vi
TOTEM UND TABU
EINIGE ÜBEREINSTIMMUNGEN
IM SEELENLEBEN DER WILDEN
UND DER NEUROTIKER
VON
PROF. Dr. SIGM. FREUD
ZWEITE, UNVERÄNDERTE AUFLAGE
1920
INTERNATIONALER PSYCHOANALYTISCHER VERLAG G.M.B.H.
INTERNATIONALER PSYCHOANALYTISCHER VERLAG G.M.B.H.
Von Prof. Dr. Sigm. Freud
sind im Erscheinen :
ZUR PSYCHOPATHOLOGIE
DES ALLTAGSLEBENS
(über Vergessen, Versprechen, Vergreifen,
Aberglaube und Irrtum).
Siebente, erweiterte Auflage.
| JENSEITS DES LUSTPRINZIPS
(Beihefte zur Internat. Zeitschrift für Psychoanalyse, Nr. 3).
VORLESUNGEN
ZUR
EINFÜHRUNG non PSYCHOANALYSE
Drei Teile:
Fehlleistungen.
Traum.
Allgemeine Neurosenlehre.
Dritte, durchgesehene Auflage.
Mit einem Sachregister. — 35 Bogen Groß-Oktav.
u AA Be
Ken Pre:
ee m) Er
a. publik y,
Be Ka SE 77 „.[
r wi Dr he -
*
Tr
. e Yhakı
RER
u h
j 5 ’ u®T .
: £ t
* = P .
je s 2
N
j .
fr 4
MR
' v
j a
| .
Bi.
t
” .-
j ®
u
| | 3
D
R ’ rn
en »
| I A * i »
f >.
S
u J
in ’
> u. « }
- %
, ”
: >
2
h B un
. j
se x
, „
F ee, ii:
« i PS
b r | j N
j, g ’ A
2 5 more Bi, >
+ Pa 7 Fi
.—_ N . rn Z.. D
2 . N “u
e un - u DR
» . { u »
. nn
- “
» n. a
= Ey ge \e
; ss v
P [0
(ci & u
r Be
Bahn.
e,
y
aa.
ET Zr
_- yeTRz
TOTEM UND TABU
EINIGE ÜBEREINSTIMMUNGEN
IM SEELENLEBEN DER WILDEN
UND DER NEUROTIKER
VoN
PROF. Dr. SIGM. FREUD
ZWEITE, UNVERÄNDERTE AUFLAGE
1920
INTERNATIONALER PSYCHOANALYTISCHER VERLAG
LEIPZIG WIEN ZÜRICH
Alle Rechte, besonders das der Übersetzung in alle Sprachen vorbehalten
Copyright by „Internationaler Psychoanalytischer Verlag“,
Druck- und Verlagshaus Karl Prochaska, Teschen.
VORWORT.
Die nachstehenden vier Aufsätze, die unter dem Untertitel
dieses Buches in den beiden ersten Jahrgängen der von mir
herausgegebenen Zeitschrift „Imago“ erschienen sind, ent-
sprechen einem ersten Versuch von meiner Seite, Gesichtspunkte
und Ergebnisse der Psychoanalyse auf ungeklärte Probleme
der Völkerpsychologie anzuwenden. Sie enthalten also einen
methodischen Gegensatz einerseits zu dem groß angelegten
Werke von W. Wundt, welches die Annahmen und Arbeits-
‚weisen der nicht analytischen Psychologie derselben Absicht
dienstbar macht, und anderseits zu den Arbeiten der Züricher
psychoanalytischen Schule, die umgekehrt Probleme der Indi-
vidualpsychologie durch Heranziehung von völkerpsychologi-
schem Material zu erledigen streben!). Es sei gern zugestanden,
daß von diesen beiden Seiten die nächste Anregung zu meinen
eigenen Arbeiten ausgegangen ist.
Die Mängel dieser letzteren sind mir wohlbekannt. Ich will
diejenigen nicht berühren, die von dem Erstlingscharakter dieser
Untersuchungen abhängen. Andere aber erfordern ein Wort
der Einführung. Die vier hier vereinigten Aufsätze machen auf
das Interesse eines größeren Kreises von Gebildeten Anspruch
1) Jung, Wandlungen und Symbole der Libido, Jahrb. für psycho-
analytische und psychopathologische Forschungen, Bd. IV, 1912; der-
selbe Autor, Versuch einer Darstellung der psychoanalytischen Theorie,
ibid. Bd. V, 1913.
IV VORWORT.
und können eigentlich doch nur von den wenigen verstanden und
beurteilt werden, denen die Psychoanalyse nach ihrer Eigenart
nicht mehr fremd ist. Sie wollen zwischen Ethnologen, Sprach-
forschern, Folkloristen usw. einerseits und Psychoanalytikern
anderseits vermitteln und können doch beiden nicht geben, was
ihnen abgeht: den ersteren eine genügende Einführung in die
neue psychologische Technik, den letzteren eine zureichende Be-
herrschung des der Verarbeitung harrenden Materials. So werden
sie sicb wohl damit begnügen müssen, hier wie dort Auf-
merksamkeit zu erregen und die Erwartung hervorzurufen, daß
ein öfteres Zusammentreffen von beiden Seiten nicht ertraglos
für die Forschung bleiben kann.
Die beiden Hauptthemata, welche diesem kleinen Buch den
Namen geben, der Totem und das Tabu, werden darin nieht in
gleichartiger Weise abgehandelt. Die Analyse des Tabu tritt
als durchaus gesicherter, das Problem erschöpfender Lösungs-
versuch auf. Die Untersuchung über den Totemismus bescheidet
sich zu erklären: Dies ist, was die psychoanalytische Betrachtung
zur Klärung der Totemprobleme derzeit beibringen kann. Dieser
Unterschied hängt damit zusammen, daß das Tabu eigentlich
noch in unserer Mitte fortbesteht; obwohl negativ gefaßt und
auf andere Inhalte gerichtet, ist es seiner psychologischen Natur
nach doch nichts anderes als der „kategorische Imperativ“
Kant’s, der zwangsartig wirken will und jede bewußte Motivie-
rung ablehnt. Der Totemismus hingegen ist eine unserem heu-
tigen Fühlen entfremdete, in Wirklichkeit längst aufgegebene
und durch neuere Formen ersetzte religiös-soziale Institution,
welche nur geringfügige Spuren in Religion, Sitte und Gebrauch
des Lebens der gegenwärtigen Kulturvölker hinterlassen hat,
und selbst bei jenen Völkern große Verwandlungen erfahren
mußte, welche ihm heute noch anhängen. Der soziale und tech-
VORWORT. v
nische Fortschritt der Menschheitsgeschichte hat dem Tabu weit
weniger anhaben können als dem Totem. In diesem Buche ist der
Versuch gewagt worden, den ursprünglichen Sinn des Totemismus
aus seinen infantilen Spuren zu erraten, aus den Andeutungen,
in denen er in der Entwicklung unserer eigenen Kinder wieder
auftaucht. Die enge Verbindung zwischen Totem und Tabu
weist die weiteren Wege zu der hier vertretenen Hypothese, und
wenn diese am Ende recht unwahrscheinlich ausgefallen ist, so
ergibt dieser Charakter nicht einmal einen Einwand gegen die
Möglichkeit, daß sie mehr oder weniger nahe an die schwierig
zu rekonstruierende Wirklichkeit herangerückt sein könnte.
Rom, im September 1913.
ng ae 7 SEE Re
N sh
Se el ie ee X Akne zer
= «* &
»
Pa . >»
+ 8
»
r [3
62% 15 Bez
’
r
a N i
nz
]
RE Be: Tay8
\ ie . un :E yucher
h | er 7 En re
er a ER EA ARE DR a; -
u Be f >. & . = Bar) u y =
+4 Be BE Yu EB Ir i en
: e - 2er EURE,
ö ee a N ah u -
a3 PR CE > =
ri .
E = EMLDIE TE ? 68 sis u R e- Feng A | er I
HER TERN u Pu ee s an)
° SCH SE 2 be u % ‚
z a = 20 HM ea A n® - u ö u2 2,
ri :
De Fe . £ vw 2 u
SER ERMEREN - FT DZ Fe
BEER TS u i ;
I Te BASE Shen er
” een b*r Ei wr DZ a -& er
F ne _ P
be BP far Be an re
ran) rn 2022 wre
se; ar
Inhalt.
Seite
J. Die Inzestschu . .. . a NEE
II, Das Tabu und die Ambivalenz der Gefühlsregungen 25
III. Animismus, Magie und Allmacht der Gedanken . 100
IV. Die infantile Wiederkehr des Totemismus . . .133
I.
DIE INZESTSCHEU.
Den Menschen der Vorzeit kennen wir in den Entwicklungs-
stadien, die er durchlaufen hat, durch die unbelebten Denkmäler
und Geräte, die er uns hinterlassen, durch die Kunde von seiner
Kunst, seiner Religion und Lebensanschauung, die wir entweder
direkt oder auf dem Wege der Tradition in Sagen, Mythen und
Märchen erhalten haben, durch die Überreste seiner Denkweisen
in unseren eigenen Sitten und Gebräuchen. Außerdem aber ist er
noch in gewissem Sinne unser Zeitgenosse; es leben Menschen,
von denen wir glauben, daß sie den Primitiven noch sehr nahe
stehen, viel näher als wir, in denen wir daher die direkten Ab-
kömmlinge und Vertreter der früheren Menschen erblicken. Wir
urteilen so über die sogenannten wilden und halbwilden Völker,
deren Seelenleben ein besonderes Interesse für uns gewinnt, wenn
wir in ihm eine gut erhaltene Vorstufe unserer eigenen Ent-
wicklung erkennen dürfen.
Wenn diese Voraussetzung zutreffend ist, so wird eine
Vergleichung der „Psychologie der Naturvölker“, wie die Völker-
kunde sie lehrt, mit der Psychologie des Neurotikers, wie sie
durch die Psychoanalyse bekannt worden ist, zahlreiche Über-
einstimmungen aufweisen müssen, und wird uns gestatten, be-
reits Bekanntes hier und dort in neuem Lichte zu sehen.
Aus äußeren wie aus inneren Gründen wähle ich für diese
Vergleichung jene Völkerstämme, die von den Ethnographen
Freud, Totem und Tabu. a
92 I. DIE INZESTSCHEU.
als die zurückgebliebensten, armseligsten Wilden beschrieben
worden sind, die Ureinwohner des jüngsten Kontinents, Austra-
lien, der uns auch in seiner Fauna soviel Archäisches, anderswo
Untergegangenes, bewahrt hat.
Die Ureinwohner Australiens werden als eine besondere
Rasse betrachtet, die weder physisch noch sprachlich Verwandt-
schaft mit ihren nächsten Nachbarn, den melanesischen, polynesi-
schen und malaiischen Völkern erkennen läßt. Sie bauen weder
Häuser noch feste Hütten, bearbeiten den Boden nicht, halten
keine Haustiere bis auf den Hund, kennen nicht einmal die
Kunst der Töpferei. Sie nähren sich ausschließlich von dem
Fleische aller möglichen Tiere, die sie erlegen, und von Wurzeln,
die sie graben. Könige oder Häuptlinge sind bei ihnen unbe-
kannt, die Versammlung der gereiften Männer entscheidet über
die gemeinsamen Angelegenheiten. Es ist durchaus zweifelhaft,
ob man ihnen Spuren von Religion in Form der Verehrung
höherer Wesen zugestehen darf. Die Stämme im Innern des
Kontinents, die infolge von Wasserarmut mit den härtesten
Lebensbedingungen zu ringen haben, scheinen in allen Stücken
primitiver zu sein, als die der Küste nahewohnenden.
Von diesen armen nackten Kannibalen werden wir gewiß
nicht erwarten, daß sie im Geschlechtsleben in unserem Sinne
sittlich seien, ihren sexuellen Trieben ein hohes Maß von Be-
schränkung auferlegt haben. Und doch erfahren wir, daß sie
. sich mit ausgesuchtester Sorgfalt und peinlichster Strenge die
Verhütung inzestuöser Geschlechtsbeziehungen zum Ziele ge-
- setzt haben. Ja ihre gesamte soziale Organisation scheint dieser
Absicht zu dienen oder mit ihrer Erreichung in Beziehung ge-
bracht worden zu sein.
An Stelle aller fehlenden religiösen und sozialen Insti-
tutionen findet sich bei den Australiern das System des To-
DER TOTEMISMUS. 3
temismus. Die australischen Stämme zerfallen in kleinere
Sippen oder Clans, von denen sich jeder nach seinem Totem
benennt. Was ist nun der Totem? In der Regel ein Tier, ein
eßbares, harmloses oder gefährliches, gefürchtetes, seltener eine
Pflanze oder eine Naturkraft (Regen, ‘Wasser), welches in einem
besonderen Verhältnis zu der ganzen Sippe steht. Der Totem
ist erstens der Stammvater der Sippe, dann aber auch ihr Schutz-
geist und Helfer, der ihnen Orakel sendet, und wenn er sonst
gefährlich ist, seine Kinder kennt und verschont. Die Totem-
genossen stehen dafür unter der heiligen, sich selbstwirkend stra-
fenden Verpflichtung, ihren Totem nicht zu töten (vernichten)
und sich seines Fleisches (oder des Genusses, den er sonst bietet)
zu enthalten. Der Totemcharakter haftet nicht an einem Einzel-
tier oder Einzelwesen, sondern an allen Individuen der Gattung.
Von Zeit zu Zeit werden Feste gefeiert, bei denen die Totem-
genossen in zeremoniösen Tänzen die Bewegungen und Eigen-
heiten ihres Totem darstellen oder nachahmen.
Der Totem ist entweder in mütterlicher oder in väterlicher
Linie erblich; die erstere Art ist möglicherweise überall die
ursprüngliche und erst später durch die letztere abgelöst worden.
Die Zugehörigkeit zum Totem ist die Grundlage aller sozialen
Verpflichtungen des Australiers, setzt sich einerseits über die
Stammesangehörigkeit hinaus und drängt anderseits die Bluts-
verwandtschaft zurück).
An Boden und Örtlichkeit ist der Totem nicht gebunden;
. die Totemgenossen wohnen von einander getrennt und mit den
Anhängern anderer Totem friedlich beisammen 2).
1) Frazer, Totemism and Exogamy, Bd. I, p. 53. The totem bond
is stronger than the bond of blood or family in the modern sense.
2) Dieser knappste Extrakt des totemistischen Systems kann nicht
ohne Erläuterungen und Einschränkungen bleiben: Der Name Totem ist
1*#
4 I. DIE INZESTSCHEU.
Und nun müssen wir endlich jener Eigentümlichkeit des
totemistischen Systems gedenken, wegen welcher auch das Inter-
esse des Psychoanalytikers sich ihm zuwendet. Fast überall,
wo der Totem gilt, besteht auch das Gesetz, daß Mitglieder
desselben Totem nicht in geschlechtliche Be-
ziehungen zu einander treten, also auch einander
nicht heiraten dürfen. Das ist die mit dem Totem ver-
bundene Exogamie.
Dieses streng gehandhabte Verbot ist schr merkwürdig.
Es wird durch nichts vorbereitet, was wir vom Begriff oder den
Eigenschaften des Totem bisher erfahren haben; man versteht
also nicht, wie es in das System des Totemismus hineingeraten
in der Form Totam 1791 durch den Engländer J. Long von den Rot-
häuten Nordamerikas übernommen worden. Der Gegenstand selbst hat
allmählich in der Wissenschaft großes Interesse gefunden und eine reich-
haltige Literatur hervorgerufen, aus welcher ich als Hauptwerke das vier-
bändige Buch von J. G. Frazer, „Totemism and Exogamy, 1910“ und
Bücher und Schriften von Andrew Lang (,The secret of the Totem,
1905“) hervorhebe. Das Verdienst, die Bedeutung des Totemismus für
die Urgeschichte der Menschheit erkannt zu haben, gebührt dem Schotten
J. Ferguson Mc Lennan (1869—1870). Totemistische Institutionen
wurden oder werden heute noch außer bei den Australiern bei den In-
dianern Nordamerikas beobachtet, ferner bei den Völkern der ozeanischen
Inselwelt, in Östindien und in einem großen Teil von Afrika. Manche
sonst schwer zu deutende Spuren und Überbleibsel lassen aber erschließen,
daß der Totemismus einst auch bei den arischen und semitischen Ur-
völkern Europas und Asiens bestanden hat, so daß viele Forscher geneigt
sind, eine notwendige und überall durchschrittene Phase der menschlichen
Entwicklung in ihm zu erkennen.
Wie kamen die vorzeitlichen Menschen nur dazu, sich einen Totem
beizulegen, das heißt die Abstammung von dem oder jenem Tier zur
Grundlage ihrer sozialen Verpflichtungen und, wie wir hören werden, auch
ihrer sexuellen Beschränkungen zu machen? Es gibt darüber zahlreiche
Theorien, deren Übersicht der deutsche Leser in Wundts Völkerpsycho-
DIE EXOGAMIE BEIM TOTEMISMUS. 5
ist. Wir verwundern uns darum nicht, wenn manche Forscher
geradezu annehmen, die Exogamie habe ursprünglich — im
Beginn der Zeiten und dem Sinne nach — nichts mit dem
Totemismus zu tun, sondern sei ihm irgend einmal, als sich
Heiratsbeschränkungen notwendig erwiesen, ohne tieferen Zu-
sammenhang angefügt worden. Wie immer dem sein mag, die
Vereinigung von Totemismus und Exogamie besteht und er-
weist sich als eine sehr feste.
Machen wir uns die Bedeutung dieses Verbots durch weitere
Erörterungen klar.
a) Die Übertretung dieses Verbotes wird nicht einer so-
zusagen automatisch eintretenden Bestrafung der Schuldigen
logie (Bd. II, Mythus und Religion) finden kann, aber keine Einigung.
Ich verspreche, das Problem des Totemismus demnächst zum Gegenstand
einer besonderen Studie zu machen, in welcher dessen Lösung durch An-
wendung psychoanalytischer Denkweise versucht werden soll. (Vgl. die
vierte Abhandlung dieses Bandes.)
Aber nicht nur, daß die Theorie des Totemismus strittig ist, auch
die Tatsachen desselben sind kaum in allgemeinen Sätzen auszusprechen,
wie oben versucht wurde. Es gibt kaum eine Bedeutung, zu welcher man
nicht Ausnahmen oder Widersprüche hinzufügen müßte Man darf aber
nicht vergessen, daß auch die primitivsten und konservativsten Völker
in gewissem Sinne alte Völker sind und eine lange Zeit hinter sich
haben, in welcher das Ursprüngliche bei ihnen viel Entwicklung und Ent-
stellung erfahren hat. So findet man den Totemismus heute bei den
Völkern, die ihn noch zeigen, in den mannigfaltigsten Stadien des Ver-
falles, der Abbröckelung, des Überganges zu anderen sozialen und reli-
giösen Institutionen, oder aber in stationären Ausgestaltungen, die sich
weit genug von seinem ursprünglichen Wesen entfernt haben mögen. Die
Schwierigkeit liegt dann darin, daß es nicht ganz leicht ist zu ent-
scheiden, was an den aktuellen Verhältnissen als getreues Abbild der
sinnvollen Vergangenheit, was als sekundäre Entstellung derselben gefaßt
werden darf.
6 I. DIE INZESTSCHEU.
überlassen wie bei anderen Totemverboten (z. B. das Totemtier
nicht zu töten), sondern wird vom ganzen Stamme aufs ener-
gischeste geahndet, als gelte es eine die ganze Gemeinschaft
bedrohende Gefahr oder eine sie bedrückende Schuld abzuwehren.
Einige Sätze aus dem Buche von Frazer!) mögen zeigen, wie
ernst solche Verfehlungen von diesen, nach unserem Maßstaba
sonst recht unsittlichen, Wilden behandelt werden.
„In Australia the regular penalty for sexual intercourse
with a person of a forbidden clan is death. It matters not
whether the woman be of the same local group or has been
captured in war from another tribe; a man of the wrong clan
who uses her as his wife is hunted down and killed by his
clansmen, and so is the woman; though in some cases, if they
succeed in eluding capture for a certain time, the offence may be
condoned. In the Ta-Ta-thi tribe, New South Wales, in the rare
cases which occur, the man is killed but the woman is only
beaten or speared, or both, till she is nearly- dead; the reason
given for not actually killing her being that she was probably
coerced. Even in casual amours the elan prohibitions are strietly
observed, any violations of these prohibitions ‚are regarded with
the utmost abhorrence and are punished by death (Howitt‘.“
b) Da dieselbe harte Bestrafung auch gegen flüchtige Lieb-
schaften geübt wird, die nicht zur Kindererzeugung geführt
haben, so werden andere, z. B. praktische Motive des Verbotes
unwahrscheinlich.
c) Da der Totem hereditär ist und durch die Heirat nicht
verändert wird, so lassen sich die Folgen des Verbotes etwa bei
mütterlicher Erblichkeit leicht übersehen. Gehört der Mann
z. B. einem Clan mit dem Totem Känguruh an und heiratet
eine Frau vom Totem Emu, so sind die Kinder, Knaben und
> Sp Frazer, Lo. BUL p. 64.
u nn 0 SO DE
A u
u ee ee ee
u re
DIE EXOGAMIE BEIM TOTEMISMUS,. T
Mädchen, alle Emu. Einem Sohne dieser Ehe wird also durch
die Totemregel der inzestuöse Verkehr mit seiner Mutter und
seinen Schwestern, die Emu sind wie er, unmöglich gemacht!).
d) Es bedarf aber nur einer Mahnung, um einzusehen, daß
die mit dem Totem verbundene Exogamie mehr leistet, also mehr
bezweckt, als die Verhütung des Inzests mit Mutter und Schwe-
stern. Sie macht dem Manne auch die sexuelle Vereinigung mit
allen Frauen seiner eigenen” Sippe unmöglich, also mit einer
Anzahl von weiblichen Personen, die ihm nicht blutsverwandt
sind, indem sie alle diese Frauen wie Blutsverwandte behan-
delt. Die psychologische Berechtigung dieser großartigen Ein-
schränkung, die weit über alles hinausgeht, was sich ihr bei
zivilisierten Völkern an die Seite stellen läßt, ist zunächst nicht
ersichtlich. Man glaubt nur zu verstehen, daß die Rolle des
Totem (Tieres) als Ahnherrn dabei sehr ernst genommen wird.
Alles, was von dem gleichen Totem abstammt, ist blutsverwandt,
ist eine Familie, und in dieser Familie werden die entferntesten
Verwandtschaftsgrade als absolutes Hindernis der sexuellen
Vereinigung anerkannt.
So zeigen uns denn diese Wilden einen ungewohnt hohen
Grad von Inzestscheu oder Inzestempfindlichkeit, verbunden
mit der von uns nicht gut verstandenen Eigentümlichkeit, daß
sie die reale Blutsverwandtschaft durch die Totemverwandt-
1) Dem Vater, der Känguruh ist, wird aber — wenigstens durch
dieses Verbot — der Inzest mit seinen Töchtern, die Emu sind, frei ge-
lassen. Bei väterlicher Vererbung des Totem wäre der Vater Känguruh,
die Kinder gleichfalls Känguruh, dem Vater würde dann der Inzest mit
den Töchtern verboten sein, dem Sohne der Inzest mit der Mutter frei-
bleiben. Diese Erfolge der Totemverbote ergeben einen Hinweis darauf,
daß die mütterliche Vererbung älter ist als die väterliche, denn es liegt
Grund vor anzunehmen, daß die Totemverbote vor allem gegen die in-
zestuösen Gelüste des Sohnes gerichtet sind.
8 I. DIE INZESTSCHEU.
schaft ersetzen. Wir dürfen indes diesen Gegensatz nicht allzu-
sehr übertreiben und wollen im Gedächtnis behalten, daß
die Totemverbote den realen Inzest als Spezialfall mitein-
schließen.
Auf welche Weise es dabei zum Ersatz der wirklichen Fa-
milie durch die Totemsippe gekommen, bleibt ein Rätsel, dessen
Lösung vielleicht mit der Aufklärung des Totem selbst zu-
sammenfällt.e. Man müßte freilich daran denken, daß bei einer
gewissen, über die Eheschranken hinausgehenden Freiheit des
Sexualverkehrs die Blutsverwandtschaft und somit die Inzest-
verhütung so unsicher werden, daß man eine andere Fundierung
des Verbotes nicht entbehren kann. Es ist darum nicht über-
flüssig zu bemerken, daß die Sitten der Australier soziale Be-
dingungen und festliche Gelegenheiten anerkennen, bei denen
das ausschließliche Eheanrecht eines Mannes auf ein Weib durch-
brochen wird.
Der Sprachgebrauch dieser australischen Stämme!) weist
eine Eigentümlichkeit auf, welche unzweifelhaft in diesen Zu-
sammenhang gehört. Die Verwandtschaftsbezeichnungen näm-
lich, deren sie sich bedienen, fassen nicht die Beziehung zwischen
zwei Individuen, sondern zwischen einem Individuum und einer
Gruppe ins Auge; sie-gehören nach dem Ausdruck L. H. Mor-
gans dem „klassifizierenden“ System an. Das will
heißen, ein Mann nennt „Vater“ nicht nur seinen Erzeuger,
sondern auch jeden anderen Mann, der nach den Stammessatzun-
gen seine Mutter hätte heiraten und so sein Vater hätte werden
. können; er nennt „Mutter“ jede andere Frau neben seiner Ge-
bärerin, die ohne Verletzung der Stammesgesetze seine Mutter
hätte werden können; er heißt „Brüder“, „Schwestern“ nicht
1) Sowie der meisten Totemvölker.
DIE KLASSIFIZIERENDEN VERWANDTSCHAFTSNAMEN. 9
nur die Kinder seiner wirklichen Eltern, sondern auch die
Kinder all der genannten Personen, die in der elterlichen
Gruppenbeziehung zu ihm stehen usw. Die Verwandtschafts-
namen, die zwei Australier einander geben, deuten also nicht
notwendig auf eine Blutsverwandtschaft zwischen ihnen hin,
wie sie es nach unserem Sprachgebriauche müßten; sie be-
zeichnen vielmehr soziale als physische Beziehungen. Eine An-
näherung an dieses klassifikatorische System findet sich bei
uns etwa in der Kinderstube, wenn das Kind veranlaßt wird,
jeden Freund und jede Freundin der Eltern als „Onkel“ und
„Tante“ zu begrüßen, oder im übertragenen Sinn, wenn wir von
„Brüdern in Apoll“, „Schwestern in Christo“ sprechen.
Die Erklärung dieses für uns so sehr befremdenden Sprach-
gebrauches ergibt sich leicht, wenn man ihn als Rest und An-
zeichen jener Heiratsinstitution auffaßt, die der Rev. L. Fison
„G@ruppenehe“ genannt hat, deren Wesen darin besteht, daß
eine gewisse Anzahl von Männern eheliche Rechte über eine
gewisse Anzahl von Frauen ausübt. Die Kinder dieser Gruppen-
ehe würden dann mit Recht einander als Geschwister betrachten,
obwohl sie nicht alle von derselben Mutter geboren sind, und
alle Männer der Gruppe für ihre Väter halten.
Obwohl manche Autoren, wie z.B. Westermarck in
seiner „Geschichte der menschlichen Ehe)“, sich den Folgerun-
gen widersetzen, welche andere aus der Existenz der Gruppen-
verwandtschaftsnamen gezogen haben, so stimmen doch gerade
die besten Kenner der australischen Wilden darin überein, daß
die klassifikatorischen Verwandtschaftsnamen als Überrest aus
Zeiten der Gruppenehe zu betrachten sind. Ja, nach Spencer
und Gillen?) läßt sich eine gewisse Form der Gruppenehe
1); 2.. Aufl, 1%2.
2) The Native Tribes of Central Australia, London 1899.
10 I. DIE INZESTSCHEU.
bei den Stämmen der Urabunna und der Dieri noch als
heute bestehend feststellen. Die Gruppenehe sei also bei diesen
Völkern der individuellen Ehe vorausgegangen und nicht ge-
schwunden, ohne deutliche Spuren in Sprache und Sitten zurück-
zulassen.
Ersetzen wir aber die individuelle Ehe durch die Gruppen-
ehe, so wird uns das scheinbare Übermaß von Inzestvermeidung,
welches wir bei denselben Völkern angetroffen haben, begreif-
lieh. Die Totemexogamie, das Verbot des sexuellen Verkehrs
zwischen Mitgliedern desselben Clans, erscheint als das ange-
messene Mittel zur Verhütung des Gruppeninzests, welches
dann fixiert wurde und seine Motivierung um lange Zeiten über-
dauert hat.
Glauben wir so, die Heiratsbeschränkungen der Wilden.
Australiens in ihrer Motivierung verstanden zu haben, so müssen
wir noch erfahren, daß die wirklichen Verhältnisse eine weit
größere, auf den ersten Anblick verwirrende, Kompliziertheit
erkennen lassen. Es gibt nämlich nur wenige Stämme in Austra-
lien, die kein anderes Verbot als die Totemschranke zeigen.
Die meisten sind derart organisiert, daß sie zunächst in
zwei Abteilungen zerfallen, die man Heiratsklassen (englisch:
Phrathries) genannt hat. Jede dieser Heiratsklassen ist exogam
und schließt eine Mehrzahl von Totemsippen ein. Gewöhnlich
teilt sich noch jede Heiratsklasse in zwei Unterklassen (Sub-
phrathries), der ganze Stamm also in vier; die Unterklassen
stehen so zwischen den Phrathrien und den Totemsippen.
Das typische, recht häufig verwirklichte Schema der Or-
ganisation eines australischen Stammes sieht also folgender-
maßen aus:
DIE HEIRATSKLASSEN. 41
Phrathrien
N-A-A N
aAßY ö 4 56
Die zwölf Totemsippen sind in vier Unterklassen und zwei
Klassen untergebracht. Alle Abteilungen sind exogam!). Die
Subklasse ce bildet mit e, die Subklasse d mit f eine exogame
Einheit. Der Erfolg, also die Tendenz, dieser Einrichtungen
ist nicht zweifelhaft; es wird auf diesem Wege eine weitere
Einschränkung der Heiratswahl und der sexuellen Freiheit her-
beigeführt. Bestünden nur die zwölf Totemsippen, so wäre
jedem Mitglied einer Sippe — bei Voraussetzung der gleichen
Menschenanzahl in jeder Sippe — 11/,, aller Frauen des Stam-
mes zur Auswahl zugänglich. Die Existenz der beiden
Phrathrien beschränkt diese Anzahl auf 6/,a=1/,; ein Mann
vom Totem «) kann nur eine Frau der Sippen 1—6 heiraten.
Bei Einführung der beiden Unterklassen sinkt die Auswahl
auf 3//g—=1/,; ein Mann vom Totem a) muß seine Ehewahl
auf die Frauen der Totem 4, 5, 6 beschränken.
Die historischen Beziehungen der Heiratsklassen — deren
bei einigen Stämmen bis zu acht vorkommen — zu den Totem-
sippen sind durchaus ungeklärt. Man sieht nur, daß diese
Einrichtungen dasselbe erreichen wollen wie die Totemexogamie
und auch noch mehr anstreben. Aber während die Totem-
exogamie den Eindruck einer heiligen Satzung macht, die ent-
1) Die Anzahl der Totem ist willkürlich gewählt.
12 I. DIE INZESTSCHEU,
standen ist, man weiß nicht wie, also einer Sitte, scheinen die
komplizierten Institutionen der Heiratsklassen, ihrer Unter-
teilungen und der daran geknüpften Bedingungen zielbewußter
Gesetzgebung zu entstammen, die vielleicht die Aufgabe der
Inzestverhütung neu aufnahm, weil der Einfluß des Totem im
Nachlasssen war. Und während das Totemsystem, wie wir
wissen, die Grundlage aller anderen sozialen Verpflichtungen
und sittlichen Beschränkungen des Stammes ist, erschöpft sich
die Bedeutung der Phrathrien im allgemeinen in der durch sie
angestrebten Regelung der Ehewahl.
In der weiteren Ausbildung des Heiratsklassensystems
zeigt sich ein Bestreben, über die Verhütung des natürlichen
und des Gruppeninzests hinauszugehen und Ehen zwischen ent-
fernteren Gruppenverwandten zu verbieten, ähnlich wie es die
katholische Kirche tat, indem sie die seit jeher für Geschwister
geltenden Heiratsverbote auf die Vetternschaft ausdehnte und
die geistlichen Verwandtschaftsgrade dazu erfand!).
Es würde unserem Interesse wenig dienen, wenn wir in die
außerordentlich verwickelten und ungeklärten Diskussionen über
Herkunft und Bedeutung der Heiratsklassen, sowie über deren
Verhältnis zum Totem, tiefer eindringen wollten. Für unsere
Zwecke genügt der Hinweis auf die große Sorgfalt, welche die
Australier sowie andere wilde Völker zur Verhütung des Inzests
aufwenden?). Wir müssen sagen, diese Wilden sind selbst inzest-
empfindlicher als wir. ‚Wahrscheinlich liegt ihnen die Ver-
1) Artikel Totemism in Encyclopedia Britannica. Elfte Auflage,
1911 (A. Lang).
2) Auf diesen Punkt hat erst kürzlich Storfer in seiner Studie:
„Zur Sonderstellung des Vatermordes“, Schriften zur angewandten Seelen-
kunde, 12. Heft, Wien 1911, nachdrücklich aufmerksam gemacht,
ANDERE BESCHRÄNKUNGEN. ; 13
suchung näher, so daß sie eines ausgiebigeren Schutzes gegen
dieselbe bedürfen.
Die Inzestscheu dieser Völker begnügt sich aber nicht mit
der Aufrichtung der beschriebenen Institutionen, welche uns
hauptsächlich gegen den Gruppeninzest gerichtet scheinen. Wir
müssen eine Reihe von „Sitten“ hinzunehmen, welche den indivi-
duellen Verkehr naher Verwandter in unserem Sinne behüten,
die mit geradezu religiöser Strenge eingehalten werden, und
deren Absicht uns kaum zweifelhaft erscheinen kann. Man
kann diese Sitten oder Sittenverbote „Vermeidungen‘“ (avoidances)
heißen. Ihre Verbreitung geht weit über die australischen
Totemvölker hinaus. Ich werde aber auch hier die Leser bitten
müssen, mit einem fragmentarischen Ausschnitt aus dem reichen
Material vorlieb zu nehmen.
In Melanesien richten sich solche einschränkende Verbote
gegen den Verkehr des Knaben mit Mutter und Schwestern.
So z. B. verläßt auf Lepers Island, einer der Neuhebri-
den, der Knabe von einem bestimmten Alter an das mütterliche
Heim und übersiedelt ins „Klübhaus“, wo er jetzt regelmäßig
schläft und seine Mahlzeiten einnimmt. Er darf sein Heim
zwar noch besuchen, um dort Nahrung zu verlangen; wenn
aber seine Schwester zu Hause ist, muß er fortgehen, ehe er
gegessen hat; ist keine Schwester anwesend, so darf er sich
in der Nähe der Türe zum Essen niedersetzen. Begegnen sich
Bruder und Schwester zufällig im Freien, so muß sie weg-
laufen oder sich seitwärts verstecken. .Wenn der Knabe ge-
wisse Fußspuren im Sande als die seiner Schwester erkennt,
so wird er ihnen nicht folgen, ebensowenig wie sie den seinigen.
Ja, er wird nicht einmal ihren Namen aussprechen und wird
sich hüten, ein geläufiges Wort zu gebrauchen, wenn es als
Bestandteil in ihrem Namen enthalten ist. Diese Vermeidung,
14 I. DIE INZESTSCHEU.
die mit der Pubertätszeremonie beginnt, wird über das ganze
Leben festgehalten. Die Zurückhaltung zwischen einer Mutter
und ihrem Sohne nimmt mit den Jahren zu, ist übrigens über-
wiegend auf Seite der Mutter. Wenn sie ihm etwas zu essen
bringt, reicht sie es ihm nicht selbst, sondern stellt es vor ihn
hin, sie redet ihn auch nicht vertraut an, sagt ihm — nach
unserem Sprachgebrauch — nicht „Du“, sondern „Sie“. Ähn-
liche Gebräuche herrschen in Neukaledonien. Wenn Bru-
der und Schwester einander begegnen, so flüchtet sie ins Ge-
büsch, und er geht vorüber, ohne den Kopf nach ihr zu wenden!).
Auf der Gazellen-Halbinsel in Newbritannien
darf eine Schwester von ihrer Heirat an mit ihrem Bruder
nicht mehr sprechen, sie spricht auch seinen Namen nicht mehr
aus, sondern bezeichnet ihn mit einer Umschreibung ?).
Auf Neumecklenburg werden Vetter und Base (ob-
wohl nicht jeder Art) von solchen Beschränkungen getroffen,
ebenso aber Bruder und Schwester. Sie dürfen sich einander
nicht nähern, einander nicht die Hand geben, keine Geschenke
machen, dürfen aber in der Entfernung von einigen Schritten
miteinander sprechen. Die Strafe für den Inzest mit der Schwe-
ster ist der Tod durch Erhängen °).
Auf den Fiji-Inseln sind diese Vermeidungsregeln be-
sonders strenge; sie betreffen dort nicht nur die blutsverwandte,
sondern selbst die Gruppenschwester. Um so sonderbarer be-
rührt es uns, wenn wir hören, daß diese Wilden heilige Orgien
kennen, in denen eben diese verbotenen Verwandtschaftsgrade
I) R. H. Codrington, „The Melanesians“ bei Frazer, „Totemism
und Exogamy“, Bd.]I, p. 77.
2) Frazer, l.c. II, pag. 124, nach Kleintitschen, Die Küsten-
bewohner der Gazellen-Halbinsel.
®) Frazer, 1. c. II, pag. 131, nach P. G. Peckel in Anthropos, 1908.
VERMEIDUNGEN ZWISCHEN BLUTSVERWANDTEN. 15
die geschlechtliche Vereinigung aufsuchen, wenn wir es nicht
vorziehen, diesen Gegensatz zur Aufklärung des Verbotes zu
verwenden, anstatt uns über ihn zu verwundern!).
Unter den Battas auf Sumatra betreffen die Vermei-
dungsgebote alle nahen Verwandtschaftsbeziehungen. Es wäre
für einen Batta z. B. höchst anstößig, seine eigene Schwester
zu einer Abendgesellschaft zu begleiten. Ein Battabruder wird
sich in Gesellschaft seiner Schwester unbehaglich fühlen, selbst
wenn noch andere Personen mitanwesend sind. Wenn der eine
von ihnen ins Haus kommt, so zieht es der andere Teil vor,
wegzugehen. Ein Vater wird auch nicht allein im Hause mit
seiner Tochter bleiben, ebensowenig wie eine Mutter mit ihrem
Sohne. Der holländische Missionär, der über diese Sitten be-
richtet, fügt hinzu, er müsse sie leider für sehr wohlbegründet
halten. Es wird bei diesem Volke ohne weiteres angenommen,
daß ein Alleinsein eines Mannes mit einer Frau zu ungehöriger
Intimität führen werde, und da sie vom Verkehr naher Bluts-
verwandter alle möglichen Strafen und üblen Folgen erwarten,
- tun sie recht daran, allen Versuchungen durch solche Verbote
auszuweichen ?).
Bei den Barongos an der Delagoa-Bucht in Afrika
gelten merkwürdigerweise die strengsten Vorsichten der Schwä-
gerin, der Frau des Bruders der eigenen Frau. Wenn ein
Mann diese ihm gefährliche Person irgendwo begegnet, so weicht
er ihr sorgsam aus. Er wagt es nicht, aus einer Schüssel mit
ihr zu essen, er spricht sie nur zagend an, getraut sich nicht,
in ihre Hütte einzutreten, und begrüßt sie nur mit zitternder
Stimme).
3 Frazer, 1 0. II, pag. 147, nach Rev, L, Fison.
2) Frazer, l. c. II, pag. 189.
3) Frazer, l. c, II, pag. 388, nach Junod.
16 I. DIE INZESTSCHEU.
Bei den Akamba (oder Wakamba) in Britisch-Ostafrika
herrscht ein Gebot der Vermeidung, welches man häufiger an-
zutreffen erwartet hätte. Ein Mädchen muß zwischen ihrer .
Pubertät und ihrer Verheiratung dem eigenen Vater sorgfältig
ausweichen. Sie versteckt sich, wenn sie ihn auf der Straße
begegnet, sie versucht es niemals, sich neben ihn hinzusetzen,
und benimmt sich so bis zum Moment ihrer Verlobung. Von
der Heirat an ist ihrem Verkehr mit dem Vater kein Hindernis
mehr in den Weg gelegt!).
Die bei weitem verbreitetste, strengste und auch für zivi-
lisierte Völker interessanteste Vermeidung ist die, welche den
Verkehr zwischen einem Manne und seiner Schwiegermutter
einschräpkt. Sie ist in Australien ganz allgemein, ist aber
auch bei den melanesischen, polynesischen und den Negervölkern
Afrikas in Kraft, soweit die Spuren des Totemismus und der
Gruppenverwandtschaft reichen, und wahrscheinlich noch dar-
über hinaus. Bei manchen dieser Völker bestehen ähnliche Ver-
bote gegen den harmlosen Verkehr einer Frau mit ihrem Schwie-
gervater, doch sind sie lange nicht so konstant und sa ernsthaft.
In vereinzelten Fällen werden beide Schwiegereltern Gegen-
stand der Vermeidung.
Da wir uns weniger für die ethnographische Verbreitung
als für den Inhalt und die Absicht der Schwiegermuttervermei-
dung interessieren, werde ich mich auch hier auf die Wieder-
gabe weniger Beispiele beschränken.
Auf den Banks-Inseln sind diese Gebote sehr strenge
und peinlich genau. Ein Mann wird die Nähe seiner Schwieger-
mutter meiden, wie sie die seinige. Wenn sie einander zufällig
auf einem Pfade begegnen, so tritt das Weib zur Seite und
1) Frazer, l. c. II, pag. 424,
u
DIE VERMEIDUNG DER SCHWIEGERMUTTER. 17
wendet ihm den Rücken, bis er vorüber ist, oder er tut das
nämliche.
In Vanna Lava (Port Patteson) wird ein Mann nicht
einmal hinter seiner Schwiegermutter am Strande einhergehen,
ehe die steigende Flut nicht die Spur ihrer Fußtritte im Sande
weggeschwemmt hat. Doch dürfen sie aus einer gewissen Ent-
fernung miteinander sprechen. Es ist ganz ausgeschlossen, daß
er je den Namen seiner Schwiegermutter ausspricht oder sie
den ihres Schwiegersohnes?).
Auf den Salomons-Inseln darf der Mann von seiner
Heirat an seine Schwiegermutter weder sehen, noch mit ihr
sprechen. Wenn er ihr begegnet, tut er nicht, als ob er sie
kennen würde, sondern läuft, so schnell er kann, davon, um
sich zu verstecken 2).
Bei den Zulukaffern verlangt die Sitte, daß ein Mann
sich seiner Schwiegermutter schäme, daß er alles tue, um ihrer
Gesellschaft auszuweichen. Er tritt nicht in die Hütte ein, in
der sie sich befindet, und wenn sie einander begegnen, geht er
oder sie bei Seite, etwa, indem sie sich hinter einem Busch
versteckt, während er seinen Schild vors Gesicht hält. Wenn
sie einander nicht ausweichen können und das Weib nichts
anderes hat, um sich zu verhüllen, so bindet sie wenigstens ein
Grasbüschel um ihren Kopf, damit dem Zeremoniell Genüge
getan sei. Der Verkehr zwischen ihnen muß entweder durch
eine dritte Person besorgt werden, oder sie dürfen aus einiger
Entfernung einander zuschreien, wenn sie irgend eine Schranke,
z. B. die Einfassung des Kraals, zwischen sich haben. Keiner
1) Frazer, lc. II, pag. 76.
®2) Frazer, l.c. II, pag. 117, nach ©. Ribbe, Zwei Jahre unter den
Kannibalen der Salomons-Inseln, 1905.
Freud, Totem und Tabu. 2
18 I. DIE INZESTSCHEU.
von ihnen darf den Namen des anderen in den Mund
nehmen!).
Bei den Basoga, einem Negerstamme im Quellgebiete des
Nils, darf ein Mann zu seiner Schwiegermutter nur sprechen,
wenn sie in einem anderen Raume des Hauses ist und von ihm
nicht gesehen wird. Dieses Volk verabscheut übrigens den Inzest
so sehr, daß es ihn selbst bei Haustieren nicht straflos läßt2).
Während Absicht und Bedeutung der anderen Vermeidun-
gen zwischen nahen Verwandten einem Zweifel nicht unter-
liegen, so daß sie von allen Beobachtern als Schutzmaßregeln
gegen den Inzest aufgefaßt werden, haben die Verbote, welche
den Verkehr mit der Schwiegermutter betreffen, von manchen
Seiten eine andere Deutung erfahren. Es erschien mit Recht
unverständlich, daß alle diese Völker so große Angst vor der
Versuchung zeigen sollten, die dem Manne in der Gestalt einer
älteren Frau entgegentritt, welche seine Mutter sein könnte,
ohne es wirklich zu sein?).
Diese Einwendung wurde auch gegen die Auffassung von
Fison erhoben, der darauf aufmerksam machte, daß gewisse
Heiratsklassensysteme darin eine Lücke zeigen, daß sie die
Ehe zwischen einem Manne und seiner Schwiegermutter nicht
theoretisch unmöglich machen; es hätte darum einer beson-
deren Sicherung gegen diese Möglichkeit bedurft.
Sir J. Lubbock führt in seinem Werke „Origin of eivi-
lisation“ das Benehmen der Schwiegermutter gegen den Schwie-
gersohn auf die einstige Raubehe (mariage by capture) zurück.
„Solange der Frauenraub wirklich bestand, wird auch die Ent-
rüstung der Eltern ernsthaft genug gewesen sein. Als von
1) Frazer, 1. c. II, pag. 385.
2) Frazer, 1. c. II, pag. 461.
3) V. Orawley, The mystic rose. London 1902, pag. 405.
ERKLÄRUNGSVERSUCHE DIESER VERMEIDUNG. 19
dieser Form der Ehe nur mehr Symbole übrig waren, wurde
auch die Entrüstung der Eltern symbolisiert, und diese Sitte
hielt noch an, nachdem ihre Herkunft vergessen war.“ Es wird
Crawley leicht zu zeigen, wie wenig dieser Erklärungsversuch
die Einzelheiten der tatsächlichen Beobachtung deckt.
E. B. Tyler meint, die Behandlung des Schwiegersohnes
von seiten der Schwiegermutter sei nichts anderes als eine Form
der „Nichtanerkennung“ (ceutting) von seiten der Familie der
Frau. Der Mann gilt als Fremder, und dies so lange, bis das
erste Kind geboren wird. Allein abgesehen von den Fällen, in
denen letztere Bedingung das Verbot nicht aufhebt, unterliegt
diese Erklärung dem Einwand, daß sie die Orientierung der
Sitte auf das Verhältnis zwischen Schwiegersohn und Schwieger-
mutter nicht aufhellt, also den geschlechtlichen Faktor über-
sieht, und daß sie dem Moment des geradezu heiligen Abscheus
nicht Rechnung trägt, welcher in den Vermeidungsgeboten zum
Ausdruck kommt!).
Eine Zulufrau, die nach der Begründung des Verbotes ge-
fragt wurde, gab die vom Zartgefühl getragene Antwort: Es
ist nicht recht, daß er die Brüste sehen soll, die seine Frau
- gesäugt haben ?).
Es ist bekannt, daß das Verhältnis zwischen Schwieger-
sohn und Schwiegermutter auch bei den zivilisierten Völkern
zu den heikeln Seiten der Familienorganisation gehört. Es
bestehen in der Gesellschaft der weißen Völker Europas und
Amerikas zwar keine Vermeidungsgebote mehr für die beiden,
aber es würde oft viel Streit und Unlust vermieden, wenn
I) Crawley, l. c., pag. 407.
2) Crawley, l. c, pag. 401, nach Leslie,. Among the Zulus and
Amatongas, 1875.
9%
20 I. DIE INZESTSCHEU.
solche noch als Sitte bestünden und nicht von den einzelnen
Individuen wieder aufgerichtet werden müßten. Manchem
Europäer mag es als ein Akt hoher Weisheit erscheinen, daß
die wilden Völker durch ihre Vermeidungsgebote die Herstel-
lung eines Einvernehmens zwischen den beiden so nahe verwandt
gewordenen Personen von vornherein ausgeschlossen haben. Es
ist kaum zweifelhaft, daß in der psychologischen Situation von
Schwiegermutter und Schwiegersohn etwas enthalten ist, was
die Feindseligkeit zwischen ihnen befördert und ihr Zusammen-
leben erschwert. Daß der Witz der zivilisierten Völker gerade
das Schwiegermutterthema so gern zum Objekt nimmt, scheint
mir darauf hinzudeuten, daß die Gefühlsrelationen zwischen
den beiden außerdem Komponenten führen, die in scharfem
Gegensatz zu einander stehen. Ich meine, daß dies Verhältnis
eigentlich ein „ambivalentes“, aus widerstreitenden, zärtlichen
und feindseligen Regungen zusammengesetztes ist.
Ein gewisser Anteil dieser Regungen liegt klar zu Tage:
Von seiten der Schwiegermutter die Abneigung, auf den Besitz
der Tochter zu verzichten, das Mißtrauen gegen den Fremden,
dem sie überantwortet ist, die Tendenz, eine herrschende Posi-
tion zu behaupten, in die sie sich im eigenen Hause eingelebt
hatte. Von seiten des Mannes die Entschlossenheit, sich keinem
fremden Willen mehr unterzuordnen, die Eifersucht gegen alle
Personen, die vor ihm die Zärtlichkeit seines Weibes besaßen,
und — last not least — die Abneigung dagegen, sich in der
Illusion der Sexualüberschätzung stören zu lassen. Eine solche
Störung geht wohl zumeist von der Person der Schwiegermutter
aus, die ihn durch so viele gemeinsame Züge an die Tochter
mahnt und doch all der Reize der Jugend, Schönheit und
psychischen Frische entbehrt, welche ihm seine Frau wert-
voll machen.
PSYCHOANALYTISCHE AUFFASSUNG DIESER VERMEIDUNGEN. =
Die Kenntnis versteckter Seelenregungen, welche die
psychoanalytische Untersuchung einzelner Menschen verleiht,
gestattet uns, zu diesen Motiven noch andere hinzuzufügen.
Wo die psychosexuellen Bedürfnisse der Frau in der Ehe und
im Familienleben befriedigt werden sollen, da droht ihr immer
die Gefahr der Unbefriedigung durch den frühzeitigen Ablauf
der ehelichen Beziehung und die Ereignislosigkeit in ihrem
Gefühlsleben. Die alternde Mutter schützt sich davor durch
Einfühlung in ihre Kinder, Identifizierung mit ihnen, indem
sie deren gefühlsbetonte Erlebnisse zu den eigenen macht. Man
sagt, die Eltern bleiben jung mit ihren Kindern; es ist dies
in der Tat einer der wertvollsten seelischen Gewinste, den El-
tern aus ihren Kindern ziehen. Im Falle der Kinderlosigkeit
entfällt so eine der besten Möglichkeiten, die für die eigene
Ehe erforderliche Resignation zu ertragen. Diese Einfühlung
in die Tochter geht bei der Mutter leicht so weit, daß sie sich
in den von ihr geliebten Mann — mitverliebt, was in grellen
Fällen infolge des heftigen seelischen Sträubens gegen diese
Gefühlsanlage zu schweren Formen neurotischer Erkrankung
führt. Eine Tendenz zu solcher Verliebtheit ist bei der
Schwiegermutter jedenfalls sehr häufig, und entweder diese
selbst oder die ihr entgegenarbeitende Strebung schließen sich
dem Gewühle der miteinander ringenden Kräfte in der Seele
der Schwiegermutter an. Recht häufig wird gerade die unzärt-
liche, sadistische Komponente der Liebeserregung dem Schwieger-
sohne zugewendet, um die verpönte, zärtliche, um so sicherer
zu unterdrücken.
Für den Mann kompliziert sich das Verhältnis zur
Schwiegermutter durch ähnliche Regungen, die aber aus anderen
Quellen stammen. Der Weg der Objektwahl hat ihn regulärer-
weise über das Bild seiner Mutter, vielleicht noch seiner Schwe-
29 I. DIE INZESTSCHEU.
ster, zu seinem Liebesobjekt geführt; infolge der Inzestschranke
glitt seine Vorliebe von beiden teuren Personen seiner Kind-
heit ab, um bei einem fremden Objekt nach deren Ebenbild zu
landen. An Stelle der eigenen Mutter und Mutter seiner Schwe-
ster sieht er nun die Schwiegermutter treten; es entwickelt
sich eine Tendenz, in die vorzeitliche Wahl zurückzusinken,
aber dieser widerstrebt alles in ihm. Seine Inzestscheu fordert,
daß er an die Genealogie seiner Liebeswahl nicht erinnert werde;
die Aktualität der Schwiegermutter, die er nicht wie die Mutter
von jeher gekannt hat, so daß ihr Bild im Unbewußten unver-
ändert bewahrt werden konnte, macht ihm die Ablehnung leicht.
Ein besonderer Zusatz von Reizbarkeit und Gehässigkeit zur
Gefühlsmischung läßt uns vermuten, daß die Schwiegermutter
tatsächlich eine Inzestversuchung für den Schwiegersohn dar-
stellt, sowie es anderseits nicht selten vorkommt, daß sich ein
Mann manifesterweise zunächst in seine spätere Schwiegermutter
verliebt, ehe seine Neigung auf deren Tochter übergeht.
Ich sehe keine Abhaltung von der Annahme, daß es gerade
dieser, der inzestuöse Faktor des Verhältnisses ist, welcher die
Vermeidung zwischen Schwiegersohn und Schwiegermutter bei
den Wilden motiviert. Wir würden also in der Aufklärung der
so streng gehandhabten „Vermeidungen“ dieser primitiven Völ-
ker die ursprünglich von Fison geäußerte Meinung bevor-
zugen, die in diesen Vorschriften wiederum nur einen Schutz
gegen den möglichen Inzest erblickt. Das nämliche würde für
alle anderen Vermeidungen zwischen Bluts- oder Heiratsver-
wandten gelten. Nur bliebe der Unterschied, daß im ersteren
Falle der Inzest ein direkter ist, die Verhütungsabsicht eine
bewußte sein könnte; im anderen Falle, der das Schwiegermutter-
verhältnis mit einschließt, wäre der Inzest eine Phantasieversu-
chung, ein durch unbewußte Zwischenglieder vermittelter.
ROLLE DES INZESTS IN NEUROSE UND LITERATUR. 23
Wir haben in den vorstehenden Ausführungen wenig Ge-
legenheit gehabt zu zeigen, daß die Tatsachen der Völkerpsycho-
logie durch die Anwendung der psychoanalytischen Betrach-
tung in neuem Verständnis gesehen werden können, denn die
Inzestscheu der Wilden ist längst als solche erkannt worden
und bedarf keiner weiteren Deutung. Was wir zu ihrer Würdi-
gung hinzufügen können, ist die Aussage, sie sei ein exquisit
infantiler Zug und eine auffällige Übereinstimmung mit dem ,
seelischen Leben des Neurotikers.. Die Psychoanalyse hat uns
gelehrt, daß die erste sexuelle Objektwahl des Knaben eife
inzestuöse ist, den verpönten Objekten, Mutter und Schwester,
gilt, und hat uns auch die Wege kennen gelehrt, auf denen
sich der Heranwachsende von der Anziehung des Inzests frei
macht. Der Neurotiker repräsentiert uns aber regelmäßig ein
Stück des psychischen Infantilismus, er hat es entweder nicht
vermocht, sich von den kindlichen Verhältnissen der Psycho-
sexualität zu befreien, oder er ist zu ihnen zurückgekehrt.
(Entwieklungshemmung und Regression.) In seinem unbewuß-
ten Seelenleben spielen darum noch immer oder wiederum die
inzestuösen Fixierungen der Libido eine Hauptrolle. Wir sind
dahin gekommen, das vom Inzestverlangen beherrschte Ver-
hältnis zu den Eltern für den Kernkomplex der Neurose
zu erklären. Die Aufdeckung dieser Bedeutung des Inzasts
für die Neurose stößt natürlich auf den allgemeinsten Un-
glauben der Erwachsenen und Normalen; dieselbe Ablehnung
wird z. B. auch den Arbeiten von Otto Rank entgegentreten,
die in immer größerem Ausmaß dartun, wie sehr das Inzest-
thema im Mittelpunkte des dichterischen Interesses steht und
in ungezählten Variationen und Entstellungen der Poesie den
Stoff liefert. Wir sind genötigt zu glauben, daß solche Ab-
lehnung vor allem ein Produkt der tiefen Abneigung des Men-
24 I. DIE INZESTSCHEU.
schen gegen seine einstigen, seither der Verdrängung verfal-
lenen Inzestwünsche ist. Es ist uns darum nicht unwichtig, an
den wilden Völkern zeigen zu können, daß sie die zur späteren
Unbewußtheit bestimmten Inzestwünsche des Menschen noch als
bedrohlich empfinden und der schärfsten Abwehrmaßregeln für
würdig halten.
1,
DAS TABU UND DIE AMBIVALENZ
DER GEFÜHLSREGUNGEN.
Tabu ist ein polynesisches Wort, dessen Übersetzung uns
Schwierigkeiten bereitet, weil wir den damit bezeichneten Be-
griff nicht mehr besitzen. Den alten Römern war er noch ge-
läufig; ihr sacer war dasselbe wie das Tabu der Polynesier.
Auch das dyos der Griechen, das Kodausch der Hebräer
muß das nämliche bedeutet haben, was die Polynesier durch
ihr Tabu, viele Völker in Amerika, Afrika (Madagaskar), Nord-
und Zentral-Asien durch analoge Bezeichnungen ausdrücken.
Uns geht die Bedeutung des Tabu nach zwei entgegen-
gesetzten Richtungen auseinander. Es heißt uns einerseits:
heilig, geweiht, anderseits: unheimlich, gefährlich, verboten,
unrein. Der Gegensatz von Tabu heißt im Polynesischen noa
= gewöhnlich, allgemein zugänglich. Somit haftet am Tabu
etwas wie der Begriff einer Reserve, das Tabu äußert sich auch
wesentlich in Verboten und Einschränkungen. Unsere Zu-
sammensetzung „heilige Scheu“ würde sich oft mit dem Sinn
des Tabu decken.
Die Tabubeschränkungen sind etwas anderes als die reli-
giösen oder die moralischen Verbote. Sie werden nicht auf das
Gebot eines Gottes zurückgeführt, sondern verbieten sich eigent-
lich von selbst; von den Moralverboten scheidet sie das Fehlen
der Einreihung in ein System, welches ganz allgemein Enthal-
96 II. DAS TABU UND DIE AMBIVALENZ.
tungen für notwendig erklärt und diese Notwendigkeit auch
begründet. Die Tabuverbote entbehren jeder Begründung; sie
sind unbekannter Herkunft; für uns unverständlich, erscheinen
sie jenen selbstverständlich, die unter ihrer Herrschaft stehen.
Wundt!) nennt das Tabu den ältesten ungeschriebenen
Gesetzeskodex der Menschheit. Es wird allgemein angenommen,
daß das Tabu älter ist als die Götter und in die Zeiten vor
jeder Religion zurückreicht.
Da wir einer unparteiischen Darstellung des Tabu be-
dürfen, um dieses der psychoanalytischen Betrachtung zu unter-
ziehen, lasse ich nun einen Auszug aus dem Artikel „Taboo“ der
„Encyclopedia Britannica?)“ folgen, der den Anthropologen
Northeote W. Thomas zum Verfasser hat.
„Streng genommen umfaßt tabu nur a) den heiligen (oder
unreinen) Charakter von Personen oder Dingen, 5b) die Art der
Beschränkung, welche sich aus diesem Charakter ergibt, und
c) die Heiligkeit (oder Unreinheit), welche aus der Verletzung
dieses Verbotes hervorgeht. Das Gegenteil von tabu heißt in
Polynesien ‚noa‘, was ‚gewöhnlich‘ oder ‚gemein‘ bedeutet...“
„In einem weiteren Sinne kann man verschiedene Arten
von Tabu unterscheiden: 1. Ein natürliches oder direktes
Tabu, welches das Ergebnis einer geheimnisvollen Kraft (Mana)
ist, die an einer Person oder Sache haftet; 2. ein mitgeteil-
tes oder indirektes Tabu, das auch von jener Kraft ausgeht,
aber entweder a) erworben ist, oder 5) von einem Priester,
Häuptling oder sonst wem übertragen; endlich 3. ein Tabu,
das zwischen den beiden anderen die Mitte hält, wenn nämlich
beide Faktoren in Betracht kommen, wie z. B. bei der Aneig-
1) Völkerpsychologie, II. Bd., „Mythus und Religion“, 1906, II, p. 308.
2) Elfte Auflage, 1911. — Daselbst auch die wichtigsten Literatur-
nachweise.
u ar ch ne
CHARAKTER UND ZIELE DES TABU. 1
nung eines Weibes durch einen Mann. Der Name Tabu wird
auch auf andere rituelle Beschränkungen angewendet, aber man
sollte alles, was besser religiöses Verbot heißen könnte, nicht
zum Tabu rechnen.“
„Die Ziele des Tabu sind mannigfacher Art: Direkte
Tabu bezwecken a) den Schutz bedeutsamer Personen, wie
Häuptlinge, Priester und Gegenstände u. dgl. gegen mögliche
Schädigung; b) die Sicherung der Schwachen — Frauen, Kinder
und gewöhnlicher Menschen im aligemeinen — gegen das mäch-
tige Mana (die magische Kraft) der Priester und Häuptlinge;
c) den Schutz gegen Gefahren, die mit der Berührung von
Leichen, mit dem Genuß gewisser Speisen usw. verbunden sind;
d) die Versicherung gegen die Störung wichtiger Lebensakte,
wie Geburt, Männerweihe, Heirat, sexuelle Tätigkeiten; e) den
Schutz menschlicher Wesen gegen die Macht oder den Zorn
von Göttern und Dämonen!); f) die Behütung Ungeborener
und kleiner Kinder gegen die mannigfachen Gefahren, die ihnen
infolge ihrer besonderen sympathetischen Abhängigkeit von
ihren Eltern drohen, wenn diese z. B. gewisse Dinge tun oder
Speisen zu sich nehmen, deren Genuß den Kindern besondere
Eigenschaften übertragen könnte. Eine andere Verwendung des
Tabu ist die zum Schutze des Eigentums einer Person, seiner
Werkzeuge, seines Feldes usw. gegen Diebe.“
„Die Strafe für die Übertretung eines Tabu wird wohl ur-
sprünglich einer inneren, automatisch wirkenden Einrichtung
überlassen. Das verletzte Tabu rächt sich selbst. Wenn Vor-
stellungen von Göttern und Dämonen hinzukommen, mit denen
das Tabu in Beziehung tritt, so wird von der Macht der Gott-
heit eine automatische Bestrafung erwartet. In anderen Fällen,
1) Diese Verwendung der Tabu kann auch als eine nicht ursprüng-
liche in diesem Zusammenhange beiseite gelassen werden.
283 U. DAS TABU UND DIE AMBIVALENZ.
wahrscheinlich infolge einer weiteren Entwicklung des Be-
griffes, übernimmt die Gesellschaft die Bestrafung des Ver-
wegenen, dessen Vorgehen seine Genossen in Gefahr gebracht
hat. So knüpfen auch die ersten Strafsysteme der Menschheit
an das Tabu an.“
„Wer ein Tabu übertreten hat, der ist dadurch selbst tabu
geworden. Gewisse Gefahren, die aus der Verletzung eines
Tabu entstehen, können durch Bußhandlungen und Reinigungs-
zeremonien beschworen werden.“
„Als die Quelle des Tabu wird eine eigentümliche Zauber-
kraft angesehen, die an Personen und Geistern haftet und von
ihnen aus durch unbelebte Gegenstände hindurch übertragen
werden kann. Personen oder Dinge, die tabu sind, können mit
elektrisch geladenen Gegenständen verglichen werden; sie sind
der Sitz einer furchtbaren Kraft, welche sich durch Berührung
mitteilt und mit unheilvollen Wirkungen entbunden wird, wenn
der Organismus, der die Entladung hervorruft, zu schwach ist,
ihr zu widerstehen. Der Erfolg einer Verletzung des Tabu
hängt also nicht nur von der Intensität der magischen Kraft
ab, die an dem Tabu-Objekt haftet, sondern auch von der Stärke
des Mana, die sich dieser Kraft bei dem Frevler entgegensetzt.
So sind z. B. Könige und Priester Inhaber einer großartigen
Kraft, und es wäre Tod für ihre Untertanen, in unmittelbare
Berührung mit ihnen zu treten, aber ein Minister oder eine
andere Person von mehr als gewöhnlichem Mana kann unge-
fährdet mit ihnen verkehren, und diese Mittelspersonen können
wiederum ihren Untergebenen ihre Annäherung gestatten, ohne
sie in Gefahr zu bringen. Auch mitgeteilte Tabu hängen in
ihrer Bedeutung von dem Mana der Person ab, von der sie aus-
gehen; wenn ein König oder Priester ein Tabu auferlegt, ist es
wirksamer, als wenn es von einem gewöhnlichen Menschen käme.“
QUELLE DES TABU. PROBLEME, >9
Die Übertragbarkeit eines Tabu ist wohl jener Charakter,
der dazu Veranlassung gegeben hat, seine Beseitigung durch
Sühnezeremonien zu versuchen.
„Es gibt permanente und zeitweilige Tabu. Priester und
Häuptlinge sind das erstere, ebenso Tote, und alles, was zu
ihnen gehört hat. Zeitweilige Tabu schließen sich an gewisse
Zustände an, so an die Menstruation und das Kindbett, an den
Stand des Kriegers vor und nach der Expedition, an die Tätig-
keiten des Fischens und Jagens u. dgl. Ein allgemeines Tabu
kann auch wie das kirchliche Interdikt über einen großen Bezirk
verhängt werden und dann jahrelang anhalten.“
Wenn ich die Eindrücke meiner Leser richtig abzuschätzen
weiß, so getraue ich mich jetzt der Behauptung, sie wüßten
nach all diesen Mitteilungen über das Tabu erst recht nicht,
was sie sich darunter vorzustellen haben, und wo sie es in
ihrem Denken unterbringen können. Dies ist sicherlich die
Folge der ungenügenden Information, die sie von mir erhalten
haben, und des Wegfalls aller Erörterungen über die Beziehung
des Tabu zum Aberglauben, zum Seelenglauben und zur Re-
ligion. Aber anderseits fürchte ich, eine eingehendere Schil-
derung dessen, was man über das Tabu weiß, hätte noch ver-
wirrender gewirkt, und darf versichern, daß die Sachlage in
Wirklichkeit recht undurchsichtig ist. Es handelt sich also
um eine Reihe von Einschränkungen, denen sich diese primi-
tiven Völker unterwerfen; dies und jenes ist verboten, sie
wissen nicht warum, es fällt ihnen auch nicht ein, danach zu
fragen, sondern sie unterwerfen sich ihnen wie selbstverständ-
lich und sind überzeugt, daß eine Übertretung sich von selbst
auf die härteste Weise strafen wird. Es liegen zuverlässige
Berichte vor, daß die unwissentliche Übertretung eines solchen
30 I. DAS TABU UND DIE AMBIVALENZ.
Verbotes sich tatsächlich automatisch gestraft hat. Der un-
schuldige Missetäter, der z. B. von einem ihm verbotenen Tier
gegessen hat, wird tief deprimiert, erwartet seinen Tod und
stirbt dann in allem Ernst. Die Verbote betreffen meist Genuß:
fähigkeit, Bewegungs- und Verkehrsfreiheit; sie scheinen in
manchen Fällen sinnreich, sollen offenbar Enthaltungen und
Entsagungen bedeuten, in anderen Fällen sind sie ihrem Inhalt
nach ganz unverständlich, betreffen wertlose Kleinigkeiten,
scheinen ganz von der Art eines Zeremoniells zu sein. All diesen
Verboten scheint etwas wie eine Theorie zu Grunde zu liegen,
als ob die Verbote notwendig wären, weil gewissen Personen
und Dingen eine gefährliche Kraft zu eigen ist, die sich durch
Berührung mit dem so geladenen Objekt überträgt, fast wie
eine Ansteckung. Es wird auch die Quantität dieser gefähr-
lichen Eigenschaft in Betracht gezogen. Der eine oder das
eine hat mehr davon als der andere, und die Gefahr richtet sich
geradezu nach der Differenz der Ladungen. Das Sonderbarste
daran ist wohl, daß, wer es zu stande gebracht hat, ein solches
Verbot zu übertreten, selbst den Charakter des Verbotenen
gewonnen, gleichsam die ganze gefährliche Ladung auf sich
genommen hat. Diese Kraft haftet nun an allen Personen, die
etwas Besonderes sind, wie Könige, Priester, Neugeborene, an
allen Ausnahmszuständen, wie die körperlichen der Menstrua-
tion, der Pubertät, der Geburt, an allem Unheimlichen, wie
Krankheit und Tod, und was kraft der Ansteckungs- oder Aus-
breitungsfähigkeit damit zusammenhängt.
„Tabu“ heißt aber alles, sowohl die Personen als auch die
Örtlichkeiten, Gegenstände und die vorübergehenden Zustände,
welche Träger oder Quelle dieser geheimnisvollen Eigenschaft
sind. Tabu heißt auch das Verbot, welches sich aus dieser
Eigenschaft herleitet, und Tabu heißt endlich seinem Wortsinn
PROBLEME DES TABU. 31
nach etwas, was zugleich heilig, über das Gewöhnliche erhaben
wie auch gefährlich, unrein, unheimlich umfaßt.
In diesem Wort und in dem System, das es bezeichnet,
drückt sich ein Stück Seelenleben aus, dessen Verständnis uns
wirklich nicht nahe gerückt erscheint. Vor allem sollte man
meinen, daß man sich diesem Verständnis nicht nähern könne,
ohne auf den für so tiefstehende Kulturen charakteristischen
Glauben an Geister und Dämonen einzugehen.
‚Warum sollen wir überhaupt unser Interesse an das Rätsel
des Tabu wenden? Ich meine, nicht nur, weil jedes psycho-
logische Problem an sich des Versuches einer Lösung wert ist,
sondern auch noch aus anderen Gründen. Es darf uns ahnen,
daß das Tabu der Wilden Polynesiens doch nicht so weit von
uns abliegt, wie wir zuerst glauben wollten, daß die Sitten-
und Moralverbote, denen wir selbst gehorchen, in ihrem Wesen
eine Verwandtschaft mit diesem primitiven Tabu haben könn-
ten, und daß die Aufklärung des Tabu ein Licht auf den
dunkeln Ursprung unseres eigenen „kategorischen Imperativs“
zu werfen vermöchte.
Wir werden also in besonders erwartungsvoller Spannung
aufhorchen, wenn ein Forscher wie W. Wundt uns seine Auf-
fassung des Tabu mitteilt, zumal da er verspricht, „zu den
letzten Wurzeln der Tabuvorstellungen zurückzugehen 1)“.
Vom Begriff des Tabu sagt Wundt, daß es „alle die
Bräuche umfaßt, in denen sich die Scheu vor bestimmten mit
den kultischen Vorstellungen zusammenhängenden Objekten
oder vor den sich auf diese beziehenden Handlungen aus-
drückt 2)“.
1) In der Völkerpsychologie, Band II, „Religion und Mythus“, II,
p. 300 u. ff.
2,1.0570238%
32 II. DAS TABU UND DIE AMBIVALENZ.
m nn
Ein andermal: „Verstehen wir darunter (unter dem Tabu),
wie es dem allgemeinen Sinne des Wortes entspricht, jedes in
Brauch und Sitte oder in ausdrücklich formulierten Gesetzen
niedergelegte Verbot, einen Gegenstand zu berühren, zu eigenem
Gebrauch in Anspruch zu nehmen oder gewisse verpönte Worte
zu gebrauchen ....,“ so gebe es überhaupt kein Volk und keine
Kulturstufe, die der Schädigung durch das Tabu entgegen wäre.
Wundt führt dann aus, weshalb es ihm zweckmäßiger
erscheint, die Natur des Tabu an den primitiven Verhältnissen
der australischen Wilden als in der höheren Kultur der polyne-
sischen Völker zu studieren. Bei den Australiern ordnet er die
Tabuverbote in drei Klassen, je nachdem sie Tiere, Menschen
oder andere Objekte betreffen. Das Tabu der Tiere, das wesent-
lich im Verbot des Tötens und Verzehrens besteht, bildet den
Kern des Totemismus!). Das Tabu der zweiten Art, das
den Menschen zu seinem Objekt hat, ist wesentlich anderen
Charakters. Es ist von vornherein auf Bedingungen einge-
schränkt, die für den Tabuierten eine ungewöhnliche Lebens-
lage herbeiführen. So sind Jünglinge tabu beim Fest der
Männerweihe, Frauen während der Menstruation und unmittel-
bar nach der Geburt, neugeborene Kinder, Kranke und vor
allem die Toten. Auf dem fortwährend gebrauchten Eigentum
eines Menschen ruht ein dauerndes Tabu für jeden anderen;
so auf seinen Kleidern, Werkzeugen und Waffen. Zum per-
sönlichsten Eigentum gehört in Australien auch der neue Name,
den ein Knabe bei seiner Männerweihe erhält, dieser ist tabu
und muß geheim gehalten werden. Die Tabu der dritten Art,
die auf Bäumen, Pflanzen, Häusern, Örtlichkeiten ruhen, sind
veränderlicher, scheinen nur der Regel zu folgen, daß dem Tabu
!) Vgl. darüber die erste und die letzte Abhandlung dieses Buches,
WUNDT ÜBER DAS TABU. 353
unterworfen wird, was aus irgend welcher Ursache Scheu er-
regt oder unheimlich ist.
Die Veränderungen, die das Tabu in der reicheren Kultur
der Polynesier und der malaiischen Inselwelt erfährt, muß
Wundt selbst für nicht sehr tiefgehend erklären. Die stärkere
soziale Differenzierung dieser Völker macht sich darin geltend,
daß Häuptlinge, Könige und Priester ein besonders wirksames
Tabu ausüben und selbst dem stärksten Zwang des Tabu aus-
gesetzt werden.
Die eigentlichen Quellen des Tabu liegen aber tiefer als
in den Interessen der privilegierten Stände; „sie entspringen
da, wo die primitivsten und zugleich dauerndsten menschlichen
Triebe ihren Ursprung nehmen, in der Furcht vor der
Wirkung dämonischer Mächte)“. „Ursprünglich
nichts anderes als die objektiv gewordene Furcht vor der in
dem tabuierten Gegenstand verborgen gedachten dämonischen
Macht, verbietet das Tabu, diese Macht zu reizen, und es ge-
bietet, wo es wissentlich oder unwissentlich verletzt worden
ist, die Rache des Dämons zu beseitigen.“
Allmählich wird dann das Tabu zu einer in sich selbst
begründeten Macht, die sich vom Dämonismus losgelöst hat.
Es wird zum Zwang der Sitte und des Herkommens und schließ-
lich des Gesetzes. „Das Gebot aber, das unausgesprochen hinter
den nach Ort und Zeit mannigfach wechselnden Tabuverboten
steht, ist ursprünglich das eine: Hüte dich vor dem Zorn
der Dämonen.“
Wundt lehrt uns also, das Tabu sei ein Ausdruck und
Ausfluß des Glaubens der primitiven Völker an dämonische
Mächte. Später habe sich das Tabu von dieser Wurzel los-
1): 1. €.,.9..807.
Freud, Totem und Tabu. 3
34 II. DAS TABU UND DIE AMBIVALENZ.
gelöst und sei eine Macht geblieben, einfach weil es eine solche
war, infolge einer Art von psychischer Beharrung; so sei es
selbst die Wurzel unserer Sittengebote und unserer Gesetze
geworden. So wenig nun der erste dieser Sätze zum Wider-
spruch reizen kann, so glaube ich doch dem Eindruck vieler
Leser Worte zu leihen, wenn ich die Aufklärung Wundts
als eine Enttäuschung anspreche. Das heißt wohl nicht, zu
den Quellen der Tabuvorstellungen heruntergehen oder ihre
letzten Wurzeln aufzeigen. Weder die Angst noch die Dä-
monen können in der Psychologie als letzte Dinge gewertet
werden, die jeder weiteren Zurückführung trotzen. Es wäre
anders, wenn die Dämonen wirklich existierten ; "aber wir wissen
ja, sie sind selbst wie die Götter Schöpfungen der Seelenkräfte
des Menschen; sie sind von etwas und aus etwas geschaffen
worden.
Über die Doppelbedeutung des Tabu äußert Wundt be-
deutsame, aber nicht ganz klar zu fassende Ansichten. Für
die primitiven Anfänge des Tabu besteht nach ihm eine Schei-
dung von heilig und unrein noch nicht. Eben darum fehlen
bier jene Begriffe überhaupt in der Bedeutung, die sie eben
erst durch den Gegensatz, in den sie zueinander traten, an-
nehmen konnten. Das Tier, der Mensch, der Ort, auf dem ein
Tabu ruht, sind dämonisch, nicht heilig und darum auch noch
nicht in dem späteren Sinne unrein. Gerade für diese noch
indifferent in der Mitte stehende Bedeutung des Dämonischen,
das nicht berührt werden darf, ist der Ausdruck Tabu wohl
geeignet, da er ein Merkmal hervorhebt, das schließlich dem
Heiligen wie dem Unreinen für alle Zeiten gemeinsam bleibt:
die Scheu vor seiner Berührung. In dieser bleibenden Gemein-
schaft eines wichtigen Merkmals liegt aber zugleich ein Hin-
weis darauf, daß hier zwischen beiden Gebieten eine ursprüng-
WUNDT ÜBER DAS TABU. 35
liche Übereinstimmung obwaltet, die erst infolge weiterer Be-
dingungen einer Differenzierung gewichen ist, durch welche
sich beide schließlich zu Gegensätzen entwickelt haben.
Der dem ursprünglichen Tabu eigene Glaube an eine dämo-
nische Macht, die in dem Gegenstand verborgen ist und dessen
Berührung oder unerlaubte Verwendung durch Verzauberung
des Täters rächt, ist eben noch ganz und ausschließlich die
objektivierte Furcht. Diese hat sich noch nicht in die beiden
Formen gesondert, die sie auf einer entwickelten Stufe an-
nimmt: in die Ehrfurcht und in den Abscheu.
Wie aber entsteht diese Sonderung? Nach Wundt durch
die Verpflanzung der Tabugebote aus dem Gebiet der Dämonen
— in das der Göttervorstellungen. Der Gegensatz von heilig
und unrein fällt mit der Aufeinanderfolge zweier mythologi-
scher Stufen zusammen, von denen die frühere nicht vollkom-
men verschwindet, wenn die folgende erreicht ist, sondern in
der Form einer niedrigeren und allmählich mit Verachtung sich
paarenden Wertschätzung fortbesteht. In der Mythologie gilt
allgemein das Gesetz, daß eine vorangegangene Stufe eben des-
halb, weil sie von der höheren überwunden und zurückgedrängt
wird, nun neben dieser in erniedrigter Form fortbesteht, so
daß die Objekte ihrer Verehrung in solche des Abscheus sich
umwandeln !).
Die weiteren Ausführungen Wundts beziehen sich auf
das Verhältnis der Tabuvorstellungen zur Reinigung und zum
Opfer.
2.
Wer von der Psychoanalyse, das heißt von der Erforschung |
des unbewußten Anteils am individuellen Seelenleben her an
1. c.,p. 313,
3*
36 U. DAS TABU UND DIE AMBIVALENZ,
mm —
das Problem des Tabu herantritt, der wird sich nach kurzem
Besinnen sagen, daß ihm diese Phänomene nicht fremd sind.
Er kennt Personen, die sich solche Tabuverbote individuell ge-
schaffen haben und sie ebenso streng befolgen wie die Wilden
die ihrem Stamme oder ihrer Gesellschaft gemeinsamen. Wenn
er nicht gewohnt wäre, diese vereinzelten Personen als
„Awangskranke“ zu bezeichnen, würde er den Namen
„Labukrankheit“ für deren Zustand angemessen finden
müssen. Von dieser Zwangskrankheit hat er aber durch die
psychoanalytische Untersuchung so viel erfahren, die klinische
Ätiologie und das Wesentliche des psychologischen Mechanis-
mus, daß er es sich nicht versagen kann, das hier Gelernte zur
Aufklärung der entsprechenden völkerpsychologischen Erschei-
nung zu verwenden.
Eine Warnung wird bei diesem Versuche angehört werden
müssen. Die Ähnlichkeit des Tabu mit der Zwangskrankheit
mag eine rein äußerliche sein, für die Erscheinungsform der
beiden gelten und sich nicht weiter auf deren Wesen erstrecken.
Die Natur liebt es, die nämlichen Formen in den verschiedensten
biologischen Zusammenhängen zu verwenden, z. B. am Korallen-
stock wie an der Pflanze, ja darüber hinaus an gewissen Kri-
stallen oder bei Bildung bestimmter chemischer Niederschläge.
Es wäre offenbar voreilig und wenig aussichtsvoll, durch diese
Übereinstimmungen, die auf eine Gemeinsamkeit mechanischer
Bedingungen zurückgehen, Schlüsse zu begründen, die sich auf
innere Verwandtschaft beziehen. Wir werden dieser Warnung
eingedenk bleiben, brauchen aber die beabsichtigte Vergleichung
dieser Möglichkeit wegen nicht zu unterlassen.
Die nächste und auffälligste Übereinstimmung der Zwangs-
verbote (bei den Nervösen) mit dem Tabu besteht nun darin,
daß diese Verbote ebenso unmotiviert und in ihrer Herkunft
TABU UND ZWANGSKRANKHEIT. 37
rätselhaft sind. Sie sind irgend einmal aufgetreten und müssen
nun infolge einer unbezwingbaren Angst gehalten werden. Eine
äußere Strafandrohung ist überflüssig, weil eine innere Sicher-
heit (ein Gewissen) besteht, die Übertretung werde zu einem
unerträglichen Unheil führen. Das Äußerste, was die Zwangs-
kranken mitteilen können, ist die unbestimmte Ahnung, es
werde eine gewisse Person ihrer Umgebung durch die Über-
tretung zu Schaden kommen. Welches diese Schädigung sein
soll, wird nicht erkannt, auch erhält man diese kümmerliche
Auskunft eher bei den später zu besprechenden Sühne- und
Abwehrhandlungen als bei den Verboten selbst.
Das Haupt- und Kernverbot der Neurose ist wie beim Tabu
das der Berührung, daher der Name: Berührungsangst, Delire
de toucher. Das Verbot erstreckt sich nicht nur auf die direkte
Berührung mit dem Körper, sondern nimmt den Umfang der
übertragenen Redensart: in Berührung kommen, an. Alles, was
die Gedanken auf das Verbotene lenkt, eine Gedankenberührung
hervorruft, ist ebenso verboten wie der unmittelbare leibliche
Kontakt; dieselbe Ausdehnung findet sich beim Tabu wieder.
Ein Teil der Verbote ist nach seiner Absicht ohneweiters
verständlich, ein anderer Teil dagegen erscheint uns unbegreif-
lich, läppisch, sinnlos. Wir bezeichnen solche Gebote als „Ze-
remoniell“ und finden, daß die Tabugebräuche dieselbe Ver-
schiedenheit erkennen lassen.
Den Zwangsverboten ist eine großartige Verschiebbarkeit
zu eigen, sie dehnen sich auf irgend welchen Wegen des Zu-
sammenhanges von einem Objekt auf das andere aus und machen
auch dieses neue Objekt, wie eine meiner Kranken treffend sagt,
„unmöglich“ Die Unmöglichkeit hat am Ende die ganze
Welt mit Beschlag belegt. Die Zwangskranken benehmen sich
so, als wären die „unmöglichen“ Personen und Dinge Träger
38 U. DAS TABU UND DIE AMBIVALENZ.
einer gefährlichen Ansteckung, die bereit ist, sich auf alles
Benachbarte durch Kontakt zu übertragen. Dieselben Charak-
tere der Ansteckungsfähigkeit und der Übertragbarkeit haben
wir eingangs bei der Schilderung der Tabuverbote hervorge-
hoben. Wir wissen auch, wer ein Tabu übertreten hat durch
die Berührung von etwas, was tabu ist, der wird selbst tabu
und niemand darf mit ihm in Berührung treten.
Ich stelle zwei Beispiele von Übertragung (besser Ver-
schiebung) des Verbots zusammen; das eine aus dem Leben
der Maori, das andere aus meiner Beobachtung an einer
zwangskranken Frau.
„Ein Maorihäuptling wird kein Feuer mit seinem Hauch
anfachen, denn sein geheiligter Atem würde seine Kraft dem
Feuer mitteilen, dieses dem Topf, der im Feuer steht, der Topf
der Speise, die in ihm gekocht wird, die Speise der Person,
die von ihr ißt, und so müßte die Person sterben, die gegessen
von der Speise, die gekocht in dem Topf, der gestanden im
Feuer, in das geblasen der Häuptling mit seinem heiligen und
gefährlichen Hauch?).“
Die Patientin verlangt, daß ein Gebrauchsgegenstand, den
ihr Mann vom Einkauf nach Hause gebracht, entfernt werde,
er würde ihr sonst den Raum, in dem sie wohnt, unmöglich
machen. Denn sie hat gehört, daß dieser Gegenstand in einem
Laden gekauft wurde, welcher in der, sagen wir: Hirschen-
gasse liegt. Aber Hirsch ist heute der Name einer Freundin,
welche in einer fernen Stadt lebt, die sie in ihrer Jugend unter
ihrem Mädchennamen gekannt hat. Diese Freundin ist ihr heute
„unmöglich“, tabu, und der hier in Wien. gekaufte Gegenstand
1) Frazer, The golden bough, II, Taboo and the perils of the soul,
1911, p. 136.
ÜBEREINSTIMMUNGEN VON TABU UND ZWANGSNEUROSE. 39
ist ebenso tabu wie die Freundin selbst, mit der sie nicht in
Berührung kommen will.
Die Zwangsverbote bringen großartigen Verzicht und Ein-
schränkungen des Lebens mit sich wie die Tabuverbote, aber
ein Anteil von ihnen kann aufgehoben werden durch die Aus-
führung gewisser Handlungen, die nun auch geschehen müssen,
die Zwangscharakter haben, — Zwangshandlungen — und
deren Natur als Buße, Sühne, Abwehrmaßregeln und Reinigung
keinem Zweifel unterliegt. Die gebräuchlichste dieser Zwangs-
handlungen ist das Abwaschen mit Wasser (Waschzwang). Auch
ein Teil der Tabuverbote kann so ersetzt, respektive deren
Übertretung durch solches „Zeremoniell“ gutgemacht werden
und die Lustration durch Wasser ist auch hier die bevorzugte.
Resümieren wir nun, in welchen Punkten sich die Über-
einstimmung der Tabugebräuche mit den Symptomen der
Zwangsneurose .am deutlichsten äußert: 1. In der Unmotiviert-
heit der Gebote, 2. in ihrer Befestigung durch eine innere Nö-
tigung, 3. in ihrer Verschiebbarkeit und in der Ansteckungs-
gefahr durch das Verbotene, 4. in der Verursachung von zeremo-
niösen Handlungen, Geboten, die von den Verboten ausgehen.
Die klinische Geschichte wie der psychische Mechanismus
der Fälle von Zwangskrankheit sind uns aber durch die Psycho-
analyse bekannt geworden. Erstere lautet für einen typischen
Fall von Berührungsangst wie folgt: Zu allem Anfang, in ganz
. früher Kinderzeit, äußerte sich eine starke Berührungslust,
deren Ziel weit spezialisierter war, als man geneigt wäre zu
erwarten. Dieser Lust trat alsbald von außen ein Verbot
entgegen, gerade diese Berührung nicht auszuführen!). Das.
Verbot wurde aufgenommen, denn es konnte sich auf starke
1) Beide, Lust und Verbot, bezogen sich auf die Berührung der
eigenen Genitalien.
40 II. DAS TABU UND DIE AMBIVALENZ.
innere Kräfte stützen!); es erwies sich stärker als der Trieb,
der sich in der Berührung äußern wollte. Aber infolge der
primitiven psychischen Konstitution des Kindes gelang es dem
Verbot, nicht den Trieb aufzuheben. Der Erfolg des Verbotes
war nur, den Trieb — die Berührungslust — zu verdrängen
und ihn ins Unbewußte zu verbannen. Verbot und Trieb blieben
beide erhalten; der Trieb, weil er nur verdrängt, nicht auf-
gehoben war, das Verbot, weil mit seinem Aufhören der Trieb
zum Bewußtsein und zur Ausführung durchgedrungen wäre.
Es war eine unerledigte Situation, eine psychische Fixierung
geschaffen, und aus dem fortdauernden Konflikt von Verbst
und Trieb leitet sich nun alles weitere ab.
Der Hauptcharakter der psychologischen Konstellation, die
so fixiert worden ist, liegt in dem, was man das ambivalente
Verhalten des Individuums gegen das eine Objekt, viemehr die
eine Handlung an ihm, heißen könnte?). Es will diese Hand-
lung — die Berührung — immer wieder ausführen, es verab-
scheut sie auch. Der Gegensatz der beiden Strömungen ist auf
kurzem Wege nicht ausgleichbar, weil sie — wir können nur
sagen — im Seelenleben so lokalisiert sind, daß sie nicht zu-
sammenstoßen können. Das Verbot wird laut bewußt, die fort-
dauernde Berührungslust ist unbewußt, die Person weiß nichts
von ihr. Bestünde dieses psychologische Moment nicht, so könnte
eine Ambivalenz weder sich so lange erhalten, noch könnte sie
zu solchen Folgeerscheinungen führen.
In der klinischen Geschichte des Falles haben wir das Ein-
dringen des Verbots in so frühem Kindesalter als das maß-
gebende hervorgehoben; für die weitere Gestaltung fällt diese
1) Auf die Beziehung zu den geliebten Personen, von denen das
Verbot gegeben wurde.
2) Nach einem trefflichen Ausdruck von Bleuler.
DIE AMBIVALENZ. 4
Rolle dem Mechanismus der Verdrängung auf dieser Altersstufe
zu. Infolge der stattgehabten Verdrängung, die mit einem
Vergessen — Amnesie — verbunden ist, bleibt die Motivierung
des bewußt gewordenen Verbotes unbekannt und müssen alle
Versuche scheitern, es intellektuell zu zersetzen, da diese den
Punkt nicht finden, an dem sie angreifen könnten. Das Ver-
bot verdankt seine Stärke — seinen Zwangscharakter —
gerade der Beziehung zu seinem unbewußten Gegenpart, der
im Verborgenen ungedämpften Lust, also einer inneren Not-
wendigkeit, in welche die bewußte Einsicht fehlt. Die Über-
tragbarkeit und Fortpflanzungsunfähigkeit des Verbotes spie-
gelt einen Vorgang wieder, der sich mit der unbewußten Lust
zuträgt und unter den psychologischen Bedingungen des Un-
bewußten besonders erleichtert ist. Die Trieblust verschiebt
sich beständig, um der Absperrung, in der sie sich befindet, zu
entgehen, und sucht Surrogate für das Verbotene — Ersatz-
objekte und Ersatzhandlungen — zu gewinnen. Darum wan-
dert auch das Verbot und dehnt sich auf die neuen Ziele der
verpönten Regung aus. Jeden neuen Vorstoß der verdrängten
Libido beantwortet das Verbot mit einer neuen Verschärfung.
Die gegenseitige Hemmung der beiden ringenden Mächte erzeugt
ein Bedürfnis nach Abfuhr, nach Verringerung der herrschenden
Spannung, in welchem man die Motivierung der Zwangshand-
lungen erkennen darf. Diese sind bei der Neurose deutlich
. Kompromißaktionen, in der einen Ansicht Bezeugungen von
Reue, Bemühungen zur Sühne und dergleichen, in der anderen
aber gleichzeitig Ersatzhandlungen, welche den Trieb für das
Verbotene entschädigen. Es ist ein Gesetz der neurotischen Er-
krankung, daß diese Zwangshandlungen immer mehr in den
Dienst des Triebes treten und immer näher an die ursprünglich
verbotene Handlung herankommen.
42 {I, DAS TABU UND DIE AMBIVALENZ,
Unternehmen wir jetzt den Versuch, das Tabu zu behan-
deln, als wäre es von derselben Natur wie ein Zwangsverbot
unserer Kranken. Wir machen uns dabei von vornherein klar,
daß viele der für uns zu beobachtenden Tabuverbote sekundärer,
verschobener und entstellter Art sind, und daß wir zufrieden
sein müssen, etwas Licht auf die ursprünglichsten und be-
deutsamsten Tabuverbote zu werfen. Ferner, daß die Ver-
schiedenheiten in der Situation des Wilden und des Neurotikers
wichtig genug sein dürften, um eine völlige Übereinstimmung
auszuschließen, eine Übertragung von dem einen auf den an-
deren, die einer Abbildung in jedem Punkte gleichkäme, zu
verhindern.
Wir würden dann zunächst sagen, es habe keinen Sinn,
die Wilden nach der wirklichen Motivierung ihrer Verbote,
nach der Genese des Tabu zu fragen. Nach unserer Voraus-
setzung müssen sie unfähig sein, darüber etwas mitzuteilen,
denn diese Motivierung sei ihnen „unbewußt“. Wir konstruieren
die Geschichte des Tabu aber folgendermaßen nach dem Vor-
bild der Zwangsverbote. Die Tabu seien uralte Verbote, einer
Generation von primitiven Menschen dereinst von außen auf-
gedrängt, das heißt also doch wohl von der früheren Generation
ihr gewalttätig eingeschärft. Diese Verbote haben Tätigkeiten
betroffen, zu denen eine starke Neigung bestand. Die Verbote
haben sich nun von Generation zu Generation erhalten, viel-
leicht bloß infolge der Tradition durch elterliche und gesell-
schaftliche Autorität. Vielleicht aber haben sie sich in den
späteren Generationen bereits „organisiert“ als ein Stück er-
erbten psychischen Besitzes. Ob es solche „angeborene Ideen“
gibt, ob sie allein oder im Zusammenwirken mit der Erziehung
die Fixierung der Tabu bewirkt haben, wer vermöchte es gerade
für den in Rede stehenden Fall zu entscheiden? Aber aus der
DIE AMBIVALENTE EINSTELLUNG ZUM TABU, 43
Festhaltung der Tabu ginge eines hervor, daß die ursprüng-
liche Lust, jenes Verbotene zu tun, auch noch bei den Tabu-
völkern fortbesteht. Diese haben also zu ihren Tabuverboten
eine ambivalente Einstellung; sie möchten im Unbe-
wußten nichts lieber als sie übertreten, aber sie fürchten sich
auch davor; sie fürchten sich gerade darum, weil sie es möchten,
und die Furcht ist stärker als die Lust. Die Lust dazu ist
aber bei jeder Einzelperson des Volkes unbewußt wie bei dem
Neurotiker.
Die ältesten und wichtigsten Tabuverbote sind die beiden
Grundgesetze des Totemismus: Das Totemtier nicht zu
töten und den sexuellen Verkehr mit den Totemgenossen des
anderen Geschlechts zu vermeiden.
Das müßten also die ältesten und stärksten Gelüste der
Menschen sein. Wir können das nicht verstehen und können
demnach unsere Voraussetzung nicht an diesen Beispielen prüfen,
solange uns Sinn und Abkunft des totemistischen Systems so
völlig unbekannt sind. Aber wer die Ergebnisse der psycho-
analytischen Erforschung des Einzelmenschen kennt, der wird
selbst durch den Wortlaut dieser beiden Tabu und durch ihr
Zusammentreffen an etwas ganz Bestimmtes gemahnt, was die
Psychoanalytiker für den Knotenpunkt des infantilen Wunsch-
lebens und dann für den Kern der Neurose erklären).
Die sonstige Mannigfaltigkeit der Tabuerscheinungen, die
zu den früher mitgeteilten Klassifizierungsversuchen geführt
hat, wächst für uns auf folgende Art zu einer Einheit zu-
sammen: Grundlage des Tabu ist ein verbotenes Tun, zu dem
eine starke Neigung im Unbewußten besteht.
Wir wissen, ohne es zu verstehen, wer das Verbotene tut,
1) Vgl. meine in diesen Aufsätzen bereits mehrmals angekündigte
Studie über den Totemismus.
44 II. DAS TABU UND DIE AMBIVALENZ,
das Tabu übertritt, wird selbst tabu. Wie bringen wir aber
diese Tatsache mit der anderen zusammen, daß das Tabu nicht
nur an Personen haftet, die das Verbotene getan haben, son-
dern auch an Personen, .die sich in besonderen Zuständen be-
finden, an diesen Zuständen selbst und an unpersönlichen Din-
gen? Was kann das für eine gefährliche Eigenschaft sein,
die immer die nämliche bleibt unter all diesen verschiedenen
Bedingungen? Nur die eine: die Eignung, die Ambivalenz des
Menschen anzufachen und ihn in Versuchung zu führen,
das Verbot zu übertreten.
Der Mensch, der ein Tabu übertreten hat, wird selbst tabu,
weil er die gefährliche Eignung hat, andere zu versuchen, daß
sie seinem Beispiel folgen. Er erweckt Neid; warum sollte
ihm gestattet sein, was anderen verboten ist? Er ist also wirk-
lich ansteckend, insofern jedes Beispiel zur Nachahmung
ansteckt, und darum muß er selbst gemieden werden.
Ein Mensch braucht aber kein Tabu übertreten zu haben
und kann doch permanent oder zeitweilig tabu sein, weil er
sich in einem Zustand befindet, welcher die Eignung hat, die
verbotenen Gelüste der anderen anzuregen, den Ambivalenz-
konflikt in ihnen zu wecken. Die meisten Ausnahmsstellungen
und Ausnahmszustände sind von solcher Art und haben diese
gefährliche Kraft. Der König oder Häuptling erweckt den
Neid auf seine Vorrechte; es möchte vielleicht jeder König
sein. Der Tote, das Neugeborene, die Frau in ihren Leidens-
zuständen reizen durch ihre besondere Hilfslosigkeit, das eben
geschlechtsreif gewordene Individuum durch den neuen Genuß,
den es verspricht. Darum sind alle diese Personen und alle
diese Zustände tabu, denn der Versuchung darf nicht nach-
gegeben werden.
‚Wir verstehen jetzt auch, warum die Manakräfte verschie-
DIE GEFAHR DER VERSUCHUNG. 45
dener Personen sich von einander abziehen, einander teilweise
aufheben können. Das Tabu eines Königs ist zu stark für
seinen Untertan, weil die soziale Differenz zwischen ihnen zu
groß ist. Aber ein Minister kann etwa den unschädlichen Ver-
mittler zwischen ihnen machen. Das heißt aus der Sprache
des Tabu in die der Normalpsychologie übersetzt: Der Unter-
tan, der die großartige Versuchung scheut, welche ihm die
Berührung mit dem König bereitet, kann etwa den Umgang
des Beamten vertragen, den er nicht so sehr zu beneiden braucht,
und dessen Stellung ihm vielleicht selbst erreichbar scheint.
Der Minister aber kann seinen Neid gegen den König durch
die Erwägung der Macht ermäßigen, die ihm selbst eingeräumt
ist. So sind geringere Differenzen der in Versuchung führenden
Zauberkraft weniger zu fürchten als besonders große.
Es ist ebenso klar, wieso die Übertretung gewisser Tabu-
verbote eine soziale Gefahr bedeutet, die von allen Mitgliedern
der Gesellschaft gestraft oder gesühnt werden muß, wenn sie
nicht alle schädigen soll. Diese Gefahr besteht wirklich, wenn
wir die bewußten Regungen für die unbewußten Gelüste ein-
setzen. Sie besteht in der Möglichkeit der Nachahmung, in
deren Folge die Gesellschaft bald zur Auflösung käme. Wenn
die anderen die Übertretung nicht ahnden würden, müßten sie
ja inne werden, daß sie dasselbe tun wollen wie der Übeltäter.
Daß die Berührung beim Tabuverbot eine ähnliche Rolle
spielt wie beim Delire de toucher, obwohl der geheime Sinn
des Verbotes beim Tabu unmöglich ein so spezieller sein kann
wie bei der Neurose, darf uns nicht Wunder nehmen. Die Be-
rührung ist der Beginn jeder Bemächtigung, jedes Versuches,
sich eine Person oder Sache dienstbar zu machen.
Wir haben die ansteckende Kraft, die dem Tabu innewohnt,
durch die Eignung, in Versuchung zu führen, zur Nachahmung
46 U. DAS TABU UND DIE AMBIVALENZ,
——--—
anzuregen, übersetzt. Dazu scheint es nicht zu stimmen, daß
sich die Ansteckungsfähigkeit des Tabu vor allem in der Über-
tragung auf Gegenstände äußert, die dadurch selbst Träger
des Tabu werden.
Diese Übertragbarkeit des Tabu spiegelt die bei der Neurose
nachgewiesene Neigung des unbewußten Triebes wieder, sich
auf assoziativen Wegen auf immer neue Objekte zu verschieben.
Wir werden so aufmerksam gemacht, daß der gefährlichen
Zauberkraft des „Mana“ zweierlei realere Fähigkeiten ent-
sprechen, die Eignung, den Menschen an seine verbotenen
Wünsche zu erinnern, und die scheinbar bedeutsamere, ihn zur
Übertretung des Verbotes im Dienste dieser Wünsche zu ver-
leiten. Beide Leistungen treten aber wieder zu einer einzigen
zusammen, wenn wir annehmen, es läge im Sinne eines primi-
tiven Seelenlebens, daß mit der Erweckung der Erinnerung an
das verbotene Tun auch die Erweckung der Tendenz, es durch-
zusetzen, verknüpft, sei. Dann fallen Erinnerung und Ver-
suchung wieder zusammen. Man muß auch zugestehen, wenn
das Beispiel eines Menschen, der ein Verbot übertreten hat,
einen anderen zur gleichen Tat verführt, so hat sich der Un-
gehorsam gegen das Verbot fortgepflanzt wie eine Ansteckung,
wie sich das Tabu von einer Person auf einen Gegenstand und
von diesem auf einen anderen überträgt.
Wenn die Übertretung eines Tabu gutgemacht werden kann
durch eine Sühne oder Buße, die ja einen Verzicht auf irgend
ein Gut oder eine Freiheit bedeuten, so ist hiedurch der Beweis
erbracht, daß die Befolgung der Tabuvorschrift selbst ein Ver-
zicht war auf etwas, was man gern gewünscht hätte. Die
Unterlassung des einen Verzichts wird durch einen Verzicht an
anderer Stelle abgelöst. Für das Tabuzeremoniell würden wir
GENESE UND DEUTUNG DES TABU. 47
hieraus den Schluß ziehen, daß die Buße etwas Ursprüng-
licheres ist als die Reinigung.
Fassen wir nun zusammen, welches Verständnis des Tabu
sich uns aus der Gleichstellung mit dem Zwangsverbot des
Neurotikers ergeben hat: Das Tabu ist ein uraltes Verbot, von
außen (von einer Autorität) aufgedrängt und gegen die stärksten
Gelüste der Menschen gerichtet. Die Lust, es zu übertreten,
besteht in deren Unbewußten fort; die Menschen, die dem
Tabu gehorchen, haben eine ambivalente Einstellung gegen das
vom Tabu Betroffene. Die dem Tabu zugeschriebene Zauber-
kraft führt sich auf die Fähigkeit zurück, die Menschen in
Versuchung zu führen; sie benimmt sich wie eine Ansteckung,
weil das Beispiel ansteckend ist, und weil sich das verbotene
Gelüste im Unbewußten auf anderes verschiebt. Die Sühne
der Übertretung des Tabu durch einen Verzicht erweist, daß der
Befolgung des Tabu ein Verzicht zu Grunde liegt.
3.
Wir wollen nun wissen, welchen Wert unsere Gleichstel-
lung des Tabu mit der Zwangsneurose und die auf Grund dieser
Vergleichung gegebene Auffassung des Tabu beanspruchen
kann. Ein solcher Wert liegt offenbar nur vor, wenn unsere
Auffassung einen Vorteil bietet, der sonst nicht zu haben ist,
wenn sie ein besseres Verständnis des Tabu gestattet, als uns
sonst möglich wird. Wir sind vielleicht geneigt zu behaupten,
daß wir diesen Nachweis der Brauchbarkeit im vorstehenden
bereits erbracht haben; wir werden aber versuchen müssen,
ihn zu verstärken, indem wir die Erklärung der Tabuverbote
und Gebräuche ins Einzelne fortsetzen.
Es steht uns aber auch ein anderer Weg offen. Wir können
die Untersuchung anstellen, ob nicht ein Teil der Voraussetzun-
48 II. DAS TABU UND DIE AMBIVALENZ,
gen, die wir von der Neurose her auf das Tabu übertragen
haben, oder der Folgerungen, zu denen wir dabei gelangt sind,
an den Phänomenen des Tabu unmittelbar erweisbar ist. Wir
müssen uns nur entscheiden, wonach wir suchen wollen. Die
Behauptung über die Genese des Tabu, es stamme von einem
uralten Verbote ab, welches dereinst von außen auferlegt worden
ist, entzieht sich natürlich dem Beweise. Wir werden also eher
die psychologischen Bedingungen fürs Tabu zu bestätigen
suchen, welche wir für die Zwangsneurose kennen gelernt haben.
Wie gelangten wir bei der Neurose zur Kenntnis dieser psycho-
logischen Momente? Durch das analytische Studium der Sym-
ptome, vor allem der Zwangshandlungen, der Abwehrmaßregeln
und Zwangsgebote. Wir fanden an ihnen die besten Anzeichen
für ihre Abstammung von ambivalenten Regungen oder
Tendenzen, wobei sie entweder gleichzeitig dem Wunsche wie
dem Gegenwunsche entsprechen oder vorwiegend im Dienste
der einen von den beiden entgegengesetzten Tendenzen stehen.
Wenn es uns nun gelänge, auch an den Tabuvorschriften die
Ambivalenz, das Walten entgegengesetzter Tendenzen, aufzu-
zeigen, oder unter ihnen einige aufzufinden, die nach der Art
von Zwangshandlungen beiden Strömungen gleichzeitigen Aus-
druck geben, so wäre die psychologische Übereinstimmung zwi-
schen dem Tabu und der Zwangsneurose im nahezu wichtigsten
Stücke gesichert.
Die beiden fundamentalen Tabuverbote sind, wie vorhin
erwähnt, für unsere Analyse durch die Zugehörigkeit zum Tote-
mismus unzugänglich; ein anderer Anteil der Tabusatzungen
ist sekundärer Abkunft und für unsere Absicht nicht verwertbar.
Das Tabu ist nämlich bei den entsprechenden Völkern die all-
gemeine Form der Gesetzgebung geworden und in den Dienst
von sozialen Tendenzen getreten, die sicherlich jünger sind als
VERSUCH EINES NACHWEISES DER AMBIVALENZ IM TABU, 49
das Tabu selbst, wie z. B. die Tabu, die von Häuptlingen und
Priestern auferlegt werden, um sich Eigentum und Vorrechte
zu sichern. Doch bleibt uns eine große Gruppe von Vorschriften
übrig, an denen unsere Untersuchung vorgenommen werden
kann; ich hebe aus dieser die Tabu heraus, die sich a) an
Feinde, b) an Häuptlinge, ce) an Tote knüpfen, und
werde das zu behandelnde Material der ausgezeichneten Samm-
lung von J. G. Frazer in seinem großen Werke: „The golden
bough“ entnehmen !!).
a) Die Behandlung der Feinde.
Wenn wir geneigt waren, den wilden und halbwilden Völ-
kern ungehemmte und reuelose Grausamkeit gegen ihre Feinde
zuzuschreiben, so werden wir mit großem Interesse erfahren,
daß auch bei ihnen die Tötung eines Menschen zur Befolgung
einer Reihe von Vorschriften zwingt, welche den Tabugebräu-
chen zugeordnet werden. Diese Vorschriften sind mit Leich-
tigkeit in vier Gruppen zu bringen; sie fordern 1. Versöh-
nung des getöteten Feindes, 2. Beschränkungen und 3. Sühne-
handlungen, Reinigungen des Mörders und 4. gewisse zeremo-
nielle Vornahmen. Wie allgemein oder wie vereinzelt solche
Tabugebräuche bei diesen Völkern sein mögen, läßt sich einer-
seits aus unseren unvollständigen Nachrichten nicht mit Sicher-
heit entscheiden, und ist anderseits für unser Interesse an diesen
Vorkommnissen gleichgültig. Immerhin darf man annehmen,
daß es sich um weitverbreitete Gebräuche und nicht um ver-
einzelte Sonderbarkeiten handelt.
Die Versöhnungsgebräuche auf der Insel Timor, nach-
dem eine siegreiche Kriegerschar mit den abgeschnittenen Köpfen
der besiegten Feinde zurückkehrt, sind darum besonders be-
1) Third edition, part II, Taboo and the perils of the soul, 1911.
Freud, Totem und Tabu. 4
50 II. DAS TABU UND DIE AMBIVALENZ,
deutsam, weil überdies der Führer der Expedition von schweren
Beschränkungen betroffen wird (s. u... „Bei dem feier-
lichen Einzug der Sieger werden Opfer dargebracht um die
Seelen der Feinde zu versöhnen; sonst müßte man Unheil für
die Sieger vorhersehen. Es wird ein Tanz aufgeführt, und da-
bei ein Gesang vorgetragen, in welchem der erschlagene Feind
beklagt, und seine Verzeihung erbeten wird: ‚Zürne uns nicht.
weil wir deinen Kopf hier bei uns haben; wäre uns das Glück
nicht hold gewesen, so hingen jetzt vielleicht unsere Köpfe
in deinem Dorf. Wir haben dir ein Opfer gebracht, um dich
zu besänftigen. Nun darf dein Geist zufrieden sein und uns
in Ruhe lassen. Warum bis du unser Feind gewesen? Wären
wir nicht besser Freunde geblieben? Dann wäre dein Blut nicht
vergossen und dein Kopf nicht abgeschnitten worden !).‘“
Ähnliches findet sich bei den Palu in Celebes; die Gallas
opfern den Geistern ihre erschlagenen Feinde, ehe sie ihr
Heimatsdorf betreten. (Nach Paulitschke: Ethnographie
Nordostafrikas.)
Andere Völker haben das Mittel gefunden, um aus ihren
früheren Feinden nach deren Tod Freunde, Wächter und Ba»-
schützer zu machen. Es besteht in der zärtlichen Behandlung
der abgeschnittenen Köpfe, wie manche wilde Stämme Borneos
sich deren rühmen. Wenn die See-Dayaks von Sarawak
von einem Kriegszug einen Kopf nach Hause bringen, so wird
dieser Monate hindurch mit der ausgesuchtesten Liebenswürdig-
keit behandelt und mit den zärtlichsten Namen angesprochen,
über die ihre Sprache verfügt. Die besten Bissen von ihren
Mahlzeiten werden ihm in den Mund gesteckt, Leckerbissen
und Zigarren. Er wird wiederholt gebeten, seine früheren
Freunde zu hassen und seinen neuen Wirten seine Liebe zu
FPPFazer TC, pP. 166
DIE ZWIESPÄLTIGE BEHANDLUNG DER FEINDE. 51
schenken, da er jetzt einer der Ihrigen ist. Man würde sehr
irre gehen, wenn man an dieser uns gräßlich erscheinenden Be-
handlung dem Hohn einen Anteil zuschriebe?).
Bei mehreren der wilden Stämme Nordamerikas ist die
Trauer um den erschlagenen und skalpierten Feind den Be-
obachtern aufgefallen. Wenn ein Choctaw einen Feind ge-
tötet hatte, so begann für ihn eine monatlange Trauer, während
welcher er sich schweren Einschränkungen unterwarf. Ebenso
trauerten die Dacota-Indianer. Wenn die Osagen, be-
merkt ein Gewährsmann, ihre eigenen Toten betrauert hatten,
so trauerten sie dann um den Feind, als ob er ein Freund ge-
wesen wäre ?).
Noch ehe wir auf die anderen Klassen von Tabugebräuchen
zur Behandlung der Feinde eingehen, müssen wir gegen eine
naheliegende Einwendung Stellung nehmen. Die Motivierung
dieser Versöhnungsvorschriften, wird man uns mit Frazer
und anderen entgegenhalten, ist einfach genug und hat nichts
mit einer „Ambivalenz“ zu tun. Diese Völker werden von
abergläubischer Furcht vor den Geistern der Erschlagenen be-
herrscht, einer Furcht, die auch dem klassischen Altertum nicht
fremd war, die der große britische Dramatiker in den Hallu-
zinationen Macbeths und Richards III. auf die Bühne
gebracht hat. Aus diesem Aberglauben leiten sich folgerichtig
alle die Versöhnungsvorschriften ab, wie auch die später zu
besprechenden Beschränkungen und Sühnungen; für diese Auf-
fassung sprechen noch die in der vierten Gruppe vereinigten
Zeremonien, die keine andere Auslegung zulassen als von Be-
mühungen, die den Mördern folgenden Geister der Erschla-
1) Frazer, Adonis, Attis, Osiris, p. 248, 1907. — Nach Hugh Low,
Sarawak, London 1848.
2) J. O. Dorsay bei Frazer, Taboo etc. p. 181.
4*
52 II. DAS TABU UND DIE AMBIVALENZ.
genen zu verjagen!). Zum Überfluß gestehen die Wilden ihre
Angst vor den Geistern der getöteten Feinde direkt ein und
führen die besprochenen Tabugebräuche selbst auf sie zurück.
Diese Einwendung ist in der Tat naheliegend, und wenn
sie ebenso ausreichend wäre, könnten wir uns die Mühe unsares
Birklärungsversuches gern ersparen. Wir verschieben es auf
später, uns mit ihr auseinanderzusetzen, und stellen ihr zu-
nächst nur die Auffassung entgegen, die sich aus den Voraus-
setzungen der vorigen Erörterungen über das Tabu ableitet.
Wir schließen aus all diesen Vorschriften, daß im Benehmen
gegen die Feinde noch andere als bloß feindselige Regungen
zum Ausdruck kommen. Wir erblicken in ihnen Äußerungen
der Reue, der Wertschätzung des Feindes, des bösen Gewissens,
ihn ums Leben gebracht zu haben. Es will uns scheinen, als
wäre auch in diesen Wilden das Gebot lebendig: Du sollst
nicht töten, welches nicht ungestraft verletzt werden darf, lange
vor jeder Gesetzgebung, die aus den Händen eines Gottes emp-
fangen wird.
Kehren wir nun zu den anderen Klassen von Tabuvor-
schriften zurück. Die Beschränkungen des siegreichen
Mörders sind ungemein häufig und meist von ernster Art. Auf
Timor (vgl. die Versöhnungsgebräuche oben) darf der Führer
der Expedition nicht ohne weiteres in sein Haus zurückkehren.
Es wird für ihn eine besondere Hütte errichtet, in welcher er
zwei Monate mit der Befolgung verschiedener Reinigungs-
vorschriften verbringt. In dieser Zeit darf er sein Weib nicht
sehen, auch sich nicht selbst ernähren, eine andere Person muß
N) Frazer, Taboo, p. 169 u. s. f., p. 174. Diese Zeremonien bestehen
in Schlagen mit den Schildern, Schreien, Brüllen und Erzeugung von
Lärm mit Hilfe von Instrumenten usw,
DIE BESCHRÄNKUNGEN DER SIEGREICHEN MÖRDER. 53
ihm das Essen in den Mund schiebent). — Bei einigen Dayak-
stämmen müssen die vom erfolgreichen Kriegszug Heimkehren-
den einige Tage lang abgesondert bleiben und sich gewisser
Speisen enthalten, sie dürfen auch kein Eisen berühren und
bleiben ihren Frauen fern. — In Logea, einer Insel nahe
Neuguinea, schließen sich Männer, die Feinde getötet oder
daran teilgenommen haben, für eine Woche in ihren Häusern
ein. Sie vermeiden jeden Umgang mit ihren Frauen und ihren
Freunden, rühren Nahrungsmittel nicht mit ihren Händen an
und näbren sich nur von Pflanzenkost, die in besonderen Ge-
fäßen für sie gekocht wird. Als Grund für diese letzte Be-
schränkung wird angegeben, daß sie das Blut der Erschlagenen
nicht riechen dürfen; sie würden sonst erkranken und sterben.
— Bei dem Toaripi- oder Motumotu-Stamm auf Neu-
guinea darf ein Mann, der einen anderen getötet hat, seinem
Weib nicht nahe kommen und Nahrung nicht mit seinen Fin-
gern berühren. Er wird von anderen Personen mit besonderer
Nahrung gefüttert. Dies dauert bis zum nächsten Neumond.
Ich unterlasse es, die bei Frazer mitgeteilten Fälle von
Beschränkungen des siegreichen Mörders vollzählig anzuführen,
und hebe nur noch solche Beispiele hervor, in denen der Tabu-
charakter besonders auffällig ist oder die Beschränkung im
Verein mit Sühne, Reinigung und Zeremoniell auftritt.
Bei den Monumbos in Deutsch-Neuguinea wird jeder,
der einen Feind im Kampfe getötet hat, „unrein“, wofür das-
selbe Wort gebraucht wird, das auf Frauen während der Men-
struation oder des Wochenbettes Anwendung findet. Er darf
durch lange Zeit das Klubhaus der Männer nicht verlassen, wäh-
rend sich die Mitbewohner seines Dorfes um ihn versammeln
e: 1) Frazer, Taboo, p. 166, nach S. Müller, Reizen en ÖOnderzoe-
kingen in den Indischen Archipel, Amsterdam 1857.
54 I. DAS TABU UND DIE AMBIVALENZ.
und seinen Sieg mit Liedern und Tänzen feiern. Er darf nie-
mand, nicht einmal seine eigene Frau und seine Kinder be-
rühren; täte er es, so würden sie von Geschwüren befallen
werden. Er wird dann rein durch Waschungen und anderes
Zeremoniell.
Bei den Natchez in Nordamerika waren junge Krieger,
die den ersten Skalp erbeutet hatten, durch sechs Monate zur
Befolgung gewisser Entsagungen genötigt. Sie durften nicht
bei ihren Frauen schlafen und kein Fleisch essen, erhielten
nur Fisch und Maispudding zur Nahrung. Wenn ein Choctaw
einen Feind getötet und skalpiert hatte, begann für ihn eine
Trauerzeit von einem Monat, während welcher er sein Haar
nicht kämmen durfte. Wenn es ihn am Kopfe juckte, durfte
er sich nicht mit der Hand kratzen, sondern bediente sich dazu
eines kleinen Steckens.
Wenn ein Pima-Indianer einen Apachen getötet hatte,
so.mußte er sich schweren Reinigungs- und Sühnezeremonien
unterwerfen. Während einer sechzehntägigen Fastenzeit durfte
er Fleisch und Salz nicht berühren, auf kein brennendes Feuer
schauen, zu keinem Menschen sprechen. Er lebte allein im
Walde, von einer alten Frau bedient, die ihm spärliche Nah-
rung brachte, badete oft im nächsten Fluß und trug — als
Zeichen der Trauer — einen Klumpen Lehm auf seinem Haupte.
Am siebzehnten Tage fand dann die öffentliche Zeremonie der
feierlichen Reinigung des Mannes und seiner Waffen statt.
Da die Pima-Indianer das Tabu des Mörders viel ernster
nahmen als ihre Feinde und die Sühne und Reinigung nicht
wie diese bis nach der Beendigung des Feldzuges aufzuschieben
pflegten, litt ihre Kriegstüchtigkeit sehr unter ihrer sittlichen
Strenge oder Frömmigkeit, wenn man will. Trotz ihrer außer-
ordentlichen Tapferkeit erwiesen sie sicli den Amerikanern als
BUSSEN UND SÜHNEN.
91
oO
unbefriedigende Bundesgenossen in ihren Kämpfen gegen die
Apachen.
So interessant die Einzelheiten und Variationen der Sühne-
und Reinigungszeremonien nach Tötung eines Feindes für eine
tiefer eindringende Betrachtung auch sein mögen, so breche
ich deren Mitteilung doch ab, weil sie uns keine neuen Gesichts-
punkte eröffnen können. Vielleicht führe ich noch an, daß die
zeitweilige oder permanente Isolierung des berufsmäßigen Hen-
kers, die sich bis in unsere. Neuzeit erhalten hat, in diesen
Zusammenhang gehört. Die Stellung des „Freimannes“ in der
mittelalterlichen Gesellschaft vermittelt in der Tat eine gute
Vorstellung von dem ‚Tabu“ der Wilden).
In der gangbaren Erklärung all dieser Versöhnungs-, Be-
schränkungs-, Sühne- und Reinigungsvorschriften werden zwei
Prinzipien miteinander kombiniert. Die Fortsetzung des Tabu
vom Toten her auf alles, was mit ihm in Berührung gekommen
ist, und die Furcht vor dem Geist des Getöteten. Auf welche
Weise diese beiden Momente miteinander zur Erklärung des
Zeremoniells zu kombinieren sind, ob sie als gleichwertig auf-
gefaßt werden sollen, ob das eine das primäre, das andere sekun-
där ist, und welches, das wird nicht gesagt und ist in der
Tat nicht leicht anzugeben. Demgegenüber betonen wir die Ein-
heitlichkeit unserer Auffassung, wenn wir all diese Vorschriften
aus der Ambivalenz der Gefühlsregungen gegen den Feind
ableiten.
b) Das Tabu der Herrscher.
Das Benehmen primitiver Völker gegen ihre Häuptlinge,
Könige, Priester wird von zwei Grundsätzen regiert, die ein-
1) Zu diesen Beispielen s. Frazer, Taboo, p. 165—190. „Manslayers
tabooed“,
56 II. DAS TABU UND DIE AMBIVALENZ.
ander eher zu ergänzen als zu widersprechen scheinen. Man
muß sich vor ihnen hüten und man muß sie behüten!). Beides
geschieht vermittels einer Unzahl von Tabuvorschriften. Warum
man sich vor den Herrschern hüten muß, ist uns bereits be-
kannt geworden: weil sie die Träger jener geheimnisvollen und
gefährlichen Zauberkraft sind, die sich wie eine elektrische
Ladung durch Berührung mitteilt und dem selbst nicht durch
eine ähnliche Ladung Geschützten Tod und Verderben bringt.
Man vermeidet also jede mittelbare oder unmittelbare Berüh-
rung mit der gefährlichen Heiligkeit und hat, wo solche nicht
zu vermeiden ist, ein Zeremoniell gefunden, um die gefürch-
teten Folgen abzuwenden. Die Nubas in Ostafrika glauben
z. B., daß sie sterben müssen, wenn sie das Haus ihres Priester-
königs betreten, daß sie aber dieser Gefahr entgehen, wenn sie
beim Eintritt die linke Schulter entblößen und den König ver-
anlassen, diese mit seiner Hand zu berühren. So trifit das Merk-
würdige ein, daß die Berührung des Königs das Heil- und
Schutzmittel gegen die Gefahren wird, welche aus der Berüh-
rung des Königs hervorgehen, aber es handelt sich dabei wohl
um die Heilkraft der absichtlichen, vom König ausgehenden
Berührung im Gegensatz zur Gefahr, daß man ihn berühre, um
den Gegensatz der Passivität und der Aktivität gegen den
König.
Wenn es sich um die Heilwirkung der königlichen Berüh-
rung handelt, brauchen wir die Beispiele nicht bei Wilden zu
suchen. Die Könige von England haben in Zeiten, die noch
nicht weit zurückliegen, diese Kraft an der Skrofulose geübt,
die darum den Namen: „The King’s Evil“ trug. Königin Elisa-
!) Frazer, Taboo, p. 132, „He must not only be guarded, he must
also be guarded against“,
DAS TABU DER HERRSCHER. 57
beth entsagte diesem Stück ihrer königlichen Prärogative
ebensowenig wie irgend einer ihrer späteren Nachfolger.
Charles I. soll im Jahre 1633 hundert Kranke auf einen Streich
geheilt haben. Unter dessen zuchtlosem Sohn Charles I.
feierten nach der Überwindung der großen englischen Revolu-
tion der Königsheilungen bei Skrofeln ihre höchste Blüte.
Dieser König soll im Laufe seiner Regierung bei hundert-
tausend Skrofulöse berührt haben. Das Gedränge der Hei-
lungsuchenden pflegte bei dieser Gelegenheit so groß zu sein,
daß einmal sechs oder sieben von ihnen anstatt der Heilung
den Tod durch Erdrücktwerden fanden. Der skeptische Oranier
Wilhelm III., der nach der Vertreibung der Stuarts König von
England wurde, weigerte sich des Zaubers; das einzigemal,
als er sich zu einer solchen Berührung herbeiließ, tat er es mit
den Worten: ‚Gott gebe Euch eine bessere Gesundheit und
mehr Verstand !).“
Von der fürchterlichen Wirkung der Berührung, in welcher
man, ob auch unabsichtlich, gegen den König oder das, was
zu ihm gehört, aktiv wird, mag folgender Bericht Zeugnis ab-
legen. Ein Häuptling von hohem Rang und großer Heiligkeit
auf Neuseeland hatte einst die Reste seiner Mahlzeit am Wege
stehen lassen. Da kam ein Sklave daher, ein junger, kräftiger,
hungriger Gesell, sah das Zurückgelassene und machte sich
darüber, um es aufzuessen. Kaum war er fertig worden, da
teilte ihm ein entsetzter Zuschauer mit, daß es die Mahlzeit
des Häuptlings gewesen sei, an welcher er sich vergangen habe.
Er war ein starker, mutiger Krieger gewesen, aber sobald er
diese Auskunft vernommen hatte, stürzte er zusammen, wurde
von gräßlichen Zuckungen befallen und starb gegen Sonnen-
1) Frazer, The magic art I, p. 368.
58 U. DAS TABU UND DIE AMBIVALENZ.
untergang des nächsten Tages!). Eine Maorifrau hatte ge-
wisse Früchte gegessen und dann erfahren, daß diese von einem
mit Tabu belegten Ort herrührten. Sie schrie auf, der Geist
des Häuptlings, den sie so beleidigt, werde sie gewiß töten.
Dies geschah am Nachmittag und am nächsten Tag um zwölf
Uhr war sie tot?). Das Feuerzeug eines Maori-Häuptlings
brachte einmal mehrere Personen ums Leben. Der Häuptling
hatte es verloren, andere fanden es und bedienten sich seiner,
um ihre Pfeifen anzuzünden. Als sie erfuhren, wessen Eigen-
tum das Feuerzeug sei, starben sie alle vor Schrecken 3).
Es ist nicht zu verwundern, wenn sich das Bedürfnis fühl-
bar machte, so gefährliche Personen wie Häuptlinge und Priester
von den anderen zu isolieren, eine Mauer um sie aufzuführen,
hinter welcher sie für die anderen unzugänglich waren. Es
mag uns die Erkenntnis dämmern, daß diese ursprünglich aus
Tabuvorschriften gefügte Mauer heute noch als höfisches Zere-
moniell existiert.
Aber der vielleicht größere Teil dieses Tabu der Herr-
scher läßt sich nicht auf das Bedürfnis des Schutzes vor ihnen
zurückführen. Der andere Gesichtspunkt in der Behandlung
der privilegierten Personen, das Bedürfnis, sie selbst vor den
ihnen drohenden Gefahren zu schützen, hat an der Schaffung
der Tabu und somit an der Entstehung der höfischen Etikette
den deutlichsten Anteil gehabt.
Die Notwendigkeit, den König vor allen erdenklichen Ge-
fahren zu schützen, ergibt sich aus seiner ungeheuren Bedeu-
1) Old New Zealand, by a Pakeha Maori (London 1884), bei Frazer,
Taboo, p. 135.
?) W. Brown, New Zealand and is Aborigines (London 1845), bei
Frazer ibid.
8) Frazer, l.c.
WIDERSPRÜCHE IN DER BEHANDLUNG DER HERRSCHER. 59
tung für das Wohl und Wehe seiner Untertanen. Streng ge-
nommen ist es seine Person, die den Lauf der Welt reguliert;
sein Volk hat ihm nicht nur für den Regen und Sonnenschein
zu danken, der die Früchte der Erde gedeihen läßt, sondern
auch für den Wind, der Schiffe an ihre Küste bringt, und für
den festen Boden, auf den sie ihre Füße setzen !).
Diese Könige der Wilden sind mit einer Machtfülle und
einer Fähigkeit zu beglücken ausgestattet, die nur Göttern zu
eigen ist, und an welche auf späteren Stufen der Zivilisation
nur die servilsten ihrer Höflinge Glauben heucheln werden.
Es erscheint ein offenbarer Widerspruch, daß Personen
von solcher Machtvollkommenheit selbst der größten Sorgfalt
bedürfen, um vor den sie bedrohenden Gefahren beschützt zu
werden, aber es ist nicht der einzige Widerspruch, der in der
Behandlung königlicher Personen bei den Wilden zu Tage tritt.
Diese Völker halten es auch für notwendig, ihre Könige zu
überwachen, daß sie ihre Kräite im rechten Sinne verwenden:
sie sind ihrer guten Intentionen oder ihrer Gewissenhaftigkeit
keineswegs sicher. Ein Zug von Mißtrauen mengt sich der Moti-
vierung der Tabuvorschriften für den König bei. „Die Idee,
daß urzeitliches Königstum ein Despotismus ist,“ sagt Fra-
zer?), „demzufolge das Volk nur für seinen Herrscher existiert,
ist auf die Monarchien, die wir hier im Auge haben, ganz und
gar nicht anwendbar. Im Gegenteile, in diesen lebt der Herr-
scher nur für seine Untertanen; sein Leben hat einen Wert
nur so lange, als er die Pflichten seiner Stellung erfüllt, den
Lauf der Natur zum Besten seines Volkes regelt. Sobald er
darin nachläßt oder versagt, wandeln sich die Sorgfalt, die Hin-
gebung, die religiöse Verehrung, deren Gegenstand er bisher
= 1) Frazer, Taboo. 'Ihe burden of royalty, p. 7.
2) CH Pr t.
60 II. DAS TABU UND DIE AMBIVALENZ.
im ausgiebigsten Maße war, in Haß und Verachtung um. Er
wird schmählich davongejagt und mag {roh sein, wenn er das
nackte Leben rettet. Heute noch als Gott verehrt, mag es
ihm passieren, morgen als Verbrecher erschlagen zu werden.
Aber wir haben kein Recht, dies veränderte Benehmen seines
Volkes als Unbeständigkeit oder Widerspruch zu verurteilen,
das Volk bleibt vielmehr durchaus konsequent. Wenn ihr König
ihr Gott ist, so denken sie, muß er sich auch als ihr Beschützer
erweisen; und wenn er sie nicht beschützen will, soll er einem
anderen, der bereitwilliger ist, den Platz räumen. Solange er
aber ihren Erwartungen entspricht, kennt ihre Sorgfalt für
ihn keine Grenzen, und sie nötigen ihn dazu, sich selbst mit
der gleichen Fürsorge zu behandeln. Ein solcher König lebt
wie eingemauert hinter einem System von Zeremoniell und
Etikette, eingesponnen in ein Netz von Gebräuchen und Ver-
boten, deren Absicht keineswegs dahin geht, seine Würde zu
erhöhen, noch weniger sein Wohlbehagen zu steigern, sondern
die einzig und allein bezwecken, ihn vor Schritten zurückzu-
halten, welche die Harmonie der Natur stören und so ihn, sein
Volk und das ganze Weltall gleichzeitig zu Grunde richten
könnten. Diese Vorschriften, weit entfernt, seinem Behagen
zu dienen, mengen sich in jede seiner Handlungen, heben seine
Freiheit auf und machen ihm das Leben, das sie angeblich ver-
sichern wollen, zur Bürde und zur Qual.“
Eines der grellsten Beispiele von solcher Fesselung und
Lähmung eines heiligen Herrschers durch das Tabu-Zeremoniell
scheint in der Lebensweise des Mikado von Japan in früheren
Jahrhunderten erzielt worden zu sein. Eine Beschreibung, die
jetzt über zweihundert Jahre alt ist!), erzählt: „Der Mikado
1) Kämpfer, History of Japan bei Frazer, l.c, p. 3.
BESCHRÄNKUNGEN DER KÖNIGE. 61
glaubt, daß es seiner Würde und Heiligkeit nicht angemessen
sei, den Boden mit den Füßen zu berühren; wenn er also
irgendwohin gehen will, muß er auf den Schultern von Män-
nern hingetragen werden. Es geht aber noch viel weniger an,
daß er seine heilige Person der freien Luft aussetze, und die
Sonne wird der Ehre nicht gewürdigt, auf sein Haupt zu
scheinen. Allen Teilen seines Körpers wird eine so hohe Heilig-
keit zugeschrieben, daß weder sein Haupthaar, noch sein Bart
geschoren und seine Nägel nicht geschnitten werden dürfen.
Damit er aber nicht zu sehr verwahrlose, waschen sie ihn
nachts, wenn er schläft; sie sagen, was man in diesem Zustand
von seinem Körper nimmt, kann nur als gestohlen aufgefaßt
werden, und ein solcher Diebstahl tut seiner Würde und Hei-
ligkeit keinen Eintrag. In noch früheren Zeiten mußte er jeden
Vormittag einige Stunden lang mit der Kaiserkrone auf dem
Haupte auf dem Throne sitzen, aber er mußte sitzen wie eine
Statue, ohne Hände, Füße, Kopf oder Augen zu bewegen;
nur so, meinte man, könne er Ruhe und Frieden im Reiche er-
halten. Wenn er unseligerweise sich nach der einen oder der
anderen Seite wenden sollte, oder eine Zeitlang den Blick bloß
auf einen Teil seines Reiches richtete, so würden Krieg, Hungers-
not, Feuer, Pest oder sonst ein großes Unheil hereinbrechen, um
das Land zu verheeren.“
Einige der Tabu, denen barbarische Könige unterworfen
sind, mahnen lebhaft an die Beschränkungen der Mörder. In
Shark Point bei Kap Padron in Unter-Guinea (West-
afrika) lebt ein Priesterkönig, Kukulu, allein in einem Wald.
Er darf kein Weib berühren, auch sein Haus nicht verlassen,
ja nicht einmal von seinem Stuhl aufstehen, in dem er sitzend
schlafen muß. Wenn er sich niederlegte, würde der Wind auf-
hören und die Schiffahrt gestört sein. Seine Funktion ist es,
62 II. DAS TABU UND DIE AMBIVALENZ.
die Stürme in Schranken zu halten und im allgemeinen für einen
gleichmäßig gesunden Zustand der Atmosphäre zu sorgen).
Je mächtiger ein König von Loango ist, sagt Bastian, desto
mehr Tabu muß er beobachten. Auch der Thronfolger ist von
Kindheit an an sie gebunden, aber sie häufen sich um ihn, wäh-
rend er heranwächst; im Momente der Thronbesteigung ist er
von ihnen erstickt.
Unser Raum gestattet es nicht und unser Interesse erfor-
dert es nicht, daß wir in die Beschreibung der an der Königs-
oder Priesterwürde haftenden Tabu weiter eingehen. Führen
wir noch an, daß Beschränkungen der freien Bewegung und der
Diät die Hauptrolle unter ihnen spielen. Wie konservierend
aber auf alte Gebräuche der Zusammenhang mit diesen privi-
legierten Personen wirkt, mag aus zwei Beispielen von Tabu-
zeremoniell hervorgehen, die von zivilisierten Völkern, also von
weit höheren Kulturstufen, genommen sind.
Der Flamen Dialis, der Oberpriester des Jupiter im
alten Rom, hatte eine außerordentlich große Anzahl von Tabu-
geboten zu beobachten. Er durfte nicht reiten, kein Pferd,
keine Bewaffneten sehen, keinen Ring tragen, der nicht zer-
brochen war, keinen Knoten an seinen Gewändern haben, Weizen-
mehl und Sauerteig nicht berühren, eine Ziege, einen Hund,
rohes Fleisch, Bohnen und Efeu nicht einmal beim Namen
nennen; sein Haar durfte nur von einem freien Mann mit einem
Bronzemesser geschnitten, seine Haare und Nägelabfälle mußten
unter einem glückbringenden Baum vergraben werden; er durfte
keinen Toten anrühren, nicht unbedeckten Hauptes unter freiem
Himmel stehen und dergleichen. Seine Frau, die Flaminica,
hatte überdies ihre eigenen Verbote: Sie durfte auf einer ge-
1) A. Bastian, „Die deutsche Expedition an der Loangoküste“,
Jena 1874, bei Frazer, l.c., p. Bd.
BESCHRÄNKUNGEN DER KÖNIGE. 63
wissen Art von Treppen nicht höher als drei Stufen steigen,
an gewissen Festtagen ihr Haar nicht kämmen; das Leder ihrer
Schuhe durfte von keinem Tier genommen werden, das eines
natürlichen Todes gestorben war, sondern nur von einem ge-
schlachteten oder geopferten; wenn sie Donner hörte, war sie
unrein, bis sie ein Sühnopfer dargebracht hatte).
Die alten Könige von Irland waren einer Reihe von
höchst sonderbaren Beschränkungen unterworfen, von deren Ein-
haltung aller Segen, von deren Übertretung alles Unheil für
das Land erwartet wurde. Das vollständige Verzeichnis dieser
Tabu ist in dem Book of Rights gegeben, dessen älteste
handschriftliche Exemplare die Jahreszahlen 1390 und 1418
tragen. Die Verbote sind äußerst detailliert, betreffen gewisse
Tätigkeiten an bestimmten Orten und zu bestimmten Zeiten;
in dieser Stadt darf der König nicht an einem gewissen Wochen-
tag weilen, jenen Fluß nicht um eine genannte Stunde über-
setzen, nicht volle neun Tage auf einer gewissen Ebene la-
gern u. dgl.2).
Die Härte der Tabubeschränkungen für die Priesterkönige
hat bei vielen wilden Völkern eine Folge gehabt, die historisch
bedeutsam und für unsere Gesichtspunkte besonders interessant
ist. Die Priester-Königswürde hörte auf, etwas Begehrens-
wertes zu sein; wem sie bevorstand, der wandte oft alle Mittel
an, um ihr zu entgehen. So wird es auf Combodscha, wo
es einen Feuer- und einen Wasserkönig gibt, oft notwendig, die
Nachfolger mit Gewalt zur Annahme der Würde zu zwingen.
Auf Nine oder Savage Island, einer Koralleninsel im
Stillen Ozean, kam die Monarchie tatsächlich zu Ende, weil
sich niemand mehr bereit finden wollte, das verantwortliche
DRTazer, Ic, mp: 13:
2) Frazer 0, p. 4,
64 II. DAS TABU UND DIE AMBIVALENZ.
und gefährliche Amt zu übernehmen. In manchen Teilen von
Westafrika wird nach dem Tode des Königs ein geheimes Konzil
abgehalten, um den Nachfolger zu bestimmen. Der, auf welchen
die Wahl fällt, wird gepackt, gebunden und im Fetischhaus
im Gewahrsam gehalten, bis er sich bereit erklärt hat, die
Krone anzunehmen. Gelegentlich findet der präsumtive Thron-
folger Mittel und Wege, um sich der ihm zugedachten Ehre
zu entziehen; so wird von einem Häuptling berichtet, daß
er Tag und Nacht Waffen zu tragen pflegte, um jedem Versuch,
ihn auf den Thron zu setzen, mit Gewalt zu widerstehen !).
Bei den Negern von Sierra Leone ward das Widerstreben
gegen die Annahme der Königswürde so groß, daß die meisten
Stämme genötigt waren, Fremde zu ihren Königen zu machen.
Frazer führt es auf diese Verhältnisse zurück, daß sich
in der Entwicklung der Geschichte endlich eine Scheidung des
ursprünglichen Priester-Königtums in eine geistliche und welt-
liche Macht vollzog. Die von der Bürde ihrer Heiligkeit er-
drückten Könige wurden unfähig, die Herrschaft in realen Din-
gen auszuüben, und mußten diese geringeren, aber tatkräftigen
Personen überlassen, welche bereit waren, auf die Ehren der
Königswürde zu verzichten. Aus diesen erwuchsen dann die
weltlichen Herrscher, während die nun praktisch bedeutungs-
lose geistliche Oberhoheit den früheren Tabukönigen verblieb.
Es ist bekannt, wieweit diese Aufstellung in der Geschichte
des alten Japans Bestätigung findet.
Wenn wir nun das Bild der Beziehungen der primitiven
Menschen zu ihren Herrschern überblicken, so regt sich in uns
die Erwartung, daß uns der Fortschritt von seiner Beschreibung
zu seinem psychoanalytischen Verständnis nicht schwer fallen
I) A. Bastian, „Die deutsche Expedition an der Loangoküste“, bei
Fräazer, lc, p. 18,
DAS TABU DER HERRSCHER. 65
wird. Diese Beziehungen sind sehr verwickelter Natur und
nicht frei von Widersprüchen. Man räumt den Herrschern
große Vorrechte ein, welche sich mit den Tabuverboten der
anderen geradezu decken. Es sind privilegierte Personen; sie
dürfen eben das tun oder genießen, was den übrigen durch das
Tabu vorenthalten ist. Im Gegensatz zu dieser Freiheit steht
aber, daß sie durch andere Tabu beschränkt sind, welche auf
die gewöhnlichen Individuen nicht drücken. Hier ist also ein
erster Gegensatz, fast ein Widerspruch, zwischen einem Mehr
von Freiheit und einem Mehr an Beschränkung für dieselben
Personen. Man traut ihnen außerordentliche Zauberkräfte zu
und fürchtet sich deshalb vor der Berührung mit ihren Per-
sonen oder ihrem Eigentum, während man anderseits von diesen
Berührungen die wohltätigste Wirkung erwartet. Dies scheint
ein zweiter besonders greller Widerspruch zu sein; allein wir
haben bereits erfahren, daß er nur scheinbar ist. Heilend und
schützend wirkt die Berührung, die vom König selbst in wohl-
wollender Absicht ausgeht; gefährlich ist nur die Berührung,
die vom gemeinen Mann am König und am Königlichen verübt
wird, wahrscheinlich, weil sie an aggressive Tendenzen mahnen
kann. Ein anderer, nicht so leicht auflösbarer Widerspruch
äußert sich darin, daß man dem Herrscher eine so große Ge-
walt über die Vorgänge der Natur zuschreibt und sich doch
für verpflichtet hält, ihn mit ganz besonderer Sorgfalt gegen
ihm drohende Gefahren zu beschützen, als ob seine eigene
Macht, die so vieles kann, nicht auch dies vermöchte. Eine
weitere Erschwerung des Verhältnisses stellt sich dann her,
indem man dem Herrscher nicht das Zutrauen entgegenbringt,
er werde seine ungeheure Macht in der richtigen Weise zum
Vorteil der Untertanen wie zu seinem eigenen Schutz verwenden
wollen; man mißtraut ihm also und hält sich für berechtigt,
Freud, Totem und Tabu. b)
66 II. DAS TABU UND DIE AMBIVALENZ.
ihn zu überwachen. Allen diesen Absichten der Bevormundung
des Königs, seinem Schutz vor Gefahren und dem Schutz der
Untertanen vor der Gefahr, die er ihnen bringt, dient gleich-
zeitig die Tabuetikette, der das Leben des Königs unter-
worfen wird.
Es liegt nahe, folgende Erklärung für das komplizierte
und widerspruchsvolle Verhältnis der Primitiven zu ihren Herr-
schern zu geben: Aus abergläubischen und anderen Motiven
kommen in der Behandlung der Könige mannigfache Tendenzen
zum Ausdruck, von denen jede ohne Rücksicht auf die anderen
zum Extrem entwickelt wird. Daraus entstehen dann die
Widersprüche, an denen der Intellekt der Wilden übrigens so
wenig Anstoß nimmt wie der der Höchstzivilisierten, wenn
es sich nur um Verhältnisse der Religion oder der „Loyalität“
handelt.
Das wäre soweit gut, aber die psychoanalytische Technik
wird gestatten, tiefer in den Zusammenhang einzudringen und
Näheres über die Natur dieser mannigfaltigen Tendenzen aus-
zusagen. Wenn wir den geschilderten Sachverhalt der Analyse
unterziehen, gleichsam als ob er sich im Symptombild einer
Neurose fände, so werden wir zunächst an das Übermaß von
ängstlicher Sorge anknüpfen, welches als Begründung des Tabu-
zeremoniells ausgegeben wird. Dies Vorkommen einer solchen
Überzärtlichkeit ist in der Neurose, speziell bei der Zwangs-
neurose, die wir in erster Linie zum Vergleich heranziehen,
sehr gewöhnlich. Ihre Herkunft ist uns sehr wohl verständlich
worden. Sie tritt überall dort auf, wo außer der vorherrschen-
den Zärtlichkeit eine gegensätzliche aber unbewußte Strömung
von Feindseligkeit besteht, also der typische Fall der ambiva-
lenten Gefühlseinstellung realisiert ist. Dann wird die Feind-
seligkeiten überschrieen durch eine übermäßige Steigerung der
ERKLÄRUNGSVERSUCH DIESES TABU. 67
mm mn m 0 nn
Zärtlichkeit, die sich als Ängstlichkeit äußert und die zwang-
haft wird, weil sie sonst ihrer Aufgabe, die unbewußte Gegen-
strömung in der Verdrängung zu erhalten, nicht genügen würde.
Jeder Psychoanalytiker hat es erfahren, mit welcher Sicherheit
die ängstliche Überzärtlichkeit unter den unwahrscheinlichsten
Verhältnissen, z. B. zwischen Mutter und Kind oder bei zärt-
lichen Eheleuten, diese Auflösung gestattet. Auf die Behand-
lung der privilegierten Personen angewendet, ergäbe sich die
Einsicht, daß der Verehrung, ja Vergötterung derselben im
Unbewußten eine intensive feindselige Strömung entgegensteht,
daß also hier, wie wir es erwartet haben, die Situation der
ambivalenten Gefühlseinstellung verwirklicht ist. Das Miß-
trauen, welches als Beitrag zur Motivierung der Königstabu
unabweisbar erscheint, wäre eine andere direktere Äußerung
derselben unbewußten Feindseligkeit. Ja, wir wären — in-
folge der Mannigfaltiskeit der Endausgänge eines solchen Kon-
flikts bei verschiedenen Völkern — nicht um Beispiele ver-
legen, in denen uns der Nachweis einer solchen Feindseligkeit
noch viel leichter fiele. Die wilden Timmes von Sierra
Leone, hören wir bei Frazert), haben sich das Recht vor-
behalten, ihren gewählten König am Abend vor seiner Krönung
durchzuprügeln, und sie bedienen sich dieses konstitutionellen
Vorrechtes mit solcher Gründlichkeit, daß der unglückliche
Herrscher gelegentlich seine Erhebung auf den Thron um nicht
lange Zeit überlebt, daher haben es sich die Großen des Volkes
zur Regel gemacht, wenn sie einen Groll gegen einen bestimmten
Mann haben, diesen zum König zu wählen. Immerhin wird
auch in solchen grellen Fällen die Feindseligkeit sich nicht als
solche bekennen, sondern sich als Zeremoniell gebärden.
1) ].c, p. 18, nach Zweifel et Monstier, Voyage aux sources
du Niger, 1880.
5*
68 IT. DAS TABU UND DIE AMBIVALENZ.
Ein anderes Stück im Verhalten der Primitiven gegen ihre
IUerrscher ruft die Erinnerung an einen Vorgang wach, der,
in der Neurose allgemein verbreitet, in dem sogenannten Ver-
folgungswahn offen zu Tage tritt. Es wird hier die Bedeutung
einer bestimmten Person außerordentlich erhöht, ihre Macht-
vollkommenheit ins Unwahrscheinliche gesteigert, um ihr desto
eher die Verantwortlichkeit für alles Peinliche, was dem Kran-
ken widerfährt, aufladen zu können. Eigentlich verfahren ja
die Wilden mit ihren Königen nicht anders, wenn sie ihnen
die Macht: über Regen und Sonnenschein, Wind und Wetter
zuschreiben und sie dann absetzen oder töten, weil die Natur
ihre Erwartungen auf eine gute Jagd oder eine reife Ernte
enttäuscht hat. Das Vorbild, welches der Paranoiker im Ver-
folgungswahn wiederherstellt, liegt im Verhältnis des Kindes
zu seinem Vater. Dem Vater kommt eine derartige Machtfülle
in der Vorstellung des Sohnes regelmäßig zu, und es zeigt sich,
daß das Mißtrauen gegen den Vater mit seiner Hochschätzung
innig verknüpft ist. Wenn der Paranoiker eine Person seiner
Lebensbeziehungen zu seinem „Verfolger“ ernennt, so hebt er
sie damit in die Väterreihe, bringt sie unter die Bedingungen,
die ihm gestatten, sie für alles Unglück seiner Empfindung
verantwortlich zu machen. So mag uns diese zweite Analogie
zwischen dem Wilden und dem Neurotiker die Einsicht ahnen
lassen, wie vieles im Verhältnis des Wilden zu seinem Herr-
scher aus der infantilen Einstellung des Kindes zum Vater
hervorgehen mag.
Den stärksten Anhaltspunkt für unsere Betrachtungsweise,
welche die Tabuverbote mit neurotischen Symptomen vergleichen
will, finden wir aber im Tabuzeremoniell selbst, dessen Be-
deutung für die Stellung des Königstums vorhin erörtert wurde.
Dieses Zeremoniell trägt seinen Doppelsinn und seine Herkunft
DIE AMBIVALENZ DER HÖFISCHEN ETIQUETTE. 69
von ambivalenten Tendenzen unverkennbar zur Schau, wenn
wir nur annehmen wollen, daß es die Wirkungen, die es her-
vorbringt, auch von allem Anfang an beabsichtigt hat. Es
zeichnet nicht nur die Könige aus und erhebt sie über alle
gewöhnlichen Sterblichen, es macht ihnen auch das Leben zur
Qual und zur unerträglichen Bürde und zwingt sie in eine
Knechtschaft, die weit ärger ist als die ihrer Untertanen. Es
erscheint uns so als das richtige Gegenstück zur Zwangshand-
lung der Neurose, in der sich der unterdrückte Trieb und der
ihn unterdrückende zur gleichzeitigen und gemeinsamen Be-
friedigung treffen. Die Zwangshandlung ist angeblich ein
Schutz gegen die verbotene Handlung; wir möchten aber sagen,
sie ist eigentlich die Wiederholung des Verbotenen. Das
„angeblich“ wendet sich hier der bewußten, das „eigentlich“
der unbewußten Instanz des Seelenlebens zu. So ist auch das
Tabuzeremoniell der Könige angeblich die höchste Ehrung und
Sicherung derselben, eigentlich die Strafe für ihre Erhöhung,
die Rache, welche die Untertanen an ihnen nehmen. Die Er-
fahrungen, die Sancho Pansa bei Cervantes als Gou-
verneur auf seiner Insel macht, haben ihn offenbar diese Auf-
fassung des höfischen Zeremoniells als die einzig zutreffende
erkennen lassen. Es ist sehr wohl möglich, daß wir weitere
Zustimmungen zu hören bekämen, wenn wir Könige und Herr-
scher von heute zur Äußerung darüber veranlassen könnten.
Warum die Gefühlseinstellung gegen die Herrscher einen
so mächtigen unbewußten Beitrag von Feindseligkeit ent-
halten sollte, ist ein sehr interessantes, aber die Grenzen dieser
Arbeit überschreitendes Problem. Den Hinweis auf den in-
fantilen Vaterkomplex haben wir bereits gegeben; fügen wir
hinzu, daß die Verfolgung der Vorgeschichte des Königtums
uns die entscheidenden Aufklärungen bringen müßte. Nach
70 II. DAS TABU UND DIE AMBIVALENZ.
Frazers eindrucksvollen, aber nach eigenem Zugeständnis
nicht ganz zwingenden Erörterungen waren die ersten Könige
Fremde, die nach kurzer Herrschaft zum Opfertod bei feier-
lichen Festen als Repräsentanten der Gottheit bestimmt waren }).
Nocl die Mythen des Christentums wären von der Nachwirkung
dieser Entwicklungsgeschichte der Könige berührt.
c) Das Tabu der Toten.
Wir wissen, daß die Toten mächtige Herrscher sind; wir
werden vielleicht erstaunt sein zu erfahren, daß sie als Feinde
betrachtet werden.
Das Tabu der Toten erweist, wenn wir auf dem Boden des
Vergleiches mit der Infektion bleiben dürfen, bei den meisten
primitiven Völkern eine besondere Virulenz. Es äußert sich
zunächst in den Folgen, welche die Berührung des Toten nach
sich zieht, und in der Behandlung der um den Toten Trauern-
den. Bei den Maori war jeder, der eine Leiche berührt oder
an ihrer Grablegung teilgenommen hatte, aufs äußerste unrein
und nahezu abgeschnitten von allem Verkehr mit seinen Mit-
menschen, sozusagen boykottiert. Er konnte kein Haus be-
treten, keiner Person oder Sache nahe kommen, ohne sie mit
der gleichen Eigenschaft anzustecken. Ja, er durfte nicht ein-
mal Nahrung mit seinen Händen berühren, diese waren ihm
durch ihre Unreinheit geradezu unbrauchbar geworden. Man
stellte ihm das Essen auf den Boden hin, und ihm blieb nichts
übrig, als sich dessen mit den Lippen und den Zähnen, so gut
es eben ging, zu bemächtigen, während er seine Hände nach
den Rücken gebogen hielt. Gelegentlich war es erlaubt, daß
eine andere Person ihn füttere, die es dann mit ausgestrecktem
I) Frazer, „The magic art and the evolution of kings“. 2 vol, 1911.
(The golden bough.)
DAS TABU DER TOTEN, 71
Arm tat, sorgsam, den Unseligen nicht selbst zu berühren, aber
diese Hilfsperson war dann selbst Einschränkungen unter-
worfen, die nicht viel weniger drückend waren als die eigenen.
Es gab wohl in jedem Dorf ein ganz verkommenes, von der
Gesellschaft ausgestoßenes Individuum, das in der armselig-
sten Weise von spärlichen Almosen lebte. Diesem Wesen war
es allein gestattet, sich auf Armeslänge dem zu nähern, der
die letzte Pflicht gegen einen Verstorbenen erfüllt hatte. War
aber dann die Zeit der Abschließung vorüber, und durfte der
durch die Leiche Verunreinigte sich wieder unter seine Ge-
nossen mengen, so wurde alles Geschirr, dessen er sich in der
gefährlichen Zeit bedient hatte, zerschlagen, und alles Zeug
weggeworfen, mit dem er bekleidet gewesen war.
Die Tabugebräuche nach der körperlichen Berührung von
Toten sind in ganz Polynesien, Melanesien und in einem Teil
von Afrika die nämlichen; ihr konstantestes Stück ist das
Verbot, Nahrung selbst zu berühren, und die sich daraus er-
gebende Notwendigkeit, von anderen gefüttert zu werden. Es
ist bemerkenswert, daß in Polynesien oder vielleicht nur in
Hawaii!) Priesterkönige während der Ausübung heiliger
Handlungen derselben Beschränkung unterlagen. Bei den Tabu
der Toten auf Tonga tritt die Abstufung und allmähliche Aufl-
hebung der Verbote durch die eigene Tabukraft sehr deutlich
hervor. Wer den Leichnam eines toten Häuptlings berührt
hatte, war durch zehn Monate unrein; wenn er aber selbst
ein Häuptling war, nur durch drei, vier oder fünf Monate, je
nach dem Rang des Verstorbenen; aber wenn es sich um die
Leiche des vergötterten Oberhäuptlings handelte, wurden selbst
die größten Häuptlinge durch zehn Monate tabu. Die Wilden
glauben fest daran, daß, wer solche 'Tabuvorschriiten über-
1) Frazer, Taboo, p. 138 usw.
12 IL. DAS TABU UND DIE AMBIVALENZ.
tritt, schwer erkranken und sterben muß, so fest, dab sie naclı
der Meinung eines Beobachters noch niemals den Versuch ge:
wagt haben, sich vom Gegenteil zu überzeugen !).
Im wesentlichen gleichartig, aber für unsere Zwecke inter
essanter sind die Tabubeschränkungen jener Personen, deren
Berührung mit den Toten in übertragenem Sinne zu verstehen
ist, der trauernden Angehörigen, der Witwer und Witwen.
Sehen wir in den bisher erwähnten Vorschriften nur den typi-
schen Ausdruck der Virulenz und der Ausbreitungsfähigkeit
des Tabu, so schimmern in den nun mitzuteilenden die Motive
der Tabu durch, und zwar sowohl die vorgeblichen als auch
solche, die wir für die tiefliegenden, echten halten dürfen.
Bei den Shuswap in Britisch-Columbia müssen
Witwen und Witwer während ihrer Trauerzeit abgesondert
leben; sie dürfen weder ihren eigenen Körper noch ihren Kopf
mit ihren Händen berühren; alles Geschirr, dessen sie sich
bedienen, ist dem Gebrauche anderer entzogen. Kein Jäger
wird sich der Hütte, in welcher solche Trauernde wohnen, nähern
wollen, denn das brächte ihm Unglück; wenn der Schatten
eines Trauernden auf ihn fallen würde, müßte er erkranken.
Die Trauernden schlafen auf Dornbüschen und umgeben ihr
Bett mit solchen. Diese letztere Maßregel ist dazu bestimmt,
den Geist des Verstorbenen fernzuhalten, und noch deutlicher
ist wohl der von anderen nordamerikanischen Stämmen berich-
tete Gebrauch der Witwe, eine Zeitlang nach dem Tode des
Mannes ein hosenartiges Kleidungsstück aus trockenem Gras
zu tragen, um sich unzugänglich für die Annäherung des Geistes
zu machen. So wird uns die Vorstellung nahegelegt, daß die
Berührung „im übertragenen Sinne“ doch nur als ein körper-
) W. Mariner, „The natives of the Tonga Islands“, 1818, bei
Frazer, Ic, p. 140.
DIE BEHANDLUNG DER TRAUERNDEN. 75
licher Kontakt verstanden wird, da der Geist des Verstorbenen
nicht von seinen Angehörigen weicht, nicht abläßt, sie während
der Zeit der Trauer zu „umschweben‘.
Bei den Agutainos, die auf Palawan, einer der Phi-
lippinen, wohnen, darf eine Witwe ihre Hütte die ersten
sieben oder acht Tage nach dem Todesfall nicht verlassen, es
sei denn zur Nachtzeit, wenn sie Begegnungen nicht zu er-
warten hat. Wer sie erschaut, gerät in Gefahr augenblicklich
zu sterben, und darum warnt sie selbst vor ihrer Annäherung,
indem sie bei jedem Schritt mit einem hölzernen Stab gegen
die Bäume schlägt; diese Bäume aber verdorren. Worin die
Gefährlichkeit einer solchen Witwe bestehen mag, wird uns
durch eine andere Beobachtung erläutert. Im Mekeobezirk
von Britisch-Neuguinea wird ein Witwer aller bürger-
lichen Rechte verlustig und lebt für eine Weile wie ein Aus-
gestoßener. Er darf keinen Garten bebauen, sich nicht öffent-
lich zeigen, das Dorf und die Straße nicht betreten. Er schleicht
wie ein wildes Tier im hohen Gras oder im Gebüsch umher,
und muß sich im Dickicht verstecken, wenn er jemanden, be-
sonders aber ein Weib, herannahen sieht. Diese letztere An-
deutung macht es uns leicht, die Gefährlichkeit des Witwers
oder der Witwe auf die Gefahr der Versuchung zurückzu-
führen. Der Mann, der sein Weib verloren hat, soll dem Be-
gehren nach einem Ersatz ausweichen; die Witwe hat mit
demselben Wunsch zu kämpfen und mag überdies als herren-
los die Begehrlichkeit anderer Männer erwecken. Jede solche
Ersatzbefriedigung läuft gegen den Sinn der Trauer; sie müßte
den Zorn des Geistes auflodern lassen t).
1) Dieselbe Kranke, deren „Unmöglichkeiten“ ich oben (8. 38) mit
den Tabu zusammengestellt habe, bekannte, daß sie jedesmal in Entrüstung
gerate, wenn sie einer in Trauer gekleideten Person auf der Straße be-
gegne. Solchen Leuten sollte das Ausgehen verboten sein!
74 1I. DAS TABU UND DIE AMBIVALENZ.
Eines der befremdendsten, aber auch lehrreichsten Tabu-
gebräuche der Trauer bei den Primitiven ist das Verbot, den
Namen des Verstorbenen auszusprechen. Es ist ungemein ver-
breitet, hat mannigfaltige Ausführungen erfahren und bedeut-
same Konsequenzen gehabt.
Außer bei den Australiern und Polynesiern, welche uns die
Tabugebräuche in ihrer besten Erhaltung zu zeigen pflegen,
findet sich dies Verbot bei so entfernten und einander so fremden
Völkern wie die Samojeden in Sibirien und die Todas in
Südindien, die Mongolen der Bartarei und die Tuaregs
der Sahara, die Aino in Japan und de Akamba und Nandi
in Zentralafrika, die Tinguanen auf den Philippinen
und die Einwohner der Nikobarischen Inseln, von Mada-
gaskar und Borneo!). Bei einigen dieser Völker gilt das
Verbot und die aus ihm sich ableitenden Folgen nur für die
Zeit der Trauer, bei anderen bleibt es permanent, doch scheint
es in allen Fällen mit der Entfernung vom Zeitpunkte des
Todesfalles abzublassen.
Die Vermeidung des Namens des Verstorbenen wird in
der Regel außerordentlich streng gehandhabt. So gilt es bei
manchen südamerikanischen Stämmen als die schwerste Belei-
digung der Überlebenden, den Namen des verstorbenen Ange-
hörigen vor ihnen auszusprechen, und die darauf gesetzte Strafe
ist nicht geringer als die für eine Mordtat selbst festgesetzte?).
‘Warum die Nennung des Namens so verabscheut werden sollte,
ist zunächst nicht leicht zu erraten, aber die mit ihr verbundenen
Gefahren haben eine ganze Reihe von Auskunftsmitteln ent-
stehen lassen, die nach verschiedenen Richtungen interessant und
bedeutungsvoll sind. So sind die Masai in Afrika auf die
1) Frazer, l. c., p. 353.
2) Frazer, l. c. p. 352 usw.
DIE VERPÖNUNG DES NAMENS VERSTORBENER. 75
Ausflucht gekommen, den Namen des Verstorbenen unmittel-
bar nach seinem Tode zu ändern; er darf nun ohne Scheu mit
dem neuen Namen erwähnt werden, während alle Verbote an
den alten geknüpft bleiben. Es scheint dabei vorausgesetzt,
daß der Geist seinen neuen Namen nicht kennt und nicht er-
fahren wird. Die australischen Stämme an der Adelaide
und der Encounter Bay sind in ihrer Vorsicht so konsequent,
daß nach einem Todesfall alle Personen ihre Namen gegen
einen anderen vertauschen, welche ebenso oder sehr ähnlich
geheißen haben wie der Verstorbene. Manchmal wird in weiterer
Ausdehnung derselben Erwägung die Namensänderung nach
einem Todesfall bei allen Angehörigen des Verstorbenen vor-
genommen, ohne Rücksicht auf den Gleichklang der Namen, so
bei einigen Stämmen in Vietoriaundin Nordwestamerika.
Ja bei den Guaycurus in Paraguay pflegte der Häupt-
ling bei so traurigem Anlaß allen Mitgliedern des Stammes
neue Namen zu geben, die sie fortan erinnerten, als ob sie sie
von jeher getragen hätten).
Ferner, wenn der Name des Verstorbenen sich mit der
Bezeichnung eines Tieres, Gegenstandes usw. gedeckt hatte,
erschien es manchen unter den angeführten Völkern notwendig,
auch diese Tiere und Objekte neu zu benennen, damit man beim
Gebrauch dieser Worte nicht an den Verstorbenen erinnert
werde. Daraus mußte sich eine nie zur Ruhe kommende Ver-
änderung des Sprachschatzes ergeben, die den Missionären
Schwierigkeiten genug bereitete, besonders wo die Namensverpö-
nung eine permanente war. In den sieben Jahren, die der
Missionär Dobrizhofer bei den Abiponen in Paraguay
verbrachte, wurde der Name für Jaguar dreimal abgeändert,
1) Frazer, 1. c., p. 357, nach einem alten spanischen Beobachter,
1132. 2
76 U. DAS TABU UND DIE AMBIVALENZ,.
und die Worte für Krokodil, Dornen und Tierschlachten hatten
ähnliche Schicksalel). Die Scheu, einen Namen auszusprechen,
der einem Verstorbenen angehört hat, dehnt sich aber auch
nach der Richtung hin aus, daß man alles zu erwähnen ver-
meidet, wobei dieser Verstorbene eine Rolle spielte, und als
bedeutsame Folge dieses Unterdrückungsprozesses ergibt sich,
daß diese Völker keine Tradition, keine historischen Reminis-
zenzen haben und einer Erforschung ihrer Vorgeschichte die
größten Schwierigkeiten in den Weg legen. Bei einer Reihe
dieser primitiven Völker haben sich aber auch kompensierende
Gebräuche eingebürgert, um die Namen der Verstorbenen nach
einer langen Zeit von Trauer wieder zu erwecken, indem man
sie an Kinder verleiht, die als die Wiedergeburt der Toten be-
trachtet werden.
Das Befremdende dieses Namentabu ermäßigt sich, wenn
wir daran gemahnt werden, daß für die Wilden der Name
ein wesentliches Stück und ein wichtiger Besitz der Persön-
lichkeit ist, daß sie dem Worte volle Dingbedeutung zuschreiben.
Dasselbe tun, wie ich an anderen Orten ausgeführt habe, unsere
Kinder, die sich darum niemals mit der Annahme einer be-
deutungslosen Wortähnlichkeit begnügen, sondern konsequent
schließen, wenn zwei Dinge mit gleichklingenden Namen ge-
nannt werden, so müßte damit eine tiefgehende Übereinstim-
mung zwischen beiden bezeichnet sein. Auch der zivilisierte
Erwachsene mag an manchen Besonderheiten seines Benehmens
noch erraten, daß er von dem Voll- und Wichtignehmen der
Eigennamen nicht so weit entfernt ist, wie er glaubt, und
daß sein Name in einer ganz besonderen Art mit seiner Person
verwachsen ist. Es stimmt dann hiezu, wenn die psychoanaly-
tische Praxis vielfachen Anlaß findet, auf die Bedeutung der
I) Frazer, 1. c., p. 360,
DIE PSYCHOANALYTISCHE WÜRDIGUNG DER NAMEN. 74
Namen in der unbewußten Denktätigkeit hinzuweisent). Die
Zwangsneurotiker benehmen sich dann, wie zu erwarten stand,
in betreff der Namen ganz wie die Wilden. Sie zeigen die
volle „Komplexempfindlichkeit“ gegen das Aussprechen und
Anhören bestimmter Worte und Namen (ähnlich wie auch andere
Neurotiker), und leiten aus ihrer Behandlung des eigenen Na-
mens eine gute Anzahl von oft schweren Hemmungen ab. Eine
solche Tabukranke, die ich kannte, hatte die Vermeidung an-
genommen, ihren Namen niederzuschreiben, aus Angst, er
könnte in jemandes Hand geraten, der damit in den Besitz
eines Stückes von ihrer Persönlichkeit gekommen wäre. In
der krampfhaften Treue, durch die sie sich gegen die Ver-
suchungen ihrer Phantasie schützen mußte, hatte sie sich das
Gebot geschaffen, „nichts von ihrer Person herzugeben“. Dazu
gehörte zunächst der Name, in weiterer Ausdehnung die Hand-
schrift, und darum gab sie schließlich das Schreiben auf.
So finden wir es nicht mehr auffällig, wenn von den Wilden
der Name des Toten als ein Stück seiner Person gewertet und
zum Gegenstand des den Toten betreffenden Tabu gemacht
wird. Auch die Namensnennung des Toten läßt sich auf die
Berührung mit ihm zurückführen, und wir dürfen uns dem
umfassenderen Problem zuwenden, weshalb diese Berührung von
so strengem Tabu betroffen ist.
Die naheliegendste Erklärung würde auf das natürliche
Grauen hinweisen, welches der Leichnam und die Veränderun-
gen, die alsbald an ihm bemerkt werden, erregt. Daneben müßte
man der Trauer um den Toten einen Platz einräumen, als Motiv
für alles, was sich auf diesen Toten bezieht. Allein das Grauen
vor dem Leichnam deckt offenbar nicht die Einzelheiten der
1) Stekel, Abraham,
78 If. DAS TABU UND DIE AMBIVALENZ.
Tabuvorschriften, und die Trauer kann uns niemals erklären,
daß die Erwähnung des Toten ein schwerer Schimpf für dessen
Hinterbliebene ist. Die Trauer liebt es vielmehr, sich mit dem
Verstorbenen zu beschäftigen, sein Andenken auszuarbeiten und
für möglichst lange Zeit zu erhalten. Für die Eigentümlich-
keiten der Tabugebräuche muß etwas anderes als die Trauer
verantwortlich gemacht werden, was offenbar andere Absichten
als diese verfolgt. Gerade die Tabu der Namen verraten uns
dies noch unbekannte Motiv, und sagten es die Gebräuche
nicht, so würden wir es aus den Angaben der trauernden Wilden
selbst erfahren. |
Sie machen nämlich keinen Hehl daraus, daß sie sich vor
der Gegenwart und der Wiederkehr des Geistes des Verstor-
benen fürchten; sie üben eine Menge von Zeremonien, um
ihn fernzuhalten, ihn zu vertreiben!). Seinen Namen auszu-
sprechen, dünkt ihnen eine Beschwörung, der seine Gegenwart
auf dem Fuße folgen wird?). Sie tun darum folgerichtig alles,
um einer solchen Beschwörung und Erweckung aus dem Wege
zu gehen. Sie verkleiden sich, damit der Geist sie ‚nicht er-
kenne®), oder sie entstellen seinen oder den eigenen Namen;
sie wüten gegen den rücksichtslosen Fremden, der den Geist
durch Nennung seines Namens auf seine Hinterbliebenen hetzt.
Es ist unmöglich, der Folgerung auszuweichen, daß sie nach
Wundts Ausdruck, an der Furcht „vor seiner zum Dämon
gewordenen Seele‘ leiden ®).
») Als Beispiel eines solchen Bekenntnisses sind bei Frazer, 1. c.
p. 353, die Tuaregs der Sahara angeführt.
?) Vielleicht ist hiezu die Bedingung zu fügen: solange noch etwas
von seinen körperlichen Überresten existiert. Frazer, 1. c., p. 372.
3) Auf den Nikobaren. Frazer, ]. c., p. 382.
4) Wundt, Religion und Mythus, II. Bd., p. 49,
DIE ANGST VOR DEM VERSTORBENEN. 79
Mit dieser Einsicht wären wir bei der Bestätigung der
Auffassung Wundts angelangt, welche das Wesen des Tabu,
wie wir gehört haben, in der Angst vor den Dämonen findet.
Die Voraussetzung dieser Lehre, daß das teure Familien-
mitglied mit dem Augenblicke seines Todes zum Dämon wird,
von dem die Hinterbliebenen nur Feindseliges zu erwarten haben,
und gegen dessen böse Gelüste sie sich mit allen Mitteln
schützen müssen, ist so sonderbar, daß man ihr zunächst den
Glauben versagen wird. Allein so ziemlich alle maßgebenden
Autoren sind darin einig, den Primitiven diese Auffassung zu-
zuschreiben. Westermarck, der in seinem Werke: „Ur-
sprung und Entwicklung der Moralbegriffe“ dem Tabu, nach
meiner Schätzung, viel zu wenig Beachtung schenkt, äußert
in dem Abschnitt: Verhalten gegen Verstorbene direkt: „Über-
haupt läßt mich mein Tatsachenmaterial den Schluß ziehen,
daß die Toten häufiger als Feinde denn als Freunde angesehen
werden!) und daß Jevons und Grant Allen im Irrtum
sind mit ihrer Behauptung, man habe früher geglaubt, die Bös-
willigkeit der Toten richte sich in der Regel nur gegen Fremde,
während sie -für Leben und Ergehen ihrer Nachkommen und
Clangenossen väterlich besorgt seien.“
1) Westermarck, 1l.c., II. Bd. p. 424. In der Anmerkung und
in der Fortsetzung des Textes die reiche Fülle von bestätigenden, oft
sehr charakteristischen Zeugnissen, z. B.: Die Maoris glaubten, „daß die
nächsten und geliebtesten Verwandten nach dem Tode ihr Wesen ändern
und selbst gegen ihre früheren Lieblinge übel gesinnt werden“. — Die
Australneger glauben, jeder Verstorbene sei lange Zeit bösartig; je enger
die Verwandtschaft, desto größer die Furcht. Die Zentraleskimo werden
von der Vorstellung beherrscht, daß die Toten erst spät zur Ruhe ge-
langen, anfänglich aber zu fürchten seien als unheilbrütende Geister, die .
das Dorf häufig umkreisen, um Krankheit, Tod und anderes Unheil zu
verbreiten. (Boas.)
80 II. DAS TABU UND DIE AMBIVALENZ.
R. Kleinpaul hat in einem eindrucksvollen Buche die
Reste des alten Seelenglaubens bei den zivilisierten Völkern
zur Darstellung des Verhältnisses zwischen den Lebendigen
und den Toten verwertet!). Es gipfelt auch nach ihm in der
Überzeugung, daß die Toten mordlustig die Lebendigen nach
sich ziehen. Die Toten töten; das Skelett, als welches der Tod
heute gebildet wird, stellt dar, daß der Tod selbst nur ein
Toter ist. Nicht eher fühlte sich der Lebendige vor der Nach-
stellung der Toten sicher, als bis er ein trennendes Wasser
zwischen sich und ihn gebracht hat. Daher begrub man die
Toten gern auf Inseln, brachte sie auf die andere Seite eines
Flusses; die Ausdrücke Diesseits und ‚Jenseits sind hievon aus-
gegangen. Eine spätere Milderung hat die Böswilligkeit der
Toten auf jene Kategorien beschränkt, denen man ein besonderes
Recht zum Groll einräumen mußte, auf die Ermordeten, die
ihren Mörder als böse Geister verfolgen, auf die in ungestillter
Sehnsucht Gestorbenen wie die Bräute. Aber ursprünglich,
meint Kleinpaul, waren alle Toten Vampyre, alle grollten
den Lebenden und trachteten, ihnen zu schaden, sie des Lebens
zu berauben. Der Leichnam hat überhaupt erst den Begriff
eines bösen Geistes geliefert.
Die Annahme, die liebsten Verstorbenen wandelten sich
nach dem Tode zu Dämonen, läßt offenbar eine weitere Frage-
stellung zu. Was bewog die Primitiven dazu, ihren teuren
Toten eine solche Sinnesänderung zuzuschreiben? Warum
machten sie sie zu Dämonen? Westermarck glaubt, diese
Frage leicht zu beantworten?). „Da der Tod zumeist für das
schlimmste Unglück gehalten wird, das den Menschen treffen
- DR. Kleinpaul, Die Lebendigen und die Toten im Volksglauben,
Religion und Sage, 1898.
21126, p- 426,
DIE VERWANDLUNG DER VERSTORBENEN IN DÄMONEN. s1
kann, glaubt man, daß die Abgeschiedenen mit ihrem Schicksal
äußerst unzufrieden seien. Nach Auffassung der Naturvölker
stirbt man nur durch Tötung, sei es gewaltsame, sei es durch
Zauberei bewirkte, und schon deshalb sieht man die Seele als
rachsüchtig und reizbar an; vermeintlich beneidet sie die Le-
benden und sehnt sich nach der Gesellschaft der alten Ange-
hörigen — es ist daher begreiflich, daß sie trachtet, sie durch
Krankheiten zu töten, um mit ihnen vereinigt zu werden...
... Eine weitere Erklärung der Bösartigkeit, die man den
Seelen zuschreibt, liegt in der instinktiven Furcht vor diesen,
welche Furcht ihrerseits das Ergebnis der Angst vor dem,
Tode ist.“
Das Studium der psychoneurotischen Störungen weist uns
auf eine umfassendere Erklärung hin, welche die Wester-
marcksche miteinschließt.
Wenn eine Frau ihren Mann, eine Tochter ihre Mutter
durch den Tod verloren hat, so ereignet es sich nicht selten,
daß die Überlebende von peinigenden Bedenken, die wir
„Zwangsvorwürfe“ heißen, befallen wird, ob sie nicht selbst
durch eine Unvorsichtigkeit oder Nachlässigkeit den Tod der
geliebten Person verschuldet habe. Keine Erinnerung daran,
wie sorgfältig sie den Kranken gepflegt, keine sachliche Zurück-
weisung der behaupteten Verschuldung vermag der Qual ein
Ende zu machen, die etwa den pathologischen Ausdruck einer
Trauer darstellt und mit der Zeit langsam abklingt. Die psycho-
analytische Untersuchung solcher Fälle hat uns die geheimen
Triebfedern des Leidens kennen gelehrt. Wir haben erfahren,
daß diese Zwangsvorwürfe in gewissem Sinne berechtigt und
nur darum gegen Widerlegung und Einspruch gefeit sind. Nicht
als ob die Trauernde den Tod wirklich verschuldet oder die
Vernachlässigung wirklich begangen hätte, wie es der Zwangs-
Freud, Totem und Tabu. 6
®
32 II. DAS TABU UND DIE AMBIVALENZ.,
— a en
vorwurf behauptet; aber es war doch etwas in ihr vorhanden,
ein ihr selbst unbewußter Wunsch, der mit dem Tode nicht
unzufrieden war, und der ihn herbeigeführt hätte, wenn er
im Besitze der Macht gewesen wäre. Gegen diesen unbewußten
Wunsch reagiert nun der Vorwurf nach dem Tode der geliebten
Person. Solche im Unbewußten versteckte Feindseligkeit hinter
zärtlicher Liebe gibt es nun in fast allen Fällen von intensiver
Bindung des Gefühls an eine bestimmte Person, es ist der
klassische Fall, das Vorbild der Ambivalenz menschlicher Ge-
fühlsregungen. Von soleher Ambivalenz ist bei einem Men-
schen bald mehr, bald weniger in der Anlage vorgesehen ;
normalerweise ist es nicht so viel, daß die beschriebenen Zwangs-
vorwürfe daraus entstehen können. Wo sie aber ausgiebig an-
gelegt ist, da wird sie sich gerade im Verhältnis zu den aller-
geliebtesten Personen, da, wo man es am wenigsten erwarten
würde, manifestieren. Die Disposition zur Zwangsneurose, die
wir in der Tabufrage so oft zum Vergleich herangezogen haben,
denken wir uns durch ein besonderes hohes Maß solcher ur-
sprünglicher Gefühlsambivalenz ausgezeichnet.
Wir kennen nun das Moment, welches uns das vermeint-
liche Dämonentum der frisch verstorbenen Seelen und die Not-
wendigkeit, sich durch die Tabuvorschriften gegen ihre Feind-
schaft zu schützen, erklären kann. Wenn wir annehmen, daß
dem Gefühlsleben der Primitiven ein ähnlich hohes Maß von
Ambivalenz zukomme, wie wir es nach den Ergebnissen der
Psychoanalyse den Zwangskranken zuschreiben, so wird es ver-
ständlich, daß nach dem schmerzlichen Verlust eine ähnliche
Reaktion gegen die im Unbewußten latente Feindseligkeit not-
wendig wird, wie sie dort durch die Zwangsvorwürfe erwiesen
wurde. Diese im Unbewußten als Befriedigung über den Todes-
fall peinlich verspürte Feindseligkeit hat aber beim Primitiven
E
DÄMONEN ALS PROJEKTION DER FEINDSELIGKEIT GEGEN TOTE. 83
ein anderes Schicksal; sie wird abgewehrt, indem sie auf das
Objekt der Feindseligkeit, auf den Toten, verschoben wird.
Wir heißen diesen im normalen wie im krankhaften Seelen-
leben häufigen Abwehrvorgang eine Projektion. Der Über-
lebende leugnet nun, daß er je feindselige Regungen gegen den
geliebten Verstorbenen gehegt hat; aber die Seele des Verstor-
benen hegt sie jetzt und wird sie über die ganze Zeit der
Trauer zu betätigen bemüht sein. Der Straf- und Reue-
charakter dieser Gefühlsreaktion wird sich trotz der geglückten
Abwehr durch Projektion darin äußern, daß man sich fürchtet,
sich Verzicht auferlegt und sich Einschränkungen unterwirft,
die man zum Teil als Schutzmaßregeln gegen den feindlichen
Dämon verkleidet. Wir finden so wiederum, daß das Tabu
auf dem Boden einer ambivalenten Gefühlseinstellung erwachsen
ist. Auch das Tabu der Toten rührt von dem Gegensatz zwi-
schen dem bewußten Schmerz und der unbewußten Befriedi-
gung über den Todesfall her. Bei dieser Herkunft des Grolles
der Geister ist es selbstverständlich, daß gerade die nächsten
und früher geliebtesten Hinterbliebenen ihn am meisten zu
fürchten haben.
Die Tabuvorschriften benehmen sich auch hier zwiespältig
wie die neurotischen Symptome. Sie bringen einerseits durch
ihren Charakter als Einschränkungen die Trauer zum Ausdruck,
anderseits aber verraten sie sehr deutlich, was sie verbergen
wollen, die Feindseligkeit gegen den Toten, die jetzt als Not-
wehr motiviert ist. Einen gewissen Anteil der Tabuverbote
haben wir als Versuchungsangst verstehen gelernt. Der Tote
ist wehrlos, das muß zur Befriedigung der feindseligen Gelüste
an ihm reizen, und dieser Versuchung muß das Verbot ent-
gegengesetzt werden.
Westermarck hat aber Recht, wenn er für die Auf-
6*
84 II. DAS TABU UND DIE AMBIVALENZ.
fassung der Wilden keinen Unterschied zwischen gewaltsam
und natürlich Gestorbenen gelten lassen will. Für das unbe-
wußte Denken ist auch der ein Gemordeter, der eines natür-
lichen Todes gestorben ist; die bösen Wünsche haben ihn ge-
tötet. (Vgl. die nächsten Abhandlungen dieser Reihe: Ani-
mismus, Magie und Allmacht der Gedanken.) Wer sich für
Herkunft und Bedeutung der Träume vom Tode teurer Ver-
wandter (der Eltern und Geschwister) interessiert, der wird
beim Träumer, beim Kind und beim Wilden die volle Überein-
. stimmung im Verhalten gegen den Toten, gegründet auf die
nämliche Gefühlsambivalenz, feststellen können.
Wir haben vorhin einer Auffassung von Wundt wider-
sprochen, welche das Wesen des Tabu in der Furcht vor den
Dämonen findet, und doch haben wir soeben der Erklärung
zugestimmt, welche das Tabu der Toten auf die Furcht vor
der zum Dämon gewordenen Seele des Verstorbenen zurückführt.
Das schiene ein Widerspruch: es wird uns aber nicht schwer
werden, ihn aufzulösen. Wir haben die Dämonen zwar ange-
nommen, aber nicht als etwas Letztes und für die Psychologie
Unauflösbares gelten lassen. Wir sind gleichsam hinter die
Dämonen gekommen, indem wir sie als Projektionen der feind-
seligen Gefühle erkennen, welche die Überlebenden gegen die
Toten hegen.
Die nach unserer gut begründeten Annahme zwiespältigen
—- zärtlichen und feindseligen — Gefühle gegen die nun Ver-
storbenen wollen sich zur Zeit des Verlustes beide zur Geltung
bringen, als Trauer und als Befriedigung. Zwischen diesen
beiden Gegensätzen muß es zum Konflikt kommen, und da der
eine Gegensatzpartner, die Feindseligkeit — ganz oder zum
größeren Anteile —, unbewußt ist, kann der Ausgang des
Konfliktes nicht in einer Subtraktion der beiden Intensitäten
SCHÖPFUNG DER DÄMONEN AUS DER UNBEW. FEINDSELIGEREIT. 85
voneinander mit bewußter Einsetzung des Überschusses be-
stehen, etwa wie man einer geliebten Person eine von ihr er-
littene Kränkung verzeiht. Der Prozeß erledigt sich vielmehr
durch einen besonderen psychischen Mechanismus, den man in
der Psychoanalyse als Projektion zu bezeichnen gewohnt
ist. Die Feindseligkeit, von der man nichts weiß und auch
weiter nichts wissen will, wird aus der inneren Wahrnehmung
in die Außenwelt geworfen, dabei von der eigenen Person gelöst
und der anderen zugeschoben. Nicht wir, die Überlebenden,
freuen uns jetzt darüber, daß wir des Verstorbenen ledig sind;
nein, wir trauern um ihn, aber er ist jetzt merkwürdigerweise
ein böser Dämon geworden, dem unser Unglück Befriedigung
bereiten würde, der uns den Tod zu bringen sucht. Die Über-
lebenden müssen sich nun gegen diesen bösen Feind verteidigen;
sie sind von der inneren Bedrückung entlastet, haben sie aber
nur gegen eine Bedrängnis von außen eingetauscht.
Es ist nicht abzuweisen, daß dieser Projektionsvorgang,
welcher die Verstorbenen zu böswilligen Feinden macht, eine
Anlehnung an den reellen Feindseligkeiten findet, die man von
letzteren erinnern und ihnen wirklich zum Vorwurf machen
kann. Also an ihrer Härte, Herrschsucht, Ungerechtigkeit, und
was sonst den Hintergrund auch der zärtlichsten Beziehungen
unter den Menschen bildet. Aber es kann nicht so einfach zu-
gehen, daß uns dieses Moment für sich allein die Projektions-
schöpfung der Dämonen begreiflich mache. Die Verschuldungen
der Verstorbenen enthalten gewiß einen Teil der Motivierung
für die Feindseligkeit der Überlebenden, aber sie wären un-
wirksam, wenn nicht diese Feindseligkeit aus ihnen erfolgt
wäre, und der Zeitpunkt ihres Todes wäre gewiß der unge-
eignetste Anlaß, die Erinnerung an die Vorwürfe zu wecken,
die man ihnen zu machen berechtigt war. Wir können die
86 II. DAS TABU UND DIE AMBIVALENZ
unbewußte Feindseligkeit als das regelmäßig wirkende und
eigentlich treibende Motiv nicht entbehren. Diese feindselige
Strömung gegen die nächsten und teuersten Angehörigen konnte
zu deren Lebzeiten latent bleiben, das heißt sich dem Bewußt-
sein weder direkt noch indirekt durch irgend eine Ersatzbildung
verraten. Mit dem Ableben der gleichzeitig geliebten und ge-
haßten Personen war dies nicht mehr möglich, der Konflikt
wurde akut. Die aus der gesteigerten Zärtlichkeit stammende
Trauer wurde einerseits unduldsamer gegen die latente Feind-
seligkeit, anderseits durfte sie es nicht zulassen, daß sich aus
letzterer nun ein Gefühl der Befriedigung ergebe. Somit kam
es zur Verdrängung der unbewußten Feindseligkeit auf dem
Wege der Projektion, zur Bildung jenes Zeremoniells, in dem
die Furcht vor der Bestrafung durch die Dämonen Ausdruck
findet, und mit dem zeitlichen Ablauf der Trauer verliert
auch der Konflikt an Schärfe, so daß das Tabu dieser Toten
sich abschwächen oder in Vergessenheit versinken darf.
4.
Haben wir so den Boden geklärt, auf dem das überaus
lehrreiche Tabu der Toten erwachsen ist, :so wollen wir nicht
versäumen, einige Bemerkungen anzuknüpfen, die für das Ver-
ständnis des Tabu überhaupt bedeutungsvoll werden können.
Die Projektion der unbewußten Feindseligkeit beim Tabu
der Toten auf die Dämonen ist nur ein einzelnes Beispiel aus
einer Reihe von Vorgängen, denen der größte Einfluß auf die
Gestaltung des primitiven Seelenlebens zugesprochen werden
muß. In dem betrachteten Falle dient die Projektion der Er-
ledigung eines Gefühlskonfliktes; sie findet die nämliche Ver-
wendung in einer großen Anzahl von psychischen Situationen,
die zur Neurose führen. Aber die Projektion ist nicht für die
ÜBER DIE PROJEKTION. 87
Abwehr geschaffen, sie kommt auch zu stande, wo es keine
Konflikte gibt. Die Projektion innerer Wahrnehmungen nach
außen ist ein primitiver Mechanismus, dem z. B. auch unsere
Sinneswahrnehmungen unterliegen, der also an der Gestaltung
unserer Außenwelt normalerweise den größten Anteil hat. Unter
noch nicht genügend festgestellten Bedingungen werden innere
Wahrnehmungen auch von Gefühls- und Denkvorgängen wie die
Sinneswahrnehmungen nach außen projiziert, zur Ausgestal-
tung der Außenwelt verwendet, während sie der Innenwelt ver-
bleiben sollten. Es hängt dies vielleicht genetisch damit zu-
sammen, daß die Funktion der Aufmerksamkeit ursprünglich
nicht der Innenwelt, sondern den von der Außenwelt zuströ-
menden Reizen zugewendet war, und von den endopsychischen
Vorgängen nur die Nachrichten über Lust- und Unlustentwick-
lungen empfing. Erst mit der Ausbildung einer abstrakten
Denksprache, durch die Verknüpfung der sinnlichen Reste der
Wortvorstellungen mit inneren Vorgängen, wurden diese selbst
allmählich wahrnehmungsfähig. Bis dahin hatten die primi-
tiven Menschen durch Projektion innerer Wahrnehmungen nach
außen ein Bild der Außenwelt entwickelt, welches wir nun mit
erstarkter Bewußtseinswahrnehmung in Psychologie zurück.
übersetzen müssen.
Die Projektion der eigenen bösen Regungen in die Dä-
monen ist nur ein Stück eines Systems, welches die „Welt-
anschauung‘“ der Primitiven geworden ist, und das wir in der
nächsten Abhandlung dieser Reihe als das „animistische“ kennen
lernen werden. Wir werden dann die psychologischen Charak-
tere einer solchen Systembildung festzustellen haben und unsere
Anhaltspunkte wiederum in der Analyse jener Systembildungen
finden, welche uns die Neurosen entgegenbringen. Wir wollen
vorläufig nur verraten, daß die sogenannte „sekundäre Bear-
88 U. DAS TABU UND DIE AMBIVALENZ.
beitung“ des Trauminhalts das Vorbild für alle diese System-
bildungen ist. Vergessen wir auch nicht daran, daß es vom
Stadium der Systembildung an zweierlei Ableitungen für jeden
vom Bewußtsein beurteilten Akt gibt, die systematische und
die reale, aber unbewußte!).
Wundt?) bemerkt, daß „unter den Wirkungen, die der
Mythus allerorten den Dämonen zuschreibt, zunächst die un-
heilvollen überwiegen, so daß im Glauben der Völker sicht-
lich die bösen Dämonen älter sind als die guten“. Es ist nun
sehr wohl möglich, daß der Begriff des Dämons überhaupt
aus der so bedeutsamen Relation zu den Toten gewonnen wurde.
Die diesem Verhältnis innewohnende Ambivalenz hat sich dann
im weiteren Verlaufe der Menschheitsentwicklung darin ge-
äußert, daß sie aus der nämlichen Wurzel zwei völlig entgegen-
gesetzte psychische Bildungen hervorgehen ließ: Dämonen- und
Gespensterfurcht einerseits, die Ahnenverehrung anderseits°).
Daß die Dämonen stets als die Geister kürzlich Verstorbener
gefaßt werden, bezeugt wie nichts anderes den Einfluß der
Trauer auf die Entstehung des Dämonenglaubens. Die Trauer
hat eine ganz bestimmte psychische Aufgabe zu erledigen, sie
soll die Erinnerungen und Erwartungen der Überlebenden von
den Toten ablösen. Ist diese Arbeit geschehen, so läßt der
1) Den Projektionsschöpfungen der Primitiven stehen die Personi-
fikationen nahe, durch welche der Dichter die in ihm ringenden entgegen-
gesetzten Triebregungen als gesonderte Individuen aus sich herausstellt.
2) „Mythus und Religion“, II, S. 129.
3) In den Psychoanalysen neurotischer Personen, die an Gespenster-
angst leiden oder in ihrer Kindheit gelitten haben, fällt es oft nicht
schwer, diese Gespenster als die Eltern zu entlarven. Vgl. hiezu auch
die „Sexualgespenster“ betitelte Mitteilung von P. Haeberlin (Sexual-
probleme, Februar 1912), in welcher es sich um eine andere erotisch be-
tonte Person handelt, der Vater aber verstorben war.
DAS TABU ALS ERGEBNIS DES AMBIVALENZKONFLIKTS, 89
Schmerz nach, mit ihm die Reue und der Vorwurf und darum
auch die Angst vor dem Dämon. Dieselben Geister aber, die
zunächst als Dämonen gefürchtet wurden, gehen nun der freund-
licheren Bestimmung entgegen, als Ahnen verehrt und zur Hilfe-
leistung angerufen zu werden.
Überblickt man das Verhältnis der Überlebenden zu den
Toten im Wandel der Zeiten, so ist es unverkennbar, daß dessen
Ambivalenz außerordentlich nachgelassen hat. Es gelingt jetzt
leicht, die unbewußte, immer noch nachweisbare Feindseligkeit
gegen die Toten niederzuhalten, ohne daß es eines besonderen
seelischen Aufwandes hiefür bedürfte.. Wo früher der befrie-
digte Haß und die schmerzhafte Zärtlichkeit miteinander ge-
rungen haben, da erhebt sich heute wie eine Narbenbildung die
Pietät und fordert das: De mortuis nil nisi bene. Nur die
Neurotiker trüben noch die Trauer um den Verlust eines ihrer
Teuren durch Anfälle von Zwangsvorwürfen, welche in der
Psychoanalyse die alte ambivalente Gefühlseinstellung als ihr
Geheimnis verraten. Auf welchem Wege diese Änderung her-
beigeführt wurde, inwieweit sich konstitutionelle Änderung und
reale Besserung der familiären Beziehungen in deren Verur-
sachung teilen, das braucht hier nicht erörtert zu werden. Aber
man könnte durch dieses Beispiel zur Annahme geführt werden,
es sei den Seelenregungen der Primitiven über-
haupt ein höheres Maß von Ambivalenz zuzuge-
stehen, als bei dem heute lebenden Kulturmen-
schen aufzufinden ist. Mit der Abnahme dieser
Ambivalenz schwand auch langsam das Tabu,
das Kompromißsymptom des Ambivalenzkonflik-
tes. Von den Neurotikern, welche genötigt sind, diesen Kampf
und das aus ihm hervorgehende Tabu zu reproduzieren, würden
wir sagen, daß sie eine archaistische Konstitution als atavi-
90 II. DAS TABU UND DIE AMBIVALENZ.
stischen Rest mit sich gebracht haben, deren Kompensation im
Dienste der Kulturanforderung sie nun zu so ungeheuerlichem
seelischen Aufwand zwingt.
‘Wir erinnern uns an dieser Stelle der durch ihre Unklar-
heit verwirrenden Auskunft, welche uns Wundt über die
Doppelbedeutung des Wortes Tabu: heilig und unrein geboten
hat (s. o.). Ursprünglich habe das Wort Tabu heilig und unrein
noch nicht bedeutet, sondern habe das Dämonische bezeichnet,
das nicht berührt werden darf, und somit ein wiehtiges, den
beiden extremen Begriifen gemeinsames Merkmal hervorge-
hoben, doch beweise diese bleibende Gemeinschaft, daß zwischen
den beiden Gebieten des Heiligen und des Unreinen eine ur-
sprüngliche Übereinstimmung obwalte, die erst später einer
Differenzierung gewichen sei.
Im. Gegensatze hiezu leiten wir aus unseren Erörterungen
mühelos ab, daß dem Worte Tabu von allem Anfang an die
erwähnte Doppelbedeutung zukommt, daß es zur Bezeichnung
einer bestimmten Ambivalenz dient und alles dessen, was auf
dem Boden dieser Ambivalenz erwachsen ist. Tabu ist selbst
ein ambivalentes Wort, und nachträglich meinen wir, man hätte
aus dem festgestellten Sinne dieses Wortes allein erraten kön-
nen, was sich als Ergebnis weitläufiger Untersuchung heraus-
gestellt hat, daß das Tabuverbot als das Resultat einer Ge-
fühlsambivalenz zu verstehen ist. Das Studium der ältesten
Sprachen hat uns belehrt, daß es einst viele solche Worte gab,
welche Gegensätze in sich faßten, in gewissem — wenn auch
nicht in ganz dem nämlichen Sinne — wie das Wort Tabu
ambivalent waren!). Geringe lautliche Modifikationen des
gegensinnigen Urwortes haben später dazu gedient, um den
SEE mein Referat über Abels ‚„Gegensinn der Urworte“ im
Jahrbuch für psychoanalyt. und psychopathol. Forschungen, Bd. II, 1910,
TABU UND GEWISSEN, 91
beiden hier vereinigten Gegensätzen einen gesonderten sprach-
lichen Ausdruck zu schaffen.
Das Wort Tabu hat ein anderes Schicksal gehabt; mit
der abnehmenden Wichtigkeit der von ihm bezeichneten Ambi-
valenz ist es selbst, respektive sind die ihm analogen Worte
aus dem Sprachschatz geschwunden. Ich hoffe, in späterem
Zusammenhange wahrscheinlich machen zu können, daß sich
hinter dem Schicksal dieses Begriffes eine greifbare historische
Wandlung verbirgt, daß das Wort zuerst an ganz bestimmten
menschlichen Relationen haftete, denen die große Gefühls-
ambivalenz eigen war, und daß es von hier aus auf andere,
analoge Relationen ausgedehnt wurde.
Wenn wir nicht irren, so wirft das Verständnis des Tabu
auch ein Licht auf die Natur und Entstehung des Gewissens.
Man kann ohne Dehnung der Begriffe von einem Tabugewissen
und von einem Tabuschuldbewußtsein nach Übertretung des
Tabu sprechen. Das Tabugewissen ist wahrscheinlich die
älteste Form, in welcher uns das Phänomen des Gewissens
entgegentritt.
Denn was ist „Gewissen“? Nach dem Zeugnis der Sprache
gehört es zu dem, was man am gewissesten weiß; in manchen
Sprachen scheidet sich seine Bezeichnung kaum von der des
Bewußtseins.
Gewissen ist die innere Wahrnehmung von der Verwer-
fung bestimmter in uns bestehender Wunschregungen; der
Ton liegt aber darauf, daß diese Verwerfung sich auf nichts
anderes zu berufen braucht, daß sie ihrer selbst gewiß ist. Noch
deutlicher wird dies beim Schuldbewußtsein, der Wahrnehmung
der inneren Verurteilung solcher Akte, durch die wir bestimmte
Wunschregungen vollzogen haben. Eine Begründung erscheint
hier überflüssig; jeder, der ein Gewissen hat, muß die Be-
99 II. DAS TABU UND DIE AMBIVALENZ.
rechtigung der Verurteilung, den Vorwurf wegen der voll-
zogenen Handlung, in sich verspüren. Diesen nämlichen Cha-
rakter zeigt aber das Verhalten der Wilden gegen das Tabu;
das Tabu ist ein Gewissensgebot, seine Verletzung läßt ein
entsetzliches Schuldgefühl entstehen, welches ebenso selbstver-
ständlich wie nach. seine Herkunft unbekannt ist!).
Also entsteht wahrscheinlich auch das Gewissen auf dem
Boden einer Gefühlsambivalenz aus ganz bestimmten mensch-
lichen Relationen, an denen diese Ambivalenz haftet, und unter
den für das Tabu und die Zwangsneurose geltend gemachten
Bedingungen, daß das eine Glied des Gegensatzes unbewußt
sei und durch das zwanghaft herrschende andere verdrängt er-
halten werde. Zu diesem Schlusse stimmt mehrerlei, was wir
aus der Analyse der Neurose gelernt haben. Erstens, daß im
Charakter der Zwangsneurotiker der Zug der peinlichen Ge-
wissenhaftigkeit hervortritt als Reaktionssymptom gegen die
im Unbewußten lauernde Versuchung, und daß bei Steigerung
des Krankseins die höchsten Grade von Schuldbewußtsein von
ihnen entwickelt werden. Man kann in der Tat den Ausspruch
wagen, wenn wir nicht an den Zwangskranken die Herkunft
des Schuldbewußtseins ergründen können, so haben wir über-
haupt keine Aussicht, dieselbe zu erfahren. Die Lösung dieser
Aufgabe gelingt nun beim einzelnen neurotischen Individuum;
für die Völker getrauen wir uns eine ähnliche Lösung zu er-
schließen.
Zweitens muß es uns auffallen, daß das Schuldbewußtsein
1) Es ist eine interessante Parallele, daß das Schuldbewußtsein des
Tabu in nichts gemindert wird, wenn die Übertretung unwissentlich ge-
schah (s. Beispiel oben), und daß noch im griechischen Mythus die Ver-
schuldung des Ödipus nicht aufgehoben wird dadurch, daß sie ohne, ja
gegen sein Wissen und Wollen erworben wurde.
TABU UND SCHULDBEWUSSTSEIN. 93
viel von der Natur der Angst hat; es kann ohne Bedenken als
„Gewissensangst‘“ beschrieben werden. Die Angst deutet aber
auf unbewußte Quellen hin; wir haben aus der Neurosen-
psychologie gelernt, daß, wenn Wunschregungen der Verdrän-
gung unterliegen, deren Libido in Angst verwandelt wird. Dazu
wollen wir erinnern, daß auch beim Schuldbewußtsein etwas
unbekannt und unbewußt ist, nämlich die Motivierung der
Verwerfung. Diesem Unbekannten entspricht der Angst-
charakter des Schuldbewußtseins.
Wenn das Tabu sich vorwiegend in Verboten äußert, so ist
eine Überlegung denkbar, die uns sagt, es sei ganz selbstver-
ständlich und bedürfe keines weitläufigen Beweises aus der
Analogie mit der Neurose, daß ihm eine positive, begehrende
Strömung zu Grunde liege. Denn, was niemand zu tun be-
gehrt, das braucht man doch nicht zu verbieten, und jedenfalls
muß das, was aufs nachdrücklichste verboten wird, doch Gegen-
stand eines Begehrens sein. Wenden wir diesen plausiblen Satz auf
unsere Primitiven an, so müßten wir schließen, es gehöre zu
ihren stärksten Versuchungen, ihre Könige und Priester zu
töten, Inzest zu verüben, ihre Toten zu mißhandeln u. dgl.
Das ist nun kaum wahrscheinlich; den entschiedensten Wider-
spruch erwecken wir aber, wenn wir den nämlichen Satz an
den Fällen messen, in welchen wir selbst die Stimme des Ge-
wissens am deutlichsten zu vernehmen glauben. Wir würden
dann mit einer nicht zu übertreffenden Sicherheit behaupten,
daß wir nicht die geringste Versuchung verspüren, eines dieser
Gebote zu übertreten, z. B. das Gebot: Du sollst nicht morden,
und daß wir vor der Übertretung desselben nichts anderes ver-
spüren als Abscheu.
Mißt man dieser Aussage unseres Gewissens die Bedeu-
tung bei, die sie beansprucht, so wird einerseits das Verbot
94 II. DAS TABU UND DIE AMBIVALENZ.
überflüssig — das Tabu sowohl wie unser Moralverbot —,
anderseits bleibt die Tatsache des Gewissens unerklärt und
die Beziehungen zwischen Gewissen, Tabu und Neurose ent-
fallen; es ist also jener Zustand unseres Verständnisses her-
gestellt, der auch gegenwärtig besteht, solange wir nicht psycho-
analytische Gesichtspunkte auf das Problem anwenden.
Wenn wir aber der durch Psychoanalyse — an den Träu-
men Gesunder — gefundenen Tatsache Rechnung tragen, daß
die Versuchung, den anderen zu töten, auch bei uns stärker
und häufiger ist, als wir ahnen, und daß sie psychische Wir-
kungen äußert, auch wo sie sich unserem Bewußtsein nicht
kundgibt, wenn wir ferner in den Zwangsvorschriften gewisser
Neurotiker die Sicherungen und Selbstbestrafungen gegen den
verstärkten Impuls zu morden erkannt haben, dann werden wir
zu dem vorhin aufgestellten Satz: Wo ein Verbot vorliegt,
müßte ein Begehren dahinter sein, mit neuer Schätzung zurück-
kehren. Wir werden annehmen, daß dies Begehren, zu morden,
tatsächlich im Unbewußten vorhanden ist, und daß das Tabu
wie das Moralverbot psychologisch keineswegs überflüssig ist,
vielmehr durch die ambivalente Einstellung gegen den Mord-
impuls erklärt und gerechtfertigt wird.
Der eine so häufig als fundamental hervorgehobene Cha-
rakter dieses Ambivalenzverhältnisses, daß die positive begeh-
rende Strömung eine unbewußte ist, eröffnet einen Ausblick
auf weitere Zusammenhänge und Erklärungsmöglichkeiten. Die
psychischen Vorgänge im Unbewußten sind nicht durchwegs
mit jenen identisch, die uns aus unserem bewußten Seelenleben
bekannt sind, sondern genießen gewisse beachtenswerte Frei-
heiten, die den letzteren entzogen worden sind. Ein unbewußter
Impuls braucht nicht dort entstanden zu sein, wo wir seine Äuße
rung finden; er kann von ganz anderer Stelle herstammen, sich
TABUVERBOT UND MORALVERBOT. 95
ursprünglich auf andere Personen und Relationen bezogen haben
und durch den Mechanismus der Verschiebung dorthin ge-
langt sein, wo er uns auffällt. Er kann ferner dank der Un-
zerstörbarkeit und Unkorrigierbarkeit unbewußter Vorgänge
aus sehr frühen Zeiten, denen er angemessen war, in spätere
Zeiten und Verhältnisse hinübergerettet werden, in denen seine
Äußerungen fremdartig erscheinen müssen. All dies sind nur
Andeutungen, aber eine sorgfältige Ausführung derselben würde
zeigen, wie wichtig sie für das Verständnis der Kulturentwick-
Jung werden können.
Zum Schlusse dieser Erörterungen wollen wir eine spätere
Untersuchungen vorbereitende Bemerkung nicht versäumen.
Wenn wir auch an der Wesensgleichheit von Tabuverbot und
Moralverbot festhalten, so wollen wir doch nicht bestreiten,
daß eine psychologische Verschiedenheit zwischen beiden be-
stehen muß. Eine Veränderung in den Verhältnissen der grund-
legenden Ambivalenz kann allein die Ursache sein, daß das
Verbot nicht mehr in der Form des Tabu erscheint.
Wir haben uns bisher in der analytischen Betrachtung der
Tabuphänomene von den nachweisbaren Übereinstimmungen mit
der Zwangsneurose leiten lassen, aber das Tabu ist doch keine
Neurose, sondern eine soziale Bildung; somit obliegt uns die
Aufgabe, auch darauf hinzuweisen, worin der prinzipielle Unter-
schied der Neurose von einer Kulturschöpfung wie das Tabu
zu suchen ist.
Ich will hier wiederum eine einzelne Tatsache zum Aus-
gangspunkt nehmen. Von der Übertretung eines Tabu wird bei
den Primitiven eine Strafe befürchtet, meist eine schwere Er-
krankung oder der Tod. Diese Strafe droht nun dem, der sich
die Übertretung hat zu Schulden kommen lassen. Bei der
Zwangsneurose ist dies anders. Wenn der Kranke etwas ihm
96 U. DAS TABU UND DIE AMBIVALENZ.
Verbotenes ausführen soll, so fürchtet er die Strafe nicht für
sich, sondern für eine andere Person, die meist unbestimmt ge-
lassen ist, aber durch die Analyse leicht als eine der ihm nächsten
und von ihm geliebtesten Personen erkannt wird. Der Neuroti-
ker verhält sich also hiebei wie altruistisch, der Primitive wie
egoistisch-. Erst wenn die Tabuübertretung sich im Missetäter
nicht spontan gerächt hat, dann erwacht bei den Wilden ein
kollektives Gefühl, daß sie durch den Frevel alle bedroht
wären, und sie beeilen sich, die ausgebliebene Bestrafung selbst
zu vollstrecken. Wir haben es leicht, uns den Mechanismus
dieser Solidarität zu erklären. Die Angst vor dem anstecken-
den Beispiel, vor der Versuchung zur Nachahmung, also vor
.der Infektionsfähigkeit des Tabu ist hier im Spiele. Wenn
einer es zu stande gebracht hat, das verdrängte Begehren zu
befriedigen, so muß sich in allen Gesellschaftsgenossen das
gleiche Begehren regen; um diese Versuchung niederzuhalten,
muß der eigentlich Beneidete um die Frucht seines Wagnisses
gebracht werden, und die Strafe gibt den Vollstreckern nicht
selten Gelegenheit, unter der Rechtfertigung der Sühne die-
selbe frevle Tat auch ihrerseits zu begehen. Es ist dies ja
eine der Grundlagen der menschlichen Strafordnung, und sie
hat, wie gewiß richtig, die Gleichartigkeit der verbotenen Re-
gungen beim Verbrecher wie bei der rächenden Gesellschaft
zur Voraussetzung.
Die Psychoanalyse bestätigt hier, was die Frommen zu
sagen pflegen, wir seien alle arge Sünder. Wie soll man nun
den unerwarteten Edelsinn der Neurose erklären, die nichts
für sich und alles für eine geliebte Person fürchtet? Die
analytische Untersuchung zeigt, daß er nicht primär ist. Ur-
sprünglich, das heißt zu Anfang der Erkrankung, galt die
Strafandrohung wie bei den Wilden der eigenen Person; man
BEZIEHUNG DER NEUROSE ZU DEN KULTURBILDUNGEN. 97
fürchtete in jedem Falle für sein eigenes Leben; erst später
wurde die Todesangst auf eine andere geliebte Person ver-
schoben. Der Vorgang ist einigermaßen kompliziert, aber wir
übersehen ihn vollständig. Zu Grunde der Verbotbildung liegt
regelmäßig eine böse Regung — ein Todeswunsch — gegen
eine geliebte Person. Diese wird durch ein Verbot verdrängt,
das Verbot an eine gewisse Handlung geknüpft, welche etwa
die feindselige gegen die geliebte Person durch Verschiebung
vertritt, die Ausführung dieser Handlung mit der Todesstrafe
bedroht. Aber der Prozeß geht weiter, und der ursprüngliche
Todeswunsch gegen den geliebten anderen ist dann durch die
Todesangst um ihn ersetzt. Wenn die Neurose sich also so
zärtlich altruistisch erweist, ss kompensiert sie damit nur
die ihr zu Grunde liegende gegenteilige Einstellung eines bru-
talen Egoismus. Heißen wir die Gefühlsregungen, die durch
die Rücksicht auf den anderen bestimmt werden und ihn niclıt
selbst zum Sexualobjekt nehmen, soziale, so können wir das
Zurücktreten dieser sozialen Faktoren als einen später durch
Überkompensation verhüllten Grundzug der Neurose heraus-
heben.
Ohne uns bei der Entstehung dieser sozialen Regungen
und ihrer Beziehung zu den anderen Grundtrieben des Men-
schen aufzuhalten, wollen wir an einem anderen Beispiel den
zweiten Hauptcharakter der Neurose zum Vorschein bringen.
Das Tabu hat in seiner Erscheinungsform die größte Ähnlich-
keit mit der Berührungsangst der Neurotiker, dem Delire de
toucher. Nun handelt es sich bei dieser Neurose regelmäßig
um das Verbot sexueller Berührung, und die Psychoanalyse
hat ganz allgemein gezeigt, daß die Triebkräfte, welche in der
Neurose abgelenkt und .verschoben werden, sexueller Herkunft
sind. Beim Tabu hat die verbotene Berührung offenbar nicht
Freud, Totem und Tabu. 7
98 II. DAS TABU UND DIE AMBIVALENZ,
nur sexuelle Bedeutung, sondern vielmehr die allgemeinere des
Angreifens, der Bemächtigung, des Geltendmachens der eigenen
Person. Wenn es verboten ist, den Häuptling oder etwas, was
mit ihm in Berührung war, selbst zu berühren, so soll damit
demselben Impuls eine Hemmung angelegt werden, der sich
andere Male in der argwöhnischen Überwachung des Häuptlings,
ja in seiner körperlichen Mißhandlung vor der Krönung (s. 0.)
zum Ausdruck bringt. Somit ist das Überwiegen der
sexuellen Triebanteile gegen die sozialen das für
die Neurose charakteristische Moment. Die so-
zialen Triebe sind aber selbst durch Zusammentreten von egoisti-
schen und erotischen Komponenten zu besonderen Einheiten
entstanden.
An dem einen Beispiele vom Vergleich des Tabu mit der
Zwangsneurose läßt sich bereits erraten, welches das Verhältnis
der einzelnen Formen von Neurose zu den Kulturbildungen ist,
und wodurch das Studium der Neurosenpsychologie für das
Verständnis der Kulturentwicklung wichtig wird.
Die Neurosen zeigen einerseits auffällige und tiefreichende
Übereinstimmungen mit den großen sozialen Produktionen der
Kunst, der Religion und der Philosophie. anderseits erscheinen
sie wie Verzerrungen derselben. Man könnte den Ausspruch
wagen, eine Hysterie sei ein Zerrbild einer Kunstschöpfung,
eine Zwangsneurose ein Zerrbild einer Religion, ein paranoischer
Wahn ein Zerrbild eines philosophischen Systems. Diese Ab-
weichung führt sich in letzter Auflösung darauf zurück, daß
die Neurosen asoziale Bildungen sind; sie suchen mit privaten
Mitteln zu leisten, was in der Gesellschaft durch kollektive
Arbeit entstand. Bei der Triebanalyse der Neurosen erfährt
man, daß in ihnen die Triebkräfte sexueller Herkunft den be-
stimmenden Einfluß ausüben, während die entsprechenden
VERGLEICH VON NEUROSE UND TABU, 99
Kulturbildungen auf sozialen Trieben ruhen, solchen, die aus
der Vereinigung egoistischer und erotischer Anteile hervorge-
gangen sind. Das Sexualbedürfnis ist eben nicht im stande,
die Menschen in ähnlicher Weise wie die Anforderungen der
Selbsterhaltung zu einigen; die Sexualbefriedigung ist zunächst
die Privatsache des Individuums.
Genetisch ergibt sich die asoziale Natur der Neurose aus
deren ursprünglichster Tendenz, sich aus einer unbefriedigenden
Realität in eine lustvollere Phantasiewelt zu flüchten. In
dieser vom Neurotiker gemiedenen realen Welt herrscht die
Gesellschaft der Menschen und die von ihnen gemeinsam ge-
schaffenen Institutionen; die Abkehrung von der Realität ist
gleichzeitig ein Austritt aus der menschlichen Gemeinschaft.
7*
III.
ANIMISMUS, MAGIE UND ALLMACHT DER GEDANKEN.
#
Es ist ein notwendiger Mangel der Arbeiten, welche Ge-
sichtspunkte der Psychoanalyse auf Themen der Geisteswissen-
schaften anwenden wollen, daß sie dem Leser von beiden zu
wenig bieten müssen. Sie beschränken sich darum auf den
Charakter von Anregungen, sie machen dem Fachmanne Vor-
schläge, die er bei seiner Arbeit in Erwägung ziehen soll. Dieser
Mangel wird sich aufs äußerste fühlbar machen in einem Auf-
satz, welcher das ungeheure Gebiet dessen, was man Animismus
nennt, behandeln will).
Animismus im engeren Sinne heißt die Lehre von den
Seelenvorstellungen, im weiteren die von geistigen Wesen über-
haupt. Man unterscheidet noch Animatismus, die Lehre von
der Belebtheit der uns unbelebt erscheinenden Natur, und reiht
hier den Animalismus und Manismus an. Der Name Animismus,
früher für ein bestimmtes philosophisches System verwendet,
1) Die geforderte Zusammendrängung des Stoffes bringt auch den
Verzicht auf eingehende Literaturnachweise mit sich. An deren Stelle
stehe der Hinweis auf die bekannten Werke von Herbert Spencer, J. G.
Frazer, A. Lang, E. B. Tylor und W. Wundt, aus denen alle Be-
hauptungen über Animismus und Magie entnommen sind. Die Selbstän-
digkeit des Verfassers kann sich nur in der von ihm getroffenen Auswahl
der Materien sowie der Meinungen kundgeben.
DAS SYSTEM DES ANIMISMUS. 101
scheint seine gegenwärtige Bedeutung durch E. B. Tylor er-
halten zu haben).
Was zur Aufstellung dieser Namen Anlaß gegeben hat,
ist die Einsicht in die höchst merkwürdige Natur- und Welt-
auffassung der uns bekannten primitiven Völker, der histori-
schen sowohl wie der jetzt noch lebenden. Diese bevölkern die
Welt mit einer Unzahl von geistigen Wesen, die ihnen wohl-
wollend oder übelgesinnt sind; sie schreiben diesen Geistern
und Dämonen die Verursachung der Naturvorgänge zu und
halten nicht nur die Tiere und Pflanzen, sondern auch die un-
belebten Dinge der Welt für durch sie belebt. Ein drittes und
vielleicht wichtigstes Stück dieser primitiven „Naturphilo-
sophie“ erscheint uns weit weniger auffällig, weil wir selbst
noch nicht weit genug von ihm entfernt sind, während wir doch
die Existenz der Geister sehr eingeschränkt haben und die
Naturvorgänge heute durch die Annahme unpersönlicher physi-
kalischer Kräfte erklären. Die Primitiven glauben nämlich
an eine ähnliche „Beseelung“ auch der menschlichen Einzel-
wesen. Die menschlichen Personen enthalten Seelen, welche
ihren Wohnsitz verlassen und in andere Menschen einwandern
können; diese Seelen sind die Träger der geistigen Tätigkeiten
und bis zu einem gewissen Grad von den „Leibern“ unabhängig.
Ursprünglich wurden die Seelen als sehr ähnlich den Individuen
vorgestellt und erst im Laufe einer langen Entwicklung haben
sie die Charaktere des Materiellen bis zu einem hohen Grad
von „Vergeistigung‘“ abgestreift?).
Die Mehrzahl der Autoren neigt zu der Annahme, daß
diese Seelenvorstellungen der ursprüngliche Kern des animisti-
1) E. B. Tylor, Primitive Culture. I. Bd., p. 425, 4. Aufl., 1903. —
W. Wundt, Mythus und Religion, II. Bd., p. 173, 1906.
2) Wundt, 1.c, IV. Kapitel „Die Seelenvorstellungen“,
102 AI. ANIMISMUS, MAGIE UND ALLMACHT DER GEDANKEN.
schen Systems sind, daß die Geister nur selbständig gewor-
denen Seelen entsprechen, und daß auch die Seelen von Tieren,
Pflanzen und Dingen in Analogie mit den Menschenseelen ge-
bildet wurden.
Wie sind die primitiven Menschen zu den eigentümlich
dualistischen Grundanschauungen gekommen, auf denen dieses
animistische System ruht? Man meint, durch die Beobachtung
der Phänomene des Schlafes (mit dem Traum) und des ihm so
ähnlichen Todes, und durch die Bemühung, sich diese jeden
Einzelnen so nahe angehenden Zustände zu erklären. Vor allem
müßte das Todesproblem der Ausgangspunkt der Theoriebildung
geworden sein. Für den Primitiven wäre die Fortdauer des
Lebens — die Unsterblichkeit — das Selbstverständliche. Die
Vorstellung des Todes ist etwas spät und nur zögernd Rezipiertes,
sie ist ja auch für uns noch inhaltsleer und unvollziehbar.
Über den Anteil, den andere Beobachtungen und Erfahrungen
an der Gestaltung der animistischen Grundlehren gehabt haben
mögen, die über Traumbilder, Schatten, Spiegelbilder u. dgl.,
haben schr lebhafte, zu keinem re gelangte Diskussionen
stattgefunden 1),
Wenn der Primitive auf die sein Nachdenken anregenden
Phänomene mit der Bildung der Seelenvorstellungen reagierte
und diese dann auf die Objekte der Außenwelt übertrug, so
wird sein Verhalten dabei als durchaus natürlich und weiter
nicht rätselhaft beurteilt. Wundt äußert angesichts der Tat-
sache, daß sich die nämlichen animistischen Vorstellungen bei
den verschiedensten Völkern und zu allen Zeiten übereinstim-
mend gezeigt haben, dieselben „seien das notwendige psycho-
logische Erzeugnis des mythenbildenden Bewußtseins und der
!) Vgl. außer bei Wundt und H. Spencer die orientierenden Ar-
tikel der Encyclopedia Britannica, 1911 (Animism, Mythology usw.).
DAS SYSTEM DES ANIMISMUS. 103
primitive Animismus dürfe als der geistige Ausdruck des
menschlichen Naturzustandes gelten, insoweit dieser
überhaupt für unsere Beobachtung erreichbar ist!)“. Die Recht-
fertigung der Belebung des Unbelebten hat bereits Hume in
seiner „Natural History of Religion“ gegeben, indem er schrieb:
„Lhere is an universal tendeney among mankind to conceive
all beings like themselves and to transfer to every object
those qualities with which they are familiarly acquainted and
of which they are intimately conscious?).“
Der Animismus ist ein Denksystem, er gibt nicht nur die
Erklärung eines einzelnen Phänomens, sondern gestattet es, das
Ganze der Welt als einen einzigen Zusammenhang, aus einem
Punkte, zu begreifen. Die Menschheit hat, wenn wir den
Autoren folgen wollen, drei solcher Denksysteme, drei große
Weltanschauungen im Laufe der Zeiten hervorgebracht: Die
animistische (mythologische), die religiöse und die wissen-
schaftliche. Unter diesen ist die erstgeschaffene, die des Animis-
mus, vielleicht die folgerichtigste und erschöpfendste, eine, die
das Wesen der Welt restlos erklärt. Diese erste Weltanschau-
ung der Menschheit ist nun eine psychologische Theorie. Es
geht über unsere Absicht hinaus zu zeigen, wieviel von ihr
noch im Leben der Gegenwart nachweisbar ist, entweder ent-
wertet in der Form des Aberglaubens, oder lebendig als Grund-
lage unseres Sprechens, Glaubens und Philosophierens.
Es greift auf diese Stufenfolge der drei Weltanschauungen
zurück, wenn gesagt wird, daß der Animismus selbst noch keine
Religion ist, aber die Vorbedingungen enthält, auf denen sich
später die Religionen aufbauen. Es ist auch augenfällig, daß
I) Ime.,.p: 184:
2) Bei Tylor, Primitive Culture, I. Bd., p. 477,
104 NHI ANIMISMUS, MAGIE UND ALLMACHT DER GEDANKEN.
der Mythus auf animistischen Voraussetzungen ruht; die Ein-
zelheiten der Beziehung von Mythus und Animismus erscheinen
aber als in wesentlichen Punkten ungeklärt.
2.
Unsere psychoanalytische Arbeit wird an anderer Stelle
einsetzen. — Man darf nicht annehmen, daß die Menschen sich
aus reiner spekulativer Wißbegierde zur Schöpfung ihres ersten
Weltsystems aufgeschwungen haben. Das praktische Bedürf-
nis, sich der Welt zu bemächtigen, muß seinen Anteil an dieser
Bemühung haben. Wir sind darum nicht erstaunt zu erfahren,
daß mit dem animistischen System etwas anderes Hand in Hand
geht, eine Anweisung, wie man verfahren müsse, um der Men-
schen, Tiere und Dinge, respektive ihrer Geister, Herr zu
werden. Diese Anweisung, welche unter dem Namen „Zau-
berei und Magie“ bekannt ist, will S. Reinach!) die Stra-
tegie des Animismus heißen; ich würde es vorziehen, sie mit
Hubert und Mauß der Technik zu vergleichen ?).
Kann man Zauberei und Magie begrifflich von einander
trennen? Es ist möglich, wenn man sich mit einiger Eigen-
mächtigkeit über die Schwankungen des Sprachgebrauches hin-
wegsetzen will. Dann ist Zauberei im wesentlichen die Kunst,
die Geister zu: beeinflussen, indem man sie behandelt wie unter
gleichen Bedingungen die Menschen, also indem man sie be-
schwichtigt, versöhnt, sich geneigt macht, sie einschüchtert,
ihrer Macht beraubt, sie seinem Willen unterwirft, durch die-
selben Mittel, die man für lebende Menschen wirksam gefunden
hat. Magie ist aber etwas anderes; sie sieht im Grunde von
den Geistern ab und sie bedient sich besonderer Mittel, nicht
!) Cultes, Mythes et Religions, T. II, Introduction, Pp- XV, 1909.
2) Ann&e sociologique, VII. Bd., 1904.
ZAUBEREI UND MAGIE. 105
der banalen psychologischen Methodik. Wir werden leicht er-
raten, daß die Magie das ursprünglichere und bedeutsamere
Stück der animistischen Technik ist, denn unter den Mitteln,
mit denen Geister behandelt werden sollen, befinden sich auch
magische!), und die Magie findet ihre Anwendung auch in
Fällen, wo die Vergeistigung der Natur, wie uns scheint, nicht
durchgeführt worden ist.
Die Magie muß den mannigfaltigsten Absichten dienen,
die Naturvorgänge dem Willen des Menschen unterwerfen, das
Individuum gegen Feinde und Gefahren schützen und ihm die
Macht geben, seine Feinde zu schädigen. Die Prinzipien aber,
auf deren Voraussetzung das magische Tun beruht —- oder
vielmehr das Prinzip der Magie — ist so augenfällig, daß es
von allen Autoren erkannt werden mußte. Man kann es am
knappsten, wenn man von dem beigefügten Werturteil absieht,
mit den Worten E. B. Tylors ausdrücken: „mistaking an
ideal connexion for a real one“. An zwei Gruppen von magi-
schen Handlungen wollen wir diesen Charakter erläutern.
Eine der verbreitetsten magischen Prozeduren, um einem
Feind zu schaden, besteht darin, sich ein Ebenbild von ihm
aus beliebigem Material zu machen. Auf die Ähnlichkeit kommt
es dabei wenig an. Man kann auch irgend ein Objekt zu seinem
Bild „ernennen“. Was man dann diesem Ebenbild antut, das
stößt auch dem gehaßten Urbild zu; an welcher Körperstelle
man das erstere verletzt, an derselben erkrankt das letztere.
Man kann dieselbe magische Technik anstatt in den Dienst
1) Wenn man einen Geist durch Lärm .und Geschrei verscheucht,
so ist dies eine rein zauberische Handlung; wenn man ihn zwingt, indem
man sich seines Namens bemächtigt, so hat man Magie gegen ihn ge-
braucht.
106 AI. ANIMISMUS, MAGIE UND ALLMACHT DER GEDANKEN.
privater Feindseligkeit auch in den der Frömmigkeit stellen
und so Göttern gegen böse Dämonen zu Hilfe kommen. Ich
zitiere nach Frazer!): ‚Jede Nacht, wenn der Sonnengott
Ra (im alten Ägypten) zu seinem Heim im glühenden Westen
herabstieg, hatte er einen bitteren Kampf gegen eine Schar
von Dämonen zu bestehen, die ihn unter der Führung des Erz-
feindes Apepi überfielen. Er kämpfte mit ihnen die ganze
Nacht und häufig waren die Mächte der Finsternis stark genug,
noch des Tages dunkle Wolken an den blauen Himmel zu senden,
die seine Kraft schwächten und sein Licht abhielten. Um
dem Gotte beizustehen, wurde in seinem Tempel zu Theben
täglich folgende Zeremonie aufgeführt: Es wurde aus Wachs
ein Bild seines Feindes Apepi gemacht, in der Gestalt eines
scheußlichen Krokodils oder einer langgeringelten Schlange und
der Name des Dämons mit grüner Tinte darauf geschrieben. In
ein Papyrusgehäuse gehüllt, auf dem eine ähnliche Zeichnung
angebracht war, wurde dann diese Figur mit schwarzem Haar
umwickelt, vom Priester angespuckt, mit einem Steinmesser
bearbeitet und auf den Boden geworfen. Dann trat er mit seinem
linken Fuß auf sie und endlich verbrannte er sie in einem von
gewissen Pflanzen genährten Feuer. Nachdem Apepi in solcher
Weise beseitigt worden war, geschah mit allen Dämonen seines
Gefolges das nämliche. Dieser Gottesdienst, bei dem gewisse
Reden .hergesagt werden mußten, wurde nicht nur morgens,
mittags und abends wiederholt, sondern auch jederzeit da-
zwischen, wenn ein Sturm wütete, wenn ein heftiger Regenguß
niederging oder schwarze Wolken die Sonnenscheibe am Himmel
verdeckten. Die bösen Feinde verspürten die Züchtigung, die
ihren Bildern widerfahren war, als ob sie sie selbst erlitten
1) The magic art. II, p. 67.
BEISPIELE MAGISCHER HANDLUNGEN. 107
hätten; sie flohen und der Sonnengott triumphierte von
neuem 1).“
Aus der unübersehbaren Fülle ähnlich begründeter magi-
scher Handlungen will ich nur noch zweierlei hervorheben, die
bei den primitiven Völkern jederzeit eine große Rolle gespielt
haben und zum Teil im Mythus und Kultus höherer Entwick-
lungsstufen erhalten geblieben sind, nämlich die Arten des
Regen- und des Fruchtbarkeitzaubers. Man erzeugt den Regen
auf magischem Wege, indem man ihn imitiert, etwa auch noch
die ihn erzeugenden Wolken oder den Sturm nachahmt. Es
sieht aus, als ob man „regnen spielen“ wollte. Die japanischen
Ainos z. B. machen Regen in der Weise, daß ein Teil von ihnen
Wasser aus großen Sieben ausgießt, während ein anderer eine
große Schüssel mit Segel und Ruder ausstattet, als ob sie ein
Schiff wäre, und sie so um Dorf und Gärten herumzieht. Die
Fruchtbarkeit des Bodens sicherte man sich aber auf magische
Weise, indem man ihm das Schauspiel eines menschlichen Ge-
schlechtsverkehrs zeigte. So pflegen — ein Beispiel anstatt
unendlich vieler — in manchen Teilen Javas zur Zeit des Heran-
nahens der Reisblüte Bauer und Bäuerin sich nachts auf die
Felder zu begeben, um durch das Beispiel, das sie ihm geben,
den Reis zur Fruchtbarkeit anzuregen?). Dagegen fürchtete
man von verpönten inzestuösen Geschlechtsbeziehungen, daß sie
Mißwuchs und Unfruchtbarkeit des Bodens erzeugen würden).
Auch gewisse negative Vorschriften — magische Vor-
1) Das biblische Verbot, sich ein Bild von irgend etwas Lebendem
zu machen, entstammte, wohl keiner prinzipiellen Ablehnung der bilden-
den Kunst, sondern sollte der von der hebräischen Religion verpönten
Magie ein Werkzeug entziehen. Frazer, 1. c., p. 87, Note,
2) The magic art. Il, p. 9.
3) Davon ein Nachklang im König Ödipus des Sophokles.
108 IM. ANIMISMUS, MAGIE UND ALLMACHT DER GEDANKEN.
sichten also — sind dieser ersten Gruppe einzureihen. ‘Wenn
ein Teil der Bewohner eines Dayakdorfes auf Wildschwein-
jagd ausgezogen ist, so dürfen die Zurückgebliebenen unter-
des weder Öl noch Wasser mit ihren Händen berühren, sonst
würden die Jäger weiche Finger bekommen und die Beute aus
ihren Händen schlüpfen lassen!). Oder, wenn ein Gilyak-
jäger im Walde dem Wilde nachstellt, so ist es seinen Kindern
zu Hause verboten, Zeichnungen auf Holz oder im Sand zu
machen. Die Pfade im dichten Wald könnten sonst so ver-
schlungen werden wie die Linien der Zeichnung, so daß der
Jäger den Weg nach Hause nicht findet?).
Wenn in diesen letzten wie in so vielen anderen Beispielen
magischer Wirkung die Entfernung keine Rolle spielt, die
Telepathie also als selbstverständlich hingenommen wird, so
wird auch uns das Verständnis dieser Eigentümlichkeit der
Magie keine Schwierigkeit bereiten.
Es unterliegt keinem Zweifel, was an all diesen Beispielen
als das Wirksame betrachtet wird. Es ist die Ähnlichkeit
zwischen der vollzogenen Handlung und dem erwarteten Ge-
schehen. Frazer nennt darum diese Art der Magie imita-
bive oder homöopathische. Wenn ich will, daß es regne,
so brauche ich nur etwäs zu tun, was wie Regen aussieht oder
an Regen erinnert. In einer weiteren Phase der Kulturentwick-
lung wird man anstatt dieses magischen Regenzaubers Bitt-
gänge zu einem Gotteshaus veranstalten und den dort wohnenden
Heiligen um Regen anflehen. Endlich wird man auch diese
religiöse Technik aufgeben und dafür versuchen, durch welche
Einwirkungen auf die Atmosphäre Regen erzeugt werden kann.
In einer anderen Gruppe von magischen Handlungen
!) The magic art., I, p. 120,
2). 1.67°P: 122;
IMITATIVE MAGIE, 109
kommt das Prinzip der Ähnlichkeit nicht mehr in Betracht,
dafür ein anderes, welches sich aus den nachstehenden Bei-
spielen leicht ergeben wird.
Um einem Feinde zu schaden, kann man sich auch eines
anderen Verfahrens bedienen. Man bemächtigt sich seiner
Haare, Nägel, Abfallstoffe oder selbst eines Teiles seiner Klei-
dung und stellt mit diesen Dingen etwas Feindseliges an. Es
ist dann gerade so, als hätte man sich der .Person selbst be-
mächtigt, und was man den von der Person herrührenden Din-
gen angetan hat, muß ihr selbst widerfahren. Zu den wesent-
lichen Bestandteilen einer Persönlichkeit gehört nach der An-
schauung der Primitiven ihr Name; wenn man also den Namen
einer Person oder eines Geistes weiß, hat man eine gewisse
Macht über den Träger des Namens erworben. Daher die merk-
würdigen Vorsichten und Beschränkungen im Gebrauche der
Namen, die in dem Aufsatz über das Tabu gestreift worden
sind!). Die Ähnlichkeit wird in diesen Beispielen offenbar er-
setzt durch Zusammengehörigkeit.
Der Kannibalismus der Primitiven leitet seine sublimere
Motivierung in ähnlicher Weise ab. Indem man Teile vom
Leib einer Person durch den Akt des Verzehrens in sich auf-
nimmt, eignet man sich auch die Eigenschaften an, welche
dieser Person angehört haben. Daraus erfolgen dann Vor-
sichten und Beschränkungen der Diät unter besonderen Um-
ständen. Eine Frau wird in der Gravidität vermeiden, das
Fleisch gewisser Tiere zu genießen, weil deren unerwünschte
Eigenschaften, z. B. die Feigheit, so auf das von ihr genährte
Kind übergehen könnten. Es macht für die magische Wir-
kung keinen Unterschied, auch wenn der Zusammenhang ein
bereits aufgehobener ist, oder wenn er überhaupt nur in ein-
1) Vgl, 8. 7a ff.
110 IM. ANIMISMUS, MAGIE UND ALLMACHT DER GEDANKEN.
maliger, bedeutungsvoller Berührung bestand. -So ist z. B.
der Glaube an ein magisches Band, welches das Schicksal einer
Wunde mit dem der Waffe verknüpft, durch welche sie her-
vorgerufen wurde, unverändert durch Jahrtausende zu ver-
folgen. Wenn ein Melanesier sich des Bogens bemächtigt hat,
durch den er verwundet wurde, so wird er ihn sorgfältig an
einem kühlen Ort verwahren, um so die Entzündung der Wunde
niederzuhalten. Ist der Bogen aber im Besitz der Feinde ge-
blieben, so wird er gewiß in nächster Nähe eines Feuers auf-
gehängt werden, damit die Wunde nur ja recht entzündet werde
und brenne Plinius rät in seiner Nat. Hist. XXVIII, wenn
man bereut, einen anderen verletzt zu haben, solle man auf
die Hand spucken, welche die Verletzung verschuldet hat; der
Schmerz des Verletzten werde dann sofort gelindert. Francis
Bacon erwähnt in seiner Natural History den allgemein gül-
tigen Glauben, daß das Salben einer Waffe, welche eine Wunde
geschlagen hat, diese Wunde selbst heilt. Die englischen Bauern
sollen noch heute nach diesem Rezept handeln, und wenn sie
sich mit einer Sichel geschnitten haben, das Instrument von
da an sorgfältig rein halten, damit die Wunde nicht in Eiterung
gerate. Im Juni des Jahres 1902, berichtete eine lokale eng-
lische Wochenschrift, stieß sich eine Frau namens Matilda Henry
inNorwich zufällig einen eisernen Nagel in die Sohle. Ohne
die Wunde untersuchen zu lassen oder auch nur den Strumpf
auszuziehen, hieß sie ihre Tochter, den Nagel gut einölen,
in der Erwartung, daß ihr dann nichts geschehen könne. Sie
selbst starb einige Tage später an Wundstarrkrampf!), infolge
dieser verschobenen Antisepsis.
Die Beispiele der letzteren Gruppe erläutern, was Frazer
als kontagiöse Magie von der imitativen sondert. Was
1) Frazer, The magic art. I, p. 201—203,
KONTAGIOSE MAGIE. 111
in ihnen als wirksam gedacht wird, ist nicht mehr die Ähn-
lichkeit, sondern der Zusammenhang im Raum, die Kontigui-
tät, wenigstens die vorgestellte Kontiguität, die Erinnerung
an ihr Vorhandensein. Da aber Ähnlichkeit und Kontiguität
die beiden wesentlichen Prinzipien der Assoziationsvorgänge
sind, stellt sich als Erklärung für all die Tollheit der magischen
Vorschriften wirklich die Herrschaft der Ideenassoziation her-
aus. Man sieht, wie zutreffend sich Tylors oben zitierte
Charakteristik der Magie erweist: mistaking an ideal con-
nexion for a real one, oder wie es fast gleichlautend Frazer
ausgedrückt hat: men mistook the order of their ideas for the
order of nature, and hence imagined that the control which
they have, or seem to have, over their thoughts, permitted
them to exereise a corresponding control over things!).
Es wird dann zunächst befremdend wirken, daß diese ein-
leuchtende Erklärung der Magie von manchen Autoren als
unbefriedigend verworfen werden konnte?). Bei näherer Über-
legung muß man aber dem Einwand Recht geben, daß die
Assoziationstheorie der Magie bloß die Wege aufklärt, welche
die Magie geht, aber nicht deren eigentliches Wesen, nämlich
nicht das Mißverständnis, welches sie psychologische Gesetze
aıı die Stelle natürlicher setzen heißt. Es bedarf hier offenbar
eines dynamischen Moments, aber während die Suche nach einem
solchen die Kritiker der Frazerschen Lehre in die Irre führt,
wird es leicht, eine befriedigende Aufklärung der Magie zu
geben, wenn man nur die Assoziationstheorie derselben weiter-
führen und vertiefen will.
Betrachten wir zunächst den einfacheren und bedeutsameren
1) The magic art., I, p. 420 ff.
2) Vgl. den Artikel Magic (N. W. T.) in der 11. Auflage der Ency-
clopedia Britannica.
112 LIIL ANIMISMUS, MAGIE UND ALLMACHT DER GEDANKEN.
Fall der imitativen Magie. Nach Frazer kann diese allein
geübt werden, während die kontagiöse Magie in der Regel die
imitative voraussetzt!). Die Motive, welche zur Ausübung der
Magie drängen, sind leicht zu erkennen, es sind die Wünsche
des Menschen. Wir brauchen nur bloß anzunehmen, daß der
primitive Mensch ein großartiges Zutrauen zur Macht seiner
Wünsche hat. Im Grund muß all das, was er auf magischem
Wege herstellt, doch nyr darum geschehen, weil er es will.
So ist anfänglich bloß sein Wunsch das Betonte.
Für das Kind, welches sich unter analogen psychischen
Bedingungen befindet, aber motorisch noch nicht leistungsfähig
ist, haben wir an anderer Stelle die Annahme vertreten, daß
es seine Wünsche zunächst wirklich halluzinatorisch befrie-
digt, indem es die befriedigende Situation durch die zentrifugalen
Erregungen seiner Sinnesorgane herstellen läßt?). Für den er-
wachsenen Primitiven ergibt sich ein anderer Weg. An seinem
Wunsch hängt ein motorischer Impuls, der Wille, und dieser
— der später im Dienst der Wunschbefriedigung das Antlitz
der Erde verändern wird — wird jetzt dazu verwendet, die
Befriedigung darzustellen, so daß man sie gleichsam durch
motorische Halluzination erleben kann. Eine solche Darstel-
lung des befriedigten Wunsches ist dem Spiele der Kinder
völlig vergleichbar, welches bei diesen die rein sensorische
Technik der Befriedigung ablöstt. Wenn Spiel und imitative
Darstellung dem Kinde und dem Primitiven genügen, so ist
dies nicht ein Zeichen von Bescheidenheit in unserem Sinne
oder von Resignation infolge Erkenntnis ihrer realen Ohnmacht,
sonder» die wohl verständliche Folge der überwiegenden Wer-
1]. c., p. 54.
2) Formulierungen über die zwei Prinzipien des psychischen Ge-
schehens. Jahrb. f. psychoanalyt. Forschungen, III. Bd, 1912, p. 2.
DIE ÜBERSCHÄTZUNG DER SEELISCHEN VORGÄNGE. 113
tung ihres Wunsches, des von ihm abhängigen Willens und der
von ihm eingeschlagenen Wege. Mit der Zeit verschiebt sich
der psychische Akzent von den Motiven der magischen Hand-
lung auf deren Mittel, auf die Handlung selbst. Vielleicht
sagen wir richtiger, an diesen Mitteln erst wird ihm die Über-
schätzung seiner psychischen Akte evident. Nun hat es den
Anschein, als wäre es nichts anderes als die magische Hand-
lung, die Kraft ihrer Ähnlichkeit mit dem Gewünschten dessen
Geschehen erzwingt. Auf der Stufe des animistischen Den-
kens gibt es noch keine Gelegenheit, den wahren Sachverhalt
objektiv zu erweisen, wohl aber auf späteren, wenn alle solche
Prozeduren noch gepflegt werden, aber das psychische Phä-
nomen des Zweifels als Ausdruck einer Verdrängungsneigung
bereits möglich ist. Dann werden die Menschen zugeben, daß
die Beschwörungen von Geistern nichts leisten, wenn nicht der
Glaube an sie dabei ist, und daß auch die Zauberkraft des
Gebets versagt, wenn keine Frömmigkeit dahinter wirkt!).
Die Möglichkeit einer auf der Kontiguitätsassoziation be-
ruhenden kontagiösen Magie wird uns dann zeigen, daß sich
die psychische Wertschätzung vom Wunsch und vom Willen
her auf alle psychischen Akte, die dem Willen zu Gebote stehen,
ausgedehnt hat. Es besteht also jetzt eine allgemeine Über-
schätzung der seelischen Vorgänge, das heißt eine Einstellung
zur Welt, welche uns nach unseren Einsichten in die Beziehung
von Realität und Denken als solche Überschätzung des letz-
teren erscheinen muß. Die Dinge treten gegen deren Vorstel-
lungen zurück; was mit den letzteren vorgenommen wird, muß
sich auch an den ersteren ereignen. Die Relationen, die zwi-
schen den Vorstellungen bestehen, werden auch zwischen den
1) Der König in „Hamlet“ (III, 4): „My words fly up, my
thoughts remain below; Woras without thoughts never to heaven go.“
Freud, Totem und Tabu. S
114 II. ANIMISMUS, MAGIE UND ALLMACHT DER GEDANKEN.
Dingen vorausgesetzt. Da das Denken keine Entfernungen
kennt, das räumlich Entlegenste wie das zeitlich Verschie-
denste mit Leichtigkeit in einen Bewußtseinsakt zusammen-
bringt, wird auch die magische Welt sich telepathisch über
die räumliche Distanz hinaussetzen und ehemaligen Zusammen-
hang wie gegenwärtigen behandeln. Das Spiegelbild der
Innenwelt muß im animistischen Zeitalter jenes andere Welt-
bild, das wir zu erkennen glauben, unsichtbar machen.
Heben wir übrigens hervor, daß die beiden Prinzipien der
Assoziation — Ähnlichkeit und Kontiguität — in der höheren
Einheit der Berührung zusammentreffen. Kontiguitäts-
assoziation ist Berührung im direkten, Ähnlichkeitsassoziation
solche im übertragenen Sinne. Eine von uns noch nicht er-
faßte Identität im psychischen Vorgang wird wohl durch den
Gebrauch des nämlichen Wortes für beide Arten der Ver-
knüpfung verbürgt. Es ist derselbe Umfang des Begriffes Be-
rührung, der sich bei der Analyse des Tabu herausstellte!).
Zusammenfassend können wir nun sagen: das Prinzip,
welches die Magie, die Technik der animistischen Denkweise,
regiert, ist das der „Allmacht der Gedanken“.
3.
Die Bezeichnung „Allmacht der Gedanken“ habe ich von
einem hochintelligenten, an Zwangsvorstellungen leidenden
Manne angenommen, dem ces nach seiner Herstellung durch
psychoanalytische Behandlung möglich geworden ist, auch seine
Tüchtigkeit und Verständigkeit zu erweisen?). Er hatte sich
1) Vgl. die vorige ‘Abhandlung dieser Reihe,
?) Bemerkungen über einen Fall von Zwangsneurose, Jahrbuch für
psychoanalyt. und psychopath. Forschungen, I. Bd., 1909, (Sammlung Kl.
Schriften zur Neurosenlehre, 3. Folge, 1913.)
DIE ALLMACHT DER GEDANKEN. 115
dieses Wort geprägt zur Begründung aller jener sonderbaren
und unheimlichen Geschehnisse, die ihn wie andere mit seinem
leiden Behaftete zu verfolgen schienen. Dachte er eben an
eine Person, so kam sie ihm auch schon entgegen, als ob er
sie beschworen hätte; erkundigte er sich plötzlich nach dem
Befinden eines lange vermißten Bekannten, so mußte er hören,
daß dieser eben gestorben sei, so daß er glauben konnte, jener
habe sich ihm telepathisch bemerkbar gemacht; stieß er gegen
einen Fremden eine nicht einmal ganz ernst gemeinte Ver-
wünschung aus, so durfte er erwarten, daß dieser bald darauf
starb und ihn mit der Verantwortlichkeit für sein Ableben be-
lastete.e Von den meisten dieser Fälle konnte er mir im Laufe
der Behandlung selbst mitteilen, wie der täuschende Anschein
entstanden war, und was er selbst an Veranstaltungen hinzu-
getan hatte, um sich in seinen abergläubischen Erwartungen
zu bestärken!). Alle Zwangskranken sind in solcher Weise,
meist gegen ihre bessere Einsicht, abergläubisch.
Der Fortbestand der Allmacht der Gedanken tritt uns bei
der Zwangsneurose am deutlichsten entgegen, die Ergebnisse
dieser primitiven Denkweise sind hier dem Bewußtsein am
nächsten. Wir müssen uns aber davor hüten, darin einen aus-
zeichnenden Charakter dieser Neurose zu erblicken, denn die
analytische Untersuchung deckt das nämliche bei den anderen
Neurosen auf. Bei ihnen allen ist nicht die Realität des Er-
lebens, sondern die des Denkens für die Symptombildung maß-
gebend. Die Neurotiker leben in einer besonderen Welt, in
welcher, wie ich es an anderer Stelle ausgedrückt habe, nur
1) Es scheint, daß wir den Charakter des „Unheimlichen“ solchen
Eindrücken verleihen, welche die Allmacht der Gedanken und die ani-
mistische Denkweise überhaupt bestätigen wollen, während wir uns be-
reits im Urteil von ihr abgewendet haben.
8*
116 IM. ANIMISMUS, MAGIE UND ALLMACHT DER GEDANKEN.
die „neurotische Währung“ gilt, das heißt nur das intensiv
Gedachte, mit Affekt Vorgestellte ist bei ihnen wirksam, dessen
Übereinstimmung mit der äußeren Realität aber nebensächlich.
Der Hysteriker wiederholt in seinen Anfällen und fixiert durch
seine Symptome Erlebnisse, die sich nur in seiner Phantasie
so zugetragen haben, allerdings in letzter Auflösung auf wirk-
liche Ereignisse zurückgehen oder aus solchen aufgebaut wor-
den sind. Das Schuldbewußtsein der Neurotiker würde man
ebenso schlecht verstehen, wenn man es auf reale Missetaten
zurückführen wollte. Ein Zwangsneurotiker kann von einem
Schuldbewußtsein gedrückt sein, das einem Massenmörder wohl
anstünde; er wird sich dabei gegen seine Mitmenschen als
der rücksichtsvollste und skrupulöseste Genosse benehmen
und seit seiner Kindheit so benommen haben. Doch ist sein
Schuldgefühl begründet; es fußt auf den intensiven und häu-
figen Todeswünschen, die sich in ihm unbewußt gegen seine
Mitmenschen regen. Es ist begründet, insofern unbewußte Ge-
danken und nicht absichtliche Taten in Betracht kommen. So
erweist sich die Allmacht der Gedanken, die Überschätzung
der seelischen Vorgänge gegen die Realität, als unbeschränkt
wirksam im Affektleben des Neurotikers und in allen von diesem
ausgehenden Folgen. Unterzieht man ihn aber der psycho-
analytischen Behandlung, welche das bei ihm Unbewußte be-
wußt macht, so wird er nicht glauben können, daß Gedanken
frei sind, und wird sich jedesmal fürchten, böse Wünsche zu
äußern, als ob sie infolge dieser Äußerung in Erfüllung gehen
müßten. Durch dieses Verhalten wie durch seinen im Leben
betätigten Aberglauben zeigt er uns aber, wie nahe er dem
Wilden steht, der durch seine bloßen Gedanken die Außenwelt
zu verändern vermeint.
Die primären Zwangshandlungen dieser Neurotiker sind
DIE ALLMACHT IN DER ZWANGSNEUROSE. 11%
eigentlich durchaus magischer Natur. Sie sind, wenn nicht
Zauber, so doch Gegenzauber, zur Abwehr der Unheilserwar-
tungen bestimmt, mit denen die Neurose zu beginnen pflegt.
So oft ich das Geheimnis zu durchdringen vermochte, zeigte
es sich, daß diese Unheilserwartung den Tod zum Inhalt hatte.
Das Todesproblem steht nach Schopenhauer am Eingang
jeder Philosophie; wir haben gehört, daß auch die Bildung
der Seelenvorstellungen und des Dämonenglaubens, die den
‚ Animismus kennzeichnen, auf den Eindruck zurückgeführt wird,
den der Tod auf den Menschen macht. Ob diese ersten Zwangs-
oder Schutzhandlungen dem Prinzip der Ähnlichkeit, respek-
tive des Konstrastes folgen, ist schwer zu beurteilen, denn sie
werden unter den Bedingungen der Neurose gewöhnlich durch
die Verschiebung auf irgend ein Kleinstes, eine an sich höchst
geringfügige Aktion entstellt!). Auch die Schutzformeln der
Zwangsneurose finden ihr Gegenstück in den Zauberformeln
der Magie. Die Entwicklungsgeschichte der Zwangshandlun-
gen kann man aber beschreiben, indem man hervorhebt, wie
sie, vom Sexuellen möglichst weit entfernt, als Zauber gegen
böse Wünsche beginnen, um als Ersatz für verbotenes sexuelles
Tun, das sie möglichst getreu nachahmen, zu enden.
Wenn wir die vorhin erwähnte Entwicklungsgeschichte
der menschlichen Weltanschauungen annehmen, in welcher die
animistische Phase von der religiösen, diese von der
wissenschaftlichen abgelöst wird, wird es uns nicht
schwer, die Schicksale der „Allmacht der Gedanken“ durch diese
Phasen zu verfolgen. Im animistischen Stadium schreibt der
Mensch sich selbst die Allmacht zu; im religiösen hat er sie
den Göttern abgetreten, aber nicht ernstlich auf sie verzichtet,
1) Ein weiteres Motiv für diese Verschiebung auf eine kleinste Ak-
tion wird sich aus den nachstehenden Erörterungen ergeben.
o-
118 II. ANIMISMUS, MAGIE UND ALLMACHT DER GEDANKEN.
denn er behält sich vor, die Götter durch mannigfache Be-
einflussungen nach seinen Wünschen zu lenken. In der wissen-
schaftlichen Weltanschauung ist kein Raum mehr für die All-
macht des Menschen, er hat sich zu seiner Kleinheit bekannt
und sich resigniert dem Tode wie allen anderen Naturnotwen-
digkeiten unterworfen. Aber in dem Vertrauen auf die Macht
des Menschengeistes, welcher mit den Gesetzen der Wirklich-
keit rechnet, lebt ein Stück des primitiven Allmachtglaubens
weiter.
Bei der Rückverfolgung der Entwicklung libidinöser Stre-
bungen im Einzelmenschen, von ihrer Gestaltung in der Reife
bis zu den ersten Anfängen der Kindheit, hat sich zunächst
eine wichtige Unterscheidung ergeben, die in den „Drei Ab-
handlungen zur Sexualtheorie 1905“ niedergelegt ist. Die
Äußerungen der sexuellen Triebe sind von Anfang an zu er-
kennen, aber sie richten sich zuerst noch auf kein äußeres
Objekt. Die einzelnen Triebkomponenten der Sexualität ar-
beiten jede für sich auf Lustgewinn und finden ihre Befriedi-
gung am eigenen Körper. Dies Stadium heißt das des Auto-
erotismus, es wird von dem der Objektwahl abgelöst.
Es hat sich bei weiterem Studium als zweckmäßig, ja als
unabweisbar gezeigt, zwischen diesen beiden Stadien ein drittes
einzuschieben, oder, wenn man so will, das erste Stadium des
Autoerotismus in zwei zu zerlegen. In diesem Zwischenstadium,
dessen Bedeutsamkeit sich der Forschung immer mehr aufdrängt,
haben die vorher vereinzelten Sexualtriebe sich bereits zu einer
Einheit zusammengesetzt und auch ein Objekt gefunden; dies
Objekt ist aber kein äußeres, dem Individuum fremdes, son-
dern.es ist das eigene, um diese Zeit konstituierte Ich. Mit
Rücksicht auf später zu beobachtende pathologische Fixierun-
gen dieses Zustandes heißen wir das neue Stadium das des
DER NARZISSTISCHE CHARAKTER DER ALLMACHT. 119
Narzißmus. Die Person verhält sich so, als wäre sie in
sich selbst verliebt; die Ichtriebe und die libidinösen Wünsche
sind für unsere Analyse noch nicht von einander zu sondern.
Wenngleich uns eine genügend scharfe Charakteristik
dieses narzißtischen Stadiums, in welchem die bisher dissoziier-
ten Sexualtriebe zu einer Einheit zusammentreten und das Ich
als Objekt besetzen, noch nicht möglich ist, so ahnen wir doch
bereits, daß die narzißtische Organisation nie mehr völlig auf-
gegeben wird. Der Mensch bleibt in gewissem Maße narzib-
tisch, auch nachdem er äufere Objekte für seine Libido ge-
funden hat; die Objektbesetzungen, die er vornimmt, sind gleich-
sam Emanationen der beim Ich verbleibenden Libido und kön-
nen wieder in dieselbe zurückgezogen werden. Die psycho-
logisch so merkwürdigen Zustände von Verliebtheit, die Nor-
malvorbilder der Psychosen, entsprechen dem höchsten Stande
dieser Emanationen im Vergleich zum Niveau der Ichliebe.
Es liegt nun nahe, die von uns aufgefundene Hochschät-
zung der psychischen Aktionen — die wir von unserem Stand-
punkt aus eine Überschätzung heißen — bei den Primitiven und
Neurotikern in Beziehung zum Narzißmus zu bringen und sie
als wesentliches Teilstück desselben aufzufassen. Wir würden
sagen, das Denken ist bei den Primitiven noch in hohem Maße
sexualisiert, daher rührt der Glaube an die Allmacht der Ge-
danken, die unerschütterliche Zuversicht auf die Möglichkeit
der Weltbeherrschung und die Unzugänglichkeit gegen die leicht
zu machenden Erfahrungen, welche den Menschen über seine
wirkliche Stellung in der Welt belehren könnten. Bei den
Neurotikern ist einerseits ein beträchtliches Stück dieser primi-
tiven Einstellung konstitutionell verblieben, anderseits wird
durch die bei ihnen eingetretene Sexualverdrängung eine neuer-
liche Sexualisierung der Denkvorgänge herbeigeführt. Die
120 III. ANIMISMUS, MAGIE UND ALLMACHT DER GEDANKEN.
psychischen Folgen müssen in beiden Fällen dieselben sein, bei
ursprünglicher wie bei regressiv erzielter libidinöser Über-
besetzung des Denkens: intellektueller Narzißmus, Allmacht
der Gedanken !).
Wenn wir im Nachweis der Allmacht der Gedanken bei den
Primitiven ein Zeugnis für den Narzißmus erblicken dürfen,
so können wir den Versuch wagen, die Entwicklungsstufen
der menschlichen Weltanschauung mit den Stadien der libidi-
nösen Entwicklung des Einzelnen in Vergleich zu ziehen. Es
entspricht dann zeitlich wie inhaltlich die animistische Phase
dem Narzißmus, die religiöse Phase jener Stufe der Objekt-
findung, welche durch die Bindung an die Eltern charakterisiert
ist, und die wissenschaftliche Phase hat ihr volles Gegenstück
in jenem Reifezustand des Individuums, welcher auf das Lust-
prinzip verzichtet hat und unter Anpassung an die Realität
sein Objekt in der Außenwelt sucht ?).
Nur auf einem Gebiete ist auch in unserer Kultur die
„Allmacht der Gedanken“ erhalten geblieben, auf dem der
Kunst. In der Kunst allein kommt es noch vor, daß ein von
Wünschen verzehrter Mensch etwas der Befriedigung ähnliches
macht, und daß dieses Spielen — dank der künstlerischen Illu-
sion — Affektwirkungen hervorruft, als wäre es etwas Reales.
Mit Recht spricht man vom Zauber der Kunst und vergleicht
ee almost an axiom with writers on this subject, that a sort
of Solipsism or Berkleianism (as Professor Sully terms it as he finds
it in the Child) operates in the savage to make him refuse to recognise
death as a fact.“ — Marett, Pre-ani-mistie religion, Folklore, XI. Bd.,
1900, p. 178,
?) Es soll hier nur angedeutet werden, daß der ursprüngliche Nar-
zißmus des Kindes maßgebend für die Auffassung seiner Charakterentwick-
lung ist und die Annahme eines primitiven Minderwertigkeitsgefühles bei
demselben ausschließt.
DIE KUNST ALS MAGIE. 121
den Künstler mit einem Zauberer. Aber dieser Vergleich ist
vielleicht bedeutsamer, als er zu sein beansprucht. Die Kunst,
die gewiß nicht als l’art pour l’art begonnen hat, stand ur-
sprünglich im Dienste von Tendenzen, die heute zum großen
Teil erloschen sind. Unter diesen lassen sich mancherlei ma-
gische Absichten vermuten).
4.
Die erste Weltauffassung, welche den Menschen gelang,
die des Animismus, war also eine psychologische. Sie bedurfte
noch keiner Wissenschaft zu ihrer Begründung, denn Wissen-
schaft setzt erst ein, wenn man eingesehen hat, daß man die
Welt nicht kennt und darum nach Wegen suchen muß, um
sie kennen zu lernen. Der Animismus war aber dem primitiven
Menschen natürlich und selbstgewiß; er wußte, wie die Dinge
der Welt sind, nämlich so wie der Mensch sich selbst verspürte.
Wir sind also darauf vorbereitet, zu finden, daß der primitive
Mensch Strukturverhältnisse seiner eigenen Psyche in die
Außenwelt verlegte?2), und dürfen anderseits den Versuch
1) S. Reinach, L/art et la magie in der Sammlung Cultes, Mythes
et Religions, I. Bd., p. 125 bis 136. — Reinach meint, die primitiven
Künstler, welche uns die eingeritzten oder aufgemalten Tierbilder in den
Höhlen Frankreichs hinterlassen haben, wollten nicht „Gefallen erregen“,
sondern „beschwören“. Er erklärt es so, daß sich diese Zeichnungen an
den dunkelsten und unzugänglichsten Stellen der Höhlen befinden, und
daß die Darstellungen der gefürchteten Raubtiere unter ihnen fehlen.
„Les modernes parlent souvent, par hyperbole, de la magie du pinceau
ou du ciseau d’un grand artiste et, en gönöral, de la magie de Yart.
Entendu au sens propre, qui est celui d’une contrainte mystique exercöe
par la volont& de ’homme sur d’autres volont&s ou sur les choses, cette
expression n’est plus admissible; mais nous avons vu quelle &tait autre-
fois rigouresement vraie, du moins dans l’opinion des artistes“ (p. 136),
2) Durch sogenannte endopsychische Wahrnehmung erkannte.
122 UI. ANIMISMUS, MAGIE UND ALLMACHT DER GEDANKEN.
machen. was der Animismus von der Natur der Dinge lehrt,
in die menschliche Seele zurückzuversetzen.
Die Technik des Animismus, die Magie, zeigt uns am deut-
lichsten und unvermengtesten die Absicht, den realen Dingen
die Gesetze des Seelenlebens aufzuzwingen, wobei Geister noch
keine Rolle spielen müssen, während auch Geister zu Objekten
magischer Behandlung genommen werden können. Die Vor-
aussetzungen der Magie sind also ursprünglicher und älter als
die Geisterlehre, die den Kern des Animismus bildet. Unsere
psychoanalytische Betrachtung trifft hier mit einer Lehre von
R. R. Marett zusammen, welcher ein präanimistisches
Stadium dem Animismus vorhergehen läßt, dessen Charakter am
besten durch den Namen Animatismus (Lehre von der all-
gemeinen Belebtheit) angedeutet wird. Es ist wenig mehr aus
der Erfahrung über den Präanimismus zu sagen, da man noch
kein Volk angetroffen hat, welches der Geistesvorstellungen
entbehre !). |
Während die Magie noch alle Allmacht den Gedanken vor-
behält, hat der Animismus einen Teil dieser Allmacht den
Geistern abgetreten und damit den Weg zur Bildung einer
Religion eingeschlagen. Was soll nun den Primitiven zu dieser
ersten Verzichtleistung bewogen haben? Kaum die Einsicht
in die Unrichtigkeit seiner Voraussetzungen, denn er behält
ja die magische Technik bei.
Die Geister und Dämonen sind, wie an anderer Stelle an-
gedeutet wurde, nichts als die Projektionen seiner Gefühls-
regungen?); er macht seine Affektbesetzungen zu Personen,
I) R. R. Marett, Pre-animistic religion, Folklore, XI. Bd. Nr. 2,
London 1900. — Vgl. Wundt, Mythus und Religion, II. Bd., p- 171 u. ff.
®) Wir nehmen an, daß in diesem frühen narzißtischen Stadium
Besetzungen aus libidinöser und anderen Erregungsquellen vielleicht noch
ununterscheidbar miteinander vereinigt sind,
DIE PROJEKTION SEELISCHER VORGÄNGE NACH AUSSEN. 193
mn er nn mn nn
bevölkert mit ihnen die Welt, und findet nun seine inneren
seelischen Vorgänge außer seiner wieder, ganz ähnlich wie der
geistreiche Paranoiker Schreber, der die Bindungen und
Lösungen seiner Libido in den Schieksalen der von ihm kom-
binierten „Gottesstrahlen“ gespiegelt fand!). |
Wir wollen hier wie bei einem früheren Anlasse?) dem
Problem ausweichen, woher die Neigung überhaupt rührt, see-
lische Vorgänge nach außen zu projizieren. Der einen An-
nahme dürfen wir uns aber getrauen, daß diese Neigung dort
eine Verstärkung erfährt, wo die Projektion den Vorteil einer
psychischen Erleichterung mit sich bringt. Ein solcher Vor-
teil ist mit Bestimmtheit zu erwarten, wenn die nach All-
macht strebenden Regungen in Konflikt miteinander geraten
sind; dann können sie offenbar nicht alle allmächtig werden.
Der Krankheitsprozeß der Paranoia bedient sich tatsächlich
des Mechanismus der Projektion, um solche im Seelenleben ent-
standene Konflikte zu erledigen. Nun ist der vorbildliche Fall
eines solchen Konflikts der zwischen den beiden Gliedern eines
Gegensatzpaares, der Fall der ambivalenten Einstellung, den
wir in der Situation des Trauernden beim Tode eines teuern
Angehörigen eingehend zergliedert haben. Ein solcher Fall wird
uns besonders geeignet scheinen, die Schöpfung von Projektisns-
gebilden zu motivieren. Wir treffen hier wiederum mit Mei-
nungen der Autoren zusammen, welche die bösen Geister für
die erstgeborenen unter den Geistern erklären und die Ent-
stehung der Seelenvorstellungen aus dem Eindruck des Todes
1) Schreber, Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken. 1903. —
‚Freud, Psychoanalytische Bemerkungen über einen autobiographisch be-
schriebenen Fall von Paranoia, Jahrb. f. psychoanalyt. Forsch., III. Bd,,
1911. (Schriften zur Neurosenlehre, 3. Folge, 1913.)
2) Vgl. die letztzitierte Abhandlung über Schreber, p. 59.
194 IN. ANIMISMUS, MAGIE UND ALLMACHT DER GEDANKEN.
—
auf die Überlebenden ableiten. Wir machen nur den einen
Unterschied, daß wir nicht das intellektuelle Problem voran-
stellen, welches der Tod dem Lebenden aufgibt, sondern die zur
Erforschung treibende Kraft in den Gefühlskonflikt verlegen,
in welchen diese Situation den Überlebenden stürzt.
Die erste theoretische Leistung des Menschen — die Schöp-
fung der Geister — würde also aus derselben Quelle ent-
springen wie die ersten sittlichen Beschränkungen, denen er
sich unterwirft, die Tabuvorschriften. Doch soll die Gleich-
heit des Ursprungs nichts für die Gleichzeitigkeit der Ent-
stehung präjudizieren. Wenn es wirklich die Situation des
Überlebenden gegen den Toten war, die den primitiven Men-
schen zuerst nachdenklich machte, ihn nötigte, einen Teil seiner
Allmacht an die Geister abzugeben und ein Stück der freien
Willkür seines Handelns zu opfern, so wären diese Kultur-
schöpfungen eine erste Anerkennung der ’Avzyxn, die sich dem
menschlichen Narzißmus widersetzt. Der Primitive würde sich
vor der Übermacht des Todes beugen wit derselben Geste, durch
die er diesen zu verleugnen scheint.
Wenn wir den Mut zur weiteren Ausbeutung unserer Vor-
aussetzungen haben, können wir fragen, welches wesentliche
Stück unserer psychologischen Struktur in der Projektions-
schöpfung der Seelen und Geister seine Spiegelung und Wieder-
kehr findet. Es ist dann schwer zu bestreiten, daß die primitive
Seelenvorstellung, soweit sie auch noch von der späteren völlig
immateriellen Seele absteht, doch im wesentlichen mit dieser
zusammentrifft, also Person oder Ding als eine Zweiheit auf-
faßt, auf deren beide Bestandteile die bekannten Eigenschaften
und Veränderungen des Ganzen verteilt sind. Diese ursprüng-
liche Dualität — nach einem Ausdruck von H. Spencer!) —
1) Im I. Band der „Prinzipien der Soziologie“,
ee ee u er ee Eee En
DIE SCHÖPFUNG DER GEISTER. 125
ist bereits identisch mit jenem Dualismus, der sich in der
uns geläufigen Trennung von Geist und Körper kundgibt, und
dessen unzerstörbare sprachliche Äußerungen wir z. B. in der
Beschreibung des Ohnmächtigen oder Rasenden: er sei nicht
bei sich, erkennen !!).
Was wir so, ganz ähnlich wie der Primitive, in die äußere
Realität projizieren, kann kaum etwas anderes sein als die
Erkenntnis eines Zustandes, in dem ein Ding den Sinnen und
dem Bewußtsein gegeben, präsent ist, neben welchem ein
anderer besteht, in dem dasselbe latent ist, aber wieder-
erscheinen kann, also die Koexistenz von Wahrnehmen und
Erinnern, oder, ins Allgemeine ausgedehnt, die Existenz un-
bewußter Seelenvorgänge neben den bewußten?) Man
könnte sagen, der „Geist“ einer Person oder eines Dinges re-
duziere sich in letzter Analyse auf deren Fähigkeit erinnert
und vorgestellt zu werden, wenn sie der Wahrnehmung ent-
zogen sind.
Man wird nun freilich weder von der primitiven noch von
der heutigen Vorstellung der „Seele“ erwarten dürfen, daß
ihre Abgrenzung vom anderen Teile die Linien einhalte, welche
unsere heutige Wissenschaft zwischen der bewußten und der
unbewußten Seelentätigkeit zieht. Die animistische Seele ver-
einigt vielmehr Bestimmungen von beiden Seiten in sich. Ihre
Flüchtigkeit und Beweglichkeit, ihre Fähigkeit, den Körper
zu verlassen, dauernd oder vorübergehend von einem anderen
Leibe Besitz zu nehmen, dies sind Charaktere, die unverkenn-
bar an das Wesen des Bewußtseins erinnern. Aber die Art,
1) H. Spencer, 1.c, p. 179.
2) Vgl. meine kleine Schrift: A note on the Unconscious in Psycho-
Analysis aus den Proceedings of the Society for Psychical Research, Part
LXVI, vol. XXVI, London 1912,
126 Ni. ANIMISMUS, MAGIE UND ALLMACHT DER GEDANKEN.
wie sie sich hinter der persönlichen Erscheinung verborgen
hält, mahnt an das Unbewußte; die Unveränderlichkeit und
Unzerstörbarkeit schreiben wir heute nicht mehr den bewußten,
sondern den unbewußten Vorgängen zu, und diese betrachten
wir auch als die eigentlichen Träger der seelischen Tätigkeit.
Wir sagten vorhin, der Animismus sei ein Denksystem,
die erste vollständige Theorie der Welt, und wollen nun aus
der psychoanalytischen Auffassung eines solchen Systems ge-
wisse Folgerungen ableiten. Die Erfahrung jedes unserer Tage
kann uns die Haupteigenschaften des ,Systems“ immer von
neuem vorführen. Wir träumen in der Nacht und haben es
erlernt, am Tage den Traum zu deuten. Der Traum kann,
ohne seine Natur zu verleugnen, wirr und zusammenhanglos
erscheinen, er kann aber auch im Gegenteil die Ordnung der
Eindrücke eines Erlebnisses nachahmen, eine Begebenheit aus
der anderen ableiten und ein Stück seines Inhaltes auf ein
anderes beziehen. Dies scheint. ihm besser oder schlechter ge-
lungen zu sein, fast niemals gelingt es so vollkommen, daß nicht
irgendwo eine Absurdität, ein Riß im Gefüge zum Vorschein
käme. Wenn wir den Traum der Deutung unterziehen, er-
fahren wir, daß die inkonstante und ungleichmäßige Anord-
nung der Traumbestandteile auch etwas für das Verständnis
des Traumes recht Unwichtiges ist. Das Wesentliche am
Traum sind die Traumgedanken, die allerdings sinnreich, zu-
sammenhängend und geordnet sind. Aber deren Ordnung ist
eine ganz andere als die von uns am manifesten Trauminhalt
erinnerte. Der Zusammenhang der Traumgedanken ist auf-
gegeben worden und kann dann entweder überhaupt verloren
bleiben oder durch den neuen Zusammenhang des Trauminhalts
ersetzt werden. Fast regelmäßig hat, außer der Verdichtung
DER CHARAKTER EINES SYSTEMS. 127
der Traumelemente, eine Umordnung derselben stattgefunden,
die von der früheren Anordnung mehr oder weniger unab-
hängig ist. Wir sagen abschließend, das, was durch die Traum-
arbeit aus dem Material der Traumgedanken geworden ist,
hat eine neue Beeinflussung erfahren, die sogenannte „sekun-
däre Bearbeitung“, deren Absicht offenbar dahingeht, die
aus der Traumarbeit resultierende Zusammenhangslosigkeit und
Unverständlichkeit zu Gunsten eines neuen „Sinnes“ zu be-
seitigen. Dieser neue, durch die sekundäre Bearbeitung er-
zielte Sinn ist nicht mehr der Sinn der Traumgedanken.
Die sekundäre Bearbeitung des Produkts der Traum-
arbeit ist ein vortreffliches Beispiel für das Wesen und die
Ansprüche eines Systems. Eine intellektuelle Funktion in uns
fordert Vereinheitlichung, Zusammenhang und Verständlichkeit
von jedem Material der Wahrnehmung oder des Denkens, dessen
sie sich bemächtigt, und scheut sich nicht, einen unrichtigen
Zusammenbang herzustellen, wenn sie infolge besonderer Um-
stände den richtigen nicht erfassen kann. Wir kennen solche
Systembildungen nicht nur vom Traume, sondern auch von
den Phobien, dem Zwangsdenken und den Formen des Wah-
nes. Bei den Wahnerkrankungen (der Paranoia) ist die System-
bildung das Sinnfälligste, sie beherrscht das Krankheitsbild,
sie darf aber auch bei den anderen Formen von Neuropsychosen
nicht übersehen werden. In allen Fällen können wir dann nach-
weisen, daß eine Umordnung des psychischen Materials zu
einem neuen Ziel stattgefunden hat, oft eine im Grunde recht
gewaltsame, wenn sie nur unter dem Gesichtspunkt des Sy-
stems begreiflich erscheint. Es wird dann zum besten Kenn-
zeichen der Systembildung, daß jedes der Ergebnisse desselben
mindestens zwei Motivierungen aufdecken läßt, eine Motivie-
rung aus den Voraussetzungen des Systems — also eventuell
128 II. ANIMISMUS, MAGIE UND ALLMACHT DER GEDANKEN.
eine wahnhafte — und eine versteckte, die wir aber als die
eigentlich wirksame, reale, anerkennen müssen.
Zur Erläuterung ein Beispiel aus der Neurosc: In der
Abhandlung über das Tabu erwähnte ich eine Kranke, deren
Zwangsverbote die schönsten Übereinstimmungen mit dem
Tabu der Maori zeigen!). Die Neurose dieser Frau ist auf
ihren Mann gerichtet; sie gipfelt in der Abwehr des unbe-
wußten Wunsches nach seinem Tod. Ihre manifeste, syste-
matische Phobie gilt aber der Erwähnung des Todes über-
haupt, wobei ihr Mann völlig ausgeschaltet ist und niemals
Gegenstand bewußter Sorge wird. Eines Tages hört sie den
Mann den Auftrag erteilen, seine stumpf gewordenen Rasier-
messer sollen in einen bestimmten Laden zum Schleifen ge-
bracht werden. Von einer eigentümlichen Unruhe getrieben,
macht sie sich selbst auf den Weg nach diesem Laden und
fordert nach ihrer Rückkehr von dieser Rekognoszierung von
ihrem Manne, er müsse diese Messer für alle Zeiten aus dem
Wege räumen, denn sie habe entdeckt, daß neben dem von ihm
genannten Laden sich eine Niederlage von Särgen, Trauer-
waren u. dgl. befindet. Die Messer seien durch seine Absicht
in eine unlösbare Verbindung mit dem Gedanken an den Tod
geraten. Dies ist nun die systematische Motivierung des Ver-
bots. Wir dürfen sicher sein, daß die Kranke auch ohne die
Entdeckung jener Nachbarschaft das Verbot der Rasiermesser
nach Hause gebracht hätte. Denn es hätte dazu hingereicht,
daß sie auf dem Wege nach dem Laden einem Leichenwagen,
einer Person in Trauerkleidung oder einer Trägerin eines
Leichenkranzes begegnete. Das Netz der Bedingungen war
weit genug ausgespannt, um die Beute in jedem Falle zu fan-
gen; es lag dann an ihr, ob sie es zuziehen wollte oder nicht.
1) p. 38,
NEUROTISCHE SYSTEMBILDUNGEN. 129
Man konnte mit Sicherheit feststellen, daß sie für andere Fälle
die Bedingungen des Verbots nicht aktivierte. Dann hieß es
eben, es sei ein „besserer Tag‘ gewesen. Die wirkliche Ur-
sache des Verbots der Rasiermesser war natürlich, wie wir mit
Leichtigkeit erraten, ihr Sträuben gegen eine Lustbetonung
der Vorstellung, ihr Mann könne sich mit dem geschärften Ra-
siermesser den Hals abschneiden.
In ganz ähnlicher Weise vervollständigt und detailliert
sich eine Gehhemmung, eine Abasie oder Agoraphobie, wenn
es diesem Symptom einmal gelungen ist, sich zur Vertretung
eines unbewußten Wunsches und der Abwehr gegen denselben
aufzuschwingen. Was sonst noch an unbewußten Phantasien
und an wirksamen Reminiszenzen in dem Kranken vorhanden
ist, drängt diesem einmal eröffneten Ausweg zum symptoma-
tischen Ausdruck zu und bringt sich in zweckmäßiger Neu-
ordnung im Rahmen der Gehstörung unter. Es wäre also ein
vergebliches, eigentlich ein törichtes Beginnen, wenn man das
symptomatische Gefüge und die Einzelheiten, z. B. einer Agora-
phobie aus der Grundvoraussetzung derselben verstehen wollte.
Alle Konsequenz und Strenge des Zusammenhanges ist doch
nur scheinbar. Schärfere Beobachtung kann, wie bei der Fas-
sadenbildung des Traumes, die ärgsten Inkonsequenzen und
Willkürlichkeiten der Symptombildung aufdecken. Die Ein-
zelheiten einer solchen systematischen Pliobie entnehmen ihre
reale Motivierung versteckten Determinanten, die mit der Geh-
hemmung nichts zu tun haben müssen, und darum fallen auch
die Gestaltungen einer solchen Phobie bei verschiedenen Per-
sonen so mannigfaltig und so widersprechend aus.
- Suchen wir nun den Rückweg zu dem uns beschäftigenden
System des Animismus, so schließen wir aus unseren Ein-
Freud, Totem und Tabu. 2
130 IH. ANIMISMUS, MAGIE UND ALLMACHT DER GEDANKEN.
sichten über andere psychologische Systeme, daß die Motivie-
rung einer einzelnen Sitte oder Vorschrift durch den „Aber-
glauben“ auch bei den Primitiven nicht die einzige und die
eigentliche Motivierung zu sein braucht und uns der Verpflich-
tung nicht überhebt, nach den versteckten Motiven derselben
zu suchen. Unter der Herrschaft eines animistischen Systems
ist es nicht anders möglich, als daß jede Vorschrift und jede
Tätigkeit eine systematische Begründung erhalte, welche wir
heute eine „abergläubische“ heißen. „Aberglaube“ ist wie
„Angst“, wie „Traum“, wie „Dämon“, eine der psychologischen
Vorläufigkeiten, die vor der psychoanalytischen Forschung
zergangen sind. Kommt man hinter diese, die Erkenntnis wie
Wandschirme abwehrenden Konstruktionen, so ahnt man, daß
dem Seelenleben und der Kulturhöhe der Wilden ein Stück
verdienter Würdigung bisher vorenthalten wurde.
Betrachtet man die Triebverdrängung als ein Maß des
erreichten Kulturniveaus, so muß man zugestehen, daß auch
unter dem animistischen System Fortschritte und Entwicklun-
gen vorgefallen sind, die man mit Unrecht ihrer abergläubi-
schen Motivierung wegen gering schätzt. Wenn wir hören,
daß Krieger eines wilden Volksstammes sich die größte Keusch-
heit und Reinlichkeit auferlegen, sobald sie sich auf den Kriegs-
plad begeben), so wird uns die Erklärung nahegelegt, daß
sie ihren Unrat beseitigen, damit sich der Feind dieses Teiles
ihrer Person nieht bemächtige, um ihnen auf magische Weise
zu schaden, und für ihre Enthaltsamkeit sollen wir analoge
abergläubische Motivierungen vermuten. Nichtsdestoweniger
bleibt die Tatsache des Triebverzichts bestehen, und wir ver-
stehen den Fall wohl besser, wenn wir annehmen, daß der wilde
Krieger sich solche Beschränkungen zur Ausgleichung auf-
ı) Frazer, Taboo and the perils of the soul, p. 158,
ÜBERDETERMINIERUNG UND FORTSCHRITT IM ANIMISMUS. 131
erlegt, weil er im Begriffe steht, sich die sonst untersagte
Befriedigung grausamer und feindseliger Regungen im vollen
Ausmaße zu gestatten. Dasselbe gilt für die zahlreichen Fälle
von sexueller Beschränkung, solange man mit schwierigen oder
verantwortlichen Arbeiten beschäftigt ist!). Mag sich die Be-
gründung dieser Verbote immerhin auf einen magischen Zu-
sammenhang berufen, die fundamentale Vorstellung, durch Ver-
zicht auf Triebbefriedigung größere Kraft zu gewinnen, bleibt
doch unverkennbar, und die hygienische Wurzel des Verbots
ist neben der magischen Rationalisierung derselben nicht zu
vernachlässigen. Wenn die Männer eines wilden Volksstammes
zur Jagd, zum Fischfang, zum Krieg, zum Einsammeln kost-
barer Pflanzenstoffe ausgezogen sind, so bleiben ihre Frauen
unterdes im Hause zahlreichen drückenden Beschränkungen
unterworfen, denen von den Wilden selbst eine in die Ferne
reichende, sympathetische Wirkung auf das Gelingen der Ex-
pedition zugeschrieben wird. Doch gehört wenig Scharfsinn
dazu, um zu erraten, daß jenes in die Ferne wirkende Moment
kein anderes als das Heimwärtsdenken, die Sehnsucht der Ab-
wesenden, ist, und daß hinter diesen Einkleidungen die gute
psychologische Einsicht steckt, die Männer werden ihr Bestes
nur dann tun, wenn sie über den Verbleib der unbeaufsichtigten
Frauen vollauf beruhigt sind. Andere Male wird es direkt,
ohne magische Motivierung, ausgesprochen, daß die eheliche
Untreue der Frau die Bemühungen des in verantwortlicher
Tätigkeit abwesenden Mannes zum Scheitern bringt.
Die unzähligen Tabuvorschriften, denen die Frauen der
Wilden während ihrer Menstruation unterliegen, werden durch
die abergläubische Scheu vor dem Blute motiviert und haben
in ihr wohl auch eine reale Begründung. Aber es wäre unrecht,
1) Frazer, 1. c., p. 200.
9%*
132 NHL ANIMISMUS, MAGIE UND ALLMACHT DER GEDANKEN.
die Möglichkeit zu übersehen, daß diese Blutscheu hier auch
ästhetischen und hygienischen Absichten dient, die sich in allen
Fällen mit magischen Motivierungen drapieren müßten.
Wir täuschen uns wohl nicht darüber, daß wir uns durch
solche Erklärungsversuche dem Vorwurfe aussetzen, daß wir
den heutigen Wilden eine Feinheit der seelischen Tätigkeiten
zumuten, die weit über die Wahrscheinlichkeit hinausgeht.
Allein ich meine, es könnte uns mit der Psychologie dieser Völ-
ker, die auf der animistischen Stufe stehen geblieben sind,
_ leicht so ergehen wie mit dem Seelenleben des Kindes, das wir
Erwachsene nicht mehr verstehen, und dessen Reichhaltigkeit
und Feinfühligkeit wir darum so sehr unterschätzt haben.
Ich will noch einer Gruppe von bisher unerklärten Tabu-
vorschriften gedenken, weil sie eine dem Psychoanalytiker ver-
traute Aufklärung zuläßt. Bei vielen wilden Völkern ist es
unter verschiedenen Verhältnissen verboten, scharfe Waffen
und schneidende Instrumente im Hause zu halten!). Frazer
zitiert einen deutschen Aberglauben, daß man ein Messer nicht
mit der Schneide nach oben liegen lassen dürfe. Gott und
die Engel könnten sich daran verletzen. Soll man in diesem
Tabu nicht die Ahnung gewisser „Symptomhandlungen“ er-
kennen, zu denen die scharfe Waffe durch unbewußte böse
Regungen gebraucht werden könnte?
!) Frazer, 1. c., p. 237.
IV:
DIE INFANTILE WIEDERKEHR DES TOTEMISMUS.
Von der Psychoanalyse, welche zuerst die regelmäßige
Überdeterminierung psychischer Akte und Bildungen aufge-
deekt hat, braucht man nicht zu besorgen, daß sie versucht
sein werde, etwas so Kompliziertes wie die Religion aus einem
einzigen Ursprung abzuleiten. Wenn sie in notgedrungener,
eigentlich pflichtgemäßer Einseitigkeit eine einzige der Quellen
dieser Institution zur Anerkennung bringen will, so beansprucht
sie zunächst für dieselbe die Ausschließlichkeit so wenig wie
den ersten Rang unter den zusammenwirkenden Momenten. Erst
eine Synthese aus verschiedenen Gebieten der Forschung kann
entscheiden, welche relative Bedeutung dem hier zu erörtern-
den Mechanismus in der Genese der Religion zuzuteilen ist;
eine solche Arbeit überschreitet aber sowohl die Mittel als
auch die Absicht des Psychoanalytikers.
1
In der ersten Abhandlung dieser Reihe haben wir den Be-
griff des Totemismus kennen gelernt. Wir haben gehört, daß
der Totemismus ein System ist, welches bei gewissen primitiven
Völkern in Australien, Amerika, Afrika die Stelle einer Re-
ligion vertritt und die Grundlage der sozialen Organisation
abgibt. Wir wissen, daß der Schotte Mac Lennan 1869
das allgemeinste Interesse für die bis dahin nur als Kuriosa
134 IV. DIE INFANTILE WIEDERKEHR DES TOTEMISMUS.
gewürdigten Phänomene des Totemismus in Anspruch nahm,
indem er die Vermutung aussprach, eine große Anzahl von
Sitten und Gebräuchen in verschiedenen alten wie modernen
Gesellschaften seien als Überreste einer totemistischen Epoche
zu verstehen. Die Wissenschaft hat seither diese Bedeutung
des Totemismus im vollen Umfange anerkannt. Als eine der
letzten Äußerungen über diese Frage will ich eine Stelle aus
den Elementen der Völkerpsychologie von W. Wundt (1912)
zitieren!): „Nehmen wir alles dies zusammen, so ergibt sich
mit hoher Wahrscheinlichkeit der Schluß, daß die totemisti-
sche Kultur überall einmal eine Vorstufe der späteren Entwick-
lungen und eine Übergangsstufe zwischen dem Zustand des
primitiven Menschen und dem Helden- und Götterzeitalter ge-
bildet hat.“
Die Absichten der vorliegenden Abhandlungen nötigen uns
zu einem tieferen Eingehen auf die Charaktere des Totemismus.
Aus Gründen, welche später ersichtlich werden sollen, bevor-
zuge ich hier eine Darstellung von S. Reinach, der im Jahre
1900 nachstehenden Code du totemisme in zwölf Artikeln,
gleichsam einen Katechismus der totemistischen Religion, ent-
worfen hat?):
1. Gewisse Tiere dürfen weder getötet noch gegessen wer-
den, aber die Menschen ziehen Individuen dieser Tiergattun-
gen auf und schenken ihnen Pflege.
2. Ein zufällig verstorbenes Tier wird betrauert und unter
den gleichen Ehrenbezeigungen bestattet wie ein Mitglied des
Stammes.
1) p. 139.
2) Revue scientifique, Oktober 1900, abgedruckt in des Autors vier-
bändigem Werke Cultes, Mythes et Religions, 1909, T. I, DB. 17H,
EIN CODE DU TOTEMISME. 135
3. Das Speiseverbot bezieht sich gelegentlich nur auf einen
bestimmten Körperteil des Tieres.
4. Wenn man ein für gewöhnlich verschontes Tier unter
dem Drange der Notwendigkeit töten muß, so entschuldigt man
sich bei ihm und sucht die Verletzung des Tabu, den Mord, dureh
mannigfache Kunstgriffe und Ausflüchte abzuschwächen.
5. Wenn das Tier rituell geopfert wird, wird es feierlich
beweint.
6. Bei, gewissen feierlichen Gelegenheiten, religiösen Ze-
remonien, legt man die Haut bestimmter Tiere an. Wo der
Totemismus noch besteht, sind dies die Totemtiere. |
7. Stämme und Einzelpersonen legen sich Tiernamen bei,
eben die der Totemtiere.
8. Viele Stämme gebrauchen Tierbilder als Wappen und
verzieren mit ihnen ihre Waffen; Männer malen sich Tier-
bilder auf den Leib oder lassen sich solche durch Tätowierung
einritzen.
9. Wenn der Totem zu den gefürchteten und gefährlichen
Tieren gehört, so wird angenommen, daß er die Mitglieder des
nach ihm genannten Stammes verschont.
10. Das Totemtier beschützt und warnt die Angehörigen
des Stammes.
11. Das Totemtier kündigt seinen Getreuen die Zukunft
an und dient ihnen als Führer.
12. Die Mitglieder eines Totemstammes glauben oft daran,
daß sie mit dem Totemtier durch das Band gemeinsamer Ab-
stammung verknüpft sind.
Man kann diesen Katechismus der Totemreligion erst wür-
digen, wenn man in Betracht zieht, daß Reinach hier auch
alle Anzeichen und Resterscheinungen eingetragen hat, aus
denen man den einstigen Bestand des totemistischen Systems
136 1V. DIE INFANTILE WIEDERKEHR DES TOTEMISMUS.
erschließen kann. Eine besondere Stellung dieses Autors zum
Problem zeigt sich darin, daß er dafür die wesentlichen Züge
des Totemismus einigermaßen vernachlässigt. Wir werden
uns überzeugen, daß er von den zwei Hauptsätzen des totemi-
stischen Katechismus den einen in den Hintergrund gedrängt,
den anderen völlig übergangen hat.
Um von den Charakteren des Totemismus ein richtiges
Bild zu gewinnen, wenden wir uns am einen Autor, welcher
dem Thema ein vierbändiges Werk gewidmet hat, das die voll-
ständigste Sammlung der hieher gehörigen Beobachtungen mit
der eingehendsten Diskussion der durch sie angeregten Probleme
verbindet. Wir werden J. G. Frazer, dem Verfasser von
„Lotemism and Exogamyt)“, für Genuß und Belehrung ver-
pflichtet bleiben, auch wenn die psychoanalytische Untersuchung
zu Ergebnissen führen sollte, welche weit von den seinigen
abweichen ?).
1) 1910.
2) Vielleicht tun wir aber vorher gut daran, dem Leser die Schwie-
rigkeiten vorzuführen, mit denen Feststellungen auf diesem Gebiete zu
kämpfen haben:
Zunächst: die Personen, welche die Beobachtungen sammeln, sind
nicht dieselben, welche sie verarbeiten und diskutieren, die ersteren Rei-
sende und Missionäre, die letzteren Gelehrte, welche die Objekte ihrer
Forschung vielleicht niemals gesehen haben. — Die Verständigung mit den
Wilden ist nicht leicht. Nicht alle der Beobachter waren mit den Sprachen
derselben vertraut, sondern mußten sich der Hilfe von Dolmetschern be-
dienen oder in der Hilfssprache des piggin-english mit den Ausgefragten
verkehren. Die Wilden sind nicht mitteilsam über die intimsten Ange-
legenheiten ihrer Kultur und eröffnen sich nur solchen Fremden, die viele
Jahre in ihrer Mitte zugebracht haben. Sie geben aus den verschieden-
artigsten Motiven (vgl. Frazer, The beginnings of religion and totemism
among the Australian aborigines, Förtnightly Review, 1905; T. and. Ex. I,
p-. 150) oft falsche oder mißverständliche Auskünfte, — Man darf nicht
J. G. FRAZER ÜBER DEN TOTEMISMUS. 137
Ein Totem, schrieb Frazer in seinem ersten Aufsatz!),
ist ein materielles Objekt, welchem der Wilde einen abergläu-
bischen Respekt bezeugt, weil er glaubt, daß zwischen seiner
eigenen Person und jedem Ding dieser Gattung eine ganz be-
sondere Beziehung besteht. Die Verbindung zwischen einem
Menschen und seinem Totem ist eine wechselseitige, der Totem
beschützt den Menschen und der Mensch beweist seine Achtung
vor dem Totem auf verschiedene Arten, so z. B. daß er ihn
nicht tötet, wenn es ein Tier, und nicht abpflückt, wenn es
eine Pflanze ist. Der Totem unterscheidet sich vom Fetisch
darin, daß er nie ein Einzelding ist wie dieser, sondern immer
eine Gattung, in der Regel eine Tier- oder Pflanzenart, seltener
eine Klasse von unbelebten Dingen und noch seltener von
künstlich hergestellten Gegenständen.
daran vergessen, daß die primitiven Völker keine jungen Völker sind, son-
dern eigentlich ebenso alt wie die zivilisiertesten, und daß man kein
Recht zur Erwartung hat, sie würden ihre ursprünglichen Ideen und In-
stitutionen ohne jede Entwicklung und Entstellung für unsere Kenntnis-
nahme aufbewahrt haben. Es ist vielmehr sicher, daß sich bei den Primi-
tiven tiefgreifende Wandlungen nach allen Richtungen vollzogen haben,
so daß man niemals ohne Bedenken entscheiden kann, was an ihren ge-
genwärtigen Zuständen und Meinungen nach Art eines Petrefakts die ur-
sprüngliche Vergangenheit erhalten hat, und was einer Entstellung und
Veränderung derselben entspricht. Daher die überreichlichen Streitig-
keiten unter den Autoren, was an den Eigentümlichkeiten einer primi-
tiven Kultur als primär und was als spätere sekundäre Gestaltung aufzu-
fassen sei. Die Feststellung des ursprünglichen Zustandes bleibt also
jedesmal eine Sache der Konstruktion. — Es ist endlich nicht leicht,
sich in die Denkungsart der Primitiven einzufühlen. Wir mißverstehen
sie ebenso leicht wie die Kinder und sind immer geneigt, ihr Tun und
Fühlen nach unseren eigenen psychischen Konstellationen zu deuten.
1) Totemism, Edinburgh 1887, abgedruckt im ersten Band des großen
Werkes T. and Ex.
138 IV. DIE INFANTILE WIEDERKEHR DES TOTEMISMUS,
Man kann mindestens drei Arten von Totem unterscheiden:
1. den Stammestotem, an dem ein ganzer Stamm teil hat,
und der sich erblich von einer Generation auf die nächste über-
trägt;
2. den Geschlechtstotem, der allen männlichen oder allen
weiblichen Mitgliedern eines Stammes mit Ausschluß des an-
deren Geschlechtes angehört, und
3. den individuellen Totem, der einer einzelnen Person
eignet und nicht auf deren Nachkommenschaft übergeht. Die
beiden letzten Arten von Totem kommen an Bedeutung gegen
den Stammestotem nicht in Betracht. Es sind, wenn nicht
alles täuscht, späte und für das Wesen des Totem wenig be-
deutsame Bildungen.
Der Stammestotem (Clantotem) ist Gegenstand der Ver-
ehrung einer Gruppe von Männern und Frauen, die sich nach
dem Totem nennen, sich für blutsverwandte Abkömmlinge eines
gemeinsamen Ahnen halten und durch gemeinsame Pflichten
gegeneinander wie durch den Glauben an ihren Totem mitein-
ander fest verbunden sind.
Der Totemismus ist sowohl ein religiöses wie ein soziales
System. Nach seiner religiösen Seite besteht er in den Be-
ziehungen gegenseitiger Achtung und Schonung zwischen einem
Menschen und seinem Totem, nach seiner sozialen Seite in den
Verpflichtungen der Clanmitglieder gegeneinander und gegen
andere Stämme. In der späteren Geschichte des Totemismus
zeigen dessen beide Seiten eine Neigung auseinander zu gehen;
das soziale System überlebt häufig das religiöse und umge-
kehrt verbleiben Reste von Totemismus in der Religion solcher
Länder, in denen das auf den Totemismus gegründete soziale
System verschwunden ist. Wie diese beiden Seiten des Tote-
inismus ursprünglich miteinander zusammenhingen, können wir
FRAZERS DARSTELLUNG DES TOTEMISMUS. 139
bei unserer Unkenntnis über dessen Ursprünge nicht mit Sicher-
heit sagen. Doch ergibt sich im ganzen eine starke Wahr-
scheinlichkeit dafür, daß die beiden Seiten des Totemismus zu
Anfang unzertrennlich voneinander waren. Mit anderen Wor-
ben, je weiter wir zurückgehen, desto deutlicher zeigt es sich,
daß der Stammesangehörige sich zur selben Art zählt wie seinen
Totem und sein Verhalten gegen den Totem von dem gegen
einen Stammesgenossen nicht unterscheidet.
In der speziellen Beschreibung des Totemismus als eines
religiösen Systems stellt Frazer voran, daß die Mitglieder
eines Stammes sich nach ihrem Totem nennen und in der
Regel auch glauben, daß sie von ihm abstammen.
Die Folge dieses Glaubens ist es, daß sie das Totemtier nicht
jagen, nicht töten und nicht essen und sich jeden anderen Ge-
brauch des Totem versagen, wenn er etwas anderes als ein Tier
ist. Die Verbote, den Totem nicht zu töten und nicht zu essen,
sind nicht die einzigen Tabu, die ihn betreffen; manchmal ist
es auch verboten, ihn zu berühren, ja, ihn anzuschauen; in
einer Anzahl von Fällen darf der Totem nicht bei seinem rich-
tigen Namen genannt werden. Die Übertretung dieser den
Totem schützenden Tabugebote straft sich automatisch durch
schwere Erkrankungen oder Tod !).
Exemplare des Totemtieres werden gelegentlich von dem
Clan aufgezogen und in der Gefangenschaft gehegt?). Ein
tot aufgefundenes Totemtier wird betrauert und bestattet wie
ein Clangenosse. Mußte man ein Totemtier töten, so geschah
es unter einem vorgeschriebenen Rituale von Entschuldigungen
und Sühnezeremonien.
4) Vgl. Die Abhandlung über das Tabu.
2) Wie heute noch die Wölfe im Käfig an der Kapitolsstiege inRom,
die Bären im Zwinger von Bern.
140 IV. DIE INFANTILE WIEDERKEHR DES TOTEMISMUS.
Von seinem Totem erwartete der Stamm Schutz und Scho-
nung. Wenn er ein gefährliches Tier war (Raubtier, Gift-
schlange), so setzte man voraus, daß er seinen Genossen nichts
zu Leide tun würde, und wo sich diese Voraussetzung nicht
bestätigte, wurde der Beschädigte aus dem Stamme ausgestoßen.
Eide, meint Frazer, waren ursprünglich Ordalien; viele
Abstammungs- und Echtheitsproben wurden so dem Totem zur
Entscheidung überlassen. Der Totem hilit in Krankheiten, gibt
dem Stamme Vorzeichen und Warnungen. Die Erscheinung
des Totemtieres in der Nähe eines Hauses wurde häufig als
Ankündigung eines Todesfalles angesehen. Der Totem war
gekommen, seinen Verwandten zu holen).
Unter verschiedenen bedeutsamen Verhältnissen sucht der
Clangenosse seine Verwandtschaft mit dem Totem zu betonen,
indem er sich ihm äußerlich ähnlich macht, sich in die Haut
des Totemtieres hüllt, sich das Bild desselben einritzt u. dgl.
Bei den feierlichen Gelegenheiten der Geburt, der Männer-
weihe, des Begräbnisses wird diese Identifizierung mit dem
Totem in Taten und Worten durchgeführt. Tänze, bei denen
alle Genossen des Stammes sich in ihren Totem verkleiden
und wie er gebärden, dienen mannigfaltigen magischen und
religiösen Absichten. Endlich gibt es Zeremonien, bei denen
das Totemtier in feierlicher Weise getötet wird 2).
Die soziale Seite des Totemismus prägt sich vor allem in
einem streng gehaltenen Gebot und in einer großartigen Ein-
schränkung aus. Die Mitglieder eines Totemelans sind Brüder
und Schwestern, verpflichtet einander zu helfen und zu be-
schützen; im Falle der Tötung eines Clangenossen durch einen
Fremden haftet der ganze Stamm des Täters für die Bluttat,
1) Also wie die weiße Frau mancher Adelsgeschlechter.,
2) 1. c., p. 45. — Siehe unten die Erörterung über das Opfer.
DER INHALT DES TOTEMISMUS. 141
und der Clan des Gemordeten fühlt sich solidarisch in der
Forderung nach Sühne für das vergossene Blut. Die 'Totem-
bande sind stärker als die Familienbande in unserem Sinne;
sie fallen mit diesen nicht zusammen, da die Übertragung des
Totem in der Regel durch mütterliche Vererbung geschieht und
ursprünglich die väterliche Vererbung vielleicht überhaupt nicht
in Geltung war.
Die entsprechende Tabubeschränkung aber besteht in dem
Verbot, daß Mitglieder desselben Totemelans einander nicht
heiraten und überhaupt nicht in Sexualverkehr miteinander
treten dürfen. Dies ist die berühmte und rätselhafte, mit
dem Totemismus verknüpfte Exogamie. Wir haben ihr die
ganze erste Abhandlung dieser Reihe gewidmet und brauchen
darum hier nur anzuführen, daß sie der verschärften Inzest-
scheu der Primitiven entspringt, daß sie als Sicherung gegen
Inzest bei Gruppenehe vollkommen verständlich würde, und
daß sie zunächst die Inzestverhütung für die jüngere Genera-
tion besorgt und erst in weiterer Ausbildung auch der älteren
Generation zum Hindernis wird!).
An diese Darstellung des Totemismus bei Frazer, eine
der frühesten in der Literatur des Gegenstandes, will ich nun
einige Auszüge aus einer der letzten Zusammenfassungen an-
schließen. In den 1912 erschienenen Elementen der Völker-
psychologie sagt W. Wundt?): „Das Totamtier gilt als Ahnen-
tier der betreffenden Gruppe. ‚Totem‘ ist also einerseits Grup-
pen-, anderseits Abstammungsname, und in letzterer Beziehung
hat dieser Name zugleich eine mythologische Bedeutung. Alle
diese Verwendungen des Begriffes spielen aber ineinander und
1) 8. die erste Abhandlung.
2) p. 116,
142 IV. DIE INFANTILE WIEDERKEHR DES TOTEMISMUS.
die einzelnen dieser Bedeutungen können zurücktreten, so daß
in manchen Fällen die Totems fast zu einer bloßen Nomenklatur
der Stammesabteilungen geworden sind, während in anderen
die Vorstellung der Abstammung oder aber auch die kultische
Bedeutung des Totems im Vordergrund steht... Der Begriff
des Totem wird für die Stammesgliederung und Stam-
mesorganisation maßgebend. Mit diesen Normen und
mit ihrer Befestigung im Glauben und Fühlen der Stammes-
genossen hängt es zusammen, daß man das Totemtier ursprüng-
lich jedenfalls nicht bloß als einen Namen für eine Gruppe
von Stammesgliedern betrachtete, sondern daß das Tier meist
als Stammvater der betreffenden Abteilung gilt... Damit
hängt dann zusammen, daß diese Tierahnen einen Kult ge-
nießen.... Dieser Tierkult äußert sich ursprünglich, abgesehen
von. bestimmten Zeremonien und zeremoniellen Festen vor allem
in dem Verhalten gegenüber dem Totemtier: nicht nur ein ein-
zelnes Tier, sondern jeder Repräsentant der gleichen Spezies
ist in gewissem Grade ein geheiligtes Tier, es ist dem Totem-
genossen verboten oder nur unter bestimmten Umständen er-
laubt, das Fleisch des Totemtieres zu genießen. Dem entspricht
die in solehem Zusammenhange bedeutsame Gegenerscheinung,
daß unter gewissen Bedingungen eine Art von zeremoniellem
Genuß des Totemfleisches stattfindet...“
»+..Die wichtigste soziale Seite dieser totemistischen
Stammesgliederung besteht aber darin, daß mit ihr bestimmte
Normen der Sitte für den Verkehr der Gruppen untereinander
verbunden sind. Unter diesen Normen stehen in erster Linie
die für den Eheverkehr. So hängt diese Stammesgliederung
mit einer wichtigen Erscheinung zusammen, die zum erstenmal
im totemistischen Zeitalter auftritt: mit der Exogamie.“
‚Wenn wir durch all das hindurch, was späterer Fortbil-
KONSTRUKTION DES URSPRÜNGLICHEN TOTEMISMUS. 143
dung oder Abschwächung entsprechen mag, zu einer Charakte-
ristik des ursprünglichen Totemismus gelangen wollen, so er-
geben sich uns folgende wesentliche Züge: Die Totem waren
ursprünglich nur Tiere, sie galten als die Ahnen
der einzelnen Stämme. Der Totem vererbte sich
nur in weiblicher Linie; es war verboten, den
Totem zu töten (oder zu essen, was für primitive Ver-
hältnisse zusammenfällt); es war den Totemgenossen
verboten, Sexualverkehr miteinander zu pflegen!).
Es darf uns nun auffallen, daß in dem Code du totemisme,
den Reinach aufgestellt hat, das eine der Haupttabu, das
der Exogamie, überhaupt nicht vorkommt, während die Vor-
aussetzung des zweiten, die Abstammung vom Totemtier, nur
eine beiläufige Erwähnung findet. Ich habe aber die Darstel-
lung Reinachs, eines um den Gegenstand sehr verdienten
Autors, ausgewählt, um auf die Meinungsverschiedenheiten
unter den Autoren vorzubereiten, welche uns nun beschäf-
tigen sollen.
1) Übereinstimmend mit diesem Text lautet das Fazit des Totemis-
mus, welches Frazer in seiner zweiten Arbeit über den Gegenstand
(The origin of Totemism, Fortnightly Review 1899) zieht: Thus Totemism
has commonly been treated as a primitive system both of religion and
of society. As a system of religion it embraces the mystic union of the
savage with his totem; as a system of society it comprises the relations
in which men and women of the same totem stand to cach other and
to the members of other totemic groups. And corresponding to these two
sides of the system are two rough-and-ready tests or canons of Totemism:
first, the rule that a man may not kill or eat his totem animal or plant,
and second, the rule that he may not marry or cohabit with a woman
of the same totem.“ (p. 101.) Frazer fügt dann hinzu, was uns mitten
in die Diskussionen über den Totemismus hineinführt: Whether the two
sides — the religious and the social — have always coexisted or are
essentially independent, is a question which has been variously answered.
144 IV. DIE INFANTILE WIEDERKEHR DES TOTEMISMUS.
2.
Je unabweisbarer die Einsicht auftrat, daß der Totemismus
eine regelmäßige Phase aller Kulturen gebildet habe, desto
dringender wurde das Bedürfnis, zu einem Verständnis desselben
zu gelangen, die Rätsel seines Wesens aufzuhellen. Rätselhaft
ist wohl alles am Tlotemismus; die entscheidenden Fragen sind
die nach der Herkunft der Totemabstammung, nach der Moti-
vierung der Exogamie (respektive des durch sie vertretenen
Inzesttabu) und nach der Beziehung zwischen den beiden, der
Totemorganisation und dem Inzestverbot. Das Verständnis
sollte in einem ein historisches und ein psychologisches sein,
Auskunft geben, unter welchen Bedingungen sich diese eigen-
tümliche Institution entwickelt, und welchen seelischen Be-
dürfnissen der Menschen sie Ausdruck gegeben hatte.
Meine Leser werden nun gewiß erstaunt sein zu hören,
von wie verschiedenen Gesichtspunkten her die Beantwortung
dieser Fragen versucht wurde, und wie weit die Meinungen der
sachkundigen Forscher hierüber auseinandergehen. Es steht so
ziemlich alles in Frage, was man allgemein über Totemismus
und Exogamie behaupten möchte; auch das vorangeschickte,
aus einer von Frazer 18387 veröffentlichten Schrift ge-
schöpfte Bild kann der Kritik nicht entgehen, eine willkürliche
Vorliebe des Referenten auszudrücken, und würde heute von
Frazer selbst, der seine Ansichten über den Gegenstand wie-
derholt geändert hat, beanständet werden!).
!) Anläßlich einer solchen Sinnesänderung schrieb er den schönen
Satz nieder: „That my conclusions on these difficult questions are final,
I am not so foolish as to pretend. I have changed my views repeatedly,
and I am resolved to change them again with every change of the evi-
dence, for like a chameleon the candid enquirer should shift his colours
with the shifting colours of the ground he treads.“ Vorrede zum I. Band
von Totemism and Exogamy. 1910,
UNSTIMMIGKEITEN DER AUTOREN, 145
Es ist eine naheliegende Annahme, daß man das Wesen
des Totemismus und der Exogamie am ehesten erfassen könnte,
wenn man den Ursprüngen der beiden Institutionen näher käme.
Dann ist aber für die Beurteilung der Sachlage die Bemerkung
von Andrew Lang nicht zu vergessen, daß auch die primi-
tiven Völker uns diese ursprünglichen Formen der Institu-
tionen und die Bedingungen für deren Entstehung nicht mehr
aufbewahrt haben, so daß wir einzig und allein auf Hypothesen
angewiesen bleiben, um die mangelnde Beobachtung zu er-
setzen!). Unter den vorgebrachten Erklärungsversuchen er-
scheinen einige dem Urteil des Psychologen von vornherein als
inadäquat. Sie sind allzu rationell und nehmen auf den Ge-
fühlscharakter der zu erklärenden Dinge keine Rücksicht. An-
dere ruhen auf Voraussetzungen, denen die Beobachtung die
Bestätigung versagt; noch andere berufen sich auf ein Ma-
terial, welches besser einer anderen Deutung unterworfen wer-
den sollte. Die Widerlegung der verschiedenen Ansichten hat
in der Regel wenig Schwierigkeiten; die Autoren sind wie
gewöhnlich in der Kritik, die sie aneinander üben, stärker als
in ihren eigenen Produktionen. Ein Non liquet ist für die
meisten der behandelten Punkte das Endergebnis. Es ist da-
her nicht zu verwundern, wenn in der neuesten, hier meist über-
gangenen Literatur des Gegenstandes das unverkennbare Be-
streben auftritt, eine allgemeine Lösung der totemistischen
Probleme als undurchführbar abzuweisen. So-z. B. Golden-
weiser im J. of Am. Folk-Lore XXIL, 1910. Referat in Bri-
1) „By the nature of the case, as the origin of totemism lies far
beyond our powers of historical examination or of experiment, we must
have recourse as regards this matter to conjecture“, A. Lang, Secret
of the Totem, p. 27. — „Nowhere do we see absolutely primitive man,
and a totemic system in the making.“ p. 29.
Freud, Totem und Tabu. 10
146 IV. DIE INFANTILE WIEDERKEHR DES TOTEMISMUS
tannica Year Book 1913.) Ich habe mir gestattet, bei der Mit-
teilung dieser einander widerstreitenden Hypothesen von deren
Zeitfolge abzusehen. -
a) Die Herkunft des Totemismus.
Die Frage nach der Entstehung des Totemismus läßt sich
auch so formulieren: Wie kamen primitive Menschen dazu,
sich (ihre Stämme) nach Tieren, Pflanzen, leblosen Gegen-
ständen zu benennen)?
Der Schotte Mae Lennan, der Totemismus und Exo-
gamie für die Wissenschaft entdeckte?), enthielt sich, eine An-
sicht über die Entstehung des Totemismus zu veröffentlichen.
Nach einer Mitteilung von A. Lang?) war er eine Zeitlang
geneigt, den Totemismus auf die Sitte des Tätowierens zurück-
zuführen. Die verlautbarten Theorien zur Ableitung des Tote-
mismus möchte ich in drei Gruppen bringen, als «) nominali-
stische, ß) soziologische, Y) psychologische.
a) Die nominalistischen Theorien.
Die Mitteilungen über diese Theorien werden deren Zu-
sammenfassung unter dem von mir gebrachten Titel rechtfer-
tigen.
Schon Garcilaso de la Vega, ein Abkömmling der
peruanischen Inka, der im XVII. Jahrhundert die Geschichte
seines Volkes schrieb, soll, was ihm von totemistischen Phä-
nomenen bekannt war, auf das Bedürfnis der Stämme, sich durch
1) Wahrscheinlich ursprünglich nur nach Tieren.
2) The Worship of Animals and Plants, Fortnightly Review 1869—
1870. -—— Primitive marriage 1865; beide Arbeiten abgedruckt in Studies
in ancient History, 1876. 2. ed. 1886.
3) The Secret of the Totem, 1905, p. 34.
DIE HERKUNFT DES TOTEMISMUS. 147
Namen von einander zu unterscheiden, zurückgeführt haben).
Derselbe Gedanke taucht Jahrhunderte später in der Ethnology
von A. K. Keane auf: die Totem seien aus „heraldie badges“
(Wappenabzeichen) hervorgegangen, durch die Individuen, Fa-
milien und Stämme sich von einander unterscheiden wollten ?).
Max Müller äußerte dieselbe Ansicht über die Bedeu-
tung der Totem in seinen Oontributions to the Science of My-
thology°). Ein Totem sei: 1. ein Olanabzeichen, 2. ein Clan-
name, 3. der Name des Ahnherrn des Clan, 4. der Name des
vom Clan verehrten Gegenstandes. Später J. Pikler 1899:
Die Menschen bedurften eines bleibenden, schriftlich fixier-
baren Namens für Gemeinschaften und Individuen.... So ent-
springt also der Totemismus nicht aus dem religiösen, sondern
aus dem nüchternen Alltagsbedürfnis der Menschheit. Der
Kern des Totemismus, die Benennung, ist eine Folge der pri-
mitiven Schrifttechnik. Der Charakter der Totem ist auch
der von leicht darstellbaren Schriftzeichen. Wenn die Wil-
den aber erst den Namen eines Tieres trugen, so leiteten sie
daraus die Idee einer Verwandtschaft von diesem Tiere ab*).
Herbert Spencer?) legte gleichfalls der Namengebung
die entscheidende Bedeutung für die Entstehung des Totemis-
mus bei. Einzelne Individuen, führte er aus, hätten durch ihre
Eigenschaften herausgefordert, sie nach Tieren zu benennen,
und seien so zu Ehrennamen oder Spitznamen gekommen, welche
— 1) Nach A. Lang, Secret of the Totem, p. 34.
2) Ibid.
3) Nach A. Lang.
4) Pikler und Somlö, Der Ursprung des Totemismus. 1901. Die
Autoren kennzeichnen ihren Erklärungsversuch mit Recht als „Beitrag
zur materialistischen Geschichtstheorie“.
5) The origin of animal worship, Fortnightly Review 1870. Prinzipien
der Soziologie, I. Bd., $$ 169 bis 176.
10%
148 IV. DIE INFANTILE WIEDERKEHR DES TOTEMISMUS.
sich auf ihre Nachkommen fortsetzten. Infolge der Unbestimmt-
heit und Unverständlichkeit der primitiven Sprachen seien
diese Namen von den späteren Generationen so aufgefaßt wor-
den, als seien sie ein Zeugnis für ihre Abstammung von diesen
Tieren selbst. Der Totemismus hätte sich so als mißverständ-
liche Ahnenverehrung ergeben.
Ganz ähnlich, obwohl ohne Hervorhebung des Mißverständ-
nisses hat Lord Avebury (bekannter unter seinem früheren
Namen Sir John Lubbock) die Entstehung des Totemismus
beurteilt: Wenn wir die Tierverehrung erklären wollen, dür-
fen wir nicht daran vergessen, wie häufig die menschlichen Na-
men von den Tieren entlehnt werden. Die Kinder und das
Gefolge eines Mannes, der Bär oder Löwe genannt wurde, machten
daraus natürlich einen Stammesnamen. Daraus ergab sich, daß
das Tier selbst zu einer gewissen Achtung und endlich Ver-
ehrung gelangte.
Einen, wie es scheint, unwiderleglichen Einwand gegen
solche Zurückführung der Totemnamen auf die Namen von
Individuen hat Fison vorgebracht!). Er zeigt an den Ver-
hältnissen von Australien, daß der Totem stets das Merkzeichen
einer Gruppe von Menschen, nie eines einzelnen ist. Wäre es
aber anders und der Totem ursprünglich der Name eines ein-
zelnen Menschen, so könnte er bei dem System der mütterlichen
Vererbung nie auf dessen Kinder übergehen.
Die bisher mitgeteilten Theorien sind übrigens in offen-
kundiger Weise unzureichend. Sie erklären etwa die Tatsache
der Tiernamen für die Stämme der Primitiven, aber niemals
die Bedeutung, welche diese Namengebung für sie gewonnen
hat, das totemistische System. Die beachtenswerteste Theorie
dieser Gruppe ist die von A. Lang in seinen Büchern Social
!) Kamilaroi and Kurmai, p. 165, 1880 (nach A. Lang, Secret etc.).
NOMINALISTISCHE THEORIEN. 149
origins 1903 und The secret of the totem 1905 entwickelte.
Sie macht immer noch die Namengebung zum Kern des Pro-
blems, aber sie verarbeitet zwei interessante psychologische
Momente und beansprucht so, das Rätsel des Totemismus der
endgültigen Lösung zugeführt zu haben.
A. Lang meint, es sei zunächst gleichgültig, auf welche
Weise die Clans zu ihren Tiernamen gekommen seien. Man
wolle nur annehmen, sie erwachten eines Tages zum Bewußt-
sein, daß sie solche tragen, und wußten sich keine Rechenschaft
zu geben, woher. Der Ursprung dieser Namen sei
vergessen. Dann würden sie versuchen, sich durch Speku-
lation Auskunft darüber zu schaffen, und bei ihren Überzeu-
gungen von der Bedeutung der Namen müßten sie notwendiger-
weise zu all den Ideen kommen, die im totemistischen System
enthalten sind. Namen sind für die Primitiven — wie für
die heutigen Wilden und selbst für unsere Kinder!) — nicht
etwa etwas Gleichgültiges und Konventionelles, wie sie uns
erscheinen, sondern etwas Bedeutungsvolles und Wesent-
liches. Der Name eines Menschen ist ein Hauptbestandteil seiner
Person, vielleicht ein Stück seiner Seele. Die Gleichnamigkeit
mit dem Tiere mußte die Primitiven dazu führen, ein ge-
heimnisvolles und bedeutsames Band zwischen ihren Personen
und dieser Tiergattung anzunehmen. Welches Band konnte da
anders in Betracht kommen als das der Blutsverwandtschaft?
War diese aber infolge der Namensgleichheit einmal angenom-
men, so ergaben sich aus ihr als direkte Folgen des Bluttabu
alle Totemvorschriften mit Einschluß der Exogamie.
„No more than these three things — a group animal name
of unknown origin; belief in a transcendental connection between
all bearers, human and bestial, of the same name; and belief
1) Vgl. die Abhandlung über das Tabu, S. 76.
150 IV. DIE INFANTILE WIEDERKEHR DES TOTEMISMUS.
in the blood superstitions — was needed to give rise to all
the totemie ereeds and practices, including exogamy.“ (Secret
of the Totem, p. 126.)
Langs Erklärung ist sozusagen zweizeitig. Sie leitet
das totemistische System mit psychologischer Notwendigkeit
‚aus der Tatsache der Totemnamen ab unter der Voraussetzung,
daß die Herkunft dieser Namengebung vergessen worden sei.
Das andere Stück der Theorie sucht nun den Ursprung dieser
Namen aufzuklären; wir werden sehen, daß es von ganz an-
derem Gepräge ist.
Dies andere Stück der Langschen Theorie entfernt sich
nicht wesentlich von den übrigen, die ich „nominalistisch“ ge-
nannt habe. Das praktische Bedürfnis nach Unterscheidung
nötigte die einzelnen Stämme Namen anzunehmen, und darum
ließen sie sich die Namen gefallen, die jedem Stamm von den
anderen gegeben wurden. Dies „naming from without“ ist die
Eigentümlichkeit der Langschen Konstruktion. Daß die Na-
men, die so zu stande kamen, von Tieren entlehnt waren, ist
nicht weiter auffällig und braucht von den Primitiven nicht
als Schimpf oder Spott empfunden worden zu sein. Übrigens
hat Lang die keineswegs vereinzelten Fälle aus späteren
Epochen der Geschichte herangezogen, in denen von außen ge-
gebene, ursprünglich als Spott gemeinte Namen von den so
Bezeichneten akzeptiert und bereitwillig getragen wurden
(Geusen, Whigs und Tories). Die Annahme, daß die Ent-
stehung dieser Namen im Laufe der Zeit vergessen wurde, ver-
knüpft dies zweite Stück der Langschen Theorie mit dem
vorhin dargestellten ersten.
SOZIOLOGISCHE THEORIEN. 151
B) Die soziologischen Theorien.
S. Reinach, der den Überbleibseln des totemistischen
Systems in Kult und Sitte späterer Perioden erfolgreich nach-
gespürt, aber von Anfang an das Moment der Abstammung
vom Totemtier gering geschätzt hat, äußert einmal ohne Be-
denken, der Totemismus scheine ihm nichts anderes zu sein
als „une hypertrophie de l’instinet social“).
Dieselbe Auffassung scheint das neue Werk von E. Durk-
heim: Les formes elementaires de la vie religieuse. Le systeme
totemique en Australie, 1912, zu durchziehen. Der Totem ist
der sichtbare Repräsentant der sozialen Religion dieser Völker.
Er verkörpert die Gemeinschaft, welche der eigentliche Gegen-
stand der Verehrung ist.
Andere Autoren haben nach näherer Begründung für diese
Beteiligung der sozialen Triebe an der Bildung der totemisti-
schen Institutionen gesucht. So hat A. C. Haddon an-
genommen, daß jeder primitive Stamm ursprünglich von einer
besonderen Tier- oder Pflanzenart lebte, vielleicht auch mit
diesem Nahrungsmittel Handel trieb und ihn anderen Stäm-
men im Austausch zuführte. So konnte es nicht fehlen, daß
der Stamm den anderen unter dem Namen des Tieres, welches
für ihn eine so wichtige Rolle spielte, bekannt wurde. Grleich-
zeitig mußte sich bei diesem Stamm eine besondere Vertraut-
heit mit dem betreffenden Tier und eine Art von Interesse für
dasselbe entwickeln, welches aber auf kein anderes psychisches
Motiv als auf das elementarste und dringendste der mensch-
lichen Bedürfnisse, den Hunger, gegründet war?).
Die Einwendungen gegen diese rationalste aller Totem-
ee LM.
2) Address to the Anthropological Section, British Association, Bel-
fast 1902. Naeh’ Frazer, Le, T.IV,; p 59 uff:
152 IV. DIE INFANTILE WIEDERKEHR DES TOTEMISMUS.
theorien besagen, daß ein solcher Zustand der Ernährung bei
den Primitiven nirgends gefunden werde und wahrscheinlich
niemals bestanden habe. Die Wilden seien omnivor, und zwar
um so mehr, je niedriger sie stehen. Ferner sei es nicht zu
verstehen, wie aus solcher ausschließlicher Diät sich ein fast
religiöses Verhältnis zu dem Totem entwickelt haben konnte,
das in der absoluten Enthaltung von der Vorzugsnahrung
gipfelte.
Die erste der drei Theorien, welche Frazer über die Ent-
stehung des Totemismus ausgesprochen, war eine psychologi
sche; sie wird an anderer Stelle berichtet werden.
Die zweite hier zu besprechende Theorie Frazers ent-
stand unter dem Eindruck der bedeutungsvollen Publikation
zweier Forscher über die Eingeborenen von Zentralaustralien?).
Spencer und Gillen beschrieben bei einer Gruppe von
Stämmen, der sogenannten Aruntanation, eine Reihe von
eigentümlichen Einrichtungen, Gebräuchen und Ansichten, und
Frazer schloß sich ihrem Urteile an, daß diese Besonderheiten
als Züge eines primären Zustandes zu betrachten seien und
über den ersten und eigentlichen Sinn des Totemismus Auf-
schluß geben können.
Diese Eigentümlichkeiten sind bei dem Aruntastamm
selbst (einem Teil der Aruntanation) folgende:
1. Sie haben die Gliederung in Totemclans, aber der Totem
wird nicht erblich übertragen, sondern (auf später mitzutei-
lende Weise) individuell bestimmt.
2. Die Totemelans sind nicht exogam, die Heiratsbeschrän-
kungen werden durch eine hoch entwickelte Gliederung in Hei-
!) The native tribes of Central Australia von Baldwin Spencer
und H. J. Gillen, London 1891.
SOZIOLOGISCHE THEORIEN. 153
ratsklassen hergestellt, welche mit den Totem nichts zu tun
haben.
3. Die Funktion der Totemelans besteht in der Ausführung
einer Zeremonie, welche auf exquisit magische Weise die Ver-
mehrung des eßbaren Totemobjekts bezweckt (diese Zeremonie
heißt Intichiuma).
4. Die Arunta haben eine eigenartige Konzeptions- und
Wiedergeburtstheorie. Sie nehmen an, daß an bestimmten
Stellen ihres Landes die Geister der Verstorbenen desselben
Totem auf ihre Wiedergeburt warten und in den Leib der
Frauen eindringen, die jene Stellen passieren. Wird ein Kind
geboren, so gibt die Mutter an, auf welcher Geisterstätte sie
ihr Kind empfangen zu haben glaubt. Danach wird der Totem
des Kindes bestimmt. Es wird ferner angenommen, daß die
Geister (der Verstorbenen, wie der Wiedergeborenen) an eigen-
tümliche Steinamulette gebunden sind (Namens Churinga),
welche an jenen Stätten gefunden werden.
Zwei Momente scheinen Frazer zum Glauben bewogen
zu haben, daß man in den Einrichtungen der Arunta die
älteste Form des Totemismus aufgefunden habe. Erstens die
Existenz gewisser Mythen, welche behaupteten, daß die Ahnen
der Arunta sich regelmäßig von ihrem Totem genährt und
keine anderen Frauen als die aus ihrem eigenen Totem gehei-
ratet hätten. Zweitens die anscheinende Zurücksetzung des
Geschlechtsaktes in ihrer Konzeptionstheorie. Menschen, die
noch nicht erkannt hatten, daß die Empfängnis die Folge des
Geschlechtsverkehrs sei, durfte man wohl als die zurückgeblie-
bensten und primitivsten unter den heute lebenden ansehen.
Indem Frazer sich für die Beurteilung des Totemismus
an die Intichiumazeremonie hielt, erschien ihm das tote-
mistische System auf einmal in gänzlich verändertem Lichte
154 IV. DIE INFANTILE WIEDERKEHR DES TOTEMISMUS.
als eine durchwegs praktische Organisation zur Bestreitung
der natürlichsten Bedürfnisse des Menschen (vgl. oben Had-
don!). Das System war einfach ein großartiges Stück von
„cooperative magic“. Die Primitiven bildeten sozusagen einen
magischen Produktions- und Konsumverein. Jeder Totemelan
hatte die Aufgabe übernommen, für die Reichlichkeit eines
gewissen Nahrungsmittels zu sorgen. Wenn es sich um nicht
eßbare Totem handelte, wie um schädliche Tiere, um Regen,
‘Wind u. dgl., so war die Pflicht des Totemelan, dieses Stück
Natur zu beherrschen und dessen Schädlichkeit abzuwehren.
Die Leistungen eines jeden Clan kamen allen anderen zu gute.
Da der Clan von seinem Totem nichts oder nur sehr wenig
essen durfte, so beschaffte er dieses wertvolle Gut für die
anderen und wurde dafür von ihnen mit dem versorgt, was
sie selbst als ihre soziale Totempflicht zu besorgen hatten.
Im Lichte dieser durch die Intichiumazeremonie vermit-
telten Auffassung wollte es Frazer scheinen, als wäre man
(durch das Verbot, von seinem Totem zu essen, verblendet wor-
‚den, die wichtigere Seite des Verhältnisses zu vernachlässigen,
nämlich das Gebot, möglichst viel von dem eßbaren Totem
für den Bedarf der anderen herbeizuschaffen.
Frazer nahm die Tradition der Arunta an, daß jeder
Totemelan sich ursprünglich ohne Einschränkung von seinem
Totem genährt habe. Dann bereitete es Schwierigkeiten, die
folgende Entwicklung zu verstehen, die sich damit begnügte,
‚den Totem für andere zu sichern, während man selbst auf
1) „There is nothing vague or mystical about it, nothing of that
metaphysikal haze which some writers love to conjure up over the humble
beginnings of human speculation but which is utterly foreign to the
‚simple, sensuous, and concrete modes of the savage“ (Totemism and
Exogamy, I, p. 117).
SOZIOLOGISCHE THEORIEN. — DAS INTICHIUMA, 155
seinen Genuß fast verzichtete. Er nahm dann an, diese Ein-
schränkung sei keineswegs aus einer Art von religiösem Re-
spekt hervorgegangen, sondern vielleicht aus der Beobachtung,
daß kein Tier seinesgleichen zu verzehren pflege, so daß dieser
Abbruch der Identifizierung mit dem T'otem der Macht, die man
über denselben zu erlangen wünschte, Schaden brächte. Oder
aus einem Bestreben, sich das Wesen geneigt zu machen, in-
dem man es selbst verschonte. Frazer verhehlte sich aber
die Schwierigkeiten dieser Erklärung nicht!) und ebensowenig
getraute er sich anzugeben, auf welchem Wege die von den
Mythen der Arunta behauptete Gewohnheit, innerhalb des
Totem zu heiraten, sich zur Exogamie gewandelt habe.
Die auf das Intichiuma gegründete Theorie Frazers
steht und fällt mit der Anerkennung der primitiven Natur
der Aruntainstitutionen. Es scheint aber unmöglich, diese
letztere gegen die von Durkheim?) und Lang?) vorge-
brachten Einwendungen zu halten. Die Arunta scheinen
vielmehr die entwickeltsten der australischen Stämme zu sein,
eher ein Auflösungsstadium als den Beginn des Totemismus
zu repräsentieren. Die Mythen, welche auf Frazer so großen
Eindruck gemacht haben, weil sie im Gegensatz zu den heute
herrschenden Institutionen die Freiheit betonen, vom Totem
zu essen und innerhalb des Totem zu heiraten, würden sich uns
leicht als Wwunschphantasien erklären, welche in die Ver-
gangenheit projiziert sind, ähnlich wie der Mythus vom gol-
denen Zeitalter.
1) 1. c., p. 120.
2) L’ann&e sociologique T. I, V, VIII und an anderen Stellen. Siehe
besonders die Abhandlung Sur le totemisme. T. V, 1901.
3) Social Origins und Secret of the Totem.
156 IV. DIE INFANTILE WIEDERKEHR DES TOTEMISMUS.
y) Die psychologischen Theorien.
Die erste psychologische Theorie Frazers, noch vor seiner
Bekanntschaft mit den Beobachtungen von Spencer und
Gillen geschaffen, ruhte auf dem Glauben an die „äußerliche
Seele“1). Der Totem sollte einen sicheren Zufluchtsort für
die Seele darstellen, an dem sie deponiert wird, um den Ge-
fahren, die sie bedrohen, entzogen zu bleiben. Wenn der Pri-
mitive seine Seele in seinem Totem untergebracht hatte, so
war er selbst unverletzlich und natürlich hütete er sich, den
Träger seiner Seele selbst zu beschädigen. Da er aber nicht
wußte, welches Individuum der Tierart sein Seelenträger war,
lag es ihm nahe, die ganze Art zu verschonen. Frazer hat
diese Ableitung des Totemismus aus dem Seelenglauben später
selbst aufgegeben.
Als er mit den Beobachtungen von Spencer und Gillen
bekannt wurde, stellte er die andere soziologische Theorie des
Totemismus auf, welche eben vorhin mitgeteilt wurde, aber er
fand dann selbst, daß das Motiv, aus dem er den Tootemismus
abgeleitet, allzu „rationell“ sei, und daß er dabei eine soziale
Organisation vorausgesetzt habe, die allzu kompliziert sei, als
daß man sie primitiv heißen dürfe2). Die magischen Kooperativ-
gesellschaften erschienen ihm jetzt eher als späte Früchte denn
als Keime des Totemismus. Er suchte ein einfacheres Moment,
einen primitiven Aberglauben, hinter diesen Bildungen, um aus
ihm die Entstehung des Totemismus abzuleiten. Dieses ur-
1) The Golden Bough II, p. 332.
?) „It is unlikely that a community of savages should deliberately
parcel out the realm of nature into provinces, assign each province to a
particular band of magicians, and bid all the bands to work their magic
and weave their spells for the common good.“ T. and Ex. IV.-prB7.
PSYCHOLOGISCHE THEORIEN — DIE ARUNTA. 157
sprüngliche Moment fand er dann in der merkwürdigen Kon-
zeptionstheorie der Arunta.
Die Arunta heben, wie bereits erwähnt, den Zusammen:
hang der Konzeption mit dem Geschlechtsakt auf. Wenn ein
Weib sich Mutter fühlt, so ist in diesem Augenblick einer der
auf Wiedergeburt lauernden Geister von der nächstliegenden
Geisterstätte in ihren Leib eingedrungen und wird von ihr als
Kind geboren. Dies Kind hat denselben Totem wie alle an der
gewissen Stelle lauernden Geister. . Diese Konzeptionstheorie
kann den Totemismus nicht erklären, denn sie setzt den Totem
voraus. Aber wenn man einen Schritt weiter zurückgehen und
annehmen will, daß das Weib ursprünglich geglaubt, das Tier,
die Pflanze, der Stein, das Objekt, welches ihre Phantasie in
dem Moment beschäftigte, da sie sich zuerst Mutter fühlte, sei
wirklich in sie eingedrungen und werde dann von ihr in mensch-
licher Form geboren, dann wäre die Identität eines Menschen
mit seinem Totem durch den Glauben der Mutter wirklich be-
gründet, und alle weiteren Totemgebote (mit Ausschluß der
Exogamie) ließen sich leicht daraus ableiten. Der Mensch
würde sich weigern, von diesem Tier, dieser Pflanze zu essen,
weil er damit gleichsam sich selbst essen würde. Er würde
sich aber veranlaßt finden, gelegentlich in zeremoniöser Weise
etwas von seinem Totem zu genießen, weil er dadurch seine
Identifizierung mit dem Totem, welche das Wesentliche am
Totemismus ist, verstärken könnte. Beobachtungen von
W.H.R. Rivers an den Eingeborenen der Banksinseln schie-
nen die direkte Identifizierung der Menschen mit ihrem Totem
auf Grund einer solchen Konzeptionstheorie zu erweisen).
Dic letzte Quelle des Totemismus wäre also die Unwissen-
heit der Wilden über den Prozeß, wie Menschen und Tiere ihr
1) T. and Ex, II, p. 89 und IV, p. 59. -
158 IV. DIE INFANTILE WIEDERKEHR DES TOTEMISMUS,
Geschlecht fortpflanzen. Des besonderen die Unkenntnis der
Rolle, welche das Männchen bei der Befruchtung spielt. Diese
Unkenntnis muß erleichtert werden durch das lange Intervall,
welches sich zwischen den befruchtenden Akt und die Geburt
des Kindes (oder das Verspüren der ersten Kindsbewegungen)
einschiebt. Der Totemismus ist daher eine Schöpfung nicht des
männlichen, sondern des weiblichen Geistes. Die Gelüste (sick
fancies) des schwangeren Weibes sind die Wurzel desselben.
„Anything indeed that struck a woman at that mysterious mo-
ment of her life when she first knows herself to be a mother
might easily be identified by her with the child in her womb.
Such maternal fancies, so natural and seemingly so universal,
appear to be the root of totemism!).“
Der Haupteinwand gegen diese dritte Frazersche Theorie
ist derselbe, der bereits gegen die zweite, soziologische, vor-
gebracht wurde. Die Arunta scheinen sich von den An-
fängen des Totemismus weit weg entfernt zu haben. Ihre Ver-
leugnung der Vaterschaft scheint nicht auf primitiver Un-
wissenheit zu beruhen; sie haben selbst in manchen Stücken
väterliche Vererbung. Sie scheinen die Vaterschaft einer Art
von Spekulation geopfert zu haben, welche die Ahnengeister zu
Ehren bringen will?). Wenn sie den Mythus der unbefleckten
Empfängnis durch den Geist zur allgemeinen Konzeptionstheorie
erheben, darf man ihnen darum Unwissenheit über die Bedin-
gungen der Fortpflanzung ebensowenig zumuten, wie den alten
Völkern um die Zeit der Entstehung der christlichen Mythen.
Eine andere psychologische Theorie der Herkunft des
Totemismus hat der Holländer G. A. Wilcken aufgestellt.
171.0, IV, p. 63.
2) „That belief is a philosophy far from primitive.“ A. Lang,
Secret of the Totem, p. 192,
PSYCHOLOGISCHE THEORIEN. 159
Sie stellt eine Verknüpfung des Totemismus mit der Seelen-
wanderung her. „Dasjenige Tier, in welches die Seelen der
Toten nach allgemeinem Glauben übergingen, wurde zum Bluts-
verwandten, Ahnherrn und als solcher verehrt.“ Aber der
Glauben an die Tierwanderung der Seelen mag eher aus dem
Totemismus abgeleitet sein als umgekehrt).
Eine andere Theorie des Totemismus wird von ausgezeich-
neten amerikanischen Ethnologen, Fr. Boas, Hill-Tout u.a.,
vertreten. Sie geht von den Beobachtungen an totemistischen
Indianerstämmen aus und behauptet, der Totem sei ursprüng-
lich der Schutzgeist eines Ahnen, den dieser durch einen Traum
erworben und auf seine Nachkommenschaft vererbt habe. Wir
haben schon früher gehört, welche Schwierigkeiten die Ab-
leitung des Totemismus aus der Vererbung von einem einzelnen
her bietet; überdies sollen die australischen Beobachtungen
die Zurückführung des Totem auf den Schutzgeist keineswegs
unterstützen 2).
Für die letzte der psychologischen Theorien, die von
Wundt ausgesprochene, sind die beiden Tatsachen entschei-
dend geworden, daß erstens das ursprüngliche Totemobjekt und
das dauernd verbreitetste das Tier ist, und daß zweitens unter
den Totemtieren wieder die ursprünglichsten mit Seelentieren
zusammenfallen®). Seelentiere, wie Vögel, Schlange, Eidechse,
Maus eignen sich durch ihre schnelle Beweglichkeit, ihren Flug
in der Luft, durch andere Überraschung und Grauen erregende
Eigenschaften dazu, als die Träger der den Körper verlas-
senden Seele erkannt zu werden. Das Totemtier ist ein Ab-
kömmling der Tierverwandlungen der Hauchseele. So mündet
3) Frazer, T. and Ex. IV, p. 45 u. ff.
2) Frazer, l.c, p: 48.
3) Wundt, Elemente der Völkerpsychologie, p. 19%.
160 IV. DIE INFANTILE WIEDERKEHR DES TOTEMISMUS.
hier für Wundt der Totemismus unmittelbar in den Seelen-
glauben oder Animismus ein.
b) und ec) Die Herkunft der Exogamie und ihre Be-
ziehung zum Totemismus.
Ich habe die Theorien des Totemismus mit einiger Aus-
führlichkeit vorgebracht und muß dennoch befürchten, daß
ich deren Eindruck durch die immerhin notwendige Verkürzung
geschadet habe. In betreff der weiteren Fragen nehme ich
mir im Interesse der Leser die Freiheit einer noch weitergehen-
den Zusammendrängung. Die Diskussionen über die Exogamie
der Totemvölker werden durch die Natur des dabei verwer-
teten Materials besonders kompliziert und unübersehbar; man
könnte sagen: verworren. Die Ziele dieser Abhandlung ge-
statten es auch, daß ich mich hier auf Hervorhebung einiger
Richtlinien beschränke und für eine gründlichere Verfolgung
des Gegenstandes auf die mehrmals zitierten eingehenden Fach-
schriften verweise.
Die Stellung eines Autors zu den Problemen der Exogamie
ist natürlich nicht unabhängig von seiner Parteinahme für
diese oder jene Totemtheorie. Einige von diesen Erklärungen
des Totemismus lassen jede Anknüpfung an die Exogamie ver-
missen, so daß die beiden Institutionen glatt auseinanderfallen.
So stehen hier zwei Anschauungen einander gegenüber, die eine,
welche den ursprünglichen Anschein festhalten will, die Exo-
gamie sei ein wesentliches Stück des totemistischen Systems,
und eine andere, welche einen solchen Zusammenhang bestreitet
und an ein zufälliges Zusammentreffen der beiden Züge älte-
ster Kulturen glaubt. Frazer hat in seinen späteren Arbeiten
diesen letzteren Standpunkt mit Entschiedenheit vertreten.
„I must request the reader to bear constantly in mind that
DIE BEZIEHUNG DER EXOGAMIE ZUM TOTEMISMUS. 161
the two institutions of totemism and exogamy are fundamen-
tally distincet in origin and nature though they have acciden-
tally crossed and blended in many tribes.“ (T. and Ex., I, Vor-
rede XII.)
Er warnt direkt vor der gegenteiligen Ansicht als einer
Quelle unendlicher Schwierigkeiten und Mißverständnisse. Im
Gegensatz hiezu haben andere Autoren den Weg gefunden, die
Exogamie als notwendige Folge der totemistischen Grundan-
schauungen zu begreifen. Durkheim hat in seinen Arbeiten !)
ausgeführt, wie das an den Totem geknüpfte Tabu das Verbot
mit sich bringen mußte, ein Weib des nämlichen Totem zum
geschlechtlichen Verkehr zu gebrauchen. Der Totem ist von
demselben Blut wie der Mensch, und darum verbietet der Blut-
bann (mit Rücksicht auf Defloration und Menstruation) den
sexuellen Verkehr mit dem Weibe, das demselben Totem an-
gehört?). A. Lang, der sich hierin Durkheim anschließt,
meint sogar, es bedürfte nicht des Bluttabu, um das Verbot
der Frauen des gleichen Stammes zu bewirken®). Das allge-
meine Totemtabu, welches z. B. verbietet, im Schatten des
Totembaumes zu sitzen, würde hiefür hingereicht haben.
A. Lang verficht übrigens auch eine andere Ableitung der
Exogamie (s. u.) und läßt es zweifelhaft, wie sich diese beiden
Erklärungen zueinander verhalten.
In betreff der zeitlichen Verhältnisse huldigt die Mehr-
zahl der Autoren der Ansicht, der Totemismus sei die ältere
Institution, die Exogamie später hinzugekommen ®).
1) L’annee sociologique 1898—1904.
2) Siehe die Kritik der Erörterungen Durkheims bei Frazer.
7, and.Ex;, IV, p. 101,
3) Secret etc., p. 125.
4) Z2.B. Frazer, l.c. IV, p. 75: „The totemic clan is a totally
different social organism from the exogamous class, and we have good
grounds for thinking that it is far older.“
Freud, Totem und Tabu. 14
162 IV. DIE INFANTILE WIEDERKEHR DES TOTEMISMUS.
Unter den Theorien, welche die Exogamie unabhängig vom
Totemismus erklären wollen, seien nur einige hervorgehoben,
welche die verschiedenen Einstellungen der Autoren zum
Inzestproblem erläutern.
Mac Lennant) hatte die Exogamie in geistreicher Weise
aus den Überresten von Sitten erraten, welche auf den ehe-
maligen Frauenraub hindeuteten. Er nahm nun an, daß es in
Urzeiten allgemein gebräuchlich gewesen sei, sich das Weib
aus einem fremden Stamm zu holen, und die Heirat mit einem
Weib aus dem eigenen Stamm sei allmählich unerlaubt gewor-
den, weil sie ungewöhnlich war?). Das Motiv für diese Ge-
wohnheit der Exogamie suchte er in einem Frauenmangel jener
primitiven Stämme, der sich aus dem Gebrauch, die meisten
weiblichen Kinder bei der Geburt zu töten, ergeben hatte. ‚Wir
haben es hier nicht mit der Nachprüfung zu tun, ob die tat-
sächlichen Verhältnisse die Annahmen Mac Lennans be-
stätigen. Weit mehr interessiert uns das Argument, daß es
unter den Voraussetzungen des Autors doch unerklärlich bliebe,
warum sich die- männlichen Mitglieder des Stammes auch die
wenigen Frauen aus ihrem Blut unzugänglich machen sollten,
und die Art, wie hier das Inzestproblem gänzlich beiseite ge-
lassen wird °?).
Im Gegensatz hiezu und offenbar mit mehr Recht haben
andere Forscher die Exogamie als eine Institution zur Ver-
hütung des Inzests erfaßt?®).
Überblickt man die allmählich wachsende Komplikation
der australischen Heiratsbeschränkungen, so kann man nicht
1) Primitive marriage 1865.
2) „Improper because it was unusual.“
$) Frazer, l. c. IV; p. 73 bis 92,
#) Vgl. die erste Abhandlung,
DIE HERKUNFT DER EXOGAMIE. 163
anders als der Ansicht von Morgan, Frazer, Howitt,
Baldwin Spencer!) beistimmen, daß diese Einrichtungen
das Gepräge zielbewußter Absicht („deliberate design“ nach
Frazer) an sich tragen, und daß sie das erreichen sollten,
was sie tatsächlich geleistet haben. „In no other way does it
seem possible to explain in all its details a system at once so
complex and so regular ?).“
Es ist interessant hervorzuheben, daß die ersten der durch
die Einführung von Heiratsklassen erzeugten Beschränkungen
die Sexualfreiheit der jüngeren Generation, also den Inzest von
Geschwistern und von Söhnen mit ihrer Mutter trafen, während
der Inzest zwischen Vater und Tochter erst durch weitergehende
Maßregeln aufgehoben wurde.
Die Zurückführung der exogamischen Sexualbeschränkun-
gen auf gesetzgeberische Absicht leistet aber nichts für das Ver-
ständnis des Motivs, welches diese Institutionen geschaffen hat.
Woher stammt in letzter Auflösung die Inzestscheu, welche
als die Wurzel der Exogamie erkannt werden muß? Es ist
offenbar nicht genügend, sich zur Erklärung der Inzestscheu
auf eine instinktive Abneigung gegen sexuellen Verkehr unter
Blutsverwandten, d.h. also auf die Tatsache der Inzestscheu
zu berufen, wenn die soziale Erfahrung nachweist, daß der
Inzest diesem Instinkt zum Trotz kein seltenes Vorkommnis
selbst in unserer heutigen Gesellschaft ist, und wenn die histo-
rische Erfahrung Fälle kennen lehrt, in denen die inzestuöse
Ehe bevorzugten Personen zur Vorschrift gemacht wurde.
Westermarck?°) machte zur Erklärung der Inzestscheu
1) Morgan, Ancient Society 1877. — Frazer, T. and Ex. IV,
p- 105 ff.
2), FrazerJ]; 0,.P: 106.
3) Ursprung und Entwicklung der Moralbegriffe. II. Die Ehe. 1909,
Dort auch die Verteidigung des Autors gegen ihm bekannt gewordene Ein-
wendungen. 11*
164 Iv. DIE INFANTILE WIEDERKEHR DES TOTEMISMUS.
geltend, „daß zwischen Personen, die von Kindheit an bei-
sammen leben, eine angeborene Abneigung gegen den Ge-
schlechtsverkehr herrscht, und daß dieses Gefühl, da diese Per-
sonen in der Regel blutsverwandt sind, in Sitte und Gesetz
einen natürlichen Ausdruck findet durch den Abscheu vor dem
Geschlechtsumgang unter nahen Verwandten“. Havelock
Ellis bestritt zwar den triebhaften Charakter dieser Ab-
neigung in seinen „Studies in the psychology of sex“, trat aber
sonst im wesentlichen derselben Erklärung bei, indem er
äußerte: „das normale Unterbleiben des Zutagetretens des
Paarungstriebes dort, wo es sich um Brüder und Schwestern
oder um von Kindheit auf beisammenlebende Mädchen und
Knaben handelt, ist eine rein negative Erscheinung, welche
daher kommt, daß unter jenen Umständen die den Paarungs-
trieb erweckenden Vorbedingungen durchaus fehlen müssen ...
Zwischen Personen, die von Kindheit zusammen aufgewachsen
sind, hat die Gewöhnung alle sinnlichen Reize des Sehens, des
Hörens und der Berührung abgestumpft, in die Bahn einer
ruhigen Zuneigung gelenkt und ihrer Macht beraubt, die zur
Erzeugung geschlechtlicher Tumeszenz erforderliche nötige
erethistische Erregung hervorzurufen“.
Es erscheint mir sehr merkwürdig, daß Westermarck
diese angeborene Abneigung gegen den Geschlechtsverkehr mit
Personen, mit denen man die Kindheit geteilt hat, gleichzeitig
als psychische Repräsentanz der biologischen Tatsache ansieht,
daß Inzucht eine Schädigung der Gattung bedeutet. Ein der-
artiger biologischer Instinkt würde in seiner psychologischen
Äußerung kaum so weit irregehen, daß er anstatt der für die
Fortpflanzung schädlichen Blutsverwandten die in dieser Hin-
sicht ganz harmlosen Haus- und Herdgenossen träfe. Ich kann
es mir aber auch nicht versagen, die ganz ausgezeichnete Kritik
ABLEITUNGEN DER INZESTSCHEU. 165
mitzuteilen, welche Frazer der Behauptung von Wester-
marck entgegenstellt.e. Frazer findet es unbegreiflich, daß
das sexuelle Empfinden sich heute so gar nicht gegen den Ver-
kehr mit Herdgenossen sträubt, während die Inzestscheu, die
nur ein Abkömmling von diesem Sträuben sein soll, gegenwärtig
so übermächtig angewachsen ist. Tiefer dringen aber andere
Bemerkungen Frazers, die ich unverkürzt hieher setze, weil
sie im Wesen mit den in meinem Aufsatz über das Tabu ent-
wickelten Argumenten zusammentreffen.
„Es ist nicht leicht einzusehen, warum ein tief wurzeln-
der menschlicher Instinkt die Verstärkung durch ein Gesetz
benötigen sollte. Es gibt kein Gesetz, welches den Menschen
befiehlt zu essen und zu trinken, oder ihnen verbietet, ihre
Hände ins Feuer zu stecken. Die Menschen essen und trinken
und halten ihre Hände vom Feuer weg, instinktgemäß, aus
Angst vor natürlichen und nicht vor gesetzlichen Strafen,
die sie sich durch Beleidigung dieser Triebe zuziehen würden.
Das Gesetz verbietet dem Menschen nur, was sie unter dem
Drängen ihrer Triebe ausführen könnten. Was die Natur selbst
verbietet und bestraft, das braucht nicht erst das Gesetz zu
verbieten und zu strafen. Wir dürfen daher auch ruhig an-
nehmen, daß Verbrechen, die durch ein Gesetz verboten wer-
den, Verbrechen sind, die viele Menschen aus natürlichen Nei-
gungen gern begehen würden. Wenn es keine solche Neigung
gäbe, kämen keine solchen Verbrechen vor, und wenn solche
Verbrechen nicht begangen würden, wozu brauchte man sie
zu verbieten? Anstatt also aus dem gesetzlichen Verbot des
Inzests zu schließen, daß eine natürliche Abneigung gegen den
Inzest besteht, sollten wir eher den Schluß ziehen, daß ein
natürlicher Instinkt zum Inzest treibt, und daß, wenn das
Gesetz diesen Trieb wie andere natürliche Triebe unterdrückt,
166 IV. DIE INFANTILE WIEDERKEHR DES TOTEMISMUS.
dies seinen Grund in der Einsicht zivilisierter Menschen hat,
daß die Befriedigung dieser natürlichen Triebe der Gesell-
schaft Schaden bringt !).“
Ich kann dieser kostbaren Argumentation Frazers noch
hinzufügen, daß die Erfahrungen der Psychoanalyse die An-
nahme einer angeborenen Abneigung gegen den Inzestverkehr
vollends unmöglich machen. Sie haben im Gegenteile gelehrt,
daß die ersten sexuellen Regungen des jugendlichen Menschen
regelmäßig inzestuöser Natur sind, und daß solche verdrängte
Regungen als Triebkräfte der späteren Neurosen eine kaum zu
überschätzende Rolle spielen.
Die Auffassunng der Inzestscheu als eines angeborenen
Instinktes muß also fallen gelassen werden. Nicht besser steht
es um eine andere Ableitung des Inzestverbots, welche sich
zahlreicher Anhänger erfreut, um die Annahme, daß die pri-
mitiven Völker frühzeitig bemerkt haben, mit welchen Ge-
fahren die Inzucht ihr Geschlecht bedrohe, und daß sie darum
in bewußter Absicht das Inzestverbot erlassen hätten. Die
Einwendungen gegen diesen Erklärungsversuch drängen ein-
ander?). Nicht nur, daß das Inzestverbot älter sein muß als
alle Haustierwirtschaft, an welcher der Mensch Erfahrungen
über die Wirkung der Inzucht auf die Eigenschaften der Rasse
machen konnte, sondern die schädlichen Folgen der Inzucht
sind auch heute noch nicht über jeden Zweifel sichergestellt
und beim Menschen nur schwer nachweisbar. Ferner macht
alles, was wir über die heutigen Wilden wissen, es sehr un-
wahrscheinlich, daß die Gedanken ihrer entferntesten Ahnen
75.0, P St.
2) Vgl. Durkheim, La prohibition de I’Inceste, L’annse socio-
logique, I, 1896/97.
INZESTSCHEU UND INZUCHT. 167
bereits mit der Verhütung von Schäden für ihre spätere Nach-
kommenschaft beschäftigt waren. Es klingt fast lächerlich,
wenn man diesen ohne jeden Vorbedacht lebenden Menschen-
kindern hygienische und eugenische Motive zumuten will, wie
sie noch kaum in unserer heutigen Kultur Berücksichtigung
gefunden haben).
Endlich wird man auch geltend machen müssen, daß das
aus praktisch hygienischen Motiven gegebene Verbot der In-
zucht als eines die Rasse schwächenden Moments ganz un-
angemessen erscheint, um den tiefen Abscheu zu erklären,
welcher sich in unserer Gesellschaft gegen den Inzest erhebt.
Wie ich an anderer Stelle dargetan habe?), erscheint diese
Inzestscheu bei den heute lebenden primitiven Völkern eher
noch reger und stärker als bei den zivilisierten.
Während man erwarten konnte, auch für die Ableitung
der Inzestscheu die Wahl zu haben zwischen soziologischen,
biologischen und psychologischen Erklärungsmöglichkeiten, wo-
bei noch die psychologischen Motive vielleicht als Repräsen-
tanz von biologischen Mächten zu würdigen wären, sieht man
sich am Ende der Untersuchung genötigt, dem resignierten
Ausspruch Frazers beizutreten: Wir kennen die Herkunft
der Inzestscheu nicht und wissen selbst nicht, worauf wir
raten sollen. Keine der bisher vorgebrachten Lösungen des
Rätsels erscheint uns befriedigend °).
1) Ch. Darwin meint von den Wilden: „they are not likely to
reflect on distant evils to their progeny.“
2) Vgl. die erste Abhandlung.
3) „Thus the ultimate origin of exogamy and with it the law of
incest — since exogamy was devised to prevent incest — remains a pro-
blem nearly as dark as ever.“ T. and Ex. I, p. 166.
168 IV. DIE INFANTILE WIEDERKEHR DES TOTEMISMUS
Ich muß noch eines Versuches erwähnen, die Entstehung
der Inzestscheu zu erklären, welcher von ganz anderer Art
ist als die bisher betrachteten. Man könnte ihn als eine histo-
rische Ableitung bezeichnen.
Dieser Versuch knüpft an eine Hypothese von Ch. Dar-
win über den sozialen Urzustand des Menschen an. Darwin
schloß aus den Lebensgewohnheiten der höheren Affen, daß
auch der Mensch ursprünglich in kleinen Horden gelebt habe,
innerhalb welcher die Eifersucht des ältesten und stärksten
Männchens die sexuelle Promiskuität verhinderte. „Wir kön-
nen in der Tat, nach dem was wir von der Eifersucht aller
Säugetiere wissen, von denen viele mit speziellen Waffen zum
Kämpfen mit ihren Nebenbuhlern bewaffnet sind, schließen,
daß allgemeine Vermischung der Geschlechter im Naturzustand
äußerst unwahrscheinlich ist... Wenn wir daher im Strome
der Zeit weit genug zurückblicken und nach den sozialen Ge-
wohnheiten des Menschen, wie er jetzt existiert, schließen, ist
die wahrscheinlichste Ansicht die, daß der Mensch ursprüng-
lich in kleinen Gesellschaften lebte, jeder Mann mit einer Frau
oder, hatte er die Macht, mit mehreren, welche er eifersüchtig
gegen alle anderen Männer verteidigte. Oder er mag kein
soziales Tier gewesen sein und doch mit mehreren Frauen für
sich allein gelebt haben wie der Gorilla; denn alle Eingebo-
renen stimmen darin überein, daß nur ein erwachsenes Männ-
chen in einer Gruppe zu sehen ist. Wächst das junge Männ-
chen heran, so findet ein Kampf um die Herrschaft statt und
der Stärkste setzt sich dann, indem er die anderen getötet oder
vertrieben hat, als Oberhaupt der Gesellschaft fest (Dr. Sa-
vage in Boston. Journal of Natur. Hist. V., 1845—1847).
Die jüngeren Männchen, welche hiedurch ausgestoßen sind und
nun herumwandern, werden auch, wenn sie zuletzt beim Fin-
DIE DARWINSCHE URHORDE. — ATKINSON. 169
den einer Gattin erfolgreich sind, die zu enge Inzucht inner-
halb der Glieder einer und derselben Familie verhüten!).“
Atkinson?) scheint zuerst erkannt zu haben, daß diese
Verhältnisse der Darwinschen Urhorde die Exogamie der
jungen Männer praktisch durchsetzen mußten. Jeder dieser
Vertriebenen konnte eine ähnliche Horde gründen, in welcher
dasselbe Verbot des Geschlechtsverkehrs dank der Eifersucht
des Oberhauptes galt, und im Laufe der Zeit würde sich aus
diesen Zuständen die jetzt als Gesetz bewußte Regel ergeben
haben: Kein Sexualverkehr mit den Herdgenossen. Nach Ein-
setzung des Totemismus hätte sich die Regel in die andere
Form gewandelt: Kein Sexualverkehr innerhalb des Totem.
A. Lang?) hat sich dieser Erklärung der Exogamie an-
geschlossen. Er vertritt aber in demselben Buche die andere
(Durkheimsche) Theorie, welche die Exogamie als Kon-
sequenz aus den Totemgesetzen hervorgehen läßt. Es ist nicht
ganz einfach, die beiden Auffassungen miteinander zu ver-
einigen; im ersten Falle hätte die Exogamie vor dem Totemis-
mus bestanden, im zweiten wäre sie eine Folge desselben ®).
1) Abstammung des Menschen, übersetzt von V. Carus, II. Bd,
Kap. 20, p. 341.
2) Primal Law, London 1903 (mit A. Lang, Social Origins).
3) Secret of the Totem, p. 114, 143.
4) „If it be granted that exogamy existed in practice, on the lines
of Mr. Darwins theory, before the totem beliefs lent to the practice a
sacred sanction, our task is relatively easy. The first practical rule
would be that of the jealous Sire „No males to touch the females in my
camp“, with expulsion of adolescent sons. In efflux of time that
rule, become habitual, would be, „No marriage within the local
group“. Next let the local groups receive names, such as Emus, Crows,
Opossums, Snipes, and the rule becomes, „No Marriage within the local
group of animal name; no Snipe to marry a Snipe“. But, if the primal
220 Iv. DIE INFANTILE WIEDERKEHR DES TOTEMISMUS.
Einen einzigen Lichtstrahl wirft die psychoanalytische
Erfahrung in dieses Dunkel.
Das Verhältnis des Kindes zum Tiere hat viel Ähnlich-
keit mit dem des Primitiven zum Tiere. Das Kind zeigt noch
keine Spur von jenem Hochmut, welcher dann den erwachsenen
Kulturmenschen bewegt, seine eigene Natur durch eine scharfe
Grenzlinie von allem anderen Animalischen abzusetzen. Es
gesteht dem Tiere ohne Bedenken die volle Ebenbürtigkeit zu;
im ungehemmten Bekennen zu seinen Bedürfnissen fühlt es
sich wohl dem Tiere verwandter als dem ihm wahrscheinlich
rätselhaften Erwachsenen.
In diesem ausgezeichneten Einverständnis zwischen Kind
und Tier tritt nicht selten eine merkwürdige Störung auf.
Das Kind beginnt plötzlich eine bestimmte Tierart zu fürchten
und sich vor der Berührung oder dem Anblick aller einzelnen
dieser Art zu schützen. Es stellt sich das klinische Bild einer
Tierphobie her, eine der häufigsten unter den psycho-
neurotischen Erkrankungen dieses Alters und vielleicht die
früheste Form solcher Erkrankung. Die Phobie betrifft in
der Regel Tiere, für welche das Kind bis dahin ein besonders
lebhaftes Interesse gezeigt hatte, sie hat mit dem Einzeltier
nichts zu tun. Die Auswahl unter den Tieren, welche Objekte
der Phobie werden können, ist unter städtischen Bedingungen
groups were not exogamous, they would become so, as soon as totemie
myths and tabus were developed out of the animal, vegetable, and other
names of small local groups.“ Secret of the Totem p. 143. (Die Hervor-
hebung in der Mitte dieser Stelle ist mein Werk.) — In seiner letzten
Äußerung über den Gegenstand (Folklore, Dezember 1911) teilt A. Lang
übrigens mit, daß er die Ableitung der Exogamie aus dem „general
totemic“ Tabu aufgegeben habe.
DIE TIERPHOBIEN DER KINDER. 171
nicht groß. Es sind Pferde, Hunde, Katzen, seltener Vögel,
auffällig häufig kleinste Tiere wie Käfer und Schmetterlinge.
Manchmal werden Tiere, die dem Kind nur aus Bilderbuch und
Märchenerzählung bekannt worden sind, Objekte der unsinni-
gen und unmäßigen Angst, welche sich bei diesen Phobien
zeigt; selten gelingt es einmal die Wege zu erfahren, auf
denen sich eine ungewöhnliche Wahl des Angsttieres vollzogen
hat. So verdanke ich K. Abraham die. Mitteilung eines
Falles, in welchem ein Kind seine Angst vor Wespen selbst
durch die Angabe aufklärte, die Farbe und Streifung des
‚Wespenleibes hätte es an den Tiger denken lassen, vor dem es
sich nach allem Gehörten fürchten durfte.
Die Tierphobien der Kinder sind noch nicht Gegenstand
aufmerksamer analytischer Untersuchung geworden, obwohl sie
es im hohen Grade verdienen. Die Schwierigkeiten der Analyse
mit Kindern in so zartem Alter sind wohl das Motiv der
Unterlassung gewesen. Man kann daher nicht behaupten, daß
man den allgemeinen Sinn dieser Erkrankungen kennt, und
ich meine selbst, daß er sich nicht als einheitlich herausstellen
dürfte. Aber einige Fälle von solchen auf größere Tiere ge-
richteten Phobien haben sich der Analyse zugänglich erwiesen
und so dem Untersucher ihr Geheimnis verraten. Es war in
jedem Falle das nämliche: die Angst galt im Grunde dem
Vater, wenn die untersuchten Kinder Knaben waren, und war
nur auf das Tier verschoben worden.
Jeder in der Psychoanalyse Erfahrene hat gewiß solche
Fälle gesehen und von ihnen den nämlichen Eindruck emp-
fangen. Doch kann ich mich nur auf wenige ausführliche
Publikationen darüber berufen. Es ist dies ein Zufall der Lite-
ratur, aus welchem nicht geschlossen werden sollte, daß wir
unsere Behauptung überhaupt nur auf vereinzelt Beobachtun-
172 Iv. DIE INFANTILE WIEDERKEHR DES TOTEMISMUS.
gen stützen können. Ich erwähne z. B. einen Autor, welcher
sich verständnisvoll mit den Neurosen des Kindesalters be-
schäftigt hat, M. Wulff (Odessa). Er erzählt im Zusammen-
hange der Krankengeschichte eines neunjährigen Knaben, daß
dieser mit vier Jahren an einer Hundephobie gelitten hat.
„Als er auf der Straße einen Hund vorbeilaufen sah, weinte
er und schrie: ‚Lieber Hund, fasse mich nicht, ich will artig
sein.‘ Unter ‚artig sein‘ meinte er: ‚nicht mehr Geige spielen‘
(onanieren)t).“
Derselbe Autor resumiert später: „Seine Hundephobie ist
eigentlich die auf die Hunde verschobene Angst vor dem Vater,
denn seine sonderbare Äußerung: ‚Hund, ich will artig sein‘
— d. h. nicht masturbieren — bezieht sich doch eigentlich
auf den Vater, der die Masturbation verboten hat.“ In einer
Anmerkung setzt er dann hinzu, was sich eben so völlig mit
meiner Erfahrung deckt und gleichzeitig die Reichlichkeit
solcher Erfahrungen bezeugt: „Solche Phobien (Pferdephobien,
Hundephobien, Katzen, Hühner und andere Haustiere) sind,
glaube ich, im Kindesalter mindestens ebenso verbreitet wie
der Pavor nocturnus und lassen sich in der Analyse fast immer
als eine Verschiebung der Angst von einem der Eltern auf
die Tiere entpuppen. Ob die so verbreitete Mäuse- und Ratten-
phobie denselben Mechanismus hat, möchte ich nicht be-
haupten.“
Im ersten Band des Jahrbuches für psychoanalytische und
psychopathologische Forschungen teilte ich die „Analyse
der Phobie eines fünfjährigen Knaben“ mit, welche
mir der Vater des kleinen Patienten zur Verfügung gestellt
1) M. Wulff, Beiträge zur infantilen Sexualität. Zentralblatt für
Psychoanalyse, 1912, II, Nr. 1, p. 15 £f.
AUFKLÄRUNG DER INFANTILEN TIERPHOBIEN. 173
hatte. Es war eine Angst vor Pferden, in deren Konsequenz
der Knabe sich weigerte, auf die Straße zu gehen. Er äußerte
die Befürchtung, das Pferd werde ins Zimmer kommen, werde
ihn beißen. Es erwies sich, daß dies die Strafe für seinen
Wunsch sein sollte, daß das Pferd umfallen (sterben) möge.
Nachdem man den Knaben durch Zusicherungen die Angst
vor dem Vater benommen hatte, ergab es sich, daß er gegen
Wünsche ankämpfte, die das Wegsein (Abreisen, Sterben) des
Vaters zum Inhalt hatten. Er empfand den Vater, wie er
überdeutlich zu erkennen gab, als Konkurrenten in der Gunst
der Mutter, auf welche seine keimenden Sexualwünsche in
dunkeln Ahnungen gerichtet waren. Er befand sich also in
jener typischen Einstellung des männlichen Kindes zu den
Eltern, welche wir als den „Ödipuskomplex“ bezeichnen, und
in der wir den Kernkomplex der Neurosen überhaupt erkennen.
Was wir neu aus der Analyse des „kleinen Hans“ erfahren,
ist die für den Totemismus wertvolle Tatsache, daß das Kind
unter solchen Bedingungen einen Anteil seiner Gefühle von
dem Vater weg auf ein Tier verschiebt.
Die Analyse weist die inhaltlich bedeutsamen wie die zu-
fälligen Assoziationswege nach, auf welchen eine solche Ver-
schiebung vor sicht geht. Sie läßt auch die Motive derselben
erraten. Der aus der Nebenbuhlerschaft bei der Mutter her-
vorgehende Haß kann sich im Seelenleben des Knaben nicht
ungehemmt ausbreiten, er hat mit der seit jeher bestehenden
Zärtlichkeit und Bewunderung für dieselbe Person zu kämpfen,
das Kind befindet sich in doppelsinniger — ambivalenter
— Gefühlseinstellung gegen den Vater und schafft sich Er-
leichterung in diesem Ambivalenzkonflikt, wenn es seine feind-
seligen und ängstlichen Gefühle auf ein Vatersurrogat ver-
schiebt. Die Verschiebung kann den Konflikt allerdings nicht
174 IV. DIE INFANTILE WIEDERKEHR DES TOTEMISMUS.
in der Weise erledigen, daß sie eine glatte Scheidung der
zärtlichen von den feindseligen Gefühlen herstellt. Der Kon-
flikt setzt sich vielmehr auf das Verschiebungsobjekt fort, die
Ambivalenz greift auf dieses letztere über. Es ist unverkenn-
bar, daß der kleine Hans den Pferden nicht nur Angst, sondern
auch Respekt und Interesse entgegenbringt. Sowie sich seine
Angst ermäßigt hat, identifiziert er sich selbst mit dem ge-
fürchteten Tier, springt als Pferd herum und beißt nun seiner-
seits den Vater!). In einem anderen Auflösungsstadium der
Phobie macht es ihm nichts, die Eltern mit anderen großen
Tieren zu identifizieren ?).
Man darf den Eindruck aussprechen, daß in diesen Tier-
phobien der Kinder gewisse Züge des Totemismus in negativer
Ausprägung wiederkehren. Wir verdanken aber S. Ferencezi
die vereinzelt schöne Beobachtung eines Falles, den man nur
als positiven Totemismus bei einem Kinde bezeichnen kann?).
Bei dem kleinen Arpäd, von dem Ferenczi berichtet, er-
wachen die totemistischen Interessen allerdings nicht direkt
im Zusammenhang des Ödipuskomplexes, sondern auf Grund
der narzißtischen Voraussetzung desselben, der Kastrations-
angst. Wer aber die Geschichte des kleinen Hans aufmerksam,
-durchsieht, wird auch in dieser die reichlichsten Zeugnisse
dafür finden, daß der Vater als der Besitzer des großen Geni-
tales bewundert und als der Bedroher des eigenen Genitales
gefürchtet wird. Im Ödipus- wie im Kastrationskomplex spielt
der Vater die nämliche Rolle, die des gefürchteten Gegners
TR 6;-D. 8%
2) Die Giraffenphantasie, p. 24.
?) 8. Ferenczi, Ein kleiner Hahnemann. Intern. Zeitschrift für
ärztliche Psychoanalyse, 1913, I, Nr. 3,
EIN FALL VON TOTEMISMUS BEI EINEM KINDE. 175
der infantilen Sexualinteressen. Die Kastration und ihr Ersatz
durch die Blendung ist die von ihm drohende Strafet).
Als der kleine Arpäd zweieinhalb Jahre alt war, versuchte
er einmal in einem Sommeraufenthalte ins Geflügelhaus zu
urinieren, wobei ihn ein Huhn ins Glied biß oder nach seinem
Glied schnappte. Als er ein Jahr später an denselben Ort
zurückkehrte, wurde er selbst zum Huhn, er interessierte sich
nur mehr für das Geflügelhaus und alles, was darin vorging,
und gab seine menschliche Sprache gegen Gackern und Krähen
auf. Zur Zeit der Beobachtung (fünf Jahre) sprach er wieder,
aber beschäftigte sich auch in der Rede ausschließlich nur
mit Hühnern und anderem Geflügel. Er spielte mit keinem
anderen Spielzeug, sang nur Lieder, in denen etwas vom Feder-
vieh vorkam. Sein Benehmen gegen sein Totemtier war ex-
quisit ambivalent, übermäßiges Hassen und Lieben. Am lieb-
sten spielte er Hühnerschlachten. „Das Schlachten des Feder-
viehs ist ihm überhaupt ein Fest. Er ist im stande, stunden-
lang um die Tierleichen erregt herumzutanzen.“ Aber dann
küßte und streichelte er das geschlachtete Tier, reinigte und
liebkoste die von ihm selbst mißhandelten Ebenbilder von
Hühnern.
Der kleine Arpäd sorgte selbst dafür, daß der Sinn seines
' sonderbaren Treibens nicht verborgen bleiben konnte. Er über-
setzte gelegentlich seine Wünsche aus der totemistischen Aus-
drucksweise zurück in die des Alltagslebens.. ‚Mein Vater
ist der Hahn,“ sagte er einmal. ‚Jetzt bin ich klein, jetzt
bin ich ein Küchlein. Wenn ich größer werde, bin ich ein
1) Über den Ersatz der Kastration durch die auch im Ödipusmythus
enthaltene Blendung vgl. die Mitteilungen von Reitler, Ferenczi,
Rank und Eder in Internationale Zeitschrift für ärztliche Psycho-
analyse, 1913, I, Nr. 2.
176 IV. DIE INFANTILE WIEDERKEHR DES TOTEMISMUS.
Huhn. Wenn ich noch größer werde, bin ich ein Hahn.“ Ein
andermal wünscht er sich plötzlich eine „eingemachte Mutter“
zu essen (nach der Analogie des eingemachten Huhns). Er
war sehr freigebig mit deutlichen Kastrationsandrohungen gegen
andere, wie er sie wegen onanistischer Beschäftigung mit
seinem Gliede selbst erfahren hatte.
Über die Quelle seines Interesses für das Treiben im
Hühnerhof blieb nach Ferenczi kein Zweifel: „Der rege
Sexualverkehr zwischen Hahn und Henne, das Eierlegen und
das Herauskriechen der jungen Brut“ befriedigten seine sexuelle
Wißbegierde, die eigentlich dem menschlichen Familienleben
galt. Nach dem Vorbild des Hühnerlebens hatte er seine
Objektwünsche geformt, wenn er einmal der Nachbarin sagte:
„Ich werde Sie heiraten und Ihre Schwester und meine drei
Cousinen und die Köchin, nein, statt der Köchin lieber die
Mutter.“
Wir werden an späterer Stelle die Würdigung dieser Be-
obachtung vervollständigen können; heben wir jetzt nur als
wertvolle Übereinstimmungen mit dem Totemismus zwei Züge
hervor: Die volle Identifizierung mit dem Totemtier!) und
die ambivalente Gefühlseinstellung gegen dasselbe. Wir halten
uns nach diesen Beobachtungen für berechtigt, in die Formel
des Totemismus — für den Mann — den Vater an Stelle des
Totemtieres einzusetzen. Wir merken dann, daß wir damit
keinen neuen oder besonders kühnen Schritt getan haben. Die
Primitiven sagen es ja selbst und bezeichnen, soweit noch
heute das totemistische System in Kraft besteht, den Totem
als ihren Ahnherrn und Urvater. Wir haben nur eine Aus-
#) In welcher nach Frazer das Wesentliche des Totemismus gegeben
ist: „Totemism is an identification of a man with his totem.“ T, and
Ex. IV, p. B.
DAS TOTEMTIER IST EIN VATERERSATZ. 177
sage dieser Völker wörtlich genommen, mit welcher die Ethno-
logen wenig anzufangen wußten, und die sie darum gern in
den Hintergrund gerückt haben. Die Psychoanalyse mahnt
uns, im Gegenteile gerade diesen Punkt hervorzusuchen und
an ihn den Erklärungsversuch des Totemismus zu knüpfen).
Das erste Ergebnis unserer Ersstzung ist sehr merkwürdig.
Wenn das Totemtier der Vater ist, dann fallen die beiden
Hauptgebote des Totemismus, die beiden Tabuvorschriften, die
-seinen Kern ausmachen, den Totem nicht zu töten und kein
Weib, das dem Totem angehört, sexuell zu gebrauchen, in-
haltlich zusammen mit den beiden Verbrechen des Ödipus, der
seinen Vater tötete und seine Mutter zum Weibe nahm, und
mit den beiden Urwünschen des Kindes, deren ungenügende
Verdrängung oder deren Wiedererweckung den Kern vielleicht
aller Psychoneurosen bildet. Sollte diese Gleichung mehr als
ein irreleitendes Spiel des Zufalls sein, so müßte sie uns ge-
statten, ein Licht auf die Entstehung des Totemismus in un-
vordenklichen Zeiten zu werfen. Mit anderen Worten, es müßte
uns gelingen wahrscheinlich zu machen, daß das totemistische
System sich aus den Bedingungen des Ödipuskomplexes ergeben
hat wie die Tierphobie des „kleinen Hans“ und die Geflügel-
perversion des „kleinen Arpäd“. Um dieser Möglichkeit nach-
zugehen, werden wir im folgenden eine Eigentümlichkeit des
totemistischen Systems oder, wie wir sagen können, der 'T'otem-
religion studieren, welche bisher kaum Erwähnung finden konnte.
1) O. Rank verdanke ich die Mitteilung eines Falles von Hunde-
phobie bei einem intelligenten jungen Manne, dessen Erklärung, wie er
zu seinem Leiden gekommen sei, merklich an die oben (S. 153) erwähnte
Totemtheorie der Arunta anklingt. Er meinte von seinem Vater er-
fahren zu haben, daß seine Mutter während der Schwangerschaft mit ihm
einmal vor einem Hunde erschrocken sei.
Freund, Totem und Tahu, 12
178 IV. DIE INFANTILE WIEDERKEHR DES TOTEMISMUS.
4.
Der im Jahre 1894 verstorbene W. Robertson Smith,
Physiker, Philologe, Bibelkritiker und Altertumsforscher, ein
ebenso vielseitiger wie scharfsichtiger und freidenkender Mann,
sprach in seinem 1889 veröffentlichten Werke über die Re-
ligion der Semiten!) die Annahme aus, daß eine eigentümliche
Zeremonie, die sogenannte Totemmahlzeit, von allem An-
fang an einen integrierenden Bestandteil des totemistischen
Systems gebildet habe. Zur Stütze dieser Vermutung stand
ihm damals nur eine einzige, aus dem V. Jahrhundert n. Chr.
überlieferte Beschreibung eines solchen Aktes zu Gebote, aber
er verstand es, die Annahme dürch die Analyse des Opfer-
wesens bei den alten Semiten zu einem hohen Grad von Wahr-
scheinlichkeit zu erheben. Da das Opfer eine göttliche Person
voraussetzt, handelt es sich hiebei um den Rückschluß von einer
höheren Phase des religiösen Ritus auf die niedrigste des
Totemismus.
Ich will nun versuchen, aus dem ausgezeichneten Buch
von Robertson Smith die für unser Interesse entscheiden-
den Sätze über Ursprung und Bedeutung des Opferritus her-
auszuheben unter Weglassung aller oft so reizvollen Details
und mit konsequenter Hintansetzung aller späteren Entwick-
lungen. Es ist ganz ausgeschlossen, in einem solchen Auszug
dem Leser etwas von der Luzidität oder von der Beweiskraft
der Darstellung im Original zu übermitteln.
Robertson Smith führt aus, daß das Opfer am Altar
das wesentliche Stück im Ritus der alten Religion gewesen
ist. Es spielt in allen Religionen die nämliche Rolle, so daß
I) W. Robertson Smith, The religion of the Semites, Second
Edition, London 1907,
DER ERSTE SINN DES OPFERS. 179
man seine Entstehung auf sehr allgemeine und überall gleich-
artig wirkende Ursachen zurückführen muß.
Das Opfer — die heilige Handlung xar’&£0y/v (sacrificum,
!spovpyia) — bedeutete aber ursprünglich etwas anderes, als was
spätere Zeiten darunter verstanden: die Darbringung an die
Gottheit, um sie zu versöhnen oder sich geneigt zu machen.
(Von dem Nebensinn der Selbstentäußerung ging dann die pro-
fane Verwendung des Wortes aus.) Das Opfer war nachweisbar
zuerst nichts anderes als „an act of socizl fellowship
between the deity and his worshippers“, ein Akt
der Geselligkeit, eine Kommunion der Gläubigen mit ihrem
Grotte.
Als Opfer wurden dargebracht eßbare und trinkbare Dinge;
dasselbe, wovon der Mensch sich nährte, Fleisch, Zerealien,
Früchte, Wein und Öl, das opferte er auch seinem Gotie. Nur
in bezug auf das Opferfleisch bestanden Einschränkungen und
Abweichungen. Von den Tieropfern speist der Gott gemeinsam
mit seinen Anbetern, die vegetabilischen Opfer sind ihm allein
überlassen. Es ist kein Zweifel, daß die Tieropfer die älteren
sind und einmal die einzigen waren. Die vegetabilischen Opfer
sind aus der Darbringung der Erstlinge aller Früchte hervor-
gegangen und entsprechen einem Tribut an den Herrn des
Bodens und des Landes. Das Tieropfer ist aber älter als der
Ackerbau.
Es ist aus sprachlichen Überresten gewiß, daß der dem
Gott bestimmte Anteil des Opfers zuerst als seine wirkliche
Nahrung angesehen wurde. Mit der fortschreitenden Demate-
rialisierung des göttlichen Wesens wurde diese Vorstellung an-
stößig; man wich ihr aus, indem man allein.den flüssigen
Anteil der Mahlzeit der Gottheit zuwies. Später gestattete
der Gebrauch des Feuers, welcher das Opferfleisch auf dem
12%
180 IV. DIE INFANTILE WIEDERKEHR DES TOTEMISMUS.
Altar in Rauch aufgehen ließ, eine Zurichtung der mensch-
lichen Nahrungsmittel, durch welche sie dem göttlichen Wesen
angemessener wurden. Die Substanz des Trinkopfers war ur-
sprünglich das Blut der Opfertiere; Wein wurde später der
Ersatz des Blutes. Der Wein galt den Alten als das „Blut
der Rebe“, wie ihn unsere Dichter jetzt noch heißen.
Die älteste Form des Opfers, älter als der Gebrauch des
Feuers und die Kenntnis des Ackerbaues, war also das Tier-
opfer, dessen Fleisch und Blut der Gott und seine Anbeter
gemeinsam genossen. Es war wesentlich, daß jeder der Teil-
nehmer seinen Anteil an der Mahlzeit erhalte.
Ein solches Opfer war eine öffentliche Zeremonie, das
Fest eines ganzen Clan. Die Religion war überhaupt eine all-
gemeine Angelegenheit, die religiöse Pflicht ein Stück der so-
zialen Verpflichtung. Opfer und Festlichkeit fallen bei allen
Völkern zusammen, jedes Opfer bringt ein Fest mit sich und
kein Fest kann ohne Opfer gefeiert werden. Das Opferfest
war eine Gelegenheit der freudigen Erhebung über die eigenen
Interessen, der Betonung der Zusammengehörigkeit unterein-
ander und mit der Gottheit.
Die ethische Macht der öffentlichen Opfermahlzeit ruhte
auf uralten Vorstellungen über die Bedeutung des gemein-
samen Essens und Trinkens. Mit einem anderen zu essen und
zu trinken, war gleichzeitig ein Symbol und eine Bekräftigung
von sozialer Gemeinschaft und von Übernahme gegenseitiger
Verpflichtungen; die Opfermahlzeit brachte zum direkten Aus-
druck, daß der Gott und seine Anbeter Commensalen sind,
aber damit waren alle ihre anderen Beziehungen gegeben. Ge-
bräuche, die noch heute unter den Arabern der Wüste in Kraft
sind, beweisen, daß das Bindende an der gemeinsamen Mahl-
DIE BEDEUTUNG DER GEMEINSAMEN MAHLZEIT. 181
zeit nicht ein religiöses Moment ist, sondern der Akt des Es-
sens selbst. Wer den kleinsten Bissen mit einem solchen
Beduinen geteilt oder einen Schluck von seiner Milch getrunken
hat, der braucht ihn nicht mehr als Feind zu fürchten, sondern
darf seines Schutzes und seiner Hilfe sicher sein. Allerdings
nicht für ewige Zeiten; streng genommen, nur für so lange,
als der gemeinsam genossene Stoff der Annahme nach in seinem
Körper verbleibt. So realistisch wird das Band der Vereini-
gung aufgefaßt; es bedarf der Wiederholung, um es zu ver-
stärken und dauerhaft zu machen.
Warum wird aber dem gemeinsamen Essen und Trinken
diese bindende Kraft zugeschrieben? In den primitivsten Ge-
sellschaften gibt es nur ein Band, welches unbedingt und aus-
nahmslos einigt, das der Stammesgemeinschaft (Kinship). Die
Mitglieder dieser Gemeinschaft treten solidarisch für einander
ein, ein Kin ist eine Gruppe von Personen, deren Leben solcher-
art zu einer physischen Einheit verbunden sind, daß man sie
wie Stücke eines gemeinsamen Lebens betrachten kann. Es
heißt dann beim Mord eines einzelnen aus dem Kin nicht: das
Blut dieses oder jenes- ist vergossen worden, sondern unser
Blut ist vergossen worden. Die hebräische Phrase, mit welcher
die Stammesverwandtschaft anerkannt wird, lautet: Du bist
mein Bein und mein Fleisch. Kinship bedeutet also einen
Anteil haben an einer gemeinsamen Substanz. Es ist dann na-
türlich, daß sie nicht nur auf die Tatsache gegründet wird,
daß man ein Teil von der Substanz seiner Mutter ist, von der
man geboren und mit deren Milch man genährt wurde, sondern
daß auch die Nahrung, die man späterhin genießt und durch
die man seinen Körper erneuert, Kinship erwerben und be-
stärken kann. Teilte man die Mahlzeit mit seinem Gotte, so
drückte es die Überzeugung aus, daß man von einem Stoff
182 IV, DIE INFANTILE WIEDERKEHR DES TOTEMISMUS.
mit ihm sei, und wen man als Fremden anerkannte, mit dem
teilte man keine Mahlzeit.
Die Opfermahlzeit war also ursprünglich ein Festmahl von
Stammverwandten, dem Gesetze folgend, daß nur Stammver-
wandte miteinander essen. In unserer Gesellschaft einigt die
Mahlzeit die Mitglieder der Familie, aber mit der Familie
hat die Opfermahlzeit nichts zu tun. Kinship ist älter als
Familienleben; die ältesten uns bekannten Familien umfassen
regelmäßig Personen, die verschiedenen Verwandtschaftsver-
bänden angehören. Die Männer heiraten Frauen aus fremden
Clans, die Kinder erben den Clan der Mutter; es besteht keine
Stammesverwandtschaft zwischen dem Manne und den übrigen
Familienmitgliedern. In einer solchen Familie gibt es keine
gemeinsame Mahlzeit. Die Wilden essen noch heute abseits
und allein, und die religiösen Speiseverbote des Tiotemismus
machen ihnen oft die Eßgemeinschaft mit ihren Frauen und
Kindern unmöglich.
Wenden wir uns nun zum ÖOpfertier. Es gab, wie wir
gehört, keine Stammeszusammenkunft ohne Tieropfer, aber —
was nun bedeutsam ist — auch kein Schlachten eines Tieres
außer für solche feierliche Gelegenheit. Man nährte sich ohne
Bedenken von Früchten, Wild und von der Milch der Haus-
tiere, aber religiöse Skrupel machten es dem einzelnen unmög-
lich, ein Haustier für seinen eigenen Gebrauch zu töten. Es
leidet nicht den leisesten Zweifel, sagt Robertson Smith,
daß jedes Opfer ursprünglich Clanopfer war, und daß das
Töten eines Schlachtopfers ursprünglich zu jenen
Handlungen gehörte, die dem einzelnen verboten sind
und nur dann gerechtfertigt werden, wenn der
ganze Stamm die Verantwortlichkeit mit über-
»immt. Es gibt bei den Primitiven nur eine Klasse von
DIE HEILIGKEIT DES OPFERTIERES. 183
Handlungen, für welche diese Charakteristik zutrifft, nämlich
Handlungen, welche an die Heiligkeit des dem Stamme ge-
meinsamen Blutes rühren. Ein Leben, welches kein einzelner
wegnehmen darf, und das nur durch die Zustimmung, unter
der Teilnahme, aller Clangenossen geopfert werden kann, steht
auf derselben Stufe wie das Leben der Stammesgenossen selbst.
Die Regel, daß jeder Gast der Opfermahlzeit vom Fleisch des
Opfertieres genießen müsse, hat denselben Sinn wie die Vor-
schrift, daß die Exekution an einem schuldigen Stammesgenossen
von dem ganzen Stamm zu vollziehen sei. Mit anderen Worten:
Das Opfertier wurde behandelt wie ein Stammverwandter, die
opfernde Gemeinde, ihr Gott und das Opfertier
waren eines Blutes, Mitglieder eines Clan.
Robertson Smith identifiziert auf Grund einer rei-
chen Evidenz das Opfertier mit dem alten Totemtier. Es gab
im späteren Altertum zwei Arten von Opfern, solche von Haus-
tieren, die auch für gewöhnlich gegessen wurden, und un-
gewöhnliche Opfer von Tieren, die als unrein verboten waren.
Die nähere Erforschung zeigt dann, daß diese unreinen Tiere
heilige Tiere waren, daß sie den Göttern als Opfer dargebracht
wurden, denen sie heilig waren, daß diese Tiere ursprünglich
identisch waren mit den Göttern selbst, und daß die Gläubigen
in irgend einer Weise beim Opfer ihre Blutsverwandtschaft
mit dem Tiere und dem Grotte betonten. Für noch frühere
Zeiten entfällt aber dieser Unterschied zwischen gewöhnlichen
und „mystischen“ Opfern. Alle Tiere sind ursprünglich heilig,
ihr Fleisch ist verboten und darf nur bei feierlichen Gelegen-
heiten unter Teilnahme des ganzen Stammes genossen werden.
Das Schlachten des Tieres kommt dem Vergießen von Stammes-
blut gleich und muß unter den nämlichen Vorsichten und Si-
cherungen gegen Vorwurf geschehen.
184 IV. DIE INFANTILE WIEDERKEHR DES TOT! MISMUS.
Die Zähmung von Haustieren und das Emporkommen der
Viehzucht scheint überall dem reinen und strengen Totemismus
der Urzeit ein Ende bereitet zu haben!). Aber was in der nun
„pastoralen“ Religion den Haustieren an Heiligkeit verblieb.
ist deutlich genug, um den ursprünglichen Totemcharakter der-
selben erkennen zu lassen. Noch in späten klassischen Zeiten
schrieb der Ritus an verschiedenen Orten dem Opferer vor,
nach vollzogenem Opfer die Flucht zu ergreifen, wie um sich
einer Ahndung zu entziehen. In Griechenland muß die Idee,
daß die Tötung eines Ochsen eigentlich ein Verbrechen sei,
einst allgemein geherrscht haben. An dem athenischen Fest
der Bouphonien wurde nach dem Opfer ein förmlicher Pro-
zeß eingeleitet, bei dem alle Beteiligten zum Verhör kamen.
Endlich einigte man sich, die Schuld an der Mordtat auf das
Messer abzuwälzen, welches dann ins Meer geworfen wurde.
Trotz der Scheu, welche das Leben des heiligen Tieres als
eines Stammesgenossen schützt, wird es zur Notwendigkeit, ein
solches Tier von Zeit zu Zeit in feierlicher Gemeinschaft zu
töten und Fleisch und Blut desselben unter die Clangenossen
zu verteilen. Das Motiv, welches diese Tat gebietet, gibt den
tiefsten Sinn des Opferwesens preis. Wir haben gehört, daß
in späteren Zeiten jedes gemeinsame l:ssen, die Teilnahme an
der nämlichen Substanz, welche in ihre Körper eindringt, ein
heiliges Band zwischen den Commensalen herstellt; in ältesten
Zeiten scheint diese Bedeutung nur der Teilnahme an der Sub-
stanz eines heiligen Opfers zuzukommen. Das heilige My-
sterium des Opfertodes rechtfertigt sich, indem
1) „Ihe inference is that the domestication to which totemism in-
variably leads (when there are any animals capable of domestication) is
fatal to totemism.“ Jevons, An introduction to the history of religion
1911, fifth edition, p. 120.
DAS MYSTERIUM DES OPFERTODES. 185
nur auf diesem Wege das heilige Band herge-
stellt werden kann, welches die Teilnehmer un
tereinander und mit ihrem Gotte einigt!).
Dieses Band ist nichts anderes als das Leben des Opfer-
tieres, welches in seinem Fleisch und seinem Blute wohnt und
durch die Opfermahlzeit allen Teilnehmern mitgeteilt wird.
Eine solche Vorstellung liegt allen Blutbündnissen zu
Grunde, durch die sich noch in späten Zeiten Menschen gegen-
einander verpflichten. Die durchaus realistische Auffassung
der Blutsgemeinschaft als Identität der Substanz läßt die Not-
wendigkeit verstehen, sie von Zeit zu Zeit durch den physi-
schen Prozeß der Opfermahlzeit zu erneuern.
Brechen wir hier die Mitteilung der Gedankengänge von
Robertson Smith ab, um ihren Kern in gedrängtester
Kürze zu resumieren: Als die Idee des Privateigentums auf-
kam, wurde das Opfer als eine Gabe an die Gottheit, als eine
Übertragung aus dem Eigentum des Menschen in das des Gottes
aufgefaßt. Allein diese Deutung ließ alle Eigentümlichkeiten
des Opferrituals unaufgeklärt. In ältesten Zeiten war das
Opfertier selbst heilig, sein Leben unverletzlich gewesen; es
konnte nur unter der Teilnahme und Mitschuld des ganzen
Stammes und in Gegenwart des Gottes genommen werden, um
die heilige Substanz zu liefern, durch deren Genuß die Clan-
genossen sich ihrer stofflichen Identität untereinander und mit
der Gottheit versicherten. Das Opfer war ein Sakrament, das
Opfertier selbst ein Stammesgenosse. Es war in Wirklichkeit
das alte Totemtier, der primitive Gott selbst, durch dessen
Tötung und Verzehrung die Clangenossen ihre Gottähnlichkeit
auffrischten und versicherten.
Aus dieser Analyse des Opferwesens zog Robertson
SE DIES,
186 IV. DIE INFANTILE WIEDERKEHR DES TOTEMISMUS.
Smith den Schluß, daß die periodische Tötung und Auf-
zehrung des Totem in Zeiten vor der Verehrung anthro-
pomorpher Gottheiten ein bedeutsames Stück der Totem-
religion gewesen sei. Das Zeremoniell einer solchen Totem-
mahlzeit, meinte er, sei uns in der Beschreibung eines Opfers
aus späteren Zeiten erhalten. Der hl. Nilus berichtet von
einer Opfersitte der Beduinen in der sinaitischen Wüste um
das Ende des IV. Jahrhunderts nach Christi Geburt. Das
Opfer, ein Kamel, wurde gebunden auf einen rohen Altar von
Steinen gelegt; der Anführer des Stammes ließ die Teilnehmer
dreimal unter Gesängen um den Altar herumgehen, brachte
dem Tiere die erste Wunde bei und trank gierig das hervor-
quellende Blut; dann stürzte sich die ganze Gemeinde auf das
Opfer, hieb mit den Schwertern Stücke des zuckenden Fleisches
los und verzehrte sie roh in solcher Hast, daß in der kurzen
Zwischenzeit zwischen dem Aufgang des Morgensterns, dem
dieses Opfer galt, und dem Erblassen des Gestirns vor den
Sonnenstrahlen alles vom Opfertier, Leib, Knochen, Haut,
Fleisch und Eingeweide vertilgt war. Dieser barbarische, von
höchster Altertümlichkeit zeugende Ritus war allen Beweis-
mitteln nach kein vereinzelter Gebrauch, sondern die allge-
meine ursprüngliche Form des Totemopfers, die in späterer
Zeit die verschiedensten Abschwächungen erfuhr.
Viele Autoren haben sich geweigert, der Konzeption der
Totemmahlzeit Gewicht beizulegen, weil sie durch die direkte
Beobachtung auf der Stufe des Totemismus nicht erhärtet wer-
den konnte. Robertson Smith hat noch selbst auf die Bei-
spiele hingewiesen, in denen die sakramentale Bedeutung der
Opfer gesichert scheint, z. B. bei den Menschenopfern der
Azteken, und auf andere, welche an die Bedingungen der
Totemmahlzeit erinnern, die Bärenopfer des Bärenstammes der
DIE TOTEMMALZEIT NACH ROBERTSON SMITH. 187
Ouataouaks in Amerika und die Bärenfeste der Ainos in
Japan. Frazer hat diese und ähnliche Fälle in den beiden
letzterschienenen Abteilungen seines großen Werkes ausführ-
lich mitgeteilt!). Ein Indianerstamm in Kalifornien, der einen
großen Raubvogel (Bussard) verehrt, tötet diesen in feierlicher
Zeremonie einmal im Jahre, worauf er betrauert und seine Haut
mit den Federn aufbewahrt wird. Die Zuniindianer in Neu-
mexiko yerfahren ebenso mit ihrer heiligen Schildkröte.
In den Intichiumazeremonien der zentralaustralischen
Stämme ist ein Zug beobachtet worden, welcher zu den Vor-
aussetzungen von Robertson Smith vortrefflich stimmt.
Jeder Stamm, der für die Vermehrung seines Totem, dessen
Genuß ihm doch selbst verwehrt ist, Magie treibt, ist gehalten,
bei der Zeremonie etwas von seinem Totem selbst zu genießen,
ehe derselbe den anderen Stämmen zugänglich wird. Das
schönste Beispiel für den sakramentalen Genuß des sonst ver-
botenen Totem soll sich nach Frazer bei den Bini in West-
afrika in Verbindung mit dem Begräbniszeremoniell dieser
Stämme finden ?).
Wir aber wollen Robertson Smith in der Annahme
folgen, daß die sakramentale Tötung und gemeinsame Auf-
zehrung des sonst verbotenen Totemtieres ein bedeutungsvoller
Zug der Totemreligion gewesen sei?).
1) The Golden Bough, Part V, Spirits of the corn and of the wild;
1912, in den Abschnitten: Eating the God und Killing the divine animal.
2) Frazer, T. and Ex. T. II, p. 590.
3) Die von verschiedenen Autoren (Marillier, Hubert und Mauss
u. a.) gegen diese Theorie des Opfers vorgebrachten Einwendungen sind
mir nicht unbekannt geblieben, haben aber den Eindruck der Lehren von
tobertson Smith im wesentlichen nicht beeinträchtigt.
188 IV. DIE INFANTILE WIEDERKEHR DES TOTEMISMUS.
d.
Stellen wir uns nun die Szene einer solchen Totemmahlzeit
vor und statten sie noch mit einigen wahrscheinlichen Zügen
aus, die bisher nicht gewürdigt werden konnten. Der Clan,
der sein Totemtier bei feierlichem Anlasse auf grausame Art
tötet und es roh verzehrt, Blut, Fleisch und Knochen; dabei
sind die Stammesgenossen in die Ähnlichkeit der Totem ver-
kleidet, imitieren es in Lauten und Bewegungen, als ob sie seine
und ihre Identität betonen wollten. Es ist das Bewußtsein da-
bei, daß man eine jedem einzelnen verbotene Handlung aus-
führt, die nur durch die Teilnahme aller gerechtfertigt werden
kann; es darf sich auch keiner von der Tötung und der Mahl-
zeit ausschließen. Nach der Tat wird das hingemordete Tier
beweint und beklagt. Die Totenklage ist eine zwangsmäßige,
durch die Furcht vor einer drohenden Vergeltung erzwungene,
ihre Hauptabsicht geht dahin, wie Robertson Smith bei
einer analogen Gelegenheit bemerkt, die Verantwortlichkeit für
die Tötung von sich abzuwälzen!).
Aber nach dieser Trauer folgt die lauteste Festfreude, die
Entfesselung aller Triebe und Gestattung aller Befriedigun-
gen. Die Einsicht in das Wesen des Festes fällt uns hier
ohne jede Mühe zu.
Ein Fest ist ein gestatteter, vielmehr ein gebotener Ex-
zeß, ein feierlicher Durchbruch eines Verbots. Nicht weil die
Menschen infolge irgend einer Vorschrift froh gestimmt sind.
begehen sie die Ausschreitungen, sondern der Exzeß liegt im
Wesen des Festes; die festliche Stimmung wird durch die
Freigebung des sonst Verbatenen erzeugt.
Was soll aber die Einleitung zu dieser Festesfreude, die
1) Religion of the Semites, 2nd edition 1907, p. 412,
FEST UND TRAUER BEI DER TOTEMMAHLZEIT. 139
Trauer über den Tod des Totemtieres? Wenn man sich über
die Tötung des Totem, die sonst versagt ist, freut, warum
trauert man auch über sie? |
‚Wir haben gehört, daß sich die Clangenossen durch den
Genuß des Totem heiligen, in ihrer Identifizierung mit ihm
und untereinander bestärken. Daß sie das heilige Leben, dessen
Träger die Substanz des Totem ist, in sich aufgenommen haben,
könnte ja die festliche Stimmung und alles, was aus ihr folgt,
erklären.
Die Psychoanalyse hat uns verraten, daß das Totemtier
wirklich der Ersatz des Vaters ist, und dazu stimmte wohl der
Widerspruch, daß es sonst verboten ist, es zu töten, und daß
seine Tötung zur Festlichkeit wird, daß man das Tier tötet
und es doch betrauert. Die ambivalente Gefühlseinstellung,
welche den Vaterkomplex heute noch bei unseren Kindern aus-
zeichnet und sich oft ins Leben der Erwachsenen fortsetzt, würde
sich auch auf den Vaterersatz des Totemtiers erstrecken.
Allein, wenn man die von der Psychoanalyse gegebene Über-
setzung des Totem mit der Tatsache der Totemmahlzeit und
der Darwinschen Hypothese über den Urzustand der mensch-
lichen Gesellschaft zusammenhält, ergibt sich die Möglichkeit
eines tieferen Verständnisses, der Ausblick auf eine Hypothese,
die phantastisch erscheinen mag, aber den Vorteil bietet, eine
unvermutete Einheit zwischen bisher gesonderten Reihen von
Phänomenen herzustellen.
Die Darwinsche Urhorde hat natürlich keinen Raum
für die Anfänge des Totemismus. Ein gewalttätiger, eifer-
süchtiger Vater, der alle Weibchen für sich behält und die
heranwachsenden Söhne vertreibt, nichts weiter. Dieser Ur-
‚zustand der Gesellschaft ist nirgends Gegenstand der Beob-
achtung geworden. Was wir als primitivste Organisation fin-
190 IV. DIE INFANTILE WIEDERKEHR DES TOTEMISMUS.
den, was noch heute bei gewissen Stämmen in Kraft besteht,
das sind Männerverbände, die aus gleichberechtigten
Mitgliedern bestehen und den Einschränkungen des totemisti-
schen Systems unterliegen, dabei mütterliche Erblichkeit. Kann
das eine aus dem anderen hervorgegangen sein und auf welchem
Wege war es möglich?
Die Berufung auf die Feier der Totemmahlzeit gestattet
uns eine Antwort zu geben: Eines Tages!) taten sich die aus-
getriebenen Brüder zusammen, erschlugen und verzehrten den
Vater und machten so der Vaterhorde ein Ende. Vereint
wagten sie und brachten zu stande, was dem einzelnen unmöglich
geblieben wäre. Vielleicht hatte ein Kulturfortschritt, die
Handhabung einer neuen Waffe, ihnen das Gefühl der Über-
legenheit gegeben. Daß sie den Getöteten auch verzehrten,
ist für den kannibalen Wilden selbstverständlich. Der gewalt-
tätige Urvater war gewiß das beneidete und gefürchtete Vor-
bild eines jeden aus der Brüderschar gewesen. Nun setzten
sie im Akte des Verzehrens die Identifizierung mit ihm durch,
eigneten sich ein jeder ein Stück seiner Stärke an. Die Totem-
mahlzeit, vielleicht das erste Fest der Menschheit, wäre die
Wiederholung und die Gedenkfeier dieser denkwürdigen, ver-
brecherischen Tat, mit welcher so vieles seinen Anfang nahm,
die sozialen Organisationen, die sittlichen Einschränkungen und
die Religion ?).
> 1).Zu dieser Darstellung, die sonst mißverständlich würde, bitte ich
die Schlußsätze der nachfolgenden Anmerkung als Korrektiv hinzunehmen.
2) Die ungeheuerlich erscheinende Annahme der Überwältigung und
Tötung des tyrannischen Vaters durch die Vereinigung der ausgetriebenen
Söhne hat sich auch Atkinson als direkte Folgerung aus den Verhält-
nissen der Darwinschen Urhorde ergeben. „A youthful band of brothers
living together in forced celibacy, or at most in polyandrous relation with
some single female captive. A horde as yet weak in their impubescence
DIE ENTSTEHUNG DER MÄNNERVERBÄNDE AUS DER URHORDE. 191
Um, von der Voraussetzung absehend, diese Folgen glaub-
würdig zu finden, braucht man nur anzunehmen, daß die sich
zusammenrottende Brüderschar von denselben einander wider-
sprechenden Gefühlen gegen den Vater beherrscht war, die wir
als Inhalt der Ambivalenz des Vaterkomplexes bei jedem un-
serer Kinder und unserer Neurotiker nachweisen können. Sie
they are, but they would, when strength was gained with time inevitably
wrench by combined attacks renewed again and again, both wife and life
from the paternal tyrant“ (Primal Law, p. 220—221). Atkinson, der
übrigens sein Leben in Neu-Caledonien verbrachte und ungewöhnliche Ge-
legenheit zum Studium der Eingeborenen hatte, beruft sich auch darauf,
daß die von Darwin supponierten Zustände der Urhorde bei wilden
Rinder- und Pferdeherden leicht zu beobachten sind und regelmäßig zur
Tötung des Vatertieres führen. Er nimmt dann weiter an, daß nach der
Beseitigung des’Vaters ein Zerfall der Horde durch den erbitterten Kampf
der siegreichen Söhne untereinander eintritt. Auf diese Weise käme eine
neue Organisation der Gesellschaft niemals zu stande: „an ever recurring
violent succession to the solitary paternal tyrant by sons, whose par-
ricidal hands were so soon again clenchedin fratricidal
strife“ (p. 228). Atkinson, dem die Winke der Psychoanalyse nicht
zu Gebote standen, und dem die Studien von Robertson Smith nicht
bekannt waren, findet einen minder gewaltsamen Übergang von der Ur-
horde zur nächsten sozialen Stufe, auf welcher zahlreiche Männer in
friedlicher Gemeinschaft zusammenleben. Er läßt es die Mutterliebe
durchsetzen, daß anfangs nur die jüngsten, später auch andere Söhne in
der Horde verbleiben, wofür diese Geduldeten das sexuelle Vorrecht des
Vaters in Form der von ihnen geübten Entsagung gegen Mutter und
Schwestern anerkennen.
So viel über die höchst bemerkenswerte Theorie von Atkinson,
ihre Übereinstimmung mit der hier vorgetragenen im wesentlichen
Punkte und ihre Abweichung davon, welche den Verzicht auf den Zu-
sammenhang mit so vielem anderen mis sich bringt.
Die Unbestimmtheit, die zeitliche Verkürzung und inhaltliche Zu-
samımendrängung der Angaben in meinen obenstehenden Ausführungen
darf ich als eine durch die Natur des Gegenstandes geforderte Enthaltung
hinstellen. Es wäre ebenso unsinnig, in dieser Materie Exaktheit anzu-
streben, wie es unbillig wäre, Sicherheiten zu fordern.
192 IV. DIE INFANTILE WIEDERKEHR DES TOTEMISMUS,
haßten den Vater, der ihrem Machtbedürfnis und ihren sexuellen
Ansprüchen so mächtig im Wege stand, aber sie liebten und
bewunderten ihn auch. Nachdem sie ihn beseitigt, ihren Haß
befriedigt und ihren Wunsch nach Identifizierung mit ihm
durchgesetzt hatten, mußten sich die dabei überwältigten zärt-
lichen Regungen zur Geltung bringen!). Es geschah in der
Form der Reue, es entstand ein Schuldbewußtsein, welches hier
mit der gemeinsam empfundenen Reue zusammenfällt. Der
Tote wurde nun stärker, als der Lebende gewesen war; all
dies, wie wir es noch heute an Menschenschicksalen sehen.
‚Was er früher durch seine Existenz verhindert hatte, das ver-
boten sie sich jetzt selbst in der psychischen Situation des uns
aus den Psychoanalysen so wohl bekannten „nachträg-
lichen Gehorsams“. Sie widerriefen ihre Tat, indem sie
die Tötung des Vaterersatzes, des Totem, für unerlaubt er-
klärten, und verzichteten auf deren Früchte, indem sie sich
die freigewordenen Frauen versagten. So schufen sie aus dem
SchuldbewußtseindesSohnes die beiden fundamentalen
Tabu des Totemismus, die eben darum mit den beiden verdräng-
ten Wünschen des Ödipuskomplexes übereinstimmen mußten.
Wer dawiderhandelte, machte sich der beiden einzigen Ver
brechen schuldig, welche die primitive Gesellschaft beküm-
merten ?).
1) Dieser neuen Gefühlseinstellung mußte auch zu gute kommen,
daß die Tat keinem der Täter die volle Befriedigung bringen konnte.
Sie war in gewisser Hinsicht vergeblich geschehen. Keiner der Söhne
konnte ja seinen ursprünglichen Wunsch durchsetzen, die Stelle des Va-
ters einzunehmen. Der Mißerfolg ist aber, wie wir wissen, der moralischen
Reaktion weit günstiger als die Befriedigung.
?) „Murder and incest, or offences of a like kind against the
sacred law of blood are in primitive society the only crimes of which
the community as such takes cognisance .. .“ Religion of the Semites,
p. 419.
u
SCHULDBEWUSSTSEIN UND NACHTRÄGLICHER GEHORSAM. 193
Die beiden Tabu des Totemismus, mit denen die Sittlich-
keit der Menschen beginnt, sind psychologisch nicht gleich-
wertig. Nur das eine, die Schonung des Totemtieres, ruht ganz
auf Gefühlsmotiven; der Vater war ja beseitigt, in der Realität
war nichts mehr gutzumachen. Das andere aber, das Inzest-
verbot, hatte auch eine starke praktische Begründung. Das
sexuelle Bedürfnis einigt die Männer nicht, sondern entzweit sie.
Hatten sich die Brüder verbündet, um den Vater zu überwäl-
tigen, so war jeder des anderen Nebenbuhler bei den Frauen.
Jeder hätte sie wie der Vater alle für sich haben wollen, und
in dem Kampfe aller gegen alle wäre die neue Organisation zu
Grunde gegangen. Es war kein Überstarker mehr da, der die
Rolle des Vaters mit Erfolg hätte aufnehmen können. Somit
blieb den Brüdern, wenn sie miteinander leben wollten, nichts
übrig, als — vielleicht nach Überwindung schwerer Zwischen-
fälle — das Inzestverbot aufzurichten, mit welchem sie alle
zugleich auf die von ihnen begehrten Frauen verzichteten, um
deren wegen sie doch in erster Linie den Vater beseitigt hatten.
Sie retteten so die Organisation, welche sie stark gemacht
hatte, und die auf homosexuellen Gefühlen und Betätigungen
ruhen ‚konnte, welche sich in der Zeit der Vertreibung bei
ihnen eingestellt haben mochten. Vielleicht war es auch diese
Situation. welche den Keim zu den von Bachofen erkannten
Institutionen des Mutterrechts legte, bis dieses von der
patriarchalischen Familienordnung abgelöst wurde.
An das andere Tabu, welches das Leber des Totemtieres
beschützt, knüpft hingegen der Anspruch des Totemismus an,
als erster Versuch einer Religion gewertet zu werden. Bot sich
dem Empfinden der Söhne das Tier als natürlicher und nächst-
liegender Ersatz des Vaters, so fand in der ihnen zwanghaft
gebotenen Behandlung desselben doch noch mehr Ausdruck als
Freud, Totem und Tabu. 13
194 IV. DIE INFANTILE WIEDERKEHR DES TOTEMISMUS.
das Bedürfnis, ihre Reue zur Darstellung zu bringen. Es konnte
mit dem Vatersurrogat der Versuch gemacht werden, das bren-
nende Schuldgefühl zu beschwichtigen, eine Art von Aussöh-
nung mit dem Vater zu bewerkstelligen. Das totemistische
System war gleichsam ein Vertrag mit dem Vater, in dem der
letztere all das zusagte, was die kindliche Phantasie vom Vater
erwarten durfte, Schutz, Fürsorge und Schonung, wogegen man
sich verpflichtete, sein Leben zu ehren, das heißt die Tat an
ihm nicht zu wiederholen, durch die der wirkliche Vater zu
Grunde gegangen war. Es lag auch ein Rechtfertigungsversuch
im Totemismus. „Hätte der Vater uns behandelt wie der
Totem, wir wären nie in die Versuchung gekommen, ihn zu
töten.“ So verhalf der Totemismus dazu, die Verhältnisse zu
beschönigen und das Ereignis vergessen zu machen, dem er
seine Entstehung verdankte.
Es wurden hiebei Züge geschaffen, die fortan für den
Charakter der Religion bestimmend blieben. Die Totemreligion
war aus dem Schuldbewußtsein der Söhne hervorgegangen als
Versuch, dies Gefühl zu beschwichtigen und den beleidigten
Vater durch nachträglichen Gehorsam zu versöhnen. Alle spä-
teren Religionen erweisen sich als Lösungsversuche desselben
Problems, variabel je nach dem kulturellen Zustand, in dem
sie unternommen werden, und nach den Wegen, die sie ein-
schlagen, aber es sind alle gleichzielende Reaktionen auf die-
selbe große Begebenheit, mit der die Kultur begonnen hat, und
die seitdem die Menschheit nicht zur Ruhe kommen läßt.
Auch ein anderer Oharakter, den die Religion treu bewahrt
hat, ist damals schon im Totemismus hervorgetreten. Die Am-
bivalenzspannung war wohl zu groß, um durch irgend eine
Veranstaltung ausgeglichen zu werden, oder die psychologischen
Bedingungen sind der Erledigung dieser Gefühlsgegensätze über-
DER TOTEMISMUS ALS RELIGION. 195
haupt nicht günstig. Man merkt jedenfalls, daß die dem Vater-
komplex anhaftende Ambivalenz sich auch in den Totemismus
und in die Religionen überhaupt fortsetzt. Die Religion des
Totem umfaßt nicht nur die Äußerungen der Reue und die
Versuche der Versöhnung, sondern dient auch der Erinnerung
an den Triumph über den Vater. Die Befriedigung darüber
läßt das Erinnerungsfest der Totemmahlzeit einsetzen, bei dem
die Einschränkungen des nachträglichen Gehorsams wegfallen,
macht es zur Pflicht, das Verbrechen des Vatermordes in der
Opferung des Totemtieres immer wieder von neuem zu wieder-
holen, so oft der festgehaltene Erwerb jener Tat, die Aneig-
nung der Eigenschaften des Vaters, infolge der veränderten
Einflüsse des Lebens zu entschwinden droht. Wir werden nicht
überrascht sein zu finden, daß auch der Anteil des Sohnes-
trotzes, oft in den merkwürdigsten Verkleidungen und Umwen-
dungen, in späteren Religionsbildungen wieder auftaucht.
Verfolgen wir in Religion und sittlicher Vorschrift, die
im Totemismus noch wenig scharf gesondert sind, bisher die
Folgen der in Reue verwandelten zärtlichen Strömung gegen
den Vater, so wollen wir doch nicht übersehen, daß im wesent-
lichen die Tendenzen, welche zum Vatermord gedrängt haben,
den Sieg behalten. Die sozialen Brudergefühle, auf denen die
große Umwälzung ruht, bewahren von nun an über lange Zeiten
den tiefstgehenden Einfluß auf die Entwicklung der Gesell-
schaft. Sie schaffen sich Ausdruck in der Heiligung des ge-
meinsamen Blutes, in der Betonung der Solidarität aller Leben
desselben Clans. Indem die Brüder sich einander so das Leben
zusichern, sprechen sie aus, daß niemand von ihnen vom anderen
behandelt werden dürfe, wie der Vater von ihnen allen ge-
meinsam. Sie schließen eine Wiederholung des Vaterschicksals
aus. Zum religiös begründeten Verbot, den Totem zu töten,
13*
196 IV. DIE INFANTILE WIEDERKEHR DES TOTEMISMUS.
kommt nun das sozial begründete Verbot des Brudermordes
hinzu. Es wird dann noch lange währen, bis das Gebot die
Einschränkung auf den Stammesgenossen abstreifen und den
einfachen Wortlaut annehmen wird: Du sollst nicht morden.
Zunächst ist an Stelle der Vaterhorde der Brüderclan
getreten, welcher sich durch das Blutband versichert hat. Die
Gesellschaft ruht jetzt auf der Mitschuld an dem gemeinsam
verübten Verbrechen, die Religion auf dem Schuldbewußtsein
und der Reue darüber, die Sittlichkeit teils auf den Notwen-
digkeiten dieser Gesellschaft, zum anderen Teil auf den vom
Schuldbewußtsein geforderten Bußen.
Im Gegensatz zu den neueren und in Anlehnung an die
älteren Auffassungen des totemistischen Systems heißt uns also
die Psychoanalyse einen innigen Zusammenhang und gleich-
zeitigen Ursprung von Totemismus und Exogamie vertreten.
6.
Ich stehe unter der Einwirkung einer großen Anzahl von
starken Motiven, die mich vom Versuche zurückhalten werden,
die weitere Entwicklung der Religionen von ihrem Beginn im
Totemismus an bis zu ihrem heutigen Stande zu schildern.
Ich will nur zwei Fäden hindurch verfolgen, wo ich sie im
Gewebe besonders deutlich auftauchen sehe: Das Motiv des
"otemopfers und das Verhältnis des Sohnes zum Vater!).
Robertson Smith hat uns belehrt, daß die alte Totem-
mahlzeit in der ursprünglichen Form des Opfers wiederkehrt.
Der Sinn der Handlung ist derselbe: Die Heiligung durch die
Teilnahme an der gemeinsamen Mahlzeit; auch das Schuld-
1) Vgl. die zum Teil von abweichenden Gesichtspunkten beherrschte
Arbeit von C. G. Jung, Wandlungen und Symbole der Libido. Jahrbuch
von Bleuler-Freud, IV, 1912.
TOTEM UND GOTT. 197
bewußtsein ist dabei geblieben, welches nur durch die Solida-
rität aller Teilnehmer beschwichtigt werden kann. Neu hin-
zugekommen ist die Stammesgottheit, in deren gedachter Ge-
genwart das Opfer stattfindet, die an dem Mahle teilnimmt
wie ein Stammesgenosse, und mit der man sich durch den
Genuß am Opfer identifiziert. Wie kommt der Gott in die
ihm ursprünglich fremde Situation? |
Die Antwort könnte lauten, es sei unterdes — unbekannt
woher — die Gottesidee aufgetaucht, habe sich das ganze reli-
giöse Leben unterworfen, und wie alles andere, was bestehen
bleiben wollte, hätte auch die Totemmahlzeit den Anschluß an
das neue System gewinnen müssen. Allein die psychoanalytische
Erforschung des einzelnen Menschen lehrt mit einer ganz be-
sonderen Nachdrücklichkeit, daß für jeden der Gott nach dem
Vater gebildet ist, daß sein persönliches Verhältnis zu Gott
von seinem Verhältnis zum leiblichen Vater abhängt, mit ihm
schwankt und sich verwandelt, und daß Gott im Grunde nichts
anderes ist als ein erhöhter Vater. Die Psychoanalyse rät auch
hier wie im Falle des Totemismus, den Gläubigen Glauben zu
schenken, die Gott Vater nennen, wie sie den Totem Ahnherrn
senannt haben. Wenn die Psychoanalyse irgend welche Be-
achtung verdient, so muß, unbeschadet aller anderen Ursprünge
und Bedeutungen Gottes, auf welche die Psychoanalyse kein
Licht werfen kann, der Vateranteil an der Gottesidee ein sehr
gewichtiger sein. Dann wäre aber in der Situation des primi-
tiven Opfers der Vater zweimal vertreten, einmal als Gott und
dann als das Totemopfertier, und bei allem Bescheiden mit der
geringen Mannigfaltigkeit der psychoanalytischen Lösungen
müssen wir fragen, ob das möglich ist und welchen Sinn es
haben kann.
Wir wissen, daß mehrfache Beziehungen zwischen dem
198 IV. DIE INFANTILE WIEDERKEHR DES TOTEMISMUS.
Gott und dem heiligen Tier (Totem, Opfertier) bestehen:
l. Jedem Gott ist gewöhnlich ein Tier heilig, nicht selten selbst
ınehrere; 2. in gewissen, besonders heiligen Opfern, den „my-
stischen“ wurde dem Gotte gerade das ihm geheiligte Tier
zum Opfer dargebracht!); 3. der Gott wurde häufig in der
Gestalt eines Tieres verehrt oder, anders gesehen, Tiere ge-
nossen göttliche Verehrung lange nach dem Zeitalter des
Totemismus; 4. in den Mythen verwandelt sich der Gott häufig
in ein Tier, oft in das ihm geheiligte. So läge die Annahme
nahe, daß der Gott selbst das Totemtier wäre, sich auf einer
späteren Stufe des religiösen Fühlens aus dem Totemtier ent-
wickelt hätte. Aller weiteren Diskussion überhebt uns aber
die Erwägung, daß der Totem selbst nichts anderes ist als ein
Vaterersatz. So mag er die erste Form des Vaterersatzes sein,
der Gott aber eine spätere, in welcher der Vater seine mensch-
liche Gestalt wiedergewonnen. Eine solche Neuschöpfung aus
der Wurzel aller Religionsbildung, der Vatersehnsucht,
konnte möglich werden, wenn sich im Laufe der Zeiten am
Verhältnis zum Vater — und vielleicht auch zum Tiere --
Wesentliches geändert hatte.
Solche Veränderungen lassen sich leicht erraten, auch
wenn man von dem Beginn einer psychischen Entfremdung
von dem Tiere und von der Zersetzung des Totemismus durch
die Domestikation absehen will?). In der durch die Beseiti-
gung des Vaters hergestellten Situation lag ein Moment, wel-
ches im Laufe der Zeit eine außerordentliche Steigerung der
Vatersehnsucht erzeugen mußte. Die Brüder, welche sich zur
. Tötung des Vaters zusammengetan hatten, waren ja jeder für
sich vom Wunsche beseelt gewesen, dem Vater gleich zu wer-
I) Robertson Smith, Religion of the Semites.
2) 8:05.8u184,
DIE VERGOTTUNG DES URVATERS. 199
den, und hatten diesem Wunsche durch Einverleibung von
Teilen seines Ersatzes in der Totemmahlzeit Ausdruck gege-
ben. Dieser Wunsch mußte infolge des Druckes, welchen die
Bande des Brüderelan auf jeden Teilnehmer übten, unerfüllt
bleiben. Es konnte und durfte niemand mehr die Machtvoll-
kommenheit des Vaters erreichen, nach der sie doch alle ge-
strebt hatten. Somit konnte im Laufe langer Zeiten die Er-
bitterung gegen den Vater, die zur Tat gedrängt hatte, nach-
lassen, die Sehnsucht nach ihm wachsen, und es konnte ein
Ideal entstehen, welches die Machtfülle und Unbeschränktheit
des einst bekämpften Urvaters und die Bereitwilligkeit, sich
ihm zu unterwerfen, zum Inhalt hatte. Die ursprüngliche de-
mokratische Gleichstellung aller einzelnen Stammesgenossen
war infolge einschneidender kultureller Veränderungen nicht
mehr festzuhalten; somit zeigte sich eine Geneigtheit, in An-
lehnung an die Verehrung einzelner Menschen, die sich vor
anderen hervorgetan hatten, das alte Vaterideal in der Schöp-
fung von Göttern wieder zu beleben. Daß ein Mensch zum
Gott wird und daß ein Gott stirbt, was uns heute als empörende
Zumutung erscheint, war ja noch für das Vorstellungsvermögen
des klassischen Altertums keineswegs anstößig!). Die Erhöhung
des einst gemordeten Vaters zum Gott, von dem nun der Stamm
seine Herkunft ableitete, war aber ein weit ernsthafterer Sühne-
versuch als seinerzeit der Vertrag mit dem Totem.
9) „To us moderns for whom the breach which divides the human
and the divine has deepened into an impassible gulf such mimiery may
appear impious, but it was otherwise with the ancients. To their thin-
king gods and men were akin, for many families traced ther descent
from a divinity, and the deification of a man probably seemed as little
extraordinary to them as the canonisation of a saint seems to a modern
eatholic.“ Frazer, Golden Bough, I. The magic art and the evolution
of kings, II, p. 177.
200 IV. DIE INFANTILE WIEDERKEHR DES TOTEMISMUS.
Wo sich in dieser Entwicklung die Stelle für die großen
Muttergottheiten findet, die vielleicht allgemein den Vater-
göttern vorhergegangen sind, weiß ich nicht anzugeben. Sicher
scheint aber, daß die Wandlung im Verhältnis zum Vater sich
nicht auf das religiöse Gebiet beschränkte, sondern folgerichtig
auf die andere durch die Beseitigung des Vaters beeinflußte
Seite des menschlichen Lebens, auf die soziale Organisation,
übergriff. Mit der Einsetzung der Vatergottheiten wandelte
sich die vaterlose Gesellschaft allmählich in die patriarchalisch
geordnete um. Die Familie war eine Wiederherstellung der
einstigen Urhorde und gab den Vätern auch ein großes Stück
ihrer früheren Rechte wieder. Es gab jetzt wieder Väter,
aber die sozialen Errungenschaften des Brüderelan waren nicht
aufgegeben worden, und der faktische Abstand der neuen Fa-
milienväter vom unumschränkten Urvater der Horde war groß
genug, um die Fortdauer des religiösen Bedürfnisses, die Er-
haltung der ungestillten Vatersehnsucht, zu versichern.
In der Opferszene vor dem Stammesgott ist also der Vater
wirklich zweimal enthalten, als Gott und als Totemopfertier.
Aber bei dem Versuch, diese Situation zu verstehen, werden
wir uns vor Deutungen in Acht nehmen, welche sie in flächen-
bafter Auffassung wie eine Allegorie übersetzen wollen und
dabei der historischen Schichtung vergessen. Die zweifache
Anwesenheit des Vaters entspricht den zwei einander zeitlich
ablösenden Bedeutungen der Szene. Die ambivalente Einstel-
lung gegen den Vater hat hier plastischen Ausdruck gefunden
und ebenso der Sieg der zärtlichen Gefühlsregungen des Soh-
nes über seine feindseligen. Die Szene der Überwältigung des
Vaters, seiner größten Erniedrigung, ist hier zum Material
für eine Darstellung seines höchsten Triumphes geworden. Die
Bedeutung, die das Opfer ganz allgemein gewonnen hat, liegt
DAS OPFER VOR GOTT. 201
eben darin, daß es dem Vater die Genugtuung für die an ihm
verübte Schmach in derselben Handlung bietet, welche die Er-
innerung an diese Untat fortsetzt.
In weiterer Folge verliert das Tier seine Heiligkeit und
das Opfer die Beziehung zur Totemfeier; es wird zu einer
einfachen Darbringung an die Gottheit, zu einer Selbstentäuße-
rung zu Gunsten des Gottes. Gott selbst ist jetzt so hoch über
den Menschen erhaben, daß man mit ihm nur durch die Ver-
mittlung des Priesters verkehren kann. Gleichzeitig kennt die
soziale Ordnung göttergleiche Könige, welche das patriarcha-
lische System auf den Staat übertragen. Wir müssen sagen,
die Rache des gestürzten und wiedereingesetzten Vaters ist
eine harte geworden, die Herrschaft der Autorität steht auf
ihrer Höhe. Die unterworfenen Söhne haben das neue Ver-
hältnis dazu benützt, um ihr Schuldbewußtsein noch weiter
zu entlasten. Das Opfer, wie es jetzt ist, fällt ganz aus ihrer
Verantwortlichkeit heraus. Gott selbst hat es verlangt und
angeordnet. Zu dieser Phase gehören Mythen, in welchen der
Gott selbst das Tier tötet, das ihm heilig ist, das er eigentlich
selbst ist. Dies ist die äußerste Verleugnung der großen Untat,
mit welcher die Gesellschaft und das Schuldbewußtsein begann.
Eine zweite Bedeutung dieser letzteren Opferdarstellung ist
nicht zu verkennen. Sie drückt die Befriedigung darüber aus,
daß man den früheren Vaterersatz zu Gunsten der höheren
Gottesvorstellung verlassen hat. Die flach allegorische Über-
setzung der Szene fällt hier ungefähr mit ihrer psychoanalyti-
schen Deutung zusammen. Jene lautet: Es werde dargestellt,
daß der Gott den tierischen Anteil seines Wesens überwindet).
1) Die Überwindung einer Göttergeneration durch eine andere in
den Mythologien bedeutet bekanntlich den historischen Vorgang der Er-
setzung eines religiösen Systems durch ein neues, sei es infolge von Er-
202 IV. DIE INFANTILE WIEDERKEHR DES TOTEMISMUS.
Es wäre indes irrig, wenn man glauben wollte, in diesen
Zeiten der erneuerten Vaterautorität seien die feindseligen Re-
gungen, welche dem Vaterkomplex zugehören, völlig verstummt.
Aus den ersten Phasen der Herrschaft der beiden neuen Vater-
ersatzbildungen, der Götter und der Könige, kennen wir viel-
mehr die energischesten Äußerungen jener Ambivalenz, welche
für die Religion charakteristisch bleibt.
Frazer hat in seinem großen Werk „The Golden Bough“
die Vermutung ausgesprochen, daß die ersten Könige der latei-
nischen Stämme Fremde waren, welche die Rolle einer Gott-
heit spielten und in dieser Rolle an einem bestimmten Fest-
tage feierlich hingerichtet wurden. Die jährliche Opferung
(Variante: Selbstopferung) eines Gottes scheint ein wesent-
licher Zug der semitischen Religionen gewesen zu sein. Das
Zeremoniell der Menschenopfer an den verschiedensten Stellen
der bewohnten Erde läßt wenig Zweifel darüber, daß diese
Menschen als Repräsentanten der Gottheit ihr Ende fanden,
und in der Ersetzung des lebenden Menschen durch eine leb-
lose Nachahmung (Puppe) läßt sich dieser Opfergebrauch noch
in späte Zeiten verfolgen. Das theanthropische Gottesopfer,
welches ich hier leider nicht mit der gleichen Vertiefung wie
das Tieropfer behandeln kann, wirft-ein helles Licht nach
rückwärts auf den Sinn der älteren Opferformen. Es bekennt
mit kaum zu überbietender Aufrichtigkeit, daß das Objekt
der Opferhandlung immer das nämliche war, dasselbe, was nun
oberung durch ein Fremdvolk oder auf dem Wege psychologischer Ent-
wicklung. Im letzteren Falle nähert sich der Mythus den „funktionalen
Phänomenen“ im Sinne von H. Silberer. Daß der das Tier tötende
Gott ein Libidosymbol ist, wie ©. G. Jung (I. c.) behauptet, setzt einen
anderen Begriff der Libido als den bisher verwendeten voraus und er-
scheint mir überhaupt fragwürdig.
DAS GOTTESOPFER. 203
als Gott verehrt wird, der Vater also. Die Frage nach dem
Verhältnis von Tier- und Menschenopfer findet jetzt eine ein-
fache Lösung. Das ursprüngliche Tieropfer war bereits ein
Ersatz für ein Menschenopfer, für die feierliche Tötung des
Vaters, und als der Vaterersatz seine menschliche Gestalt wie-
der erhielt, konnte sich das Tieropfer auch wieder in das Men-
schenopfer verwandeln.
So hatte sich die Erinnerung an jene erste große Opfertat
als unzerstörbar erwiesen, trotz aller Bemühungen, sie zu ver-
gessen, und gerade als man sich von ihren Motiven am wei-
testen entfernen wollte, mußte in der Form des Gottesopfers
ihre unentstellte Wiederholung zu Tage treten. Welche Ent-
wicklungen des religiösen Denkens als Rationalisierungen diese
Wiederkehr ermöglicht haben, brauche ich an dieser Stelle nicht
auszuführen. Robertson Smith, dem ja unsere Zurück-
führung des Opfers auf jenes große Ereignis der menschlichen
Urgeschichte fern liegt, gibt an, daß die Zeremonien jener
Feste, mit denen die alten Semiten den Tod einer Gottheit
feierten, als „ommemorationofamythicaltragedy“
ausgelegt wurden, und daß die Klage dabei nicht den Charakter
einer spontanen Teilnahme hatte, sondern etwas Zwangsmäßiges,
von der Furcht vor dem göttlichen Zorn Gebotenes an sich
trug!). Wir glauben zu erkennen, daß diese Auslegung im
Rechte war, und daß die Gefühle der Feiernden in der zu Grunde
liegenden Situation ihre gute Aufklärung fanden.
1) Religion of the Semites, p. 412—413. „The mourning is not a
spontaneous expression of sympathy with the divine tragedy but obli-
gatory and enforced by fear of supernatural anger. And a chief object
of the mourners is to disclaim responsibility for the gods
death — a point which has already come before us in connection with
theantlıropic sacrifices, such as the ‚„oxmurder at Athens“.
204 IV. DIE INFANTILE WIEDERKEHR DES TOTEMISMUS.
Nehmen wir es nun als Tatsache hin, daß auch in der
weiteren Entwicklung der Religionen die beiden treibenden
Faktoren, das Schuldbewußtsein des Sohnes und der Sohnes-
trotz, niemals erlöschen. Jeder Lösungsversuch des religiösen
Problems, jede Art der Versöhnung der beiden widerstreitenden
seelischen Mächte wird allmählich hinfällig, wahrscheinlich
unter dem kombinierten Einfluß von kulturellen Änderungen,
historischen Ereignissen und inneren psychischen Wandlungen.
Mit immer größerer Deutlichkeit tritt das Bestreben des
Sohnes hervor, sich an die Stelle des Vatergottes zu setzen.
Mit der Einführung des Ackerbaues hebt sich die Bedeutung
des Sohnes in der patriarchalischen Familie. Er getraut sich
neuer Äußerungen seiner inzestuösen Libido, die in der Be-
arbeitung der Mutter Erde eine symbolische Befriedigung findet.
Es entstehen die Göttergestalten des Attis, Adonis, Tammuz
u. a., Vegetationsgeister und zugleich jugendliche Gottheiten,
welche die Liebesgunst mütterlicher Gottheiten genießen, den
Mutterinzest dem Vater zum Trotze durchsetzen. Allein das
Schuldbewußtsein, welches durch diese Schöpfungen nicht be:
schwichtigt ist, drückt sich in den Mythen aus, die diesen
jugendlichen Geliebten der Muttergötiinnen ein kurzes Leben
und eine Bestrafung durch Entmannung oder durch den, Zorn
des Vatergottes in Tierform bescheiden. Adonis wird durch
den Eber getötet, das heilige Tier der Aphrodite; Attis, der
Geliebte der Kybele, stirbt an Entmannung!). Die Beweinung
I) Die Kastrationsangst spielt eine außerordentlich große Rolle in
der Störung des Verhältnisses zum Vater bei unseren jugendlichen Neu-
rotikern. Aus der schönen Beobachtung von Ferenczi haben wir er-
- sehen, wie der Knabe seinen Totem in dem Tier erkennt, welches nach
seinem kleinen Gliede schnappt. Wenn unsere Kinder von der rituellen
Beschneidung erfahren, stellen sie dieselbe der Kastration gleich. Pie
völkerpsychologische Parallele zu diesem Verhalten der Kinder ist meines
DIE ERSETZUNG DER VATERGOTTHEITEN DURCH SOHNESGÖTTER. 205
und die Freude über die Auferstehung dieser Götter ist in das
Rituale einer anderen Sohnesgottheit übergegangen, welche zu
dauerndem Erfolge bestimmt war.
Als das Christentum seinen Einzug in die antike Welt
begann, traf es auf die Konkurrenz der Mithrasreligion, und
es war für eine Weile zweifelhaft, welcher Gottheit der Sieg
zufallen würde.
Die lichtumflossene Gestalt des persischen Götterjünglings
ist doch unserem Verständnis dunkel geblieben. Vielleicht darf
man aus den Darstellungen der Stiertötungen durch Mithras
schließen, daß er jenen Sohn vorstellte, der die Opferung des
Vaters allein vollzog und somit die Brüder von der sie drük-
kenden Mitschuld an der Tat erlöste. Es gab einen anderen
Weg zur Beschwichtigung dieses Schuldbewußtseins und diesen
beschritt erst Christus. Er ging hin und opferte sein eigenes
Leben und dadurch erlöste er die Brüderschar von der Erbsünde.
Die Lehre von der Erbsünde ist orphischer Herkunft;
sie wurde in den Mysterien erhalten und drang von da aus in
die Philosophenschulen des griechischen Altertums ein!). Die
Menschen waren die Nachkommen von Titanen, welche den
jungen Dionysos-Zagreus getötet und zerstückelt hatten; die
Last dieses Verbrechens drückte auf sie. In einem Fragment
Wissens noch nicht ausgeführt worden. Die in der Urzeit und bei primi-
tiven Völkern so häufige Beschneidung gehört dem Zeitpunkt der Männer-
- weihe an, wo sie ihre Bedeutung finden muß, und ist erst sekundär in
frühere Lebenszeiten zurückgeschoben worden. Es ist überaus interessant,
duß die Beschneidung bei den Primitiven mit Haarabschneiden und Zahn-
ausschlagen kombiniert oder durch sie ersetzt ist, und daß unsere Kinder,
die von diesem Sachverhalt nichts wissen können, in ihren Angstreaktionen
diese beiden Operationen wirklich wie Äquivalente der Kastration be-
handeln. :
1) Reinach, Cultes, Mythes et Religions, Il, p. 75 ff.
206 IV. DIE INFANTILE WIEDERKEHR DES TOTEMISMUS.
von Anaximander wird gesagt, daß die Einheit der Welt
durch ein urzeitliches Verbrechen zerstört worden sei, und
daß alles, was daraus hervorgegangen, die Strafe dafür weiter
tragen muß!). Erinnert die Tat der Titanen durch die Züge
der Zusammenrottung, der Tötung und Zerreißung deutlich
genug an das von St. Nilus beschriebene Totemopfer, — wie
übrigens viele andere Mythen des Altertums, z. B. der Tod
des Orpheus selbst —, so stört uns hier doch die Abweichung,
daß die Mordtat an einem jugendlichen Gotte vollzogen wird.
Im christlichen Mythus ist die Erbsünde des Menschen
unzweifelhaft eine Versündigung gegen Gottvater. Wenn nun
Christus die Menschen von dem Drucke der Erbsünde erlöst,
indem er sein eigenes Leben opfert, so zwingt er uns zu dem
Schlusse, daß diese Sünde eine Mordtat war. Nach dem im
menschlichen Fühlen tiefgewurzelten Gesetz der Talion kann
ein Mord nur durch die Opferung eines anderen Lebens ge-
sühnt werden; die Selbstaufopferung weist auf eine Blutschuld
zurück?). Und wenn dieses Opfer des eigenen Lebens die Ver-
söhnung mit Gottvater herbeiführt, so kann das zu sühnende
Verbrechen kein anderes als der Mord am Vater gewesen sein.
So bekennt sich denn in der christlichen Lehre die Mensch-
heit am unverhülltesten zu der schuldvollen Tat der Urzeit,
weil sie nun im Opfertod des einen Sohnes die ausgiebigste
Sühne für sie gefunden hat. Die Versöhnung mit dem Vater
ist um so gründlicher, weil gleichzeitig mit diesem Opfer der
volle Verzicht auf das Weib erfolgt, um dessen Willen man
sich gegen den Vater empört hatte. Aber nun fordert auch
das psychologische Verhängnis der Ambivalenz seine Rechte.
>) „Une sorte de pech& proethnique“ 1. c., p. 76.
?) Die Selbstmordimpulse unserer Neurotiker erweisen sich regelmäßig
als Selbstbestrafungen für Todeswünsche, die gegen andere gerichtet sind.
DAS ZEUGNIS DER ERBSÜNDE. 207
>
Mit der gleichen Tat, welche dem Vater die größtmögliche
Sühne bietet, erreicht auch der Sohn das Ziel seiner Wünsche
gegen den Vater. Er wird selbst zum Gott neben, eigentlich
an Stelle des Vaters. Die Sohnesreligion löst die Vaterreligion
ab. Zum Zeichen dieser Ersetzung wird die alte Totemmahl-
zeit als Kommunion wieder belebt, in welcher nun die Brüder-
schar vom Fleisch und Blut des Sohnes, nicht mehr des Vaters,
genießt, sich durch diesen Genuß heiligt und mit ihm identi-
fiziert. Unser Blick verfolgt durch die Länge der Zeiten die
Identität der Totemmahlzeit mit dem Tieropfer, dem theanthro-
pischen Menschenopfer und mit der christlichen Eucharistie
und erkennt in all diesen Feierlichkeiten die Nachwirkung
ıenes Verbrechens, welches die Menschen so sehr bedrückte, und
auf das sie doch so stolz sein mußten. Die christliche Kom-
munion ist aber im Grunde eine neuerliche Beseitigung des
Vaters, eine Wiederholung der zu sühnenden Tat. Wir merken,
wie berechtigt der Satz von Frazer ist, daß „the Christian
communion has absorbed within itself a sacrament which is
doubtless far older than Christianity!)“.
T:
Eiw Vorgang wie die Beseitigung des Urvaters durch die
Brüderschar mußte unvertilgbare Spuren in der Geschichte der
Menschheit hinterlassen und sich in desto zahlreicheren Ersatz-
bildungen zum Ausdruck bringen, je weniger er selbst erinnert
1) Eating the God, p. 3l....... Niemand, der mit der Literatur des
Gegenstandes vertraut ist, wird annehmen, daß die Zurückführung der
ehristlichen Kommunion auf die Totemmalılzeit eine Idee des Schreibers
dieses Aufsatzes sei.
208 IV. DIE INFANTILE WIEDERKEHR DES TOTEMISMUS.
werden sollte!). Ich gehe der Versuchung aus dem Wege,
diese Spuren in der Mythologie, wo sie nicht schwer zu finden
sind, nachzuweisen und wende mich einem anderen Gebiete zu,
indem ich einem Fingerzeig von S. Reinach in einer inhalts-
reichen Abhandlung über den Tod des Orpheus folge?).
In der Geschichte der griechischen Kunst gibt es eine Si-
tuation, welche auffällige Ähnlichkeiten und nicht minder
tiefgehende Verschiedenheiten mit der von Robertson
Smith erkannten Szene der Totemmahlzeit zeigt. Es ist die
Situation der ältesten griechischen Tragödie. Eine Schar von
Personen, alle gleich benannt und gleich gekleidet, umsteht
einen einzigen, von dessen Reden und Handeln sie alle abhängig
sind: es ist der Chor und der ursprünglich einzige Helden-
darsteller. Spätere Entwicklungen brachten einen zweiten und
dritten Schauspieler, um Gegenspieler und Abspaltungen des
Helden darzustellen, aber der Charakter des Helden wie sein
2) Ariel im „Sturm“:
Full fathom five thy father lies:
Of his bones are coral made;
Those are pearls that were his eyes;
Nothing of him that doth fade
But doth suffer a sea-change
Into something rich and strange.
In der schönen Übersetzung von Schlegel:
‘Fünf Faden tief liegt Vater dein.
Sein Gebein wird zu Korallen,
Perlen sind die Augen sein.
Nichts an ihm, das soll verfallen,
Das nicht wandelt Meeres-Hut
In ein reich und seltnes Gut.
2) La Mort d’Orphee in dem hier oft zitierten Buche: Cultes, Mythss
-et Religions. T. II, p. 100 £f£.
DER TRAGISCHE HELD ALS ERSATZ DES URVATERS, 209
Verhältnis zum Chor blieben unverändert. Der Held der Tra-
gödie mußte leiden; dies ist noch heute der wesentliche In-
halt einer Tragödie. Er hatte die sogenannte „tragische Schuld“
auf sich geladen, die nicht immer leicht zu begründen ist;
sie ist oft keine Schuld im Sinne des bürgerlichen Lebens.
Zumeist bestand sie in der Auflehnung gegen eine göttliche
oder menschliche Autorität, und der Chor begleitete den Helden
mit seinen sympathischen Gefühlen, suchte ihn zurückzuhalten,
zu warnen, zu mäßigen und beklagte ihn, nachdem er für sein
kühnes Unternehmen die als verdient hingestellte Bestrafung
gefunden hatte.
Warum muß aber der Held der Tragödie leiden und was
bedeutet seine „tragische“ Schuld? Wir wollen die Diskus-
sion durch rasche Beantwortung abschneiden. Er muß leiden,
weil er der Urvater, der Held jener großen urzeitlichen Tragödie
ist, die hier eine tendenziöse Wiederholung findet, und die
tragische Schuld ist jene, die er auf sich nehmen muß, um
den Chor von seiner Schuld zu entlasten. Die Szene auf der
Bühne ist durch zweckmäßige Entstellung, man könnte sagen:
im Dienste raffinierter Heuchelei, aus der historischen Szene
hervorgegangen. In jener alten Wirklichkeit waren es gerade
die Chorgenossen, die das Leiden des Helden verursachten; hier
aber erschöpfen sie sich in Teilnahme und Bedauern, und der
Held ist selbst an seinem Leiden schuld. Das auf ihn ge-
wälzte Verbrechen, die Überhebung und Auflehnung gegen
eine große Autorität, ist genau dasselbe, was in Wirklichkeit
die Genossen des Chors, die Brüderschar, bedrückt. So wird
der tragische Held — noch wider seinen Willen — zum Er-
löser des Chors gemacht.
Waren speziell in der griechischen Tragödie die Leiden
des göttlichen Bockes Dionysos und die Klage des mit ihm
14
Freud, Totem und Tabu.
210 IV. DIE INFANTILE WIEDERKEHR DES TOTEMISMUS,
sich identifizierenden Gefolges von Böcken der Inhalt der Auf-
führung, so wird es leicht verständlich, daß das bereits er-
loschene Drama sich im Mittelalter an der Passion Christi neu‘
entzündete. |
So möchte ich denn zum Schlusse dieser mit äußerster
- Verkürzung geführten Untersuchung das Ergebnis aussprechen,
daß im Ödipuskomplex die Anfänge von Religion, Sittlichkeit,
Gesellschaft und Kunst zusammentreffen, in voller Überein-
stimmung mit der Feststellung der Psychoanalyse, daß dieser
Komplex den Kern aller Neurosen bildet, so weit sie bis jetzt
unserem Verständnis nachgegeben haben. Es erscheint mir als
eine große Überraschung, daß auch diese Probleme des Völker-
-seelenlebens eine Auflösung von einem einzigen konkreten
Punkte her, wie es das Verhältnis zum Vater ist, gestatten
sollten. Vielleicht ist selbst ein anderes psychologisches Pro-
blem in diesen Zusammenhang einzubeziehen. Wir haben so
‘oft Gelegenheit gehabt, die Gefühlsambivalenz im eigentlichen
Sinne, also das Zusammentreffen von Liebe und Haß gegen
dasselbe Objekt, an der Wurzel wichtiger Kulturbildungen auf-
zuzeigen. Wir wissen nichts über die Herkunft dieser Ambi-
valenz. Man kann die Annahme machen, daß sie ein fundamen-
tales Phänomen unseres Gefühlslebens sei. Aber auch die
andere Möglichkeit scheint mir wohl beachtenswert, daß sie,
dem Gefühlsleben ursprünglich fremd, von der Menschheit an
dem Vaterkomplex!) erworben wurde, wo die psychoanaly-
tische Erforschung des Einzelmenschen heute noch ihre stärkste
Ausprägung nachweist?).
1) Respektive Elternkomplex.
2) Der Mißverständnisse gewöhnt, halte ich es nicht für überflüssig,
ausdrücklich hervorzuheben, daß die hier gegebenen Zurückführungen an
die komplexe Natur der abzuleitenden Phänomene keineswegs vergessen
EINWENDUNGEN UND SCHWIERIGKEITEN. 211
| Bevor ich nun abschließe, muß ich der Bemerkung Raum
geben, daß der hohe Grad von Konvergenz zu einem umfassen-
den Zusammenhange, den wir in diesen Ausführungen er-
reicht haben, uns nicht gegen die Unsicherheiten unserer Vor-
aussetzungen und die Schwierigkeiten unserer Resultate ver-
blenden kann. Von den letzteren will ich nur noch zwei be-
handeln, die sich manchem Leser aufgedrängt haben dürften.
Es kann zunächst niemandem entgangen sein, daß wir
überall die Annahme einer Massenpsyche zu Grunde legen, in
welcher sich die seelischen Vorgänge vollziehen wie im Seelen-
leben eines einzelnen. Wir lassen vor allem das Schuldbewußt-
sein wegen einer Tat über viele Jahrtausende fortleben und
in Generationen wirksam bleiben, welche von dieser Tat nichts
wissen konnten. Wir lassen einen Gefühlsprozeß, wie er bei
Generationen von Söhnen entstehen konnte, die von ihrem
Vater mißhandelt wurden, sich auf neue Generationen fort-
setzen, welche einer solchen Behandlung gerade durch die Be-
seitigung des Vaters entzogen worden waren. Dies scheinen
allerdings schwerwiegende Bedenken, und jede andere Erklä-
rung scheint den Vorzug zu verdienen, welche solche Voraus-
setzungen vermeiden kann.
Allein eine weitere Erwägung zeigt, daß wir die Verant-
wortlichkeit für solche Kühnheit nicht allein zu tragen haben.
haben, und daß sie nur den Anspruch erheben, zu den bereits bekannten
oder noch unerkannten Ursprüngen der Religion, Sittlichkeit und der Ge-
sellschaft ein neues Moment hinzufügen, welches sich aus der Berücksich-
tigung der psychoanalytischen Anforderungen ergibt. Die Synthese zu
einem Ganzen der Erklärung muß ich anderen überlassen. Es geht aber
diesmal aus der Natur dieses neuen Beitrages hervor, daß er in einer.
solchen Synthese keine andere als die zentrale Rolle spielen könnte, wenn-
gleich die Überwindung von großen affektiven Widerständen erfordert
werden dürfte, ehe man ihm eine solche Bedeutung zugesteht.
14*
212 IV. DIE INFANTILE WIEDERKEHR DES TOTEMISMUS.
Ohne die Annahme einer Massenpsyche, einer Kontuinuität im
Gefühlsleben der Menschen, welche gestattet, sich über die Un-
terbrechungen der seelischen Akte durch das Vergehen der In-
dividuen hinwegzusetzen, kann die Völkerpsychologie über
haupt nicht bestehen. Setzten sich die psychischen Prozesse der
einen Generation nicht auf die nächste fort, müßte jede ihre
Einstellung zum Leben neu erwerben, so gäbe es auf diesem
Gebiet keinen Fortschritt und so gut wie keine Entwicklung.
Es erheben sich nun zwei neue Fragen, wieviel man der psy-
chischen Kontinuität innerhalb der Generationsreihen zutrauen
kann, und welcher Mittel und Wege sich die eine Generation
bedient, um ihre psychischen Zustände auf die nächste zu über-
tragen. Ich werde nicht behaupten, daß diese Probleme weit
genug geklärt sind, oder daß die direkte Mitteilung und Tra-
dition, an die man zunächst denkt, für das Erfordernis hin-
reichen. Im allgemeinen kümmert sich die Völkerpsychologie
wenig darum, auf welche Weise die verlangte Kontinuität im
Scelenleben der einander ablösenden Generation hergestellt
wird. Ein Teil der Aufgabe scheint durch die Vererbung psy-
chischer Dispositionen besorgt zu werden, welche aber doch
gewisser Anstöße im individuellen Leben bedürfen, um zur
Wirksamkeit zu erwachen. Es mag dies der Sinn des Dichter-
wortes sein: Was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es, um
es zu besitzen. Das Problem erschiene noch schwieriger, wenn wir
zugestehen könnten, daß es seelische Regungen gibt, welche so
spurlos unterdrückt werden können, daß sie keine Resterschei-
nungen zurücklassen. Allein solche gibt es nicht. Die stärkste
Unterdrückung muß Raum lassen für entstellte Ersatzregungen
und aus ihnen folgende Reaktionen. Dann dürfen wir aber an-
nehmen, daß keine Generation im stande ist, bedeutsamere see-
lische Vorgänge vor der nächsten zu verbergen. Die Psycho-
EINWENDUNGEN UND SCHWIERIGKEITEN. >13
analyse hat uns nämlich gelehrt, daß jeder Mensch in seiner
unbewußten Geistestätigkeit einen Apparat besitzt, der ihm
gestattet, die Reaktionen anderer Menschen zu deuten, das heißt
die Entstellungen wieder rückgängig zu machen, welche der
andere an dem Ausdruck seiner Gefühlsregungen vorgenommen
hat. Auf diesem Wege des unbewußten Verständnisses all der
Sitten, Zeremonien und Satzungen, welche das ursprüngliche
Verhältnis zum Urvater zurückgelassen hatte, mag auch den
späteren Generationen die Übernahme jener Gefühlserbschaft
gelungen sein.
Ein anderes Bedenken dürfte gerade von seiten der ana-
lytischen Denkweise erhoben werden.
‚Wir haben die ersten Moralvorschriften und sittlichen Be-
schränkungen der primitiven Gesellschaft als Reaktion auf eine
Tat aufgefaßt, welche ihren Urhebern den Begriff des Ver-
brechens gab. Sie bereuten diese Tat und beschlossen, daß
sie nicht mehr wiederholt werden solle, und daß ihre Aus-
führung keinen Gewinn gebracht haben dürfe. Dies schöpfe-
rische Schuldbewußtsein ist nun unter uns nicht erloschen.
Wir finden es bei den Neurotikern in asozialer Weise wirkend,
um neue Moralvorschriften, fortgesetzte Einschränkungen zu
produzieren, als Sühne für die begangenen und als Vorsicht
gegen neu zu begehende Untaten!). Wenn wir aber bei diesen
Neurotikern nach den Taten forschen, welche solche Reak-
tionen wachgerufen haben, so werden wir enttäuscht. Wir
finden nicht Taten, sondern nur Impulse, Gefühlsregungen,
welche nach dem Bösen verlangen, aber von der Ausführung
abgehalten worden sind. Dem Schuldbewußtsein der Neuro-
tiker liegen nur psychische Realitäten zu Grunde, nicht fak-
tische. Die Neurose ist dadurch charakterisiert, daß sie die
3) Vgl. den zweiten Aufsatz dieser Reihe über das Tabu.
214 IV. DIE INFANTILE WIEDERKEHR DES TOTEMISMUS,
psychische Realität über die faktische setzt, auf Gedanken
ebenso ernsthaft reagiert wie die Normalen nur auf Wirklich-
keiten.
Kann es sich bei den Primitiven nicht ähnlich verhalten _
haben? Wir sind berechtigt, ihnen eine außerordentliche Über-
schätzung ihrer psychischen Akte als Teilerscheinung ihrer
narzißtischen Organisation zuzuschreiben!). Demnach könnten
die bloßen Impulse von Feindseligkeit gegen den Vater, die
Existenz der Wunschphantasie, ihn zu töten und zu verzehren,
hingereicht haben, um jene moralische Reaktion zu erzeugen,
die Totemismus und Tabu geschaffen hat. Man würde so der
Notwendigkeit entgehen, den Beginn unseres kulturellen Be-
sitzes, auf den wir mit Recht so stolz sind, auf ein gräßliches,
alle unsere Gefühle beleidigendes Verbrechen zurückzuführen.
Die kausale, von jenem Anfang bis in unsere Gegenwart rei-
chende Verknüpfung litte dabei keinen Schaden, denn die psy-
chische Realität wäre bedeutsam genug, um alle diese Folgen
zu tragen. Man wird dagegen einwenden, daß ja eine Ver-
änderung der Gesellschaft von der Form der Vaterhorde zu
der des Brüderelan wirklich vorgefallen ist. Dies ist ein starkes
Argument, aber doch nicht entscheidend. Die Veränderung
könnte auf minder gewaltsame Weise erreicht worden sein und
doch die Bedingung für das Hervortreten der moralischen Re-
aktion enthalten haben. Solange der Druck des Urvaters sich
fühlbar machte, waren die feindseligen Gefühle gegen ihn
berechtigt, und die Reue über sie mußte einen anderen Zeit-
punkt abwarten. Ebensowenig ist der zweite Einwand stich-.
haltig, daß alles, was sich aus der ambivalenten Relation zum
Vater ableitet, Tabu und Opfervorschrift, den Charakter des
1) Siehe den Aufsatz über Animismus, Magie und Allmacht der Ge-
danken,
HISTORISCHE ODER PSYCHISCHE REALITÄT. 215
höchsten Ernstes und der vollsten Realität an sich trägt. Auch
das Zeremoniell und die Hemmungen der Zwangsneurotiker
zeigen diesen Charakter und gehen doch nur auf psychische
Realität, auf Vorsatz und nicht auf Ausführungen zurück.
‘Wir müssen uns hüten, aus unserer nüchternen Welt, die voll
ist von materiellen Werten, die Geringschätzung des bloß Ge-
dachten und Gewünschten in die nur innerlich reiche Welt des
Primitiven und des Neurotikers einzutragen.
‚Wir stehen hier vor einer Entscheidung, die uns wirklich
nicht leicht gemacht ist. Beginnen wir aber mit dem Be-
kenntnis, daß der Unterschied, der anderen fundamental er-
scheinen kann, für unser Urteil nicht das Wesentliche des
Gegenstandes trifft. Wenn für den Primitiven Wünsche und
Impulse den vollen Wert von Tatsachen haben, so ist es an
uns, solcher Auffassung verständnisvoll zu folgen, anstatt sie
nach unserem Maßstab zu korrigieren. Dann aber wollen wir
das Vorbild der Neurose, das uns in diesen Zweifel gebracht hat,
selbst schärfer ins Auge fassen. Es ist nicht richtig, daß die
Zwangsneurotiker, welche heute unter dem Drucke einer Über-
moral stehen, sich nur gegen die psychische Realität von Ver-
suchungen verteidigen und wegen bloß verspürter Impulse be-
strafen. Es ist auch ein Stück historischer Realität dabei; in
ihrer Kindheit hatten diese Menschen nichts anderes als die
bösen Impulse, und insoweit sie in der Ohnmacht des Kindes
es konnten, haben sie diese Impulse auch in Handlungen um-
gesetzt. Jeder von diesen Überguten hatte in der Kindheit
seine böse Zeit, eine perverse Phase als Vorläufer und Vor-
aussetzung der späteren übermoralischen. Die Analogie der
Primitiven mit den Neurotikern wird also viel gründlicher her-
gestellt, wenn wir annehmen, daß auch bei den ersteren die
psychische Realität, an deren Gestaltung kein Zweifel ist, an-
“
216 ‘ IV. DIE INFANTILE WIEDERKEHR DES TOTEMISMUS.
fänglich mit der faktischen, Realität zusammenfiel, daß die
Primitiven das wirklich getan haben, was sie nach allen Zeug-
nissen zu,tun beabsichtigten.
Allzuweit dürfen wir unser Urteil über die Primitiven
auch nicht durch die Analogie mit den Neurotikern beeinflussen
lassen. Es sind auch die Unterschiede in Rechnung zu ziehen.
Gewiß sind bei beiden, Wilden wie Neurotikern, die scharfen
Scheidungen zwischen Denken und Tun, wie wir sie ziehen,
nicht vorhanden. Allein der Neurotiker ist vor allem im Han-
deln gehemmt, bei ihm ist der Gedanke der volle Ersatz für
die Tat. Der Primitive ist ungehemmt, der Gedanke setzt sich
ohne weiteres in Tat um, die Tat ist ihm sozusagen eher ein
Ersatz des Gedankens, und darum meine ich, ohne selbst für
die letzte Sicherheit der Entscheidung einzutreten, man darf
in dem Falle, den wir diskutieren, wohl annehmen: Im An-
fang war die Tat.
Fo r%
FE
I \ ’
W
_ 1
| 4
we
N
SP 2 ra 797 PS
F ae DI u De 27
en a
k
en Fan Kuh: 102 Me OR 2 % Dede j
ee Te Fan u 7, Me
L en a u wre). WR mann Fr ie |.
et
RN. ui Pr
FIT ar 5
- EA. ee er a 2
kart rs
RT 2 Ir zZ
A Ts wer
Pe 2
tr na
ir
> hm DE dr
er
Ba N + Merrıe u a
DEE et
£ Th ER “
-
Pr
1 “B Br “N
, EI; ja}
P}
ee ICP - 2
Bars wi” ee
pa 725 %
w
u Dt,
he,
ie;
Le Tr Ir
Eat are
BEE
c
.*
e
I“
#
Pr
a IN
> rue
Pt >,
INTERNATIONALER PSYCHOANALYTISCHER VERLAG G.M.B.H,
. Internationale Psychoanalytische Bibliothek
|
|
|
!
\
}
}
Nr. 1
Zur Psychoanalyse der Kriegsneurosen
Diskussion mit Beiträgen von Prof. Freud (Wien), Dr. Abraham (Berlin),
Dr. Ferenczi (Budapest), Dr. Jones (London), Dr. Simmel (Berlin)
6 Bogen Groß-Oktav.
Nr. 2
' Dr. 8. Ferenezi
Hysterie und Pathoneurosen
6 Bogen Groß-Oktav. .
Nr. 4
Dr. Otto Rank
Psychoanalytische Beiträge zur Mythenforschung
27 Bogen Groß-Oktav.
Nr.5
Dr. Theodor Reik
Probleme der Religionspsychologie
20 Bogen Groß-Oktav.
Nr. 6
Dr. G6za Röheim
Spiegelzauber
16 Bogen Groß-Oktav.
Nr.7
5 Dr. Eduard Hitschmann j
Gottfried Keller
Psychoanalyse des Dichters, seiner Gestalten und Motive
8 Bogen Klein-Oktav.
i Nr. 8
Dr. Oskar Pfister
Zum Kampf um die Psychoanalyse
29 Bogen Groß-Oktav.
Nr, 9
Aurel Kolnai
.., Psychoanalyse und Soziologie
[ Nr. 10
Dr. Karl Abraham
i
Klinische Beiträge zur Psychoanalyse
TAGEBUCH EINES IIALB-
WÜCHSIGEN MÄDCHENS
(von 11 bis 14'/, Jahren).
Im VII. Jahrgang beginnen zu erscheinen:
IMAGO
Zeitschrift für Anwendung d. Kr meitte
auf die Geisteswissenschaften
‘Herausgegeben von
Prof. Dr. Sigm. Freud
redigiert von
Dr, Otto Rank und Dr. Hanns Sachs.
Jährlich 4 Hefte, zus. 24—30 Druckbogen.
Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse
Offizielles Organ der
Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung.
Herausgegeben von Prof. Dr. Sigm. Freud.
Unter Mitwirkung von
Dr. Karl Abraham (Berlin), Dr. Jan van ende (Haag),
Dr. S. Ferenezi (Budapest), Dr. Eduard Hitschmann (Wien),
Dr. Ernest Jones (London), Dr. Emil Oberh ER Zürich.
Redigiert von
Dr. Otto Rank (Wien).
Jährlich 4 Hefte, zusammen 24—32 Bogen stark.
Druck- und Verlagshaus Karl Prochaska, Teschen.
“
Li
UND TABU- .
2 = #
Ws
(a \ '
. . 3 N a 4 r
ua ”
’ Bud
y Des :
u x +
RW;
13 1} .
. s -
Li x - zit
+ ° 5 |
# I Ai is P- 2 0 E
4 x 1
“ ß x
Br »
Kalsı ie u
’ . Le
\ j =
j „2%
) rk ’
y .
T ‘
3 PR,
‚Pe
” j ‚
RA R N,
w
u 1 2 u 7
s , » Ar £
F Pr
- & » - % as
“ r en
EN x nr,
2 N ke
« }
F «
} I 5
0
Br R = =
.
j» J
Y ‚“ ‚ a + 18 u
£ ri
A k
k K \
.
’ -.
D \
r) u .
4 e "
ri mw rd
’ .
„4 E mr ke
Zu {
RE en
ar
nn DE u EB un u a 2
ee RT Te
nl Ze Mut) ©