tripperkranken be¬
handelt. Das Werk kann aufs angelegent¬
lichste empfohlen werden. Buschke.
Referate.
Eine auffällige Steigerung der Adre-
nalinempflndlichkeit durch Kokain,
welche zur Anwendung dieser Kombination
in der Praxis auffordert, fanden Fröhlich
und Loewi. Es wurde für die Wirkung
auf Blutgefäße, Harnblase und Auge fest¬
gestellt, daß an sich ganz unwirksame Gaben
von Kokain die Adrenalinwirkung sowohl
nach Intensität wie Dauer in hohem Maße
steigern. K. Reicher.
(Arch. f. exp. Path. u. Pharm., Bd. 62, H. 2 u. 3.)
Im Gegensatz zu anderen Autoren publi¬
ziert Kuchendorf zwei Fälle von günsti¬
ger Beeinflussung des Basedowschen
Syndroms durch Röntgenstrahlen. Im
ersten handelte es sich um eine maligne
Struma, die nur unvollständig entfernt
wurde; die Bestrahlung und eine Badekur
in Nauheim hat völlige, nun schon zwei
Jahre bestehende Heilung mit Wieder¬
erlangung der Militärdienstfähigkeit ge¬
bracht. Beim zweiten, einer Patientin, die
der partiellen Strumektomie verfallen schien,
wurde mit Kropf- und Herzbestrahlungen
subjektives Wohlbefinden, die Möglichkeit,
den Haushalt wieder zu versorgen, sowie
Rückgang der Struma, der Herzvergröße¬
rung und profusen Schweißabsonderung
erzielt. Zu erwägen wäre, ob im letzten
Falle die Röntgenbehandlung nicht mehr
ah Form der beim Basedow schon an sich
so heilkräftigen psychischen Beeinflussung
wirksam geworden ist. Meidner (Berlin).
(Deutsche med. Wschr. 1910, Nr. 21.)
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Die Therapie der Gegenwart 1910.
367
Die Untersuchungen über Chlorose,
welche der Leiter der Freiburger Poli¬
klinik kürzlich mitteilte, verdienen das
Interesse der Aerzte, wennschon sie bis¬
her auf die Behandlung der Krankheit
ohne direkten Einfluß sind.
Als Kardinalsymptom der Bleichsucht
gilt bisher fast allgemein die Anämie,
also die Verarmung des Blutes an Hämo¬
globin, eventuell auch an roten Blutkörper¬
chen; aus der Anämie werden die meisten
übrigen Krankheitssymptome abgeleitet und
erklärt. Die chlorotische Anämie entsteht
wahrscheinlich durch ungenügende Neu¬
bildung, nicht durch beschleunigten Zerfall
roter Blutkörperchen. Charakteristisch für
die Krankheit ist ferner, daß sie im wesent¬
lichen nur bei Frauen in den Entwicklungs¬
jahren und dem darauf folgenden Decennium
vorkommt; später können allerdings Rezi¬
dive eintreten.
Bei den Patientinnen seiner Poliklinik
beobachtete Morawitz nun ziemlich häufig
— im letzten halben Jahre in 28 Fällen —
typische chlorotische Erscheinungen
trotz normalen oder nahezu normalen
Hämoglobingehaltes. Die meisten der
Patientinnen waren junge Mädchen, die
vom Lande stammten und dort ganz ge¬
sund gewesen waren; bald nach dem Ein¬
tritt in eine städtische Dienststellung er¬
krankten sie mit den typischen Symptonen:
Mattigkeit und Schlafsucht, Kopfschmerz
und Schwarzwerden vor den Augen, mehr¬
fach Ohnmachtsanfälle; oft bestand das
bekannte Verlangen nach sauren Speisen.
Dabei war die Anämie bei diesen Mädchen
keineswegs erheblich. In einigen Fällen
war der Hb-Gehalt (nach Sahli bestimmt)
normal; bei der Mehrzahl lag allerdings
eine geringe oder mäßige Abnahme des
Blutfarbstoffes vor, doch lag der Hb-Wert
meist über 80 °/ 0 , Bemerkenswert ist vor
allem, daß die Schwere des Krankheits¬
bildes nicht immer dem Grade der Hb-
Verarmung parallel geht (wenngleich bei
wirklich schweren Chlorosen meist eine
erhebliche Verminderung des Hb besteht);
so zeigte beispielsweise eine Patientin
bei 95% Hb einen ziemlich schweren Ge¬
samtzustand.
Unter diesen Umständen erhebt sich
natürlich die Frage, ob die in Rede stehen¬
den Kranken denn wirklich bleichsüchtig
waren. Morawitz bejaht diese Frage aus
folgenden Gründen. Erstens handelte es
sich bei über der Hälfte der Fälle nicht
um den ersten Anfall der Krankheit,
sondern um Rezidive und viele von den
Patientinnen hatten schon früher mit gutem
Erfolge Eisen genommen. Zweitens be¬
standen bei den meisten gewisse objektive
Symptome: Amenorrhöe oder Unregel¬
mäßigkeiten der Periode, ferner Nonnen¬
sausen (und zwar bei gerader Kopf¬
haltung und Vermeidung jeden stärkeren
Stethoskopdruckes). Das letztere wird ge¬
wöhnlich durch eine vermehrte Strömungs¬
geschwindigkeit des Blutes erklärt, welche
bei starker Hb-Armut als kompensatorische
Vorrichtung gegen die drohende Sauer¬
stoffverarmung der Gewebe erwiesener¬
maßen eintritt. Indeß besteht bei Chlorose
bisweilen auch Nonnensausen, wenn der
Hb-Gehalt nahezu normal ist — Morawitz
hörte es bei einer Patientin mit 85 % Hb
in besonders schöner Weise — während
es bei Anämien anderen Ursprungs selbst
ber viel stärkerer Verminderung des Blut¬
farbstoffes vermißt werden kann. Morawitz
schließt daraus, daß anämische Blutbe¬
schaffenheit und beschleunigte Blutströmung
zum mindesten nicht die einzigen
Ursachen der Venengeräusche bei
Chlorose sind. Den letzten und nach¬
drücklichsten Beweis für die Zugehörigkeit
seiner Fälle zur Chlorose sieht Morawitz
in der Heilwirkung des Eisens; die
große Mehrzahl seiner Patientinnen wurde
in sehr kurzer Zeit durch Eisen wesentlich
gebessert, bzw. geheilt.
Aus diesen Beobachtungen zieht Mo¬
rawitz den Schluß: Die Anämie ist
nicht das Kardinalsymptom der Chlo¬
rose, die Erscheinung, von der die
meisten übrigen abhängen; sie ist nur
eines der Symptome unter anderen.
Die Wirkung des Eisens bei Chlorose
spricht nicht gegen diese Anschauung,
sondern stützt sie eher. Denn es ist nicht
bewiesen, ja sogar unwahrscheinlich, daß
die heilende Wirkung des Eisens bei Chlo¬
rose als direkte oder indirekte Reizwirkung
auf die blutbildenden Organe, speziell als
Reiz für reichlichere Hb-Bildung zu deuten
ist. Gegen die Existenz einer solchen
Reizwirkung spricht die Nutzlosigkeit des
Eisens (im Gegensatz zum Arsen) bei fast
allen nicht chlorotischen Anämien. Bei den
Chlorotischen andererseits beseitigt das
Eisen nicht nur die Anämie, sondern die
ganze Fülle der objektiven und subjektiven
Symptome, welche nicht von der anämi¬
schen Blutbeschaffenheit abhängen (so die
Störung des Wasserhaushaltes, die den
Chlorotischen eigentümliche Neigung zu
Wasserretention, welche mit der Hb-
Armut nicht Zusammenhängen kann, da sie
den meisten anderen schweren Anämien
fehlt). Dadurch ist die Vorstellung be-
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368
Die Therapie der Gegenwart 1910.
August
gründet, daß die Eisenwirkung bei der Chlo¬
rose nicht an den blutbildenden Organen,
sondern an der noch unbekannten
Wurzel des gesamten Krankheits¬
bildes der Bleichsucht angreift.
Auf die weiteren Fragen, die sich nun
erheben: Was ist das Wesen der Chlo¬
rose? Wie erklären sich die Krankheits¬
erscheinungen, wenn sie nicht von der
Anämie abhängig sind? Wo greift die Eisen¬
wirkung an? — ist eine Antwort vorläufig
nicht möglich. Manche Erscheinungen
deuten auf Beziehungen der Chlorose zu
den Ovarien hin, andere auf solche zu der
Schilddrüse (Häufigkeit der Anschwellung
der Schilddrüse bei Chlorotischen), doch
liegen die Zusammenhänge, die hier viel¬
leicht bestehen, noch im Dunkeln.
F. Klemperer.
(Münch, med. Woch. 1910, Nr. 27).
Cluß hat aus der Literatur alle ope¬
rierten Fälle von traumatischer Jackson¬
scher Epilepsie gesammelt, die mindestens
3 Jahre nach der Operation geheilt blieben,
im ganzen 21 Fälle. Diese Ziffer ist sehr
niedrig im Verhältnis zu der großen Zahl
der Operierten. Die Heilung wurde bis
20 Jahre beobachtet, ein Beweis, daß die
Heilung durch Operation möglich ist. In
anderen Fällen wurden noch nach fünf
Jahren Spätrezidive beobachtet. Es kommt
auch vor, daß Wochen-, monate- oder jahre¬
lang nach der Operation noch Anfälle be¬
stehen und dann schwinden. Ein jüngeres
Lebensalter verbessert die Prognose. Außer
dem Trauma muß man noch ein prädispo¬
nierendes Element für die Entwicklung der
Krankheit annehmen, wie überstandene
Infektionskrankheiten, Intoxikationen und
sonstige Schädlichkeiten, auch langdauernde
Eiterung am Ort der Verletzung, über¬
mäßigen Alkoholgenuß. Es hatten fast
immer Knochenwunden und meist kompli¬
zierte Schädelbrüche bestanden; als Folgen
fanden sich Exostosen, Knochendepres¬
sionen, knöcherne Defekte des Schädel¬
gewölbes mit ausgedehnten Narben, die die
Gehirnrinde und -hüllen beteiligten; sehr
häufig fanden sich Zysten, darunter sehr
ausgedehnte porenzephalische Zysten. Die
leichtere Art der Verletzung beeinflußte
die Prognose nicht günstiger. Die Erfolg¬
losigkeit der Operation hat bisweilen ihren
Grund darin, daß außer der operierten
Stelle noch andere Stellen des Gehirns
verletzt sind. Die Anfälle treten selten
sofort nach dem Trauma auf; meist tritt
ein kürzeres oder längeres Stadium der
Latenz ein, das bis 29 Jahre beobachtet
wurde. Die längste Latenz zeigten die
Fälle, wo das Trauma vor dem 14. Lebens¬
jahre auftrat Während der Latenz wurden
bisweilen Kopfschmerzen, Schwindelanfälle,
Ohnmächten beobachtet, einige Male trat
nach dem Trauma Lähmung einiger Körper¬
teile auf, die bisweilen wieder zurückging.
Die Dauer des Bestehens der Epilepsie hat
für die Prognose der Operation keine Be¬
deutung; auch nicht die Länge der Zeit
seit dem Trauma. Das Symptomenbild der
traumatischen Jackson sehen Epilepsie ist
sehr wechselnd. Das Bewußtsein schwindet
meist. Die Pausen sind erst länger, dann
immer kürzer, so daß man zuletzt von
einem Status epilepticus sprechen kann.
Die Anfälle beginnen teilweise mit einer
Aura, die an den Ort der Verletzung oder
in das zuerst krampfende Glied verlegt
wurde; häufig treten sie nach Aufregung
oder Anstrengung auf. Bisweilen lassen
sie sich durch Druck auf die empfindliche
Narbe auslösen. Zuweilen haben die Re¬
flexepilepsien den Jackson sehen Typus.
Bald ist nur eine Körperhälfte befallen,
bald gehen die Anfälle auch auf die andere
über, doch wird hierdurch die Prognose
nicht beeinflußt. Der Verlauf der Anfälle
entspricht nicht immer dem der klassischen
Jackson sehen Epilepsie. Es finden sich
überhaupt manche Anklänge und Ueber-
gänge zu der allgemeinen traumatischen
Epilepsie. Bei den allgemeinen Krampf¬
anfällen dieser Fälle weisen nur Lähmungs¬
erscheinungen oder ein stärkeres Hervor¬
treten der Krämpfe in einem Körper¬
abschnitt auf die Jacksonsche Epilepsie
hin. Hemiparese und Paralyse in den
vorher zuckenden Gliedern trat bei der
Hälfte der Kranken auf; die Lähmungs¬
erscheinungen blieben in einigen Fällen
bestehen und nahmen mit der Zahl der
Anfälle zu. Nach den Anfällen machten
namentlich die Kopfschmerzen Beschwerden,
das Gedächtnis nahm ab, die Geisteskräfte
verfielen. Von Operationsmethoden kommen
zwei in Betracht: Ventilbildung in der
Schädelkapsel nach Kocher und Exzision
der krampfenden Gehirnzentren nach
Horsley. Die Ventilbildung hilft nicht
immer; ja, es sind Fälle durch Bildung
eines knöchernen Verschlusses geheilt
worden, wo während des Bestehens eines
Ventils Anfälle auftraten.
Außerdem bedeutet eine Schädellücke
immer eine große Gefahr schon wegen der
Narbe der Verwachsungsprozesse zwischen
Haut und Dura und der Narbenschrump¬
fung. In 7 von den 21 Fällen waren die
Anfälle aufgetreten, obwohl nach der Ver¬
letzung eine Knochenlücke zurückgeblieben
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Die Therapie der Gegenwart 1910.
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war; 6 Fälle wurden trotz festen Ver¬
schlusses geheilt. Die Exzision des Krampf¬
zentrums ist angezeigt, wenn sich daselbst
krankhafte Veränderungen des Gehirns
oder seiner Häute finden. In 6 Fällen
wurden Narben der Hirnrinde abgetragen,
6 mal wurden Zysten der Hirnrinde ent¬
fernt, 2 mal wurde das scheinbar gesunde
Zentrum entfernt. Die Bestimmung des
Zentrums geschieht durch elektrische Rei¬
zung. Die größte Aussicht auf Erfolg
haben offenbar die Fälle, bei denen sich
greifbare Veränderungen finden. 7 Fälle
wurden ohne Eingriff am Gehirn selbst ge¬
heilt, wodurch der Satz widerlegt wird,
daß längere Zeit gedrückte Hirnteile des¬
halb entfernt werden müssen, weil sie sich
nicht mehr erholen können. Als Folge der
Exzision von Gehirnsubstanz trat sofort
oder nach kurzer Zeit eine Lähmung auf,
die meist in höchstens 14 Tagen schwand;
wo keine Gehirnsubstanz entfernt wurde,
schwanden die vor der Operation bestehen¬
den Lähmungen. Baut sich der Anfall der
Jackson sehen Epilepsie aus einer epilep¬
tischen Veränderung und dem lokalen Reiz
auf, so verursacht nach dem Wegfall der
einen Komponente die noch vorhandene,
schlummernde, epileptische Veränderung,
die durch die Operation nicht beseitigt
worden ist, infolge unbekannter Reize
einen allgemeinen epileptischen Anfall. Zur
Vermeidung der Verwachsung der Dura
mit Pia und Gehirn empfiehlt Finsterer
das Einschieben eines Stückes Bruchsack.
Klink.
(v. Bruns Beitr. z. klin. Chir. LXVI, 2.)
In seiner Arbeit „Zur Therapie spontaner
Hftftgelenksluxationen im Gefolge akuter
Erkrankungen" macht Brandes darauf
aufmerksam, daß der Arzt beim Auftreten
sekundärer Gelenkprozesse nach Masern,
Scharlach, Typhus, Sepsis u. a. an eine
Spontanluxation denken und sich bemühen
soll, sie zu verhüten. Lagerung und Ver¬
bände reichen allein nicht aus, sondern
die letzte Prophylaxe ist nach Brandes*
Ansicht die wiederholte Entfernung des
im Gelenk vorhandenen Exsudates durch
Punktion. Nur durch diese läßt sich eine
allzu große Dehnung und Erschlaffung der
Gelenkbänder und Kapsel verhüten und
sich die Tiefe und Form der Pfanne er¬
halten, indem die Schwartenbildung ver¬
hindert wird. Auf diese Weise wird auch
am besten die Reluxation vermieden, die
nach Reposition bei frühen Fällen leicht
eintreten kann, wenn das Exsudat nicht
aus dem Gelenk entfernt ist.
Bei erfolgter Spontanluxation sollen
nach Brandes’ Meinung Punktionen des
Gelenkes bei frühen Fällen und Repo¬
sitionsmanöver wie bei der kongenitalen
Luxation die ersten therapeutischen Ma߬
nahmen darstellen. Hohmeier (Altona).
(D. Zeitschr. f. Chir. Bd. 105, H. 1 u. 2.)
Erst in neuerer Zeit hat man angefangen,
die Wirkung klimatischer Einflüsse mit
exakten Untersuchungsmethoden zu prüfen.
Unsere wissenschaftlichen Erfahrungen sind
aber auf diesem Gebiete immer noch recht
mangelhafte. Nur der Einfluß des Gebirgs¬
klimas ist bisher — besonders von der
Zuntzschule — eingehend in verschiedener
Richtung studiert worden, und es ist der¬
selben Schule wiederum zu verdanken, daß
jetzt auch „über den Einfluß des See¬
klimas und der Seebäder auf den
Menschen" Forschungsergebnisse, die sich
auf den Eiweißenergiehaushalt, sowie
auf Pulsfrequenz und Blutdruck be¬
beziehen, vorliegen.
Loewy, Müller, Cronheim, an
Stoffwechsel versuche gewöhnte F orscher,
machten zusammen mit Bornstein an der
Nordsee in einer lötägigen Versuchs¬
periode diese Untersuchungen.
Die Nahrungszufuhr war selbstver¬
ständlich in jeder Richtung genau analy¬
siert und quantitativ zugemessen.
Die stickstoffhaltigen Substanzen sowie
die Gesamtkalorien blieben sich täglich fast
ganz gleich.
1. Die Wirkung des Seeklimas und
stickstoffhaltiger Substanzen auf den
Eiweißstoffwechsel und den Energie¬
haushalt:
Durch das Seeklima sowohl wie durch
die Seebäder wurde der Sauerstoffver¬
brauch gesteigert.
Ein Körpergewichtsverlust stellte sich
aber durch das Klima allein nicht ein. Der
Umsatz müßte schon „erheblich" größer
sein, um dies zu bewirken.
Während der Periode der Seebäder
dagegen wird eine „langsam fort¬
schreitende Abnahme des Körper¬
gewichts" konstatiert.
Die quantitativen Veränderungen gingen
parallel mit qualitativen, mit „Abnahme
des respiratorischen Quotienten".
Die Ursache dieses Effekts entzieht sich
einstweilen noch der Beurteilung.
In zwei Fällen zeigte sich stärkere Zu¬
nahme des kalorischen Quotienten im Harn,
sowie eine Wirkung auf den N-Umsatz,
die allerdings bei verschiedenen Indi¬
viduen in entgegengesetzter Richtung
ausfiel: in dem einen Falle eine Steigerung,
in dem anderen eine Einschränkung. Da
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370
Die Therapie der Gegenwart 1910.
August
die Werte in den 15 Tagen konstant blieben,
kann von Versuchsfehlern wohl nicht die
Rede sein, sondern wie in anderer Be¬
ziehung macht sich hier die individuelle
Beeinflussung geltend.
2. Der Einfluß des Seeklimas auf die
Blutbildung.
Das Höhenklima Qbt durch Sauer¬
stoffmangel einen erregenden Reiz auf
die blutbildenden Organe aus.
Um diese Wirkung an der See zu
prüfen, wurden 2 Würfe von Hunden —
8 im ganzen — nicht nur in bezug auf den
Hämoglobingehalt, sondern auch mit Rück¬
sicht auf die Gesamtblutmenge nach der
Methode von Plesch untersucht.
Das Resultat war ein negatives. Eine
Steigerung, wie sie das Höhenklima ver¬
anlaßt, konnte nicht festgestellt werden.
3. Pulsfrequenz und Blutdruck.
Von den untersuchten Individuen litten
zwei an Arteriosklerose. Eine geringe
Steigerung des systolischen Druckes(12mm)
trat nur in einem Falle auf, die übrigen
zeigten keine Veränderung. Das See¬
klima ist also im Gegensatz zu den See¬
bädern vom Gesichtspunkte des Blut¬
drucks aus bewertet für Arteriosklero-
tiker nicht kontraindiziert. Durch das
Seebad stieg aber der systolische Blut¬
druck bei kurz- und langdauerndem Bade
bis um 33 mm Hg — also erheblich — an,
der diastolische blieb unverändert. Die
Pulsfrequenz stieg von 80 auf 100 an. Kurz
nach dem Bade gingen die Erscheinungen
schnell zurück.
Ursache kann sein:
1. der Salzgehalt des Meerwassers,
2. der Wellenschlag,
3. die Muskelarbeit gegen den Wellen-
schlag.
Daß für Individuen, deren Herz- und
Gefäßsystem der Schonung bedarf, See¬
bäder schädlich sind, hat man stets ge¬
wußt; wir wissen jetzt, daß einer der schäd¬
lichen Faktoren die dadurch hervorgerufene
Blutdrucksteigerung ist.
4. Der Kochsalzstoffwechsel.
Bei täglicher Zufuhr von 12 g waren
die entsprechenden Ausscheidungen sehr
schwankende. Bei 3 Personen kam es zu
Steigerung der Kochsalzausscheidung.
Es wurden auch Versuche darüber an¬
gestellt, wie viel Kochsalz sich auf der
Körperoberfläche ansammelt, und es stellte
sich heraus, daß dies von dem verschie¬
denen Grade der Behaarung abhängt; es
fanden sich Werte bis 0,377 g NaCl pro
qm Körperoberfläche.
Die Wirkung des Kochsalzgehaltes
der Seeluft auf den menschlichen Orga¬
nismus, dem vielfach noch Bedeutung bei¬
gemessen wird, ist nach den vorliegenden
Anschauungen nicht erheblich.
Dagegen ist die Licht Wirkung an der
See, die sich bei photographischen Auf¬
nahmen zeigt, sicherlich von Bedeutung.
B. Hirsch (Berlin).
(Zeitschr. f. exp. Path. u. Ther., Bd, 7, H. 3,
S. 627.)
Während für die Klimipfüßbehandlungr
älterer Kinder der nach erfolgtem Redresse¬
ment in überkorrigierter Stellung ange¬
legte Gipsverband als das Normal verfahren
zu gelten hat, sind die Meinungen bei
Neugeborenen und Säuglingen geteilt.
Die einen legen auch hier sofort den Gips¬
verband an, die anderen begnügen sich
nach erfolgtem Redressement mit Schienen-
und Bindenverbänden. Haudek gehört zu
den letzteren; bis zum Alter von 5 Monaten
verwendet er den Bindenverband nach
Finck — von Oettingen. Das Redresse¬
ment nimmt er etappenweise in 2—5 Sitzun¬
gen vor. Beim Anlegen der Binde läßt er
die dritte Tour um die Ferse herumgehen,
um den Kalkaneus nach außen zu drängen.
Die Tenotomie der Achillessehne hat sich
bei allen 20 bisher von ihm behandelten
Fällen erübrigt, ebenso war in keinem der
Fälle eine Nachbehandlung nötig. Wenn
die Kinder zu laufen anfingen, erhielten
sie eine Keileinlage an der Außenseite.
Haudek ist mit den Resultaten seiner Be¬
handlungsweise sehr zufrieden, er empfiehlt
das Oettingensche Verfahren wegen
seiner Einfachheit in der Technik und weil
die Körperpflege des Kindes nicht dabei
zu leiden braucht. Das etappenweise Vor¬
gehen verhindert Plattfußbildung durch
Ueberkorrektur, jederzeit ist eine Kontrolle
der Stellung im Verbände möglich.
Für schwerere Klumpfußformen älterer
Kinder, die unblutig nicht mehr redressiert
werden können, empfiehlt Haglund eine
Modifikation der Phelpsschen Operation.
In Betracht kommen die Kinder unter 10
bis 12 Jahren, bei denen das Hindernis
nicht im Skelett, sondern in der Retraktion
der plantaren und medialen Weichteile
liegt. Werden letztere nach Phelps durch¬
trennt, so entsteht eine breitklaffende
Wunde, die zur Vermeidung der Narben¬
retraktion eine lange Fixationszeit nötig
macht. Haglund hat deshalb dem äußeren
Fußrand, an dem nach der Korrektur ein
Ueberfluß an Weichteilmaterial vorhanden
ist, einen gestielten zungenförmigen Weich¬
teillappen entnommen und in den Defekt
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August
Oie Therapie der Gegenwart 1910.
371
am inneren Fußrande eingenäht Mit dem
Ergebnis ist er sehr zufrieden gewesen.
Bergemann (Königsberg).
(Deutsche Zeitschr. f. orthopftd. Chir., Bd. 25,
S. 716.)
Untersuchungen Ober die leukozyt&ren
und humoralen Kampfmittel des Orga¬
nismus gegen bakterielle Infektionen hat
Rubritius mitgeteilt. Zu den Reagens¬
glasversuchen lassen sich vom Tier Leuko¬
zyten gewinnen durch intraperitoneale In¬
jektion steriler Bouillon. Vom Menschen
gewann Rubritius genügend Leukozyten
auf folgende Weises Nach der Punktion
wurde in die Höhle von kalten Abszessen
20—40 ccm einer 1 %igen Nukleinsäure¬
lösung gespritzt; nach 14—16 Stunden kann
man dann eine Flüssigkeit mit reichlichen
polynukleären Leukozyten entleeren; die
Injektionen wurden jeden fünften Tag
wiederholt; geschadet haben dieselben den
Kranken nie. Die Leukozyten wurden
mehrfach gewaschen und nur wenn sie
steril waren mit menschlichem Blutserum,
inaktiviertem Serum, physiologischer Koch¬
salzlösung und steriler Bouillon vermischt.
Sie müssen frisch verwendet werden, da sie
schon nach 24stündigem Auf bewahren bei
kühler Temperatur einen Teil ihrer Bakte-
ricidie verloren haben. Extrakte dieser
Leukozyten erwiesen sich auch als viel
weniger wirksam. Die Versuche haben
gezeigt, daß auch dem Menschen, wie es
für Tiere schon festgestellt ist, zum Schutz
gegen bakterielle Infektionen zweierlei Ab¬
wehrmittel zur Verfügung stehen, die leuko-
zytären und die aus dem Blutserum stam¬
menden Bakterizidine. In dem vereinten
Wirken beider, sei es durch die unter¬
stützende Rolle, welche die Säfte für die
Leukozytenbakterizidie einnehmen, oder
durch die unabhängige Wirkung der Säfte
und Leukozyten voneinander ist das Heil
für den Organismus gelegen. Die Art und
Weise, wie der menschliche Organismus
seine keimfeindlichen Stoffe gegen die ver¬
schiedenen Arten von Infektionserregern
in Anwendung bringt, ist ziemlich kompli¬
ziert und je nach der Art der Mikroorga¬
nismen verschieden. Keime, die vom Serum
stark abgetötet werden, unterliegen gar
nicht oder nur wenig den Leukozyten.
Hingegen lallen diejenigen Keime, die vom
Serum nicht angegriffen werden, viel öfter
den Leukozyten zum Opfer. Ein Beispiel
für die erste Gruppe ist der TyphusbaziUus,
Bact. coli comm. und Choleravibrio; in die
zweite Gruppe gehören hauptsächlich solche
Keime, die nicht die Fähigkeit haben, im
Blut und in den Organen sich zu ver-
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mehren, wie der Diphtheriebazillus und in
gewissem Sinne der Bacillus pyocyaneus.
Während Much gegenüber Strepto- und
Pneumokokken starke bakterizide Eigen¬
schaften des menschlichen Blutplasmas, das
reichlich Leukozyten enthielt, feststellen
konnte, wobei nach seinen Untersuchungen
das Serum diesen Keimen gegenüber als
wirkungslos sich erwies, konnte Rubritius
die starken bakteriziden Fähigkeiten der
Leukozyten nur gegenüber gewissen Arten
von Strepto- und Staphylokokken nach-
weisen. Das völlige Fehlen der Serum-
bakterizidie diesen Eitererregern gegen¬
über konnte auch er bestätigen. Bei
Strepto- und Staphylokokken muß man zwei
ganz verschiedene Typen unterscheiden,
von denen die einen von den Leukozyten
gar nicht, die anderen sehr stark beeinflußt
werden; die Leukozyten wirken im letzteren
Falle am stärksten, wenn sie in dem an
sich ganz unwirksamen Serum aufge¬
schwemmt sind. Hierbei spielen wohl die
Opsonine eine Rolle, die in hohem Maße
die Phagozytose befördern, wodurch der
erwähnte Kontakt hergestellt wird. Die
saprophytisch vegetierenden, avirulenten
Arten erwiesen sich stark der Bakterizidie
menschlicher Leukozyten unterworfen, wäh¬
rend die pathogenen Arten weder von den
leukozytären noch humoralen Schutzstoffen
beeinflußt werden; auf diesem Wege ist es
vielleicht nicht unmöglich, zu einer Unter¬
scheidung zwischen pathogenen und nicht¬
pathogenen Arten zu .gelangen. Auch ist
die Uebereinstimmung der hämolytischen
Fähigkeit dieser Kokken und der Virulenz¬
bestimmung nach der vorliegenden Methode
ganz auffallend. Die als virulent erwiesenen
und nach den klinischen Ermittlungen auch
wirklich virulenten bildeten nämlich Hämo¬
lysine, die als avirulent erwiesenen nicht.
Klink.
(v. Bruns Bcitr. z. klin. Chir. 1910, Bd. 66, H. 2.)
Die Einrichtung von Luftbädern in
Lungenheilstätten befürwortet Dr. Zick¬
graf (Groß Hausdorf). Er berichtet, daß
bei 34 darauf beobachteten Patienten das
Körpergewicht mehr sich hob, trotz ge¬
ringer Abnahme nach jedem Luftbad, als
bei solchen, die nicht das Luftbad be¬
nutzten, sonst aber gleich behandelt wurden.
Beachtenswert ist auch, daß die ver¬
bissensten und arbeitsunlustigsten Patienten
ohne Sträuben jeglicher Arbeit sich unter¬
zogen. Dazu kommt die bald bemerkbare
Hebung des Allgemeinzustandes. Es er¬
scheint uns nicht unwichtig, darauf auf¬
merksam zu machen, daß so durch prakti¬
sche Erfolge die früher bestehenden theo-
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372
Die Therapie der Gegenwart 1910.
August
retischen Kontraindikationen gegen das
Luftbad immer weiter eingeschränkt wer¬
den. Uebrigens hat vor mehr als 8 Jahren
bereits Schweninger im Lichterfelder
Krankenhause auch Tuberkulösen die Vor¬
teile des Luftbades angedeihen lassen.
Hauffe (Ebenhausen).
(Ztschr. f. phys. u. diftt. Ther., Februar 1910.)
Jede umfangreiche Mitteilung Ober
Lumbalanästhesie ist mit Freuden zu be¬
grüßen, denn die schöne Methode steht
wegen der schweren Zufälle, die danach
gemeldet wurden, in Gefahr, verlassen zu
werden. Ein treuer Anhänger derselben
ist Slajmer (Laibach), der sie in 2700Fällen
mit Tropakokain ausgefQhrt hat. Als Gegen¬
anzeige gilt ihm Sepsis, schweres Fieber,
floride Tuberkulose und Lues in den ersten
Stadien, schwere Rückenmarkserkrankun¬
gen, während er sie öfters bei halbseitiger
Lähmung nach alten Apoplexien anwandte.
Von besonderem Wert zeigte sich die
Methode bei sehr alten Leuten, bei schweren
Lungen-, Herz- und Nierenleiden, bei
schwerem Diabetes und Arteriosklerose.
Eine Nierenstörung trat nie auf. Niemals
war die Injektion technisch unmöglich,
immer entleerte sich Liquor. Es wurde
stets Tropakokain Merck in sterilen Phiolen
zu 0,05 und 0,10 in physiologischer Koch¬
salzlösung verwandt. Temperaturen bis
37,8° kamen in 20%, bis 390 in 6—7%
vor, stets als Folge fehlerhafter Technik.
Leichte Kopfschmerzen zeigten sich in 25%,
länger dauernde in 2%; Pyramidon und
Koffein wirkten gut gegen dieselben; stär¬
kere Kopfschmerzen schwanden auf Ent¬
leerung von 5—10 ccm Liquor cerebrospi¬
nalis. Für die Dauer der Anästhesie be¬
steht eine schwache Parese des Sphincter
ani. Das Tropakokain scheint außerdem
den Darm anzuregen. Blasenstörungen sind
nicht häufiger als nach anderen Narkosen.
Schwere Kollapse wurden 7 mal erlebt, fast
stets bei Beckenhochlagerung. Unvoll¬
kommen war die Anästhesie 106 mal, stets
infolge fehlerhafter Technik. Andauernde
Nervenlähmung, besonders der Augen¬
nerven, traten nicht ein. Todesfälle kamen
nicht vor. Manchmal entstand der Ein¬
druck, daß nachträglich stärkere Blutungen
auftraten nach Auf hören der Tropakokain¬
wirkung. Die gewöhnlich verbrauchte Menge
war: bei Hernienoperationen, Appendekto¬
mien, Magen-, Gallenblasen-, Nierenopera¬
tionen 0,07, bei Operationen an Blase, Darm,
Anus, Genitalien 0,04—0,05. Neuerdings
gibt Verf. bei größeren Laparotomien eine
Stunde vorher Skopolamin - Morphium
(0,003—0,01) subkutan. Als unterste Grenze
gilt das 14. Jahr. Für die Operationen galt
der Magen als oberste Grenze. Der Ein¬
stich wurde unterhalb des 3. oder 4. Lenden¬
wirbels gemacht, medial oder lateral, meist
sitzend. Von dem Liquor wird so viel ab¬
gelassen, als Feuchtigkeit eingespritzt wird;
man spritzt ein, wenn derselbe im Strahl
oder rasch tropfend fließt. Nach der In¬
jektion wird etwas Liquor angesaugt und
wieder injiziert, doch darf keine Gewalt bei
der Aspiration angewandt werden. Die
Rekordspritze und Nadel werden in physio¬
logischer Kochsalzlösung ausgekocht. Adre¬
nalin oder andere Nebennierenpräparate
wurden nie verwandt. Die Nadel soll 8 bis
9 cm lang, höchstens 1 mm dick sein, die
Spitze kurz; gut sind Hartnickelnadeln.
Bei Hirntumoren und bei traumatischen und
entzündlichen Prozessen an Hirn und
Rückenmark wurde die Punktion ohne
Schaden ausgeführt. Die Lumbalanästhesie
soll nur angewandt werden, wo die Lokal¬
anästhesie nicht möglich ist. Klink.
(v. Bruns Beitr. z. klin. Chir. 1910, Bd. 67.)
Die namentlich für die Beurteilung von
Unfällen wichtigen Beziehungen zwischen
Lunge und Trauma macht Külbs, dem wir
auch ähnliche Studien in bezug auf das Herz
verdanken, in verdienstlicher Weise einer
experimentellen Analyse zugänglich. Külbs
konnte bei Hunden durch stumpfe Gewalt¬
einwirkung auf die Thoraxwand neben
leichten Pleuraverletzungen ziemlich erheb¬
liche Veränderungen an den Lungen er¬
zeugen, so Blutungen, gröberere Zerreißun¬
gen von Pleura pulmonalis und Lungen¬
gewebe, Die Weichteile blieben dabei oft
unverletzt Bei den einige Tage oder
Wochen nach dem Schlage getöteten Tieren
fand man ein mehr oder wenig reichlich
Blutfarbstoff einschließendes Granulations¬
gewebe. Später ging dieses in ein gefä߬
armes, derbes Bindegewebe über.
Beim Schlage gegen die vordere und
seitliche Thoraxwand — nie bei Erschütte¬
rungen der hinteren Thoraxwand — trat
Kontrecoupwirkung gelegentlich auch in
entfernteren Lungenbezirken auf, z. B. Blu¬
tungen im rechten Oberlappen beim Schlag
gegen den linken Unterlappen. Die leich¬
tere Ansiedlung von Bakterien in einem
derart veränderten Lungengewebe ist ohne
weiteres zuzugeben.
Das Zustandekommen der traumatischen
Pneumonie gewinnt jedenfalls nach diesen
dankenswerten Untersuchungen viel mehr an
Wahrscheinlichkeit. K. Reicher.
(Arch. f. experim.Pathol.u.Pharmak., Bd. 62, H.l.)
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August
Die Therapie der Gegenwart 1910.
373
Mann berichtet über Resultate bei der
Behandlung der Lungentuberkulose mit
dem Marmorekschen Serum. Nach
seinen Erfahrungen trat in den meisten
Fällen darnach eine fortschreitende Ver¬
schlechterung des lokalen Befundes ein.
Nach den Obduktionsbefunden gewann er
den Eindruck, daß das Serum dem spezi¬
fischen Zerstörungsprozeß der Bazillen Vor¬
schub leistet. Es fand sich, obzwar nur leichte
Fälle in Behandlung genommen wurden,
bei der Obduktion der tuberkulöse Prozeß
über die ganze Oberfläche der Lungen
ausgebreitet und im Infiltrate waren zahl¬
lose kleine Kavernen und peribronchitische
Abszesse vorhanden. H. W.
(Wiener klin. Wochenschr. Nr. 42.)
Nicht penetrierende kallöse Magenge¬
schwüre sind nicht selten, besonders an der
kleinen Kurvatur und Pars pylorica; alle
penetrierenden, d. h. die Magenwand
durch wachsenden und auf die Nachbar¬
organe übergreifenden Magengeschwüre
sind kallös, alle bilden mächtige Bindege¬
webswucherung, sind von derben, entzünd¬
lichen Wällen umgeben. Schwarz (Agram)
teilt 17 derartige Fälle mit. Die Therapie
kann natürlich nur chirurgisch sein. Die
Exzision des Magengeschwürs beseitigt nur
das Symptom, die Magengeschwürskrank¬
heit wird dadurch nicht berührt. Die kau¬
sale Therapie des Magengeschwürs ist die
Gastroenterostomie; hiernach wird auch
durch das Ueberfließen des alkalischen,
mit Galle und Pankreassafc gemengten
Darmsaftes, in den Magen der Magensaft
neutralisiert, wodurch die Neubildung von
Magengeschwüren erschwert wird. Schwarz
führte früher die segmentäre Resektion aus,
fügte später prinzipiell die Gastroenterosto¬
mie hinzu und begnügt sich jetzt bei allen
Magenleber- und Magenpankreasgeschwüren
mit der Gastroenterostomie; der Erfolg der
letzteren Operation ist auch bei solchen
penetrierenden Geschwüren, die weitab vom
gesunden Pylorus liegen, ganz überraschend.
Die Furcht vor krebsiger Umwandlung des
kallösen Ulkus darf nicht zu radikalen Ope¬
rationen verleiten, denn man sieht nach
Gastroenterostomie allein penetrierende
Ulzera ganz ausheilen; ist aber eine karzi-
nomatöse Umwandlung schon im Gange,
hat sie bereits auf Leber oder Pankreas
übergegriffen, dann dürfte auch die radi¬
kalste Operation zwecklos sein. Natürlich
hilft auch die Gastroenterostomie nicht in
allen Fällen. Die Gastroenterostomie soll
ein reichliches Einströmen von Galle und
Pankreassaft in den Magen gestatten; sie
ist am besten als hintere und recht breit
anzulegen. Das penetrierende Ulkus heilt
leichter nach der Gastroenterostomie als
das einfache, vielleicht infolge der Still¬
legung durch die Verwachsung mit Nach¬
barorganen. Sehr beachtenswert ist die
Methode der Maydlschen Klinik, bei allen
superaziden Ulzera der Exzision des Ulcus
diePylorusresektion hinzuzufügen. Für diese
Operation spricht neben den guten Er¬
folgen die theoretische Berechtigung: Der
Mageninhalt und saure Magensaft kann sich
nicht mehr stauen; vom Pylorus aus wird
der Reiz zur Sekretion des sauren Magen¬
saftes ausgelöst, was nach seiner Resektion
verhindert wird. Bei den Magenbauch¬
wandgeschwüren muß man das Ulkus ex-
zidieren, was sich meist leichter machen
läßt, und dann gastroenterostomieren. —
Den penetrierenden Magengeschwüren nahe
verwandt sind die penetrierenden Jejunal¬
geschwüre; sie können sich nach Gastro¬
enterostomie entwickeln, können ohne vor¬
herige Beschwerden in die Bauchhöhle per¬
forieren, können unter Bildung entzünd¬
licher Tumoren in die Bauch wand wachsen,
können ins Colon transversum perforieren.
Die Beschwerden können Jahre nach der
Gastroenterostomie auftreten. Manchmal
tritt nach Nahrungsaufnahme eine Linde¬
rung der Beschwerden ein; Erbrechen ist
selten. Viel seltener tritt das Jejunalge¬
schwür nach hinterer, als nach vorderer
Gastroenterostomie auf. Dem entspricht
die chirurgische Behandlung: das Geschwür
ist zu exzidieren und eine Gastroentero-
stomia post, anzulegen. Eine Jejunostomie
hat immer versagt. Wenn alles andere
versagt, wäre eine Cholezystogastrostomie
zu machen, um die Magenschleimhaut stän¬
dig alkalisch zu berieseln. Klink.
(v. Bruns Beitr. z. klin. Chir. 1910, Bd. 67.)
Einen neuen Vorschlag zur Erzielung
von tiefen Narkosen macht L. Burk¬
hard t-Freiburg. Er führt das Narkotikum
(Chloroform oder Aether) in physiologischer
Kochsalzlösung verteilt, intravenös ein
und hebt als Vorteile dieser Methode den
außerordentlich geringen Verbrauch an
Chloroform beziehungsweise Aether sowie
die exakte Dosierbarkeit hervor. Außer
gelegentlicher Hämoglobinurie und vor¬
übergehender Nierenreizung hat Burk¬
hardt bei Menschen und Tieren keine üblen
Nachwirkungen gesehen. Atmung und Puls
blieben während der ganzen Narkose auf¬
fallend ruhig. Es muß natürlich abgewartet
werden, ob die günstigen Erfahrungen,
welche an kleinem Materiale mit dieser
immerhin einen ernsten Eingriff bedeuten¬
den Methode gewonnen wurden, einer
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374
Die Therapie der Gegenwart 1910.
August
Nachprüfung an vielen Fällen Stand halten
werden. K. Reicher.
(Arch. f. experim. Pathol. u. Pharmak., Bd. 61,
H. 4—6 )
Auerbach und Brodnitz, deren ge¬
meinsame Arbeit bereits eine Reihe günstiger
Resultate auf dem Gebiete der Neuro¬
chirurgie aufzuweisen hat, haben einige
weitere Beiträge zur Hirn- und Rücken¬
markschirurgie geliefert, an deren Hand
sie ihren Standpunkt über einige noch der
Diskussion unterstehende Punkte der Dia¬
gnose und Behandlung der Tumoren des
Zentralnervensystems präzisieren.
Fall I. Mehrere Jahre mit langen Re¬
missionen heftige neuralgische Schmerzen
im Nacken, die zuletzt in den Vorderarm
und die rechte Hand ausstrahlen. Darauf
Schwäche des rechten Beines und Inkon-
tinentia urinae.
Objektiv: Rechte Pupille und Lidspalte
etwas erweitert. Spastische Parese des
rechten Beines, Fußklonus, Babinski, Pa-
tellarklonus; links keine Spasmen, jedoch
Fuß- und Patellarklonus, Babinski.
Am rechten Bein taktile Hyperästhesie,
links Hypalgesie und Hypothermie, also
Brown-S6quardscher Komplex.
Nach antiluetischer Kur Verschlimme¬
rung. Zunehmende Lähmung des linken
Beines. Sehr beträchtliche Rigidität beider
Beine, Neigung zu tonischen Krämpfen bei
geringen Reizen. Jetzt auch am rechten
Bein und der rechten Körperhälfte bis zur
3. Rippe Hypalgesie und Hypothermie.
Diagnose: Intraduraler, extramedullärer
Tumor. Für die Ermittlung des Sitzes
wurde die oberste Grenze der sensiblen
Lähmung verwertet. Diese fiel mit dem
2.-3. Dorsalsegment zusammen, so daß
man unter Berücksichtigung der Tatsache,
daß die Kreuzung der Schmerz- und Tem¬
peraturbahnen immer einige Segmente
höher liegt, als oberste Grenze der ver¬
muteten Neubildung das 7.—8. Zervikal¬
segment angegeben werden konnte. Diese
Annahme wurde auch gestützt durch das
okulopupilläre Symptom, das in diesem
Falle als ein Reizsymptom des 8. Zervikal-
Segmentes aufgefaßt wurde.
Operation zweizeitig. Nach Resektion
der Wirbelbögen sieht man den das
Rückenmark stark komprimierenden Tumor,
der vom 3. Dorsalwirbelbogen bis zum
4. Halswirbelbogen reicht. Lösung des
Tumors von der Dura, Exstirpation.
TrotzKopferysipelsundeinerOtitismedia
genas der Patient und konnte nach 3 Mona en
sich mühelos fortbewegen. Nach weiteren
9 Monaten war restlose Heilung eingetreten.
Die epikritischen Bemerkungen, die Ver¬
fasser in neurologischer sowie chirurgischer
Hinsicht an diesen Fall knüpfen, eignen sich
nicht für eine Wiedergabe in extenso und
müssen im Original nachgelesen werden.
Die folgende Krankheitsgeschichte be¬
handelt einen Fall von Neurofibrom des
Ulnaris. Es wurde der diagnostizierte,
5 cm lange Tumor reseziert und die
Nervenenden durch Lappenbildung ver¬
einigt. Es erfolgte innerhalb 5 Wochen
glatte Heilung. Bemerkenswert ist die
auch bei anderen Nervensektionen ge¬
fundene Tatsache des Ausbleibens von
Lähmungserscheinungen unmittelbar nach
Kontinuitätstrennung des betreffenden
Nerven.
Die letzte Beobachtung führt in das
Gebiet der Hirn Chirurgie. Es handelt sich
um ein zwölfjähriges Mädchen, das seit
vier Jahren an Kopfschmerzen litt, ln den
letzten Wochen stärkerer Kopfschmerz,
Flimmern vor den Augen und Erbrechen.
Dazu kam Unsicherheit des Ganges.
Objektiv: Patellarreflexe beiderseits
schwach, Andeutung von Romberg. Babinski
links kein Nystagmus. Neuritis optika.
14 Tage später, rechte Pupille fast starr,
links träge Reaktion. Konjunktivalreflexe
fehlen. Linker Kornealreflex abgeschwächt.
Bewegungsataxie der linken Hand und des
linken Fußes. Adiadokokinesis der linken
Hand. Zerebellare Ataxie. Patellarreflexe
erloschen. Deutliche Stauungspapille. Klopf¬
empfindlichkeit des linken Okkiput.
Diagnose: Tumor cerebelli. Sitz mit
Rücksicht auf die linksseitige Bewegungs¬
ataxie und Adiadokokinesis ebenfalls links.
Bei Anlegung der Trepanationsöffnung
profuse Blutung, die nur mit Mühe durch
eine Wachsplombe gestillt werden konnte.
8 Stunden später Exitus an den Folgen
des schweren Blutverlustes.
Bei der Sektion fand sich der vermutete
Tumor, ein zellreiches Gliom der linken
Kleinhirnhemisphäre. Bemerkenswert ist,
daß die tötliche Blutung aus einem Aneu¬
rysma des Konfluens sinuum erfolgt war.
Leo Jacobsohn.
(Mitt. a. d. Grzgb. d. Med. u. Chir. 1910, H. 4.)
Sitzenfrey hat 58 Eklampsiefälle
gesammelt, die mit Nierendekapsolation
behandelt wurden. Mortalität = 39,6%.
19% betrafen Schwangere, 31 % der
Eklampsien Puerperae. Die Mortalität der
ersteren war 45 %, die der letzteren 28 %.
Die Mortalität der Nierendekapsulation an
sich sollte Oo/ 0 sein. Die einseitige De-
kapsulation ist mit Rücksicht auf die hohe
Mortalität bei Eklampsie abzulehnen, auch
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August
Die Therapie der Gegenwart 1910.
375
wenn die eine Niere bedeutend kränker
gefunden wird. Es sind wegen des nicht
selten außerordentlich schnellen Verlaufs
der Eklampsie stets beide Nieren zu de-
kapsulieren, um möglichst rasch eine aus¬
giebige Diurese zu erzeugen und die Ge¬
fahr der Anurie infolge akuter Nierenin¬
suffizienz abzuwenden. In 80o/ 0 folgte auf
die Dekapsulation eine deutliche Hebung
der Diurese. Bei der Beurteilung der Re¬
sultate — 33o/ 0 Mortalität bei doppelter
Dekapsulation — muß man bedenken, daß
auch bei schwersten Eklampsien spontan
eine plötzliche Genesung eintreten kann.
Die Hebung der Diurese ist die physio¬
logische Wirkung der Dekapsulation und
hat natürlich nur Zweck, wenn die Harn¬
sekretion darniederliegt; bei guter Diurese
hat die Operation keine Berechtigung, wenn
auch die Anfälle sehr stark und häufig sind
und das Koma tief ist. Die Mortalität bei
Eklampsie beträgt ohne Eingriff an den
Nieren etwa 20%. Die größten Verände¬
rungen finden sich anNieren: Degeneration am
sezemierenden Parenchym; an Leber: fibri¬
nöse Thromben und Parenchymnekrosen;
an Gehirn: Erweichungsherde, Blutungen,
Oedeme. Bei der Niereneklampsie beherrscht
die Oligurie bzw. Anurie und die Harn¬
veränderung das Krankheitsbild; bei der
Lebereklampsie der Ikterus; bei der Hirn¬
eklampsie die schweren eklamptischen An¬
fälle in dem tiefen Koma. Die Dekapsu-
iadon hat natürlich nur Zweck bei der
renalen Eklampsie; sie beseitigt die intra¬
renale Spannungserhöhung und damit die
Anurie, Zyiindrurie, Hämaturie und häufig
die Albuminurie, immer vorausgesetzt, daß
noch keine schweren Parenchymverände-
rungen vorhanden sind. Die intrarenale
Spannungserhöhung kann entstehen:
1. Durch Verschluß oder Kompression
beider oder selbst eines Ureters. 2. Durch
Verlegung der Harnkanälchenlumina durch
Harnzylinder, Harnsäure, Kalk, Bilirubin,
Hämoglobin. 3. Durch Kompression der
Nierenvene, infolge von erhöhtem intraab¬
dominalen Druck bei Gravidität, oder hoch¬
gradiger Stauung in derselben. 4. Durch
beträchtliche Verengerung der Lumina der
Nierenarterie und deren Aeste infolge von
Gefäßkrampf. 5. Durch entzündliche Ver¬
änderung des Nierengewebes. Bei der
Operation fand man drei Formen: 1. Die
geschwollene blaurote Niere, 2. die große
weiße Niere, 3. die ödematöse, weiche,
matsche Niere. Mit großen Kochsalzinfu¬
sionen soll man bei Eklamptischen vor¬
sichtig sein, da dieselben eine Kochsalz¬
retention im Blute, eine Verschlimmerung
der Nierenkrankheit und Zunahme der
Oedeme bedingen können. Die Dekapsu¬
lation bei Eklampsie ist angezeigt, wenn
nach erfolgter Entbindung die Harnsekretion
nicht oder nur ungenügend in Gang kommt
und durch andere Mittel nicht zu heben ist.
Wie lange man zuwarten kann, dafür fehlt
jeder Anhaltspunkt. Zu berücksichtigen ist
die reflektorische Anurie nach Operationen,
die bald zu schwinden pflegt. Klink.
(v. Bruns Bcitr. z. klin. Chir, 1910, Bd. 67.)
Einen Fall von Nephrolithiasis als Folge
subkutaner Nierenverletzung berichtet
Casper. Der Patient war bis zu seinem
Unfall völlig gesund gewesen, hatte ins¬
besondere auch bei schwerster Arbeit nie¬
mals Blutharnen gehabt. Unmittelbar nach
dem Trauma der rechten Nierengegend
entleerte er blutigen Urin. Die Hämaturie
verschwand; Patient nahm die Arbeit wieder
auf, und alsbald wurde auch sein Harn
wieder fleischwasserfarben. Das wieder¬
holte sich mehrfach, auch während er in
Caspers Klinik beobachtet wurde. Der
Eintritt der Hämaturie war stets von
Schmerzen begleitet. Durch Ureterenkathe-
terismus wurde festgestellt, daß die ab¬
normen Bestandteile des Harns ausschlie߬
lich der rechten Niere entstammten; nur
ein steter Reichtum an Oxalatkristallen kam
dem Sediment der Urine beider Nieren
gleichmäßig zu. Unter dieser bloß lokali-
satorisch präzisen Diagnose gelangte der
Patient zur Operation, die in der Entfernung
eines halbbohnengroßen Steins aus dem
rechten Nierenbecken bestand und schlie߬
lich vollständige Heilung herbeiführte.
Das Konkrement war ein mit Oxalat¬
kristallen inkrustiertes Blutgerinnsel. Diese
Zusammensetzung im Verein mit der Be-
schwerdelosigkeit vor dem Unfall und seit
der Operation sieht Casper als Beweis
für die traumatische Genese dieses Falls
von Nephrolithiasis an. Eine Nierenver¬
letzung führt nur dann zur Entstehung
eines Konkrements, wenn, wie selten, gleich¬
zeitig eine Ueberladung des Harns mit
Salzen besteht. Auch in dieser Beziehung
ist der vorliegende Fall lehrreich, indem
er beweist, daß auch Oxalate, nicht bloß
Phosphate und Urate, um ein Fremdkörper¬
stroma herum als Steine auskristallisieren
können. Meidner (Berlin).
(Bert. klin. Woch. 1910, Nr. 19.)
Fritsch(-Küttner) teilt einen lehr¬
reichen Fall von Ulcus ventriculi perforans
als Aetiologie der Pankreasnekrose mit:
Langjährige Ulkusbeschwerden; Erschei¬
nungen von Perforationsperitonitis. Ope¬
ration: Eröffnung eines großen Abszesses
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Die Therapie der Gegenwart 1910.
August
zwischen Magen und Zwerchfell mit stin¬
kendem Eiter. Durch Tamponade wird die
Peritonitis abgegrenzt, und die Oeffnung
im Magen schließt sich durch Verklebungen;
in der 3. Woche Pneumonie, in der 4.
Parotitis. Plötzlich Entleerung von reich¬
licher weißer Flüssigkeit aus der Wunde:
Pankreassaft. Der Patient erliegt dem
Kräfteverfall. Autopsie: Ulcus ventriculi
perforans und totale Pankreasnekrose. Bei
der ersten Operation bestand noch keine
Pankreaserkrankung; dieselbe entstand erst
infolge der direkten Infektion des Pankreas
durch die Eiterung. Die Cammidgeprobe
war positiv. Es ist der zweite derartige
bisher mitgeteilte Fall. Klink.
(Bruns B. 1910, Bd. 66, H. 1.)
Die Veränderung des Mittellappens bei
der ProstatÄhypertrophie festzustellen,
macht große Schwierigkeiten, da die
Untersuchung vom Rectum aus oft ver¬
sagt, auch die Untersuchung mit starren
Sonden keine genauen Aufschlüsse gibt
und die Cystoskopie in vielen Fällen tech¬
nisch unausführbar und wegen Blutungs¬
und Infektionsgefahr zu gefahrvoll ist.
Burkhärdt und Floercken empfehlen
deshalb die Darstellung der vergrößerten
Prostata auf röntgographischem Wege mit
gleichzeitiger Füllung der Blase mit Sauer¬
stoff, bei der ja auch, worauf Burkhardt
schon früher hinwies, Fremdkörper sehr
deutlich auf der Platte hervortreten.
Nach Einführung eines elastischen
Katheters wird die Blase vorsichtig ent¬
leert und mit Sauerstoff gefüllt, indem
entweder der Katheter direkt mit einer
Sauerstoffbombe oder aber mit einer
3°/oiges Wasserstoffsuperoxyd enthaltenden
Flasche, die eine als Katalysator dienende
Kalium-hypermangan. Pastille enthält, in
Verbindung gebracht wird. Die Füllung
wird unterbrochen, sobald die Blase
sich vorwölbt und der Patient über Span¬
nungsgefühl klagt. Will man wegen
Blutungsgefahr die Blase nicht ganz ent¬
leeren, so bedient man sich eines doppel¬
läufigen Katheters; es kann so der Urin
langsam abfließen, während Sauerstoff
einströmt. Die beigegebenen Röntgen¬
bilder zeigen sehr schön die Vergrößerung
des Mittellappens und der Seitenlappen,
außerdem auch die Ausdehnung und den
Hochstand der Blase.
Die röntgographische Darstellung der
Prostata kann eventuell ausschlaggebend
sein für die Art der Operation, da nach
Ansicht einer großen Zahl von Chirurgen
bei der Vergrößerung des Mittellappens
die suprapubische Methode, in anderen
Fällen die perineale bezw. Wilms’sche Ope¬
ration vorzuziehen ist.
Hohmeier (Altona).
S. Zcitschr. f. Chir. Bd. 105 Heft 1 u. 2.
Ueber die Folgezustände der Verletzun¬
gen des Schläfenbeins berichtete auf dem
Otologenkongreß Manasse (Straßburg L
Eis.). Derselbe teilt die Folgezustände
der Verletzungen des Schläfenbeins in
3 Gruppen:
* I. Fälle, die direkt durch das Trauma
zugrunde gehen;
II. Fälle, die indirekt, also an den weiteren
Folgen des Traumas, das Leben ein¬
büßen ;
III. Fälle, die mit dem Leben davonkommen.
Die I. Gruppe ist für das Referat ohne
Interesse, die II. wird kurz besprochen,
zu ihr gehören die Fälle, di.e an eitriger
Meningitis, selten an Sinusthromben oder
Hirnabszessen zugrunde gehen. Man könnte
sie bezeichnen als „entzündliche Erkrankun¬
gen des Hirns und seiner Häute nach
Felsenbeintraumen“.
Das größte Interesse beansprucht die
III. Gruppe, welche diejenigen Patienten
umfaßt, die an ihrem Felsenbeintrauma
weder direkt noch indirekt zugrunde gehen.
Sie werden eingeteilt in
A. solche, die auch funktionell zur völligen
oder fast völligen Heilung kommen.
a) Leichte Fälle, mit normalem oder
fast normalem Gehör, aber sonst deut¬
lich nachweisbaren Labyrinthstörun¬
gen, bedingt durch Commotio laby-
rinthi.
b) Schwere Fälle von typischer Basis¬
fraktur, die trotzdem auch zur funk¬
tioneilen Heilung kommen (ziemlich
selten).
B. Fälle mit dauernder schwerer Schädi¬
gung der Funktion: traumatische Taubheit
oder Schwerhörigkeit.
a) Zufolge von Felsenbeinfraktur.
b) Zufolge von Commotio labyrinthi, beide
nur anatomisch, weniger klinisch zu
unterscheiden.
(OtologenkongreB 1910.)
Neumayer hat im Chirosoter Klapp
ein ausgezeichnetes Mittel zur Behandlung
von Verbrennungen gefunden. Die Ver¬
brennungen 1. Grades werden mit Chiro¬
soter übersprayt und steril verbunden;
bei Verbrennungen 2. Grades werden erst
die Blasendecken abgetragen, der gallertige
Inhalt der Blasen mit feuchten Tupfern be¬
seitigt, dann folgt Chirosoterspray und
steriler Verband. Bei Verbrennungen
3. Grades werden nur die herunterhängen¬
den, nekrotischen Fetzen entfernt, im
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August
Die Therapie der Gegenwart 1910.
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übrigen bleibt der Schorf liegen; die ganze
Wundfläche wird übersprayt und mit ste¬
rilem Verband bedeckt. Der erste Verband
bleibt solange liegen, bis er durchtränkt
ist. Beim Verbandwechsel tupft man etwa
vorhandenes Sekret am besten mit Koch¬
salztupfern ab. Die Sekretion ist aber bei
Anwendung dieses Mittels gering, da das
Chirosoter die sezernierenden Oeffnungen
verschließt und so zu einer Verminderung
des Eiweißverlustes führt. Verunreinigte
Brandwunden kann man abspülen oder
wenn die Gelegenheit dazu fehlt, ohne jede
Reinigung mit Chirosoter übersprayen oder
einfach übergießen und steril verbinden.
Die auf der Wundfläche liegenden Krusten
sollen nur an den Stellen, an denen sie
sich spontan lösen, abgetragen werden.
Die noch festsitzenden sollen liegen bleiben,
bis sie von selber abfallen. Fallen die
Borken ab, so kommt darunter die neue
junge Haut zum Vorschein; zur Kräftigung
und Geschmeidigmachung derselben, em¬
pfiehlt es sich, sie noch 1—2 mal mit Chiro¬
soter zu übersprayen und sie für einige
Tage mit einem Schutz verband zu be¬
decken.
Sehr angenehm bei dieser Behandlung
ist die in den meisten Fällen bald nach
dem Spray auftretende Schmerzlosigkeit.
Um auch bei sehr empfindlichen Patienten
Linderung der Schmerzen zu erreichen,
wendet Neumayer das 1 %ige Alypin-
Chirosoter an.
Eine Wucherung der Granulationen ist
nicht zu befürchten, der Höllensteinstift
kommt nur selten in Anwendung.
Um die Ueberhäutung der Wundflächen
noch mehr zu beschleunigen, empfiehlt
Neumayer die von ihm erprobte Schar-
lachrot-Chirosoteremulsion.
Die Narben werden bei dieser Behand¬
lungsart glatt, zeigen wenig Neigung zur
Schrumpfung.
Neumayers Erfolge mit dieser Be¬
handlungsmethode sind sehr gute und er
empfiehlt das Mittel, weil es einfach und
billig ist, die Infektion verhindert, die
Heilung beschleunigt, schöne, glatte Narben
gibt und die Schmerzen lindert.
Neumayer fügt noch an, daß die ge¬
schilderte Behandlung auch bei hart¬
näckigem, nässenden Ekzem, auch Jodo¬
formekzem, gute Dienste geleistet hat.
Hohmeier (Altona).
(Deutsche Zschr. f. Chir. Bd. 104. H. 5. u. 6.)
Therapeutischer Meinungsaustausch.
Aas der Prof. Dr. v. Bardelebenschen Poliklinik für Frauenkrankheiten, Berlin.
Baldriao-Therapie bei nervösen Storungen.
Von Dr. Theo Kuttner, Assistent.
Die wirksame Substanz der Baldrian¬
wurzel befindet sich in dem ätherischen
Baldrianöl, welch letzteres in der Wurzel
bis zirka 1% nachgewiesen worden ist.
Es wirkt anscheinend vornehmlich der
Ester des Borneol lsovalerianats, welches
sich in dem Oel der getrockneten Wurzel
bis zirka 9 0 / 0 , dagegen zu Beginn des
Trocknens bis zirka 12% befindet (Kobert).
Beim Menschen und beim Tierexperi¬
ment wirkt es in kleinen Dosen etwas an¬
regend auf das Nervensystem und wird
daher bei Kollapszuständen, Gehirndepres¬
sionen, allgemeiner Schwäche angewandt,
in etwas größeren Gaben wirkt es gefä߬
erweiternd und sedativ auf das Nerven¬
system. Nach größeren (doppelten) Dosen
wirkt es als Antispasmodikum durch Herab¬
setzung der Reflexerregbarkeit.
Der Baldrian ist benutzt worden als
Unterstützungsmittel der Bromidbehandlung
bei Epilepsie. Bei Tieren gelingt es,
Strychnin- und Ammoniakkrämpfe durch
Baldrianöl zu beseitigen (Kobert). Es
ermöglicht, den Blutdruck zu erniedrigen
bei Vasospasmen durch die gefäßerwei¬
ternde Wirkung auf das Zirkulationssystem
und kann daher mit großem Vorteil bei
unerwünschtem,hyperämischemBlutandrang
nach dem Kopfe und den Geschlechts¬
organen angewandt werden. Auch in
Fällen von Shok und Kollaps, durch Angst,
Schreck oder dergleichen hervorgerufen,
wie z. B. nach kleinen operativen Eingriffen
oder ärztlichen Untersuchungen bei sehr
nervösen Individuen, angekündigt durch
Gesichtsblässe, erweiterte Pupillen und
kalte Extremitäten, läßt sich die zweck¬
mäßige Wirkung so erklären, daß die
wahrscheinliche passive Hyperämie des
intraabdominalen Venensystems sich auf¬
löst, wenn die Gefäßerweiterung des aite-
riellen Systems stattfindet Als Sedativum
in der Behandlung von Angstneurosen
neurasthenischer und hysterischer Kranker
hat es sich in der Therapie schon seit
längerer Zeit bewährt.
Um die Wirksamkeit des Borneols zu
erhöhen, hat man Isovaleriansäure-Borneol-
ester mit Brom chemisch vereinigt, wodurch
das Präparat sehr erheblich an Geschmack,
Bekömmlichkeit und Geruch gewinnt.
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Die Therapie der Gegenwart 1910.
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Der gewonnene Monobromisovalerian-
säure-Borneolester enthält 25,2 °/o Brom,
26,5% Isovaleriansäure, 48,3% Borneol
und wird von der Fabrik Schering ab¬
gekürzt „Valisan“ genannt, in Gelatine¬
kapseln ä 0,25 in Originalpackungen (Blech¬
dosen ä 10 und 30 Stück) in den Handel
gebracht. Das flüssige Valisan, welches
wir auch zur Verfügung hatten, ist wasser¬
hell, von glyzerinartiger Konsistenz und
hat einen leichten aromatischen Geruch
und Geschmack. Es ist nicht in Wasser,
sondern in organischen Lösungsmitteln
löslich.
Es hat sich bei uns als ein besonders
gutes therapeutisches Hilfsmittel in zahl¬
reichen Fällen bei verschiedenen Störungen
des Zentral- und sympathischen Nerven¬
systems bewährt, und die in unserer Klinik
erzielten guten Resultate stellen somit nur
eine Bestätigung des auf der inneren Ab¬
teilung des städtischen Krankenhauses
Charlottenburg-Westend (Vorstand Prof.
Dr. Grawitz) mit diesem Präparate er¬
zielten Erfolges dar.
Besonders gut bewährt hat es sich in
Fällen von Neurasthenie, Hysterie, Reiz¬
barkeit des Nervensystems und Angst¬
neurosen bei Onanie und der Basedow¬
schen Krankheit, bei Beschwerden des
Klimakteriums und den Ausfallserschei¬
nungen nach Hysterektomia mit Kastration.
Auch in Fällen von Magenneurosen mit
Erscheinungen? von Uebelkeit oder Er¬
brechen durch lokale Ursachen oder re-
flexe Erregbarkeit, wie z. B. das Er¬
brechen während der Schwangerschaft, ist
es, in letzterem Fall in nachstehender
Weise, mit Erfolg angewandt worden:
2—3 Kapseln Valisan werden des Mor¬
gens vor dem Aufstehen mittels einer
Tasse nicht zu heißen schwarzen Kaffees,
welcher langsam nachgetrunken wird, ver¬
abreicht. Einige Patienten, die eine See¬
reise machten, teilten mir mit, daß ihnen
2 Kapseln, 2—3 mal täglich, mit schwarzem
Kaffee genommen, gute Dienste geleistet
hätten.
Ein typisches Bild der vielen Fälle von
Neurasthenie und Hysterie infolge von
Onanie gibt folgendes Beispiel:
Eine junge Maschinennäherin, 21 Jahre alt,
klagt über häufiges Urinieren (alle 15 Minuten),
Jucken an den Geschlechtsteilen, aufsteigende
Hitze, häufigen Kopfschmerz, plötzliches Auf¬
schrecken aus dem Schlaf mit Angstgefühl,
Appetitlosigkeit und Ausfluß (Vaginitis infolge
Masturbation). Objektiver Befund: Herz und
Lunge ohne Befund, Geschlechtsorgane mit
Ausnahme von Vaginitis ohne Befund, Urin¬
menge 24 Stunden 1000—1500 ccm, klar, kein
Zucker oder Eiweiß. Mittels hygienischer Ma߬
regeln und Verabreichung von 6 Valisan-
kapseln täglich, ferner einer lokalen Behand¬
lung mit anästhesierender Salbe hat sich der
Zustand nach einigen Tagen gebessert, und
nach 7—8 Wochen fühlte sich die Patientin
sehr wohl, der Ausfluß ließ gänzlich nach, und
sie konnte als geheilt entlassen werden.
Für eine Reihe von anderen Fällen wäre
folgendes Beispiel ein Typ: Patientin sehr
korpulent, klagt über Herzbeklemmung, Angst¬
gefühl und Gürtelschmerz, während sich je¬
doch kein objektiver Befund nachweisen läßt.
Es wurde ihr empfohlen, nur an solchen
Tagen, an denen sich die Beschwerden ein¬
stellen oder an denen sie außerordentlich
nervös ist, 1—2 Kapseln zu nehmen und die¬
selbe Dosis bei Wiedereintreten der Be¬
schwerden zu wiederholen. Ebenfalls wurde
Valisan mit Erfolg in derselben Weise an¬
gewandt auch bei den Angstneurosen und
Herzklopfen der Basedowschen Krankheit.
Auch in nachstehender Weise wurde
Valisan angewandt:
Eine sehr nervöse Patientin, die sich seit
längerer Zeit an Morphium gewöhnt hatte,
mußte sich bei uns einer Darmoperation unter¬
ziehen. Trotzdem der Eingriff gut gelungen
ist und der Patientin während unserer Be¬
handlung kein Morphium erlaubt wurde, klagte
sie einige Tage nach der Operation über
heftige kolikartige Leibschmerzen. Es stellte
sich heraus, daß die Patientin zu viel Gänse¬
braten und Bier vertilgt hatte. Da sie das so
sehr erwünschte Morphium nun nicht be¬
kommen konnte, mußte sie als Ersatz mit un¬
serer Verabreichung von Valisankapseln, und
zwar je 2 Stück 3—4 mal täglich, vorlieb
nehmen. Auch in diesem Falle war Erfolg zu
verzeichnen, und so könnte dieses Mittel auch
bei Morphiumentziehungskuren in Betraeht
kommen.
Mit Erlaubnis eines Herrn Kollegen möchte
ich hier noch einen nennenswerten Erfolg an
einem seiner Patienten berichten:
Es handelt sich um einen sehr nervösen
Ministerialbeamten, welcher schon seit längerer
Zeit vergeblich mehrere Aerzte wegen In-
somnia konsultiert hatte. Es wurden ihm
3 Kapseln Valisan 1 Stunde vor dem Schlafen¬
gehen verordnet und erklärte Patient darauf,
daß er jetzt seit 3 Wochen die erste Nacht
habe schlafen können. Er benutzt auch nur
die Kapseln als Hilfsmittel, um ihm über Tage,
an denen sich größere Nervosität einstellte,
hinwegzuhelfen. Ist er von schwerem Tages¬
dienst erschöpft oder erwartet er Aerger von
seiten seiner Gattin oder Vorgesetzten, so
nimmt er sofort 2 Kapseln, um solche Momente
besser überwinden zu können, da er andern¬
falls sehr erregt ist. Der Patient nimmt jetzt
jede Woche an Gewicht zu und gab seiner
Freude darüber Ausdruck. Der eklatante Er¬
folg gab mir Veranlassung, an dieser Stelle
hiervon zu berichten.
Die Kapseln wurden stets gern ge¬
nommen und verursachten niemals lästiges
Aufstoßen, noch wurden irgendwelche
schädliche Nebenwirkungen je beobachtet.
Die Herstellung dieses Präparates in
Kapselform ermöglicht eine haltbare,
saubere und bequeme Verabreichung und
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Die Therapie der Gegenwart 1910.
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ist auch, abgesehen von der Verbesserung,
Borneolvalerianat mit Brom chemisch zu
verbinden, als ein sehr konzentriertes
Baldrianpräparat anzusehen. Angenommen,
daß das Oel, welches in der Baldrian¬
wurzel bis zu 1 % gefunden wird, statt 9°/ 0
10°/ 0 Borneol-Valerianat enthält, so ist es
leicht ersichtlich, daß zirka 1000 g Wurzel
nur 1 g Isovaleriansäure-Borneolester auf¬
weisen könnte. Der Gehalt an Borneol-
Valerianat in der üblichen Dosis der
Baldrianpräparate ist, wie aus folgender
Tabelle hervorgeht, auch ein ziemlich ge¬
ringer.
Rad. Valerianae. . .
Extr. Valerianae fld. .
Tinct.
» n
aeth.
Dosis g
Valeriansiure-
Bomeol g
2,0 0,002
. 2,0 0,002
Tropfen
. 15—60 0,001-0,003
. 12—60 0,001—0,003
Demnach würden 5—6 Valisankapseln
an Gehalt von Valeriansäure-Borneol (25%
Gehalt an Brom subtrahiert) 1 kg Baldrian¬
wurzel entsprechen.
Auf Grund unserer mit „Valisan“ ge¬
machten Erfahrungen kann dieses neue
Baldrianpräparat wohl als ein sehr brauch¬
bares Arzneimittel bezeichnet werden.
Ueber Alkohol-Verbände. 1 )
Von Dr. C. Köhler - Görlitz.
Angeregt zur Anwendung des Alkohol-
verbandes wurde ich durch den Vortrag
Büchners auf der Naturforscher-Ver¬
sammlung in München 1899: „Ueber die
natürlichen Schutzeinrichtungen des Or¬
ganismus." In demselben empfahl Büchner
die äußere Anwendung des Alkohols als
hervorragendes Unterstützungsmittel der
im Körper vorhandenen Schutzeinrichtungen
für den Kampf mit Infektionen. Nach
Büchner beruht der heilbringende Einfluß
der Alkoholumschläge darauf, daß sie eine
Erweiterung der Hautgefäße, in noch
höherem Grade der Muskelgefäße und am
meisten der Gefäße des Magen-Darmtraktus
herbeiführen, und daß dadurch eine ver¬
stärkte Zuflußleitung von frischem Blut
und damit frischen Leukozyten und bakte¬
riziden Blutbestandteilen zum Infektionsherd
bewirkt wird. Es ist leicht ersichtlich, daß
dem Blut und den ihm innewohnenden
Heilfaktoren um so schneller ein Erfolg
beschieden ist, daß also um so leichter
eine Heilung eintritt, je früher man mit
der Applikation des Alkoholverbandes ge¬
gebenenfalls beginnt. Aus diesem Grunde
sind auch ein Hauptanwendungsgebiet für
denselben entzündliche Prozesse, die erst
im Beginn und noch nicht weiter fortge¬
schritten sind, wie Phlegmonen, Panari-
tien, Mastitiden, Phlebitiden, Lymph¬
adenitiden usw. im Anfangsstadium.
Gerade hier ist die Wirkung des Alkohol¬
umschlages eine eklatante. Ueberraschend
schnell tritt gewöhnlich ein Nachlassen und
schließlich Aufhören der Schmerzen ein.
*) Anm. des Herausgebers: Die vorstehende
Arbeit glaube ich zum Abdruck bringen zu sollen,
obwohl sie nur Bekanntes rekapituliert, weil wohl
manche Kollegen die SalzwedeIschen Alkoholver-
bände noch nicht so vielseitig anwenden, als die¬
selben es verdienen; diesen Kollegen werden die
Empfehlungen des Verf. hoffentlich zur Anregung
dienen.
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Vor allen Dingen läßt sich aber auch bald
feststellen, daß die Entzündung zurückgeht.
Aber auch bei einer bereits beginnenden
eitrigen Einschmelzung ist oft noch ein
Stillstand und Rückgang zu erzielen. Tritt
letzterer in einem oder höchstens zwei Tagen
nicht ein, so habe ich es vorgezogen, den
Eiter operativ zu entfernen. Aber auch
nach der Operation genannter Affektionen
ist eine Weiterbehandlung mit Alkoholver¬
bänden empfehlenswert, da sie die Aus¬
heilung beschleunigen. Dabei streut man
ein Wundpulver, z. B. Europhen, auf die
Wunde, um Schmerzen in derselben vor¬
zubeugen. Besonders die Karbunkel
möchte ich zur Behandlung mit Alkohol¬
verband ebenfalls empfehlen.
Ein gleich günstiges Objekt für die
externe Alkoholbehandlung bieten die
Drüsenentzündungen. Im besonderen
habe ich bei Entzündungen der Leisten¬
drüsen erfreuliche Resultate erzielen können.
Von den hierhergehörigen Fällen möchte
ich einen anführen, der, obgleich die linke
Leistendrüse bereits fast Wallnußgröße er¬
reicht hatte, äußerst druckempfindlich war
und schon beginnende Eiterung vermuten
ließ, in verhältnismäßig kurzer Zeit durch
den Alkoholverband zur Heilung kam. Bei
einem anderen Falle trat die Heilung sogar
ein, ohne daß der Patient dauernde Ruhe¬
lage durchführen konnte. Ein dritter Fall
mit beiderseitiger Leistendrüsenentzündung
kam ebenfalls in der kurzen Zeit von acht
Tagen zur Heilung, obwohl der Patient
mich in der Sprechstunde aufsuchte. Selbst¬
verständlich ist dauernde Ruhe hierbei ein
wesentlicher Heilfaktor und möglichst in
Anwendung zu bringen. Bemerken möchte
ich ferner noch, daß bei den angeführten
drei Fällen die Aetiologie eine verschieden¬
artige war, um darauf hinzuweisen, daß
bei allen Arten von Leistendrüsenentzün-
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Die Therapie der Gegenwart 1910.
August
düngen und ebenso anderen Drüsenentzün¬
dungen der Alkoholverband eine günstige
Wirkung ausübt. — Bei Orchitis und
Epididymitis habe ich so günstige Er¬
folge durch Alkoholverbände gesehen, daß
ich sie zur Nachprüfung dringend emp¬
fehlen kann. Ich will für beide Affektionen
je einen Fall anführen. Eine Orchitis zog
sich vor 2 Jahren mutmaßlich durch Trauma
der Hausdiener einer Buchhandlung zu.
Durch die meinerseits angeordnete Alkohol¬
applikation trat in Kürze Beruhigung der
Schmerzen ein. Nach 5 Tagen war die
Schwellung zurückgegangen, so daß ich
den Patienten ein Suspensorium anlegen
und aufstehen lassen konnte. Nach weiteren
4 Tagen erhielt er bereits Erlaubnis zum
Ausgehen. Bei dem Epididymitisfall war
der Erfolg durch den von mir verordneten
Alkoholverband ein gleich guter. Bei dem
Patienten gingen die bekannten Erscheinun¬
gen der Epididymitis schon infolge des ersten
angelegten Alkoholverbandes so zurüfck,
daß Patient in der Nacht schlafen konnte.
Da auch die Anschwellung schnell und
stetig zurückging, konnte ich ihn schon
nach 8 Tagen mit einem Suspensorium
versehen ausgehen lassen. Ein paar Tage
später durfte er seine Beschäftigung wieder
aufnehmen. Bemerken möchte ich hier,
daß man bei Fällen wie den angeführten
sich in der Regel mit 70°/oigem Alkohol
begnügen muß wegen der Empfindlichkeit
der Skrotalhaut. Einstäubungen mit Talkum
vor Anlegen des Verbandes sind geeignet,
die Reizbarkeit der Haut überhaupt herab¬
zusetzen. Bei Fällen, wie den beiden an¬
geführten, lasse ich außerdem die Patienten
in Rückenlage oben über die Oberschenkel
ein Handtuch legen und dieses straff an¬
ziehend beiderseits unter das Gesäß
schieben. Man erhält dadurch eine Hoch¬
lagerung des Skrotums und erleichtert das
Anlegen des Verbandes.
Bei Erysipel, auch des Gesichts, kann
ich nach meinen Erfahrungen den Alkohol¬
verband ebenfalls dringend zur Anwendung
empfehlen. Außer seinen sonstigen guten
Eigenschaften hat er vor anderen Methoden
den Vorzug der Sauberkeit. Ich gedenke
hierbei noch meiner Assistentenzeit, wo
auch die Gesichtserysipele mit Kalium hyper-
manganicumlösungen behandelt wurden.
Durch diese Umschläge sahen die Patienten
im Gesicht bald braun aus wie die Nubier.
Bei Behandlung mit Ichthyolsalbe sahen
sie noch schrecklicher und schmieriger aus.
Gerade dadurch, daß man bei Anwendung
des Alkoholverbandes eine beständige Kon¬
trolle über den Werdegang des Erysipels
ausüben kann, unterscheidet er sich vor¬
teilhaft von anderen Methoden. In An¬
wendung kommt beim Gesichtserysipel der
70%ige Alkohol. Die Augen schütze ich
durch aufgelegte Leinwandstreifen. Bei
einem besonders schweren Fall des Ge¬
sichtserysipels mit schweren Hirnerschei¬
nungen ließen sich bald günstige Resultate
durch den Alkoholtimschlag erzielen. Ich
ließ diesmal die Flasche mit Alkohol auf
Eis stellen und häufiger, zirka dreistündlich,
einen Verbandwechsel vornehmen. Nach
zwölfstündiger Anwendung war das Sen-
sorium des Kranken frei. Bei mehreren Fällen
von Kontusion der Rippen konnte ich die
schmerzstillende Wirkung des Alkohols fest¬
stellen. In Anwendung kommen dabei gleich¬
zeitig innere Mittel, wie Codein. phosphor.,
Pyramidon usw. Ein Analogon ist hierbei
zu finden in der Verwendung des Alkohol¬
umschlags bei Herpes zoster, wie ihn
Hellmer (Blätter für klinische Hydro¬
therapie 1901, Nr. 4) empfohlen hat. Schon
nach dem ersten Verband ist auch hier ein
Nachlassen der Nervenschmerzen zu be¬
merken. Eine ebenso schnell beruhigende
Wirkung wie bei Neuralgien konnte ich
durch den Alkoholverband wiederholt bei
sehr schmerzhaften Periostitiden nach Zahn¬
karies erzielen. Ueber die direkte Appli¬
kation des Alkohols (50%igen) auf kariöse
Zähne, wie sie Büchner empfohlen hat,
bin ich ohne Erfahrung. Von anderer Seite
ist sehr davon abgeraten worden. Bei
Angina ist ebenfalls eine Beruhigung der
Schlingbeschwerden durch Anwendung des
(90% igen) Alkoholumschlages zu erzielen.
Anscheinend auch eine Beschleunigung des
Heilungsprozesses, den ich noch durch
Gurgeln mit Kognak mehrmals am Tage,
abgesehen von der sonstigen üblichen
Therapie hierbei, zu beschleunigen suche.
Bei kleineren Kindern, die noch nicht
gurgeln können, verrichtet eine täglich
mehrmals ausgeführte Bepinselung mit
Kognak bzw. ein Bestreichen der Mandeln
mit einem kognakgetränkten Wattebausch
dieselben guten Dienste. Besonders bei
der Angina follicularis ist diese Methode
empfehlenswert.
Ein weiteres Gebiet für die Anwendung
des nach dem Erfinder Salzwedel ge¬
nannten Alkoholverbandes liefern die ver¬
schiedenartigen Gelenkentzün düngen.
Interessant ist der hierhergehörige Artikel
von Amreim (Deutsch, med. Wochenschr.
1904, Nr. 15), in welchem von einem guten
Erfolg der externen Alkoholtherapie bei
Spondylitis tuberculosa berichtet wird.
Auch anderweitig wird über günstige Re-
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UNIVERSITY 0F CALIFORNIA
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Die Therapie der Gegenwart 1910.
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sultate dieser Behandlungsweise bei Ge¬
lenktuberkulose berichtet, so in der Manch,
med. Wochenschr. 1899, S. 1304 über
10 Fälle. Sie hat fOr den allgemeine
Praxis treibenden Arzt meines Erachtens
den Vorzug vor der Bi er sehen Stauung,
daß sie bequemer ausfahrbar ist. Bei einem
Fall von gonorrhoischer Entzündung des
rechten Kniegelenks, den ich vor 1 Jahr
mit Alkoholverband behandelte, war ich
mit den Fortschritten in der Heilung recht
zufrieden. Leider konnte ich die Behand¬
lung nicht bis zur Beendigung fortsetzen.
Ich erwähne den Fall nur, um zu einer
eventuellen Nachprüfung anzuregen. Dieses
möchte ich aber besonders tun in bezug
auf gichtische Gelenkentzündungen 1 ).
Ich habe an keiner anderen Stelle Mit¬
teilungen über die Anwendung des Alko¬
holumschlages bei diesen Arthritiden ge¬
funden, glaube aber nach den von mir da¬
mit gemachten günstigen Erfahrungen be¬
haupten zu können, daß die Arthritis urica
im besonderen Maße eine Indikation für
die externe Alkoholbehandlung bietet Bei
meinen Fällen war das Zurückgehen der
heftigen Lokalerscheinungen direkt ver¬
blüffend.
Schließlich möchte ich die Alkoholver¬
bände auch bei chronischem Gelenk¬
rheumatismus empfehlen; in einigen ekla¬
tanten Fällen meiner Behandlung habe ich
Linderung der Schmerzen und Zurückgehen
der Schwellungen beobachtet.
Zum Schluß will ich, da bereits wieder¬
holt von anderer Seite die Anwendungs¬
weise genau beschrieben wurde, nur das
Wesentliche davon rekapitulieren oder kurz
über die von mir bevorzugte Methode be¬
richten. Man läßt Verbandgazestücke in
8—lOfacher Lage mit 90%igem Alkohol
tränken, nebenbei bemerkt, unter Hinweis
auf die Feuersgefahr. Diese Stücke sollen
so groß sein, daß sie handbreit, wenn
möglich, ins Gesunde nach allen Richtun¬
gen von den Grenzen des Entzündungs¬
gebietes hin sich erstrecken. Darüber
kommt ein wiederum größeres Stück Gutta¬
perchapapier oder dergl., welches mit einem
wieder größeren Stück Watte bedeckt wird.
Das Ganze befestigt man dann mit einer
Binde oder dergl. Wechseln habe ich den
Verband am Tage in der Regel alle vier
Stunden lassen, in der Nacht nur bei be¬
sonderen Fällen ebenso häufig. Hautstellen,
die besonders empfindlich sind, dulden nur
70%ige Alkoholverbände. Man kann die
Reizbarkeit der Haut, wenn nötig, durch
Bestreuen mit Talkum herabsetzen. Etwa
vorhandene Wunden, die keine Gegenindi¬
kation bilden, bestreut man mit Europhen
oder dergl. Bei einzelnen Fällen, z. B.
Gelenkrheumatismus, Neuralgien usw., lasse
ich bei den ersten Verbänden den Alkohol
in heißem Wasser vorher auf eine höhere
Temperatur bringen, späterhin ist das meist
nicht mehr nötig. Das Abschilfern der
Haut, wie es leicht nach längerer Anwen¬
dung des Alkoholverbandes in Erscheinung
tritt, geht bald vorüber.
Aerztliche Erfahrungen in Aegypten.
Von Dr. Lilienstein - Bad Nauheim (i. Winter i;
Unter den Fremden, die jeden Winter
nach Aegypten kommen, ist die Zahl der
Deutschen in den letzten Jahren sehr ge¬
stiegen. Mitteilungen über ärztliche Er¬
fahrungen in diesem Lande verdienen des¬
halb um so größeres Interesse, als meines
Erachtens in jedem Fall die Hausärzte
über die Reisefähigkeit befragt und Ver¬
haltungsmaßregeln von ihnen gegeben
werden sollten, mag es sich um eine
schwere Erkrankung handeln, wegen der
Aegypten aufgesucht wird — etwa eine Er-
*) Anm. des Herausgebers: In bezug auf
Gelenkentzündungen dürfte doch wohl in den meisten
Fällen die Bi ersehe Stauung den Vorzug verdienen;
dieselbe ist mindestens ebenso bequem anzuwenden
als der Alkohol verband. Ganz zweifellos aber ist
die Bi ersehe Stauung dem Alkohol unbedingt vor¬
zuziehen bei gonorrhoischer Arthritis; hier leistet bei
konsequenter Anwendung die Bi ersehe Stauung so
Ausgezeichnetes und ist allen anderen Behandlungs¬
methoden so weit überlegen, daß ihre Anwendung
fast als eine Pflicht des Arztes bezeichnet werden muß.
Kairo), Arzt für innere und Nerven-Krankheiten.
krankung der Atmungsorgane, der Nieren —
oder um eine Erholungs- und Vergnügungs¬
reise.
Es ist zwar nicht zu leugnen, daß die
Reiseverbindung nach Aegypten außer¬
ordentlich bequem geworden ist. Mit
dem Lloydexpreßzug über Neapel fährt
man ohne große Anstrengung in ca.
100 Stunden von Berlin nach Alexandrien.
Trotzdem mahnen mehrere Fälle, die
ich in Aegypten zu beobachten Gelegen¬
heit hatte, zur Vorsicht bei der Erteilung
der Reiseerlaubnis. Um diese geben zu
können, muß der Arzt über eine Reihe
von Einzelheiten informiert sein.
Vor allem schließt die Reise nach
Aegypten, im Gegensatz zu derjenigen
z. B. an die Riviera, nicht nur eine große
Landreise, sondern auch eine mindestens
dreitägige Seefahrt ein. Nun kann eine
lange Bahnfahrt auch mit einem Schwer¬
kranken ohne allzugroßes Risiko angetreten
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UNIVERSiTY 0F CALIFORNIA
382
Die Therapie der Gegenwart 1910.
August
werden; ist doch auf jeder Zugstation die
Möglichkeit gegeben, die Reise zu unter¬
brechen. Strengt dann die meisten Menschen
eine Bahnfahrt auch wesentlich mehr als
eine Schiifsreise an, so ist bei der letzte¬
ren doch die Seekrankheit zu berücksich¬
tigen. Für Gesunde ist sie ohne Gefahr,
wie elend sich auch mancher fühlen mag.
Dagegen kann bei Leuten mit hohem
Blutdruck, bei Nephritikern mit Apoplexien,
bei Kachektischen u. dgl. der wiederholte
Brechakt doch an und für sich schon zu
bedeutender Erschöpfung führen.
Einen großen Tiefgang haben die
Schilfe des Norddeutschen Lloyd, die nach
Australien und Ostasien gehen, weil sie
meist stark beladen sind. Die Seekrank¬
heit brauchte man bei diesen also weniger
zu fürchten. Sie gehen aber — im
Gegensatz zu den eigentlichen Aegypten¬
dampfern—nicht nach Alexandrien, sondern
nach Port Said. Dort nun können die
Schiffe mit einigem Tiefgang nicht direkt
am Kai anlegen. Die Passagiere werden
vielmehr in kleinen Kähnen ausgebootet
Für Schwerkranke ist das besonders in
der Nacht und bei schlechtem Wetter sehr
unangenehm. Außerdem ist die Bahnver¬
bindung von Port Said nach Kairo, wohin
sich ja wohl die meisten Reisenden zu¬
nächst wenden, lange nicht so bequem,
wie diejenige von Alexandrien aus.
Der Hafen von Alexandrien hat den
Vorteil, daß Schiffe mit sehr großem Tief¬
gang direkt am Kai anlegen und daß dort
für den Notfall ein gut geleitetes deut¬
sches Krankenhaus (Arzt Dr. Gatzky) vor¬
handen ist
Die 200 km von Alexandrien nach Kairo
legt der Schnellzug in 3^2 Stunden zurück.
Die wenigsten Fremden bleiben in
Alexandrien, bezw. in dem Kurort Ramleh.
Nur im Frühjahr und Herbst halten sich
auch Europäer dort auf. Sonst wird
Ramleh von wohlhabenden Aegyptern be¬
wohnt, denen es in Kairo und in Ober¬
ägypten im Sommer zu heiß ist. Im Winter
ziehen auch sie mit den Fremden nach
Süden, nach Kairo, Helouan, Luxor,
Assiut und Assouan. Diese Städte sind
als die eigentlichen klimatischen Kurorte
Aegyptens anzusehen.
Kairo selbst kommt für Kranke nur
als Durchgangsstation in Betracht. Es
bietet die Schädigungen einer großen Stadt,
noch vermehrt durch Unreinlichkeit, Lärm
und Unruhe, die nun einmal als typischste
Merkmale mit orientalischen Sitten ver¬
bunden sind. Trotzdem halten sich alle
Kranken zum mindesten ein paar Tage
auf der Durchreise in der Hauptstadt auf.
Die Spitze des Deltas, an der Kairo liegt,
bildet ja die hohle Gasse, durch die jeder
kommen muß, der nach Oberägypten will.
Außerdem macht sich hier im Klima schon
der trocknende Einfluß der Wüste sehr
stark bemerkbar. Während es in Alexandrien
recht häufig regnet, habe ich doch während
des Winters Monate in Kairo ohne einen
Tropfen Regen erlebt.
Je weiter man nach Süden kommt,
schon in Helouan, mehr noch in Luxor
und am meisten in Assouan, setzt man sich
in dem schmalen Tal des Nils dem Einfluß
der Wüste, d. h. der starken Lufttrocken¬
heit, der direkten Sonnenbestrahlung
und der intensiven Lichtwirkung aus.
In diesen drei Faktoren sehe ich in
erster Linie die Heilwirkung des ägyptischen
Klimas. Aus ihnen leiten sich naturgemäß
die Indikationen für den Winteraufenthalt
in Aegypten ab. 1 )
Die Winterkur in Aegypten ist in den
Fällen angezeigt, in denen die feuchte Kälte
des europäischen Winters eine Gefahr in
sich schließt.
Es handelt sich in erster Linie um
Kranke, die an chronischem Rheumatismus
der Gelenke und Muskeln, an chronischer
Bronchitis und an Nephritis leiden, um Re¬
konvaleszenten von fieberhaften Krank¬
heiten und um solche, die sich leicht „er¬
kälten".
Hierbei ist es meines Erachtens relativ
gleichgültig, ob der chronischen Bronchitis
z. B. eine Tuberkulose zugrunde liegt, oder
welcher Art die Nephritis ist. Wichtig er¬
scheint es mir aber, hier einmal energisch
darauf hinzuweisen, daß es nur dann
einen Zweck hat, die Kranken den
Gefahren der großen Reise, dem
Leben in einer vollkommen fremden
und ungewohnten Umgebung auszu¬
setzen und ihnen die doch recht erheb¬
lichen Kosten eines Aufenthalts in Aegypten
aufzuladen, wenn der allgemeine Kräfte¬
zustand es erlaubt und wenn eine
Wiederherstellung noch möglich ist.
Wunder kann auch Aegypten nicht
wirken. Und bei manchem der von mir
beobachteten Kranken, dessen Zustand
schon zu Hause absolut hoffnungslos war,
konnte auch in Aegypten kein Stillstand,
sondern höchstens gelegentlich einmal eine
geringe Verzögerung des Krankheitspro¬
zesses erzielt werden. Ich sah Kranke,
die durch die Rei ie schwer geschädigt an¬
kamen, so daß diese also den Exitus letalis
l ) Cf. die Arbeiten von Engel-Bey, Schacht,
Kirchner u. a. m.
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August
Die Therapie der Gegenwart 1910.
383
eher beschleunigt als verzögert haben mag.
Im speziellen denke ich an einen Kollegen,
dem freilich auch von allen Seiten geraten
worden war, die Reise zu unterlassen und
der in der Tat so schwer krank ankam,
daß er in Kairo bleiben mußte, wo er nach
2 Monaten starb. Das „gelobte Land* —
Oberägypten — hat er nicht gesehen.
Betont werden muß auch noch, daß ein
kürzerer Aufenthalt in Aegypten — etwa
weniger als 3 Monate — für ernstlich
Kranke keinen Zweck hat Bei chronischer
Nephritis z. B. sollte in Aegypten wenn
möglich auch noch der Sommer zugebracht
werden, wie wenig angenehm die tropische
Hitze desselben auch für Europäer sein mag.
Wenn also im Bewußtsein der Aerzte
bisher Nephritis und Phthise an und für
sich als Indikation für den Winteraufenthalt
in Aegypten galten, so möchte ich dies
nur bedingt und durch die obigen Voraus¬
setzungen eingeschränkt gelten lassen.
Noch auf eine andere Gefahr muß die
Aufmerksamkeit der Aerzte und ihrer nach
Aegypten reisenden Patienten gelenkt
werden:
Die Sorglosigkeit, mit der man in Eu¬
ropa und ganz besonders in Deutschland
reisen kann, sowie das Vertrauen zu den
hygienischen Einrichtungen sind in
Aegypten ebensowenig wie im übrigen
Orient, am Platz.
Zunächst ist in Aegypten der Typhus
in ganz unverhältnismäßig viel höherem
Grade als bei uns verbreitet.
So finde ich — um ein Beispiel zu
geben — in der letzten Mortalitätsstatistik
vom März/April 1910 innerhalb 19 Tagen
27 Todesfälle von Typhus in Kairo selbst
und 109 Todesfälle, sowie 378 offiziell ge¬
meldete Typhusfälle im übrigen Aegypten.
(Kairo hat ca. 600000, Aegypten ca. I 1 /»
Million hier in Betracht kommende Ein¬
wohner.)
Hierbei ist natürlich zu beachten, daß
sowohl die Krankheitsmeldungen als die
Statistik der Todesfälle in Aegypten keines¬
wegs so zuverlässig sind wie bei uns, und
daß somit diese Zahlen der Ausbreitung
des Typhus eher zu niedrig als zu hoch
gegriffen sind.
Daß auch die Pest, besonders in
Alexandrien, vereinzelt vorkommt, will ich
nicht unerwähnt lassen, obwohl in dieser
Hinsicht dem Reisenden absolut keine Ge¬
fahr droht.
Man stößt in Aegypten, wie in den
Tropen, auf eine Reihe von fieberhaften
Erkrankungen, die weder den schulmäßigen
Verlauf des Typhus, noch der Intermittens,
der Malaria und ähnlicher Krankheiten
zeigen, die aber wohl in den meisten Fällen
auf eine typhöse Infektion zurückzuführen
sind.
Für Fremde noch zu beachten wäre auch
die kontagiöse ägyptische Augenkrankheit,
die namentlich in den Eingeborenenvierteln
der Städte und auf dem Lande sehr ver¬
breitet ist.
Bei der Gleichgültigkeit und dem
Fatalismus der eingeborenen muhamedani-
Bevölkerung ist vorläufig nicht daran zu
denken, daß dieses Uebel in Aegypten ver¬
schwindet. Es ist auffallend, wieviel Haib¬
und Ganzerblindeten und wievielen Kran¬
ken mit floridem Augenkatarrh man auf
Schritt und Tritt in Aegypten begegnet.
Bei diesem Stand der Dinge ist es
selbstverständlich dringend anzuraten, daß
der Arzt dem Reisenden strenge Diätvor¬
schriften und Vorsichtsmaßregeln mit auf
den Weg gibt:
Schon auf der Reise nach Aegypten
und ganz besonders im Lande selbst sollte
vor dem Genüsse von ungekochtem bezw.
unfiltriertem Wasser, vor rohen Speisen,
Obst, Salat und dergl. gewarnt werden.
Auch die Butter kann in Aegypten wenig¬
stens nicht unter allen Umständen als
keimfrei angesehen werden. Der Augen¬
krankheit wegen ist jede direkte Berührung
mit den Eingeborenen und mit den von
ihnen benutzten Gegenständen nach Mög¬
lichkeit zu vermeiden. Endlich ist die prä¬
ventive Schutzpockenimpfung in jedem
Falle anzuraten.
Bezüglich des Klimas muß noch darauf
hingewiesen werden, daß Abkühlungen
abends, während der Nacht und morgens
und zuweilen heftiger Wind warme Klei¬
dung auch in Aegypten nötig machen.
Ich weiß sehr wohl, daß viele Fremde
und in Aegypten lebende Europäer alle diese
Vorsichtsmaßregeln außer acht lassen und
trotzdem viele Jahre lang gesund bleiben.
Meine Erfahrungen in der ägyptischen
Praxis haben mich aber gelehrt, auf diese
Dinge doch Wert zu legen.
Für die in Aegypten weilenden Fremden
keine Gefahr bildend, aber vom ärztlichen
Standpunkt aus interessant, sind drei
Krankheiten, die ich unter den Einge¬
borenen in den Hospitälern häufig sah.
1. Die Bilharzia, 2. Leberabszesse und
3. die Pellagra.
Die Bilharzia ist eine Infektion mit
Distoma hämatobium. Das befallene In¬
dividuum wird durch diesen Parasiten
häufig absolut nicht geschädigt. Erst wenn
durch die andauernde Hämaturie eine
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384
Die Therapie der Gegenwart 1910.
August
starke Anämie bewirkt worden ist, treten
auch subjektiv bemerkbare Störungen auf.
Auch die Leberabszesse bilden, aus
der Nähe betrachtet, nicht das schwere
Krankheitsbild, das man a priori erwarten
sollte. Ich habe viele Leberabszesse in
den ägyptischen Hospitälern gesehen. Mag
es nun die Eigenheit der befallenen Kranken
oder der Krankheit sein, jedenfalls ver¬
trugen die Patienten die monate- ja jahre¬
lang dauernde Eiterung bei relativ gutem
Allgemeinbefinden. Eigentümlich ist es,
daß vorzugsweise Europäer und solche
Eingeborenen, die europäische Lebensge¬
wohnheiten angenommen haben, an Leber¬
abszessen erkranken.
In der Kairiner Irrenanstalt fallen schon
äußerlich Patienten mit Hautveränderungen
auf, die wir in unseren Irrenanstalten kaum
jemals zu sehen bekommen. Das sind die
an Pellagra Leidenden, deren Haut sich im
Anfangsstadium abschuppt und später aus¬
gedehnte Pigmentatrophieen zeigt. Die
Pellagra ist eine Krankheit des ägyptischen
bäuerlichen Proletariats der Fellachen und
hängt mit der Aufnahme von schlechtem,
verdorbenen Mais zusammen. Die ökono¬
mischen Verhältnisse Aegyptens laufen da¬
rauf hinaus, daß die Steuerlast im wesent¬
lichen von den Fellachen, den ägyptischen
Kleinbauern, getragen wird. Sie müssen
für das Wasser, das ihnen vom Staat aus
dem Nil zugemessen wird, einen hohen
Wasserzins bezahlen. Die großen Land¬
gesellschaften, meist in den Händen von
englischen Spekulanten, tragen auch noch
dazu bei, die wirtschaftliche Lage der
Landbevölkerung herunter zu drücken.
Eine Folge dieser Verhältnisse ist, daß die
Fellachen die guten Sorten ihres Maises
verkaufen müssen, während ihnen selbst
nur verdorbene Frucht zur Nahrung übrig
bleibt. Sowohl der psychische Zustand
der. Pellagrakranken, als auch der Verlauf
der Krankheit in den späteren Stadien, er¬
innern lebhaft an die progressive Paralyse.
Auf ein mehr oder minder starkes Er¬
regungsstadium folgt eine ausgesprochene
Demenz und zunehmender körperlicher
Verfall. Gleich der Paralyse ist die Pellagra
und die daraus resultierende Kachexie un¬
heilbar und führt innerhalb weniger Jahre
zum Tode.
Die drei letztgenannten Krankheiten
bilden wie bemerkt — im Gegensatz zu
den früher besprochenen Infektionskrank¬
heiten — keine Gefahr für die nach
Aegypten kommenden Fremden und auch
vor den genannten Infektionen kann man
sich bei einiger Vorsicht leicht schützen.
Man ist als Europäer in Aegypten doch
mehr oder minder gezwungen, sich an die
gut geleiteten, europäisch eingerichteten,
großen Hotels zu halten, die meist nur
während der Saison, d. h. von Mitte No¬
vember bis Ende April geöffnet sind.
Wenn ich nun geglaubt habe, wie oben,
auch auf die Nachteile des ägyptischen
Klimas und auf die Gefahren des Aufent¬
halts am Nil einmal hinweisen zu müssen,
so möchte ich die Vorzüge Aegygtens
natürlich nicht in Abrede stellen. Ich
werde an anderer Stelle einmal ausführlich
auf die erstaunlich raschen Heilerfolge zu¬
rückkommen, die ich bei chronischer und
subakuter Nephritis, bei nephritischen Rei¬
zungen, bei chronischer Bronchitis und
subakutem Rheumatismus unter dem Ein¬
fluß des trockenen Winterklimas in Aegypten
gesehen habe.
Ganz sicher lohnen sich sowohl für
Kranke, als auch für Gesunde die freilich
nicht unbeträchtlichen Ausgaben. (Unter
15—20 Mk. pro Tag und Person dürfte
man in den besseren Häusern kaum durch¬
kommen.)
Es ist doch für Gesunde sehr angenehm
und für Kranke ein außerordentlicher Vor¬
teil, mit Sicherheit stets auf gutes Wetter
rechnen zu dürfen, wenn in Deutschland
naßkalte Tage den Genuß frischer Luft
fast unmöglich machen. Auch die Be¬
fürchtung zu großer Hitze ist nicht am
Platze. Man ist am Tage stets in der an¬
genehmsten lauen Frühlingstemperatur, die
kühlen Nächte steigern das Wohlbehagen
noch und ganz besonders lohnend und
empfehlenswert sind längere Ritte in der
trockenen und klaren Luft der Wüste.
Noch heute strebt, wie zu Zeiten
Strabos und Herodots, jeder zum
Nil zurück, der einmal von seinem
Wasser getrunken hat. . . .
Es muß aber — für Europäer wenig¬
stens — jetzt unbedingt abgekocht oder
filtriert werden!!!
INHALT:Fraenkel, Pleuraexsudate und Empyema putridum S. 337. — T a c h a u, Heilserum
bei Diphtherie S. 346. — Impens, Cycloform S. 348. — Müller, Habituelle Haltungsanomalien
S. 351. — Glaserfeld, Harnröhrentripper des Mannes S. 353. — Köhler, Tuberkulinbehandlung
S. 356. — Lilienstein, Versammlung südwestdeutscher Neurologen u. Irrenärzte in Baden-Baden
S. 361. — Kuttner, Baldriantherapie S. 377. — Köhler, Alkohol verbände S. 379. — Lilienstein,
Erfahrungen in Aegypten S. 381. -r- Bücherbesprechungen S. 363. — Referate S. 366.
Für die Redaktion verantwortlich Prof. Dr. G.Klempererin Berlin. - Verlag von Urban&Sch warzenberg inWien u. Berlin.
Druck von Julius Sittenfeld, Ilofbuchdrucker., in Berlin W.8.
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UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Die Therapie der Gegenwart
1910
herausgegeben von Prof. Dr. G. Klemperer
In Berlin.
September
Grundlagen der
Von Prof. Dr.
Die Theorie, die während 30 Jahren
meine therapeutischen Bestrebungen ge¬
leitet hat, ist nicht am Arbeitstich entstan¬
den; sie hat sich durch die Beobachtung
am Krankenbett und in der Sprechstunde
langsam entwickelt; sie ist krystallisierte
Praxis. Sie gipfelt in folgenden Grund¬
sätzen :
1. Die Gesetze der Normalpsychologie
gelten voll und ganz für die Psychopatho¬
logie. Zwischen normalen und krankhaften
psychischen Vorgängen besteht nur ein
Gradunterschied.
2. Abnorme Geistes- und Gemütszustände
müssen deshalb mit den gleichen Mitteln,
welche bei der Bildung eines gesunden
Geistes zur Anwendung kommen, nämlich
durch Erziehung, bekämpft werden.
An diese fast selbstverständlich klin¬
genden Prinzipien haben sich die Psychiater
und Neurologen zu wenig erinnert. Sie
fassen die Psychopathien als wahre Krank¬
heiten im Sinne der internen Pathologie
auf, und suchen die Ursache der psychi¬
schen Störung in einer primären Erkran¬
kung des Denkorgans. Sie vergessen, daß
auch bei anderen Organen Funktionsstörun¬
gen ohne primäre Schädigung des Organs
entstehen können. Ein dyspeptischer Zu¬
stand kann seine Ursache in einer Erkran¬
kung des Magens haben; er kann aber
auch bei normalem Magen infolge unzweck¬
mäßiger Ingesta entstehen. Die Ingesta,
welche unsere „Seele* verarbeitet, man
könnte sagen, verdaut, sind Vorstellun¬
gen, Ideen. Wie unser Magenzustand
sehr von der Qualität der Nahrung ab¬
hängt, so ist auch unser Seelenzustand in
hohem Maße von den aufgenommenen Vor¬
stellungen abhängig. Natürlich leidet dar¬
unter das Organ selbst, und zwar, meiner
Meinung nach, nicht im Sinne eines dua¬
listischen psychophysischen Parallelismus,
Anmerkung des Herausgebers; Der hier
erscheinende Aufsatz bildet einen Teil der Vor¬
lesung Ober Psychotherapie, welche demnächst im
II. Bande der .Fortschritte der Deutschen Klinik",
herausgegeben von Prof. Felix Klemperer, er¬
scheinen werden. Ich bin dem Herrn Verfasser, wie
dem Herausgeber der Deutschen Klinik in gleicher
Weise zu Dank verpflichtet, daß sie die Erlaubnis
zur vorzeitigen Publikation dieses Aufsatzes in der
Therapie der Gegenwart erteilt haben.
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Nachdruck verboten.
Psychotherapie.
• Dubois-Bern.
sondern in monistischem Sinne, da ja das
Wort „Seele“ nur eine abstrakte Bezeich¬
nung für die psychologischen Funktionen
des Gehirns darstellt.
Die bei Psychopathen aller Art vorkom¬
menden Zwangsgedanken und Zwangs¬
handlungen werden oft als etwas ganz
Fremdes, sozusagen als etwas Parasitäres,
welches keinen Platz im Kreise der Ideen¬
assoziationen findet, angesehen. Gegen
diese Auffassung muß ich mich entschieden
auflehnen; sie widerspricht den sichersten
Grundsätzen der Psychologie. Alle Ideen,
auch die verrücktesten, haben ihren Platz
im Kreise der Assoziationen; sie sind ge¬
radezu durch Assoziation entstanden, auch
wenn der Kranke, des Mangels an reflek¬
tiertem Bewußtsein wegen, den Faden nicht
mehr findet.
Die Beobachtung, daß manche durch
Phobien und andere Zwangsgedanken ge¬
plagte Kranke die Unrichtigkeit ihrer Vor¬
stellungen einzusehen angeben, aber den¬
noch ihre Angst nicht los werden, hat diese
falsche Auffassung unterstützt und zu einer
verhängnisvollen und unhaltbaren Trennung
von Geistes- und Gemütsleben geführt.
Nein, die Affekte sind nicht ursprüng¬
lich; vor der Betonung durch Lust- und
Unlustgefühle, vor dem Begehren und vor
der Furcht, muß eine Vorstellung in¬
tellektueller Art da sein, und diese Vor¬
stellung entsteht immer durch eine Syn¬
these, durch einen assoziativen Prozeß.
Hier muß ich auf gewisse Tatsachen
aufmerksam machen, welche, wie mir
scheint, ziemlich unbeachtet geblieben
sind. Da der Mensch unmittelbar unter
den Eingebungen seiner Affektivität han¬
delt, so hat er meist keinen Grund, nach
der Urvorstellung zu suchen; es genügt
ihm zu fühlen, um zu handeln. Daher die
Impulsivität vieler Menschen, welche sich
nicht die Mühe nehmen, die Vorstellung
wiederzufinden, die den Affekt ausgelöst
hat. Würde der Vorgang der Assoziation
nur zwischen intellektuellen Vorstellungen
stattfinden, so wäre es viel leichter, den
Faden zu verfolgen und die Genese eines
Gedankens nachzuweisen. Die Assoziation
kann aber stattfinden zwischen Vorstellun-
49
Original fram
UNIVER5ITY OF CALIFORNIA
386
Die Therapie der Gegenwart 1910.
September
gen und Vorstellungen (intellektuelle Ar¬
beit), zwischen einem schon bestehenden
Affekt und einer Vorstellung und zwischen
verschiedenen Affekten.
Es ist deshalb sehr schwer, ja oft un¬
möglich den Knäuel zu entwirren. Schon
im Normalzustände kann der Mensch den
Weg seiner zahllosen Assoziationen nicht
immer verfolgen; er denkt sozusagen auto¬
matisch, indem die Gedanken sich anein¬
ander reihen infolge der Analogie oder
des Kontrastes; er ist wie ein Klavier¬
spieler, welcher auswendig ein Stück spielt,
Noten aneinander reiht und nicht imstande
wäre, das Gespielte zu Papier zu bringen.
Kein Wunder, wenn ein psychopathisch
veranlagter Mensch, der überdies schon
durch vorausgegangene Vorstellungen in
Aufregung geraten ist und dadurch den
Kopf verloren hat, der Fähigkeit verlustig
geht, seine Assoziationskomplexe unter die
Lupe des reflektierten Bewußtseins zu
nehmen.
Nicht genug kann ich die führende Rolle
der Vorstellung im Geistes- und Gemüts¬
leben betonen; alles psychische Geschehen
beginnt mit einer Vorstellung. Vorstellun¬
gen können auftreten:
1. Als direkte Wahrnehmung von Ob¬
jekten und von Bewegüngsformen, welche
im wahrnehmenden Ich (Seele) durch Rei
zung der Sinnesorgane wachgerufen werden.
2. Als Reminiszenz früherer Wahrneh¬
mungen.
3. Als durch Ideenassoziation entstan¬
dene komplizierte Bilder konkreter oder
abstrakter Natur.
Die Psychologen bezeichnen die direkte
Wahrnehmung eines Reizes als Empfin¬
dung und vindizieren ihr nur dann den
Charakter einer Vorstellung, wenn ein wei¬
teres Denken sich daran anknüpft, d. h.
wenn Erkenntnisvorgänge sich in den Ge¬
fühlsvorgang einmischen. Ich gehe weiter
und sehe schon in der einfachsten Empfin¬
dung eine Vorstellung, weil die Empfin¬
dung nicht direkt als Reizzustand, sondern
als seelisches Bild wahrgenommen wird.
Uebrigens sind im regen Geistesleben des
Menschen die sogenannten Empfindungen
von vornherein kompliziert und mit Er¬
kenntniselementen verknüpft; wir empfin¬
den kaum jemals ohne simultanes Denken.
Die Empfindungsreminiszenzen tauchen
nicht spontan, etwa infolge einer materiel¬
len Veränderung im Gehirn, auf, sondern
sie verdanken ihre Entstehung einer Ge¬
dankenassoziation. So kompliziert und für
andere unverständlich die Assoziations¬
komplexe eines Psychopathen auch sein
mögen, eine Lücke im Gedankenkreis kön¬
nen wir in keiner Weise annehmen. Jede
Erscheinung des pathologischen wie des
normalen Geisteslebens beginnt mit den
Vorstellungen, welche gewertet und logisch
verknüpft werden. Der Gedankengang ist
je nach der Persönlichkeit ein verschie¬
dener, weil die Reminiszenzen andere sind
und weil jede Vorstellung mannigfache An¬
knüpfungspunkte für neue Gedankenreihen
bietet.
Schon im normalen Zustande bemerken
wir, wie unendlich zahlreich die Ideen¬
assoziationen sein können. Jede Vorstel¬
lung ist vergleichbar mit einer rotierenden
Scheibe, welche automatisch multiple
Weichenstellungen gestattet. Wir sindz.B.
mit einer wissenschaftlichen Arbeit beschäf¬
tigt und lesen ein Buch mit Aufmerksam¬
keit; unsere Gedanken verfolgen dabei die
vom Autor gegebene Richtung. Wie oft
aber schweifen wir von diesem geraden
Wege ab. Ein gelesenes Wort bewirkt
plötzlich eine andere unerwartete Weichen¬
einstellung, und längere Zeit verweilen wir
in einem dem Thema völlig fremden Ge¬
biete. Eine andere Ideenverknüpfung bringt
uns wieder zu der beabsichtigten Arbeit
zurück; bald aber gleiten wir wieder in
eine andere Richtung. Wir sind oft selbst
erstaunt über die Sprünge unserer Phan¬
tasie und haben Mühe, nachzuweisen, wo,
wann und warum die Abweichung statt¬
gefunden hat.
Sobald eine Gefühlsbetonung der Vor¬
stellungen stattfindet, nehmen die Asso¬
ziationen einen scheinbar viel ungereimte¬
ren Charakter an; ich sage scheinbar, weil
wir dabei nicht entgleisen, sondern auf
den Schienen bleiben, auch wenn die Rich¬
tung nicht die erwartete, die als normal
bezeichnete ist.
Eine hohe Verstandesbildung verein¬
facht in zweckmäßiger Weise diesen Pro¬
zeß der Weichenstellung. Wohl besteht
die Möglichkeit, nach allen Richtungen zu
fahren und allen Regungen zugänglich zu
sein; es werden jedoch die sicheren Bahnen
bevorzugt; es tritt eine Logik der Verknüp¬
fungen ein, welche ein annähernd normales
Vernunfts- uud Gefühlsleben gestattet.
Alle diese Vorgänge finden in gleicher
Weise in der Psychopathologie statt Auch
da ist der Assoziationskreis lückenlos, selbst
wenn er für den Beobachter mehr oder
weniger unverständlich bleibt. Mit Recht
sagt Stadelmann: „Es gibt keinen psy¬
chischen Vorgang bei der Psychose, der
nicht im normalen Leben sein Analogon
fände.“
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September
387
Die Therapie der Gegenwart 1910.
Bei den Psychopathen aller Art begün¬
stigen zwei Geistesfehler die Ungereimt¬
heit des Vorstellungs- und Gemütslebens:
der Egozentrismus und die Kritik¬
losigkeit.
Einem jeden Psychotherapeuten muß der
Egozentrismus seiner Patienten aufgefallen
sein, sogar in den häufigen Fällen, wo
nicht nur scheinbare, sondern wirkliche
altruistische Regungen in den Vordergrund
treten. In irgendeiner Richtung findet man
bei diesen Kranken immer die Neigung,
den Blick auf ihr Selbst zu lenken und
namentlich Befürchtungen in bezug auf ihr
leibliches oder seelisches Wohlsein zu
hegen; die Furcht ist die Haupt¬
erscheinung in der Psychopatho¬
logie. Da die Gefühlsbetonung mit dem
Vorherrschen der Eigenliebe Hand in Hand
geht, so ist das Leben eines Psychopathen
viel reicher an Gemütsbewegungen als das
des normalen Menschen. Er reagiert auf
psychische Reize in übertriebener Weise,
was wiederum der Kritiklosigkeit Vorschub
leistet; denn nichts trübt die Vernunft so
intensiv wie die Emotion.
Die Kritiklosigkeit ist den meisten Psy¬
chopathen eigentümlich, auch denjenigen,
welche in gewissen Gebieten, z. B. in Lite¬
ratur und Kunst, eine hohe Begabung zei¬
gen; bei den Dichtern ist diese Psych-
asthenie auffallend; sie sind oft abergläu¬
bisch und gehorchen allen ihren Gefühls¬
regungen, ohne sie der Kritik der Vernunft
zu unterwerfen.
Besonders verhängnisvoll wird die Ver¬
bindung beider Schwächen. Die Kritik
losigkeit bedingt eine fehlerhafte Wertung
der Weltbilder; diese werden infolge des
Egozentrismus überwertet und erhalten eine
starke Gefühlsbetonung. Die daraus resul¬
tierende Gemütsbewegung beeinträchtigt
erheblich die Fähigkeit der geistigen Syn
these; die Kritik wird dadurch noch man¬
gelhafter. Eis ist leicht einzusehen, wie
eine solche Wechselwirkung zwischen
Geistes- und Gemütsleben auf den Asso
ziationsvorgang störend einwirkt.
Diese Tatsachen genügen vollkommen,
um das Törichte in den Gedanken, Affekten
und Handlungen der Psychopathen zu er¬
klären. Wir brauchen nicht zu der Hypo
these unsere Zuflucht zu nehmen, daß eine
Idee gleichsam spontan, ohne Assoziation
mit gegenwärtigen oder aufgespeicherten
Gedanken auftreten könne.
Ich habe schon betont, daß es ebenso
unstatthaft ist, das Ungereimte im krank¬
haften Geistesleben auf strukturelle Ver¬
änderungen des Gehirns zurückzuführen.
Die Schädigung der Zellen bedingt wohl
Ausfallserscheinungen und somit verschie¬
dene Grade der Verblödung. Die Kritik¬
losigkeit wird dadurch noch vermehrt; auf
den Assoziationsvorgang selbst übt sie je¬
doch keine direkte Wirkung aus.
Einen dritten Fehler haben die Aerzte
bei der Betrachtung der Psychopathien
begangen; sie haben zu sehr den Begriff
Krankheit aufrecht erhalten und ihn nach
dem Vorbilde der internen Medizin präzi¬
sieren wollen.
Es ist ein berechtigter Wunsch der Beob¬
achter, genaue Krankheitsbilder zu ent¬
werfen und diagnostische Merkmale her¬
auszufinden, welche für Prognose und The¬
rapie äußerst maßgebend sind. Es ist
gewiß höchst wichtig, unter der Maske
neurasthenischer Erscheinungen eine be¬
ginnende Paralyse entdecken zu können
und den Fall nicht als harmlose Nervosität
zu behandeln. Es ist notwendig, bei kon¬
vulsivischen Erscheinungen eine scharfe
Differentialdiagnose zwischen Epilepsie und
Hysterie zu stellen. Auf etwaige Abnahme
der Intelligenz muß man sorgfältig achten,
wenn man heilbare Psychopathien von Ver¬
blödungsformen unterscheiden will. Die
Versuche der Psychiater und Neurologen,
eine bessere Klassifikation der Psycho¬
pathien zu gewinnen, sind daher sehr zu
begrüßen; die Diskussionen, welche darüber
in Aerzteversammlungen und in Zeitschrif¬
ten geführt werden, bereichern unser Wissen
erheblich. Immerhin darf man nicht ver¬
gessen, welche Kluft die Psychopathologie
von der Somatopathologie trennt; es ist
die gleiche, welche zwischen Psychologie
und Physiologie liegt.
ln einem gewissen Sinne darf man die
beiden Gebiete vereinigen als Zweige der
Biologie, welche den Menschen, sowie
alle Lebewesen in ihren Leistungen be¬
trachtet und den Zusammenhang der Er¬
scheinungen festzustellen sucht. Doch stoßen
wir dabei auf das Rätsel des Bewußt¬
seins, Während in der Physiologie, sensu
stricto, die Reize physische Natur haben,
sind sie in der Psychologie psychische;
hier somatische Einflüsse, welche imstande
sind, auch in der Bewußtlosigkeit ihre Wir¬
kungen auf Muskel-, Gefäß- und Drüsen¬
nerven auszuüben; dort Vorstellungen,
welche zwar zu den gleichen leiblichen
Reaktionen führen, aber als Vorbedingung
eine innere Wahrnehmung, ein Fühlen
und Denken verlangen.
Es war daher schon theoretisch voraus¬
zusehen, daß es ein nutzloses Unterfangen
bedeutet, in der Psychopathologie Krank-
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September
Die Therapie der Gegenwart 1910.
heitseinheiten unterscheiden zu wollen.
Der gänzliche Mißerfolg dieser Klassifika¬
tionsversuche hat es denn auch bewiesen.
Zeitweise hätte man glauben können, daß
diese Analyse zur Präzisierung der Krank¬
heitsbegriffe führen werde; bald aber ent¬
stand daraus eine große Verwirrung, welche
die Stellung einer praktischen Diagnose
erschwerte, ohne daß wir dabei tiefer in
das Wesen der Geistesgestörtheit einge¬
drungen wären.
Für die Zustände, die ich als Psycho-
neurosen bezeichne, habe ich stets diese An¬
sicht vertreten. Es gibt keine Krankheits¬
einheit, die man Neurasthenie nennen kann;
es gibt nur „neurasthenische Zustände“,
welche übrigens niemals ganz rein auf-
treten, sondern sich meist mit hypochon¬
drischen, melancholischen, ja oft hysteri¬
schen Zuständen vermischen. — Die zahl¬
reichen Diskussionen über die Hysterie
haben uns gezeigt, daß bei näherer Be¬
trachtung der Begriff sich auflöst, wie die
Meeresmedusen in den Händen des Beob¬
achters sozusagen schmelzen.
Stadel mann hat denselben Gedanken
sehr klar ausgesprochen; er schreibt: „Die
Psychiatrie als ein Teil der Medizin glaubte
mit Messer und Mikroskop, den Hilfsmitteln,
deren sich die Anatomie bedient, das Wesen
ihres Materiales ergründen zu können. Sie
suchte; das Wesen der Psychose blo߬
zulegen blieb ihr versagt.“
Und nun kommen die Psychiater all¬
mählich zur Einsicht, und zwar hervor¬
ragende, wie Hoche. In seinem Referat
über die Melancholiefrage betont er die
Unmöglichkeit, scharfe Krankheitstypen
aufzustellen und schreibt: „Wir sollten der
Frage, ob das Suchen nach reinen Krankheits¬
typen nicht die Jagd auf ein Phantom dar¬
stellt, ohne Scheu ins Gesicht leuchten.“ —
Bezeichnend sind seine Worte über die
Seelenstörungen, welche eine anatomische
Basis haben: „Für alles, was mit Defekt
endigt, ist wenigstens eine pathologisch¬
anatomische Einheit möglich und wahr¬
scheinlich. Aber gerade diejenigen For¬
men von Seelenstörungen, für welche wir
eine solche anatomische Basis teils kennen,
teils voraussetzen, sind in dem Zusammen¬
hang dieser Erwägungen besonders in¬
struktiv. Gerade die mit Defekt außgehen-
den Zustände, speziell die Fälle von De¬
mentia paralytica, Dementia senilis und De¬
mentia praecox (letztere soweit sie den
Namen „Demenz“ wirklich verdienen) zei¬
gen, daß sie in besonderem Maße die Nei¬
gung haben, Symptomatologisch in allen
möglichen Farben zu schillern. Alle oder
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wenigstens fast alle sonst selbständig vor¬
kommenden Krankheitszustände mit Stim¬
mungsanomalien, Sinnestäuschungen usw.
treten bei diesen chronischen organischen
Hirnkrankheiten auf. Der groben anatomi¬
schen Veränderung entspricht im groben
die immer wiederkehrende Reihe derjenigen
klinischen Erscheinungen, die das Krank¬
heitsbild als roter Faden durchziehen, näm¬
lich der fortschreitende Verfall der psychi¬
schen Persönlichkeit, während der anato¬
mische Prozeß im übrigen von den ver¬
schiedensten Symptomen und Symptom¬
kombinationen begleitet wird.“
Auch hinsichtlich der Intoxikationen
macht er ähnliche Erwägungen und betont
den Einfluß der individuellen zere¬
bralen Beschaffenheit. Statt zerebral
hätte ich gesagt „psychisch“; ich habe
schon gesagt, aus welchen Gründen. Die in¬
dividuelle zerebrale Beschaffenheit Hoches
entspricht meiner „mentalite primaire“ und
der „Fühlsanlage“ von Stadelmann.
Müssen wir notgedrungen auf Krank¬
heitseinheiten (entit6s morbides der
Franzosen) verzichten, so müssen wir um
so schärfer die klinischen Bilder zeich¬
nen. Sie gehen zwar ineinander über, so-
daß keine Trennung möglich ist wie zwi¬
schen Masern und Scharlach. Freilich
müssen wir Rahmen haben für unsere kli¬
nischen Bilder; während sie in der Somato-
pathologie meistens fest sind, müssen es
in der Psychopathologie mobile Rahmen
sein, welche nach Bedarf verschiedene
Bilder aufnehmen können. Wohl darf man
in der wissenschaftlichen Forschung die
Frage aufwerfen, ob die Melancholie, die
Manie, vielleicht nur als Erscheinungsformen
eines „manisch-depressiven Irreseins“ zu
gelten haben. So interessant auch solche
Erwägungen sind, haben sie doch klinisch
nicht viel zu bedeuten ; ich darf sogar sagen,
daß die etwas voreilige Beantwortung dieser
Fragen Verwirrung gestiftet und, ohne uns
irgendeinen Vorteil zu bringen, die für
Patient und behandelnden Arzt so wichtige
Prognose dieser Zustände viel ernster ge¬
staltet hat. Empörend ist es zu hören, wie
begeisterte Anhänger dieser Theorie, bei
der Erzählung des Verlaufes eines seit
vielen Jahren geheilten Falles von Melan-
cholia simplex, lächelnd, fast mit einer ge¬
wissen Schadenfreude die Ansicht aus¬
sprechen: „Er wird zurückfallen.“ Das
weiß niemand, Was aber dem Arzt not¬
tut, das ist, die Symptomenkomplexe, welche
wir mit den Aufschriften: Neurasthenie,
Hysterie, Hypochondrie, Melancholie, Manie
usw. versehen, genau zu kennen. In der
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UNIVERSUM OF CALIFORNIA
September
389
Die Therapie der Gegenwart 1910.
Schilderung dieser „Zustande“ sollten die
Kliniker die Meisterschaft eines genialen
Porträtmalers zeigen, welcher bei aller Be¬
rücksichtigung des Kunstsinnes doch die
Aehnlichkeit in den Vordergrund stellt.
Sämtliche Zustände, in denen das Seelen¬
leben gestört ist, verdienen die allgemeine
Bezeichnung: Psychopathien, namentlich
diejenigen, bei welchen keine strukturelle
Veränderung des Gehirns nachweisbar ist;
denn sobald eine Gehirnaffektion da ist,
ziehen wir vor, die Krankheit anatomo-
pathologisch zu bezeichnen. Die Paranoia
betrachten wir als eine Geisteskrankheit;
die Paralyse dagegen als eine zerebrale
Erkrankung, auch wenn sie sich nur durch
analoge Seelenstörungen kundgibt.
In dieser Verallgemeinerung umfaßt aber
das Wort „Psychopathien“ eine Menge von
psychopathologischen Zuständen, von der
leichtesten Gemütsverstimmung des nor¬
malen Menschen bis zu den höchsten
Graden der Verrücktheit, und zwar ohne
daß es möglich wäre, scharfe Grenzen zu
ziehen. In dieser großen Klasse unter¬
scheidet man deshalb gewöhnlich die
Psychoneurosen und die Psychosen.
Die Trennung ist eine ganz willkürliche,
konventionelle, ebenso wie der Unterschied,
den wir praktisch zwischen Psychotherapeut
und Psychiater machen.
Die Bezeichnung Psychoneurosen,
welche in der älteren Psychiatrie in einem
anderen Sinne gebraucht wurde, habe ich
vorgeschlagen als Ersatz für den Begriff
Neurosen. Letztere Bezeichnung betrachte
ich als obsolet.
Als „Neurosen“ bezeichnete man bisher
funktionelle Störungen der verschiedenen
Organe, für welche die pathologische Ana¬
tomie keine Erklärung finden konnte und
die klinische Beobachtung keine Gewebs-
ränderung vermuten ließ. Der Begriff
war gewissermaßen ein negativer und man
ging so weit, diese Krankheitszustände
„Morbi sine materia“ zu benennen. Später
gestattete die Einsicht, daß im Organismus
nichts ohne physische Prozesse stattfinden
kann, eine solche Auffassung nicht mehr, und
der Name „Neurosen“ bedeutete soviel wie
„Morbi ex causa ignota“. Man hoffte durch
weitere Forschungen diese Krankheiten¬
gruppe allmählich verringern zu können,
ja sie vielleicht verschwinden zu lassen,
wenn es einmal der Wissenschaft gelingen
sollte, die materielle Ursache all dieser
Störungen zu entdecken. Es ist dies zum
Teil auch gelungen, indem verschiedene
Erkrankungen aus der Klasse der Neurosen
ausgemerzt wurden.
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Dennoch beobachtet der Arzt tagtäglich
manche Funktionsstörungen, für welche er
keine primäre Gewebserkrankung verant¬
wortlich machen kann, und die Beibehaltung
des Begriffes „Neurosen“ hat dabei zu einer
verhängnisvollen Konfusion geführt. Es
entstand die Vorstellung, daß der Grund
zu diesen Störungen in den „Nerven* zu
suchen sei; so wurde vielfach angenommen,
daß bei Darmbeschwerden der Sympathikus,
namentlich der Plexus solaris krank sei.
Die ungenaue Bezeichnung „Nervenkrank¬
heiten“ verbreitete sich und drang bis in
die Sprache des Publikums, Man ließ sich
dazu verleiten, lokalisierte Neurosen an¬
zunehmen und noch heutzutage sprechen
die Aerzte von Magen-, Darm- und Herz¬
neurosen, ja von Gelenkneurosen!
Eine solche Auffassung ist völlig un¬
haltbar. Das Wort „Nervenkrankheiten“
muß beschränkt werden auf die wirklichen
Krankheiten der peripheren Nerven, seien
sie durch gröbere anatomische Verände¬
rungen (Neuritis, Tumoren, Traumata, De¬
generationsprozesse usw.) oder durch mole¬
kulare noch unbekannte Vorgänge bedingt.
Der Begriff „Neurosen“ muß wegen seiner
zu engen Betonung der Rolle der „Nerven“
wegfallen und durch die Bezeichnung
„Psychoneurosen“, welche den psychogenen
Einfluß in den Vordergrund stellt, ersetzt
werden.
Sobald eine Funktionsstörung sich auf
eine, wenn auch noch so winzige Verände¬
rung eines Organs zurückführen läßt, ist es
keine Neurose mehr, sondern eine lokale Er¬
krankung. Es gibt sicherlich viele Störungen
der Herzaktion, welche durch allmähliche
Entartung von Herzgebilden (Herzfleisch,
Herzgefäße, Herzganglien) durch Seneszenz,
Arteriosklerose bedingt sind; andere mögen
auf Intoxikationen aller Art beruhen. Der
Arzt muß stets an diese Möglichkeit denken
und sich nicht übereilen, die Sache als
„nervös“ zu taxieren; er muß suchen, ver¬
mittels aller Untersuchungsmethoden dar¬
über ins klare zu kommen. Allein er darf
auch nicht vergessen, daß das psychische
Geschehen mächtig auf das Herz einwirkt.
Wir suchen zu wenig nach solchen psychi¬
schen Einflüssen, welche auch bei einem
nachweisbaren Vitium cordis sich geltend
machen, und wir schreiben oft der Digi¬
talis, der Bettruhe, der Milchdiät Besse¬
rungen zu, welche nur der seelischen Be¬
ruhigung zu verdanken sind. Es ist aller¬
dings oft sehr schwierig, die Vorgänge
zu analysieren und die wahre Ursache
herauszufinden. Auch die Physiologen, ob¬
gleich sie bei Tieren scheinbar weniger
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Die Therapie der Gegenwart 1910.
September
mit der Psyche zu schaffen haben, müssen
diese Schwierigkeit ins Auge fassen. Als
Schiff in Florenz im Jahre 1854 die regel¬
mäßigen Kontraktionen und Dilatationen
der Arterie im Kaninchenohr entdeckte,
glaubte er an eine lokale Einrichtung zur
Erhaltung einer besseren Zirkulation und
bezeichnete diese Arterie als „Cor acces
sorium“. Bei Wiederholung dieser Ver¬
suche zeigte Mosso, daß sämtliche vaso¬
motorischen Veränderungen im Kaninchen¬
ohr eine seelische Ursache haben, ebenso
wie das Erröten des Menschen. Beobachtete
er seine Tiere durch ein kleines Fenster
ihres Käfigs, ohne von ihnen gesehen zu
werden und ohne Geräusch, so konnte er
nachweisen, daß die Ohren längere Zeit, ja
stundenlang, die gleiche Farbe behielten.
Sofort aber traten die Dilatationen und
Kontraktionen wieder auf, wenn eine Ge¬
mütsbewegung sie auslöste; es genügte
dazu ein leises Pfeifen, ein Wort, irgend
ein Geräusch, wie das Bellen eines Hundes,
der Flug eines Vogels, ein Sonnenstrahl,
der Schatten einer Wolke.
Noch viel empfindlicher ist der Mensch
mit seinem hochentwickelten Geistes- und
Gemütsleben. Er reagiert nicht nur auf
Reize, welche die Sinne direkt treffen, son¬
dern auf mannigfaltige Gemütserregungen,
welche durch seine Vorstellungen herauf¬
beschworen werden. Wohl kann er in
gewissen Fällen erröten infolge einer mate¬
riellen Beeinflussung, bei großer Hitze, bei
Einatmung von Amylnitrit usw.; meistens
aber treiben ihm Befangenheitsgefühle
die Röte ins Gesicht. Wir können das¬
selbe Frostgefühl empfinden bei kühler
Witterung und bei der Gemütsbewegung,
welche uns beim Anhören guter Musik
oder eines Theaterstückes erfaßt, und bei
gleichzeitiger Einwirkung beider Ursachen
ist es uns unmöglich, zu wissen, was ge¬
wirkt hat. Das Herz wird durch körper¬
liche Anstrengungen, durch Hindernisse in
der Zirkulation zu rascherem Schlagen ver¬
anlaßt; wie oft aber hat das Herzklopfen
seine Ursache in unserem Gemütsleben!
Die Magen- und Darmfunktionen, die Se¬
kretion ihrer großen und kleinen Drüsen,
die Respiration, die Nierensekretion, die
Tonusveränderungen aller Muskeln, kurz
alle leiblichen Funktionen können zwar
materiell bedingt werden, aber noch mehr
stehen sie unter dem Einflüsse der „Seele“,
das heißt jener psychologischen Vorgänge,
bei welchen Vorstellungen den psychischen
Reiz darstellen.
Auf diese Vorgänge haben uns die
Physiologie und die Klinik des 19. Jahr¬
hunderts nicht genügend aufmerksam ge¬
macht. Man hat sie wohl beobachtet, aber
in der Sucht, alles objektiv nachweisen zu
wollen, hat man sich von ihrer Wichtig¬
keit zu wenig Rechenschaft gegeben. Und
doch kann der Arzt täglich, in der Sprech¬
stunde und am Krankenbett, diesen steten
und mächtigen Einfluß des Geistes auf den
Körper erkennen. Seine Patienten erröten
vor ihm, weinen, zeigen sich verlegen, be¬
kümmert; sie zittern, ihr Herz klopft stür¬
misch; Erbrechen, Dyspepsie, Diarrhoe und
Obstipation, Menstruationsstörungen treten
infolge momentaner oder langandauernder
Gemütsbewegungen auf. Es gibt keine
Funktionsstörung, welche nicht psychogen
bedingt sein könnte, und zwar nicht, wie
viele Aerzte meinen, durch Einbildung,
sondern durch die physiologische Wirkung
der Emotion, wobei allerdings auch Auto¬
suggestionen eine Rolle spielen können.
Als Gegensatz zu Wundts „physiologi¬
scher Psychologie“ könnte man ein Buch
schreiben über „psychologische Physio¬
logie“, worin sämtliche somatischen Funk¬
tionsstörungen, welche auf das Vorstellungs¬
leben zurückzuführen sind, beschrieben
wären.
Wie mir scheint, hat man nicht klar ge¬
nug eingesehen, auf welchem Wege dieser
Einfluß des Psychischen auf dtn Körper
sich geltend macht. Es kommen dabei in
Betracht: die Affektivität, die Sug-
gestibilität und die Ermüdbarkeit.
Die Affektivität hat ihren Grund im Selbst¬
erhaltungstrieb. Sämtliche vasomotorischen
Erscheinungen, welche auf die Gemüts¬
bewegung folgen, tragen den Charakter
einer Abwehr; die Blutwallung geschieht in
der Richtung nach dem gefährdeten Organ
hin, sie führt den in Tätigkeit tretenden
Teilen die ernährende Flüssigkeit zu, wie
den im Gefecht stehenden Soldaten Muni¬
tion zugeführt wird. Dieser Erhaltungs¬
trieb ist schon den niedrigsten Organismen
eigen, und alle diese Reaktionen vollziehen
sich sozusagen automatisch, nach dem Vor-
bilde des Reflexes oder der Tropismen.
Diese biologische Tatsache hat sehr dazu
beigetragen, den Affekt für das primäre zu
halten, namentlich als physiologische Ver¬
suche uns zeigten, daß auch enthauptete
Tiere bei Reizung koordinierte Flucht¬
bewegungen machen, obgleich sie weder
fühlen noch denken. Gewiß, aber dieser
automatische Teil der Abwehr wird sehr
oft ganz unzweckmäßig, wie bei der ent¬
haupteten Schlange Tiegels, welche einen
glühenden Eisenstab umschlingt, da sie den
Schmerz nicht empfindet. Unter normalen
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September
Die Therapie der Gegenwart 1910.
391
Verhältnissen hätte die Schlange diese
automatische Abwehrbewegung vielleicht
begonnen, sie aber sofort unterlassen bei
der zweiten Empfindung der Hitze. Kon¬
traktionen von Muskeln, vasomotorische
Erscheinungen, Drüsensekretionen können
wohl reflektorisch, beim enthaupteten oder
narkotisierten Tiere, stattfinden, dagegen
fallen alle Reaktionen aus, welche ein wirk¬
liches Fühlen und Denken voraussetzen.
Unter normalen Verhältnissen reagieren
wir aber auf die Vorstellung einer Ge¬
fahr. Dieses Wort „Gefahr“ muß man
sehr allgemein auflassen. Ich definiere die
Furcht als ein „Begehren, daß etwas nicht
geschehe“; jedes Erlebnis, das wir nicht
wünschen, verdient die Bezeichnung „Ge¬
fahr“. Das Erkennen der Gefahr ist die
Vorbedingung jeder zweckmäßigen Ab¬
wehrbewegung, die dann nicht mehr ein¬
seitig bleibt, sondern sich neuen Verhält¬
nissen anzupassen weiß. So werden Vögel,
welche nie einen Flintenschuß gehört
haben, sich vom Jäger wohl annähern
lassen; die Erfahrung belehrt sie aber bald,
und sie werden das nächstemal davon-
fliegen, sobald sie ihn in großer Entfernung
sehen. Schon hier tritt nicht nur die ein¬
fache Wahrnehmung, die bloße Vorstellung
„Mensch“ auf; es kommt noch die Vor¬
stellung ,böser Mensch“ dazu, d. h. die
Idee einer Gefahr, welche erst Furcht und
Flucht auslöst.
Infolge des jedem lebenden Protoplasma
eigenen natürlichen Erhaltungstriebes hat
sich evolutionistisch die Affektivität aus-
gebildet. Sie zeigt sich zweckdienlich, in¬
dem die Lustgefühle den Trieb entfachen,
das Gewünschte zu erreichen, während die
Unlustgefühle die Furcht und die Flucht
oder auch die Abwehr bedingen. Nach¬
teilig wird jedoch die Affektivität, wenn sie
übertrieben ist. Die Reaktionen treten
dann stürmisch auf, schaffen selbst neue
UnlustgefQhle, vermehren die Furcht und
trüben die Vernunft. Diese übertriebene
Affektivität schreibe ich nicht, wie gewisse
Autoren, einer abnormen Reizbarkeit ge¬
wisser bulbären Zentren zu, sondern der
Psychasthenie, dem Mangel an „Einstellungs¬
vermögen“. Im Intellekt liegt der primäre
Fehler, der eine unrichtige Wertung der
Weltbilder nach sich zieht. Gewiß wird
auch der vernünftigste Mensch erschrecken
können, selbst wenn keine große Gefahr
vorliegt; er wird auch automatisch rea¬
gieren auf Sinnesreize, welche durch ihre
Heftigkeit oder Plötzlichkeit ursprünglich
die Idee einer möglichen Gefahr wecken,
z. B. bei einem Kanonenschuß, beim Zu¬
schlägen einer Türe. Je wahrhaft gebil¬
deter ein Mensch ist, desto seltener werden
solche Gemütsbewegungen bei ihm auf-
treten. Die Affektivität wird durch die
Bildung des Verstandes vermindert, na¬
mentlich wenn Hand in Hand mit der
wissenschaftlichen auch eine ethische Bil¬
dung, im Sinne eines Stoizismus, statt¬
gefunden hat.
Immerhin bleibt dem Menschen eine
normale Affektivität, welche ihn zum Han¬
deln treibt, ihn fähig macht, zu genießen,
und umgekehrt ihn lehrt, Unlustgefühle zu
vermeiden. Auf jede Vorstellung, die
unsere Interessen, im allgemeinsten Sinne
des Wortes, berühren, treten fast simultan
mit der Vorstellung, wenn auch chrono¬
logisch sukzessiv, als somatischen Reak¬
tionen auf.
Ich habe gezeigt, wie der Egozentrismus
die Affektivität erhöht und wie die Kritik¬
losigkeit sie schürt. Die Psychasthenie der
Psychopathen macht sie für alle Einflüsse
viel empfindlicher; eine Menge von Funk¬
tionsstörungen sind emotionelle Vorgänge,
welche der Affektivität zuzuschreiben sind.
Der Reiz wirkt hier nicht unmittelbar auf
die Zentren des Palaeencephalon, nach
Art des Reflexes; er nimmt seinen Weg
durch die Hirnteile, in welchen die sub¬
jektive Wahrnehmung und die geistige
Synthese stattfinden. Als solche, rein in¬
folge der Affektivität auftretende Erschei¬
nungen möchte ich nennen: Erröten und
Erblassen, Pupillenveränderungen, Erschlaf¬
fung der Gesichtszüge, Schnüren im Halse,
Schwäche der Stimme, Aphonie und Mu¬
tismus, Atemnot, Herzklopfen, Präkordial¬
angst, Schweiße, Schwindel; im Gebiete
der Verdauungsorgane sämtliche Funktions¬
störungen, welche auch bei somatischen
Zuständen eintreten können: Appetitlosig¬
keit, Ekel, Aufstoßen, Brechreiz, Erbrechen,
Magendruck und -schmerzen, Obstipation
und Diarrhöe, von seiten der Harnorgane:
Pollakiurie und Polyurie, Tenesmus; im
Gebiete der Genitalien: Impotenz, Störun¬
gen der Menstruation, Dysmenorrhöe, Blu¬
tungen usw. Auch die Muskeln entgehen
diesem Einfluß nicht; sie zeigen Kontrak¬
turen und klonische Zuckungen, Zittern,
Schwäche bis zur Aufhebung der Motilität.
Algien der verschiedensten Art, in allen
Organen, können infolge einer Gemüts¬
bewegung auftreten, sei es momentan, sei
es andauernd; sie bilden eine Hauptklage
vieler Psychopathen. Endlich wäre noch
der psychischen, subjektiven Zustände zu
gedenken, welche diese Patienten empfin¬
den: Traurigkeit, Angst, Schwindel, Gefühl
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392
Die Therapie der Gegenwart 1910.
September
von Leere oder von Vollsein im Kopf und
anderes mehr.
Alle diese Erscheinungen können schlie߬
lich beim normalen Menschen auftreten,
wenn eine heftige Gemütsbewegung statt¬
gefunden hat; kein Mensch dürfte sich
solchen Reaktionen gegenüber als gefeit
betrachten. Bei den Psychopathen treten
sie indessen viel heftiger auf und bei An¬
lässen, welche andere Menschen nicht be¬
rühren würden. Diese erhöhte Affektivität
führe ich, wie gesagt, nicht auf eine krank¬
hafte Empfindlichkeit des Nervensystems,
sondern auf eine Schwäche des Verstandes
zurück.
Diese Psychasthenie hat noch weitere
Gefahren und steigert die Macht der krank¬
machenden Vorstellungen; sie erhöht die
Suggestibilität. — Ich verstehe darunter
die Neigung des Menschen, seinen Wahr¬
nehmungen sofort volle Geltung zu geben,
Eingebungen anderer kritiklos zu akzep¬
tieren und entsprechend diesen Vorstellun¬
gen in Affekt zu geraten und zu handeln.
Wäre die Urteilsfähigkeit des Menschen
eine perfekte, würde er die Weltbilder so¬
fort richtig werten, so könnte die Sug¬
gestibilität als eine gute Eigenschaft gelten;
wir würden sozusagen instinktiv rasch und
gut handeln. Leider ist dem nicht so.
Das Geistes- und Gemütsleben ist so reich,
daß eine korrekte Wertung aller Welt¬
bilder sehr schwer ist. Wir täuschen uns
schon bei der einfachsten Wahrnehmung
von Objekten, von Tatsachen, bei der Be¬
urteilung von Erlebnissen und noch viel
mehr in der induktiven Geistestätigkeit, die
wir mit dem Worte „Denken“ bezeichnen.
Die dabei notwendigerweise auftretende
Affektivität trübt, auch im normalen Zu¬
stande, die intellektuellen Funktionen. In¬
folge dieser zahllosen Irrtumsmöglichkeiten
wird die Suggestibilität zu einem Haupt¬
fehler der Menschheit. Einzig durch die
stete Kritik einer geläuterten Vernunft läßt
sich diese Leichtgläubigkeit bekämpfen und
gelangt der Mensch zu einer klaren Ein¬
sicht.
Bei allen Psychopathen zeigt sich diese
übertriebene Suggestibilität. Wohl kommt
es häufig vor, daß sie den Eingebungen
anderer (Heterosuggestion) großen Wider¬
stand entgegensetzen, wie z. B. viele Hyste¬
rische, Psychasthenische und Paranoische.
Dagegen stehen sie vollständig unter dem
Joche ihrer eigenen Ideen (Autosuggestion).
Auch zeigt die Suggestibilität eines Indi¬
viduums stets Variationen; so kann ein
Patient, der dem einen Arzte sich hart¬
näckig widersetzte, die Eingebungen eines
anderen sofort akzeptieren oder einem
Charlatan Gehör schenken. Maßgebend für
das affektive Handeln sind auch meist nicht
die bewußten, mit klarem, reflektiertem Be¬
wußtsein betrachteten Suggestionen, son¬
dern die weniger präzisen, halbvergessenen,
aber schon lange gefühlsbetonten Vor¬
stellungen, welche in unserem Tiefinnersten
schlummern; der Franzose nennt sie: les
pensces de derriere latete. So gibt mancher
Patient an, ein Medikament ohne Glauben
genommen zu haben, während im Grunde
doch die Hoffnung auf eine Wirkung (Affekt)
sein Gemüt beherrschte.
Sind nun bei einem suggestiblen Men¬
schen, sei es infolge von Gemütsbewe¬
gungen, sei es auf Grund somatischer Ur¬
sachen, Funktionsstörungen aufgetreten, so
verschlimmert die Suggestibilität die Lage
des Patienten erheblich. Nicht nur werden
dadurch die vorhandenen Störungen fixiert,
indem die Seele alles Empfundene sofort
zur Wirklichkeit stempelt, sondern es
machen sich noch neue Vorstellungen einer
Gefahr geltend. Während ein vernünftiger
Mensch, namentlich wenn er sich zu einem
stoischen Verhalten erzogen hat, die Ten¬
denz zeigt, unangenehme Empfindungen zu
vernachlässigen, sie als harmlos, als vor¬
übergehend zu betrachten, überwertet der
Psychopath alle 9 eine Wahrnehmungen; er
erblickt in allem eine Gefahr und gerät
dadurch in Affekt. Dieser löst seinerseits
neue Funktionsstörungen aus, welche eben¬
falls durch die ihnen geschenkte Aufmerk¬
samkeit fixiert werden. Es ist bei vielen
Kranken höchst schwierig nachzuweisen,
was als direkte Folge der Gemütsbewegung
zu betrachten und was auf dem Wege der
Auto- oder Heterosuggestion entstanden
ist. Vielfach wurde in ärztlichen Vereinen
die Frage aufgeworfen, ob die hysterischen
Erscheinungen (Anästhesien, Lähmungen,
Kontrakturen, konvulsivische Krisen usw.)
unmittelbar durch die Emotion ausgelöst
werden, oder ob sie aus Suggestionen her¬
vorgehen. Eine genauere Analyse auf
diesem Gebiete tut not, da die Lösung
solcher Fragen wichtige Indikationen für
die Therapie bieten kann. Eine scharfe
Trennung wird allerdings kaum möglich
sein, da jeglicher Affekt aus einer Vor¬
stellung entsteht, also gewissermaßen eine
Autosuggestion voraussetzt. Es zeigt sich
hier wieder die Identität von Fühlen und
Denken.
Durch die Suggestibilität erhält die Affek¬
tivität eine Steigerung, welche völlig hin¬
reicht, die Erscheinungen der Psychopathien
zu erklären; immerhin glaube ich der Er-
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September
Die Therapie der Gegenwart 1910.
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müdbarkeit, als dritte im Bunde, eine
große Rolle zuschreiben zu müssen. Im
Affektzustand werden zahlreiche Organe
in lebhafte, ja stürmische Tätigkeit ver¬
setzt. Dadurch tritt eine Ermüdung ein,
welche viel intensiver ist als die nach einer
langen, aber ruhigen Arbeit sich einstellende;
eine kurze Gemütsbewegung erschlafft uns
mehr als Stunden fortgesetzter körperlicher
oder geistiger Tätigkeit
Die Ermüdung tut sich aber nicht nur
kund durch Abnahme der Leistungsfähig¬
keit, wie z. B. der Schwierigkeit, weiter
zu gehen, eine geistige Arbeit fortzusetzen;
sie manifestiert sich noch durch eine ganze
Reihe von Beschwerden und Funktions¬
störungen. Bei kerngesunden, robusten
Individuen mag sich die Ermüdung durch
einfache Leistungsfähigkeit und Beschwer¬
den im Organ, welches in Anspruch ge¬
nommen war, kundgeben; die meisten
Menschen haben aber gewisse „loci minoris
resistentiae“, und die Folgen erlittener
Strapazen machen sich an verschiedenen
Stellen geltend. So kann eine anstrengende
Bergtour bei dem einen nur Müdigkeit in
den Beinen hervorrufen; ein anderer be¬
kommt dabei Kopfschmerzen, Nacken- .und
Rückenschmerzen. Ein dritter gibt an, sich
körperlich nicht müde zu fühlen, ist aber
mürrisch und ungeduldig geworden. Bei
manchen tritt Appetitlosigkeit ein, während
sonst Bewegung den Appetit fördert; dem
einen bringt die Ermüdung guten Schlaf,
dem andern verursacht sie eine schlaflose
Nacht. Jeder reagiert auf seine Weise;
übersteigt die Ermüdung eine gewisse,
für jede Person andere Grenze, so kann
sie sämtliche Beschwerden verursachen,
die wir als „nervöse“ bezeichnen. Die
Wahrnehmung all dieser Funktionsstörun¬
gen wird wiederum dank der Suggestibi-
Htät und Affektivität überwertet, und der
Patient gerät immer tiefer in die verhäng¬
nisvolle Spirale.
Bei allen Psychoneurosen und Psychosen
läßt sich diese Wechselwirkung der Affek¬
tivität, der Suggestibilität und der Ermüd¬
barkeit leicht nachweisen. Die Reaktion
des einzelnen hängt von seiner primären,
körperlichen und psychischen Konstitution
ab. Oft genügt die Vorstellung (Sug¬
gestion), um alle Beschwerden auszulösen,
z. B. bei Personen, welche sich krank
wähnen, sobald sie von einer Krankheit
sprechen hören; sie empfinden sogleich die
subjektiven Symptome, und auch die ob¬
objektiven Reaktionen bleiben nicht aus.
Noch häufiger gibt ein wirklicher somati¬
scher Reiz Anlaß zu der Vorstellung; die
□ igitized by Google
Wirkung des Erlebnisses wird jedoch durch
die übertriebene Affektivität und Suggesti¬
bilität gesteigert. Endlich kann ein großes
Ereignis mächtig auf den Menschen ein-
wirken und ihn krank machen; aber auch
da noch spielt die Suggestibilität der Pa¬
tienten eine Rolle. Ueberall zeigen sich
Kleinmütigkeit, Furcht und Mangel an Be¬
sonnenheit; im Zeichen der Schwäche leben
alle diese Psychopathen.
Unter Umständen kann der Egozentris¬
mus auch zu Genußsucht führen; mancher
Psychopath läßt sich zu Exzessen in Baccho
et Venere verleiten, ja sogar zu über¬
mäßiger körperlicher oder geistiger Arbeit,
bei welcher er sein Kapital an Nerven-
kraft verschwendet. Die Beobachtung
solcher Fälle hat den italienischen Kliniker
Grocco dazu geführt, neben der Neur¬
asthenie eine Neurohypersthenie anzu¬
nehmen. Ich halte diese Auffassung für
unrichtig. Hypersthenisch ist niemand; mit
seinen Kräften ist der Mensch eher spar¬
sam. Diese exzedierenden Patienten sind
Psychopathen, welche impulsiv handeln,
unter dem Banne ihrer Leidenschaften
leben oder eine übertriebene Arbeitslust
zeigen; sie treiben ihren Gaul bis er zu¬
sammenbricht; am Ende treten doch neur-
asthenische Erscheinungen auf. Uebrigens
hat eine gewisse Neurasthenie auch ihre
guten Seiten; diese Anlage bringt eine
Empfänglichkeit mit sich, welche auch die
Begeisterung entfachen kann. Der fran¬
zösische Kliniker Sandras hat schon 1851
geschrieben: „Rien n’est plus admirable
que cet etat nerveux, quand il est au Ser¬
vice d’une bonne töte et d’un bon coeur.“
Leider ist dies nicht allzuhäufig, und bei
vielen Fällen von Neurasthenie verbindet
sich ein schwacher Kopf mit „Moral
insanity“.
Es ist leicht einzusehen, welche Folgen
die Vermischung dieser verschiedenen
Geistes- und Charakterfehler haben kann.
Wenn der Egozentrismus und die Kritik¬
losigkeit die Affektivität und die Suggesti¬
bilität züchten, - wenn dazu noch die emo¬
tionelle Ermüdung auf einen schwachen
Organismus einwirkt, so ist der Ausbruch
der Psychopathie nicht zu verwundern.
Freilich können gewisse Individuen diese
geistigen Minderwertigkeiten alle besitzen,
schwachsinnig sein, egoistisch leben, ihre
Affektivität in einem ausschweifenden Leben
aufs höchste steigern und dennoch gesund
bleiben; sie sind eben zäher als andere.
Immer wieder tritt uns die Wichtigkeit der
primären Anlage entgegen, nicht bloß
als sogenannte Prädisposition — die man
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Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
394
Die Therapie der Gegenwart 1910.
September
nur theoretisch aufstellt, um die Tatsache
zu erklären, daß nicht alle Menschen durch
die gleichen Ereignisse krank werden —,
sondern als bestehende, nachweisbare
körperliche und seelische Anlage; ein
scharfer Beobachter kann diese Minder¬
wertigkeiten lange vor dem Ausbruch der
Psychopathie auf decken. Ich habe stets
auf die Wichtigkeit dieser Anlage aufmerk¬
sam gemacht.
In ausgezeichneter Weise hat Stadel-
mann, Nervenarzt in Dresden, diesen Ge¬
danken ausgesprochen, indem er die Ent¬
stehung der „Psychose" auf das Zusammen¬
wirken dreier Faktoren zurückführt: Fühl¬
anlage, Fühllage und Erlebnis.
Hat man diese Grundsätze richtig ver¬
standen, so begreift man sofort, daß die
Psychopathien keine spezifischen Ent¬
stehungsmomente haben, sondern daß sie
unter dem Einfluß ganz banaler körper¬
licher und seelischer Einwirkungen, welche
auf andere Menschen keinen Effekt aus¬
üben würden, ausbrechen. Das Erlebnis
somatischer oder psychischer Natur spielt
nur die Rolle einer „Gelegenheitsursache",
welche allerdings oft von entscheidendem
Einfluß sein kann.
Es lassen sich aus dieser Anschauung
zugleich auch allgemeine therapeutische
Prinzipien ableiten. Selbstverständlich ist,
daß man bei der Prophylaxe wie bei der
Behandlung auf jeden einzelnen dieser drei
Faktoren oder auf alle zusammen einwirken
kann.
Unstreitig wäre es zweckmäßig, „Minder¬
wertige" vor schädlichen Erlebnissen zu
schützen. In vielen Fällen tun wir dies
auch, indem wir bedrohte oder kranke
Persönlichkeiten aus einer ungünstigen Um¬
gebung entfernen, den Schulbesuch mit
seinen unvermeidlichen Nachteilen ver¬
bieten, kurz, so weit möglich, die Patienten
in günstigere Verhältnisse versetzen. So
notwendig und wertvoll diese Maßregeln
auch sind, ist doch leicht einzusehen, daß
wir unseren Kranken oder schlecht veran¬
lagten Menschen ein Leben ohne Sorgen
nicht bereiten können. Immerhin darf
diese Indikation, die Gelegenheitsursachen
möglichst zu beseitigen, nicht vernachlässigt
werden; in gewissen Fällen genügt dies
schon zur Heilung.
Die momentane Fühllage ist bei der
Entstehung jeglicher Psychopathie von
großer Wichtigkeit. Wie ein Mensch, der
sich in einer schwankenden Gleichgewichts¬
lage befindet, durch einen leichten Stoß
zum Fall gebracht wird, so ist eine Person
auch psychisch leichter verletzbar, wenn
sie sich in einer abnormen Fühllage be¬
findet.
Der Grundton der momentanen Fühllage
ist gegeben durch die Fühlanlage; sie er¬
leidet jedoch mancherlei Veränderungen
unter der Einwirkung verschiedenster Fak¬
toren. Die Umstände, welche imstande
sind, die Fühllage des Menschen zu ver¬
ändern, sind so unzählige, daß eine er¬
schöpfende Aufzählung nicht möglich ist.
Körperliche Euphorie, Heiterkeit infolge
angenehmer Ereignisse, verschiedene Ge¬
nußmittel usw. bedingen eine günstige
Fühllage; nicht nur genießen wir die Lust¬
gefühle an sich, wir werden dadurch zu
weiterem Genuß vorbereitet; in dieser
Stimmung überwerten wir angenehme Er¬
lebnisse und sind imstande, Unannehmlich¬
keiten mit Gleichmut zu ertragen. Eine
seelische Euphorie können wir auch emp¬
finden nach einem Unwohlsein, sogar be¬
vor noch völlige Heilung eingetreten ist;
der Kontrast gestattet eine optimistische
Wertung der an sich noch keineswegs an¬
genehmen Lage.
Viel häufiger und für die Psychopatho¬
logie wichtiger sind die ungünstigen Fühl¬
lagen, welche eine unrichtige Wertung der
Vorstellungen und eine übermäßige Ge¬
fühlsbetonung nach sich ziehen. Der Mensch
zeigt in der Regel keine große Neigung
zum Optimismus; das Leiden sieht er meist
durch ein Vergrößerungsglas, das Glück
hingegen scheint ihm kurz und vergäng¬
lich; er verdirbt sich den Genuß der
Gegenwart durch die Furcht vor der Zu¬
kunft.
Auf die Fühllage jedes Menschen übt
vor allem die Ermüdung einen mächtigen
Einfluß aus. In dem Zustande der Er¬
müdung macht uns das Bedürfnis nach
Ruhe ungeduldig und reizbar. Eine Be¬
merkung unserer Angehörigen nehmen wir
gleich übel, sehen darin eine Belästigung
oder eine Kränkung, und das barsche Wort:
„Laß mich doch in Ruh’" ist schon auf
unseren Lippen. Der Ermüdete sieht leicht
alles durch eine schwarze Brille, läßt sich
entmutigen und erblickt unüberwindliche
Hindernisse, wo er kurz zuvor keine fand.
In dieser Fühllage hat sich mancher Psy¬
chopath zu abnormen Handlungen, zum
Selbstmord, ja zum Mord hinreißen lassen.
— Die Sättigung ist auch eine Ermüdungs¬
fühllage; sie bedingt oft eine jähe Ver¬
stimmung, welche alles in einem anderen
Lichte erscheinen läßt, so daß wir verab¬
scheuen, was wir vorher ersehnten und
genossen. Stadelmann verdanken wir
die gediegenste Beschreibung dieser
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September
Die Therapie der Gegenwart 1910.
395
Stimmungswechsel, welche auf dem Boden
einer angebornen und anerzogenen „ Kon¬
trastanlage“ entstehen und zu einer „Um¬
sturzwertung“ führen 1 ). Nichts ist so wichtig
für die Beurteilung von Psychopathien wie
die Kenntnis dieser Erscheinungen.
Nur darin finden wir eine Erklärung für
die rätselhaften Selbstmorde von Menschen,
die vorher nicht als krank galten, unter
dem Einfluß eines winzigen Erlebnisses;
wir begreifen dadurch auch die plötzliche
Umstimmung eines Psychopathen, der aus
der Sprechstunde des Arztes so ermuntert
herauskommt, daß er sich geheilt fühlt, und
eine halbe Stunde später finden wir ihn
im Bett in der höchsten Verzweiflung, nur
weil seine Frau ihn mit einem nervösen
Lächeln empfing. Die Stimmung solcher
Menschen gleicht dem Barometer in stür¬
mischen Zeiten; aber schon beim Normalen
zeigt die Kurve beständige und oft jähe
Schwankungen.
In der Nacht, wenn der Schlaf nicht
kommen will, ist die Fühllage eine andere
als am Tage. Wohl gibt es Menschen,
welche auch in einer schlaflosen Nacht die
Gemütsruhe und die Geistesschärfe be¬
wahren, meist aber hat die Nachtstim¬
mung eine melancholische Färbung. Wir
überwerten die trüben Vorstellungen, werden
zu Pessimisten angesichts von Aufgaben,
die uns am Tage leicht vorkamen. In der
Nacht verschlimmert sich der Zustand von
Psychopathen und auch von anderen Kranken
oft erheblich. Lichtmachen ist ein pro¬
bates Mittel gegen solche Verstimmungen;
es wirkt sogar bei asthmatischen Anfällen
und deutet auf die Mitwirkung psychogener
Einflüsse.
Die Menstruation übt auf die momen¬
tane Fühllage des Weibes einen großen
Einfluß aus; sie steigert die Ermüdbarkeit,
die Reizbarkeit, die Empfindlichkeit, den
Widerspruchsgeist. Es gibt kaum ein
Weib, bei welchem diese Stimmungswechsel
einem aufmerksamen Beobachter, nament¬
lich dem Herrn Ehegemahl, entgehen
würden. Bei psychopathisch veranlagten
Damen steigert sich diese Verstimmung bis
zur Menstrualpsychose. In Straffällen muß
hie und da dem menstruierenden Weibe
eine verminderte Zurechnungsfähigkeit zu¬
erkannt werden. Auf welche Weise dieser
Einfluß sich geltend macht, ob auf dem
Wege des Reflexes oder durch Einwir¬
kung gewisser Stoffe, oder endlich psy-
*) Das Wesen der Psychose. — Der Umsturz¬
wert (Ztschr. f. Psychotherapie, Bd. II. H. 2, Stutt¬
gart, Verlag von Ferdinand Enke, 1910).
chogen durch Autosuggestionen, ist noch
völlig unerforscht.
Ebensowenig wissen wir über die Fühl¬
lage des kritischen Alters. Die meisten
Aerzte denken dabei an Ausfallserschei¬
nungen durch Sistierung derOvarialfunktion
und schreiben den Erkrankungen des Ge¬
nitalapparates eine große Rolle als Ursache
von Psychoneurosen zu. Man hat ver¬
sucht, durch Ovarialpräparate diese Stö¬
rungen zu beseitigen. Die Arbeiten von
Prof. Walthard in Frankfurt zeigen je¬
doch, daß Operationen, welche die künst¬
liche Menopause bedingen, keineswegs
solche Ausfallserscheinungen hervorrufen;
er stellte fest, daß sämtliche Patientinnen,
welche nach der Operation Zustände von
„Nervosität“ zeigten (11 Fälle auf 80 Ope¬
rierte), schon lange vorher psychoneuro-
tische Erscheinungen dargeboten hatten.
Das ganze Geschlechtsleben ist mit
einer solchen Fülle von Empfindungen, Ge¬
fühlen, Gemütsbewegungen verbunden, die
Phantasie spielt dabei eine so hervor¬
ragende Rolle, daß man sich nicht zu
wundern braucht, wenn Erlebnisse auf
diesem Gebiete krankmachend wirken. Die
enorme Wichtigkeit der Erotik im Menschen¬
leben kann nicht hoch genug angeschlagen
werden; bei Personen, welche die Kontrast¬
anlage haben, kann sie zu Eifersuchtsver¬
brechen und zu Lustmorden führen.
Das Alter beeinflußt die Fühllage auch
erheblich. Sie ist eine verschiedene in der
Kindheit, in der Pubertätszeit, in der Ge¬
schlechtsreife, im Rückbildungsalter. In
dem letzteren tritt eine Fühllage der Er¬
müdung ein. Der Greis kommt leicht zur
Blasiertheit, er sehnt sich nach Ruhe, wird
ungeduldig, reizbar, egoistisch, und die
Abnahme der Geisteskräfte beeinträchtigt
eine wirksame Abwehr durch die Vernunft.
Krankheiten aller Art verändern eben¬
falls die Fühllage, nicht nur schmerzhafte
Affektionen, welche Ungeduld und Reiz¬
barkeit verursachen, sondern auch solche,
welche Depression nach sich ziehen, wie
langdauernde Verdauungsstörungen, an¬
haltende Schwächezustände usw.
Intoxikationen (Alkohol, Morphium
usw.) üben einen gewaltigen Effekt auf das
Geistes- und Gemütsieben aus. Abgesehen
von der Möglichkeit des Auftretens deli-
riöser Zustände wirken diese Gifte wesent¬
lich auf die geistige Synthese, auf die Ge¬
fühlsbetonung der Vorstellungen. Daher
ihre große Rolle in der Aetiologie der
Psychosen und Psychoneurosen.
Aber, so mächtig diese Einwirkung auch
ist, verrät sich doch immer die primäre
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Die Therapie der Gegenwart 1910.
September
Fühl- und Denkanlage. Viele Pota¬
toren sind von Haus aus Psychopathen,
und der Alkoholismus spielt mehr die Rolle
einer Gelegenheitsursache, er ist schon eine
Frucht der Psychopathie. Das gleiche gilt
von der Arteriosklerose, welche wohl
geistige Ausfallserscheinungen erzeugen
kann, jedoch nur dann zur Melancholie,
zum Verfolgungswahn führt, wenn schon
eine abnorme Fühlanlage da ist.
Es ließen sich noch viele Faktoren er¬
wähnen, welche ein schwaches Gemüt
ins Schwanken und zum Sturze bringen
können.
Endlich ist zu erwähnen, daß das Er¬
lebnis nicht nur die Rolle des Tropfens
spielt, der das Gefäß zum Ueberfließen
bringt, sondern auch die Fühllage ver¬
ändert, so daß der Mensch nicht nur un¬
mittelbar auf das Ereignis reagiert, sondern
auch für andere Erlebnisse empfindsamer
wird.
Tagtäglich variiert somit die Fühllage
eines jeden Menschen unter dem Einflüsse
somatischer und psychischer Faktoren. Die
Ursache dieser Stimmungswechsel läßt sich
nicht in allen Fällen erkennen. Oft fühlt
man sich verstimmt nach einer guten Nacht,
während man sich andrerseits munter fühlen
kann nach den Strapazen einer in Ver¬
gnügungen verbrachten Nacht, ja sogar
wenn gewisse Exzesse dabei stattgefunden
haben. Wenn schon der normale Mensch
solche Schwankungen wahrnimmt, wie viel
intensiver muß dieser Einfluß auf Psycho¬
pathen sein!
Seit langem wird von verschiedenen
Autoren auf eine gewisse Periodizität im
Menschenleben aufmerksam gemacht, und
die Beobachtung von Anstaltsärzten scheint
diese Angaben zu bestätigen, indem in ge¬
wissen Tagen, Wochen oder Monaten viele
Patienten eine Verschlimmerung ihres Zu¬
standes zeigen. Spruchreif ist die Frage
nicht; es ist eben sehr schwer, alle Ereig¬
nisse auszuschließen, welche Körper und
Geist beeinflussen, um nachzuweisen, ob
ein rein somatischer Zustand die Fühllage
verändert hat.
Unter allen Umständen, in allen diesen
zufälligen Fühl lagen, spiegelt aber stets
die Fühllage durch, und diese Tatsache
hat manchen Psychiater und Neurologen zu
einer pessimistischen Auffassung gebracht.
Von dem Gedanken ausgehend, daß der
psychische Zustand eines Menschen durch
die somatische Beschaffenheit seines Gehirns
I gegeben ist, hat man der Heredität eine
| zu große Wichtigkeit beigemessen und die
I Möglichkeit einer tiefen Umänderung der
! Persönlichkeit geradezu geleugnet. Wie
schon gesagt, hat man dabei viel zu wenig
die Ingesta der „Seele“ berücksichtigt.
Die Erfahrungen von 30 Jahren haben
mich eines anderen belehrt und mir ge¬
zeigt, daß es nicht so schwer ist, die FühJ-
und Denkanlage eines Menschen zu korri¬
gieren, wenn auch nicht vollständig, wenig¬
stens so weit, daß aus den bleibenden
geistigen Minderwertigkeiten keine größeren
Nachteile mehr erwachsen. Der seelische
Besitzstand eines Menschen hängt eben
nicht nur von der Heredität ab, sondern
noch viel mehr von der Erziehung durch
die zahllosen Lebenserfahrungen. Auch
nationale Unsitten, welche oft so groß sind,
daß wir den Seelenzustand unserer Pa¬
tienten aus anderen Ländern kaum be¬
greifen, lassen sich auf verderbliche Ein¬
flüsse des Milieus zurückführen, und der
Arzt, der psychotherapeutisch einzugreifen
weiß, ist oft verblüfft über die Leichtig¬
keit, mit welcher die Bekehrung solcher
„Unrichtigdenkenden “ stattfindet.
Wichtig für die Behandlung aller Psy¬
chopathien ist somit: die Beseitigung schäd¬
licher Erlebnisse und die Vermeidung
aller Faktoren,welche eine ungünstige Fühl¬
anlage hervorrufen können; damit lassen
sich schöne momentane Erfolge erzielen.
Eine psychotherapeutische Kur kann aber
nur dann als gelungen betrachtet werden,
wenn eine tiefe Umgestaltung der Fühl-
anlage erzielt worden ist.
Aus der medizinischen Klinik der Universität Groningen.
(Direktor: Pro£ Dr. Wenckebach).
Ueber die Behandlung der serösen Pleuritis mit Lufteinblasung.
Von Dr. J. H. Geselschap, Arzt in Delden (Niederlande).
Wenn man in verschiedenen Hand- und
Lehrbüchern das Kapitel derThorakozentese
nachschlägt, wird man betroffen von der
großen Einstimmigkeit, womit alle Autoren
die absolute Notwendigkeit hervorheben,
daß, bei der Punktion von Exsudaten und
Transsudaten in der Brusthöhle, keine Luft
hierin eindringe. Die Technik der ver¬
schiedenen Punktionsapparaten wird großen¬
teils durch die Furcht vor Lufteintritt be¬
herrscht. Diese läßt sich verschiedentlich
erklären. Zuerst hat die Gefahr der In¬
fektion daran Schuld. Die Möglichkeit,
daß mit der Luft Mikroben hineindringen
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397
September
Die Therapie der Gegenwart 1910.
und den Prozeß anstatt serös eitrig machen,
liegt auf der Hand, obgleich solches in
Wirklichkeit jedoch selten geschieht. Wie¬
derholt kommt es vor, daß durch einen
Fehler in der Technik bei einer Punktion
Luft in die Brusthöhle eintritt, ohne daß
später nachteilige Folgen sich zeigen.
Widal 1 ) und Andere haben solche Fälle
beschrieben, von Ziemssen 2 ) erzählt,
daß er bei der Punktion mit einem ein¬
fachen Troikart oft die Luft mit einem
schlürfenden Geräusch in die Pleurahöhle
eindringen hörte, ohne weitere Folgen da¬
von zu bemerken. Auch das Schreckbild
des offenen Pneumothorax und der oft
ernsthafte Verlauf des Pneumothorax bei
Lungentuberkulose haben wohl das ihrige
dazu beigetragen, den Pneumothorax in
solch einen üblen Ruf zu bringen. Seit
einiger Zeit aber ist ein gewisser Um¬
schwung eingetreten; sowohl bei Lungen¬
tuberkulose als bei Bronchieektasien hat
man mit dem künstlichen Pneumothorax
günstige therapeutische Resultate erreicht.
Auch bei seröser Pleuritis und gleich¬
artigen Zuständen wird derselbe hier und
da angewendet. Wiewohl die publizierten
Resultate nicht ungünstig, bisweilen selbst
frappant zu nennen sind, findet jene
Anwendung bisher doch nur sporadisch
statt. Deswegen dünkt es mir nicht
unbegründet, einmal das Interesse für
die Methode bei seröser Pleuritis zu be¬
anspruchen, unter Berücksichtigung der Er¬
fahrungen, welche in der Universitätsklinik
in Groningen und anderswo gemacht
worden sind. Dieser künstliche Pneumo¬
thorax wird nicht anempfohlen zur Er¬
setzung der klassischen Thorakozentese,
sondern zu deren Korrektion. Mit der An¬
wendung der Thorakozentese sind ja öfters
Beschwerden und Gefahren verbunden.
Auch wenn man immer mit der größten
Vorsicht arbeitet, hat man dann und wann
mit weniger oder mehr ernsten Zufällen zu
tun. Diese Zufälle: Schmerz in der Brust,
Husten, Brustfell Verletzung mit nachfolgen¬
der Blutung, Lungenberstung mit folgendem
Pneumothorax oder Hämoptöe, Embo¬
lien, Herzschwäche, albuminöse Expekto¬
ration sind allgemein bekannt. Als Ur¬
sache stellt sich gewöhnlich dar eine zu
starke oder zu schnelle Entlastung der
Lunge oder der anderen Brustorgane.
Daher wird stets empfohlen, sehr langsam
und niemals mehr als 1000 bis 1500 ccm auf
einmal zu entleeren. Daher kommt es, daß
man jedesmal andere Apparate und Kautelen
zu erfinden strebt. Ich erinnere nur an
die Methoden von Bard 3 ), Boinet 4 ) und
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Pitres 5 ). Wenn man die entleerte Flüssig¬
keit durch Luft ersetzt, verhindert man die
Entlastung und zugleich die hiermit ver¬
bundenen Zufälle. Dazu kommt noch, daß
man also verfahrend diejenigen befriedigt,
die sich bisher der Punktion gegenüber
verneinend verhalten, des salutären Wertes
wegen, welcher der Flüssigkeit beigemessen
wird. Die Flüssigkeit hält die beiden
Pleurablätter geschieden, verhindert also
Adhäsionen. Die ersetzende Luft be¬
wirkt dasselbe.
Die erste noch einigermaßen schüchterne
Empfehlung dieses therapeutischen Pneumo¬
thorax, welche man in der Literatur an¬
trifft, stammt von Parker 6 ), einem engli¬
schen Arzte. In einer Sitzung der Royal
medical and chirurgical Society, teilte
dieser mit, ein 3 3 /4jähriges Kind mit einem
großen Brustempyem behandelt zu haben,
bei welchem durch Aspiration nur 115 g
Eiter entfernt werden konnte. Wieder¬
holung der Punktion, einige Tage später,
ergab dasselbe geringe Resultat, weshalb
zur Inzision übergegangen wurde. Jetzt
strömten 1200 ccm Eiter heraus. Da die
Vis a fronte (die Aspiration) in diesem
Falle so wenig ergab, empfahl er in einem
solchen Falle später, es mit einer „Vis a
tergo“ zu versuchen, indem man, während
der Punktion, durch eine andere, ebenfalls
in der Eiterhöhle eingestellte Kanüle fil¬
trierte und karbolisierte Luft in die Pleura¬
höhle brachte, welche dann den Eiter aus-
treiben würde. Dieser Gedanke Parkers
ist mehr oder weniger verwandt mit der
Methode Rosers 7 ) zur Behandlung des
Brustempyems. Letztgenannter, der einer
der Vorkämpfer des Brustschnitts bei
Empyem war, ließ nach dem Empyemschnitt
Luft in die Pleurahöhle eintreten, indem er
den Patienten umdrehte. Bei schon lange be¬
stehenden fistulösen Empyemen brachte er
einen biegsamen Katheter in die Fistel und
injizierte selbst, soweit nötig, Luft, um den
Eiter soviel wie möglich zu vertreiben. In
der Diskussion, welche Parkers Einleitung
folgte, zeigte sich, daß Symes Thomp¬
son, Douglas Powell und Andere auch
bei der Punktion seröser Exsudate Luft
eingelassen hatten; sei es, um Schmerz
oder Husten entgegenzuwirken, sei es, weil
die Lunge an der Seite der Pleuritis so
sehr krank war, daß man vor Lungen¬
berstung infolge der Entlastung durch die
Entleerung Furcht hatte.
Einige Jahre später kommen zwei andere
Mediziner, P o t a i n 8 ) und S e c r e t an 9 ) zu dem¬
selben Gedanken; erstgenannter mittels ein¬
facher Induktion, der andere zufälligerweise.
Original fram
UNIVERSUM OF CALIFORNIA
398
Die Therapie der Gegenwart 1910.
September
Potain behandelte einen Patienten mit
Lungentuberkulose, bei welchem ein Pneumo¬
thorax eintrat. Eine seröse Brustfellentzündung
erfolgte hieraus; das Exsudat nahm zu und
% wurde am Ende so umfangreich, daß die Ope¬
ration geboten wurde. Wenn ich nun die
Flüssigkeit entleere, so dachte Potain, und
die Lungenfistel ist noch nicht geschlossen,
dann tritt von neuem Luft in die Brusthöhle
ein. Ist die Fistel schon geheilt, die Narbe
aber noch nicht stark genug, dann komme ich
in Gefahr erneuter Zerreißung. In beiden
Fällen ist es möglich, daß der Sero-Pneumo¬
thorax mittels Infektion aus der Lunge in einen
Pyo-Pneumothorax übergeht. Er aspirierte
jetzt den Erguß nach gewöhnlicher Weise,
aber je nachdem das Exsudat sich entleerte,
ließ er sterile Luft in die Brusthöhle ein. Also
wurde D/a Liter Erguß entfernt und ebensoviel
Luft eingelassen. Das Exsudat kam wieder.
In den folgenden fünf Monaten mußte man die
Operation noch dreimal in gleicher Weise
wiederholen. Namentlich die letzte Punktion
war instruktiv. Da Potain meinte, daß, da
die Fistel wohl geheilt und die Narbe solid
genug erschien, es keine Beschwerden mehr
bei einfacher Punktion geben würde, unterließ
er das Lufteinblasen. Kaum jedoch war die
Punktion beendet, so fing der Patient zu husten
an und bekam furchtbaren Schmerz in der Brust
Dieses hatte sich bei keiner der vorigen Punk¬
tionen gezeigt. Sogleich ließ man Luft ein:
das Husten und der Schmerz hörten unmittel¬
bar auf.
In noch zwei anderen Fällen von Sero-
Pneumothorax hat Potain mit schönem
Erfolg die selbige Methode angewendet. Er
hat aber in dieser nur wenige Nachfolger
gefunden. Rosenbach 10 ) hat diese Be¬
handlung aus theoretischen Gründen be¬
stritten, wohl aber hat sie Vaquez 11 ),
Achard 12 ) und Andere veranlaßt, den
künstlichen Pneumothorax bei seröser Pleu¬
ritis anzuwenden.
Secretan behandelte einen Patienten mit
seröser Pleuritis, welche schon zwei Jahre
dauerte. Jedesmal hatte man punktiert, immer
aber konnte man nur ungefähr 800 ccm Erguß
entleeren, weil der Patient alsdann zu husten
anfing. Nach jeder Punktion ersetzte sich das
Exsudat wieder. Das letztemal entleerte man
ziemlich leicht V* Liter. Weil jetzt die Flüssig¬
keit sehr langsam herauslief, pumpte man
einige Male. Nachher fließt sie leicht und
schnell ab. Da der Patient solches vorzüglich
erträgt, geht man bis 3200 ccm weiter. Plötz¬
lich hält der Abfluß inne und die Luft strömt
mit großer Kraft in die Flasche ein. Nach Ent¬
fernung der Kanüle tut sich ein ausgedehnter
Pneumothorax hervor. Offenbar war infolge
der starken Aspiration die Lunge zerrissen,
sodaß das ausströmende Exsudat allmählich
durch Luft ersetzt wurde. Dieses beugte der Ent¬
lastung der Brustorgane vor und den Zufällen,
welche sonst daraus folgten. Das Exsudat
rezidivierte jetzt nicht und vollkommene Ge¬
nesung trat ein.
Laneereaux 13 ) meldet eine solche Ge¬
nesung einer chronischen hämorrhagischen
Pleuritis, indem Luft während der Punktion
zufällig in die Brusthöhle kam.
In England propagiert namentlich Barr 14 )
diese Methode. Er kombiniert die Luft¬
einblasung mit der Injektion von Adrenalin.
Abel Ayerza 15 ) zu Buenos-Ayres hat mit
seinen Schülern Bunge und del Solar
die tuberkulöse Pleuritis mit Sauerstoßein¬
blasung behandelt. Durch das Gelingen
einer solchen Therapie bei tuberkulöser
Peritonitis kam er zu jener Methode.
Wenckebach 16 ) wendete die Methode
systematisch an bei chronischem Empyem,
um den großen chirurgischen Operationen
am Brustkorb zuvorzukommen. In Frank¬
reich war Vaquez 11 ) einer der ersten, der
diese Methode bei serösen Pleuritiden an¬
wendete. Wenn man die oben in kurzem
besprochene Literatur studiert, findet man,
daß wahrscheinlich mit der Lufteinblasung
das folgende erreicht wird:
a) Den lästigen und bisweilen gefähr¬
lichen Zufällen, welche die Thorakozentese
öfters herbeiführt, kann man Vorbeugen;
also: Husten, Brustschmerz, albuminöse Ex¬
pektoration, Lungenverletzung, Blutungen,
Kollaps. Dadurch wird die Thorakozen¬
tese auch bei Hydrothorax ohne Beschwer¬
den möglich, wobei hinsichtlich der Zirku¬
lationsstörungen obengenannte Zufälle desto¬
mehr zu befürchten sind.
b) Man kann mehr als die traditionellen
1 J /2 Liter entleeren, wenn nötig auch alles.
c) Die Dauer der Krankheit wird ver¬
kürzt, was namentlich bei chronischen Ex¬
sudaten sich zeigen wird.
d) Man kann früher punktieren und
braucht nicht zu warten, bis der Prozeß
3—4 Wochen gedauert hat.
c) Man kann ruhig punktieren, ohne
daß man zu fürchten hat, daß die Ent¬
leerung des Ergusses die primäre Krank¬
heit nachteilig beeinflußt, im Fall von
Lungentuberkulose an derselben Seite.
Ad a) Im zuvor beschriebenen Falle
Potains ist angedeutet, daß der Schmerz
und der Husten mittels der Lufteinblasung
beseitigt werden konnten. Alle anderen
Forscher haben die gleiche Erfahrung
gemacht. Es ist freilich etwas, was man
ä priori erwarten kann. Nach der Thoraco-
centese, mit der Lufteinblasung verbunden,
ist alles wie vorher geblieben. Die dyna¬
mischen Verhältnisse in der Brusthöhle
sind wenig verändert; die Lunge ist noch
zusammengedrückt, nur befindet sich Luft
anstatt des Ergusses in der Pleurahöhle.
Obwohl man nicht annehmen kann, daß
dann die Vitalkapazität der Lunge sogleich
bedeutend vermehrt ist, fühlen die Patienten
sich sehr erleichtert. Die Dyspnoe ist viel
geringer geworden. Die Erklärung hiervon
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Die Therapie der Gegenwart 1910.
399
wird wohl diese sein, daß das Zwerchfell
nicht mehr das schwere Exsudat zu tragen
hat. Es ist wirklich auffallend, wie unmittel¬
bar die Luft die Störungen aufhebt:
Fall 1. A.F., ein 4jähriger Knabe kommt mit
einem großen pleuritischen Exsudate in die
Klinik zu Groningen. Man aspiriert mit dem
Pot a in sehen Apparate 850 ccm helle, gelb¬
grüne Flüssigkeit. Da der Patient arg zu husten
anfängt, beendet man die Aspiration, holt das
Stilet mit geschlossenem Hahn aus dem Troi-
karts, legt ein steriles Wattebäuschchen
auf die Oeffnung des Troikarts und läßt, durch
Eröffnung des Hahnes, Luft in die Brusthöhle
eintreten. Sogleich hört der Husten auf.
Fall 2. A. K. f ein 14jähriger Knabe mit
Bauchfelltuberkulose, bekommt in der Klinik,
an der linken Seite, eine seröse Pleuritis. Man
stellt eine Probepunktion ein. Diese Punktion,
wobei nur 20 ccm Flüssigkeit entleert wird, er¬
weckt beim Patienten Klagen wegen eines zu¬
sammenschnürenden Brustschmerzes. Man
wartet ab; aber da das Exsudat spontan nicht
verschwinden will, schreitet man einen Monat
später zur Punktion. Fünfmal fängt der Patient
an zu klagen über Schmerz und jedesmal ver¬
schwinden die Klagen augenblicklich durch
Lufteinlassen, sodaß man 1300 ccm Erguß ent¬
leeren kann.
Daß man Blutungen aus den Pleura¬
gefäßen, zufolge eines niedrigen negativen
Druckes in der Höhle während oder nach
Entleerung der Flüssigkeit, durch Luftein¬
blasung umgehen kann, versteht sich von
selbst. Ebenso sehr erleichtert diese die
Punktion bei hämorrhagischen Exsudaten.
Es ist bekannt, daß diese Exsudate eine
Punktion meistens schlecht ertragen. Nach
der Punktion nehmen sie meistens wieder
schnell zu, während der Blutgehalt sich
auch vermehrt. Darum entleert man bei
hämorrhagischer Pleuritis notgedrungen
am liebsten sehr wenig, höchstens ein
halbes Liter. Sowohl Vaquez 11 ) als
Achard 12 ) melden Fälle hämorrhagischer
Art, wobei mittels des künstlichen Pneumo¬
thorax, der Erguß nach der Punktion sehr
langsam oder überhaupt nicht mehr zurück¬
kam. In der Klinik zu Groningen hat
man bei einer hämorrhagischen Perikarditis
auch eine gleiche günstige Erfahrung
machen können, indem man die Parazentese
des Herzbeutels mit Lufteinblasung in den
Herzbeutel verband. Wenckebach hat
diesen Fall in der Zeitschrift für Klinische
Medizin beschrieben.
Welchen Nutzen bei Hydrothorax diese
Methode ergibt, dürfte sich aus dem fol¬
genden Falle zeigen:
Fall 3. D. C., ein 40 jähriger Patient mit
Myokarditis hat an beiden Seiten, besonders
rechts, ein Hydrothorax. Der Dyspnöe wegen
entleert man sehr vorsichtig und langsam mit
dem Potainschen Apparate Erguß aus der
rechten Pleurahöhle. Demzufolge bekommt |
der Patient Lungenödem, das mit Anwendung
aller Mittel bekämpft wird. Der Zustand
bessert sich momentan, aber nach kurzer Zeit
kommt der Patient wieder in die Klinik zurück.
Der Hydrothorax hat sich wieder ersetzt und
die Dyspnöe wird so arg, daß man zur Punk¬
tion genötigt wird. Man aspiriert 1850 ccm.
Belehrt von der Erfahrung, unterbricht man
bei dieser Punktion jedesmal die Aspiration
und läßt dann in der beim ersten Falle expli¬
zierten Weise Luft ein in die Brusthöhle. Diese
Aspiration wird vorzüglich ertragen und auch
nachher gibt es keine Zufälle.
Daß die albuminöse Expektoration auf
dieselbe Weise verhindert werden konnte, ist
meines Erachtens noch nicht erprobt. Wohl
wird kein einziger Fall beschrieben, worin
der gefürchtete Symptomenkomplex auftrat,
jedoch, da dieses selten vorkommt und die
Fälle, welche mit gleichzeitiger Luftein¬
blasung behandelt worden sind, noch re¬
lativ wenige sind, beweist dieses noch
nichts. Außerdem wissen wir noch nicht
genau, wie diese Expektoration entsteht.
Durchaus nicht immer ist, so wie wohl be¬
hauptet wird, ein Fehler in der Technik
daran schuld. Vielleicht hat man hier mit
einer Idiosynkrasie zu tun und dann wird
die Lufteinblasung möglicherweise kein
Resultat ergeben.
Ad. b). Man findet in der Literatur u ) ö ) 17 )
Beispiele, daß 3—5 1 ohne einige Beschwer¬
den entleert wurden. Auch in Groningen
hat man wiederholt 3 1 entfernt. Wenn
man dafür sorgt, daß die Kanüle in der
untersten Lage der Flüssigkeit einsteckt,
dann kann man bequem den ganzen Erguß
fortschaffen. Lambrior 18 ), der in vielen
Fällen tuberkulöser Pleuritis die Thora«
kozentese mit der Lufteinblasung verbunden
hat, schätzt zur Heilung von Exsudaten,
welche nach jeder gewöhnlichen Punktion
hartnäckig rezidivieren, die vollkommene
Entleerung des Exsudates von hohem Werte.
Ad. c). Von der unmittelbaren Heilung
der jeder gewöhnlichen Punktion trotzenden
Exsudaten sind einige schlagende Beispiele
beschrieben. So sah Vaquez 11 ) in einem
Falle linksseitiger seröser Pleuritis, wobei er
13 mal punktiert hatte, während die Flüssig¬
keit jedesmal sich ersetzte, als er die vier¬
zehnte Punktion mit einer Stickstoffeinbla-
"sung verband, sogleich Genesung eintreten.
In einem anderen Falle waren 5 Punktionen
vorausgegangen, während die sechste gefolgt
von Azotothorax, sogleich Genesung ver¬
mittelte. Lambrior 18 ) erzählt ausführlich
einen Fall tuberkulöser ssro - fibrinöser
Pleuritis, wobei man im Verlaufe von 6 Mo¬
naten 9 mal punktiert hatte. Jedesmal
konnte man nur 1000 ccm entleeren, da
alsdann der Patient zu husten anfing und
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September
Die Therapie der Gegenwart 1910.
wegen Schmerz sich beklagte. Das 10. Mal
gelang es 2200 ccm zu entleeren, indem
er sogleich Luft einließ. Jetzt folgte voll¬
kommene Genesung.
Auch A. Schmidt 19 ) hat mittels inter¬
pleuraler Injektion von Luit oder Sauer¬
stoff Genesung schon lange anwesender
Exsudate erreicht.
Es versteht sich schon, daß der künst¬
liche Pneumothorax in solchen Zuständen
fehlen kann. Man kann jedoch noch Nutzen
bekommen daraus, daß der Erguß ganz und
gar entleert werden kann; sodaß, im Falle
von Rezidiv, es doch länger dauert, bevor
wieder so viel Exsudat existiert, daß die
Punktion indiziert erachtet werden kann.
Man kann alsdann den folgenden Eingriff
verzögern.
Ad. d). Hier und da nimmt man eine
gewisse Neigung war, Ergüsse früher zu
punktieren, in der Erwartung den Prozeß
abkürzen zu können. Die gewohnte Regel
ist, daß man bei einem pleuritischen Exsu¬
date 3—4 Wochen abwartet, ob nicht der
Erguß spontan verschwinden will. Einzelne,
z. B. Delafield 20 ) bevorzugen es, schon
früher zu punktieren, in der Meinung, da¬
durch den Prozeß zu verkürzen. Ihnen ent¬
gegen wird behauptet, daß sie in solcher
Weise den salutären Wert des Exudates
unterschätzen. Wenn man nun die Flüssig¬
keit durch Luft ersetzt, hört jene Schwierig¬
keit auf. Barr 14 ) berichtet, daß er, seitdem
er Luft einläßt, viel eher punktiert. Und
Achard 12 ) bekam aus dem Verlauf seiner
Fälle den Eindruck, daß ein solcher ver¬
frühter Eingriff den Prozeß verkürzt. Die
Zahl der Fälle ist jedoch noch sehr gering,
um dieses Urteil genügend zu rechtfertigen.
Ad. e). In scharfem Gegensatz mit der
sub d) zitierten Anschauung steht die Tat¬
sache, daß man bei tuberkulösen Pleuri¬
tiden nicht so bald wie früher zum Eingriff
übergeht und lieber die Pleuritis möglichst
lange sich selbst überläßt. Dafür gibt es
zweierlei Veranlassung. Zum ersten hat
man erfahren, daß eine tuberkulöse Lunge,
durch ein Exsudat oder einen Pneumo¬
thorax zusammengedrückt, bessere Hoff¬
nung auf Genesung ergiebt Die allmählich
gebräuchlichere Forlaninische Methode
zur Behandlung der Lungentuberkulose ist
ein Erfolg jener Erfahrung. Nicht ohne Recht
spricht Galliard 21 ) von: „Pleur^sies pro-
videntielles“. Zweitens ist es bekannt, daß
nach der schnellen Aufsaugung oder nach
der Punktion eines Exsudates, das eine
tuberkulöse Lunge umgiebt, wohl einmal
Miliartuberkulose 22 ) nachfolgt. Auch kann
in einem solchen Falle die Punktion Ein¬
tritt einer Hämoptöe 23 ) befördern. Nun
bietet die Lufteinblasung Gelegenheit zwei
Herren zu dienen: der salutäre Einfluß des
Ergusses auf den Lungenprozeß kann zur
Geltung gelangen, indem die Luft die
Wirkung der Flüssigkeit übernimmt und
man kann doch sogleich den möglichen
nachteiligen Folgen des anwesenden Er¬
gusses zuvorkommen durch Entleerung
desselben. Wenn man das Exsudat sich
selbst überläßt, muß man jene in den Kauf
nehmen. Besteht ein Exsudat namentlich
längere Zeit, so setzt sich immer Fibrin ab
auf den Pleurablättern: Pleuraverdickung
und Pleuraschwarten sind die Folge. Man
hat bei der Anwendung der Delormeschen
Methode erfahren, wie eine ähnlich ver¬
dickte Pleura pulmonalis die spätere Lun¬
genentfaltung erschweren kann. Es kommt
vor, daß die physikalischen Symptome,
welche man am Brustkörbe eines Patienten
mit einer exsudativen Pleuritis findet, nicht
nur aus der anwesenden Flüssigkeit allein
erklärlich sind. Da würde es gefährlich
werden können, die dynamischen Verhält¬
nisse im Brustkasten durch die Entleerung
plötzlich zu ändern; während doch die Dys-
pnöe oder der allgemeine Zustand die
Funktion höchst wünschenswert erscheinen
lassen. Ein Beispiel hiervon findet man
im folgenden Falle.
Fall 4. A. M., ein 22jähriges Mädchen
hat Pseudoleukämie. Am Halse und in den
Achseln findet man große Drüsenpakete. Die
rechte Brusthälfte ist normal. Die linke Seite
des Brustkastens bleibt zurück bei der Ein¬
atmung. Links vom und links hinten ist die
Lungenspitze gedämpft. An der Vorderseite
setzt sich die Dämpfung fort bis zu der zweiten
Rippe, an der Hinterseite bis zur vierten.
Darunter ist der Perkussionsschall vollständig
dumpf. Ueber der Dämpfung hört man noch
Rasseln, darunter hört man nichts. Ueber
dem Tr au besehen Raum hat man gedämpften
tympanitischen Schall. Im Röntgenzimmer
sieht man, daß die linke Brusthälfte ganz und
gar dunkel ist. Man macht links hinten eine
Probepunktion und findet trübe leichtgelbe
Flüssigkeit. Mit dem Potainsehen Apparate
wird 2250 ccm Erguß entleert; zugleich wird
Luft eingelassen. Zwölf Tage später hat sich
der Erguß wieder stark vermehrt, so daß man
wieder einen Eingriff machen muß und nun in
drei Teilen 2850 ccm Flüssigkeit entleert, drei¬
mal die Aspiration unterbrechend und nach
jeder Aspiration Luft einblasend, im ganzen
bis zu einer Quantität von 1400 ccm. Jetzt
bringt man Luft in die Brusthöhle, in folgender
Weise:
Man ersetzt die Flasche des Potain -
sehen Apparates, worin der Erguß sonst
aufgefangen wird, durch eine Kombination
zweier Flaschen, welche durch gläserne
Röhren verbunden sind. Die eine ist gra¬
duiert und leer, die zweite enthält eine
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September
Die Therapie der Gegenwart 1910.
401
Sublimat- oder eine Borsflurelösung. Die
zweite Flasche wird emporgehoben, sodaß
die Lösung hieraus in die andere Flasche
Qberlfluft. Dann wird die Luft aus dieser
Flasche durch ein Wattenfiltrum hindurch
in die Pleurahöhle eingetrieben. Die Quan¬
tität Qbergelaufener Lösung bestimmt die
Quantität eingeblasener Luft. Man läßt die
Luft jedesmal sehr langsam und unter nie¬
drigem Drucke einströmen.
Noch zweimal mußte man nachher punk¬
tieren. Das erstemal wurden 3 1 Flüssigkeit
entleert und 1500 ccm Luft eingeblasen; das
zweitemal respektive 2700 und 1300 ccm. Später
ist die Patientin an der Pseudoleukämie ge¬
storben. Die Sektion zeigte u. a., daß die
Brustfellentzündung geheilt war und daß, links
neben dem Mediastinum, große Drüsen¬
schwellungen sich befanden.
Man kann, außer in den beiden be¬
schriebenen Weisen, noch in allerlei an¬
deren Luft in die Brusthöhle bringen.
Achard 12 ), Barr 14 ), Vaquez 11 ), Lam-
brior 18 ) und Schmidt 19 ) haben dazu ver¬
schiedene Apparate erfunden. Die Forde¬
rung, welche man vornehmlich an jede
Methode stellen muß, ist, daß die Luft hin¬
reichend gesäubert wird. Nun ist aus den
Untersuchungen von v. Dusch und Schrö¬
der bekannt, daß die Filtration durch sterile
Watten genügende Sterilität verbürgt.
Da, wenn eine Methode Allgemeingut
werden soll, es nötig ist, daß sie möglichst
einfach sei, verdient meines Erachtens die
beim ersten Falle beschriebene Weise den
Vorzug. Wenn man mit der Lufteinblasung
allein bezweckt, den gewöhnlichen Zufällen,
wie Husten, Schmerz u. a. vorzubeugen,
oder sie zu bekämpfen, dann ist jene Methode
hinreichend. Man unterbreche dann jedes¬
mal die Aspiration, um den Erguß allmäh¬
lich durch Luft zu ersetzen. Jedoch ist es
gelegentlich schwierig, in dieser Weise
Luft einzubringen, auch wenn aus dem
Schmerz in der Brust sich zeigt, daß ein zu
geringer Druck in der Pleurahöhle herrscht.
Fall 5. Ich erinnere mich eines Patienten,
eines, alten Mannes, mit einem großen links¬
seitigen Exsudate, kompliziert durch eine in
Entstehung begriffene Entzündung des rechten
Oberlappens. Nachdem, ohne Beschwerde, an¬
derthalb Liter entleert waren, wurde der Po-
tainsche Apparat von demTroikart losgemacht,
ein Pfropt steriler Watte auf die Oeffnung des
Troikarts gelegt, aber auch während der Ein¬
atmungsbewegungen wurden die Watten feucht,
ohne daß wir das eigentümliche schlürfende
Geräusch hören konnten, das man bei Luft¬
einströmung vernimmt. Nun wagten wir nicht
weiter zu gehen, was wohl möglich gewesen
wäre, wenn wir einen Apparat zur Hand ge¬
habt hätten, um Luft einzublasen.
Sobald man die Luft messen will, kann
man das beim vierten Fall beschriebene
Instrumentarium anwenden, oder ein an¬
deres von Achard 12 ), Lambrior 16 ) usw.
Das wird erwünscht sein, wenn man mit
einer hämorrhagischen Pleuritis oder einem
Hydropneumothorax zu tun hat, oder wenn
man weiß, daß die Lunge an der selbigen
Seite krank ist, oder wenn man den gan¬
zen Erguß entleeren will. In allen jenen
Fällen soll die Luft einen gewissen Druck
ausüben und muß man sie also mit einer
gewissen Kraft einblasen können.
Gewöhnlich genügt es, wenn halb so
viel Luft eingebracht, als Flüssigkeit ent¬
leert ist. Einzelne, sowie Lambrior 18 ),
bringen ebensoviel Luft oder selbst noch
etwas mehr hinein. Dem steht entgegen,
daß dann die Patienten nach der Operation
noch wohl mal wegen Dyspnöe sich be¬
klagen oder daß rings um die Stelle des
Einstechens etwas subkutanes Hautemphy¬
sem 24 ) auftritt. Das beste wäre natürlich,
wenn man in jedem Falle individualisieren
könnte. Dazu fehlen uns noch vielfach die
Data. Die Röntgenuntersuchung kann
uns hier zum richtigen Wege helfen.
Einzelne Untersucher bevorzugen Sauer¬
stoff oder Stickstoff. Dieses hängt davon
ab, wie man diese Therapie erklärt. Abel-
Ayerza benutzt bei tuberkulösen Pleuri¬
tiden Sauerstoff, in der Meinung, daß dieser
unmittelbar gegen die Tuberkelbazillen wirk¬
sam ist Diejenigen, welche wie Vaquez die
Wirkung gänzlich in mechanischer Weise
betrachtet, benutzen lieber Stickstoff, weil
dieses Gas schwieriger durch das Brustfell
aufgenommen wird und also den gewünsch¬
ten Mechanismus dauerhafter macht. So¬
bald man sich jedoch auf Sauerstoff oder
Stickstoff beschränkt, wird die Methode
gänzlich der Klinik Vorbehalten, während
mit Luft die Anwendung überall möglich ist.
Dazu kommt noch, daß die Resultate mit
Luft durchaus nicht geringer sind und ein
möglichenfalls heilsamer Einfluß des Sauer¬
stoffs nicht auszuschließen ist. Nur wenn
man eine Lungenkompression von einiger¬
maßen längerer Dauer handhaben will, wird
Stickstoff zu wählen sein, weil man dann
etwas länger mit einer neuen Einblasung
wird warten können. Das wird der Fall
sein, wenn man einen Hydropneumothorax
punktiert, um die Lungenfistel gut ver¬
schlossen zu halten. Ebenso wird man han¬
deln, wenn die Lunge an der Seite der
Pleuritis tuberkulös und die andere Lunge
noch so gesund ist, daß zugleich Anwen¬
dung der Forlaninischen Methode mög¬
lich ist. Wo in einem solchen Falle das
Exsudat die Adhäsionen schon gelöst und
die Lunge zum Zusammenfallen geführt
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Die Therapie der Gegenwart 1910.
September
402
hat — die Natur uns also den Weg ge¬
ebnet hat — wird man vielleicht die Indi¬
kation für die Forlaninische Methode in
diesen Fällen etwas eher gelten lassen
dürfen, als sonst gestattet wird.
Die mechanische Erklärung ist für alles
nicht zureichend. Daß die Symptome, welche
sonst aus der Entlastung der Lunge und
der Mediastinalorgane sich ergeben, ver¬
mieden werden, daß schnelle Rückkehr
des Ergusses, insoweit das von einem
hinterbliebenen Vakuum abhängt, verhindert
wird, ist auf physikalischem Wege erklärlich;
ebenso, daß Adhäsionen und die Genese
der Pleuraschwarten bekämpft werden.
Weniger leicht zu fassen ist, daß die [unter¬
bliebene Flüssigkeit schneller aufgenoramen
und die Heilung einer chronischen Pleu¬
ritis beschleunigt wird. Verschiedene Unter¬
sucher meinen, daß die Luft die Blutgefäße
des Brustfelles zusammendrückt und also
die Exsudation des Ergusses erschwert.
Entwickelt aber das Gas, ohne einigen
bedeutenden Druck in die Brusthöhle ein¬
gebracht, wohl hinreichende Spannung, um
die Blutgefäße zusammenzudrücken? Ent¬
steht vielleicht, wie in einer Lunge durch
Azotothorax komprimiert, eine venöse Hyper¬
ämie in der Pleura? Wenn, zufolge der
langsamen Gasresorption, ein allmählich
wachsender negativer Druck in der Brust¬
höhle entsteht, so kann solches auch zu
größerem Blutgehalt des Brustfelles Ver¬
anlassung geben. Obendrein hält der künst¬
liche Pneumothorax die kranke Pleura in
der Ruhigstellung, worin zuvor der Erguß
das Brustfell gebracht hatte.
Ein Bedenken, das man gegen diese Be¬
handlungsweise tragen kann, ist, daß Gas¬
einblasung die sogenannte Pleuraeklampsie
verursachen kann. 25 ) Mein Kollege J. Hek-
man hat nach Entleerung von ungefähr
15 ccm Flüssigkeit und Zulassung eines
kleinen Quantums Luft einen leichten An¬
fall wahrgenommen. Forlanini hat mehr¬
mals bei seinen Patienten diese gefährlichen
Symptome gesehen. Es ist jedoch, meines
Erachtens, eine offene Frage, ob das Gas
die größte Schuld hat. Insoweit diese
Symptome von der großen Reizbarkeit des
Brustfelles abhängen (und nicht von einer
Embolie) und reflektorisch vermittelt wer¬
den, ist die Reizung des Brustfelles durch
die Kanüle vielleicht die Hauptursache.
Eine einfache Probepunktion, das Ein¬
bringen eines Drainrohres und anderes
veranlassen doch wohl gelegentlich Pleura¬
eklampsie. Das verhindert jedoch nicht,
daß Vorsicht in hohem Maße nötig bleibt.
Literatur:
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1888(Widal). A. gön. demöd. 1895(Meunier).
Soc. möd. des Höpit 1897 (Galliard). Soc.
möd. des Höpit. 1894 (Catrin). — 2) Deutsch.
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möd. 1902. — 4) A. gön. de inöd. 1905 und
Province Mödicale 19Q5. Thöse de Lyon 1907
(Arbez). — 5) Les signes physiques des
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Wschr. 1885. — 8) Acadömie de möd. 24. April
1888. — 9) Revue mödicale de la Suisse ro-
mande 1888. — 10) Die Erkrank, des Brust¬
felles. Spez. Path. u. Therap. von Nothnagel.
— 11) Acadömie de möd. 26. Mai 1908. Soc.
möd. des Höp. 16. u. 23. Mai 1902. — 12) Soc.
möd. des Höp. 17. April 1903. Semaine möd.
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1908. — 14) The Bradshaw-Lecture. Brit.
med. J. 1907, Vol. I. A Clinical Lecture. Brit.
med. J. 1904, Vol. I. 72. Congr. of the Brit.
med. Assoc: Brit. med. J. 1904, Vol. II. —
15) A. Bunge, Thöse de Buenos Ayres 1900.
A. Meliton Gonzales del Solar, These de
Buenos Ayres 1890. — 16) Ned. Tijdschr. von
Geneeskunde 1909, I. — 17) Soc. möd. des Höp.
12.und 19.Okt.1906(Dufour). —18) A.A. Lam-
brier et J. Agapi, Bull, des möd. et natural,
de Jassy 1907. — 19) Verhandlgn. des 23. Kongr.
f. innere Med. München 1906. — 20) Am. J.
of med. Sc. 1903. — 21) Semaine möd. 1897.
— 22) Litten, Charitö-Annalen 1882. Pin-
uet, These de Lyon 1899. — 23) Finkler,
rkrankungen der Pleura, in: Handbuch der
Therapie der chronischen Lungenschwindsucht
von G. Schröder u. F. Blumenfeld. Leipzig
1904. — 24) Picot, Clinique mödicale 1892. —
25) Lamandö, These de Paris 1896.
Ueber die Entstehung des spontanen Nasenblutens und seine
Behandlung mit Digitalis.
Von Dr. Focke^Düsseldorf.
Die aus früherer Zeit stammenden
Kenntnisse vom spotanen Nasenbluten sind
in den letzten 40 Jahren durch die seitdem
erblühte Rhinologie bedeutend erweitert
worden. Trotzdem konnte über seine Ent¬
stehung und seine zweckmäßigste Behand¬
lung noch keine allseitig befriedigende
Klarheit erreicht werden. Daß die Epi-
staxis überaus häufig nur ein Symptom
konstitutioneller Störungen ist und daß die
Lebensweise dabei eine wichtige Rolle
spielt, wird nirgends bestritten. Und da
nun zur Beobachtung dieser Faktoren die
Spezialärzte gewöhnlich nicht so gute Ge¬
legenheit haben, wie die in der allgemeinen
Praxis stehenden Aerzte, so ist es vielleicht
von Interesse, auch einmal wieder einen
der letzteren «u den obigen Fragen zu hören.
Die Erfahrungen, die ich im folgenden
darstellen möchte, sind an etwa 120 Fällen
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September
Die Therapie der Gegenwart 1910.
403
gesammelt worden; von diesen kamen %
in den Jahren 1892—98 in Langenberg
<Kr. Mettmann), wo sich kein Spezialarzt
befand, und das letzte Drittel von 1899 an
in Düsseldorf zur Beobachtung.
Hinsichtlich des örtlichen Befundes
weiß ich den bekannten Tatsachen nichts
hinzuzufügen. Einmal habe ich die von
jedem Rhinologen als hin und wieder vor¬
kommend beschriebene Erscheinung ge¬
sehen, wie inmitten einer dunkelroten
Schleimhautstelle ein pulsierender Punkt
das Blut ausfließen laßt. Oefter habe ich
gesehen, wie aus einer solchen dunkelroten
Schleimhautstelle das Blut diffus träge her¬
vorsickerte, ähnlich dem langsamen Hervor¬
treten der einzelnen Tropfen einer starken
Salzlösung durch Filtrierpapier. Am häu¬
figsten aber sah ich die Patienten, die mir
oft vorher schon bekannt waren, nicht
während des Blutens, sondern erst nach
seinem Aufhören oder im Blutungsintervall;
und es waren dann außer den Gerinnseln
und Schorfen in den Naseneingängen nur
noch die allgemeinen Zeichen des Blut¬
verlustes zu finden; dann habe ich nicht
selten auf eine nähere Untersuchung des
Naseninnern verzichtet, bis etwa ein Rück¬
fall sie erfordern würde.
Soweit ich die Literatur der Epistaxis
kenne, neigen mit bezug auf den histo¬
logischen Hergang alle Rhinologen,
außer Kiesselbach 1 ), der Meinung zu, daß
die „Kontinuitätstrennung eines Gefäßes*,
also eine Rißblutung vorliege. Demgegen¬
über habe ich immer die lebhaftesten
Zweifel für berechtigt gehalten; sie auszu¬
sprechen wage ich erst jetzt, nachdem ich
vor einiger Zeit die Möglichkeit gehabt
habe, die bezüglich der anderen Form der
Blutextravasation, nämlich der Diapedesis-
blutung, vorhandenen histologischen Tat¬
sachen näher kennen zu lernen und in
ihrer historischen Entwicklung zusammen¬
zustellen 2 ). Hiernach erklärt sich die in
der Rhinologie vorherrschende Ueber-
schätzung der Rhexis und Unterschätzung
der Diapedesis aus den Anschauungen, die
in der allgemeinen Pathologie während der
vergangenen Jahrzehnte bezüglich der spon¬
tanen Blutungen überhaupt in Geltung ge¬
wesen waren. Aus der erwähnten Zu¬
sammenstellung ergiebt sich weiter das
Folgende als diejenige Auffassung, die der
*) W. Kiesselbach (Erlangen) im Handb. d.
Ther. innerer Krankheiten von Penzoldt-Stint-
zing. 3. Aufl., Bd. 3 (1902), S. 123.
*) Ueber Bedeutung und Umfang der Diapedesis
bei den spontanen Blutungen. Zeitschr. f. klin. Med.,
Bd. 70 (1910), S. 267 ff.
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heutigen normalen und pathologischen
Anatomie bezw. Physiologie entsprechen
dürfte.
Zunächst sind gesunde Gefäße, auch die
kleinsten, viel zu elastisch, als daß sie
spontan, d. h. aus inneren Ursachen reißen
könnten; und ihre Erkrankung, z. B. durch
eine infektiöse Embolie, ist, besonders in
jüngeren Jahren, verhältnismäßig so selten,
daß sie für die Erklärung der häufigen
Epistaxis kaum in Betracht kommt. Daß
ferner beim Losreißen angetrockneter Se¬
kretborken ein Gefäßriß entstehen sollte,
ist sehr unwahrscheinlich, weil in die Borke
ja kein Gefäß eintritt. Auf der anderen
Seite steht es dagegen fest, daß in den
weichen Geweben bei einer durch Stauung
verursachten Erhöhung des venösen und
kapillaren Blutdruckes die Wandzellen der
Kapillaren zwischen sich sehr leicht kleine
Spalten öffnen, die viel kleiner sind als
ihre Zellänge, um Blutkörperchen und
Plasma in das Gewebe austreten zu lassen.
Diese Blutdiapedese wird damit zu einer
Art von Ventileinrichtung. Der Austritt
kann schnell geschehen und sich an der¬
selben Stelle schnell wiederholen. Für den
weiteren Hergang können die an der
menstruierenden Uterusschleimhaus erhal¬
tenen Befunde für die Nasenschleimhaut,
die in dieser Hinsicht weniger erforscht
ist, mit gelten; denn in ihrem schwell¬
körperreichen Bau sind beide einander
äußerst ähnlich. Es wird also das bei
starker Stauung ausgetretene Blut in der
Schleimhaut kleinste, zwischen zahlreichen
Faserverbindungen zusammen fließende An¬
häufungen („Lakunen“) bilden, bis die ein¬
fache Epithelschicht infolge ihrer serösen
Durchtränkung und des Druckes feine
Lücken entstehen läßt, durch die das Blut
wie aus einem Sieb diffus hervorquillt
Wenn sich an einer größeren Lakune eine
verhältnismäßig größere Oeffnung bildet,
so wird das Blut stärker fließen, wobei
auch leicht eine Pulsation entsteht, weil die
unterhalb liegenden turgeszenten Gefäße
auf die Lakune rhythmisch drücken. Auf
diesem stark blutenden Punkt, der eben
nur in der Minderzahl der Fälle vorhanden
sein wird, bildet sich am Schluß der Blu¬
tung ein kleiner fester Schorf. Nach
seiner vorzeitigen Entfernung kann natür¬
lich die Blutung aufs neue beginnen, be¬
sonders, wenn die Stauung fortdauert
Wenn es aber ohne vorhergegangene Epi¬
staxis oder Stauung nach dem Losreißen
einer Borke einmal in geringerem Grade
blutet, so liegt dem ebenfalls eine Extra-
vasatio per diapedesin zugrunde, infolge
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404
Die Therapie der Gegenwart 1910.
September
der vorübergehenden Aufhebung des Ober¬
flächendruckes.
Diese histologische Auffassung, bei der
die allzu gezwungene Annahme eines Ge¬
fäßrisses forlfellt, wird nun gestützt durch
die Beobachtungen am Kranken. Der er¬
wähnte dunkelrote „Punkt“, der nach dem
Verschwinden der Stauung oft ein Ab¬
wischen seines Schorfes verträgt ohne zu
bluten, wird je nach seinem Sitz (z. B. auf
einer flachen oder prominenten Stelle) eine
verschiedene Form und Farbe zeigen; er
kann deshalb leicht verschiedene anato¬
mische Deutungen hervorgerufen haben,
auf die ein Eingehen hier zu weit führen
würde. Aber eine Angabe von Kiessel¬
bach möchte ich hervorheben, daß man
nämlich an der Schleimhaut öfter sehen
könne, wie „nach leichtem Bestreichen mit
der Sonde auf dem ganzen zurückgelegten
Wege ein Blutströpfchen neben dem an¬
deren“ hervortritt 1 ). Das ist bei starker
Turgeszenz gut begreiflich; und es wäre
bei diesem Zustande ohne Zweifel ver¬
kehrt, mit der Sonde den „ursächlichen“
Punkt zu suchen, wie es manchmal als
Regel gefordert worden ist. Bei starker
Stauung ist eben eine ganze Fläche der
Schleimhaut wie ein Schwamm zum Bluten
bereitet; und es hängt dann wohl von ört¬
lichen Zufälligkeiten ab, ob sich viele
kleinste Oeffnungen an zerstreuten Punk¬
ten bilden oder ob das Epithel sich nur
an einem Punkt etwas weiter öffnet.
Wenn man so vor allem an die Stau¬
ung denkt und sich die Extravasatio per
diapedesin nebst dem folgenden Hervor¬
quellen durch das Epithel vorstellt, so ver¬
steht man auch manche klinischen Tat¬
sachen besser als früher. Es ist z. B. ge¬
wiß nicht zutreffend, wenn von einzelnen
Rhinologen gesagt wird, daß beim gewohn¬
heitsmäßigen Bluten doch stets eine äußere
Gelegenheitsursache, „wie Jucken, Kratzen,
Schneuzen, Nießen“, selbst wenn die Kran¬
ken es leugnen, vorhergegangen sein
müsse. Manchmal hat der Patient freilich
infolge des Blutandranges ein Prickeln ge¬
fühlt, das ihn zum Gebrauch des Fingers
oder Tuches veranlaßte; und darauf ist die
Blutung eingetreten, was übrigens ohne die
Berührung wohl ebenso, vielleicht nur einige
Minuten später geschehen wäre. Oft aber
wird der Betroffene, der gerade eifrig mit
Händen und Gedanken anders beschäftigt
war (meistens mit gebeugtem Kopf), auf
die Nase erst aufmerksam durch die plötz¬
lich über die Lippen rinnende Nässe. Dem
entspricht es auch, daß manchmal die erste
*) I. c. S. 124.
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starke Epistaxis während des Nacht¬
schlafes auftritt, besonders dann, wenn
am vorhergehenden Nachmittage eine län¬
gere Strapaze, am Abend eine starke Fül¬
lung des Magendarmkanals stattgefunden
hatte. Ebenso kann ja auch bei Pferden
in der Ruhe nach längeren Rennen oder
Hetzjagden plötzlich Nasenbluten auftreten. 1 }
Es erhebt sich nun die Frage nach der
eigentlichen Ursache der örtlichen Zir¬
kulationsstörung, der Stauung in der
Nase. Unter meinen Fällen konnte ich nur
bei einzelnen als Ursache in der Nase
eine Tumorbildung finden, die dann sofort
dem Rhinologen überwiesen wurde. Häu¬
figer waren Stauungen durch Kleider druck
am Hals oder in der Taille oder an beiden
Stellen; auch Verdauungsstörungen mit
Darmtympanie, wodurch der Thoraxraum
verengt wird, was Moritz Schmidt für
die oberen Luftwege überhaupt betont*
spielten manchmal eine Rolle. Eigentliche
Herzstörungen (bedingt durch Klappen¬
fehler, Arteriosklerose oder chronische
Nephritis) bestanden bei sechs oder sieben
Patienten; in gleicher Häufigkeit fanden
sich nervöse Herzbeschwerden. Die ge¬
wöhnlichste Grundlage war aber meines
Erachtens eine hydrämische Plethora.
Bei diesem Zustande hat schon Oertel^
den häufigen Gegensatz zwischen der Völle
des Gefäßapparates und der Blässe der
Haut hervorgehoben; und dementsprechend
war auch bei meinen Patienten die größte
Gruppe die der Chlorotischen mit ihrer
„vasomotorischen Labilität“ im Alter der
Pubertätsentwicklung. Diese Gruppe stellt
ja nach allen Autoren das Hauptkontingent
zur Epistaxis. In vielen Fällen wurden die
Nachteile, die aus der Konstitution für den
Kreislauf hervorgingen, noch verstärkt
durch Fehler der Lebensweise, wie z. B.
überreichen Kaffeegenuß.
Alles in allem bestand bei wenigstens
4 / 5 der Fälle für die örtliche Stauung ein
Anlaß in allgemeinen Zirkulations¬
störungen. Hiernach habe ich es für
nötig gehalten, die Therapie einzurichten.
Wenn bei der akuten Behandlung die
üblichen Maßnahmen, das Lösen beengen¬
der Kleider nebst dem flachen Andrücken
des Nasenflügels gegen das Septum bei
bequemem Sitzen und ruhigem Atmen, ge¬
gebenenfalls auch eine hydropathische Ab¬
leitung, z. B. kalte Kompresse auf den
*) Mackenzie bei Voltolini, Die Krankheiten
der Nase und des Nasenrachenraumes, Breslau 1888,
S. 122.
*) Oertel (München), Handb. d. allg. Therapie
der Kreislaufstörungen, Leipzig 1891, S. 37.
Original frnm
UNIVERSiTY 0F CALIFORNIA
September
Die Therapie der Gegenwart 1910.
405
Nacken 1 ), nicht genügt, so fragt es sich,
was weiter zu tun ist. Die Rhinologie be¬
nutzt vor allem die chemische oder ther¬
mische Kaustik, mit der man ja zweifellos
die blutende Stelle oft zum Verschluß brin¬
gen kann, besonders wenn man einen
blutenden Punkt sieht Weil man letzteren
aber bekanntlich oft nicht sehen kann und
weil, selbst wenn er zu sehen ist, auch
nach der Kaustik manchmal noch tampo¬
niert werden muß, so verzichte ich meistens
auf die Kauterisation ganz und führe lieber
die vordere Tamponade mit weißer Gaze
aus. Außer bei einem Hämophilen habe ich
das niemals wiederholen müssen, weil nach
einem halben Tage durch die sonstige The¬
rapie die Stauung zum Verschwinden ge¬
bracht ist. Denn sobald die akute Blutung
gestillt ist, betrachte ich es als die Haupt¬
aufgabe des Arztes, den Kreislauf zu
regeln, um dem Rückfall des Blutens
vorzubeugen!
Zur Kreislaufregelung werden natürlich
zuerst die Fehler der Diät abgestellt, was
manchmal ja schon allein zum Erfolge ge¬
nügt. Bei Stuhlverstopfung wird mit einem
Abführmittel angefangen, und im übrigen
wird die Aufnahme erregender Speisen
<Gewürze, Eier, Fleisch) und Getränke ein¬
geschränkt, letzteres z. B. durch ein mehr¬
wöchiges gänzliches Verbot des Bohnen¬
kaffees. Dagegen werden Gemüse, Obst,
Butter, Milch, Malzkaffee mehr herange¬
zogen. Das Verbot des Bückens, Hebens,
Schneuzens ist zwecklos.
Hierzu kommt für die ersten Tage eine
Arzneiverordnung, teils weil die Diät
oft besser befolgt wird, wenn an sie durch
eine Arzneivorschrift erinnert wird, teils
weil die Diät allein oft nicht genügt. An¬
fangs habe ich Ergotin, Kalziumsalze, Phos¬
phorsäure, Digitalis und anderes versucht;
aber nichts hat so gut gewirkt wie die
Digitalis. Deshalb habe ich von 1894 an
fast diese allein gegeben; nur bei den sel¬
teneren Epistaxispatienten mit stark kon-
gestioniertem Gesicht habe ich bis heute
noch manchmal Kalzium vorgezogen.
Im ganzen habe ich Digitalis gegen
Nasenbluten 84 mal verordnet. Von 31
dieser Fälle bin ich ohne Nachricht ge¬
blieben, woraus aber nicht geschlossen zu
werden braucht, daß das Mittel hier nutz¬
los gewesen sei; denn die Ausgebliebenen
waren meistens Kassenmitglieder, die beim
Fehlen des Erfolges leicht wiederkommen
konnten; überdies pflegte ich diesen zu
sagen: wenn es hilft, ist Wiederkommen
Vcrgl. hierzu neuerdings Jurasz (Lemberg),
Münch, med. Wochschr. 1909, S. 1793.
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unnötig. Von 53 der Patienten mit Digi¬
talis habe ich aber später wieder Mitteilun¬
gen über den Erfolg erhalten; und von
diesen 53 möchte ich hier noch einiges be¬
richten.
Es waren 25 männliche und 28 weib¬
liche Personen. Davon standen
im Alter von
Jahren
im Alter von
Jahren
0— 5
1
30-35
1
5-10
_
35-40
—
10—15
6
40—45
—
15—20
25
45—50
2
20—25
10
50-60
—
25—30
4
60-75
4
Während
l der mehr ländlichen Praxis-
periode lagen die meisten Fälle in den
heißen Sommermonaten; in der Stadt ver¬
schwand dieser Unterschied. Ueber die
Dauer und Stärke des Blutens habe ich
7 mal nichts notiert; aber bei 6 Patienten
hatte es mit erheblicher Stärke einige
Stunden bis Tage gedauert; bei 12 war es
seit mehreren Tagen täglich, bei anderen
12 seit Wochen „oft“ oder „fast täglich“
aufgetreten und 16 klagten über häufiges
Bluten seit Monaten oder Jahren.
Als die beste Form der Digitalistherapie
habe ich für den vorliegenden Zweck immer
wieder den Blätteraufguß gefunden, und
zwar seit 1903 das „Inf. fol. Digit, titr.“.
Als gleichwertig habe ich in den letzten
Jahren auch das „Digitalysat Bürger“
schätzen gelernt. Bei einer mäßigen Dosie¬
rung lassen diese Arzneiformen die Digi¬
toxinwirkung nicht so störend hervortreten,
wie das manche andere Präparate tun;
außerdem beginnt ihre Wirkung schnell
genug und hält sehr lange an. Ich be¬
trachte 0,7-—0,8 g der Folia Digit, titr. im
Infus 1 ) als Gesamtdosis, wenn sie in zwei
Tagen verbraucht wird, oder drei Tage
lang 3 mal täglich 20 Tropfen Digitalysat
gegen das Nasenbluten des Erwachsenen
als meistens ganz ausreichend. Diese relativ
kleinen Dosen haben den Magen, der hier
ja gewöhnlich gesund ist, nach den Mahl¬
zeiten niemals belästigt.
Bezüglich des Erfolges ist nun zu
sagen, daß er nur zweimal ganz ausblieb.
Das lag bei dem einen Patienten, einem
jungen Mann, an seiner hereditären Hämo¬
philie, gegen die auch alle sonstigen Mittel,
einschließlich der Technik eines erfahrenen
Rhinologen, wirkungslos blieben; der Exitus
trat ein, nachdem noch Zahnfleisch-, Ohr-
und Hautblutungen hinzugekommen waren.
l ) Zweckmäßig mit 5 °/ 0 reinem Spiritus; vgl. Med.
Klinik 1909, Nr. 25.
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
406
Die Therapie der Gegenwart 1910.
September.
Der andere Fall betraf eine Verkäuferin,
die lieber immer wieder blutete, als daß
sie das starke Kaffeetrinken und Schnüren
aufgab. — Ein nur teilweiser Erfolg
zeigte sich siebenmal, insofern das Bluten
noch einige Male, aber meistens nur in
geringerem Grade wiederkehrte, ohne daß
ich die Gründe dafür herausfinden konnte.
Bei zwei dieser Patienten wurde die Digi¬
talis dann nochmals gegeben, worauf bei
dem einen der volle Erfolg eintrat.
Bei wenigstens ö / 4 der Patienten
hat die Nase zuletzt geblutet vor dem Ge¬
brauch der Arznei oder spätestens inner¬
halb der ersten 24 Stunden nach dem Be¬
ginn des Einnehmens. Also es blieb das
Bluten vom Eintritt der Digitalis¬
wirkung an fort, und zwar dauernd,
solange ich Nachricht erhielt. Letzteres
geschah nur in 4 Fällen vor Ablauf der
ersten Woche; von 11 Patienten habe ich
mehrere Wochen hindurch, von 19 mehrere
Monate und von 4 Patienten länger als ein
Jahr bei anderen Anlässen gehört, daß sie
seit dem einmaligen Gebrauch der Arznei
von Nasenbluten frei seien. Die Angaben
wurden in vielen Fällen von den Angehö¬
rigen bestätigt. — Bei 4 Patienten, die
nach einem blutungsfreien Zwischenraum
von 1—2 Jahren wegen abermals hart¬
näckiger Epistaxis wiederkamen, nachdem
sie es mit der früher verordneten Diät
allein schon vergeblich versucht hatten,
stand das Blut wieder sofort nach Hinzu¬
fügung der Digitalis. — In 2 Fällen, von
denen einer nicht zur obigen Zahl, sondern
zur Klientel eines befreundeten Kollegen
gehörte, war die Nase längere Zeit hin¬
durch spezialärztlich oft kauterisiert wor¬
den; es blutete immer wieder. Erst als
Digitalis genommen war, hörte es sofort
und dauerd auf! Von dem einen hörte ich
dieses zuletzt nach einigen Wochen, von
dem andern nach über Jahresfrist.
Sehr lehrreich waren mir 6 Fälle, bei
denen eine greifbare anatomische Störung
▼orlag. Der eine betraf ein elfjähriges,
schlecht ernährtes Mädchen mit einer ka¬
tarrhalisch gewucherten Stelle der Muschel;
ich hatte diese Stelle übersehen. Trotzdem
blieben die seit 2 Wochen fast täglichen
Blutungen nach Digitalis 14 Tage lang aus!
Dann starkes Rezidiv und Ueberweisung
ins Krankenhaus, wo die Wucherung kau¬
terisiert wurde. — Bei den anderen fünf
konnte der beabsichtigte Besuch des Spe¬
zialisten (meistens vom Wohnort Langen¬
berg aus) nicht so bald ausgeführt werden.
Es handelte sich dreimal um eine starke
chronische Rhinitis, zweimal um Verenge¬
rung der Nase durch vergrößerte Muscheln.
Bei diesen 5 Patienten, die unter fast täg¬
lichen Blutungen sehr gelitten hatten,
standen letztere sofort und dauernd nach
dem Verbrauch einer Digitalisarznei! Später
erst wurden die Rhinitiden durch geeignete
Schnupfpulver geheilt, während die beiden
Muschelvergrößerungen nach mehreren
Wochen spezialärztlich verkleinert wurden.
— Es geht hieraus hervor, daß selbst bei
solchen Patienten, die eines chirurgischen
Eingriffes bedürfen, die Blutung durch Diät
und Digitalis schon oft zum Stillstände
kommt; und damit werden die Vorbedin¬
gungen zur Operation nur günstiger.
Wie läßt sich nun der überraschende
Nutzen der Digitalis beim Nasenbluten er¬
klären? — Um mich kurz zu fassen,
möchte ich sagen, daß ich zunächst an eine
„spezifische" Wirkung auf die Nasenschleim¬
haut nicht denke, ferner, daß dabei eine
Vermehrung der Viskosität oder Thrombo-
kinase im Blut wohl keine oder nur eine
untergeordnete Rolle spielt. Ebenso dürfte
bei diesen bescheidenen Dosen eine „Kon¬
traktion der peripheren Gefäße“ fehlen.
Meines Erachtens handelt es sich um die
gewöhnliche Wirkung, die die Digitalis in
mäßigen Gaben überhaupt ausübt: die Stö¬
rung in der Zirkulation und Verteilung des
Blutes wird aufgehoben, die venöse und
kapillare Stauung verschwindet.
Hierin liegt auch mit Rücksicht auf den
erörterten histologischen Hergang die ganz
ausreichende Erklärung dafür, daß eine
Kreislaufregelung, besonders mit Heran¬
ziehung der Digitalis, die beste kausale
Therapie des Nasenblutens ist.
Meine Beobachtungen habe ich in den
letzten Jahren bei einer Literaturdurch¬
sicht vollkommen bestätigt gefunden da¬
durch, daß die Digitalisanwendung gegen
spontane Hämorrhagien schon während der
ersten 2 /s des vorigen Jahrhunderts sehr
bekannt und geschätzt gewesen ist. Sie
ist, wie ich an anderer Stelle dargelegt
habe, hauptsächlich auf Grund von Theo¬
rien aufgegeben worden, die man jetzt als
Mißverständnisse betrachten muß. 1 ) Viel¬
leicht findet die altbewährte praktische
Heilmethode, die heute auf festerem Boden
steht als früher, jetzt wiederum Anklang
und neue Verbreitung.
Therapie d. Gegenwart 1909, Febr.
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September
Die Therapie der Gegenwart 1910.
407
Aus der L Medizinischen Abteilung des Städtischen Krankenhauses Moabit.
(Direktor: Prot Dr. G. Klemperer.)
Ehrlichs Syphilisheilmittel bei einigen Fällen innerer Lues.
Von Dr. Meidner, Assistenzarzt.
Das von Paul Ehrlich dargestellte
Amidoarsenobenzol befreit den mit Spi¬
rillen infizierten Tierkörper mit einem
Schlage von der Infektion und heilt die
experimentelle Tiersyphilis mit unbedingter
Sicherheit. Die bisherige klinische Anwen¬
dung des neuen Mittels hat gezeigt, daß
es für die syphilitischen Sekundärerschei¬
nungen ein zweifelloses Heilmittel ist; ob
es zur wirklichen Sterilisierung auch beim
spirochäteninfizierten Menschen führt, wird
sich erst nach Jahren entscheiden lassen.
Als eine Aufgabe der inneren Klinik
darf es betrachtet werden, einmal die Un¬
gefährlichkeit des Mittels, beziehungsweise
seine Nebenwirkungen festzustellen. So¬
dann aber muß erprobt werden, ob es in
der Behandlung der syphilitischen Affek-
tion der inneren Organe dasselbe, be¬
ziehungsweise mehr leistet als Jod und
Quecksilber. Schließlich wird es sich auch
an diesen Patienten erweisen, ob die Ehr-
lichsche Behandlung zur vollkommenen
Sterilisierung des infizierten Organismus
führt.
Für die bisher von allen Beobachtern
übereinstimmend bekundete Ungefährlich¬
keit des Mittels können wir einen sehr
wirksamen Beweis bringen, da wir aus ge¬
wissen theoretischen Gründen das Mittel
bei einer Kategorie der geschwächtesten
Menschen anwandten, nämlich bei schwerer
perniziöser Anämie und Leukämie. Diese
Patienten mit hochgradiger Herzschwäche
und geringster Sauerstoffsättigung der Ge¬
webe vertrugen das Mittel ohne jeden
Schaden oder irgend eine erhebliche Neben¬
wirkung.
Zugleich aber boten diese Heilversuche
bei perniziöser Anämie eine weitere Stütze
für die Spezifität der Wirkung des Ehr-
lichschen Mittels; denn während viele
Arsenpräparate einen deutlichen Effekt auf
die Blutregeneration ausüben, ließ das
neue Mittel in dieser Hinsicht vollkommen
im Stich.
Im übrigen haben 34 Patienten, denen
wir die schwach alkalische Lösung des Prä¬
parates intraglutäal injizierten, dasselbe ohne
nennenswerte Schädigung vertragen. Fast
stets folgten der Injektion örtliche und
ausstrahlende Schmerzen, die meist mäßig
waren, in einigen Fällen aber die Anwen¬
dung von Morphium oder Schlafmitteln
notwendig machten; nur von wenigen
Tabikern und Paralytikern wurden gar
keine Schmerzen geklagt.
Als besondere Nebenwirkung kam ein¬
mal eine bald schwindende Urtikaria der
Vorderarme und Hände, ein andermal eine
ziemlich starke Acne furunculosa faciei
zur Beobachtung. In einem dritten Falle
schossen acht Tage nach der Injektion
unter heftigem Juckreiz am Endgliede des
linken Zeigefingers, im ganzen fünf hanf¬
korngroße, gelbgraue, flache Knötchen auf,
die aber Tags darauf bereits wieder, und
zwar für die Dauer, verschwunden waren.
Schmerzen und Fieber bestanden drei,
allenfalls fünf oder sechs Tage; nur ein¬
mal gingen die Schmerzen bei sonst ganz
unkompliziertem Verlauf erst vom zehnten
Tage an und bloß ganz allmählich zurück.
Die lokalen Infiltrate gingen nach 5—8Tagen
zurück; in einem Falle brauchte es 20 Tage
zur vollkommenen Resorption; in einem
anderen Falle kam es zu deutlicher Fluk¬
tuation, sodaß eine Inzision angebracht er¬
schien; es entleerte sich aber nur wenig
hämorrhagisch - nekrotisches Material, das
sich bei Mikroskopie und Kultur als ganz
steril erwies. Die Schnittwunde heilte
schnell.
Es wurden auf unserer Abteilung von
Anfang Mai dieses Jahres alle Patienten
mit luetischen Erkrankungen, sowie einige
Tabiker und Paralytiker — dazu noch die
obenerwähnten Fälle von Anämie und Leu¬
kämie — mit Amidoarsenobenzol behandelt.
Unter diesen befanden sich 6 Patienten
mit rein dermatologischen Affektionen z.T.
ausgedehnten Hautgeschwüren; dieselben
reinigten und überhäuteten sich nach
der spezifischen Injektion mit einer ganz
ungewöhnlichen Schnelligkeit, welche alle
Beobachter in Erstaunen setzte. Ueber
diese Fälle von dermatologischem Interesse
wird unser spezialistischer Berater, Herr
Dr. Held, in einer späteren Veröffent¬
lichung berichten.
Im folgenden gebe ich einen kurzen
Bericht über die übrigen bisher von uns
behandelten Fälle: 1 )
*) Die Ehrlichsche Substanz ist in den Kranken¬
geschichten der KQrze halber mit E. bezeichnet. Die
Wassermannsche Reaktion wurde teils von Herrn
Prof. Jacoby, teils von Herrn Prof. Schütze an¬
gestellt.
Digitized by
Gck gle
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UNIVERSiTY 0F CALIFORNIA
408
Die Therapie der Gegenwart 1910.
September
Fall 1. Frau R., 57 Jahre, sichere Tabes
mit mäßigen Beschwerden, bekam Ende Mai
1910 an der Basis der linken zweiten Zehe
^ einen allmählich sich bis auf den Knochen ver-
* tiefenden, markstückgroßen Substanzverlust mit
übelriechender, schmieriger Sekretion. In sei¬
nem Grunde stieß die Sonde schmerzlos auf
rauhen Knochen. Am 17. Juni 1910 wurden
nach Schnitt und Gegenschnitt drei flache,
2—4 qmm große Sequester aus der Wunde
entfernt Wassermannsehe Reaktion positiv.
Am 25. Juni 1910 Injektion von 0,45 g E. Bereits
am 29. Juni 1910 war die Absonderung sehr
viel spärlicher und kaum noch übelriechend;
der Defekt war frischer gerötet. Am 3. Juli
1910 war die Sekretion versiegt. Am 9. Juli
1910 war der Substanzverlust kaum noch linsen¬
groß und am 13. Juli 1910 gänzlich überhäutet,
so daß Patientin am 15. Juli 1910 auf Verlangen
ihre Entlassung erhielt. An der bestehenden
Tabes war weder subjektiv noch objektiv etwas
geändert.
Fall 2. Q., 53 Jahre, zeigte neben Pupillen¬
starre und schlecht auslösbaren Patellarreflexen
zwei tiefe, kraterförmige, bis auf den Knochen
reichende, schmerzlos entstandene Substanz¬
verluste am vorderen Teil der rechten Fu߬
sohle. Das eine hatte die Größe eines Mark¬
stückes, das andere die eines Fünfmarkstückes.
Sie bestanden seit mehreren Jahren und hatten
sich trotz vieler Heilversuche nie ganz ge¬
schlossen. Die Wundsekretion war gering, der
Belag des Grundes mehr krustig als schmierig.
Am 4. Juli 1910 bekam Patient 0,3 E. Bis zum
10. Juli 1910 blieben die Defekte unverändert.
Von da an reinigte sich der Grund rasch, so
daß er bereits am 13. Juli 1910 von frischen
Granulationen bedeckt war. Gleichzeitig setzte
auch vom Rande her Ueberhäutung ein. Der
Heilungsprozeß war schon am 19. Juli 1910
ganz abgeschlossen, so daß Patient am 22. Juli
1910 auf sein Verlangen entlassen werden
konnte. Die Zeichen seiner rudimentären Tabes
waren dieselben wie bei der Aufnahme.
Fall 3. D., 53 Jahre, Fall von sicherer
progressiver Paralyse (Pupillenstarre, gestei¬
gerte Reflexe, motorische Schwäche der Beine,
charakteristische Sprachstörung, dementes Ver¬
halten) bot an der linken Ferse ein markstück¬
großes, ziemlich tiefes Hautgeschwür mit man¬
gelnder Heilungstendenz. Am 15. August 1910
bekam er 0,6 g E. Vom 17. August begann der
Substanzverlust sich zu verkleinern und war
am 26. August ganz geschlossen. Die para¬
lytischen Erscheinungen haben sich nicht ver¬
ändert.
Es handelt sich um drei Fälle von Mal
perforant, wie sie bei Tabikern nicht selten
sind und trotz Hg und Jod gewöhnlich
schwer heilen; in den berichteten drei
Fällen ist die Heilung mit erstaunlicher
Schnelligkeit eingetreten.
Fall 4. Sch., 45 Jahre, klagt über lanzi-
nierende Schmerzen, Gürtel- und Brustdruck¬
gefühle. Am 25. Mai 1910 Pupillenstarre, feh¬
lende Kniereflexe, ausgebreitete Anästhesien,
schwere Ataxie. Wassermann-p. Injektion
von 0,3 g E. Danach in den nächsten Wochen
keine Veränderung der tabischen Zeichen.
8. Juni Wassermann -p. Vom 10. Juni 1910
an entwickelte sich eine Schwäche des rechten
N. peroneus, die im Laufe des Monats zu einer
kompletten Lähmung mit partieller Entartungs¬
reaktion gedieh. Der Gang war nicht besser
geworden, viel Klagen über Parästhesien. Auf
ausdrückliche Bitten des sehr intelligenten Pa¬
tienten wurden am 3. Juli 1910 nochmal 0,3 g E.
eingespritzt. Objektiv hat sich danach nichts
geändert, doch gab Patient an, er verspüre ein
Nachlassen des Druckes auf der Brust; auch
wurden die Klagen über die lästigen Parästhe¬
sien geringer; der Gang des Patienten schien
weniger schwankend und ausfahrend. Objektiv
war eine Besserung nicht zu konstatieren,
auch die Peroneuslähmung unverändert.
Wassermann am 17. August positiv.
Fall 5. Z., 38 Jahre, seit sechs Jahren
sichere Tabes. Wassermann +. Im Vorder¬
gründe des Krankheitsbildes stand seit Monaten
eine schwere, ataktische Gangstörung und un¬
ablässige. heftige, lanzinierende Schmerzen.
8. Juni 1910 0,3 g E. Bis zum 21. Juni 1910
waren die lanzinierenden Schmerzen weniger
häufig und intensiv geworden; eine größere
Sicherheit des Ganges war unverkennbar.
Wassermann 21.Juni positiv. Am 28.Juni1910
hatte Patient wieder eine mehrstündige Attacke
quälender, lanzinierender Schmerzen. Seitdem
fehlten sie bis zur Entlassung am 5. Juli 1910
fast ganz; der Gang war vollkommen sicher
geworden, von dem eines normalen Menschen
nicht unterscheidbar; die Ataxie verriet sich
bloß noch durch unerhebliches Schwanken beim
Romberg sehen Versuch. Im übrigen hatte
der tabische Symptomenkomplex keine Aende-
rung erfahren.
Fall 6. N., 43 Jahre, klagt über leichte
Ermüdbarkeit. Wassermann -p. Pupillen¬
reaktion verlangsamt, sehr schwer auslös¬
bare Patellarreflexe, Romberg positiv, aus¬
gesprochene Hypotonie der Muskulatur. Keine
subjektiven tabischen Symptome, keine Ataxie.
Am 9. Juli 1910 bekam er 0,4 g E. Bisher in
den objektiven Symptomen nichts geändert.
Fall 7. H., 42 Jahre, bemerkte seit acht
Monaten Verschlechterung des Ganges und
Sinken des rechten Augenlides. Pupillenstarre,
fehlende Kniereflexe, ausgesprochene Ataxie,
Ptosis des rechten oberen Augenlides, Wasser¬
mann -p. Am 28. Juli 1910 0,5 g E. Bis zum
6. August 1910 war bereits ein merklicher Rück¬
gang der Ptosis eingetreten. Am 12. August
1910 erklärte er, sich beim Gehen sicherer zu
fühlen, und am 18. August 1910 war auch iür
den Betrachter die ataktische Gangstörung er¬
kennbar gebessert; die Ptosis ist nicht un¬
beträchtlich zurückgebildet, besteht aber fort.
Am 17. August Wassermann -p, Pupillen¬
starre und Fehlen der Reflexe unverändert
ln den vorstehend beschriebenen sechs
Fällen von Tabes hat das neue Mittel eine
wesentliche Einwirkung nicht gezeigt, nur
in einem Fall gingen schwere ataktische
Erscheinungen in auffallender Weise zurück;
die subjektiven Aenderungen, die wir bei den
Uebrigen beobachtet haben, sind auch ohne
besondere Beeinflussung gelegentlich bei
Tabikern zu sehen. Selbstverständlich kann
die Wertschätzung eines Syphilisheilmittels
nicht nach seinem Effekt auf tabische Ver¬
änderungen bemessen werden; abgesehen da¬
von, daß der Zusammenhang zwischen Tabes
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September
Die Therapie der Gegenwart 1910.
409
und Lues nicht in jedem Fall als gesichert
anzusehen ist, sind diejRQckenmarksläsionen
als irreparabel zu betrachten. Wenn die An¬
wendung des Mittels den Fortschritt des
Leidens mit Sicherheit aufhalten sollte —
worüber natürlich jetzt noch kein Urteil
möglich ist —so würde es trotzdem eine sehr
segensreiche Wirksamkeit entfalten.
Fall 8. FrL Z. # 23 Jahre, war seit Pfingsten
1909 mit spastisch-paretisch-ataktischen Erschei¬
nungen in beiden Unterextremitäten, Ataxie
und Parästhesien in den oberen, besonders
dem linken Unterarm, und Urinbeschwerden,
erkrankt. Wassermann -f. Die Diagnose
schwankte zwischen Lues spinalis und mul¬
tipler Sklerose; Patientin wurde mehrfach von
Spezialneurologen untersucht, welche ebenfalls
die Diagnose in der Schwebe ließen. Zehn
Sublimatinjektionen ä 0,02g. Die Urinentleerung
wurde normal; sonst aber waren keine rechten
Fortschritte zu verzeichnen, wenn Patientin
auch im Verlaufe von Monaten etwas gehen
lernte. Schließlich konnte sie sich mühsam
auf kurze Strecken mit zwei Stöcken selber
behelfen. Objektiv war im Befunde nichts
Wesentliches geändert. Am 29. April 1910 be¬
kam Patientin 0,3 g E. Am 3. Mai 1910 war ihr
Zustand der gleiche, der Wassermann noch
positiv. Am 24. Mai 1910 Wassermann —.
im übrigen aber keine Aenderung der spasti¬
schen Parese der Extremitäten. Am 19. Juli
gebessert entlassen.
Dieser Fall würde für eine neurologische
Analyse sehr geeignet sein, da er die
Schwierigkeit der Differentialdiagnose zwi¬
schen Lues spinalis und multipler Sklerose
sehr deutlich aufzeigt; für die Beurteilung
des neuen Mittels kann er wegen der Un¬
sicherheit der Diagnose in keiner Weise
herangezogen werden.
Fall 9. W., 50 Jahre, bewußtlos, nach
Angabe der Angehörigen seit 16 Jahren auf
beiden Beinen gelähmt. Patient hat mehrfache
Quecksilberkuren ohne r-rfolg durchgemacht;
seit einigen Wochen frische Lähmung des rech¬
ten Armes. Seit etwa 14 Tagen hohes Fieber,
seit drei Tagen Koma. Der durch Katheter
entleerte Urin ist trübe, enthält reichlich Eiter.
Patient war nahezu als Moribundus zu bezeich¬
nen, der Puls sehr frequent und kaum fühlbar,
die Atmung beschleunigt. Es wurde am 23. Juni
eine intravenöse Injektion von 0,3 g E. gemacht,
doch war eine Wirkung nicht zu konstatieren.
Der Tod trat nach zwei Stunden ein.
Dieser Fall betrifft — wie die Obduk¬
tion bestätigte — eine septische Zysto-
pyelitis bei luetischen multiplen Erwei¬
chungsherden in Hirn und Rückenmark.
Der Versuch einer spezifischen Behandlung
des luetischen Prozesses war bei dem all¬
gemeinen Verfall des Patienten von vorn¬
herein wenig aussichtsvoll; für die Statistik
kann der Fall in keiner Weise verwertet
werden. An dem tötlichen Ausgang können
wir der Injektion absolut keine Schuld bei¬
messen, da Patient sich schon vor derselben
im Zustand größter Herzschwäche befand.
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Fall 10. Sch., 48 Jahre, aufgenommen in
vollkommener Bewußtlosigkeit am 28. Juni.
Nach Angabe der Angehörigen seit Monaten
Harninkontinenz und steigende Unsicherheit des
Ganges; seit 27. Juni komatös. Pupillenreaktion
war erhalten, die Patellarreflexe nicht auszu¬
lösen; beiderseits ausgesprochene Ptosis.
Wassermann -p. Am 29. Juni 1910 0,3 g E.
Im Verlauf der vier darauf folgenden Tage be¬
gann Pat. ganz allmählich auf Anruf zu reagieren,
bewegte auch Arme und Beine ein wenig; die
Augenlider ebenfalls etwas beweglich. Bis zum
10. Juli ^910 war er ganz klar und geordnet,
konnte alle Gliedmaßen ungehindert bewegen
und beide Augenlider in normalerWeise heben.
Nachdem er noch 14 Tage zu Bett gelegen
hatte, fing er an Gehversuche zu machen, die
ihn bis zum 1. August 1910 zu einem ungehin¬
derten, kaum noch schwankenden Gange ohne
alle fremde Hilfe befähigten. Seither hat er
sich sehr wohl befunden; die Patellarreflexe
fehlen noch, und er kann den Urin nicht halten,
trägt stets Urinal.
Es handelt sich um frische, schwere
zerebrale Lues bei einem Tabiker; die zere¬
bralen Störungen gelangen zur vollkom¬
menen Heilung, während von den tabischen
Erscheinungen nur die Ataxie verschwindet.
Dieser Fall stellt jedenfalls ein außerordent¬
liches Heilresultat bei zerebraler Lues dar,
bei dem noch besonders die Schnelligkeit
des Eintritts hervorzuheben ist. Man sieht
gelegentlich ähnliche Erfolge nach Queck¬
silber, doch wohl selten so schnell. In
unserm Fall ist es fraglich, ob die Queck¬
silberwirkung noch zur rechten Zeit ge¬
kommen wäre, um das gefährdete Leben
zu retten.
Fall 11. Frau L., 49 Jahre, Alkoholistin,
intellektuell defekt, leidet seit zwei Jahren an
spastisch - paretisch - ataktischen Erscheinungen
in beiden Unterextremitäten, besonders der
linken, Harninkontinenz und mäßiger links¬
seitiger Ptosis. Wassermann -p. Unter je
einer Quecksilberspritz- und -schmierkur (5X0,1
Hydrarg. salicyl. und 120,0 Ung. ein.) lernte
sie, mit Hilfe von Stöcken, ein paar mühsame
Schritte machen. Am 3. Juli 1910 0,5 g E.
Gegen Ende des Monats gab sie spontan an,
mit dem linken Bein etwas leichter fortzukönnen.
Seither hat sich ihr Gang soweit gebessert, daß
sie, auf Stöcken gestützt, kurze Spaziergänge
im Anstaltsgarten machen kann, wobei sie sich
mit Hilfe eines Urinals ausreichend sauber hält.
Die Ptosis am linken Auge besteht, doch in
geringerem Grade, fort; Wassermann am
17. August noch -p, die Symptome der spastisch-
ataktischen Parese der Beine sind unverändert
geblieben.
In diesem Fall ausgesprochener spinaler
Lues hat die spezifische Behandlung nach
Ehrlich eine vorher durch Hg erzielte
mäßige Besserung etwas weiter gebracht,
ohne ebenfalls entschiedene Fortschritte zu
erzielen.
Fall 12. Frau K., 30 Jahre. In den letzten
Monaten des Jahres 1909 allmähliche Entwick¬
lung einer spastischen Paraparese der Beine
und vollkommene incontinentia urinae. Wa s s e r -
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UNIVERSUY OF CALIFORNIA
410
Die Therapie der Gegenwart 1910.
September
mann -f-. Unter regulärer Schmierkur fort¬
schreitende Verschlechterung des Geh Ver¬
mögens. Inkontinenz unverändert. Am 16. Juli
1910 0,4 g E. Schon am 18. Juli 1910 gab
sie an, das linke Bein besser bewegen zu
können; tatsächlich wurden Widerstands¬
bewegungen auch mit merklich größerer Kraft
als noch vor einiger Zeit ausgeführt. Bis zum
15. August 1910 war es gelungen, Patientin
einige erfolgreiche Gehversuche anstellen zu
lassen. Freilich sind es bis heute nur ein paar
mühsame Schritte geblieben, die Harninkonti¬
nenz besteht unverändert fort. Wass.ermann
15. August 1910 schwach positiv.
Auch dieser Fall von Lues spinalis, der
sich gegen Hg refraktär gezeigt hat, wird
durch Arsobenzol nicht wesentlich beein¬
flußt.
Fall 13. Fr. Z., 51 Jahre, seit zwei Jahren
allmählich zunehmende, ataktische Störungen
in den Unterextremitäten und Schwerhörigkeit.
Bei der Aufnahme Pupillenreaktion herabge¬
setzt, es besteht ein handtellergroßer Dekubitus
der Kreuzbeingegend. Dazu eine Rektal-
striktur 13 cm über dem Anus von knapp
2 cm Durchmesser. Klagen über sehr heftige
Schmerzen in den verschiedensten Körper¬
gegenden. Wassermann Am 22. Juli 1910
0,5 g E. In den nächsten 14 Tagen objektiv
alles unverändert, insbesondere die Schmerzen
nicht geringer. Am 4. August auf Drängen der
Patientin Einleitung einer regulären Schmierkur;
danach Nachlassen der Schmerzen, aber objektiv
nicht die geringste Veränderung. Nervenbefund
blieb völlig derselbe wie anfangs, auch Stuhl¬
beschwerden und rektoskopisches Bild unver¬
ändert, der Dekubitus reinigt sich sehr langsam
unter der üblichen lokalen Behandlung.
Ein Fall von luetischer Rektalstriktur
einer Tabischen wird weder durch
Arsobenzol noch durch Hg gebessert.
Fall 14. Frau K., 45 Jahre, bekam nach
Ausweis älterer Krankenblatter vor siebzehn
Jahren ganz plötzlich eine Ophthalmoplegia
dupl. int. total., ext. incompl. mit Doppelbildern
beim Blick nach links und nach oben (Schwäche
des M. abd. sin. und der Aufwärtswender des
rechten Auges); die Affektion hat seither ganz
unverändert bestanden, trotzdem Pat. viele
spezifische Kuren durchgemacht hat. Vor zwei
Monaten traten unbestimmte Magenbeschwerden
hinzu. Bei der Aufnahme waren die Sehnen¬
reflexe gesteigert, auch bestand eine recht erheb¬
liche Demenz, doch nicht von paralytischem
Charakter. Wassermann-}-. Am 7. Juli 1910
0*4 g E. Bis zum Ende des Monats wurde keiner¬
lei Veränderung ihres Zustandes bemerkt. Am
27. Juli 1910 traten heftige, als krampfartig be¬
schriebene Schmerzattacken in der Magengegend
auf, die aber in drei Tagen wieder verschwan¬
den ; chemisch bestand eine Achlorhydrie,
röntgenologisch eine Atonie des Magens. Am
6. August 1910 befand sich Pat. wieder ganz
wohl, behauptete sogar, weit besser sehen zu
können. Objektiv war aber keine Aenderung
des Augenbefundes eingetreten, insbesondere
die Doppelbilder ganz wie ehedem nachweisbar.
Am 15. August 1910 Wassermann noch po¬
sitiv. Am 20. August 1910 erklärte Pat. zum
ersten Male, daß die Doppelbilder beim Blick
nach links näher beieinander stünden. Bei
eingehender Prüfung bestätigte sie diese An¬
gabe immer wieder. Zudem konnten auch
beim Blick nach oben überhaupt keine Doppel¬
bilder mehr hervorgerufen werden; die vorher
deutlich sichtbare Schwäche der rechtsseitigen
Aufwärtswender ließ sich denn auch nicht
mehr beobachten.
Die Arsobenzolinjektion hat einem ver¬
alteten Fall luetischer Augenmuskellähmung
ganz wesentliche Besserung gebracht; ob in
einem so alten Fall dieselbe Wirkung durch
eine erneute Hg-Jodkur zu erzielen gewesen
wäre, muß als fraglich bezeichnet werden.
Fall 15. Frau S., 31 Jahre, hat seit Jahren
ein schweres, kombiniertes Vitium cordis;
neuerdings heftige, nächtliche Kopfschmerzen.
Wassermann -}-, bekam 12. Juli 1910 0*4gE.
Bis zum 18. Juli 1910 hatte sie unter den der
Injektion folgenden Beschwerden viel zu leiden.
Von da an traten diese von Tag zu Tag mehr
zurück, und Pat. erholte sich zusehends, die
nächtlichen Kopfschmerzen blieben
völlig fort. Bei ihrer Entlassung am
3. August 1910 fühlte sie sich wohler als seit
langem. Wassermann noch +.
Dieser Fall von postluetischen nächt¬
lichen Kopfschmerzen ist durch das neue
Mittel vollkommen geheilt, ähnlich wie es
durch längere Jodkur zu erreichen ge¬
wesen wäre.
Fall 16. Frau E., 57 Jahre, vor 16 Jahren
luetische Infektion. Seit einigen Jahren wurde
sie von heftigen, nächdichen Kopfschmerzen
gequält. Seit vier Wochen bemerkte sie Zu¬
nahme des Leibumfangs. Bei der Aufnahme
bestand beträchtlicher Aszites, die Leber hart
und vergrößert; eine intensive Dämpfung über
dem Oberlappen der linken Lunge, im Bereich
derselben abgeschwächtes Atmen, sparsame
Rasselgeräusche; über der Herzbasis ein rauhes
systolisches Geräusch, Herz nicht vergrößert.
Diagnose Leberlues, luetische Lungenaffektion,
luetische Perikarditis (?) Am 16. Juni 1910 0,3g E.
Am 22. Juni 1910 konnte ein Rückgang des
Aszites konstatiert werden; die Kopfschmerzen
hatten nachgelassen. Bis zum 25. Juni 1910
schien die Besserung zuzunehmen; von da an
aber traten Erscheinungen schwerer Herz¬
schwäche auf, der Patientin am 27. Juni 1910
erlag. Bei der Sektion wurden narbige und
gummöse Veränderungen der Leber und Lunge,
sowie Gummata des Schädeldachs gefunden.
Der Herzbefund war die Folge eines durch
Lymphdrüsenschrumpfung hervorgerufenen
kleinen Traktionsaneurysmas der Art. pulm.
dextr.
Der Befund beweist — wie selbstverständ¬
lich — daß alte luetische Narben dem neuen
Mittel nicht weichen, daß aber auch Gummi-
geschwGlste in inneren Organen wenigstens
durch kleine Gaben Arsobenzol nicht be¬
einflußt zu werden brauchen.
Fall 17. T., 64 Jahre, Potator, vor 20 Jahren
luetisch infiziert Arteriosklerose, Dilatatio
cordis bis in die mittlere Axillarlinie. Seit vier
Wochen Aszites und Ikterus. Sehr dyspnoisch
und zyanotisch, 110 kleine Pulse. Leber groß,
hart, höckrig. Seit etwa 14 Tagen Schmerzen
im Munde und Erschwerung der Nahrungsauf¬
nahme. Bei der Aufnahme besteht starker
Foetor ex ore, schwere ulzeröse Stomatitis mit
schmutzigen, schmierigen Belägen des Zahn-
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September
Die Therapie der Gegenwart 1910.
411
fleisches, des Gaumens und der Tonsillen. Am j
1. August 0,4 g E. In überraschender Weise
heilt vom 3. Tage an die Stomatitis, so daß I
Mund. Gaumen und Tonsillen am 6. August
ganz normal erscheinen. Gleichzeitig hat sich
Allgemeinbefinden und Herzkraft unter Digitalis
erheblich gebessert. Patient ißt und schläft be¬
deutend besser, der Aszites wird geringer.
Patient wird auf Wunsch am 6. August ge¬
bessert entlassen.
Ein Fall von luetischer Stomatitis bei
luetischer Leberzirrhose und arterioskle¬
rotisch-alkoholischer Herzschwäche wird
durch Arsobenzol geheilt, während Leber¬
und Herzveränderungen objektiv unver¬
ändert bleiben, aber in ihren Folgezuständen
dem Patienten zeitweise weniger Be¬
schwerden machen.
Zu den hier berichteten 17 Fällen (+ 6 der¬
matologischen) treten noch 11 Fälle anderweitiger
innerer Erkrankungen, bei denen Lues nicht
vorlag und bei welchen das neue Mittel aus
hier nicht zu erörternden theoretischen Gründen
angewandt wurde. Heileffekte wurden gemäß
der spezifischen Natur des Mittels nicht er¬
zielt. Jedoch wurde auch bei den schwäch¬
sten Kranken keine Schädigung hervorgerufen.
Sehr auffallend war oft, daß nach Abklingen
der lokalen und allgemeinen Reizerscheinungen
eine erhebliche Besserung darniederliegenden
Allgemeinbefindens, Zunahme des Appetits
und wesentliche Gewichtszunahme beobachtet
wurden.
Fassen wir unsere Beobachtungen zu¬
sammen, so hat sich Ehrlichs neues Mittel
auch uns als ein vorzügliches Heilmittel
syphilitischer Haut- und Schleimhautverän¬
derungen erwiesen. Bei inneren Erkran¬
kungen hat es in einmaliger Anwendung
in mehreren Fällen dieselbe Heilkraft ge¬
zeigt wie sonst langdauernde Hg- und Jod¬
kuren; von besonderer Bedeutung ist der
schnelle Eintritt des Heileffekts in lebens¬
gefährlichen Fällen. Narbige Veränderun¬
gen erwiesen sich natürlich als unangreif¬
bar, in Verlust geratenes Nervengewebe als
nicht restituierbar. Tabes und Paralyse
waren nicht wesentlich zu beeinflussen,
am ehesten noch Augenmuskelstörungen
und Ataxie. Das neue Mittel hat uns min¬
destens dasselbe geleistet, was wir früher
durch Jod und Quecksilber erzielt haben;
es ist den alten Mitteln überlegen durch
die Kürze der Behandlung und die Schnel¬
ligkeit der Wirkung. Ob auf Grund dieser
Vorzüge das Ehrlich sehe Heilmittel die
alten Methoden zu verdrängen berufen ist,
wird auch für die innere Medizin davon
abhängen, ob durch dasselbe die Spiro¬
chäten für alle Zeit abgetötet werden.
Diese Entscheidung kann erst nach jahre¬
langer Beobachtung gefällt werden.
Zusammenfassende Uebersicht.
Ans der dermatologischen Abteilung des Rudolf Yirohow-Erankenhauses ln Berlin.
(Dirig. Arzt: Prof. Dr. Buschke.)
Ueber die Ehrüchsche Syphilisbehandlung.
Referat von Dr. W. Fischer, Assistent der Abteilung.
ln kurzer Zeit hat das neue Ehrlich-
sche Präparat eine solche umfassende Lite¬
ratur gezeitigt, daß wir zu unserer eigenen
Orientierung die einzelnen Berichte ge¬
sammelt haben. Ein daraus resultierendes
Referat, welches die wesentlichsten Punkte
aus der verwirrenden Fülle der Berichte her¬
vorhebt, zur Orientierung für den Praktiker
zu publizieren, erschien Herrn Professor
Buschke schon jetzt nicht unzweckmäßig.
Auf seine Anregung sind die folgenden
Zeilen zurückzuführen.
Von vornherein war es uns klar, daß
es zurzeit noch absolut unmöglich ist, über
die Wirkung des Ehrlich-Hata 606 und
seinen Wert gegenüber einer so kompli¬
zierten und über Jahrzehnte sich erstrecken¬
den Krankheit wie der Syphilis zu einem
einigermaßen fundierten Urteil zu kommen.
Wenn ich es trotzdem unternehme, die
bisherigen Beobachtungen an dieser Stelle
einer Durchsicht zu unterziehen, so leitet
uns dabei der Gedanke, daß für den
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Fernerstehenden eine solche zusammen¬
fassende Darstellung ungleich wertvoller
werden kann, als die zahlreichen Mit¬
teilungen einzelner Autoren, die auf die
Befunde einiger weniger Fälle gestützt
unsere ganze bisherige Syphilistherapie
über den Haufen werfen wollen und so
außerordentlich verwirrend wirken. Ein
übriges tut die politische Presse, die durch
entstellte oder unverstandene und einseitige
Berichte im Publikum eine Aufregung her¬
vorgerufen hat, welche jeder Dermatologe
täglich in seiner Praxis zu spüren be¬
kommt. Es kann demnach eine vorsichtig
abwartende Stellungnahme gegenüber der
Therapia magna sterilisans der Lues im
Interesse des Schöpfers dieses Begriffes
nur von Nutzen sein und in diesem Sinne
mögen die folgenden Zeilen aufgefaßt
werden.
Die Verwendung des Arsens bei der
Behandlung der Syphilis ist keineswegs
jungen Datums. Schon früh machte man
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412
Die Therapie der Gegenwart 1910.
September
sich die analeptische Wirkung dieses Me¬
dikamentes zur Hebung des Allgemein¬
zustandes der Patienten zunutze und die
reine Empirie zeigte später, daß eine regel¬
rechte, allerdings hoch dosierte Arsenkur
sehr wohl in einer Reihe von Fällen von
schwerer und tertiärer Syphilis die Sym¬
ptome rasch zum Schwinden bringen kann.
Freilich sollen Rezidive bei dieser Be¬
handlung besonders früh und häufig beob¬
achtet sein. O. Rosenthal tritt für
diese Methode ein. Aber auch auf dem
Wege theoretisch-wissenschaftlicher Ueber-
legung kam man nach der Entdeckung
Schaudinn-Hoffmanns dazu, das Arsen
der Syphilistherapie nutzbar zu machen.
Ausgehend von der Wirksamkeit des
Atoxyls bei anderen Spirillosen und
Trypanosomenkrankheiten empfahl Uhlen -
huth, gestützt auf die Erfolge, die er mit
Hoffmann bei der Behandlung mit Syphilis
geimpfter Tiere sah, die Anwendung des
Atoxyls auch bei der menschlichen Syphilis.
Freilich machte die Nötigung, starke
Dosen zur Anwendung zu bringen und die
dabei auftretenden Schädigungen, be¬
sonders des Sehnerven, die Verwendung
des Atoxyls schließlich unmöglich. Ehrlich
hat dann diese beim Atoxyl gewonnenen
Erfahrungen zum Ausgangspunkt weiterer
Untersuchungen gemacht und gestützt auf
die Erforschung der Konstitution des
Atoxyls, die schon früher versucht, aber
erst von ihm in Gemeinschaft mit Bert-
heim zum Abschluß gebracht wurde, im
Laufe der letzten Jahre immer neue, durch
Gruppensubstitution im Atoxyl gewonnene
Arsenverbindungen mit besonders starker
Wirkung auf parasitäre Mikroorganismen
hergestellt. Diesen Arbeiten verdankt das
giftige Arsacetin, das Arsenophenylglyein
und schließlich das Dioxydiamidoarseno-
benzol (Ehrlich-Hata 606) seine Ent¬
stehung. Da im Tierexperiment durch eine
einmalige Einverleibung einer bestimmten
Dosis dieses und ähnlicher Stoffe eine voll¬
kommene Abtötung aller Parasiten (Spirillen
und Trypanosomen) gelang, bezeichnete
Ehrlich eine solche Behandlung als therapia
magna sterilisans.
Nachdem im Ehrlichschen Institut diese
Vorversuche an Tieren so günstig in bezug
auf die parasitizide Kraft des Mittels aus¬
gefallen, wurde der Psychiater Alt mit der
Prüfung des Mittels am Menschen betraut.
Dieser veranlaßte dann Schreiber das
Mittel auch an Syphilitikern zu prüfen;
Alt beobachtete neben einzelnen Besse¬
rungen bei postsyphilitischen Affektionen
unter anderem bei einer Reihe von
Paralytikern nach einer einmaligen In¬
jektion von 0,3 g ein Schwinden der vor¬
her positiven Wassermannschen Reak¬
tion. 1 ) Schreiber (Magdeburg) berichtete
dann im Verein mit Hoppe über 150 so
behandelte Fälle. Wie schon Alt hervor¬
gehoben hatte, sahen auch sie keine unan¬
genehmen Nebenwirkungen und erklärten
das Präparat, soweit man bei differenten
Mitteln von Ungiftigkeit sprechen darf, für
absolut ungiftig. Trotzdem warnten sie
vor seiner Anwendung bei schwerer Er¬
krankung der Zirkulationsorgane, der Nieren
und Augen und bei allen Allgemeinerkran¬
kungen und Kachexien. Ihre klinischen Er¬
folge waren deutlich; Primäraffekte zeigten
nach 24 Stunden Neigung zur Rückbildung,
Anginen waren in 3—4 Tagen geheilt, aus¬
gedehnte Papelbildungen kamen in 4 Wochen
zum Schwinden. Besonders gut reagierten
tertiäre und gegen Quecksilber refraktäre
Fälle. Nach diesen günstigen Erfahrungen
gingen nun in den nächsten Monaten eine
ganze Reihe von Kliniken an die Prüfung,
und nach ihren Befunden ergibt sich über¬
einstimmend, daß wir in dem „Hata 606“
ein Mittel vor uns haben, dem oft eine
ganz exquisite Wirkung auf die Spiro¬
chäten, die meist in kurzer Zeit aus den
Effloreszenzen schwinden, und auf eine
Reihe von syphilitischen Prozessen, auch
der inneren Organe zugeschrieben werden
kann. Hauptsächlich wird hervorgehoben
die günstige Beeinflussung der malignen 2 )
Syphilis und von einigen Autoren die
Schnelligkeit des Involutionsprozesses spe¬
zifischer Effloreszenzen. Ganz besonders
günstige Resultate gibt in bezug auf die
Involution Glück an. Er sah Primäraffekte
mit Drüsen zum Teil schon in 5 Tagen
vollkommen schwinden; makulo-papulöse
Exantheme brauchten 3—5, pustulöse 5—8,
ein Lichen syphiliticus 7, diffuse stark
hypertrophische Papeln an Skrotum und
Penis 5 Tage zur Abheilung. Es unterliegt
nun keinem Zweifel, daß die Beurteilung
solcher z eitlicher Angaben gewisse
l ) Für die Behandlung der Tabes und Paralyse,
bei der ursprünglich das Präparat angewandt wurde,
hat die bisherige weitere Beobachtung keine Anhalts¬
punkte eines definitiven therapeutischen Nutzens er¬
geben.
s ) Der Ausdruck „maligne Syphilis* sollte ver¬
mieden werden, da über diese Bezeichnung noch
keine Uebereinstimmung unter den Autoren herrscht.
Manche bezeichnen damit ulzeröse Sekundär- und
Tertiärformen, die der Hg- und J-Wirkung nicht
unterliegen; andere rechnen alle ulzerösen Früh¬
formen dazu, unter denen es eine ganze Anzahl gibt,
welche im Verhältnis zu ihrem klinischen Aspekt
überraschend schnell unter ganz geringen Hg-Mengen,
ja auch ohne diese allein durch roborierende All¬
gemeinbehandlung und kleine Jodgaben heilen.
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UNIVERSiTY OF CALIFORNIA
September
Dip Therapie der Gegenwart 1910.
413
Schwierigkeiten macht, da derartige Beob¬
achtungen außerordentlich dem subjektiven
Empfinden des einzelnen unterworfen sind.
Wir wissen überdies längst, daß Primär-
affekte häufig spontan heilen; sie kommen
ja bekanntlich in einer ganzen Reihe von
Fällen nur als kleine, schnell heilende Ver¬
letzungen den Kranken zum Bewußtsein.
Bei Frauen sieht man z. B. Primäraffekte im
Verhältnis zur Häufigkeit der Lues selten, sie
müssen also spontan abgeheilt sein. Viele
Frühexantheme schwinden nach kurzem Be¬
stand ohne Therapie, Schleimhautplaques
heilen unter lokaler Behandlung in kaum
8 Tagen und auch die resistenteren Formen
wie papulöse Exantheme gehen in der über¬
wiegenden Mehrzahl der Fälle unter Hg-
Zufuhr in 14 Tagen bis 3 Wochen zurück.
Ebenso heilen tertiär-ulzeröse Syphilide
selbst in größerer Ausdehnung unter Jod
in 3—4 Wochen, häufig aber auch in viel
kürzerer Zeit; so habe ich erst kürzlich
auf unserer Abteilung unter anderem eine
geschwürige Zerstörung des ganzen weichen
Gaumens und hinteren Rachens nur unter
Jod und indifferenten Spülungen zur mecha¬
nischen Reinigung in 21 Tagen vollkommen
zuheilen sehen. Trotzdem behandelte man
nun bisher die durch 2—3 Quecksilberein¬
spritzungen symptomlos gewordenen, nicht
geheilten (!) Patienten noch eine gewisse
Zeit lang weiter, da eine lange Er¬
fahrung uns gelehrt hat, in der prolong¬
ierten Hg-Therapie auch eine gewisse Pro¬
phylaxe gegen weitere Rezidive und dele¬
täre Späterkrankungen zu sehen, ein Ver¬
fahren, das uns einige, wenn auch un¬
sichere Aussichten für eine endliche Heilung
gibt. In dieser Hinsicht läßt sich über das
neue Mittel naturgemäß noch gar nichts
sagen, es müssen Jahre vergehen, ehe über
die Möglichkeit einer definitiven Heilung,
denn das muß das Ideal jeder Syphilis¬
therapie sein, ein Urteil gefällt werden
kann. Bei dieser Frage spielen unseres
Erachtens Resultate von Tierversuchen ab¬
solut keine Rolle, da die experimentelle
Syphilis der Affen und Kaninchen klinisch
ganz anders verläuft; überdies kann man ja
auch, wie aus den Neißersehen Versuchen
hervorgeht, durch eine Quecksilberkur die
Syphilis anthropoider Affen zur Heilung
bringen, während dies eben beim Menschen
in den meisten Fällen nicht möglich ist.
Ebenso verhält es sich mit dem Atoxyl
und wahrscheinlich auch mit dem Arseno-
benzol.
So weit aber sieht man jetzt schon
klar, daß Rezidive nach einer einmaligen
Hatainjektion nichts seltenes sind, auch
von einer Kupierung im Initialstadium
kann kaum die Rede sein. Wir selbst
haben auf unserer Abteilung bisher 2 1 ),
von anderer Seite so behandelte Patienten
mit schweren Rezidiven und 1 mit einem aus¬
gedehnten, spirochätenhaltigen Primäraffekt,
der etwa 8 Wochen früher gespritzt war,
in Behandlung bekommen. Schreiber-
Hoppe sahen unter 150 Fällen 10 Rezidive
schon nach 4 Wochen, Kromayer unter
27 Fällen 5, Braendle und Clingestein
unter 27 Fällen 4 geringe und 1 ausge¬
dehnten Rückfall nach 2^2—3 Wochen.
Neißer zählt unter 100 Fällen 5 Rezidive,
Hoffmann sah nach 0,3 Hata und
14 tägiger Schmierkur ein schweres ulze¬
röses Rezidiv. Glück und Wolff sahen
je eins nach 8 und 14 Tagen. Daneben
finden sich auch eine Reihe von Beobach¬
tungen, in denen eine nur mangelhafte Ein¬
wirkung aut den syphilitischen Prozeß kon¬
statiert werden konnte, wobei wir ganz von
den auf einer viel zu kurzen Beobachtungs¬
zeit fußenden Mitteilungen von Besserungen
und fast verheilten Ulzerationen absehen
wollen. Glück sah breite Papeln noch
nach 3 Wochen, ferner einen Primäraffekt
unbeeinflußt. Hartung hat neben teil¬
weise ganz eklatanten Erfolgen auch teil¬
weise nicht zufriedenstellende Resultate be¬
sonders bei Anal- und Genitalpapeln.
Iversen konnte in 2 Fällen breite Papeln
in 3 Wochen noch nicht zur Heilung
bringen, nach ihm halten sich auch Skle¬
rosen und Adeniditen infolge ihrer anato¬
mischen Struktur 3—4 Wochen. Hoff¬
mann konstatierte eine nicht ausreichende
Wirkung auf ein hochgradiges papulöses
Syphilid, sodaß er eine Schmier kur an¬
schließen mußte. Auch Grouven sah
neben einer im allgemeinen entschieden
außerordentlich früh einsetzenden günstigen
Beeinflussung, die sogar manchmal die
augenfälligste Hg-Wirkung in den Schatten
stellte, einige Mißerfolge; in hypertrophi¬
schen Papeln des Gesichts fand er noch
2 Monate nach der ersten Injektion massen¬
haft bewegliche Spirochäten, ein tubero-
serpiginöses Syphilid heilte nach 3 Hata-
Injektionen (0,3,0,4,1,0) erst nach 2Monaten.
Während Glück bei Keratitis parenchy-
matosa gute Erfolge sah, scheint nach
Uhthoifs 3 Fällen kein unmittelbar si-
stierender Einfluß auf den Prozeß ausge¬
übt zu werden. Der erstere sah auch bei
einer doppelseitigen Iritis eine nur mäßige
Besserung. Schließlich sei kurz über einen
Fall von schwerer, jeder Hg- und Jod¬
zufuhr unzugänglicher tertiär-ulzeröser Sy-
*) Einer davon schwere Augenlues.
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Die Therapie der Gegenwart 1910.
September
philis berichtet, der auf unserer Abteilung
am 15. Juli mit recht ungünstiger Wirkung
0,4 Hata bekam.
Pat. W.j tertiär-maligne Syphilis, seit 1906
erfolglos mit Kalomel, Schmierkur, Jodkali und
Arsen behandelt. Zurzeit der Injektion auf dem
Bauch drei typische tertiär-syphilitische Ge¬
schwüre am Rande von Narben (das erste
12:12 cm, das zweite 10:10 cm, das dritte
1 :4 cm), auf dem Gesäß ein zweimarkstück¬
großes, gleiches. Die Geschwürsflächen zeigten
in den letzten Monaten weder Progredienz noch
Heilungstendenz. Allgemeinbefinden verhältnis¬
mäßig gut. Leber zeigt Hypertrophie. Geringes
Albumen, keine Zylinder. 7. Juli: Injektion
0,4. Wassermann. - An den folgenden Tagen
außer Klagen über heftige Schmerzen in beiden
Gesäßhälften nichts. 13. Juli: Die Ulzera ver¬
größern sich, ihre infektiösen Ränder sind stark
unterminiert. 17. Juli: Die oberen Wundränder
zerfallen, die Unterminierung reicht jetzt 2 cm
weit. Die bisher verhältnismäßig sauberen
Granulationen eitern sehr stark und sind von
zahlreichen kleinen Blutungen durchsetzt. Die
Injektionsstellen sind schmerzlos. 24. Juli:
Diffuse Blutung aus dem unteren Geschwür,
die Granulationsflächen werden gangränös. All¬
gemeinbefinden schlechter. 8. August: Weitere
Vergrößerung der Geschwüre, das oberste —
größte — 13:13:7 cm, das unterste rund¬
licher geworden. 16. August: Das oberste Ge¬
schwür 13,5 : 14 : 8 cm. Gewichtsabnahme
4 Pfund (von 59 auf 57 kg). Das Allgemein¬
befinden ist erheblich verschlechtert, besonders
sind in der letzten Zeit die vor der Ein¬
spritzung nicht sehr schmerzhaften Wund¬
flächen derart empfindlich geworden, daß Pat.
dauernd unter Narkotizis und Anästhesinsalbe
gehalten werden muß. 18. August: Auf der
linken Gesäßhälfte in der Narbe ein linsen¬
großes, neues ulzeröses Syphilid; das Ge¬
schwür auf dem Gesäß fünfmarkstück geworden.
Wassermann —.
Gegenüber diesen anscheinenden Mi߬
erfolgen sei ausdrücklich betont, daß ihnen
eine große Reihe günstiger Resultate
gegenübersteht. Besonders darauf hinge¬
wiesen sei namentlich, daß fast alle Auto¬
ren übereinstimmend die potenzierte As-
Wirkung des Präparates, die sich in einem
ausgezeichneten Einfluß auf das subjektive
Wohlbefinden und einer oft rapiden Ge¬
wichtszunahme dokumentiert, hervorheben.
Eine weitere Frage ist, wie steht es mit
der Toxizität des Präparates? Da dasselbe
bisher nicht gebrauchsfertig, sondern als
salzsaure Verbindung, die erst vor der In¬
jektion zur Lösung oder Aufschwemmung
gebracht wird, zur Benutzung kommt, sind
aus verschiedenen Gründen, besonders um
eine anscheinend recht schmerzhafte, ziem¬
lich lange anhaltende Lokalreaktion zu
vermeiden» mehrere von der ursprüng¬
lichen Alt sehen Vorschrift abweichende
Modifikationen im Gebrauch. Es wird in
saurer oder alkalischer Lösung und nach
dem Vorschlag von Michaelis und Wech-
selmann-Lange in neutraler Suspension
verwandt. Die Applikation erfolgt intra¬
muskulär in die Nates oder subkutan zwi¬
schen die Schulterblätter; die Lösungen
können auch intravenös gegeben werden.
Die Dosis ist von den Autoren wiederholt
variiert worden. Ehrlich selbst und Alt
gehen über 0,5 g nicht hinaus, besonders
Grouven hat diese Mengen erheblich
überschritten und das in Methylalkohol ge¬
löste Präparat zuletzt in Anfangsdosen von
0,9 gegeben und im Laufe von 6—7 Wochen
bei wiederholten Injektionen 2 g und mehr
verwandt.
Ueber das Verhalten des Präparates im
Körper haben Ph. Fischer und Hoppe
Untersuchungen angestellt. Sie fanden bei
Luetikern nach intramuskulärer Injektion
der alkalischen Lösung die Ausscheidung
durch den Urin am 4.—5. Tage beendet,
durch den Darm erfolgte sie über 10 Tage;
bei intravenöser Darreichung hielt sie 2 bis
3 Tage durch den Urin und 5—6 Tage
durch die Fäzes an. Bei zwei an ander¬
weitigen Affektionen 14 und 36 Tage nach
der Einspritzung verstorbenen Patienten
fand sich aber intramuskulär noch ein er¬
hebliches Arsendepot. Grouven» der gleich¬
falls die Lösung benutzt, hat in 30 Fällen
die Ausscheidung durch den Harn etwa
zwei Wochen lang, einige wenige Male auch
noch in der 3. Woche feststellen können.
Gegen die erwähnten Modifikationen
und Steigerungen der Dosis wendet sich
Alt in einem vor kurzem erschienenen Ar¬
tikel der Münch. Med. Wochschr. (Nr. 34).
Er hält sich nicht für berechtigt» über
Dosen von 0,5 herauszugehen» da „nament¬
lich in Fällen von ganz frischer Syphilis
Temperaturanstiege bis 39,5 o, Steigerung
und Unregelmäßigkeit der Herztätigkeit,
leichte Benommenheit sowie Brechreiz be¬
obachtet wurden“ *). Die Einverleibung
saurer Lösung verwirft er ganz, da das
Präparat in dieser Form anscheinend nicht
ungiftig ist und die Herztätigkeit ungünstig
beeinflußt. Die Verwendung einer Sus¬
pension verlangsamt nach Alt die Wirkung,
*) Auch wir haben schon bei Dosen von 0,4 der
in Methylalkohol gelösten Substanz Anzeichen von
leichten Arsenintoxikationen gesehen. Im übrigen haben
wir außer dem oben erwähnten Fall noch fünf Fälle
vulgärer Syphilis auf Wunsch der Patienten be¬
handelt (Dosen 0,3 und 0,4), die sich in bezug auf
klinischen Verlauf nicht von den in anderen Mit¬
teilungen beschriebenen Erfolgen unterscheiden. Die
Erscheinungen in den beiden letzten Fällen, ver¬
bunden mit dem Nachweis, daß das As nicht so
schnell wie ursprünglich angenommen wurde, zur
Ausscheidung kommt, veranlaßten uns, von einer
weiteren Verwendung des Mittels in regulären
Syphilisfällen zunächst abzusehen und es zu reser¬
vieren für die seltenen der Hg- und Jodtherapie
gegenüber refraktären Fälle.
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Die Therapie der Gegenwart 1910.
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wie dies auch klinisch trotz der Verwendung
höherer Dosen festgestellt ist und vermehrt
die Gefahr einer Intoxikation bei wiederholter
Behandlung. Diese Deponierung unver¬
brauchten Arsens tritt allerdings, wie die
Befunde von Ph. Fischer und Hoppe
gezeigt haben, auch bei Verwendung der
Lösung ein; auch hier liegt also die Ge¬
fahr einer Summation von As im Organis¬
mus vor, eine Gefahr, die gegenüber den
unlöslichen Quecksilbersalzen ungleich
größer ist, da wir letzteres in möglichst
kleinen Dosen, das Hata 606 aber nach
den Alt sehen Angaben in Mengen geben,
deren Steigerung aus Gründen der Toxizität
nicht ratsam erscheint Die intravenöse
Einverleibung wird besonders von Alt
empfohlen, andere, in erster Linie Michae¬
lis, bekennen sich mehr zur Anwendung
der Suspension, da dadurch eine länger
andauernde Wirkung erzielt werden kann.
Bei der intravenösen Injektion sind bisher
zwei Todesfälle bekannt geworden; über
den einen berichtet Iversen bei einer
rekurrenzkranken Frau nach bei einer
Dosis von 0,3. Es trat eine akute
Nephritis mit hämorrhagischem Exanthem
auf, die Sektion ergab Arteriosklerose,
Myokarditis und andere (schon vorher be¬
stehende) grobe Veränderungen lebens¬
wichtiger Organe. Im übrigen hält Iver¬
sen den Eingriff für unbedenklich und sah
nur 2—3 Stunden nach der Injektion halb¬
stündige Schüttelfröste und in einzelnen
Fällen Erbrechen und Durchfall. Fränkel
und Grouven erlebten bei einem auf
syphilitischer Basis seit Jahren mit schweren
Sprachstörungen, Worttaubheit usw. er¬
krankten Patienten l U Stunde nach er¬
folgter intravenöser Injektion von 0,4 mit
15 ccm Wasser verdünnter Hatalösung
eine typische Arsenvergiftung, der der
Patient nach 37s Stunden erlag. Die
Autoren ziehen daraus den Schluß, weitere
intravenöse Einspritzungen von Hata zu
unterlassen und glauben, daß die Mehr¬
zahl der Aerzte den gleichen Weg
einschlagen wird. Einen weiteren Todes¬
fall nach 0,3 in saurer Lösung erwähnt
Hoffmann 1 ). Derselbe Autor hat ferner
nach der gleichen Dosis eine zentrale em-
bolische Pneumonie durch verschleppten
Trombus aus der Glutäalmuskulatur mit
bedrohlicher Herzschwäche und in zwei
weiteren Fällen nicht unbedenkliche Stö¬
rungen der Herztätigkeit (Pulsbeschleuni¬
gung, geringe Verbreiterung nach rechts,
systolisches Geräusch) beobachtet. Mit
*) Einen weiteren Spiethoff nach 0,5 bei einer
äußerst unterernährten, anämischen Person.
diesen Befunden stimmen die Alt sehen
Bemerkungen über die nicht ungiftige
saure Lösung des Medikamentes überein.
Auch Bonhöffer referierte in der Schle¬
sischen Gesellschaft für vaterländische
Kultur am 29. Juli 1910 über zwei unan¬
genehme Zufälle. Nach einer Injektion der
neutralen Suspension traten bei einem
Kranken mit frischer, lOMonate bestehender
spinaler Syphilis, der zurzeit der Einspritz¬
ung nur noch eine Parese der Beine hatte,
während eine früher bestehende totale Blasen
lähmung geschwunden war und die spontane
Urinentleerung gut vor sich ging, zunächst
starke, drei Tage dauernde Schmerzen auf,
dazu eine vollkommene Blasenlähmung und
eine Verstärkung der Lähmungserscheinun¬
gen an den Beinen. Ferner stellte sich
bei einem Paralytiker zwei Stunden nach
der Injektion unter hohem Fieber (39,4°)
ein schwerer epileptischer Anfall mit resi-
duärer linksseitiger Hemianopsie usw. ein;
Bonhöffer läßt hier die Frage offen, ob
es sich um einen einfachen paralytischen An¬
fall oder um eine Embolie handelt. Hauck
sah noch 0,3 nach Altschem Verfahren
applicirter Dosis stundenlange Somnolenz
und starke Störungen der Herztätigkeit. Von
anderer Seite werden stürmische Allgemein¬
infektionen bei bereits bestehenden bakte-
ridschen Infektionen mitgeteilt. Loeb und
Glück sahen je einen Abort nach der In¬
jektion, während sonst im allgemeinen Gra¬
vide die Behandlung gut zu vertragen
scheinen. Drei Peronäusparesen, von denen
Wechselmann berichtet, sind wohl auf
direkte Schädigung des Ischiadikus durch
die intraglutäale Injektion und das kon¬
sekutive Infiltrat zurückzuffchren, obgleich
meines Wissens etwas derartiges bei den
ebenso angewandten, unlöslichen Hg-Salzen
bisher nicht beobachtet wurde. (Extensoren¬
lähmung bei Asintoxikation?)
Schließlich berichteten Bohac und So-
botka über folgende in drei (von 14) be¬
handelten Fällen beobachtete Symptome:
Harnverhaltung, in einem Falle von langer
Dauer, Fehlen der Patellarreflexe und einer
ganzen Reihe der gewöhnlich geprüften
Reflexe, ausgesprochene Mastdarmtenesmen.
Die Verfasser glauben, daß das beschriebene
recht ernst zu nehmende Krankheitsbild
Berührungspunkte mit Symptomen der
Atoxylvergiftung aufweist. Zu diesen Fällen
hat alsbald Ehrlich selbst Stellung ge¬
nommen; unter Hinweis auf die zahlreichen
Injektionen, in denen ein ähnlicher Sym-
ptomenkomplex nie beobachtet wurde,
glaubt er, daß die beobachteten Störungen
nicht mit dem Präparat 606 zusammen-
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416
Die Therapie der Gegenwart 1910.
September
hängen, vielmehr dürfte es sich um Fehler¬
quellen bei der Herstellung oder um Methyl¬
alkoholvergiftungssymptome handeln. Die
Deutung der Fälle ist demnach nicht klar.
Sie mahnen aber in bezug auf die Be¬
nutzung der metylalkoholgelösten Substanz
zur Vorsicht, auch Alt verwirft diesen
Modus der Solution. Immerhin kann man
die Anschauung der Autoren, daß das
Mittel auf das Zentralnervensystem, beson¬
ders aufs Rückenmark, gelegentlich schädi¬
gend wirkt, nach diesen und einigen an¬
deren Beobachtungen (vergleiche den Bon-
höfferschen Fall und einen Fall von Harn¬
verhaltung bei Herxheimer) nicht apriori
von der Hand weisen. Diese Beobachtun¬
gen scheinen deshalb wichtig, weil bekannt¬
lich auch das syphilitische Virus eines der
schwersten Infektionsnervengifte darstellt,
ein Umstand, dem ja die Syphilis ihre
düstere Prognose hauptsächlich verdankt.
Und es ist vielleicht nicht ganz unberech¬
tigt, die Frage zur Diskussion zu stellen,
ob nicht nach der Richtung der Tabes und
Paralyse die Inkorporierung eines so wirk¬
samen und zweifellos auch Beziehungen
zum Nervensystem aufweisenden Arsenprä¬
parates in einem syphilitischen Organismus
prädisponierend wirken kann. Wird doch
auch dem Quecksilber von mancher Seite,
wie ich allerdings glaube, bisher ohne strin¬
genten Beweis, dieser Vorwurf gemacht.
Symptome einer leichten Arsenvergiftung
sah auch W. Pick in einer Reihe von
Fällen und wenn sie ihm auch nicht be¬
drohlich schienen, so rät er doch zur Vor¬
sicht bei der Anwendung höherer Dosen.
In einer Reihe von Fällen wurden Arznei¬
exantheme beobachtet. Bei der Untersuchung
des Blutbildes zeigt sich fast regelmäßig
eine beträchtliche Leukozythose.
Uebereinstimmend wird angegeben, daß
bisher Störungen des Sehnerven in keinem
Falle beobachtet wurden.
Gegenüber diesen ernsten Nebenerschei¬
nungen treten die anscheinend unter Um¬
ständen doch recht intensiven schmerz¬
haften Infiltratbildungen und subjektiven Be¬
schwerden durchaus zurück. Ein klares Ur¬
teil über die beste Applikationsmethode läßt
sich zurzeit deshalb noch nicht geben, weil
in den vorliegenden Berichten die diesbezüg¬
lichen Angaben noch zuwidersprechend sind.
Naturgemäß beschäftigen sich alle Be¬
obachter auch mit der Einwirkung der
neuen Therapie auf die Wassermannsche
Reaktion; ihr Schwinden bei Paralytikern
war ja für Alt ein Hauptanhaltspunkt, das
Präparat als Antisyphilitikum der Prüfung
zu empfehlen. Vorweg möchte ich »be- |
merken, daß anscheinend immer noch eine
ganze Reihe von Autoren dieser Reaktion
als Kriterium für eine erfolgreiche Therapie
eine übertriebene Schätzung einräumt. Ein
negativer Wassermann ist durchaus nicht,
wie z. B. Iversen annimmt, ein sicherer
Beweis, daß eine Heilwirkung erzielt wurde.
Dies ist schon hundertfältig bewiesen und
ein Verhalten der Reaktion, wie sie Hoff¬
mann bei seinem dritten Fall (Med. Klinik
Nr. 33, S. 1292) beschreibt, ist wieder ein
eklatantes Beispiel für diese unsere An¬
schauung. Nun gar aus dem Negativwerden
oder -bleiben der Reaktion in der Primär¬
periode und dem vorläufigen Ausbleiben
eines Exanthems auf die Wahrscheinlich¬
keit einer definitiven Heilung zu schließen,
erscheint völlig unstatthaft; auch unter früh
ein geleiteten Hg-Kuren schwindet oft die
Reaktion, ohne daß dadurch auch nur die
geringste Gewähr für eine Sanatio com-
pleta geboten wäre. Während man nun
nach den ersten Berichten annehmen konnte,
daß die Mehrzahl der Fälle nach Ablaut
einer gewissen Zeit negativ reagieren wür¬
den, ist dies durch spätere Untersuchungen
wieder außerordentlich in Frage gestellt.
Ziehen wir das Resümee aus den vor¬
liegenden Befunden, so kann man zur¬
zeit nur sagen, daß es Ehrlich gelungen
ist, in seinem Präparat 606 ein Mittel zu
schaffen, dem eine außerordentlich inten¬
sive Wirkung auf viele luetische Prozesse
innewohnt. Eine definitive Heilung im
Sinne einer Therapia magna sterilisans ist
— das beweisen die Rezidive — nicht er¬
reicht. Darin liegt aber auch gar nicht
der Kernpunkt seiner Bedeutung, vielmehr
handelt es sich darum, ob wir in ihm ein
dem Quecksilber und dem Jod klinisch
überlegenes und zugleich ungiftigeres Me¬
dikament sehen können.
Im allgemeinen kann man sagen, daß
das Mittel in seiner Wirksamkeit im Durch¬
schnitt mit dem stärksten Hg-Präparat, dem
Kalomel, in Analogie zu setzen ist. Hier¬
auf weisen auch die Herxheim ersehen
Parallelversuche mit Kalomel und Hata hin,
mit dem Ergebnis, daß etwa 2 Kalomel-
injektionen einer Hataspritze entsprechen.
Des Weiteren ergibt sich in Bezug auf
diesen Punkt allem Anschein nach, daß
vereinzelte Fälle, die nicht auf Kalomel
reagieren dem neuen Präparat zugänglich
sind. Andererseits hat es schon jetzt fast den
Anschein, als wenn die Nervensyphilis, für
die gerade das Kalomel ein vorzügliches
Mittel darstellt, von dem Ehrlichschen
Mittel gelegentlich in günstigen, wohl auch
dem Kalomel zugänglichen Fällen, gut be-
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September
Die Therapie der Gegenwart 1910.
417
einflußt wird, während auf die Mehrzahl
der Fälle keine oder eine ungünstige Wir¬
kung auftritt. Außerdem entsteht aber auch
der Eindruck, daß häufig bei papulösen
Frühsyphiliden das Kalomel dem Hata über¬
legen ist. Man würde also mit 2—3 Kalomel-
spritzen im allgemeinen ähnliches, gelegent¬
lich besseres und seltener schlechteres er¬
reichen. Wobei noch zu bemerken ist, daß
das in kleinen Dosen verwandte Kalomel,
wenn auch sicher different, doch nach den
bisherigen Mitteilungen für das Nerven¬
system ungleich unschädlicher ist. Ueber-
dies würde es keinem Syphidologen ein¬
fallen jeden regulären auf Hg normal
reagierenden Luesfall mit Kalomel zu be¬
handeln. Von diesem Gesichtspunkt aus
werden wir bei dem zeitigen Stand der
Erfahrung das Ehrlichsche Präparat für
solche seltenen Fälle der Lues reservieren,
bei denen jede Hg- und Jodtherapie er¬
folglos bleibt.
Erst eine über Jahre fortgesetzte kritische
Prüfung kann seinen Wert sicherstellen.
Es wird sich fragen, ob sich zur Erzielung
noch besserer Erfolge eine mehr der
Syphilistherapie angepaßte, kurenmäßige
Darreichung des Präparates erreichen
und ob eine weitere Entgiftung sich er¬
möglichen läßt. Schon jetzt macht sich
eine Neigung der Autoren geltend, die
Dosierung erheblich zu steigern, hierdurch
und durch die wiederholte Anwendung er¬
gibt sich die Möglichkeit von Gefahren,
die uns die größte Vorsicht zur Pflicht
machen. — Das alte nil nocere muß auch
hier der erste Grundsatz unseres ärztlichen
Handelns sein.
Bücherbesprechungen.
Otto Veraguth. Neurasthenie. Eine
Skizze. tferlm 1910, J. Springer.
Der den Lesern der Zeitschrift (vergl.
Jahrgang 1905) schon bekannte Nerven¬
arzt versucht in diesem 150 Seiten starken
Aufsatz die wesentlichsten Punkte im Bilde
der Neurasthenie darzustellen und insbe¬
sondere der psycho-pathologischen Frage¬
stellung neue Anregungen zu geben. Ver¬
fasser faßt die Erscheinungen dieser Krank¬
heit als pathologische Korrelate von Ge¬
schehnissen der normalen Physiologie des
Neurones auf. Ausgehend von den Gold¬
scheid ersehen Untersuchungen (die Be¬
deutung der Reize für Pathologie und
Therapie im Lichte der Neuronenlehre
1898) führt der Verfasser in die von
Goldscheider schon betonte Variabilität
des Neurongesamtzustandes nach dem
Vorgänge von Mott, Tschermak, die
drei Einzelkomponenten des Neuro- oder
Psychotonus ein, Unterschwelligkeit oder
Hypotonus, das Optimum und den Hyper¬
tonus, die Ueberschwelligkeit. Der Begriff
Asthenie wird in Tonusstörung übergeführt;
gestört sind Aufnahme-, Leitungs-, Denk-
und Ausstrahl fähigkeit (pouvoir emissiv)
der Neurone. Wichtig sind die Gemüts¬
bewegungen für die Entstehung der Krank¬
heit: Erinnerungen, Vorstellungen, gefühls¬
betonte Komplexe (Bleuler), insbesondere
in Zeiten physiologischer Krisen oder bei
katastrophalen Erlebnissen, ferner die
Dauertraumen; Liebe, Ehe, schlecht ge¬
ratene Kinder, Macht-, Geld-Gier, Ehrgeiz.
Auch auf die affektiven „Zacken* des
Unterbewußtseins, welche in unsere Vor¬
stellungen hineinragen und das seelische
Gleichgewicht bedrohen, legt Verfasser
mit Dubois großen Wert, lehnt aber die
Uebertreibungen der Freud sehen Schule
ab. Der Neurastheniker kann allein unter
unserer Führung lernen, diese krank¬
machenden unterbewußten Komplexe selbst
auszugraben und zu beseitigen; der Hyste¬
riker formiert sie sich selbst („Alethie*),
vermag sie aber nicht auf logischem Wege
oder selbständig zu entfernen. Strukturelle,
ererbte Dauereigentümlichkeiten derNerven-
elemente gibt auch Verfasser zu, will sie
aber bedeutend eingeschränkt wissen auf
Keimvergiftung durch Alkohol und Lues.
(Hier wäre wohl auch der geistvollen,
nur etwas verschnörkelten Theorie eines
Ooutsiders, des Müncheners Georg Hirth
und seiner „eiblichen Entlastung* zu ge-
gedenken. Ref.)
Ais ursächliche Momente erörtert Ver¬
fasser weiterhin abnorme Gefäßverhältnisse,
Stoffwechselgifte. In einer relativen Wehr¬
losigkeit gegen schädigende Reize sieht
Verfasser das Charakteristikum der Neur¬
asthenie.
In dem Abschnitt II werden die sub I
neu gewonnenen Erkenntnisse auf die
Differentialdiagnose der Neurasthenie an¬
gewandt. Unter anderem betont Verfasser
die Umkehrung der Leistungskurve während
des Tages als deutlichstes Stigma der
Neurasthenie. Der Abschnitt III enthält
die Therapie, auch diese in pointillierender
und lasirender Form; zuweilen von des
Gedankens Blässe allzusehr angekränkelt.
Es gehört schon ein eigener fester Stand¬
punkt dazu, um in diesem „Mare nervosum“
das Steuer nicht zu verlieren. Im übrigen
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418
Die Therapie der Gegenwart 1910.
September
klinisch sehr interessanter Beobachtungen
anderer Art Hans Hirschfeld (Berlin),
v. Hansemann, Atlas der bösartigen
Geschwülste. 53 Seiten Text und 140
bunte lithographierte Abbildungen. Berlin
1910, Hirschwald. 9 M.
Trotz der Arbeiten der Institute für
Krebsforschung ist die einzige aussichts¬
reiche Behandlung der bösartigen Ge¬
schwülste immer noch die Operation. Aber
nur die frühzeitige. Dazu gehört eine frühe
Diagnose. Das erfordert wieder, daß der
behandelnde Arzt eine histologische Unter¬
suchung in zweifelhaften Fällen vornehmen
kann. Um ihm die Deutung des mikro¬
skopischen Bildes zu erleichtern, wurde
der vorliegende Atlas im Aufträge des
deutschen Zentralkomitees für Krebs¬
forschung herausgegeben. Er gibt keine
Raritäten, sondern nur typische Fälle
heiten schon so viel gearbeitet worden ist, wieder, auch nur Präparate, die mit ein¬
harren noch viele Fragen der Aufklärung, fachen Methoden behandelt sind. Die Aus-
Der interessante Beitrag, den Bennecke wähl der durchweg vorzüglichen Abbildun-
hierzu liefert, kommt zu bemerkenswerten gen ist sehr glücklich getroffen. Die Wie-
Ergebnissen. Nach seinen Feststellungen dergabe der Präparate ist möglichst natur¬
verläuft die unkomplizierte Diphtherie ohne getreu ohne Schematisieren. Der Atlas ist
oder nur mit geringer Hyperleukozytose, ein ausgezeichnetes Hilfsmittel für die
erst wenn eine Mischinfektion, wie in den mikroskopische Diagnose der einschlägigen
meisten Fällen, hinzutritt, kommt es zu er- Fälle und kann jedem Praktiker und Stu-
heblichen Vermehrungen der Leukozyten, dierenden, die sich für das Thema inter-
Das wechselnde Verhalten derselben bei essieren, nur warm empfohlen werden. Der
Diphtherie war schon öfter aufgefallen, Preis ist für das Gebotene klein,
doch fehlten bisher kontrollierende bak- Zur Fixierung der Präparate, soweit sie
teriologische Untersuchungen, wie sie Ben- nicht frisch untersucht werden, empfiehlt
necke ausgeführt hat. Er behauptet nun, Hansemann Alkohol, der auch durch de-
daß auch bei der unkomplizierten Skarla- naturierten Spiritus ersetzt werden kann,
tinakeine Hyperleukozytose besteht, sondern oder konzentrierte Sublimatlösung, warnt
erst dadurch zustande kommt, daß eine aber vor Formalin. Die beste Einbettungs-
Sekundärinfektion (meist mit Streptokokken) methode ist die in Paraffin; Zelloidin ist
hinzutritt, die nun gerade bei dieser In- gut, dauert aber zu lange; Gefrierschnitte
fektion niemals ausbleibt. Hauptsächlich sind sehr häufig unzulänglich. Die Probe¬
sind es Analogieschlüsse, besonders auf exzision soll der Peripherie der Geschwulst
Grund der Vorgänge bei der Variola, die entnommen werden. Zur Färbung emp-
Bennecke zu seiner Hypothese führen, pfiehlt sich Hämatoxylin-Eosin, zur Auf-
Die Untersuchungen des Verfassers, die hellung Origanonöl. Die Technik zur Her-
also zum Teil zu Resultaten geführt haben, Stellung der Präparate ist eingehend und
die von bisher geltenden Anschauungen mit besonderer Betonung der für den Prak-
abweichen, verdienen jedenfalls nachgeprüft tiker in Betracht kommenden Methoden
zu werden. Die Arbeit enthält auch eine Reihe dargestellt. Klink.
Referate.
Hannes (aus der Küstnersehen Klinik Sicherheit erkennen, ob das Badewasser,
in Breslau) hat interessante Versuche an- das ja zweifellos eine Bakterienaufschwem-
gestellt, um die Frage zu lösen, ob das mung darstellt, bis zum Scheidengewölbe
Bad als eine Infektionsquelle zu be- vordringt. Die Versuche Hannes’ an
trachten ist. Bisherige Beobachtungen an Schwangeren — dem Bade waren Prodi-
Schwangeren, teils auf einer chemischen giosuskulturen zugesetzt — ergaben bei
Farbreaktion beruhend, teils auf einer bak- Entnahme tief aus der Scheide sämtlich ein
teriologischen Methode, ließen nicht mit negatives Resultat. Die Entnahme wurde
glaubt Referent — und auf ein „Credo 11
kommt es in dieser Krankheit allenthalben
und in letztem Grunde an —, daß die
Wahrscheinlichkeit der Lösung von Ur¬
sprung und Quell der Neurasthenie nicht
in psychologischen, noch so fein und tief
verankerten Vorgängen gegeben ist, son¬
dern in der biochemischen Aufklärung
der Nervenerregung. Hier scheinen dem
Referenten die Forschungen über die
Lipoide von H. Meyer-Overton, Ver-
worn-Bürker (Münch, med. Wochenschr.
1910, Nr. 27) Erfolg zu versprechen.
B. Laquer (Wiesbaden).
H. Bennecke (Jena): Die Leukozytose
bei Scharlach und anderen Misch¬
infektionen. Jena, Gustav Fischer,
1909. 80 Seiten.
Obwohl auf dem Gebiete der Leuko¬
zytenveränderungen bei Infektionskrank-
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September
Die Therapie der Gegenwart 1910.
419
in subtiler Weise mit dem Men gesehen
Scheidenlöffel vorgenommen. Trotzdem
liegt natürlich die Möglichkeit des Eindrin¬
gens von Keimen vor und wenn diese Mög¬
lichkeit besteht, ist die Frage zu erörtern,
ob nicht das Reinigungsbad der Kreißenden
völlig zu verwerfen sei. Hannes hat, da
die Verhältnisse bei Schwangeren anders
liegen als bei Kreißenden, auch bei letz¬
teren Versuche mit Prodigiosuskulturen an¬
gestellt; selbstverständlich mußte die Blase
noch stehen (nach dem Blasensprunge wer¬
den Oberhaupt keine Bäder verabreicht),
der Muttermund war drei- bis fünfmark¬
stackgroß und der Kopf durfte nicht fest
in das Becken gepreßt sein — es kamen
also nur Mehrgebärende in Frage, bei
denen natQrlich auf guten Schluß der Vulva
und hohen Damm Wert gelegt wurde.
Durch Hannes’ Versuche muß es nun als
erwiesen gelten, daß in der Eröffnungs¬
periode Badewasser und die in ihm ent¬
haltenen Mikroben in höher gelegene Ab¬
schnitte der Vagina eindringen können.
Ob nun diese Gefahr praktisch von großem
Wert ist, hängt von der Beschaffenheit der
betreffenden Gebäranstalt ab; Untersuchung
der Kreißenden auf Hautafiektionen, gründ¬
liche Reinigung der möglichst zahlreich
vorhandenen Wannen sind von Bedeutung.
Gerade die Hände der Kreißenden sind
Träger septischen Schmutzes und man
lasse die Kreißende sich nicht selbst im
Badewasser ab waschen. Nach Hannes ist
es am zweckmäßigsten, das Reinigungsbad
aufzugeben und an seine Stelle das Ab¬
waschen unter der Dusche oder auf einer
Pritsche mit fließendem Wasser zu setzen.
Das Wartepersonal sollte dabei Gummi¬
handschuhe tragen. P. Meyer.
(Ztschr. f. Geb. u. Gyn. Bd. 66.)
Schon lange suchte man nach einer
Methode, bei großen Beckenoperationen
unter künstlicher Blutleere operieren zu
können. Einen gangbaren Weg scheint
hier die Momburgsche Methode zu zeigen.
Sie beruht darauf, zwischen Rippenbogen
und Darmbeinkamm einen dicken Gummi¬
schlauch 2—4mal um den Leib zu wickeln,
bis der Puls in der A. femoralis verschwin¬
det. Man sucht mit dem Schlauch die
Aorta zu komprimieren. Um eine absolute
Blutleere am Becken zu erzielen, sollen die
Beine von den Zehen her elastisch ein¬
gewickelt werden, bis sie blutleer sind.
Nach Umlegung des Schlauches um den
Leib werden dann die Binden um die Beine
gelöst und die Beine tief, der Kopf hoch¬
gelagert. Dadurch fließt das Blut aus dem
Becken in die blutleeren Beine, dessen
Rückfluß durch abschnürende Binden an
beiden Oberschenkeln verhindert wird. Um
bei Abnahme des Schlauches vom Leib
durch plötzliche Einschaltung der ganzen
unteren Körperhälfte in den Kreislauf eine
Schädigung des Herzens zu vermeiden, soll
man an Oberschenkel und Unterschenkel
vorher eine abschnürende Binde anlegen
und durch deren Lösung die Beine wieder
allmählich einschalten. Man kann so eine
gute Blutleere erzielen, muß allerdings
manchmal noch auf die Aorta ein Kom-
pressorium auflegen. Bisweilen werden
starke Blutdruckschwankungen dabei beob¬
achtet, dieselben können auch noch lange
nach der Abnahme des Schlauches auf-
treten und gefährlich sein. Der Schlauch
hebt, wie Leichenversuche gezeigt haben,
die Blutzirkulation in den Beinen und im
ganzen Darmkanal auf. Bei Arteriosklerose,
Herzfehler und schwachem Herzen ist die
Methode zu widerraten. Auch eine Blasen-
und Mastdarmlähmung wurde danach be¬
obachtet, vermutlich als Folge einer Isch¬
ämie des Conus terminalis des Rücken¬
marks. Einmal lag der Schlauch 2 Stunden
20 Minuten ohne Schaden. In einem Falle
Hofmeisters führte der Schlauch Darm¬
gangrän durch Druck mit nachfolgender
tötlicher Peritonitis herbei. Auch Am¬
berger hat einen Fall angeführt, wo die
Momburgsche Methode zum Tode führte,
wie er annimmt infolge von Stauungs¬
erscheinungen in den Brustorganen. Die
Kranke Hofmeisters war sehr mager und
elend. Die Momburgsche Methode darf
nur bei ganz Herzgesunden und nicht zu
elenden Kranken angewandt werden, nicht
bei alten Leuten und Arteriosklerose. Bei
zu fettreichen Leuten, bei denen trotz kräf¬
tiger Abschnürung kein Verschwinden des
Femoralispulses zu erreichen ist, ist die
Abschnürung der unteren Körperhälfte
nicht anwendbar, da die Gefahr der Ver¬
blutung in die unvollkommen abgeschnürte
Körperhälfte besteht Bei sehr mageren
Personen und bei Darmerkrankungen (ulze-
rative, chronisch entzündliche Prozesse
usw.) ist die Methode auch verboten wegen
der Gefahr schwerer Darmschädigung durch
Druckwirkung des Schlauches. Nach den
bisherigen Erfahrungen ist die Methode
auf die Fälle zu beschränken, wo eine un¬
vermeidliche Operation ohne Blutleere zu
gefährlich oder unmöglich ist. Klink.
(v. Bruns Beitr. z. klin. Chir. 1910, Bd. 68, Nr. 2.)
Aus der Abteilung von Braun (Zwickau)
wird die Blunksche Blutgefäßklemme
warm empfohlen. Jedes Instrument, das
eine dauernde und zuverlässige Blutstillung
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420
Die Therapie der Gegenwart 1910.
September
ohne Unterbindung erlaubt, verdient wei¬
teste Anwendung; und hier scheint es sich
um ein solches zu handeln. Das Instru¬
ment gleicht einer stark gebogenenCooper¬
sehen Schere, deren sehr kurze Branchen
stumpf und auf der Innenseite stumpf ge¬
zahnt sind; sie wird in drei verschiedenen
Größen für kleine, mittlere und große Ge¬
fäße und in einer kürzeren und längeren
Form gefertigt. Jede ist für 7,50 M. von
Rudolf Blunk (Hamburg) zu beziehen.
Auch bei recht starken Arterien ist nach
der Durchtrennung ein spontaner Ver¬
schluß möglich, ja die Regel, wenn die
Durchtrennung nicht durch einen scharfen
Schnitt, sondern durch eine Quetschung
oder Zerreißung erfolgt, da dann die Rän¬
der der Gefäßwunde sich einrollen und
das durch Kontraktion verengte Lumen
schließen. Die Klemme bewirkt einen Ge¬
fäßverschluß nicht durch starken Druck,
sondern durch Aufrollen der inneren Ge¬
fäßhäute in das Gefäßlumen, ist also ein
im Prinzip ganz anderes Instrument als die
Angiotriptoren. Die Adventitia wird fest
aufeinander gepreßt; die Intima und Mus¬
kularis wird durchquetscht und distal und
proximal zu zwei Pfröpfen aufgerollt, die
das Lumen verschließen; die Trennung der
Schichten erfolgt zwischen Adventitia und
Media. Die Blutstillung erfolgte an den
Arterien immer sicher, einmal sogar an
der Aorta femoralis, an den größeren Venen
weniger sicher. Die Klemme wird ge¬
schlossen und sofort wieder langsam ab¬
genommen. So wurde eine Kleinhirnope¬
ration ohne Unterbindung und ohne Blut¬
verlust ausgeführt. Besonders an den Ge¬
fäßen der Pia, wo sich Unterbindungen
meist nicht anlegen lassen, hat sich die
Klemme sehr bewährt. Auch die venöse
Blutung bei Tracheotomie läßt sich schnell
stillen. Eine große Thorakoplastik erfor¬
derte nur drei Umstechungen, Blutungen
der Magenwand lassen sich schnell stillen,
bei Nierenoperationen bewährte sich die
Klemme sehr; bei Blutungen aus den
Schwellkörpern versagte sie. Die Klemme
kann an isolierten Gefäßen und an kleinen,
gefäßhaltigen Gewebsbündeln angelegt wer¬
den. Atheromatöse und verkalkte Gefäße
schließen die Verwendung der Klemme aus.
Klink.
(v. Bruns Beitr. z. kl. Chir. Bd. 68, H. 3.)
Zur Frage der Darmblutung bei Peri¬
typhlitis bringt C. A. Ewald einen bereits
früner von ihm mitgeteilten Fall in Erinne¬
rung, wo bei einem gelegentlich an Magen¬
beschwerden leidenden Mann plötzlich eine
nur im Anfang Fieber machende, diffuse
Peritonitis mit Blutbrechen und schwarzen
Stuhlgängen einsetzte. Unter der Diagnose
„perforiertes Magen- oder Duodenal¬
geschwür“ ging Patient am sechsten Tage
seiner Erkrankung zugrunde. Bei der
Sektion fand sich ein perforierter, gan¬
gränöser Wurmfortsatz, aber nirgends in
der Darmwand eine zur Erklärung der
schweren Blutung hinreichende Läsion; es
möchte sich wohl doch um thrombotische
Vorgänge im Gefäßgebiet des Darmes ge¬
handelt haben. Meidner (Berlin).
(Med. Klinik 1910, Nr. 30.)
Eine neue Methode des operativen
Darm Verschlusses wird von Klapps
empfohlen. Der zu verschließende Darm
wird am zweckmäßigsten mit einer Quetsch¬
zange gequetscht und mit schmaler Darm¬
klemme gefaßt; sodann wird der Darm
knapp an der Klemme mit dem Thermo¬
kauter durchtrennt und nun die Klemme
solange um ihre eigene Achse gedreht, bis
die Serosafläche der Drehrolle auf der
Serosa des zuführenden Darmschenkels
liegt. Jetzt folgt Sersoanaht, die Klemme
wird auseinander genommen, herausge¬
zogen und auch diese Stelle noch durch
Naht verschlossen. Die Schleimhaut zieht
sich bei Beginn der Drehung vollständig
zurück. Die Serosanaht läßt sich, da der
Darm an der Klemme gut zu halten ist,
bequem anlegen. Ein nach dieser Methode
verschlossener Darm hält viel größeren
Innendruck aus als der durch Lembert-
sche Naht geschlossene, denn der Druck
kann nicht auf die Nahtstelle selbst wirken,
sondern richtet sich gegen die intakte
Wand des gedrehten Darmstückes; bei Luft-
und Wasserfüllung des Darms platzte der
Darm bei gesteigertem Druck nie an der
Nahtstelle, ln Anwendung kommen dürfte
das Verfahren nach Klapps Ansicht vor
allem beim Schluß des Duodenalstumpfes
bei der Magenresektion nach Billroth II,
hier ist es auch schon praktisch erprobt;
ferner ist es schon angewendet bei Dick¬
darmresektionen und Appendixoperationen.
Hohmeier (Altona).
(D. Z. f. Chir., Bd. 105, H. 5 u. 6.)
Ueber die Behandlung der hämorrha¬
gischen Diathesen verbreitet sich Arns-
p er ge r in einem klinischen Vortrage. Diese
Affektionen sind bis zu einem gewissen
Grade durch die Neigung der betroffenen
Patienten zu Blutungen charakterisiert. Man
kann angeborene oder ererbte — die Hämo¬
philien im engeren Sinne — und erwor¬
bene Formen unterscheiden: Skorbut, Bar-
lowsche Krankheit, Purpura simplex und
haemorrhagica, bzw. Morbus maculosus
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September
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Die Therapie der Gegenwart 1910
Werlhofi, Pcliosis rheuraatica. Die sympto¬
matische, hämorrhagische Diathese schwerer
Infektions- und Blutkrankheiten, einiger Ver¬
giftungen und kachektischer Krebsträger ent¬
behrt des Charakters selbstständiger Krank¬
heitsbilder.
Die exquisit erbliche Hämophilie ist
wahrscheinlich durch Fehlen eines für die
Blutgerinnung nötigen Stoffes hervor¬
gerufen; die skorbutische Gruppe, die sich
durch endemisches oder gar epidemisches
Vorkommen auszeichnet, hat ihren Grund
in Ernährungsanoroalien; die Purpuraerkran¬
kungen mit ihrem sporadischen Auftreten
sind durch Infektion oder Intoxikation ver¬
ursacht.
Die Bekämpfung der Hämophilie erfor¬
dert zunächst rassenhygienische und indi¬
viduelle Prophylaxe. Diese besteht in Ver¬
meidung jeder, auch einer operativen, Ver¬
letzung, nicht aber auch der gefahrlosen
Impfung, reizloser, dabei ausgiebiger Kost
und diätetischer Regelung des Stuhlganges,
jene im Heiratsverbot an die meist selbst
frei bleibenden Mädchen aus Bluterfamilien,
die für die Uebertragung auf die Nach¬
kommenschaft weit mehr in Betracht kom¬
men als sogar selbst erkrankte, männliche
Individuen; vollends kann gesunden Män¬
nern mit hämophiler Belastung die Ehe
unbedenklich gestattet werden. Die Be¬
handlung der Bluterkrankheit besteht in der
Zufuhr gerinnungsbeschleunigender Stoffe:
Milch, Vegetabilien oder pure Kalksalze,
die vermutlich die Bildung des Thrombins
aus dem Prothrombin begünstigen (Calc.
chlorat.sicc. bis4,0, Calc.lact. bis 6,0täglich);
leichtere Salina; Menschen- und Tierserum
(bis 40 ccm monatlich einmal; cave Serum¬
krankheit!); Gelatine (30,0 per os, 15,0 per
clysma täglich), die außer durch ihren Kalk¬
gehalt auch noch als artfremde, eiweißartige
Substanz serumähnlich wirken könnte. Die
mit einem dieser Mittel erzielte Herab¬
setzung der Gerinnungszeit bleibt nach Ab¬
bruch der Medikation bestenfalls drei bis
vier Wochen bestehen; unter Umständen
kann das genügen und sogar von Wichtig¬
keit sein, etwa zur Vorbereitung auf unum¬
gängliche Eingriffe. Blutungen von Blutern
erfordern rasche Anwendung energischer
Styptika, vor allem auch lokal, daneben
subkutane Verabreichung körperwarmer,
steriler Gelatine (M e r c k, 10%, 40,0). Bluter¬
gelenke und ihre Folgezustände sind nach
allgemein-, aber nicht operativ-chirurgischen
Grundsätzen zu behandeln.
Skorbut und Barlowsche Krankheit,
die als infantiler Skorbut aufzufassen ist,
sind durch vernünftige Ernährung zu ver¬
hüten, durch ihren Wechsel zu heilen, be¬
sonders die letztere durch Uebergang zu
Muttermilch oder ungekochter Kuhmilch
unter Beigabe frischer Früchte oder Frucht¬
säfte. ln der diätetischen Behandlung des
Skorbut spielen frische Gemüse und be¬
sonders Zitronensaft die vorzüglichsteRolle.
Haut- und Zahnfleischpflege, diese ge¬
gebenenfalls unter Anwendung von Ad¬
stringenden, dürfen nicht vernachlässigt
werden. Medikamentös kommen Gerbstoffe
und Bittermittel, sowie die an pflanzen¬
sauren Alkalien reiche Herba Cochleariae
(50,0:300,0 3mal täglich V 2 Weinglas) in
| Betracht; reine pflanzensaure Alkalien sind
hingegen nutzlos. Blutungen sind, wie
unter Hämophilie dargelegt, zu bekämpfen.
Die Purpuraerkrankungen unterhalten
ihrer großen Mehrzahl nach offenbar enge
Beziehungen zum akuten Gelenkrheumatis¬
mus. Ihre Neigung zu Blutungen aller Art
macht deren Vermeidung zur ernsten Pflicht.
Geistig und körperlich niemals in Anspruch
genommen, völlig reizlos ernährt, muß der
Kranke, streng ans Bett gefesselt, dem Ver¬
schwinden auf der kleinsten Blutung ent¬
gegenharren. Gegen Blutungen geht man,
wie oben angegeben, nur bei ganz schweren
mit Adrenalin (0,5—1,0 der 1°/oo Lösung
subkutan) vor, gegen innere noch je nach
ihrem Sitz. Bestehende Hautblutungen be¬
dürfen bloß schützender Verbände oder
Polster. Gegen die Krankheit selbst wirken
reichliche Gaben von Zitronensaft (trotz
seiner die Gerinnung verlangsamenden
Eigenschaften!) und Salizyl in allen Formen.
Gegen hartnäckige Rezidive bedient man
sich daneben mit Vorteil des Arsens und
Eisens. Meißner (Berlin).
(Deutsche med. Wschr. 1910, Nr. 24.)
Höftmann empfiehlt auf Grund sehr
günstiger Erfahrungen die Unnaschen
Zinkleimverbände zur Behandlung der
Fußgeschw&re. Der Patient muß zunächst
einige Tage im Bett bleiben bis zur Ab¬
schwellung des Beines und bis zur Reini¬
gung der Geschwüre. Auf die Wunde
kommt ein Stück Brandbinde zu liegen,
dann wird der Zinkleim aufgetragen, mit
kleinen Wattepartikelchen bedeckt, eine
Stärkebinde und schließlich eine Mullbinde
darüber gewickelt Auf die Varizen kommen
dicke Wattetampons zu liegen, die ähnlich
einer Venenklappe wirken sollen. Mit der
Trend elenburgschen Operation hatHöft-
mann (1. c.) in 69°/o der Fälle Heilung er¬
zielt. Bei der Nachuntersuchung hat er
den Eindruck bekommen, daß Rezidive der
Varizen sich besonders stark an der Stelle
der Exzision der Venen ausgebildet hatten.
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Die Therapie der Gegenwart 1910.
September
Für die operationslose Behandlung der
Varizen hat er einen Apparat konstruiert,
bei dem durch Pelottendruck auf die Vene
oberhalb der Kniekehle ein dem Trendelen¬
bur g sehen Phänomen analoger Ersatz der
Venenklappe geschaffen wird.
Bergemann (Königsberg i. Pr ).
(Ztschr. f. orthopäd. Chir., Bd. 25, S. 270.)
Die Perforation der Gallenblase kann
auf verschiedene Weise nach den Aus¬
führungen Härtigs zustande kommen. Eine
seltenere Form ist folgende: Gallenblase
stark mit Steinen gefüllt; mindestens ein
Stein muß vorhanden sein, der sich nicht
durch den Zystikus treiben läßt; Gries ge¬
nügt nicht. Die Kompression muß kurze
Zeit sehr stark sein oder längere Zeit
schwach wirken. Es dürfen keine Ver¬
wachsungen bestehen. Infektion, schwere
Störungen der Wand können fehlen. Die
Prognose dieser Form ist gut wegen des
Fehlens von eitrigen Prozessen. 2. Viel
häufiger sind die Perforationen bei geschä¬
digter Gallenblasenwand. Hier kann man
mehrere Grade unterscheiden: Leichte Atro¬
phie der Schleimhaut durch Druck eines
Steines; oberflächliche Ulzera der Mukosa,
die glatt ausheilen können; größere Ulze*
rationen meist durch Druckusur oder De-
kubitalnekrose, die auch mit Narben und
Schrumpfung heilen können, wobei die
Steine in die Wand einwachsen und später
durch trockene Wanderung in andere Ge¬
webe gelangen können. Tritt bei diesen
Formen eine schnelle Perforation ohne
vorherige Verklebung mit der Nachbar¬
schaft ein, so entwickelt sich eine meist
tötliche allgemeine eitrige Peritonitis. Eine
3. Art der Perforation hat folgende Vor¬
aussetzungen : Zystikusverschluß, Sekret¬
stauung als dessen Folge, Rarefizierung
der Muskulatur am Pole der Gallenblase,
eine, wenn auch geringfügige Gewaltein¬
wirkung oder Lagewechsel. Oder 4.: Zysti¬
kusverschluß; Infektion des abgeschlosse¬
nen Hohlraums; Virulenzsteigerung der
Bakterien durch die Verstopfung; Nekrose
und Perforation der Wand durch die Druck¬
steigerung. — Als seltene Form der Per¬
foration kommt hinzu die bei diabetischer
Gangrän der Gallenblase. — Von 30 ope¬
rierten Gallenblasenperforationen sind 14
t= 46,6°/o gestorben. Das entspricht nicht
den Folgerungen, die Ehrhardt aus Tier¬
versuchen gezogen bat, nämlich: Normale
sterile Galle ruft am Peritoneum keine
peritonitischen Erscheinungen hervor, da¬
gegen Ikterus durch Resorption; infizierte
Galle bewirkt eine bland verlaufende Pen-
tonitis, meist ohne Ikterus; der blande
Verlauf erklärt sich aus einer Virulenz-
abschwächenden Wirkung der Galle und
aus der Neigung Gallenperitonitiden zu
Verklebungen. Klink.
(v. Bruns Beitr. z. klin. Chir. 1910, Bd. 68, Nr. 2.)
Ueber den Einfluß von Gelatineinjek-
11onen (Gelatina sterilisata Merck, 10%.
subkutan) auf die Blutgerinnungszeit publi¬
ziert Grau eine experimentelle Studie. Aus
sämtlichen Versuchen ergab sich ihm eine
— bis 85°/o betragende — Herabsetzung,
die sich auf nicht mehr als 24 Stunden er¬
streckt und ihren Gipfel in der 10. bis
12. Stunde nach der Einverleibung erreicht.
Als Erklärung läßt er Verschiebungen der
Konzentration oder der molekularen Zu¬
sammensetzung des Blutes nicht gelten,
sondern beansprucht hierfür vielmehr die
Empfindlichkeit des Körpers gegen Ein¬
führung artfremder, eiweißartiger Sub¬
stanzen, wie denn im anaphylaktischen
Kollaps umgekehrt eine erhebliche Ver¬
längerung der Gerinnungszeit des Blutes
konstatiert sei. Meidner (Berlin).
(Deutsche med. Wschr. 1910, Nr. 27.)
Auf die von Cathelin und Sicard
gefundene und in Frankreich seit 1901
häufiger geübte Behandlung der Ischias
mit epiduralen Injektionen macht L. Bl u m
(Straßburg i. E) aufmerksam, der diese Me¬
thode auf der Moritzschen Klinik bei einer
Anzahl von Kranken angewandt hat und
ihr eine Reihe von Vorteilen gegenüber
den gebräuchlicheren perineuralen In
jektionen zuschreibt. Die epidurale Me¬
thode fußt auf der Möglichkeit, ohne Ein¬
dringen in den Duralsack auf die Nerven¬
wurzeln zu wirken und zwar durch Benutzen
des Sakralkanals. Der Duralsack reicht
beim Erwachsenen bis ans untere Ende
des 1. Sakralwirbels, beim Kinde bis zum
2. Wirbel. Der Sakralkanal ist ausgefüllt
von den ziemlich seitlich verlaufenden
Nerven wurzeln des Plexus sacralis und
pudendus, von Fettgewebe und zahlreichen
Venenplexus. Von außen her ist der Kanal
durch das Foramen sacrale inferius zugäng¬
lich, das die Form eines umgekehrten V
oder U hat, zirka 1 cm breit, 1V* — 2 cm
hoch ist und oben durch das Ende der
mittleren Leiste des Sakrum, seitlich durch
2 Höcker, die Enden der Cristae sacrales
laterales, begrenzt wird. Zum Auffinden
der Oeffnung bedient man sich folgender
Punkte: Verfolgt man durch Tasten mit dem
Finger die mittlere Sakralleiste von oben
nach unten, so fällt man plötzlich in eine
Exkavation, die der Oeffnung entspricht.
Einen noch konstanteren und deutlicheren
Anhaltspunkt gewähren die zwei Höcker,
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Die Therapie der Gegenwart 1910.
423
die die Oeffnung seitlich begrenzen. Bei
mageren Leuten sind sie deutlich durch die
Haut zu sehen und bei nicht allzu starkem
Fettpolster sind sie immer gut zu palpieren.
Am besten zii fühlen sind sie in der Knie¬
ellenbogenlage oder in Seitenlage bei starker
Beugung des Rumpfes und der unteren Ex¬
tremitäten. Zur Orientierung kann auch
das obere Ende der Glutaealfalte dienen;
im allgemeinen findet sich die Oeffnung
2 cm höher als dieses Ende. Zu beachten
ist, daß bei Seitenlage die Oeffnung nicht
genau median, sondern etwas über der
Mittellinie liegt — Zum Einstich benutzt
Blum eine gewöhnliche Rekordspritze von
10 ccm Inhalt mit einer 6—8 cm langen,
ziemlich dünnen Nadel. Bei normalen ana¬
tomischen Verhältnissen dringt die Nadel
bei dieser Länge nicht höher als bis zum
2. Sakralwirbel, wenn sie ganz eingestochen
wird Beim Erwachsenen beträgt die Ent¬
fernung des unteren Endes des Sakral¬
kanals von der Oeffnung etwa 6—7 cm
beim Manne, 6 cm bei der Frau. Bei
Kindern sind natürlich entsprechend kür¬
zere Nadeln zu wählen. Als Injektions¬
flüssigkeit wandte Blum anfangs 1 %
Kokain- oder 4% Stovainlösung, später
einfache physiologische Kochsalzlösung an;
es wurden 0,03—0,06 Kokain oder Stovain
oder 5—10 ccm der Kochsalzlösung ein¬
gespritzt. Was die Technik der Injektion
anlangt, so wird bei den in Knieellenbogen¬
oder in Seitenlage (s. oben) befindlichen
Patienten die Kanüle nach Desinfektion der
betreffenden Gegend zuerst unter einem
Winkel von 20° eingeführt, bis das Liga¬
ment durchstochen ist (was am plötzlichen
leichteren Vordringen der Kanüle zu ver¬
spüren ist), dann wird horizontal weiter
vorgegangen. Bevor die Injektion aus¬
geführt wird, überzeugt man sich, daß
eine Vene oder der Lumbalsack nicht an¬
gestochen sind; die Flüssigkeit wird dar¬
auf langsam injiziert, was ohne allzu
starkes Drücken gelingen soll. Ist man
im Sakralkanal drinnen, so geben die Pa¬
tienten abnorme Sensationen in den Beinen
(Ziehen, Schießen) an; außerdem fehlt beim
Gelingen eine Vorwölbung der Haut, wie
sie bei subkutaner Injektion eintritt. Die
Kanüle wird darauf herausgezogen und
die Stichöffnung mit Kollodium oder Heft¬
pflaster verschlossen. Im allgemeinen tut
man gut, die Kranken auf die Seite zu
legen, auf der die Ischias besteht. Nach
der Einspritzung geben die Patienten zu¬
weilen Gefühl des Druckes im Kreuz an,
vor allem bei Verwendung größerer Flüs¬
sigkeitsmengen. Die Besserung tritt nach
Blums Erfahrungen meist sehr rasch auf,
selten erst nach 24 Stunden. Bei Ischias
hören zuerst die Schmerzen im Kreuz und
im Oberschenkel auf. Oefters geben die
Kranken ein Gefühl von Eingeschlafensein,
von Kribbeln in den Beinen an. Zuweilen
werden die Schmerzen im Peroneusgebiet
anfangs nur wenig beeinflußt. In manchen
Fällen sind am Tage nach der Injektion
die Schmerzen etwas stärker, um am fol¬
genden Tage nachzulassen. In den meisten
Fällen jedoch geben die Patienten eine so¬
fortige Besserung an; es genügt zuweilen
eine Injektion, um alle Beschwerden zu be¬
seitigen. In anderen hartnäckigen Fällen
sind mehrere Injektionen nötig, die in Inter¬
vallen von 2—3Tagen vorgenommen werden.
Die epidurale Injektion beeinflußt —
und das ist ihr Hauptvorzug — außer dem
Ischiadicus noch andere Nervengebiete;
sie ist deshalb nicht allein bei Ischias,
sondern auch bei neuralgischen Schmerzen
in anderen Nerven der unteren Extremitäten
anzuwenden. Blum sah sehr günstige und
rasche Wirkung von der sakralen Injektion
bei hartnäckigen „Kreuzschmerzen“,
die der gewöhnlichen Behandlung getrotzt
hatten. Von französischen Urologen wird
die epidurale Injektion als das wirksamste
Mittel zur Behandlung der Enuresis noc-
tura empfohlen. Felix Klemperer.
(Münch, med. Woch. 1910, Nr. 32.)
Zur Frage der Organ Veränderungen
durch große, subkutane Kochsalz-Infu¬
sionen liefert Wideröe einen experimen¬
tellen Beitrag. Es ist ihm gelungen, durch
fortgesetzte Einverleibung physiologischer
Kochsalzlösung Kaninchen zu töten. Die
Menge betrug, auf den erwachsenen Men¬
schen umgerechnet, etwa 5 1 täglich. Die
Veränderungen bestanden in dilatiertem,
schlaffem Herzen mit subendokardialen und
muskulären Blutungen nebst kleinen gelben,
endokardialen Streifungen; die Herzge¬
wichte waren normal geblieben.
Meidner (Berlin).
(Berl. klin. Woch. 1910, Nr. 27.)
Zu den beobachteten Fällen von Per¬
foration von Magengeschwür waren in
wenigstens 2 /s Magenbeschwerden voraus¬
gegangen. Es können aber auch scheinbar
ganz Gesunde von der Perforation über¬
rascht werden. Finsterer (v. Hacker)
berichtet über 18 neue Fälle. Bluterbrechen
war nur in zwei Fällen vorausgegangen.
Die Symptome der Perforation sind fast
immer dieselben: Unter den verschieden¬
sten Umständen (Bettruhe, Aufstehen, bei
der Arbeit) plötzlicher sehr heftiger Schmerz
in der Oberbauchgegend, meist in der
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September
Die Therapie der Gegenwart 1910.
Magengrube oder um den Nabel, der der¬
artig heftig zu sein pflegt, daß der Kranke
ohnmächtig umfällt. Dieser Schmerz trat
in allen Fällen auf. Gleichzeitig oder un¬
mittelbar nach dem Schmerz trat in % der
Fälle sicher Erbrechen auf, also entgegen
der Behauptung Riegels und anderer, daß
das Erbrechen gewöhnlich fehle. Eines
der wichtigsten Symptome ist die Bauch¬
deckenspannung; sie ist so stark, daß man
sie an den Inscriptiones tendineae sehen
kann. Es fand sich bei %, nicht bloß in
den ersten Stunden, sondern bei schon
bestehendem Meteorismus, bisweilen bei
ausgedehnter Peritonitis. Besonders cha¬
rakteristisch ist sie, wenn sie auf die Ober¬
bauchgegend beschränkt bleibt. Sehr wichtig
ist der heftige Schmerz bei leiser Berüh¬
rung und spontan, bei Magen Perforation
meist im linken Hypochondrium, bei Duo¬
denalperforation im rechten und in der
Pylorusgegend, sich aber auch nach der
lleozökalgegend ausbreitend; dieser Schmerz
ist verschieden von der diffusen Empfind¬
lichkeit bei Peritonitis. Der Kollaps nach
dem ersten Schmerz kann einige Stunden
dauern und einer geringen Besserung
weichen. Das Verschwinden der Leber¬
dämpfung ließ sich nur 4mal feststellen.
Eine Flankendämpfung fehlt im ersten Sta¬
dium gewöhnlich. Puls und Temperatur
bieten für Magenperforation nichts Cha¬
rakteristisches. Abgang von Stuhl und
Winden ist von dem Grade der Peritonitis
abhängig. Die Diagnose ließ sich meistens
stellen;, die häufigste Verwechslung ist die
mit Appendizitis; in Betracht kommt noch
Cholelithiasis, Pancreatitis ac. haemorrha-
gica, weibliche Genitalerkrankungen; auch
Verwechslung mit Pleuritis und Pneumonie
kam vor. Nach den ersten stürmischen
Erscheinungen und dem Kollaps kann ein
Stadium relativen Wohlbefindens eintreten
mit wenig Schmerzen und geringen All¬
gemeinsymptomen. Vereinzelte Fälle von
spontaner Heilung sind bekannt, aber im
ganzen ist die Prognose ohne Operation
letal. Die Frühoperation ist unbedingt zu
verlangen. Von sechs in den ersten zwölf
Stunden operierten wurden fünf = 83%
geheilt, fünf zwischen 13 und 24 Stunden
starben alle, von drei zwischen 25 bis
48 Stunden wurden zwei geheilt, darüber
starben alle. Mil es hat noch zwischen 12
bis 24 Stunden 56% Heilung und 24 bis
36 Stunden 50% und später 8o/ 0 Heilung
bei 46 Fällen, v. Hacker hat auch nach
38 und 48 Stunden noch Heilung erlebt.
Selbst bei Peritonitis nach vier Tagen und
massenhafter Jauche wurde noch Heilung
erzielt mit einfacher Tamponade. Die Ope¬
ration ist sofort auszuführen, noch während
des Kollapses. Zur Narkose ist Aether zu
nehmen; 2mal wurde Aethylchloridnarkose
verwandt, 5 mal Lumbalanästhesie. 17 mal
war die vordere Magen- oder Duodenal¬
wand perforiert, davon nur 2mal an der
großen Kurvatur. Die Oeffnungen waren
erbsengroß bis 1 % cm groß. Das Ulkus ist
zu exzidieren oder nur zu Übemähen; in ganz
verzweifelten Fällen auch nur zu tamponie¬
ren; von zwölf tamponierten Fällen der Lite¬
ratur wurden elf geheilt. Bei der Naht
kann eine Netzplombe große Dienste leisten;
auch Annähen des Magens an die Bauch¬
wunde und Einführen eines Rohrs durch
die Perforation ins Duodenum ist öfter mit
gutem Erfolg ausgeführt. Die gleichzeitige
Gastroenterostomie ist nur bei gutem All¬
gemeinbefinden erlaubt. Die Bauchhöhle
ist gründlich durchzuspülen. Sehr zu emp¬
fehlen ist hierzu der Luckschsche Apparat.
Nach der Spülung Drainage. Die genähte
Perforation ist zu tamponieren; Körte
schließt demgegenüber die Bauchhöhle
ganz. In der Nachbehandlung reichlich
Kochsalzlösung subkutan und per rectum.
6 mal trat Pneumonie, 2 mal Pleuraempyem
auf. Klink.
(v. Bruns Beitr. z. klm. Chir. 1910, Bd. 68, H. 2.)
Eug. Holländer (Berlin) berichtet
über einen Fall von fortschreitendem
Schwund des Fettgewebes und
seinen kosmetischen Ersatz durch
Menschenfett. Die 21jährige Patientin
(Choristin) zeigte ein ungewöhnlich ab¬
schreckendes, totenkopfähnliches Gesicht;
die Augen liegen hohl, die Wangen sind
tief eingefallen, alle Knochen springen
deutlich hervor. Am Halse, Rumpf und
Oberextremitäten dasselbe Bild; die An¬
sätze sämtlicher Muskeln und ihr Verlauf
sind scharf sichtbar, ebenso die Kon¬
traktionen der verschiedenen Muskelgrup¬
pen. Der ganze Oberkörper stellt sich als
ein „ideales, Modell des Hautmuskelmen¬
schen a für kunstanatomische Zwecke dar;
dabei sieht die Haut gelb und alt aus. Im
Gegensatz zu dem greisenhaften welken
Anblick des Oberkörpers bietet die Pat.
von den Hüften ab jugendliche volle
Formen, ja die seitlichen Partien der
Oberschenkel zeigen Fettansammlungen,
die als pathologisch (diffuse lipomatöse
Ablagerungen) anzusehen sind. Im
übrigen erscheint die Pat. gesund; die
inneren Organe funktionieren normal, die
Gl. thyreoidea ist nicht vergrößert, je¬
doch nachweisbar, am Nervensystem keine
wesentliche Veränderung. — Nach der An-
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Die Therapie der Gegenwart 1910.
425
gäbe der Pat. soll die fortschreitende Ab¬
magerung vor 6 Jahren im Anschluß an
einen großen Schreck (plötzlicher Tod des
Vaters durch Straßenunfall) begonnen haben
und zwar zuerst im Gesichte. Die Pat. hat
sich dabei bis in die letzten Jahre körper¬
lich ganz wohl gefühlt; sie leidet aber
psychisch sehr, da sie infolge der zu¬
nehmenden Entstellung ihres Gesichtes
brotlos geworden ist und sich zuletzt
kaum mehr auf die Straße wagte.
Zur symptomatischen Behandlung
dieses pathologischen Zustandes, der sich
als eine „hochgradige Atrophie des
Fettgewebes in der oberen Körper¬
hälfte und Ueberfluß an Fettansatz
an der unteren Hälfte“ darstellt und
den Trophoneurosen zuzurechnen sein
dürfte, bediente sich Holländer eines
eigenartigen Mittels: der subkutanen
Injektion von*Menschenfett. Hollän¬
der hat bei Injektionen von Menschen¬
fett , die er zuerst zu Ernährungs¬
zwecken bei verhungerten Individuen nach
Magenoperationen versucht hat, die Be¬
obachtung gemacht, daß trotz schneller
Resorption diffuse Schwellungen zurück¬
blieben, die aber in absolutem Gegensatz
standen zu den tumorartigen Verdickungen
nach Paraffineinspritzungen. Er hat dann
mehrfach nach Amputation der Mamma und
bei eingezogenen an den Rippen adhärenten
Narben nach deren subkutaner Loslösung
zu kosmetischen Zwecken die Einspritzung
von sterilem Fett ausgeführt. Das Men¬
schenfett wird ausschließlich durch Ver¬
wendung operativ gewonnenen Fettes —
sei es bei der Entfernung von Lipomen
oder z. B. von Netzhernien — natürlich
nur von gesunden Menschen gewonnen.
Das Fett muß, damit es hellgelb bleibt, in
kleine Stücke zerschnitten und von allem
Bindegewebe befreit werden; dann wird
es drei Stunden im Wasserbade gekocht
und in einen Krug geschüttet. Am über¬
nächsten Tage wird das Fett, welches bei
Zimmertemperatur flüssig bleibt, von dem
Satz, der sich doch meist noch bildet, ab¬
gegossen und noch einmal aufgekocht. Das
dann resultierende Fett kann nach Hol¬
länder, nachdem die Flaschenöffnung mit
Papier verschlossen ist, jahrelang aufbewahrt
werden, ohne zu verderben. Vor dem
Gebrauch soll es noch einmal aufgekocht
werden. Das so gewonnene Fett, bei
Körpertemperatur eingespritzt, läßt sich
subkutan verstreichen und ist fast ganz
reizlos; für die kosmetische Verwendung
hat es nur den einen Nachteil, daß ziem¬
lich schnell, innerhalb von Wochen, ein
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intensiver Abbau erfolgt. Um diesem ent¬
gegenzutreten, hat Holländer das Men¬
schenfett mit Hammeltalg vermischt.
Letzterer allein, welcher bei Körper¬
temperatur fest ist, bewirkt, wenn er er¬
wärmt eingespritzt wird, eine viele Tage
dauernde reaktive Schwellung, nach deren
Abklingen eine starre Intumeszenz zurück¬
bleibt. Die Mischung von Hammeltalg
und Menschenfett dagegen, welche bei
Körpertemperatur eine breiige Konsistenz
hat, gestattet eine gleichmäßige und un¬
starre Unterfütterung der Teile fast ohne
Reaktion. Mit dieser Mischung nun, die
sich durch dünne Kanülen ohne besonderen
Schmerz einführen läßt, hat Holländer
das ganze Gesicht seiner Patientin aus¬
gefüllt. Mit Rücksicht auf das spätere
Verschwinden der Menschenfettpartikel
nahm er dabei zunächst eine etwas volumi¬
nösere Füllung vor. Das Resultat, das Hol¬
länder im photographischen Bilde wieder¬
gibt, ist vorläufig ein sehr gutes. Die
Haut bekam normale Farbe, das Gesicht
kindlichen Ausdruck; die Pat. hat seit
Monaten ihren Beruf wieder aufgenommen.
Es ist nur zu fürchten, daß das mensch¬
liche Fett kurz über lang doch resorbiert
und daß der übrigbleibende Hammeltalg
durch seine Unebenheiten kosmetisch
wenig befriedigen wird.
Felix Klemperer.
(Münch, med. Woch. 1910, No. 34.)
Da die neuere klinische Forschung er¬
geben hat, daß der Milchzucker häufig die
Ursache für alimentäre Intoxikationen
im Kindesalter darstellt, haben Lehndorf
und Zak die Milch vom Milchzucker
durch Dialyse zu befreien gesucht. Zirka
72 1 Milch wird in einen Pergamentbeutel
gefüllt und dieser in ein Gefäß mit 10 1
Wasser gehängt. Das Wasser wird bei
500 C gehalten und jede Stunde gewechselt.
Zur Milch wird noch 0,1 ccm Perhydrol
zugesetzt. Nach zirka 4 Stunden ist der
Milchzuckergehalt auf 50% des ursprüng¬
lichen gesunken. Die Erfolge mit einer
solchen Milch waren sehr befriedigende.
H. Wiener.
(Wiener med. Wochenschr. Nr. 33.)
Die Milzexstirpation bei der myeloiden
Leukämie galt bisher deshalb für unbe¬
dingt kontraindiziert, weil in allen bisher
bekannt gewordenen Fällen sehr bald nach
dem Eingriff der Tod eingetreten war.
Deshalb ist ein von K. Ziegler in der
medizinischen Sektion der Schlesischen
Gesellschaft für vaterländische Kultur zu
Breslau am 17. Juli d. J. vorgestellter Fall
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Die Therapie der Gegenwart 1910.
September
von Interesse, in welchem nach der Milz¬
exstirpation nicht der Tod erfolgte. Aller
dings wurde dieselbe erst ausgeführt, nach¬
dem durch Röntgenbestrahlung die Milz
wesentlich verkleinert war. Bei der 22 Jahre
alten Patientin, die 5 Jahre lang beobachtet
werden konnte, betrug die Leukozytenzahl
anfangs 300 000 und ging unter Röntgen¬
bestrahlung bis auf 12000 herab, während
sich die Milz schließlich bis zur Untastbar-
keit verkleinerte. Im Laufe der folgenden
Jahre traten wiederholt Rezidive ein, welche
immer wieder durch Röntgenbestrahlung
beseitigt werden konnten. Schließlich ge¬
lang es aber nur die Leukozytenzahl bis
auf 40000 herabzudrücken. Nunmehr ent¬
schloß man sich zur Milzexstirpation, welche
Ziegler auf Grund theoretischer Deduk¬
tionen schon früher bei myeloider Leukämie
vorgeschlagen hat. Patientin überstand den
schweren Eingriffallerdings nach schwieriger
Rekonvaleszenz gut. Kurz nach der Ope¬
ration stieg die Zahl der Leukozyten aut
100000, sank aber bald wieder auf 40 000.
4 Wochen später betrug die Leukozyten¬
zahl bereits wieder 128 000. Unter Be¬
strahlung der Leber ging sie dann zurück
auf 70 000. Zurzeit soll sich die Patientin
so wohl fühlen, wie zu den Zeiten der
stärksten Remission. Eine ausführliche
Publikation dieses interessanten und wich¬
tigen Falles wird in Aussicht gestellt, nach¬
dem die Patientin längere Zeit beobachtet
ist. Jedenfalls lehrt derselbe, daß die Ex¬
stirpation der leukämischen Milz nicht wie
man bisher glaubte, unbedingt letal ver¬
laufen muß. Der ungünstige Ausgang der
bisher mitgeteilten Fälle ist offenbar nur
darauf zurückzuführen, daß der Eingriff im
Höhestadium der Krankheit erfolgt ist, wo
der Organismus eminent geschwächt zu
sein pflegt und abgesehen von Komplika¬
tionen wie Blutungen usw. schon die Shok-
wirkung bei der plötzlichen Entfernung eines
so gewaltigen Tumors, wie die leukämische
Milz es ist, als Todesursache in Betracht
gezogen werden muß. In der Diskussion
berichtete Küttner, daß er einmal eine
riesenhafte leukämische Wandermilz ex-
stirpiert hat und dadurch eine wesentliche
Besserung bei der Patientin erzielte. Trotz¬
dem ging sie nach 2 Jahren an der Leuk¬
ämie zugrunde, obwohl sie weiter bestrahlt
worden ist. Er berichtete ferner über einen
Fall, in dem sich nach Exstirpation der
Milz wegen Schußverletzung eine Poly¬
zythämie entwickelte. In diesem Falle
hatten sich aber, wie die spätere Sektion
ergab, im Peritoneum Milzgewebe neuge¬
bildet. Hieraus folgt wohl, daß bei genuiner
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Polyzythämie die Splenektomie therapeutisch
nicht in Betracht kommen kann.
Hans Hirschfeld (Berlin).
(Berl. klin. Woch. 1910, Nr. 32.)
Die von Rindfleisch angegebene Me¬
thode des Spiralschnittes zur Behandlung
des varikösen Symptomenkomplexes,
die leider wenig Dekannt geworden ist,
empfiehlt Kayser aus Kümmells Ab¬
teilung aufs wärmste. Die Erfolge waren
fast immer sehr gute. Die Operation ist
ein erheblicher Eingriff und erfordert Nar¬
kose oder Lumbalanästhesie, schafft mäch¬
tige Wundflächen und eröffnet eine Menge
Blut und Lymphbahnen. Die Nachbehand¬
lung ist recht schmerzhaft; die Heilung er¬
folgt per granulationem und dauert lange,
4—7 Wochen bis zur Ueberhäutung. Des¬
wegen ist nur dort die Methode am Platz,
wo das Leiden lange besteht, schwere Stö¬
rungen bringt und den weniger eingreifen¬
den Methoden trotzt. Die Technik ist fol¬
gende: Das mit Jodtinktur desinfizierte Bein
wird an einem Galgen hochgehängt, der
Oberschenkel wird abgeschnürt. Der Haupt¬
ast der Saphena magna am Oberschenkel
wird reseziert oder unterbunden. Vom
äußeren Knöchel wird mit dem Messer eine
fortlaufende Spirallinie um den Unter¬
schenkel geführt, wenn nötig bis am Ober¬
schenkel hinauf; je schwerer die Verände¬
rungen, desto dichter liegen die Spiralen.
Parallel der untersten Spirale durchsetzen
2—3 Schnitte Haut und Unterhautgewebe
des Fußrückens von der Außen- bis Innen¬
kante. Vorhandene Geschwüre, die natür¬
lich vorher gereinigt sein müssen, kommen
zwischen zwei Spiralen, doch kann man
auch hindurchgehen, auch kann man neben
dem Ulkus noch je einen Längsschnitt
machen. Der Schnitt geht bis auf die
Faszie; die Gefäße werden unterbunden.
Bei sehr großer Zahl kann man auch die
Schnittlinie mit fortlaufender Katgutnaht
V* cm vom Wundrand oben und unten ab¬
nähen und dann erst das Unterhautzell¬
gewebe durchtrennen; das empfiehlt sich
besonders am Fußrücken. Größere Varizen,
die durch die Faszie scheinen, werden frei¬
gelegt, doppelt unterbunden und durch¬
trennt. Die Wundränder werden mit Haken
gewaltsam auseinander gezogen. Die Wund¬
fläche wird mit Dermatol bestreut, das ver¬
bundene Bein hochgelagert. In den ersten
Tagen starke Schmerzen, leichtes Fieber.
Am 5.—7. Tag Verbandwechsel mit Wasser¬
stoffsuperoxyd nach Morphiuminjektion und
Skopolamin; von da an täglicher Verband
mit Campherwein, Borsäure- oder Höllen¬
steinlösung. Die wachsenden Granulationen
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
September
« Die Therapie der Gegenwart 1910.
427
werden täglich mit Höllenstein geätzt, bis
tiefe Rinnen entstehen. Dabei Salbenver¬
bände (Zinksalbe, Argent. nitric. mit Peru¬
balsam). In der 3.—4. Woche kann der
Kranke umhergehen. Die Epithelisierung
wird durch 8%ige Scharlachrotsalbe be¬
schleunigt. Nach der Vernarbung Massage
des Beines und einige Wochen Wickeln
mit Binden. Die bestehenden Geschwüre,
auch ganz kallöse, schlossen sich vor der
Operationswunde. Der Epithelüberzug wird
fest; der Gliedumfang wird derb, die öde-
matöse Haut wird lederartig. Das sub¬
jektive Resultat war immer gut. Störungen
der Hautsensibilität ließen sich nicht fest¬
stellen. Klink.
(v. Bruns Beitr. z. klin. Chir. 1910, Bd. 68, H. 3.)
Auf dem letzten Otologenkongreß be¬
richtete Urbantschitsch (Wien) über
Aetiologie der Taubstummheit. Er teilt,
an alog Hammerschlag, die Tau bstummheit
in 2 große Gruppen: in erworbene und kon¬
genitale. Die erworbene kann intrauterin
oder postfötal entstanden sein. Zur ersteren
gehört neben den verschiedenen Ent¬
zündungsformen die Lues hereditaria.
E. Urbantschitsch untersuchte nun 125
Taubstumme und zum Teil deren An¬
gehörige mittels Wassermannscher Sero¬
reaktion, und zwar mit folgendem Resultat:
negative oder spurweise Reaktion: 84,4%,
mittelstarke 6,4% (Grenzfälle); 7,2% fast
oder ganz komplette Reaktion.
Da Verf. unter „hereditär-degenerativer
Taubstummheit 4 (Hammerschlag) jene
Fälle versteht, in denen die Ursache der
Taubstummheit in der Keimesanlage gelegen
ist, wenn auch mitunter eine scheinbar aus¬
lösende Ursache hinzutritt, wodurch die
„latente 4 Disposition „manifest 4 wird,
während in anderen die Disposition von
Beginn an manifest erscheint, so teilt er
die hereditär-degenerative Taubstummheit
in eine „manifeste 4 und in eine „latente 4 ;
für die Berechtigung dieser Einteilung er¬
bringt Verf. Beweise aus seiner Erfahrung.
Mitunterkann eine schwere Konstitutions-
krankheit imstande sein, den degenerativen
Charakter einer Familie auszulösen. Hierzu
gehören unter Umständen Syphilis und
Tuberkulose (Anführung von je 2 Beispielen
aus dem Beobachtungsmaterial des Verf.).
Die Konsanguinität der Eltern als solche
übt nur einen sehr geringen Einfluß auf
das Zustandekommen von Taubstummheit
aus; es muß sich vielmehr um eine kon-
sanguine Ehe in einer hereditär-degene¬
rativen Familie handeln. Verf. beobachtete
unter 400 Taubstummen (hiervon 390 Ka¬
tholiken !) nur 2 mal Konsanguinität, und in
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einer dieser konsanguinen Ehen ist außer¬
dem die Blutsverwandtschaft nicht als aus¬
lösendes Moment für das Zustandekommen
der Taubstummheit zu betrachten. Dieser
geringe Koeffizient dürfte seine Erklärung
in der Seltenheit konsanguiner Ehen unter
Katholiken ßnden.
Von Wichtigkeit kann zur Beurteilung
des degenerativen Charakters in einer
Familie der Nachweis anderweitiger körper¬
licher Abnormitäten sein, von denen Verf.
eine ganze Reihe aus seinem Beobachtungs¬
material anführt.
(Otologenkongrefi 1910.)
Ueber das Vorkommen von Tuberkel-
b&zillen im kreisenden Blute haben
Jessen und Rabinowitsch an je zwölf
Patienten der drei Turbanschen Stadien
Untersuchungen angestellt und dabei neben
Bazillen auch auf säurefeste Granula, wahr¬
scheinlich durch Bakteriolyse entstandene
Zerfallsprodukte, geachtet, auf den Nach¬
weis der Tuberkuloseerreger durch das
Tierexperiment jedoch verzichtet. Sie fan¬
den in zwei Fällen des ersten Stadiums
Bazillen und Granula im Blute, in zweien
des zweiten bloß Granula, in fünfen des
dritten Bazillen und Granula, einmal nur
diese. Die beiden positiven Fälle des
ersten Stadiums zeigten im Sputum keine
Erreger, auch keinerlei lokalen Organbefund,
der eine allerdings eine geringfügige Brust¬
fellschwarte. In diesen beiden Fällen war
also der Bazillennachweis im Blute von
hohem, diagnostischen Wert. Weitgehende
prognostische Schlüsse läßt er nicht zu,
gerade daß man ein Verschwinden der Er¬
reger aus dem Blute auch bei überdauern¬
den Granula als Zeichen der Besserung
mit in Rechnung stellen kann, z. B. nach
Anlegung eines künstlichen Pneumothorax,
wo bei günstigem Verlauf durch Kom¬
pression der Lungenwurzel dem weiteren
Uebertritt von Bazillen der Weg verlegt
oder doch erschwert werden könnte.
Meidner (Berlin).
(Deutsche med. Wschr. 1910, Nr. 24.)
Die Behandlung des Typhus mit
Pyr&midon, der Valentini (Danzig) im
Jahre 1903 außerordentliche Erfolge nach¬
rühmte (vergl. d. Zeitschr. 1903, S. 282), hat
sich nach Mitteilungen von Prof. Moritz
(1907) und seinem Assistenten Dr. Jacob
auf der Straßburger Klinik gut bewährt.
Die Pyramidonbehandlung wurde meist in
der Weise durchgeführt, daß von 6 Uhr
morgens bis 12 Uhr nachts, also 10 mal in
24Stunden, 0,1 g Pyramidon (Pyramidon 2,0,
Sir. Simpl. 20,0, Aqu. dest. ad 200,0) ge¬
geben wurde. Die nächste und in der
54*
Original fram
UNIVERSUM OF CALIFORNIA
Die Therapie der Gegenwart 1910.
September
428
großen Mehrzahl sehr prompte Wirkung
war die, daß das Fieber um einen oder
mehrere Grade abfiel und weiterhin einen
ganz milden Verlauf zeigte oder völlig
fortblieb, wenn die Darreichung des Pyra-
midons entsprechend lange fortgesetzt
wurde. Stärker noch als die Wirkung auf
die Temperatur, war die auf das Allgemein¬
befinden: die Somnolenz, die Unruhe, die
Kopfschmerzen, das schwere Krankheits¬
gefühl verschwanden oft in kurzer Zeit, die
Ernährung und Pflege der Kranken wurden
dadurch in außerordentlicher Weise er¬
leichtert. In mehr als 30 Fällen erhielten
die Kranken das Mittel 10—20 Tage lang,
in 15 Fällen 21—35 Tage, ein Kranker
während 41 Tagen. Schädliche oder un¬
angenehme Nebenwirkungen des Pyra-
midons wurden nicht beobachtet. Bei
wenigen Patienten nur trat in den ersten
Tagen des Gebrauchs stärkerer Schwei߬
ausbruch auf, aber nicht in dem Maße, daß
das Mittel ausgesetzt werden mußte. Ein
schädlicher Einfluß des Pyramidons auf
den Kreislauf wurde in keinem Falle ver¬
zeichnet; auch bei Patienten mit schlechtem
Pulse, bei denen Kampher, Koffein und
Digitalis nötig waren, wurde ohne Nachteil
daneben Pyramidon gegeben. Beim Auf¬
treten von Blutungen wurde das Pyramidon
meistens nicht ausgesetzt, vielmehr erwies
sich die durch das Mittel erzielte Be¬
ruhigung des Patienten, die Beseitigung der
motorischen Unruhe usw. gerade hier als
wertvoll; nur wenn infolge einer Blutung
starker Abfall der Temperatur und höhere
Pulsfrequenz eintrat, wurde das Mittel fort¬
gelassen. Alle Kranke, die systematisch
Pyramidon erhielten, wurden nicht gebadet;
dagegen wurde im Interesse der Hautpflege
und zur Bekämpfung der Komplikationen
von seiten der Lunge von kühlen Teil¬
oder Ganzwaschungen und von Prießnitz-
schen Umschlägen vielfach Gebrauch ge¬
macht. — Auf diese Weise wurden in den
letzten 3 Jahren auf der Straßburger
Klinik von 207 Typhuskranken insgesamt
80 mit Pyramidon behandelt und zwar ge¬
rade die mittelschweren und schweren
Fälle. Es starben 8. also 10%. Bis Mitte
1907 war die Bäderbehandlung allein an¬
gewandt worden; die durchschnittliche
Mortalität betrug 13,9 %. Von 1907 bis
1910 wurden ohne Pyramidon, mit Bädern
behandelt 127 Fälle mit 14,1 °/ 0 Mortalität.
[Es darf nicht verschwiegen werden,
daß in den Händen vieler Nachuntersucher,
die auf Valentinis Empfehlung hin seiner¬
zeit das Pyramidon bei ihren Typhuskranken
anwandten, das Mittel sehr viel geringere
oder keine Erfolge erzielt hat. Die Ver¬
schiedenheit der Typhen an verschiedenen
Orten und zu verschiedenen Zeiten spielt
hierbei sicherlich eine Rolle. Aber bei
dem zweifellos vorhandenen Bedürfnis der
Praxis nach medikamentöser Antipyrese
verdient die Mitteilung der Mo ritz sehen
Klinik immerhin Beachtung und dürfte er¬
neute Versuche mit Pyramidon rechtfertigen.]
F. Klemperer.
(Münch, med. Wochschr. 1910, Nr. 33.)
Die Diagnostik und Pathologie der
Zahnkrankheiten, soweit sie für den
praktischen Arzt von wesentlicher Be¬
deutung sind, behandelt Prof. Williger
(Berlin) in einem Beiheft zur „Medizinischen
Klinik“. Nach kurzer Besprechung der
krankhaften Erscheinungen beim Zahn-
wechsel, wobei er auf die Wichtigkeit der
Erhaltung des Milchgebisses hinweist, be¬
spricht Verf. die Karies und ihre Folge¬
krankheiten. Das wichtigste Mittel zur
Verhütung der Karies ist „sorgfältiges
Sauberhalten der Zähne von Kindesbeinen
an und gewissenhafte zahnärztliche Ueber-
wachung“. — Von den Folgekrankheiten
der Karies kommt in erster Linie die Ent¬
zündung des Zahnmarks, die Pulpitis,
in Betracht, die mit heftigen Schmerzen
einhergeht. Dabei ist aber der Zahn nach
Entfernung der kranken Pulpa noch zu er¬
halten. Vorläufig kann man die Schmerzen
lindern, indem man nach Entfernung des
erreichbaren Kranken mit dem scharfen
Löffel ein Wattebäuschchen mit Nelkenöl
einlegt und mit Gips die Höhle verschließt.
Antineuralgika helfen auch in großen
Gaben wenig, manchmal ist Linderung der
Schmerzen nur durch eine Morphiuminjek¬
tion zu erreichen. Durch Weitergreifen
des entzündlichen Prozesses kommt es zur
Wurzelhautentzündung und weiterhin
zur Periostitis. Dabei kommt es meist
zur Abszedierung. Der Eiter fließt in
selteneren Fällen durch die Alveole ab,
meist bildet sich ein Abszeß an der Vorder¬
fläche der Kiefer, das Zahngeschwür; nicht
sehr häufig sind die palatinalen Abszesse.
Vom Unterkiefer aus kommt es zu Mund¬
bodenabszessen, in schweren Fällen zu
sehr gefährlichen Mundbodenphlegmonen.
Uebergreifen auf die Kaumuskulatur führt
zur Kieferklemme; als Holz- oder Gas¬
phlegmone kann der Prozeß auf den Hals
übergreifen. Sehr gefährlich sind die
Thrombophlebitiden, die sich in die Sinus
durae matris fortpflanzen können und so
den Exitus herbeiführen. Selten kommt es
zur Osteomyelitis der Kieferknochen. — Die
akute Periodontitis kann auch chronisch
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Original frnm
UNIVERSiTY 0F CALIFORNIA
September
Die Therapie der Gegenwart 19t0.
429
werden; es bilden sich dann an der j Bei allen schweren Zahnerkrankungen
Wurzelspitze Granulationen, welche den I findet man eine Stomatitis catarrhalis
Knochen aushöhlen. Diese Form, die chro- j und infolgedessen eine belegte Zunge, die
nische Periodontitis, entwickelt sich ! also nicht immer für eine Magenerkrankung
auch langsam, wenn Entzündungserreger charakteristisch ist. Bei Zahnextraktionen
auf irgend einem Wege zur Wurzelspitze erfolgt häufig eine Eröffnung der Oberkiefer¬
gelangen. Die Zähne sind verfärbt und höhle. Zur Verhütung von Infektion muß
geben einen dumpfen Klang beim Be- man in solchen Fällen einen Jodoformgaze¬
klopfen. Die Granulationen brechen häufig streifen für einige Tage vor die Oeffnung
durch das Zahnfleisch durch und bilden legen. Kieferhöhlenempyeme dentalen
Fisteln. Akute Nachschübe können bei der Ursprungs entstehen durch Granulome in die
chronischen Periodontitis Vorkommen. Bei Höhle hineinragender Wurzeln. — Trige-
jeder Form kommt es zur Entzündung der rainusneuralgien, besonders des zweiten
regionären Lymphdrüsen, die oft Neuralgien und dritten Astes, kommen differential-
vortäuschen. Selten kommt es zur Abs- diagnostisch bei vielen Zahnkrankheiten in
zedierung der Drüsen. Therapie ist Spal- Betracht. — Wird bei Tabes die Mund-
tung des Zahnabszesses und meist Extrak- Schleimhaut anästhetisch, so verlieren die
tion des schuldigen Zahns. Aus den Gra- Kranken ihre Zähne ohne jeden Schmerz,
nulomen entwickeln sich manchmal Zysten, Ob die Zähne als Eingangspforte für
welche zu großen Tumoren wachsen. den Tuberkelbazillus zu betrachten sind,
EineZahnerkrankung des höheren Alters, ist zweifelhaft, dagegen ist es unbedingt
welche häufig bei Diabetes und Gicht, manch- nötig, daß das Gebiß Tuberkulöser in Ord- - -
mal auch ohne nachweisbare Aetiologie nung ist, da durch mangelhafte Kautätig-
vorkommt, ist die Alveolarpyorrhoe, keit die Ernährung der Kranken leidet,
eine chronische Entzündung im periodon- Daß bei Lues hereditaria die Zähne
talen Gewebe, bei der sämtliche Be- Veränderungen zeigen, ist allgemein be- ,
festigungsmittel des Zahns zerstört werden, kannt, doch sind die meisten Störungen
sodaß der Zahn schließlich von selbst ausfällt, in der Zahnbildung eher der Rhachitis,
Traumen geben bei Verhinderung einer vielleicht auch der Tetanie zur Last zu
Infektion eine gute Prognose. Luxierte legen. — Vor einer Quecksilberkur sind
Zähne, die längere Zeit außerhalb der die Zähne stets in Ordnung zu bringen,
Wundhöhle gewesen sind, werden wieder dann genügt zur Verhütung der Stomatitis
fest und funktionstüchtig, wenn man sie in die gewöhnliche Mundpflege.
ihre Alveole zurückbringt und in geeigneter Emst Mayer (Berlin). -
Weise für einige Zeit feststellt. Beiheft 7 (Med. Klinik 1910 ).
Therapeutischer Meinungsaustausch.
Heiße Bäder bei Keuchhusten»
Von Dr. Schrohe- Mainz.
In Ermangelung eines souveränen Mittels | Hustenparoxysmen gebe man zweimal ein
gegen Keuchhusten wird jede andere Maß- solches Bad. Man soll nicht davon ab-
nahme gewiß gern befolgt werden, wenn stehen, auch wenn man im Darm hohes
sie einfach und leicht zur Ausführung ge- Fieber festgestellt hat. Gebraucht man bei
bracht werden kann. In diesem Sinne den fiebernden Kindern die Vorsicht, den
können heiße Bäder nicht nachdrücklich ! Kopf während des Badens durch kalte
genug empfohlen werden. Es ist mir nicht | Kompressen kühlen zu lassen, so wird man
bekannt, ob dieses therapeutische Hilfs- keinen Schaden sehen. Die günstige Wir-
mittel gegen Pertussis schon anderwärts kung wird man bald erkennen gerade bei
empfohlen oder angewendet worden ist. den schwerkranken, schon apathischen, von
In leichteren Fällen wird am besten den fortwährenden Anfällen ganz er-
gegen Abend ein heißes (37,5 C, 30 R.) schöpften Kleinen.
Bad von 10—15 Minuten Dauer gegeben. Was nun die theoretische Begründung
Meist ist mindestens die halbe Nacht der des erprobten Hilfsmittels anlangt, so sei
Schlaf gut, ungestört; auch wird neben der nur kurz auf die auffallende Blässe der '«
Abschwächung der Anfälle die Dauer der ' Keuchhustenkinder hingewiesen. Die Haut
Krankheit an und für sich wesentlich ab- ist blaß und kühl, während das Thermo-
gekürzt Selbst in scheinbar schweren j meter im Darm Fieber anzeigt. Es macht
Fällen betrug die Dauer nur wenige Wochen den Eindruck, als ob die Hautgefäße krampf-
(2—3 Wochen). Bei sehr großer Zahl der ; haft kontrahiert seien. Durch Lösung dieses
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430
Die Therapie der Gegenwart 1910.
September
Krampfes im heißen Bade werden die
inneren Organe und damit die Lunge, die
Bronchialschleimhaut von ihrer Hyperämie
befreit, entlastet. Dazu kommt dann noch
die bekannte günstige Einwirkung des
heißen Bades auf die Gift ausscheidung durch
die Haut, die sedative Beeinflussung des
Nervensystems, der beruhigende Effekt auf
reflektorisch krankhafte Kontraktionen (will¬
kürlicher und) unwillkürlicher Muskeln
(Bronchien).
In allen Fällen, in welchen meine An¬
ordnung gut befolgt worden ist, habe ich
einen guten Erfolg gesehen. Gewiß wird
man die medikamentöse Behandlung nicht
ganz entbehren können, aber daneben die
geschilderte einfache Prozedur gern in den
Heilplan aufnehmen. Es wäre zu wünschen,
daß die Eindrücke von Erfolgen, die sub¬
jektiven Erfahrungen eines Praktikers nach¬
geprüft, durch klinische Beobachtung be¬
stätigt werden, und als wissenschaftlich
gesicherte Tatsachen in der Therapie des
Keuchhustens Geltung erhalten. Denn noch
immer ist diese Krankheit eine Geißel der
Kinder und der Familien.
Ein handliches Oesophagoskop.
Von Dr. F. Schilling-Leipzig, Spezialarzt für Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten.
Die Oesophagoskopie ist nicht neu. Mit
den Fortschritten der Laryngoskopie und
Endoskopie wuchs das Bestreben, auch das
Innere der Speiseröhre dem Auge zugäng¬
lich zu machen. Nach mancherlei Fehl¬
versuchen, die durch Kußmauls 1 ) Beob¬
achtungen an den Manipulationen eines
Degenschluckers im Jahre 1868 angeregt
waren, gelang es v. Mikulicz 2 ) zuerst, das
Organ zu intubieren und endoskopieren.
Hacker 8 ) und Rosenheim 4 ) vervoll-
kommneten die Methode, Schreiber 5 )
fügte die Speichelpumpe hinzu. Brünings 6 )
konstruierte einen Tubus nach Art des
Fernrohres und änderte, wie Glücks¬
mann 7 ) und Kahler 8 ), die Optik. Kel-
ling 9 ) gab ein biegsames Instrument an,
Koelliker steift das flexible Rohr nach
der Einführung mit Mandrin durch ein
Metallrohr.
Bevorzugt blieb das starre Rohr mit
Mandrin. Innen- und Außenbeleuchtung
wechselten. Mit diesen Hauptpunkten in
der Entwicklung des Verfahrens begnüge
ich mich, auf eine Kritik und genauere
Daten lasse ich mich nicht ein. Wer sich
gründlich orientieren will, findet das Nähere
bei Kraus 10 ), Gottstein 11 ), Stark 12 ); auch
ich 18 ) habe schon vor Jahren eine kurze
l ) Magenspiegelung. Bericht d. naturforsch. Ges.
Freiburg i. Br. 1868, Bd. 5.
а ) Ueber Oesophago- und Gastroskopie. Wien,
raed. Pr. 1881.
s ) Ueber Oesophagoskopie. Wien. med. Pr. 1897,
Nr. 46.
4 ) Btg. z. Oesophagoskopie. Berl. klin. Wocb.
1895, Nr. 50.
*) Zur Oesophagoskopie. Arch. f. Verdauungskh.
1902.
б ) Deutsch, med. Woch. 1909, Nr. 17.
7 ) Berl. klin. Woch. 1903, Nr. 4.
0 ) Verhandl. d. Ver. d. Laryngol. 1909.
9 ) Münch, med. Woch. 1897.
,0 ) Erkrank, der Mund- und Speiseröhre 1902.
ll ) Technik und Klinik d. Oesophagoskopie 1901.
1J ) Die direkte Besichtigung der Speiseröhre 1905.
,s ) Schilling, Krankheiten der Speiseröhre.
Monographie über die Krankheiten der
Speiseröhre mit Details in dieser Richtung
erscheinen lassen.
Trotz aller Empfehlungen, welche die
Autoren der Methode auf den Weg mit¬
gaben, ist die ösophageale Endoskopie in
den Händen der Spezialisten, mögen sie
sich in der inneren Medizin oder Chirurgie
betätigen, geblieben. Warum? Es haftet
den langen starren Tuben in den Augen
des Ungeübten, wenn er als Zuschauer der
Krankenexploration beiwohnt, etwas Ab¬
schreckendes an, der Patient erscheint ge¬
quält, dazu ist die Lage auf dem Rücken
mit hängendem Kopfe, weniger schon auf
der Seite mit hintenüber gebeugtem Kopfe
eine unnatürliche, eine Zwangsposition.
Dem Zuschauer wie dem Patienten erwacht
der Gedanke, daß das lange Rohr leicht
den Oesophagus lädieren könne, zumal
wenn der Kopf gewaltsame Bewegungen
macht, und doch ist Perforation nur bei
morschem Gewebe am Introitus beschrieben;
sonstige üble Zufälle sind bei Beobachtung
der Kontraindikationen wenig passiert.
Ich besitze das Instrumentarium von
v. Mikulicz, Rosenheim und Gottstein,
erstere sind mit einem Mandrin versehen,
letztere mit einer Leitsonde.
Mir hat seit Jahren ein leicht zu hand¬
habendes Rohr vorgeschwebt, das sich
nach Art der O'Dwy er sehen Intubation
mit Hilfe eines längeren Stieles schonend
und leicht dirigieren, behutsam in den
Oesophagus ein- und herausführen läßt.
Notwendig war dabei, daß das periphere
Ende die Gestalt eines Löffelstieles hat, um
mühelos in den Hypopharynx und über
den Ringknorpel in den Oesophaguseingang
zu dringen; gefahrlos und sicher war dies
nur unter Direktion des Auges möglich,
also bei fortgesetzter Beleuchtung.
Schon früher, als ich Kirsteins ge¬
fensterten Retropharyngealtubus sah, kam
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September
Die Therapie der Gegenwart 1910.
431
mir der Gedanke, den seitlichen Ausschnitt
zum schrägen Durchschnitt zu machen.
Später diente mir Killians Hohlspatel als
Ausgangspunkt, der zur Inspektion des
Hypopharynx, zu welchem Zwecke ich
mein elektrisch erleuchtetes Pharyngoskop 1 )
benutze, verwandt wird. An Stelle des
schrägen Abschnittes setzte ich eine löffel-
törmige, verlängerte Zunge mit breiter
peripherer Wulstung und geringer Krüm¬
mung (Fabrikant Diehl-Leipzig). Brü¬
nings 2 ) konstruierte in ähnlicher Weise
seinen Autoskopiespatel. Damit fiel der
Mandrin fort, da die Tubuszunge mit der
ansteigenden schiefen Ebene den Eingang
zum Oesophagus allein und sicher fand.
Zur Beleuchtung des Tubus-
innern während der Passage
durch den oralen und laryn-
gealen Rachenteil und das
Speiserohr, als Ersatz des
eigenen Auges griff ich zum
Caspersehen Panelektroskopes
mit Kohlenfaden und Osram¬
fäden (a) bei diagnostischen
Zwecken; kommt aber die The¬
rapie mit Einführung von In¬
strumenten in Frage, dann tritt
an seine Stelle Kirsteins Stirnlampe,
und der Stiel (b), den ich auf den Rekto-
skoptubus schraube, wird zum Handgriff.
Das Panelektroskop hat in der Beleuchtung
eine wesentliche Aenderung erfahren, in¬
dem ich das Prisma verlängerte und etwas
verschmälerte, so daß der größte Teil des
Tubus von parallelen Strahlen bis zur
Zunge erleuchtet wird 3 ). Für das Auge und
das Instrumentarium ist noch Raum genug
daneben übrig, zumal ich den Tubustrichter
rechts ausbrechen ließ. Die Tuben besitzen
verschiedene Durchmesser und Länge, in
der Regel genügen zwei in der Länge von
26 und 39 cm, da ich mit ersterem bereits
bis zur Tiefe der Bifurkation und mit letz¬
terem bis zum Hiatus oesophageus gelange.
Fremdkörper (%), Stenosen, Traumen, Para¬
lysen, Krebs und Divertikel lokalisieren sich
gern im Halsteil bis zum oberen Brustteil
des Oesophagus, tiefer trifft man außer Neu-
>) Ther. d. Gegenw. 1909, Heft 8.
2 ) Direkte Laryngoskopie.
3 ) Die moderne Verschiebung mit Schrägstellung
findet meinen Beifall weniger.
bildungen, Stenosen, Formveränderungen,
Kompression von außen, Atonie und Spas¬
mus, selten Ulzera und syphilitische Herde.
Das Verfahren gestaltet sich möglichst
einfach. Nachdem konstatiert ist, daß keine
Kontraindikationen (Kieferenge, kurzer Hals,
Leberzirrhose, Herz-, Lungen- und schwere
Nervenleiden) vorliegen, wird der Meso- und
Hypopharynx samt Introitus oesophagi mit
20% Kokain, selten 10% Eukain oder
Anästhesin anästhesiert. Vprheriges La-
ryngoskopieren [Glücksmann 1 )] fällt weg.
Schon nach 2—3 Minuten ist das Ziel er¬
reicht, alte Leute habe ich vielfach ohne
weiteres im zervikalen Speiseröhre endo-
skopiert. Will ich nur den Hals- und
oberen Brustteil inspizieren, so sitzt der
Patient auf einem gewöhnlichen Stuhle.
Das mit Glyzerin oder Vaselin befeuchtete
Rohr, das sofort durch Stromschluß er¬
leuchtet ist, gleitet, geleitet von der rechten
Hand in der Mitte der hinteren Pharynx¬
wand ohne den Zungengrund arg zu
drücken bis zum Sichtbarwerden eines
Querwulstes fast in einem Zuge hinab,
während die linke den Kopf des Patienten
am Scheitel nach hinten beugt. Dirigiere
ich jetzt die Zunge des Instrumentes nach
vorn, so sehe ich das Spiel der Stimm¬
bänder, also in den Larynx. Jetzt drücke
ich die Tubuszunge hinter den Wulst und
fordere den Kranken auf, eine
Schluckbewegung zu machen.
Leicht rückt der Tubus ab¬
wärts und die gerötete Schleim¬
haut des Oesophagus kommt
zu Gesicht. Als Stützpunkt, als
Hypomochlion für das Ab¬
wärtsdirigieren dient die Hals¬
wirbelsäule, dem Tieferrücken
des Rohres begegnen keine
Schwierigkeiten. Bin ich orien¬
tiert, so folgt das Rohr leicht
dem Zuge am Stiele des Elek-
troskopes nach oben. — Genau
so gestaltet sich die Methodik
für die tiefere Endoskopie mit
dem langen Rohre, wenn der Patient nur ruhig
Atem holt; nur sitzt der zu Untersuchende
dabei auf einem Schemel und man fast den
Griff desElektroskopes wie einen Krückstock
von oben. — Nach Art der Pinzetten kon¬
struierte lange Tupferträger, Zangen, Saug¬
apparate, meine Saugspritze 2 ) usw. stehen
rechts auf einem Tische zur Hand, um sofort
einzugreifen, wenn die Indikation vorliegt.
Im Gegensätze zu Brünings halte ich
die mandrinlose Einführung, zumal für den,
*) Berl. Klinik Heft 233.
a ) Therapeut. Monatsh. 1901.
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432 Die Therapie der Gegenwart 1910. September
der romanoskopiert, für leichter und sicherer einen größeren Spielraum zwischen Tubus
als das Intubieren mit Mandrin. Daß man und Auge des Untersuchers für instru-
in jeder Lage, Rücken- wie Seitenlage, mentelle Manipulationen gestattet, vor. Je
den Tubus einführen kann, unterliegt einfacher übrigens das Instrumentarium ist,
keinem Zweifel. desto leichter wird die Handhabung und
Daß die Beleuchtung mit dem Pan- um so unentbehrlicher wird die Assistenz,
elektroskop und der Stirnlampe in der desto schneller erlernt der Anfänger die
Regel genügt, dafür bringen meine und Technik.
Starks und anderer Autoren erzielten Er- Geschick erfordert jede Technik in ihrer
folge den besten Beweis. Stark betont Anwendung. Darüber, ob der Satz, daß
ausdrücklich, daß das Licht selbst für die sich jeder Arzt ohne spezielle Vorbildung
tiefsten Partien ausreicht. Meine Verbesse- die ösophagoskopische Methodik aneignen
rung des ersteren bringt große Vorteile, kann, wie ein begeisterter Anhänger seines
Innenlampen stehen im Wert zurück. Instrumentariums unlängst behauptet, zu
Brünings zieht seine eigene Beleuchtungs- Recht besteht, dürften wohl noch Bedenken
Vorrichtung mit dem Dreifadenbrenner, die bestehen.
Ehrlichs Syphilisheilmittel und die ärztliche Praxis.
Vom Herausgeber.
Aus den Darlegungen, welche dem Ehr- noch nicht zu sehr in die Gewebe ein-
lichsehen Mittel in diesem Heft gewidmet gedrungen sind, also nur in den Anfangs¬
werden (S. 407 und 411) werden unsere Stadien der Erkrankung. Schließlich ist es
Leser klar erkennen, wie weit sich bis jetzt wahrscheinlich, daß der Entdecker sein
die außerordentlichen Erwartungen erfüllt Präparat noch vervollkommnen wird, so
haben, welche die neue Entdeckung bei daß in naher Zukunft noch größere Heil¬
allen Sachkennern hervorrufen mußte. Es Wirkungen erzielt werden als jetzt,
kann kein Zweifel mehr bestehen, daß das Aber selbst wenn ein gewisser Prozent¬
neue Mittel in der Behandlung der Syphilis satz von Rezidiven übrig bleiben sollte —
dasselbe leistet wie das Quecksilber in seiner was ich keineswegs für wahrscheinlich halte
intensivsten Anwendungsform, während es — immerhin ist es begreiflich, daß jeder
dabei den unschätzbaren Vorzug hat, in Arzt das Verlangen hat, seinen luesinfizierten
einmaliger Anwendung weit schneller zu Patienten die Wohltat des neuen Verfahrens
wirken als die älteren Methoden. Es ist angedeihen zu lassen,
auch zweifellos, daß Ehrlichs Mittel auch Man darf wohl sagen, daß in der ärzt-
in solchen Fällen von Lues sich sehr wirk- liehen Praxis ein ebenso berechtigtes als
sam erweist, welche auf Quecksilber wenig lebhaftes Bedürfnis nach dem neuen Mittel
oder gar nicht reagieren. Als ganz sicher besteht. Nun ist die Heilsubstanz welche
kann auch ausgesprochen werden, daß Ehrlich mit seltener Liberalität allen
Schädigungen der Patienten bei geeigneter Hospitälern zugänglich gemacht hat, für
Auswahl und geeigneter Dosis durch das die Mehrzahl der praktischen Aerzte bisher
neue Mittel nicht hervorgerufen werden, nicht erhäldich. Gewiß wird jeder die vor-
Aus diesen heut wohl unbestreitbaren bildliche Zurückhaltung billigen, mit welcher
Sätzen darf man die Folgerung ziehen, daß der große Entdecker sein neues Mittel dem
das Ehrlichsche Mittel für die Behänd- Markt ferngehalten hat; aber nachdem die
lung der syphilitischen Erkrankungen schon Hospitalbeobachtungen soweit gediehen
jetzt die größte Bedeutung gewonnen hat. sind, daß an der Unschädlichkeit und der
Ob es gelingen wird, eine dauernde Wirksamkeit der Heilsubstanz kein Zweifel
Heilung zu erzielen und das Vorkommen mehr möglich ist, dürfen wir vielleicht die
von Rezidiven zu verhüten, erscheint bis- Bitte aussprechen, daß das Mittel in ge-
her zweifelhaft. Wenigstens sind schon eigneter Form den Apotheken übergeben
viele Rezidive bekannt geworden. Aber werde, um von allen Aerzten angewendet
einmal weiß man noch nicht, wie groß die zu werden. Wir dürfen zu unsern Kollegen
zur Sterilisierung notwendige Dosis ist, das Zutrauen hegen, daß sie in der In-
zweitens ist es möglich, daß die Abtötung dikationsstellung und der Anwendungsweise
aller Spirochäten nur gelingt, wenn sie | die nötige Vorsicht zu üben wissen werden.
INHALT: Dubois, Psychotherapie S. 385. — Geselschap, Lufteinblasung bei Pleuritis
S. 396. — Focke, Digitalis bei Nasenbluten S. 402. — Meidner, Ehrlichs Syphilisheilmittel S.407.
— Fischer, dasselbe S.411. — Schrohe, Keuchhusten S.429. — Schilling, Oesophagoskop S. 430.
— G.Klemperer, Syphilisheilmittel S.432.— Bücherbesprechungen S.417.— Referate S.418.
Für die Redaktion verantwortlich I’rof. Dr. G. Klempererin Berlin.- Verlag von Urban&Sch warienberg in Wien u. Berlin.
Druck von Julius SittenfeId, Hofbuchdrucker., in BerlinW.8.
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Die Therapie der Gegenwart
1910
herausgegeben von Prof. Dr. G. Klemperer
in Berlin.
Oktober
Nachdruck verboten
Aus der inneren Abteilung des städt Krankenhauses, Altona.
Bemerkungen zur Pathologie und Therapie des Duodenal¬
geschwürs. 1 )
Von Prof. Dr. Umber.
Das Ulcus duodeni ist auch nach meinen
Erfahrungen zweifellos viel häufiger als es
in der Praxis diagnostiziert wird. Das be¬
weisen mir auch meine eigenen Fälle, die
sämtlich ohne Ausnahme unter anderen
Diagnosen in unsere Beobachtung kamen.
So war ich unlängst in der Lage, nicht
weniger als 5 Fälle gleichzeitig in der Be¬
obachtung zu haben. Andererseits be¬
gegne ich freilich der Angabe, daß z. B.
die Gebrüder Mayo (Rochester) wöchent¬
lich 2 Fälle von Ulc. duodeni operieren
und unter ihren letzten 200 Fällen mehr
Duodenalulzera als Magenulzera haben, auch I
wiederum mit einer vorsichtigen Skepsis.
Und zwar darum, weil einmal der Chirurg
selbst bei der Obductio in vivo nicht immer
in der Lage ist, bei uneröffnetem Duode¬
num zu sagen, ob und wo ein Ulcus darin
vorhanden ist. Die Darmwand kann völlig
intakt für die Inspektion von außen bleiben.
Andererseits kann die Diagnose oft genug
auch bei genauester klinischer Beobach¬
tung und sorgfältigster Kenntnis der Sym¬
ptomatologie auf falsche Wege geraten.
Darum seien mir hier einige Bemer¬
kungen zur letzteren gestattet.
Die Schmerzen pflegen in typischen
Fällen in der rechten Parasternallinie in |
der Gegend der Gallenwege aufzutreten, |
kürzere oder längere Zeit nach der Nah¬
rungsaufnahme, meist 2—3 Stunden später,
anfallsweise und manchmal mit großer
Heftigkeit, gewöhnlich ohne Erbrechen.
Daher die Verwechslung mit Cholelithiasis-
anfällen naheliegend. Auch zu dem Fall
von Duodenalgeschwür, den ich Ihnen so¬
gleich im Präparat demonstrieren werde,
war ich von einem erfahrenen Magendarm¬
spezialisten wegen Gallensteinanfällen zu¬
gezogen worden. Einen Kranken habe ich
auf der Höhe der äußerst heftigen Schmerz-
anfälle spontan regelmäßig Knieellen¬
bogenlage einnehmen sehen: Hier saß das
Duodenalulkus an der hinteren Wand und
war nach hinten mit dem Pankreas ver¬
wachsen !
l ) Vorgetragen auf dem Schlcsw.-Holst. Aerztetag,
Itzehoe, den 2. Juli 1910.
Bemerkenswert ist, daß die Schmerzen,
wenn sie 2—3 Stunden nach der Mahlzeit
auftreten, durch erneute Nahrungszufuhr
zuweilen unterdrückt werden (Hunger¬
schmerz, hungerpain).
In einem Falle gelang es mir besonders
schön, den seit Jahren an einer Stelle kon¬
stanten Schmerzpunkt, der stets auch als
palpable Resistenz zu fühlen war, durch
eine Bleimarke auf der Wismutröntgen-
platte 3 Querfinger abwärts vom Pylorus
im Duodenalschatten zur Anschauung zu
bringen. Aehnliches habe ich mehrfach
durch Röntgenaufnahmen eruieren können.
Dorsale Druckpunkte können auch nach
meinen Erfahrungen beim Ulcus duodeni
vorhanden sein, sind aber differential-dia¬
gnostisch nicht verwertbar. Der Schmerz
iät im ganzen mehr von der Quantität der
Nahrung als von der Qualität derselben
abhängig. Ich sah ihn auch nach Rektal¬
nährklysmen auftreten, offenbar durch den
reflektorisch ausgelösten Magensaftfluß.
Die mehrfach beschriebenen dem An¬
fall vorausgehenden Kältegefühle an
Händen, Füßen oder Abdomen werden
manchmal sehr bestimmt spontan angegeben,
manchmal erst durch Befragen eruiert, oft
genug vermißt.
Ikterus gehört nicht zum Bilde des
Duodenalulcus. ln einem von mir beob¬
achteten Fall war er deutlich wenn auch
schwach vorhanden und post mortem durch
einen unabhängig von dem Duodenalulkus
bestehenden kleinen Tumor an der Papille
erklärt.
Was die Temperatur anbelangt, so
habe ich mehrfach in unkomplizierten Fällen
doch eine gewisse Neigung zu subfebrilen
Temperatursteigerungen gesehen, die aller¬
dings oft nur bei 2 stündlichen Rektal -
messungen in der Kurve zu erkennen sind.
Der Magen ist, meist sekundär, in Mit¬
leidenschaft gezogen: Funktionelle Störun¬
gen im Sinne einer abnorm leichten Saft¬
sekretion, Hypersecretio acida, sind nicht
immer, aber doch häufig genug bei der
Funktionsprüfung des Magens zu kon¬
statieren.
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Die Therapie der Gegenwart 1910.
Oktober
Das allergrößte Gewicht bei der Dia¬
gnose muß aber auf den Nachweis von
Blut im Darmkanal gelegt werden. Das
Blut im Stuhl kann schon makroskopisch
an der Teerfarbe erkennbar sein, ja, es
kann sogar als rotes Blut vorhanden sein,
wie ich es kürzlich an einem sogleich
zu besprechenden Fall sah. Meist aber
handelt es sich um sogenannte okkulte
Blutungen, die erst auf chemischem Wege
im Stuhlgang nachgewiesen werden können.
Am besten durch die von Dreyer modifi¬
zierte Web er sehe Probe:
Etwas Stuhlgang wird mit einigen Tropfen
Eisessig und Aether in der Reibschale ver¬
rieben, abgegossen, mit etwas Guajackharz-
pulver geschüttelt und auf ein Stück Fil¬
trierpapier gegossen, das vorher mit altem
Terpentinöl befeuchtet ist. Bläuung zeigt
den positiven Ausfall der Probe an.
Wenn man nun den Nachweis geführt
hat, daß Blut im Stuhl vorhanden ist, so
kann diese Tatsache erst dann diagnostisch
für Ulcus duodeni sprechen — den dazu
gehörigen klinischen Symptomenkomplex
als vorhanden vorausgesetzt —, wenn
1. die Nahrung schon mehrere Tage blut¬
frei, das ist fleischfrei gereicht wurde, und
2. bei der funktionellen Prüfung des
Magens nach Probefrühstück kein Blut
im Magensaft nachweisbar war. Auch beim
blutenden Ulcus duodeni kann durch Anti¬
peristaltik beim Brechen oder Aushebern
Blut in den Magen zurückströmen, darum
ist nur der negative Befund im Magensaft
bei positivem Blutbefund im Stuhl dia- !
gnostisch für Ulcus duodeni verwertbar.
Dieses Moment besitzt aber, darin stimme
ich nach eigenen Erfahrungen mit Ewald
voll überein, einen außerordendich hohen
diagnostischen Wert.
Unter sorgfältiger Berücksichtigung aller
dieser angedeuteten diagnostischen Momente
läßt sich die Diagnose Ulcus duodeni in
vielen Fällen — darin stimme ich Boas
Ewald gegenüber durchaus bei — mit
guter Sicherheit stellen.
Es ist nicht richtig, mit Collin die Dia¬
gnose des Duodenalulcus für unmöglich
anzusehen. Die Angabe von Kausch im
Handbuch der praktischen Chirurgie, es sei
überhaupt noch kein richtig diagnostizierter
Fall von Ulcus duodeni zur Operation ge¬
kommen, ist heute nicht mehr zutreffend.
Als Beweis dafür diene Ihnen z. B. ein Fall
bei einem 33jährigen Herrn, den ich unter
meinen sicher diagnostizierten Fällen des¬
halb auswähle, weil ich Ihnen das sehr in¬
struktive Präparat davon vorzulegen in der
Lage bin.
Hier war mit aller Sicherheit die klini¬
sche Diagnose auf ein suprapapilläres
blutendes Ulkus zu stellen, und wegen der
allmählich profus werdenden Blutungen
die Gastroenterostomie von Prof. König
auf meinen Vorschlag ausgeführt worden.
Die Blutungen aus dem Geschwürsgrund
dauerten dessen ungeachtet fort und führten
zu innerer Verblutung. An dem Präparat
sehen Sie ein suprapapilläres tiefes Ulkus
im Duodenum, das mit dem Grund auf den
Pankreaskopf festgewachsen ist. Die arro-
dierte quer durchtrennte Arteria pancreatica
sah mit ihrem offenen Lumen in den Ge¬
schwürsgrund hinein und war die Quelle
der tödlichen Blutung, die den ganzen
Dünndarm erfüllte. Daneben erkennen Sie
einen kleinen kirschkerngroßen Tumor an
der Papille der von den Ausführungsgängen
ausgeht, mit dem Ulcus nichts zu tun hat,
aber am Ikterus schuld war. Speziell
dieser Fall gibt mir Gelegenheit zu einigen
therapeutischen Bemerkungen. Die allge¬
meine Therapie des Ulcus duodeni über¬
gehe ich aber hierbei, denn sie unter¬
scheidet sich in nichts von der der Magen¬
geschwüre. Aber die Frage der Therapie
der blutenden Duodenalulcera sei berührt.
Auch sie deckt sich im großen und ganzen
mit derjenigen der blutenden Magenge¬
schwüre. Ruhe, Eisbeutel, vorübergehende
Nahrungsenthaltung (wobei zu bedenken
ist, daß auch nach Nährklysmen reflektorisch
Magensaft fließt und den Geschwürsgrund
reizt), Atropin, Morfin, Pantopon, Gela¬
tine per os und subkutan in Form von
Merck scher Gelatine, Suprareningaben.
Besonders rühmend möchte ich den blut-
und schmerzstillenden Effekt des Escalins
hervorheben (5 Pastillen frühmorgens nüch¬
ternin Wasser emulgiert zu trinken 3— 4 Tage
hintereinander), das sich uns seit Jahren
bei allen Blutungen des Magendarmkanals
sehr bewährt hat.
Dauern aber wie in dem zuletzt er¬
wähnten Fall die Blutungen trotz aller
therapeutischen Maßnahmen in profuser
Weise fort und bedrohen das Leben, so
bleibt nur der operative Eingriff. Daß die
Gastroenterostomie nicht ausreicht, um le¬
talen Verlauf der Blutungen zu verhindern,
lehrt der eben besprochene Fall, und ich
möchtedaher vor allem empfehlen, sich in
derartigen Fällen mit der Gastroenterostomie
nicht zu begnügen, sondern das Duodenum
mit allen Kautelen längs zu eröffnen, die
blutende Stelle aufzusuchen und zu ver¬
sorgen. Man muß zu dem Zweck schon
eröffnen. Der Vorschlag von Wilms, in
dem Magen mit eingestülptem Finger das
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Oktober
Die Therapie der Gegenwart 1910.
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Ulcus zu palpieren und zu abernähen, dürfte zur Operation. Vor allem profuse Blutungen
wohl nur in den seltensten Fällen erfolg- oder unerträgliche alimentäre Schmerzen
reich sein, denn das flache Ulcus duodeni, sollten den operativen Eingriff herbei-
das keine verdickten Ränder hat, ist meist j führen, nicht aber an sich die Diagnose
nicht palpabel und sein Sitz nicht mal des Ulcus duodeni, das zunächst kon-
von außen immer an der Serosa erkenn- servativ zu behandeln ist, wodurch auch
bar. meist ein latenter Zustand oder Heilung
Ich rate nur bei dringenden Indikationen herbeigeführt werden kann.
Allgemeine Grundzüge in der Behandlung der akuten Infektions¬
krankheiten der Kinder.
Von Adolf BagtüSky-Berlin.
M. H.! Wenn Sie als bereits lange in
der Praxis stehende, erfahrene Aerzte vor
Ihrem inneren Auge die Mannigfaltigkeit
der nach üblichem Sprachgebrauch als
akute Infektionskrankheiten der Kinder be-
■zeichnete Krankheitsformen vorüberführen,
so wird es Ihnen schier unmöglich erschei¬
nen, allgemeine Grundsätze für die Behand¬
lung dieser so verschiedenen Krankheiten
aufstellen zu wollen; und dies um so weniger
möglich, als Sie gelernt haben und gewohnt
sind, nicht die Krankheiten als „Ding
an sich“, sondern die Kranken zu be¬
handeln, deren jeder durch besondere
Eigenart auch zu besonderer, ihm an gepaßter,
wie wir sagen individualisierender Behand¬
lung herausfordert (indiziert). So wird es
Ihnen von Hause aus als verfehlt erschei¬
nen, sich über dasjenige aussprechen zu
wollen, was den Gegenstand unserer heu¬
tigen Erörterungen bilden soll. — Und
doch! Wenn Sie — selbst jede Polyprag¬
masie ausgeschlossen — trotz den hundert¬
fach, nach den augenblicklichen und spe¬
ziellen Indikationen, wechselnden therapeu¬
tischen Maßnahmen, Ihr eigenes Tun am
Krankenbett akut erkrankter Kinder über¬
prüfen, so wird Ihnen nicht entgehen
können, daß Sie unwillkürlich und fast un¬
bewußt Ihr Handeln nach relativ einfachen
und nicht allzu zahlreichen Grundlinien
einrichteten, und daß Sie solcher Art
schwer gefährdete Kranke über die schwie¬
rigsten Klippen hinweggeführt, gar manches
gefährdete Leben gerettet zu haben über¬
zeugt sind. — Es liegt dies augenschein¬
lich daran, daß ebenso, wie bei aller Eigen¬
art, der einzelne Organismus den allge¬
meinen physiologischen Gesetzen unter¬
worfen ist, auch der Entwicklungsgang und
Verlauf der einzelnen Krankheitsformen,
sie seien nach Ursprung und Erscheinungs¬
formen noch so verschieden, allgemeinen
Gesetzen der Pathogenese und Pathologie
zu folgen gezwungen sind. — So gibt es also
nach beiden Richtungen hin, sowohl nach
der Seite der Erkrankten, wie nach der
pSeite der Krankheit, einen gemeinsamen
Boden, der für eine allgemeine Therapie
der in Rede stehenden Krankheiten ge¬
nutzt werden kann. — Dies soll der Aus¬
gangspunkt unserer Ausführungen sein.
M. H.! Wenn es gleich schwierig ist,
bei dem steten und rapiden Fortgang der
Forschungen, scharf abzugrenzen, was
unter den Begriff der Infektionskrankheit
fällt, — ich darf nur daran erinnern, wie
relativ kurz noch die Zeit her ist, daß wir
für Pneumonie, für Malaria, Tuberkulose
u. a. die Krankheitserreger kennen gelernt
haben, so daß wir diese Krankheitsformen
I in die Reihe der Infektionskrankheiten haben
einrücken sehen —, so sind wir doch
£ einigermaßen mit uns im Klaren und
werden einander verständlich, wenn wir
von den akuten Infektionskrankheiten, ins¬
besondere auch der Kinder sprechen. Wir
wissen, daß es sich um Krankheiten han¬
delt, welche mit typischen Krankheitser¬
scheinungen auftreten und meist typischen
; Verlauf nehmen und einem spezifischen
Krankheitserreger ihr Entstehen verdanken.
> Für eine Anzahl derselben ist dieser Krank-
, heitserreger bereits bekannt, für weitere,
I deren Virus uns noch nicht erschlossen ist,
ist aus der Analogie heraus mit fast spo-
i diktischer Sicherheit der Schluß zu ziehen,
daß die Krankheiten lediglich durch ein
| spezifisches Kontagium erzeugt werden
i können. Kein moderner Arzt wird zweifeln,
daß Skarlatina, Morbillen, Variola und
Varizella, jede durch den spezifischen,
i lebendigen Krankheitserreger erzeugt wer¬
den. — So fußen die akuten Infektions¬
krankheiten allesamt auf dem gemeinsamen
Boden, daß sie aus der Einwirkung dieser
Infektionserreger hervorgehen. Wie man
sich nun die Wirkung der Infektionser¬
reger im Organismus vorzustellen habe,
i dies ist, wie Sie wissen, eine noch nicht
völlig zum Austrag gebrachte Frage, die
, gerade in der jüngsten Zeit aufs lebhafteste
diskutiert wird. Wenn Pirquet und
, Schick die Anschauung vertreten, daß
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Die Therapie der Gegenwart 1910.
Oktober
die Infektionskrankheit dann in die Er¬
scheinung tritt, wenn im Organismus er¬
zeugte und in die Blutbahn eintretende
Antikörper mit den Krankheitserregern
selbst oder deren Toxinen in Beziehung,
in Reaktion, treten, so vermag dies wohl
dazu zu dienen, die Krankheitsvorgänge
bei den Infektionskrankheiten unserem Ver¬
ständnis näher zu bringen, wie denn auch
Stärke, Art und Mannigfaltigkeit der Sym¬
ptome aus der Variabilität der Reaktion
zwischen Antikörper und Virus erklärlich
erscheint; ob aber diese Anschauung d ; e
richtige, und für alle Infektionen zutreffende
ist, dürfte immerhin in Frage stehen; wie
denn auch, wie Sie wissen, Bail die An¬
schauungen von Pirquet nicht teilt und
nicht sowohl die Reaktion, als vielmehr die
Lahmlegung der Schutzkräfte des Orga¬
nismus durch von den Mikroorganismen
abgesonderte Aggressivstoffe, und die so
gewonnene Möglichkeit der eigenen Ver¬
mehrung und der Giftwirkung als den
Ausgangspunkt der eigentlichen Infektions¬
krankheit betrachtet; so gibt es noch an¬
dere Anschauungen, ich verweise nur auf
Wolff-Eisners Endotoxintheorie u. a.m.,
aus denen die Krankheitserscheinungen er¬
klärt werden. — Sei dem nun. wie ihm
wolle; dem Arzt ist die Krankheit der
Ausdruck einer Abweichung des Organis¬
mus von ‘der normalen Funktion, unter
dem Einfluß eines pathogen wirkenden
Reizes.
Die bedeutungsvollste aber und am
meisten augenfällige Abweichung von der
Norm ist, mit nur seltenen Ausnahmen,
das Auftreten von Fieber.
Das ist so konstant, daß uns am
Krankenbette das Auftreten von Fieber,
— wenn wir von einigen wenigen fieber-
erregenden aseptischen Reizen absehen,
— mit dem Begriffe einer stattgehabten
Infektion fast zusammenfällt. Hier sehen
wir also eine allen Infektionskrankheiten
allgemein zugehörige Erscheinung, und
es läßt sich von Hause aus begreifen,
daß von jeher dem Arzte der Gedanke
nahe getreten ist, dieser Allgemeinerschei¬
nung der Infektionskrankheit gntgegenzu-
wirken; wobei vorausgesetzt wurde, daß
der Symptomenkomplex, den wir unter dem
Begriff des Fiebers zusammenfassen, als
dem Kranken schädlich und bedrohlich sei.
Wir werden denn auch alsbald Gelegen¬
heit nehmen, zu prüfen, ob diese, unter
dem wuchtigen Eindrücke der Fieberer¬
scheinungen wohl erklärliche, gleichsam
primitive und notwendig erscheinende
ärztliche Aktion diejenige Berechtigung
bat und für den Kranken mit dem Heil¬
erfolge ausschlaggebend wird, den der
Arzt von jeher davon erwartet hat.
Bevor wir aber in diese Frage eintreten,
lassen Sie uns erst noch eine andere,
augenscheinlich mindestens ebenso wich¬
tige, ja vielleicht noch wichtigere erörtern,
weil sie die eigentlich noch primitivere ist;
nämlich die, ob es und inwieweit es mög¬
lich ist. nach dem alten therapeutischen
Grundsätze: cessante caussa cessat effectus,
eine echt und recht kausale, eine spezi¬
fische Therapie bei der Bekämpfung der
Infektionskrankheiten einzuschlagen; um so
ab initio der hereinbrechenden oder be¬
reits zutage getretenen Krankheit ein so¬
fortiges und schleuniges Ende zu bereiten.
— Der Gedanke der spezifischen Therapie
liegt so nahe und ist Laien sowohl wie
Aerzten so augenscheinlich Erfolg ver¬
sprechend, daß es nicht Wunder zu nehmen
braucht, daß derselbe von frühester Zeit her
ein Grundgedanke allen therapeutischen
Handelns gewesen ist. Derselbe fand auch
in der Tatsache, daß man das Auffinden
spezifischer Mittel nicht zu den Utopien
rechnen dürfe, seitdem man in dem Chinin
ein spezifisches Mittel gegen Malariainfek¬
tion erkannt hatte, ein wissenschaftlich
gegründetes Fundament, und es ist des¬
halb wohl zu verstehen, daß der in der
allerjüngsten Zeit von Ehrlich so ener¬
gisch und, wie es den Anschein hat, mit
so großem Erfolge verfolgten Gedanken¬
gang der Therapia sterilisans magna von den
Sympathien und dem intensivsten Interesse
der gesamten ärztlichen Welt begleitet
wird. Es bedarf auch keiner langen Aus¬
einandersetzung der Gründe dafür, daß der
Gedanke der spezifischen Therapie der
Infektionskrankheiten in der Zeit der Ent¬
deckungen und des Nachweises der spezi¬
fischen Krankheitserreger, in der letzten
Epoche der Medizin, der Zeit der Bakterio¬
logie und Mikrologie, mehr als je in den
Vordergrund getreten ist; hat sich doch
mit der Kenntnis der mikrobischen Krank¬
heitserreger auch das Verständnis für ihre
Wirkungsweise im Organismus immerhin
weiter erschlossen, und läßt uns die vor
unseren Augen sich aufbauende Iromuni-
tätsforschung Angriff und Gegenwirkung
besser verstehen, als es je vordem etwa
möglich erschien. Die wenngleich vorerst
nur auf beschränktem Gebiete errungenen
Erfolge der Serumtherapie und die jüng¬
sten Erfolge der Chemotherapie machen
die Hoffnung rege, daß es nicht mehr aus¬
geschlossen ist, daß auch für jede
einzelne aus der Gesamtheit der In-
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Oktober
Die Therapie der Gegenwart 1910
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ftktionskrankheiten das je entsprechende
antidotische, spezifische, therapeutische
Agens gefunden werden kann. — Freilich
sind dies fQr den Augenblick zumeist
nur erst noch Ausblicke. Hoffnungen, mit
denen bei der Mehrzahl der Infektions¬
krankheilen dem Kranken nicht geholfen
werden kann. Wir müssen uns als Aerzte
dessen bewußt bleiben, und gerade in
einer Zeit, wo die Hoffnung auf das Ge¬
lingen spezifischer Therapie durch glück¬
liche Ergebnisse gegenüber einigen wenigen
Krankheitsformen erfüllt worden ist, müssen
wir uns mehr als je davor hüten, ver¬
allgemeinern zu wollen, durch wüstes oder
rohes Darauflosexperimentieren an den er¬
krankten Organismus mit schematisch er¬
dachten und künstlich zusammengefügten
Mitteln allzu optimistisch heranzutreten. Es
würde dies zu unabsehbarem Schaden für
unsere Kranken ausschlagen und nicht zu
rechtfertigen sein. Bisher hat die spezifische
Therapie nur noch in den engsten Grenzen
Wert und Bedeutung, die nur ganz müh¬
sam und schrittweise von der wissenschaft¬
lichen Medizin erweitert werden.
Tatsächlich ist eben, bis auf die wenigen !
Krankheiten, für welche wir spezifische :
Heilmittel und Heilsera bisher in die Hand I
bekommen haben, der Weg unseres thera- j
peutischen Handels nach der anderen, bis- I
her eingeschlagenen Seite zu verfolgen, daß !
wir uns auf die Bekämpfung eventuell Be¬
seitigung der infolge der Infektion nach
und nach eintretenden, den Organismus
bedrohenden Krankheitserscheinungen, der
funktionellen Störungen und anatomischen
Läsionen, am Krankenbette einzurichten
haben.
Unter diesen Erscheinungen ist es nun,
wie angegeben, in erster Reihe das Fieber,
das den Arzt zu therapeutischen Leistungen
herauszufordern scheint; denn mit dem
Fieber gehen anscheinend, wenn nicht alle,
so doch viele der bedrohlichen Vorgänge
im Organismus einher. So kann es nicht
Wunder nehmen, daß auch in der Be¬
kämpfung des Fiebers von jeher eine —
ob mit Recht oder Unrecht, ist ja wohl
fraglich — der Hauptaufgaben ärztlichen
Handelns gesucht wurde.
Ich habe vor einer Reihe von Jahren
in einer der Frage der Fieber bekämpfung
bei den Infektionskrankheiten im Kindes¬
alter gewidmeten Studie *) mich mit dem
Gegenstände einigermaßen ausreichend be¬
schäftigt. Ich habe daselbst ausgeführt,
%
*) Die Antipyrese im Kindesalter, Verlag August
Hirschwald, Berlin 1901.
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daß das anscheinend bedeutsamste Haupt¬
symptom des Fiebers, die Temperatur¬
steigerung allein nicht diejenigen Ge¬
fahren für den Organismus birgt, die man
gewillt war, demselben beizulegen, daß
schwerste, mit gefährlichster Bedrohung
des Organismus einhergehende akute In¬
fektionskrankheiten mit relativ geringen,
nur kaum mittelhohen Temperaturen ein¬
herzugehen vermögen, und umgekehrt, hohe
Fiebertemperaturen vielfach ohne Schaden
überwunden werden; ich habe insbeson¬
dere auch auf die für den kindlichen Or¬
ganismus geltende große und auf anatomi¬
schen und biologischen Grundlagen sich
auf bauende Labilität der Wärmeökonomie
hingewiesen, die dazu führt, daß Kinder
gar leicht sehr hohe Temperaturen im
Fieber erreichen, aber auch relativ leicht
ertragen; und zwar deshalb leichter er¬
tragen, weil ebenso, wie beim Kinde die
Steigerung der Temperatur eine raschere
und intensivere, ebenso die Wärmeabgabe
eine erleichterte und mehr ergiebige ist;
ferner weil die allenfalls für Erwachsene so
bedrohlich mit der gesteigerten Fiebertem¬
peratur in die Erscheinung tretende mit¬
gesteigerte Herzaktion und damit gegebene
Herzabnutzung für Kinder von weniger
großer Bedeutung ist. — Damit sind zu¬
nächst schon und ganz allgemein Finger¬
zeige gegeben, daß wir nicht nötig haben,
um der Temperatursteigerung allein und
an sich mit gewalttätigen und besonders
aktiven therapeutischen Maßnahmen an den
kindlichen Organismus heranzutreten; viel¬
mehr wird man, selbst unter der Voraus¬
setzung, daß es wünschenswert erschiene,
eine besonders hoch gesteigerte Fieber¬
temperatur zu bekämpfen, mit Vorsicht und
Bedacht, vor allem mit Maß, das Herab¬
mäßigen der Temperatur in die Wege
I zu leiten haben. Ich habe diese Tatsachen
| in der erwähnten Studie dahin zusammen¬
gefaßt, daß ich erklärte, das Gefahrdroh¬
ende bei den Infektionskrankheiten der
Kinder liege nicht sowohl in der hyper-
pyretischen Temperatur an sich, als viel¬
mehr in der toxischen allgemeinen Wir¬
kung der Krankheitserreger, für welche
die hyperpyretische Temperatur nur als
ein einzelnes Phänomen zum Ausdruck
gelangt. — Diese Allgemeinwirkungen
der Krankheitserreger und ihrer Toxine,
welche das Fieber begleiten, sind es,
welchen in erster Reihe die Aufmerksam¬
keit des Arztes am Krankenbette des
Kindes zugewandt bleiben muß; sie sind
es, die das therapeutische Handeln be¬
stimmen.
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Die Therapie der Gegenwart 1910.
Oktober
Die toxischen Wirkungen geben sich,
wie Ihnen ja allen bekannt ist, an fast allen
Organen, aber je nach der besonderen
Eigenschaft (Affinität), sei es der toxischen
Körper selbst, oder auch je nach der be¬
sonderen Disposition des Erkrankten, in
mehr oder weniger großer Verschieden¬
heit kund. i
In hervorragender Weise wird das
Nervensystem, und zwar bei Kindern zu¬
meist sehr frühzeitig in Mitleidenschaft ge¬
nommen; so sehen wir beim Anfang der
Erkrankung schon Erbrechen, Kopfschmerz,
allgemeine Hinfälligkeit, Unruhe bis zu
Konvulsionen, Delirien und auch soporöse
Zustände in die Erscheinung treten. — Mit
mehr oder weniger langer Dauer und mit
mehr oder weniger ausgeprägter Intensität
treten diese Symptome in dem Krankheits¬
verlaufe hervor und werden zur Grundlage
therapeutischer Indikationen und von Ma߬
nahmen, die sich dann bei den meisten
akuten Krankheiten, welcher Art der Ver¬
lauf auch sonst sei, wiederholen.
Nicht minder intensiv sind Erschei¬
nungen am Zirkulationsapparat. Gesteigerte
Herzaktion, Pulsfrequenzen bei Kindern
bis 160—180 und noch mehr gehören nicht
zu den Seltenheiten; Arythmie und Herab-
gehen der Pulsspannung — also Zustände
von Herzschwäche —, nicht so häufig viel¬
leicht wie bei Erwachsenen, treten sie
meist doch auch in die Erscheinung; sie
sind, wie ich schon angedeutet habe, für
Kinder im allgemeinen nicht im entfern¬
testen so gefährlich wie für Erwachsene;
sie werden aber freilich auch hier und da
bedrohlich und können schließlich als funk¬
tioneile Störungen, Kollapszustände, bei
langer Dauer des Krankheitsprozesses aber
auch durch anatomische Läsion des Herzens,
durch Degeneration des Herzmuskels, ge¬
fährlich werden. Bei einzelnen Infektions¬
krankheiten, so beispielsweise bei Gelenk¬
rheumatismus, Diphtherie, sind die Toxin¬
wirkungen durch die augenscheinlich be¬
sonderen Affinitäten der Toxine zum Herzen
ganz besonders zu berücksichtigen. — Bei
anderen sind es die Veränderungen der
Blutgebilde, Vermehrung oder Verminde¬
rung der Leukozyten, hämolytische, die
Erythrozyten schädigende Vorgänge, die
unsere Aufmerksamkeit erheischen.
Sind die Respirationsorgane nicht schon
die von Hause aus eigentlich in Angriff ge-
nommenenen, wie bei der genuinen Pneu¬
monie, so werden sie doch leicht und
häufig in Mitleidenschaft gezogen; augen¬
scheinlich durch die gelegentlich der
Störungen der Herzaktion einsetzenden
Zirkulationsstörungen und die damit be¬
dingten exsudativen Vorgänge. So sind
Bronchitis, Bronchopneumonien häufige und
unbehagliche Begleiter der Mehrzahl der
akuten Infektionskrankheiten.
Sehr früh schon zumeist funktionell,,
aber auch anatomisch geschädigt werden
die Digestionsorgane. Anorexie, und zwar
meist vollkommenes Darniederliegen des
Appetits bei ausgeprägtem Durstgefühl,
Erbrechen, Diarrhoeen oder hartnäckige Ob¬
stipation charakterisieren eine große Anzahl
der akuten toxischen Prozesse; damit geht
nun begreiflicherweise je nach der Dauer
Gewichtsverlust, Abmagerung und allge¬
meiner Verfall einher, sofern man nicht
von vornherein darauf bedacht ist, den¬
selben durch geeignete Ernährung der
Kranken entgegenzuwirken. Wir werden
erkennen, daß hier sehr bedeutsame Auf¬
gaben einer allgemeinen und verständigen
Therapie erwachsen.
Auch die Harnorgane werden in Mit¬
leidenschaft gezogen; begreiflicherweise,
da schließlich den Nieren die Aufgabe zu-
fällt, einen großen Teil der Krankheits¬
erreger und toxischer Substanzen aus dem
Organismus mit dem Harn auszuscheiden,
sei es nun als noch wirksame oder durch
Abtötung und chemische Wandlung und
Bindung veränderte und unschädlich ge¬
machte Körper; eine Aufgabe, welcher die
Nieren vielfach nicht ohne eigene Schädi¬
gung sich zu unterziehen vermögen.
M. H.! Es sollte Ihnen mit diesen
kurzen Andeutungen nur vor die Augen
geführt werden, wie umfangreich die all¬
gemeinen Wirkungen der schädigenden
toxischen Substanzen werden. Fast immer
aber und nur der Zeit und dem Grade
nach verschieden tritt als typischer und
charakteristischer Ausdruck der Infektion
und der Intoxikation die gesteigerte Tem¬
peratur in die Erscheinung.
Wir wissen, daß all die erwähnten Vor¬
gänge — das Fieber eingeschlossen — unter
dem Einflüsse der Abwehrtätigkeit des Or¬
ganismus, des Kampfes gegen die Infektion
und Intoxikation, welcher Art dieser nun auch
sei, entstehen; sie sind der Ausdruck der
Antiaktion desselben gegenüber den dem
Organismus heterogenen aggressiven Fak¬
toren, letztere sind als Antigene die
Agentien, welche die Zellengruppen zu
Abwehraktionen und -leistungen spornen.
Bei einzelnen Krankheiten vermögen
wir nun mit relativ einfachen Untersuchungs¬
methoden zu verfolgen, daß diese Wehr¬
leistungen des Organismus nur vollzogen
werden unter der Einwirkung der gestei-
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UNIVERSiTY OF CALIFORNIA
Oktober
Die Therapie der Gegenwart 1910.
439
gerten Körpertemperatur; so weiß man
beispielsweise, daß die Hyperleukozytose
bei der genuinen Pneumonie, welche die
Vorgänge der Krise einleitet, wesentlich
unter dem Einflüsse erhöhter Körpertem¬
peratur vor sich geht; daß so in der Tem¬
peratursteigerung des Fiebers, so bedroh¬
lich dieselbe auch unter Umständen er¬
scheinen kann, dennoch von der Natur ein
wesentlicher Faktor der einzuleitenden
Heilung geschaffen sein kann. Diese eigen¬
artige Stellung, welche das Fieber bei den
durch Infektion eingeleiteten Vorgängen im
Organismus einnimmt, daß es, an sich gefahr¬
drohend und bedrohlich, dennoch mit den
Heil Vorgängen eng verknüpft ist, hat es
dem Arzte von jeher schwer gemacht, in
. der einzelnen Krankheitsform sowohl, wie
noch ganz besonders bei dem einzelnen
Kranken die Entscheidung zu treffen, ob
überhaupt und bis zu welchem Grade die
Fieberbekämpfung notwendig oder gar zu¬
lässigsei; notwendigem eine durch die Tem¬
peratursteigerung an sich gesetzte Schädi¬
gung der Organe zu verhüten, zulässig, um
nicht in den von der Natur angebahnten
Immunisierungs- und damit also Heilungsvor¬
gang ungeschickt und störend einzugreifen.
Verfolgt man die um diese Frage sich
konzentrierenden theoretischen und experi¬
mentellen Arbeiten, so erkennt man aus
ihnen, wie überaus schwierig es ist, theo¬
retisch zu einer Entscheidung zu gelangen.
Ich kann hier nur auf die um dieses so schwie¬
rige Gebiet seit vielen Jahren sich konzentrie¬
renden Arbeiten hinweisen, deren Be¬
deutung Wassermann in dem Kapitel
„Wesen der Infektion 4 * des K o 11 e -Wasse r-
mannschen Handbuchs der pathogenen
Mikroorganismen, ins rechte Licht gestellt
hat (s. Bd. 1. S. 267 fl.). Wassermann
kommt nach einer immerhin stattlichen
Uebersicht der wichtigsten Erscheinungen
der Literatur über die Phasen des Kampfes
in der Frage von der ätiologischen Bedeu¬
tung des Fiebers, zu dem Schlüsse daß man
zwar das Fieber gleichsam als Indikator
einer Teilerscheinung einer für den Ab¬
lauf der Infektion nützlichen Reaktion des
Organismus betrachten dürfe, daß indes
Ursachen und Wesen des Fiebers in In¬
fektionen vielartig und wechselnd sein
können, so daß man also für die einzelne
Krankheit und gar für den einzelnen Fall
bei einer besonderen Infektionskrankheit
aus den allgemeinen Prinzipien für die
Frage der Behandlung sichere Schlüsse
nicht ziehen kann, vielmehr ist man auf
„eingehende Studien der einzelnen Infek¬
tionen 41 angewiesen.
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So hat es also für den Praktiker wenig
Zweck, auf das Für und Wider in den
theoretischen Erörterungen des näheren
einzugehen; die Literatur 1 ) ist bis in die
jüngste Periode überaus mannigfach und
in den Ergebnissen schwankend. Mehr als
je muß man auf die in der Klinik
zu erwerbende und auf die von dem Prak¬
tiker am Krankenbett zu erringende Erfah¬
rung hinweisen, wenn es sich darum han¬
delt, in dem einzelnen Infektionsfall die
Frage der Notwendigkeit und des Maßes
der Fieberbekämpfung zu entscheiden. Diese
Erfahrung am Krankenbett leitet aber etwa
zu folgenden Schlüssen, die ich in einigen
kurzen Sätzen fixieren möchte.
1. Hohe und nicht gerade exzessive
Temperatursteigerungen (etwa bis 40,5 und
selbst 41 o C) werden im ganzen, insbeson¬
dere von Kindern, nicht allzu schwer ver¬
tragen, wenn sie nur kurze Zeit andauern.
Ausgeschlossen müssen selbstverständlich
etwa durch Eiterungsprözesse (Otitis,
Zystitis usw.) örtlich bedingte und unter¬
haltene Temperaturen werden. Sie rechnen
nicht hierher.
2. Exzessive Temperaturschwankungen
zwischen 40—41 0 C und 36 o C sind der
Ausdruck septischer Infektion und nicht so¬
wohl an sich, als vielmehr um des Pro¬
zesses willen, den sie indizieren (Septi-
kämie, Pyämie), gefährlich.
3. Längerdauernde hohe Fiebertempe¬
raturen, ohne wesentliche Remissionen über
39° C bis 41° sind unbedingt gefährlich;
sie sind der Ausdruck schwerer Infektion,
erschöpfen aber auch gleichzeitig an sich
den Organismus.
4. Langdauernde, selbst nur in mittleren
Temperaturschlägen schwankende Fieber¬
bewegungen zwischen 37,8—39 o C können
um ihrer Dauer willen gefährlich werden,
weil sie den Organismus durch die be¬
gleitenden Phänomene (Anorexie, Diar¬
rhöen usw.) erschöpfen.
Was werden wir aus diesen allgemeinen
Sätzen für die Praxis zu lernen haben?
1. Gegen momentane, eben erst ein¬
setzende, selbst hohe Temperatursteige¬
rungen, hat der Arzt nicht nötig mit Anti-
pyrese einzuschreiten, oder nur dann, wenn
1 ) s. Henrijean, Revue de m6dicine 1889.
Nr. 11.
Rovighi, Lavori dei Congr. di medic. intern.
1890. Zentrbl. f. Bakt. u. Parasit. Bd. 8, 1890.
A. Loewy u. P. F. Richter, Virchows Arch.
Bd. 145, 1896.
Paltauf, Wiener klin. Wochschr. 1898, Nr. 14.
s. auch Wolfgang Weichardts Jahresberichte
der Inununitätsforschung von 1905 an. Verlag: Fer¬
dinand Enke, Stuttgart.
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UNIVERSiTY 0F CALIFORNIA
440
Die Therapie der Gegenwart 1910.
Oktober
besondere Umstände (Konvulsionen, De¬
lirien, große Unruhe usw.) dazu zwingen.
2. Die Antipyrese wird erst notwendig,
wenn hohe Temperaturen (ohne wesent¬
liche Remissionen) längere Zeit hindurch
(5, 6, 8 Tage) andauern.
3. Die Antipyrese wird weiterhin eben¬
falls notwendig, wenn mittelhohe Tempera¬
turen längere Zeit hindurch (8 — 14 Tage)
andauern (so bei Bronchopneumonien).
4. Die septischen Fieber (mit exzessiven
Schwankungen) sind mit antipyretischen
Mitteln, zu allermeist Oberhaupt nicht zu
bekämpfen. Sie sind refraktär, und weichen,
soweit es überhaupt möglich ist, meist nur
chirurgischen Eingriffen, soweit solche durch
örtliche Affektionen indiziert sind.
Dies sollen wohl auch im allgemeinen
die Grundsätze der Fieberbekämpfung der
Infektionskrankheiten sein. Man wird an
der Hand derselben sich vielleicht nicht
in allen, aber doch in vielen Fällen für
sein Handeln am Krankenbett zurechtfinden.
Ueber die Art der Antipyrese habe ich
mich seinerzeit in meiner oben zitierten
Broschüre genügend ausgesprochen, und
darf hier zusammenfassend nur wieder¬
holen, daß man am besten
1. wenn irgendmöglich innerliche Anti-
pyretika meidet, vielmehr den Versuch
macht, mit Abkühlungen, Eisblasen, kühlen
Waschungen, Einpackungen, Bädern (bei
Kindern nicht unter 20o R.) auszukommen.
Man vergesse nie, daß die meisten inner¬
lichen antipyretischen Mittel Herz oder das
Blut schädigende Mittel sind;
2. daß man keinerlei Antipyrese an¬
wende, die nicht von der Anwendung von
roborierenden Mitteln begleitet wird;
3. daß im allgemeinen die Antipyrese
die Herzkraft nicht schwächen darf, viel¬
mehr muß sie mit Mitteln erreicht werden,
welche dem Herzmuskel zu Hilfe kommen.
Ich gehe hier weiterhin absichtlich auf die
einzelnen Antipyretika nicht ein, verweise
vielmehr auf das, was ich in der mehrfach
zitierten Broschüre bereits ausgeführt habe;
ich will nur ganz allgemein zur Begründung
der hydriatischen Antipyrese gegenüber der
Anwendung innerlicher Mittel anführen,
daß die relativ große Körperoberfläche des
Kindes im Verhältnis zu seinem Körper¬
volumen von Hause aus auf die große
Wirksamkeit dieser wärme entziehenden
Methode beim Kinde hinweist und deshalb
auch um so besser verwertbar ist, weil sie
vortrefflich, je nach der Ausgiebigkeit der
Anwendung am Krankenbett des Kindes
dosiert und dem einzelnen Kinde angepaßt
werden kann. — Damit soll nun freilich über
die innerlichen Antipyretika, die sicherlich
oft nicht zu entbehren sind, der Stab nicht
gebrochen werden; nur soll man bei
Kindern damit nicht ohne ganz bestimmte
und wohl erwogene Indikationen Vorgehen,
weil sie immer eine gewisse Schädigung
der Herzkraft und des Blutes der Kinder
involvieren.
Nicht umgehen will ich aber gelegent¬
lich der Frage der Anwendung der Robo-
rantien und Stimulantien die Frage der
Verwendung des Alkohols. Hier kann man
nur aus der Erfahrung heraus urteilen.
Reinen Alkohol, sei er auch verdünnt, bei
kranken Kindern anzuwenden, wird kaum
einem erfahrenen Arzte beikommen,
wenigstens nicht bei uns in Deutschland.
Ganz etwas anderes ist es mit der An¬
wendung von Wein.
Meiner Auffassung nach hat alles, was
im Kampfe der Meinungen für und wider
den Alkohol geschrieben worden ist und
noch wird, gar nichts mit der Frage der
Darreichung von Wein bei den Infektions¬
krankheiten der Kinder zu tun. Der Wein
kommt nichts weniger, als lediglich durch
seinen Gehalt an Alkohol, als roborieren-
des und stimulierendes Mittel am Kranken¬
bette der infektionskranken Kinder zur
Wirkung. Der Wein ist ein sehr kom¬
plexes, inhaltsreiches Medikament, und
bleibt, wie aus der praktischen Erfahrung
heraus geurteilt werden kann, das beste
roborierende und stimulierende Mittel für
Kinder, welche länger dauernden, mit
Fieber verlaufenden Prozessen unterliegen.
Ich halte denselben für geradezu unent¬
behrlich und möchte ihn nicht missen,
kann ihn selbst bei solchen Infektions¬
krankheiten, welche durch ihre Eigenart be¬
sonders die Nieren, wie beim Scharlach,
mitzubeteiligen vermögen, in dem Augen¬
blicke nicht missen, wenn im ersten Shok
die Kranken der malignen Einwirkung des
Virus auf das Herz zu erliegen drohen;
für die mit längerem Fieber einhergehenden
Infektionskrankheiten, wie den Typhus, halte
ich ihn für das vorzüglichste Unterstützungs¬
mittel der hydriatischen Antipyrese; er ist
mir lieber als die sonst vielfach an ge¬
wendeten Herztonika und Exitantien, wie
Digitalis, Koffein, Kampher, Strychnin usw.
wenngleich wohl auch diese Mittel gewiß
nicht immer entbehrt werden können. So
sehr mir bekannt ist, daß diese Anschauung
und Erfahrung auf Gegnerschaft stößt, so
wenig können mich die theoretischen Er¬
örterungen und selbst die praktischen Er¬
fahrungen über die Gefährlichkeit des Al¬
kohols als Genußmittel für gesunde Kinder,
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UNIVERSiTY 0F CALIFORNIA
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Oktober
Die Therapie der Gegenwart 1910.
441
von der Erfahrung der ausgezeichneten
Wirkung des Weins auf längere Zeit hin¬
durch fiebernde Kinder, abdrängen. Darum
rate ich für die Mehrzahl der Infektions¬
krankheiten zur Anwendung einer mäßigen
aber wirksamen Gabe guten (ich verwende
meist griechische Weine, aber auch Bor¬
deaux- und Sherry wein) Weines, von
25—50—100 g pro die bei Kranken von
5—10—14 Jahren, in Verbindung mit der
allgemeinen Antipyrese, beziehungsweise
auch bei lokaler Antipyrese (beispielsweise
in der fibrinösen Pneumonie).
Wie aber hervorgehoben, ist die Infek¬
tion nicht allein durch das Fieber, sondern
durch eine größere Reihe von besonderen
Erscheinungen, die durch die Mitleidenschaft
der verschiedensten Organe ausgelöst
werden, gekennzeichnet. Wir haben diese,
da sie doch immer zu den Allgemein¬
erscheinungen rechnen, wenn auch nur
kurz in den Bereich unserer Betrachtungen
zu ziehen.
Obenan fesseln unsere Aufmerksamkeit
die nervösen Symptome: Schlaflosigkeit,
Unruhe, Delirien, Konvulsionen. Sie können
lediglich durch das Fieber bedingt sein
und weichen alsdann der angewandten
Antipyrese mit dem HerabdrQcken der
Temperaturkurve. Wo dies nicht der Fall
ist, und sie durch die Eigenart der Intoxi¬
kation oder der Individualität der Kranken
bedingt werden, erheischen sie besondere
Maßnahmen. Es kann notwendig werden,
einem Kinde, das längere Zeit hindurch
schlaflos und unruhig sich umherwälzt, so
ungern man dies auch tun mag, durch
Narkotika Hilfe zu schaffen; soll ich ein
besonderes empfehlen, so vermag ich als
angenehmes Sedativum das Veronal anzu¬
geben. In Gaben von 0,1—0.2 bei Kranken
von 5—10—14 Jahren bewähit es sich als
gutes Mittel. Freilich ist es geboten, das
Mittel absolut nur so lange anzuwenden, als
es unbedingt unentbehrlich erscheint. Un¬
ruhe, Delirien, Jaktationen wird man immer¬
hin nebenher neben der allgemeinen Anti¬
pyrese durch örtliche Applikation von Eis
zu bekämpfen versuchen, während tieferen
soporösen Zuständen gegenüber die all¬
gemeine Antipyrese, eventuell mit dem
mechanischen Effekt kalter Uebergießungen
kombiniert werden kann.
Die Exzitationszustände des Herzens und
des gesamten Zirkulationsapparates werden
gleichfalls in der auf das Herz applizierten
Eisblase ein gutes Mittel finden, in Ver¬
bindung eventuell mit der Anwendung
der eigentlichen Herzmittel, wie Digitalis,
Koffein usw., wenn Schwächezustände des
Herzens sich einstellen. In letzterem Falle,
bei Herzarythmie, schwach und klein
werdendem, allzu frequentem Puls, wird
man immer wieder mit Vorteil auf den
Gebrauch des Weines zurückgreifen, und
nur im großen Notfälle, wo alles zu ver¬
sagen droht, zu Kampfer und anderen
Reizmitteln seine Zuflucht nehmen. Immer¬
hin ist es eine der wesentlichsten Aufgaben
der Aerzte, bei Infektionskrankheiten stetig
die Herzaktion zu überwachen und recht¬
zeitig dem Kranken beizuspringen.
Für die allgemeinen Gefahren, die bei
infektiösen Prozessen seitens des Respi¬
rationsapparates drohen, bieten meist schon
die genannten Herzmittel gute Hilfe, denn
zumeist sind die in den unteren Partien
der Lungen eintretenden Katarrhe und
Atelektasen die Folgen geschwächter Herz¬
aktion. Unterstützt kann die Wirkung
dieser Mittel indes doch durch die Summe
der Expektorantien, vor allem aber auch
durch Sauerstoffeinatmungen werden. —
Es sei dies hier nur angedeutet, ohne daß
ich in die Details der Dinge weiter eingehen
möchte. — Was für den Respirationsapparat,
gilt auch für die Nieren. Albuminurie
ist wie erwähnt, vielfach der Ausdruck der
Infektion, oder der Ausscheidung von
Toxinen und Krankheitserregern durch die
hierbei geschädigten Nieren; sie kann aber
auch durch fehlerhafte Herzaktion bedingt
sein. Hier vermögen, solange es sich nicht
um echte Nephritiden handelt, subkutane
Injektionen von Kochsalzlösung, am besten
der von mir verwendeten S^ige Lösung
(hypotonische Lösung), in Mengen von 100
bi3 200 g Abhilfe zu schaffen; im übrigen
vermag Gebrauch von alkalischen Wässern,
wie Wildunger, Vichy, Fachinger usw.
durch Anregung der Diurese von Nutzen
zu sein; wird doch durch dieselben der
auszuscheidende Harn und mit ihm die
die Nieren passierende Masse der Toxine
verdünnt, und so für das Nierenparenchym
weniger schädlich gemacht.
Nicht minder von Bedeutung, das hin
und wieder ebenfalls als ein Zeichen der
Infektion in den Vordergrund tretende Er¬
brechen, oder auch die in gleicher Weise
die Schwere der Infektion markierenden
Diarrhoeen eingerechnet, sind die Sym¬
ptome der Mitbeteiligung des Ir.testinal-
traktus. Beide Erscheinungen pflegen bei
Kinderrt ganz besonders in dem Beginne
der Erkrankung in den Vordergrund zu
treten und sie sind es vor allem, welche
die schweren Kollapserscheinungen von
Anfang an bedingen. Auch hier sind
Kochsalzinfusionen und nebenher der Ge-
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UNIVERSiTY OF CALIFORNIA
442
Die Therapie der Gegenwart 1910.
Oktober
brauch von alkalischen Wässern, eben¬
so wie der von kaltem Tee die verläßlich¬
sten Mittel, soweit nicht stimulierende Me¬
dikationen, wie wiederholte Kampferinjek¬
tionen und die innerliche Darreichung
eines gekühlten Getränkes, noch nötig
werden. Gegen die Diarrhoeen wird neben¬
her besonders nur einzuschreiten sein.
Ich behalte mir aber vor, in einer der
folgenden Abhandlungen, speziell über die
Behandlung des Typhus auf diese dort
besonders interessierende Frage noch ein¬
gehender zurückzukommen.
M. H.! Sie sehen, wie vieles an Umsicht
und Hilfeleistung seitens des behandelnden
Arztes auch nur um der allgemeinsten In¬
dikationen willen von dem Kranken bean¬
sprucht wird, und doch wäre es ein
schlechter Arzt, der sich damit begnügte,
und nicht noch in folgendem die Haupt¬
faktoren seiner Tätigkeit umfaßte; nämlich
in der Leitung der allgemeinen hygienischen
Maßnahmen und der Diät. Nehmen sie
es nicht für überflüssig, daß davon noch
im besonderen gesprochen wird, weil an¬
geblich alles ja bekannt, hinlänglich auch
erprobt und Gemeingut ist; und doch wird
kaum je so viel an anderer Stelle am
Krankenbett gefehlt wie gerade hier. Licht
und Luft sind neben Reinlichkeit die wich¬
tigsten Heilfaktoren. Man sorge dafür, daß
dem kleinen Kranken das beste, luftigste
Zimmer, auch das lichthellste und freund¬
lichste gegeben werde, wobei das Lager
am besten freistehend, nicht in irgend¬
einem Winkel des Raumes, nicht hinter
Schränken und Kommoden usw. gewählt
werde. Die beliebten Vorhänge über dem
Bette sind schädlich, weil sie den Kranken
zwingen, in dem Dunstkreise seiner eigenen
Exhalationen zu verbleiben und ihm die
Luftzufuhr nehmen. Man sorge auch dafür,
daß die Erwärmung des Zimmers, die der
Krankheit und dem Zustande des Kranken
entsprechende sei, daß das Krankenzimmer
ebenso wenig überhitzt wie unterkühlt sei.
So nehme man auch auf die Kranken¬
bekleidung Bedacht. Sie darf bei hebernden
Kranken begreiflicherweise nicht zu dicht
und zu warm sein; auch Bett und Decke nicht.
Dies alles und mit ihm die allergrößte
Sauberkeit, die ebensowohl dem Körper
des Kranken, wie der Leib- und Bettwäsche
desselben gewidmet sein muß, sind zum
mindesten die Mittel, Komplikationen seitens
der Respirationsorgane, wie Bronchitiden
und Bronchopneumonien, und ebenso Haut¬
schädigungen, wie Intertrigo oder gar De¬
kubitus zu verhüten. An sich leiden Kinder
nur äußerst selten an Dekubitus, doch
können immerhin Vernachlässigung der
Hautpflege und das Liegenlassen im Schmutz
von Urin und Fäzes die fatalsten Schäden
bedingen und sich zum mindesten in stark
verzögerter Rekonvaleszenz rächen. — Es
kaiyi mit nicht genug Nachdruck auf die
Notwendigkeit der Erfüllung dieser Forde¬
rungen, der so viel vernachlässigten und
versäumten, hingewiesen werden.
Das gleiche läßt sich von der Diät sagen.
Die Diät der Kinder soll dem Kalorien-
bedarf angemessen reich, aber auch ebenso
leicht verdaulich und einfach sein, wobei
immerhin eine gewisse Rücksicht auf Ver¬
wöhnung und Liebhaberei bei Kindern mit
durchgehen kann, vorausgesetzt, daß diese
nicht das Notwendige und einzig Erlaubte
und Nützliche verdrängen. Ueber den
Kalorienbedarf der kranken Kinder haben
wir durch praktische Studien einigermaßen
Aufschluß erlangt; ich darf hier wohl auf
die von mir in Gemeinschaft mit Dronke
und Sommerfeld 1 ) im Kinderkranken¬
hause gemachten Studien verweisen; freilich
beziehen sich die von uns gefundenen
Zahlen lediglich auf bereits rekonvaleszente
Kinder und sind größer ausgefallen, als
etwa für fiebernde und noch dazu hoch¬
fiebernde Kinder passend sein würde. —
Indeß würde es wirklich schwierig sein,
wollte man Kalorienziffern lediglich für
fiebernde Kinder fixieren. Hier ist tatsäch¬
lich alles individuell, je nach der Beschaffen¬
heit des KrankheitsVorganges und des Er¬
krankten. Alles hängt so ab von der inner¬
halb der Fieberzeit dem Kinde verbliebenen
Fähigkeit, Nahrung aufzunehmen und zu
verarbeiten, hängt ab von dem Grade der
herrschenden Anorexie, vom DurstgefÜhl,
von dem Sensorium usw., und allgemeine
Regeln für die Quanten würden sich even¬
tuell nur aus einer großen Anzahl von Be¬
obachtungen allenfalls schätzungsweise fest¬
legen lassen. Der gut behandelnde und gut
beobachtende Arzt wird von der geeigneten
Fieberkost dem Kranken immer soviel
beibringen lassen, als zur augenscheinlichen
Erhaltung des Kranken nötig erscheint,
dies aber auch eventuell mit einigem Zwang.
Festgehalten muß allerdings werden, daß
der Kranke innerhalb der Fieberperiode
weder wesentlich abmagert noch auch
sonst irgend welchen Erschöpfungszustän¬
den anheimfällt. Gar oft ist eintretende
Herzschwäche bei Kindern die Folge un¬
zureichender Ernährung während des
Fiebers. Dies muß und kann vermieden
werden. Daher wird von Hause aus eine
im ga nzen reich N-haltige möglichst kon-
l ) Archiv f. Kinderheilkunde, Bd. 16 u. Bd. 23.
j^itizsr: by
Go. gle
Original frnm
UNIVERSiTY OF CALIFORNIA
Oktober
Die Therapie der Gegenwart 1910.
443
zentrierte Kost zu wählen sein, und in
einer möglichst leicht verdaulichen, das ist
also in flüssiger Form; ist es doch fast
selbstverständlich, daß fiebernde Kinder
nicht zum Kauen, höchstens zum Schlürfen
und Schlucken gebracht werden können.
Erwachsene übrigens, so lange sie nicht
bei völlig freiem Sensorium sind, zumeist
auch; so bewegt sich die Ernährung der Kin¬
der in Darreichung ausreichender Mengen
von Milch, von Bouillon, rohen Eiern
und Wein. Damit kann man aber tatsächlich
selbst schwer darniederliegende Kinder so
gut erhalten, daß sie kaum an Gewicht ver¬
lieren, und nach Erledigung der Fieber¬
periode in eine um so günstigere und
rasche Rekonvaleszenz gehen.
Soviel, meine Herren, in großen Um¬
rissen über die Allgemeinbehandlung in-
ftkliös und fiebernder Erkrankter. Vieles,
„ ja vielleicht alles, kommt hier auf die Er¬
fahrung an, und der glücklichste Arzt
wird am Krankenbette schwer erkrankter
und hochfiebernder Kinder der sein, wel¬
cher unter Zugrundelegung allgemeiner
therapeutischer Grundsätze und Grundzüge
sich doch möglichst frei von der Schablone
und von schädigender Polypragmasie hält,
der tatsächlich immer nur den Kranken,
nicht die Krankheit behandelt, der vor
allem der Natur nicht Gewalt antun will,
und dem bei allem, was er tut, vor Augen
steht, daß, wie unsere Alten lehrten: na¬
tura sauat. —
Aus der Dr. Brügelmannschen Klinik ztt Südende (Berlin).
Ueber den Stand der heutigen Lehre vom Asthma.
Von Dr. Oskar Weiß, Ieit. Arzt.
Es gibt wohl kaum eine Krankheit oder
besser gesagt einen Symptoraenkomplex,
welcher vielköpfiger, verworrener und
dunkler uns zur Entscheidung unterbreitet
wird, als das Asthma. Da ist es denn kein
Wunder, daß das, was der eine als patho-
gnomisch ansieht, dem andern als acciden-
tär erscheint, und daß die Mittel, die dem
einen im konkreten Fall geholfen haben,
den andern elend im Stiche lassen.
Ich möchte im folgenden eine Dar¬
stellung der Auffassungen von Brügel-
mann geben, wie sie in der 5. Auflage
seines Lehrbuches über Asthma vorliegen.
Da Brügelmann in dreißigjähriger Tätig¬
keit 3510 Asthmafälle zu sehen und zu be¬
handeln Gelegenheit hatte, verdienen seine
Anschauungen wohl Gehör und Beachtung.
Brügelmann geht von der physiolo¬
gischen Tatsache aus, daß jeder Reiz, der
den menschlichen Körper trifft, nur durch
Mitwirkung des Zentralorgans zur Per¬
zeption, desgleichen zur Reaktion gelangt
und weist nach, daß wohl bei keinem Men¬
schen Aktion, Perzeption und Reaktion sich
einwandfrei abspielen, sondern daß in den
allermeisten Fällen kleinere oder größere
Widerstandsdefekte in den betreffenden
zur Perzeptions- und Reaktionsleitung ge¬
hörenden Gehirnzentren bestehen, wodurch
die Reize sehr häufig von anderen Zentren
aufgenommen und weitergeleitet werden,
obwohl letztere eigentlich, d. i. normaler¬
weise, gar nicht in Betracht kommen sollten.
Daß dies Vorkommnisse sind, welche wir
alltäglich beobachten, ist ganz gewiß bei
den uns hier am meisten interessierenden
Zentren zutreffend: Respirationszentrum,
vasomotorisches Zentrum, sensitive Zone
der dura und pia mater. Die Widerstands¬
kraft dieser Zentra ist stets eine verschie¬
dene, je nach der Individualität, Kraft,
Lebensweise, erblichen Veranlagung und
Erziehung der betreffenden Person.
Diese Betrachtung fühlt uns dann zu
der einzig richtigen Auffassung des Wortes
* Disposition 11 , die ja zum großen Ttil auf
obigen Momenten beruht.
DerSymptomenkoraplex, den wir Asthma
nennen, stellt nun vor allem eine schwere
Atemanomalie dar; es versteht sich daher
von selbst, daß das Atmungszentrum in
erster Reihe daran die Schuld trägt.
Und so muß der Forschung nach dem
Wesen des Asthmas der Satz vorangestellt
werden: Nur durch die Reizung des
Respirationszentrums kann ein Asth¬
maanfall zustande kommen; ohne
Reizung des Respirationszentrums
kein Asthma.
Sobald dies als absolut richtig aner¬
kannt ist, ergibt sich anschließend sofort
die Frage: Wodurch nun wird das Respi-
rationszentrum gereizt? Das Studium dieser
Frage bedurfte natürlich langer Zeit. Und
es ist wohl auch nur dem Umstande zu¬
zuschreiben, daß sich die Brügelmann¬
schen Forschungen über so lange Jahre
erstrecken, daß wir die Frage heute er¬
schöpfend dahin beantworten können: Die
Reizung des Respirationszentrums kommt
auf traumatischem, reflektorischem
und toxischem Wege zustande. Bezüg¬
lich des ersten Weges möchte ich nur an
das bekannte Vorkommen erinnern, daß
einem Menschen vor Angst und Schreck
56*
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UNIVERSiTY OF CALIFORNIA
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Die Therapie der Gegenwart 1910.
Oktober
der Atem stockt — ein ganz schlagendes
Beispiel für das Zustandekommen des
Asthmas — denn bei Sorge, Kummer, ja
schweren Autosuggestionen tritt die Atem¬
anomalie immer wieder in die Erscheinung
und zwar fortschreitend bis zur trauma¬
tischen asthmatischen Angstneurose, welche
den fürchterlichsten Grad von Asthma
zeigt, den wir kennen. Durch ein solches
Trauma cerebri wird das ganze Gehirn
schwer gereizt, also auch das Respirations¬
zentrum, und ebenso wie die anderen
Zentren Reflexe daraufhin auslösen, tut es
das Respirationszentrum auch und erst
recht, wenn es der locus minoris resi-
stentiae ist.
Sodann das ganze Heer der Reflexe. Von
dem schmerzenden Haarboden beginnend,
Augen, Ohren, Nase, Rachen, Kehlkopf,
Bronchien, Magen, Darm, Geschlechts¬
organe, Füße und vor allem die äußere
Haut, sowie die Schleimhäute und vieles
mehr erhalten oder bilden Reizzustände,
welche, auf das Zentralorgan übertragen,
bei herabgesetzter Widerstandsfähigkeit des
Respirationszentrums stets einen Reflex des
letzteren auslösen.
Drittens endlich kommt die toxische
Wirkung des Blutes in Betracht, die anor¬
male Ernährung des Zentralorgans und
somit des geschwächten Respirationszen¬
trums. Dies wird der Fall sein bei allen
Zuständen, bei denen eine Vermehrung der
Kohlensäure im Blute eintritt, also bei
Herz- und Nierenkrankheiten, Plethora,
Respirationshindernissen, ja künstlich auch
bei Muskelüberanstrengungen, besonders
bei übermäßigem Laufen, Tanzen usw.
In diesen drei ganz verschiedenen Vor¬
gängen finden wir stets eine Reizung des
Respirationszentrums und zwar eine um so
heftigere, je schwächer und leichter zu be¬
einflussen dasselbe ist.
Also in allen Fällen eine Reizung des
Respirationszentrums als Conditio sine qua
non für das Zustandekommen eines Asthma¬
anfalles.
Dies hatte Brügelmann bereits in den
früheren Auflagen seines Lehrbuchs aus¬
führlich dargelegt und hatte in Aerzte-
kreisen große Anerkennung gefunden, aber
der Anfall selbst, der von allen Autoren
als Bronchialkrampf angesprochen wird,
blieb noch unerklärt, ebenso auch die ganz
charakteristischen Töne vom leichten Pfeifen
bis zum vieltönigen kochenden und rasseln¬
den Geräusch. Auch hierfür bringt er jetzt
eine Erklärung y und zwar hat die Einat¬
mung des Atropinnebels den Schlüssel ge¬
geben. Es ist heute wohl allgemein be¬
kannt, daß die Einatmung von Atropinnebel
durch die Nase sehr häufig einen sofortigen
Nachlaß des Asthmas hervorbringt Aehn-
liches erreicht man durch Pinselung der
Nase, ebenso des Nasenrachenraumes, und
so lag es dann nahe, sich nach dem Zu¬
stand des letzteren besonders im Anfall
umzusehen, zumal- fast alle Asthmatiker
zuerst den Sitz ihres Krampfes in den Hals
verlegen und über ein drückendes, zu¬
sammenschnürendes Gefühl oben im Pha¬
rynx klagen. Als ausgeprägtes Bild bei
der postrhinoskopischen Untersuchung sehen
wir nun im Anfall Schwellung und Rötung
der Rachenmandel und der ganzen nächsten
Umgebung. Besonders schön ist dies durch
das von Reiniger, Gebbart & Schall neu-
eingeführte Pharyngoskop zu beobachten.
Geht man nun mit einem Pinsel, der in
einer Atropin Kokainlösung getränkt ist,
hinter der Uvula in die Höhe und touchiert
die Mandel sowie die Umgebung ein- bis
zweimal ganz energisch, so steht der An¬
fall stets und zwar solange, als der ihn
verursachende Reiz nicht die künstliche
Lähmung übertrifft. Dabei ist es ganz
gleichgültig, wodurch das Asthma erzeugt
wird, ob auf traumatischem, auf reflektori¬
schem oder auf toxischem Wege. Die
Lähmung der Rachenmandel und ihrer
Umgebung bzw. aller der hier in Betracht
kommenden Nerven bringt sofort einen
Stillstand des Asthmas hervor. Daraus
folgt, daß dort der Sitz des Krampfes sein
muß und weiter, daß das krankhaft ge¬
reizte Respirationszentrum den Krampf der
Rachenmandel und der Pharynxmuskulatur
als normale Reaktion erzeugt. Daß auch
dort die Geräusche entstehen, beweist
ebenfalls der Umstand, daß dieselben durch
die Pinselung sofort verschwinden, also
ganz bestimmt durch den Krampf entstan¬
den sind.
Dies ist in Kürze die Brügelmannsche
Vorstellung vom Asthma. Nach allem,
was ich darüber höre und sehe, wird sie
ärztlicherseits mit großer Anerkennung
entgegengenommen, namentlich von den
Männern der Praxis.
Im Verfolg seiner Anschauungen nun
ist Brügelmann schon lange zu der
Ueberzeugung gekommen, daß die Migräne 1 )
und die Urtikaria durchaus als Schwester¬
krankheiten des Asthmas anzusehen sind
und hat dies schon vor zehn Jahren aus¬
drücklich hervorgehoben. Jetzt kommt
von Strümpell in einem Aufsatze der
*) Die Migräne, ihre Entstehung, ihr Wesen und
ihre Behandlung, von Sanitätsrat Dr. Brügelmann.
Verlag von F. Bergmann, Wiesbaden 1909.
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Oktober
445
Die Therapie der Gegenwart 1910.
Medizin. Klinik, Nr. 23,1910, zu demselben
Ergebnis; er führt jedoch alle die hierher
gehörenden Krankheiten auf exsudative
Prozesse zurück. Dagegen bin ich der
Meinung, daß die Exsudationen nicht die
Ursache, sondern die Folge sind und er¬
innere daran, daß man diese Vorgänge so¬
wohl auf traumatischem, als auch reflekto¬
rischem Wege künstlich erzeugen kann.
Wer kennt nicht die Wirkungen auf Blase
und Darm nach Gemütsbewegungen, die
reflektorische Diarrhoe nach Pinselung der
Nase mit 20% Kokainlösung, umgekehrt
das Nasenlaufen nach Uterinaflektionen
(Regel) oder die reflektorische Sekretion
der Bronchial- und Nasenschleimhaut nach
nassen, kalten Füßen, auch Schweißfüßen,
oder nicht die Migräne ganz reflektorisch
nach Magenverstimmungen oder psychischen
Schädlichkeiten, und gar die Urtikaria nach
dem Genuß von bestimmten Speisen, nach
bestimmten Gerüchen oder nach dem Be¬
tasten von bestimmten Gegenständen!
Ueberall dasselbe Bild, Sekretionsanomalien
nach Nervenreizung. Es würde mich zu
weit führen, wollte ich alle diese Vor¬
kommnisse, die dem Asthmatherapeuten
geläufig sind, hervorsuchen; ich sehe, wie
gesagt, alle diese Exsudationen an den
verschiedensten Orten lediglich als Re¬
aktionen an, die bei disponierten Individuen
leichter in die Erscheinung treten, als bei
nicht disponierten.
Was aber die berühmten eosinophilen
Zellen und Curschmannschen Spiralen
im Auswurf der Asthmatiker angeht, so
kann ich nicht verstehen, wieso dieselben
stets als pathognomisch betont werden.
Wenn ein Anfall durch den gut einge¬
arbeiteten Patienten mittels Atropinnebels
kunstgerecht kupiert wird, so kommt es
gar nicht zur Sekretion; unkundige Aerzte
und Patienten allerdings lassen den An¬
fall austoben und dann entwickeln sich
beim Abklingen des Anfalls die charakte¬
ristischen Auswurfmengen, in denen man
— namentlich nach längerem Stehen —
obige Merkmale findet. Genau dieselben
Merkmale finden sich aber auch im Bron¬
chialschleim bei chronischem Bronchial¬
katarrh, ja sogar im Nasenschleim, wenn
man ihn auffängt und stehen läßt. Sie sind
also absolut kein nur dem Asthma zu-
kommendes Attribut.
Wenn wir nun die obige Lehre unserem
therapeutischen Handeln zugrunde legen —
wie es in hiesiger Klinik seit langen Jahren
geschieht — so leuchtet ein, daß wir bei
jedem neu eintretenden Asthmatiker be¬
strebt sein müssen, die Hauptfrage zu be-
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antworten: Wodurch wird im konkreten
Falle das Respirationszentrum gereizt?
Ohne weiteres werden z. B., wenn eine Psy¬
chose oder eine Hysterie das Zentralorgan
belastet und das Respirationszentrum in
Mitleidenschaft zieht, Maßnahmen, wie
Nasenbehandlung oder Glühlichtbäder oder
Atemübungen, wodurch das Zentralorgan
eher beunruhigt als beruhigt wird, unter¬
lassen, da sie mehr schaden als nützen
werden. Andererseits ist, wenn eine Nasen¬
affektion (beispielsweise Polypen) vorliegt,
es als ein schwerer Kunstfehler zu be¬
zeichnen, vor jeder anderen Behandlung
eine gündliche galvanokaustische Ausräu¬
mung der Nase nicht vorzunehmen, ln
den allermeisten Fällen, wenn das Asthma
nicht allzu lange besteht und dadurch dem
Körper indirekt schwer geschadet hat, wird
man mit der rhinoskopischen Behandlung
ausreichen. Liegt aber ein Uterinleiden
vor und ergibt die Anamnese, daß bei der
Regel oder Kohabitation jedesmal mehr
oder weniger erhebliches Nasenlaufen und
Asthma eintritt, so wird man die Nase nur
sekundär erkrankt betrachten und sein
ganzes Augenmerk den Geschlechtsorganen
zuwenden und durch Dilatation der krampf¬
haft kontrahierten Zervix, durch Behand¬
lung des erkrankten Endometriums oder
durch Repositionen der Gebärmutter, Lösen
von Verwachsungen und lageverbessernde
Operationen (AlexanderAdams,Vaginae-
fixatio usw.) Ruhe schaßen, mit einem ge¬
wöhnlich in bezug auf das Asthma gerade¬
zu zauberischen Erfolge und sofortigem
Aufhören des Nasenflusses.
Zeigt uns aber ein Asthmatiker eine
Störung der Herztätigkeit, so sprechen wir
von einem Herzasthma, müssen aber von
vornherein die Diflerentialdiagnose stellen,
ob es sich um eine funktionelle Herzneu¬
rose (Neurasthenia cordis) oder um ein
vitium cordis handelt. Im ersten Falle
werden wir suggestiv beruhigen und durch
Pneumatotherapie, Hydrotherapie und Diät
in weitestem Sinne das Respirationszentrum
entlasten; im zweiten Falle werden wir
durch Digitalis, Strophantus, heiße Bäder,
Atemgymnastik usw. der Ausbreitung des
vitium Vorbeugen und durch Beseitigung
der Intoxikation des Blutes den Reiz auf
das Respirationszentrum beseitigen.
Aus diesen kurzen Betrachtungen ergibt
sich nun schon, daß der Suggestionär, der
Rhinologe und der Gynäkologe in mög¬
lichst vollendeter Form vereint sein müssen,
um den an den modernen Asthmathera¬
peuten mit Recht gestellten Anforderungen
zu genügen. Brügelmann verlangt außer-
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446
Die Therapie der Gegenwart 1910.
Oktober
dem noch den Elektrotherapeuten, Pneu¬
matotherapeuten und vor allem den ge¬
schulten Anstaltsarzt.
Es ist sehr viel, was von dem Asthma¬
therapeuten verlangt werden muß, aber es
geht nicht anders. Die Herren, die nicht
rhinologisch, gynäkologisch und suggestiv
tadellos arbeiten können, kommen leicht
zu Widersprüchen und schaffen eher Ver¬
wirrung als Klarheit.
So haben wir es vor kurzem noch er¬
lebt, daß von einem inneren Kliniker uns
der Einwurf gemacht wurde, daß „die
asthmogenen Punkte nur ein Hirngespinst“
wären; wenn man mit einer feinen Sonde
einem normalen Menschen in die Nase
ginge, so fänden sich stets Schmerzpunkte.
Nun, wer nur ein einziges Mal — wie so
manche hier hospitierende Kollegen — die
Demonstration der asthmogenen Punkte
unterBrügelmanns 1 ) Meisterhand gesehen
hat, ist noch immer aus einem Saulus ein
Paulus geworden. Und wer die galvano¬
kaustische Behandlung dieser asthmogenen
Punkte vernachlässigen zu können glaubt,
wird die meisten seiner Asthmakranken
nicht herstellen.
Beim Aufsuchen der asthmogenen Punkte
muß die Sonde spielend auf dem Finger
ruhen und so leicht die Schleimhaut be¬
rühren, daß der Kranke höchstens einen
Kitzel wahrnimmt. Den gewaltigen Unter¬
schied in der Sensibilität, sobald die
Sonde einen asthmogenen Punkt berührt,
wird dann wahrlich niemand übersehen
können.
Zusammenfassende Uebersicht.
Die Bedeutung der Nebennierenpräparate für die ärztliche
Praxis.
Von Dr. Leo Jacob SOhn»Charlottenburg.
Während noch vor 10 Jahren die prak¬
tische Verwertbarkeit der Nebennieren¬
präparate noch wenig bekannt war, haben
sich diese eigenartigen, in kleinsten Mengen
wirksamen Substanzen dank ihrer viel¬
seitigen Verwendungsmöglichkeit mehr und
mehr in den Arzneischatz eingebürgert
und gehören heute zu den beliebtesten
Mitteln der gesamten Medizin. Auf allen
Spezialgebieten der Medizin nehmen jetzt
die Nebennierenpräparate eine hervor¬
ragende Stellung ein. Der Chirurg und
Ophthalmologe gebraucht sie in gleicher
Weise wie der Internist und Frauenarzt,
ja es gibt kaum ein anderes Mittel, das in
ähnlicher Weise den vielseitigsten An¬
sprüchen und Indikationsstellungen genügt,
als das Adrenalin.
Angesichts der großen Bedeutung der
Nebennieren präparate für die ärztliche
Praxis will ich im folgenden einen Ueber-
blick über den heutigen Stand der Adre¬
nalintherapie geben. Hierbei soll dem
Rahmen dieser Zeitschrift entsprechend,
das Thema vom Standpunkte des Prak¬
tikers behandelt werden und die Theorie
nur insoweit Erwähnung finden, als für
das Verständnis der Tatsachen notwendig ist.
Die Einführung der Nebennierenpräpa¬
rate. in den Arzneischatz bedeutet insofern
etwas prinzipiell Neues, als die wirksame
Substanz nicht im Laboratorium einer che¬
mischen Fabrik entstanden ist, sondern
dem tierischen Organismus entstammt.
Nachdem schon in den fünfziger Jahren
des vorigen Jahrhunderts und dann später
durch Bro wn-Sequard das Interesse der
Physiologen auf das rätselhafte Organ der
Nebennieren gelenkt war, deren vitale Be¬
deutung durch die Lehren Addisons einem
größeren Publikum bekannt wurde, gelang
es Oliver und Schäfer im Jahre 1895
den Nachweis zu erbringen, daß Neben¬
nierenextrakte in die Blutbahn gebracht,
eine mächtige Blutdrucksteigerung be¬
wirkten. Mit dieser Entdeckung und der
gleichzeitigen Erkenntnis, daß die wirksame
Substanz der Nebennieren sich im Marke
des Organes befindet, setzen die Be¬
mühungen der Forscher ein, dieses hoch-
wirksame Mittel der ärztlichen Praxis zu
erschließen. Dieses war jedoch erst mög¬
lich, als es vor gerade 10 Jahren Taka-
mine gelang, aus dem in seiner Wirkung
schwankenden und mit allerlei Ballast
beschwerten Organextrakt das wirksame
Prinzip der Nebennieren in Gestalt einer
kristallinischen Substanz darzustellen.
Die Entdeckung des japanischen For¬
schers führte dann zur fabrikmäßigen Her¬
stellung und allgemeineren Anwendung des
gereinigten, genau dosierbaren Präparates.
Von den im Handel erhältlichen Neben¬
nierenpräparaten sind die gebräuchlichsten:
das Adrenalin (Parke, Davis & Co.), das
Epirenan (Byk), das Paranephrin (Merck)
und das Suprarenin (Höchst). Diese hin-
Vergleiche Brügelmann: Das Asthma, sein
Wesen und seine Behandlung. 5. Aufl. Verlag
J. F. Bergmann, Wiesbaden.
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Gck gle
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Oktober
Die Therapie der Gegenwart 1910.
447
sichtlich ihrer Wirksamkeit und Haltbar¬
keit ziemlich übereinstimmenden Präparate
sind 1 °/ooige salzsaure (seltener borsaure)
Lösungen der kristallinischen Substanz.
Ein Nachteil aller organischer Neben¬
nierenpräparate ist ihre nicht sehr große
Haltbarkeit. Angebrochene Flaschen, be¬
sonders aber verdünnte Lösungen mit Zu¬
satz von Kokain, Novokain usw. zersetzen
sich, namentlich wenn sie dem Licht und
der Luft ausgesetzt sind. Hierdurch ver¬
lieren die Nebennierenpräparate nicht nur
ihre therapeutische Wirksamkeit, sondern
scheinen nach einigen Erfahrungen toxische
Verbindungen abzuspalten, die dem Orga¬
nismus unter Umständen gefährlich werden
können. Zersetzte Lösungen sind trübe
und nehmen einen braunen Ton an. Man
mache es sich daher zur Regel, nur klare
Lösungen zu verwenden. Eine leichte
Rosafärbung der Flüssigkeit ist unbe¬
denklich.
Einen weiteren Fortschritt der Adre¬
nalintherapie — ich brauche im folgenden
Adrenalin kollektiv für die verschiedenen
Nebennierenpräparate — bedeutete die syn¬
thetische Herstellung der wirksamen Sub¬
stanz der Nebennieren durch den Chemiker
der Höchster Farbwerke Stolz. Stolz
gelang es auf synthetischem Wege ein dem
Adrenalin chemisch identischen Körper
zu gewinnen, der die charakteristischen
Eigenschaften der Nebennierensubstanz
zeigt und durch große Haltbarkeit ausge¬
zeichnet ist. Dieses sogenannte synthetische
Suprarenin wird in Pulverform, 1 %o ige
Lösung wie auch in Tabletten zu 1 rag ab¬
gegeben und kann durch Aufkochen steri¬
lisiert werden.
Die pharmakodynamischö Wirksamkeit
des Adrenalins beruht auf der kontraktions¬
erregenden Wirkung der Nebennieren¬
präparate auf die Muskularis der kleineren
und kleinsten arteriellen Gefäße. Diese
vasokonstriktorische Eigenschaft äußert sich
lokal in dem Erblassen der sichtbaren
Schleimhäute, auf die man einige Tropfen
der 1°/toigen Lösung bringt. Injiziert
man 0,5—1 ccm in die Blutbahn, so
kommt es nach einigen Minuten infolge
der Verengerung des kapillären Strom¬
gebietes zu einer beträchtlichen Steigerung
des Blutdruckes. Gleichzeitig übt das Adre¬
nalin eine energische exzitierende Wirkung
auf den Herzmuskel aus. Das Adrenalin
ist das mächtigste Kardiotonikum, das wir
zurzeit besitzen.
In gleicher Weise wirkt die Nebennieren¬
substanz auf die Mukularis des Uterus ein,
der ein besonders feines Reagens für
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Adrenalin ist, indem Meerschweinchenuteri
noch in einer Verdünnung von 1:20 Milli¬
onen zur Kontraktion gebracht werden.
Auf die für die experimentelle Patho¬
logie interessanten Tatsachen der Adre-
nalinglykosurie sowie der Aortennekrose
nach Adrenalininjektionen will ich an dieser
Stelle nicht eingehen. Ebenso erübrigt
es sich der interessanten Beziehungen des
chromaffinen Systems zu den Drüsen mit
innerer Sekretion zu gedenken.
Die vielseitige Verwendung, die das
Adrenalin auf den einzelnen Gebieten der
Medizin gewonnen hat, leitet sich von den
erwähnten pharmakodynamischen Eigen¬
schaften der in kleinsten Mengen wirksamen
Nebennierenpräparate ab. Aus praktischen
Gründen will ich im folgenden mit all¬
gemeineren Indikationen der Adrenalin¬
behandlung beginnen und dann auf die
speziellere Verwendung der Nebennieren¬
präparate zu sprechen kommen.
Es ist verständlich, daß die ins Auge
fallende anämisierende Wirkung der Neben¬
nierenpräparate den Ausgangspunkt der
gesamten Adrenalintherapie bildet. Ueberall
wo es galt Blutungen zu beherrschen oder
den Eintritt von Hämorrhagien zu ver¬
hindern, wandte man das Adrenalin an
und erkannte bald, eine wie mächtige
Förderung die bisherigen Blutstillungs¬
methoden durch das wirksame Prinzip der
Nebennieren erfahren hatten. Nach
Hunderten zählen die Publikationen, die
sich mit dieser Seite der Adrenalinwirkung
befassen, und alle Autoren sind voll des
Lobes ob der erstaunlichen Wirkung des
Adrenalins.
Aeußere Blutungen, wie sie durch
Schnittverletzungen, Kontusionen oder durch
Bersten von Gefäßen entstehen, werden
wegen der guten Zugänglichkeit und Ueber-
sicht der Wund Verhältnisse nur in Aus¬
nahmefällen die Anwendung der Neben¬
nierenpräparate erfordern. Desto mehr
wird dies der Fall sein bei Blutungen,
deren Sitz eine Lokalbehandlung erschwert
bzw. unmöglich macht.
So hat sich das Adrenalin außerordent¬
lich bei schwer stillbarem Nasenbluten
bewährt. Es gelingt durch Tamponade mit
Wattestückchen oder Gazestreifen, die in
reine Adrenalinlösung getränkt werden, oft
noch eine Epistaxis zu beherrschen, die
früher die Anwendung des Beiloeschen
Röhrchens erforderlich machte.
Ganz besonders hat sich ferner die
Adrenalinbehandlung dort bewährt, wo
Blutungen in Hohlorgane erfolgen. Dieses
ist z. B. bei Blasen- und Uterusblutungen
Original from
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Die Therapie der Gegenwart 1910.
Oktober
der Fall. Blasenhämorrhagien schwerster
Art sind durch Injektionen der zehnfach
verdünnten offizineilen Lösung wiederholt
zum Stehen gebracht worden. Es empfiehlt
sich in diesen Fällen 100—150 ccm des
Präparates (1 :10 000) in die Blase zu inji¬
zieren.
Mehrfach ist auch das Adrenalin bei
Gebärmutterblutungen (Endometritis hae-
morrhagica) mit Erfolg verwandt worden.
Nach dem Vorschlag von Steinschneider
wird ein mit Watte armierter Playfair in
zehnfach verdünntes Adrenalin getaucht,
in den Uterus eingeführt und dort einige
Minuten belassen. Energischer ist die
anämisierende Wirkung des Adrenalins,
wenn es direkt in die Portio eingespritzt
wird. Durch gleichzeitige Verwendung
von Kokain gelingt es eine so weitgehende
Anämisierung und Anästhesierung des
Uterus zu bewirken, daß z. B. die Aus¬
räumung von Plazentarresten nach Abort
fast blut- und schmerzlos ausgeführt werden
kann (Grasser).
Auch bei Magen-, Darm- und Lungen -
blutungen hat man sich vielfach der hämo-
styptischen Eigenschaften der Adrenalin¬
präparate bedient und das Mittel sowohl
innerlich (mehrmals 10—20 Tropfen) als
auch subkutan (V 2 —1 Pravazspritze) ge¬
geben. Wenn auch eine Anzahl von Autoren
gute Erfolge, z. B. bei schwersten Hämor-
rhagien, zu verzeichnen haben, so hat die
Adrenalintherapie andererseits hier wieder¬
holt im Stich gelassen und nicht die über¬
zeugenden Vorteile gebracht, die man an
anderer Stelle oft zu bewundern Gelegen¬
heit hatte. Der Grund hierfür ist wohl bei
der innerlichen Darreichung darin zu sehen,
daß das leicht zersetzliche Adrenalin bei
seiner Passage durch den Magen und Darm
der Einwirkung der Verdauungsfermente
rasch unterliegt.
Am günstigsten lauten die Berichte
über die Behandlung blutender Typhus¬
geschwüre durch interne Adrenalinmedi¬
kation. Auch bei rektalen Blutungen haben
sich Adrenalininfusionen 1:10 000 mehr¬
fach bewährt. Selbst schwer stillbare Blu¬
tungen aus parenchymatösen Organen kön¬
nen durch Adrenalin beherrscht werden.
Nach den erfolgreichen Tierexperimenten
Lehmanns, der bei Hunden und Kanin¬
chen durch Adrenalininjektionen unblutige
Resektionen großer Leberteile ausführen
konnte, hat man ähnliche Resultate wieder¬
holt am Menschen bei eingreifenden Leber¬
und Milzoperationen erzielt. In diesen Fäl¬
len wurde das Adrenalin in zehnfacher Ver¬
dünnung auf die blutenden Organe aufge-
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tupft. Durch die gefäßkontrahierende Wir¬
kung des Adrenalins wird eine schnelle
Thrombenbildung begünstigt, sodaß Nach¬
blutungen bei Nachlassen der Adrenalin¬
anämie nicht beobachtet wurden.
Wenn auch für die Praxis ohne große
Bedeutung, desto mehr aber für die glän-
zendeWirkung des Adrenalins beweisend,
sind diejenigen Fälle, in denen mit anderen
Mitteln nicht still bare Blutungen, welche
ihren Träger auf Grund hereditärer Blut¬
anomalien an den Rand des Grabes brachten,
durch Adrenalin beherrscht wurden. Wir
kennen Situationen, wo die Adrenalin¬
tamponade bei Blutern direkt lebensrettend
gewirkt hat (O. Lange).
Es mag noch erwähnt werden, daß die
Verbandstoffabrik von Arnold (Chemnitz)
mit Adrenalin präparierte Watte, Gaze so¬
wie Tampons in den Handel gebracht hat,
die eine schnelle Adrenalinwirkung bei be¬
quemer Handhabung ermöglichen.
Verlassen wir hiermit das Gebiet der
Blutungen, auf dem die Nebennierenpräpa
rate eines der souveränsten Mittel sind und
wahrscheinlich auch bleiben werden, und
wenden wir uns einem anderen, gänzlich
verschiedenen Anwendungsgebiet des Ad¬
renalins zu.
Wie wir bei Besprechung der pharmako-
dynamischen Eigenschaften der Neben¬
nierenpräparate bereits erkennen ließen, ist
das Adrenalin sowohl durch seine vaso-
konstriktorischen Eigenschaften, als auch
durch die den Herzmuskel bis aufs äußerste
stimulierende Wirkung das geeignetste
Mittel, bei momentaner Kreislaufstörung die
stockende Zirkulation wieder in Gang zu
bringen.
Es läßt sich im Tierexperiment zeigen,
daß das durch Chloral oder Chloroform
zum Stillstand gebrachte Herz durch Ad¬
renalin wieder belebt und zu kräftigen
Schlägen angeregt wird, wobei der auf
Null gesunkene Blutdruck allmählich die
normale Höhe erreicht. Es ist das Verdienst
englischer und amerikanischer Autoren,
die Ergebnisse des Tierexperimentes für
die ärztliche Praxis nutzbar gemacht und
das Adrenalin systematisch bei solchen Zu¬
ständen angewandt zu haben, bei denen
ein momentanes Versagen der Herztätig¬
keit vorlag und es darauf ankam, das Herz
über den kritischen Moment weniger
Minuten hinwegzubringen. So hat man bei
der Chloroformsynkope, Wundshock und
anderen Kollapszuständen das Adrenalin
intravenös mehrfach mit geradezu zauber¬
haftem Erfolge angewandt und in Fällen
höchster Not sich nicht gescheut, das Me-
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UNIVER5ITY OF CALIFORNIA
Oktober
Die Therapie der Gegenwart 1910.
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dikament durch die Brustwand hindurch
direkt in den Herzmuskel zu injizieren.
Nachdem in Deutschland zuerst Heiden -
hain und Hoddick das Adrenalin bei peri¬
tonealer Blutdrucksenkungangewandthaben,
berichtete Kothe aus der Abteilung Son-
nenburgs Ober die Wirkung der Neben¬
nierenpräparate bei Kollapszuständen und
kam auf Grund seiner Erfahrungen zu dem
Schluß, daß das Adrenalin das mächtigste
Kardiotonikum der Gegenwart sei. Kothe
hatte Gelegenheit, in fünf Fällen schwersten
Kollapses bei Lumbalanästhesie das Prä¬
parat zu geben und vier der nahezu mori¬
bunden Patienten durch intravenöse Injek¬
tionen (0,75—1 ccm) zu retten. In gleicher
Weise hatte Kothe günstige Resultate
bei postoperativem Shock und in Kollaps¬
zuständen nach Tubenruptur sowie schwerer
innerer Blutung. In diesen Fällen wurde
das Adrenalin zusammen mit Kochsalz¬
lösung (20 gtt:1000 ccm NaCl) intravenös
angewendet.
Im Gegensatz zu anderen Autoren sah
Kothe bei schweren Perforations-Perito¬
nitiden nur vorübergehende Erfolge von
Adrenalin - Kochsalzinfusionen. Nach den
günstigen Erfahrungen von Heidenhain,
Hoddick, Rothschild und anderen Auto¬
ren, welche die verderbliche peritoneale
Blutdrucksenkung erfolgreich mit intra¬
venösen Adrenalin - Kochsalzeingießungen
zu bekämpfen vermochten, dürfte trotz
mancher, durch die Schwere der Toxin¬
wirkung erklärten Mißerfolge bei der Be¬
handlung der Peritonitis dem Adrenalin
ein dankenswertes Anwendungsgebiet sich
eröffnen.
Verlassen wir hiermit die mehr allge¬
meinen Indikationen für die Adrenalin¬
behandlung. Fraglos würden die bisher ge¬
würdigten, bisher durch kein anderes Mittel
ersetzbaren Eigenschaften des Adrenalins
genügen, um den Nebennierenpräparaten
eine dauernde Stellung unter unseren best¬
wirksamen Medikamenten zu sichern. Was
aber erst dem Adrenalin seine große Popu¬
larität und uneingeschränkte Anerkennung
verschafft hat, ist die bedeutsame Rolle,
welche den Nebennierenpräparaten bei der
örtlichen Schmerzbetäubung Vorbehalten
war. Die Einführung des Adrenalins in die
lokale Anästhesie durch Braun bedeutet
geradezu einen Wendepunkt der örtlichen
Anästhesierungsverfahren. Suchen wir uns
das Wesen der Adrenalinwirkung im An¬
ästhesierungsprozeßverständlich zu machen,
so erinnern wir uns, daß das örtliche An-
ästhetikum (Kokain) besser und intensiver
wirkt, wenn das Operationsgebiet nach
Möglichkeit aus der Zirkulation ausge¬
schaltet wird (Oberst). So entstand das
Abschnürungsverfahren, weiches unter Ver¬
wendung des Esmarchsehen Schlauches
an den Extremitäten sich gut durchführen
ließ und einen nicht zu unterschätzenden
Fortschritt der lokalen Anästhesie bedeutete.
Jedoch waren dem Oberstschen Verfahren
natürliche Grenzen durch Beschränkung
der Blutleere auf die der Abschnürung
allein zugänglichen Extremitäten gezogen.
Hier setzen die Nebennierenpräparate
ein, deren energisch anämisierende Eigen¬
schaften es ermöglichen, jede beliebige
Stelle des Körpers in einfachster Weise
aus dem Blutkreislauf auszuschalten. Spritzt
man nämlich in die Gewebe Adrenalin ein,
so bringt dasselbe wie ein komprimieren¬
der Schlauch die arteriellen Gefäße zur
Kontraktion und schafft so einen Zustand
umschriebener Gefäßleere, wie er durch
das Esmarch sehe Verfahren nicht besser
zu erzielen ist. Recht anschaulich bezeich¬
net ein französischer Autor (Lermoyez)
daher das Adrenalin als das Alkaloid der
Esmarchschen Blutleere. Die Adrenalin-
anämisierung erleichtert dem Chirurgen
nicht nur ganz wesentlich die Blutstillung
und schafft so gleichzeitig besser überseh¬
bare Wund Verhältnisse, sondern sie ermög¬
licht auch, mit weit geringeren Mengen von
Kokain auszukommen. Hierin liegt ein
ganz wesentlicher Fortschritt gegenüber
den früheren Infiltrationsmethoden, bei
denen Kokainvergiftungen angesichts der
sehr verschiedenen Toleranz dieses Alka¬
loids zum Teil ganz unvermeidlich waren.
Die kokainsparende Wirkung der Neben¬
nierenpräparate erklärt sich aus der inten¬
siven örtlichen Gefäßkontraktion, der eine
erhebliche Resorptionsbeschränkung für
das lokale Anästhetikum parallel geht.
Durch die Kombinierung des Adrenalins
mit dem Kokain beziehungsweise seinen
Derivaten ist der Umfang der lokalen An¬
ästhesierungsmethoden ganz wesentlich er¬
weitert worden. In gleicher Weise haben
sich die Nebennierenpräparate neben der
eigentlichen Infiltrationsanästhesie auch bei
der Leitungsanästhesie sowie der zirkulären
Anästhesierung nach Hackenbusch be¬
währt.
Wie soll das Adrenalin in der lokalen
Anästhesie verwendet werden? Von der
ursprünglichen Verwendung des Adrenalins
in Verbindung mit Kokain ist man mehr
und mehr abgekommen, seitdem man in
dem Eukain, Stovain, Alypin und Novo¬
kain relativ ungiftige Ersatzpräparate des
durch Adrenalinzusatz seiner Giftigkeit
57
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Original frnm
UNIVERSiTY 0F CALIFORNIA
450
Die Therapie der Gegenwart 1910.
Oktober
keineswegs ganz beraubten Kokains kennen
gelernt hatte. Nur bei eng umschriebenen
chirurgischen Eingriffen, wie sie vornehm¬
lich in der Ophthalmologie und Zahnheil¬
kunde Vorkommen, sollte heute noch die
Kokainadrenalinkombinierung angewandt
werden. Man nimmt hierzu V*- bis 1 %ige
Kokainlosungen mit Zusatz von 1—2 Trop¬
fen der offizineilen Adrenalinlösung pro
1 ccm. Ein zweckmäßiges steriles Kokain-
Adrenalingemisch, bestehend aus 0,0075 Ko¬
kain und 0,00005 Adrenalin wird in Phiolen
ä 1 ccm und 2 ccm unter dem Namen
Eusemin in den Handel gebracht.
Von den Ersatzpräparaten des Kokains
hat in Deutschland das von den Höchster
Farbwerken hergestellte Novokain dank
seiner ausgezeichneten schmerzbetäubenden
Wirkung und geringer Toxizität sich nach
den warmen Empfehlungen der berufensten
Kenner der Anästhetologie schnell eine
große Zahl von Freunden erworben und
zählt heute zu den beliebtesten Mitteln auf
dem Gebiete der lokalen Anästhesie.
Wer häufig Gelegenheit hat, die lokale
Schmerzbetäubung anzuwenden, hält am
besten eine 1 %ige Stammlösung des Novo¬
kains vorrätig und gibt vor dem Gebrauche
auf 10 ccm einen Zusatz von 1 —2 Tropfen
Adrenalin. Für den praktischen Arzt emp¬
fiehlt sich dagegen mehr der Gebrauch der
von den Höchster Werken eingeführten
Novokain - Suprarenintabletten. Dieselben
kommen in den Handel als
Tablette A: 0,125 Novokain und 0,000125
Suprarenin,
Tablette ß: 0,1 Novokain und 0,00025
Suprarenin.
Tablette A entspricht in 25 ccm steriler
physiologischer Kochsalzlösung gelöst, einer
0 , 50 / 0 igen Novokainlösung + 2 1 /» Tropfen
Suprarenin. Tablette B, gelöst in 10 ccm,
gibt eine lo/ 0 ige Novokainlösung -f- 5Tropfen
Suprarenin, in 5 ccm eine 2%ige Lösung
-4-10 Tropfen Suprarenin. Die V 2 —1 °/o»gen
Lösungen werden für die Infiltrationsanäst¬
hesie verwandt, während solche von 1 —2%
für die Leitungsanästhesie in Betracht
kommen.
Alle Autoren, welche Gelegenheit hatten,
das Novokainadrenalingemisch zu erproben,
stimmen in der uneingeschränkten Aner¬
kennung der sicheren und von üblen Zu¬
fällen freien Wirkung dieses Mittels über¬
ein. In wie weiten Grenzen es heute
möglich ist, im Vertrauen auf die ver¬
besserte Lokalanästhesie die Inhalations¬
narkose zu umgehen, lehrt ein Blick in
die große Zahl von eingreifenden Opera¬
tionen, die in den letzten 10 Jahren unter
örtlicher Schmerzbetäubung ausgeführt
worden sind. Pleuraempyeme, Lungen¬
abszesse und Gangränherde, subphrenische
Abszesse, Hernien sind in lokaler An¬
ästhesie operiert worden, Mammaamputa¬
tionen, Gastrostomien, Magenresektionen
und Teilexstirpationen des Kehlkopfes aus¬
geführt worden, ohne daß die Kranken
irgendwelche Schmerzen zu erdulden
brauchten.
Täglich macht man heute in größeren
Städten Hunderte von Narkosen. Veran¬
schlagt man die Anzahl der jetzt in lokaler
Anästhesie ausführbaren chirurgischen Ein¬
griffe nur auf einige Prozent der gesamten
früher in Narkose ausgeführten Operationen,
so wird man angesichts der Gefahren und
üblen Nachwirkungen der Inhalationsnarkose
die Fortschritte der örtlichen Schmerz¬
betäubung auf das Freudigste begrüßen.
Um die Bedeutung der Nebennieren¬
präparate für die Anästhesie vollauf zu
würdigen, müssen wir noch eines Gebietes
gedenken, das, durch Biers geniale Idee
der Heilkunde erschlossen, erst durch die
Einführung des Adrenalins für die Praxis
verwertbar wurde, es ist dies die Lumbal¬
anästhesie. Die dem Kokain anhaftenden
Nachteile mußten sich naturgemäß im ge¬
steigerten Maße dort bemerkbar machen,
wo, wie bei der Medullaranästhesie, das
Alkaloid direkt an die Nervenzentren des
Rückenmarks und der Medulla oblongata
herantritt. Dieser Umstand erklärt, ange¬
sichts der im Anfang häufigen unerfreu¬
lichen Zufälle, das Mißtrauen, das die
Mehrzahl der Chirurgen der Lumbal¬
anästhesie entgegenbrachte. Erst durch
die Einführung der Nebennierenpräparate,
deren Bedeutung für die Lumbalanästhesie
Bier selbst als erster erkannt hatte, wurde
diese Methode für die Praxis verwertbar.
Die heute in der Lumbalanästhesie ge¬
bräuchlichsten Mittel, wie Novokain, Sto-
vain und Tropakokain enthalten sämtlich
einen Zusatz von 0,0001—0,0005 Adrenalin.
Neben der Chirurgie hat an erster
Stelle die Zahnheilkunde wesentliche Vor¬
teile von der Einführung der Nebennieren¬
präparate gehabt. Kein anderes Spezial¬
gebiet erfordert in so hohem Maße die
örtliche Schmerzbetäubung als gerade die
Odontologie. Die Vorzüge der kombi¬
nierten Adrenalin-Kokainwirkung sind hier
die gleichen wie bei der Infiltrations- be¬
ziehungsweise Leitungsanästhesie, sodaß
ich hierbei nicht länger verweilen will.
Wie bereits erwähnt, hat das Kokain
in der Zahnheilkunde gegenüber seinen
weniger giftigen Ersatzpräparaten bisher
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Original frnm
UNIVERSiTY OF CALIFORNIA
Oktober
Die Therapie der Gegenwart 1910.
451
das Feld behauptet, wenngleich in den
letzten Jahren ihm in dem Novokain
ein allem Anschein nach siegreicher Kon¬
kurrent erwachsen ist. Das Gelingen der
Anästhesie in der zahnärztlichen Praxis
setzt wie überall genaue Kenntnis der In¬
jektionstechnik voraus. Alles in allem hat
die Erfahrung der letzten 6 Jahre den Aus¬
spruch Brauns bewahrheitet, daß das
Problem einer gefahrlosen Lokalanästhesie
in der Zahnheilkunde durch Einführung
der Kokain-Adrenalin (Suprarenin-)gemische
befriedigend gelöst ist
Im Gegensatz zu den meisten Spezial¬
gebieten hat die interne Medizin relativ
geringe Förderungen von den Neben¬
nierenpräparate erfahren. Der Grund hier¬
für liegt wohl in der Tatsache, daß der
Internist weniger häufig Gelegenheit hat,
sich die pbarmakodynamischen Eigen¬
schaften des Adrenalins nutzbar zu machen.
Auf die Anwendung der Nebennieren¬
substanzen bei inneren Blutungen, soweit
sie in den Bereich der inneren Medizin
fallen, sind wir schon zu Anfang dieser
Arbeit eingegangen. Ebenso haben wir
der eminenten kardiotonischen Eigenschaften
des Adrenalins gedacht, welche die analep-
tische Wirkung des Kampfers und Kofieins
ganz wesentlich übertreffen. Angesichts
der eklatanten Erfolge, deren die Neben¬
nierenpräparate sich in verzweifelten Fällen
rühmen dürfen, ist unbedingt zu fordern,
daß dieselben in weiterem Umfange, als es
bisher geschehen ist, bei Herz- und Ge¬
fäßkollapsen angewendet werden. Das
Adrenalin gehört neben Kampfer und
Morphium in das Besteck des praktischen
Arztes.
Auch bei der Behandlung des Bronchial¬
asthmas hat das Adrenalin nach dem Ur¬
teil einiger amerikanischer Autoren, denen
wir uns, gestützt auf eigene Beobachtungen,
anschließen möchten, zuweilen recht gute
Erfolge zu verzeichnen. Man läßt das
Mittel innerlich (10—15 Tropfen mehrmals)
nehmen oder injiziert 0,5 ccm. Bei Asthma
nasalen Ursprunges ist es möglich, durch
Bestreichen der Nasenschleimhaut mit einem
in konzentrierte Adrenalinlösung getränkten
Wattebausch den Anfall zu kupieren.
Es ist eine bemerkenswerte Tatsache, daß
die Nebennierenpräparate bei derjenigen
Erkrankung, bei der ihre Anwendung aus
klinischen und allgemein pathologischen
Gesichtspunkten ohne weiteres indiziert sein
sollte, keine überzeugenden Erfolge auf¬
zuweisen haben; ich meine den Morbus
Addisoni. Der Gedanke, den Ausfall der
Nebennierensekretion durch Nebennieren-
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Präparate beziehungsweise Organextrakte
zu ersetzen, schien so verlockend, daß
schon in den 90 er Jahren bei Addison die
Nebennierensubstanz ausgiebig angewen¬
det wurde und so den Ausgangspunkt
der gesamten Opotherapie bildete. Die
durch Brom-S£quard inaugurierte Be¬
handlung mit Glyzerinextrakten der
Drüsensubstanz wurde dann mit den
fabrikmäßigen Nebennierenpräparaten wie¬
der aufgenommen. Obwohl es nicht an
Stimmen fehlt, die sich anerkennend über
die Adrenalintherapie bei Addison aus¬
sprechen, und so erfahrene Autoren wie
Eichhorst und Osler reden ihr gelegent¬
lich das Wort, läßt sich andererseits nicht
leugnen, daß in der Mehrzahl der Fälle
die Nebennierenpräparate keine überzeu¬
genden Erfolge beim Morbus Addisoni zu
verzeichnen haben. Offenbar beruhen die
Insuffizienzzustände der Nebennieren noch
auf einem anderen Faktor als dem Ausfall
des im Adrenalin oder den Extrakten ent¬
haltenen wirksamen Organprinzips. Immer¬
hin ist im gegebenen Fall ein Versuch der
internen Darreichung des Adrenalins ge¬
rechtfertigt
Die günstigen Erfahrungen über die
herzanaleptische Wirkung des Adrenalins
bei peritonealer Blutdrucksenkung haben
unlängst N. Thornton veranlaßt, auch
bei schweren Pestfällen die Nebennieren¬
präparate therapeutisch anzuwenden. In
50 Fällen von Pest, bei der häufig früh¬
zeitige Zirkulationschwäche besteht, konnte
sich der Autor von der günstigen Wirkung
des Adrenalins auf das Herz und die Ge¬
fäße überzeugen. Es gelang ihm, Patienten
zu retten, die bei der Aufnahme einen
moribunden Eindruck gemacht hatten.
Wenn auch ein Teil der mit Adrenalin
behandelten Kranken am Ende der Schwere
der Infektion erlag, so war das Resultat
Thorntons insofern ein sehr günstiges,
als in 74% Heilung eintrat. Bei den zur
Autopsie kommenden Fällen ließ sich am
Herzen und an den Gefäßen stets die
Wirkung des Adrenalins nachweisen.
Wie vielseitig die Verwendbarkeit der
Nebennierenpräparate ist, erkennt man,
daß auch bei der ab Osteomalazie be-
zeichneten Störung der Knochenernährung
das Adrenalin sich einen Platz erobert
hat Es ist das Verdienst des bekannten
italienischen Gynäkologen L. Bossi, das
Adrenalin in die Behandlung jener eigen¬
artigen Knochenerkrankung eingeführt zu
haben. Nachdem es Bossi gelungen war,
einen schweren Fall von Osteomalazie
durch 7 Injektionen von 0,5 ccm des reinen
57*
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
452
Die Therapie der Gegenwart 1910.
Oktober
Adrenalins in kurzer Zeit zu heilen, sind
sowohl von italienischen als auch deutschen
Autoren mehrfach günstige Resultate be¬
richtet worden, und es läßt sich wohl
nicht bezweifeln, daß gewisse Formen der
medikamentös bisher nicht zu beeinflussen¬
den Krankheit durch Adrenalin geheilt
werden.
Es lag nahe, die günstigen Erfahrungen
der Adrenalinbehandlung auch für die der
Osteomalazie verwandte Störung der
Rachitis nutzbar zu machen. Positive Re¬
sultate auf diesem Gebiete haben einige
italienische Kinderärzte aufzuweisen, wäh¬
rend man in Deutschland seitens der
Pädiater diesem An tirachitikum mit größerer
Reserve entgegengekommen ist. Von
deutschen Autoren hat, soweit ich sehen
kann, bisher nur Stöltzner bei einer
größeren Anzahl von Rachitikern das
Adrenalin angewandt und eine schnelle
Besserung der Allgemeinerscheinungen
sowie der lokalen Wachstumsstörung be¬
obachten können.
Daß das Adrenalin in der Urologie
und Gynäkologie namentlich bei Blutungen
vorteilhaft angewendet wird, haben wir
bereits bei Besprechung der hämostyp-
tischen Eigenschaften der Nebennieren¬
präparate gesehen. An dieser Stelle sollen
noch einige speziellere Indikationen für die
Adrenalintherapie Erwähnung finden.
Abseits von einer Heilwirkung hat das
Adrenalin in der Urologie auch diagnosti¬
sche Bedeutung gewonnen, indem es, in die
Blase gespritzt, bei Blutungen ein klares
zystoskopisches Bild gewinnen läßt und
so unter Umständen erst eine rationelle
Behandlung der Blasenhämorrhagie möglich
macht. In anderer Weise haben sich die
Nebennierenpräparate durch ihre anämi-
sierende, die Schleimhaut zum Abschwellen
bringende Wirkung bei schwierigem Ka¬
theterismus, bedingt durch Strikturen sowie
Prostatahypertropüie, bewährt (v. Frisch,
Kornfeld). Auch gegen Blasenatonie
sind Injektionen von 150 ccm der 50 fach
verdünnten Stammlösung empfohlen wor¬
den. Es ist ein bemerkenswertes Resultat,
daß es wiederholt gelungen ist, bei kom¬
pletter Harnverhaltung durch Schwellungen
der hypertrophischen Prostata nach In¬
jektion von 2 ccm der unverdünnten
Lösung in die Pars prostatica urethrae
eine spontane Entleerung der Blase zu er¬
möglichen und so den schwierigen und
nicht gefahrlosen Katheterismus zu ver¬
meiden. Daß auch bei Probeexzisionen,
Tumorabtragungen und anderen endovesi-
kalen Eingriffen das Adrenalin mit Vorteil
angewandt wird, mag nur nebenbei er¬
wähnt werden.
Die kontraktionserregende Wirkung der
Nebennierenpräparate kann, wie bereits
erwähnt, in der Gynäkologie vorteilhaft
zur Stillung von Metrorrhagien benutzt
werden. Indem die kontraktionserregende
Wirkung des Adrenalins sich nicht nur
auf die Gefäße des Uterus, sondern auch
auf die Muskulatur der Gebärmutter selbst er¬
streckt, sind die Nebennierenpräparate nach
den Erfahrungen einiger Frauenärzte ein
ausgezeichnetes Hämostatikum in der Ge¬
burtshilfe, soweit es sich um Blutungen
aus Atonie handelt. In diesen Fällen gibt
man das Adrenalin in kleinen Dosen zu
1 —3 Dezimilligramm entweder subkutan
oder in die Portio selbst. Neu, der sich
speziell um die Einführung der Neben¬
nierenpräparate in die Gynäkologie und
Geburtshilfe verdient gemacht hat, hatte
Gelegenheit, die Wirkung des Adrenalin
bei einem Kaiserschnitt zu studieren. Er
injizierte nach Freilegung des Uterus eine
Pravazspritze der zehnfach verdünnten
Lösung an drei Stellen in die Uterusmus¬
kulatur. Hierdurch gelang es ihm, den
kreißenden Uterus sofort in stürmische
Kontraktionen zu versetzen und eine aus¬
giebige Anämisierung des ganzen Organs
zu bewirken.
Sehen wir von der Verwendung des
Adrenalins bei der lokalen Anästhesie ab,
so ist die Rhino-Oto-Laryngologie das
häufigste und dankbarste Feld für den Ge¬
brauch der Nebennierenpräparate. Von
der ausgezeichneten Wirkung des Adre¬
nalins bei Nasenblutungen haben wir be¬
reits gesprochen. In weitgehender Weise
hat sich das Adrenalin auch als Blut¬
stillungsmittel bei Nasenoperationen be¬
währt. Durch Betupfen der Nasenschleim¬
haut mit Adrenalinlösung gelingt es, für
die meisten endonasalen Eingriffe völlige
Blutleere zu erzielen. Zusammenfassend
bemerkt Hecht: »Wie unschätzbar für den
Rhinologen dieses Mittel geworden ist, er¬
sieht man daraus, daß eine Reihe von Ope¬
rationen, bei denen die stete Blutung das
Operationsfeld überschwemmte und ein
fast fortwährendes Abtupfen und wieder¬
holtes Tamponieren erforderte, jetzt bei ab¬
soluter Blutleere oder kaum störender, be¬
deutend reduzierter Blutung vorgenommen
werden kann, und so unter Umständen eine
Narkose vermieden wird“. Die Erfahrungen
Hechts, die eine Bestätigung der früheren
Mitteilungen Rosenbergs bilden, sind im
Laufe der letzten 6 Jahre im vollen Um¬
fange von anderen Fachgenossen des Autors
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Original frnm
UNIVERSiTY 0F CALIFORNIA
Oktober
Die Therapie der Gegenwart 1910.
453
bestätigt worden* Es gibt heute wohl
kaum einen Spezialisten auf dem Gebiete
der Rhino - Laryngologie, der nicht das
Adrenalin bei Operationen in der Nasen¬
höhle ausgiebig anwendet. Die Kombi¬
nierung des Adrenalin mit dem Kokain
bzw. seinen Ersatzpräparaten hat wie in
der Chirurgie auch in der Rhinologie den
Umfang der in Lokalanästhesie ausführ¬
baren Eingriffe wesentlich erweitert. So
werden heute Muschelamputationen, Exzi¬
sionen von Leisten, Resektionen der Nasen¬
scheidewand, sowie Radikaloperationen von
Kieferhöhlenempyemen mit Hilfe der Ko¬
kainadrenalinanästhesierung schmerzlos und
bei relativer Blutleere ausgeführt.
Auch bei der Behandlung des Schnupfens,
besonders der mit starker Schwellung der
Nasenschleimhaut feinhergehenden Form der
Koryza, wird das Adrenalin in Lösung
oder als Zusatz zu Schnupfenpulvern mit
Vorteil verwendet Empfohlen wird eine
Mischung von
Zinc. sozojodol ... 0,3
Menthol . 0,2
Suprarenin.cryst. puriss. 0,001
Sacchar. lactis .... 10,0
Dieses Pulver wird mehrmals mit einem
Pulverbläser in die Nase eingestäubt
Das unter dem Namen Renoform be¬
kannte Schnupfenmittel enthält als wirk¬
sames Prinzip ebenfalls einen Zusatz von
Adrenalin. Auch für die Behandlung des
Schnupfens der Säuglinge ist das Adre¬
nalin empfohlen worden (Ballin, Vohsen).
Nach den Angaben Bailins, der an einem
größeren Material die Wirkung des Adre¬
nalins bei dem Säuglingsschnupfen prüfte,
führt man in die Nase in reine Lösung
getauchte kleine Tampons ein, die man
einige Minuten liegen läßt. Hierdurch ver¬
mindert sich nicht nur schnell die flüssige
Sekretion, sondern die beim Säuglings¬
schnupfen relativ häufige konsekutive Bron¬
chitis wird in der Mehrzahl der Fälle ver¬
mieden (8°/o bei Adrenalinbehandlung,
50°/o unbehandelt).
Von der diagnostischen Bedeutung der
Nebennierenpräparate bei Nasen- und Kehl¬
kopfkrankheiten soll im letzten Teil dieser
Mitteilungen die Rede sein.
Aehnlich wie in der Rhinologie ist die
Anwendung des Adrenalins in der Laryn¬
gologie sowie Otologie. In der Laryngo¬
logie bedient man sich der Nebennieren¬
präparate, um bei akuter Laryngitis und
anderen Schwellungszuständen am La-
rynx oder Pharynx die turgeszierte Schleim¬
haut zum Abschwellen zu bringen und
endolaryngeale und endotracheale Eingriffe
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schmerzlos und ohne Blutverluste auszu¬
führen.
In der Ohrenheilkunde findet das Adre¬
nalin Verwendung zur Anästhesierung des
äußeren Gehörganges und Trommelfelles.
Außer durch Leitungsanästhesie läßt sich
der äußere Gehörgang auch in der Weise
anästhesieren, daß kleine Wattestückchen
in eine konzentrierte, erwärmte Kokain-
Adrenalinlösung (0,5 Kokain auf 1 ccm
Adrenalin 1 :1000) getaucht und gegen das
Trommelfell angedrückt werden. Für die
Hammer - Amboß - Extraktion sowie die
Ausführung der Radikaloperation empfiehlt
sich die Einspritzung von Kokain-Adre¬
nalin.
Wenden wir uns nunmehr zu dem An¬
wendungsgebiete derNebennierenpräparate,
das aus äußeren Gründen hier an letzter
Stelle steht, wiewohl es bei historischer
Betrachtung an erster Stelle genannt werden
müßte, es ist dies die Ophthalmologie. Mit
und ohne Zusatz von anderen in der Augen¬
heilkunde gebräuchlichen Mitteln wie
Zink und Atropin, hat sich das Adre¬
nalin bei der Behandlung von Konjunkti-
vitiden, insbesondere der Frühlingskatarrhe
und der Conjunctivitis phlyctaenulosa be¬
währt.
Die anämisierende Wirkung der Neben¬
nierenpräparate läßt sich an der injizierten
Konjunktiva gut verfolgen. Bringt man
einen Tropfen der reinen Lösung in den
Bindehautsack, so blaßt die Konjunktiva
bereits nach 15 Sekunden ab. Das Maximum
der Wirkung tritt nach 2—3 Minuten ein.
Die Beeinflussung der konjunktivalenHyper¬
ämie läßt sich oft noch nach 2—3 Stunden
nach weisen.
Nach den Berichten englischer Autoren
scheint sich das Adrenalin auch bei der
Behandlung des Heufiebers bewährt zu
haben. Zu gleichen Resultaten sind auch
Königshofer und Königstein gelangt.
Man gibt es hier in Verbindung mit Ko¬
kain am besten in Salbenlorm:
Acid. bor. . 0,2
Kokain, mur . 0,1
Solut. Saprarenin (1:1000) 1,0
Vaselin, american. alb. ad 10,0
M. f. ungt. 5 X täglich in das Auge und die Nase
einzureiben.
Es erübrigt sich hervorzuheben, daß
auch in der Augenheilkunde die lokale An¬
ästhesierung mit dem Kokain-Adrenalin¬
gemisch erfolgreich angewendet wird. Irid-
ektomien, Tenotomien, Plastiken, ja selbst
Enukleationen des Bulbus werden heute
sicher und schmerzlos mit der Infiltrations¬
anästhesie unter Adrenalinzusatz ausgeführt.
Original frnm
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Die Therapie der Gegenwart 1910.
Oktober
45 4
Werfen wir einen Rückblick auf das
Ganze, so haben sich die Nebennierenprä¬
parate in den verschiedensten Indikations¬
stellungen auf den einzelnen Spezialgebieten
unserer Wissenschaft bewährt und unseren
an zuverlässigen Mitteln nicht eben reichen
Arzneischatz in ganz ungeahnter Weise
bereichert. Aber wo viel Licht ist, ist viel
Schatten, sagt ein altes Sprichwort, und es
wäre wunderbar, wenn die großartigen Er¬
folge der Adrenalinbehandlung ganz ohne
Opfer errungen wäret*. In der Tat ist dem
nicht so. Ueberblickt man die ziemlich um¬
fangreiche Literatur der Mitteilungen und
Veröffentlichungen, die sich auf die thera¬
peutische Anwendung der Nebennierenprä¬
parate beziehen, so sind es der Hauptsache
nach zwei Todesfälle, die dem Adrenalin zur
Last gelegt werden. Es handelt sich um
die beiden in der Presse viel diskutierten
Todesfälle, die ein anonymer Autor nach
Adrenalineinspritzung in die Portio gesehen
hat. Verwendet wurde das englische Prä¬
parat. Die Dosis betrug drei Pravazspritzen
der zehnfach verdünnten Lösung. Wenn¬
gleich der Tod beider Patientinnen bei
gleichzeitiger Chloroformnarkose erfolgte,
und Chloroformtod nicht mit Sicherheit
auszuschließen ist, wird man bei kritischer
Prüfung der mitgeteilten Tatsachen die
beiden letal endigenden Fälle doch auf das
Konto des Adrenalins rechnen müssen.
Aller Wahrscheinlichkeit nach ist durch
einen unglücklichen Zufall das Mittel direkt
in die Blutbahn gelangt und hat, vielleicht
begünstigt durch die Narkosenwirkung, den
Tod der beiden Patientinnen herbeigeffthrt.
Zu dieser Auffassung ist auch Braun ge¬
langt, der als Mitbegründer der Adrenalin¬
therapie zu den Mitteilungen des anonymen
Schreibers Stellung nimmt. Nach Braun
lag insofern ein Verschulden des betreffen¬
den Arztes vor, als die angewandte Lösung
(1:10000) zu konzentriert war. Braun
tritt dafür ein, daß man zur Anämisierung
von Geweben das Adrenalin stark ver¬
dünnen soll (1 :200). Aehnlich wie das
Kokain hat das Adrenalin keine eigentliche
Maximaldosis, da die Toxizität weniger von
der Gesamtmenge der Substanz als von
ihrem Verdünnungsgrade abhängt. Will
man unerwünschte Nebenwirkungen der
Nebennierenpräparate vermeiden, so muß
man nach Braun anstatt kleiner Mengen
konzentrierter, große Mengen verdünnter
Lösungen anwenden.
Mehrfach ist berichtet worden, daß nach
Adrenalininjektionen beilnfiltrationsanästhe-
sie sich Hautgangrän eingestellt hat, welche
auf ischämische Nekrose und schlechte Ge-
websernährung bezogen worden ist. Nament¬
lich scheinen ältere Leute hierfür disponiert
zu sein. Eine langwierige Phlegmone sah
Aronheim nach Anwendung von Adrenalin
bei Innehaltung peinlicher Asepsis entstehen.
Auch hier handelte es sich um einen älteren
Mann. Desgleichen hat man Kiefernekrose
im Anschluß an Adrenalininjektion beob¬
achtet. Alles in allem gehören derartige
Zufälle angesichts der vieltausendfachen
Erfahrung zu recht seltenen Vorkomm¬
nissen, die teilweise durch Ueberdosierung
des Mittels verschuldet sind. Immerhin ist
geraten, bei alten Leuten sowie schweren
Arteriosklerotikern mit der Anwendung der
Nebennierenpräparate vorsichtig zu sein.
Der Standpunkt Schleichs, bei der In¬
filtrationsanästhesie das Adrenalin wegen
der Gefahr der Gewebsschädigung ganz zu
vermeiden, wird von den deutschen Aerzten
nicht geteilt.
Ein anderer Uebelstand, für den das
Adrenalin verantwortlich gemacht worden
ist, ist die Neigung zu Nachblutungen aus
Operationswunden bei Auf hören der anä-
misierenden Wirkung des Adrenalins. An
diesem Faktum trägt jedoch nicht das Ad¬
renalin, sondern seine falsche Anwendungs¬
weise Schuld. Nimmt man nämlich zu
konzentrierte Lösungen, so bringen die
Nebennierenpräparate auch weitere Gefäße
zur Kontraktion, sodaß dieselben blutleer
werden und bei der Unterbindung dem
Operateur leicht entgehen. In den meisten
Fällen der kleinen Chirurgie genügen 3 bis
5 Tropfen der reinen Lösung, die dem zu
injizierenden Quantum zugesetzt werden
(Braun). Hält man sich an diese Dosen,
so wird man Nachblutungen stets ver¬
meiden.
Andere mehr harmlose Nebenwirkungen
des Adrenalins ist der nicht seltene
Schnupfen und Nicßreiz bei Verwendung
des Präparats in der Laryngo-Rhinologie.
Schließlich wäre noch zu sagen, daß nach
Zahnextraktion mitunter vorübergehende
anämische Flecken auf der Gesichtshaut
beobachtet worden sind.
Fassen wir zusammen, was von un¬
erwünschten Zufällen der Adrenalinbehand¬
lung bisher bekannt geworden ist, so muß
man sagen, daß angesichts der ausgedehnten
Anwendung der Nebennierenpräparate auf
allen Spezialgebieten die Reihe der Ad¬
renalinschädigungen eine sehr kleine ist,
ja daß es überhaupt kein anderes Mittel
gibt, das bei richtiger Dosierung eine solche
Promptheit der Wirkung mit relativer Un¬
gefährlichkeit verbindet, als gerade das
Adrenalin. Zum Schlüsse noch einige Be-
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Original frnm
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Oktober
Die Therapie der Gegenwart 1910.
455
merkungen Ober die diagnostische Verwert¬
barkeit der Nebennierenpräparate. Die
diagnostische Bedeutung des Adrenalins
hängt größtenteils mit seiner anämisieren-
den Wirkung zusammen.
Die Blutleere, die nach AufdrQcken
eines in Adrenalin getauchten Wattestück-
chens sich auf der Epidermis erzielen
läßt, kann zunächst in der Dermatologie
diagnostisch verwertet werden, indem auf
der abgeblaßten Haut zweifelhafte Infiltrate
deutlich sichtbar werden. Dies ist z. B.
bei den Lupusknötchen der Fall, welche
als bräunliche oder gelbliche Herde sich
von dem hellen Grunde abheben. Die
Adrenalinanwendung konkurriert bei der
Lupusdiagnose mit der älteren Glasdruck¬
methode, hat aber vor dieser den Vorzug
der längeren Sichtbarkeit des eingetretenen
Vorganges.
In ähnlicher Weise kann das Adrenalin
in der Laryngologie die Diagnose strittiger
Kehlkopfinfiltrate befestigen und die bei
direkter Betrachtung ähnlich aussehenden
entzündlichen Schwellungszustände der
Schleimhaut ausschließen lassen.
Besonderen diagnostischen Wert haben
die Nebenpräparate für die Untersuchung
der Nase und der Nebenhöhlen. Indem
das Adrenalin die entzündete oder hyper¬
trophische Nasenschleimhaut zum Ab¬
schwellen bringt, wird die Orientierung
und Uebersicht der erkrankten Partien er¬
leichtert, häufig auch erst ermöglicht
Auch bei der Differenzierung der Empyeme
der Nebenhöhlen ist das Adrenalin durch
Sichtbarmachung der einzelnen Ausfüh¬
rungsgänge für die Diagnose von Wert.
Bei der Diagnose der nasalen Kopf¬
schmerzen soll nach L. Rethi das Kokain
verworfen und durch Adrenalin ersetzt
werden. Wegen der gleichzeitigen an¬
ästhesierenden Wirkung des Kokains hält
Rethi das Aufhören des Kopfschmerzes
nach Kokainpinselung der Nase nicht da¬
für beweisend, daß der Kopfschmerz
nasalen Ursprungs ist, während ein
gleicher Erfolg bei Anwendung der Neben¬
nierenpräparate ein diagnostisch eindeuti¬
ges Resultat gibt.
In der Ophthalmologie läßt sich das
Adrenalin gleichfalls diagnostisch ver¬
werten, indem es bei Instillation in den
Konjunktivalsack Anämie erzeugt und
etwaige Trachomkörner oder andere In¬
filtrate deutlich sichtbar macht.
Daß die blutstillende Eigenschaft des
Adrenalins vorteilhaft angewandt wird, um
bei Blasenhämorrhagie deutliche zysto-
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skopische Bilder zu gewinnen, ist bereits
erwähnt worden.
Die vonLoewi behauptete Eigenschaft
des Adrenalins, bei Pankreasinsuffizienz
nach konjunktivaler Instillation Mydriasis
zu erzeugen und so für die Pankreas¬
diagnostik verwertbar zu sein, bedarf noch
weiterer Nachprüfung.
Unsere eigenen Versuche, die ich im
städtischen Krankenhause Moabit an der
Abteilung des Herrn Prof. G. Klemperer
anzustellen Gelegenheit hatte, sprechen bis
zu einem gewissen Grade gegen die dia¬
gnostische Verwertbarkeit des Adrenalins
im Sinne Loewis.
Es ließe sich noch mancherlei anführen,
was mit der Wirkung der pharmakodyna-
misch überaus interessanten Nebennieren¬
präparate in Verbindung steht. Da diese
Arbeit jedoch ausschließlich praktischen
Gesichtspunkten Rechnung tragen soll,
wollen wir mit den letzten diagnostischen
Bemerkungen den Gegenstand verlassen.
Auch abseits ihrer praktischen Verwer¬
tung müssen die Nebennierenpräparate das
Interesse eines jeden Mediziners erwecken,
da sie, dem tierischen Organismus selbst
entstammend, einen Lichtstrahl in das ge¬
heimnisvolle Dunkel jener Organfunktionen
werfen, die wir als innere Sekretion zu
bezeichnen pflegen.
Im Text zitierte Literatur:
L. Ball in. Zur Behandlung des Schnupfens
der Säuglinge. (Therapie der Gegenwart 1905,
H. 7, S. 2.) — Bier und Dönitz, Rücken¬
marksanästhesie. (Münch, med. Woch. 1904,
Nr. 14.) — Braun, Kokain und Adrenalin.
(Berl. Klinik 1904, H. 187.) — Braun, Ueber
die Anwendung des Suprarenins. (Ztschr. f.
Gynäk. 1909, Nr. 3tf.) — Bossi, Nebennieren
und Osteomalazie. (Ztschr. f. Gynäk. 1907,
Nr. 3.) — V. Frisch, Adrenalin in der uro-
logischen Praxis. (Wien. klin. Woch. 1902,
Nr. 31.) — Heidenhain, Mitteil. a. d. Grenzgbt
1908, Bd. 18, H. 5.) — Hoddick, Ueber die
Behandlung der peritonealen Blutdrucksenkung
mit intravenösen Adrenalinkochsalzinfusionen.
(Ztschr. f. Chirurg. 1907, Nr. 41.) — Kothe,
Die Behandlung von Kollapszuständen mit
intravenösen Adrenalininjektionen. (Therap. d.
Geg., N. F., 1909, H. 2.) — O. Lange, Ueber
die Anwendung des Adrenalins als Hämosta-
tikum in Fällen verzweifelter Blutung. (Münch,
med. Woch. 1903, S. 62.) — N. N., Warnung
vor Adrenalin. (Ztschr. f. Gynäk. 1909, Nr. 30.)
— Neu, Ueber die Verwertbarkeit des Supra¬
renins in der geburtshilflichen Therapie.
(Therap. d. Geg. 1907. H. 9.) — Derselbe,
Untersuchungen über die Bedeutung des Supra¬
renins für die Geburtshilfe. (Aren. f. Gynäk.
1908. H. 3.) — Steinschneider, Adrenalin
bei Gebärmutterblutungen. (Münch, med. Woch.
1905.) — Stöltzner, Nebennieren und Rachitis.
(Med. Klinik 1908, Nr. 18—22.) — Thornton
Bemerkungen über den Nutzen des Adrenalin¬
chlorids bei Behandlung der Pest. (Lancet,
9. April 1910.) — Vohsen, Die Behandlung
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
456
Die Therapie der Gegenwart 1910.
Oktober
des Schnupfens der Säuglinge und kleinen
Kinder. (Berl. klin. Woch. 1905, Nr. 40.)
Weitere Literatur:
W.B eren t,UeberRenoformpulver. (Therap.
d. Geg., N. F., 1906, H. 8.) — Engelmann,
Die Behandlung der Osteomalazie nach Bo9si.
(Ztschr. f. Gynäk. 1905, Nr. 23.) — Gordon,
Adrenalin in der Behandlung der Addisonschen
Krankheit. (Indian Medical Record 1905, ref.
Münch, med. Woch. 1906, S. 235.) — Grasser,
Adrenalininjektionen zur Vermeidung der
Blutung bei Entfernung von Plazentarresten
nach Abort. (Ztschr. f. Gynäk. 1909, Nr. 25.)
— Hecht. Suprarenin. (Münch, med. Woch.
1904, Nr. 5.) — Kaplan, On the hypoder-
matic use of adrenalinchloride in the treatment
of asthmatic attacks. (Med. News 1905, Bd. 86.)
— Kirch, Ueber Adrenalin und seine An¬
wendung bei schweren Blutungen. (Deutsch,
med. Woch. 1903, Nr. 48.) — Kornfeld,
Epirenan und seine praktische Anwendung.
(Neue Therapie 1904, Nr. 11.) — Mohr, Bei¬
trag zur Aetiologie und Therapie des Heu-
fiebers. (Münch, med. Woch. 1905, Nr. 34.) —
Müller, Ueber die Anämisierung mit Adre¬
nalin. (Wien, klin.-therap. Woch. 1904, Nr. 21.)
— Derselbe, Ueber eine neue imprägnierte
Gaze. (Medico 1905, Nr. 31.) — Rethi, Kopf¬
schmerz nasalen Ursprungs. (Ztschr. f. klin.
Med. 1908.) — Rosenberg, Ueber örtliche
und allgemeine Begleiterscheinungen nach In¬
jektionen. (Zahnärztl. Rundsch. 1909, Nr. 52.)
— Win ekler. Die Nebennieren präparate als
diagnostisches Hilfsmittel in der Dermatologie.
(Monatsh. f. prakt. Dermat. 1908, Nr. 3.)
Therapeutisches aus Vereinen und Kongressen.
Therapeutisches aus der 82. Versammlung: deutscher Natur¬
forscher und Aerzte, Königsberg 1 . Pr. 18.—24. September 1910.
Nach den Berichten der Vereinigung der medizinischen Fachpresse.
Aua den allgemeinen Sitzungen.
Cramer (Göttingen): Pubertät und
Schule.
Die Pubertät fällt in die Jahre, wo die
Entwicklung der Organe, vor allem des
Gehirns, zu einem gewissen Abschluß
kommt; gerade in dieser etwa vom 13. bis
21. Jahre zu rechnenden Zeit geht zum
großen Teil die letzte Entwicklung der
feineren Elemente des Gehirns, speziell der
Hirnrinde, vor sich, gleichzeitig erfolgt die
geschlechtliche Reife, auch bilden sich die
sekundären Geschlechtscharaktere aus. Dem¬
entsprechend ändern sich die Stoffwechsel¬
vorgänge, häufig von emansischen Zustän¬
den und deren Folgeerscheinungen begleitet
Großes Interesse beansprucht die psy¬
chologische Seite der geistigen Entwicklung
in der Pubertät: das Gehirn hat in dieser
Zeit eine Riesenarbeit zu bewältigen, weil
aus dem in Kurzschlüssen denkenden und
urteilslos handelnden Kinde ein auf Grund
abstrakter Vorstellungen selbständig urtei¬
lendes Individuum wird. In den Beginn
der Pubertät spielen noch vielfach kind¬
liche Züge hinein.
Egoismus, Fehlen von Hemmungen, sehr
lebhafte Phantasie und Eifersucht, ein meist
nur kurz fassendes Gedächtnis und nament¬
lich bei mangelhafter Erziehung eine Nei¬
gung zu Grausamkeit und Eifersucht. Da¬
bei handelt es sich bei scheinbar selbstän¬
digen Urteilen der Kinder fast immer um
auswendig gelernte, gewöhnlich nicht lange
haftende Assoziationen. Erst mit dem
Fortschreiten der normalen Entwicklung in
der Pubertät tritt die Fähigkeit ein, in ab¬
strakten Vorstellungen auf Grund eigener
Urteile zu denken. Zunächst zeigt sich
dies in Aeußerlichkeiten, in dem Bestreben
z. B., in Kleidung und Haartracht usw. dem
Erwachsenen zu gleichen, weiterhin in dem
gesteigerten Selbstgefühl, das in großen
uferlosen Ideen, Plänen und häufig in einer
Neigung zum Dichten und Komponieren
äußerlich in Erscheinung tritt. Gleichzeitig
macht das rücksichtslose und schroffe Ur¬
teil des Jünglings den Eitern und Erziehern
oft viele Schwierigkeiten. Das Elternhaus
und Schule werden als unangenehmer
Zwang bekämpft. Der Vater ist rückstän¬
dig, der Lehrer ein Tyrann usw.; bei dem
weiblichen Geschlechte findet man das be¬
kannte eigentümlich gezierte und über¬
schwängliche Wesen der Backfische. Mit
dem weiteren Fortschreiten der Pubertät
erwirkt der Mensch bei normaler Entwick -
lung allmählich immer mehr die Fähigkeit,
abstrakt zu denken und auf Grund selb¬
ständiger Schlüsse zu handeln; gleichzeitig
bilden sich die nötigen Hemmungen, die
ethischen und altruistischen Vorstellungen
aus. In der Pubertät differenziert sich auch
die individuelle Neigung und Veranlagung,
wie auch die ersten kriminellen Ausschläge
fast immer in die Pubertät fallen. Aller¬
dings spielt aber auch das Milieu eine
Rolle, denn eine große Anzahl unserer
Jugendlichen ist nach dem Verlassen der
Schule ohne jede Zucht und Aufsicht und
nichts imponiert der Jugend in diesem
Alter mehr, als die Auflehnung gegen alles,
was Ordnung und Gesetz heißt. Es kann
daher nicht dringend genug eine gesetz¬
liche Fürsorge für diese jugendliche Für¬
sorge gefordert werden, nur so läßt sich
die zunehmende Kriminalität erfolgreich
bekämpfen.
d b v Google
Original frnm
UNIVERSiTY OF CALIFORNIA
Oktober
Die Therapie der Gegenwart 1910.
457
Große Schwierigkeiten entstehen, wenn
psychopathische Erscheinungen hinzutreten.
Die Psychopathie tritt häufig erst in der
Pubertät deutlich hervor, auch können
später auftretende ausgesprochene psychi- i
sehe Störungen und Schwachsinnzustände
mit ihren Wurzeln bis in den Beginn der
Pubertät zurückreichen. Der Schwachsinn
ist in dieser Zeit oft schwer nachzuweisen,
zeichnet sich aber manchmal in dieser Zeit
schon durch kriminelle Ausschläge aus;
ein anderer Teil fällt durch Reizbarkeit,
Unfähigkeit abstrakt zu denken ünd zu¬
nehmendes Versagen in den höheren
Klassen auf. Deutlich treten gewöhnlich
in der Pubertät die klinisch als Degenera¬
tion bezeichneten psychopathischen Züge
und Charaktereigenschaften zutage: Zwangs-
zuständö, Angstaffekte, außerordentlich ge¬
steigerte Impulsivität, labile Stimmung und
starke ethische Defekte. Hierher gehören
auch die Fälle von Schülerselbstmorden,
bei denen zum großen Teil sicher der
psychopathische Charakter und die degene-
rative Veranlagung die Hauptrolle spielen.
Eine leichtere Form psychopathischer
Störung bilden die bei beiden Geschlech¬
tern im Beginn der Pubertät oft auftretenden
Fälle auffallender Zerstreutheit; falls keine
intellektuellen Störungen vorliegen, bessern
sich diese Zustände später häufig wieder.
Wichtig sind auch die gerade in der Puber¬
tät einsetzenden, durch zu rasches Wachsen
und Stoffwechselveränderungen bedingten
anämischen Störungen und auch gewisse
hysterische Züge. Befreiung von Schul¬
unterricht oder wenigstens von den nicht
unbedingt erforderlichen Stunden und Be¬
lehrung der Erzieher über den Zustand der
Patienten, Aufenthalt im Hochgebirge oder
an der See, womöglich in noch weiter aus¬
zubauenden höheren Lehranstalten, wirken
bei ausgesprochen anämischen Zuständen
äußerst vorteilhaft, während viele Psycho¬
pathen leicht verbummeln und später nur
schwer wieder lernen können, wenn man
sie aus der Schule nimmt. Es muß des¬
halb in solchen Fällen streng individuali¬
siert werden.
Die aus diesen Betrachtungen sich er¬
gebenden Lehren sind dahin zusammen¬
zufassen: Nicht allzuviel Milde gegenüber
der heranwachsenden Jugend in der Puber¬
tät, sondern stramme Schuldisziplin, für
den Erzieher aber die Notwendigkeit, sich
selbst mit der Klinik der Pubertät immer
vertrauter zu machen, um schwachsinnige
und psychopathische und beim weiblichen
Geschlecht namentlich auch hysterische In¬
dividuen zu deren eigenem und der an-
□ igitized by Google
deren Kinder Besten zu berücksichtigen
und eventuell, wo das erforderlich ist, aus
dem gemeinsamen Unterricht zu entfernen.
Aus der Abteilung für Innere Medizin,
Balneologie und Hydrotherapie.
Ewald (Berlin) bespricht die Anwen¬
dung des Rekto-Romanoskops und macht
erneut auf das Vorkommen schwerer,
scheinbar idiopathischer Anämien aufmerk¬
sam, deren Quelle in hochsitzenden, nur
durch das Romanoskop nachzuweisenden
Varizen, bezw. den aus ihnen erfolgenden
perpetuierlichen Blutungen besteht. Die¬
selben sind nicht groß genug, um den
Fäzes äußerlich das Ansehen bluthaltiger
Stühle zu geben. Dagegen läßt sich
dauernd Blut im Stuhl auf chemischem
Wege nachweisen, zum Unterschied gegen
die kryptogenetische (perniziöse) Anämie.
Die Behandlung besteht in erster Linie in
der Verödung der Varixknötchen mit dem
Paquelin unter Leitung des Romanoskops.
Diskussion: Schreiber (Königsberg):
Ob am Rektoskop der Beleuchtungsapparat
innen oder außen angebracht ist, erscheint
ziemlich nebensächlich. Das Einführen des
Instrumentes bis über eine Höhe von mehr
als 10—12 cm macht im allgemeinen keine
Schwierigkeiten.
Mosse (Berlin): Die Anbringung des
Beleuchtungsapparates im Innern des Rekto-
Romanoskops empfiehlt sich deshalb nicht,
weil das Gesichtsfeld durch Gase verdun¬
kelt werden kann. Die Methode kann nicht
als ganz harmlos angesehen werden, wie
es seitens des Herrn Vortragenden ge¬
schehen ist, da Todesfälle danach schon
beobachtet sind. Die Diapnose der per¬
niziösen Anämie wird durch die Blutunter¬
suchung und nicht durch die Rektalunter¬
suchung gestellt
Ewald erklärt, daß es ihm natürlich
nicht eingefallen wäre, die Diagnose der
perniziösen Anämie durch das Rekto-
Romanoskop zu stellen.
Wolf (Reiboldsgrün): Die neueren
Fieberuntersuchungen und dasTuber-
kulosefieber.
Temperaturerhöhung und Fieber sind
nicht identisch, da erstere sich künstlich
erzeugen läßt Die Temperaturerhöhung
kann die Heilkraft bei der Tuberkulose
heben durch Produktion der Bakteriolysine
usw. Sie kann demnach bei dieser auch
günstig wirken. Bei jedem Fieberverdacht
ist zweistündliches Messen, möglichst rektal,
notwendig. Jede Temperaturerhöhung über
37 ° bei Achselhöhlenmessung ist suspekt
Weitere Fiebersymptome sind erhöhte
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Original from
UNIVER5ITY OF CALIFORNIA
458
Die Therapie der Gegenwart 1910.
Oktober
Pulszahl, nervöse Dyspepsie, Appetitlosig¬
keit, Nachtschweiße, Gewichtsabnahme. Es
gibt schweres Fieber mit geringer, leichtes
mit hoher Temperatursteigerung.
Diskussion: Moll er (München): Es gibt
chronische Zustände mit leichtem Fieber
ohne Tuberkulose, z. B. bei hyperthyreoi-
den Zuständen, bei fettsüchtigen Knaben
usw. Die rapide Gewichtsabnahme bei
jungen Mädchen, die man mitunter beob¬
achtet, ist durch mangelhafte Nahrungsauf¬
nahme bedingt.
Ewald (Berlin): Die Gewichtsabnahme
bei jungen Mädchen ist oft dadurch be¬
dingt, daß dieselben sich schlank machen
wollen. Sie kann mitunter einen recht be¬
denklichen Charakter annehmen.
E. Neißer (Stettin): Ueber Mikro-
gastrie.
Bei Leuten, die durch ihren Beruf ge¬
zwungen sind, rasch zu essen, findet man
mitunter, daß sie rasch abmagern, ohne
daß die Untersuchung der Organe einen
Grund dafür auffinden kann. Die Ursache
liegt in einer ungenügenden Entfaltung des
Magens. Während nach einer Röntgen¬
mahlzeit der Magen in 6 Minuten entfaltet
sein soll, ist das hier nicht der Fall. Die
Leute zeigen vorzeitige Sättigung. Das
läßt sich auch bei jungen Mädchen, die
rasch abmagern, röntgenologisch nach-
weisen. Die Ursache liegt in dem Tragen
des Korsetts, das die Entfaltung des Magens
hindert. Auch der Schmachtriemen der
Handwerksburschen bewirkt etwas Aehn-
liches. Experimentelle Untersuchungen
lehrten, daß die Vitalkapazität des Magens
beim Schnüren für per os aufgenommene
Flüssigkeit auf % der Norm herabgesetzt
ist. Bei der hier besprochenen Form der
Mikrogastrie ist sie noch wesentlich ge¬
ringer.
Kraus (Berlin) schlägt zum Unterschied
von der anatomischen Störung für die ge¬
schilderten Zustände den Namen funk¬
tionelle Mikrogastrie vor.
Neißer bemerkt, daß es ihm weniger
darauf ankam, einen passenden Namen zu
finden, als auf die Schilderung der patho¬
logischen Vorgänge.
Ans der Abteilung für Geburtshilfe und
Gynäkologie.
Döderlein (München): Ueber Indi¬
kation und Technik der Hystero-
stomatomia vaginalis anterior.
Vortragender berichtet über die Er¬
fahrungen, welche er mit dem von
Dührßen angegebenen vaginalen Kaiser¬
schnitt gemacht hat. Der Name Kaiser¬
schnitt ist nicht zweckmäßig; bezeichnender
ist der Name Hysterostomatomia vaginalis
anterior. Vortragender betont die Neuheit
der Dührßenschen Operation in Technik
und Indikation, welche sich wesentlich von
den früher angewandten kleinen Inzisionen
unterscheidet. Die Dührßen sehe Ope¬
ration ist für Mutter und Kind gleich
segensreich. — Zwar sind 25 Fälle von
Eklampsie mit nicht gutem Resultat be¬
handelt, da 5 Mütter gestorben sind, aber
sie starben nicht an der Operation, sondern
an der Eklampsie. Die schnelle Entbin¬
dung vermag also bei schwerer Eklampsie
nicht stets heilend zu wirken. Wichtiger
ist die Anwendung der Hysterostomatomia
bei Placenta praevia. Von 34 Frauen starb
nur 1. Die Schnittmethode und die Schnell¬
entbindung ist also bei Placenta praevia
der sicherste Schutz gegen Verblutung.
Ob das Kind ausgetragen ist, ob es ab¬
gestorben ist, ist gleichgültig für die
Stellung der Indikation. Eine Gebär¬
muttertamponade ist anzuschließen. Im
Gegensatz von Dührßen betont aber
Verfasser, daß die Operation nicht im Pri¬
vathause ausgeführt werden darf. Die In¬
dikationsbreite für die Schnellentbindung
mit dem Schnitte in der vorderen Gebär¬
mutterwand ist aber eine größere. Sie
kommt in Betracht in allen Fällen, in denen
eine augenblickliche Entbindung, gleich¬
gültig in welchem Stadium der Geburt,
notwendig wird. So führte sie Vortragen¬
der u. a. in 17 Fällen wegen primärer
Weichteilschwierigkeiten ohne Todesfall
aus, 7 mal wegen vorzeitiger Lösung der
normalsitzenden Plazenta, 3 mal wegen
Nabelschnurvorfall, 3 mal wegen Schief läge,
bei der eine Wendung nicht möglich war.
Auch bei Pyelitis, Nephritis, Hyperemesis
gravidarum, Tuberkulose ist die Operation
indiziert in den Fällen, in denen eine
Schnellentbindung im Interesse der Mutter
oder des Kindes notwendig wird. Vor¬
tragender gibt eine Schilderung seiner
Technik, welche eine möglichste Schonung
der Gewebe bezweckt. Das Kind wird
durch Wendung entwickelt.
Diskussion.
Pankow (Freiburg) sah von dem vor¬
deren Gebärmutterschnitte nicht so gute
Resultate bei der Placenta praevia. Unter
9 Frauen starben 2 durch Verblutung durch
Weiterreißen des Schnittes, obwohl er
gleichfalls den Schnitt hoch hinaufführte
und einen Schnitt der hinteren Uteruswand
hinzufügte.
Seil heim gibt eine Differenzierung
zwischen dem klassischen Kaiserschnitt,
□ igftized by Google
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UNIVERSiTY OF CALIFORNIA
Oktober
Die Therapie der Gegenwart 1910.
459
dem extraperitonealen und dem vaginalen
Uterusschnitt. Seilheim hat bei Placenta
praevia häufiger den extraperitonealen
Uterusschnitt ausgeführt; der Schnitt von
oben greift wie der vaginale den Aus¬
führungsweg der Gebärmutter an, ist aber
übersichtlicher, und der Arzt kann ohne
Gefahr langsamer operieren.
Frank hält wie Döderlein die rasche
Methode der Entbindung bei Placenta
praevia für die beste Operation. Die rasche
Entbindung kann aber gefährlich werden,
wenn die Kranke vollständig ausgeblutet
in Behandlung kommt, hier gewinnt man
durch die Wendung Zeit und macht die
Entbindung ungefährlicher. Bei Erstge¬
bärenden, namentlich bei engem Becken
ist der Weg von oben dem Gebärmutter¬
schnitt vorzuziehen.
Jung wendet zwar die Hysterostoma-
tomia bei denselben Erkrankungen wie
Döderlein seit langer Zeit an, bei Pla¬
centa praevia jedoch scheute er sich lange,
sie auszuführen. Bei sehr engen Weich¬
teilen führt er sie jedoch aus, wenn Kol-
peuryse und Wendung nicht in Betracht
kommen. Bei der Operation von oben
zieht Jung den klassischen Kaiserschnitt
bei Placenta praevia dem extraperitonealen
Uterusschnitt vor.
Fränkel (Breslau) hält als Indikations¬
stellung die Einleitung einer künstlichen
Schnellentbindung bei Tuberkulose für
nicht richtig, da hier gewöhnlich eine so
schnelle Operation nicht erforderlich ist,
namentlich aber bei künstlicher Fehlgeburt
ist eine Schnittmethode behufs schneller
Entleerung des Uterus nicht angebracht.
E. Martin: Während auf der Bumm-
schen Klinik der vaginale Uterusschnitt
häufig zur Einleitung einer künstlichen Früh¬
geburt angewendet und der vaginale Kaiser¬
schnitt auf breitester Basis ausgeführt wird,
wird er bei Placenta praevia wegen Gefahr
der Verblutung durch queres Einreißen
nicht gemacht
Döderlein: Die Gefahr eines Einrisses
läßt sich durch hohes Einschneiden bis
über den inneren Muttermund vermeiden.
Die Krönigsche Klinik, über deren Re¬
sultate Pankow berichtete, schafft ein kom¬
pliziertes Wundgebiet durch Hinzufügen
der Schnitte in der hinteren Uteruswand.
Hierdurch sind die schlechten Resultate von
Pankow zu erklären. Daß man den Schnitt
in das untere Uterinsegment legt, wie
Sellheim, ist notwendig, aber der Weg
von der Scheide ist ungefährlicher als von
oben. Bei Erstgebärenden sind in der Tat
die Schwierigkeiten bedeutendere.
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Rosinski (Königsberg): Ueber Pye¬
litis gravidarum.
Im Verlauf der Schwangerschaft tritt
nicht selten eine Nierenbeckeneiterung auf,
die, durch die Schwangerschaft veranlaßt,
mit Aufhören der Schwangerschaft von
selbst ausheilt. Die Fälle, in denen der
Beginn der Pyelitis vor Eintritt der Kon¬
zeption fällt, haben andere Prognose und
eine andere Aetiologie; die eigentliche
Pyelitis gravidarum aber erfolgt durch
Stauung im Nierenbecken oder Ureter und
Eintritt einer Infektion. Am klarsten treten
die Symptome bei Erstgebärenden auf, bei
ihnen findet sich der Prozeß stets auf der
rechten Seite lokalisiert und beschränkt sich
auf den abdominalen Teil des Ureters —
bis zur Linea innominata. Die Pyelitis be¬
ginnt gewöhnlich im 5. Monat, selten später,
fast nie früher. Eine schiefe Einmündung
des Harnleiters in die Blasen wand (Mira-
beau) kann also nicht die Ursache für die
Erkrankung sein, ebensowenig wie die
Schwellung der Blasenschleimhaut. Im
ersteren Falle müßte auch der pelvine Teil
des Harnleiters beteiligt sein, im letzteren
müßte die Erkrankung doppelseitig auf-
treten. Auch ein abnormer Tiefstand der
Niere ist nicht Veranlassung einer Ab¬
knickung des Ureters. Ausschlaggebend
für das Auftreten einer Pyelitis kann nur
eine Kompression des Ureters durch Druck
oder Abknickung des Ureters durch Zug
sein. Bei letzterem soll der Uterus beim
Emporsteigen die Blase mitnehmen, so einen
Zug auf den Ureter ausüben und zur Er¬
zeugung einer verstärkten Winkelbildung
beitragen. Rosinski neigt mehr der Kom¬
pressionstheorie zu, sie erklärt den ein¬
seitigen Sitz und ferner die Erfolge, welche
durch Linkslagerung der Kranken erzielt
werden. Fast ausnahmslos läßt sich durch
diese einfache Therapie ein voller Erfolg
erzielen. Die Infektion durch Bacterium
coli erfolgt wahrscheinlich nicht von der
Blase aus, sondern auf hämatogenem Wege.
Das ultimum Refugium der Therapie ist die
Entleerung des Uterus; das kindliche Leben
muß im Interesse des mütterlichen geopfert
werden.
Jung (Göttingen): Ueber dasAszen-
dieren korpuskulärer Elemente ohne
Eigenbewegung im weiblichen Ge¬
nitalkanal.
Experimentell ist es möglich, bei Tieren
eine aszendierende Genitaltuberkulose zu
erzeugen. Baumgarten bestritt die Mög¬
lichkeit, Jung erhärtete seine Annahme
durch neue Versuche, und zwar durch In¬
jektion von Perlsucht in das linke Horn
58*
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
460
Die Therapie der Gegenwart 1910.
Oktober
und sah unter 33 Kaninchen 5 mal Auf¬
steigen der Infektion in das rechte Horn.
Ferner unterband er Portio beziehungs¬
weise Scheide, machte eine Aufschwemmung
unterhalb der Ligatur und löste alsdann
später die Umschnürung. Das Aszeadieren
der experimentellen Genitaltuberkulose läßt
sich durch antiperistaltische Bewegungen
oder durch Verschleppung durch Leuko¬
zyten erklären. Um den Ein wand, daß es
sich um hämatogene Verschleppung handelt,
zu widerlegen, ließ Jung durch Engel-
h o r n Karmin- Kakaokügelchen in die Scheide
bringen, und auch hier ließ sich ein Hin¬
aufwandern der korpuskularen Elemente
nicht nur in die Uterushöhle, sondern auch
in die Uterusschleimhaut und in die Lymph¬
spalten der Muskulatur nachweisen. Das
Hinaufwandern der Tuberkulose auf dem
Lymphwege ist hierdurch experimentell
gestützt. Die menschliche Genitaltuber¬
kulose entsteht allerdings gewiß in den
meisten Fällen auf hämatogenem Wege, die
Möglichkeit ist aber gegeben, daß Tuberkel¬
bazillen aus der Scheide in den Uterus ge¬
langen können.
Diskussion.
Zuntz berichtet über einen Fall von
Pyelitis bei einer Erstgebärenden im 3. Mo¬
nat, in dem eine Kompression durch den
Uterus nicht anzunehmen ist. Ferner be¬
richtet er über einen Fall, in dem, als eine
rechtsseitige Pyelitis nach Behandlung durch
Linkslagerung geheilt war, eine linksseitige
Pyelitis sich anschloß.
May er weist auf die Differentialdiagnose
zwischen Pyelitis und Perityphlitis hin,
beide machen ähnliche Symptome. Auch
Verwechslung mit Pneumonie kommt vor.
Th. Cohn: Die Pyelitis tritt häufig so
schleichend auf, daß in der ersten Zeit die
Diagnose schwer zu stellen ist. Die Frage,
ob die Infektion eine aufsteigende oder
hämatogene ist, läßt sich nur lösen durch
den Nachweis, ob die Bakterien sich zu¬
erst in der Blase oder im Nierenbecken
finden.
Füth weist auf die Möglichkeit hin,
Pyelitis mit Influenza zu verwechseln.
Neu: Nicht allein das mechanische Mo¬
ment durch Druck des Uterus kann die
Pyelitis veranlassen, auch schwere Obsti*
pation kann die Ursache sein.
Zangenmeister: Das Hindernis ist
bei Pyelitis sicher nicht sehr groß, denn
die Ureteren lassen sich auch bei Pyelitis
leicht sondieren; aber der Urin kann auch
dieses leichte Hindernis nicht überwinden.
Eine große Anzahl der Fälle ist sicher
hämatogenen Ursprungs. Die Nierenbecken-
4 i b> Go gie
Spülungen wirken durch Freimachen der
Passage.
Rosinsky führt aus, daß die häma¬
togene Infektion durch das eruptionsartige
Auftreten wahrscheinlich wird. Das Gros
der Fälle, die eine gewisse Gesetzmäßig¬
keit zeigen, können nur durch Druckkom¬
pression entstehen. Therapeutisch sollen
wir uns nicht mit der Behebung der mani¬
festen Symptome begnügen; auch nach der
Entbindung müssen die Frauen beobachtet
und eventuell behandelt werden.
Kombinierte Sitzung mit der Abteilung für
innere Medizin.
Hof bauer (Königsberg): Tuberkulose
und Schwangerschaft.
Die Klarstellung der Rückwirkung von
Generationsvorgängen auf die tuberkulöse
Infektion ist nur auf dem Boden großer
empirischer Reihen möglich. Außerdem
müssen die Erfahrungen der Chirurgen,
Urologen und Dermatologen herangezogen
werden. Von diesen Leitsätzen ausgehend,
wurden in der Königsberger Klinik sämt¬
liche Schwangere und Gebärende auf
Lungenaffektionen untersucht, in zweifel¬
haften Fällen von spezialärztlicher Seite.
Außerdem wurden die tuberkulösen Kranken
der inneren Kliniken und Abteilungen zur
Kasuistik verwertet, ferner der Bestand der
Fürsorgestelle, wo genaue anamnestische
Erhebungen, das Ergebnis sorgfältiger phy¬
sikalischer und Sputumuntersuchung, An¬
gaben über Einfluß des Aufenthaltes in der
Lungenheilstätte und über das Befinden
nachher vorliegen. Außerdem kamen Fälle,
welche längere Zeit während der Gravidität
in Privatkliniken beobachtet wurden, zur
Verwertung. Unter den gesamten 235
Fällen zeigte sich eine Verschlimmerung
der Tuberkulose durch die Gravidität in
55,7 °/ 0 . Bei chirurgischer Tuberkulose und
bei Lupus tritt häufig Verschlechterung
ein; die Urogenitaltuberkulose bleibt meist
unbeeinflußt. Bei der Beantwortung der
Frage nach der Häufigkeit der echten
Schwangerschaftstuberkulose muß in Er¬
wägung gebracht werden, daß nur selten
der Ausgang von latenten Herden ausge¬
schlossen werden kann. Ob erhöhte Dis¬
position zur tuberkulösen Erkrankung
durch Schwangerschaft gegeben ist, ist in
bejahendem Sinne zu beantworten. Von
Bedeutung für den Verlauf sind der ana¬
tomische Charakter der Lungenerkrankung
und die sozialen Verhältnisse. In progno¬
stischer Richtung kommt die gleichzeitige
Berücksichtigung von Temperatur, Puls und
Gewicht in Betracht.
Original fram
UNIVERSITY 0F CALIFORNIA
Oktober
Die Therapie der Gegenwart 1910.
461
Die diagnostische und prognostische
Seite muß damit rechnen, daß die Gravi¬
dität an sich Zustände schafft, wie sie sonst
der Tuberkulose eigentümlich sind, Ab¬
sinken des opsonischen Index, Aktivierung
der Kobrahämolyse. Für die ätiologische
Erklärung der gesteigerten Disposition
kommen nach Hofbauers Untersuchungen
in Betracht:
1. Herabsetzung des lipolytischen Ver¬
mögens des Blutes in der Gravidität (wahr¬
scheinlich im Zusammenhang mit den de-
generativen Zellschädigungen der Leber)
und Hyperglykämie.
2. Bestimmte physikalische Momente,
welche am ausgeprägtesten im Larynx
während der Gravidität auftreten (Hyper¬
ämie, Oedem, Infiltrate), aber auch in der
Lunge nachweisbar sind, als Hyperämie
und peribronchiale Infiltrate. Die günstigen
Erfahrungen, welche mit der frühzeitigen
Unterbrechung der Gravidität bei pro¬
gredienter Erkrankung gemacht sind, er¬
klären sich aus dem Wegfall der ätiologi¬
schen Faktoren.
Diskussion:
v. Müller: Der Einfluß der Schwanger¬
schaft auf die Tuberkulose macht sich
häufig erst nach der Entbindung geltend,
erst in dieser Zeit macht häufig die Tuber¬
kulose rapide Fortschritte.
Wolff-Eisner: Die Volkslungenheil¬
stätten schließen Gravide gewöhnlich aus,
weil sie nur prognostisch günstige Fälle
aufnehmen, die Schwangerschaft setzt aber
für die Tuberkulose eine ungünstige Pro¬
gnose, da sie inaktive Tuberkulose auf¬
flackern läßt. Die Konjunktivalreaktion ist
naturgemäß auch bei Gravidität verwert¬
bar, aber gerade bei prognostisch ungünsti¬
gen Fällen tritt nicht selten keine Reaktion
ein, sie. fällt daher bei Gravidität häufig
negativ aus und wird nach Unterbrechung
der Gravidität positiv.
Wolff (Reiboldsgrün) befürwortet als
Heilstättenarzt die Aufnahme von Tuber¬
kulös-Graviden so lange wie irgend mög¬
lich in einer Volksheilstätte, besonders
auch die Wiederaufnahme nach der Ent¬
bindung, da die Frauen in der Zeit nach
der Entbindung besonders gefährdet sind.
E. Martin: Wir wissen noch keinen
Grund, warum in einem Falle die Schwan¬
gerschaft so ungünstig wirkt, im anderen
nicht. Die Bumsche Schule unterbricht
die Schwangerschaft nur, wenn ein Internist
den Rat gibt. Die Unterbrechung hat aber
nur in den ersten 3 Monaten Wert. Vom
4. Monat ab hat dieselbe keinen günstigen
Erfolg. Der Unterbrechung der Schwanger¬
schaft wird eine Sterilisation —• durch
Totalexstirpation mit Entfernung der Ad¬
nexe — angeschlossen.
Jaschke: So radikal der Vorschlag
einer Totalexstirpation auch aussieht, ist er
doch wenigstens für besonders schwere
Fälle der richtige, wie Untersuchungen an
der Rosthorn sehen Klinik ergaben; häufig
aber ergibt eine Tubensterilisation dieselben
guten Resultate.
Asch (Breslau) betont, daß die Gynä¬
kologen häufig deshalb die Schädigung der
Graviden durch Tuberkulose nicht fest¬
stellen können, weil gerade die schwersten
Schädigungen erst nach der Entbindung
eintreten. Die Internisten vermögen ein
viel besseres Urteil zu gewinnen, und zwar
dadurch, daß sie in jedem Falle von Tuber¬
kulose durch genaue anamnestische Fest¬
stellung nachforschen, wie weit die früheren
Schwangerschaften einen schädigenden
Einfluß auf die Tuberkulose gehabt haben,
nur so können wir zu präziser Indikations¬
stellung kommen.
Kraus: Durch Unterbrechung einer
Gravidität allein wird die Tuberkulose nur
selten günstig beeinflußt. Wichtig ist eine
Sterilisation ohne Entfernung der Ovarien,
damit nicht wieder Schwangerschaft ein-
tritt.
Fischer: Die Indikationsstellung für
Unterbrechung der Schwangerschaft ist
heute noch dieselbe wie vor 10 Jahren.
Der Charakter, der Wunsch der Kranken
spielt häufig eine große Rolle für den Verlauf
der Erkrankung. Man muß in jedem Falle
individualisieren, jede tuberkulöse Gravide
soll auf die Gefahren, die ihr durch die
Schwangerschaft drohen, aufmerksam ge¬
macht werden.
Mayer: Einzelne Fälle von Tuberkulose
erfordern sofortige Unterbrechung, andere
hingegen müssen längere Zeit auf Puls,
Temperatur und Gewicht beobachtet wer¬
den. Zur Sterilisation genügt die Tuben¬
sterilisation nach Seil heim scher Methode,
welche die Möglichkeit gibt, später eine
Konzeptionsfähigkeit wieder herzustellen.
Döderlein: Die Indikationsstellung für
Unterbrechung der Schwangerschaft ist
Sache der Internisten. Als Operationsme¬
thode kommt die Kastration in Frage,
wegen der Ausfallserscheinungen wird diese
jedoch von Döderlein verworfen. Die
Tubensterilisation ist die gegebene Me¬
thode.
Neu: In der Heidelberger Klinik
wird bei jeder tuberkulösen Schwangeren,
die nach Beratung mit den Internisten den
Gefahren einer progredienten Tuberkulose
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462
Die Therapie der Gegenwart 1910.
Oktober
ausgesetzt ist, nach Einleitung eines Aborts
eine Tubensterilisation vom Leistenkanal
aus vorgenommen. Das wichtigste ist, eine
Basis zu schaffen, auf der wir zu einer
sicheren Indikationsstellung kommen können.
Kraus: Aus dem physikalischen Befund
läßt sich keine Indikationsstellung fQr Unter¬
brechung der Schwangerschaft herleiten.
Gefährlich ist die Annahme, daß man durch
eine Kastration, welche eine Gewichtszu¬
nahme hervorruft, eine Besserung der
Tuberkulose erzielen kann.
Dützmann schlägt vor, um in einer
Sitzung Ausräumung und Sterilisation zu
ermöglichen, eine vaginale Inzision der
vorderen Uteruswand mit Ausräumung und
direktem Anschluß der Sterilisation vorzu¬
nehmen.
Hofbauer: Auch die Königsberger
Klinik verwirft die künstliche Frühgeburt,
empfiehlt den künstlichen Abort. So früh
und so schonend wie möglich soll operiert
werden. Internisten und Gynäkologen sollen
Zusammenarbeiten. Die Seil he im sehe
Operationsmethode scheint für die Konzep¬
tionsverhinderung die günstigste.
Aus der Abteilung für Chirurgie.
Garre (Bonn): Zur Aetiologie
des intermittierenden Gelenkhydrops
und der Gelenkneuralgie.
Unter den durch Staphylokokken her¬
vorgerufenen Osteomyelitiden gibt es auch
chronische, nicht zur Eiterung führende
Formen: Sklerosierende Formen der Dia-
physenosteomyelitis nur mit Granulations¬
herden im Knochen ohne Sequesterbildung.
Solche Herde kommen nun aber auch in
den Epiphysen vor und machen dann
vorwiegend Gelenksymptome. Diese sind
im Gegensatz zu denen bei den eitrigen
Formen: hauptsächlich der rezidivierende
intermittierende Gelenkhydrops und die
Gelenkneuralgie. Vortr. teilt drei Fälle mit.
Beim ersten Fall (nach Trauma) traten
während sechs Jahren neuralgische Schmerz¬
anfälle im Knie auf, jedesmal mit lokaler
Schwellung und Wärme der Haut. Besse¬
rung, schließlich Heilung durch Hülsen¬
apparat.
Der zweite Fall (ohne äußere Ursache)
verlief unter dem Bilde eines Hydrops im
Knie mit Schmerzen bei Bewegungen, ohne
Druckschmerz.
Beim dritten Fall (Unfallpatient) Knie¬
schmerzen nach Anstrengungen mit eben
nachweisbarer Periostitis der Tibia.
In allen drei Fällen half das Röntgen¬
bild zur Diagnose: bohnengroße Herde
sklerosierten Knochens in der Tibiaepi¬
physe. Operation des Herdes, wenn dieser
(wie in Fall 2 und 3) lokalisierbar, hilft
prompt.
Diskussion.
Ludloff, der einen gleichen Fall sah,
weist auf die Wichtigkeit des Perkussions¬
schmerzes bei der Diagnose solcher Er¬
krankungen hin.
Lex er stimmt Gar res Ausführungen
bei. Die Herde sitzen meist in der Meta-
physe. Die Patienten werden in der
Regel auf Lues oder Tuberkulose behan¬
delt. Die Bedeutsamkeit des Perkussions¬
schmerzes kann Lexer bestätigen.
Bergemann (Königsberg): Behand¬
lung der Radius- und Malleolen-
frakturen.
Bei dem von Lexer vor einigen Jahren
angegebenen Verfahren der Behandlung
typischer Radiusfrakturen, das sich in der
chirurgischen Klinik in Königsberg gut be¬
währt hat, genügte fast immer eine Flanell¬
binde, um eine neue Dislokation zu ver¬
hüten. Nur bei wenigen schweren Frak¬
turen wurde der Verband durch eine Papp¬
schiene gefestigt. Bei Nachuntersuchung
war in 88% der Fälle die Heilung anato¬
misch korrekt, bei 85% war vollkommene
Beweglichkeit vorhanden, 95,5 % sind voll¬
ständig erwerbsfähig geworden. Durch¬
schnittliche Heilungsdauer drei Wochen. —
Das gleiche Prinzip des Bandagierens in
korrigierter Stellung ist von Lexer neuer¬
dings bei Behandlung der Knöchelbrüche
angewandt worden. Es werden steigbügel¬
artig zwei Heftpflasterstreifen angelegt, die
bei Abduktionsbrüchen den Fuß in geringe
Supinations- und Adduktionsstellung zwin¬
gen. Um die Stellung regulierbar zu ma¬
chen, wird auf der medialen Seite unten
an das Heftpflaster ein Gummizug an¬
genäht, der Haken trägt und mittels dieser
oben an am Heftpflaster angebrachte Oesen
unter starkem Zug fixiert werden kann.
Am Tage nach der Verletzung verlassen
die Kranken mit Krücken das Bett, sollen
aber erst in der zweiten Woche versuchen,
aufzutreten. Volle Belastung erst in der
dritten Woche erlaubt. Bei schweren Per¬
sonen stets Plattfußeinlage. Der Verband
eignet sich auch für die doppelten Knöchel¬
brüche sowie für die supramalleolären Fi¬
bulabrüche. Nachuntersuchung in 20 Fällen
hat volle Heilung ergeben, bei zwei Ver¬
letzten geringe Knickfußstellung. — Durch
den Fortfall des starren Verbandes bleibt
das Fußgewölbe in der richtigen Form, die
Muskulatur bleibt ungeschädigt. Die Kon¬
trolle durch das Auge ist stets leicht mög-
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Oktober
Die Therapie der Gegenwart 1910.
463
lieh. Es können früh Bewegungsübungen
gemacht werden.
Diskussion.
Storp (Danzig) weist auf seine schon
vor Jahren angegebene Methode hin, bei
der nach Reposition oberhalb des Hand¬
gelenks eine Heftpflastermanschette ange¬
legt wird, an der der Arm mittels einer um
den Hals gelegten Schlinge suspendiert
wird. Er zieht die Methode allen an¬
deren vor.
Paetzold (Graudenz) kann die Lexer-
sche Methode der Radiusfrakturbehandlung
warm empfehlen. In einem Falle hat er in
14 Tagen völlige Heilung erzielt.
Stieda (Halle) berichtet ebenfalls Ober
günstige Erfahrungen mit der Lexerschen
Methode aus der Klinik von Bram an n.
Bei starker Dislokation legt Stieda drei
Tage einen Pappschienenverband an. Lex er
sagt, die Storp sehe Methode eigne sich
nur für intelligente Personen, die ihren
Arm in der ihm gegebenen Stellung halten,
was bei dem Lexerschen Verband eben
durch den Verband erzwungen wird.
Samter (Königsberg i. Pr.): Demon¬
strationen zur Exartikulatio pedis
mit dem Zirkelschnitt wegen Gangrän.
Vortr. spricht über die von ihm auf den
Chirurgenkongressen 1902, 1903, 1906 emp¬
fohlene und demonstrierte Exarticulatio pedis
mit dem Zirkelschnitt (mit Krankendemon
stration), bei der die Malleolen (quer oder
bei Hautmangel schräg) abgetragen, die
Knorpelfläche der Epiphyse der Tibia er¬
haltenbleibt, und die bei 20 Fällen zur An¬
wendung gelangt ist Samter empfiehlt die
Methode als tiefe Absetzung bei steiler
Gangrän auf Grund günstiger Mortalitäts¬
und Heilungsverhältnisse. Der Stumpf ist
belastungsfähig, was für seine gute Ernäh¬
rung spricht. Die Operation hat zur Hei¬
lung geführt, auch wenn keine spritzenden
Gefäße vorhanden waren, ebenso wie bei
den hohen Absetzungen, die nach Gritti
ausgeführt werden.
Samter hat bei Zermalmungen «und
Erfrierungen bis zur Sprunggelenkgegend,
in denen mit den üblichen Absetzungen
die untere Epiphyse der Tibia hätte ge¬
opfert werden müssen, die plastische
Deckung mit einem Steigbügellappen vor¬
genommen, wenn es sich um wachsende
Individuen handelte. Bericht über einen
1906 auf dem Chirurgenkongreß vorge¬
stellten Fall (noch heute normales Längen¬
wachstum).
Joachimsthal (Berlin): Angeborene
Wirbelanomalien und ihre Be¬
ziehungen zur Skoliose.
Vortragender berichtet über einegrößere
Zahl von angeborenen Skoliosen. Offen¬
bar bedingt durch mechanische Momente,
einen Raummangel im Uterus, sind die
Fälle aufzufassen, in denen sich kurze Zeit
nach der Geburt ausgeprägte Abweichungen
der Wirbelsäule nachweisen lassen und das
Skelett keinerlei Verbildungen an den Wir¬
beln nachweisen läßt. Kongenitale Sko¬
liosen begleiten vielfach andere Anomalien'
z. B. Halsrippen und den angeborenen
Schulterblatthochstand. Die eigentlichen
Wirbelverbildungen bestehen entweder in
Spalt- oder Doppelbildungen oder in ab¬
normen Verwachsungen oder in Defekten.
Bei Entwicklungsstörung des lateralen
Knochenkerns des Wirbelkörpers entstehen
sogenannte Schalt- oder Halb wir bei, die
sich wie Keile zwischen zwei Vollwirbel
einschieben. Eine operative Behandlung
verbietet sich schon wegen Gefährdung der
Stabilität und Mechanik der Wirbelsäule.
Wrede (Königsberg): Ueber erb¬
liche angeborene Kniescheibenver¬
renkung.
Vortragender stellt einen Mann mit
seinen zwei Kindern vor, die mit dem ge¬
nannten Leiden behaftet sind. (Der Vater
des Mannes, eines seiner Geschwister so¬
wie eines seiner Stiefgeschwister hatten
dasselbe Leiden.) Die Kniescheiben finden
sich im Stehen ganz nach außen disloziert.
Femurkondylen stehen einwärts rotiert.
Es bestehen geringe Bewegungsbeschrän¬
kungen, die Erregbarkeit des M. vastus ex-
ternus fehlt, die Knochenkerne der Knie¬
scheibe bei den Kindern sind ungenügend
entwickelt. Es bestehen bei den Patienten
noch andere Mißbildungen: Verunstaltungen
der Finger, Impressionen am Thorax, Sko¬
liosen, Subluxationen des Radiusköpfchens.
Vortragender erklärt die Mißbildungen durch
Raumbeengung im Uterus, die, durch Enge
der Eihäute, Fruchtwassermangel usw. be¬
dingt, auch im Mannesstamm vererbt werden
kann.
Frangenheim (Königsberg i. Pr.);
Chondrodystrophischer Zwerg (hy¬
perplastische Form).
13jähriger intelligenter Knabe mit hoch¬
gradiger Wachstumsstörung des ganzen
Skeletts. Die Epiphysen fehlen selbst an
den großen Röhrenknochen noch vollstän¬
dig. Das Skelett entspricht dem eines
3—4jährigen Kindes. Besserung der Stel¬
lungsanomalien der Beine durch Osteo¬
tomien.
Diskussion.
Joachimsthal (Berlin) hält den Fall
gleichfalls für eine Chondrodystrophie,
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464
Die Therapie der Gegenwart 1910.
Oktober
wenngleich die für diese Erkrankung typi¬
sche, so auffallende Verkürzung der Glied¬
maßen im Verhältnis zum Rumpfe fehlt.
In einem von ihm beobachteten Falle hat
Joachimsthal im Alter von 12 Jahren
beiderseitige Osteotomien der verbogenen
Schienbeine gemacht. Die Kranke hat in
ihrem 20. Lebensjahre noch vollkommen
^gerade Unterschenkel gehabt.
E. Rehn (Königsberg): Gelenkchon¬
drome.
Ohne Trauma hatte sich bei einem
28jährigen Manne die Geschwulst im linken
Ellbogengelenk entwickelt. Drei größere
Tumormassen sind primär aus den Kapsel¬
umschlagsstellen hervorgegangen. Diesen
folgte eine multiple miliare Aussaat über
die ganze Innenfläche der Kapsel.
Im Anschluß wird das Präparat des
Lex ersehen Falles von Kniegelenkschon¬
drom demonstriert.
Sohler (Königsberg i. Pr ); Trypsin -
behandlung bei chirurgischer Tuber¬
kulose.
Vortragender kommt auf Grund seiner
hauptsächlich an tuberkulösen Gelenken
gemachten Untersuchungen zu einem ab¬
lehnenden Standpunkt aus folgenden Grün¬
den: 1. Die Injektionen sind sehr schmerz¬
haft. 2. Sie sind wegen der Unreinheit
der Präparate und der geringen Haltbar¬
keit der Lösungen nicht gefahrlos. 3. Im
Anschluß an die Injektionen treten teilweise
toxische Erscheinungen auf. 4. Die Proteo¬
lyse macht vor dem Gesunden nicht Halt;
der Gelenkknorpel wird abgeledert, die
Heilung verzögert. 5. Die Nebenwirkung
der Injektionen, bestehend in lokaler Hyper¬
ämie und dem Reiz auf das Gewebe zur
Bildung gesunder Granulationen, wird durch
einfachere chemische Mittel ebensogut und
gefahrloser erreicht.
In der Diskussion spricht sich Herr
Schaack (Petersburg) auf Grund von Ver¬
suchen von Grekow und Wiedemann am
Obuchowkrankenhaus in Petersburg eben¬
falls gegen die Trypsinbehandlung aus.
Port (Nürnberg): Leimverband¬
demonstrationen.
Vortragender stellt Patienten mit Leim¬
verbänden vor und bespricht die Technik
sowohl wie die Verwendung derartiger
Verbände. Ihr Wert liegt in der Elastizität
und der gleichmäßigen Kompression, welche
sie auf das Glied ausüben, so daß sie Ver¬
wendung finden bei allen Erkrankungen,
bei denen Oedeme verhindert oder vor¬
handene beseitigt werden sollen, Distor¬
sionen, Frakturen kleiner Fuß wurzelknochen,
Varizen mit und ohne Ulkus. Als ortho¬
pädischer Verband, mit Eisenteilen ver¬
stärkt, dient er zu Etappenredressement und
als Schienenhülsenapparat.
E. Rehn (Königsberg): Ueber freie
Fettransplantation.
Unter Hinweis auf seine gelegentlich
des letzten Chirurgenkongresses gemachten
Mitteilungen über die freie Fettransplan¬
tation im Tierexperiment stellt Vortragen¬
der 5 Patienten vor, bei welchen die auto¬
plastische Fettransplantation viermal wegen
tiefeingesunkener Narben im Gesicht (nach
Zertrümmerung des Jochbeins zweimal,
nach Noma der Wange, nach traumatischem
Substanzverlust des Os frontale) und ein¬
mal beim Vogelgesicht Verwendung ge¬
funden hatte. Beobachtungsdauer der vor¬
gestellten Patienten 4 Wochen bis 1 Jahr.
Ueber die Technik hat Vortragender
folgendes zu sagen: Ein kleinster Schnitt
genügt, um von ihm aus, teils stumpf, teils
scharf, je nachdem wir narbige Verwach¬
sungen haben oder nicht, die für die Auf¬
nahme des Fettes bestimmte Tasche zu
bilden. Das Material wurde entweder den
Bauchdecken oder dem Oberschenkel ent¬
nommen. Unsere bisherigen praktischen
Erfahrungen haben uns gelehrt, daß auch
bei der autoplastischen Fettransplantation
eine gewisse Schrumpfung unvermeidlich
ist; doch ist es ein leichtes, den nach¬
teiligen Folgen dieser durch Wahl eines
größeren Fettlappens vorzubeugen.
Diskussion. Stieda (Halle) sagt, daß
Prof. v. Bram ann vor 8 Jahren Wangen¬
fett bei Narbenzug nach Noma in die Gegend
des Jochbeins verpflanzt und er selber
kürzlich nach EntfernungeinesFibroadenoms
der Mamma den Defekt mit Fettgewebe der
Bauchhaut ausgefüllt habe.
Hage mann (Greifswald): Zu der von
Payr empfohlenen Dauerdrainage (bei
Elephantiasis, Hydrozephalus) mittels in
Formol gehärteter Kalbsarterien hatVortr.
Versuche gemacht mit steril entnommenen
Arterien frisch geschlachteter Kälber, die in
10o/oiger Formollösung gehärtet, dann mit
Ammoniak behandelt, gewässert, über Nacht
in absoluten Alkohol gelegt und in Koch¬
salzlösung vor Gebrauch abgespült worden
waren. Bringt man so behandelte Arterien
in den Kaninchenkörper, so ist schon nach
6 Monaten die bindegewebige Organisation
vollendet. Bessere Resultate bekommt
man, wenn man, wie Voitr. gefunden hat,
die Arterien aus dem Alkohol in Xylol und
Paraffinum liquidum bringt und sie so di¬
rekt verpflanzt. Hier erfolgt die Resorp¬
tion, wenn überhaupt, sehr langsam.
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Oktober
Die Therapie der Gegenwart 1910.
465
Demonstration in der chirurgischen
Klinik am 20.September durch Herrn
Lexer.
1. Zur Nachbehandlung der Mamma¬
amputationen. Der schon von Ebner
Aeröffentlichte einfache Verband, wobei der
Arm in einem Trikotschlauch in erhobener
Stellung am Bett festgebunden wird, hat
sich ausgezeichnet bewährt. Es wird eine
Patientin vorgeführt, die vor einigen Tagen
wegen Mammakarzinom operiert ist. Sie
kann schon jetzt den Arm frei heben.
2. Vorführung des Verbandes mit
beschränkter Feststellung bei einer
frischen typischen Radiusfraktur.
3. Demonstration zweier Fälle von
künstlichem Oesophagus wegen
Aetzstrikturen der Speiseröhre. Die
Rouxsche Operation ist mit gleichartiger
Peristaltik der Darmschlingen nur mit einem
Darmrohr geglückt, das etwa dreifinger¬
breit unterhalb der Mammilla endete. Der
übrige Teil ist durch einen Hautschlauch
gebildet worden.
4. Demonstration eines genau vor drei
Jahren eingepflanzten vollständigen
Kniegelenks; ferner eines vor 5 Monaten
eingepflanzten, ebenfalls gut geheilten und
funktionierenden Kniegelenks und schlie߬
lich eines Falles, in welchem das obere
Tibiadrittel, samt Gelenkfläche wegen Sar¬
kom reseziert und durch ein entsprechen¬
des Stück aus einem amputierten Glied er¬
setzt worden ist. Die Funktion der vor
b k Jahren operierten Patientin ist voll¬
kommen normal.
Bei einem Falle von Chondrosarkom im
oberen Humerusdrittel mit Durchwachsung
der Schultermuskulatur, bei welchem die
Radikaloperation den Erfolg hatte, daß
nach t/a Jahr ein Rezidiv noch nicht auf¬
getreten war, wurde das fehlende Humerus¬
stück, um dem schlotternden Arm eine
Stütze zu verleihen, durch ein frisches
Knochenstück samt Gelenkkopf ersetzt. Es
ist gute Heilung eingetreten seit 3 Monaten.
5. Vorführung einer Patientin, bei wel¬
cher ein großes Oesophagusdivertikel
y or Va Jahr entfernt worden ist. Das
Divertikel wurde daumenbreit neben der
Oesophaguswand zuerst mit einer Abschlu߬
naht versehen und sodann der überstehende
Teil reseziert. Die Abschlußnaht mit dem
noch sitzenden Stiel wurde durch zwei
Etagennähte eingestülpt. Gleichzeitig Gastro¬
stomie. Heilung pp.
6. Demonstration mehrerer Nasen¬
plastiken der verschiedensten Formen
und in den verschiedensten Stadien.
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7. Demonstration eines Kindes, an wel¬
chem beiderseits wegen spinaler Kinder¬
lähmung die Lex ersehe Knochenbolzung
vorgenommen worden war, und Demon¬
stration verschiedener Röntgenbilder solcher
Fälle.
JB. Vorführung eines Patienten mit Myo¬
sitis ossificans progressiva. Lange
dauernde Fibrolysinbehandlung ohne jeden
Erfolg.
9. Demonstration einer Patientin mit aus¬
gedehnter rechtsseitiger Lungenakti-
nomykose. Die infiltrierte Brustwand wurde
erst weitgehend Umschnitten und samt
6 Rippen entfernt. Darauf wurden schicht¬
weise fingerdicke Scheiben aus den infil¬
trierten Lungenpartien, solange es der Zu¬
stand der Patientin erlaubte, ausgeschnitten.
Der Rest wurde kauterisiert. Zurzeit sind
keine Aktinomyzesdrusen mehr im Sputum
nachzuweisen und die rechtsseitige Wund¬
höhle ist fast vollständig vernarbt. Fisteln
bestehen nicht. Es ist dementsprechend
Ausheilung zu erwarten.
10. Ein Mann mit fast faustgroßem
Epiglottis- und Zungenbasiskarzi¬
nom, bei welchem trotz ausgedehnter
Drüsen am Halse die Radikaloperation aus¬
geführt worden ist. Seit 2 Jahren rezidiv¬
frei. Der Patient kann verständlich sprechen
und ausgezeichnet schlucken.
11. Demonstration eines nach dem
Lexerschen Verfahren operierten Nabel¬
bruches. Bis jetzt sind bei derartig ope¬
rierten Fällen niemals Rezidive aufgetreten.
Die von Ebner beschriebene Operations¬
methode, bei welcher durch einen dicken
Aluminiumbronzedraht eine ausgedehnte
Tabaksbeutelnaht durch die ganze Dicke
der Bauchdecken gelegt wird, ist außer¬
ordentlich einfach und hat sich auch bei
großen Brüchen gut bewährt.
12. Präparate von resezierten Knie¬
gelenken, welche wegen Fungus mit
Trypsin behandelt worden waren. Die Re¬
sektion mußte in 8 von 9 Fällen ausgeführt
werden, weil unter tuberkulöser Eiterung
sehr schwere Gelenkzerstörungen aufge¬
treten waren. Besonders instruktiv sind
die Präparate durch den Befund einer Ab¬
lederung des Gelenkknorpels in großen
Lappen.
Garre (Bonn): Zur Operation der
Akromegalie.
Der transsphenoidale Weg zur Operation
der Hypophysentumoren ist leider noch
nicht als ideal zu bezeichnen. Vortragender
schildert einen Fall einer 31jährigen Pa¬
tientin. Beginn der Erkrankung vor zehn
Jahren mit Anschwellung der Finger; vier
59
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UNIVER5ITY 0F CALIFORNIA
466
Die Therapie der Gegenwart 1910.
Oktober
Jahre später typische akromegalische Er¬
scheinungen im Gesicht, Sehstörungen,
weiterhin Schwindel, Atemnot, Herzbeklem¬
mungen. Der Türkensattel zeigt sich auf
dem Röntgenbild um mehr als das Dop¬
pelte erweitert.
Operation: Umschneiden der Nase,
diese nach links umgeklappt. Entfernung
der Vorderwand der Stirnhöhle. Ausräu¬
mung der Nasenhöhle bis auf die Sieb¬
beinzellen. Aufmeißlung der oberen Wand
der Keilbeinhöhle. Es wird der Tumor
(papilläres Adenom) in Form eines grau¬
rötlichen Breis ausgelöffelt. Tamponade.
Darauf wesentliche Besserung. Aber nach
wenigen Monaten Rückkehr der alten Be¬
schwerden. Erneute Operation entfernte
neue Tumormassen, mußte aber vor radi¬
kaler Entfernung des Tumors abgebrochen
werden. Nach zwei Wochen Exitus.
Sektion: Keine Meningitis, ein zwar
abgeschlossener, gutartiger, aber so aus¬
gedehnter Tumor, daß ihm gegenüber die
transsphenoidale Methode auf jeden Fall
versagen mußte. Auch die anderen Me¬
thoden hätten ihre Bedenken gehabt. Es
gibt eben Hypophysentumoren, die unse¬
rem Können ein Ziel setzen.
Diskussion: v. Eiseisberg teilt mit,
daß in seiner Klinik bisher acht Hypo¬
physentumoren operiert wurden: vier Ty¬
pus adiposogenitalis, drei acromegalicus,
eine Mischform. Letzere zeigt, daß die
frühere Ansicht, die beiden Typen seien
Gegensätze, nicht berechtigt ist.
v. Eiseisberg hat einen gleichen Fall
wie Gar re, der eben inoperabel war. Er
ist übrigens immer mehr zu der Ansicht
gelangt, daß eine weniger ausgedehnte
Freilegung meist zum Ziele führt. Denn
es kommt in der Regel nicht auf Radikal¬
entfernung der Hypophysentumoren an.
Die nasale Methode ist daher immer noch
die beste.
Leischner (Wien): Zur Frage der
Schilddrüsen - Epithelkörperchen-
Transplantation bei Tieren.
Vortragender stellte zusammen mit
Köhler zahlreiche Versuche von Homöo¬
transplantation der Epithelkörperchen bei
Ratten an und fand, daß dieselben auf die
Dauer nicht erhalten blieben, sondern nach
einiger Zeit resorbiert wurden. Dagegen
üben die körperfremden Drüschen so lange
einen Einfluß auf den Organismus aus, als
dieselben noch vorhanden sind. Dasselbe
gilt auch von Homöotransplantationen der
Schilddrüse. Die günstige Beeinflussung
durch Epithelkörperchenverpflanzungen der
menschlichen postoperativen Tetanie ist
daher nur darauf zurückzuführen, daß in
diesen Fällen noch eigenes Epithelkörper¬
chengewebe, wenn auch stark geschädigt,
zurückgeblieben war und das verpflanzte
Drüschen so larjge funktionierte, bis sich
die eigenen Epithelkörperchen erholt hatten.
Aber die Transplantation wirkte nur die
Heilung unterstützend.
Diskussion: v. Eiseisberg sagt, daß
nach diesen Versuchen die gehegte Hoff¬
nung, die Tetania idiopathica durch Homöo¬
transplantation zu heilen, sich wohl als
trügerisch erwiesen hat.
v. Haberer (Wien): Verpflanzung
der Fibula nach Oberarmresektion.
Vortragender berichtet über die ge¬
glückte Verpflanzung der Fibula in einen
Defekt des Humerus nach Resektion des
rechten Oberarmknochens bis nahe an das
Eilenbogengelenk heran. Der Malleollus
externus wurde mit seiner überknorpelten
Fläche in die Schulterpfanne eingepaßt,
glatte Heilung, gute Funktion des Armes
jetzt, nach fast fünf Monaten. Die ana¬
tomische Untersuchung des Resektions¬
präparats ergab Ostitis fibrosa. In An¬
lehnung an seinen 1904 mitgeteilten Fall,
für den Vortragender die Diagnose Ostitis
fibrosa mit Sarkombildung aufrecht erhält,
erkennt er drei Genesen für die Knochen¬
zysten an: 1. Verflüssigung von Neoplas¬
men, 2. Ostitis fibrosa, 3. Kombination
beider Prozesse.
Stieda (Halle): Beitrag zur Osteo¬
plastik.
Vortragender berichtet zunächst über
einen Fall von Myxochondroma cysticum
mit Gefäßektasien und Hämorrhagien am
Oberarm eines achtjährigen Knaben, bei
dem es zu einer Spontanfraktur gekommen
war. Der Oberarm wurde in Ausdehnung
von 13 cm reseziert, in den Defekt vor
133 Tagen ein Stück Tibia desselben Pa¬
tienten von 14 cm Länge mit Periost und
Teilen des Markes eingepflanzt. Nach zehn
Wochen bereits Gebrauchsfähigkeit des
Armes. Jetzt fast normale Funktion. Vor¬
tragender ist nach eigenen Untersuchungen
der Ansicht, daß das Einheilen solcher
überpflanzter Knochen in erster Linie dem
erhaltenen lebenden Perioste zuzuschreiben
ist. Es gibt aber auch Fälle, wo toter
Knochen völlig einheilt. Bei dem Fall von
Grosse, operiert v. Bramann (Chirurgen¬
kongreß. 1900), der öfter schon Gegenstand
der Besprechung gewesen ist, zeigen neuer¬
liche Röntgenaufnahmen (11 s /4 J a ^ ir nac ^
der Operation), daß die Stelle der Implan¬
tation in die Tibia nicht mehr aufzufinden
ist. Das Bein ist zwar etwas verkürzt, aber
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Die Therapie der Gegenwart 1910.
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vorzüglich gebrauchsfähig. Daß aber die
Verpflanzung toten Knochens unsichere
Resultate gibt, zeigt ein Fall des Vortra¬
genden, wo Y 2 Jahr nach anscheinender
Einheilung eine Fistel sich bildete, bis
schließlich der ganze implantierte Knochen
entfernt werden mußte. Lebender Knochen
ist daher unbedingt vorzuziehen.
Diskussion: Garre stimmt mit der
Ansicht des Vortragenden Oberem. Er hat
in einem Falle von Sarkom der oberen
Tibiahälfte eines fünfjährigen Jungen V 2 Jahr
nach Exstirpation des Tumors einen 14 cm
langen Spahn mit Periost und Mark der
anderen Tibia eingepflanzt Glatte Ein¬
heilung und Zunahme an Masse.
Tilmann (Köln) hat in zwei Fällen
zum Ersatz des resezierten Unterkiefers
(Karzinom und Aktinomykose) Tibiateile
mit Periost eingepflanzt. Einmal stieß sich
der eingepflanzte Knochen teilweise, ein¬
mal ganz ab; trotzdem bildete in beiden
Fällen das mitüberpflanzte Periost einen
neuen knöchernen Ersatz des Unter¬
kiefers.
Bergei (Hohensalza): Das Fibrin des
Blutes regt nach Knochenbrüchen das
Periost in spezifischer Weise zur Kallus¬
bildung an. Bei Pseudarthrose und ver¬
zögerter Kallusbildung hat sich Injektion
von Fibrin gut bewährt.
Braun (Göttingen): Ueber lebens¬
gefährliche Blutungen bei Verletzung
der vorderen Bauchwand und deren
Behandlung.
Gelegentlich kommt es zu tödlichen Blu¬
tungen mit Verletzung der vorderen Bauch¬
wand. Meist ist es die Art. epigastrica inf.,
die verletzt ist. Aber auch die Art. cir-
cumflexa ilei kann die Ursache zu sol¬
chen Blutungen werden: zu zwei solchen
Fällen aus älterer Zeit kann Vortragender
zwei eigene Beobachtungen fügen, wo die
Verletzung durch schneidende Instrumente
geschah, ohne daß Eingeweide angegriffen
waren. Vortragender berichtet dann über
einen Fall von gefahrbringender Verletzung
der Epigastrika durch Probepunktion und
über zwei Fälle von Verletzung derselben
durch stumpfe Gewalt (Pfählung, Kuhhorn).
Trotz reichlich vorhandenen Blutes in der
Bauchhöhle ergab sich, daß die ganze Blu¬
tung aus der Bauchwand stammte.
Bei Punktionen des Bauches sollte stets
die Medianlinie gewählt werden.
Hoffmann(Greifswald): DieUrsachen
der Bauchdeckenspannung.
Die Unklarheit über Ursache und Wesen
der Bauchdeckenspannung hat den Ver¬
fasser veranlaßt, experimentell an die Lö-
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sung dieser Fragen heranzugehen. Die
wichtigsten Resultate seiner Untersuchun¬
gen sind folgende:
Die Bauchdeckenspannung ist ein Re¬
flexvorgang, der ausgelöst wird durch die
Nn. intercostales und lumbosacrales. Sie
kann daher eintreten bei Reizung dieser
Nerven an jeder beliebigen Stelle ihres
Verlaufes. Bei abdominalen Afiektionen
tritt sie nur ein bei Reizung des parietalen
Peritoneums. Bei gesundem Peritoneum
kann Bauchdeckenspannung zustande kom¬
men, bei Pleuritis und Pneumonie, durch
Irradiation; bei Pneumonie nur dann, wenn
eine Reizung der Pleura parietalis erfolgt.
Bei ausgedehnter Läsion hinterer Wurzeln
tritt keine Bauchdeckenspannung ein, wenn
das Peritoneum parietale gereizt wird, je¬
doch bei Querdurchtrennung des Markes
in Höhe des oberen und mittleren Brust¬
abschnittes, so lange der kurze Reflex¬
bogen intakt ist. In tiefster Narkose er¬
lischt die Bauchdeckenspannung.
v. Eiseisberg (Wien): Zur Kasu¬
istik des Magengeschwürs.
Die Gastroenterostomia rectocolica po¬
sterior bei Ulcus ventrifculi oder gutartiger
Stenose hat in seltenen Fällen trotz Aus¬
heilung des die Operation indizierenden
Ulkus zur Folge, daß im Jejunum ein
neues Ulkus entsteht, ln ganz wenigen
Fällen kann ein solches im Magen auf-
treten. In diesem Falle kann man natür¬
lich ein Rezidiv annehmen. Solche Ulcera
jejuni können noch nach Jahren auftreten.
So in des Vortragenden erstem Falle, wo
ein Jahr nach der Operation bei anfäng¬
lichem Wohlbefinden Tod durch Ulkus ein-
trat. Im zweiten Falle hatte das die Ope¬
ration veranlassende Magengeschwür bis
ins Duodenum gereicht. Nach anfänglicher
Besserung durch Operation trat im Jeju¬
num an der typischen Stelle ein Geschwür,
weiter unten drei kleinere auf; außerdem
bildete sich eine Magenkolonfhtel. Im
dritten und vierten Falle ausgedehnte Ste¬
nose des P^lorus; nach der Operation in
einem Falle Ulcus jejuni, im anderen Ulcus
ventriculi, das vorher nicht vorhanden ge¬
wesen. In vier weiteren Fällen traten in¬
folge des Ulcus jejuni Verengerungen der
Anastomose auf. Der Verdacht liegt nahe,
daß solche Ulzera überhaupt vielfach die
Ursache sind, daß die Anastomose zuwächst.
Betreffs der Therapie der Ulcera jejuni
sind wir in ungünstiger Lage, weil bei den
Patienten offenbar eine Disposition vorliegt
und eine neue Anastomose herbeiführt.
Möglich, daß die von Neißer empfohlene
Verabreichung von Atropin günstig wirkt.
59 *
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
468
Die Therapie der Gegenwart 1910.
Oktober
Diskussion. Hadek(Wien) hat in einem
Falle von Pylorusstenose mit Gastroenter¬
ostomie durch das Röntgenbild ein Ulkus
an der Stelle der Gastroenterostomie nach-
weisen können (kleiner abnormer Wismut¬
schatten, Gasblase). (Vergl. Vortrag 2 der
gemeinsamen Sitzung vom 21. September.)
Noetzel (Völklingen): Zur Frage der
Bakterienausscheidung durch den
Harn und durch die Galle.
Experimentelle Untersuchungen des
Vortragenden haben ergeben, daß in den
ersten 10—20 Minuten nach der intra¬
venösen Infektion des Kaninchens mit Pyo-
zyaneus und Milzbrand diese Bakterien im
Urin nicht nachzu weisen sind. Damit
stimmen auch die Ergebnisse klinischer
bakteriologischer Untersuchungen des Vor¬
tragenden an einer großen Zahl von
Streptokokken- und Staphylokokkeninfek¬
tionen Qberein.
Vortragender erblickt in Uebereinstim-
mung mit Kruse, Jos. Koch u. a. in dem
Auftreten der Bakterien im Urin und in
der Galle einen pathologischen Vor¬
gang, welcher als eine durch die physio¬
logische Sekretion 'dieser Organe bewirkte
Schutzvorrichtung des Körpers nicht aner¬
kannt werden kann.
Völker (Heidelberg): Transduode¬
nale Drainage des Ductus hepaticus
bei Choledochusplastik.
Legt man bei der Choledochusresektion
ein Rohr von der Leber in den Darm, so
weiß man nicht, ob das Rohr abgeht. Vor¬
tragender kam nun auf den Gedanken,
dieses Rohr vom Darm aus wieder nach
außen zu leiten, indem er es durch eine
Oeffnung der Darmwand nach außen führte
und über dieser Oeffnung einen Witzel-
schen Kanal bildete, der den Schlauch
durch die Bauchdecken nach außen treten
ließ. Man kann den Schlauch auch durch
eine Oeffnung des Choledochus unterhalb
der Resektionsstelle nach außen leiten.
Läwen (Leipzig): Ueber Sakral¬
anästhesie.
Vortragender verwendet Novokain (mit
Zusatz von Natrium bicarbonicum). Es
werden 20 ccm einer zweiprozentigen oder
25 ccm einer 1 */2 prozentigen Lösung in¬
jiziert. Man läßt die Kranken sitzen und
belaßt sie in halb sitzender Stellung wah¬
rend der Operation. Man richtet sich nach
den Cornua sacralia, die bei mageren
Leuten zu sehen sind, bei fetten ist die
Methode schwierig auszuführen. Die An¬
ästhesie erstreckt sich auf die drei untersten
Sakralsegmente und die Kokkygealnerven,
die Damm, After, äußere weibliche Geni-
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talien, untersten Mastdarm, Penis, Harn¬
röhre, nicht aber die Hoden versorgen.
Unter 84 Fallen wurde 45 mal absolut
schmerzlos operiert. Bei 9 Fallen war die
Technik noch nicht in Ordnung. Es wur¬
den operiert: 20 mal Hämorrhoiden, 6 mal
periproktitische Abszesse, 9 Analfisteln,
1 Douglasabszeß, 1 Prostataabszeß, 1 Rek¬
tumkarzinom, 2 Phimosen; 1 Nadel aus
der Glutaalmuskulatur entfernt und einige
Operationen an den äußeren weiblichen
Genitalien gemacht. Nur eine kleine Zahl
von Fallen zeigte überhaupt eine Reaktion.
Niemals machte die „Extraduralanästhesie*
die bedrohlichen Erscheinungen, die man
bei der lumbalen Anästhesie gelegentlich
beobachtet.
In der Diskussion berichtet Herr E.
Erhardt (München • Königsberg) über 83
gelungene Rückenmarksanüsthesien mit
dem von ihm angegebenen arabinsauren
Tropakokain.
Frangenheim (Königsberg): Dauer¬
erfolge der Osteoplastik im Tier¬
versuch.
Versuche an langen Röhrenknochen
(Ulna) von Kaninchen und Hunden. Nach
Kontinuitätsresektionen wurden periost¬
gedeckte, periostlose und tote (macerierte)
Knochenstücke an demselben Tier ausge¬
tauscht oder von einem Tier auf ein an¬
deres der gleichen Art verpflanzt. Eine
Anzahl der Tiere blieb ein Jahr und langer
am Leben. Röntgenaufnahmen zeigen die
Einheilung, den Ersatz des transplantierten
Materials, sowie die ideale Wiederher¬
stellung der äußeren Form des Knochens.
Das auf dem verpflanzten Knochen er¬
haltene Periost behalt auch nach der Ver¬
pflanzung die Fähigkeit der Knochenneu¬
bildung, auch wenn auf ein anderes art¬
gleiches Tier transplantiert wird. Die vom
verpflanzten Periost neugebildete Knochen¬
substanz ist nicht so ausgedehnt, wie die
vom Mutterboden, z. B. von der Resek¬
tionsstelle ausgehende; sie ist auch nicht
in der ganzen Zirkumferenz des ver¬
pflanzten Röhrenknochenstückes gleich¬
mäßig stark entwickelt.
Die Schonung des Knochenmarks bei
der Knochentransplantation hat sich als
vorteilhaft erwiesen, weil die dem Knochen¬
marke zukommende Eigenschaft der Kno¬
chenneubildung auch in verpflanzten Röhren¬
knochenstücken erhalten bleibt. Außerdem
beobachteten wir Regeneration der spezi¬
fischen Markelemente, unabhängig vom
Mark des Mutterbodens.
Bei Verpflanzung von periostlosem,
lebenden Knochen sehen wir Regeneration
Original from
UNIVERSUM OF CALIFORNIA
Oktober
Die Therapie der Gegenwart 1910.
469
des Periosts vom Mutterboden aus, denn
wir finden periostlos verpflanzten Knochen
nach einiger Zeit von einer bindegewebigen
Hülle umgeben, die mit dem Perioste des
Mutterbodens zusammenhängt.
Mazerierter (toter) Knochen kann zum
Ersat z von Knochendefekten benutzt werden,
wenn der Defekt vollständig ausgefüllt ist
und das Knochenstück den Mutterboden
exakt berührt. Resorption und Ersatz von
toten Knochen erfolgen langsam. Festere
Beziehungen zu den umgebenden Weich¬
teilen gewinnt toter Knochen oft erst nach
langer Zeit. Zu einer Zeit, wo lebend
verpflanzter Knochen bereits eingeheilt und
substituiert ist, finden wir toten Knochen
noch fast lose im Gewebe liegend mit den
ersten Anfängen des Ersatzes.
Da schon die primäre aseptische Ein¬
heilung von totem Knochen schwieriger ist
als die von lebendfrisch verpflanztem, soll
toter Knochen nur ausnahmsweise verwen¬
det werden.
Gemeinschaftliche Sitzung der Abteilungen
für innere Medizin und für Chirurgie.
Haudek(Wien): Das penetrierende
Magengeschwür und der Wert seines
Nachweises.
Während das Magenkarzinom schon
lange der Diagnose durch die Radiologie
zugänglich ist, hat die Röntgendiagnose
des Magengeschwürs bisher versagt. Auch
experimentell durch Exzision der Schleim¬
haut und Muskularis gesetzte Ulzera bei
Hunden machten keinerlei Veränderungen,
die sich radiologisch nachweisen ließen.
Dagegen konnte der Vortragende bei pene¬
trierenden Magengeschwüren im Röntgen¬
bild Veränderungen feststellen, die er für
ganz charakteristisch hält. Beim pene¬
trierenden Magengeschwür verlötet die Se-
rosa des Magens mit einem Nachbarorgan,
gewöhnlich Leber oder Pankreas, in das
das Geschwür dann durchbricht In diesen
Organen entsteht dann durch die peptische
Wirkung des Magensafts eine Nische, die
sich radiologisch darstellen läßt. Während
beim Karzinom eine Ausfransung des Wis¬
mutschattens entsteht, die wie eine unebene
Delle in der normalen Magenform erscheint,
ist der Schatten des Wismuts, das diese
Nische ausfüllt, als divertikelartige Aus¬
stülpung oder Appendix im Radiogramm
zu sehen. Ueber dem Schatten sieht man
eine kleine Luftblase. Der Vortragende
hat bereits in 17 Fällen die Diagnose des
penetrierenden Magengeschwürs auf diese
Weise stellen können. Klinisch imponieren
die Fälle oft als Karzinome mit fühlbaren
Tumoren. In 12 Fällen wurde die Diagnose
durch die Operation bestätigt.
Diskussion. Ewald (Berlin) fragt, ob
nicht übergelagerte Leber und Rippen¬
bogen das Bild beeinträchtigen würden.
Haudek erwidert, daß gegenüber dem
sehr dichten Wismut die sehr durchlässige
Leber absolut nicht in Betracht komme.
Kümmell (Hamburg) bestätigt, daß es
niemals Schwierigkeiten macht, die kleine
Kurvatur röntgenologisch aufzunehmen.
Haudek erinnert noch, unter Hinweis
auf den Vortrag des Freiherrn v. Eisels-
berg in der zweiten Sitzung der chirur¬
gischen Abteilung, daran, daß er nach den
angegebenen Gesichtspunkten imstande ge¬
wesen sei, ein Ulcus pepticum jejuni nach
Gastroenterostomie zu diagnostizieren.
Kümmell (Hamburg): Ueber Nieren¬
tuberkulose. (Erscheint unter den Ori-
ginalien dieses Blattes.)
Meinertz (Rostock): Beziehungen
des tuberkulösen Prozesses zur Blut¬
strömung.
Das Studium der experimentellen Tuber¬
kulose unter geänderten Zirkulationsbedin¬
gungen ist bis jetzt kaum in Angriff ge¬
nommen, obgleich die Wichtigkeit der¬
artiger Beziehungen durch viele klinische
Tatsachen (Einfluß der Blutströmungsver¬
hältnisse auf die Lungentuberkulose beim
Menschen, Herzfehler und Lungentuber¬
kulose, Bier sehe Stauungshyperämie) be¬
wiesen wird. Es ist nun gelungen, durch
eine experimentelle Verlangsamung der
Blutströmung in den Kapillaren der Niere
typische Abweichungen im Verlaufe des
tuberkulösen Prozesses in diesem Organ
hervorzurufen. Es ist neuerdings aber auch
gelungen, durch eine Beeinflussung der
kapillären Blutströmung in den Lungen
(Erweiterung der Lungenkapillaren und da¬
durch bewirkte beschleunigte Blutströmung
als Folge einer experimentellen Atelektase)
derartige Abweichungen im Bilde des tuber¬
kulösen Prozesses zu erzielen, und zwar
in dem Sinne, daß die atelektatischen Par¬
tien, in denen die beschleunigte Blutströ¬
mung stattfindet, in auffälliger Weise von
der Tuberkulose verschont bleiben, indem
die Zahl wie die Größe der Tuberkel hier
geringer ist. Die Ursache ist, daß die
langsamere Blutströmung die kapilläre
Thrombose, die die Grundlage des Tuberkels
ist, begünstigt. Das Wesentliche ist nicht
die Blutfülle, sondern die Stiömungs-
geschwindigkeit. Die Anwendung auf kli¬
nische Verhältnisse liegt nahe.
Tilman (Cöln): Zur Chirurgie der
Kleinhirntumoren.
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UNIVERSiTY OF CALIFORNIA
470
Die Therapie der Gegenwart 1910.
. Oktober
Vortragender berichtet zunächst über acht
Fälle von Kleinhirntumoren. In drei Fällen
ging der Tumor vom 4. Ventrikel aus (Pa¬
pillom, Fibrosarkom, Gliom), in zwei weite¬
ren Fällen war er doppelseitig (ein Fall
Tuberkulose, ein Fall Zystizerken), in den
drei letzten Fällen einseitige Tumoren.
Von den acht Fällen sind sechs operiert
worden, hiervon sind zwei gestorben —
der eine Fall Papillom des 4. Ventrikels,
der andere Zystizerken. In beiden Fällen
war die Diagnose lange zweifelhaft ge¬
wesen. Es mußten ferner bei der Ope¬
ration beide Hemisphären bloßgelegt
werden.
Vortragender wirft die Frage auf, ob
nicht die doppelseitige Bloßlegung das
Gefährliche sei; vielleicht zerre das Klein¬
hirn an der Medulla. In den vier Fällen,
die den Eingriff überstanden haben, lag
einseitiger Tumor, einseitiger Eingriff vor :
1. Solitärtuberkel, 2. Fibrom des Kleinhirn¬
brückenwinkels. 3. und 4. Zyste; Fall 2
und 3 sind dauernd geheilt.
Wo mit Sicherheit die Diagnose auf
Einseitigkeit gestellt war* bestätigte sich
dies; wo diese Diagnose unsicher war, lag
entweder Tumor des Ventrikels oder ein
doppelseitiger Tumor vor. Besonderer dia
gnostischer Wert kommt der Punktion zu.
Wo man kann, sollte man besser osteo¬
plastisch operieren; unbedingt notwendig
ist dies bei doppelseitiger Freilegung.
Vortragender empfiehlt, einzeitig zu
operieren.
Diskussion: Leischner berichtetüber
sieben Fälle von Kleinhirntumoren aus der
Eiselsbergschen Klinik. Vier erlagen dem
Operationsschock, von vier anderen starben
zwei mit Tuberkulose vier Monate p. o. an
tuberkulöser Meningitis, ein Sarkom sieben
Monate p. o. an Rezidiv. Eine Zyste ist
seit 1*/ 2 Jahren wesentlich gebessert. Von
Kleinhirnbrückenwinkeltumoren wurden
acht Fälle operiert: zwei an Eingriff, zwei
an sekundärer Infektion gestorben, zwei
geheilt, zwei Fälle sind neu. Es wurde
stets zweizeitig operiert, nie die Knochen¬
platte erhalten.
Abteilung für Kinderheilkunde.
Langstein (Breslau): Die Rolle der
Kohlehydrate bei der Ernährung des
Säugli ngs. (Referatthema.)
Es ist notwendig, die Rolle der Kohle¬
hydrate bei der Ernährung des gesunden
Säuglings scharf von der bei der Ernährung
des kranken zu trennen und die Bedeutung
des Zuckers und Mehles in der Nahrung
nur unter steter Berücksichtigung der Kor¬
relation zu diskutieren, in der sie zu an¬
deren Bestandteilen der Nahrung stehen.
Die Frage nach dem absoluten Kohle¬
hydratbedarf muß in den Vordergrund ge¬
stellt werden; nicht nur deswegen, weil
wir einem Zuviel an Zucker in der Patho¬
genese der Ernährungsstörungen eine be¬
deutsame Rolle einräumen, sondern :weil
es — beim ernährungsgestörten Kinde
wenigstens — sichergestellt ist, daß Kohle¬
hydratmangel in der Nahrung das Leben
bedroht. Für den Säugling ist Kohlehydrat¬
mangel kürzer zu vertragen als für den
Erwachsenen, denn der Säugling kann das
Eiweiß nur in allerbeschränktestem Um¬
fange zur Kohlehydratbildung heranziehen.
Für den absoluten Kohlehydratbedarf bei
unnatürlicher Ernährung kann kein anderer
Gesichtspunkt maßgebend sein als der, dem
Säugling in einem Volumen, das dem bei
natürlicher Ernährung gegebenen möglichst
gleichkommt, soviel Nährwert zuzulühren,
wie es das Energiegesetz des Säuglings
verlangt. Bei zweckmäßiger Dosierung ist
auch der Milchzucker für die Anreicherung
der Nahrung des gesunden Säuglings ge¬
eignet. Jedenfalls berechtigt der gegen¬
wärtige Stand der Frage nicht dazu, plötz¬
lich den Milchzucker aus der Ernährung
des gesunden Säuglings zu verbannen. Die
reine Maltose scheint, selbst wenn ihr
Preis kein so hoher wäre, trotz theoreti¬
scher Voraussetzungen kein ideales Kohle¬
hydrat für die Säuglingsernährung zu sein.
Gleichviel, ob wir Milchzucker oder Rohr¬
zucker verwenden, empfiehlt es sich, den
Nahrungsmischungen ein zweites Kohle¬
hydrat in Form von Schleim oder Mehl
hinzuzufügen. (Natürliche Mehle, nicht prä¬
parierte Kindermehle!) Voraussetzung da¬
für, daß die Kohlehydrate ihre Aufgaben
erfüllen, ist der normale Ablauf jener Vor¬
gänge enzymatischer, bakterieller und os¬
motischer Natur, die sich im Magendarm¬
kanal abspielen. Als das auslösende Mo¬
ment der Schädigung durch Kohlehydrate
beschuldigt man in erster Linie die aus
ihnen im Magendarmkanal durch bakterielle
Zersetzung entstehenden Fettsäuren. Auch
die direkte Schädigung der Darmwand
durch den Zucker wird verantwortlich ge¬
macht. Indes ist die schädigende Wirkung
des Zuckers nur im Verband mit anderen
Nährstoffen sichergestellt. Schweren Scha¬
den bringt eine Ueberernährung mit Zucker,
gleichviel mit welchem, sowie eine lang¬
dauernde, ausschließliche Ernährung mit
Mehl (Mehlnährschaden).
In der Pathogenese des Mehlnährscha¬
dens spielt die Inanition, insbesondere der
Mangel an Stickstoff und Salzen, eine be-
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UNiVERSITY OF CALIFORNIA
Oktober
471
Die Therapie der Gegenwart 1910.
deutende Rolle. Auch scheint sich dabei
eine chemische Abartung des Organismus
zu entwickeln, die mit einem Verlust der
Immunität verbunden ist.
Die größte Bedeutung besitzen die Kohle¬
hydrate bei der Ernährungstherapie des
Milchnährschadens; sie besteht darin, daß
reichlichere Kohlehydratzufuhr die Seifen¬
bildung im Darm verhindert und so den
Organismus vor weiterem Erdalkaliverlust
schützt. Einen besonders günstigen Ein¬
fluß hat dabei Malzextrakt, und zwar
scheint die beste Kombination die von
Mehl und malzhaltigen Präparaten zu sein.
Der bedeutsame therapeutische Effekt der
richtig dosierten Kohlehydratzufuhr beim
ernährungsgestörten Kind wird durch das
klinische Verhalten klar demonstriert.
Vollständiger Verlust der Kohlehydrattole¬
ranz ist mit der Dauer des Lebens unver¬
einbar. Die Bedeutung kurz dauernder Er¬
nährung von Kohlehydraten bei Tetanie,
die große Tauglichkeit dieses Nährstoffes
bei Säuglingen mit exsudativer Diathese
und bei Rachitikern sind weitere Beispiele,
wie segensreich die zweckmäßige Dosierung
der Kohlehydrate auch in pathologischen
Fällen ist.
Diskussion: L. F. Meyer (Berlin) be¬
spricht die Beziehung der Kohlehydrate zum
alimentären Fieber und zur Intoxikation
und berichtet über Untersuchungen be¬
treffend das Kohlehydratminimum. H e u b n e r
(Berlin) legt Gewicht auf den viel zu wenig
beachteten Unterschied, ob man wirklich
reinen oder den so häufig verunreinigten
Milchzucker verabreicht Noeggerath
(Berlin weist auf seine Versuche über den
Zuckergehalt des Blutes hin und wendet
sich gegen die übertriebene Furcht ekto-
gen eingeführter Bakterien mit der Nahrung.
In speziell daraufhin gerichteten Unter¬
suchungen am poliklinischen Material er¬
gaben sich ganz enorme Zahlen von Bak¬
terien, die in der Milch knapp vor dem
Trinken festgestellt wurden, ohne daß da¬
bei die Säuglinge erkennbaren Schaden
litten. Klotz (Straßburg) hält das alimen¬
täre Fieber im wesentlichen für ein bak¬
terielles, hervorgerufen durch Darmbak¬
terien, die durch kleinste Darmläsionen in
die Blutbahn eindringen: eine Anschauung,
die von L. F. Meyer zu widerlegen ver¬
sucht wird. Ferner sprachen Rietschel
(Dresden), Bahr dt (Berlin), Soltmann
(Leipzig), Langenstein.
Bahrdt (Berlin): Zur Pathogenese
der Verdauungs- und Ernährungs¬
störungen, mit besonderer Berück¬
sich igung der organischen Säuren.
Ausgedehnte Untersuchungen über die
pathogenetische Rolle der an den Zer-
setzungs- resp. Gärungsprozessen in derNah-
rung und im Verdauungskanal entstehenden
organischen Säuren, insbesondere niederen
Fettsäuren. Zunächst wurde die Wirksam¬
keitsgrenze der in Frage kommenden Fett¬
säuren im Tierversuch festgestellt. Ver¬
gleichsweise ergab sich dann, daß die in
verdorbener Milch enthaltenen Mengen viel
geringer sind, als die wirksamen; hingegen
nähert sich bei unzweckmäßiger Mischung
und Dosierung der Nahrung die Menge
organischer Säuren im Magen schon sehr
den toxisch wirksamen Dosen. Im Dünn¬
darm finden sich viel geringere Mengen als
im Magen (Schutz durch Pylorusverschluß?).
Höchstwahrscheinlich besteht ein ursäch¬
licher Zusammenhang zwischen einer ver¬
mehrten Entstehung niederer organischer
Säuren und vermehrter Peristaltik. Aber
nicht so sehr die ektogen zugeführten
Fettsäuren, sondern jene, die bei der
Stagnation im Magen entstehen, kommen
dabei in Betracht. Die Untersuchungen
sprechen also gegen eine wesentliche ße^.
teiligung der verdorbenen Milch an der
Sommermorbidität, wohl aber stützen sie
die Auffassung, daß Ueberfütterung und
falsche Zusammensetzung der Nahrung
durch vermehrte Bildung organischer, nie¬
derer Säuren im Magen, zu der häufigsten
Form der akuten Störungen, nämlich zur
Dyspepsie, führen.
Diskussion. Heubner (Berlin) gibt
seiner Befriedigung darüber Ausdruck, daß
hier eine von ihm schon seit langem ver¬
tretene Anschauung ihre experimentelle
Bestätigung findet. Rietschel (Dresden)
und Moro (München) sprachen sich im
Gegensätze zu Soltmann (Leipzig) gegen
die gefürchteten Gefahren der ektogenen
Infektion aus. Moro (München) weist ins¬
besondere darauf hin, daß die Milch fast
stets in abgekochtem Zustande gereicht
und daß eine zersetzte, ranzige Milch vom
Säugling überhaupt nicht aufgenommen,
sondern zurückgewiesen wird.
Erich Müller (Berlin-Rummelsburg):
Ueber Ernährung debiler Säuglinge
mit molkenreduzierter Milch an der
Hand von Stoffwechselversuchen.
Bisher haben sich eigentlich nur die
Milchderivate dauernd bewährt, denen
eine Reduktion „des Salzanteiles der Molke“
gemeinsam ist und die auf dem Boden
dieser Salzarmut eine Anreicherung mit
einem oder mehreren der anderen Milch¬
nährstoffe erfahren haben. Dazu gehören
vor allem die Keil ersehe Malzsuppe, die
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UNIVERSiTY OF CALIFORNIA
472
Oktober
Die Therapie der Gegenwart 1910.
sogenannte Fettmilchen und schließlich
die Eiweißmilch. Insbesondere bewährt hat
sich die molkenreduzierte Milch bei Auf¬
zucht debiler Säuglinge. Die Nahrung ent¬
hielt die vollen Werte der Kuhmilch an
Fett und Zucker, dagegen nur % des Ei¬
weißes und der Salze der Molke. Haupt¬
vorteil: Zwar langsames, aber solides und
zuverlässiges Wachstum, Gefahrlosigkeit
(z. B. gegenüber der salzreichen Butter¬
milch). Stoffwechselversuche zeigten, daß
Salzangebot und Retention bei Verfütte-
rung dieser salzarmen Nahrung für einen
physiologischen Gewebsansatz nicht zu ge¬
ring war. Auch das Bedenken, daß durch
eine reichliche Ausscheidung von Fett¬
säuren eine den Körperbestand gefährdende
Kalkentziehung stattfinden könne, hat sich
als unbegründet erwiesen.
Schloß (Berlin): Ueber Ernährungs¬
versuche mit künstlichem Milchserum
nach Friedenthal.
Das „künstliche Muttermilchserum nach
Friedenthal“ ist eine in ihrem Molken¬
gehalt der Frauenmilch angenäherte Milch.
Jüngere Säuglinge kommen bei dieser
Nahrung nicht recht vorwärts; bei Kindern
jenseits des 1. Vierteljahres, besonders bei
solchen durch chronische Ernährungs¬
störungen oder langdauernde fieberhafte
Erkrankungen stark heruntergekommenen,
zeigten sich hingegen wiederholt glänzende
Erfolge. Auffallend war besonders eine
günstige Wirkung auf die Haut; die Kinder
blieben vor Hautaffektionen dauernd be
wahrt, Furunkulosen wurden gut beeinflußt.
Schloß bittet die mitgeteilten Ernährungs¬
versuche nur als Vorversuche entgegenzu¬
nehmen, hofft aber auf diesem Wege weiter
zu kommen.
Langstein (Berlin): Die Einwirkung
des Kampfers auf den Säugling.
Kampfer ist in therapeutischen,' und
selbst in großen Gaben für den gesunden
Säuglingsorganismus ungiftig. Er wird
durch vollständige Paarung zu Karopfer-
Glykuronsäure ziemlich rasch inaktiviert und
entgiftet im Urin ausgeschieden und der nor¬
male Säugling hat jederzeit ausgiebige Men¬
gen von Glykuronsäure zur Verfügung. Bei
schweren Ernährungsstörungen ist hingegen
die Ausscheidung der gepaarten Glykuron¬
säure verzögert. Dit se Verzögerung könnte
herbeigeführt sein durch eine verminderte
Fähigkeit, die Glykuronsäure zu bilden, oder
diese zu paaren. Beim schwer ernährungs¬
gestörten Säugling ist demnach der unbe¬
schränkte Gebrauch des Kampfers (und auch
des Chlorals) zum mindesten theoretisch als
bedenklich zu bezeichnen.
Diskussion. Hochsinger (Wien) sah
nach größeren Kampfergaben per os an
Säuglinge mit Cholera infantum Steigerung
der Aufregungszustände.
Freund (Breslau): Zur Kenntnis des
Stoffwechsels beim Säuglingsekzem.
Dieser zeigt nach einer Untersuchung
von L. F. Meyer gewisse Abweichungen
von der Norm, während er sich nach Bruck
nicht vom Stoffwechsel des gesunden Säug¬
lings unterscheidet. In den Versuchen von
Freund zeigten bei einer im Liter 35 g
Mondamin, 30 g Butter, 10 g Nutrose, 40 g
Milchzucker, 3 g NaCl enthaltenden Nahrung
3 Ekzemkinder tägliche Zunahmen von 40
bis 50 g unter starker Oedembildung, wäh¬
rend diese bei vier von Erscheinungen der
exsudativen Diathese freien Säuglingen nur
unbedeutend schwankten. Alle Fälle hatten
negative Gesamtaschebilanzen. Die Ekzem¬
kinder zeigten (mit einer Ausnahme) er¬
hebliche Chlorretention, durchwegs starke
Natronretention, während ein physiologi¬
sches Kontrollkind negative Chlor- und nur
ganz schwach positive Natronbilanz hatte.
Es erscheint also als eine Sondereigenschaft
der Ekzemkinder, bei der angewendeten
Versuchsanordnung in großen Mengen
Wasser zurückzuhalten.
Rietschel (Dresden): Ueber Klinik,
Therapie und Prophylaxe des Som¬
merbrechdurchfalles.
Die entscheidende Rolle spielt die hohe
Wohnungstemperatur, die ohne Verderbnis
der Nahrung, auf das Kind einwirkt und
zwar, entweder als echter Hitzschlag, als
allmählige, mit Choleraanfällen kombinierte,
Hyperthermie oder als direkte Schädigung
des Körpers, besonders des Verdauungs-
apparates. Rietschel unterscheidet 3 kli¬
nische Bilder: 1. Die rein hyperthermisch¬
konvulsivische Form (echter Hitzschlag ge¬
sunder und kranker Kinder), 2. die hyper-
thermisch- diarrhoisch- konvulsivische Form
(Cholera infantum gesunder und kranker
Kinder), 3. die rein diarrhoische Form, so¬
genannte Sommerdiarrhöe. Die erste Form
kann ohne Erbrechen und ohne jeden
Durchfall verlaufen, wird hierzulande kaum
beobachtet, indes steht dieses Krankheits¬
bild nach den Angaben der älteren Lite¬
ratur fest. Der weitaus größte Teil der
Todesfälle gehöit in die dritte Gruppe und
betrifft wohl ausschließlich ernährungsge-
störle Kinder.
Die Therapie muß dieser klinischen
Auffassung gerecht werden. Für die beiden
ersten Formen stellt daher die Herab¬
setzung der Körperwärme, die Zufuhr von
Flüssigkeit und die Belebung der Herzkraft
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UNIVERSiTY 0F CALIFORNIA
Therapie der Gegenwart. Anzeigen.
10. Heft
Vilja Creme
(Rp. Ung. herbale comp. 30,0 ad tubam stanneam)
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wart 1909, Nr. 11.
Dr. E. Hellmuth (Würzburg), Allg. Med. Central-Zeitung 1909, Nr. 29.
Dr. Abramowskl (Schwarzort), Therapeutische Rundschau 1909, Nr. 38.
Dl. 6. stehlick (Prag—Smicho), Cas. L4k. Cesk. 1909, Nr. 44 u.L^k.Rozhl. 1909, Nr..
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25
10. Heft
Therapie der Gegenwart. Anzeigen.
1910
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, i _._ Uz-wV»ot cAit vielen Tahrcn •
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das Pyrenol seine dominierende StelHu g, expektorierend und •
licher Heilfaktoren in sich vereint;«* JjJotita fast ganz unentbehrlich S
gleichzeitig so stark^sedaüv dassi es^^^^ßnmchialsetaets S
macht: es lockert den Husten l durch l Verihuagm Sekretneubildung |
und mildert den Hustenreiz durch Beschrank g Bronchial- •
und Herabsetzung der Reflexerregbarkeit in den Nerven aer J
SChl Hr5;i.dilr.«0.s 8 ehi.,: As,hm. bronch.ale, Perhrssis, Pneumonie. |
Influenza, Bronchitis chromca, auch tuberculosa. j
2. Di. mild-antifebrile Eigenschaft tSc^mS- 5
hemÄng dn°e mtSc“».'Sch"X» “kwächendcn Schweis.- f
aUS *Hauptdndikationenf TyplÄ ‘abdomös, Masern. PhUdsis pnlm., |
3. “maUschen und 1
tät der Wirkung den sogenannten Analgetieis Mturgem ^ j
hat aber den bedeutsamen Vorzug der U ° 3Chä ^ l ther ’ eutisc hen Dosis *
auch herzkranken Rheumatikern usw. in der vollen therapeuuscn *
wochenlang ohne Bedenken gegeben werden kann. ?
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26
Go gle
a
1
Oktober
473
Die Therapie der Gegenwart 1910.
die notwendigsten Maßregeln dar. Die re¬
lativ geringe Toleranzstörung dieser Kinder
nach der Entfieberung ist oft erstaunlich.
Zufuhr von Flüssigkeit wird am besten mit
Kochsalz gegeben. Glänzende Ei folge mit
Karotten suppe. Bei der dritten Form be¬
steht hingegen die Kunst des Arztes
wesentlich darin, die Toleranz des Kindes
gegen Nahrungsschädigung richtig zu treffen
und, sowohl das Zuwenig als das Zuviel
zu vermeiden. Selbstverständlich kommen
alle Uebergänge zwischen 2 und 3 vor.
Prophylaktisch ist das wichtigste die
Verhinderung der hohen Wohnungstempe¬
ratur. Daneben Aufklärung aller Berufs¬
stände über die Gefahren dtr Hitze für
das Kind, Errichtung von freistehenden
Krippen. Die Hygiene der Milch ist selbst¬
verständlich dabei nicht außer acht zu lassen,
allerdings stellt die hohe Einschätzung der
Kindermilch mitihien enormen Preisen eine
Ueben pannung eines an sich richtigen Prin¬
zips dar. Die Milchküchen sind nicht ge¬
eignet eine wirksame Waffe gegen die Säug¬
lingssterblichkeit darzustellen.
Diskussion. Hochsinger (Wien) be¬
tont, wie gefährlich in der Sommerhitze
selbst kleinste Diätfehler (ein kleines Stück¬
chen Obst oder Wurst) werden können.
Moro (München) bezeichnet die Auf¬
stellung der drei klinischen Formen dts
Sommerbrechdurchfalls nach Rietschelals
nicht glücklich. Ein Krankheitsbild, wie
der reine Hitzschlag, das weder mit Er¬
brechen noch mit Durchfall einhergeht,
kann unmöglich dem semiotischen Begriff
des Sommerbrechdurchfalles untergeordnet
werden. Besser wäre der Hitzschlag in den
Gruppen der Nervenkrankheiten, Krämpfe
oder Konstitutionsanomalien unterzubringen.
Die Hitze wirkt wahrscheinlich direkt oder
indirekt auf den Verdauungsapparat selbst
ein und man braucht in der Anamnese gar
nicht nach einem kleinen Diätfehler zu
fahnden.
Heubner (Berlin) hat die erste Form
bei Säuglingen niemals gesehen und meint
ebenfalls, daß sie sich nicht gut in den
Rahmen des Sommerbrechdurchfalles ein-
fügen läßt. Die Hauptsache in der Patho¬
genese der Ernährungsstörungen liegt in
einem Mißverhältnis zwischen Nährstoffzu¬
fuhr und Verdauungskraft, wie dies un¬
längst auch Pfaundler auseinandergesetzt
hat. Die Verdauungskraft wird aber durch
die Hitze zweifellos in hohem Grade herab¬
gesetzt Deshalb läßt Heubner in seiner
Klinik an heißen Tagen nur Vs der Nahrung
geben, wobei dann die gefürchteten Ge¬
wichtsstürze auszubleiben pflegen.
□ igitized by Google
Tugendreich (Berlin) erinnert sich
einer Literaturangabe, wonach selbst die
Frauenmilch im Sommer dünner fließen soll.
Rietschel gibt im Schlußwort Heub¬
ner und Moro recht.
Ri sei (Leipzig): Der therapeutische
Wert der Heilsera (Referatthema).
Die Serumtherapie ist seit ihrem Erfolge
bei Diphtherie auf fast sämtliche bei uns
endemischen bakteriellen Infektionen des
Menschen und der Tiere übertragen wor¬
den. Den antitoxischen Seris gegen Di¬
phtherie, Tetanus und Schlangenbiß stehen
die antiinfektiösen Sera gegenüber. Der
Einfluß der ersteren Sera zeigt sich in
einer Milderung der Intoxikationssymptome,
sowie in der Herabsetzung der Pulsfrequenz
und des Fiebers. Abheilung bestehender
Krankheitsprozesse wird weniger erzielt
als ein Weitergreifen der Erkrankung ver¬
hindert. Machtlos ist die Serumtherapie
gegen Affektionen, die schon vor ihrer Ein¬
leitung als Komplikation hinzugetreten
waren oder die bedingt sind durch bereits
gesetzte irreparable Organerkrankungen,
daher steigt der Wert der Serumtherapie,
je früher sie angewandt wird. Durch die
prophylaktische Benutzung sind in Kranken¬
häusern die früher so gefürchteten Di¬
phtherieepidemien unbekannt geworden;
und ebenso läßt sich durch Serum mit großer
Sicherheit der Ausbruch eines Tetanus bei
Verletzten verhüten.
Die Erfahrungen mit den antiinfektiösen
Seris sind widersprechend. Hier sind so
viel theoretische Fragen noch ungeklärt,
daß zusammen mit dem wechselnden kli¬
nischen Bild (der Pneumonie, des Erysipels,
der Tuberkulose) sich Schwierigkeiten bei
der BeurteÜung-des therapeutischen Effektes
ergeben müssen.
Um den Heilwert auszunutzen, soll man
gegen Diphtherie nicht nur 3—50001. E.
injizieren, sondern gegebenenfalls auf das
Zehnfache steigen. Wegen der günstige¬
ren Resorption soll die subkutane Methode
durch die intramuskuläre ersetzt werden,
wo Lebensgefahr besteht durch die intra¬
venöse, bei Tetanus und Zerebrospinal-
meningitis durch die subdurale.
Statistische Belege für die ausgezeich¬
nete Wirkung des Diphtherieheilserums an
der Hand zahlreicher Tabellen. Statistische
Zusammenstellung über den Wirkungswert
der übrigen Sera.
Diskussion: Theodor (Königsberg)
betont die günstige Beeinflussung von Ne¬
phritis und Lähmungen, wenn man am
ersten Tage einspritzt.
60
Original from
UNIVERSITY 0F CALIFORNIA
474
Die Therapie der Gegenwart 1910.
Oktober
Noeggerath (Berlin) vermißt im Vor¬
trag die Behandlung der postdiphtherischen
Lähmungen mit übergroßen Serummengen
und wünscht die intramuskuläre und intra¬
venöse Injektion nicht nur erwähnt, son¬
dern unterstrichen erwähnt. Wir sollen
überhaupt nur intramuskulär injizieren.
Desgleichen blieben die einfache Serum¬
wirkung und die Versuche über die Ver¬
hütung der sofortigen Reaktion durch Vor¬
injektion minimaler Mengen unberück¬
sichtigt.
Hochsinger (Wien) warnt vor den
Gefahren der Serumkrankheit, besonders
bei Anwendung großer Mengen, wie bei
Scharlach. E. Müller (Berlin• Rummels¬
burg) empfiehlt bei Säuglingen die Injek¬
tion in die Schädelvene vorzunehmen.
Klotz (Straßburg): Ueber Mehl¬
abbau.
Die Anschauung, daß die Mehlwirkung
als Zuckerwirkung zu erklären sei, kann
nicht befriedigen. Die Beziehungen der
Gärungssäuren zum Stoffwechsel weisen
vielmehr darauf hin, den Mehlabbau unter
diesem Gesichtspunkte zu studieren.
Klotz bediente sich der Rosen feld-
schen Versuchsanordnungen am Phloridzin¬
hungerhund und fand, daß die einzelnen
Mehle sich sehr verschieden verhalten.
Weizenmehl wurde als Zucker, Hafermehl
dagegen als Kohlehydratsäure resorbiert.
Ersteres geht den „transglykogenen“, letz¬
tere beiden hingegen den „aglykogenen“
Weg Rosenfelds. Das Problem der para¬
doxen Wirkung des Hafers beim Diabetiker
ist damit gelöst. Hafermehl wird, wie
Klotz unabhängig von S. Lang gefunden
hat, etwas schneller diastasiert und bildet
größere Maltosemengen als Weizenmehl.
Es stellt infolgedessen ein qualitativ und
quantitativ besseres Nährsubstrat für die
Darmflora dar. als das Weizenmehl. Diese
Annahme ist experimentell leicht nachzu¬
prüfen. Werden dextroseäquivalente Men¬
gen von Weizen- und Hafermehl diastasiert
und bakteriell vergärt, dann tritt beim
Hafer eine weit intensivere Säurebildung
auf, als beim Weizen.
Diskussion: Bahrdt (Berlin) frägt
nach dem Anteil, den die Darmbakterien
beim Mehlabbau nehmen und ob Unter¬
schiede dabei vorliegen. Klotz spricht
ihnen die ausschlaggebende Rolle zu.
Zappert (Wien): Ueber Heine-
Medinsche Krankheit. (Referatthema.)
Die Heine- Med in sehe Krankheit ist
eine ausgesprochene Infektionskrankheit,
bei welcher ein Inkubations-, Prodromal-
und Floritionsstadium zu unterscheiden ist.
□ igitized by Google
Die Inkubation dürfte ca. 1 Woche dauern,
die ca. 3—5 tägigen Prodromalsymptome
können den Charakter einer Influenza, An¬
gina, Enteritis, Koryza, Meningitis, selbst
Skarlatina annehmen. Bei abortiven Fällen
(Wickman) kommt es zu keinen weiteren
Krankheitserscheinungen. Das Floritions¬
stadium zeichnet sich zumeist durch heftige
Schmerzen, Schweißausbrüche, spinale oder
zerebrale Symptome aus. Die anfänglichen
spinalen Lähmungen umfassen nicht nur
die Extremitäten (Beine häufiger als Arme),
sondern sondern sehr oft Nacken-, Rücken-,
Thorax-, Bauchmuskeln. Lähmungen der
Stammuskeln können auch isoliert auftreten
und isoliert bestehen bleiben. Die Sehnen¬
reflexe sind an den minder betroffenen
Partien oft geesteigert. Zerebrale Sym¬
ptome treten nicht selten ohne spinale auf
(in 10,68% unter 543 Fällen des Vortra¬
genden). Dieselben sind entweder rein
meningitisch oder pontin, bulbär, enzepha-
litisch (Halbseitenlähmung).
Eine pontine Fazialislähmung (Nuklear¬
lähmung) ist nicht selten. Die Kombination
verschiedenartiger und verschieden starker
Hirnsymptome läßt mannigfaltige Krank¬
heitsbilder entstehen, die bisher ätiologisch
unklar waren. Die Mortalität war in Wien
und Niederösterreich 10,45%. Todes¬
ursachen; aufsteigende Landrysche Para¬
lyse, Meningitis, Vaguslähmungen. Knaben
erkranken und sterben häufiger. Epidemio¬
logisch stützt Vortragender seine Erfah¬
rungen auf 543 Fälle aus den Epidemien
1908 und 1909 in Wien und Niederöster¬
reich. Rapiper Anstieg im September,
Oktober, dazwischen aber kein völliges
Schwinden. Herdweises Auftreten, Ver¬
schontbleiben der 1908 stärkst befallenen
Provinzteile im folgenden Jahr und umge¬
kehrt. Kontagiosität sehr gering, Ueber-
tragung durch gesunde Zwischenträger
nach Meinung Wickmanns, Müllers
möglich. Wahrscheinlich bei uns seit
langem endemische Krankheit mit gelegent¬
lichen Steigerungen. Virus unbekannt
(„invisibles Virus“ wie bei Lyssa) doch
Erzeugung der verschiedenartigen Krank¬
heitsformen beim Affen möglich (Land-
steiner u. A.). Wahrscheinlich Erzeugung
einer passiven Immunität. Anatomisch: In¬
filtrative dessiminierte Entzünduug der
grauen Substanz des Rückenmarkes, des
Bulbus, Hirnstammes, weniger der Gro߬
hirnrinde mit starker Beteiligung der Me¬
ningen und der Gefäße. Anerkennung der
großen Verdienste Wickmanns, dessen
vorgeschlagener Name Heine-Medinsche
Krankheit zu akzeptieren ist.
Original fmm
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Oktober
Die Therapie der Gegenwart 1910.
475
Diskussin: Wi c km an n (Stockholm) 1 )
gibt seiner Genugtuung darüber Ausdruck,
daß die Ergebnisse seiner Untersuchungen
fast in allen Punkten bestätigt und akzep¬
tiert wurden. Wenn Zappert die atak¬
tischen Symptome im allgemeinen auf bul-
bäre, resp. zerebrale oder zerebellare Ver¬
änderungen zurückfahrt, so ist dagegen ein¬
zuwenden, daß es Fälle gibt, wo keine
Zeichen einer solchen Affektion bestehen
und bei denen die Entscheidung über den
Sitz der pathologischen Prozesse unmög¬
lich ist. Es ist deshalb wenig zweckmäßig,
die ataktische Form einfach der pontinen
anzugliedern. Zappert will auch die poly-
neuritische Form nicht ohne weiteres gelten
lassen, weil sie anatomisch nicht erwiesen
ist und die Symptome zwanglos als von
zentralen Störungen bedingt angesehen
werden können. Es ist aber notwendig,
die praktischen Aerzte darüber aufzuklären,
daß es eben Formen der Heine-Medin-
Krankheit gibt, die klinisch mit der soge¬
nannten akuten idiopathischen, infektiösen
Neuritis vollkommen übereinstimmen. Das
wird am besten und sichersten durch Auf¬
stellung einer markanten Bezeichnung für
dieses Krankheitsbild erreicht. Daß end¬
lich die Bezeichnung einer Krankheitsform
nach Autorennamen nicht, wie von man¬
chen Seiten eingewendet wird, Schwierig¬
keiten mit sich bringen muß, beweist am
besten der Name: Morbus Basedow, der
viel besser ist als etwa Struma exophthal-
mica, seitdem man die Form es frustes
kennen gelernt hat, in denen weder Struma
noch Exophthalmus besteht.*
Peiper (Greifswald) betont die geringe
Kontagiosität. Selter (Solingen) erwähnt,
daß in den Rheinlanden, diejenigen Ort¬
schaften, wo vor Jahren Mening. cerebr,
spin. herrschte, von der letzten Poliomye¬
litisepidemie verschont blieben.
Leiner und v. Wiesner (Wien): Ex¬
perimentelle Untersuchungen über
Poliomyelitis acuta.
Als sicheres Versuchstier hat sich nur
der Affe bewährt. Mit geeigneter Impf¬
methode läßt sich die Erkrankung von Tier
zu Tier übertragen und durch beliebig viele
Generationen fortführen. Eine Abschwä¬
chung des Virus trat bisher nicht ein. Das
Poliomyelitisvirus weist eine große Aehn-
lichkeit mit dem Lyssavirus auf; eine Reihe
wichtiger Eigenschaften desselben sind be¬
reits bekannt, das Virus selbst ist noch un¬
bekannt. Es ist filtrierbar, äußerst resi¬
stent gegen Kälte- und Glyzerineinwirkung,
*) Verlesen durch Klotz (Straßburg).
□ igitized by Google
wenig resistent gegen Erwärmen und Aus¬
trocknen in dünner Schicht. Die experi¬
mentell erzeugte Poliomyelitis ist ebenso
wie die Poliomyelitis des Menschen durch
das Auftreten von schlaffen Lähmungen
und * Fehlen der Reflexe charakterisiert.
Die Erkrankung kann auf eine Extremität
beschränkt bleiben oder auf mehrere Ex¬
tremitäten übergehen oder den Typus der
La n dry sehen Paralyse annehmen und mit
Lähmung der Blasen- und Mastdarmmusku-
latur, der Kehlkopf- und Atmungsmuskeln
oder mit isolierten Kernlähmungen (Faszialis-
lähmung) kombiniert sein. In einzelnen
Fällen kam es nicht zur Ausbildung des
typischeu Krankheitsbildes, sondern die
Tiere gingen unter Marasmus, lähmungs¬
artiger Schwäche der Extremitäten und
Diarrhöen ein. Diese sogenante maranti¬
sche Form kann bei der Weiterimpfung
wieder in das typische Krankheitsbild über¬
geführt werden.
Dte Infektion des Tieres ist von jeder
tieferen Gewebsverletzung aus möglich, sie
kann aber auch ohne besondere Gewebs¬
verletzung von der Schleimhaut aus er¬
folgen. Hierfür spricht der positive Aus¬
fall der Fütterungs- und Inhalations ver¬
suche. Zwischen Viruseintritt und Ein¬
setzen der Lähmungen scheint ein gesetz¬
mäßiger Zusammenhang zu bestehen. Bei
Impfung in den Respiratioestrakt beginnt
die Lähmung an der vorderen Körper¬
hälfte, bei Impfung in den Digestionstrakt
an der hinteren Körperhälfte. Das Virus
wandert von der Impfstelle ziemlich rasch
zum Rückenmark; mit dem Rückenmark
eines am 5. Inkubationstag getöteten Tieres
gelingt schon die Weiterimpfung. Die
Wanderung des Virus erfolgt wahrschein¬
lich längs der Nerven resp. der die Ner¬
ven begleitenden Lymphgefäße. Vom
Rückenmark wird das Virus in die dem
Rückenmarkskanal zunächst gelegenen
Drüsen und, was für die Frage der Kon¬
taktübertragung von besonderer Bedeutung
ist, auch in die Schleimhaut des Nasen¬
rachenraums ausgeschieden. In den Speichel¬
drüsen, im Stuhl und Harn läßt sich das
Virus nicht nachweisen. Das Ueberstehen
der Erkrankung führt fast ausnahmslos
zum Auftreten von Immunität; dieselbe
läßt sich durch den negativen Ausfall von
Reinfektionen bereits gelähmter Tiere und
durch das Vorhandensein von viruziden
Stoffen im Blutserum nachweisen. Diese
Befunde bilden den Ausgangspunkt zum
Studium der wichtigen Frage der Serum-
und Vakzintherapie, deren Lösung noch
nicht geglückt ist.
60*
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
476
Oktober
Die Therapie der Gegenwart 1910.
Hochsinger (Wien): Ueber Ernäh¬
rungsneurosen im frühen Kindesalter
- und nervöse Kauunfähigkeit der
Kinder.
Hochsinger bespricht eine zwar be¬
kannte, aber in ihrem Wesen bisher* noch
nicht analysierte Form von Ernährungs- ;
neurose des Kindesalters, welche bei neuro- |
pathisch belasteten Kindern vorkommt, 1
immer in das erste Lebensjahr zurück¬
reicht lyid auf der psychogenen Fixierung
in frühen Lebensperioden zustande ge¬
kommener Unlustaffekte beruht. Diese Un¬
lustaffekte sind durch eine fehlerhafte Er¬
nährungstechnik im Säuglingsalter oder
während der Entwöhnungsperiode piovo-
ziert. (Ueberfütterung und Aufzwingung
der Nahrung.) Die so zustande gekommene
Ernährungsneurose unterscheidet sich von
anderen Ernährungsstörungen durch früh¬
zeitiges Auftreten von Nahrungsverweige¬
rung (nervöse Anorexie), von Abwehrreak¬
tionen bei der Nahiungszufuhr, lückständige
Entwicklung der Kaufähigkeit und habi¬
tuelles Erbrechen vor, während oder nach
der Nahrungsaufnahme. Besonders charak¬
teristisch ist das sich im zweiten und dritten
Lebensjahre entwickelnde Symptom der
Kauunfähigkeit oder Kaufaulheit.
Dieses Symptom kommt dadurch zustande, i
daß gerade in jener Lebensperiode, welche |
der Entwicklung der Kautätigkeit gewidmet |
ist, infolge fehlerhafter Ernährungstechnik
nervöser Mütter und Kinderpflegerinnen
andauernde Unlustaffekte bei der Ernährung
entstehen, welche ein psychisches Trauma
beim Kinde setzen. Durch dieses wird die
Ausbildung des sehr komplizierten Koordi¬
nationsmechanismus der Kautätigkeit im
Gehirn zurückgedrängt, während die Un¬
lustaffekte fixiert werden und zu Abwehr¬
reaktionen mit dauernder Anorexie führen.
Die Neurose bedingt eine fortschreitende
Unterernährung (Dystrophia neurotica),
häufige dyspeptische Störungen und Ueber-
erregbarkeit der gesamten Nervensphäre.
Die meisten Kinder zeigen das Chvostek-
sche Fazialisphänomen. Auf solche Weise
nervös gewordene Kinder können mitunter
sogar im schulpflichtigen Alter noch nicht
kauen und keine feste Nahrung nehmen. Ent¬
fernung aus dem nervösen Milieu, Nahrungs¬
zufuhr nur bei Eßlust und richtiger päda¬
gogischer Einfluß können Heilung bringen.
Die meisten dieser Kinder aber bleiben für
alleZeiten nervöse, zu Verdauungsstörungen
disponierte Menschen. Die Verhütung dieser
Kinderneurose ist leichter als ihre Beseiti¬
gung. Rigor ose Einhaltunggroßer Nahrungs¬
pausen vom ersten Lebenstage angefangen,
besonders bei Kindern nervöser Eltern und
Nahrungszufuhr nur bei Nahrungsbedürfnis
schützen vor dieser Nutritionsneurose,
welche nur in begüterten Kreisen und in
einem schwer nervösen Milieu zur Ent¬
wicklung gelangt.
Therapeutischer Meinungsaustausch.
Klimatisches über Ajaccio.
Von Dr. Pet. Balzer.
Ueber Ajaccio ist von berufener Seite
schon viel geschrieben worden und obwohl
sämtliche Beobachter die außerordentlich
günstigen klimatischen Verhältnisse her¬
vorheben, hat der Kurort bis jetzt noch
nicht die Stellung ei halten, die derselbe in
Anbetracht seiner Vorzüge verdienen würde.
Unkenntnis der dortigen Verhältnisse
und mit Intention verbreitete, unrichtige
Angaben haben ihr Möglichstes dazu bei¬
getragen.
Was hat man nicht schon von den
Ueberfahrten hören müssen, als gelte es, j
eine Reise um die Welt zu machen! t
Allerdings in früheren Jahren, als noch i
die „Ville de Bastia“ oder wie man sie mit j
Recht getauft, die „wilde Bestie“ die I
Ueberfahrten besorgte, hatte man Grund zu j
klagen. Sie hat ihren Namen verdient. |
Jetzt besitzt die Compagnie Fraissinet i
gute, komfortable Schiffe, die allen An¬
forderungen genügen.
Gewiß, vieles läßt, wie an manchen
Orten im Süden, zu wünschen übrig. Der
öffentlichen Hygiene wird nicht die Be¬
achtung zuteil, wie dies an einem Kurort
wünschenswert. Es ist schwer, in dieser
Hinsicht gegen die Indolenz und Unver¬
nunft der Eingeborenen anzukämpfen. Ein
einzelner kann dagegen nicht viel ausrichten
und von seiten der einheimischen Aeizte
findet man wenig Unterstützung.
In letzter Zeit haben sich besonders
Dr. A. Moll (Zeitschrift für Balneologie)
und Dr. R. Baßenge (Zentralblatt für
Thalassotherapie) eingehend mit dem Kur¬
orte beschäftigt. Die ausgezeichneten Aus¬
führungen dieser Herren verdienen alle
Anerkennung.
Nachdem ich zehn Winter als Arzt
dort zugebracht, dürfte es mir erlaubt sein,
auch meine Beobachtungen und Erfahrungen
mitzuteilen, und liegt es mir ganz speziell
daran, darüber zu berichten, was für Aerzte
□ igitized by
Gov gle
Original frnm
UNIVERSiTY OF CALIFORNIA
Oktober
Die Therapie der Gegenwart 1910.
477
von Interesse sein könnte, um Ober den
Kurort ein richtiges Urteil zu bekommen
und demselben denjenigen Platz in klima¬
tischer Hinsicht einzuräumen, den derselbe
infolge seiner günstigen Lage verdient.
Zum voraus möchte ich bemerken, daß
sich meine Beobachtungen auf die eigent¬
lichen Wintermonate beziehen, weil die¬
selben speziell für Kranke in erster Linie
in Betracht kommen.
Ajaccio, 41,55° nördlicher Breite, 8,44°
östlicher Breite, hat eine mittlere Jahres¬
temperatur von 17° C. Es gehört zu den
Inseln des westlichen Mittelmeeres, welche
eine höhere Wärme haben, als ihrem
Breitengrade entspricht Die Wärmever¬
hältnisse sind zum Teil durch die hohe
Temperatur des Wassers des Mittelmeeres
bedingt, welches dem Einfluß des warmen
Golfstromes unterliegt Ein Vergleich der
Mitteltemperatur der einzelnen Monate er¬
gibt: November 14,1°, Dezember 11,8°,
Januar 10,8°, Februar 11,8°, März 12 5°,
April 15°, im Mittel also beinahe 13° C.
Diese Zahlen beweisen deutlich, daß
die Teroperaturdiflerenzen der einzelnen
Monate für eine große Wärmekonstanz
sprechen.
Aber nicht bloß die hohe Mitteltempe¬
ratur, sondern die durch die insulare Lage
bedingte Milderung der Extreme geben
Ajaccio als Winterstation eine besondere
Stellung.
Die absolut höheren Temperaturen und
die geringeren Schwankungen des Tages¬
mittels ergeben für den Kranken zur Frei¬
luftkur eine möglichst große Ausnutzung.
Die gewaltigen Bergmassen, die sich im
Osten und Norden der Stadt auftürmen,
verleihen dem Orte einen Windschutz, wie
er selten zu finden ist.
Ajaccio ist nur Südwestwinden zugäng¬
lich; dieselben bringen jedoch, da sie vom
Meere kommen, keine Kälte und sind vor
allem nicht trocken und staubig, sondern
feucht.
Die tiefe, ganz nach Süden offene Bucht
läßt keine nördlichen Strömungen zu, und
Temperaturstürze im Norden, die an der
Riviera noch oft recht empfindlich sind,
kommen hier nicht mehr zur Geltung, da
die Kältewelle während der Meerfahrt ihre
Schärfe einbüßt.
Absolute oder sagen wir lieber relative
Staubfreiheit, bedingt durch den festen
Granitboden, ist eine der besten Eigen¬
schaften des Kurortes. Dezember, Januar
und Februar sind wirklich staubfrei, da
gegen sind die Verhältnisse von Mitte März
an nicht mehr so günstig.
Im Winter ist Ajaccio beinahe auto¬
mobilfrei. Wer wird bei diesem Gedanken
nicht einen tiefen Atemzug machen! Diese
Herrlichkeit dauert leider nur bis Ende
März. Im April fängt der Passantenver¬
kehr an und damit kommen auch die
Autos, aber sie sind noch zu zählen.
Die relative Feuchtigkeit ist ziemlich
groß und schwankt zwischen 70 und 75.
Sie wird aber durch die höhere Temperatur
und große Zahl klarer Tage zum Teil
kompensiert. Sie trägt wesentlich zur
Gleichmäßigkeit des Klimas bei und gibt
demselben seinen ausgesprochenen seda¬
tiven Charakter. Nebel habe ich nie be¬
obachtet, Schneefall während zehn Jahren
zweimal. Zahl der Regentage im Durch¬
schnitt 35 auf die Saison.
Drei Faktoren sind es also, die Ajaccio
besonders auszeichnen: Eine auffallende
Gleichmäßigkeit in der Wärmeverteilung
der einzelnen Wintermonate, verbunden
mit minimalen Tagesschwankungen, totaler
Windschutz gegen Nord und Ost, relative
Staubfreiheit, hoher Ozon- und Salzgehalt
der Luft.
Bei einem Vergleich mit Kurorten an
der Riviera ergibt sich für Ajaccio eine
gleichmäßigere und höhere Wärmekonstanz
der einzelnen Wintermonate, weniger Staub
und Wind, größere relative Feuchtigkeit.
Ajaccio kann, was den Charakter des
Klimas anbetrifft, nur mit Madeira oder
Teneriffa verglichen werden. An Wärme
kommt es denselben nicht gleich, dagegen
hat es den großen Vorteil, nicht erschlaffend
zu wirken und speziell die Rückkehr im
Frühjahr nach dem Norden weniger emp¬
findlich zu gestalten.
Die Nähe der Schneeberge und das
Meer geben der Luft im Winter eine Rein¬
heit und Frische, daß man sich im Hoch¬
gebirge wähnt
Sedativ und zugleich tonisierend, dies
ist hier wirklich der Fall! Dieser Umstand
sollte in der therapeutischen Würdigung
von Ajaccio viel mehr Beachtung finden.
Es darf mit voller Berechtigung gesagt
werden: Von sämtlichen Stationen im
Mittelmeer ist Ajaccio nicht nur die nächste,
sondern auch eine der besten!
Nach dem Gesagten sind die Indikationen
für Ajaccio leicht zu stellen. Dieselben
sollten eine viel größere Breite bekommen,
als dies bisher der Fall war.
In früheren Jahren galt Ajaccio speziell
als Eldorado für Lungenkranke. Dies ist
längst anders geworden und man sieht
dort nicht mehr Kranke als anderswo. Es
sind zudem hauptsächlich Fälle geschlosse-
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478
Die Therapie der Gegenwart 1910.
Oktober
ner Tuberkulose. Die Furcht vor An¬
steckung ist also ganz grundlos, die Ge¬
fahr ist nicht geößer als anderswo. Immer¬
hin scheint es mir, daß Kranke, die fQr
das Hochgebirge nicht passen, in Ajaccio
besser überwintern, als an vielen anderen
Orten.
Nur sollte man eben keine Fälle von
progressivem Verlauf mit starken Tempe¬
raturdifferenzen an das Meer schicken.
Besonders da, wo Komplikationen von
seiten des Kehlkopfs bestanden, waren die
Resultate günstig.
Ebenso bei Reizzuständen in den Bron¬
chien. Von zirka 100 Patienten, die sich
im ersten und zweiten Stadium befanden,
konnte man bei 50 °/ 0 einen günstigen Ein¬
fluß während eines Winteraufenthaltes
nachweisen.
Dieselben waren unter ständiger Kon¬
trolle und lebten genau nach Vorschrift,
so wie es in Sanatorien üblich ist. Unter
diesen befinden sich eine Anzahl, die
mehrere Winter dort zugebracht und
Dauerresultate erreichten. Bei genauer
zweckmäßiger Lebensweise ließe sich noch
vieles erwirken. Hier möchte ich auch
einige Fälle von Skrofulöse bei erethischer
Konstitution erwähnen, bei welchen ein
sehr günstiger Erfolg zu verzeichnen war.
Zu diesen längst bekannten Indikationen
zu einem Aufenthalt am Meere sollte man
aber andere nicht vergessen.
Ein Klima, das eine solche Gleichmäßig¬
keit in der Meteoration zeigt, dürfte für
alle, die eine Schonung ihrer Schleimhäute
bedürfen und Grund haben, einen rauhen
Winter zu meiden, von hohem Werte sein.
Erkältungskrankheiten, speziell der Bron¬
chien, gehören zu den größten Selten¬
heiten.
Ebenso wird das große Heer der Ruhe¬
bedürftigen und Rekonvaleszenten dort
alles finden, was zu einer Erholung not¬
wendig.
Bei vielen Formen von Neurasthenie,
die sich durch große Reizbarkeit und Er¬
regung im Gefäß- und Nervensystem aus¬
zeichnen, kommt der beruhigende, seda¬
tive Charakter des Klimas ganz auffallend
zur Geltung. Solche, die im Hochgebirge
keinen Schlaf finden, sind hier am richtigen
Ort.
Und seitdem es erwiesen, daß der
systolische Blutdruck am Meere nicht er¬
höht wird, dürfte speziell Arteriosklerose
mehr in Betracht kommen. Sowohl der
beruhigende Einfluß des Klimas, als
die geringeren Barometerschwankungen
sprechen dafür. Dazu könnte man noch
gewisse Formen von nervöser Erregbarkeit
des Herzens rechnen.
Nicht geeignet scheinen dagegen ner¬
vöse Zustände mit depressivem Charakter.
Reizmildernd und beruhigend, sowohl auf
die Schleimhäute, als auf das Nervensystem,
das ist der Grundzug.
Und wenn man bedenkt, daß Ajaccio
außerhalb der großen Verkehrsstraße liegt
und ein wirklich ruhiger Aufenthalt ist, so
kann man begreifen, daß es für Ruhe- und
Erholungsbedürftige ein Eldorado sein muß.
Wenn auch in gesellschaftlicher Hin¬
sicht nicht viel geboten wird, so sorgt die
herrliche Vegetation und die große Zahl
heiterer Tage für fröhlichen Sinn.
Kranke, welche den Winter in Ajaccio
zubringen wollen, sollten Anfang November
| kommen; im Oktober beginnt die eigent-
j liehe Regenperiode, die vieles gut zu
1 machen hat und eine gründliche Reinigung
besorgt.
Die Ueberfahrten geschehen am besten
von Marseille aus in zwölf oder von Nizza
aus in acht Stunden. Die Fahrt über
Livorno-Bastia ist zu umständlich, obwohl
sie bloß fünf Stunden dauert.
Die Compagnie Fraissinet, welche den
Postdienst nach Korsika besorgt, besitzt
jetzt drei neue, gute und komfortable
Dampfer, die allen Ansprüchen genügen.
Nur diese sind zu empfehlen. Sie heißen
„Corte“, „Golo“ und „Liammone“.
Was die Unterkunft anbetrifft, so kommt
in erster Linie das Grand Hotel d’Ajaccio
ersten Ranges, ein großer Frontbau nach
Süden, vorzügliche, ganz freie Lage, 100 m
über dem Meere, mit großartigem Natur¬
park von über 2000 qm ^mfang, absolut
windgeschützt und staubfrei, mit gedeckten
Liegehallen im Freien.
Die Verpflegung ist einfach, aber solide.
Dabei wird für Kranke auf ärztliche Vor¬
schrift jede wünschbare Rücksicht ge¬
nommen, ohne Extraberechnung. Jede
Diät kann gegeben werden. Warmwasser¬
heizung in sämtlichen Zimmern und Korri¬
dors. Der Aufenthalt im Hotel ist gemüt¬
lich, die Bedienung durchweg deutsch.
Kein Toilettenzwang. Der volle Pensions¬
preis für Südzimmer — nur solche kommen
in Betracht — ist 12 bis 18 Frcs. Der
Arzt wohnt im Hause.
Dr. Baßenge, der durch seine vielen
Reisen ein maßgebendes Urteil haben dürfte,
schreibt wörtlich: „Nach den Erfahrungen
eines zweimonatlichen Aufenthaltes kann
ich behaupten, daß ich mich während der
ganzen Dauer des Aufenthaltes in keinem
Hotel der Riviera oder einer sonstigen
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Oktober
Die Therapie der Gegenwart 1910.
479
Station des Mittelmeers andauernd so wohl | Die „Pension des Etrangers“ liegt in
befunden habe, wie im Grand Hotel I freundlicher Lage, Pension 6—10 Frcs.;
d’Ajaccio.“ Dies sollten sich hauptsäch- i ebenso Pension Stalder (Schweizer), ein-
lich diejenigen merken, welche man — wie fache, aber gut bürgerliche Küche,
dies leider oft geschieht — vor Ajaccio Die Hotels in der Stadt und am Salario
warnte. Man merkt die Absicht! sind mehr für Gesunde als für Kranke.
Von den übrigen Hotels ist als gut ge- Auch zu Privatwohnung ist Gelegen-
führtes Haus zweiten Ranges das „Hotel heit, aber aus sanitären Gründen sollten
Suisse“ zu empfehlen. Besitzerin Frau dieselben nicht in der Stadt, sondern nur
Hohmann, Schweizerin. Pension von 7 bis im eigentlichen Fremden viertel CoursGrand-
12 Frcs. , val genommen werden.
Zur Behandlung der Syphilis mit Asurol.
Von Dr. Eduard Bäumen Berlin. Arzt fQr Hautkrankheiten.
Meiner ersten vorläufigen Mitteilung
über die Behandlung der Lues mit dem
neuen Quecksilberpräparat Asurol 1 ) habe
ich einige ergänzende Bemerkungen hin¬
zuzufügen.
Ich habe bisher 45 Patienten mit intra¬
muskulären Asurolinjektionen behandelt,
wobei die zweiten Kuren nicht mitgezählt
sind. Um unnötiges Wiederholen und
Selbstzitieren zu vermeiden, will ich hier
an das in meiner ersten Veröffentlichung
Gesagte unmittelbar anknüpfen.
Die Wirkung des Asurols auf die sy¬
philitischen Symptome ist nach wie vor
prompt und hat mich bisher noch in keinem
Falle im Stich gelassen, während doch bei
löslichen Injektionen von Hydrargyrum
cyanat und Sublimat nicht selten eine ge¬
wisse Resistenz der Symptome gegen das
Hg. beobachtet wird.
Die mit den Asurolinjektionen verbun¬
denen Schmerzen sind im allgemeinen ge¬
ring, geringer jedenfalls als bei den unlös¬
lichen Präparaten; und in den meisten
Fällen ließen sich die Schmerzen durch ein
protrahiertes warmes Vollbad wesentlich
reduzieren. Nur sehr empfindliche Patienten,
zumal Frauen, klagten gelegentlich über er¬
heblichere Schmerzen nach der Einspritzung.
Die Bildung von Knoten und Infiltraten
habe ich nur ganz vereinzelt beobachtet,
was ja um so wahrscheinlicher ist, als das
Asurol kein Eiweiß fällt.
Die von mir schon (1. c.) beschriebenen
Allgemeinerscheinungen, wie allgemeine
Mattigkeit, Benommenheit und Neigung
zum Schlafen kamen auch weiterhin ver¬
einzelt vor, ich schätze die Häufigkeit dieser
Nebenwirkung auf 5—10 o/o der Fälle.
Albuminurie habe ich niemals beob¬
achtet, gelegentlich aber, wie ja auch bei
allen anderen Hg-Präparaten, mehr oder
weniger starke Durchfälle, zumal dann,
wenn Diätfehler (Genuß von Obst und
sauren Speisen) begangen worden waren.
*) Berliner Klinik, H. 264, Juni 1910.
Stomatitis habe ich bisher in keinem
Falle gesehen, es muß hier freilich be¬
merkt werden, daß die Häufigkeit der
Stomatitis mercurialis viel weniger von
dem Merkurpräparat abhängig ist als von
der sozialen Stellung der Patienten. In der
Privatklientel, wo eine regelmäßige Mund¬
pflege Lebensgewohnheit ist, tritt viel sel¬
tener eine Stomatitis auf, als bei den sozial
ungünstiger gestellten Patienten, zumal da,
wo auch noch der Kautabak, schlechte
Zähne, schlechte Ernährung und Verdauung
das Auftreten der Stomatitis direkt be¬
günstigen.
Was nun die Nachhaltigkeit der Wir¬
kung des Asurol betrifft, so hatte ich an¬
fangs, als ich 10—12 Injektionen der
50/oigen Lösung machte, nicht selten bald
nach der ersten Kur auftretende Rezidive.
So traten z. B. in einem Falle nach
10 Asuroleinspritzungen 7 Tage später
bereits wieder Papeln am After auf, in
einem anderen Falle nach 14 Injektionen
der 5o/oigen Lösung nach 4 Wochen wieder
Papulae ad anum auf.
Seitdem verwende ich nur noch die
10%ige Lösung, von der ich bei der ersten
Injektion 3 Teilstriche der 2 ccm fassenden
Spritze gebe, dann jedesmal, etwa alle 3 bis
4 Tage, 5 Teilstriche und im ganzen min¬
destens 15 Injektionen.
Bei diesem Modus leistet das Asurol
Befriedigendes und auf alle Fälle Besseres
als die löslichen Injektionen. In ganz
frischen, unbehandelten Fällen treten die
ersten Rezidiverscheinungen nach 2 bis
3 Monaten auf.
Ich möchte mein Urteil über das Asurol
nach meinen bisherigen Beobachtungen
dahin zusammenfassen, daß es seiner thera¬
peutischen Dignität nach in der Mitte steht
zwischen löslichen und unlöslichen Präpa¬
raten. Es wirkt zwar prompt auf die Er¬
scheinungen, wird aber schneller ausge¬
schieden als unlösliche Präparate. Deshalb
ist das Asurol nicht geeignet, die unlös-
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480
Die Therapie der Gegenwart 1910.
Oktober
liehen Hg-Präparate entbehrlich zu machen,
ich glaube aber, daß es wegen seiner
besseren Wirkung die löslichen Präparate
nach und nach verdrängen dürfte.
Besonders geeignet scheint es mir auch
zur Behandlung von Frauen, weil hier un¬
lösliche Präparate nur selten in Anwendung
gebracht werden können.
Escalin zur ambulanten Behandlung des Magengeschwürs.
Von Q. Klemperer.
Es ist eine unbestrittene Forderung, daß
man Kranke mit Magengeschwüren zu Bett
legen soll, da vollkommene körperliche Ruhe
die besten Aussichten der Ausheilung dar-.
bietet. Ebenso unbestritten ist die Tatsache,
daß die Durchsetzung dieser Forderung oft
an äußeren Umständen scheitert und daß
man in der ärztlichen Praxis oft genug ge¬
zwungen ist. Kranken möglichst gut zu
raten, die ein sicheres Magengeschwür
haben und sich doch nicht dazu verstehen
wollen oder können, sich ins Bett zu legen.
Ich möchte nun freilich glauben, daß der
Schaden in solchen Fällen nicht allzugroß
ist; mäßige Bewegung braucht nicht immer
die Heilung eines Magengeschwürs aufzu
halten; eine mäßige Beschleunigung der Zir¬
kulation, wie sie durch Bewegung unterhalten
wird, mag sogar zur schnelleren Heilung
beitragen. Wenn nur der Hauptgrundsatz i
der Magengeschwürstherapie genügend be¬
rücksichtigt wird, daß die Nahrungsauf¬
nahme jedesmal nur in kleinsten Mengen
stattfindet und daß die Nahrung so fein
präpariert und namentlich im Munde so fein
zerkaut und durchspeichelt wird, daß sie als
ein wasserähnlicher Brei mit staubfeinen
Partikelchen im Magen ankommt. Selbst¬
verständlich, daß jede grobe Speise ver¬
boten ist, daß am besten nur breiige
Nahrung in feinster Zubereitung gegeben
wird und daß auch die Milch nur in ganz
kleinen Schlucken genommen werden darf.
Wird nun noch die übermäßige Säure¬
menge im Magen durch kleine Gaben
Natron bicarbonicum abgesättigt, so wird
man — bei im allgemeinen ruhigen und
hygienischen Verhalten — den Magenge¬
schwürkranken auch ohne Bettruhe Heilung
in Aussicht stellen dürfen. Man wird sich
dieser Hoffnung noch sicherer hingeben,
wenn man den natürlichen Vorgang der
Geschwürsheilung durch künstliche. Schorf¬
bildung unterstützt. In dieser Absicht
wurden insbesondere von Kußmaul die
großen Wismutgaben, in Emulsionen von
15—25 g auf nüchternen Magen gegeben.
Ich selbst habe vor 3 Jahren unter dem
Eindruck von schweren Wismutvergiftun-
gen als Ersatzmittel das feinpulverisierte
Aluminium in Form einer Glyzerinpaste
unter dem Namen Escalin in die Therapie
eingeftlhrt (vergl. diese Zeitschr. 1907,
Nr. 5). Ursprünglich galt meine Empfehl¬
ung nur der Magenblutung; ich habe seither
über hundert Fälle frischer Blutung bei
Magengeschwür nach der ursprünglich an¬
gegebenen Methode behandelt und noch
keinen Fall verloren; dieTodesfälle erwiesen
sich bei der Obduktion sämtlich als‘anderen
Ursprungs (Carcinom und Leberzirrhose).
Ich halte auch heute noch das Escalin für
das zur Zeit beste Mittel zur Stillung von
Magenblutungen. Allmählich aber bin
ich dazu übergegangen, besonders in
der Privatpraxis, das Escalin in jedem
Fall von Magengeschwür zu verordnen, bei
welchem ich die Leube-Ziemssensche
Ruhekur nicht durchsetzen konnte. Die
Diagnose stelle ich im Fall von Magen¬
schmerzen, wenn sich Blut im Stuhl
nach fleischfreier Diät nachweisen ließ
Ich verordne dann auf nüchternen Magen
vier Escalinpastillen in einem halben Glas
Wasser aufs feinste aufgeschlämmt zu
nehmen, und lasse die Prozedur an vier
aufeinander folgenden Tagen wiederholen.
Dazu gebe ich natürlich die Verordnung
möglichst ruhigen verständigen Lebens und
die oben erwähnten diätetischen Verord¬
nungen. Ich verfüge jetzt über Notizen von
52 Fällen von Magengeschwür, in denen
Bettruhe nicht eingehalten wurde und trotz¬
dem nach Escalingebrauch und breiiger,
bezw. Milchdiät vollkommenes Schwinden
aller subjektiven Beschwerden, sowie des
okkulten Blutes aus dem Stuhl in 2—4
Wochen erzielt worden ist. Ich möchte doch
glauben, daß das Escalin an diesen guten
Resultaten nicht unbeteiligt ist und möchte
dies Medikament auch in Zukunft als
gutes Unterstützungsmittel der ambu¬
lanten Behandlung des Magengeschwürs
betrachten.
INHALT: Umber, Duodenalgeschwür S. 433. — Baginsky, Allgemeine Therapie der
Infektionskrankheiten der Kinder S. 435. — Weiß. Asthma S. 443. — Jacobsohn, Adrenalin
S. 446. — Balzer, Ajaccio S. 476. — Bäumer, Asurol S. 479. — G. Klemperer, Escalin S. 480. —
Therapeutisches von der 82. Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte S. 456.
Für die Rodaktion verant wörtlich Prof. Dr. G. Klemperer in Berlin. - Verlag von Urban&Sch warzenberg inWien u. Berlin.
Di uck von Julius b i 11 e n fc I <1. Hofbuchdrurker., in Berlin \Y. S.
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UNfVERSITY OF CALIFORNIA
Die Therapie der Gegenwart
jg|Q herausgegeben von Prof. Dp. Q. Klemperer November
In Berlin.
Nachdruck verboten.
Ernst von Leyden f.
Am 5 . Oktober ist Se. Exzellenz der Wirkl. Geheime Rat Prof. Dr.
Ernst von Leyden, 1876 bis 1907 Direktor der Berliner I. medizinischen
Klinik, im 79 . Lebensjahr nach langem Siechtum sanft entschlafen.
Im Aprilheft des Jahres 1902 , zur Feier von Leydens 70 . Geburtstag,
haben wir eine Ueberschau seines wissenschaftlichen Werkes gegeben, der
wir heut nichts hinzufügen können.
Was damals in begreiflicher Scheu vor lauter Huldigung zurückgehalten
wurde, sei heut als immergrüner Kranz dem verewigten Meister aufs frische
Grab gelegt.
Er war ein Arzt von Gottes Gnaden, scharfsinnig, wissensreich und
geschickt, guten Herzens und milden Wesens, durchglüht von Menschenliebe
und Schaffensdrang; er übersah viel Schicksal, hatte die Seelen erforscht
und leiten gelernt und hatte ein feines Maß in der Wertung der Dinge wie
der Menschen; er war liebenswert auch in den kleinen Schwächen, die er
lächelnd eingestand und die niemals verletzten.
Er war ein klinischer Lehrer, der die Ausbildung der jungen Aerzte
als eine große und heilige Aufgabe betrachtete; er ehrte die Wissenschaft
als Grundlage der Heilkunst, aber die Ueberlieferung wissenschaftlicher
Kenntnisse war ihm nicht Endzweck der ärztlichen Erziehung, sondern nur
ein Mittel zur Befestigung und Vertiefung des ärztlichen Könnens, des
Helfens und Dienens am Krankenbett. Am fruchtbarsten wirkte seine Lehre
im engeren Kreise seiner Assistenten, denen Leyden ein väterlicher Freund,
Berater und Helfer war; sie werden sein Andenken heilig halten und in
ihren Schülern fortpflanzen.
Der Herausgeber dieser Zeitschrift hat 10 Jahre lang als Assistent
an Leydens Klinik gewirkt und bleibt sein Leben lang dem verblichenen
Meister zu unaussprechlichem Dank verpflichtet; nicht zum wenigsten auch
dafür, daß er diese Zeitschrift als eine Emanation seiner Schule betrachtet
und mit tätiger Teilnahme geehrt hat.
Leydens Schwanengesang ist die säkulare Ueberschau im vorigen
Jahrgang dieser Zeitschrift, in welcher er die Therapie als „eine enge
Verbindung von Wissenschaft, Kunst und Menschenliebe“ bezeichnet.
Mögen die deutschen Aerzte diese Worte als Leydens Vermächtnis be¬
trachten! In ihrem Geiste soll unsere Zeitschrift auch in Zukunft dem
Fortschritt der Therapie dienen, deren Förderung Leydens reiches Leben
vor allem geweiht war.
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UNIVERSiTY OF CALIFORNIA
482
Die Therapie der Gegenwart 1910.
November
Einige Bemerkungen über Digitalis.
Aus einer klinischen Vorlesung von
„Kaum ein Arzneimittel wird öfters von
den Aerzten angewandt als die Digitalis
bei Herzkranken. Dennoch glaube ich,
daß nicht jeder Arzt, der dies Mittel an¬
wendet, sich der Verantwortlichkeit bewußt
ist, die die Verordnung desselben ihm auf¬
erlegt. Vielleicht sind deswegen einige
Bemerkungen, die ich aus vieljähriger Er¬
fahrung schöpfe, nicht ganz unnütz. Für
manche Aerzte, namentlich die jüngeren, ist
die Verschreibung eines Digitalisinfus eine
Art Reflexaktion. Einen dyspnoischen
Herzkranken sehen und Digitalis verordnen
ist so häufig eins. Stets warne ich meine
Schüler vor solcher Eile. Digitalis gehört
zu den Mitteln, an deren Wirkung
sehr leicht und schnell eine Gewöhnung
eintritt; je öfter es angewendet wird, desto
eher versagt es. Bekanntlich werden aber
die Kompensationsstörungen um so ernst¬
hafter und um so schwerer zu behandeln,
je öfter sie wiederkehren. Wer schon bei
den ersten Attacken Digitalis gibt, wird in
spätem Anfällen von Dyspnoe die volle
Wirkung schmerzlich missen; er hat eben
sein Pulver zu früh verschossen. Deswegen
rate ich meinen Schülern, wenn sie eben
die Feder angesetzt haben, um Digitalis zu
verschreiben, doch noch einmal innezu¬
halten und diese Medikation mindestens
24 Stunden aufzuschieben. Kommt es aus
äußern Gründen auf ein Medikament an,
so verordne man etwas Indifferentes oder
doch Schwachwirkendes wie Valeriana
oder Konvallaria. Aber besser ist es viel¬
leicht auf das Arzneimittel ganz zu ver-
Anmerkung des Herausgebers: Die vor¬
stehenden Bemerkungen entstammen einer klinischen
Vorlesung Leydens aus dem Jahre 1899; sie sollten
nach Leydens Willen im Zusammenhang mit weiteren
Ausführungen über Behandlung von Herzkrankheiten
in dieser Zeitschrift publiziert werden; die Veröffent¬
lichung unterblieb unter dem Einfluß der bekannten
Kuß mau Ischen Publikation im Januarheft 1900
über chronische Digitaliskuren, welche Leyden in
großem Umfange nachzuprüfen beabsichtigte. Aus
äußern Gründen kam dann die Ergänzung bezw.
Fortführung des Vortrags ins Stocken. In diesen
Tagen steten Gedenkens veröffentliche ich die seit
11 Jahren verwahrten Bemerkungen, weil sie die
Art von Leydens ganz aufs Praktisch-Aerztliche
gerichteten Unterweisungen in der Klinik treffend
illustrieren. Der unabgeschlossene Charakter der Be¬
merkungen erklärt sich aus der Entstehungsart.
Leyden liebte es nicht, wie z. B. Frerichs, in der
Klinik den jeweilig vorgetragenen Gegenstand in
einem Zuge erschöpfend zu behandeln; sondern er
fügte dem Bilde das eine Mal diesen, das andere Mal
jenen Zug hinzu. Die Klinik gewann dadurch an
Abwechslung und Interesse, und am Schluß des
Semesters hatte der Student meist doch alles Wesent¬
liche erfahren.
weiland Prof. Ernst von Leyden.
zichten und erst einmal auszuprobieren,
wie die Ruhe auf das erschöpfte Herz
wirkt. Der junge Arzt, der im Hospital
die Isolierung und Ruhe des Patienten als
etwas Selbstverständliches ansieht, vergißt
oft, wie wesentlich diese Faktoren für viele
Krankheiten, insbesondere des Herzens
sind und wie oft es in der Privatpraxis die
größten Schwierigkeiten hat, den Patienten
in vollkommene Ruhe zu versetzen. Ein
zweiter gerade bei Herzkranken oft nicht
genügend geschätzter Faktor ist die Beein¬
flussung auch des erkrankten Herzens auf
dem Wege des Nervensystems. Daß Rei¬
zungen des Vagus und des Sympathikus
die Schlagfolge des Herzens verlangsamen
bezw. beschleunigen, ist altbekannt. Daß
aber auch Reizungen peripherischer Nerven
wie des Laryngeus und Ischiadikus die
Herzaktion deutlich beeinflussen, ist jüngst
durch Arbeiten aus dem Laboratorium von
v. Basch gezeigt worden. Es bietet dem
Verständnis also keine Schwierigkeit, wenn
wir sehen, daß von der Vorstellung Ein¬
wirkungen auf das überarbeitete Herz aus¬
geübt werden, sodaß die Tätigkeit des¬
selben verlangsamt und vertieft wird. Ich
halte es nicht für eine Redensart, wenn
ein Herzkranker sagt, daß der bloße An¬
blick des Arztes sein Herz stärke; ich
glaube vielmehr bestimmt, daß Haltung und
Ansprache des Arztes einen außerordent¬
lichen Einfluß auf die Herzarbeit ausüben.
Unruhe und Unsicherheit des Arztes
schädigt den Herzkranken direkt, Zuspruch
und Ermutigung regen die Herztätigkeit
günstig an. Und wenn ich vorher geraten
habe, vorerst auf Digitalis zu verzichten, so
meine ich, der Arzt müsse zuerst die psy¬
chischen Mittel des Trostes und der Be¬
ruhigung an wenden und auch die Umgebung
des Kranken mit solchem Mute versehen,
daß dieselbe auch in Abwesenheit des
Arztes dem Patienten zu gute kommt. Oft
genug gelingt es unter solchem Traitement
moral leichterer Herzattacken ganz Herr
zu werden. Verfehlt aber solche psy¬
chische Behandlung ihren Zweck, so hat
man nach 24 Stunden oder noch später
immer noch Zeit, Digitalis zu geben.
Der psychischen Einwirkung an die
Seite stellen möchte ich direkte Nerven¬
reize, wie wir sie durch heiße Hand- und
Fußbäder, durch Frottieren der Extremi¬
täten, durch Senfteige ausüben. Auch diese
sollen versucht werden, ehe das differente
Medikament an die Reihe kommt.
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November
Die Therapie der Gegenwart 1910.
483
Wenn ich also der Meinung bin, man
soll Digitalis nicht ohne zwingende Nöti- |
gung und vor allem nicht zu früh geben, J
so möchte ich noch einige andere Kontra- {
Indikationen nennen. Mit meinem Lehrer
Traube halte ich es für ausgemacht, daß
Digitalis nur auf den linken Ventrikel
•einwirkt; neuerdings hat Openchowski
durch eine bemerkenswerte Hypothese
diese wunderbare Tatsache zu erklären ge- j
sucht Er meint, daß Digitalis eine Kon¬
traktion der rechten Koronararterie ver- |
Ursache, sodaß eine verringerte Blutmenge j
und also auch nur ein geringer Teil des j
Medikaments in die Muskulatur des rechten 1
Ventrikels gelangte. Diese Hypothese kann j
natürlich bestritten werden; aber daß der
rechte Ventrikel weniger von Digitalis be¬
einflußt wird als der linke geht aus vielen
klinischen Beobachtungen hervor. Bei vor¬
wiegender Schwäche der rechten Herz¬
kammer wirkt Digitalis eher schädlich als
nützlich; es kann dadurch die Dyspnoe be¬
trächtlich vermehrt werden. Ich halte es
also für kontraindiziert ja für verkehrt, bei j
Mitralstenosen dies Mittel zu geben; ebenso i
empfiehlt es sich nicht bei Emphysem, beiKy- i
phoskoliotischen. Wenn es in diesen Kate- |
gorien doch einmal wirkt, so erklärt sich das
aus der sekundär vorhandenen Schwäche des
linken Ventrikels, welcher dann zum Angriffs¬
punkt wird. Es scheint weiter sicher, daß
Digitalis nur auf die Muskulatur des Herzens
wirkt; die Wirkung wird also ausbleiben,
wenn ein großer Teil des Muskels entartet
ist Bei chronischer Myokarditis versagt j
Digitalis nicht selten. Auch bei Klappen- !
fehlem ist die Wirkungslosigkeit oft da- j
durch zu erklären, daß zugleich mit dem (
•endokarditischen Prozeß mehrfache isolierte ,
myokarditische Herde sich etabliert haben, i
Schließlich halte ich die Digitaliswirkung
für unsicher und zweifelhaft beim Fieber.
Traube pflegte Fiebernden gern Digitalis
zu geben; er wandte auch schon die neuer¬
dings wieder aufgenommenen besonders ho¬
hen Dosen an. Ich habe mich von der Wirk¬
samkeit weder kleiner noch großer Gaben
im Fieber überzeugen können; große Dosen
scheinen mir nicht ungefährlich zu sein.
Mit Vorliebe wende ich zur Kräftigung des
Herzens Tinctura Strophanti an, von wel¬
cher ich täglich 2 mal 5—8 Tropfen gebe.
In welcher Dose sollen wir Digitalis
geben? Gewöhnlich wird von einem Infus von
1:200 zweistündlich 1 Eßlöffel dargereicht.
Eine solche Dose wird gewiß oft keinen
Schaden stiften. Ich möchte aber sagen,
daß ich, je älter ich werde, desto kleinere
Dosen anwende. Es scheint mir doch nicht
genug beachtet zu werden, daß das ge-
schwächtete und überarbeitete Herz gegen
dies Mittel überempfindlich wird und daß
schon kleine Dosen anstatt der verlang¬
samenden Wirkung eine Beschleunigung
des Herzschlages herbeiführen können.
Deshalb beginne ich bei hochgradiger Er¬
schöpfung mit Infusen von 0,5 ja 0 2 g und
gehe dann langsam in die Höhe.
Daß Digitalis kumulierende Wirkung hat,
ist allgemein bekannt. Jeder weiß, daß
man nach dem dritten Gramm am besten
für mehrere Wochen pausiert. Uebrigens
rate ich auch schon vor dem dritten Gramm
stets dann auszusetzen, wenn voller und
langsamer Puls mit starker Diurese die er¬
freuliche Wirkung anzeigt. Erst wenn diese
Wirkung nachläßt, soll man von neuem mit
der Darreichung beginnen.
Acetum und Tinctura Digitalis sind sehr
unsichere Arzneiformen. Auch zu der Dar¬
reichung in Pillenform habe ich gar kein
Vertrauen; es scheint sehr unsicher, ob im
Darm aus den Pillen eine genügende Re¬
sorption stattfindet. Die im Handel vor¬
kommenden Blätter der Digitalis haben ver¬
schieden starke Wirkung. Das rührt wohl
zum Teil vom Heimatsort, zum Teil vom
Zeitpunkt des Sammelns her. Durch langes
Lagern verschwindet ein Teil der wirk¬
samen Substanz. In der Charite haben
wir viel gute Wirkungen, weil der Ver¬
brauch von Folia Digitalis ein enormer und
deshalb stets frische Zufuhr vorhanden ist.
Zeigt sich Digitalis unwirksam, das aus
einer kleinen Apotheke bezogen ist, so
versuche man erst noch einmal dasselbe
Medikament aus einer großen Offizin zu
beziehen.
Es mögen diese wenigen Bemerkungen
zeigen, daß es sich mit der Digitalis ver¬
hält wie mit vielen anderen Dingen in der
Medizin: so leicht die Anwendung auf den
ersten Blick erscheint, so kompliziert er¬
scheint sie bei näherem Eingehen auf ihre
besonderen Eigenschaften. Gerade in der
verständigen und besonnenen Anwendung
der Digitalis kann der Arzt zum Nutzen
des Kranken das Maß seiner Kritik und
seine Erfahrung beweisen.“
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484
Die Therapie der Gegenwart 1910.
November
Die Prognose der Basedowschen Krankheit.
Von Prof. Dr. L* Syllaba-Prag.
Die Prognose der Basedowschen
Krankheit ist eine der aktuellsten Fragen
der klinischen Medizin. Von der Prognosen¬
stellung hflngt in Zukunft die Richtung ab,
in der sich die Therapie bewegen soll und
muß. Sowie auf anderen Gebieten, be¬
haupten auch hier die Chirurgen, daß sie
durch einen operativen Eingriff helfen
können, und so wie anderswo, wollen auch
hier die Vertreter der internen Medizin —
wenigstens einige von ihnen — der chi¬
rurgischen Behandlung einen Vorzug vor
der internen Behandlung nicht zugestehen.
Und doch gibt es nur eine Medizin mit
einem einheitlichen Ziel: zu helfen, zu
heilen. Dieses Ziel schwebt in ganz glei¬
cher Weise den Internisten wie den Chi¬
rurgen vor. Wenn auch momentan die
Ansichten auseinandergehen, muß doch
später einmal das gemeinsame Ziel Chi¬
rurgen und Internisten wenigstens prinzi¬
piell zu einem gemeinsamen Standpunkt
führen. Bevor aber dieses Ziel erreicht
ist, bleibt nichts anderes übrig, als daß
beide Lager die Berechtigung ihres gegen¬
wärtigen Standpunktes prüfen, daß sie in
gerechter Weise die Kraft ihrer Beweise
messen und ehrlich deren Schwächen auf¬
suchen.
Eines jener Mittel, die eine solche Re¬
vision des Standpunktes herbeiführen kön¬
nen und müssen, ist eben die Frage der
Prognose. Der Chirurg muß seine ope¬
rierten Fälle jahrelang beobachten und der
Internist darf keinen einzigen Patienten aus
den Augen verlieren, bei dem er einmal
mit der internen Behandlung ohne Ope¬
ration begonnen hat. Wir müssen zu¬
geben, daß die Chirurgen diesen Weg be¬
reits betreten und ihn den Internisten ge¬
wiesen haben.
Damit soll aber keineswegs gesagt sein,
daß die interne Medizin nicht über eine
genügend große Anzahl von Arbeiten ver¬
fügt, die sich mit der Prognose der Base¬
dowschen Krankheit befassen. Busch an
allein hat im Jahre 1894 aus der Literatur
900 Fälle gesammelt, auf Grund deren er
die Mortalitätsziffer berechnete. Aber schon
in den 60er Jahren waren es Charcot,
v. Dusch und später Cheadle, Belling-
ham, Gaill 1 ), H. Mackenzie 2 ), Wil-
*) Alle zitiert nach Möbius, Die Basedowsche
Krankheit. Wien 1906, S. 72.
3 ) a) Clinical lecture on Graves disease. Lancet
1890, II, S 545 u. 601. — b) A lecture on Graves
disease. Brit. med. Journ. 1905, II, S. 107 7.
liamson 1 ), Thompson 2 ), die unter Zu¬
grundelegung einer größeren oder kleineren
Reihe von Fällen zu Zahlen gelangten,
welche die Mortalität der Basedowschen
Krankheit resp. die Heilung nach derselben
in Prozenten angaben. Aber diese Stati¬
stiken genügen nicht. Sie haben zwei
Kardinalfehler. Busch an selbst bemerkt
ganz richtig, daß der ganze Komplex der
in der Literatur vorhandenen Fälle hin¬
sichtlich der Prognose kein genaues Bild
ergibt; denn die leichteren Fälle werden
gewöhnlich nicht publiziert und wurden in
früheren Zeiten überdies nicht immer
richtig diagnostiziert. Ein zweiter Fehler
ist meiner Ansicht nach der, daß die in
den zitierten Statistiken angeführten Pa¬
tienten nicht immer genügend lange beob¬
achtet worden sind. Ein Jahr oder zwei
Jahre genügen nicht. Kommen doch nach
Möbius 3 ) in der Regel Rezidiven und
zwar manchmal erst nach vielen Jahren vor.
Es ist nun Tatsache, daß manche Inter¬
nisten , die über eine lange Krankenhaus¬
und Privatpraxis verfügen, zahlreiche aus¬
schließlich intern behandelte Fälle kennen
und deren Schicksal eventuell viele Jahre
lang verfolgt haben. Es steht weiter fest,
daß diese Erfahrung, auf die sich der In¬
ternist stützt, der der operativen Therapie
einen Vorzug oder gar die Exklusivität
nicht einräumen will, von den Chirurgen
nicht gering geschätzt werden darf.
Andererseits steht es nicht weniger fest*
daß das, was der Internist bis jetzt nur
zufällig und nur bei einigen Fällen ge¬
tan hat, beim Chirurgen bezüglich eines,
jeden operierten Falles zur Regel gehört.
Th. Kocher (A. Kocher), Mayo, Riedei
(Schultze), John Berg (Landström), Krön¬
lein (Briner, B. Witmer), Kümmell (Schulz
und Friedheim), Mikulicz (Reinbach) und
Andere 4 ) inaugurierten Arbeiten, in denen
über die weiteren Schicksale aller von
ihnen operierten Fälle berichtet wird. Man
mag über den Wert der operativen Be«
handlung der Basedowschen Krankheit
wie immer denken, es ist jedenfalls ein
Verdienst, wenn man eine längere Reihe
von Jahren über den Zustand des Pa«
tienten genau orientiert bleibt; für eine an-
l ) Remarks on prognosis in exophtbalmic goitre^
i Brit. med. Journ. 1906, II, S. 1373.
tJ ) Zitiert nach Landström, Ueber Morbus Base¬
dow». Stockholm 1907, S. 149.
*> L. c. S. 72
4 ) Zitiert nach Möbius S. 97 und nach Land.-
ström S. 75 und 76.
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November
Die Therapie der Gegenwart 1910.
485
sehnliche Reihe von operierten Fällen trifft
dies bereits auch zu. Die Chirurgen haben
es sich zur ausnahmslosen Regel gemacht,
jeden operierten Patienten mindestens
ein Jahr lang im Auge zu behalten.
Zwar wird manchmal bei dieser Ober eine
längere Zeit ausgedehnten Kontrolle der
Kranken die Freude des Operateurs ge¬
trübt, wenn ein Rezidiv konstatiert wird,
das nach einigen Monaten, ja sogar auch
noch nach mehreren Jahren post opera-
tionem auftreten kann; aber daß diese Kon¬
trolle schließlich doch zur Lösung der Frage
wesentlich beitragen kann, ist über eden
Zweifel erhaben.
Zu einer Zeit, wo der Chirurg das wei¬
tere Schicksal eines jeden einzelnen Falles
genau bucht, genügt es nicht, daß sich der
Internist auf den allgemeinen Eindruck,
den seine Praxis auf ihn macht, oder auf
eine mehr oder minder lange Reihe von
eventuell längere Zeit beobachteten Fällen
oder auf die Statistiken verlasse, deren
Unvollständigkeit in die Augen springt.
Auch er muß jeden einzelnen Patienten,
der ihm in seiner Praxis begegnet, mag
derselbe schwer oder leicht sein, genau
verfolgen, auch wenn derselbe wieder ge¬
sund wird, und zwar muß sich die Beob¬
achtung auf mehrere Jahre erstrecken.
Dies muß die Aufgabe eines jeden Inter¬
nisten sein, mag derselbe auf der Klinik
oder in der Stadtpraxis wirken.
Als Resultat meiner Beobachtungen er¬
stattete ich im Jahre 1908 auf dem IV. Kon¬
gresse der böhmischen Naturforscher und
Aerzte ein Referat über das weitere Schick¬
sal von 50 Fällen der Basedowschen
Krankheit. Dieses Material stammte:
1. aus meiner eigenen Privatpraxis in
den Jahren 1896—1907;
2. aus meiner neunjährigen Tätigkeit an
der unter der Leitung Prof. Thomayers
steheqden böhmischen Universitätspoliklinik
während der Zeit von 1895 bis 1903;
3. aus dem ersten Quinquennium der
Tätigkeit Prof. Thomayers an der II. böh¬
mischen internen Klinik in den Jahren
1903—1907;
4. aus der Klientel des Kollegen Pel-
näf in den Jahren 1903—1907.
Selbstverständlich habe ich unter diese
50 Kranken nur solche Fälle eingereiht, bei
denen die Krankheit mit aller Sicherheit
diagnostiziert wurde, mag nun das Leiden
im Sinne von Möbius primär oder sekundär
aufgetreten sein, d. h. mag es bei Leuten
entstanden sein, die niemals vorher eine
Struma hatten, oder mag es zu einer alten,
eventuell jahrelang bestehenden Struma
hinzugetreten sein. Die Zahl der sekun¬
dären Fälle der Basedowschen Krankheit
bildet nur einen kleinen Bruchteil der Ge¬
samtzahl.
Ueber das weitere Schicksal der meiner
Klientel entstammenden Fälle war und bin
ich bis auf wenige Ausnahmen fast dauernd
orientiert. Entweder hatte ich selbst die
Behandlung des Kranken bis zu seinem
Tode inne oder ich stand mit dem Arzte,
der den Kranken bis zu dessen Tode be¬
handelte, in dauerndem Kontakt, oder ich
bekomme die Patienten, auch wenn es ihnen
besser geht oder wenn sie frei von Sym¬
ptomen der BasedowschenKrankheit sind,
von Zeit zu Zeit zu Gesicht. Dasselbe gilt
vom Kollegen Pelnäf. Ueber das Schick¬
sal der klinischen und poliklinischen Pa¬
tienten mußte ich natürlich erst ad hoc
Nachforschungen anstellen. Wer sich je¬
mals einer solchen Arbeit unterzogen hat,
der weiß, wie groß oft die Schwierigkeiten
und Hindernisse sind, mit denen man zu
kämpfen hat. Auch bei einigen wenigen
meiner eigenen Patienten mußte ich nach¬
trägliche Forschungen anstellen, da mir ihr
gegenwärtiger Zustand nicht genau be¬
kannt war. Selbstverständlich habe ich
mich in keinem von diesen ad hoc kon¬
trollierten Fällen mit den Angaben der
Kranken allein begnügt. Ueberall wurde
eine genaue ärztliche Untersuchung vor¬
genommen und zwar entweder von mir
selbst, oder von praktischen Kollegen,
denen ich zu diesem Zwecke präzis for¬
mulierte Fragebogen zugeschickt habe. In
einem Falle wurde mir die Information
durch Herrn Prof. Jaksch, der mir in
liebenswürdiger Weise die Krankheits¬
geschichte überließ, zuteil, in einem an¬
deren Falle verdanke ich das Sektions¬
protokoll der Freundlichkeit des Herrn
Prof. Slavfk. Einen von den zur Zeit des
Kongresses vorhanden gewesenen 50Fällen,
nämlich jenen, von dem ich trotz eifrigster
Nachforschungen nur einen ungenügenden
Bericht erhalten konnte und von dem ich
nur soviel weiß, daß er lebt, aber nicht,
in welchem Zustande, habe ich hier aus¬
gelassen. Von jenen Fällen, die mir seit
der zweiten Hälfte 1907 neu zugewachsen
sind, habe ich 2 Fälle, die ich zum ersten¬
mal vor 3 resp. 2*/s Jahren gesehen habe,
in diesen Bericht aufgenommen, so daß ich
heute über 51 Fälle verfüge.
Von großer Bedeutung ist nunmehr die
Frage, welcher Fall als geheilt und welcher
als gebessert anzusehen ist. Nach Möbius 1 )
ist eine wi rkliche Restitutio in integrum
l ) Loc. cit. S. 72.
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486
Die Therapie der Gegenwart 1910.
November
nicht wahrscheinlich. Manche Autoren be¬
richten, daß ihre Patienten nicht bloß die
krankhaften Symptome verloren haben,
sondern auch lange Zeit gesund geblieben
sind. Chvostek, Cheadle, Mackenzie,
Rüssel und Andere sahen Heilungen, die
10 resp. 20 Jahre anhielten; in solchen
Fällen könne man im Sinne der Praxis
wohl von einer Heilung sprechen, wenn
auch hie und da leichtere Störungen noch
auftreten sollten. Aber derartige Fälle
sollen sehr selten sein; was man gewöhn¬
lich als Heilung bezeichne, sei eigentlich
nur eine Besserung, die etwa mit Wieder¬
erlangung der Erwerbsfähigkeit gleich¬
bedeutend sei. Häufig blieben ein leichter
Exophthalmus, nachweisbare Veränderun¬
gen der Schilddrüse, eine dauernde
Schwäche des ganzen Körpers und Schwan¬
kungen des Körpergewichts zurück; ein
geringfügiger Reiz rufe Pulsbeschleunigung
und Gliederzittern hervor; die Patienten
würden leicht müde und matt. Nach der
Ansicht des Chirurgen Landström 1 ) ist
weder der zurückgebliebene Exophthalmus,
noch die Herzhypertrophie ein Hindernis
dafür, den Fall, wenn er sonst keine Base-
dowsymptome aufweist, für geheilt zu er¬
klären. Nach seiner Ansicht ist der Pa¬
tient gesund, wenn der Puls langsamer ge¬
worden ist, wenn die Störungen der Er¬
nährung und der Sekretion, das Glieder¬
zittern und die allgemeine Nervosität ver¬
schwunden sind und der Patient arbeits¬
fähig geworden ist.
Bei der Klassifikation meiner Patienten
wandte ich einen Maßstab an, der ungefähr
in der Mitte zwischen, dem Maßstab des
Internisten (Möbius) und jenem des Chi¬
rurgen (Landström) liegt.
Ich bezeichne einen Fall als gesund,
wenn
1. die Tachykardie aufgehört hat, der
Puls sich im Zustande der Ruhe in nor¬
malen Grenzen hält und höchstens 80 beträgt
und Herzklopfen nur unter entsprechenden
Umständen auftritt;
2. der Exophthalmus verschwunden oder
soweit zurückgegangen ist, daß er dem
Gesichte keinen pathologischen Ausdruck
(Landström) verleiht und der Umgebung
nicht auffallend erscheint;
3. die Struma verschwunden oder be¬
deutend kleiner geworden ist, und die Pul¬
sationen und Gefäßgeräusche derselben
aufgehört haben;
4. das Gliederzittern aufgehört hat;
5. das Körpergewicht bedeutend ge¬
stiegen ist;
*) Loc. cit. S. 5.
6. die nervösen und sekretorischen Stö¬
rungen verschwunden sind;
7. der Kranke weder aufseine Umgebung,
noch auf seinen Arzt den Eindruck eines
kranken Menschen macht;
8. der Kranke sich subjektiv gesund
fühlt und
9. zur Arbeit ebenso fähig ist wie vor
der Erkrankung.
Bei den Fällen von sog. sekundärer
Basedowscher Krankheit, d. h. dort, wo
sich die Symptome des Basedow bei
einer alten, schon jahrelang bestehenden
Struma entwickelt haben, spreche ich be¬
greiflicherweise auch dann von einer Hei¬
lung, wenn die Struma fortdauert, wenn
nur die übrigen Bedingungen erfüllt er¬
scheinen.
Als gebessert bezeichne ich einen Fall,
in welchem die Tachykardie nachgelassen
und die Ernährung sich gehoben hat, wo
sich überhaupt alle Symptome augen¬
scheinlich gebessert haben oder gänzlich
verschwunden sind, der Kranke auf seine
Umgebung und den Arzt einen besseren
Eindruck macht, sich selbst besser oder
ganz gesund fühlt und arbeitsfähiger ist als
früher.
Als unverändert bezeichne ich unter an¬
derem auch jene Fälle, in denen die Sym¬
ptome des Basedow trotz zeitweiliger
Besserung immer wiederkehren, also die
rezidivierenden Fälle, mag auch momentan
gerade eine Besserung zu konstatieren sein.
Bei der Anlegung dieses Maßstabes
ging ich sehr streng vor, indem ich in
jedem einzelnen Falle alle oben angeführten
Momente genau erwog.
Gestorben sind bis jetzt von 51 Fällen
14; von diesen stammen 3 Fälle aus der
Klinik, 6 aus der Poliklinik, 2 aus der
Praxis Pelnäfs und 3 aus meiner eigenen
Praxis. Der Tod trat ein: 6 mal unter dem
Bilde der Asystolie, die in einem Falle von
temporären Diarrhöen resp. Enterorrhagien
und Erbrechen begleitet war; 3 mal plötz¬
lich, unvorhergesehen infolge von Herzläh¬
mung, 1 mal infolge Bronchopneumonie,
1 mal nach hartnäckigen Diarrhöen, 1 mal
nach einem akuten, mehrmonatigen Ver¬
lauf, der durch temporäre Temperatur¬
anstiege ausgezeichnet war, 1 mal an
Kachexie, 1 mal im Verlaufe einer Psy¬
chose und schließlich einmal an chronischer
Nephritis, die durch ein Erysipel kompli¬
ziert war.
Von den 6 unter dem Bilde der Asy¬
stolie gestorbenen Fälle . behandelte ich
einen bis zu seinem Tode, den zweiten
konnte ich als Konsiliarius fast bis ans
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November
Die Therapie der Gegenwart 1910.
487
Ende beobachten und über die übrigen
Fälle (1 aus der Klinik, 2 aus der Poliklinik
und 1 aus der eigenen Praxis) besitze ich
verläßliche Berichte von praktischen Aerzten.
Bei diesen 6 Fällen steht es fest, daß die
Herzschwäche und der nachfolgende Exitus
ihre Ursache in der Basedowschen
Krankheit und in nichts anderem hatten.
In dem klinischen Falle wurde die Herz¬
schwäche nicht einmal durch die Operation
verhütet; die Patientin hatte die Resektion
der Struma gewählt; 5 Monate nach der¬
selben starb die Patientin unter den Sym¬
ptomen der Asystolie, der allmählichen Ab¬
magerung und unter zeitweiligen tetani-
schen Anfällen.
Von den 3 plötzlich verstorbenen Kranken
stammten 2 aus der Poliklinik und einer
aus der Praxis Pelnäfs. Der erste Fall,
eine Frau, die bei ihrem ersten Besuche in
der Poliklinik im Jahre 1896 das klassische
Bild der Basedowschen Krankheit dar bot,
kränkelte nach den Angaben des Mannes
in gleicher Weise weiter; 3 Wochen vor
dem Tode wurde die Frau bettlägerig und
starb, ohne einen Arzt berufen zu haben,
plötzlich im Jahre 1902. In den Aufzeich¬
nungen des seither verstorbenen Kollegen
ist als Todesursache Vitium cordis an¬
gegeben. Die zweite Patientin, die die
Poliklinik im Jahre 1899 aufsuchte, über¬
stand wegen eines Uterustumors in der
Klinik Rosthorns eine Hysterektomie mit
Entfernung der Ovarien und der Tuben,
worauf sie sich bis 8 Wochen vor ihrem
Tode im Jahre 1905 ganz wohl fühlte. Um
die genannte Zeit begann sie nach den
Angaben des Mannes über kurzen Atem
zu klagen, der sie auch beim langsamen
Gehen auf der Ebene belästigte; einen Arzt
konsultierte sie aber nicht, ging aus und
starb plötzlich auf der Straße. Die Sek¬
tion, die im böhmischen gerichtlich-medizi¬
nischen Institute vorgenommen wurde,
konstatierte Hypertrophie und Dilatation
der linken Kammer, beginnendes Atherom
der Aorta, Verdickung der Mitralklappe
mit Verkürzung der Sehnen, akutes Lungen¬
ödem und eine Struma höheren Grades.
Die Patientin Pelnäfs schließlich erkrankte
nach der Schilderung ihres Vaters wäh¬
rend einer Typhusepidemie, die das Dorf
heimsuchte; eines Tages bekam sie im
Sitzen einen Erstickungsanfall, in dem sie
starb.
In keinem einzigen dieser drei Fälle
können wir mit Bestimmtheit sagen, ob
und bis zu welchem Grade der tötliche
Ausgang der Basedowschen Krankheit
zuzuschreiben ist. Bei den beiden poli¬
klinischen Fällen verstrich von dem Be¬
ginne unserer Beobachtung bis zum Tode
der Kranken eine lange Zeit, aus welcher
wir keine genügenden und verläßlichen
Nachrichten über den weiteren Verlauf des
Basedowschen Syndroms besitzen. Wenn
im ersten Falle der Leichenbeschauer ein
Vitium cordis als Todesursache angegeben
hat, so ist damit für unsere Zwecke be¬
greiflicherweise nichts gesagt Aber im
allgemeinen kann man auf Grund der An¬
gaben des Mannes doch mit einer gewissen
Wahrscheinlichkeit annehmen, daß die
Kranke, die seit ihrem Besuche in der
Poliklinik in gleicher Weise weiter kränkelte,
schließlich doch dem in der Poliklinik dia¬
gnostizierten Leiden, d. i. der Basedow¬
schen Krankheit erlegen sei. Die andere
poliklinische Patientin aus dem Jahre 1899
starb nach dem Sektionsbefund an akutem
Lungenödem infolge Hypertrophie und Di¬
latation des linken Ventrikels. Da sie aber
während der letzten Lebensjahre keinen
Arzt konsultiert hatte, kann man nicht ent¬
scheiden, ob die Basedowsche Krankheit
eventuell in mäßigem Grade bis zum Tode
gedauert und den letzteren mit verursacht
hat, oder ob derselbe nur durch die Arterio¬
sklerose herbeigeführt wurde. Auch im
Falle Pelnärs läßt es sich nicht entschei¬
den, ob der plötzliche Tod durch Typhus
oder durch den Basedow verursacht
wurde, denn jede dieser Krankheiten kann
einen plötzlichen Tod herbeiführen, est ist
aber auch möglich, daß beide Krankheiten
gemeinsam den Tod verschuldet haben.
Eines aber geht aus dem Falle Pelnärs
mit Sicherheit hervor: daß nämlich eine
jede Infektionskrankheit, die geeignet ist,
das Herz zu schwächen (namentlich Typhus
und Diphtherie), bei einem mit Basedow¬
scher Krankheit behafteten Patienten eine
viel ernstere Bedeutung besitzt als bei
einem sonst gesunden Menschen und daß
daher die Prognose der Infektionskrankheit
bei dieser Komplikation ceteris paribus
ernster zu stellen ist.
Bei jenen Fällen, wo der Tod nach
hartnäckigen Diarrhöen, nach einem akuten,
fieberhaften mehrmonatigen Verlaufe und
im Zustande der charakteristischen Kachexie
eintrat, ist der Zusammenhang des Todes
mit der Basedowschen Krankheit un¬
zweifelhaft. In dem Falle, in welchem die
Krankheit fieberhaft verlief, wurde in der
Klinik auch der Zustand der Lungen genau
kontrolliert, aber das Resultat war stets
negativ.
Es erübrigt noch die Epikrise zweier
Fälle. Der eine von ihnen besuchte seit 1892
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Die Therapie der Gegenwart 1910.
November
von Zeit zu Zeit die poliklinische Ordina¬
tion und wurde von Prof. Thomayer öfters
bei den poliklinischen Vorlesungen als ty¬
pisches Beispiel der Basedowschen Krank¬
heit demonstriert. Sein Zustand besserte
sich mit der Zeit derart, daß der Patient
nach der Photographie, die auf dem Höhe¬
punkte der Erkrankung angefertigt wurde,
nicht zu erkennen war. Im Jahre 1898 no¬
tierten wir uns, daß der Kranke nur einen
unbedeutenden Exophthalmus, von der
Struma nur Reste, 88 Pulse und kein
Zittern mehr aufweist. Schließlich starb
der Kranke in der Klinik Jaksch unter
der Diagnose: Morbus Basedowii peractus.
Nephritis chronica recidivans. Hypertro-
phia cordis, praecipue ventriculi sinistri.
Hydrothorax duplex. Bezüglich der Ba-
sedowsymptome enthält die Krankheits¬
geschichte folgende Angaben: auffallend
starke Vorquellung beider Bulbi, Stell-
wagsches und Graefesches Symptom
nicht vorhanden, keine Vergrößerung der
Schilddrüse; Puls bei der Aufnahme 115,
bei der klinischen Vorlesung 120; kleinste
Pulszahl 84, größte 134, in einem Anfalle
von Stenokardie einmal 54; die Schwei߬
absonderung und die elektrische Leitungs¬
fähigkeit der Haut zeigten keine Abwei¬
chungen von der Norm. Der Kranke war
ganz geschwollen, kurzatmig, die Zahl der
Atemzüge schwankte zwischen 16 und 24,
später im Erysipelfieber zwischen 28 und
36; die Herzdämpfung war verbreitert und
dementsprechend auch skiaskopisch der
Schatten vergrößert, die Diurese war herab¬
gesetzt, im Harn fand man Eiweiß, Blut
und mikroskopisch neben zahlreichen aus¬
gelaugten roten und vielen weißen Blut¬
körperchen auch granulierte hyaline Zy¬
linder und Nierenepithelien. In diesem
elenden Zustande gesellte sich noch ein
Erysipel hinzu, das das Bild abschloß.
Eine Albuminurie resp. eine chronische
Nierenentzündung beobachteten bei Kranken
mit Basedowscher Krankheit verhältnis¬
mäßig häufig Buschan, Röper, Macken¬
zie, Landström; dagegen Kocher nur
2 mal unter 59 Fällen. 1 ) Die Basedowsche
Krankheit ist, wie jetzt allgemein gelehrt
wird, eine Vergiftung des Organismus in¬
folge einer krankhaft veränderten Tätigkeit
der Schilddrüse. Die zukünftige Forschung
wird zu konstatieren haben, ob die Gifte,
die diese Vergiftung verursachen, das
Nierengewebe in ähnlicher Weise reizen
wie die Toxine bei den Infektionskrank-
l ) Zit. nach Möbius S. 50, nach Landström
S. 112 und nach H. Mackenzie, zit. bereits, 1905,
II, S. 1080.
heiten. Sollte dies der Fall sein, dann
wäre der Tod in dem eben geschilderten
Falle durch die Basedowsche Krankheit
in analoger Weise bedingt wie etwa — sit
venia comparationi — durch den Schar¬
lach bei jenen Fällen von chronischer Ne¬
phritis, die sich an einen Scharlach an¬
schließen. Bei der gegenwärtigen Unvoll-
ständigkeit unserer diesbezüglichen Kennt¬
nisse vermögen wir nicht sicher zu be¬
urteilen, bis zu welchem Grade die Base¬
dowsche Krankheit im vorliegenden Falle
den Tod verursacht hat.
Im letzten Falle verlor die Patientin
nach dem Berichte des behandelnden
Arztes im Jahre 1904 die Basedowsym¬
ptome, die in der Poliklinik im Jahre 1901
noch in charakteristischer Weise vorhan¬
den waren, und bot dann ein ganz anderes
Bild dar. Sie verlor das Gedächtnis, ver¬
mochte die einfachsten Rechenexempel
nicht zu lösen, obwohl sie früher eine vor¬
zügliche Rechnerin war, und ihre Schrift
änderte sich, nach den mir eingesandten
Proben zu schließen, in charakteristischer
Weise; bei der Visitierung durch den In¬
spektor wurde die Patientin in der Schule
ohnmächtig, so daß sie hinausgetragen wer.
den mußte, zum Schlüsse wurde sie dement,
mußte zum Essen und zur Reinlichkeit an¬
gespornt werden und starb schließlich nach
der offenbar richtigen Diagnose des be¬
handelnden Arztes an progressiver Para¬
lyse.
Es ist bekannt, daß die mit Basedow¬
scher Krankheit behafteten Personen selten
geistig normal sind. Nach Möbius viel¬
leicht nie. Es ist ferner bekannt, daß
auch wirkliche Psychosen neben der Ba-
sedowschenKrankheit Vorkommen können.
Ich selbst habe in einem a. a. O. publi¬
zierten Falle 1 ) eine temporäre manische
Exaltation beobachtet. Entweder geht die
Psychose der Basedowschen Krankheit
voran oder sie folgt derselben nach. Im
letzteren Falle hält man gewöhnlich die
Basedowsche Krankheit für die Ursache
und die Psychose für die Folge. Die nach
einer Basedowschen Krankheit beobach¬
teten Psychosen sind sehr verschiedener
Art: Manie, Melancholie, Amenz, Zwangs¬
vorstellungen, Paranoia, ja sogar progressive
Paralyse. Aber mit Recht bemerkt Mö¬
bius 2 ), daß nicht alle Fälle von Psychose
bei mit Basedow behafteteten Kranken
*) Sbornik poliklinick^. 1898, S. 37—42.
Ziemssens Behandlungsmethode mit arseniksauerem
Natrium in großen Dosen. — Auch Allg. Wien. med.
Zeitung 1900.
a ) L. c. S. 36.
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November
Die Therapie der Gegenwart 1910.
489
Fälle von Basedowscher Psychose seien.
Oft handele es sich um eine zufällige Kom¬
plikation. So z. B. werde niemand die
progressive Paralyse für eine Folge der
Basedowschen Krankheit halten. Aber
man kann beide Krankheiten als parallele,
auf gemeinsamer, prädisponierender Basis
entstandener Ausläufer betrachten. Man
könnte ferner einwenden, daß die psychi¬
schen Symptome bei unserer Patientin
eigentlich die initialen Erscheinungen des
Myxödems darstellen, wie sie im Rahmen
der Basedowschen Krankheit Vorkommen
können. Gegen diese Annahme sprechen
die vorhandenen Daten, die viel zu be¬
stimmt sind. Nach allen diesen Erwägun¬
gen bleibt also nichts anderes übrig als
der Schluß, daß der Tod in dem eben
analysierten Falle von der Basedowschen
Krankheit keineswegs abhängig war.
Demnach entfielen von den 14 Todes¬
fällen, die bei 51 Fällen von Basedow¬
scher Krankheit konstatiert wurden, einzig
und allein auf diese Krankheit 10, das ist
19,6%. Bei ausschließlich interner The¬
rapie starben 9 Kranke, das ist 17,6%, bei
interner und chirurgischer Therapie starb
eine Patientin. Bei den restlichen Fällen
war der Einfluß der Basedowschen Krank¬
heit auf den Tod entweder ein indirekter
(Nephritis) oder nur ein unterstützender
(bei Typhus, Arteriosklerose) oder er fehlte
ganz und gar (progressive Paralyse).
Es muß darauf hingewiesen werden,
daß sich unsere Zahlen aus einer langen,
12—13jährigen Beobachtungsdauer ergeben.
Natürlich muß da die Mortalität größer
sein. Wenn wir aber unser Material in
zwei gleiche Zeiträume von öjähriger Dauer
einteilen, von denen der eine von 1896 bis
1901 und der andere von 1902 bis 1907
reicht, ohne daß wir einen Fall aus dem
ersten Zeitraum in den anderen her¬
übernehmen, dann verzeichnen wir im
ersten Zeitraum unter 15 Fällen 2 Todes¬
fälle, das ist 13,3% und im zweiten
Zeitraum unter 35 Fällen 5 Todesfälle, das
ist 14,3%.
Busch an, der, wie oben erwähnt, aus
der Literatur 900 Fälle von Basedow¬
scher Krankheit gesammelt hat, bestimmt
die Mortalität mit 11,6%; andere Autoren
geben entweder ähnliche oder viel größere
Zahlen an, z. B.: Cheadle 9.6%, Thomp¬
son 10%, v. Graefe 12%, v. Dusch
12,5%, Bellingham 18,1%, Gaill 21,3%,
Charcot 25%, H. Mackenzie 25%,
Williamson 25%. Nach H. Mackenzie
wird die Mortalitätsziffer speziell durch die
Fälle von akutem Basedow verschlechtert,
an welchem nach seinen Angaben 30%
sterben 1 ).
Diese Verschiedenheit in den Angaben
erklärt sich außer durch die qualitative
und quantitative Ungleichheit des Materials
und durch den Zufall auch durch die un¬
gleiche Länge der Beobachtiingsdauer.
Thompson 2 ), der seine Patienten schein¬
bar nicht genügend lang beobachtet hat,
schätzt bei einem Material von 80 Fällen
die Mortalität auf nur 10%. Dagegen be¬
rechnet Williamson, der vom Beginne
der Krankheit 5 Jahre verstreichen läßt,
bevor er entscheidet, ob ein Fall als ge¬
heilt, gebessert oder unverändert anzu-
sehen ist, die Sterblichkeit mit 25 °/ 0 .
Allerdings verfügt er aber über ein Ma¬
terial von nur 24 Fällen. H. Mackenzie
fixierte bei der verhältnismäßig geringeren
Erfahrung seiner jüngeren Jahre die Mor¬
talität mit 12.5%, bei größerer Erfahrung
aber im Jahre 1905 mit 25 o/ 0 . Streng ge¬
nommen sollte allen Statistiken, sowohl
den internistischen, als auch den chirurgi¬
schen der Vorgang Williamsons zu¬
grunde gelegt werden 8 ). Dann würden
aber begreiflicherweise viele Fälle der
Beobachtung entgehen. Man könnte dann
nur durch Zusammenzählung einer größeren
Anzahl von Statistiken eine allgemein gül¬
tige Ansicht über diese Sache gewinnen.
Inzwischen kann man als Regel auf¬
stellen, daß bei einer nur einigermaßen
länger dauernden Behandlung von den an
Basedowscher Krankheit leidenden Pa¬
tienten etwas mehr als ein Sechstel stirbt.
Dafür spricht einerseits meine eigene Er¬
fahrung, andererseits das arithmetische
Mittel fremder Statistiken.
Unverändert blieben von 51 meiner
Fälle 4, das ist 7,8%. Hierzu rechne ich
noch 6 weitere Fälle, also weitere 11,8%
von rezidivierendem Basedow, mag auch
bei dem einen oder dem anderen gegen¬
wärtig eine Besserung zu konstatieren
sein; ist doch bei einem Falle die erste
Rezidive nach 7, die zweite nach 5 Jahren
aüfgetreten. Auf diese Weise halte ich im
ganzen 10 Personen, das ist 19,6% meiner
Fälle für krank,' mag ihre Krankheit dau-
t) Die Zahlen sind zitiert nach Buschan, Die
Basedowsche Krankheit, Wien und Leipzig 1894;
Williamson loc. cit. S. 1374; H. Mackenzies
Arbeit aus dem Jahre 1905, S. 1081; Möbius S. 72
und Landström S. 148.
2 ) Zit. nach Landström S. 149.
3 ) Nach der Methode von Williamson wQrde
ich bis zum Ende der ersten Hälfte des Jahres 1904
über 25 Fälle mit 6 Todesfällen verfügen, von denen
nur 4, das ist 16%, direkt durch den Basedow be¬
dingt wären.
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490
Die Therapie der Gegenwart 1910.
November
ernd unverändert bleiben oder mit tempo¬
rärer Gesundheit abwechseln.
Die Statistik von Williamson (1. c.)
weist einen Prozentsatz auf, der etwas
kleiner ist als der meine; unter 24 eigenen
Fällen, über die er erst nach 5 Jahren ent¬
scheidet, fand er „condition much the sam“
in 3 id est 12,5%. Nach H. Mackenzie 1 )
bleiben „in a condition of chronic illness“
25 o/ 0 der Fälle.
Als gebessert bezeichne ich unter
51 Fällen 10 = 19,6°/ 0 , als geheilt 17 =
33,3 o/ 0 oder zusammen 27 = 52,9 o/ 0 .
Von fremden Statistiken berechnet
v. Graefe 30% gebessert, 20% geheilt,
zusammen 50%; v. Dusch 25% gebessert,
46%geheilt, zusammen 71%; Williamson
29,1 % sowohl bei den gebesserten als
auch bei den geheilten Fällen, zusammen
also 58,2°/°; nach Mackenzie 50% „make
a very good recovery 2 ).“
Demnach kann ich auf Grund meiner
eigenen und der fremden Erfahrung als
« Regel aufstellen, daß die größere Hälfte
der Fälle von Basedowscher Krank¬
heit dauernd und ohne daß Rezidiven
auftreten, gebessert wird und daß von
diesen Fällen ein bedeutender Teil und
zwar zirka ein Drittel aller Fälle zusammen-
genommen vollständig oder höchstens mit
einem zurückbleibenden Exophthalmus ge¬
heilt wird. In höherem Grade blieb der¬
selbe nur bei zwei unserer Fälle zurück.
Es muß noch bemerkt werden, daß von
unseren geheilten 17 Fällen nur 4 oder 5
als leicht zu bezeichnen sind, während da¬
gegen andere in stürmischer, ja sogar be¬
unruhigender Weise begannen; so z. B.
zweimal mit hartnäckigem Erbrechen und
Durchfall, einmal mit einer hochgradigen
seelischen Erregung, mit Schlaflosigkeit
und Appetitlosigkeit, zweimal mit einem
beträchtlichen und raschen Gewichtsverlust,
so daß man in dem einen Falle anfangs an
ein Magenkarzinom, in dem anderen Falle
bei einer Frau, deren Mann Arzt war, an
beginnende Tuberkulose dachte, was im
letzteren Falle um so begründeter war, als
hie und da Fieber vorhanden war. Schlie߬
lich will ich bemerken, daß ich bei An¬
legung eines weniger strengen Maßstabes
so manchen meiner gebesserten Fälle unter
die geheilten einreihen könnte, da z. B. bei
vier derselben der Zustand momentan ein
ausgezeichneter ist.
*
Es entsteht nun die Frage, auf welche
Weise die interne Therapie die Prognose
der Basedowschen Krankheit ändern resp.
verbessern kann. Bei unseren Fällen
wurde alles mögliche gemacht: wir gaben
Antithyreoidin oder Serum Möbius in
Form von Injektionen und per os, Roda-
gen, Natrium phosphoricum, Natrium sul-
phanilicum, Arsen, Eisen, Chinin, Brom¬
präparate, Belladonna, Kardiaka, wir elek¬
trisierten den Sympathikus, wir wen¬
deten die Hydrotherapie an, empfahlen
einen Aufenthalt in hochgelegenen Gegen¬
den, Bettruhe, Mastkuren usw. Mein Urteil
über den Wert aller dieser Maßnahmen
kann ich kurz folgendermaßen zusammen¬
fassen: alles hilft und alles versagt. Bei
dem einen Falle erzielen wir mit einer
jeden Methode einen Erfolg, bei dem an¬
deren Falle mit keiner einzigen. Im all¬
gemeinen aber ist die B a s e d o w sehe Krank¬
heit, wie Möbius 1 ) mit Recht meint, kein
undankbares Objekt der Therapie.
In 3 Fällen beobachtete ich ein Auf¬
flammen der Symptome des Basedow nach
Jodpräparaten und zwar einmal nach dem
innerlichen Gebrauche des Jodkali und
zweimal nach länger dauernden Einpinse¬
lungen des Halses mit Jodtinktur. Obwohl
anderseits der eine oder andere Patient
die Jodpräparate lobte, stimme ich doch
mit Möbius, Kraus und Landström 2 )
darin vollständig überein, daß Patienten mit
Basedowscher Krankheit dieses Medika¬
ment möglichst vermeiden oder höchstens
sehr vorsichtig damit umgehen sollen. Es
ist tatsächlich manchmal Gift für sie 3 ).
* *•
Welchen Standpunkt sollen wir nun auf
Grund unserer Statistik gegenüber der
operativen Therapie einnehmen?
Von unseren Patienten wurden zwei
operiert. In dem einen Falle, der seiner¬
zeit von Prochäzka 1 ) publiziert wurde,
trat nach 2 Jahren ein Rezidiv ein, der
andere Fall starb 5 Monate nach der Ope¬
ration an Asystolie, nachdem zu deren
Beschwerden die Operation noch eine Te¬
tanie und Rekurrenslähmung hinzugefügt
hatte.
Aus zwei Fällen lassen sich allerdings
keine weitreichenden Schlüsse ziehen und
! ) Loc. cit. S. 79.
■ *) I-OC. cit. S. 137.
3 ) Möbius loc. cit. S. 88.
Prochäzka, Ein chirurgisch behandelter Fall
von Basedowscher Krankheit. (Öasop. 16k. öesk.
1895, S. 991 u. 1012.) Dieser Fall ist unter die
51 Fälle der vorliegenden Statistik nicht eingereiht,
da er sich der weiteren Beobachtung entzogen
hatte.
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1 ) Zitierte Arbeit aus dem Jahre 1905, S. 1081
a ) Zahlen zitiert nach Möbius S. 72, William¬
son 1. c. und H. Mackenzie 1905 1. c.
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November
Die Therapie der Gegenwart 1910.
491
wir müssen daher unsere Zahlen mit den
Zahlen der Chirurgen genauer vergleichen.
Hierbei wollen wir die geheilten Fülle von
den gebesserten nicht unterscheiden, da
hier der subjektiven Ansicht ein größerer
Spielraum eingeräurot wird, als wenn man
die Fälle beider Kategorien in eine Gruppe
zusammenfaßt. Dieselben betrugen bei
51 Fällen unserer Statistik 52,9 % und nach
den chirurgischen Statistiken 3 ) von Land- j
ström 65,8% bei 52 resp. 41 Fällen, von |
Rehn 79,7% bei 319 gesammelten Fällen,
von Heydenreich 82% bei 61, von Rie¬
del 84% bei 50, von Garr£ 85% bei 35,
von Mayo 87,8% bei 57, von Kocher
(ältere Statistik) 93% bei 59 und (jüngere
Statistik) 76,3% bei 97 Fällen. Demnach
würden die Resultate unserer internen
Therapie hinter den Erfolgen der chirur¬
gischen bedeutend Zurückbleiben.
Aber die Beweiskraft der Zahlen
Kochers oder Riedels wird durch meh¬
rere Momente geschwächt und zwar:
1. durch die Fälle, die unmittelbar nach
der Operation sterben, und die Zahl der¬
selben beträgt nach der älteren Statistik
Kochers 6,7% von 59 Fällen und nach
dessen neuerer Statistik 5,3% von 167
Fällen (97 Fälle von typischem Basedow
4- 70 Fälle von gefäßreicher Struma), nach
der Statistik Landströms 7,4% von 52
resp. 41 Fällen, nach Riedel 12% von 50,
nach Rehn 13,1% von 319 gesammelten
Fällen, nach Sorgo 13,9% von 172 ge¬
sammelten Fällen, nach Allen Starr 16%
von 140 gesammelten Fällen. Die traurige
Bedeutung dieser Zahlen fühlen wir alle,
a ) Diese Zahlen, sowie auch die Zahlen der post¬
operativen Mortalität, die gleich folgen, sind teils
nach der Monographie Landströms S. 75, teils
nach den folgenden Quellen zitiert: Heydenreich,
Le traitement chirurgical de la maladie de Basedow.
(Semaine m6d. 1895. S. 269.) — Rehn, 71. Kon- ,
greß deutscher Naturforscher und Aerzte in München
1899. (Deutsche med. Wschr. 1899, Vereinsbeilage i
S. 259.) —Kocher, Verhandlungen des Kongresses |
für innere Medizin zu München. (Wiesbaden 1906, j
Auch Semaine m6d. 1906, S. 211.) — Garre, La j
strumectomie dans la maladie de Basedow, ses resul-
tats 6loign6s. (Revue neurologique 1908. S. 677.) — ■
Oppenheim, Lehrbuch der Nervenkrankheiten.
V. Aufl., S. 1569 (Allen Starr, Sorgo).
Kocher (zit. nach Landström) verzeichnete
bei 59 Fällen in 93,3% Heilungen und Besserungen
und in 6,7% einen letalen Ausgang. Bei 97 Fällen
(zit. nach Semaine m£d. 1906) verzeichnete er 74 mal
= 76,3% ein günstiges Resultat und zwar wenig I
gebessert 8 Fälle, sehr gebessert 10, geheilt 56, da¬
von 8 vollständig. Von 97 Fällen des typischen
Basedow -f- 70 Fällen von gefäßreicher Struma, d. i.
also von 167 Fällen verlor er 9 = 5,3%. Mit an¬
deren Worten: mit fortschreitender Technik sank das 1
Sterblichkeitsprozent, mit wachsender Erfahrung sank j
aber auch der Prozentsatz der Geheilten und Ge¬
besserten.
fühlen auch die Chirurgen, aber am meisten
muß sie der Praktiker fühlen, wenn er
einen Fall zur Operation empfiehlt und
derselbe an dieser stirbt;
2. durch jene Fälle, die einige Zeit nach
der Operation sterben, z. B. 2 Fälle Land¬
ströms (Nr. 10 u. 22) noch nicht ganz
einen Monat, 1 Fall Landströms (Nr. 15)
und 1 Fall unserer Statistik nach 5 Monaten
und ein Fall Landströms (Nr. 6) nach
2 Jahren „an Rezidive“. Diese Fälle be¬
zeichnen die Chirurgen analog den durch
die Operation nicht veränderten Fällen als
Mißerfolge. Wenn wir aber, was ich für
richtiger halte, die Mortalität einer chirur¬
gischen Statistik, z. B. jener von Land¬
ström auf Grund jener Fälle bestimmen,
die unmittelbar nach der Operation und
einige Zeit nach derselben sterben, dann
beträgt dieselbe 18,4%. also eine Zahl, die
unserer Mortalitätsziffer nahekommt;
3. durch die Existenz von Rezidiven
auch nach der Operation. Landström
sah sie bei 52 Fällen 6 mal (mit dem oben
erwähnten Fall, der an der Rezidive starb),
Riedel bei 50 Fällen 7 mal, Kümmell bei
20 Fällen 3 mal. Die Rezidive stellt sich
4 Monate bis 2 Jahre, aber auch 4 Jahre
(Torek) und sogar 9 Jahre (Riedel) nach
der Operation ein; 1 )
4. durch die ungenügend lange Beob¬
achtungsdauer bei manchen Fällen. Nicht
bei allen. Man führt, wie ich bereits an¬
fangs gesagt habe, geheilte Fälle an, die
eine längere Reihe von Jahren beob¬
achtet wurden 2 ) — von Landström über
i IOV 2 Jahre, fast 10 Jahre, über 9 Jahre,
1 über 5 ! /o Jahre, 5 Jahre 2 Monate, 4V 2 Jahre,
über 4 Jahre; von Riedel 9 Jahre, Rezi¬
dive; von Friedheim 4 Jahre; von Torek
4 Jahre, Rezidive; von Bri ner, Branden¬
burg, Lemke u. A.; aber die sind doch
in der Minderzahl. Viel größer ist die
Zahl jener Fälle, die nach der Operation
nur eine kürzere Zeit beobachtet wur¬
den. Während wir von unseren 51 Fällen
25 mehr als 5 Jahre verfolgen konnten,
trifft dies unter den 52 Fällen Land¬
ströms nur für 11 zu. Ich habe oben be¬
reits gezeigt, wie mit der Abnahme der
Beobachtungsdauer das Mortalitätsprozent
sinkt und die ganze Prognose der Krank¬
heit sich ändert.
Legen wir nun die sieghaften Zahlen
Kochers u. A. auf die eine, die vier an¬
geführten Momente aber, speziell die Ge¬
fährlichkeit der Operation auf die andere
l ) Zit. nach Landström S. 133 u. 134.
9 ) Zit. nach Möbius S. 97 und Landström
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492
Die Therapie der Gegenwart 1910.
November
Wagschale, dann ist es klar, daß die Zeit
noch nicht gekommen ist, um entscheiden
zu können, ob bei der Basedowschen
Krankheit der Vorzug der chirurgischen
oder der internen Therapie gehört, und
dies um so weniger, als die bisher publi¬
zierten Statistiken der Internisten nicht ge¬
nügen. Daran ändert auch die Tatsache
nichts, daß auch manche Internisten die
operative Therapie sehr hoch einschätzen.
Nach Möbius 1 ) „ist die Gefahr der Ope¬
ration der einzige vernünftige Einwand;
wenn dies nicht wäre, müßte die Operation
als die eigentliche Therapie der Base¬
dowschen Krankheit anerkannt werden."
Auch nach Krause 2 ) ist es die Chirurgie,
die berufen zu sein scheint, die Therapie
des Basedow zu übernehmen und dieselbe
immer mehr und mehr in eine operative
überzuführen. Andererseits sprechen sich
manche ausgezeichnete Internisten wie z. B.
Strümpell, Oppenheim, H. Macken¬
zie, Buschan u. A. reserviert aus.
Zuerst muß die Lehre von der Prognose
der Basedowschen Krankheit ausgebaut
werden. Die vorliegende Arbeit stellt in -
dieser Hinsicht nur einen schwachen Ver¬
such dar. Die von mir gesammelten 51 Fälle
genügen nicht. Aber ich wollte nur eine
Anregung geben und schließe mit einem
Appell an alle Internisten nach dem Bei¬
spiele der Chirurgen nicht einen einzigen
intern behandelten Fall aus den Augen
zu verlieren. Sowohl in den Anstalten,
als auch in der Privatpraxis sollten Register
der mit schwerer und leichter Basedow¬
scher Krankheit behafteten Patienten an¬
gelegt und diese in regelmäßigen Inter¬
vallen jahrelang revidiert werden und zwar
auch dann, wenn es ihnen gut geht. Auf
diese Weise wird es uns in Zukunft mög¬
lich sein, auf Grund eines größeren Mate¬
rials und einer genügend langen Beobach¬
tungsdauer die Prognose der Basedow sehen
Krankheit zu erhärten und deren Behand¬
lung eine bestimmte Richtung zu geben.
Neue Gesichtspunkte für Entfettungskuren mittels
diätetischer Küche.
Von Dr. Wilhelm Sternberg» Spezialarzt in Berlin.
Ueberblickt man sämtliche Entfettungs¬
kuren, dann fällt die Fülle der Wider¬
sprüche auf. Die eine Kur gebietet an
Nahrungsstoffen und Nahrungsmitteln das
als indiziert, was die andere als kontra¬
indiziert verbietet. Und dies bezieht sich
auf alle Teile der Diät: Viel Eiweiß, viel
Fett, viel Kohlehydrate, viel Wasser, viel
körperliche Arbeit und viel mechanische Be¬
wegung ist ebenso oft als Indikation für
Entfettungskuren geboten, wie für andere
Entfettungsküren als Kontraindikation ver¬
boten worden. Schon aus dieser einen
Tatsache folgt der zwingende Schluß, daß
es grundsätzliche Einseitigkeiten sein
müssen, welche der ganzen wissenschaft¬
lichen Methode der Entfettung zugrunde
liegen. Und das ist auch tatsächlich der
Fall. Bei den Entfettungskuren hat man
lediglich die Theorie der Diät berück¬
sichtigt, die praktische Technik der
Küche aber teilweise vergessen. Daher
kommt es, daß man ausschließlich den ob¬
jektiven Faktor ins Auge faßt. Die sub¬
jektiven Momente sind übersehen worden.
Das ist es, was die gesamte Wissenschaft der
Ernährung versäumt hat, sodaß, wie ich 3 )
wiederholt dargelegt habe, die Physiologie
J ) Loc. cit. S. 99.
2 ) Zit. nach LandstrOm S. 150.
3 ) „Diätetische Kochkunst* 1908, S. VI. — „Die
Küche in der modernen Heilanstalt* 1909, S. XI.
der menschlichen Ernährung auf einem toten
Punkt angelangt ist. Das, was man bloß in
Rechnung zieht, ist der Nahrungs bedarf.
Das Nahrungsbedürfnis wird nicht ge¬
nügend erörtert. Nun sind aber die subjek¬
tiven Empfindungen, welche das Nahrungs¬
bedürfnis darstellen, recht zahlreich und
äußerst wichtig. So kommt es, daß der,
der die physiologischen Grundlagen der
Küche gibt, zugleich die Physiologie der
Gefühle und der Allgemeinempfindungen
begründen wird. Diese subjektiven Ge¬
meingefühle der Ernährung: Sättigungs¬
gefühl, Appetit, Hunger- und Durstgefühl
kommen ganz besonders bei jeder Ent¬
fettung in Betracht.
Die Einwirkungen auf das Sättigungs¬
gefühl, auf Erhaltung des Appetits und auf
Verhütung des Ekelgefühls bedenkt unbe¬
wußt der technische Fachmann der Küche
schon in jedem alltäglichen Fall. Daher
ist die Zusammenstellung und die Reihen¬
folge, welche er den Speisen zur Mahl¬
zeit gibt, allüberall zu allen Zeiten die
nämliche geblieben trotz des lebhaften
Wechsels aller anderen Gepflogenheiten
bei Tische. Albu 1 ) j nimmt freilich den
gegenteiligen Standpunkt ein, indem er
folgendes bemerkt: „Die gleiche Willkür in
der Auswahl und Zusammenstellung der
*) „Einige Fragen der Krankenernährung". Berl.
Klinik 1898, H. 115.
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November
Die Therapie der Gegenwart 1910.
493
Nahrungsmittel und der Mahlzeiten sehen
wir auch in der Ernährung des Einzelnen.
Sie spottet oft geradezu aller Grundsätze
der physiologischen Ernährungslehre.
Welcher Widersinn starrt uns z. ß. aus
jenen im großen und ganzen sich stets
gleich bleibenden Speisekarten entgegen,
wie sie auf den landesüblichen Fest- und
Zweckessen dargeboten zu werden pflegen.
Oer Hummer oder der in Remouladensauce
getauchte Lachs am Anfang, das Trüffel¬
filet und der Geflügel- und Wildbraten in
der Mitte, Eis und Käse am Ende! Wer
hätte je gelehrt, daß diese Speisenfolge
gesundheitsmäßig sei?“ Ich 1 ) habe Albus
Ansicht wiederholt versucht zu widerlegen.
Seit jeher unterscheidet die Küche Vor¬
kost, Entrees, Mittelgang, Mittelgerichte,
Entremets und Nachtisch. Die Eingangs¬
gerichte werden als Vorgerichte der eigent¬
lichen Hauptmahlzeit vorausgeschickt. Der
Nachtisch beschließt die Mahlzeit.
An den Schluß der Mahlzeit setzt die
Kochkunst Süßspeisen, Schokolade, Kaffee.
Schon bei den Alten wurden als Nach¬
tisch, mensa secunda dsdr spat rpdneCai, Süßig¬
keiten und Obst gereicht. Daher stammt
die Redenart „ab ovo usque ad mala“,
welche im übertragenen Sinne gleich¬
bedeutend mit dem Satz ist: „Von Anfang
bis zu Ende“. So heißt es im Horaz 3 ):
„Vom ersten Gericht bis zum Nachtisch“
.ab ovo usque ad mala ....
Bezüglich der Verlegung von Süßspeisen
an den Schluß der Mahlzeit äußert sich
Pawlow 4 ) folgendermaßen: „Der gewöhn¬
liche Schluß der Mahlzeit ist auch vom
physiologischen Standpunkt leicht begreif¬
lich. Das Mittagessen wird gewöhnlich
durch irgend etwas Süßes beschlossen, und
jeder weiß, daß die Süßspeise etwas an¬
genehmes ist. Der Sinn hiervon ist leicht
zu erraten. Die Mahlzeit, die infolge des
lebhaften Nahrungsbedürfnisses mit Freuden
begonnen wurde, muß auch trotz der Be¬
friedigung des Hungers mit einem ange¬
nehmen Eindruck schließen; hierbei darf
jedoch dem Verdauungskanal keine Ar¬
beit aufgebürdet werden, sondern es sollen
lediglich — wie durch den Zucker — die
Geschmacksnerven angenehm gereizt
J ) Ztschr. f. Sinncsphysiologic 1908, S. 342:
„Geschmack und Appetit*. — „Die Küche in der
modernen Heilanstalt* 1909, S. 72. — »Die Alkohol¬
frage im Lichte der modernen Forschung*. Leipzig,
Veit & Co., 1909, S. 31.
*) „Krankenernährung und Krankenküche* 1906,
Stuttgart, F. Enke, S. 13.
3 ) Sat. I, 3, 6, Beurteilung eigener und fremder
Fehler.
4 ) „Die Arbeit der Verdauungsdrüsen*, S. 185.
werden.“ Diese Begründung von Pawlow
habe ich 1 ) bereits zu widerlegen versucht.
Erstlich legen gerade Süßspeisen dem
Verdauungskanal sogar eine große Arbeit
mitunter auf. Dies bedingt der hohe Fett¬
gehalt, den die Küche gerade zu den
Süßspeisen oft verwendet, sodann aber
auch das die Gestalt oder den Körper
gebende Mittel, das Konstituens, das Mehl
Ferner kann man wohl auch nicht annehmen,
daß nur deshalb, weil der Geschmack des
Süßen der angenehme ist, die Kochkunst
aller Zeiten und aller Völker die Süßig¬
keiten an den Schluß der Mahlzeit verlegt.
Denn dann wäre es ja gar nicht zu be¬
greifen, warum die Kochkunst nicht mit
der Darbietung des angenehmen Geschmacks
gleich die Mahlzeit beginnt. Andererseits
vermag doch die Kochkunst in ihrer viel¬
gestaltigen Zubereitung auch alle anderen
Geschmacksqualitäten außer der süßen zu
Sinnesgenüssen zu verwenden. Deshalb
könnte sie auch andere Geschmacksquali¬
täten zum Schluß bieten, wenn sie bloß
den Zweck verfolgte, am Schluß den Ge¬
schmack zu reizen. Diese Gründe scheinen
mir 2 ) Pawlows Behauptung zu entkräften.
Somit dürfte doch noch ein ganz
anderer physiologischer Faktor in Betracht
kommen. Das ist auch tatsächlich der Fall.
Soße Speisen verlegen nämlich den Appetit
und rufen das Sättigungsgefühl hervor. Da¬
bei ist es nicht etwa der Nährwert des
Zuckers, welchem diese Wirkung zukommt.
Denn auch Saccharin führt diesen Sätti¬
gungszustand herbei, ein weiterer Beweis
dafür, daß es lediglich der süße Geschmack
ist, dem diese Wirkung auf den Appetit zu¬
kommt. Das scheint auch Plinius 2 ) schon
angenommen zu haben, sodaß diese An¬
sicht aus dem Altertum mehr physiolo¬
gische Berechtigung hat als die des mo¬
dernen Physiologen. Und das ist um so
wichtiger, als Plinius den Zucker ja noch
gar nicht kannte und außer Honig noch
andere Süßstoffe verwendet, z. B. Gly-
zyrrhicon oder Glycyrrhizon Süßholz, La¬
kritze (XXII, 9u. XI, 54), sowie Glycoside:
Paeonia aut Pentorobos Pfingtblat, Süßblat
(XXV, 4 u. XXVII, 16); Süßholzdorn Adip-
satheon (XXIV, 13), Süßigkeiten Hedys-
mata (XIII, 1), quod oleo constat unguenti
genus. So verdient die Angabe von Pli¬
nius doppelte Beachtung: „Einige Speisen
stillen, wenn man auch nur wenig davon
genießt, Hunger und Durst und erhalten
*) „Kochkunst und ärztliche Kunst", Stuttgart,
F. Enke, 1907, S. 104.
9 ) Ztschr. f. phys. u. diät. Therapie 1907/08,
Bd. 11: „Geschmack und Appetit“, S. 5.
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494
Die Therapie der Gegenwart 1910.
November
zugleich die Kräfte. Dahin gehören Butter
und die Kräuter Hippace, Glycyrrhizon.“
Quaedam rursus exiguo gustu famem ac
sitim sedant conservantque vires ut butyrum
hippace glycyrrhizon. Ja, diese SOßmittel
wurden geradezu als Durststillmittel ge¬
geben, und zwar bei Hydrops. So sagt
Plinius 1 ):
Alii eryngen falso eandem putaverunt
esse et glycyrrhizam, quare fubjungi eam
protinus refert. Et ipsa sine dubio inter
aculeatas est, foliis echinatis, pinguibus,
tactuque gummosis, fruticosa, binüm cubi-
torum altitudine, flore hyacinthi, fructu
pilularum platani magnitudinis. Praestan-
tissima in Cicilia, fecunda Ponto, radice
dulci, et hac tan tum in usu. Capitur ea
Vergiliarum occasu, longa ceu vitium: co-
loris buxei melior, quam nigra: quaeque
lenta, quam quae fragilis. Usus in fub-
dictis decoctae ad tertias, cetero ad mellis
crassitudinem, aliquando et tufae: quo
genere et vulneribus imponitur, et faucium
vitiis omnibus. Item voci utilissimo succo,
sic ut spissatus est, lingae subdito. Item
thoraci, jocineri. Hac diximus sitim fa-
memque sedari Ob id quidam adipson
appellavere eam, et hydropicis dedere, ne
sitirent.
„Andere haben fälschlich geglaubt, daß
das Kraut Erygne dasselbe wie Glycyrrhiza
sei. Deshalb soll sie auch sofort abgehan¬
delt werden. Diese gehört auch zu den
Stachelkräutern ohne Zweifel. Sie hat
stachlige und fette Blätter, die sich wie
Gummi anfahlen. Sie ist strauchartig, zwei
Kubitus hoch, hat eine HyazinthenblQte
und trägt kleine kugelförmige Früchte wie
der Ahornbaum. Am schönsten wächst die
Glycyrrhiza in Cilicien. Die in Pontus
wächst, kommt erst in zweiter Reihe. Die
Wurzel, die immer gebraucht wird, hat
süßen Geschmack. Sie wird nach Unter¬
gang der Vergilien aufgenommen. Sie ist
mit den Wurzeln der Weinstöcke von glei¬
cher Länge und besser, wenn sie Buchs¬
baumfarbe hat und zähe ist, als wenn sie
schwarz ist und leicht bricht. Sie wird
bis auf ein drittel Teil eingekocht. Auch
läßt man das Dekokt wohl bis auf Honig¬
konsistenz einkochen. Zuweilen wird die
Wurzel vorher erst gestoßen. Sie wird
für allerlei Schäden in der Kehle ange¬
wandt. Der Saft ist der Stimme sehr zu¬
träglich und wird zu dem Ende verdickt
auf die Zunge gelegt Auch ist er der
Brust und der Leber dienlich. Ich sagte
schon oben, daß sie das Hunger- und
] ) Nat. hist. lih. XXII, § 11.
Durstgefahl vertreibt. Deswegen nannte
man sie Adipsos, die Durstlose, welche
wider den Durst ist.“
Offenbar meint Plinius die Glycyrrhiza
echinata Lin. Der eingedickte Saft ist
Lakritzensaft, Reglise. Theophrast sagt
diese Wirkung einer Radix scythica nach,
welche man ebenfalls als Süßholzwurzel
anspricht.
Plinius 1 ) kommt sogar nochmals auf
diese seltsame Wirkung von Glycyrrhiza
zurück:
(32) Invenere herbas et universae gen-
tes, Scythiae primam eam, quae Scythice
vocatur circa Maeotim nascens, praedulcem
aliam utilissimamque . .. magna et ea com-
mendatio quod in ore eam habentes sitim
famemque non sentiunt. — (44) 83 (33) Idem
praestat apud eosdem hippace, distincta
quod in equis quoque eundem effectum
habeat, traduntque his duabus herbis Scy-
thas etiam in duodenis dies durare in fame
sitique.
„Scythien entdeckte zuerst die Pflanze»
welche Scythice genannt wird und um
Böotien wächst. Sie ist sehr süß .. . Auch
ist es eine Empfehlung für sie, daß Leute»
welche etwas davon im Munde führen,
weder Hunger noch Durst merken (33).
Das bei den Scythen sogenannte Hippace
leistet dasselbe und hat auch bei Pferden
diese Wirkung. Man sagt, daß die Scythen
vermittels dieser beiden Kräuter bis zum
zwölften Tage Hunger und Durst ertragen.“
Hippace war ein Käse, aus Pferdemilch
zubereitet, wie wir aus Hippocrates und
Dioscorides wissen. Daher mag sich Plinius
hier wohl geirrt haben, zumal er sich ja
ohnehin nicht durch größte Genauigkeit
gerade auszeichnet.
Wegen dieser durststillenden Wirkung
wurde Glycyrrhizon und ebenso auch eine
Art Dattel Adipsos (= a> dtya ohne Durst)
genannt. So hieß ja auch eine Stadt
Adipsos, wie Plinius 3 ) angibt, wegen ihres
Mangels an Wasser „Adipsos“: „Etiam
Gerrhon Aegypti opidum ab aquarum in-
opiam cognomen habet Adipson“. Diese
Wirkung der Süßmittel auf das Durst- und
Sättigungsgefühl ist sowohl in der Pharma¬
kologie wie in der Diätetik vollkommen
übersehen worden aus dem einfachen
Grunde, weil man die subjektiven Gemein¬
gefühle der Ernährung bisher gar nicht
beachtet hat. So findet sich in den Lehr¬
büchern von Schmiedeberg 8 ), Tap-
XXV (8) 43.
a ) Hist. Nat.
8 ) Schmiedeberg, „Grundriß der Arzneimittel¬
lehre". 1888.
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November
Die Therapie der Gegenwart 1910.
495
peiner 1 ), Ewald 2 ), Clötta (Filehne) 3 )
nicht eine einzige Bemerkung über diese
seltsame Wirkung der Dulcia oder des Gly-
cyrrhizins. Die Praxis hingegen hat die
Wirkungen der Süßigkeiten doch schon
geahnt. Es ist physiologisch durchaus
richtig, wie ich 4 ) bereits ausgeführt habe,
wenn die Eltern die Genäschigkeit der
Kinder bei Tisch verhindern und bestrafen,
zumal wenn sie sich bei Beginn der Mahl¬
zeit zeigt. Nietzsches 5 ) Bemerkung be¬
ansprucht demnach durchaus physiologische
Berechtigung: „Wenn wir die Mahlzeit mit
dem Nachtisch beginnen und Süß über Süß
kosten, was Wunders, wenn wir uns den
Magen und selbst den Appetit verderben.
Ist es daher für Kinder und für Appetit¬
lose verboten, mit Süßigkeiten und dem
Nachtisch die Mahlzeit zu beginnen, so ist
diese Umkehr für Entfettungskuren geradezu
geboten. Dabei eignet sich zum Süßmittel
für Fettleibige besonders Mannit, wie ich 6 )
dies angegeben habe, da dieser Süßstoff
zugleich laxiert, oder auch aus demselben
Grunde das schwacher abführende Glycosid
des Süßholzes.
Ein weiteres Unterstützungsmittel für
Diätkuren gegen Adipositas ist die Dar¬
bietung von Kaffee. Auch den Brauch der
Kochkunst, mit dem Genuß von Kaffee die
Mahlzeit zu beschließen, hat man versucht,
wissenschaftlich zu begründen.
Bei der Wichtigkeit, welche die moderne
Diätetik nun einmal auf die sekretorischen
und chemischen Bedingungen der Nahrung
ausschließlich legt, hat man zunächst die
Magensaftsekretion auch zur Erklärung
dieser Tatsache herangezogen. Nachdem
FujitaniJ) den ziffernmäßigen Beweis ge¬
liefert hatte, daß Infuse von Kaffee und
Tee schon in sehr großer Verdünnung
deutlich die Verdauung hemmen, hat Pin-
cussohn 8 ) nachgewiesen, daß der Kaffee
die Magensaftsekretion steigert. Durch
diese Beobachtung soll nach Harnack 9 )
die Tatsache verständlich gemacht sein,
J ) H. Tapp einer, .Lehrbuch der Arzneimittel¬
lehre und Arzneiverordnungslehre 11 . 2. Aufl. Leipzig
1895.
а ) Ewald, „Handb. d. allgem. u. speziellen
Arznei verordnungslehre11. Aufl. Berlin 1887.
3 ) Cloetta, .Lehrb. d. Arzneimittellehre u.
Arzneiverordnungslehre". 4. Aufl. v. Filehne. Frei¬
burg 1887.
4 ) .Geschmack u. Appetit." Ztschr. f. physik.
u. diät. Therap. 1907/08. Bd. XI, S 5.
5 ) .Menschliches, allzu Menschliches."
б ) .Ueber Dulcinol-Schokolade." Dtsch. med.
Wochenschr. 1906, Nr. 42.
7 ) Archives internationales de Phannacodynamie
1905. Bd. 14.
8 ) Münch, med. Wochenschr. 1906, Nr. 26.
9 ) Dtsch. med. Wochenschr. 1907, S. 37.
daß der Genuß von Kaffee nach reichlichen
Mahlzeiten besonders beliebt ist. Damit
wäre dann aber eine und dieselbe Erschei¬
nung, nämlich die Magensaftsekretion, zur
Erklärung für zwei Erscheinungen heran¬
gezogen, und zwar für diametral entgegen¬
gesetzte. Denn einmal hat die Diätetik in
der Human* Medizin nach Pawlows Tier¬
experimenten die Magensaftsekretion als
physiologische Begründung des Reizes
für den Appetit allgemein angesehen, und
nun betrachtet man dieselbe Erscheinung
als physiologische Begründung für den
Reiz, den die Kochkunst zum Schluß der
Mahlzeit ausübt.
Es liegt deshalb auch hier nahe, an die
Beeinflussung des psychischen Allgemein¬
gefühls zu denken, das in den beiden zu¬
ständigen Wissenschaften der Diätetik und
Pharmakologie überhaupt noch nicht in
Rechnung gezogen ist, an das Sättigungs¬
gefühl. Ich 1 ) habe dies bereits eingehend
erörtert. Tatsächlich beeinflußt Kaffee in
so hohem Maße das Sättigungsgefühl wie
Kokain ja das gewöhnliche Schmerzgefühl
und auch das schmerzliche Hungergefühl.
Darin sehe ich auch den Grund für den
allgemeinen Brauch des Kaffeegenusses am
frühen Morgen. Wenn Hueppe 2 ) erklärt,
daß auch für starke Leute der Genuß von
Kaffee am Morgen ganz unsinnig erscheine,
weil er das Gefühl der Nüchternheit zwar
überwinde, aber dem Organismus, der von
der Nacht her ausgeruht und ohne weiteres
arbeitsfähig sei, schon überflüssige Reize
zuführe, oder wenn Albu 3 ) meint, „die
Erfrischung der Nerven am Morgen durch
Kaffee kann durch eine kalte Waschung
viel energischer ersetzt werden“, „die Sitte,
das erste Frühstück mit dem Genuß von
Kaffee oder Tee zu beginnen, läßt sich
physiologisch gar nicht rechtfertigen“, so
haben diese Forscher die Beeinflussung
des Sättigungsgefühls gar nicht in Rech¬
nung gezogen. Unter diesem Gesichts¬
punkt erscheint der Kaffeegenuß doch nicht
so unsinnig.
Den Hunger zu verlegen, ist für den
beruflichen Küchenmeister gar keine so
schwierige Aufgabe. Wer vor der Mahl¬
zeit ein Täßchen Kaffee trinkt, kann sicher
sein, zur Mahlzeit viel weniger Appetit zu
haben. Deshalb verlohnt es sich, diesen
einfachen Kunstgriff systematisch zu Ent-
*) .Kochkunst und Ärztliche Kunst* 1907, Stutt¬
gart, F. Enke, S. 105.
2 ) .Blätter für Volksgesundheitspflege." 1906,
Heft 6.
3 ) .Grundzüge der Ernährungstherapie", 26. Heft
der .Physikal. Therap." v. Marcuse - Strasser
1908, S. 43.
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UNIVERSiTY 0F CALIFORNIA
496
Die Therapie der Gegenwart 1910.
November
fettungskuren anzuwenden, vorausgesetzt,
daß der Genuß von Kaffee nicht aus be¬
sonderen Rücksichten verboten ist, etwa
wegen seiner Wirkung auf das Herz. An¬
dernfalls ist aber das Genußmittel des
Kaffees ein wahres Heilmittel.
Der Kaffee verlegt den Appetit, und
zwar wird das Genußbedürfnis nach Kaffee
selber schon nach einer auffallend kurzen
Zeit und bereits nach einer verhältnismäßig
geringen Menge Kaffee gestillt. Dabei ist
es auffallend, daß diese Wirkung sogar
ziemlich lange anhält. Die Verführung zu
übermäßiger Fortsetzung im Genuß besteht
also beim Kaffee nicht wie beim Alkohol.
Es ist darum eine ganz übertriebene Furcht
von Sanitätsrat Lohmeyer, wenn er dem
jungen Leopold Treibei in Fontanes 1 )
Roman so überaus streng warnt, nie mehr
als eine Tasse Kaffee zu trinken. Eine
Gewöhnung an Kaffee tritt auch nicht so
leicht ein, wie eine solche an Alkohol oder
Morphium sich schnell einstellt.
Man muß beim Sättigungsgefühl wie
beim Appetit zwei verschiedene Zustände
unterscheiden, wie ich 2 ) schon hervor¬
gehoben habe:
1. Sättigung, Appetitlosigkeit oder gar
Ueberdruß der Nahrungsaufnahme desselben
Nahrungsmittels gegenüber,
2. Sättigung, Appetitlosigkeit oder gar
Ueberdruß auch allen anderen Nahrungs¬
mitteln gegenüber.
Der Kaffeegenuß befriedigt auch das
Bedürfnis nach anderen Nahrungsmitteln.
Kaffee verdirbt, verlegt den Appetit, er
„zehrt“, wie der Volksmund sagt. In diesem
Sinne ist Kaffee ein wahres Sparmittel.
Der entgegengesetzte Fall tritt beim
Genuß der alkoholischen Genußmittel eip.
Denn einmal verführen diese Genußmittel
zu übermäßiger Fortsetzung des Genusses.
Sodann machen sie auch Appetit auf an¬
dere Nahrungsmittel.
Ein weiterer Fall steht in dieser Be¬
ziehung dem Kaffee gegenüber in den
Süßigkeiten. Der Genuß der süßen Genuß-
mittel, welche jeder gern nascht, ladet
zur Fortsetzung des Genusses ein. Süßig¬
keiten „schmecken nach mehr“, wie sich
der Volksmund ausdrückt. Die süße Ge¬
schmacksqualität ist allgemein beliebt beim
Menschen und beim Tier. Allein anderer¬
seits sättigen Süßigkeiten oder rufen wenig¬
stens das Sättigungsgefühl hervor und ver¬
legen den Appetit.
Schließlich ist aber noch ein vierter
*) »Frau Jenny Treibei“, 8. Kapitel.
2 ; »Geschmack und Appetit". Ztschr. f. diät. u.
phys. Th. 1907/08, Bd. 11, S. 4/5.
Fall möglich. Bittermiltel wirken unange¬
nehm und können selbst Ekel hervorrufen.
Kein Mensch verlangt etwa fortzufahren
mit ihrem Geschmack. Trotzdem oder viel¬
leicht sogar deswegen machen die Bitter¬
mittel Appetit auf andere Geschmacks¬
qualitäten. Es ist bemerkenswert, daß
diese Wirkung allen Bittermitteln ohne
Ausnahme zukommt. Entstammen doch die
arzneilichen Bittermittel den allerheterogen¬
sten chemischen, physiologischen und phar¬
makologischen Klassen. Daraus geht schon
hervor, daß es lediglich der bittere Ge¬
schmack ist, dem diese Wirkung auf den
Appetit zukommt. Das allein deutet bereits
die hervorragende Einwirkung des Ge¬
schmacks auf den Appetit an.
Es besteht also in beiden Punkten eine
Gegensätzlichkeit zwischen den süßen und
bitteren Geschmacksmitteln. Ebenso be¬
steht in beiden Punkten eine Gegensätz¬
lichkeit in der Wirkung von Kaffee und
Bier auf den Appetit. Zwar schmeckt auch
das wirksame Prinzip im Kaffee, das Kof-
fein-Trimethylxanthin, wie alle Alkaloide,
bitter, wenngleich bloß in geringer Inten¬
sität. Daher müßte man wohl annehmen,
daß dieser bittere Geschmack den Kaffee
wie alle anderen Amara zu einem appetit¬
anregenden Mittel macht. Allein diese
direkte Wirkung des bitteren Geschmacks,
die äußere und örtliche Beeinflussung des
Sinnes mit ihren Reflexen auf den Appetit
wird aufgehoben und noch übertroffen
durch den Antagonismus, welcher die in¬
direkte, innere entfernte Wirkung auf das
Sättigungsgefühl nach der Resorption des
Koffeins bedingt. Wird ja auch der Hun¬
ger offenbar von zweierlei ganz verschie¬
denen entgegengesetzten Zuständen be¬
herrscht. Erregt und beseitigt wird das
Hungergefühl sowohl von äußeren Zu¬
ständen, welche in der Magenschleimhaut
vor sich gehen (Magendusche), wie von
inneren, die im Blut vor sich gehen. Schon
diese eine Tatsache drängt zu der An¬
nahme, daß das Hungergefühl, worauf ich 1 )
schon wiederholt hingewiesen habe, zu den
Kitzelgefühlen zuzuzählen ist. Denn die
Kitzelgefühle sind neben manchen anderen
Besonderheiten noch dadurch ausgezeich¬
net, daß sie gleichermaßen von äußeren
wie von inneren Reizen erregt und be¬
seitigt werden können. So erklärt sich die
sättigende und durstlöschende Wirkung
des Kaffees trotz der Flüssigkeitszuführung,
trotz der diuretischen Wirkung und trotz
des angenehmen leicht bitteren Geschmacks.
*) »Die physiologische Begründung des Hunger¬
gefühls", Ztschr. f. Sinnesphysiolog. 1910.
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November
Die Therapie der Gegenwart 1910.
497
Dem Kaffee steht in pharmakologisch-
diätetischer Wirkung und in seiner sinn¬
physiologischen Eigenschaft auf den Ge¬
schmack die Schokolade sehr nahe. Ist ja
auch das wirksame Prinzip Theobromin-
Diraethylxanthin mit dem Koffein-Trimethyl-
xanthin selbst chemisch sehr eng ver¬
wandt. Der Geschmack ist angenehm und
leicht bitter. Aber auch abgesehen von
dieser Bitterkeit ist der Charakter im Ge*
schmack der Schokolade dem des Kaffees
sehr ähnlich, so daß man Kaffee Schokolade
zum Essen überall anfertigt und sogar
Trinkschokolade mit einer Tasse Kaffee in
den Cafes mischt. Die Örtliche Wirkung
des bitteren Geschmacks der Schokolade
auf den Appetit wird durch die innere re-
sorptive Wirkung aufgewogen, diese ist
sogar überwiegend. So kommt es, daß auch
Schokolade auf das Sättigungsgefühl wirkt.
Eine Umfrage bei vielen in Schokolade¬
fabriken beschäftigten Herren und Mädchen,
welche Schokolade sehr gern essen, ergab
folgendes Resultat: Uebereinstimmend war
das Urteil, daß Schokolade jedenfalls nicht
Appetit macht. Weder auf andere Nah¬
rungsmittel wirkt sie appetitanregend, noch
verlockt sie zu besonderer Fortsetzung des¬
selben Genusses, wenigstens nicht für
längere Zeit. Im Gegenteil, so gab man
allgemein an, verlegt der Genuß von auch
nur geringen Quantitäten Schokolade den
Appetit auf die spätere Mahlzeit. Ueber-
einstimmend lautete das Urteil regelmäßig,
daß Schokolade sättigt, dermaßen, daß.
wenn man etwa zur Unzeit, z. B. kurz vor.
dem Mittagbrot, Schokolade gegessen oder
auch nur gekostet hat, zu gewerblichen
Zwecken „abgeschmeckt“ hat, man sicher
sein kann, sich den Appetit auf das Mittag¬
essen verdorben zu haben. Einstimmig
war die Antwort, daß die Tatsache in den
fachgewerblichen Kreisen längst allgemein
bekannt sei. Ebenso ausnahmslos lautete
die regelmäßige Antwort, daß dagegen der
Genuß von Bier die gegensätzliche Wir¬
kung habe. Alle die Fragen wurden völlig
unbefangen ohne irgendwelche Beeinflussung
gestellt. Die Befragten hatten natürlich
nicht die geringste Ahnung, weshalb ich
diese Fragen an sie richtete. Die von
j ihnen angegebenen Tatsachen erschienen
ihnen so selbstverständlich und auch so all-
| gemein bekannt, daß sie schon über die
I bloße Anfrage verwundert erschienen und
! an den Ernst der Fragen zuerst gar nicht
recht glauben wollten mitunter.
Es verlohnt sich, diese Tatsachen syste¬
matisch und methodisch für Entfettungs-
1 kuren heranzuziehen. Diese Maßnahmen
| im Verein mit meinen früheren Ratschlägen
! der Verwendung von Anästheticis, um durch
| die Einwirkung auf die Zunge, wie ich 1 )
| bereits angegeben habe, den Appetit herab-
| zusetzen, und durch ihre Einwirkung auf
I die Magenschleimhaut das Hungergefühl 3 )
I zu vermindern, bilden meine neuen Gesichts-
I punkte für Entfettungskuren, welche ich
| den bisherigen, kürzlich von Bergmann 3 )
| zusammengefaßten hinzufüge.
Prinzipien der Behandlung von Hernien.
Von F. Karewski-Berlin.
Die Lehre von der Behandlung der
Darmbrüche gehört zu den wenigen Ka¬
piteln der Medizin, welche nach feststehen¬
den Grundsätzen geregelt sind. Es gibt
keine Differenz der Ansichten daiüber, wie
im allgemeinen mit Personen zu verfahren
ist, welche Träger einer freien oder einer
immobilen Hernie sind, oder infolge einer
Brucheinklemmung in Lebensgefahr schwe¬
ben. Aber es wäre ein Irrtum, daraus zu
schließen, daß es für den Arzt eine ein¬
fache Aufgabe ist, im Einzelfalle seine
Pflicht gegenüber dem Klienten ausreichend
zu erfüllen. Wer allerdings glauben würde,
seine Schuldigkeit getan zu haben, wenn
er bei Konstatierung eines Bruchleidens
dem Patienten die Adresse eines guten
Bandagisten, oder falls ein Eingriff vorteil¬
hafter erscheint, einen vertrauenswürdigen
Operateur empfiehlt, hätte schnelle Arbeit
getan. In dem Wesen des gewissenhaften
Arztes jedoch liegt es, bei jeder Ausübung
| seiner Kunst die Individualität zu berück¬
sichtigen, nicht zu schematisieren. Diese
Art heilbringender Tätigkeit bedeutet zwar
1 eine Erschwerung, zugleich indessen die
| wahre Freude im Beruf, und sie ist vor
| allen Dingen die Grundlage des Erfolges,
j Auch die wirksame Behandlung
von Hernien ist abhängig davon,
daß der Arzt alle Verhältnisse des
jeweiligen Falles nicht nur in bezug
auf die Form und Oertlichkeit des
Leidens, sondern auch die äuße¬
ren Lebensbedingungen des davon
Befallenen in Betracht zieht und
nach diesen seine Indikationsstel-
i l ) »Geschmack und Appetit - , Ztschr. f. Sinnes-
i physiologie 1908, Bd. 43. S. 332.
2 ) „Anästhetika als Genußmittel und Arzneimittel
fflr Diätkuren - , MQnch. med. Wochschr. 1910.
I 3 ) „Neuere Gesichtspunkte bei Entfettungskuren - ,
I Berl. klin Woch. 1910, Nr. 14.
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498
Die Therapie der Gegenwart 1910.
November
lung richtet. Das lokale Uebel ist in
seiner Bedeutung verschiedenartig zu be¬
urteilen. Nicht bei allen Menschen er¬
fordert die gleiche anatomische Abnormität
dieselbe Behandlungsmethode und nicht
immer ist das äußerlich gleichartig erschei¬
nende Krankheitsbild von analoger Be¬
schaffenheit. Lebensalter, Konstitution, so¬
ziale Lage der Patienten schaffen ebenso*
viele Varietäten, wie Oertlichkeit, Inhalt,
sekundäre Veränderungen der Hernie. Es
ist nicht Sache des Geschmacks oder
des Temperaments in dem Sinne,
daß der eine mehr der konservativen,
der andere mehr der blutigen The¬
rapie zuneigt, sondern Aufgabe
gründlicher Beobachtung und aus¬
reichender Kenntnisse darüber zu
entscheiden, ob Bruchband oder
Bruchmesser in Aktion zu treten
haben.
Eröffnen schon diese Tatsachen dem
Praktiker eine weite und abwechslungs¬
reiche Perspektive für seine Betätigung, so
hat er überdies viel Gelegenheit, seinen
diagnostischen Scharfsinn zu beweisen und
sozusagen prophylaktisch zu wirken, durch
Erkennung von Hernien, die in der Ent¬
stehung begriffen, noch nicht die Kardinal¬
symptome, Geschwulst und Reponibilität
zeigen, und von solchen, die an ungewöhn¬
lichen Stellen auftreten. Beanspruchen
letztere wegen der Schwierigkeit ihrer Er¬
kennung besonderes Interesse, so ver¬
dienen auch die Anfänge der Ingui¬
nal-, Crural- und medianen Bauch¬
brüche wegen der Leichtigkeit diagnosti¬
scher Fehler Beachtung. Bei Mangel äußerer
Erscheinungen täuschen sie durch allerlei
quälende, von den gezerrten inneren Ab¬
dominalorganen herrührende Symptome
Krankheitsbilder vor, die so lange mit
vielerlei medikamentösen oder physikali¬
schen Methoden vergeblich behandelt wer¬
den, bis die sorgfältige und kritische Ex¬
ploration an der Nachgiebigkeit einer Bruch¬
pforte oder mit der Entdeckung eines kleinen
subkutanen Tumors das Krankheitsbild auf¬
klärt, wenn nicht gar eine — bei rechtzei¬
tiger Erkennung vermeidbar gewesene —
Inkarzeration plötzlich herausgepreßter Ein¬
geweide eine überaus ernste Situation
schafft. Wenngleich diese Vorkommnisse
nicht eigentlich in den Rahmen unserer
Betrachtung liegen, erinnern wir wegen
ihrer Wichtigkeit an die Verwechslung
von Appendizitis mit Hernia inguinalis in-
cipiens, von Magengeschwür oder Gallen¬
steinkolik mit kleinsten Hernien der linea
alba, von neuralgischen oder hysterischen
Zuständen mit unentwickelter Hernia cru-
ralis. Verschwindend an Zahl gegenüber
diesen sehr gewöhnlichen Vorkommnissen
sind die darum nicht minder wichtigen,
aber gerade wegen ihrer Seltenheit meist
übersehenen Ausstülpungen des Bauch¬
felles am Foramen obturatorium und
ischiadicum, ferner die lumbalen und
perinealen, welche gleichfalls oft lange
Zeit unbestimmte und schwer zu erklärende
Beschwerden vermitteln, auf deren Ursache
aber ein gewissenhafter und auf der Höhe
wissenschaftlicher Ausbildung stehender
Arzt unter solchen Umständen auch nach
der Richtung fahnden muß, daß er die
Möglichkeit eines Bruches erwägt.
In all diesen Fällen bedeutet seine Auf¬
findung nicht nur die Möglichkeit einer
ätiologischen Therapie, da mit der kunst¬
gerechten Versorgung der Hernie die augen¬
blicklichen Klagen der Kranken beseitigt
werden, sie hat den noch viel größeren
Wert, daß der Arzt es dann in der Hand
hat, seine Patienten vor lebensgefährlichen
Zufällen zu schützen.
Wenn also auch im wesentlichen
von einer Behandlung der Hernien
erst die Rede sein kann, sobald eine
Geschwulstbildung den davon Be¬
fallenen auf sein Leiden aufmerksam
gemacht und zum Arzt geführt hat,
so haben wir doch stets im Auge zu
behalten, daß eine gewisse Zahl von
Gesundheitsstörungen im Bereich der
Abdominalorgane und der Becken¬
nerven für die klinisch nicht ohne
weiteres ein Substrat gefunden wer¬
den kann, auf die sogenannten „An¬
lagen“ zu einem Bruch oder auf
kleine noch im Entstehen begriffene
durch dicke Gewebsschichten ver¬
borgene Hernien zurückzuführen
sind.
Die Gelegenheiten dazu sind groß an
Zahl, nämlich überall wo das Bauchfell
über „schwache“ Stellen der Abdominal¬
wand hinwegzieht. Lassen wir die durch
krankhafte Veränderungen in der Musku¬
latur, also Eiterungen, Lähmungen, Traumen,
entstandenen außer Rechnung, so hat auch
der gesunde Mensch einmal an jedem
Punkte, wo aus dem Bauchraum sich Ge¬
fäße, Nerven und Bandapparate nach außen
begeben, in der Regel freilich gut ver¬
schlossene OefFnungen, alsdann durch die
anatomische Anordnung der Muskelwand
bedingte widerstandsunfähige Gebiete, durch
welche das Bauchfell sich ausstülpen kann.
Von ihnen sind der Inguinal- und Krural-
kanal und die Nabelnarbe praktisch die
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November
Die Therapie der Gegenwart 1910.
499
wichtigsten. Aber die Muskelbedeckung
der Lumbalgegend und des Beckenbodens
präsentiert Spalten, die Vereinigung der
Musculi recti in der Linea alba leicht dehn¬
bare Partien. An all diesen Orten kann
durch einmalige vehemente oder öfter sich
wiederholende Steigerung des Binnen¬
druckes im Bauche ein Darmvorfall be¬
günstigt werden. Es ist erwiesen, daß bei
prädisponierten, aber scheinbar bis dahin
gesunden Individuen infolger sehr starker
Anstrengung der Bauchpresse in nicht sel¬
tenen Fällen ganz plötzlich ein Austritt
von Eingeweiden durch eine Bruchpforte
zustande kommen kann, und daß bei Leuten
mit Schwierigkeiten der Stuhl- und Harn¬
entleerung sich häufig Brüche ausbilden.
Wenn diese Behauptung mangels statisti¬
scher Nachweise nicht unbestritten ge¬
blieben ist, so besteht sie darum nicht
minder zu Recht. Die Untersuchungen von
Hans Schmidt und mir, die ich seither
unzählige Male sich bestätigen gesehen
habe, haben einen unzweifelhaften Zu¬
sammenhang zwischen Phimose und Hernie
kleiner Knaben ergeben. Bei mit Prostata¬
hypertrophie behafteten alten Männern
entwickelt sich infolge des vermehrten
Pressens beim Urinieren, die an sich sel¬
tenere direkte Leistenhernie, der Geburts¬
akt vergrößert kleine Nabelbrüche oder
bringt latente zur Erscheinung. Stenosen |
in den unteren Darmabschnitten, welche
bei der Defäkation übermäßiges Pressen
erfordern, können an den verschiedensten
Bauchabteilen Hernien hervorbringen. Das
wird nun um so leichter der Fall sein, je
dünner und mangelhafter ausgebildet die
Muskulatur in der Umgebung der Lücken
sind, je weniger sie also dem auf sie aus¬
geübten Druck Stand halten können.
Die Schlußfolgerung ist eine gegebene:
Besteht schon bei allen Menschen
Ursache die Darmtätigkeit zu regeln,
Hindernisse für die Kot- und Urin¬
entleerung zu beseitigen, so ist das
besonders der Fall bei denjenigen,
welche Symptome einer Bruchanlage
oder einen fertigen Bruch haben.
Man verhüte bei ihnen übermäßige An¬
strengung der Bauchpresse und halte sie
fern von Beschäftigungen, welche die Bauch¬
muskulatur erheblich in Anspruch nehmen.
Da aber auf der anderen Seite die Bruch¬
anlage durch nichts besser bekämpft wird,
als durch Stärkung der Bauchwand, so an¬
empfehle man alle Uebungen, welche in
vernünftigem Maße ausgeführt, die Musku¬
latur zu kräftigen geeignet sind. Rumpf-
heben und -beugen, gymnastisches Turnen
aller Art, Körperbewegungen jeden Genres,
so weit sie in das Gebiet orthopädischer
Uebungen fallen, sind am Platze — andere
wie Springen, Uebungen am Reck, Spiele,
die Körpererschütterungen bedingen, ver¬
biete man.
Besitzen wir demnach in diätetisch¬
physikalischen Maßnahmen einen Heilfaktor
gegen beginnende Brüche, so erheischt die
Vorsicht weitere Vorbeugungsmittel.
Denn auch die gewissenhafteste Innehal¬
tung ärztlicher Verbote garantiert keine
Sicherheit gegen alle Ereignisse und auch
der bedächtigste Mensch kann nicht so auf
der Hut sein, daß er jederzeit auf einen
ihm kaum zum Bewußtsein kommenden
körperlichen Fehler Rücksicht nimmt. Und
gerade Hernien mit kleinen Bruchpforten
bieten bei plötzlichem Austritt von Ein¬
geweiden die größte Möglichkeit zur In¬
karzeration. Der Reisende, welcher einen
Koffer vom Gepäckrast ins Kupee langt,
der Vater, der ein ihm entgegenspringen¬
des Kind hochhebt, die Hausfrau, welche
einen zur Erde gefallenen Gegenstand an
Ort und Stelle zurückbringt, schwebt, so¬
fern eine Bruchanlage vorhanden ist, in
dieser Gefahr. Deswegen bedarf jede er¬
weiterte Bruchpforte mehr noch jede, wenn
auch noch so kleine ausgebildete Hernie
des Schutzes durch ein geeignetes Bruch¬
band. Und es ist Aufgabe des Arztes
die sachgemäße Anfertigung der Bandage
ebenso wie deren korrekte Applikation
sorgfältig zu beaufsichtigen.
Es ist ein großer, aber leider noch
häufig vorkommender Fehler, daß
die Auswahl und die Vorschriften
für die Benutzung des Bruchbands
dem Bandagisten überlassen werden.
So simpel wie die Sache zu sein scheint,
ist sie durchaus nicht. Es ist im Gegen¬
teil geradezu erstaunlich, welche Monstra
von Bruchbändern, und welche Verkehrt¬
heiten bei ihrer Benutzung man zu sehen
bekommt. Wenn auch in vielen Fällen die
fabrikmäßig hergestellten Instrumente aus¬
reichen, so sollte doch zur unbedingten
Forderung erhoben werden, daß jedes ein¬
zelne der Individualität angepaßt wird, und
daß jeder Bruchkranke genau in der An¬
legung seines Schutzmittels unterwiesen
wird.
Wie aber soll eine gute Bruchbandage
beschaffen sein? Sie muß eine Pelotte
haben, die, aus weichem, elastischem und
resistentem Material gefertigt, gerade groß
genug ist, um den Defekt in der Bauch¬
wand zu decken, in ihrer Form und Polste¬
rung sich der Gestalt der Bruchpforte
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500
Die Therapie der Gegenwart 1910.
November
und ihrer Umgebung anschmiegt. Die
Feder muß der Gestaltung des Körpers
entsprechend gebogen sein, damit sie
keinen unnötigen und lästigen Druck aus*
Qbt, sie darf keine stärkere Kompression
der Pelotte bewirken, als gerade der
Pressung austretender Eingeweide ent¬
spricht, auch ohne Hilfsriemen soll die
Bandage festen Halt haben.
Die Unzahl verschiedener Modelle und
der täglich noch sich häufenden Neuerfin-
dungen auf diesem Gebiet verdankt ihre
Herkunft den Schwierigkeiten, dieser For¬
derung gerecht zu werden. Aber der Haupt¬
grund liegt weniger an der mangelhaften
Brauchbarkeit der vorhandenen Formen als
an der geringen Intelligenz mit der sie
für den einzelnen Fall ausgenutzt werden.
Unrichtige Form der Pelotte sucht man
durch kräftigere Federn auszugleichen, zu
gewaltsam einwirkenden Federdruck durch
dickere Polsterung. Falsche Berechnung
der Bruchöfthung fahrt zur Vergiößerung
der Deckplatte, Unbequemlichkeiten, welche
von diesen hervorgerufen werden, veran¬
lassen die Patienten, auf eigene Faust
Unterlagen einzufagen, oder die Applika¬
tionsstelle zu wechseln, und damit den
Druck auf eine verkehrte Oertlichkeit zu
bringen. Vielfach wird zu wenig Akkura¬
tesse auf die Reposition der vorgefallencn
Eingeweide ausgeQbt, oder ein irreponibler
Teil mit dem Bruchband sozusagen ver¬
steckt.
Die Konsequenzen falsch kon¬
struierter Bruchbänder sind leicht zu
abersehen. Entweder wird die Hernie
nicht ordentlich zurackgehalten, schlüpft
bei geeigneter Gelegenheit unter der Ban¬
dage hervor, so den Zweck der ganzen
Anordnung verhindernd, oder die unge¬
hörige Gewalteinwirkung erzeugt Reizung
nicht nur der Haut, sondern auch des
Bruches selbst und fahrt zu adhäsiven Pro¬
zessen in seinem noch partiell vorliegen¬
den Inhalt, oder Druck auf bereits irre-
ponible Eingeweide erzeugt unerträgliche
Beschwerden, oder aber die unförmige und
zu heftig federnde Pelotte bringt Atrophie
der Bedeckungen hervor, vergrößert das
Leiden, anstatt es zu verringern.
Was den kurativen Effekt betrifft, so
muß man überhaupt an der Tatsache fest-
halten, daß ein Bruchband mit ganz ver¬
schwindenden Ausnahmen niemals ein
Heil-, sondern nur ein Schutzmittel dar¬
stellt. Wir können seiner, so lange wir
konservative Therapie üben wollen, nicht
entbehren, aber wir müssen uns bewußt
sein, daß seine Wirkung auch als Prohi-
bitiv gegen Einklemmung gewaltsam vor¬
gedrängter Teile eine beschränkte ist, daß
sie abhängig ist von der gleichzeitigen Be¬
folgung der oben genannten anderen Vor¬
schriften für Bruchkranke und von dem
guten Sitz des Instrumentes. Am Nabel
und in der Linea alba ist es überaus
schwer eine geeignete Bandage zu kon¬
struieren, weil diese Region keine Fixie¬
rung gestattet, bei vielen Kranken wider¬
spricht zu große Fettansammlung oder zu
erhebliche Magerkeit seiner Benutzung,
bei keinem Menschen kann am Perineum
am Foramen obturatorium und ischiadicum
ein brauchbares Bruchband angebracht
werden. Hierzu kommt, daß seine Appli¬
kation auch an anderen Stellen nur dann
erlaubt ist, wenn der Bruchinhalt völlig in
die Bauchhöhle zurückgebracht werden
kann, was durchaus nicht immer der Fall
ist. Sobald verändertes Netz oder am
Bruchsack ar gewachsene Eingeweide nicht
mehr zurückschlüpfen können, ist die An¬
legung eines Bruchbandes kontraindiziert.
In Ausnahmefällen kann allerdings die Ver-
lötung des vorgefallenen Teiles mit der
Bruchpforte wohl so fest sein, daß sie an
sich eine solide, dem Andrängen der
Bauchpresse festen Widerstand leistende
Pelotte darstellt, meist aber hindert dieses
Verhältnis einen guten Verschluß und er¬
laubt ein Herauszerren von Darm oder
Omentum neben der Adhärenz. Man kann
sich dann hin und wieder wohl damit be¬
helfen, daß bei kleiner irreduzierbarer
Bruchgeschwulst eine konkave Pelotte ge¬
wählt wird, die nach Reposition der be¬
weglichen Teile in ihrer Höhlung die
fixierten aufnimmt, und mit ihren aufge-
polsterten Rändern das Ganze bedeckt.
Schließlich kann auch die Bruchpforte
so groß, die Eventration so umfangreich
werden, daß kein mechanisches Zurück¬
halten möglich bleibt. Man muß sich häufig
damit begnügen von einem Suspensorium
oder ähnlichen beutelförmigen Vorrich¬
tungen die Last des Vorfalls tragen zu
lassen, aber einen Schutz gegen Einklem¬
mung gewinnt man natürlich damit nicht.
Aus alledem geht hervor, daß ein
Nutzen der Bruchbänder nur bei
sorgfätiger ärztlicher Beobachtung
zu erwarten ist, daß sie an sich ein
oft recht zweifelhaftes Palliativ¬
mittel darstellen und vielfach gar
nicht in Benutzung genommen wer¬
den können. Es kann indessen nicht ge¬
leugnet werden, daß bei vernünftiger Bruch¬
bandbehandlung viele nicht zu umfang¬
reiche Hernien jugendlicher Individuen
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Die Therapie der Gegenwart 1910.
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sonst korrektes Verhalten der Patienten
vorausgesetzt, zur Dauerheilung gebracht
werden, daß viele andere Bruchleidende
ihr Leben lang durch die mechanische Zu¬
rückhaltung der Eingeweide von allen
schädlichen Folgen ihrer Mißbildung be¬
wahrt bleiben. Namentlich Kranke der
ersten Lebensjahre, bei denen das Wachs¬
tum ein physiologisches Bestreben die
fehlerhafte Anlage auszugleichen mit sich
bringt, die Kräftigung der Muskulatur, die
Verdickung des Fettpolsters zum Verschluß
der Bruchpforte beitragen, haben die gün¬
stigsten Chancen. Gerade bei ihnen ist
aber peinliche Fernhaltung aller Schädlich¬
keiten dringendes Erfordernis. Es wäre
müßig, diese Schädlichkeiten und ihre Be¬
seitigung zu erörtern, denn sie sind gleich- |
bedeutend mit den Vorschriften für die i
Hygiene des Kindesalters, gute Hautpflege, |
vernunftgemäße Ernährung, Förderung der
gesamten Entwicklung, und mit der The- j
rapie von Störungen des Respirations- und
des Magendarmtraktus. I
Schwieriger zu beantworten ist die
Frage, wie lange, bis zu welchem
Lebensjahre man Kinder ein Bruch¬
band tragen lassen soll. Es können
nämlich die äußeren Erscheinungen einer
Hernie völlig verschwunden, aber deren
anatomische Grundlagen noch vorhanden
sein. Es mag also so lange keine Bruch¬
geschwulst auftreten, wie keine Körper¬
anstrengungen gemacht werden, während
doch in dem unvorhergesehenen Wieder¬
austritt von Eingeweiden die Gefahr der
Einklemmung liegt. Eine präzise Vorschrift
läßt sich nicht geben. Bei dem einen Fall
kann die Verödung der Bruchpforte 4 bis
6 Wochen, bei dem anderen ebenso viele
Monate, bei vielen anderen mehrere Jahre
erfordern. Man hilft sich am besten so,
daß man nicht eher erlaubt, auf die Ban¬
dage zu verzichten, als bis jede Andeutung
einer Darmvorwölbung auch bei Husten
und Schreien verschwunden ist, daß man
auch dann noch täglich durch die wohl in¬
struierten Eltern den dauernden guten Zu¬
stand kontrollieren läßt, und sobald auch
nur die Vermutung einer neuen Anschwel¬
lung sich bemerkbar macht, das Bruch¬
band wieder anlegt. Nicht gar so selten
hat eine ängstliche Mutter Recht mit ihren
Angaben, die durch den ärztlichen Unter¬
suchungsbefund widerlegt zu sein scheinen,
weil oft nur ganz vorübergehend die Er¬
scheinung bemerkt wird.
Immerhin sieht man, daß der Wunsch
nach radikal wirkenden Methoden ein
sehr berechtigter ist Sie intendieren eine
feste Obliteration der Bruchpforte, derge¬
stalt, daß kein Bauchinhalt mehr heraus¬
kommen kann.
ln das Gebiet historischer Kuriositäten
gehören die vielfachen Versuche durch
subkutane Verletzungen den Bruch¬
sack zur Entzündung und Verödung
zu bringen. Zu gleichem Zweck hat
man mit mehr oder weniger Glück die Ein-
Spritzung entzündungserregender
und feste Narben bildender Mittel aus¬
geführt. Velpeau, Jobert u. A. brachten
Jodtinktur in den Bruchsack mit nicht
größerem Erfolg und mit nicht geringeren
Nachteilen, als man bei Hydrozelen damit
erzielt hat. Luton umgab den Sack mit
starken Salzlösungen, Schwalbe irri¬
tierte die Bruchpfeiler durch Alkohol,
Lannelongue erzeugte sklerotisches Ge¬
webe mit Chlorzink, ln den letzten
Jahren wurde auch mit Paraffininjek¬
tionen nach Gersuny ein Verschluß der
Bruchpforte intendiert. Derartige Depöts
stellen natürlich nichts anderes dar wie
eine subkutane Bruchpelotte, sie haben so¬
gar dieselbe Eigenschaft wie Bandagen,
nämlich die, daß sie sich durch Wanderung
des Paraffins verschieben können.
Die wirksamste Art scheint die der In-
jektion von Alkohol zu sein, aber auch
sie hat den Nachteil, daß sie sehr viel Zeit
beansprucht, weil die Einspritzung vor¬
herige und bleibende Reposition des In¬
halts voraussetzt, und deshalb nach jeder
Applikation 2—3 Wochen Bettruhe erfor¬
derlich ist, ferner in der Regel das Ver¬
fahren mehrere Male wiederholt werden
muß, und endlich nicht immer der asep¬
tische Verlauf garantiert ist, sondern Ver¬
eiterungen sich ereignen.
Nichtsdestoweniger kann bei jugend¬
lichen Individuen diese Behandlungsart
versucht werden, sofern bei ihnen die
Scheu vor einer Operation oder irgend ein
ernsthafter Grund gegen diese spricht.
Denn das Idealverfahren der radi¬
kalen Beseitigung ist und bleibt
blutiges Eingreifen. Seine Gefahren
sind in Händen eines geschickten Opera¬
teurs und unter selbstverständlicher Be¬
herrschung moderner Technik nicht
größer als die subkutaner Einspritzungen.
Die Einfachheit der neuen Methoden,
die Sicherheit der Dauerheilung, die
kurze Zeit des Krankenlagers, die von
Jahr zu Jahr sich verringernde Zahl der
Mißerfolge machen es begreiflich, daß die
Mehrzahl aller Chirurgen, das Messer als
einzige rationelle Therapie der Hernien
betrachtet, und mit Ausnahme kleiner Kin-
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Gck gle
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UNIVERSiTY 0F CALIFORNIA
502
Die Therapie der Gegenwart 1910.
November
der alle Bruchleidenden als Gegenstand
seiner Betätigung ansieht, daß viele auch
diese Eximierung nicht anerkennen. Die
von Czerny inaugurierte, von Mac Ewen,
Bassini, Kocher, Graser und Anderen
ausgebildete Radikaloperation freier und
immobiler Hernien ist eine eigene Wissen¬
schaft geworden, basiert auf der feinsten
Kenntnis anatomischer Verhältnisse, auf
der künstlerischen Beherrschung chirurgi¬
scher Manipulationen und auf der Wucht
statistischer Zahlen. Sie stellt dem Lei¬
denden volle funktionelle Heilung in Aus¬
sicht und befreit ihn mit einem Schlage
von allen Bedenklichkeiten seiner lästigen
Anlage. Sie eröffnet dem einen Beruf
wählenden Menschen die Möglichkeit, jede
Tätigkeit, die ihm sonst verschlossen war,
auszusuchen und dem im Kampf ums Da¬
sein durch das fatale Leiden unterliegen¬
den, seine volle Arbeitsfähigkeit wieder zu
erlangen. Sie hat aus diesem Grunde einen
hohen sozialen Wert
Es kann deswegen nicht Wunder neh¬
men, daß die Radikaloperation der Hernien
zu den häufigsten und mit den glücklichsten
Ausgängenfausgeführten blutigen Eingriffen
gehört. Aber nie htsdestoweniger soll
der Arzt nicht kritiklos jeden Bruch¬
leidenden dem Messer überweisen.
Auch die allerbesten Erfahrungen werden
durch gelegentliche Fehlschläge, sei es in
dem unmittelbaren Effekt der Operation,
sei es in nicht ganz vermeidbaren Rezi¬
diven hin und wieder zu Schanden gemacht.
Deshalb tut eine weise Vorsicht nach zwei
Richtungen not. Man soll Patienten,
die voraussichtlich auf konserva¬
tivem Wege geheilt werden können,
zunächst abwartend behandeln, und
andere, die in ihrem Allgemeinzu¬
stand Kontraindikationen bieten,
überhaupt von der Operation aus¬
schließen.
Wie wir schon erwähnten, kann bei
Kindern und jugendlichen Individuen ge¬
eignetes Verhalten eine Verödung der
Bruchforte herbeiführen. Bei ihnen würde
also nur eine bedingte Anzeige zur
Radikaloperation anzuerkennen sein, deren
Grundlagen im wesentlichen Undurchführ¬
barkeit der anderen Methode abgibt.
Das Alter ist an sich gleichgültig,
selbst Kinder in den ersten Lebensmonaten
werden durch sachgemäßen, d. h., mög¬
lichst unkomplizierten blutigen Verschluß
der Bruchpforte wenig gefährdet. Die ein¬
zige Bedenklichkeit liegt in Erhaltung der
Asepsis. Da man aber bei ihnen, wie ich
gezeigt habe, mit dem Abbinden der mög¬
lichst hoch abgetragenen Peritonealaus¬
stülpung, der man allenfalls einige Suturen
an den Bruchpfeilern hinzutügt, auskommt,
also eigentlich nichts weiter als eine ober¬
flächliche fest vernähte Wunde setzt, so
genügt ein häufiger bei jeder Durchnässung
vorzunehmender Verbandwechsel, um In¬
fektionen zu umgehen. Es sind denn auch
in der Kasuistik nur ganz vereinzelte
Todesfälle zu verzeichnen gewesen und
nur sehr wenig Rezidive beobachtet wor¬
den. Das was die Vis medicatrix naturae
bei Kindern an sich zu leisten imstande
ist, wird ihr erleichtert durch Schaffung
günstiger Verhältnisse, d. h. durch Ent¬
fernung der Bauchfellausstülpung. Die ge¬
ringe Zahl von Mißerfolgen betrifft Kinder,
die schon durch ihren Zustand sehr be¬
droht waren und wird reichlich aufgewogen
durch die große Menge von durch den
radikalen Eingriff verhinderten Bruchein¬
klemmungen, die gerade kleine Kinder aufs
äußerste gefährden. OhneaufdemStand-
punkt zu stehen, daß jede Hernie so
früh wie möglich operiert werden
soll, betrachten wir vielmehr als
maßgebende Indikation, die ver¬
gebliche oder behinderte Anwendung
der mechanisch hygienischen Heil¬
faktoren.
Wenn also die Anbringung einer Ban¬
dage auf Schwierigkeiten stößt, weil sie
nicht gut sitzt, oder wegen Größe der
Bruchpforte oder Adhäsionen im Bruchsack
nicht genügend zurückhält, wegen hart¬
näckiger Ekzeme nicht angelegt werden
kann, wenn sie durch ihren Druck Peri¬
tonitiden im Bruchsack verursacht, infolge
von Katarrhen der Bronchien den bei
Hustenstößen andrängenden Eingeweiden
nicht genug Widerstand entgegensetzt, so
beendige man die aussichtslose Behandlung.
Insbesondere zwingen wiederholte, wenn
auch leicht reponierbare Inkarzerationen
absolut zur Operation, und man kann
sicher sein, daß kunstgerechte, hohe, feste
Abbindung der Serosa selbst bei Pertussis
durch die Bauchpresse nicht gesprengt
wird. Jenseits des zweiten Lebensjahres
und bis zur Pubertät kann die immer¬
währende Rücksichtnahme auf Vermeidung
körperlicher Anstrengungen die Entwicklung
der jungen Wesen derart hemmen, daß
diesem Umstande in gleicher Weise Rech¬
nung getragen werden muß, über die Zeit
der Geschlechtsreife hinaus ist nur noch so
selten auf spontane Genesung zu rechnen,
daß schon die Wahrscheinlichkeit, den
Kranken dauernd mit Bruchband leben
lassen und ihm mancherlei Beschränkungen
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November
Die Therapie der Gegenwart 1910.
503
in der Berufswahl und im Genüsse sport¬
licher Uebungen auflegen zu müssen, die
strenge Berechtigung zur endgültigen Be¬
seitigung des Fehlers gibt.
Ebenso wie für das Kindesalter, aner¬
kennen wir für Individuen jenseits des
60. Lebensjahres ausschließlich eine
relative Zuständigkeit des Eingriffs.
So lange das Bruchband seine Schuldigkeit
tut, bleibe man bei seiner Anwendung.
Durch richtige Bandagen, gleichviel aus
welcher Ursache nicht retenierbare Even¬
trationen müssen indessen auch dann noch
beseitigt werden, wenn die Verhältnisse
eine wirkliche Dauerheilung infolge atro¬
phischer Bauchdecken, oder allzu umfang¬
reicher Oeffnungen unwahrscheinlich er¬
scheinen lassen, — vornehmlich wegen der
schlechten Prognose eventueller Inkarze¬
rationen, dann aber auch wegen der oft
recht hochgradigen Beschwerden, durch
welche die Träger derartiger Hernien ge¬
quält oder in ihrem Lebensgenuß beein¬
trächtigt werden. Nicht selten kann schon
die Garantie, daß nach der Operation ein
Bruchband seine Schuldigkeit tun wird, zu
dieser drängen, man übt also zwar keine
radikale aber eine in ihrem Effekt sicher
wirkende palliative Therapie. Man hat
überdies die große Chance in den meisten
Fällen in der Tat permanente Hilfe zu
bringen.
Die Kontraindikationen sind sehr
gering einzuschätzen, nachdem viele frühere
Bedenken hinfällig geworden sind. Man
kann fast jede Bruchoperation unter lokaler
Anästhesie ausführen, braucht also die Nar¬
kose bei Herzkranken und Artenosklero¬
tikern nicht mehr zu fürchten. Man hat ge¬
lernt, nach Laparatomien den Patienten
schon wenige Tage nach dem Eingriff die
Bettruhe aufgeben lassen zu können, hat
daher keine hypostatischen Pneumonien
und Verschlechterung chronischer Bronchi¬
tiden zu befürchten. Aseptisch behandelte
Diabetiker leichten Grades laufen keine er¬
heblich größere Gefahr als Gesunde. Aber
man darf in dieser Beziehung auch nicht
leichtsinnig sein. Höhere Grade von
Arteriosklerose, zumal wenn neph-
ritische Prozesse konkurrieren,
schwer Zuckerkranke, mehr noch
wenn sie Azetonurie oder gar Azet-
essigsäure ausscheiden, Bronchitiker
mit Dyspnoe, Leute mit Angina pec¬
toris, marantische Individuen, kurz
alle Menschen, bei denen man auch
andere Operationen nur unter dem
Gesichtspunkt der Indicatio vitalis
unternimmt, überlasse man lieber der
Eventualität einer Brucheinklem¬
mung, die ja schlimmstenfalls noch
immer durch die Herniotomie be¬
kämpft werden kann.
Die Radikaloperation kann man
als einen Vorschlag der Zweck¬
mäßigkeit, die Herniotomie muß man
als ein Gebot der Notwendigkeit be¬
zeichnen. Jede Einklemmung von Darm¬
teilen bedroht das Leben, gleichviel an
welchen Körperstellen, in welchem Lebens¬
alter und in welcher Gesundheitsverfassung
sie zustande kommt. Sie muß so schnell
wie möglich beseitigt werden. Wenn man
frühzeitig, d. h. unmittelbar nach ihrer Ent¬
stehung zu einer Inkarzeration gerufen wird,
wird man selbstverständlich versuchen, das
vorgefallene Organ manuell zu re-
ponieren, man soll aber nicht allzu viel
Vertrauen auf das Gelingen der bekannten
Manöver setzen. Insbesondere ist es fehler¬
haft zu glauben, daß man durch anämi-
sierende (Eisblase, Aufträufeln von Aether)
Mittel so viel Vorteil erzielen kann, wie
die bei ihrer Benutzung vergeudete Zeit
Schaden bringen mag. Ist man nicht durch
vorsichtige, knetende, drückende, schie¬
bende Manipulationen, die man zur Ent¬
spannung der Bauchdecken und behufs
Entleerung des unteren Bauchraumes in
Beckenhochlagerung vornehmen mag, zum
Ziel gelangt, so reüssiert man manches
Mal durch Wiederholung der Handgriffe
im warmen Bade. War auch das erfolglos,
so mag man bei sonst Gesunden die Nar¬
kose zu Hilfe nehmen. Man hüte sich aber
vor gewaltsamen Einwirkungen, weil man
stark geblähte Darmschlingen zum Platzen
bringen, oder bei gehörigem Kraftaufwand
den ganzen inkarzerierten Bruch in die
Bauchhöhle zurückdrängen kann. (Schein -
reduktion, Reposition en bloc.) In letz¬
terem Falle beseitigt man wohl die äußere
Erscheinung der Abnormität, aber nicht
diese selbst. In beiden Fällen verringert
man nicht, sondern steigert die Gefahr ins
Ungemessene. Geben bei dem nicht be¬
täubten Patienten dessen Schmerzäuße¬
rungen und seine Widerstandsbewegungen
einen gewissen Maßstab für die Grenze
der erlaubten Bemühungen ab, so fällt
dieses Signal nach Anwendung* der An¬
ästhesierung fort. Wenn also auch die
Narkose unzweifelhaft sehr häufig die Re¬
position dann noch ermöglicht, wenn sie
vorher nicht durchführbar war, so birgt sie
den Nachteil in sich, daß der Ungeübte
Schädigungen verursachen kann, die das
Gegenteil einer rationellen ärztlichen Tätig¬
keit bedeuten. Da überdies flem vergeh
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504
Die Therapie der Gegenwart 1910.
November
liehen Versuch ohne Operation auszu-
kommen die Herniotomie auf dem Fuße
folgen muß, so sollte man nur nach
gehöriger Vorbereitung eines even¬
tuellen sofortigen blutigen Eingriffs
die Narkose einleiten, und immer dann,
wenn der Allgemeinzustand Chloroform¬
oder Aetherinhalation verbietet, lieber sofort
unter lokaler Anästhesierung mit dem Messer
Vorgehen. Schließt man an die Herni¬
otomie alsbald den kunstgerechten Ver¬
schluß der Bruchpforte an, verbindet also
den lebensrettenden mit dem vorbeugenden
Eingrift, so leistet man seinen Klienten
viel mehr, als man mit dem zwar konser¬
vativen jedoch nur scheinbar milderen Ver¬
fahren erreichen kann.
Hat nun gar die Inkarzeration schon
einige Zeit bestanden, sind vielleicht bereits
Zeichen von Entzündung im Bruch¬
sack vorhanden, so verbietet sich jedes
Unternehmen unblutiger Behandlung. Denn
die Lebensfähigkeit des Darmes hat ge¬
litten und auch wenig kraftvolles Drücken
und Pressen kann ihn zum Bersten bringen,
während die schonende Behandlung, die
ihm bei der Herniotomie zu Teil wird,
selbst bei ziemlich vorgeschrittenen Zirku¬
lationsstörungen nach Herstellung des nor¬
malen Kreislaufs, welche die Durchtrennung
des einschnürenden Ringes vermittelt, eine
schnelle und vollkommene Erholung seiner
Wände bewerkstelligt. Vor allen Dingen
aber gestattet die direkte Besichtigung des
Organs ein Urteil darüber, ob es über¬
haupt erlaubt ist, dasselbe in die Bauch¬
höhle zu reponieren, oder ob man je nach
Lage der Verhältnisse die befreite Schlinge
vor der Bauchhöhle aseptisch versorgt
liegen lassen kann oder sofort resezieren
resp. durch oberhalb der geschädigten
Stelle ausgeführte Darmanastomose aus¬
schalten muß.
Man sieht, daß die Herniotomie
immer da das rationelle Verfahren
ist, wo die unblutige Reposition nicht
ohne weiteres gelingt. Das trifft auch
dann zu, wenn die Inkarzeration nicht un¬
mittelbar bedrohliche Zustände erzeugt hat,
also nicht sofort Symptome von Kollaps,
Ileus odey gar Peritonitis aufereten. Wenn
auch die meisten Menschen bei einer Bruch¬
einklemmung sofort das Gefühl einer
schweren Erkrankung haben, so bieten doch
viele andere zunächst nicht das Bild ge¬
fahrdrohender Symptome. Die Umschnü¬
rung des herausgepreßten Darmes kann un¬
vollkommen sein, Zirkulationsstörungen ent¬
wickeln sich erst nach gemessener Zeit,
die Schädigung durch den gestauten und
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sich zersetzenden Inhalt tritt erst allmählich
ein. Außer Schmerz und Spannungsgefühl
in dem Bruch hat der Kranke anfangs über
nichts zu klagen, sein Allgemeingefühl
bleibt ungestört. Insbesondere kann die
Darmpassage scheinbar ungehindert sein,
sei es, daß aus den Abschnitten unterhalb
einer Dickdarminkarzeration noch die Reste
entleert werden, sei es, daß nicht das ganze
Darmrohr, sondern nur ein Teil seiner
Wand abgeknickt wurde, also in der Tat
die Durchgängigkeit des Lumens erhalten
bleibt. In solchen Fällen pflegt auch die
Bruchgeschwulst sehr klein zu sein, so
klein, daß sie dem oberflächlichen Unter¬
sucher, namentlich dann, wenn der Patient
nichts von seiner vorher symptomenlos ge¬
tragenen Mißbildung weiß, entweder ganz
entgeht oder als eine harmlose Drüsen¬
schwellung imponiert. Gründliche Ab¬
tastung der Bruchpforte zeigt allerdings,
daß der Sitz des Tumors nicht so ganz
der Annahme einer Adenitis entspricht und
daß er einen für solche nicht erklärlichen
Fortsatz zur Bauchhöhle präsentiert. Und
der gewissenhafte Arzt wird im Zweifels¬
falle besser tun, eine vielleicht durch Anti-
phlogistika zu beseitigende Drüse zu ex-
stirpieren, als eine Hernie unbehandelt zu
lassen, die innerhalb kurzer Zeit gangrä-
neszieren würde. Vielfach kann freilich
eine Abklemmung von Netz ohne Vorfall
von Eingeweiden die Ursache der Gering¬
fügigkeit der klinischen Zeichen sein, und
es brauchen dann keine ernsten Folgen
sich zu zeigen, sondern unter Nachlaß der
durch die anfängliche Behinderung der
Zirkulation hervorgerufenen Schwellung
kommt Spontanheilung zustande. Da aber
auch im Netz der Gefäß Verlegung Gangrän
mit all ihren Konsequenzen für die Nach¬
bargewebe folgen kann, würde auch unter
solchen Umständen die Herniotomie zum
mindesten keinen Schaden stiften.
Im übrigen bedarf es wohl keines
Wortes, daß man bei allen Leuten,
die aus voller Gesundheit mit hef¬
tigem Schmerz im Abdomen, Er¬
brechen, Meteorismus erkranken,
unter Ausschluß anderer Ursachen
alle Bruchpforten kontrollieren soll,
selbst dann, wenn aus früherer Zeit
nichts lür eine Hernie spricht. Tor¬
pide, ängstliche und unüberlegte Personen
lokalisieren den Sitz ihrer Leiden falsch,
andere haben zwar gelegentlich eine kleine
Geschwulst bemerkt, ihr aber keine Be¬
deutung beigelegt, oder sich eigene fehler¬
hafte Vorstellungen von ihrem Charakter
gemacht. Die objektive Beurteilung darf
Original fram
UNIVERSITY 0F CALIFORNIA
November
Die Therapie der Gegenwart 1910.
505
allein maßgebend sein und wird davor
schützen, später in einer Kotphlegmone
und daran sich anschließender Peritonitis
die wahre Ursache einer vermeintlichen
„Dyspepsie“ zu einer Zeit zu erkennen, wo
die vorher sicher wirkende Hilfe des Messers
nur noch als letztes, oft aussichtsloses
Mittel herangezogen wird.
Eine Gegenanzeige für die Herniotomie
gibt es überhaupt nicht und die Einschrän¬
kungen, welche wir für die Radikalbehand¬
lung freier Hernien anerkennen, kommen
für die blutige Beseitigung der einge¬
klemmten gar nicht in Frage. Im Gegen¬
teil dürften die Allgemeinerkrankungen,
welche dort zur Vorsicht in bezug auf
allzu aktives Vorgehen mahnen, hier gegen
jedes Zögern sprechen. Denn eine In¬
karzeration, die nicht alsbald aufgehoben
wird, befördert all die bedenklichen Folgen
des argen Zwischenfalls, Thrombose und
Embolie bei Leuten mit Zirkulations¬
störungen, Brand bei Diabetikern usw. Die
Herniotomie ist eine „lebensrettende“ Ma߬
nahme xar egorfv, der gegenüber alle
anderen Rücksichten schwinden müssen.
So viel über die Prinzipien der Behand¬
lung von Hernien in summarischen Sätzen.
Sie haben eine allgemeine und fast aus¬
nahmslose Gültigkeit. Aber nichtsdesto¬
weniger bedarf es auch für eine fehlerfreie
Therapie der Kenntnis gewisser Besonder¬
heiten der einzelnen Bruchformen.
Beginnen wir mit der alltäglichsten, der
indirekten Leistenhernie. Sie ist der
Typus des Bruchleidens kleiner Knaben,
die häufigste und harmloseste, aus dem
intrauterinen Leben übernommene Ent¬
wicklungsstörung, charakterisiert durch das
Offenbleiben des mit dem Descensus testi-
culi sich nach außen begebenden Processus
vaginalis Peritonei. Oft schon unmittelbar
post partum bemerkt, tritt sie ebenso
häufig erst nach mehr oder weniger langer
Zeit in den ersten Lebensmonaten zu Tage.
Sie ist das dankbarste Objekt der Bruch¬
bandbehandlung, vorausgesetzt, daß sie so
frühzeitig wie möglich, das heißt sofort
nachdem sie bemerkt wurde, derselben
unterworfen wird. Leider ist der Irrtum
weit verbreitet, daß man kleine Kinder,
besonders wenn sie atrophisch sind, an
Ekzem oder Intertrigo leiden, nicht mit
einer Bandage quälen soll — und doch
erzielt diese falsche Humanität in den
meisten Fällen nichts weiter, als eine Ver¬
größerung des Leidens und die Wahr¬
scheinlichkeit später benötigter operativer
Eingriffe. Denn nur selten verbietet sich
der Gebrauch eines gegen Durchnässung
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vermittels Kautschuküberzug geschützten
Bruchbandes, sofern die genügende Sorg¬
falt für die bekannte Behandlung der ge¬
sunden oder kranken Haut aufgewendet
wird. Ist das aber dennoch der Fall, weil
die Bandagenbehandlung trotz aller Vor¬
sicht nicht vertragen wird, so drängt ge¬
rade dieses mißliche Verhältnis zur Ra¬
dikalbehandlung, besonders wenn wieder¬
holte Einklemmengen vorgekommen sind.
Sie ist ebenso wenig zu fürchten, wie die
schleunige Herniotomie nach vergeblichen
Repositionsmanövern. Wir haben bei
zahlreichen Eingriffen der einen wie der
anderen Art bei Säuglingen bis zum Alter
von 14 Tagen herab nie einen Todesfall
zu beklagen gehabt, trotzdem die über¬
wiegende Menge nur ambulant behandelt
wurde.
Es sei gestattet, auf zwei oft vorkom¬
mende diagnostische Verwechslungen hin¬
zuweisen, die nachteilige Heilversuche ver¬
anlassen können. Der eine betrifft die
Ectopia testis inguinalis, welche an
dem Fehlen des Hodens im Skrotum bei
einiger Aufmerksamkeit bemerkt werden
müßte, aber doch recht häufig als Leisten¬
hernie angesehen wird. Ein gewöhnliches
Bruchband reponiert den Hoden in die
Bauchhöhle, verursacht also das Gegenteil
von dem, was Not tut, während eine mit
vorderem halbmondförmigem Ausschnitt
versehene Pelotte angebracht werden
kann, deren Konkavität den Hoden nach
unten drängt und gleichzeitig die häufig
diese Störung begleitende Hernie zurück¬
hält. Seltener und schwieriger in ihrer
Wesenheit zu erkennen, ist die Hydro-
cele bilocularis, die alle Charaktere des
freien Bruches zeigen kann, aber sich da¬
durch unterscheidet, daß erstens die
Bruchgeschwulst ohne Gurren reponiert
werden kann, dann bei guter Betastung in
der Beckenhöhle oberhalb des inneren
Leistenrings zu fühlen ist, und zweitens
bei Fortnahme des die Bruchpforte ver¬
schließenden Fingers der Tumor momentan
in seiner ganzen Größe widererscheint
Ein Bruchband kann selbstverständlich das
Leiden in keinem Falle erfolgreich be¬
kämpfen, die Operation beseitigt es durch
Total exstirpation dauernd, und erlaubt
eventuell Verschluß gleichzeitiger Bruch-
anlage.
Bei kleinen Mädchen, wie bekanntlich
bei Frauen überhaupt, ist der Leistenbruch
relativ selten, enthält dann hin und wieder
das Ovarium als Bruchinhalt, kann aber
fast ausnahmslos durch Bracherium so gut
zurückgehalten werden, daß Spontanheilung
64
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
5C6
Die Therapie der Gegenwart 1910.
November
erfolgt. Geschieht das jedoch nicht, so
wird die Hernie adhärent. Die jüngsten
weiblichen Patienten, die ich aus dieser
Ursache operiert habe, standen ira Alter
von 5 respektive 7 Jahren und bei beiden
war der Eierstock fest mit der Bruchhülle
verlötet.
Jenseits der ersten Lebensjahre wird,
abgesehen von Varietäten, die den Prak¬
tiker wenig interessieren können, die Be¬
handlung der Inguinalhernie so von den
oben dargestellten Grundsätzen beherrscht,
daß sie keiner weiteren Erörterung bedarf.
Bei schwer retenierbaren Leistenbrüchen,
besonders aber bei solchen mit großer
Pforte und bei ins Skrotum hinabreichen¬
den, sollte man keine überflüssigen Ver¬
suche mit konservativer Therapie machen,
es sei denn, daß diese wegen großer
Eventration als Vorbereitungskur nützlich
erscheint. Noch weniger wenn Adhärenzen
im Bruchsack vorhanden sind. Hingegen
können reine Netzbrüche, bei denen knol¬
lige Verdickung des Omentum die Reposi¬
tion hindern, gar nicht so selten in die
Bauchöhle zurückgebracht werden, wenn
man genügend lange Zeit Bettruhe inne-
halten läßt, die meist sehr fetten Menschen
auf Entziehungsdiät setzt, gleichzeitig stark
abführen läßt und durch sachgemäß aus¬
geführte Massage das vorgefallene ver¬
dickte Netz verkleinert. Derartige Kuren
sind harte Geduldsproben für Patienten
und Arzt, empfehlen sich aber bei Leuten,
die man nicht überflüssiger Weise der Ge¬
fahr eines blutigen Eingriffs aussetzen mag.
Die vornehmlich dem weiblichen Ge¬
schlecht eigentümliche Cruralhernie ist
ein Stiefkind der Bandagenbehandlung,
indem sie in ganz hervorstechender Weise
mit falsch sitzenden Bruchbändern ver¬
sehen wird. Die Feder der möglichst
kleinen Pelotte muß nach abwärts geknickt
und auf die Fläche gebogen sein, damit
sie korrekt, bequem und sicher die Bruch¬
pforte verschließt.
Der Schenkelbruch gibt weniger drin¬
gende Gelegenheit zur Radikaloperation,
weil er frühzeitig erkannt, auf konser¬
vativem Wege gut versorgt werden kann.
Um so häufiger erlebt man Einklemmun¬
gen, da die ßruchgeschwulst lange Zeit
sehr klein bleibt, geringe Belästigung
verursacht, und deswegen von den Pa¬
tienten so lange nicht beachtet wird,
bis die stürmische Erkrankung durch In¬
karzeration schleunigste ärztliche Inter¬
vention erfordert. Auch dann noch können
die örtlichen Erscheinungen im Vergleich
zu den Störungen des Allgemeinbefindens
und der aufgehobenen Peristaltik so wenig
die Aufmerksamkeit erregen, daß folgen¬
schwere Irrtümer Vorkommen, die dazu
mahnen, nicht nur die Bruchpforte bei dem
geringsten Verdacht einer Brucheinklem¬
mung zu observieren, sondern auch sich
bewußt zu sein, daß schon mäßige Schmerz¬
haftigkeit und nicht sehr auffallende
Intumeszenz in der Fossa vasorum crur.
ausreichende Merkmale für die Annahme
eines ausgetretenen Schenkelbruchs sind.
Auf der andern Seite ist die blutige
Beseitigung kleiner freier Schenkelhernien
eine so einfache Sache, ereignen sich
Rezidive so selten, setzen vernachlässigte
und deswegen umfangreich gewordene, der
Technik so erhebliche Schwierigkeiten ent¬
gegen, daß man gut täte, auch bei geringen
Beschwerden dazu zu raten. Im Crural-
kanal immobil gewordene Eingeweidevor¬
fälle, namentlich Netzknoten, können aller¬
dings die Bruchpforte so fest verschließen,
daß außer durch den Bestand einer kleinen
Geschwulst die Patienten durch nichts be¬
lästigt werden. Dann würde der Umstand,
ob beim Husten oder Pressen der Tumor
sich vergrößert, über die Frage der Be-
nötigung eines Bruchbandes mit hohler
Pelotte, oder wenn dieses, wie sehr oft,
nicht vertragen wird, über die Indikation
zur Radikaloperation zu entscheiden haben.
Am häufigsten von allen Bruchformen
kommt wohl dem Praktiker die Hernia
umbilicalis zu Gesicht, weil die Disposi¬
tion dazu bei kleinen Kindern beiderlei
Geschlechts infolge mangelhafter Oblitera¬
tion des Nabelringes immer vorhanden ist,
und alle Noxen, welche die Entwicklung
begünstigen, wie Obstipation, Katarrhe der
Bronchien, Phimose zu den allergewöhn¬
lichsten Säuglingskrankheiten gehören. Des¬
halb sind alle diese Afiektionen auch aus
prophylaktischen Rücksichten ernsthaft zu
bekämpfen, und die geringste Vorwölbung
des Nabels bedarf guter Versorgung. Man
konstruiert sich selbst aus gepolsterter
Pappe eine Pelotte und befestigt diese
unter Vermeidung zu festen Zuges mittels
zirkulärer Heftpflasterstreifen, welche sich
am Rücken über der Wirbelsäule kreuzen
müssen. Einfaches Aufkleben der Pelotte,
wie auch immer vorgenommen, ist unzu¬
reichend, weil an der Bauchdecke kein
fixer Punkt vorhanden ist, welcher der
Bauchpresse ausreichend Widerstand leisten
kann. Aus gleichem Grunde sind auch die
verschiedenartigen in den Handel gebrach¬
ten Nabelverbände unzweckmäßig. Mit
gutem Kautschukheftpflaster gemachte Ver¬
bände hindern nicht das Baden der Kinder.
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Die Therapie der Gegenwart 1910.
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Nicht zu verwechseln mit dieser ge¬
wöhnlichen Form ist der immer kongenital
vorhandene Nabelschnurbruch. Er hat
entweder den Charakter einer Entwick¬
lungsstörung, indem während des intra¬
uterinen Lebens die Eingeweide ihre Lage
im Anfangsteil der Nabelschnur beibehalten
und den Verschluß der Bauchhöhle ver¬
hindert haben, sodaß eine dauernde Ver¬
lagerung der Intestina nach außen bestehen
blieb — oder aber es ist nach rechtzeiti¬
ger Verwachsung der Bauchwand Perito¬
neum in die Insertion der Nabelschnur
vorgetrieben worden, es hat sich also vor
der Geburt das ereignet, was sonst nach
Abfall der Nabelschnur die Hernie hervor¬
ruft. Bei größeren Nabelschnurbrachen
ist ihre Verkennung schon bei der Geburt
nicht gut möglich. Da die mangelhaft
zirkulierten Bruchhüllen sehr schnell bran¬
dig werden, und eine tötliche Peritonitis
die unausbleibliche Folge ist, so kann nur
die alsbaldige blutige Reposition der Ein¬
geweide und Naht des Bauchdefektes das
Leben erhalten, wenngleich auch dann die
Mortalität nicht gering ist.
Weniger umfangreiche Nabelschnur¬
brache, welche als kleine gestielte oder
zylindrische Geschwülste in ihrer äußeren
Erscheinung sich wenig von der erwor¬
benen Umbilikalhernie unterscheiden, können
zur Spontanheilung unter gewöhnlichen
Maßnahmen gelangen. Ihre Hauptgefahr
besteht darin, daß sie bei der Abnabelung
nicht bemerkt werden, und der Geburts¬
helfer oder die Hebamme bei der Abbin¬
dung des Funiculus umbilicalis den vor¬
liegenden Darmteil wandständig mit um¬
schnürt. Dann ergibt sich eine Darm¬
fistel. Sie kann sich als nur kleiner
hochroter, dem Nabelgranulom ähnlicher
Pfropf präsentieren, der keine Tendenz zur
Vernarbung zeigt, wird aber bei sorgfältiger
Beobachtung an der überreichen und fä-
kulanten Sekretion erkannt, gleich den
durch persistierende Meckelsche Diver¬
tikel entstandenen Nabelfisteln. Eine dritte
Art ist die Nabelurachusfistel, welche
ebenfalls dem Granulom auf einer kleinen
Hernie gleich sieht, und sich durch Aus¬
tritt von Urintropfen verrät. Aetzungen
können diese Zustände beseitigen, oft aber
erfordern sie operative Hilfe.
Wenn die Nabelhernien der Kinder
trotz Behandlung mit gutem Heftpflaster¬
verband und Fernhaltung von Schädlich¬
keiten die ersten Lebensjahre überdauern,
so trägt entweder Adhäsion eines Darm¬
teiles oder allzu große Bruchöffnung Schuld,
und dann tritt die Operation in ihr Recht.
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Sollen Bandagen benutzt werden, weil
Heftpflaster nicht vertragen wird, oder weil
die häufige Wiederholung der Verbände
lästig wird, so sorge man dafür, daß die
Pelotte eine flach konvexe Gestalt habe,
und nicht etwa konisch oder kugelig ge¬
formt ist, damit nicht der vorspringende
Zapfen die Ränder der Bruchpforte aus¬
einandertreibe, also anstatt sie zu ver¬
schließen, sie erweitere. Sehr schwierig
ist es, die Pelotte an der richtigen Stelle
festzuhalten, am besten gelingt es noch
durch je 2 von beiden Seiten verlaufende
elastische Riemen, die sich hinten auf einer
Rückenplatte treffen und eine Falte der
Bauchhaut zwischen sich nehmen. Auch
breite, aus porösem Gummigewebe herge¬
stellte Gurte, die sich der Bauchwölbung
genau anschmiegen, können zum Ziel
führen. Oft aber drängt gerade die Un¬
möglichkeit eine geeignete Bandage zu kon¬
struieren im Einzelfalle zur Operation. Man
ermüde zwar nicht mit immer neuen
Versuchen konservativer Therapie,
weil diese oft noch nach Jahren er¬
folgreich ist, so lange keine ernsteren
Gesundheitsschädigungen durch den
Bruch bedingt sind, man lasse aber
aus dem Kindesalter keinen Nabel¬
bruch in die Zeit der Pubertät mit
hinübernehmen. Denn hat die Bandagen¬
behandlung schon bei Kindern ihre Grenzen,
so ist das in viel höherem Maße bei Er¬
wachsenen der Fall. Es gehört geradezu
zu den Ausnahmen, daß bei ihnen ein
Nabelbruchband an der korrekten Stelle
sitzt. Das ist auch leicht verständlich, wenn
man bedenkt, daß jede Atembewegung,
jede Veränderung in der Stellung des Kör¬
pers, jeder Wechsel in der Darmfüllung
Variationen des Bauchumfanges verursacht,
denen die Bandage sich anpassen soll.
Dazu gesellt sich der mißliche Umstand,
daß bei vielen Personen mit Nabelbruch
durch eine abnorme Fettentwicklung und
hochgradigen Meteorismus die Gestalt des
Bauches kugelig oder faßförmig geworden
ist, andere ausgesprochenen Hängebauch
haben. Man kann sich hin und wieder
durch Kombination des Bracheriums mit
einer Leibbinde behelfen, aber nur allzu
oft erschöpft sich an der gestellten Auf¬
gabe die größeste Intelligenz des Arztes,
die höchste Geschicklichkeit des Banda¬
gisten und die frömmste Geduld des
Kranken.
Das aber ist um so schlimmer, als die
Nabelbrüche der Erwachsenen eine aus¬
gesprochene Tendenz haben, sich zu ver¬
größern, das Ueberhautfettgewebe der
64 *
Original fram
UNIVERSUM 0F CALIFORNIA
508
Die Therapie der Gegenwart 1910.
November
Bruchhalle zum Schwund zu bringen und
dicht unter der Haut kolossale buchtige
Höhlen zu bilden, in die hinein durch eine
mehr oder weniger große Pforte sich aus¬
gedehnte Dannteile mit dem Netz begeben.
Es können sich geradezu monströse Tu¬
moren entwickeln, die dem Bauch wie
riesige Pilze aufsitzend oder sackförmig
herabhängend, von papierdünner Haut
überzogen sind. Störungen der Peristaltik,
Kotstauungen, entzündliche Vorgänge kon¬
kurrieren, um allerschwerste Gesundheits¬
störungen und gefahrdrohende Zustände
herbeizuführen. Die Bedeckungen ulze-
rieren, die Hernie wird immobil. Ein¬
klemmungen folgen auf Einklemmungen,
die zwar durch, wenn auch nur partielle,
Reposition behoben werden können, aber
wenn dies nicht gelingt, die schlimmste
Art der inkarzerierten Hernie dem Messer
zu nicht selten vergeblichen Eingriffen über¬
liefern. Ja selbst mühselige, wenn auch
korrekt ausgeführte, unblutige Reduktion
kann unter ungünstigen Bedingungen be¬
denkliche Folgen haben, sei es, daß durch
den vorhergegangenen Shock infolge Ein¬
schnürung hochgelegener Darmabschnitte
die Herzkraft bereits erlahmte und durch
das in Narkose vorgenommene Repositions¬
manöver völlig erschöpft wird, sei es,
daß die heftige Zirkulationsstörung im Darm
unberechnet schnelle Gangrän herbeiführte,
sodaß brandige Teile in die Bauchhöhle
zurückgebracht werden.
Gegen diese üblen Zufälle kann zwar
konsequent durchgeführte Regelung der
Diät und Kotentleerung viel ausrichten,
aber es ist Gewissenspflicht des
Arztes, darauf zu dringen, daß jede
Nabelhernie, die einen gewissen,
durch Bandagen nicht mehr sicher
zu beherrschenden Umfang ange¬
nommen hat, radikal entfernt werde,
und das um so mehr, als nicht allzu große,
nicht zu häufig von Inflammationen heim¬
gesuchte Umbilikalhernien auf äußerst ein¬
fache und ungefährliche Weise rezidivfrei
geheilt werden können, ausgedehntere
Eventrationen, mit vielfachen Verwachsun¬
gen komplizierte, in multilokuläre Bruch¬
säcke eingewanderte, nicht nur die Technik
ins Ungemessene erschweren, sondern auch
den Dauererfolg in Frage stellen.
Harmloserer Natur sind die Hernien
der Linea alba, namentlich die der Ober¬
bauchgegend (Herniae epigastricae). Sie
enthalten meist kleine Netzzipfel, hin und
wieder auch in sie hineingetriebene diver¬
tikelartige Ausstülpungen von Magen, Dick¬
oder Dünndarm, oder sind sogar nur keinen
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Inhalt bergende, mit dem subserösen Fett
herausgezogene Bauchfell - Ausstülpungen.
Die durch sie hervorgerufenen Zerrungen
der Bauchorgane erzeugen höchst unan¬
genehme kolikartige Sensationen, Ohn¬
machtsanfälle, Oppressionen, Herzklopfen,
Erbrechen, Stuhlverstopfung, während In¬
karzerationen recht selten sein dürften. Die
meist sehr geringfügige Bruchgeschwulst
kann auch aufmerksamen Beobachtern leicht
entgehen, sodaß diagnostische Irrtümer an
der Tagesordnung sind und die Kranken
oft jahrelang vergeblich „spezialistisch“
kuriert werden. Hat man aber den Be-
j stand dieser Bruchart festgestellt, so zögere
man nicht mit der operativen Behandlung,
da eine Bandage, die sich nicht verschiebt,
an den bezüglichen Punkten überhaupt
kaum hergestellt werden kann, und die Pa¬
tienten schließlich unter den quälenden
Symptomen arg leiden. Allerdings kann
kunstvolle Heftpflasterein Wicklung hin und
wieder passagere Besserung bewirken.
Von den selteneren Bruchformen ist die
am leichtesten erkennbare die lumbale,
welche entweder am oberen oder am unte¬
ren Lendendreieck außen vom Latiss. dorsi
zutage tritt und leicht durch Bandagen zu¬
rückgehalten werden kann. Man hat sie mit
Kongestionsabszessen und Lipomen ver¬
wechselt, kann solche Fehler aber durch
i Beachtung der Perkussionsphänomene und
i der Reponibilität des Tumors wohl ver-
i meiden. Ebenso und auf gleiche Weise
dürfte die an der Vorderwand des Rektum
oder bei der Frau am hinteren Umfang der
großen Schamlippe zutage tretenden Her-
| nia perinealis, die meist mit recht er¬
heblichen Beschwerden verläuft, der Er¬
kennung immer zugänglich sein, wenn man
sich ihres Vorkommens erinnert. Wenn¬
gleich Bandagen keine große Erleichterung
bringen, weil sie wirksam nicht anzubringen
I sind, muß man auch die Operation nur auf
diejenigen Fälle beschränken, bei denen
die Bruchpforten (Erweiterung des Dou¬
glas sehen Raumes) nicht allzu umfangreich
, sind, weil andernfalls der plastische Ver¬
schluß unsicher ist. Oft muß man sich mit
dem Gebrauch von Suspensorien behelfen
oder mit Apparaten, die denen bei Schei¬
den- und Mastdarm vor fall benutzten nach¬
gebildet sind.
Zu den diffizilsten Aufgaben der Dia¬
gnostik und demgemäß kunstgerechter Be¬
handlung gehört die rechtzeitige Erkennung
der Hernia obturatoria. Sie kann in
der Regel erst festgestellt werden, wenn
sie inkarzeriert ist und wird auch dann
noch oft verkannt. Sie liegt so verborgen.
Original from
UNIVERSUM 0F CALIFORNIA
November
Die Therapie der Gegenwart 1910.
509
ihre Erscheinungen sind zo unbestimmte !
und wechselnde, daß es bisher nur ganz |
ausnahmsweise gelungen ist, sie in freiem >
Zustande zu diagnostizieren. Immerhin
beachte man, daß sie in der überwiegen¬
den Mehrzahl bei älteren Frauen beobachtet
wird, daß, wenn eine Schwellung von ihr
verursacht wird, diese unter dem Scham¬
bein, innen von den großen Gefäßen ge¬
funden wird, und zwar nach außen oben
von dem absteigenden Schambeinast. Bei
Einklemraungen ruft sie durch Druck auf
den Nervus obturatorius das sogenannte
Rombergsche Symptom hervor, das sich
in Schmerzen an der Innenseite des Ober- j
Schenkels, die bis zum Knie ausstrahlen
und sich bei der Flexion und Adduktion
der Hüfte steigern, sowie in Parästhesien
(Taubheitsgefühl, Kribbeln) äußert. Aus¬
schlaggebenden Weit kann man angesichts
der vielen anderen Ursachen, welche gleiche
Symptome aufweisen, diesen Klagen nur
dann beilegen, wenn gleichzeitig das Krank¬
heitsbild des beginnenden Ileus auftritt, für
den andere Lokalisationen nicht nachweis¬
bar sind. Konservative Therapie ist aus¬
sichtslos, die operative bringt auch nur bei
schneller Anwendung sichere Hilfe, um so
mehr erinnere man sich unter gegebenen
Verhältnissen der Möglichkeit einer Hernia
obturatoria.
Die sehr seltenen Hernien der In-
cisura ischiadica liegen gleichfalls ver¬
steckt; solange sie klein sind, werden sie
durch die Fascia glutaea und die dicke Ge¬
säßmuskulatur völlig verborgen gehalten.
Bei ihrem Wachstum erscheinen sie als
eine den After überdeckende Prominenz,
deren Natur zweifelhaft sein kann, deren
Therapie aber auch dann am richtigsten
in blutiger Freilegung und Exstirpation be¬
steht, wenn sie als Bruch angesprochen
werden muß. Wird die Hernia ischiadica
Ursache eines Dannverschlusses, so gibt
örtlicher, durch Druck sich vermehrender
Schmerz den erforderlichen Hinweis und
die strikte Indikation zur Herniotomie.
Wir unterlassen es, auf die sogenannten
inneren Hernien einzugehen. Sie kom¬
men praktisch nur bei Inkarzerationen in
Betracht, wenn man also auf Grund von
Ileuserscheinungen laparotomiert hat und
den Sitz des Darm Verschlusses sucht. Ihre
Kenntnis hat ausschließlich ein spezial chi¬
rurgisches Interesse. Bedeutungsvoller für
den Praktiker ist die Tatsache, daß oft
genug innere Einklemmungen vermutet
werden, wo unscheinbare äußere Hernien
inkarzeriert sind, und die andere, daß
Träger mehrfacher Brüche an einer Stelle
einen deutlich in die Augen fallenden
freien, an einer anderen einen unsichtbaren
strangulierten haben können. Diese können
dicht nebeneinander liegen, so Inguinal- und
Schenkel-, Schenkel- und Obturatorhernie,
und demjenigen, der nur den reponier-
baren Darmvorfall beachtet, die Krankheits¬
erscheinungen um so rätselhafter machen,
Vor fehlerhafter Therapie schützt
sorgsames Absuchen aller Bruch¬
pforten, auch derjenigen, an denen
der Austritt von Eingeweiden zu
den Raritäten gerechnet werden
darf.
Therapeutisches aus Vereinen und Kongressen.
IV. Jahresversammlung der Gesellschaft Deutscher Nervenärzte.
Bericht von L.CO Jacobsohü-Charlottenburg.
Unter dem Vorsitz der Herren Exzellenz
Erb und H. Oppenheim tagte die Ge¬
sellschaft Deutscher Nervenärzte vom 6.
bis 8. Oktober in Berlin. Aus der Fülle
der mitgeteilten Tatsachen, die zum Teil
von den berufensten Spezialforschern vor¬
getragen wurden, soll dem Rahmen dieser
Zeitschrift entsprechend, von einer detail¬
lierten Wiedergabe der einzelnen Verhand¬
lungsergebnisse abgesehen werden. Viel¬
mehr will ich mich darauf beschränken,
mit besonderer Berücksichtigung des thera¬
peutisch Wertvollen allgemeine Fragen
der Neurologie, wie sie die Tagesord¬
nung der Gesellschaft aufgestellt hatte,
ausführlich zu referieren * und Spezial¬
forschungen nur nebenbei zu erwähnen.
Aus diesem Grunde muß ich mir versagen,
auf das erste Referat, Ueber die neue¬
ren Fortschritte in der topischen
Diagnostik der Erkrankungen des
Pons und der Oblongata, das in
A. Wallenberg (Danzig) und O. Mar¬
burg (Wien) zwei berufene Vertreter ge-
j funden hatte, an dieser Stelle einzugehen.
Das eigentliche Hauptthema war das am
I zweiten Versammlungstage von Oppen-
1 heim (Berlin) und Hoche (Freiburg) er-
l stattete Referat, Die Pathologie und
Therapie der nervösen Angstzu¬
stände, dessen Besprechung ich hier vor¬
wegnehmen will.
Die auf ein reiches Beobachtungs¬
material gegründeten, mit bekannter Prä-
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UNIVERSiTY OF CALIFORNIA
510
Die Therapie der Gegenwart 1910.
November
zision vorgetragenen Ausführungen unseres
Berliner Meisters führten zu folgenden Er¬
gebnissen :
Die große Verbreitung, die Intensität
und Hartnäckigkeit des Leidens begründet
die Wahl des Themas zum Referat.
Oppenheim hat im letzten Jahr 180 Per¬
sonen an Angstzuständen behandelt. Ur¬
sachen: in erster Linie die neuropathische
und psychopathische Diathese. Den Anstoß
gibt dann meist die akute Gemütserschüt¬
terung oder gehäufte Emotionen, seltener
die Erschöpfung, ausnahmsweise Beschäfti¬
gungslosigkeit durch Aufgabe des Berufs.
Auffallend das Zurücktreten des Leidens
bei dem poliklinischen Publikum. Die
sexuelle Aetiologie wurde von Oppen¬
heim meist vermißt. Er wendet sich
scharf und bestimmt gegen die Lehren
Freuds und seiner Schüler. Das Ver¬
fahren der Psychoanalyse im Sinne
Freuds ist eine geistige Vergewaltigung,
eine moderne Foltermethode, die eine
große Gefahr für den Kranken bildet. Die
Leiter von Sanatorien usw. sollten klipp
und klar erklären, ob sie mit dieser Me¬
thode arbeiten. Die Bekämpfung der
Freud sehen Lehren sei um so erforder¬
licher, als sie bereits ins Publikum, in die
schöngeistige, juristische und theologische
Literatur gedrungen seien.
Bei der Definition der Angst ist auf die
fließenden Uebergänge zwischen dem
Physiologischen und Pathologischen zu
verweisen, wie es z. B. die Gewitterangst,
die Künstlerangst, die Angst vor dem
Schuß auf der Bühne zeigt. In der Angst
steckt ein (primäres) selisches Moment und
körperliche Vorgänge. Es handelt sich
nicht um Mangel an Einsicht und Logik,
sondern um pathologische Assoziationen
und um eine abnorme Erregbarkeit der
vasomotorisch - viszeralen - sekretorischen
Nervenapparate. Dafür spricht: 1. das
Vorkommen einer rein körperlich ausge¬
lösten Angst (z. B. bei Angina pectoris);
2. die Häufigkeit anderer Zeichen der vaso¬
motorischen Diathese bei den Angst¬
kranken; 3. die Bedeutung des sogenann¬
ten Abreagierens bei diesen Patienten.
Prognose zweifelhaft; Leiden oft sehr
hartnäckig, chronisch. Aber auch Abortiv¬
formen, Spontanheilungen, Heilungen durch
die Therapie.
Es gibt kein Allheilmittel, aber mannig¬
fache Heilmethoden. Obenan steht die
Psychotherapie, aber der Begriff ist sehr
weit zu fassen. Es handelt sich weniger
um Belehrung, Ueberzeugung,Ueberredung,
als um geistige Führung oder Suggestion.
Auch die Hypnose hat gelegentlich Be¬
rechtigung. Ferner Aufklärung des Kran¬
ken und der Angehörigen, Entscheidung,
ob Uebung oder Schonung am Platze.
Schilderung des eigenen Verfahrens.
Zwang immer von Uebel, aber ablenkende
Beschäftigung heilsam. Erschöpfung und
Hetze zu vermeiden. Entfernung aus
Häuslichkeit oft wirksam. Antineurasthe-
nische Allgemeinbehandlung wichtig. Im
Angstanfall können Medikamente (Brom,
Valeriana, Opium, Hyoscin. Vasotonin,
Digitalis usw.) erforderlich sein. Von spe¬
ziellen Heilmethoden wird die Hemmungs¬
gymnastik und die Kauterisation der Ner¬
venpunkte in der Nasenschleimhaut be¬
sprochen; von 12 mit letzterem Verfahren
behandelten Patienten Oppenheims hatten
nur 2 einen temporären Erfolg. Ausnahms¬
weise erfolgt Heilung nach Aus setzen jeder
Therapie. Autoreferat H. Oppenheim.
Ho che behandelt das Thema der ner¬
vösen Angstzustände mehr vom Stand¬
punkte des Psychiaters.
Das Wesen der Angst läßt sich nur
erleben, nicht beschreiben. Angst wird
oft mit Furcht und Sorge verwechselt.
Sie kann im Gegensatz zu diesen Zu¬
ständen völlig objektlos sein und stellt
einen intensiven Unlustaffekt dar, der von
körperlichen Symptomen begleitet wird.
Angstneurosen sind bei kulturell niedrig¬
stehenden Völkern selten. Die Ursache ist
das geringere Verantwortlichkeitsgefühl des
Naturmenschen.
Angstzustände werden vorübergehend
bei einer Anzahl von Geisteskrankheiten,
namentlich Dementia praecox, Melancholie,
alkoholischer, epileptischer und hysterischer
Geistesstörung beobachtet. Auf toxischer
Basis begegnet man ihnen bei übermäßi¬
gem Kaffee- und Tabakgenuß, sowie bei
C02*Intoxikation (Erstickungsangst). Re¬
flektorisch werden Angstzustände vom
Herzen und Intestinum ausgelöst.
Leichtere Grade, wie sie besonders bei
Frauen Vorkommen, sind ungemein häufig.
Sie treten bald in Form von Beklemmungs¬
zuständen auf, bald tragen sie den Cha¬
rakter unbewußter Umdeutungen, wie
Heimweh, Ahnung und Ratlosigkeit. Diesen
leichteren Formen fehlt die Zwangsmäßig¬
keit des Denkens, welche die eigentliche
Angstneurose kennzeichnet. Doch finden
sich Uebergänge zu dieser sowie den
paroxysmalen Angsattacken, wie sie beson¬
ders bei Geisteskranken beobachtet werden.
Ho che vertritt den Standpunkt, daß
sich die psychischen und somatischen Er¬
scheinungen und Ursachen der Angst nicht
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Original frnm
UNIVERSiTY 0F CALIFORNIA
November
Die Therapie der Gegenwart 1910.
511
voneinander trennen lassen, und erinnert an
den Circulus vitiosus der Präkordialangst
bei Herzleidenden. Die Angst wird häufig
in die Herzgegend, auch in das Abdomen
und die Beine lokalisiert. Körperliche
Begleiterscheinungen sind Erweiterung
der Pupillen, Herzklopfen, Anhalten des
Atems, Schweißausbruch und Diarrhoen.
Seltener ist Aufhebung der Milchsekretion
und Ausbleiben der Menses. Die ob¬
jektlose Angst kann mit qualvollen Emp¬
findungen ausgefüllt werden. Bisweilen
suchen die an Angstneurose Leidenden
ihren Zustand durch unmotiviertes Fragen
und Erzählen zu verbergen. Heftige Angst¬
affekte können zum Suizid führen. Dies
ist besonders bei Geisteskranken der Fall.
Die Diagnose wird meist durch den
Kranken gegeben. Der Grad der Angst
ist für den Arzt nicht sicher bestimmbar,
da manche Patienten sich dem Arzte gegen¬
über nicht umfassend äußern und auch ihre
Umgebung vielfach über den wahren Cha¬
rakter ihres Leidens täuschen. Die ätio¬
logische Diagnose hat vor allem zu entschei¬
den, ob die Angst auf dem Boden einer
Psychose entstanden ist, oder ob eine Angst¬
neurose sensu strictiore vorliegt.
Therapeutisch hat Ho che von der dia¬
lektischen Methode Dubois bei eigentlichen
Angstzuständen wenig Gutes gesehen. Die
psychoanalytische Methode Freuds wird
ebenfalls abgelehnt. Medikamentös sind
die Bromalkalien, ferner Veronal und Opium
zu versuchen. Empfehlenswert ist auch
das Pantopon sowie bei schweren Angst¬
zuständen das Skopolamin. Bäder werden
meist schlecht vertragen. Lokale Proze¬
duren, Faradisierung der Herzgegend, Auf¬
legen von Senfteigen wirken durch Ablen¬
kung der Aufmerksamkeit.
Anschließend an das erörterte Thema
sprach Hatschek (Gräfenberg) über die
ver gl eich ende Psychologie der Angst¬
affekte. Die interessanten Ausführungen
des Vortragenden beschäftigten sich vor¬
wiegend mit den Aeußerungen der Angst
bei Tieren. Die Angst der Tiere löst in¬
stinktmäßige Reflexakte aus (Abwehrbewe¬
gungen, Flucht, Regungslosigkeit). Je tiefer
man in der Tierreihe hinabsteigt, desto
stärker sind die vasomotorischen und se¬
kretorischen Reaktionen. Angst ist unab¬
hängig von der Funktion des Großhirns;
doch wirkt die Ueberlegung modifizierend
auf das primäre Angstgefühl ein. Die
pathologische Angst des Menschen ist ana¬
log der der Tiere. Sie ist ein Rückschlag
in die primäre Angst der Aszendenten.
Viele körperliche Begleiterscheinungen
I lassen sich phylogenetisch auf Erschei-
I nungsformen in der Tierreihe zurückführen
! (Sträuben der Federn, Gänsehaut, Urin-
I und Kotentleerung usw.).
I Aschaffenburg (Cöln): Die Bedeu¬
tung der Angst für das Zustande¬
kommen des Zwangsdenkens. Zwangs¬
vorstellungen, so vielseitig sie auch sein
können, sind in jedem Falle durch primäre
I Angst bedingt. Die Angst bezieht sich
I weniger auf das eigene Subj ekt als auf andere
j Personen. Wo das Gefühl der Verant¬
wortung am stärksten ausgeprägt ist, be¬
gegnet man ihr am häufigsten. Dies er¬
klärt die relative Seltenheit von zwangs¬
mäßigem Denken bei poliklinischen Pa¬
tienten. Geringere Grade von Zwangs¬
denken sind das Lampenfieber, die Er¬
rötungsangst, das Klinkenfieber der Reisen¬
den usw. Meist handelt es sich um emp¬
findsame Menschen, häufig um Psycho¬
pathen. Im Gegensatz zu Dubois, der die
Hypnose gänzlich verwirft und Oppen-
i heim, der sie bedingt anerkennt, wendet
Aschaffen bürg diese Methode häufig
und mit gutem Erfolge an.
Stransky (Wien): Myopathie und
Psychoses, sah in einem Falle von fa¬
miliärer Muskeldystrophie eine vorüber¬
gehende Psychose mit paranoischen Wahn¬
vorstellungen. Stransky sieht hierin einen
Uebergang der durch ein organisches Lei¬
den bedingten Störungen des Gefühlslebens
in das Gebiet des Pathologischen.
Die Diskussion, an der sich Trömner
(Hamburg), Friedländer (Hohe Mark),
Raimann (Wien), Stransky (Wien),
Bruns (Hannover), Bunnemann (Ballen¬
stedt), Kohnstamm (Königstein), Roth-
mann (Berlin) und Rosenbach (Peters¬
burg) beteiligten, zeigte, daß in der
Auffassung der nervösen Angstzustände
ziemliche Uebereinstimmung herrscht. Die
Lehren Freuds und seiner Schüler fan¬
den bei ruhiger und sachlicher Kritik eine
bestimmte Ablehnung. Wenn auch an¬
erkannt wurde, daß in der Psychoanalyse
nach Freud und Jung ein brauchbares
i Prinzip enthalten ist, so wies man die Lehre
des infantilen sexuellen Traumas und die
verwirrende Symbolik Freuds energisch
zurück. — Gegenüber den Ausführungen
Hatscheks hält Rothmann es nicht für
erwiesen, daß großhirnlose Tiere Angst-
affekte äußern. — Stransky bekennt sich
als bedingter Anhänger Dubois’. Er tritt
für die Internierung der Kranken mit Angst¬
neurose ein, da häufig verkannte Zyklo¬
thymien vorliegen. — Kohnstamm vertritt
auf Grund hypnotischer Experimente die
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512
Die Therapie der Gegenwart 1910.
November
Anschauung, daß Zwangsimpulse dann zu
Angstaffekten führen, wenn sie in ihrer
Ausführung gehemmt werden.
H. Oppenheim (Schlußwort) lehnt die
von Stransky geforderte Internierung ab.
Hat auch vom Pantopon gutes gesehen.
Hoche (Schlußwort): Echte Melancholien
sind der Psychotherapie nicht zugänglich.
Hat ebenfalls Suizidversuch bei Errötungs¬
angst beobachtet.
Unter den Vorträgen des ersten Tages
sind besonders die Ausführungen des Sir
Victor Horsley (London) hervorzuheben,
der als Diagnostiker und Chirurg sich sel¬
tener Erfolge auf dem Gebiete der endo-
kraniellen Neubildungen rühmen kann und
der eigentliche Begründer der operativen
Behandlung der Hirngeschwülste genannt
werden darf. Als Ehrenmitglied der Ver¬
sammlung sprach Horsley über Opera¬
tive versus expectant treatment in
deseases of the nervous System.
Horsley faßt seine Ausführungen in
folgende Leitsätze zusammen:
Behandlung mit Arzneimitteln ist nutzlos.
Jeder Fall von lokalisierter Epilepsie, die
nicht zweifellos idiopathischen Ursprungs
ist, muß mit explorativer Operation behan¬
delt werden.
Jeder Fall einer progressiven motori¬
schen oder sensiblen Lähmung intrakra¬
niellen Ursprungs muß mit explorativer
Operation behandelt werden.
Jeder Fall von sicher diagnostiziertem
Hirntumor muß je nach seiner Lokalisation
entweder mit Entfernung des Geschwülst-
gewebes oder mit Herabsetzung der endo-
kraniellen Drucksteigerung behandelt wer¬
den.
Entfernung des Geschwulstgewebes.
a) Meningeale Geschwülste einschlie߬
lich Endotheliome und Zysten.
b) Gliome und Gliosarkome.
Behandlung durch Ligatur der Gefäße
und Druckentlastung.
Beseitigung der intrakraniellen Druck¬
steigerung.
Objekte: Beseitigung (Besserung) der
Papillitis, des Kopfschmerzes, des Er¬
brechens.
Plan und Methode.
Antisyphilitische Behandlung der Fälle
ist falsch.
Die klassische Behandlung von syphili¬
tischen Erkrankungen des zentralen Nerven¬
systems ist unzweckmäßig.
Operation und subdurale Irrigation ist
erforderlich.
An den Vortrag schloß sich eine leb¬
hafte Diskussion. Namentlich wurde die
ForderungHorsleys, bei Hirngumma unter
allen Umständen operativ vorzugehen, leb¬
haft diskutiert.
Oppenheim empfiehlt in Anbetracht
der Schwere des Eingriffes möglichste Re¬
serve bei Ausführung der Radikaloperation.
Die Erfahrung hat gelehrt, daß spontan
zur Ausheilung kommende Zustände, wie
Meningitis serosa und Enzephalitis haemor-
rhagica, das Symptomenbild des Hirntumors
hervorrufen können. Allerdings wird man
bei Progredienz der Symptome auf alle
Fälle operieren. Syphilitische Neubildungen
am Gehirn und seinen Häuten sollen stets
einer antiluetischen Kur unterzogen werden.
Versagt diese, so ist erst die Berechtigung
zur Operation gegeben. Die operative Be¬
handlung der Epilepsie erscheint ihm nicht
aussichtsreich. Nonne und Sänger
(Hamburg) schließen sich bezüglich der
Hirnsyphilis den Ausführungen Oppen¬
heims an. Beide haben in mehreren Fällen
durch spezifische Therapie völlige Heilung
erzielt. Nonne ist nach dreimonatlicher er¬
folgloser Kur für die Operation. — Bruns
teilt den Standpunkt Horsleys, da er von
der Hg- und Jk-Behandlung keinen Erfolg
gesehen hat — Schüller (Wien) hält die
antisyphilitische Behandlung unter Um¬
ständen für gefährlich. Er hat zwei Todes¬
fälle erlebt, die er auf plötzliche Hirndruck¬
steigerung bezieht. — Allgemein wurde die
Berechtigung der Palliativtrepanation an¬
erkannt. Sie ist namenlich bei drohender
Erblindung angezeigt und kommt bei hoff¬
nungslosen Tumorfällen, sowie Tumoren
mit nicht bestimmbarem Sitz in Frage. Den
Balkenstich empfielt Anton (Halle) in
gleicher Indikationsstellung. — Förster
(Breslau) ist bei zirkumskripter Tuberkulose
des Gehirns für die Operation. Er hat in
drei Fällen Heilung gehabt. — Ueber große
operative Erfahrungen verfügt v. Eiseis¬
berg (Wien). Bei 65 Operationen, die am
Großhirn, Kleinhirn, Brückenwinkel und
der Hypophyse ausgeführt wurden, hat er
10 Kranke geheilt. Bemerkenswert sind
die Resultate Eiseisbergs bei Hypophysis¬
tumoren, 6 Heilungen bei 8 Operationen.
Eiseisberg warnt vor zu langer expekta-
tiver Behandlung bei syphilitischen Neu¬
bildungen.
M. Rothmann (Berlin): Zur Funk¬
tion des Kleinhirns, berichtet über
neuere, auf das Tierexperiment gestützte
Erfahrungen über die Funktion der einzel¬
nen Kleinhirnabschnitte.
Minkowski (Berlin): Zur Physiologie
der kortikalen Sehsphäre. Angaben
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Die Therapie der Gegenwart 1910.
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über die Beziehungen der Okzipitalwindun¬
gen zur Rindenblindheit.
Pfeiffer (Halle); Zur Lokalisation
der motorischen und sensorischen
Aphasie, tritt für die ältere Auffassung
der Sprachlokalisation ein.
Sänger (Hamburg): Die Genese der
Stauungspapille. Die Stauungspapille ist
weniger durch entzündliche Veränderungen
als durch Oedem der Papille bedingt. Aetio-
logisch ist neben intrakranieller Druck¬
erhöhung gleichzeitige Abschnürung des j
Sehnerven im Canalis opticus maßgebend.
Marinesco (Bukarest): De la noci-
vite de la ponction lombaire dans
certains cas de tumeurs ceröbrales,
warnt vor Ausführung der Lumbalpunk- |
iion bei Tumoren der hinteren Schädel¬
grube. Marinesco verlor zwei Kranke
im Anschluß an die Punktion.
Nonne (Hamburg): Serologisches |
zur multiplen Sklerose. 1200 Kranke
wurden nach der Much-Holzmannschen
Methode untersucht. Positiv fiel die Re¬
aktion bei psychisch Kranken in zirka 70%
aus, bei Degenerierten in fast 90 %. Auch
bei multipler Sklerose hat Vortragender
in 60% der Fälle ein positives Resultat.
Die Reaktion hat für den Neurologen und
Psychiater mehr wissenschaftliches als dia¬
gnostisches Interesse.
Förster (Breslau): Ueber die Beein¬
flussung spastischer Lähmungen
durch Resektion hinterer Rücken¬
markswurzeln. 1 )
An dem Bestehen des normalen Muskel¬
tonus sind drei Komponenten beteiligt,
eine zerebrale, eine zerebellare und
eine spinale. Ausfall der Pyramiden¬
bahnen bedingt spastische Lähmungen in¬
folge Unterbrechung reflexhemmender
Bahnen. So kommt es zu Hypertonien und
Kontrakturen. Die Idee, die Förster bei
seinem kühnen Vorgehen leitete, war die
Absicht, durch Unterbrechung des Reflex¬
bogens die pathologische Reflexsteigerung
und somit den spastischen Zustand zu be¬
seitigen. Dieses gelingt durch Durchtrennung
der zugehörigen hinteren Wurzeln. Die Art
der radikulären Innervation eines Muskel¬
gebietes erlaubt eine Auswahl von Wurzeln,
deren Durchschneidung gröberen Sensibili¬
tätsausfall verhütet. Die Ausführung der
Operation erfordert genaue Kenntnis der
kraniovertebralen Topographie. Zur Ver¬
meidung der Blutung, welche die Orientie-
*) Theorie, Ausführung, Indikation und Erfolg
dieser neuen Operationsmethode, Alles nähere in dem
Originalartikel des Autors in der Dezembernumraer
dieser Zeitschrift.
rung sehr erschwert, empfiehlt Förster
zweizeitige Operation. Für die Operation
sind schwere Grade von spastischen Para¬
plegien geeignet, wie sie besonders bei
Littlescher Krankheit Vorkommen.
Schüller (Wien): Ueber operative
Durchtrennung der Wurzeln und
Stränge desRückenmarks. Anschließend
an die Methode Försters macht Schüller
einen neuen Behandlungsvorschlag. Er rät,
die Wurzeldurchtrennung durch Strang-
j durchschneidung der korrespondierenden
Bahnen innerhalb des Rückenmarkes (ge¬
kreuzter Vorderseitenstrang eventuell gleich¬
seitiger Hinterstrang) zu ersetzen. Die
Indikationen sind dieselben wie bei der
I Försterschen Operation. Die Methode
soll den Vorzug haben, daß bei ent¬
sprechend hoher Leitungsunterbrechung
des Rückenmarks die fortlaufende Durch-
i schneidung der einzelnen Wurzeln ver¬
mieden wird.
Diskussion über die Vorträge von
Förster und Schüller. Rothmann
spricht sich gegen den Vorschlag Schüllers
aus. Die Leitungsunterbrechung der sen¬
siblen Bahnen schafft komplette, nicht seg¬
mentäre Anästhesie. Dieses ist ein nicht
unbedenklicher Zustand. Bei Wirbelsäulen¬
tumoren mit heftigen ausgebreiteten Schmer¬
zen ist unter Umständen die Durchschnei¬
dung der Leitungsbahnen anzuraten. —
Auerbach (Frankfurt a. M.) hat bei der
Försterschen Operation einen Todesfall
an Herzlähmung erlebt. — Nonne verfügt
über vier Beobachtungen. Bei drei Ta¬
bikern ein Todesfall, eine Paraplegie, eine
Heilung. Bei Little guter Erfolg. —
v. Frankl-Hochwart (Wien) empfiehlt die
Durchtrennung der 7. bis 9. Dorsalwurzeln
bei gastrischen Krisen. Förster (Schlu߬
wort): Man darf von seiner Operation nicht
zu viel verlangen. Behoben wird nur der
neurogene Spasmus, nicht die eingetretene
Muskel- und Sehnenschrumpfung. Ortho¬
pädische Nachbehandlung ist notwendig.
Beeinflußt werden nur echte spastische Zu¬
stände, nicht Chorea und Athetose. Hält
die Frage der gastrischen Krisen noch
nicht für spruchreif. In welchem Niveau
reseziert werden soll, ist noch nicht ganz
sicher. Mißt dem Vagus gelegentliche Be¬
deutung bei Auslösung der Krisen bei.
Den Vorschlag Schüllers hält er für nicht
empfehlenswert.
H. Schlesinger (Wien): Zur Klinik
des intermittierenden Hinkens. Wich¬
tig ist nicht nur das Verhalten der Fu߬
pulse, sondern auch die Untersuchung der
A. poplitea und A. femoralis. In 22 % der
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514
Die Therapie der Gegenwart 1910.
November
Fälle fand Schlesinger Anomalien an
den Femoralarterien. Mehrmals waren
hierbei die Fußpulse normal. Das Sym¬
ptom des intermittierenden Hinkens sah
Schlesinger auch bei Persistenz des
Isthmus aortae sowie bei Kavathrombose.
Die Prognose des Leidens ist nicht so un¬
günstig wie man früher annahm. Spon¬
tane Remissionen, auch Heilungen werden
beobachtet. Günstig wirkt unter Umstän¬
den Rauchverbot und antiluetische Behand¬
lung. Einmal schwand das Hinken im An¬
schluß an eine Hemiplegie. Einigemale
war Dyspraxie an den oberen Extremitäten
vorhanden. Schmerzen und Bewegungs¬
störungen gingen hier den Gefäßverände¬
rungen voraus. Die Mehrzahl der Patienten
waren Männer. Aetiologisch an erster Stelle
steht der Tabakmißbrauch, sodann Lues und
Diabetes. Die Krankheit entwickelt sich
meist oberhalb des 50. Lebensjahres.
Diskussion: Erb eikennt die bedeu¬
tende ätiologische Rolle des Nikotins an.
Syphilis war in seinen Fällen seltener. Das
Goldfamsche Symptom, Erblassen der
Haut nach Muskelarbeit, sah er dreimal.
Kurschmann (Mainz) hat das Vaso-
torim mehrfach ohne Erfolg angewandt. —
Oppenheim erinnert, daß es eine angio-
neurotische Form des Leidens, ohne end-
arteriitische Veränderungen gibt. Sie ist
nicht selten mit Degenerationszeichen kom¬
biniert. — Bychowski (Warschau) weist
auf das häufige Bestehen eines Plattfußes
hin. — K. Mendel (Berlin) sah intermit¬
tierendes Hinken bei Tabakarbeitern, die
selbst nicht rauchten.
O. Maß (Buch): Zur Kenntnis der
familiären Nervenkrankheiten. Mit¬
teilung eines bisher nicht bekannten Krank¬
heitsbildes, das ein Geschwisterpaar im
Alter von 14 Jahren betraf und zwischen
amyotrophischerLaberalsklerose und Fried-
r eich scher Ataxie stand. Mikroskopisch
Degenerationen der Vorderstränge mit
Atrophie der Vorderhörner. Geringes Hirn¬
gewicht
Frenkel-Heiden: Die Anwendung
des Ehrlich-Hataschen Mittels bei
Nervenkrankheiten. Die Besserungen
organischer Nervenkrankheiten nach Injek¬
tion mit 606 sollen von Spezialisten über¬
wacht werden. Wesentlich für die Be¬
urteilung sind Rückbildungen objektiv nach¬
weisbarer Symptome. Weniger beweisend
ist subjektive Besserung. Die Ehrlich-
sche Forderung, das Mittel bei pro-
gressen Hirnveränderungen fortzulassen,
ist zu theoretisch. Frenkel-Heiden hat
das Präparat achtmal zum Teil mit gutem
Erfolge angewandt. Er sah Rückgang von
Ptosis und Besserung einer Labyrinth¬
taubheit.
Trömner (Hamburg): Zur Patho¬
logie einiger Schlafstörungen. Mit¬
teilungen krankhafter Zustände, die wäh¬
rend des Schlafes auftreten, insbesondere
Enuresis nocturna und Somnambulismus.
E. Raimann (Wien): Herzstörung
bei Neurosen. Störungen der Herztätig¬
keit kommen bei vielen Neurosen vor. Be¬
sonders ist dies bei Epilepsie der Fall.
Herzklopfen, Oppressionsgefühl usw. bilden
nicht selten die Aura. Als Aequivalente
werden synkopale Anfälle und paroxysmale
Tachykardien beobachtet. Epileptiker neigen
allgemein zu Irregularität des Pulses und
erhöhter Frequenz. Auch die Hysterie hat
manche Beziehungen zu kardialen Sym¬
ptomen. Den Symptomenkomplex der
Phrenokardie rechnet Raimann zur Hy¬
sterie.
Friedländer (Hohe Mark): Psycho-
neurose und Diabetes insipidus.
Ueber die Auffassung des Diabetes insipi¬
dus herrscht keine Einheit. Der Lehre von
der primären Polyurie, bedingt durch se¬
kretorische Insuffizienz der Niere, steht die
Auffassung vom nervösen Ursprung des
Leidens gegenüber. Friedländer be¬
richtet über einen Fall von Diabetes insi¬
pidus, der den Charakter einer Zwangs¬
neurose trägt.
Mörchen (Altweiler): Ueber eine
seltene Form der Epilepsia minor.
Schilderung eines Falles, den Mörchen
trotz abweichender Züge der Epilepsie zu-
rechnet. Heilung durch Brom-Opiumkur.
W. Alexander (Berlin): Weitere Er¬
fahrungen über die Behandlung der
Neuralgie, besonders des Gesichtes
mit Alkoholinjektionen.
Zur Alkoholinjektion, die den Nerven
zerstört, eignen sich besonders Neuralgien
sensibler Nerven und solcher gemischter,
bei denen der eventuelle Ausfall der mo¬
torischen Funktion nicht bedeutungsvoll
ist, z. B. Interkostalnerven. Vortragender
hat außer einigen 60 Fällen von Trige¬
minusneuralgie mehrere Fälle von Inter¬
kostalneuralgie solche des Okzipitalis und
Auricularis magnus behandelt; auch einmal
den Laryngus superior (zur Anästhesierung
der Larynxschleimhaut bei Kehlkopftuber¬
kulose). Alle Fälle hatten die üblichen Be¬
handlungsmethoden vergeblich durcbge-
macht und bestanden bis zu 33 Jahren. Ein
Teil dieser schweren Fälle heilt bei peri¬
pherer Injektion; nützt diese nichts, muß
basal injiziert werden. Die periphere ist
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November
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Die Therapie der Gegenwart 1910.
absolut, die basale fast gefahrlos bei guter |
Technik, die an der Leiche geübt werden
muß.
Alle peripheren Resektionen sind
durch Alkoholinjektion zu ersetzen,
die in bezug auf Heilungsdauer dasselbe
leisten und schonender sind. Rezidive sind
sicherer mit Alkohol als mit Resektion zu
bekämpfen. Es läßt sich fast stets die ge¬
fährliche Exstirpation des Ganglion ver¬
meiden. Die wenigen Patienten, die mit
Alkohol auch nicht zeitweise zu heilen sind,
haben durch weitgehende Besserung den
Vorteil, daß sie zur Operation aufgefüttert ,
und gekräftigt werden können, was auf j
keine andere Weise möglich ist. Es sollte |
keine Ganglionexstirpation gemacht |
werden ohne vorherigen Versuch mit i
Alkohol. — Autoreferat. |
L. Hirschlaff (Berlin): Ueber Ruhe- j
Übungen und Ruheübungsapparate. |
Die von Hirschlaff ersonnenen Ruhe- I
Übungen bezwecken in systematischer Weise
Entspannung der Muskulatur bei Fern¬
haltung von Sinnesreizen und Konzen¬
trierung der Aufmerksamkeit. Zu diesem
Zwecke werden die Augen des Patienten
durch ein Kissen verschlossen, der Rhythmus
der Atmung durch ein Metronom ange- i
geben und jede Muskelbewegung durch das !
sogenannte Hesychoskop sichtbar gemacht. j
Die Uebungen sollen bei funktionellen Er¬
krankungen, Angstzuständen, nervöser 1
Schlaflosigkeit und funktionellen Sprach¬
störungen in Anwendung kommen.
W.Graves (St.Louis): Scaphoid sca- j
pula, eine häufig vorkommende Ano¬
malie des Schulterblattes, bedingt
durch Syphilis des Aszendenten.
An der Hand einer großen Reihe von
Photographien und Knochen präparaten
sucht Graves die Richtigkeit seiner durch
die tJeberschrift gegebenen Anschauungen
zu beweisen.
Nach Beendigung der Vorträge fanden
am 8. Oktober im großen Hörsaal der
Nervenklinik der Charite eine Anzahl von
Demonstrationen statt.
Imposant war die Demonstration der
geheilten Tumorfälle am Hirn- und Rücken¬
mark durch H. Oppenheim. — Borchardt
(Berlin), kommunizierende traumatische
Schädelhämatome, Ko eher sehe Ventil¬
bildung bei Hirndruck, Besteck zur Hirn¬
punktion nach Neisser. — Pfeiffer,
Photogramme von Präparaten, gewonnen
durch Neisserpunktionen (Gliom, Kar¬
zinom, Zystizerkus usw.). — Rothmann,
Schußverletzung des Gehirns, Kleinhirn¬
blutung mit akuter Ataxie und Sprach¬
störung. — Liepmann (Dalldorf), Demon¬
stration apraktischer Patienten. — Förster
(Berlin), Rückenmarkstumor, Lues heredi-
taria. — O. Mass, Achondroplasie. —
Gräffner (Berlin), Trophische Störungen
am Oberkiefer bei Tabikern. — Reich
(Berlin), Neue Färbemethoden des B. N.-
Systems, gestützt auf mikrochemische
Reaktionen. — Sänger, Entstehung
der Stauungspapille durch Karotissklero-
sierung.
Zu Ehrenmitgliedern der Gesellschaft
wurden ernannt Kocher (Berlin), Munk
(Berlin) und Röntgen (München).
Therapeutisches aus der 8a. Versammlung deutscher Natur¬
forscher und Aerzte, Königsberg i. Pr. 18.—34. September 1910.
Nach den Berichten der Vereinigung der medizinischen Fachpresse.
Paul Ehrlich über sein Syphilisheilmittel J ).
Hochverehrte Anwesende! Ich hatte
eigentlich die Absicht, nur zum Schluß der
Diskussion ganz kurz zu sprechen, weil die
heutige Tagung den Klinikern gehört,
denen, die wirklich über den Wert und den
Unwert des Mittels zu entscheiden haben.
Ich bitte daher um Verzeihung, wenn ich
ganz kurz spreche, weil ich wirklich nicht
präpariert bin.
Was nun das neue Mittel anbetrifft, so
sind die Generalia Ihnen allen als berufenen
Fachleuten genau bekannt. Ich kann mich
l ) Herr Geheimrat Ehrlich hat seinen Vortrag
selbst bearbeitet und der Vereinigung der medizi¬
nischen Fachpresse zur Verfügung gestellt
daher auf einige kurze Mitteilungen be¬
schränken. Es handelt sich hier — ich
will auch nicht die Geschichte der Ent¬
deckung, die Beteiligung der verschiedenen
Autoren, Vorgänger und Mitarbeiter er¬
wähnen und will gleich in medias res ein-
gehen — zunächst um die spezifische Wir¬
kung des Mittels. Es ist Ihnen allen be¬
kannt, daß die Wirkung besonders zutage
tritt bei Anwendung einer genügenden
Dosis; die in den Säften vorhandenen Spi¬
rochäten verschwinden und zwar bei aus¬
reichender Dosis in 24—48 Stunden. Dauert
das Verschwinden länger, so ist das meiner
Ansicht nach ein Zeichen, daß die Dosis
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November
Die Therapie der Gegenwart 1910.
zu klein, die Resorptionsbedingungen un¬
genügend oder daß es sich um einen
arsenfesten Stamm handeln kann, wofür
gewisse Anzeichen sprechen.
Eine zweite Tatsache, die für die mit¬
geteilte Eigenschaft spricht, ist die Bildung
spezifischer Antikörper. Es ist ja bekannt,
daß man bei der Syphilis schon lange und
ziemlich vergeblich gesucht hat, spezi¬
fische Antikörper, die eine spezifische
Heilwirkung auszuüben imstande sind,
nachzu weisen. Besonders Ne iß er hat einen
Teil seiner besten Arbeit bei diesem Pro¬
blem geleistet. Nun, meine Herren, es
scheint, als ob bei Heilwirkungen mit „606“
aus Gründen, die ich gleich besprechen
werde, die Chancen für den Nachweis
dieser Stoffe günstigere sind. Er beob¬
achtete bei einer Mutter, die syphilitisch
war und mit „606“ behandelt worden war,
daß das Stillen der Mutter einen außer¬
ordentlich günstigen Einfluß auf die here¬
ditäre Syphilis des Kindes ausübte. Die
Affektionen verschwanden ziemlich rasch;
später haben Duhot und verschiedene an¬
dere Autoren dieselben Erfahrungen ge¬
macht, und auch Raubitschek hat eine
größere Anzahl dieser Beobachtungen fest¬
gestellt.
Nun ist ja der Arsengehalt der Milch
ein außerordentlich geringer. Außerdem
wirkt das Präparat kaum in so ungenügen¬
den Mengen, so daß man ohne weiteres
darauf hingelenkt wird, daß Antikörper
entstanden und hier resorbiert sind. In¬
teressante Ergänzungen nach dieser Rich¬
tung sind von mancher Seite erfolgt
und Marinescu, Plaut, Scholtz, Mi¬
chaelis, Meirowsky haben mir brieflich
mitgeteilt, daß Serum von mit 606 behan¬
delten Patienten geeignet erscheint, die
luetischen Affektionen zur Resorption zu
bringen. Meine Herren, es geht hieraus
hervor, daß spezifische Antikörper sich
bilden, die imstande sind, zunächst einen
Heilungsvorgang einzuleiten. Ich bin der
Ansicht, daß diese Serumheilung im allge¬
meinen nicht ausreicht, um eine definitive
Heilung herbeizuführen, denn wenn von
1000 Spirochäten eine zurückbleibt, so ge¬
nügt diese einzige, um ein Rezidiv her-
horzurufen. Die Säugungsimmunität ist
aber von großer Bedeutung für die Be¬
handlung der Kindersyphilis, insbesondere
der hereditären. Wenn man solche Kin¬
der injiziert, so beobachtet man, wie dies
Wechsel mann zuerst getan hat, einen
außerordentlich prompten und schönen
Heilungsverlauf, aber nach 6—7 Tagen
kommen bei einem Teil der Kinder schwere
Erkrankungen vor, die wohl durch die frei-
gewordenen Endotoxine der massenhaft
zugrunde gegangenen Spirochäten bedingt
sind; die in die Blutbahn gelangten Toxine
sind so die Ursache für die schweren
sekundären Schädigungen. Nun glaube
ich, daß beim Steigen der Antikörper das
ausgeschlossen ist. Es wird hier der Haupt¬
teil der Spirochäten abgetötet und, da die
Antikörper neutrale Eigenschaften haben,
der Rest in eine unschädliche Form über¬
geführt. Man hat dann ein relativ gesun¬
des, kräftiges Kind, welches einige Spiro¬
chäten hat. Hier glaube ich, ist die Indi¬
kation gegeben, einem solchen Kinde gleich
eine genügende Injektion mit „606“ zu
machen, um zu versuchen, den Rest abzu¬
töten. Das wäre die eine spezifische Wir¬
kung.
Eine zweite spezifische Wirkung, die
vielleicht noch von größerem praktischen
Wert ist, ist die Seroreaktion, die zuerst
von Wassermann, Neißer und Bruck
aufgefunden wurde und eine große Rolle
spielt. Es ist aus allen jetzigen Beobach¬
tungen ganz sicher, daß diese Reaktion
mit der Anwesenheit und dem Vegetieren
der Spirillen in engem Zusammenhänge
steht. Es ist dies eine bekannte Tatsache,
und ich brauche hier nicht darauf einzu¬
gehen. Nun aber ist eine Reihe von sehr
interessanten Beobachtungen von verschie¬
denen Seiten gemacht worden, die dahin
gehen, daß eine negative Reaktion unter
dem Einflüsse der Injektion zunächst posi¬
tiv wird und dann eventuell wieder ver¬
schwindet. Das findet statt bei gewissen
primären Schankern in einer gewissen
Periode. Aehnliches findet man, wenn
auch seltener, bei gewissen Formen der
latenten Syphilis. Es gibt Formen, in
denen eine negative Wasser mann sehe
Reaktion vorhanden ist. Wenn man inji¬
ziert, so tritt zunächst die positive Reak¬
tion ein. Wie ist das zu erklären? Ich
glaube in ihrem Sinne zu denken, wenn
ich annehme, daß in diesen Formen die
Zahl der Spirochäten minimal ist, so daß
sie nicht imstande ist, die Wasser-
mannsche Reaktion auszulösen. Wenn
aber mit einem Schlage die Spirochäten
sich auflösen und wenn diese zur Resorp¬
tion gelangen, so ist der Ictus immunisa-
torius ein so großer, daß die vorher nega¬
tive Reaktion in eine positive umschlägt.
Es ist also in einem solchen Falle das Auf¬
treten der Reaktion ein Beweis der wirk¬
lich syphilitischen Natur dieser Erkran¬
kung. Nun können wir beurteilen, welche
Bedeutung diese Reaktion für die „606“-
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November
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Die Therapie der Gegenwart 1910.
Behandlung haben kann; man kann die¬
selbe nicht hoch genug einschätzen. Das
darf man ohne weiteres sagen, daß ein
Fall, welcher die Reaktion trotz Behand¬
lung bietet, ungeheilt ist. Ich glaube, ich
werde damit den hier Versammelten aus
dem Herzen sprechen. Wir haben aber
eine Anzahl von Fällen, in welchen die
Reaktion negativ bleibt. Daß sie negativ
bleibt, bedeutet gar nichts; es kann sich
hier, wie Neißer auseinandersetzte, nur
um ein temporäres Verschwinden der Re¬
aktion handeln. Es kann eben bei dem
Actus therapeuticus bei einer Million Spiro¬
chäten sich darum handeln, daß 100 Qbrig
geblieben sind. Es genügt diese Zahl zu¬
nächst nicht, die Reaktion auszulösen.
Erst wenn diese 100 Spirochäten sich all¬
mählich vermehren, kommt eine Reaktion
zustande. Es ist daher jedes Positiv¬
werden einer negativen Reaktion analog
zu setzen einem Rezidiv ohne äußere Er¬
scheinungen, und daher eine Indikation,
eine Behandlung vorzunehmen.
Wie sie sehen, ist durch diesen Stand¬
punkt diese Behandlung nicht so einfach
wie man glaubte. Ich habe auch nie ge¬
sagt, daß man einen Patienten nur inji¬
zieren und dann geheilt entlassen kann.
Es wird die Aufgabe der Aerzte in der
Zukunft sein, diese Fälle sukzessive in ge¬
wissen Zeiträumen zu untersuchen und die
Wirkung vielleicht bei jedem zu verfolgen.
Es liegt da eine ganz schwere Aufgabe
der Zukunft vor, und in diesem Sinne wäre
es sehr zu begrüßen, wenn es den ange¬
strengten Bemühungen, und ich glaube,
Wassermann stimmt da auch mit mir über¬
ein, gelingen würde, einen Weg zu finden
derart, daß auch der Fachmann stets imstande
ist, diese Prüfung fortlaufend am Patienten
vorzunehmen. Das wäre die zweite spezi¬
fische Beeinflussung, die das Mittel ausübt.
Dann kommt noch eine andere Wir¬
kung hinzu, die außerordentlich schwer zu
erklären ist Es ist mir von vielen Seiten
berichtet worden, daß das Mittel eine oft
wunderbare schnelle Wirkung ausübt. Von
verschiedenen Seiten habe ich die Nach¬
richt bekommen, daß Patienten z. B., die
monatelang wegen luetischer Erkrankung
keinen festen Bissen schlucken konnten,
bald nach einer Injektion erheblich weniger
Schmerzen hatten. Zum Beispiel in einem
bekannten Fall, der 2 Monate vergeblich
behandelt worden war, wurde um 2 Uhr
eine Injektion gemacht bei einem Gumma
der Tonsille. Um 7 Uhr, 5 Stunden später,
konstatiert der behandelnde Arzt, daß der
Patient ein Butterbrot essen konnte.
Analoge Fälle können, glaube ich, von
den zahlreich versammelten Herren ergänzt
werden. Aehnliche wunderbare Erschei¬
nungen findet man öfter. Ich weiß von
einem Fall, daß Roseolen binnen 3 Stun¬
den verschwunden sind, Fälle von Knochen¬
schmerzen in wenigen Stunden verschwun¬
den sind, unangenehme Sensationen, welche
viele Luetiker im Rachen haben, auch
momentan verschwinden. Ich kenne einen
Fall, eine chronische Makrochilie, der Pa¬
tient hatte immerfort Jucken auf der Zunge.
Eine Stunde nach der Injektion war die
unangenehme Erscheinung verschwunden.
Bei einer gummösen Erkrankung der Zunge
war dies ebenfalls konstatiert. Anato¬
mische Veränderungen können noch nicht
eingetreten sein. Wenn ein solcher Mann
imstande ist, Kaubewegungen zu machen,
so muß doch etwas weggenommen sein;
es muß die Schmerzhaftigkeit weggenommen
sein. Man kommt daher zu der Anschau¬
ung, daß es sich hier um Sekretionspro¬
dukte der Spirochäten handelt, die als
solche Schmerzhaftigkeit bedingen.
Wenn man annimmt, daß die Substanz
606 sich in irgendeiner Weise verbindet
mit dem Toxin und auf diese Weise anti¬
neuralgisch wirkt, so erklären sich diese
Beobachtungen in einfachster Weise. Man
kann annehmen, daß die Substanz sich mit
den Sekretionsprodukten verbindet und
nach Art eines Antitoxins wirkt.
Nun gibt es gewisse Beobachtungen,
die dagegen zu sprechen scheinen, näm¬
lich die Tatsache, daß man gelegentlich
beobachtet, daß das Umgekehrte eintritt,
nämlich eine erhöhte Reizung.
Diese Beobachtung ist schon alt, sie ist
auch beim Quecksilber vorgekommen. Sie
scheint darin zu bestehen, daß nach einer
Injektion eine starke Rötung, Hyperämie,
eintritt. Die erste Beobachtung über 606
in dieser Richtung, von der ich gehört
habe, stammt aus Italien. Dort war man
im allerersten Beginn außerordentlich vor¬
sichtig, injizierte den Patienten nur Dosen
von 0,025 und 0,05, anscheinend mit gutem
Erfolge. Es trat die H erxheimersehe
Reaktion ein. Die Spirochäten verschwan¬
den momentan, um nach kurzer Zeit, 5 bis
10 Tagen, wieder aufzutauchen und lokale
Rezidive hervorzurufen. In diesen Fällen
handelt es sich nach meiner Ansicht darum,
daß die Parasiten nicht abgetötet, sondern
daß sie gereizt werden. Diese Erhöhung
der Giftsekretion unter dem Einfluß der
Reizung bedingt die lokalen Erscheinungen.
Ich fasse also die Herxheim er sehe Re¬
aktion und ähnliche Erscheinungen als eine
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Die Therapie der Gegenwart 1910.
November
ungenügende Wirkung, als ein Zeichen
auf, daß die verwendete Dosis zu klein ist.
Das wäre das, was ich über die Spezifi-
zität sprechen wollte.
Dann wollte ich noch kurz über die
therapeutische Taktik sprechen. Ich habe
immer und immer alle Arsenikalien als ge¬
fährliche Mittel angesehen und habe mir
gesagt, daß es notwendig sein müßte, ein
solches gefährliches Mittel erst auszupro¬
bieren in ausgedehntestem Maße. Man
kann nicht verlangen, daß ein Mittel, wel¬
ches im Körper die Parasiten abtötet, voll¬
kommen unschädlich sein soll. Aber, meine
Herren, der Giftbegriff ist ein relativer.
Nehmen Sie Chloroform und wählen Sie
Soldaten aus. Sie können vielleicht 50000
chloroformieren ohne Todesfall. Wählen
Sie gewöhnliches Krankenmaterial aus, so
ist die Mortalität genau 1 : 2060—2080 seit
vielen Jahrzehnten. Würden Sie aber
Herzkranke chloroformieren, so würden Sie
1 o/o bis 2°/o oder noch mehr haben. Die
Mortalität des Chloroforms ist nicht kon¬
stant, sondern hängt ab von der Art der
Patienten. Dieses Gesetz gilt auch für alle
therapeutischen Präparate.
Man hat nun eine Erprobung vorzu¬
nehmen. Diese Erprobung hat ihre be¬
sonderen Schwierigkeiten insofern, als
jeder, der solche unbekannte Mittel pro¬
biert, in die Lage versetzt werden kann,
Patienten zu finden, die eine angeborene
Ueberempfindlichkeit besitzen und daher
durch die Anwendung des Mittels zu Tode
kommen können und den Arzt großen Un¬
annehmlichkeiten aussetzen. Ich habe nun
das Glück gehabt, in Deutschland Herrn
Prof. Alt und Herrn Prof. Iversen in
St. Petersburg zu finden, die mich auf das
beste unterstützt haben. Herr Prof. Alt
hat vorwiegend an Paralysen und später
mit Hoppe und Schreiber an frischer
Syphilis gearbeitet und als erster die
wunderbaren Heilerfolge konstatiert, wäh¬
rend Iversen unabhängig davon Rekur-
rensstudien gemacht hat und den Nach¬
weis erbrachte, daß unter einer Injektion
Rekurrens definitiv heilt und alle Rück¬
fälle vermieden werden.
Aber, meine Herren, mit diesen Fest¬
stellungen war nur ein kleiner Teil der
Aufgaben erfüllt, insofern, als ich, bevor
ich das Mittel in die Praxis geben wollte, es
für notwendig hielt, daß an 10000—20 000
Fällen Beobachtungen vorliegen, damit
man ganz genau wissen konnte, wie groß
die Gefahrchancen sind, unter welchen
Umständen sie auftreten. Solche Aufgabe
war schwer zu erfüllen, insofern als die
Erprobung eines solchen Mittels seine
großen Schwierigkeiten hat, weil man nicht
überall mitwirken kann, weil in einem
größeren Betriebe Schäden auftreten können,
die im Anfang und bei kleinerem Umfang
von den Autoren durch große Sorgfalt
vermieden werden können.
Ich habe eine Reihe von Herren mit
dieser Aufgabe betraut. Ich muß gleich
hinzufügen, daß es nur möglich ist, Er-
prober zu finden, wenn die Resultate fort¬
laufend veröffentlicht werden, denn man
wird keinen finden, der sich entschließt,
auf eine mündliche Mitteilung der Resul¬
tate hin Versuche anzustellen. Erst wenn
öffentliche druckschriftliche Mitteilungen
erfolgt sind, kann der Betreffende mehr
Mut haben, Versuche anzustellen. Ich habe
nun die Herren Wechselmann, Stern,
Pick, Neißer und Schreiber gebeten,
diese Versuche anzustellen; diese und
später noch eine Reihe von anderen be¬
währten Fachmännern haben sich dieser
Aufgabe unterzogen. Ich verfüge jetzt über
Berichte von ungefähr 10000 Fällen, glaube
aber 12000 dürften wahrscheinlich in vero
injiziert sein.
Es hat sich herausgestellt, daß im all¬
gemeinen das Mittel keine besonderen Ge¬
fahren bietet. Insbesondere darf ich wohl
sagen, daß unter der großen Zahl von Fällen
nur ein einziger, der injena, beobachtet wor¬
den ist, sich befunden hat, wo es sich um eine
Patientin handelte, die ihrem Leiden nicht
hätte erliegen müssen. Aber das hing so
zusammen: Es handelte sich um eine
schwächliche Person mit tertiärer Lues des
Kehlkopfes, bei der eine Injektion mit einer
sauren Lösung aus äußeren Gründen ge¬
macht wurde, eine Lösung, die besonders
stark lokal reizte. Ich glaube es handelt
sich um einen Shok, der mit den neueren
Präparaten wird vermieden werden können.
Die andere Gruppe von Todesfällen,
die kaum ein Dutzend erreichen dürfte,
betrifft ausschließlich Fälle von ganz
schweren Störungen des Nervensystems,
also Tabes mit Kachexie, Fälle verblödeter
Menschen mit Erweichungen im Gehirn,
schwerer Tabes mit paralytischen Erschei¬
nungen usw.
Es sind dies alles Fälle, in denen die
Injektion offenbar den Tod hervorgerufen
hat, insofern als die Patienten wenige
Stunden nach der Injektion gestorben sind.
Aber es betraf Patienten, die auch ohne
Injektion schon Todeskandidaten waren.
Nun, meine Herren, bin ich durchaus
der Meinung, daß man einen Patienten,
auch einen verlorenen Fall injiziert, wenn
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Die Therapie der Gegenwart 1910.
man die Hoffnung hat, daß er sich bessern
kann. So verfährt auch der Chirurg, der
einfach eine Operation vornimmt, auch
wenn sie sehr gefährlich sein sollte. Aber
wenn unter diesen Umständen etwas
passiert, wenn der Retter selbst ins Wasser
fällt, soll man das nicht auf das Mittel
schieben und sagen, das Mittel ist gefähr¬
lich, wie das jQngst von Buschke ge¬
schehen ist, der unter 5 Fällen 2 mal
Arsenvergiftung beobachtet hat. Das wird
jedem, der auch mit 606 behandelte Pa¬
tienten beobachtet hat, höchst verwunder¬
lich erscheinen.
Ich bin auch der Ansicht, daß man einen
solch hochgefährlichen Versuch unter¬
nehmen kann und muß, wenn man der
Ueberzeugung ist, man kann den Patienten
dadurch retten.
So ist z. B. ein Fall einer schweren
Epilepsie. Patient war 2 Jahre in einer
Irrenanstalt, erkannte seine eigene Mutter
nicht. Es wurde eine Injektion gemacht.
Patient bekam danach einen furchtbaren
epileptischen Anfall, sodaß der Arzt glaubte,
daß er jede Minute sterben könnte. Der
Patient kam davon, ist nach 4—5 Tagen
in erheblichster Weise gebessert, kann
sprechen, schreiben und liest. Ein Fall
schwerster Lues mit Pneumonie, wo der
betreffende Arzt die Injektion zunächst
verweigerte, weil der Patient zu schwach
war. Er beschloß am nächsten Tage es
zu tun. Patient entfieberte in wenigen
Stunden und war am nächsten Tage so
wohl, daß er das Krankenhaus verlassen
wollte.
Bei schweren Paralytikern aber glaube
ich, daß es doch sehr gefährlich ist, In¬
jektionen zu machen. Wenn es selbst ge¬
länge, einen zu heilen, so wird doch sein
Zerebrum so zerstört sein, daß er vielleicht
kein nützliches Mitglied der menschlichen
Gesellschaft werden kann. Das wäre mein
Standpunkt dem gegenüber, der eine In¬
jektion vornimmt
Eine zweite Kontraindikation sind die
Herzerkrankungen und die der Gefäße.
So ist mir z. B. ein Fall bekannt, wo ein
Patient injiziert wurde und unmittelbar da¬
nach starb. Es zeigte sich ein Aneurysma,
dessen Wandung geplatzt war. Der Patient
wäre natürlich auch so gestorben. Daß
«in Aneurysma platzt, kommt vor. Ich
habe selbst einen Epileptiker sterben sehen,
bei dem das Fallen einer Schüssel einen
tödlichen epileptischen Anfall hervorge¬
rufen hat. Wenn man eine Injektion vor¬
nimmt, können schwere Unfälle eintreten.
ich glaube, daß man überhaupt bei Gefä߬
erkrankungen, die zu Aneurysma geführt
haben, vorsichtig sein soll. Selbst wenn
man die Spirochäten entfernt, wird das
Aneurysma bestehen bleiben.
Vielleicht darf ich noch sagen, daß viel¬
leicht der wesentliche Nutzen der heutigen
Diskussion erreicht würde, wenn sich die
versammelten Fachmänner besonders über
die Technik aussprechen wollten. Ich ver¬
stehe darunter sowohl die Art der Lösung
als die Höhe der Dosen. Im allgemeinen
wirkt ja immer am schnellsten die intra¬
venöse Injektion und scheint auch mit 0,4
bis 0,5 g gut ertragen zu werden. Weiter¬
hin wirkt am besten die alkalische Lösung,
die zuerst von Alt und Iversen erprobt
wurde und nur den kleinen Nachteil hat,
daß sie ziemlich schmerzhaft ist. Dagegen
hat die neutrale Emulsion von Michaelis
und Wechselmann den Vorzug, daß die
Schmerzhaftigkeit geringer ist. Es besteht
die Wahl zwischen den beiden Formen,
sie hängt zum Teil ab nach meiner An¬
sicht von der Beschaffenheit des Indivi¬
duums.
Bei Neurasthenikern, bei Alkoholikern,
bei Leuten, die sehr schmerzempfindlich
sind oder bei denen der Schmerz eine un¬
angenehme Reaktion des Herzens hervor¬
ruft, glaube ich, wird die neutrale Lösung
vorzuziehen sein, während in allen anderen
Fällen, wo man auf die Schmerzhaftigkeit
nicht Rücksicht zu nehmen hat, wohl die
alkalische Injektion als die am meisten
wirksame und theoretisch beste in Betracht
zu ziehen wäre.
Ich glaube, daß in Zukunft eine Kom¬
bination beider Injektionsformen, intra¬
venös und subkutan, angebracht wäre, die
zuerst von Iversen ausgeführt, mir aber
unabhängig von verschiedenen Seiten, von
Neißer, Alt und noch anderen als in
Vorbereitung stehend bezeichnet worden
ist. Ich glaube daher, daß bei sonst ge¬
sunden Individuen die Doppelinjektion, wie
sie Iversen ausgeführt hat, zu empfehlen
ist. Dem Patienten werden 0,4—0,5 g
intravenös injiziert und an zweiter Stelle
eine Dosis subkutan oder intramuskulär,
die langsam resorbiert wird. Man braucht
zu letzterer neutrale Lösungen oder ver¬
fährt nach den neueren Vorschriften von
Volk, Kromeyer, die mit einer Paraffin¬
emulsion arbeiten. Das ist die Frage der
Injektion.
Außerordentlich wichtig ist dagegen die
Frage der Dose. Die Dose hängt nach
meiner Ansicht ab von der Art der Kranken.
Ich kann keine allgemeine Direktive an¬
geben. Ich glaube aber, daß bei Nerven-
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Die Therapie der Gegenwart 1910.
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erkrankungen man die Dosis klein wählen
muß und hier nicht über 0,4 g hinausgehen
soll, denn wir müssen uns eben klar wer¬
den, daß wir hier solchen Individuen
gegenüberstehen, die überempfindlich sind
und von seiten ihres Herzens oder des
zentralen Nervensystems unangenehm rea¬
gieren könnten. Dann ist auch in Betracht
zu ziehen, daß bei diesen Kranken offen¬
bar die Zahl der Spirochäten in außer¬
ordentlich geringem Maß vorhanden zu
sein scheint, sodaß wahrscheinlich kleinere
Mengen ausreichen, um eine eventuelle
Abtötung der Spirochäten zu erreichen,
ln dieser Beziehung darf ich wohl auf eine
ganz wichtige Frage aufmerksam machen.
Es ist notwendig, um einen klaren Ein¬
blick in die Heilmöglichkeit zu gewinnen,
diese mittels der Wassermannschen
Reaktion fortlaufend zu kontrollieren. Es
ist dies die wichtigste Frage in der The¬
rapie. Leider ist die Zeit, die bisher ver¬
strichen ist, bei der Syphilis viel zu un¬
genügend, um etwas sagen zu können. Ich
betrachte es daher als ein besonderes
Glück, daß wir durch die vorhergehenden
Arbeiten Alts über die Paralyse Beobach¬
tungsmaterial haben, welches bezüglich der
Behandlung mit Arsenophenylglyzin sich
über 2 Jahre erstreckt. Das letztere be¬
sondersist intensiv untersucht von Ne iß er,
ist im Wesen genau von denselben Wir¬
kungen wie 606, nur mit dem Unterschied,
daß das Präparat häufiger Nebenwirkungen
ausübt, die die Anwendung des Präparates
im großen hindert. Im Prinzip ist die Wir¬
kung der Substanz genau wie die von 606.
In Uchtspringe ist festgestellt worden,
daß ungefähr 16% der Paralytiker ihre
Wasser m an nsche Reaktion verloren
haben und ein ebenso großer Teil, 20%,
eine Abschwächung erkennen ließ. Bei
der Beurteilung kommen nur die 16 0/ 0 in
Betracht. Es hat sich nun gezeigt, daß
diese Patienten in einem Zeitraum von
2 Jahren die Reaktion nicht wieder ge¬
wonnen haben, und ich glaube, das ist eine
Tatsache, die uns mit den besten Hoff¬
nungen in die Zukunft blicken läßt.
Ich komme nochmals zurück auf die
Behandlung. Ich sage also, bei gewissen
Formen mit wenig Spirochäten, Paralyse,
Tabes und spinaler Syphilis wird man mit
geringen Dosen auskommen können, um
so mehr, als man ein zweites Mal, falls die
Affektionen nicht heilen, insbesondere nach
Wechselmann die Injektion wiederholen
kann. Dagegen bin ich der Ansicht
Neißers, daß man versuchen soll, bei
sonst kräftigen Individuen durch die erste
Injektion möglichst den vollen Effekt zu
erzielen. Wie hoch soll man gehen? Ich
glaube, daß man bei gesunden Individuen
dieDosis vielleicht auf 0,8—1,0 wird steigern
können, ohne besondere Gefahr. Ja, ich
glaube, daß man vielleicht noch weit höher
wird gehen können und eventuell auch ver¬
suchen kann, noch durch eine zweckmäßige
Kombinationsbehandlung den Effekt, der
fortlaufend zu kontrollieren sein wird, zu
verstärken. Das sind Aufgaben, die noch
sehr viel Zeit und Arbeit erfordern wer¬
den. Es ist unmöglich, bei einer so schwie¬
rigen Frage im ersten halben Jahre zu
definitiven Resultaten zu gelangen. Das
war das Wesentlichste, was ich sagen
wollte.
Vielleicht darf ich noch anführen, daß
das Mittel auch bei anderen Affektionen
wirkt. Ich möchte anschließen an den
schönen Vortrag, den Herr Wassermann
gehalten hat. Es ist möglich, daß dieses
Mittel, wenn es auch auf Spirochäten ein¬
gestellt ist, auch eine Reihe anderer Affek¬
tionen sozusagen im Streuungskegel trifft.
Die Gründe, die maßgebend sind, sind aus¬
führlich von Wassermann auseinander¬
gesetzt worden. Als solche Leiden möchte
ich an erster Stelle die Framboesie nennen*
die ja der Syphilis so nahe steht. Der
Tierversuch hat nachgewiesen, daß man sie
mit 606 behandeln kann. Auch bei Menschen
(in Manila) hat man gefunden, daß 606
außerordentlich gut wirkt. Ich glaube, daß
606 auch hier in kleineren Dosen wirk¬
sam ist.
Eine zweite Affektion sind die vielen
Spirochätenerkrankungen, insbesondere die
Hühnerspirillosen, bei denen zuerst von
Uhlenhuth der Wert des Atoxyls erprobt
worden war. Also auch hier heilt 606 in
glänzender Weise.
Weiterhin käme in Betracht Rekurrens*
überweiches Iversen Beobachtungsmaterial
gesammelt hat. Dann scheint noch eine
weitere Erkrankung, die Malaria, gut be¬
einflußt zu werden. Hier ist gleichzeitig
von verschiedenen Seiten, von Nocht und
Iversen, mitgeteilt worden, daß bei ge¬
wissen Formen auch 606 eine Heilwirkung^
ausübt. Iversen spricht darüber, und sa
bitte ich diesen Teil übergehen zu dürfen*
Dann scheint es noch, als ob vielleicht bei
einer anderen Erkrankung ein gewisser
Effekt zu erzielen wäre. Das ist nämlich
Variola. Wie mir Dr. Haller aus Saratow
berichtete, hat er unter „606“ einen Fall
von Variola zur Heilung kommen sehen,
wie er einen von gleicher Schwere noch
nie hat ausheilen gesehen.
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Die Therapie der Gegenwart 1910.
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Also, da es sich um zwei Fälle handelt
und um einen zuverlässigen Arzt, so kann
man vielleicht Hoffnungen hegen.
Ich darf vielleicht erwähnen, daß ganz
unabhängig hiervon mein Mitarbeiter Marks |
die Idee hatte, 606 bei mit Vakzine in- i
fizierten Kaninchen zur Anwendung zu i
bringen. Er rasierte die Rückenhaut nach j
! dem Calmetteschen Verfahren und sah
dann an den rasierten Stellen eine starke
Vakzination auftreten, während bei Tieren,
die 606 erhalten, die Reaktion vollkommen
| ausblieb. Es scheint Marks gelungen zu
i sein, den Nachweis für die Wirksamkeit
i des Mittels für den Tierversuch zu er-
| bringen.
Aus der Diskussion über Ehrlichs Vortrag.
Alt (Uchtspringe) gibt einen Ueberblick
über die ersten Nachprüfungen 606. Zuerst
hat er Tierversuche an Hammeln und Hunden
aufgestellt, um über die Resorptionsweise,
Toleranz, Ausscheidung und örtliche Wir¬
kung etwas zu erfahren. Dann wurde das Mit¬
tel zwei Menschen (Assistenten) ä 0,1 g inji¬
ziert mit nur örtlicher Reaktion. Er wieder¬
holt dann die Resultate seiner ersten Be¬
handlungen (mitgeteilt in der Münch, med.
Wochschr., 15. März 1910) und hebt noch¬
mals die 100 erstbehandelten Fälle, die von
Schreiber auf dem Internistenkongreß in
Wiesbaden vorgestellt sind, hervor. Er
macht darauf aufmerksam, keine Depots im
Körper von Kranken von neuem zu setzen,
ehe die alten aufgebraucht sind, um eine
chronische Arsen Vergiftung zu vermeiden.
Besondere Vorsicht rät er an, wenn es sich
um Patienten mit chronischen Nervenleiden
handelt. 606 hat nicht nur eine große
Affinität zur Leibessubstanz der Spirochäten,
sondern zu allen syphilitischen Neubildungen.
Es setzt um einen syphilitischen Herd eine
Hyperämiezone und wenn das z. B. in einer
geschlossenen Kapsel, wie der Schädel¬
kapsel, geschieht, kann es zu Druckschwan¬
kungen Anlaß geben, die zuweilen ver¬
hängnisvoll werden können. Aehnliche Zu¬
stände wurden auch bei der Behandlung
mit Arsenophenylglyzin beobachtet. Bei
Paralytikern der sogenannten spastischen
Form rät er deshalb von dem Gebrauch
ab, weil zu leicht ein Anfall ausgelöst
werden kann. Nur bei Paralysen ganz im
Anfang und bei Taboparalyse ist es mit
Erfolg anzuwenden. Gehirnlues bietet gute
Aussichten auf Heilung durch 606. Die
venöse Injektion des Präparates muß mit
der von Schreiber angegebenen Vorsicht
ausgeführt werden. Bei Tabikern tritt ein
Nachlassen der Schmerzen gewöhnlich erst
nach einer Zeit der Reizung ein, in welcher
die subjektiven Beschwerden vermehrt sind.
Optikusatrophie hat Alt nie beobachtet.
Schreiber (Magdeburg): Die Schmerz¬
haftigkeit der anfangs üblichen intramusku¬
lären Injektion, besonders aber die Be¬
obachtung, daß die stark alkalische Lösung,
sowie die Pulveremulsion Nekrosen macht,
veranlaßten zur intravenösen Injektion.
Schreiber gibt seine jetzige Technik an
unter Demonstration einer besonders kon¬
struierten Kanüle. Die intravenöse In¬
jektion ist, wenn technisch richtig ausge¬
führt, unter Anwendung einer stärkeren
Verdünnung nicht gefährlicher, als die In¬
jektion anderer differenter Mittel. Besondere
Zustände sah Schreiber bei über 400
Fällen nicht, auch nicht bei zweimaliger
Einspritzung. Das Präparat läßt sich in
50°/o*ger Salbe sehr gut bei Kondylomen
zur lokalen Behandlung benutzen, da es
ätzend wirkt. Buschke gegenüber betont
Schreiber, daß die von Buschke zitierten
Fälle auf die Technik zurückzuführen sind,
nicht aber auf die Giftigkeit des Mittels.
Er hat nie behauptet, das Mittel sei un¬
giftig. Wichtig ist, daß man bei desolaten
Patienten, besonders solchen mit Hirn¬
erscheinungen, zunächst kleine Dosen nimmt,
weil große Dosen stärkere Reaktionser¬
scheinungen hervorrufen, die bedenklich
werden können.
Iversen (St. Petersburg) verwandte
bei Lues zuerst die intravenöse Injektion,
jetzt die Kombination der intravenösen
mit der intramuskulären, im ganzen
0 8—1,0 g Arsenobenzol. 100 Fälle. In
6 Fällen bemerkte er Rezidive, die nach
wiederholter Injektion verschwanden,
diese hatten weniger als 0,4 erhalten.
Für alle Stadien der Lues ist die Wir¬
kung eine eklatante; besonders für die
Spezifität des Mittels spricht der Erfolg
bei maligner Lues, die jahrelang allen
Quecksilberpräparaten getrotzt hat. Punk¬
tion der. Leistendrüsen ergab nach 3 bis
5 Tagen keine Spirochäten mehr. Iversen
hat das Mittel auch bei Malaria angewendet,
nachdem anfänglich einige Fälle von ter¬
tiana gut heilten, hat er seine Versuche
weiter im Kakasus angestellt. 27 Fälle ter¬
tiana, 4 quartana, 27 tropica, 2 gemischt
tertiana und tropica. 0,45 bis 0 8 Dosis
intravenös und subkutan. Tertiana heilt in
700 j 0 der Fälle bei intravenöser Injektion;
nach 12 bis 24 Stunden verschwinden die
Plasmodien aus dem Blut für immer, der
Milztumor wird kleiner, nur in ganz alten
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Die Therapie der Gegenwart 1910.
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Fällen wird der Milztumor nicht kleiner.
In 30% hören die Paroxysmen auf, aber
die Parasiten bleiben im Blut. Quartana
hat er nur 4 Fälle behandelt, 2 davon re¬
agierten nicht, 2 hatten nach der Injektion
schwächere Paroxysmen und geringeren
Fieberanstieg. Auch Tropika reagiert
schlecht auf die Injektion, die Besserung
ist nur vorübergehend. Die Parasiten ver¬
schwinden nicht aus dem Blute und in
einigen Tagen kommt es wieder zu Fieber.
In 4 Fällen hat er Reizzustände beobachtet,
ähnlich wie sie bei Verwendung subthera¬
peutischer Dosen bei Lues beschrieben
worden sind: Fieber, stärkere Anfälle und
Auftreten von jungen Ringen in den Ery¬
throzyten — in zwei anderen Fällen stieg
das Fieber wieder nach 5 Tagen an, und
an Stelle der vorher kleinen Ringe traten
nun Semilunarformtn. Eine Kombination
des 606 mit Chinin kann zu einem Angriff
der Parasiten von zwei Seiten führen und
damit zur Heilung.
Wechsel mann (Berlin): Es ist fest¬
stehend, daß Ehrlichs Dioxydiamidoarseno-
benzol ein den anderen überlegenes spe¬
zifisches Mittel gegen alle Manitestationen
der Lues ist. Es ist unzutreffend, daß es
nur etwas stärker als Kaiomel wirkt, sondern
es greift dort heilend ein, wo Kaiomel durch
Jahre vergeblich gegeben wurde (Kranken¬
vorstellung). Die unvollkommene Wirkung
einer zu kleinen Dose kann durch Reinjek-
tion kompensiert werden. Rezidive scheinen
seltener und mehr als Herdrezidive auf¬
zutreten. Bei Tabes sind Besserungen zu
konstatieren. In einem Falle kehrten die
erloschenen Patellarsehnenreflexe wieder,
möglich, daß es sich um Pseudotabes
handelt; diese wird nicht durch Queck¬
silber, aber durch 606 gebessert. Aehnlich
geht es vielfach auch mit Pseudoparalysen
im Sinne Fourniers. Untersuchungen mit
Nikolai haben ergeben, daß das Mittel
nicht das Herz schädigt, gelegentlich sinkt
der Blutdruck, Vorsicht ist bei schwachen
Herzen am Platz. Verbreiterte Aorten und
Aortenaneurysmen sind ohne Schaden in¬
jiziert worden. Zu fürchten sind am 8. und
9. Tage auftretende Arzneiexantheme mit
hohem Fieber. Schädigungen des Seh¬
nerven sind nicht beobachtet worden. Auch
bei Neuritis optica und Sehnervenatrophie
wurde das Mittel vertragen. Mehrfach trat
Nekrose des Unterhautzellgewebes auf.
Orth (Berlin) demonstriert zwei Prä¬
parate von Injektionsstellen des Ehrlich
606-Präparates in die Glutäalmuskulatur.
Bei dem ersten Fall bestand eine Tabes,
der Tod ist 12 Tage nach der Injektion ein¬
getreten. Man sieht in der Muskulatur
mehrere verschieden gestaltete, insbesondere
aber einen walnußgroßen Herd mit gelber
Peripherie und rotem Zentrum. Trotz des
eiterähnlichen Aussehens ergab weder die
bakteriologische Untersuchung Mikroorga¬
nismen in diesem Herde, noch konnte
mikroskopisch von einer eigentlichen Eite¬
rung die Rede sein, da sich zwar einige
Leukozyten in der Peripherie befanden,
der Herd aber wesentlich aus ausge¬
storbenem Muskelgewebe bestand. Der
zweite Fall bot einen anatomisch ganz ähn¬
lichen Befund. Der Tod war hier 6 Wochen
nach der Injektion infolge Karzinoms des
Pharyngo Larynx eingetreten. Beide Fälle
zeigen, daß durch die Injektion mit Dioxy-
diamidoarsenobenzol nicht sowohl entzünd¬
liche Infiltrate als ausgedehnte Gewebs-
nekrosen verursacht werden können, welche
lange Zeit bestehen bleiben.
Mickley (Berlin): Mickley hat an der
Lesserschen Klinik in Gemeinschaft mit
Stroscher und Tomaczewski etwa 150
Syphilisfälle mit dem Ehrlich sehen Mittel
behandelt und durchweg gute, zum Teil
glänzende Erfolge erzielt Der Primär-,
affekt überhäutet sich schnell. Von der
sekundären Lues reagieren besonders gut
die papulösen Exantheme, ferner die
Schleimhauterkrankungen. Die auffälligsten
Erfolge zeigen sich bei der tertiären Lues.
Mickley hat einen Patienten mit fünfmark-
stückgroßem, zerfallenem Gummi auf dem
Schädel, Sequesterbildung daselbst und
spezifisch schwer veränderten Kniegelenken
behandelt. Das Gummi war 17 Tage nach
der Einspritzung geheilt, und der Patient
der fast % Jahr bettlägerig gewesen war,
konnte 2—3 Wochen nach Beginn der Be¬
handlung aufstehen. Aehnlich wirkte das
Präparat bei einem Mann, der infolge der
langen Erkrankung und der vielen Kuren
körperlich total heruntergekommen war.
Bei ihm begann schon am zweiten Tage
nach der Einspritzung sich der Allgemein¬
zustand zu heben und 4 Wochen später
konnte er wesentlich gebessert die Klinik
verlassen. Auch bei Neugeborenen mit
kongenitaler Lues wirkte das Mittel aus¬
gezeichnet. Mißerfolge waren nicht zu ver¬
zeichnen, dagegen sind zwei Rezidive vor¬
gekommen. Nebenwirkungen wesentlicher
Art wurden — abgesehen von der übrigens
nicht stets vorhandenen Schmerzhaftigkeit
der Einspritzung —, nicht beobachtet.
Mickley kommt zu dem Schluß, daß die
Ehrlichsche Entdeckung die Behandlung
der Syphilis in einer ganz außerordentlichen
Weise gefördert hat und daß sie für die
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Die Therapie der Gegenwart 1910.
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Behandlung und Bekämpfung der Lues
einen gewaltigen Fortschritt bedeutet.
Uhlenhuth (Berlin) berichtet kurz über
seine Versuche mit Atoxyl. Er hält das
Atoxyl in seiner Wirkung dem Queck¬
silber bei weitem überlegen. Trypano¬
somentiere wurden prompt geheilt. Bei
Hühnern tritt nach Atoxylinjektion eine
Immunität gegen Spirillosen ein. Auch bei
Lues hat er gute Erfolge mit der Atoxyl-
behandlung gesehen. Verglichen mit dem
606 Präparat ist dieses in der Schnellig¬
keit der Wirkung dem Atoxyl bei weitem
überlegen.
Stern (Düsseldorf): Gegenüber den
glänzenden Ergebnissen, die sich bei einer
erheblichen Anzahl der Fälle erzielen lassen,
lenkt der Vortragende die Aufmerksamkeit
auf diejenigen doch nicht so ganz seltenen
Beobachtungen, in denen trotz relativ
großer Dosis doch das Mittel versagt Aus
seinen Beobachtungen und Studien muß
Stern schließen, 1. daß die Durchschnitts¬
dosis von 0,5 in einmaliger Anwendung
sich doch in manchen Fällen als zu klein
erweist, 2. daß selbst bei Anwendung von
0,7—0,8 sich arsenfeste Spirochätenstämme
bilden können, und daß 3. die vielfach
gerade im Publikum herrschende Meinung,
die Syphilis könne nunmehr mit einer ein¬
maligen Injektion geheilt werden, nicht
richtig sei. Gegenüber dem oft geradezu
phantastischen Optimismus, der auch in
Aerztekreisen sich gegenüber dem neuen
Mittel bemerkbar mache, hält der Vor¬
tragende es doch für Pflicht, darauf auf¬
merksam zu machen, daß selbst bei hoher
Einzeldosis ein Erfolg ausbleiben kann.
Da die lange Remanenz des Arsens erwiesen
sei und an den von Orth demonstrierten
Präparaten auch die intensive lokale Ein¬
wirkung des Mittels feststehe, sei die Frage
wohl berechtigt, ob es so ganz ungefähr¬
lich sei, die hohe Einzeldosis in kurzen
Abständen zu wiederholen. Gerade nach
dieser Richtung hin mahnten die Versager
zum Nachdenken.
W. Scholtz (Königsberg) erwähnt zu¬
nächst drei von ihm beobachtete Versager
mit 606, von denen zwei offenbar auf zu
geringe Dosis, 0,3 und 0,4, einer auf einen
arsenfesten Stamm zurückgeführt werden
mußten. Dann geht er kurz auf die Tech¬
nik ein und bemerkt, daß dieselbe seiner
Ansicht nach noch nicht zur Zufriedenheit
gelöst ist, denn bei den Injektionen Mi¬
chaelis und Alt sind die Schmerzen doch
noch oft recht erheblich, bei den Injektionen
nach Wechsel mann geht die Resorption
durch Bildung abgekapselter Infiltrate bis¬
weilen nicht gleichmäßig und schnell genug
vonstatten. Scholtz konnte nach fast
7 Wochen nach der Injektion in wenigen
Kubikzentimetern eines verflüssigten faust¬
großen Infiltrates mehrere Zehntel Milli¬
gramm Arsen nachwiesen.
Dann berichtete Scholtz über einen
Fall von hereditärer Lues, bei dem nach
dem Vorgang von Ta ege der Mutter
eine Injektion von 0,5 Arsenobenzol ge¬
macht wurde, und bei dem von der Mutter
gesäugten Kinde hierauf innerhalb von
10 Tagen ein vollkommenes Abheilen des
papulo-squamösen Exanthems und der übri¬
gen luetischen Erscheinungen erfolgte. In
der Milch der Mutter konnten 48 Stunden
nach der Injektion nur ganz minimale
Spuren von Arsen (weniger als ^io mg)
nachgewiesen werden, die für die Hei¬
lung wohl sicherlich nicht in Betracht
kommen.
Daraufhin versuchte Scholtz bei Pa¬
tienten mit florider akquirierter Lues eine
Serumbehandlung direkt durch Injektion
des Blutserums von Syphilitikern, die
48 Stunden vorher eine Injektion mit 606
erhalten hatten. In der Tat konnte aut
diese Weise bei zwei Patienten eine nahezu
völlige Abheilung des Exanthems und der
nässenden Papeln erzielt werden, während
bei drei anderen Patienten nur in den
ersten Tagen eine Besserung eintrat, dann
aber kein weiterer Fortschritt erfolgte und
zu anderer Behandlung übergegangen wer¬
den mußte. Die Spirochäten nahmen
in allen Fällen nur an Zahl und Beweg¬
lichkeit ab, verschwanden aber nur vor¬
übergehend, nicht dauernd. Die Spiro¬
chäten werden offenbar durch diese Serum¬
behandlung nicht sehr erheblich beeinflußt,
es handelt sich vielleicht nur um die Bil¬
dung antitoxischer Stoffe im Serum.
Eine Arsenwirkung kommt jedenfalls
nicht in Frage, denn in 20 ccm des ver¬
wandten Serums konnten nur minimale
Spuren (weniger als Vio mg) Arsen nach¬
gewiesen werden, und den Kranken wur¬
den bisher nur 30—50 ccm injiziert. (Auto¬
referat.)
L. Michaelis (Berlin) tritt für die Ver¬
wendung der neutralen Suspension ein,
und bestreitet, daß die Wirkung der alka¬
lischen Lösung schneller als die der Sus¬
pension sei. Das Arsenobenzol sei ein
amphoterer Elektrolyt, der im freien Zu¬
stand eine minimale Löslichkeit besitzt.
Die Löslichkeit hänge von der Reaktion
der Lösung ab, bei der neutralen resp.
spurweise alkalischen Reaktion des Blutes
und der Gewebe hat die Löslichkeit des
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Die Therapie der Gegenwart 1910.
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606 ein Minimum. Daher fällt die alkali¬
sche Lösung, wenn man sie in die Gewebe
njiziert, nachträglich zum größten Teile
doch aus, und stellt somit ebenso eine
Depotbehandlung dar, als die reizlosere
neutrale Suspension. Die Injektion in den
Rücken wird besser nicht subkutan, son¬
dern tiefer in die oberflächliche Rücken-
vnuskulatur gemacht. Es entstehen hier
kaum Infiltrate.
Grün fei d (Odessa) führte etwa folgen¬
des aus: In Rußlend sei die Lues sehr
verbreitet, es gibt Ortschaften, deren Be¬
wohner zu 80% als Luetiker bezeicnet
werden können. Da 606 besonders für
die massenhafte Behandlung der Syphilis
geeignet sei, so sei es in Rußland bereits
.zur Gründung sogenannter „fliegender
Kolonnen" zur Behandlung der Syphilis
gekommen, wenigstens unter der ländlichen
Bevölkerung. In Tausenden von Fällen sei
das Arsenobenzol als ein ausgezeichnetes
Mittel besonders bei hereditärer, schwer
ulzeröser und maligner Lues erprobt.
Grünfeld hegt die Hoffnung, daß die
verblüffenden und rasch auftretenden Re¬
sultate im russischen Volke wieder das
Vertrauen zur Heilkraft der Arzneien er¬
wecken mögen.
Grouven (Halle) hält das Mittel nach
seinen Erfahrungen, die er aus der Be¬
handlung von 200 Fällen gewonnen hat,
allen bisherigen Luesheilmitteln überlegen.
Bei schweren Störungen des Gefäß- und
Nervensystems rät er von der Anwendung
ab. Geringe Intoxikationserscheinungen
sind sowohl bei intravenöser als auch bei
intramuskulärer Applikation möglich, wegen
einer Reihe unbekannter Faktoren, die bei
der venösen Injektion mitspielen, empfiehlt
er diese nicht. Bei Kopfschmerzen, Fieber,
gastrointestinalen Störungen, Gicht, muß
man vorsichtig verfahren. Die neutrale
Injektion ist weniger schmerzhaft, aber der
Erfolg auch zögernder. Bei wiederholten
Injektionen wurde niemals bis auf zwei
Fälle eine kumulative Wirkung beobachtet.
Die Wassermann sehe Reaktion ver¬
schwindet bei parasyphilitischen Erkran¬
kungen sofort, in frühen Stadien der Lues
langsam. Ein Negativwerden der Wasser¬
mann reakdon ist nicht gleichbedeutend
mit einer Heilung. Verfasser berichtet
über zwei Rezidive und über drei Fälle
von Primäraffekt, bei denen der Ausbruch
sekundärer Erscheinungen nicht verhindert
werden konnte. Das Mittel ist sicherlich
ein Fortschritt bezüglich der Schnelligkeit
der Wirkung als auch der Spezifität, wo
Quecksilber versagt.
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Glück (Sarajewo) berichtet über 417
mit 606 behandelte Fälle und zeigt viele
Abbildungen schwerster Lues. Davon sind
47 Primäraffekte mit einer Durchschnitts¬
heilungsdauer von 8—9 Tagen. 281 sind
rezent Syphilitische mit einer Behandlungs¬
dauer von 10 Tagen, 99 sind tertiäre Lues
mit einer durchschnittlichen Behandlungs¬
dauer von 12 Tagen. Unter den behan¬
delten Fällen finden sich 7 Rezidive, alle
diese sind mit der Dosis 0,3 gespritzt. Bei
den Rezidiven war von Anfang an die
Heilung etwas verzögert. Glück knüpft
hieran die Mahnung, auf alle Fälle mit
langsamer Heilung besonders zu achten.
Am hartnäckigsten sind Sklerosen an der
Portio, die 18 Tage im Durchschnitt zur
Heilung benötigen. Glück macht die
Heilungsdauer direkt von der Größe der
Dosis abhängig. Trotz 0,7—0,8 ist nur
einmal eine Arsenintoxikation ohne Folgen
vorgekommen.
Friedländer (Berlin) berichtet über
80 Fälle, 15 Primäraffekte, darunter 12 ge¬
nitale, 3 andere mit Drüsenschwellungen,
teils mit Gangrän. Bei einer Dosis von
0,3—0,6 in 6—24 Tagen verschwanden die
Erscheinungen, einige waren von Sekundär*
erscheinungen gefolgt. 48 Fälle mit
schweren Hauterscheinungen und häufig
schwerer Kachexie gingen prompt zurück.
Die Patienten nahmen sehr an Gewicht zu,.
ein Rezidiv unter diesen 28 Fällen, das
mit 0,6 gespritzt war, wurde durch eine
Dosis von 0,3 beseitigt. 15 Fälle von
schweren Schleimhauterkrankungen mit
Zerstörungen an Tonsillen, Epiglottis,
Uvula, mit Papeln am ganzen Körper
heilten nach 0,4. Gummata im Rachen und
Trachea nach 0,3, ein Herr mit schweren
Zerstörungen an der Zunge nach 0,5.
Nervenfälle (Tabiker, Pseudotabiker, Mus¬
kellähmungen) wurden insofern gut beein¬
flußt, als die Schmerzen verschwanden, vor
allem die Kopfschmerzen. Eine Tabes
initialis mit Blasenstörungen wurde be¬
schwerdefrei nach 8 Tagen. 606 ist den
Quecksilberpräparaten sicher überlegen.
Friedländer schlägt für Primäraffekte
große Dosen vor, bei Rezidivbehandlung
je nach der Schwere der Sekundärerschei¬
nungen. Der Wert des Ehrlich sehen
Präparates beruht in der Fähigkeit, schnell
die Erscheinungen zum Schwinden zu
bringen.
Pick (Wien) weist auf die Verschieden¬
heit hin, mit der das Mittel vertragen wird
bezüglich der Temperatursteigerung. Er
findet, daß hauptsächlich hysterische und
neurasthenische Personen stark reagieren,
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UNIVE RSITY OF CA LIFORNIA
November
Die Therapie der Gegenwart 1910.
525
die auch auf eine einfache Wasserinjektion
schon Fieber bekommen. Er zieht hier
einen Vergleich mit den Tuberkulininjek¬
tionen, die auch zuweilen bei nervösen
Menschen Fieber machen, ohne daß diese
einen tuberkulösen Herd haben. Er
empfiehlt probatorische Injektionen ambu¬
latorisch vorzunehmen von 0,05 und wenn
die Patienten darauf reagieren, nur kleine
Dosen zu verwenden.
Schindler (Berlin) hebt hervor, daß
man die refraktären Fälle von Primär¬
affektionen, die mit 606 behandelt sind,
doch nicht vergessen soll. Er hat einen
Patienten mit einem Primäraffekt am Prä¬
putium und einem größeren ulzerierten am
linken Mundwinkel mit großen regionären
Drüsen mit 0,45 des Ehrlichschen Mittels
gespritzt. Nach 48 Stunden war der
Primäraffekt am Präputium abgeheilt, der
an der Lippe aber nur zurückgegangen,
und ebenso die regionären Drüsen,
und erst auf Quecksilberpflaster und In¬
jektion von grauem Oel verschwand alles
restlos.
Emmery (Paris) berichtet über 50 In¬
jektionen, die er gemacht hat. Er hält das
Mittel für vollkommen unschädlich. Die
Schmerzen und die lokalen Entzündungs¬
erscheinungen in der Umgebung der In¬
jektionsstelle sind sehr unbedeutend. Tem¬
peratursteigerung war selten, und auch
dann nur bis 38°. Von den Erfolgen ist
zu sagen, daß Primäraffekte verhältnis¬
mäßig langsam verschwanden, die Sekundär¬
erscheinungen schnell zurückgingen. Alte
Knochen- und Gelenkprozesse heilten in
geradezu wunderbarer Weise. Ueber die
Beeinflussung nervös - syphilitischer Pro¬
zesse gibt Verf. noch kein abschließendes
Urteil.
Volk (Wien) schlägt eine Suspension
des Präparates 606 in Paraffinum liquidum
oder in Oleum olivarum vor. Nach seiner
Meinung heilen Sklerosen und die sekun¬
dären Krankheitsformen der Syphilis
schneller als bei Quecksilberbehandlung,
besonders bei ulzerösen Syphiliden zeigt
sich die überlegene Heilwirkung des neuen
Mittels. Bei Palmar- und Plantarsyphiliden
ist 606 dem Hg nicht wesentlich überlegen,
bei papulösen und makulösen Exanthemen
leistet das Hg mehr. Oftmals muß man
mehrere Injektionen mit 606 machen, da
auf die erste Injektion die Rückbildung un¬
genügend ist. Nebenerscheinungen wurden
wenig beobachtet, nur manchmal Blutdruck¬
senkungen und Temperaturen bis 39,6°,
schnell vorübergehende Exantheme und
Urinverminderung in den ersten Tagen.
Selten trat die Herxheim ersehe Reaktion
auf. Das Allgemeinbefinden und das
Körpergewicht bessern sich gewöhnlich
sehr schnell. Die Wassermannsche Re¬
aktion wurde nur im Verlauf von Wochen
und Monaten beeinflußt. Auch Volk hält
das Verschwinden der Wassermannschen
Reaktion nicht unbedingt für ein Signum
sanationis. Vier Rezidive wurden beob¬
achtet. Zum Schlüsse empfiehlt Volk die
kombinierte Behandlung mit Hg.
H. Citron (Berlin) berichtet über ein
von ihm gemeinsam mit Mulzer im Kaiser¬
lichen Gesundheitsamte ausgearbeitetes, an
Tieren wie an Patienten bereits erprobtes
Verfahren zur Herstellung gebrauchsfertiger
606 Lösungen. Letztere werden ausschlie߬
lich in der Spritze selbst bereitet und mit
CaCO 3 * Aufschwemmung gefällt. Citron
charakterisiert die Vorteile der Methode
dahin, daß 1. die bereitete Lösung absolut
steril ist, 2. die Emulsion unter allen Um¬
ständen auch ohne quantitative Abmessungen
neutral wird, daher reizlos wirkt, 3. das
Injektionsquantum sich auf ein Minimum.
(6—8 ccm) beschränken läßt, 4. durch Ver¬
meidung von Aetzalkalien und Säuren jede
Dekomposition des diffizilen Präparates
tunlichst vermieden wird. Die bisher er¬
zielten Resultate sprechen für die Richtig»
keit der Schlußfolgerungen.
Nagelschmidt (Berlin) hatte Gelegen¬
heit, eine größer? Anzahl initialer Tabes¬
fälle zu behandeln. Die Mehrzahl der
Neurologen steht auf dem Standpunkt, die
spezifische Behandlung der Tabes mit Hg
zu widerraten wegen der foudroyanten
Verschlimmerungen, die oft nach geringen
Dosen schon eintreten und sogar stationär
bleiben können. Nagelschmidt hat da¬
her schon seit Jahren in Fällen, welche
sich für eine antiluetische Behandlung
zu eignen schienen (insbesondere die
Fälle mit positiver Wassermannscher
Reaktion), einen anderen Modus der
spezifischen Behandlung zunächst mit
Quecksilber, dann mit Arsazetin und
schließlich mit 606 angewandt. Er beginnt
mit einer ganz schwachen Injektion; jedoch
sieht man nicht selten auch darnach schon
eine deutliche Exazerbierung objektiver
und subjektiver Symptome auftreten. Nach
Ablauf dieser Reaktion, d. h. nach einer
oder mehreren Wochen, erfolgt eine zweite
vorsichtige Dosis von derselben Größe
oder etwas größer und so fort mit ge¬
nügenden Intervallen, wobei man sich in
jedem Falle nach der individuellen Reak¬
tion richten muß. Er empfiehlt daher drin¬
gend, in derartigen Fällen von der Dosis
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UNIVERSiTY OF CALIFORNIA
526
Die Therapie der Gegenwart 1910.
November
magna sterilisans, die ja in diesen Fällen
nicht mehr in Betracht kommt, abzusehen
und sich der individuellen, einschleichen¬
den Methode zu bedienen. Wiederholte
Injektionen bis zu der Gesamtdosis von
1,5 oder 2,0 des Mittels werden hierbei gut
vertragen und ausgezeichnete Besserungen
beobachtet.
Ledermann (Berlin) hat mit 606-Be-
handlung Erfolg gehabt bei Ozaena. Bei
Infiltraten der Stimmbänder ist die Aphonie
in 5—6 Wochen einer normalen Sprache
gewichen. Manchmal hält er eine zweite
Dosis des Mittels für notwendig, in Fällen,
die gegen Jod und Quecksilber refraktär sind.
! Saal feid (Berlin) macht die Bemerkung,
daß die syphilitischen Hauterscheinungen
! langsamer zurückgehen als die anderen
i Erscheinungen.
j Joseph (Berlin) hält das Ehrlichsche
! Präparat reif für die Praxis. In neutraler Sus¬
pension subkutan gegeben, zwischen Wirbel¬
säule und Skapula, macht es nicht stärkere
J Schmerzen als Hydrargyrum salicylicum.
Therapeutischer Meinungsaustausch.
Ueber Purinstoffwechsel bei Gichtkranken unter Radiumemanations¬
behandlung. 1 )
Von Dr. P. Mesernitsky, Assistenzarzt der I. medizinischen Klinik zu Petersburg und
Dr. J. Kernen, dirigierender Arzt der inneren Abteilung des Krankenhauses MarienwOrtb, Bad Kreuznach. 2 )
Schon früher ist von verschiedenen j
Forschern die Tatsache festgestellt worden,
daß bei Gichtkranken unter der Behand¬
lung mit Radiumemanation eine vergrößerte
Ausscheidung von Harnsäure nachzuweisen
war.
Wir möchten nun in unserer Arbeit die
wirksame Minimaldosis von Emanation fest¬
setzen, durch welche die Menge der end¬
ogenen Harnsäure und Purinbasen im
Urin nachweisbar zunimmt. Zur Bestim¬
mung der Harnsäure und Purinbasen be- |
nutzten wir die Methode von v. Krüger
und Wulft. Die Patienten erhielten milch¬
vegetabilische Nahrung, sogenannte purin-
freie Kost. Die Vorperiode (purinfreie
Kost ohne Behandlung) dauerte 4 bis
7 Tage.
Nach der Vorperiode bekamen die Pa¬
tienten in allmählich steigender Dosis
100—200—400 Mache-Einheiten Emana¬
tionswasser pro Tag zu trinken, in 25 bis
100 ccm gewöhnlichem Wasser, welches
dem Neu mann sehen Aktivator entnommen
wurde.
Außer der Trinkkur wurden noch Ema-
nationsbäder verabreicht. Sonst wurde
keine andere Therapie angewandt.
*) Anmerkung des Herausgebers: Die vor¬
stehende Arbeit habe ich trotz ihres aphoristischen
Charakters aufgenommen, um die Aufmerksamkeit der
Leser auf die Wirksamkeit der Radiumbehandlung
zu lenken. Im nächsten Heft wird dieses Thema in
umfassender Weise von Herrn Dr. Gudzent behan¬
delt, der bekanntlich auf der Hissahen Klinik in
grundlegenden Untersuchungen das Verschwinden der
Harnsäure aus dem Blut der Gichtkranken nach Ra¬
diumemanationskuren festgestellt hat. (Vergl. diese
Zeitschrift, Maiheft S. 236.)
*) Vortrag, gehalten auf dem internationalen Kon¬
greß für Radiologie und Elektrizität in Brüssel (12. bis
15. September 1910).
Die Ergebnisse unserer Behandlung sind
aus den nachfolgenden Krankengeschichten
ersichtlich.
Der Einfachheit halber werden im folgen¬
den Harnsäure und Purinbasen zusammen
| als Purinkörper bezeichnet.
1 Fall I. Patient Zim. bis 1903 stets gesund.
Von da ab typisches Podagra. Anfälle erst im
rechten, später auch im linken Großzehgelenk.
Bis jetzt jährliche Rezidive, die sich schlie߬
lich auch auf Fuß- und Handgelenke erstreckten.
Bei der Aufnahme bestehen Schwellungen und
Schmerzen der Hand-, Finger- und Großzeh¬
gelenke. Nach der ersten Trinkdosis heftige
Reaktionsschmerzen in allen Gelenken, dann
Nachlassen derselben und gleichzeitige Besse¬
rung der Schwellung in den Gelenken. Am
Ende der fünfwöchigen Behandlung völlig
schmerzfrei.
Schon bei 100 Mache-Einheiten ließ sich
eine Zunahme der ausgeschiedenen Purin¬
körper erkennen, welche sich bei höherer
Dosis noch steigerte und bei 400 Mache-Ein¬
heiten die dreifache Höhe der anfänglichen
Menge erreichte.
Fall II. Patient Sch.: Seit einem Jahr an
typischem Anfall von Podagra im rechten Gro߬
zehgelenk, außerdem an Schrumpfniere leidend.
Augenblicklich Schwellung und Schmerzhaftig¬
keit der Großzeh-, Fuß- und Kniegelenke.
Nach der ersten Dosis geringe Reaktion,
die bald verschwindet. Bei Steigerung der
Dosis erneutes Auftreten der Reaktion, die
allmählich nachläßt. Bei der Entlassung (nach
4 Wochen) nur noch zeitweise auftretende ge¬
ringe Beschwerden in den Großzehgelenken.
Bei diesem Falle kann man deutlich den
Einfluß des Radiumbades bemerken, wie die
Kurve II zeigt. Noch stärkere Ausscheidung
von Purinkörpern bewirkte das Trinken von
400 Mache-Einheiten Emanationswasser.
Erwähnt sei hier, daß nach der Dosis von
400 Mache-Einheiten stärkere Mengen von
Albumen nachzuweisen waren.
Fall III. Patientin Jan. leidet seit 10 Jahren
an chronischer Gicht, die, von den Großzeh¬
gelenken ausgehend, sämtliche Gelenke be¬
fallen hat.
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UNIVERSITY OF CALIFORNIA
November
Die Therapie der Gegenwart 1910.
527
Bei der Aufnahme bestehen geringe Fassen wir die drei Fälle zusammen,
Steifigkeit und Schmerzen in den Knie- und so können wir sagen, daß bei allen Pa-
Ellenbogengelenken, sowieTophi andenFin- tienten neben der klinisch beobachteten
gergelenken. Starke Reaktionsschmerzen Besserung des Leidens eine vermehrte
im Anfang der Kur. Nach dreiwöchiger Ausscheidung der Purinkörper unter Erna-
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Beobachtung/jJ bedeutende Besserung der
Schmerzen und Beweglichkeit der Gelenke.
DieTophiderFingergelenke sind verkleinert.
Wie in den beiden anderen Fällen war
schon bei 100 Mache-Einheiten vermehrte
Ausscheidung der Purinkörper zu konsta¬
tieren, die bei 400 Mac he-Einheiten noch
-deutlicher in die Erscheinung trat.
nationsbehandlung bei purinfreier Kost zu
konstatieren war.
Um die Ausscheidung von exogenen
Purinkörpern während der Emanationskur
zu bestimmen, haben wir im Fall I dem
Patienten 5 g Natrium nucleinicum ein¬
gegeben. Es trat sofort ein starker Gicht¬
anfall aut, währenddem im Urin keine
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528
Die Therapie der Gegenwart 1910.
November
Vermehruvg von Purinkörpern zu beob¬
achten war.
Erst zwei Tage später, nachdem der
Anfall vorüber war, trat vermehrte Aus¬
scheidung von Purinkörpern auf.
Nach dem ungünstigen Ausfall dieses
Versuches sahen wir von weiteren Ver¬
suchen ab. (
Zum Schluß wollen wir die Resultate i
unserer Versuche wie folgt kurz zusammen¬
fassen.
I. Die Radiumemanation bewirkt bei
harnsaurer Diathese vermehrte Ausschei-
scheidung von Purinkörpern im Urin.
II. Die wirksame Minimaldosis beim
Trinken schwankt zwischen 50—100 Mache-
Einheiten.
III. Die deutlich wirksame Dosis liegt
zwischen 100 und 400 Mache-Einheiten.
IV. Die Wirkung der Emanationsbäder
(10—11 000 Mache-Einheiten) auf die Aus¬
scheidung von Purinkörpern ist schwächer
| als die Wirkung der Trinkkur (100 bis
400 Mache-Einheiten).
V. Ein günstiger Erfolg der Behandlung
von Gichtkranken ist durch die Kombina¬
tion der Radiumemanationskur mit purin-
freier Kost zu erzielen.
Zur Bewertung des Jothions in der Laryngologie«
Von Dr. Adolf Mühsam, Spezialarzt für Hals-, Nasen- und Ohrenkrankheiten in Berlin.
Jod bezw. Jodjodkalilösungen gehören
zum Rüstzeug des Laryngologen, der diese
Lösungen hauptsächlich zu Pinselungen im
Halse verwendet. Ohne Frage besitzen
diese Lösungen, wie wir sie in der Lugol-
schen und in den M and Ischen Lösungen
anwenden, einen guten therapeutischen
Effekt, der jedoch durch einige Nachteile,
die diese Lösungen im Gefolge haben, be¬
einträchtigt wird. Diese sind die starke
Färbekraft des Jods, der unangenehme
Jodgeschmack und häufig auch unerwünschte
Reizwirkung.
Auf der Suche nach einem Ersatzmittel
wurde an die entfärbte Jodtinktur gedacht,
die aber durch ihre Entfärbung den größten
Teil der Wirksamkeit eingebüßt hat. Jod-
vasogen kommt für eine Indikation im
Halse nicht in Betracht. Das einzige Prä¬
parat, welches sich mir in therapeutischer
Hinsicht als einen vollwertigen Lugolersatz
bewährte, war Jothion.
Aus der ziemlich umfangreichen Lite¬
ratur über dieses Präparat geht hervor,
daß dasselbe in verschiedenen Gebieten
mit gutem Erfolg zur Anwendung gelangt,
und zwar wird es perkutan vor allen Din¬
gen dort gebraucht, wo eine konzentrierte
Jodwirkung an der erkrankten Stelle eta¬
bliert werden soll. Die Anwendung des
Jothion anstelle von Lugol- bezw. Mandl¬
scher Lösung in der Laryngologie finde
ich nirgends aufgezeichnet. Die kleine
Mitteilung möge dazu dienen, die Kollegen
auf die Verwertbai keit des Jothions auf¬
merksam zu machen.
Kurz erwähnen möchte ich, daß es sich
bei dem Jothion um einen 80°/oigen Jod¬
wasserstoffester handelt, der farblos ist
und sich durch gute Resorptionsbedin¬
gungen auszeichnet. Wie pharmakolo¬
gische Versuche ergeben haben, kann im
Speichel und Harn bereits nach einer hal¬
ben Stunde Jod nachgewiesen werden; es
gelangen ca. 50% des Präparates zur Re¬
sorption. Die in der Praxis gemachten
. Erfahrungen stehen, wie aus der Literatur
| ersichtlich, mit den pharmakologischen
1 Berichten im Einklang.
] Ich verwende für laryngologische Zwecke
i in meiner Privat-Sprechstunde und in der
I Poliklinik an Stelle von Sol. Lugol seit
| einiger Zeit ausschließlich eine 4%ige
Jothion-Glycerin* Mischung. Diese wasser-
helle Flüssigkeit wird vor dem Gebrauch
geschüttelt und mit einer Tamponschraube
nach Hartmann, an die etwas Watte ge¬
wickelt ist, auf die hintere Rachenwand
sowohl im nasalen wie oralen Teile auf¬
getragen. Patienten, die früher beim An¬
blick der braunen Sol. Mandl in den Aus¬
ruf des Entsetzens ausbrachen: „nur kein
Jod“, lassen sich das Jothion, das nur ein
kurzandauerndes leichtes Brennen verur¬
sacht, gern gefallen und fürchten auch
nicht ihre Kleider damit zu beflecken wie
beim Jod. Der therapeutische Effekt ist
der Gleiche wie bei der Lugol sehen und
der MandIschen Lösung.
Ich verordne das Jothion in folgender
Formel:
Rp. Jothion . 2 g
Glycerin ad SO g
s. Uro schütteln!
INHALT: Ernst von Leyden f S. 481. — v. Leyden, Digitalis S. 482. — Syllaba,
Prognose des Morbus Basedowii S. 483.— Sternberg, Entfettungskuren S 492.— Karewski.
Hernien S. 497. — Mesernitsky-Kemen, Radiumbehandlung der Gicht S. 526. — Mühsam,
Jothion in der Laryngologie S. 528. — Neurologenkongreß S. 509. — Naturforscher-Versammlung
Ehrlichs Syphilisheilmittel S. 515. ____
Pttr die Redaktion verantwortlich Prof. Dr.G. Klempererin Berlin.- Verlag von Urban & Sc h warten berg inWien a. Berlin.
Diuck von Julius Sitten! old, 1 lofbuclidr urkrr., »n Berlin W.8.
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UNfVERSITY OF CALIFORNIA
Die Therapie der Gegenwart
1910
herausgegeben von Prof. Dr. G. Klemperer
in Berlin.
Dezember
Nachdruck verboten.
Ans der I. mediz. Universitätsklinik, Berlin.
(Direktor: Geh. Med.-Rat Prof. Dr. His).
Ueber den gegenwärtigen Stand der Radium-Emanations-
Therapie.
Von Dr. F. Glldzent, Assistent der Klinik.
Nach zwei Richtungen hin haben die
Arbeiten der letzten Jahre auf dem Gebiete
der Radium - Emanations - Therapie Fort¬
schritte gebracht. Einerseits ist die Kennt¬
nis von dem physikalischen und physio¬
logischen Verhalten der Radium-Emanation
im Organismus weitergefördert, andererseits
als indirekte Folge hiervon das Indikations¬
gebietschärfer abgegrenzt und die Technik
der Anwendung der Emanation weitgehend
verbessert worden.
Der Anteil an diesem Fortschritt von
seiten der Badeorte als den berufenen
Sachwaltern natürlicher emanationshalti¬
ger Quellen ist auffallenderweise gering
gegenüber den Untersuchungen und Fest¬
stellungen, die von einzelnen Aerzten und
Klinikern mit künstlicher Radium-Emana¬
tion gemacht worden sind. Das hat zu
ausgedehnter und von den üblichen Bade¬
kuren vollkommen abweichender Anwen¬
dung künstlicher Radium-Emanation ge¬
führt.
Der gegenwärtige Stand unserer Kennt¬
nisse über das Verhalten der Radium-
Emanation setzt uns in die Lage, sowohl
die Technik der Anwendung als auch die
Indikationen aus dem physikalischen und
physiologischen Verhalten der Emanation
im Organismus herzuleiten und einiger¬
maßen scharf zu umschreiben.
Physikalisches und physiologisches Ver¬
halten im Organismus.
Die Radium-Emanation verhält sich dem
menschlichen Organismus gegenüber wie
ein indifferentes Gas. Auch von sehr großen
Dosen hat man bisher keinerlei Schädi¬
gungen gesehen. Die in den Körper (At¬
mung, Verdauungstraktus, Injektion) auf¬
genommene Emanation verläßt ihn mit der
Ausatmungsluft innerhalb weniger Minuten
fast restlos. Nur ein äußerst geringer Pro¬
zentsatz wird im Urin ausgeschieden. Eine
Aufnahme und Abgabe durch die Haut er¬
folgt nicht in erkennbarer Weise, wie es
Loewenthal (Braunschweig) in überzeu¬
gender Weise hat dartun können. Das
Blut transportiert die aufgenommene Ema¬
nation bis an die Zellen des Organismus,
wo sie selbst nebst den immerfoit ent¬
stehenden festen Zerfallsprodukten ihre
biologische Wirkung entfalten kann.
Wie lange Zeit die festen Zerfalls¬
produkte im Körper verbleiben, läßt sich
vorläufig noch nicht genau angeben. Nach
den Arbeiten von Ramsauer und Caan
über Radiumausscheidung im Urin ist aber
anzunehmen, daß die Ausscheidung sich
über einen Zeitraum von mehreren Jahren
hinziehen kann.
Worin bestehen nun die Einwirkungen?
Bei der Röntgen- und Radiumbestrahlung
hat man mit Sicherheit bakterientötende
und wachstumshemmende Wirkungen be¬
obachten können. Es lag demnach nahe,
an bakterizide Eigenschaften der Emana¬
tion zu denken. In der Tat haben eine
Reihe von Autoren eine solche geglaubt
nachweisen zu können. Loewenthal
(Braunschweig) hat dann aber durch über¬
zeugende Experimente dargetan, daß bei
den therapeutisch angewandten Emanations¬
mengen (Mineralwasser oder Radiogen¬
wasser) ein bakterizider Effekt ausge¬
schlossen ist. Ebenso unhaltbar haben
sich durch die Untersuchungen des ge¬
nannten Autors die Behauptungen er¬
wiesen, daß das Lezithin der Zellen durch
Emanation zersetzt und durch autolytische
Fermente angreifbar wird, daß Toxine
im Tierkörper durch Emanation zerstört
und daß rote Blutkörperchen, Ambozeptoren,
Komplement verändert werden können.
Dahingegen hat sich der Gedanke, die
spezifische Einwirkung der Emanation auf
den Organismus in einer Beeinflussung
der Körperfermente zu suchen, als richtig
erwiesen. Neuberg hat durch Radium¬
bestrahlung am Karzinom, Wohlgemuth
an tuberkulösem Lungengewebe eine er¬
hebliche Steigerung der Autolyse gesehen
und auf eine Aktivierung der autolyti¬
schen Fermente zurückgeführt. Alsbald hat
man diese aktivierende Eigenschaft des
Radiums auch für die Radium-Emanation
nachweisen können, so Braunstein und
Bergell für das Pankreasferment, Ber-
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UNSVERSITY OF CALIFORNIA
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Dezember
Die Therapie der Gegenwart 1910.
gell und Bickel für das Pepsin, Richet
für die Milchsäuregärung.
Eine Sicherung der bisherigen Kennt¬
nisse nach dieser Richtung und ihre weitere
Vertiefung brachten aber erst die syste¬
matischen Untersuchungen von Loewen-
thal (Braunschweig) in Gemeinschaft mit
Edelstein und Wohlgemuth. Das Er¬
gebnis dieser Arbeit war der überzeugende
Nachweis, daß die Radium-Emanation die
autolytischen Fermente, ferner das dia-
statische Ferment aktiviert.
Von ganz anderen Gesichtspunkten aus
unternommene Studien sollten weiterhin zur
Entdeckung neuer andersartiger Wirkungen
der Radium - Emanation führen. Unter¬
suchungen über das physikalisch-chemische
Verhalten der Harnsäure und ihrer Salze,
die von His und Paul begonnen und von
mir fortgeführt worden waren, hatten mich
nämlich bezüglich der Harnsäure zur Fest¬
stellung geführt, daß diese im Blut nur
als Salz, und zwar als Mononatrium¬
urat existieren kann. Ich fand nun weiter,
daß dieses Mononatriumurat in zwei iso¬
meren Formen auftritt, von denen die zu¬
erst entstehende Form, das Lactamurat,
zwar löslicher, aber unstabil ist und sich
allmählich in die stabile, aber weniger lös¬
liche Form, das Lactimurat, umlagert. Die
Löslichkeit der zuerst entstehenden Form
beträgt im 100 ccm Serum 18,4 mg, die
der umgewandelten stabilen Form nur
8 3 mg. Das hervorstechendste Symptom
bei der Gicht ist nun die Urikämie, die
dauernde Anwesenheit von Harnsäure im
Blut.
Ich vermochte nun auf Grund der ge¬
fundenen Löslichkeitswerte zahlenmäßig
festzustellen, daß bei dieser Krankheit, bei
der das Urat in seiner stabilen, aber
weniger löslichen Form anwesend sein
muß, das Blut zu gewissen Zeiten mit
Harnsäure übersättigt ist. Diese Er¬
kenntnis veranlaßte mich, nach Mitteln zu
suchen, durch die diese für den Organismus
offenbar schädlichen Vorgänge verhindert
werden konnten. Systematische Unter¬
suchungen führten mich dann auch zur
Feststellung der Tatsache, daß durch eines
der Zerfallsprodukte der Radium-Emanation,
und zwar durch Radium D, von dem vor
kurzem Dr. Hahn nachgewiesen hat, daß
es bei seinem Zerfall ganz weiche /9-Strahlen
emittiert, das Mononatriumurat in sehr
viel löslichere Körper umgewandelt
und dann weiter bis zu Kohlensäure
und Ammonniak zersetzt wird.
Einer unserer Mitarbeiter, Dr. F o f a n o w-
Kasan, studierte nun diejenigen Verände¬
rungen, welche durch Radium-Emanation
auf künstlich erzeugte Ablagerungen von
Mononatriumurat im Organismus hervor¬
gerufen wurden. Vor langer Zeit hatte
His gezeigt, daß Harnsäuredepots, natür¬
liche und künstliche, nicht allein auf chemi¬
schem oder physikalischem Wege beseitigt
werden, sondern daß bei ihrer Entfernung
die Phagozytose eine bedeutende Rolle
spielt. Die dabei vor sich gehenden Pro¬
zesse sind namentlich von Freudweiler
eingehend studiert worden.
Spritzt man bei Kaninchen eine Auf¬
schwemmung von Mononatriumurat unter
die Haut, dann entsteht zunächst eine
reaktive Leukozyteninfiltration in der Um¬
gebung mit allen Zeichen hochgradiger
Entzündung, zu der aber später Nekrose
des Gewebes hinzutritt. In 12—14 Tagen
schaffen die Phagozyten die gesamte Harn¬
säure, die sie in sich aufnehmen, fort.
Fofanow fand nun, daß unter dem
Einfluß der Radium-Emanation das Bild
ein wesentlich anderes ist: Die reaktive
Leukozyteninfiltration fehlt vollständig,
oder fast vollständig, die sämtlichen ent¬
zündlichen Erscheinungen sind reduziert.
Dagegen ist die Nekrose der Gewebe
eine weit heftigere und weiter¬
reichende. Gleichzeitig läßt sich kon¬
statieren, daß das Urat trotz Fehlens der
Phagozytose sowohl von der Peripherie
als auch aus den zentralen Teilen des
Tophus verschwindet. Die Radium-Ema¬
nation löst und zerstört also auch
im Organismus, wie im Reagenz¬
glase, das Mononatriumurat. Diese
erhöhte Löslichkeit ließ sich auch ge¬
wichtsanalytisch feststellen. Aus der
schnellen und erhöhten Auflösung erklärt
sich auch die gesteigerte Nekrose, da nach
His gelöstes Mononatriumurat ein inten¬
sives Gewebegift ist. Während diese
Untersuchungen also einerseits eine Be¬
stätigung der von mir gefundenen Ein¬
wirkung der Radium-Emanation auf Mono¬
natriumurat brachten, führten sie anderer¬
seits zur Feststellung derbisher unbekannten
Tatsache, daß Radium-Emanation entzün¬
dungshemmend wirkt.
Nunmehr erschienen uns genügend
Grundlagen dafür gegeben zu sein, das
Verhalten des Purinstoffwechsels im mensch¬
lichen Organismus unter dem Einfluß der
Radiuraemanation zu studieren. In Ge¬
meinschaft mit Dr. Loewenthal (Braun¬
schweig) unterwarf ich Purin stoffwechsel¬
gesunde, also vorwiegend Rheumatiker, und
Purinstoffwechselkranke, also Gichtkranke,
einer Stoffwechsel Untersuchung; vor uns
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Dezember
Die Therapie der Gegenwart 1910.
531
hatten Krieg und Wilke bereits im Ver- 1
such an einem Gesunden und in einem i
Selbstversuch eine Vermehrung der Harn* i
Säureausscheidung durch die stark radio- |
aktive Bottqnelle in Baden - Baden bezie- j
hungsweise durch Radiogenwasser finden |
können. Doch in beiden Fällen sind die ,
Versuchsbedingungen nicht ganz einwand- I
frei; will man den Faktor der Emanation j
isoliert prüfen, so muß man ihn ganz rein
verwenden, das heißt, alle mitwirkenden
Faktoren nach Möglichkeit ausschalten.
Diese Bedingungen werden erfüllt, wenn j
man die Emanation ein atmen läßt. Da i
nun aber bekanntlich die eingeatmete
Emanation mit den nächsten Atemzügen j
den Körper wieder verläßt, ist es not- j
wendig, den Organismus in eine Atmo- j
Sphäre von konstantem Emanationsgehalt j
zu bringen und darin zu belassen. Diese
Ueberlegung hat uns zur Konstruktion des !
auf Seite 534 genau beschriebenen Radiogen-
Emanatoriums geführt. |
Die Versuchspersonen wurden auf eine [
möglichst gleichmäßige purin freie Diät
gesetzt und alsdann im Urin in einer Vor- !
periode in 5—8 Tagen, in einer Ema¬
nationsperiode von etwa durchschnitt¬
lich 14tägiger Dauer und, soweit als mög¬
lich, in einer 5—8 tägigen Nachperiode
der Gesamtstickstoff, die Harnsäure und i
die Purinbasen bestimmt. Wir konnten !
nun in der Tat bei 7 untersuchten Fällen j
6 mal zum Teil ganz erhebliche Ab- l
weichungen der Harnsäure bezie- ,
hungsweise Purinbasenwerte gegen¬
über der emanationsfreien Vorperiode kon¬
statieren; nur in einem Fall ließ sich aus
den gefundenen Zahlen ein Einfluß nicht
ersehen.
Wir glauben die Ursache dieser i
Beeinflussung am besten durch die |
Annahme zu erklären, daß eine Ak- j
tivierung der Fermente stattfindet, i
ähnlich wie beim autolytischen und
diastatischen Ferment. Die Deutung
unserer Beobachtungen im Einzelfalle be¬
reitet aber deswegen einige Schwierig¬
keiten, weil wir ja beim Purinstoffwechsel
nicht lediglich in einer Richtung wirkende
Fermente haben, sondern 2 gewissermaßen |
gegensätzlich eingestellte Fermentgruppen,
von denen die eine harnsäureaufbauend,
die andere harnsäurezerstörend wirkt.
Rein theoretisch ist demnach zu erwarten,
daß bei einer gleichmäßigen Aktivierung
aller Fermente aus den Harnsäure- und
Purinbasenwerte im Urin überhaupt kein
Einfluß erkennbar wird, obwohl ein solcher
schon stattfindet, ln diese Gruppe könnten
wir etwa den Fall rubrizieren, bei dem
Harnsäure- und Purinbasen werte gegenüber
der emanationsfreien Vorperiode keine
Veränderung gezeigt haben. Offenbar ist
es aber sehr viel häufiger, daß nicht eine
gleichmäßige Aktivierung aller Fermente
stattfindet, sondern nach Analogie der Be¬
obachtungen bei Störungen des Stoff¬
wechsels, die eine Gruppe mehr, die andere
weniger beeinflußt wird. Nach unseren
Resultaten scheinen durch die Radium¬
emanation die harnsäureaufbauenden
Fermente ein gewisses Uebergewicht über
die harnsäurezerstörenden zu er¬
langen. In 4 von den 7 untersuchten
Fällen sahen wir nämlich ein deutliches,
zum Teil recht erhebliches Ansteigen der
Harnsäure- und Purin basenwerte und nur
in zwei Fällen eine Abnahme. Hier scheint
also das urikolitische Ferment am stäiksten
aktiviert worden zu sein.
Besonderes Interesse beanspruchen aber
unsere Untersuchungen an Gichtkranken.
Nach neueren Anschauungen ist die Gicht
der Ausdruck einer ausgesprochenen
Störung des ganzen fermentativen Systems
des Purinstoffwechsels, die in einer ver¬
langsamten Harnsäurebildung, ver-
langsam tenHarnsäurezerstörung und
verlangsamten Harnsäureausschei¬
dung besteht und zu einer dauernden
Anhäufung von Harnsäure im Blut, zur
Urikämie, führt.
Unsere auf ihren Purin Stoff Wechsel ge¬
prüften Gichtkranken wiesen in der Vor¬
periode ebenfalls diese Störungen auf,
sie schieden exogen zugeführtes purin¬
haltiges Material verschleppt aus und
hatten Härnsäure im Blut Nach einer
etwa dreiwöchentlichen Behandlung mit
Emanation unterzogen wir einen Patienten
einer erneuten Prüfung und konnten nun
feststellen, daß er exogen zugeführtes
purinhaltiges Material prompt ausschied
und aus seinem Blut die Harnsäure ver¬
schwunden war. Ferner konnten wir kon¬
statieren, daß die bei einem andern Gichtiker
vorhandenen Ohrtophi erheblich kleiner
geworden waren.
Die jetzt fortlaufend angestellten Unter¬
suchungen an Gichtkranken brachten eine
ausgezeichnete Bestätigung unserer Beob¬
achtungen. Wir hatten Gelegenheit, bis
zum Abschluß des Sommersemesters in
14 Fällen bei Gicht vor und nach der Be¬
handlung im Emanatorium eine Harnsäure¬
analyse des Blutes vorzunehmen und dabei
zu konstatieren, daß in 13 Fällen nach der
Behandlung die Harnsäure aus dem Blut
verschwunden war. Wir konnten weiter-
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532
Die Therapie der Gegenwart 1910.
Dezember
hin beobachten, daß Ohrtophi von Gicht¬
kranken ganz offensichtlich kleiner wurden,
in 2 Fällen sogar ganz verschwanden.
Ob das Verschwinden der Harnsäure
aus dem Blut in allen Fällen zu erreichen
sein wird, wagen wir trotzdem nicht zu
behaupten. Bei etwas veränderten Ver¬
suchsbedingungen, wir gingen mit der Zahl
der Sitzungen und mit der der Emana¬
tionsmenge herab, haben wir neuerdings
2 Fälle zu verzeichnen, bei denen nach
Beendigung der Kur die Menge der Blut¬
harnsäure zwar heruntergegangen, aber
noch nicht ganz verschwunden war.
Eine Untersuchung des Purinstoffwech¬
sels, wie in dem einen Falle, war hier nicht
durchführbar. Doch hatte ich in Gemein¬
schaft mit Loewenthal Gelegenheit, bei
einem Patienten mit Polyarthritis chronica,
der zwar keine Harnsäure im Blute hatte,
aber trotzdem exogen zugeführtes purin¬
haltiges Material verschleppt ausschied,
nach der Behandlung abermals seinen
Purinstoffwechsel zu prüfen. Wir fanden,
daß auch dieser Patient nunmehr exogen
zugeführtes purinhaltiges Material prompt
ausschied.
Durch diese Tatsache ist einerseits eine
schöne Stütze für unsere Annahme ge-
spirationsapparat durch. In 2 Fällen fand
er gar keinen Einfluß; in 3 Fällen da¬
gegen konnte er einen Anstieg des Og-
, Verbrauches und der CO 2 Produktion kon¬
statieren; die Werte blieben unter 10o/ 0
Diese Erhöhung ließ sich noch mehr oder
weniger lang nach Aussetzen der Radium-
I Emanation verfolgen. Gleichzeitig wuchs
I mit dem Anstieg des Gaswechsels der re-
! spiratorische Quotient. Eine Deutung
dieser Befunde im einzelnen vermögen wir
noch nicht zu geben. Wenn wir aber be¬
rücksichtigen, daß bei keinem der unter¬
suchten Fälle eine Abnahme des O 2 -
Verbrauchs, beziehungsweise der CO 2 -
Produktion gefunden wurde, müssen wir
zum Schluß kommen, daß mit großer
Wahrscheinlichkeit der Gesamtstoff¬
wechsel des Menschen durch Ra«
I dium-Emanation in Einzelfällen er-
] höht wird.
Die Technik der Anwendung.
Um ein leichteres Verständnis für die
folgenden Ausführungen zu finden, ist es
notwendig, die physikalischen Eigen¬
schaften der Radium Emanation und ihrer
Zerfallsprodukte kurz wiederzugeben. Fol¬
gendes Schema sei vorangestellt:
o oc
t r
O““*
Emanation 4
Z8Tg J‘
o
B
2V
q ß weiche 0
\b'r t
O—O— :
D
c
28'
r/ '
O—►
E
o a
geben, daß die Radium-Emanation die Fer¬
mente des Purinstoffwechsels höchstwahr¬
scheinlich aktiviert, andererseits erwiesen,
daß die von mir gefundene Eigenschaft
der Radium-Emanation, auf das Mono¬
natriumurat lösend und zerstörend einzu¬
wirken, auch für den menschlichen Orga¬
nismus seine Giltigkeit hat.
Es lag bei diesen Befunden nahe, nun
auch den Gesamtstoffwechsel unter
dem Einfluß der Radium Emanation zu
prüfen. Sil bergleit hat als erster der¬
artige Versuche an drei Patienten ange¬
stellt; während er nun bei dem einen ein
negatives Resultat erhielt, fand er bei den
beiden andern eine sukzessiv ansteigende
Erhöhung sowohl des O 2 Verbrauches, als
auch der CO 2 - Produktion. Gleichzeitig
stieg der respiratorische Quotient. Einer
unserer Mitarbeiter, Dr. Kikoji, prüfte
nun unter Beobachtung sämtlicher Kautelen
den Gesamtstoffwechsel in 5 Fällen syste¬
matisch in unserem von Prof. Staehelin
nach Jaquets Prinzip konstruierten Re-
F
W Jahre 6 Tg. MTg.
Die Radium-Emanation ist ein Gas mit
allen Eigenschaften eines solchen; sie zer¬
fällt unter Abgabe von a-Strahlen so, daß
nach 3,8 Tagen nur noch die Hälfte ihrer
ursprünglichen Masse vorhanden ist. Die
entstehenden Zerfallsprodukte Radium A,
B, C, D, E und F sind im Gegensatz zu
ihrer Muttersubstanz feste Körper, die
mehr oder weniger schnell sich nachein¬
ander umwandeln und hierbei mit Aus¬
nahme von Radium B ebenfalls Strahlen
emittieren. Bis vor kurzem hat man auch
bei Radium D eine Emission von Strahlen
nicht nach weisen können. Dr. Hahn Berlin
hat aber gefunden, daß Radium D bei
seinem Zerfall weiche ß -Strahlen abgibt.
Radium A, B und C haben eine Halb¬
wertszeit von nur einigen Minuten; sie
trennen sich also als eine besondere Gruppe
ab von Radium D, E und F, von denen D
eine Halbwertszeit von 40 Jahren, E von
6 Tagen und F von 144 Tagen hat.
Die biologische Wirkung der Radium-
Emanation geht aus von den beim Zerfall
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Dezember
Die Therapie der Gegenwart 1910.
533
emittierten « Strahlen und den weiteren
Zerfallsprodukten, die bei ihrem Zerfall
a-, ß- und y Strahlen abgeben und im Gegen¬
satz zur Emanation feste Körper sind.
Eine besonders interessante Stellung kommt
dem langlebigsten der Zerfallsprodukte,
dem Radium D, zu; es hebt sich von den
anderen Zerfallsprodukten dadurch ab, daß
es nach den Feststellungen von Dr. Hahn
ß Strahlen von sehr geringer Durch¬
dringungskraft emittiert, und nach
meiner Feststellung Mononatriumurat in
leichter lösliche Körper umzuwandeln und
bis zu Kohlensäure und Ammoniak zu zer¬
setzen vermag.
Aus diesen Tatsachen im Verein mit
den über das biologische Verhalten der
Emanation gewonnenen Kenntnissen lassen
sich nunmehr leicht die Forderungen für
eine rationelle Anwendung der Emanation
ableiten.
Es muß dafür Sorge getragen
werden, daß die Radium-Emanation
wirklich in den Organismus hinein¬
kommt und alsdann möglichst lange
in ihm verbleibt.
Von dieser Basis aus seien nun die
einzelnen Anwendungsmethoden einer
kritischen Betrachtung unterzogen.
a) Die Darreichung der Emanation
als Zusatz zum Bad.
Wie bereits gesagt, gelangt durch die
Haut Radium-Emanation nicht in me߬
barer Weise in den Körper; soll sie also
beim Bad wirksam werden, wird man dafür
zu sorgen haben, daß sie möglichst bald
und vollständig in die Atemluft gelangt
und nun eingeatmet werden kann. Des¬
halb sind bei dieser Anwendungsform fol¬
gende Bedingungen zu erfüllen:
1. Der Baderaum soll nur mäßig groß
und von der Außenluft gut abschlie߬
bar sein,
2. das Badewasser soll vor dem Baden
tüchtig umgerührt werden, der Patient
sich aber alsdann möglichst ruhig
verhalten,
3. der Patient soll möglichst lange im
Baderaum verweilen.
Da bisher diese Bedingungen bei der
gegenwärtigen Einrichtung der Baderäume
und bei der üblichen Verabfolgung der
Bäder nur höchst unvollkommen erfüllt
werden können, muß die Anwendung der
Radium-Emanation als Zusatz zum Bad als
nur wenig rationell bezeichnet werden. Die
angewandten Emanationsmengen pflegten
bisher 150 000—580 000 Volteinheiten (oder
1290—5000 Macheeinheiten) zu betragen.
Die Versuche von Kohl rausch und
Mayer, die Emanation mittels Kataphorese
durch die Haut in den Körper zu bringen,
erscheinen uns als ein kostspieliger und
wenig aussichtsvoller Umweg.
b) Die Darreichung per os.
Die Verabfolgung der Radium-Emanation
per os als Radiogenwasser, Radiogentrink¬
kur, Keiltabletten u. a. ist unstreitig eine
recht bequeme Methode. Wir wissen,
daß die Emanation verhältnismäßig lang¬
sam aus dem Verdauungstraktus in das
Blut diffundiert. Es wird somit die Forde¬
rung, dem Organismus möglichst lange Zeit
hindurch Emanation zuzuführen, erfüllt.
Aber da ja die ins Blut gelangende Ema¬
nation mit den nächsten Atemzügen den
Körper wieder verläßt, wird die wirklich
zur Wirkung gelangende Menge recht
winzig sein im Vergleich zu der, die ver¬
abfolgt wird. Dieser Nachteil ist teilweise
dadurch auszugleichen, daß man in kurzen
Zeiträumen, etwa fünfmal am Tage, die
Präparate verabfolgt; eine andauernde
Ueberschwemmung des Organismus
mit größeren Emanationsmengen läßt
sich aber nicht erreichen. Die Grenze
für die anzuwendende Emanationsmenge
kann sich in großer Breite bewegen; wir
verwenden gegenwärtig höhere Dosen
als früher, weil wir bessere Erfolge ge¬
sehen haben. So geben wir als Trinkkur
116000 Volteinheiten bzw. etwa 1000 Mache¬
einheiten täglich, in einzelnen Fällen ver¬
suchsweise noch mehr. Von der Radiogen-
Gesellschaft in Charlottenburg wird diese
Trinkkur als dauernd haltbares Radiogen¬
wasser bereits auf unsere Veranlassung in
den Handel gebracht.
c) Inhalation von Radiumemana¬
tion.
Der Gedanke, die Radium-Emanation
mittels der Atmungsluft in den Körper zu
bringen, hat schon vor längerer Zeit zur
Konstruktion mancherlei Apparate geführt,
die das Inhalieren von Radium-Emanation
gestatten. Nachdem wir nun wissen, daß
fast die gesamte Emanation mit den näch¬
sten Atemzügen den Organismus wieder
verläßt, ist ihre Anwendung als höchst un¬
zweckmäßig zu bezeichnen.
Will man diesen Uebelstand bei der
sonst so äußerst bequemen Methode ver¬
meiden, so muß man den Patienten in eine
Atmosphäre von konstantem Emanations¬
gehalt bringen und ihn darin belassen;
dann ist anzunehmen, daß der Emanations¬
gehalt im Körper sich mit dem der um¬
gebenden Luft in ein Gleichgewicht ein-
sttUt und während des ganzen Versuchs
in diesem Gleichgewicht bleibt.
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534
Die Therapie der Gegenwart 1910.
Dezembe r
Tierversuche von unserem Mitarbeiter
Fofanow haben zweifelsfrei bestätigt, daß
bei dieser Methode eine erhebliche Menge
Emanation (es wurden in 1000ccm Kaninchen¬
blut 8 Macheeinheiten gefunden) in den
Körper gelangt.
Diesem Gedankengange folgend, haben
nun Loewenthal und ich das sogenannte
„Radiogen-Emanatorium“ konstruieren
lassen.
Wir ließen uns eine von der Außenluft
gut abgedichtete Kammer von etwa 10 cbm
Inhalt hersteilen. In diese Kammer kam
der Apparat zu stehen, welcher folgenden
Zwecken dient: 1. die Emanation zum Ein¬
atmen zu liefern, 2. den verbrauchten Sauer¬
stoff nachzuliefern, 3. die ausgeatmete CO 2
zu absorbieren, 4. die überschüssige Wärme
zu binden, 5. den Wasserdampf der Atem¬
luft zu kondensieren.
Diese Apparate werden von der Radiogen-
Gesellschaft Charlottenburg hergestellt, die
uns damals in dankenswerter Weise ihr Ma¬
terial zu unseren Versuchen überlassen hatte.
So ist es möglich, 6—8 Versuchspersonen
in diesem geschlossenen Raume 2 und mehr
Stunden hintereinander ohne Belästigung
atmen zu lassen.
Wir halten für das Minimum der zu
entwickelnden Emanationsmenge 200 Volt¬
einheiten (1,72 Mache Einheiten) pro Liter
Luft und für das Minimum der täglichen
Sitzungsdauer 2 Stunden.
Der Patient kann in dem Raum beliebig
lange sitzend oder liegend verbleiben. Da
man den Raum beliebig groß wählen kann,
wenn man nur die nötige Radium-Emana¬
tionsmenge zur Verfügung hat, ist das
Emanatorium für Kliniken und Sanatorien
die gegebene Einrichtung.
Ein Emanatorium en miniature ist das
von der Radiogen - Gesellschaft in den
Handel gebrachte Masken-Emanatorium.
Seine Brauchbarkeit muß aber erst durch
ausgedehntere Versuche erwiesen werden.
Von den Badeorten mit radioaktiven
Quellen ist zur besseren Ausnutzung ihres
Emanationsreichtums meines Wissens bis¬
her Teplitz-Schönau diesem Gedanken-
gange gefolgt. Dort sind auf Veranlassung
von Päßler sogenannte Dunstkammern
hergestellt, in denen das radioaktive Quell¬
wasser an den Wänden herunterläuft und
so seine Emanation an die Luft der Kam¬
mern abzugeben vermag. 1 ) Der Nachteil
dieser Einrichtung gegenüber dem Radiogen-
Emanatorium liegt auf der Hand; weder
ist eine halbwegs genaue Dosierung, noch
ein mehrere Stunden andauernder
! ) Anm. der Red. Vergl. das Referat S. 569.
Aufenthalt derPatienten in diesen Räumen
möglich.
Immerhin steht zu erwarten, daß diese
Uebelstände durch technische Vorrichtungen
beseitigt werden können.
d) Radioaktive Kompressen und
radioaktiver Schlamm.
Biologische Wirkungen können wir, da
die Emanation nicht in Frage kommt, nur
von den beim Zerfall der radioaktiven Pro¬
dukte emittierten o-, ß- und y Strahlen er¬
warten. Es ist deshalb zu verstehen, wenn
wir bei dieser Methode nur in jenen Fällen
therapeutische Effekte sehen, die einerseits
leichter Natur sind, andererseits sich auf
ganz umschriebene Stellen des Körpers be¬
schränken.
e) Injektion von Radiumsalzen.
Auf dem diesjährigen Kongreß für
innere Medizin in Wiesbaden habe ich (in
meinem Vortrag über die Beeinflussung
der Löslichkeit der Harnsäure und ihrer
Salze durch physikalische und chemische
Agenden) darauf hingewiesen, daß intra¬
venöse bzw. subkutane Injektionen von
kleinen Mengen radioakdver Substanzen
aussichtsvoll zu sein scheinen. Weitere
Versuche haben ein so vielversprechendes
Resultat ergeben, daß ich über diese neue
Methode schon gegenwärtig näheres mit-
teilen möchte.
Durch Tierversuche und durch Arbeiten
im Krebsinstitut in Heidelberg war schon
früher festgestellt, daß Injektionen geringer
Mengen gelöster und auch ungelöster Ra¬
diumsalze für den Organismus unschädlich
sind. Durch Versuche an mir selber und
anderen gesunden Menschen habe ich
mich von der Richtigkeit dieser Beob¬
achtungen überzeugen können. Ich möchte
noch besonders hervorheben, daß ich bis¬
her niemals Albumen im Urin auftreten sah.
Ich verwende zu den Injektionen sowohl
lösliche als unlösliche Radiumsalze.
Die Radiogen-Gesellschaft, Charlottenburg,
der ich für die freundliche Ueberlassung
ihrer Präparate danke, bringt die löslichen
Salze als Radiogeninjektion, die un¬
löslichen als Rad io gen ol in Ampullen
ä 2 ccm unter Garantie der Sterilität in
den Handel. Die Menge der in jeder Am¬
pulle enthaltenen Salze entspricht beim Ra¬
diogen einer Aktivität von etwa 116 000
Volt — bzw. 1000 Mache-Einheiten, beim
Radiogenol etwa 30000 Volt — bzw. 348
Mache-Einheiten.
Diese Art der internen Radium-Therapie
unterscheidet sich von der bis jetzt ge¬
übten Emanations-Therapie dadurch, daß
wir neben der All gemein Wirkung durch die
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Dezember
535
Die Therapie der Gegenwart 1910.
Radium-Emanation eine mächtige Lokal¬
wirkung durch die von den Radium¬
salzen und deren Zerfallsprodukte emit¬
tierten a«, /?- und y Strahlen erhalten.
Gerade von dieser, wenn auch nur ver¬
hältnismäßig kurze Zeit andauernden Lokal¬
wirkung dürfen wir nach unserer gegen¬
wärtigen Kenntnis über die biologischen
Wirkungen der Radiumstrahlen (Beschleuni¬
gung der Autolyse, Aufhebung bzw. Ver¬
hinderung entzündlicher Prozesse) schnelle
therapeutische Effekte erwarten.
Dementsprechend kommen als Injek¬
tionsstellen vornehmlich die Umgebung
der erkrankten Körperteile in Frage.
Ueber die genauere Technik, das physi¬
kalische Verhalten im Organismus und das
Indikationsgebiet kann erst in einer späte¬
ren Arbeit Mitteilung gemacht werden.
Anwendungsgebiet und therapeutische
Wirkungen der Radium-Emanation.
Auf Grund der bisherigen Erfahrungen
hält man die therapeutische Anwendung
bei folgenden Krankheiten angezeigt:
1. chronischer Gelenk- und Muskel-
Rheumatismus.
2. subakuter Gelenk* Rheumatismus,
3. lanzinierende Schmerzen der Tabes,
4. Neuralgien, speziell Ischias,
5. Eiterungen und Entzündungen,
6. Gicht und harnsaure Diathese.
Neuerdings sind diesen Krankheiten hin«
zugefügt worden:
1. Erkrankungen des Herzens und Ge¬
fäße,
2. Katarrhe der Schleimhäute,
3. Nervosität und Schwächezustände.
Wieweit diese Indikationen zu Recht
bestehen, soll im folgenden einer kritischen
Betrachtung unterzogen werden.
Ein großer Teil der Mitteilungen, welche
die klinischen Erfolge bzw. Mißerfolge
mit Radium-Emanation zum Gegenstand
haben, muß äußerst vorsichtig bewertet
werden. Es ist ja selbstverständlich, daß
bei einem so neuartigen Heilmittel Ver¬
suchsfehler, Fehler in der Technik, Mangel¬
haftigkeit der verwendeten Präparate und
manchmal auch mehr kommerzielle als
wissenschaftliche Interessen die Beurteilung
trüben. Ich stütze deshalb im wesentlichen
mein Urteil auf unsere Beobachtungen an
der I. medizinischen Klinik, die nunmehr
einen Zeitraum von fast zwei Jahren um¬
fassen und sich auf über 200 Kranken-
beobachtungen beziehen.
Es ist hiernach nicht mehr zu be¬
zweifeln, daß wir in der Radium-
Emanation ein Mittel besitzen, wel-
| ches bei richtiger Anwendung in
einer Reihe von Krankheitszuständen
bessernde und heilende Wirkungen
ausübt.
Die Domäne für die Behandlung mit
Radium-Emanation war bis vor kurzem der
chronische Rheumatismus. Loewen-
thal (Braunschweig) machte als erster auf
die unter der Behandlung auftretende Re¬
aktion, die eine mehr weniger große Ver¬
schlimmerung des Zustandes darstellt, auf¬
merksam. Wir wissen heute, daß sie weder
in allen Fällen auftritt, noch daß ihr Fehlen
eine schlechtere Prognose für den Erfolg
der Kur abgibt. Im allgemeinen läßt sich
aber sagen, daß ihr Auftreten mit einiger
Sicherheit auf guten Erfolg hoffen läßt.
Wir beobachteten bei der Mehrzahl der
erfolgreich behandelten Fälle in der dritten
Woche Abnehmen der Schmerzen, Zurück¬
gehen der Schwellungen, Verbesserung der
Beweglichkeit in den Gelenken. Bei ein¬
zelnen Patienten traten diese Erscheinungen
früher auf, fast ausnahmslos gehörten diese
dem jüngeren Alter an, bei anderen fast
ausnahmslos älteren Kranken machte sich
eine Besserung erst nach Beendigung der
Kur, also etwa in der 5., 6., ja 8 Woche
nach Beginn der Behandlung bemerkbar.
Eine Erklärung dieser zum Teil rtcht weit¬
gehenden Besserungen (in leichteren Fällen
darf man sogar von Heilung sprechen) bei
Patienten dieser Art vermögen uns die auf
S. 529 ff. näher besprochenen Eigenschaften
der Radium-Emanation (Autolysebeschleu¬
nigung, entzündungshemmende Wirkung) in
hinreichender Weise zu geben.
Bei einer Reihe von Patienten blieb ein
Erfolg aus. Hier nun irgendwelche Zahlen
von statistischer Bedeutung angeben zu
wollen,halte ich beider bekanntenVielgestal-
tigkeit des chronischen Rheumatismus und
bei der Unkenntnis der Aetiologie desselben
zunächst für zwecklos. Es gibt aller Wahr¬
scheinlichkeit nach bestimmte Formen, die
von Radium vorläufig nicht zu beeinflussen
sind; sie aber irgendwie näher zu charak¬
terisieren, wird solange unmöglich sein, als
unsere Kenntnis über diese Krankheit nicht
eine eingehendere und sicherere sein wird.
Es ist selbstverständlich, daß in den
fortgeschrittensten Formen, wo an Stelle
des normalen Gewebes Narbengewebe ge¬
treten ist, ein Erfolg überhaupt nicht er¬
hofft werden darf. In den weniger schwe¬
ren Fällen sahen wir Besserungen bei An¬
wendung der Emanationskur, womög¬
lich unterstützt mit lokalen Radiogen¬
injektionen, wenn der Erfolg mit einer
Trinkkur ausgeblieben war.
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536
Die Therapie der Gegenwart 1910.
Dezember
Dementsprechend wenden wir gegen¬
wärtig die Trinkkur nur in den leichtesten
Formen des chronischen Rheumatismus an,
in allen übrigen Fällen verordnen wir die
Eraanationskur und unterstützen diese
gegebenenfalls mit Radiogeninjektio¬
nen. Die Technik ist auf S. 534 be ¬
schrieben.
Bei Arthritis deformans haben wir
eine überzeugende Heilwirkung der Ema¬
nation nicht gesehen.
Bei lancinierenden Schmerzen der
Tabes, bei Neuralgie, speziell Ischias
sind die Bedingungen für eine Beurteilung
der Wirkung der Emanation noch un¬
günstiger, wie beim Rheumatismus. Man
hat über Erfolge berichten können und
auch wir haben solche gesehen; sie
lassen sich auch im gewissen Sinne aus
der entzündungshemmenden und die Auto¬
lyse beschleunigenden Wirkung der Ema¬
nation verstehen, wenn wir die Anschau¬
ung gelten lassen, daß diese Krankheits¬
erscheinungen durch Einschnürung der
Nervenfasern, durch entzündliche Ver¬
dickung des Bindegewebes hervorgerufen
werden. Bei dem so variierenden Bild
der Tabes und bei der Vielgestaltigkeit
der Aetiologie der Neuralgien und der
Ischias darf es aber nicht wundernehmen,
wenn Mißerfolge durchaus nicht selten
sind.
Ueber den Einfluß der Radium-Emana¬
tion auf chronische Eiterungen und
Entzündungen liegen nur wenige Mit¬
teilungen vor. Aber gerade auf diesem
Gebiete lassen sich bei der entzündungs¬
hemmenden und der die Autolyse beschleu¬
nigenden Wirkung der Radium-Emanation
Erfoge erwarten. Vielversprechend er¬
scheint mir die Behandlung chro¬
nischer Frauenleiden. Wir verfügen
über einen gut beobachteten Fall von Para-
metritis und Pelveoperitonitis. Es bestand
starker übelriechender Ausfluß, große
Schmerzhaftigkeit, die insbesondere bei der
meist sehr stark und unregelmäßig auf¬
tretenden Menses sich steigerte, allgemeine
Mattigkeit. Mit Einverständnis eines er¬
fahrenen Gynäkologen wurde eine Ema¬
nationskur mit gleichzeitiger Anwendung
von Kompressen verordnet. Nach drei
Wochen war eine so weitgehende Besserung
aller Beschwerden, wie Verringerung des
Ausflusses, Auf hören der Schmerzen,
Hebungdes Allgemeinbefindens, eingetreten,
daß Patientin selber von einer weiteren
Fortsetzung der Behandlung Abstand nahm.
Wir stellen gegenwärtig nach dieser
Richtung Versuche auf breiterer Basis an.
Andere Beobachtungen über Beein¬
flussung von Pleuritiden und Exsudaten in
der Brusthöhle (Salzmann-Reiboldsgrün)
von chronischen Katarrhen der Nase, des
Rachens und der Nebenhöhlen (Bartels)
bedürfen der Nachprüfung.
Die neuerdings aufgestellte Indikation,
Radium-Emanation beiErkrankungen des
Herzens und der Gefäße, bei nervösen
und Schwächezuständen anzuwenden,
entbehrt zunächst jeder sicheren Grundlage.
Wir haben im Gegenteil beobachtet, daß man
bei Kranken mit nervöser Komponente
äußerst vorsichtig in der Dosierung der
Emanationsmenge sein muß, da diese bei
schematischer Anwendung der üblichen
Dosen mit leichten Aufregungszuständen,
Schlaflosigkeit und einer Reihe anderer
unangenehmer Sensationen zu reagieren
pflegen.
Zum Schluß sei nun noch die Krank¬
heit behandelt, bei der man bislang die
Anwendung von Radium - Emanation auf
Grund einer Reihe von Krankheitsberichten
für kontraindiziert hielt, nämlich die Gicht»
Erst die von mir gemachte Feststellung,
daß eines der Zerfallsprodukte der Radium-
Emanation, das Radium D, das Mono¬
natriumurat in leichter löslichere Körper
umzuwandeln und bis zu Kohlensäure und
Ammoniak zu zersetzen vermag und die
sich daran anschließenden Arbeiten in Ge¬
meinschaft mit Loewenthal und Fofanow
gab die Grundlage ab für die gegenwärtige
so erfolgreiche Behandlung dieser Krank¬
heit mit Radium-Emanation. Wie auf S. 531
näher ausgeführt ist, läßt sich zeigen, daß
nach einer gewissen Behandlungsdauer die
Harnsäure aus dem Blute verschwinden
kann. Nach der gegenwärtigen Auffassung
von dem Wesen der Gicht müssen wir
annehmen, daß demnach die Stoffwechsel¬
störung durch die Einwirkung der Radium-
Emanation beseitigt werden kann. Ueber
die Dauer dieser Wirkung vermögen wir
noch nichts auszusagen.
Wir hatten Gelegenheit, das Blut eines
Gichtkranken nach einer Trinkkur, ferner
nach einer Behandlung in Kreuznach
und nach einer solchen in Pistyan zu
untersuchen und dabei festzustellen, daß
die Harnsäure aus dem Blut nicht ver¬
schwunden war. Diesen Effekt scheint
also nur die Behandlung der Patienten im
Radium - Emanatorium zu haben. Nach
unseren Ausführungen in den Abschnitten
über das physikalische und biologische Ver¬
halten der Radium-Emanation wird das ver¬
ständlich. Es kommt eben darauf an, den
Emanationsgehalt des Blutes für mehrere
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Dezember
Die Therapie der Gegenwart 1910.
537
Stunden täglich auf einer gewissen Höhe
zu halten.
Unsere klinischen Beobachtungen er¬
strecken sich gegenwärtig auf etwa 40 Fälle.
Bei dem größten Teil der behandelten
Gichtkranken traten in den ersten 8 bis
14 Tagen der Kur Gichtanfälle auf, oft
auch dann, wenn der Patient jahrelang vor¬
her anfallsfrei war; in etwa 3 bis 4 Wochen
kam dann das subjektive Gefühl der Er¬
leichterung und Befreiung, so daß bei Be¬
endigung der Behandlung eine Aenderung
des Zustandes zur Norm konstatiert werden
mußte. Dieses erstaunliche klinische Re¬
sultat war naturgemäß bei den Gicht¬
kranken, die bereits erhebliche arthritische
Veränderungen aufwiesen, nicht in gleicher
Welse zu erzielen. In einigen ganz
schweren Fällen dieser Art mußte eine
klinische Besserung verneint werden; in
einer Reihe anderer Fälle vermochte ich
aber noch Beseitigung der Schmerzen, Zu¬
rückgehen der Anschwellungen in den Ge¬
lenken, bessere Beweglichkeit durch Kom¬
bination der Emanationsmethodik mit
direkten Injektionen von löslichen reinen
Radiumsalzen herbeizuführen.
In ganz veralteten Fällen, wo gewaltige
Ablagerungen von Harnsäure einhergehen
mit schweren arthritischen Veränderungen
dürfte eine Emanationskur zu widerraten
sein. Solche Patienten kann man infolge
der auftretenden Reaktionen in einen recht
unangenehmen Zustand bringen, ohne ihnen
erheblich helfen zu können.
Obwohl wir nun eine recht gute Kenntnis
von dem physikalischen und biologischen
Verhalten der Radium Emanation haben, ob¬
wohl die Technik verfeinert und vereinfacht
ist, die Indikationen strenger gestellt wer¬
den können, ist mit einer schematischen
Anwendung der Radiumtherapie den Pa¬
tienten vielfach nicht gedient. Wenn also
gegenwärtig Institute für Emanationsbehand¬
lung eingerichtet werden, in denen wahllos
alles mit Inhalation behandelt wird, so
ist mit Sicherheit zu erwarten, daß dort
Erfolge ausbleiben, die unter der Behand¬
lung eines denkenden und mit der Radium¬
therapie erfahrenen Arztes zu erreichen
gewesen wären. So sieht man oft Besse¬
rungen erst bei der Kombination der Ema¬
nationskur mit der Injektionskur, manchmal
bei Variierung der Dosis. Insbesondere ist
bei Kranken mit nervöser Komponente
Vorsicht angeraten. Diese finden nach
eigener Beobachtung Besserung bei einer
geringeren Dosis als die übliche, während
ihnen die übliche Dosis offenbar unzu¬
träglich ist Demgegenüber gibt es Patien¬
ten, die augenfällig erst auf eine höhere
Dosis reagieren.
Irgendwelche bestimmte Zahlen lassen
sich vorläufig nicht angeben, da unsere
Erfahrungen noch zu gering sind. Der
neuerdings von Mesernitzky und Kernen
unternommene Versuch, die wirksame Mi¬
nimaldosis festzustellen, ist also schon
wegen des offenbar verschiedenen Ver¬
haltens des Einzelindividuums gegen Ra¬
dium-Emanation als verfehlt zu bezeichnen.
Er wird aber dadurch vollkommen belang¬
los, daß die Autoren von der falschen
Voraussetzung ausgehen, daß die Radium-
Emanation die Menge der Harnsäure und
Purinbasenausscheidung in allen Fällen
vermehrt Daß dieses tatsächlich nicht der
Fall ist, geht aus unseren eigenen Ver¬
suchen (Stite 531) mit Sicherheit hervor.
Bei einem so neuartigen Heilmittel kann
es auch nicht ausbleiben, daß einerseits
unzuverlässige Radiumpräparate auf
den Markt geworfen, andererseits in
schwindelhafter Weise die Wirkun¬
gen der Radium - Emanation über¬
trieben werden. Dem denkenden Arzt
wird es aber nicht schwer fallen, hier die
Spreu vom Weizen zu sondern.
Aufgabe der Zukunft wird es sein, auf
dem gewiesenen Wege unsere Kenntnisse
über das Verhalten und die Wirkungen
des Radiums im Organismus zu erweitern
und zu vertiefen.
Zur Behandlung der intestinalen Oärungsdyspepsie
mittelst Taka-Diastase.
Von Dr. Alfred Alexander, Spezialarzt für Magen- und Darmkrankheiten in Berlin.
Nicht nur dem praktischen Arzte, son¬
dern auch dem Spezialarzte werden hie
und da Fälle begegnen, bei denen, trotz
genauest eingthaltener Diät, trotz Medika
mentverabreichung, Durchfälle nicht schwin¬
den wollen. Patienten, die unter dieser
Krankheit — der intestinalen Gärungsdys¬
pepsie — leiden, gehen oft von Arzt zu
Arzt, werden — bei fast stets gleichblei¬
be nder Diät strengster Form — mit allen den
Mitteln behandelt, die die heutige Chemie
dem Arzte zur Verfügung stellt (es sind
dies die Tannine und Wismuthpräparate
in ihrer Komposition oder in Eiweißverbin¬
dungen), und doch werden die momentan
auf kurze Zeit eingetretenen Erfolge bald
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Die Therapie der Gegenwart 1910.
Dezember
hinfällig; das alte Leiden ist wieder da,
und die Patienten kommen stets weiter
herunter, sodaß mancher Arzt eine bös¬
artige Grundkrankheit, sei es Ca, sei es
Tbc annimmt.
Und doch handelt es sich oft um eine
eigentlich harmlose Störung der fermen¬
tativen Prozesse im Darmtraktus, deren
Beseitigung oft leicht möglich ist, wenn
man die Ursache erkannt hat.
Die Klagen dieser Patienten gehen meist
dahin, daß sie sehr unter den sie schwächen¬
den Durchfällen zu leiden haben, da diese
meist von voraufgehenden Leibschmerzen
begleitet sind und auch nachher häufig
starker Teresmus entsteht, sodaß sie nach
einiger Zeit gezwungen sind, wieder aus¬
zutreten, wobei nur wenig Stuhl produziert
wird.
Sehr oft hört man dann auch, daß
früher Obstipation bestanden hat und daß
dann im Anschluß an längerem Gebrauch
von Abführmitteln die Durchfälle ein¬
getreten sind. Die Annahme der Patienten,
daß die Durchfälle eine Folge der Abführ¬
mittel sind, ist natürlich unberechtigt, denn
die sonstigen Beschwerden dieser Darm
Störungen, die da sind, Aufstoßen und Fla¬
tulenz, Völlegefühl, Appetitlosigkeit, soge¬
nanntes Magendrücken, bestanden auch
schon während der Obstipation. Diese
Obstipation ist der Begmn der Erkrankung,
die in einer isolierten Störung der Kohle¬
hydratverdauung besteht, die zu starken
Gärungs- und Fäulnisvorgängen im Darm
führt und in der weiteren Folge einen
Dünndarmkatarrh herbeiführt, der die Durch¬
fälle bedingt. Der Stuhl, den uns diese
Patienten zur Untersuchung übergeben, ist
fast stets von gleicher Beschaffenheit, ist
mehr oder weniger dünnbreiig, von gelb¬
lich brauner Farbe, schaumig, von stark
sauerstinkendem Geruch und weist schon
makroskopisch kleinere und größere Kohle¬
hydratreste, wie Kartoffelstücke, Gemüse-
(Karotten)reste auf. Mikroskopisch findet
man stets neben geringen Schleimmengen
eine große Menge sich mit Jod blaufärben¬
der Kartoffelzellen und anderes Amylum.
Die Gärungsprobe nach Straßburger ist
natürlich stark positiv.
Hebert man diesen Patienten den Magen
aus, so findet man sehr häufig eine Ver¬
ringerung oder gar ein Versiechen der
Salz^äureabsonderung. Eine ebenfalls oft
auftretende Klage der Patienten ist die,
über große Trockenheit im Munde, welche
sie meist zwingt, zu den Speisen reichlich
Flüssigkeit zu sich zu nehmen.
Normalerweise werden nun die aufge¬
nommenen stärkehaltigen Nahrungsmittel
schon im Munde giündlich mit Speichel
durchtränkt und wirkt hier schon, wie
Burger nachwies, während des Kauens
das Ptyalin des Speichels reduzierend.
Diese Einwirkung geht auch im Magen
weiter vor sich, da ja nur die ersten Bissen
gleich mit der Schleimhaut des Magens
und somit auch mit der Salzsäure in Be¬
rührung kommen, während die Haupt¬
menge im Fundus einen kaum bewegten
Klumpen, der nur vom Rande her durch
Magensaft aufgelöst wird, bildet. Im Innern
herrscht neutrale oder ganz schwach alka¬
lische Reaktion des Speichels, die für das
Ptyalin, das Optimum seiner Wirksamkeit
bildet (Cohnheim, S. 142). Die so be¬
gonnene Verdauung der Stärke (Aroylolyse)
wird dann im Magen durch die Invertie¬
rung der Stärke und des Rohrzuckers
durch die Salzsäure fortgeführt *) Die
noch nicht vollständig zur Resorption ge¬
eigneten Kohlehydrate, die im Dünndarm
stattfindet, werden dann im oberen Teile
des Dünndarms durch das Ptyalin des Pan¬
kreassaftes und durch die Fermente des
Dünndarms (Maltase, Laktase und Invertin)
respektive bei der Resorption in der Dünn¬
darmwandung in die für den Körper
brauchbaren Kohlehydrate umgewandelt.
Wir sehen aus diesen nach dem Cohn¬
heim sehen Buche kurz zusammengefaßten
Bemerkungen über die Kohlehydratverdau¬
ung, daß diese an verschiedenen Stellen
im Verdauungstraktus -vor sich geht; es
ei klärt sich auch dann hieraus, daß die
Kohlehydratdyspepsie ihre Ursache auf ver¬
schiedener Basis haben kann. Abgesehen
davon, daß zu schnelles Verschlucken
großer Bissen eine Durchdringung der
Speisen mit Speichel unmöglich macht,
ebenso wie ein Versiegen der Speichel¬
sekretion. daß ferner Mangel an Salzsäure—
Subazidität respektive Achylie — die Ur¬
sachen der sogenannten gastrogenen Di-
arrhoeen — eine Spaltung der Kohlehydrate
im Magen ausschließen, kann eine Pan¬
krease! krankung die Produktion des Ptya¬
lins stören, ebenso wie eine Ei krankung
der Dünndarmschleimhaut die Absonderung
der diastatischen Dünndarmfermente unter¬
bindet und die Resorption der Kohlehydrate
hindert.
Je nach der eventuellen Lokalisierung
der Verdauungsstörung würde nötig sein
die medikamentöse Behandlung einzuleiten.
Es ist ja selbstverständlich, daß man auch
in der ersten Zeit der Behandlung noch
eine Einschränkung der Kohlehydrate ein-
l ) Cohnheim: Die Physiologie der Verdauung.
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Dezember
Die Therapie der Gegenwart 1910.
539
treten läßt, jedoch ist man nicht mehr ge¬
zwungen, eine vollständige Enthaltung der
Kohlehydrate anzuordnen oder längere Zeit
durchzuführen, was bei den meisten Pa¬
tienten auf den größten Widerstand stieß.
Bei Störung der HCl-Absonderung (Achylie
und hochgradiger Subazidität), die eine
Invertierung der Stärke und des Rohr¬
zuckers im Magen hindert, wird häufig
noch durch alleinige HCl-Verabreichung
eine normale Kohlehydratverdauung wieder
herbeigeführt werden können. Anders
wird es aber sein, wenn schon infolge der
Magensaftstörung eine Störung des Dünn¬
darms eingetreten ist. In diesen Fällen ist
eine Behebung der Kohlehydratstörung
nicht mehr allein durch HCl-Darreichung
möglich, da hier dann auch die Resorp*
tionsfähigkeit des Darmes gelitten hat, und
zugleich die Bildung und Absonderung der
diastatischen Fermente des Dünndarms ge¬
stört wird. Die an anderen Steilen im
Darmtraktus gebildeten diastatischen Fer¬
mente sind allein wohl nicht imstande die
ganze normale Kohlehydratverdauung zu
bewältigen, abgesehen davon, daß auch
reflektorisch eine isolierte Fermentbildungs¬
störung im Dünndarm die Fermentbildung
im Pankreas und Speicheldrüse beeinflussen
kann.
Vor einiger Zeit hat Riehl in der Mün¬
chener Medizinischen Wochenschrift einige
Erfahrungen „(Jeher Kohlehydratverdauung
und Distasepräparate* niedergelegt. Er hat
dabei auch Versuche veröffentlicht, die er
in vitro vorgenommen hat und wobei er
fand, daß die Taka-Diastase und das Diamal-
taseextrakt unter geeigneten Bedingungen
sehr gioße Mengen Stärke in Zucker zu
verwandeln vermögen. Seine Bemerkung,
daß die Behandlung der Kohlehydratdys¬
pepsie bei uns im Gegensätze zu Amerika
und England, wenig bekannt ist, hat mich
veranlaßt, hier kurz meine Erfahrungen über
Taka-D astasebehandlung wiederzugeben:
Die Taka-Diastase, welche von der Firma
Parke, Davis & Co., London, in den Handel
gebracht wird, hat die Eigenschaft wie das
Ptyalin des Speichels Zucker, Stärke, Maltose
usw. in Dextrin, Dextrose und Maltose umzu¬
wandeln. Nach den Untersuchungen von
Riehl ist 1 g Taka Diastase imstande, aus
einer 0,4°/ 0 igen salzsauren gekochten
Stärkelösung das 300fache ihres eigenen
Gewichtes reduzierender Substanz zu liefern.
Meine Erfahrungen, welche ich im Laufe
von 21/2 Jahren mit der Taka Diastase ge¬
macht habe, möchte ich im folgenden zu¬
sammenfassen. Bei starken D.arrhoen, wo
der Stuhl reichlich Stärkereste aufweist,
ist eine längere, Zeit dauernde Verabrei¬
chung von Taka-Diastase von großem
Nutzen gewesen. Schon nach kurzer Zeit,
zirka 8—10 Tagen, waren die stark stinken¬
den, stärkehaltigen, dünnbreiigen Stühle
geschwunden und waren kaum noch Kar¬
toffelzellen zu finden. Nach ungefähr vier
Wochen wurde auch nach Aussetzen von
Taka-Diastase im normalen Stuhle kein
Amylum und kein Schleim gefunden. In
2 Fällen, bei denen nach einiger Zeit wieder
Neigung zu Durchfällen auftrat, wurden
längere Zeit wieder kleinere Dosen von
Taka-Diastase gegeben und schwanden auch
bei diesen die Diarrhoen schließlich ganz.
In zwei Fällen, bei denen ich neben
den stark amylumhaltigen Stühlen eine
vollständige Achylie feststellen konnte, habe
ich erst nach Verabreichung von Taka-
Diastase die Durchfälle schwinden sehen.
Die alleinige Verabreichung von Salzsäure
brachte in dem einen Falle gar keine und
in dem anderen nur ein geringes Nach¬
lassen der Durchfälle. Nachdem ich Taka-
Diastase neben Salzsäure gab, trat die
Heilung ein. In dem letzterwähnten Falle,
wo der Patient 16 Pfund abgenommen hatte,
nahm das Körpergewicht im Laufe von
6 Wochen 12 Pfund zu. Dieser Patient hat
seit ungefähr 4 Monaten täglich durch¬
schnittlich zwei normale Stühle, doch
treten hier und da, wenn er reichlich Brot
zu sich genommen hat, Durchfälle auf.
Diese konnten aber in letzter Zeit dadurch
vermieden werden, daß Patient stets, wenn
er nach seiner Meinung eine zu große
Menge Kohlehydrate zu sich genommen
hatte, 1—2mal täglich eine Tablette Taka-
Diastase mit 10 Tropfen Salzsäure nahm.
In einem anderen Falle, bei dem Verdacht
eines Ca. des Magens bestand — Achylie,
gestörte Amylolyse, reichlich Amylum im
Stuhl, jedoch keine Durchfälle, starke Ge¬
wichtsabnahme —, konnte ich nach Ver¬
abreichung von Taka Diastase mit Pepsin
und Strychnin (ich gebrauchte die von der
Firma Parke, Davis & Co. hergestellten
Tabletten der Formel: Taka Diastase 0,13,
Pepsin. 1:3000 0.13, Strychnin, phosphoric.
0,00065) neben Salzsäure, später von reiner
Taka Diastase und Salzsäure eine erheb¬
liche Besserung der Beschwerden, Steige¬
rung des Gewichts und Verschwinden des
Amylums aus dem Stuhle herbeiführen.
Da ich diesen Patienten seit 8 / 4 Jahren
nicht gesehen habe, kann ich über den
weiteren Verlauf nichts berichten. In einem
Falle von Hyperchlorhydrie mit Dünndarm¬
katarrh, bei dem ebenfalls reichlich Amy¬
lum im Stuhl nachzuweisen war, konnte
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540
Oie Therapie der Gegenwart 1910.
Dezember
ich unter Verabreichung der Taka Diastase
neben Pankreon eine Gewichtszunahme von
15 Pfund in 7 Wochen und vollständiges
Verschwinden der Durchfalle herbeitühren.
Diese Patientin, welche ich vor einiger Zeit
nach Verlauf von einem Jahre seit der Be¬
handlung zu sehen Gelegenheit hatte, ver¬
trägt jetzt jegliche Nahrung, und ist der
Darmkatarrh jetzt vollständig gehoben.
Ueb#r den Verlauf eines weiteren Falles
von KohleHydratdyspepsie bei einem zwei¬
jährigen Kinde, welches keine Kohlehydrate
neben Milch verträgt und dem ich jetzt bei
Milchzulage Taka-Diastase gebe, werde ich
an anderer Stelle berichten. —- Außer diesen
hier angeführten Fällen habe ich sowohl
privat als auch als Assistent des Herrn
Professor Albu in seiner Poliklinik eine
Reihe weiterer Fälle von Kohlehydratdys¬
pepsie mit ähnlichem Erfolge behandelt.
Ich komme somit zum Schlüsse, daß in
einer großen Reihe von Fällrn, in denen
Durchlälle, welche auf eine intestinale
Gärungsdyspepsie zurückzuführen sind, ein
Versuch mit Taka Diastase gemacht werden
soll. In den Fällen der gastrogenen Diar¬
rhoen ist eine Kombination der Taka-
Diastasebehandlung mit Salzsäuremedikation
zu empfehlen.
Selbstverständlich hat Hand in Hand
mit der medikamentösen Behandlung die
Diätbehandlung zu gehen, die hier in einer
feinstverteilten Kohlehydratverabreichung
(Pürreekost) besteht. Vorsichtig geht man
durch Zulagen von Brötchen, Brot und
festen kohlehydrathaltigen Gemüsen lang¬
sam zur normalen Kost über, während man
weiter die Taka* Diastase verabreicht. Ich
lasse dann langsam mit der Taka-Diastase
zurückgehen und oft nur no* h eine Tablette
nach der Hauptmahlzeit wochenlang neh¬
men, bis — auch nach tagelangem Aus¬
setzen der Taka Diastase — bei normaler
Verabreichung von kohlehydrathaltiger Nah¬
rung kein Amylum im Stuhle nachzu¬
weisen ist.
Aus der L chirurgischen Abteilung des Allgemeinen Krankenhauses Hamburg-Eppendorf.
Die operative und spezifische Behandlung: der Nieren- und
Blasentuberkulose.
Von Prof. Dr. Hermann Kümmell.
Die Krankheiten der Nieren und der
ihnen untergeordneten Organe bilden eines
der interessantesten Gebiete unserer mo¬
dernen Chirurgie. Trotz der gewaltigen
Fortschritte, welche wir bei diesen erst
spät in das Bereich unseres chirurgischen
Könnens gezogenen Erkrankungen im letz¬
ten Dezennium erzielt haben, bleibt noch
manche Aufgabe zu lösen, manches fest-
zusttllen übrig.
Wie würde es sonst zu erklären sein,
daß ein anscheinend kleines und abge¬
schlossenes Gebiet sich vom großen Stamm¬
land trennt, um sich zu einem eignen
Wissenszweig auszuwachsen. Trotz aller
Vervollkommnung unserer technischen Hilfs¬
mittel, trotz des weiteren Ausbaus der
funktionellen Nierendiagnostik treten uns
immer wieder noch nicht beseitigte Schwie¬
rigkeiten entgegen. Dies ist in besonderer
Weise bei der tuberkulösen Erkrankung
der Niere der Fall, welche zweifellos die
für die Diagnose schwierigste, aber auch
für die Therapie dankbarste Art der an
den Chirurgen herantretenden Nieren
erkrankungen bildet. Schwierig einmal
durch den Polymorphismus, mit welchem
uns die Nierentuberkulose entgegentritt,
von der beginnenden Infektion der Papillen¬
spitze und der primären, oft jahrelang den
ersten klinischen Symptomen der Krank¬
heit vorausgehenden Blutungen bis zu der
über die ganze Niere sich erstreckenden
miliaren Aussaat, den großen kä^gen
Herden und den auf ihren Durchbruch mit
Mischinfektionen kombinierten, die ganze
Niere mehr oder weniger zerstörenden
tuberkulösen Abszessen.
Schwierig weiterhin und eigenartig für
die Diagnose deshalb, weil sich meistens
die ersten subjektiv empfundenen und ob¬
jektiv nachweisbaren Symptome in der
Blase ab-pielen und dadurch der eigent¬
liche primäre Sitz des Leidens nicht in
der Niere, sondern in einem anderen Aus¬
gangspunkt, sei es in der Blase selbst oder
in einer etwa gleichzeitig vorhandenen
Genitaltuberkulose, gesucht wird. Erst seit¬
dem wir durch eingehendes Studium der
Tuberkulose des Urogenitalaj parates ge¬
lernt haben, daß es eine primäre Nieren¬
tuberkulose gibt und daß von da aus die
Infektion des Harnleiters und der Blase
zustande kommt, war der Gedanke nahe¬
liegend, durch möglichst fiühzeitige Ent¬
fernung des infektiösen Herdes die tiefer¬
liegenden Teile des Harnapparates vor In-
fcktion und den mit ihr zusammenhängen¬
den, oft irreparabeln Schäden zu schützen.
Bei unseren 125 wegen Nierentuberku¬
lose operativ behandelten Patienten hatten
wir den Eindruck, daß ein primärer tuber-
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Dezember
Die Therapie der Gegenwart 1910.
54 1
kulöser Herd, der öfter in den Lungen, in
froher aberstandener DrOsentuberkulose, in
einem Falle in einem Leichentuberkel des
Fingers oder anderweitig nachgewiesen
werden konnte, die Qaelle der Nieren¬
erkrankung bildete, und daß von hier aus
die tuberkulöse Infektion der Niere durch
Verschleppung von Tuberkelbazillen auf
dem Wege des Blutstroms zustande ge
kommen war. Sehr oft jedoch fehlte jede
nachweisbare Erkrankung der Lungen oder
anderer Organe, und nur die Niere und
Bla^e wurden tuberkulös erkrankt gefunden.
Solange man annahm, daß die Nierentuber¬
kulose vielfach durch aufsteigende Infektion
von der Blase aus entstehe, konnte von
einem operativen erfolgreichen Einschreiten
gegen ein sekundär erkranktes Organ nur
in beschränktem Maße und unter besonde¬
ren Verhältnissen die Rede sein. Diese
Anschauungen sind später durch zahlreiche
wissenschaftliche Arbeitet von Baum¬
garten, Kramer, Steinthal u. A., sowie
durch pathologisch - anatomische Befunde
und klinische Beobachtungen widerlegt
Durch die interessanten Tierexperimente
Baumgartens, Hausers u. A. wurde fest¬
gestellt, daß die Ausbreitung der tuberku¬
lösen Infektion dem Wege der Drüsen¬
sekrete folgt, also bei primärer Nieren¬
tuberkulose dem Harnleiter nachgehend
zur Blase absteigt, bei primärer Hoden¬
tuberkulose dem Vas deferens entlang zur
Samenblase und Prostata aufsteigt, der
umgekehrte Weg „gegen den Strom“
jedoch ausgeschlossen ist.
Wir wissen jetzt, daß bei der Tuber¬
kulose des Harnsystems die Niere
der primäre Sitz des tuberkulösen
Leidens ist, von der aus die In¬
fektion des Ureters und der Blase
allmählich erfolgt. Daß bei ausgedehn¬
ter Genitaltuberkulose, wenn Hoden, Pro¬
stata und Samenblase ergriffen sind, auch
eine von dort ausgehende tuberkulöse Er¬
krankung der Blase eintreten kann, ist
'nicht ausgeschlossen, jedenfalls aber sehr
selten. Daß jedoch gleichzeitig mit der
Tuberkulose der Genitalien auch eine
solche der Nieren einhergehen kann, von
welch letzteren alsdann die tuberkulöse
Zystitis entsteht, ist mehrfach von uns be¬
obachtet worden. Fanden wir eine Genital-
und Blasentuberkulose, so nahmen wir eine
gleichzeitige Nierentuberkulose an, und die
eingehende Untersuchung bestätigte stets
unsere Annahme, daß es sich um zwei
nebeneinander hergehende tuberku¬
löse Erkrankungsformen mit zwei
verschiedenen primären Ausgangs¬
punkten handelte. Dies haben wir in
mehreren Fällen festzustellen Gelegenheit
gehabt.
Auch bei der häufiger von uns ope¬
rierten Genitaltuberkulose des Weibes, die
zu ausgebreiteter Tuberkulose des Peri¬
toneums mit Aszitesbildung führte, haben
wir kaum eine Mitbeteiligung der Blase zu
beobachten Gelegenheit gehabt, wenn nicht
gleichzeitig eine Tuberkulose der Niere
bestand.
Daß bei doppelseitiger Nierentuberku¬
lose die zweite Niere von der Blase aus
sekundär, also durch einen aufsttigenden
Prozeß infiziert werden kann, wie beispiels¬
weise Tuffier annimmt, ist ja möglich, er¬
scheint aber nicht wahrscheinlich. In den
von uns beobachteten Fallen doppelseitiger
Nierenerkrankung schien vielmehr eine
gleichzeitige Infektion beider Organe auf¬
getreten zu sein, wenn auch die Schwere
der Erkrankung der einen Seite die der
anderen zurücktreten ließ. Immerhin über¬
wiegt ja, wie uns die klinische Eifahrung
und die langanhaltenden Heilungen nach
Nrphrektomie des erkrankten Organs be¬
weisen, bei weitem die einseitige Tuber¬
kulose der Niere. Auch in den zahlreichen
Fällen, in welchen die Nierentuberkulose
in der Blase schwere Störungen anrichtet
und selbst zur Schrumpfblase geführt hat,
bleibt die zweite N.ere von der tuberku¬
lösen Infektion sehr oft verschont. Aber
schon die Möglichkeit der Infektion der
zweiten Niere von der Blase aus durch
einen aufsteigenden Prozeß läßt eine frühe
Entfernung der erkrankten Niere geboten
erscheinen.
In einwandfreier Weise kann man durch
das Zystoskop die allmähliche Infektion
der Blase von der Niere aus beobachten.
Bei Betrachtung einer im Anfangsstadium
der tuberkulösen Infektion sich befindenden
Blase sieht man im zystoskopischen Bilde
kleine Ulzerationen sich um den von der
kranken Niere ausgehenden Ureter grup-
gieren, während die Umgebung des gesun¬
den Harnleiters vollständig frei ist. Bei
der weiter dauernden Berührung der Blasen¬
schleimhaut mit dem Tuberktlbazillen ent¬
haltenden Urin sieht man im vorgeschritte¬
nen Stadium der Erkrankung die Ulzera¬
tionen sich mehr und mehr ausbreiten und
allmählich einen großen Teil der Blasen¬
schleimhaut einnehmen. Vor längeren Jah¬
ren, als man noch eine primäre Blasen¬
tuberkulose annahm, beobachtete ich einen
in mehrfacher Beziehung sehr instruktiven
Fall, in dem ein anscheinend zirkumskriptes
tuberkulöses Ulkus bei sonst gesunder Blase
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Die Therapie der Gegenwart 1910.
Dezember
entfernt und geheilt und erst später die
Niere als der primäre Sitz des Leidens er¬
kannt wurde.
Eine 26 Jahre alte Patientin klagte über
häufigen Harndrang und entleerte einen
trüben Urin. Ueber Schmerzen in der
Nierengegend wurde nicht geklagt. Patientin
kam 1894 in Behandlung. Im Urin konnten
spärliche Tuberkelbazillen nachgewiesen
werden. Das Zystoskop ließ zunächst eine
vollständig normale Blase erkennen. Unter¬
halb der rechten Uretermündung saß ein
längliches, ca. 1 cm breites und U /2 cm
langes Geschwür, welches wir als die
Quelle der Tuberkelbazillen im Urin an¬
sahen. Das Ulkus wurde nach Eröffnung
der Blase durch Sectio alta exzidiert und
durch die Naht vollständig vereinigt. Es
erfolgte eine glatte Heilung; auch durch
das Zystoskop konnten vollkommen nor¬
male Blasenverhältnisse, sowie die Heilung
der intravesikalen Operationswunde fest¬
gestellt werden. Da wir damals noch die
Möglichkeit einer primären Blasen tuberku¬
löse annahmen, glaubten wir nach der
radikalen Beseitigung einer so zirkum¬
skripten und selten früh in Behandlung
gelangten Blasentuberkulose eine Heilung
annehmen zu dürfen. Die Patientin kehrte
nach einigen Monaten in unsere Behand¬
lung zurück. Sie hatte weiter trüben Urin
entleert, klagte über Schmerzen in der
linken Seite und war in ihrer Ernährung
sehr heruntergekommen. In der Blase ließ
sich außer einem mäßigen Blasenkatarrh
keine tuberkulöse Ulzeration nachweisen,
dagegen war die rechte Niere stark ver¬
größert und schmerzhaft. Wir legten das
kranke Organ frei und entfernten es durch
Nephrektomie am 15. Februar 1895. Das
Organ war durch zahlreiche käsige und
eitrige Herde fast vollständig zerstört, nur
wenig normales Nierengewebe noch vor¬
handen. Rascher Heilungsverlauf. Patientin
erholte sich bald und ist lange gesund und
arbeitsfähig geblieben. Bei dieser Patientin
war es als ein glücklicher Zufall anzusehen,
daß die später auftretenden Beschwerden
sich auf die Nieren bezogen und durch die
Palpation des vergrößerten Organs den
Sitz des Leidens eikennen ließen.
Ich erwähne diesen Fall ausführlicher,
weil er aus einer Zeit stammt, in welcher
man anfing, die erkrankte tuberkulöse Niere
mit Erfolg zu entfernen, in welcher aber
andererseits auch von hervorragenden Chi¬
rurgen noch vor einem operativen Eingriff
energisch gewarnt wurde. So schreibt, wie
schon öfter zitiert, der erfahrene Wiener
Chirurg Albert 1895: „Der Nephrektomie
bei Nierentuberkulose erwähne ich zum
Schluß als einer warnenden Verirrung der
Zeit. Es haben sich Menschen gefunden,
diese Operation auszuführen und ein Fall
soll von Erfolg gewesen sein." In dieser
Zeit hatte ich bereits vier tuberkulöse
Nieren operativ mit Erfolg entfernt, die
erste im Jahre 1888. In allen diesen Fällen
handelte es sich um Dauerheilungen, da
sämtliche Patienten noch heute, jedenfalls
noch vor nicht sehr langer Zeit lebten und
gesund waren. So günstig auf den pri¬
mären Sitz des Leidens hinweisend, wie
in dem oben erwähnten Falle, liegen aller¬
dings die Verhältnisse grade in den frühe¬
ren Stadien der Tubeikulose des Urogeni¬
talsystems selten, und es bedarf vielfach
sehr eingehender und mühsamer Unter¬
suchungen, um das Leiden in einem Zeit¬
punkt zu erkennen, in welchem klare Sym¬
ptome noch nicht im Vordergrund stehen.
Wie bei allen Leiden, so ist besonders
für die Nierentuberkulose eine früh¬
zeitige Diagnose für den Erfolg der
einzuschlagenden Therapie — wel¬
cher Art sie auch sein mag — von
der größten Wichtigkeit
Als frühes Stadium der Tuberku¬
lose der Harnorgane möchte ich das¬
jenige bezeichnen, in welchem subjektive
Beschwerden nicht auf den Sitz des Lei¬
dens hinweisen und äußere objektive dia¬
gnostische Anhaltspunkte, palpatorischer
Nachweis des vergrößerten Organs, Schmerz¬
haftigkeit desselben und anderes mehr feh¬
len, der Prozeß noch vor allem auf die
Niere beschränkt ist und womöglich noch
nicht den Harnleiter, jedenfalls die Blase
gar nicht oder nur im geringen Maße in
Mitleidenschaft gezogen hat. Als ein immer¬
hin relativ frühes und günstig zu beein¬
flussendes Stadium würde ich überhaupt
die primäre Tuberkulose der Niere be¬
zeichnen, solange sie auf diese selbst be¬
schränkt ist. Nach einer günstig verlaufe¬
nen frühen operativen Entfernung der er¬
krankten Niere pflegt meist eine definitive
Heilung einzutreten.
Eine einmal vorhandene Blasen¬
tuberkulose ist am besten durch die
Beseitigung der erkrankten Niere,
vorausgesetzt, daß die andere funktions¬
fähig ist, zur Heilung zu bringen. Wir
kennen ja alle zur Genüge die lebhaften
Beschwerden, welche die Blasentuberkulose
von den anfangs leichten Reizerscheinun¬
gen des Blasenkatarrhs, dem häufigen
Biasendrang bis zur hochgradigen Schrumpf¬
blase mit fast vollständiger Inkontinenz
und dauerndem Harnträufeln dem Träger
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Die Therapie der Gegenwart 1910.
543
verursacht. Wir kennen auch die Unzu¬
träglichkeit der lokalen Therapie, die Emp¬
findlichkeit der tuberkulösen Blasen gegen
Blasenspülungen aller Art, ihre lebhafte
Reaktion gegen Höllensteinlösung, sowie
die Unwirksamkeit operativer Eingriffe. Es
ist auch schwer verständlich, wie ein chi¬
rurgisches Vorgehen gegen die Blasen¬
tuberkulose, sei es, daß dasselbe in Aus¬
kratzung, in Kauterisation oder in Exzision
mehr oder weniger großer Teile der
Schleimhaut besteht, einen mehr als vor¬
übergehenden Erfolg haben kann, da stets
neue Infektion durch den aus der kranken
Niere herabfließenden tuberkelhaltigen Urin
stattfindet Die Blasen tuberkulöse als das
sekundäre Leiden sollte niemals operativ
behandelt, dagegen möglichst früh gegen
die Ursache derselben, gegen die kranke
Niere vorgegangen werden.
Selbst bei weiter vorgeschrittener, mit
den lebhaftesten Beschwerden verknüpfter
Blasentuberkulose, selbst bei hochgradiger
Schrumpfblase haben wir bei Nephrektomie
ohne irgendeine Behandlung der Blase sehr
gute Resultate erzielt, die Kranken geheilt,
die qualvollen Blasenbeschwerden beseitigt
oder wenigstens in den schwersten Fällen
wesentlich gebessert.
Wieviel günstigere und rascher zu er¬
zielende Resultate würden wir bei früh¬
zeitiger Beseitigung des primären tuberku¬
lösen Nierenleidens, ehe dasselbe auf die
Blase übergegriffen hat, erzielen. Dazu
bedarf es in erster Linie einer möglichst
frühen Diagnose, einer frühen Feststellung
und richtigen Deutung der ersten Sym¬
ptome. Gerade die Tuberkulose der Harn¬
organe bleibt oft lange Zeit latent oder
geht mit nur geringen subjektiven Be¬
schwerden und wenig deutlichen objektiven
Symptomen einher, welche vielfach un¬
richtig gedeutet werden. In den von uns
in einem früheren Stadium der Erkrankung
zur Beobachtung gelangten Fällen bildeten
die ersten Krankheitserscheinungen Störun¬
gen von seiten der Blase. Vor allem war
es leicht trüber Urin, welchen die
Kranken selbst oder der Arzt oft nur zu¬
fällig entdeckt hatten, ohne daß subjektive
Blasenstörungen, Harndrang, Brennen am
Ende der Entleerung und ähnliches be¬
standen hätten. Grade bei Frauen bedarf
eine derartige Abweichung von der nor¬
malen Urinbeschaffenheit einer häufigen
und gründlichen Untersuchung, man soll
sich nicht mit der Diagnose eines Blasen¬
katarrhs zufrieden erklären, sondern die
Ursache desselben festzustellen versuchen.
Nach meiner Erfahrung ist jeder Blasen¬
katarrh speziell bei Frauen, welcher nicht
auf gonorrhoischer Erkrankung beruht oder
durch Infektion von außen durch einen
eventuellen Katheterismus veranlaßt ist, sehr
verdächtig auf Tuberkulose und eine wieder¬
holte eingehende Untersuchung auf Bazillen,
sowie die Anwendung unserer modernen
Untersuchungsmethoden ist dringend ge¬
boten. Auch bei einem chronischen go¬
norrhoischen Blasenkatarrh sollte man nach
Tuberkelbazillen suchen, da die Gonorrhöe
ein ätiologisches Moment für spätere In¬
fektionen bildet. In fast allen Fällen ist
es uns oft nach längerem Suchen gelun¬
gen, Tuberkelbazillen nachzuweisen und
damit die vermutete Diagnose zu sichern.
Oft ist nur der trübe Urin ohne andere
subjektive Erscheinungen des Blasenkatarrhs
das einzige auf Störung des Harnsystems
hinweisende Moment. Kommen dazu noch
leichte Lungenerscheinungen und sonstige
auf Tuberkulose verdächtige Symptome,
Drüsenschwellungen und dergleichen, so
ist der Verdacht auf eine Tuberkulose des
Harnsystems sehr groß.
Bei einer 23jährigrn Patientin deutete
nur der leicht trübe Urin auf ein Blasen¬
leiden hin. Kein palpatorischer Befund,
keine Beschwerden irgendwelcher Art. Erst
der Ureterenkatheterismus und der Nach¬
weis der Bazillen stellten die Tuberkulose
der linken Niere fest. Die Patientin ist
nach-Entfernung der kranken Niere voll¬
kommen geheilt, blühend und kräftig. Die
exstirpierte Niere zeigt weitgehende tuber¬
kulöse Zerstörungen.
Bei einer 45jährigen Patientin entfernten
wir die auffallend kleine, mit vielen tuber¬
kulösen Herden besetzte Niere. Sie klagte
nur über allgemeine Schwäche und Mattig¬
keit Unterleibsbeschwerden wurden län¬
gere Zeit gynäkologisch ohne Erfolg be¬
handelt, im trüben Urin wurden Bazillen
nachgewiesen. Mäßiger Blasenkatarrh, keine
Ulzerationen in der Blase. Ureterenkathete¬
rismus stellte die tuberkulöse Erkrankung
der rechten Niere fest. Jetzt vollkommen
gesund und arbeitsfähig.
Oft sind es beim Fehlen subjektiver,
auf eine Erkrankung des Harnsystems
hinweisender Symptome Unterleibsbe¬
schwerden, welche die Patienten ver-
anlaßten, die gynäkologische Hilfe in An¬
spruch zu nehmen. Es ist nicht selten,
daß bei dem latenten, im Anfang wenig
charakteristischen Verlauf der tuberkulösen
Zystitis und Nephritis bei Frauen die vor¬
handenen Beschwerden auf eine Erkran¬
kung der Geschlechtsorgane zurückgeführt
werden und als solche lange Zeit behandelt
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544
Die Therapie der Gegenwart 1910.
Dezember
werden. Stoeckel bat in sehr richtiger
und eingehender Weise auf diesen Punkt
aufmerksam gemacht, und ich kann seine
Anschauungen nur voll und ganz bestäti¬
gen. Vorhandene leichte Blasenbeschwerden
werden oft auf eine etwaige Retroflexio,
eine leichte Zystozele als Folge von Adnex¬
erkrankungen und anderes mehr bezogen
und als solche behandelt, ohne der Blasen¬
erkrankung die nötige Aufmerksamkeit zu
schenken. In jedem Falle von Blasen¬
beschwerden und auch ohne solche sollte
der gynäkologisch behandelnde Arzt den
Urin einer genauen Untersuchung unter¬
ziehen und jeden auch nur leicht trüben
Urin nicht nur als einfachen Blasenkatarrh
betrachten und behandeln, sondern die
Grundursache desselben zu entdecken
suchen. Ich habe eine größer« Anzahl
Patientinnen mit ausgesprochener Nieren-
und Blasentuberkulose operiert, welche
lange Zeit erfolglos gynäkologisch be¬
handelt waren. Eine einseitige, sich nur
auf die Genitalorgane beseht änkende Be¬
handlung kann die schwerwiegendsten
Folgen für die Patienten haben.
Daß gonorrhoische Infektion so-
wohlbeimManneals auchbei der Frau
ein ätiologisches Moment für spätere-
Tuberkulose des Harnapparats, so¬
wie der Geschlechtsorgane bildet, ist be
kannt, und haben wir unter unseren Kranken
mehrfach die Gonorrhoe in der Anamnese
vorgefunden. Auch Hodentuberkulose ist
von anderen und von uns mehrfach im An¬
schluß an Epididymitis gonorrhoica beob¬
achtet. Daß beim Voihandensein einer
chronischen Gonorrhoe des Mannes oder
bei einem auf derselben Infektionsbasis
beruhenden Zervixkatarrh der Frau eine
Zystitis als gonorrhoisch angesehen werden
und dadurch eine tuberkulöse Erkrankung
übersehen wird, ist sehr naheliegend.
Bei einer Patientin bestanden keinerlei
Lungenerscheinurgen; der Ernährungszu¬
stand war ein guter, etwas blasses Aus¬
sehen. Der Urin war tiübe; es bestand
mäßiger Harndrang, welcher die einzige
Klage der Kranken ausmachte. Ein vor¬
handener Zervixkatarrh hatte lange Zeit
zur Annahme einer gonorrhoischen Zystitis
geführt. Die lokale Behandlung war ohne
jeden Erfolg geblieben. Trotz der langen
Dauer des Leidens war keine nennenswerte
Erkrankung der Blase vorhanden. Im
zystoikopischen Bilde fanden sich nur am
linken Offizium des Ureters am unteren
Rande einige kleine Ulzerationen. Erst
der Ureterenkatheterismus sicherte voll¬
kommen die Diagnose einer linksseitigen
beginnenden Nierentuberkulose, während
gleichzeitig die fast vollständige Intaktheit
der Blase festgestellt wurde. Die entfernte
Niere zeigte, daß die Operation in einem
recht frühen Stadium vorgenommen war.
Nur kleine Herde im Nierengewebe waren
vorhanden, während einzelne miliäre Knöt¬
chen auf der Schleimhaut des etwas er¬
weiterten Nierenbeckens zu sehen waren.
Der Ureter war kaum infiziert, die Heilung
der Operationswunde daher eine relativ
rasche.
In dieser kurz skizzierten Symptomen¬
gruppe treten krankhafte Erscheinungen
von Seiten des Urins in den Vordergrund.
Es sind weniger Störungen der Urinentlee¬
rung, abnorme Häufigkeit oder Schmerz¬
haftigkeit der Entleerung als vielmehr
trübes, von der Norm abweichendes
Aussehen des Harns, welches teils zu¬
fällig von der Patientin, teils bei der ein¬
gehenden Untersuchung der Kranken vom
Arzt fest gestellt wurde; die subjektiven
Beschwerden sind gering, sie fehlen meist
vollständig, auch solche, welche auf die
Niere hinwiesen.
In einer andern Gruppe sind es mehr
Störungen des Allgemeinbefindens,
schlechtes Aussehen, Mattigkeit, Abmage¬
rung und deigl., kurz allgemeine Krank¬
heitserscheinungen, welche Verdacht er¬
regen, während die Diagnose oder der
Hinweis auf eine Erkrankung des Harn¬
systems durch den bei oberflächlicher
Beobachtung anscheinend klaren und
normalen Urin noch erschwert wird.
Dies trat z. B. in auffallender Weise bei
einer Patientin zutage, welche wegen eines
Beinleidens in unsere Behandlung kam.
Die auffallende Blässe und das elende Aus¬
sehen ließen uns nach der Ursache suchen.
Wir entdeckten im Urin einige Bazillen.
Der Ureterenkatheterismus stellte eine
tuberkulöse Niere fest, welche entfernt
wurde. Patientin wurde gehejlt. Wir
waren überrascht, bei der relativ geringen
Veränderung des Urins, bei dem fast voll¬
ständig fehlenden pathologischen Befund
der Blase eine so weitgehende Zerstörung
der exstirpierten Niere zu finden. Das
ganze Nierengtwebe war mit eibsen- bis
haselnußgroßen käsigen Herden durchsetzt
und zerstört, das Nierenbecken etwas er¬
weitert, mit einzelnen miliaren Knötchen
bedeckt.
Wenn bei so relativ geringen äußeren
Symptomen schon so weit vorgeschrittene
Zerstörungen der Niere vorhanden sein
können und tatsächlich sind, so spricht
das für einen in einzelnen Fällen rasch
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Die Therapie der Gegenwart 1910.
545
und unbemerkt fortschreitenden Prozeß,
welcher sehr bald sein Zerstörungswerk
auch auf die Blase ausgedehnt haben wird.
Daß in einzelnen Fällen lange Zeit die pri¬
märe Nierentuberkulose vollkommen latent
ohne jegliches Symptom bleiben kann, daß
sie nach Krämers Untersuchungen sogar
vielfach bis in die späteren Lebensjahre
verborgen bleiben kann, um erst durch
einen äußeren Einfluß infolge einer Ge¬
legenheitsursache aus dem schlummernden
Zustand erweckt, zu weiterem Fortschreiten
angeregt zu werden, ist nicht zu bezweifeln.
Jedenfalls fordern uns diese relativ weit
vorgeschrittenen Zerstörungen auf, den
frühesten, anscheinend geringfügigen Sym¬
ptomen, vor allem einer Trübung des
Urins, den anscheinend leichten zystitischen
Beschwerden, besonders beim weiblichen
Geschlecht, leichten Schmerzen, in der
Nierengegend, gestörten Allgemeinbefinden
aus zunächst unbekannten Gründen eine
besondere Aufmerksamkeit zu widmen, den
Urin auf Tuberkelbazillen zu untersuchen
und die sonstigen gleich näher zu erwäh¬
nenden Untersuchungsmethoden anzuwen¬
den, um dadurch die Diagnose zu sichern.
Wir dürfen nicht warten, bis ein palpabler
Nierentumor, hohes Fieber, schwer gestörte
Blasenfunktion oder Erscheinungen von
tuberkulöser Schrumpfblase die Diagnose
von vornherein zweifellos erscheinen lassen
und der dauernde Erfolg der operativen
Therapie alsdann ein sehr zweifelhafter
ist. Je früher die Diagnose gestellt
und je früher die in dem Anfangs¬
stadium der Erkrankung befindliche Niere
entfernt wird, um so sicherer ist bei dem
zu dieser Zeit meist noch vorhandenen
guten allgemeinen Befinden der direkte
Erfolg der Operation, um so günstiger die
Aussicht auf Dauererfolg. Die Ulzerationen
in der Blase heilen zwar nach Entfernung
der Ursachen, wenn sie nicht zu weit aus¬
gebreitet, auch vielfach von selbst. Weit
sicherer und schneller ist der Erfolg der
Entfernung der tuberkulösen Niere zu einer
Zeit, wo noch keine oder nur geringfügige
Infektion der Blase stattgehabt hat. An¬
dererseits finden wir, wenn auch seltener
bei weitgehenden Zerstörungen der Blase,
einen schwerkranken Ureter und ein mit
Tuberkelknötchen ausgefülltes Nieren¬
becken, während in der Niere selbst nur
verhältnismäßig wenige und kleine käsige
Herde vorhanden sind.
Bei den erwähnten oft wenig markanten
Symptomen, welche uns die Tuberkulose
der Harnorgane in ihren frühen Stadien
vorführt, bietet naturgemäß die Frühdia¬
gnose manche Schwierigkeiten, welche wir
jedoch stets überwunden haben. In den
weiter vorgeschrittenen Stadien ist die Dia¬
gnose der Blasen- und Nierentuberkulose
nicht schwierig, wenn es sich z. B. um ab¬
gemagerte kachektisch aussehende Patienten
handelt mit einer vergrößerten schmerz¬
haften Niere, oder mit verdicktem, palpabeln
Ureter, mit häufigem und quälendem Urin¬
drang u. a. m. Kommen dazu noch Fieber¬
bewegungen, die Entleerung eitrigen trüben
Urins, in welchem Tuberkelbazillen nach¬
gewiesen werden, so ist die Diagnose ge¬
sichert. Aber gerade bei beginnender Er¬
krankung, wenn die einzelnen Symptome
wenig ausgeprägt, wenn kein Schmerz,
keine Vergrößerung des Organs auf die
erkrankte Seite hinweist, wenn der Ureter
noch nicht infiziert und palpabel ist, müssen
wir die Diagnose stellen und können sie
tatsächlich stellen. Sie werden nach der
kurzen Skizzierung einiger charakteristi¬
schen Paradigmata, welche aus einer großen
Anzahl analoger Fälle herausgenommen
sind, den Eindruck gewonnen haben, daß
es selbst bei der genausten Palpation
unter den günstigsten äußeren Bedingungen,
selbst bei schlaffen Bauchdecken magerer
Individuen, unmöglich ist, diese krankhaften
Veränderungen an nicht vergrößerten Or¬
ganen festzustellen, ausgedehnte Herde,
welche selbst an der exstirpierten Niere,
ehe sie gespalten war, durch den äußeren
Anblick nicht zu erkennen waren. Daß
Tuberkelbazillen selbst bei sicher tuber¬
kulöser Niere nicht immer nachzuweisen
sind, da zurzeit keine Kommunikation
des Herdes mit dem Harnleiter besteht,
ist genügend bekannt. Daß es oft zahl¬
reicher Präparate bedarf, um einzelne Ba¬
zillen nachzuweisen, gehört nicht zu den
Seltenheiten. Immerhin ist der Nachweis
der Bazillen der sicherste Beweis
und eine der wichtigsten diagnosti¬
schen Erfordernisse zur Feststellung
der Tuberkulose der Harnorgane.
Durch das Anreicherungsverfahren, durch
Tierimpfung, durch häufige Untersuchung
des aus größeren Urinmengen gewonnenen
Sediments und durch verschiedene andere
Methoden ist uns bis jetzt der Nachweis von
Bazillen in allen Fällen und auch speziell
in den frühen Stadien gelungen. Die Ver¬
wechselung mit Smegmabazillen ist durch
sterile Entnahme des Urins, sowie durch
die Art der Färbemethode auszuschließen.
Mit dem Nachweis der Tuberkelbazillen
wissen wir, daß es sich um eine Tuber¬
kulose der Harnorgane handelt, aber nichts
weiter. Ob es sich um eine bereits ein-
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Die Therapie der Gegenwart 1910.
Dezember
getretene, mehr oder weniger weit ver¬
breitete Tuberkulose der Blase handelt,
welche der Nieren der Ausgangspunkt ist,
ob beide erkrankt sind oder eine gesund
ist, erfahren wir nicht und können es
durch unsere gewöhnlichen klinischen Me¬
thoden nicht feststellen.
Diese diagnostischen Schwierigkeiten
bestätigt uns das Zystoskop und vor allem
das Ureterenzystoskop, welches uns
über die Beschaffenheit der Blase und Nieren
Aufschluß giebt. In vorgeschrittenen Fällen
zeigt uns das Zystoskop die in mehr oder
weniger weiter Ausdehnung ulzerierte Blase.
In dem Anfangsstadium der von der Niere
ausgehenden Infektion der Blase sehen wir
kleine charakteristische, in der Umgebung
der kranken Harnleitermündung sitzende
tuberkulöse Geschwürchen oder zuweilen
ein ektrioponiert aber gezackt und an¬
genagt aussehendes, oft als unregelmäßig¬
trichterförmiges Loch erscheinendes Ure-
terorificium. Im großen und ganzen sind
es sehr charakteristische, nicht zu verken¬
nende Bilder. Handelt es sich aber um
eine primäre Nierentuberkulose ohne kli¬
nische Erscheinungen, ehe die Blase in
Mitleidenschaft gezogen ist, genügt das
einfache Zystoskop nicht, wohl aber bringt
uns der Ureterenkatheterismus, in welchem
die Zystoskopie ihre größten Triumphe
feiert, rasch und sicher die gewünschte
Diagnose und die volle Klarheit.
Die von Schwalbe, Achard u. A. in
die Nierendiagnostik zuerst eingeführte
Verwendung von Farbstoffen, welche von
Völkers und Joseph durch Injektion von
Indigokarminlösung zur Chromozystoskopie
weiter ausgebildet wurde, bildet eine vor¬
zügliche Bereicherung unserer Methoden
der Nierendiagnostik. Sie ist als eine
wesentliche Erleichterung für den Ureteren-
katheterismus zu begrüßen, indem es den
Anfängern die oft nicht leicht zu findende
Uretermündung durch den blau ausspritzen¬
den Harnstrahl deutlicher markiert und
den Geübten in den schwierigen Fällen
von ulzeröser Zystitis, wie wir sie so oft
bei Tuberkulose der Blase beobachten, die
Auffindung der verborgenen oder sich im
Geschwürsfeld nicht deutlich kennzeich¬
nenden Harnleitermündungen erleichtert
Ob zwei Uretermündungen und damit vor¬
aussichtlich zwei Nieren vorhanden sind
und ob dieselben Urin entleeren, werden
wir ebenfalls mit Anwendung des Indigo¬
karmins nachweisen können. Auch das
etwaige Vorbeifließen des Urins neben dem
eingeführten Ureterkatheter wird sie den
Augen in deutlicher Weise zur Anschauung
bringen. Einen ungefähren Anhalt über
die Funktion der Nieren bildet uns die
Chromozystoskopie, in den meisten Fällen
leider zeigte sie jedoch einige Male un¬
gleichmäßige Resultate, indem bei dem¬
selben Individuum mit einer tuberkulösen
Niere die Farbstoffausscheidung erst nach
Stunden, nach 1—2 Wochen später jedoch
zu normaler Zeit nach zirka 15 Minuten
aus der gesunden Niere erfolgte.
Es ist mehrfach davor gewarnt, die ge¬
sunde Niere zu sondieren, um eine In¬
fektion derselben zu vermeiden. Wir haben
niemals bei dem in vielen zahlreichen
Fällen ausgeführten Ureterenkatheterismus
eine Infektion gesehen, nachdem wir die
Kranken Wochen- und monatelang weiter¬
hin beobachtet haben. Den Ureteren¬
katheterismus und die funktionelle
Nierendiagnostik wird auch die In¬
digokarminmethode nicht über¬
flüssig machen können. Damit, daß wir
wissen, daß beide Nieren Urin entleeren,
die eine vielleicht mehr als die andere,
können wir keinen vergleichenden Auf¬
schluß über das Verhalten der beiden
Nieren zu einander, über die Dichte, die
Harnstoff konzentration, die molekulare Be¬
schaffenheit, kurz über den Zustand des
jeder einzelnen Niere gesondert entnom¬
menen Sekrets erhalten. Das ist vor jeder
eingreifenden Nierenoperation notwendig.
Wir müssen mit Bestimmtheit wissen, ob die
zurückbleibende Niere gesund und im¬
stande ist, die Funktion der zu entfernen¬
den mit zu übernehmen. Das sagt uns mit
Sicherheit der Ureterenkatheterismus und
die eingehende Untersuchung des Urins
jeder einzelnen Niere; die alleinige Beob¬
achtung des aus den Uretermündungen
sich entleerenden Urins und die danach
zu schätzende funktionelle Leistung er¬
scheint mir nicht sicher. Die Infektions¬
gefahr bei einem sachgemäß ausgeführten
Ureterenkatheterismus ist sehr gering.
Grade bei der Frühdiagnose ist die¬
selbe absolut notwendig, da wir vor¬
her nicht wissen, welches die kranke
Niere ist. Keine Ulzeration um das Ori-
fizium, kein Schmerz, kein palpatorischer
Befund weisen auf den vermutlichen Sitz
hin. Anderseits ist die Gefahr der Ver¬
wechselung der kranken und der gesunden
Niere, besonders bei weitergehenden Ulze-
rationen in der Blase sehr groß. Mehrfach
katheterisierte ich einen anscheinend ge¬
sunden Ureter. Um das Orifizium der an¬
deren Seite waren ausgedehnte Geschwüre.
Der durch den Ureterkatheter entleerte
Urin erschien makoskopisch klar, gelb ge-
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Die Therapie der Gegenwart 1910.
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färbt und anscheinend der gesunden Niere
entstammend, der indirekt, d. h. der aus
der nicht katheterisierten Niere durch die
Blase gleichzeitig aufgefangene trüb, eitrig,
blutig. Die Untersuchung stellte Tuberkel¬
bazillen in dem klaren Urin fest. Als ich
dann die andere als krank angenommene
Niere katheterisierte, erwies sich diese als
vollkommen gesund. Die Operation be¬
stätigte die Richtigkeit der Diagnose. Der
indirekt aufgefangene Urin gibt naturgemäß
keine absolute Sicherheit, da er durch die
Ulzerationen der Blase und ihre Absonde¬
rungen getrübt wird. Dies ist auch der
Grund für die oft unsicheren Resul¬
tate bei Anwendung der Harnsegre-
gatoren. Die Gesundheit oder die Funk¬
tionsfähigkeit der zurückbleibenden Niere
vor der Operation festzustellen und ihr
Schicksal nicht mehr oder weniger dem
Zufall zu überlassen, ist die Errungenschaft
der neuen Methoden der Nierendiagnostik.
Es ist mit Freude zu begrüßen, daß sich
dieselbe mehr und mehr Anhänger erwirbt
und immer mehr Verbreitung findet. Ich
halte es für ausgeschlossen, daß ein Chi¬
rurg, welcher den Ureterenkatheterismus
beherrscht und die Methode der funktio¬
nellen Nierendiagnostik kennt und fehler¬
frei ausführen kann, nicht ein warmer An¬
hänger derselben ist. Auf dem gegne¬
rischen Standpunkt können nur diejenigen
stehen, welche die Methoden nicht in ge¬
nügender Weise beherrschen. Daß noch
manches an der Methode gebessert, noch
mancher streitige Punkt geklärt werden
muß, bezweifele ich nicht, und es wird
diekes Ziel bei der zunehmenden Verbrei¬
tung der Methode bei gemeinsamer Arbeit
mehr und mehr erreicht werden. Gerade
bei der Tuberkulose der Harnwege
ist der Ureterenkatheterismus nicht
zu entbehren, besonders wenn es sich
um eine Frühdiagnose handelt, Erschei¬
nungen von seiten der Blase nicht vorhan¬
den sind und sonstige objektive Anhalts¬
punkte und subjektive Klagen nicht auf
den Sitz des Leidens in den Nieren Hin¬
weisen. Wenn einzelne Autoren den Ure¬
terenkatheterismus bei Nieren- und Blasen¬
tuberkulose für untunlich oder gar für nicht
ungefährlich halten, so muß ich nach un¬
serer Erfahrung dem widersprechen. Es
gibt keine Art der Nierenerkrankung, bei
welcher der Ureterenkatheterismus zu einer
sicheren Diagnose so unentbehrlich ist, wie
bei der Tuberkulose. Nachteile haben wir
davon nicht gesehen. Der Unterschied
des aus der tuberkulös erkrankten und der
aus der gesunden Niere direkt entleerten
Urine ist schon makroskopisch sehr auf¬
fallend. Der tuberkulöse Urin ist meist
weiß, hell, wäßrig, der gesunde von be¬
kannter Farbe und Beschaffenheit. Wir
wissen, welches die kranke Niere ist, wir
können durch Dichtigkeits- und Gefrier¬
punktsbestimmung, durch Feststellung der
Harnstoffmengen annähernd konstatieren,
ob noch viel normales funktionsfähiges
Nierengewebe vorhanden ist oder ob die
Zerstörung weiter vorgeschritten ist; wir
erkennen durch dieselbe Methode die In¬
taktheit der anderen Niere und die Fähig¬
keit, die Arbeit der zu exstirpierenden mit
zu übernehmen.
Selbst bei nicht vollkommen ge¬
sunder zweiter Niere haben wir die
Entfernung der schwer erkrankten
vorgenommen, wenn ihre Funktion
als ausreichend festgestellt werden
konnte.
In den weiteren vorgeschrittenen
Fällen der Blasentuberkulose bei be¬
stehender Schrumpf blase bieten sich oft
große Schwierigkeiten für den Ureteren¬
katheterismus; diese zu überwinden, ist
mir bisher fast stets gelungen, selbst bei
einer Kapazität von 50—80 g. Bei Patienten
im frühen Stadium der Erkrankung ist die
Technik des Ureterenkatheterismus nicht
schwierig. Bei Anwendung von Eukain
und Einspritzung von Antipyrinlösung in
die Blase mit eventuellem Hinzufügen einer
subkutanen Skopolamin-Morphium-Injektion
kann die Empfindlichkeit auf ein Minimum
herabgemindert werden. Nur bei Kindern,
bei Mädchen von zirka 10 und Knaben von
zirka 14 Jahren, halten wir die Narkose
für nötig. Auch bei diesen gelang der
Ureterenkatheterismus und gab uns sicheren
Aufschluß über die Beschaffenheit jeder
einzelnen Niere. Wenn wir mit dem Ka¬
theterismus der kranken Niere auskommen
und das indirekt aufgefangene Sekret der
als gesund angenommenen uns den ge¬
nügenden Aufschluß gibt, verzichten wir
auf die Sondierung dieser letzteren. Ist
der Zustand der als gesund angenommenen
Niere ohne direkten Katheterismus nicht
festzustellen, so zögern wir nicht, denselben
in der bereits geschilderten Weise anzu¬
wenden. Nachteile haben wir auch hier
bis jetzt niemals gesehen. Theoretische
Erwägungen müssen hier hinter den prak¬
tischen Erfahrungen zurückstehen.
Leider ist der Ureterenkatheteris¬
mus trotz aller Uebung und Erfahrung in
einzelnen, wenn auch seltenen Fällen
absolut unmöglich. Auch hier müssen
wir eine sichere Diagnose stellen, um eine
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Die Therapie der Gegenwart 1910.
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erfolgversprechende Therapie einzuleiten.
Wie kommen wir in diesen schwierigen
Fällen zum Ziel? Ich möchte 3 Gruppen
von Nierentuberkulose je nach den ver¬
schiedenen Stadien unterscheiden. Die
erste Gruppe bilden die erwähnten Fälle,
in welchen wir die FrQhoperationen recht¬
zeitig ausfQhren konnten.
Zu der zweiten Gruppe gehören die
Fälle, in denen die eine Niere nach den
Resultaten des Ureterenkatheterismus
schwer erkrankt, die andere aber auch
nicht intakt ist. Der elende Zustand des
Patienten, das vorhandene Fieber verlangen
einen Eingriff, und es fragt sich, ob die
weniger kranke Niere imstande ist, nach
der Nephrektomie die Arbeit für die zu
entfernende andere Niere zu übernehmen.
Außer den bekannten erwähnten Methoden
zur Feststellung der Nierenfunktion, vor
allem der Harnstoffbestimmung, und der
Kryoskopie des Urins gibt als wesentlicher
Faktor die Gefrierpunktbestimmung des
Blutes in diesen Fällen den Ausschlag.
Dieselbe hat uns bisher niemals im Stich
gelassen. Ist ein normaler Gefrierpunkt
d = — 0,56 bis 0,57 vorhanden, so legen
wir die schwer erkrankte Niere frei. Ist
sie weitgehend zerstört, so entfernen wir
sie, und haben stets die andern funktio¬
nieren sehen. Nach unserer Erfahrung
müssen wir hier annehmen, daß die schwer
zerstörte Niere nicht mehr für die Aus¬
scheidung der Stoffwechselprodukte in Be¬
tracht kommt und daß der günstige Ge¬
frierpunkt nur durch die gut funktionierende
andere Niere bedingt sein kann. Bewegt
sich dagegen der Gefrierpunkt unter —0,6,
so stehen wir nicht etwa von jedem
Eingriff ab, wie es irriger Weise von
anderer Seite von uns behauptet ist, son¬
dern wir legen die am meisten erkrankte
Niere frei, machen eine Nephrotomie,
entfernen die tuberkulösen und eitrigen
Massen und tamponieren sie. Erweist sich
dann im Laufe der nächsten Zeit die Niere
als funktionsfähig, übernimmt dann die re¬
lativ gesunde Niere allmählich die Funktion
der anderen, und wird der Gefrierpunkt
vor allem normal, so nehmen wir alsdann
die Entfernung der nephrotomierten Niere
vor. Dies haben wir in einigen wenigen
Fällen, wie ich es anderweitig bereits mit¬
geteilt habe, ausgeführt und zwar mit Er¬
folg. Derartige Kranke haben meist noch
längere Zeit über ein und mehrere Jahre
gelebt und sich noch einer relativen Ge-r
sundheit erfreut.
Eine dritte Gruppe von Fällen, welche
uns grade bei der Tuberkulose häufig ent-.
gegentreten, sind diejenigen, bei denen in¬
folge von Schrumpfblase von weitgehen¬
den Ulzerationen, von nicht zu beseitigen¬
der Inkontinenz oder wegen jugendlicher
Enge der Urethra u. a. m. trotz allerUebung
und Erfahrung der Ureterenkatheterismus,
überhaupt die Zystoskopie unmöglich ist.
Wenn es mir, wie erwähnt, auch mehrfach
gelungen ist, schon bei einer Kapazität von
nur 50—80 g den Ureterenkatheterismus
auszuführen, so war dieser in einzelnen
Fällen aus den eben angeführten Gründen
schlechterdings unmöglich, da die Blase
überhaupt keine Flüssigkeit aufnahm. Auch
in diesen Fällen fehlte trotz des weit vor¬
geschrittenen Krankheitsbildes jeder weitere
Anhaltspunkt, Vergrößerung der einen oder
anderen Niere oder Schmerz in derselben,
welcher auf den Sitz in der rechten oder
linken Seite hinleitete. Unter diesen un¬
günstigen Umständen haben wir meist
durch die Palpation des verdickten Ureters
einen ungefähren Anhaltspunkt gefunden,
welche Seite die erkrankte war; vorher
war natürlich der Gefrierpunkt des Blutes
festgestellt. Bewegte sich dieser in den
normalen Grenzen, so legten wir die als
krank angenommene Niere frei, fanden wir
sie, wie dies meist der Fall war, weit¬
gehend zerstört, so haben wir von vorn¬
herein die Nephrektomie gemacht, da nach
unseren Beobachtungen die andere genü¬
gende Funktionsfähigkeit besitzen mußte.
Einen Mißerfolg haben wir dabei nicht zu be¬
klagen gehabt. Die zurückbleibende Niere
erwies sich stets als gesund und funktio¬
nierte gut. War der Gefrierpunkt unter
0,6, ersahen wir daraus, daß beide Nieren
nicht vollkommen funktionierten, daß zu
Zeiten wenigstens eine Niereninsuffizienz
bestand, so machten wir zunächst die
Nephrektomie bei der am meisten erkrankt
erscheinenden Niere, Spaltung derselben
und Entfernung der kranken Massen, Tam¬
ponade. Erholte sich dann die andere
Niere, funktionierte sie, wurde der Gefrier¬
punkt normal, so konnten wir später die
Nephrektomie vornehmen; blieb der Ge¬
frierpunkt niedrig, entleerte sich auch durch
die Blase der nicht operierten Seite eitriger
Urin oder drängte Fieber und dergl. weiter
zu dem Eingriff, so haben wir auch durch
die andere Seite, wenn notwendig, ge¬
spalten. Die Patienten mit doppelseitiger
Erkrankung sind nach einigen Wochen
oder Monaten gestorben. Bei Beobachtung
dieser Gesichtspunkte und vor allem bei
Berücksichtigung der Kryoskopie des Blutes
haben wir auch in den schweren Fällen,
in denen der Ureterenkatheterismus un-
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Dezember
Die Therapie der Gegenwart 1910.
549
möglich war, eine sichere Diagnose ge¬
stellt.
Die Kryoskopie soll niemals, wie wir
gesehen haben, die anderen Methoden er¬
setzen, sondern dieselben ergänzen. In
den Fällen, in welchen der Ureterenkathe-
terismus unmöglich ist, wird sie dies in
hervorragender Weise tun. Bei den übrigen
wird uns der normale Gefrierpunkt über
die Funktionsfähigkeit belehren und die
Erniedrigung desselben 6 = —0,6 und
darunter vor Ausführung einer Nephrek¬
tomie warnen.
Was nun den außer der Diagnose wich¬
tigsten Punkt die Therapie anbetrifft, so
haben sie aus dem Tenor des bisher ge¬
sagten entnehmen können, daß ich ein An¬
hänger einer aktiven chirurgischen Therapie
bei der Nierentuberkulose bin. Dieser sub¬
jektive Standpunkt ist jedoch nur gerecht¬
fertigt, wenn er auf positiven Tatsachen
und zahlenmäßigen Unterlagen über die
mit der operativen Therapie erzielten
günstigen Erfolge aufgebaut ist.
Daher gestatten Sie mir Ihnen zu¬
nächst kurz über die Resultate zu be¬
richten, die wir durch die operative The¬
rapie bei der Nierentuberkulose erzielt
haben.
Es wurden 125 Operationen wegen
tuberkulöser Erkrankung der Nieren aus¬
geführt davon wegen Erkrankung beider
Nieren 7 Nephrotomien, bei einer Patientin
doppelseitigen Nephrotomien.
Nephrektomien bei Erkrankung der einen
Seite wurden 118 vorgenommen und zwar
vor Einführung der neuen Untersuchungs¬
methoden 12 mit 3 Todesfällen (Peritonitis-
Embolie — angeborener Defekt einer Niere),
nach Anwendung des Ureterenkatheteris-
mus und der Funktionsprüfungen 106 mit
4 operativen Todesfällen (2 Pneumonie,
Sepsis, Myokarditis, Miliartuberkulose).
Innerhalb der ersten 6 Monate starben
18, von den überlebenden 84 sind in den
folgenden 2—4 Jahren 9 gestorben, nach
tO und 13 Jahren je einer, nach unbekannter
Zeit 3, Nachrichten fehlen von 4. Die
übrigen leben und erfreuen sich nach den
Nachrichten eines guten resp. sehr guten
Befindens. Bei 3 Patientinnen trat Gravidität
und Partus ein. 3 sind noch in Behandlung.
Erste Nephrotomie wegen Nieren tuberkulöse
1888. Patientin lebte vollkommen gesund
noch vor wenigen Jahren; spätere Nach¬
richten fehlen.
Wie steht es nun mit den Erfolgen der
medizinischen Behandlung der Nierentuber¬
kulose? Dieselbe hat zweifellos eine weit¬
gehende Berechtigung, wenn durch sie
Heilungen erzielt werden können. Es ent¬
spricht auch unserm konservativ chirur¬
gischen Denken, ein lebenswichtiges Organ
nicht radikal zu entfernen, sondern zu er¬
halten, wenn seine Heilung und damit die
Gesundung des gesamten Organismus auf
unblutigem Wege sich bewirken läßt
Zunächst glaube ich, ehe wir in die Be¬
sprechung über die Wirkung einer spezi¬
fischen Behandlung der Nierentuberkulose
eintreten, die Frage ventilieren zu müssen,
ist eine spontane Heilung der Nieren¬
tuberkulose möglich und einwands¬
frei beobachtet. Ich selbst habe früher
über einen damals 39jährigen Patienten
berichtet, bei welchem in der entfernten
Niere die Residuen alter tuberkulöser Herde
nachgewiesen werden konnten. Bei dem
Kranken war vor 13 Jahren die Exstirpation
eines rechtsseitigen tuberkulösen Testis
vorgenommen. Seitdem vollkommen be¬
schwerdenfrei. Vor 7 Jahren Gonorrhoe
und Zystitis, damals 6 Monate in ärztlicher
Behandlung. Vor 2 Jahren Gelenkrheuma¬
tismus. Seit 6 Monaten Schmerzen beim
Wasserlassen, häufiger Harndrang, längere
Zeit auf der medizinischen Abteilung ohne
Erfolg in Behandlung. In den letzten Tagen
Verschlimmerung, allgemeine Mattigkeit,
dumpfe Schmerzen im Kreuz.
Die nähere Untersuchung zeigt uns
einen Status: Etwas blasser, ziemlich gut
genährter Mann ohne pathologischen Lun¬
genbefund, Nieren nicht palpabel, linke
Nierengegend leicht druckempfindlich. Urin
trübe, enthält massenhaft Eiter, keine Tu¬
berkelbazillen, Kryoskopie d = — 0,56 J
= 1,42; U = 19,6.
Zystoskopie fand Blasenschleimhaut in¬
jiziert, linke Uretermündung zeigt einen
rötlichen Hof, rechte normal, ihre Sondie¬
rung ergibt:
Rechte Niere:
Gefrierpunkt des
Urins A 1,5
Harnstoff —23,0 %o
klarer Urin
Mikr.: ganz vereinzelte
frische rote Blut¬
zellen.
Linke Niere:
A — 0,9
Harnstoff —7 >
trüber Unn
Mikr. zahlreiche Eiter¬
körperchen, keine
T uberkelbazillen.
Nephrektomie des erkrankten linken Organs,
welches sich als normal große Niere mit
vielfach gebuckelter Oberfläche darstellte.
Die vorgewölbten Partien haben eine gelb¬
liche Färbung. Neben dieser Erhebung
finden sich tiet eingezogene Partien mit
granulierter Oberfläche, unter der vereinzelt
kleine Hohlräume sichtbar sind. Beim Auf¬
schneiden sieht man, daß die Vorwölbungen
gebildet werden durch glattwandige Höhlen
mit homogenem Inhalt, welche mit dem
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550
Die Therapie der Gegenwart 1910.
Dezember
Nierenbecken in keinem Zusammenhang
stehen. Die Rinde ist an den meisten
Stellen von normaler Breite. An den ein¬
gezogen en narbigen Partien ist sie erheb¬
lich verschmälert, die Hohlräume werden,
besonders an ihrer Basis, von einer schmalen
Zone von Nierengewebe überzogen. Rin¬
denzeichnung an den normalen Partien
deutlich. Papillen o. B. Die Schleimhaut des
Nierenbeckens ist größtenteils o B. An einigen
Stellen dagegen fi nden sich reichliche, reihen •
weise angeordnete grauweiße Knötchen in
der Schleimhaut, welche intakt über ihnen
ist. Alle Knötchen sind von etwa gleicher
Größe (Nadelknopfgröße). Die mikrosko¬
pische Untersuchung der Knötchen im
Nierenbecken ergibt, daß es sich um An¬
sammlung lymphoider Elemente in Knöt¬
chenform handelt, nicht um Tuberkeln.
Keine Epithelrinde, keine Riesenzellen.
Die zystischen Hohlräume sind nicht ohne
epitheliale Auskleidung, nur stellenweise
findet man einzelne epithelähnliche kubische
Zellen an der Innenwand. Das Parenchym
der Rinde zeigt zahlreiche verödete Glo-
meruli, ektatische Kanälchen mit hyalinem
Inhalt, stellenweise Rundzellenherde, an
anderen Stellen Bindegewebsentwicklung,
nirgends Andeutung von Tuberkulose. An
einzelnen Stellen der Rinde finden sich
Knötchen, welche aus einem derben, fase¬
rigen Gewebe mit einzelnen epitheloiden
Zellen bestehen. Stellenweise Riesenzellen,
deren Kerne jedoch unregelmäßig verteilt
sind, die anatomische Diagnose wurde auf
Residuen alter tuberkulöser Herde gestellt.
Es handelte sich im vorliegenden Falle nach
Ansicht unseres pathologischen Anatomen
um eine ausgeheilte Nierentuberkulose.
Einen weiteren Fall ähnlicher Art be¬
schreibt Eckehorn. Er betrifft eine Pa¬
tientin, die in zwei 8 t/a Jahre auseinanderlie¬
genden Zeiträumen im Sunswaller Kranken¬
hause beobachtet wurde. Bei der ersten
Behandlung 1901 zeigte sie ausgesprochene
Symptome von Nierentuberkulose mit hoch¬
gradigen Beschwerden von seiten der
Blase, Tuberkelbazillen wurden in großer
Menge im Urin nachgewiesen. Der Krank¬
heitsprozeß befand sich damals in einem
anscheinend relativ frühen Stadium. Die
vorgeschlagene Operation wurde von den
Eltern der Patientin abgelehnt. Anfang
1909 kommt die Patientin aus anderen
Gründen ohne die geringsten subjektiven
Beschwerde von seiten des Harnapparates
zur Aufnahme. Sie fühlt sich vollkommen
gesund, der Urin erweist sich als normal.
Der Ureterenkatheterismus findet eine
kranke rechte und gesunde linke Nieren¬
nephrektomie. Die exstirpierte Niere ist
in einen aus Kavernen bestehenden Sack
verwandelt, welcher mit dicken Detritus¬
massen angefüllt ist. Diese Massen sind,
soweit die Untersuchung ergeben hat, asep¬
tisch frei von Tuberkelbazillen und an¬
deren Bakterien, von dem Nierenparenchym
ist nicht die geringste Spur mehr vorhan¬
den, der Ureter von diesem pyonephrotischen
Sack an bis zur Blase war nicht ver¬
schlossen. Auch in diesem Falle war die
vorher konstatierte Nierentuberkulose aller¬
dings mit fast vollständiger Zerstörung des
Organs ausgebildet.
v. R ihm er berichtet über drei Spontan¬
heilungen, die er bei den später notwendig
gewordenen Nephrektomien beobachtete,
ln den 3 Fällen handelte es sich um junge
Mädchen mit isolierter Nierentuberkulose
d. h. ohne andere nachweisbaren tuber¬
kulösen Herde im Organismus, die Heilung
trat durch Vernarbung oder durch Verkal¬
kung des Kaverneninhalts ein. Diese Hei¬
lung war stets eine unvollständige. Mit
dem Heilungsvorgang trat ein mehr oder
weniger ausgesprochen narbiger Ureteren-
verschluß, ein und die Niere ging als Organ
r mehr oder weniger zugrunde. Gleichzeitig
wurde die Blase durch den deszendieren¬
den Prozeß infiziert. Auffallend war, daß
nach der später erfolgten Entfernung der
zuweilen fast gänzlich ausgeheilten Niere
eine rasche Zunahme des Körpergewichts
zu verzeichnen war.
Ich habe Ihnen diese Fälle, denen sich
noch manche anreihen ließen, vorgeführt,
um zu zeigen, daß eine spontane Aus¬
heilung einer Nierentuberkulose im ge¬
wissen Sinne wohl zur Beobachtung ge¬
kommen ist, daß diese Ausheilung aber
mit einer schweren Zerstörung des ganzen
Organs, welche meist dem Verlust des¬
selben gleichkam, einherging. Es ent¬
standen pyonephrotische Säcke, in denen
wohl bei der Mischinfektion die Tuberkel¬
bazillen durch die anderen vernichtet wur¬
den, jedenfalls blieb in allen Fällen ein
krankes Organ vorhanden, welches mehr¬
fach die Blase infizierte, den Organismus
als solchen schädigte, und erst nach der
Entfernung die Patienten definitiv gesunden
ließ. Diese Fälle lehren uns auch, daß ein
tuberkelfreier Urin nicht immer auf eine
Gesundheit beider Nieren schließen läßt,
sondern daß man sich in allen Fällen dar¬
über orientieren muß, ob nicht der Ureter
verschlossen ist und hinter dieser Striktur
eine schwer veränderte tuberkulöse oder
jedenfalls pyonephrotische Niere verborgen
ist. Die Fälle zeigen uns ferner, daß die
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Die Therapie der Gegenwart 1910.
551
subjektiv und objektiv erscheinende Besse¬
rung sehr trügerisch sein kann und daß
die Spontanheilung, falls eine solche ein-
tritt, langsam und unvollkommen vor sich
geht und meist mit der vollkommenen Zer¬
störung des Organs und oft mit der gleich¬
zeitigen Infektion der Blase verbunden ist,
daß andererseits aber durch eine recht¬
zeitige Beseitigung des erkrankten Organs
eine raschere Heilung herbeigeführt wird,
als durch das unsichere Warten auf eine
scheinbare und trügerische Spontanheilung.
Was nun die medizinische Behand¬
lung der Nierentuberkulose anbetrifft,
so will ich auf die allgemeine, den Orga¬
nismus kräftigende Tuberkulosebehandlung,
die auch den Nierenkranken mit und ohne
Operation nur vorteilhaft sein kann, auf
die klimatischen, diätetischen und der¬
artigen genügend bekannten roborierenden
Behandlungsmethoden nicht näher eingehen,
ebenso nicht auf die Behandlung mit den
verschiedenartigsten Medikamenten, Zimt¬
säure, Guajakolum u. a. Durch Hetolinjek-
tionen erzielten Clerc-Dandry (Brüssel)
in 3 Fällen ohne Operation sehr gute Re¬
sultate, indem die vorhandenen Tuberkel¬
bazillen schwanden und die Patienten
kräftig und beschwerdefrei wurden. Die
Resultate, die nach diesen Methoden er¬
zielt sind, sind im allgemeinen wenig gün¬
stige. Eine sehr interessante Zusammen¬
stellung über die Resultate der medizini¬
schen Behandlung der Nierentuberkulose
hat uns Blum aus der v. Frischschen
urologisehen Abteilung geliefert. Von
40 Fällen diagnostizierter Nierentuberku¬
lose konnte über den späteren Krankheits¬
verlauf von 26 Patienten genaue Auskunft
erlangt werden. 24 Kranke waren ge¬
storben, 3 lebten noch, litten jedoch in
hohem Grade an den Beschwerden der
Blasen und Nierentuberkulose. In fast allen
diesen nicht chirurgisch behandelten Fällen
wurde die Operation von den Kranken
oder ihren Angehörigen verweigert oder
der Krankheitsprozeß war bereits ein der¬
artiger, zum Teil doppelseitiger, daß von
einer operativen Behandlung Abstand ge¬
nommen wurde.
Günstiger gestalten sich anscheinend
die Resultate mit der spezifischen Be¬
handlung, mit der Tuberkulinthera¬
pie der Nierentuberkulose. Da diese
Frage in letzter Zeit mehr und mehr in
den Vordergrund getreten ist und auch
bereits zu interessanten Diskussionen in
wissenschaftlichen Versammlungen Veran¬
lassung gegeben hat, so möchte ich noch
einmal kurz die Frage aufrollen,ist eine Hei¬
lung der Tuberkulose durch Tuber¬
kulininjektion objektiv nachgewiesen
und sind wir berechtigt, dieselbe in
geeigneten Fällen anzuwenden. Ein¬
zelne günstige Resultate, das heißt Dauer¬
heilungen der Nierentuberkulose wurden
schon von Schede, Fenwick und Rosen¬
feld berichtet, leider fehlt in diesen Fällen
der Nachweis einer positiven Heilung der
vorher festgestellten Nierentuberkulose
durch den Befund am Operations- und
Sektionstisch, denn es kann nicht als posi¬
tive Heilung angesehen werden, wenn das
Allgemeinbefinden der Patienten sich län¬
gere Zeit wesentlich hebt und der Urin
klar und frei von Tuberkelbazillen wird.
Ich habe Gelegenheit gehabt, einen dieser
als geheilt angeführten Fälle später meh¬
rere Jahre zu beobachten und gesehen,
wie bei relativ gutem Allgemeinbefinden
der lokale Prozeß sich immer weiter ent¬
wickelte und zur Schrumpfblase und schlie߬
lich zur Inkontinenz führte. Auch in den
Fällen von Lenhartz, Pielicke, Leed-
ham-Green und Karo fehlt zurzeit noch
der anatomische Nachweis einer dauernden
Heilung im wissenschaftlichen Sinne und
erst nach einer längeren Reihe von Jahren
ungestörter Heilung wird man berechtigt,
ein endgültiges Erloschensein der Krank¬
heit anzunehmen. Ich gebe zu, daß die
Fälle von Leedham-Green und Karo,
die sich hauptsächlich auf Kinder beziehen,
sehr günstig erscheinen. Die vorhandenen
Tuberkelbazillen sind verschwunden, das
Allgemeinbefinden der Kinder ein sehr
günstiges. Es wäre sehr erfreulich, wenn
diese guten Erfolge sich später als dauernde
bewiesen und wir grade bei der Tuberku¬
lose der Kinder, welche nach Leedham-
Greens Auffassung weit häufiger zu sein
scheint als man gemeinhin annimmt, im
Tuberkulin ein spezifisches Heilmittel be¬
säßen. Dabei soll man jedoch nicht ver¬
gessen, daß die Nierentuberkulose im
Kindesalter im allgemeinen relativ leicht
verläuft und selten schwere Erscheinungen
macht, wir haben unter unseren 120 Fällen
nur einen Knaben operiert.
Was ich persönlich von der Wirkung
der Tuberkulininjektion, die von anderer
Seite bei Nierentuberkulose ausgeführt
wurden, gesehen habe, war nicht sehr er¬
freulich. Einmal wurde die günstigste Zeit
zur Operation versäumt und dieselben
mußten dann unter schwierigen Verhält¬
nissen, wenn auch mit schließlichem Erfolg
ausgeführt werden nach langen Leiden der
Patienten, oder die Kranken gingen zu¬
grunde, leider zuweilen ohne vorherige
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552
Die Therapie der Gegenwart 1910.
Dezember
uretroskopische Untersuchung und sicher¬
gestellte Diagnose.
Wichtiger erscheinen mir für die ob¬
jektive und wissenschaftliche Beob¬
achtung, ob eine Heilung der Nierentuber¬
kulose durch Tuberkulininjektionen möglich
ist, diejenigen Fälle, bei welchen
nach genügend langer sachgemäßer
Anwendung des Mittels die später
vorgenommene Nephrektomie eine
einwandfreie Untersuchung der ent¬
fernten tuberkulösen Niere vorge¬
nommen werden konnte.
So berichtet Kraemer über eine wäh¬
rend 7 Monaten mit Tuberkulin behandelte,
an rechtsseitiger Nierentuberkulose leidende
Patientin. In der später wegen nichtein-
getretener Besserung operativ entfernten
Niere fanden sich keine Zeichen einer
Heilung. Ausgedehnte Tuberkulose mit
frischen Tuberkeln und Verkäsungen, keine
anatomischen Befunde von Heilungsvor¬
gängen. Auch in den makroskopisch noch
nicht deutlich veränderten Partien finden
sich mikroskopisch frische Tuberkel.
Wichtig für die Frage der Heilung der
Nierentuberkulose durch Tuberkulinbehand¬
lung ist die jüngst erschienene Mitteilung
von Wildbolz, der 5 mal Gelegenheit
hatte, tuberkulöse Nieren nach Tuberkulin¬
behandlung eingehend zu untersuchen.
Keiner von den 31 mit Tuberkulin be¬
handelten leichteren und schwereren Fällen
konnte durch das Mittel geheilt oder auch
nur von seinen Lokalbeschwerden dauernd
befreit werden. Eine Schädigung der Kran¬
ken durch die Tuberkulinkur wurde nicht
beobachtet. Bei den exstirpierten Nieren
war in keinem Falle irgendeine Spur einer
lokalen Heilwirkung des Tuberkulins* zu
erkennen. Wildbolz glaubt, daß bei
dieser negativen Heilungstendenz der
Nutzen des Tuberkulins bei Behandlung der
Nierentuberkulose eher in der allgemeinen
Giftfestigung des Organismus als in einer
Anregung lokaler Heilfaktoren zu suchen sei.
Was meine eigenen Erfahrungen an¬
betrifft, so habe ich in 4 Fällen Gelegen¬
heit gehabt, nach längerdauernder Tuber-
kulinbehandiung die später entfernten Nieren
eingehend zu untersuchen, respektive einer
eingehenden sachgemäßen pathologisch¬
anatomischen Untersuchung unterziehen zu
lassen.
Der erste Fall betraf einen 24jährigen
iungen Mann, bei welchem nach Feststellung
der Nierentuberkulose eine entsprechende
Tuberkulinkur eingeleitet wurde. Bei den
zunehmenden Beschwerden des Patienten
wurde eine eingehende uretroskopische
Untersuchung vorgenommen, welche eine
schwer zerstörte Blase und eine rechts¬
seitige Nierentuberkulose feststellte. Da
sich die linke Niere als gesund erwies,
wurde die Nephrektomie der schwer er¬
krankten rechten Niere vorgenommen. Es
zeigte sich, daß von einer Heilung nicht
die Rede sein konnte, weitgehende käsige
Zerstörung der ganzen Niere mit Nachweis
zahlreicher Tuberkelbazillen war vorhanden.
Noch wichtiger ist der zweite Fall, bei
welchem wir cystoskopisch das weitere
Fortschreiten des tuberkulösen Prozesses
in der Blase trotz Tuberkulininjektionen
verfolgen konnten. Es handelte sich um
eine 30jährige Patientin, welche vor 2 V 2 Jah¬
ren von heftigen krampfartigen Blasen¬
schmerzen nach dem Urinlassen befallen
wurde. Nach vorübergehender Besserung
traten heftige Beschwerden auch in der
rechten Niere ein, welche die Patientin
veranlaßten, Aufnahme auf der inneren
Abteilung unseres Krankenhauses zu suchen.
Nach ihrer Aufnahme wurde eine Tuber¬
kulinkur eingeleitet und gleichzeitig eine
zystoskopische Untersuchung der Harn¬
organe vorgenommen. Im Gesamturin
waren trotz sorgfältigen Suchens keine
Tuberkelbazillen nachzuweisen, während
der durch den Ureterkatheter aus der
kranken Niere entleerte Harn reichlich
Bazillen aufwies. Um die Mündung des
rechten Ureters waren bei der ersten Unter¬
suchung einige wenige kleine Ulzerationen
festzustellen, während bei der nächsten,
nach einigen Wochen stattgehabten Uretro-
skopie eine weitere Verbreitung des tuberku¬
lösen Prozesses auf die Blasenschleimhaut
festzustellen war. Die vorgeschlagene Ope¬
ration wurde nicht ausgeführt, sondern die
Tuberkulinkur weiter fortgesetzt. Bei jeder
späteren cystoskopischen Untersuchung
konnte man ein immer weiteres Umsich¬
greifen des tuberkulösen Prozesses auf die
Schleimhaut der Blase feststellen. Nach
172 jähriger Tuberkulinbehandlung, nach¬
dem die vorübergehende anscheinende
Besserung auch einer subjektiven Ver¬
schlimmerung gewichen war und objektiv
der immer weiter fortschreitende Prozeß
in der Blase festgestellt war, wurde end¬
lich die Nephrektomie ausgeführt. Die in
noch leidlich gutem Ernährungszustände
befindliche Patienten überstand den Ein¬
griff relativ gut und erholte sich vorüber¬
gehend. Ein Vierteljahr später ging sie an
allgemeiner Tuberkulose, an einer sich auf
die meisten Organe erstreckenden miliaren
Aussaat zugrunde. Die Niere zeigt, wie
Sie an der gutgelungenen Zeichnung sehen
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Dezember
Die Therapie der Gegenwart 1910.
553
(Demonstration), ausgedehnte tuberkulöse
Herde, einen großen tuberkulösen Abszeß
im oberen Pol und ein schwer zerstörtes
erweitertes Nierenbecken. Kleine miliare
Knötchen am oberen und unteren Pol in
großen Mengen sichtbar, Tuberkelbazillen
in großer Zahl nachweisbar, von einer be¬
ginnenden Heilung ist nichts zu sehen.
Der dritte Fall betrifft ein 22jähriges,
anscheinend blühend und gesund aus¬
sehendes Mädchen. Etwa l 1 /? Jahre zuvor
hatte sie über zunehmende Beschwerden
bei der Urinentleerung zu klagen. Bei der
Untersuchung des Urins konnten Eiter und
Tuberkelbazillen festgestellt werden. Die
eingeleitete Tuberkulinbehandlung hatte in
der ersten Zeit einen günstigen Erfolg und
verringerte die vorhandenen subjektiven
Beschwerden, später nahmen dieselben
jedoch wieder wesentlich zu und der ge¬
steigerte Urindrang belästigte die Patientin
im höchsten Grade. Bei der zystoskopi-
schen Untersuchung fanden wir die Gegend
um den linken Ureter und einen weiteren
Teil der Blase tuberkulös zerstört. Die rechte
Niere erwies sich als tuberkulös zerstört, die
andere als gesund. Am 9. Juni 1909 wurde
die Nephrektomie vorgenommen und eine
schwer erkrankte Niere entfernt Wie Sie
an der Zeichnung (Demonstration) sehen,
handelt es sich um mehrere Käseherde
und größere Gruppen kleinerer miliarer
Knötchen. Das erweiterte Nierenbecken
ist mit Tuberkelknötchen dicht übersät,
auch hier ist an keiner Stelle eine be¬
ginnende Heilung zu konstatieren.
Die Patientin ist jetzt vollkommen gesund,
auch die Blasen- und Nierenbeschwerden
sind geschwunden.
Der vierte Fall betrifft ein 20jähriges
junges Mädchen, bei welchem wegen aus¬
gedehnter Blasentuberkulose und schwerer
Zerstörung der rechten Niere die Nephrec-
tomia dextra im Oktober 1905 ausgeführt
werden mußte. Da sich die hochgradigen
Blasenbeschwerden nicht besserten, wurde
neben einer entsprechenden lokalen Be¬
handlung eine längerdauernde Tuberkulin¬
kur eingeleitet und die Patientin dann ge¬
bessert entlassen. Wir haben dann die
Kranke später in Zwischenräumen von
etwa einem Jahre noch zwei weiteren
Tuberkulinkuren unterzogen, ohne eine
Besserung zu erzielen; im Gegenteil machte
der Prozeß in der Blase immer weitere
Fortschritte, auch die übrigen Organe
wurden tuberkulös infiziert und Patientin
ging dann an Tuberkulose der Lungen
und des Peritoneums, sowie der noch vor¬
handenen Nieren zugrunde. In diesem
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Falle hatte die Tuberkulinbehandlung auch
nach Entfernung des primären, in der
Niere gelegenen tuberkulösen Herdes den
Blasenprozeß nicht günstig zu beeinflussen
vermocht.
Wie Sie aus meinen Mitteilungen sehen,
ist der objektive wissenschaftliche Nachweis
einer wirklichen Heilung der Tuberkulose
durch die Tuberkulinbehandlung in keinem
Falle erbracht. Es sind vorübergehende
Besserungen zu verzeichnen, welche, wie
mir scheint, bei Beginn der Tuberkulinkur
fast stets beobachtet wurden, denen dann
aber meist eine wesentliche Verschlimme¬
rung folgte. In den Fällen, welche nach
längerer erfolgloser Tuberkulinbehandlung
zur Nephrektomie nötigten und eine ein¬
gehende einwandfreie Untersuchung der
erkrankten Organe ermöglichten, sind keine
Anzeichen einer beginnenden oder an ein¬
zelnen Stellen schon abgeschlossenen Hei¬
lung zu konstatieren gewesen. In allen Fällen
handelte es sich um schwerkranke tuber¬
kulöse Nieren, die nicht im geringsten von
der Tuberkulinbehandlung beeinflußt waren.
Mögen die von Leedham-Green be¬
sonders bei Kindern mit der Tuberkulin¬
behandlung erzielten günstigen Resultate
zu einer vorsichtigen Nachprüfung auf¬
fordern und die von Karo, Pielicke u. A.
mitgeteilten klinischen Besserungen in Fällen
leichter Erkrankung im Anfangsstadium
einen Versuch mit Tuberkulin oder den
Hetolinjektionen Clerc-Dandrys ge¬
statten, niemals soll man jedoch dabei
vergessen, daß noch kein Fall einer aus
diesen Mitteln erzielten Heilung objektiv
nachgewiesen werden konnte, daß aber
manche Patienten, wenn sie nicht recht¬
zeitig durch die Operation von dem kranken
Organ befreit wurden, allmählich unter
großen Beschwerden zugrunde gingen.
Wenn nach der meist trügerischen anfäng¬
lichen Besserung nach Tuberkulininjektionen
kein weiterer deutlich wahrnehmbarer Fort¬
schritt in der Heilung zu beobachten ist,
sollte man das bis jetzt am sichersten eine
definitive Heilung herbeiführende Mittel der
operativen Entfernung des kranken Organs
anzuwenden nicht mehr zögern und nicht
durch unnützes Warten die weitere Ver¬
breitung des tuberkulösen Prozesses för¬
dern. Je früher wir in der Lage sind, die
Tuberkulose der Niere zu diagnostizieren
und dementsprechend das kranke Organ
in einem möglichst frühen Stadium zu ent¬
fernen, um so günstiger werden nicht nur
unsere operativen Resultate, sondern auch
um so zahlreicher werden auch die defini¬
tiven Dauerheilungen werden.
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554
Die Therapie der Gegenwart 1910.
Dezember
Vorträge
über die Orundzüge der modernen Psychologie und Psychiatrie,
veranstaltet vom preußischen Zentralkomitee für das ärztliche
Fortbildungswesen.
Bericht von Leo JacobSOhfl-Charlottenburg.
Den diesjährigen größeren Vortrags¬
zyklus, welcher sich mit einem in neuerer i
Zeit wesentlich erweiterten und vertieften
Spezialgebiet beschäftigen wird, leitete
Ziehen mit dem Thema: Die psychologi- j
sehen Probleme in der Heilkunde, ein. i
ln der Mitte des vorigen Jahrhunderts
führten die Erfolge der aufblühenden
Naturwissenschaften zu einer materialisti¬
schen Betrachtungsweise des psychischen
Geschehens. Man gewöhnte sich das
Psychische durch direkte oder indirekte
Einwirkungen eines physischen Vorganges j
auf die Sinnesorgane und deren überge- j
ordnete Hirnzentren zu erklären und kam !
in konsequenter Weiterführung dieses Ge- J
dankens zu dem Schluß, daß alles Psychi¬
sche nichts weiter als ein Reflexvorgang
sei, bei dem freilich der Zusammenhang
von Reizursache und psychischer Erschei¬
nung nicht immer so leicht erkennbar
wäre, wie man es bei körperlichen Vor¬
gängen zeigen konnte. Eine Bestätigung
dieser Anschauung schienen die Erfahrun¬
gen der Neuropathologie insbesondere der
topischen Hirndiagnostik zu geben, indem
man sah, daß bei Läsionen bestimmter
Hirnabschnitte ganz bestimmte psychische
Ausfallserscheinungen auftraten.
ln dieses einheitliche, festgefügte System
schienen nun einige Tatsachen nicht zu
passen; insbesondere war die relative Selb¬
ständigkeit des handelnden Subjekts sowie
die mit jeder Empfindung verbundene
Gefthlsbetonung mit der Auffassung des
psychischen Reflexes nicht ohne weiteres
vereinbar. Immerhin waren die Besonder-
lichkeiten der relativen Willensfreiheit und
der Gefühlsbetonung im Sinne der älteren
Lehre keine so fundamentale, daß sie zu
einer Nichtigkeitserklärung der materiali¬
stischen Betrachtungsweise führen mußten.
An andrer Stelle sollte das feste Ge¬
bäude der materialistischen Anschauung
erschüttert werden. Das tiefere Eindrin¬
gen in die Pathologie zeigte, wie wenig
die anatomische und physiologische Wis¬
senschaft imstande ist, das so überaus
komplizierte psychische Geschehen zu er¬
klären. Abseits von der Erkenntnis der
Unzulänglichkeit der materialistischen Be¬
trachtungsweise waren auch einige Tat¬
sachen der Klinik geeignet, die Unvoll¬
kommenheit der älteren Lehre zu zeigen
und dem lange vernachlässigten seelischen
Momente Geltung zu verschaffen.
So versagte die von dem Psychischen
abstrahierende Auffassung völlig bei der
Analysierung gewisser Schmerzarten, die
von dem kürzlich verstorbenen Brissaud
als Gewohnheitsschmerzen bezeichnet wur¬
den. Man versteht hierunter schmerzhafte
Empfindungen, welche mit dem Fortfall
der schmerzerregenden Ursache nicht auf¬
hören, sondern gleichsam aus dem Ge¬
dächtnisse unbewußt reproduziert werden.
So kann es geschehen, daß bei Hyste¬
rischen der durch ein Trauma veranlaßte
Schmerz nach anatomischer Heilung des
lokalen Prozesses noch Wochen und
Monate lang seinen Träger quält. Auch
ist es nicht ganz selten, daß nach Auf¬
hören einer Otitis media über Schmerzen
im Ohr geklagt wird. Charakteristisch
für diese anatomisch nicht erklärbaren
Schmerzen ist ihre diffuse Ausbrei¬
tung über den primären Schmerzherd
hinaus, weshalb sie auch als regionäre
Schmerzen oder Topalgien bezeichnet
werden. Will man nach einer Erklärung für
diese Erscheinungen suchen, so wird man
die Wurzel der Topalgien um so eher im
Psychischen zu sehen haben als das Fehlen
körperlicher Veränderungen, die Unabhän¬
gigkeit der Schmerzen von den bekannten
Innervationsgebieten und ihre Heilung
durch Suggestion eine physio-pathologische
Deutung nicht zulassen.
Das gleiche gilt für jene Kranken, die
nach partieller Heilung von Taubheit oder
Blindheit sich wie völlig Taube, beziehungs¬
weise Blinde benehmen. Auch hier han¬
delt es sich um die abnorme Nachwir¬
kung eines früheren Erinnerungsbildes. Die
Kenntnis dieser sogenannten Gewohnheits¬
blindheit oder Taubheit ist insofern thera¬
peutisch wichtig, als bei zweckmäßiger
Behandlung der Rest der latenten Sinnes¬
empfindungen erhalten werden kann. Aehn-
| lieh liegen die Verhältnisse bei den krank-
| haften Erscheinungen der motorischen
| Sphäre, wie man sie besonders bei Hyste-
j rischen zu sehen bekommt. Hysterische
; Lähmungen, dann auch die Astasie und
Abasie sind reine Vorstellungslähmungen.
| Die vielfach unter der Einwirkung eines
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Dezember
Die Therapie der Gegenwart 1910.
555
froheren Traumas dominierend auftretende
Vorstellung von der funktionellen Minder¬
wertigkeit eines bestimmten Organs ver¬
mag, ohne daß sie ihrem Träger bewußt
wird, dauernde Funktionsstörungen zu
hinterlassen.
Zusammenfassend läßt sich sagen, daß
der Arzt wohl berechtigt ist, physiologisch¬
psychologisch zu denken, daß jedoch eine
Anzahl anatomisch physiologisch nicht er¬
klärbarer Tatsachen ihn, wenn er nicht
ein non liquet sprechen will, zwingen,
diesen Standpunkt im einzelnen zu verlassen
und von dem Physischen abstrahierend, das
psychische Moment in den Vordergrund zu
stellen.
II. Sommer (Gießen) über die Bezie¬
hungen der experimentellen Psycho¬
logie zur praktischen Medizin.
Der Autor, den wir als erfolgreichen
Forscher auf dem Gebiete der experimen¬
tellen Psychologie kennen, gab an der
Hand von Apparaten und Projektionsbil¬
dern einen Einblick in dieses jüngste und
modernste Gebiet der Seelenkunde. Es
gelang ihm, in überzeugender Weise zu
zeigen, wie eine Reihe von Krankheits¬
erscheinungen auf psychischem Gebiete
mit graphisch darstellbaren abnormen
Muskelspannungen und Ausdrucksbewegun¬
gen einhergeht. So läßt sich diekataleptische
Muskelspannung der Hebephreniker durch
Hebelübertragung graphisch registrieren.
Sie gibt ganz charakteristische Kurven,
welche diagnostisch verwertbar sind. Das
gleiche gilt für die mimischen Ausdrucks¬
bewegungen bei Hebephrenie und anderen
Psychosen.
Eine andere Methode der experimentellen
Psychologie ist die Prüfungder Denkfähigkeit,
insbesondere die Feststellung der Assozia¬
tionen und der geistigen Reaktionszeit. Hier¬
zu bedient man sich gedruckter Fragebögen,
welche Lücken im Worttext aufweisen und
ausgefüllt werden müssen. Andere mehr
elementare Methoden arbeiten mit einfachen
optischen Reizen, indem farbige Scheiben
mit besonders konstruierten Apparaten be¬
stimmte Zeit exponiert werden und die
zugehörige Reaktionszeit festgestellt wird.
In gleicher Weise werden Zahlen, Buch¬
staben und Worte exponiert. Auf Grund
dieser Prüfungen gewinnt man Unterlagen
für die geistige Reaktionsfähigkeit in quan¬
titativer und qualitativer Hinsicht. Es er¬
geben sich hier für den geistig Gesunden
und Kranken ganz überraschende Gesetz¬
mäßigkeiten. Unter pathologischen Ver¬
hältnissen werden derartige Untersuchungen
vorwiegend bei Epileptikern, Idioten und
Paralytikern angestellt und führen zu wich¬
tigen praktischen Ergebnissen.
Neuere Erfahrungen haben gezeigt, daß
Veränderungen der Patellarreflexe, wie
sie in gleicher Weise bei funktionellen
und organischen Nervenerkrankungen Vor¬
kommen, bei graphischer Registrierung
zu ganz bestimmten Umformungen der
Zuckungskurve führen. Bei diesen Unter¬
suchungen wendet man den sogenannten
Reflexmultiplikator an. Die Konstanz der
so gewonnenen Resultate hat für die Neu¬
rosen diagnostische Bedeutung. Es läßt
sich beispielsweise durch die objektive
Reflexprüfung zeigen, daß ein auf ein
organisches Leiden verdächtiger Zustand
hysterischer Natur ist. Charakteristisch
für die hysterische Steigerung des Knie¬
sehnenreflexes sind bestimmte Nachzuckun¬
gen, welche auf der Kurve registriert
werden. Interessant ist die Tatsache, daß
durch Alkoholwirkung die Zuckungskurve
typisch verändert wird. Und zwar äußert
sich die Wirkung des Alkohols in einer
Umformung des Zuckungsablaufes in der
Weise, daß die einzelnen Ausschläge wie
bei einer Pendelbewegung kleiner und
kleiner werden und allmählich auf den
Nullpunkt fallen. Es sind dies Verhältnisse,
wie man sie am toten Körper vor findet.
Diese Feststellung hat großes wissenschaft¬
liches Interesse, zeigt sie doch in objek¬
tivster Weise, daß der Alkohol auf die
physiologischen Hemmungen und Bremsun¬
gen lähmend einwirkt und so am Muskel¬
apparat einen Zustand schafft, wie er am
toten Körper vorhanden ist.
Eine andere Methode, die zur Analysie-
rung komplizierter Vorstellungskomplexe
von Freud ausgearbeitet ist, ist die Psycho¬
analyse. Vortragender formuliert gegenüber
den Freudsehen Lehren seinen Standpunkt
dahin, daß die psychoanalytische Methode
durch einseitige Betonung des sexuellen
Moments nicht der Mannigfaltigkeit der ver¬
schiedenen Affekte gerecht wird und des¬
halb die Bedeutung eines Dogmas gewinnt.
Auch weist Sommer daraufhin, daß schon
vor Freud bei epileptischen und maniakali-
schen Personen die Veränderung der Vor¬
stellungskomplexe psychoanalytisch unter¬
sucht worden ist.
Bei der Neurasthenie sind experimen¬
telle Untersuchungen am Muskelsystem ge¬
eignet, die primäre abnorme Ermüdbarkeit
des Neurasthenikers zu objektivieren.
Dieses wird durch den Reßexmultiplikator
oder durch ergographische Methoden er¬
reicht.
Interessant ist es, daß es gelingt, auf
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556
Die Therapie der Gegenwart 1910.
Dezember
experimentellem Wege die Erscheinungen
der Angst zur Anschauung zu bringen.
So läßt sich die Pulsbeschleunigung
akustisch demonstrieren; das Stocken der
Atmung verrät sich auf der Zwerchfell¬
zuckungskurve durch einen Rückgang auf
den Nullpunkt, während die kostale At¬
mungskurve einen deutlichen Anstieg er¬
kennen läßt.
Vasomotorische Begleiterscheinungen
der Neurosen und Psychosen zu registrie¬
ren, ist bisher nicht einwandsfrei gelungen.
Das Plethysmogramm hat zu große Fehler¬
quellen. Es wird eine dankenswerte Auf¬
gabe der experimentellen Psychologie sein,
an dem Ausbau einer exakten Methode zu
arbeiten.
Vortragender kam noch kurz aut die
neuerdings von Aerzten und Laien studier¬
ten Erscheinungen der Hautelektrizität zu
sprechen und zeigte, daß die Stärke des
bei Berührung eines Kupfer- und Zink-
poles entstehenden elektrischen Stromes
nur von der Größe der Oberfläche und
dem Elektrodendruck abhängt. Daher ist
die diagnostische Verwertbarkeit dieser
Methode sehr gering.
Ein besonderes Anwendungsgebiet für
die experimentellen psychologischen Me¬
thoden ist die Simulation. Hier gelingt es
vielfach, vorgetäuschte Zustände als will¬
kürlich hervorgerufen zu erkennen. Auch
für die Entlarvung von Medien und ande¬
rer spiritistischer Phänomene kann die
experimentelle Psychologie mit Erfolg ver¬
wendet werden.
III. Cramer (Göttingen): Psychothe¬
rapie.
Psychotherapie muß jeder Arzt treiben.
Der Erfolg des Arztes ist größtenteils von
seinen psychotherapeutischen Fähigkeiten
abhängig. Auch organische Leiden sind
bis zu einem gewissen Grade psychothera¬
peutischer Behandlung zugänglich, da sie
fast immer eine psychische Quote ent¬
halten. Redner zeigt an zwei Beispielen
von zerebraler Erkrankung, wie weitgehend
scheinbar somatisch bedingte Symptome
durch Psychotherapie beeinflußt werden
können.
Wann und wie soll der Arzt Psycho¬
therapie treiben? Das dankbarste Anwen¬
dungsgebiet für die psychische Behandlung
bilden die Neurosen. Wenig vermag die
Psychotherapie bei Psychosen zu leisten.
Vortragender warnt vor einseitiger Ueber-
treibung der Methode. Das nihil nocere
muß auch hier oberster Grundsatz der Be¬
handlung sein. Namentlich gilt dies für
nervöse Erschöpfungszustände. Hier ist
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die somatische Therapie in erster Linie
am Platze, psychische Behandlung kommt
nur nebenbei in Frage. Verkehrt ist es,
durch Ueberspannung des psychischen Ein¬
flusses einen erschöpften Nervösen zu
größerer Arbeitsleistung stimulieren zu
wollen. Die Wirkung der Psychotherapie
ist hier die gleiche wie die eines Exzitans
(Kaffee, Nikotin), das heißt vorübergehende
Besserung mit folgendem Zusammenbruch.
Von den verschiedenen Arten der Psycho¬
therapie erwähnt Cramer zunächst die
Hypnose. Im Gegensatz zu anderen
Autoren, welche bei großer Erfahrung über¬
zeugte Hypnotherapeuten sind,, hat Cra¬
mer diese Methode aufgegeben. Einmal
hält er die Hypnose nicht für unbedenk¬
lich, da sie einen veränderten Gehirn¬
zustand schafft, andererseits vertritt er den
Standpunkt, daß die häufig guten Erfolge
der Hypnose auch durch andere, weniger
eingreifende Methoden erzielt werden kön¬
nen.
Dagegen ist hier zielbewußter sug¬
gestiver Einfluß bei gleichzeitiger kör¬
perlicher Behandlung vielfach von Nutzen.
Falsch ist es, zuviel auf einmal erreichen
zu wollen. Deshalb verwirft Redner auch
die sogenannte Ueberrumplungstherapie,
mit der zwar eklatante Augenblickserfolge
erzielt werden können, die jedoch meist
wenig nachhaltig sind.
Die Freudsche Methode der Psycho¬
analyse wird abgelehnt. Zugegeben wird,
daß die Methode einen guten Kern ent¬
hält. Einseitig ist die Hervorhebung des
sexuellen Momentes. Das inquisitorische
Fragen auf diesem Gebiete hat bei
einigen nach Freud behandelten Patienten
Cramers sehr unerfreuliche Wirkungen
gehabt.
Die Methode Dubois, der auf logischem
Wege, das heißt durch Belehrung und
. Ueberzeugung, seinen Kranken zu helfen
bestrebt ist und die Suggestion durch die
Persuasion ersetzt wissen will, wendet er
vielfach an und rühmt ihren erzieherischen
Wert.
Bei Hysterikern empfiehlt es sich, den
einzelnen Symptomen nicht zuviel Beach¬
tung zu schenken, namentlich nicht durch
zu intensive Lokalbehandlung die Idee des
Kranken auf ein umschriebenes Gebiet zu
fixieren. Ein wichtiger Heilfaktor ist hier
ablenkende Tätigkeit.
IV. Moli über Sexualpsychologie und
-Pathologie.
Moll unterscheidet zwei Komponenten
des Geschlechtstriebes, den Kontrektations-
und den Detumeszenztrieb. Ersterer ist
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Dezember
Die Therapie der Gegenwart 1910.
557
die mehr seelische Liebe, das sich Hin-
gezogenfQhlen zum anderen Geschlechte.
Der Detumeszenztrieb hingegen ist ein
Gemeingefühl, das wie Hunger oder Durst
nach Befriedigung verlangt und mit der
Ejakulation erlischt. Unter normalen Ver¬
hältnissen stehen die beiden Komponenten
des Geschlechtslebens in enger Relation.
Im speziellen zeigt das Geschlechtsleben
bei Männern und Frauen mancherlei Ab¬
weichungen. Inhalt der Kontrektationvor-
stellungen des Weibes ist der Mann. Ein
eigentlicher Detumeszenzakt ist nicht vor¬
handen. Hingegen ergießt sich aus den
Bartholinischen und ZervizdrQsen wäh¬
rend des Geschlechtsaktes ein schleimiges
Sekret Der Geschlechtstrieb des Mannes
zeigt größere Aktivität. Das Weib verhält
sich mehr passiv. Dagegen ist das Weib
in sexueller Hinsicht mehr elektiv veranlagt.
Das Weib neigt mehr zur Mono-, der Mann
zur Polygamie. Andere Unterschiede liegen
in der Periodizität des Geschlechtstriebes
und der Geschlechtsfunktionen beim Weibe.
Bei beiden Geschlechtern lassen sich drei
Perioden des Geschlechtslebens aufstellen,
die Periode der Neutralität beim Kinde,
die des indifferenzierten Geschlechtstriebes
während der Pubertät und die des diffe¬
renzierten beim Erwachsenen. Es ist be¬
merkenswert, daß die Periode des indiffe¬
renzierten Geschlechtstriebes zu anschei¬
nend perversen Trieben führt, die sich
später von selbst ausgleichen.
Während früher der Sitz des Ge¬
schlechtstriebes in das Kleinhirn verlegt
wurde, trat Krafft-Ebing für die Lokali¬
sation in die Nähe des Gyrus unzinatus
ein. Moll hält die Annahme eines diffuseren
Verbreitungsgebietes für wahrscheinlicher.
Die Weckung des Geschlechtstriebes
kommt teils von der Peripherie, teils auf
zentralem Wege zustande. Peripherische
Reize sind stärkere Samenfüllung, Kitzel¬
empfindungen an der Glans penis, Gesichts-,
Tast- und Geruchseindrücke. Zentral wird
der Geschlechtstrieb durch wollüstige Vor¬
stellungen geweckt, welche durch periphe¬
rische Reize vermittelt werden, aber auch
ohne diese auf dem Wege der Phantasie
entstehen können.
Das geschlechtliche Leben des Mannes
und Weibes zeigt große Schwankungen in
quantitativer Hinsicht So kann der Ge¬
schlechtstrieb beim Kinde schon frühzeitig
auftreten, beim Greise noch lange Zeit be¬
stehen, ohne daß man berechtigt ist, von
Abnormitäten zu sprechen. Dieselben liegen
erst vor, wenn das Kind durch Masturba¬
tion oder gelegentlich auf geschlechtlichem
Wege den Geschlechtstrieb befriedigt.
Pathologisch ist der Geschlechtstrieb des
Greises, wenn er nach mehrjähriger Pause
übergroß auftritt und zu schamverletzenden
Handlungen führt.
Satyriasis und Nymphomanie sind unter
allen Umständen krankhafte Erscheinungen.
Sie sind dadurch charakterisiert, daß der
abnorm gesteigerte Geschlechtstrieb keine
Befriedigung findet. Das Gegenstück hier¬
zu ist die sexuelle Anästhesie des Weibes.
Beim Manne ist sie sehr selten.
Von eigentlichen Perversionen und Per¬
versitäten des Geschlechtstriebes unter¬
scheidet Vortrageuder die Homosexualität,
den Fetischismus, Sadismus, Masochismus,
Tierliebe und den Exhibitionismus.
Homosexualität ist gleichgeschlechtliche
Liebe. Sie ist unter Männern mehr ver¬
breitet als unter Frauen. Bevorzugte Ob¬
jekte sind Kinder im 11.—13. (Pädophilie)
respektive 17.—20. Lebensjahre. Homo¬
sexuell veranlagte Männer zeigen in bezug
auf Beckenbau und Kehlkopfanlage viel¬
fach femininen Typus. Homosexuelle An¬
lage schließt heterogenen Geschlechtsver¬
kehr keineswegs aus. Die häufigste Form
des homosexuellen Verkehrs ist Mastur-
batio mutua, Koitus per anum (Päderastie)
ist seltener.
Fetischismus ist die krankhafte Liebe
zu Gegenständen, mit denen meist Mastur¬
bation getrieben wird. Bevorzugt werden
Taschentücher, Stiefel, Haarbänder usw.
Zu den Fetischisten gehören auch die Zopf¬
abschneider.
Sadismus ist die Form der geschlecht¬
lichen Perversion, die Geschlechtsgenuß an
grausamen Handlungen findet und die sich
bis zum Lustmord steigern kann. Ihr
Gegenstück ist der Masochismus, die skla¬
vische Unterwürfigkeit unter ein geliebtes
Wesen. Eine Form des Masochismus ist
auch die sexuelle Hörigkeit.
Tierliebe ist nicht immer ein Zeichen
von perverser Anlage. Besonders auf dem
Lande findet man sie bei erotisch ver¬
anlagten Individuen, denen Gelegenheit zur
normalen Geschlechtsbefriedigung fehlt.
Relativ häufig ist Tierliebe bei Idioten und
Schwachsinnigen.
Die bisher erwähnten geschlechtlichen
Perversitäten können sich mannigfach kom¬
binieren. Eine häufige Kombination ist
der Päderastie mit Sadismus.
Den Exhibitionismus rechnet Moll nur
teilweise zu den sexuell perversen Hand¬
lungen, da Exhibitionismus mitunter auch
ohne erotische Betonung als reine Zwangs¬
handlung vorkommt.
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Die Therapie der Gegenwart 1910.
Dezember
Für die Aetiologie der beschriebenen
Störungen kommen ererbte und erworben
Faktoren in Betracht. Moll hält es bei
der mangelnden Willensbetätigung und
Zügellosigkeit sexuell Perverser nicht für
richtig, wenn der begutachtende Arzt
Vergehen gegen das Strafgesetzbuch nur
unter dem Gesichtswinkel der häufig vor¬
handenen degenerativen Anlage beurteilt
und seinen Klienten ohne weiteres für un¬
zurechnungsfähig erklärt. Hier soll die Ent¬
scheidung von Fall zu Fall getroffen wer¬
den ; milde Beurteilung ist meist am Platze.
Bei der Behandlung der sexuellen Per¬
versitäten leistet die Hypnose gutes. Die
Psychoanalyse Freuds lehnt Moll ab,
dagegen wendet er gelegentlich die Me¬
thode Dubois’ mit Erfolg an. Am besten
ist die sogenannte Assoziationstherapie,
welche darauf hinausgeht, krankhafte Asso¬
ziationen zu lockern, normale zu verstärken.
Dieses wird erreicht durch psychische
Führung des Kranken, Erziehung und Lek¬
türe, eventuell mit Wechsel des Milieus.
Daneben empfiehlt sich ablenkende Be¬
schäftigung und allgemeine Kräftigung.
V. Moeli über die Aufgaben der ärzt¬
lichen Praxis bei der Fürsorge für
psychisch Kranke.
Die Aufgaben des Arztes bei der Für¬
sorge psychisch Kranker decken sich viel¬
fach mit den Bestrebungen der Prophylaxe
auf diesem Gebiete. Der Arzt hat die
Pflicht, soweit er es vermag, die Ent¬
stehung psychischer Erkrankungen zu ver¬
hindern und ihr weiteres Fortschreiten auf¬
zuhalten. Eine Psychose entwickelt sich
häufig auf dem Boden einer hereditär de¬
generativen Anlage. Von erworbenen Fak¬
toren sind Traumen, akute und chronische
Infektionen sowie Stoffwechselstörungen
von Bedeutung. Es ist bekannt, daß Psy¬
chosen respektive die Disposition zu psy¬
chischen Erkrankungen erblich sind, ohne
daß hinsichtlich der Art der Vererbung
und dem verwandtschaftlichen Grade eine
Gesetzmäßigkeit besteht. Im allgemeinen
wird die Bedeutung der hereditären An¬
lage überschätzt Vererbung kommt in
der Regel nur bei schweren Psychosen
und doppelseitigen Belastung vor.
Zu den häufigsten angeborenen psychi¬
schen Erkrankungen gehören die Formen
von intellektueller Schwäche, die wir nach
ihrem Grade als Imbezillität oder Idiotie
bezeichnen. Bei den Eltern findet man
in diesen Fällen nicht selten Lues oder
chronischen Alkoholismus. Für den Arzt
ist es notwendig, die Eigenart schwach¬
sinniger Kinder zu erkennen und Eltern
und Lehrer auf die geistige Minderwertig¬
keit hinzuweisen. Gerade in diesem Punkte
ist Aufklärung der Umgebung notwendig,
da die Imbezillität sich vielfach unter Eigen¬
sinn, störrischem Wesen und Hang zum
Lügen verbirgt. Bei leichteren Graden von
Schwachsinn kann man mit Ernährungs¬
kuren, Beseitigung hyperplastischer Ton¬
sillen und allgemein roburierender Diät
manches erreichen. Wichtiger ist der er¬
zieherische Einfluß des Arztes und der
Familie. Die Kinder sollen vor geistiger
und körperlicher Uebermüdung bewahrt
werden. Es ist darauf zu achten, daß das
intellektuell minderwertige Kind nicht von
der Außenwelt abgeschlossen wird, son¬
dern mit Altersgenossen häufig zusammen¬
kommt. Ist es nicht imstande, dem Lehr¬
plane der Schule zu folgen, so empfiehlt
sich private Unterweisung oder Unter¬
bringung in eine Anstalt für geistig Zurück¬
gebliebene.
Die psychischen Alterationen, welche
mit beginnender Pubertät aufhreten und
noch in das Bereich des Normalen fallen,
äußern sich in schwärmerischen Ideen, Emp¬
findsamkeit, Neigung zu exzentrischen Hand¬
lungen, Verschrobenheit und Ueberschätzung
der Persönlichkeit. Ferner werden Angst¬
zustände und hysterische Erscheinungen
beobachtet. Auch hier ist sachverständige
Leitung und Unterweisung die Hauptsache.
Bei schweren Fällen kommt Erziehung auf
dem Lande in Betracht. Am Ausgange
der Pubertät sieht man von eigentlichen
Psychosen besonders hebephrenische Pro¬
zesse.
Von den im späteren Alter auftretenden
Geisteskrankheiten steht die Paralyse nach
Häufigkeit und sozialer Bedeutung an erster
Stelle. Sie bevorzugt das 30.—40. Lebens¬
jahr und ist bei Frauen seiten. Vortragen¬
der warnt vor zu hoher Bewertung der
körperlichen Symptome, welche nur für
überstandene Syphilis beweisend sind. Bei
der Diagnose darf der psychische Anteil
der Erkrankung nicht zu kurz kommen.
Die Entscheidung, wann bei Psychosen
Anstaltsbehandlung stattfinden soll, muß
von Fall zu Fall getroffen werden. Zu
fordern ist sie bei Gefahr für andere Per¬
sonen und Gefahr für den Erkrankten
selbst. Nur bei Gutsituierten läßt sich unter
diesen Umständen eine Behandlung im
Hause durchführen. Aus familiären Gründen
empfiehlt es sich jedoch meistens den
Kranken einer Anstalt zu überweisen.
Die häufig geübte Täuschung bei Ueber-
führung in eine Anstalt ist meist unnötig.
Stärkere Erregungszustände werden durch
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Die Therapie der Gegenwart 1910.
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Hyoszin herabgesetzt. Das gesetzlich vor¬
geschriebene Zeugnis soll kurz gefaßt sein.
Es genügt zu bescheinigen daß der Kranke
an einer krankhaften Geistesstörung leidet,
die eine Unterbringung in eine Anstalt not¬
wendig macht. Empfehlenswert ist ein
gleichzeitiger Bericht des früheren Arztes
an den Anstaltsarzt.
Bei vorübergehenden Erregungszustän¬
den, namentlich Alkoholdelirien ist Bett¬
ruhe notwendig. Daneben sind Sedativa
und Hypnotika zu geben. Bäderbehandlung
ist bei Alkoholdeliranten mit Vorsicht an¬
zuwenden.
VI. Aschaffenburg (Cöln) ober: Die
psychiatrische Sachverständigentätig¬
keit.
Vortragender .begann mit einigen all¬
gemeinen Bemerkungen über die Pflichten
des Sachverständigen. Der begutachtende
Arzt ist an die Gesetze des Landes
gebunden. Er soll weder aus rein mensch¬
lichen Erwägungen, noch einer Theorie zu
Liebe das Recht beugen. Der Sachver¬
ständige soll der Gehilfe des Richters sein,
nicht das Recht selber sprechen, er soll
den Richter überzeugen, nicht überreden.
Er muß unparteiisch sein, genügend Kennt¬
nis der den Medizinern interessierenden
Gesetzesparagraphen haben und sich streng
auf sein Thema beschränken. Erörterungen
darüber hinaus müssen unter allen Um
ständen vermieden werden. Die Tätigkeit
des psychiatrischen Sachverständigen ist
dadurch eine schwierige und undankbare,
daß die Mehrzahl der Richter den Aerzten
gegenüber in bewußter Opposition steht.
Diese Animosität hängt vielfach mit der
geringen psychologischen und psychiatri¬
schen Schulung der Richter zusammen.
Das gleiche gilt für die Geschworenen,
die dem Arzte nicht selten eine vorgefaßte
Meinung entgegenbringen.
Zwei Probleme sind es vornehmlich, die
für den ärztlichen Sach verständigen in Frage
kommen, die Zurechnungsfähigkeit und die
Geschäftsfähigkeit. Die Bedeutung des ersten
Momentes geht daraus hervor, daß nur bei
erhaltener Zurechnungsfähigkeit Verurtei¬
lung erfolgen darf. Ergeben sich aus dem
Vorleben des Angeklagten oder im Laufe
der Gerichtsverhandlung Zweifel an der
Zurechnungsfähigkeit des Inkulpierten, so
hat das Gericht die Pflicht, sich davon zu
überzeugen, ob der Angeklagte bei Be¬
gehung der strafbaren Handlung zurech¬
nungsfähig gewesen ist.
Vortragender weist darauf hin, daß der
§51 des Str.G.B. im einzelnen recht un¬
glücklich gefaßt ist. Namentlich muß ärzt-
I licherseits beanstandet werden, daß dem
Wortlaut des Paragraphen zufolge eine
Handlung im Zustande der Bewußtlosig¬
keit begangen werden kann. Der § 51 ver¬
langt von dem Arzte ferner die Beant¬
wortung der Frage, ob bei Begehung des
Deliktes die freie Willensbestimmung aus¬
zuschließen war. Erfahrene Gutachter wie
Mendel haben die Beantwortung dieser
Frage abgelehnt mit der Begründung, daß
sie die freie Willensbestimmung leugnen
und in der Erörterung der Frage eine
juristische und nicht medizinische Aufgabe
l sehen. Demgegenüber betont Asch affen-
1 bürg, daß es sich hier nicht um metaphy-
| sische Erwägungen, .sondern um praktische
j Fragen im Sinne des § 51 handelt, zu denen
j auch der von der primären Willensunfreiheit
überzeugte Arzt Stellung nehmen kann und
soll, da der Richter weniger als der Arzt
befugt ist, hierüber zu entscheiden und ohne
die Hilfe des Arztes ein erstattetes Gut¬
achten häufig nicht verwerten kann.
Von prinzipieller Wichtigkeit sind die Er¬
örterungen über die Frage der verminderten
Zurechnungsfähigkeit, welche früher in den
Gesetzesvorschriften der meisten Bundes¬
staaten anerkannt worden ist, heute je¬
doch im Strafrecht nicht berücksichtigt
wird. Die Anerkennung der verminderten
Zurechnungsfähigkeit ist ein schreiendes
Bedürfnis. So ist es mit Freude zu be¬
grüßen, daß der Vorentwurf des neuen
Strafgesetzbuches verminderte Zurech-
nungssfähigkeit prinzipiell anerkennt.
Kommt der Sachverständige auf Grund
seines Materials zu keinem Schluß über
die Zurechnungsfähigkeit des Angeklagten,
so ist er nach der Strafprozeßordnung ver¬
pflichtet, einen Antrag auf Ueberführung
des Betreffenden in eine Irrenklinik zu
stellen. Die in dieser Bestimmung liegende
Härte ist nicht so groß, wie von Laien
meist angenommen wird. Auch ist eine
Gefährdung der Psyche geistig Gesunder
durch den gesetzlichen sechs wöchentlichen
Beobachtungsaufenthalt in der Klinik nicht
zu befürchten.
Ist das Gericht auf Grund des Sachver¬
ständigengutachtens zu einem freisprechen¬
den Urteil gelangt, so bietet, von Gefähr¬
dung der Oeffentlichkeit abgesehen, das
Gesetz dem Richter keine Handhabe, das
weitere Schicksal des psychisch Kranken
zu bestimmen. Hier ist eine offenbare Lücke
des Gesetzes vorhanden, die in dem neuen
Strafgesetzbuch durch einen Paragraphen
ausgefüllt werden wird, der dem Richter
die weitere Versorgung des Freigesproche¬
nen überträgt.
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560
Die Therapie der Gegenwart 1910.
Dezember
Das Seitenstack des §51 des Str.G.B.
ist der § 6 des B.G.B. Es handelt sich um
die Frage der Entmündigung. Der Wort¬
laut des Paragraphen ist: Entmündigt kann
werden, wer infolge von Geisteskrankheit
oder von Geistesschwäche seine Angelegen¬
heiten nicht zu besorgen vermag. Ziffer 2
und 3 des Paragraphen, die Verschwen¬
dung und Trunksucht als Grund zur Ent¬
mündigung angeben, haben kein ärztliches
Interesse.
Die Entmündigung ist keine Strafe, son¬
dern ein Schutz in vermögensrechtlicher
Beziehung. Die Unterscheidung zwischen
Geisteskrankheit und Geistesschwäche, ist
vielfach nicht durchzuführen. Mangelhaft
ist auch die summarische Fassung, welche
sich auf die Besorgung der Angelenheiten
richtet, da, abgesehen von ausgesproche¬
nen Verblödungszuständen, bei den meisten
Psychosen eine teilweise Besorgung der
persönlichen Angelegenheiten möglich ist.
Seltener hat der psychiatrische Sach¬
verständige zu § 1509 des B.G.B. Stellung
zu nehmen. Es handelt sich um den Ehe¬
scheidungsparagraphen, der vorschreibt,
daß eine Ehe geschieden werden kann,
wenn Geisteskrankheit bei einem Ehe¬
gatten mindestens drei Jahre während der
Ehe bestanden hat und einen solchen Grad
erreicht hat, daß jede Aussicht auf Wieder¬
herstellung der ehelichen Gemeinschaft ge¬
schwunden ist. Bei Beantwortung des
letzten Passus empfiehlt sich insofern Vor¬
sicht, als auch bei vorgeschrittenen Demenz¬
zuständen, selbst bei Paralyse eine weit¬
gehende Besserung mitunter spontan ein-
tritt.
Alles in allem ist die psychiatrische
Sachverständigentätigkeit eine verantwor¬
tungsreiche, undankbare und nebenbei
schlecht bezahlte Sache.
VII. Hoche (Freiburg) über: Einfache
Seelenstörungen. (Melancholie, Manie,
Paranoia).
Die Ausführungen Hoches bilden die
Einleitung zu den speziellen Formen der
psychischen Erkrankungen. Redner wies
darauf hin, daß in den letzten 20 Jahren
in die Psychiatrie eine gewisse Unruhe
gekommen ist. Frühere Dogmen werden
angezweifelt, in der Tradition gut charak¬
terisierte Krankheitsbilder sind heute um¬
stritten, und mehr denn je ist auf dem
Gebiet der Psychiatrie alles im Fluß.
Schuld hieran ist die moderne, durch
Kräpelin eingeführte, sogenannte klini¬
sche Betrachtungsweise der Psychopathien.
Es ist die Aufgabe Kräpelins gewesen, die
einzelnen Psychosen nach Ursache und Ver-
laufzu klassifizieren. Mögen Psychosen ihrem
Inhalte nach noch so verschieden sein, im
Sinne Kräpelins sind sie zusammenge¬
hörig, wenn Uebereinstimmung in den ur¬
sächlichen Faktoren und dem klinischen
Verlaufe besteht. Hoche betont ange¬
sichts der meist unbekannten Aetiologie
der Psychosen die Schwierigkeit einer
Klassifizierung nach ätiologisch klinischen
Gesichtspunkten.
Fruchtbarer ist die von Möbius be¬
gründete Einteilung von Krankheiten nach
ihrem exogenen oder endogenen Ursprünge.
Auf psychischem Gebiete wird man die
traumatischen Psychosen sowie die Seelen¬
störungen im Gefolge von Syphilis, Arterio¬
sklerose, Alkoholismus, Morphium und
Kokain als endogene bezeichnen und
ihnen die große Gruppe von exogenen
Psychosen gegenüberstellen, die mit schick¬
salsmäßiger Notwendigkeit infolge inneren
Ursachen heraus hereinbrechen. Eine
dieser endogenen Ursachen ist die Dege¬
neration. Bei den objektiven Zeichen der
Entartung ist weniger auf die sogenannten
Stigmata degenerationis Wert zu legen,
als auf gewisse, schon frühzeitig sich
äußernde psychische Abweichungen.
So fallen Degener€s nicht selten schon
im frühen Kindesalter durch lebhaftes
Träumen, Pavor nocturnus, Onanie und
schwere Erziehbarkeit auf; sie neigen
später zu Verschrobenheit und Hypo¬
chondrie. Die Bedeutung der Heredität
für die Entartung wird von Hoche mit
Rücksicht auf die interessanten genealogi¬
schen Ergebnisse Fourniers in Zweifel
gezogen.
Als Melancholie bezeichnet man einen
Zustand einer objektlos deprimierten Ge-
mütsstimmung. Melancholiker haben einen
müden, schlaffen Gesichtsausdruck, spre¬
chen mit leiser Stimme, antworten zögernd
und lassen vielfach innere Hemmungen
erkennen. Sie neigen zu hypochondrischen
Vorstellungen und Selbstvorwürfen, die
nicht selten zu Suizid führen. Die Me¬
lancholie ist eine Erkrankung der zweiten
Lebenshälfte, sie ist bei Frauen häufiger
und entwickelt sich vielfach im Klimakte¬
rium. Daneben gibt es eine im jüngeren Alter
entstehende, mit Unterbrechungen durch
das ganze Leben bestehende Form. Krä¬
pelin vertritt die Anschauung, daß diese
Melancholie nur eine Phase des manisch-
depressiven Irreseins darstellt
Leichte, an die Grenze des Normalen
heranreichende Grade der Melancholie sind
nicht selten und werden vielfach falsch
gedeutet. Als Typus einer solchen „kon-
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Dezember
Die Therapie der Gegenwart 1910.
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stitutionellen Verstimmtheit* fahrt Hoche
den Philosophen des Pessimismus Schopen¬
hauer an.
Das Gegenbild der Melancholie ist die
Manie. Sie ist ein Zustand gehobener
Stimmung mit Bewegungsdrang und Ideen¬
flucht. In einer Anzahl von Fallen ver
lauft die Manie zyklisch und alternierend
mit Melancholie. Trotz aller Verschieden¬
heiten haben diese beiden Psychosen eine
gemeinsame Wurzel. Diese Tatsache ist
nicht nur ein logisches Postulat, sondern
auch durch die Existenz von Mischformen
begründet
Wegen ihrer Beziehungen zur Para- j
noia geht Vortragender auf die Hebe- I
phrer.ie ein. Dieselbe ist eine Psychose
vorwiegend des Pubertats- und Jünglings¬
alters und kommt in mehreren Variationen
vor. Einmal finden sich hebephrenische
Zustande mit erheblicher Abstumpfung des
Gefühles und Taktes bei leidlicher Intelli¬
genz mit oder ohne katatonische Span- j
nungsveranderungen der Muskulatur. Er- !
regungszusiände, negativistisches Verhalten !
sind hierbei häufig, ohne daß das geistige
Leben erhebliche Einbuße ei leidet. Dem¬
gegenüber kennt man Formen von Hebe-
phrenie, die in 2—3 Jahren zu völliger
Verblödung führen. Als Dementia para¬
noides bezeichnet man endlich eine Abart
des hebephienischen Irreseins, in der Er¬
innerungstauschungen und Wahnbildungen
hervortreten. Hand in Hand geht eine
auffallende Schwache des Urteils und Zer¬
fall der geistigen Persönlichkeit. Es sind
dies Formen, die man früher der Paranoia
zurechnete.
Heute bezeichnet man als Paranoia ein
in sich geschlossenes Wahnsystem, das bei
erhaltener Besonnenheit meist im minieren
Alter auftritt, sich über das ganze Leben
ausdehnt und nicht zu geistigem Zerfall
führt. Halt man sich an diese Begriffs¬
bestimmung, so gehört die eigentliche
Paranoia nicht zu den häufigen P*>ychosen.
Eine Form der echten Paranoia ist der
Querulantenwahn, bei dem die Betinträchti-
gungsideen wesentlich auf rechtlichem Ge¬
biete gelegen sind.
Therapeutisches aus Vereinen und Kongressen
Ehrlichs Syphilis-Heilmittel')
in der Berliner Dermatologischen Gesellschaft.
(Sitzungen am 8. u. 22. November 1910.)
Herr Lesser bespricht zuerst die klini¬
sche Wirkung des Mittels. Er hat seine
Erfahrung an 287 Fällen gemacht. Er¬
scheinungen im Frühsta iium gehen meistens i
rasch ohne örtliche Behandlung zuiück. I
Bei der malignen Syphilis sah er bei der
Anwendung von Hata noch Heilung, wo
Hg versagte; auch bei der Behandlung der
kongenitalen Syphilis hatte er gute Erfolge.
Von einer Therapia sterilisans magna sei i
man aber noch weit entfernt, denn auch er '■
habe bei 114Männern 12Rezidive schon jetzt I
beobachtet. Eine Beeinflussung derWasser-
mannschen Reaktion trete nicht immer ein.
Allgeraeinschadigungen hat Lesser nie
gesehen; in 2 Fällen beobachtete er 8 Tage
anhaltendes Fieber bis 39,4° und in einem
Falle 10 Tage nach der Injektion Auftreten
einer Angina mit starken Belagen, Steige¬
rung der Temperatur bis 40 ° und später
Auftreten eines scharlachähnlichen Aus¬
schlages. Die lokale Reaktion an der In¬
jektionsstelle ist sehr verschieden. Arsenne-
*) Anmerk. d. Red. Ehrlichs Mittel, Salvarsan
genannt, kommt in den nächsten Tagen in den Handel;
um so erwünschter werden unsern Lesern die Berichte
über die in der letzten Zeit stattgefundenen Erörte¬
rungen sein.
krose hat Lesser nur bei der Verwendung
neutraler Suspensionen nach Wasser¬
mann gesehen, während nach der Alt-
schen Methode Nekrosen nicht auftraten.
Lesser wendet deshalb die Altsche Me¬
thode mit der Abänderung an, daß nur so¬
viel Natronlauge zugesetzt wird, bis eine
leichte Trübung entsteht. Paraffin- und
Oelemulsion scheinen langsamer zu wirken
und geben früher Rezidive. Zum Schluß
betont Lesser, man dürfe nicht vergessen,
daß wir in der planmäßigen Behandlung
mit Hg und Jod eine vorzügliche Syphilis-
therapie besitzen, und wir dürfen die Er¬
fahrungen, die damit gemacht sind, heute
nicht über Bord weifen. Wir können die Be¬
handlung mit 606 mit einer Kur vergleichen,
die vielleicht manchmal einer Quecksilber-
kur überlegen ist, die aber immer nur als
ein einzelnes Glied in der Kette der Be¬
handlung angesehen werden darf.
Alt (Uchtspringe) befürwortet nach
mannigfachen Versuchen mit anderen Me-
I thoden die intravenöse Injektion mit später
anschließender intramuskulärer.
Mit dem Ehrlichschen Mittel sei wohl
eine Therapia sterilisans magna zu er¬
reichen. Alt empfiehlt, nicht zu große
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Die Therapie der Gegenwart 1910.
Dosen zu nehmen, er gehe nicht über 0,4
hinaus. Bei der Epilepsie mit positivem
Wassermann werde dieser in 50% ne¬
gativ und die Krankheit auch klinisch in
vielen Punkten gebessert. Alt unterscheidet
zwei Formen von Paralysen, die Tabo-
Paralyse und die spezifische Paralyse. Da
bei der letzteren Form nach Anwendung
des Mittels Anfälle aufgetreten seien, solle
man sie von der Behandlung ausschließen.
Tabo-Paralysen dagegen können erheblich
gebessert werden. Ataxien gehen zurück,
Patellar- und Pupillarreflcxe können wieder¬
kehren. Sehr günstig beeinflußt wird die
Hirnsyphilis, besonders auffallend sei die
Besserung der Sprachstörung. Da nicht
alle Fälle von Tabes- und Hirnsyphilis
einen positiven Wassermann geben, emp¬
fiehlt Alt zunächst die Injektion einer so¬
genannten Reizdosis (0,05—0,1), wodurch
oft ein positiver Wassermann erzeugt wird.
Herr Hoppe (Uchtspringe): Von den
drei Injektionsmethoden wirkt die saure
Lösung im Tierexperiment toxischer, zeigt
aber keine bessere spezifische Wirkung.
Die neutrale Suspension macht geringere
Beschwerden, führt aber zur Bildung eines
Depots, von dem aus unkontrollierbare
Mengen in den Blutkreislauf gelangen. Die
alkalische Lösung ist schmerzhafter; die
Schmerzhaftigkeit kann aber herabgesetzt
werden durch Zusatz von Olivenöl zur
alkalischen Emulsion. Die idealste Injek¬
tion ist die intravenöse, da sich hier keine
Depots bilden können. Bei intravenöser
Injektion ist das Arsen in 3—4 Tagen aus
dem Blut geschwunden; der Stoffwechsel
wird durch die Injektion wenig beeinflußt.
Herr Schreiber (Magdeburg) spricht
ebenfalls für die intravenöse Injektion, die
er in über 600 Fällen ausgeführt hat. Auf¬
treten von Urtikaria 8—10 Tage nach der
Injektion beweist, daß die Ausscheidung
des Arsens auch bei intravenöser Injektion
nicht immer schnell vor sich gehe. Tem¬
peratursteigerung, häufig kombiniert mit
der Herxheimerschen Reaktion, faßt
Schreiber nicht als Nebenerscheinung,
sondern als Reaktionserscheinung auf.
Ebenso seien die vorübergehenden Seh¬
störungen als spezifische Reaktionserschei¬
nungen aufzufassen. Reaktionsprozesse
können, wenn sie an lebenswichtigen Or¬
ganen sitzen (Gehirn, Herz), eventuell ver¬
hängnisvoll werden, man soll daher in
Fällen, wo solche zu erwarten sind, kleine
Dosen (0 1) anwenden und später zu größe¬
ren übergehen. Schreiber hat bisher bei
intravenöser Injektion keine „Versager"
beobachtet und nur einmal ein Rezidiv
bekommen. Die intravenöse Injektion ist
überall da angezeigt, wo es auf rasche Wir¬
kung ankommt.
Herr O. Rosenthal (Berlin): Es ist
bereits von einer Seite das Wort „Kunst-
fehler“ geprägt worden, es ist aber wohl
eher ein Kunstfehler, schon heute einen der¬
artigen Ausdruck zu gebrauchen. Aber auch
andere Schlagwörter, wie „Assanierung der
Prostitution“ usw., wären besser unterblieben.
Die Wirkung des Mittels beruht darauf,
daß man mit 0,5 der Substanz das 50 fache
der Maximaldosis der arsenigen Säure in
den Körper einführen kann. Am besten
beeinflußt werden die ulzerösen Prozesse,
besonders der Schleimhaut, in zweiter Linie
die Roseola und drittens die Primäraffekte.
Es ist sicher, daß bei Lues maligna, bei
ulzerösen Prozessen usw. auf der Haut
wunderbar schnelle Heilung zustande kommt.
Man darf aber nicht vergessen, daß man
ähnlich gute Wirkungen auch bei Queck¬
silberbehandlung erreichen kann. Rosen -
thal spricht seine Verwunderung über die
große Zahl der jetzt auftretenden Hg*refrak¬
tären Fälle aus. Wenn man die Wasser¬
mann sehe Reaktion in Betracht zieht, so
dürfe man von einer Heilung nur dann
sprechen, wenn diese ständig negativ bleibt.
Rosenthal hat sowohl bei subkutaner als
bei intramuskulärer Injektion mit 0,5—0,65
keine Nekrosen und Abszesse gesehen,
wohl aber Infiltrationen in verschiedener
Stärke. In letzter Zeit verwendete Rosen¬
thal als Suspensionsmittel wasserfreies
Vasenol (Köpp), das leichter resorbiert
wird als Paraffin. Das Medikament 606 ist
zwar, wie Rosenthal sagt, unbedingt eine
Bereicherung der Syphilistherapie, aber
nicht über unser bisheriges Syphilismittel,
das Quecksilber, zu stellen. Ob eine Kom¬
bination der beiden Mittel von Nutzen sein
werde, müsse die Zukunft lehren.
Sitzungsbericht vom 22. November.
Herr Bruhns (Berlin) berichtet über die
von ihm an 97 Fällen gemachten Erfahrungen.
Die Wirkungen auf die vorhandenen Er¬
scheinungen waren im allgemeinen gute.
Bei tertiären Fällen öfters etwas schneller,
als es sonst bei Quecksilber und Jod der
Fall ist, bei Primäraffekten und Sekundär¬
symptomen im Durchschnitt ebenso schnell.
Wohl gingen gewisse Erscheinungen, zum
Beispiel Plaques im Munde sehr schnell
zurück, dagegen andere wieder langsamer
als bei Quecksilbertherapie, so besonders
die Psoriasis specifica.
Die Methode der Anwendung war die
intramuskuläre. Am besten vertragen wurde
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Die Therapie der Gegenwart 1910.
relativ die Oelemulsion. Brüh ns sah
7 Rezidive bei Patienten, die im ersten Jahre
nach der Inftktion standen, und zwei bei
Kranken, bei denen die Ansteckung zirka
2 Jahre her war. Bei Beurteilung der
Rezidive muß immer berücksichtigt werden,
in welchem Stadium seiner Syphilis sich
der Patient befindet, und man darf nicht
vergessen, daß gerade nach der ersten
Quecksilberkur die Rezidive außerordent¬
lich rasch einzutreten pflegen. Brüh ns
stellt folgende vorläufige Indikationen für
die Verwendung von 606, wenn es dem¬
nächst allgemein freigegeben werden soll,
auf: Da es in vielen Fällen nicht gelungen
ist, mit 606 allein die Syphilis dauernd ab¬
zutöten, kommt es neben dem Quecksilber
in Betracht und kann uns hier wahrschein¬
lich wertvolle Dienste leisten. Das neue
EhrlichscheMittelwirdinBetracht kommen,
besonders in tertiären Fällen, ferner bei der
geringen Zahl von Kranken, deren Erschei¬
nungen sich refraktär gegen Qaeckstlber
verhalten, namentlich scheint sich auch die
Kombination von 606 und der Q lecksilber-
behandlung überall dort zu empfehlen, wo
wir mit besonders energischer Therapie
Vorgehen wollen, also bei frischen durch
Spirochätenbefund sichergestellten Primär-
affekten und vor allem bei tertiären und
inneren Erkrankungen. Durch die Kombi¬
nation der beiden Behandlungsmethoden
kommen wir vielleicht unserm Ziel, eine
Dauerheilung zu erreichen, einen Schritt
näher.
Blaschko hat bei allen 3 Formen der
Anwendung Abszesse beobachtet; intravenös
wendet er es nicht an. Er schränkt das
Indikationsgebiet ein. Er will diejenigen
Fälle mit 606 behandeln, in denen Hg nicht
vertragen wird und in denen trotz Hg
häufig Rezidive Vorkommen. Er hält es
nicht für richtig, das Mittel für eine so¬
genannte interkurrente Kur anzuwenden,
wo z. B. nur positiver Wassermann bei
sonstigem negativen objektiven Befund vor¬
liegt. Ira Interesse der Wissenschaft möchte
er vorläufig Hata nicht kombiniert mit Hg
angewendet sehen, um zunächst noch Ge¬
naueres über die Wirkung von 606 zu
sammeln.
Besonders rät er davon ab, Hata bei
den nervösen syphilitischen Erkrankungen
zu verwenden.
Herr Heller hält die Zeit der Aufstel¬
lung von Theorien für noch nicht gekom¬
men. Er berichtet über 48 nach der Me¬
thode Wechselmann behandelte Fälle.
In letzter Zeit wurde nach Ar gäbe
Hoppes alkalische Lösung unter Zufüh¬
rung von Lezithinöl intramuskulär injiziert;
auch bei diesem Modus wurden starke In¬
filtrate gesehen. Schädliche Nebenwirkun¬
gen wurden nicht festgestellt Einmal
wurde ein dem Erythema multiforme grave
Lewins entsprechendes und mit Störung
des Allgemeinbefindens Erythem kons a-
tiert. Gegen 606 refraktär war kein Fall.
Heller hat Erfolge gesehen, die er jeden¬
falls bei der bisherigen Therapie nie beob¬
achtet hat. Ein seit 6 Wochen bestehen¬
des Zungengeschwür heilte in 24 Stunden;
seit I 1 /* Jihr vorhandene Konvolute von
hypenrophischon Papeln der Zunge waren
nach 72 Stunden verschwunden. Ein
schwerer Ikterus wich nach 3 Tagen, der
vorher tiefgrüne Harn wurde völlig normal.
Dreimal wurden Rezidive festgestellt. In
allen Fällen heilten die Rezidive trotz ihres
relativ schweren Charakters bei spezifischer
Behandlung auffallend schnell. Heller
tritt in der Würdigung von Ehrlich 606
völlig der Ansicht Bruhns bei, betont
auch die Häufigkeit der Rezidive bei der
Hg-Behandlung und warnt, auf die recht
problematische prognostische Bedeutung der
Wassermann sehen Reaktion hin die Be¬
urteilung der therapeutischen Wirksamkeit
eines Mittelszu beweisen. Schließlich erwähnt
er noch einen Fall von kleinapfelgroßem
Angiosarkom der Zunge, das durch eine
Hata-Injektion von 0,55 fast völlig ge¬
schwunden ist.
Herr Citron. Die erste Frage, die ge¬
stellt werden muß, ist die, ob das Präparat
606 überhaupt wirksam ist. Diese Frage
muß unbedingt bejaht werden. Syphilitische
Erscheinungen jeder Art können durch 606
zum Verschwinden gebracht werden, da¬
gegen müssen die ersten Angaben über
die Heilung von Paralysen stärkstem Mi߬
trauen begegnen. Bei der Behandlung von
Tabes dorsalis gelingt es, bei frischen
Fällen einige Symptome zum Verschwinden
zu bringen. Bei Herzsyphilis, Aorteninsuf¬
fizienz und Aneurysma sind wesentliche
klinische Besserungen nicht erfolgt.
Ein wichtiges Anwendungsgebiet ist die
Lues asymptomatica activa, worunter
Citron die vorwiegend bei den Angehöri¬
gen von Luetikern sich findende Form der
Lues versteht, die keinerlei Manifestationen
macht und sich nur durch die positive
Wassermannreaktion offenbart. Es ge¬
lingt fast stets, diese Fälle leicht durch
606 zu einer negativen Reaktion zu brin¬
gen. Natürlich darf man sich mit diesem
Erfolge nicht begnügen, sondern muß weiter
beobachten, um bei Wiederansteigen der
Reaktion erneut spezifisch zu behandeln.
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Die Therapie der Gegenwart 1910.
Dezember
Hier hat 606 den großen Vorzug, daß
die sich selbst für gesund haltenden Luetiker
sich leicht entschließen, sich einige Injek¬
tionen machen zu lassen, dagegen sehr oft
nicht zu einer systematischen Hg-Kur zu be¬
wegen sind. Bezüglich der Indikation schließt
sich Citron ßlaschko an. Als Kontra¬
indikation möchte er schwere Lebersyphilis
und Ikterus gravis ansehen. Es sei durch
die Arbeiten Ehrlichs zweifellos dargetan,
daß prinzipiell im Tierversuch eine Therapia
sterilisans magna möglich ist. Erwiesen ist,
daß sie bei Menschen in den meisten Fällen
sich noch nicht hat erreichen lassen. Die
Kritik sei notwendig und berechtigt, aber
sie darf sich nicht gegen Ehrlich richten,
dessen Versuche unwiderleglich dastehen,
sondern sie müsse sich gegen den Über¬
eifer einiger klinischer Autoren wenden,
denen Ehrlich das Mittel an vertraute, um
sich von ihnen objektiv überden klinischen
Effekt berichten zu lassen. Hier sei gefehlt
worden und dadurch das Mittel zu Unrecht
vielfach in M ßkredit geraten.
Herr M. Friedländer erwähnt im Gegen¬
satz zu den anderen Rednern nur Fälle, in
denen Hata ausgezeichnet gewirkt hat und
meint, daß die Rezidive bei Hg 100% (!) be¬
tragen. Im übrigen empfiehlt er als Injek-
tion&methode der Zukunft wöchentliche In¬
jektionen ä 0,1.
Herr W. Friedländer: Die Lues- |
erscheinungen aller Stadien werden prompt
beeinflußt, aber nur bis zu einem gewissen
Grade, dann hört die Rückbildung, be¬
sonders der vergrößerten Lymphdrüsen,
| auf, bei tertiären Prozessen, sowohl ulze¬
rösen wie serpiginösen und geschlossenen
Gummiknoten scheint 606 die verblüffend¬
sten Erfolge zu haben. Friedländer hat
in mehreren hierher gehörigen Fällen,
welche auf Hg und Jod zum Teil monate¬
lang nicht reagierten, nach einer einzigen
Dose von 0 5 promptes Verschwinden ge-
! sehen. Von Einzelerscheinungen Ver¬
schwinden von nächtlichen Kopfschmerzen
nach 24 Stunden und Rückgang der von
Ehr mann beschriebenen syphilitischen Ge¬
fäßzeichnungen.
Bei Metasyphilis, beginnender Tabes und
auch bei „Wetterleuchten der Paralyse*
(Alt) sah er erhebliche subjektive, aber
keinerlei objektive Erfolge.
Friedländer glaubt, daß in der Ab¬
kürzung der Behandlungszeit und in dem
Fehlen der dem Hg und Jod eigentümlichen
Nebenwirkungen, welche für den Patienten
subjektiv unerwünscht sind, und in der
glücklichen Kombination von spezifischen
und analeptischen Wirkungen die Zukunft
des Ehrlichschen Mittels liegt.
Für die Technik empfiehlt Fried¬
länder besonders die Verteilung der
Suspension durch langsame Drehung der
Kanüle unter der Haut. Die etwa trotz
der Verteilung noch resistierenden Infiltrate
| hat Fried länder durch Thiosinamin be¬
ziehungsweise Fibrolysin-Injektion prompt
verschwinden sehen.
' M. Held (Berlin).
Ehrlichs Syphilis-Heil mittel im Verein für innere Medizin.
(Sitzung vom 28.
Nachdem Lewin aus der medizinischen !
Abteilung des Urbankrankenhauses einen 1
Fall von Osteomalazie, Heller einen durch
„606“ günstig beeinflußten Fall von Angio-
sarkom der Zunge, das allerdings nicht
histologisch beglaubigt war, vorgestellt
hatten, erstattete Michaelis ein Referat
über das Ehrlich-Hatasche Heilmittel in
der inneren Medizin. i
Das Arsobenzol ist ein doppelter Benzol- '
ring in dem 2 H-Atome durch As ersetzt sind.
Im Gegensatz zum fünfwertigen Atoxyl ist j
es dreiwertig und vereinigt in sich Säuren- j
und Basennatur. In seinen Salzen, also
auch in dem zu therapeutischer Verwen¬
dung gelangenden Chlorhydrat, ist es gut
löslich. Zur Verabreichung gelangt es in
alkalischer Lösung oder als neutrale Auf¬
schwemmung mit Wasser, Paraffin oder
Oelen, ersteres bei intravenöser und intra¬
muskulärer, letzteres bei intramuskulärer
November 1910)
und subkutaner Beibringung. Wenn die
oberflächlichen Hautschichten vermieden
werden, kommen auch bei subkutaner In¬
jektion keine Hautnekrosen vor. Im Ge¬
samtblut des Menschen ist 0.5 des Präpa¬
rats löslich. Die intravenöse Darreichung
erfordert eine Verdünnung mit 150 bis
200 ccm Flüssigkeit; sie hat sich auch dem
Vortragenden in 35 Fällen als gefahrlos
erwiesen. Sie verursacht zudem keinerlei
Schmerzen, doch während zweier Tage
Temperaturen bis 38° und darüber, sowie
nicht selten Schüttelfröste, d»e aber nach
Schreiber bei wiederholten Injektionen
fortfallen sollen, Uebelkeit, Erbrechen und
! dergl. Die intramuskuläre Beibringung ist
mit großen Schmerzen verbunden, die ge-
I wöhnlich drei Tage anhalten und nach
I kurzer Pause als Nachschmerz mit Ausbil¬
dung eines Infiltrats nochmals auf einige
Tage wiederkehren können. Aehnlich sind
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Die Therapie der Gegenwart 1910. 565
die Folgeerscheinungen der subkutanen
Verabreichung, bei der bloß der eigent¬
liche Injektionsschmerz wegfallt. Als nicht
unerheblich reizloser dürfen die Suspen¬
sionen mit Paraffin und nach neuerer
Empfehlung mit Sesamöl gelten. Ein Vor¬
zug der intravenösen Beibringung ist die
rasche, völlige und gleichmäßige Resorp¬
tion, der schnelle Ausscheidung — in 3 bis
4 Tagen — gegenübersteht. Intramusku¬
läre Depots lassen noch nach 6 Wochen
Arsenspuren im Muskel nach weisen; zudem
geht die Resorption aus ihnen ungleich¬
mäßig vor sich. Das Präparat wird ohne
wesentliche schädliche Nebenwirkungen
vertragen; jedenfalls scheint Idiosynkrasie
dagegen fast seltener als gegen Hg zu
sein. Amaurosen sind nie, Pulabeschleuni
gung und Ikterus gelegentlich nach sub¬
kutaner Injektion wässeriger Aufschwem¬
mungen beobachtet worden, wobei es sich
jedoch um die Wirkung eines wohl bei
Anwesenheit von Leukozyten entstehenden,
giftigen Oxydationsproduktes von „606"
handeln dürfte. Schwere Stoffwechsel und
Zirkulationsstörungen bilden Kontraindika¬
tionen, wohl auch akute Nephritiden, nicht
aber chronische und vollends nicht lueti¬
sche Augenerkrankungen. Im großen
ganzen läßt sich sagen, daß, wen man
nicht zu chloroformieren wage, auch zur
Behandlung mit dem Ehrlichschen Mittel
ungeeignet sei. Manche Erfahrungen, so
von Finger, sprechen dafür, daß die nach
„606“ häußger als die nach Hg auftreten
den Rezidive das Augen- und Grenzgebiet
vor allem in Form nervöser Erkrankungen
zu befallen scheinen. Das Präparat ent¬
faltet eine rasche Wirksamkeit gegen alle
echt syphilitischen Produkte; freilich gibt
es auch refraktäre Fälle. Immerhin wird
wenigstens ebenso oft wie durch Hg-
Behandlung der positive Wassermann in
einen negativen verwandelt, tritt aber ge¬
wöhnlich nach einiger Zeit wieder auf.
Eine zweite Injektion beeinflußt ihn dann
meist ebenso günstig und bisweilen mit
größerer Nachhaltigkeit. Unter den Fällen
des ersten Erkrankungsjahres, die Vortra¬
gender 3—7 Monate beobachten konnte,
ibt in 24 % der Wassermann negativ ge¬
worden und geblieben, in 29% ein Rezi¬
div aufgetreten. Der Behandlung mit „606“
sollen vorzugsweise Patienten unterworfen
werden, die gegen Hg resistent sind oder
eine Idiosynkrasie dagegen haben. Für
die Mehrzahl der Fälle laßt sich noch keine
Norm aufstellen. Sicher ist, daß eine
Sterilisierung mit Hilfe der jetzigen Me¬
thodik nicht zuverlässig zu erreichen ist;
möglicherweise haben Dauerformen der
Spirochäte Schuld daran, die nach Analogie
der mangelnden Wirkung des Chinins auf
die Halbmonde der Malaria vom Arso-
benzol nicht angegriffen werden. Am
meisten zu befürworten ist eine intermit¬
tierende Behandlung, die intravenös durch¬
zuführen wäre. Schreiber hat immerhin
aus einer großen Reihe so behandelter
Falle nur ein Rezidiv gesehen. Auch die
Kombinationsbehandlung Neißers („606“
und Hg) verspricht Erfolg.
Im eigentlichen Bereich der inneren
Medizin sind voi zugsweise die echt syphili¬
tischen Erkrankungen, sofern sie nach Ver¬
nichtung der Erreger noch rückbildbar
sind, Gegenstand der Behandlung mit dem
Ehrlichschen Heilmittel. Hg und Jod
sind in solchen Fällen ja auch von vor¬
trefflicher Wirkung, doch bleiben immer
noch viele, wo sie versagen. Oft erweist
sich dann „606“ noch von Nutzen, vor
allem dort, wo, wie etwa bei Gummen der
Trachea, rascheste Hilfe nottut. Bleibende
Veränderungen, z. B. Rektalstenosen oder
Aneurysmen, sind natürlich ungeeignet;
bei letzteren scheint, wenn es sich um
gerade entstehende Formen handelt, ein
Versuch immerhin angezeigt. Die gum¬
möse Hirnlues reagiert überraschend schnell
auf Verabreichung des Präparats: schon
vom 2. oder 3. Tag an gehen gewöhnlich
alle Symptome stetig zurück. So hat Vor¬
tragender fünf Stauungspapillen zum
Schwinden gebracht, nur eine weitere in
der Besserung infolge einer interkurrenten
Erkrankung verloren. Obwohl niemals un¬
angenehme Reizerscheinungen zu beob¬
achten sind, geht man vorsichtigerweise
doch am besten mit einer ersten kleineren
und nach 6—8 Wochen einer zweiten
größeren Dosis vor. In einem Falle von
Ponslues, der aut d^r Grundlage von Bi߬
verletzungen durch Kaumuskelkrämpfe eine
schwere Stomatitis zeigte und also (ür Hg
nicht in Frage kam, wurde mit „606“ Hei¬
lung erzielt. Luetische Hemiplegien wer¬
den durch Ehrlichs Mittel nicht günstiger
als durch Hg beeinflußt. In der Therapie
der Tabes dorsalis hat „606“ etwa die
gleiche Indikation und den gleichen Erfolg
wie Hg. bloß lanzinierende Schmerzen und
Ataxie werden nach kurzer, anfänglicher
Steigerung der parästhetischen Phänomene
oft auffällig gebessert Freilich tritt nach
einigen Wochen wieder Verschlimmerung
ein. Utber Wirkung wiederholter Injek¬
tionen liegen noch keine ausreichenden Er¬
fahrungen vor. Ebensowenig läßt sich be¬
züglich der progressiven Paralyse ein auch
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Die Therapie der Gegenwart 1910.
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nur vorläufig abschließendes Urteil fallen, geringer sind. Jedenfalls sollte Hg und
Jedenfalls sollte auch hier angesichts der Jod neben „606“ nicht vernachlässigt wer-
nicht seltenen Unmöglichkeit einer siche* den. Die Tabes wird in einem Bruchteil
ren Abgrenzung gegen Hirnlues eine inter- der Fälle bezüglich einzelner Symptome,
mittierende Behandlung mit „606“ versucht auch des Mal perforant, und des Allge-
werden. meinbt findens nicht unerheblich gebessert,
Gegen Typhus recurrens ist das Präparat nie aber als solche geheilt. Einem so be-
ein zuverlässiges Spezifikum. Gegen Malaria merkenswerten Ei folge wie Wiederkehr der
tertiana leistet es ähnliches wie Chinin, bereits zu Verlust gegangenen Pupillen-
gegen Lymphosarkom und Leukämie nichts, lichtreaktion stehen andererseits auch un-
In der Diskussion kommt einstweilen kennbare Schädigungen gegenüber. Die
nur Oppenheim zum Wort, der seine Entscheidung über die Verwendung des
Erfahrungen in einem, wie ausdrücklich be- Mittels sollte nach Darlegung der Chancen
tont wird, bloß vorläufigen Resümee zu dem tabischen Patienten selbst überlassen
sammenfaßt. Bei echt luetischen Erkran- bleiben. Bei Paralyse rechtfertigt die Hoff-
kungen des Zentralnervensystems ist von nungslosigkeit der Sachlage allenfalls einen
„606“ nicht mehr als von Hg zu erwarten, Versuch, die bisherige Erfahrung kaum
am ehesten noch bei gummösen, während irgendwelche Erwartungen,
bei endarteriitischen die Aussichten weit Meidner (Berlin).
Referate.
Clairmont und v. Haberer berichten i selbstverständlich nach Tunlichkeit zu
über Anurie nach Gallensteinopera- ! vermeiden.
tionen und resümieren ihre teils klinischen, | Eugen Jacobsohn (Charlottenburg),
teils experimentellen Erfahrungen in fol ( Mitt - a * d - Grenzgeb. Bd. 22, H. 1.)
genden Sätzen: 1. Es gibt Fälle von Einen Schritt vorwärts auf dem Wege,
. schwerer Gallensteinkrankheit mit Chole* eine Narkose ohne Inhalation von Medi-
dochusverschluß, bezw. Narbenstenose der- kamenten durchzuführen, bedeutet die
selben, bei denen im Anschluß an die Ope intravenöse Aethernarkose, wie sie von
ration bedenkliche Oligurie, bezw. letale Burckhardt ausgeprobt und empfohlen
Anurie auftritt. 2. Diese schwere Schädi* wurde. Küttner hat sie in 23 Fällen nach-
gung der Harnsekretion ist auf eine paren- geprüft, aber wieder aufgegeben, weil er
chymatöse Degeneration der Nieren zurück- einmal wegen eines erbsengroßen Throm-
zuführen, welche, vorbereitet durch die bus an der Infusionsstelle unterbrechen
Schädigung des Leberparenchyms, durch mußte und einmal eine bedrohliche Lungen¬
ein der Niere zugemutetes Plus (Operation
und Narkose) ausgelöst wird. 3. Die voll¬
ständige Anurie ist begleitet von einem
Versiegen der Gallensekretion, bedingt
durch ein gleichzeitiges Sistieren der Leber¬
funktion. 4. Das Auftreten der Störung
der Nierenfunktion läßt sich nicht auf ein
einzelnes Moment, wie z. B. langdauernden
Ikterus allein zurückführen, sondern ist
entschieden durch eine Summe von, aus
der Schwere der Krankheit resultierenden,
Momenten bedingt. 5. Besonders zu be
tonen ist, daß in solchen Fällen jedwedes
Symptom von seiten der Niere fehlt. 6. Es
ist daher im einzelnen Fall von seiten des
Chirurgen eine bestimmte Prognose nicht
zu verlangen. 7. Man kann sich gegen
solche Zufälle nur schützen, wenn die
Gallensteinkranken vor Eintritt einer
schweien Leberschädigung operiert werden.
8. Spezifische Schädigungen der paren¬
chymatösen Organe, wie sie größere
operative Eingriffe, langdauernde Nar
kosen, Anämie mit sich bringen, sind
embolie danach sah. Besser sind die Er¬
fahrungen, die Kümmell an 40 Fällen
machte und die Schmitz-Peiffer mitteilt.
Die Kranken standen im 22.—74. Jahr. Es
handelte sich um große Operationen an
Bauch und Beckenorganen, Hals, Schädel,
Extremitäten. Alle Kranken erhielten eine
Stunde vor der Operation Scopolamin
0,0005 und Morphin 0 005, was zur Erzie¬
lung einer guten Narkose sehr wesentlich
erscheint, Dabei fiel das Exzitationsstadium
ganz weg, das bei alleiniger Darreichung
von Morphin in leichtem Grade auftrat.
Es wird unter Lokalanästhesie eine Vene,
gewöhnlich die Vena mediana cubiti frei¬
gelegt und hier die Infusionsnadel einge-
tührt. Das Narcoticum besteht in einer
5 %igen Aethermischung in physiologischer
Kochsalzlösung. Um nun die Thromben¬
bildung durch Unterbrechung des Infusions¬
stroms nicht zu begünstigen, ließ man
durch ein Y-förmiges Glasrohr Kochsalz¬
lösung einflitßen, wenn die Aethermischung
wegen genügender Narkose ausgeschaltet
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Dezember
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Die Therapie der Gegenwart 1910.
wurde. Das Stadium der Toleranz tritt
nach 10—15 Minuten ein; bis dahin wurden
200 —300 ccm der Mischung, also 10—15 g
Aether verbraucht Läßt man zuviel Aether
zufließen, so kann man Zyanose und
Asphyxie erleben. Atmung und Puls waren
stets gleichmäßig gut, die Narkose ruhig,
üble Zufälle traten nicht auf. Die längste
Narkose dauerte 140 Minuten und erfor¬
derte 1700 ccm Mischung = 85 g Aether;
bei einer Operation eines Schädelbasis¬
tumors wurden in 105 Minuten 900 ccm
«= 45 g Aether verbraucht. Die Kranken
lobten die Narkose sehr. Kopfschmerz,
Erbrechen oder sonstige üble Nachwirkun¬
gen kamen nicht vor. Komplikationen von
Seiten des Herzens oder der Lunge oder
Nieren wurden nicht beobachtet. Das
Blut zeigte auch während der Narkose
weder mikroskopisch noch spektroskopisch
eine Veränderung. Der eingeführte Aether
verläßt wohl durch die Lungen sehr schnell
wieder den Körper. Dreimal war die In¬
fusionsstelle mehrere Tage verdickt und
schmerzhaft. Von den 40 Fällen sind 15
an ihrer Krankheit gestorben, von denen
11 seziert wurden: Lungen, Herz und
Nieren waren gesund, aber stets fand sich
an der Infusionssttlle ein Thrombus, der
nach der geschilderten Art der ununter¬
brochenen Infusion nur klein war, nach
unterbrochener Infusion aber viel stärker.
Sie waren aber nicht stärker als nach der
Infusion von Digalen- oder Adrenalin- oder
anderen medikamentösen Zusätzen zur
Kochsalzlösung. Jedenfalls sind die Ver¬
suche „in geeigneten Fällen 11 fortzusetzen.
Klink.
(v.Brun8 Beitr. z. klin. Chir. 1910, Bd.69, Heft 3.)
Der Säuglings- und der Kinderarzt
werden für ihre Praxis eine wichtige Lehre
aus der Arbeit von Dr. Usuki aus Japan
ziehen, die die Fettverdauung im Magen
und Dünndarm und ihre Beein¬
flussung durch Lezithin behandelt.
Bekanntlich ist ja die Frage noch immer
strittig, ob man Eigelb zu den schwer oder
leicht verdaulichen Nahrungsstoßen rechnen
soll? Der eine erfahrene Praktiker befür¬
wortet es ebenso warm für Säuglinge gegen
Ende des ersten Jahres, wie es andere
energisch ablehnen. Und wenn man sieht,
wie magen- und darmgesunde Säuglinge
von 8, 10 oder 12 Monaten Ei prompt er¬
brechen oder mit schweren Darmstörungen
auf Einahrung reagieren, Milch aber an¬
standslos vertragen, wird man sich wohl
eher auf die Seite der Eigelbgegner schla¬
gen. Zu unserem Staunen verläuft aber
nach den ganz exakten Feststellungen von
Usuki die Fettverdauung nach Fütterung
von Milch — wenigstens beim Hunde —
viel langsamer als nach Fütterung von Le¬
zithinmilch oder Eigelbmilch. Während in
den Tierversuchen von der aufgenomme¬
nen reinen Milch nach 6 Stunden erst die
Hälfte aus dem Magen verschwunden war,
wurde dieselbe Leistung bei lezithinhaltiger
Milch schon in 4 Stunden bewältigt. Die
Gegenwart des Lezithins und des Eigelbs
wirkt offenbar begünstigend auf die Ver¬
seifung und Emul&ionierung des Neutral-
fettes. Unsere Pädiater werden jedenfalls
nicht umhin können, ihre Erfahrungen über
die Bekömmlichkeit von Eigelb neuerlich
einer Revision zu unterziehen und die
Frage nochmals experimentell beim Säug¬
ling und im zartesten Kindesalter anzu¬
gehen, zumal die besprochene Arbeit aus
der Breslauer Kinderklinik stammt.
K. Reicher.
(Archiv f. experim. Pathol. u. Pharmak. 1910,
Bd. 63, S. 270.)
Um bei Frakturen mit stärkerer Ver¬
kürzung die Zug Wirkung der einfachen Längs¬
extension zu erhöhen, empfiehlt Wildt die
Unterbrechung der Längszüge durch Ein¬
schaltung von Gummizügen. Diese sollen
in Höhe der Fraktur liegen, sie werden
am besten auf die nicht bestrichene Seite
des Pflasters aufgelegt und durch Zwirn¬
naht befestigt. Bei Anlegung der zirku¬
lären Touren ist darauf zu achten, daß sie
in Höhe der Frakturstelle nicht überein¬
ander, sondern nebeneinander zu liegen
kommen; die Einklemmung der Haut ist
nicht zu fürchten, da diese bei der nach¬
folgenden Streckung stark gedehnt wird.
Nach Anlegung der zirkulären Touren wird
das Sr geltuchpflaster durchtrennt. Durch
die durch Einfügung der Gummizüge er¬
höhte Zugkraft gelingt es leicht, die Ver¬
kürzung auszugleichen, auch bei Brüchen,
die schon leicht konsolidiert sind; häufig
erlebt man sogar eine Ueberdehnung, die
man nicht zu sehr übertreiben soll, damit
es nicht zur Weichteilinterposition kommt.
Ueberdehnung von 1 cm genügt in den
meisten Fällen, es muß deshalb die Dehn¬
barkeit des Gummibandes das Maß der
Verkürzung plus 1 cm betragen. Auch eine
zu lange Ueberdehnung ist nicht angezeigt,
da die Frakturen locker bleiben; es genügt,
die unterbrochene Strecke solange liegen
zu lassen, bis bei Wegfall des Zuges für
einen halben Tag sich keine Neigung zur
Verkürzung mehr bemerkbar macht. Die
seitlichen Verschiebungen der Bruchenden
lassen sich ebenfalls durch den durch
Gummizug unterbrochenen Streckverband
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Die Therapie der Gegenwart 1910.
Dezember
gut beeinflussen; wird nur auf einer Seite
der Heftpflasterstreifen unterbrochen, so
ist die Dehnung hier größer als auf der
anderen Seite; man kann die Wirkung
auch abstufen, indem man eine Seite mehr
nachgiebiger macht als die andere. Der
unterbrochene Streckverband kann auch
in Anwendung kommen bei komplizierten
Frakturen; der durch Abhängen der Ge¬
wichte entspannte Gummizug läßt sich so¬
weit abheben, daß das Unterschieben von
Verbandstoffen ganz gut möglich ist
Hohmeier (Altona).
(Deutsche Ztschr. f. Chir. Bd. 107, H. 1—3.)
Trotz der reichen Erfahrungen, die wir
bei den verschiedensten Krankheiten Ober
die Jodwirkung besitzen, wissen wir nicht,
woraut sie in letzter Linie beruht. Von
den uns zur Verfügung stehenden mannig¬
faltigen Jodpräparaten sind wir daher auch
— abgesehen von subjektiven Faktoren —
nur imstande, über die sie charakterisie¬
renden Resorption sVerhältnisse etwas aus¬
zusagen.
So wird das Jodkalium nach Bröking
schnell und fast vollständig im Dünndarm
resorbiert, und 80% der aufgenommenen
Menge sind nach zirka 60 Stunden mit dem
Urin wieder eliminiert. 75% etwa sind
schon in den ersten 12 Stunden im Urin
nachweisbar, ln den Fäzes ist es nur in
Spuren aufzufinden.
Bei dem Jodival, dem a-Monojod4so-
valerianylharnstoff wird kaum Jod durch
die Magen-Darmverdauung abgespalten.
Die Ausscheidungsverhältnisse sind unge¬
fähr dieselben wie beim Jodkalium; die
Ausscheidung dauert nur etwas länger.
Mit dtn Fäzes gehen zirka 2% verloien.
In den jodierten Pflanzeneiweißver¬
bindungen, den Jodglidinen, ist das Jod
teilweise nur locker gebunden. Die Ein¬
wirkung des Tageslichtes, stärker noch der
Magen Darmsaft, spaltet es ziemlich ab.
Im übrigen verhält es sich nicht wesentlich
anders, wie die vorher erwähnten Präpa¬
rate. 3—4% des aufgenommenen , Jods
werden mit den Fäzes ausgeschieden.
Weitgehende Verschiedenheiten gegen¬
über diesen Präparaten zeigen die Jod
fettsäureverbindungen Jo dipin und Sa-
jodm. Die Ausscheidungsdauer ist sehr
lang. Beim Sajodin ist Jod nach Aufnahme
von 3 g noch nach 15 Tagen im Urin
nachweisbar. Die Jodabspaltung ist eine
sehr gleichmäß ge. Die Quantität des mit
dem Urine ausgeschiedenen Jodes beträgt
beim Jodipin zirka 55—70%. beim Sajodin
35—50% der aufgenommenen Dosis. Bei
der Darreichung der Tabletten gehen
durchschnittlich 7—10 %• mit den Fäzes
verloren. Rahel Hirsch (Berlin).
(Ztschr. f. exp. Path. u. Ther., Bd. VIII, H. 1, Sp. 1 25 .)
UeberTuberkulinbehandlungdei Nieren-
tuberkulose äußert sich Widboiz auf
Giu id eigener Eifahrungen sehr zurück¬
haltend *) Vor allem darf sie bloß bei ganz
initialen Fällen angewendet werden, bei
doppelseitigen eher als bei einseitigen, da
jene ja doch der aussichtsreicheren, blutigen
Therapie nicht zugänglich sind. Um mit
der Nephrektomie konkurrieren zu können,
muß die Tuberkulinkurmethode Heilung,
nicht nur Besserung gewährleisten. Aber
selbst bei Konstatierung bloßer Besserun¬
gen durch Tuberkulinbehandlung muß Vor¬
sicht obwalten, wenn man die Neigung
der Nierentuberkulose zu längerem Still¬
stand, wie sie Verfasser an drei unspezi-
fisch behandelten Fällen demonstriert, be¬
rücksichtigt. Heilung vollends hat er von
Tuberkulininjektionskuren nach Koch, De-
nys und Beraneck nie beobachtet, wohl
betiächtliche Hebung des Allgemeinbefin¬
dens mit Körpergewichtszunahme, jedoch
stets nur vorübergehende Beseitigung der
Lokalbeschwerden und an keiner von fünf
nach längerem Tuberkulingebrauch histo¬
logisch untersuchten Nieren hinreichend
extensive Vernarbungsprozesse, um von
Heilungstendenz reden zu können.
Meidner (Berlin).
(Bcrl. klin. Woch. 1910, Nr. 26)
Das von Sahli in die Therapie einge¬
führte und neuerdings in dieser Zeitschrift
auch von Zinn empfohlene P&ntopon hat
C. A. Ewald einer klinischen Prüfung
unterzogen. Ewald bestätigt, daß Panto-
pon wie Opium respektive Morphium wirkt,
doch treten weniger Nebenerscheinungen
a if. Subkutan gegeben stopft es nicht,
innerlich wirkt es in kleinen Dosen auf
nüchternen Magen gegeben antidiarrhoisch,
selbst bei Durchfällen auf tuberkulöser Basis.
Bei subkutaner Injektion wirkt es viel
rascher als per os; Reizungserscheinungen
an der Einstichstclle wurden nicht beob¬
achtet. In je einem Fall von tabischen
Analkrisen und von Lungentumor, in denen
Morphium versagt hatte, wirkte Pantopon
prompt. Ferner wirkte es gut in einem
Fall von Diabetes insipidus. in welchem
die Urinmenge von etwa 9000 ccm bei
einer Medikation von 2 Tabletten Pantopon
täglich in 15 Tagen aut 3500 ccm zurück¬
ging, während sich die subjektiven Be¬
sch werdr n verloren. Pantopon ist dem Opium
und Morphium in manchen Fällen überlegen.
Sein hoh^r Preis — 12 Ampullen k 0 02
Vergl. die Arbeit von K0mme 11 S. 540.
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569
Die Therapie der Gegenwart 1910.
Pantopon kosten 4 M., die gleiche Dosis
Morphium 1.50 M. — steht seiner Einfüh¬
rung in die Praxis im Wege. Ernst Mayer.
(Berl. klin. Woch. Nr. 35.)
Ueber den Ersatz der sogenannten in¬
differenten Thermalbäder durch Inhala¬
tion ihrer Radiumemanation bei rheu¬
matischen Krankheiten macht Prof.
Päßler (Dresden) beachtenswerte Mit¬
teilungen 1 ). Nachdem Versuche, die er mit
der Emanationstherapie in Dresden an¬
stellte, im großen und ganzen keinen Er¬
folg ergeben hatten (vergl. Gör ne r, Münch,
med. Woch. 1910, Nr. 27), prüfte Verf., ob
nicht mittels Inhalation der den natürlichen
Heilquellen direkt entnommenen gasigen
Produkte bessere therapeutische Resultate
zu erzielen sind, als durch die Inhalation
von künstlich gewonnener Radiumemana¬
tion. Die Prüfung wurde in Teplitz i. B.
durchgeführt. In der Nähe des im Teplitzer
Stadtbadehaus gelegenen Quellschachtes
wurde eine Kammer eingebaut, deren Raum
inhalt zirka 5,75 cbm betrug, die also ge¬
nügend groß war, um einen oder selbst
zwei Menschen eine Stunde lang ohne be¬
sondere Ventilationsvorrichtung aufzu¬
nehmen. Die Wände wurden mit einem
luftdichten Harzanstrich versehen. Aus
dem Hauptquellrohr führte eine direkte
Nebenleitung in die Kammer und gestattete,
die Wände dauernd mit Thermalwasser zu
berieseln. Dabei mußte ein großer Teil
der in dem Thei malwasser enthaltenen
Emanation in die Kammerluft übertreten,
die Kammer stellte also ein Inhalatorium
für die Quellemanation dar. Messungen
ergaben, daß während anhaltender Be¬
rieselung und bei geschlossener Tür ein
Emanationsgehalt von 5,1 Macheeinheiten
in 1 1 Luft der Kammer vorhanden war.
Die Temperatur der Kammer stieg bei
längerer Inbetriebsetzung bis auf 35° C.—
die Temperatur der Teplitzer Stadtquelle
beträgt an ihrem Ursprung 48° C — die
Luft war mit Wasserdampf gesättigt.
Die Patienten, die dem Einfluß der
„Emanationskammer" ausgesetzt wurden,
— durchgehends Fälle von schwerer chro¬
nische r Po ly arthritis und Ischias, deren
Zustand schon längere Zeit stabil und durch
die vorausgegangene, oft monatelange Be¬
handlung nicht oder kaum beeinflußt war
— verblieben täglich zweimal 1 / 3 — 3 / 4
Stunden in der Kammer; jeder andere
therapeutische Eingriff wurde prinzipiell
ausgeschlossen, nur leichte passive Be¬
wegungen in einigen Fällen ausgeführt.
l ) Vergl. die Arbeit von Gudzent an der Spitze
dieses Heftes.
Von physiologischen Wirkungen
des Kammeraufenthaltes verzeichnet*;
Päßler bei längerem Aufenthalt im Inha¬
lationsraum, entsprechend der hohen Tem¬
peratur der Kammer, eine Steigerung der
Körpertemperatur, meist um 0,8—1,0°, selten
nur um 0,2—0,4°, gelegentlich bis 1,2° C.
Eine analoge Steigerung wies auch die
Pulsfrequenz auf, meist um 12—28 Schläge,
ohne daß dabei unangenehme Empfindungen
von Herzklopfen oder Oppressionsgefühl
auftraten. Wie bei den Thermalbädern
bestand auch bei der Inhalationskur eine
starke Neigung zum Schwitzen. Nach den
ersten Sitzungen wurde wiederholt über
Mattigkeit geklagt; bald jedoch trat Ge¬
wöhnung ein und die Patienten fühlten sich
bei der Fortsetzung der Kur durchaus
frisch. Der Appetit war bei allen Kranken
dauernd gut, die meisten nahmen während
der Kur erheblich an Gewicht zu. Der
Schlaf, der beim Gebrauch der stärkeren
radioaktiven Bäder häufig gestört ist, war
im allgemeinen gut; manchmal wurde er
durch eine Steigerung der Krankheitser¬
scheinungen beeinträchtigt, einigemal jedoch
war er auch ohne andere erkennbare Ur¬
sachen als den Aufenthalt in der Inhala¬
tionskammer zeitweise unruhig.
Die therapeutische Wirkung der In¬
halationskur war in allen Fällen eine
ganz unverkennbar günstige. Von
7 Kranken mit chronischer Polyarthritis
waren 6 bei der Entlassung völlig frei von
rheumatüchenSchmerzen und Schwellungen,
der 7. Kranke wurde wesentlich gebessert;
3 Ischiasfälle wurden geheilt entlassen. Bei
den Rheumatikern nahmen die Schmerzen
im Anfang der Kur ausnahmslos zu, die
„Reaktionen", die oft mit frischer Rötung
und Zunahme der Schwellungen verbunden
waren, dauerten meist nur einen oder
wenige Tage. Bei dem schwersten der
behandelten Fälle traten während der ersten
Kurwoche nach jeder Inhalation mehrere
Stunden anhaltende, sehr heftige Schmerzen
auf. In einem Falle zwangen die Schmerzen
zum vorübergehenden Aussetzen der Kur,
in einem anderen mußte man sich mit täg¬
lich einmaliger Inhalation begnügen, bis die
Reaktion vorüber war. Die Besserung er¬
folgte meist rasch, gewöhnlich in unmittel¬
barem Anschluß an die Reaktionen. Im
ganzen brachten die ersten Wochen fast
stets rasche Fortschritte, während sich nach
dieser Zeit noch vorhandene Resterschei¬
nungen zunehmend langsamer besserten.
Die sekundären Gelenkveränderungen (An¬
kylosen, Deformationen) wurden nicht weiter
beeinflußt, auch wenn die Kur nach Schwin-
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Die Therapie der Gegenwart 1910.
Dezember
den aller Schwellungen und Schmerzen
noch längere Zeit fortgesetzt wurde. Drei
Patienten, die bis zum Beginn der Kur
dauernd gefiebert hatten, verloren das
Fieber in 8, 10 und 17 Tagen vollständig,
ohne daß ein höherer Anstieg vorauf¬
gegangen war. Die Kurdauer betrug bei
den Patienten mit Rheumatismus 44—116
Tage, im Durchschnitt 69 Tage, wobei zu
bedenken ist, daß es sich um ganz chro¬
nische, schwere Fälle handelte und daß die
Behandlung zu Versuchszwecken absicht¬
lich lange ausgedehnt und in der Regel
nach dem Verschwinden der Schmerzen
und Schwellungen noch 2—4 Wochen fort¬
gesetzt wurde. Die 3 Ischiasfälle wurden
in 11, 36 und 67 Tagen geheilt; nur bei
einem waren vor Beginn der Besserung
die Schmerzen 2 Tage lang deutlich ge¬
steigert.
Nach diesen Versuchsergebnissen hält
Päßler es für zweifellos, daß die be¬
kannte Heilwirkung der radioaktiven
Bäder auf Ischias und rheumatische
Affektionen auch ohne den Gebrauch
der Bäder selbst durch eine bloße
Inhalation der Quellgase erzielt
werden kann. Wieweit bei den erzielten
Erfolgen die in der Kammer herrschende
höhere Temperatur beteiligt ist, soll an
„kalten Kammern" von gewöhnlicher
Zimmertemperatur oder nur ganz leicht
erhöhter Temperatur erprobt werden. Daß
die Erfolge der Inhalationskur nicht etwa
bloße Wirkung der Wärmetherapie sind,
ist ganz sicher, da die Kranken vorher
lange Zeit ohne Erfolg mit verschiedenen
Wärrm Prozeduren behandelt waren. Ob
die Heilwirkung der Inhalationskur der¬
jenigen einer Badekur im gleichen Quell¬
ort überlegen ist, will Päßler noch nicht
entscheiden; aber stlbst wenn sie nur die
gleiche wäre, läge ein unverkennbarer Vor¬
zug der Inhalationskur darin, daß dieselbe
eine täglich mehrmalige längere Anwendung
erlaubt, ohne den Patienten anzustrengen.
Auch solchen Patienten, deren Schwer¬
beweglichkeit den Gebrauch der Badekur
ausschließt, ist die Benutzung der Emana¬
tionskammern zugänglich. Dieser Vorteil
der Inhalationskur dürfte mit einer Herab
Setzung der Kammertemperatur noch stärker
hervortreten, da selbst schwere Herzaffek¬
tionen dann keine Kontraindikation gegen
die Kur mehr bilden würden
Felix Klemperer.
(MQnch. med Woch. 1910, Nr. 35.)
Die Röntgen - Diagnostik chirur¬
gischer Magenkrankheiten bespricht
ein Aufsatz von Finckh aus der Bruns-
schen Klinik. Der Magen wird mit der
Ried ersehen Mahlzeit gefüllt ; in neuerer
Zeit wurde statt Bismutum subnitricum
Bismutum carbonicum verwandt. Auch
das Zirkonoxyd (Kontrastin), das billig und
ganz ungiftig ist, gibt bei Darreichung von
70 g gute Bilder, steht aber dem Wismut
etwas nach. Aufnahmen von l /io—1 bis
2 Sekunden Dauer sind für alle Fälle aus¬
reichend; sie sind mit einem guten Instru¬
mentarium, besonders bei Verwendung von
Films zwischen Verstärkungsschirmen, leicht
zu erreichen. Auch der neue Verstärkungs¬
schirm „Sinegran“ gibt gute Bilder. Viele
Bilder können durch Verstärkung mit Uran-
nitrat verbessert werden. Zur Diagnose
der Magenerkrankungen reicht meist eine
einmalige Durchleuchtung mit folgender
Aufnahme aus; nur zur Darstellung des
Sanduhrmagens und Ulcus ventriculi, sowie
bei Motilitätsprüfungen wird in angemes¬
senen Zeitabständen die Aufnahme wieder¬
holt. Zur Ersparung kostspieliger Appa¬
rate wird die Aufnahme vielfach im Stehen
odef Sitzen gemacht. Dabei rücken auch
Tumoren tiefer, der Magen entfaltet sich
besser, die wichtige Pars pylorica füllt sich
mehr. Seitliche Aufnahmen sind zu ent¬
behren. — Für das in der Regio pylorica
sitzende Ulkus gibt es kein röntgenologi¬
sches Charakteristikum, das es mit Sicher¬
heit vom Karzinom unterscheiden läßt.
Wenn ein solches Ulkus lange besteht,
zur Stenose und Magenerweiterung führt,
so kann die Schleifenform des Organs ein
guter diagnostischer Fingerzeig sein, aber
er schließt ein Karzinom auf dem Boden
eines Ulkus nicht aus. Perigastritische
Prozesse erschweren die Diagnose noch
mehr. Für die Lokalisation des Ulkus hat
der Nachweis von Wismutresten eine ge¬
wisse Bedeutung; auch die Störungen der
Motilität kommen differentialdiagnostisch
gegen Karzinom nicht in Betracht. Bei
den Ulkusfällen sind von röntgenologischem
Interesse die meist die Gegend der kleinen
Kurvatur einnehmenden Einziehungen, ent¬
sprechend der Prädilektionsstelle der
Ulzera, seltener wurden solche am Pylorus
und Magenausgang zur Darstellung ge¬
bracht. Bei Ulkus soll im Stehen und
Liegen untersucht werden. Die Schleifen -
form des Magens hat sich, auch bei jahr¬
zehntelang bestehender Stenose, nur ver¬
einzelt gefunden. Für die Diagnose von
einschnürenden Adhäsionen und Sanduhr¬
magen leisten die übrigen Untersuchungs¬
methoden nur Unsicheres und Zweifel¬
haftes, die Durchleuchtung liefert die Dia¬
gnose spielend und mit einer Klarheit, daß
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Die Therapie der Gegenwart 1910.
571
oft die Art und Ausdehnung der Opera¬
tion danach bestimmt werden kann. Schirm¬
untersuchung oder photographische Auf¬
nahme sind hierzu gleich gut. Durch An¬
regung der Peristaltik (Massage) kann man
sich schnell darüber unterrichten, ob es
sich um mangelhafte Entfaltung des Magens
oder ein Hindernis handelt. Das Gemein¬
same der vielgestaltigen Bilder ist eine
Einengung des Magenlumens oder ein
völliges Absetzen des Schattens, der bei
längerer Beobachtung einen trichter- oder
bandförmigen Fortsatz erhält; auch beim
Umhergehen füllen sich die einzelnen
Magenabschnitte sehr gut. Eine funktionell
vorkomraende Einengung ist die Kontrak¬
tion des Sphincter pylori. — Von Magen¬
karzinomen wurden 90 Fälle untersucht.
An der Kardia und am Pylorus saß das
Karzinom nur 2 mal. An der Stelle des
Tumors findet sich durch das Fehlen des
Wismutbreis eine Schattenaussparung. Für
Pyloruskarzinom ist neben dem Fehlen
eines ausgesprochenen Autrum pyloricum
die halbmondförmige, häufig gezackte Ab¬
setzung des Wismutsehattens sehr charak¬
teristisch. Bei vorgeschrittenem Karzinom
erhält man die bizarrsten Bilder. Eine
stärkere Einziehung an der kleinen Kur¬
vatur ist oft das einzige Anzeichen für
Karzinom der kleinen Kurvatur oder der
hinteren Magenwand. Die Tumor bilden¬
den Karzinome bieten für die radikale
Operation bessere Aussichten, als diejeni¬
gen, bei denen kein Tumor zu fühlen ist.
Die Karzinome der kleinen Kurvatur, der
Hinterwand, der großen Kurvatur hinter
dem Rippenbogen und des ganz unzugäng¬
lichen Fundus sind die Domäne der Rönt¬
gendiagnose. Ist ein Tumor nicht fühlbar,
so muß man sich meist mit der sicheren
Röntgendiagnose Karzinom begnügen, ohne
Schlüsse auf die Operabilität ziehen zu
können. Die Durchleuchtung ist das
sicherste und leistungsfähigste Verfahren
zur Frühdiagnose des Magenkarzinoms; es
steht nicht im Gegensatz zur Probelaparo¬
tomie, sondern veranlaßt dieselbe oft.
Klink.
(v. Bruns Beitr. z. klin. Chir. 1910, Bd. 68, Heft 1.)
Bei der Bekämpfung des Typhus ab¬
dominalis ist das Erkennen und U nscnädlich-
machen der Dauerausscheider von Typhus¬
bazillen von größter Wichtigkeit. Während
bisher fast nur auf die Dauerausscheidung
der Bazillen im Kot Wert gelegt wurde,
machte L. Pick in einem Vortrag im Ver¬
ein für innere Medizin und Kinderheilkunde
in Berlin auf die Dauerausscheidung der
Bazillen im Urin aufmerksam. Während
der Typhuserkrankung findet man häufig
infolge einer spezifischen Erkrankung der
Nieren und harnleitenden Wege im Urin
Typhusbazillen, die meist nach überstande¬
ner Krankheit daraus verschwinden. Es gibt
aber Fälle, in denen sich noch lange nach
überstandenem Typhus Bazillen im Urin
finden; meist handelt es sich um eine
Zystitis oder Pyelitis typhosa, welche unter
geeigneter interner oder chirurgischer Be¬
handlung, letzteres bei Vorhandensein von
Steinen, ausheilt. In anderen Fällen, bei
denen es in der Rekonvaleszenz oder noch
später, wenn Blut und Stuhl frei von
Typhusbazillen gefunden werden, zum Auf¬
treten von solchen im Urin kommt, nimmt
Pick an, daß die Typhuserreger sich in
bestimmten appendikulären Apparaten der
Harnwege festgesetzt haben, von wo aus
sie immer wieder in den Urin nach¬
geschoben werden können. Die Infektion
der Appendizes der eigentlichen Harnwege
geschieht durch den Urin, während die
akzessorischen Genitaldrüsen, wie Samen¬
bläschen und Prostata auf dem Blutweg
infiziert werden. In 2 Fällen fand Pick eine
nur durch Typhusbazillen bedingte eitrige
Spermatozystitis und Prostatitis. Es ist
denkbar, daß bei im übrigen gesunden
Männern das Sperma mit Typhusbadlien
infiziert wird und infolgedessen eine Ueber-
tragung des Typhus beim Koitus in den
Bereich der Möglichkeit gezogen wird. —
Therapeutisch wurde die Dauerbakteriurie
von Urotropin und Hetralin nicht beein¬
flußt, dagegen erfolgte in einem Falle Hei¬
lung unter Borovertin, das offenbar auf
den Gesamtorganismus ein wirkte.
Ernst Mayer (Berlin).
Die Klärung der Pathogenese der
Wurmfortsatzentzfindangr auf Grund ex¬
perimenteller und baktenoiogischer Unter¬
suchungen ist durch Heile (Wiesbaden)
in bemerkenswerter Weise gefördert wor¬
den. Die Experimente wurden am Hunde¬
blinddarm ausgeführt. Der blinde Anhang
desselben gleicht makroskopisch und mikro¬
skopisch durchaus dem Wurmfortsatz des
Menschen; auch können sich an ihm ähnlich
verlaufende Entzündungen abspielen, wie
am menschlichen Wurmfortsatz. Es mußte
daher von Wert sein, Entzündungen am
Blinddarmanharg des Hundes künstlich aus¬
zulösen. Verfasser ging nun in der Weise
vor, daß er den Appendix durch einen
Seidenfaden ligierte (mit Schonung der Me¬
senterialgefäße). Dabei kam es zu lokalen
Schädigungen, welche das Befinden des
Versuchstieres nur vorübergehend beein¬
flußten. Der Seidenfaden löste sich also
72*
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572
Die Therapie der Gegenwart 1910.
Dezember
bald und die Kontinuität des Schleimhaut¬
rohres stellte sich wieder her. Wurden
in das peripher abgeschnürte Ende größere
Mengen von Bakterien, z. B. Streptokokken,
hineingebracht, so erkrankten diese Hunde
zwar schwerer als die nicht künstlich in¬
fizierten, aber auch sie erholten sich nach
einigen Tagen und zeigten, wenn sie nach
8—14 Tagen getötet wurden, an Ort und
Stelle ebenso geringe Veränderungen, wie
die Hunde, deren Blinddarm nur mecha¬
nisch verletzt war. Auf diese Weise konnte
gezeigt werden, daß vorübergehende Ab¬
schnürung des Blinddarmanhangs wohl zu
leichteren lokalen Entzündungen führte,
aber nie schwere destruierende Vorgänge
auszulösen imstande war. Um nun den
vorübergehenden Verschluß mittels der Li¬
gatur zu einem länger anhaltenden zu ge¬
stalten, spritzte Heile peripher von dem
Seidenfaden durch die Darmwand flüssiges
Paraffin ein. Dieser Fremdkörper schädigt
die Darmwandungen nicht, hält aber doch
mechanisch den Verschluß des Schleim¬
hautrohres aufrecht. — Wenn nun diese
Maßnahmen in einem Blinddarmanhang ge¬
macht werden, der frei ist von kotigem In¬
halt, so führen die lokalen Schädigungen
wohl zu umschriebenen Entzündungen,
kleinen Wandeiterungen, Hydrops respek¬
tive Empyem, die Tiere sterben aber nie
infolge dieses Eingriffes. Damit war also
bewiesen, daß auch dauernder, absoluter
Verschluß von Blinddarmteilen beim Hunde
ohne allgemeine Gefährdung des Gesund¬
heitszustandes des Tieres und ohne schwe¬
rere lokale Zerstörung überstanden wird
dann, wenn der abgeschnürte Blinddarm¬
teil frei ist von normalem Kotinhalt. An¬
ders aber gestaltet sich das Bild, wenn in
dem künstlich abgeschlossenen Teil nor¬
male Kotreste in mehr oder minder großen
Mengen mit abgeschnürt sind. In diesen
Fällen kommt es zu richtigen Nekrosen
der Wandung mit schwerster sequestieren
der Eiterung, zu allgemeiner Infektion der
umgebenden Bauchhöhle, zu diffuser, jauchig
putrider Peritonitis, an der die Hunde
unter dem klinischen Bilde schwerer all¬
gemeiner Vergiftung zugrunde gehen.
— Destruierende Wurmfortsatzentzündung
kann im Experiment nur dann hervor¬
gerufen werden, wenn außer den Bakterien
auch Kotreste zurückgehalten werden; es
muß zur Eiweißfäulnis kommen können.
Bakterien allein, auch in den größten Massen,
erzeugen nie destruierende Zerstörungen.
Eugen Jacobsohn (Charlottenburg).
(Mitt. a. d. Gr. Bd. 22, Heit 1.)
E. Jürgensen (Bad Kissingen) macht
auf die durch Zwerchfellhoch Stand her¬
vorgerufenen Kreislautötöi ungen aufmerk¬
sam. Bei einer Reihe von korpulenten
Herren mit Ueberdehnung des Magens und
Kolons durch Gasbildung stellte er Kreis¬
laufstörungen fest, welche ziemlich starke
subjektive Beschwerden machten. Die
Atmung war bei diesen Patienten ober¬
flächlich; tiefere Atmung war mit erheb¬
licher Anstrengung verbunden. Das Zwerch¬
fell stand hoch. Das Herz war besonders
nach links verbreitert, der erste Ton an
der Spitze war dumpf und unrein,
selten fand sich ein leises systolisches
Hauchen über der Spitze und Aorta. Der
zweite Aortenton war meist klingend und
akzentuiert. Die Herzaktion war frequent,
manchmal irregulär, der Puls klein und
schlecht gefüllt. Besonders auffallend war
der hohe Blutdruck. — Auch experimentell
war Jürgensen imstande, den gleichen
Symptomenkomplex durch Aufblähung des
Magens bei geeigneten Personen hervorzu¬
rufen. — Unter hygienisch-diätetischer Be¬
handlung und systematischen Atemübungen
verbunden mit leichtem Steigen schwanden
ziemlich rasch die subjektiven Beschwerden
und nachweisbaren Krankheitserschei¬
nungen. Ernst Mayer.
(Arch. f. Verdauungskrankh. Bd. 16, H. 4, 1910.)
Therapeutischer Meinungsaustausch.
Airolvaseline auf frischen Wunden.
Von Dr. Karl Gerson-
Seit Einführung des Airols haben wir
es besonders in Salbenform auf infizierten,
eiternden Wunden angewandt. Die Beob¬
achtung, daß 5 %ige Airolvaseline eiternde
Wunden schnell reinigte und zur Verhei 1
lung brachte, ermutigte uns, sie auch auf
frischen Wunden zu versuchen. I
Man ist bei Anwendung des Airols in
5°/ 0 iger Salbenform auch sicher vor I
Wismutintoxikationen, wie sie durch Auf¬
streuen reinen Airolpulvers auf Ulcera
'Schlachtensee b. Berlin.
mollia und durch eine 10%ige Emulsion
von Aemmer 1 ) und Goldfarb 2 ) beobach¬
tet wurden.
In etwa 500 Fällen eiternder sowohl
als frischer Wunden haben wir durch An¬
wendung von 5°/oiger Airolvaseline nie
eine Intoxikation erlebt. Die frischen mit
Airolvaseline behandelten Wunden waren
') Korrespondenzbl. f. Schweizer Ärzte 1897,
Nr. 16 .
2 ) Mon. f. prakt. Dermat. 1897, Bd. 25, Nr. 5.
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Dezember
Die Therapie der Gegenwart 1910.
durch unreine Gegenstände, Wagenräder,
Pferdehufe, Beile, Küchen u. Taschenmesser
und Nägel verursacht. Auf eine ausgiebige
Desinfektion dieser Wunden wurde in
jedem Falle verzichtet; sie wurden nur
einige Male mit einem in Seifenspiritus
getränkten Wattebausch betupft, ihre Um¬
gebung aber mit Seifenspiritus gründlich
gereinigt. Dann Auflegen eines mit
5°/ 0 iger Airolvaseline reichlich be¬
strichenen Verbandmulls oder Watte¬
bausches. Letzterem wird wegen seiner
größeren Weichheit der Vorzug gegeben.
Beim Ausbleiben von Infektionserscheinun¬
gen (Fieber, Wundschmerz, Schwellung),
läßt man den Salbenverband zwei Tage
liegen, nimmt ihn dann ab, säubert Wunde
und Umgebung mit Benzin und legt einen
neuen Salbenverband an, der je nach Aus¬
dehnung und Tiefe der Wunde noch mehr
oder minder oft gewechselt werden muß.
Bei solchen meist infizierten frischen Ver¬
wundungen durch unreine Gegenstände
wurde fast stets eine schnelle Heilung
sogar per primam erzielt.
Frisch inzidierte und mit der Saug¬
glocke behandelte Furunkel wurden reich¬
lich mit 5 %iger Airolvaseline bedeckt, die
meist auch eine Infektion der umgebenden
Haut verhinderte.
Weniger gut waren die Erfolge der
5%igen Airolvaseline bei Ulcus cruris;
hier regte ein Kampferzusatz, Camphor.
trit. 0 5, Airol 2 5, Vasel. flav. ad. 50.0, die
Granulationsbildung kräftig an.
Besonders gute Erfolge aber hatten wir
mit der 5°/ 0 igen Airolvaseline bei frischen
Operationswunden. Hier bietet die
Salbe nennenswerte Vorteile gegenüber
dem üblichen Verfahren, denn 5 °/ 0 ige
Airolvaseline auf die frische Wunde ge¬
strichen, lindert den Wundschmerz erheb¬
lich, was zumal bei größeren Operations¬
wunden, z. B. Laparotomien, den Patienten
sehr wohltuend ist. Zugleich wird eine
Verklebung der Wunde mit dem Verband¬
material durch die Salbe vermieden. Klei¬
nere Bewegungen des Operierten, wie sie
bei der Defäkation, dem Umbetten, Hoch¬
heben, beim Husten unvermeidlich sind,
werden an der Operationswunde weniger
schmerzhaft empfunden. Fast schmerzfrei
vor allem aber gestaltet sich durch den
Salbenverband der so gefürchtete Ver¬
bandwechsel, der durch Aufreißen der
festen Verklebung der Wunde und Ver¬
bandstoffe dem Kranken sehr empfindlich
ist. Die Salbe verhindert durch Aufsaugen
des Wundsekrets dessen Eindringen in
den Verbandstoff, sodaß eine Verklebung
573
nicht staufinden kann. Klebt beim Ver¬
bandwechsel doch irgendwo der Verband¬
stoff an der Wunde an, so war die Salbe
zu dünn aufgestrichen.
Auch das Ein- und Ausführen von
Gumraidrains, die mit dem Wundkanal oft
verkleben, wird durch vorheriges Einfetten
der Drains mit Salbe leichter und schmerz¬
loser. In unserer Zeit, die so viel Wert
auf Schmerzfreiheit während der Opera¬
tion legt, muß man auch zur Linderung
der Schmerzen nach der Operation alle
Mittel in Anwendung ziehen. Dazu er-
| scheint aber nach unseren Erfahrungen
, reichliches Bestreichen der Wunde mit
| 5°/oiger Airolvaseline gleich nach Beendi-
| gung der Operation ein sehr brauchbares
Mittel.
Käme es nur darauf an, durch den
Salbenverband eine Verklebung der Wunde
mit dem Verbandstoff und die damit ver¬
bundenen Nachteile zu vermeiden, so ge¬
nügte dazu auch wohl jede andere Salbe,
sogar nur einfache Vaseline. Aber der
Airolgehalt gibt der Salbe roch eine anti¬
bakterielle Wirkung. Wie diese Salbe bei
eiternden Wunden die Infektion zum Still¬
stand und Rückgang bringt, so verhütet
sie bei Operationswunden direkt eine In¬
fektion. Diese Wirkung kommt einesteils
dem Jodgehalt des Airols zu, aus dem
sich bei Berührung mit dem Wundsekret
freies Jod abspaltet. Andernteils besitzt
auch das im Airol enthaltene Wismut
antiseptische Eigenschaften, die so¬
wohl auf der Abgabe von Halogen, als
auch auf der Labilität des vom Wismut
ausgehenden, eine fortgesetzte Aktion be¬
dingenden Sauerstoffs beruht. Indes
möchten wir der Airolsalbe eine direkt
bakterizide Kraft nicht zuschreiben, viel¬
mehr annehmen, daß die Bakterien in der
Salbe gebunden und so in ihrer Weiter¬
entwicklung gelähmt werden. Bakteriolo¬
gische Versuche nach dieser Richtung
stehen noch aus. Tatsache ist jedenfalls,
daß in hunderten von Fällen bei eiternden
Wunden eine schnelle Reinigung, bei infi¬
zierten frischen und Operationswunden
nach Anwendung von 5°/ 0 iger Airolvase¬
line fast stets glatte Heilung erfolgte.
Die Vorteile der 5°/ 0 igen Airolvaseline
auf frischen Wunden gegenüber den üb¬
lichen Verfahren bestehen also in:
1. Linderung des Wundschmerzes in¬
folge der
2. Hinderung von Verklebungen, daher
3. Schmerzfreiheit beim Verbandwechsel,.
4. Vermeidung von Wundinfektion und
| schnellere Heilung.
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574
Die Therapie der Gegenwart 1910.
Dezember
Aus der Prof. v. Bardelebenschen Poliklinik für Frauenkrankheiten.
Praktische Methode zur Hyperämieerzeugung.
Von Dr. M. Rosman und Dr. T. Kuttner, Assistenten der Klinik.
Den Wert der Behandlung entzündlicher |
Zustande mittels Hyperämie hat Bier !
unwiderleglich bewiesen. Sie ist zwar
schon längst in verschiedenen Arten, wie
durch Umschläge, Vesikantien, Bäder usw.
auf empirischem Wege erzeugt worden,
aber es blieb Bier das Verdienst, seine
empirischen Beobachtungen auf wissen¬
schaftlicher Basis zu begründen. Die Wich¬
tigkeit der hyperämischen Vorgänge in
Entzündungsprozessen deutet Bier in fol-
genden Worten an: „Es gibt keinen ein- |
zigen Krankheitsherd, welchen der Körper
selbst zu beseitigen oder unschädlich zu
machen sucht und vermag, der Anämie
erzeugt, er ist stets von Hyperämie durch¬
setzt oder umgeben.“
Hyperämie kann durch mechanische
(Saugapparate, Gummibinden), thermische
und medikamentöse Prozeduren hervorge¬
rufen werden. Die ersteren ergeben eine
passive Hyperämie, auf die wir hier nicht
näher eingehen wollen, letztere erzeugen
aktive Hyperämie, das heißt also eine Er¬
weiterung der Gefäße, infolgedessen einen
lebhafteren, lokalen Blut- und Lymphstrom.
— „Diesen lebhaften Blutstrom wünschen
wir in erster Linie, denn er ist bei den
meisten Krankheiten nach meiner Ansicht
das eigentliche Heilmittel.“ (Bier.)
Die Wirkung der arteriellen Hyperämie
ist eine bessere Ernährung des Gewebes,
Steigerung des lokalen Stoffwechsels, mit¬
hin also eine Vergrößerung des zellulären
Abbaues, wie aber auch eine Verstärkung
der regenerativen Funktionen.
Für den praktischen Arzt beteht aber nun
die Frage: „Wie kann man bequem diese ge¬
wünschte arterielle Hyperämie hervorrufen?“
Einerseits erfordert die Behandlung
kostspielige Apparate oder Einrichtungen,
Heißluftapparate, Moor- und Fangobäder
usw.; einfacher andererseits und bequemer
auszuführen sind die Vesikantien und Um¬
schläge verschiedener Art. Letztere sind
allerdings mehr oder weniger mit Nach¬
teilen verbunden. Die einfachen warmen
Umschläge müssen oft gewechselt werden,
werden technisch nicht immer richtig aus¬
geführt und stören dadurch dem Patienten
die Ruhe, die bei Entzündungszuständen
so erwünscht ist; oder es wird dem Um¬
schlag die ursprüngliche Temperatur da¬
durch erhalten, daß Gummischlauchkom¬
pressen in den Umschlag eingeschoben
werden, durch welche entsprechend tempe¬
riertes Wasser konstant fließt. Moor- und
Fangoumschläge sind etwas kostspielig,
nicht überall zu erhalten und wirken auch
hautreizend (Reindl). Dabei darf man
Moorbäder oder -Umschläge nicht länger
als 20—30 Minuten, Fango höchstens
45 Minuten anwenden. Auch bedarf nach¬
her die Haut einer Reinigung.
Die medikamentöse Behandlung lassen
wir hier außer acht, da sie sehr hautreizend
beziehungsweise pustelbildend und nur vor¬
übergehend wirkt.
Vor längerer Zeit haben wir durch ein
Referat von Prof. Rabow 1 ) ein Präparat
kennen gelennt, das uns an Moor und
Fango erinnert, aber die Nachteile dieser
beiden nicht besitzt, dagegen viel kräftiger
wirkt und sich bedeutend bequemer an-
anwenden läßt als diese. Dasselbe' wird
unter dem Namen „Antiphiogistine“ her¬
gestellt und zwar aui folgende Weise:
Fein pulverisiertes Aluminiumsilicat wird
durch hohe Temperatur wasserfrei gemacht,
mit Glyzerin zur Konsistenz einer Paste
unter Zutaten von kleinen Mengen Bor-
und Salizylsäure nebst Spuren von Jod
und ätherischen Oelen verrieben« (Euka¬
lyptus, Gaultheria, Menth. Piperit.) Diese
graue homogene Paste wird in den Ori¬
ginalbüchsen in heißem Wasser erwärmt,
wobei jede Berührung mit Wasser ver¬
mieden werden muß, da die Paste hydro¬
phil ist und bleiben soll. Nachdem die
Paste durch Umrühren gleichmäßig er¬
wärmt ist, wird sie etwa kleinfingerdick
auf die betreffende Stelle gestrichen, darauf
eine dünne Lage Watte und, wenn nötig,
ein Befestigungsverband; der Umschlag
bleibt zirka 12—24 Stunden liegen, dann
ist seine Wirkung erschöpft und er kann
jetzt mit Leichtigkeit, ohne zu kleben, ent¬
fernt werden: jedoch kann dieses auch zu
jeder Zeit mittels Wasser geschehen.
Wir haben dieses Präparat experimen¬
tell und praktisch erprobt. Wie schon
früher Joseph und Schliep in ihren ex¬
perimentellen Untersuchungen über „Der
Gewebsstrom unter der Stauungshyper¬
ämie“ 2 ) haben wir Kongorot ebenfalls in
Kaninchenohren eingespritzt. Wir bedien¬
ten uns einer Aufschwemmung in physio¬
logischer Kochsalzlösung von 1 :50 Kongo-
J ) Prof. Dr. Rabow, Therapeut. Monatsh., Fe¬
bruar 1908.
a ) Deutsche med. Wschr. 1908, Nr. 17.
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Dezember
575
Die Therapie der Gegenwart 1910.
rot. In den öfters wiederholten Versuchen
haben wir in jedes Ohr des Kaninchens
0,2 ccm der Lösung eingespritzt und dann
nur das rechte Ohr mit Antiphiogistine
behandelt. Nach 24 Stunden wurden die
Kaninchen getötet und durch die bekannte
Blaufärbung mittels HCl das Kongorot
nachgewiesen.
Deutlich ist zu sehen, daß das Kongo¬
depot auf dem behandelten Ohr heller und
schwächer ist, als auf dem unbehandelten;
in einigen Fällen war es allerdings etwas
mehr verbreitet, aber ebenfalls dünner. Da
das Kongo in Bindegewebe eingespritzt
wurde, so konnten die Kongokörnchen ent¬
weder durch den Lymphstrom, phagozy¬
tären Zellen oder durch beide Faktoren
entfernt werden. Also glauben wir, daß
eine Beschleunigung der Resorption statt¬
gefunden haben muß, wie auch Klapp in
einer früheren Arbeit gezeigt hat, daß die
aktive Hyperämie solches verursacht. Daß
dieselben Prozesse mit den injizierten
Mikroorganismen ebenso gut wie mit Farb¬
stoffen sich abspielen, geht aus den
Arbeiten von Wyssoko witsch 1 ) und
Schwarz 2 ; hervor. „Kieselstaub und
Kohlenstaub passieren die Lymphbahnen
der Lunge und in den Bronchialdrüsen
genau so, wie die Tuberkelbazillen.“
Auf praktischem Wege haben wir „ Anti-
phlogistine“ in zahlreichen Fällen ange¬
wandt, wo wir aktive Hyperämie wünsch¬
ten, da, wie bewiesen, der warme Dauer¬
umschlag von Antiphiogistine eine Durch¬
flutung der behandelten Körperteile mit
einem schnellfließenden arteriellen Blut er¬
zeugt. Die oberflächliche Hyperämie dringt
auch in die Tiefe und beeinflußt auch
Hyperämie der Eingeweide, wie aus den
Arbeiten von Klapp 1 ) und Kowalski 3 )
hervorgeht.
Wir haben es in chirurgischen und all¬
gemein medizinischen, jedoch hauptsäch¬
lich in gynäkologischen Fällen angewandt.
Von unseren Erfahrungen können wir
erwähnen, daß die Exsudate im weiblichen
Becken, welche man als Para und Peri¬
metritis bezeichnet, sehr günstig beeinflußt
werden und infolgedessen schnell ver¬
schwinden, auch häufig, wo das elektrische
Lichtbad im Stich ließ. Auffallend ist im
Anfang schon die merkwürdige schmerz¬
stillende Wirkung des Umschlags.
Bei unseren vielfachen und vielseitigen
Anwendungen haben wir gefunden, daß
wir das Präparat empfehlen dürfen und
zwar infolge seiner aktiv Hyperämie er¬
zeugenden Wirkung, seiner sauberen, be¬
quemen, einfachen Anwendung (es läßt
sich gleichwohl an allen Körperteilen, z.B.
an den großen Labien, Analgegend usw.
ohne Unterschied und ohne jede Schwierig¬
keit auftragen), und wegen der außer¬
ordentlich beruhigenden, schmerzstillenden
Wirkung. Der Verband bleibt 12 bis
24 Stunden liegen, je nach der Dicke der
Pastelage, und verschafft dadurch dem Pa¬
tienten physische nnd psychische Ruhe,
ferner reizt er die Haut absolut nicht. Die
hygroskopische Kraft des Antiphiogistine
ist sehr groß. Aus diesem Grunde haben
wir dasselbe auch als Tampon angewandt.
Die Pasta kann Tage und Wochen die
Hyperämie fortsetzen, ohne die Haut zu
makerieren. Niemals haben wir Ekzeme
oder Pustelbildung beobachtet. Weiter ist
zu bemerken, daß die Pasta kein Fett ent¬
hält, die Wäsche nicht verunreinigt und
die Haut nicht beschmutzt.
Aus Goldscheiders Antrittsrede.
Der Nachfolger Senators hat bei der Uebernähme seines Lehramtes ein ebenso gro߬
zügiges als im einzelnen fein pointiertes Programm entwickelt , welches die lebhafte
Zustimmung der zahlreichen Hörerschaft fand . Wir entnehmen der Antrittsvorlesung B )
die folgenden Sätze:
Vergessen wir nicht, daß wir uns mit
jeder Verfeinerung der diagnostischen Me¬
thoden auf ein immer schwierigeres Terrain
begeben, in welchem auch die Fehler¬
quellen und Täuschungsmöglichkeiten immer
größer werden. Wie verführerisch es auch
ist, die Methoden exakter physiologischer
Beobachtung auf die krankhaften Vorgänge
l ) Wyssoko witsch, Ztschr. f. Hyg. u. Infek-
tionskr. 1886, Bd 1.
*) C Schwarz, Ueber das Verschwinden von
Mikroorganismen aus dem strömenden Blute. Ztschr.
f. Heilk. 1905.
beim Menschen anzuwenden, so wird es
doch jedem, der die Fallstricke des phy¬
siologischen Experiments kennt, bedenk¬
lich erscheinen, die Beurteilung des leiden¬
den Menschen und die ungeheure ärztliche
Verantwortlichkeit von Präzisionsmaßnah¬
men abhängig zu machen, bei welchen die
Fehlermöglichkeiten dicht am Wege liegen
und winzige methodische Abweichungen
zu ernsten Täuschungen führen können.
l ) Klapp, Münch, med. Wochschr. 1900, Nr. 23.
3 ) Kowalski, Blätter f. klin. Hydroth. I 898 .
3 ) Berl. klin. Woch. Nr. 45 u. 46.
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576
Die Therapie der Gegenwart 1910.
Dezember
Hüten wir uns vor einem übertriebenen
Physiologismus!
Die Arbeitsteilung in der Praxis darf
nicht zur Zersplitterung der Praxis führen.
Auch durch die moderne Verfeinerung der
Diagnostik wird die bisherige ärztliche
Untersuchung und Beobachtung mit den
traditionellen einfacheren Mitteln, und wird
der persönliche Kontakt des Arztes mit
dem Kranken keineswegs überflüssig ge¬
macht! Im Gegenteil, es ist mehr als je
notwendig, daß der Kranke in einer Hand
bleibt. Der Patient läuft Gefahr, daß die
Diagnose von der Hauptsache auf Neben¬
wege abirrt; nur der persönliche Kontakt
mit seinem Arzt kann dieser Gefahr Vor¬
beugen und bewirken, daß unter zahl¬
reichen Detailuntersuchungen die Persön¬
lichkeit des Kranken, seine Konstitution
und Individualität berücksichtigt bleibt.
* •*
*
Je mehr Apparate, desto geringer die
Kunstfertigkeit in der unmittelbaren Beob¬
achtung, in der Behandlung mit einfachen
Mitteln, in der ärztlichen Kombination.
Möge uns der Fortschritt der Technik nicht
an ärztlicher Kunst und Geschicklichkeit
rauben, was er uns an erhöhter Präzision
gewährt. Mögen uns vielmehr die Präzi¬
sionsmethoden unter anderem auch dazu
dienen, durch die Möglichkeit der kontrol¬
lierenden Vergleichung die einfacheren
Methoden zu vervollkommnen und ihnen
eine höhere Sicherheit zu geben.
* *
4t.
Wenn wir jetzt auch weit vom Hippo-
kratismus von ehedem entfernt sind, so
halten wir doch den Grundzug desselben,
unsere Therapie der natürlichen Krank¬
heitsheilung einzufügen, fest. Wir wissen,
daß es nicht richtig ist, eine rein physio¬
logische Therapie zu betreiben, das heißt
alle krankhaften FunktionsVeränderungen
ohne weiteres zu beseitigen: Fiebermittel
anzuwenden, sobald die Bluttemperatur
fieberhaft erhöht ist, die Blutgefäße zu
verengern, wo Hyperämie besteht, zu er¬
weitern, wo sie kontrahiert sind, den Blut¬
druck künstlich zu erniedrigen, wo er er¬
höht ist, zu kühlen, was sich heiß anfühlt
usw. Vielmehr muß sich die physiologi¬
sche Therapie den Tendenzen der Selbst¬
regulierung einfügen.
-X- X
*
Wo die Kunst in der Therapie fehlt,
läuft sie stets Gefahr, dogmatisch zu wer¬
den. Die Behandlung soll sich eben nicht
einseitig auf Regeln stützen, welche von
dem einen oder anderen Krankheitssym¬
ptom abgeleitet sind, sondern muß stets
das gesamte Krankheitsbild und den Men¬
schen selbst erfassen. An der dogmati¬
schen Therapie erkennt man den Mangel
ärztlichen Talents, welches für unsere
Kunst durchaus erforderlich ist; an der
Verachtung der Wissenschaft den
Charlatan. Wissenschaft und Kunst in
gegenseitiger Ergänzung machen die ärzt¬
liche Behandlung.
Unzweifelhaft muß es andererseits unser
Bestreben sein, die Therapie so weit wie
irgend möglich, zu einer wissenschaft¬
lichen zu gestalten, ja sogar mit der Be¬
strebung, auch für die individuellen
Unterschiede zum Teil einen wissenschaft¬
lichen Ausdruck zu finden. Die wesent¬
liche Voraussetzung für eine wissenschaft¬
liche Therapie ist die Sicherheit der Dia¬
gnose, die Erkenntnis der Ursachen und
des Wesens der Krankheitsprozesse,
die Feststellung des natürlichen Ver¬
laufes der Krankheiten und der Natur
der Selbstheilungsvorgänge, die Prü¬
fung der Wirksamkeit der Mittel
und kritische Sichtung der Erfah¬
rungen am Krankenbett.
* •*
X-
Wer da bestreiten möchte, daß in unse¬
rer heutigen Zeit der ärztliche Beruf immer
noch im Idealismus wurzele, der mache
sich nur klar, was die Prophylaxe bedeu¬
tet, und ob sich etwas Aehnliches in den
reale Werte schaffenden Berufsarten vor¬
findet.
Mögen die Faktoren des öffentlichen
Lebens stets dessen eingedenk sein, was
die Menschheit dem Idealismus des ärzt¬
lichen Standes schuldet!
INHALT: Gudzent, Radium-Emanationstherapie S. 529. — Alexander, Gärungs¬
dyspepsie und Takadiastase S. 537. — Kümmell, Nierentuberkulose S. 540. — Gerson, Airol-
vaseline S. 572. — Rosman-Kuttner, Autiphlogistin S. 574. — Vorträge über Psychiatrie
S. 554. — Syphilisheilmittel S. 561. 564. — Referate S. 566. — Aus Goldscheiders
Antrittsvorlesung S. 575.
Für die Redaktion verantwortlich Prof. Dr. G. K1 cm p e r e r in B'-rlin. - Verlag von Urban&Sch warzenberg inW’ien u. Berlin.
Druck von Julius Sittenfeld, Hofbuclulrueker., in Ilerlin W.8.
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INHALTS-VERZEICHNIS.
Originalmitteilungen, zusammenfassende Uebersichten, und
therapeutischer Meinungsaustausch.
Acetonkörperausscheidung, Einige Bemerkun-
gen zur Bewertung der — beim Diabetiker, sowie
aber den Wert von Haferkuren. Hugo Lüthge 8.
Aegypten, Aertliche Erfahrungen in —. Lilien-
atein 381.
Airolvaseline auf frischen Wunden. Karl Qeraon
572.
Ajaccio, Klimatisches aber —. Pet. Baiser 476.
Alkohol - Verbände, Ueber — . C. Köhler 379.
Alsol, Ueber die Anwendung des —s bei Haut-
und Geschlechtskrankheiten. M. Lewitt 95.
p-AminobenzoösAure, Pharmakologisches aber
die Ester der — mit besonderer Berücksichtigung
des Cydoforms. E. Impens 348.
Amöben-Dysenterie, Die Behandlung der —.
Edgar Azisa 263.
Aperitol, Erfahrungen mit — als schmerzloses Ab*
führmittel. A. Hirschberg 335.
Arsentherapie, Zur — mit der Dürkheimer Max¬
quelle. L. Katzenstein t86.
Ascites tuberculosus, Kochsalzarme Diftt zur Be¬
seitigung des-. Walter Alwens 100 .
Asthma, Ueber den Stand der heutigen Lehre
vom —. Oskar Weil) 443.
Asthmabehandlung, Ein neuer Apparat zur —.
G. Zuelser 157.
Asurol, Zur Behandlung der Syphilis mit —. Eid.
Biumer 479.
Azidose, Zur therapeutischen Bewertung der dia¬
betischen — in der Praxis. L. Blum 97.
Baldrian-Therapie bei nervösen Störungen. Theo
Knttner 377.
Basedowsche Krankheit, Eineintravenöse Chemo¬
therapie der-. Felix Mendel 61.
-Die Prognose der — n —. L. Syllaba 484.
Cholelithiasis, Zur medikamentösen Therapie der
— . Felix Sichler 146.
Coryfin, ein reizloses Mentholderivat. Br&itmayer
143.
Delirium tremens, Die Behandlung des — —
mit Veronal. Ernst von Porten 270.
Desmoidreaktion, Die Brauchbarkeit der Sahli-
schen — in Klinik und Praxis. Weiland und
Sandelowsky 255.
Diabetes insipidus, Zur Therapie des —. O.
Minkowski 4.
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— mellitus, Beitrag zur medikamentösen Behand¬
lung des — —. Lennl 188.
— — Ueber die Behandlung des — — bei Kindern.
Marius Lauritzen 289.
Digistrophan, Ueber —, ein neues Kardiakum.
O. Boelke 153.
Digitalis, Einige Bemerkungen aber —. weil.
Ernst von Leyden 482.
Diphtherie, Die intravenöse Injektion des Heil¬
serums bei —. Hermann Tachau 346.
Duodenalgeschwür, Bemerkungen zur Pathologie
und Therapie des —s. Umber 333.
EntfettungsdiAt, Indikation und Kontraindikation
vegetarischer —. B. Latz 140.
— Erwiderung auf vorstehenden Aufsatz. A. Alba 142.
Entfettungskuren, Neue Gesichtspunkte für —
mittels diAtetischer Küche, Wilhelm Sternberg 492.
Epilepsiebehandlung, Ueber ambulante — mit
besonderer Berücksichtigung des Sabromin. Froeh-
lich 70.
Escalin zur ambulanten Behandlung des Magen-
geschwQrs. G. Klemperer 480.
Qangstockung (intermittierendes Hinken), Ueber
—. Gustav Muskat 273.
GArungsdyspepsie, Zur Behandlung der intestinalen
— mittels Taka-Diastase. Alfred Alexander 537.
Gastroptose, Zur Therapie der —. Carl v. Noor¬
den 1.
Gelenkrheumatismus, Die Serumbehandlung des
—. Hans Ratzebarg 110.
Genug undGe nußmittel. Wilhelm Sternberg 158.
Geschmack und Schmackhaftigkeit in der
Hygiene und in der Küche. Wilhelm Stern¬
berg 300.
Gonorrhoe, Die Behandlung der — und ihrer
Komplikationen. Alfons Nathan 124.
Gy noval, Zur Bewertung des —s. Georg Flatau 336.
tfaltungsanomalien, Zur Prophylaxe der habi¬
tuellen —. Georg Müller 351.
Harnröhrentripper, Bemerkungen zur Behand¬
lung des —s des Mannes. Bruno Glaserfeld 353.
Hartleibigkeit, Ist die Ausdrucksweise .Ange¬
borene —* eine richtige Bezeichnungsweise.
Roger Baron Badberg 287.
Hernien, Prinzipien der Behandlung von. F. Ka-
rewski 497.
Original fram
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IV
Inhalts -V erzeichnis.
Herzstörungen, Ueber — im Kindes- und Puber»
tdtsalter. C. Hirsch 193.
Herztherapie, Aphorismen zur —. C. A. Ewald
26. 74.
Hyperämieerzeugung, Praktische Methode zur
—. M. Rosman u. T. Kuttner 574.
Ilyperftmisierendes Mittel, Ein altes in Ver¬
gessenheit geratenes-. Carl Richter 271.
Infektion, Vorträge über die —, ihre Erkennung
und Behandlung, veranstaltet vom preußischen
Zentralkomitee für das ärztliche Fortbildungswesen.
Bericht von Leo Jacobsohn 34 u. 79.
Infektionskrankheiten, Allgemeine Grundzüge
in der Behandlung der akuten — der Kinder.
A. Baginsky 435.
Jodomenin, Ueber — bei Arteriosklerose. E. Gum-
pert 92.
Jodthion, Zur Bewertung des —s in der Laryn-
gologie. Adolf Mühsam 528.
Keuchhusten, Heiße Bäder bei—. Schrohe 429.
— Zur Therapie des —s. Gustav Bradt 305.
Klystier-Ersatz-Therapie, Ueber —. W. Unna
261.
Kongreß, 27. — für innere Medizin. Bericht von
G. Klemperer 226.
— 39. — der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie.
Bericht von W. Klink 208.
— 6. — der Deutschen Röntgengesellschaft. Bericht
von E. Jacobsohn 223.
— 4. — der Gesellschaft deutscher Nervenärzte.
Bericht von Leo Jacobsohn 509.
— 82. — der deutschen Naturforscher und Aerzte,
Therapeutisches 456 u. 515.
— Süd westdeutscher Neurologen und Irrenärzte in
Baden-Baden. Bericht von LUienstsln 361.
Morbus Basedowii, Zur Frage der operativen
Behandlung des —. Julius Lowinsky 60.
Nagelextension, Die Leistungsfähigkeit der —
in der Frakturenbehandlung und Knochenchirurgie.
Willy Anschüts 22.
Nasenbluten, Ueber die Entstehung des spontanen
— s und seine Behandlung mit Digitalis. Focke 402.
Nebennierenpräparate, Die Bedeutung der —
für die ärztliche Praxis. Leo Jacobsohn 446.
Nieren- und Blasentuberkulose, Die operative
und spezifische Behandlung der —. Hermann
Kümmell 540.
Oesophagoskop, Ein handliches —. F. Schilling
430.
.Oxygar", Ueber die Wirkung des H»Oi-Präparates
— auf die Sekretion des Magens. Kan KatO 105.
Ozetbad, Die Größe der Bläschen im — e und im
Kohlensäurebade. L. Sarason 286.
Pantopon (Sahli), Ueber die Anwendung des —.
Julius Hallervorden 206.
Pergenol, Einige Bemerkungen über —. Robert
Meyer 190.
Pleuraexsudate, Ueber abgekapselte, insbesondere
interlobäre — nebst Bemerkungen über Empyema
putridum. A. Fraenkel 337.
Pleuritis, Ueber die Behandlung der serösen —
mit Lufteinblasung. L H. Gesellschap 396.
Pneumothorax, Ueber eine Prioritätsfrage bezüg¬
lich des künstlichen — bei der Behandlung der
Lungenschwindsucht und über den Mechanismus
! seiner Wirkung. Carlo Forlanini 198 u. 245.
— Anhang zu meinem Aufsatz. Carlo Forlanini
331.
— Entgegnung auf Forlaninis Artikel über eine
Prioritätsfrage bezüglich des künstlichen — bei
der Behandlung der Lungenschwindsucht. 8. Daus
333.
Psychologie und Psychiatrie, Vorträge über
die Grundzüge der modernen —, veranstaltet
vom preußischen Zentralkomitee für das ärztliche
Fortbildungswesen Leo Jacobsohn 554.
Psychotherapie, Grundlagen der —. P. Dubols
385.
Purinstofiwechsel, Ueber — bei Gichtkranken
unter Radiumemanationsbehandlüng. P. Meser-
nitzky 526.
Radium-Ernanations-Therapie, Ueber den
gegenwärtigen Stand der —. F. Gudzent 529.
Reklame, Ueber — durch Sonderdrucke. G. Klem¬
perer 239.
Ren vers, Zum Andenken an—. G. Klemperer 191.
Röntgenstrahlen, Die Bedeutung der in der
Gynäkologie. Manfred Fraenkel 310.
8 a r t o n, Ueber —, ein neues Nährpräparat für Zucker¬
kranke. C. von Noorden u. Ed. Lampd 145.
Sauerstoffbad, Das — in der ärztlichen Hauspraxis.
Julius Baedecker 54.
Scharlach, Die Behandlung des -*-s. Adolf Ba¬
ginsky 16 u. 49.
Subazide Zustände, Behandlung —r — mit
mechanisch reizender Kost mit Zitronensäure.
Roemheld 285.
Syphilisheilmittel, Ebrlichs — bei einigen Fällen
innerer Lues. Meldner 407.
— — — und die ärztliche Praxis, G. Klemperer
432.
-in der Berliner Medizinischen Gesellschaft,
Bericht von G. Klemperer 316.
— — — in der Berliner dermatologischen Gesell¬
schaft. Bericht von Held 563.
-im Verein für innere Medizin. Bericht von
Meldner 564.
Syphilisbehaadlung. Ueber die Ehrlichsche —.
W. Fischer 411.
Tabes, Krisenartig auftretende Bewußtlosigkeit mit
Atemstillstand bei —. Leo Jacobsohn 298.
Tenazität, Ueber die — der Zelltättgkeif and ihre
Beziehungen zur Pathologie. W. Leube 241.
Tuberkulinbehandlung, Ueber —. F. Kühler
356.
Tuberkulose, Die chirurgische Behandlung der —.
W. Kausch 111 u. 160.
— Bemerkungen zu der Arbeit von Kausch über
chirurgische —. Fr. König 239.
Tuberkulosetherapie, Ueber —. Bericht von
Felix Klemperer 29.
Ulcus cruris, Ueber die Behandlung des —
mit Scharlachrot. Kurt Pein 121.
j Veronalnatrium bei Seekrankheit. Galler 94.
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Original from
UNIVERSiTY 0F CALIFORNIA
Inhalts -Verzeichnis.
V
Sachregister.
Acetonkörperausscheidung 8.
-säurebestimmung 99.
Aderlaß 322.
Adrenalinempfindlichkeit 366.
Aegypten 381.
Aetbernarkose, intravenöse 566.
Aggressinsubstanzen 29.
Airolvaseline 572.
Ajaccio 476.
Akromegalie 465.
Aktinomykose 85.
Albargin 124.
Albuminurie 278.
Alkohol Verbinde 379.
Alsol 95.
Alttuberkuline 30.
p-Aminobenzoösäure 348.
Aminosäuren 48.
Amosüendysenterie 263.
Anämie 211. 232.
^Angst 511.
-zustäade 509.
Ankylosen 220.
Antifermentbehandlung 324.
Antimeristem 41.
Anurie 566»
Aperitol 335.
Aphasie 513.
Appendikostomie 86.
Appendizitis 216.
— -behandlung 173.
Arsazetin 134.
Arsentherapie 186.
Arteria vertebral. 210.
Arteriosklerose 92.
Arthritis gonorrhoica 37.
Ascendieren 459.
Ascites tbc. 100.
Asthma 443.
-behandlung 157.
— bronchiale 325.
Asurol 479.
Atlas: bösartige Geschwülste 418.
Azidose 97.
Bad und Infektion 418.
Baldrian, Therapie 377.
Basedowsche Krankheit 484.
— Syndrom 366.
Bauchdeckensaht 218.
-deckenspamtung 467.
-wandblutungen 467.
Beckenhochlagerung 278.
— -Operationen 419.
Bilharzia 383.
Blasentuberkulose 540.
Bleivergiftung 362.
Blinddarmfistei 278.
Blutgefäßklemme 419.
- Untersuchungen 42.
- Zuckergehalt 236,
Botulismus 36.
Bovovakzin 228.
Bromtherapie 42.
Bronchialasthma 237.
Brüche 131.
Chemotherapie, intravenöse 61.
Chirosoter 376.
Chirurgie, spezielle 277,
□ igitized by Google
Chlorose 86. 367.
Cholelithiasis 146. 276.
Cholsäuresapfen 263.
Chondrodystrophie 463.
Coxitis 281.
— tbc. 220.
Cydoform 348.
Cystoskopie 41.
Darmblutung 420.
-Infektionen 34.
-Verschluß 278.
-, operativer 420.
Dauerdrainage 464.
Delirium tremens 270.
Dermatol. Diagnostik 277.
Desmoidreaktion 255.
Diabetes 8. 325.
— insipidus 4. 514.
— mellitus 188. 289.
Diathesen 420.
Dickdarmerkrankungen 325.
-katarrhe 87.
Digalen 28.
Digistrophan 153.
Digitalis 27. 482.
Digitalysat 405.
Dioxydiamidodiarsenobenzol 316.
Diphtherie 346.
Duodenalblutungen 179.
-geschwür 433.
Dyspepsia uterina 45.
Dysthyreosis 61.
Bhrlich-Hatasches Mittel 316. 407.
411. 432. 515. 561. 564.
Eisenchloridreaktion 8.
Eklampsia gravid. 180.
Empyema putrid. 337.
Endobronchiale Therapie 237.
Endometritis 325.
Entfettungsbehandlimg 173.
-diflt 140.
--kuren 279. 492.
Epidemie, psychische 361.
Epidurate Injektion 422.
Epilepsie 42. 129. 208. 368.
Epilepsia minor 514.
Ernährungsneurosen 476.
Erysipel 326. 380.
Escalin 480.
Exarticulatio pedis 463.
Facialislähmung 131.
Fersenneuralgie 280.
Fettembolie 219.
Fetttransplantation 464.
Fettverdauung 567.
Fibrolysinbehandlung 131.
Fieber aus unbekannter Ursache 83.
-Untersuchungen 457.
FingergangrSn 44.
Frakturen 567.
Frakturbehandlung 22.
Fremdkörper des Magendarmkanals
129.
Fußgeschwüre 421.
Qalle 89.
Gallenblase 422.
Gallenfistel 218.
-gangskarzinom 45.
Gärungsdyspepsie 537
Gastroptose 1.
Gelatineinjektionen 422.
Gelenkchondrome 464.
— -entzündungen 380.
-erkrankungen 174.
-hydrops 462.
-Infektionen 37.
-neuralgie 426.
— -rheumatismus 110. 224.
-tub. 175.
Genußmittel 158.
Geschwülste, maligne 215.
Geschwulsttransplantation 138.
Gibbus 280.
Gicht 236.
Gonorrhoe 130. 366.
Grundriß nnd Atlas (Chirurgie) 277.
Gynäkologie (Atlas) 208.
Gynoval 336.
Haferkur 8. 293.
Haltungsanomalien 351.
Hämophilie 44.
Harnröhrentripper 353.
Hartleibigkeit, angeborene 287.
Hautdefekte 326.
Heißwasserbehandlung 89.
Heilserum 346«
Heine-Medinsche Krankheit 4 74.
Hernien 497.
Herpes zoster 380.
Herzstörung 514.
Herztherapie 26.
Hinken, intermittierendes 513.
Hirnpunktion 210.
Hormone 236.
Humorale Kampfmittel 371.
Hüftgelenksluxation 281. 369.
Hydrocepbalus 131.
Hyperaemicum 271.
Hyperämieerzeugung 574.
Hyperthyreosis 61,
Hypnose 134.
Hypophyse 211.
Hypophyson 188.
Hysterostomatomia 458«
Infektion 34.
Infektionskrankheiten 435.
Infusion 132.
Intubation 176.
Ischias 422.
Jod-Arsentherapie 66.
Jodarsyl 67.
Jodglidine 568.
Jodipin 183.
Jodival 568
Jodomenin 92.
Jodothyrin 180.
Jodthion 528.
Jod Wirkung 568.
Kalter Abszeß 160.
Karzinom 177.
Karelische Kur 173.
Original frnm
UNIVERSiTY 0F CALIFORNIA
Inhalts -Verzeichnis.
V!
Keuchhusten 133 305. 429.
Ketonurie 292.
Kleinhirn, Funktion 512.
-tumoren 469.
Klima 369.
Klumpfußbehandlung 370.
Klystierersatztherapie 261.
Kniescheibenverrenkung 463.
Knochenchirurgie 22.
Kochbuch für Magen-Darmkranke
170.
Kochsalz-Infusion 423.
— -therapie 42.
— — -hydrate 470.
Kongenitale Erkrankungen 129.
Kongreß (82.) deutscher Natur¬
forscher usw. 456.
— Deutscher Nervenärzte 509
— für Chirurgie 208:
— für innere Medizin 226.
— der Röntgengesellschaft 223.
— süd westdeutscher Neurologen
361.
Kossam 264.
Kropf, Aetiologie 214.
-thyreoidismus 61.
Küche 300.
Laparotomieschnitte 219.
Leberabszesse 383.
Lehrbuch d. Augenheilkunde 171.
— der Ernährung und der Stoff¬
wechselkrankheiten 40.
— Haut- und Geschlechtskrank¬
heiten .172.
— Pharmakologie 363.
Leimverband 464.
Lepra 84.
Leukozytäre Heilmittel 371.
Leukozytose 418.
Littlesche Krankheit 210.
Lokalanästhesie 282. 364.
Luftbäder 371.
— -druckerkrankungen 235.
Lumbalanästhesie 222. 372.
Lungenruptur 178.
— saugmaske 237.
— tuberkulöse 373.
Lyssa 35.
Madenwürmer 326.
Magen- uud Frauenleiden 45.
-atonie 1.
-blutungen 179*
-geschwür 89. 222. 373. 423.
467.
-ptose 1. 216.
Malleolarfrakturen 462.
Mehlabbau 474.
Meniferescher Symptomenkomplex
46.
Meningitis 179.
— serosa 326.
Menschenfettinjektionen 424.
Metritis chron. 89.
Mikrogastria 458.
Milchserumernährung 472.
-zucker 425.
Milzexstirpationen 425.
Mißbildungen 129.
Momburgsche Blutleere 419.
Morbus Basedowii 60. 61. 215.
Muskelinfektionen 37.
* Myom 364.
Myopathie 511.
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Nagelextension 22. 221.
Narkosen 373.
-gefahren 133.
Nasenbluten 402.
-plastik 216.
Nebennierenpräparate 446.
Negrische Körper 35.
Nephritis haemoglobin. 327.
Nephropexie 91.
Nephrektomie 47,
Nervenkrankheiten 512. 514.
— therap. Taschenbuch 85.
Neuralgie 514.
Neurasthenie 417.
Neurochirurgie 374.
Neurose, Traumatische 238.
Neutuberkuline 30.
Nierenabsonderung 327.
— -dekapsulation 374,
-Insuffizienz 327.
-tuberkulöse 540. 568.
-Verletzung 375.
.Nil nocere* 133.
Novokain-Suprarenin 450.
Oberschenkelbrüche 47.
Oedeme 327.
Oelsäure 180.
Oophorin 91.
Operationslehre 364.
Orthopädie 364. *
Osteoplastik 466.
Ovogal 152.
Oxybuttersäurebestimmung 15. 97.
Oxygar 105.
Pankreasnekrose 218. 375.
Pantopoo 206. 586.
Paraffineinläufe 261.
Paralysis agitans 363.
Patellarfrakturen 283.
Pellagra 383.
Perikarditis 328.
Perityphlitis 329, 420.
Pergenol 190.
Pharmakologie, Experimentelle 207.
' Phlebotonömeter 322.
Pirquetsche Reaktion 39.
Plattfuß 283.
Pleuraexsudate 337. ?
Pleuritis 396.
Pneumomassage 46.
Pneumothorax 198. 333.
Poliomyelitis 475.
Polyurie 5.
Ponserkrankungen 509.
Prolapsus uteri 329.
Prostatahypertrophie 376.
Protozoenkrankheiten 233
Pruritus 48.
Psoriasis 329.
Psychiatrische Sachverständigkeit
559.
Psychoanalyse 134.
Psychologie, experiment 555.
Psycholog. Probleme 554.
Psychoneurose 514.
Psychose 511.
Psychotherapie 134. 385. 556.
Pubertät und Schule 456.
Pubertätsstörungen des Herzens
193.
Puerperale Infektion 82.
Purinstoffvvechsel 526.
. Pyelitis gravid. 459.
Pyelotomie 136.
Pyloroptose 1.
Radium 177.
— -emanation 526.
Radiusfrakturen 462.
Raynaudsche Krankheit 44.
Rektale Ernährung 48.
Rekto-Romanoskop 457.
Reklame 239.
Rhino-laryngol. Winke 85.
Röntgenbehandlung der Myome
326.
-bilder chron. Arthritiden 174.
!-diagnostik d. Magenkrankheiten
570.
-strahlen in der Gynäkologie
310.
-Idiosynkrasie 224.
— — und Wachstumsstörungen
225.
| —therapie von gynäk. Krank-
j heiten 224.
! -bei Pruritus 48.
:-des Sarkoms 223.
-ulzera 225.
Rückenmarkschirurgie 210. 513.
— Wurzelnresektionen 513.
Ruheübungen 515.
Salizylsäure 148.
Sarton 145.
Sakralanästhesie 468.
Sauerstoffbad 54.
Säuglingsernährung 470. 471.
Scaphoid scapula 515.
Schädelschüsse 210.
Scharlach 16. 418.
— -rot 121.
-serum 19.
bchenkelhalsbrüche 330.
Schilddrüse 180.
—ntransplantation 466.
Schläfenbein 376.
| Schmierseifenkur 112.
Schulterluxation 220.
Seeldima 369.
-krankheit 94.
Seelenstörungeni einfache 560.
Sehnennaht 180.
-transplantation 219.
Sehsphäre 512.
Sepsis, Otogene 330.
Seröse Häute 181.
Serumdosen bei Diphtherie 136.
Sexualpathologie 556. '
Sexualpsychologie 556.
Sexuelle Infektionen 79.
Sklerose multipl. 513.
Skoliose 463.
—nbehandlung 284.
Solbäder 112.
Sonnenbestrahlung 91.
Spirochätennachweis 130.
Spondylitis tbc. 182.
Stauungshyperämie 118.
-papille 513.
Sterilität 91.
Streptokokkenserum 107.
-virulenz 221.
— -sepsis 185.
Strychnin 20.
Stuhlzapfen 262.
Subazidität 285.
Suggestivnarkose 184.
Original from
UNIVERSITY 0F CALIFORNIA
Inhalts •Verzeichnis.
VII
Suggestion in gynfikol Praxis 183.
Suprareninanfimie 282.
Syphilis 366. 407. 411. 479.
— späte 172.
— congenit. 330.
— -diagnose 130.
— -heilmittel 316. 407. 411. 432.
515. 561. 564.
— -therapie 526.
Tabakvergiftung 238.
Tabes 298.
Taka-Diastase 537.
Taubstumme 330.
Taubstummheit 427.
Tauruman 228«
Tenazittt 241.
Tetania parathyreopriv. 185.
Tetanus 35«
Tetanustoxin 35.
Thoraxdilatation 211.
-Stenose 211.
Thymusexstirpatioo 214.
— p£rsistens 215.
Thyreoglobulin 180.
Thyreotropie 68.
Tonsillarbehandlung bei Rheuma
137.
Traktionsdivertikel 345.
Trion 189.
Trypanosomiasis 36.
T rypsinbehandlung
Typhlitis stercoral. 331.
Tuberkelbazillen 427.
Tuberkulin 29.
-behandlung 239. 356.
Tuberkulose 38. 111. 227.
— Chirurg. 239. 464.
— und Schwangerschaft 460.
— -lieber 457.
— rtherapie 29.
Tumeurs cdr6brales 513.
Typhus 427. 571.
Ulcus cruris 121.
(J nterkieferresektion 185.
UnterschenkelbrOche 47.
Urotropin 52.
Uterusruptur 185.
Vasotonie 238.
Variköser Symptomenkomplex 41.
426.
Vakzineerkrankungen 139.
Verbrennungen 376.
Verdauungskrankheiten 236.
Veronalnatrium 94.
Vibrationsmassage 46.
Vitiligo 92.
Waldheilstfitten 113.
Wasfiermannsche Reaktion 80. 130
Webersche Probe 434.
Widalsche Reaktion 34.
Wirbelanomalien 463.
Wismut 186.
— -paste 165.
Wochenbettpathologie 171.
-^-Physiologie 171.
Wundbehandlungstechnik
— «Infektion 81.
Wurmfortsatzentzündung 571.
Zahnkrankheiten 428.
Zwerchfellhochstand 572.
Autorenregister.
(Die Seitenzahlen der Original-Mittellangen sind fett gedruckt.)
Abderhalden 48.
Albers-Schönberg 224.
Albu 142.
A. Alexander 537.
W. Alexander 514.
— u. Kroner 85.
Alwens 100.
Anschütz 22. 221.
Arnsperger 420.
Aschafienburg 511. 559
Aschnew 211.
Aschofi u. Bacmeister276.
Assen 131.
Auerbach 374.
Axenfeld 171.
Axisa 253.
Bab 91.
Baedecker 54.
Baginsky, A. 16.435-
Balzer 476.
Bardenheuer 283.
Baum 283.
Bfiumer 479-
Bennecke 418.
Beigemann 462.
v. Bergmann 279.
Berlin 136.
Berliner 133.
Benster 327.
Biedert und Langermani
170.
Birnbaum 129.
Blum 97.
Boas 87.
Boelke 153.
Borelius 45.
Bornstein 369.
Bradt 305.
Braitmeyer. 143.
Brandes 369.
Braun 419. 467.
Brodnitz 374.
v. Brunn 218.
Brunner 221.
Budberg 287.
Bumm 82.
Burkhardt 373. 376.
Buschke 92.
Caan 177.
Caspar 375.
Cathelin 422.
Clairmont u. Haberer 566.
Clemm 325.
Qufi 368.
I Cordes 331.
I Cramer 456. 556.
| Cronheim 369.
I Czerny 215.
Dahlgreen 44.
Danielsen 185.
Daus 333-
Doederlein 458.
Dohan 224.
Dollinger 220.
Dövenspeck 327.
Dubois 385.
Ebner 173.
Ebstein! W. 84.
Eckstein 325.
Ehrlich 515.
— u. HaU 233.
Eichler 145.
v. Ebelsberg 467.
Ephraim 237.
; Elsässer 183.
Ewald 28. 420. 457. 568.
Faber 278.
Fein 85.
| Finckh 570.
I Finsterer 179. 423.
Fischer, W. 411.
I Flatau 335.
Floerken 376.
Flügge 81.
Focke 402.
Forlanini 196. 331.
Förster 513.
Försteriing 225.
i Fournier 172t
1 Fraenkel, A. 337-
j — M. 310.
Frangenheim 463.
Frank u. Schiftenhelm 4f
Franz 210.
Frenkel-Heiden 514..
Freund, W. A. 211.
i Friedlfinder 514.
Fritsch 375.
Froehlich 70. 366.
Gabele 215.
Galler 94.
Garr6 462. 465.
Gerhardt 232.
Göronne 139.
Gerson 572.
| Gesellschap 396.
Girard 216.
Gliflner u. Singer 89.
Glaserfeld 353.
Graefenberg 133.
j Grau 422.
Graves 515.
Grünwald 327.
Gudzeut 236. 529.
Gumpert 92.
Hagemann 464.
Haglund 370.
Hailauer 183.
Hallervorden 206.
Hannes 418.
Hansberg 330.
1 v. Hansemann 211. 418.
| Hfirtig 422.
| Hatschek 511.
1 Heeger 131.
Held 561.
i Heüe 571.
Herischlaff 515.
Hetzer 46.
Hesse 210. 324.
Heubner 330.
Hüdebrand 37. 210.
Hirsch 193.
Hirschberg, A. 335.
, Hirschfeld 325.
Hoche 509. 560.
Hochsinger 476.
Hofbauer 460.
Hoffmann 467.
Hofmebter 419.
Höftmann 421.
Hollfinder 329. 424.
Hörsley 512.
Impens 348.
Jacobsohn. E. 174 223.
- L 34 298. 446 509.
554.
□ igitized by
Got gle
Original from
UNIVERSiTY 0F CALIFORNIA
VIII
Inhalts -Verzeichnis
1
Jessen 427.
Loewy 369.
Peuckert 262.
Sommer 555. !
Jianu 131.
Lorenz 281. 330.
Pfeiffer 513.
Sonnenburg 216. I
Joachimsthal 463.
Lorinsky 60.
Philippson 277.
Sprengel 219. |
Jochmann 35.
Löwenfeld 134.
Pick 571.
Steinthal 89.
JoDy 208. 329.
Lüthge 8.
Pick u. Pineies 180.
Stern 380. f
Jung 459.
Plehn 83.
— R. 42
Jargensen 572.
Maß, O. 5t4.
Polano 180.
Sternberg 158. 300. 492 |
Makkas 136.
Poulsson 363.
Stieda 466. i
Kan Kato 105.
Manasse 376.
Port 464.
Stransky 511. t
Karewski 497.
Mann 373.
v. d. Porten 270
Strauß 173, j
Kaspar 176.
Marburg 509.
Sudeck 185.
Katzenstein, L. 186
Marinesco 513.
Quincke 235.
Sultan 277. 1
Kausch 111. 131.
Matsuoka
Syllaba 484 j
Kayser 426.
Mayer 225.
Rabinowitsch 427.
V
Klapp 220.
Meidner 407. 564.
Raimann 514.
Tabora 322.
Klapps 420.
Meißen 38.
Ratzeburg 110.
Tachau 346.
Klemperer, F. 29. 220
Meiaicke 234.
Rehn, E. 464.
Thieß 132. <
- G. 191. 226.230.816.
Melchior 175.
jr. 219.
Tietze 218.
432. 480.
Mendel, F. 61.
Reicher u. Stein 236.
Tilmann 469.
Klink 208.
Mesernitzky 526.
Rietschel 472.
Timofeew 327.
Klose u. Vogt 214.
Meyer, R. 190.
Risel 473.
Trfinner 514.
Klotz 474.
— u. Gottlieb 207.
Rider 271.
Kocher 216.
Minkowski 4. 512.
Ritter 326.
Unna, W. 261
Köhler, C. 379.
Moeli 556.
Roemheld 285
Umber «0. 438. s
- F. 356.
Mohr 211.
Romberg 229.
Urbantschitsch 427. x
König, Fr. 239. 280.
Moll 556
Römer 234.
Usuki 567. ' ^
— u. Hohmeier 222.
Morawitz 367.
Rosinski 459.
* 1
Krause 234.
Mörchen 514.
Rosenthal, O. 89.
Valentini 427. |
— u. Tilmann 208.
Mosler 181.
Rosman u. Kuttner 574.
von den Velden 42. 211. !
Krukenberg 284.
Mühsam, A. 528.
Rothmann 512.
Veraguth 417.
Kuchendorf 366.
Müller 369.
Rubens 329.
Vogt 129.
Kuhn 237.
— E. 471.
Rubritius 371.
Voß 326.
Kulbs 372.
— G. 351. 364.
Rumpel 41,
Kümmel 210. 216. 540.
— u. Fellner 238.
Wallenberg 509.
Kuttner 210.
Mulzer 130.
Samter 463.
Weiland u. Sandalowsky
- P. 377.
Muskat 273.
Sftnger 513.
256. i
Küttner 566.
Sarason 286.
Weiß, O. 443 ?
Naegeli 238.
Sauerbruch 211.
Wiekham u. Oegrais 277.
Landau, P. 364.
Nathan, A. 124.
Schanz 281.
Wideröe 423.
Lange, B. 280.
Neißer 526.
Scheuer 366.
Widmer 91.
Langstein 470.
— E. 458.
Schichhold 137.
Widbolz 568.
Latz 140
Neuber 220.
Schilling 430.
Wiesner 475.
Lauritzen 289.
Neumann 182.
Schindler 326»
Wildt 567.
Läven 468.
Neumayer 376.
Schlesinger 364.
Willinger 428.
Lehndorf 425.
Nobl 41.
— H. 513.
Wilms 86. 219.
Leischner 466.
Noesske 44.
Schloß 472
— u. Bircfcer 214.
Lenier 475.
Nonne 513.
Schmidt 326.
Winkler 41.
Lenk 91.
v. Noorden 1. 86 .
— A. 34.
Wirz 326.
Lenn6 188.
— u. Lamp4 145.
— H. E. 48. 223.
Wolf 178. 457.
Lenzmann 84.
Nordmann 278.
Schmiz 278.
Wolfler u. Lieblein 129.
Leser 277.
Schöne 138.
Wölfler 85.
Lesser 79.
Oppenheim 133. 509.
Scholtz, W. 130.
Wrede 463.
Leube 241.
— u. Borchardt 179.
Schrote 429
Wyss u. Ulrich 42.
Levisohn 45.
Ortner 328.
Schüller 513.
Levy-Dom 224.
Pankow 89. 325.
Schütz 227.
Zak 425.
Lewitt 95.
Paschkis 47.
Schwarz 373.
Zappert 474. \
v. Leyden f 482.
Pflßler 569.
Sdpiades 185.
Zickgraf 371. 1
Lexer 216.
Payr 222.
Seidel 218.
Ziegler 425.
Lilienstein 301. 381.
Pein 121.
Siccard 422.
Ziehen 554.
Litzenfrey 374.
Pels-Leusden 364.
Slajmer 372.
Zuelzer 157. 236
Loewi 366»
Penzoldt 227. 229.
Sohler 464.
Zuppinger 47.
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