n \ v -v -ä 'i
rk ^y
• , S >'5 i-> £*a W oJ.ja
- . r4-^ -v.r —2 Jv >~ f - -/V' <
-1 / .. J- • ^ /> l / . »i .>-1 «.vi. ..— ..
.
ff
*v
-v;< •*
Digitized I
vV ‘V * :&L .
*. / ± 5 > ü „vv . ^.
, . qq ] C Original from
W LMVERSITY OF IOWA
dass ..2>.!4.0 *Cjd. 0S..
Book ..y ( 0 .( 0 . .—
Ser. 3
v. -e
Supp.
A cc. 8-SSs^.
Digitized by Gougle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UMIVERSITY OF IOWA
Vierteljahrsschrift
für
gerichtliche Medicin
und
öffentliches Sanitätswesen.
Unter Mitwirkung der Königl. wissenschaftlichen Deputation
für das Medicinalwesen im Ministerium der geistlichen,
Unterrichts- und Medicinal-Angelegenheiten
herausgegeben
I>r. A. L. Schmidtmann, und Dr. Fritz Strassmann,
Geh. Med.- and vorir. Rath im Königl. Preußischen a. o. Professor, gerichtl. Stadtphysikus und
Ministerium der geistlichen, Unterricht«- und Director der Königl. Unterrichts-Anstalt fllr
di ein al- Angelegenheiten. Staatsarzneikunde zu Berlin.
Dritte Folge. XIV. Band.
Jahrgang 1897.
BERLIN, 1897.
VERLAG VON AUGUST HIRSCHWALD.
SW. UNTER DEN LINDEN «8.
Digitized by
Gck gle
Original frorn
UMIVERSITY OF IOWA
Digitized by Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
3<V&. 16?
\)U
‘ J “tV
Inhalt.
Seite
I. Gerichtliche Medicin .1—102. 199—328
1. Obergutachten über die Zuverlässigkeit der Angaben eines Aphasischen
über die Vorgänge bei der seiner Aphasie zu Grunde liegenden Schädel¬
verletzung (Raubmordversuch). Von Prof. Dr. Th. Ziehen ... 1
2. Zur Casuistik der Carboisäurevergiftung. Von Dr. A. Brosch in Wien 20
3. Aus dem Institut für gerichtliche Medicin des Herrn Hofrath v. Hof-
m ann in "Wien: Ueber die Dauer der Nachweisbarkeit von Kohlenoxyd
im Blute und in Blutextravasaten überlebender Individuen. Von Dr.
E. Michel .36
4. Aus dem Institut für gerichtliche Medicin des Herrn Hofrath Professor
E. v. Hofmann in Wien: Ueber die Thymus des Erwachsenen in ge-
richtlich-medicinischer Beziehung. Von Dr. S. Dwornitschenko . 51
5. Trauma und Carcinom. Von Kreisphysikus Dr. H. Berger in Neustadt . 62
6. Beiträge zur Begutachtung des Zusammenhanges zwischen Trauma und
Lungentuberkulose. Von Dr. J. Koehler in Berlin . '. . . . 87
7. Gutachten über die Frage: ob ein, von einem Paralytischen ab¬
geschlossener, Haus-Kauf rechtsgiltig ist oder nicht? Von Prof.Rieger
in Würzburg .199
g. Casuistischer Beitrag zur gerichtlichen Psychiatrie. Von Med.-Rath Dr.
F. Siemens . 218
9. Ueber psychische Infection und inducirtes Irresein. Von Physikus Dr.
O- Ri e del (Lübeck).235
IO. Ueber Sarggeburt und Mittheilung eines neuen Falles. Von Dr. Bleich 252
2E Seltsamer Kindesmord. Von Prof. Dr. Fritz Strassmann in Berlin 260
12. Hundert Jahre alte Haare. Von Bezirksarzt Fr. Ringberg in Hallund 264
j 3 _ Aus der Unterrichtsanstalt für Staatsarzneikunde zu Berlin: Zur Kennt-
niss des Sclererytbrins nebst Bemerkungen über ein mittelst desselben
berzustellendes Reagenzpapier (Secalepapier). Von Dr. G. Puppe . 267
14. Ein seltener Fall von chronischer Chloralvergiftung. Von Dr. Geill . 274
15. Ueber die Vertheilung einiger Gifte im menschlichen Körper. Von Prof.
A- Ees ser in Breslau.. 287
IE Oeffentüches Sanitätswesen. 103—150. 329—403
X. Gutachten der Königl. wissenschaftlichen Deputation für das Medicinat-
wesen, betreffend die Schutzpockenimpfung und die Disposition für die
Digitized by
Go^ 'gle
Original frnm
UNIVERSITY OF IOWA
IV
Inhalt.
Seite
Erkrankung an Tuberkulose. (Erster Referent: Gerhardt, Zweiter
Referent: v. Ley de n.).103
2. Die Verbreitung der Cholera durch das Wasser und die Massnahmen
gegen dieselbe vom sanitätspolizeilichen Standpunkte. Von Dr. 0.
Brunzlow in Hamburg (Schluss).105
3. Der Stand der Städtereinigungsfrage. Von Schmidtmann und
Proskauer. 11. Thcil ..132
4. Zwei Gutachten über Reinigung städtischer Kanal wässer auf Veranlassung
der Stadtverwaltungen zu Köln und Thorn. Von Prof. C. Fraenkel 329
5. lieber die Aufgaben der Sanitätspolizei auf dom platten Lande. Von
Dr. Siisskand, pract. Arzt in Koben a. 0.351
6. Welche Bedenken lassen sich gegen die Sitte des Ausstopfens des ge¬
schlachteten Geflügels mit Papier erheben? Gutachten von R. Stornier 394
7. Bemerkungen zu Prof. C. FracnkePs Gutachten über die Verunreinigung
des Salzbach-Mühlgrabens an der liammcrmühle bei Biebrich durch
die Abwässer der Wiesbadener Kläranlage. Von Dr. G. Frank (Wies¬
baden) und Dr. Mayrhofer (Mainz).400
8. Erwiderung auf die vorstehenden Bemerkungen. Von Prof. C. Fraenkel 402
III. Besprechungen, Referate, Notizen, amtliche Mittheilungen
151 -196. 404-431
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
I. Gerichtliche Medicin.
1 .
Obergutachten über die Zuverlässigkeit der Angaben
eines Aphasischen Uber die Vorgänge bei der seiner
Aphasie zu Grunde liegenden Schädelverletzung
(Raubmordversuch).
Von
Prof. Dr. Th. Ziehen.
Auf Grund eingehenden Studiums der Acten J. 1318/95, ßd. 1
und 2, sowie meiner persönlichen Beobachtungen am 8. April 1890
erstatte ich das nachfolgende motivirte Gutachten über den Geistes¬
zustand des Richard H. und die Glaubwürdigkeit seiner jetzigen und
früheren Aussagen.
1. Darstellung des KrankheitsVerlaufs.
Der p. H. wurde am 17. Dec. 1895 auf dem Wege von Remd^ nach Treppen¬
dorf angefallen und mit einem scharfen Instrument an zwei Stellen des Kopfes
schwer verletzt. Ueber den Hergang der Verletzung stehen nur die Aussagen des
p. II. selbst zur Verfügung. Da gerade die Glaubwürdigkeit der Aussagen des
p. H. Gegenstand der Untersuchung in diesem Gutachten ist, sehe ich hier von
einer Verwerthung derselben für die Reconstruction des Hergangs der Verletzung
ab; es kann dies um so mehr geschehen, als die Aussagen des p. H. auf diesen
Hergang in ärztlicher Beziehung kein erhebliches Licht werfen. Jedenfalls ver¬
mochte H. noch wieder auf den Wagen zu gelangen, von welchem er durch die
Hiebe heruntergestürzt worden war. Den Zustand, in welchem er zu Hause an¬
kam, beschreibt sein Bruder Karl, welcher alsbald von einigen Kindcrn'herzuge-
rufen worden war, wie folgt: „Er hatte zwei blutende Wunden auf dein Kopfe,
von denen die eine, auf der rechten Seite, einige Centimetcr hinter dem Ohr be¬
gann und bis ungefähr in die Mitte der oberen Backe reichte; das Ohr war von
hinten durchschnitten. Die andere Wunde ging, am linken Ohr beginnend, in der
Richtung des Ohrs nach oben verlaufend, über den Hinterkopf nach der Scheitel-
Vierteljahrssehr. f. ger. Med. Dritte Folge. XIV. 1. j
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
höhe. Beide Wunden waren glatt; aus der letztgenannten waren Gehirntheile her¬
vorgetreten.“ Nach ca. 3 Stunden kam als Arzt der cand. med. M. Derselbe ver¬
ordnte Wasseraufschläge. Darauf schlug H., der nach Angabe seines Bruders bis
dahin besinnungslos gewesen war, die Augen auf. Auf die Frage des Arztes:
Sind Sie mit einem Beil geschlagen worden? soll er „ja“ geantwortet haben. Dar¬
auf wurde er zu Bett gebracht. Am folgenden Tage wurde auch Dr. K. zugezogen.
Dieser beschreibt die für dies Gutachten bezw. für den Geisteszustand des p. II.
allein in Betracht kommende linksseitige Wunde folgendennassen: „Die zweite
Verletzung befindet sich auf der linken Seite des Kopfes; sie hat die Richtung von
der Mitte des Scheitels gegen den äusseren Augenrand, durchschneidet die Kopf¬
schwarte in einer Länge von 7 cm, die Hirnschale in einer Länge von 4y a cm
und einer mittleren Breite von 1 / 2 cm und ist nach ungefährer Schätzung 1 cm '
tief in das Innere des Schädels eingedrungen. Die Ränder an den Weichtheilen
und dem äusseren Rand der Schädelwunde sind vollständig glatt und verlaufen
gerade. Der innere Rand der Schädelwunde war infolge von Ablösungen grösserer
und kleinerer Knochensplitter in Bezug auf seine Beschaffenheit nicht zu beur-
theilen. Aus der Wunde ist Gehirnmasse während der Nacht und während der
an dem nächsten Tage vorgenommenen Operation in einer Menge von- ungefähr
12 ccm abgeflossen. Bei weiterer Besichtigung zeigte sich die Knochenwunde
nach oben hin nach dem Scheitel zu etwa iy 2 cm > nach unten zu 2 cm unter der
Haut als Spalt oder Sprung fortsetzend. Die Verletzung hat gegen die Seite des
Kopfes eine Neigung von 45°, so dass sie bei der Aufrechthaltung des Kopfes
zwischen wagerechter und senkrechter Richtung etwa in der Mitte erfolgt sein
müsste.“ Später hat Dr. K. die Länge der Hautwunde auf nur 5—6 cm angegeben
und seine Angabe über die Richtung des Hiebes dahin berichtigt, dass derselbe in
einer Linie gelegen habe, „die man sich von der Mitte des Scheitels (dem Wirbel)
nach der Mitte des Jochbogens (= der Mitte zwischen Auge und Ohr) gezogen
denkt.“ Die Eintragungen des Dr. K. in das Schema stimmen hiermit leidlich
überein. In einem Gutachten vom 31. Jan. 18% hat Dr. K. die Länge der Haut¬
wunde und der Wunde des Schädeldachs auf 5 bezw. 4 l / 2 cm angegeben.
Herr cand. med. M. hat gleichfalls eine Beschreibung der Verletzungen ge¬
geben. Aus der letzteren hebe ich die ausdrückliche Angabe hervor, dass auch
die derbe Hirnhaut getrennt war und die Himsubstanz theilweise Defecte ergab.
Haut- und Knochenwunde sollen beide etwa 5 cm lang gewesen sein. Die Hirn¬
haut soll etwa 4y 2 cm weit gespalten gewesen sein, „indem letztere nach oben
und hinten zu etwa x / 2 cm im Verlauf der Wunde geschlossen war.“
Das Bewusstsein war nach Angabe des p. M. meist erloschen, der Puls voll,
gleichmässig, ein wenig matt.
Am Tage nach dem Anfall, d. h. am 18. Dec., wurde die Knochenverletzung
freigelegt, der Knochenspalt nach oben erweitert, die Knochensplitter entfernt, die
Dura (harte Hirnhaut) vernäht. Die Einzelheiten dieses operativen Eingriffs sind
für dies Gutachten ohne Belang.
Der Verlauf der Krankheit, welche die Verletzung hervorgerufen, gestaltete
sich folgendennassen, wobei ich von den Aussagen des Verletzten über den An¬
fall zunächst ganz absehe. Schon M. hatte eine Lähmung des rechten Armes und
Beines und der Sprache festgestellt. Auch die rechte Gesichtshälfto war gelähmt.
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Obergutachten über die Zuverlässigkeit der Angaben eines Aphasischen. 3
Am 6. -Tan. 1896 theilte Dr. K. der Staatsanwaltschaft mit, seit 8 Tagen seien
keine Fortschritte zum Besseren eingetreten. Die Sprache sei lallend, das Ge-
dächtniss scheine schwächer als bisher. Am 8. Jan. berichtet jedoch Dr. K., dass
die Sprache auffallend deutlicher und wortreicher sei, als vor 8 Tagen. Dabei
eonstatirt er andererseits noch „einen bestimmten Grad von Verwirrtheit.“
Bei der Vernehmung am 17. Jan. wird der Zustand des p. H. vom Unter¬
suchungsrichter folgendermassen beschrieben: II. zeigte „augenscheinliches Ver¬
ständnis für die ihm vorgelegten Fragen, Gedankenklarheit und Lebhaftigkeit des
Geistes. Nur sein Sprach vermögen erwies sich als noch nicht ganz hergestellt;
er musste zuweilen für den Ausdruck seiner Gedanken nach Worten suchen, welche
ihm entweder nicht einftelen oder von ihm nicht auszusprechen waren. In dieser
• Beziehung mag erwähnt werden, dass er den anwesenden Arzt immer entweder als
„„Herr Förster““ oder als „„Herr Raster““, auch wohl „„Pastor““ anredete, weil
ihm die Aussprache des Wortes „„Doctor““ offenbar nicht möglich war.“ — Der
Bericht des Dr. K. vom 25. Jan. spricht sich über das körperliche Befinden gün¬
stig aus; in psychischer Beziehung habe der Kranke seit den letzten 8 Tagen
keine Fortschritte gemacht. Am 31. Jan. erklärt Dr. K., dass „bei längerer und
eindringlicher Unterredung noch Verwirrtheit zu bemerken sei“; auch widerspreche
sich der Kranke noch.
Aus dem eingehenden Gutachten des Dr. K. vom 24. März hebe ich hervor,
dass damals bereits völlige Vernarbung eingetreten war. Die frühere rechtsseitige
Gesichtslähmung war nahezu verschwunden, die Lähmung des rechten Beines
zeigte sich noch durch einen leicht schleppenden Gang an. Am meisten war der
rechte Arm noch von der Lähmung betroffen. Gute Fortschritte hatte die Sprache
gemacht. „Der Kranke spricht im Grossen und Ganzen wieder fliessend, nur bei
schwierigen Wörtern muss er sich besinnen, bezw. durch mehrmaliges Ansetzen
und langsames Buchstabiren dieselben herauszubringen suchen. Will ihm eine
Wortbildung gar nicht gelingen, so weiss er sich durch Umschreibung zu helfen.
Aehnlich ist es mit dem gestörten Lesevermögen. Fast jedes Wort, mit Ausnahme
der Fremdwörter, weiss er durch Buchstabiren verständlich zu machen. Mit dem
Schreiben sind wenig Versuche gemacht worden wegen der noch bestehenden Läh¬
mung der rechten Hand. Doch ist der Zustand ähnlich, wie mit dem Lesen. Sehr
in der Besserung fortgeschritten, soweit die Beobachtung reicht, ist die ursprüng¬
liche Gedächtnissschwäche (Amnesie). II. wird sich von Tag zu Tag klarer über
seinen Zustand und über die Vorkommnisse und Begleiterscheinungen bei jenem
Ueberfall. Soweit die letzten Beobachtungen ergeben haben, hat H. in seinen An¬
gaben bezüglich des Attentats, des Verlaufs seiner Krankheit, bei der Unterhal¬
tung über die verschiedenartigsten Dinge sich jetzt niemals mehr in Widersprüche
verwickelt, wie das Anfangs geschah, oder überhaupt incorrecte Aeusserungen
gethan.“
2. Untersuchungsbefund vom 8. April 1896.
Vor der Confrontation des H. mit dem des Raubmordes verdächtigen Fr. am
Orte der That untersuchte ich den II. in seiner Wohnung und stellte im Wesent¬
lichen Folgendes fest:
1 *
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
4
Prof. Ziehen,
a) Körperlicher Zustand.
Die linksseitigeNarbc, sowie der darunter liegendeKnochendefect entsprechen
im Ganzen der Beschreibung der früheren Begutachter, wenn man die bei dem
operativen Eingriff stattgehabten Hautschnitte und Erweiterung des Knochendefects
in Betracht zieht. Der tiefe Knochendefect hat eine Länge von ca. 5 cm, sein
oberes Ende liegt 6 cm von der Mittellinie und 10 cm vom äusseren Gehörgang
entfernt. Das untere Ende liegt knapp 4 cm oberhalb der sogen. Ri eger'sehen
Grundebene. Die ganze Gegend der Narbe ist in einer Zone von fast 12 cm Länge
und ca. 4—5 cm Breite sehr druckempfindlich. Die rechtsseitige Narbe ist für das
Gutachten belanglos.
Linke Pupille weiter. Alle Reactionen erhalten. Augenbewegungen frei.
Lidhebung symmetrisch.
Stimfacialisinnervationen symmetrisch.
Rechte Nasolabialfalte tiefer. Pfeifen symmetrisch. Zähnefletschen und
sprachliche Innervationen der Mundmuskeln eher rechts etwas energischer. Die
Zunge weicht vom Gaumen nach links, mit der Spitze nach rechts ab.
Gaumenhebung symmetrisch.
Bewegungen des rechten Armes im Schultergelenk, namentlich Hebung und
Abduction sehr schwach und unausgiebig; ebenso die Beugung und Pronation im
Ellenbogengelenk; auch Streckung und Supination werden in letzterem Gelenk
nicht mit normaler Kraft ausgeführt. Hand- und Fingerbewegungen ebenfalls
rechts schwächer und weniger ausgiebig. Opposition des Daumens und 5. Fingers
gelingt kaum. Händedruck, dynamometrisch gemessen, links 68°, rechts 16°.
Umfang des rechten Vorderarms (12 cm unterhalb des Olecranon) 22 y 2 cm, des
linken 23y 4 cm. Anconcussehnenphänomen und mechanische Erregbarkeit der
Armmuskeln rechts gesteigert, faradische Erregbarkeit erhalten. Sehr geringe
Ataxie des rechten Armes.
Bewegungen des rechten Beines in allen Gelenken ein wenig schwächer als
die des linken. Leichter Hahnentritt rechts. Sehr geringe Ataxie des rechten
Beines. Spiel der Zehenbewegungen rechts etwas langsamer als links. Kein Rom-
berg’sches Schwanken. Umfang des rechten Unterschenkels (15 cm unterhalb
der Patella) 31 cm, des linken 31 y a cm. Kniephänomen rechts stärker als links.
Achillessehnenphänomen rechts fast erloschen, links erhalten.
Plantarreflex rechts fast erloschen, links erhalten.
Epigastrischer Reflex symmetrisch erhalten.
Rechte Hand deutlich kälter als die linke.
Berührungsempfindlichkeit auf der ganzen rechten Körperhälfte stark, Schmcrz-
empfindlichkeit etwas herabgesetzt.
Muskelgefühl rechts stark herabgesetzt. Patient fühlt namentlich die Rich¬
tung passiver Bewegungen nur äusserst unvollkommen.
Gegenstände werden durch Betasten in der rechten Hand nicht erkannt.
Gesichtsfelder intact.
Geschmack und Geruch symmetrisch; nur behauptet der Kranke, die bezüg¬
lichen Substanzen röchen und schmeckten rechts „schlechter“.
Uhrticken wird vom rechten Ohr nicht gehört. Auf meine Bitte hat Dr. K.
das rechte Ohr später otoskopisch untersucht. Dabei ergab sich ein peripherischer
Digitizeit by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Ohergutachten über die Zuverlässigkeit der Angaben eines Aphasischen. 5
Kranklieitsprocess im rechten Mittelohr. Die Herabsetzung der rechtsseitigen Hör¬
schärfe ist sonach wohl nicht auf die Gehirn Verletzung zu beziehen.
b) Geistiger Zustand incl. Sprache.
( Ich bemerke hierzu, dass auf Wunsch des Untersuchungsrichters Fragen, welche
auf den Anfall Bezug haben, zunächst vermieden wurden.)
Vorgelegte Gegenstände wurden grösstcntheils richtig benannt, so z. B. Salz,
Kelle, Uhr, Ofen, einige, wie z. B. Tasse, Fünfmarkstiick, Bleistift, Portemonnaie
etc. erst nach einigem Hesitiren (F—f—fünf Mark) oder öfterem Ansetzen (Ta—
lasse) oder einigen Fehlversuchen (Beil—Blei—stirne—stift). Ab und zu wählt er
auch im Spontansprechen auffällige Umschreibungen.
Vorgelegte Farben werden durchaus richtig bezeichnet.
Das Sprachverständniss ist durchaus erhalten. Seinem Bildungsgrad ent¬
sprechende Fragen versteht er ausnahmslos sofort richtig.
Speciell unterscheidet er auch bezüglich des Verständnisses Farben, Zahlen,
rechts und links etc. stets richtig.
Rechnen gelingt dem Kranken nur sehr schlecht. Mühsam rechnet er 4-f- ,r)
und 4> —j— 8. 6X7 wird =40 gerechnet. Patient bemerkt selbst: „Ich bring’s
doch nicht zusammen.“ Sein Geburtsjahr giebt er richtig an (1853), dagegen
rechnet er sein Alter falsch zu 34 Jahren aus.
Seine Personalien giebt er im Uebrigen richtig an, seinen Geburtstag aller¬
dings erst nach öfterem Versprechen. Auch den Tag seines Anfalls weiss er nicht,
('„das merk’ ich nicht“), er weiss nur anzugeben: im December, vor Weihnachten.
Dass er Hafer verkauft, weiss er noch, nicht aber, wieviel Hafer. Er will um 1 Uhr
von Treppendorf weggefahren sein; anfangs sagte er um 9, dann um 7 Uhr, cor-
rigirte sich aber sofort selbst, indem ihn der Wortklang aufmerksam machte, dass
er die Zahlen verwechselt habe. Auf dem Hinweg will er einem gewissen G. be¬
gegnet sein. Sehr gut erinnert er sich noch des Gesprächs mit dem Bruder des
Herrn K. in Remda, welchem er das Getreide verkaufte. Der Kranke äussert wört¬
lich: „Wir haben ja viel gesprochen. Ich sagte ihm, wenn’s knapp wär’ — es
ging nicht so recht — das Gewinde — das Gewicht — es stimmte nicht — es
machte 60 Mark — er gab mir dasselbe. Er sagte noch: wenn wir ihn da hätten,
war’ er auch eingetrocknet — wir sind sehr gute Freunde — sehr feine Herren!“
Auf die Frage, was für Geldstücke er bekommen, antwortete H.: „Ich glaube, es
waren lauter 20 Marker in Gold.“ Auf die Frage, ob er Geld gewechselt habe,
antwortete er wörtlich: „Wie wir fertig waren, hab’ ich ein Mal Bier getrunken
und gewechselt. Ich weiss nicht, hab’ ich nur 6 oder 8 Mark gewechselt und das
Zweimarkstück hat mir der Adolph B. gewechselt.“ (Ich denke ein Zehnmarkstück!)
„Nein, das wusste ich erst nicht, jetzt weiss ich’s noch ganz gut.“ (Früher spra¬
chen Sie doch von einem Zehnmarkstück!) „Das hab’ ich mich wieder besonnen.“
(Wieviel hat das Bier gekostet?) „12 Seidel — (sich verbessernd) Pfennige.“
(Was hat B. Ihnen herausgegeben?). „Er hatte so viel Nickel — so Mansch —
das Portemonnaie war so voll — so Nickel und Groschen. Das weiss ich noch.
Vielleicht auch noch ein Fünfziger.“ (Hat er ihnen das später gesagt?) „Nein,
ich wusste das selbst.“
Im übrigen Gespräch vermochte ich einen irgendwie nennenswerthen Intelli-
Digitizetf by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
genzdefect nicht festzustellen. Nur hinsichtlich der Zahlvorstellungen waren die
Antworten öfters ungenügend.
Grossgeschriebene Worte liest Patient richtig. Zu schreiben vermag er nur
mit der linken Hand, dabei macht sich eine Neigung zu Buchstabenversetzungen
geltend.
3. Die Angaben II.’s über den Anfall.
Ich stelle zunächst kurz nach den Acten zusammen, was II. zu den verschie¬
denen Zeiten angegeben. Am 19. I)ec. wurde H., weil er mit den Fingern vor
dem Munde spielte, von seinem Bruder gefragt, ob der Thäter Musiker sei; darauf
machte er abwehrende Bewegungen mit der Hand und ein ärgerliches Gesicht.
Ebenso wehrte er ab, als ihm der Name eines entlassenen Arbeiters genannt wurde.
Hingegen auf die Frage, ob es ein Arbeiter von Gebrüder K., Brauerei in Remda,
wohin H. den Hafer gefahren, gewesen sei, nickte er mit dem Kopfe und sein Ge¬
sicht war freudig und trotz der mangelnden Sprache brachte er durch Töne seine
Zustimmung zum Ausdruck. Auch auf die Frage, ob er mit einem Beil geschlagen
worden sei und ob es nur einer gewesen, nickte er mit dem Kopfe, bezw. ant¬
wortete auf erstere Frage sogar mit einem erkennbaren Ja. Das Gericht vermochte
aus seinen Gesten damals etwas Positives nicht zu entnehmen.
Am 2. Jan. 1896 theilt Dr. K. mit, dass H., wenn der Ueberfall berührt wird,
sofort in hochgradige Erregung geräth, mit dem linken Arm um sich schlägt und
flucht und schimpft. Dem Namen Fr. 1 ) gegenüber soll er sich, soweit Dr. K. be¬
kannt, bis jetzt indifferent gezeigt haben. Ich füge hier gleich ein, dass das
Schlagen mit dem linken Arm, sowie das früher erwähnte Spielen mit den Fingern
vor dem Munde und das von Dr. K. am Morgen nach dem Ueberfall beobachtete
Anlegen des Zeigefingers an den Mund und Mundspitzon und Blasen Bewegungen
sind, welche auch sonst recht oft bei Halbseitiggelähmten und Aphasischen Vor¬
kommen, also zu Schlüssen nicht zu verwerthen sind. Es mag noch bemerkt wer¬
den, dass H. auf Veranlassung seines Bruders im December auf eine Schiefertafel
mit der linken Hand ein grosses S schrieb. Auch hierzu soll gleich hinzugefügt
werden, dass auf dies S keinesfalls grosses Gewicht zu legen ist, da Verletzte,
wie H., anfangs öfter sogen. Paragraphie zeigen, d. h. einen Buchstaben für einen
anderen schreiben (auch mit der nicht gelähmten Hand). Vergl. hierzu auch mei¬
nen Untersuchungsbefund bezüglich der jetzigen Schreibfähigkeit, welcher eine
Noigung zu Paragraphie noch jetzt ergiebt.
Am 6. Jan. berichtet Dr. K., der Verletzte habe einige Anspielungen auf die
Thäterschaft Fr.’s mit völliger Gleichgültigkeit aufgenommen.
Am 10. Jan. fing H. nach Aussage seines Bruders von selbst von der That
zu sprechen an. Auf die Frage, ob er auf dem Wagen gesessen habe, „hob er
sich auf und setzte sich wieder.“ . . . „Dann schlug er sich mit der Hand hinten
auf den Kopf,“ . . . „bückte sich nach vorn,“ . . . „beschrieb dann mit der Hand
von der linken Seite her eine Kreislinie bis nach vorn und fuhr sich dann suchend
nach der Taschengegend.“ . . . „Dann machte er eine Bewegung, dass der Thäter
sich entfernt habe.“ Auf die Frage, ob er ihn nicht einmal gekannt habe, sagte
1) So heisst Derjenige, auf welchen sich weiterhin aus den verschiedensten
Gründen der Verdacht der Thäterschaft concentrirte.
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
Obergutachten über die Zuverlässigkeit der Angaben eines Aphasischen. 7
er deutlich ,,Ne u . Dann suchte er durch Gesten auch, wie es scheint, die Grösse
des Thäters und das Aussehen seines Bartes anzudeuten.
Am 17. Jan. wurde H. vom Untersuchungsrichter befragt. Die wichtigsten
Aeusserungen H.’s sind folgende:
„Ja, wenn ich wusste, wer der Kerl war. Ich sah den Kerl, ich dachte aber
es war’ ein armer Mensch. Der Kerl wollte mich todtschlagen, kam auf mich zu.
Ich denke es ist ein armer Kerl, er will in’s Holz. Auf einmal krieg’ ich eine, da
war ich weg.“
„Ich sass auf demWagen, quer wie hier (andeutend, dass das Pferd rechts vor
ihm herging). Er kommt aus demForst rein und krakelt ein bischen um mich’rum.“
„Er kam aus dem Holz, er kam von hinten von der Seite (H. deutet nach
links hinten). Er schrie etwas mir nach, er krakelte und wollte mit mir sprechen.“
„Nu, es war ein junger Mann, 30—40 Jahre, ein grosser war es nicht, es
war wie ein Forstaufseher, ich dachte, er hätte etwas hier zu thun, nach den
Leuten zu sehen.“
„Er hatte solche Stoppeln.“
„Nein, nicht einen starken Schnurrbart. Er kam von Remda her, es war
ein junger Kerl und hatte ein Beil bei sich und trug es offen.“
(Frage: Hätten Sie ihn denn erkannt, wenn es ein Bekannter gewesen wäre?)
„Ja, da hätte ich ihn erkanut. Es war ein Fremder, ich dachte ein Tagelöhner
aus Remda. Er hatte eine grosse Mütze — oder war’s ein Hut?“
„Es war noch ziemlich hell, aber etwas Nebel. Wenn er nicht fremd ge¬
wesen wäre, da hätte ich ihn erkannt.“
„Ja, ich könne Fr.“
(Frage: Kann der’s gewesen sein?) „Da müsst’ er sich verstellt haben. Ich
habe ihn nicht dafür gehalten.“
„Er kann es gewesen sein oder auch nicht, es sind schon 4 Wochen her.“
„Er (d. h. der Angreifer) hatte einen braunen Rock an; die Brühe lief mir
immer zum Kopf herunter, ich sah nichts mehr. Ich hatte keine Macht mehr und
konnte ihm nichts thun. Zuletzt hat er mich in den Graben gezerrt. Ich habe
mich aber noch hiDgezerrt, ganz hinunter bin ich nicht gekommen, sonst wäre ich
nicht wieder herausgekommen. Er nahm mir das Portemonnaio aus der Tasche
und sprang fort — da ’nüber (deutet hinter sich). Ich habe mich dann wieder
zum Wagen geschleift. Ich sah die Mütze liegen, konnte sie aber nicht raitneh-
men, ich wäre sonst nicht wieder auf den Wagen gekommen.“
„Ja er kam aus dem Walde und ging eine Zeit an dem Wagen her.“
„Ich weiss nicht, ob er Stiefeln oder Schuhe angehabt hat.“
„Mir war’s, als hätte er am Halse zugehabt.“
(W'ie war denn der Schnurrbart?) „Heller wie meiner.“
„Er hatte dreckige Hosen an, hell, so wie der Ueberzieher ungefähr (er deutet
auf einen grauen, kakaofarbengesprenkelten Mantel), aber alt.“
(War denn etwa sein Rock von demselben Stoff?) „Nein, der war braun,
ungefähr so wie Ihrer“ (deutet auf ein ziemlich hellbraunes .Jaquet).
„Er hatte keine Aehnlichkeit mit einem von hier herum, ich dachte es wäre
einer aus Remda“.
(Sind Sie, ehe Sie von Remda fortfuhren, irgendwo eingekehrt?) „Ich habe
im Kathhaus einen Seidel getrunken.“
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
8 Prof. Ziehen,
„Ich habe (im Rathhaus sc.) ein grösseres Geldstück wechseln lassen, sonst
habe ich Geld nicht gezeigt.“
„Ein Zehnmarkstück hat mir B. (Wirth im Rathhaus) gewechselt.“
„30 Mark hatte ich von hier mitgenommen und 60 Mark hatte ich dort be¬
kommen.“
Bei der Angabe, dass er ein Zehnmarkstück gewechselt habe, blieb H. stehen,
obwohl ihm die thatsäehliche Unrichtigkeit (er hat nur ein Zweimarkstück gewech¬
selt) vorgehalten wurde. Jedoch machte es den Eindruck, ist im Protokoll be¬
merkt, als ob das Rechnen dem Verletzten noch schwer falle und ihn verwirre.
Noch aus dem Januar stammt auch eine Handzeichnung des H., welche den
Thatort darstellt und deren Nachbildung sich in den Acten befindet. H. gab dazu
an, dass der Angreifer einige Zeit neben dem Wagen gegangen ist, indem er sich
mit der linken Hand an der rechten hinteren Kippe des Wagens hielt.
Aus dem Bericht des Gendarmen B. vom 29. Jan. ergiebt sich, dass H. da¬
mals schon auch erzählte, der Angreifer habe ihm erzählt, er wolle auf den Holz¬
schlag auf Tännich und sehen, ob die Dienstedter Holzmacher Holz mit nach Hause
nehmen. Bezüglich der Hosen des Angreifers fügte er die Angabe hinzu, dieselben
seien auf jedem Knie mit röthlich-braunen Flecken geflickt gewesen, der eine Fleck
sei etwas grösser als der andere gewesen. Die Farbe der Jacke bezeichnet er als
bräunlich, die Hosen als etwas heller. Auch soll H. zu dem Gendarmen selbst
gesagt haben, seine dem Untersuchungsrichter gemachte Angabe stehe mit dem
Sachverhalt nicht in Einklang, da er sich damals noch nicht auf Alles, so wie
jetzt, habe besinnen können, weil jetzt der Verstand bei ihm mehr zurückkehre.
Sehr bemerkenswerth ist weiterhin der Bericht des Dr. K. vom 24. März.
Danach sind die Angaben II.’s jetzt bezüglich des Attentats frei von Widersprüchen.
Auch konnte Dr. K. nicht die Ansicht gewinnen, dass H. etwa solche Dinge, welche
ihm seine Angehörigen oft erzählt hätten, immer wieder verarbeite; vielmehr suche
H. selbst Klarheit in das bisherige Dunkel hineinzubringen. Auch gab H. an, bei
seinen früheren Aussagen habe er immer zwei Personen als eine in seiner Vor¬
stellung gehabt, die er auch jetzt nur mit grosser Schwierigkeit auseinanderzu¬
halten vermöge — er vermöge es aber jetzt —, einmal den Mann, welcher in Remda
an seinem Wagen „herumgebummelt“ sei, und dann den Angreifer im Walde.
Ferner erzählte H., dass der Attentäter auffallend schöne weisse Zähne gehabt
habe; vielleicht habe links einer gefehlt; er erinnere sich nämlich, wie der Mann
ihn angegrinst und die Zähne vor Angst oder Wuth zusammengebissen habe,
nachdem er den Schlag ausgeführt.
Endlich hat sich neuerdings in Gegenwart des Gutachters bei dem Ter¬
min vom 8. April H. an dem Thatort selbst vor, während und nach der Confron-
tation mit Fr. ausführlich geäussert. Zunächst gab II. die Stelle an, wo er seinen
Angreifer zuerst erblickt. Derselbe sei plötzlich den Wald herunter über den
Strassengraben auf seinen Wagen zugesprungen. Er habe ein dreckiges wollenes
Hemd und einen oben zugeknöpften, fuchsigen Rock getragen und wie ein Arbeiter
ausgesehen. Er habe ihm (H.) mit heller Stimme zugerufen, er wolle auch mit
da Tauf und einmal nach den Holzmachern sehen, die es ihm zu braun (d. h. zu
bunt) machten. Dann sei er hinter dem Wagen in patschelndem Gang herge¬
schritten, zunächst etwas zurückgeblieben, bald aber wieder nachgekommen und
habe sich nun an der ersten hinteren Kiepe festgehalten. Bei der Confrontation
Digitizeit by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
OWrirutucliton über «lio Zuverlässigkeit der Angaben eines Aphnsischen. 0
mu Fr. gab H. an, worin Fr. dem Attentäter ähnlich ausselie und worin nicht.
Per Rock sei fuchsiger, die Hosen seien heller gewesen. Die Mütze könne unge¬
fähr passen, wenn nicht der Thäter einen Hut aufgehabt habe, worüber er sich
nicht recht im Klaren sei. Gestalt und Aussehen Fr.’s, namentlich der Schnurr¬
bart seien ähnlich, nur die Backen erschienen ihm etwas zu dick. Ebenso sei der
Gang ähnlich, auch die Sprache Fr.’s sei ungefähr wie die helle des Angreifers.
Hierauf gab II. an, wie er gesessen habe, den Schlag empfangen habe und ge¬
fallen sei, und wie sein Angreifer über den Wagen weg ihn angegrinst habe. Fr.
wurde in analoge Stellung gebracht und verzog das Gesicht in analoger Weise,
worauf H. erklärte, so ungefähr habe das Gesicht des Thäters in diesem Moment
ausgesehen. Namentlich fand er die Wcisse und Lückenlosigkeit der Zähne Fr.'s
ähnlich. Den weiteren Vorgang schilderte H. dann wie auch früher. Auf aus¬
drückliches Befragen erklärte er, er könne mit Bestimmtheit weder angeben, dass
Fr. der Thäter sei, noch dass er es nicht sei, nur dass Fr. in seinem heutigen
Auftreten dem Thäter sehr ähnlich sehe. Der Gutachter frug 1L dann auch noch
direct: Haben Sie damals den Mann an seiner Stimme oder seinem Aussehen er¬
kannt?, worauf H. verneinend antwortete.
In Abwesenheit des Gutachters sagte H. dem Untersuchungsrichter gegen¬
über noch Folgendes aus, was sich übrigens grösstentheils mit dem deckt, was H.
vorher dem Gutachter erzählt hatte. Auf dem Hinweg sei er nur dem Tagelöhner
G. begegnet, der ihm zugerufen hätte: wenn er gewusst hätte, dass er (II.) käme,
so hätte er gewartet. Ehe er von Hause fortgefahren, habe er sich 30 Mark in
Gold in einem Beutel in die linke Hosentasche, ungefähr 5 oder auch 8 Mark ein¬
zelnes Geld — er denke es waren 1 oder 2 Thaler und ein Zweimarkstück, sowie
ein paar Pfennige oder Groschen — in die rechte Hosentasche gesteckt. Die von
K. erhaltenen Goldstücke habe er zu dem übrigen Gold in den Beutel gethan.
Nach dem Haferverkauf habe er noch von dem Oberbrauer für 30 Pfennig Hefe ge¬
kauft, sei dann nach dem Rathhaus gefahren und habe dort Pferd und Wagen
stehen lassen. Dann habe er bei dem Kaufmann II. 3 Cigarren für 15 Pfennig
und ausserdem für den Wirth G. Pöklinge und Bratheringe gekauft. „Schon wie
ich hin zu H. ging,“ erzählt H. weiter, „hatte ich einen Mann an meinem Wagen
vorbei und über den Markt gehen sehen, den ich nun, als ich von H. zurückkam,
nochmals zu Gesicht bekam, da er vom Markt wieder zurück und nach meinem
Wagen gegangen war. Der Mann sah mir verdächtig aus und es war mir auffal¬
lend, dass er so um meinen Wagen herumlungerte und demselben augenscheinlich
Interesse zuwandte. Ich erinnere mich, dass ich dachte, der Kerl könne mir etwas
forigenommen haben, aber es fehlte nichts auf dem Wagen. Der Betreffende war
zwar etwas grösser wie Fr., aber auch kein grosser Mann, er trug Schnurrbart und
war an den Wangen und um das Kinn schlecht rasirt. Er sah älter aus wie Fr.,
etwa wie ein Vierziger, und hatte das Aeussere eines Arbeiters von schmieriger
Kleidung. Er hatte einen verdrückten alten Hut auf und eine graue Joppe mit
grüner Paspolirung an, die freilich auch recht abgetragen war. Die Farbe der
Hosen kann ich nicht genau angeben, ich dächte es wären helle gewesen und
hätten rechts einen grossen, links einen kleinen Flecken von braunem, abstechen¬
den Zeug auf den Knien gezeigt. Ich will aber gleich bemerken, dass diese Be¬
schreibung der Kleidung nicht zuverlässig ist, dass es leicht sein kann, dass diese
Kleidung derjenige, der mich später überfiel, getragen hat, und dass mir in dieser
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
10
Prof. Ziehen,
Beziehung Verwechslungen unterlaufen. Es gelingt mir nämlich noch nicht, meine
Erinnerungen an die Person dieses Mannes und diejenige des Thäters auseinander¬
zuhalten oder aber mir darüber klar zu werden, ob beide vielleicht ein und die¬
selbe Person sind. Es kann also sein, dass das, was ich in Bezug auf die Beklei¬
dung und das Aeussere des einen oder anderen sage, in Wirklichkeit gerade auf
den Anderen passt. Der betreffende Mann war offenbar kein Handwerksbursche,
sondern ein Arbeiter; wenigstens habe ich ihn dafür gehalten. Er trug, als ich
ihn das zweite Mal sah, einen grossen Bogen ungerolltes gelbes Papier, wie
Schmirgelpapier, und eine lange Latte, wie eine Messstange, aber roh vom Brett
abgetrennt, in /1er Hand; es konnte vielleicht ein Zimmermann sein. Er ging dann
nach der Kschdorfer Strasse zu, von der man auf Umwegen ebenfalls auf die später
von mir eingeschlagene Strasse gelangen kann. (Auf Befragen:) Das war Fr. nicht,
das weiss ich genau.“
Weiterhin, erzählt 1L, habe er noch ein Fässchen Bier mitgenommen, ein
Glas Bier getrunken, dabei Geld gewechselt (s. o.), und sei dann heimgefahren.
Dabei sei er einigen Holzweibern und später dem Fuhrmann W. begegnet. Später
sei er Niemand begegnet, bis ihn plötzlich sein späterer Angreifer vom Walde aus
angerufen habe; was dieser gerufen, wisse er nicht mehr. Die weiteren Angaben
stimmen mit denjenigen, welche 11. zuvor auf dem Thatorte gemacht, in der Haupt¬
sache überein. Als der Mann ihm zurief, er wolle sehen, dass die Holzmacher
nicht so viel rnitnehnien, will H..erwidert haben: „Nu Herrjesus ne, da gicbt’s ja
genug.“ Er habe gedacht, der Förster habe den Mann geschickt, und ihn für
einen Holzarbeiter gehalten. Obwohl Nebel herrschte, sei es noch hell genug ge¬
wesen, um einen Menschen in dieserEntfernung, namentlich wenn es ein Bekannter
gewesen wäre, zu erkennen. Der Mann habe allerdings sein Gesicht niedergebeugt
getragen und abseits gewandt gesprochen. Der Dialekt sei ihm wie der eines >
Mannes aus der Gegend vorgekommen. Unmöglich sei es nicht, dass er sich das
Gesicht vielleicht beschmiert oder geschwärzt hätte, er glaube cs jedoch nicht,
sondern denke, dass nur durch die Stoppeln das Gesicht verdunkelt worden sei.
Er denke, er hätte eher einen Hut mit herabgedrückter Krempe als eine Mütze auf¬
gehabt, wenn er auch letzteres nicht als unmöglich bezeichnen wolle. Es sei ihm
so, als wäre die Kopfbedeckung von der Farbe des dreckigen Grau, gewesen, wie
Fr.’s Mütze. „Ein Halstuch,“ fährt H. wörtlich fort, „hatte er nicht um, es kam
mir eben so vor, als wäre er plötzlich so davongelaufen.“ Die Hosen hätten nach
IIPs jetziger Erinnerung ein geripptes Ansehen gehabt. Ob der Fremde Schuhe
oder Stiefeln angehabt habe, wisse er auch jetzt nicht. — Ausdrücklich giebt H.
an, als er am Boden gelegen, sei der Thäter um den hinteren Thcil des Wagens
herumgekommen und habe ihn (H.) herumgezerrt; seine Hände seien rothblau ge¬
wesen. Er erinnert sich auch jetzt nur eines Schlags. In der Erwartung eines
weiteren Schlags habe er, um ihn wenigstens nicht zu sehen, die Augen ge¬
schlossen.
Auf Befragen gab H. noch an: „Als ich den Mann aus dem Walde kommen
und hinter mir hergehen sah, hat er mich nicht an den llerumlungerer in Remda
erinnert. Ebensowenig aber habe ich geglaubt oder überhaupt daran gedacht,
dass cs Fr. wäre, den ich schon damals wohl kannte,“ und weiter: „Ich muss
sagen, ich meine jetzt, dass ich Fr., wenn er es gewesen, doch wohl erkannt haben
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
«W'OTjrutachtcn über die Zuverlässigkeit der Angaben eines A|diasiselien. 11
würde.“ „Auch will es mir jetzt scheinen, als hätte der Thäter etwas mit dem
Reindaer Fremden Gemeinsames gehabt und als könne dieser es gewesen sein.“
4. Vorbemerkungen über die Gedächtnisstörungen nach
Kopfverletzungen.
Um für die weiter folgenden gutachtlichen Schlüsse eine Grund¬
lage zu gewinnen, ist es unerlässlich, einige solche Vorbemerkungen
vorauszuschicken, zumal in den gutachtlichen Aeusserungen der ande¬
ren Aerzte die in Betracht kommenden Störungen nicht ausreichend
unterschieden worden sind.
Man beobachtet nach Kopfverletzungen 3 Formen der Gedächt¬
nisstörung, nämlich:
1. eine allgemeine Gedächtnisschwäche,
2. die sogen. Amnesie,
3. den Verlust einzelner Gruppen von Erinnerungsbildern* („See¬
lenblindheit“, „Seelentaubheit“ u. s. f.).
Im Einzelfall müssen keineswegs stets alle drei Störungen vor¬
handen sein; vielmehr findet man oft nur zwei oder nur eine.
Die allgemeine Gedächtnissschwäche ist zu defmiren als eine all¬
gemeine, gleichmässigc Einbusse an Erinnerungen, welche sich nicht
nur auf die Zeit der Verletzung, sondern auf das ganze frühere Leben
erstreckt und sich fast stets auch bei neuen, d. h. lange nach der Ver¬
letzung aufgenommenen Eindrücken geltend macht. Zuweilen ist sic
progressiv. Sie beweist einen wirklichen Intelligenzdefect. Wenn sie
stärker ausgesprochen ist bezeichnet man die gesammte Störung da¬
her auch als traumatischen Schwachsinn.
Die Amnesie ist der völlige oder theilweise Verlust der Erinne¬
rungen an die Erlebnisse während eines umschriebenen Zeitraumes
vor und nach der Verletzung. Dieser Zeitraum, für welchen die Am¬
nesie besteht, kann sich über einige Stunden, mitunter aber auch über
Tage oder auch Wochen erstrecken. Die Abgrenzung des Zeitraums,
für welchen Amnesie besteht, gegen die Zeit vor- und nachher, für
deren Erlebnisse die Erinnerung erhalten ist, ist nicht stets ganz scharf.
Während die allgemeine Gedächtnissschwäche stabil oder sogar pro¬
gressiv ist, nimmt die Amnesie sehr oft allmälig ab. Dies allmälige
Abnehmen kann sich über viele Monate erstrecken. Selten schwindet
sie schliesslich ganz, vielmehr bleibt schliesslich ein gewisser Rest von
Amnesie, welcher, so lange man auch die Beobachtung fortsetzt, nicht
schwindet. Mit einer Umgestaltung der Erinnerung ist diese partielle
Digitized by
Gck igle
Original frorn
UNIVERSUM OF IOWA
12
Prof. Ziehen,
Wiederkehr der Erinnerung im Allgemeinen nicht verknüpft. Man
beobachtet wohl — namentlich im Anfangsstadiura der Rückbildung
der Amnesie — dass der Verletzte die Reihenfolge, die Oertlichkeiten,
die Personen und Sachen seiner Erlebnisse z. Th. verwechselt, nicht
aber, dass er Neues hinzufügt. Letzteres kommt nur dann vor, wenn
sich sogen, delirante Zustände an die Verletzung einschliessen. Auch
die suggestiven Einflüsterungen der Umgebung beeinflussen die wieder¬
kehrende Erinnerung im Allgemeinen sehr wenig. Es beruht diese
Amnesie nämlich nicht auf einer Zerstörung des Hirngewebes, sondern
auf sogen. Hemmungsvorgängen. Letztere gleichen sich langsam aus
und damit kehrt die Erinnerung wenigstens theilweise wieder. Dieser
ganze Vorgang ist daher schon seiner Natur nach von der Phantasie-
thätigkeit des Verletzten und den Suggestionen der Umgebung in hohem
Grade unabhängig. Wo doch einmal — z. B. bei sehr phantasie-
begabteTi oder sehr suggestiblcn Individuen — die eigene Phantasie
oder Einflüsterung der Umgebung die zurückkehrende Erinnerung um¬
gestaltend beeinflusst, sind diese Umgestaltungen daran zu erkennen,
dass sie entweder Ausschmückungen oder Ergänzungen des Zusam¬
menhanges darstellen, welche einem bestimmten Vorstellungskreis
entsprechen. Dagegen sind die thatsächlichen Erinnerungen durchweg
durch ihre sinnliche Unmittelbarkeit ausgezeichnet. Heute fällt dem
Kranken dies, nach 8 Tagen jenes Bruchstück seiner Wahrnehmungen
während des amnestischen Zeitraumes wieder ein u. s. f. Oft weckt
ein Zufall plötzlich wieder eines der schlummernden Erinnerungsbilder.
Anfangs ergeben diese Bruchstücke keinen oder — in Folge von Ver¬
wechselungen — einen falschen Zusammenhang, und erst allmälig
kann sich, indem die Bruchstücke sich häufen und die Verwechselun¬
gen corrigirt werden, ein richtiger Zusammenhang ergeben. Am zu¬
verlässigsten bleiben aber stets die einzelnen Bruchstücke selbst. Wenn
ein Verletzter im Stadium der Rückbildung der Amnesie bestimmt
sagt, er erinnere sich jetzt, diesen oder jenen Rock gesehen, diese
oder jene Aeusscrung gehört zu haben, so ist eine solche Angabe
durchweg sehr zuverlässig, d. h. es ist sehr wahrscheinlich, dass er
den Rock im fraglichen Zeitraum wirklich gesehen, die Aeusserung
wirklich gehört hat. Nicht ausgeschlossen ist dabei, dass er den Zeit¬
punkt und Ort des Gesichts-, bezw. Gchörseindrucks innerhalb des
amnestischen Zeitraumes verschiebt. Endlich ist erfahrungsgemäss
auch die rückkehrende Erinnerung für einzelne eigene Gedanken
während des amnestischen Zeitraums (das bedeutet stets: desjenigen
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Obergutachten über die Zuverlässigkeit der Angaben eines Aphasischen. 13
Zeitraums, für ■welchen die Amnesie besteht) im Allgemeinen sehr zu¬
verlässig.
Alle diese Erörterungen über die Amnesie gelten nur, insoweit
neben letzterer nicht die sub 1 und 3 aufgezählten Gedächtnisstörungen
in höherem Grade bestehen.
Der Verlust einzelner Gruppen von Erinnerungsbildern bezw. Vor¬
stellungen ist von der örtlichen Zerstörung an der Oberfläche des Ge¬
hirns abhängig. Betrifft die Zerstörung den Hinterhauptslappen des
Gehirns, so sind die optischen Erinnerungsbilder bezw. Vorstellungen,
d. h. diejenigen Vorstellungen, welche auf Gesichtswahrnehmungen
zurückgehen, dem Kranken theilweise oder ganz verloren gegangen,
während seine nicht-optischen Erinnerungsbilder bezw. Vorstellungen
erhalten sind. Dieser Verlust beschränkt sich also, je nach dem Ort
der Verletzung auf die Vorstellungen eines bestimmten Sinnesgebiets
und unterscheidet sich dadurch von der allgemeinen Gedächtnis¬
schwäche. Von der Amnesie unterscheidet er sich dadurch, dass nicht
nur die Erinnerungsbilder einer beschränkten Zeit vor und nach der
Verletzung, sondern die Erinnerungsbilder des ganzen früheren Lebens,
soweit sie dem in Betracht kommenden Sinnesgebiet angehören, ganz
oder theilweise verloren gegangen sind. Der Verlust bildet sich nicht
allmälig zurück wie derjenige der Amnesie, sondern der Kranke kann
nur durch neue Wahrnehmungen allmälig die verloren gegangenen Er¬
innerungsbilder bezw. Vorstellungen neu erwerben.
Ausdrücklich bemerke ich noch, dass, ebenso wie der Verlust der
optischen Erinnerungsbilder bezw. Vorstellungen an den Hinterhaupts¬
lappen des Gehirns, so der Verlust der akustischen Erinnerungsbilder
bezw. Vorstellungen an den Schläfenlappen des Gehirns erfahrungs¬
gemäß gebunden ist.
5. Gutachtliche Schlüsse bezüglich der Zuverlässigkeit des
Gedächtnisses des p. H. für den Ueberfall.
Ich beginne mit der Frage, ob ein Verlust einzelner Gruppen von
Erinnerungsbildern nachzuweisen ist. Da dieser von der Zerstörung
an der Himoberfläche abhängig ist, so handelt es sich darum, den
Umfang dieser Zerstörung bei H. festzustellen. Auf Grund meines
S. 3 ff. dieses Gutachtens ausführlich beschriebenen Untersuchungs¬
befundes bietet dies keine Schwierigkeit. Danach ist die Hauptver-
Jetzung des Gehirns an der Grenze des Stirnlappens und des Scheitcl-
lappcns zu suchen. Am schwersten ist das Centrum der Armbewe-
Digitized by
Go gle
Original frorn
UNIVERSUM OF IOWA
14
Prof. Ziehen,
jungen betroffen. Die Ilauptläsion liegt daher unmittelbar hinter dem
Sulcus praecentralis superior im Gyrus centralis ant. und post. Von
diesem Maximumpunkt der Zerstörung erstreckt sich die Läsion einer¬
seits nach oben gegen die Mittellinie hin in das Centrum der Bein¬
bewegungen und andererseits abwärts in das Centruin der Gesicht.s-
bewegungen bis in das motorische Sprachccntrum (Centrum der Spraoh-
bewegungen) im unteren hinteren Thcil des Stirnlappens hinein. In
Anbetracht der schweren Herabsetzung der Sensibilität und des Muskel¬
gefühls ist ferner zu schliessen, dass die Zerstörung sich von den
Gyri centrales noch weiter nach hinten bis in das obere event. auch
untere Scheitelläppchen erstreckt. Hingegen liegt kein Anhaltspunkt
vor, dass auch der Schläfen- und Hinterhauptslappen in nennens-
werther Weise in Mitleidenschaft gezogen worden sind. Spcciell liegt
keinerlei sensorische Aphasie (Verlust der akustischen Erinnerungs¬
bilder der Sprache = Aufhebung des Wort Verständnisses) und keiner¬
lei Störung des optischen Wahrnchmens und Wiedererkenncns von
Gegenständen vor. Die optischen und akustischen Erinnerungsbilder
des Kranken sind gut erhalten. Mit diesen Schlüssen stimmt durch¬
aus überein, was die behandelnden Aerzte über den Verlauf der Wunde
angegeben haben. Ich habe ihre Angaben deshalb S. lff. dieses Gut¬
achtens zusamincngestellt. Auch eine Reconstruction an einem Lci-
chenschädel hat meine Schlüsse bestätigt. Schläfen- und Hinterhaupts¬
lappen müssen im Wesentlichen intact geblieben sein, die Hauptver¬
letzung hat den Scheitellappen und den hinteren Theil des Stirnlappens
betroffen. Selbstverständlich braucht sich die Gehirnzersiörung räum¬
lich nicht völlig mit der Knochenverletzung zu decken. Das ver¬
letzende Instrument kann schief eingedrungen sein, die Entzündung
und der Prolaps (das Vorquellen) der Hirnsubstanz kann die Nach¬
barschaft in sehr ungleichmäßiger Weise in Mitleidenschaft gezogen
haben. Was ersteres anlangt, so scheint ziemlich sicher, dass das
Instrument annähernd recht winkelig mit seiner Schneide eingedrungen
ist. Was Entzündung und Prolaps anlangt, so pflegen beide da am
stärksten zu sein, wo der Knochen gesplittert hat. Dies hat eben
am vorderen Rand der Verletzung stattgefunden. Also auch diese
Ucberlegung führt zu dem Schluss, dass Hinterhauptslappen und Schlä¬
fenlappen des Gehirns gar nicht oder nur sehr wenig in Mitleiden¬
schaft gezogen worden sind. Daraus ist nun aber direct zu schliessen,
dass ein Verlust optischer und akustischer Erinnerungsbilder bezw.
Vorstellungen im Sinne der oben sub 3 aufgeführten Gcdäehtnissstü-
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITÄT OF IOWA
Obergutachten über die Zuverlässigkeit der Angaben eines Aphasisclien. 15
rang in irgend erheblichem Umfang nicht stattgefunden hat. Sowohl
meine Untersuchung wie die Darstellung der Verletzung in den Acten
sehliessen dies aus. Der Verlust, welchen H. durch die Obcrflächen-
verlctzung des Gehirns erlitten hat, bezieht sich fast ausschliesslich
auf die Bewegungsfunctionen einschliesslich der Sprache sowie auf das
Gebiet des Gefühlssinns (Berührungsempfindlichkeit, Schmcrzempfind-
lichkeit, Muskelgefühl). Mit dem Verlust bezw. der Schädigung der
Sprache hängt eng der Verlust bezw. die Schädigung der Zahlenvor¬
stellungen zusammen. Diese sind, wie die klinische Erfahrung lehrt,
eng an die Sprache gebunden. Unabhängig von der Sprache sind
unsere Zahlvorstellungen (im Gegensatz z. B. zu unseren Farben- und
Form Vorstellungen) nur sehr unsicher. So erklärt es sich, dass auch
bei H. entsprechend der Mitverletzung des Sprechcentrums die Zahl-
vorstcllungen sehr mangelhaft und das Operiren mit Zahlen sehr un¬
sicher ist. Es bezieht sich dies auf Zahlenerinnerungen seines ganzen
Lebens; giebt er doch, wie oben angeführt, sein eigenes Alter nicht
sicher an. Seine Zahlenerinnerungen bezüglich des Anfalls und der
damit verbundenen Erlebnisse können daher auch nicht sicher sein.
Auf Zahlenangaben des H. dürfte also weder jetzt noch späterhin
grösseres Gewicht zu legen sein. Damit ist die einzige Gruppe von
Erinnerungen bezw. Vorstellungen nachgewiesen, für welche ein Ver¬
lust von Belang im Sinne der Gedächtnissstörung, welche ich sub 3
aufgeführt habe,.eingetreten ist; denn die Erinnerungen auf dem Ge¬
biet des Gefühlssinnes dürften nach Lage der Umstände in diesem
Fall schwerlich eine Rolle spielen.
Ich wende mich nunmehr zu der allgemeinen Gedächtniss-
schwäche, welche ich oben sub 1 besprochen habe. Nach meiner
mit H. vorgenommenen Intelligenzprüfung kann von irgend erheb¬
licher allgemeiner Gedächtnissschwäche jetzt nicht die Rede sein.
Von dem speciellen Verlust der Zahlenvorstellungen sowie dem am¬
nestischen Zeitraum ist dabei abzuschen. Wenn man ihm Zeit lässt,
die Worte zu finden und zunächst falsch gewählte Worte (Paraphasie)
nach dem Klang zu corrigircn, so ergiebt sich im Uebrigen keine er¬
heblichere Gedächtnisslücke. Dass sich in späteren Jahren eine solche
entwickelt, ist nach klinischen Erfahrungen nicht ausgeschlossen; zur
Zeit besteht sie nicht.
Endlich ist die Amnesie des H. zu erörtern. Anfangs war diese
fast total. Ganz allmälig hat sie sich im Laufe der Monate zurück-
gebildet. II. befindet sich noch jetzt im Stadium dieser Rückbildung.
Digitized by
Go^ 'gle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
16
Prof. Ziehen,
Es ist anzunehmen, dass in einigen Punkten diese Wiederkehr der
Erinnerung noch weiter fortschreiten wird. In manchen entspricht die
Erinnerung schon dem, was man selbst von einem gesunden nicht-
vcrletzten Mann bezüglich eines über 3 Monate zurückliegenden Er¬
lebnisses erwarten darf, so z. B. bezüglich der Farbe der Kleider des
Angreifers 1 ). In anderen Punkten wird wahrscheinlich ein dauernder
Erinnerungsdefect, so lange man die Beobachtung auch fortsetzen mag,
bleiben. Die Hauptfrage erhebt sich nun, inwieweit diejenigen Aus¬
sagen, welche H. jetzt über den Zeitraum des Ueberfalls macht, dank
der schon stattgehabten Rückbildung seiner Amnesie, zuverlässig sind.
Dass die Zahlen Vorstellungen aus anderen Gründen unzuverlässig sind,
ist bereits erörtert. Um diese handelt es sich jedoch auch in der
Hauptsache nicht. In der Hauptsache kommen die Erinnerungen auf
dem Gebiet des Gehörs- und Gesichtssinnes in Frage, welche H. jetzt
in seinen Aussagen bezüglich des Zeitraums des Ueberfalls berichtet.
Ist zuverlässig, was er über das Aussehen des Angreifers, den An¬
griff selbst und seine (H.’s) eigenen Gedanken vor und während des
Angriffs angiebt? Zunächst lassen sich viele seiner Angaben, soweit
sie nämlich die Erlebnisse vor dem Ueberfall, also die Hinfahrt nach
Remda, den Haferverkauf bei K., die Einkehr im Rathhaus, die Be¬
gegnungen auf dem ersten Theil der Rückfahrt betreffen, auf ihre
Richtigkeit direct controliren. Dabei ergiebt sich, dass die jetzigen
Angaben H.’s durchweg mit der Wirklichkeit übereiqstimraen. Dabei
handelt es sich z. Th. um Angaben, welche H. nachweislich nicht aus
späteren Mittheilungen betheiligter Personen geschöpft hat. Sein an¬
fängliches Beharren bei der unrichtigen Angabe, er habe bei dem Wirth
B. ein Zehnmarkstück gewechselt, findet seine ausreichende Erklärung
darin, dass eben gerade für Zahlvorstellungen ein von der einfachen
Amnesie verschiedener Erinnerungsdefect besteht. Wirft schon die
sonstige Correctheit der Angaben des H. über die Erlebnisse vor dem
Ueberfall ein günstiges Licht auf die Zuverlässigkeit seiner wiederge¬
kehrten Erinnerung für den amnestischen Zeitraum im Allgemeinen
und speciell für den Ueberfall selbst, so führt eine Analyse der Aus¬
sagen über den Ueberfall selbst zu einem ganz analogen Resultat. Die
beiden Hauptquellen für eine etwaige Umgestaltung seiner Erinnerun¬
gen bezüglich des Unfalls wären
1) Ich habe mich hiervon durch Controlversuche an mir und Anderen über¬
zeugt.
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSITÄT OF IOWA
Obergutachten über die Zuverlässigkeit der Angaben eines Aphasisclien. 17
1. seine eigene Phantasiethätigkeit, und
2. Einflüsterungen anderer Personen im weitesten Sinne.
Oben wurde bereits hervorgehoben, dass diese beiden Quellen über¬
haupt nicht häufig und nicht erheblich wirksam sind. In dem spe-
cielL vorliegenden Fall ist ihr Einfluss fast gleich Null zu setzen. H.
macht in keiner Weise den Eindruck eines phantasiebegabten, phan-
tasiethätigen Mannes. Seine allmälig sich mehrenden Aussagen machen
in keiner Weise den Eindruck phantastischer Ausschmückungen. Dazu
sind sie viel zu einfach; auch entsprechen sie in keiner Weise einem
bestimmten Vorstellungskreis (wie etwa der Vorstellung, der Thäter
sei da oder dort zu suchen u. s. f.). Wie wenig die Phantasie des
II. arbeitet, ergiebt sich daraus, dass er Schuhwerk und Kopfbedeckung
des Angreifers auch jetzt noch im Unklaren lässt: hier lässt ihn
seine Erinnerung noch im Stich, und seine Phantasie füllt die Lücke
nicht aus. Ebensowenig haben Einflüsterungen seiner Umgebung eine
irgend erhebliche Rolle gespielt. Es ist kaum verständlich, wie solche
Einflüsterungen die wichtigsten Aussagen H.’s, z. B. über die Aeus.se-
rungen seines Angreifers, seinen Anzug etc. hätten beeinflussen sollen.
Auch in dieser Beziehung tragen die Aussagen H.’s den Stempel der
Wahrheit. Sehr bezeichnend ist, wie kritisch er selbst seiner Erinne¬
rung gegenübersteht. Auch im Gespräch mit mir unterschied er ganz
scharf, was ihm nachträglich Andere gesagt und was ihm selbst nach
und nach eingefallen. Auch Dr. K.’s Bericht vom 24. März spricht
sich in diesem Sinne aus. Alle die allmälig wiederkehrenden Erinne¬
rungen H.’s entsprechen genau den Erinnerungsbruchstücken, wie sic
oben S. 12 ausführlich geschildert wurden. Der Fall H. kann in
dieser Richtung geradezu als ein Paradigma dieser Rückbildung einer
Amnesie gelten. Ich sehe daher auch keinerlei Grund, die Zuver¬
lässigkeit dieser Erinnerungen als solcher zu bezweifeln. Was H. da¬
mals gesehen und gehört zu haben und auch gedacht zu haben an-
giebt, hat er aller Wahrscheinlichkeit nach in allen wesentlichen Punkten,
abgesehen von Zahlenangaben, wirklich gesehen, wirklich gehört und
wirklich gedacht.
Anders liegt die Frage, ob er dasjenige, was er gesehen, gehört
und gedacht zu haben berichtet, wirklich in der Reihenfolge, zu der
Zeit, an dem Ort gesehen, gehört etc. hat. Schon oben S. 12 wurde
hervorgehoben, dass solche Verwechslungen nicht ausgeschlossen sind.
Die einzelnen Erinnerungen als solche entsprechen wirklichen Erleb¬
nissen des amnestischen Zeitraums, aber sie können örtlich und zeit-
Vierteyahrsschr. f. ger. Med. Dritte Folge. XIV. 1. g
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
18
Prof. Ziehen,
lieh verschoben sein. Insofern erleidet also die Zuverlässigkeit der
Angaben H.’s eine Einschränkung.
Es liegt auf der Hand, dass von dieser Einschränkung manche
Angaben H.’s gar nicht betroffen werden. Seine Angaben, der An¬
greifer sei ihm an jener bestimmten Stelle im Walde erschienen, sei
über den Graben gesprungen, habe die oben angeführten Aeusserungen
zu ihm gethan, er selbst habe ihn für Diesen oder Jenen gehalten,
der Angriff selbst sei in dieser oder jener Weise erfolgt etc., sind
ihrer Natur nach solche, dass eine Verwechslung mit anderen Erleb¬
nissen ausgeschlossen ist. Anders verhalten sich die Angaben über
das Aussehen und die Kleidung des Angreifers. Hier ist Gelegenheit
zu einer Verwechslung wohl gegeben gewesen, da er kurz vorher
andere Menschen und speciell auch einen Fremden (bei seiner Einkehr
im Rathhaus) gesehen hatte. Es ist nach anderweitigen Erscheinungen
durchaus nicht ausgeschlossen, dass er einzelne Züge im Aussehen
dieser beiden Personen noch verwechselt. Andere Züge wiederum,
welche II. dem Aussehen seines Angreifers zuschreibt, sind nach Natur
der Sache kaum von ihm verwechselt.: dahin rechne ich die eigen¬
artige Gangweise, die helle Stimme, die weissen Zähne; denn alle
diese Erinnerungen sind so eng mit dem ganzen Auftritt im Walde
verknüpft, dass eine Verschiebung in dem oben erörterten Sinne sehr
unwahrscheinlich ist. Die Aussagen, dass er seinen Angreifer nicht
erkannt habe, halte ich speciell für zuverlässig. Sic ist mit den An¬
gaben über das Gespräch zwischen H. und seinem Angreifer beim
Auftauchen des letztereil viel zu eng verwoben, als dass hier eine
Verwechslung mit dem Nichterkennen einer anderen Person (z. ß. des
Individuums in Remda) stattgefunden haben könnte. Die Aussage H.’s
(s. oben S. 7), er habe gedacht, der Mann sei Forstaufseher und habe
nach den Leuten zu sehen, sowie die weitere Aussage, er habe die
oben S. 10 angeführte Antwort gegeben, als der Mann ihm zurief, er
wolle nach den Arbeitern sehen, sind durchaus zuverlässig und frei
vom Verdacht einer Verwechslung und beweisen, dass H. seinen An¬
greifer nicht für Fr. gehalten, bezw. als solchen erkannt hat, sondern
einen Fremden vor sich zu haben glaubte. Hätte er in dem Manne
Fr. erkannt und dieser hätte jene Aeusserung gethan, so hätte H.
sich über dies Vorgeben, welches im Munde Fr.’s ganz unverständlich
war, gewiss gewundert und eine ganz andere Antwort als die S. 10
angeführte gegeben. Auch dass II. in dem Angreifer den „Herum¬
lungerer in Remda“ nicht erkannt hat, ist wahrscheinlich richtig, denn
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
Obergutachten über die Zuverlässigkeit der Angaben eines Aphasischen. 19
wenn er in dem plötzlich auftauchenden Mann diesen, der ihm schon
in Remda Verdacht eingeflösst hatte, wiedererkannt hätte, wäre jeden¬
falls ein solcher Verdacht erst recht wieder in ihm aufgestiegen, das
Gespräch wäre anders verlaufen, und vor Allem würde gerade die Er¬
innerung an diesen zum zweiten Mal auftauchenden Verdacht bei H.
schwerlich völlig erloschen sein.
Ich resumire die wichtigsten Schlüsse meines Gutachtens in fol¬
genden Sätzen:
1. Es ist wahrscheinlich richtig, dass H. seinen Angreifer über¬
haupt nicht erkannt hat, sehr wahrscheinlich richtig, dass H. specicll
den Angreifer nicht als Fr. erkannt hat. Ob letzteres daher rührt,
dass Fr. sich unkenntlich gemacht hatte oder wegen des Nebels nicht
zu erkennen war, oder daher, dass Fr. überhaupt gar nicht der An¬
greifer war, habe ich nicht zu entscheiden.
2. Es ist sehr wahrscheinlich, dass sich der Vorgang im Walde
so abgespielt hat, wie H. jetzt aussagt.
3. Bezüglich des Gesichtes und der Kleidung des Angreifers
könnten in den Aussagen H.’s noch Verwechslungen mit dem Remdaer
Fremder, wie er übrigens selbst für möglich erklärt, enthalten sein.
Andererseits kann auch die Aussage H.’s, wonach der Remdaer Fremde
und der Angreifer sich sehr ähnlich gewesen wären, sehr wohl richtig
sein. Auf die frühere Aussage H.’s, wonach er den Fremden in Remda
und den Angreifer im Walde allmälig richtig zu unterscheiden gelernt
habe und wonach es scheinen könnte, als könnten beide nicht iden-
tisch gewesen sein, ist kein Gewicht zu legen. Auch jetzt vermag
er beide noch nicht scharf zu unterscheiden. Richtig ist wahrschein¬
lich einstweilen nur so viel, dass H. im Walde den Angreifer nicht
als den Fremden wiedererkannt hat (siehe sub 1).
4. Die Rückbildung der Amnesie bei H. ist wahrscheinlich noch
nicht abgeschlossen; es ist daher sehr wohl denkbar, dass er in einigen
Punkten seine Aussagen noch ergänzt, bezw. etwaige Verwechslungen
corrigirt.
Digitized by
Gck igle
2*
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
2 .
Zur Casuistik der Carbolsäurevergiftung.
(Ein Fall mit ungewöhnlich ausgedehnten und tiefgreifenden
Verätzungen.)
Von
Dr. Anton Brosch, Prosector des militär-anatomischen Institutes in Wien.
Obgleich Carboisäurevergiftungen in der neueren Zeit nicht mehr
zu den Seltenheiten gehören, dürfte der folgende Fall doch ein be¬
sonderes Interesse bieten, da bei demselben entgegen den gewöhnlichen
Vergiftungen nicht eine verdünnte sondern eine hochconcentrirte Car-
bolsäurelösung in einer ungewöhnlich grossen Menge zur Ausführung
des Selbstmordes genommen wurde.
Der Feldwebel J. C. wurde am 19. Oct. 1895 um 2 Uhr Nachmittags in einem
Hotel, wo er übernachtet hatte, todt im Bette aufgefunden. Bei dem Bette wurden
Bruchstücke einer Flasche gefunden, welche einen an Carbolsäure erinnernden
Geruch wahrnehmen Hessen. Vom Hotelpersonale wurde der Feldwebel am 18. Oct.
zwischen 7 und 8 Uhr Abends zum letzten Male gesehen, als er sich auf sein
Zimmer begab.
Der Obductionsbefund war der Hauptsache nach folgender:
Kräftige männliche Leiche. In der Gegend des Hinterkopfes grosse blau-
rothe, an den übrigen abhängigen Körperstellen ausgebreitete lichter rothgefärbte
Todtenflecke. Die Extremitäten sämmtlich starr. Die Sichelblutleiter und
die Blutleiter der Schädelbasis sind strotzend mit schwarzrothem
flüssigen Blute erfüllt. Bei Eröffnung der Drosselvenen fliesst aus densel¬
ben reichliches schwarzrothes flüssiges Blut.
Das Herz links contrahirt, rechts schlaff, enthält in der rechten Kammer
und den Vorhöfen eine reichliche Menge dünnflüssigen Blutes, ohne jede Spur
von Gerinnselbildung. Das Herzfleisch ist rothbraun, hart und brüchig.
Die Lungen sind frei, überall lufthaltig, mässig durchfeuchtet. Auf der
Schnittfläche entleert sich aus den Gefässen auffallend dunkles flüssiges Blut.
Die Schleimhaut des Rachens ist trocken, granviolett gefärbt und weich.
An derselben sind keine Schorfe nachweisbar.
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Zur Casuistik der Carboisäurevergiftung.
21
Die Speiseröhre ist in ihrer ganzen Ausdehnung von der Gegend der
Schlundschnürer bis zur Cardia stark zusammengezogen. Die Serosafläche
der Speiseröhre ist überall diffus lichtroth gefärbt und sehr hart, wie ge¬
gerbt, anzufühlen. Mit der stumpfen Branche der Darmscheere ist es nicht mög¬
lich vom Rachen aus in das Lumen der Speiseröhre einzudringen. Dies gelingt
erst nach vieler Mühe und wiederholten Versuchen mit einem eingefetteten Metall-
catheter. Aus der gewaltsam eröffneten Speiseröhre entleert sich ein halber Kaffee¬
löffel einer milchigen, stark ätzenden Flüssigkeit. Die Schleimhaut der Speise¬
röhre istmilchweiss und sieht wie mitKalk über tüncht aus. Die mörtel¬
artige Härte der so gefärbten Schleimhaut macht diese Vorstellung nooh täu¬
schender.
Die Schleimhaut des Kehlkopfes und der Luftröhre zeigt besonders an
der hinteren Wand zarte, oberflächliche, grau gefärbte Schorfe.
Der Magen ist stark zusammengezogen, diffus lichtroth gefärbt und
sehr hart anzufühlen. Die dem Magen anliegende Unterfläche des linken Leber¬
lappens zeigt mehrere bis 4 cm im Durchmesser betragende grauweisse, un¬
regelmässig begrenzte Flecke, welche sich beim Anfühlen als sehr hart
und derb erweisen. Beim Einschnitte in die Leber zeigt es sich, dass
diese harten, grauweissen Partien bis zu einer Tiefe von 1 cm in das
Lebcrparcnchym hineinreichen.
Eine gleiche Veränderung von 3 cm Durchmesser und l cm Tiefe
findet sich an dem der Magenwand zugekehrten oberen Pol der lin¬
ken Niere.
Der Magen enthält drei Esslöffel einer milchigen, intensiv nach Car-
bolsäure riechenden, stark ätzenden Flüssigkeit. Die Haut des Obduci-
renden wurde von dieser Flüssigkeit unter der Empfindung heftigen Brennens in
kurzer Zeit grau gefärbt. An dem frisch eröffneten Magen sieht das In¬
nere wie mit Kalk übergossen aus und sind die weissglänzenden Schleim¬
hautfalten sehr hart anzufühlen.
Der Zwölffingerdarm enthält spärlichen graurothen breiartigen Inhalt.
iJie Schleimhaut ist durchweg wie gegerbt anzufühlen und zeigt eine in das
Uöthliche spielende theils weisse, theils mörtelgraue Farbe. Die Wandung ist in
ihrer ganzen Dicke sehr hart und die Serosaflächo diffus lichtroth gefärbt.
Der an den Zwölffingerdarm anschliessende Theil des Dünndarmes zeigt
an seiner Schleimhaut auf eine Länge von über 3 Meter eine theils mörtel-
graue, theils röthlichgraue Färbung. An jenen Stellen, die mörtelgrau ge¬
färbt sind, ist die Darmwand hart, an den röthlich tingirten Partien etwas wei¬
cher. Auch der Dünndarminhalt übt eine deutlich ätzende Wirkung auf die
Haut des Obdncirenden, obwohl in bedeutend geringerem Grade als der Magen¬
inhalt.
Die übrigen Organe ohne besondere Veränderung.
Konnte schon aus dem Sectionsbefunde allein die Diagnose auf
Vergiftung durch concentrirte Carbolsäurelösung gestellt werden, so
wurde doch zur Bestätigung der Mageninhalt zur ; Untersuchung an
das chemische Laboratorium des K. u. K. Militäi-Saniiäts-Ccmite in
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UMIVERSITY OF IOWA
22
Dr. Brosch,
Wien eingesandt. Der vom Vorstand des chemischen Laboratoriums,
Herr Oberstabsarzt Prof. Dr. Kratschmer hierüber ausgestellte Be¬
fund lautete:
Der Mageninhalt, welcher einen starken Geruch nach Carbolsäure verbreitete,
wurde aus einem Kolben mit Wasserdampf destillirt und in einer Vorlage aufge¬
fangen. Das Destillat erschien anfänglich milchig getrübt, schied sich bei länge¬
rem Stehen in zwei vollständig klare Flüssigkeitsschichten, von denen die untere
aus reiner Carbolsäure (nach allen ihren Reactionen) bestand. Die auf diose
Art gewonnene Carbolsäure betrug noch über 20 g.
Vergiftungen mit verdünnter Carbolsäure sind schon häufig be¬
schrieben worden, doch geben diese kein so prägnantes Bild, wie die
Vergiftung mit conccntrirter Säure, von Hofmann 1 ) giebt als nie¬
drigste letale Dosis für den Menschen 30 bis 50 g, Lewin 2 ) 8 bis
60 g an. Ausserdem kommt noch in Betracht die zu chirurgischen
Zwecken verwendete gereinigte verdünnte 3 bis 5proe. Lösung. Von
einer 5proc. Lösung sind nach Hoffmann 8 ) für eine Katze schon
v 4 —V 2 g und für ein Kaninchen y 6 g Carbolsäure tödtlich.
Die sicht- und wahrnehmbaren Veränderungen bei der Vergiftung
mit concentrirter Carbolsäure geben ein so wohl charakterisirtes patho¬
logisch-anatomisches Bild, dass man aus dem anatomischen Befunde
allein die Diagnose mit solcher Sicherheit stellen kann, dass die
Differentialdiagnose gegenüber anderen Vergiftungen fast gar nicht
mehr in Betracht kommt.
In dem vorliegenden Falle des Feldwebel J. C. war die Menge
der eingenommenen Carbolsäure verhältnissmässig sehr gross. Leider
wurden bei der Thatbestandsaufnahmc die Bruchstücke der Vorge¬
fundenen Flasche nicht gesammelt und womöglich ihre Provenienz
fcstgestellt. Durch diesen Umstand hätte man die Menge der ein¬
genommenen Carbolsäure genau erfahren können, doch so muss man
sich mit einer annäherungsweisen Schätzung begnügen. Wenn man
bedenkt, dass sich aus dem Mageninhalt allein über 20 g reiner Car-
bolsäurc darstellen licsscn, und wenn man weiteres bedeckt, dass
1) v. Ilofmann, Lehrbuch der gerichtl. Medicin. 1893. S. 651.
2) Lewin, Real-Encyklopädio f. d. ges. Pharinaeic. 1887. Bd. II. S. 544.
3) W. Hoffmann, Beiträge zur Kenntniss der physiologischen Wirkung der
iC'Serf». Dorpat 186(5.
Carbolsäure umb des O.anfphöss.. Di."
. •
: : .- V: •: •• ::•:•••* • ’
r '••• • • • • •
Digitized by
• • •• • • . • • • •
Original frn-m
UNiVERSlIY OF IOWA
Zur Casuistik der Carboisäurevergiftung.
23
auch in der Speiseröhre, dem Zwölffingerdarm und einem über drei
Meter langen Dünndarmstücke sich wenn auch schwächerer, ätzender
Inhalt vorfand, und wenn man weiter überlegt, wie viel Carbolsäure
durch die ausgedehnte tiefgreifende Schorfbildung auf einer im Ganzen
über vier Meter langen Strecke des Verdauungsstractes gebunden
wurde und bei der quantitaven Bestimmung der Carbolsäure nicht
initberechnet werden konnte, so wird man kaum fehlgehen, wenn
man die Gesammtmenge der ursprünglich genommenen concentrirten
Carbolsäure mindestens auf das Zehnfache der noch im Mageninhalt
allein nachgewiesenen d. h. auf 200 g annimmt.
Es können diese pathologisch-anatomischen Veränderungen in
derselben Intensität aber örtlich beschränkt auch bei Einführung ge¬
ringerer Mengen von concentrirtcr Carbolsäure auftreten. Die ge¬
schilderten intensiven Grade der Aetzwirkung, wie sie hier an dem
Leber und Nierenparchyra zum Ausdruck kamen, wird man auch bei
geringeren Quantitäten concentrirter Säure finden 1 ).
In dem vorliegenden Falle ist die Dauer der stattgehabten Ein¬
wirkung der Säure nicht mit Sicherheit festzustellen, da von 7 Uhr.
Abends bis 2 Uhr Nachmittags des folgenden Tages Niemand mit dem
Selbstmörder in Berührung kam und sonach auch vorläufig die
Frage nicht beantwortet werden kann, wann die Carbolsäure ge¬
trunken wurde, beziehungsweise, wann der Tod des Betreffenden
eintrat.
Bei so schweren Laesionen muss man annchmen, dass der Tod
nach sehr kurzer Zeit erfolgte. In dem Falle von John Way 2 ) er¬
folgte der Tod einer 35jährigen Frau, welche 8 Unzen Carbolsäure
verschluckt hatte, ganz plötzlich. In den drei Fällen Couteaud’s 3 )
trat der Tod in 5—15 und 90 Minuten ein. In dem von Barlow 4 )
1) Eine ähnliche aber leichtere Verätzung an der Leber und am Zwerchfell
ist von Josias beschrieben worden, ln diesem Falle soll der Betreffende eine
(48 g Phenol entsprechende) concentrirte alkoholische Carbollösung getrunken
haben. Tod nach 10 Minuten. Alb. Josias, Empoisonnement par l’acido ph£-
nique riSsultant de m(5prise; mort en dix minutes; autopsie. Progres m6d. 1885.
p. 254.
2) John Way, Poisoning by carbolic acid. Transact. of tho patholog. So¬
ciety. XXIV. p. 93.
3) Gouteaud, Empoisonnement foudroyants par l’acide feniquo. Gaz. hebd.
1892. No. 14. p. 159.
4) W. Th. Barlow, ( ’ase of poisoninu; by carbolic acid. Lancet 1860,
Sept. 18. p. 404.
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
24
Dr. Brosch,
beschriebenem Falle starb der Vergiftete durch Genuss von einer Unze
Carbolsäure bereits in 10 Minuten.
Für die Beurtheilung der Veränderungen an der Leiche ist es
indessen nicht so wichtig die Zeitdauer von der Einführung der Car¬
bolsäure bis zum Eintritt des Todes zu wissen als vielmehr die Länge
der Zeit zu kennen, durch welche die Carbolsäure überhaupt mit den
Organgeweben im Contact war.
Nimmt man als Zeitpunkt der Vergiftung die Zeit zwischen
7 und 8 Uhr Abend an, wie es den Vermuthungen nach der Fall
gewesen sein dürfte, da den Selbstmörder von dieser Zeit an Niemand
mehr sah, er also von dieser Stunde an nicht mehr das Zimmer ver¬
lassen hatte, so ergiebt sich bis zu Auffindung der Leiche eine Zeit
von beiläufig 18 Stunden. Die gerichtliche Obduction fand am folgen¬
den Tage um 11 Uhr Vormittags statt. Dies ergiebt im Ganzen
eine Aetzwirkung der Carbolsäure in der Dauer von 39 oder abge-
gerundet 40 Stunden.
Um diese Schätzung auf eine sichere Basis zu stellen wurden
Controlversuchc an der Leiche ausgeführt. Um von vorherein
dem Einwande zu begegnen, dass Versuche an der Leiche nicht mit
Experimenten am Lebenden verglichen werden dürfen, sei hier ganz
besonders betont, dass in dem vorliegenden Falle eine sehr grosse
Menge einer sehr starken (wahrscheinlich 90 proc.) Lösung verwendet
wurde. Man muss daher nach den von Gade 1 ), Way 2 ), Couteaud 3 )
und Barlow 4 ) beschriebenen Fällen annehmen, dass der Tod nach
5 Minuten bis längstens einer Stunde eintrat und dies umsomehr, als
keinerlei Brech- oder Gegenmittel verabreicht oder Magenausspülungen
vorgenommen wurden und auch kein freiwilliges Erbrechen stattfand.
Diese kurze Zeit (5—60 Minuten) kann gegenüber einer Zeitdauer von
40 Stunden Contactwirkung der Säure wohl vernachlässigt, werden,
wenn es sich um eine annäherungsweise Schätzung handelt.
Beim ersten Versuche wurde, da ein contrahirter Magen (ent¬
sprechend dem bei dem Vergifteten Vorgefundenen) nicht zur Ver¬
fügung stand, das Duodenum mit 40 g Acid. carbol. liqucfact. gefüllt,
1) F. C. Gade, Dödelig Karbolsyrcfergiftning per os. Magazin f. Laege-
vidensk. R. 3. B. 14. p. 234. (Tod in 13 Minuten nach Genuss von einem Ess¬
löffel Carbolsäure.)
2) Way, 1. c.
3) Couteaud, 1. c.
4) Barlow, 1. c.
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSITÄT OF IOWA
Zur Casuistik der Carboisäurevergiftung.
25
mit der Leber in Berührung gebracht und durch 40 Stunden der Ein¬
wirkung der Carbolsäure ausgesetzt. Das Bild war fast das Gleiche
wie bei der Obduction des J. C. Die Schleimhaut des Duodenum
war weiss gefärbt, wenn auch nicht so glänzend weiss wie bei dem
Vergiftungsbild am Lebenden 1 ). Die Darmwand in ihrer ganzen
Dicke hart, an der Scrosafläche lichtroth. Die Leber zeigte an der
Berührungsfläche einen sehr hellgrauen derben Schorf, der beim Ein¬
sehneiden an seiner dicksten Stelle sich nahezu 1 cm tief in das
Leberparenchym verfolgen lässt.
Damit war wohl ein Maass für die Zeitdauer der Aetz-
wirkung und für die Concentration gegeben, doch handelte es
sich noch darum, festzustellen, welche Menge von Carbolsäure zur
Hervorbringung dieser Aetzwirkung in einer Zeitdauer von 40 Stunden
gebunden wurde. Es wurde der Inhalt des Duodenum destillirt und
aus dem Destillate noch 12 g reiner flüssiger Carbolsäure erhalten.
Daraus folgt, dass zur Erzeugung der geschilderten Aetz¬
wirkung in einer Zeitdauer von 40 Stunden mindestens
28 Gramm Acid. carbolic. liquefact nothwendig sind.
Lin den Versuch noch mehr der Wirklichkeit entsprechend zu
gestalten, wurde ein zweiter Controllversuch ausgeführt. Es
wurde von einer Leiche ein ‘contrahirter Magen, der nahezu die¬
selbe Grösse wie der bei dem Vergifteten gefundene besass, unbe¬
schadet seines geringen Inhaltes mit 250 g Acidum carbolicum
liquefactum gefüllt, mit der Leber in Contact gebracht und durch
40 Stunden der Einwirkung der Säure ausgesetzt. Das Bild entsprach
vollkommen dem Befunde des obducirten Feldwebel C. Durch De¬
stillation des Mageninhalt wurden noch 215 g flüssiger reiner Carbol¬
säure erhalten. Es wurden also zur Erzeugung der tief¬
greifenden Verätzung im ganzen Magen und an der Leber
in einer Zeit von 40 Stunden 35 g coneentrirter flüssiger
Carbolsäure gebunden.
Was die Minimalquantität der zur Erzeugung charakteristi¬
schen, wenn auch local beschränkter Veränderungen betrifft, so hat
cs gar keinen praktischen Werth eine geringere Menge als 10 Gramme
Carbolsäure anzunehmen, da diese Menge bei dem relativ hohen speci-
fisehen Gewicht der reinen Carbolsäure kaum mehr einen schwachen
1) Wahrscheinlich deshalb, weil die Leichentheile bereits stark mit diffun-
ilirtem Blutfarbstoff durchtränkt sind.
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
26
Dr. Brosch,
Esslöffel Flüssigkeit repräsentirt, und es ist wohl anzunehmen, dass
ein Selbstmörder, der sich durch irgend eine Flüssigkeit vergiften will,
mit einer geringeren Menge vorlieb nehmen sollte als eben für einen
halbwegs guten Schluck ausreicht, zumal diese Selbstmörder meist
Personen sind, welche von der Intensität der Aetzwirkung des Mittels,
das sie gebrauchen, keine richtige Vorstellung haben. In der Regel
pflegen solche Personen besonders bei Flüssigkeiten die Heftigkeit der
Wirkung ganz bedeutend zu unterschätzen.
Ein Schluck reiner Carbolsäure (etwa 10g) vermag noch weisse
Schorfe in beschränkter Ausdehnung hervorzurufen, entweder im Mund
und Rachen oder im Oesophagus. Im Magen kommt es bei dieser
Quantität zu keiner eigentlichen Schorfbildung mehr 1 ).
Einige Schlucke sehr concentrirter Lösungen (50 g und mehr)
erzeugen schon ausgedehntere Schorfbildungen im Mund, Pharynx,
Magen und Duodenum 2 ).
Wie uns die Ausdehnung der Schorfe ein Schätzungsmittel
für die gebrauchte Menge der Carbolsäurelösung an die Hand giebt,
so bildet auch die Intensität der Schorfe einen Ausdruck für die
Concentration und die Zeitdauer der Aetzwirkung der cinge-
führten Carbolsäure. Die Wichtigkeit dieser objectiven Befunde darf
bei einer gerichtlichen Obduction nicht übersehen werden, denn diese
Befunde gestatten Schlussfolgerungen, die in zweifelhaften Fällen auf
den richtigen Weg weisen können, namentlich wenn es sich um die
Entscheidung der Frage, ob Selbstmord oder fremdes Verschulden
(Mord oder Versehen) vorliegt.
Es ist also wichtig zu wissen, dass um die geschilderten Ver¬
änderungen wenigstens theilweise ihrer Intensität und Extensität nach
zu erzeugen, mindestens 50 g concentrirter Carbolsäurelösung einge¬
führt werden müssen, welche hierzu annähernd eine Einwirkungsdauer
von 40 Stunden benöthigen. Wurde eine verdünnte Lösung gebraucht,
so muss eine bedeutend grössere Quantität derselben genommen
worden sein, um annähernd die gleichen Veränderungen hervorzurufen,
wobei aber immer hervorgehoben werden muss, dass grosse Mengen
verdünnter Lösungen, zwar sehr ausgedehnte aber wenig intensive
Veränderungen bewirken. So erzeugt eine grössere Menge 50 proc.
1) Fall von Krön lein, Zur Casuistik des Carbolismus acutus. Berl. klm.
NVoclicnschr. 1873. No. 51. S. 605.
2) Drei Fälle von Couteaud, 1. c.
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Zur Casuistik der Carboisäurevergiftung.
27
Carboisäurelösung zwar eine ziemlich ausgedehnte (Pharynx, Oeso¬
phagus, Magen) aber nur wenig intensive Verätzung 1 ), während con-
cententrirte Lösungen sogar in Quantitäten, die noch nicht tödtlich
sind, bereits bedeutende Nekrosen erzeugen 2 ).
Wenn diese Bestimmungen auch nur beiläufige sind, so haben
sie doch einen gewissen Werth, weil man nur auf diese Weise eine
annähernd richtige Vorstellung von der Grösse der Aetzwirkung einer
bestimmten Flüssigkeit erhalten kann, was gerade für die gebräuch¬
lichen chemischen Flüssigkeiten, die zur Ausführung von Selbstmorden
angewendet werden, von Wichtigkeit ist, denn wer mit diesen, wenn
auch nur approximativen Werthen, nicht gut vertraut ist — ich meine
alle jene Aerzte, welche zwar nicht pathologische Anatomen von
Fach sind, aber doch hie und da in die Gelegenheit kommen eine
gerichtliche Obduction machen zu müssen — wird sich niemals ein
richtiges Bild der Aetzwirkung einer bestimmten Flüssigkeit machen
können und in Folge dessen mit der Beurtheilung der eingenommenen
Quantität und Concentration, die in gerichtlichen Fällen mitunter von
ausschlaggebender Bedeutung sowohl für die Absicht als auch für die
muthmassliche Thäterschaft sein kann, viel zu sehr schwanken, als
dass es ihm möglich wäre aus dieser Beurtheilung für andere wich¬
tige Umstände die richtige Deutung zu finden.
Nachdem wir also festgestellt haben, dass bei einer Mindest¬
quantität von beiläufig 50 g concentrirter flüssiger Carbolsäure das
Bild des Obductionsbefundes nicht wesentlich von den im Falle J. C.
geschilderten pathologisch-anatomischen Veränderungen abweichcn
dürfte, erübrigt es noch die charakteristischen Merkmale der Vergif¬
tung mit concentrirter flüssiger Carbolsäure zusamraenzufassen, was
um so vortheilhafter sein dürfte, als diese Merkmale mitunter auch
eine eminente differentialdiagnostische Bedeutung gegenüber der Ver¬
giftung mit anderen chemischen Agentien besitzen können.
Als charakteristisches Merkmal der Schorfe, die durch
Einwirkung concentrirter Carbolsäure entstehen, sei das glänzende
Weiss hervorgehoben, das bei längerer Einwirkung der Säure buch¬
stäblich so blendend aussehen kann, als sei die Schleimhaut mit Kalk
1) M. Gauster, Zur Casuistik der Intoxication mit Carbolsäure. 1879. Me¬
morabilien. No. 1. S. 1.
2) E. Schmidt, Ein Fall von Carboisäurevergiftung. Przegl. lekarski. 1894.
No. 30. (3 Tage nach Genuss von concentrirter Carbolsäure Abstossung der gan¬
zen Oesophagusschleimhaut in continuo — Genesung.)
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
28
Dr. Brosch,
übergossen worden. In dem vorliegenden Falle war diese blendend
weisse Farbe am schönsten dort ausgeprägt, wo die Carbolsäure am
längsten und intensivsten einwirkte: im Fundustheil des Magens.
Aber auch auf der Schleimhaut der Speiseröhre war dieses blendende
Weiss schön ausgesprochen.
Beim Anfühlen erwiesen sich die so veränderten Magenwände
hart und bei gewaltsamem Umbiegen zeigt der glänzende weisse glatte
Schorf zahlreiche Risse und Sprünge. Die Serosafläche jener Theilc,
an welchen die Wirkung der Carbolsäure am intensivsten zur Geltung
kam, hat eine diffuse zarte Rosafärbung. Wo die Einwirkung der
concentrirten Carbolsäure weniger intensiv zur Geltnng kam, oder wo
die Carbolsäure durch das Passiren vieler Darminhaltsmengen bereits
verdünnt war — wie in dem vorliegenden Falle in den am weitesten
entfernt liegenden Dünndarmabschnitten — sind die Schorfe nicht
mehr so glänzend weiss; sie sind auch weicher. Bei noch schwächerer
Einwirkung endlich haben sie eine mörtelgraue Fabe. Doch auf diese
Veränderungen w'ollen wir nicht näher eingehen, da sie genugsam
beschrieben worden sind, und wir uns hier, um das Bild möglichst
klar und einfach zu gestalten, nur auf die ausgeprägten Wirkungen
der concentrirten flüssigen Carbolsäure beschränken.
Bleiben diese glänzend weissen Schorfe der Einwirkung der Luft
ausgesetzt, so werden sie mit der Zeit röthlich bis endlich schmutzig¬
braun. Diese Veränderung tritt nun langsamer und später, ein je
Tiefgreifender die Schorfbildung ist. Im vorliegenden Falle waren die
Schorfe in der Speiseröhre schon kurze Zeit nach Beendigung der
Section röthlich gefärbt, während die Schorfe der Magenschleimhaut
noch zwei Stunden nach der Obduction nahezu unverändert ihr blenden¬
des Weiss zeigten, das sie auch am nächsten Tage, in Formalin
liegend, noch nicht ganz verloren hatten. Später nahmen auch die
Schorfe der Magenschleimhaut eine verwaschene schmutzig braune
Farbe an.
Ein weiteres besonders charakteristisches Verhalten der Schorfe
bei der Vergiftung mit hochconcentrirtcr Carbolsäure ist noch hervor¬
zuheben, das — wenn es vorkommt — ebenfalls eine differential¬
diagnostische Bedeutung besitzt. Man kann es als topographisches
Verhalten der Aetzschorfe bezeichnen. In dem vorliegenden
Falle waren an der Schleimhaut der Zunge, des Gaumens, der Gaumen¬
bogen und der Rachenwand Schorfe weder zu sehen noch zu fühlen.
Diese Schleimhautpartien besassen überall ihre gewöhnliche Färbung
Digitized by
Gck gle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Zur Casuistik der Carboisäurevergiftung.
29
und waren durchaus weich und zart anzufühlen. Plötzlich am Be¬
ginne der Speiseröhre, die Constrictionslinie der Schlund¬
schnürer scharf markirend beginnen mit nahezu voller In¬
tensität im ganzen Umfange des Speiseröhrenquerschnittes
die milchweissen Aetzschorfe.
Rendu 1 ) und Patrouillard 2 ) berichten über einen tödtlichen
Fall von Carboisäurevergiftung, wo im Munde und Schlunde keine
Aetzschorfe und keine wirkliche Verfärbung vorhanden war. In
diesem Falle waren übrigens auch im Oesophagus keine Verätzungen,
sondern nur im Magen zwei Schorfe. Die Vergiftung wurde durch
Carbolsäure, die zur Pissoirdesinfection diente (wahrscheinlich 14 bis
15 proc. Lösung), verursacht.
Greenway 3 ) berichtet über eine Vergiftung mit ca. 30g einer
ungefähr 70 proc. Carboisäurelösung ohne Verätzung des Mundes
und Schlundes.
Wodurch ist dieses merkwürdige Verhalten der Aetzschorfe be¬
dingt? Jedenfalls durch das eigenthümliche Verhalten concentrirter
Carbolsäure gegen Wasser und gegen wässerige Flüssigkeiten. Ein
einfacher Versuch klärt dies auf. Nimmt man eine mit Wasser halb¬
gefüllte Eprouvette und giesst 6—10 proc. Carbolsäure hinein, so
sieht man, dass sich dieselbe sofort mit dem Wasser mischt, giesst
man dagegen concentrirte flüssige Carbolsäure hinein, so sieht man,
dass sich dieselbe am Boden der Eprouvette sammelt, ohne sich mit
dem Wasser zu vermengen. Erst wenn man die Eprouvette wieder¬
holt energisch schüttelt, kann man eine theilweise Vermischung der
Carbolsäure mit dem Wasser erzielen. Worin hat dieses Verhalten
der flüssigen Carbolsäure seinen Grund? Vielleicht in dem Unter¬
schiede der specifischen Gewichte der Carbolsäure und des Wassers
und in der grossen Molekular-Cohäsion der Carbolsäure? Eine genaue
Antwort darauf muss der Physiker oder der Chemiker geben. Ge¬
wiss ist, dass sich stark verdünnte Carbolsäurelösungen rascher und
leichter mit Wasser mengen, als die schon durch ihre oclartigc Be-
1) Rendu, Observation d’un cas d’empoisonnement par le phenol (sodique).
Journ. de Pharm, et de Chem. Dec. 1871. p. 456.
2) Patrouillard, Recherches toxicologiques sur le phenol. Ebendas.
Dec. 1871. p. 459.
3) James R. Greenway, A case of suicidal poisoning by carbolic acid;
over one ounce of ninety percent strength stated to have been taken; recovery.
Lancet 1891, Aug. 25. p. 485.
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
30
Dr. Brosch,
schaffenhcit auffallende coneentrirtc Lösung. Ueber die mit reichlicher
wässeriger Feuchtigkeit, bedeckten Schleimhäute der Mundhöhle und
des Rachens scheint die concentrirte Carbolsäurelösung unschädlich
zu rollen, bis zu der Stelle, wo die Flüssigkeitssäule von den Schlund¬
schnüren zusainmengepresst und zu innigerem Contacte mit der
Schleimhaut gezwungen wird 1 ). Hier tritt die Aetzwirkung sofort mit
grösster Intensität auf.
Selbstverständlich können in anderen Fällen auch Actzschorfe an
der Schleimhaut der Mundhöhle und des Rachens auftreten, wenn die
concentrirte Carbolsäure länger im Munde zurückbehalten wird. Das
Vorhandensein von Aetzschorfen an den erwähnten Stellen
spricht nicht gegen die Vergiftung mit conccntrirter Carbolsäure,
aber das Fehlen von Aetzschorfen an diesen Stellen bei Vor¬
handensein von intensiven milchweisen Schorfen in der Speiseröhre
spricht unbedingt für eine Vergiftung mit hochconccntrirter
Säure. Soviel über die Topographie der Aetzschorfe.
Was das Verhalten des Blutes betrifft, so war im vorliegenden
Falle mit Ausnahme der Schorfe, welche die bekannte lichtrothe
Färbung besassen, nirgends auch nur eine Spur von Blu tge-
rinnung nachweisbar, weder im Herzen noch in den grossen Gefäs.sen
noch sonst irgenwo. Ucberall, wo grosse Blutmengen angesammelt
waren, bestanden sie aus auffallend schwarzrothem flüssigem
Bute. Dieser Befund scheint nach den Angaben von Harrison 2 ),
Jeffreys 3 ), Köhler 4 ), Krönlein 5 ), Terrier 6 ), Brabant 7 ), Zill-
1) Ein Zufall fügte es, dass ich zur selben Zeit die Section eines Oesopha-
guscarcinoms machte. Die obere Grenze des Carcinoms fiel ebenfalls genau mit
der Constrictionslinic der Schlundschnürer zusammen. Diese passagere Stenose
hat auch als Prädilcctionsstellc des Carcinoms eine besondere Bedeutung, (siche
A. Brosch, Zur Aetiologie der Carcinome des Verdauungstractes. Wiener ined.
Wochcnschr. 1805. No. 42.)
2) Geo. Wm. Harrison, Gase of suicide by carbolic acid. Lancet 1867,
July 25. p. 133.
3) H. E. Jeffreys and John Ilainsworth, Gase of suicide by carbolic
acid. Med. Times and Gaz. 1871. April 17. p. 423.
4) R. Köhler, Tödtlicho Vergiftung durch Carbolsäure als Mittel gegen
Krätze. Württcmb. mcd. Corresp.-Bl. 1872. No. 6, 7. S. 41, 49.
5) Krönloin, 1. c.
6) David Ferner, l’oisoning by carbolic acid. Brit. med. Journ. 1873,
Febr. 15. p. 167.
7) T. II. Brabant , Case of poisoning by carbolic acid. Lancet 1873.
March 1.
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Zur Casuistik der Carboisäurevergiftung. 31
ner 1 ), Packer 2 ), Silk 3 ), Hankel 4 ) und Couteaud 5 ) Regel
zu sein.
Dass die Flüssigkeit des Blutes in der kürzeren Agonie
ihre Ursache habe, während bei längererer Agonie massenhafte Ge¬
rinnselbildung vorkomme, wie Zillner 1 ) angiebt, wird kaum an¬
zunehmen sein, da in einem Falle, wo die dunkle Farbe und Dünn¬
flüssigkeit des Blutes besonders hervorgehoben wird (Terrier 6 ) bis
zum Eintritt des Todes acht Stunden vergingen, der Verlauf also
ein ziemlich protrahirter war. Auch der Umstand, ob die In-
toxication per os oder auf anderem Wege (Haut) erfolgte, scheint
auf die Consistenz des Blutes keinen Einfluss auszuüben.
Jene Fälle, bei welchen reichliche Gerinnselbildung hervorgehoben
wird, betreffen entweder Vergiftungen mit roher unreiner Carbolsäure
(Ogaton 7 ), Zimm 8 ) und protrahirterem Verlauf (13—60 Stunden)
oder solche durch äussere Anwendung der Carbolsäure (Zillner 1 ),
doch ist auch ein Fall bekannt, wo bei Intoxication durch die Haut
der Tod erst am dritten Tage erfolgte (Köhler 9 ) und dennoch in
allen Sinus und Gcfässen sich dunkles flüssiges Blut vorfand. Als
Regel wird also bei Vergiftungen mit höheren Concentrationsgraden
oder grösseren Mengen von mittleren Conccntrationen die dunkle
meist dünnflüssige Beschaffenheit des Blutes zu gelten haben. In
vereinzelten Fällen wird eine dünnflüssige aber hellrothe Be¬
schaffenheit des Blutes angegeben (Brabant 10 ), was wohl auf
äussere Einflüsse zurückzuführen sein wird, etwa versuchte künst-
1) Eduard Zillner, Drei Fälle von CarbolsäurceinWirkung. Wien. med.
Wochensehr. 1879. No. 49. S. 1287.
2) W. Herbert Packer, Gase of poisoning of carbolic acid. Lance1 1878.
Oct. 12.
3) Silk, Poisoning by carbolic acid; profound coma; contrudcd pupils;
death in two hours; post mortem appearanccs. Brit. med. .Journ. 1881. April 23.
p. 640.
4) E. Hankel, Ein Todesfall in Folge acuter Carboisäurevergiftung. Diese
VierteIjahrsschr. 39. Bd. S. 57.
5) Couteaud, 1. c.
6) Ferrier, 1. c.
7) Alex. Ogaton, Case of carbolic acid poisoning. Brit. med. Journ.
1871. Febr. 4. p. 116.
8) Rud. Zimm, Eine Carboisäurevergiftung. Berlin 1871. Dissert.
9) Köhler, 1. c.
10) Brabant, 1. c.
Digitized by
Gck 'gle
Original frnrri
UNIVERSUM OF IOWA
32
Dr. Brosch,
liehe Atlimung oder längeres Liegen der Leiche an einem sehr luftigen
Orte, öfterer Lagewccbsel der Leiche beim Transport etc., denn das
dunkle Blut einer Carboivergiftungsleiche wird durch Berührung mit
der Luft lichter, wie bereits Hankel 1 ) hervorgehoben hat. Auf die
gleiche Ursache dürfte auch das Vorkommen von sehr liehtrothen
Todtenflccken bei Carbolleichen zurückzuführen sein, auf welches
unter anderen auch Köhler 2 ) hin weist.
Nun erübrigt noch die Besprechung einiger Fragen, welche in
gerichtlichen Fällen gestellt werden können, und insbesondere die
Art und Weise, wie man zu einer zufriedenstellenden Antwort auf
diese Fragen gelangen kann.
Es kann in gerichtlichen Fällen so wie in dem vorliegenden
Vorkommen, dass der Zeitpunkt der Vergiftung, die Menge und die
Concentration der eingenommenen Säure unbekannt sind. Der Ge¬
richtsarzt muss aber mitunter angeben können, ob die Vergiftung zu
einer von Zeugen angegebenen bestimmten Zeit wirklich stattfinden
konnte. Es kann aus juridischen Gründen in einem concreten Falle
die Frage gestellt werden, wann der Obduc.irte gestorben ist. Es
kann endlich auch die Frage gestellt werden, ob nach dem Obduetions-
befunde die Concentration und Menge der eingenommenen Lösung mit
der Aussage der Zeugen (wenn diese Sachverständige, Mediciner,
Pharmaceutcn, Droguisten etc. sind) in Einklang zu bringen ist. Die
richtige Beantwortung dieser Fragen kann in zweifelhaften Fällen
eine entscheidende Aufklärung geben, darum soll auf die Beantwortung
dieser Fragen hier näher eingegangen und gezeigt werden, auf welche
Art der Gerichtsarzt in geeigneten Fällen eine bestimmte Auskunft
geben kann.
Ein bekanntes 3 ) Gesetz für die Wirkung der Carbolsäurc lautet:
„Die Intensität der Schorfe ist proportional der Concen¬
tration der Säure“ ... I). Wir müssen das weitere Gesetz hin¬
zufügen: „Die Extensität der Schorfe ist proportional der
Menge der eingeführten Säure 4 ) . . . II). Endlich müssen wir
noch ein drittes Gesetz anerkennen: „Die Intensität der Schorfe
1) Ilankel, 1. c.
2) Köhler, 1. e.
.'{) v. Ilofmann, 1. c.
4) Dieses Gesetz hat selbstredend nur dann Giltigkeit, wenn nichts erbrochen
wurde, oder wenn man die Wirkung des Erbrochenen mit in Betracht zieht.
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSITÄT OF IOWA
Zur Casuistik der Carbolsäurcvergiftung.
33
it proportional der Zeitdauer des Contaetes der Säure mit
den Organ ge weben u . . . III).
Wenn wir diese drei Gesetzte als Gleichungen auffassen, so
haben wir als aus dem Obductionsbefunde bekannte Grössen die In¬
tensität und Extensität der Verätzungen. In jeder Gleichung ist
ein unbekannte Grösse nämlich: Concentration, Menge, Zeit¬
dauer der Contactwirkung. In den meisten Fällen lässt sich
aber eine der Unbekannten durch die gerichtlichen Erhebungen oder
Zeugenaussagen mit Sicherheit feststellen. Dann lassen sich die
anderen Unbekannten leicht annäherungsweise bestimmen.
Ist beispielsweise aus dem Obductionsbefunde bekannt die In¬
tensität und Extensität der Schorfe und aus den gerichtlichen Er¬
hebungen der Zeitpunkt der Vergiftung (Zeitdauer der Contactwirkung),
so lässt sich aus diesen Angaben die Menge und Concentration an¬
nähernd bestimmen, wenn man weiss, was für Veränderungen eine
bestimmte Menge Säure von bestimmter Concentration, in einer be¬
stimmten Zeit hervorzubringen vermag. Es mag hierbei noch be¬
sonders darauf hingewiesen werden, dass es sich bei Todesfällen
durch per os eingeführte Carbolsäure fast immer um grössere Mengen
oder höherere Concentrationsgrade 1 ) handelt, andernfalls enden
die Vergiftungen überhaupt nicht tödtlich. Durch diesen Umstand
werden die erforderlichen Bestimmungen wesentlich erleichtert.
Nun kann es aber Vorkommen, dass weder die Menge noch die
Concentration noch die Zeitdauer der Contactwirkung der Säure be¬
kannt ist, wie im vorliegenden Falle, und doch sollen diese Grössen
bestimmt werden. Ist dies überhaupt möglich? In vielen Fällen
lassen sich diese Fragen mit grosser Sicherheit beantworten, wenn
die aus dem Mageninhalt gewonnene Menge reiner Carbol¬
säure 2 ) und ihr Verhältniss zu dem ganzen Mageninhalt
festgestellt wird . IV).
In dem vorliegenden Falle fanden sich im Magen gegen drei
Esslöffel, also etwa 40 ccm Flüssigkeit. Zur Erzeugung der ge¬
schilderten Veränderungen im ganzen Magen und den benachbarten
Organen (Leber, Niere) in der beschriebenen Intensität gehört, wie
wir aus den Controllversuchen wissen, eine Einwirkungsdauer von
1) Schwache Concentrationen müssen um letal zu wirken in so grosser Menge
genommen werden, dass sie, bevor noch die erforderliche Quantität aufgenommon
ist, bereits eliminirt — erbrochen werden.
2) Durch Destillation des Mageninhaltes.
Vierte\j*hrBschr. f. ger. Med. Dritte Folge. XIV. 1. 3
Digitized by
Go», igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
34
Dr. Brosch,
35—40 Stunden, un<j. wurden hierbei im Duodenum (erster Control¬
versuche) 28 g Carbolsäurc, im Magen (zweiter Controllversuch)
35 g Carbolsiiure gebunden. Im Mageninhalt wurden durch die
Untersuchung noch 20 g, im Duodenum konnten bei dem Controll-
versuche aus der ungefähr gleichen Inhaltsmenge wie bei der Ob-
duction noch 12 g Carbolsäure nachgewiesen werden. Für die
Erzeugung der Veränderungen in der Speiseröhre muss man min¬
destens ebenso viel rechnen, wie für das Duodenum (28 g), hierzu
kommen noch aus dem Inhalt der Speiseröhre ca. 5 g. Für das
übrige 3 ra lange Dünndarmstück muss man sammt Inhalt min¬
destens 3mal soviel wie für das Duodenum (ca. 90 g) rechnen; um
aber auf jeden Fall Ueberschätzungsfehler zu vermeiden werden in
der Rechnung nur 50 g angenommen. Die Rechung stellt sich dabei
folgenderraassen, wobei ausdrücklich gesagt sei, dass es sich nur um
Bestimmung der Mindestwerthe handelt 1 ).
Gebundene
Carbolsäure
Freie
Carbolsäure
Im Oesophagus.
28 g
J> 8
j In einem
Im Magen.
35 „
20 *
f Zeitraum
Im Duodenum.
28 „
12 „
3 Meter langem Dünn darmstück, in seiner
ganzen Wanddicke verschorft mit ätzen¬
dem Inhalt.
50 *
| von
;40Stunden
Summa
141 g
37 g
178 g
Da im Mageh keine Speisereste vorgefunden wurden, und an¬
dererseits der Magen stets eine bestimmte Menge Schleim und Magen¬
saft enthält, so muss man im vorliegenden Falle aus dem Verhältniss
der aus dem Mageninhalt gewonnenen reinen Säure zu der Gesammt-
menge des Mageninhalts (20:40) schliessen, dass concentrirte oder
zum mindesten sehr hochprocentige Carbolsäurc zur Ausführung des
Selbstmordes genommen wurde.
Im vorliegenden Falle kann man die vorerwähnten Fragen zu¬
sammenfassen und mit unbedingter Sicherheit dahin beantworten, dass
der Selbstmörder vor mindestensten 30 Stunden eine Mindest-
1) Die fettgedruckten Wert he sind nach der Obduction oder nach Control¬
versuchen direct bestimmt, die übrigen Werthe nur schätzungsweise angenommen.
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
Zur Casuistik der Carboisäurevergiftung.
35
Quantität von 100 Gramm 1 ) sehr hochprocentiger Carbol-
säurelösung getrunken haben muss. Die grosse Menge und die
hohe Concentration der Flüssigkeit schliesst schon für sich allein (ab¬
gesehen von etwaigen gerichtlichen Erhebungen) die Annahme eines
Mordes oder auch nur eines Versehens durch fremde Hand mit nahe¬
zu absoluter Gewissheit aus.
Schliesslich können wir nicht umhin, der Ansicht Ausdruck zu
geben, dass es im gerichtsärztlichen Interesse sehr wünschenswerth
wäre, w r enn auch bei anderen gebräuchlichen Vergiftungsflüssigkeiten,
die charakteristische anatomische Veränderungen erzeugen und bei
welchen auch weit höhere als letale Dosen genommen werden können,
die Befunde sowohl nach Quantität Concentration und Zeitdauer der
Einwirkung des Mittels genauer festgestellt würden, nicht nur damit
die Mehrzahl der Aerzte mit diesen als Massstab dienenden Vergiftungs-
bildem besser bekannt werde, sondern auch desshalb, weil nur eine
genaue Kenntniss dieser Befunde eine richtige Beurtheilung in ver¬
antwortungsvollen gerichtlichen Fällen ermöglicht.
Wenn es auch richtig ist, dass die Veränderungen, die eine
Giftmenge erzeugt, welche die letale Dosis weit überschreitet, weder
für den praktischen Arzt, noch für den Kliniker, noch für den Toxi¬
kologen ein besonderes Interesse bieten, denn eine letale Dosis ist
eine Dosis letalis und ein „mehr letale“ giebt es nicht, was darüber
hinausgeht interessirt auch kaum mehr den pathologischen Anatomen,
so beginnt doch erst dort das eigentliche concurrenzlose uneinge¬
schränkte Feld der verantwortungsreichen Thätigkeit des Gerichts¬
arztes, denn der Gerichtsarzt hat nicht nur bei Verletzungen am
Lebenden Aufklärung zu geben, sondern noch viel häufiger muss er
es verstehen, aus dem, was über das Leben hinaus ist, aus Trümmern
und Fragmenten eines gewesenen Daseins das Geschehene und Ver¬
gangene in seinem Geiste wieder lebendig zu machen.
1) In Wirklichkeit wohl weit über 150 g, doch handelt es sich hier um die
Feststellung einer unter allen Umständen einwandfreien Mindestquantität.
Digitized by
Go^ 'gle
3*
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
(Aus dem Institute für gerichtliche Medicin des Herrn Hofrath
v. Hofmann in Wien.)
Ueber die Dauer der Nachweisbarkeit von Kohlen¬
oxyd im Blute und in Blutextravasaten überlebender
Individuen.
Von
Dr. E. Michel.
Die Frage über die Dauer der Nachweisbarkeit des Kohlenoxyds
im Blute solcher Individuen, welche die Vergiftung überlebt haben,
ist bisher nur selten erörtert worden. Es ist einerseits zwar schon
lange bekannt, dass die Verbindung des Kohlenoxyds mit dem Hämo¬
globin des Blutes eine viel festere ist als diejenige, die das letztere
mit dem Sauerstoff eingeht, man wusste auch andererseits, dass das
Kohlenoxyd aus dieser Verbindung nicht nur durch rein mechanische-
sondem auch durch vitale Vorgänge wieder verdrängt werden kann,
war aber nichtsdestoweniger sehr wenig über den Umstand orientirt,
innerhalb welcher Frist man noch auf einen positiven Nachweis des
Kohlenoxydhämoglobins in solchen Fällen rechnen könnte, in welchen
die vitalen Vorgänge die Verdrängung des Kohlenoxyds aus dem Blute
besorgen. Man wusste zwar schon ziemlich lange von der Thatsache,
dass man bei Individuen, welche eine CO-Vergiftung überlebt haben,
oder an den Folgezuständen einer solchen zu Grunde gegangen sind,
zumeist kein CO mehr nachzuweisen vermag, ist aber auch heute
noch nicht genügend darüber unterrichtet, wie langer Zeit es dazu
bedarf, damit das CO aus dem Blute wieder verschwinde, oder rich¬
tiger, sich unserem Nachweise entziehe.
Die diesbezüglichen Angaben, welche in der Literatur verzeichnet
sind, differiren zumeist so wesentlich untereinander, dass schon aus
bv Google
Original frorn
UNIVERSUM OF IOWA
Dauer der Nachweisbarkeit ron Kohlenoxyd im Blute. 37
diesem Grunde ein Versuch der Klarstellung dieses Punktes nicht
unerwünscht erscheint. So will Pouchet 1 ) noch nach 60 Stunden und
Koch 2 3 ) nach 10 Stunden den Nachweis des Kohlenoxyds im Blute
überlebender Individuen geführt haben, v. Hofmann 8 ) gelang es,
noch nach zwei Stunden den sicheren Nachweis des Kohlenoxyds
in einem schweren Falle von Leuchtgasvergiftung zu erbringen, wohin¬
gegen Wesche 4 * ) in einem Falle von gleichzeitiger Vergiftung meh¬
rerer Individuen, bei einer Frau, welche dieselbe kaum zwei Stunden
überlebt hatte, nunmehr ein undeutliches spectroskopisches Resultat
erzielen konnte. Auch die Natronprobe lieferte in diesem Falle ein
undeutliches Ergebniss.
Dieser Vergiftungsfall veranlasste Wesche, sich durch Thierver¬
suche über verschiedene Fragen bei der Kohlenoxydvergiftung zu
orientiren und eine von diesen war auch die über die Dauer der Nach¬
weisbarkeit des Kohlenoxyds im Blute überlebender Individuen.
Da Wesche der einzige Autor ist, der sich, soweit unsere
Kenntniss der Literatur reicht, experimentell mit dieser Frage be¬
schäftigt hat, erscheint cs geboten, etwas länger speciell bei diesen
seinen Versuchen zu verweilen und zwar umsomehr als auch ein Thcil
unserer Experimente über diese Frage die von ihm angestellten er¬
gänzt und bestätigt.
Nachdem sich Wesche durch Versuche in vitro überzeugt hatte,
dass die Haftbarkeit des CO am Hämoglobin relativ nur schwach ist,
versuchte er festzustellen, ob diese Haftbarkeit im Organismus sich
ebenso verhält. Er setzte ein Kaninchen unter eine Glasglocke und
liess Leuchtgas einströmen, bis Convulsionen eintraten. Dann ent¬
fernte er das Thier aus der Glocke, setzte es in die frische Luft und
tödtete es nach einer halben Stunde. Die spectroskopische Unter¬
suchung und die Natronprobe ergaben ein negatives Resultat. Das CO
war nach einer halben Stunde nicht mehr nachweisbar. Daraufhin
wiederholte er den Versuch fast bis zur vollständigen Vergiftung des
Kaninchens und tödtete das Thier, nachdem es eine Viertelstunde
frische Luft geathmet hatte. Die spectroskopische Untersuchung gab
auch nach dieser geringen Zeitdauer kein genaues Resultat, cbenso-
1) Virchow’s Jahrtuch. 1888. I. S. 482.
2) Zur Encephalomalacie nach CO-Vergiftung. Diss. Greifswald 1892.
3) Lehrbuch der gerichtl. Medicin. 7. Aufl. S. 706.
4) Wesche, Ueber Leuchtgasvergiftung und Kohlenoxydblut. Diese Vicrtel-
jahrsschr. 1876. XXV. S. 276.
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
38
Dr. M i c li c 1,
wenig wie die Natronprobe. Der Versuch bewies somit, dass sogar
schon nach 15 Minuten reiner Luftathmung das CO aus dem Blute
durch den 0 verdrängt werden könne.
Wesche folgert aus diesen zwei Experimenten, dass dem negativen
Ergebnisse der spectroskopischen Untersuchung kein grosser Werth
beizulegen sei, ja dass das Fehlen der CO-Reaction des Blutes gar nichts
beweise, sobald es sich um Individuen gehandelt habe, die ihr Leben
in reiner Luft beschlossen haben, dahingegen sei ein um so grösserer
Werth auf den positiven Ausfall der spectroskopischen Untersuchung
zu legen. Wie aus diesen Thierversuchen zu entnehmen ist, interessirte
unserer Frage Wesche nur indircct, indem er sich vor Allem nur
von der Haftbarkeit des CO am Hämoglobin überzeugen wollte, und
nach den erwähnten zwei Experimenten die Frage nicht weiter ver¬
folgte.
Es war unter diesen Umständen und besonders mit Rücksicht
auf die divergenten Anschauungen der Autoren in dieser Frage, ange¬
zeigt, möglichst eingehende Untersuchungen darüber anzustellen, wie
lange sich das CO im Blute überlebender Thiere nachweisen lässt.
Bevor wir zur Verwerthung der gewonnenen Resultate übergehen,
dürfte es angezeigt sein, etwas über die Versuchsanordnung zu er¬
wähnen. Gleichwie in den Versuchen Wesche’s, wurden die
Thiere unter eine Glasglocke gesetzt und das betreffende Gas von
oben direct zugeleitet. Die ersten Versuche mit Leuchtgas wurden
auf die Weise angestellt, dass dasselbe unmittelbar unter dem ganzen
Drucke zugeleitet worden ist. Die Thiere waren schon nach iy 2 bis
3 Minuten in bedeutender Erstickungsgefahr und mussten schleunigst
entfernt werden. Später und zwar in der Absicht, die thatsächlichen
Verhältnisse besser nachzuahmen und eine langsamere Sättigung der
Blutmasse mit CO zu erreichen, wurde das Leuchtgas durch eine
Wasserflasche geleitet, so dass die Zuströmung desselben nach der
Anzahl der in die Spülflasche eintretenden Gasblasen beliebig regulirt
werden konnte. Die Versuche mit reinem CO wurden derart bewerk¬
stelligt, dass man dasselbe nach der gebräuchlichen Weise aus Oxal-
und Schwefelsäure entwickelte und durch Durchleiten desselben durch
Kalilauge von der sich mitentwickelnden Kohlensäure befreite. Dabei
konnte durch die Regulirung der Gasflamme die Gasentwickelung be¬
liebig beeinflusst werden. Auf diese Weise gelang es, die Vergiftungs¬
dauer bis über 40 Minuten auszudehnen und eine relativ allmälige
Sättigung des Blutes mit CO zu erreichen.
Digitized by
Gck gle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Dauer der Nachweisbarkeit von Kohlenoxyd im Blute.
39
Die Thiere boten, je nachdem eine rasche oder eine allinäligere
Zuleitung des vergiftenden Gases erfolgte, etwas verschiedenartige
Vergiftungserscheinungen. Im ersteren Falle ging die Vergiftung in
den Hauptzögen so vor sich, dass die Thiere, wie es schon Wesche
beschreibt, sich anfangs ängstlich drückten, dann lebhafte Unruhe
zeigten, die in einen mehr weniger comatösen Zustand überging,
worauf heftige Convulsionen auftraten, bei deren Nachlassen die Thiere
sofort aus der Glasglocke entfernt werden mussten, da sie sonst rasch
zu Grunde gegangen wären.
Bei der allmäligen Vergiftung war das geschilderte Bild viel
weniger ausgesprochen. Die Thiere wurden allmälig hochgradig
dyspnoisch, die Pupillen erweiterten sich maximal, man beobachtete
regelmässig ein ziemlich hochgradiges Schwanken, das Thier legte
sich sodann auf die Seite, athmete stossweise, die Athmung verlang¬
samte und verflachte sich und dieser Zustand wäre in den Exitus
übergegangen, wenn man das Thier nicht rechtzeitig entfernt hätte.
Bei Katzen machte sich ausser den beschriebenen Erscheinungen noch
eine hochgradige Salivation bemerkbar, auch erfolgte regelmässig Ab¬
gang von Koth und Harn. Ein Unterschied in den Vergiftungserschei¬
nungen zwischen Leuchtgas und reinem CO konnte nicht wahrge¬
nommen werden.
Nachdem die Thiere ad maxinum vergiftet worden waren, wurden
sie aus der Glasglocke entfernt und ihnen aus der Vena jugularis in
verschiedenen Zeiträumen Blutproben entnommen und auf CO unter¬
sucht. Ausser der spectroskopischen Methode, wurden noch die
Tanninprobe nach Kunkel und Wetzel sowie die Natronprobe be¬
nützt, welche sich in den meisten Fällen etwas empfänglicher er¬
wiesen, als die spectroskopische Untersuchung. Die benützten Reduc-
tionsmittel wurden regelmässig an gewöhnlichem Blute auf ihre Rc-
ductionskraft geprüft.
Aus den ange»teilten Versuchen liess sich kein absolut gesetz-
massiges Verhältniss zwischen der Dauer der Vergiftung und der Länge
der Nachweisbarkeit des CO im Blute des überlebenden Thicres
erschlossen.
Für die meisten Fälle zeigte es sich aber doch, dass, je länger
die Vergiftung fortgesetzt werden konnte, umso länger das CO im
Blute nachzuweisen war. So stimmen unsere Resultate annähernd
mit denjenigen Wesche’s überein, der bei sehneller Vergiftung
der Thiere, kaum nach 15 Minuten das CO nach weisen konnte. Wir
Digitized by
Go», igle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
40
Dr. Michel,
haben nach Vergiftungen von l 1 ^—3y 2 Minuten Dauer (Vers. I., II.,
III., Tab. A.) auch nur nach 16 Minuten freien Athmens das CO
nachweisen können. Ueber diese Frist hinaus war dasselbe bei der ra¬
piden Vergiftung mit keiner der benützten Methoden mehr nachzuweisen.
Jedenfalls hängt die Länge der Nachweisbarkeit des CO im Blute
nicht nur von der Vergiftungsdauer als solcher ab, sondern auch von
individuellen Eigenthümlichkeiten des benützten Thierindividuums,
deren Einfluss nicht leicht abzuschätzen ist. In den meisten Fällen
gestaltete sich das Verhältnis derart, dass mit der Vergiftungsdauer
auch die Länge der Nachweismöglichkeit gleichen Schritt hielt.
Bei unseren Versuchen kamen sowohl Kaninchen als Katzen zur
Verwendung, da wir von der Idee ausgingen, dass sich vielleicht
Unterschiede in Bezug auf die Nachweisbarkeit des CO zwischen
Pflanzen- und Fleischfressern ergeben würden. Die Resultate, zu
welchen wir gekommen sind, lassen bei diesen beiden Thierarten eben¬
sowenig einen Unterschied im Syraptomenbilde der Vergiftung, als in
der Länge der Nachweisbarkeit des Giftes erkennen.
In den Muskeln liess sich das CO im Grossen und Ganzen nur
ebenso lange nachweisen, als es im Blute nachweisbar war. Unsere
in dieser Richtung an wässrigen Muskelauszügen angestellten Versuche
ergaben, dass, sobald einmal der Nachweis des CO im Blute nicht
mehr gelang, auch das wässrige Muskelextract kein positives Ergeb-
niss mehr lieferte.
Falk 1 ) hat bei seinen Untersuchungen am Muskel im Com-
pressorium nachweisen können, dass sich das CO in den Muskeln
länger nachweisen lasse als im Blute, ln wässrigen Muskelauszügcn
liess sich, wie schon erwähnt, diese Differenz nicht eruiren.
Was die maximale Dauer der Nachweisbarkeit des CO im Blute
überlebender Thiere betrifft, zeigten unsere Versuche, dass sich die¬
selbe innerhalb ziemlich enger Grenzen bewegt. Es ist uns, wie
aus den in der Versuchstabelle A angeführten Versuchen
hervorgeht, nie gelungen das CO im Blute solcher Thiere
länger als 41 Minuten nach der Herausnahme des Thieres
aus der Glocke nachzuweisen. Diese Zeitdauer von 41 Mi¬
nuten stellt für unser e Versuche das Maximum dar. In den
meisten Fällen schwankten die Werthe zwischen diesem
1) P. Falk, Zur Casuistik der Kohlenoxydvergiftungen. Diese Vierteljahrs¬
schrift. III. F. II. Bd. 1891. S. 263.
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
Dauer der Nachweisbarkeit von Kohlenoxyd im Blute.
41
Maximum und dem Minimum von 16 Minuten. Diese relativ
kurze Zeitdauer sollte uns eigentlich nicht überraschen. Das CO ver¬
drängt, wenn es eingeathmet wird, den Sauerstoff aus seiner Ver¬
bindung mit dem Haemoglobin und geht mit diesem eine etwas sta¬
bilere Verbindung ein. Beim Athmen in reiner Luft dunstet es jedoch
nach der heute allgemein gütigen Annahme durch die Lungen wieder
ab und das Sauerstoffhaemoglobin wird wieder hergestellt. Das
Wesen dieser Regeneration beruht nach Donders auf einem ein¬
fachen Dissociationsvorgange. Dass derselbe, wenigstens bei Thiercn,
mit einer ziemlichen Raschheit vor sich geht, indem das CO durch
die vitalen Vorgänge sehr rasch in der Lunge zur Abdunstung ge¬
bracht wird, ist nach den angestellten Versuchen ziemlich einleuchtend.
Dieses rasche Verschwinden des CO unter den obenerwähnten
Bedingungen wird uns um so leichter verständlich, als, wie aus dem
von Saint Martin 1 ) angestellten Versuche hervorgeht, schon durch
dass blosse Stehen von CO-haltigem Blute an der Luft, ein wenn
auch geringer Theil des CO nach einigen Stunden aus dem Blute
verschwindet und sich nach der Beobachtung von Jäderholm 2 )
gegen Ende der ersten Woche vollständig aus demselben verliert.
Schon Li man 3 ) ist es gelungen, aus dem Blut von einem in
CO-Luft gestorbenen Menschen durch anhaltendes (ein halbe Stunde
fortgesetztes) Schütteln mit atmosphärischer Luft und fleissiges Um-
giessen der Flüssigkeit, das CO zu verdrängen und spectroskopisch
bei Zusatz von Schwefelaramonium dieselbe Reaction zu erlangen wie
bei normalem Blute. Dass das CO in vitro durch Einleitung eines
kräftigen Luftstromes nach etwa fünf Stunden ganz verdrängt werden
kann, ist ebenfalls schon seit längerer Zeit genügend bekannt.
Ausserdem ist nicht nur bei Thierversuchen, sondern auch in
concreten Fällen von CO-Vergiftungen der Umstand nicht zu unter¬
schätzen, auf den D res er 4 ) in seinen lehrreichen Versuchen auf¬
merksam macht. Diese haben ergeben, dass selbst bei den stärksten
Vergiftungen mit CO keine vollständige Verdrängung des Sauerstoffes
durch das CO aus dem Blute erfolgt. Bei raschen Vergiftungen er-
1) Comptes rendus de l’Acad. des scienc. Tome CX1I. p. 1232.
2) Jäderholm, Die gerichtlich-medicinische Diagnose der Kohlenoxydver¬
giftung. 1876.
3) Casper-Liman, Lehrbuch der gerichtl. Medicin. 1876. -S. 570.
4) H. Dreser, Zur Toxicologie des Kohlenoxyds. Archiv f. exper. Pathol.
u. Pharmakol. 29. Bd. 1892. S. 119.
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Tabelle
42
Dr. Michel,
<
ß
o
bß
a
p
44
©
£
<D
PQ
pi4
cS
o
pB
a
*©
co
©
’-C
pB
©
«S
bß
3
N
CO
3
eS
©
CO
3
SS
•^ntqjoiqx uii 00 S9 P n
’^j^qsiaüqo^j^ p J9m?Q jü
•u9qojd^n(g
u9U9uiuiou;n9 J9p iqt^x
bß
3
3
£
*bb
© «
>
©
T?
H3
3
©
:eS
*
©
©
CO
©
T?
3
©
•Sun^ji^ia^ jop J9mjQ
jh ü , bo
J- © & ß
<3 hB ;> bb 3
CD 'P
iS rt
H
•rnn^a i
‘J91UUIUU
-sqonsaa^ dpaojncßjo,!
3 •
.3 <—*
*r? nt
©
44
ss
o
r3
©
eS
© £ .
»| <3
s E -S
* hO’S
.8 3*
o 2 «
u ** S
i-gi *-sä
bßB? c SS
£rPQ 3
44
CO
o -
fc* FjH ^
1 ö§« E 4
a,a>'o *
») ■-g „ fc j= a i
© co +3 p 3 k
3 .22.2 b
^ p/a 3
cS cf
3 44 ‘
3
©
T3
3
©
3
©
■M
<oB
rß .
•S Ü
S ^3
00
rt *£
.2 £
^ ©
W B
u
-3 43
ü ©
cS 3
*
pß
©
3
S
oo
43
ü
rt
H
©
, n 3
pB
©
o
3
*
es ,
.2 -F hJ
l f-S.5
f£ • cf ©
a 3 3
8* g’S
3j3 w3
© © 3 ©
S * SS o
X-<_
43 £
© pß
rt ©
B g
3
©•§ ^
44 .£ cf
2 B 42
3 co
» ß ©
p SS *B
-S s
«-H 3
C <M G
ZD
CO t>-
— CO
04
CO
*0
-
3
©
3 ©
© ^3 3 & co ec
•S**f g^äj
cs ^ b jo r ^7 O
a © c *b © V vh
3 -^ © ©
4J *r| 'B <5 © '•~ -c
— © G © dt
-g 3 ® C 5 S -g
S ß s . •£ 3
§ as|«i
« SJ ^ v >
>-« «3 ,, (üfB
© © © ^4 g ^
^ 2 -B © .2 s
© N i? s "O
J-. 2 3 Q O ©
© 3 © rr. '42
g -g .2 er
P © W T3 © u
— ** bD ©
-^3 T3
«ö
:3
3
pB
©
-B
H
3
•T3
Zi ^ ^
rf n -p
^ ©
a «^
-a
3
*H . • .
^ * s ,2 © - —
£_J S, co ,© 2
T? co o © -^ ©
© c
_ B g
s -*s
3 ©
• • >H 3
3 0©©
52 © ©
5 r ,2-
c3 C
© P O
G u - 4 » *-i
© r-. °
3 pB 3 r O
© © ©
bD«? T3 3
,§* S tS
-3 © es
.13 HH SS
S-flg
a ^ W
©
J.S ffs
5 £ -2
^ c a £
u 2 © .2 ©
2 bc © p 3
O a ©
3 3 -r.
JZ ©
© bO
s 5 !
■g &
’S)-S
’©
CS3 T3
a 3
© 3
bß
3 3
’S^
pB
© o
co •—
^ co
W 2
S g
© O S3
X CO I-I
© O ©
= -s«
co ^
©
Oh
bc
c
3
©
>
a
©
(h
©
HO
CO ©
© pB
^ © pB
co C
4 N
co
3
I-
bO
B
£
©
T3
B
® ■£ * & g u
•g ^13 S^=>-K
B pB £
^ flT.S g H S bi
kV, 2 bß ofj-G C
zr.S © 3 © © Cf
g O pB N 3 3 bß
5 .5 <2 £
© © Ph
jg-g Eä
« S2 m s
pB W « °
o
p> G 3 *3
© © © 2 ^
X og 5
© b: © c
s =
© co 2
© CO •£ ^
<p 3 "B
pQ
:cf ©
-3 .
C .© ©
.sjl
Op©©
‘t: S .5 ä
© g © H
:0
©
bß
co
cf
Q
pB
©
3
co
u
©
©
pB
©
ß ••6
.§>.■3
^2 'O
t gl
p u,
^ 3 ©
£.£>
B >< ^
N g d
-2-ö ß
^ BpB
bß ß < .
G © ©
3 co bc
5 rB © :ct
B Q, w B
'5)3 g -g
>
<N
CO
lO Q0
■8 3
B bß
©
*1
©
r 3
o
H3
©
H3
©
HO
©
T3
.5 fl
S ©
5-g
US
©
T3
©
H3
© O
T3 13
©
'X?
05
05
lO
tO
05 05
05 05
05
a >
Digitized by Gougle
Original frnm
UMIVERSITY OF IOWA
Dauer der Nachweisbarkeit von Kohlenoxyd ini Blute.
I ip
i 3 O ^ P c n
: 55 » s 'S
3 rt ^
: J:
! T3 -tä ^ o 2
! - JE ’S S -ö
: — ü> C 3 O O
£- S ß -
& bß^ 3 •£
.SF =3 Ä ;
*-i n ’S H<
^ ^ ^
co 3 2 «
S rt C <D I
—I Tß <
^ <L> « «
^ <x>
S2 *- "o
»-530
^ J{ H
Digitized by Google
Original ftom
UNIVERSUM OF IOWA
XIV. 30.9. do. do. 15 Wie bei XIII. 4 41 Nach45Min. (Tod des
Thieres) kein CO
l mehr nachweisbar.
44
Dr. Michel,
folgte der Tod des nicht narkotisirten Kaninchens schon zu einer Zeit,
wo erst die Hälfte des Hämoglobins sich mit CO verbunden hatte
und selbst bei protrahirten Vergiftungen blieben noch immer 20 pCt.
des Blutes als Oxyhaemoglobin intact. Diese Versuche beweisen,
dass es kaum jemals zu einer völligen Sättigung des Blutes mit CO
komme, dass immer,nur ein variabler Bruchtheil des Bluthaemoglo-
bins sich mit dem CO verbinde und dass es bei nur halbwegs
günstigen Bedingungen kaum lange dauern dürfte, bis das gesammte
CO wieder aus dem Blute verschwindet.
Wenn wir den oben angeführten Thatsachcn, nämlich den Er¬
gebnissen des Thierversuches und dem Versuche in vitro die An¬
schauung mancher. Autoren entgegenhalten, dass man das CO noch
durch einige Tage im Blute überlebender Individuen nachweisen
könne, so liegt schon in dem daraus resultirenden Widerspruch die
Aufforderung, eine eindeutige Lösung dieser Frage nicht nur durch
den Thierversuch, sondern besonders durch zweckmässige Untersuchung
der sich präsentirenden Vergiftungsfälle an Menschen anzustreben.
Uns war es im Laufe unserer Versuche leider nicht vergönnt,
geeignete einschlägige Untersuchungen an überlebenden Menschen an¬
stellen zu können, so dass wir nur den Weg des Thierexperimentes
betreten konnten. Mag es nun auch nur mit grosser Vorsicht er¬
laubt sein, Ergebnisse von Thierversuchen auf den Menschen zu über¬
tragen, so wird es doch nicht allzu gewagt erscheinen, sich den
Analogieschluss zu erlauben, dass die Verhältnisse über die Nachweis¬
barkeit des CO sich auch bei Menschen, welche die Vergiftung über¬
lebt haben, nicht wesentlich anders gestalten dürften als es beim
Thierversuch der Fall ist. Selbst bei noch so hochgradigen
Vergiftungen dürfte der Nachweis des CO kaum über einige
wenige Stunden mit einiger Sicherheit zu erbringen sein,
vorausgesetzt, dass der Vergiftete wirklich Gelegenheit
hatte, in reiner Luft zu athmen, und dass die Athmung
nicht allzu unvollkommen vor sich gegangen ist.
Wenn man in Betracht zieht, dass sich der Gas Wechsel bei
kleineren Thieren wie wir sie bei unseren Versuchen benutzt haben
(Kaninchen, Katzen), wegen des ungleich frequenteren Athmens dieser
Thiere viel rascher gestaltet als beim Menschen, so dürfte es voll¬
kommen verständlich sein, warum sich für den Menschen eine relativ
viel längere Zeitdauer ergeben dürfte. Dabei fallen auch noch andere
Momente ins Gewicht, wie die wechselnde Sättigung des Hämoglobins
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Dauer der Nachweisbarkeit von Kohlenoxyd im Blute.
45
mit CO, die wieder von der Dauer der Einwirkung und der Menge
des Gases abhängt, sowie verschiedene individuelle Eigenthümlichkeiten,
deren Einfluss auf die Dauer der Nachweisbarkeit des CO sich der¬
zeit noch völlig unseren Kenntnissen entzieht. Ausserdem dürfte cs
nicht überflüssig sein zu betonen, dass die Angabe über die Grösse
der gewonnenen Zeitwerthe durch die Leistungsfähigkeit der ange¬
wandten Untersuchungsmetboden sowie durch die Qualität und Empfind¬
lichkeit. der benutzten Reductionsmittel, die stets in diesem Sinne an
Controlblut zu überprüfen sind, wesentlich beeinflusst werden können.
Für die von uns angenommene Zeitdauer der Nachweisbarkeit des CO von
nur wenigen Stunden sprechen einige Befunde, die ihrer Natur nach kaum eine
andere Deutung zulassen. Ausser den schon erwähnten Fällen von Wesche und
von v. Hofmann, kommt noch der von Szigeti aus diesem Institute veröffent¬
lichte Fall in Betracht, in welchem bei einem Manne, der ö 1 /^ Stunden nach Ein-
athmung von Leuchtgas gestorben war, durch keine der üblichen Methoden das
CO im Blute nachgewiesen werden konnte.
Im Lehrbuche von Caspar-Liman 1 ) findet sich folgende Beobachtung:
Drei Personen hatten sich am 27. März in einem frisch geheizten Zimmer
schlafen gelegt. Morgens fünf Uhr wurden alle drei bewusstlos aufgefunden; die
Ofenklappe war geschlossen. Steinkohlengluth im Ofen. Zwei der Verunglückten
wurden gerettet. Der Dritte starb am Nachmittag des 28. um 2 Uhr. Die Obduc-
tion ergab im letzteren Falle ausser hellrothen Todtenflecken noch Erstickungs¬
befunde und Lungenödem. Die inneren Organe hatten kein hellrothes Aussehen.
Das Blut verhielt sich spectroskpisch wie normales Blut, es wurde durch Schwefel¬
ammonium wie normales reducirt. In diesem Falle konnte somit das CO schon
9 Stunden nach der Auffindung des Vergifteten nicht mehr nachgewiesen werden.
Bei einem jungen Manne, der in selbstmörderischer Absicht durch directes
Anlegen eines Schlauches an den Mund Leuchtgas eingeathmet hatte und im be¬
wusstlosen Zustande in ein Krankenhaus überbracht wurde, konnte von uns etwa
17 Stunden nach seiner Auffindung der spectroskopische Nachweis des CO nicht
mehr erbracht werden.
Chlumsky 2 ) berichtet über einen Fall von mehrfacher CO-Vergiftung, der
eine Mutter mit ihren zwei Kindern betraf. Das ältere zwölfjährige Mädchen war
bei der Auffindang bereits todt, die Mutter erholte sich völlig und das jüngere
3 / 4 Jahre alte Kind starb nach 15 Stunden. Bei der spectroskopischen Blutunter¬
suchung konnte bei dem letzteren kein CO mehr im Blute nachgewiesen werden;
bei dem älteren Kinde ergab sich ein positiver Blutbelund. Von besonderer Be¬
weiskraft erscheint uns aber folgender Fall, der in den Protokollen des Wiener
gerichtlich-medicinischeu Institutes sehr eingehend verzeichnet ist:
(Prot. XVIII. p. 119 ex 1889). J. P., 44 J., Regenschirmmacher und seine
FrauTherese wurden etwa am24. Septbr. etwa um 11 Uhr Vormittags mit ihrer zelin-
1) Casper-Liman, Lehrbuch der gerichtlichen Medicin. 1876. S. 581.
Fall 258.
2) Chlurnsky, Diese Vierteljahrsschr, III. F. V. Bd. S. 321.
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
46
Dr. Michel,
jährigen Tochter Helene in einer ebenerdigen Wohnung, die mit Gewalt geöffnet
werden musste, bewusstlos aufgefunden. Die Frau und das Kind lagen entkleidet
im Bette, während J. P. vollkommen angekleidet nächst der Zimmerthiire auf dem
Fussboden liegend gefunden wurde. Die sofort angestellten Wiederbelebungsver¬
suche hatten nur bei Therese P. insofern einen Erfolg, als dieselbe noch lebend
in ein Wiener Krankenhaus überbracht werden konnte, wo sie jedoch noch am
selben Tage um 3 Uhr Nachmittags starb. J. P. und seine Tochter waren bereits
todt. Bei Oeffnung der Wohnung soll nach Angabe der anwesenden Polizeiorgane
ein penetranter Geruch nach Leuchtgas wahrgenommen worden sein. Auch im
Keller des gegenüberliegenden Hauses wurde schon den 23. Septbr. ein intensiver
Gasgeruch wahrgenommen, ohne dass von den requirirten Arbeitern der Gasanstalt
die Ursache entdeckt werden konnte.
Bei J. P. und seiner Tochter Helene wurden bei der Obduction die für die
CO-Vergiftung charakteristischen Befunde erhoben und bei beiden wurde neben
Zucker im Harne spectroskopisch auch die Anwesenheit von CO im Blute festgestellt.
Bei Therese I*., 44 Jahre alt, die zwar, wie schon erwähnt, wiederbelebt
werden konnte, aber schon nach 4 Stunden starb, ergab sich in Kürze folgender
Obductionsbefund (Uebungsprot. p. 74. No. 285):
Haut blass, mit blauvioletten Todtenllecken am Rücken. Bindehäute blass,
Pupillen mittelweit, Mundschleimhaut blassviolett und feucht. Aus den Venen
entleert sich dunkelflüssiges Blut. Musculatur heller roth gefärbt. Im Rachen
und den oberen Luftwegen reichliche Mengen schaumigen Serums, beide Lungen
gross, sehr blutreich, überall lufthältig, am Schnitt von schaumigem Serum über¬
strömend. Herz grösser, stark mit Fett bewachsen, schlaff, beiderseits locker ge¬
ronnenes Blut und bis in die grossen Gefässe reichende Faserstoffgerinnsel ent¬
haltend. Klappen der Aorta an ihrerBasis leicht verdickt. Beide Ventrikel etwas dila-
tirt, in ihren Wandungen nicht auffallend verdickt, Herzfleisch etwas brüchig. In den
übrigen Organen keine beriicksichtigenswerthen Befunde. Die chemische Unter¬
suchung des Harnes ergab die Anwesenheit von Zucker. Auf spectroskopischem
Wege konnte kein CO mehr nachgewiesen werden.
Aus dieser Beobachtung ist es ersichtlich, dass bei einer Frau,
die nachgewiesenermaassen eine schwere CO-Vergiftung 4 Stunden
nach ihrer Auffindung überlebt hatte, kein CO mehr in ihrem Blute
nachgewiesen werden konnte, obzwar bei den zwei Personen, die
zugleich mit ihr der Vergiftung ausgesetzt waren und ihr sofort er¬
lagen, ein solcher Befund mit der grössten Sicherheit festgcstellt
werden konnte. Es genügten somit 4 Stunden Athmens in reiner
Luft, damit das CO völlig durch die Lungen abdunste.
In seinen schon erwähnten Versuchen beschäftigte sich D res er
auch mit der Frage, wie weit bei einem in CO-haltiger Atmosphäre
vergifteten, ohnmächtig und hilflos gewordenen Individuum der Sauer¬
stoffgehalt des Blutes heruntergeht und wie sich die Wiedererholung
vollzieht? Er constatirte, dass bei einem mit CO vergifteten Kanin-
Digitized by
Gck gle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Dauer der Nachweisbarkeit von Kohlenoxyd im Blute.
47
ehen gleich nach Ablauf der Krämpfe das Blut nur 50,1 pCt. Saucr-
stoffhaemoglobin aufwies. Nach einer Viertelstunde lebhaften Athmens
erholte sich das Thier und die 20 Minuten nach der ersten ent¬
nommene zweite Blutprobe ergab jetzt 73,63 pCt. Sauerstoffhaemo-
globin. Nach etwas mehr als zwei Stunden konnte das Thier seinem
äusseren Verhalten nach als normal gelten. Die dritte 2 Stunden
50 Minnuten nach der ersten entnommene Blutprobe ergab schon
91,50 Sauerstoffhaemoglobin. Das Thier hatte also durch die äusserst
energische Respiration wieder eine Regeneration des OHB aus dem
COHB bewirkt. Diese Versuche Dreser’s, welche mit einem sehr
empfindlichen Apparate (Hüfner’s Spectrophotoraeter) angestellt
worden sind, ergeben mit den an überlebenden Menschen verzeichneten
Befunden so analoge Resultate, dass an der von uns angenommenen
Zeitdauer von nur wenigen Stunden kaum recht gezweifelt werden
könnte. Sie zeigen, dass nach dieser Zeit fast das gesammte Hämo¬
globin des vergifteten Kaninchens wieder zu OHB regenerirt worden ist.
l/mso auffallender im Vergleich mit den vorhergehenden That-
sachen sind die Befunde jener Beobachter, welche das CO im Blute über¬
lebender Individuen selbst nach Tagen nachgewiesen zu haben behaupten.
Die Befunde von Koch (10 Stunden) und von Pouchct (60 Stunden)
wurden schon früher erwähnt.
In neuester Zeit hat Posselt 1 ) einen Fall veröffentlicht, in welchem es sich
um eine34jährigeFrau handelte, die am23.Jan. 1893 um 5UhrAbends neben ihrem
bereits todten Manne in ihrerWohnung aufgefunden und etwa zwei Stunden später
ins Spital überbracht worden ist. Sie soll schon vor drei Wochen wegen vorzeitigen
Verschlusses der Ofenklappe an dem mit Kohlen goheizten Ofen, unter heftigen
Kopfschmerzen, Erbrechen und Schwindelgefühl erkrankt sein. Im Harne war
kein Zucker nachweisbar, Eiweiss war vorhanden. Der Fall endete nach sieben
Tagen letal und die Obduction ergab ausser Hyperämie und symmetrischen Er¬
weichungsherden in Gehirn und Rückenmark keine für die CO-Vergiftung charak¬
teristischen Befunde. Noch am 25. Januar, also etwa zwei Tage nach der Auf¬
findung der Patientin, war das CO spectroskopisch und durch die Proben von
Hoppe-Seyler und Kunyiosi Katayama nachzuweisen. Die Farbe desBlutes
war kirschroth. An einer am 24. Jan. entnommenen, luftdicht verwahrten Blut¬
probe, konnte am 17. März noch die von Rubner empfohlene Probe mir positivem
Resultate vorgenommen werden. Die Probe soll zwar nicht so deutlich ausge¬
fallen sein, wie eine mit Leuchtgas vorgenommene Controlprobe, der Unterschied
soll jedoch immerhin zu sehen gewesen sein.
1) Posselt, Ein Fall von Kohlendunstvergiftung. Wien, klin,Wochenschr.
No. 21, 22. 1893.
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITÄT OF IOWA
48
Dr. Michel,
Die citirten Fälle, in denen das CO durch längere Zeit nach¬
gewiesen werden konnte, müssen vorderhand einfach registrirt werden,
doch soll nicht unerwähnt bleiben, dass dieselben mit den experi¬
mentellen Ergebnissen an Thieren nicht in Einklang gebracht werden
können. Ausserdem sind Beobachtungen auch an Menschen ver¬
zeichnet, welche denen von Ponchet und Posselt direct wider¬
sprechen.
Besonders lehrreich und nicht zum mindesten schon wegen seiner Aehnlich-
keit mit dem von Posselt veröffentlichten Falle ist eine Beobachtung, welche in
den Protokollen des Wiener gerichtl. med. Institutes verzeichnet ist (XXII. Prot.
S. 382. 1895):
Johann Leitl, 45 Jahre alt, Heizer, wurde am 7. Febr. 1895 Mittags in einem
an den Heizraum anstossenden Zimmer, in dem er seine Schlafstelle hatte, im be¬
wusstlosen Zustande aufgefunden und da man annahm, dass sein Zustand durch
übermässigen Alkoholgenuss bedingt sei, wurde ihm bis zum nächsten Tage keine
ärztliche Hilfe gewährt. Da sich aber sein Befinden nicht besserte, wurde er am
8. Febr. um 11 Uhr Vorm, durch die freiwillige Rettungsgesellschaft in das Spital
der barmherzigen Brüder überbracht, wo er am 9. Febr. 4 Uhr Nachm, unter den
Erscheinungen hochgradiger Dyspnoe verstarb.
Bei der Obduction fanden sich ausser einer symmetrischen Erweichung der
Linsenkerne keine für den CO-Tod charakteristischen Befunde. Im Blute konnte
bei der spectroskopischen Untersuchung, die 48 Stunden nach dem Auffinden des
Pat. stattfand, kein CO nachgewiesen werden. .
Im Lehrbuche von Casper-Liman*) finden sich folgende zwei Fälle:
In einem mit Kohlendunst gefüllten Zimmer wurden drei Männer bewusstlos
aufgefunden, von denen zwei nach 2y 2 Tagen an hypostatischer Pneumonie
starben. Im Blute konnte nach dieser Zeit kein CO mehr nachgewiesen werden.
Bei einem jungen Mädchen, das durch längere Zeit aus einem halbgeöffneten
Gashahne Leuchtgas eingeathmet hatte, konnte 48 Stunden nach der Auffindung
desselben, kein CO mehr constatirt werden.
Bei der gegebenen Sachlage, wird die vorliegende Frage mit
Bezug auf den Menschen nur auf die Art mit einiger Sicherheit zu
einem gewissen Abschlüsse gebracht werden können, dass durch
möglichst zahlreiche Beobachtungen an solchen Personen, welche eine
CO-Vergiftung überlebt haben, die Aufstellung einer Durchschnitts¬
grenze der Nachweisbarkeit des CO ermöglicht werde. Unserer
Meinung nach dürfte dieselbe, wie schon erwähnt, wenige Stunden
kaum um ein wesentliches überschreiten.
Was die gewöhnlichen Versuchsthiere betrifft, kann mit ziemlicher
Sicherheit behauptet werden, dass das CO wenigstens zum grössten
1) Casper-Liman, Lehrbuch der gerichtl. Medicin. S. 582, Fall 259, 260,
und S. 590, Fall 208.
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Dauer der Nachweisbarkeit von Kohlenoxyd im Blute.
49
rheile .sehr bald aus dem Blute derselben verschwinde und dass
es sich noch vor dem Ablauf der ersten Stunde blossen Luft-
athmens dem Nachweise durch unsere empfindlichsten
Proben entziehe.
Neben den Versuchen über die obere Grenze der Nachweisbar¬
keit des CO im Blute überlebender Thiere, sind noch solche über
die Frage angestellt worden, wie lange das CO in Extravasaten
nachzuweisen ist. Es ist bekannt, dass sich das CO in Blutaus-
tritten viel länger hält, als im circulirenden Blute und dass man cs
in Blutextravasaten noch zu einer Zeit nachweisen kann, wo es aus
dem Kreisläufe schon lange verschwunden ist. In dem bekannten,
von Szigeti 1 ) veröffentlichten Falle aus dem Wiener gerichtlichen
raedicinischen Inst, handelte cs sich um einen Mann, der die Leucht¬
gasvergiftung nur um 5 l / 4 Stunde überlebte und in dessen Blute kein
CO nachgewiesen werden konnte, wohingegen dasselbe in den Blut¬
extravasaten ausgezeichnet gelungen ist. Bisher ist aber noch Nie¬
mand der Frage näher getreten, wie lange das CO in den Extrava¬
saten nachgewiesen werden kann. Unsere diesbezüglichen Versuche
w'urden auf folgende Weise angestellt: die benützten Thiere (Kanin¬
chen, Katzen) wurden in der schon erwähnten Weise durch Einleitung
von Leuchtgas oder reinem CO ad maximum vergiftet, sodann aus
der Glasglocke entfernt und eine Minute später wurde denselben mit
einem Hammer eine subcutane Fractur des einen Oberschenkels er¬
zeugt. Man überzeugte sich stets durch eine Blutprobe gleich nach
der Vergiftung von der Anwesenheit des CO. In verschiedenen Zeit¬
räumen (vid. Tab. B.) wurden die Thiere getödtet, das Extravasat
unter sorgfältiger Vermeidung jeder Blutung herauspräparirt und
spectroskopisch untersucht. Zu gleicher Zeit wurde auch das Herz¬
blut des betreffenden Thieres als Controlblut der spectroskopischcn
Untersuchung unterzogen. Wie aus den sieben angestcllten Ver¬
suchen hervorgeht, konnte das CO bis zum fünften Tage in
den Blutextravasaten mit Sicherheit nachgewiesen werden.
Nach dieser Frist konnten nurmehr negative Befunde con-
statirt werden.
Es ist mit grösster Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass das
Gas durch die Thätigkeit der das Blutextravasat umgebenden Ge¬
webe aus dem Blutergusse eliminirt worden ist. Jene Faetoren, welche
1) Diese Vierteljahrsschr. 3. F. Bd. VI. S. 1.
Vierteljahres ehr. f. ger. Med. Dritte Folge. XIV. 1.
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UMIVERSITY OF IOWA
50 Dr. Michel, Dauer der Nachweisbarkeit von Kohlenoxyd im Blute.
die Resorption des gesetzten Extravasates bedingen, entfernen auch
das CO aus demselben, das dann wahrscheinlich entweder in Form
von Kohlensäure oder unverändert durch die Lungen ausgeschieden wird.
Tabelle B.
Fortlaufende Ver¬
suchsnummer.
Datum.
1896
Thierart.
Art der
Vergif¬
tung.
g Dauer der Ver-
F giftung.
Blut¬
befund
nach der
Vergif¬
tung.
Dauer der
Nachweisbarkeit
im
Blutextravasat.
Herzblut
des
getödteten
Thieres.
VIII.
19. 8.
Kaninchen
Leuchtgas
2
CO positiv
Nach 24 Stunden
positiver Befund
von CO.
Enthält
kein CO.
IX.
20. 9.
do.
do.
1 >/ 2
do.
Nach 48 Stunden
positiver Befund
von CO.
do.
X.
22. 9.
i do.
do.
3
do.
Nach 5 Tagen po¬
sitiver Befd. von
CO.
do.
XII.
28. 9.
do.
Kohlen¬
oxyd
9
do.
Nach 6 Tagen ne¬
gativer Befund
von CO.
do.
XVII.
5. 10.
do.
Leuchtgas
43
do. -
Nach 12 Tag. ne¬
gativer Befund
von CO.
do.
XXII.
20. 10.
do.
Kohlen¬
oxyd
12
do.
Nach 6 Tagen ne¬
gativer Befund
von CO.
do.
XXIV,
28. 10.
Katze
do.
i
25
do.
Nach 5 Tagen ne¬
gativer Befund
von CO.
do.
Zum Schlüsse erlaube ich mir, Herrn Prof. Hofrath v. Hofmann
für das der Arbeit entgegengebrachte wohlwollende Interesse und
Herrn Doc. Dr. A. Haberda für seine werthvollc Unterstützung bei
Anstellung der Versuche bestens zu danken.
Digitized by
Gck igle
Original frorn
UMIVERSITY OF IOWA
4.
(Ans dem Institut für gerichtliche Medicin des Herrn Hofrath
Prof. E. v. Hof mann in Wien).
Leber die Thymus des Erwachsenen in gerichtlich-
niedicinischer Beziehung.
Von
Dr. S. Dwornitschenko,
I’rivatdoceiit uml Prusector der gerichtlichen Medicin hu der Universität zu Charkow.
Im zur Aufklärung rätselhafter plötzlicher Todesfälle Er¬
wachsener bei persistenter oder vergrösserter Thymus beizutragen,
wurden von mir Untersuchungen über die anatomischen und physi¬
kalischen Eigenschaften derselben und ihr Verhalten je nach dem
Alter und dem allgemeinen Zustande des Individuums vorgenommen.
Indem ich das reiche Material des gerichtlich medicinischcn In¬
stitutes in Wien benutzte, war es mir möglich 122 Leichen im Alter
von 10 bis 88 Jahren zu untersuchen.
Unter diesen waren 79 männliche und 43 weibliche Leichen;
92 waren sanitätspolizeilich (das heisst zur Eruirung der Ursache des
plötzlichen Todes) 17 gerichtlich und 13 als sogenannte Ucbungs-
leichen (Verunglückte und Selbstmörder) obducirt worden. In 37 Fällen
war der Tod durch Herzparalyse theils in Folge krankhafter Ver¬
änderungen am Herzen und den Herzkranzgefässen und theils in
Folge solcher an der Aorta bedingt gewesen. In den übrigen Fällen
war die Todesursache äusserst verschieden.
Obgleich bei 8,5 pCt. der Fälle, wo die Thymus isolirt werden
konnte, die Thymus vergrössert war (über 30 g), so konnte ihr den¬
noch kaum eiu Einfluss auf den Eintritt des Todes beigemessen
werden, da die Todesursache anderweitig klar war (z. 13. Verbrennungen,
4*
Digitized by
Gck 'gle
Original from
UNIVERSITÄT OF IOWA
52
Dr. D \v o r n i t s <■ h e n k n,
Sehlus.sverlHzungoii, Insuff. valv. aortac ct stenosis ostii arteriosi si-
nistri combinirt mit fettiger und schwieliger Entartung des lierz-
flcisches und Verwachsung des Pericard. Haetnorrhagia hemisphacrac
cerebri sin. Intoxicatio per Phosphor. Nephritis chronica et hyper-
trophia cordis). Nur in einem Falle konnte die Thymus in Verbindung
mit dem gleichzeitig bestandenen Status lymphaticus, zur Todes¬
ursache in ursächlicher Beziehung gestellt werden: Es handelte sich
um einen 17jährigen jungen Mann, der im Bade ertrunken war; leider
ist es nicht möglich den Fall eingehend zu besprechen, da die nähe¬
ren Umstände unbekannt geblieben sind.
Die vorliegende Arbeit würde zu voluminös ausfallen, wollte ich
jede von mir untersuchte Thymus einzeln einer ausführlichen Be¬
schreibung unterziehen; daher beschränkte ich mich im Folgenden
auf eine zusammenfassende Darlegung der Besultatc meiner Unter¬
suchungen.
1 .
Die Thymus befindet sich im vorderen Mediastinalraume und liegt hier in
der Mittellinie zwischen der Arteria anonyma und der Carotis communis sinistra.
Dieselbe besteht gewöhnlich aus zwei nach oben verjüngten und nach unten brei¬
teren, flachen, unter einander durch Zellgewebe und Gefiisse verbundenen Lappen.
Jeder Lappen ist von einem dünnen, bindegewebigen Ueberzuge umhüllt; überdies
hat die ganze Drüse noch einen gemeinsamen Ueberzug. Die oberen Enden der
Lappen laufen gegen die Gland. thyreoidea aus, ohne jedoch dieselbe zu erreichen,
und bei einem Intervalle von 1—2 cm ist jeder Lappen der Gland. thymus mit
der corrcspondirenden Hälfte der Gland. thyreoidea mittels bindegewebiger Sträng-
chcn, in welchen Venen und Acstchen der Art. thyreoid. inferior enthalten sind,
verbunden. Nach unten erstreckt sich die Gland. thymus noch auf 2—3 Finger¬
breiten unter die obere Umschlagstelle des Herzbeutels, so dass sie auf diesem
auch theilweise ruht.
Hechts seitwärts von der Gland. thymus befinden sich die Art. anonyma,
die V. cava superior und der Nerv, phrenicus dexter, links die Art. carotis comm.
und der Nerv, phrenicus sinister. Beide Nervi vagi und die Rami recurrentes
liegen weit nach aussen und nach hinten. Mit ihrer hinteren Fläche liegt die
Thymus unter dem Herzbeutel, weiter oben der aufsteigenden Aorta und der Vena
anonyma sinistra und schliesslich der vorderen Fläche des Aortenbogens eng an.
Vor ihr befindet sich lockeres Bindegewebe, welches sie mit dem Brustbeine ver¬
bindet.
Die Gland. thymus lässt sich einigermassen, und zwar seitlich und nach oben,
jedoch nur in unbedeutendem Grade, verschieben. Eine Senkung derselben wird
durch die Ycrbindungsstriingohen mit der Gland. thyreoidea, welche bekanntlich
vollkommen unbeweglich befestigt ist, verhindert. Schneidet man diese Verbin-
Digitizetf by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Die Thymus des Erwachsenen in gerichtlich-medicinischer Beziehung. 53
düngen durch, dann senkt sich die Gland. tliymus ein wenig nacli unten und wird
gleichsam kürzer, indem sie die Gefässsträngchen anzieht.
Die Thymus wird durch Arterienästchen genährt, die aus der Art. mammaria
interna, der Art. thyreoidea inferior und den Aa. pericardiacae entspringen. Diese
Aestchen sind insbesondere im Vergleich zu den Gefässen der Gland. thyreoidea
äusserst fein; hingegen sind die Venen der Gland. thymus grösser und vereinigen
sich zu einem dickeren Stamme von ca. 3 mm Durchmesser, welcher zwischen den
beiden Drüsenlappen liegt und in die Vena anonyma sinistra einmündet.
Die Consistenz der Drüse ist ziemlich weich, ihre Oberfläche glatt, leicht
concav, die Farbe lichtroth, ihre Länge im Mittel ca. 9,5 cm, die Breite etwa 5 cm,
die Dicke meist etw-as über 1 cm, der Rauminhalt im Mittel 21 ccm, das Gewicht
bis 22 g. Ausgeschnitten und auf Wasser gelegt sinkt die Drüse unter.
Unter dem Mikroskope sieht man eine Menge lymphoider Zellen von gleich-
mässigerer, rundlicherer Form als jene der Lymphdrüsen, eingebettet in ein zartes
feinmaschiges Bindegewebsnetz mit zerstreut liegenden concentrisch geschichteten
sogenannten Hassal’schen Körpern. Die sogenannte Sichelform der Zellen wird
hier gewöhnlich nicht vorgefunden.
Dies ist sozusagen der typische anatomische Befund, welchen ich bei voll¬
kommen gesunden jungen, selbst noch bei 17jährigen Personen vorfand. Man be¬
gegnet jedoch sowohl in diesem, als auch im höheren Alter verschiedenen Abwei¬
chungen von dieser Norm.
Die Reihe derselben werden wir mit den Abweichungen, welche sich auf
die Ortslage der Drüse beziehen, beginnen:
Die Drüse kann von der Mittellinie entweder etwas nach rechts — wobei die¬
selbe der Art. anonyma eng anliegt — oder mehr nach links abweichen, dement¬
sprechend kann der eine oder der andere Nervus phrenicus unter der Drüse vor¬
gefunden werden. In einem Falle fand ich die Vena cava superior von der Drüse
vollkommen verdeckt. Dies war nicht die Folge der Präparation, denn dieV. cava
war an ihrer Vorderfläche mit der Drüse verwachsen, was sonst nicht vorzukom¬
men pflegt. Auch kann die Thymus entweder an der Gland. thyreoidea selbst
beginnen, oder aber sie liegt viol tiefer unten in einem Abstande von ca. 4 cm von
der Schilddrüse. Ein so grosser Abstand von der Thyreoidea wird dann beob¬
achtet, wenn die Drüse überhaupt klein ist und wenn sie kein Aestchen von der
Art. thyreoidea inferior bekommt, sei es infolge angeborenen Mangels dieses Aest-
chens, sei es vielleicht infolge Atrophie desselben in vorgeschrittenerem Le¬
bensalter.
Nicht selten besteht die Thymus nicht aus 2, sondern aus 3, 4, bis 7 Lappen,
doch sind in solchen Fällen gewöhnlich blos zwei Lappen am stärksten entwickelt,
während die übrigen kleineren in der Mitte, gleichsam zur Ausfüllung des Zwischen¬
raumes zwischen den beiden grösseren Lappen, gelagert sind. Manchmal besteht
die Thymus blos aus einem Lappen, welcher dann am oberen Ende gabelförmig
gespalten ist.
Die zur Ernährung der Drüse dienenden arteriellen Aestchen sind nicht im¬
mer gleich entwickelt: je grösser die Drüse ist, desto dicker sind sie natürlich.
Ausser den obengenannten Aestchen erhält die Drüse manchmal einen Zweig von
der Art. anonyma, welcher gewöhnlich von der Milte derselben, selten höher, bei
Digitized by
Gck igle
Original from
UMIVERSITY OF IOWA
54
Dr. Dworni Ischen ko.
der Wurzel der Art. carotis communis, manchmal auch von dem au (steigenden
Aste der Aorta, 2 cm unterhalb des Abganges der Art. anonyma, abzweigt.
Die Consistenz der Drüse ist nicht immer weich. Einmal bekam ich eine
Gland. thymus zur Untersuchung, deren Umfang bedeutend vergrössert und diese
fest wie ein Fibrom war. Doch war dies eine pathologisch veränderte sarcomaiöse
Drüse, ln einem anderen Falle fanden sich in der Drüse haselnussgrosse, voll¬
kommen verkalkte Knoten vor. Unter dem Einflüsse verschiedener, meist tuberku¬
löser Erkrankungen verliert die Drüse ihre ursprüngliche weiche Consistenz. Bei
jugendlichen Personen kann man häutig im Inneren der Drüse einer erweichten
und von einer milchartigen Flüssigkeit durchtränkten Partie begegnen. Unter dem
Mikroskop sieht man in dieser Flüssigkeit eine ungeheure Menge von Lymphoid-
elementen schwimmen. Die Consistenz ist in einem solchen Falle weich, wie fluc-
tuirend.
Die Oberfläche der sonst meist glatten Drüse erscheint manchmal uneben,
und zwar infolge einer grossen Menge von Lappen, welche einander dachziegel¬
förmig überdecken und mit ihren freien Rändern nach unten und aussen ge¬
richtet sind.
Die Farbe der Drüse ist bei normalem Verhalten blassroth, hei der Hyper¬
ämie wird sie dunkelroth, bei der Verwesung schmutzigroth. Mit der Alterszu¬
nahme beginnt die Drüse gelb zu werden; schon gegen die 30er Jahre bemerkt
man stellenweise gelbliche Flecke, bei 40 Jahre alten Individuen ist schon die
ganze Drüse von gelblicher Farbe, doch erkennt man eingestreute kleine röthliche,
manchmal einen Blutaustritt vortäuschende Partien von unversehrt gebliebenem
Gewebe in ihr. Gegen die 50er Jahre werden diese Partien seltener, so dass sie
bisweilen ziemlich schwer zu finden sind, gegen die BO er Jahre sind sie dem un-
bewaffneten Auge ganz unsichtbar, obzwar sich unter dem Mikroskope ohne be¬
sondere Schwierigkeiten kleine Nester von lymphoidomDrüsengewebe finden lassen:
in noch höherem Alter wird dies schwieriger, obzwar es mir in einem Falle ge¬
lungen ist, bei einer 88jährigen Greisin in der Gland. thymus unter dem Mikro¬
skope inmitten des compacten Fettes kleine Häufchen von Lymphoidclcmenten vor¬
zufinden, welche nach ihren Eigenschaften nichts Anderes als Ueborreste des
Drüsengewebes darstellen konnten. Die HassaPschen Körperchen verschwinden
in der Periode zwischen GO—70 Jahren gänzlich.
Dabei scheinen die ursprünglichen Dimensionen der Drüse mit der Altcrs-
zunahme keine besonderen Veränderungen zu erleiden. Dies kann man aus fol¬
gender Tabelle ersehen.
Grösse
Länge
cm.
Breite
cm.
Dicke
cm.
Cubik-
inhalt
ccm.
Gewicht
g-
Spccif.
Gewicht.
Zahl der
Beobach¬
tungen.
Alter von 10-
-20 Jahren
15
Mittlere
8,4
5
i
20,0
21 ,G
1,03
Maximale
13
7
—
32
33
1,05
Minimale
2,5
—
10
10,3
1,01
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
Die Thymus des Erwachsenen in gerichtlich-mcdicinischor Beziehung. 55
Grösse
Länge
cm.
Breite
cm.
Dicke
cm.
Cubik-
inhalt
ccm.
Gewicht
g-
i
Specif.
Gewicht.
Zahl der
Beobach-
tun gen.
Alter
von 20-
—30 Jahren
11
Mittlere
8,2
4
0,9
14,2
14,3
1,007
Maximale
12
5
1
25
25,5
1,02
Minimale j
4
2
0,5
4
5
1,005
Alter
von 30-
-40 Jahren
18
Mittlere 1
9
5,o
1
20
19
0.95
Maximale
12
10
1,3
55
54,5
1,01
Minimale
i
7
1
0,5
8
9
0,94
Alter
von 40-
-50 Jahren
t
21
Mittlere
8,S I
4
1
i 16
! 13
0,94
Maximale
14 !
10
1,6
1 54
1 51
*1,005
Minimale
G 1
1
1,2
0,4
3
3
0,92
Alter
von 50-
-60 Jahren
18
Mittlere
1 8
5
1
1 18,7
18,1
i 0,92
Maximale
15
8
1,2
37
3G
0,95
Minimale
5
1
0,3
1 2
1
1,9
0,91
i
Alter
von GO-
-70 Jahren
17
Mittlere
10
ß,5
1
2*2,5
20,5 |
0,91
Maximale
14
9
—
37
36
0,94
Minimale
4
0
—
G
5 ;
0,9
Alter
von 70-
-88 Jahren
7
Mittlere
1 9
5
1
IG
14, G
0,91
Maximale
! ii
G
—
22
21
0,93
Minimale
1 G
4
—
8
7
0,9
Aus dieser Tabelle ersieht man weiter, dass das specifisehe Gewicht der
Urüse sich mit der Altorszunahmc vermindert. Bis zu den 30er Jahren beträgt
dasselbe noch mehr als eine Einheit und die Drüse sinkt im Wasser unter, nach
den 30er Jahren beginnt sie zu schwimmen, obzwar bis zum 50. Jahre doch Fälle
Vorkommen, wo sie noch specilisch schwerer als das Wasser ist. Nach dem
50. Jahre schwimmt die Thymus in allen Fällen ohne Ausnahme an der Ober¬
fläche des Wassers. Die Verminderung des specifischen Gewichtes der Drüse deutet
darauf hin, dass ein Theil ihres Gewebes durch eine andere specifisch leichtere
Substanz, und zwar durch Fett ersetzt wurde.
Das specifisehe Gewicht der Thymus lässt also bis zu einem gewissen Grade
einen Schluss auf ihre Functionsfähigkcit zu. Die Drüse aus verwesten Leichen
kann auch bei jugendlichen Individuen schwimmen, doch sinkt sie nach dem Aus¬
drücken unter, während eine verfettete Drüse nach dem Ausdrücken auf der Wasser¬
oberfläche bleibt.
Bei Drüsen, die am Wasser schwimmen, findet man unter dem Mikroskop
eine überwiegende Menge von Fettgewebe und nur wenig Lymphoidgewebe in Form
Digitizeit by
Gck igle
Original frum
UNIVERSUM OF IOWA
5fi I)r. Dwornitschenko,
von zerstreuten kleinen Nestern vor. Das Mengenverhältniss dieser beiden Sub¬
stanzen pflegt allerdings je nach dem Alter verschieden za sein. Das Bindegewebe
der Drüse wird also zum Theil in Fettgewebe umgewandelt, während dieLymphoid-
olemente unter dem Drucke dieses Fettgewebes atrophiren.
Die Form und der Umfang der Drüse bleiben dabei gewöhnlich bis in das
hohe Greisenalter unverändert.
Hinsichtlich der Beziehungen der Thymus zu dem Allgeraeinzustande des
Organismus sei erwähnt, dass die Thymus bei kachektischen, geschwächten Per¬
sonen gewöhnlich auffallend klein ist, so z. B. hatte sie bei einem tuberculösen
jungen Manne die Gestalt eines blassrothen, bis 10cm langen und bis 1cm breiten
Strängchens.
Der Rauminhalt dieser Drüse betrug 2,3 ccm, das Gewicht 3 g.
Bei Erstickten und bei an Phosphorvergiftung Verstorbenen findet man in der
Drüse oft reichliche Blutergüsse vor. Beim allgemeinen Status lymphaticus zeigt
sich die Drüse«gewöhnlich etwas vergrössert.
In der oben angeführten Tabelle fiel auch das Dimensionsmaximum der
Drüse auf jene Leichen, bei welchen auch der übrige lymphatische Apparat merk¬
lich hypertrophisch war. Die Thymus kann jedoch auch ohne das Bestehen von
lymphatischer Constitution vergrössert sein, ebenso wie letztere auch ohne beson¬
dere Vergrösserung der Drüse beobachtet wird. Letztere Fälle sind aber nicht
häufig.
Beim allgemeinen Status lymphaticus des Organismus behält die Thymus
offenbar länger ihr grösseres specifisches Gewicht bei; doch trifft dies bei Weitem
nicht immer zu, da der Status lymphaticus zur Fettbildung prädisponirt, und so
zur Fettablagerung auch in der Gland. thyraus und zur Atrophie ihrer functioni-
renden Elemente führen kann.
Die Kapsel der Thymus besteht aus Bindegewebe und lässt sich, ob zwar
sie dünne Faserchen in das Gewebe der Drüse selbst entsendet, im Allgemeinen
doch leicht abtrennen. Mit zunehmendem Alter, d. i. bei den 40—50 jährigen
Personen, unterliegt sie der Verfettung, lässt sich aber auch fernerhin leicht ab¬
trennen, solange die Fettablagerung nicht auch in den die Kapsel mit der Drüse
verbindenden Fasern erfolgt, in welchem Falle die Abtrennung bedeutend er¬
schwert ist. Sobald aber auch das ganze Zellgewebe des Mediastinum, welches
zum Theile mit dem Ueberzuge der Drüsen zusammenhängt, der Verfettung ver¬
fallen ist, dann ist die Isolirung der Gland. thymus ziemlich schwierig.
Schliesslich wird die Isolirung absolut unmöglich, indem das mediastinale
Fett ohne Grenzen in das der Drüse übergeht, was besonders bei faulen Leichen
zutrifft.
Lässt sich die Thymus immer in der Leiche finden? Man kann dieselbe stets
in jedem Alter finden, wenn man sich an die oben beschriebene topographische
Lage und hauptsächlich an die drei Markirungspunkte hält: Art. anonyma, Art.
carotis communis sinistra und Vena anonyma sinistra.
Die Drüse liegt zwischen den beiden Arterien oberhalb (d. i. vor) der Vene.
Ls genügt eine dicke Sonde oder ein Glasstäbchen in die Vena anonyma sinistra
hineinzulegen, um die Lage der Drüse zu bestimmen. Wenn man (bei liegender
Leiche) dieses Stübchen ein wenig hinaufhebt, so hebt man gleichzeitig auch die
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
Die Thymus des Erwachsenen in gerichtlich-medicinischer Beziehung. 57
Gland. thymus hinauf. In zweifelhaften Fällen muss man die mikroskopische
Untersuchung in Anwendung bringen.
Viel schwieriger ist es, die Drüse von den umgebenden Tbeilen zu isoliren.
Mir ist dies in 16 Fällen nicht gelungen: in 10 Fällen in Folge der Verfettung
der Drüse und ihrer Kapsel, wobei dieses Fett mit dem umgebenden Fette des
vorderen Mediastinum vollkommen zusammengefallen war; in 4 Fällen in Folge
von Fäulnissveränderungen der verfetteten Drüse; in 1 Fall in Folge Blut¬
ergusses in die Drüse (bei einer Phosphorvergiftung), wobei die Thymus und das
umgebende Zellgewebe vom Blute gänzlich durchtränkt waren; schliesslich konnte
in einem Falle die Gland. thymus in Folge der bedeutenden Sshwellung des Zell¬
gewebes des vorderen Mediastinums und der Drüse selbst nicht isolirt werden.
Am leichtesten ist es, die oberen, gegen die beiden Hälften der Gland. thy-
reoidea gerichteten Theile der Drüse zu präpariren. Sie behalten überhaupt länger
nicht nur ihre Form, sondern auch ihre Structur und können auch leicht an der
Richtung der Gefässe erkannt werden.
Bezüglich der an die Thymus anstossenden Theile sei bemerkt, dass die
Vena anonyma sinistra nicht immer zwischen der Drüse und der Aorta liegt, ein¬
mal befand sich dieselbe an der Vorderfläche der Gland. thymus in ihrer gewöhn¬
lichen quer-schiefen Lage von links und oben nach rechts und etwas nach unten;
in dem zweiten Falle lag sie hinter dem linken und vor dem rechten Lappen, das
heisst, sie ging aus der hinteren Fläche der Drüse auf die vordere über, die Ver¬
bindung zwischen den beiden Lappen durchbohrend. Auf diese Weise wurde eine
ungewöhnliche Lage der Vena anonyma sinistra zwei Mal in 122 Fällen, das heisst
in 1,6 pCt. aller Fälle beobachtet.
Betreffs der Lage der Lungenarterie und der Lungenvenen ist zu bemerken,
dass dieselben hinter der aufsteigenden Aorta, 4—5 cm oberhalb des oberen
Randes der Vorkammer des Herzens liegen, ihre Aeste quer aussenden, äusserst
dünnwandig sind und an der Leiche sich in zusammongefallenem Zustande be¬
finden.
Wohl könnte die Thymus einen Druck auf diese Gefässe ausüben, doch ist
dies bloss bei besonders günstigen Bedingungen möglich, wenn dieselben höher
als gewöhnlich liegen, was manchmal vorkommt, und wenn die ganze Last der
Thymus (wenn dieselbe z. B. über 50 g wiegt) durch den aufsteigenden Theil der
Aoria auf diese Gefässe übertragen wird.
Die Blutcirculation in der Lungenarterie kann durch diesen Druck kaum
irgendwie beeinträchtigt werden, doch halte ich dies bei den Lungenvenen für
möglich, da die „vis a tergo“ hier unbedeutend ist.
Die Aorta selbst kann durch die Drüse nicht zusammengedrückt werden,
wenigstens nicht bei Erwachsenen, da hierzu ein Gewicht von wenigstens 100 g
bei der Leiche — beim Lebenden wird es ein viel grösseres sein -- nothwendig ist.
Auch die Luftröhre kann gewiss durch diesen Druck nicht leiden: hier sind,
um nur eine leichte Verengerung zu bewirken, wenigstens 200 g nöthig.
Die Vena anonyma sinistra kann wohl leicht durch die Drüse an die vordere
Aortenwand gedrängt werden.
Die Vena cava superior kann bloss ausnahmsweise, wenn sie sich unter der
Drüse befindet, von derselben zusammengedriiekt werden; dasselbe gilt auch von
der Vena anonyma dextra.
Digitized by
Gck igle
Original from
UMIVERSITY OF IOWA
58
Ih\ P wo rn i tsch enko,
Digitized by
Damit der Druck auf die oben genannten Gefässe und insbesondere auf die
Vena anonyma sinistra ernste Folgen und etwa gar den Tod verursachen könne,
müsste er nothwendigerweise rasch und plötzlich zur Wirkung kommen, wenn er
sich aber nach und nach entwickelt, wie dies z. B. bei den Geschwülsten in dem
vorderen Mediastinum zu sein pflegt, dann ereignen sich, wie dies die Erfahrung
lehrt, keine besonderen üblen Zufälle und Fersonen mit einer solchen pathologisch
veränderten Thymus, die über 60 g wiegen kann, leben oft recht lange.
Das „Asthma thymicum“ der Kinder, wie es bis vor Friedleben’s 1 )
Untersuchungen angenommen wurde, und dessen Bestehen auch heute noch von
mehreren Seiten behauptet wird, hat beim Erwachsenen wohl kein Analogon.
II.
Nordmann 2 ), Gluck 3 ), v.Recklinghausen 4 5 ), A. Paltauf 6 ) und von
Kundrat 6 ) haben räthselhafte, plötzliche Todesfälle Erwachsener mitgetheilt, in
denen ausser einer persistenten und manchmal auch vergrösserten Gland. thymus
und einem allgemeinen Status lymphaticus nichts Besonderes in der Leicho ge¬
funden wurde.
Der Tod trat in diesen Fällen unter verschiedenen Umständen ein, so nach
der Chloroformnarkose (20 Fälle gesammelt von Kundrat) insbesondere nach
Operationen in der Halsgegend (Gluck) oder nach dem Bade (Nordmann, von
Recklinghausen).
Bei der Section solcher Leichen fand man gewöhnlich eine mehr oder minder
starke Gesichtscyanose, Hyperämie des Gehirns und der Gehirnhäute, flüssiges
Blut in den Schädelvenen, Halsvenen und im Herzen, dünnwandige und enge
Arterien, auch geringes Lumen der Aorta, merklich hyperplastischc Lymphdrüsen,
speciell Hyperplasie der Drüsen an der Zungenbasis, im Schlunde und am Kehl¬
deckel, Vergrösserung der Mandeln, der Gland. thyreoidea, der Gland. thymus,
der Milz, der Peyer’schen Drüsen und der Solitärfollikel des Darmcanales. Der
Herzmuskel zeigte in solchen Fällen meist weder makro- noch mikroskopische
Veränderungen, welche die Annahme einer einfachen Herzparalyse rechtfertigen
konnten; auch die übrigen Organe zeigten sich selbst bei sorgfältigster Unter¬
suchung vollkommen gesund, nur in manchen Fällen wurde eine Schwellung der
Lunge und stärkere Ausdehnung der dünnwandigen Herzräume beobachtet.
1) Die Physiologie der Thymusdrüse in Gesundheit und Krankheit. Frank¬
furt 1858.
2) A. Nordmann, Ueber die Beziehungen der Thymusdrüse zu plötzlichen
Todesfällen im Wasser. Corresp.-Bl. f. Schweiz. Aerzte. XIX. 1880. S. 202.
6) Prof. Gluck, Thymuspersistenz bei Struma hyperplastica. Berl. klin.
Wochensohr. 1894. No. 29. S. 670.
4) siehe A. Nordmann, 1. c. S. 205.
5) Dr. A. Pal tauf, Ueber die Beziehungen der Thymus zum plötzlichen
Tod. Sep.-Abdr. aus der Wiener klin. Wochenschr. 1889, No. 46, u. 1890, No. 9.
6) Dr. R. v. Kundrat, Zur Kenntniss des L'hloroformtodes. Wiener klin.
Wochenschr. 1895. No. 1—4.
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Die Thymus des Erwachsenen in gcrichtlich-medicinischer Beziehung. 50
Diesem letzteren Umstande schreibt Arnold Paltanf eine grosse Bedeutung,
als Todesursache zu. Er sagt:
„Fasst man die gemeinsamen pathologischen Veränderungen aus den ange¬
führten Sectionsbefunden zusammen und versucht man, an der Hand dieser, eine
pathologisch-anatomische Diagnose zu stellen, so hätten wir festzustellen: Ver-
grüsserung der Tonsillen, Darmfollikel, ausgebreiteter Lymphdrüsencomplexe,
der Follikel des Zungengrundes, der Milz und endlich das Vorhandensein einer
verschieden grossen Thymusdrüse zu einer Zeit, in der diese sonst schon ganz
geschwunden zu sein pflegt. Hierzu wäre noch in meinen Fällen eine zwar stets,
aber in verschiedenen Graden ausgebildete Verengerung der Aorta beizufügen. In
diesen Veränderungen zusammen mit der acuten Herzerweiterung ist zweifellos die
Todesursache zu suchen (1. c. S. 18).“
Gluck ist offenbar geneigt, in solchen Fällen einen Druck seitens der ver-
grösserten Thymus auf Gefässe und Nerven zuzugegeben. Und in der That
liessen sich denn nicht wenigstens einige Fälle z.B. Gluck’s und Nordmann’s
von diesem rein anatomischen Standpunkte aus erklären? Nach meiner Ansicht ja.
In dem Falle Gluck’s handelt es sich um ein 16jähriges Mädchen, welches
5 Minuten nach der Operation (Exstirpatio strumae) plötzlich unter Erscheinungen
der Cyanose, Dyspnoe und der acuten Lungenschwellung gestorben war.
Bei der Section fand man eine Thymus von 55 g Gewicht.
Zur Erklärung dieses Falles wollen wir erinnern, dass die Gland. thymus
durch Gefässe mit der Gland. thyreoidea communicirt, und dass die Unterbindung
dieser bei einer Operation an der Thyreoidea eine Aenderung der Blutcirculation
in der Gland. thymus zur Folge haben muss, da nun die grosse Art. thyreoidea
inferior den grössten Theil ihres Blotes dahin senden wird.
Ferner erinnern wir daran, dass hinter der Gland. thymus, zwischen ihr und
der Aorta die dünnwandige Vena anonyma sinistra, in welcher das Blut bei höchst
schwacher „vis a tergo“ circulirt, quer verläuft.
Bei solchen Bedingungen genügt insbesondere, wenn der Kranke auf dem
Rücken liegt, eine geringe Vergrösserung des Gewichtes und des Umfanges der
Gland. thymus, z. B. in Folge einer acuten Hyperämie, damit die Vena anonyma
sinistra an die überhaupt nicht nachgiebige Aortenwand (in welcher der innere
Blutdruck bekanntlich sehr gross ist) angedrückt werde. Da der grösste Theil des
venösen Blutes der Gland. thymus in die Vena anonyma sinistra sich ergiesst,
kann der auf diese letztere ausgeübte Druck eine Rückstauung des Blutes nach
der Thymus hervorrufen.
Wenn man dann noch einen Einfluss des Druckes auf die Circulation in den
Yv. pulmonal, annimmt, was bei deren Lage und bei der unbedeutenden „vis a
tergo“ in denselben nicht ganz unmöglich erscheint, wird man sowohl die starke
Cyanose, die Dyspnoe, die Lungenschwellung und wohl auch den raschen Tod ganz
begreiflich finden.
In dem Falle Nordmann’s handelte es sich um einen 20jährigen Rekruten,
welcher nach dem Baden aus dem Wasser heraustrat, Fieberschauer empfand, er¬
blasste, einige langgedehnte Seufzer that und zu Boden sank; das Gesicht wurde
rasch cyanotisch, der Puls und die Athmung hörten auf. Unverzüglich wurden
Wiederbelebungsversuche vorgenommen; der Soldat machte noch zwei bis drei
Alhemzüge und starb trotz Anwendung aller erprobten Mittel.
Digitizeit by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Dr. Dwornitschenko,
m
Bei der Section fand man unter anderem:
„Kräftig gebaute Leiche mit ausgesprochener Todtenstarrc und zahlreichen
Todtenflecken auf dem Kücken. Gesicht hochgradig cyanotisch. Sinus der Dura
mater und Venen der Pia mit flüssigem Blute gefüllt. Die Gehirnsubstanz ist
blutreich. Beide Lungen massig rctrahirt und vollständig frei, in allen Theilen
lufthaltig, blutreich, stark ödematüs. Bronchien mit wenig schleimigem Secret,
Schleimhaut hyperämisch. Herz von mittlerer Grösse. Muskulatur desselben braun-
roth, von guter Consistenz, keine Zeichen von Verfettung darbietend. Alle 4 Herz¬
höhlen enthalten nur flüssiges Blut, und zwar die rechtsseitigen eine grössere
Menge als die links gelegenen; nirgends sind Gerinnsel zu entdecken. Auch die
grossen Venenstämme der Brusthöhle sind mit reichlichem flüssigen Blute gefüllt.
Nach Entfernung des Sternums erscheint der Raum zwischen den Claviculae und
den oberen Rippen von der bestehen gebliebenen, mehr als faustgrossen, ziemlich
median gelegenen, etwas gelappten Thymusdrüse ausgefüllt. Dieselbe erstreckt
sich nach oben bis wenig über das Jugulum, nach unten überragt sie etwa um
Fingerbreite den oberen Rand des Herzbeutels. Sie weist auf ihrem Durchschnitte
eine dunkelrothe, hyperämische Färbung, aber nirgends Blutergüsse auf; ihre
Consistenz erscheint nicht vermehrt; auf Durchschnitten lassen sich einzelne durch
Septa getrennte Drüsenabschnitte deutlich erkennen. Zungengrund mit stark ent¬
wickelten Follikeln. Tonsillen vergrössert. Trachea mit hyperämischer Schleim¬
haut. Die Schilddrüse ist in allen 3 Abschnitten vergrössert, die beiden Seiten¬
lappen sind jeder etwa apfelgross. Venen der seitlichen Halsgegend mit dunkel¬
flüssigem Blut gefüllt. Milz etwas vergrössert; Follikel z. Th. deutlich sichtbar.
An den anderen Organen keine Abnormitäten.
Auch diesen Fall kann man aus dem Zusammengedrücktwerden der Vena
anonyrna sinistra durch die vergrösserte Drüse erklären; es ist möglich, dass auch
die Vv. pulmonales und die Vena cava superior, wenn sich dieselben ausnahms¬
weise unter der Drüse befanden, von derselben gedrückt wurden.
Eine solche Erklärung ist überhaupt zulässig, wenn wir in der Leiche eines
jungen Menschen mit starker Gesiehtscyanose, starker Füllung der Venen des Ober¬
körpers, des Gehirnes und der Hirnhäute mit flüssigem Blute, eine vergrösserte
hyperämische Gland. thyinus bei Fehlen jeder pathologischen Veränderung in den
inneren Organen, hauptsächlich im Herzen und in den Gefässen finden, wenn jede
andere Todesursache ausgeschlossen ist, und wenn zugleich die Umstände des
Falles für die Annahme einer acuten Hyperämie, einer acuten Blutüberfüllung der
Gland. thymus ursächliche Momente ergeben.
Es unterliegt keinem Zweifel, dass sich dies bei Erwachsenen höchst selten
ereignet, während es bei Kindern gewiss keine besondere Seltenheit bildet, wovon
man sich leicht bei Durchsicht der in der Literatur mitgetheilten Seetionsprotokolle
überzeugen kann; es handelt sich da um Fälle, in welchen keine ausgesprochene
Todesursache, wohl aber eine hypertrophische Thymus gefunden wurde.
Wenn man in der Leiche eine deutlich ausgesprochene Hypertrophie des
Lymphapparates 1 ), die Gland. thymus von normalen Dimensionen und das Herz
1) Selbstverständlich wird man sich hüten müssen, eine acute Schwellung
der Lymphdrüsen, wie sie bei acuten Infectionskrankheiten vorkommt und wie ich
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
Die Thymus des Erwachsenen in gerichtlich-medicinigcher Beziehung. 61
im Zustande der Paralyse constatirt, so bleibt beim Fehlen jeglicher anderen
Todesursache nur die Annahme übrig, dass der Status lyrnphaticus als solcher die
Herzparalyse hervorgerufen habe, namentlich wenn hierzu einigermaassen günstige
äussere Bedingungen vorhanden waren.
Schliesslich erachte ich es als meine Pflicht, dem Herrn Holrath Professor
bd. v. Hofmann meinen tiegefühlten Dank für das mir übertragene Thema und
für die Bewilligung, in seinem Institute arbeiten zu dürfen, auszudrücken und
seinen Assistenten, dem Herrn Docent Dr. Alb in II aber da und Herrn Dr. Max
Richter, für ihr collegiales Entgegenkommen zu danken.
sie bei Influenza sah, mit einem chronisch hypertrophischen Zustande derselben
zu verwechseln.
Digitized by
Gck igle
Original ftom
UMIVERSITY OF IOWA
Trauma und Carcinom
Von
Kreisphysikus Dr. H. Berger in Neustadt a. Rbg. (Hannover).
Ursächlich spielt das Trauma, man kann wohl sagen, bei den
meisten Leiden in der Anamnese die grösste Rolle, und cs liegt ja
auch sehr nahe, dass dem nach Ursachen suchenden Kranken irgend
eine Trauma im weitesten Sinne, längere oder kürzere Zeit voraus¬
gehend, — und wer hätte ein solches nicht in der Anamnese auf¬
zuweisen — als das gesuchte Etwas erscheint. So wird in neuerer
Zeit im Anschluss an Trauma berichtet unter anderen über Akrome¬
galie 1 ), Diabetes 2 ), Meningitis 3 ), Myelitis 4 ), Pneumonie 5 ), Magenge¬
schwür 6 ), multiple Sclerosc 7 ), Paralyse 8 ), Paralysis agitans 0 ).
Und dieser Zusammenhang zwischen Trauma und Krankheit hat
besonders bei der jetzigen Gesetzgebung eine grosse Wichtigkeit er¬
langt, da es sehr im Interesse des Einzelnen liegt, eine Erwerbsun¬
fähigkeit bezugsweise einen Todesfall auf einen Unfall zurückführen
zu können, für welchen Entschädigung geleistet werden muss.
1) Von Unverricht, Münch, nied. Wochenschr. 1805.
2) Von W. Asher, Diese Vierteljahrsschr. 1894, 11.4, u. 1895, H. 1. Von
Brühmer, Aerztl. Sachverst. Ztg. 1895. No. 14.
3) Von Becker, Ebenda 1895. No. 9.
4) Von Buschan, Ebenda 1895. No. 21.
5) Von Granier, Ebenda 1895. No. 13.
6) Von P. Müller, Inaug.-Diss. Breslau 1894.
7) Von H. Oppenheim, Berl. klin. Wochenschr. 1898. No. 9. (Nur im
Allgemeinen.)
8) Von E. Thoma, Allgem. Zeitschr. f. Psychiat. 1896. No. 6. (Nur im
Allgemeinen.)
9) Von Becker, Aerztl. Sachverst. Ztg. 1895. No. 3.
bv Google
Original frnm
UNIVERSITY OF IOWA
Trauma und Carcinom.
63
Schilling 1 ) hebt unter den Folgen von Traumen drei Gruppen
von Krankheiten hervor, die traumatischen Nervenstörungen, die trau¬
matische Tuberculose und die traumatischen Neoplasmen.
Das Dunkel, in welches die Aetiologie der Geschwülste speciell ge¬
hüllt ist, ist auch heute in unserer bacteriologischen Aera noch nicht
gelichtet, und selbst, wenn die Bacteriologie dazu im Stande wäre, so
bliebe doch daneben noch das Trauma für die Aetiologie von nicht
zu unterschätzender Bedeutung, wie dies ja auch für die bakteriologisch
geklärte Tuberculose der Fall ist 2 ). Ein mir in meiner Praxis vor-
gekonnnener Fall, welcher zur schiedsrichterlichen Entscheidung ge¬
langte, und 3 mir von dem Reichsversicherungsamt in liebenswürdigster
Weise zur Verfügung gestellte Entscheidungen, veranlassten mich zu
genauerem Studium über den Zusammenhang zwischen Trauma und
Carcinom.
Während früher der Begriff Carcinom für dio verschiedensten bösartigen Ge¬
schwülste gebraucht wurde, ist das Carcinom nach den jetzt zumeist Geltung
habenden Anschauungen von Thiersch 3 ) und Waldeyer 4 ) eine von den epi¬
thelialen Deck- und Drüsenzellen ausgehende Neubildung, welche den normalen
Gewebstypus der primär erkrankten Körperstelle zerstört, durch schrankenloses
peripheres Wachsthum, durch Epithelmetastasen, vor allem mittels der Lymph-
bahnen, seltener durch die Blutgefässe charakterisirt ist, und in der grössten
Mehrzahl der Fälle unter den Erscheinungen der Allgemeinintoxication tödtlich
endigt 5 ).
Thiersch und Waldeyer sind der Ansicht, dass die Carcinomzellen nur
aus den Epithelialzellen entstehen, während Virchow 6 ) und Gussenbauer 7 )
behaupten, dass das Carcinom durch Wucherung und Differenzirung der indiffe¬
renten Bindegewebszellen entstehe. Gussenbauer bezeichnet als Träger des
Seminiums nicht die Zellen der primären Neubildung, sondern corpusculäre Ele-
1) Trauma und Unfallversicherungsgesetz. Deutsche Medic.-Zeitung. 1895.
No. 66.
2) Guder, Ueber den Zusammenhang zwischen Trauma und Tuberkulose.
Diese Vierteljahrsschr. 1894, H. 2 u. ff. — Schäffer, Trauma und Tuberkulose.
Diese Vierteljahrsschr. 1895, H. 3. — Wagner, Ein Fall von Lungenschwind¬
sucht, dessen Entstehung ursächlich mit einer durch Trauma hervorgerufenen
Lokaltuberkulose zusammenhängt. Diese Vierteljahrsschr. 1895, H. 4.
3) Der Epithelialkrebs, namentlich der Haut. 1865.
4) Virchow’s Archiv. XL. S. 470. LV. S. 67.
5) Ti 11 man ns, Die Aetiologie und Histogenese des Carcinoms. Vortrag
auf dem 3. Sitzungstage des 24. Congresses der Deutschen Gesellsch. f. Chirurgie.
(Verhandl. d. Deutschen Gesellsch. f. Chirurgie. Berlin 1895.)
6) Die krankhaften Geschwülste.
7) Die allgemeine chirurgische Pathologie und Therapie von Billroth und
W in i wart er. Berlin 1887,
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
64
Dr. Berger,
mente, welche nicht selbst zu Geschwulstelementen werden, sondern nur inficirend
wirken. Klebs 1 ) behauptet, dass die von einer epithelialen Zelle ausgehende
Careinomzelle eine nicht epitheliale Zelle epithelial inliciren könne.
Das Carcinom ist eine atypische Wucherung epithelialer Zellen, aber nicht
jede atypische Wucherung ist ein Carcinom. Bei der Carcinombildung beschränken
sich die Wucherungen des Epithels nicht auf die Bedeckung freier Flächen, son¬
dern sie führen im Gegentheil zu einer Invasion in das angrenzende Bindesub¬
stanzgewebe 2 ). Das Carcinomgewebc liegt als Parenchym in einem zellen- und
genussreichen bindegewebigen Stroma, welches das Wachsen des Carcinoms er¬
leichtert, Ausläufer des Stromas und Reste des Parenchyms liegen bunt durch¬
einander. Atypische Wucherungen finden sich auch in Wunden und subepithe¬
lial gelegenen Granulationen, z. B. bei Lupusgeschwüren, aber sie sind noch kein
Carcinom. Das Carcinom wächst selbstständig, unaufhaltsam, discontinuirlich
und wirkt destruirend, die Carcinomzelle hat gleichsam die Fesseln der Epithel¬
zelle des Mutterbodens gebrochen, das Carcinomgewebe wächst und zerstört das
sich ihm in den Weg stellende andere Gewebe, welches an der Grenze gegen das
Carcinom in entzündlicher lteaction sich befindet. Dieselben Merkmale zeigen die
Metastasen, für deren Entstehung ausser der Verschleppung keimfähigen Materials
auch das Verhalten des Gewebes an dem betreffenden Orte wichtig ist, so ist das
Carcinom in Leber und Lymphdrüsen sehr häufig, dagegen in. der Milz sehr selten.
Es wurden auch verschiedene Krebse an demselben Individuum beobachtet, in
welchemFalle dann der eine nicht dieMetastase des anderen sein kann, so berichtet
0. Israel 3 ) über ein gleichzeitiges Carcinom der Gallenblase mit wesentlich cy-
lindrischen Zellen und ein die an diesem Organ ungewöhnlichen Erscheinungen
des Cancroids aufweisendes Carcinom dos Pankreas an demselben Individuum.
Zuzugeben ist übrigens, dass aus einer einfachen atypischen Epithel¬
wucherung in Folge mechanischer und chemischer Insulte ein Carcinom entstehen
kann 4 ).
Hierher gehören die Uebergangsstufen des Adenoms, Adeno-Carcinoms,
Adeno-Sarcoms und des Alveolarsarcoms, welches vom Carcinom gar nicht zu
trennen ist.
Ueber die Aetiologio des Carcinoms ist eine sehr umfangreiche Literatur vor¬
handen, so dass es nicht möglich ist, alles zu berücksichtigen.
Cohnheim 5 ) führt alle Geschwülste auf eine Persistenz embryonaler An¬
lagen zurürck, diese erhalten sich als Zellen oderZellenconglomerate in einem Zu¬
stande, welcher der zeilig-embryonalen Anlage des betreffenden Gewebes entspricht,
1) Handbuch der pathologischen Anatomie. 1869—76.
2) Ziegler, Lehrbuch der allgem. und spec. pathol. Anatomie. 6. Aull.
Jena 1889.
3) Berl. med. Gesellsch. 18. Dec. 1895.
4) Karpinski, Casuistische Beiträge zur Erörterung der Beziehungen zwi¬
schen Lupus und Carcinom. Inaug.-Diss. Greifswald 1891. (2 Fälle von Carci¬
nombildung in Lupusnarben.) — Ohloff, Ueber Epithelmetaplasien und Krebs¬
bildung an der Schleimhaut von Gallenblase und Trachea. Inaug.-Diss. Greifs¬
wald 1891.
5) Vorlesungen über allgemeine Pathologie. I. Berlin 1882.
Digitizeit by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Trauma und Carcinom.
65
diese Zellen haben an den Umbildungen, welche die Ausbildung des Gewebes mit
sich brachte, nicht Theil genommen.
Nimmt man die Cohnheim’sche Hypothese an, so kann nun die weitere
Entwickelung des Carcinoms aus den embryonalen Zellkeimen entweder von selbst
oder aus gewissen prädisponirenden Ursachen erfolgen.
Eis sind in dieser Richtung auch experimentelle Versuche gemacht worden,
welche aber misslangen. Sehr für Cohn heim spricht der Umstand, das Prädilec-
tionsstellen des Carcinoms die Orte sind, wo Einstülpungen des äussern Keim¬
blattes sich befinden oder wo das äussere Keimblatt mit einen anderen zusammen-
trifft; da kommt es leicht zu Unregelmässigkeiten und Abschnürungen eines Epithel¬
haufens. So erklärt sich wohl in den meisten Fällen das Adenocarcinom bei
i
jugendlichen Personen.
Ribbert 1 ) sucht das wesentliche nicht in dem embryonalen Character der
Zellen, sondern in der Losrcissung der Zellen aus ihrem natürlichen Zusammen¬
hänge.
In ihrem organischen Zusammenhänge fügt sich die Epithelzelle in das
Ganze ein, aus ihm losgelöst wächst sie in’s Unbegrenzte. Die Epithelzelle muss,
soll sie Epithelzelle bleiben, die gewöhnliche Anordnung neben Epithelicn und
das gewöhnliche Verhältnis zu den anderen Geweben haben.
Nach demselben geht der Beginn der Carcinombildung gar nicht vorn Epithel
aus, sondern vom subepithelialen Bindegewebe, dessen Zellen wachsen zwischen
die Epithelzellen hinein und trennen sie aus ihrem organischen Zusammenhänge,
und erst in das zellen- und gefässreiche Bindegewebe verlagert, wuchern die
Epithelion weiter, von der Oberfläche sind sie abgeschnitten, sie wachsen in der
Richtung des geringsten Widerstandes weiter, in die Gewebsspalten, Lyraphbahnen
(daher die Verschleppung durch diese), Gefässe und Nerven entlang.
Aber Hauser 2 ) konnte im Anfangsstadium der Carcinombildung nicht
immer die Bildung eines subepithelialen Granulationsgewebes beobachten, er hält
auch die Absprengung der Zellen aus ihrem organischen Zusammenhänge nicht
für massgebend, und sieht dies bewiesen durch die selbstständige carcinomatöse
Entzündung der Epithelien bei Prüsencarcinomen der Mamma und beim Magen¬
krebs, hier kann man die Membrana propria erhalten sehen.
Jedenfalls ist der Cohnheim’schen Theorie keine allgemeine Giltigkeit
beizumessen, während sie für manche Geschwülste (Dermoide, Rhabdomyomc) zu¬
zutreffen scheint.
Die Histogenese des Carcinoms ist keine einheitliche, der Beginn kann so¬
wohl vom Epithel als vom Bindegewebe ausgehen, je nachdem die auslösende Ur¬
sache dieses oder jenes trifft. Dies wäre an und für sich verständlich, aber es
würde daraus doch nur immer eine atypische Anordnung resultiren, nicht eine
atypische, destruirende Wucherung, die Aenderung der Epithelzelle in ihrem mor¬
phologischen und biologischen Charakter 3 ) ist das Unerklärliche.
1) Deutsche med. Wochenschr. 1895. No. 1 u. ff.
2) Histogenese des Krebses. Virchow’s Archiv. 1894. No. 188. S. 482.
3) Hansemann, Studien über die Specificität, den Altruismus und die Ana¬
plasie der Zellen mit besonderer Berücksichtigung der Geschwülste. Berlin 1893.
Vierteljahrsschr. f. ger. Med. Dritte Folge. XIV. 1. 5
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Pr. Bor «rer,
Digitized by
06
Es lajz sehr nahe, die Ursaclm dieser Entartung der epithelialen Mutterzelle
in drin Einfluss von Bacterien zu suchen.
Schill 1 ) berichtete über den regelmässigen Befund von Doppelstäbchen
in carcinoniatösen und sarcomatösen Geweben, er rechnete sie zu den Fadenpilzen.
Seheur len 2 j beschrieb die erfolgreiche Züchtung des Carcinomerregers auf
Kartoffeln und Gelatineplatten, und demonstrirte einen sporenbildenden Bacillus
im 'Verein für innere Mediein in Berlin 3 ).
Petit 4 ) nimmt die Priorität derKntdeekung derCareinomerreger für Rappin
gegen Sehe ur len in Anspruch, er berichtet über die Impfung von Carcinomgc-
webe und Züchtung des Erregers daraus.
Weiter berichten über Krebsparasiten Adamkiewicz 5 ), d’Arcy Power 6 ),
Cattle Ctt. and .1. Miliar 7 ), M. Danzac 8 ), L. Pfeiffer 9 ), Soudake-
witsch 10 ), Foa 11 ), Korotneff 12 ) und Andere.
Darier 13 ) berichtete iiberSporozoen als Krebserreger, gleichzeitig Thoma 14 )
über parasitäre Organismen in den Kernen der Epithelzellen des Careinoms. Feber
die ätiologische Bedeutung dieser intracellularen Einschlüsse ist viel hin und her
gestritten worden, die einen hielten sie für Sporozoen, die anderen für Degenera¬
tionserscheinungen der Zellen und Zellkerne.
Adler 15 ) berichtet bereits von 84 Abhandlungen über die parasitäre Natur
der Zelleinschlüsse besonders bei Careinomen.
II. Grasset 16 ) recapitulirt die Miltheilungen der letzten 6 Jahre, und kommt
zu dem Schluss, dass irgend welch’ positiver Beweis für die parasitäre Natur des
Krebses nicht erbracht sei.
1) Berl. klm. Wochenschr. 1887. S. 1034.
2) Deutsche med. Wochenschr. 1887. No. 48.
3) Berl. klin. Wochenschr. 1887. S. 935.
4) Le microhe du cancer. L’union med. No. lf)2. 1887.
5) Weitere Beobachtungen über die bösartigen Geschwülste. Wiener med.
Blätter. 1891. No. 4, 12, 30, und Wiener Sitzungsberichte. 1891. No. 5 u. 7.
Fntersuchungen über den Krebs und das Prineip seiner Behandlung. Wien 1893.
6) Some effects of chronic irritation upon living tissues etc. Brit. med.Journ.
1893. X.
7) On certain gregarinidae and the possiblc connexion etc. The Lancet.
1894. XL
8) Cancer et psorospermies. Gaz. hebdorn. de mtfd. et de Chirurg. 1893.
No. 42.
9) Untersuchungen über den Krebs. Jena 1893.
10) Annales de Pinstitnt Pasteur. 1892. No. 8.
11) Centralbl. f. Bacteriol. u. Parasitenkunde. 1892. XII. 6, und II Poli-
clinico. 1894.
12) Untersuchungen über den Parasitismus des Careinoms. Berlin 1893.
13) Soc. de biol. de Paris. Avril 1889.
14) Fortschr. d. Mediein. 1889. No. 11.
15) American Journ. January 1894.
10) Gaz. d'höpiteanx. 1894. VIII. Le parasitisme dans le cancer.
Gck igle
Original from
UMIVERSITY OF IOWA
Trauma und Carcinom.
67
Francesco Sani'clicc 1 ) und unter ihm Binaghi 2 ) kommen zu dem
Schlüsse, dass Blastomyceten die wahren specifischen Erreger der Epitheliome
sind. Ersterer erklärt die Thatsache, dass die in don bösartigen Geschwülsten von
Vielen entdeckten Formen mehr zu den Coccidien als zu den Blastomyceten ge¬
rechnet wurden, dadurch, dass man eben gar nicht wusste, dass es pathogene
Blastomyceten giebt, alle Beobachter hätten die wahren Parasiten der bösartigen
Geschwülste gesehen, aber bei der Einreihung derselben in das Reich dor Orga¬
nismen lrrthümer begangen. Er ist der Ueberzeugung, dass man aus den bös¬
artigen Geschwülsten des Menschen wird viele Bastomyceten isoliren können,
welche, Thieren, die fähig sind, ebenfalls bösartige Geschwüre zu bekommen, ein¬
geimpft, ohne Wirkung sein werden, man muss erst empfängliche und prädispo-
nirte Thiere finden.
In den Arbeiten der beiden Autoren ist die einschlägige Literatur ausführ¬
lich verwerthct.
Aehnliche Befunde wie Sanfelice erhoben Roncali 3 ), Albarran 4 ),
Bussell 5 ), Kahane 6 ), Aievoli 7 ) und viele Andere, welche nicht alle hier an¬
geführt werden können.
Jenen Umstand, dass verschieden geformte Zelleinschlüsse beobachtet worden
sind, versucht Sawtschenko 8 ) zu erklären, er behauptet, dass es möglich sei,
einen ununterbrochen fortlaufenden Zusammenhang zwischen den einzelnen ge¬
fundenen Formen festzustellen.
Der endgültige Beweis, dass die als Sporozoen beschriebenen Gebilde Para¬
siten sind, fehlt; sie sind wahrscheinlich Zellen wie andere Zellen, und wonn die
Farbenreactionen andere sind als bei lebenden Zellen, so ist der Grund dafür viel¬
leicht der, dass sie todt sind.
Die angeblich beobachteten Lebenserscheinungen (analog den Malaria-Plas¬
modien) der fraglichen Carcinom-Parasiten sind noch nicht sicher festgestellt. Ein
Beweis durch Isolirung und Uebertragung von Reinkulturen ist bis jetzt nicht er¬
bracht, wie das übrigens bei den Plasmodien der Malaria auch noch nicht erwiesen
ist und überhaupt bei den Coccidien sehr schwer zu sein scheint. Eine Ueber-
tragbarkeit ist ja allerdings erwiesen, aber nur als Autoinoculation schon vordem
1) Ueber die pathogene Wirkung der Blastomyceten. 3 Abhandlungen. Zeit¬
schrift f. Hygiene u. Infectionskrankh. XXI. 1, 3. XXII. 1.
2) Ueber das Vorkommen von Blastomyceten in don Epitheliomen und ihre
parasitäre Bedeutung. Ebenda. XXIII. 2.
3) Sopra particolari parassiti rinvenuti in un adenocarcinoma (papilloma
infettante) della ghiandola ovarica. II Policlinico. 1895.
4) Sur les tumeures epitheliales contenant des psorospermies. Compt. rend.
de la Soc. de Biolog. 1889.
5) An address on a characteristic organism of cancer. Brit. med. Journ. 1890.
6 ) Prösence d’une levure dans les cancers. La Semaine Müd. 1895.
7) Osservazioni preliminari sulla presenza dei blastomiceti nei neoplasmi.
11 Policlinico. 1895.
8) Im 4. Heft der Bibliotheca medica. Abth. D, 11. Dermatologie und Sy-
philidologie. H. 1—5. Von Neisser. Cassel 1894/95.
5*
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
68
Dr. Berger,
Carcinomkranker, und auch diese Beobachtung erstreckt sich nur auf einzelne Fälle
von Mensch zu Mensch oder von Thier zu Thier derselben Species (Hund 1 ), Hatte,
Maus). Zu einem verneinenden Resultat bezüglich der Krebsparasiten gelangt
auch Giuseppe Pianesc 2 ).
Die Entstehung multipler C'arcinome an demselben Menschen ist beobachtet
worden durch Contact oder Autoinoculation, so wird berichtet von IJebertragungen
von der Unterlippe auf die Oberlippe 3 ), von einer Schamlippe auf die andere 4 ),
vom Handrücken auf den Augenwinkel durch häufiges Wischen 5 ), von den oberen
Luft- oder Verdauungswegen auf die tieferen Theile.
Es sind ferner Uebertragungen eines Carcinoma mammae auf die andere
Mamma durch Implantation beobachtet, endlich Impfcarcinome bei Operationen
durch Instrumente oder Hände. Als Ausnahme ist das Zusammentreffen von Pcnis-
carcinom und Uteruscarcinom bei einem Ehepaar zu betrachten.
Soviel ist sicher, dass das Carcinom nicht contagiös im gewöhnlichen Sinne
ist; wenn der Träger eines Carcinoms selbst sich erfolgreich impfen kann, so be¬
weist das nur, dass eine besondere Disposition nothwendig ist, wie sie eben der
Krebskranke selbst hat. Bewiesen wird nur die erfolgreiche Gewebstransplantation,
die parasitäre Natur des Krebses ist jedenfalls bisher nicht klargestellt.
Sehr gegen die mikroparasitäre Ursache des Krebses spricht der Umstand,
dass alle durch Spaltpilze erzeugten Neubildungen histologisch als Granulations¬
gewebe sich dokumentiren, während in den Metastasen des Krebses die epithelialen
Zellen des primären Krebses sich finden, unerklärlich bleibt nur die Aendcrung
in dem Charakter der Epithelialzellen.
Bei dieser Unklarheit über die eigentliche Ursache des Carcinoms liegt heut¬
zutage das Hauptgewicht in den prädisponirendon, auslösenden Momenten und
da scheint denn Einigkeit darüber zu herrschen, dass den traumatischen Einwir¬
kungen eine grosse Bedeutung beizumessen ist.
Cohn heim behauptet, anschliessend an seine Hypothese, weiter, dass Trau-’,
men wohl eine gutartige in eine bösartige Geschwulst umwandeln, aber an siel*
keine Geschwulst erzeugen können.
Billroth 6 ) glaubt nicht, dass mechanische und chemische Einwirkungen
für die lokale Disposition massgebend sind, dazu gehört seiner Ansicht nach vor
allen Dingen eine specilische Disposition des Individuums.
1) Geissler, Verhandl. der Deutschen Gesellsch. f. Chirurgie. 24. Congr.
Berlin, 17.—20. April 1895.
2) Beitrag zur Histologie und Aetiologie des Carcinoms. 1. Supplementheft
der Beiträge zur pathol. Anatomie von Ziegler. Jena 1894.
3) v. Bergmann, Vorstellung eines Falles von Carcinom der Ober- und
Unterlippe. Berl. klin. Wochenschr. 1887. No. 47.
4) Hamburger, Contactinfection in der Vulva. Hospitalstid. 1892. S. 81.
5) M. Lejard, Sur une variet6 d’epithöliome de la levre parasitaire. Arch.
gen. de med. 1885, Avril.
6) Allgemeine chirurgische Pathologie und Therapie. Berlin 1887. — Die
Krankheiten der Brustdrüse. Deutsche Chirurgie von Billroth und Lücke.
1886.
Digitizeit by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Trauma und Carcinom.
(!!»
Marly 1 ) construirt einen Zusammenhang zwischen Trauma und Diathese
er glaubt, dass Traumen schlummernde Diatliesen manifestiren können.
Auch Lücke 2 ) hält die allgemeine Disposition für das wichtigste, giebt
aber doch lokale Reize, Verletzungen, als Gelegenheitsursachen zu.
V irchow 3 ) nimmt eine Prädisposition des Ortes an, an dem sich die Ge¬
schwulst entwickelt, während er den allgemeinen Zustand des Körpers nur für ein
seeundäres Verstärkungsmoment hält. Er weist auf den Zusammenhang der Neo¬
plasmen mit äusseren Reizen hin.
Die örtlichen Störungen, welche bei Neoplasmen in Betracht kommen, sind
erbliche oder erworbene, durch Krankheiten oder Insulte. Letztere können ein¬
malige sein oder andauernde mechanische oder chemische Reize oder pathologische
Processe, wie Entzündungen, Ulcerationen, welche aber ihrerseits wieder durch
ein Trauma hervorgerufen sein können.
Sehen wir uns daraufhin erst die Statistik über das Trauma als Ursache des
Carcinoms etwas genauer an.
Löwenthal 4 ) führt eine Statistik von Billroth an, nach welcher von
S00 Geschwülsten 358 oder 44,7 pCt. Carcinome waren, von diesen betrafen
D>*> Männer, 188 Weiber (1 unbestimmt).
Nach den befallenen Körperstellen vertheil teil sich folgcndermassen
Kopf .
die Geschwülste
im Allgemeinen
.... 93
die Carcinome
16
Gesicht .
134
103
Hals .
12
1
Brust.
198
152
Rücken .
12
9
Bauch
35
8
Harnorgane
20
15
Genitalien
• • • .
42
17
Extremitäten
( obere
90
18
l untere .
Am meisten befallen also waren
die Brust .
162
. in 152 Fälle
26
n.
das Gesicht . . „ 103
die Extremitäten . „ 44
Das Alter der Kranken betrug
bei allen Geschwülsten bei Carcinom
unter 1 Jahr 1 _
1—10 Jahre 28 4
1 ) Contribution ä l’ötude de l’influence des aflections cardiaques sur le trau-
matisme. Inaug.-Diss. Paris 1877.
2) Die Lehre von den Geschwülsten. Ifandb. der allgem. u. spec. Chirurgie
von v. Pitha und Billroth.
3) Die krankhaften Geschwülste. Bd. 1 . S. 82, 68 . Bd. HI.
4) Leber traumatische Entstehung der Geschwülste. Archiv f klin Chir
1894. Bd. 49. H. 1 u. 2.
□ igitized by Google
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
70
Dr. Berger,
bei allen Geschwülsten
bei Carcinom
11—20 Jahre
93
3
21—30 „
92
8
31-40 „
109
38
41-50 „
158
92
51-60 „
149
106
61-70 „
94
72
71—80 „
23
16
81—90 „
3
3
unbestimmt
50
16
Also sowohl bei den Geschwülsten im Allgemeinen als bei den Carcinomen
im Specicllcn wurden am häufigsten befallen Brust, Gesicht und Extremitäten.
Bei den Carcinomen liefert das 6. Decennium die meisten Fälle, bei den Ge¬
schwülsten im Allgemeinen das 5. Decennium, doch ist der Unterschied nicht be¬
deutend, das 5. und 6. Decennium zusammen liefern beim Carcinom über die
Hälfte aller Fälle.
Liebe 1 ) berechnete nach Krankengeschichten der Strassburger chirurgischen
Klinik von Mai 1872 bis Mai 1881
von 343 Geschwülsten auf ein Trauma zuriickführbar 37 = 10,8 pCt.,
„ 221 Carcinomen „ „ „ „ 22 = 10 „
Wolff 2 ) konnte
von 574 Geschwülsten 82 = 14,3 pCt. auf ein Trauma,
„ 344 Carcinomen 42 = 12,2 ,, ,, ,. „ zurück führen.
Von diesen 344 Carcinomen betrafen
108 die Brustdrüse,
57 die Unterlippe,
92 das Gesicht,
22 die Zunge,
7 den Hals,
5 den Hoden,
11 den Penis,
3 die äusseren weiblichen Gcschlechtstheile,
11 den Uterus,
20 das Rectum,
3 den Rumpf,
5 die Extremitäten.
Nach Snow 3 ) liess sich eine traumatische Ursache des Carcinonis in
22,37 pCt. der Fälle nachweisen.
Ziegler 4 ) berichtet über 328 Carcinome, davon betrafen 117 Männer,
1) nach Löwenthal, I. c.
2) Zur Entstehung von Geschwülsten nach traumatischen Einwirkungen.
Inaug.-Diss. Berlin 1874.
3) The ctiology of cancer. Statistiks and Remarks. Lancet 1SS0. Dec. 25.
4) Ueber die Beziehungen der Traumen zu den malignen Geschwülsten.
Münchener med. Wochensohr. 1895. No. 27, 28.
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
Trauma und Carcinom.
71
211 Frauen. 55 — 17 pCt. Hessen sieh auf.ein einmaliges Trauma, — 2SpCt.
auf chronische Reizzustände ursächlich zurückführen.
Unter 170 Carcinomen der Mamma Hessen sieh .‘57 = 22 pCt.,
„ 44 Lippencarcinomen 5 = 11,3 pCt.,
„ 37 Carcinomen der Kopfhaut 8 = 22 pCt.,
„ 46 „ „ Mundhöhle 4 = 8,7 p( t.,
„ 9 „ des Penis 1 = 11 pCt.,
,, 9 primären Extremitäten-Carcinomen und unter 12 Carcinomen des
Oesophagus keine auf ein einmaliges Trauma zurückführen.
Es ist nun weiterhin klar, dass man die Carcinome nach ihrer Lokalisation
wird verfolgen müssen, um auf die Bedeutung des Traumas als ursächlichen Mo¬
mentes einen Schluss machen zu können.
Ein besonderes Interesse hat von jeher der Krebs der Unterlippe in An¬
spruch genommen. Die Unterlippe ist den mannigfachsten Insulten ausgesetzt,
ganz besonders wurde das Rauchen der Pfeife für die Entstehung des Carcinoms
verantwortlich gemacht.
Warren 1 ) führt an, dass auf 73 an Lippenkreps erkrankte Männer 4 Frauen
kamen, von denen 3 rauchten. Thiersch macht das Eindringen des Tabaksaftes
durch feine Risse der Lippe verantwortlich. Führer hält für die Ursache das
Rasiren besonders bei starkem Bartwuchs, wenn es selten geschieht und daher
mechanisch insultirt.
Langenbeck 2 ) sieht die Ursache in dem Reiz scharfer, gegen den Lippen¬
rand gerichteter Zahne, in dem Halten der Tabakspfeife an einer Lippe ohne
Unterstützung, in dem Abreissen der Epidermis bei spröden Lippen, in der Ge¬
wohnheit sich auf die Lippe zu beissen, sie zu drücken u. s. w.
Wolff 3 ) hält den Druck der Pfeife für das wesentliche, da der Mundwinkel
zuerst ergriffen zu werden pflegt, an dem die Pfeife gewöhnlich gehalten wird,
das ist der linke. In seiner Tabelle bezieht er von 57 Fällen .‘50 pCt. auf ein
Trauma.
Billroth 4 ) führt unter 23 Carcinomen der Unterlippe 5 auf ein Trauma
zurück, einmal war eine Verletzung durch einen Holzsplitter vorausgegangen, ein¬
mal Verbrennung mit heissem Kaffee, einmal Verbrennung mit heissem Essen,
einmal ein Schnitt mit einem Rasirmesser, einmal Reizung durch Zahnstümpfc.
Tillmanns 5 ) führt die Wirkung des Tabaks auf brenzliche aromatische
Stoffe zurück, wie sie auch bei Arbeitern in Theer-, ltuss- und Paraflinfabriken
in Betracht kommen.
1) Birch-Hirschfeld, Artikel Carcinom in Eulenburg’s Real-Encyklopäd.
der ges. Heilk. 1885.
2) Nosologie und Therapie der chirurgischen Krankheiten. Güttingen 1840.
3) 1. c.
4) In B. v. Langcnbcck's Archiv. Bd. 10. — Billroth, Chirurgische Er¬
fahrungen. Zürich.
5) Ueher Theer-, Kuss- und Tabakskrebs. Deutsche Zeitsehr. f. Chirurgie.
1881. XIII. S. 519.
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
72
Dr. Berger,
Wörncr 1 ) hält das Rauchen der Pfeile an sich nicht für wichtig, wohl aber
spricht er kleinen unmerklichen Verletzungen eine grosse Rolle zu.
Dass das Tabakkauen selbst bei jugendlichen Individuen Carcinom der
Wangenschleimhaut und des Zahnfleisches hervorrufen kann, theilte v. Esmarch 2 )
mit. Für das Zungcncarcinom schätzt Wolff das Trauma für ätiologisch mass¬
gebend in 30 pCt. der Fälle, doch sind seine Zahlen hierfür sehr klein, 3mal
ging Reizung durch stumpfe Zähne vorher, einmal Biss in die Zunge.
Langenbcck 3 ) sagt: „Die Zunge ist von harten, hufeisenförmigen Rändern,
von den Zähnen eingeschlossen, ihre Function bringt es mit sich, Speisen zu zer¬
drücken, sie zwischen die Zähne zu schieben, Überreste der Speisen, die zwischen
den Zähnen stecken, mit ihrer Spitze hinauszuschieben. Bei jeder Seitwärtsbe¬
wegung tritt sie sofort mit den Zähnen in Berührung, sind diese schadhaft, scharf,
hohl, irregulär oder vom Weinstein incrustirt, so stösst die Zunge auf scharfe
Gegenstände. Auch ist die Zunge der Vorposten des Magens und wird von
manchen scharfen Ingcstis irritirt.
Sachse 4 ) giebt an, dass unter 245 Zungencarcinomkranken 230 Männer
gewesen seien. Für massgebend werden angesehen der Tabak- und Alkohol¬
genuss, Reizung durch scharfe Zahnstümpfe, Gewebsveränderungen infolge Ver¬
letzungen oder Lues.
Bottini 5 ) fand fast alle Zungencarcinome bei Rauchern und Tabakkauern.
Er hält den Tabak in Naturform für unschädlich (daher die Seltenheit des Car-
cinoms in Afrika und im Orient,) erst die zur Veredelung angewendete Beize
mache ihn schädlich, das wirksame seien dieselben Stoffe, wie im Theer und Russ
(kohlensaures und essigsaures Ammoniak, Essigsäure, Carbolsäure).
Wolff führt mehrere traumatische Krebse des Gesichts an, in dem einen
Falle war die Genese folgende, Steinwurf gegen die linke Backe, Blutung, Schorf,
Kratzwunde, Krebs. In einem anderen Falle entstand ein Carcinom nach einem
Schlag auf die Nase in Gestalt eines Polypen in der Nase. Ein Krebs des unteren
Augenlides entstand bei einem Manne, dem ein Bund Roggenstroh in der Ernte
aus Versehen ins Gesicht geworfen worden war, ferner ein Carcinom des Ober¬
kiefers nach einem starken Stoss zwischen die Augenbrauen. Die Zwischenzeit
seit dem Trauma schwankte von 9 Monaten bis zu 11 Jahren. In 108 Fällen von
Carcinoma mammae war nach Wolff lßmal ein Trauma vorhergegangen. In dem
einen Falle entwickelte sich im Februar ein Carcinom, nachdem im December vor¬
her eine Kuh die betreffende Stelle erst durch einen Fussschlag und dann durch
einen Hornstoss verletzt hatte; ein anderes Mal bezog eine Patientin ein Carcinom
auf eine vor 5 Jahren erlittene Verletzung, es war ihr ein Fischbeinstab in die
Brust gedrungen und abgebrochen, nach Extraction desselben entstand eine Ent¬
zündung, die Behandlung mit Aetzungen u. s. w. hinderte nicht die Entstehung
1) Ueber die Endresultate der Operation des Lippenkrebses. Bruns, Bei
träge zur klin. Chirurgie. 1887. II.
2) III. C’ongress der Deutschen Goselisch, f. Chirurgie. 1874. I. S. 6.
3) 1. c.
4) Archiv f. klin. Chirurgie. Bd. 45. H. 4.
5) Clinica chirurgica. 1894. No. 1.
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Trauma und Careinom.
73
eines Careinoms. Ob in diesem Falle dio Entzündung das massgebende war oder
die Misshandlung mit Aetzungen, Pilastern u. s. w., ist nicht zu entscheiden.
In anderen Fällen werden als Ursachen angegeben Druck beimBrodschneiden,
Quetschung, Stoss, Druck mit einem SchirmgrilT. Doch scheinen in allen Fällen
dem Trauma vorangehende Entzündungen oder Operationen nicht unwichtig ge¬
wesen zu sein.
König 1 ) hält eine locale Disposition der Gewebe für nöthig und sah das
Carcinom in directer örtlicher und zeitlicher Folge auf Traumen entstehen.
Auffallend ist, dass gerade die äussere obere Partie der Brustdrüse am
häufigsten befallen wird, diese ist gerade auch Traumen ausgesetzt. Den hervor¬
ragendsten Antheil stellen bei den Brustkrebsen die Frauen, die Männer sind nur
mit 1,5—2, im Durchschnitt 1,6 pCt. betheiligt, und von den Frauen gehören
ßS pCt. den arbeitenden Klassen an, welche auch Traumen häufiger ausgesetzt
sind. Dass dabei auch die geschlechtlichen Functionen in Frage kommen, erhellt
daraus, dass bei 81 pCt. der Befallenen diese vorhanden waren.
Auch bei Hündinnen, welche oft an Carcinom leiden, wird übrigens am
häufigsten die am meisten Insulten ausgesetzte hintere Mamma befallen.
Der Krebs des Scrotums (auch der Lippe) wird oft bei Schornsteinfegern,
Steinkohlenarbeitern beobachtet. Hier sind ebenfalls brenzliche und aromatische
Verbindungen das reizende, und auf dem Boden der chronischen Entzündungen
entwickelt sich dann der Krebs. Auch auf den Vorderarm sind die Wirkungen
der betreffenden Stoffe dieselben.
Ueber Krebs des Hodens berichtet Wolff infolge von Stoss und Schlag, die
Zwischenzeit von der Verletzung bis zur Entstehung der Geschwulst betrug in
dem einen Falle nur 3 Monate.
An Rumpf und Extremitäten fand v. Bergmann 2 ) unter 19 Carcinomen
9 mal Entstehung aus Verbrennungs- und Erfrierungsnarben, 4mal aus Geschwüren
und Fistelgängen, lmal aus einem Decubitus. Oft entstehen an Rumpf und Ex¬
tremitäten die Carcinome aus Warzen infolge localer Reizungen. Ueber dio Ent¬
stehung von Carcinomen in Narben berichten Pfannenstiehl 3 ) und Krün-
lei n 4 j.
Bemerkenswerth ist, dass an der unteren Extremität am häufigsten der Fuss
befallen wird, welcher am meisten Insulten ausgesetzt ist. Ich beobachtete 2 Car¬
cinome am Fuss nach Traumen, welche 3 bezw. 9 Monate vorher eingewirkt hatten.
Das Peniscarcinom wird fast ausschliesslich bei Phimose beobachtet, das
Zwischenglied scheinen auch hier chronische entzündliche Reizungen zu sein
( Frictionen, Verletzungen, Störungen in der Urinausleerung u. s. w.).
Das Gallenblasencarcinom fand sich nach H. Zenker 5 ) in 84,5 pCt. der
Fälle bei gleichzeitigem Vorhandensein von Gallensteinen, deren Wirksamkeit mit
dem Zwischenglied der chronischen Entzündung verständlich erscheint , auch aus
Narben der Gallenblase wurde die Entwicklung beobachtet.
1) Lehrb. d. spec. Chir. Bd. II. Berlin 1881.
2) Dorpat, med. Zeitschr. H. 1872.
3) Zeitschr. f. Geburtsh. u. Gynäkol. Bd. 28. H. 2.
4) Deutsche med. Wochenschr. 1895. No. 4. S. 62.
5) Deutsches Archiv f. klin. Med. Bd. 44.
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
74
Dr. Berger,
Digitized by
Blasenkrcbs findet sich gleichfalls häufig gleichzeitig mit Blascnsteinen.
Lungenkrebs (Lymphosarcom) wurde besonders bei den Arsenikarbeitern in
Schneeberg beobachtet. Ueber einen Lungenkrebs nach Fall eines Stück Eisens
auf den Thorax berichtet Georgi 1 ).
Das Carcinom der Speiseröhre wird vorwiegend beim männlichen Geschlecht
beobachtet (93,1 pC't.), und zwar ganz besonders bei Schnapstrinkern, auch hier
erzeugt der Schnaps zunächst Reizzustände (chronische Entzündung der Deck-
und Drüsenepithelien und des darunter liegenden Bindegewebes), auf deren Boden
sich das Carcinom entwickelt. Auch in Narben des Oesophagus wird Carcinom-
cntwicklung beobachtet. Dass der Branntweinconsum nicht ohne Bedeutung ist,
geht daraus herver, dass in manchen Ländern mit Zunahme desselben eine Steige¬
rung der Carcinomerkrankungen beobachtet worden ist.
Am Verdauungstractus entwickelt sich das Carcinom am häufigsten an den
Stellen, an welchen sich normal Verengerungen finden, wo also leicht Reizungen
und Verletzungen stattfinden können, das sind der Ein- und Ausgang des Magens,
die Flexura sigmoidea (Gegend des Sphincter tertius), Anus.
Im Magen speciell wurde die Entwicklung des Carcinoms in alten Geschwürs¬
narben beobachtet 2 ), vielleicht spielt auch der Schnaps bei dem Zustandekommen
eine Rolle.
Gockel 3 ) hält einen ätiologischen Zusammenhang zwischen Trauma und
Carcinom (auch der inneren Organe) für möglich; Carcinome einige Tage oder
Wochen nach Traumen an inneren Organen sind nicht traumatisch.
Für das.Rectumcarcinom macht Langenbcck verantwortlich den steten
Ausgang der Scybala, viel Sitzen, Reiten, Friction der Kleidung, Scheuern mit
den Fingern, Unreinlichkeit.
Allgemein wird die Entwicklung des Carcinoms nicht selten beobachtet in
alten lupösen und syphilitischen Herden.
Der Krebs des Uterus hat von jeher in ätiologischer Hinsicht ein grosses
Interesse in Anspruch genommen. Nach Simpson 4 ) starben während der Jahre
1847 bis 1861 in England 61715 Frauen und nur 25633 Männer an Carcinom,
und unter 19666 Frauen mit Carcinom starben 6548, also fast 1 /3 an Uteruscar-
cinom.
Dass der Geschlechtsgenuss ein die Entstehung des Carcinoms begünstigen¬
der Factor ist, scheint aus der Statistik hervorzugehen. Nach Hofmeier 5 )
hatten von 812 Kranken 39=4,8 pCt. nicht geboren, und cs kamen auf jede
Kranke, die geboren hatte, durchschnittlich 5,02 Geburten.
Glatter 6 ) giebt folgende Statistik an:
1) Berl. klin. Wochenschr. 1879. No. 16.
2) Hauser, Das chronische Magengeschwür, sein Vcrnarbungsprocess und
dessen Beziehungen zur Entwickelung des Magencarcinoms. Leipzig 1883.
3) Ueber die traumatische Entstehung des Carcinoms mit besonderer Berück¬
sichtigung des Intestinaltractus. Archiv f. Verdauungskrankh. XXXI. 1897.
4) Sei. Obst. Works. Edinb. 1871.
5) Zeitsehr. f. Geburtsh. u. Gynäk. Bd. X. S. 269, und Bd. XIII.
6) Vierteljahrsschr. f. ölfentl. Gesundheitspfl. 1870. Bd. II. S. 161.
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Trauma und Careinom.
75
Es waren ledig, vcrhcirathel, verwiltwet.
Unter 1000 Wiener Frauen über 20 Jahr 450 408 133
Unter 1000 in Wien an Uteruskrebs verstorb. Frauen 229 503 208
Doch bemerkt hierzu Hofmeier 1 ) ,,0b sich diese Erfahrungen in der
Weise verwerthen lassen, dass man die Ursache einfach als traumatische Reizung
deutet, ist doch sehr zweifelhaft, wenn man bedenkt, dass die beschauliche Ruhe,
in der die Vaginalportion verharrt, auch bei der häufigsten Einwirkung: beim
Coitus und bei der Geburt nur relativ selten unterbrochen wird (Prostituirte haben
keineswegs besondere Neigung zum Uteruskrebs). Auffallend ist es allerdings,
dass das Ostium uterinum gleich den meisten anderen Ostien, wie den Lippen,
dem Pylorus, dem C'oecum, dem Mastdarm, so häufig an Carcinom erkrankt.“
H il d ebvandt 2 3 ) glaubt, dass das Carcinom der Portio vaginalis in weit über
die Hälfte der Fälle seinen Ausgang nimmt von einfachen Catarrhen, deren
Folgen Geschwüre und papilläre Wucherungen sind. Von andern Seiten
(Löwenthal und andern) wird auf die Häufigkeit von Neoplasmen aller Art ge¬
rade an den Genitalien Prostituirter hingewiesen, wie beispielsweise Elephantiasis
vulvae nach Traumen nicht selten ist (wie auch Elephantiasis cruris).
Zu beachten ist die Häufigkeit bösartiger Neubildungen an den äusseren Or¬
ganen, während an den geschützter liegenden inneren Organen (Ovarium) diese
im Allgemeinen seltener sind.
Und gerade die Organe werden am häufigsten befallen, welche häufigen In¬
sulten, sei es in Folge ihrer Lage, ihrer Einrichtung oder ihrer Function aus¬
gesetzt sind, wie die Haut, die Schleimhäute des Verdauungstractus von der Lippe
bis zum Anus, die Geschlechtsorgane, die Mammae; und characteristisch bei den
Männern am häufigsten Lippe, Zunge, Magen, bei den Frauen Uterus und Mamma,
also die Stellen, welche mit der Luft communiciren und häufigen Insulten aus¬
gesetzt sind.
Birch-Hirschfeld 8 ) stellt die Häufigkeitsscala auf: Uterus, Magen, Haut,
Mamma, Rectum, Speiseröhre, Genitalien.
Wir müssen nun weiter auf den näheren Zusammenhang zwischen Trauma
und Carcinom, welcher dem gesagten zufolge nicht wegzuleugnen sein dürfte,
eingehen.
Ist das Trauma an und für sich im Stande, Carcinom zu erzeugen? Bedenkt
man, dass jedes einzelne Individuum von zahlreichen Traumen getroffen wird,
dass trotzdem die Geschwülste eine verhältnissmässig seltene Erscheinung sind,
dass bisher noch keine Geschwulst sich durch ein Trauma hat experimentell er¬
zeugen lassen, so könnte man zu dem Schluss kommen, dass entweder das
Trauma ätiologisch für das Carcinom nicht in Betracht kommt, oder dass das
Trauma nur bei manchen Menschen Carcinom hervorzurufen im Stande ist, bei
den meisten jedoch nicht.
Die Beziehungen zwischen Trauma und Carcinom müssten also ganz be¬
stimmte sein, entweder müsste das Trauma von ganz bestimmter Art sein, oder
1) Schröder’s Handbuch der Krankh. d. weibl. Geschlechtsorgane. Leipzig
1889. S. 349.
2) Volkmann’s Samml. klin. Vortr. No. 32.
3) 1. c.
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
76
Dr. Borger,
das vom Trauma getroffene Individuum müsste ganz spezielle Verhältnisse dar¬
bieten.
Schröder van der Kolk 1 ) hält für das Zustandekommen von Geschwülsten
durch Traumen die Aufhebung des regulirenden Nerveneinflusses für nothwendig,
und suchte das experimentell an Kaninchen zu beweisen.
Bemerkenswerth ist die Ansicht Langenbeck’s 2 ), insofern sie die persön¬
liche Ueberzeugung über die Wirksamkeit des Traumas urtd den localen Sitz der
Krankheit in Einklang zu bringen sucht mit der alten Krasenlehre. Er glaubt
zwar nicht an das Vorhandensein einer primären Cacochymia cancrosa, wohl aber,
da alle Elementarstoffe im Blute vorhanden seien, an eine generelle Cacochymia,
und nimmt an, dass sich der Krebs in dem durch irgend eine Cacochymia vor¬
an hissten Oertlichen bilde.
Dass Billroth eine allgemeine Disposition für nothwendig hält, wurde
schon erwähnt, während Virchow eine ererbte oder erworbene örtliche Disposition
annimmt. Virchow 3 ) interpretirt den Sinn des Morgagni’sehen „Sedes morbi u
dahin, es giebt keinen kranken Körper, das Kranke ist nur ein Theil des Körpers.
Ob durch die verschiedenen Traumen verschiedene Geschwülste erzeugt
werden können, ist eine unentschiedene, wahrscheinlich aber zu verneinende
Frage.
Dass am häufigsten aufTraumen, nicht auf ein einmaliges stärkeres Trauma,
sondern mehr auf eine Contusion (Fall Stoss, Schlag, Wurf) von den Geschwülsten
das Sarcom zurückzuführen ist, ist schon lange bekannt, ganz ebenso waren die
Traumen, auf welche man das Carcinom zurückführt; dass also gewissen Traumen
eine specielle ätiologische Wichtigkeit hinsichtlich des Carcinoms zukommt, ist
wohl mit Bestimmtheit zu verneinen, das Trauma ist nur ganz allgemein mit den
Geschwülsten überhaupt in Beziehung zu bringen.
Zur Beantwortung der Frage, warum im einzelnen Falle auf ein Trauma eine
einfache Entzündung, im andern eine Geschwulst folgt, erscheint die Cohnheim-
sche Theorie sehr annehmbar, nach ihr entstände eine Geschwulst nur dann, wenn
ein Trauma ein in der Anlage abnormes Gewebe trifft, das Trauma wäre also
accidentell, Gelegenheitsursache, welche an dem Ort der Geschwulstanlage eine
Hyperämie erzeugt und so die Entwicklung der Geschwulst fördert.
Maas 4 ) geht in dieser örtlichen Disposition der Gewebe noch einen Schritt
weiter und hält örtlich überhaupt von der Norm abweichenden Zellen für mass¬
gebend.
Velpeau und Verneuil 5 ) halten eine dirccte Umwandlung der durch das
Trauma erzeugten, die Umgebung reizenden Blutergüsse in Geschwülste für
möglich.
1) bei Löwenthal, 1. c.
2) 1. c.
3) Morgagni und der anatomische Gedanke. Vortrag am 30. März 1894 auf
dem XI. intern, med. Congress in Rom.
4) II. Maas, Zur Aotiologie der Geschwülste. Berliner klin. Wochenschr.
1880. No. 47.
5) bei Löwenthal, 1. c.
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Trauma und Carcinom.
77
R. Bar well 1 2 ) glaubt, dass nach manchen Traumen statt der gewöhnlichen
Keaction eine excessive krankhafte Hyperplasie zclliger Elemente folge, dass also
il^rn betreffenden Gewebe eine krankhafte Neigung, eine acute traumatische Ma¬
lignität, innewohnen müsse.
Im Allgemeinen werden aut einmalige Traumen und chronische entzündliche
Heizungen vielfach Geschwülste beobachtet, so nach Verletzungen Keloidc, nach
Amputationen Neuroine, nach Knochenfracturen Osteome [nach Heizen Elephan¬
tiasis-)], und Virchow berichtet über zahlreiche Fälle, in denen eine Geschwulst
einem einmaligen Trauma oder wiederholten Heizen und Entzündungen folgte.
Ebenso äussert sich Nasse 3 ).
Von manchen Seiten wurde behauptet, dass das Trauma den Kranken ledig¬
lich auf das schon vorher bestehende Leiden aufmerksam mache, doch scheinen
dem zahlreiche thatsächliehe Beobachtungen zu widersprechen, übrigens würde
auch in solchen Fällen dem Trauma, wenn kein ursächlicher, so doch vielleicht
ein die Entwicklung fördernder Einfluss zuzuschreiben sein. Speciell nun das
farcinom anlangend, sollen nach Ribbert 4 ) besonders chronische entzündliche
Heizungen der verschiedensten Art geeignet sein, ein regelloses Durcheinander¬
wachsen von Epithel und Bindegewebe zu bewirken. Derselben Ansicht ist Schu-
c har dt 5 ).
Ebenso giebt Kuhn 6 ) an, dass der Krebs gern in blutreichen Organen nach
Oontusionen auftrete. Adelmann 7 ) beobachtete, dass ein unvorsichtiger Stich
oder Stoss das Krebsiibel, dessen eigentliche Ursache verborgen sei, sehr ver¬
schlimmerte.
Carmichael 8 ) sagt, localer Krebs entsteht infolge andauernder Gewalt oder
Heizung, so entsteht er durch Druck des Schuhwerks auf die Füsse, durch schlecht
behandelte Bubonen nach Monaten, bei Bauern häufig durch die Gewohnheit, eine
kurze und folglich sehr heisse Pfeife im Munde zu halten, trotz Jugend und Ge¬
sundheil, desgleichen durch gereizte Blüthchen und Warzen. Ausserdem entsteht
das Carcinom häufig in Organen, welche aufhören, ihrer Function vorzustellen,
wie in Uterus und Mamma, auch bei jugendlichen Personen (21 und 14 Jahre).
Nach Löwenthal folgte das Carcinom der Mamma der Frau dem Trauma
1) Brit. med. Journ. 1882, Febr. Schmidt’s Jahrb. Bd. 195. S. 247.
2) cf. S. 75.
3) Das Sarcom der langen Extremitätonknochen. Archiv f. klin. Chirurgie.
Bd. 39. 1889. S. 886.
4) 1. c.
5) Beiträge zur Entstehung des Carcinoms aus chronisch-entzündlichen Zu¬
ständen der Schleimhäute und Hautdecken, v. Volkmann’s Samml. klin. Vortr.
No. 257.
6) Gaz. de Paris. 1861. 17, 25, 26.
7) Günzb. Zeitschr. 1858, 1859. Bd. IX., X. Schmidt’s Jahrb. Bd. 105.
S. 206.
8) An Essay on the origin and nature of Tuberculous and Cancerous di¬
seases. Read to the medical section of the British Assoc. on the 23. of VIII. 1836.
Schmidt’s Jahrb. Bd. 23. S. 376.
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
78
Dr. Berger,
Digitizer! by
sofort
1 mal,
innerhalb 8 Tagen
i „
nach 3 Wochen
i „
„ 1 Monat bis 1 Jahr 28 „
„ 1—5 Jahren
10 „
es schloss sich entweder an eine Wunde an, die nicht heilte, oder war die Folge
von Schlag, Stoss, Druck.
Bei den Brustcarcinomen der Männer betrug in 9 Fällen die Zwischenzeit
zwischen Trauma und Geschwulstbildung weniger als 1 Jahr, Inaal entwickelte
sich ein Carcinom infolge wiederholten Traumas an demselben Orte.
Als vermittelnd zwischen Trauma und Carcinom nehmen Viele ein Blut¬
extravasat an. Löwenthal kommt zu dem Schluss, dass ein Carcinom im An¬
schluss an einmalige Traumen beobachtet sei, dass es aber häufiger nach chro¬
nischen Entzündungen (Geschwüren, Narben, anderen Neubildungen) sich einstelle.
Waldeyer fand denn auch häufig in der Umgebung des Krebses entzündliche
Veränderungen, welche einen irritativen Ursprung des Carcinoms wahrscheinlich
machen.
Tillmanns sagt auch, die eigentliche Ursache des Carcinoms ist dunkel,
bezüglich der prädisponirenden Momente aber herrscht Einigkeit, prädisponirend
wirken länger dauernde traumatische (mechanische und chemische) Insulte.
Als ferneres sehr wichtiges prädisponirendes Moment ist das Alter anzusehen.
Ist auch bei jugendlichen Individuen das Carcinom beobachtet worden [Adenocarci-
nom 1 )], so ist dasselbe doch eine eigentliche Alterskrankheit. Das Carcinom be¬
fällt am häufigsten Personen im 5. und 6. Decennium, die grösste Sterblichkeit
an Carcinom besteht vom 55. bis zum 65. Lebensjahre, das Durchschnittsalter der
Kranken mit Carcinoma mammae beträgt 48 Jahre.
Im Alter atrophirt die Haut, das Stroma biisst an Widerstandsfähigkeit ein
(senile Involution), die Deck- und Drüsenepithelien zeigen vermehrte Wachsthums¬
energie; bei alten Leuten sieht man oft schildartig prominirende Borken [Sebor-
rhoea senilis 2 )], und häufig entwickelt sich das Carcinom aus gutartigen epithe¬
lialen Wucherungen (Papillomen). Nach Tillmanns 3 ) entstanden von 399 Haut-
carcinomen 182 aus Warzen. Dass diese Wucherungen besonders excessiv werden
können infolge örtlicher mechanischer und chemischer Reize, ist nicht zu verwun¬
dern, und eine genügend lange Einwirkung solcher Reize ist besonders der Ent¬
wicklung des Carcinoms forderlich, sind einmal Epithel und Bindegewebe in ent¬
zündliche Reizung versetzt, so ist die regellose Durcheinanderwucherung beider
nur der nächste Schritt.
Je mehr also Epithel und Bindegewebe schon normal in ein Missverhältniss
treten (Alter), je mehr und je länger beide gereizt werden, um so mehr ist die
Entwicklung des Carcinoms möglich.
Dass das Carcinom sich auf dem Boden chronisch-entzündlicher Processe
entwickelt, beweisen die Fälle, wo es sich in alten Tuberkulose- und Luesherden
1) conf. S. 65.
2) Schuchardt, Archiv f. klin. Chir. Bd. 43.
3) Lehrbuch der allgem. Chirurgie. 4. Aull.
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Trauma und Carcinom.
79
•■ntwickelt. oder in Narben oder aus gutartigen Gewebshyporplasien, das vermit¬
telnde ist immer eine länger dauernde mechanische oder chemische Heizung.
Bei allen diesen Processen ist das normale Nebeneinander von Epithel und
Stroma gestört.
Ganz vorwiegend wird das Careinom des Uterus und der Brüste bei Frauen,
welche geboren haben, beobachtet, hier sind infolge der abgelaufenen Graviditäten
und Laetationen Gewebsveränderungen, chronische entzündliche Processe, zurück¬
geblieben, welche ihrerseits dio Entwicklung des Carcinoms begünstigen.
Das Moment der Heredität ist beim Krebs noch nicht genügend geklärt,
wenn auch die Familie der Napoleoniden nicht allein dasteht. Sie wird zu er¬
klären sein als eine Vererbung im Bau und in den Functionen der einzelnen Organe
und Systeme des Körpers, als ererbte Disposition. Damit würde die von mir mehr¬
fach gemachte Beobachtung stimmen, dass wenn Carcinom in verschiedenen Gene¬
rationen auftritt, die jüngere Generation immer in einem jugendlicheren Alter er¬
krankt, als die ältere erkrankt war.
Lebert 1 ) berechnet die Heredität auf 10 pCt., dieselbe Zahl giebt neuer¬
dings Hägler 2 ) an.
Zum Theil ist das Carcinom Berufskrankheit, wie bei den Kuss-, Theer- und
Paraffinarbeitern.
Endlich sind nicht ohne Bedeutung sociale Einflüsse.
Die Ernährung und Lebensweise ist bestimmend für die allgemeine und
locale Constitution, ebenso sind die Schädigungen der Witterung von Einfluss auf
die derselben zunächst ausgesetzten Theile des Körpers und auf die nach aussen
communicirenden Organe.
Während jedoch die Einen behaupten, das Carcinom sei häufiger bei armen
Leuten als bei reichen, behaupten Andere das Gegentheil.
Auffallend ist die bedeutende Zunahme der Carcinomerkrankungcn in Europa,
speciell in England. Die relative Carcinomsterblichkeil ist jetzt 4mal so gross
wie vor 50 .Jahren.
1838 starben an Carcinom 2448, d. h. 160 auf 1 Mille der Bevölkerung,
1890 „ „ „ 19433, „ „ 676 „ 1 „ „
W.-Hoger Williams 3 ) giebt folgende Zahlen an: 1840 starben an Carci¬
nom 2786, d. h. 1 auf 5646 Einwohner oder 1 Todesfall auf 129, oder 177 auf
1 Million Todesfälle überhaupt; 1884 starben an Carcinom 21422, d. h. 1 auf
1403 Einwohner oder 1 Todesfall auf 23, oder 713 auf 1 Million Todesfälle
überhaupt.
Diese Zunahme führen Williams 4 ) und Spencer Wells 5 ) auf das Wachs-
Lj Physiol. path. 1845. II. — Traite prat. des maladies cancärcuses. 1851.
2) Ueber die Factoren der Widerstandskraft und die Vorhersage der Lebens¬
dauer beim gesunden Menschen. Bericht aus der medicin. Gcsellsch. zu Basel.
Corresp.-Bl. f. Schweizer Aerzte. 1896. No. 1.
3) Brit. med. Journ. 1896.
4) Med. chronicle. 1892, Nov. 1893, Febr., März (nach Tillmanns, Die
Aetiologie und Histogenese des Carcinoms).
5) Cancer and cancerous diseases. Brit. med. Journ. No. 1457/58 (nach
Tillmanns).
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UMIVERSITY OF IOWA
80
Dr. Borger,
tlmrn der Bevölkerung, die Besserung des nationalen Wohlstandes und der allge¬
meinen Lebensverhältnisse zurück. Auch für New York ist eine Zunahme er¬
wiesen 1 ).
Crieh ton Browne 2 ) macht ebenfalls das moderne Leben mit seinen gei¬
stigen und körperlichen Leberanstrengungen, seinem Mangel an vermittelnder Buhe
für die gesteigerte Mortalität im Alter und speciell für das häufigere Auftreten des
Carcinoms verantwortlich.
Zu bedenken ist auch bei der zahlenmässigen Zunahme der Krebserkrankun-
gen die verbesserte Diagnostik.
Parallel diesem Anwachsen derCarcinomsterblichkeit beobachteten VV illiams
und Churchill 3 ) eine Abnahme der tuberkulösen Erkrankungen.
Nach Williams kamen 1861 -—65 auf 1 Million Menschen 2526 Tuberkulöse
und Phthisische, 1886—8!) aber 1589, er lullt das für eine Folge der verbesserten
Lebensbedingungen, wonach also das Carcinom mehr bei guter Lebensweise auf-
treten würde, bei ihr wird überschüssiges Material zu atypischen Wucherungen
verwendet.
Bekanntlich glaubte schon Rokitansky, dass sich Krebs und Tuberkulose
ausscliliessen, aber das gemeinsame Vorkommen beider an demselben Individuum
ist nicht selten beobachtet worden, häufig wird es aus dem Grunde nicht sein,
weil beide Krankheiten zusammen das Individuum in kürzester Zeit vernichten
müssen, weil ferner die Tuberkulose meist in früheren Lebensjahren als das Car¬
cinom auftriit.
Andererseits weist Lcjard 4 ) auf die klinische, ätiologische und pathologisch¬
anatomische Verwandtschaft zwischen Tuberkulose und Carcinom hin, bei beiden
(nach seiner Meinung wie bei anderen Infectionskrankhciten, aus welchem Grunde
er eine bakterielle Ursache des Carcinoms für wahrscheinlich hält), werde die
Morbidität von Jahr zu Jahr grösser, und dieselbe sei in der Stadt doppelt so
gross als auf dem Lande.
Williams und van den Corput 5 ) führen die Zunahme des Carcinoms vor
allem auf die gesteigerte Fleischkost 6 ) zurück, daher sei auch das Carcinom bei
Vegetarianern und in den Tropen selten, ln der That erkranken ja die fleisch¬
fressenden Thiere, wie der Hund, häufiger an Carcinom als die pflanzenfressenden,
doch auch diese, wie das Pferd, erkranken, jedoch erst im Alter, dazu sind aber
noch weitere Studien nöthig, wie Till mann’s hervorhebt, über das Blut und die
Harnstoflausscheidung. Uebrigens kommen auch bei den Thieren in Betracht Alter,
Traumen, chronische Entzündungen. Engel 7 ) beobachtete einen Mcdullarkrebs
1) Barker, in Spencer Wells, Cancer and cancerous diseases.
2) Referat von Winkler, Aerztl. Rundschau. 1892. 20.
3) The increase of cancer in England and its cause. London 1888.
4) 1. c.
5) Centralbl. f. Chir. 1884. S. 171.
6) Diese wird allerdings nicht allgemein zugegeben. Ostertag giebt für
Berlin, München, Leipzig u. s. w. einen Rückgang des Fleisohconsums an. Zeit¬
schrift f. Fleisch- u. Milchhygiene. 1894.
7) Untersuchungen im Gebiet der comparativen pathologischen Anatomie.
Oesterr. med. Wochensohr. 1842. No. 12. Schmidt’s Jahrb. Bd. 35. S. 4L
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
Trauma und Carcinom.
81
beim Pfrrd, unmittelbar nach einem Stuss durch eine Wagenstange gegen den
Hinterkieler.
Im Gegensatz dazu halten Viele gerade schwächende Momente ätiologisch für
wichtig, wie Stoflwechsclerkrankungen, Nervenstörungen, Kummer, Sorgen, Tro-
j>lioneti rosen.
Welches nun auch die Genese des Carcihoms sei, entstelle es auf Grund einer
embryonalen Anlage oder einer Infection oder sonstwie, das dürfte feststehen, dass
•lein Trauma als prädisponirender Ursache eine gewisse Bedeutung für die Ent¬
stehung des Carcinoms beizumessen ist. Jedenfalls rechtfertigt es die Kasuistik,
auf einen innigeren Zusammenhang zwischen Trauma und Carcinom zu schliesscn,
und nicht vielmehr lediglich auf ein zufälliges Nacheinander, zumal wenn andere
Ursachen fehlen, und nach den bisherigen Anschauungen das Trauma geeignet
erscheint, eine derartige Wirkung auf die Kürperzellen auszuüben.
In einigen wenigen Fällen, in dönen sich die Entwicklung des Carcinoms
direct an ein Trauma anschliesst, wird man nicht anstehen, das Trauma als die
Ursache der Geschwulstbildung anzusehen, in der Mehrzahl der Fälle bildet das
Trauma eine prädisponirende Ursache.
Was Purgesz 1 ) von dem Zusammenhang zwischen croupüscr Pneumonie
und Trauma sagt, das gilt in gewissem Sinne auch für das Carcinom; das Trauma
«riebt nur die Gelegenheit ab, das Gleichgewicht des Körpers zu stören, gerade
wie z. B. auch die Erkältung nur in wenigen Fällen als directe Ursache einer
Pneumonie u. s. w. anzusehen ist, sondern nur als Gelegenheitsursache. Das
Trauma hat vielleicht äusscrlieh gar keine Läsion hervorgerufen, wohl aber eine
Lockerung im Gofügo der Zellen veranlasst, welche die normale Wachsthums-
energie ändert und so die Ursache einer Störung des Nebeneinander von Epithel
und Stroma geworden ist. Vielleicht auch hat das Trauma primär eine Circulations-
störung hervorgerufen, welche weitere Folgen in dem Wachsthum der Zellen nach
sich zieht.
Und diese Traumen sind weniger einmalige, schwere Verletzungen, bei diesen
ist die Reaction der afficirten Gewebe eine derartige, dass gewissennaassen keine
Zeit ist für das Epithel in der Richtung des geringsten Widerstandes sich zu ver¬
mehren, vielmehr sind es wiederholte leichte Traumen und Contusionen, welche
Blutergüsse setzen und die Ernährungsbedingungen der betreffenden Gewebe ändern
und so den Anfang einer chronischen Entzündung bilden.
Rindfleisch 2 ) meint, dass durch den Stoffwechsel in den Geweben fort¬
während Excretstoffe entstehen, welche sowohl aus den Organen, in denen sie ent¬
stehen, als aus der Säftemasse immer ausgeschieden werden müssen, wenn der
Lebensprocess des Individuums ungestört bleiben soll. Werden sie nicht umge-
wandelt oder ausgeschieden (wie z. B. in Folge einer Quetschung, Entzündung,
Blutergusses), so häufen sie sich zunächst local an, dringen dann in die Säfte¬
masse und sind die Ursache jener progressiven Processe, welche mit Kernvermeh¬
rung beginnen und mit der Bildung von Tuberkel-, Krebsknoten endigen.
Vielleicht sind es nach einem Trauma physikalische Vorgänge an der be-
1) Deutsches Archiv f. klin. Med. XXXV.
2) Lehrbuch der pathologischen Gewebelehre. Leipzig 188b.
Vierteljahrbschr. f. gcr. Med. Dritte Folge. XIV. 1. ß
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
82
Dr. Berffor,
tnMTendrn Stelle, welche die Knlstehung des t'arcinoms fördern, wie sie Litten 1 )
für die Pneumonie amiimnit.
Der Zusammenhang /wischen Trauma und Carcinom hat bei
unserer neuen Gesetzgebung eine grosse Wichtigkeit erlangt.
Durch einen Cnfall kann eine Verletzung, ein ganz neues Leiden
hervorgerufen werden oder ein schon vorhandenes Leiden verschlimmert
werden. Viele sind zwar der Meinung, dass ein Leiden in den meisten
Fällen nicht durch einen Cnfall hervorgerufen werde, das betreffende
Individuum sei vielmehr schon vorher nicht ganz gesund gewesen.
Dem ist entgegenzuhalten, dass ganz gesunde Arbeiter überhaupt eine
Seltenheit sind, dass von Seiten des Arbeitgebers auch kein Werth auf
die vollständige Gesundheit gelegt wird. Es handelt sieh nur darum,
der Mann war vorher arbeitsfähig und w'ird jetzt arbeitsunfähig, die
Folgen des Traumas sind also bei dem ganz gesunden und bei dem
nicht ganz gesunden Arbeiter dieselben.
Nach der Rceurs-Entschcidung vom 4. Februar 1887 des Reichs-
Versicherungsamtes ist es nicht erforderlich, dass die bei einem Un¬
fall erlittene Verletzung die alleinige Ursache der Erwerbsunfähigkeit
bildet, es genügt vielmehr, dass sie eine von mehreren dazu mit¬
wirkenden Ursachen ist. Der Anspruch besteht auch dann, wenn
durch ein schon bestehendes Leiden die Folgen der Verletzung ver¬
schlimmert und die Erwerbsunfähigkeit beschleunigt werden.
Eine Entschädigung ist nach den Recurs-Entscheidungcn 500 und
610 ausgeschlossen, wenn die Erwerbsunfähigkeit nachgewiescner-
massen nur in Folge schuldhaften Verhaltens des Verletzten durch
Nichtachtung der ärztlichen Anordnungen entsteht. Das Zusammen¬
wirken mehrerer Ursachen schliesst den Schadenersatz nicht aus 2 ).
So kann auch ein Mann trotz eines Krebsleidcns noch weiter arbeiten.
Das Unfallversicherungsgesetz versichert gegen alle Folgen von Un¬
fällen im Betriebe, auch die mittelbaren; selbst also für denjenigen, der
auf dem Cohnhcim’schen Standpunkt steht, ist das Trauma von
grösster Wichtigkeit bei der praktischen Bcurtheilung derartiger Fälle.
1) lieber die durch Uontusionon erzeugten Erkrankungen der Brustorgane
mit besonderer Berücksichtigung der Contusionspneumonic. Zeitsohr. f. klin. Med.
18*2. V.
2) In der Keeurs-Entseheidung vorn ö. Juli iN'.Ci wurde sogar ein Fall von
Scorbul als Unfall angesehen, es wurde angenommen, dass bei der verlängerten
Seefahrt der Genuss brackigen Wassers mitgewirkt habe bei dem Zustandekommen
der Krankheit.
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSITÄT OF IOWA
Trauma und Oareinom.
83
Inwieweit eine \ erschlimmerung einessehon vorhandenen Leidens
auf einen Unfall zurüekzuführen ist, das ist von dem Arzt auf (iruncl
des thatsäeliliehen Krankheitszustandes zu erörtern und klarzustellen,
norlnvemlig ist die nicht fortzudiseutirende Continuität der Erschei¬
nungen, wie sie mit der ärztlichen Wissenschaft vereinbar ist.
Nach dem Unfallversicherungsgesetz ist die Verschlimmerung
eines schon bestellenden Leidens gleichbedeutend mit der llervor-
rufung eines solchen. Festzuhalten ist auch, dass der Unfall, auf
welchen das Leiden zurückgeführt wird, ein zeitlich begrenzter ist, es
genügen also nicht allgemeine Angaben, sondern der Moment, in
welchem der Unfall eintritt, muss ein tixirter sein. Als Trauma gilt
nach llofmann 1 ) im weiteren Sinne jede Gesundheitsbeschädigung,
welche ihre Ursache ausserhalb des Individuums hat, im engeren Sinne
Störungen des Zusammenhangs oder der Function gewisser Organe
oder .Organgewebe durch mechanische Mittel.
Die Frage ist also die: Besteht ein Kausalzusammenhang
zwischen Trauma und Tod resp. Leiden, hat die Verletzung un¬
mittelbar gewirkt oder mittels einer Zwischenursache, welche durch
jene erst in Wirksamkeit gesetzt worden ist?
Zwischenursachc ist jedes Mittelglied zwischen Verletzung und
Tod bezugsweise Krankheit (Geschwulst), und welches letztere ver¬
ursacht hat, seinerseits aber Folge der Verletzung ist und durch diese
entstanden. Ein solches Mittelglied ist sehr häufig Entzündung, letztere
steht dann in Causalncxus einerseits mit der Verletzung, andererseits
mit dom Leiden bezugsweise dem Tode. In dieser Kette können noch
mehr Glieder eingeschaltet werden, wie Verletzung, Bluterguss, Ent¬
zündung, Eiterung, Schorf, Geschwulst, Tod. Nothwendig ist, dass
jedes folgende Glied der Kette (zeitlich und örtlich) Folge des vor¬
angehenden und Ursache des folgenden ist.
Um den Zusammenhang zwischen Trauma und Garcinom anzu¬
nehmen, muss der Verletzte vor Einwirkung des Traumas überhaupt voll¬
ständig gesund oder doch frei von Beschwerden (efr. oben) gewesen sein.
Die Geschwulst mnss sich sofort an die durch den Unfall gesetzte
Verletzung in weitestem Sinne angeschlossen haben oder es müssen
Schmerzen von dem Augenblick der Einwirkung des Traumas an be¬
standen haben, bis zur Manifestirung der Geschwulst, und letztere
1) Lehrbuch der gerichtlichen Medicin. 1<S93.
6*
Digitized by
Go^ 'gle
Original frnrri
UNIVERSITÄT OF IOWA
84
Dr. Berger,
muss an clor Einwirkungsstelle dos Traumas zuerst ihren Anfang ge¬
nommen haben.
Zu berücksichtigen ist die Zeit, welche vom Trauma an bis zum
Beginn der Gcschwulstentwicklung vergangen ist, und ausserdem die
Qualität und Quantität der Verletzung. Traumen, welche grössere
Quetschungen und Blutergüsse erzeugen, scheinen nach den bisherigen
Erfahrungen besonders geeignet zu sein, Geschwülste hervorzurufen.
Entwickelt sich das Carcinom zeitlich und örtlich unmittelbar im
Anschluss an das Trauma, oder bestehen seit der Einwirkung des
Traumas an den betreffenden Orten beständig oder intermittirend
Schmerzen und Beschwerden, und entwickelt sich die Geschwulst, an
der betreffenden Stelle, so ist man berechtigt, die Geschwulst auf das
Trauma zurückzuführen. Mit Recht hebt Stern 1 ) hervor, dass bei
Begutachtung chronischer innerer Erkrankungen zwar eine Continuität
bezüglich der objeetiven KrankhcitsVorgänge bestehen muss, dass aber
manchmal in der ersten Zeit nach dem Unfall die objeetiven und sub-
jeetiven Symptome so geringfügig sind, dass erstere für den Unter-
suchcr nicht wahrnehmbar sind, letztere dem Patienten nicht zum
Bewusstsein kommen und weist auf das zuweilen jahrelange Latenz-
sladium der traumatischen Hirnabscessc hin. Es giebt eben keine
allgemein gütigen Regeln, ein jeder Fall will für sich nach allen Rich¬
tungen genau gewürdigt werden.
Ist die Geschwulst schon vor Einwirkung des Traumas vorhanden
gewesen oder ist sie nach den bisherigen Erfahrungen und nach der
Lage der Dinge wahrscheinlich schon vorhanden, aber noch nicht
manifest gewesen, so ist der Einfluss des Traumas mit zu berück¬
sichtigen und sind seine Beziehungen zu der Geschwulst zu erörtern
und genau zu begründen, dieser Zusammenhang wird von Fall zu Fall
ein verschiedener, in manchen Fällen auch zu negiren sein.
Eine mit der ärztlichen Wissenschaft übereinstimmende und nach¬
weisbare Verkettung der Krankheitserscheinungen ist für den ursäch¬
lichen Zusammenhang nothwendig.
Je mehr Zeit zwischen Trauma und Geschwulstentwickelung liegt,
je weniger Beschwerden in der Zwischenzeit bestanden, um so mehr
ist man berechtigt, den Zusammenhang zu verneinen.
Es genügt in dem einzelnen Falle nicht, zu sagen, dass die
Möglichkeit oder Wahrscheinlichkeit vorhanden sei, dass das Carcinom
1) Aerztl, Sachverstand.-Ztg. 1897. No. 1.
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Trauma und Garcinom.
85
mit dein Trauma Zusammenhänge, sondern es müssen die Gründe, die
aus dem tatsächlichen Befunde dafür sprechen, erörtert werden, nach
diesen hat dann der Richter zu entscheiden.
Die Frage des Zusammenhangs zwischen Trauma und Garcinom
ist jüso nur für den Einzelfall zu entscheiden, aber bei der Beur-
theilung ist ein etwa angegebenes Trauma gebührend zu berücksichtigen,
es darf dieses nicht a priori als gleichgiltig unbeachtet gelassen wer¬
den, mag man über die Genese der Geschwülste denken, wie man
will. Sehr richtig sagt Mendelsohn 1 ) hinsichtlich der traumatischen
Phthise: „Es ist zwar die Kugel, welche tödtet, die Veranlassung ist
jedoch immer der Schütze.“
Es ist unter den jetzigen Verhältnissen für den Arbeiter viel
vortliedhafter einen Unfall als eine Krankheit zu bekommen, und so
ist es, nachdem das Unfallversicherungsgesetz gewissermassen den
Arbeiterstand zu einer geschickten Auslegung der Entstehung der
Erwerbsunfähigkeit erzogen hat, für den begutachtenden Arzt von
der grössten Wichtigkeit, sich vor Simulation und Uebertreibung zu
schützen, er wird jeden einzelnen Fall auf das sorgfältigste erwägen,
die thatsächliehen Befunde erörtern und seine aus den Thalsachen
abgeleitete Ansicht auf das genaueste zu begründen haben.
Schlusssätze:
1. Die eigentliche Ursache des Carcinoms ist dunkel.
2. Das Trauma ist mit ein prädisponirendes Moment zur Ent¬
wicklung des Carcinoms, sei es, dass dasselbe die Anlage
zur Entwicklung bringt oder den Ort bestimmt.
3. Die dagegen erhobenen Einwände (Seltenheit der Beobachtung
sofort nach Einwirkung des Traumas, das negative Resultat
der Experimente, der geringe Werth der subjeetiven Angaben
des Kranken) sind nicht stichhaltig.
4. Das Trauma muss weniger ein einmaliges heftiges sein, als
vielmehr ein wiederholtes, Contusionen oder dergl., welche
Blutergüsse erzeugen und die Ernährungsverhältnisse ändern.
5. Besonders bei gleichzeitiger natürlicher seniler Involution
werden genügend lange wirkende Traumen wirksam.
1) Zeitschr. f. klin. Med. ls8ä. Hü. X., nach Gudcr, Gelier den Zusam¬
menhang - zwischen Trauma und Tuberkulose. Diese Yierteljahrssrhr. 1894. 2 IT.
Digitized by
Go^ gle
Original frnrri
UMIVERSITY OF IOWA
8(5
Digitized by
l>r. Berger, Trauma und (-air-inom.
6. Zu berücksichtigen ist hoi der praktischen Bcurtheilung nicht
nur die rein ursächliche Beziehung des Traumas, sondern
auch der die Entwicklung fördernde Einfluss.
7. Bei der Bcurtheilung von Carcinom nach Unfällen ist dem
Trauma eine gewisse ätiologische Bedeutung beizumessen.
8. Diese Bedeutung ist im Einzelfalle zu erörtern und zu be¬
gründen.
9. Bei dem Nachweise des Zusammenhangs zwischen Trauma
und Carcinom muss zwischen beiden eine ununterbrochene
Kette vorhanden sein, deren folgendes Glied immer aus dem
vorliergellenden folgt.
Gck igle
Original frnm
UNIVERSITÄT OF IOWA
Beiträge zur Begutachtung des Zusammenhanges
zwischen Trauma und Lungentuberkulose.
Von
Dr. J. Kooliler (Berlin).
Die in dieser Vierteljahrsschrift erschienenen Arbeiten, welche den
Zusammenhang zwischen Trauma und Tuberculose beliandoln, haben
nicht zum wenigsten dazu beigetragen, unter den begutachtenden
Acrzten eine Klärung dieser Frage in wissenschaftlicher Beziehung zu
schaffen. Trotzdem wird es Jedem, der öfters Gelegenheit hat, die
verschiedenen Beurtheilungen einschlägiger Fälle zu lesen, au (fallen,
wie weit wir noch im Allgemeinen davon entfernt sind, auch im Sinne
der Rechtsprechung eine Einigkeit auf diesem Gebiete zu erzielen.
Es liegt dies daran, dass gerade bei der Beurtheilung über das
Entstehen oder die Verschlimmerung von Lungenerkrankungen dem
subjcctivon Ermessen des Begutachters ein gewisser Spielraum ge¬
lassen ist.
Spricht sich doch eine Rekurs-Entscheidung des Rciehs-Versiehe-
rungs-Amtes vom 23. September 1889 bei der Frage, ob z. B. ein
Blutsturz als die Folge eines Unfalles oder einer chronischen Erkran¬
kung aufzufassen ist, dahin aus 1 ): „Ein ßluisturz an sich ist ein
krankhafter Vorgang im Körper des von ihm Betroffenen, dessen Auf¬
treten zwar unter Umständen die Folge eines Unfalles sein kann,
dies aber keineswegs nothwendig sein muss“. „Lungenkrankheiten
— und zwar sowohl die Lungenschwindsucht, als die besonderen Er¬
krankungen der dauernd mit dem Brechen und Bebauen von Steinen
1) efr. L. Becker, Lehrbuch der ärztlichen Sachverstandiuen-ThiUiukcit etc.
S. 185.
Digitized by
Gck igle
Original from
UMIVERSITY OF IOWA
88
Dr. K o c h 1 e r,
beschäftigten Arbeiter — haben erfahrungsgeraäss mit anderen chro¬
nischen Leiden das gemein, dass in ihrem natürlichen Verlaufe nicht
selten acute Erscheinungen eintreten, welche dem seitherigen Zustande
gegenüber plötzliche, erhebliche Verschlimmerungen herbeiführen. Hier¬
zu bedarf cs keineswegs eines erkennbaren äusseren Anlasses; jene
Verschlimmerungen können auch gelegentlich der alltäglichen Ver¬
richtungen eintreten, an deren Vornahme der Leidende gewöhnt ist,
lediglich in natürlicher Weiterentwicklung der inneren Krankheit. Wenn
demgemäss ein bereits lungenkranker Arbeiter gelegentlich der Vor¬
nahme einer Arbeit, welche der tägliche Betrieb mit sich bringt, und
welche nur die übliche massige Anstrengung seiner Kräfte erfordert,
von einem Blutsturz befallen wird, so muss in jener Betriebshandlung
wohl die zufällige Gelegenheit, nicht aber die Ursache der
durch den Blutsturz bedingten Verschlimmerung im Körper¬
zustande jenes Arbeiters erblickt werden.“
Nun kommt es in vielen Fällen eben auf die subjeetive Auf¬
fassung an, was unter der üblichen massigen Anstrengung zu
verstehen ist.
Hass darüber die Ansichten häufig auseinandergehen r soll der
erste Fall zeigen, der, wie ich glaube, auch dadurch einen gewissen
objectiven Werth erlangt hat, dass die Endgutachten auf Grund des
Obductionsbelundcs abgegeben worden sind.
Ich lasse die einzelnen Gutachten hierunter der Reihe nach folgen.
I. Fall.
Herr M., welcher an Lungenblutung leidet, führt die Ursache seiner Erkran¬
kung auf schweres Heben in seinem Berufe, d. h. auf einen Unfall zurück. Aerzt-
lichcrseits steht nach längerer Beobachtung des Leidens dieser Annahme nichts
entgegen.
Berlin, den 7. Mai 1895. (gez.) Dr. Koehler.
Am 31. Mai 1895 habe ich auf Veranlassung der Bernfsgenossenschaft mit
Herrn Ür. Koehler bei dom p. M. in dessen Wohnung consultirt.
Ich fand M. schwer leidend, abgemagert aussehend, im Bett liegend.
Die Ursache seiner Erkrankung führt er auf das Tragen der 20
bis 25 kg schweren Eiscntheile von der Pferdebahn bis zum Schul¬
gebäude zurück, macht überhaupt mit dem bisherigen Acteniuate-
rial gleichlautende Angaben. Er will früher stets gesund, stark, kräftig,
sogar corpulent gewesen sein und aus gesunder Familie stammen. Das Tragen
der Last hätte ihn sehr angestrengt, er sich sehr matt gefühlt und er dieserhalb
dieselbe auch nicht wieder mitgenommen.
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Zusammenhang zwischen Trauma und Lungentuberkulose.
89
Am 22. März Morgens stellte sich Bluthusten ein. Kr suchte Herrn Dr.
Koehler ;iuf. Dieser behandelte ihn bisher; der Bluthusten, sogar bis Blutsturz
gesteigert, hat sich öfter wiederholt, anfangs fast täglich; auch heute (31. Mai)
>ind Blutspuren im Auswurf. Daneben bestand starker Auswurf, zeitweise Fieber,
Schweiss, Abmagerung etc., und es stellte sich allniiilig ein schwindsuchtartiger
Zustand ein.
Die objective Untersuchung des kräftig gebauten, jetzt abgemagerten, elend
aussehenden Mannes, die in Anbetracht der Neigung zu Lungenblutung nur schnell
vorgenonimen wird, ergiebt über der ganzen rechten Lunge von oben bis unten,
vorne und hinten^ mächtige Schallabschwächung, Dämpfung mit unbestimmtem
bronchialem Athmen, namentlich auch hinten und rechts, und überall fein- bis
rniuelblasigem, z. Th. leicht klingendem Rasseln. Herz normal. Linke Lunge
hinten unten leichtes Rasseln, Spitze etc. normal.
Keine Oedeme.
Zur Zeit, Morgens 9 Uhr, kein Fieber.
Herr Dr. Koehler sagte mir persönlich, dass bei dem ersten Besuch
des M. in seiner Wohnung, am 22. März, dieser ihm von dem ursäch¬
lichen Unfall nichts gesagt hätte, sondern über geringes Lungenbluten,
Brustschmerz, Mattigkeit geklagt hätte und er seiner Zeit anfangs bei der damals
herrschenden Inlluenza-Epidemie die Erkrankung als Influenza mit Lungen¬
entzündung aufgefasst hätte. Temperaturmessungen sind nicht regelmässig vor-
genommen.
Nach meiner Untersuchung vom 31. Mai 1895 handelt es sich bei M. um
einen subacut verlaufenden entzündlichen Process der ganzen rechten Lunge mit
voraussichtlichem Uebergang in Schwindsucht, und wird mir auf tele¬
phonische Anfrage bei dem Vertreter des momentan verreisten Herrn Dr. Koehler,
Herrn Dr. Langer, bestätigt, dass M. an Schwindsucht leide.
Was nun die Frage des Betriebsunfalles anbetrilh, so lässt sich meiner Mei¬
nung nach ein solcher nicht annehmon.
M. trug am 21. März 1895 eine für einen starken Mann nicht be¬
sonders schwere Last einige 100 Schritt (10 Häuser). Er nahm die¬
selbe nicht mit zurück, weil er sich angegriffen fühlte und ihm das
Tragen schwer gefallen war. Dies ist wohl nicht die Folge der über¬
mässigen Anstrengung, sondern weil R. sich schon unwohl fühlte
(Influenza). Erst am nächsten Morgen bei der Arbeit, stellte sich Bluthusten
ein. Der Arzt constatirt Influenza, ihm sagt er auch nichts von dem ur¬
sächlichen^) Unfall, muss also wohl ausser über Bluthusten auch über andere
Symptome geklagt haben, denn aus blossem Bluthusten diagnosticirt doch kein
Arzt Influenza. Es entwickelt sich weiter eino ausgedehnte, schnell verlaufende
Lungenentzündung der ganzen rechten Lunge, welche zu einem chronischen Lun¬
genleiden führt. Derartige Lungenentzündungen, specicll mit Blutauswurf, kom¬
men aber gerade im Anschluss und als Begleiterscheinung von Influenza vor.
Wenn M. z. B. sofort nach dem Tragen oder bei demselben Blut ausgeworfen
hätte, läge der Fall anders. Dann aber würde bei ruhigem Bettlager voraussicht¬
lich auch der Verlauf ein ganz anderer gewesen sein. Wahrscheinlich hätte die
Blutung aufgehört und es wäre gar nicht zur Entzündung und ihren Folgen ge¬
kommen. Wenn die späteren Bluthustenanfälle von grosser Reichlichkeit alle dem
Digitizeit by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
90
Pr. Koch ler,
beim Tragen geplatzten Lungen ge lass entstammt hätten, so hatte M. auch sofort
eine grössere Menge ausgehustet.
Nach alledem scheint mir hier ein zeitlicher, aber kein ursäch¬
licher Zusammenhang vorzuliegen. M. fühlte sich durch die in ihm
schlummernde Krankheit angegriffen, deshalb strengte ihn das Tragen der Last
mehr als sonst an. Am nächsten Tage steigerte sich die Krankheit durch Lungen¬
entzündung und blutigen Auswurf. M. selbst sagt dem Arzt merkwürdiger Weise
auch gar nichts von dem Tragen der Last, hält dasselbe also selbst nicht für ur¬
sächlich. Der Arzt constatirt Influenza und Lungenentzündung mit typischem,
häufigem Blutauswurf und Lebergang in Schwindsucht und nun erst, am 2. Mai,
wird von M. der Unfall als ursächliches Moment hervorgesucht.
Dass schweres Heben Lungenzerreissung, Bluthusten, Entzündung, Schwind¬
sucht bewirken kann, ist unbestritten, dann aber ist ein schnellerer Eintritt der
Blutung zu verlangen, der Verlauf ist ein langsamerer, namentlich bei sofortiger
ärztlicher Hülfe. Gerade aber Inlluenzapneumonien setzen häufig mit Blutauswurf
etc. ein und nehmen einen Verlauf wie der hier vorliegende, und ist kein Grund
ersichtlich, wieso in diesem Falle das Tragen der massigen Last auch nur begün¬
stigend gewirkt haben soll, so dass der Unfall wohl abzulehnen ist.
(gez.) Dr. II.
Berlin, den 1. August 1895.
Der Berufsgenossenschaft für Feinmechanik, Section I. Berlin, erlaube ich
mir auf die gefällige Aufforderung vom 28. Juni 1895 mich in folgender Weise zu
äussern:
Was ad I. „den Zustand des M. anbetrifft, als derselbe (an welchem Tage?)
in meine ärztliche Behandlung kam, sowie den Punkt, was M. mir gegenüber da¬
mals als Ursache seines Leidens angegeben hat,“ so steht fest, dass sich der p. M.
am 22. März er. laut Ausweis meines Krankcnjournals bei mir als Kranker gemeldet
hat. Als Diagnose ist meinerseits „Lungenblutung“ verzeichnet worden.
Ein Zusammenhang dieser Lungenblutung mit einem etwa kurz vorher er¬
littenen Unfall ist damals, d. h. bei Beginn der Erkrankung, nicht in Erwägung
gezogen worden, da mir der p. M. nur angegeben hat, dass er einen Tag vorher
bei der Arbeit sich unwohl gefühlt, worauf sich dann gegen Abend die Blutung
eingestellt habe. Erst ungefähr 3 Wochen nach dieser Zeit erfuhr ich von seiner
Frau, mit bestätigenden Bemerkungen von ihm ergänzt, dass er am Tage seiner
Erkrankung, d. h. den 21. März 1895, eine ca. 20—25 kg schwere Presse in einem
in der Bellealliancestrasse belegenen Schulgebäude mehrere Treppen hinauf zu
tragen gehabt habe. Schon auf der ersten Treppe sei ihm schlecht geworden, er
habe sich hinsetzen müssen und erst nach einer Erholungspause weiter steigen
können. Er glaube sicher, sich durch Tragen dieser Presse eine Zerrung zuge¬
zogen zu haben, denn seit dieser Zeit spüre er in der rechten Lunge, ungefähr im
3. Zwischenrippenraum, dicht neben dem Brustbein, einen Schmerz. Er sei vorher
immer gesund gewesen; ob ihm schon vor dem Tragen der Presse nicht ganz wohl
gewesen, könne er nicht mit Sicherheit angeben.
Auf meinen Ein wand, warum er erst 3 Wochen nach seiner Erkrankung auf
diesen Umstand aufmerksam mache, erwidert er, dass er der Sache anfänglich
keine Bedeutung beigelegt, auch geglaubt habe, in kurzer Zeit gesund zu sein.
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
Zusammenhang zwischen Trauma und Lungentuberkulose.
91
Pa sich die Krankheit, indess hinzöge und man nicht wissen könne,
<»b er nicht langer erwerbsunfähig sein könne, als die Kasse ihn zu
unterstützen verpflichtet sei, so habe er durch die nachträgliche
Meldung seines U n fall es sich für die Zukunft sichern wollen.
Dies ad I.
Der p. M. ist nun, um auch über den 2. Punkt, den Verlauf des Heilverfah¬
rens, zu berichten, wie schon oben erwähnt, an Lungenblutung erkrankt gewesen.
Die heftig und häufig unter vielen Hustenslösscn auftretenden Blutungen zwangen
selbstverständlich bei der Untersuchung zu grosser Vorsicht. Es konnte, abge¬
sehen von massigem Fieber (rernittirendem Fieber), geringer Pulsbeschleunigung,
»dijVctiv an der rechten Lunge im unteren und mittleren Theil des vorderen Lap¬
pens ein abnormes (bronchiales) Athemgeräusch, vermischt mit Rasselgeräuschen
wahrgenommen werden, während der Percussionsschall darüber gegen die andere
Seite gedämpft erschien. Die Untersuchung des schaumigen blutigen und des vom
Blute freien Auswurfes zeigte zahlreiche Tuberkelbacillen. — Diese allmälig über
der ganzen rechten Lunge nachweisbaren objcctiven Befunde der Verdichtung und
Zerstörung setzten sich auch auf der linken Seite fort. Die häufig wiederkehren¬
den profusen Blutungen, der Mangel ausgiebigen Gasaustausches durch die zer¬
störte Lunge, das Fieber und die starken Schweissabsonderungen, das Danieder¬
liegen des Appetites, Schlaflosigkeit ctc. brachten einen Kräfteverfall zu Stande,
wie er der sogen. Fhthisis florida (galloppirenden Lungenschwindsucht) eigen-
th und ich zu sein pflegt.
Der p. M. ist ungefähr 4 Monate nach Beginn seiner Erkrankung seinem Lei¬
den erlegen, und damit erledigt sich der eine Punkt der 3. Frage über den jetzigen
Zustand des p. M.
Von eingreifender Bedeutung ist und bleibt indess die Fortsetzung Ihrer
Frage unter IIL, „ob nach dem Befunde zu I., in Verbindung mit den damaligen
Angaben des Genannten mir gegenüber und unter Berücksichtigung aller einschlä¬
gigen Verhältnisse angenommen werden muss, dass das Leiden des M. thatsäch-
lich auf einen Betriebsunfall oder auf welche Ursache sonst zurückzuführen sei.“
Ich wiederhole kurz: Der p. M. erkrankt nach kurzem Uehclhefmden mit einem
Blut-sturz an Lungenschwindsucht, deren Ursache er, wie er 3 Wochen später be¬
hauptet, auf das Heben und Tragen einer 20—25 kg schweren Presse zurückführt.
An und für sich ist es ja immerhin auffallend, dass das Heben und Tragen
einer Presse mit obigem Gewicht bei einem kräftigen und gesunden Arbeiter eine
derartige Zerrung des Brustfelles und Lungengewehes verursacht haben soll, dass
eine starke Blutung mit nachfolgender Lungenschwindsucht daraus resultiren
konnte.
Indess glaube ich hier noch concurrirende Ursachen annehmen zu müssen;
hat doch der p. M. selbst angegeben, dass er sich bereits beim Tragen der Presse
nicht ganz wohl gefühlt habe; er musste sich auf die Treppe hinsetzen, wie oben
berichtet — nach Ausweis meiner Krankenliste herrschte zur Zeit eine leichte In¬
fluenza-Epidemie, und ist es nicht unmöglich, dass auch bei dem Genannten eine
derartige Influenza als mitbethciligte Ursache eingewirkt hat — andererseits ist
wohl mit Sicherheit anzunehmen, dass der p. M. alte tuberkulöse Herde in seiner
Lunge besessen hat, denn durch solch verhäUnisstnässig geringen Insult, wie das
Heben und Tragen der beschriebenen Presse bedeutet, wäre wohl kaum eine der-
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Dr. Ko eh ler,
Digitized by
92
artig starke Blutung aufgetreten, wenn nicht krankhaft verändertes Lungengewebe
und Lungengefässe vorhanden gewesen waren. — Dass solche bestanden haben
können, ohne bemerkenswerte Erscheinungen, von leichtem Husten abgesehen,
hervorgerufen zu haben, ist ärztlicherseits nicht auffallend zu finden, wie auch der
|). M. angegeben hat, dass er stets gesund gewesen, auch in seiner Familie kein
Fall von Lungenerkrankung zu seiner Kenntniss gekommen sei.
Wären nun selbst solche prädisponirenden Momente in diesem Falle vorhan¬
den gewesen, so könnte dennoch die Annahme eines Unfalles bestehen bleiben,
wenn, wie hier, der Nachweis geliefert ist, dass im Anschluss an die durch das
Tragen der Presse hervorgerufene Zerrung der Lunge eine Blutung stattgefunden
hat. Nach einer Kecurs-Entscheidung des Beichsversicherungsamtes vom 4. Febr.
1SS7 ist es zu einem begründeten Anspruch auf Unfallentschädigung nicht erfor¬
derlich, dass die bei dem Unfall erlittene Verletzung die alleinige Ursache der ein¬
getretenen Erwerbsunfähigkeit bildet, es genügt, wenn sie nur eine von mehreren
dazu mitwirkenden Ursachen ist, und es bleibt daher der Anspruch bestehen, auch
wenn durch ein schon bestehendes Leiden die Folgen der Verletzung sich ver¬
schlimmert und den Eintritt der Erwerbsunfähigkeit beschleunigt haben (cfr.
Becker: Lehrbuch der ärztlichen Sachverständigen-Thätigkeit etc. 1895. S. 67).
Was noch zum Schlüsse die Frage anbetrifft, ob im Anschluss an eine Ver¬
letzung, noch dazu, wenn dieselbe geringfügiger Natur ist, eine Lungentuberku¬
lose überhaupt sich entwickeln könne, da dieselbe nach unserer heutigen Auffas¬
sung eine Infectionskrankheit bedeute, so ist dieselbe wissenschaftlich schon längst
in bejahendem Sinne gelöst, und will ich in dieser Beziehung nur auf die klassi¬
sche Sammelarbeit über diesen Gegenstand von Guder in der Vierteljahrsschrift
für gerichtliche Medicin, 1894/95, hingewiesen haben.
Mein Urtheil geht daher, was die Frage 111. anbetrifft, dahin,
dass ich in vorliegendem Falle ärztlicherseits einen Zusammenhang
zwischen dem angeblich durch das Tragen der Presse hervorgerufe¬
nen Unfall und darauf folgender Lungenschwindsucht nicht für
ausgeschlossen, ja sogar für wahrscheinlich halte.
(gez.) Dr. Ko eh ler, Arzt.
Berlin, den 24. Juli 1895, Nachmittags Uhr.
Protokoll der Section
des Peter M., Mechaniker, 43 Jahre alt.
Die Section der Kopfhöhle wird von den Angehörigen untersagt.
Abgemagerter männlicher Leichnam, ohne äussere Verletzung, der Unterleib
ist etwas eingesunken, das Unterhautfettgewebe ist atrophisch, bräunlich-gelblich,
das Bauchfell ist glatt und glänzend, in der Bauchhöhle kein fremder Inhalt, die
Darnischlingen sind etwas durch Gas aufgetrieben, der Zwerchfellstand befindet
sich beiderseits am unteren Bande der 5. Bippc.
Nach Abnahme des Brustbeins zeigt sich die linke Lunge etwa« zusammen¬
gesunken, die rechte ist in ihrem oberen Theil mit dem Brustkorb fest verwachsen,
in ihrem unteren frei beweglich. In beiden Brusthöhlen (Pleurahöhlen) findet sich
geringe Menge wässeriger Flüssigkeit. Im Herzbeutel ein Esslöffel gelblich-röth-
liclier wässeriger Flüssigkeit. Das Herz ist ein wenig grösser wie die rechte Faust,
sehr schlaff, die linke Herzkammer ist leer, der linke Vorhof enthält eine grössere
Gck igle
Original ffom
UNIVERSUM OF IOWA
Zusammenhang zwischen Trauma und Lungentuberkulose.
93
Menge flüssigen und geronnenen Blutes. Die rechte Herzkammer enthält eine reich¬
liche Menge flüssigen Blutes und Speckgcrinnsel, der rechte Vorhof ist prall mit
Blutgerinnsel gefüllt, die Herzmuskulatur ist blassroth, sehr brüchig und im Ge¬
biet der linken Herzkammer leicht gelblich. Die Herzklappen sind sämmtlich zart,
beide Herzkammern etwas erweitert. Die Aorta ist eng, misst, über den Klappen
aufgeschnitten, 6y 2 cm. Die Innenhaut ist glatt, die Kranzgefüsse des Herzens
dnd zart.
Die linke Pleura ist im Gebiete des Unterlappens an mehreren Stellen trocken
und zeigt zahlreiche Tuberkel. Der linke Oberlappen enthält zahlreiche dicht¬
stehende, käsige Herde, welche theils bronchialer, theils pneumonischer Natur sind.
Hin grösserer Herd ganz frischer käsiger Hepatisation von etwa Hühnereigrösse
liegt ini vorderen Theil des linken Oberlappens. Der linke Unterlappen ist eben¬
falls durchsetzt mit vielen kleinen käsigen Herden. Die grösseren Bronchien der
linken Lunge sind leer. Die Bronchialdrüsen sind ein wenig vergrössert, schwarz,
und zeigen einzelne Tuberkel. Die Pleura des rechten Unterlappens ist von
grosser Ausdehnung, trocken, und zeigt an verschiedenen Stellen Tuberkel.
Im rechten Überlappen liegt, eine kleine, apfelgrosse, ulceröse Höhle, und inner¬
halb derselben, an der Seite, welche dem Ililus zu liegt, ein haselnussgrosser,
zum grösseren Theil aus thrombotischen Massen bestehender Körper. Dieser Kör¬
per hängt mit einem der grösseren Aeste der Art. pulmon. zusammen und erweist
sich als ein aneurysmatischer, mit Gerinnsel gefüllter, nicht mehr
ganz intacter Sack. Im Uebrigen sind die Aeste der Lungenarterie auf beiden
Seiten völlig intact. Neben der Höhle des Oberlappens liegen in demselben Herde
schieferiger Indurationen, innerhalb welcher käsige, zum Theil auch verkalkte
Massen, eingeschlossen sind. Der unterste Theil des Oberlappens wird eingenom¬
men durch zahlreiche Herde käsiger Bronchitis. Der Mittellappen enthält zahl¬
reiche käsige Herde, nur in seiner oberen Spitze ist ein wenig Lungengewebe er¬
halten. Der Unterlappen ist ebenfalls durchsetzt von zahlreichen käsigen Herden,
welche vielfach in Schmelzung begriffen sind, dazwischen finden sich an einzelnen
Stellen Verdickungen des Interstitialgewebcs. In den grösseren Bronchien der
rechten Lunge liegen tuberkulöse Geschwüre. Die Bronchialdrüsen dieser Seite
sind bedeutend vergrössert und herdweise käsig. Die Halsorgane sind blass; im
unteren Theil der Luftröhre finden sich einzelne flache, tuberkulöse Geschwüre
und mehrere kleinere auch auf der rechten Seite im Inneren des Kehlkopfes. Die
Lymphdrüsen des Halses sind vergrössert, markig grauroih.
Die Milz misst 12, 7, 3, ist weich, sehr schlaff, die Schnittfläche leicht un¬
eben, grauroth. Die linke Nebenniere ist ohne Veränderung, die linke Niere misst
13, ß, 3, die Oberfläche ist glatt, an einer Stelle liegt eine sternförmige Narbe.
Die Substanz der Niere ist blutreich, das Nierenbecken etwas erweitert. Die rechte
Nebenniere ist ohne Veränderung. Die rechte Niere misst 13, 6, 3, zeigt an ihrer
Oberfläche einige käsige Herde, die Oberfläche ist glatt. Die Substanz der Niere
ist sehr schlaff, grauroth, das Nierenbecken ist nicht erweitert. Die Prostata ist
ein wenig vergrössert, die Harnblase etwas trabekulös. Das Kectum ist ohne Ver¬
änderung, im Magen grosse Mengen flüssigen Inhalts. Magenschleimhaut schie¬
ferig gefärbt, die Leber ist klein, sehr schlaff, röthlich grau. Die absteigende
Aorta ist überall glatt, die Mesenterialdrüsen sind klein. Im unteren Dünndarm
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
94
Dr. Kochler.
Digitized by
sind einzelne Follikel etwas vergrüssert, einige von diesen sind käsig. Die Darrn-
schleiniliaut ist sehr blass, rüthlieh grau. Die Dickdarmschleimhaut ist se hr blass,
Geschwüre linden sich im Darm nicht.
Phthisis pulmonum duplex, partim ulcerosa, Jnduratio pigmentosa, Bron¬
chitis caseosa, Pneumonia ulcerosa multiplex, Aneurysma art. pulmon. Pleu¬
ritis tuberculosa duplex, Laryngitis, Tracheitis, Bronchitis tuberculosa ulcerosa,
Enteritis follicularis caseosa, Hydronephrosis levis sinistra.
(gez.) Pr. R. 0., Assistent am pathologischen Institut.
Berlin, den 14. August 1895.
Nach Kenntnissnahme der Acten in Sachen M., auf Grund eigener Fnter-
suchung des M., sowie Beiwohnung der Section, endlich nach persönlicher Rück¬
sprache mit Herrn Dr. 0., komme ich zu der Leberzeugung, dass das von M.
ursprünglich für den Betriebsunfall angeführte Tragen der 20 kg schweren Ma-
schinentheilc ohne nachweislichen Zusammenhang mit der den Tod des¬
selben herbeigeführt habenden Lungenschwindsucht ist.
Zunächst weise ich auf meinen Bericht vom 22. Juni 1895 hin, den ich auch
nach der Section in allen Theilen aufrecht erhalte.
Fs ist in dem Protokoll nichts enthalten, was den Schluss gestattet, dass
die Lungenschwindsucht Folge einer Verletzung sei.
Im Gegentheil sind in der rechten Lungenspitze alte, schieferige, verkalkte
Herde gefunden, die beweisen, dass M. schon vor Jahren an einer beginnenden,
aber zum relativen Stillstand gekommenen Lungenschwindsucht litt. Fs wird
hierdurch auch der Werth der Zeugenaussagen illustrirt, dass M. stets ein ganz
gesunder, nicht lungenleidender Mensch gewesen sei. Die Bildung eines Aneu¬
rysma (geplatzte, erweiterte Arterie) im rechten Oberlappen ist nicht als Folge
einer Verletzung anzuerkennen, da es eine ganz gewöhnliche anatomische Form
der Lungenschwindsucht ist, dass in die sich bildenden zerfallenden Hohlräume,
wegen des geringen Widerstandes und schlechter Ernährung der Gefässwände Aus¬
buchtungen (Aneurysmen) bilden. Aber auch das Platzen des Aneurysma, die
erste Blutung ist nicht Folge des Unfalles; gerade weil die Blutungen einem
geplatzten Aneurysma entstammten, hätten sie als Folge des beim Tragen
vermehrten Blutdruckes sofort und nicht erst nach 24 Stunden einsetzen
müssen.
Hiermit fallen alle aus sonstigen begünstigenden Rückwirkungen der Anämie
auf die Entstehung der Tuberkulose zu ziehenden Schlüsse, die an sich überhaupt
noch sehr hypothetisch sind, fort.
Meiner Meinung nach ist M. einer ganz gewöhnlichen galoppircnden Schwind¬
sucht erlegen. Dass bei ihm zeitlich die erste Blutung eintrat, nachdem er Tags
vorher - - anscheinend schon innerlich krank (Influenza, wie Dr. Koehlcr anfangs
meinte) - mit etwas grösserer Mühe als sonst einen an sich nicht zu schweren
Gegenstand getragen hatte, ist ganz bedeutungslos, beweist im Gegentheil, dass
die Anstrengung an sich nicht sehr gross war, da sonst ein Platzen der dünnen
Gefässwand sofort eingetreten wäre.
Ich halte dafür, die Ansprüche des M. und seiner Rechtsnachfolger abzu-
lehnen, (gez.) 9r. H.
Gck igle
Original ffom
UNIVERSUM OF IOWA
Zusammenhang zwischen Trauma und Lungentuberkulose.
95
Berlin, den 20. November 1895.
Indem icli dem Ersuchen des Schiedsgerichts zu Berlin entspreche, ein ein¬
gehendes Gutachten abgeben zu wollen,
ob der Tod des p. M. mit der von dem Verstorbenen am 21. März d. J.
ausgeführten Betriebsarbeit — Transport einer hydraulischen Presse —
in ursächlichem Zusammenhänge steht, bezw. ob die Lungenschwind¬
sucht des Verstorbenen als Folge dieser Betriebsarbeit anzuschcn ist,
erlaube ich mir Nachstehendes zu bemerken.
Wie aus den übersandten Acten ersichtlich ist, wurde Folgendes festgestellt.
Der p. M., geb. am 10. Juni 1852, hat am 21. März 1895 Vormittags ein ca. 25 kg
schweres Modell einer hydraulischen Presse getragen, ist am 22. März Vormittags
an Bluthusten (Lungenblutung) erkrankt und in die Behandlung des Dr. Koehler
eingetreten. Während der weiteren Beobachtung traten heftige und häufige, unter
vielen Hustenstössen erfolgende Blutungen, remittirendes Fieber, geringe Pulsbe¬
schleunigung auf. Die Untersuchung des schaumigen, blutigen, und des vom Blute
freien Auswurfes zeigte zahlreiche Tuberkelbacillen. Die physikalische Unter¬
suchung stellte Verdichtung und Zerstörung beider Lungen fest.
Nach viermonatlichem Krankenlager starb der p. M. am 22. Juli 1895.
Die am 24. Juli 1895 von mir ausgeführte Section erwies chronische, ent¬
zündliche und tuberkulöse Processe sehr ausgedehnter Art in beiden Lungen,
Höhlenbildung im rechten Oberlappen, ein geplatztes Aneurysma (Erweiterung und
Berstung der Lungenschlagader) und keine Zeichen einer besonderen Blutleere des
Körpers. Die eigentliche Todesursache war gegeben durch eine frische doppel¬
seitige tuberkulöse Lungen- und Rippenfellentzündung, wie mit Sicherheit aus dem
Scctionsprotokoll gefolgert werden darf, und nicht auf eine Lungenblutung zurück¬
zuführen. Das anatomische Bild der Lungen war nicht dasjenige der sogenannten
Phthisis florida (galoppirende Schwindsucht), sondern das der gewöhnlichen chro¬
nischen Lungenschwindsucht (ältere und frischere Veränderungen nebeneinander,
käsige Bronchitis und Pneumonie, schieferige Induration, adhäsive und tuberku¬
löse Pleuritis, Verdichtung des Intorstitialgewebes etc.).
Der anatomische Befund lässt mit Deutlichkeit erkennen, dass im oberen
Theil der rechten Lunge sehr alte Erkrankungsherde (käsige, zum Theil auch ver¬
kalkte Partien, umgeben von schieferiger Induration, Verdichtung des Interstitial-
gewebes, adhäsive und callöse Zustände der Pleura derselben Stelle) gefunden
worden sind, welche einer sehr langsamen und über grössere Zeiträume (viele Mo¬
nate und Jahre) sich erstreckenden Entwicklung bedürfen. Ich meine daher, dass
der p. M. vor dem 21. März 1895 gesunde Lungen nicht gehabt habe (ich befinde
mich in dieser Beziehung in Uebereinstimmung mit den Herren DDr. H. und
Koehler). Die mitgetheilten diesbezüglichen Angaben des Patienten und seiner
Angehörigen sprechen nicht gegen diese Annahme, denn die Erfahrung lehrt, dass
eine derartige Atfection der Lungenspitze sich unbemerkt, ohne sich durch sub-
jective Symptome zu verrathen, ausbilden kann.
Für die weitere Betrachtung erscheint mir Folgendes besonders wichtig.
Dass im Allgemeinen in Folge von Verletzungen Tuberkulose entstehen kann, darf
nicht bezweifelt werden. Anders muss jedoch die Frage beantwortet werden, ob
in diesem concreten Fall ein Trauma (Betriebsunfall) in ätiologische Beziehung
zu der Tuberkulose gesetzt werden darf. Zur Beurtheilung und Entscheidung
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
96
Dr. Ko eh ler,
Digitized by
muss demnach der Beweis geführt werden, dass einerseits ein wirkliches Trauma
vorausgegangen ist, andererseits im Anschluss an dasselbe die Tuberkulose sich
ausgebildet hat. Die in der Literatur mitgetheilten Fälle betrafen schwere Trau¬
men (heftige Contusionon) der Brust (Brustkorb, Lunge) vorher gesunder Men¬
schen. Dagegen hat in diesem Falle ein wirkliches Trauma gar nicht Vorgelegen;
eine Contusion, eine wirkliche Verletzung des Brustkorbes, der Lunge ist über¬
haupt nicht erfolgt. Das Heben jenes bezeichneten Gegenstandes (Modells) ist
eine Muskelarbeit, verändert die Verhältnisse des Kreislaufs und Blutdrucks und
wirkt auf das Herz (sogen. Uebcranstrengung des Herzens). Darauf weist auch
das Verhalten des Patienten hin: sein Verhalten unmittelbar nachdem er die Ar¬
beit geleistet hatte, scheint mir eher ein Erschöpfungszustand, als die Folge einer
Verletzung zu sein.
Obgleich Patient nicht sofort nach dem Unfall desselben Erwähnung gethan
hat, konnte er doch die Krankheit später sehr wohl in seiner Erinnerung darauf
beziehen. Patient ist, wie ich glaube, nicht durch diesen Betriebsunfall erst er¬
krankt, sondern sich selbst seines bereits bestehenden Leidens zum ersten Mal be¬
wusst geworden und verlegt daher den Beginn seiner Erkrankung auf diesen Tag.
Im Verlauf chronischer Krankheiten ereignet es sich oft, dass Patienten sogar bis
kurze Zeit vor dem Tode ihre Berufsarbeiten ausführen: nur ein kleiner Anstoss
genügt schliesslich, um das definitive, d. h. das mit dem Tode endigende Kran¬
kenlager auszulösen. Durch ärztliche Untersuchung ist allerdings festgestellt wor¬
den, dass Patient nach dem Unfall krank gewesen ist, und dass die nach dem Un¬
fall vorhandene Krankheit jedenfalls tuberkulöse Lungenphthisis (Nachweis der
Tuberkelbacillen) war. Aber es ist auch, wie ich bereits erläutert habe, aus dem
Sectionsbefund ersichtlich, dass Patient schon längere Zeit vor dem Unfall lungen¬
krank, tuberkulös, gewesen ist. Der zweite Theil der Forderung, dass Patient vor
dem Trauma gesund gewesen sei, wird nicht erfüllt.
Ich muss noch hinzufügen, dass Patient laut Mittheilung der Acten Ende
1893 wegen Influenza, also auch an einer Lungenkrankheit behandelt worden ist.
Die während der jetzigen Erkrankung von Herrn Dr. Koehler als Influenza
gedeuteten Erscheinungen können ohne Weiteres auch als Symptome des phthi-
sisehen Processes bezeichnet werden, da in der Erscheinung dieser beiden Zu¬
stände mitunter eine ausserordentliche Aehnlichkeit hervortritt. Die von Herrn
Dr. Koehler als mitbetheiligte Ursache angeführte Influenza-lnfection scheint mir
daher nur hypothetisch, um so mehr, weil keine Grundlage dafür, ausser der Exi¬
stenz einer gleichzeitig bestehenden (leichten!) Influenza-Epidemie, vorliegt, und
der betreffende bakteriologische Nachweis nicht geführt worden ist.
Es geht nach meiner Meinung nicht an, die Lungenschwindsucht des Ver¬
storbenen als Folge jener Betriebsarbeit anzusehen. Ein Zusammenhang zwischen
Betriebsunfall und Lungenschwindsucht besteht, wie ich glaube, nicht.
Nachdem ich im Vorhergehenden die Beziehung jenes Betriebsunfalles zur
Tuberkulose berührt habe, muss ich nun noch besonders auf einen Theil des Sec-
ionsbefundes eingehen: ich meine das geplatzte, haselnussgrosse Aneurysma der
Lungenschlagader, welches in der Höhle des rechten Oberlappens gefunden wurde;
zur Beurtheilung dieser Gelassveränderung muss ich einige anatomische Thatsachen
hervorheben.
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Zusammenhang zwischen Trauma und Lungentuberkulose.
97
Die Bildung eines Aneurysma ist eine lokale Erkrankung der Schlagader,
wird nicht durch Verhältnisse des allgemeinen Blutdrucks erklärt (ebensowenig
wie etwa eine Hirnblutung allein durch Steigerung des Blutdrucks entsteht, wenn
nicht bereits krankhaft veränderte Gefässe vorhanden sind). Die wesentliche und
nothwendige Grundlage beruht nicht in der lokalen, bereits bestehenden Erkran¬
kung des Gefässes; das Aneurysma ist als eine Art Neubildung aufzufassen, ist
kein einfaches Bersten eines vorher gesunden Gefässes. Der Gang der Entwick¬
lung ist in der Regel der, dass zuerst eine lokale Erweiterung (Neubildung) ent¬
steht, welcher später zunehmende Verdünnung und Zerreissung folgt. Das Aneu¬
rysma gehört nicht nothwendig zur tuberkulösen Lungenphthise, sondern ist etwas
Besonderes, Accidentelles, kommt aber nicht selten in solchen Lungen zur Beob¬
achtung. Ich habe viele Fälle secirt, welche sehr ähnliche pathologische Verände¬
rungen der Lungen, jedoch ohne Aneurysma zeigten.
Es wurde schon darauf hingewiesen, dass das Platzen der Aneurysmen sich
mit einer gewissen Nothwendigkeit aus dem Verlauf des anatomischen Processes
ergiebt. Sobald die Verdünnung der Wand einen höheren Grad erreicht hat und
das Aneurysma, wie z. B. in diesem Falle, in einer grösseren Höhle liegt, kann
durch jede beliebige, schwere oder leichte Muskelarbeit (Treppensteigen, Husten-
stösse), durch geringfügige, kaum als solche zu bezeichnende, Traumen das Platzen
herbeigeführt w r erden. Aber es darf auch nicht vergessen werden, dass das Aneu¬
rysma, vielleicht nur ein wenig später, von selbst platzt; das Bersten kann nicht
etwa durch ruhiges Liegen ganz verhindert w r erden.
Das Vorgefundene geborstene Aneurysma war zum grossen Thcil mit throm¬
botischen Massen (Gerinnseln) erfüllt, das austretende Blut hat sich durch die
Gerinnselmasse hindurchgewühlt, ist hindurchgesickert. Wenn überhaupt ein Zu¬
sammenhang des Aneurysma mit dem Betriebsunfall festgestellt w'erden soll, was
nach meiner Meinung durchaus nicht einwandsfrei erscheint, so könnte derselbe
nur darin gesehen werden, dass die am folgenden Tage und im weiteren Verlauf
eingetretenen Lungenblutungen auf das Aneurysma und seine Berstung bezogen
werden, dabei müsste also vorausgesetzt werden, dass die eigentliche Gelasserkran-
kung, das Aneurysma, bereits vor dem Trauma bestand. Durch den erhöhten Blut¬
druck wäre eine nicht intacte, bereits erkrankte, erweiterte Stelle geborsten; das
Bersten wäre nicht unmittelbar im Anschluss an den Betriebsunfall eingetreten,
es hätte sich nicht um einen einfachen perforirenden Riss handeln können, son¬
dern um ein allmäliges Durchsickern innerhalb der nächsten 24 Stunden, und es
hätte während der folgenden Zeit immer weiter geblutet: am Tage nach dem Un¬
fall wurde zum ersten Male Blut im Auswurf bemerkt, welcher von diesem Termin
an häufig blutige Beimischung zeigte.
Gewöhnlich sind die Blutungen aus Aneurysmen ziemlich heftig, profus;
wäre der Tod plötzlich, sofort oder kurze Zeit darauf eingetreten, dann wäre der
Tod zweifellos die Folge der Betriebsarbeit gewesen. Aber der Tod ist keineswegs
durch Lungenblutung herbeigeführt worden; dieselbe ist, w T as häufig beobachtet
wird, überstanden worden.
Wohl können im Allgemeinen fortgesetzte Blutverluste erschöpfend wirken,
jedoch bestand in diesem Falle zugleich hektisches Fieber, Nachtschweisse, pro¬
gressiv verlaufende, ulcerös-tuberkulöse Lungenphthise, sodass der Einfluss jener
VierteUahreschr. f. ger. Med. Dritte Folge. XIV. 1. 7
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
98
Dr. Koehler,
Blutungen um so geringer anzuschlagen sein dürfte, als durch die genaue Fest¬
stellung der Obduction überhaupt Zeichen von Anämie (Blutleere des Körpers)
nicht erhoben worden sind.
Weder ist der Tod durch das Aneurysma und dessen Berstung verursacht
worden, noch ist die tödtliche Phthisis die Folge des Aneurysma gewesen. Da
zudem noch die Annahme der Berstung des Aneurysma durch den Betriebsunfall
zweifelhaft ist (das Aneurysma kann z. B. auch infolge der vielen Hustcnanfalle
geplatzt sein), so lässt sich bei besonderer Berücksichtigung des Sectionsergeb-
nisses nach meiner Meinung ziemlich sicher sagen:
Die Lungenblutung dieses Falles, eine im Verlauf einer chronischen Phthisis
aufgetretene Complication, steht in zeitlichem, nicht ursächlichem Verhältniss zu
dem Betriebsunfall.
Die Frage, ob der Tod des p. M. mit der vom Verstorbenen am 21. März d. J.
ausgeführten Betriebsarbeit in ursächlichem Zusammenhänge steht, beantworte ich
auf Grund der gegebenen Ausführungen in verneinendem Sinne.
(gez.) Dr. 0.
Das Schiedsgericht entschied im Sinne des obigen Gutachtens zu
Ungunsten der die Rente beanspruchenden Hinterbliebenen des p. M.
II. Fall.
Berlin, den 14. Juli 18%.
Auf Veranlassung des Schiedsgerichts der Arbeiter-Versicherung zu Berlin
habe ich am 12. Juli den Arbeiter Friedrich W\, geboren 19. Juni 1860 zu Gr.-S.,
Kreis Insterburg, untersucht, um fcstzustellen, „welche Folgen der Unfall vom
8. Januar 18% bei dem p. W. hinterlassen, und um wieviel — in Procenten aus¬
gedrückt — derselbe hierdurch in seiner Erwerbsfähigkeit behindert sei“.
Nach Ausweis des Actcnmaterials und nach der eigenen Erklärung des Ex-
ploranden hat er sich am 8. Jan. 1896 durch Fehltreten eine Zerrung der linken
Lendengegend zugezogen, welcher anscheinend leichten Verletzung ca. 10 Tage
darauf eine schwere Lungenerkrankung mit Bluthusten gefolgt ist. Nach thcil-
weiser Krankenhaus- und häuslicher Behandlung ist er auf widerstreitende Gut¬
achten verschiedener Aerzte hin von der Nordöstlichen Baugewerks-Berufsgenossen-
schaft mit einer Rente von 20pCt. bedacht worden, einer Rentenfestsetzung, gegen
die er bei dem Schiedsgericht Einspruch erhoben hat.
Seine Klagen sind kurz die, dass er lungenleidend sei, zwar wenig huste
und ebenso geringen Auswurf aufweise, doch sich schwach und matt fühle und
gegen früher sehr heruntergekommen sei, wenn er auch jetzt durch den augen¬
blicklichen Aufenthalt in der Heimstätte zu Malchow anfinge ein wenig kräftiger
und stärker zu werden. Arbeiten könne er zur Zeit gar nicht, namentlich nicht
mehr in seinem schweren Berufe. -• Seine Lungenerkrankung bringe er in Zu¬
sammenhang mit dem oben erwähnten Unfälle, denn er habe doch bis zu jenem
Zeitpunkte ruhig arbeiten können, ohne jemals vorher die Thätigkeit auszusetzen,
selbst nicht, als er vor ca. 4 Jahren und zuletzt vor 2 Jahren Blutauswurf gehabt
habe. Sonst wisse er nicht, an irgend einer Krankheit früher gelitten zu haben.
Nach objectiver Betrachtung und Untersuchung ist der p. W. ein inittel-
Digitizetf by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Zusammenhang zwischen Trauma und Lungentuberkulose.
99
grosses, blasses, blutarmes Individuum mit flachem Brustkörbe und tief eingefal¬
lenen oberen und unteren Schlüsselbeingruben. Die linke untere Thoraxseite
stärker convex gebogen als die rechte — er pflegte schwere eiserne Gegenstände
auf der rechten Schulter zu tragen. — Die Muskulatur ist schlaff, das Fettpolster
gering und wenig kernig.
Die physikalische Untersuchung der Lungen ergiebt deutliche Veränderungen
an beiden Spitzen und der gesammten rechten Lungenseite, Verdichtungen resp.
Höhlenbildung rechterseits, während die linke Partie, abgesehen von der Spitze,
fast normale Verhältnisse aufweist. — Da Auswurf während der Untersuchung
nicht vorhanden ist, überhaupt wenig gehustet wird, so kann eine mikroskopische
Untersuchung auf Tuberkelbacillen nicht vorgenommen werden. — An der durch
den Unfall vom 8. Januar 1896 betroffenen linken Lendengegend nichts Abnormes
festzustellen; keine Abweichung daselbst von der rechten Seite.
Fieber ist nicht vorhanden; Puls 80, zeigt nichts Besonderes. Im Urin keine
fremden Bestandteile.
Der p. W. leidet nach diesem Befunde an einer Erkrankung, die man als
Lungenschwindsucht, oder, da nach dem Gutachten des Herrn Dr. Sch.
Tuberkelbacillen nachgewiesen sind, als Lungentuberkulose bezeichnet.
Von der damals, d. h. 3 Tage nach dem Unfall festgestellten Mus¬
kelzerrung in der linken Lendengegend, „Muskelzerrung resp. partielle
Zerreissung der Muskelfasern (vermuthlich hauptsächlich im M. longissimus dorsi
und M. quadratus lumborum)“, wie Herr Dr. S. in seinem Gutachten vom 16. April
sich äusserte, und von der Herr Dr. G. bemerkte: noch Druckschmerzen und leichto
Muskelschwäche sind nachzuweisen, ist nichts mehr vorhanden, wie ja der¬
selben auch in dem Befunde des Herrn Dr. Sch. vom 18. April 1896 nicht mehr
Erwähnung geschieht.
In all’ den Gutachten, die in dem Unfälle W. bis jetzt abgegeben sind,
sowohl in denen der behandelnden Aerzte, wie demjenigen des zuletzt begutach¬
tenden Herrn Dr. G., ist indess übereinstimmend festgestellt, dass der
p. W. an Lungentuberkulose leidet, eine Diagnose, mit der auch das
Resultat meiner Untersuchung übereinstimmt.
Wenn also der p. W. an der eigentlich verletzten Lendengegend keine Ab¬
normitäten mehr darbietet, dagegen nachweisbar an Lungentuberkulose leidet,
einer Krankheit, die nach Herrn Dr. S. ca. 8—10 Tage nach dem Unfälle, am 17.
resp. 19. Jan. ihren nachweisbaren Anfang genommen haben musste — „bei den
weiteren Consultationen am 17. und 19. Jan. zeigte sich bereits ein leichter Husten,
ohne dass die Lungenuntersuchung zunächst ein positives Resultat ergeben hätte,
in der Nacht vom 19. zum 20. Jan. trat heftiger Bluthusten ein —“ so entsteht
die Frage, ist diese Lungentuberkulose als im Zusammenhänge mit
jenem Unfälle stehend aufzufassen, ist sie die Folge desselben oder
liegt sie ausser diesem Bereiche und ein einfaches zufälliges Zu¬
sammentreffen vor?
Wie streitig dieser Punkt an sich ist, geht schon deutlich aus den verschie¬
denen Urtheilen der begutachtenden Aerzte hervor. Nach Dr. S. hatte der p. W.
aller Wahrscheinlichkeit nach ein latentes Lungenleiden; ob der
acute Ausbruch der Lungentuberkulose zu der Verletzung (etwa in
Folge der Erschütterung des ganzen Körpers) in Beziehung zu bringen ist,
1 *
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UMIVERSITY OF IOWA
100
Dr. Koehler,
muss als sehr zweifelhaft erscheinen, ist alicr doch nicht als ganz
unmöglich zu betrachten.
Durchaus positiv drückt sich Herr Dr. Sch. aus, der den p. W. klinisch
beobachtet und behandelt hat. Auch er spricht von einem latenten Lungen¬
leiden nach den Angaben des W., das jedoch zuletzt zwei Jahre vor dem Unfälle
sich bemerkbar gemacht hat. „Das Lungenleiden konnte vor dem Unfälle nicht
heftig gewesen sein, das ergiebt sich aus dem allgemeinen Habitus, dem guten
Ernährungszustände und dem verhältnissmässig geringen physikalischen Befunde
bei der Aufnahme. Durch die Erschütterung, welche den Brustkorb am
8. Jan. traf, war das Leiden wieder florid geworden und durch das
Fortschreiten des Processes trat Lungenblutung' auf. Nach meiner
Ansicht besteht demnach ein ursächlicher Zusammenhang zwischen
dem Unfall und dem Leiden, deswegen der p. W. das Krankenhaus
aufsuchte.
Herr Dr. G. leugnet zwar dieMöglichkeitein es Zusammenhanges
nicht, denn möglich ist schliesslich fast Alles auf dem Gebiete der medicinischen
Wissenschaft, welche durch neue und ungeahnte Entdeckungen täglich bereichert
wird, aber erfahrungsgemäss spricht dio grössere Wall rscheinlich-
keit gegen den Zusammenhang.
Diese verschiedenen Auffassungen über einen und denselben Fall sprechen
schon hinreichend dafür, dass es nicht möglich ist, den directen Nach -
weis einos Zusammenhanges zwischen unserem Unfälle und Lungen¬
tuberkulose zu liefern; es muss hinroichen, durch grössere oder ge¬
ringere Wahrscheinlichkeitsgründe zu einem bejahenden oder ver¬
neinenden Urtheile zu kommen.
Dass grosse Gewalten auf den Brustkorb ausgeübt dirccte Verletzun¬
gen des Brustfelles und der Lungen hervorrufen, steht und stand schon früher
erfahrungsgemäss fest. Dass aber verhältnissmässig geringe traumatische
Einflüsse auf den Brustkorb oder entferntere Stellen, aber auch
allgemeine Erschütterung des Körpers schwere Folgeerscheinungen
für die Lunge mit sich bringen können, hat namentlich die Beobachtung
und Erfahrung seit dem Inkrafttreten der Unfall-Gesetzgebung erwiesen. Die Be¬
schäftigung mit diesem Gegenstände hat eine verhältnissmässig bedeutende Lite¬
ratur geschaffen, und eine grosse Reihe analoger Fälle steht zum Vergleiche zur
Verfügung.
Dass eine blosse Erschütterung des Körpers, denn darin scheint in
der Hauptsache der Unfall des p. W. bestanden zu haben, eine Lungenerkran¬
kung hervorrufen kann, stellt Dr. S. nicht in Abrede, Dr. Sch. giebt es ohne
Weiteres in unserem Falle zu, Dr. G. äussert sich bei diesem Passlis: „Der Unfall,
den der Verletzte im Betriebe erlitt, bestand lediglich darin, dass er beim Trans¬
port eines Drahtseiles auf der rechten Schulter vom Bürgersteig auf den Strassen-
danun herunterging, um sich von der Richtigkeit der Firma zu überzeugen. Hier¬
bei bekam er einen Ruck im Kreuz und erlitt eine Erkrankung, die man
wohl als Lumbago oder Muskelentzündung u. dergl. benennen mag.
10 Tage später bekam er Bluthusten. Wie will man nun beweisen,
dass ein Zusammenhang zwischen diesem Fehltritt so leichter Art
und dem 10 Tage darauf entstandenen Bluthusten bestehen soll?
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Zusammenhang zwischen Trauma und Lungentuberkulose.
101
In seiner vorzüglichen Sammelarbeit über den Zusammenhang zwischen
Trauma und Tuberkulose (Diese Vierteljahrsschr., Jahrg. 1894/95, H. 1, 1895,
S. 6S) führt Guder an: Es wird sich beim Trauma der Lunge wohl genau so
verhalten, wie beim Trauma der Knochen, von dem Volkmann sagt: „Die grosse
Mehrzahl aller tuberkulösen Knochen- und Gelenkleiden ist sicher auf traumatische
Anlässe zurückzuführen, indess nicht auf schwere Wunden und Verletzun¬
gen, sondern auf leichte Traumen, Contusionen etc.“ — Unter den von
Guder angeführten Fällen von Lungentuberkulose in Folge leichter Verletzung
spielt auch die einfache Erschütterung eine Rolle, so dass nicht einzusehen
ist, warum wir in unserem Falle nicht dieselbe Ursache annehmen sollen?
Wenn ferner dagegen eingewendet wird, dass erst ca. 9—10 Tage nach dom
Unfälle die Lungenerkrankung offenbar geworden ist, ein Zusammenhang somit
noch unwahrscheinlicher sei, so ist auch dieser Einwurf sowohl nach den Erfah¬
rungen Anderer, sowie nach den eigenen mit Leichtigkeit zurückzuweisen. Ist der
Insult auf eine bis dahin gesunde oder mit einem latenten Herde versehene Lunge
ein verhältnissmässig leichter gewesen, so wird dementsprechend nur
allmälig die Wirkung zu Tage treten. Die Krankheit setzt dann
nicht plötzlich ein, es vergehen Tage, ja bisweilon Wochen, ehe es
zu ausgesprochenen Krankheitserscheinungen kommt, und es ist daher
nicht auffallend, wenn es in dem Gutachten des Dr. S. heisst: am 8. Tage leichte
Hustenanfälle, denen dann zwei Tage darauf blutiger Auswurf folgte.
Ein weiterer Einwurf vielleicht, dass eine linksseitige Muskelzerrung
anfänglich festgestellt worden, die Lungenerkrankung indess haupt¬
sächlich die rechte Seite beträfe, ist leicht damit zurückzuweisen, dass nach
einer Anzahl von Autoren die Erkrankung der Lungen unabhängig vom
Sitze des Insultes, meist da einsetze, wo begünstigende Momente,
wie z. B. ältere pathologische Veränderungen, ihren Sitz gehabt
li-aben (cfr. Guder, 1. c. 1894, S. 294/295).
Die Rolle, die der sogenannte latente — schlummernde — tuberku¬
löse Herd in der Lunge in unserem Falle spielt, der p.W. hat angegeben
4 resp. 2 Jahre vor dem Unfälle Blut gehustet zu haben, ist insofern ohne Bedeu¬
tung für die Frage, ob die Lungenerkrankung die Folge des Unfalles vom 8. Jan.
18% ist oder nicht, als ja auch eine Verschlimmerung eines schon be¬
stehenden Leidens, wenn sich ein Zusammenhang zwischen Unfall
und Erkrankung überhaupt feststellen lässt, als Unfallsfolge zu be¬
trachten ist.
Und was den Punkt anbetrifft, dass nach dem heutigen Stande unseres
Wissens die Lungentuberkulose auf bacillärer Grundlage beruht, so
steht wissenschaftlich längst fest, dass leichte wie schwere Lungenverletzungen
sowohl durch die Wunden selbst, wie event. durch ernährungsstörende Einflüsse
und ererbte Anlage etc. der Einwanderung resp. Vermehrung der Bacillen reich¬
lich Gelegenheit geben können. Ich will hier die Worte Mendelsohn’s (cfr.
Guder, 1. c. 1895, S. 72) anführen: „Sich in derartigen Fällen hinter den Ba¬
cillus zu verstecken und zu sagen, er und nicht das Trauma mache die Tuberku¬
lose, ist wohlfeil, aber unzutreffend — es ist zwar die Kugel, welche tödtet, die
Veranlassung ist jedoch immer der Schütze.“
Digitizeit by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
102 Dr. Koehler, Zusammenhang zwischen Trauma und Lungentuberkulose.
Die zugestandene Möglichkeit eines Zusammenhanges zwischen Unfall und
Lungenerkrankung, hier aber anzunehmende Unwahrscheinlichkeit, die sich in den
Gutachten der Herren DDr. S. und G. kundgiebt, weil der Unfall im Verhältniss
zu den schweren Folgen zu unbedeutend, der Bluthusten und damit der Beginn
resp. die Verschlimmerung der Lungentuberkulose zu spät (ca. 10 Tage) nach dem
Unfälle aufgetreten seien, der p. W. zudem bereits Jahre vorher tuberkulös er¬
krankt gewesen sein muss, glaube ich dadurch zu einem hohen Grade von Wahr¬
scheinlichkeit übergeführt zu haben, indem ich nachgewiesen
a) dass es gleichgiltig ist, ob eine Verschlimmerung oder ein
neues Leiden aufgotreten ist, wenn sich nur zeitlich und
sachlich ein Zusammenhang mit dem Unfälle herbeiführen
lässt;
b) dass selbst unbedeutende Verletzungen wie Erschütterun¬
gen sowohl des Brustkorbes selbst, wie anderer Stellen des
Körpers bei vorhandener Disposition event. früherer Er¬
krankung die Entstehung resp. Verschlimmerung einer
Lungentuberkulose fördern können;
c) dass die Erscheinungen der Neuerkrankung resp. Verschlim¬
merung sich nicht direct dem Unfälle anzuschliessen brau¬
chen, namentlich wenn der Insult verhältnissmässig nur
leicht eingowirkt hat.
Ich äussere mich daher gutachtlich dahin, dass ich im Einverständnis mit
Dr. Sch. einen Zusammenhang zwischen dem am 8. Jan. 1896 erlitte¬
nen Unfälle des p. W. und seiner jetzigen Erkrankung — Lungen¬
tuberkulose — als sicher annehme und daher den p. W. nicht im Grade
von 20 püt. — wie Herr Dr. G. aus den noch vorhandenen Beschwerden in der
linken Lendengegend folgern zu müssen glaubt — sondern als zur Zeit voll¬
ständig erwerbsunfähig betrachten muss.
Zum Schluss erkläre ich, die Angaben des p. W. genau niedergeschrieben
und mein eigenes Gutachten nach bestem Wissen und Gewissen abgegeben zu
haben. Dr. Koehler, Arzt.
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UMIVERSITY OF IOWA
II. Oeffentliches Sanitätswesen.
1 .
Gutachten
der Königl. wissenschaftl. Deputation für das Medicinalwesen,
betreffend die Schutzpockenimpfung und die Dispo¬
sition für die Erkrankung an Tuberkulose.
(Erster Referent: Gerhardt.)
(Zweiter Referent: v. Leyden.)
Ew. Exeellenz haben von der gehorsamst Unterzeichneten wissen¬
schaftlichen Deputation eine gutachtliche Aeusserung darüber befohlen,
ob in der That, event. unter welchen Voraussetzungen, die Schutz¬
pockenimpfung im Stande ist, eine Disposition für die Erkrankung an
Tuberkulose bezw. Skrophulose zu schaffen?
Seit Entdeckung des Tuberkel bacillus als Ursache der Tuberku¬
lose ist die Behauptung, dass durch die Impfung Tuberkulose ent¬
stehe, unmöglich geworden. Nun taucht die Behauptung auf, dass
die Disposition zur Erkrankung an Tuberkulose durch die Impfung
geschaffen werde. Die Annahme ist sehr verbreitet, dass durch Be¬
stehen oder den Ablauf gewisser Krankheiten im menschlichen Körper
eine grössere Empfänglichkeit für Erkrankung an Tuberkulose ge¬
schaffen werde. Dies wird z. B. angenommen von Zuckerharnruhr,
Masern, Keuchhusten und im Allgemeinen von entkräftenden Krank¬
heiten. Gehört dazu auch die kurzdauernde fieberhafte Erkrankung,
welche durch die Impfung hervorgerufen wird?
Da Tuberkulose die häufigste Krankheit des Menschen ist, wer¬
den natürlich auch eine Anzahl Geimpfter und Wiedergeimpfter an
Tuberkulose früher oder später nach der Impfung erkranken. Wer
solche Fälle sammelt, wird natürlich Material in Masse vorfinden, wer
Digitized by
Go^ gle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
104
Gutachten <ler König:!, wissenschaftlichen Deputation.
mehrere gesucht oder ungesucht zu Gesicht bekommt, oder zu Gehör,
wird, wenn er sich nur den nächsten Eindrücken hingiebt, geneigt
sein, die Thatsachen der früheren Impfung und der späteren Erkran¬
kung an Tuberkulose in Zusammenhang zu bringen. Zur Zeit ist je¬
doch keinerlei Kennzeichen bekannt, aus dem man erkennen und be¬
weisen könnte, dass im Einzelfalle die nach der Impfung entstandene
Tuberkulose oder Skrophulose Folge der Impfung sei oder woraus
man beweisen könnte, dass ein Einzelner nach der Impfung zur Er¬
krankung an Skrophulose oder Tuberkulose geneigter sei als nicht
geimpfte Menschen. Eine derartige auf den Einzelfall gerichtete Be¬
hauptung muss deshalb als willkürliche und unerweisbare gelten.
Sollte jedoch aus den Sterblichkeitsverhältnissen im Grossen ein
Beweis in dieser Richtung versucht wmrden, so müsste man sagen:
Die häufigste Todesursache ist für die heutige Zeit Tuberkulose. Hätte
sich die Häufigkeit der Tuberkulose durch die allgemeine zwangsweise
Impfung vermehrt, so würde die Sterblichkeit der Menschen im Gan¬
zen seit Einführung des Impfzwanges zugenommen haben. Dies ist
jedoch nicht der Fall. Ferner: trotz fortbestehendem Revaccinations-
zwange hat sich die Sterblichkeit an Tuberkulose in der preussischen
Armee vermindert. Ein Beweis dafür, dass Impfung zu Tuberkulose¬
erkrankung geneigt mache, liegt zur Zeit weder im Einzelnen noch
im Grossen vor.
Man kann nur nach allgemein-pathologischen Erfahrungen ver-
muthen, dass entkräftende Erkrankungen, welche durch fehlerhafte
Impfung hervorgerufen wurden, wie Rothlauf, septische Infection, Sy¬
philis, den Körper so schwächen können, dass er dem Eindringen und
Wuchern von Tuberkelbacillen weniger Widerstand entgegen zu setzen
vermag. Auch kann man die Möglichkeit nicht ganz in Abrede stellen,
dass bei Kindern, die irgendwo in ihrem Körper, z. B. in sogenannten
skrophulösen Lymphdrüsen schon Tuberkelbacillen beherbergen, in ein¬
zelnen Ausnahmefällen mit starker fieberhafter Erkrankung eine raschere
Vermehrung oder Verbreitung dieser Bacillen ermöglicht oder begün¬
stigt werden könne. Abgesehen von diesen ganz vereinzelten Fällen
muss die Annahme, dass durch die Impfung eine Disposition zur Ent¬
stehung von Skrophulose oder Tuberkulose begründet werde, als un-
erwiesen bezeichnet werden.
Berlin, den 10. März 1897.
(Unterschriften.)
Digitized by
Gck gle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
2 .
Die Verbreitung der Cholera durch das Wasser und
die Massnahmen gegen dieselbe vom sanitätspolizei-
lichen Standpunkte.
Von
Dr. Ottokar Brnnzlow in Köslin,
Stabsarzt des Kadettenliauses.
(Schluss.)
Nun wären die angeführten Unregelmässigkeiten im Betriebe von
geringerer Bedeutung, wenn die Möglichkeit bestände, schlecht arbei¬
tende Filter schnell zu erkennen und ihr Filtrat vom Consum auszu-
sehüessen. Diese Möglichkeit ist aber in der That nicht vorhanden.
Die einzige zuverlässige Untersuchungsmethode ist die bakteriologische,
diese aber arbeitet für den genannten Zweck zu langsam. Nach dem
bisher gebräuchlichen Gelatineplatten verfahren, wie es auch in Ham¬
burg und Altona angewendet wird, kann ein vorläufiges Ergebniss
nach 24.Stunden, das endgültige nach 2—3 Tagen gewonnen werden.
Diese Frist reicht wohl hin, um Betriebsstörungen alsbald zu ent¬
decken und eine weitere Benutzung des schlecht arbeitenden Filters
zu verhindern. Das mangelhaft befundene Filtrat ist dann aber stets
schon an die Consumenten geliefert worden, wenn der Controlirendc
seine Beschaffenheit feststellen kann. Ein Urtheil über die Beschaffen¬
heit des Products vor seiner Abgabe zu gewinnen, ist mit unseren
heutigen Einrichtungen völlig unmöglich. Wenn bei diesem mangel¬
haften Stande der Filtrationstechnik Leitungsepidemien nicht häufiger
beobachtet worden sind, so liegt das eben nur daran, dass zum Zu¬
standekommen einer Epidemie die Insufficienz der Filter mit dem
Vorhandensein des Infectionsstoffes zusammen fallen muss, und dass
der Cholerakeim in unseren Gewässern ein seltener Gast ist. Ob
Digitized by
Go^ gle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
106
T>r. Brunzlow,
aber nicht viele Typhusepidemien einem solchen Zusammentreffen ihre
Entstehung verdanken, wäre noch zu erörtern; doch liegt das ausser¬
halb des Rahmens dieser Arbeit.
Solche Erfahrungen haben längst in weiten Kreisen der Fach¬
männer zu zahlreichen Versuchen geführt, eine Reinigung auf anderem
Wege als durch die Sandfiltration zu erreichen. Bis jetzt freilich ohne
befriedigenden Erfolg. Alle anderen Filtereonstructionen scheinen noch
weniger keimdicht zu arbeiten als die Sandfilter, und die übrigen Rei¬
nigungsmethoden, welche theils durch chemische Agentien, wie das
Verfahren von Kröhnke in Altona, theils durch Elektrolyse oder
andere Mittel die Keimfreiheit erstreben, sind über das Stadium des
Versuchs noch nicht hinausgekommen.
Der Hygieniker und Medicinalbeamte sieht sich also gezwungen,
den Wasserversorgungen mit Flusswasser seine Zustimmung zu ver¬
sagen und nach anderen Bezugsquellen Umschau zu halten. Es lässt
sich nicht verkennen, dass alle die bisher in Gebrauche befindlichen
oder versuchten Reinigungsmethoden das Ziel vollständig verrücken
und sich dadurch die zu erfüllende Aufgabe ganz ausserordentlich
erschweren. Denn sie alle streben danach, ein völlig bakterienfreies
Wasser zu gewinnen. Nun hat aber die Bakteriologie stets gelehrt,
dass unsere Einrichtungen niemals „pilzdicht“ arbeiten können, und
dass es nur darauf ankommt, den pathogenen Bakterien die Wege ab¬
zuschneiden. Bezüglich der Wasserversorgung hat nur Hueppe bis
jetzt diesen Standpunkt streng festgehalten. Er hat schon im Jahre
1887 in seinem Referate für den Verein der Gas- und Wasserfach¬
männer: „Ueber die Beurtheilung centraler Wasserversorgungsanlagen
vom hygienischen und bakteriologischen Standpunkte“, die Forderung
aufgestellt, dass die Entnahmestelle des Wassers so zu wählen sei,
dass eine Infection überhaupt unmöglich gemacht werde 1 ). Eine solche
Anlage ist immer möglich, wenn man zur Speisung des Werkes Grund¬
oder Quellwasser wählt. Diese Erkenntniss hat auch bei einer Reihe
von centralen Anlagen schon bestimmend gewirkt, und die Werke von
Danzig, Frankfurt a. M., Charlottenburg und manche andere beruhen
auf diesem Princip. Leider lässt sich dasselbe noch nicht aller Orten
durchführen, denn an vielen Punkten, besonders in der norddeutschen
1) Hueppe, Die Choleraepidemie in Hamburg 1892. Berl. klin. Wochen
schritt. 1892. No. 4.
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSITÄT OF IOWA
Verbreitung der Cholera durch das Wasser.
107
Tiefebene, haben die Bohrversuche bisher noch kein geeignetes Grund¬
wasser gefördert.
Für diese so überaus ungünstig gestellten Orte bleibt nun end¬
lich noch die Möglichkeit, auf das System der Römerzeit zurückzu¬
greifen, d. h. unverdächtiges Grund- oder Quellwasser • zu sammeln,
wo es immer zu haben sei, und in langen, gedeckten Leitungen den
Städten zuzuführen. München und Wien besitzen solche Hochquell¬
leitungen, befinden sich allerdings auch in der günstigen Lage, die
Quellen des Gebirges in leicht erreichbarer Nähe zu haben. Für die
Städte der norddeutschen Tiefebene wäre eine gleiche Anlage mit weit
grösseren Schwierigkeiten und fast unerschwinglichen Kosten verknüpft.
Hier besteht zur Zeit noch eine Lücke in unseren hygienisch-tech¬
nischen Einrichtungen.
Die Flussepidemien.
Die Thatsache, dass die Cholera auf ihren Wanderzügen den
Strassen des menschlichen Verkehrs folgt und unter diesen wieder die
Wasserstrassen besonders bevorzugt, ist so lange den Beobachtern
aufgefallen, als es Cholera giebt. Als die Seuche im Jahre 1831 zum
ersten Male deutschen Boden betrat, ging ihr die Nachricht vorher,
dass sie in ihrer Heimath Indien sowohl, als auch auf ihrem Zuge
durch Russland den Flussläufen gefolgt sei 1 ). In Deutschland kam
man bald zu derselben Ueberzeugung, welcher das preussische Regu¬
lativ von 1835 klaren Ausdruck gegeben hat. Im Jahre 1866 traten
die Verschleppungen durch die Truppen mehr in den Vordergrund.
Dagegen zeigte die grosse Epidemie von 1873 das für Deutschland
typisch gewordene Bild der Wanderung der Seuche von der russischen
Grenze die Weichsel abwärts und von ihr durch die Brahe, Brora-
beiger Kanal, Netze, Warthe zur Oder, von wo aus die Zerstreuung
auf den dort sich nach allen Seiten verzweigenden Wasserstrassen
erfolgt. Genau dasselbe Bild hat uns das Jahr 1894 gebracht. Die
Epidemie von 1892 in Deutschland zeigte an Elbe und Oder, die von
1886 in Ungarn an Donau und Theiss das gleiche Verhalten 2 ).
Als man anfing, diese Thatsachen im Lichte der bakteriologischen
Forschung zu betrachten, als die ersten Fund§ von Kommabacillen
1) Reineke, Die Cholera in Hamburg und ihre Beziehungen zum Wasser.
S. 24.
2) Verhandlungen des VI. internat. Congresses für Hygiene. Wien 1887.
Digitized by
Go», igle
Original frnm
UMIVERSITY OF IOWA
108
Dr. Brunzlow,
im Wasser der Ströme, an denen entlang sich die Seuche bewegte,
bekannt wurden, neigte man zu der Annahme, das Flusswasser werde
von den Cholerabacillen ziemlich gleichmässig durchsetzt und sei also
an allen Orten geeignet, Infection und damit neue Epidemien zu er¬
zeugen. Dei- Begriff der „Stromverseuchung“, wie er sich damals zu
entwickeln begann, hat manchen Massnahmen, die gegen die Verbrei¬
tung der Cholera an den Flüssen ergriffen wurden, seinen unverkenn¬
baren Stempel aufgedrückt. Aber die Thatsaehen, welche der weitere
Verlauf der Epidemien an die Hand gab, passten zu dem ursprüng¬
lichen Inhalte dieses Begriffes nicht ganz. So regte sich von vielen
Seiten der Widerspruch gegen diese Theorie und damit auch gegen
die Durchführung strenger Massregeln, und auf der letzten Versamm¬
lung des deutschen Vereins für öffentliche Gesundheitspflege in Magde¬
burg, wie gelegentlich der Schlussconferenz für den Stromüberwachungs¬
dienst im Weichselgebiete zu Danzig am 1. December 1894 fand er
öffentlichen Ausdruck.
Dass Flussläufe in der Tliat ziemlich lange Cholerabacillen ent¬
halten können, ist oben gezeigt worden. Besonders häufig sind Ver¬
seuchungen dieser Art in grösseren Städten mit ausgedehnten Hafcn-
anlagen an Flüssen beobachtet worden. Die Gründe hierfür werden
wir in denselben Verhältnissen zu suchen haben, welche auch für viele
an grösseren oder kleineren Landseen, selbst an Teichen gelegene
Städte bedeutungsvoll geworden sind. Beide sollen deshalb auch im
Zusammenhänge betrachtet werden.
Das erste in allen seinen Einzelheiten genau studirtc Beispiel ist
die von Koch und Gaffky 1 ) beschriebene Epidemie an einem Tank
in Kalkutta. Diese von Meteorwässern gefüllten und meist stark ver¬
unreinigten Wasserbecken haben stets die Mittelpunkte umschriebener
Epidemien gebildet. Die Bewohner der unmittelbar an ihnen liegen¬
den Hütten benutzen ihr Wasser sowohl zum täglichen Baden, wie
zur Vornahme der vorgeschriebenen religiösen Waschungen. Ferner
wird die sämmtlichc schmutzige Wäsche im Tank gewaschen und
ausserdem das für Haus- und Küchenzwecke erforderliche Wasser aus
l hm entnommen. Dass es auch zum Trinken benutzt wird, kann um
so weniger bezweifelt werden, als Koch Gelegenheit hatte zu beob¬
achten, dass Wasserträger ihre Lederschläuche damit füllten, um es
in die benachbarten Wohnungen zu tragen, und dass Badende ihren
1) Koch und Gaffky, a. a. 0. S. 184.
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
Verbreitung der Cholera durch das Wasser.
105)
Mund mit diesem Wasser reinigten und es dann wieder in den Tank
ausspieen. Ebenso wie die gesamrate übrige Wäsche wurde natürlich
auch diejenige der Cholerakranken, welche sich zu jener Zeit in den
umliegenden Hütten befanden, in diesem Tank gewaschen. Die Ab¬
tritte, halb in die Erde vergrabene irdene Töpfe, die stets bis zum
Ueberlaufen gefüllt sind, erfahren keine andere Reinigung, als dass
bei heftigen Regengüssen ihr Inhalt fortgespült und natürlich in den
Tank hineingeschwemmt wird. Kein Wunder, dass, wenn in einer
dieser Hütten ein Cholerafall vorkommt, die anderen Anwohner infic.irt
werden. Dass in der That das Tankwasser der Träger der lnfection
ist, hat Koch mit Sicherheit durch den Nachweis der Kommabacillen
in demselben festgestellt.
Diese kleine, geradezu typisch verlaufene Epidemie stellt ein
Paradigma dar, welches auf eine grosse Zahl in Europa beobachteter
Fälle unmittelbar anzuwenden ist. Es erscheint auf den ersten Blick
paradox, in hochcivilisirten Ländern dieselben Bedingungen anschul¬
digen zu wollen, welche in Indien, einem Lande, dessen Zustände auch
den niedrigsten Anforderungen der Hygiene Hohn sprechen, wirksam
sind. Doch schlagen wir die Geschichte der deutschen Epidemien
auf. Aus dem Jahre 1873 berichtet Hirsch 1 ): Der Ort Kulmsee in
Westpreussen „bezieht mit Ausnahme weniger Häuser den ganzen
Wasserbedarf aus dem Sec, in welchen säramtliche Abfälle aus der
Stadt durch offene Rinnsteine abgeführt werden, und zwar mündet
einer der Hauptkanäle gerade an der Stelle des Ufers, welche vor¬
zugsweise als Schöpfstelle benutzt wird; nur etwa 12 Häuser in der
Stadt haben tiefgelegte Brunnen, welche brauchbares und gutes Wasser
geben, und gerade die Bewohner dieser Häuser sollen von der Cholera
auffallend verschont geblieben sein, während unter der Bevölkerung
der benachbarten Grundstücke, welche übrigens unter denselben so¬
cialen Verhältnissen lebten, die Krankheit zahlreiche Opfer gefordert
hat, und in 5 von armseligen Leuten sparsam bewohnten Häusern, die
unmittelbar am See und an der Ausmündung jenes Rinnsteins liegen,
11 Todesfälle an Cholera vorgekommen sind.“ Ein ganz analoges
Beispiel erzählt der Regierungs-Medicinalbcricht von Königsberg aus
dem Orte Cräraersdorf, Kreis Allenstein 2 ): „In diesem Orte existirt
1) Hirsch, Das Auftreten und der Verlauf der Cholera in den preussischen
Provinzen Posen und Preussen während der Monate Mai—September 1873. Berlin
1874. Reisebericht.
2) Hirsch, Die Choleraepidemie des .Jahres 1873 in Norddeutschland. S. (58.
Digitized by
Gck 'gle
Original frnm
UMIVERSITY OF IOWA
110
Dr. Brunzlow,
nur ein Brunnen, welcher Privatbesitz ist. Die gesaramte Einwohner¬
schaft benutzt zum Trinken, Waschen, Küchenbedarf das Wasser eines
im Dorfe gelegenen Teiches. Crämersdorf wurde von der Cholera
schwer heimgesucht, nur die eine Familie, welche diesen Brunnen be¬
nutzte, blieb ganz verschont.
Ein klassisches Beispiel von Hafenverseuchung bot Hamburg im
Jahre 1892. Von jeher hat diese Stadt ihren gesammten Unrath der
Elbe zugeführt. Früher geschah es in der Art, dass jedes Haus seine
Abwässer dem nächsten Wasserarm: Elbe, Alster oder Fleth über¬
antwortete; seit die Stadt kanalisirt ist, führen die Siele die Auswurfs¬
stoffe von jetzt nahezu 600000 Menschen an verschiedenen Stellen in
die Elbe. Alle diese Auslässe liegen innerhalb der Stadt. Da nun
die Fluth das Elbwasser täglich zweimal zurückstaut und es unter
Umständen um mehrere Kilometer stromaufwärts treibt, so wogt diese
verunreinigte Wassermasse beständig durch den ganzen Hafen auf und
ab und findet nur langsam ihren Abfluss. Zur Charakteristik dieses
Wassers mag; es dienen, dass man nicht selten in der Gegend des
Hauptsiels bei den Landungsbrücken feste Fäkaltheile im Strome
schwimmend trifft, und dass Verfasser dieser Arbeit gelegentlich von
Sterilisirungsversuchen beobachten konnte, dass mitten in der Elbe
geschöpftes Wasser beim Umrühren im Standgefässe einen seifenartigen
Schaum bildete, der viertelstundenlang stehen blieb. Welches Unglück
die Stadt dadurch traf, dass sie solches Wasser ungereinigt ihrer Lei¬
tung überantwortete, ist schon besprochen worden. Aber auch hier¬
von abgesehen, stellt das Hafenwasser eine stete lnfectionsgefahr dar.
Nicht allein die Mannschaften der im Hafen liegenden Schiffe, sondern
die gesammten an und auf dem Strome beschäftigten Arbeiter kom¬
men damit in ständige Berührung, waschen sich darin und trinken es
nicht selten. Wie diese Verhältnisse auf die Erkrankungsziffern der
in Rede stehenden Bevölkerungsklassen eingewirkt haben, ist früher
schon dargethan. In hochinteressanter Weise haben ferner die Unter¬
suchungen von Reineke gelehrt, dass bei allen Choleraepidemien
Hamburgs der Hafen den locus minoris resistentiae abgegeben hat 1 ).
So entfallen in den Epidemien von 1831 und 1832 ein Siebentel aller
Erkrankungen auf Leute, die am Wasser arbeiten, sämmtliche Epi¬
demien ohne Ausnahme zeigen eine vorwiegende Betheiligung der um
1) Reineke, Die Cholera in Hamburg und ihre Beziehungen zum Wasser.
S. 22, 33, 71 u. s. w.
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITÄT OF IOWA
Verbreitung der Cholera durch das Wasser.
111
den Hafen gelegenen Stadttheile, und vielfach hat sich auch im Hafen
der Ausgangspunkt der Epidemie nachweisen lassen. Ist solcher Ge¬
stalt die dort arbeitende Bevölkerung der Infection besonders ausge¬
setzt, so verschleppt diese natürlich die Krankheit in alle jene Stadt¬
gebiete, wo sie ansässig ist. Die Karte, welche Gaffky seinem Werke
über die Cholera in Hamburg von 1892 beigegeben hat, zeigt die
Richtigkeit dieser Annahme in der augenfälligsten Weise.
Was hier von Hamburg eingehender auseinandergesetzt worden
ist, hat sich fast bei allen Städten mit Hafenanlagen an Flüssen nach-
weisen lassen. In Berlin sind 1873 und 1892 die ersten Erkrankun¬
gen auf Schiffen vorgekommen und haben von dort aus die Stadt in-
fieirt; in Thom und Danzig konnte 1894 das Gleiche beobachtet wer¬
den. Immerhin liegen in vielen dieser Städte die Verhältnisse nicht
so ungünstig wie in Hamburg, weil sie ihre Fäkalien nicht dem Strome
überantworten. Denn das geht ja aus dem Gesagten klar hervor,
dass gerade in dem circulus vitiosus, welcher den eigenen Unrath
immer von neuem in die Stadt zurückführt, der Kernpunkt der Miss¬
stände zu finden ist. Dem gleichen Uebel begegnen wir da, wo nicht
grosse Wasserbecken, sondern Gräben und Kanäle den Sammelpunkt
der Abwässer bilden. In Demmin erkrankte im November 1892 eine
Todtenfrau und ihr Mann an Cholera. Die Abgänge beider Personen
gelangten zum Theil in den vorbeifliessenden Mühlengraben. Kurze
Zeit darauf wurde in einem etwas weiter abwärts an diesem Graben
gelegenen Hause ein junges Mädchen krank, deren Familie das Wasser
des Grabens zum Waschen und Reinigen zu benutzen pflegte 1 ). —
Das Städtchen Tiegenhof im Weichseldelta wird von einer grossen
Zahl von Ent- und Bewässerungsgräben durchzogen, die mit dem
Tiegefluss in Verbindung stehen, und deren Wasser von den Einwoh¬
nern vielfach zu Wirthschafts- und Trinkzwecken benutzt wird. Im
Jahre 1873 hielt sich die Cholera besonders in einer Strasse, die von
zwei derartigen Gräben umgeben war. Nachdem dieselben in späteren
Jahren zugeschüttet worden, ist bei der Epidemie von 1894 in jener
Strasse nicht ein Fall vorgekommen, obwohl die dort hausende arme
Bevölkerung sich sonst in nichts geändert hat 2 ). — Eine grosse Zahl
von Beispielen derselben Art finden wir auch in den Berichten aus
1) Sitzungsberichte der Choleracommission. In: Acten des Staatscommissars
für das Weichselgebiet.
2) Acten des Staatscommissars für das Weichselgebiet.
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
112
Dr. Brunzlow,
dein Jahre 1873 J ). Ganz besonders wird dort aber daraufhingewiesen,
dass die Cholera mit Vorliebe an den Ufern kleiner Flüsse, auch sol¬
cher, die für einen Verkehr zu unbedeutend waren, festen Fuss ge¬
fasst habe. Zum Theil wird diese Erscheinung direct durch die Ein¬
mündung der Abzugskanäle erklärt, z. B. für die Städte Bischofsburg,
Soldau, Neidenburg, Braunsberg im Reg.-Bez. Königsberg. Dasselbe
hat sich nicht nur innerhalb der Ortschaften, sondern auch auf weitere
Strecken bemerkbar gemacht. So heisst es dort 1 2 ): „Der Kreis Pr.-
Eylau wird von einem kleinen, sumpfigen Flüsschen durchzogen; fast
in allen an demselben gelegenen Ortschaften des Kreises sind Cholera¬
fälle beobachtet worden.“ Aus den Kreisen Glatz, Habelschwerdt und
Strehlen im Reg.-Bez. Breslau und aus dem Reg.-Bez. Marienwerder
wird das Gleiche berichtet 3 ). Besonders interessant hat sich die Dre-
wenz verhalten. Tn der an ihr gelegenen Stadt Strasburg „haben vor¬
zugsweise diejenigen Strassen gelitten, welche an einem zur Sommers¬
zeit zumeist stagnirenden Abzugskanalc liegen, in welchen sämmtliehe
Abfälle aus den höher gelegenen Thcilen des Ortes cinmünden, und
welcher, durch die Stadt verlaufend, . . . schliesslich in die Drewenz
einmündet.“ Weiterhin heisst cs dann ebenda, dass die Cholera sich
wesentlich längs dieses Flusses verbreitet und in acht an ihm gelege¬
nen Ortschaften am heftigsten gehaust habe 4 ).
Die angeführten Beispiele entstammen den Federn sehr zahlreicher,
verschiedener Berichterstatter. Um so bedeutungsvoller ist es, dass
sie Alle zu der Uebcrzeugung gekommen sind, dass der Grund für
die Verbreitung der Cholera an solchen Flüssen in der Verunreinigung
ihres Wassers durch Abzugskanäle und seiner späteren Benutzung für
Haushaltszwecke zu suchen sei. Von vielen Seiten wird ausdrücklich
betont, dass ein Verkehr auf diesen Gewässern nicht stattfinde, also
auch nicht für die Verschleppung der Seuche verantwortlich gemacht
werden könne. Ich halte es für um so wichtiger, auf diese That-
sache hinzuweisen, als neuerdings wieder Bujwid versucht hat, für
ähnliche Beobachtungen in Polen den Verkehr zur Erklärung der Aus¬
breitung der Epidemie heranzuziehen 5 ). Nach den Mcdicinalberichten
1) Hirsch, Die Cholera-Epidemie des Jahres 1873 in Norddeutschland. S. 70.
2) Hirsch, Ebenda. S. 62, 67, 75.
3) Ebenda.
4) Hirsch, Ebenda. S. 60—61.
5) Bujwid, Die Entstehung der Cholera in Polen 1802. Zcitschr. f. Hy¬
giene. Bd. XIV.
Digitized by
Gck gle
Original frnm
UNIVERSITÄT OF IOWA
Verbreitung der Cholera durch das Wasser.
113
aus dem Jahre 1873 kann es keinem Zweifel unterliegen, dass an
kleinen Flüsschen und Bächen eine förmliche Verseuchung und ein
Transport des Infectionsstoffes durch das Wasser beobachtet worden ist.
Halten wir hieran fest, so wird es uns auch nicht schwer lallen,
diejenigen Beobachtungen richtig zu würdigen, welche gelegentlich der
Cholera im Weichselgebiete im Sommer 1894 gemacht worden sind,
und die eingehend zu studiren mir durch die Güte Seiner Excellenz,
des Herrn Staatsministers Dr. v. Gossler gestattet worden ist. Unter
allen früheren Erfahrungen hatte nur die von Ko eh an der Saale ge¬
wonnene die Betheiligung des Wassers auch bei grösseren Flüssen
ausser Frage gestellt. Die von den Rieselfeldern der Irrenanstalt zu
Nietleben in die Saale gelangten Kommabacillen führten zu Erkran¬
kungen in vier bis zu 20 km unterhalb am Flusse gelegenen Ortschaften.
Diese Verschleppung fand statt zu einer Zeit, wo der ganze Fluss mit
Eis bedeckt war, konnte also nur durch das Wasser erfolgt sein. Alle
anderen Fälle von sogenannter Stromverseuchung schienen weit mehr
^ür eine Verschleppung des Keimes durch den Schifffahrtsverkehr zu
sprechen.
Aus der Zahl der an der Weichsel gemachten Beobachtungen hebt
sich zunächst eine in sich abgeschlossene Epidemie heraus, deren Ent¬
stehung zweifellos auf eine Verseuchung des Flusses zurückzuführen
war. Von der jetzigen Weichselmündung bei Neufähr nach Westen
dehnt sich in einer Länge von etwa 16 km bis Neufahrwasser der
alte Unterlauf des Stromes aus. Diese von der Stromweichsel durch
eine Schleusenanlage bei Plehnendorf getrennte todte Weichsel hat
äusserst geringe Strömung. Ihre westliche (untere) Hälfte bildet den
weit sich ausdehnenden Hafen Danzigs und enthält die Lagerplätze
für ansehnliche Mengen russischen Holzes. Die Mannschaft dieser
Flösse wird schon an der Plehnendorfer Schleuse entlassen, um von
Danzig aus mit der Bahn in die Heimath zurückzukehren, während
die unbemannten Flösse durchgeschleust und durch Dampfer zum
Lagerplatz geschleppt werden. Am 9. Juli erkrankte ein Flösser auf
der Landstrasse von Plehnendorf nach Danzig an schwerer Cholera.
Das von ihm geführte Floss wurde deshalb auf der todten Weichsel,
etwa 6 km oberhalb Danzigs beim Dorfe Krakau isolirt verankert,
und die Stelle, wo die Strohhütte des Kranken gestanden hatte, durch
Uebergiessen mit Kalkmilch, wie es schien ausreichend, desiuficirt,
denn die Untersuchung einer zwischen den Balken entnommenen Wasser¬
probe Iiess keine Kommabacillen entdecken. Erst später kam man
Vierte^Abrsschr. f. ger. Med. Dritte Folge. XIV. 1. g
Digitized by
Gck gle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
114
Dr. Brunzlow,
zur Erkenntniss, dass durch diese Methode der grössere im Wasser
liegende Theil der Balken, der mit einer dicken Schlammschicht über¬
zogen ist, nicht desinficirt wurde, nachdem in einer zweiten am 17. Juli
entnommenen Wasserprobe im Institut für Infectionskrankheiten Cho¬
lerabacillen gefunden worden waren. Auf dieses Ergebniss hin wurde
einige Tage später das Floss ausgewaschen, d. h. zerschlagen und zu
Lande geschafft. Es muss hier gleich horvorgehoben werden, dass
ein anderer Weg, auf dem Cholerabacillcn in das Weichselwasser ge¬
kommen sein könnten, oder eine andere Einschleppung in jene Gegend
mit Sicherheit auszuschliessen sind. Die Luft- und Wassertempera¬
turen waren zu jener Zeit ausserordentlich hoch, letztere schwankten
von Mitte Juli bis zum 12. August zwischen 19 und 23° C. und sanken
erst gegen Ende August erheblich. Die ersten Erkrankungsfälle kamen
am 13. und 14. Juli auf zwei am Holm bei Danzig liegenden Schiffen
vor, und am 1. und 9. August wrnrdc je ein Haus auf dem Holm be¬
fallen. Inzwischen waren bei der Ankerstelle des infectiösen Flosses
Erkrankungen in Krakau am 19., und am gegenüberliegenden Ufer in
Kl.-Plehnendorf am 26. Juli aufgetreten, allesammt bei Leuten, in
deren Haushalte das Weichselwasser ausgedehnte Verwendung gefunden
hatte. Nach dem 26. erfolgte die Beseitigung des Flosses; weitere
Erkrankungen kamen in jener Gegend nicht vor. Mit dem 9. August
kam eine neue Epidemie in der Danziger Vorstadt Althof zum Aus¬
bruch und localisirte sich namentlich um den in die Weichsel ein¬
mündenden Stagnetcr Graben, in dem auch bald darauf Cholerabacillen
gefunden wurden. An diesem Graben wurden auf einem Holzbearbei-
tungsplatzc zahlreiche Arbeiter beschäftigt, welche nun sowohl nach
Neufähr wie nach Kl.-Plehnendorf die Seuche verschleppten. Ein in
der Nähe des Grabens liegender Dampfer wurde ebenfalls inficirt, des¬
gleichen ein Schiff, das in jenen Tagen dort vorüberfuhr, um dann in
Danzig zu ankern. Am 20. August brach die Seuche in dem gerade
gegenüber von Althof gelegenen Troyl aus. Auch die westliche Vor¬
stadt Schidlitz war, bereits am 13. Juli, von den am Holm liegenden
Schiffen aus angesteckt. Indessen gelang es energischen Abwehrraass-
regeln, welche sogleich bei jedem neuen Falle ins Werk gesetzt, wur¬
den, alle diese kleinen Herde auf sich selbst zu beschränken und die
Seuche von Danzig selbst fernzuhalten. Am 19. August erreichte sie
in Althof, am 27. in Troyl ihr Ende. Am 16. August begegnen wir
noch einigen Fällen in Weichselmünde, wohin der Keim nur auf dem
Wasserwege verschleppt sein konnte; andere Herdbildungen kamen
Digitized by Gougle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
Verbreitung der Cholera durch das Wasser.
115
nicht mehr vor, und am 28. August war die Epidemie erloschen. Sie
hatte 50 Tage gedauert und während dieser Zeit 50 Erkrankungen
mit 18 Todesfällen geliefert, unter denen 12 mit voller Deutlichkeit
auf eine Infection durch Weichselwasser hinwiesen, während bei den
übrigen in directer Ucbertragung durch Kranke theils innerhalb der¬
selben Familie, theils von Haus zu Haus die Erklärung zu linden war.
Diese scharf umschriebene Epidemie ist aus mehreren Gründen
interessant. Erstens ist sie in allen ihren Einzelheiten genau beob¬
achtet. Die Infectionsquelle ist vollkommen eindeutig gegeben, die
Krankheit ergreift nur Leute, die in häufige, nahe Berührung mit dem
Wasser kommen, und sie wird trotz aller Bekämpfung durch Isolirung,
Quarantänelegung und Desinfection an immer neuen Punkten durch
den inficirten Strom wieder entzündet. Zweitens zeigt sie, wie lange
unter günstigen Bedingungen (hohe Wassertemperaturen, geringe Strö¬
mung, welche die Bacillen nicht schnell von dannen führt) der Infec-
tionsstoff sich nach einmaliger Einschleppung in einem solchen todten
Stromabschnitte halten kann. Endlich weist sie eine ganz eigenartige
räumliche Vertheilung auf, welche sehr gegen die Annahme spricht,
dass während des Zeitraums von 50 Tagen, während dessen die todte
Weichsel als verseucht gelten musste, in allen ihren Theilen der In-
fectionsstoflf enthalten gewesen sei. Die Epidemie bewegt sich lang¬
sam und in grossen Sprüngen in der Richtung des Flusslaufes fort,
deutlich der Strömung folgend, soweit nicht die Verschleppung durch
erkrankte Personen eine Verbreitung in anderen Richtungen bedingt.
Dabei hat der Infectionsstoff eine äusserst geringe Fähigkeit, sich im
Strome lange an einem Punkte zu behaupten. Sobald das inficirte
Floss entfernt ist, hören die Ansteckungen durch das Flusswasser im
oberen Theile des Stromes auf; nur in dem Stagneter Graben findet
der Krankheitskeim gewissermassen einen Schlupfwinkel, in dem ei-
längere Zeit zu verweilen vermag.
Betrachten wir nun den Verlauf der Epidemie an dem Weichsel¬
strome selbst.
Seit dem April 1894 war die Seuche in Russisch-Polen in be¬
ständigem Vorrücken gegen die Grenze begriffen und hatte Ende Mai
sämmtliche Weichselgouvernements erfasst. Am 31. Mai kam der
erste sichere Fall auf deutschem Boden in Schilno vor. Es folgten
noch drei weitere Fälle ebenda, sämmtlich bei Leuten, die intensiv
mit dem Wasser zu thun hatten. Am 8. Juni erkrankte und starb
ein Wasserbau arbeiter bei Getan zwischen Thorn und Schulitz. Am
8*
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
116
Dr. Brunzlow,
4. Juni wurde bei der Plehnendorfer Schleuse ein Flösser krank ge¬
funden. Dieser litt seit dem 1. Juni nachweislich an Cholera und
hatte in dieser Zeit seine sämmtlichen Dejectionen der Weichsel über¬
antwortet. Das Floss hatte in den genannten Tagen die gegen 20 km
lange Strecke von der Rothebuder Schleuse (der Einmündung des
Wcichsel-Haff-Kanals) bis Plehnendorf durchfahren. Es gelang, die
Flossmannschaft zu isoliren und unter ihr noch zwei weitere Cholera¬
fälle zu entdecken. Das Floss wurde in der Wesslinker Bucht bei
Plehnendorf verankert; in dem Wasser, welches am 5. Juni zwischen
den Balken geschöpft worden war, fanden sich Cholerabacillen. Von
diesem Flosse aus erfolgten durch Vermittelung des Wassers zwei In-
feetionen, die eine betraf einen Bühnenarbeiter, der bis zum 5. Juni
nahe der Rothebuder Schleuse gearbeitet und nachweislich häufig
Weichselwasser getrunken hatte, mit Flössern aber in keine nähere
Berührung gekommen war, die zweite einen Schiffer aus Gr.-Grünhof
bei Mewe, der, vom 1. bis zum 3. Juni weichselabwärts fahrend, die¬
selbe Stromstrecke wie das Floss passirt hatte und darauf am 5. nach
Hause zurückgekehrt erkrankt war. Von ihm aus inficirte sich die
eigene und eine Nachbarsfamilie.
Nach diesen wenigen Fällen herrschte zunächst Ruhe, denn Ende
Juni trat Hochwasser ein, das den gesammten Flussverkehr unter¬
brach. Sowie das Hochwasser mit Anfang Juli abgelaufen, sehen wir
sofort auf dem ganzen Strome verstreut neue Fälle in grosser Zahl
bei Flössern und Schilfern; nach Mitte August tritt ein deutlicher
Rückgang der Erkrankungsziffern ein, und mit dem 23. October hat
die Seuche überhaupt ein Ende, nachdem schon wochenlang nur spo¬
radische Fälle vorgekommen. Bemerkenswerth ist aus diesem zweiten
Theile der Epidemie, dass in Getau und der Wesslinker Bucht sofort
je eine neue Erkrankung beobachtet wurde. Letztere war am 9. Juli
entdeckt worden, am 10. erkrankte in einem nahen Dorfe ein Schiffer,
der Tages zuvor in der Bucht Sand eingeladen hatte. Bei Getau und
in der Wesslinker Bucht sind nämlich günstige, viel benutzte Anlege¬
plätze für Flösse, und daher ist es zu verstehen, dass sie stets Prä-
dilectionsstellen für Choleraerkrankungen abgegeben haben; in Getau
waren auch 1892 und 1893 bei den ganz kleinen Stromepidemien
Cholerafälle gefunden worden.
Einer Herdbildung begegnen wir eigentlich nur in Thorn. Hier
waren im ganzen Verlaufe der Epidemie Erkrankungen unter den Schif¬
fern im Therncr Hafen, d. h. auf der rechten Uferseite des Stromes,
Digitized by
Go^ 'gle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Verbreitung der Cholera durch das Wasser. 1 17
an die sich die Stadt anlehnt, beobachtet worden, während Schiffe und
Flösse, die an der linken Seite und in der Mitte gelegen, völlig ver¬
schont geblieben waren. Zwischen jenen Schiffen im Hafen pflegt das
Wasser zumeist zu stagniren. Von dort aus wurde die Cholera Ende
August in zwei Vorstädte Thorns verschleppt und verbreitete sich hier
in 24 Erkrankungen mit 12 Todesfällen von Haus zu Haus. Alle
übrigen Erkrankungsfälle finden sich am ganzen Laufe des Stromes
verstreut ohne feste Localisation, ohne irgend deutliche Neigung zur
Herdbildung. Unter ihnen kamen allein bei der flussbefahrenden Be¬
völkerung 47 (21) Fälle vor, wovon 30 auf ausländische Flösser ent¬
fallen. Die Bedeutung dieser Zahl wird klar, wenn wir berechnen,
dass in ganz Westpreussen 295 (128) Fälle beobachtet wurden, dass
von diesen 149 (65) allein auf die Epidemien in Thorn, Tiegenhof und
Tolkemit kommen und unter den 146 (63) anderen noch ein erheb¬
licher Antheil, der leider nicht zahlenmässig fixirt werden kann, auf
die Familien der in Uferortschaften ansässigen Schiffer zu rechnen ist.
Etwas ganz Aehnliches hat sich in demselben Jahre im Odergebiet
ergeben. Sieht man von den Ortsepidemien in Nakel und Usch ab,
so sind entlang der Netze, Warthe und Oder 57 Cholerafälle vorge¬
kommen, darunter sind 2 Schiffer, 15 (deutsche) Flösser und 12 An¬
gehörige oder Hausgenossen von Flösseru, bei denen sich die An¬
steckung durch diese unmittelbar nachweisen liess.
Der Verlauf der Epidemie an der Stromwcichsel bestätigt die Un¬
fähigkeit des Cholerabacillus, sich im fliessenden Wasser lange an
einem Punkte zu behaupten. Offenbare Wasserverseuchungen sind an
vier Stellen beobachtet worden: an zwei Anlegeplätzen von Flössen,
die dritte im Thorner Hafen. An einem der ersteren gelang der Ba¬
rillennachweis im Wasser, an dem letzteren erscheint durch die nach¬
gewiesene Uebertragung von Kahn zu Kahn die Annahme der Wasser¬
verseuchung gerechtfertigt. Alle drei Punkte besitzen Stauwasser.
Hier darf an den Fall von Ansteckung durch das Wasser erinnert
werden, der auf der Netze, ebenfalls an einem ständigen Lagerplätze
von Flössen in einer Bucht mit stagnirendem Wasser beobachtet und
oben berichtet wurde. Der vierte Fall von Wasserverseuchung be¬
trifft die Strecke von der Rothebuder Schleuse bis Plehnendorf in der
Zeit zwischen dem 1. und 4. Juni. Dass die Ansteckung des Schif¬
fers und Bühnenarbeiters durch den Genuss von Weichselwasser er¬
folgt sei, darf um so eher angenommen werden, als nach allen ange-
stellten Ermittelungen eine andere Gelegenheit zur Infection lur diese
Digitized by
Go^ 'gle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
118
Dr. Brunzlow,
Leute nicht bestanden hat. Auffällig ist aber die Thatsache, dass die
Verseuchung des Stromes nur genau so lange andauerte, wie das in-
ficirende Floss dort passirte, denn anderen Falles hätten zweifellos
auch späterhin noch Jnfectionen erfolgen müssen. Offenbar führt der
Strom den Infectionskeim sofort von dannen.
Dass dieser dabei nicht sogleich zu Grunde geht und unter Um¬
ständen nach anderen Orten verschleppt hier Infectionen erzeugen kann,
hat die Beobachtung Koch’s an der Saale erwiesen, dafür spricht
auch die Epidemie an der todten Weichsel. Wenn derartige Fälle in
fliessendem Wasser so selten Vorkommen, so liegt das wahrscheinlich
an der starken Verdünnung, welche die inficirende Masse im Strome
erfährt. Dass diese in der That eine ganz erhebliche ist, davon konnte
ich mich durch eigene Versuche an der todten Netze überzeugen. In
den überaus langsam fliessenden Strom, der bei 40—50 m Breite und
2 m Tiefe eine Geschwindigkeit von nur 0,25 m in der Secunde hat
und 10 cbm Wasser fördert, wurden inmitten des Bettes ca. 150 1
einer Jauche von hohem Bakteriengehalte eingeschüttet. Zahlreiche
Schwimmkörper Hessen die Abwärtsbewegung der verunreinigten Wasser¬
masse deutlich verfolgen. Während nun die bakteriologische Unter¬
suchung der entnommenen Wasserproben zeigte, dass nach einer Fort¬
bewegung von etwa 100 m der Bakteriengehalt des Flusses auf das
mehr als Zehnfache gestiegen war, betrug dieser 1 km weiter nur
noch das Doppelte und war vom zweiten Kilometer an auf das frühere
Mass zurückgekehrt.
Die Verschleppung des Infcctionsstoffes fällt an der Stromwcichsel
offenbar nicht sowohl dem Wasser als vielmehr der ström befahren den
Bevölkerung: Schiffern und Flössern, zur Last. Schon von Hirsch
ist in seinen Berichten über die Epidemie von 1873 wiederholt die
Wichtigkeit des Flussverkehrs für die Verbreitung der Cholera betont
worden. Zu ihrer Erklärung zieht Hirsch die allgemeinen hygieni¬
schen Ucbelstände in der Lebensweise, namentlich den Wohnräumen
der Schiffer heran 1 ). Seitdem wir gelernt haben, uns mit diesem etwas
unklaren Factor nicht zu begnügen, sondern bestimmten Schädlich¬
keiten nachzuforschen, genügt auch die Hirsch’.sehe Begründung nicht
mehr. Zwar ist es richtig, dass enges Zusammenleben und Schmutz
die llebertragung der Cholera von Mensch zu Mensch sehr befördern,
1) Hirsch, Allgemeine Darstellung der Choleraepidemie des .Jahres 1873
in Deutschland. Berichte der Cholera-Commission für das deutsche Reich.
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSITÄT OF IOWA
Verbreitung' der Cholera durch das Wasser.
111)
und wenn die Cholera überhaupt für eine Krankheit des Proletariats
erklärt wird, so sind dafür dieselben Gründe massgebend, welche zum
Theil auch für die Schifferbevölkerung zutreffen. Indessen wird Jeder,
welcher die Wohnräume der Kahnschiffer häufig betreten hat, einer
übertriebenen Vorstellung von dem dort herrschenden Schmutze wider¬
sprechen. Auf deutschen Kähnen findet man zumeist eine zwar enge,
aber doch saubere Haushaltung. Das wichtigste Moment für die auf¬
fallende Neigung der Flussbevölkerung, an Cholera zu erkranken, bildet
das nahe Zusammenleben mit dem Wasser. Das Flusswasser deckt
den gesammten Haushaltungsbedarf, nimmt aber auch alle Abfälle und
Dejckte auf, und so entstehen dieselben Kreislaufsverhältnisse, wie sie
oben geschildert wurden. Es wird daraus ohne Weiteres verständlich,
warum gerade an Anlegeplätzen im stagnirenden Wasser die Verbrei¬
tung der Seuche unter den Schiffern besonders beobachtet wird, und
die Ausbreitung unter den Oberländer Kähnen im Hamburger Hafen
1892, unter den Schiffen im Thorner Hafen 1894, besonders aber die
Ansteckung des Dampfers „Gretchen Bohlen“ von dem „Murciano“ 1 )
sind Beispiele, welche den Modus der Infection deutlich erkennen
lassen. Es verdient hervorgehoben zu werden, dass unter den 50 Fällen
auf der todten Weichsel allein 7 auf 4 Schiffen vorgekommen sind.
Noch weit mehr als die Schiffer werden von der Cholera die
Flösser und besonders die auf der Weichsel vorwiegend verkehrenden
(lalizianer ergriffen. Wohl hat man auch hier häufig eine Uebertra-
irung unter Schlafgenossen derselben Hütte beobachtet, aber das Aus¬
schlaggebende ist bei ihnen die Berührung mit dem Wasser. Wer
einmal gesehen hat, wie am einen Ende der Traft ein Flösser seine
Dejectc dem Strome überantwortet, am anderen Ende ein zweiter sich
im Flusse wäscht, dort einer einen Becher Flusswasser mit Behagen
schlürft oder, falls er Kaffee oder Kwass als Getränk vorzieht, sein
Trinkgcfäss wenigstens zuvor im Flusse ausspült, und dies, nachdem
den Leuten Jahre lang in Wort und Schrift gepredigt worden ist, sich
vor dem Flusswasser zu hüten, der wird über den Weg der Infection
keinen Zweifel mehr hegen. Ebensowenig kann er sich aber einer
Täuschung darüber hingeben, dass alle Versuche, hierin eine Aende-
rung zu schaffen, zu Lufthieben werden müssen.
Einen weiteren Beweis für den Zusammenhang zwischen der Ver¬
breitung der Cholera unter dieser Bevölkerung und dem Wasser liefert
1) Koch, a. a. 0. S. 98.
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
120
Dr. Brunzlow,
die Gleichartigkeit der Curve der Erkrankungsziffem mit dem Gange
der Luft- und Wassertemperaturen. Auf der Weichsel entfielen 1894
auf die Zeit bis zum 17. August 37 von den insgesammt beobachteten
47 Erkrankungen, nach Ende August kamen nur noch vereinzelte
Fälle vor, auf der Netze ist nach dem 13. August überhaupt kein
Flösser mehr erkrankt. Nun liegen von der ganzen Weichsel seit
Mitte Juli fortlaufende Temperaturbestimmungen des Wassers vor.
Nach diesen hielt sich die Wasserwärme bis zum 12. August zwischen
19 und 23 °C., sank dann langsam und gelangte mit dem Ende des
Monats unter 16°. Die vom Gesundheitsamte veröffentlichten Luft¬
temperaturen zeigen ferner, dass in Berlin nach dem 16. August kein
Tag mehr eine Maximaltemperatur von über 25° und eine Minimal¬
temperatur von über 15 °C. gehabt hat. Man kann aus diesem Pa-
rallelisraus einmal einen Beweis dafür herauslesen, dass die Cholera¬
bacillen nach Mitte August nicht so günstige Lebensbedingungen mehr
im Wasser gefunden haben. Näher noch scheint mir eine andere Er¬
klärung zu liegen. Seit meinem Eintreffen an der Netze habe ich
nach Mitte August niemals einen Schiffer oder Flösser Flusswasser
trinken sehen: die Leute tranken ausschliesslich Kaffee; in der heissen
Jahreszeit jedoch wird sicher bei der schweren Arbeit mancher Schluck
Flusswasser getrunken, wenn auch Schiffer und Flösser betheuern, dass
sie überhaupt nur Kaffee genössen.
Den Träger des Cholerakeimes geben wohl meist die erkrankten
Personen ab. Er kann aber auch dargestellt werden durch die Fahr¬
zeuge. Dass das Holz der Tratten in seiner die Balken unter Wasser
überziehenden Schlaramschicht sogar recht lange Zeit die Cholera¬
bacillen beherbergen kann, ist früher gezeigt worden. Neben dem
Holz spielt besonders das Stroh der Lagerstätten und Hütten eine
Rolle. Liegen aus der neueren Zeit auch hierfür keine unmittelbaren
Beobachtungen vor, so berichtet Hirsch doch deren genug. Erwähnt
sei nur, dass in der kleinen Ortschaft Zlotterie an der Drewenz die
Cholera ausbrach, nachdem die Einwohner das Stroh, welches von den
Flössen in den Strom geworfen war, aufgefischt und nach Hause ge¬
bracht hatten 1 ). — Auch der Schifffahrtsverkehr vermag durch die
Fahrzeuge die Verschleppung zu bewirken und zwar im Kielwasser.
Nachdem diese Möglichkeit von den Bakteriologen auf Grund ver¬
schiedener Versuche behauptet, und 1892 von Lubarsch in einem
1) Hirsch, Reisebericht.
Digitized by
Gck gle
Original frnm
UNIVERSITÄT OF IOWA
Verbreitung der Cholera durch das Wasser.
121
Falle der ^tatsächliche Nachweis erbracht worden war, legte man ihr
sogar von vielen Seiten eine sehr hohe Bedeutung bei. Die Erfah¬
rungen haben auch diese Besorgniss nicht bestätigt. Zwar gelang es
1894 wiederum, im Kielwasser eines Kahnes, dessen Insassen die Cho¬
lera nach Tolkemit gebracht hatten, Komraabacillen nachzuweisen.
Aber alle Befunde beziehen sich bis jetzt auf Schiffe, unter deren Be¬
satzung Cholera geherrscht hatte. Ein Fall, dass auch ohne dieses
Cholerabacillen durch das Bilschwasser transportirt worden seien, ist
nicht festgestellt. Muss auch theoretisch die Möglichkeit zugegeben
werden, dass durch die Aufnahme verseuchten Hafenwassers Cholera¬
bacillen in die Bilsch gelangen, so hat die Häufigkeit dieser Art der
Uebertragung doch wenig Wahrscheinlichkeit für sich.
Eine Vergleichung der in Deutschland bisher genauer studirtcn
Flussepidemien weist zwar erhebliche Verschiedenheiten sowohl der
Ströme unter sich, als auch in den einzelnen Jahren auf; dennoch
lässt sich unschwer ein ganz allgemein gültiges Gesetz ableiten.
Die Weichsel und die Netze-Warthe-Strasse sind charakterisirt
durch das starke Vorherrschen der Flösser als Träger der Infection.
Es wurde schon angeführt, dass von 47 Cholerafällen auf der Weichsel
30 allein auf die ausländischen Flösser entfallen. Dasselbe beweist
der Gang der Seuche entlang der Wasserstrasse. Stets betrafen die
ersten Fälle Galizianer, stets nahm die Epidemie zuerst ihren Weg
weichselab bis Danzig; bei Bromberg zweigt sich eine Seitenstrasse
ab und führt durch die Brahe, Kanal, Netze, Warthe bis zur Oder:
es ist der Weg des russischen Holzes. Nicht nur zu Wasser sind die
Flösser die Hauptverbreiter der Cholera, auch zu Lande treten sie in
dieser Rolle auf. Im Odergebiete kamen 1894 in 21 Ortschaften Cho¬
lerafälle vor und hiervon in 13 nur je 1 Fall. Von den 8 übrigen
mit mehr als einer Erkrankung wurde in 5 die Krankheit durch Flösser
eingeschleppt; und aus dem Jahre 1873 berichtet Hirsch 1 ), dass
durch die auf dem Landwege von Danzig über Dirschau, Marienburg,
Rosenberg, Deutsch-Eylau, Löbau zurückkehrenden deutschen Flösser
die Seuche in ihre heimathlichen Kreise Löbau und Strasburg ver¬
schleppt worden sei.
Der Grund für dieses heftige Auftreten der Seuche gerade unter
der Flösserbtevölkerung, das auf anderen Strömen niemals beobachtet
wurde, liegt auf der Hand. Weichsel und Netze-Warthe bilden eine
1) Hirsch, Reisebericht.
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSITÄT OF IOWA
122
Dr. Brunzlow.
zusammenhängende Wasserstrasse, deren Anfangspunkte Russisch-Polen
und Galizien sind, Landestheile, die als ein grosser Seucheherd ange¬
sehen werden müssen, und von denen die Holztransporte ihren Aus- -
gang nehmen. Die Heftigkeit der Flussepidemie auf deutschem Gebiete
hängt unmittelbar von der Ausbreitung der Seuche in jenen Ländern
ab. 1892 kam die Cholera erst sehr spät dorthin: die Weichselepidemie
begann erst im October und erreichte mit Eintritt der kalten Jahres¬
zeit bald ihr Ende. 1893 trat sie in Polen erst Mitte August auf
und gelangte in die Weichselgouvernements im September: die Epi¬
demie auf dem Strome war verschwindend. 1894 stiegen die Erkran-
kungsziffem bereits im April rapide, und seit Ende Mai finden wir die
heftige Epidemie auf deutschem Gebiete. Die Flussepidemie auf der
Netze-Warthe geht hiermit Hand in Hand, beginnt aber immer erst
mehrere Wochen später.
Enter den übrigen Stromepidemien folgt der Erkrankungsziffer
nach die von 1892 auf der Elbe. Alle Fälle traten dort entlang der
Wasserstrasse auf, besonders an deren Hauptlinie von der Unterclbc
durch Havel, Spree zur Oder. Verfolgt man zeitlich den Gang der
Epidemie, so erkennt man ihr schrittweises Vorrücken von Hamburg
als Ausgangspunkt stromauf. Den dritten Platz nimmt die Oder-Epi¬
demie von 1892 ein. Sie beginnt mit dem Augenblicke, wo der Stet¬
tiner Hafen zum Seucheherd geworden ist. Aber wie auch dieser
nur einen Herd niederer Ordnung, wenn man so sagen darf, darstcllt,
so nimmt auch die Flussepidemie nach Zahl der Fälle und Weite der
Verschleppung nur einen geringen Fmfang an. Auf dem Rheine und
der Weser endlich ist es 1892 zu einer Stromepidemie gar nicht ge¬
kommen. Zwar bestand an der Rheinmündung in den Niederlanden
ein Seuchcherd. Aber dieser ist erst mit dem Ende August zur Ent¬
wicklung gelangt und hat auffallend geringe Erkrankungsziffern zu ver¬
zeichnen gehabt 1 ). So erklärt es sich, dass nur vereinzelte Verschlep¬
pungen rheinauf und auch erst Ende September, d. h. in der kühleren
Jahreszeit erfolgten. An der Weser ist cs 1892 so wie an der Oder
1893 nur zu einzelnen Einschleppungen gekommen.
Wir sehen also, dass die Heftigkeit der Epidemien unter der fluss-
befahrenden Bevölkerung einer bestimmten Wasserstrasse direct pro¬
portional ist der Heftigkeit der Seuche in einem an ihr gelegenen
Herde. Nur da, wo ein solcher zur Entwicklung kommt, kann über-
1) Amtliche Denkschrift über die Cholera-Epidemie 1892. 8. 12, 13.
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Verbreitung der Cholera durch das Wasser.
123
haupt von einer Flussepidemie die Rede sein. Dabei sind aber auch
nicht alle an einem Flusse gelegenen Seucheherde von gleicher Be¬
deutung. Die vom August bis October 1894 in Nakel herrschende
recht heftige Epidemie hat keine einzige Verschleppung zur Folge ge¬
habt. Nakel liegt zwar an der Einmündung des Broraberger Kanals
in die Netze, steht aber zu dem Flussverkehr in gar keiner Beziehung.
Daher dürfen wir nur solchen Choleraherden die genannte Bedeutung
zusprechen, welche sich in einem Hafenorte oder in einem Bezirke
mit schifffahrttreibender Bevölkerung entwickeln.
Kehren wir jetzt noch einmal zu dem Begriffe der „Stromver¬
seuchung“ zurück, so ergiebt sich aus dem Vorstehenden für ihn eine
doppelte Begründung. Die Verseuchung der Flussläufe entsteht ein¬
mal durch den Sielinhalt verseuchter Ortschaften. Den Weg und die
Verbreitung des Infectionsstoffes schreibt in diesem Falle die Strömung
vor. Zweitens erzeugt der Flussverkehr eine Verseuchung derjenigen
Wasserstrassen, an denen ein Choleraherd zur Entwicklung kam. Da¬
bei ist aber zu berücksichtigen, dass im fliessenden Wasser der In-
fectionsstoff sehr schnell fortgespült wird und sich nur hinter Buhnen,
in Buchten und namentlich an Landungsplätzen von Flössen und
Schiffen länger zu halten vermag. Dagegen genügt für todte Strom¬
strecken eine einmalige Einschleppung, um länger dauernde Verseu¬
chung herbeizuführen.
Unsere Betrachtungen haben gelehrt, dass die Verbreitung der
Cholera entlang den grossen Wasserstrassen durch die Schifffahrt und
Flösserei treibende Bevölkerung erfolgt. Der Flussverkehr mit ver¬
seuchten Ländern muss als die grösseste Gefahr der Cholera-Einschlep¬
pung angesehen werden. Die Uebertragung der Seuche von Schiffern
und Flössern auf die Uferbevölkerung erfolgt dann entweder durch
persönlichen Verkehr oder durch Vermittelung des Wassers. Hiernach
werden sich die zu ergreifenden sanitätspolizeilichcn Massnahmen zu
richten haben.
Als das beste Mittel zur Abwendung dieser Gefahr hat sich in
den Jahren 1892—1894 das System der Stromüberwachung bewährt.
Es hat manche Wandlungen durchmachen müssen, ehe es zu der heu¬
tigen Stufe der Vollkommenheit gelangt ist, es wird auch in manchen
Einzelheiten sich noch weiter als verbesserungs- und vereinfachungs¬
fähig zeigen; dass es aber allen anderen Systemen gegenüber den Vor¬
zug verdient, das dürften die Erfahrungen, welche man 1894 mit ihm
an der Weichsel gemacht hat, zur Genüge bewiesen haben. Als die
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
124
Dr. Brunzlow,
vorletzte Epidemie im Jahre 1873 gegen die deutschen Grenzen von
Osten heranrückte, begann man zuerst, ihr mit der alten Methode der
Q.uarantänelegung auch auf der Weichsel entgegenzutreten. Bei der
grossen Zahl der stromab fahrenden Flösse häuften sich dadurch aber
in kurzer Zeit so ungeheuere Menschenmengen in Sehilno an, dass die
Quarantäne nicht nur undurchführbar wurde, sondern geradezu, der
Ausbreitung der Seuche Vorschub leistete. Diese Anhäufung der
Menschen ist es, die allen Quarantänemassregeln von vornherein ent¬
gegengehalten werden muss. Man schritt dann an der Weichsel zur
Einrichtung der Revisionsstationen. Aber auch diese arbeiteten in
ihrer damaligen Organisation mit grossen Menschenanhäufungen und
vermieden also die genannten Uebelstände nicht. Kein Wunder, dass
ihre Wirksamkeit in den amtlichen Berichten von 1873 vielfach sehr
abfällig kritisirt wird 1 ).
Diese Erfahrungen, zusammen mit der Berechnung des ungeheuren
Kostenaufwandes für eine genaue Stromüberwachung — dieselben be¬
trugen 1894 an der Weichsel monatlich 60000 Mk. — haben Veran¬
lassung gegeben, zwei andere Sperrsysteme in Erwägung zu ziehen.
Von diesen hat man freilich das eine, gänzliches Verbot der Holzein¬
fuhr, gleich im Princip fallen gelassen, da hierdurch dem Handel und
der inländischen Holzindustrie eine unheilbare Wunde geschlagen würde.
Aber auch gegen den zweiten Vorschlag, völligen Mannschaftswechsel
auf den Traften an der Grenze, haben sich schwerwiegende Bedenken
erhoben. Zu der Unmöglichkeit, diesen Wechsel für die gesammtc
Mannschaft durchzuführen, und dem Mangel an geeigneten inländischen
Leuten gesellen sich grosse Schwierigkeiten bei der Durchführung des
Wechsels, vor Allem aber wiederum als unvermeidlicher Uebelstand
die bei der Cholera so gefahrvolle Anhäufung grosser Menschenmassen
an einem Punkte.
Das Ueberwachungssystcm in seiner modernen Organisation ver¬
meidet nicht nur diese Uebelstände, sondern bringt auch unter allen
Massnahmen die geringsten Störungen für Handel und Verkehr mit
sich. Sehen wir, was es zu leisten vermag.
Ich werde meiner folgenden Erörterung ausschliesslich die Orga¬
nisation an der Weichsel und Netze-Warthe zu Grunde legen, die ich
aus eigener Anschauung kenne. Sie fusst an den beiden Stromgebieten
auf denselben Vorschriften, welche der Ministerialerlass vom 8. August
1) H irsch, Die Cholera des Jahres 1873 in Norddeutschland. a. a. 0.
Digitized by
Gck gle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Verbreitung der Cholera durch das Wasser.
125
1893 für die ganze Monarchie aufgestellt hat, zeigt aber doch an der
Hand der besonderen Verhältnisse vielfach eine eigenartige Ausbildung.
Sie erhebt nämlich an der Weichsel zu ihren leitenden Grundsätzen:
unbedingte Absperrung der ausländischen Flösser von der einheimischen
Bevölkerung, tägliche ärztliche Untersuchung aller auf dem Strome
befindlichen Fahrzeuge und Personen und sofortige Isolirung aller
Kranken und Verdächtigen nebst Quarantänelegung der gesammten
Mannschaft des Fahrzeuges bis zu einer Zeit, wo sie mit Sicherheit
nicht mehr für infectionsgefährlich gelten können.
Die Durchführung des ersten Grundsatzes war lediglich Sache der
Polizeiorgane. Den ausländischen Flössem wurde streng verboten, die
Ufer zu betreten, abgesehen von einzelnen kenntlich gemachten Stellen,
wo ihnen Gelegenheit zum Einkauf der Lebensmittel gegeben war.
Nach Ablieferung des Holzes am Bestimmungsorte wurden sie in ge¬
schlossenen Trupps zur nächsten Bahnstation geführt und von da in
besonderen Wagen bis über die Grenze befördert. Für die in Pleh-
nendorf abliefemden Flösser war dort ein eigenes Barackenlager er¬
richtet, von dem aus sie mit Dampfern nach Dirschau und hier erst
zur Bahn gebracht wurden. So erreichte man, was besonders wichtig
erschien, die Fernhaltung dieses gefährlichen Elementes von dem
Hauptverkehrspunkte Danzig. Um endlich einer Durchbrechung dieses
ganzen Sperrsystems durch einzelne Personen entgegen zutreten, nahm
man den Führern der Holztransporte an der Grenze die Pässe ab,
um sie ihnen erst am Ankunftsorte wieder auszuliefem, wenn Alles
in Ordnung war. Mit diesen Mitteln ist im Sommer 1894 an der
Weichsel in der That die Beschränkung der Galizianer auf den Strom
gelungen. Aber so wichtig diese Massregel erscheinen kann, liegt der
Kernpunkt des ganzen Systems doch in der Durchführung des zweiten
und dritten der genannten Grundsätze, d. h. in der gesundheitspoli-
zeilichen Ueberwachung durch Aerzte. An dieser, welche auf der
Weichsel ausschliesslich von Sanitätsofficieren ausgeübt wurde, haben
sich auch besonders die Segnungen gezeigt, welche der Fortschritt der
wissenschaftlichen Erkenntniss vom Wesen der Choleraübertragung für
die Praxis gebracht hat.
Das ganze Stromgebiet wurde in eine Anzahl von Controllbezir-
ken eingetheilt, deren Umfang so bemessen war, dass entweder die
Fahrzeuge täglich eine Station passiren mussten oder, wenn sie auf
der Strecke still lagen, von jenen aus täglich besucht werden konnten.
Auf diesen letzteren Punkt musste an der Weichsel das Hauptgewicht
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
126
Dr. Brunzlow,
fallen, denn bei der Langsamkeit des dort fast nur durch Flösse und
Segelkähne dargestellten Verkehrs ist der Strom unausgesetzt in seiner
ganzen Länge von ihnen belegt. Auf der Netze waren die Revisions¬
fahrten der Dampfer nur für einzelne Strecken von Bedeutung, da die
Flösse dort nur an ganz bestimmten Stellen sich festlegten. An der
Hand einer, von der ersten Controllstation aufgestellten Liste der Be¬
satzung konnte sich der Arzt leicht von der Anwesenheit aller Per¬
sonen und ihrem Gesundheitszustände überzeugen. Jeder Cholerakranke
oder Verdächtige fand unverzügliche Aufnahme in das eigene Lazareth
der Station, während die übrigen Personen in einem besonderen Qua¬
rantäneraum isolirt wurden. Die ersten Dejekte der Kranken, wie
auch aller Quarantänepflichtigen gelangten ausnahmslos zur bakterio¬
logischen Untersuchung an die Centralstellen Berlin, Danzig oder Thorn.
Zur Entlassung aus dem Lazareth kamen die Cholerakranken erst
dann, wenn ihr Stuhlgang wiederholentlich frei von Kominabacillen
befunden war. Das Gleiche galt von Leuten mit leichten Durchfällen
und solchen, die, obwohl gesund, doch Cholerabacillen in ihren Fäces
gehabt hatten. Ausleerungen von Quarantänepflichtigen, in denen die
erste Untersuchung keine Komraabacillen nachgewiesen hatte, wurden
nicht weiter eingesendet; die Leute konnten sofort entlassen werden.
Die Fahrzeuge, auf denen Cholerakranke gefunden waren, wurden iso¬
lirt verankert, die Flösse durch Vernichtung sämmtlicher Strohlager,
sowie durch Uebergiessen derjenigen Stellen, wo die Lagerplätze ge¬
wesen waren, mit Kalkmilch, soweit es ohne Zerschlagen der Traft
möglich war, desinficirt, bei den Schilfen eine Desinfection der Wohn-
räume (Aborte) und des Bilschwassers vorgenommen.
Die Durchführung des Ueberwachungsdienstes in der geschilderten
Form hat sich als ein Organismus von vorzüglicher Leistungsfähigkeit
erwiesen. Der Grund ergiebt sich aus nachstehender Erwägung. Jede
Verkehrsüberwachung bei Choleragefahr hat mit der Schwierigkeit zu
kämpfen, dass nur Kranke mit ganz deutlichen Cholerasymptomen von
dem controllirenden Arzte zu entdecken sind. Schon bei den früheren
Epidemien hat sich den Beobachtern die Ueberzeugung aufgedrängt,
dass die Verschleppung meist durch Personen mit unbedeutenden
Durchfällen erfolge. Seitdem dann Dunbar in Hamburg zuerst be¬
wiesen, dass auch im Stuhlgange gesunder Menschen, die mit Cholera¬
kranken in Berührung gekommen waren, sich Kommabacillen finden,
sind damit der Verbreitungsmöglichkeit noch viel weitere Grenzen ge¬
zogen. Dagegen lässt sich aber geltend machen, dass auf Fahrzeugen,
Digitized by
Gck gle
Original from
UNIVERSITÄT OF IOWA
Verbreitung der Cholera durch das Wasser.
127
unter deren Besatzung solche Personen sind — man hat sie an der
Weichsel treffend mit dem Namen „Bacillcnträger“ belegt —, zweifel¬
los auch echte Cholerafälle Vorkommen werden; die Erfahrungsthat-
sachen sprechen zum Mindesten dafür. Eine Organisation also, welche
alle Fahrzeuge täglich dem Arzte zu Gesichte bringt und Niemanden
aus der Quarantäne entlässt, der Cholerabacillcn beherbergt, giebt die
beste Gewähr, dass alle verseuchten Fahrzeuge gefunden, und so auch
die Choleradiarrhöen und die „Bacillenträger“ unschädlich gemacht
werden. In der That dürfte dieses Ziel für die ausländischen Flösser,
welche ganz auf den Strom gebannt werden können, erreichbar sein.
Hinsichtlich der inländischen Schiffer und Flösser, denen eine solche
Aufenthaltsbeschränkung rechtlich nicht auferlegt werden kann, er¬
scheint der Erfolg etwas unsicherer. Die Organisation der Netzeüber¬
wachung, welche nur mit deutscher Bevölkerung zu rechnen hatte und
dementsprechend darauf verzichten musste, die Flösser von den Ufern
fern zu halten, hat trotzdem an Leistungsfähigkeit nicht wesentlich
eingebüsst.
Um eine erfolgreiche Ueberwachung des Strom Verkehrs bewirken
zu können, ist es nothwendig, dass sie schon beim Herannahen der
Choleragefahr in Thätigkeit tritt. An der Weichsel konnte sie 1894
erst gegen Ende der ersten der beschriebenen Perioden in Betrieb ge¬
setzt werden. Welche Gefahr daraus erwachsen war, beweist am
Besten die Verschleppung durch den Schiffer nach Gr.-Grünhof bei
Mewe. Das inficirende Floss war nur durch einen glücklichen Zufall
in Plehnendorf angehalten worden, ehe die Besatzung es verlassen
und so grösseres Unheil stiften konnte. Später ist es in der That
gelungen, die Ausbreitung der Epidemie über den Strom hinaus zu
verhüten. Dass hierin wirklich ein Erfolg der Ueberwachung zu sehen
ist, beweisen am klarsten folgende Zahlen. Insgesammt wurden
1086 Personen in Quarantäne genommen und von 914 die Dejektc
untersucht. Darunter waren 135 = 14,8 pCt. Bacillenträger, d. h.
135 Ansteckungsquellen für die Verschleppung der Seuche wurden
verstopft. Die Erfahrungen an der Netze-Warthe sprechen in dem¬
selben Sinne, denn alle die erwähnten Verschleppungen in die Ort¬
schaften entlang des Stromes liegen vor der Errichtung der Control 1-
stationen.
Das Ueberwachungspersonal war ferner angewiesen, auch auf den
Schiffen, welche keine Cholerakranke an Bord hatten, bei jeder Revi¬
sion die Aborte und „thunlichst auch das Bilsohwasser zu desinfieiren“.
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
128
Dr. Brnnzlow,
Diese Vorschrift war ein Ausfluss der schon erwähnten Annahme,
dass die Verschleppung auch durch das Bilschwasser solcher Schiffe
erfolge, auf denen keine Erkrankungen vorgekommen. Dass hierfür
eine sehr geringe Wahrscheinlichkeit bestehe, ist früher dargethan.
Ferner spricht gegen die Aufrechterhaltung dieser Anordnung, dass
eine Desinfection der Bilsche, wenn sie ausreichend sein soll, viel zu
zeitraubend ist, um von dem geringen Personal der Stationen bei
starkem Verkehre durchgeführt werden zu können, zum Mindesten aber
eine gewaltige Verzögerung der Schifffahrt darstellt. Die nothwendige
Folge dieses Umstandes war die Desinfectionspraxis, welche sich auf
der Weichsel allgemein herausgebildet hatte: man schüttete am Schlüsse
der Revision jedem Schiffe 1—2 Eimer Kalkmilch an irgend einer
Stelle in die Bilsche und überliess es günstigen Winden, durch ge¬
höriges Schaukeln des Schiffes für eine Vertheilung des Kalkes wenig¬
stens in etwas zu sorgen. Wer sich einmal den Bau eines Fluss¬
kahnes genau angesehen, die Menge des zur Desinfection der Bilsch
nöthigen Kalkes berechnet und die Schwierigkeit klar gemacht hat,
diesen bei beladenem Fahrzeuge überall hin zu bringen, wer, wie der
Verfasser, selber zahlreiche Kähne von diesem Gesichtspunkte aus des-
inficirt hat, wird einsehen, dass an der Weichsel nur eine unnütze
Materialverschwendung geübt wurde. Die angeführten Beispiele von
Bakterienfunden im Kielwasser lassen, glaube ich, die Forderung ge¬
rechtfertigt erscheinen, nur da zu desinficiren, wo wirklich Grund vor¬
liegt, die Anwesenheit von Cholerabacillen zu vermuthen, d. h. wenn
Cholera auf dem Schiffe geherrscht hat.
Ein System, wie es im Vorstehenden geschildert worden ist, hat
man für manche andere Ströme als zu weitgehend erachtet und dafür
nur an einzelne besonders bedrohte Punkte, namentlich an stark fre-
quentirte Häfen Commissarien entsandt. Dieses auch für die Weichsel
cinzuführen, wurde gelegentlich der Schlussconferenz in Danzig am
1. December 1894 vorgeschlagen. Aus dem Dargelegten geht zur
Genüge hervor, dass eine solche Beschränkung den ganzen Erfolg in
Frage stellen hiesse. Indessen ist zuzugeben, dass die Nothwendig-
keit einer täglichen Revision des ganzen Stromlaufes sich wesentlich
aus den Eigenthümlichkeiten der Weichselflösserei ergiebt. Wo der
Verkehr vorwiegend durch Dampfer betrieben wird, kann man die
Stationen auch weiter auseinanderlegen, ohne dabei auf die tägliche
Untersuchung aller Fahrzeuge zu verzichten. Endlich kann man an
Wasserstrassen, an denen kein Scucheherd gelegen ist, von einer voll-
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSITÄT OF IOWA
Verbreitung der Cholera durch das Wasser.
129
ständig durchgeführten Stromüberwachung ganz absehen und nur an
die Hauptverkehrspunkte Stationen legen, denen dann eine ähnliche
Aufgabe zufiele, wie etwa den Hafenärzten grosser Seehäfen, z. B.
Hamburgs. Dieses System ist 1893 an der Oder mit gutem Erfolge
angewendet worden und hat den Vorzug grösserer Billigkeit. Die
Oderstrasse konnte damals aber auch nicht als verseucht gelten. Für
Wasserstrassen, auf denen wirklich eine Epidemie unter Schiffen) oder
Flössern herrscht, dürfte nur die Ueberwachung des ganzen Stromes,
deren Organisation sich den besonderen Verkehrseigenthümlichkeiten
anzupassen hätte, die Sicherheit bieten, einer Verbreitung der Cholera
mit Erfolg entgegenwirken zu können.
Um der Uebertragung der Seuche auf die Uferbevölkerung durch
Vermittelung des von Schiffern und Flössern inficirten Wassers ent¬
gegenzutreten, hat man sich bisher im Wesentlichen darauf beschränkt,
Badeanstalten zu schlicssen und vor der Wasserentnahme aus ver¬
seuchten Flussläufen zu warnen. Hin und wieder ist auch der Ver¬
kauf von Fischen, die in solchem Strome gefangen wurden, verboten
worden. Ein Gesichtspunkt ist dabei noch niemals in Rechnung ge¬
zogen worden, dem doch eine nicht geringe Bedeutung beizumessen
sein dürfte. Wir haben gesehen, dass Wasserverseuchungen mit Vor¬
liebe an Anlegeplätzen von Flössen und Schiffen entstehen. Diese
befinden sich zumeist bei Ortschaften und Städten. Thorii ist auf diese
Art 1894 von seinem durch Schiffe verseuchten Hafen aus inficirt
worden. Für Flösse konnte ich ein Gleiches an der Netze beobachten.
Die Stadt Usch am Zusammenfluss der Netze und Küddow gelegen,
bildet einen ständigen Sammelpunkt ganzer Schaaren von Flössen,
welche an der Seite der Stadt auf Kilometerlänge den Fluss bedecken.
Der Grund hierfür liegt in der Steigerung der Strorageschwindigkeit,
wrclche die Netze hinter Usch erfährt, und die ein Nachbinden der
Hölzer erfordert. Die Flösser pflegen die Stadt nicht zu betreten,
nur eine bestimmte, am Ufer gelegene Kneipe zu besuchen. Dagegen
konnte ich bei meinen Revisionsfahrten täglich sehen, wie unmittelbar
an den Flössen von den Einwohnern Wäsche gespült und Wasser ge¬
schöpft wurde. Usch ist, so oft Cholera unter den Netzeflössem aus¬
brach, stets zuerst von der Seuche ergriffen worden. Hirsch macht
im Jahre 1873 direct die Flösse hierfür verantwortlich 1 ). 1894 ent-
1) Hirsch, Die Cholera des Jahres 1873 in Norddeutschland. 8. 48. —
Derselbe, Reisebericht.
Vierteljahnsschr. f. ger. Med. Dritte Folge. XIV. 1. 9
Digitized by
Gck gle
Original frn-rri
UNiVERSlIY OF IOWA
130
Dr. Brunzlow.
stand die Cholera scheinbar autochthon; es blieb nur die Annahme
einer Infection durch Netzewasser für den ersten Fall. Dieser er¬
eignete sich am 2. August, an demselben Tage, an welchem auch in
Nakel und Josefinen die Seuche aufflammte. Spätere Nachforschungen
haben wahrscheinlich gemacht, dass Ende Juli unter Flössern in Jo¬
sefinen die ersten Fälle gewesen seien. Angesichts dieser Beobach¬
tungen halte ich die Vorschrift für nothwendig, dass auf gefährdeten
und verseuchten Wasserstrassen alle Anlegeplätze an Uferabschnitte
unterhalb der Ortschaften zu verlegen sind. Eine zweite würde sich
dieser anschlicssen, dass in die Flusshäfen grösserer Städte nur vor¬
her untersuchte und für unverdächtig befundene Fahrzeuge einlaufcn
dürften. Man käme damit nur zu einer analogen Massregel, wie sie
für Seehäfen schon lange besteht.
Die Ergebnisse der vorliegenden Betrachtungen sind in Kürze
folgende:
1. Unter allen Zwischenträgern des Cholerabacillus kommt dem
Wasser die grösseste Bedeutung zu; die Verbreitung geschieht inner¬
halb der Ortschaften durch Verunreinigung der Wasserversorgungsan¬
lagen, von Ort zu Ort und von Land zu Land durch den Flussverkehr.
2. Die Verunreinigung der Einzelversorgungsanlagen erfolgt stets
von der Oberfläche her. Deshalb sind alle offenen Schöpfbrunnen und
die Kesselbruhnen der gewöhnlichen Bauart infectionsverdächtig. Un¬
verdächtig sind Röhrenbrunnen und Kesselbrunnen mit wasserdichter
Umkleidung des oberen Kesseltheiles, wenn keine Senkgruben u. dgl.
in der Nähe liegen. Eine staatliche Controlle erscheint angezeigt.
3. Centrale Wasserwerke sind der Einzelversorgung vorzuziehen
und bieten, wenn richtig angelegt und betrieben, den wirksamsten
Schutz gegen Cholera. Dagegen führt ihre Infection zu den umfang¬
reichsten Epidemien. Diese sind bei Flusswasserversorgung nicht
selten, weil Flusswasser stets infectionsverdächtig ist. Solche Werke
können auch mit Hülfe guter Filteranlagen keine vollkommene Sicher¬
heit gegen Leitungsinfection geben. Daher ist die Versorgung mit
dem allein ganz unverdächtigen Quell- und Grundwasser überall von
Seiten des Staates zu fordern.
4. Auch nach Durchführung dieser Massregel können offene Ge¬
wässer zur Verbreitung der Cholera beitragen. Da ihre Verseuchung
durch Einleiten der Abwässer verseuchter Orte erfolgen kann, dürfen
diese nur nach vorhergegangener Desinfection den Seen, Kanälen oder
Flussläufen zugeleitet werden.
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
Verbreitung der Cholera durch das Wasser.
131
5. Wasser Verseuchung entsteht auch durch den Flussverkehr. In
todten Stromabschnitten und an Punkten mit Stauwasser kann schon
durch einmalige Einschleppung länger dauernde Verseuchung Platz
greifen; in fliessendem Wasser wird der Infectionsstoff in Kürze durch
den Strom fortgeschwemmt. Zur Verhütung der Ansteckung genügt
es nicht, der Wasserentnahme aus dem Flusse seitens der Uferbevöl¬
kerung vorzubeugen, sondern ist es erforderlich, choleraverdächtigen
Schiffen und Flössen das Anlegen innerhalb der Uferortschalten zu
untersagen.
6. Die Verschleppung der Cholera auf weitere Strecken erfolgt
zumeist auf Wasserstrassen, an welchen sich ein Seucheherd ent¬
wickelt, dessen Bewohner mit dem Fluss verkehr in Beziehung stehen.
Richtung und Umfang der Ausbreitung der Seuche wird durch Rich¬
tung und Ausdehnung des Verkehrs bestimmt. Einzelne Einschlep¬
pungen bedingen keine „Stromverseuchung“.
7. Die zuverlässigste Massregel gegen die Flussepidemien stellt
die Stromüberwachung dar. Ihre Organisation hat sich nach den ört¬
lichen Verkehrsverhältnissen zu richten. Als Muster kann die Orga¬
nisation der Weichselüberwachung gelten, welche die Möglichkeit be¬
wiesen hat, die Cholera auf den Strom zu beschränken.
Digitized by
Go^ 'gle
9*
Original from
UNIVERSITÄT OF IOWA
3.
Digitized by
Der Stand der StUdtereinigungsfrage.
II. Theil. 1 )
Bei der Besprechung der Vorgänge auf dem Gebiete der Behandlung der
städtischen Abfallstoffe muss an erster Stelle der Deutschen Landwirt schafts-
gesellschaft gedacht werden, welche durch die erfolgreiche Thätigkeit ihres Son¬
derausschusses für Abfallstoffe und die bemerkenswerthen Arbeiten ihrer Versuchs¬
station einen unverkennbaren Einfluss erlangt hat. Als schöne Frucht dieses
gemeinnützigen Wirkens ist das von Prof. Vogel verfasste Buch: „Die Verwer-
thung der städtischen Abfallstoffe“ zu nennen. Dasselbe legt den heutigen Stand
von Wissenschaft und Praxis in ebenso umfassender wie sachgemässer Weise dar.
Vom Standpunkte des Hygienikers muss dabei besonders anerkannt werden, dass
der Verfasser bestrebt gewesen ist, die Forderungen der Gesundheitslehre mit den
volkswirtschaftlichen in Einklang zu bringen und da, wo dies nach dem heutigen
Stande des Wissens noch unerreichbar erschienen, die sanitären Gesichtspunkte
in den Vordergrund zu stellen. Durch dieses Buch wird der Beweis erbracht, dass
es in den Städten in vielen Fällen möglich ist, die Abfallstoffe rentabel zu sam¬
meln, unschädlich zu machen und zu verwerten und durch die so erzielte Rein¬
haltung von Boden, Luft und Wasser die Gesundheit und das Wohlbefinden der
Bewohner zu fördern.
Der Anregung durch die D. L.-G. verdanken wir die experimentellen Unter¬
suchungen über den Torfmull von Prof. Dr. Gärtner, Frankel, Löffler und
Stutzer, deren Gutachten: „Ueber die keimtödtende Wirkung des Torfmulls“,
1894 im 1. Heft der Arbeiten der Deutschen Landwirtschaftsgesellschaft nieder-
gelegt sind. Als Hauptergebnis ist hervorzuheben:
1. dass erst eine Durchtränkung mit starken Mineralsäuren (Schwefelsäure,
Phosphorsäure) dem Torfmull eine stark desinficirende Wirkung verleiht,
2. dass ein Zusatz von Superphosphatgips zwar die Desinfectionskraft des
Torfmulls erhöhen kann, dass aber eine sichere Garantie für die Abtödtung der
Krankheitskeime dabei nicht gegeben ist,
3. dass eine Beimengung von Kainit in keiner Weise die Desinfectionskraft
des Torfmulls in den Fäkalien erhöhen kann.
1) I. Theil s. Bd. XIII. S. 228. 1897.
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Der Stand der Städtereinigungsfrage.
133
In praktischer Weise ist die Behandlung der Abfallstoffe durch zwei Preis¬
ausschreiben gefordert, deren erstes die mustergültige Einführung des Torfstuhl¬
verfahrens in kleineren oder mittleren Städten, deren zweites die Schaffung eines
befriedigenden Klärverfahrens erstrebt. Die bisherigen Bewerbungen haben nicht
den Anforderungen genügt und ist der Preisbewerb, die Kläranlagen betreffend,
für die nächste diesjährigoWanderversammlung der D. L.-G. in Hamburg erneuert,
ln richtiger Erkenntniss der Thatsache, dass kleine Modelle und Laboratoriums¬
versuche keinen sicheren Schluss auf den Grossbetrieb von Kläranlagen gestatten,
ist zur Bedingung gemacht: das Verfahren muss in ordnungs- und geschäfts-
mässigem Betriebe den Richtern und auf der Ausstellung durch Modelle, Zeich¬
nungen u. s. w. vorgeführt werden.
Die Neuerungen in den Klärverfahren sind, unverkennbar unter dem vorbe-
zeichneten Einflüsse, dadurch charakterisirt, dass erstrebt wird, die mechanischen
Vorrichtungen zur Klärung mit und ohne Zuhülfenahme mechanisch wirkender
und bindender Klärmittel zu vervollkommnen, die Verwendung von Chemikalien
dagegen zu beschränken oder ganz zu vermeiden. Besonders gilt letzteres hin¬
sichtlich des Kalkes, der seine bisher dominirende Stelle unter den Klärmitteln*)
mehr und mehr einbüsst. Seine Bevorzugung verdankte derselbe seiner fällenden
und vornehmlich der gleichzeitig desinficirenden Eigenschaft, seiner leichten
Beschaulichkeit und relativen Billigkeit. Demgegenüber ist der Kalk in der Praxis
als Klärmittel missliebig gewordon, weil er zu bedeutende Schlammmassen fällt
[100 kg Kalk ergeben 178 kg kohlensauren Kalk 1 2 ); 100 Ctr. trockener Kalk 1000
bis 1500 Ctr. nassen Schlamm 3 )], in der Regel nicht desinficirt, da die zur Des-
infection erforderliche Menge (1 pM. Kalkhydrat) und Einwirkungsdauer (1 x / 2 St.)
nicht zu erzielen ist, und ferner, weil er vermöge seiner chemischen Eigenschaften
neben der Bildung von unangenehmem Ammoniakgeruehe den grossen Nachtheil
besitzt, auf die organischen Massen lösend zu wirken und die Schmutzwässer hier¬
mit anzureichern, so dass bei unzureichender Vorfluth eine nachträgliche Ausfäl¬
lung aus dem anscheinend klaren Abwasser unter Schlammbildung und Fäulniss
wieder eintreten kann 4 ). Auch der billige Materialpreis tritt bei den für den Gross¬
betrieb erforderlichen Massen nicht mehr in Erscheinung. Die hierfür aufgewen¬
deten Kosten werden um so lästiger empfunden, je höher die Schlammberge um die
Kläranlage steigen und das aus diesen Massen berechnete Gold sich nicht gewinnen
lässt. Nunmehr wird gespart, der Zusatz der Chemikalien wird verringert, bei
Nacht oder bei mangelnder Controle überhaupt eingestellt, und der Effect ist, dass
die Reinigung der Wässer nach keiner Richtung 5 ) befriedigt, während dieSchlamm-
1) Behring, Die Bekämpfung der Infectionskrankheiten. II. S. 378.
2) Behring, S. 377.
3) Fritsch, Ges.-Ing. No. 14. 18%.
4) Proskauer, Die Reinigung von Schmutzwasser nach dem System
Schwartzkopff. Zeitschr. f. Hyg. Bd. X. H. 1. — Proskauer und Nocht, Ueber
die chemische und bakteriologische Untersuchung der Kläranlage (System Rothc-
Röckner) in Potsdam. Zeitschr. f. Hyg. Bd. X. H. 1.
5) Frankel, Gutachten über die Verunreinigung des Salzbaches. Diese
Vierteljahrsschr. Bd. XIII. H. 2. 1897.
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
134
Schmidtmann und Proskauer,
masten die Nachbarschaft belästigen und Jedermann mit wachsendem Aerger über
die verfehlte und thenre Anlage erfüllt wird. Dies ist im Allgemeinen das uner¬
freuliche Bild, welches die Kläranlagen bieten, denen zugemuthet wird, die
Schmutzwassermengen aus volkreichen schwemmkanalisirten Städten zu rei¬
nigen. Einige Städte (Braunschweig, Dortmund) haben deshalb bereits das Auf¬
geben ihrer Kläranlagen und den Ersatz durch Rieselfelder beschlossen, während
andere fortgesetzt mit einer befriedigenden anderweiten Lösung durch Verbesse¬
rung oder Verlegung der Anlagen etc. beschäftigt sind.
Forschen wir nach den Ursachen solchen Misserfolges, so müssen wir uns
der Thatsache erinnern, dass die Klärverfahren unter bestimmten Verhältnissen
(Krankenhäuser, Schlachthofanlagen etc.) bei ordnungsmässigem Betrieb thatsäch-
lich durchaus befriedigend arbeiten können. (Sämmtliches Abwasser des grossen
Knappschaftslazarcths zu Königshütte wird, nach Hulwa geklärt, ohne jede Be¬
anstandung den Strassenrinnen zugeführt.)
Die Erklärung hierfür ist vornehmlich darin zu finden, dass die Schmutz¬
wassermengen nach Qualität und Quantität in gewissen Grenzen constant sind,
so dass sich das Verfahren, insbesondere der Zusatz der Chemikalien, darauf ein¬
stellen lässt. Bei der Kläranlage in Frankfurt a. M. versucht man dies auch im
Grossbetriebe zu erreichen, indem man nach den Graden der Verschmutzung den
Zusatz der chemischen Mittel regelt, allein, wie der Augenschein lehrt, nicht mit
gleich befriedigendem Effect. Eine wirksame Anpassung an die in ihrer Zusam¬
mensetzung so wechselnden Schmutzwässer schwemmkanalisirter Städte wird sich
kaum jemals erreichen lassen und hierin liegt eine der Hauptursachen für den
Misserfolg der chemischen, insbesondere der Kalkklärung. Das Trennsystem lässt
in dieser Hinsicht eine fundamentale Aenderung möglich erscheinen, indem es bei
seinen geringeren und gleichmässigeren Abwässern eine günstigere Grundlage für
die wirksamo Anwendung von Fällungs- und Desinfectionsmitteln bietet.
Betrachten wir nun die neuen Verfahren in ihren Einzelheiten.
1. Das Degener’sche Humus verfahren.
Nach der am 15. October 1895 von Dr. Degen er und Rothe veröffentlich¬
ten Beschreibung 1 ) ist dasselbe dem Rieselverfahren nachgebildet und soll zur Ent¬
lastung und Vervollkommnung desselben dienen. Die Spüljauche wird zunächst
mit Braunkohlengrus, Torf oder Moorerde (1—2 kg Trockensubstanz auf 1 Cubik-
meter), welche nass auf das feinste zu unfühlbarem Brei geschliffen sind, alsdann
mit einer kleinen Menge Eisenchlorid als beschwerendem Mittel versetzt und diese
Mischung nun in den Rothe-Röckner’schen Klärthürmen zur vollkommenen
Sedimentation gebracht. Das geklärte Wasser wird entweder auf Rieselfelder,
oder noch mit etwas Kalk desinficirt direct in den Flusslauf entlassen. Die Er¬
finder nehmen an, dass die fäulnissfähigen, sowie die schlammbildenden Stoffe
durch den Humus vollständiger zurückgehalten werden, als durch eines der bisher
üblichen Verfahren, und betonen als weitere Vorzüge, dass der Klärschlamm durch
Verbrennung beseitigt oder durch Gewinnung von Fetten und landwirtschaftliche
Verwendung leicht nutzbar gemacht werden kann. Die in Laboratoriumsversuchen
1) Vergl. auch D. R. Pat. 87417 und 92238.
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UMIVERSITY OF IOWA
Der Stand der Städtereinigungsfrage.
135
und an einem Probemodell gewonnenen und sachverständig controlirten (Pros-
kauer, Vogel, Pfeiffer) Resultate waren hinsichtlich der Ausscheidung der
organischen Masse (bis zu 68pCt.), des Geruches u. s. w. keine ungünstigen. Eine
Desinfection der geklärten Wässer wurde zwar nicht erreicht, indessen genügte
zur AbtÖdtung der Keime in den humusgeklärten Wässern eine erheblich geringere
Menge von Desinfectionsmitteln, indem schon bei V 2 ständiger Einwirkung von
0,05 pOt. Kalk in Form der Kalkmilch die sichere AbtÖdtung von Infectionskei-
men erzielt wurde. Bezüglich der landwirtschaftlichen Werthschätzung ist das
Verfahren von Vogel nicht so günstig, wie von dem Erfinder beurtheilt, doch
wird auch von dieser Seite anerkannt (Vogel, a. a. 0. S. 671/673), dass der
mechanische Theil vorzügliches leistet. Mit behördlicher Genehmigung ist die
Kläranstalt zu Potsdam nach dem Humus verfahren umgestaltet und seit Kurzem
in diesem Betrieb. Es wird sich somit an der Hand des practischen Versuches
ein endgültiges Urtheil über den Werth des Humusverfahrens im Grossbetrieh
bald gewinnen lassen. Nach den bisherigen von Proskauer ausgeführten Unter¬
suchungen sind die vorläufigen Resultate hinsichtlich der Entfernung der orga¬
nischen fäulnissfähigcn Substanzen (bis 80 pOt.) sehr befriedigend und ist die
Desinfection der geklärten Wässer schon mit 0,025 pCt. Kalkmilch in 16 Minuten
erreichbar.
2. Das Verfahren des Ingenieurs Riensch-Wiesbaden 1 ).
Die Abwässer werden durch einen Sandfang von trichterförmiger Bauart ge¬
leitet, aus welchem die schweren Sinkstoffe mittelst Baggerwerk gehoben werden,
demnächst von allen greifbaren Unroinlichkeiten, wie Abfallen, Fäkalballen, Papier,
Laub u. s. w. durch einen automatisch wirkenden Rechen befreit, welcher die¬
selben auf ein langsam gehendes Transportband bringt. Von diesem sollen die
brauchbaren Stoffe in bequemerWeise abgenommen und das übrige in einen Kasten
befördert werden, welcher den Stoff zu Düngerzwecken weiter führt. Die so vor¬
geklärten Abwässer werden mit den zum Patent angemeldeten Klärmitteln versetzt
und durch 3 Bassins geführt, wobei im 1. und 2. das Fällmittel wiederholt wirken
und im 3. die Klärung stattßnden soll. Durch eingeschobene Klärschienen wird
eine möglichst grosse Klärfläche gebildet. Der flockig-poröse Schlamm wird wäh¬
rend des Betriebes abgezogen, durch Filterpresse entwässert und in transportable
Form gebracht. Der Patentanspruch war darauf gegründet, dass poröse Stoffe, in¬
sonderheit Torfmull, als Klär- und Filtermaterial ohne chemische Behandlung, nur
durch Kochen oder Dämpfen geeignet gemacht werden. Die im Laboratorium an-
gestellten befriedigenden Ergebnisse haben sich bei den in der Kläranlago zu
Wiesbaden ausgeführten Versuchen in der practischen Ausführung nicht so be¬
währt, dass der Betrieb beibehalten werden konnte.
Für die Werthschätzung des Verfahrens in seinem mechanischen Theil ist
von Belang, dass die Apparate theuer, und bei aller Anerkennung ihrer sinnreichen
Construction für den Betrieb zu complicirt und empfindlich (rosten etc.) sind, hin¬
sichtlich der Klärmittel gilt das beim Humusverfahren Gesagte, eine Desinfections-
kraft wird man auch ihnen nicht zuschreiben.
1) Zeitschrift Tiefbau. No. 11 u. 36. 1895.
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Digitized by
136 Schmidtmann und P roskau er,
3. Verfahren von Pr. Frank in Wiesbaden 1 ).
In gleichem Ideengang wie bei den vorbeschriebenen Verfahren macht Dr.
Frank Torf durch Verreiben unter Wasser luftlrei und zum Filtermaterial geeignet.
Die bisher veröffentlichten Krgebnisse der bei der Kläranstalt zu Wiesbaden ange-
sleilten Versuche sind nicht so vollständig, dass sie als bemerkenswerther Beitrag
zur Lösung der schwierigen Frage der Kanal wässerrein igung angesehen werden
können.
4. Der kugelförmige Filtrirapparat Kosmos der Firma Wiesche und
Scharfe 2 ).
Derselbe hat nach dem Prospect in erster Linie die Reinigung von Fluss¬
wasser für industrielle Zwecke im Auge. Als Filtermaterial wird Asbest und Baum-
wollcellulose verwandt - Substanzen, welche bereits von Piefke, Breyer, En-
zinger u. A. zu gleichem Zweck verwerthet worden sind. Von diesen Filtern ist
bekannt, dass sie zwar gröbere, suspcndirte Verunreinigungen zurückzuhalten ver¬
mögen, jedoch nicht die Mikroorganismen und die gelösten Bestandtheile. Das
Gleiche wird bei dem Apparat Kosmos vorauszusetzen sein; für die Reinigung
städtischer Abwässer wird derselbe daher nur da in Betracht kommen können,
wo man auf die Beseitigung der gelösten fäulnissfähigen Stoffe und der Mikroorga¬
nismen keinen Werth zu legen braucht.
5. D a s A b w a s s e r r e i n i g u n g s v e r f a h r e n mittelst g e s c h w e 111 e r
Schlammkohle von Friedrich und Glass in Leipzig 3 ).
Hierbei liegt der Gedanke zu Grunde, aus dem durch Sedimentirung und
Filtration erhaltenen Schlamm mittelst Schwellung Kohle zu gewinnen, welche zur
Reinigung weiterer Abwässer benutzt wird. Bei diesen» Verfahren sollen nicht nur
die Kosten eines besonderen Klär- bezw. Niederschlagmittels gespart, sondern auch
die Schlammkalamität gehoben werden. Einem Beispiel ist eine Stadt von 80- bis
100000 Einwohner mit 10000 cbm Abwassermenge zu Grunde gelegt. Der luft¬
trockene Schlamm wird für den Tag auf ca. 4 cbm berechnet bei 40 pCt. Aus¬
scheidung der auf 820 g pro Cubikmeter angenommenen festen Theile. Als Filter-
Hache sind 10 Filter ä 36 qm nebst 2 Reservcfilter erforderlich bei einer 15fach
grösseren Filtergeschwindigkeit als die z. Z. bei Trinkwasserfiltern gebräuchliche.
Der Filterbetrieb soll 10 Monate dauern, so dass jeden Monat ein Filter erneuert
wird. Bei 1 m Filterhöhe benöthigt man pro Tag 1,25 cbm Filterkohle zur Er¬
neuerung. Als täglicher Leberschuss sollen 2000 kg gut lufttrockenen Schlammes
verbleiben. Die täglichen Betriebskosten sind mit 80 Mk., pro Kopf und Jahr mit
29,2 Pfg. angesetzt, unter Anrechnung des Erlöses für Poudrette mit 60 Mk. pro
Tag erniedrigen sich diese Kosten auf 7,3 Pfg., mit 30 Mk. auf 18,25 Pfg., wäh¬
rend dieselben in Essen 62 Pfg., Halle 75 Pfg., Wiesbaden 79 Pfg., Frankfurt a. M.
100 Pfg. betragen.
1) Feber Keinigung städtischer Kanalwässer durch Torffiltration. Ges.-Ing.
No. 21/22. 1896.
2) Zeitschrift Tiefbau. No. 29. 1895.
3) Ges.-Ing. No. 15. 1896.
Gck igle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
Der Stand der Städtereinigungsfrage.
137
Dieser verheissungsvollen Darlegung tritt Braun 1 ) entgegen. Derselbe ge¬
langt auf Grund seiner Nachprüfung der Berechnungen zu dem Resultat, dass die
Betriebskosten ungefähr sich dreimal so hoch, die Anlagekosten doppelt so hoch,
als angegeben, stellen, ausserdem wird die technische Unausführbarkeit behauptet.
6. Filterbetrieb und anderweitc Verfahren.
Der Filterbetrieb für Schmutzwässer ist in eine vollständig neue Phase ge¬
rückt durch den Anstoss, den er von England aus erfahren hat. Voraussetzung
eines günstigen Betriebes ist die ausreichende Vorklärung und die intermittirende
Function der Filter. Das erstere soll die Verschlammung des Filters verhindern,
das zweite die Luftfüllung und damit die Oxydationswirkung sichern. Bei dem
Ferrozonc-Polarite-Verfahren wird behufs Vorklärung Ferrozone (60 pCt.
schwefelsaure Thonerde und 40 pCt. Eisenoxydul nach Vogel), bei dem Ilem-
pels’schen Blausteinverfahren ein Gemisch von 70 pCt. schwefelsaurer
Thonerde und 30 pCt. patentirter Blaustein verwandt. Das vorgeklärte Wasser
wird auf die Filter geleitet, die in dem einen Falle neben der gebräuchlichen
Sand-, Kies- und Steinlage eino Schicht Polarite, im anderen von Blaustein ent¬
halten und gleichsam ein künstliches Rieselfeld darstellen.
Das Blausteinverfahren war in Kraschnitz O.-S. versuchsweise eingerichtet.
Der Versuch hat jedoch nicht befriedigt und ist aufgegeben.
Günstiger stellt sich bisher der Betrieb einer von der Stadt Bromberg ein¬
gerichteten Versuchsanlage nach dem Ferrozonc-Polarite-Verfahren, dessen Ergeb¬
nisse von Siedamgrotzky in dieser Vierteljahrsschrift, Band XIII. 1. Heft, 1897,
..Beitrag zur Lösung der Frage der zweckmässigsten und billigsten Kanalisation
in mittleren und kleineren Städten“, beschrieben sind. Bei der Beurtheilung der
Angaben darf nicht ausser Acht gelassen werden, dass eine künstliche Schmutz¬
wassermischung benutzt wurde und die Ergebnisse sehr schwankende waren. In
Ergänzung der Si edamgrotzky'sehen Mittheilungen hebt Prof. Vogel auf Grund
nachträglich gemachter Feststellung hervor, dass das Filter zu Bromberg, was
bisher bei den gleichartigen englischen Filtern nicht nachgewiesen werden konnte,
eine Oxydationskraft entfaltete, die derjenigen auf gut geleiteten Rieselfeldern
ebenbürtig ist, indem 57 pCt. Stickstoff oxydirt wurden, und zwar
zu 33,20 freiem Stickstoff,
„ 12,35 Salpetersäure,
„ 12,35 salpetrige Säure;
fast ausschliesslich geschah dies auf Kosten des Ammoniakstickstoffes, während
der organische Stickstoff wenig verändert wurde. Ein Drittlheil des Gcsammt-
stickstoffes war somit bei der Filtrirung verloren gegangen, was, falls sich dieser
räthselhafte Verlust wirklich bestätigen sollte, in hygienischer Beziehung einen
Vorzug, in landwirtschaftlicher einen Verlust bedeutet. Vogel glaubt, dass
durch zweckmässigen Betrieb thunlichst aller Stickstoff in Salpetersäure über¬
geführt und der Landwirtschaft nutzbar gemacht werden kann. Zu diesem
Zweck finden z. Z. an einem Probefilter Versuche in der Versuchsstation der
Deutschen Landwirthschaftsgesellschaft statt. Da durch das Ausfällen bei dem
Probeversuch zu Bromberg ca. 30 pCt. Stickstoff ausgeschieden waren, so waren
1) Ges.-Ing. No. 19. 1896.
Digitizeit by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
138
Schmidtmann und Proskauer,
durch Fällung und Filtration ca. 87 pCt. Stickstoff der Spüljauche beseitigt bezw.
in die hygienisch unbedenkliche Form der Salpetersäure und salpetrigen Säure um¬
gesetzt. Es wird allgemein angenommen, dass die oxydirende Leistung des Filters
vornehmlich auf die Wirkung von ammoniakzersetzenden Mikroben zurückzuführen
ist, welche nach Untersuchungen von Stutzer 1 ), die allerdings noch anderweiter
Bestätigung bedürfen, als Generationsform eines Schimmelpilzes aufzufassen wären.
Hiermit tritt die biologische Thätigkeit der Filter in den Vordergrund,
während man bisher ihre sorgfältige mechanische Reinigungswirkung, durch
welche die feinen schwebenden Theilchen zur Abscheidung kommen, als die Haupt¬
sache anzusehen pflegte. Alex. Müller war wohl der Erste, welcher die Selbst¬
reinigung der Spüljauche als einen biologischen Process, eine Verdauung durch
eine Vielheit lebender Wesen, gedeutet und im Anschluss hieran ein Patent auf
die cellulare (biologische) Reinigung der Zuckerfabrikabwässer erwarb. Unter¬
schiedlich von den Zielen der Trinkwasserfiltration würden wir hiernach kein so
ausschlaggebendes Gewicht auf die absolute Verringerung der Bakterienzahl legen,
sondern vielmehr auf die Beseitigung bezw. hygienisch unbedenkliche Umsetzung
der organischen Substanz und die Erzielung einer der Entwicklung von Fäulniss-
bakterien oder Conservirung von Infectionserregern nicht günstigen Beschaffenheit
der Abwässer. Unsere Bestrebungen müssen darauf gerichtet sein, das Filter¬
material mit den erwünschten lebenskräftigen Mikroben zu bevölkern. Voraus¬
setzung hierbei ist nach den Erfahrungen ein ausreichender Luftgehalt, und so¬
mit sind wir bei dem Filteraufbau auf poröse Materialien, wie Coksklein, Polarite,
Blaustein etc., den intermittirenden Betrieb und die absteigende Filtration ge¬
wiesen.
Für die Ausbildung der biologischen Seite des Filterbetriebes haben sich be¬
sonders anregend erwiesen die unter Leitung des Chemikers Dibdin zu London
während der Jahre 1892—95 angestellten Versuche zur besten Reinigung der Spül¬
jauche, deren Ergebnisse in den an den Londoner Provinzialrath erstatteten und
auf Anordnung der Main Drainage Comitee veröffentlichten Berichten niedergelegt
sind. Hiernach wurde zunächst an kleinen Filtern Entscheidung über das beste
Filtermaterial nach der Grösse der erzielten Reinigung getroffen, welche nach der
Verminderung der gelösten oxydirbaren Stoffe gegeben war. Dieselbe betrug fiir
Klamotten.43,3 pC't.
Sand.46,6 „
groben Kies.52,3 „
Patentmaterial mit Sand gemischt 60,0 „
Coksklein (Grus).62,2 „
An einem mit Coksklein hergerichteten, 1 Acre (4047 qm) grossen Filterfeld
wurden nunmehr die Versuche im Grossen und auch im strengen Winter durch¬
geführt. Dieselben haben gezeigt, dass Spüljauche, besonders wenn sie vorher
einer mechanischen Abklärung unterworfen war, in jedem gewünschten Grade
(durchschnittlich wurden 80 pCt. erzielt) gereinigt werden kann. Je nach dem
Grade der gewünschten Reinigung muss die Schmutzflüssigkeit längere oder kür¬
zere Zeit der Einwirkung der Mikroorganismen im Filter ausgesetzt sein. Bei einer
beabsichtigten Reduction von 75 pCt. der gelösten oxydirbaren organischen Stoffe
1) Centralbl. f. Bakterologie. II. Abth. III. Bd. No. 1, 2, 3, 7, 8ff. 1897.
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITÄT OF IOWA
Der Stand der Städtereinigungsfrage.
139
soll ein 1 / 2 ha grosses Cokskleinfilter zur Reinigung von 11216 cbm Abwasser
genügen. Der Betrieb geschah mit abwechselnder Füllung und in jeder Woche
mit 24 Stunden gänzlicher Ruhe nach Entleerung. Bei einer Verschlammung
durch Kothmassen genügte eine Ruhe von 28 Tagen zur vollständigen Regenera¬
tion. Die Fäulnissorganismen beginnen nach Dibdin die Arbeit mit der Spaltung
der organischen Massen und der Umwandlung derselben in einfachere Verbindun¬
gen, insbesondere Wasser, Kohlensäure, Ammoniak. Der salpeterbildende Organis¬
mus setzt dieselbe fort. Die vorgehende Einführung und die nachfolgende Culti-
virung der Mikroben ist somit nach diesen Berichten das Ziel der wissenschaftlich
geleiteten Filtration. Für den Fortgang des Processes wird als wesentlich bezeich¬
net: 1. die Versorgung des Organismus mit genügender Luft, 2. das Vorhandensein
einer Base z. B. Kalk (2,4 grains Kalk und 1 grain Eisensulfatauf 1 Gallon [4,54 1]
Spüljauche) womit sich die Salpetersäure verbinden kann, 3. die Thätigkeit der
Mikroben im Dunkeln d. h. im Körper des Filters und nicht in dem über dem
Filier stehenden Wasser.
Auf der zu 3. erwähnten Beobachtung ist das Verfahren nach Camerons
aufgebaut. Nach einem Berichte der Hüller Zeitung über diese neue Reinigungs¬
methode wurde die Jauche bei den Probeversuchen in 4 Tanks unter vollständigem
Abschluss von Licht und Luft zu rapider faulender Gährung und Zersetzung ge¬
bracht und das aus den Tanks abfliessende schwach gefärbte Wasser verlor nach
Passiren von Filtern alle üble Farbe und Geschmack. Chemikalien wurden nicht
angewandt, die Filter reinigten sich automatisch, wenn sie kurze Zeit ausser Ge¬
brauch waren. Auf Grund der befriedigenden Ergebnisse der Vorversuche soll die
Stadt Exeter (2300 Einwohner) die Reinigung ihrer Abwässer nach diesem Ver¬
fahren beschlossen haben.
Dem Gedanken, die Umwandlung und Beseitigung der organischen Substan¬
zen durch „Verwesung“ mit Hülfe des Sauerstoffes und der Bakterien zu erreichen,
begegnen wir auch bei dem in seinen Erfolgen sehr beachtenswerthen Prosko-
wetz’schen Reinigungsverfahren für Abwässer von Zuckerfabriken. An
Stelle des einen künstlichen Filters sind jedoch hierbei zwei mit Saugdrains vor¬
bereitete Bodenfilter verwandt, auf welchen eine zweimalige Filtration ausgeführt
wird. Die Abwässer, welche vorher durch Kalkzusatz von ihren Sinkstoffen be¬
freit werden, sollen durch die Erdfiltration eine Umsetzung ihrer gelösten organi¬
schen Substanz erfahren, so dass sie alsdann durch Kalk fällbar und ganz ausge¬
schieden werden können. Nach den Berichten hat das so gereinigte Wasser den
Fäulnissgeruch ganz und den Rübengeruch fast vollkommen verloren und ist in
kleiner Menge, ohne den geringsten Ekel zu erregen, trinkbar. Jedenfalls ist in
Sokolnitz eine derartige Wiederbelebung der Abfallwässer erreicht, dass letztere an¬
standslos im Betriebe der Fabrik seit einigen Jahren verwendet werden, ohne dass
die Analysen des Rohzuckers eine Verschlechterung gegen früher haben nach weisen
lassen. Der Bach, welcher früher zur Vorfluth diente und dessen Verschmutzung
zu steten Beschwerden Veranlassung gegeben, wird seither nicht mehr in Anspruch
genommen. Der Kalkzusatz, der zur Vor- und Nachklärung benutzt war, ist ein
relativ erheblicher, indem auf die Abwässer von 4000 Doppelcentner verarbeiteter
Rüben täglich die Lösung von 5 Doppelcentnern Aetzkalk zur Vorklärung und
10 Doppelcentner znr Nachklärung des Drainwassers kommen. Dagegen erwies
sich eine Bodenfläche von ca. 0,4 ha als ausreichend für die Filtration. Das Ver-
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UMIVERSITY OF IOWA
140
Digitized by
Schmidtmann und Proskauer,
fahren ist bisher in der Zuckerfabrik zu Sokolnitz und neuerdings in angeblich
noch vervollkominneter Weise bei einer Zuckerfabrik in Sadowa eingeführt. Von
den preussischen Behörden ist beabsichtigt, dasselbe durch Sachverständige wäh¬
rend der nächsten Campagne prüfen zu lassen.
Wenn bei den vorbeschriebenen Reinigungsverfahren die biologische und
bakterielle Umwandlung der organischen Substanzen in den Schmutz wässern in
Vordergrund gestellt ist, so weisen die interessanten Versuche des Baron Tindall
in Amsterdam über die Einwirkung ozonisirter Luft auf Schmutzwässer auch der
chemisch molecularen Wirkung einen Platz an und lassen die Behandlung der
Schmutzwässer auf diesem Wege, insbesondere behufs Vernichtung etwaiger In-
fectionserreger, aussichtsvoll erscheinen. Nach der Veröffentlichung des Prof,
van Krmengem 1 ) wurden die Versuche angestellt mit dem stark verunreinigten
Wasser des alten Rheins, das von schwärzlicher Farbe, widerwärtigem Gerüche
war und zahlreiche Keime enthielt. Nach Befreiung von gröberen Beimengungen
mittelst Sandfilters hatte dasselbe noch eine dunkelbraune Farbe und widerwär¬
tigen Geruch. Nunmehr mit Ozon behandelt, indem man ozonisirte Luft durch
das Wasser hindurchleitete oder das Wasser in feinsten Tröpfchen durch die ozo¬
nisirte Luft herabfallen Hess, erwies sich das abfliessende Wasser völlig klar, von
gutem Geruch und Geschmack, und bei sorgfältiger bakteriologischer Untersuchung
völlig keimfrei, auch wenn absichtlich die widerstandsfähigsten Dauersporen
in grossen Mengen zugesetzt waren. Nach dieser Aeusserung eines so bewährten
Forschers kann nicht bezweifelt werden, dass mit Hülfe des Ozons auch Schmutz¬
wässer sterilisirt und für den menschlichen Gebrauch ungeeignetes Wasser zu Trink¬
wasser umgewandelt werden kann, doch gelten derartige Schlüsse zunächst nur
für Laboratoriumsverhältnisse, denn auch der grösste der Probeapparate vermochte
nur 50 1 in der Minute zu liefern, und es wäre voreilig, diese Resultate auf die An¬
wendung des Ozons im Grossbetriebe, wo Tausende Cubikmeter in Betracht kom¬
men, ohne Weiteres zu übertragen. Namentlich dürfte auch die Kostenfrage die
Anwendung des Ozons hierbei irrationell machen.
In dieser Hinsicht wird den Verfahren von Bassenge 2 ), sowie von Schum¬
burg 3 ) ein grösserer practiseher Werth beizulegen sein, da es mit denselben ge¬
lingt, durch relativ kleine Mengen Chlorkalk (0,0978 actives Chlor entsprechend
ca. 0,15 g käuflichem Chlorkalk auf 1 1 bei einer Einwirkungsdauer \ r on 10 Min.,
1 kg Chlorkalk genügt zur Sterilisirung ca. 5 cbm stark verunreinigten Wassers)
bezw. Brom (0,06 g Brom oder 0,2 ccm einer 20proc. Bromkaliumlösung auf 1 1
Spreewasser, 1 kg Brom für ca. 16 cbm) bakterienreiche Flüssigkeiten zu sterili-
siren. Bei Verwendung der genannten Chemikalien zur Sterilisation von Schmutz¬
wässern ist jedoch zu beachten, dass ein sehr grosser Theil derselben durch die
organischen Stoffe, Ammoniak u. dergl., seiner Wirkung entzogen wird.
1) De la Sterilisation des eaux par Pozone. Traveil de laboratoire d’hygiene
et de bacteriologie de l’Universite de Gand. Extrait des Annales de PInstitut
Pasteur. Oct. 1895.
2) Zur Herstellung keimfreien Trinkwassers. Zeitschr. f. Hyg. u. Infect.-
Krankh. Bd. 20.
3) Neues Verfahren zur Herstellung keimfreien Trinkwassers. Deutsche med.
Wochenschr. No. 10. 1897.
Gck igle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
Der Stand der Städtereinigungsfrage.
141
So vielversprechend und werthvoll die Ergebnisse der erwähn¬
ten Probeversuche nnd Laboratoriumsarbeiten immerhin für die Lö¬
sung der Schmutzwasserreinigung sind, so wird doch Niemand in
Zweifel darüber sein, dass über den practischenWerth der verschie¬
denen Systeme und Verfahren nur das Experiment im Grossen ent¬
scheiden kann. Wir glauben hervorheben zu müssen, dass ganz besondere
Vorsicht geboten ist bei der Beurtheilung der mitgetheilten in England gewonnenen
Ergebnisse über die Thätigkeit der Mikroben bei dem Reinigungsverfahren. Ein
endgültiges Urtheil über dieses wissenschaftlich vielfach noch unaufgeklärte Ge¬
biet dürfte sich erst nach weiteren Versuchen unter genauer Bestimmung der Qua¬
lität der verschiedenen Schmutzwässer, der Arten der betheiligten Mikroben und
der Bedingungen, unter denen sie für den beabsichtigten Zweck sich nutzbar er¬
weisen, und dergleichen mehr fällen lassen.
Erfreulicher Weise wird auch in Deutschland bald mannigfache Gelegenheit
sich bieten, an grösseren Versuchsanlagen die Wirkung einzelner Kanalisations¬
systeme und Reinigungsverfahren zu ersehen. So wird u. A. eine Entwässerungs¬
anlage für den Schiessplatz auf dem Lechfeld für eine Belegmannschaft von
5000 Personen nach dem Druckluftsystem von E. Merten, für Zoppot ein Diffe-
renzirsystem ausgeführt, in der Stadt U. ist eine Kläranlage im Bau, bei welcher
dem System der Durchlüftung durch Einschaltung von Gradirwerken Rechnung
getragen ist; erwähnt wurde bereits die veränderte Rothe-Röckner’sche Anlage
zu Potsdam, das Ferrozone-Polarite-Filter in Bromberg. Eine besondere Betrach¬
tung rechtfertigt die von dem Culturingenieur Sch weder nach dem Dib di n-
schen Princip entworfene Versuchs-Kläranlage, welche, günstige Ergebnisse vor¬
ausgesetzt, demnächst bei Lichterfelde und Tempelhof für die Reinigung der Ka¬
nalspüljauche angewandt werden dürfte. Unter Vermeidung jeder Kunstmittel wird
die Reinigung der Spüljauche ähnlich dem natürlichen Hergang auf den Riesel¬
feldern, jedoch auf erheblich kleinerem Areal nach Alex. Müller sozusagen „fa-
brikmässig“ erstrebt. Dieselbe soll sich vollziehen durch Gährung und Oxydation,
welche Processe das Arbeitsresultat von verschiedenen Mikroorganismen darstellen,
und zwar wird angenommen, dass der Gährungserreger am Energischsten im Dun¬
keln, der stickstoffverzehrende und salpeterbildende im Licht, insonderheit unter
Zuführung frischer Luft arbeitet. Der erstere soll im Harn vorhanden, der zweite
ein sporenbildender Schimmelpilz (Stutzer) sein, welcher sich auch am Heu in
warmem Wasser bildet. Dies gebe die Möglichkeit, den Pilzreichthum des Filters
künstlich zu steigern, ebenso wie es auch ausführbar erscheint, den Gährungspro-
cess erforderlichen Falls durch Zusatz von menschlichem oder thierischem Harn
zu beschleunigen. Der Gährungsraum wird zur Erhaltung der gleichmässigen
Temperatur einem Keller ähnlich theils in die Erde eingebettet, theils mit Erd¬
mantel umgeben und auf engmaschigem Drahtnetz mit Torfmull überdeckt, w'obei
diesem Material noch die Absorption der üblen Gerüche zugewiesen ist. Der Oxy¬
dationsraum wird durch Filter gebildet, welche aus einer Mittelschicht von 0,80 m
Coksabfall und einer oberen und unteren Schicht von je 0,20 in grobem Kies auf¬
gebaut werden sollen.
Die Kosten der Anlage werden auf 2—3 Mk. lür den Kopf der Bevölkerung
gegenüber 10 Mk. bei Anlage eines entsprechenden Rieselfeldes berechnet. Als
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
142
Schmidtmann und Proskaner,
sanitätspolizeilicher Vorzug gegenüber den Rieselfeldern wird betont, dass die
Controle des Betriebes und der Ergebnisse eine leichtere ued sichere sei.
In beachtenswerther Weise hat Prof. Alex. Müller Stellung zu den Dib-
d i n ’schen Bestrebungen und dem vorgeschilderten Projecte genommen 1 ). Der¬
selbe erachtet die „fabrikmässige Spüljauchenreinigung für einen Fortschritt ähn¬
lich demjenigen in der Essigbereitung durch langsame Essiggährung von Frucht¬
säften zur Schnellessigfabrikation“, er macht darauf aufmerksam, dass die nach
Dibdin gereinigte Spüljauche geradezu ein ideales Rieselwasser darstellt, nach¬
dem die Schlammthcile der Jauche durch Gährung und Oxydation allmälig in
Kohlensäure, Ammoniak, Salpetersäure und Aschenbestandtheile übergeführt, d. h.
mineralisirt und so für die Chlorophyllpflanzen erst geniessbar geworden sind.
Die angewandten Chemikalien sind nach Alex. Müller mehr oder weniger con-
servirende Mittel, welche die natürliche Selbstreinigung der geklärten Abwässer
kürzer oder länger verhindern.
Die Combination des Klär- und Rieselverfahrens begegnet uns auch in dem
Project von Fritsch 2 ). Durch Verwendung von Sumpfpflanzen soll hierbei die
Rieselfläche möglichst beschränkt werden und ist für die Abklärteiche die Be¬
setzung mit Fischen (Schleien, Karauschen, Rothaugen etc.) vorgeschlagen. Es
wird berechnet, dass die Stadt Leipzig bei einer Aufwendung von 1 Million für
solche combinirte Anlage weiter komme als mit 10 Millionen bei Rieselfeldern.
In Hinblick auf die in unserem I. Theil der Besprechung der Städtereini¬
gungsfrage gemachten Angaben über das Trennsystem ist es von Interesse, dass
einzelne Communen nachträglich die Aufstellung der Kosten für die Kanalisations¬
anlage nach dem Einheits- (sog. Schwemm-)system und dem Trennsystem haben
ausführen lassen. Bei einer mittclgrossen Stadt, bei welcher die örtlichen Ver¬
hältnisse für eine getrennte Ableitung der Tage- und der Schmutzwässer günstig
lagen, stellte sich nach genauem Ueberschlag der Aufwand für die Kanalanlage
nach dem Einheitsproject auf 600000 Mk., nach dem Trennproject auf 180000 Mk.,
wozu noch die Kosten der Regenwasserleitung mit 80000 Mk. treten. Demgemäss
bietet das Trennsystem manchen Städten die Möglichkeit, sich die hygienischen
Vortheile der Kanalisation, wenn auch nicht in der bisher vollkommensten Weise
nach dem Einheitssystem, zu sichern, während dieselben bisher angesichts der
erheblichen Kosten der Anlage und des Betriebes der Schwemmkanalisation von
jeder geregelten Ableitung der Schmutzwässer absahen und es lieber beim Alten
beliessen.
Auch für das vielgeschmähte, aber wohl auch vielfach verkannte Lienur-
System ist neuerdings eine beachtenswerte Kundgebung der Direction der Stadt-
reinigungs-Maatschappij zu Amsterdam erfolgt, durch welche die „Thatsachen
über das Lienur-System, 25 Jahre Praxis, 1897“ 3 ), in 17 Grundsätzen niedergelegt
werden und die Vorzüge des Systems auch in den Punkten (Verstopfungen u. s.w.)
1) Lokalanzeiger für Lichterielde. No. 85/86. 1896.
2) Rieseln oder Klären? Ein Vorschlag zur Lösung der Leipziger Schleusen¬
wasserfrage. Ges.-Ing. No. 14. 18%.
3) Gesundheit. No. 2. 1897.
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UMIVERSITY OF IOWA
Der Stand der Städtereinigungsfrage. 143
behauptet werden, welche in dem Buche von Vogel 1 ) keine so günstige Schilde¬
rang erfahren haben.
Auf dem Gebiete der Poudrettirung der Fäkalstoffe sind ebenfalls Fort¬
schritte zu verzeichnen. Der Fehler, welcher durch Lienur gemacht war, indem
er eine halbtrockene Waare durch Eindampfen gewinnen wollte, ist bei dem Ver¬
fahren von Podewils, nach welchem seit 15 Jahren in Augsburg, und bei der
Anlage von der Firma Venuleth und Ellenberger, in welcher seit Jahresfrist
die Fäkalstoffe in Bremen poudrettirt werden, vermieden, indem eine trockene,
pulverformige, landwirtschaftlich nutzbare Handelswaare dargestellt wird. We¬
sentlich ist für den landwirtschaftlichen Werth dieser Poudrette, dass es durch
Zosatz von Schwefelsäure (2 pCt.) gelungen ist, die Austreibung des Ammoniaks
beim Eindampfungsprocess zu verhindern, und hygienisch ist von Bedeutung, dass
der ganze Verarbeitungsprocess in geschlossenen Apparaten und Gefässen vorge¬
nommen wird, und dass alle etwa in den Fäkalien vorhandenen Krankheitserreger
sicher abgetödtet werden müssen. Vogel kommt bei seinem Vortrage in der
Deutschen Gesellschaft für öffentliche Gesundheitspflege 2 ) zu dem Schlüsse, dass
eine bessere Beseitigung der Fäkalien in hygienischer Beziehung überhaupt nicht
erfolgen kann. Ein weniger günstiges Urteil über die Fäkalienbehandlung in
Bremen fallt ein Gutachten des Oboringenieurs Meyer-Hamburg 3 ), in welchem
die ganze Fäkalienaufstapelung nebst Zubehör als „Bombenschweinerei“ bezeichnet
wird. Der anscheinende Widerspruch der bewährten Gutachter erklärt sich wohl
daraus, dass der ersten Beurteilung das Poudretteverfahren als solches für sich
allein unterstellt worden ist, während der zweite Gutachter das ganze System der
Auffangung, (Kübel) Ueberführung, Lagerung etc. der Fäkalien vor Abgabe an
die Fabrik seiner abfälligen Kritik unterzogen hat.
Bei der Verarbeitung der Schlammrückstände aus der Rothe-
Röckner’schen Kläranlage zu Pankow ist es gleichfalls gelungen, unter Anwen¬
dung von Schwefelsäure den Gehalt der trockenen Waare an Stickstoff auf 3 pCt.
und mehr zu steigern und damit eine handelsfähige Waare herzustellen.
Wie weit der Weg gangbar ist, getrockneten Klärschlamm, der bei Verwen¬
dung von Torf etc. als Klärmittel, gewonnen wird, durch Verbrennung zu besei¬
tigen, dürfte sich an der veränderten Kläranlage zu Potsdam bald durch den
praktischen Versuch erproben lassen.
Auch auf dem Gebiete der Müllbeseitigung und Verwerthung beginnt es
sich zu regen. Die hygienischen Anforderungen an Abladeplätze für Mull werden
von Weyl 4 ) in kurz zusammenfassender Weise besprochen und von J. H. Vogel
in einer besonderen Broschüre 5 ) in eingehendster Weise unter besonderer Anleh¬
nung an die Berliner Verhältnisse erörtert. Die interessante Abhandlung des ver¬
dienten Verfassers stellt sich dar als Ergänzung seines vielgenannten Buches über
die Verwerthung der Abfallstoffe und ist mit 17 der Wirklichkeit entnommenen
1) a. a. 0. S. 253—277.
2) Hygienische Rundschau. No. 4. 1897.
3) Bremer Courier. No. 59. 28. Febr. 1897.
4) Diese Vierteljahrssohr. Aprilheft 1897. S. 427—434.
5) Die Beseitigung und Verwerthung des Hausmülls vom hygienischen und
volkswirthschaftlichen Standpunkte. Jena, G. Fischer, 1897.
□ igitized by Google
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
144
Schmidtmann und Proskauer,.
Bildern und 1 Plan ausgestattet. Die Bearbeitung des Stoffes ist mit bekannter
Gründlichkeit und Sachkenntnis erfolgt. Aus den Schlusssätzen heben wir Fol¬
gendes hervor: „Sammelkastenwagen, bei welchen Arbeiter das Müll aufstapeln
müssen, sind unter allen Umständen zu verwerfen. Bei der Neuregelung der Müll¬
abfuhr müssen solche Wagen so umgestaltet werden, dass eine directe Verfrach¬
tung des Mülls aus den Wagen in Kähne oder Eisenbahnwagen ohne jede Staub¬
entwicklung möglich ist; an erster Stelle kommt das Wechselkastensystem in
Betracht, wie es z.Z. vom Grundbesitzerverein Nordwest in Berlin betrieben wird.“
„In jedem Hausmüll ist ein bestimmter Mindestgehalt an Stoffen, welche man
als düngende bezw. bodenverbessernde zu bezeichnen pflegt, wie Stickstoff, Phos¬
phorsäure, Kali, Kalk, Magnesia und die organische Substanz. Infolgedessen kann
man das Hausmüll ebenso wie den Stallmist zu den sog. vollständigen oder ab¬
soluten Dungmitteln rechnen. Auf die Dungverwerthung ist die vorhergehende
zweckmässige Lagerung (nicht zu hoch, nicht zu fest und Erdüberdeckung) von
Einfluss, damit die Verrottung im Verlaufe von ca. 1 Jahr eintritt.“
„In solchen Städten, deren nähere Umgebung keinen geeigneten Boden (leichte
Sand- und Moorböden) besitzt oder vornehmlich zu industriellen Zwecken benutzt
wird, und von welchen aus solche Ländereien, welche für die Düngung mit Haus¬
müll geeignet sind, auf dem Wasserwege in bequemer Weise nicht erreicht wer¬
den können, empfiehlt es sich, das Hausmüll zu verbrennen. Die Müllverbrennung
wird seit fast 2 Jahrzehnten in England mit Erfolg betrieben. Als Rückstände
verbleiben nur 25—30 Volumprocente des Mülls. Die in Hamburg vorgenomme¬
nen Versuche waren so erfolgreich, dass seit Beginn des Jahres 1896 das auf
300000 Personen abfallende Hansmüll in einer grösseren Anlage verbrannt wird.
Die in Berlin angestcllten Versuche haben ein befriedigendes Ergebniss nicht ge¬
habt. Die aus den Städten Essen, Stuttgart, München, Elberfeld und Berlin stam¬
menden Müllproben konnten in der Verbrennungsanlage zu Hamburg ebensogut
verbrannt werden, wie das Hamburger Müll. Der Gehalt des Mülls an brennbaren
Bestandtheilen ist grossen Schwankungen unterworfen. Nach einer Anzahl vom
Verfasser ausgeführter Untersuchungen betrug derselbe im Mittel 22,5 pCt., neben
61,9 pCt. unverbrennlichen Bestandtheilen und 15,6 pCt. Wasser.“
Für Berlin ist hinsichtlich der Müllbeseitigung vorgeschrieben, dass Keh¬
richtablagerungen nur auf den von der Stadtgemeinde eingerichteten und anderen
vorschriftsmässig angelegten Abladeplätzen erfolgen dürfen (P.-V. 26. II. 1893),
ferner, dass der Transport des Mülls staub- und geruchfrei bewirkt wird (P.-V.
30. I. 1895). Als Systeme, welche den in Bezug auf Vermeidung einer Verun¬
reinigung der Strasse, insbesondere auch einer Entwicklung von Staub und üblen
Gerüchen gestellten Anforderungen genügen, sind durch polizeiliche Bekannt¬
machung anerkannt das Wechselkastensystem, das System Kinsbrunncr und
Geduld & Co.
Einen besonderen Ruf hat das in Budapest seit einem Jahre geübte Verfah¬
ren der Müllbeseitigung (System Cscry) sich neuerdings erworben, bei welchem
sämmtliche Haus- und Marktabfälle nach einem ca. 18 km entfernten Orte mittels
Bahn transportirt und dort in einem besonderen Fabrikgebäude sortirt und ver-
werthet werden. Soweit hierbei ein maschineller Betrieb angewandt wird, ist das
Verfahren als ein hygienischer Fortschritt anzuerkennen, so lange jedoch noch
Digitizeit by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Der Stand der Städtereinigungsfrage.
145
Menschenhände zum Sortiren der Massen verwendet werden müssen, stellt es noch
kein hygienisch vollkommenes System dar.
Ein eigenartiger Vorschlag zur Lösung der Städtereinigungsfrage wird von
dem Ingenieur Kürten gemacht. Derselbe plant, in einem Transportkanal die
lorfvermengten Fäkalien nebst Strassenkehricht, Schnee u. dergl. mittelst eines
darin sich bewegenden tuchartigen elastischen Gewebsstückes ohne Ende aus dem
Stadtinnern zu schaffen. In seiner Broschüre 1 ) berechnet der Verfasser einen so
erheblichen Reingewinn, dass man sich wundern muss, wenn die Städte nicht als¬
bald sich eine solche Einnahmequelle zu Nutze machen. Wie die Gewinnberech¬
nung, so dürfte auch die technische Ausführbarkeit des Systems berechtigten
Zweifeln begegnen.
Lassen wir unseren Blick übor die interessirten wissenschaftlichen Kreise
hinwegschweifen, so sehen wir, dass die Frage der Städtereinigung und die damit
eng verbundene der Flussverunreinigung in weiten Schichten der Bevölkerung
Wurzel geschlagen hat. Einen Einblick in diese Bewegung gewähren uns die Ver¬
handlungen, welche in der Sitzung des Reichstages vom 14. Januar 1897 und des
preussischen Abgeordnetenhauses am 1. und 27. Februar d.J. stattgefunden haben
und in deren Verlaufe die Nothwendigkeit der Reinhaltung der Flussläufe entschie¬
den betont wurde. In gleichem Sinne wendet sich der 1877 zu Köln gegründete
„internationale Verein gegen Verunreinigung der Flüsse, des Bodens und der Luft“
mit seiner Eingabe vom November 18% zum Schutze des Rheinstroms an die Mini¬
sterien von Baden, Hessen, Elsass-Lothringen 2 ). Die Gesuchssteller glauben be¬
wiesen zu haben, dass von den verschiedenen Systemen der Städtereinigung ein ver-
vollkommnetes Abfuhrsystem mit Tonnen ohne oder mit Torfmull in gesundheit¬
licher und volkswirtschaftlicher Hinsicht den meisten Vortheil biete und dass eine
Wegschwemmung der menschlichen Abfallstoffe die grössten Bedenken für Gesund¬
heit und Volkswirtschaft bervorrufe, insbesondere wenn diese Stoffe unmittelbar
in die Flussläufe geleitet würden. •
Im Gegensatz hierzu finden wir die Bestrebungen der Communen fast aus¬
nahmslos dahin gerichtet, sich ihrer Kanalwässer durch directe Einleitung in die
Vorfluthgewässer billig und bequem, thunlichst ohne jede Reinigung, zu entledi¬
gen. Sie stützen sich hierbei auf das vielfach missverstandene und unzutreffend
verallgemeinerte Gutachten von Pettenkofer über die Kanalisation von München
und die sogen. Selbstreinigung der Flüsse. Dass die letztere eine begrenzte und
bei der stetig wachsenden Inanspruchnahme der Ströme eine mehr und mehr un¬
vollkommene, wie die Beispiele der Elster, Lippe etc. offenkundig beweisen, wird
dabei oft übersehen.
Die behördliche Entschliessung wird durch die bezüglichen gesetz¬
lichen Bestimmungen, gerichtlichen Entscheidungen und ministeriellen Anordnun¬
gen bestimmt, über welche wir zur Vervollständigung unserer Betrachtung nach¬
stehend einen kurzen Ueberblick geben.
In dem Allgemeinen Landrecht sind wenig Bestimmungen über die Verun-
1) Neues Kanal-Transportsystem zur Beseitigung der Fäkalien und der Zu
l’ührung in der Landwirtschaft. Leipzig, Diefenbach, 1896.
2) Gesundheit. No. 24. 1896.
Viertel]ahrsschr. f. ger. Med. Dritte Folge. XIV. 1. i q
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UMIVERSITY OF IOWA
146
Schmidtmann und Proskauer,
reinigung der Flussläufe, Seen, Kanäle etc. enthalten. Allein § 46 A. L.-R. Th. II.
Tit. 15 verbietet die Anlegung von Wasch- oder Badehäusern an öffentlichen Strö¬
men ohne besondere Erlaubniss des Staates. Im Uebrigen steht dem Allgemeinen
Landrecht nur die Bestimmung in § 10 A. L.-R. Th. II. Tit. 17 zur Verfügung,
wonach es Sache der Polizei ist, die nöthigen Anstalten zur Erhaltung der öffent¬
lichen Sicherheit und Ordnung, sowie zur Abwendung der dem Publikum oder
einzelnen Mitgliedern desselben bevorstehenden Gefahr zu treffen.
Eine gewünschte Ergänzung bot die Allerhöchste Kabinetsordre vom 24. Fe¬
bruar 1816, welche für die Verunreinigung durch industrielle Betriebe auch heute
noch die grundlegende Bestimmung ist. Dieselbe setzt zur Verhütung der Verun¬
reinigung der schiff- und flössbaren Flüsse und Kanäle fest, dass Niemand, der
eines Flusses sich zu seinem Gewerbe bedient, Abgänge in solchen Massen in den
Fluss werfen darf, dass derselbe dadurch nach dem Urtheil der Provinzial-Polizei-
Behörde (Regierungs-Präsident) erheblich verunreinigt werden kann, und dass Je¬
der, der dawider handelt, nicht nur die Wegräumung der den Wasserlauf hem¬
menden Gegenstände auf seine Kosten vornehmen lassen muss, sondern auch
ausserdem eine Polizeistrafe von 10 bis 50 Thalern verwirkt hat.
Nach der Rechtsprechung (Kammergerichts-Urtheil vom 27. Februar 1893)
muss unter „Abgänge in den Fluss werfen“ auch das „Ablassen“ flüssiger oder
sonstiger Abgänge in den Fluss subsumirt werden.
Zum Schutze der Fischzucht gegen Verunreinigung des Wassers ist im § 43
des Fischereigesetzes für den Preussischen Staat vom 30. Mai 1874 bestimmt: „Es
ist verboten, in die Gewässer aus landwirtschaftlichen oder gewerblichen Betrie¬
ben Stoffe von solcher Beschaffenheit und in solohen Mengen einzuwerfen, einzu¬
leiten oder einfliessen zu lassen, dass dadurch fremde Fischereirechte geschädigt
werden können. Bei überwiegendem Interesse der Landwirtschaft kann das Ein¬
werfen oder Einleiten solcher Stoffe in die Gewässer gestattet werden. Soweit es
die örtlichen Verhältnisse zulassen, soll dabei dem Inhaber der Anlage die Aus¬
führung solcher Einrichtungen aufgegeben werden, welche geeignet sind, den
Schaden für die Fischerei möglichst zu beschränken. Ergiebt sich, dass durch
Ableitungen aus landwirtschaftlichen oder gewerblichen Anlagen, welche bei Er¬
lass dieses Gesetzes bereits vorhanden waren, oder in Gemässheit des vorstehen¬
den Absatzes gestattet worden sind, der Fischbestand der Gewässer vernichtet oder
erheblich beschädigt wird, so kann dem Inhaber der Anlage auf den Antrag der
durch die Ableitung benachtheiligten Fischereiberechtigten im Verwaltungswege
die Auflage gemacht werden, solche ohne unverhältnissmässige Belästigung seines
Betriebes ausführbaren Vorkehrungen zu treffen, welche geeignet sind, den Scha¬
den zu heben oder doch tunlichst zu verringern.“
Ausserdem heisst es im § 44 des Fischereigesetzes: „Das Rösten von Flachs
und Hanf in nicht geschlossenen Gewässern ist verboten. Ausnahmen von diesem
Verbote kann die Bezirksregierung (jetzt der Regierungs-Präsident), jedoch immer
nur widerruflich, für solche Gemeindebezirke oder grössere Gebietsteile zulassen,
wo die Örtlichkeit für die Anlage zweckdienlicher Röstgruben nicht geeignet ist
und die Benutzung nicht geschlossener Gewässer zur Flachs- und Hanfbereitung
zur Zeit nicht entbehrt werden kann.“
Für die allgemeine Industrie ist die Verunreinigung der Gewässer durch die
Digitized by
Gck igle
Original from
UMIVERSITY OF IOWA
Der Stand der Städtereinigungsfrage.
147
§§16 ff. der Reichs-Gewerbeordnung vom
21. Juni 1869
—— theilweisebeschränkt. Nach
!• Juli looo
§ 16 a. a. 0. ist „zur Errichtung von Anlagen, welche durch die örtliche Lage
oder die Beschaffenheit der Betriebsstätte für die Besitzer oder Bewohner der be¬
nachbarten Grundstücke oder für das Publikum überhaupt erhebliche Nachtheile,
Gefahren oder Belästigungen herbeiführen können, die Genehmigung der nach den
Landesgesetzen zuständigen Behörde erforderlich.“
Zur Wahrnehmung der den Kreis-(Stadt-)Ausschüssen (Magistraten) durch
§ 109 des Gesetzes über die Zuständigkeit der Verwaltungs- und Verwaltungs¬
gerichtsbehörden vom 1. August 1883 hinsichtlich der Genehmigung gewerblicher
Anlagen übertragenen Zuständigkeiten hat der Herr Minister für Handel und Ge¬
werbe mit dem Erlasse vom 15. Mai 1895 eine „Technische Anleitung“ her¬
ausgegeben, welche im Theil I. (Allgemeine Gesichtspunkte) den Behörden die
Vorbeugung der Verunreinigung von Gewässern besonders zur Pflicht macht, und
anrathet, im Falle der Genehmigungsertheilung der Polizeibehörde ausdrücklich
das Recht zu wahren, jederzeit die Ableitung der Abgänge in Wasserläufe von
weiteren Bedingungen abhängig zu machen oder auch gänzlich zu untersagen, falls
die bei Ertheilung der Genehmigung gegebenen Vorschriften sich als unzulänglich
erweisen sollten. Nach § 23 Abs. 3 der Reichs-Gewerbeordnung bleibt es übri¬
gens der Landesgesetzgebung Vorbehalten, zu verfügen, inwieweit durch Ortssta¬
tuten darüber Bestimmung getroffen werden kann, dass einzelne Ortstheile vor¬
zugsweise zu Anlagen der oben aufgeführten, im § 16 erwähnten Art zu bestim¬
men, in anderen Ortstheilon (z. B. Villenkolonien) aber dergleichen Anlagen ent¬
weder gar nicht oder nur unter besonderen Beschränkungen zuzulassen sind.
Durch die in den §§ 16ff. der Reichs-Gewerbeordnung geschehene Auffüh*
rung der einer Genehmigung bedürfenden Anlagon ist keineswegs ausgeschlossen,
dass die zuständigen Polizeibehörden auch anderen Gewerbebetrieben (Brauereien,
Brennereien, Abfuhrunternehmen) den Betrieb ihres Gewerbes überhaupt oder für
einzelne Ortstheile auf Grund der ihnen durch §10 A.L.-R. Th. II. Tit. 17, bezw.
§ 6 Litt, b, f, g und h des Gesetzes über die Polizei-Verwaltung vom 11. März
1850 gegebenen Befugnisse verbieten oder derartigen Betrieben Beschränkungen
auferlegen. Denn die Vorkehrungen, welche nothwendig sind, um die schädlichen
Einflüsse der Industrie auf ihre Umgebung zu verhindern oder doch auf ein mög¬
lichst geringes Maass zu beschränken, gehören in das Gebiet der Gesundheitspo¬
lizei. Keineswegs hat die Gewerbeordnung beabsichtigt, die Gewerbetreibenden
von der Beachtung derjenigen Beschränkungen zu entbinden, welche sich aus all¬
gemeinen polizeilichen, theils in Gesetzen, theils in Verordnungen der Behörden
enthaltenen Vorschriften ergeben und die für Jedermann, er mag ein Gewerbe be¬
treiben oder nicht, Anwendung finden.
Damit der Allgemeinheit kein Schaden entstehen kann t bestimmt § 51 der
Gewerbeordnung Folgendes: „Wegen überwiegender Nachtheile und Gefahren für
das Gemeinwohl kann die fernere Benutzung einer jeden gewerblichen Anlage
durch die höhere Verwaltungsbehörde zu jeder Zeit untersagt werden. Doch muss
dem Besitzer alsdann für den erweislichen Schaden Ersatz geleistet werden; aus
der Untersagung der ferneren Benutzung entspringt kein Anspruch auf Entschä-
10*
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSITÄT OF IOWA
148
Schmidtmann und Proskauer,
Digitized by
digung, wenn bei der früher ertheilten Genehmigung ausdrücklich Vorbehalten
worden ist, dieselbe ohne Entschädigung zu widerrufen.“
Ueber die Benutzung der Privatflüsse bestimmt das Gesetz vom 28. Februar
1843 im § 1: „Jeder Uferbesitzer an Privatflüssen (Quellen, Bächen oder Flüssen,
sowie Seen, welche einen Abfluss haben) ist, sofern nicht Jemand das ausschliess¬
liche Eigenthum des Flusses hat, oder Provinzialgesetze, Lokalstatuten oder spe-
cielle Rechtstitel eine Ausnahme begründen, berechtigt, das an seinem Grund¬
stücke vorüberfliessende Wasser unter den näheren Bestimmungen zu seinem be¬
sonderen Vortheile zu benutzen. Jedoch bleibt es in Ansehung der Benutzung des
Wassers zu Mühlen und anderen Triebwerken, sowie auch in Ansehung der
Fischereiberechtigung und der Vorfluth bei den bestehenden gesetzlichen Vor¬
schriften, soweit diese durch gegenwärtiges Gesetz nicht ausdrücklich abgeän¬
dert sind. u
Eine Ausnahme hiervon construirt der § 3 Abs. 1 desselben Gesetzes, wel¬
cher vorschreibt, dass das zum Betriebe von Färbereien, Gerbereien, Walken und
ähnlichen Anlagen benutzte Wasser keinem Flusse zugeleitet werden darf, wenn
dadurch der Bedarf der Umgegend an reinem Wasser beeinträchtigt oder eine er¬
hebliche Belästigung des Publikums verursacht wird. Die Entscheidung hierüber
steht nach Abs. 2 der Polizeibehörde zu. Ferner kann nach § 6 die Anlegung
von Flachs- und Hanfrösten von der Polizeibehörde untersagt werden, wenn solche
die Heilsamkeit der Luft beeinträchtigt oder dazu Anlass giebt, dass der freie Ab¬
fluss des Wassers behindert oder eine erhebliche Belästigung des Publikums ver¬
ursacht wird.
Das bürgerliche Gesetzbuch hat Abänderungen der vorstehend wiedergege¬
benen Vorschriften nicht getroffen; der Artikel 65 des Einführungsgesetzes zura
bürgerlichen Gesetzbuch bestimmt vielmehr, dass die landesgesetzlichen Vor¬
schriften, welche dem Wasserrecht angehören, mit Einschluss des Mühlenrechts,
des Flötzrcchts und des Flössereirechts, sowie der Vorschriften zur Beförderung
der Bewässerung und Entwässerung der Grundstücke und der Vorschriften über
Anlandungen, entstehende Inseln und verlassene Flussbetten unberührt bleiben.
Dagegen wird das bisherige Wasserrecht in dem im Entwürfe vorliegenden
Preussischen Wasserrecht verschiedentlich abgeändert. Die hauptsächlichsten Be¬
stimmungen betreffs der Einleitung von Stoffen in die Wasserläufe bezw. die Ver¬
unreinigung der letzteren sind enthalten in den §§ 38ff., 52ff., 59 und 65 des
Entwurfes. Im Anschluss an den Erlass eines Wassergesetzes ist übrigens die Er¬
richtung einer Reichs-Centralstelle für die Pflege der binnenländischen Hydro¬
graphie geplant.
Ueber die Einleitung von Abwässern aus städtischen etc. Kanalisationsan¬
lagen, welche neben Regenwasser auch industrielle und Hauswässer sowie Fäka¬
lien enthalten, in die Flussläufe, sind besonders drei massgebende Runderlasse
der Herren Minister des Innern, der öffentlichen Arbeiten, für Landwirtschaft,
Domänen und Forsten, der geistlichen, Unterrichts- und Medicinal-Angelegenheiten
und für Handel und Gewerbe ergangen, und zwar unter dem 1. September 1877,
8. September 1888 und 30. März 1896, in \yelchen in erster Linie vorgeschrieben
ist, dass die Genehmigung zu neuen Kanalisationsanlagen nicht ohne vorherige
Entscheidung der Herren Ressortminister zu ertheilen ist. Des Weiteren sind die
hauptsächlichsten Grundsätze angeführt, welche bei der ministeriellen Entschei-
Gck igle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
Der Stand der Städtereinigungsfrage.
149
düng Anwendung finden, und die Punkte bezeichnet, welche bei der Vorlage des
Projects in dem Berichte zu erörtern sind.
Aus den Verordnungen ist ersichtlich, dass die Centralbehörden frühzeitig
die Wichtigkeit der Städteentwässerung und den Einfluss derselben auf den Zu¬
stand der Flüsse erkannt haben. Nach den bekannt gewordenen Entscheidungen
wird von den betheiligten Ressortministern eine grundsätzliche Stellung zu Gun¬
sten eines bestimmten Systems im Allgemeinen nicht eingenommen, sondern die
Entscheidung von Fall zu Fall unter eingehender Berücksichtigung der örtlichen
Verhältnisse und der jeweilig feststehenden wissenschaftlichen und practischen
Erfahrung, zumeist nach der gutachtlichen Aeusserung der wissenschaftlichen De¬
putation für das Medicinalwesen x ), getroffen. Ein bestimmtes Reinigungsverfahren
für Schmutzwässer wird nicht vorgeschrieben, vielmehr den Betheiligten überlassen,
wie sie den geforderten mindesten Reinheitsgrad am zweck massigsten erzielen
wollen. Derselbe ist bei der behördlichen Genehmigung städtischer Kanalisationen
wiederholt dahin festgelegt, dass die gereinigten Abwässer von allen mit blossen
Sinnesorganen wahrnehmbaren Verunreinigungen, von Fäkal- oder Fäulnissgerueh
frei sein, in 1 ccm nicht mehr als 300 entwicklungsfähige Keime enthalten und in
unzersetztem Zustande mindestens 10 Tage hindurch haltbar sein sollen. Ausser¬
dem wird die jederzeitige polizeiliche Controle der Leistungen der Reinigungsan¬
stalt und zumeist die Einleitung der abfliessenden Wässer in die Vorfluth unter¬
halb der Orte und in den Stromstrich verlangt. So lange ein allseitig befriedigen¬
des, bestes Städtereinigungssystem nicht anerkannt ist, kann dieser Standpunkt
nur gebilligt werden unter der Voraussetzung, dass sich die sachverständigen Be-
rather über alle Vorgänge auf diesem Gebiete orientirt halten. Eine andere Frage
ist die, ob eine solche passive Rolle fernerhin genügt und ob es nicht in Hinblick
auf die grossen wirtbschaftlichen und gesundheitlichen öffentlichen Interessen, die
bei der Städtereinigungsfrage auf dem Spiele stehen, geboten ist, dass der Staat
mit seinen Machtmitteln sich an der Förderung und Lösung dieser für die Ent¬
wicklung der Gemeinwesen, insbesondere der städtischen, wichtigen Lebensfrage
betheiligt. Dies könnte in der Weise geschehen, dass er die gerade jetzt so rüh¬
rige Bewegung zur Verbesserung der Klärverfahren etc. durch entsprechende Mitt el
unterstützt und sich damit auch das Recht und die Mitwirkung auf eine sachge-
mässe Veranstaltung der Versuche und auf die Controle der Ergebnisse sichert.
Auch die staatlichen wissenschaftlichen Institute, vornehmlich die hygienischen,
würden zweckdienlich zur Mitarbeit herangezogen und ihnen bestimmte Aufgaben
zugewiesen. Die an den verschiedenen Stellen und unter verschiedenartigen Ver¬
hältnissen gesammelten Erfahrungen und Feststellungen würden alsdann einheit¬
lich zu bearbeiten sein. Auf diese Weise dürfte sich ein rascherer Fortgang in
dem Stande der Städtereinigung voraussichtlich bald vollziehen, als auf dem bis¬
herigen Wege, bei welchem die Bestrebungen uneinheitlich nebeneinander hergehen
und die Ergebnisse der Einzelnen oftmals unbeachtet und unverwerthet bleiben.
1) vergl. insbesondere Beschlüsse der unter Zuziehung von Vertretern der
Aerztekammern geführten Verhandlungen vom 24., 25. und 26. Üctober 1888, die
Verunreinigung der öffentlichen Wasserläufe betreffend. Diese Vierteljahrsschr.
1889. Bd. 51. S. 171.
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Digitized by
150 Schmidtmann u. Proskauer, Der Stand der Städtereinigungsfrage.
Nach Abschluss des vorstehenden Referates hat einer der Referenten (Prof.
Proskauer) Gelegenheit gehabt, sich über das Dibdin’sche und Ferrozone-Po-
larite-Verfahren in England selbst zu unterrichten. Nach dessen Beobachtung
scheint man in England z. Z. dem letztgenannten Verfahren weniger Vertrauen
entgegenzubringen, als man dies nach den bisherigen Veröffentlichungen in der
deutschen Fachliteratur annehmen musste, in Hundon ist dasselbe aufgegeben, und
zwar wegen der Höhe der Kosten und anscheinend auch wegen des nicht immer
voll befriedigenden Effectes. Auch das Verfahren nach Dibdin kann als abge¬
schlossen noch nicht gelten, wofür schon der Umstand spricht, dass die Versuche
von Dibdin selbst, sowie neuerdings auch von dem Londoner Magistrat noch fort¬
geführt werden. Eine genaue Veröffentlichung ist von Dibdin im Juni in Aus¬
sicht gestellt und behalten wir uns vor, uns alsdann weiter über den Gegenstand
zu äussern. 1 )
Schnidtmaan. Proskauer.
1) Die vorstehende Veröffentlichung erscheint, zusammen mit dem I. Theil
derselben, als selbständiger Sonderabdruck im Verlage von A. Hirschwald-Berlin.
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
ID. Besprechungen, Referate, Notizen,
amtliche Mittheilungen.
Besprechungen der legislatorischen Yorgänge auf dem Gebiete
der Medicinal* und Sanitätspolizei für das Jahr 1896.
Von
Medieinal-Assessor Dr. Springfeld, Berlin.
(Schluss)
3. Drogenhandlungen.
Für die Drogisten ist das verflossene Jahr nach keiner Richtung hin ein
günstiges gewesen.
Im Jahre 1895 hatte der Reichstag den auf Antrag der preussischen Medi¬
zinalverwaltung vom Bundesrathe im Reichstage eingebrachte Antrag:
„Der Handel mit Drogen ist zu untersagen, wenn Thatsachen vor¬
liegen, welche die Unzuverlässigkeit der Gewerbetreibenden darthun
(§ 35 R.-G.-O.)“
auf Antrag der Kommission abgelehnt, weil das von der Regierung beigebrachte
Material nicht ausreiche zur Begründung einer weiteren Einschränkung der
Gewerbefreiheit auf diesem Gebiete.
Die neue Gewerbenovelle, welche dem Reichstage des Jahres 1896 vorgelegt
wurde, enthielt hinsichtlich der Drogenhandlungcn den Passus:
Artikel 4 zu § 35 R.-G.-O.
Unter denselben Voraussetzungen (Unzuverlässigkeit in Bezug auf den Ge¬
werbebetrieb) ist zu untersagen: der Handel mit solchen Drogen und chemischen
Präparaten, welche zu Heilzwecken dienen, und zu § 53 R.-G.-O „Ist die Unter¬
sagung erfolgt, so kann die Landescentralbehörde oder eine andere von ihr be¬
stimmte Behörde die Wiederaufnahme der Gewerbebetriebe gestatten, sofern seit
der Untersagung mindestens ein Jahr verflossen ist. Nachdem in der 36. u. 37.
Sitzung vom 10. u. 11.2.1896 der Antrag auf Commissionsberathung abgelehnt war,
wurde in der Sitzung vom 7. u. 9. März ein Amendement Gröber angenommen,
an Stell« der Worte: „welche zu Heilzwecken dienen“ zu setzen: „sofern die
Handhabung des Gewerbetriebes Leben und Gesundheit gefährdet“ mit 137 gegen
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSITÄT OF IOWA
152
Besprechungen, Referate, Notizen, amtliche Mittheilungen.
78 Stimmen der Freisinnigen, Socialdemokraten und Antisemiten angenommen.
Die Begründung des Regierungsanlrages erfolgte durch Geheimen Ob.-Med.-Rath
Pi stör. Eine warme Vertheidigung fand der Antrag durch den Reichstabgeord-
nelen Kruse, welcher sich auf das in Berlin gewonnene und vom Ref. (Z. für
Med.-B. Märzheft) veröffentlichte und den Abgeordneten zugestellte Berliner
Zahlenmaterial stützen konnte. Trotz des erdrückenden Beweismaterials ge¬
langten in dritter Lesung am 17 u. 18. Mai ein Antrag Hitze-Jakobskötter-
Stumm:
„der Handel mit Drogen etc., welche zu Heilzwecken dienen, ist zu
untersagen, wenn die Handhabung des Gewerbebetriebes Leben und
Gesundheit der Menschen gefährdet“ (zwischen dem 3. u. 4. Absatz
der § 35 einzuschiebon)
und sogar noch ein Antrag Haase:
„Der Handel mit Arzneimitteln etc. kann demjenigen untersagt werden,
welcher starkwirkende Stoffe zu Heilzwecken feilgehalten oder verkauft
hat und desshalb rechtskräftig bestraft worden ist“
zur Berathung, und nur mit einer Stimme Majorität wurde der erste Antrag
angenommen. Das Gesetz tritt mit dem 1. Januar 1897 in Kraft und wird sicher¬
lich imVerein mit dem § 53 der R.-G.-O. nicht verfehlen, die Thätigkeit unsauberer
Elemente im Drogistenstande einzuschränken.
Die Praxis der Verwaltungs-Gerichte, denen die Entscheidung zufällt, wie
weit der „Begriff der Gefährdung von Leben und Gesundheit von Menschen“
interpretirt werden soll und ob er der Aufsichtsbehörde grössere Machtmittel
giebt als der Begriff „Unzuverlässigkeit in Bezug auf den beabsichtigten Ge¬
werbebetrieb.“
Das wirksamste Mittel um die Drogisten vor Uebertretungen der Kais. Ver¬
ordnung zu bewahren ist der Erlass von Polizei-Verordnungen, welche den Polizei-
Behörden die Befugniss zur Konfiskation der verbotswidrig vorräthigen Waaren
verleiht. Derartige Polizei-Verordnungen sind nach § 6 des Ausführungsgesetzes
zum R.-St.-G.-B. durchaus zulässig und würde nur eine alte Bestimmung des
preussischen Str.-G.-B. wiederherstellen.
DieGiftpolizeiverordnungen, welche gleichlautend in allen Bezirken des
Reiches erlassen waren, hatten die „Ertheilung der Giftkonzession“ unbeachtet
gelassen. Nach § 34 der R.-G.-O. können die Landesregierungen vorschreiben,
dass zum Handel mit Giften eine besondere Genehmigung erforderlich ist. Baden,
Elsass-Lothringen, Schwarzburg-Sondershausen, Schaumburg-Lippe und Württem¬
berg fordern die Anmeldepflicht, Braunschweig, Sachsen, Bayern und Sachsen-
Altenburg für Gifte der Abth. 3 die Anmeldung, für die übrigen Gifte die Kon¬
zession. In Preussen beruht die Konzessionspflicht für alle Gifte auf § 49 der
pr. G.-O. vom 11. Januar 1845 in der Fassung des Gesetzes vom 22. 6. 1861,
wonach denjenigen, welche Gifte feilhalten wollen, der Beginn des Gewerbe¬
betriebes erst dann zu gestatten ist, wenn die Behörde von ihrer Zuverlässigkeit
überzeugt ist. Da nach Entscheidungen des Oberverwaltungsgerichtes der Begriff
Zuverlässigkeit sowohl die intellektuellen wie moralischen Eigenschaften begreift,
war in dieser Bestimmung eine Handhabe gegeben eine Art des so nothwendigen
und von den Drogisten selbst erstrebten Befähigungsnachweises einzuführen. Nach¬
dem der Herr Minister durch Erlass vom 11. 3. 1896 an den Polizei-Präsidenten von
Digitizeit by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Besprechungen, Referate, Notizen, amtliche Mittheilungen. 153
Berlin den Vorschlag einer einheitlichen Regelung abgelehnt hatte, machte der Stadt¬
ausschuss von Berlin auf Antrag des Polizei-Präsidenten durch Bekanntmachung
vom 3. Januar 1896 die Ertheilung der Konzession von der Beibringung eines
Physikatsattestes abhängig und wurden die Physiker angewiesen, derartige Atteste
gegen Mk. 10,— Gebühren auszustellen. Später wurde durch Bekanntmachung
des Stadtausschusses vom 7. Mai 1897 dieser Befähigungsnachweis auch von den
im Sinne der Gewerbeordnung als Stellvertreter funktionirenden Gehilfen, männ¬
lichen wie weiblichen, verlangt.
Der Reg.-Präsident von Posen hatte durch Verfügung vom 19. Nov. 1895
den Bezirksausschüssen gerathen, die Erlaubniss nur auf Widerruf zu ertheilen
und die konzessionirten Mittel stets einzeln und namentlich in der Konzessions¬
urkunde aufzuführen.
Eine ähnliche Verfügung des Reg.-Präs. zu Bromberg vom 13. 2. 1896 will
die Zahl der zu konzedirenden Gifte von den örtlichen und gewerblichen Bedürf¬
nissen, sowie Art und Umfang des betreffenden Geschäftes abhängig machen, die
Ertheilung der Konzession soll indessen nicht von der Bedürfnissfrage direkt ab¬
hängig gemacht werden.
Man sieht, dass in diesen Verfügungen bereits die Anfänge weiterer Entwicke¬
lung des Drogistenstandes zu Apotheken II. Klasse liegen: Befähigungsnachweis,
Konzession, lokale Beschränkung der Gifthandlungen.
Der Reg.-Präs. in Posen empfahl gegen die Entscheidungen der Kreisaus¬
schüsse die Rechtsmittel der Klage. Für die Stadtausschüsse hat das O.-V.-G.
anerkannt, dass deren Beschlüsse endgiltig sind.
Zu dem Begriffe „Ungeziefermittel“ erliess der Herzogliche O.-S.-R. zu
Braunschweig unter dem 16. Sept. 1896 die Deklaration, dass darunter alle zur
Vertilgung schädlicherThiere dienenden Mittel zu verstehen seien und dass der Zu¬
satz „sogenannt“ keineswegs die Bedeutung einer Einschränkung des voraus¬
gehenden Gattungsbegriffes „Mittel gegen schädliche Thiere“, sondern lediglich die
eines kürzeren, volkstümlichen Namens habe.
Als ein Mangel wird es von den Drogisten mit Recht empfunden, dass die
Giftpolizei-Verordnung nicht denWortlaut der Belehrungen enthält, welche nach
§ 18 der P.-V. 28-/8. 1895 dem Käufer giftiger Ungeziefermittel übergeben werden
sollen. Die erste Belehrung wurde von der Hamburger Medizinalpolizei veröffent¬
licht. Die im Wortlaute hiervon abweichende Berliner Verordnung vom 22. April
enthält über Aufbewahrung, Gebrauch, Vergiftungszeichen und Gegengifte An¬
deutungen, und ist auf rothem Papier zu verabfolgen. Die am 15. Mai 1896 publi-
cirte Königsberger Belehrung verlangt grünes, gelbes, rothes und blaues Papier.
Nachdem auch Württemberg, Baden u. a. preussiscbe Regierungen Belehrungen
erlassen haben, ist die Musterkarte aJlmälig recht bunt geworden.
Die erste Erläuterung, welche der gangbaren Farben man als giftige im
Sinne des Gesetzes anzusehen habe, gab Jacobsohn in dieser Vierteljahrsschrift.
Die erste behördliche Bekanntmachung erschien in Merseburg am 22. April 1896.
Die Ausführung des Min.-Erl. vom 1. 2. 94, Min.-Bl. 2, setzte polizeiliche
Bestimmungen über die Aufbewahrung der Medikamente ausserhalb
der Apotheken voraus. Nachdem der Reg.-Präs. zu Minden schon vor Erlass
der giftpolizeilichen Bestimmungen sehr ins Einzelne gehende Verordnungen erlassen
hatte, wurde diese Materie auf dem Wege von Landespolizei-Verordnungen in Kös-
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
154
Besprechungen, Referate, Notizen, amtliche Mittheilungen.
lin, Düsseldorf, Köln, Kassel und Gumbinnen in verschiedener Ausdehnung und Form
geregelt. Für Berlin ist eine Verordnung in Aussicht genommen (inzwischen am
14. Mai 1897 erlassen), welche die Signatur in deutscher Sprache vorschreibt und
die Aufbewahrung in bestimmten der Polizei vorher bekannt zu gebenden Räumen
zulässt. Der Senat von Hamburg erliess unter dem 27. Januar 1896 eine Bekannt¬
machung betr. die Revisionen von Gifthandlungen, nach welcher die Verkaufs- und
Lagerräume, in welchen Gifte auf bewahrt und feilgehalten werden, neben den dazu
gehörigen Arbcits- und Nebenräumen und der Geschäftszimmer der Inhaber der
Handlung vom Physikus unter ev. Hinzuziehung pharmaceutischer Sachverstän¬
digen einzubeziehen sind. Auch auf diesem Gebiete wäre eine einheitliche Regelung
durch Pol.-V. betr. denVerkehr mit Arzneimitteln ausserhalb der Apotheken erwünscht
Den gesteigerten Ansprüchen entsprechend, welche der Gesetzgeber und das
Publikum an den neuen Stand stellen, arbeitet dieser rüstig an der Lösung der
Vor- und Ausbildungsfrage durch Lehrkurse, Lehrlings- und Gehilfenprüfung. Eine
Petition der Berl. Drogisten-Innung und Zuziehung der Innungen zu den Prüfungen
behufs Erlangung der Befähigung als Gifthändler wurde vom Polizei-Präsidenten
abgelehnt.
Ueber die Art der Beaufsichtigung in Ausführung des Min.-Erlasses
vom 1. Febr. 1894 in Berlin hat Referent in der Zeitschrift f. Med.-B., Märzheft,
berichtet. Geheime Ankäufe, regelmässige Revisionen durch Physiker und Pharma-
ceuten, Durchsuchungen auf Gerichtsbeschluss und Beschlagnahmung der Waaren
bilden wohl überall die Form, in welcher sich die Aufsicht vollzieht und haben
im Laufe des letzten Jahres wiederum eine grosse Zahl von Uebertretungen an das
Licht gebracht. Als Formular für die Revisionen ist das von Rapmund entworfene
im Gebrauch, oder das kürzere Berliner Formular des Ref., welches in Form eines
Protokolles abgefasst ist. (Bei Kühne & Söhne, Breitestr. erhältlich.) Ein sehr
brauchbares Lehrbuch über die Revisionen von Drogenhandlungen schrieb Jacob¬
sohn (Verl, von Klingenstein, Salzwedel 1 Mk.)
Die Führung des Titels „Apotheker“ im Geschäftsbetriebe, also nicht nur
auf dem Firmenschilde, sondern auch auf Kartonnagen, Emballagen, Rechnungs¬
formularen, Couverts, wurde den Drogisten allenthalben untersagt. Die Deklaration
einer sächsischen Regierung, dass nur Apothekenbesitzer zur Führung der Be¬
zeichnung Apotheker berechtigt sein würden, lässt eine Zustimmung preussischer
Verwaltungsgerichte nicht erwarten. Der Bezirks-Präs, von Unter-Elsass erliess
unter dem 11. März 18% eine diesen Gegenstand regelnde Verfügung.
Entsprechend der verschärften Aufsicht ist auch die Zahl gerichtlicher
Entscheidungen zur Kaiserl. Verordnung und der Gift-Polizei-Ver-
ordnung erheblich gestiegen.
DassVorbeugungsmittel nicht als Heilmittel anzusehen sind, wurdedurch
Erlass des R.-G. 16. März 1896 anerkannt, dass nur die im Verzeichniss B auf-
geführten Drogen, nicht auch ihre Zubereitungen, z. B. Strychnin weizen unter
das Verbot fallen, bestätigten Erkenntnisse verschiedener O.-L.-G. u. a. das
des O.-L.-G. Celle, während das R.-G. 12. Juli 1894 dieselbe Frage verneint hatte.
Hinsichtlich der Verbandstoffe haben die Gerichte allenthalben den Stand¬
punkt eingenommen, dass dieselben von dem Verbote der Kais. Verordn, ausge¬
nommen sein. Für Cocainwatte brachte der Reg.-Präs. zu Schleswig dagegen
unter dem 2. Sept. zur Kenntniss, dass dieselbe von Drogisten gemäss Al. 2
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UMIVERSITY OF IOWA
Besprechungen, Referate, Notizen, amtliche Mittheilungen. 155
von § 1 der R..-V. 27./1. 1890 nicht einmal gegen Giftschein abgegeben werden
dürfe.
Eine neue gerichtliche Auslegung desBegriffs „künstl. Mineralwasser“ lieferte
ein Erkenntniss des Landgerichts 1, Berlin. Dieses Erkenntniss führt aus, dass
durch die Kais. Verordn. 27. 1. 1890 der Kreis der freigegebenen Wässer, gegen¬
über den älteren Bestimmungen erweitert sei, und dass die Worte, und „wenn sie
zugleich“ in § 1 d. R.-V. keinen Zweifel darüber lassen könnte, dass nur diejenigen
künstlichen Wässer demfreien Verkehr entzogen seien, welche, ohne natürlichen
Wässern in ihre Zusammensetzung zu entsprechen, die in § 1 namhaft gemachten
Gifte enthielten: „die künstlichen Wässer sind Zubereitungen, welche durch
§ 1 von dem Verbote eximirt sind.“
Endlich wurde im vergangenen Jahre erstinstanzlich die Frage entschieden,
ob Feilhalten von indifferenten, aber dem freien Verkehr entzogenen Heilmitteln
zur Entziehung der Giftkonzession berechtigt. (§ 53 Al. 2, § 34 Al. 3 d. R.-G.-O.
in Verb, mit § 49 d. G.-O.-V. 22. Juni 1861 z. G.-O. vom 17. Jan. 1845) in
Düsseldorf zu Ungunsten und in Berlin zu Gunsten der klagenden Behörde. Das
Erkenntniss der O.-V. bleibt indessen abzuwarten. Zweifelhaft ist trotz aller Er¬
örterungen die Frage geblieben, ob der Medizinalbeamte das Recht zur Beschlag¬
nahme von Waaren hat.
Die deutsche Drogistenbewegung, wie sie sich durch die Kais. Verordn, ent¬
wickelt hat, wurde von Nesemann (Memschke u. Berendt, Breslau 18%) kritisch
besprochen. Die Broschüre ist lesenswerth für jeden, welcher sich in die nicht
immer einfach liegenden Fragen dieses Gebietes vertiefen will.
4. Hebammen.
Asepsis der Hebammen. — Verhütung des Kindbettfiebers.
Seitdem die Arbeiten von Döderlein, Krönig, Menge, Stroganoff
u. A. dargethan haben, dass das Scheidensekret nicht touchirter Schwangeren,
Gonokokken ausgenommen, niemals infektiöse Keime enthält, dass vielmehr die
Vagina jeder nicht touchirten Schwangeren aseptisch ist, machen sich Be¬
strebungen geltend, welche auf die Einschränkung der innerlichen Untersuchung
insbesondere durch Hebammen abzielen. Baum-Breslau will die innere Unter¬
suchung seitens der Hebammen auf folgende Fälle beschränkt wissen:
1. Wenn der Kopf leicht beweglich über dem Beckeneingang steht; und
zwar vor dem Blasensprung, behufs Erkennung des eventuellen Vorliegens der
Nabelschnur, gleich nach dem Blasensprung behufs Erkennung eines eventuellen
Nabelschnurvorfalles.
2. Wenn die Hebamme genöthigt wird eine Prognose zu stellen, namentlich
behufs FeststeUung bezw. Aussohliessung eventueller Regelwidrigkeit der inneren
Geburtsorgane.
3. Wenn die Hebamme genöthigt ist, festzustellen, wie weit der Mutter-
mund ist.
4. Wenn die äussere Untersuchung keine Klarheit ergiebt.
Bo kelmänn-Berlin, welcher den gegenwärtigen Stand der prophylaktischen
Antisepsis in der Geburtshilfe und ihre Durchführbarkeit in der ärztlichen Privat¬
praxis (Sammlung zwangloser Abhandlungen aus dem Gebiete der Frauen-Heil-
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
156
Besprechungen, Referate, Notizen, amtliche Mittheilungen.
künde und Geburtshilfe. Halle a. S. bei Karl Marhold) skizzirte, führt aus, dass
das Hauptgewicht der Antisepsis auf die Desinfektion des Geburtshelfers, seiner
Hände und Instrumente zu legen sei und dass es bei der gesunden Wöchnerin nur
darauf ankommt, ihre primäre Asepsis zu erhalten, dass somit eine Desinfektion
des Geburtskanales mindestens überflüssig sei. Die gründlichste mechanische
Reinigung der Hände hält er für ebenso wichtig wie die Anwendung von Anti¬
sepsis, die thunlichst unter Anwendung von Alkohol nach Fürbringer geschehen
soll. Jede geburtshilfliche Untersuchung, die nicht ausdrücklich geboten ist, soll
vermieden werden. Die Untersuchung per rectum ist als allen Grundsätzen asep¬
tischen Handelns widersprechend, insbesondere auch mit Rücksicht darauf zu
verwerfen, dass man neuerdings die im Rektum befindlichen Bact. coli als Ur¬
sache der sogen. Autoinfektionen ansieht. Geboten ist eine sorgfältige Säuberung
der Vulva und ihrer Umgebung mit lauwarmem Seifenwasser und 2,5 proc. Carbol-
lösung, insbesondere der Analgegend, wenn Fäces ausgepresst werden. Ebenso
wie die Desinfektion des Geburtskanals der Kreisenden verwirft Verfasser diejenige
des entleerten Geburtskanals. Zur Reinigung der Neuentbundenen genügt ab¬
gekochtes Wasser. Er verwirft ferner das Vorlegen steriler Watte, sofern dieselbe
mehr leisten soll, als das Sekret aufzusaugen. Auch Müllerheim (Berlin 1895,
bei 0. Coblentz) trat für die Einschränkung der inneren Untersuchung in der
Hebammenpraxis ein und legte die Methoden dar, nach denen durch äussere Pal¬
pation die meisten Phasen der Geburt zu überwachen sind. Die vaginale Unter¬
suchung erscheint ihm nur erforderlich 1) wenn bei Erstgebärenden der Kopf noch
nicht eingetreten ist, 2) wenn bei Mehrgebärenden trotz stundenlanger Press¬
wehen der Kopf nicht tiefer tritt, 3) bei abnormen Becken, 4) bei Cervixdehnung,
Blutungen und Eklampsie, 5) bei fehlerhafter Kopfeinstellung, 6) bei unregel¬
mässigen Herztönen des Kindes, 7) bei Nabelschnur- oder Armvorfall, 8) bei
Meconiumabfluss, 9) bei vorzeitigem Blasensprung, 10) wenn die äussere Palpation
keinen Aufschluss giebt. Sperling (D. med. Wochenschr. 1895, No. 52) geht
in dem Streben nach Einschränkung viel weiter. Er lässt die innere Untersuchung
nur zu, wenn die äussere keinen Aufschluss giebt und zugleich die zu spät ge¬
rufene Hebamme starker Wehen halber weder palpiren noch auskultiren kann.
Die von Baum und Müllerheim aufgestellten Indikationen sind viel zu
weitgehend, und würden bei 50 pCt. der Geburten die innere Untersuchung
erfordern.
Der Nachweis, dass Carbolsäurelösung die Hände der Hebammen verdirbt
und ein Abbürsten der äusseren Genitalien mit 2,5 proc. Carbol nach der Vorschrift
derHebammenlehrbücherKeimfreihcit nicht erzielt, veranlassteZw ei fei, Reinickc
mit der Anstellung von Untersuchungen zu beauftragen. Die Resultate der Unter¬
sucher, die nach der Fürbringer’schen Methode in 50 pCt. der Fälle Misserfolg
erzielten, konnte Reinicke bestätigen. Die mechanische Reinigung mit nach¬
folgender Desinfektion mit Sublimat, Lysol, Trikresol, Chlor, Carbolsäurc leisteten
nicht Genügendes. 90proc. Alkohol dagegen erzielte in jedem Falle Keimfreiheit
der vorher mechanisch gereinigten Hände. Ausserdem empfiehlt Reinicke den
Ersatz der Bürste durch Loofahschwamm. Sänger empfahl als Ersatz der Bürste
den vSand. Fürbringer sieht wie bisher den Alkohol nur als fettlösendes, die
Desinfektion vorbereitendes Mittel an. Poten stellte an beschmutzten Händen,
welche mit virulenten Reinkulturen inficirt waren, Desinfektionsversuche an und
Digitized by
Gck igle
Original frarn
UNIVERSUM OF IOWA
Besprechungen, Referate, Notizen, amtliche Mittheilungen.
157
fand, dass mechanische Reinigung mit Seife, Wasser und Bürste nie Keimfreiheit
ergiebt, selbst dann nicht, wenn hinterher die Hände 5 Minuten hindurch in
Sublimatlösung gebürstet werden. Ebenso wenig ist denaturirter Alkohol allein
wirksam. Dagegen wurdeu die Hände steril, wenn man sie abseifte und alsdann
gründlich in Alkohol abwusch. (Monatsschrift für Geburtshilfe und Gynäkologie.
1895, II.Bd. Heft 2 u. 3.) Ahlfeld (D. med. Wochenschr. 1895, No. 51), welcher
ein Jahr hindurch an 121 Hebammen und 93 Aerzten bezw. Praktikanten die Rei-
nicke'sehen Versuche einer Nachprüfung unterzog, bestätigte im Allgemeinen die
Resultate und empfiehlt folgendes Verfahren A. für einfache Händereinigung:
„Nach Kürzung, Glättung und Reinigung derNägel erfolgt eine drei Minuten
dauernde Waschung der Hände in sehr warmem Wasser mit Seife, unter Benutzung
einer Bürste, oder auch ohne diese. Abspülung der Hand in klarem Wasser.
Hierauf Abreiben der Hand, ganz besonders aber des Fingers der zur Untersuchung
benutzt werden soll, im 96prozentigem Alkohol mit handgrossem Flanellläppchen,
wobei durch geeignete, drehende und stossende Bewegung des zu sterilisirenden
Fingers dafür Sorge zu tragen ist, dass der Alkohol unter den Nagelfalz eindringt.
Der so sterilisirte Finger wird, ohne mit etwas bestrichen zu werden, zur Unter¬
suchung benutzt.“
B. für verschärfte Handreinigung: „Ausgiebige Waschung der Hand und
des Armes mit Bürste und Seife in sehr warmem Wasser, mindestens 5 Minuten
hindurch. Hierauf Abbürsten der Hand und des Armes oder Abreiben mit Fla¬
nell in 96procentigem Alkohol durch 5 Minuten. Jeder einzelne Finger ist
besonders zu reinigen, wie dies bei der einfachen Desinfektion für den unter¬
suchenden Finger vorgeschrieben ist. Die so sterilisirte Hand wird dann direct
zur Untersuchung oder zum Einführen in die Genitalien bei geburtshültlichen
Operationen benutzt.“
In einer zweiten Versuchsreihe (Dtsch. med. Wochenschr. 1896 No. 6) hat
Ahlfeld im Verein mit Vahle die Ursachen der Desinfektionskraft des Alkohols
festzustellen versucht. Die Ansicht von Fürbringer wurde durch den Nachweis
widerlegt, das der viel stärker fettlösende Aether nicht desinficirend wirkt und
die Krönig’sche Theorie, dass die wasserentziehende Eigenschaft des Alkohols
lediglich die Bakterien auf der Haut fixire durch den Nachweis, dass die Haut
auch nach Auslaugung frei bleibt. Ahlfeld nimmt deshalb eine bactericide
Wirkung des Alkoholes an, die indessen nur zur Wirkung kommt, wenn die
erste äussere Zellschicht der Mikroorganismen mit H 2 0 durchtränkt ist.
Im ärztlichen Verein zu Elberfeld hielt Linkenheld (nach der Deutschen
Med.-Ztg. 1895, 21) einen Vortrag, in welchem er die Schuld an den geringen
Erfolgen der Antiseptik in der Geburtshilfe den Hebammen zuschob, denen die
Lister’schen Lehren nicht in Fleisch und Blut übergegangen seien. Man solle
deshalb die Befugnisse der Hebammen beschränken und strengere Vorschriften
für ihr antiseptisches Handeln erlassen. Die Behandlung des Abortes soll ihnen
entzogen werden. Die Suspension der Hebamme bei Fällen von Kindbettfieber
müsse eine absolute sein, insbesondere sei es verwerflich, der Hebamme die vagi¬
nalen Ausspülungen bei Kindbettfieber zu gestatten.
Aehnlich äusserten sich Oscar Beuttner (Zur Frage der geburtshilflichen
Untersuchung. Corresp.-Bl. f. Schweizer Aerzte. XXV. 10. S. 298. 1895), Prof.
P. Zweifel (Die Desinfectionsvorschriften in den neuesten deutschen Hebammen-
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
158 Besprechungen, Referate, Notizen, amtliche Mittheilungen.
lehrbüchern. Centralbl. f. Gynäkol. XVIII. 47. 1894), A. Mermann (VI. Bericht
über Geburten ohne innere Desinfection. Centralbl. f. Bakt. XVIII. 33. 1894),
G. Leopold (Vergleichende Untersuchungen über die Entbehrlichkeit der Schei-
denausspülungen bei ganz normalen Geburten und über sogen. Selbstinfeotion.
Arch. f. Gynäk. XLVI1. 3. S. 580. 1894).
Diesen Bestrebungen trat neuerdings Ahlfeld (Deutsche med. Wochenschr.
1896. No. 44) mit Entschiedenheit entgegen. Die äussere Untersuchung sei intra
partum zu schwer auszuführen und lasse nur einen kleinen Theil der für Mutter
und Kind verhängnissvollen Geburtsanomalien erkennen. Von Gesundheitsgefahren
für die Mutter sei auch die äussere Untersuchung nicht frei. Sie rufe, intra par¬
tum wiederholt und gründlich ausgeführt, atypische Wehen, Bauchpressungen,
Quetschungen des unteren Uterinsegmentes, Lage- und Haltungsveränderungen der
Frucht und vor Allem heftige Schmerzen hervor. Die gleichmässige Vervollkomm¬
nung der äusseren und inneren Untersuchung müsse das Ideal sein und bleiben.
Ein Erlass des Ministers der Medicinal-Angelegenheiten vom 27. Dec. 1895
macht die Anwendung des CredfCsehen Prophylacticums bei Neugeborenen gegen
Blennorrhoea obligatorisch für die Hebammenprüfung und -nachprüfung.
Der Verwaltungsphysikus von Hamburg und der Polizei-Präsident von Berlin
trafen unter dem 27. Jan. bezw. 16. Sept. 1896 Anweisungen über das Verhalten
der Hebammen bei Pemphigus neonatorum. Fälle von Pemphigus neonato¬
rum wurden vom forensischen Standpunkte aus von Adickes (Zeitung f. Med.-
Beamte. 1896. No. 17) besprochen und der Zusammenhang zwischen dieser Krank¬
heit und des Impetigo contagiosa von ßalzer (Ibid. 18%. No. 9) erörtert. Mit
Beziehung auf die Praxis der Hebammen wurden Schälblatternepidemien beschrie¬
ben von Kornfeld (Ibid. No. 19), von Kuhnt und Vogel (Ibid. No. 22); die
Kuhnt’sche Epidemie bestand in der Erkrankung von 11 von 28 durch eine Be¬
zirkshebamme während Februar bis Ende Juli gehobenen Kinder, wovon 4=55 pCt.
starben. In diesen, wie in den von Vogel erwähnten Fällen liess sich der An-
theil der Hebammen an der Uebertragung wahrscheinlich machen und traten nach
Belehrung derselben weitere Fälle nicht auf. Kornfeld vermochte einen Zusam¬
menhang zwischen Hebammenpraxis und Epidemie nicht zu sehen. Soviel scheint
sich jedoch aus diesen Beobachtungen zu ergeben, dass die einfache Erwähnung
der Krankheit im Hebammenlehrbuche nicht im Verhältniss steht zur Grösse der
Gefahr der Uebertragung durch Hebammen.
Aehnlich steht es übrigens mit der Verhütung des Tetanus neonatorum.
Die aseptische Behandlung des Nabelschnurrestes wurde von Grösz (Wiener
klin. Rundschau. IX. 19. 1895) besprochen.
Organisation des Hebammenwesens.
Krug stellte bei Gelegenheit der Wiederholungslehrkurse in Hessen die Zahl
der durchschnittlichen Entbindungen auf 33,1 fest, was bei einem Durchsohnitts-
honorar von 8,27 Mk. pro Geburt einem Einkommen von 213,3 Mk. auf dem Lande,
und bei 13,1 pCt. der Hebammen in den Städten 500 Mk., im Mittel von 313,5 Mk.
entpricht. Krug schlägt zur Aufbesserung des Nothstands Vergrösserung der
Hebammenbezirke, Erhöhung der Hebammentaxe und festes Gehalt vor.
In Berlin, wo es nur frei practisirende Hebammen giebt, entfallen auf eine
Hebamme im Durchschnitt 57 Geburten, und zwar so, dass auf die einzelnen Jahr-
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSITÄT OF IOWA
Besprechungen, Referate, Notizen, amtliche Mittheilungen. 159
zehnte desAlters von 20—80, 31, 78, 84, 73, 57, 48, 31,2 entfallen und bei einem
Durchschnittshonorar von 10 Mk. pro Geburt das Einkommen der Hebammen dieser
Altersstufen auf 310, 780, 840, 730, 570, 480, 310 Mk. zu berechnen wäre. Im
Jahro 1871 entfielen noch 153 Geburten auf eine Hebamme. (Wernich-Spring-
feld, VII. Gen.-San.-Ber.)
Fritsch beklagte (Arch. f. Gynäkol. Bd. XLIX. H. 1), dass in der Heb-
ammenreform augenblicklich ein Stillstand eingetreten sei und dass der gegen*
wärtige Zustand der Organisation weder die Hebammen noch den Staat befriedigen
könne. Die Verlängerung der Unterrichtszeit, die Einführung der Nachprüfungen
und an einigen Orten der Fortbildungskurse, die obligatorischen Vorschriften betr.
die Desinfection, endlich die Unterstützung von Hebammenvereinen, welche be¬
stimmt sind, die Hebammen fortzubilden und ihre sociale Lage zu verbessern,
haben so gut wie Nichts erreicht. Die Vorschriften und Einrichtungen sind auf
dem Papier stehen geblieben und die Fortentwicklung des Vereinswesens im Heb¬
ammenstande hat unter diesen ein übertriebenes Selbstbewusstsein erzeugt, welches
auch ihr geburtshilfliches Handeln beeinflusst und einen Gegensatz zwischen
Aerzten und Hebammen geschaffen hat, der sich mit der Stellung der Heb¬
amme als Gehilfin des Arztes schlechterdings nicht verträgt. Ihren Ausdruck fand
dieses Selbstbewusstsein in dem Streben der Hebamme, den Titel Geburtshelferin-
nen zu adoptiren, ein Versuch, der vom Berliner Polizei-Präsidenten seiner Zeit
aus § 147 1 R.-G.-O. vereitelt wurde.
Verfasser schlägt deshalb zwei Mittel zur Abhilfe vor: 1. die Zufuhr besserer
Stände zum Hebammenberuf, 2. die Aufbesserung der Lage der Hebammen. Von
der Anschauung ausgehend, dass als Ursache, weshalb das Hebammengewerbe so
wenig Verlockendes für gebildete Frauen hat, lediglich die Scheu vor dem Zu¬
sammenleben mit ungebildeten Schülerinnen in den Lehranstalten sei, schlägt er
die Freigabe des Hebammenunterrichts vor. Eine wirksame Verbesserung der so¬
cialen Lage will er durch Herbeiführung einer Reichs-Berufsgenossenschaft der
Hebammen herbeiführen, die zweckmässig auf das gesammte niedere Heilpersonal
anszudehnen wäre. Als Arbeitgeber wären die Krankenanstalten, der Staat, die
Provinz, die Stadt, die Kommunalverbände anzusehen, welche das Heilpersonal
anstellen. Die Vorschläge fielen nach beiden Richtungen hin auf fruchtbaren Bo¬
den. Das Med.-Min. erliess eine Umfrage über den ersten Punkt, über deren Er¬
gebnis bisher noch nichts wieder verlautet ist und der deutsche Hebammenverein
beschloss eine Petition an den Reichstag zu richten und um Ausdehnung der so¬
cialpolitischen Gesetze auf Hebammen zu bitten.
Auf Grund des § 2 des Alters- und Invalidenversicherungsgesetzes sind Heb¬
ammen nach der Revisionsentscheidung des Reichsversicherungsamts vom 19. Sept.
1891 versicherungsberechtigt nach der Lohnklasse II., wenn sie die Kosten allein
tragen und erwerbsfähig vor dem 40. Jahre in die Versicherung eintreten. Die¬
trich (Zeitschr. f. Med.-B. 1896. S. 387) betont, dass der Nutzen dieser Selbst-
versicherung deshalb ein sehr geringer sei, weil er zur Zeit der Mehrzahl aller
Hebammen nicht zukomme. So seien nach Gottschalk’s Statistik des Oppelner
Bezirks 406 älter und 330 jünger als 40 Jahre. (In Berlin sind von 820 Hebam¬
men 37 pCt. jünger, Ref.) Er hält deshalb, weil der so nothwendige Zwang fehle
and die Beiträge zu niedrig seien, eine Landes- und Pensionskasse für den zweck-
massigsten Weg der Versicherung.
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
160
Besprechungen, Referate, Notizen, amtliche Mittheilungen.
In verschiedenen Medicinalbeamtenvereinen kam die Taxfrage zur Sprache.
Man war im Allgemeinen der Ansicht, dass die Taxpositionen zu niedrig sind,
dass es sich empfiehlt, eine gesonderte Berechnung der Hilfeleistungen bei der
Geburt und denen im Wochenbett einzuführen. In Wiesbaden hielt man einen
Satz von 12—50 Mk. für die Entbindung von reifen und frühreifen Kindern, von
6—25 Mk. für einen Abort incl. der durch das Hebammenlehrbuch vorgeschrie¬
benen Visiten, für jeden Extrabesuch 0,5—2 Mk. bei Tage, 1—4 Mk. bei Nacht
für angemessen.
Für eine Gehaltsaufbesserung der Gemeindehebammen plaidirte ein Badischer
Ministerialerlass vom 13. Juni 1896.
Krug hat über die in Hessen eingeführten Wiederholungslehrgänge für Heb¬
ammen berichtet. Die Repetitionskurse hatten eine Dauer von 8 Tagen bei einer
durchschnittlichen Theilnehmerzahl von 24 Hebammen. Ihr Unterricht war ein
theoretischer, hinsichtlich des Touchirens, der Anwendung des Catheters, der
Temperaturmessung und Desinfection ein practischer.
In Berlin sind im Polizei-Präsidium wöchentlich 2 Wiederholungskurse ä
2 Stunden für den Preis von 25 Pfg. pro Monat eingerichtet, in denen practische
Uebungen am Phantom, im Desinficiren etc. mit theoretischen Vorlesungen ab¬
wechseln.
Der Erlass des Oberpräsiden len von Hannover vom 22. Febr. 18% schreibt
die Einberufung aller Hebammen bis zum 60. Jahre in 10jährigen Intervallen zu
3 wöchentlichen Lehrkursen in die Provinzialhebammenlehranstalten vor. Für Be¬
zirkshebammen ist die Theilnahme obligatorisch. Die Entschädigung der Heb¬
ammen erfolgt aus Provinzialfonds in ausreichendem Maasse auch für den Ausfall
an Praxis, Pflege und Wartung der Kinder und Reiseunkosten.
Von sonstigen Verfügungen sind bekannt geworden:
Das Reichsgericht (Erkenntniss vom 16. Jan. 18%, No. 1224/95) verurtheilte
eine freipracticirende Hebamme wegen Verlassens einer Gebärenden.
Verfügung des Königl. Regierungspräsidenten zu Bromberg vom 15. Mai
18% über Hebammentaxe und Hebammenpfuscherei.
Eine Polizei-Verfügung, Sigmaringen, 12. Mai 18%, regelt das Hebammen¬
wesen und trifft Anweisungen über die Handhabung des Aufsichtsrechtes der Phy¬
siker über die Hebammen und die Abhaltung der Nachprüfungen.
Referate.
Perforation des Scheidengewölbes mit dem Zangenlöffel. Kunst¬
fehler oder unglücklicher Zufall? von Prof. E. v. Hofmann. Wiener
klin. Wochenschr. 3. Septbr. 1896.
Ein gerichtlicher Fall von Gebärmutter- und Scheidenzerreissung
bei Hydramnios, von Privatdoc. Dr. H. W. Freund in Strassburg. Deutsche
mcd. Wochenschr. 27. August 1896.
Wenn mir die Aufforderung der Redaction, hier zwei zur gerichtlichen Ver¬
handlung gelangte Fälle von Zerrcissungen während der Geburt zu besprechen,
eine besondere Ehre ist, so bin ich mir der Schwierigkeiten bewusst, die sich dem
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Besprechungen, Referate, Notizen, amtliche Mittheilungen.
161
Dritten, Fernstehenden bieten, der divergirende Anschauungen verschiedener, zum
Theil autoritativer Begutachter referiren und kritisiren soll, und werde mich be¬
mühen, in den folgenden Zeilen eine möglichst objective Betrachtung zu geben.
In dem von Hofmann’schen Falle handelte es sich um eine III. para, die
zweimal starke lebende Kinder normal geboren hatte. Wehen begannen am 1. März
und blieben unregelmässig, so dass die Hebamme am 2. III. ärztliche Hilfe in An¬
spruch nahm. Nach ca. 3ständigem Zuwarten legte der Arzt bei Fieber der
Mutter und schlechten Herztönen und bei für 4 Finger durchgän¬
gigem Muttermund an den noch hoch, aber feststehenden Kopf
3mal erfolglos die Zange an. Es blutete danach stärker, Schmerzen
und Ohnmächten folgten, so dass die Kreissende zur Klinik Chrobak’s gebracht
wurde. Hier wird complete Uterusruptur diagnosticirt und nach Porro ein
übelriechendes Kind und der Uterus entfernt. Der grosse harte Schädel stand in
Vorderscheitelbeinstellung auf den Beckeneingang gepresst. Am Uterus fand sich
keine Verletzung, sondern ein grosses interligamentäres, retroperitoneales Haema-
tom. Am 3. UI. 1 N. m. Exitus. Die gerichtliche Obduction ergab leichte Peri¬
tonitis, sub- und retroperitoneale bis zur Milz reichende Verjauchung. Cervix für
4 F. durchgängig, gequetscht aber nicht zerrissen. Am linken Scheiden¬
gewölbe eine guldengrosse, unregelmässig runde, fetzige Zer-
reissung, die nach oben sich in einen für den Finger durch¬
gängigen Kanal fortsetzt. Becken: grader D. 9 l A> (normal 11), querer
fast 12 (13,5) schräger 11 cm (12,5 cm). Kind: 51 cm lang, 3560 grm. Kopf
gegen die rechte hintere Scheitelgegend verschoben. Daselbst Kopf¬
geschwulst. Das erste Gutachten lautete auf Tod in Folge Bauchfellentzündung,
Zerreissung des linken Scheidengewölbes durch die Zange, deren Anlegung bei
noch nicht völliger Erweiterung, beträchtlicher Beckenverengerung und nicht ganz
normaler Einstellung eines grossen und barten Kindskopfes den Regeln der Ge¬
burtshilfe widerspricht.
Der 2mal vernommene Arzt sagte nicht beidemal gleich aus. Erst gab er
an, blos den rechtsseitigen Löffel angelegt zu haben, während der linke nicht
angelegt werden konnte, da die Seite zu eng war, beim 2. Male war es grade um¬
gekehrt. Der Kopf sei eingetreten gewesen. Auf Wunsch der Angehörigen und
der Frau, die gegen Spitalaufnahme waren, wurden die Versuche auch in der
Absicht gemacht, dem Kopf vielleicht eine bessere Stellung zu geben. Bei einer
Wehe sei der rechte Löffel abgeglitten. Eine Verletzung sei dabei nicht ent¬
standen. Im Endgutacbten bleibt von Hofmann dabei, dass die nicht genügend
vorsichtige und nicht indicirte Zangenapplioation die Ursache der Verletzung sei.
Da Fieber schon vorher bestand, hätte vielleicht auch ohne diese die septische
lnfection den tödtlichen Ausgang herbeigeführt; für die geburtshilfliche Begut¬
achtung seien Specialsachverständige heranzuziehen. Die Verhandlung wegen
„fahrlässiger Verletzung“ endete mit Freisprechung. Prof. Schauta trat als
Sachverständiger auf und führte (nach dem sehr kurz gehaltenen Bericht einer
Zeitung) aus, dass er die Zangen-Operation für indicirt erachte. Die Verletzung
stammt allerdings von dieser her, ist aber als Unglücksfall zu betrachten, der bei
den Verhältnissen der Privatpraxis und den Schwierigkeiten des Falles entschuld¬
bar ist. u Vielleicht habe die Zange correct gelegen, sei dann bei einer Bewegung
Viertelj*hrB80hr. f. ger. Med. Dritte Folge. XIV. 1. 2 j
Digitizetf by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
162
Besprechungen, Referate, Notizen, amtliche Mittheilungen.
der Kreissenden geglitten, und nun seien die Theile, die zu dieser Zeit immer sehr
mürbe seien, ohne besondere Gewalt durchstossen worden.
von Hofmann entnimmt aus der verschiedenen Frequenz der Zangenope¬
rationen an den Kliniken, dass die Indicationen verschieden gefasst würden. Er
glaubt, dass die abnormen Grössenverhältnisse des Kopfes schon durch die Unter¬
suchung constatirt werden können, und hält die Correctur der Schädelstellung
für eine der rationellsten Indicationen. Kunsthilfe sei wohl nothwendig gewesen,
obschon keine directe Lebensgefahr Vorgelegen habe, aber nicht die Zange. Allen¬
falls wäre die Zange bei Wehenschwäche gerechtfertigt gewesen. Zu tadeln sei,
dass keine Assistenz zugezogen war oder die Frau nicht zur Klinik geschafft
worden ist. Endlich käme gravirend in Betracht, dass sich der betr. Arzt „Accou-
cheur u. Frauenarzt“ auf seinem Schilde nenne. Bei besonderer Vorbildung fiele
der Fehler auch besonders ins Gewicht; hätte er sich nicht besondere Kenntnisse
in der Geburtshilfe vorher erworben, so läge in dem Titel eine Irreführung des
Publikums.
Soweit der Inhalt des von Hofmann’schen Aufsatzes.
War die Entbindung mit Kunsthülfe gerechtfertigt? Unbe¬
dingt ja! Fieber, schlechte Herztöne, etwa 22 Stunden nach dem Blasensprung
sind Indicationen. War die Zange contraindicirt? Die Grösse des
Kopfes kann äusserlich und innerlich nie exact, sondern schätzungsweise
sehr unsicher bestimmt werden. Darin lag also keine Contraindication. Die Lage
betrachten wir nicht nur als keine „abnorme“, sondern sogar als eine „gün¬
stige. Es hatte sich der hintere Theil des vorderen Scheitelbeines eingestellt,
der einzige Modus wie bei einem allgemein verengten Becken der Schädel pas-
siren kann. Eine Correctur der Schädclstollung mit der Zange halten wir bei
Hochstand für ein vergebliches Bemühen, zu dem hier kein Grund vorlag. Die
Beckenenge war keine absolute, da schon 2 lebende Kinder spontan geboren
waren. In solchen Fällen tritt die hohe Zange in ihr Recht. Ob es möglich ist,
damit den Kopf zu entwickeln, lässt sich immer erst hinterher sagen. Das eine
Mal macht man vor der Perforation nur noch einen Versuch, der spielend zum
Ziele führt, ein ander Mal sieht man sich genöthigt zu perforiren, wo man ziemlich
sicher auf einen Erfolg der Zange gerechnet hat.
Der Muttermund war nur für 4 Finger durchgängig: weiter wird
er in solchen Fällen sehr oft nicht. Denn wenn die Blase gesprungen ist und der
Kopf bei räumlichem Missverhältnis nicht tief tritt, so hängt die oft schon vor¬
her gedehnte und nur collabirte Cervix herab, kann sogar einge¬
klemmt werden und so nach Ban dl die Entstehung der Uterusruptur begünstigen.
In der poliklinischen Thätigkeit habe ich eine nicht geringe Zahl von Fällen unter
genau gleichen Umständen mit hoher Zange beendigt und beendigen müssen. In
anderen schloss sich die Perforation an, auf die die Angehörigen vorzubereiten
hier immer rathsam ist. Es widerspricht nicht den Regeln der Kunst, die Zange
versuchsweise in verschiedenen Durchmessern anzulegcn. Gute Wehen unter¬
stützen eine Operation, Wehenschwäche ist keine Indication, sondern eine
Contraindication.
Unzweifelhaft hat der Arzt mit der Zange den Scheidengrund
durchstossen. Wann und wie ist nicht aufzuklären und auch gleichgiltig. Be¬
wegungen der Patientin sind kaum als Entschuldigung anzuführen,
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Besprechungen, Referate, Notizen, amtliche Mittheilungen.
163
ebenso scheint die mürbe Beschaffenheit puerperaler Genitalien nur
ein Argument zu sein, das dem Laien den geringen Kraftaufwand und die Leich¬
tigkeit der Verletzung klar machen soll. Der Geburtshelfer soll mit diesen
beiden Momenten rechnen und seine Bewegungen danach coordiniren.
Trotzdem treten wir dem Urtheil bei, das den Arzt freisprach. Der Arzt hatte die
Pflicht, zu entbinden, nachdem die vorgeschlagene Aufnahme ins Spital abgelehnt
war. Gerade die Kreissende trennt sich schwerer als jede andere vom Hause; sie
vermeint fälschlicherweise, dass die Pflege für sie und ihr Kind nur in den ge¬
wohnten 4 Pfählen und unter der Beihilfe der obligaten weiblichen Verwandt¬
schaft möglich sei. So bedauerlich die Verletzung war und so sehr sie auf einen
Mangel an Fertigkeit schliessen lässt, so entstand sie doch bei einem indicirten
Eingriffe. Wollte man hier strafen, so könnte man schliesslich jeden Operateur,
der bei einem Eingriffe eine Neben Verletzung macht, in Anklage versetzen. Was
v. H. über das Specialistenthum sagt, hat gerade in der Geburtshilfe gewiss einen
Werth. Wer sich „Accoucheur und Frauenarzt“ nennt, übernimmt damit auch
Verpflichtungen. So hätte an den vergeblichen Zangenversuch die Perforation
sich anschliessen müssen. Man könnte auch bemängeln, dass die Verletzung nicht
erkannt und die Kreissende erst nach 2 Stunden zur Klinik gebracht worden ist.
Aber auch hier wurde die Verletzung nicht gefunden und sogar die Unversehrtheit
der Scheide protokollirt.
Wir pflichten der Auffassung bei, die in der Scheidendurchbohrung in diesem
Falle eher einen Unglücksfall als einen strafbaren Kunstfehler erblickt. Der
„strafbare Kunstfehler“ läge vor, wenn die Anwendung der Zange
überhaupt unnöthig oder falsch gewesen wäre.
H. W. Freund berichtet über eine 31jähr. Vpara. 3 spontane Geburten.
4 Abort. 10. Monat der Gravidität. Es bestanden Oedeme, und starke Ausdehnung
des Bauches. Sonntag und Montag schwache Wehen. Montag Nachmittag
glaubt die Hebamme, ein Sinken der Herztöne zu constatiren und versucht zur
Verstärkung der Wehen bei annähernd erweitertem Muttermunde die Blase mit
dem Finger zu sprengen. Als dies nicht gelang, liess sie sich eine Stricknadel
geben, die aber nicht sofort benutzt wurde. Bald darauf hörten die Anverwandten,
die draussen weilten „einen entsetzlichen Schrei“ und erfuhren von der Kreissen¬
den, die mit den Händen auf den Nachttisch gestützt dastand, „dass die Heb¬
amme sie mit der Stricknadel in den Leib gestossen habe.“ Auf
dem Fussboden befand sich viel Wasser. Die Hebamme leugnet, die Nadel ge¬
braucht zu haben, die Blase sei von selbst gesprungen, das Wasser habe das
Bett durchnässt und sie habe daher die Kreissende aufstehen lassen. Von da an
Collaps, Todesahnungen, keine Wehen mehr. Die Hebamme erklärt sich gegen
das Rufen des Arztes, da der Kopf tief im Becken stehe. Sie ergriff die Hand der
Schwester und führte sie in die Geschlechtstheile ein. Dienstag ging es der Frau
ganz gut. Mittwoch wurde ein Arzt geholt, der an den schon in der Vulva
sichtbaren Kopf die Zange anlegte und ein todtes Kind entwickelte. Danach
Blutung. Der Arzt geht sofort in die Scheide und will die Placenta aus der Bauch¬
höhle entfernt haben. Intestina sind nicht gefühlt worden. Er tamponirt die
Scheide mit Gaze und verlässt die Patientin, die nach 5 Stunden stirbt. Die
Section der exhumirten Leiche ergab einen kolossalen Längsriss, der fast
schnurgerade von der Mitte der hinteren Wand des Fundus an
11 *
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UMIVERSITY OF IOWA
164
Besprechungen, Referate, Notizen, amtliche Mittheilungen.
durch Corpus und Cervix ponetrirend bis ans Ende des oberen
Drittels des hinteren Scheidengewölbes hindurchging. Corpus und
Collum auffallend dünn. 44 — 3 Sachverständige, darunter der Arzt, halten
die Ruptur für eine durch die Stricknadel veranlasst©. Freund legt, wie es uns
scheint, mit Recht weder auf die Aussage der Hebamme noch auf die des Arztes,
der sich in 2 Vernehmungen widersprach, volles Gewicht. Er nimmt als sicher
an, dass die Stricknadel zum Blasensprengen benutzt war und Ruptur mit Blasen¬
sprung coincidirte. Das Blasensprengen mit der der Hebamme seinerzeit gelehrten
Benutzung der Stricknadel sei kein Kunstfehler. Die 20 cm lange Nadel sei nicht
zur Herbeiführung einer Ruptur geeignet. Selbst wenn das Instrument direct nach oben
(statt gegen das hintere Scheidengewölbe) gerichtet gewesen wäre, hätte der Schädel
das Instrument aufhalten und ablenken müssen. (Einige Sachverständige nahmen an,
dass das Instrument diesen umgehen könnte). Das von einer Stricknadel erzeugte
Loch würde sich wie das einer Punction sofort verlegen und könnte nicht Veran¬
lassung zum Weiterreissen geben. — Die Hebamme wurde von der fahrlässigen
Tödtung freigesprochen und soll nun noch wegen der groben Verstösse gegen dieHeb-
ammenordnung verfolgt werden. Nach Freund hätte der plötzliche Blasen¬
sprung bei Hydramnios die Gebärmutter zum Platzen gebracht.
Bei dem innigen Zusammenhang der vielleicht abnorm resistenten Eihäute mit
der verdünnten Wand könne Eihaut und Uteruswand wie ein zusammengehöriges
Ganze platzen, wie ja auch bei gynatretischer Hämatosalpinx die plötzliche Ent¬
leerung und die veränderten Druckverhältnisse zur Ruptur führen könne. Das
Blasensprengen war zwar mithin die Ursache der Katastrophe, die aber auch
ebenso einem Arzte hätte passiren können. Dazu kam noch die einseitige Dehnung
der hinteren Wand in Folge Hängebauches. Schliesslich knüpft Freund noch
einige geburtshülfliehe Bemerkungen an, dass die Wehen nach Ruptur nicht
immer aufzuhören brauchten, ja sogar geburtsbefördernd wirken können und
tritt der Anschauung entgegen, als könne bei tiefstehendem Schädel eine Ruptur
ein treten.
Die Frage nach der Entstehung der Uterusruptur hat in jüngster Zeit wieder
die Gynäkologen beschäftigt. H. W. Freund selbst hat verschiedentlich werth -
volle Arbeiten dazu beigesteuert. Auch auf dem Congresse der deutschen Gesell¬
schaft für Gynäkologie in Wien 1895 fand eine breite Diskussion darüber statt. —
Es sind jetzt eine nicht unbeträchtliche Zahl von Fällen bekannt, wo bei spon¬
tanem Geburtsverlauf unter normalen Verhältnissen der Uterus zerriss. Dennoch
möchten wir den Freund’schen Ausführungen uns nicht in den wesentlichen
Punkten ansehliessen. Der jüngste Bearbeiter dieses Gebietes, Koblanck 1 ), der
in einer höchst beachtenswerthen Studie über 80 Fälle der Berliner Frauenklinik
(1877—1895) die Lehre von der Uterusruptur behandelt, schreibt ausdrücklich:
„Von Abnormitäten des Eis begünstigen Hydramnion und Zwil¬
linge nicht die Entstehung von Rupturen. Obwohl die Ueberdchnung
schon in der Schwangerschaft ganz ausserordentlich sein kann, tritt dennoch Zer-
reissung niemals ein wegen der gl eich massigen Ausdehnung des ganzen Or¬
ganes. Wo dieselbe bei fliesen Complicationen stattfand, ist dieUrsache in anderen
1) A. Koblanck, Beitrag zur Lehre von der Uterusruptur etc. Stuttgart,
Enke, 1895.
Digitized by
Gck igle
Original frnrri
UNIVERSUM OF IOWA
Besprechungen, Referate, Notizen, amtliche Mittheilungen.
165
Anomalien (Hängebauch etc.) zu suchen.“ Auch Sänger 1 ) und Küstncr 2 ) er¬
wähnen nicht das Hydramnion als Ursache der Ruptur. Ks ist physikalisch nicht
verständlich, wie beim Nachlassen des Druckes (beim Fruchtwasserabfluss) der
l’terus platzen soll. Dutzende von Fällen kennt jeder beschäftigte Geburtshelfer,
wo spontan oder künstlich Hydramnien sich entleerten, selbst die Frucht und
Placenta hinterher schoss, ohne dass Ruptur eintrat. Durch den Fruchtwasserab-
lluss, ebenso bei dem plötzlichen Ablassen einer Ilämatometra strömt in Folge
negativen Druckes viel Blut nach den Genitalien. Während es aber die gedehnten,
mit schwacher Muskulatur versehenen Hämatosalpingen sprengen kann, vertheilt
es sich in dem fast einen cavemösen Körper bildenden kreissenden Uterus und
führt allenfalls zur vorzeitigen Lösung der Placenta. Wäre das anders, so müsste
ja Jlydrainnios in der That zu den allorgefährlichsten Zuständen zählen. Beim
Sprengen mit der Hand dürfte kaum eine Ruptur eintreten, man müsste in einem
theoretisch construirten Falle eine gewaltsame Steigerung des Innendruckes an¬
nehmen, die aber bei der gleichmässigen Dehnung der Gebärmutter auch belang¬
los wäre.
Hat die Hebamme, wie Freund annimmt, die Stricknadel gebraucht, so
lässt sich nicht einsehen, wieso sie nicht auch in die Wand des unteren
Lterusabschnittes gestochen haben kann. Der Cervicaltheil war ver¬
strichen, der Muttermundssaum ist bei Hydramnios oft sehr tief in die Scheide
vorgewölbt. Aber auch ohne dieses kann man mit einem Finger schon sehr wohl
in das untere Uterinsegment gelangen. Die Stricknadel bedarf keiner Biegung
hierzu, denn die Blase weicht aus und der Kopf stellt in so prallem Liquor nicht
so fest, dass er die Nadel hemmt. Die Nadel gelangte in den sehr dünnen Uterus,
verletzte mit der Spitze die Wand und warum sollte es mit dem Stahl nicht mög¬
lich sein, einen Kanal oder Riss zu machen, wenn der „innige Zusammenhang“
und eine „plötzliche Druckschwankung“ es vermag? Da auch die hintere Scheide
zerrissen war, ist es gar nicht von der Hand zu weisen, dass die Nadel Scheiden- ^
gewölbe und Cervix nahm. Den Riss bis in den Fundus hinauf hat die Heb- *
amme mit der Stricknadel nicht gemacht, und nicht machen können, den
vollendete dann der hohe intrauterine Druck, nachdem nun die schwache'
Stelle durch die künstliche Verletzung gegeben war. Gleichzeitig lö^te sich
das Ei auf grössere Strecken und die Blase sprang unmittelbar danach, der Kopf
trat tief, ln die von H. W. Freund 3 ) aufgestellte Kategorie von „Zerplatzen '
der Uterus bei engem Muttermunde“ lässt sich der Fall nicht einreihen,
da der Muttermund erweitert war, und kein prädisponirter Theil zum Platzen ge¬
geben war. Wenn der Kopf nach der Ruptur sofort bis in den Beckenausgang
gelangte und später in der Vulva stand, so setzt dies nothwendigerweisc keine
Wehenthätigkeit voraus. Ein in der hinteren Wand halbirter Uterus kann keine
Wehen mehr produciren. Einzig und allein die Bauchpresse beförderte den Kopf
1) Sänger, Referat über „Uterusruptur“, VI. C'ongr. d. deutsch. Gesellsch.
f. Gynäk. Wien 1895.
2) Küstner, Die vom Fö^us abhängenden Schwangerschafts- und Geburts-
siörnngen in P. Müller’s Handbuch der Geburtsb. Bd. II. 1889.
3) H. W. Freund, Die Mechanik und Therapie der Uterus- und Scheiden-
. gewölberisse. Zeitschr. f. Geburtsh. u. Gynäk. 1892. Bd. XXIII.
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Digitized by
16f> Besprechungen, Heferate. Notizen, amtliche Mittheilungen.
noch tiefer, wie ja die Austreibung nach völliger Eröffnung zum grössten Theile
von dieser abhängig ist. Obschon — was forensisch wichtig sein dürfte — bei
Uterusruptur nicht jede Wehenthätigkeit aufzuhören braucht, ist nach dieser Rich¬
tung der Freund’sche Fall nicht verwerthbar. Auf die Frage nach der Möglich¬
keit einer Uterusruptur bei im Becken stehenden Schädel muss ich mir versagen,
hier einzugehen. Einzelne Fälle der Litteratur sind kaum anzuzweifcln. Einen
derartigen Fall habe ich kürzlich veröffentlicht. Es ist sehr wahrscheinlich, dass
hier wie in parallelen Beobachtungen, nachdem beim Tiefertreten des Kopfes
schon eine Dehnung des unteren Uterussegmentes stattgefunden hat, über¬
mässig starke Schulterentwickelung den Eintritt des Rumpfes ins Becken
und die Geburt hemmt und die Ruptur hervorruft 1 ).
Der sterilisirten Stricknadel habe ich mich bei resistenten Eihäuten und
schlaffer, schwer zu durchbohrender Blase in wenigen Fällen bedient. Sie ist
kein sehr angenehmes Instrument, da sie schlecht zu halten ist, leicht aus der
Richtung geht und mit der freien Spitze auch einmal in die Uteruswand gerathen
kann, wenn man nicht wie beim Perforatorium die andere Hand zur Deckung be¬
nutzt. Den Hebammen gestattet das neue preussische Lehrbuch überhaupt kein
Instrument für das Blasensprengen mehr. Dieser Hebamme ist es, wie früher üblich,
gelehrt worden, sich der Stricknadel zu bedienen; die Anwendung war hier (Hy-
dramnios, Wehenschwäche, genügende Erweiterung) auch indicirt. Man kann
daher für die Freisprechung der Hebamme denselben Gedankengang, wie im
von Hofmann’schen Falle für den Arzt geltend machen und die Entstehung der
Verletzung als Unglücksfall bei berechtigter Anwendung von Kunst¬
hülfe bezeichnen, wobei die abnorm dünne Wandbeschaffenheit zu mildernder
Auffassung noch beitrüge und die Ausdehnung der Zerreissung erklärte. Wegen
des Einführens einer nicht desinticirten Laienhand, des zu späten Herbeiholens
ärztlicher Hilfe u. s. w. wird der strafende Arm der Gerechtigkeit die Hebamme
Verdientermassen ereilen. P. Strassmann (Berlin).
C. Kaiserling, Weitere Mittheilungen über die Herstellung mög¬
lichst naturgetreuer Sammlungspräparate. Virchow’sArchiv. Bd.147.
Heft 3.
Kaiserling hat sein Verfahren zuerst am 6. Juli 1896 im Verein für innere
Medicin und am 8. Juli 1896 in der Berliner medicinischen Gesellschaft bekannt
gegeben; eine ausführlichere Mittheilung erfolgte dann in No. 35 der Berliner kli¬
nischen Wochenschrift, 1896. Ueber eine Vereinfachung und Verbilligung seiner
Methode berichtete er am 16. November 1896 im Verein für innere Medicin; die
vorliegende Arbeit giebt in ausführlicher Weise eine Darstellung des Verfahrens
mit Berücksichtigung der Conservirung der einzelnen Organo; sie bildet zugleich
einen vorläufigen Abschluss der über Jahre hinaus ausgedehnten Untersuchungen
des Verfassers. Kaiserling behandelt die zu fixirenden Präparate zuerst mit
einem Formalingemisch von folgender Zusammensetzung:
1) P. Strassmann, Ueber die Geburt der Schultern und über den Schlüssel¬
beinschnitt (Cleidotomia). Arch. f. Gynäk. Bd. LHI. 1897.
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Besprechungen, Referate, Notizen, amtliche Mittheilungen.
167
I. Formalin 200
Wasser 1000
Kal. nitr. 15
Kal. acet. 30,
mindestens 24 Stunden, höchstens 5mal 24 Stunden, im Durchschnitt wohl 2 bis
3 Tage, je nach der Dicke der Präparate. Dann kommen sie in
II. 95proc. Alkohol
6—24 Stunden, und endlich werden sie fixirt in einem Gemisch von Glycerin und
Kali aceticum: III. Wasser 2000
Kal. acet. 200
Glycerin 400.
Die Vorschriften laufen weiter darauf hinaus: Man belege zuerst den Boden
des Gefässes mit einer ziemlich dicken Watteschicht, dann giesse man die For¬
malinlösung zu und lege das Organ hinein. Verfährt man umgekehrt, so härten
die auf liegenden Flächen ungenügend und weiter sind missfarbige Flecke dieFolge;
am besten hängt man, wo dies ohneZerrung geschehen kann, dasOrgan auf; ferner
unterstützt man sehr gut den Conservirungsprocess durch Belegen des Präparates
mit wenig Watte, ein Hülfsverfahren, welches unerlässlich ist, wenn es sich darum
handelt, kleine Incisionen klaffend zu erhalten. Sollen grosse Organe conscrvirt
werden, so empfiehlt Kaiserling Injection der Arterien und Venen, z. B. an der
Leber. Er mischt seine aus Formalin 400
Wasser 1000
Kali acet. 50
Kal. nitr. 30
bestehende Injectionsflüssigkeit, um keine Beschädigung des Blutgehaltes hervor¬
zurufen, mit Blut und injicirt dann.
Verfährt man in der angegebenen Weise, so wird man alsbald feststellen
können, wie die Farben des Präparates in dem Formalingemisch verschwinden
oder wenigstens unansehnlich werden, um dann im Alkohol und noch mehr im
Glycerin-Kali acetic.-Gemisch wiederzukehren und constant zu bleiben. Spektro¬
skopisch nachweisbare Veränderungen des Blutfarbstoffs sind die Ursache dieses
Verhaltens.
Die Vortheile des Verfahrens sind, wie Ref. bestätigen kann, in der That
grosse. Die Umständlichkeit der Behandlung eines Präparates nacheinander mit
drei Flüssigkeiten, sowie die Vertheuerung gegenüber der bisherigen alleinigen
Alkohol-Conservirung werden reichlich ausgeglichen durch die ausgezeichnete Er¬
haltung der natürlichen Farben, die mit den bei der Section wahrgenommenen
völlig identisch sind. Es sei gestattet, einige Beispiele anzuführen. Eine piece
de r^sistance gegenüber der Alkohol-Conservirung pflegt in jeder gerichtlich-medi-
cinischen Sammlung gewöhnlich der Cyankalium-Magen zu bilden; das so charak¬
teristische Aussehen des Organs wurde bislang stets unkenntlich und entstellt
durch die Zusatzflüssigkeit. Bei den Präparaten, welche vom Ref. für die Samm¬
lung der Unterrichtsanstalt für Staatsarzneikumle zu Berlin in der angegebenen
Weise behandelt wurden, ist dies anders: Schwellung, Röthung, kurz jedes kleine
Detail ist jetzt noch, wie bei der Aufstellung vor einem halben Jahr zu sehen.
Ein weiterer Prüfstein der Methode dürften Hirncontusionen sein. Auch von ihnen
bewahrt die Sammlung der Berliner Unterrichtsanstalt für Staatsarzneikunde einige
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
168 Besprechungen, Referate, Notizen, amtliche Mittheilungen.
Präparate, welche die Destruirung der Hirnsubstanz, die Extravasate ganz wie bei
der Autopsie zeigen. Dem Verfahren gebührt demnach uneingeschränktes Lob;
es bildet einen grossen Fortschritt auf dem Wege der Herstellung guter Demon¬
strationspräparate. Abzuwarten ist wohl noch, ob die Erfolge auch andauernd
gute sein werden, oder ob nicht im Laufe der Zeit doch eine Auslaugung der Prä¬
parate durch die umgebende Flüssigkeit III. eintritt. Wennschon zur Zeit noch
keine Anzeichen hierfür in den Ref. zur Verfügung stehenden Objecten vorhanden
sind, so ist die Zeit für eine definitive Kritik — etwas über ein Semester — im¬
merhin eine kurze. Der Preis der verschiedenen Flüssigkeiten wird es mit sich
bringen, dass nicht sonderlich hoch dotirte Sammlungen, und das sind leider wohl
sehr viele, in den Fällen, in denen es sich allein um Erhaltung der Form handelt
und bei denen auf die Farbe weniger ankommt (z. B. Hymen) doch beim Alkohol
werden beharren müssen. Eine allzugrosse Vertheuerung des Verfahrens wird
übrigens auch dadurch hintangehalten, dass man die beiden vorbereitenden Lö¬
sungen (Formalingemisch und Alkohol) häufiger benutzen kann, ohne dass sie un¬
brauchbar werden. Puppe.
Aus Wiener Zeitungen.
Referate von A. Haberda-Wien.
E. Michel, Ein Be itrag zur Frage von der sogenannten traumatischen
Spätapoplexie. Wiener klin. Wochenschr. 1896. No. 35.
Nach heftigen traumatischen Einflüssen auf den Kopf kann es zu capillären
Hämorrhagien in die Hirnsubstanz und aus diesen, selbst längere Zeit nach dem
Trauma, durch Erweichung zu tödtlichen Hirnblutungen (traumatische Spätapo¬
plexie Bollinger’s) kommen. Einen neuen derartigen Fall bringt Michel aus
dem Wiener gerichtlich-medicinischen Institute. Ein 65 Jahre alter Arbeiter wird
am 14. Nov. 1895 in einer Fabrik zufällig durch die Unvorsichtigkeit eines An¬
deren von einer langen Eisenstange am Kopfe getroffen, wird nicht bewusstlos,
macht dem Schuldtragenden sogleich Vorwürfe und arbeitet bis Abend weiter. In
den nächsten 4 Tagen bleibt er wegen Kopfschmerzen zu Hause, dann arbeitet er
wieder. Am 21. Nov. Mittags wird er bei der Arbeit unter Erbrechen, Schwindel
und Kopfschmerzen unwohl, weshalb er sich nach Hause begiebt. Am Abend
klagt er über Schwachsichtigkeit, verliert das Bewusstsein und stirbt am nächsten
Morgen. Die gerichtliche Section (E.v.Hofmann) zeigte in der rechten vorderen
Scheitelgegend eine kleine braunrothe Hautvertrocknung und darunter einen dünnen
handflächengrossen, schon ins Bräunliche verfärbten Blutaustritt. Der Schädel
war unverletzt. In den hinteren Schädelpartien zwischen Dura und Arachnoidea
ein x / 2 cm dicker bräunlicher, und zwischen den inneren Hirnhäuten ein dünner,
vielfach unterbrochener Blutaustritt. Die hintere Partie des rechten Hinterhaupt¬
lappens in eine fast gänseeigrosse, an der Spitze durchbrochene, mit festen, frischen
Blutgerinnseln erfüllte und zerwühlte Höhle verwandelt, die in die Seitenkammern
durchgebrochen ist. In der Umgebung dieser Höhle vereinzelte bis bohnen¬
grosse bläuliche, aus zahlreichen kleinsten Hämorrhagien bestehende Contusio-
nen der Hirnrinde. Im linken Hinterhauptslappen zwischen Spitze und Hinter-
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UMIVERSITY OF IOWA
Besprechungen, Referate. Notizen, amtliche Mittheilungen. 169
0
liorn eine spaltformigo, mit Blut erfüllte Höhle. Die Kammern mit Blut erfüllt;
im Ependym der Seitunkammern zerstreute kleine Blutaustritte. Im Gutachten er¬
klärte E. v. Hofmann, dass die tödtliche Hirnblutung vom rechten Hinterhaupts¬
lappen ausgegangen sei und zu einem Durchbruche nach den Kammern und zwi¬
schen die Hirnhäute geführt habe, und dass sie in Folge Quetschung und nach¬
träglicher Erweichung des Hinterhauptslappens eingetreten sei, welche Quetschung
nach den Umständen des Falles sowie nach dem Befunde anderer kleiner Rinden¬
quetschungen in der Nachbarschaft und einer suffundirten Hautquetschung am
Kopfe offenbar durch das 8 Tage vor dem Tode erlittene Trauma veranlasst wor¬
den war. Vielleicht habe das hohe Alter des Verletzten und eine grössere, durch
Atheromatose bedingte Zerreisslichkeit der Gefiisse den Eintritt der tödtlichen
Nachblutung begünstigt.
Obwohl es durch das Trauma zu Blutungen in die Hirnrinde (Gontusionen)
«kommen war, fehlten unmittelbar nach demselben alle klinischen Zeichen einer
Hirnerschütterung und bestand tagelang kein anderes Symptom als Kopfschmerz.
Michel beleuchtet die Wichtigkeit derartiger Beobachtungen für den Gerichtsarzt
bei Beantwortung der Frage, ob gegebenen Falles ein erlittenes Trauma mit einer
viel später eingetretenen Apoplexie im Zusammenhang stehe, oder ob diese Apo¬
plexie als eine spontane aufzufassen sei.
Max Richter, Zur Differentia 1 diagnose zwischen Kohlendnnst- und
Leuchtgas Vergiftung. Wiener klin. Wochenschr. 18%. No. 33.
Leitet man in eine Methämoglobinlösung Leuchtgas ein, so wird dieselbe,
wie Wachholz zeigte, intensiv roth, dabei verschwindet das Absorptionsband im
rothen Theile des Spectrums und an seine Stelle tritt ein breites, wenig scharf
begrenztes Band im Grün, das sich auf Zusatz von Schwefelammonium in zwei
Bänder spaltet. Da Wachholz bei Einleiten von CO in Methämoglobinlösungen
keine Veränderung der Farbe und des spectralen Verhaltens jener Lösung fest¬
stellen konnte, wollte er seine Entdeckung zu einer Differentialdiagnose zwischen
Leuchtgas- und Kohlendunstvergiftung benutzen, indem er vorschlug, zu dem zu
untersuchenden entsprechend verdünnten Leichenblut so lange rothes Blutlaugen¬
salz zuzusetzen, bis im Spectrum die beiden Streifen des COHb verschwunden
seien; bleibe die Lösung roth und zeige sie je nach ihrer Concentration und der
Menge des Leuchtgases noch den Methämoglobinstreifen oder ein Band im Grün
oder vollkommene Absorption von Gelb bis Violett, so liege bei constatirter CO-
Vergiftung eine Leuchtgas- und nicht eine Kohlendunstvergiftung vor.
Richter zeigt, dass die Rothfärbung und das veränderte spectraleVerhalten
von Hethämoglobinlösungen nach Einleiten von Leuchtgas nicht, wie Wachholz
glaubt, durch die schweren Kohlenwasserstoffe des Letzteren, sondern durch das
im Leuchtgase enthaltene Cyanwasserstoffgas veranlasst werden, dass sie also nur
in der Umsetzung des Methämoglobin in Cyanhämatin ihre Ursache haben und
aasbleiben, wenn man das Leuchtgas vorher durch Kalilauge leitet und so vom
Cyanwasserstoff befreit. Uebrigens röthet auch reines Kohlenoxyd Methämoglobin-
lösnngen, wenn auch weniger intensiv. Da weiter bei der unvollkommenen Ver¬
brennung überhaupt neben schweren Kohlenwasserstoffverbindungen auch Cyan
sich bilde, so könne man theoretisch hinsichtlich des Verhaltens gegenüber Met-
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
170 Besprechungen, Referate, Notizen, amtliche Mittheilungen.
hämoglobinlösungen einen Unterschied zwischen Leuchtgas und Kohlendunst nicht
erwarten. In practischer Hinsicht ist die Probe auch deshalb nicht verwerthbar,
weil wegen der ungemein kleinen Menge von Cyan im Blute nach Zusatz von
rothem Blutlaugensalz zur Blutprobe stets Braunfärbung und Methämoglobinbil-
dung und nie Rothfärbung entsteht, gleichviel ob das Blut von Kohlendunst* oder
Leuchtgasvergiftungen stammt.
J. Kratter, Ueber das Eindringen von Arsen aus der Friedhofserde
in den Leichnam. Wiener klin. Wochenschr. 1896. No. 47.
Die Leiche eines 70jährigen Mannes wurde nach 5y a Jahren wegen Ver¬
dachtes auf Arsenvergiftung exhumirt. Der Holzsarg war unversehrt und stand in
sohwerdurchliissigem gelben Lehm, der Leichnam in Adipocire verwandelt, die
Körperhöhlen geschlossen. Die Organreste der Brust- und Bauchhöhle enthielten
Arsen, und zwar nach Umrechnung etwa ebensoviel Arsenik als die Friedhofserde,
die in 500 g 87 mg (! Ref.) arsenige Säure enthielt. Auch im Gilet, mit dem die
Leiche bekleidet war, fanden sich Spuren von Arsen. Durch fortgesetztes Aus¬
laugen mit Wasser von gewöhnlicher Temperatur waren aus der Erde immer wie¬
der Arsenosäuren in Lösung zu bringen, so dass zum mindesten ein gewisser Theil
des Arsen in der Form von löslichen Verbindungen in der Erde vorhanden zu sein
schien. Es musste daher mit der Möglichkeit gerechnet werden, dass das in die
Friedhofserde über der Grabstelle eindringende Meteorwasser geringe Mengen von
Arsen lösen und bis zum Sarge führen konnte und dass das Arsen von aussen in
die Leiche gelangen konnte. Obwohl Kratter der Ansicht ist, dass bei unver¬
sehrtem und dichtem Sarge und bei geschlossenen Körperhöhlen Arsen aus der
Erde in das Innere der Leiche nicht kommen kann, was immer für Löslichkeits¬
und Absorptionsverhältnisse für Arsen das umgebende arsenhaltige Erdreich auch
zeigen mag, so gab er für den vorliegenden Fall mit Rücksicht auf die Löslich¬
keitsverhältnisse des in der Erde gefundenen Arsen doch die Möglichkeit zu, dass
überhaupt Arsen von aussen in die Leiche gekommen sei, wenn er es auch mit
der grössten Wahrscheinlichkeit für ausgeschlossen hält, dass die ganze Menge
von Arsen, welche in den Leichenresten gefunden wurde, von aussen hineinge¬
langt sei.
Das gerichtsärztliche Gutachten nahm mit ausserordentlich hoher Wahr¬
scheinlichkeit eine Arsen Vergiftung an. Die Staatsanwaltschaft erhob keine Anklage.
J. Pal, Ueber das Verhalten des Herzens und der Gefässe bei der
Phosphorvergiftung. Wiener klin. Wochenschr. 18%. No. 43.
Trotz der hochgradigen Verfettung des Herzmuskels in Fällen subacuter
Phosphorvergiftung ist zufolge der klinischen Erscheinungen der letale Ausgang
in solchen Vorgiftungsfällen ausserhalb des Herzmuskels zu suchen, wie auch die
ganz acuten Vergiftungen beweisen, in denen Veränderungen des Herzens ganz
fehlen können. Pal ist der Ansicht, dass der Tod der mit Phosphor Vergifteten
im Allgemeinen durch eine intensive Depression des Blutdruckes durch periphere
Gefasslähmung und consecutive mangelhafte Speisung des Herzens herbeigeführt
wird. Deshalb trifft man in Fällen von Phosphorvergiftung bei der Obduction im
Herzen wenig oder gar kein Blut.
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Besprechungen, Referate, Notizen, amtliche Mittheilungen.
171
Kunstgutachten der medicinischen Fakultät in Wien (Referent Prof.
E. Neusser). Wiener klin. Wochenschr. 1896. No. 15.
Die 12 Jahre alte P. T. war am 27. Sept. zweimal mit der Faust geschlagen
worden und, als sie gestürzt war, angeblich auch getreten worden. Sie arbeitete
weiter. Am 1. Oct. musste sie sich zu Bett legen. Ein Arzt hat sie nicht behan¬
delt. Sie soll Schmerzen im Nacken und Rücken gehabt haben und konnte die
Beine nicht bewegen, während die Hände frei waren; auch bestand Steifigkeit des
Nackens und Rückens, Erbrechen und Stuhl Verhaltung. Nach 11 tägiger Erkran¬
kung starb sie.
Die gerichtliche Obduction zeigte keinerlei Verletzungen und keine Organ¬
veränderungen ausser hochgradiger Koprostase. Das Rückenmark war nicht
untersucht worden. Dennoch gaben die Obducenten das Gutachten ab, der
Tod sei die Folge einer Erschütterung des Rückenmarkes und diese wahrschein¬
lich die Folge der erlittenen Misshandlung gewesen. Zwei andere vom Gerichte
befragte Aerzte erklärten, das Kind sei an Obstipation gestorben. Nun wandte
»ich das Gericht an die Fakultät und fragte, was die eigentliche Todesursache
gewesen sei und ob der Tod mit der Misshandlung im Causalnexus stehe.
Die Fakultät antwortete, die Todesursache sei wegen der Mangelhaftigkeit
des Obductionsprotokolles nicht mehr sicher zu ermitteln; ein ursächlicher Zu¬
sammenhang zwischen der tödtlichen Erkrankung, deren Krankheitsbild am ehe¬
sten einer acuten Affection des Rückenmarkes und seiner Häute entspreche, und
der Misshandlung sei zwar nicht auszuschliessen, jedoch nicht mit Sicherheit oder
Wahrscheinlichkeit zu behaupten, da nach den Acten andere Ursachen für das
Auftreten einer Rückenmarkskrankheit nicht sicher ausgeschlossen werden können.
Albin Haberda, Plötzlicher Tod im Raufhandel, Verdacht auf ge¬
waltsame Tödtung. Wiener klin. Wochenschr. 1896. No. 31.
Ein 19jäbriger Mechanikergehilfe provocirte einen Krämer in dessen Ver¬
kaufsladen, es kam zu einer Rauferei, während welcher ersterer zusammenstürzte
und in wenigen Augenblicken verschied. Der Krämer entfloh, wurde aber ding¬
fest gemacht und wegen Verdachtes auf Todtschlag in Haft genommen.
Bei der Section des Verstorbenen fand H. ausser kleinen Hautabschürfungen
am linken Arme, die agonal beim Zusammenstürzen entstanden sein konnten, keine
Verletzungen, dagegen leichtes Glottis- und Lungenödem, Ecchymosen an Herz
und Lungen, flüssiges dunkles Blut, ein dilatirtes Herz, enge Aorta mit Intima¬
verfettungen, grosse Lymphdrüsen, grosse, follikelreiche Milz und einen grossen
Thymusrest. Das Gutachten ging dahin, dass keine Zeichen eines gewaltsamen
Todes gefunden wurden und dass der Verstorbene, welcher mit einer Constitutions¬
anomalie (Status thymicus) behaftet war, offenbar infolge der mit der Rauferei
verbundenen psychischen Aufregung und der durch die körperliche Anstrengung
veranlassten Erregung der Herzthätigkeit und Ueberanstrengung der Herzkraft an
Erlahmung des Herzens unter raschem Eintritte von Lungen- und Glottisödem ge¬
storben ist, wobei seine krankhafte Constitution von wesentlichstem Einflüsse auf
den plötzlichen Eintritt des Todes war. Das Verfahren wurde eingestellt, zumal
Zeugen des VorfaUes aussagten, der Verstorbene hätte alle Schläge parirt und sei
nicht getroffen worden.
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UMIVERSITY OF IOWA
172 Besprechungen, Referate, Notizen, amtliche Mittheilungen.
ln der linken Paukenhöhle befand sich in diesem Falle etwas Blut, die
Schleimhaut war hämorrhagisch infiltrirt; ein Befund, der nicht auf ein Kopftrauma
bezogen werden konnte, da er sich auch bei mechanischer Erstickung und auch
bei unter Erstickungserscheinungen und unter Blutstauung erfolgendem raschen
natürlichen Tode findet.
S. V. Basch, Oer plötzliche Herztod. Wiener med. Blätter. 1896. S. 1 ff.
Oer im Experimente durch Vagusreizung bedingte Herzstillstand geht beim
gesunden Individuum nicht in Herztod über, wohl aber kann es an einem kranken
Herzen, das in seiner Ernährung gelitten hat und dessen Muskel bereits degene-
rirt ist, während einer Vaguspause, da kein Blut dem Herzen zufliesst, zum dauern¬
den Herzstillstände kommen. So kann plötzliche Auftreibung des Magens und der
Gedärme zu reflectorischor Vagusreizung und zum Herztod führen.
Oer Herzstillstand, den Muscarin und Nicotin bewirken, ist kein dauernder.
Oagegen kann man durch Oigitalis beim Thiere dauernden Herzstillstand erzielen,
ebenso durch directe elektrische Reizung des Herzens. Den gleichen Effect hat
das Abklemmen der Art. coronaria. Aus gleicher Ursache kommt es bei Angina
pectoris nicht selten zum plötzlichen Tode, oft so rasch, dass kein Lungenödem
gefunden wird. Möglicherweise giebt es auch beim Menschen verschiedene Typen
des Herztodes, sicher ist, dass dieser nicht immer in gleicher Weise verläuft. Es
wäre von grosser Wichtigkeit, wenn es möglich wäre, diejenigen Fälle, wo der
Herzstillstand auch Aufhören der Erregbarkeit des Herzmuskels bedeutet, von jenen
zu trennen, in denen die Erregbarkeit des Herzfleisches noch nicht erloschen ist.
In letzteren Fällen wäre es nicht undenkbar, das Herz aus seiner diastolischen
Ruhe wieder zu erwecken.
G. Scheff, Ueber Fraoiuren der Kehlkopfknorpel auf Grund experi¬
menteller Versuche. Wiener med. Wochenschr. 1896. S. 717 ff.
Ein 24jähriger Kutscher wurde durch einen Hufschlag an der Vorderseite
des Halses verletzt, zeigte ausser Quetschwunden am Kinn ein fast den ganzen
Körper einnehmendes Emphysem und hochgradigste Athemnoth. Während der
vorgenommenen Tracheotomie starb er. Die Section ergab einen Abriss der linken
Schildknorpelplatte vom Ringknorpel mit Einreissung der Knorpelhaut und der
Schleimhaut und einen isolirten Riss am rechten wahren Stimmband. Durch
Leichenexperimente überzeugte sich Scheff, dass häufiger Brüche des Schild¬
knorpels als solche des Ringknorpols entstehen, dass letztere selten isolirt sind,
sondern meist mit ersteren sich vergesellschaften. Auch die Aryknorpel und ins¬
besondere die Stimmbänder können participiren an den Kehlkopfverletzungen.
Theilweise ossificirte Knorpel brechen leichter als gar nicht ossificirte und die
meiste Widerstandsfähigkeit besitzen die gänzlich verknöcherten Knorpel, wie sie
in der Regel im hohen Alter zu treffen sind (? Ref.).
Josef Märer, Circulares, nahezu totales Abreissen der Vagina. All¬
gemeine Wiener med. Zeitung. 1896. S. 418.
Eine 29jährige Frau, die bei der ersten Entbindung vor 6 Jahren einen bis
an das Rectum reichenden Darmriss acquirirte, der erst 4 Jahre später durch
Digitizeit by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Besprechungen, Referate, Notizen, amtliche Mittheilungen. 173
Colpoperineoplastik geheilt wurde, erlitt bei ihrer zweiten Entbindung eine quere,
fast vollständige Abreissung der Vagina unmittelbar hinter dem Introitus, mit
starker Retraction der hinteren Vaginalwand, Blosslegung des perirectalen Gewebes
und beträchtlicher venöser Blutung. Primäre Vereinigung der Wundränder er¬
zielte Heilung.
Karl Soehla, Ueber die Einwirkung des Thymussaftes auf den Blut¬
kreislauf und über die sogenannte Mors thvmica der Kinder. Wie¬
ner med. Blätter. 1896. No. 46 ff.
Die Injection des wässerigen Extractes der frischen oder getrockneten Thy¬
mus verschiedener Tbiere und des Menschen bewirkt beim Hunde eine Depression
des Blutdruckes und Acceleration des Herzpulses, welche letztere länger andauert
als die Blutdrucksenkung, und durch directe Einwirkung «auf das Herz bedingt ist,
doch nur dann deutlich auftritt, wenn der Blutdruck nicht unter ein gewisses
Maass absinkt. Wahrscheinlich beruht die Blutdrucksenkung auf einer vorüber¬
gehenden Schwächung der vasoconstrictorischen Centren. Nach wiederholten Ex-
Iractinjectionen starben die Thiere. Die Section wies Dilatation des rechten Her¬
zens, Ecchymosen an der Pleura, zuweilen Lungenödem nach. Das Blut war
schwerer gerinnbar.
Die Toxicität des Thymussaftes legt die Verinuthung nahe, ob nicht der so¬
genannte Thymustod der Kinder im Zusammenhänge mit einer toxischen Wirkung
stehen könnte, welche intra vitam die in grösseren Thymen erzeugte grössere Menge
von Thymussaft bewirken könnte. Der Verfasser weist auf die Analogie des Sec-
tionsbefundes bei seinen Thieren und bei plötzlich verstorbenen Kindern mit
grossen Thymusdrüsen hin und meint, es sei wahrscheinlich, dass das Asthma
thymicum und die Mors thymica auf einer „Hyperthymisation“ des Blutes beruhen,
welche durch Lähmung derVasoconstrictoren zum Tode führt. (Für die Aetiologie
des Laryngospasmus bei lymphatischen Kindern hat Esch er ich im vergangenen
•lahre eine im Wesen gleiche Theorie aufgestellt. Ref.)
Demetrio Galatti, Zur prognostischen Bedeutung des Status lyin-
phaticus der Kinder. Wiener med. Blätter. 18%. No. 50.
Im Anschlüsse an den Fall Langerhans theilt G. Fälle mit, die zeigen,
mit wie schweren Erscheinungen Kinder, die an Status lymphaticus leiden, auf
geringfügige Eingriffe reagiren. Ein 15 Monate altes Kind kam wegen Kopfeczem
in Behandlung. Es wurden Umschläge mit verdünnter essigsaurer Thonerde ver¬
ordnet, in der Nacht darauf verstarb das Kind unter Convulsionen. Die Section
zeigte Hirnödem als letzte Todesursache. Bei einem 4jährigen Kinde bildete sich
unter Fieber ein Belag an den Tonsillen aus, der an Ausdehnung zunahm. Es
wurde eine Heilseruminjection gemacht, nach der das Kind sehr unruhig wurde.
10 Stunden danach starb es, 36 Stunden nach Beginn der Erkrankung; eine Sec¬
tion wurde nicht gemacht. G. glaubt nicht, dass die Diphtherie den raschen Tod
verursachte, sondern die krankhafte Constitution in Verbindung mit der Injection.
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UMIVERSITY OF IOWA
174 Besprechungen, Referate, Notizen, amtliche Mittheilungen.
Alfred Sänger ’s auf Beobachtungen aus dem Allgemeinen Krankenhause
zu Hamburg-St. Georg gegründete Schrift: Die Beurtbeilung der Nervenerkran¬
kungen nach Unfall (Stuttgart 1896) giebt zunächst einen kurzen historischen
Ueberblick über die Entwickelung der Lehre von der traumatischen Neurose.
Weiter folgen Untersuchungen an gesunden und kranken Arbeitern, die nie einen
Unfall erlitten hatten, auf Verhalten des Gesichtsfeldes, der Sensibilität, der
Sehnenreflexe und der Herzaction. Hierbei fand Sänger Einengung des Ge¬
sichtsfeldes bei 6,7 pCt., Herabsetzung der Sensibilität meist an den Extremi¬
täten, mitunter am unteren Rücken und Kinn bei 4 pCt. Steigerung der Kniereflexe
sehr häufig, Pulsanomalien wiederholt. Diese Beobachtungen erscheinen nicht
auffallend, da eine Reihe anderweitiger Schädlichkeiten, die durch ihre Häufigkeit
hier eine erhebliche Rolle spielen, ähnliche nervöse Störungen hervorrufen, wie
sie für die Unfallneurosen als charakteristisch gelten. Sänger würdigt in dieser
Beziehung besonders den Alcoholismus, weiter dem Tabaksmissbrauch, die Sy¬
philis, die ererbte neuropathische Constitution, endlich Arteriosclerose, die in
der Hamburger arbeitenden Bevölkerung mit erschreckender Häufigkeit frühzeitig
auftritt.
Was die Frage anbetrifft, ob es pathognomonische Zeichen der Nervenerkran¬
kungen nach Unfall giebt, so hält Sänger gegenüber Strümpell’s neuerdings
verändertem Standpunkt bis zu einem gewissen Grade an der Objevität der Symp¬
tome fest. Er begründet dies damit, dass er bei gelegentlichen Untersuchungen
vollkommen arbeitsfähiger Männer, die früher einen Unfall erlitten hatten, aber an
denselben gar nicht mehr dachten und weder Rente bezogen noch Ansprüche auf
solche machten, mehrfach die Symptome der traumatischen Neurose entdeckte,
concentrische Gesichtsfcldeinengung, Hemianaesthesie und Anaesthesien anderer
Form, Steigerung der Sehnenreflexe und der vasomotorischen Erregbarkeit. Der
Befund erscheint Sänger auch insofern wichtig, da er beweist, dass nervöse
Störungen nach Traumen ohne psvschische Veränderungen Vorkommen — wofür
auch die Erfahrungen aus den Kriegen sprechen — ferner dass Menschen mit
hochgradigen nervösen Anomalien vollkommenes Wohlbefinden und vollo Arbeits¬
fähigkeit zeigen können. Das macht es wahrscheinlich, dass die psychischen Ver¬
änderungen bei traumatischer Neurose von den nervösen unabhängig sind und mit
dem Unfall in keinem directen Zusammenhänge stehen.
Sänger ist geneigt, für diese psychischen Erscheinungen und ihre Häufig¬
keit die Unfallversicherung, die Aussicht auf Rente und die so erzeugten Strüin-
peil’sehen „Begehrungsvorstellungen“ verantwortlich zu machen. Er führt als
Beweis eine Reihe von schweren Unfällen an, die zum Theil auch mit starkem
Schreck, mit Erschütterung des ganzen Körpers verbunden waren, die aber nie zu
Neurasthenie, wie zu psychogener Erkrankung führten, weil — oin Moment, auf
das schon früher Page aufmerksam gemacht hat — die sichtbaren äusserlichen
Verletzungen von vornherein die Gewährung einer Rente sichern und einen Kampf
um dieselbe ersparen; ferner eine Anzahl schwerer Unfälle bei besitzenden nicht
der Versicherungspflicht unterliegenden Personen, sowie bei Soldaten, bei denen
nervöse Erscheinungen entweder ganz fehlten oder bald verschwanden, jedenfalls
nie so hartnäckig blieben wie in den gewöhnlichen Fällen der traumatischen Neu¬
rose. Immerhin scheint er, wieRef. glaubt mit vollem Recht, auch den hypochon¬
drischen, mitunter durch ungeschickten ärztlichen Zuspruch suggerirten, ängstlich
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Besprechungen, Referate, Notizen, amtliche Mittheilungen.
175
erregenden Vorstellungen und dem direct beim Trauma erfolgenden psychischen
Schreck eine gewisse Bedeutung zu belassen. Bezüglich der Simulation betont der
Verf. die Möglichkeit der Entdeckung vorgetäuschter Gesichtsfelddefecte und Anä¬
sthesien und giebt einige, nichts Besonderes bietende Beispiele von unberechtigten
oder übertriebenen Rentenaussprüchen, besonders auf Grund der Simulation eines
ursächlichen Zusammenhanges älterer Störungen mit dem Trauma.
Die Prognose der traumatischen Neurosen hält Verf. nicht für so ungünstig,
wie er denn die Prognose der functionellen Neurosen überhaupt etwas optimistisch
aufzufassen scheint. Er hebt besonders den vortheilhaften Einfluss der Arbeit
hervor und macht nähere berücksichtigungswerthe Vorschläge für die Errichtung
eines — bekanntlich schon mehrfach befürworteten — Arbeitsnachweises für solche
Halbinvaliden. Auch die Arbeitsfähigkeit dieser nervös Erkrankten hält er nicht
für so hochgradig beschränkt, wie es meist geschieht. Er bringt Beispiele aus
seiner Praxis, dass Personen mit anderweitig bedingten schweren functionellen
Neurosen, Künstler, Kaufleute, Beamte trotzdem ihren aufregenden Beruf voll er¬
füllten. Um sichere Grundlagen für die Begutachtung in Zukunft zu gewinnen,
empfiehlt Sänger endlich die Aufnahme eines Status des Nervensystems bei jedem
in eine Kasse eintretenden Arbeiter. Str.
Grönouw, Anleitung zur Berechnung der Erwerbsfähigkeit bei
Sehstörung. Wiesbaden, Verlag von J. P. Bergmann, 18%.
Grönouw hat, wie bereits vor ihm Zehender, Heddäus und besonders
Magnus, versucht, einfache Formeln aufzustellen, nach welchen sich die Berech¬
nung der Erwerbsfahigkeit bei Sehstörungen ermitteln lässt. Selbstverständlich
haben diese Formeln nicht den Werth absoluter Richtigkeit, da bei der Ab¬
schätzung mit einer Anzahl vonCoefficienten zu rechnen ist, die sich nie in mathe¬
matische Formeln zwingen lassen und die von Fall zu Fall bei der jedesmaligen
Berechnung einer Rente in Anschlag gebracht werden müssen. Immerhin bleiben
noch gewisse Constanten übrig. Zu diesen gehört Se die erwerbliche Sehschärfe
[diese ist nicht gleich der wissenschaftlichen] und P das periphere Sehen, so dass
die Formel lautet
e (Erwerbsfähigkeit) = Se . P.
Die Berechnung der Se sowohl für das einzelne Auge wie für das binoculare
Sehen, für Berufsarten mit höheren und geringeren Ansprüchen an das centrale
Sehen, die Berechnung der P. etc. muss im Allgemeinen Theil des Originals
nachgelesen worden. Die im 2. speciellen Theil der Arbeit gegebene praktische
Anweisung sowie die angefügten Tabellen, aus denen man schnell jeden erdenk¬
lichen Fall von Verminderung der Sehschärfe und des peripherischen Sehens
leicht absehen kann, sind dann leicht verständlich. — Die ohne Aufwand von
mathematischen Formeln klar und verständlich geschriebene Arbeit ist für den
Augenarzt ein schätzenswerther Rathgeber. Lehmann (Berlin.)
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UMIVERSITY OF IOWA
176
Besprechungen, Referate, Notizen, amtliche Mittheilungen.
von Strümpell, Ueber einen Fall von retrograder Amnesie nach
traumatischer Epilepsie. Deutsche Zeitschrift für Nervenheilkunde.
VIII. 1.
Alzheimer, Ueber rückschreitende Amnesie bei der Epilepsie.
Allgem. Zeitschrift für Psychiatrie LIII. 4.
Finkeistein, Dementia acuta in Folge von Gaz-pau vre-Vergiftung.
Jahrbücher für Psych. und Neural. XV. 1.
Die sog. retrograde Amnesie, insbesondere die retrograde Amnesie im engem
Sinne, d. h. die zeitlich begrenzte retrograde Amnesie ist in den letzten Jahren
wiederholt Gegenstand der Untersuchung gewesen. (Möbius, Wagner,Wollen¬
berg u. A.). Sie ist beobachtet nach schweren Gehirnerschütterungen, Erhän-
gungsversuchen, rein psychischen Traumen (Schreck u. s. w.), seltener nach
Vergiftungen und acut infectiösen Krankheiten (Typhus etc.). Trotz seiner viel¬
fachen Bearbeitung ist aber das Thema keineswegs vollständig erschöpft, und ist
bis jetzt noch jede neue sichere Beobachtung vom hohem Werth.
Die Strümpell’sche Mittheilung betrifft einen bis dahin gesunden, erblich
nicht belasteten, ca. 44 Jahre alten Oeconomen, bei dem 2 Tage nach einem ohne
weitere Schreckwirkung verlaufenden Stoss gegen den Kopf gehäufte (5) epilep¬
tische Anfälle erstmalig sich eingestellt hatten. Am Tage nach dem Auftreten der
Krämpfe entwickelte sich von einer kleinen gelegentlich dos Unfalles entstandenen,
nicht weiter beachteten Kopfwunde aus ein etwa 8 Tage lang dauerndes, mit
schweren Gehirnerscheinungen einhergehendes Erysipel. Nach eingetretener Ge¬
nesung stellte sich heraus, dass dem Pat., der am Tage nach dem Unfall wohlauf
und bei vollem Bewusstsein gewesen war, nicht nur das Gedächtniss für die Zeit
seiner Erkrankung an dem Erysipel entschwunden war, sondern dass er auch die
Erinnerung für das Auftreten der Krampfanfälle, sowie für den der Krankheit
vorausgehenden Zeitabschnitt von 3—4 Monaten verloren hatte. Eine
Rückkehr des Gedächtnisses für diese Zeit ist auch seither (ca. 2 Jahre nach dem
Unfall) nicht erfolgt; nur 2 traumhafte Erinnerungen sind aus derselben erhalten
geblieben.
In dem berichteten Falle handelt es sich, wie Str. ausführt, zweifellos um
eine rotrograde Amnesie nach Epilepsie, nicht um eine solche nach Trauma. Denn
sie schloss sich nicht unmittelbar an die Kopfverletzung, sondern erst an die "2
J age später auftretenden epileptischen Anfälle an. Ihre beträchtliche zeitliche
Ausdehnung erklärt sich zum Theil wohl durch das Hinzukommen der erysipela-
tösen Infection, ohne dass diese indess die epileptischen Anfälle hervorgerufen
hätte, wie daraus erhellt, dass auch späterhin noch epileptische Insulte sich ein¬
gestellt haben.
Die Genese der retrograden Amnesie anlangend, so führt Str. aus, dass alle
organisch bedingten Gedächtnisstörungen darauf beruhen, dass die sog. inne¬
ren Gedächtnisszustände entweder von vornherein gar nicht mehr entstehen
können oder dass sie zwar gebildet, aber wieder verschwunden sind oder endlich,
dass sie zwar bestehen, aber gar nicht mehr oder doch nur erschwert in das Be¬
wusstsein übergeführt werden können. Unter inneren Gedächtnisszuständen
versteht er bestimmte, in den betheiligten Ganglienzellen beim Bewusstwerden
äusserer Eindrücke zurückgebliebene innere Zustände, welche je nach Häufigkeit
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Besprechungen, Referate, Notizen, amtliche Mittheilungen.
177
und Intensität des Eindrucks stärker oder schwächer werden. Sie können auch
latent fortbestehen und auf associativem Wege geweckt und zur Bildung weiteren
Bewusstseinsinhalts verwerthet werden. Dass in seinem Falle eine Störung der
associativen Thätigkeit vorliege, glaubt Str. nicht. Eine plötzliche Aufhebung
aller associativen Verbindungen für sämmtliche Gedächtnisseindrücke sei kaum
denkbar, auch spreche das Erhaltenbleiben zweier vereinzelter traumhafter Er¬
innerungen dagegen. Er nimmt deshalb an, dass in Folge der bestehenden
Gehirnschädigung die besonderen inneren Zustände aus dem bestimmten, der
Erkrankung vorausgehenden Zeitabschnitt unbrauchbar und nicht mehr reducirbar
wurden.
Von dieser echt organischen retrograden Amnesie, wie sie nach Strüm¬
pei l’s Annahme in reinster Form, wenn auch nicht gerade häufig bei Epilepsie
beobachtet werden, sind die retrograden Amnesien hysterischen Ursprungs
streng zu unterscheiden. Bei diesen, zu denen ausser den Amnesien nach rein
psych. Traumen (Schreck) wahrscheinlich auch eine Anzahl der nach Erhängungs-
und sonstigen Selbstmordversuchen (Vergiftung durch Kohlenoxydgas u. s. w.)
beobachteten retrograden Amnesien zu rechnen sind, handelt es sich nicht um
einen Verlust der Gedächtnisseindrücke, was schon daraus hervorgeht, dass die
anscheinend verlorene Erinnerung durch hypnotische Suggestion in vielen Fällen
wieder wachgerufen werden kann. Sie beruhen vielmehr auf einer Hemmung der
Reproduction gewisser Vorstellungen, wahrscheinlich in Folge einer krankhaft
fixinen Vorstellung, zufolge deren der Hysterische sich der betr. Zeit nicht er¬
innern kann oder will. Mit Beseitigung der hemmenden Vorstellung ist auch die
Amnesie gehoben. Eine hysterische Amnesie ist sonach heilbar,
eine organische ist dies häufig nicht. Die Eigenthümlichkeit der
Genese der retrograden hysterischen Amnesie kann ihre Unterscheidung von
einer simulirten selbstverständlich zu einer sehr schwierigen machen.
ln den 3 Alzheimer’scben Beobachtungen handelt es sich um retrograde
Amnesie bei genuiner bezw. (in dem 3. Falle) Alcohol-Epilepsie und zwar
trat sie in allen Fällen nach gehäuften epileptischen Krämpfen mit konsekutivem
Verwirrtheitszustand ein. Sie erstreckte sich in dem ersten Falle auf einen Zeit¬
raum von 1 Va Jahren, im 2. u. 3. auf einen solchen von 14 Tagen. In sämmt-
lichen Fällen kehrten die verlorenen Erinnerungen im Gegensatz
zu der Strümpell’schen Beobachtung zurück; im ersten Fall, in
welchem sich der Hergang des Wiedererwachens der Erinnerung nicht genau fest¬
stellen liess, allmählich nach einigen Wochen und zuerst für den am weitesten
zurückgebliebenen Zeitabschnitt, im 2. u. 3. Falle aber plötzlich und zwar ca. 2
bezw. 3 Wochen nach Ablauf der epileptischen Bewusstseinstrübung. Bei der Be¬
sprechung seines ersten Falles hebt Alzh. hervor, dass die Amnesie seines
Epilektikers sich dadurch von der gewöhnlichen hysterischen Amnesie, an welche
sie vielleicht erinnern könne, unterscheide, dass sich die Hysterischen durch die
Amnesie gar nicht beunruhigt und in Folge dessen auch nicht bewogen fühlen,
das Vergessene durch Fragen zu ergänzen, während sein Epilektiker, der auch
sonst niemals Zeichen von Hysterie gezeigt hatte, im Gegentheil bei jeder Gelegen¬
heit darnach geforscht habe. Im Uebrigen betont er die Schwierigkeit einer Er¬
klärung der Genese der retrograden Amnesie. Vielleicht erkläre sie sich nach
Vierteljahreschr. f. ger. Med. Dritte Folge. XIV. 1 . 19
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
178
Besprechungen, Referate, Notizen, amtliche Mittheilungen.
Digitized by
Analogie jenes Bewusstseinsausfalls, welcher auch normalerweise bei Erwachen
aus tiefem Schlafe auf der Reise und noch deutlicher nach kurzen Ohnmächten
beobachtet werde. Hier vergehe auch oft eine, wenngleich nur ganz kurze Zeit,
ehe die vorausgegangenen Ereignisse wieder in unser Bewusstsein zurückgerufen
werden könnten. 3 Momente wirkten hierbei mit; 1) die vorausgehende Bewusst¬
seinsunterbrechung; 2) eine noch fortbestehende leichtere Bewusstseinstrübung
und 3) die leichtere Auslüschbarkeit der jüngsten Erinnerungen.
Mit Recht betont Alzli., dass die Unterscheidung der retrogradon Amnesie
bei Epilepsie, die er übrigens nicht für sehr selten hält, von anderweitigen, auf
epileptische Dämmerzustände zu beziehenden Erinnerungsdefecten nicht immer
leicht sei, namentlich dann nicht, wenn die Zeit, für welche eine retrograde
Amnesie besteht, eine kurze sei, so dass ein präepileptischer Dämmerzu¬
stand nicht ausgeschlossen werden könne. Sie sei desshalb nur dann anzunehmen,
wenn der Nachweis erbracht sei, dass der Kranke in der Zeit, für welche
die Erinnerung geschwunden sei, keinerlei Anzeichen einer Bewusstseinsstörung
erkennen lasse. (Ein Nachweis, der in den meisten Fällen unmöglich sein
wird. Ref.)
Die Finkeistein’sche Beobachtung betrifft eine im Anschluss an eine Ver¬
giftung durch Gaz-pauvre entstandene retrograde Amnesie.
Durch einen unglücklichen Zufall hatte ein Arbeiter gelegentlich der Repa¬
ratur eines Reservoirs einige Minuten lang Gaz-pauvre, eine durch Durchleiten
von Luft über erhitztes Anthracit gewonnene, hauptsächlich Kohlenoxyd, Stick¬
stoff und Kohlensäure enthaltende, zu technischen Zwecken verwendete Gas¬
mischung eingeathmet. Er wurde in komatösem Zustande hcrvorgeholt, während
ein anderer Arbeiter sofort erstickt war. Nach 3 Tagen zur vollen Besinnung ge¬
langt, wurde er nach Hause entlassen, woselbst Erscheinungen einer psychischen
Störungbemerkbar wurden, die allmählich zunehmend, seine erneute Unterbringung
ins Hospital nothwendig machten. Hier zeigte er das Bild einer akuten stuporösen
Amentia, die nach etwa 14täg. Bestehen in Heilung endete. Sowohl für die Zeit
der psychischen Erkrankung, wie für die dem Unfall vorausgehenden 2—3 Stunden
fehlte ihm jegliche Erinnerung (retrograde Amnesie). Im Laufe der Psychose
traten paretische Erscheinungen im Gebiete des linken N. facialis ein, die all¬
mählich, der Besserung des psychischen Zustandes entsprechend, zurückgingen;
ebenso schwand mit zunehmender Besserung die während der Erkrankung be¬
stehende harnsaure Diathese.
Leider enthält die Arbeit keine Mittheilung darüber, ob nicht etwa ein
Wiederauftauchen der Erinnerung für die verlorenen Bewusstseinseindrücke statt¬
gefunden hat, ein Punkt, dessen Kenntniss um so wichtiger wäre, als nach Lage
des Falles rein hysterische Momente nicht anzunehmen sind. Auch vermissen wir
eine Blutuntersuchung, die bei der wohl mit Recht als eine Kohlenoxydvergiftung
gedeuteten Erkrankung, kaum resultatlos gewesen sein würde.
Kortum (Herzberge).
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Besprechungen, Referate, Notizen, amtliche Mittheilungen.
179
Ziehen, Die Erkennung und Behandlung der Melancholio in der
Praxis. (Sammlung zwangloser Abhandlungen aus dem Gebiet der Nerven-
und Geisteskrankheiten. Herausgeg. von Dr. Alt. Heft 2 u. 3.)
Greidenberg, Zur Lehre über die acuten Formen der Verrücktheit.
(Allgem. Zeitschrift für Psych. 53. Bd. 4. Heft.)
1) Jeder praktische Arzt wird die Ziehen’&che Abhandlung über Melan¬
cholie mit Interesse und Nutzen lesen. Sie ist klar geschrieben, erschöpft den
Gegenstand, soweit dabei rein ärztliche Ziele in Frage kommen, hinreichend und
berücksichtigt namentlich auch die Diagnose und Therapie in eingehendster Weise.
Z.’s Anschauungen über die nosologische Stellung der Melancholie weichen von
der heute wohl ziemlich allgemein acceptirten nicht ab. Je nachdem die Psychose
nur in primärer Depression und Associationshemmung mit Arbeitsunlust und Un¬
schlüssigkeit sich äussert oder aber mit kontinuirlicher oder zeitweilig auftretender
heftiger Angst und secundären Wahnvorstellungen (der Versündigung, Ver¬
armung oder hypochondrischen Ideen) einhergeht, unterscheidet er die
hauptsächlich bei Männern vorkommende melancholische Verstimmung (Mel. levis,
Hypomelancholie) und die Mel. gravis. s. mel. sens. str., an welcher verhältniss-
mässig viel mehr Frauen erkranken. Die übliche Unterscheidung zwischen Mel.
passiva, attonita und agitata behält er bei. Ausserdem führt er noch eine Reihe
von Varietäten, die apathische, hallucinatorische, neurasthenische und hysterische
Varietät an und bespricht zum Schluss die periodische Melancholie. Ein ausführ¬
licher Abschnitt ist der differentiellen Diagnose, insbesondere gegenüber der
Dementia paralytica, dann der Paranoia chronica und Paranoia acuta hallucin.
sowie der Neurasthenie und Dementia senilis gegenüber gewidmet, bezüglich dessen
Einzelheiten wir auf das Original verweisen müssen. — Die Prognose der Mel.
ist im Allgemeinen eine sehr günstige. Indess sind Recidive nicht selten. Neben
der Erblichkeit spielt in der Aetiologie die Gemütbserscbütterung die Hauptrolle.
Praedilectionszeit der Erkrankung: 4. und 5. Decennium beim weibl. Geschlecht,
die Zeit vom 45.—55. Jahre beim männlichen. — In allen Fällen, in welchen
irgendwie erheblichere Angstaffecte bestehen, ist wegen der Selbstmordgefahr die
alsbaldige Ueberführung in eine öffentliche oder private Irrenanstalt nothwendig,
es sei denn, dass ganz ausnahmsweise günstige äussere Verhältnisse vorliegen.
Die Behandlung bis zur Einlieferung in die Anstalt hat ihr Augenmerk vor Allem
auf Verhütung des Selbstmordes zu richten. (Unterbringung in einen Parterreraum,
Entfernung von schneidenden Gegenständen, stete Ueberwachung durch einen
Pfleger etc.). Ausserdem ist die provisorische Einleitung der später in der Anstalt
fortzuführenden Behandlung nothwendig, für welche Z. Bettruhe, Opium (Extr.
opii am besten innerlich) und hydropathische Einpackungen empfiehlt. (Ob die
beiden letztgenannten Mittel thatsächlich von solcher Heilkraft sind, wie Z. .an¬
nimmt, bleibe dahingestellt. Ref.)
Die Behandlung der Hypomelancholie ist zu Hause durchführbar, wenn der
Arzt psychiatrisch geschult ist und die Verhältnisse nicht ungünstig liegen.
Manchmal erweist sich Unterbringung in eine andere Familie oder eine offene
Nervenanstalt von Vortheil. Ist kein geschulter Arzt zur Hand, so zaudere man
nicht mit der Ueberführung in die Irrenanstalt.
2) Ausser dem remittirenden und intermittirenden Typus der akuten hallu-
12*
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UMIVERSITY OF IOWA
Digitized by
180 Besprechungen, Referate, Notizen, amtliche Mittheilungen.
cinatorischen Paranoia (Westphal, Hertz, Botkin, Korsakow u. A.) hat
Greidenberg noch einen rekurrirenden Typus derselben zu beobachten Ge¬
legenheit gehabt. Die betreffenden akuten Psychosen setzten sich aus einzelnen,
den Character der Amentia (i. S. Meyer’s) tragenden, durch inkohärente De¬
lirien, grosse Unruhe, Verwirrtheit und Halucinationen des Gesichts und Gehörs
,gekennzeichneten Anfällen zusammen, welche von einander durch vollkommene
normale Intervalle getrennt waren. Die einzelnen Anfälle liefen binnen wenigen
Tagen oder binnen 1—2 Wochen, seltener erst nach längerer Zeit ab. Nach Dauer
und Intensität waren sie auch in ein und demselben Palle verschieden. Ihre Zahl
betrug bei den verschiedenen Krankheitsfällen zwischen 2 u. 5. Die Dauer der
Intervalle schwankte zwischen 5 Tagen und ca. 3 Wochen. Unter 350 Fällen
von akuter hall. Paran. hat G. ein derartiges Verhalten sieben Mal beobachtet.
Die Krankheit betraf beide Geschlechter fast in gleicher Zahl (4 M. 3 Fr.) und
ausschliesslich jugendliche Individuen. (Jüngster Patient 16, ältester 21 J.) Erb¬
liche Veranlagung war in 3 Fällen nachweisbar. Alle gingen in Heilung über.
Die Dauer der Gesammierkrankung schwankte zwischen 2 und 3 Monaten.
Kort u m (Herzberge).
Lewald, Ueber öffentliche Trinker-Heilanstalten. (Separat-Abdruck
aus Beiz’s „Irrenfreund“. 18%. No. 7 u. 8.)
ln einer Besprechung der in letzter Zeit häufiger und von beachtenswerther
Seite ventilirten Frage, ob nicht auch für Deutschland nach dem Vorgang des
Cantons St. Gallen, verschiedener nordameriksnischer Staaten und neuerdings des
niederösterreichischen Landtages die Errichtung öffentlicher Trinkerheilanstalten
angezeigt erscheine, gelangt. Lewald auf Grund der von ihm in der Irrenanstalt
Herzberge zu Lichtenberg bei Berlin gewonnenen Anschauungen zu demErgebniss,
dass dieselbe sich vorläufig noch nicht empfehle, vielmehr von der
Weiterentwickelung der gesetzlichen Bestimmungen abhängig
sei. „Ob und in welche Beziehungen diese event. Anstalten dann zu den Irren¬
anstalten zu setzten sind, würde sich erst später übersehen lassen. Zur Zeit sind
zur erfolgreichen Behandlung dieser Kranken die Irrenanstalten geeignet. Nach den
bisherigen Erfahrungen kommen dafür besonders solche Abtheilungen der Irren¬
anstalten in Frage, welche einen weniger geschlossenen Character haben (Land¬
häuser, Colonien), und die die Beschäftigungsmöglichkeit in erster Linie berück¬
sichtigen, die also gewissermassen ein Trinkerasyl im Rahmen der Irrenanstalt
darstellen. Sollten sich aber beispielsweise aus äusseren baulichen Gesichtspunkten
noch schwerwiegende Gründe ergeben, die eine räumliche Trennung dieser Asyle
von den Irrenanstalten wünschenswerth oder nothwendig erscheinen Hessen, so
müsste immerhin das Hauptgewicht darauf gelegt werden, dass die Aufnahme der
Alcoholisten in diese Asyle nicht direct erfolgte, sondern durch Vermittelung der
Irrenanstalten, wie es in dem niederösterreichischen Gesetz zur Maxime erhoben
worden ist; denn cs ist ohne weiteres ersichtlich, dass die durchaus nothwendige
Individualisirung des einzelnen Falles nur von sackverständiger, also psychia¬
trischer Seite aus erfolgen kann, ebenso wie die Behandlung sich nach den
allgemeinen Grundsätzen der Psychiatrie zu richten hat.“
Kor tum (Herzberge).
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Besprechungen, Referate, Notizen, amtliche Mittheilungen. 181
Dietrich, Staat und Krankenpflege. Separat-Abdr. aus der Zeitschr. für
Krankenpflege.
In der sehr beachtenswerthen Arbeit erweckt Verf. von Neuem unser leb¬
haftes Interesse für das in seiner Bedeutung von den massgebenden Factoren
leider noch immer nicht genügend gewürdigte Gebiet der Krankenpflege. Bevor
er das zur Zeit vorhandene Krankcnpflegepersonal schildert, giebt er einen er¬
schöpfenden Abriss über dessen geschichtliche Entwicklung, die sich bis in die
ersten Anfänge des Christenthums zurückverfolgen lässt. Heutzutage lässt sich
das Krankenpflegepersonal je nach den Motiven, welche Pfleger und Pflegerinnen
veranlassten, einen an sich schweren, an Aufopferung und Entsagung reichen
Beruf zu wählen, in zwei Gruppen trennen. Diejenigen Personen, welche das rein
gewerbliche Interesse dazu trieb, verrichten gegen Entgelt von Fall zu Fall
Krankenpflegerdienste oder sind in Krankenhäusern, Irrenanstalten und Siechen-
häusern mit festem Gehalt angestellt. In dieser Gruppe haben nur wenige eine
geordnete Ausbildung und systematische Erziehung zu ihrem Berufe genossen.
Die andere Gruppe wird gebildet von solchen Personen, welche als Mitglieder von
Genossenschaften nnd Vereinigungen oder in Anlehnung an solche Vereinigungen
von diesen ihren Unterhalt empfangen und die Krankenpflege ohne Entgelt und
nur aus dem Verlangen ausüben, ihren kranken, gebrechlichen Mitmenschen zu
helfen. Zu dieser Gruppe gehören in erster Linie die Mitglieder der Vereinigungen
auf confessioneller Grundlage. Allen Angehörigen der zweiten Gruppe ist gemein¬
sam, dass sie eine sorgfältige, systematische Erziehung für die Krankenpflege,
eine theoretische und praktische Ausbildung in Krankenanstalten unter ärztlicher
Leitung genossen haben. Es ist nun begreiflich, dass die Nachfrage nach dem
rein gewerblichen Krankenpflegopersonal von Jahr zu Jahr geringer geworden ist,
während das Bediirfniss nach dem Personal der zweiten Gruppe alljährlich steigt.
Wenn nun die geistlichen Pflegegenossenschaften einen Mangel an verfügbarem
Personal zeigen, so ist dieser Mangel kein absoluter, sondern nur ein relativer,
durch die enorme Steigerung der Nachfrage bedingter.
Um ihm abzuhelfen und um zugleich auch solchen in Herzens- und Geistes¬
bildung geeigneten Jungfrauen und Frauen, welchen die klösterliche Gemeinschaft
der geistlichen Genossenschaften nicht sympathisch, andrerseits aber die Betä¬
tigung der Nächstenliebe Herzenssache ist, Gelegenheit zu geben, die Krankenpflege
nach der nötigen Vorbildung in zweckmässiger und organischer Weise ausüben
zu können, hat man Vereine vom rothen Kreuz etc. gegründet, welche in beson¬
deren Krankenpflegerinnenanstalten ihre Schwestern vom „rothen Kreuz“ oder
ihre Genossenschaftsschwestern in den eigenen Mutterhäusern ohne Rücksicht auf
die Confession aufnehmen, ausbilden und versorgen. Obwohl alle diese Vereine
sich recht erfreulich entwickelt haben, reichen sie mit ihren Fortschritten nicht
an die der geistlichen Genossenschaften heran. Wenn Verf. beide Arten der
Krankenpflege-Genossenschaften mit einander vergleicht, kommt er zu dem Er¬
gebnis, dass das geistliche Pflege-Personal, soweit der Durchschnitt derGesammt-
leistungen zur Beurtheilung steht, überlegen ist.
Die neuerdings wieder in den Vordergrund getretene Frage, ob männliches
oder weibliches Personal den Vorzug verdiene, beantwortet Verf. in gleicher Weise,
wie es alle erfahrenen ärztlichen Autoritäten thun, dass das Weib für die Pflege
Erkrankter geeigneter ist, Während der Kranke als ärztlicher Berather eine wenn
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
182
Besprechungen, Referate, Notizen, amtliche Mittheilungen.
Digitized by
auch menschenfreundliche, so doch immerhin energische männliche Persönlichkeit
fordert, erwartet er von denen, die ihn pflegen, die weiche, linde Hand, die zarte
Bewegung, die Sorgfalt in den kleinsten Handreichungen, das Aufgehen der eignen
Persönlichkeit in die Wünsche des Kranken, und das findet er nur beim Weibe.
Für die Zukunft sollte daher viel eher die Aufgabe der Frauen*
vereine sein, den Krankenpflegerinnenberuf zu einem angeneh¬
men, auskömmlichen und allseitig befriedigenden zu machen,
als die Erstrebung der Zulassung zu einzelnen gelehrten Be¬
rufen, welche doch nur wenigen Frauen eine befriedigende Thä*
tigkeit eröffnen wird.
Um nun die Kranken vor mangelhafter, unzureichender Behandlung seitens
der Krankenpfleger und Krankenpflegerinnen zu schützen, erheischt es die
Pflicht des Staates, dass er einen Befähigungsnachweis für Ausübung der Kranken¬
pflege verlange und diese Befähigung durch eine entsprechende Nachprüfung
controllire. Durch eine solche Maassregel würde das Personal, welches bei uns
für heute und in Zukunft überhaupt in Frage kommt, in der Frequenz nicht im
Mindesten beeinträchtigt, da sie ähnlichen Bestimmungen meistens schon jetzt
unterworfen sind. Getroffen werden allein diejenigen Personen, welche, ohne
eine genügende Vorbildung zu besitzen, die Krankenpflege als Gewerbe be¬
treiben, diese werden allmählich verschwinden und zwar nicht zum Nachtheil der
Krankenpflege.
Schliesslich möchte Ref. noch den Wunsch des Verf.’s eindringlich unter¬
stützen, dass auch die jungen Mediziner einen geordneten Unterricht in der
Krankenpflege geniessen sollten. Hier ist eine klaffende Lücke in unserer Fach¬
ausbildung, welche baldiger Abhülfe bedarf. Placzek (Berlin).
Notizen,
Gelegentlich der Brüsseler Weltausstellung werden daselbst im Sommer d. J.
zwei die Leser unserer Zeitschrift interessirende Congresse stattfinden: die „Con¬
ference internationale concernant les Services sanitaires et l’hygiene des chemins
de fer et de la navigation“ im September, und der „Congres international de mä-
decin legale“ in der Zeit vom 2.—7. August. Die uns zugegangenen Programme
beider Congresse sind sehr reichhaltig und betreffen Fragen von wesentlichster
Bedeutung. Nähere Auskunft über den Congress für gerichtliche Medicin giebt
Dr. Camille Moreau, Rue de la Gendarmerie 6, Charleroi, über die „Confe¬
rence“ Dr. J. de Lautsheere, Rue de l’association 56, Brüssel.
Am 28. Februar d. J. verstarb nach langem Leiden zu Krakau Dr. Leo von
Halban, bis vor Kurzem ordentlicher Professor der gerichtlichen Medioin an der
Jagellonischen Universität. Die Wissenschaft verliert in ihm einen Forsoher von
anerkanntem Ruf, unsere Vierteljahrsschrift einen warmen Freund, dem sie für
mehrfache werthvolle Beiträge — wir erinnern hier nur an seine vortreffliche Dar¬
stellung der Geschichte der Lungenprobe in Bd. 38 und 39, N. F. — zu dauern¬
dem Danke verpflichtet ist.
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Besprechungen, Referate, Notizen, amtliche Mittheilungen.
183
Mit dem laufenden Jahre beginnen zwei neue uns interessirende periodische
Zeitschriften in Italien zu erscheinen: die Rivista quindicinale di psicologia, psi-
chiatria, neuropatologia ad uso dei medici e dei giuristi, herausgegeben von den
römischen Vertretern der Psychiatrie E. S ci am an na und G. Sergi, redigirt
unter Mitwirkung von A.Giannelli, G. F. Montesano, A. Niceforo, G. Pa-
cetti, G. Pardo und B. Vespa von Sante de Santis (casa editrice flli. Ca¬
pa ccini, Via Sistina No. 22, Roma), und die Rivista di medicina legale e di
ginrisprudenza medica, herausgegeben von A. Severi, L. Acconci, P.E. Ben za,
A. Filippi, F. Marino Zuco und E. Morsolli, redigirt von L. Borri, G. Per¬
rand o und C. Rota (casa editrice Dr. Francesco Vallardi, Milano). Wir
wünschen unseren beiden (Kolleginnen den Erfolg, den die Namen ihrer Leiter uns
sicher zu verbürgen scheinen.
Der zweite Herausgeber dieser Zeitschrift ist von der Gesellschaft für ge¬
richtliche Medicin Belgiens zum Ehrenmitgliede ernannt worden.
Der Deutsche Verein für öffentliche Gesundheitspflege hält in den
Tagen vom 14. -17. September d. J. seine 22. Versammlung in Karlsruhe ab.
Tagesordnung:
Dienstag, den 14. Sept.: Mittheilungen über den Stand der Kehrichtverbren-
nung in Deutschland. Oberingenieur F. A. Meyer-Hamburg. — I. Die Bekäm¬
pfung des Alkoholmissbrauchs. Referent: Med.-Rath Prof. Dr. F. Tuczek-Mar¬
burg. — II. Vortheile und Nachtheile der getrennten Abführung der Meteorwässer
bei der Canalisation der Städte. Referenten: Hofrath Prof. Dr. A. Gärtner-Jena
und Baurath A. Herzberg-Berlin.
Mittwoch, den 15. Sept.: III. Die Nahrungsmittelfälschung und ihre Bekäm¬
pfung. Referenten: Oberbürgermeister Rümel in-Stuttgart und Prof. Dr. II.
ßeckurts-Braunschweig. — IV. Die Vorzüge der Schulgebäude-Anlagen im Pa¬
villon-System, durchführbar für die Aussenbezirke der Städte. Referent: Prof. H.
Chr. Nussbaum-Hannover.
Donnerstag, den 16. Sept.: V. Die Wohnungsdesinfection in wissenschaft¬
licher und practischer Hinsicht. Referenten: Prof. Dr. E. v. Es mar ch «Königs¬
berg und Oberbürgermeister Zweigert-Essen. — VI. Hygiene der Bäder und
Luftkurorte (Sommerfrischen) nnd Massregeln gegen Einschleppung und Verbrei¬
tung von Infectionskrankheiten. Referent: Geheimrath Dr. F. Battl ebner -
Karlsruhe.
Freitag, den 17. Sept.: Besuch von Baden-Baden. Besichtigung der Trink¬
halle, der staatlichen Badeanstalten und der Kläranlage für das Kanalwasser.
Spaziergänge in die Villenbezirke, auf das alte Schloss u. s. w.
Alles Nähere, die diesjährige Versammlung Betreffende, wird den Mitgliedern
mit den von den Herren Referenten aufgestellten Thesen oder Schlusssätzen Mitte
August mitgetheilt werden durch den ständigen Secretär Geh. Sanitäts-Rath Dr.
A. Spiess in Frankfurt a. M.
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
184
Besprechungen, Referate, Notizen, amtliche Mittheilungen.
Amtliche Mittheilungen.
Randerlass an die Königl. Regierungs-Präsidenten betr. Choleradiagnose.
In meinem Erlass vom 25. Juli d.Js. — M. 15535*) — hatte ich angeordnet,
dass in jedem choleraverdächtigen Falle im dortigen Bezirk, sobald nach dem Er¬
gebnisse der Untersuchung die Annahme eines wirklichen Cholerafalles berechtigt
erscheint, unverzüglich Untersuchungsmaterial an das hiesige Königliche Institut
für Infektionskrankeitcn einzusenden ist, und dass erst, nachdem von hier aus
das Ergcbniss der Untersuchung als positiv mitgetheilt worden, die Krankheit
amtlich als Cholera bezeichnet werden darf. Um Missverständnissen vorzubeugen,
bemerke ich, dass es sich hierbei nur um jeden ersten Fall von choleraverdäch¬
tiger Erkrankung an einem Orte handelte.
Da es sich indessen als durchführbar herausgestellt hat, das auch die Hygie¬
nischen Institute der Universitäten stets wirksames Choleraserum und cholera¬
immune Meerschweinchen vorräthig halten, erscheint es gerechtfertigt, in allen
denjenigen Fällen, in welchen die Untersuchung choleraverdächtigen Materials
im Hygienischen Institut einer Universität stattgefunden hat, von der Nach¬
prüfung der Choleradiagnose durch das Institut für Infektionskrankheiten Abstand
nehmen zu lassen.
Bei Untersuchungen, welche an anderen Stellen stattgefunden haben, behält
es dagegen bei meiner Verfügung vom 25. Juli d. Js. sein Bewenden, mit der
Massgabe jedoch, dass in diesen Fällen auch dann, wenn keine Cholerabakterien
gefunden worden sind, Untersuchungsmaterial zur Nachprüfung an das Institut
für Infektionskrankheiten oder an das nächstgelegene Hygienische Universitäts-
Institut einzusenden ist. Dies ist erforderlich, um das Nichterkennen eines
ersten Falles von Cholera an einem Orte mit Sicherheit zu verhüten.
Berlin, den 24. November 1896.
Der Minister der geistlichen, Unterrichts- und Medicinal-Angelegenheiten.
Bosse.
Runderlass an die Königl. Regierungs-Präsidenten betr. leprakranke
Schalkinder.
Ein Specialfall, in welchem im Nasenschleim eines leprakranken Schul¬
knaben Leprabacillen mikroskopisch nachgewiesen worden sind, giebt uns behufs
Verhütung von Ansteckungen Veranlassung, unter die im § 1 b der Anlage zu
unserer Rundverfügung vom 14. Juli 1884, betreffend die Schliessung von Schulen
bei ansteckenden Krankheiten, aufgezählten Krankheiten auch die Lepra (den
Aussatz) aufzunehmen. Die §§ 2—11 der gedachten Verfügung finden daher auch
auf die an Aussatz leidenden Schulkinder Anwendung, mit der Massgabe jedoch,
dass mit Rücksicht auf die lange Dauer und die anscheinende Unheilbarkeit
der Krankheit den Eltern und der Ortspolizeibehörde die Verpflichtung auf-
1) Vierteljahrsschr. f. gerichtl.Medicin u. öffentl. Sanitätswesen. Jahrg. 1896.
4. Heft. S. 453/454.
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Besprechungen, Referaie, Notizen, amtliche Mittheilungen. 185
zuerlegen ist, für den Unterricht der Kinder in anderer geeigneter Weise Sorge
zu tragen.
Berlin, den 19. Januar 1897.
Der Minister der geistlichen, Unterrichts- Der Minister
und Medicinal-Angelegenheiten. des Innern.
Bosse. I. A.: Braunbehrens.
Runderlass an die Königl. Regierungs-Präsidenten betr. die Dispensation
homöopathischer Arzneimittel.
Die Vorschriften des Reglements über die Befugniss der approbirten Medizi-
nal-Personen zum Selbstdispensiren der nach homöopathischen Grundsätzen be¬
reiteten Arzneimittel vom 20. Juni 1843 (G.-S. S. 305) haben vielfach die
Auslegung erfahren, dass Aerzte, welche die im § 3 des Reglements bezeichnete
Prüfung bestanden haben, schon auf Grund des erlangten Befähigungszeugnisses
sich zum .Selbstdispensiren homöopathischer Arzneimittel für berechtigt halten,
ohne hierzu die Erlaubniss des Ministers der geistlichen, Unterrichts- und Medi-
zinal-Angelegenheiten erhalten zu hacen. Dass diese Auslegung eine irrige ist,
ergeben die Vorschriften der §§ 2 und 3, welche das Recht, nach homöopathischen
Grundsätzen bereitete Arzneimittel selbst zu dispensiren, ausser von der durch
das Bestehen einer Prüfung nachzuweisenden Befähigung noch von einer beson¬
deren Erlaubniss des Ministers ausdrücklich abhängig machen. Wer ohne diese
Genehmigung homöopathische Arzneimittel selbst dispensirt, soll gemäss der
Bestimmung im § 8 daselbst von der Befugniss hierzu für immer ausgeschlossen
bleiben und ausserdem nach den allgemeinen Vorschriften über den unbefugten
Verkauf von Arzneien bestraft werden.
Indem ich Veranlassung nehme, die vorstehenden Anordnungen des Regle¬
ments erneut in Erinnerung zu bringen, bemerke ich zugleich, dass ich beabsichtige,
bei der Handhabung dieser Angelegenheit in Zukunft nach Massgabe der nach¬
stehenden Gesichtspunkte zu verfahren:
1. Denjenigen homöopathischen Aerzten, welche bisher ohne ministerielle
Erlaubniss homöopathische Arzneimittel selbst dispensirt haben, wird die Geneh¬
migung ohneWeiteres ertheilt werden, sofern nichtVerfehlungen des Antragstellers
gegen die medizinal-polizeilichen Vorschriften oder sonstige die Zuverlässigkeit
der Person in Frage stellende Hinderungsgründe eine Versagung erforderlich er¬
scheinen lassen.
2. Der Umstand, dass bei den vorhandenen Apotheken eines Ortes homöo¬
pathische Arzneiabgabestellen eingerichtet sind, bildet kein Hinderniss für die
Ertheilung der Genehmigung.
3. Beim Wechsel des Wohnortes des Arztes erlischt die Genehmigung nicht;
dagegen ist der Arzt verpflichtet, von dem Wechsel dem Regierungs-Präsidenten,
und, falls der Wohnort in den Bezirk einer anderen Regierung verlegt wird, auch
dem Präsidenten dieser Regierung Anzeige zu erstatten.
4. Die zur Zeit bestehenden Vorschriften über die Einrichtung und Beauf¬
sichtigung der ärztlichen Hausapotheken bleiben auch ferner massgebend (vgl.
die §§ 49, 50 der Vorschriften über Einriohtung und Betrieb der Apotheker etc.
vom 16. Dezember 1893, M. Bl. f. i. V. 1894 S. 11, und §§ 1, 25, 26 der An-
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Digitized by
1S(> Besprechungen, Referate, Notizen, amtliche Mittheilungen.
Weisung zur amtlichen Besichtigung der Apotheken etc. vom 16. Dezember 1*93,
daselbst S. 12 und 15).
Indem ich die entgegenstehenden Bestimmungen des Runderlasses voml4.Nov.
1895 (M. (>883 1) aufhebe, ersuche ich Ew. Hochwohlgeboren ergebenst, bei bericht-
lieben Anträgen die vorstehenden Gesichtspunkte gefälligst zu beachten.
Berlin, den 19. Januar 1897.
Der Minister der geistlichen, Unterrichts- und Medicinal-Angelegenheiten.
B o s s (*.
Kunderlass an die Königl« Regierungs-Präsidenten betr. die Anstellung yoii
H aus- und Bankschlächtern als Trichinenschauer«
Es ist zu unserer Kenntniss gelangt, dass an einigen Orten Haus- und Bank¬
schlächter als Trichinenschauer in Pflicht genommen sind. Da bei den sonstigen
Verrichtungen solcher Hausschlächter die Gefahr vorliegt, dass die Untersuchungen
nicht mit der. erforderlichen Sorgfalt ausgeführt werden, so bestimmen wir, dass
Haus- und Bankschlächter überhaupt nicht mehr als Trichinenbeschauer angestellt
werden dürfen.
Berlin, den 18. Februar 1897.
Der Minister für Landwirth- Der Minister Der Minister
schaff, Domänen u. Forsten, der geistl. etc. Angel. des Innern.
Freiherr v.Hammerstein. I. A.: Bartsch. 1. A.: Haase.
Der Minister für Handel und Gew r erbe.
I. V.: Loh mann.
Erlass des Ministers der öffentlichen Arbeiten betr« Untersuchung des
Sehvermögens der Eisenbahn-Bediensteten bei den prenss. Staatsbahnen.
Ueber die Anforderungen, welche an das Sehvermögen (Sehschärfe und
Farben unterscheidungsvermögen) der Eisenbahnbediensteten zu stellen sind, gelten
nachstehende Vorschriften:
I.
1. Die Feststellung des Sehvermögens erfolgt vor dem Eintritt in die Be¬
schäftigung und vor dem Uebertritt aus einer Beschäftigung, für welche geringere
Anforderungen an das Sehvermögen gestellt werden, in eine Beschäftigung mit
höheren Anforderungen.
2. Die Prüfungen sind bei mittlerer Tagesbeleuchtung und auf jedem Auge
einzeln vorzunehmen.
3. Die Wiederholung der Untersuchungen findet längstens alle fünf Jahre,
sowie nach Augenkrankheiten, Kopfverletzungen, Gehirnerkrankungen, Erschütte¬
rungen, nach schweren Erkrankungen (Typhus-, Herz-, Nierenleiden u.s.f.) durch
den Bahnarzt statt. Die Vordrucke der ärztlichen Genesungszeugnisse müssen zur
Beantwortung der Frage, ob die Sehschärfe und das Farbenunterscheidungsver-
mögen, sowie (Erlass vom 13. April 1877 2b. a. P. 3060 E.-V.-Bl. S. 223) das
Hörvermögen, noch ausreichend sind, ausdrücklich anleiten. DasGenesongzeugniss
Gck igle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
Besprechungen, Referalc, Notizen, amtliche Miltheilungen.
187
des Bahnarztes kann auch durch das Zeugniss des von der Eisenbahnbetricbs-
kr&nkenkasse bestellten Kassenarztes ersotzt werden.
II.
1. Die Anforderungen an das Sehvermögen richten sich nach der Art der
Beschäftigung. Demgemäss werdon nach der angeschlossenen Liebersicht die Be¬
diensteten unterschieden in solche, auf welche die Bestimmungen des Bundesraths
über die Befähigung von Eisenbahnbetriebsbeamten, vom 5. Juli 1892 (H.-G.-Bl.
S. 723, E.-V.-Bl. S. 189) Anwendung finden (Klasse I), und in solche, für welche
der Bandesrath Bestimmungen nicht getroffen hat (Klasse II). Die Klasse I zerrfällt
bezüglich des Sehvermögens in die Gruppe A und B, die Klasse II in die Gruppen
A, B, C.
2. Ob die Bediensteten für Beamtenverrichtungen im etals- oder ausser-
etatsmässigen Staatsbeamtenverhältniss, ob sie als Hülfsbedienstete (Hülfs- und
Aushülfsbahnwärter, -Weichensteller, -Bremser, -Wagenwärter, -Heizer, -Wagen-
nnd Rangirmeister, -Telegraphisten, -Portiers u. s. f., -Stationsgehülfen u. s. w.)
ausserhalb des Beamtenverhältnisses bestellt, ob sie nur zur Probe und Ausbildung
als Hülfsbedienstete zur Beschäftigung herängezogen, oder ob sie nur versuchsweise
beschäftigt sind, macht für die Erfüllung der an ihr Sehvermögen gestellten An¬
forderungen keinen Unterschied. Auch ist für die Anwendung dieser Bestimmungen
die wirkliche dienstliche Beschäftigung und nicht die etwa abweichende Amts¬
bezeichnung des einzelnen Bediensteten massgebend.
A. Sehschärfe.
IH.
Das Vorhandensein der erforderlichen Sehschärfe ist mit Tafeln, die nach
den Sn eilen’sehen Regeln angefertigt sind und amtlich den Bahnärzten
geliefert werden, festzustellen. Die Königliche Eisenbahndirektion in Berlin wird
beauftragt, solche Tafeln in geeigneter Form (auch mit kurzen Erläuterungen, die
allgemein verständlich sind) nach sachkundigem Rathe für alle Eisenbahndirek¬
tionen, welche ihren Bedarf anzumelden haben, anfertigen zu lassen und vorräthig
zu halten.
IV.
Die Sehschärfe soll beim Eintritt oder Uebertritt (Abschnitt 1, Absatz 1)
in eine:
unter A beider Klassen bezeichnete Beschäftigung auf jedem Auge
mindestens 7s,
unter B beider Klassen bezeichnete Beschäftigung auf den einzelnen Augen
mindestens 2 /s und y 8 ,
unter C der Klasse II bezeichnete Beschäftigung auf den einzelnen Augen
mindestens y g und x / 6
des von Snellen als Einheit (Abschnitt III) angenommenen Maasses betragen.
V.
1. Die bahnäretliohe Wiederholungsprüfung (Abschnitt I Abs. 3) erstreckt
sich auf die Bediensteten der Gruppen A und B beider Klassen.
2. Wird dabei festgestellt, dass die bezeichnete Sehschärfe zwar nicht mehr
vorhanden, aber bei den Bediensteten Gruppen A beider Klassen noch nicht
auf i/ 2 auf einem der beiden Augen, bei denen der Gruppen B beider Klassen
noch nicht unter l / 9 auf einem der beiden Augen zurückgegangen ist, so ist zur
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
188
Besprechungen, Referate, Notizen, amtliche Mittheilungen.
Digitized by
Feststellung, oh und unter welchen Bedingungen (häufiger wiederkehrende Unter¬
suchung u. s. w.) der Bedienstete in seiner Stellung belassen werden kann, eine
praktische Prüfung auf den Bahnanlagen von dem dem Bediensteten Vorgesetzten
Inspektionsvorstande unter Zuziehung des Bahnarztes vorzunehmen. Führt die
praktische Prüfung nach der übereinstimmenden Ansicht des Inspektionsvorstandes
und des Bahnarztes zu einem günstigen Ergebniss, werden insbesondere Weichen¬
signale bei mittlerer Tagesbeleuchtung von den Bediensteten der Gruppen A auf
350 m, von denen der Gruppen B auf 200 m Entfernung erkannt, so kann der
Inspektionsvorstand selbst die Belassung des Bediensteten in seiner Beschäftigung
verfügen.
3. Ist dagegen das Ergebniss der praktischen Prüfung ungünstig oder zweifel¬
haft oder stellt sich schon bei der bahnärztlichen Wiederholungsprüfung ein
Rückgang der Sehschärfe auf oder unter die bezeichneten Grenzen (auf */«, oder
unter ! / 3 auf einem der beiden Augen) heraus, so ist an die Vorgesetzte Eisen¬
bahndirektion zu berichten, welche über die weitere Verwendung des Bediensteten,
geeignetenfalls nach dem Ergebniss einer weiteren praktischen Prüfung und nach
Anhörung des Augenarztes, zu entscheiden hat.
4. Hinsichtlich der einei Inspektion nicht unterstellten Bediensteten be¬
stimmt die Eisenbahndirektion, wie und von wem die praktische Wiederholungs¬
prüfung vorzunehmen ist.
VI.
1. Der Gebrauch der gewohnheitsmässig getragenen Brille, bei deren
Benutzung die vorgeschriebene Sehschärfe vorhanden ist, ist gestattet bei und
nach den Prüfungen für den Ein- oder Uebertritt in eine Beschäftigung der
Gruppe C, ferner in eine Beschäftigung als Landmesser, Bauassistent und Bau¬
aufseher (Klasse II. B. 14, 15), desgleichen — unter der Verpflichtung, eine
Ersatzbrille bei sich zu führen — als Telegraphenbeamter auf Stationen,
Betriebskontroleur, Zugrevisor, technischer Kontroleur bei den Inspektionen,
soweit er nicht im Lokomotivdienst thätig ist, als Maschinist für elektrische
Beleuchtungs- und Kraftanlagen oder Maschinenwärter (Klasse II. B. 10 bis
13, 16, 17).
2. Die gleiche Erlaubniss kann bei und nach den Wiederholungsprüfungen
(Abschnitt I Abs.3) den übrigen Bediensteten der Gruppen B, und den Bediensteten
der Gruppe A mit Ausnahme:
der Bahnwärter, Lokomotivführer, Weichensteller (auch der Weichensteller
1. Klasse auf Stellwerken), der Rangirmeister, Brückenwärter, Rottenführer,
Lokomotivheizer, der Werkstattbediensteten und technischen Kontroleure in)
Falle ihrer Mitwirkung im Lokomotivdienst, der Rangirarbeiter
von den zuständigen Inspektionsvorständen und, soweit die Beamten einer ln¬
spektion nicht unterstellt sind, von den Eisenbahudirektionen nach Anhörung
des Augenarztes mit den durch den Einzelfall gebotenen Beschränkungen und
Auflagen (ständiges Tragen der Brille, Mitführen einer Ersatzbrille u. s. f.) er-
theilt werden.
VII.
Die Beschallung und Vorhaltung der zu den Untersuchungen des Sehver¬
mögens etwa erforderlichen Brillenkasten ist Sache der Bahnärzte.
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Besprechungen, Referate, Notizen, amtliche Mittheilungen.
189
VIII.
Die Fragen 12 und 19 des von den Dienstbewerbern einzureichenden ärzt¬
lichen Untersuchungszeugnisses sind unter Beseitigung der Frage 20 nach den
vorstehenden Bestimmungen so abzufassen, wie am Schlüsse der auf der letzten
Seite des Fragebogens abzudruckenden Uebersicht bemerkt ist.
IX.
Die gegenwärtig vorhandenen Bediensteten der Gruppen A und B beider
Klassen sind Wiederholungsprüfungen nach den vorstehenden Bestimmungen bald
ihunlichst zu unterziehen.
X.
1. Sollten sich bei längerer Anwendung der vorstehenden Bestimmungen
Schwierigkeiten ergeben, so ist zu berichten. Alsbald ist jedoch meine Ent¬
scheidung einzuholen, wenn etwa schon bei der erstmaligen Durchführung dieser
Vorschriften Anlass genommen werden müsste, eine grössere Anzahl von Be¬
diensteten aus ihrer gegenwärtigen Beschäftigung zu entfernen, oder wenn sich
in Einzelfällen besondere Härten für die Beamten ergeben sollten.
2. Wegen der höheren Beamten ergeht besondere Verfügung.
B. Farbenunterscheidungsvermögen.
XL
1. Die Feststellung des Farbenunterscheidungsvennögens kann dadurch ge¬
schehen, dass dem zu Untersuchenden die Ordnung verschiedenfarbiger Wollfäden
aufgegeben wird (Holmgren’sche Methode); die Wollfäden sind nötigenfalls
den Bahnärzten von der Eisenbahnverwaltung zu liefern.
2. Die bahnärztliche Wiederholungsprüfung (Abschnitt I Absatz 3) er¬
streckt sich auf die unter I A, 1 B, II A, II B 1 bis 13, C 1 bis 4 bezeichneton
Dienstklassen.
3. Wird in der Wiederholungsprüfung bei Angehörigen dieser Dienstklassen
ein unrichtiges Farbenunterscheidungsvermögen ermittelt, so sind die Bediensteten
der unter I A, 1 B, II A, II B 1 bis zu 4 bezeichneten Klassen aus den bisher
«rahrgenommenen Dienststellen zurückzuziehen und in solchen, in denen der be-
zeichnete Mangel nicht hinderlich ist, in denen sie insbesondere nicht mit dem
Signaldienst in Berührung kommen, zu verwenden, soweit sie iin Uebrigen für
diese Stellungen befähigt sind. (Vergleiche auch den Erlass vom 26. Juli 1879 —
11. P. 4584 - Elberfelder Samml. Bd. 1 S. 497 Nr. 470).
4. Bedienstete der unter II B 11 bis 13 bezeichneten Klassen, deren Farben¬
sinn als mangelhaft ermittelt wird, haben sich aller Anordnungen und Ver¬
richtungen, für welche das richtige Erkennen farbiger Signale von Bedeutung ist,
zu enthalten.
5. Die unter I A, I B, II A, HB bis 10, II CI bis 4 genannten Bediensteten,
bei denen Mängel im Farbenunterscheidungsvermögen festgestellt worden, dürfen
auch nicht aussergewöhnlich zur Hülfeleistung bei Geschäften des äusseren Be¬
triebsdienstes, die einen richtigen Farbensinn erfordern, betheiligt werden. Zugleich
sind Vorkehrungen zu treffen, dass nicht gelegentlich durch ihre Mittheilung über
den Stand farbiger Signale Missverständnisse bei den verantwortlichen Beamten
erregt werden können. Zu diesem Zweck sind insbesondere die Bediensteten
selbst, deren Farbsinn als mangelhaft festgestellt ist, über diese Feststellung und
über die hieraus für ihr dienstliches Verhalten sich ergebenden Folgen schriftlich
Digitizeit by
Gck igle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
190
Besprechungen, Referate, Notizen, amtliche Mittheilungen.
zu unienveisen; auch sind dieDienstvorstehcr zu benachrichtigen und die Personal¬
akten, die Personalienbogen nnd die Arbeiterlisten an augenfälligen Stellen mit
Vermerken zu versehen.
6. Hat die Wiederholungsprüfung ein ungünstiges oder zweifelhaftes Ergeb¬
nis, so ist nach Anhörung des Augenarztes die Entscheidung von der Vorgesetzten
Inspektion und hinsichtlich der nicht einer Inspektion unterstellten Beamten von
der Eisenbahndirektion zu treffen.
7. Die Erlasse vom 19. Mai 1877 — II. 9147 — (Elberfelder Samml. Bd. I.
5. 154 No. 116a) nnd vom 25. März 1896 — IV a. B. 15048 — E.-V.-Bl. S. 163)
über die Untersuchung des Farbenunterscheidnngsvermögens, deren wesentliche
Bestimmungen vorstehend zusammengefasst sind, werden hierdurch aufgehoben.
Vorstehende Bestimmungen finden sinngemäss auch auf die Privateisen¬
bahnen insoweit Anwendung, als sie die Bediensteten der Klasse I betreffen.
Uebersicht der Dienstklassen, geordnet nach den Anforderungen
an das Sehvermögen, und Entwurf zu den Fragen 12 und 19 des
Fragebogens für die ärztliche Untersuchung.
I. Dienstklassen, auf welche die Bestimmungen des Bundesraths über die Befähi¬
gung von Eisenbahn-Betriebsbeamten vom 5. Juli 1892 (R.-G.-Bl. S. 723, E.-V.-Bl.
S. 189) Anwendung finden.
Für die Sehschärfe.
Gruppe A: 1. Bahnwärter; 2. Bremser; 3. Schaffner; 4. Packmeister; 5.
Zugführer; 6. Lokomotivführer; 7. Stationsaufseher, Stationsassistent; 8. Stations¬
vorsteher; 9. Haltestellenaufseher; 10. Haltepunktwärter; 11. Weichensteller (auch
I. Klasse); 12. Rangirmeister.
Gruppe B: 1. Bahnmeister (auch 1. Klasse); 2. Wagenwärter; 3. SUtions-
portiers; 4. Stationswächter.
II. Dienstklassen, auf welche die vorbezeichneten Bestimmungen des Bundesraths
nicht Anwendung finden.
Für die Sehschärfe.
Gruppe A: 1. BrückenWärter; 2. Schiankenwachen (-Wärterinnen); 3. Rot¬
tenführer (Streckenvorarbeiter); 4. Lokomotivheizer; 5. Werkstätten vorsteh er,
Werkmeister, Werkführer und Vorarbeiter in Lokomotiv- und Betriebswerkstätten;
6. Rangirarbeiter; 7. Telegraphenbeamte auf Blockstationen.
Gruppe B: 1. Krahnmeister; 2. Krahnwärter; 3. Trajekt- und Schiffsbe¬
dienstete; 4. Stationsarbeiter, soweit nicht unter A und C benannt; 5. Bahnsteig¬
schaffner; 6. Wagenmeister; 7. Wagenaufzeichner; 8. Telegraphenmeister; 9. Tele¬
graphenunterhaltungsarbeiter; 10. Telegraphenbeamter auf Stationen; 11. Betriebs-
kontroleure; 12. Zugrevisoren; 13. Technische Kontroloure bei den Inspectionen;
14. Landmesser; 15. Bauassistenten und Bauaufseher; 16. Maschinisten für elek¬
trische Beleuchtungs- und Kraftanlagen; 17. Maschinenwärter.
Gruppe C: 1. Werkstättenvorsteher, Werkmeister, -Führer und Vorarbeiter
ausserhalb der Betriebs- und Lokomotivwerkstätten; 2. Abfertigungsbeamte, mit
Ausnahme der Stationskassenrendanten, Einnehmer, Fahrkartenausgeber, Brücken¬
geldeinnehmer; 3. Lademeister; 4. Maschinenputzer; 5. die unter 2 ausgenom¬
menen Abfertigungsbeamten; 6. Materialien Verwalter; 7. Magazinaufseher und
-Arbeiter; 8. Werkstättenportiers und -Wächter; 9. Werkstättenarbeitenr; 10. Ge-
Digitizedl by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Besprechungen, Referate, Notizen, amtliche Miltheilungen. 191
päckträger: 11. Wagenputzer; 12. Kohlenlader; 13. Güterbodenarbeiter; 14.
Strccken(Rotten-)arbeiter; 15. Bureaubeamte (nichttechnische); 16. Burcaubeainte
(technische) mit Ausnahme der unter B 14 genannten; 17. Kanzleibeamte; 18.
Zeichner; 19. Telegraphenbeamte in den Bureaus; 20. Billetdrncker; 21. Stein-
drucker; 22. Bureau- und Kassendiener; 23. Fahrkartenordner; 24. Ofenheizer
u. s. w.
Das bei der Anstellung anzuwendende Untersuchungs-Formular er¬
fahrt demnach folgende Veränderungen:
Frage 12.
a) Ergiebt die Prüfung der Sehschärfe:
1. Ohne Glas auf jedem Auge mindestens 2 / 3 des von .Snellen als Einheit
(1) angenommenen Maasses? (Erforderniss für Bedienstete der Gruppen
IA und IIA der Uebersicht.)
2. «) Ohne Glas auf den einzelnen Augen mindestens 2 / 3 und 1 / 3 wie vor?
(Erfordernisse für Bedienstete der Gruppen 1B und 11B No. 19 und
No. 17.)
Mit Glas, sonst wie bei 2 et? (Erforderniss der Bediensteten der Gruppe
IIB No. 10-16.)
3. Ohne oder mit Glas auf den einzelnen Augen mindestens */ 2 und 1 / t;
wie vor? (Erforderniss für die Bediensteten der Gruppe IIC.)
b) und c) (alt) fallen aus.
d) und e) (alt) bleiben unverändert als neu b) und c).
f) (alt) wird d). Sind Veränderungen des Gesichtsfeldes, Schielen oder
Augenmuskellähmung vorhanden?
Frage 19. Eignet sich der Untersuchte demnach zur Beschäftigung als:
a) Bediensteter der Gruppen IA und IIA der Uebersicht?
b) 1. Bediensteter der Gruppen IB und IIB No. 1 bis 9 und No. 17 der
Uebersicht?
2. Bediensteter der Gruppe IIB No. 10 bis 16 desgleichen?
c) Bediensteter der Gruppe C desgleichen?
Frage 20 fällt aus.
Berlin, den 7. Januar 1897.
Bekanntmachung des Reichskanzlers betr. Einrichtung und Betrieb von
Anlagen zur Herstellung von Alkali-Chromaten.
Auf Grund der §§ 120 e und 139a der Gewerbeordnung hat der Bundesrath
über die Einrichtung und den Betrieb der Anlagen, in denen die Herstellung von
Alkali-Chromaten (doppeltchromsaurem Kalium oder doppeltchromsaurcm Natrium)
oder die Chromat-Regeneration stattßndet, folgende Vorschriften erlassen:
§ 1. Die Zerkleinerung und Mischung der Rohmaterialien (Chromeisenstein,
Aetzkalk, Sodau.s.w.) darf nur in Apparaten erfolgen, welche so eingerichtet sind,
dass das Eindringen von Staub in die Arbeitsräumc thunlichst verhindert wird.
§ 2. Alle Betriebseinrichtungen, welche geeignet sind, chromathaltigen Staub
oder chromathaltigen Dampf zu erzeugen, müssen mit gut wirkenden Vorrichtungen
versehen sein, durch welche der Eintritt solchen Staubes oder Dampfes in die
Arbeitsräume thunlichst vermieden wird.
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Digitized by
192 Besprechungen, Referate, Notizen, amtliche Mittheilungen.
Die Schmelze darf nur in nassem Zustande oder in verdeckten Behältern
transportirt werden; eine Lagerung der Schmelze ist, ausser bei den Oefen, nur
in einem von sonstigen Arbeitsräumen abgesonderten Raume gestattet.
Auslauge- und Abdampfpfannen sowie alle sonstigen Gefässe, welche Lö¬
sungen mit mehr als 50° C. enthalten, desgleichen die Säurerungspfannen sind mit
gut schliessenden, ins Freie oder in einen Schornstein mündenden Abzugsvorrich-
turigen zu überdecken.
§ 3. Die Weiterbearbeitung der festen Chromate, insbesondere beim Trocknen,
Sieben, Zerkleinern (Brechen, Mahlen) und Verpacken, muss in einem von sonsti¬
gen Arbeitsräumen abgesonderten Raume stattfinden.
Die Zerkleinerung der Chromate darf nur in dicht ummantelten Apparaten
vorgenommen werden.
§ 4. Die Arbeitsräume und Höfe sind von Verunreinigungen mit Chromaten
möglichst frei zu halten; insbesondere ist auf alsbaldige Beseitigung von Chro¬
maten Bedacht zu nehmen, welche durch Verspritzen von Laugen oder durch un¬
dichte Rohrleitungen in die Arbeitsräume gelangt und eingetrocknet sind. Fuss-
böden, Wände, Treppen und Geländer sind stets in sauberem Zustande zu erhalten.
Nach Bedarf, jedoch mindestens vierteljährlich, ist eine gründliche Reini¬
gung der Arbeitsräume vorzunehmen.
§ 5. Der Arbeitgeber hat allen im Chromatbetriebe beschäftigten Arbeitern
Arbeitsanzüge und Mützen in ausreichender Zahl und zweckentsprechender Be¬
schaffenheit zur Verfügung zu stellen.
§ 6. Solche Arbeiten, bei welchen die Entwickelung chromathaltigen Stau¬
bes nicht völlig vermieden und letzterer nicht sofort und vollständig abgesaugt
wird, darf der Arbeitgeber nur von Arbeitern ausführen lassen, welche zweckmässig
eingerichtete, von dem Arbeitgeber gelieferte Respiratoren oder andere Mund und
Nase schützende Vorrichtungen, wie feuchte Schwämme, Tücher u. s. w. tragen.
Dies gilt insbesondere auch von dem Herausnehmen stäubender Masse aus
den Trockenöfen, dem Beschicken der Schmelzöfen mit stäubender, aus den
Trockenöfen entnommener Masse, von dem Entleeren der Schmelzöfen und dem
Einschmelzen trockener Schmelze in die Transportbehälter, sowie von den Arbeiten
beim Trocknen, Sieben und Verpacken der fertigen Chromate.
§ 7. Der Ardeitgeber hat durch geeignete Anordnungen und Beaufsichtigung
dafür Sorge zu tragen, dass die in den §§ 5 und 6 bezeichneten Arbeitskleider,
Respiratoren und sonstigen Schutsmittel regelmässig, und zwar nur von denjenigen
Arbeitern benutzt werden, welchen sie zugewiesen sind, und dass dieArbeitskleider
mindestens wöchentlich, die Respiratoren, Mundschwämme u. s. w. vor jedem Ge¬
brauch gereinigt und während der Zeit, wo sie sich nicht im Gebrauche befinden,
an dem für jeden Gegenstand zu bestimmenden Platz aufbewahrt werden.
§ 8. In einem staubfreien Theil der Anlage muss für die Arbeiter ein
Wasch- und Ankleideraum und getrennt davon ein Speiseraum vorhanden sein.
Beide Räume müssen sauber und staubfrei gehalten und während der kalten
Jahreszeit geheizt werden.
In dem Wasch- und Ankleideraum müssen Wasser, Gefasse zum Zweck des
Mundspülens, zum Reinigen der Hände und Nägel geeignete Bürsten, Seife und
Handtücher, sowie Einrichtungen zur Verwahrung derjenigen Kleidungsstücke,
Gck igle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
Besprechungen, Referate, Notizen, amtliche Mittheilungen. 193
welche vor Beginn der Arbeit abgelegt werden, in ausreichender Menge vorhan¬
den sein.
Der Arbeitgeber hat seinen Chromatarbeitern wenigstens zwei Mal wöchent¬
lich Gelegenheit zu geben, ein warmes Bad zu nehmen.
§ 9. Die Verwendung von Arbeiterinnen sowie von jugendlichen Arbeitern
ist nur in solchen Räumen und nur zu solchen Verrichtungen gestattet, welche
sie mit Chromaten nicht in Berührung bringen.
Diese Bestimmung hat bis zum 1. April 1907 Gültigkeit.
§ 10. Der Arbeitgeber darf zur Beschäftigung im Chromatbetriebe nur solche
Personen einstellen, welche eine Bescheinigung eines approbirten Arztes darüber
beibringen, dass sie nicht mit Hautwunden, -Geschwüren oder -Ausschlägen be¬
haftet sind. Die Bescheinigungen sind zu sammeln, aufzubewahren und dem Auf-
sichtsbeamten (§ 139b der Gew.-Ordn.) auf Verlangen vorzulegen.
§11. Der Arbeitgeber hat die Ueberwachung des Gesundheitzustandes der
Chromatarbeiter einem dem Gewerbeaufsichtsbeamten namhaft zu machenden
approbirten Arzte zu übertragen, welcher die Arbeiter mindestens ein Mal monat¬
lich, und zwar namentlich auf das Vorhandensein von Ilautgeschwüren und Er¬
krankungen der Nasen- und Rachenhöhle zu untersuchen hat.
§ 12. Der Arbeitgeber hat darauf zu halten, dass die Arbeiter auf das Vor¬
handensein von wunden Hautstellen, selbst geringfügiger Art, insbesondere an
ihren Händen, genau achten und zutreffenden Falls von dem Arzte oder einer von
diesem als geeignet bczeichneten Person mit einem Schutzverbande versehen wer¬
den. Täglich vor Beginn oder während der Arbeit sind Hände, Vorderarme und
Gesicht der Arbeiter durch eine solche Person zu besichtigen.
§ 13. Auf Anordnung des Arztes sind Arbeiter, welche Krankheitserschei¬
nungen in Folgo von Chromateinwirkung, z. B. Hautgeschwüre oder Anätzungen
der Nasenschleimhaut, zeigen, bis zur völligen Heilung, solcho Arbeiter aber,
welche sich besonders empfindlich gegenüber den nachtheiligen Einwirkungen des
Betriebes erweisen, dauernd von der Beschäftigung im Chromatbetriebe fernzu¬
halten.
§ 14. Der Arbeitgeber ist verpflichtet, ein Krankenbuch zu führen oder unter
seiner Verantwortung durch einen Betriebsbeamten führen zu lassen. Er haftet für
die Vollständigkeit und Richtigkeit der Einträge, soweit sie nicht vom Arzte be¬
wirkt sind.
Das Krankenbuch muss enthalten:
1. den Namen dessen, welcher das Buch führt,
2. den Namen des mit der Ueberwachung des Gesundheitszustandes der
Arbeiter beauftragten Arztes,
3. den Namen der erkrankten Arbeiter,
4. die Art der Erkrankung und der vorhergegangenen Beschäftigung,
5. den Tag der Erkrankung,
t». den Tag der Genesung oder, wenn der Erkrankte nicht wieder in Arbeit
getreten ist, den Tag der Entlassung,
7. die Tage und Ergebnisse der im § 11 vorgeschriebenen allgemeinen ärzt¬
lichen Untersuchungen.
§ 15. Der Arbeitgeber hat Vorschriften zu erlassen, welche ausser einer An-
Viertel} ahrsechr. f. ger. Med. Dritte Folge. XIV. 1.
Digitized by Google
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
194
Besprechungen, Referate, Notizen, amtliche Mittheilungen.
Weisung hinsichtlich des Gebrauchs der in den §§ 5 und 6 bezeichneten Gegen¬
stände folgende Bestimmungen enthalten müssen:
1. Die Arbeiter dürfen Nahrungsmittel nicht in die Arbeitsräume mitnehmen.
Das Einnehmen der Mahlzeiten ist ihnen nur ausserhalb der Arbeitsräume ge¬
stattet (vergl. § 8).
2. Jeder Arbeiter hat die ihm überwiesenen Arbeitskleider, Respiratoren
und sonstigen Schutzmittel §§ 5 und 6) in denjenigen Arbeitsräumen und bei
denjenigen Arbeitern, für welche es von dem Betriebsunternehmer vorgeschrieben
ist, zu benutzen.
3. Die Arbeiter müssen sich vor dem Einnehmen einer Mahlzeit Hände und
Gesicht sorgfältig waschen. Am Schluss der Arbeitsschicht und vor dem Verlassen
der Fabrik müssen die Arbeiter die Arbeitskleider ablegen, Hände und Gesicht
sorgfältig waschen, sowie Mund und Nase, und zwar ohne Anwendung von Appa¬
raten, ausspülen.
In den zu erlassenden Vorschriften ist vorzusehen, dass Arbeiter, die trotz
wiederholter Warnung den vorstehend bezeichneten Bestimmungen zuwider¬
handeln, vor Ablauf der vertragsmässigen Zeit und ohne Aufkündigung entlassen
werden können.
Werden in einem Betriebe in der Regel mindestens zwanzig Arbeiter be¬
schäftigt, so sind die vorstehend bezeichneten Vorschriften in die nach § 134a
der Gewerbeordnung zu erlassende Arbeitsordnung aufzunehinen.
§ 16. ln jedem Arbeitsraum, sowie in dem Ankleide- und dem Speiseraum
muss eine Abschrift oder ein Abruck der §§ 1 bis 15 dieser Vorschriften und der
gemäss § 15 vom Arbeitgeber erlassenen Vorschriften an einer in die Augen
fallenden Stelle aushängen.
§ 17. Die vorstehenden Bestimmungen treten mit dem 1. Juli 1897 in Kraft.
Berlin, den 2. Februar 1897.
Der Reichskanzler.
I. V.: v. Boetticher.
Kunderlass an die Vorprüfungs-Commissionen betr. die Prüfung der
Nahrungsmitt elchemiker.
Nachdem die im § 16 Abs. 2 der Prüfungsvorschriften für Nahrungsmittel-
Chemiker den Apothekern mit der Prüfungsnote „sehr gut“ eingeräumten Vergün¬
stigungen hinsichtlich ihrer Zulassung zur Hauptprüfung mehrfach zu Zweifeln
Anlass gegeben haben, wird in Nachstehendem die gedachte Bestimmung, wie folgt,
ausgelegt:
Zunächst steht nach dem Wortlaut und Sinn der bezeichneten Vorschriften
nichts entgegen, dass denjenigen Apothekern, welche das für die Zulassung zur
Prüfung erforderliche naturwissenschaftliche Studium von sechs Halbjahren vor
Ablegung der Apothekerprüfung noch nicht ganz zurückgelegt haben, die Nach¬
holung der fehlenden Studiensemester nach der bestandenen Apothekerpiiifuag
gestattet wird. Was ferner die praktische Thätigkeit an einer staatlichen Unter¬
suchungsanstalt für Nahrungs- und Genussmittel (§ 16 Abs. 1 Ziff. 4 der Prüfungs¬
vorschriften) anlangt, so darf dieselbe, ebenso wie sie bei Nahrungsmittelc}iemikern
mit regelmässigem Studiengange nach ausdrücklicher Vorschrift erst für die Zeit
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Besprechungen, Referate, Notizen, amtliche Mittheilungen. 195
nach bestandenerVorprüfung vorgesehen ist, bei Apothekern erst nach der als
Ersatz für die Vorprüfung geltenden Apothekerprüfung erfolgen. Diese prak-
tische Thätigkeit in der Untersuchung von Nahrungs- und Genussmitteln zeitlich
zusammenfallen zu lassen mit demjenigen Universitätsstudium, welches ein Apo¬
theker behufs Erreichung der vorgeschriebenen sechssemestrigen Studienzeit nach
der bestandenen Apothekerprüfung ablegt, ist mit den geltenden Vorschriften nicht
vereinbar. Durch die Bestimmung im § 16 Abs. 2 Satz l der Prüfungsvorschriften
ist denjenigen Apothern, welche die Prüfung mit dem Prädikate „sehr gut“ be¬
standen haben, mit Rücksicht auf die hierdurch nachgewiesenen Kenntnisse die
Vorprüfung sowie der Nachweis der Gymnasialreife und der 2 1 / 2 jährigen Beschäf¬
tigung in chemischen Laboratorien erlassen, dagegen ist die Einräumung noch
grosserer Vergünstigungen nioht beabsichtigt.
Als eine weitere und zwar nicht unerhebliche Erleichterung würde es aber
anzusehen sein, wenn die bei den Nahrungsmittel-Chemikern getrennten Theile
des Studiengangs, nämlich das theoretische Studium auf einer Hochschule und die
praktische Thätigkeit in einer Untersuchungsanstalt, bei den in Frage stehenden
Apothekern mit einander verbunden werden dürften. Ausserdem erscheint eine so
weitgehende Begünstigung der Prüfungs-Kandidaten mjt pharmaceutischer Vor¬
bildung auch im Interesse einer thunlichst gründlichen Ausbildung der Nahrungs¬
mittel-Chemiker nicht wünsch enswerth; es ist vielmehr besonderer Werth darauf
zu legen, dass die praktische Thätigkeit erst nach Ablauf des gesammten theore¬
tischen Studiums beginnt.
Berlin, den 2. März 1897.
Der Minister der geistlichen, Unterrichts- und Medicinal-Angelegenheiten.
In Vertretung: von Weyrauch.
Bunderlas* an die Königl. Regierungs-Präsidenten betr. das öffentliche
Impfgeschäft.
Die Berichte über das öffentliche Impfgeschäft im Jahre 1895 lassen ver¬
schiedene Mängel erkennen, welche uns veranlassen, die nachstehenden Anweisun¬
gen zur Nachachtung bei dem diesjährigen Impfgeschäft, wie überhaupt bis auf
weitere Bestimmung für die Folge zu geben:
Da der Bedarf an thierischem Impfstoff nach Errichtung einer ausreichenden
Zahl von staatlichen Anstalten zur Gewinnung thierischen Impfstoffs leicht und
in genügender Menge jederzeit gedeckt werden kann, so bestimmen wir, dass in
Zukunft für die öffentlichen Impfungen im Allgemeinen ausschliesslich thierischer
Impfstoff aus den Landesanstalten zu verwenden ist. Sollte in einem einzelnen
Falle sich die Benutzung von Menschenlymphe nothwendig erweisen, so ist dies
von dem Impfarzte besonders zu begründen.
Durch die Untersuchungen über den thierischen Impfstoff, welche von der
von mir, dem Minister der geistlichen, Unterrichts- und Medicinal-Angelegenheiten,
eingesetzten Commission ausgeführt und in dem durch Verfügung vom 29. October
v. Js. — M- 16346 — übersandten Druckbericht niedergelegt sind, ist erwiesen,
dass lange und nahe bei einander gelegte Impfschnitte, bei welchen ein Zusammen¬
flüssen des um jede Impfpustel der Regel nach entstehenden Entzündungshofes
18 *
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UMIVERSITY OF IOWA
Digitized by
190 Besprechungen, Referate, Notizen, amtliche Mittheilungen.
eintritt, je nach der Individualität des Impflings stärkere Reiz- und Entzündungs¬
erscheinungen veranlassen können. Behufs Vermeidung solcher Folgen ist deshalb
darauf zu achten, dass die Anweisung, wonach die Länge der Schnitte höchstens
1 cm und ihre Entfernungvon einander mindestens je 2 ein betragen soll, von
den Impfärzten befolgt wird. Kreuz- und Gitterschnitte, welche nach den Berich¬
ten noch vereinzelt angewandt werden, sind zu untersagen. Bei der Wirksamkeit
des thierischen Impfstoffs erscheint in den meisten Fällen ein einmaliges Ein¬
streichen in die klaffend gehaltenen Schnitte anstatt der bisher vielfach geübten
wiederholten Einreibung des Impfstoffes ausreichend.
Erwiesen ist ferner, dass die wirklichen erysipelatösen und phlegmonösen
Entzündungen (Erysipelas, Phlegmone) durch die in der Thierlymphe vorhandenen
bekannten Keime, wie auch die Untersuchungen über den Keimgehalt des von den
preussischen Anstalten erzeugten Impfstoffes neuerdings wieder festgestellt haben,
nicht erzeugt werden, sondern dass dieselben, wenn sie auftroten, accidentelle
Wundinfectionskrankheiten sind. Es wird deshalb die Aufmerksamkeit der Impf¬
ärzte ganz besonders darauf zu richten sein, dass eine Uebertragung specifischer
Infectionserreger in die Impfwunde nicht stattfindet. Zu diesem Zwecke müssen
die Impfinstrumente durchaus rein sein und, so lange keine weitergehenden Vor¬
schriften ergangen sind, mindestens den Bestimmungen im § 17 der Vorschriften,
welche von den Aerzten bei der Ausführung des Impfgeschäfts zu befolgen sind
(Anlage I. des Runderlasses vom 6. April 1886. M. 8745, U. II. 838, U. IHa.
13087), entsprechend behandelt werden. Darüber hinaus empfiehlt es sich, dass
der Impfarzt ein steriles Instrument zu jeder Impfung verwendet und vor Beginn
des Impfactes seine Hände und Arme, wie vor jeder chirurgischen Thätigkeit des-
inficirt.
Im gleichen Sinne ist Gewicht darauf zu legen, dass die Bestimmungen im
§ 2 der Verhaltungsvorschriften für die Angehörigen der Impflinge (Anlage II.)
und im § 6 der Vorschriften, welche von den Ortspolizeibehörden bei der Aus¬
führung des Impfgeschäftes zu befolgen sind (Anlage III. des erwähnten Rund¬
erlasses), sowie die in Ziffer 19 dieses Kunderlasses zu letzterem Paragraphen
gegebene Erläuterung innegehalten werden, wonach die Impfpflichtigen oder
andere zur Impfung gelangende Personen mit reingewaschenem Körper und mit
reinen Kleidern zur Impfung gestellt und für den Fall, dass dies nicht zutrifft,
zurückgewiesen werden müssen. Um eine Störung der ordnungsmässigen Ab¬
wickelung des Impfgeschäftes durch solche Zurückweisungen thunlichst zu ver¬
meiden, ist zweckmässig bei Abhaltung eines öffentlichen Impftermins Vorsorge
zu treffen, dass eine noch erforderlich erscheinende Reinigung des Armes mit
Wasser und Seife dabei ausgeführt werden kann.
Behufs Vermeidung einer Ueberfüllung der Impfräume und zur möglichsten
Sicherung einer raschen und ungestörten Ausführung der Impfungen sind die
Vorladungen an der Hand der Erfahrungen so zu gestalten, dass bei Erstimpf¬
lingen die Zahl 50, bei Wiederimpflingen die Zahl 80 im einzelnen Impftermine
voraussichtlich nicht überschritten wird. Es ist dabei nicht ausgeschlossen, dass
mehrere Impftermine an demselben Tage und in demselben Impflocale mit ange¬
messenen zeitlichen Zwischenräumen angesetzt werden.
Die Schwierigkeit, mit welcher die Feststellungen über behauptete Jmpf-
schädigungen nach Ablauf einer längeren Zeit verknüpft zu sein pflegen, macht
Google
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Besprechungen, Referate, Notizen, amtliche Mittheilungen.
197
es erwünscht, dass die Behörden thunlichst alsbald Kenntniss von den Fällen er¬
halten, bei denen ein abnormer Verlauf der Impfung beobachtet wird und ver-
muthet werden kann, dass dieselben zur Behauptung einer Impfschädigung früher
oder später Anlass geben können. Die Impfärzte sind deshalb anzuweisen, dass
sie von derartigen Fällen, .welche aus eigener Anschauung im Nachschautermine
oder anderweit zu ihrer Kenntniss gelangen, der zuständigen Behörde Mittheilung
machen, damit die nach dem Runderlass vom 22. Mai 1895. — M. d.g.A-. M. 3941
U. I., M. d. J. II. 6480 — angeordneten ^tatsächlichen Ermittelungen rechtzeitig
vorgenommen werden können.
Zur Sicherung einer ordnungsmässigen Durchführung des Impfgeschäfts
wollen Euere Hochwohlgeboren den Ihnen unterstellten Regierungs- und Medi-
cinalrath beauftragen, dass derselbe einzelnen Impfterminen in der jeweiligen
Impfperiode beiwohnt. Dies würde unvermuthet zu geschehen haben. Sofern die
Anzeige der Impftermine seitens der Ortsbehörden an die Regierungs-Präsidenten
noch nicht überall vorgeschrieben worden, ist dies zu vorstehendem Zwecke noch
anzuordnen.
Berlin, den 31. März 1897.
Der Minister der Medicinal- etc. Angeleg. Der Minister des Innern.
I. A.: v. Bartsch. I. A.: Haase.
Verordnung, betreffend die Führung der mit akademischen Graden
verbundenen Titel.
Wir Wilhelm, von Gottes Gnaden König von Preussen u. s. w. verordnen
hierdurch, was folgt:
§ 1. Preussische Staatsangehörige, welche einen akademischen Grad ausser¬
halb dös Deutschen Reichs erwerben, bedürfen zur Führung des damit verbunde¬
nen Titels der Genehmigung des Ministers der geistlichen, Unterrichts- und Me-
dicinalangelegenheiten.
§ 2. Für nichtpreussische Reichsangehörige und Ausländer, welche einen
akademischen Grad ausserhalb des Deutschen Reiches erwerben, gilt die Bestim¬
mung des § 1 mit der Massgabe, dass es, sofern sie sich nur vorübergehend oder
in amtlichem Aufträge und in beiden Fällen nicht zu literarischen oder sonstigen
Erwerbszwecken in Preussen auf halten, genügt, wenn sie nach dem Recht ihres
Heimathsstaats zur Führung des Titels befugt sind.
§ 3. Die Frage, ob die Voraussetzungen der §§ 29 Abs. 1 und 147 No. 3
der Reichsgewerbeordnung vom 21. Juni 1869/1. Juli 1883 zutreflen, wird durch
die Bestimmungen der §§ 1 und 2 nicht berührt. Ebenso bleiben die statuta¬
rischen und sonstigen Vorschriften über die Habilitation von Privatdocenten an
den Landesuniversitäten unverändert in Geltung.
§ 4. Die vorstehende Verordnung greift bezüglich aller akademischen Grade
Platz, welche nach dem 15. April 1897 verliehen werden. Für akademische Grade,
welche vor diesem Zeitpunkt verliehen sind, bewendet es bei den bisherigen Be¬
stimmungen.
Gegeben Berlin im Schloss, den 7. April 1897.
(L. S.) Wilhelm R.
Bosse.
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Digitized by
198 Besprechungen, Referate, Notizen, amtliche Mittheilangen.
Banderlass a» die Kftnlgl. Regierungs-Präsidenten betr. Porto der Melde*
klarten Aber ansteckende Krankheiten.
Es ist in Frage gekommen, in wie weit für Postsendungen mit Meldungen,
welche aus Gründen der Gesundheitspolizei oder der Medicinalstatistik auf Anwei¬
sung der Staatsbehörden Seitens der Aerztc und des ärztlichen Ilülfspersonals,
sowie Seitens der Standesbeamten erstattet werden, von dem Aversionirungsver-
fahren Gebrauch gemacht werden kann. Es ist nicht statthaft, den Aerzten etc.
den Gebrauch des AversionirungsVermerks einzuräumen. Dagegen ermächtige ich
im Einverständnis mit dem Herrn Finanzminister und dem Herrn Minister des
Innern, sowie nach Benehmen mit dem Herrn Staatssekretär des Reichs-Postamts
die Herren Regierungs-Präsidenten und den Herrn Polizei-Präsidenten hierselbst
für derartige Meldungen den vorgenannten Personen auf ihren Wunsch Briefum¬
schläge oder Postkarten mit dem Abdruck des Dienstsiegels und dem Aversioni-
rungsvermerk, sowie thunlichst mit der Adresse des Empfängers zuzustellen. Die
Kosten sind aus dem Bureaubedürfnissfonds zu bestreiten.
Die betheiligten Reichs-Postanstalten sind von dem Herrn Staatssekretär des
Reichs-Postamts mit Anweisung versehen worden.
Berlin, den 20. April 1897.
Der Minister der geistlichen, Unterrichts- und Medicinalangelegenheiten.
In Vertretung: von Weyrauch.
Geilruckt hoi L. Schumacher in Perlin.
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
I. Gerichtliche Medicin.
l.
Gutachten über die Frage: oh ein, von einem Para¬
lytischen abgeschlossener, Haus-Kauf rechtsgiltig ist
oder nicht?
Von
Prof. Rieger in Würzburg.
Das nachstehende Gutachten scheint mir, auch für weitere Kreise,
von Bedeutung zu sein, weil drei wichtige Fragen darin behandelt sind:
1. Von wann an ist ein beginnender Paralytiker überhaupt
unzurechnungsfähig ?
2. Inwieweit muss die Unzurechnungsfähigkeit, in speciellcr
Hinsicht auf das, in Frage stehende, Rechts-Geschäft, bewiesen
sein?
3. Inwieweit kommt in Betracht: ob ein Vertrag-Schliessender, für
den andern Theil notorisch, geisteskrank ist?
Die Bezugnahmen auf das bayrische Landrecht, in dessen Be¬
reich der Process spielt, und auf das rheinische Recht werden vom
Jahre 1900 ab keine unmittelbare practische Bedeutung mehr haben.
Ich habe deshalb schon auf das bürgerliche Gesetzbuch vorausverwie¬
sen und auf Lücken in diesem, die vermuthlich nach 1900 in man¬
chem solchem Fall noch grosse Schwierigkeiten bereiten werden, wie
am Schluss des Gutachtens auseinandergesetzt ist. —
Durch Beweis-Beschluss des Oberlandesgerichts ist an mich die
Frage gestellt:
ob nach den, in den Gutachten der Sachverständigen nieder¬
gelegten, persönlichen Wahrnehmungen über den Krankheitszu-
Viert elj ah rssebr. f- ger. Med. Dritte Folge. XIV. 2.
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITÄT OF IOWA
200
l'rof. Rieder,
stand des M. und nach dem Ergebnisse des, in vorliegender Sache
erhobenen, Zeugenbeweises und insbesondere nach dem, von den
Zeugen geschilderten, Verhalten des M. bei den Vertragsverhand¬
lungen, bei der notariellen Beurkundung des Vertrags und un¬
mittelbar nach dem Abschluss des Vertrags vom 1. Decembcr
1892 anzunehmen ist: dass er damals und namentlich am
1. Decembcr 1892 bereits hochgradig maniakalisch erregt und
zum Abschluss von Verträgen wegen Mangels der Vernunft un¬
fähig war?
Die gleiche Frage wurde an Dr. N. gerichtet; und da dessen
Gutachten in den, mir übersandten, Akton schon enthalten ist, so kann
ich diejenigen Punkte, in welchen ich mit ihm übereinstimme, als er¬
ledigt ansehen, zumal da dieses Gutachten auch völlig übereinstiramt
mit den drei ärztlichen Gutachten, die aus dem erstinstanzlichen Ver¬
fahren bei den Akten liegen.
Die Uebereinstimmung erstreckt sich auf Folgendes:
M. ist an progressiver Paralyse 130 Tage nach dem Haus-Kaul
gestorben. Vom (5. oder 7. Deccmber 1892 ab, also nach 6 oder
7 Tagen von dem Haus-Kauf an gerechnet, hat er sich in einem so
unzweifelhaften Zustande von Geisteskrankheit befunden, laut Zeug-
niss des Dr. 0., dass, für diese Zeit und den weiteren Zeitraum bis
zum Tode, die Behauptung seiner Dispositions-Fähigkeit völlig unmög¬
lich wäre. Jahre lang vor dem 1. Dec. 1892 hatte schon die, zur
völligen Blindheit führende, Atrophie beider Sehnerven begonnen, die
eine Theilcrscheinuug der verbreiteten Zerstörungen von Nervensub-
stanz in seinem Hirn und Rückenmark gebildet hat. Auch in Bezug
auf seinen Geistes-Zustand war er schon vor dem 1. Dec. 1892 nicht
mehr normal: es kamen Dinge vor, die bewiesen, dass die Hirnkrank¬
heit, welche kurz nach dem 1. Dec. ihn völlig blödsinnig und zeit¬
weise tobsüchtig gemacht hat, schon in den Monaten vor dem ge¬
nannten Tage sich, bald mehr bald weniger stark, auch in psychischen
Krankheits-Symptomen geäussert hatte.
ln allen diesen Punkten stimme ich völlig überein, nicht nur mit
dem Gutachten von Dr. N. sondern auch mit dem Gutachten der
Sachverständigen, an welche in dem erstinstanzlichen Verfahren eine
andere Fragestellung gerichtet worden war.
Auf keinen dieser angeführten Punkte ist aber die jetzige Frage¬
stellung des Oberlandesgerichts gerichtet, sondern sie lautet:
Ob M. am l. Dec. 1892 bereits hochgradig maniakalisch
Digitized by
Gck gle
Ürigiral from
UNIVERSUM OF IOWA
Gutachten, ob Haus-Kauf durch Paralytischen reclitsgiltig ist oder nicht. 201
erregt und zum Abschluss von Verträgen wegen Mangels der
Vernunft unfähig war?
Diesen beiden verschiedenen Theilen der Fragestellung gegenüber
fällt auch die gutachtliche Beantwortung verschieden aus.
Der erste Theil der Frage kann aus den nachstehenden Gründen
bestimmt verneint werden; der zweite Theil wird, auf Grund der aus¬
führlichen Erörterungen, die unten folgen werden, bis zu einem ge¬
wissen Theiic unbeantwortbar und unlösbar bleiben müssen. —
Die Gründe für die Verneinung des ersten Theils der gestellten
Frage:
ob M. am 1. Dec. 1892 bereits hochgradig maniakalisch
erregt war?
sind folgende:
Dass ein „hochgradig maniakalisch Erregter“ einen Haus-
Kauf mit notarieller Protokollirung absehliesscn könnte, ohne dass über
seinen Zustand in dem Protokoll irgend ein Vermerk gemacht wäre,
ist von vornherein schwer denkbar. Ich habe, um mich über diese
Frage zu orientiren, Einsicht von dem Notariats-Gesetz (vom 10. Nov.
1861) genommen, und zwar in der Ausgabe von Dollmann (Gesetz¬
gebung des Königreichs Bayern. Erlangen 1863), mit Commentar von
E. v. Zink.
ln diesem Commentar heisst es (S. 509) zu Art. 45:
„Der Notar darf keine Urkunde aufnehmen für Leute, welche
nicht bei gesundem Verstände sind oder welche in Folge von Be¬
trunkenheit, Zorn oder aus irgend einem anderen Grunde augenfällig
und unzweifelhaft ihrer Vernunft beraubt sind; denn dergleichen
Menschen haben gar keinen oder doch keinen freien Willen, während
doch die Sendung des Notars gerade darin besteht Willens-Aeussc-
rungen der Parteien aufzunehmen.“
Im Gesetzes-Texte habe ich jedoch keine Bestimmung auffinden
können, die für den Fall der Geisteskrankheit dem Notar ausdrück¬
lich die Aufnahme einer Urkunde verböte. Bei näherer Erwägung
wird diese gesetzgeberische Zurückhaltung auch begründet erscheinen
müssen. Denn alle solche Fälle bedürfen einer sorgfältigen Indivi-
dualisirung und eignen sich deshalb nicht für gesetzgeberische Genc-
ralisirung. Mit Rücksicht auf diesen Punkt kann auch der scheinbare
Widerspruch begreiflich erscheinen, der zu der, vorhin citirten, Stelle
in der folgenden Stelle desselben Comraentars enthalten ist (a. a. 0.
S. 512):
14*
□ igitized by Google
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
202
Prof. Rieger,
„Will eine Person ein Testament errichten, welche wohl ihren
Willen zusammenhängend erklären kann, dabei aber Kennzeichen einer
gestörten Verstandes-Thätigkeit und unfreien Willens-Bestimmung wahr-
nchmen lässt; so darf der Notar zwar die, beharrlich verlangte,
Aufnahme nicht verweigern, er hat aber jene Umstände mit an¬
zuführen; weigert sich etwa der Testator dieses geschehen zu lassen
oder die Urkunde zu unterzeichnen, so ist auch der Notar zur Ver¬
weigerung seines Dienstes berechtigt.“
Hier (beim Testament) heisst es: er dürfe es nicht verweigern;
dort (bei der Urkunde im Allgemeinen) hiess es: er dürfe es nicht
thun. Es dürfte sich dieser Widerspruch dadurch erklären, dass in
der That, gerade im Hinblick auf Testamente, manche Fälle denkbar
sind, in welchen auch gegenüber dem Verlangen eines „aufgeregten“
und ähnlichen Menschen Grund vorliegt die Urkunde aufzunehmen.
Es dürfte deshalb der Art. 49 des Gesetzes ganz das Richtige treffen,
wenn er besagt:
„Wird die Dienstleistung eines Notars von einer Person in An¬
spruch genommen, über deren persönliche Befähigung zur Vornahme
von Rechts-Geschäften er Bedenken hegt; so kann er zwar die Dienst¬
leistung nicht verweigern, ist aber verpflichtet seine, jenes Bedenken
begründenden, Wahrnehmungen in der, über das Rechtsgeschäft aufzu¬
nehmenden, Urkunde zu constatiren.“
Soviel steht also, nach dem unzweideutigen Texte dieses Artikels,
fest: dass, wenn M. bei der Kaufs-Protokollirung hochgradig maniaka-
lisch erregt gewesen wäre, der Notar zum Mindesten hätte darüber
eine Constatirung machen müssen. Gegenüber „hochgradiger mania-
kalischer Erregtheit“ wäre die Annahme undenkbar: der Notar habe
über die persönliche Befähigung ohne Bedenken sein können. Denn
„hochgradige maniakalische Erregtheit“ ist ein, für Jedermann absolut
notorischer, abnormer Geistes-Zustand. Nach der, in der oben citirten
Stelle des Commentars vertretenen, strengeren Auffassung hätte er so¬
gar die Urkunde überhaupt nicht aufnehmen dürfen; denn ein hoch¬
gradig maniakalisch Erregter ist im Sinne der citirten Stelle „augen¬
fällig und unzweifelhaft“ seiner Vernunft beraubt; und dieser
Fall ist in jener Stelle noch ausdrücklich in Gegensatz gestellt zu
dem, in Artikel 49, vorgesehenen, wenn es (a. a. "0. S. 509) heisst:
„Dem steht auch der Art. 49 nicht entgegen, welcher nur von dem
Falle spricht, wo der Notar gegen die persönliche Befähigung der
Partei zum Abschlüsse blosse Bedenken hegt.“
Digitized by
Gck gle
Original frnrri
UNIVERSUM OF IOWA
Gutachten, ob Haus-Kauf durch Paralytischen rechtsgültig ist oder nicht. 203
Dementsprechend hat auch der Notar in seiner eidlichen Aus¬
sage vom 15. Dec. 1893 bezeugt:
„Sein Benehmen war etwas anders als bei Sehenden, was ich
aber nur als Folge seiner Erblindung auffasste. Ausserdem ist mir
an ihm gar nichts aufgefallen, was einen Zweifel an seiner Disposi¬
tions-Fähigkeit hätte erregen können, ich hätte sonst den Vertrag
nicht aufgenommen.“
Wegen der Blindheit waren, nach Art. 57 des Notariats-Gesetzes,
zwei Zeugen beizuziehen, was auch geschehen ist. Von dieser Blind¬
heit wird am Schlüsse des Gutachtens noch die Rede sein. Was aber
hier zu sagen ist, ist Folgendes: Das, von dem Notar für „etwas
anders als bei Sehenden“ erklärte und als Folge der Blindheit auf¬
gefasste, Benehmen des M. kann unmöglich ein „hochgradig maniaka-
lisch erregtes“ gewesen sein. Wenn letzteres thatsächlich vorhanden
gewesen wäre, so käme die Aussage des Notars einem bewussten
Meineide gleich. Denn „hochgradige maniakalische Erregung“ ist eine
sinnenfällige und dermassen notorische Erscheinung, dass, wenn sie
vorhanden ist, sie auch von Jedermann wahrgenommen werden muss;
dass also ihre fälschliche Inabrede-Stellung nicht als blosser Irrthum
und Ausdruck einer (bona fide) falschen Meinung erklärt werden könnte.
Gegenüber dem Thatbestand „hochgradiger maniakalischcr Erregung“
kann es sich niemals um einen blossen Ueberzeugungs-Eid sondern
immer nur um einen Wissens-Eid handeln.
Aus diesen Gründen lässt sich der erste Theil der Frage
bestimmt verneinen.
Der zweite Theil der gestellten Frage, nämlich: ob M. am 1. De-
eember 1892 wegen Mangels der Vernunft zum Abschluss von Ver¬
trägen unfähig war? ist viel schwieriger zu beantworten als der erste.
Er lässt überhaupt keine bestimmte Antwort zu und zwar aus folgen¬
den Gründen:
Vor allem besteht in Bezug auf das ganze Material von Zeugen-
Aussagen, auch wenn sie unter Eid geschehen sind, der grosse Gegen¬
satz zu dem ad 1 Erledigten: dass diese Aussagen, soweit sie für die
Frage des „Mangels der Vernunft“ von Wichtigkeit sein sollen, sich
nur zu einem geringen Theil beziehen können auf unzweideutige und
concreto Thatsachen. Denn in dieser Richtung kann selbst der unge¬
bildetste Zeuge seine Aussage nur machen auf Grund einer gewissen,
abstrahirenden und reflectirenden, Denkthätigkeit, welche die Aussage
Digitized by
Go^ gle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
204
Prof. Kieper,
in gewissem Sinne mehr als ein Gutachten denn als eine Bezeugung
von Thatsachcn erscheinen lässt, und wobei die subjcctivc Meinung
auf die Aussage einen, mindestens eben so grossen, Einfluss gewinnt
als die einfache Erinnerung an unmittelbare Wahrnehmungen. Wäh¬
rend die Frage: ob „hochgradige maniakalische Erregtheit“ zu beob¬
achten war oder nicht? mit derselben, auf sinnliche Wahrnehmung
gegründeten, Bestimmtheit beantwortet werden kann wie z. B. die:
ob ein Wagen stillgestanden hat oder nicht? so wären alle Aussagen,
die über den „Mangel an Vernuntt“ von den Zeugen gemacht werden
können, nur dann von, eben so starker, Beweiskraft, wenn dieser
„Mangel an Vernunft“ sich in so eklatantem Maassc dokumentirt hätte,
dass von einem zweifelhaften Zustande keine Rede mehr sein könnte.
Eine Aussage von so bestimmtem Werth ist z. B. die des Zeugen 1\
über die Vorgänge in der Nacht vom 9. zum 10. Dec. 1892. Was
hier berichtet wird ist unmittelbare, objectivc Wiedergabe der Erinne¬
rung an jenen Ausbruch unzweifelhafter Geisteskrankheit. Nirgends
aber findet sich in den Zeugen-Aussagen etwas gleiehermassen Beweis¬
kräftiges in Bezug auf die Zeit vor dem 1. Dec. 1892. Stellen, wie
die folgende (Aussage des Zeugen A.), enthalten ja ganz anschauliche
Schilderungen über M.’s Benehmen im Sommer und Herbst 1892:
So ging os fort bis zum Frühjahr 1892. Da wurde er immer schlimmer.
Er wurde nervös; heute hat er gestritten, am andorn Tage war er wieder gut.
Dann machte er mir Vorwürfe — das kam übrigens erst nach der Scheidung von
seiner Frau im October 1892 —, dass wir ihn nicht fortgehen Hessen, wir würden
protzig, weil wir etwas von ihm hätten.
Nach der Scheidung wurde es mit ihm überhaupt immer ärger. Einmal waren
wir ganz ruhig beisammen gesessen, kaum war ich weggegangen, so stund er auf
und schlug heftig die Thür zu, so dass ich zu meiner Frau sagte: Jetzt spinnt er
wieder u. s. f.
Aber in Bezug auf die bestimmte Frage: ob M. am 1. Dec.
1892 wegen Mangels der Vernunft zum Abschluss von Verträgen un¬
fähig gewesen sei? enthalten auch solche Aussagen doch so gut wie
nichts Entscheidendes. Was aus allen diesen und ähnlichen Angaben
zu entnehmen ist, dies steht auch ohnedies fest: dass er nämlich, gegen
den Dceember 1892 in steigendem Maasse, Zeichen seiner paralytischen
Hirnkrankheit gezeigt hat und gezeigt haben muss. Ein Versuch
aber, aus diesen mannigfaltigen Zeugen-Aussagen Beweise für die Be¬
jahung oder Verneinung der gestellten Frage zu schöpfen, hätte gar
keinen Werth, da, was aus ihnen geschöpft werden kann, sich ledig¬
lich in den, überhaupt unbestreitbaren, Satz zusammenfassen lässt:
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Gutachten, ob Haus-Kauf durch Paralytischen rcchtsgiltig ist oder nicht. 205
M. befand sich im November 1892 im Zustande beginnenden
paralytischen Blödsinns.
Wäre der Antrag auf Entmündigung vor (statt nach) dem 1. Dee.
1892 gestellt worden, so hätte es für einen wirklichen Sachverstän¬
digen nicht die mindeste Schwierigkeit gehabt nachzuweisen, dass er
an paralytischer Geistcs-Störung leide und der Entmündigung bedürftig
sei. Wäre dieser Auffassung von Seiten des Gerichts statt gegeben
worden, so hätte die Entmündigung alles Weitere abgeschnitten, und
der Haus-Kauf hätte nicht zu Stande kommen können. Auch die Stel¬
lung des Notars zur Sache wäre dann eine ganz andere gewesen.
Allerdings enthält auch in dieser Richtung das Notariats-Gesetz nicht
das ausdrückliche Verbot: der Notar dürfe Entmündigte nicht
zu Vertrags-Abschlüssen zulassen; sondern der §48 besagt nur: dass
bei dem Notar ein Verzeichniss der Entmündigten auf liegen soll.
Allein soviel geht doch aus dieser Bestimmung hervor: dass, mit der
Entmündigung implicite, der Entmündigte aus dem Kreise der ge¬
schäftsfähigen Personen ausscheidet, für welche der Notar da ist.
Wäre es so gegangen, so wäre der krankhafte Gcistes-Zustand
durch sachverständige und gleichzeitige Beobachtung und Untersuchung
festgestellt gewesen; und wäre, was sehr unwahrscheinlich ist, der
Vertrag trotzdem geschlossen worden, so hätte die Behauptung seiner
Nichtigkeit eine sichere Stütze gehabt. Dagegen, so wie die Sache
jetzt liegt, können diejenigen, welche die Giltigkeit des Vertrages be¬
haupten, Folgendes zu ihren Gunsten geltend machen:
a) Es fehle vor dem 1. Dec. 1892 an einem deutlichen zeitlichen
Einschnitt, von dem ab eigentliche Gcistes-Störung angenommen wer¬
den müsse.
b) Es fehle der speciellc Nachweis, dass gerade der Haus-Kauf
ein Ausfluss der Geisteskrankheit gewesen sei.
c) Es fehle der Nachweis, dass seine Geisteskrankheit so noto¬
risch gewesen sei, dass sie, für das Bewusstsein der Verkäufer, einen
Grund dafür hätte abgeben müssen von dem Verkaufe abzustehen.
Allen diesen Einwänden wäre durch rechtzeitige Entmündigung
des M. der Boden entzogen worden. Und umgekehrt wäre die Mög¬
lichkeit, die Giltigkeit des Kaufs zu bestreiten, erheblich eingeschränkt
worden, wenn vor dem 1. Dec. 1892 die Entmündigung zwar bean¬
tragt aber abgelehnt worden wäre. In diesem Falle hätte die Be¬
hauptung: die Krankheit sei erst nach dem 1. Dec. 1892 in einer,
die Dispositions-Fähigkeit aufhebenden, Weise aufgetreten, sclbstver-
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
206
Prof. Riegcr,
ständlicherweise einen viel sichereren Boden. — So wie die Sache
jetzt thatsächlich liegt, ist alles unklar und verschwommen. Nur in
Bezug auf die Zeit ungefähr vom 6. Dec. 1892 ab, lässt sich in völlig
einwandfreier Weise behaupten: die Dispositions-Fähigkeit sei aufgehoben
gewesen. Diese Zeit steht aber nicht in Frage. Dagegen lässt sich,
hinsichtlich des in Frage stehenden Zeitpunktes und in Bezug auf die
unter a), b) und c) aufgeführten Punkte, ziemlich gerade so viel für
als wider behaupten.
ad a) Von den vier vorliegenden Gutachten sagt das von Dr. 0.:
es gehe aus den Zeugen-Aussagen hervor, dass M. schon im Frühjahr
1892 an Beeinträchtigung des Gedächtnisses gelitten habe etc., und
dass der Anfang der Krankheit bis in das Frühjahr 1892 hinein be¬
wiesen sei. Ferner: es sei medicinisch ganz undenkbar, dass M. am
1. Dec. 1892 geistesgesund gewesen wäre. Ebenso Dr. A.: man
könne sicher schliessen, dass der Beginn der Erkrankung auf Wochen
oder Monate vor seinem Eintritte in das Krankenhaus (12. Dec. 1892)
zurückzudatiren sei. Ebenso sagt Dr. S.: M. müsse im Hinblick auf
die ganze Entwicklung der Krankheit am 1. Dec. bereits geistig er¬
krankt und dispositionsunfähig gewesen sein; und Dr. N. sagt am
Schlüsse seines Gutachtens: dass, wenn schon von vornherein die
grösste Wahrscheinlichkeit dafür bestanden hat, dass der, am 12. Dec.
in hochgradigstem Erregungs-Zustande der dementia paralytica pro¬
gressiva befindliche, M. am 1. desselben Monats nicht mehr disposi¬
tionsfähig sein konnte, dies durch die Aussagen der Zeugen, die ihn
an und vor diesem Tage ausreichend zu beobachten Gelegenheit ge¬
habt haben, und durch die Zeugnisse der behandelnden Aerzte soweit
zur Gewissheit geworden ist, als diese überhaupt, ohne eine specielle,
auf diesen Punkt gerichtete ärztliche Untersuchung an genanntem Tage
selbst, erlangt werden kann.
Diese vier Gutachten stimmen also völlig überein und äussern
ihre einstimmige Ansicht auch mit Bestimmtheit, abgesehen von der
Einschränkung, die in dem, soeben citirten, Schluss-Satz des Gutachters
Dr. N. liegt. Ich selbst könnte mich im Allgemeinen gleichfalls völlig
ihrer Ansicht anschliessen; und gegen die Behauptung: dass die, am
6. Dec. 1892 eklatante, Geisteskrankheit auch schon am 1. Dec. 1892
bestanden hat, ist es, auch nach meiner Ueberzeugung, völlig unmög¬
lich einen Einwand zu erheben. Wofern also nichts weiter verlangt,
würde als diese Behauptung, könnte ich meine Aussage einfach als
fünfte den vier bisherigen anschliessen.
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
Gutachten, ob Haus-Kauf durch Paralytischen rechtsgiltig ist oder nicht. 207
Präcisirt man aber die Frage schärfer: von welchem Zeitpunkt
ab er wegen Mangels der Vernunft unfähig gewesen sei zum Abschluss
von Verträgen? so ist es unmöglich einen solchen Zeitpunkt zu finden,
der so deutlich, wie etwa nachher die Nacht vom 9. zum 10. Dcc.
1892, den Ausbruch heftiger Geistes-Störung markirte. Wenn heute
etwa Jemand aufträte, der die Nichtigkeits-Erklärung auch schon für
eine Handlung M.’s aus den So mm er-Monaten des Jahres 1892 bean¬
tragen wollte; so wäre schliesslich auch diesem gegenüber zuzugeben:
dass M. auch damals schon an beginnendem paralytischem Blödsinn
gelitten hat. Hiegegen wird allerdings eingewendet werden: je ge¬
ringer der zeitliche Abstand sei von dem eklatanten Ausbruch der
Geisteskrankheit, desto stärkere Fortschritte müsse auch der Blödsinn
schon gemacht haben. Dieser Einwand wäre aber nur unter folgen¬
der Voraussetzung richtig: dass nämlich im Beginne der progressiven
Paralyse der psychische Verfall ein ganz allmäliger, unter dem Bilde
einer, gleichmässig sich senkenden, Linie darstellbarer wäre. Diese
Voraussetzung trifft aber für die meisten Fälle durchaus nicht zu.
Vielmehr steht als Regel zweifellos fest: dass die Entwicklung der
psychischen Störung sich ruckweise vollzieht; dass sie unter dem Bilde
einer Linie darzustellen wäre, die sehr ungleichmässig abfällt, bald
längere Zeit horizontal verläuft, bald wieder eine starke Senkung,
bald auch wieder eine Hebung zeigt. Deshalb wäre es an und für
sich keine absurde Annahme: ein solcher Paralytischer könnte in einem
früheren Moment weniger geschäftsfähig gewesen sein als in einem
späteren, sofern sich die Behauptung eben nur erstreckte auf den
zweifelhaften Zeitraum des Beginns der psychischen Störungen.
Der eigentliche Grund dafür, dass diese zeitlichen Grenz-Bestim-
mungen so schwierig und vielfach geradezu unmöglich sind, liegt in
folgendem: deutliche Zeitabschnitte können immer nur gemacht wer¬
den mit Hilfe von Ereignissen, die eine starke und ersichtliche Wir¬
kung äussem. Am klarsten sind solche Zusammenhänge selbstver¬
ständlicherweise dann, wenn durch ein sichtbares äusseres Ereigniss
eine Veränderung im Körper bedingt wird. Wenn z. B. Jemand eine
schwere Kopf-Verletzung durch eine äussere Gewalt erlitten hat, so ist
damit der entscheidende Zeitpunkt von selbst gegeben; und ebenso
wenn ein solcher Einschnitt durch einen sogenannten Hirn-Schlag, durch
eine Störung der Blut-Versorgung des Hirns, gegeben ist. In diesen
Fällen giebt es eine deutliche Grenze zwischen dem gesunden Zustand
vorher und dem kranken Zustand nachher. Von einer solchen
Digitized by
Go», igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
208
Prof. Hievor,
Digitized by
äusseren Beeinflussung der Hirn-Thätigkeit kann aber im vorliegenden
Falle, und bei der progressiven Paralyse überhaupt, durchaus keine
Rede sein. Besonders ist jeder Gedanke daran auf das Entschiedenste
ab/.uweisen: als ob, gerade erst in Folge des Haus-Kaufs, eine Ver¬
schlimmerung bei M. eingetreten wäre. Diese Auffassung findet sich
in den Akten wiederholt von den Vertretern der Beklagten ausge¬
drückt, so z. B. in den Worten: Es ist vielmehr in hohem Grade
wahrscheinlich, dass dieses (nämlich das maniakalische) Stadium erst
in Folge des Kaufs und der, damit verbundenen, Aufregung eintrat. —
Von einer derartigen (’ausalitäl kann nicht im Entferntesten die Rede
sein. Vielmehr lässt sich mit grösster Bestimmtheit behaupten: dass
die Entwicklung der progressiven Paralyse in jeder, auch der psy¬
chischen, Beziehung absolut unabhängig ist von allen gleichzeitigen
äusseren Ereignissen. Auf Grund solcher Vermuthungen, wie der
soeben angeführten, lässt sich deshalb durchaus kein zeitlicher Ein¬
schnitt bestimmen; ebensowenig als der, ebenfalls in einem Schrift-Satz
vorkommende, Erklärungs-Versuch irgend einen Werth hat, wo von
See neu die Rede ist, „wie sie bei allen älteren Männern Vorkommen“;
was besonders für den, 1850 geborenen also erst zweiundvierzig¬
jährigen, M. doch überaus unzutreffend ist. Seine Paralyse hätte
sich genau ebenso entwickelt, wenn er auch nie ein Haus gekauft
hätte; und im Hinblick auf die Entwicklung der Krankheit muss dieser
Haus-Kauf als ein so gleichgilfiges Ereigniss betrachtet werden, dass
mit seiner Hille durchaus kein Abschnitt construirt werden kann.
Aber auch vor dem 1. Deo. 1892 ist ein solcher Abschnitt nicht
zu finden; und es bleibt deshalb nichts anderes übrig als sich mit
der Annahme zu begnügen: er sei vor dem eklatanten Ausbruch seiner
Geisteskrankheit in einer, zeitlich nicht bestimmbaren, Weise bald mehr
bald weniger geisteskrank gewesen. Nur das eine könnte vielleicht
behauptet werden: dass er gerade am 1. Dcc. 1892 einen weniger
schlimmen Tag gehabt habe als an manchen anderen Tagen; und zwar
auf Grund folgender Zeugen-Aussagen: Wir waren zuerst beim Notar,
erst später kamen die Verkäufer. Er war damals ganz ruhig und
gab dem Notar selbst den Kaufpreis und die Baarzahlungen an. Auch
nach dem Kauf-Vertrag war er an diesem Tage weniger auffallend.
Ferner: An diesem Tage kam dann zwischen T. und M. der Kauf-
Vortrag zu Stande und zwar nach zweistündiger Verhandlung. T. wollte
damals erst 85000 Mk., dann ging er auf 80000 herab und schliess¬
lich, als M. gehen wollte, auf 75000 Mk.—Die Annahme, dass der
Go^ 'gle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
Gutachten, oh Haus-Kauf durch Paralytischen rechtsgültig ist oder nicht. 209
1. Dee. 1892 doch schon im Wesentlichen in dem Zeitraum der be¬
ginnenden Geisteskrankheit liegt, wird dadurch aber nicht erschüttert.
Und somit wird schliesslich die Entscheidung in diesem Punkte we¬
sentlich davon abhängen, welche principielle Stellung man einnimmt
zu der Frage: ob, im Hinblick auf den zweifelhaften Zeitraum, für
einen einzelnen Zeitpunkt zu gelten hat die Präsumption der Ver¬
nunft oder die des Mangels der Vernunft?
Diese Frage liegt so sehr auf der Grenzscheide juristischer und
psychiatrischer Competenz, dass ich im Nachstehenden, wenn ich über¬
haupt etwas dazu äussern soll, nicht vermeiden kann mich etwas näher
mit den Grundlagen des geltenden Rechts zu befassen, als es in ein¬
facher liegenden Fällen nöthig ist.
Auch in dem bayrischen Landrecht ist der Gegensatz nachzu¬
weisen, der die Sache so schwierig macht. Die Stelle (I. Thcil, 7. Kap.
§37): Alles was ein Unsinniger in seiner Raserei thut oder han¬
delt, ist aus Mangel des Willens oder Verstandes ohnehin, weder auf
seiner noch auf anderer Seite, von der geringsten Kraft; enthält durch
die Worte: „in seiner Raserei“ eine zweideutige Bestimmung, die
in dem einen oder anderen Sinne verwerthet werden kann. Gicht
man jenen Worten nur die Bedeutung: dass sic den Zeitraum im All¬
gemeinen bezeichnen sollen, während dessen Geisteskrankheit besteht;
so enthalten sie nur eine Amplification des Begriffs „Unsinniger“; und.
mittelst Uebersetzung der Begriffe des vorigen Jahrhunderts in moderne,
ergiebt sich dann der Satz: So lange der Mensch im Ganzen als gei¬
steskrank zu erachten ist, sind alle seine Handlungen eo ipso ohne
Rechts-Kraft.
Fasst man dagegen die Worte: „in seiner Raserei“ nicht als
bloss amplificatorischc sondern als eine nähere Bestimmung, derzu-
folge nur dasjenige keine Rechtskraft besitzen soll, was „in“, d. h.
unter dem Einfluss „der Raserei“ geschehen ist; so ist nicht alles,
was während des ganzen, in Frage stehenden, Zeitraums geschieht,
implicite für rechtsungültig erklärt; sondern es muss dann immer, in
Bezug auf Zeitpunkte einzelner Handlungen, die Frage eigens entschie¬
den werden: ob gerade für sie der Nachweis der Geistes-Störung zu
führen ist oder nicht?
Es ist selbstverständlich, dass gutachtliche Acusserungen in
ersterem Sinne mit grösserer Bestimmtheit abgegeben werden können
als solche in letzterem Sinne, zumal dann wenn zwischen dem frag¬
lichen Zeitpunkt und dem Gutachten Jahre verflossen sind. Denn
Digitized by
Go», igle
Original frnm
UMIVERSITY OF IOWA
210
Prof. Kicker,
über den Geistes-Zustand innerhalb eines längeren Zeitraums lässt
sich ein zusamraenfassendes, generalisirendes Urtheil auf Grund psy¬
chiatrischer Kenntnisse unschwer abgeben, wie ja auch im vorliegen¬
den Falle in dieser Beziehung alle Gutachten, das meinigc einge¬
schlossert, völlig übereinstimmen. Dagegen ist es, zumal nach so
langer Zeit, viel schwieriger oder geradezu unmöglich, etwas Bestimmtes
auszusagen über den Geistcs-Zustand in einem bestimmten Zeitpunkt,
immer unter der Voraussetzung, die ja im vorliegenden Falle zu
machen ist: dass ein gänzlich gestörter Geistes-Zustand, der über¬
haupt ausser Diskussion stünde, noch nicht gegeben war.
Für die richterliche Entscheidung wird jedenfalls sehr in Betracht
kommen, welcher der beiden Rechts-Sätze anzuwenden ist, nämlich
entweder): quilibet praesumitur sanae raentis esse, oder: semel demens
semper praesumitur demens donec constet de contrario?
In dieser Beziehung scheint mir das bayrische Landrecht, wenn
ich cs richtig verstehe, folgenden Standpunkt zu rechtfertigen: Für
einen Nicht-Entraündigten gilt der erste, für einen, wegen Geistes¬
krankheit, Entmündigten dagegen der zweite Satz. Denn einerseits
heisst es in dem Commentar von Kreittmayr (IV. Theil, S. 1377,
in der Anmerkung zu der Stelle IV. Theil, Cap. I. § 12):
Regelrecht kann Jeder paktiren, ausgenommen Jene, denen es an genüg¬
samem Willen oder Verstand ermangelt. Im Zweifel wird weder ein noch anderer
Mangel priisumirt, sondern derselbe muss allenfalls bewiesen sein.
Andererseits heisst cs in dem Text des Gesetzes: für den Fall, dass
ein Unsinniger bereits einen Curator habe, müsse „ein dilucidum
intervallum von den Alleganten allezeit bewiesen sein“, wozu dann
der Commentar bemerkt (I. S. 270): Bei Leuten, welche schon ein¬
mal für Narren gerichtlich erklärt worden sind, gelte nicht die Regel
(s. oben): quilibet praesumitur etc., sondern die gegentheilige: semel
demens etc.
Für den Fall, dass erstens diese Auffassung der Rechts-Grundlage
richtig ist, und dass zweitens zugegeben wird: Der Geistes-Zustand M.’s
am 1. Dec. 1892 sei noch ein zweifelhafter gewesen; wäre also,
da er damals nicht entmündigt war, die Präsumption nicht zulässig:
dass er gerade auch bei der Vertrags-Schliessung geschäftsunfähig ge¬
wesen sein müsse; sondern dieser Umstand müsste noch ausdrück¬
lich bewiesen werden. Dieser Beweis wäre aber nur zu führen unter
genauer Berücksichtigung der besonderen Umstände des, in Frage
stehenden, Vertrags-Abschlusses selbst; und auf diesen speciellen Punkt
Digitized by
Gck gle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
Gutachten, ob Haus-Kauf durch Paralytischen rochtsgiltig ist oder nicht. 211
ist nachher, unter b), zurückzukommen. Hier dagegen wäre, nach
allem bisher Auseinandergesetzten, nochmals im Allgemeinen die Frage
ins Auge zu fassen: ob die, vorhin gemachte, Voraussetzung: dass es
sich am 1. Dec. 1892 bei M. noch um einen bloss zweifelhaften
Geistes-Zustand gehandelt habe, begründet ist oder nicht?
Diese Frage kann im bejahenden Sinne beantwortet werden des¬
halb, weil die, immerhin noch am Sichersten stehende, Thatsache: dass
sein Benehmen bei dem Notar ein normales war, die, für Geistes¬
krankheit in jener Zeit sprechenden, Gründe zwar durchaus nicht an-
nullirt aber doch soweit aufwägt, dass man zu der Behauptung be¬
rechtigt ist: es habe doch auch in jenem Zeitraum noch Stunden ge¬
geben, für welche seine Geisteskrankheit als nicht wirksam betrachtet
werden könne. Solche Stunden wären aber, meines Erachtens, wenn
auch nicht im Sinne der Pathologie so doch im Sinne des bayrischen
Landrechts, als „lucida intervalla“ zu betrachten.
Wenn in dem Gutachten von Dr. S. ausgeführt ist: von einem
lucidum intervallum könne nicht die Rede sein; so bin auch ich da¬
mit vollständig einverstanden, wofern darunter nur dasjenige verstan¬
den wird, was dieses Gutachten darunter versteht, indem es jenen
Begriff gleichsetzt mit dem eines sogenannten „Remissions-Stadiums“
der Paralyse. Dass er am 1. Dec. 1892 sich nicht in einem solchen
Stadium befunden hat; dass vielmehr gerade damals seine Krankheit
in rascher Entwicklung zum völligen Ausbruch begriffen war; — darin
bin ich mit dem Gutachten völlig einig. Aber ich muss die Annahme
des Gutachtens bestreiten, derzufolge sein Zustand vom 1. Dec. 1892
ira Wesentlichen schon völlig gleichzusetzen wäre dem Zustand, der
ungefähr eine Woche später bestanden hat, und derzufolge auch für den
1. Dec. 1892 schon ein derartiger krankhafter Zustand anzunehmen
wäre, innerhalb dessen die Dispositions-Fähigkeit durchweg als aufge¬
hoben zu gelten hätte. Diese verschiedenen Zeiten, in ihrer recht¬
lichen Bedeutung, einfach gleichzusetzen; dies wird meines Erachtens
unmöglich gemacht durch den starken Contrast, der sich aus den
Akten ergiebt zwischen seinem Zustand vor und dem nach den
Scenen, die auch nach Dr. S.’s Annahme frühestens auf den 5. Dec.
1892 verlegt werden können.
Wenn ich ferner mit Dr. S. völlig darin einig bin, dass der Be¬
ginn der Krankheit schon in das Jahr 1889 zurückzudatiren ist; so
ergiebt sich für mich, gerade aus dieser Ueberzeugung, um so mehr
die Auffassung: dass für die Stipulirung des Beginns der zwei fei-
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
212
Prof. Ri ege r,
losen und durch weg bestehenden Unzurechnungsfähigkeit ein
schärferer zeitlicher Einschnitt erforderlich ist, als er gegeben ist
durch irgend etwas, was vor dem 5. Dcc. 1892 liegt. Ist diese
meine Auffassung richtig, dann bedarf es aber auch für die Annahme
eines lucidum intervallum nicht eines eigentlichen Remissions-Stadiums
der Krankheit. Ein solches wäre erforderlich, wenn er z. B., statt
im Frühjahr 1893 rasch zu sterben, sich, nach einem mehrmonat¬
lichen Zustand schwerer Geistes-Störung, wieder vorübergehend soweit
erholt hätte, dass er geistig klar geworden wäre. Für diesen Fall
träfen die Worte des Gutachtens völlig zu:
Die Möglichkeit der Wiederkehr der Dispositions-Fähigkeit ist erst dann ge¬
geben, wenn der Kranke aus der maniakalischen Erregung heraus in ein soge¬
nanntes Remissions-Stadium ei »tritt. Solche Remissions-Stadien dauern aber
nicht einen oder einige Tage sondern Monate lang.
Wenn dies für die Zeit nach dem Zeitraum zweifelloser Fnzu-
rechnungs-Fähigkeit völlig zuträfe, so fehlt dagegen für die hier frag¬
liche Zeit gerade eine wesentliche Bedingung dieser Auffassung: nämlich
dass es sich handelte um die Wiederkehr zu einer, vorher zweifellos
und für längere Zeit völlig verlorenen, geistigen Klarheit. Vielmehr
steht ja hier gerade das Gegentheil in Frage: ob nämlich der Zustand
völliger und durchgreifender Unzurechnungsfähigkeit überhaupt schon
cingetreten war oder nicht?
Und da nun auch darüber principiell völliges Einverständnis»
herrscht, dass im Beginn der progressiven Paralyse nicht auf einmal
völlige Unzurechnungsfähigkeit ein tritt, sondern dass im Anfang klare
und unklare Tage vielfach wechseln; so bedarf es für diese, über¬
haupt und durchaus zweifelhafte, Zeit zu der Annahme von
Stunden der Zurechnungs-Fähigkeit keines eigentlichen „Remissions-
Stadiums“, da ja ein Zustand, welcher nur durch eine solche völlige
„remissio“ wieder aufgehoben werden könnte, sich überhaupt noch
nicht für die Dauer festgesetzt hatte. Wenn nun das Landrecht (I. c. 7,
§ 37, 3) selbst für Jemanden, der schon unter Curatel steht, die Mög¬
lichkeit zulässt, dass er, „daferne er zuweilen wiederum zu sich
kömmt, während diesem Intcrvallo ohne Curator handeln könne“; so
wäre, meines Erachtens, gegenüber von einem Nicht-Entmündigtcn
um so mehr Anlass gegeben, principiell wenigstens, auch im vorliegen¬
den Falle für den 1. Dcc. 1892 die Möglichkeit eines lucidum inter¬
vallum anzuerkennen.
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Gutachten, ob Haus-Kauf durch Paralytischen rechtsseitig- ist oder nicht. 213
Davon aber, dass M. am 1. Dec. 1892 „geistig kerngesund“ ge¬
wesen wäre, welche Annahme in den Gründen des erstinstanzlichen
Urtheils mit Recht als undenkbar zurückgewiesen wird, kann aller¬
dings durchaus keine Rede sein; und ich wiederhole deshalb nochmals
ausdrücklich: dass ich in der Gesammt-Auffassung des Zustandes mit
den vier bisherigen Gutachten völlig übereinstimme und nur zu be¬
denken gebe, ob nicht, auf Grund des bestehenden Rechts, der kritische
Zeitpunkt doch als eine Episode der Zurechnungs-Fähigkeit betrachtet
werden könnte in Anbetracht seines vernünftig scheinenden Beneh¬
mens und des, auch von Dr, N. in der oben citirtcn Stelle anerkannten,
Umstandes, dass ohne eine specielle, auf diesen Punkt gerichtete,
ärztliche Untersuchung ein völlig bestimmtes Urtheil über den Geistes¬
zustand an jenem Tage unmöglich ist.
Ich bemerke noch zu der Frage des zeitlichen Verlaufs der Krank¬
heit: dass ich der, mehrfach in den Akten hervortretenden, Anschauung
eutgegentreten muss, derzufolge gerade der nachherigc rasche Verlauf
der Krankheit besonders beweiskräftig wäre für die Annahme, dass
schon am 1. Dec. 1892 Unzureehnungs-Fähigkeit bestanden habe. Aus
meiner Erfahrung wäre ich eher geneigt das Gcgentheil und speciell
dieses zu behaupten: dass die, schliesslich sehr rasch verlaufenden,
Fälle von Paralyse gerade diejenigen sind, bei welchen Anfangs noch
merkwürdig lange, trotz starker körperlicher Symptome wie der Sch-
nerven-Atrophie und anderer, mehr vom Rückenmark als vom Hirn, ab¬
hängiger, das psychische Leben verhältnissmässig intact geblieben war.
Ich möchte aber in dieser Richtung durchaus keine Gesetzmässigkeit
behaupten, da ich nicht glaube, dass eine solche existirt; sondern nur
bestimmt mich dahin aussprechen: dass der nachträgliche rasche Ver¬
lauf weder in der einen noch in der anderen Richtung für die Frage
des 1. Dec. 1892 venverthet w r erden darf. —
ad b) Es fehle der specielle Nachweis, dass gerade der Haus-
Kauf ein Ausfluss der Geisteskrankheit gewesen sei.
Das erstinstanzliche Urtheil hat sich in dieser Richtung sehr be¬
stimmt gegenteilig geäussert und den Haus-Kauf direct für den
Ausfluss einer Wahn-Idee erklärt. Es ist selbstverständlich, dass, wenn
dem so ist, dadurch der stärkste Beweis geliefert wird dafür, dass
der Kauf von dem Käufer „in seiner Raserei“ (im Sinne des Land¬
rechts) geschlossen worden ist. Das lucidum intervallum, dessen An¬
nahme ad a) principiell als zulässig und denkbar bezeichnet worden
ist, würde ganz hinfällig, wenn nicht nur der Geistes-Zustand im All-
Digitized by
Go», igle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
214
Prof. Rieger,
gemeinen ein sehr zweifelhafter, sondern sogar die specielle, in dem
fraglichen Zeitpunkt vollzogene, Handlung eine solche gewesen wäre,
dass sie vom Standpunkt der gesunden Vernunft nicht erklärlich wäre.
Das landgerichtliche Urtheil ist in dieser Hinsicht weiter gegangen als
die Gutachten. Das Gutachten von Dr. P. berührt diesen Punkt
nicht. Dr. N. sagt nur: ob der Kauf für ihn günstig oder ungün¬
stig ausgefallen ist, kann im vorliegenden Falle als der reine Zufall
betrachtet werden. Diese Auffassung ist auch, von dem Standpunkt
aus, dass seine Dispositions-Fähigkeit am 1. Dec. 1892 durchweg und
auf alle Fälle aufgehoben war, die consequente, indem alsdann auf
eine einzelne Handlung nichts mehr ankommt. Würde dagegen das,
von mir ad a), Auseinandergesetzte als richtig anerkannt, so käme
gerade auf diesen Punkt am Meisten an. In dem bayrischen Land¬
recht habe ich darüber nichts linden können, während im badischen
Landrecht z. B. die Worte stehen (Art. 503): wenn der Beweis
des Wahnsinns sich aus der angefochtenen Handlung selbst ergiebt.
Da das erstinstanzliche Urtheil auf diesen Punkt Nachdruck gelegt
hat, so dürfte anzunehmen sein, dass er auch im vorliegenden Falle
von Wichtigkeit ist, obgleich das bayrische Landrecht seiner nicht
ausdrücklich Erwähnung thut.
Die Beurtheilung dieser Frage: ob der Kauf ein vernünftiger war
oder nicht? liegt aber, selbstverständlicherweise, ausserhalb meiner
Competenz; und ich kann mich deshalb nur darauf beschränken
meinerseits folgende Erklärung abzugeben:
Falls das Gericht den Haus-Kauf (als solchen und rein objectiv,
ohne Rücksicht auf den Käufer, betrachtet) für einen sachgemässen
befinden würde, der von jedem andern, in seinen Verhältnissen Leben¬
den ebenso hätte abgeschlossen werden können; so würde, von meinem
Standpunkt aus, dies nicht, wie von Dr. N., als blosser Zufall zu be¬
trachten sein sondern als Beweis dafür, dass er in jenem zweifel¬
haften Zeitraum zeitweise auch noch zu vernünftigen Handlungen fähig
gewesen ist.
ad c) Es fehle der Nachweis, dass seine Geisteskrankheit so
notorisch gewesen sei, dass sie für das Bewusstsein der Verkäufer
einen Grund dafür hätte abgeben müssen von dem Kaufe abzustehen.
Auch die Entscheidung dieser Frage muss wesentlich beeinflusst
werden durch die, ad b) als erforderlich erklärte, thatsächliche Fest¬
stellung. Denn wenn der Kauf an und für sich als vernünftig zu
erachten ist, so fällt natürlich die Möglichkeit der Annahme weg:
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Gutachten, ob Haus-Kauf durch Paralytischen rechtsgiltig ist oder nicht. 215
Die Verkäufer hätten den abnormen Geistes-Zustand schon daraus er¬
kennen müssen, dass M. sich zu einem sinnlosen Kauf hergegeben
habe; während bei der entgegengesetzten Auffassung gerade dies wohl
wesentlich zur Annullirung des Vertrages beitragen müsste, wenn die
Ueberzeugung zu gewinnen wäre, dass die Verkäufer mit Bewusstsein
Missbrauch getrieben hätten mit einem, ihnen bekannten, abnormen
Geistes-Zustand.
Das erstinstanzliche Urtheil hat sich dahin ausgesprochen: es sei
vollständig gleichgültig: ob der geistig gesunde Theil die Willens-
Fähigkeit des Gegentheils erkennt oder nicht erkennt? ob er den Gc-
genthcil geschädigt oder nicht geschädigt hat? — es fügt jedoch hinzu:
„Diese Momente haben nur insofern Bedeutung, als, wenn Unreellität
des gesunden Vertragstheils nachgewiesen wird, dies einen Beweis¬
behelf für die Erweisung der geistigen Erkrankung des anderen Ver¬
tragstheils bilden kann.“
Einen solchen Mangel an Gutgläubigkeit nimmt das Urtheil nicht
als erwiesen an.
Ob seine Geisteskrankheit den Verkäufern bewusst gewesen ist
oder nicht? — diese Frage scheint auch mir, in Uebereinstimmung
mit dem landgerichtlichen Urtheil, nicht beantwortbar zu sein, da aus
den Zeugen-Aussagen ziemlich ebensoviel pro als contra beizubringen
wäre. Nachdem jetzt so lange Zeit verflossen ist, w r ürdc es wohl um
so weniger möglich sein noch durch nachträgliche Zeugen-Vernehmungen
etwas Sicheres festzustellen. Speciell würde wohl auch in Bezug auf
die Verkäufer, wie dies bei dem Notar der Fall war (s. dessen Zeu-
gen-Aussage), die Einrede erhoben werden: was etwa auffällig erschie¬
nen sei, habe man durch die Blindheit erklären zu müssen geglaubt.
Diese Blindheit ist, um dies nicht unerwähnt zu lassen, auch für
die objective Beurtheilung des Geistes-Zustandes ein sehr erschweren¬
der Umstand, weil sie die Möglichkeit ausgeschlossen hat auf Grund
etwaiger Schrift-Stücke von seiner Hand zu urtheilen. Ein solches
Schriftstück, vom 1. Dec. 1892 oder den Tagen unmittelbar zuvor,
hätte für die Frage des Mangels der Vernunft weit grössere Beweis-
Kraft als alles, was Zeugen nachträglich aussagen können. Auch
diese Lücke des Beweis-Materials muss deshalb noch erheblich dazu
beitragen, die gestellte Frage als eine solche erscheinen zu lassen,
die mit Bestimmtheit nicht zu beantworten ist.
In diesem, wesentlich negativen, Satze habe ich oben mein Gut¬
achten zusammengefasst hinsichtlich der Frage des Mangels der Vor-
Vierteljabraschr. f. ger. Med. Dritte Folge. XIV. 2. jfj
Digitized by
Gck gle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
216
Prof. Rieger,
nunft; und in den vorstehenden Erörterungen habe ich versucht, so
eingehend als es mir möglich war, den Beweis zu führen dafür, dass
vom Standpunkt meiner psychiatrischen Erfahrung aus eine be¬
stimmtere Beantwortung der Frage nicht möglich ist.
Sollte auf den Punkt c) überhaupt etwas ankommen, so möchte
ich verweisen auf die Stelle bei Kreittmayr (I. S. 270): „Der
obrigkeitlichen Deklaration oder Promulgation braucht es zwar bei
ihnen, wie bei Prodigis, nicht, weil sie sich selbst gleich ver-
rathen.“ Falls diese Stelle als wichtig zu erachten wäre, so Hesse
sich aus ihr die Folgerung ziehen: dass (im Gegensatz zu den Ver¬
schwendern, denen man ihre Eigenschaft nicht ansehen kann,) als
geschäftsunfähige Geisteskranke diejenigen zu gelten hätten, die sich
in dem kritischen Zeitpunkt als solche unmittelbar verrathen. Wäre
diese Auffassung richtig, so wäre, auch auf dem Boden des bayrischen
Landrechts, der Umstand nicht völlig gleichgiltig, ob die Geistes¬
störung eine offenkundige war oder nicht; so wie dies z. B. im code
civil ausdrücklich als wesentlicher Punkt bezeichnet ist in dem Ar¬
tikel 503: „Handlungen, welche vor der Entmündigung eingegangen
wurden, können wieder zernichtet werden, wenn die Ursache der Ent¬
mündigung zur Zeit, als jene geschehen, schon kündbar vorhanden
war.“ Als ich neulich die gleiche Frage, wie sie jetzt vorliegt, für
ein badisches Gericht zu beantworten hatte, da war mit Rücksicht auf
den angeführten Artikel die Frage-Stellung von vornherein darauf ge¬
richtet: ob die Geistes-Krankheit zur Zeit des Kaufs schon kündbar vor¬
handen war; und hiedurch wurde auch die Beantwortung beeinflusst.
Sollte dagegen auf diesen Punkt gar nichts ankoramen, wie dies
allerdings für die Zukunft in Deutschland überhaupt sein zu sollen
scheint, indem es mir wenigstens nicht gelungen ist, in dem bürger¬
lichen Gesetzbuch etwas davon aufzufinden; — so müsste sich auch
für die rechtlichen Folgen ein immer grösserer Zwiespalt herausstellen
hinsichtlich dessen, was der Sachverständige und was der Nicht-Sach¬
verständige merkt und erkennt. Wäre das neue Gesetzbuch für den
vorliegenden Fall schon gütig, so könnte auch für den nicht ent¬
mündigten M. die Frage nur lauten (nach § 104 Z. 2): ob er am
1. Dezember 1892 sich befunden hat „in einem die freie Willens¬
bestimmung ausschliessenden Zustande krankhafter Störung der Geistes-
thätigkeit“; und ich kann in dem ganzen Gesetzbuch nichts finden,
wodurch auf die, oben unter b und c erörterten, Spezialfragen Rück¬
sicht genommen wäre. Die, so allgemein gestellte, Frage müsste auch
Digitized by
Gck gle
Original frnm
UNIVERSITÄT OF IOWA
Gutachten, ob Haus-Kauf durch Paralytischen rechtsgiltig ist oder nicht. 217
ich im Hinblick auf den vorliegenden Fall, in Uebereinstimmung mit
den vier anderen Gutachten, bejahend beantworten. Aber dann wird
eine grosse Zahl von Handlungen, welche der gesunde Menschenver¬
stand an und für sich für gültig halten würde, blos deshalb für un¬
gültig zu erklären sein, weil die Sachverständigen nicht umhin können
werden, die ganze Persönlichkeit in dem ganzen fraglichen Zeitraum
für geisteskrank zu erklären; und zwar wird dieser Zwiespalt um so
stärker werden, je mehr die diagnostische Kunst Fortschritte macht
in der Richtung, dass sie schon die frühesten Krankheits-Anfänge zu
erkennen vermag. Ich fürchte, dass sich hieraus vielfache Konflikte
ergeben werden.
Der Wortlaut des citirten Paragraphen des bürgerlichen Gesetzbuchs
ist im Wesentlichen entnommen dem § 51 des Strafgesetzbuchs. In
dem Strafgesetzbuch ist aber wenigstens insofern eine schärfere zeit¬
liche Bestimmung enthalten, als es heisst: „wenn der Thäter zur
Zeit der Begehung der Handlung“ etc.; und auch der Zusatz:
„durch w r elche seine freie Willensbestimmung ausgeschlossen war“ ist
immer so aufgefasst worden, dass nachzuweisen sei eine causale
Abhängigkeit der concreten strafbaren Handlung von dem krank¬
haften Geisteszustand. Auch dies würde, auf Grund jener Fassung
des bürgerlichen Gesetzbuchs, kaum mehr als erforderlich betrachtet
werden dürfen; und jeder, auch nicht entmündigte, Geisteskranke
wäre danach für alle Fälle geschäftsunfähig; Verträge etc., die er
trotzdem abgeschlossen hätte, wären cs ipso rechtsungültig.
Ich bemerke schliesslich, dass diese Auffassung in einen starken
Gegensatz träte zu derjenigen, welche in dem Erlass des Bayr. Justiz-
Ministeriums vom 26. März 1895 ausgedrückt ist, wo es heisst: „Von
der Stellung eines Entmündigungs-Antrages kann dann keine Rede sein,
wenn die geistige Störung die Handlungsfähigkeit des
Kranken nicht beeinträchtigt.“ —
Ich habe diese Betrachtung hier herangezogen, um daran zum
Schluss noch einmal ausdrücklich die Erklärung zu knüpfen: dass,
unter dieser letzteren hiemit erörterten Voraussetzung, auch von mir
der, an paralytischer Geistes-Störung erkrankte, M. für geschäftsunfähig
zu erklären wäre. Ein Widerspruch kann sich deshalb nicht ergeben
hinsichtlich der thatsächlichen Grundlagen, über welche, innerhalb der
psychiatrischen Competenz, alle fünf Gutachten übereinstimmen; son¬
dern nur in der Auffassung ihrer rechtlichen Bedeutung, in welcher
Hinsicht eine Entscheidung ausserhalb psychiatrischer Competenz liegt.
- 15*
Digitized by
Gck gle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
2 .
Casuistischer Beitrag zur gerichtlichen Psychiatrie.
Von
Med.-Rath Dr. F. Siemens,
Direktor der Proviiizial-Irrcnatistalt Lauenburg in Pommern.
Gattenin ord oder Selbstmord? Beide Ehegatten geistig gestört,
Genuine oder traumatische Psychose des Ehemannes?
Der nachstehende Fall ist gerichtlich - medizinisch nach vielen
Richtungen hin von Interesse.
Einmal bezüglich der Todesart der Denata. Es ist unmöglich,
in diesem Falle mit Bestimmtheit zu sagen, wie die Frau N. ums
Leben gekommen ist, ob Selbstmord oder Gattenraord vorliegt.
Sodann bot die Beurtheilung des Geisteszustandes des Angeklagten
manche schwierige Frage. Es zeigte sich wieder, dass in der Vor¬
untersuchung die von dem Angeklagten versuchte Simulation (oder
Uebertreibung) einzelner körperlicher Symptome den Gerichtspersonen
und dem Sachverständigen grosse Schwierigkeiten bei der Beurtheilung
des Gesammtzustandes machte. Die vorhandenen Zeichen geistiger
Störung wurden übersehen und alle Kunst darauf verwendet, den
Simulanten zu entlarven.
Die geistige Störung des Angeklagten, welche sich inzwischen
zu einem gleichmässig verlaufenden hallucinatorischen Verfolgungs¬
wahn (Paranoia) ausgebildet hat, ist eigentümlich durch ihre Ent¬
stehung. Man kann bei N. sowohl eine gewisse originäre Anlage,
eine dazu gekommene traumatische Hirnschädigung, wohl auch etwas
Alkoholmissbrauch und endlich in der Einzelhaft aufgetretene llallu-
cinationen 1 ) als Ursache ansehen. Wahrscheinlich ist die Geistes¬
störung aus dem Zusammenwirken aller dieser Umstände entstanden.
1) Die Hallucinationen, welche in der Einzelhaft auftreten, werden noch
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
219
Casuistischer Beitrag zur gerichtlichen Psychiatrie.
Gutachten.
Der der schweren Körperverletzung und des Mordes seiner Ehe¬
frau angeklagte Arbeiter Jacob N. aus J. ist zur Beobachtung seines
Geisteszustandes nach dem Beschluss des Königl. Schwurgerichts zu St.
vom 10. Nov. 1896 auf 6 Wochen der hiesiegen Anstalt übergeben
worden. Im Folgenden wird das mittels Schreibens der Königl.
Staatsanwaltschaft vom 10. Dez. 1896 gewünschte schriftliche moti-
virte Gutachten unter Rückgabe der Akten erstattet.
Vorgeschichte aus den Akten und Ergebniss der Beobachtung.
Nach den Akten ist der Arbeiter Jakob N. aus J. geboren den 3. Mai 1857 zu
Gr., Kreis L., als Sohn des Matthias N. und der Wilhelmine, geborenen Sch.,
evangelisch, nicht Soldat gewesen und bisher unbestraft. Er war verheirathet mit
Urike, geborene M., und hat 3 Kinder von 12, 8 und iy 2 Jahren. Nach N.’s
hier gemachten eigenen Angaben war sein Vater Maurer und kleiner Eigenthümer.
Es waren mehrere Geschwister zu Hause und Jakob erlernte dal)er auswärts die
Schuhmacherei und arbeitete dann als Geselle an verschiedenen Orten. Als auch
seine Mutter starb und die Erbschaft vertheilt wurde, war er nicht zu finden.
Später zog er nach Vorpommern und arbeitete zuerst bei Bauern; 1886 diente
er beim Bauern Johann L. in St.; hier lernte er seine Frau kennen, welche auch
dort diente; sie hatte schon ein Kind und brachte es mit in die Ehe.
Dann arbeitete N. l 1 /« Jahre auf dem R.’schen Hof in Bl. und hatte dort
mit seiner Familie Wohnung. 1887 wurde er Streckenarbeiter an der Eisenbahn,
wohnte in St. und arbeitete bis in die Jahre 1891 und 1892 an der Bahn.
Nach der Arbeit, oft noch Nachts und Sonntags, schusterte er für die Leute
und für seine Familie und hatte guten Verdienst. „Ich hatte ein paar Groschen
und die Frau hatte auch ein paar Groschen. Ich verdiente bis zu 4 Mk. den Tag.
Mit der Frau lebte ich einig; man sagt ja öfters ein Wort, aber das muss auch
übergehen.“
Nach dem Attest des Dr. H. vom 11. Oct. 1893 (Blatt 11 der Unfallakten)
ist N. diesem seit Jahren als fleissiger nüchterner Arbeiter bekannt gewesen, der
den Eindruck eines gesunden kräftigen Mannes machte.
Nach den Zeugenbekundungen des Dr. H., welche von dem Verfasser in der
llauptverhandlung nachgeschrieben sind, hat N. auf ihn in den letzten Jahren
schon einen etwas „dammligcn“ Eindruck gemacht. Dr. H. kennt N. bereits aus
der Zeit, als N. noch Streckenarbeiter in St. war. N.’s Sprache sei damals schon
genau so gewesen wie jetzt. Der Bahnmeister habe ihn schliesslich nicht mehr
als Arbeiter haben wollen; darauf sei N. in .T. erschienen und habe in der Cement-
fabrik gearbeitet.
In J. ist N. durch einen schweren Unfall am 17. Juli 1893 zu Schaden ge¬
kommen. Nach Blatt 6 der Unfallakten hat N. darüber einige Wochen nach dem
vielfach nicht genügend erkannt. Vergl. meinen Aufsatz in der Berliner klini¬
schen Wochenschrift. 1883. No. 9,
Digitizeit by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
220
Dr. Siemens,
Digitized by
Vorfall (6. Sept. 1893) dem Amtsvorsteher folgende Angaben gemacht: „Am
17. Juli er. Vormittags kurz nach 10 Uhr war ich auf dem ersten Boden an dem
grossen Cementofen, welcher ca. 15 Fuss vom Erdboden entfernt ist, beschäftigt.
Während eines Arbeitsstillstandes wollte ich mich auf einen an dem Rande des
Bodens befindlichen Balken setzen, ich ging hierbei rückwärts und kam zu nahe
an den unbekleideten Rand des Bodens, verlor das Gleichgewicht und fiel von
dem ca. 15 Fuss hohen Boden auf die Erde und zwar mit der linken Kopfseite
auf ein dort befindliches Schienengeleise, wobei ich mir mehrero Wunden am
Kopfe und eine Gehirnerschütterung zuzog. Ich wurde vollständig besinnungslos
nach Hause getragen. Ich bin bis jetzt noch arbeitsunfähig, kann auf dem linken
Ohre garnicht hören und bin ich ganz wirr im Kopfe.“ Der Arbeiter Wilhelm St.,
welcher bei dem Unfall zugegen war, bestätigte diese Angaben.
Der hinzugerufene Arzt Dr. II. fand den N. 6 Stunden nach dem Unfall noch
bewusstlos; Blut floss aus der Nase und dem linken Ohr.
Der Arzt nahm eine schwere Gehirnerschütterung und einen Bruch der
Schädelbasis an, kam aber von der letzteren Annahme zurück, da sich dio Folgen
sehr bald ausglichen. N. konnte nach 3 -4 Wochen wieder gehen (Aussage in
der Hauptverhandlung des Schwurgerichts). Dagegen blieb eine geistige Schwäche
zurück. N. erscheint, selbst jedem Laien, als ein Mensch, der seinem köq>erlichen
und geistigen Verfall entgegengeht. (Unfallattest Fol. II): „N. klagt dauernd
über Kopfschmerzen, Mattigkeit in allen Gliedern, fortwährendem Hang zum Lie¬
gen, dabei hat sich eine krankhafte Vorstellung über seinen Gesammtzustand ent¬
wickelt. Er klagt über Athemnoth, Herzklopfen, Hustenreiz und andere Krank¬
heiten, für welche jedes objcctive Symptom fehlt. Allwöchentlich stellt er sich
vor mit dem dringenden Verlangen nach Medicamenten, damit er endlich wieder
genesen und arbeiten könne. Selbst nach Greifswald zu einem Arzt ist er gefahren;
von diesem ist ihm auch eine Verordnung gemacht, die ihm in Folge seines thö-
richten Gebrauchs fast verhängnissvoll geworden wäre.“
Als objectiven Befund notirt Dr. II.: „N. ist von mittlerer Grösse, mangel¬
hafter Muskulatur und sehr massigem Ernährungszustand. Augen von mattem
Glanz, träge Pupillenreaction, geschwächte Sehschärfe, Hörfähigkeit namentlich
auf dem linken Ohre herabgesetzt. Trommelfell links perforirt. Bewegungen un¬
sicher, Kraft der Arme unbedeutend, Gang schwankend, bei geschlossenen Augen
starkes Schwanken. — Eine Unterhaltung mit N. ist unmöglich, da er verkehrte
Antworten giebt. Schlaf unruhig. Grosse Gesprächigkeit!“ — Dr. H. hat in der
Hauptverhandlung erklärt, dass er eine Contractur des linken Armes bei N. nicht
bemerkt habe.
Ein von Dr. Ha. unter dem 13. Oct. 1894 abgegebenes schriftliches Gut¬
achten (Unfallakten Blatt 20(T.) erwähnt die Angabe des N., dass er den linken
Arm nicht gebrauchen könne. Auch Dr. Ha. stellte die träge Reaction der Pu¬
pillen fest, die angebliche Taubheit links und die Schwerhörigkeit rechts. Gehen
konnte N. damals „frei und flott“. Schwanken bei geschlossenen Augen, N. konnte
keine gerade Linie beim Gehen einlialten. Der linke Arm hing schlaff herunter
mit gestreckten Fingern, welche N. nicht gebrauchen zu können angab. Schon
damals äusserte N. den Verdacht der Untreue gegen seine Frau, sagt, „sie habe
ihm seinen Lebenslauf versperrt,“ sie habe vor der Ehe ein Kind umgebracht, und
ähnliche wirre Ideen. Diese Angaben bestätigte Dr. Ha. in der Hauptverhandlung
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Casuistischer Beitrag zur gerichtlichen Psychiatrie.
221
und gab noch an (Aufzeichnungen des Verf.’s), dass ihm die Ideen der ehelichen
Untreue als wahnhaft erschienen seien. N. habe auch bei ihm über Hör¬
geräusche, besonders Nachts, geklagt. Ein geistiger Verfall schien dem
Sachverständigen zweifellos vorhanden zu sein. Betrunken oder angetrunken fand
er den N. nicht.
N. wohnte nach dem Unfall schliesslich, da er keino Wohnung finden konnte,
im Armen hause zu J. seit October 1894.
Früher war der eheliche Friede zwischen den N.’schen Eheleuten ein leid¬
lich guter. Indess kamen doch auch vor dem Unfall Streitigkeiten und Thätlich-
keiten vor. Nach Aussage der ältesten Tochter Hermine hat N. seine Frau ge-
misshandelt, so lange sie sich erinnern kann (bis ins 6. Lebensjahr zurück), fast
täglich und auch Nachts. Gewöhnlich suchte er sie zu würgen, indem er sie mit
beiden Händen (um) in den Hals fasste . . . Auch Nachts hat er sie gemisshan-
delt, wenn sie nicht zu ihm ins Bett wollte. Er verlangte häufig von ihr, dass sie
sich Nachts das Hemd ausziehen sollte. Weigerte sie sich, so schlug er sie un¬
barmherzig und riss ihr mit Gewalt das Homd vom Leibe.
Bemerkenswerth sind die Auslassungen des Pastors Sp. über die Gemüts¬
zustände beider Ehegatten (Bl. 88IT. der Akten). Sp. war 22 .Jahre Pastor in D.,
zu welchem Kirchcnsprengcl die Dörfer J. und St. gehörten.
In St. kannte er die Frau N. als Mädchen; sie diente als Magd auf einem
Bauernhöfe. Hier lernte sie den damaligen Knecht N. kennen, mit dem sie ein
Liebesverhältniss anfing und von dem sie auch schwanger wurde. Später heirathetc
sie N., der Pastor traute sie, taufte und beerdigte einige Kinder.
Fra« N. war stets bescheiden, aber etwas scheu gegen den Seelsorger. Um
Ostern 1894, als die Eheleute N. schon in .1. wohnten, kam Frau N. zum Pastor
und klagte sich an, dass sie sich gegen ihren Vater versündigt habe — Genaueres
sagte sie nicht — und suchte Vergebung der Sünden. Bald darauf kam sie in
derselben Angelegenheit ein zweites Mal zu ihm. Sie machte auf den Pastor den
Eindruck einer gemüthskranken Person; sie war auch in ärztlicher Behandlung.
Sie erzählte, dass ihr Vater im Irrenhause gestorben sei. Dann ging sie mit ihrem
Manne am Gründonnerstag 1894 zum Abendmahl. Später erfuhr der Geistliche,
dass am Abend desselben Tages die Frau N. von ihrem Mann fürchterlich gemiss-
liandelt wurde. Die Misshandlungen wiederholten sich und Frau N. kam deswegen
mehrfach zu dem Pastor, um sich zu beklagen. Auch N. kam, um sich zu recht-
fertigen. Er beschuldigte seine Frau, dass sie untüchtig und faul sei und ausser¬
dem die eheliche Treue ferlctze. — Die Eheleute waren dann bei ihm, um sich
scheiden zu lassen, der Mann wegen der Untreue, die Frau wegen der Misshand¬
lungen. Die Frau war stets still auf die Vorwürfe, welche ihr der Mann machte.
Der Pastor hatte die Ucberzeugung, dass sic schuldlos war. Er hielt den Mann
„für vollständig überspannt“. — In einer späteren Vernehmung hat Pastor Sp.
diese Angaben noch vervollständigt. Er fand im Amtsjournal die Notiz vom
17. April 1894: „Sühne nutzlos, er ist närrisch, sie ist gemüthskrank.“ Der Ehe¬
mann erklärte bei dieser Gelegenheit, er habe seine Frau am Gründonnerstag auf
dem Heimweg von der Kirche, wo sie beide das Abendmahl genommen hatten,
deshalb so gemisshandelt, weil die Frau zu einem Tischler habe gehen wollen,
um ihren Sarg zu bestellen. Letzteres gab Frau N. zu. Es war nicht festzustellen,
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUV OF IOWA
222
Dr. »Siemens,
ob sie sich mit Selbstmordgedanken trug oder ob sie Furcht hatte, ihr Ehemann
könnte sie einmal umbringen.
N. gab auf Fragen grösstentheils unverständliche Antworten, machte aber
dennoch nicht den Eindruck eines völlig unzurechnungsfähigen Menschen. Viel¬
leicht sei es Simulation gewesen? N. erklärte damals und auch später stets, seine
Frau habe ihm die Kraft genommen. Der Pastor verstand das erst nicht, später
schloss er aus den Beschuldigungen der ehelichen Untreue, dass N. auf unnatür¬
liche Weise sein geschlechtliches Bediirfniss habe befriedigen müssen. Er gewann
auch die Ueberzeugung, dass Frau N. eine persönliche Abneigung gegen ihren
Ehemann erlangt habe und ihm vermuthlich die eheliche Pflicht versage. Die
Frau N. machte ihm den Eindruck einer völlig verschüchterten, gemüthskranken
Person.
Die Angaben in den Akten besagen übereinstimmend, dass die Frau N. sich
gegen die Vorwürfe ihres Mannes und auch gegen die Misshandlungen meist
schweigend verhielt; Anderen gegenüber beklagte sie sich selten und nahm sogar
mitunter Partei für ihren Mann. »Sie musste oft aus dem Hause flüchten und Nachts
in der Kälte halb nackend draussen sitzen oder in einen Heuschober sich ver¬
kriechen. Oft schloss N. sie stundenlang in die Kammer ein. Er duldete nicht,
dass sie an seinem Tische ass und prügelte sie, wenn er sie beim Essen traf. Sic
musste sich daher Kartoffeln von anderer Leute Feld holen. Sehr oft war sie
braun und blau geschlagen.
Die Misshandlungen mehrten sich in der letzten Zeit, wie dies des Näheren
aus der Anklageschrift ersichtlich ist. Die Frau hatte anscheinend ihre Absicht,
sich scheiden zu lassen, aufgegeben und sich stumpfsinnig in ihr Schicksal er¬
geben. Von »Selbstmord haben die Zeugen sie nicht sprechen hören; N. behauptet,
dass sie »Selbstmordversuche gemacht habe. Eine Zeugin hat in der Hauptver¬
handlung angegeben, dass Frau N. ihr mitgetheilt habe, ihr Mann habe ihr zuge-
setzt, sie solle das jüngste Kind in einen Eimer Wasser stecken und dann sich
selbst das Leben nehmen. Das wollte sie aber nicht. —
Bezüglich der Frage nach Trunksucht enthalten die Akten nur wenige sichere
Angaben. Ein gewisses Quantum scheint N. regelmässig getrunken zu haben. Be¬
trunken ist er anscheinend nicht gesehen worden. In der Gastwirthschaft von
Qu. kaufte er fast täglich für 10 Pf., zuweilen auch für 20 Pf., noch seltener für
30 Pf. »Schnaps.
Manche Nachbarn hielten N. für „verrückt, von Liebeswahn befallen“. X.
reiste öfters nach Greifswald „um sich kuriren zu lassetf“.
Am 11. Juli 18% fand man Frau N. todt in der Wohnung. N. selbst
erschien gegen l*/ 4 Uhr beim Gensdarmen und zeigte in verworrener Rede an,
dass er seine Frau todt angetroffen habe. Er war eben von P. zurückgekehrt, wo
er seinen Rechtsanwalt gesprochen hatte.
Pie Gemeinde J. hatte nämlich N. verklagt auf Zahlung von 3 Mk. monat¬
licher Miethe, da N. seit seinem Unfall von der Berufsgenossenschaft eine jähr¬
liche Rente von 394 Mk. bezog. N. seinerseits glaubte, er brauche keine Miethe
im Armenhause zu zahlen, da er durch J.’sche Leute bei dem Unfall zu Schaden
gekommen sei.
Der Befund an der Frau war ein höchst verdächtiger. Die Leiche lag zu-
sammengekauert zwischen Ofen und Bank. Das Gesicht der Frau war der Wand
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
Casuistischer Beitrag zur gerichtlichen Psychiatrie.
223
zugekehrt. in der Wand befand sich etwa in Manneshöhe ein starker eiserner
Nagel, welcher etwas herabgebogen war. An dem Nagel hatte vorher Haushai*
tungsgeräth gehangen; dies war abgenommen. Bei der Leiche, gleichfalls am
Ofen, stand eine Waschwanne mit Wäschestücken.
Die Frau hatte nach Aussage der Kinder am Vormittage gewaschen. — Am
anderen Tage bei der Leichenschau fand der Gensdarm in der Ecke zwischen
Sj'ind und Tisch, etwa iy 2 m von der Leiche entfernt, einen Strick. An dem¬
selben befanden sich mehrere dunkelblonde Haare von derselben Beschaffenheit
wie die der Frau N. Am Halso der Leiche fand sich eine unzweifelhafte
Strangulationsmarke, welche wahrscheinlich durch Erhängen entstanden ist,
vielleicht auch durch Erdrosseln in der Weise zustande gekommen sein kann,
dass der Strick der Frau von hinten um den Hals geworfen, und dass die Frau in
die Höhe gezogen oder aufgeknüpft ist, letzteres möglicherweise erst nach ein¬
getretenem Tode. (Gutachten des Med.-Rath Dr. Sch.)
Bei der Obduction fand man die Zeichen der Erstickung. Andere Ver¬
letzungen., oder Zeichen des Widerstandes fanden sich nicht vor. —
X. wurde des Mordes beschuldigt, leugnete aber hartnäckig. Er setzte sich in
Widerspruch mit den Zeugen, welche übereinstimmend angaben, dass N. gerade
nm die Mittagszeit (12 Uhr) nach Hause kam, zuerst allein in seine Wohnung ein-
irat und erst nach einer Stunde die Kinder hineinrief. Dieselben sahen dann ihre
Mutter auf der Ofenbank am Tisch sitzen.
Der Kopf ruhte wie bei einer Schlafenden auf dem rechten Arm, der auf dem
Tische lag, der linke Arm hing schlaff herunter. N. trat hinter seine Frau, fasste
sie unter die Arme und zog sie etwas an sich heran, *als ob er sie wecken wollte.
Dabei fiel der Kopf der Frau auf die Tischkante. N. bemühte sich vergeblich,
Kopf und Arm der Frau wieder in die frühere Lage zu bringen, indessen glitt der
Unterkörper allmälig zwischen Ofen und Bank auf das Reisig, während der Ober¬
körper auf der Bank liegen blieb. N. befahl nun unter Drohungen seinen Kindern,
auf Befragen zu erzählen, sie hätten, als er von P. gekommen sei, mit ihm gleich¬
zeitig die Wohnung betreten und die Mutter habe am Tisch gesessen; er habe sie
angerufen und durch Schütteln am Arm wecken wollen und nun gesehen, dass
sie todt sei (Aussagen der Kinder).
Dann ging N. zum Gensdarm.
Den Strick wollte N. nicht bemerkt haben und ihn überhaupt nicht kennen,
obwohl der Strick seit Jahr und Tag in seinem Besitz war und in der Kammer
lag (Aussage der Kinder). — Geschrei oder Getöse, etwa von einem Kampf zwi¬
schen X. und seine Frau herrührend, ist um die fragliche Zeit in der Wohnung
nicht gehört worden. Alles war still.
Im Gefängniss erschien N. den Beamten und dem Gelangt)issarzt in mehr¬
facher Beziehung als ein Simulant. Zunächst behauptete er, dass er „zum Stüm¬
per gemacht sei, der sein Gehör verloren und seinen linken Arm und sein linkes
Bein nicht bewegen könne.“ Den linken Arm hielt er krampfhaft im Ellenbogen
gebeugt am Körper fest. Das linke Bein hielt er im Knie steif und hinkte stark
beim Gehen.
Die Zeugen aus J. bekundeten, dass N. vor dem Tode der Frau stets Arm
und Bein gebraucht hat wie andere Leute. — Auch bezeugte ein Mitgefangener,
dass X. ganz gut hören könne wenn er wolle, auch leise Gesprochenes. Die Staats-
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSITY OF IOWA
224
Dr. Siemens,
Anwaltschaft nahm an, Hass X. die Zustände am Arm und Bein deshalb simulire,
um den Schein zu erwecken, als oh sein Körperzustand ein derartiger sei, dass
er die That garnioht habe ausführen können.
Auch sonst benahm sich X. im Gefängnis* auffallend. Er setzte der Ueber-
führung von einer Zelle des Untersuchungsgefängnisses in eine andere hartnäcki¬
gen Widerstand entgegen und klammerte sich mit Händen und Füssen an. Auch
beim Wechseln des Hemdes sträubte sich N. sehr. (Angabe des Gefangenenauf¬
sehers in der Hauptverhandlung.)
Am 20. November 1896 fand die Hauptverhandlung vor dem
Schwurgericht in St. statt; der Yerf. war als Sachverständiger dazu
geladen und sah hier X. zum ersten Male. N. leugnete den Mord,
leugnete auch die schweren Misshandlungen. Er beschuldigte seine
Frau der Untreue.
X. erzählte die Vorkommnisse an dem Todestage der Frau in folgender Weise
(Xachschrift des Verf/s): „Am 11. Juli früh fuhr ich mit 8 Uhr-Zug nach 1\,
hab’ ich Tags vorher Schrift bekommen, ging gleich zum Rechtsanwalt und fragte,
was im Termin herausgekommen ist, und bezahlte 5 Mk. Schulden (Vorschuss),
Nachher ging ich zum Kriiger und Hess mir Schnitt Bier eingiessen und in Flasche
auf Reise Schnaps eingiessen für 10 Pf. Ging zu Fuss nach Hause, kam an, Mit¬
tag ist nicht gewesen und Vesperzeit auch nicht. Kinder waren vor der Thür
gesessen, ich fragte, ob Mutter nach Besingpflücken gohn is, die Kinder sagten:
sie sitt in Stuw. Wat deit se? Liggt op Ofenbank, legt Kopp auf Disch. Fragt
ich, ob sie was gessen haben: ja, Frühstück haUs zurecht gemacht, haben ge¬
gessen, ist nach Milch gegangen, aufgekocht, hat Wasser geholt. Stucktien, hat
Wäsche eingeweicht, Kinder vor der Thür gespielt, sind reingegangen, haben sie
sitzend befunden. Ist nicht aufgestamlen. Würd’ sie hungern, sind sie reinge¬
gangen, würd sie noch dasitzen. Ging ich rein, fand sie sitzend so, wie ich sie
noch nie sitzend gesehen habe, der rechte Arm hing runter zwischen Bank und
Tisch (zeigt die Stellung an dem Original-Tisch und -Bank). Kinder, sag ich,
will ich Mutter munter machen: Mutter, Mutter, Mutter — zu vermuntern ist sie
nicht. Schüttei sie am rechten Arm, dreh sic um, sieht sie weiss aus, seli ich,
dass sie todt ist, fall ich auf die Knie und die Frau fällt auf mich. Ging ich zum
Schandarm . . . Sie hat schon dreimal versucht sich Leben zu nehmen, dass sie
andere Leute davon abgehalten haben. u
Auf die Frage nach der Bewandniss mit dem Strick sagte N.: „Ja mein
Herr, da steht mein Verstand still.“
Während einer Pause sprach der Vcrf. mit N. Derselbe fing
sehr lebhaft an zu erzählen, wie seine Frau und die andern Weiber
ihn ins Unglück gebracht hätten, sie hätten ihn zum Stümper ge¬
macht. Die Frau hätte ihn nach Greifswald geschickt um sich kuriren
zu lassen, er sei impotent geworden und habe auch manchmal nicht
pinkeln können. Die Frau habe es mit andern Männern geballen,
man wolle ihn vernichten u. s, w.
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Casuistischcr Beitrag zur gerichtlichen Psychiatrie.
225
Da N.\s Geisteszustand in hohem Grade den Verdacht auf
geistige Störung wachrief, beantragte der Verf. in Uebereinstimmung
mit dem Sachverständigen Med.-Rath Dr. Sch. (Gcfängnissarzt), die
Beobachtung in einer Irrenanstalt nach § 81 der Straf-Prozess¬
ordnung.
Der Gerichtshof beschloss Vertagung der Sache und Beobachtung
in einer öffentlichen Irrenanstalt.
N. wurde demgemäss am 9. Dec. 1894 in die Provinzial-Irren-Anstalt
Lauenburg aufgenommen und auf der ßeobachtungsstation untergobracht, wo¬
selbst Wache bei Tag und Nacht stattfindet. N. ist während der ganzen Be¬
obachtungszeit auf dieser Station verblieben, abgesehen von wenig Stunden an
einigen Tagen, wo er zu besonderen Untersuchungen in das Zimmer des Arztes
geführt wurde. Zu irgend einer Beschäftigung erklärte er sich unfähig. Er wollte
auch ungern ausser Bett sein, nur an wenig Tagen liess er sich anziehen und
sass auf einem Stuhl, sonst lag er ständig zu Bett. Er bekümmerte sich um seine
Umgebung nicht im Geringsten, auch lehnte er angebotene Zeitungen und Bücher
ab. Tags über lag er meist still vor sich hin und schlief auch zuweilen. Während
er sonst im wachen Zustand beständig den linken Arm im rechten Winkel ge¬
beugt fest an den Körper angezogen hielt und das linko Bein auch im Sitzen steif
gestreckt liess, Lag er oft im Bett in bequemer zwangloser Lage mit leicht im
Knie gebeugtem linken Bein, wie andere ruhenden Menschen.
Bei der Aufnahme zeigte er am linken Ohr und an der Schläfe Blutunter¬
laufungen und Kratzspuren. N. gab an, die Leute im Gefängnis« in Sl. hätten ihn
misshandelt und ihm das Hemd zerrissen.
Die Untersuchung des körperlichen Zustandes ergab sonst Folgendes: X. ist
ein 160,5 cm grosser Mann mit ziemlich kräftigem Knochenbau und gutem Ernäh¬
rungszustand. Körpergewicht 63 kg. Schädelbildung länglich, Umfang 54,5 cm.
I>ie rechte Stirnwölbung erscheint etwas llacher als die linke. Entsprechend der
Kranznaht zieht sich eine seichte fingerbreite Furche quer über den knöchernen
Schädel. Ausgedehnte Glatze. Abgesehen von Kratznarben und kleineren, nicht
mit dem Knochen verwachsenen linearen Narben keine Reste von Schädelver¬
letzungen zu erkennen.
An den Augen keine Störungen. Die Untersuchung mit dem Augenspiegel
lässt keine Abweichungen erkennen. Zunge und Sprache ohne Lähmungen. N.
spricht ruckweise, sehr ungewandt, bei manchen Worten sich länger besinnend.
Das allgemeine Empfindungsvermögen der Haut ist anscheinend unverändert, doch
ist eine genauere Prüfung bei N. unmöglich.
Der Kniereflex ist rechts normal, links wegen Spanncns des Beins nicht zu
erzeugen. Im Zimmer geht N., wenn er unbeachtet ist, ziemlich schnell und
und sicher, das linke Bein nachschleppend (im Knie steif gehalten), in gerader
Linie und mit grossen Schritten. Bei veranlassten Gehübungen dagegen geht
er schwankend mit unregelmässigen Schritten, sichtlich die Störung übertreibend.
Die Treppe geht er immer ohne Unterstützung hinauf, dabei das linke Boin nach¬
schleppend. Die Bewegungen der rechten Armes und der Hand sind sicher und
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
226
Digitized by
Dr. S iemens,
ohne Zittern, zuweilen etwas ruckweise. Den linken Arm hält N. im Ellenbogen-
gelenk rechtwinklig gebeugt und an den Körper angedrückt, die linke Hand ge¬
schlossen mit gestrecktem Handgelenk und Daumen. Auf Zureden bewegt er die
Hand, ohne die Stellung des Armes zu ändern. Die Muskeln der in ihrer Bewe¬
gung angeblich gestörten Glieder zeigen keine Veränderung ihres Volumens. Beim
Stehen stützt sich N. auf den Kleinzehenballen des linken Fusses. Bei unbeach¬
teter Bettruhe nimmt N. eine normale Lage ein.
Die Untersuchung der Ohren ergiebt, dass N. rechts die Taschenuhr noch
auf 75 cm Entfernung hört. Linkerseits will er garnicht hören können, auch nicht,
wenn die Uhr an den Schädel angedrückt wird, und nicht bei Anrufen. Auch die
aufgesetzte Stimmgabel will er nur rechts hören. Bei der Untersuchung mit dem
Ohrenspiegel* erscheint das Trommelfell verdickt, aber glänzend und unverletzt;
links ist das Trommelfell strahlig-narbig zusammengezogen und enthält an der
unteren Seite ein rundes Loch. Ohrenfluss fehlt beiderseits. N. klagt über Sausen
im linken Ohr.
Manchmal ist N. sehr schwerhörig, zuweilen antwortet er aber auch auf lei¬
sere Ansprache.
Die Untersuchung der Lunge und des Herzens ergiebt normale Befunde.
Puls voll, regelmässig, 80. Leib weich, Leber- und Milzdämpfung normal.
Stuhl regelmässig. Die Harnentleerung geschieht regelmässsig ohne beson¬
dere Anstrengung. Urin hell, klar, ohne Eiweiss und Zucker.
An den Geschleohtstheilen keine Narben oder sonstige Abweichungen.
N. klagt über Schmerzen im Kopf, Schmerzen im linken Arm und linken
Bein, und im Bruch (er hat aber keinen eigentlichen Bruch, nur eine etwas weite
Bruchpforte rechterseits, das Eingeweide tritt jedoch nicht heraus).
Bei den zahlreichen mit ihm geführten Unterredungen blieb N. dabei, dass
er seiner Frau an dem betreffenden Tage nichts gethan, sondern sie todt ange¬
troffen habe. Die Erzählung geschieht stets fast in den nämlichen Worten, wie
X.sie in der Hauptverhandlung gab. Einzelne leichte Misshandlungen aus früherer
Zeit gab er zu, behauptete aber, Grund dazu gehabt zu haben.
Seine Personalien gab er richtig an, erzählte auch aus seinem Vorleben, was
bereits vorstehend ausführlich angegeben ist.
Den Unfall vom Jahre 1893 schilderte er jetzt so, als ob ihn die andern Ar¬
beiter gezwungen hätten, sie mit Schnaps frei zu halten, und ihm dann davon zu
trinken gegeben hätten; dann sollte er tanzen, sie hätten ihm die Hosen zerrissen.
Sie hätten ihn mit Spitznamen „Baumvater“ genannt. Dann sei er nach Hause
gegangen, andere Hosen anzuziehen, nachher hätten ihn die Mitarbeiter geschlagen
und hinuntergeworfen, 12 Fuss tief auf ein Schienengeleise, P.Sch. habe ihn her-
untergesiossen. Als er gefallen sei, sei er erst noch bei Besinnung gewesen, habe
gemerkt, dass er blute und habe gebeten, ihm zu helfen, aber die Arbeiter hätten
sogar mit Steinen nach ihm geworfen, dann erst habe er die Besinnung verloren.
Dreizehn Wochen sei er krank gewesen und nachher nicht gesund geworden,
er sei zum Stümper gemacht, und ein Stümper geblieben.
Die Frau habe sieh mit den andern Weibern eingelassen, hätte sie mit Geld
frei halten sollen und habe sich von den andern verführen lassen und mit den
andern habe sie ihn „dressirt“.
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Gasaistischer Beitrag zur gerichtlichen Psychiatrie.
227
Sie habe sich auch mit den andern Männern eingelassen, da er zum Stümper
geworden sei, habe sie von ihm nichts mehr wissen wollen. „Mit Hermann W.
hat sie sich abgegeben und mich haben sie geschlagen — Wittwe W. und andere.
Die Frauen haben davon gesprochen, 94, Monat März, wie wir sind nach Frau P.
hingegangen wegen Wohnung, ein junger Mann sei besser, sie solle nach N.’s
Tode wieder einen jungen Mann heirathen.“ — Seine Frau habe ihm „die Lebens¬
kraft versperrt,“ ihm „die Liebe abgezogen“, d. h. sie habe mit ihm keine ge¬
schlechtliche Gemeinschaft mehr haben wollen, — aber wohl mit andern Männern.
„Sie hat auch gesagt: „sie sei keinem Manne angehörig“, da habe ich gesagt:
„Du hast Dich doch mit mir zusammen gegeben.“ Sie wollte auch nicht mehr bei
mir schlafen.“
Er deutet nun an, er sei in Folge dessen krank geworden, impotent, habe
auch Beschwerden beim Urinlassen gehabt. Darum sei er nach Greifswald ge¬
fahren, um sich behandeln zu lassen. Er sei zu dem „Doctor hinter der Frauen¬
klinik“ gegangen; der habe ihm etwas verschrieben. Er sei krank geworden „da
dran“ (zeigt auf die Geschlechtstheile). Er habe Schmerzen da dran gehabt. Acht
oder zehn Mal sei er in Greifswald gewesen. — Auf die Frage was er damit ge¬
meint habe, „sie habe ihm die Liebe runtergeschluckt?“ (Zeugenangabe) sagt er:
„Wir hatten uns das im Spass angewöhnt und das versagte sie mir später. — Da
sie nun nicht mehr zu mir wollte und das nicht mehr machte, bekam ich Schmerzen
und konnte nicht pinkeln.“ —
Was nun das sonstige Verhalten N.’s betrifft, so war er Anfangs, wie vor¬
stehend geschildert, ganz still für sich und sprach von selbst kaum ein Wort. —
Am Abend des 22. Dec. wurde zuerst bemerkt, dass N. halblaut vor sich hin
sprach. Trat Jemand an sein Bett, so schwieg er. Auf Befragen gab er keine
Auskunft.
Am 24. Abends gelang es dem Wärter, etwas von dem was N. vor sich hin¬
sprach, zu verstehen und es nachzuschreiben. Er sagte: „Wenn Ihr mich hättet
rausziehen wollen, so hättet ihr mich nicht lassen halbtodt schlagen. Aber Ihr
trachtet nur nach Menschenleben.“ Auf die Frage, was er damit meinte, sagte
er: „Die Frauen sprechen immer.“ „Wie kommt die Frau dazu, mir immer zu
spendiren (?), was steht sie da? Mit der Fabrik habe ich zu thun, weiter gar
nichts.“
Am 28. Dec. beklagte er sich viel über die Frauen, die ihm keine Ruhe
Hessen. Auch am andern Tage beschwerte er sich über die Belästigung: „Sie
lassen mich nicht ruhig liegen, sie halten sich über mich auf, und ich weiss nicht
warum, sie machen so grossen Skandal, dass ich nicht schlafen kann. (Wer ist
es denn?) „Ich glaube, es ist August Schulz von St. und seine Frau.“ (Wer
ist August Schulz?) „Als meine Frau gedient hat, ist er als ihr Bräutigam ge¬
wesen und da hat er die Falschheit auf mich hingeschmissen.“
Abends notirte der Wärter wieder die ärgerlichen Reden N.’s: „Wenn ich
meine Ruhe nicht bekomme, passirt was. Ich habe mit den Frauensleuten nichts
abzumachen. Ich will dahin, wo ich gekommen bin. Ich kann mich doch nicht
quälen und Noth leiden. Mein Name ist polnisch, er soll deutsch werden. Wissen
will ich, weshalb ich hier bin. Meine Gesundheit habe ich verloren und vier
Fehler erhalten. Das Weib geht mich nichts an. Wenn ich hier nicht meine Ruhe
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
228
Digitized by
Dr. Siemens,
bekomme, muss ich sie wo anders suchen. Ich bin froh, dass ich im Bett liegen
darf wie zu Hause.-Was wollen die Leute mit dem Messer? Wozu nehmen
sie mir die paar Groschen aus der Fabrik? Was hat die Hand damit zu thun?
Ich danke Gott, dass sie mir gelassen ist. Das wird wohl jeder thun. Brauchst
Dich nicht melden, ich bin froh, dass Du todt bist. Bin ich denn, was Sie gesagt
haben? Zum Stümper bin ich gemacht. Ich weiss, dass ich in P. Bier und
Schnaps getrunken habe. Als ich zurück kam fand ich sie todt. . , u
Bemerkt sei hier, dass N. Alles dies für sich sagte, ohne dass er von Mit¬
kranken oder Wartpersonal angesprochen wurde und dass insbesondere Frauens¬
personen dort, wo N. sich aufhielt, niemals anwesend sind. Das Nachschreiben
des Wärters geschah unbemerkt von N.
Am 30. Dec. notirte der Wärter: „dass sie mir todt gemacht haben und todt
nach Hause gebracht haben, und dann soll ich mir noch entschuldigen, na das
fehlt auch noch gerade, das soll mir oinfallen-ganz genau, ganz genau . . .
das ist da so wie hier und hier so wie da . . . Allerwärts lassen sie mir keine
ltuhe, überall werd ich dressirt.“
Am 31. Dec. wurde notirt: „Wenn das nicht anders wird, dann verlange ich
meine Kleider und w erde genug w issen, wo ich hingehe . . . hat solch Weib denn
Gerechtigkeit, hierher zu kommen und zu fragen, warum ich hier bin, ich verlang’
meine Ruhe . . . was will die quatschen: „Schämst Du Dich nicht,“ über was
soll ich mich schämen . . . nein das kann nicht stillbleiben, sie kann ein paar in
die Fresse kriegen ... Du bist ein Larv, wenn Du kein Larv nicht wärst, dann
frasst Du das nicht auf . . . wenn August Schulz vernünftig sein wird, dann wird
er ja hingehen, aber für August Schulz w erd ich mich noch nicht schämen . . .
na w at is denn dat, ich soll mich schämen . . . immer muss sich Jeder über mich
aufhalten . . . wie kann das Weibstück sagen, ich soll mich schämen.“
N. gab nun auf Befragen an, er werde seit Herbst in St. in dieser Weise
belästigt, besonders von dem August Schulz und dessen Frau. Diese Menschen
verfolgten ihn bis hierher, sie müssten doch vor dem Hause stehen und über ihn
sprechen, er höre es vom Fenster her. Die Leute Hessen ihn keine Nacht schlafen.
Er w r ar nicht zu überzeugen, dass vor dem Fenster keine Leute ständen; er höre
es doch ganz deutlich.
Am 1. Jan. Nachts war er sehr störend, sprach viel und erregt, ging auch
umher und liess sich nicht zur Ruhe bringen. Er musste schliesslich um Mitter¬
nacht allein in ein Zimmer gelegt werden.
Erst gegen Morgen wurde er ruhig und legte sich zu Bett.
In den späteren Nächten mussten stets Schlafmittel gegeben werden —2g
Chloralhydrat — worauf N. ruhig schlief. Oft auch w T ar er Abeilds sehr unruhig
und bedurfte stärkerer Narcotica. Er sagte, gesehen habe er August Schulz nicht,
derselbe habe sich zuerst in St. ihm „kundgethan“ im Gefangniss. Er klagte,
dass sie ihm „das Gehör herausholten“, was ihm der liebe Gott noch gelassen
habe. Es sause und brause ihm in den Ohren, „als wenn sich Jemand an den
Baum stellen thut“.
Am 20. Jan. früh wurde er von zwei Polizeibeamten nach St. zurückgeführt.
Er soll nach dem Bericht des einen in St. abwechselnd mit dem linken und
auch mit dem rechten Bein gehinkt haben.
Gck igle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
Casnistischer Beitrag zur gerichtlichen Psychiatrie. 229
Gutachten.
Das Gutachten wird sich wesentlich mit 3 Fragen zu beschäftigen
haben:
1. Wie war der körperliche und geistige Zustand N. vor dem
11. Juli 1896 (Tod der Frau N.), wobei auch Streiflichter
auf den geistigen Zusfand der Frau fallen müssen.
2. Wie war er zur Zeit des Todes der Frau? Befand sich N.
in einen Zustand der Geistesstörung, welcher seine freie
Willensbestimmung ausschloss?
3. Wie war N.’s geistiger und körperlicher Zustand nach dem
11. Juli und wie ist er jetzt? Ist N. geisteskrank (wahn-
oder blödsinnig) ist er gemeingefährlich und ist er ver¬
handlungsfähig?
1. N. vor dem 11. Juli 1896.
Leider sind genauere Nachrichten über das Vorleben dos N. nicht
zu erhalten gewesen. Ob N. erblich mit Anlage zur Geistes- oder
Nervenkrankheit belastet ist, wissen wir nicht.
Er war erst Schuhmacher, dann Arbeiter auf dem Lande und
an der Eisenbahn. Er war dort ein fleissiger nüchterner Arbeiter —
nach dem Attest des Dr. H.; nach dessen nachträglicher Angabe
„etwas dammlich, mit derselben stossweisen ungewandten Sprechweise
wie jetzt.“
Der Bahnmeister habe ihn schliesslich nicht mehr haben wollen;
darauf zog N. nach J. und arbeitete in der Cementfabrik; hier scheint
er von seinen Arbeitsgenossen zuweilen gehänselt worden zu sein.
Bei einer solchen Gelegenheit, in der Arbeitspause, erlitt er den
schweren Unfall durch Herabfallen aus einer beträchtlichen Höhe auf
den Kopf (17. Juli 1893).
Wenn N. aus Nase und linkem Ohr Blut verloren hat und län¬
gere Zeit bewusstlos gewesen ist, muss mindestens eine schwere Ge¬
hirnerschütterung, vielleicht auch ein Bluterguss oder ein Knochen¬
sprung im Schädel angenommen werden. So schwere Verletzungen
pflegen nicht ohne dauernde Nachtheile für das Nervensystem der
Betroffenen vorüber zu gehen.
Am 6. September, also 7 Wochen nach dem Unfall) gab N. an,
er sei taub auf dem linken Ohr und sei ganz wirr im Kopf.
Die Bewegungsstörungen des linken Arms und des linkes Beines
haben sich erst später eingestellt; N. hat zuerst mehr über allgemeine
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
230
Dr. Siemens,
Beschwerden geklagt (Kopfschmerzen, Mattigkeit in allen Gliedern,
fortwährenden Hang zum Liegen, Athemnoth, Herzklopfen, Husten¬
reiz u. s. w.).
Der Arzt Dr. H. hielt dies für krankhaft übertrieben. Aber
auch der andere, von der Berufsgenossenschaft zur Begutachtung N. ! s.
berufene Arzt Dr. Ha. fand einen geistigen Verfall, sowie verschiedene
schwere objective und subjective Nervenstörungen.
Bermerkenswerth ist, dass sowohl Dr. H. als Dr. Ha. den Mann
geistig nicht für gesund gehalten haben.
Ersterer schildert N. als Hypochonder (viele Klagen und dringende
Wünsche nach Medicamentcn bei Fehlen objektiver Symptome) und
als schwachsinnigen Faseler, Dr. Ha. als geistig verfallenen und mit
AValmideen behafteten Menschen.
Dem Dr. Ha. gegenüber hat N. bereits den Wahn ehelicher Untreue
gegen seine Frau geäussert und sich über „Hörgeräusche, besonders
Nachts“, beklagt. Er hat also möglicherweise bereits damals an
Hallucinationen des Gehörs gelitten.
Wenn auch schon aus der Zeit vor dem Unfall von N. Miss¬
handlungen der Frau berichtet werden, so scheint doch nach dem Un¬
fall diese Sache schlimmer geworden zu sein. Es sind in der That
die ausgesucht brutalen, gewohnheitsmässigen, excessiven Misshand¬
handlungen der armen Frau nur durch einen krankhaften Zug im
AVesen des N. zu erklären.
Auch deutet Manches auf perverse Gewohnheiten im Geschlechts¬
verkehr der beiden Ehegatten hin.
Weiter aber geht aus den Angaben des Seelsorgers unzweifelhaft
hervor, dass auch bei der Ehefrau N. krankhafte Gemüthszustände
obwalteten. Ihr A r ater war geisteskrank, und sie kam mit Selbst¬
anklagen zum Geistlichen, die dieser für krankhaft hielt. 1894 am
Gründonnerstag nach dem gemeinsamen Genuss des heiligen Abend¬
mahls misshandelte N. seine Frau fürchterlich, angeblich, weil die
Frau auf dem Rückwege zu einem Tischler hatte gehen wollen, um
ihren Sarg zu bestellen.
Wie der Geistliche sich dachte, konnten das Selbstmordge¬
danken sein oder die Furcht der Frau, dass ihr Mann sie einmal
umbringen könne.
Dass der Pastor jetzt vermuthet, N.’s unverständliche Antworten
könnten möglicher AA'eise damals auf Simulation beruht haben, ist
wohl nur ein Beweis von der Befangenheit, in welche Laien sofort
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
Casuistischer Beitrag zur gerichtlichen Psychiatrie.
231
sofort verfallen, wenn sie hören, dass Personen mit zweifelhaftem
Gemüthszustand einzelne z. ß. körperliche Symptome übertreiben oder
sirauliren.
Sie können sich nicht denken, dass ein thatsächlich Geistes¬
kranker in dieser oder jener Hinsicht noch zu täuschen versuchen
kann. Und doch ist dies eine häufige Erfahrung der Irrenärzte.
Irgend etwas in geistiger Hinsicht zu simuliren hatte N. damals
keine Veranlassung. „Er ist närrisch, sie ist gemüthskrank“ — diese
Notiz des Pastors vom 17. April 1894 ist meiner Ueberzeugung nach
richtig und angemessen. *
Die Frau war gemüthskrank. Ihre Absicht, sich scheiden zu
lassen, gab sie nachher auf, weil der Rest ihrer normalen Wider¬
standskraft gegen die Ungeheuerlichkeiten der Behandlung ihres Mannes
schwand. Sie wurde gemüthsstumpf und damit trat wohl auch eine
körperliche Abneigung gegen den Mann ein, vor dessen geschlecht¬
lichen Anforderungen sie davonlief.
N. war ebenfalls geisteskrank, aber in anderer Weise. Er litt
an Wahnvorstellungen, einerseits hypochondrischer Art, andererseits
von der Art des Verfolgungswahns. Er glaubte, dass seine Frau ihn
in geschlechtlicher Beziehung hintergehe und in Gemeinschaft mit
Andern ihn vernichten wolle.
Durch diese Wahnvorstellungen veranlasst, lief und reiste N. zu
den Aerzten und suchte da Hilfe; andererseits misshandelte er seine
Frau, als die Urheberin aller seiner Plagen.
Vielleicht hatte N. auch schon Gehörshallucinationen.
Die geistige Störung N.’s war im April 1894 bereits sicher vor¬
handen. Entsprechend der fortschreitenden Art solcher Störungen
muss man annehmen, dass die Wahnideen im Juli 1896 noch zahl¬
reicher und lebhafter als früher waren und dass dabei auch die
geistige Schwäche bereits einen gewissen Grad erreicht hatte. (Die
Schwache des Urtheils.)
Nun kam noch der Process. N. war von der Gemeinde wegen
der Miethe verklagt; es handelte sich um eine für ihn erhebliche
Summe. Es ist anzunehmen, dass er aufgeregt war und sich die Zu¬
kunft in schwarzen Farben malte, und dass seine Verfolgungsideen
besonders heftig zur Aeusserung kamen. Andererseits ist es auch
wahrscheinlich, dass die Gemüthsdepression der Frau durch die
schlimmen Aussichten sich noch vertiefte.
Yierteljahreeehr. f. ger. Med. Dritte Folge. XIV. 2.
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
232
Dr. Siemens,
Jetzt wird die Frau todt gefunden, offenbar erhängt oder er¬
drosselt. N. war ohne Zeugen mit ihr allein. Niemand hat einen
Laut gehört; niemand hat gesehen, wie das Entsetzliche geschehen
ist. — —
2. N. am 11. Juli 1896.
Es ist nicht Sache des ärztlichen Sachverständigen, den That-
bestand zu reconstruiren.
Aber der Irrenarzt darf den Vorgang psychologisch beleuchten,
wenn es feststeht, dass der Geisteszustand der in Betracht kommenden
Personen ein abnormer war.
N. kann der Thäter sein. Er kann die Frau erwürgt haben und
kann sie auch, als sie schon todt oder widerstandsunfähig war, auf¬
gehängt haben.
Er kann die Frau auch mit ihrem Einverständniss aufgehängt
haben, auf ihr Bitten, oder ohne dass sie Widerstand leistete. Sie
war ja gemüthskrank.
Aber die Frau kann sich auch selbst aufgehängt haben. Man
muss dann annchmen, dass N. die Erhängte abgenommen und die
Leiche in die Lage gebracht hat, in welcher die herbeigerufenen
Kinder sie sahen.
Er wird Letzteres in jedem Falle so gemacht haben, um den
Verdacht von sich abzulenken; so blödsinnig war er noch nicht, uni
nicht einzusehen, dass er nach Lage der Umstände jedenfalls in dcu
Verdacht kommen musste, bei dem Tode mitgewirkt zu haben.
Wie es wirklich geschehen ist, das anzugeben weigert sich N.
Er leugnet und erzählt eine unwahrscheinliche, offenbar eingelcrnte
Geschichte, die er stets mit denselben Worten vorbringt. — Seine
Thäterschaft muss dahingestellt bleiben.
Aber N. war zur Zeit der That entschieden geisteskrank, er be¬
fand sich in einem Zustande krankhafter Störung seiner Gcistesthätig-
keit, welcher seine freie Willensbestimmung ausschloss. Er betrachtete
seine Frau als die Haupturheberin seines Unglücks und als die Quelle
seiner Leiden und auf Grund dieser Wahnideen hat er sie in der
fürchterlichsten Weise misshandelt und kann sie möglicherweise auch
getödtet haben.
3. N. nachher und jetzt.
Das Bestehen der geschilderten geistigen Störung ist durchaus
vereinbar mit der Thatsaehc, dass N. in mancher Beziehung simulirt.
Digitized by
Gck gle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Casaistisoher Beitrag zur gerichtlichen Psychiatrie.
233
Er simulirt allerlei körperliche Symptome: Contractur des linken
Arms, Steifheit des linken Beins. Vielleicht übertreibt er auch zeit¬
weise seine Schwerhörigkeit. Letzteres ist zweifelhaft ; es ist bekannt,
dass Schwerhörige zeitweilig besser und zeitweilig wieder viel schlechter
hören.
Zu der Simulation der Bewegungsstörungen können ihn sow r ohl
Erwägungen, welche sich auf seinen erlittenen Unfall beziehen, als auch
Erwägungen defensiver Art, welche auf den ihm zur Last gelegten
Mord Bezug haben, veranlassen.
Es können aber auch abnorme Gefühle sein, welche in Folge
des Unfalls in den betreffenden Gliedern entstanden sind, und welche
N. bei seinem geistig gestörten Wesen zu derartigen, halb willkür¬
lichen, halb unwillkürlichen abnormen Haltungen der Glieder ver¬
anlassen („traumatische Hysterie“).
Die geistige Störung simulirt N. nicht. Sie bestand schon viel
eher, als N. in gerichtliche Untersuchung genommen wurde. Sie ist
jetzt in der ausgesprochendsten Weise vorhanden, da deutlich nach¬
weisbare Gehörshallucinationcn bestehen, weiche den Verfolgungs¬
wahnideen nach dem Tode der Frau einen neuen Inhalt geben.
N. hallucinirte vielleicht schon früher (vergl. Angabe des
Dr. Ha.). Sicher hallucinirt er jetzt, und zwar sind die Hallucinationen
in dieser Deutlichkeit für den Kranken zuerst in St. in der Einzel¬
zelle des Untersuchungsgefängnisses aufgetreten. „August Schulz
bat sich mir in St. zuerst kund gegeben“ giebt N. an. Er ist fest
von der nahen Anwesenheit der hallucinirten Personen überzeuzt,
welche durch Schmähungen und Verfolgungen ihn gänzlich zu nichtc
machen wollen.
Das Auftreten von Hallucinationen, besonders des Gehörs, in
der Einzelhaft bei psychopathisch Veranlagten ist nichts Seltenes.
Solche Symptome von Hallucinationen in ihrer klinischen Corrcct-
heit, wie sie dem Irrenarzt genau bekannt sind, zu simuliren ist un¬
möglich.
Es kann bei Sachverständigen kein Zweifel an dem Bestehen der
schweren geistigen Störung vorhanden sein.
Ich komme also bezüglich der Frage 3 meiner Begutachtung zu
dem Schluss, dass N. chronisch geisteskrank ist — und zwar in der
Form der sogenannten Verrücktheit (Paranoia) mit hypochondrischen
Wahnideen, mit Hallucinationen und mit Verfolgungswahn.
Die Entstehung kann verschieden sein.
IG*
Digitized by Gougle
Original frnrri
UNIVERSUM OF IOWA
234 Dr. Siemens, Casnistischer Beitrag zur gerichtlichen Psychiatrie.
Die Störung kann in ihren Anfängen schon weit zurückliegen.
Individuelle Anlage, unregelmässiges Leben, Alcohol-Missbrauch, ge¬
schlechtliche Excessc können die Ursache sein. Später hat entschieden
der erlittene schwere Unfall, welcher vorzugsweise den Kopf,
bezw. das Gehirn getroffen hat, die Entwickelung des Geisteskrankheit
gefördert.
Hypochondrie und Verfolgungswahn sind nach dem Unfall deut¬
lich aufgetreten, auch zunehmende geistige Schwäche. Den Rest hat
N. vielleicht die Einzelhaft im Untersuchungsgefängniss gegeben;
vielleicht aber sind die Hallucinationen auch schon früher ent¬
standen.
Im Sinne des Allgemeinen Landrechts ist N. als blödsinnig zu
bezeichnen, da er nicht im Stande ist, die Folgen seiner Handlungen
zu überlegen. Denn er steht völlig unter der Herrschaft seiner ab¬
normen Gefühle und seiner Hallucinationen und der daraus sich er¬
gebenden Vcrfolgungswahnideen, und ist nicht mehr im Stande, die
Wirklichkeit von den durch die Krankheit ihm vorgespiegelten subjoctiven
Erlebnissen zu trennen.
Da N. durch die Sinnestäuschungen und Wahnideen in einer er¬
heblichen Weise erregt und zu Abwehr-Handlungen verleitet wird, ist
er als gemeingefährlich zu bezeichnen.
Er bedarf der dauernden Fürsorge und Pflege in einer Irren-
Anstalt.
Endlich ist N. durch seine Sinnestäuschungen derart krankhaft be¬
einflusst, dass er als nicht verhandlungsfähig anzusehen ist.
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSITÄT OF IOWA
3.
Uefoer psychische Infection und inducirtes Irresein.
Von
Physikus Dr. 0. Riedel (Lübeck).
Die Kenntniss der Uebertragbarkeit geistiger Störungen ist uralt,
die wissenschaftliche Erkenntniss des inducirten Irreseins datirt erst
aus den letzten Jahrzehnten. Ueber die Art und Weise, wie Geistes¬
störungen auf Gesunde oder anscheinend gesunde Individuen über¬
tragen werden, haben sich die Anschauungen bekämpft, nunmehr aber
wohl bis zu einem befriedigendem Maasse geklärt. Freilich hat es
noch in den letzten Jahren nicht an Stimmen gefehlt, welche eine
eigentliche Gebertragung von Psychosen ganz in Abrede stellten (Graf,
Werner) und in der anscheinend durch Ansteckung entstandenen
zweiten Erkrankung ausschliesslich den durch eine Gelegenheitsursache
hervorgerufenen Ausbruch einer schon vorbereiteten oder bestehenden
Krankheit, das Offen barwerden eines bis dahin latenten Leidens oder
auch die von jeglicher äusseren Ursache unabhängige Fortentwickelung
einer schon vorhandenen Krankheitsanlage erblicken. Dem gegenüber
muss doch betont werden, dass bei einer vorurteilsfreien Würdigung
des vorhandenen Materials in vielen Fällen ein specifischer ursäch¬
licher Zusammenhang der zweiten Erkrankung mit einer gleich¬
beschaffenen ersten nicht von der Hand zu weisen ist, und dass da¬
her der Ausdruck „psychische Uebertragung“ oder „psychische In¬
fection“ durchaus berechtigt erscheint. Allerdings darf man das
Krankheitsgift oder psychische Contagium sich nicht nach Art des
Virus der somatischen Infectionskrankheiten als einen belebten ver¬
mehrungsfähigen Krankheitserreger vorstellen, auch nicht dasselbe,
wie von Krön er angedeutet wird, etwa in einem chemischen Stoff-
Digitized by
Go^ gle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
236
Dr. Riedel,
wcohselproduct des Geisteskranken suchen; es handelt sich vielmehr
um sinnliche, seelische Wahrnehmungen, Empfindungen und Ueber-
legungcn, welche auf einem geeigneten Boden haften bleibend — der¬
selbe entspricht der für eine erfolgreiche somatische Infection er¬
forderlichen Disposition — Boden fassen, die Krankheit fortpflanzen
und weiter verbreiten können.
Wenn man die aus alter und neuer Zeit bekannt gewordenen
zahlreichen psychischen Infectionen, thcils Massenerkrankungen in
Gestalt geistiger Epidemien, thcils Fälle sporadischer Erkrankung,
hinsichtlich des Febertragungsvorganges analysirt, so zeigt sich, dass
es sich bald um Uebertraguiig durch Nachahmung oder psychische
Emotion, bald auch um Uebertragung auf dem Wege der Feberlegung
und des Verstandes gehandelt hat. Während die erstgenannten beiden
Faktoren vorwiegend bei den geistigen Epidemien wirksam gewesen
sind, kommt die Uebertragung auf dem Wege des Verstandes wesent¬
lich bei den sporadischen psychischen Infectionen zur Geltung.
Die Nachahmung als Quelle geistiger Ansteckung kann sowohl
bewusst wie auch unbewusst instinctiv thätig sein. Als Nachahmung
im weiteren Sinne beschränkt sic sich nicht blos auf eine Neigung
zum Wiederholen des äusseren Gcbahrens, sondern hat das Be¬
streben auch die an Andern wahrgenommenen Affecte und Erregungen
mitzufühlen und nachzuempfinden. Dabei kann der Nachahmungs¬
trieb eine impulsive unwiderstehliche Gewalt gewinnen oder es kann
durch Concentration der Aufmerksamkeit auf die beobachteten Vor¬
gänge eine Art Hypnose zu Stande kommen. An die Stelle der
Imitation tritt dann die Suggestion.
Der dem Menschen und den höheren Thieren eigene Nach¬
ahmungstrieb ist in der Kindheit am lebhaftesten, bei dem reiferen
Individuum soll er mehr und mehr vom Verstände beherrscht und ge¬
zügelt sein. Schon bei Gesunden zeigt sich bei mannigfachen Ge¬
legenheiten des täglichen Lebens ein instincLivcr Nachahmungstrieb
und ein Umsetzen empfundener Alfccte in motorische Effecte, so
z. B. beim Lesen oder Anhören spannender, erschütternder Erzäh¬
lungen, beim Hören von Musik und dgl. mehr.
Wie gewaltig in Folge des dem Menschen innewohnenden Nach¬
ahmungstriebes die Macht des Beispiels nach der guten wie nach der
schlechten Seite hin wirkt, ist zur Genüge bekannt. Ist doch gerade
das gute Beispiel eines der erfolgreichsten Erziehungsmittel, während
Digitized by Gougle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Ober psychische Infection und indirektes Irresein.
237
an eine einzelne von einer schlechten Persönlichkeit ausgeführte Misse-
tliat sich gelegentlich eine ganze Reihe ähnlicher Nachahmungshand¬
lungen zahlreicher Individuen anschliessen kann. Es sei hier nur der
wiederholentlich beobachteten Verbrechensepidemien, der Vergiftungs-
und Brandstiftungsmanieen, der epidemischen Häufung der Selbst¬
morde und des epidemischen Auftretens von Selbstverstümmlungen
gedacht.
Damit nun durch die Wirkung des an sich physiologischen be¬
wussten oder unbewussten Nachahmungstriebes Krankheiten geistiger
oder nervöser Natur, Psychosen oder Neurosen, durch Uebertragung
zur Entwicklung gebracht werden, ist — wie von den Autoren ein-
müthig anerkannt wird — erforderlich einerseits eine besonders leb¬
hafte „impressionistische“ Erkrankung als Ausgangspunkt, anderer¬
seits eine besondere (hysterische oder suggestive) Empfänglichkeit der
secundär erkrankten Individuen. Als ein dritter, bisher nicht genügend
gewürdigter Factor ist noch hinzuzufügen, die Anwesenheit von Publi¬
kum, welches theils neue Rekruten für die epidemische Erkrankung
zu liefern, theils bei dem mehr oder weniger theatralischen Gebahren
der Erkrankten als Zuschauer zu fungiren hat. Wenn von manchen
Seiten (Kröner) gegen die Erklärung der Krankheitsentwicklung durch
Nachahmung der Einwand geltend gemacht wird, dass nur die Nach¬
ahmung von etwas Angenehmem oder Vortheilhaftem ausgeführt
werde — was bei geistigen Erkrankungen doch nicht der Fall sei —
so muss dem entgegnet werden, dass gerade der Kitzel sich zu zeigen,
sich zu produziren, bewundert oder bemitleidet zu werden, für ein
hysterisches Individuum einen genügenden Anreiz abgeben dürfte, um
die Nachahmung als erstrebenswerth erscheinen zu lassen.
Es handelt sich bei diesen Nachahmungskrankheiten (imitatorische
Scclenseuchen, Blasius) meist um Emotionspsychosen, deren Conta-
giosität mit der Intensität der äusserlich wahrnehmbaren Krankheits¬
erscheinungen wächst. Die bei den besonders lebhaften und er¬
schütternden Krankheitsäusserungen stattgefundene Uebertragung,
welche als acute oder subacute Erkrankung stets mehr oder weniger
plötzlich erfolgt, hat man auch als Shock Wirkung aufgefasst. Dies
mag wohl mit einem gewissen Recht geschehen. Es dürfen aber
nicht als durch Shockwirkung übertragen, sondern nur durch Sh ock-
wirkung veranlasst diejenigen, nicht hierhergehörigen Fälle bezeichnet
werden, wenn bei den Zeugen geistiger Erkrankungen durch Schreck
andersartige Krankheitszustände als die primären entstehen. Zum
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
238
Dr. Riedel,
Begriffe der geistigen Infection oder Contagion gehört eben die Ucbcr-
tragung des gleichen Krankheitsbildes.
Was nun die Art der übertragenen Erkrankungen betrifft, so
haben sich Psychoncurosen und Neurosen mannigfacher Art, religiöse
Ekstasen, maniakalische Erregungszustände, melancholische Angst¬
zustände und hysterische Krankheitsäusserungen in den verschiedensten
Gestalten als zur Uebertragung geeignet erwiesen, wobei die Ueber-
tragung doch meist nur eine äusserliche symptomatische, höchstens
suggestive Aneignung der Krankheit darstellt.
Als solche Imitationskrankheiten auf religiöser Grundlage sind
aus alter und neuer Zeit zu nennen: Die Kinderkreuzzüge und die
Tanzplagen des Mittelalters, die Pöschlianer in Oberösterreich (1814) die
Predigerkrankheit in Schweden 1841, die Predigerkrankheit in Baden
1852 und 1856, die Erweckungen in Amerika (1814, 1856) im
Elberfelder Waisenhause (1890) und in Morzine (1865) die Malewanscht-
schen in Russland (1891/92) u. a. mehr. Hierher gehören ferner die
zahlreichen Beoachtungen von hysterischen Massenerkrankungen,
welche nicht nur unter körperlich schwächlicher Stadtbevölkerung,
sondern gelegentlich unter robusten körperlich widerstandsfähigen Land¬
mädchen aufgetreten sind (Seeligmüller). Besonders das enge Zu¬
sammenleben der Kinder in der Schule und die Eigentümlichkeiten
des Schullebens begünstigen hysterische Uebertragungen. So berichtete
Wich mann aus dem Jahre 1885 von einer in der Schule zu Wild¬
bad aufgetretenen Veitstanzepideraie, bei welcher von einer Veits¬
tanzerkrankung aus erst 18 Mädchen, dann 8 Knaben von Chorea be¬
fallen waren; dabei handelte es sich nur bei fünf Mädchen um wahre
Chorea, während bei den übrigen Kindern Chorea rhythmica vorlag,
die sich vorzugsweise durch taktmässiges Klopfen des Fussbodcns
mit der Ferse betätigte. Im Bremer Waisenhause beobachtete Tölker
1879 und 1882 epidemisches Auftreten von hysterischen Convulsionen,
im Jahre 1892 von hysterischem Erbrechen und in dem Zeitraum von 1882
bis 1886 wiederholt sich häufendes Auftreten hysterischer Contracturen.
Schliesslich ist hier noch der anscheinend somatischen aber
gleichfalls als hysterisch zu erachtenden „Imitationskrankheiten u
der Kinder zu gedenken, wie solche gerade in neuester Zeit mehrfach
aus Ungarn berichtet worden sind (Szegö). Es handelte sich dabei
um das epidemische Auftreten von bellendem oder fauchendem Husten,
oder andern thierstimmähnlichen Aeusserungen in Schulen und Pen-
sionaten, wobei Art und Eintritt der Symptome und ihre schnelle
Digitized by
Gck gle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Geber psychische Infection und inducirtcs Irresein.
239
Heilbarkeit durch Isolirang keinen Zweifel an der hysterischen, imita¬
torischen Entstehung übrig Hessen.
Diese günstige Aussicht auf eine meist schnelle Heilung,
manchmal allerdings mit gelegentlichen, von äusseren Einflüssen ab¬
hängigen Rückfällen, ist ebenso wie auch ihre schnelle Entstehung für
die Nachahmungs- und Emotionskrankheiten characteristisch.
Wenn nun auch gelegentlich behauptet wird, dass unser realistisches
Zeitalter dem Zustandekommen psychischer Epidemien ungünstig sei,
so muss dagegen eingewendet werden, dass Ueberbürdung, Frühreife
und die Ueberanstrengung des hastenden modernen Lebens und die
ihm eigene mangelhafte Ausbildung der Widerstandsfähigkeit des
Characters in unserem nervösen Zeitalter in Gestalt einer nervösen
Grundlage und einer bereiten Empfänglichkeit für Täuschung, Selbst¬
täuschung und Suggestion auch für die Entwicklung geistiger Epi¬
demien keinen ungünstigen Boden darbieten dürften. Dass dem so
ist, geht hervor aus der Verbreitung, welche in verschiedenen Ländern
in den niederen Klassen die Propaganda der Heilsarmee erzielt hat,
welche nichts anderes ist, als eine neue Auflage der „Erweckungen“
früherer Jahrzehnte.
In den sogenannten gebildeten Kreisen vermochte die armselige
Lehre des Spiritismus Boden zu fassen. Und dass Einseitigkeit,
Urtheilslosigkeit und Neigung zu Selbsttäuschnng auf den verschie¬
denen wissenschaftlichen, ästhetischen und politischen Gebieten auch
am Ende des 19. Jahrhunderts ihren verblendenden und intolerant
machenden Einfluss äussem und zu Massensuggestionen führen, brauche
ich hier nicht näher auszuführen.
Im schroffen Gegensatz zur Entstehung dieser Imitationskrank¬
heiten steht nun die Genese der geistigen Infection auf dem Wege
des Verstandes, für welche die zuerst von Lehmann angewendctc
Rezeichnung des inducirten Irreseins Vorbehalten sei. Hierbei handelt
es sich stets um die Uebertragung mehr oder weniger systematisier
Wahnideen. Das wesentliche dabei ist die Ueberpflanzung der Idee,
nicht die Uebertragung der äusserlichen Krankheitssymptome.
Während bei den Emotionsphychosen eine geistige Infection im
Allgemeinen um so leichter bewirkt wird, je lebhafter die Krankheits¬
äusserungen sind, so ist hier das Gegentheil der Fall: Eine Infection
findet um so eher statt, je mehr das ersterkrankte Individuum in
seinem Gebahren einem Gesunden gleicht. Die Uebertragung erfolgt
langsam, indem der Erkrankte seine Ideen seiner Umgebung einzu-
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSITÄT OF IOWA
240
Dr. Riedel,
pflanzen sich bemüht. Durch Intimität des Verkehrs und Gleichheit
der Interessen wird die Ueberpflanzung der krankhaften Ideen und
und deren Entwicklung bei der Umgebung des Kranken begünstigt.
Der Sachlage entsprechend kommt es hierbei nur zu einer Ueber-
tragung der Krankheit auf eine oder wenige Personen.
Das Krankheitsbild des inducirten Irreseins im engeren Sinne ge¬
hört in das Gebiet der folie ä deux, deren Krankheitsbegriff 1873 und
1877 von Lasegue und Falret aufgestellt wurde.
Während vordem die Thatsachen der Uebertragung von Geistes¬
krankheiten als Curiosa mitgetheilt wurden, haben Legrand du
Saulle, Geoffroy und dann Lasegue und Falret durch eine
wissenschaftliche Analyse der Fälle die Bedingungen der Ueber¬
tragung festzustellen sich bemüht. Sie kamen zu dem Ergebnisse,
dass unter gewöhnlichen Verhältnissen eine solche Uebertragung nicht,
stattfinde, sondern nur bei einer vorhandenen Disposition des zweit-
bcfallenen „passiven“ Theils. Der „aktive“ Theil müsse dabei der
intelligentere sein. Weitere Vorbedingung sei, dass ein enges Zu¬
sammenleben stattfinde und dass das Delir den Charaoter der Wahr¬
scheinlichkeit besitze, jedenfalls sich nicht aus dem Bereiche der
Möglichkeit entferne. Das Delir, das übrigens auch auf drei oder
mehr Personen übertragen werden könne, zeige sich bei dem passi¬
ven Theil gewöhnlich weniger stark ausgesprochen. Zu einer er¬
folgreichen Behandlung sei vor Allem eine Trennung der Erkrankten
erforderlich.
Es sei erwähnt, dass schon drei Jahrzehnte vor Lasegue und
Falret im Jahre 1846 ein deutscher Autor Hofbauer einen Fall
von infectio psychica beschrieben hat. Späterhin waren von Morel,
ßaillarger (1860) und Nasse (1872) weitere Fälle von maniaka-
lischer oder melancholischer Uebertragung mitgetheilt. Diese Fälle
angeblicher geistiger Infection halten übrigens den Forderungen einer
strengen Kritik, wenn nämlich unter psychischer Contagion wirklich eine
Uebertragung auf dem Wege des Verstandes verlangt wird, grösstentheils
nicht Stand, da es sich zum Theil nur um gleichzeitige Erkrankung ohne
inneren Zusammenhang handelte. Für solche gleichzeitigen Erkran¬
kungen ohne inneren ursächlichen Zusammenhang führte Regis (1880)
den Namen Folie simultanen ein. Er ging aber zu weit, wenn er in
seiner Bekämpfung der Lehre der Folie ä deux sämmtliehe Fälle der¬
selben als Folie simultanee erklären und entsprechend bezeichnet
wissen wollte.
Digitized by
Gck gle
Original frnm
UMIVERSITY OF IOWA
l T eber psychische Infcction und inducirtes Irresein. 241
Im Jahre 1881 wurde von Marandon de Montyel der Rcst-
bestand der Folie ä deux in die Folie imposee und die Folie com-
muniquee eingetheilt, so dass nunmehr, da die Eintheilung von den
nachfolgenden Autoren in der Hauptsache anerkannt worden ist, in
klinisch ätiologischer Beziehung drei Untergruppen der Folie a deux
bestehen, von denen die ersten beiden als verschiedene Stadien einer
Erkrankung beobachtet werden können.
Bei der Folie imposee hält der passive Theil, welcher übrigens
durchaus nicht dem erkrankten activen Partner gegenüber an Intel¬
ligenz minderwerthig zu sein braucht, die Wahnideen seines Genossen
mit voller Ueberzeugung für wahr, eine eigentliche vollständige
Geisteskrankheit ist bei ihm kaum schon mit Sicherheit nachzuwciscn,
und auch das Zustandekommen von Hallucinationen wird von
Arnauld (1893) nicht als Beweis einer solchen anerkannt. In dieser
Form sind von der Trennung der Erkrankten für den passiven Theil
die besten Erfolge zu erwarten.
Im Zustande der Folie communiquce ist der passive Theil bereits
vollständig geisteskrank geworden und entwickelt selbstständig das
Delir weiter, ohne dass eine Trennung von dem Ersterkrankten dies
zu hindern vermag.
Das Activwerden der vorher passiven Person ist das Kriterium
der eingetretenen Geistesstörung, nicht das Auftreten von Hallu¬
cinationen (Jörger). Wir haben also bei der Folie communiquce
zwei active Elemente, welche gegenseitig auf einander einwirken und
gemeinsam die Bausteine zum weiteren Ausbau ihres Wahngebäudes
liefern.
Für das Zustandekommen der Folie simultanee ist die Ursache
nicht in einer geistigen Infektion des einen, gleichzeitig oder später
erkrankten Theils zu suchen, sondern in einer bei beiden Theilen vor¬
handenen Disposition oder in gleichen äusseren Einflüssen. Eine be¬
sondere Unterart der Folie simultanee ist die Folie gemellairc, bei
welcher Zwillinge, die räumlich von einander getrennt sein können,
auf Grund ihrer gemeinsamen erblichen Veranlagung an ganz iden¬
tischen Psychosen erkranken.
Ebenso wenig wie bei der Folie simultanee kann bei anderen
gleichzeitig oder bald aufeinander folgenden Krankheiten von geistiger
Infection oder inducirtem Irreseinn gesprochen werden, wenn bei der
zweiterkrankten Person auch Kummer, Sorge, Schreck oder durch die
Anstrengungen der Krankenpflege eine Psychose zum Ausbruche
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
242
Dr. Riedel,
kommt, die dann sich auch nach Form und Inhalt von der ersten
Krankheit ganz verschieden darstellt. Hierbei kann in der ersten
Psychose nur eine Gelegenheitsursaehe erblickt werden, wie sie eben
so gut auch durch die Pflege eines anderen Kranken, z. B. eines
Krebskranken veranlasst werden könnte.
Von inducirtem Irresein darf also nur gesprochen werden, wenn
bei einem bis dahin gesunden Individuum durch intimen Umgang
mit einem Geisteskranken durch Implantation einer Wahnidee eine
allmählich eintretendc geistige Erkrankung hervorgerufen wird, welche
inhaltlich der ersten Krankheit gleicht (Schönfeld).
Welche Arten von Geisteskranken sind nun der Beschaffenheit
ihrer Wahnideen und ihrem äusseren Gebahren nach geeignet, ihre
Krankheit auf andere zu verpflanzen? Nicht die Melancholischen mit
ihren absurden ängstlichen Befürchtungen, nicht die Maniakalischen
mit ihrer rastlosen Unruhe und der Unbeständigkeit ihrer Bestre¬
bungen — beide werden vielmehr auf ihre Genossen sehr leicht den
Eindruck eines Kranken machen — ebenso wenig eignen sich hierzu
all die Krankheitsprozesse, welche mit furibunden Delirien, allgemeiner
Erregtheit oder Verwirrtheit eingehen; wohl aber sind hierzu geeignet
diejenigen Geisteskranken, deren äusseres Gebahren nicht den Stempel
der Geistesstörung offen zur Schau trägt, die aber durch die Ein¬
dringlichkeit und Hartnäckigkeit ihrer Ideen und Bestrebungen, durch
die einwandfreie Logik ihrer Schlussfolgerungen die Schärfe ihres
Urtheils und die lückenlose Folgerichtigkeit ihrer Gedanken Ver¬
kettungen den passiven That zu captiviren und zu überzeugen be¬
fähigt sind. So handelt es sich denn bei der Foli'e communiquee vor¬
wiegend, wenn nicht ausschliesslich, um Fälle von Paranoia.
Da nun die Paranoia in der Mehrzähl aller Fälle mit Verfol¬
gungsideen verbunden ist, so ist es leicht erklärlich, dass die über¬
tragenen Geisteskrankheiten vorzugsweise das Bild persecutorischcr
Verrücktheit darbieten. Verfolgungsideen haften bei der dem Men¬
schen innewohnenden Neigung zum Misstrauen leichter als Grössen¬
ideen, welche meist auf dem Boden psychischer Schwäche entstehen
und bei den Personen, auf welche sie übertragen werden sollen (um
z. B. an fürstliche Abstammung oder dergl. zu glauben) eine beson¬
dere Inferiorität voraussetzen. Anders dagegen verhält es sich mit
Grössenideen religiösen Characters, wenn die Umgebung des Kranken
zu religiöser Schwärmerei neigt. Hier wird der passive Theil leicht
in die übersinnliche Sphäre mit hineingerissen, in welcher ihm keine
Digitized by
Gck gle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
lieber psychische Tnfection und inducirtes Irresein.
243
auf Erfahrung fassende Corrective zu Gebote stehen (Schön fei dt).
So finden sich denn unter den übertragenen Psychosen auf dem Ge¬
biete der depressiven Paranoia Verfolgungs- und Querulanten wahn, von
den expansiven Formen dagegen religiöse Verrücktheit.
Es scheint, wie Kröner andeutet, für die Art der übertragenen
Krankheiten der nationale Character von Bedeutung zu sein, da in
der französichen Litteratur ausschliesslich von Uebertragungen des
Verfolgungswahns berichtet wird, während in Deutschland noch ver-
hältnissmässig häufig Melancholie übertragen worden ist und aus Russ¬
land von Sehönfeldt zahlreiche Fälle von Uebcrtragung religiösen
Wahns berichtet werden.
Nachdem wir gesehen haben, welche Arten geistiger Störung zur
Uebertragung geeignet sind, sei noch kurz der Bedingungen gedacht,
durch welche solche Infection begünstigt wird. Voraussetzung ist,
wie schon erwähnt, dass die ersterkrankte Persönlichkeit von ihrer
Umgebung nicht als krank erkannt wird, dass vielmehr ihre Ideen,
wenn vielleicht anfangs von dem Genossen nicht getheilt, sondern be¬
kämpft, schliesslich von diesem aus Ueberzeugung oder Nachgiebig¬
keit als wahr anerkannt und aufgenommen werden. Es erhellt, dass
dies um so leichter geschehen wird, je mehr der Ersterkrankte
dem andern gegenüber eine autoritative Stellung einnimmt. Doch
sind auch Fälle bekannt, wo geistig höher stehende Individuen von
ihren geistig unbedeutenden Hausgenossen inficirt worden sind. Es
gehört dazu eine enge Lebensgemeinschaft und eine Gleichheit der
Interessen. Dass unter solchen Verhältnissen ein Processkrämer seine
Umgebung von seinem vermeintlichen Recht zu überzeugen oder ein
Paranoiker seinen unter den Folgen seines Wahns mitleidenden An¬
gehörigen denselben Wahn erfolgreich einzuimpfen vermag, ist nicht
zu verwundern. Voraussetzung dabei ist immer, dass die Umgebung
des Ersterkrankten diesen nicht als geisteskrank erkennt. Eine
solche Verkennung kommt aber ja gerade am leichtesten Seitens der
nächsten Angehörigen eines Geisteskranken zu Stande. Während oft
von dem Fremden oder dem Fachmann auf den ersten Blick die
geistigen Abnormitäten erkannt werden, sind die Angehörigen durch
die allmähliche Entwicklung derselben und durch die Macht der Ge¬
wohnheit abgestumpft und an die „Besonderheiten“ des ihnen gesund
erscheinenden Hausgenossen gewöhnt.
Man hat gegen 200 Fälle von sporadischer Uebertragung von
Geisteskrankheiten in der Litteratur beschrieben, doch kann nur ein
Digitized by
Gck gle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
244
Dr. Riedel,
Bruchthcil derselben als inducirtes Irresein, Folie communiquee, an¬
erkannt werden. Daher haben auch die statistischen Gruppirungen
der Einzelumstände jener Fälle nur geringere Bedeutung. Man hatte
ermittelt, dass es sich nur in 60 pCt. der Fälle um Febertragung von
Psychosen unter Eheleuten handele. Bei diesen Fällen, dürfte es
sich, vorausgesetzt dass bei beiden Ehegatten das gleiche Krankheits¬
bild sich entwickelt hat, ebenso wie bei der Uebertragung zwischen
der Herrschaft und Dienstboten, um wirkliche psychische Induction
handeln, während z. B. bei Geschwistern und Blutsverwandten häufig
die Annahme einer aus gleicher Veranlassung auf gleicher ererbter
Anlage entstandenen, nur gleichzeitigen Erkrankung nicht von der
lland zu weisen ist.
Eine Disposition freilich ist ja bei dem passiven Theil immer
erforderlich. Eine solche kann angeboren oder durch mannigfache
Veranlassungen erworben und dauernd oder vorübergehend gegeben
sein. Kinder und Greise scheinen in Folge ihrer mangelhaften
geistigen Selbstständigkeit besonders empfänglich. Das weibliche Ge¬
schlecht bietet, vermöge des Ueberwiegcns der Gefühlsphärc über
die Verstandessphäre, vermöge seiner angeborenen Befähigung sich
in die Gefühle und Rollen anderer zu versetzen, eine vorwiegende
Disposition, welche noch durch die verschiedenen Phasen ihres physiolo¬
gischen Geschlechtslebens, Menstruation, Lactation, zeitig gesteigert
wird. Schliesslich sei noch betont, dass bei beiden Geschlechtern
durch Uebcransstrengungen namentlich auf geistigem Gebiete (surme-
nage cerebral) und durch Intoxicationen die Empfänglichkeit gesteigert
werden kann.
Was den Ausgang der Erkrankungen betrifft, so ist es erklär¬
lich, dass die inducirte Krankheit je nach ihrer Dauer im Ganzen
günstigere Aussichten auf Heilung bietet als die Psychose des Erst¬
erkrankten. Hier ist natürlich eine möglichst frühzeitige Trennung
beider Kranken von grösster Bedeutung. Doch sind auch häufig die
Erkrankungen der inficirtcn Personen unheilbar geworden. Vereinzelt
wurde auch der Ersterkrankte geheilt, während die Psychosen des
zweiten Theils fortbestanden.
Als ein typisches Beispiel einer allmählichen psychischen Infektion auf
dem Wege des Verstandes möge hier die Geschichte zweier eng mit einander
verbundener Erkrankungen folgen, die ich in den .Jahren 1892—18% zu L. zu
beobachten Gelegenheit gehabt habe.
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
Uebcr psychische Infection und inducirtes Irresein.
245
Ende Dee. 1892 wurde Vf. von der Oberschulbehörde beauftragt, den Geistes¬
zustand des Lehrers M. zu untersuchen, weil dieser durch seine reizbare und arg¬
wöhnische Stimmung seinen Collegen gegenüber und durch sein sonstiges auf¬
fallendes Benehmen Zweifel an seiner geistigen Gesundheit erweckt hatte.
M., der schon lange durch sein bizarres und unkollegiales Verhalten bekannt
war, hatte in der Schule mit den Lehrern und den Schülern erregte Scenen gehabt,
er hatte sich von ihnen verhöhnt gefühlt, hatte ihren Blicken angesehen, „er solle
nach Amerika auswandern“ „er solle sich aufhängen“ und dgl. mehr.
Die Untersuchung des 47 jährigen, durch Trunksucht seines Vaters erblich
belasteten, bis auf einen chronischen Bronchialkatarrh körperlich gesunden,
kräftigen Mannes lieferte sofort den Beweis für das Vorhandensein einer Paranoia
mit Verfolgungs- und Grössenwahnideen. Während die Verfolgungsideen spontan
oder mit geringer Mithilfe willig expektorirt wurden, gelang es erst nach mehr¬
maliger Untersuchung die heiligst gehüteten Grössenideen dem M. zu entwinden.
Es handelte sich um ein vollständig ausgesponnenes, seit vielen Jahren bestehen¬
des Wahnsystem. M. glaubte der aussereheliche Spross einer alten Patrizierfamilie
zu sein, und fühlte sich durch diese weitverzweigte Familie und durch alle Be¬
hörden verfolgt. Alles batte den Zweck ihn aus seinem Amte und aus L. zu ver¬
drängen. Er „fühlte“ die Verfolgungen bei den alltäglichen Vorkommnissen des
Schullebens, nur um ihn zu ärgern wurde am Schlüsse der Stunden zu früh oder
zu spät geklingelt u. s. w. Die Freimaurer, welche nach ihrem Belieben einen
Menschen hoch heben oder zum Budjer machen können, haben überall Leute an¬
gestellt, welche ihm auf der Strasse begegnen, um ihn zu „drücken“. Die Kirche
besucht er nicht mehr, weil die von den Behörden angestifteten Geistlichen ihre
Reden auf ihn münzen, der sich dabei den Geistlichen gegenüber doch ganz
wehrlos befinde. — Neben dieser krankhaften subjektiven Umdeutung der äusseren
Erscheinungen bestanden zweifellos seit Jahren Sinnestäuschungen und zwar Ge¬
hörsinnesstäuschungen. Er hatte seit Jahren von einzelnen Persönlichkeiten nichts¬
sagende unverständliche Aeusserungen gehört oder zu hören geglaubt, die aber
alle den versteckten tiefen Sinn hatten ihn aus seiner Stellung zu verdrängen.
Schon vor 16 Jahren bei seiner ersten Anstellung im Staatsdienste habe der
Hauptlehrer S., in diesem Sinne gesagt „dieser wird gesetzt zu einem Falle und
zur Auferstehung vieler.“
Weitere Nachforschungen ergeben, dass M. seinen Collegen schou seit dem
Jahre 1886 psychisch höchst auffällig erschienen war. Schon damals hatte er
nach Ansicht seiner Collegen und seiner Vorgesetzten Spuren von Verfolgungs¬
wahn gezeigt; er hatte sich häufig beklagt, dass er stets verkannt werde, dass er
nicht gegrüsst werde, er hatte schon zu jener Zeit einmal aus den Gesten der
Schüler die Aufforderung gelesen er solle sich aufhängen, er hatte behauptet,
dass alle Lehrer und Schüler sich gegen ihn verschworen hätten. Als im Jahre
1890 von Seiten der Behörde eine ärztliche Untersuchung des M. angeordnet
wurde, gab der damalige Gutachter sein Urtheil folgendormasscn ab. „M. geräth
in hochgradige Erregung, wenn sein Verhältnis zum Hauptlehrer H. erörtert
wurde. Er hält an dem Glauben fest, derselbe wolle ihn aus seinem Amte ver¬
drängen „ihn geistig tödten,“ derselbe reize die übrigen Lehrer gegen ihn auf
und belüge den Schulrath und die Behörden zu Ungunsten seines verhassten
Opfers. M. bedient sich allerdings in den Klagen über den Hauptlehrer sonder-
Digitized by
Gck igle
. Original fro-m
UNIVERSUM OF IOWA
246
Digitized by
Dr. Riedel,
barer und exccntrischer Redewendungen, wie „es ist im Rathe. der Götter be¬
schlossen mich zu stiirzen u u. dgl. mehr. Da indessen auf anderen Gebieten
(mit Ausnahme des verschrobenen Geibel-Gedichts) ein wirklicher geistiger Defekt
z. Z. nicht wahrzunehmen ist, so würde sich M.s Zustand erst dann als Verfol¬
gungswahn (mithin als Psychose) bezeichnen lassen, wenn seine Auslassungen
gänzlich unbegründet sind und auf fixen Ideen beruhen. Was mich einigermassen
befremdet sind die Mittheilungen der anscheinend ganz verständigen Ehe¬
frau M., welche behauptet Zeugin gewesen zu sein von wiederholten ungerechten
Aeusserungen und Quälereien des Hauptlehrers X. gegen ihren Mann, wodurch
derselbo zornmüthig erregt worden sei und nach und nach sein geistiges Gleich¬
gewicht völlig eingebüsst habe. Ohne augenblicklich ein definitives Gutachten
über den geistigen Zustand M.’s abgeben zu können, möchte ich befürworten, den¬
selben vorläufig einem anderen Hauptlehrer zu überweisen, um weiteres Beobach¬
tungsmaterial über das Gebühren und die Leistungsfähigkeit des Genannten zu
gewinnen. 44
Als M. diesem Vorschläge gemäss an eine andere Schule versetzt worden
war, wurde von dem Leiter derselben nach einem Vierteljahre berichtet, dass M.
in seiner Thätigkeit ein durchaus normales Verhalten gezeigt, sich als pünktlich
gewissenhaft und eifrig erwiesen, dem Schulleiter gegenüber bescheiden und
willig, seinen Collegen gegenüber freundlich und zuvorkommend gewesen sei.
Er habe zwar manche Eigentümlichkeiten und Besonderheiten an sich, aber kaum
im höheren Maasse, als mancher andere Lehrer, und Hessen dieselben durchaus
nicht auf irgend welche Störung seiner geistigen Kräfte schliesscn.
Aber schon im Herbst 1890 traten wiederum Missstände zu Tage, da M.
ohne Erlaubniss sein gedrucktes seltsames Geibeigedicht an die Schüler seiner
(Jlasse vertheilt hatte und bei dieser Veranlassung dem Hauptlehrer gegenüber
den Gehorsam verweigerte. Nachdem M. wiederum an eine andere Schule versetzt
worden, häuften sich in den folgenden Jahren die Eingangs erwähnten lebhaften
Klagen der Lehrerschaft und die erregten Schulscenen, und wurden Veranlassung
zu einer abermaligen ärztlichen Untersuchung, welche das Vorhandensein einer
schon längst bestehenden Paranoia ergab und die Pensionirung M.’s herbeiführte.
Charakteristisch sind seine schriftlichen und literarischen Leistungen,
welche sich durch ihre Tiefsinnigkeit, Verschrobenheit und Gespreiztheit aus¬
zeichnen. Als Probe derselben mag hier ein Gedicht folgen, das von M. zur
Enthüllungsfeier dos Denkmals Emanuel Geibels am 18. Oktober 1889 veröffent¬
licht worden war.
Zur Enthüllungsfeier des Denkmals
Emanuel Geibels
des Dichters und Ehrenbürgers Lübecks
wie des gesammten Vaterlandes
an Seinem Geburtstage den 18. Oktober 1889.
Am Denkmal.
Ein Priester Gottes dort und hier, Und diese Stätte weit und breit,
Der Geithes Faust vollendet, Die „Geibelplatz“ bezeichnet,
Hat mit die Stätte eingeweiht, Erschliesst der Würdigkeiten viel’,
Umkreist sie auf der Stelle. Der Würde Rundgemälde.
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
l'eber psychische Infection und inducirtcs Irresein.
247
Zwar ehrt man Dich zu allermeist
Im Folgen Deiner Werke;
Allein ein Klassiker soll sein
Auch klassisch schön verehret.
D’rum hat vereint sich Stadt und Land,
Alldeutschland, Land der Mitte,
Ein Denkmal auf dem Platz zu weih’n,
Das gilt dem Dichter-Fürsten.
Umgehen von Natur und Kunst
Siehst Du nun beide Welten,
Blickst aus dem Aller-Heiligtum
Auf Heiligtum und Vorhof.
Doch wie vorhin, so wirkst Du noch
Durch Deinen Geist im Geiste,
Und segnend schaut St. Jacob ab
Auf Dich und all’ die Deinen.
An Deinem Throne aber ruht
Ein Engel hold — Dein eigner,
„Mein Vater!“ ruft er glücklich aus,
„Israels Wagen, Reiter.“
Lübeck, den 18. October 1889.
Beglei tvvort.
Vorstehendes Gedicht ist in Veranlassung der Enthüllungsfeier des vom
ganzen Vaterlande dem teuren Dichter errichteten Denkmals entstanden.
Es will zugleich dem bedeutendsten Lyriker unserer Tage, dessen schöne
Lieder oft im engen wie im weiten Kreise zum Gesänge ermuntern, an seinem
Geburtstage eine Gegengabe bringen für die bereitwillige Zusage, die dem Ver¬
fasser seiner Zeit von demselben zu theil geworden.
Das Gedicht, das sich ohne Endreimo abwechselnd in 4 und 3y 2 füssigen
Jamben bewegt, zerfällt nach der Anzahl der Strophen in 7 Abschnitte. Str. 1
beginnt mit der Vor- und Mitweihe. Str. 2 spricht von der Würde des Platzes.
Str. 3 führt an, wodurch man den Dichter ehren muss und soll. Str. 4 drückt
den Beschluss dos deutschen Volkes aus. Str. 5 knüpft an die nächste Umge-
bang an, die Natur und Kunst. Str. 6 erwähnt die immerwährende Wirksamkeit
des Dichters und den göttlichen Segen. Str. 7 nimmt Akt von der dem Dichter¬
fürsten gebührenden Ehre und Macht für die verwirklichende höhere Idee.
Betrachten wir hiernach die einzelnen Strophen näher.
Zunächst tritt uns ein Priester entgegen. Das ist der nun auch selige Hr.
Pastor Dr. J. D. Hoffmann, der durch seine im fernen Weltteile unter deutschen
Stammesbrüdern vollzogene Thätigkeit, in Lübeck durch seine in den letzten
Jahren in der St. Jacobi-Kirche zuweilen gehaltenen Psalmpredigtcn (?), sowie
durch seinen schon viel früher im Druck erschienenen Faust manchen Aeltercn
erinnerlich sein wird,“ u. s. w.-
Aehnliche bizarre Gelegenheitsschriften finden sich schon aus den Jahren
1877 und 1880, und weiterhin aus dem Jahre 1892 eine ähnliche Leistung: An¬
rege und Programmentwurf für die Columbusfeier im Jahre 1892“. Auch ältere
dienstliche Eingaben und vergebliche Bewerbungen M.’saus dem Jahre 1878 lassen
bei ihrer seltsamen Fassung wohl keinen Zweifel, dass seine geistige Gesundheit
schon in jener Zeit gestört war.
Während bei den ärztlichen Untersuchungen mit M. selbst gut fertig zu
werden war — er gerieth nur in grosse Erregung und lautes deklamatorisches
Pathos, wenn er auf die ihm zu Theil werdenden Ungerechtigkeiten und Verfol¬
gungen zu sprechen kam — so zeichnete sich seine Frau durch grosse Heftigkeit
Vierteijahrsschr. f. ger. Med. Dritte Folge. XIV. 2.
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
248
Dr. Riedel,
uud furienhafte Leidenschaftlichkeit aus, mit welcher sie sein Interesse vertrat,
seine Angaben als richtig bezeichnete und ihn aus seiner zeitweiligen Resignation
aufhetzte. Gelang es einmal eine ruhige Aussprache mit der Frau zu erzielen,
so räumte diese ein, dass sie für die Richtigkeit ihrer Behauptungen ausschliess¬
lich nur die Aussagen ihres Mannes als Unterlage habe.
In ihren Augen war ja ihr Mann gesund und ein Märtyrer der allseitigen
Verfolgungen. Sie konnte in dieser Ansicht nur unterstützt werden durch die
von einem hiesigen Arzte in den Jahren 1893 (12. Juni) und auch nach statt¬
gehabter Entmündigung 1894 (28. März) wiederholt ausgestellte Bescheinigung,
dass M. sich bei wiederholten Untersuchungen stets völlig gesund erwiesen habe.
Nach seiner Pensionirung war M., um ihm etwas zuzuwenden, noch nach
Möglichkeit zu schriftlichen Arbeiten benutzt worden (auch diese Thatsache
wurde von beiden Eheleuten als Beweis der Abwesenheit einer geistigen Störung
gedeutet); seine Bemühungen, auswärts eine Stellung zu finden, schlugen fehl,
wie er annahm, weil auswärts die Behörden von hier aus gegen ihn inspirirt
würden. Im Jahre 1894 kündigte er in den Blättern einen Cyklus von wissenschaft¬
lichen Vorträgen an, die er in den Landgemeinden halten wollte, was jedoch nicht
zu Stande kam.
Allmälig hatten sich die VerfolgungsideenM.’s auch auf seine Hausbewohner
erstreckt, so dass er mit diesen in ein gespanntes Verhältniss gerieth und die¬
selben angeblich mit dem Leben bedrohte. Auch waren die Pelzsachen eines
Miethers auf dem Hausboden boshaft zerschnitten w'orden. Wegen Bedrohung
und Sachbeschädigung angeklagt, wurde M. am 8. Februar 1894 durch Beschluss
des Amtsgerichts als geisteskrank entmündigt.
Gegen den Entmündigungsbeschluss erhob M. in den Zeitungen eine Reihe
von Protesten. Er unterzog sich darauf einer freiwilligen Beobachtung in einer
auswärtigen privaten Irrenanstalt, um den Nachweis seiner geistigen Gesundheit
zu führen. Mit dem erlangten Atteste — welches besagte, dass M. sich gesittet
und ruhig benommen, in allgemeinen Sachen und Tagesfragen nichts Auffälliges
geäussert habe, hinsichtlich seiner Verfolgungsideen sich aber vom Gegentheil
nicht überzeugen liesse, — versuchte er vergeblich eine Wiederaufnahme der
Entmündigung herbeizuführen.
M. machte sich dadurch dauernd auffällig und schliesslich unmöglich, dass
er auf der Strasse beamtete Personen belästigte und beschimpfte oder in die
Häuser hineinrief ,, In Lübeck darf Niemand verrückt gemacht werden, nicht ein¬
mal der Bürgermeister.“ Den Amtsrichter, der bei seiner Entmündigung thätig
gewesen war, bezeichnete er als ,,Seelcnmörder“, den Staatsanwalt als ,,Mörder“,
den Schulrath als ,,Eheschänder“ (was er damit erklärte, derselbe habe seine,
M.’s Ehe dadurch geschändet, dass er ihn als verrückt erklärt habe.) Diese Be¬
schimpfungen wurden von beiden Eheleuten nicht nur den betreffenden Be¬
amten zugerufen, sondern auch fremden unbekannten Persönlichkeiten mitgetheilt
und erklärt. Die Spaziergänge endeten regelmässig vor der Wohnung des Schul¬
raths, vor welcher das Schimpfen von beiden Ehegatten namentlich auch von der
Frau ausgeführt wurde. Mit einem besonderen Hasse verfolgte das Ehepaar
auch die ihre Strasse passirenden Lehrer. Es kam zu einem Strassenanftiitte, bei
welchem die Frau M. oinen Lehrer stellte und ihren Schirm auf demselben zer¬
schlug. Dieser Vorgang führte zur zwangsweisen Aufnahme des entmündigten
Digitizeit by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Ueber psychische Infection und inducirtes Irresein.
249
M. in der Irrenanstalt, während gegen Frau M. ein Strafantrag wegen Misshand¬
lung gestellt wurde. Bei dieser Veranlassung wurde der Geisteszustand der
Frau M. Gegenstand ärztlicher Untersuchung.
Die 38jährige, kräftig gebaute, gut genährte Frau war, soweit festzustellen,
frei von erblicher Belastung. Sie hatte dem M. als dessen zweite Ehefrau in
12jähriger Ehe drei Kinder geboren, von denen zwei in den ersten Lebensjahren
verstorben und ein 10jähriger Knabe am Leben war. Die Exploration des
geistigen Zustandes der Frau M. zeigte, dass dieselbe sich nunmehr das Wahn¬
system des Mannes völlig zu eigen gemacht hatte, dasselbe weiter ausgesponnen
hatte und ihren Mann und sich selbst als Gegenstand der Verhöhnung des Publi¬
kums, der zielbewussten ungerechten Angriffe der Behörden und der parteiischen,
ungerechten gerichtlichen Entscheidungen betrachtete. Sie hatte Gehörshallu-
cinationen lebhafter als ihr Gatte, sowohl wenn sie zusammen waren, als wenn
sie allein ausging. Vor dem erwähnten Strassenauftritte hatte sie von den hinter
ihnen her kommenden Lehrern die Rufe „Du bist ein Kind“, „Du bist verrückt“
zu hören geglaubt. Als sie die Lehrer gestellt und sie dadurch veranlasst hatte,
nach der andern Seite der Strasse auszuweichen, hörte sie von dort die nämlichen
Stimmen, was Veranlassung zu dem thätlichen Angriff wurde.
Schon vordem hatte Frau M., wenn sie mit ihrem Manne auf der Veranda
sass, von anderen vorübergehenden Lehrern die Worte gehört „Kommt nur her¬
aus, ich will Euch schon bezahlen“, oder „Nur immer feste druff“, oder „Der
Schulrath wird schon sorgen, dass Du nicht steigst“. Ihr Schimpfen auf der
Strasse und vor dem Hause des Schulraths begründete sie damit, dass sie mit
ihrem Manne auf der Strasse „Pudel“ gerufen würde (welchen Spitznamen M.
gelegentlich einer seinen Schülern erzählten Hundegeschichte erhalten hatte);
auch aus dem Hause des Schulraths töne immer der Ruf „Pudel“ heraus.
Nachdem Frau M. wegen Geisteskrankheit vor Gericht freigesprochen war,
führte sie mit ihrem 10jährigen Sohne ein einsiedlerisches Leben. Die Hoffnung,
dass nach der Trennung von ihrem Manne ihr Zustand sich bessern würde, ging
nicht in Erfüllung. Sie schimpfte zw'ar auf der Strasse nicht mehr so auffällig,
hörte aber, wie die Leute sagten „wie ist die Frau doch immer auf dem Posten
and doch schleppt man den Mann in’s Irrenhaus“ und hörte sich noch aus der
Feme „Pudel“ rufen.
Alle Wohnungen in ihrem Hause standen leer und wurden nicht wieder ver-
miethet, da sie in allen Personen, welche die Wohnungen besichtigen wollten,
Abgesandte der Behörden erblickte.
Nachdem Frau M. entmündigt worden war, gelang es den Curatoren die Parterre¬
wohnung an eine von auswärts kommende Familie zu vermiethen. Einige Wochen
ging alles gut, dann entspann sich eine Reihe von Conflikten. Frau M. bedrohte
ihre Hausinwohner mehrmals in ganz unbegründeter Weise. Schliesslich glaubte
sie Nachts Schimpfworte und Töne aus der Parterrewohnung nach ihrer Dach¬
wohnung hinauf zu hören und machte nun als Gegendemonstration allnächtlich
einen Höllenspektakel, zu dessen Ausführung sie sich der Mithilfe ihres Sohnes
bediente. Dieser bestätigte damals auf Befragen den Lärm in der Parterre¬
wohnung, namentlich das Thürschlagen, und gab an, dass er bei seinen Aus¬
gängen von den Knaben „Pudel“ und „Studio“ gerufen werde.
Digitized by
Gck igle
17*
Original from
UNIVERS1TV OF IOWA
250
Dr. Iliedel,
Digitized by
Da es unumgänglich nothwcndig erschien, den Knaben dem Einfluss der
Mutter zu entziehen, die materielle Existenz der Familie durch Vermiethung des
Hauses sicher zu stellen, sowie Frau M. selbst einer geregelten ärztlichen Behand¬
lung zu unterwerfen, so wurde ihre Leberführung in die Irrenanstalt veranlasst.
Ihr Zustand hat seitdem noch keine wesentliche Aenderung gezeigt.
Der Knabe, welcher ausser einem geringen Strabismus divergens keine
körperlichen Störungen aufweist, wurde in Pension gegeben und ist zur Zeit frei
von Sinnestäuschungen oder nachweisbaren psychischen Anomalien. Er giebt
jetzt zu, dass er von dem Lärm in der Parterrewohnung im Wesentlichen nur das
Thürschlagen gehört habe und dass der Hauptlärm jedenfalls von seiner Mutter
ausgegangen sei. —
Die berichteten beiden Fälle erschienen der Mittheilung werth, weil es sich
bei der primären Erkrankung des Mannes um einen Fall von klassischer Paranoia
handelte, welcher anscheinend auf ererbter Grundlage allmählich und frühzeitig
durch die Misserfolge und Enttäuschungen des Berufslebens zur Entwicklung ge¬
bracht. lange unerkannt bestanden und erst spät den Erkrankten aus seinem Be¬
rufe entfernt hat. Weil andererseits die inducirte Erkrankung der erblich nicht
belasteten Frau sich erst nach einem sehr langen Vorstadium zum ausgesproche¬
nen aber vollständig gleichartigen Krankheitsbilde entwickelt hat. Diese Ueber-
tragung war unterstützt und erleichtert durch mannigfache äussere Gründe,
welche die Frau an der ärztlich wiederholt bescheinigten geistigen Gesundheit
ihres Mannes und der Richtigkeit seiner Wahnideen unerschütterlich fest halten
Hessen, durch die gemeinsam erlebten Misserfolge, durch die nach der Pensioni-
rung des Mannes eintretende materielle Nothlage.
Bei dem Sohne darf es zweifelhaft erscheinen, ob wirklich Hallucinationen
Vorgelegen haben, da die auf der Strasse angeblich von ihm gehörten Rufe that-
sächlich gefallen sein mögen. Von einer Uebertragung der Krankheit kann bei
ihm keine Rede sein. Höchstens von einer zeitweise durch das Gebahren der
Mutter bei ihm zu Stande gekommenen Suggestion.
Literatur.
Die ältere Literatur findet sich in den Arbeiten von Wollenberg und Pro-
nier verzeichnet.
Wollenberg, Leber psychische Infection. Arch. f. Psych. Bd. XX.
Pionier, Etüde sur la contagion de la folie. Geneve 1892.
Bocdecker, Inducirtes Irresein. Charite-Annalen. Bd. XVI.
Kröner, Die Folie ä deux. Zeitschr. f. Psych. Bd. XLVL S. 634.
Jörger, Das inducirte Irresein. Ibidem. Bd. XLV. S. 307.
Graf, Leber den Einfluss Geisteskranker auf ihre Lmgebung. lbid. Bd. XLI1I.
Euphrat, Leber den Zwillingsirrsinn. Ibidem. Bd. XLIV,
Werner, Leber die sogenannte psychische Contagion. Ibidem.
Kühner, Leber einen Fall von psychischer Ansteckung mit Ausgang in völlige
Genesung. Ibidem. Bd. XLVIIL S. 60.
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Ueber psychische Infection und inducirtes Irresein.
251
Ostermayer, Zur Lehre vom Zwillingsirrsein. Arch. f. Psych. Bd. XXIII.
Herzog, Beitrag zur Lehre von der Infectiositiit der Neurosen. Ibid. Bd. XXL
Schönfeld, Ueber das inducirte Irresein (Folie communiquee). Ibid. Bd. XXIV.
Sehaeffer, Das sogenannte inducirte Irresein (Folie ä deux). Zeilschr. f. Mcdi-
cinalbeamte. 1896. S. 57.
Arnauld, La folie ä deux. Ann. möd. psych. 1893.
Szegö, Ueber Imitationskrankheiten der Kinder. Jahrb. f. Kinderheilk. Bd. 41.
Wichmann, Eine sogenannte Veitstanzepidemie in Wildbad. Deutsche medic.
Wochenschr. 1890.
Tölker, Beobachtungen über hysterische Contracturen. Zcitschr. f. klin. Med.
Bd. XVII. Suppl.-lieft.
Digitized by
Gck 'gle
Original ffom
UNIVERSUM OF IOWA
4.
Heber Sarggeburt und Mittheilung eines neuen Falles.
Von
Dr. Bleich, König!. Kreiswundarzt in Tschirnau.
Die Schwierigkeit, über das Wie des Zustandekommens der Sarg¬
geburt Aufschluss zu erhalten, liegt darin, dass bei dem ohnehin sel¬
tenen Vorkommen einer derartigen Geburt — selten wohl auch des¬
halb, weil heutzutage es bei den Geburtshelfern allgemein üblich ist,
eine unentbunden verstorbene Kreissende post mortem kunstgemäss
durch den Kaiserschnitt zu entbinden — directe Beobachtungen des
GcburtsVorganges nicht vorliegen, auch wohl schwerlich bei der Natur
dieses Vorganges je gemacht werden, experimentell es aber wohl kaum
gelingen wird künstlich analoge Verhältnisse zu schaffen, um auf diese
Weise die Sache zu entscheiden. Wir sind daher auf die Casuistik
angewiesen, welche ziemlich spärlich und dabei nicht ganz cinwands-
frei, besonders bei den Fällen, welche aus der ersten Hälfte dieses
Jahrhunderts stammen, vorliegt und gezwungen aus ihr Schlüsse zu
ziehen auf die Kräfte, welche bei der Sarggeburt walten.
Dass übrigens der Vorgang der Sarggeburt in den Lehrbüchern
der gerichtlichen Medicin keine Besprechung gefunden hat, wie Bl ei sch
es beklagt 1 ), liegt wohl daran, dass die Sarggeburt an und für sich
gar kein forensisches Interesse hat, da dieselbe nie durch die Schuld
eines Anderen zu Stande kommen kann und der Gerichtsarzt vielleicht
nur eher in der Lage ist bei Gelegenheit von Obductionen dieselbe
zu constatiren.
Was den gegenwärtigen Stand der Frage anbetrifft, wodurch die
Sarggeburt bewirkt wird, so stehen sich, soweit aus der Literatur 1 ),
wie sic mir zu Gebote stand, ersichtlich, zwei Ansichten gegenüber,
1) Blei sch, Ein Fall von Sarggeburt. Diese Yierteljahrsschr. 1892. Jan.
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UMIVERSITY OF IOWA
Uebcr Sarggeburt und Mittheilung eines neuen Falles.
253
indem em Theil der Fälle darauf hinzudeuten scheint, dass dieser
Geburtsvorgang nur durch den Druck der intraabdominellen Fäulniss-
gase zu Stande kommen könne, während andere Fälle dafür zu sprechen
scheinen, dass postmortale Zusammenziehungen der Gebärmutter dafür
verantwortlich zu machen sind. Ohne mich in die Details der Ca-
suistik, welche in früheren Arbeiten über diesen Gegenstand schon
genugsam gewürdigt sind, weiter einzulassen, möchte ich hier nur
einige Gesichtspunkte berühren, welche mir für die Beurtheilung dieser
Frage von Wichtigkeit zu sein scheinen. Bei der Frage, ob eine
Sarggeburt — es ist hier zunächst nur von der Geburt eines reifen
ausgetragenen Kindes die Rede — lediglich durch die Wirkung des
intraabdominellen Druckes der Fäulnissgase entstehen könne, handelt
es sich in erster Linie darum, ob diese Gewalt im Stande ist, den
physiologischen Geburtsvorgang, wie er im Leben durchgemacht wer¬
den muss — denn ohne diesen durchzumachen kann selbstverständ¬
lich kein reifes Kind auch nach dem Tode der Mutter geboren wer¬
den — nachzuahmen und steht und fällt mit der Beantwortung dieser
Frage nach der einen oder anderen Seite die behauptete Wirkung
dieser Gewalt. Wie die Geburtshilfe lehrt, passirt der Körper des
Kindes selbst unter den günstigsten Verhältnissen nicht schlankweg
die mütterlichen Geburtstheile, sondern nur mit Ueberwindung ge¬
wisser Hindernisse, welche hauptsächlich darin bestehen, dass der
Kindeskörper, insbesondere der Kindeskopf, mit seinen Durchmessern
die adäquaten Durchmesser des mütterlichen Beckens suchen und
finden muss. Diese Hindernisse nun werden im Leben dadurch ge¬
nommen, dass der Kindeskopf, gleichsam sondirend, die passenden
Beckendurchmesser aufsucht, geleitet und unterstützt von der leben¬
digen Kraft der Gebärmutter, welche in inniger Berührung mit dem
Kindeskörper denselben, bald nach der einen, bald nach der anderen
Seite vorwärtsschiebend, durch die Fährlichkeiten des Beckens hin¬
durchgleiten lässt und auf diese Weise allein im Stande ist eine nor¬
male Geburt zu vollenden. Anders stellen sich die Verhältnisse in
der Leiche: Zur Bewältigung dieses Geburtsmechanismus, der auch
hier unbedingt durchgeführt werden muss, stehen hier nur die rein
mechanisch wirkenden Kräfte des Luftdruckes zu Gebote, welche nur
S. 3S(T. — Moritz, Ein Fall von Sarggeburt. Diese Vierteljahrssclir. 1893.
•Januar. S. 93ff. — A. Green, Ein Fall von Leichengeburt. (Lancet. 1895.
Jan, 5.) Centralbl. f. Gynäk. 1895. S. 981.
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
254
Dr. Bleich,
nach einer Richtung — nach unten vorn und aussen — vordrängend
wirken ohne Rücksicht auf die entgegcnstchenden Hindernisse. Dass
diese Kraft in ihrer Wirkung auf die Austreibung des Kindeskörpers
die lebendige Kraft des Uterus auch nur annähernd ersetzen sollte,
daran zu zweifeln scheint so lange berechtigt zu sein, bis einwands¬
frei das Gegentheil bewiesen, während es ja andererseits nicht aus¬
geschlossen ist, dass bei unreifen Früchten in Folge abnormer Klein¬
heit der Körperdurchmesser die Austreibung derselben durch Fäul-
nissgasc allein zu Stande kommen kann.
Noch weniger plausibel erscheint mir die zweite Erklärung durch
postmortale Wehen. Wenn wir uns zunächst klar machen, was unter
diesen postmortalen Zusammenziehungen des Uterus zu verstehen ist,
so ist es wohl nach dem heutigen Stande der Wissenschaft vollständig
ausgeschlossen, dass cs sich um veritable Geburtswehen handeln kann,
da die Function der Nerven, insbesondere ihre Reflexerregbarkeit, wo¬
durch doch normaler Weise Geburtswehen ausgelöst werden, kurz vor
dom Tode schon, wenn Herz und Lunge noch functioniren, ganz er¬
loschen oder auf ein Minimum herabgesetzt ist. Um so weniger kann
von einer Thätigkeit derselben nach dem Tode die Rede sein. Es
bleibt also nur übrig anzunehmen, dass unmittelbar nach dem Tode
der abnorm ausgedehnte Uterus in Folge seiner Elasticität sich zu-
sammenzieht, unterstützt vielleicht durch Gerinnungsvorgänge in seinen
glatten Muskelfasern, welche gleich wie bei der Todtenstarre der quer¬
gestreiften Fasern eine passive Zusammenziehung und Volumensmin-
derung des ganzen Organs bewirken. Diese postmortalen Zusammen¬
ziehungen aber müssten, selbst wenn sie dazu angethan wären eine
Geburt zu bewirken — w r as bei ihrer nur kurzen Dauer und geringen
Intensität nur dann der Fall sein kann, wenn die Geburt schon so
weit vorbereitet ist, dass.es zur Vollendung derselben nur einer ge¬
ringen Kraftäusserung von Seiten des Uterus bedarf — die Aus-
stossung der Frucht unmittelbar nach dem Tode der Mutter be¬
wirken. Dafür aber finden wir in der ganzen Litteratur, so w r eit sie
uns wenigstene bekannt ist, kein einziges Beispiel, da die geringste
Zeit zwischen Tod der Mutter und erfolgter Sarggeburt mit 4 Stunden
angegeben wird. Wenn nun diese postmortalen Kräfte nicht im
Stande sind eine Sarggeburt zu bewirken, so müssen wir zur Er¬
klärung dieses Vorganges auf die Mitwirkung pracmortaler Weben
zurückgreifen, welche, wie oben auseinandergesetzt, allein geeignet
sind, die Geburt so weit vorzubereiten, dass dieselbe dann durch
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Ucber Sarggeburt und Mittheilung eines neuen Falles.
255
postmortale Kräfte vollendet werden kann. Und in der That wird
diese Annahme durch die dahin einschlagenden Fälle der Casuistik,
wie sie besonders Reimann aufgestellt, unterstützt, indem sich aus
ihnen nachweisen lässt, dass immer vorangegangene längere oder
kürzere Geburtsarbeit oder aber Krankheiten, in Folge deren wehen¬
artige Uteruscontractionen entstehen könnten, die Geburt eingeleitet
hatten. Auf Grund dieser Erörterungen lässt sich wohl mit ziem¬
licher Bestimmtheit behaupten, dass weder die Bauchgase noch die
tonischen Uteruscontractionen post mortem allein im Stande sind die
Sarggeburt einer reifen Frucht zu bewirken, dass vielmehr, mag nun
durch Bruck der intraabdomiellen Fäulnissgasc oder durch die pro¬
blematische Wirkung der postmortalen Zusammenziehung der Gebär¬
mutter in letzter Linie die schliessliche Ausstossung der Frucht zu
Stande kommen, immer eine vorbereitende Wehenthätigkeit des leben¬
den Uterus vorangegangen sein muss, welche die Geburt so weit ge¬
fördert, dass dieselbe durch eine dieser beiden Kräfte bewirkt
werden konnte.
Wenn ich mich nun nach diesen allgemeinen Bemerkungen zu dem Falle
seihst wende, der mirvor Kurzem in meiner gerichtsärztlichen Praxis vorgekommen,
so sei es mir gestattet, denselben genau nach den mir von der Kgl. Staatsanwalt¬
schaft zu diesem Zwecke giitigst zur Verfügung gestellten Akten, so weit es zur
ßeurtheilung des Falles erforderlich schien, in Nachstehendem vorzuführen.
Durch Schreiben des Amtsvorstehers vom 6. Juli d. J. wurde das Kgl. Amts¬
gericht zuG. benachrichtigt, dass an demselben Tage Vormittags am linken Bartsch-
ufer unterhalb einer Brücke die Leiche einer weiblichen Person aufgefunden
worden.
Die daraufhin noch an demselben Tage vorgenommene gerichtliche Obduk¬
tion stellte fest, erstens die Identität der Leiche mit einer Frau, welche am 4. Juli
d. J. im geistesgestörtem Zustande sich aus ihrem 13 km vom Fundorte gelegenen
Heimathsorte entfernt hatte, dann, dass die Leiche in einem unweit vom Flusse
entfernten Wasserloche in liegender Stellung wenig von Wasser bedeckt sich be¬
funden. Von gcrichtsärztlicher Seite wurden ausser geringen Blutunterlaufungen
um rechten und linken Knie keine weiteren äusseren Verletzungen vorgefunden;
die Untersuchung des Unterleibes Hess darauf schliessen, dass Den ata unge¬
fähr im 6. Monate der Schwangerschaft stand. Die Leiche zeigte nur
am Kücken röthliche Todtenflecke, verbreitete keinen Fäulnissgeruch, die Gelenke
der Extremitäten standen in Todtenstarre. Es war daher anzunehmen, dass die
Uciche nur kurze Zeit im Wasser gelegen hat, da sich ausserdem noch an ein¬
zelnen Stellen, besonders der Beine, Gänsehaut vorfand. Auf Grund dieses Be¬
fundes lautete das gerichtsärztliche Gutachten dahin:
dass kein Umstand gefunden worden ist, welcher der Annahme entgegen¬
stände, dass der Tod durch Ertrinken erfolgt ist.
Daraufhin wurde, da offenbar Selbstmord vorlag, seitens der Kgl. Staatsanwalt-
Digitizetf by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
256
Dr. Bleich,
Digitized by
Schaft das weitere Verfahren eingestellt und die Erlaubnis zur Beerdigung der
Leiche, welche am 9. Juli erfolgte, ertheilt.
Etwa 8 Tage nach Auffindung der Leiche wurde ermittelt und zur Anzeige
gebracht, dass drei jugendliche Arbeiter mit der später als Leiche aufgefundenen
Frau kurz nacheinander den Beischlaf ausgeführt und gaben dieselben bei ihrer
Vernehmung übereinstimmend den Vorgang so an, wie er in der Anzeige nieder¬
gelegt war, nur bestritten sie, dass bei dem Akte irgend ein Zwang ihrerseits aus¬
geübt worden, die Person vielmehr freiwillig den Beischlaf geduldet habe. Auf
Grund dieser Ermittelungen wurde die Ausgrabung und Section der Leiche ange¬
ordnet und am 19. Juli ausgeführt, doch gab dieselbe, nebenbei bemerkt, zu
keinen weiteren gerichtlichen Schritten Veranlassung, da nach Kenntnissnahme
von dem Obduktionsprotokoll seitens der Kgl. Staatsanwaltschaft der bis dahin
bestehende Verdacht auf Nothzucht fallen gelassen und das Verfahren in der
Sache aufgehoben wurde. Dagegen fand sich bei dieser Gelegenheit, nachdem
der Sarg geöffnet und die Sterbekleider von der Leiche entfernt waren, eine Sarg¬
geburt vor und zwar eine vollkommene ausgebildete mit vollständiger Inversion
und Prolaps des Uterus und der Scheide — die vollständig umgcstiilpte Gebärmutter
hatte eine grosse Aehnlichkeit mit den auf Jahrmärkten als Kinderspielzeug feil¬
gebotenen mit WasserstofTgas gefüllten Gummiblasen — und führe ich aus dem
Obduktionsprotokoll die folgenden für die Sarggeburt in Betracht kommenden
Nummern auf:
A. Aeussere Besichtigung.
1. Die Leiche der 150 cm langen in den 30Jahren stehenden Frau, welche,
wie uns mitgetheilt worden, am 6. d. M. todt aufgefunden worden ist, zeigte
einen mittleren Ernährungzustand in Bezug auf Fettpolster und Muskulatur.
2. Die Färbung der Haut ist nur an einigen Stellen, Unterschenkeln, Füssen
und Oberarmen, sowie auf den Brüsten die gewöhnliche Leichenfarbe, grau mit
grünlicher Tönung. Alle andere Körpertheile zeigen vorgeschrittene Fäulnisser-
scheinungen. Die Oberhaut ist vielfach abgelöst, die Färbung fleckig grün und
braunroth, besonders die Oberschenkel; an einzelnen Stellen finden sich weisse
Pilzrasen. Mehrere von diesen braunen Flecken wurden eingeschnitten und fand
sich kein freiergosseries Blut unter ihnen vor. Der Fäulnissgeruch ist ein
erh ebli eher.
4. In dem breitgedrückten Gesichte waren beide Augenhöhlen nur noch mit
einem Stummel des Auges gefüllt, die Bindehäute aufgetrieben unb hervorgequollen.
6. Die Lippen des geschlossenen Mundes erscheinen flach und breit und
sind von dunkelbrauner Farbe.eine braune stinkige Jauche erfüllt die
Mundhöhle.
10. Der Bauch war sehr stark aufgotrieben, zeigte keino Ver¬
letzungen.
Zwischen den Oberschenkeln der Leiche lag eine kopfgrosse,
feuchte dunkelrothe Geschwulst, an deren unterem Ende eine 44 cm
lange dunkle Nabelschnur entsprang. Mit derselben verbunden
war die Leiche eines 3(5 cm langen Kindes. (Zwischen den Schenkeln
der Mutter liegend, mit dem Kopfe fest an den Kniegelenken, mit
den Füssen den mütterlichen Geschlechtstheilen zugekehrt, den
Gck igle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
Ueber Sarggeburt und Mittheilung eines neuen Falles.
257
Kücken nach oben, Gesicht und Brust nach unten dem Sargboden
zugekehrt. 1 ) Die Schamspalte stand weit offen.
B. Innere Besichtigung.
I. Schädelhöhle. 19. Die harte Hirnhaut, welche feucht und von blaugriin-
licher Färbung ist, hängt als Beutel über den hintern Rand des Schädelschnittes
herab, ist pergamentartig und hat einen schwappenden Inhalt.
20. Beiin Einschneiden der harten Hirnhaut ergicsst sich die Ilirnmasso als
ein graugrüner dünnflüssiger Brei, indem einzelne Theile durchaus nicht mehr zu
unterscheiden sind.
II. Brust- und Bauchhöhle. 23. Bei Eröffnung der Bauchhöhle (es ent¬
strömte derselben eine bedeutende Menge übelriechender Gase) lag
im oberen Theile derselben das wenig Fett enthaltende Netz; die untere
Hälfte wurde durch die sich vordrängenden Därme ausgefüllt. Ein
geringer wässeriger Erguss fand sich in der Bauchhöhle vor.
24. Zwerchfellstand beiderseits an der 4. Rippe.
a. Brusthöhle.
b. Bauchhöhle. 44. Die Gebärmutter, welche schlaff ist, war
sackartig mit ihrer Innenfläche zwischen die Schenkel vorgedriingt
mitsammt der Scheide; nicht mehr im Zusammenhänge mit der Ge¬
bärmutter fand sich ein etwa 1 cm dicker Mutterkuchen annähernd
rund, von schwarzbrauner Farbe und schwieriger Consistenz und
etwa 12 cm Durchmesser, die innere Fläche der Gebärmutter ist
glatt, glänzend, blauroth. Die Muskulatur ist dünn und brüchig.
45. Der Mastdarm war durch Luft aufgotriebon, sonst leer.
Sehen wir uns nun den Fall nach dem Sektionsbefunde und im Lichte der
gerichtlich festgestellten ihn begleitenden Umstände näher an, so erhellt zu¬
nächst, dass hier eine ausgesprochene Sarggeburt vorlag, da die Leiche, kurz
nach dem Tode obducirt, noch keine Spuren einer stattgehabten Geburt gezeigt
und erst, nachdem dieselbe 10 Tage in der Abgeschiedenheit des Grabes gelegen,
nach ihrer Ausgrabung die Geburt constatirt werden konnte. Was ihre Ent¬
stehung betrifft, so müssen wir vorerst daran festhalten, dass hier nur postmor¬
tale Kräfte gewirkt haben und würden dieselben auch vollständig zur Erklärung
des Vorganges ausreichen, da es sich um die Ausstossung einer unausgetragenen,
im 7. Monate des Fötuslebens stehenden Frucht handelt und es fast scheint, als wenn
hier von einer wenn auch noch so geringen vorbereitenden Thätigkeit der Gebär¬
mutter keine Rede sein könne, zumal die Frau im 7. Monate schwanger, noch zu
^eit von dem Ende der Schwangerschaft entfernt war, um von normalen Geburts¬
wehen heimgesucht zu werden.
Indessen werden wir bei näherer Betrachtung auch hier die Mitwirkung von
Dolores praeparantes nicht ganz ausschliessen können, wenn wir bedenken, dass die
hochschwangere Frau von drei kräftigen, jungen Leuten kurze Zeit hintereinander
in liegender Stellung geschlechtlich gebraucht worden. Der Insult, welcher bei
1) Die in Paranthese gesetzten Zusätze sind von mir nach den bei der
Sektion gemachten Wahrnehmungen gemacht worden.
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
258
Digitized by
Dr. Bleich,
diesem Akte einmal von den Bauchdeckon aus die schwangere Gebärmutter, dann
aber auch durch Immissio penis den Uterus direkt trifft, genügt erfahrungsgemäss
vollständig, um Wehen zu erzeugen, welche wenn auch nur kurze Zeit wie hier,
wo die Frau bald darauf ihren Tod im Wasser gesucht und gefunden hat, doch
einleitend auf die Geburt wirken konnten. Wir können daher auch in diesem
Falle mit an Gewissheit reichender Wahrscheinlichkeit annehmen, dass die Sarg¬
geburt, durch Wehen während des Lebens eingeleitet, einige Zeit nach dem Tode
durch die Wirkung der Fäulnissgase (No. 10 und 23) allmälig vollendet worden
und zwar so, dass zunächst ein Theil des Fruchtwassers aus der durch den
Fiiulnissprozess leck gewordenen Fruchtblase ausgeflossen, dadurch im Fundus
uteri ein luftleerer Raum entstanden, der, durch das Bestreben der Bauchgase
denselben auszufüllen, zunächst einen Theil des Fundus invertirt hat; durch
weiteres Aussickern des Wassers aber ein immer grösserer Abschnitt des Uterus
invertirt — vielleicht hat auch der Körper der Frucht wie der Stempel einer
Luftpumpe, die Bauchgase ansaugend, dabei mitgewirkt — und durch den intra-
abdominellen Druck der Gase allmiilig die kleine Frucht schliesslich mit voll¬
ständiger Inversion und Prolaps des Uterus ausgetrieben worden. Dass diese
Kraft allmälig gewirkt, scheint daraus hervorzugehen, dass die invertirten Ge-
schlechtstheile keine Zusammenhangstrennung zeigten, da im andern Falle eine
so bedeutende plötzlich einwirkende Gewalt sicher die dünne und brüchige
Utcruswand (N. 44) eingerissen hätte. Wenn auch die im Sarge Vorgefundene
Lage der Frucht, weit ab von den mütterlichen Geschlechtsthcilcn mit dem Kopfe
beinahe an den Kniegelenken der Mutter (No. 13), scheinbar für die Wirkung
einer explosionsartigen Gewalt, welche die kindliche Leiche fortgeschleudert,
spricht, so erklärt sich diese Lagerung ungezwungener dadurch, dass bei den
Manipulationen des Sargausgrabens der Sarg an seinem Kopfende, als dem
schwersten Theile, zunächst gefasst und mehre male in die Höhe gehoben und
dadurch das Herabgleiten des Kindeskörpers nach den Knieen zu bewirkt worden.
Weiter dafür, dass nicht blos der Gasdruck, sondern auch Wehen im Leben vor¬
gewirkt haben, spricht der sonst schwer erklärbare Umstand, dass die Nachgeburt
vollständig von der Gebärmutter gelöst vorgefunden wurde (No. 44).
Bei der innigen Verbindung zwischen Gebärmutter und Nachgeburt, deren
einzelne Cotyledoncn zapfenartig in die Substanz der Gebärmutter hineinragen,
erscheint es wenig wahrscheinlich, dass durch rein postmortale Vorgänge wie
Fäulniss der Gewebe, Gasdruck oder tonische Zusammenziehungen des Uterus,
eine so vollständige und reinliche Scheidung der Gewebe, wie sie in diesem
Falle beobachtet worden, wo an der ziemlich gut erhaltenen Gebärmutter kaum
noch Spuren der Placentarinsertion zu erkennen waren, vor sich gegangen ist
und müssen wir auch hier die Annahme zu Hilfe nehmen, dass durch die me¬
chanischen Reizungen, welche die Gebärmutter bei den wiederholten Bcischlafs-
vollziehungen crlitton, Uteruscontractionen ausgelöst worden, welche die Tren¬
nung der Nachgeburt bewirkt oder wenigstens so weit vorbereitet halten, dass
dieselbe durch postmortale Vorgänge vollständig durchgeführt werden konnte.
Wenn ich zum Schluss das Ergebniss der vorliegenden Arbeit
zusammenfasse, so möchte ich betonen, dass, wenn auch der Schleier,
Gck igle
Original frnm
UMIVERSITY OF IOWA
leber Saiggeburt und Mittheilung eines neuen Falles. 250
welcher über dem geheimnissvollen Vorgänge der Sarggeburt schwebt,
noch keineswegs hinreichend gelüftet ist, doch das fcstzustchcn
scheint, dass wir es bei diesem Vorgänge sowohl mit praemortalen
lebendigen Uteruscontractionen, Wehen — als auch mit postmortalen
Kräften — Fäulnissgasen und tonischen Uteruscontractionen — zu
tliun haben und dass ohne die Wirkung der einen und der andern
Kraft keine Sarggeburt, wenigstens die keines ausgetragenen Kindes,
zu Stande kommen kunn. Zur weiteren Klärung dieser Frage würde
es dienen, wenn möglichst viele derartige Fälle, genauer beschrieben,
veröffentlicht würden und hat auch mich das Bestreben, meinerseits
dazu etwas beizutragen, bestimmt diesen Fall, den ersten in meiner
Praxis, hier zu besprechen.
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Digitized by
f>.
Seltsamer Kindesmord.
Von
Professor Dr. Fritz Strassmann in Berlin.
Den nachfolgend mitgethcilten Fall habe ich gemeinschaftlich mit
Herrn Collegen Mittenzweig beobachtet. Er ist in dessen kürzlich
erschienener Arbeit über Selbsthilfe bereits kurz erwähnt worden 1 ).
Da er ein Unicum darstellt, scheint mir seine ausführliche Wieder¬
gabe geboten und ich veröffentliche deshalb nachstehend das in dieser
Sache von mir erstattete Gutachten.
Zur Strafsache gegen G. erstatten wir nachstehend ergebenst das vom Herrn
Untersuchungsrichter beim Königl. Landgericht Berlin I unter dem 13. d. Mts.
erforderte motivirte Gutachten über den Tod des Kindes G.
Die Angeschuldigte, ein unverheirathetes lSjähriges Mädchen, hat bei ihrer
gerichtlichen Vernehmung angegeben, dass sie im August v. J. den Beischlaf aus¬
geführt hat und im Mai d.J. die Ueberzeugung erlangte, schwanger zu sein, ihre
Entbindung aber noch nicht so bald erwartete.
Einige Tage vor dem 26. Mai begannen die Wehen, steigerten sich allmäh¬
lich, am 26. Morgens gebar sie auf dem Closet ohne fremde Hilfe; das Kind kam
von selbst aus dem Leibe heraus, fiel in den Trichter; sie hat es während der
Geburt garnicht berührt. Die Nabelschnur will sie weder durchrissen noch durch¬
schnitten haben; die Nachgeburt trat am folgenden Tage aus. Sie nahm, nach¬
dem sie sich etwas von der Geburt erholt hatte, dass sich bewegende Kind aus
dem Trichter, beschloss aus Furcht und Sorgen es zu tödten und zwar in der
Weise, dass sie es mit der linken Hand festhielt und mit der rechten Hand ihm
den Unterkiefer abzureissen suchte. Das Kind schrie hierbei, hörte aber bald auf,
sie nahm an, dass es todt sei und versteckte es in dem Kohlenschrank.
Dort begann das Kind wieder zu jammern, wurde von der Frau H. mit her¬
untergerissenem Unterkiefer gefunden, der hinzugerufene Arzt Dr. W. ordnete die
Ueberfiihrung des verletzten Kindes und der Mutter nach der Charitö an.
1) Diese Yierteljahrsschr. 1897. Bd. XHI. S. 101.
Gck igle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
Seltsamer Kindesmord.
261
Hier wurden an dem Kinde folgende Wahrnehmungen gemacht:
Das Kind (2804 gr schwer, 49 cm lang) wird mit der Mutter in mangelhaft
versorgtem Zustande (in einige Lappen eingewickelt) eingeliefert, die Nabel¬
schnur war etwa 20—25 cm lang, das Ende unregelmässig gestaltet, offenbar ab¬
gerissen. Ausserdem war eine einfache Unterbindung vorhanden. Die Nabelschnur
wird kunstgerecht versorgt. Vom rechten Mundwinkel geht eine weit klaffende
Wunde bis ungefähr an die Mitte des rechten Kopfnickermuskels, die Wangen¬
schleimhaut ist etwa 1,5 cm weit durchgetrennt, der Unterkiefer liegt frei. Vom
linken Mundwinkel geht schräg nach unten und hinten eine 4—5 cm lange
Wunde; auch hier ist die Wangenschleimhaut etwa 2 cm tief unregelmässig ein¬
gerissen. In der Wundrichtung ist der Unterkiefer schräg gebrochen und frei¬
liegend, ausserdem ist ungefähr in der Mittellinie eine quere Durchtrennung des
Unterkiefers nachweisbar.
Die Wundränder sind nicht scharfrandig, sondern machen den Eindruck
von Risswunden. Die Umgebung ist nicht gequetscht. Aus der Mundhöhle
werden bei der Reinigung 2 Bettfedern entfernt.
Der offene Unterkieferbruch wird durch eine Silkwormnaht vereinigt. Die
Schleimhautwunden werden durch fortlaufende Catgutnaht, die Wunden der
äusseren Haut durch Silkwormknopfnähte geschlossen.
Die Blutung steht danach. Abends tritt eine Blutung aus dem linken Nasen¬
loch auf. Das Kind fühlte sich schon bei der Aufnahme sehr kalt an; es wird
in eine Wärmewanne gelegt und erhält theelöffelweise Milch und Cognac.
Am 28. Mai 1896, Vorm. 7 3 / 4 Uhr tritt der Tod ein.
Die am 28. Mai von den Unterzeichneten ausgeführte gerichtliche Obduction
ergab an wichtigen Punkten:
4. Der Kopf ist bedeckt mit iy 2 cm langen blonden Haaren, die Durch¬
messer des Kopfes betragen der grade 11 1 / 2 , der quere 8y 2 , der schräge
121/2 cm.
8. Von jedem Mundwinkel zieht eine durch die chirurgische Naht ver¬
schlossene Hautdurchtrennung nach unten und aussen. Dieselbe ist auf der
rechten Seite 5y 2 , auf der linken 2 1 / 2 cm lang. Nach Entfernung der Naht zeigt
sich, dass die Weichtheile fetzig zerrissen sind und zwar bis in die Schleimhaut
hinein, welche durch eine zweite Naht vereinigt ist. Die Umgebung der Durch¬
trennung von Haut wie Schleimhaut ist fleckweise blutig unterlaufen. In der
Mitte sowie auf der linken Seite und zwar 1,2 cm von der Mittellinie entfernt, ist
der Unterkiefer quer und stachelich durchbrochen. Die Haut ist hier noch etwa
3 cm weit von dem äusseren Ende der Hautdurchtrennung an von der Unter¬
lage abgelöst und bildet eine Tasche,'die vom blutig zerrissenen Gewebe ausge¬
kleidet ist.
12. Der Hodensack enthält beide Hoden, die Harnröhrenöffnung ist frei.
14. Der Durchmesser der Schultern beträgt 12, der der Hüften 9 cm.
15. Die hornigen Nägel an den Fingern überragen die Kuppen derselben,
an den Zehen erreichen sie sie.
16. Im unteren Knorpelende des Oberschenkels befindet sich ein Knochen-
kera, der bis zu 7 mm Durchmesser hat.
17. An beiden Füssen ist das Unterhautgewebe wässrig geschwollen. Auf
dem rechten Fussrücken befindet sich eine Blutunterlaufung von 3 mm Dicke, der
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Prof. Strass mann,
Digitized by
2(52
Durchmesser dieses Fleckens ist etwa 1 cm. Auch an den Unterschenkeln ist die
Haut, wenn auch weniger wässrig geschwollen.
18. Eine blutunterlaufene Stelle von etwa 1 cm Durchmesser und einigen
Millimetern Dicke findet sich auch in der Haut und Fascie an der Aussenflächc
des rechten Ellenbogens.
27. Kehlkopf und Luftröhre oberhalb der Unterbindungsstelle enthalten
etwas blutigen Schleim.
28. Beide Lungen samt dem unteren Abschnitt der Luftröhre schwimmen
auf W asser. Ihre Oberfläche zeigt eine rosagraue Farbe mit zahlreichen kleineren
und grösseren dunkelblaurothen bis dunkelblauen Flecken. Bei Einschnitt zeigt
sich an diesen Stellen die Lunge schwarzroth gefärbt (Bluteinathmung). Im
Uebrigen erkennt man an der Oberfläche der Lunge überall deutlich die regelmässige
Zeichnung luftgefüllter Lungenbläschen. Vielfach ist das Brustfell in kleineren
und grösseren Luftbläschen abgehoben.
Auch der untere Abschnitt der Luftröhre und die Verzweigungen derselben
innerhalb der Lungen enthalten blutigen Scheint.
32. In Mund- und Rachenhöhle kein Inhalt. Die Schleimhaut am Zungen-
grunde ist blauroth verfärbt; auf der rechten Seite ist der Zungenansatz nahe der
Wurzel in einem Fleck von etwa 1 qcm Ausdehnung fetzig eingerissen. An dem
Zungengrunde sitzt der Kehldeckel, welcher aus der Verbindung mit dem übrigen
Kehlkopf abgelöst ist. Die Trennungsfläche ist unregelmässig; an der Ver¬
einigungsstelle der beiden Schildknorpelplatten, vorn in der Mittellinie ist der
Knorpel noch 4mm weit vom oberen Rande ab eingerissen. Die Scheimhaut ober¬
halb der Giessbeckenknorpel ist etwas wässrig geschwollen.
42. Der Zwölffingerdarm ist mit flüssigem Blute strotzend gefüllt.
43. Auch im Magen befindet sich Blut in Menge von etwa 5 ccm. Dasselbe
ist dunkel und locker geronnen. Die Magenschleimhaut ist grauweiss ohne Blu¬
tungen oder Substanzverluste.
50. Die weichen Bedeckungen des Schädeldaches sind blassroth, links hinten
wässrig geschwollen.
51. Die Knochenhaut ist unversehrt. Zwischen ihr und den Knochen be¬
findet sich auf den Scheitelbeinen etwas flüssiges Blut.
53. Auch zwischen den Knochen und der harten Hirnhaut befindet sich
hier etwas flüssiges Blut, an ihrer Innenfläche ist die Hirnhaut glatt und glän¬
zend. Ihre Blutleiter und Blutgefässe sind etwa halb gefüllt.
Auf Grund aller dieser Thatsachen geben wir nunmehr unser endgiltiges
Gutachten dahin ab:
Das Kind G. ist an den beschriebenen Verletzungen gestorben.
Die Verletzungen stellen sich als sehr schwere dar, es handelt sich um
tiefgehende Zerreissungen der Mundhöhle (No. 8) um eine Zerreissung des
Kehlkopfes (No. 32) um einen offenen Bruch des Unterkiefers (No. 8). Als
Folgen dieser Verletzungen sind eingetreten starker Blutverlust, Blutanfüllung
von Magen (43), Darm (42), besonders aber von Lungen (28) und Luftwegen
(27, 29), wodurch die Athmung des Kindes beeinträchtigt werden müsste. Eben¬
falls die Athmung hemmend wirkte die entzündliche Schwellung, die sich an dem
verletzten Kehlkopf entwickelt hat (32). Dazu kamen noch weitere, durch die
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Seltsamer Kindesmord.
268
Obduction nicht nachweisbare, aber a priori zu erwartende Folgen der Ver¬
letzung, wie die Aufnahme septischer Substanzen in das Blut. Durch alle diese
Folgewirkungen war die Verletzung im höchsten Grade geeignet, den Tod des
Kindes herbeizuführen.
Eine andere Todesursache hat weder die Beobachtung im Krankenhause
noch die Seetion nachgewiesen. Diese hat vielmehr gezeigt, dass das Kind seiner
Entwickelung nach lebensfähig war (No. 4, 12, 14, 15, 16), dass seine Organe
gesund waren. Unter diesen Umständen wird man nicht daran zweifeln können,
dass der Tod, der zeitlich der Verletzung des Kindes alsbald folgte, auch ursäch¬
lich auf dieselbe zurückzuführen ist.
Die tödtliche Verletzung ist, wie aus ihrer zerrissenen fetzigen Beschaffen¬
heit hervorgeht, durch stumpfwirkende Gewalt erzeugt worden. Ihre Beschaffen¬
heit und ebenso der übrige Obductionsbefund stimmen durchaus mit dem Ge¬
ständnis der Angeschuldigten überein. Dadurch, dass diese mit der rechten
Hand in den Mund des Kindes hineinfasste und den Unterkiefer abzureissen ver¬
suchte, kann sie sehr wohl die Vorgefundenen Zerreissungen bewirkt haben.
Durch das Festhalten des Kindes mit der linken Hand sind dabei wahrschein¬
lich die blutunterlaufenen Stellen am Fuss und Ellenbogen (17, 18) entstanden.
Da das Kind aus den Geschlechtsteilen herausfiel, ist es wohl möglich,
dass die Nabelschnur von selbst zerriss und dass die Angeschuldigte sie nicht
zu durchtrennen brauchte. Der Vermutung, dass die tödtlichen Verletzungen
durch Selbsthilfe der Gebärenden entstanden sind, widersprechen die eigenen An¬
gaben derselben; es ist auch, wie Dr. V. bereits hervorgehoben hat, nicht anzu¬
nehmen, dass so schwere und besonders so tiefe Verletzungen, wie die Zerreissung
des Kehlkopfes durch Selbsthilfe bewirkt werden konnten, zumal die Schilderung
der S. in Verbindung mit No. 50, 51, 53 des Obd.-Prot. dafür spricht, dass es
sich um eine Kopfgeburt gehandelt hat.
Wir fassen daher unser Gutachten dahin zusammmen:
Das Kind G. hat durch die Verletzungen, die ihm seine uneheliche
Mutter gleich nach der Geburt beigebracht hat, seinen Tod gefunden.
Vierteljahrsschr. f. gcr. Med. Dritte Folge. XIV. 2.
18
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UMIVERSITY OF IOWA
6 .
Hundert Jahre alte Haare.
Von
Distriktsarzt Fr. Ringherg in Hallund in Dänemark.
Am 29. November vorigen Jahres wurde vom Oberamtsphysikus Herrn
Dr. Schwass in Sigmaringen dem Director der Unterrichtsanstalt für Staats¬
arzneikunde in Berlin, Herrn Prof. Strassmann eine Frauenperrücke übersandt,
mit welcher folgende Mittheilungen erfolgten:
„Gelegentlich eines Umbaues der fürstlichen Gruftkirche in Sigmaringen
fanden sich überraschender Weise unter dem Steinboden eine Anzahl Skelette,
von deren Vorhandensein Niemand etwas wusste. Auf einem der Schädel
war noch eine gut erhaltene, blonde Frauenperrücke, welche sich, als die Ar¬
beiter hineingriffen, sofort vom Schädel löste, ohne indess ihre Configuration zu
verlieren.
Es steht fest, dass seit mindestens 100 Jahren — wahrscheinlich viel länger
— der Boden der Kirche nicht bearbeitet ist, die Leichen also so lange unberührt
liegen.“
Die Annahme, dass die übersandten Haare ltX) Jahre alt sind, ist also voll¬
ständig gerechtfertig.
Herr Prof. Strassmann, welchem ich während meines Studienaufenthaltes
in Berlin viel zu verdanken habe, war so gütig, mir diese Haare zur Untersuchung
zu übergeben. Die Resultate der letzteren dürften vielleicht nicht ganz uninter¬
essant sein.
Die Haare erwiesen sich als blondes Frauenhaar, welches mit einem drei¬
strähnigen Zopf endet. Die Windungen des Zopfes lagen dicht neben einander in
voller Ordnung. Ein Umwicklungsband war nicht da, aber gegen die Spitze des
Zopfes zwischen den Strähnen fand sich ein kleines Stück weisser Stoff, das sich
unter dem Mikroskope als aus feiner Wolle bestehend herausstellte.
Das Gewicht der Ifaarmassc betrug ca. 73 g. Die Länge des Zopfes war
ungefähr 20 cm. Die längsten Haare waren ungefähr 55 cm. Zahlreiche Mes¬
sungen (ungefähr 100) gaben eine Durchschnittsdicke von 0,004 mm. Das dickste
Haar, dass gemessen wurde, war 0,12 mm, dass dünnste war 0,048 mm dick.
S cm lange Stücken von den kräftigsten Haaren wurden ausgeschnitten, und
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Hundert Jahre alte Haare.
265
diese trugen ein Gewicht von 50 g ohne zu zerreissen, mein* als dieses Gewicht
konnte kein Haar tragen.
Was aber schon beim ersten Blick auf die Perrücke auffiel war, dass die
Haare nicht überall dieselbe Farbe hatten; wahrend im Grossen und Ganzen die
Farbe als hellblond bezeichnet werden musste, sah man, dass die Farbe an
einigen Stellen, am meisten an dem Zopfe, fuchsroth war, und zwar fand sich
diese rothe Färbung an den nach aussen convexen Theilen der Strähne des Zopfes.
Dadurch entstand ein recht eigentümliches Bild; während sich das Vorderhaar
hellblond präsentirte, war der Zopf mehr oder minder fuchsroth. Erst wenn man
die Strähne aus einander genommen hatte, zeigten die Zopfhaare, wo sie in der
Mitte des Geflechtes sich befunden hatten, dieselbe hellblonde Farbe wie das
übrige Haar.
Betrachtet man eine Strähne, so wechselte also ganz regelmässig die fuchs¬
roth e mit der hellblonden Farbe je nach der Stellung, welche der betreffende
Theil im Zopfe eingenommen hatte; selbstverständlich bot das einzelne Haar im
Zopfe dieselbe Farbenverschiedenheiten dar. Da diese Rothfärbung nur vorkam, wo
die Haare am meisten mit der Umgebung in Berührung gewesen waren, und da
weiter die Intensität dieser Farbe auch am stärksten war, wo die Haare mit der
Aussenwelt am leichtesten in Berührung kommen konnten, und weiter die Farbe
ganz allmählich gegen die mehr geschützte Stellen der Strähne sich verlor, so
ergiebt es sich, dass wir es mit einer Verwesungsfarbe zu thun haben.
Diese fuchsroth gefärbten Theile der Haare boten weiter andere Eigentüm¬
lichkeiten dar; nicht allein war, w r ie schon erwähnt, die Verfärbung am stärksten
an den meist prominirenden Stellen der Strähne, sondern eben hier waren die
Haare auch ausserordentlich brüchig, ja schon die äussersten Haare gebrochen, so
dass die Continuität ganz aufgehoben war. Ferner zeigten diese Stellen recht oft
eine Auflagerung von einer schwärzlichen Masse, welche die Haare zu kleinen
Büscheln zusammen vereinigt hatte; ähnliche Massen fanden sich am vordoren
Kopfhaare. Makroskopisch hätten diese die Haare zusammenklebende Massen als
Blut angesprochen werden können, die nähere Untersuchung ergab jedoch, dass es
kein Blut war. Es w T ar unmöglich, Hämincrystalle oder ein Blutspectrum daraus
herzustellen* obschon recht zahlreiche Versuche angestellt w f urden, während bei
entsprechenden Controllversuche leicht positives Resultat erhalten wurde. Die
mikroskopische Untersuchung ergab, dass diese Massen unorganischer Natur waren
mit eingelagerten Theilen von Insekten, Infusorien und dergl., ausnahmsweise
wurden ganze Insekten gefunden.
Da das Interesse sich wesentlich an die rothverfärbten Stellen der Haare
knüpften, wurden Haare aus den Strähnen in ca. 1 cm lange Stücken zerlegt, so
dass von demselben Haar sowohl luchsrothe als hellblonde Partien zur Unter¬
suchung kamen; es schien mir sehr wichtig zu sein, dass eine jede verglei¬
chende Untersuchung sich stets nur mit demselben Haare beschäftigte. Um nun
erstens zu prüfen, ob diese rotheFärbung sich ausziehen lässt, wurden sowohl rothe
Haarstücke als blonde in eine ganze Reihe von Flüssigkeiten eingelegt, und zwar
kamen in Anwendung: 2 proc. und 5 proc. Kalilösung, Salmiaklösung, Schwcfel-
ammonium, verdünnte Salzsäure, verdünnte Schwefelsäure, verdünnte Salpetersäure,
2 proc. Essigsäure, 50 proc. Essigsäure, 60 proc. Alkohol, HO proc. Alkohol und
18*
Digitized by
Gck igle
Original frurn
UNIVERSUM OF IOWA
266
Dr. Ringberg,
Digitized by
Actlier. l)ic Zeit, während welcher die Haare in diesen Flüssigkeiten lagen, betrug
mindestens 48 Stunden; in der Ammoniaklösung lagen dieselbe Haare in drei
Wochen in dreimal erneuter Lösung — aber ein Verschwinden der Farbe wurde
in keinem Fall konstatirt. Die ursprüngliche Farbenverschiedenheit zwischen roth
und hellblond hielt sich in jeder von den angewandten Lösungen. Die Angabe
früherer Untersucher, dass die Verwesungsfarbe in ammoniakalischen Lösungen
sich ausziehen lässt, hat sich also in diesem Fall nicht bestätigt.
Was den feineren Bau der Haare anbetrifft, so konnte die Cuticula an den
blonden und rothen Theilen leicht zur Anschauung gebracht werden; namentlich
bei Zusatz verdünnter Salzsäure zeigten die freien Ränder der Cuticulazellen
sich deutlich. Doch nicht ohne Ausnahme; an einzelnen Haaren konnte man
keine Cuticula sehen, obschon keine sonstigen Defecte nachweisbar waren, und
zwar waren es am häufigsten die rothen Partien, die scheinbar ihrer Cuticula
beraubt w r aren. Im Ganzen bot der rothe und der hellblonde Theil ein sehr aus¬
geprägtes Aussehen dar. Während der blonde Theil sich erstens durch seine
helle Farbe auszeichnete, zweitens ein im durchfallenden Lichte dunkel gestreiftes
Aussehen, drittens nur spärlich vaeuolisirtes Mark hatte, verhielt der fuchsrothe
Theil des Haares sich ganz anders. Die Farbe, obwohl verschieden an Intensität,
hob sich unter dem Mikroskope sehr scharf hervor, von den kleinen, zahlreichen
Längsstreifen war hier nichts zu sehen, vielmehr war das Aussehen homogen roth,
und mitten in diesem rothen Haar zog sich ein im durchfallenden Lichte dunkler
Strang, das ganz mit Luft gefüllte Mark. Untersucht wurde auch der Uebergang
zwischen den zwuü Färbungen, und man konnte da wahrnehmen, wie die Längs¬
strichelung gegen den roth verfärbten Theil hin, sich immer mehr und mehr ver¬
lor, und wie die Vacuolen im Mark immer dichter und dichter auftraten, immer
grösser wurden, bis sie eben den oben erwähnten fortlaufenden Strang bildeten.
Dass der dicke Centralstrang der rothen und die Längsstreifen der blonden Haar-
theile im auffallenden Lichte ganz hell, wie leuchtend, erschienen, braucht wohl
kaum besonders bemerkt zu werden. Ein weiterer Unterschied bestand darin, dass
der rothe Haartheil sich mehr widerstandsfähig gegen erwärmte concentrirte
Schwefelsäure zeigte, denn das Auseinanderfallen der Rindzellen war hier nicht
so stark als in den hellblonden Theilen unter der Einwirkung der Schwefelsäure.
Dies erklärt sich vielleicht so, dass die in den blonden Haartheilen so massenhaft
auftretenden Längsspalten leichter die Säure ins Innere des Haarschaftes treten
lassen, während in den rothen Theilen, wo solche Längsspalten nicht vorhanden
waren, eine derartige Wirkung nicht eintreten konnte. Der Mangel von Längs¬
rissen oder Spalten in den rothen Theilen lässt sich vielleicht dadurch erklären,
dass umgebende Humintheile oder irgend eine Flüssigkeit die kleinen Hohlräume
gefüllt haben, vielleicht haben sie nebenbei die Rindenzellen gefärbt Eine solche
Durchdringung der ganzen Haarrinde mit irgend welchem Stoff konnte ja um so
eher geschehen, als der fortlaufende starke Luftkanal eine gänzliche Zerstörung der
Markzellen andeutet. Die Cuticula ward stets uugefärbt gefunden; es gelang hie
und da zusammenhängende Cuticulahäutchen isolirt zu sehen, aber stets waren
sie ungefärbt, während der Haartheil, wovon das Häutchen sich abgelöst hatte,
eine rothe Farbe besass.
An den hellblonden Haartheilen fanden sich nicht viele Fremdkörper, man
muss sie vielmehr als wenig verunreinigt ansehen. Nicht so an den rothverfärbten,
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Hundert Jahre alte Haare.
267
hier fanden sich eine Anzahl kleine, sehr festhaftende, bräunliche Schollen, die
aus denselben Bestandtheilen wie die erwähnten zusammenklebenden Massen zu
bestehen schienen.
Die blonden Theile waren meistens ganz unversehrt, die rothen dagegen
wiesen sehr oft Lücken auf, die am häufigsten aussahen, als wenn ein Stück aus
dem Haare ausgebissen war, entweder war die Oeffnung an der Aussenseito
des Haares gleich so weit als die Lücke, oder die Oeffnung war beträchtlich
kleiner, so dass es aussah, ob ein Insekt, Wurm oder dergl. sich hineingebohrt und
weiter unterminirt hatte. An den brüchigen oder schon gebrochenen Stellen der rothen
Haartheilen waren die Haare vielfach zerstört. Nach dem Befund von theils voll¬
ständigen Insekten, theilsTheilenvon solchen in denHaaren anhaftenden Schollen,
ist es wahrscheinlich, dass mikroskopische Thiere einen wesentlichen Antheil an
der Zerstörung der Haare gehabt haben; ob uud wie weit sie, vielleicht durch
ihreAussclieidungen, an der Rothfarbung Theil gehabt haben oder ob diese durch
Huminsubstanzen hervorgerufen ist, muss wohl eine offene Frage bleiben.
Die freien Enden der Haare liefen konisch aus und waren zumeist gespalten.
Fassen wir nun die Resultate der Untersuchung vom gerichtsärztlichen
Standpunkte aus kurz zusammen, so sehen wir, wie vorsichtig man urtheilen
muss, wenn Haare eine Verwesung erlitten haben oder erlitten haben konnten.
An demselben einzelnen Haar haben wir ja nicht allein eine erhebliche Verschie¬
denheit der Farbe, sondern auch Verschiedenheiten in der Struktur beobachtet,
dazu noch arrodirende Einflüsse von Lebewesen an einigen Stellen, während
solche an anderen Stellen gänzlich vermisst wurden. Ausserdem haben wir ge¬
sehen, dass es nicht immer gelingt, die Verwesungsfarben wieder auszuziehen.
Indem ich diese kleinen Bemerkungen schliesse, bin ich froh, dass mir eine
Gelegenheit gegeben ist, meinen herzlichen Dank dem Leiter der Unterrichts¬
anstalt, Herrn Prof. Strassmann, sämmtlichen Herren Gerichtsphysici, und —
last not least — dem Assistenten der Unterrichtsanstalt Herrn Dr. Puppe für die
stets bewiesene Liebenswürdigkeit und das Wohlwollen auszusprechen, das mir zu
Theil geworden ist. Insbesondere bin ich zu grossem Danke Herrn Prof. Strass¬
mann und Herrn Med.-Rath Long verpflichtet.
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UMIVERSITY OF IOWA
Aus der Unterrichtsanstalt für Staatsarzneikunde zu Berlin.
Zur Kenntnis® des Sclererythrins nebst Bemerkungen
Uber ein mittelst desselben herzustellendes Reagenz¬
papier (Secalepapier).
Von
Dr. G. Puppe, Assistent an der Unterrichtsanstalt für Staatsarzneikunde zu Berlin.
Drei Punkte sind es vor allem, an die sich der Nachweis
des Secale cornutum knüpft: der Nachweis mittelst des Mikroskops,
die Prüfung auf Trimethylamin durch Einwirkung kalter Kalilauge
und die Sclererythrin-Probe. Von ihnen gebührt unstreitig der
letzteren das meiste Interesse, sowohl was die praktischen Erfolge
der Methode betrifft, als auch bezüglich der so mannigfachen Moda¬
litäten ihrer Ausführung in rein wissenschaftlicher Hinsicht. Denn
wennschon der Nachweis des Secale mit dem Mikroskop sichere Be¬
weiskraft hat, wenn er gelingt, so ist ein negativer Ausfall dieser
Prüfung doch nicht beweisend, und für den positiven Ausfall der
Trimethylamin-Probe ist ein Secalegehalt. von 1,25 pCt. in der zu
untersuchenden Substanz erforderlich, bei einem geringeren Gehalt
giebt sie keine sicheren Resultate, ganz abgesehen davon, dass auch
noch andere organische Substanzen nach Behandlung mit Kalilauge
in der Kälte Trimethylamin liefern. 1 )
Weit sicherer als beide ist dagegen der Sclererythrin-Nachweis;
die Resultate der Methode sind in der Regel einwandsfrei, zumal die
einzige von den Autoren hervorgehobene Schwierigkeit: der Nach-
1) Dragendorff, Die gerichtlich-chemische Ermittlung von Giften. 3. Aufl.
Göttingen 1888. S. 344.
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
Zur Kenntniss des Sclererythrins.
269
weis im Brod, Falck 1 ) zufolge nach Hoffmann-Kandel dadurch
behoben werden kann, dass man die Extractionsfrist des Farbstoffes
ausdehnt. Nach Hilger 2 ) können durch den Sclererythrin-Nachweis
noch 0,005 pCt. Mutterkorn im Mehl erkannt werden.
Die Darstellung der Substanz gelingt unschwer. HCl oder H 2 S0 4 -
haltiger Alcohol extrahirt sie und erfährt eine röthlich-gelbe Tin-
girung durch dieselbe; die Nuancen sind bei Schwefelsäure-An¬
wendung intensiver roth als bei Salzsäure und differiren natürlich
bezüglich ihrer Intensität je nach der Menge des Secalc vom dunkeln
Rothbraun bis zur eben erkennbaren Rosafärbung. Aus dieser sauren
alcoholischen Lösung lässt sich Selererythrin durch Aethcr ausscliüt-
teln. Nach Dragendorf kann man nun Selererythrin mit Petroleum¬
äther abscheiden; es bildet dann ein rothes Pulver, ist unlöslich im
Wasser, löslich in Alkohol, Eisessig, verdünnten Alkalien mit schöner
Murexidfärbung. Kalk und Barytwasser fällen es blauviolett, ebenso
schwere Metallsalze. Aluminiumsulfat und Zinchloriir lösen es roth.
Die rothgelbe Farbe der sauren alkoholischen Lösung wird nach
Zusatz von Alkali schön violett, ebensolche Färbung erhält man durch
Extraction des Farbstoffes mit alkoholischer Ammoniak-Lösung, aus
welcher indess ein Ausschütteln mit Aether unmöglich ist. Dagegen
erhält man eine blaue Farbe, wenn man zu der ätherischen rothen
Sclererythrinlösung Natrium bicarbonicum hinzufügt: augenblicklich
wird die Lösung entfärbt und cs findet sich alsbald am Boden des
Gefässes die hinzugefügte Natronverbindung blau gefärbt vor, aus
der man dann nach Abziehen der überstehenden Aetherschicht durch
Wasserzusatz eine blaue prachtvolle Farblösung erhalten kann.
Dieses Verhalten des Selererythrin ist in hohem Grade eigen-
thümlich, und es knüpft sich daran die Frage: Handelt es sich nicht
um einen Farbstoff, der sich ganz allgemein gegen Säure anders als
gegen Alkalien verhält, handelt es sich weiter um einen regenera¬
tionsfähigen Farbstoff, der nach vorheriger Behandlung mit Alkali
sich wieder in den rothen ursprünglichen urawandeln lässt und end¬
lich kann dieser Farbstoff nicht praktisch verwerthet werden sei es
zur Ergänzung der Untersuchungsmethoden des Mutterkornes, sei es
als Reagens auf Säure und Alkali ähnlich wie der Lakmusfarbstoff?
1) A. Falck, Lehrbuch der practischen Toxikologie. Stuttgart, Enke, 1880.
S. 290.
2) Dragendorff, 1. c.
Digitized by
Gck gle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
270
Dr. Puppe,
Um all diesen Fragen näher treten zu können, war es zunächst
erforderlich, einen allen Anforderungen entsprechenden Recipienten
für das Sclererythrin zu finden, mit dem dann das Verhalten gegen
Säure oder Alkalien zu prüfen möglich war. Es unterlag keinem
Zweifel, dass diese Forderung am besten erfüllt wurde durch die
Anwendung des Farbstoffes als Imprägnirungsmittel für Fliesspapier,
gerade wie dies beim Lakmusfarbstoff geschieht.
Filtrirt man eine saure alkoholische Secale - Aufschwemmung,
so färbt sich das Filtrirpapier intensiv rothbraun; eine blaue Fär¬
bung des Filtrirpapiers tritt ein, wenn man eine Aufschwemmung
von pulverisiertem Secale mit Ammoniak-Alcohol oder mit Pottasche¬
lösung behandelt. Kalilauge, auch in ganz dünner Lösung, und Ammoniak
bewirken augenblickliche Violettfärbung des rothbraunen Papiers,
Spuren von Essigsäure und Salzsäure bewirken deutliche wenn auch
schwache Bräunung des violetten Papiers, desgleichen Salpetersäure
und 20 pCt. Salzsäure, aber in stärkerem Grade. Der Recipient
schien gefunden zu sein, immerhin aber war die Substanz nicht rein
aufgenommen, sondern zugleich mit allen ebenfalls durch die be¬
treffende Aufschwemmungsflüssigkeit gelösten Verunreinigungen, ab¬
gesehen davon, dass durch die pastöse Farbmasse ja auch ein
Theil der Poren des Papiers verstopft wurde, der Farbstoff selbst
also bei seinem völligen Durchdringen des Mediums Widerstände
fand, die er nicht bewältigen konnte.
Besser schien ein anderes Verfahren: Tingirung von Fliesspa¬
pier durch die aus der sauren ätherischen Lösung durch Natriumbi-
carbonat erhaltene blaue Farbe. Die Prüfung ergab Orangefärbung
durch Salz- und Salpetersäure, sowie durch Weinsäure, doch schienen
schwache Lösungen dieser Säuren keinen deutlichen Effekt zu hinter¬
lassen. Setzt man zu der eben genannten blauen Lösung tropfen¬
weise Salzsäure hinzu, so erfolgt nach eben erfolgter Neutralisirung
mit einem Male ein Umschlag der Farbe in Orange, die nunmehr
ebenfalls mit Leichtigkeit zur Imprägnirung von Fliesspapier benutzt
werden kann; cs ergiebt sich schön blass orangefarbenes Papier,
welches auf Ammoniak und Spuren von Kalilauge durch sofortige
Violettfärbung reagirt. Schien demnach auch das Orange-Papier zu
weiteren Versuchen zu genügen, so liess das blaue doch bei feineren
Säurebestimmungen im Stich; es musste daher ein anderes Verfahren,
welches diesen Mangel nicht zeigte, ausfindig gemacht werden.
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Zur Kenntniss des Sclcrerythrins.
271
Es gelang nun, aus der rothen, sauren ätherischen Lösung ein
Papier zu gewinnen, welches den Anforderungen genügte, mit Hülfe
eines kleinen Kunstgriffes. Zieht man einen Streifen Filtrirpapier,
den man U-förmig an beiden Enden hält, und dessen untere Con-
vexität in die Aetherlösung taucht, durch abwechselndes Verkürzen
und Verlängern der Schenkel durch die Flüssigkeit, so stellt man
sich damit eine der ganzen Grösse des Streifens entsprechende Ver¬
dunstungsfläche her; der Effekt, welcher zweckmässiger Weise noch
durch Darüberhalten eines Luftstromes verstärkt wird, ist zunächst
ein schnelles Verdampfen auch grösserer Aethermengen und weiter
eine gleichmässige Imprägnirung mit dem gelösten Sclererythrin. Man
erhält auf diese Weise ein schön orangefarbenes Reagenzpapier, welches
zu weiteren Versuchen benutzt werden kann. Befeuchtet man das
Fliesspapier vor der eben beschriebenen Prozedur mit Ammoniak oder
nimmt man die Prozedur in reichlich Ammoniak enthaltender Luft
vor und lässt dann den Aether aus diesem Ammoniak-Papier ver¬
dunsten, so resultirt ein violett gefärbtes Papier, das ebenfalls allen
Ansprüchen bezüglich weiterer Versuche genügt.
Salzsäure, Salpetersäure und Schwefelsäure färben das violette
Papier auch in Spuren orange; ebenso Essigsäure, Weinsäure und
Milchsäure; auch Chlorzinklösung ruft eine leichte Orangefärbung her¬
vor. Umgekehrt geben Kalilauge, Ammoniak und Cyankaliumlösung
Violettfärbung des Orange-Papiers, resp. verstärken die Farbe des
violetten. Ebenso verhalten sich Barytwasser und Kalkwasser sowie
Bleiessig. Aus den nunmehr weiter fortgesetzten Prüfungen liess sich un¬
schwer entnehmen, dass auch weiterhin eine Uebereinstiramung des
Secalepapiers mit dem Lakrauspapier statthatte bezüglich der Qua¬
lität der Farbenänderung, insofern als das orangefarbene Secale-Pa-
pier dem rothen Lakmuspapier, das violette Secalepapier dem blauen
Lakmuspapier völlig entsprach. Allein in der Feinheit der Em¬
pfindlichkeit schien das verwandte Secalepapier dem Lakmuspapier
unterlegen; nicht immer, aher zuweilen fand sich die Farbenänderung
nur eben angedeutet, wo das Lakmuspapier noch deutliche Unter¬
schiede aufwies.
Die angestellten Untersuchungen scheinen den Schluss zuzulassen,
dass wir in dem Sclererythrin einen Farbstoff vor uns haben, der in
angemessener Bearbeitung ein Reagens auf freie Säure und Alkali zu
bilden im Stande ist, und der sich als ein dem Lakmus jedenfalls
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
272
Dr. Puppe,
sehr nahestehender Farbstoff darstellt, wenn er ihn auch an Feinheit
nicht ganz erreicht. Muss dieser Umstand auch vielleicht auf Kosten
der sicher noch nicht ganz vollkommenen Herstellungsmethode ge¬
setzt werden, so soll absolut nicht die Prätension erhoben werden,
als ob das Secalepapier als Concurrent des Lakmuspapiers aufzu¬
treten berufen wäre. Nichts berechtigt zu solcher Erwartung. Das
Sclererythrin ist nur in der Rindenschicht des Secale cornutum vor¬
handen, es ist nicht in sehr grosser Menge da, auch der Preis des
Lakmus (ungereinigt 1,30 Mk. gereinigt 3,25 Mk. für 1 kg.) ist dem
des Secale voraus an Billigkeit, (1 kg 1,85 Mk.) da noch die Kosten
der Herstellung (Alcohol, Acther etc.) dazukommen würden. Viel¬
leicht ändern vervollkommnete Methoden etwas an dieser Thatsache.
Aber cs ist vom wissenschaftlichen Standpunkte aus gewiss sehr in¬
teressant, dass wir im Sclererythrin einen derartigen Farbstoff vor
uns haben.
Das besprochene Verfahren, Sclererythrin in Form des Secale-
papiers zu bearbeiten, gestattet es aber auch praktische Konsequenzen
zu ziehen nach zwei Seiten hin: einmal zur quantitativen Prüfung
auf Secale und dann qualitativ zur Unterscheidung des Secale von
andern Substanzen, sowohl solchen, welche sich säurehaltigem Alkohol
gegenüber ähnlich wie Secale verhalten als auch ganz im allgemeinen.
Beides würde der gerichtlichen Medizin, z. B. beim Nachweis von
Secale im Erbrochenen u. a. wie auch der Nahrungsmittelchemic, zu
(lute kommen können.
Extrahirt man nämlich 1,0 Secale mit Schwefelsäure-haltigem
Alkohol, schüttelt weiter Sclererythrin mit Aether aus und lässt dann
in einem kleinen cylindrischen Glasgefäss von etwa 5 cm Durch¬
messer, auf dessen Boden sich ein passend zugeschnittenes Blatt Fliess¬
papier befindet, den Aether verdunsten, so resultirt eine tief braun-
rothe Färbung des Papiers. Mit Leichtigkeit kann man sich so eine
Farbenskala hersteilen, die man dann zur quantitativen Bestimmung
des Secale benutzen könnte. Diese colorimetrische Methode dürfte
zuverlässig sein, da nach ihr noch 0,005 Secale nachweisbar sind.
Sie hat gegenüber dem colorimetrischen Verfahren mittelst eigens
hcrgestellter Seealeextrakte von bestimmtem Gehalt den grossen Vor¬
zug der Conservirbarkeit des Secalepapiers.
Behandelt man weiter Mehl, weiches mit Kornrade (Agrostemma
Githago) und Tauraellolch (Lolium tremulentum) verunreinigt ist,
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Zur Kenntuiss des Sclererythrins.
273
mit säurehaltigem Alcohol, so färbt siel» dieser nach Vogel gesättigt
orangefarben 1 ). Unschwer gelingt es, die färbende Substanz mit
Aether aus der sauren alkoholischen Lösung auszuschüttcln und nach
Verdunsten des Aethers ein mehr oder minder gelblich gefärbtes
Fliesspapier nach der im vorigen Abschnitt beschriebenen Methode
zu erhalten. Während aber nun Secalepapier, welches ebenso erhalten
wurde, unter dem Einfluss von Alkalien sofort violett wird, geben
Lolium tremulentum und Agrostemma Githago diese Reaktion nicht.
Auf dieselbe Art gelingt es auch bei der Untersuchung von er¬
brochenen Massen und Mageninhalt mit grösserer Sicherheit als bis¬
her die etwaige Anwesenheit von Secale festzustcllen. Violettfärbung
des orangefarbenen Papiers durch Ammoniak weist unfehlbar auf die
Beimischung von Secale hin und schlicsst andere sich etwa ähnlich
verhaltende Substanzen aus.
1) Rubner, Lehrbuch der Hygiene. 4. Aufl. Leipzig und Wien, Deuticke.
S. Ö89.
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UMIVERSITY OF IOWA
8 .
Ein seltener Fall von chronischer Chloralvergiftung.
Von
Dr. Chr. fleill, Irrenheilanstalt Aarhus.
Die Krankengeschiclite des nachstehend veröffentlichten Falles
ist folgende:
Eine 58jährige Häuslerin, die angeblich zur Geisteskrankheit nicht erblich
disponirt und immer früher gesund gewesen sein will, wurde den 8. Juli 1895
auf die Irrenanstalt eingelegt, an einem ersten Anfall von Melancholie leidend.
Sie hatte zu Hause einen Selbstmord mittelst Durchschneidens des Halses ver¬
sucht, dieWunde aber war durch Behandlung im Krankenhause geheilt. Von die¬
sem wurde sie uns eingeliefert.
Vom 9. Juli an bekam sie jeden Abend Chloral (2 g). — 5. August. Vor¬
gestern Abend war sie etwas rothgefleckt an den Händen. Gestern wurde deut¬
liches Chloralexanthem konstatirt. Es war masernähnlich, hochroth, papulös,
doch an vielen Orten, wie an den Unterarmen und Beinen, zu grösseren Flächen
stark koniluirend. Am Halse und an der Brust war es discreter, ebenso am
haarigen Theil des Kopfes, während es im Gesichte besonders abwärts stark kon-
fluirte. Kein besonderes Aufgedunsensein der Haut. Die Schleimhaut des Mundes,
besonders die des Gaumens und der Zunge, injicirt. Keine deutliche Conjuncti¬
vitis oder Schnupfen. Der Urin enthielt etwas Albumin — er war bei der Ein¬
legung normal gewesen. — Das Allgemeinbefinden nicht besonders afficirt. Sep.
Chloral. — Heute hat das Exanthem sich etwas ausgebreitet, ist beinahe univer¬
sell, vielleicht weniger stark gefärbt als gestern. Ein wenig kleinblättrige Ab¬
schuppung in Gesicht und Beinen. Ein wenig Oedem der Knöchel. Die Injection
der Scheimhaut des Mundes hat abgenommen. Der Urin enthält fortwährend Al¬
bumin, er giebt ebenso wenig wie gestern die Reaktion der'Urochloralsäure. —
6. Aug. Heute Morgen ist Pat. stark verfallen; heftiges Erbrechen grüner Massen.
Sie wurde auf der Krankenabtheilung zu Bettgelegt, kurz nachdem war sie jedoch selbst
aus dem Bett aufgestanden. ZurZeit derVormittagsvisite war das Exanthem äusserst
intensiv gefärbt; die Röthe sehr deutlich und koniluirend an Nase, Wangen und
Kinn. Ein wenig Icterus im Gesichte. Die Zunge schorfig und der Mund sehr
schleimig. Beide Füsse ein wenig oedematös und das Oedem erstreckt sich bis über
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSITY OF IOWA
Ein seltener Fall von chronischer Chloralvergiftung.
275
die Knöchel. Der Urin sehr dunkel, braun mit grünlichem Glanz, giebt starke
Reaktion auf Gallenfarbstoffe, enlhält ein wenig Albumen. 7. Aug. Später lag
Pat. ganz ruhig mit ein wenig schnaubender Resp. Sie erbrach sich nicht, Urin
und Stuhlgang, der nicht dünn war, gingen aber im Bette ab. Die ikterische
Farbe nahm gegen Abend zu, der Puls war bei der Abendvisite klein und unregel¬
mässig. Trotz Stimulantien starb sie, indem die Kräfte immer abnahmen, heute
Morgen um 3 Uhr.
Section (9 St. p. m.) Die Leiche mittelmässig ernährt. Rigor findet sich
in den Unterextremitäten. Es besteht sehr ansgebreitete Hypostase sowohl an den
abhängigen Theilen als auch überall da, wo das Exanthem gewesen ist, besonders
an den Vorderflächen des Oberarms und der Schenkel sammt dem Unterleibe
und Gesichte. Es besteht deutliche ikterische Färbung, besonders im Gesichte,
am Truncus und an der Vorderfläche der Schenkel. Etwas Oedem um die
Knöchel. Die Sclerae sind intensiv ikterisch gefärbt. Ein wenigDesquamation an
den Oberarmen sowie am Halse und im Gesichte. — Das abgesägte Schädeldach
ist beinahe dreieckig, mit einem nur 5 cm breiten Frontaltheile, während der
grösste Transversaldiameter, der weit hinten gerade unter den Tubera pariet. sich
findet, 15 cm misst. Diameter ant.-post. 18 cm. Reichliche Diploe, die etwas
hyperamisch ist. Viele Pacchionische Granulationen, die im Cranium tiefe Gruben
absetzen, so dass von diesem an mehreren Stellen nur eine papierdünne Lamelle
übrig bleibt. Dura theilweise adhaerent; die Innenseite ikterisch gefärbt, be¬
sonders an der Basis. Die Subduralflüssigkeit ist vermehrt. Das Gewicht des Ge¬
hirns 1325 g. Pia über der Convexität stark diffus verdickt, etwas oedematös.
Die Flüssigkeitsmenge in den Gehimventrikeln ein wenig vermehrt. Das Ependym
stark granulirt in den Seitenventrikeln und im 3. Ventrikel, während sich im
4. Ventrikel nur einzelne Granulationen am Uebergange zum Velum medul. ant.
finden. In beiden Seitenventrikeln findet sich eine kleine dreieckige Blutung
unter demEpendym gerade an der Basis derCrurafomicis and. ImUebrigen nichts
besonders Abnormes an den grossen Ganglien und amCerebellum. Dagegen befinden
sich im Pons zwei Erweichungsheerde von der Grösse einer Erbse und mit
Flüssigkeit gefüllt, jeder an einer Seite liegend, und zwar am Uebergange zwischen
mittlerem und unterstem Drittel, der eine (kleinere) rechts ein wenig von der Mitte
vom Pons, der andere (grössere) links, ein wenig hinter der Mitte. Der Blut¬
gehalt des Gehirns ist normal, sein Gewicht nach der Untersuchung 1295 g —
Pericardialflüssigkeit ein wenig vermehrt, sehr dunkelgelb gefärbt. Herz so wie
auch die grossen Gefässe enthalten eine ausserordentlich reichliche Menge Blut
sammt grossen, dunklen, breiigen Coagulis. Das Herz ist schlaff; die Spitze wird
vom 1. V. gebildet, Aorta und Mitralklappen stellenweise verdickt. Beginnende
Entarteritis in der Aorta ascendens. Endocardium in den Vorkammern sowie auch
Mitral- und Trikuspidalklappen sammtlntima überall an der Aorta stark gelb gefärbt;
besonders in der Aorta descendens ist die Farbe intensiv safrangelb. Myocardium
schlaff, von hellbrauner Farbe. Keine Flüssigkeit in den Lungensäcken. Nach
unten adhaerirt die rechte Lunge durch wenige saitenförmige Adhaerenzen. Beide
Lungen leicht emphysematos, nach unten hypostatisch. Bronchien mit ein
wenig Schleim belegt. Bronchialdrüsen pigmentirt, leicht geschwollen. — Keine
Flüssigkeit in der Abdominalhöhle. Milz gross mit fleckenweiser Verdickung der
Kapsel. Pulpa schlaff, aber nicht flüssig. Es giebt zwei Nebenmilzen, die eine
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
wie eine Nuss, die andere wie eine Erbse. Leber gross und schlaff. An der
dunklen, stark gefleckten Oberfläche sieht man zahlreiche, nicht hervorspringende
kleine gelbe Flecken, von der Grösse eines Hirsekorns bis zu der einer Erbse. An
der Schnittfläche zeigt sich das Gewebe abwechselnd schwarzgrau oder hellgelb
gezeichnet, im gleichen Grade ikterisch und cyanotisch, mit einzelnen, stark gelb¬
lichen Flecken, wie oben beschrieben. Die ac-inöse Zeichnung undeutlich. Die
Konsistenz vermindert. Die Gallenblase enthält reichliche schwarze Galle; Gallen¬
gang durchgängig. Magen wie ein Stundenglas in der Mitte eingeschnürt. Es
zeigt sich, dass eine stark zusammengezogene Narbe an der Einschnürung Schuld
ist; übrigens ist die Schleimhaut stark mamellonirt, hie und da injicirt. Sowohl
die Serosa des Magens wie die des Darmes ist stark ikterisch gefärbt. Darm
enthält reichliche grün gefärbte Fäces. Proc. vermiformis gross, 6 cm lang;
Serosa injicirt. Wand stark verdickt, die Verdickung betrifft besonders die Mu-
cosa. Er ist überall durchgängig und enthält Eiter und 4—6 kleine Haare. Me¬
senterialdrüsen etwas geschwollen. L. Niere gross. Die Kapsel löst sich nicht
ohne dass Gewebe mit folgt. Auf der Schnittfläche ist die Zeichnung sehr undeut¬
lich; die Farbe blass, besonders an der Basis der Pyramiden. Konsistenz deut¬
lich vermehrt. In Becken und Kelchen sieht man eine ausserordentlich reichliche
Eruption kleiner mit Flüssigkeit gefüllter Bläschen, die sich nach unten durch
die Ureteren (es gehen nämlich vom Becken zwei Ureteren aus, und diese treffen
sich erst genau über der Einmündung in die Blase), die etwas dilatirt sind, fort¬
setzt, bis zur Harnblase hinab. R. Niere kleiner als die linke. Die Zeichnung
undeutlicher und die weissliche Färbung stärker, die Rinde hat aber wie in der
linken Niere eine natürliche Breite. Hier sind Becken und Kelche stark dilatirt,
und erstcre setzt sich wie ein grosser Sack mit Urin gefüllt über die Spitze der
Niere fort. Die Ablagerung der kleinen hellen Bläschen mit gelblichem Inhalt ist
noch deutlicher als an der linken Niere. In keiner der Nieren finden sich Cysten
im Gewebe. Die Bläschen setzen sich durch den Ureter, der auf dieser Seite ein¬
zeln ist, fort. Harnblase dilatirt, enthält etwas dunklen Urin. Am Trigonum
Lieutaudii findet sich eine reichliche Ablagerung ganz kleiner Vesikeln. Am
rechten Ovarium eine Cyste von der Grösse einer Nuss, mit klarem Inhalt ge¬
füllt. Collum uteri gross, krebsig degenerirt, wie sich auch in Corpus uteri
grössere und kleinere Knoten finden. — Die mikroskopische Untersuchung
zeigt, die Leber betreffend, Folgendes: An allen untersuchten Stellen findet sich
eine ausserordentlich vorgeschrittene Degeneration des Lebergewebes, höchstens
kann nur l / 2 o von diesem einigermassen funktionstüchtig gewesen sein. Capsula
Glissonii: leichte Verdickung des Bindegewebes und der Arterienwand; Gallen¬
gänge nicht erweitert; Epithelien ganz unbeschädigt; keine Rundzelleninfiltration.
Acini: Um die etwas erweiterten Centralvenen findet sich ein kleiner Rest der
Leberzellenbalken, die ein natürliches Aussehen haben, sie sind aber durch er¬
weiterte Capillargefässo auseinander gedrängt. Um diese Partie sieht man die
Leberzellen körnig, vakuolisirt, ohne Kern; im allergrössten Theile des Durch¬
schnitts vom Acinus sieht man zwischen den ausgespannten Kapillaren nur ovale
pigmentgefüllte Zellen und Protoplasmaklnmpen ohne Kern mit einzelnen aus¬
getretenen Leukocyten. Es giebt weder Rundzellenhaufcn noch kleine Abscesse,
und keine Bakterienhaufen in den Gefässcn. Was die Nicron betrifft, zeigt die
Untersuchung Folgendes: Die Kapsel ist nicht verdickt. Corticalis: Die Räume
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Ein seltener Fall von chronischer Chloralvorgiftung.
277
zwischen Tubuli contorti sind etwas erweitert; hier und da sehr starke Ausdeh¬
nung der Gefässe. Am ausgepinselten Präparat sieht man die Kapselwände leicht
verdickt. Glomeruli im Ganzen natürlich. Hier und da starke Ausdehnung ein¬
zelner Ansae. Ganz vereinzelte Glomeruli total fibrös degenerirt. Epithelien in
den Tubuli contorti leicht körnig und etwas grob, aber die Kerne überall wohl er¬
halten. Medullaris: Starke Hvperaemie der Gefässe an den Papillen, sein-
starke Entwicklung von Bindegewebe zwischen den Tubuli. Epithelien in den
Tubuli recti zum Theil degenerirt und abgefallen. In Henle’schen Schlingen und
theilweise in den Tubulis rectis hyaline Cylinder.
Sections-Diagnose. Icterus universalis. Deformitas cranii. Pachymenin-
gitis ext. Leptomengitis chron. diff. Ependymitis granul. chron. Haemorrhagiac
subependymoidales ventr. I u. II.
Emollitiones circumscript. pontis. Endarteritis valvular. mitralis et aortao.
Degeneratio parenchym. myocardii. Endarteritis aortae. Emphysema et hypostasis
pulmonum. Lienes accidentales. Degeneratio (toxica?) hepatis cum cyanosi. De¬
formitas ventriculi e cicatrice. Perityphlitis. Nephritis cyanotica renum chron.
Deformitas pelvis renis dext. Ureter duplex sin. Vesiculae pelvis et calycum
renum, ureterum et vesicae part. Cystis parovarialis dext. Cancer uteri.
Ein 58jähriges Weib, das angeblich früher vollständig körperlich
gesund war und an einem ersten Anfall von Melancholie litt, bekam
also, nachdem sie 25 nach einander folgende Abende 2 g Chloral,
zusammen 50 g gebraucht hatte, ein Chloralcxanthem, von gewöhn¬
lichem Unwohlsein und Albuminurie begleitet. Am 3. Tage erschien
Icterus und zugleich Gallenfarbstoff im Urin. Der Tod trat trotz dem
Aufhören des Chloralgebrauches am 4. Tage ein. Bei der Section
wurde nachgewiesen, dass man die angegebene frühere vollständige
Gesundheit als relative betrachten musste, da ausser einigen Entwick¬
lungsfehlern, wie abnorm gebildetem Schädel, Nebenrailzen, Verdop¬
pelung des Ureter links und Deformität des Nierenbeckens rechts
sammt Zeichen überstandenen Magengeschwürs, das eine starke nar¬
bige Deformität des Magens hinterlassen hatte, sich ein paar kleine
ältere Erweichungen im Pons, Endarteritis der Aorta, Degeneration
des Myokard, Cancer uteri und Perityphlitis fanden. Als Zeichen
der Chloralvergiftung musste man wohl die kleinen, Vorgefundenen
subependymoidalen Ecchymosen, die Vesikelentwicklungen der Urin¬
wege, Cyanose der Nieren und der Leber und endlich die Leberdege¬
neration auffassen.
Wenn man selbst glauben wollte, dass die Cyanose früher als
die Vergiftung bestanden hätte — was wenigstens für die Nieren
nicht wahrscheinlich ist, da man, ehe der Chloralgebrauch begann,
kein Albumen im Urin gefunden hatte und Albuminurie auftrat, ehe
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
278
Dr. Gei 11,
die Zeichen von dein Uebergange der Gallcnbestandthcilc ins Blut auf¬
traten — schien cs doch sicher, dass inan das Vorgefundene Leber-
leiden als eine directe Folge der Chloralvergiftung auffassen musste,
da man es jedenfalls nicht in directe Verbindung mit einer bestehen¬
den Cyanose setzen konnte. Durch starke Cyanose kann wohl ein
Schwinden der Leberzellen entstehen, dieses fängt aber an der Central-
vene an und besteht dann gewöhnlich aus einfacher Abmagerung der
Leberzellen, die zuletzt wie drahtförmige Zellen zwischen den Capil-
laren liegen. Hier fand man indessen die intacten Leberzellen im
Centrum, und das Leiden bestand in vollständiger Verwüstung der
Zellen.
Die Möglichkeit, dass eine von der Cyanose unabhängige Leber-
affection bestanden hätte, ehe das Chloral in Gebrauch genommen
wurde, und dass die Chloralvergiftung diesem Leiden zur Seite ver¬
laufen wäre oder es verschlimmert hätte (Wernich) darf man zwar
nicht absolut leugnen, die klinischen Phänomene wie auch der Sec-
tionsbefund deuten aber in hohem Grade auf die Wahrscheinlichkeit
hin, dass man sowohl die Cyanose, als die Leberdegeneration als di¬
recte Folge der Chloralvergiftung betrachten muss. Dass diese Cya¬
nose verursachen kann, lässt sich erklären nach den Kenntnissen, die
wir von der paralysirenden Einwirkung des Chlorais auf das Circu-
lationssystem haben. Was dagegen die Leberaffection betrifft, so wird
die Deutung der Pathogenese dieser Degeneration schwieriger. Doch
scheint der Umstand, dass das Reductionsproduct des Chloralhydrats
im Organismus, der Trichloraethylalkohol, sich zu Trichloraethylgly-
kuronsäure (Urochloralsäure) paart, und dass diese Paarung mit Gly-
kuronsäuren in der Leber vor sich geht (Robert), das Verständniss
dafür zu erleichtern, dass das Chloral so stark auf dieses Organ ein¬
wirken kann — besonders wenn Cyanose vorhanden ist.
Im Ganzen kennt man sehr wenig den Sectionsbefund bei der
chronischen Chloralvergiftung. Wie bei der acuten Chloralvergiftung,
so ist beinahe auch immer bei der chronischen Vergiftung die Todes¬
ursache angeblich primäre oder secundäre Herzlähmung. Der Haupt¬
angriffspunkt des Chlorals ist wohl immer das vasomotorische Cen¬
trum. Es giebt deshalb gewöhnlich bei der chronischen und sub¬
acuten Chloralvergiftung ebensowenig wie bei der acuten Vergiftung
einen charakteristischen Sectionsbefund. Höchstens finden sich bei
der Section Kennzeichen von Schwäche des Circulationssystems (end-
arteritische Veränderungen, Degeneration des Myokardiums) als Er-
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Ein seltener Fall von chronischer Chloralvcrgiftung.
279
klärung, weshalb das Chloral eben in diesen Fällen eine letale Wir¬
kung gehabt hat. Was speciell den in unserem Falle gefundenen
Icterus und die Leberaffection betrifft, so findet sich in der mir zu¬
gänglichen Literatur sehr wenig Verwerthbares.
Wern ich 1 ) hat vier selbst beobachtete Fälle und einen ihm mitgetheilten
Fall veröffentlicht, wo während des Chloralgebrauchs Ikterus entweder entstand,
oder ein Ikterus, welcher vorher da war, sich auf eine Weise verschlimmerte, die
keinen Zweifel an den Zusammenhang erlaubte. — Lewin 2 ) giebt zwar an, dass
man öfters Ikterus bei der chronischen Chloralvergiftung konstatirt hat, meint
aber, „dass es mehr als wahrscheinlich ist, dass es sich hier um einen Ikterus
gastroduodenalis, also um einen durch die Reizwirkung des Chloralhydrats ver-
anlassten Verschluss des Gallenausführungsganges und nicht um einen hämato¬
genen Ikterus handelt.“ — Pelman 3 ) sah nach dem Gebrauche des Chloral in
zwei Fällen kleinere und grössere Petechien überall an der Haut; in einem Falle,
bei einem Paralytiker, der obducirt wurde, fanden sich ausserdem zahlreiche
Petechien in der Larynxschleimhaut und unter dem Endocard, und im Cranium
ein grosses Hämatom, dessen dünnflüssiger Inhalt zeigte, dass es frischen Datums
war. Er meint, dass der Ikterus, den er in einem dritten Falle während des
Chloralgebrauchs entstehen sah, durch eine von dem Chloral bewirkte Blut¬
dissolution verursacht war; dieser Fall endete tödtlich, und bei der Section fand
man die Leber fest, trocken, wenig blutreich, fast lederartig hart, aber nicht gelb
und ohne Gallenpunkte; in der Gallenblase fand man nur ein wenig dicke, zähe
und schleimige Galle; die Gallenfarbstoffprobe des Urins war nicht angestellt
worden. — Arndt 4 ) sah bei einem 53 jährigen männlichen Paralytiker, der 8Abende
nach einander 2,5—5 g Chloral bekommen hatte, ein stark papulöses Erythem
mit einigen kleinen Echymosen. Ein paar Tage danach trat Ikterus mit Gallenfarb¬
stoff im Urin auf, den man wegen Retention mit dem Katheter abnehmen mussto.
Als das Chloral ausgesetzt ward, schwanden sowohl Exanthem als Ikterus lang¬
sam, letzterer erst im Verlaufe dreier Wochen. Einen Monat nachher bekam der
Patient wieder einige Abende 3—5 g Chloral, und 4 Tage nach der ersten Dosis
erschien wieder ein papulöses Erythem, wozu nach 2 Tagen Ikterus und Urin-
retention kamen. Das Chloral wurde gleich ausgesetzt, die Schwäche nahm aber
zu, Dekubitus entwickelte sich, und der Tod trat am 7. Tage des Exanthems ein.
Die Section wurde leider nicht vorgenommen.
Arndt meint, dass der Ikterus von einem Gastro-intestinalkatarrh mit Ver¬
schluss des Gallengangs herrührte, meint aber im Gegensatz zu Lewin, dass
dieser Katarrh nicht durch den direkt reizenden Einfluss des Chlorais auf die
1) Ueber Icterus nach Anwendung von Chloralhydrat. Deutsches Archiv f.
klin. Medicin. Bd. 12. S. 32—41. 1873.
2) Die Nebenwirkungen der Arzneimittel. Berlin 1893. S. 16G.
3) Ueber einige Nachtheile bei der Anwendung des Chloralhydrats. Irren¬
freund. 1871. No. 2.
4) Wirkungen des Chloralhydrats. Archiv f. Psych. u. Nervenkrankh. III.
S. 673. 1872.
Yierteljahrsschr. f. ger. Med. Dritte Folge. XIV. 2. iq
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
280
Dr. Geil 1,
Schleimhaut bewirkt, sondern von neurotischer Natur sei, analog mit der konsta¬
nten paralysirendon Wirkung des Chlorais auf das Nervensystem speciell das Ge-
fässnervcn System. Als Grund dieser Meinung führt er einen andern selbstbeobach¬
teten Fall an, wo ein 36jähriger männlicher Paralytiker, nachdem er einige Zeit
jeden Abend 2,5—4 g Chloral bekommen hatte, nach peritonitischen Symptomen
starb. Die Section zeigte ausser einer Pachymeningitis interna haemorrbagica
basilaris bedeutende Veränderungen im Magen. Die Schleimhaut war hier ge¬
lockert, leicht zerreisslich und vielfach erodirt; ihre grösseren Gefasse paralytisch
erweitert und ihre kleineren stellenweise geborsten, so dass ausgedehnte Ecchy-
mosen sich gebildet hatten. Die letzteren waren so bedeutend, dass der Fundus
durch sie beinahe ganz gleichmässig dunkel erschien. Das auffälligste war in¬
dessen ein mehr als thalergrosses Loch der hinteren Wand, das beinahe wie mit
einem Locheisen berausgeschlagen, sich so ziemlich in der Mitte derselben be¬
fand. Die Ränder dieses Loches waren nur wenig und in geringem Umfange ge¬
schwollen, die dasselbe umgebenden Schleimhautpartien stark erodirt und ecchymo-
sirt. Hinter dem Magen, die ganze Bursa omentalis erfüllend, lag eine mehr als
daumendicke gelbe Schwarte, welche aus Fibrin und massenhaften weissen Blut¬
körperchen bestand und den rauhen und getrübten Wänden der Bursa fest adhä-
rirte. Die Schleimhaut im obersten Theile des Darmes war leicht geschwollen
und gelockert und stellenweise ziemlich stark blutinjicirt, es waren keine Hae-
morrhagien vorhanden und der Inhalt des Darmes war normal gefärbt. Arndt
meint dem Chloral dieses heftige Magenleiden mit darauffolgender Perforation zu¬
schreiben zu müssen, und stützt sich darauf, 1. dass früher gar kein patho-
gnostisches Zeichen, welches auf ein Magenleiden deuten konnte, da gewesen war,
und 2. dass im Umfange der Wunde nur wenige Reactionserscheinungen vor¬
handen waren, indem besonders ihre Ränder nur wenig und im geringen Um¬
kreise geschwollen und entzündet waren. Diese akute Gastritis so wie der den
im ersten Falle auftretenden Ikterus verursachende, zwar nur vermuthete Duode¬
nalkatarrh sind, wie Arndt meint, der vasoparalytischen Fähigkeit des Chlorais
zuzuschreiben, und das Leiden sollte also mit den Hautaffectionen und speciell
mit dem akut auftretenden Chloraldekubitus analog sein 1 ).
Es liegen also drei verschiedene Theorien zur Erklärung der
Pathogenese von Icterus bei der chronischen Chloralvergiftung vor,
nämlich 1. dass ein Gastroduodenalkatarrh, der a) durch die direct
reizende Wirkung des Chlorais auf die Schleimhaut (Lewin) oder
b) indirect durch Vasoparalyse (Arndt) verursacht ist, daran Schuld
sei, und 2. dass eine durch die Einwirkung des Chlorals auf das
Blut erregte Blutdissolution daran schuld sei (Pelman). Hierzu
muss folgendes bemerkt werden: Ein Factum ist es, dass Chloral
heftige Reizphänomene vom Digestionskanale bei Einnehmen durch
den Mund erregen kann, den lokalen Phänomenen, die durch Appli-
1) Reimer, Ueber die Entstehung von Decubitus nach dem innerlichen Ge^
brauch von Chloralhydrat. Allgem. Zeitschr. f. Psych. Bd. 28. S. 316. 1872.
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
281
Ein seltener Fall von chronischer Chloralvergiftung.
kation des Mittels auf die Haut verursacht werden, entsprechend;
hierzu ist aber eine grössere Menge Chloral erforderlich und beson¬
ders eine stark koncentrirtc Auflösung, Bedingungen, die gewöhnlich
bei der akuten Chloralvergiftung, wo eine heftige Gastritis und Inte¬
stinalkatarrh zu den gewöhnlichen Sectionsbefunden gehören, gegeben
sind. So auch im einzigen Falle akuter Chloralvergiftung, in dem
ich zur Obduction Gelegenheit hatte.
Ein 27jähriger Mann starb plötzlich den 30. Dez. 1886 nachdem er in selbst¬
mörderischer Absicht eine ziemlich grosse Portion Chloral in stark koncentrirter
Auflösung genommen hatte. Wie viel er genommen, konnte man mit Sicherheit
nicht auf klären; cs fand sich aber im Zimmer eine leere Schachtel, die, der
Signatur nach 50 g Chloralhydrat enthalten hatte. Wahrscheinlich war das
Chloral in Wein aufgelöst eingenommen, da sich auf dem Tische im Zimmer ein
geleertes Woinglas fand. Totaler Rigor war jedenfalls */, Stunde nach dem Tode
eingetreten.
Die Section (31. Dez. 1886, 26 St. p. m.) zeigte den Unterleib betreffend
Folgendes: Bei der Eröffnung des Abdomen spürte man einen eigenthümlichen
aromatischen Geruch. Der Magen war mit einer reichlichen Menge graulichen
Breies gefüllt, der auch den obersten Theil der dünnen Gedärme füllte, während
die Masse weiter abwärts von einer bräunlicheren Farbe war. Die Schleimhaut
des Ventrikel war dunkel ohokoladenfarbig; das Gewebe beinahe flüssig. Im
oberen Theile des Darmkanals war das Verhältnis ein ähnliches; die Röthe ver¬
lor sich nach und nach abwärts, während die Schleimhaut im ganzen Dünndarme
von der Muscularis sich leicht abschaben Hess. — Die Leber zeigte eine leicht
grauliche Farbe. Die Nieren cyanotisch ohne Ecchymosen. — Bei der chemischen
Untersuchung des Mageninhalts wies man grosse Mengen von Chloral nach.
Bei der chronischen Chloralvergiftung aber, wo das Gift in suc-
cessiven kleinen Dosen und gewöhnlich in stark verdünnter Auf¬
lösung eingenommen wird, ist es nicht glaublich, dass der Reiz so
stark sei, dass dadurch ein Gastroduodenalkatarrh, der einen Ver¬
schluss der Gallenwege verursachte, entstehen kann. Und wenn zur
Vertheidigung für den Glauben an einen Gastroduodenalkatarrh
Ogston’s 1 ) Fall angeführt wird, wo sich bei der Section eines an
Chloralgebrauch gewöhnten Individuums eine hämorrhagische Gastritis
sammt Fettdegeneration der Leber und Nieren fanden, so kann man
dem chronischen Chloralgebrauch diese hämorrhagische Gastritis nicht
ohne weiteres zuschreiben, da der Betreffende plötzlich gestorben
war, nachdem er ohne die Verordnung des Arztes eine Dosis Chloral
1) A case of poisoning by chloralhydrate, introducing a now fest,
med. Journ. 1878, Octbr. p. 289.
Digitized by
Gck igle
19*
Edinb.
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
282
Dr. Geill,
„unbekannter“ Grösse eingenommen hatte. Lewin’s Theorie von
einem durch chronischen Chloralgebrauch verursachten Gastro-duodc-
nalkatarrh und einem dadurch bewirkten Icterus, als Resultat
der direct reizenden Wirkung des Chlorals auf die Schleimhaut,
scheint daher absolut unhaltbar. Ansprechender ist Arndt’s Theorie
von der indirecten Wirkung des Chlorals auf die betreffenden Schleim¬
häute durch eine Vasoparalyse. Wenn man aber auch die in seinem
zweiten Falle nachgewiesene heftige Gastritis als absolut abhängig
von dem eingenommenen Chloral anerkennt, so ist doch die überaus
geringe vasomotorische Widerstandskraft der Paralytiker und ihr
grosser Hang zu trophischen Leiden zu bedenken. Da ausgebreiteter
gangränöser Decubitus während des Chloralgebrauchs oder sogar ohne
denselben sich beinahe im Verlaufe einiger Stunden bei Paralytikern
entwickeln kann, ist eine dem Hautleiden und der Affection der
sichtbaren Schleimhäute entsprechende Läsion der Schleimhaut des
Magens und des Darmes sowie auch der andern Schleimhäute durch¬
aus plausibel. Die in unserm Falle gefundene ausgebildete Vesikel¬
bildung der Urinwege muss man wohl der gleichen Ursache zu¬
schreiben. Ferner muss man sagen, dass, da die Section in Arndt’s
ersten Falle fehlt, die Abhängigkeit des hier gefundenen Icterus von
einem Duodenalkatarrh in jedem Falle nicht bewiesen ist. Arndt’s
Hypothese der Pathogenese des Icterus bei der chronischen Chloral-
vergiftung ist danach ebenso wie Lewin’s unsicher, zumal wenn
man berücksichtigt, dass sich in den zwei einzigen Fällen von Icterus
durch Chloralgebrauch, wo eine Section stattfand (Pelm an’s Fall
und unserem) gar kein Anhaltspunkt für die Annahme eines Ueber-
gangs der Galle ins Blut wegen eines mechanischen Verschlusses der
Einmündung des Gallengangs in den Darm fand. 1 )
1) Es lässt sich überhaupt nicht bezweifeln, dass man bei Intoxikationen zu
geneigt ist einem vermutheten Darmkatarrh mit mechanischem Verschluss des
Gallenganges Bedeutung für die Entstehung von Icterus beizulegen. Ich möchte
z. B. darauf aufmerksam machen, dass man nie Icterus durch Vergiftung per os
mit Karbolsäure gesehen hat, deren Fähigkeit zur Verursachung heftiger katar¬
rhalischer Entzündung des Duodenum unbestritten ist, während 3 Fälle von
Icterus bei Vergiftung mit Karbolsäure vorliegen, durch die Einführung des
Gifts von anderen Wegen als dem des Digestionkanals verursacht. Dass der
Icterus in zwei dieser Fälle (v. Sydow, Brunn) nach dem Verband der Nabel¬
gegendneugeborener Kinder mit Karbolöl, beziehungsweise Karbolsäure, im dritten
(Ozennc) nach der Injektion einer Carbollösung von 5pCt. in einen Congestions-
abscess des Beckens entstanden war, leitet darauf, dass Icterus durch die directe Ein-
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Kin seltener Fall von chronischer Chloralvcrgiflung.
283
Man kann auch nicht sagen, dass Pelm an’s Theorie der Ent¬
stehung von Icterus durch eine von dem Chloral verursachte primäre
Blutdissolution bewiesen ist. Kirn 1 ) meint zwar auch dem Chloral
die Fähigkeit „eine entschiedene Alteration der Blutmischung zu be¬
wirken“ beilegen zu müssen und führt — wie Pelm an — zur Stütze
dieser Annahme die Fähigkeit des Chloral Petechien, und bei lange
dauerndem Gebrauch Marasmus zu verursachen an. Einwenden muss
man jedoch, dass die Petechien, die das gewöhnliche papulöse Chlo¬
ralexanthem begleiten können und die zuerst von Crichton Browne 2 )
und Monckton 3 ) beschrieben, später aber als ein ziemlich häufiges
Phänomen der chronischen Chloralvergiftung erkannt worden sind,
ebenso wenig wie die von Anderen beobachteten Transudate in die
serösen Höhlen, die Excoriationen der Mundschleimhaut und die
starke Eczembildung der Haut mit nachfolgender Entwicklung von
Abcessen an den Extremitäten, — was Kirn in einem Falle sah
und als Beweis seiner und Pelm an’s Theorie anführt — absolut
eine Blutdissolution beweisen: Der Umstand, dass die Petechien
immer die Begleiter eines nicht hämorrhagischen Chloralexanthems sind,
scheint vielmehr zu dem Glauben zu berechtigen, dass auch die Pe¬
techien ihre Ursache in einer durch die Einwirkung des Chloral auf
das vasomotorische Centrum bewirkten Gefässparalyse haben und durch
ein Bersten der Gefässwand entstehen, aber nicht von einer krank¬
haften Veränderung in der Zusammensetzung des Bluts bedingt sind.
Die Oedeme und die übrigen serösen Ausschwitzungen lassen sich
durch die Fähigkeit des Chloral, Herzschwäche zu verursachen, er¬
klären; und die cczematösen und ulcerativen Processe der Haut und
der Schleimhäute muss man so wie die von Kirn beobachte Abscess-
bildung sicher betrachten als sekundär entstanden durch von aussen
einwirkende Schädlichkeiten (Infection), die sich an die nervös be¬
dingte primäre Hauteruption angeschlossen haben. Sollte man sich
unbedingt an Pelman’s und Kirn’s Theorie von der directen Wir-
wirkung des Gifts auf die Leber bei seiner Absorption durch die Pfortaderzweige
verursacht sein kann. (cfr. Christian Geill, Kliniskc Studier over den akutter
Karbolsyreforgiftning. 1887. p. 135.)
1) Ueber chronische Intoxication durch Chloralhydrat. Allg. Zeitschr. f.
Psych. Bd. 29. S. 323. 1873.
2) Chloralhydrate, its inconveniences and dangers. Lancet 1871. Vol. I.
p. 440.
3) Lancet. 1871.
Digitized by
Gck gle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
284
Dr. GeiII,
kung des Chlorals auf das Blut anscldicssen, so müssten jedenfalls
mehr Stützpunkte als die von den Verfassern angeführten vorliegen,
spec.iell Blut- und Urinuntersuchungen; solche finden sich aber nicht.
Insofern hat Lcwin Recht, wenn er schreibt. 1 ) „Die angenommene
Blutdissolution ist nicht nachgewiesen worden und die in einem
solchen Fall aufgefundenen Ecchymoscn in allen serösen Häuten und
die hämorrhagische Pachymeningitis lassen noch eine andere Deutung
zu. u Dass das Chloral indessen im Stande ist —- wenn nicht pri¬
mär, so doch secundär — auf das Blut einzuwirken, scheint unser
Fall zu zeigen, obgleich sich in der Literatur nichts Entsprechendes
findet. Im ganzen sind die darin vorliegenden Berichte über den bei
chronischer Chloralvergiftung nachgewiesenen Obductionsfund so un¬
vollständig und wenig detaillirt, und die angegebenen Veränderungen
selbst so unbestimmt, dass sich auf diese weder eine Theorie von
der Pathogenese der chronischen Chloralvergiftung im Allgemeinen,
noch von der des selten Vorgefundenen Icterus insbesondere konstru-
iren lässt. In unserm Falle muss man ohne Zweifel den Uebergang
des Gallenfarbstoffs ins Blut und den dadurch verursachten starken
Icterus der Vorgefundenen heftigen akuten Degeneration der Leber
zuschreiben, und wenn man mit Robert daran festhält, dass die
wichtigste Umbildung des Chlorals innerhalb des Organismus in der
Leber vorgeht, scheint es natürlich anzunehmen, dass die gefundene
Degeneration, die nicht — jedenfalls nicht allein — von der wahr¬
scheinlich durch das Chloral verursachten gleichzeitigen Cyanose
stammen konnte, durch die direkte Wirkung des Gifts auf die Leber¬
zellen primär verursacht ist.
Etwas der in unscrin Fall gefundenen Leberdegeneration Ent¬
sprechendes liegt noch nicht in der Literatur vor. Robert 2 ) giebt
zwar im Allgemeinen an, dass degencrativc anatomische Verände¬
rungen der Leber, sowie auch des Herzens und der Nieren bei der
subacutcn und chronischen Chloralvergiftung selten fehlen, hat aber
nichts Näheres darüber angegeben. Ausser Ogston’s Fall (ohne
Icterus), wo bei der Section Fettdegeneration der Leber nachgewiesen
wurde und Pelman’s Fall (mit Icterus), wo die Leber sich fest,
trocken, wenig blutreich, beinahe lederartig hart, aber nicht gelb und
1) Nebenwirkungen. S. 1(>6.
2) Lehrbuch der Intoxicationen. Stuttgart 1893. S. 587.
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Ein seltener Fall von chronischer Chloralvergiftung.
285
ohne Gallenpunkte fand, giebt es nur eine Mittheilung von Leber-
affection durch chronische Chloralvergiftung von Gellhorn 1 ).
Dieser fand (Fall 12) bei einer 46jährigen Maniaca, die vom Nov. 1869 bis
ein paar Monate vor ihrem Tode (4. April 1871) jeden Abend 4—7 g Choral be¬
kommen hatte, und die Marasmus mit Darchfall, Oedem der Füsse etc. und zu¬
letzt Ascites bekam, bei der Section ausser seröser Flüssigkeit in Pleura, Peri-
kardium und Peritoneum zugleich, dass die Leber klein, fest, von gelblicher Farbe
war, mit beinahe vollständigem Verschwinden der acinösen Zeichnung. Ferner
(Fall 13), bei einen 58jährigen Mann (vielleicht Potator) mit Demenz und Ver¬
wirrtheit, der vom Okt. 1870 bis zu seinem Tode (18. Sept. 1871) jeden Abend
erst 4 später 3 g Chloral bekam, und der an Lungenoedem mit häufigem Durch¬
fall starb, bei der Section die Leber kaum vergrössert, Parenchym bleich, von
gelblicher Farbe (Fettleber), Gallenblase leer; das Parenchym der Nieren war
blass und gelb, fettdegenerirt. Die in beiden Fällen gefundene Fettdegeneration
der Leber, die im ersteren Falle von Loberatrophie begleitet war, meint Gell¬
horn dem Chloral zuschreiben zu müssen, was ja vielleicht auch berechtigt ist.
Später hat Gellhorn 2 ) überdies einen Fall mitgetheilt (Fall 5), wo ein ziem¬
lich debiles, weibliches Individuum mit tabetischer Dementia paralytica, das von
Jugend an an Necrose der Ulna litt, nachdem sie einen Monat jeden Abend 2 bis
3 g Chloral gebraucht hatte, ein scarlatinöses Exanthem sammt allgemeinem
Anasarca bekam, das jedoch besonders die Schenkel betraf, die erythematös roth
waren. Dies schwand schnell unter starker Abschuppung, als der Chloral aus-
gesetzt wurde. Nach 14 Tagen fing sie wieder mit Chloral an und bekam nach
dem Gebrauch von 4 Tagen wieder Exanthem und Oedem, die schnell nach dem
Aufhören des Chlorais schwanden. Das dritte Mal erschien ein Exanthem nach
2 Mal 2 g Chloral mit Zwischenräumen von anderhalb Stunden. Endlich erschien,
als sie drei Abende nach einander 2 g Chloral bekommen hatte, das vierte Mal
ein Exanthem, das mit Petechien stark gemischt, ausser Oedem von starkem
Durchfall begleitet war, und nach dem Verlaufe von 8 Tagen mit dem Tode
endigte. Die Obduction zeigte Anasarca und Ascites, Ecchymosen unter dem
Ependym der Gehimventrikel und in der Magenschleimhaut, Hyperämie und
Schwellung der Schleimhaut im Dickdarme. Die Klappen im 1. Herzen waren
verdickt; die Aorta stark atheromatös degenerirt, die Leber in allen Dimen¬
sionen verkleinert, aber mit ziemlich deutlich acinöser Zeichnung. Stein in der
Gallenblase.
Gellhorn’s Fälle stammen jedoch aus den ersten Jahren des
Chloral, wo man es in weit grösseren Dosen und rücksichtsloser durch
lange Zeiten gebrauchte, ohne das somatische Befinden der betreffen¬
den Patienten besonders zu berücksichtigen oder wenigstens ohne
rechten Glauben daran, dass das Chloral im Stande sei, Störungen in
1) Beobachtungen über Chloralhydrat. Allgem. Zeitschr. f. Psych. Bd. 28.
S. 625. 1872.
2) Ueber Hautexanthem nach dem Gebrauch von Chloralhydrat. Allgem.
Zeitschr. f. Psych. Bd. 29. S. 428. 1873.
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
28(> Dr. Gei 11, Ein seltener Fall von chronischer Chloralvergiftung.
diesem zu bewirken. So wird es wahrscheinlich schwierig sein, jetzt
analoge Fälle zu finden, nachdem es schon längst klar geworden ist,
dass das Chloral kein ganz ungefährliches Hypnoticum ist. Wenn
man Gellhorn’s Fälle mit Ogston’s zusammenhält, bei denen die
Aetiologie übrigens etwas dunkel ist, darf man die Fähigkeit des
Chloral, während längeren Gebrauches Fettdegeneration der Leber und
Nieren zu verursachen, jedenfalls nicht absolut leugnen. Die Wirkung
des Chloral auf das Blut wird dann aber auch hier verschieden von
der Blutdissolution, die Pelm an behauptet, und der „entschiedenen
Alteration der Blutmischung“, an die Kirn glaubt.
Ueberdies scheint es aus den in der Literatur vorliegenden
Fällen chronischer Chloralvergiftung hervorzugehen, dass so wenig wie
ein hier entstandener Icterus immer von Exanthem begleitet wird,
ebenso wenig man eine Leberaffection nachweisen kann — oder je¬
denfalls nachgewiesen hat — w r o Icterus erscheint. Und bei den
durch die Obduction sichcrgestelltcn Fällen von Leberaffection ist
nicht immer bei Lebzeiten Icterus da gewesen. Bei den best unter¬
suchten Fällen hat es sich aber hier um Fettdegeneration der Leber
gehandelt, einen Prozess, der ja von dem in unserm Falle nachgc-
wiesenen starken Dcgencrationsprocess weit verschieden ist. Zur
Deutung der Leberaffection in unserem Falle giebt darum, was Gell¬
horn und die andern Verfasser gefunden haben, keine Hilfe. Und
vorläufig kann man nur auf die Möglichkeit hinweisen, dass der
Icterus, welcher durch die chronische Chloralvergiftung verursacht ist,
jedenfalls von einer acuten Leberdegeneration resultiren kann. Es
sind dann das Erscheinen des Exanthems und die Entstehung des
Icterus in unserm Falle von zwei verschiedenen Wirkungsarten des
Chloral verursacht: die erstere ist die gewöhnliche vasoparalytische
Wirkung des Chloral, die letztere eine selten auftretende Fähigkeit —
vielleicht unter Mitwirkung einer präexistirenden oder durch die va-
soparalytische Wirkung des Chloral entstandenen Cyanose — direct
auf die Leber einzuwirken und, durch eine Verwüstung des Leber¬
gewebes, das Blut mit Gallenbestandtheilen zu überfüllen.
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSITÄT OF IOWA
9.
Ueber die Ycrtheilimg einiger Gifte im
menschlichen Körper.
Von
Professor A. Lesser in Breslau.
Während die Literatur in Bezug auf die Symptomatologie und
die anatomischen Veränderungen der menschlichen Vergiftungen eine
ausserordentlich umfangreiche ist, liegt meines Erachtens ein einiger-
massen genügendes Material über die Ergebnisse der chemischen
Untersuchungen dieser nicht vor. Ein nicht unerheblicher Theil des
letzteren rührt zudem von Beobachtern her, die diesen Zweig der
Chemie nur gelegentlich und ausnahmsweise traktirt haben, ein an¬
derer Theil betrifft in anamnestischer oder klinischer oder — so weit
dies von Bedeutung — in anatomischer Beziehung mehr oder minder
unaufgeklärte Beobachtungen, eine dritte Serie umfasst nur Raritäten,
in einer vierten Gruppe ist die Zusammensetzung der analysirten
Objecte eine wenig glückliche gewesen etc. etc., so dass die Ver¬
wendbarkeit der Erfahrungen bei Beurtheilung eines gerichtlichen
Einzelfalles nicht selten eine zu beschränkte oder gar gleich Null ist.
Seit Längerem habe ich die Ergebnisse der chemischen Unter¬
suchungen der in meinen Beobachtungskreis gefallenen (mensch¬
lichen) Intoxicationen gesammelt. Herr Dr. C. Bischoff-Berlin hat
die grosse Güte gehabt, eine beträchtliche Anzahl derartiger Analysen
auch privatim, d. h. ohne Auftrag der Kgl. Gerichtsbehörden, auf
meine Bitte auszuführen; durch seine Freundlichkeit wie durch die
des Herrn Dr. B. Fisch er-Breslau ist es mir ferner ermöglicht
worden, Kenntniss einer nicht ganz kleinen Zahl von Vergiftungen zu
erhalten, die in anderen Bezirken als in Berlin oder Breslau auf Ver¬
anlassung der Kgl. Staatsanwaltschaften untersucht und in Betreff der
anamnestischen etc. Daten so vollständig geklärt worden waren, dass
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITÄT OF IOWA
288
Prof. besser,
es anging, sie mit den brauchbaren Beobachtungen eigener Erfah¬
rung in Beziehung zu setzen; die Kgl. Staatsanwaltschaften haben
mir auf mein Ersuchen mit der grössten Bereitwilligkeit die betreffen¬
den Acten übermittelt, die zuständigen Herren Collegen 1 ) mit nicht
geringerer Liebenswürdigkeit die Publikationsbefugniss ertheilt; etwa
ein Drittel des Materials ist mir so zugänglich geworden. — Ich
gestatte mir auch hier für diese Unterstützung meiner Bestrebungen
den verbindlichsten Dank auszusprechen.
231 Beobachtungen liegen dem Folgenden zu Grunde:
Es gehören zur Lehre von der Vergiftung
mit Arsenik.Fall 1— 48 (Fall 49 ist
. eine Arsen Wasserstoffvergiftung),
n
v
n
n
n
n
n
Alkohol.
7)
50— 83
Opium und der mit Morphium . .
7)
84—105
Phosphor . .
n
106—122
Strychnin .
7)
123—136
Carbolsäure.
7)
137—149
chlorsaurem Kalium.
7 )
150—161
Cyankalium und der mit Blausäure
7?
162—171 (172 und 173
sind Intoxicationen mit blausäurehaltigem Bittermandelöl, 174
ist eine Nitrobenzol-Vergiftung),
1) Es sind dies die Herren Adamkiewitsch-Rawitsch, Behrend-Sagan,
Behren d e s - Friedeberg, Beyer-Lübben, Bleyer-Elbing, Bl ei sch-Strehlen,
Bittner-Stargardi.P., Böhm-Magdeburg, Bricdenhahn-Ballenstädt, Casper-
Greiffenberg, Comnik-Striegau, Davidsohn-Spremberg, Deutschheim-Herz-
berg, Falk-Berlin, Freyer-Stettin, Friedländer-Lublinitz, Gerlach-Cüstrin,
Gottwalt-Torgau, Grosser-Neumarkt, Grossmann-Freienwalde, Hcer-Beu-
then, Heyse-Rathenow, Hoffmann-Glogau, Jaenicke-Templin, Kraft-Rum¬
melsburg, Kutzner-Thorn, Lewicke-Stuhm, Liedtke-Neustettin, Lindner-
Angcrmündc, Litterski-Wirsitz, Loewenhardt-Crossen, Loewy-Guben, Lud¬
wig- Ilabelschwerdt, Meissner-Strassburg W. P., Moritz-Schlochau, Mulert-
Stolp, Neumann-Glogau, Nöldechon-Lauban, Noetzel-Colberg, Otto-Neu-
rode, Ortmann-Rybnik, Peters-Angerburg, Philipp-Kyritz, Priester-Tuchel,
Ratzel-Arnswalde, Rothe-Gurau, Rothschild-Drossen, Siehe-Calau, Si¬
mon-Quedlinburg, Schirm er-Grünberg, Schlockow-Breslau, Schmandt-
Guhrau, Schultze-Stettin,Tessmar-Conitz,Tellke-Züllichow, Weissenborn-
Zielenzig, Wiedemann-Neuruppin, Wilde-Deutsch-Krone, Winkler-Luckau,
Wolff-Berlin, Wolf-Arnswalde, Wolff-Löbau. (Die Zahl der von mir durch¬
gesehenen Akten dürfte sich auf ca. 600 belaufen: im Durchschnitt war eine von
drei Beobachtungen verwendbar. — Einen kleinen Theil der Fälle habe ich be¬
reits in meinem „Atlas der gerichtlichen Medicin“ veröffentlicht.)
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
lieber die Verthcilung einiger Gifte im menschlichen Körper.
289
mit Chloroform.Fall 175—186 (185b ist ein
Todesfall in oder nach Bromäthylnarcose),
„ Zuckersäure bezw. Kleesalz . . . Fall 187—196
„ Schwefelsäure.„ 197—209
„ Salzsäure.. 210—213
„ salpetriger Säure.„ 214
„ Natronlauge.„ 215—216
„ Ammoniak. «217 (218 betrifft
einen auffallend grossen Ammoniak-Befund in Folge von Fäulniss),
„ Sublimat.Fall 219—220
„ Blei.„ 221—222
„ Pilzen.„ 223 - 224
Ausserdem werde ich je einen Fall von Vergiftung mit Anti¬
mon, Salpeter und Rhodankalium, Wasserschierling, Datura Strammonii,
Nicotin, Petroleum bringen.
Trotz seines Umfanges regt dieses Material mehr Fragen an,
als es löst: Fragen, die zum Theil und zwar unschwer auf experi¬
mentellem Wege, zum anderen Theil durch weitere Beobachtungen
und Untersuchungen menschlicher Vergiftungen ihrer Entscheidung zu¬
zuführen sind. Da ich aber zur Zeit nicht in der Lage bin, derartige
Versuche anzustellen, da ferner das von mir Gesammelte schon jetzt
nicht leicht zu üborblicken ist, so halte ich es für zweckmässig,
seine Veröffentlichung nicht weiter hinauszuschieben.
Ich bin auf das Aeusscrste bemüht gewesen, die Darstellung der
Beobachtungen möglichst kurz zu fassen; sic nimmt trotzdem einen
so grossen Raum ein, dass ich erst später die Erfahrungen An¬
derer mit dem von mir Beigebrachten vergleichen werde.
Herr Dr. C. Bischoff-Berlin und Herr Dr. B. Fischer-Breslau
haben mir zugesagt, über die von ihnen befolgten Methoden der Ana¬
lyse in dieser Zeitschrift zu berichten, so dass ich mich vollständig
auf das Medicinisch-Interessante beschränken kann. 1 )
Es erscheint mir sehr wünschenswerth, dass fernere Sammel¬
forschungen ähnlicher Art ein zureichenderes Material zur Verfügung
stellen, damit wir wenigstens für die im Körper nicht zersetzlichen Gifte
1) Die von Herrn Dr. C. Bisch off ausgeführten Analysen sind in den Ta¬
bellen dadurch gekennzeichnet, dass unter die fortlaufende No. ein B. gesetzt
ist; die Untersuchungen des Herrn Dr. B. Fischer weisen an der nämlichen
Stelle ein F. auf; die Namen der andern Herren Chemiker haben am analogen
Ort ihren Platz erhalten.
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
290
Prof. Besser,
eine gesicherte Anschauung über ihre Vertheilung in den verschiedenen
Organen je nach der Länge der Intoxicationen etc. gewinnen. Ich halte
es für sehr wohl möglich, dass sich alsdann eine Tabelle aufstellen lässt.,
deren Zahlen mitverwerthbar sind für die Entscheidung der in so man¬
chen Giftmordfällen wesentlichen Frage: zu welcher Zeit ist die Noxe
eingeführt worden?, trotzdem ja der Giftgehalt der Organe in Moment
des Todes nicht stets dem gleich zu erachten sein wird, den der Ana¬
lytiker ermittelt. Leider fehlen quantitative Feststellungen über die
Wirkungen der postmortalen Giftdiffusion vom Orte der Einführung aus 1 )
noch vollständig. Es ist ferner nicht ausser Erwägung zu lassen, dass
abgesehen von jener noch andere Momente und zwar vornehmlich in
späterer Zeit nach dem Ableben nicht nur den absoluten, sondern
auch den relativen Giftgehalt der Organe verändern (z. B. colliquative
Processe, Eintrocknung etc.): Modificationcn, deren Grenzwerthe eben¬
falls noch vollkommen unbekannt sind.
Am Brauchbarsten sind Untersuchungen, die jedes der Organe
bezw. jedes zusammengehörende Paar derselben gesonderten Analysen
unterzogen haben; leider stellen sich diesem Vorgehen in der Mehr¬
zahl der Fälle unüberwindliche Schwierigkeiten seitens der Chemiker
und mitunter auch seitens der Gerichte entgegen. Unter den gegebenen
Verhältnissen erscheint cs mir am Zweckmässigsten, I. den Verdauungs-
Kanal und seinen Inhalt (reichliche Kothmassen machen die Asservirung
des Dickdarms und seines Inhalts in einem zweiten Gefässe wünschens¬
wert!^, II. die Leber, 111. die Nieren, IV. Blut aus dem Herzen und
den grossen Rumpfgefässcn getrennt dem Chemiker zuzusenden; in
manchen Fällen empfiehlt sich -- siehe später — auch die Asservi¬
rung des Hirns. V. ist Urin, wenn möglich, zu untersuchen. Be¬
liebig kleine Stücke der Organe, wie das so oft geschieht, dem Ana¬
lytiker zu überweisen, ist verfehlt.
Nicht selten gelangen die Leichentheile erst viele Tage oder gar
Wochen nach der Section in das chemische Laboratorium; es ist, um
dies zu vermeiden, genügend, aber auch in jedem Einzelfalle geboten,
am Schlüsse des Sectionsprotokolls auf die störenden Wirkungen der
Fäulniss aufmerksam zu machen und zu beantragen, dass die Asser¬
vate schleunigst an den Analytiker gesandt werden mögen.
Dass ich die im Preussischen Regulativ von 1875 vorgeschrie-
1) Auch Fr. Strassmann und A. Kirstein, Virchow’s Archiv. Bd. 136.
S. 127, und A. Haberda und A. Wachholz, Zeitschr. f. Medic.-Beamte. 1893.
S. 393, haben hierauf ihre Untersuchungen nicht ausgedehnt.
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
Uober die Veitheilung einiger Gifte im menschlichen Körper. 2‘Jl
bene Scctions - Methode bei Verdacht auf Vergiftung nicht für die
beste halte, habe ich schon 1883 in dem I. Theile meines „Atlas
der gerichtlichen Medicin“ ausgeführt. Nach jener Bestimmung geht
es nicht an, die etwaigen Läsionen des Verdauungskanals in mög¬
lichster Continuität zu überblicken, nach ihr kann man sich nicht,
über das Verhalten des Endtheils des Gallenganges orientiren, es ist
unstatthaft, den Mageninhalt vor der Herausnahme des Organs in Sicher¬
heit zu bringen, eine Vorsicht, die nicht selten durch die Zerreisslich-
keit der Wand geboten ist. Die zuerst ausgeführte Bauchsection lässt
häufig so viel Blut in die Leiche fliessen, dass es nicht möglich ist,
die zur chemischen Analyse erforderliche Menge rein aufzufangen; die
Herausnahme der Bauchorgane fällt endlich vielen Sccirenden vor der
Entfernung der Lungen und des Herzens erheblich schwerer, wie nach
jener, so dass der Inhalt des Verdauungskanals gefährdeter ist, als in
der That nothwendig.
Handelt es sich um eine frische Leiche, so ist es meines Er¬
achtens zweckmässig mit der Section der Brusthöhle zu beginnen;
ist die Magenwand erweicht, so empfehle ich nach Eröffnung des
Rumpfes den Inhalt des Magens und des Zwölffingerdarms durch
einen Einschnitt an der grossen Krümmung aufzufangen, nachdem das
Duodenum im oberen Dritttheil doppelt unterbunden, und die Section
der Brusthöhle der des Bauches voranzuschicken. Ist der Magenin¬
halt ganz oder zum Theil schon in den Peritonealsack geflossen, so
ist natürlich seine Asservirung das Erste, was nach Durchtrennung
der Bauchdecken vorzunehmen ist. — Das Gallengangende kann man
untersuchen, nachdem ev. der Inhalt der Pars descendens duodeni durch
sanftes Streichen in das untere Dritttheil desselben geschoben und
dies durch Ligatur nach oben abgeschlossen worden ist.
Bei Sectionen (vermuthlich) Vergifteter ist die Anwendung von
Wasser im Interesse der chemischen Untersuchung möglichst zu ver¬
meiden. Man kann fast stets trocken seciren, wenn man mit Sorg¬
falt und Vorsicht die für die anatomische Diagnose wichtigen Flächen
sei es mittelst der Finger, sei es mit der Schneide des Messers von den
ihnen anhaftenden Flüssigkeiten befreit; es sind so fast immer
sämmtliche Veränderungen der Gewebe zur Anschauung zu bringen.
Auf diese Weise ist es allein zu erreichen, dass möglichst wenig von dem
in den Leichentheilen enthaltenen Gift verloren geht, dass ferner dasselbe
in dem nämlichen Aggregatzustande in die Hand des Chemikers ge¬
langt, in dem es post mortem in den Organen vorhanden war.
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
292
Prof. besser,
Die Praxis lässt mich endlich noch darauf hinweisen, dass es
rationell ist, jedes Organ nach seiner Betrachtung sofort in das be¬
treffende Glas zu legen, so dass eine Berührung mit nicht in dem näm-
1. Zur Lehre Yon der
Die Zahlen in der linken Hälfte der Vierecke geben die Gewichtsmengen
* » » » rechten „ „ „ „ * Quantitäten der
„ „ „ „ Mitte unten den Arsenikgehalt in 100 Grammen des
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UMIVERSITY OF IOWA
Ucber die Verkeilung einiger Gifte irn menschlichen Körper.
liehen öefässe zu asservirenden Thcilcn ausgeschlossen wird; dass die
Unterlage, auf welcher die Organe aufgeschnitten werden, nach der
Durchforschung jedes einzelnen exact zu reinigen ist, dürfte auch nicht
allerseits stets beobachtet sein.
Arsenik-Vergiftung.
der untersuchten Organe bezw. der Organtheile in Grammen an,
gefundenen arsenigen Säure in Milligrammen,
Organs oder der Organtheile in Milligrammen.
Gebär¬
4
P
Gehirn.
mutter.
li S
einmalige Einführung von Arsenik.
630 1,28 2fiO 8,06
0,803 1,53
1115 11,4
1,022
Gesäss-
UDer-
Darm und
schenkel-
'2 s ^ »5
muskeln.
knochen.
•1 §3 Scnö
Inhalt.
15 Spur
r 350 297,0
430 2,17 360 1,48 550 1202,8 1616 163,2
0,504 I 0,443
Knochen v.
Hand und
Fuss und
Kopfhaare:
I Spur.
213 5,4 562 4,2 467 1538,8 1102 216,1
2,535 0,747
"339^284,0
1300 keine
Spur
380 334,0
160 30,0
780 224,9
600 310,8 1100 23,5
600 9,42
165 7,82
460 23,0
388 ^ 1 ^ 50 '
Digitized fr,
Google
380 0,272
-{-Milz
Original from
UNiVERSITY OF IOWA
254
Geschlecht.
Alter.
1
Tod nach
Mäd¬
chen
5 '/ 2 J-
14 St.
Frau
40 J.
14 St.
Mäd¬
chen
2 »/ 4 J.
14 St.
Mann
36 J.
12—16
St.
do.
32 J.
17 St.
Frau
21 J.
18 St.
Mann
25 J.
18 St.
do.
c, 70 J.
c. 18 St.
Mäd¬
chen
22 J.
18V,
St.
Mann
50 J.
1872
St.
Frau
34 J.
20 St.
Mann
59 J.
20—21
St.
do.
36 J.
24 St.
do.
50 J.
38 St.
Frau
46 J.
42 St.
Mann
37 J.
24—48
St.
Leber. Nieren. ' Milz. Herz.
Blut aus
dem Lungen.
Herzen.
ISO Spur
769 54,6
7,3
87^1,96
6,8
403 V 5,2
AS 2 O 3
3,0
CuO
1,3
4,81135 4,94
1240
3,512 | 4,285 | 3,659 | 0,825 | 2,070 0,455
240 10,14
4,23
375 15,1
4,03
17 (eingetrocknet) ca. 0,941
5,318 16,22 16,38 9,252 14,84
170 Spur
147^22,7
490 11,13
2,271
4,374 1,686 10,61 1,317 2,271
32 21,2 264 3,83 77 0,89 298 2,67 120 0,49 480 2
2,896 1,450 1,155 0,895 0,408 0,462
67 deutl. Spuren
27tT'“"£Ö
In Baucheingeweidcn
570 98,8
Digitized b',
Google
Original from
UNIVERSI1T OF IOWA
Ueber die Vertheilung einiger Gifte im menschlichen Körper.
295
Gehirn.
Gebär¬
mutter.
565 1,98
0,850
XI
O
5 <iT •
« 3-g
■4J :cä
■sa 2
o
P
Galle.
Urin.
Gesäss-
muskeln.
Ober¬
schenkel¬
knochen.
<D :o
»H Je
jq pg
so N
Ö fl
• 2 b£
® rt
CO ^
§75
o3 *G
-T3 G
u '
O)
b0T3
P fl
«G P
Darm und
Inhalt.
V, Monat.
672 Spur
[580 0,99
0,18
675 1,23
0,197
+ Haare
und Haut
580 deutl.
Spur.
365 20,8
5,698
265 23,0
8,679
275 2
rfl
ü
53
10,0 0,82
3,2
eingc- 3,83
trock¬
net
Brust¬
muskeln
327 0,99
0,302
Gcsiiss-
muskeln
310 4,9
1,58
Brust¬
muskel
188 624,0
0,659
840 11,27
1,341
Vierteljsbrsschr. f. ger. Ued. Dritte Folge. XIV. Si.
964 865,6
As 2 0 3
3S4,6CuO
1447 482,0
430 168,7
+ Theil
Dünndarm
445 583,8
99 c.0,894
einge-
trockn.
715 916,5
320 173,7
129 117,7
540 677,6
93,0
603 120,3
390 266,0
1778 111,2
1255 179,7
1060 36,6
712 23,0
20
Digitized by
Go«. igle
Original from
UMIVERSITY OF IOWA
296
Prof. Lesser,
Blut aus
Nieren.
Milz.
Herz.
dem
Herzen.
31. Knabe 10 J. 48 St. 6 Tag. I + Haut deutliche Spuren
32. Frau 30—35 c.50St.
B. J.
33. do. 30 J. G2 St.
99
13 „ 295 3,22
2 „ 100 Spu- 100 Nichts 100 Spur 100 Nichts
ren
100 Nichts
34. Knabe 13Mon. 3—4T.
B.
35. Mäd- 4 J. 90 St.
B. chen
335 0,075 AS 2 O 3
1,0 CuO
516 1,2 62,5 2,9 21,5 1,4152,7 1,2 57,3 0,71136 6,2
0,232 4,64 6,511 | 2,77 1,876 | 4,551
I b. Tödtlichc Vergiftung durch
Frau
37 j.
2 V* Tg.
11 Tag.
do.
60 J.
6-7 „
6 „
Mann
46 J.
8-9 „
3 „
do.
38 J.
4 Weh.
3 V 2
Monat
Mann
40 J.
5 Tag.
2 Tag.
| Mann
40 J.
1 Tag |
Mann
46 J.
11 Tag.
2 Tag.
160 Spuren
"siT^ 123'~
4q _
6,r "~
l, J __
20,2 ~
8,2
I c. Tod durch Delirium tremens
+ Theilen 414 Spuren
des Hirns
u. d. Dünn¬
darms
Id. Medicinale Verabreichung von Solutio Fowleri;
780 0,51225 Spur 190 Spur 335 Spur 220 Spur
0,064 I
Anhang: Arsenwasserstoff-
1223 16,0:212 0,27 107 0,661230 Spu- 63 0,34 420 0,2
1,308 0,127 0,617 ren 0,54 0,05
Digitized b',
Google
Original from
UNiVERSITY OF IOWA
Ueber die Vertheilung einiger Gifte im menschlichen Körper.
297
Gehirn.
100 Nichts
7 Nichts; Spuren
Theil des
Dünn¬
darms -(-
Inhalt
400 153,G 120 11.61
100 Nichts 100 Nichts 100 Nichts 100 Nichts
1072 4,2
0,391
mehrfache Ingestion von Arsenik.
12-15 Spur 5,5 1,1 70,5 1,0 326 1,5'139 4,01580 17,9
20,0 1,418 0,459 |
750 52,1
306 Spur. 30S Spur.
1190^294,6
einige Spu-
(jramm ren
Ul Spu-I
und Arsenik-Vergiftung.
1207 Nichts
zuletzt 4 Tage a. m.; Tod im paralytischen Anfall.
1070 Spu-| III I
1510 Spur|460 Spu-
Vergiftung.
944 0,51
0,054
56 0,4
0,714
357 0,27
0.076
Zwerchfell
98 1,1
1,11
1160 Nichtsl 1323 0,87
Digitized b',
Google
Original from
UNiVERSITY OF IOWA
298
Prof. Lesser,
Bemerkenswerthes aus dem Akteninhalt in Bezug auf die äusseren
Umstände der Fälle, ihre Krankheitsgeschichten, die Sections-
Ergebnisse etc.
Ia. Tödtlichc Vergiftung durch einmalige Ingestion
von Arsenik.
Fall 1. Selbstmord. In vollständiger Kleidung todt in seinem Bett ge¬
funden. Leiche zur Zeit der Section wenig faul; massig kräftiger Bau, mittlerer
Ernährungszustand.
Fall 2. Selbstmord. Etwa 1 Stunde nach Einführung des (pulverförmigen)
Giftes in leeren Magen Bauchschmerzen, — auf Milchgenuss — häufig wiederkeh¬
rende Entleerungen nach oben und nach unten. — Leiche zur Zeit der Section ganz
frisch. Mageninhalt ca. 200 ccm trüber, gelblicher, wässriger Flüssigkeit, Darm¬
inhalt ca. 100 ccm gleichen Materials, in beiden Arsenikkrystalle. Im Dickdarm
geringe Mengen Schleimes. Gastritis acuta catarrhalis haemorrhagica; Enteritis
acuta catarrhalis mit zahlreichen mucösen Blutungen im Duodenum. Schwache
parenchymatöse Nephritis.
Fall 3. Mord. Ein Stück Arsenik, so gross wie das Endglied des Mittel¬
fingers, geschabt, einem Wachholderbeeren-Aufguss zugesetzt, mit diesem ge¬
kocht. Einführung zur Vesperzeit, bald Eintritt des Durchfalls etc.-Sarg
gut erhalten, Kleidung zum Theil zerstört, durchweg verfärbt. Weichtheile des
Kopfes, des Halses, der Gliedmassen fehlen zum grossen Theile. Bauch- und
Brusthöhle eröffnet. Bauchorgane sind zu sondern. Theile der Weste und der
Hose — ursprünglich blaues Tuch — gelangten zur chemischen Untersuchung;
sie rochen kakodylähnlich, waren aber frei von Arsen. Ihr Kupfergehalt (in
32 ccm 0,0356 g CuO) stammt von der Färbung.
Fall 4. Zufällige Vergiftung durch mit Arsenik bestreutes Biscuit; Ein¬
führung des Giftes bald nach Mittagessen. Beginn des Erbrechens und des
Durchfalls binnen 1 / 2 Stunde. Anhalten der Entleerungen bis zum Tode. —
Leiche zur Zeit der Section frisch. Wenig kräftiger Bau, dürftiger Ernährungs¬
zustand. Im Magen ca. 300 ccm schmutzig röthlicher, trüber, dünnflüssiger
Masse, in welcher viel Schleim: Acute Gastritis catarrhalis, nur in 2, etwa
zweimarkstückgrossen Partien der Hinterwand nahe der kleinen Krümmung Gruppen
meist punktförmiger Blutaustritte. Im Dünndarm eine reichliche Menge trüben,
fast weisslichen, wässrigen Materials; Dickdarm fast leer. Acute Enteritis
katarrhalis. Im Magen eine grosse, im Darm eine sehr geringe Anzahl Arsenik-
Krystalle. Beginnende Nephritis parenchymatosa.
Fall 5. Mord. Anstatt Bittersalz Arsenik in Thee geschüttet. Beginn des
Erbrechens und des Durchfalls erst nach 3 Stunden; Anhalten desselben bis zum
Tode. Schmerzen auch in Extremitäten. Plötzlicher Tod. — Zur Zeit der Section
colliquative Fäulniss. Chronisches Magengeschwür. Auf Magenschleimhaut verein¬
zelte Oktaeder.
Fall 6. Selbstmord. Abends 9 Uhr — nach Abendbrot — Gift eingeführt;
in welcher Form, fraglich. — Leiche zur Zeit der Section recht faul. Schwäch¬
licher Bau, dürftiger Ernährungszustand.
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
Ueber die \ ertheilung einiger Gifte im menschlichen Körper.
290
Fall 7. Zufällige Vergiftung, Näheres unermitielt. Beim Zubettgehen gegen
8 Uhr Abends munter, wie stets, gegen 9V 2 erwacht, erbrochen, 3 mal Stuhl,
wieder cingeschlafen; gegen 1 Uhr von Neuem erwacht: Schwäche, Verdrehen
der Augen, krampfhafte Bewegungen mit den Händen; f. — Leiche frisch; kräf¬
tiger Bau, guter Ernährungszustand. Im Magen ca. 70 ccm schwach- hämorrha¬
gischer, schleimiger Masse, acuter Magenkatarrh. Im Darm wenig Schleim, ge¬
ringe Enteritis. — Ein 4jähriger Bruder erkrankte um die nämliche Zeit, wie
Denata, genas nach wiederholtem Erbrechen; auch der Knabe war anscheinend
gesund ins Bett gelegt worden und ebenfalls ruhig eingesehlafen.
Fall 8. Selbstvergiftung. Bald nach Einführung des Giftes Entleerungen.
-- Leiche zur Zeit der Section etwas faul. Im Magen ca. 500 ccm. braunröth-
licher, mit Kartoffelrestcn und Schleimflocken untermischter, wässriger Flüssig¬
keit; acute Gastritis katarrhalis; im Dünndarm reichliche Menge gelblichen,
massig-dünnflüssigen Materials, im Mastdarm bräunlicher Koth. Arsenik-Partikel
im Magen mit blossem Auge sichtbar. Gravidität im 5. Monat, Placenta und Ei¬
häute nicht abgelöst, IJterus-Mucosa intact.
Fall 9. Zufällige Vergiftung durch Genuss arsenikhaltigen Hammelfleisches
und daraus gekochter Bouillon. Eine Stunde nach Ingestion Beginn des Erbrechens
und des Durchfalls, die bis zum Tode andauerten. — Leiche zur Zeit der Section
frisch. Mässig kräftiger Bau, schlechter Ernährungszustand. Im Magen ca. 200ccm
trüber, gelbgrünlicher, wässriger Massen, in denen Speisereste und Schleim. Starke,
partiell haemorrhagische Gastritis katarrh. acuta mit schwachem Oedem der Sub-
mucosa. Im Dünndarm ca. 600 ccm eines ziemlich dünnflüssigen, haferschleim¬
artigen Inhalts. Schwellung der Mucosa nur in den oberen Abschnitten, daselbst
auch starke Fettfüllung der Zotten. Im Dickdarm wenige Cubikccntimoter
einer trüben, gelblichen, schleimigen Masse, Schleimhaut wenig geschwollen.
Nieren, Herz, Leber intact. — ln 40 g des qu. Fleisches 171,4 mg arseniger
Säure.
Fall 10. Zufällige Vergiftung. Pulverisirtcr Arsenik in Kartoffeln (Ratten¬
gift) eingeführt. Sehr bald Erbrechen; häufige Wiederkehr desselben. Antidotum
arsonicosum, Milch, Eis. — Leiche zur Zeit der Sektion ziemlich faul. Kräftiger
Bau, guter Ernährungszustand.
Fall 11. Zufällige Vergiftung durch Eierkuchen, dem anstatt Mehl 62 pCt.
Arsenik enthaltendes Kartoffelmehl zugesetzt worden. Sehr bald Erbrechen etc. —
Leiche frisch. Schwächlicher Bau, schlechter Ernährungszustand. Haemorrhag.
Gastritis, Enteritis katarrh.
Fall 12. Zufällige Vergiftung. Nach reichlicher Mahlzeit aus einer Brannt¬
wein und Fliegenstein enthaltenden Flasche mehrmals getrunken: „Es schmeckt“.
Nach ihm und durch sein Lob verleitet tranken mehrere Mitarbeiter von dem
qu. Material, aber geringe Mengen. Die Mitarbeiter erbrachen nach 5—10 Minuten
zum ersten Male, genasen. Denatus empfand erst nach mehrstündiger Ar¬
beit auf dem Felde Unwohlsein, ging nach Hause, legte sich; häufige Stuhl-
entleerungen, Leibschmerzen, angeblich kein Erbrechen. — Leiche zur Zeit der
Sektion ziemlich faul. Kräftiger Bau, guter Ernährungszustand. Fliegenstein¬
partikel von bis Hirsekorngrösse in grosser Zahl im Magen. Haemorrhagische
Gastritis acuta katarrh. — Im Bodensatz der qu. Flasche (nach Verlauf mehrerer
Wochen) neben Fliegenstein reichliche Menge arseniger Säure.
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Prof. Lesser,
300
Fall 13. Mordf?). Kräftig gebaut, gut genährt. — Leiche zur Zeit der Sec-
tion sehr faul. Im Magen 5—6 Esslöffel dicklichen, braunrothen Breies, eben¬
dasselbe Material in geringer Menge im Dünndarm. Anscheinend haemorrhagische
Affektion des Magens und des Darmes.
Fall 14. Mord. Arsenik zum Theil gelöst eingeführt. Sehr copiöse Ent¬
leerungen nach oben und nach unten. — Leiche zur Zeit der Section ziemlich
frisch. Mittlerer Ernährungszustand und massig kräftiger Bau.
Fall 15. Mord; in welcher Form Arsenik genommen, unaufgeklärt. —
Leiche zur Zeit der Section wenig faul. Mager, schwächlich gebaut.
Fall 16. Mord; Arsenik auf Schmalzschnitte verabfolgt; erstes Erbrechen
angeblich nach 4 Stunden. — Collicjnative Fäulniss. — Nach Einlegen des
Schwefelammonium- oder Schwefelwasserstoff- haltigen Magens in Alkohol —
es war Vergiftung mit Morphium vermuthet worden — löste sich der der Schleim¬
haut aufsitzende Arsenik, es entstanden (gelbe) Schwefelarsen-Flecken. Der
Mageninhalt war hellgelb, (f 10. VI. 86., sec. 28. VII. 86.)
Fall 17. Zufällige Vergiftung. Kind hatte unter den Schrank gestreutes Ratten¬
gift gegessen. Nach bald auftretendem Erbrechen mehrstündiger Schlaf, nach dem
Erwachen ziemlich munter, über Leibschmerzen geklagt, eine Tasse Kamillenthee
getrunken, wieder eingeschlafen, mehrfach erwacht, über Durst geklagt, Wasser
getrunken. Circa 1 Stunde vor Tod Kälte der Haut, dann Krämpfe und Exitus.
— Leiche ziemlich frisch. Kräftig gebaut, gut genährt. Acute Gastritis katarrh.;
im Magen ca. 60 ccm trüber, gelbbrauner Flüssigkeit. — Das Rattengift enthielt
33 pCt. weissen Arseniks.
Fall 18. Selbstmord mit Schweinfurter Grün — reichliche Entleerungen
nach oben und nach unten. — Leiche etwas faul. Kräftige Muskulatur, guter Er¬
nährungszustand, mittelstarker Knochenbau. Gastritis haemorrhag. acuta; im
Magen 700 bis 800 ccm chokoladenfarbener, Schleimtlocken und Schweinfurter-
Grün-Partikel führende Flüssigkeit, im Dünndarm reichliche Menge theils gelblicher,
theils weisslicher, trüber Flüssigkeit, Dickdarm ziemlich leer.
Fall 19. Zufällige Vergiftung. Denatus Johann S. hatte Arsenik, den er
in einer Düte hinter dem Ofen seines Wohngelasses gefunden, für Mehl gehalten
und zur Bereitung von Flössen verwendet. — Nach 2 Stunden erstes Erbrechen;
reichliche Entleerungen nach oben und nach unten bis zum Tode. — Die nämliche
Schüssel und denselben Löffel benutzten alsdann ohne vorhergegangene Reini¬
gung A. K. und Fl. W. zur Bereitung einer Suppe; nach Kurzem Erbrechen, am
nächsten Tage arbeitsfähig. Des gleichen Geschirrs, wiederum ohne voraus-
gesehiektes Abspülen oder Waschen desselben, bediente sich bald darauf M. S.
zur Herstellung von Flössen; nach mehreren Stunden Erbrechen (5 mal), Leib¬
schmerzen; am Tage darauf arbeitsfähig. Die nächsten 4, welche dem M. S. in
der Benutzung der Schüssel und des Löffels folgten, blieben — trotzdem auch sie
die Dinge zuvor nicht gesäubert hatten — gesund. In ca. 100 ccm ITin des FI. W.,
gelassen nach 5 Tagen, des A. K., gelassen nach 7 Tagen, As nachweisbar; in dem
gleichen Quantum Frin des M. S. vom 9. Tage As nicht vorhanden. — Leiche des
Johann S. frisch. Mittelstarker Bau, mässiger Ernährungszustand. Gastritis
acuta pari, crouposa; etwa der vierte Theil der stark geschwollenen Schleimhaut mit
fibrinösen Auflagerungen versehen. Submucosa partiell bis 8 mm in Folge Oedems
verdickt. 2 Ulcera rotunda ventriculi. Im Magen ca. 300 ccm wässriger, roth-
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Ueber die Vertheilung einiger Gifte im menschlichen Körper. 301
bräunlicher, trüber Flüssigkeit mit Arsenikpartipein. Starke Enteritis katarrhalis
acuta, zumal im oberen 2 / 3 des Dünndarms, theilweise auch Oodem der Submucosa.
Der unterste Abschnitt des Ilcum eng zusammengezogen, fast leer, in den oberen
Dünndarmpartien ca. 600 ccm einer dünnflüssigen, trüben, gelblichen bis gelb-
lichweissen, zum Theil auch lleischwasserfarbenen Masse, in der zahlreiche Ar¬
senikpartikel. Im Dickdarm geringe Menge Schleimes. Mcsenterialdrüscn kaum
geschwollen. GeringerGrad parenchymatöser Degeneration des Herzens, der Leber,
der Nieren.
Fall 20. Schweinfurter Grün, wahrscheinlich als Abortivmittel genommen;
keine Wirkung auf Uterus (5. Monat der Schwangerschaft). — Leiche frisch.
Starker, partiell haemorrhagischer Katarrh des Magens und des Darmes, in denen
Schweinfurter Grün makroskopisch zu erkennen. — In einem mit Erbrochenem
besudelten Lappen (40 g) 0,615 g. As 2 0 3 und 0,6835 g GuO, in 1 g In¬
halt des Topfes, in dem das Gift angerührt worden war, 0,439 g AS2O3 und
0,2945 g CuO, in 1 g unbenutzten Giftes 0,480 g As 2 0 3 und 0,3232 g CuO.
Fall 21. Selbstmord. Erkrankung für Cholera nostras gehalten. — Leiche
sehr faul. Kräftiger Bau, geringer Panniculus. Im Magen und Dünndarm Sch wefel-
arsen und Arsenikkrystalle. (f 12. VII. 89, sec. 13. VIII. 89.)
Fall 22. Mord. Feingestossenen Arsenik in Grütze und ebensoviel — ein
Stück von Erbsengrösse — gepulvert in Schnaps erhalten. — Leiche frisch.
Kräftiger Bau, guter Ernährungszustand: Acute harmorrhag. Gastritis, acute En¬
teritis katarrhalis.-Nach 6 Monaten fand Bischoff in den inzwischen ein¬
getrockneten Theilen die obon angegebenen Quantitäten. (Nimmtmanan, dassden
17 g der II Wege, die zur Untersuchung Vorlagen, ursprünglich 100 g ent¬
sprochen hätten, so würden bereits in 1000g des nämlichen Geiuischos 10 mg As 2 0 3
enthalten gewesen sein.)
Fall 23. Selbstmord. Einen gehäuften Theelöflel pulverförmigen Arseniks
genommen. Schwangerschaft von 5 Mon. Beginn dos Erbrechens 2—2Y2 Stunden
nach Intoxic., zahlreiche Entleerungen nach oben und nach unten bis 1 1 / 2 bis
2 Stunden ante mortem. Ricinusöl erhalten. — Leiche frisch, kräftiger Bau, guter
Ernährungszustand. Gastritis katarrh. haemorrhag. mit Üedem der Submucosa;
der gleiche Befund im Duod.; im Magen ca. 400 ccm tiefgrüner, trüber Flüssig¬
keit mit zahlreichen As 2 0 8 -Partikeln. Gegen die Klappe zu abnehmende Schwel¬
lung der Dünndarm-Schleimhaut; Intumescenz der Dickdarm-Schleimhaut etwas
stärker, als die des Dünndarms; in diesem ca. 300 Liter einer wässrigen, trüben,
schwachgelblichen Flüssigkeit, im Dickdarm Schleim, in welchem selbst im Bereich
des Rectum Octaeder. Schwache paremchymatöse Trübung der Leber. Eihäute
und Placenta nicht gelöst.
Fall 24. Mord. Eine Messerspitze voll As 2 0 3 in Kaffee geschüttet. Zwei
Stunden nach Ingestion Beginn des Erbrechens — Leiche frisch. Wenig kräftig
gebaut, schlecht genährt. Im Magen gegen l / 2 1 trüber, bräunlicher Flüssigkeit
mit As 2 0 3 -Partikeln. Im Darm (angeblich) nur eine geringe Menge Schleimes. —
In dem betreffenden Trinkgeschirr eine Spur As.
Fall 25. Mord. Vormittags Arsenik in Leberwurst beigebracht. Erstes
Erbrechen nach iy a Stunden. — Sarg erhalten. Leiche zum Theil in Wasser ge¬
legen. Kleine, massig kräftige Person. Mumification des mit Schimmel bedeokten
Gesichts; sonst colliquative Fäulniss; Rumpfhöhlen nicht eröffnet. Magen, Darm
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
302
Prof. Besser,
fast leer. — In 28,5g Erde aus den Sargfugen kein As nachzuweisen, (f 25. XI. 83,
sec. 19. V. 84.)
Fall 26. Zufällige Vergiftung. Ein Stück Arsenik von der Grösse „einer
halben Bohne“ genommen. Nach ca. dreistündigem Schlaf Beginn unzähliger Ent¬
leerungen nach oben und nach unten. Etwa 15 Stunden nach Vergiftung Antidot,
arsen., Lac Magnesiae, Eis, Roborantien, Excitantien. Ca. 4 Stunden ante
mortem Aufhören des Erbrechens; Durchfall dauert an. 1 2 / 4 Stunden ante
mortem: geringe Besserung des Allgemeinbefindens. (Denatus hatte seit 3 Jahren
wegen ausgebreiteter Psoriasis wöchentlich mehrmals Arsenik in Stücken genom¬
men; mehrmals wöchentlich Durchfall; Klagen über abnorme Empfindungen in
den Extremitäten.) —Leiche frisch. 179 cm lang, kräftig gebaut, gpt genährt. Im
Magen ca. 300 ccm einer grauen, trüben, wässrigen Masse, in der — 1 / 2 linsen¬
grosse As 2 0 3 -Bröckel. Erhebliche katarrhalische Schwellung der linken s / 4 der
Magenschleimhaut, sehr starke der Portio pylor., in deren Hinterwand eine
ca. fünfmarkstückgrosse, von Haemorrhagien durchsetzte Partie mit dicker Croup-
membram. Oedem der Submucosa daselbst. Im Duodenum starke Entzündung
der Mucosa und der Submucosa. Im Dünn- und Dickdarm einige 100 ccm einer
trüben, mit schwärzlicher (Schwefeleisenhaltiger) Flüssigkeit untermischten, gelb¬
lichen Masse von dünnbreiiger Consistenz. Schwellung der Schleimhaut durch¬
weg von der nämlichen, bedeutenden Intensität. Nephritis parenchym. ziemlich
hohen Grades; ausgesprochene Myokarditis parenchymatosa.
Fall 27. Zufällige Vergiftung. R. S., Bruder des in No. 19 erwähnten
Johann S., hatte ebenfalls von den vergifteten Klössen, die J. S. bereitet, gegessen.
Etwa 22 Stunden p. intox. starke Cyanose, kühle Extremitäten, leise Herztöne,
Puls unfühlbar, Bauch nicht aufgetrieben, schmerzlos; Sensorium frei. Bald darauf
2 mal Erbrechen, je eines halben Liters trübgelblicher Flüssigkeit. Excitantien: Puls
fühlbar, Extremitäten warm: Prognose erschien günstiger. Nach Aufsitzen plötz¬
licher Tod. — Stuhl soll nach der Vergiftung nur 1 mal entleert sein. Erbrechen sehr
. häufig und copiös. — Leichefrisch. Mittelkräftiger Bau, dürftigerErnährungszustand.
Im Magen ca. 300 ccm trüber, grünlicher, wässriger Massen, in der bis V 2 hirse¬
korngrosse Arsenik-Partikel. Catarrhus gastricus acutus von massiger Stärke, in
der rechten Hälfte des Organs einzelne croupös afficirte Abschnitte. Magen-Ver¬
änderung viel schwächer als in Fall 19, aber, wie dort, auch hier zwei (allerdings
bereits vernarbte) Ulcera rotunda. Im Dünndarm, der ziemlich stark zusammen¬
gezogen, ca. 300 ccm einer dicklichen, trüben, gelblichen Flüssigkeit mit relativ
spärlichen Arsenikbröckeln. Schwellung der Schleimhaut nimmt gegen die
Klappe hin ab, im Anfang sehr stark, hier auch Haemorrhagien. Im Dickdarm ge¬
ringe Mengen noch zähflüssigeren Materials von ebenfalls trüber, gelblicher Fär¬
bung; auf massig geschwollener Mucosa dicke Schleimschicht. Ziemlich starke
parenchymatöse Nephritis, Myocarditis, Hepatitis. Diaphragma, Zungenmuskel,
Körpermuskeln frei von makroskopischen Veränderungen. Knochenmark des Fe¬
mur partiell intensiv roth.
Fall 28. Zufällige Vergiftung; Rühreiern anstatt Mehl Arsenik zugesetzt;
sie sollen „bitter“ geschmeckt haben. Nach süsser Milch Erbrechen, Stuhl mit¬
unter blutig; Entleerungen am 2. Tage überaus häufig. Im Schlaf gestorben.
Denatus, welcher am Wenigsten von den Eiern genossen — 5 Kinder und die Ehe-
Di gitized by
Gougle
Original ffom
UNIVERSUM OF IOWA
lieber die Verkeilung einiger Gifte im menschlichen Körper. 303
frau theilten sich mit ihm in dieselben —, war seit 14 Tagen krank, appetitlos,
zum Theil bettlägerig, immer schwach gewesen. Am Tage derVergiftung erhielt er
wegen der durch sie verursachten Schmerzen 0,015 g Morph, und 0,03 g Opium
am nächsten Tage 2 mal 0,03 g Opium. Frau nach Vergiftung ohnmächtig; bei
ihr wie bei den Kindern, die ca. 2 Stunden p. intox. dem Arzt wie betäubt er¬
schienen, ebenfalls reichliche Entleerungen nach oben und nach unten; sic alle ge¬
nasen. — Leiche wenig faul. Schwächlicher Bau, dürftiger Ernährungszustand.
— Chemische Untersuchung zwei Monate p. sect. begonnen. Die Arsenik-Partikel
des Mageninhalts zum Theil in Schwefelarsen umgewandelt, auf Schleimhaut
citronengelbe Flecke.
Fall 29. Mord? Art der Beibringung nicht ermittelt. — Leiche frisch.
Kräftiger Bau, guter Ernährungszustand. Inhalt des Tract. intestinalis (angeb¬
lich) nicht dünnflüssig.
Fall 30. Mord. Auf Eierkuchen anstatt des Zuckers Arsenik gestreut.
Einige Stunden a.m.cessirten die sehr reichlichen Entleerungen nach oben und nach
unten. — Die Sargbretter fielen beim Herausheben aus der Grube auseinander: es
lag das Skelett vor, welches nur am Rücken und an den Seitentheilen des Rumpfes
mit „lederartigem, auf dem Durchschnitt homogenem, weisslichem Gewebe bedeckt“,
war. Im Schädel eine ca. faustgrosse, äusserlich bräunliche, auf dem Durch¬
schnitt „scheckig“ erscheinende Substanz von ziemlich derber Gonsistenz. Lungen
und Herz in Form schwarzgrauer, ziemlich derber Lappen von geringen Durch¬
messern vorhanden. Magen und Leber sehr geschrumpft, noch relativ gut erhalten :
die übrigen Bauchorgane nicht von einander zu sondern. — Die Leichcntheile
exhalirten auffällig riechende Gase, die mit Kakodyl eine gewisse Achnlichkeit
hatten.
a) In Hobelspänen und Sand in resp. unterhalb des Sarges und zwar in
2740 g 30,4 mg As 2 0 3 .
b) In Sand aus der Nähe des Grabes und zwar in 500 g keine Spur As.
c) In Sand, 70 Schritte von dem Grabe entnommen, und zwar in 500 g
keine Spur As.
Das mit a bezeichnete Material war mit Wasser extrahirt worden.
Fall 31. Einreibung fast der ganzen Körperoberlläche mit 3,64 pCt. Ar¬
senik haltigem Material wegen Krätze. Starkes Hautbrennen, Dermatitis partim
bullosa fast der ganzen Körperoberfläche; nach 3 Stunden Erbrechen, Bauch¬
schmerzen, die bis zum Tode anhielten. Die übrigen Familien-Mitglicder hatten
nur einzelne Hautpartien mit demselben Liquidum eingeriebon: schmerzhafte
Dermatitis daselbst.-Leiche ziemlich faul. Kräftiger Bau, guter Ernährungs¬
zustand.
Fall 32. Zufällige Vergiftung durch mit Arsenik-haltiger Butter bestrichenen
Zwieback(Rattenvcrtilgungsmittel und zwar Nachmittags gegen 5 Uhr. f 4. VII. 91.
Ausgrabung 17. VII. 91. Leiche sehr faul.
Fall 33. Selbstmord. \ l / 2 Theelöffel Schweinfurter Grün in Wasser,
Nachts 3 Uhr, genommen. Nach 6 Stunden Nachlass der sehr bald aufgetretenen
und sehr reichlichen Entleerungen nach oben und nach unten, heftige krampf¬
artige Schmerzen in den Beinen, Steifheit derselben, grosses Schwächegefühl in
den Armen, Schwindelgefühl bis Ohnmacht beim Aufsitzen. C. 30 St. p. intox.
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UMIVERSITY OF IOWA
304
Prof. Lesser,
Radialpuls unfühlbar, 120 Herzaktionen, 30 R. in Minimum. Geringe spontane
Schmerzen in Magengegend, bei ruhiger Bettlage kein Schwindelgefühl. Abdomen
nicht aufgetrieben, Nabelgegend sehr druckempfindlich. Gefühl der Schwere in
Armen, Fingerspitzen taub, Händedruck schwach, Tremor der Finger beim
Spreitzen, Druckempfindlichkeit der Oberschenkel- und der Wadenmuskeln. Häu¬
fige diarrhoische Stühle von dunkelgrüner Farbe, in ihnen rothe Blutkörperchen.
Antidot, arsenic. — In dem durch Katheter entleerten Urin Eiweiss, rothe und
farbloso Blutkörperchen, hyaline Cylinder.— Unter zunehmender Schwäche — trotz
Excitantien — Exitus. — Leiche frisch. Kräftiger Bau, guter Ernährungszustand.
Im Magen ca. 80 ccm. einer trüben, dünnflüssigen, grünen Masse; mässige Gastritis
parenchymatosa mit spärlichen, punktförmigen, röthlichen Blutungen. Im Dünn¬
darm ca. lOOccm wässrigen, grünlichen, trüben Materials, untermischt mit dinten-
schwarzer Masse. Im Dickdarm geringe Mengen solcher, Schwefeleisen führender
Flüssigkeit. Dünndarmschleimhaut in der Mitte am wenigsten stark, sonst recht
stark geschwollen. Ihre Haemorrhagien tiefschwarz. Schwellung im Dickdarm
noch mächtiger als im Dünndarm; am bedeutendsten im Colon descend., dessen
Submucosa auch oedematös. Die Schleimhautblutungen auch hier geschwärzt.
Gokrösdrüsen etwas geschwollen. Leber, Myokard parenchymatös getrübt; acute
haemorrhagische Nephritis parenchym.; bis kirschkerngrosse Lungen¬
blutungen.
Fall 34. Zufällige Vergiftung durch Schweinfurter-Grün-haltiges Papier,
das er — Vormittags — in den Mund gesteckt; das Papier umhüllte mit gift¬
freiem Ultramarin und Fuchsin gefärbtes Zuckerwerk; während der letzten Tage
Eiweiss im Urin.— Leiche frisch, kräftiger Bau, guter Ernährungszustand. Acuter
Magen-Darmkatarrh; Nephritis paremchymatosa.
In dem grünen Papier, welches dem Kinde aus dem Munde entfernt worden
war, 16,3 mg As 2 0 3 und 9,5 mg CuO.
Fall 35. (.Schwester von Fall No. 4.) Zufällige Vergiftung durch mit Ar¬
senik bestreutes Bisquit, bald nach dem Mittagbrot gegessen. Sehr bald copiöses,
recidivirendes Erbrechen, nach 6 Stunden Magen ausgespült. Darauf Allgemein¬
befinden gut. Infus. Sennae comp., Milch, Eisblase auf Bauch. Am folgenden
Tage 36,9 0 T, 150 P, 30 R. Allgemeinbefinden schlechter, Puls sehr klein, keine
Schmerzen, bricht alles Gereichte aus, zahllose dünne Stühle; meist schlafend.
Beugemuskeln der Unterextremitäten in starker Contraktur. Eis, Wein, Camphor:
In den nächsten Tagen Kräfteverfall und Somnolenz stärker. Temperatur bis
36,2°, P. 112—128, R. 30—40. Erbrechen dauert an. Durchfall etwas geringer.
— Leiche frisch; Graciler Bau, mittlerer Ernährungszustand. Dicker Epithelbelag
auf Zunge; die blassrothe Schleimhaut des Rachens, namentlich in der
Nähe des Kehlkopfeinganges, ziemlich stark geschwollen. Im Magen lOccm
gelber, trüber Flüssigkeit, in der vereinzelte Oktaeder; Gastritis katarrhalis
(viel schwächer als in Fall 4) mit haemorrhagischen Erosionen. Im Darm circa
170 ccm einer wässrigen, hellgelblichen, trüben Flüssigkeit mit ganz wenigen
Arsenik-Krystallen, durchweg starke Schwellung der Mucosa. Nephritis parenchym.
reeens. Laryngitis, Tracheitis, Bronchitis katarrhalis, multiple Schluokpneu-
monien des linken Unterlappens ganz frischen Datums; Myocard, Diaphragma,
Körpermuskeln intact.
Digitizeit by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
lieber Hie Verthoilung einiger Gifte im menschlichen Körper.
305
l b. Tödtliche Vergiftung durch mehrmalige Ingestion
von Arsenik.
Fall 36. Mord. Am Nachmittag des 7. April plötzlich erkrankt: Erbre¬
chen, Durchfall, Schwindel; die Entleerungen kehrten bis zum Morgem des
8. April sehr häufig wieder, nahmen unter Besserung des Allgemeinbefindens im
Laufe des Tages (8. April) ab; Nacht vom 8.—9. April relativ gut. Gegen 5 Uhr
morgens des 9. Aprils wiederum Exacerbation der gastro-intestinalen Phaeno-
rnene. Um 11 A / 2 Uhr Vorm, laugte Ehemann noch 2 Bogen Fliegenpapier mit
Wasser aus, vermischte die Lösung mit Rothwein, dem die Concubine noch einen
Phosphor-Streichhölzer-Infus zusetzte. Gegen 11 Uhr Vormittags trank Penata diese
Mischung bis auf den letzten Tropfen: enorm häufige Entleerungen nach oben
und nach unten, sehr starke Leibschmerzen. Tod gegen 11 Uhr Abends; während
der Agone Coitus des Ehemanns und der Concubine, der Urheberin des Mord¬
planes, in dem Sterbezimmer.-Leiche frisch. Massig kräftiger Bau, mittlerer
Ernährungszustand. Gastritis katarrh. haemorrh., Schleimhaut z. Th. schwefel¬
gelb gefärbt. — Im Mageninhalt fanden sich 28,7 mg As 2 0 3 , in der Magen- etc.
Wand 23,4 mg As 2 0 3 . In dem mit Koth und Mageninhalt besudelten Ilemde
der Denata Spuren von Arsen; die Hobelspäne unter dem Gesäss frei von As.
Einer der noch nicht benutzten Bogen Fliegenpapier enthielt 247,5 mg As 2 0 3 .
Phosphor oder niedere Oxydationsstufen desselben in den Objekten nicht nach¬
zuweisen.
Fall 37. Mord. Arsenik seit 7 Tagen a. m. in Speisen (flüssigen und
festen) beigebracht.-Leiche etwas faul, (sec. 17. X.), kräftiger Bau, guter
Ernährungszustand. Im Magen etwa 60 ccm kafleesatzartiger Flüssigkeit, im
Dünndarm 150 ccm gelbgrünlicher, etwas dickflüssiger Masse. Dickdarm leer.
Haemorrhagische Magen-Darm-AfTektion.
Fall 38. Mord. Arsenik seit 9 Tagen a. m. in (flüssigen und festen)
Speisen beigebracht; todt, vor seinem Bett liegend, Morgens gefunden. — Leiche
frisch. Befund wie in Fall 37 (der Mutter).
Fall 39. Mord. Erste Vergiftungserscheinungen ca. 4 Wochen a. m. Ar¬
senik während der letzten Tage auch in Medicin verabreicht. Mehrere Hühner,
die von Erbrochenem aus den letzten Tagen gefressen, krepirten. 2 St. a. m.
verfügungsfähig. — Ausgebreitete Schimmelvegetation an Körperoberfläche, keine
Mumifikation; Verwesung nicht sehr weit vorgeschritten. Kräftiger Bau.
lc. Tod durch Delirium tremens und Arsenikvergiftung.
Fall 40. Fahrlässige Tödtung. Pot. stren., schon mehrmals an Delir,
trem. gelitten. Um ihm den Schnapsgenuss zu verleiden, laugte Ehefrau Ende Sept.
V 2 Bogen Fliegenpapier mit warmemWasser aus und goss die so erhaltene Flüssig¬
keit in Schnaps. Delir, tremens. Am 9. Dez. Wiederholung des gleichen Verfahrens,
am 12. Dez. eine ähnliche Quantität Arsenik in Schnaps gegossen. Seit 9. Dez.
Erbrechen etc., am 13. Dez. Delirium tremens, f 14. 12. — Leiche frisch. Sehr
kräftiger Bau. Tractus intestinalis fast leer. — In Flecken des Hemdes und des
Kopfkissens, herrührend von Koth und Erbrochenem, Spuren von As. — Ein Bogen
Fliegenpapier aus der nämlichen Bezugsquelle, wie die verwendeten, enthielt
666 mg As^O^.
Digitized by
Gck igle
Original frorn
UNIVERSUM OF IOWA
Prof. Lesser,
306
Id. Mcdicinale Verabreichung von Solutio Fowleri.
Fall 41. Denatus erhielt vom 15. Juli bis 25. Juli und vom 29. Juli bis
8. Aug. 30 g Sol. Fowleri = 0,33 g As 2 0 3 , ohne eine Beeinflussung seines Be¬
findens darzubieten; j 12. Aug. in paralytischem Anfalle. — Leiche frisch;
schlechter Ernährungszustand, schwächlicher Bau.
Ie. Zu Unrecht vermuthete Arsenikvergiftungen; Arsen¬
befunde bei Ausgrabungen.
Fall 42. 44jährige Frau, f 10. Juni. 83, ausgegraben 5. August 84. Sarg
nur theilweise erhalten. Mumification mit starkem Schimmelbelag. Höhlen ge¬
schlossen. Lungen, wie die übrigen Organe, sehr geschrumpft, luftleer,
ln 500 Gramm Erde unterhalb des Sarges Spuren von As.
,, 50 ,, Holzspäne aus dem Sarge .... keine Spur von As.
„ 50 ,, Magen und Inhalt, Oesopli. und Duoden. ,, ,, ,, ,,
,, 53 ,, Leber, Milz, Nieren, Gebärmutter und
Harnblase
Fall 43. Mann, j 26. Jan. 86, ausgegraben 30. Jan. 88.
n n 77
Saig stand in
??
37
Spuren von As.
77
77
7?
77
77
73
77
7?
77
37
77
77
37
73
77
77
Lehmwasser, solches auch innerhalb des Sarges. Sargdeckel eingesunken. Sapo-
nification. Körperhöhlen geschlossen.
In 1500 g Grabeserde etwa y i00 mg Arsen.
„ Wasser aus dem Sarge . . kein
,, Leichentheilen ....,,
Fall 44. Frau G., f 7. Jan. 73, ausgegraben 20. Juli 84. Sarg und Leiche
zerfallen. '
In Erdproben des Grabes, verschiedenen Stellen
entnommen.je geringe
Im Beschläge des Sarges und in Sargnägeln reichlichere
Im Sargboden.keine
In Hobelspänen aus Sarg ....
In Kopfhaaren.
Im Becken.
Im Brustbein und in 3 Rippen
Aus den letztangeführten Theilen war es nicht möglich gewesen sämmtlichc
Sandpartikel zu entfernen.
ln der nämlichen Sache wurde noch eine II. Leiche, die ca. 10 Jahre beerdigt
gewesen, exhumirt.
In der Leinewandhülle des Kopfes sowie der der vorderen Bauchwand mini¬
male Spuren von As. (y 200 bis y 500 mg) — ein nicht ungewöhnliches Vor¬
kommnisse- aus den Kopfhaaren dem entsprechend ebenfalls ein Hauch As darstell¬
bar. Die Untersuchung der übrigen Theile (Eingeweide etc.) — mit Ausnahme
der Erde, der Sargnägel und der Sargbeschläge — fiel negativ aus.
Fall 45. Mann,P.W., j Juni 63, Exhumirung 25. Mai 82. In dem betreffenden
Grabe einige Jahre nach Beerdigung des P. W. noch eine Frau beigesetzt; deren
Sarg zerfiel bei der Herausnahme. Neben diesem eine Masse morscher Holztheile
mit zahlreichen weissen Nägeln, die die Buchstaben P. W. bildeten. Die von
den morschen Holztheilen umschlossenen Stiefel und rekognitionsfähige Klcider-
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Ueber die Vertheilung einiger Gifte im menschlichen Körper.
307
reste — dunkelblauer TuchstofF —waren nach Aussage eines Zeugen denen ähnlich,
in welchen die Leiche des P. W. beerdigt worden. Ebenso stimmte die Farbe
und Länge der blonden Kopfhaare und des Bartes - - die Form der Knochen etc.
bewies ihre Zugehörigkeit zu dem Körper eines so grossen Mannes, wie P. W.
Die beiden Oberschenkel waren gebrochen: bei der Beerdigung der Frauenleiche
waren diese absichtlich zertrümmert worden, wie der Kirchhofsdiener noch an¬
zugeben vermochte: die Brüche dienten ebenfalls zur Rekognition. — Ausser
dem Skelett geringe Reste mumificirter Weichtheile. Im Schädel eine spärliche
Menge schmierigen Breies (Gehirns).
Arsen sowohl in Erde des Grabes wio an anderen Stellen des Kirchhofes.
Sämmtliche Leichentheile waren mit Sand bedeckt.
In den von Sand befreiten Weichtheilen des Gesichts und den Haaren kein
Arsen.
In den Gehirntheilen und den übrigen Weichtheilen, aus denen der Sand
nicht so vollständig zu entfernen, Spuren von As, aber nicht reichlicher, als dem
beigemischten Sande entsprach.
In dem durch Abbürsten vollständig von Sand zu befreienden Knochen
(Becken, Wirbelsäule etc.) keine Spur von Arsen. In den von den Leichentheilen
entfernten Sandmassen ähnliche Mengen As, wie in der Erde des Grabes; diese
zeigt keine quantitativen Unterschiede in Bezug auf As-Gehalt gegenüber den
andern Stellen des Kirchhofes entnommenen Erdproben.
Fall 46. Potator strenuus, f 10. Okt. 77, exhumirt 26. März 84. Wenige
Stunden vor dem Tode, wie in den vorangegangenen Tagen, Pflaumenmuss ge¬
gessen. — Sarg zum Theil eingedrückt; mit der Leiche herauszuheben. Leiche
zum grossen Theil mit Lehm bedeckt; an den übrigen Theilen mumificirt.
Körperhöhlen geschlossen, Rumpforgane geschrumpft, trocken, bräunlich, sehr
leicht.
In Unterleibsorganen.( 390 Gramm) 0,0220 Gramm CuO.
„ Herz und Lungen.(58 „ ) 0,0074 „ „
„ den Gehirn-Resten.( 17,6 „ ) 0,0014 „ „
In einem Theile der Lenden- u. Brust-Wirbel ( 50 „ ) 0,0050 „ „
In Becken und Kreuzbein.(1000 „ ) 0,0140 „ „
„ Schädelknochen.(82 „ ) 0,0028 „ „
In Kleidungsstücken unterhalb der Leiche geringe Spuren von Cu.
,, Theilen des Sargbodens .... keine „ ,, ,,
,, ,, ,, Sargdeckels ....,, ,, ,, »
In Erde oberhalb des Sarges (600 Gramm) Spuren von Cu und von As (etwa
Vioo m S As entprechend).
,, „ rechts vom Sarge . (600 Gramm) ,, „ „ „ „ ,,
,, ,, links vom Sarge . . ( ,, ,, ) >> >» j> j»
„ „ unterhalb des Sarges ( „ „ ) „ „ „ „ „ „
Die exhumirten Theile verbreiteten keinen Kanodyl-Geruch oder solchen
nach Arsenwasserstoff. — Der Kupfergehalt der Leichentheile ist grösser als nor¬
mal; nichts spricht für eine nosologische Bedeutung des Metalls in diesem
F'alle. In Pflaumenmus kommt Cu mitunter vor. Der Cu-Gehalt der Knochen ist
sicher zum Theil Folge postmortaler Imbibition seitens der Eingeweide.
Digitized
bv Google
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
308
Prof. Lesser,
If. Arsenik-Vergiftung zweifelhaft. Tod durch Arsenik-
Vergiftung nicht zu erweisen.
Fall 47. Geständniss der Ehefrau, ihren Mann vergiftet zu haben. Kranken¬
geschichte fehlt, j* 6. Juli 82, exhumirt 19. Jan. 89. Sarg nicht zerfallen,
Kleidung erhalten, ihre schwarze Farbe hat sich in eine grünliche bis dunkelgelbe
verwandelt. Kopf und Extremitäten grösstentheils skelettirt. Brusthöhle eröffnet,
Bauchwand ohne Defekte, wie die erhaltenen Theile der Brustwand muimiicirt,
mit Schimmel bewachsen. Rumpforgane eingetrocknet, rothbräunlich, mit
Schimmel bedeckt, Diaphragma fehlt. Leichentheile ohne Kakodyl-Geruch.
I. In Y 2 des M a g ens > des Darmes, der
Milz (235 Gramm) . . . eine Spur As = ca. 1 / 20 mg.
II. ,, ,, der Leber (36 Gramm) . . etwas stärkere Spur als aus I.
III. „ ,, der Lungen und des Herzens
(70 Gramm).„ schwächere Spur als aus II.
IV. ,, ,, des Schädelinhalts (102Grm.) kaum sichtbarer Anflug.
V. ,, 31gHobelspänen, Tuch undLeder-
fetzen, unterhalb des Beckensgelegen, deutlicher Spiegel = ca. l / 2 mg.
VI. In 607 g Erde aus verschiedenen Ge¬
genden des Grabes.stärkerer Spiegel als in V = c. 1 mg.
VII. In 4 Erdproben, 2 1 / a bis 19 m vom
qu. Grabe entnommen.ähnliche Spiegel wie aus VI.
Ob das Arsen in durch Wasser extrahirbarer Verbindung vorhanden war, ist
nicht festgestellt worden.
Die Gräber des betreffenden Kirchhofes stehen mitunterunter Wasser. Bei Einwir-
kungeines anorganischen Stoffenreichen Grundwasserstromes auf arsensaures Eisen¬
oxydul können Theile des letzteren gelöst werden und mit dem Grundwasserindie
Särge und ev. die Leichen eindringen. So könnten auch die gefundenen As-Mengen
in die Höhlen des untersuchten Cadavers gelangt sein. Andererseits ist es nicht
unmöglich, dass eine tödtlich verlaufene Arsenik-Vergiftung vorliegt, bei welcher
die zur Zeit des Todes an sich schon spärlichen Giftmengen durch Einwirkung
von Schimmelpilzen noch mehr vermindert worden sein könnten; III. ist nicht aus-
zuschliessen, dass nur eineDosis toxica des Arseniks eingeführt worden; IV. könnten
die gefundenen Arsenmengen von der Einführung eines Giftes herrühren, dem sie
zufällig beigemischt gewesen sind (z. B. von einer Vergiftung mit Phosphor, siehe
auch Fall 124, 134, 217). Der aus dem Objekt V dargestellte Spiegel kann z. Th.
weder aus der Erde, noch aus der Leiche stammen: Leder, Leinewand, Tuche
enthalten an und für sich nicht selten Spuren von Arsen.
Ich gebe noch
Fall 48, welcher dadurch bemerkenswert!! ist, dass in den Unterlagen der
Leiche im Sarge Arsenik nicht nachweisbar war, trotzdem die Organe erhebliche
Mengen davon enthielten (s. auch Fall 25, S. 302). Die SOjähr. Frau war gestorben
am 12.Nov.80 und am 13. Nov. 80 von einem der behandelnden Aerzte secirt worden
(derselbe hatte Herzfehler, chronische Nephritis, Hydrops anasarsa, Ascites, Hydro-
Thorax und -Pericard, sowie frische, theilweise ulceröse Enteritis gefunden; an
(tödtliche)Intoxication hatte er, wie nicht intra vitam, so auch nicht p.m. gedacht);
der Cadaver wurde am 23. März 82 gerichtlich nochmals untersucht. Der Sarg-
Digitizetf by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Ueber die Vertheilung einiger Gifte im menschlichen Körper. 309
deckel war eingedrückt. Die Vorderfläche der Leiche war mumificirt, die Rücken¬
fläche ebenso wie die darunter gelegenen Hobelspäne feucht; die Rückenfläche
zeigte sich zudem weich und bräunlich. In dem zusammengetrockneten Magen
(82 g) minimale Spuren von As, kein Kupfer, in 100 Theilen des eröffnet ge¬
fundenen, ebenfalls dünnwandigen Darms (im Ganzen gegen 700 g) 3,1 mg As 2
0 8 und ca. 8 mg CuO; in 100 Theilen der Brust- und Bauchorgane (ohne Tract.
intest.) [1290 g], die einen grünlich weissiichen oder bräunlichen Ton dar¬
boten, sehr weich und schlaff waren, 3,3 mg As 2 Og, 5,7 mg CuO; in 100 g
des (zerflossenen) Hirns (630 g) Spur As und 0,6 mg CuO; in 100 g Wirbelsäule
und Rückenmuskeln (348 g) Spur von As und Cu, ebenso wie im Oberschenkel¬
knochen.
Herr Dr. Bise hoff vermochte jedoch nicht in (80 g) Hobelspänen aus dem
Sarge, die unter Rücken und Gefäss gelegen hatten, eine Spur dieser Metalle zu
finden; das nämliche negative Resultat ergab die Analyse des entsprechenden
Sargtheiles; Erde (200 g), welche auf der Brust der (mit einem zum Theil fest
angeklebten Hemde bekleideten) Leiche gefunden worden, sowie andere Erdproben
aus dem Grabe (je 2,0 kg) zeigten ein gleiohes Verhalten.
Anhang.
Fall 49. Friedrich W., 46 Jahre alt, von massig kräftigem Bau, mittlerem
Ernährungszustände, starb 11 Tage nach Einathmen eines Gemisches von Arsen¬
wasserstoff und Chlorarsen. Am 4. Mai 83 bereitete sich der als Fabrikant von
Cocarden und ähnlichen Abzeichen thätigo Mann eine Mischung von 100 g Ar¬
senik, 100 g Hammerschlag und 1000 g Salzsäure; in diese Masse tauchte er zur
Anfertigung von Cocarden bestimmte Zinkplättchen, um ihre Oberflächen zur Auf¬
nahme von Lack geeigneter zu machen. Diese Manipulationen wurden in einem
ganz kleinen Raum ohne jede Ventilationsvorrichtung vorgenommen: W. athmete
beträchtliche Mengen knoblauch-ähnlich riechender Gase ein. Nach kurzer
Zeit fühlte er sich unwohl, so dass er die Arbeit unterbrach und sich in seine
Wohnung begab. Er sah sehr blass aus. Durch einen Spaziergang erholte er
sich; etwa eine Stunde nach der Vergiftung ass er mit gutem Apetit und
plauderte in gewohnter Weise mit den Genossen seines Stammtisches. Der Heim¬
weg wurde ihm schwer; zu Hause stellte sich reichliches und häufig wieder¬
kehrendes Erbrechen ein, es traten bald danach grosses Mattigkeitsgefühl und
ziemlioh heftige Magenschmerzen auf.
Am folgenden Tage sah Herr Dr. Lewandowsky (Berlin), dessen Güte
ich diese Aufzeichnungen verdanke, den Patienten. Derselbe lag im Bett und
klagte über Hinfälligkeit, Brechneigung und einen nicht los zu werdenden knob¬
lauch-ähnlichen Geschmack. Die Haut hatte einen eigenthümlichen, in’s Graue
spielenden Ton. Erbrechen bestand fort, der Urin war blutig gefärbt.
In dem ferneren Verlauf der Krankheit waren die Erscheinungen von Seiten
des Verdauungskanals: Appetitlosigkeit, belegte Zunge, in den ersten Tagen
häufig, in den späteren selten auftretendes Erbrechen, Obstipation; die Fäces
niemals entfärbt. Der Bauch war auf Druck nicht schmerzhaft. Die Milz war nicht
vergrössert, die Leber überragte um ein Geringes den Rippenbogen.
In den ersten Tagen war die Urinmenge sehr gering, später bestand fast
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
310
Prof. Lesser,
Digitized by
vollständige Anurie: nur wenige Tropfen Harns wurden täglich entleert. Es be¬
stand mehrfach Harndrang. Der Urin des 3. Tages zeigte eine dunkelrothe
Farbe, er enthielt viele Hämoglobin-Tropfen und war sehr eiweissreich. Urin
vom 4. Tage frei von Blutfarbstoff, in ihm viel Albumen. (Keine Oedeme.) Der
Puls war sehr weich, leicht unterdrückbar, von mittlerer Frequenz. Ueber sämmt-
lichen Herzostien laute systolische Geräusche. Häufige Klagen über Beklemmung,
Ohnmächten beim Aufrichten.
Ausserordentlich grosses Schwächegefühl bestand andauernd. Das Sensorium
war bis zum Tode vollständig frei. Schlaf im Ganzen gut. Fieber fehlte stets.
Das Bild einer schweren, durch das Gift bedingten Blutdissolution stand
von Anfang an fest; es konnte von einer antidotarischen Behandlung nicht die
Rede sein. Ausser Salpeter zur Anregung der Harnsekretion wurden Excitantien
und lloboranticn sowie milde Abführmittel verabreicht.
Section 2 Tage nach dem Tode; Leiche frisch. Mässig kräftiger Bau, mitt¬
lerer Ernährungszustand. Icterus universalis von nicht unbebeutender Intensität.
Livores dunkellivide; Körpermuskulatur von normalem Aussehen. Dicker Zungen¬
belag, sehr starkes Oedem der Schleimhaut der Zungenwurzel, etwas schwächeres
der Ligam. aryepiglot.; der Rachen und der weiche Gaumen intact; Oesophagus
ohne Abweichungen. Im Magen CO—70 ccm dickflüssiger, zäher, gelblich ge¬
färbter Massen; chronischer Katarrh des Magens, Schleimhaut grünlich bis gelblich
tingirt, partiell cadaverös getrübt. Inhalt des Darms (etwa 500 ccm) intensiv
gelblich gefärbt, trübe, dünnflüssig, in allen Abschnitten von gleicher Beschaffen¬
heit. Schleimhaut vom I’ylorus-Anus stark geschwollen, im Dickdarm fast noch
stärker als in den höher gelegenen Abschnitten; in letzteren die Schwellung der
lymphatischen Gebilde ausgesprochen. Massige, frische Schwellung der Gekrös-
drüsen. Die Milz nicht vergrössert, makroskopisch ohne Abweichungen. Die
rechte Niere fehlt. Die linke misst 15, 6 3 / 4 , 4 3 / 4 cm, Kapsel leicht abzieh¬
bar, Oberfläche glatt, von grau-röthlichcm Ton, Consistenz eine mittlere. Auf
dem Durchschnitt die Rindensubstanz nicht verbreitert, die Markstrahlen erschei¬
nen schwach-trübe, gelblich, die Zonen der gewundenen Kanälchen grau-röthlich,
die Marksubstanz ist dunkelblauroth, ohne makroskopisch erkennbare Abweichun¬
gen. Die mikroskopische Untersuchung ergiebt zahlreiche Hämoglobin-Infarkte,
vornehmlich an den Markkegeln, körnige und hyaline (farblose) Cylinder in
grosser Menge sowie in einer ebenfalls nicht geringen Anzahl von Kanälen Aus¬
füllung der Lichtung durch desquamirtc, nekrotische Epithelien. Solche abge¬
storbenen Zellen finden sich auch in vielen Abschnitten der gewundenen und der
schleifenförmigen Kanäle sowie an einzelnen Stellen der Sammelröhren der Wand
noch aufsitzend; sie waren entweder kernlos oder sie besassen noch einen, aber
nicht tingirbaren Kern, sie zeigten sich durchscheinender als unter normalen
Verhältnissen, waren aber nicht ganz homogen. Die Nekrose war in den gewun¬
denen Kanälchen am ausgebreitetsten, daher deren makroskopische Differenz
gegenüber den Markstrahlen. Die Epithelien der Glomeruli sowie der Bowman-
schen Kapsel waren frei von jeder Abweichung; nirgends habe ich Blutfarb¬
stoffinfarkte innerhalb der Kapseln angetroffen. In dem der Ilyperplasis des
Organs entsprechend verdickten interstitiellen Gewebe fanden sich an einer
mässig zahlreichen Anzahl von Stellen Anhäufungen von llundzellen; aber weder
Gck igle
Original frnm
UMIVERSITY OF IOWA
Ueber die Yertheilung einiger Gifte im menschlichen Körper. 311
in der Rinde noch in dem Marke erreichten diese Heerde ins Gewicht fallende
Dimensionen. Die Gelasse der Niere Hessen Abweichungen nicht erkennen. Harn¬
blase und Ureteren sowie Nieronkelche und Bocken intact, erstere ganz leer. Die
Leber mittelgross, von normalerConsistenz, zeigt etwas kleine, leicht von einander
abgrenzbaro Acini, deren llandzone anämisch, deren andere Theile icterisch sind.
Die Gallenblase sowiosämmtliche Gallenwege strotzend gefüllt mit sehr zähflüssiger,
mussartiger, schwärzlicher Galle. Die Pars intestinalis des Ductus cholcdochus ist
frei von solcher und ausgefüllt durch einen Pfropf zähen, weisslichen Schlei¬
mes; ihre Wand blass und entbehrt ebenfalls der gelblichen Färbung, welche an
allen anderen Abschnitten der Gallenwege in sehr grosser Stärke vorhanden. Die
Leberzellen, deren Protoplasma vielfach sich sehr schwach granulirt erweist,
sind im Uebrigen ohne Abweichungen von dem Gewöhnlichen; die mikroskopi¬
schen Gallenwege und die Gallencapillaren sind ebenfalls ausserordentlich stark
gefüllt, letztere oft ectatisch. Die Glisson’sche Kapsel und die peripherischen
Schichten der Läppchen weisen ziemlich zahlreiche Heerde von Rundzellen auf,
die Blut-Capillaren sind stark injicirt, ihi Inhalt zeigt sehr wenige rothe Blut¬
körperchen von normaler Form und Grösse, dagegen ausserordentlich viele Zer¬
fallsprodukte dieser. Das Herz von mittlerer Grösse, beide Ventrikel schlaff,
das Endocard und die Klappen intact, trotz Abwesenheit sonstiger Leichen-
orscheinungen stellenweise blutig imbibirt. Das Myokard sehr schlaff, anämisch,
kaum icterisch; Querstreifung überall vorhanden, eine nicht ganz unerhebliche
Zahl von Muskelkernen erscheint abnorm gross. Das Blut zum Theil flüssig,
zum Theil speckhäutig geronnen; Fibrincoagula icterisch gefärbt, übrige Blut¬
masse ohne Farben-Besonderheit. Neben rothen Blutkörperchen von normaler
Färbung und Gestalt zahllose Microcyten und entfärbte Bruchstücke jener. Muskel¬
fasern des Diaphragma intact. Eitrige Laryngitis, Tracheitis, Bronchitis, in dem
rechten Unterlappen zahlreiche lobuläre Pneumonien jungen Datums. Geringer
Ascites und Hydrothorax, Transsudat schwach bräunlich. Extreme Anämie des
Hirns und seiner Häute.
Die ersten 35 Fälle betreffen tödtliche Intoxicationen, welche
durch einmalige Einführung des Giftes bedingt worden sind; in den
Beobachtungen 36 — 39 wurde das Gift mehrmals gereicht, be¬
vor es den Exitus herbeiführte. In Fall 40 ist die Intoxication
nur in Gemeinschaft mit dem durch sie ausgelösten Delirium tre¬
mens als Todesursache anzusehen, in der folgenden Beobachtung
hat der Arsenik schädliche Wirkungen gar nicht entfaltet. Die Mit¬
theilungen unter No. 42—46 beziehen sich auf Befunde von Aus¬
grabungen, die durch zu Unrecht gehegten Verdacht auf Tod durch
Arsenik veranlasst worden waren; die Objecte der Beobachtung
No. 47 waren ebenfalls nach Jahren exhumirte Ueberreste, von
denen es dahingestellt bleiben muss, ob sie einem mit Arsenik Ver¬
gifteten angehört haben oder nicht, von denen jedenfalls nicht er-
Vierteljahrsschr. f. ger. Med. Dritte'FoIge. XIV. 2. 91
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
312 Prof. Lesser,
wiesen werden konnte, dass sie von einem durch Arsenik Gctödtcten
stammten.
Der Fall 49, den ich anhangsweise mittheile, erscheint mir
wegen der relativen Seltenheit genauer untersuchter Arsenwasser¬
st offvergiftungen einer etwas ausführlicheren Schilderung nicht unwerth.
Während die Fälle 36—39 sämmtlich Morde waren, fanden sich
in den Beobachtungen 1—35 nur 9 Tödtungen, welche unzweifelhaft
in die nämliche criminelle Kategorie gehören (No. 3, 5, 14 —16, 22,
24, 25, 30); 3 fernere (No. 13, 29 und 48) sind wahrscheinlich
ebendahin zu zählen. In den Beobachtungen No. 1, 2, 6, 8, 18,
21, 23, 33 (8 Male) war das Gift als Selbstmordmittel gewählt
worden, unglückliche Zufälle bezw. Fahrlässigkeit hatten 15 Intoxi¬
kationen (No. 4, 7, 9, 10, 11, 12, 17, 19, 26—28, 31, 32, 34, 35)
veranlasst. In Fall 20 war die Arsenverbindung als Abtreibungs¬
mittel genommen worden, in Beobachtung 26 handelte es sich um
Applikation eines angeblichen Heilmittels — übrigens der einzige Fall
externer Anwendung —, in Beobachtung 40 war zwar die Herbei¬
führung einer Vergiftung, aber nicht die einer tödtlichen, beabsichtigt
gewesen.
In No. 18, 20, 33, 34, 48 handelte es sich um durch Schwein¬
furter Grün bewirkte Intoxikationen, die übrigen Vergiftungen rcsul-
tirten aus Einführung arseniger Säure, welche in Pulverform genommen
war in den Fällen 2, 4, 8, 10, 11, 16, 17, 18—20, 23, 25, 26—28,
32, 33, 35 (18 Male), welche gelöst ingerirt worden in No. 9,
31, 36, 40 (41); theilweise ungelöst hatte das Gift 6 Male (in No. 3,
5, 12, 14, 22, 24) Verwendung gefunden. In den Beobachtungen 1,
6, 7, 13, 15, 21, 29, 37—39 ist es nicht möglich gewesen, aus den
Aussagen zuverlässigen Aufschluss über die Form des eingeführten
Arseniks zu gewinnen.
Das Alter der Vergifteten anlangend, so standen von den Fällen
der Tabelle I
im I., II., HI., IV., V., VI., VII. Decennium
3 — 2 5 3 3 3 Personen männlichen Geschlechts,
4 1 6 4 1 — — Personen weiblichen Geschlechts.
Die beiden Frauen der Tabelle H standen im 38., bezw. 61.
Lebensjahre, die 2 Männer dieser im V., resp. IV. Decennium.
Innerhalb der ersten 12 Stunden verliefen 9 Fälle der Tabelle I tödtlich,
„ „ zweiten „ „ „ 18 „ „ n „
„ des zweiten Tages „ 4 „ „ „ „
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Ueber die Vertheilung einiger Gifte im menschlichen Körper.
313
innerhalb des dritten Tages verliefen 2 Fälle der Tabelle I tödtlich,
n n vierten „ n 2 „ „ n „
Die erste Gifteinführung geschah in den Beobachtungen der
Tabelle II 4 Wochen bis 2 x / 2 Tage a. m., in Fall 40 5 Tage vor dem
Tode; in der letzten Beobachtung (Arsenwasserstoff-Vergiftung) lebte
Denatus noch 11 Tage.
Ia. Tödtliche Vergiftungen durch einmalige Einführung
des Arseniks.
a) Giftgehalt der ersten Wege.
Betrachten wir zunächst die Arsenikbefunde in den ersten Wegen
bei denjenigen Fällen, in welchen das Gift (in No. 18, 20, 33 in
Form von Schweinfurter Grün) ungelöst eingeführt worden war. In
Tabelle A sind jene bezüglich des Magens und Inhalts, der Speise¬
röhre und des Zwöffingerdarms nach der Grösse der ermittelten
Quantitäten verzeichnet, in Tabelle B die des Darmes und seines
Inhaltes, aber geordnet nach der durch Tabelle A gegebenen Reihenfolge,
ln Beobachtung 32 ist nur ein (unbestimmter) Theil des Darms und
Tabelle A.
Gefunden wurden in:
Tabelle B.
No.
Alter
und
Geschlecht
Tod nach
Section
nach
As, O 3
mg
Masse
g
Asj 0 3
mg
Masse
g
4.
9jähr. Knabe
6 1/2 St.
4 Tag.
1538,8
467
216,1
1102
2 .
49 j ähr. Frau
5-6 St.
2 Tag.
1202,8
550
163,2
1616
23.
22jähr. Mädchen
18 »/* St.
1 1/4 Tag.
916,5
715
179,7
1255
18.
36jähr. Mann
12—16 St.
4 Tag.
865,6
964
1
26.
59jähr. Mann
20—21 St.
4 Tag.
677,7
540
36,6
1020
19.
32jähr. Mann
17 St.
2 72 Tag.
482,0
1447
111,2
1773
8.
20jähr. Mädchen
8 St.
2 Tag.
224,9
780
20.
21jähr. Mädchen
18 St.
4 Tag.
168,7
430
32.
35jähr. Frau
50 St.
13 Tag.
153,6
400
11,6
120
16.
40j ähr. Frau
14 St.
45 Tag.
126,0
170
28.
50jäbr. Mann
38 St.
3 Tag.
120,5
603
25.
34jähr. Frau
20 St.
6 Mon.
117,7
129
27.
36jähr. Mann
24 St.
3 Tag.
93,0
?
23,0
712
17.
2 3 / 4 jähr. Mädchen
14 St.
3 Tag.
53,2
85
10.
24jähr. Mädchen
9 St.
2 Tag.
9,42
600
11.
46jähr. Mädchen
9»/ 2 st.
3 Tag.
7,82
165
35.
4jähr. Mädchen
90 St.
2 Tag.
4,0
139
17,9
580
33.
30j ähr. Frau
62 St.
2 Tag.
Nichts
100
Nichts
100
21*
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
314
Prof. Lesser,
seines Inhalts zur Untersuchung gelangt, in No. 33 hat der Chemiker
nur 100 g dieser Theile verarbeitet, trotzdem ihm der ganze Darm und
Inhalt zugestellt worden war; die 100 g sind jedoch erst nach Mischung
der Gesaramtmenge dieser entnommen worden. In den übrigen Fällen
beziehen sich die Zahlen der isolirten Arsenikmenge stets auf die
unverkürzten Massen der ersten Wege und ihres Inhaltes.
In No. 4, 23, 35 ist der Inhalt des Magens und der des Darmes,
nachdem seine Reste durch sorgfältiges Abstreifen von der Schleim¬
haut entfernt worden, gesondert von den Organen untersucht worden.
Fs fanden sich, auf 100 g jedes Objects berechnet:
Tabelle C.
in No. 4 in No. 23 in No. 35
(9jähr. Knabe (22j. Mädchen (4jähr. Mädch.
f n. 6 V 2 Std.) f n. 18 V 2 St.) + n. 90 St.)
in Magen und Zwölffingerdarm . . 47mgAs 2 0 3 , 65mgAs2 0 3 , 2mgAsj0 3 ,
in deren Inhalt.418 „ „ 182 „ „ 3 „ „
in Dünn- und Dickdarm . ... 5 , , 8 „ , 3 , ,
in deren Inhalt.45, „ 37, , 1, ,
In No. 4, 23, 35 steht der procentuale Giftgehalt des Magen-
und des Darm-Inhaltes zu der Dauer der Krankheit in einem gewissen
Verhältniss, d. h. in der erstangeführten Beobachtung ist am meisten
As 2 0 3 , in der an III. Stelle erwähnten am wenigsten gefunden worden:
wie irrig jedoch der Satz wäre, je kürzer der Verlauf der
Intoxikation, um so grösser der Giftgehalt der ersten Wege,
lehrt ein Blick auf die Tabelle A. Man vergleiche nur die Be¬
funde in No. 23 mit denen in No. 10 und 11, den von 26 mit jenem
in Beobachtung 20 etc. 1 ) In Fall 23 und in No. 26 trat das erste Er¬
brechen nach Verlauf von 2 resp. 3 Stunden, also relativ spät, ein,
in No. 10 und 11 und wahrscheinlich auch in No. 20 erfolgte es kurze
Zeit nach Einführung des Giftes; bemerkenswerth erscheint mir dieses
Moment immerhin, da auch in anderen Fällen der ersten Hälfte der
Tabelle A ein grösserer Zwischenraum zwischen Ingestion des Arseniks
und Beginn der Entleerungen gelegen war, als in den zum Schluss
dieser Zusammenstellung angeführten Beobachtungen; aber eine Re¬
gel lässt sich auch hieraus nicht abstrahiren (s. z. B. No. 8).
1) In einem oben nicht aufgeführten Selbstmorde eines 62jähr. Mannes, dessen
Krankheitsdauer nicht zu eruiren, dessen ziemlich faule Leiche 10 Tage nach dem
Tode secirt worden war, fand Herr B. Fischer in Magen und Inhalt, Speiseröhre
und Zwölffingerdarm (760 g) 32,44 g As, 2 0 3 (zum allergrössten Theile ungelöst),
in Leber, Milz, Nieren (1200 g) 0,819 g As 2 0 3 , in Urin (13 g) Spuren As.
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
Uober die Verkeilung einiger Gifte im menschlichen Körper.
315
In 7 der Beobachtungen ist der Magen -f* Inhalt gesondert von dem
Darm -f- Inhalt untersucht worden. In 100 g sowohl jenes wie dieses
Objekts war keine Spur von Arsen bei No. 33 (f p. 62 h.) aufzu¬
finden: Die Theile verhielten sich also in Bezug auf den Giftgehalt
gleich. Aus dem Darm-f-Inhalt der Beobachtung 35 (f nach 90 Stdn.)
wurden relativ und absolut grössere Mengen Arseniks dargestellt, als
aus dem Magen -f- Inhalt (3,1 pCt.: 2,8 pCt.); umgekehrt verhielt es sich
in den binnen kürzerer Zeit letal geendeten Fällen No. 4 (f nach
6 1 /a Stdn.), 2 (f nach 5 —6 Stdn.), 19 (f nach 17 Stdn.), 23 (f nach
18 Stdn.), 26 (f nach 20 —21 Stdn.), aber auch der relative Gift¬
gehalt des Darmes -f- Inhalt ist, wie der absolute (s. o.),
ohne constante Beziehung zur Länge der Intoxikation.
Ebenfalls überragt der Giftgehalt des Magens -f- Inhalt den der
tieferen Theile des Verdauungskanals in No. 9 (+ nach 8 Y 2 —9y 2 Stdn.),
in welchem Falle das Gift höchstwahrscheinlich gelöst genommen
war, während Analoga zu No. 35 die Beobachtungen 41 und 49 ab¬
geben können, bei welchen es sich allerdings, wenn nicht ausschliess¬
lich, so doch zum wesentlichsten Theile um secundäre Ausscheidung
der Noxe in den Verdauungskanal handeln dürfte.
In der dritten Kategorie der Fälle, die die Intoxikationen mit
zum Theil ungelöstem Arsenik umfasst, fallen No. 14 und 22 durch
die geringe Menge isolirten Giftes auf; nach ihrer Geschichte dürfte
die Annahme berechtigt erscheinen, dass das Arsenik mindestens zum
wesentlichen Theile in Solution genommen worden ist. In Beobachtung
14 (f nach 12 Stdn.) Hessen sich in Magen und Inhalt (nebst Milz)
nur 0,272 mg, in 22 (f nach 18 Stdn.) in Magen und Inhalt nur
0,844 mg As 2 0 3 nachweisen.
Die Vermuthung der Giftanwendung in Lösuug rufen auch die
Untersuchungsergebnisse von 13 und 15 wach.
Vergleicht man die Befunde in No. 5, 21 , 24 mit einander, so
springt wiederum die Incongruenz ihrer Grösse mit der Länge des
Krankheitsverlaufs in die Augen. Das Nämliche illustriren die Fälle
1 und 29.
b) Giftgehalt der zweiten Wege.
Es empfiehlt sich, zunächst (Tabelle D) die Analysen in’s Auge zu
fassen, die sich auf einzelne Organe und unvermischte Flüssigkeiten be¬
ziehen, und erst im Anschluss hieran (Tab. E) die Befunde einander gegen¬
über zu stellen, welche aus Untersuchungen von Organ- etc. Gemischen
Digitized by
Gck gle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
316
Prof. Lesscr,
sich ergeben haben. Jene Explorationen beziehen sich ausschliesslich
au( Fälle, in welchen das Gift in Pulverform genommen worden war.
In den Tabellen D ist der procentuale Giftgehalt der Objekte
und zwar in Milligrammen As 2 0 3 angegeben, die Abtheilung « umfasst
die Beobachtungen, in denen es sich um erwachsene Personen ge¬
handelt hat, die mit ß bezeichnete solche, welche sich auf Kinder
beziehen.
Tabelle Da.
P*
Alter
und
Geschlecht
Tod
nach
Stund.
Körper¬
muskeln
Os femoris
Section
nach
Tagen
2
49 j. Frau
5—6
4,3
1,4
47,0
1,2
0,4
22,2
0,2
0,5
0,4
2
11
46j. „
91/2
2,0
3
19
32j. Mann
17
3,5
4,2
3,6
0,8
2,0
0,4
0,3
0,3
2 v 2
23
22j. Mädchen
18>/ 2
5,3
16,2
16,3
9,2
14,8
Spur
1,5
1V4
26
59j. Mann
20—21
4,3
1,6
10,6
1,3
2,2
0,1
0,3
0,6
4
27
36 j. „
24
2,8
1,4
1,1
0,8
0.4
0,4
0,1
0,6
1,3
3
33
30j. Frau
62
Spuren
Nichts
Spur
Nichts
!
Nichts
Nichts
Nichts
Nichts
Tabelle D/9.
4
9j. Knabe
6‘/,
6,1
5,1
3,7
1,7
5,8
2.0
1,0
2,5
0,7
4
35
4j. Mädchen
90
0,2
4,6
6,5
2,2
1,8
4,5
0,3
1,4
0,4
2
Die Leber des Falles 23 ist die giftreichste von den der in Ta¬
belle Da mitgetheilten Beobachtungen, die von No. 2 und 19 sowie
von No. 26, 27, 33 enthalten geringere Quantitäten Arsenik. Während
aber der Giftgehalt des in Rede stehenden Organs in den letztange¬
führten Intoxicationen continuirlich abnimmt, ist er bei No. 2 grösser,
als in No. 19, trotzdem die Dauer der Erkrankung hier fast 3 mal
so lang ist, als dort.
Auch die Nieren, das Herz, das Blut, die Körpermuskeln des
Falles 23 weisen das Maxiraum des Giftgehaltes im Vergleich mit
den nämlichen Theilen der anderen Beobachtungen auf; bei den Nieren
und bei dem Blut ist das Anwachsen des Giftgehalts in den voran¬
gestellten Intoxicationen ein continuirliches wie auch das Abnehmen
dieses in den später aufgeführten Vergiftungen. Das Herz der No. 2
wies mehr Arsenik auf als das von 19; das nämliche Verhalten sehen
wir bezüglich der Körpermuskeln Platz greifen, auf deren erhebliche
Digitized by
Gck igle
Original frorn
UNIVERSUM OF IOWA
Ueber die Vertheilung einiger Gifte im menschlichen Körper.
317
Differenz gegenüber dem Myokard (Herz dürfte wohl = Myokard
zu setzen sein) ich noch besonders aufmerksam machen möchte. Die
Abnahme der isolirten Arsenikmengen vollzieht sich in No. 26, 27,
33 bezüglich des Herzens continuirlich, die Körpermuskeln des Falles
27 sind erheblich reicher an Gift wie die von 26.
Der enorme Arsenikgehalt der Milz in No. 2 (postmortale Diffu¬
sion des As 2 0 3 ?) fällt vollständig aus dem Rahmen der anderen Milz¬
analysen heraus, welche sich im Uebrigen um diejenige von 23 in
analoger Weise gruppiren, wie es schon bei den übrigen Unterleibs¬
drüsen betont worden ist.
Die Lungen von 2 enthalten unverhältnissmässig grosse Quanti¬
täten Giftes, in zweiter Reihe stehen die Athmungsorgane von 26,
während die von 19 und von 27 gleich wenig und die von 33 gar
kein Arsenik aufweisen. Ob nicht der Reichthura der Respirations¬
organe in No. 2 durch postmortale Vorgänge (Hineingelangen von
Mageninhalt in Luftwege) veranlasst worden, muss ich offen lassen.
Das Gehirn, dessen procentualer Giftgehalt geringer ist, als der
aller bisher angeführten Organe, erreicht das Maximum in No. 19; in
26 und 27 wurde mehr Arsenik nachgewiesen, als in 23.
Der Oberschenkelknochen von 27 hat die reichlichste Menge
As 2 0 3 geliefert, der von 26 kaum die Hälfte dieser Quantität, jener
von 2 noch weniger, in 33 erwies er sich frei von Gift.
Fall 4 und No. 35 (D ß) bieten ein anderes Bild der As 2 0 3 -Ver-
theilung dar, so dass sie gesonderte Betrachtung erheischen: eine
Differenz, die bei der Uebereinstimmung der Einführungsform der Noxe
mit der der Fälle in Tabelle D a möglicher Weise mit der Jugend der
Vergifteten in Zusammenhang zu bringen sein dürfte. Zunächst ist
auffallend, dass der Tod in 4 erst eingetreten, nachdem so erhebliche
Mengen Arsenik in den Organen abgesetzt worden sind, zweitens ist
bemerkenswerth, dass die procentualen Quantitäten bezüglich der Le¬
ber, der Nieren, des Herzens, des Blutes, des Gehirns, der Körper¬
muskeln und der grossen Röhrenknochen erheblich die des Falles 2
übersteigen, der in annähernd gleicher Zeit geendet hat. Eine Ar¬
senik-Anreicherung gegenüber den gleichen Organen des Bruders (No. 4)
haben die Lungen und das Herz von 35 erfahren; die übrigen Ob¬
jekte wiesen in dieser Beobachtung einen geringeren Giftgehalt auf,
als die entsprechenden von 4. Die Differenzen zeigen erhebliche
Unterschiede; sie sind am grössten bezüglich der Leber und des
Hirns, welches letztere in 4 eine Quantität As 2 0 3 isoliren liess, wie
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITÄT OF IOWA
318
Prof. Lesser,
sic keine der anderen Vergiftungen auch nur annähernd erreicht hat.
Betonen möchte ich noch, dass die Vergiftung 33 durchweg, Beobach¬
tung 27 mit alleiniger Ausnahme der Knochen geringeren Giftgehalt
der Organe darbietet als Fall 35, dessen Krankheitsdauer beträchtlich
länger gewesen.
Der procentuale Giftgehalt der Magenwand und der der Darm¬
wand in No. 4, 23, 35 (siehe Tabelle C, S. 314) weist, worauf ich noch
beiläufig aufmerksam machen möchte, das Maximum in No. 23 auf.
Tabelle E a giebt einen Ueberblick über die Befunde in den
zweiten Wegen bei Intoxikationen Erwachsener, E ß bei solchen, die
E a.
Digitized by Gougle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
lieber die Verthcilung einiger Gifte im menschlichen Körper. 319
Kinder unter 10 Jahren betroffen haben; während die Länge der
Krankheit die Anordnung ira Ganzen bedingt hat, ist der Aggregat¬
zustand des eingeführten Arseniks bei der Eintheilung ebenfalls be¬
rücksichtigt. Im Gegensatz zu den Analysen in Tabelle D beziehen
sich die hier zusammengestellten Befunde auf ungleichartige Objekte;
die über die letzteren vorhandenen Angaben schlicssen zudem eine
Schätzung des procentualen Verhältnisses aus, mit welchem jedes Organ
in dem betreffenden Gemische vertreten ist. Die Befunde der Tabelle E
sind daher mit einander und mit denen der Tabelle D nur in be¬
dingter Weise zu vergleichen.
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
320
Prof. Lcsser,
Eß.
Fall }
Alter
und
Geschlecht
Tod
nach
Stund.
xi
o
ct5
ß
ß
o
‘~p
Ö
<v
Gift ungelöst eingeführt
Leber
Nieren
Milz
Herz
Blut
—
_^
7
27 2 j. Mädchen
7
3 Tag.
+ Hirn
380
Spuren
15
5V*J. „
14
^ »
80 Spur)
17
2 8 /J. *
14
3 „
87 '
5,96
31
lOj. Knabe
48
6 „
+ Haut
u. Lunge
Spuren
34 1
1 V 12 j- »
Tage
1 „
+Darm
3—4
335 0,075
Gift höchstwahrscheinlich vollstän¬
dig gelöst genommen
ö
u
CJ
ß
<D
Ut
o>
s
(Q
<v
bo
ß
Gehirn
<v
•
0>
ß
X3
£
w
Gift vielleicht gelöst genommen.
Gift vielleicht gelöst genommen.
Gift ungelöst eingeführt.
Gift extern in Lösung applicirt.
Gift ungelöst eingeführt.
1 Schweinfurter-Grün-Vergiftung.
Um so bemerkenswerther ist es, dass die drei der am ehesten
zusamraenstellbaren Analysen aus der ersten Columne der Tabelle E «
eine ähnliche Reihe bilden, wie die Intoxikationen der Tabelle D «.
Wie hier im Grossen und Ganzen eine Beziehung zwischen
der Länge der Vergiftungsdauer einerseits und dem Gift-
gehaltc der einzelnen Organe der zweiten Wege anderer¬
seits zu statuiren ist und zwar in der Weise, dass bis zu
einem gewissen Zeitpunkt, weicher bei den verschiedenen
Organen differirt, ein Anwachsen des Giftgehalts und als¬
dann ein Sinken desselben statthat, so zeigt sich auch
etwas Analoges in No. 10, 20, 32. Man fand bei Fall 10 (24jähr.
Mädchen, f nach 9 Stdn., sec. nach 2 Tag.) in Leber, Milz, Nieren
2,2% As 2 0 3 , bei Fall 20 (21 jähr. Mädchen, f nach 18 Stdn., sec. nach
4 Tag.) in Leber, Milz, Nieren 4,2% As 2 0 3 , bei Fall 32 (33jähr. Frau,
f nach 50 Stdn., sec. nach 13 Tag.) in Leber, Milz, Nieren 1,07%
As 2 0 3 . In Fall 11 weisen Theile der nämlichen Unterleibsorgane und
einer unbestimmten Gewichtsmenge Hirns erheblich weniger Arsenik
auf, wie in Beobachtung 10, es liegt aber so nahe,*diese Differenz
der ungleichartigen Mischung der Untersuchungsobjekte zuzuschreiben,
dass jene durch diese wohl als erklärt angesehen werden kann. Für
die Vergleichung von 18 und 20 dürfte das Nämliche geltend zu
machen sein. Auf den (minimalen) Befund in No. 28 mag neben der
Zusammensetzung des Objekts vielleicht auch der Schwächezustand
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UMIVERSITY OF IOWA
Ueber die Vortheilung einiger Gifte im menschlichen Körper. . 321
des Verstorbenen zur Zeit der Intoxikation — in allen anderen Fällen
der Columne 1 handelte es sich um vor dieser gesunde Personen —
von Belang gewesen sein. Die geringe Menge der zur Untersuchung
eingesandten Organtheile lässt das Resultat des Falles 8 aus der
Vergleichung ausscheiden; es erscheint mir endlich als nicht von vorn¬
herein gänzlich auszuschliessen, dass die Grösse des Zwischenraumes
zwischen Tod und Sektion in No. 25 einen Antheil hat an der Differenz
dieser Analyse und jener der Beobachtung 20, deren Vergiftungsdauer
ziemlich gleiche Länge aufweisen, wie ja auch der Fall 16 in dem
nämlichen Sinne von Fall 18 sich unterscheidet.
Nimmt man an, dass in Beobachtung 1 und in No. 29 (IV. Col.) die
Noxe in fester Form genommen worden ist, so fügen sich die Befunde der
durch die Fälle 10, 20, 32 gebildeten Reihe überraschend gut ein.
Es spricht nichts gegen die Annahme, dass in dem vorletzten
Falle der dritten Spalte, No. 21, Arsenik zum wesentlichen Theil in
Flüssigkeit suspendirt cingeführt worden ist; trotzdem eine grössero
Anzahl von Organen an den dem Chemiker zugestcllten Massen par-
ticipirte als in No. 20 — bei beiden trat der Exitus 18 Stunden nach
Vergiftung ein —, ist der procentuale Giftgehalt beide Male fast der
nämliche (4,2 % un( l 4,3%), ein ferneres Moment, welches dafür
anzuführen wäre, die Ingestionsform sei wie die Intoxicationsdauer
die nämliche gewesen.
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
322
Prof. Lesser,
Die Fälle 5, 12, 24 (III. Columne) haben ausser der gleichen
Einführungsform (zum [wesentlichsten] Theil in Lösung) das Gemein¬
same, dass die Entleerungen erst nach zwei und mehreren Stunden
begonnen haben; sie zeigen ein Yerhältniss ihres Giftgehalts, welches,
nicht ohne Regelmässigkeit, von dem in No. 1, 10, 20, 29, 32 auf¬
gefundenen erheblich sich unterscheidet. Ich möchte es nicht von
der Hand weisen, dass diese Differenz allein durch die in
der einen Reihe feste, in der anderen Gruppe flüssige Be¬
schaffenheit des ein verleibten Arseniks veranlasst worden
ist. Es fanden sich bei Beobachtung 5 (56jähr. Mann, f nach
6V 2 Stdn., sec. nach 20 Tag.) in Leber, Milz, Nieren 7,3%As20 s , bei
Fall 12 (62jähr. Mann, f nach 10 Stdn., sec. nach 5 Tag.) in Leber,
Milz, Nieren 2,2 % As 2 0 3 , bei Fall 24 (50jähr. Mann, f nach 18y 2 Stdn.,
sec. nach 2 Tag.) in Leber, Milz, Nieren Spur AsaOg.
Wir sehen also eine Abnahme des procentualen Gift¬
gehalts mit der Länge der Intoxikation eintreten, jene ist,
wie sich sofort ergeben wird, keine ganz regelmässige,
d. h. sie hängt nicht ausschliesslich von dieser ab.
Dass das Untersuchungsergebniss des Falles 3 nicht ein mit den
der zuletzt erwähnten Beobachtungen vergleichbares Resultat — die
Einführungsform dürfte die gleiche gewesen sein — ergeben hat,
ist aus der Zusammensetzung jenes und die so späte Analyse ver¬
ständlich.
No. 13 und 14 (II. Columne) weisen eine wesentlich geringere
Quantität Arseniks in den untersuchten Theilen der zweiten Wege auf,
als Beobachtung 12, die gleichfalls in 10 Stunden letal geendet hatte,
eine Differenz, welche ich nur zum unwesentlichen Theile der Ver¬
schiedenartigkeit der Objekte zuschreiben möchte, ln No. 12 lagen
zwischen Einführung des Giftes und Beginn der Krankheitserscheinungen
mehrere Stunden, in 14 stellten sich nach Auskunft der Akten copiöse
uud oft wiederkehrende Entleerungen sehr bald nach Ingestion der
Noxe ein. Eine Krankheitsgeschichte existirt bezüglich des Falles 13
nicht; beachtenswerth erscheint hier jedoch die ausserordentlich geringe
Menge der bei der Sektion angetroffenen Contenta des Magens und
des Darms. Jedenfalls ist die Dauer der resorptiven Wirkungen
des Arseniks in 12 eine nicht unbedeutend kürzere gewesen als in
13, Fall 12 ist mithin nicht einfach bezüglich seiner Dauer mit Be¬
obachtung 13 zu parallelisiren, jener hat qua Krankheit mehrere
Stunden weniger gewährt; ein grösserer Giftgchalt seiner Organe
Digitized by
Gck gle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
lieber die Verkeilung einiger Gifte im menschlichen Körper.
323
gegenüber 13 wäre also, falls die von No. 5, 12, 24 gebildete Reihe
keine zufällige wäre, vorauszusehen gewesen. Sind die Reaktions¬
erscheinungen in No. 14 ebenfalls schnell eingetreten, so würde das Er¬
gebnis seiner chemischen Untersuchung sich bequem in die Folge der
No. 5, 12,13, 24 einfügen: auch in 24 entsprach übrigens die Krankheits-
länge nicht voll der Zeit zwischen Ingestion des Giftes und dem Tode.
In Beobachtung 9, in welchem der Exitus l 1 / 2 —8y 2 Stunden
nach Beginn des Erbrechens, S l / 2 — 9 Y 2 Stunden nach Ingestion der
in Lösung befindlichen Säure eintrat, wies die chemische Untersuchung
eine noch geringere Quantität derselben nach als in No. 13.
Ob aus dem noch winzigeren Gehalt der grossen Unterleibsdrüsen
und des Blutes in No. 6 (Tod nach 7 Stunden) der Schluss zu ziehen,
dass auch hier der Arsenik gelöst genommen, halte ich für durchaus
discutabel.
Wäre diese Annahme eine zutreffende, so würden also die No. 6,
9, 13, 14, 24 gemeinsam darthun, wie schnell bei flüssiger Ingestion
der Arsenik ausgeschieden wird; es ist ausserordentlich zu bedauern, dass
Harnuntersuchungen aus einem oder mehreren dieserFälle nicht vorliegen.
Blicken wir nun noch einmal zurück auf die Auseinandersetzungen
dieses Abschnittes, so sehen wir, dass die am wenigsten complicirten
Beobachtungen der Tabelle E a (die Gründe, weshalb ich den Fällen 8,
25, 28 eine eximirte Stellung glaube zuweisen zu müssen, habe ich
S. 320 und 321 bereits angeführt) mit Hilfe einiger Hypothesen in zwei
Kategorien unterzubringen sind. Die eine, 9 Intoxikationen (No. 1,
8, 10, 11, 16, 18, 20, 21, 32) umfassend, bietet eine (gewisse) Bestäti¬
gung der durch die Fälle der Tabelle Da angedeuteten Regel be¬
züglich der Resorption und der Ausscheidung des in fester Form auf
ein Mal genommenen Arseniks, die zweite, 8 Fälle (No. 3, 5, 6, 9, 12,
13, 14, 24) in sich begreifend, giebt Aufschluss über den Giftgehalt
der zweiten Wege nach einmaliger Ingestion der nämlichen, aber in
Lösung befindlichen Noxe.
Es erscheint mir nicht uninteressant, noch die Befunde in dem
Verdauungskanal mit denjenigen in den zweiten Wegen zusammenzu¬
stellen, so weit dies thunlich ist.
Tabelle F a. In 100 g der In 100 g des
zweitenWege Magensu.Inh.
Fall 1 (60j. Mann, f n. 5 Stdn., sec. n. 5 Tag.) 1,1 85
„ 8 (20j. Weib, f „ 8 „ „ „ 2 „ Spur 28,9
„ 10 (24j. Mann, f „ 9 „ „ „ 2 „ Spuren 1,5
Digitized by Gougle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
324
Prof. Löss er,
In 100 g der In 100 g des
zweitenWege Magens u.Inh.
Fall 11 (46 j. Mann,
f n. 9 1 /» Stdn., s
ec. n.
3 Tag.)
1,4
4,7
„ 18 (36j. „
t „ 12-16 „
ti n
4
V
1,3
89,8
„ 20 (21j. Weib,
t n 18 „
TI TI
4
TI
4,2
41
„ 25 (34j. „
t » 20 „
TI TI
180
TI
15,4
91
„ 28 (50j. Mann,
t n 38 „
V 71
3
V
Spur
20
„ 29 (46j. Weib,
t » 42 »
TI TI
1
TI
1,5
66
„ 32 (33j. „
t n 50 „
TI TI
13
TI
1,07
38
Tabelle
F ß.
-j- Darm u. Inhalt
Fall 5 (50j. Weib,
f n. 67 2 Stdn., sec. n.
20 Tag.) 7,3
83,5
Magen u. Inhalt
8 (40j. „
t n 7
TI TI
3
V
Spur
87,8
„ 9 (35-40j. Mn f „ 87,-9
TI TI
1
V
Spur
61,7
„ 12 (62j. Mann,
t * 10 „
V 7)
5
TI
2,2
5
4- Darm u. Inhalt
„ 13 (25-30j. W.
t „ 10-12 „
TI TI
4
7)
0,15
0,35
Magen u. Inhalt
u. Milz
„ 14 (53j. Mann,
t n 12 „
TI 7)
2
TI
Spur
0,072
Magen u. Inhalt
„ 24 (50j. „
t » 18% „
TI TI
2
T)
Spur
54,7
Tab. F a enthält Vergiftungen mit Arsenik in Pulverform, Tab. F ß
solche, in denen zum Mindesten die Vermuthung berechtigt ist,
das Gift sei zum wesentlichen Theil gelöst genommen worden. In
No. 25 (Tab. F «), der jedoch in Folge der späteren Anstellung der
Analyse eine Ausnahmestellung zuzuerkennen, fällt zwar der grösste
Giftgehalt des Magens und seines Inhaltes mit dem der zweiten
Wege zusammen, aber welch eine Differenz bezüglich dieses Verhält¬
nisses besteht in den Beobachtungen 1, 18, 29. In 100 g der zweiten
Wege wurden bei der letzterwähnten Intoxikation 1,5 mg As 2 0 3 er¬
mittelt; fast das nämliche Resultat ergab sich in No. 11 (1,4 mg),
in dem Magen und Inhalt dieses Falles betrug der Giftgehalt 4,7, in
dem von 29 66pCt. No. 11 und 18 bieten einen analogen Unterschied.
Es fällt also hier weder der höchste Giftgehalt der
ersten Wege mit dem der zweiten zusammen, noch finden
wir das Arsenik-Maximum in diesen neben den kleinsten
Befunden in Magen und Inhalt; eine gesetzmässige Be¬
ziehung in Betreff des in Rede stehenden Verhältnisses tritt
nicht hervor.
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Ueber die Vertheilung einiger Gifte im menschlichen Körper.
325
Das Nämliche zeigen die Beobachtungen der Tabelle F ß.
Die Ergebnisse von 6, 9, 24 führen wie die von 1, 8, 18, 20, 29, 32
zu der Vermuthung, dass die Resorption der Noxe in den späteren
Stadien der Intoxikation eine minimale ist, eine Erscheinung, die in
den alsdann vollentwickelten katarrhalischen Veränderungen der In¬
testinalschleimhäute sehr wohl ihren Grund haben könnte.
In Tabelle E ß zeigt Beobachtung 17 (2 8 /Jähr. Mädchen, f nach
14 Stdn., sec. nach 3 Tagen) einen sehr hohen Giftgehalt der zweiten
Wege, trotzdem mit den grossen Unterleibsdrüsen auch das Herz
untersucht worden ist, ein Befund, welcher mit den Ergebnissen der
Tabelle D ß in Uebereinstimmung steht.
Ist die Annahme zutreffend, dass in No. 7 und 15 die Noxe
gelöst einverleibt worden, so würden die Spuren des Arseniks, welche
man aus den zweiten Wegen dieser Beobachtungen isolirt hat, im
Hinblick auf die Ergebnisse der in der Tabelle E ß verzeichneten Ver¬
giftungen nicht ohne Analogie sein; aber der Unterschied in der
Aufnahme und in der Ausscheidung des Arseniks zwischen dem kind¬
lichen und dem erwachsenen Organismus, welcher nach Ingestion des
pulverförmigen Giftes hervortritt, erscheint hier verwischt.
Von einer Vergleichung der beiden letzten Fälle der Tabelle E ß
nehme ich Abstaud, weil die Organe der zweiten Wege nicht isolirt
dem Chemiker zugestellt worden sind.
Ib. Tödtliche Vergiftung durch mehrfache Ingestion von
Arsenik.
In No. 36 (mehrfache Beibringung einer Fliegenpapier-Auslaugung)
war die letzte Dosis etwa 12 Stunden vor dem Tode gereicht worden:
die Analyse wies in Theilen der ersten Wege (750 g Magen, Darm
-1- Inhalt) 52,1 mg As 2 0 3 nach. Dieser Befund ist um ein sehr
Erhebliches höher als der entsprechende in den ca. l / 2 Tag währenden
Intoxikationen 13 und 14: eine Differenz, die zum Theil darin ihren
Grund haben könnte, dass in Beobachtung 36 zur Zeit der letzten
Arsenikeinführung bereits stark afficirte Schleimhäute, im Beginn der
beiden anderen Intoxikationen dagegen mit normalen Resorptions¬
verhältnissen ausgestattete Mägen und Därme vorhanden gewesen
sind (siehe oben).
Leider boten die Akten der drei folgenden Fälle der Tabelle Ib
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
326
Prof. Löss er,
gar keinen Anhalt für die Verabreichungszeit der letzten Giftdosen,
geschweige einen solchen für deren Grösse dar.
In No. 36 war übrigens der Arsenikgehalt der intestinalen Con-
tcnta und der der Magen-Darm-Wand fast der nämliche. (Section erst
nach 11 Tagen!)
Der Giftgehalt der zweiten Wege weicht in den Fällen 36
und 14 nicht von einander ab. In Beobachtung 38, bei welcher in
100 g der ersten Wege 22,5 mg As 2 0 3 ermittelt worden, betrug der
Procentgchalt des aus Theilen der Leber, der Milz, der Nieren be¬
stehenden Objekts 1,7, in No. 37 4,1 und in Beobachtung 39, deren
Sektion wiederum erst viele Wochen p. m. vorgenommen worden,
8,2 mg arseniger Säure. Da über den Zustand der ersten Wege bei
der letzten Gifteinführung sowie über den Zeitpunkt dieser selbst gar
Nichts bekannt ist, so erübrigt sich eine Vergleichung der hier ge¬
machten Befunde mit solchen der Tabelle F ß.
I c. Tod durch Delirium tremens und Arsenik-Vergiftung.
I d. Medicinale Verabreichung von Solutio Fowleri nebst Anhang
(Arsenwasserstoff-V ergiftung).
In No. 40, in welcher jedenfalls und zwar zwei Tage vor dem
Tode eine sehr viel erheblichere Quantität gelösten Arseniks, als in
Beobachtung 41 4 Tage a. m., gereicht worden ist, war das Ergcbniss
der Untersuchung des Magens und Inhalts ein negatives, während die
Analyse in No. 41 sowohl in Magen und Inhalt wie in Darm und Con-
tentis Spuren der Noxe nachzuweisen vermochte. In No. 41 war Er¬
brechen nicht eingetreten, in No. 40 hatten zahlreiche Entleerungen auch
per os stattgehabt. Ob eine analoge Differenz auch bezüglich der zweiten
Wege in Betreff der beiden in Rede stehenden Fälle vorliegt, wage ich
nicht zu entscheiden; die Untersuchungsobjekte sind zu ungleich.
In Hinblick auf das nämliche Moment möchte ich auch dahin¬
gestellt sein lassen, ob in der That, wie es den Anschein hat, die
Organe der zweiten Wege in No. 41 giftreicher gewesen sind, als in
Beobachtung 6, 9, 14, 24.
Wenn es auch nicht überrascht, dass in der Arsen-Wasserstoff-
Vergiftung (No. 40) trotz des späteren Eintritts des Todes (am
12 . Tage) die Analyse fast jeden Organs positive Befunde ergeben
hat, so sind doch die ermittelten Quantitäten, an den Mengen der
vorstehenden Fälle gemessen, sehr grosse.
Digitized by
Gck gle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
Ueber die Vcrtheilung einiger Gifte im menschlichen Körper.
327
Die durch AsHg 1 ) erzeugte Krankheit ist — wie ihre anato¬
mischen Substrate — wesentlich verschieden von der durch As 2 0 3
bedingten Affektion. Bemerkenswerth erscheint es mir noch, dass
der Magen, der akuter Veränderungen entbehrte, frei von Gift sich
erwies, dass das Zwerchfell eine ganz besonders starke Affinität zu
der Noxe zeigte, welche die der Körpermuskeln und auch die des Myo¬
kards übertraf. In den As 2 0 3 -Vergiftungen (No. 2, 4, 19, 23, 28, 35),
bei welchen die Körpermuskeln untersucht worden, zeigten diese
übrigens durchweg einen geringeren Giftgehalt als das Herz, während
das Myokard des AsH a -Falles in dieser Beziehung weit hinter dessen
Gesässrauskeln zurückstand. Der Gehalt seiner Leber spricht unzwei¬
deutig für ihr Aufspeicherungsvermögen in Bezug auf unsere Noxe.
Die Abschnitte I e, I f bedürfen wohl keiner Erläuterung, zumal
ich einige epikritische Bemerkungen in die Wiedergabe des That-
bcstandes eingeflochten habe.
Zum Schluss möchte ich nicht unerwähnt lassen, dass bei den
Vergiftungen mit Schweinfurter Grün — eine in ihrer Zusammensetzung
variirende Noxe — der Arsenik- und der Kupfergehalt der zweiten
Wege weder mit dem der ersten noch der dieser beiden mit dem des
benutzten Materials übereinstimmen müssen.
So bot in Fall 20 der nicht verbrauchte Rest des angewendeten
Grüns auf 100 Theile Arsenik 67 Theile Kupferoxyd; fast genau das
nämliche Verhältnis bestand in dem Gift, das in dem zum Anrühren
des Pulvers gebrauchten Topfe gefunden wurde; auf 100 Theile
Arsenik kamen hier 67,1 von CuO. In dem Erbrochenen aber
waren auf 100 As 2 0 3 111 CuO vorhanden.
1) Die gefundenen As-Mengen sind in der grossen Tabelle (S. 296) auf
AsgOg berechnet wiedergegeben worden; As wurde eruirt in Magen und Inhalt
(160 g) keine Spur, in Dünndarm und Inhalt (745 g) 0,5 mg.
ln Dickdarm und Inhalt . . . . ( 578 g) 0,15 mg
„ der Leber.(1223 „) 12,0 „
,, dem Zwerchfell.( 98 „) 0,8 „
„ der Milz.( 107 „) 0,5 „
„ dem Gehirn.( 944 „) 0,4 „
„ der Galle.( 56 „) 0,3 „
„ Blut aus dem Herzen . . . . ( 63 „) 0,25 „
„ in Theilen der Gesässmuskcln . ( 357 „) 0,2 „
„ der linken Niere (die rechte fehlte) ( 212 „) 0,2 „
„ der linken Lunge.( 420 „) 0,15 „
„ dem von Blut befreiten Herzen . ( 230 „) Spuren.
Viorteljahrsschr. f. gor. Med. Dritte Folge. XIV. 2. 22
Digitized by
Gck igle
Original frn-m
UNiVERSUY OF IOWA
828 Prof. Lcsser, Vertlieilung einiger Gifte im menschlichen Körper.
ln Beobachtung 18 verhielt sich die Menge der As 2 0 3 zu der
des CuO in dem Magen und Inhalt wie 100 : 44, in dem Gemisch
von Leber, Milz, Nieren, Herz und Blut wie 100 : 60; in den zweiten
Wegen von Fall 34 war das Verhältniss ein umgekehrtes, auf 1320
Theile CuO kamen 100 Theile As 2 0 8 .
Bei No. 48 fanden sich im Darm auf 100 Theile As 2 0 8 260 Theile
CuO, in den Rumpforganen auf 100 As 2 0 8 173 CuO, im Magen war
zwar eine Spur As, aber kein Kupfer, im Gehirn neben einer Spur As
0,6 mg CuO nachweisbar: Differenzen, die wohl auf eine ver¬
schiedene Resorbirbarkeit der uns interessirenden Compo-
nenten des Schweinfurter Grüns von den ersten Wegen aus
und auf eine differente Aufspeicherungs-Fähigkeit der ein¬
zelnen Organe in Bezug auf jene zurückzuführen sein dürften.
(Fortsetzung folgt.)
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
II. Oeffentliches Sanitätswesen.
1 .
Zwei Gutachten
über
Reinigung städtischer Kanalwässer
auf Veranlassung der Stadtverwaltungen zu Köln und Thorn
erstattet von
Prof. C. Fraenkel in Halle a. S.
a) Köln.
Auf Grund einer am 16. October d. Js. ausgeführten Besichtigung
der in Betracht kommenden Verhältnisse, sowie nach genauer Kennt-
nissnahme der bisher vorliegenden Untersuchungen und Verhandlungen,
erstatte ich das nachstehende Gutachten über die endgiltige Be¬
seitigung der dortigen Kanalwässer, bei dessen Abfassung ich die mit
Schreiben vom 27. October d. J. aufgeworfenen einzelnen Fragen thun-
lichst berücksichtigt habe, welche lauteten:
1 . Ist bei den in Köln vorliegenden Entwässerungsverhältnissen,
insbesondere bei der vorhandenen zweckentsprechenden Lage
der Ausmündung der Kanalisation und den ungemein günstigen
Vorfluthverhältnissen durch den Rhein eine Reinigung der Kanal¬
wässer in gesundheitlichem oder sonstigem Interesse erforderlich?
2 . Eventuell in welchem Maasse?
3. Genügt hierzu
a) eine Abfangung der schwimmenden und schwebenden Stoffe
(Fäkalien, Papier, Gedärme, Holz u. s. w.) und der schweren
Stoffe (Sand, Kohle, Fleischreste u. s. w.) durch Siebe,
Sandfänge oder andere geeignete Vorrichtungen, oder wird
ausserdem
b) eine Ausscheidung eines Thcils der im Kanalwasscr suspen-
dirten Stoffe durch Klärbecken für erforderlich erachtet?
22 *
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
330
Prof. Fraenkel,
4. Wie hoch wird bei Eintreten des Erfordernisses unter 3 b die
Durchflussgeschwindigkeit in den Klärbecken zu bemessen sein?
Ist es in gesundheitlicher Beziehung zulässig, den bei der
Reinigung der Kanalwässer gewonnenen Schlamm, falls derselbe
keine andere Verwendung findet, cinzuplaniren und zur Aus¬
füllung und Aufhöhung vorhandenen Terrains östlich der pro-
jectirten Kläranlage zu benutzen?
Darauf ist Folgendes zu antworten:
Eine völlig freie Einleitung der von der Kölner Kanalisation ge¬
lieferten Abwässer ohne jede vorherige Behandlung in den Rhein ver¬
bietet sich trotz der ungewöhnlich günstigen dortigen Verhältnisse
doch aus den verschiedensten Gründen. Einmal müssten mindestens
die gröberen schwimmenden Substanzen, wie Papierfetzen, Kork¬
stopfen, Orangenschalen u. s. w., die zuerst die Aufmerksamkeit der
stromabwärts befindlichen Flussanwohner auf sich lenken und die
Klagen über die Verunreinigung des Wassers hauptsächlich hervor-
rufen, aus der Jauche abgeschieden werden. Das gleiche gilt ferner
für die schweren, die eigentlichen Sinkstoffe, wie Sand, feste Koth-
ballen u. s. w., die ungeachtet der sehr zweckmässigen Lage der
Mündung des Kanalrohrs im fliessenden Rheinstrom im Laufe der
Zeit doch zur Ansammlung grösserer Schlammmassen im Flussbette
Veranlassung geben können und deshalb unbedingt vorher zu be¬
seitigen sind. Endlich und namentlich aber erscheinen vom Stand¬
punkte der öffentlichen Gesundheitspflege besondere Einrichtungen
zur Aufnahme und weiteren Behandlung der Schwemmjauche schon
deshalb als nothwendig, weil sie allein uns die Möglichkeit gewährleisten,
im Falle des Ausbruchs einer Seuche in der Stadt die Abwässer mit
Hülfe chemischer Mittel gründlich zu desinfiziren und ihrer Gefährlich¬
keit zu entkleiden.
Den hiermit aufgcstellten und kurz begründeten Forderungen
würden nun zweifellos schon einfache mechanische Vorkehrungen,
Eintauchplatten, Siebe und Sandfänge, sowie verhältnissmässig kleine
Sammelbecken durchaus genügen.
Wenn die Königl. Regierung anstatt dessen erheblich umfassendere
Maassnahmen zur Reinigung der Schwemrajauche verlangt, so muss
dieses Bestreben doch grundsätzlich als durchaus berechtigt bezeichnet
werden. Dass die gewaltige Wassermasse des Rheins zur Zeit die
ihm aus der Kölner Kanalisation zufliessenden Unrathmengen ohne
jede Schwierigkeit rasch und sicher verdaut, geht aus den sorgfältigen
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Zwei Gutachten über Reinigung städtischer Kanalwässer.
331
Untersuchungen von Stutzer und Knublaueh 1 ) mit zweifelloser
Deutlichkeit hervor, nnd auch die von dem städtischen Bauinspector,
Herrn Steuernagel 2 ), in seiner interessanten Abhandlung aufgestellte
Berechnung, wonach der Zutritt der Kölner Kanaljauche den Ver¬
unreinigungsgrad des Rheins nur von l : 5000 auf 1 : 4975, also um
etwa 0,5 pCt. erhöht, dürfte kaum anzufechten sein. Es ist aber bei
der Würdigung dieser Thatsachen zu berücksichtigen, dass ausser
Köln noch eine erhebliche Anzahl anderer grosser und mittlerer Ge¬
meinwesen am Rheine liegt und in den Fluss entwässert, die sich
alle nach dem Muster und Beispiele von Köln richten und das Vor¬
gehen Ihrer Stadt bei der Behandlung des Kanalinhalts alsbald nach¬
zuahmen versuchen werden. Es ist gewiss bemerkenswerth, dass,
wie die Akten erweisen, wenige Wochen nach Ertheilung der Er¬
laubnis zur Einleitung der Kanaljauche in den Rhein ohne vorherige
chemische Klärung, sich Strassburg, Worms, Mainz, Wiesbaden und
Düsseldorf schon mit Anfragen dorthin gewendet haben, die den
Wunsch erkennen lassen, die nämliche Vergünstigung zu erlangen.
Würde die Regierung sich nun in Köln mit der Erfüllung der nach
Lage der dortigen Verhältnisse allenfalls zulässigen leichtesten Bedin¬
gungen begnügen, so würde sie die gleiche Concession auch an
anderen Stellen kaum versagen können. Bei dem raschen und
stetigen Anwachsen unserer grösseren Städte ist aber nicht zu be¬
zweifeln, dass auch der Rheinfluss eine allgemeine Benutzung als
Ablagerungsstätte für städtische Auswurfsstoffe ohne eine im Laufe
der Zeit immer zunehmende Verschmutzung nur dann zu ertragen
im Stande sein wird, wenn bei der Einleitung .der Abwässer jede
mögliche Vorsicht beobachtet wird. Die Staatsbehörden, denen der
Schutz der öffentlichen Wasserläufe anvertraut ist, haben daher meines
Erachtens alle Veranlassung, nicht den einzelnen Fall losgelöst aus
seinem Zusammenhänge zu betrachten, sondern bei ihren Entschei¬
dungen auch die für die weitere Entwickelung der ganzen Frage
resultirenden ’ Folgen zu erwägen, und deshalb grundsätzlich zu ver¬
langen, dass die unvermeidliche Verunreinigung der Flüsse
1 ) Stutzer und Knublaueh, Untersuchungen über den Bakteriengehalt
des Rheinwassers oberhalb und unterhalb der Stadt Köln. Centralbl. f. allgem.
Gesundheitspflege. 1893.
2) Steuernagel, Untersuchungen über die Verunreinigung des Rheins
durch die Kölner Kanalwässer. Gesundheitsingenieur. 1893.
Digitized by
Gck igle
Original from
UMIVERSITY OF IOWA
332 Prof. Fraonkel,
sich wenigstens auf ein thunlichst geringes Maass be¬
schränke.
Aber auch für die städtischen Verwaltungen ist es nicht nur
ein nobile officium, sondern mehr noch ein Gebot der Klugheit, sich
auf den gleichen Standpunkt zu stellen. Der Verzicht auf die früher
stets geforderte chemische Reinigung der Abwässer bedeutet eine
so erhebliche Rücksichtnahme auf die Interessen und die finanzielle
Leistungsfähigkeit der Städte, dass es gewiss gerathen erscheint, sich
zunächst mit dieser Errungenschaft zu begnügen. Thut man das
nicht und versucht man, den Bogen noch weiter zu spannen, so ent¬
steht die Gefahr, dass das Pendel nach der anderen Seite zurück¬
schlägt, dass die jetzt glücklich überwundene rigorose Ausschliessung
städtischer Abfallstoffe von den Flüssen, der man eine gewisse prin-
cipielle und theoretische Berechtigung ja nicht wird abstreiten können,
die aber für die Städte zu den grössten Unzuträglichkeiten geführt
hat, aufs neue zu Ehren gelangt und der mühsam erreichte Fort¬
schritt wieder verloren geht.
Es ist daher sehr erfreulich, dass die Stadt Köln in richtiger
Würdigung dieser Thatsachen grundsätzlich durchaus bereit ist, ihre
Kanalwässer vor der Einleitung in den Rhein einer sorgfältigen Säube¬
rung zu unterwerfen und nur über das Maass der hierfür nöthigen
Vorkehrungen zu den Forderungen der Regierung in Widerspruch ge¬
rathen ist. Von beiden Seiten werden Sedimentirbecken, in denen
die Schwemmjauche eine erhebliche Verringerung ihrer Strömungs¬
geschwindigkeit erfährt und so Gelegenheit findet, den grösseren
Theil aller suspendy-ten Stoffe abzusetzen, als das für den vorliegenden
Zweck geeignetste Mittel anerkannt. Während aber die Stadt den
Becken nur eine Ausdehnung geben will, durch welche die Fort¬
bewegung der Flüssigkeit auf 15 mm in der Sekunde herabgesetzt
wird, verlangt die Regierung eine Anlage, die eine Verlangsamung
auf 4 mm ermöglicht, und es entsteht also die Frage, ob diese oder
jene Anschauung die grössere Berechtigung hat.
Meines Wissens sind genauere Untersuchungen über den Einfluss
der mechanischen Klärung an umfangreicheren Anlagen bisher nur von
Lepsius in Frankfurt a./M. 1 ) ausgeführt worden; dieselben haben
1) Lepsius, Chemische Untersuchungen über die Reinigung der Sielwiisser
im Frankfurter Klärbecken. Jahresbericht dos physikalischen Vereins in Frank¬
furt a. M. 3 Abhandlungen. Frankfurt a. M. 1889, 1890, 1891.
Digitized by
Gck gle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Zwei Gutachten über Reinigung städtischer Kanalwüsser.
333
bekanntlich zu dem sehr bemerkenswerthen Ergebnis« geführt, dass
die mechanische Reinigung der chemischen nahezu ebenbürtig ist,
und dass namentlich die suspendirten Stoffe, besonders ihr organischer,
fäulnissfähiger Antheil bei beiden Verfahren in ganz dem gleichen
Maassc, d. h. bis auf etwa 15 oder 17 pCt. ausgeschieden werden.
In den Frankfurter Sielbccken wird die Strömungsgeschwindigkeit
der Jauche auf 4 mm herabgesetzt; ich will jedoch bemerken, dass
cs sich auch hier nur um einen Durchschnittswerth handelt, der zu
gewissen Tageszeiten und bei Ausschaltung eines Beckens um ein
mehr oder minder beträchtliches überschritten wird und sich nach
der in der Regierungsverfügung vom 6. Febraur d. Js. für Köln auf¬
gestellten Rechnung eventuell bis auf etwas über 7 mm erhöhen kann.
Trotzdem hat Lepsius regelmässig, auch in den Vormittagsstunden,
zur Zeit des grössten Zuflusses, die erwähnten günstigen Ergebnisse
erhalten, und wir wissen also, dass die mechanische Klärung
bei einer Strömungsgeschwindigkeit von 4 mm in der Se¬
kunde alles erforderliche leistet. Dagegen ist es noch durch¬
aus unbekannt und weder auf dem Wege der Erfahrung noch des
Versuches festgcstellt, wie sich die Dinge bei anderen Durchfluss¬
zahlen gestalten. Es wäre sehr wohl denkbar, dass z. B. bei 8 mm
zwar nicht 83 oder 85, aber doch noch 75 pCt. und bei 15 mm
noch 70 pCt. der suspendirten Stoffe abgefangen werden, und man
würde jedesmal gewiss reiflich zu überlegen haben, ob der durch die
stärkere Verlangsamung zu erzielende Gewinn in richtigem Verlud t-
niss zur Höhe der aufgewendeten Mittel stehe.
Schon aus diesem Grunde, weil also die hier aufgeworfenen
Fragen noch durchaus einer Beantwortung und Lösung harren, würde
ich es für ungerechtfertigt erachten, wenn man das Frankfurter
Schema nun ohne weiteres auf alle ähnlichen Fälle übertragen wollte.
Es lässt sich aber auch noch ein anderes Bedenken hiergegen geltend
machen. Die Zusammensetzung der Abwässer verschiedener
Städte ist keineswegs eine gleichartige, und somit werden
auch die Anforderungen an die Reinigungsverfahren innerhalb gewisser
Grenzen schwanken müssen und dürlen. Je nach dem durchschnitt¬
lichen Wasserverbrauch der Bevölkerung, nach der Entwickelung und
dem Character der Industrie, nach der Lage des betreffenden Ortes
u. s. f. wird die Jauche bald verdünnter, bald concentrirter sein, bald
grössere, bald geringere Mengen suspendirter und gelöster Stoffe
enthalten.
Digitized by
Gck gle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
334
Prof. Fraenkel,
n
?»
j»
n jj
November d. Js. in
So führen 1 ) z. B. die Kanalwässer von
Paris 1515 rag suspendirter Substanzen im Liter.
Frankfurt a. M. 1300 „
Berlin 670 „
London 614 „ „
Danzig 600 „ „
Die Kölner Sielwässer habe ich am 23-/24
Pausen von je 6 Stunden dem Hauptkanal entnehmen lassen und bei
ihrer Analyse nur einen Durchschnittsgehalt von 273 mg suspendirter
Bestandtheile im 1., also eine relativ sehr geringe Menge gefunden.
Möglich, dass diese Zusammensetzung eine zufällige, möglich auch,
dass sie ein dauerndes Kennzeichen der Kölner Schweramjauche und
durch die in den grösseren Sammelkanälen mehrfach angebrachten
Schlammfänge bedingt ist. Diese Frage wird sich natürlich erst auf
Grund zahlreicherer und regelmässigerer Untersuchungen entscheiden
lassen, immerhin zeigt aber auch das jetzt erhaltene Ergebniss schon,
dass beträchtliche Abweichungen in dem Aufbau der Abwässer Vor¬
kommen, die begreiflicher Weise für die weitere Behandlung derselben
von erheblichster Bedeutung sein müssen.
Ich möchte mir deshalb ganz ergebenst folgenden Vorschlag
erlauben:
In Köln werden mit der dortigen Schweramjauche sorgfältige
Versuche angestellt, die zu ermitteln haben, wie sich dieselbe unter
dem Einfluss verschiedener Strömungsgeschwindigkeiten in ihrer Be¬
schaffenheit verändert und namentlich ihrer suspendirten Bestandtheile
entledigt. Zu diesem Zwecke werden dort zwei auswechselbare
Sedimentirbecken in den Grössenverhältnissen errichtet, wie sic
die Stadt für die endgiltige Anlage geplant hat, die später auch in
die letztere übergehen und also von vornherein auf eine dauernde
Benutzung zugeschnitten sein müssen. Dieselben sind mit Vorkeh¬
rungen zu versehen, welche eine genaue Regelung und Controlle der
Durchflusszeit und deren beliebige Veränderung von etwa 2 auf
etwa 20 mm ermöglichen. Bei den verschiedenen Geschwindigkeiten
werden dann von zuverlässiger und sachverständiger Seite Proben der ab-
1) Die Zahlen sind thei 1 s dem Werke von J. II. Vogel, „Die Verwerthung
der städtischen Abfallstoffo“, theils den einschlägigen Veröffentlichungen von
Weyl und Lcpsius entnommen.
Digitized by
Gck igle
Original frn-m
UNIVERSITY OF IOWA
Zwei Gutachten über Reinigung städtischer Kanalwässer.
385
fliessenden Jauche entnommen, bezw. untersucht und darnach die
Wirkung der mechanischen Reinigung beurtheilt.
An Stelle der Becken und zu dem gleichen Zwecke Röckner-
Rothe’sche Thürrae zu entrichten, wie es angeregt worden ist, halte
ich nicht für rathsam. Das Röckner-Rothe’sche Verfahren ist
in seiner bisherigen Gestalt ganz auf den chemischen Betrieb, aut die
Erzeugung eines voluminösen Kalkniederschlags berechnet und scheint
sich bei Verzicht auf seine besonderen Klärmittel nicht zu bewähren,
wie Versuche von Löffler 1 ) gezeigt haben.
Von dem Ausfall der Prüfungen wird cs dann abhängig zu
machen sein, welche Durchflussgeschwindigkeit man der Kölner
Schwemmjauche auferlegt, d. h. welche Grösse man dem Sedimentir-
becken giebt.
Dabei wird man auf der einen Seite fordern müssen, dass die
mechanische Reinigung nicht nur zum Schein erfolgt, sondern eine
ausgiebige Wirkung entfaltet, und also in jedem einzelnen Falle mehr
als die Hälfte der suspendirten Stoffe entfernt.
Auf der andern Seite aber wird die Stadt Köln erwarten dürfen,
dass ihre ganz ungewöhnlich günstigen Vorfluthverhält-
nisse bei der Entscheidung eine gebührende Berücksichtigung finden.
Der Rhein mit seinen 783 Sekunden-Kubikmetem bei Niedrigwasser
gewährleistet in der That, selbst wenn die Kölner Kanalisation die
Abwässer von 400000 Menschen, d. h. 56000 cbm im Tage abführen
würde, noch eine mehr als lOOOfache, zur Zeit, wo nur die Abgänge
von etwa 200000 Seelen in Betracht kommen, eine mehr als
2000fache Verdünnung derselben. Auch die Strömungsgeschwindig¬
keit mit 1,03 m in der Sekunde ist eine sehr erhebliche, und jeden¬
falls befindet sich kaum eine deutsche Stadt, die ihre Abwässer mit oder
ohne vorherige Klärung dem nächsten Flusslaufe überantwortet, in
einer so beneidenswerthen Situation wie gerade Köln. Es wäre gewiss
unbillig, wollte man dem Princip zu Liebe an diesem Umstande vor¬
beisehen und Köln die gleichen Bedingungen auferlegen, wie Städten
unter wesentlich anderen und ungünstigeren Verhältnissen. Man wird
sich auch hier vor Verallgemeinerungen hüten, vielmehr individualisiren
und beispielsweise Marburg oder Hannover mit strengerem Maasse
messen müssen, als Köln oder Thom.
1) Löffler, Centralbl. f. Bakt. Bd. 13. S. 435.
Digitized by
Gck gle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
336
Prof. Fraenkel,
Die Regierung hat nun freilich in ihrer letzten Verfügung vom
22 . April d. Js. als neuen Gesichtspunkt in die ganze Frage die Er¬
wägung eingeschoben, dass bei der von der Stadt gewünschten
grösseren Durchflussgeschwindigkeit der Jauche in den Becken „den
in den letzteren verbleibenden Rückständen gerade diejenigen Stoffe
entzogen würden, welche für ihre landwirtschaftliche Verwerthung
vorzugsweise in Betracht kommen. Dieser Umstand legt die Befürch¬
tung nahe, dass der Absatz der Rückstände und ihre nutzbringende
Verwerthung mit Schwierigkeiten verknüpft, oder ganz in Frage ge¬
stellt werden würde. Der Zweck der ganzen Anlage wäre somit ver¬
fehlt, und ihr Nutzen stände jedenfalls in keinem Verhältniss zu den
dafür aufgewendeten bedeutenden Mitteln.“ Ich vermag mich diesen
Ausführungen nicht anzuschliessen. Einmal steht es, wie oben er¬
örtert, noch keineswegs fest, sondern müsste erst durch genaue
Untersuchungen ermittelt werden, ob bei einer Erhöhung der Strömungs¬
geschwindigkeit auf 15 mm thatsächlich eine erheblich grössere Menge
von suspendirten organischen Substanzen den Sedimentirbecken ent¬
geht, als bei 4 mm. Zweitens ist zu bestreiten, dass gerade diese
Theile für die Landwirthschaft von besonderer Bedeutung seien; der
Werth des Schlammes, seine praktische und thatsächliche Verwend¬
barkeit sinkt mit seinem Wassergehalt, und so sehen wir, dass bei
den jetzt in Betrieb befindlichen Kläranlagen eben die gröbsten und
deshalb wasserärrasten festen Stoffe, die von den Sieben und
sonstigen mechanischen Reinigungsvorrichtungen abgefangen werden,
am leichtesten abzusetzen und sogar mit Nutzen zu verkaufen sind.
Der feinste und erst durch weitgehende Verlangsamung des Durch¬
flusses abzuscheidende Schlamm dagegen ist besonders wasserreich
und kann daher nur durch Lagerung, Drainage u. s. w. in eine einiger-
maassen brauchbare Form gebracht werden. Das hat wieder den
Nachtheil, dass sich bei den Becken gewaltige Schlammmassen
ansammeln, die namentlich in der warmen Jahreszeit höchst üble
Dünste verbreiten, und wer diese künstlichen und kunstvollen Fäul-
nissgebirge beispielsweise auf der Wiesbadener Kläranlage einmal ge¬
sehen und besonders gerochen hat, der wird nicht im Zweifel darüber
sein,, dass sie mindestens eine erhebliche Belästigung, vielleicht eine
unmittelbare Gesundheitsgefahr für ihre Umgebung bedeuten, und dass
man deshalb alle Veranlassung hat, ihren Umfang auf ein möglichst
geringes Maass zu beschränken.
Digitized by
Gck gle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Zwei Gutachten über Reinigung städtischer Kanalwässer.
337
Endlich ist es aber auch garnicht die Aufgabe einer städtischen
Verwaltung, bei den Einrichtungen zur Beseitigung ihrer Abwässer
Rücksicht auf die landwirtschaftlichen Interessen zu nehmen. Der
Zweck einer derartigen Anlage ist vielmehr nur der, die Jauche von
allen schädlichen Bestandteilen soweit zu befreien* dass sie ohne
wesentliche sanitäre Bedenken den natürlichen Wasserläufen
überantwortet werden, kann und also in den letzteren weder eine
faulige Gährung erzeugt, noch auch zur Uebertragung von Infec-
tionsstoffen Veranlassung giebt. Lässt sich diese Aufgabe lösen
unter gleichzeitiger Erfüllung der landwirtschaftlichen Wünsche, so
wird auch der Hygieniker dieses Zusammentreffen mit besonderer
Freude begrüssen, aber den landwirtschaftlichen Gesichtspunkt dem
sanitären und dem finanziellen überzuordnen, dürfte selbst in unseren
agrarisch inficirten Zeitläuften nicht am Platze sein.
Im übrigen glaube ich nicht, dass die Beseitigung des von
den Sedimentirbecken gelieferten Schlammes, sofern derselbe
eben nicht allzu wasserreich zu Tage tritt, hier auf erhebliche
Schwierigkeiten stossen wird. Die jetzt geplante Vermischung und
Desinfection desselben mit Kalkmich halte ich allerdings für ein un¬
zweckmässiges Verfahren. Der Aetzkalk verwandelt sich wesentlich
unter dem Einfluss der Kohlensäure der Luft alsbald in das unwirksame
Calciumcarbonat und ist dann nicht mehr im Stande, die Fäulniss zu
verhindern. Ich würde empfehlen, falls sich der Schlamm nicht
ohne alles weitere als absetzbar erweist, ihn mit den trockenen
städtischen Abfallstoffon, dem Haus- und Strassenkehricht, zu
compostiren und so in eine feste, leichter transportable und ver¬
sandfähige Masse zu verwandeln. Unter Umständen würde sich wohl
auch der Versuch lohnen, ihn zu Poudrette zu verarbeiten. Man
könnte Proben, d. h. einige 100 kg des Schlammes an die beste jetzt
in Betrieb befindliche Poudrettefabrik von Vcnuleth & Ellen¬
berger in Bremen senden und dort prüfen lassen, ob ein brauch¬
bares Produkt entsteht, das eventuell einer Verarbeitung an Ort und
Stelle das Wort reden würde. Erst wenn alle diese Möglichkeiten
erschöpft sind und zu keinem befriedigenden Ergebniss geführt haben,
könnte man als letzten Nothbehelf die von Ew. Hochw. angeregte
Einplanirung und Verwendung des Schlammes zur Ausfüllung und
Aufhöhung vorhandenen Terrains ins Auge fassen. Bei genügender
Sorgfalt und Vorsicht wäre das ohne allzu erhebliche Bedenken woh I
durchzuführen; doch hätte man dabei immer zu gewärtigen, dass,
Digitized by
Gck gle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
338
Prof. Fraenkcl,
wenn einmal selbst in weiterer Entfernung von dem so behandelten
Gelände irgend eine Seuche ausbricht, das Schlammfeld bei der Klär¬
anlage und mittelbar die städtische Verwaltung dafür verantwortlich
gemacht werden würde.
Nach diesen Ausführungen möchte ich mein Gutachten dahin zu¬
sammenfassen, dass ich Ew. Hochw. empfehle:
„Bei der Königl. Regierung zu beantragen, dass dieselbe die Ge¬
nehmigung zum Bau und vorläufigen Betriebe von zwei nebeneinander
liegenden und umschichtig auszuschaltenden Sedimentirbecken ertheile,
die in der von der Stadt vorgeschlagenen Grösse, d. h. mit 45 m
Länge, 4 m Breite, 1,35 m Tiefe ausgeführt werden. An diesen
Becken werden von zuverlässiger und sachverständiger Seite Unter¬
suchungen angestellt, wie weit die dortige Schwemmjauche durch
verschiedene Strömungsgeschwindigkeiten, die zwischen 2 und 20 mm
zu variiren hätten, von ihren suspendirten Bestandtheilen befreit und
auch sonst in ihrer Zusammensetzung verändert wird. Diese Prü¬
fungen hätten sich über mindestens 2 Jahre auszudehnen, und
erst nach ihrem Abschluss wäre zu entscheiden, welche Durchfluss¬
geschwindigkeit und damit auch welche Ausdehnung die endgiltige An¬
lage zu erhalten hätte.“
In der vorerwähnten Zeit könnten auch Versuche betreffs der
Verarbeitung des Schlammes stattfinden.
Endlich möchte ich es als eine wünschenswcrthe Vorbereitung
und Ergänzung dieser Ermittelungen bezeichnen, wenn schon jetzt
in regelmässigen, etwa 4 wöchigen Pausen Analysen der Schwemm¬
jauche vorgenommen würden, die uns einen Einblick in ihren Aufbau
und ihre wechselnde Beschaffenheit gewähren könnten. 1 )
Halle a. S., den 28. December 1896.
1) Die in obigem Gutachten gemachten Vorschläge sind in allen wesent¬
lichen Punkten sowohl von der Stadt Köln wio von Seiten der Königl. Regierung
angenommen worden, so dass die empfohlenen Versuche demnächst beginnen
werden.
Digitized by
Gck gle
Original frnm
UMIVERSITY OF IOWA
Zwei Gutachten über Reinigung städtischer Kanalwässer.
339
b) T h o r n.
lieber die mir durch Schreiben vom 8. Decembcr v. J. vorgclegtc
Frage:
1 . „ob der der Stadt Thorn bisher vorgeschriebene Klärzusatz
von 1 pM. Aetzkalk erforderlich ist, um nachtheilige Folgen
der Einführung der Abwässer in die Weichsel abzuwenden
resp. bei welchem Klärzusatz die chemische Klärung der Ab¬
wässer immer noch für ausreichend anzusehen wäre;“
2 . „ob nicht mit Rücksicht auf die bisherigen Strom- und son¬
stigen örtlichen Verhältnisse und auf die vorhandenen An¬
lagen zur mechanischen Klärung überhaupt jede chemische
Klärung in seuchefreien Zeiten überflüssig erscheint,“
erstatte ich auf Grund einer von mir am 28. Nov. v. J. ausgeführten
Ortsbesichtigung, sowie einer genauen Kenntnissnahme des umfang¬
reichen einschlägigen Aktenmaterials das folgende Gutachten.
Städtische Abwässer können zu gesundheitlichen Bedenken
oder Gefahren Veranlassung geben einmal durch die Erregung von
Fäulriissvorgängen und ferner durch die Uebertragung von in-
fectiösen Keimen, und eben diese beiden Möglichkeiten spielen
auch bei der Einleitung derartiger Stoffe in die öffentlichen Flussläufe
die entscheidende Rolle.
Was zunächst die Fäulniss angeht, d. h. die durch niederste
Organismen hervorgerufene stinkende Zersetzung eiweisshaltiger Sub¬
stanzen, so entwickelt sich dieselbe bekanntlich gerado in städtischer
Kanaljauche wegen ihres Reichthums an solchen Bestandtheilen regel¬
mässig in besonders ausgiebigem Maasse und unterbleibt bezw. ver¬
schwindet nur dann, wenn die betreffenden Schmutzstoffe so weit ent¬
fernt oder verdünnt werden, dass ihre Menge nicht mehr genügt,
der Lebensthätigkeit und Vermehrung der Fäulnissbakterien als Grund¬
lage zu dienen. Handelt es sich irgendwo um die Frage der Zulässig¬
keit des Eintritts städtischer Abwässer in öffentliche Flussläufe, so
ist deshalb stets und vor allen Dingen zu untersuchen, ob bei der
entstehenden Vermischung jene Grenze erreicht und also die Gefahr
der Fäulniss auf diese einfachste und zugleich sicherste Weise be¬
seitigt wird.
Leider lässt sich in unserem Falle die Quantität der Kanal¬
jauche mit Bestimmtheit nicht ermitteln, da es noch an einer geeig¬
neten Messvorrichtung fehlt, und so wird cs auch begreiflich, dass
Digitized by
Gck gle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
340
Prof. Fracnkcl,
die Angaben über diesen Punkt innerhalb sehr weiter Grenzen schwan¬
ken, dass z. B. die durchschnittliche tägliche Production in 24 Stun¬
den von der einen Seite auf 1800—2000, von der anderen auf 5000
bis 6000 cbm geschätzt wird. Berücksichtigt man, dass selbst nach
vollständigem Ausbau des Kanalnctzcs nur die Abgänge von höch¬
stens 30000 Menschen Aufnahme in dasselbe finden werden, und er¬
wägt man ferner, dass z. Z. der tägliche Wasserconsum aus der
städtischen Leitung nur etwa 40 1 pro Kopf beträgt, also auch bei
reichlicher Benutzung anderer Wasserbezugsquellen, namentlich der
Brunnen, schwerlich mehr als etwa die doppelte Menge für den Tag
und Kopf verbraucht und in verunreinigtem Zustande an die Kanäle
wieder abgeliefert werden wird, so dürfte man der Wahrheit am näch¬
sten kommen, wenn man die gesammte Jauche auf ungefähr 2400 cbm
(30000x80 Liter) in maximo veranschlagt,, wobei bemerkt sei, dass
dieser Ansatz auch dem für die meisten anderen kanalisirten Städte
in Mittel- und Norddeutschland zutreffenden Werthe etwa entspricht.
Demgegenüber führt die Weichsel bei Hochwasser 7750, bei mitt¬
lerem Stande 974, bei niedrigem Stande 709, bei dem niedrigsten,
seit langen Jahren überhaupt beobachtetem Stande 300 cbm in der
Sekunde, d. h. in 24 Stunden etwa 665 bezw. 86 bezw. 61 bezw.
26 Millionen Cubikmeter, oder mit anderen Worten, die Abwässer
der Stadt Thorn erfahren durch die Weichsel bei H.-W. eine
mehr als 250000fache, bei M.-W. eine mehr als 30000fache,
bei N.-W. eine 25000fache, bei niedrigstem Wasserstande
eine lOOOOfache Verdünnung. Auf Grund eingehender Versuche
und praktischer Ermittelungen hat Pettenkofer nun den Satz auf¬
gestellt, dass der Eintritt sinnfälliger Fäulniss ausbleibe, wenn die
städtischen Abwässer bei ihrer Einleitung in den Fluss auf die etwa
20 fache Menge verdünnt werden. Begreiflicher Weise kann diese
Zahl allgemeine Giltigkeit schon deshalb nicht beanspruchen, weil die
Zusammensetzung der Kanaljauche, ihr Gehalt an fäulnissfähigen
Stoffen, erhebliche Unterschiede aufweist, der letztere z. B. durch in¬
dustrielle Abwässer, namentlich aus Brauereien, Gerbereien, Papier-
und Zuckerfabriken u. s. f., weit über den Durchschnitt gesteigert bu
werden pflegt, und nach meinen Erfahrungen wird man deshalb den
von Pettenkofer angegebenen Werth nicht selten als unzureichend
bezeichnen und eine stärkere Verdünnung fordern müssen. Auf jeden
Fall aber genügen die hier vorliegenden Verhältnisse nicht nur den
weitgehendsten Ansprüchen nach dieser Richtung in vollstem Maasse,
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
Zwei Gutachten über Reinigung städtischer Kanalwässer.
341
sondern stellen sogar einen so ungewöhnlich günstigen Thatbc-
stand dar, wie ich ihn bisher noch bei keiner anderen Gelegenheit
kennen gelernt habe. Selbst bei Köln, dem zwar der Rhein sogar
bei N.-W. noch 783 Skbm zuführt, das aber dafür auch die Abfall¬
stoffe von etwa 400000 Menschen in den Fluss entlässt, ist der Ver¬
dünnungsgrad deshalb nur ein etwa lOOOfacher, und wenn man sich
an den Ausmündungspunkt des Thorncr Kanalrohrs in die Weichsel
begiebt, und die ungeheure Wassermasse, die der gewaltige Strom
auch bei N.-W., wie zur Zeit meines Besuches, dahinwälzt, mit der
geringen Menge Flüssigkeit vergleicht, die aus dem Siel zu Tage tritt,
so muss sich jeder unbefangene Beurtheiler ganz unwillkürlich sagen,
dass hier von einer Fäulnissgefahr schlechterdings nicht die
Rede sein kann, dass die Weichsel vielmehr ganz gewiss unter allen
Umständen die vorhandenen Unrathstoffe in kürzester Frist verarbeiten
und unschädlich machen wird.
Auch die starke Strömungsgeschwindigkeit des Flusses
fällt als erwünschtes und förderliches Moment ins Gewicht. Nach
einer von Prof. Baumeister in Karlsruhe herrührenden Formel 1 ) soll
dieselbe bei einer Entscheidung der uns hier beschäftigenden Frage
in der Weise berücksichtigt werden, dass man den „Vcrunreinigungs-
coefficienten“ berechnet aus
Q = Wassermenge des Flusses bei N.-W. in Cubikmetern pro Tag,
v = mittlere Geschwindigkeit in Metern per Sekunde,
E = Einwohnerzahl,
c = Verhältniss derjenigen Einwohner, welche ihre Fäkalien in
die Kanäle liefern,
nach dem Satze T ~-t
Ml+c)
Wird diese Art der Berechnung für unsern Fall ausgeführt, so
ergiebt sich, da die Geschwindigkeit der Weichsel bei niedrigstem
Wasser 0,70 m, bei gewöhnlichem N.-W. 0,75 m, bei M.-W. 0,84 m
in der Sekunde beträgt, als ungünstigstes Resultat
26000000.0,70 _
30000 (1-1-1) “ dü °’
bei N.-W. dagegen schon
61000000.0,75
30000 (1 + 1) — ’
1) Deutsche Vierteljahrsschr. f. öffentl. Gesundheitspflege. 1892. S. 469.
Digitized by
Go», igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
342
Prof. Fraenkel,
und bei M.-W.
86000000
= 1200.
30000 (1 + 1)
Von 16 von Baumeister daraufhin geprüften Städten zeigten
nur 3 (Basel, Mainz und Linz) einen Coefficienten von mehr als 300,
keine einen solchen von mehr als 650, und B. fasst sein endliches
Urtheil sogar dahin zusammen, dass eine „unmittelbare Einleitung der
Abwässer in den Fluss zulässig“ erscheine, wenn der genannte
Coefficient mehr als 5 betrage!
Danach begreift es sich ohne Weiteres, dass die von Sie dam-
grotzky und seinen Mitarbeitern ausgeführten Untersuchungen des
Weichselwassers, welche einer Zeit angehören, wo das städtische
Kanalnetz zwar noch nicht in Angriff genommen war, die Schmutz¬
stoffe zweifellos aber, wie in allen derartigen Fällen, doch schon zum
weitaus grössten Theile in den Fluss gelangten, eine Verunreinigung
des letzteren überhaupt nicht erkennen liessen. Zwar mussten diese
Ermittelungen aus äusseren Gründen der systematischen Anordnung
entbehren, und sie verzichten auch auf die Feststellung der bakterio¬
logischen Verhältnisse, die in der Regel einen weitaus genaueren Ein¬
blick in den Vorgang der Selbstreinigung der Flüsse eröffnen, als die
chemischen Befunde, aber ich würde es für völlig unnöthig er¬
achten, diese Lücke etwa nachträglich zu ergänzen und dabei viel¬
leicht den jetzigen Zustand einer nochmaligen entsprechenden Prüfung
zu unterwerfen. Nach den Erfahrungen, die man an anderen Orten
unter ausserordentlich viel ungünstigeren Bedingungen gesammelt hat,
wie z. B. an der Spree bei Berlin, der Lahn bei Marburg, der Isar
bei München, der Mosel bei Trier, der Limmat bei Zürich u. s. f.,
kann nicht der leiseste Zweifel bestehen, dass die Einlei¬
tung der Thorner Abwässer in die Weichsel nur einen ver¬
schwindend geringfügigen Einfluss auf die Beschaffenheit
des Stromes ausüben und schon dicht unterhalb der Stadt weder
auf chemischem noch auf bakteriologischem Wege mehr nachzuweisen
sein wird.
Unter diesen Umständen muss sich gewiss die Frage aufdrängen,
ob denn überhaupt eine Behandlung der Kanaljauche vor
ihren Uebergang in den Fluss nothwendig, ob es nicht vielmehr
zulässig sei, dieselbe ohne alles Weitere in den letzteren ein treten zu
lassen. Ich möchte das mit Entschiedenheit verneinen und eine
vorherige mechanische Reinigung der Abwässer als unbedingt
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Zwei Gutachten über Reinigung städtischer Kanalwässer.
843
erforderlich, aber freilich auch, um das gleich hier hervorzuheben,
in der Regel als völlig genügend bezeichnen. Die Gründe für
diese meine Auffassung sind folgende:
Einmal müssen unter allen Umständen die gröberen schwim¬
menden Substanzen, wie Papierfetzen, Korkstopfen, Orangeschalcn
u. s. w., die erfahrungsgemäss zuerst die stromabwärts befindlichen
Flussanwohner auf die Verunreinigung des Wassers aufmerksam machen,
aus der Jauche abgeschieden werden. Das Gleiche gilt ferner für die
schweren, die eigentlichen Sinkstoffe, wie Sand, feste Kothballen u.s.f.,
die sich sonst in unmittelbarer Nähe der Ausmündungsstellc des Ka¬
nalrohrs in grösseren Massen ansammeln und trotz der gerade bei der
Weichsel zu wiederholten Malen im Laufe jedes Jahres statthabenden
gründlichen Säuberung des Flussbettes durch die Hochwässer Schlamm¬
bänke, zeitweilige Fäulnissherde bilden könnten. Mit Rücksicht auf
diese Möglichkeit würde es sich wohl auch empfehlen, das Ende des
Kanalrohrs weiter in den Fluss hinein zu verlegen und so
ausmünden zu lassen, dass es seinen Inhalt auch bei N.-W. unter
dem Wasserspiegel entleert und sich nicht, wie es jetzt der Fall, hart
am Ufer und schon bei M.-W. völlig frei öffnet. Eine mechanische
Säuberung der Jauche erscheint ferner deshalb nothwendig, weil man
aus allgemeinen Gründen vom Standpunkte der Gesundheitspflege
zweifellos wird verlangen müssen, dass die unvermeidliche Ver¬
unreinigung der Flüsse durch die städtischen Auswurfstoffe
sich wenigstens auf ein thunlichst geringes Maass be¬
schränke und nicht diejenige Grenze überschreite, die ohne allzu¬
grosse Schwierigkeiten und Opfer innegehalten werden kann.
Endlich aber geben uns besondere Einrichtungen zur Aufnahme
und weiteren Behandlung der Schwemmjauche allein die Möglichkeit,
im Falle des Ausbruchs einer Seuche in der betreffenden Stadt die
Abwässer mit Hülfe chemischer Mittel energisch zu desinfiziren
und ihrer Gefährlichkeit zu entkleiden und müssen also schon aus
diesem Grunde als unentbehrlich bezeichnet werden.
Ich berühre damit das zweite wesentliche Bedenken, das, wie
eingangs bemerkt, hier in Frage kommt: Die Verschleppung der
Krankheitserreger durch die städtischen Immunditien. Können
diese letzteren, wie wir eben gesehen haben, ihre fäulnissfähigc
Beschaffenheit durch eine entsprechende Verdünnung vollständig ver¬
lieren, so werden die pathogenen Mikroorganismen durch den gleichen
Vorgang nicht beseitigt. Stellen sie doch suspendirte, körperliche,
VierteJjahrsschr. f. gor. Med. Dritte Folge. XIV. 2. 23
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
344
Prof. Fraenkel,
im Wasser schwimmende Stoffe dar, die seihst durch reichliche Ver¬
dünnung ebensowenig aus der Welt geschafft werden, wie etwa ein
Korkstopfen oder ein Gumraiball. Gewiss wird sich die Wahrschein¬
lichkeit ihres Uebcrgangs auf den Menschen in dem Maass verringern,
wie das Verhältniss ihrer Zahl, ihrer Menge zu der des Wassers
kleiner wird, aber die Möglichkeit eines derartigen Ereignisses
bleibt immerhin bestehen und erfordert daher sorgfältige Berücksich¬
tigung. Freilich kann städtische Kanaljauche nur unter gewissen
Bedingungen überhaupt zur Verbreitung von Infeetionskrankheiten
durch die Flüsse Veranlassung geben: einmal nämlich, wenn sie
solche Keime enthält, welche erfahrungsgemäss mit dem
Wasser auf den Menschen übertragen werden und «also vom
Magendarmkanal aus Eingang finden. Das ist bekanntlich keines¬
wegs immer der Fall, unter den s.ämmtlichen pathogenen Bakterien
kommen hier vielmehr nur die der Cholera und des Typhus
ernstlich in Betracht, und in den Verhandlungen, welche der Ent¬
scheidung über das für Thorn eingeführte Verfahren der Abwässer-
rcinigung vorausgegangen sind, spielt deshalb gerade die Cholera und
und ihr erneuter Ausbruch in Deutschland während der ersten Jahre
dieses Decenniums mit Recht eine sehr wesentliche Rolle. Aber auf
der andern Seite haben eben die bei dieser Gelegenheit gesammelten
Erfahrungen gezeigt, dass man die hier in Rede stehende Gefahr
nicht überschätzen solle. Wohl hat sich die Cholera auch bei
ihrem jüngsten Auftreten als eine echte „Wasserkrankheit“ zu er¬
kennen gegeben, wohl hat sich ihre Verbreitung mit Vorliebe längs
der grossen Flussläufe vollzogen, aber der Weg, den die Seuche
dabei eingeschlagen, zeigte höchst auffälliger Weise in der
Regel die dem Strom entgegengesetzte Richtung: die Cho¬
lera wanderte aufwärts und drang von der Mündung der Wolga, des
Rheins, der Elbe, Oder u. s. f. in das Innere vor. Diese bemerkens¬
werte Erscheinung lehrt uns, dass nicht die städtischen Ab¬
wässer die gewöhnlichen Träger des Jnfectionsstoffs sein können,
die die Krankheit natürlich stets flussabwärts verschleppen müssten,
sondern dass der auf dem Strom lebenden, wohnenden und fahrenden
Bevölkerung der wichtigste Antheil an diesem Ereignisse zukommt.
Die Bedrohung der öffentlichen Wasscrläufe durch städtische Abfall¬
stoffe steht also hier erst in zweiter Linie, und auch durch die
schärfsten Maassregeln nach dieser Seite, durch den Ausschluss jedes
Digitized by
Go« gle
Original frnm
UNIVERSITY OF IOWA
Zwei Gutachten über Reinigung städtischer Kanalwässer.
345
Tropfens Kanalinhalt würde der eigentliche Kern der Gefahr nicht
getroffen werdon.
Wird diese Thatsache schon eine mildere Auffassung der ganzen
Frage rechtfertigen, so kommt hinzu, dass selbst wenn die Flüsse auf
die eine oder andere Weise inficirt sind, bedenkliche Folgen doch be¬
greiflicher Weise nur unter der Bedingung eintreten werden, dass
das Wasser auch vom Menschen benutzt und genossen wird.
So erklärt es sich, dass z. B. die Cholera bei ihrem letzten
Seuchenzuge auf dem Wasserwege nur da Eingang und grössere Ver¬
breitung gefunden hat, wo Oberflächenwasser regelmässig zu
Trinkzwecken verwendet wurde, d. h. einmal bei der Strom¬
bevölkerung und dann in denjenigen Städten, bezw. Ortschaften und
Anstalten, die ihr Wasser aus dem anstossenden Flusse entnahmen
und im gereinigten oder ungereinigten Zustande gebrauchten.
Aus dieser Betrachtung ergiebt sich für unsern Fall zunächst
die Nothwendigkeit, zu untersuchen, ob unterhalb Thorns an
der Weichsel irgendwo derartige Verhältnisse bestehen. Dabei zeigt
es sich alsbald, dass sich die Dinge hier ganz ungewöhnlich
günstig gestalten. Die ersten unmittelbar am Flusse gelegenen Ort¬
schaften, Culm bezw. Schwetz, befinden sich einmal in einer Entfer¬
nung von 30 km, wie man sie für den gleichen Fall in dichter be¬
völkerten und angebauten Gegenden kaum so leicht wieder antreffen
wird, und sind ferner für ihren Wasserbedarf auf die Weichsel
nicht angewiesen, sondern versorgen sich auf anderem Wege. Auch
noch weiter abwärts hat meines Wissens eine Wasserentnahme aus
dem Flusse in grösserem Umfange für menschliche Gebrauchszwecke
nirgends Statt, und so kommt für die Frage der Infectionsgefahr durch
die Einleitung der Stadtlauge ernstlich wohl nur der Sehwimm-
und Uebungsplatz der Pioniere in Betracht, der nach dieser
Richtung auch in den bisherigen Verhandlungen schon eine wichtige
Rolle spielt. Leider geben derartige Anstalten, und zwar sowohl der
bürgerlichen wie der militärischen Bevölkerung recht häufig zu sani¬
tären Beschwerden Veranlassung, und ich zweifle nicht, dass die
öffentliche Gesundheitspflege in den nächsten Jahren gerade die¬
sem Punkte erhöhte Aufmerksamkeit schenken und auf eine mög¬
lichst allgemeine Verlegung derselben oberhalb der betreffenden
Städte hinzuwirken bestrebt sein wird. Nun ist in unserm Falle
freilich ein erheblicher Theil der Bedenken dadurch beseitigt worden,
dass die genannte Anstalt neuerdings ihren Platz auf dem andern
28 *
Digitized by Gougle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
346
Prof. Fraenkel,
Weichselufer erhalten hat und damit dem unmittelbaren Einfluss der
in der Stromrinne abwärtstreibenden städtischen Schmutzstofle ent¬
rückt ist. Aber als ganz einwandsfrei kann ich die Situation immer
noch nicht ansehen, und es dürfte sich deshalb doch vielleicht der
Versuch empfehlen, entweder auf eine nochmalige Verlegung der An¬
stalt auf eine oberhalb befindliche Stelle hinzuwirken, oder aber das
Kanalrohr weiter unten einmünden zu lassen und so jede Gefahr aus¬
zuschalten.
Erweist sich die Ausführung dieses Vorschlages als unthunlich,
so würde das allerdings ein wesentliches und unübersteigliches Hinder¬
niss auch noch nicht bilden.
Denn ganz abgesehen von dem Schicksal des Uebungsplatzes wird
sich die Stadt Thorn schon mit Rücksicht auf die Strombevölkerung
dazu verstehen müssen, beim Auftreten derjenigen Krankheiten, deren
Keime durch das Flusswasser übertragen werden können, eine zuver¬
lässige und gründliche Desinfeetion ihrer Spüljauchc vorzunehmen.
Nach den oben gegebenen Erörterungen handelt es sich dabei haupt¬
sächlich, wenn nicht ausschliesslich um die Cholera und den
Typhus, und so würde also eine derartige besondere Behandlung der
Abwässer nöthig werden, sobald sich in der Stadt ein Cholera¬
fall ereignet, während man beim Typhus im Hinblick auf seine ge¬
ringere Gefährlichkeit und Ansteckungsfähigkeit zu den gleichen
Maassregeln wohl erst zu greifen hätte, wenn die Affection eine ge¬
wisse x\usdehnung erreicht, eine bestimmte Anzahl von Erkran¬
kungen veranlasst hat, deren Höhe ein für alle Mal zu normiren,
der Vorgesetzten Behörde anheimgestellt werden könnte.
Als bestes Desinfectionsmittcl ist für die hier vorliegende
Aufgabe immer noch der Aetzkalk zu bezeichnen, der in 1 p. M.
Lösung eine sichere Abtödtung der vorhandenen Cholera- oder
Thyphuserreger herbeiführt. Die Vermischung kann mittelst der
jetzt schon vorhandenen Einrichtungen ohne jede Schwierigkeit ge¬
schehen.
Ausserhalb dieser besonderen Zeiten und Umstände
halte ich jede chemische Klärung der Thorner Abwässer
aber für überflüssig und den vorgeschriebenen regel¬
mässigen Zusatz von Aetzkalk in Höhe von 1 : 1000 der
Jauche sogar für zweckwidrig. Ueben die sämmtlichen hier ge¬
wöhnlich benutzten Chemikalien neben ihrer desinfektorischen Kraft
doch nur eine Einwirkung auf die in der Jauche suspendirten Sub-
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Zwei Gutachten iiher Reinigung städtischer Kanalwässer.
347
stanzen aus, die sie vollständig oder fast vollständig zu Boden
schlagen und so beseitigen. Aber diesem Ergebniss kommt auch
eine gut geleitete mechanische Reinigung so nahe, dass man auf den
geringen Vorsprung des chemischen Verfahrens nur da nicht wird
verzichten wollen, wo die nachfolgende Verdünnung der Jauche kaum
das erforderliche Maass erreicht und also auf eine vorherige möglichst
vollständige Entfernung der Schmutzstoffe besonderes Gewicht gelegt
werden muss.
Dabei hat die Verwendung des Aetzkalks, den man seiner
starken keimtödtenden Eigenschaften, seiner relativen Billigkeit und
Unschädlichkeit, wie endlich seines raschen Sedimentirungsvermögens
halber mit Vorliebe benutzt, auf der andern Seite den erheblichen
Nachtheil, dass die Menge der gelösten zersetzbaren Substanzen
häufig eine nicht unbeträchtliche Steigerung erfährt, dass deshalb
die Abwässer nach der Klärung sich immer noch in fäulnissfähigem
Zustande befinden und mit dem Augenblicke, wo der bakterienwidrige
Einfluss des vorhandenen Kalk Überschusses — in Folge Verwandlung
in den unwirksamen kohlensauren Kalk durch die Kohlensäure der
Luft — ausgeschaltet ist, auch alsbald in Gährung überzugehen pflegen.
Ferner biisst. aus dem gleichen Grunde, wegen des Verlustes des in
gelöste Form übergeführten Antheils der festen Stoffe und endlich
wegen der gleichfalls durch den Kalk vcranlassten Austreibung des
Ammoniakstickstoffs, der abgeschiedene Schlamm an Düng¬
werth ein; da derselbe aber gerade bei der Kalkfällung stets
ein besonders grosses Volumen annimmt, so entstehen bei diesem
Verfahren jene gewaltigen Massen lästiger Rückstände, die nicht
nur keinen Erlös bringen, sondern deren endliche Entfernung die
Städte häufig nur mit grossen Opfern zu bewirken vermögen. Auch
in Thorn hat sich diese Kalamität schon fühlbar gemacht: die Menge
des täglich gebildeten Klärschlamms beläuft sich jetzt bereits auf
etwa 6—7 cbm, deren jedes für seine Fortschaffung einen haaren
Aufwand von 70 Pfg. erfordert, so dass also allein hieraus jährliche
Kosten im Betrage von etwa 1750 M. hervorgehen. Dabei ist zu be¬
rücksichtigen, dass zur Zeit die verlangte Höhe des Kalkzu¬
satzes von 1 p. M. auch nicht annähernd erreicht wird; bei
*2000—2500 cbm durchschnittlicher Jauchemenge müssten täglich
2—2% cbm — 40—50 Centner Kalk zur Anwendung gelangen,
während sich der ^tatsächliche Verbrauch nur auf 250 kg = 5 Centner,
also kaum den zehnten Theil beläuft.
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
348
Prof. Fraenkel,
Mit der Steigerung des Kalkzusatzes würde aber nicht nur die
Quantität des Schlammes in entsprechendem Maasse anwachsen,
sondern namentlich auch die unmittelbaren Kosten für die Klä¬
rung selbst, für die Beschaffung der Chemikalien, eine erhebliche
Vermehrung erfahren, und bei 2000 kg täglichen Konsums ungefähr
15000 M. jährlich betragen.
Unter diesen Umständen begreift es sich, dass alle mit der Kalk¬
klärung arbeitenden Gemeinwesen, ohne eine mir bekannte Ausnahme,
den Kalkzusatz möglichst einschränken, den chemischen Betrieb
während der Nacht häufig ganz unterbrechen, das Verfahren also
eigentlich nur noch pro forma ausführen, und unter diesen Umständen
begreift es sich auch, dass die fachmännischen Kreise zu einem immer
ungünstigerem Gesammturtheil über die Brauchbarkeit der ganzen
Methode gelangen.
Angesichts ihrer grossen Mängel, der Vermehrung der gelösten
fäulnissfähigen Stoffe, der Anhäufung eines minderwerthigen Schlammes
und der hohen Kosten der Kalkklärung ist man eifrig bestrebt, andere
und bessere Mittel für die Reinigung städtischer Abwässer zu finden
und räumt dem Aetzkalk nur noch da eine berechtigte Stelle ein,
wo es sich im gegebenen Fall um eine Desinfection der Jauche
handelt. Für diesen besonderen Zweck wird der Kalk auch in Thorn
am Platze sein, sonst aber jede chemische Klärung unnöthig werden
und eine mechanische Säuberung der Abwässer völlig genügen,
allen begründeten Forderungen durchaus entsprechen.
Freilich muss dieselbe unter strenger Beobachtung be¬
stimmter Bedingungen erfolgen, wenn sie ihre Aufgabe erfüllen
und also den grösseren Theil der suspendirten Stoffe zur Abscheidung
bringen soll. Das wesentliche Moment ist hier eine gehörige Ver¬
minderung der Strömungsgeschwindigkeit der Jauche, damit
sie Zeit findet, die schwimmenden Bestandtheile abzusetzen. Nach
den einzigen bisher über diesen Punkt angestellten genaueren Unter¬
suchungen, den von Lepsius an den Frankfurter Klärbecken aus¬
geführten Prüfungen, genügt eine Verlangsamung auf 4 mm in der
Sekunde, um 80—85 pCt. der suspendirten Stoffe zu beseitigen.
Nun besitzt dieses Maass gewiss keine ganz allgemeine Gültigkeit
und wird je nach der wechselnden Beschaffenheit der Jauche von
Fall zu Fall einer Korrektur bedürfen. Aber mit sehr grosser Wahr¬
scheinlichkeit wird man doch von vornherein schon sagen können,
dass die vortrefflich angelegte und eingerichtete, umfang-
Digitized by
Gck gle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Zwei Gutachten über Reinigung städtischer Kanalwässer.
349
reiche Kläranstalt in Thorn auch für die Zwecke der
mechanischen Reinigung durchaus genügen wird. Nach den
in den Akten befindlichen Aufstellungen durchläuft die Jauche die
Klärbrunnen und -Becken mit einer Geschwindigkeit von 1 / 2 bis
höchstens 2 mm in der Sekunde und in einer Zeit von 10 bis
16 Stunden, also langsamer, als in irgend einer andern der grösseren
bisher ausgeführten und im Betriebe befindlichen Anstalten. (Frank¬
furt a. M., Wiesbaden, Essen, Potsdam, Halle u. s. w.) Auf Grund
einer Nachrechnung an der Hand namentlich der auf Seite 286 ff. der
Akten verzeichneten Zahlen halte ich diese Behauptung im wesentlichen
für richtig; andererseits giebt Herr Kreisphvsikus Dr. Wodtkc (auf
Seite 3 seines Gutachtens) erheblich geringere Werthe, und es wäre
nicht unmöglich, dass unter besonderen Umständen, bei ausnahms¬
weise starkem Zufluss und zeitweiliger Ausschaltung eines Theils der
Anlage die ebenerwähnten Maasse doch überschritten würden. Einen
völlig sicheren Aufschluss könnten hier nur unmittelbare Beobach¬
tungen und Prüfungen über die Menge, wie über die chemische Zu¬
sammensetzung der Jauche beim Eintritt in die Kläranstalt und
beim Austritt aus derselben geben, und ich würde es für mindestens
wünschenswerth halten, wenn derartige Analysen bei Gelegenheit aus¬
geführt würden und die Bcurtheilung des hier vorgenommenen Klär-
processes sich damit auf eine unanfechtbare Grundlage stützen könnte.
In jedem Falle aber sind die Grössenverhältnisse der Thorner
Kläranlage sehr günstige, und wer die Frankfurter Klärbecken
kennt, und dabei die Verschiedenheit der Einwohnerzahl und Jauche¬
mengen beider Städte berücksichtigt, der wird keinen Augenblick
darüber im Zweifel sein, dass hier mindestens ebenso befriedigende
Ergebnisse mit der mechanischen Reinigung erzielt werden können,
wie dort.
Auf Grund dieser Ausführungen, erlaube ich mir die Eingangs
erwähnten Fragen dahin zu beantworten, dass ich
„den der Stadt Thorn bisher vorgeschricbcnen Klär¬
zusatz von 1 pM. Aetzkalk zu den Abwässern nur im
Falle des Ausbruchs von Cholera oder Typhus für er¬
forderlich halte, dass mir derselbe aber in gewöhn¬
lichen Zeiten als ünnöthig oder sogar als zweck¬
widrig und eine mechanische Reinigung der Jauche in
der jetzt bestehenden Anstalt unter Verzicht auf
Digitized by
Gck gle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
350 Prof. Fraenkel, Zwei Gutachten über Reinigung städtischer Kanalwässer.
jedes chemische Verfahren als völlig ausreichend er¬
scheint.“
Einem Anträge auf Genehmigung einer entsprechenden Abänderung
der jetzigen Bedingungen würde es voraussichtlich förderlich sein,
wenn die Stadt Thorn sich bereit erklärte:
1. eine selbstregistrirende Vorrichtung zur Bestimmung der
täglich und stündlich gelieferten Jauchemengc anzubringen,
2. durch chemische Untersuchungen die mechanische Wirkung
der Klärbrunnen und Becken festzustellen,
3. das Kanalrohr soweit in den Strom zu verlängern, dass es
auch bei Niedrigwasser unter Wasser einmündet.
4. Eventuell eine Verlegung des Schwimm- und Uebungs-
platzes der Pioniere an einen oberhalb befindlichen Punkt
anzuregen.
Halle a. S., den 19. März 1897.
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
2 .
lieber die Aufgaben der Sanitätspolizei auf dem
platten Lande.
Von
Dr. Süsskaml, pract. Arzt in Sorau N.-L.
Behufs schärferer Abgrenzung des zu besprechenden Kapitels ist.
es erforderlich, vorweg zu untersuchen:
1. Welches sind die Aufgaben der Sanitätspolizei überhaupt?
2. Welches ihre Aufgaben auf dem platten Lande insbesondere?
Die Antwort auf die erste Frage finden wir in der trefflichen
Definition des Begriffes Sanitätspolizei von Pappenheim (cit. bei
Wal bäum 1 ). Nach diesem Autor „ist die Sanitätspolizei derjenige
Zweig der Polizei, welcher direkt zum Schutze und zur Förderung
der physiologischen Integrität des Menschen bestimmt ist und
zur Realisation seines Zweckes medicinischer oder naturwissenschaft¬
licher Technik bedarf. Wie aber die Polizeiwirksamkeit überhaupt, so
ist auch jene specifische Fürsorge für die physiologische Integrität des
Menschen nur da berechtigt, wo die Singuli sich selbst nicht
genug sein können.“ (cf. § 10. II 17 des Allg. Landr.)
Hiernach ist die Medicinalpolizei, welche die Ueberwachung
des öffentlichen Heilwesens (Medicinal-Personal) und der öffentlichen
Krankenpflege (Kranken-Anstalten) [Eulenberg 2 )] und folglich den
Schutz des pathologisch alterirten Menschen, sich zur Auf¬
gabe macht, ebensowenig wie die private Gesundheitspflege eigent¬
liche Domäne der Sanitätspolizei.
Die öffentliche Gesundheitspflege aber verhält sich zur Sanitäls-
polizei so, dass sich diese den Plänen jener dienstbar macht.
Zur Beantwortung der zweiten Frage, welche quantitative oder
qualitative Unterschiede der sanitätspolizeilichen Aufgaben in den
Digitized by
Gck gle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
352
L>r. Süss kan d,
grösseren Städten und auf dom platten Lande voraussctzt, müssen
wir an den hygienischen Gegensatz von Stadt und Land an-
kniipfen.
Zwei Momente sind es wesentlich, welche das Stadt- vom Land¬
leben unterscheiden: die Erwerbsweise und die Wohndichtig-
keit. Dass diese beiden Momente auf die Gesundheit und das Wohl¬
befinden der Bewohner von Stadt und Land von entscheidendem
Einfluss sein müssen, darüber lässt uns die Statistik, welche, in allen
Kulturstaaten übereinstimmend, eine höhere Sterblichkeitsziffer in den
Städten gegenüber dem platten Lande ergiebt, gar keinen Zweifel.
Ein ähnliches Ergebniss liefert uns die Aushebungsstatistik,
welche darthut, dass die Bevölkerung grösserer Städte im Durch¬
schnitt schwächlicher ist, als die Bevölkerung auf dem flachen Lande
(Rosenthal 3 ).
Welchem dieser Momente der gedachte Einfluss ausschliesslich
oder hauptsächlich zukommt, darüber sind die Ansichten getheilt.
Flügge 4 ) und Farr schreiben der Wohndichtigkeit den hauptsäch¬
lichen Antheil daran zu. Indess weist Finkelnburg 5 ) statistisch
nach, dass die Erwerbsweise von solch bestimmendem Einfluss ist,
dass unter einer Bevölkerung mit Ueberwiegen des ackerbautreibenden
Charakters sich die Sterblichkeit in den Städten günstiger gestaltet,
als auf dem platten Lande. Dies gilt namentlich für die Provinz
Hessen-Nassau und die Regierungsbezirke Coblenz und Trier. Auch die
statistischen Ermittelungen Arnstein’s 6 ) für den Kreis Ratibor lie¬
fern das Ergebniss, dass bis zu dem Alter der beginnenden Berufs¬
arbeit die Mortalität auf dem Lande grösser ist, als in der Stadt,
während mit dem Eintritt in das Berufsleben sich das Verhältnis
sofort umkehrt zu Gunsten des platten Landes. Daraus geht aber
hervor, dass die selbstgeschaffenen hygienischen Zustände auf
dem Lande ungünstiger sind, als in den Städten. In der Beschäfti¬
gungsweise der Landleute können wir aber nur ein günstiges Moment
erblicken, die ungünstigen hygienischen Zustände auf dem Lande
müssen also in einzelnen Komponenten, aus denen sich der Begriff der
Wohndichtigkeit zusammensetzt, gesucht werden. Die aus der Wohn¬
dichtigkeit resultirendcn schädlichen Momente aber sind: Beschrän¬
kung von Luft und Licht und Sonnenwärme (Flügge 4 ), Verunreini¬
gung der Luft in der Atmosphäre und in geschlossenen Räumen,
Verunreigung des Bodens und des Trinkwassers, Verbreitung von In¬
fektionskrankheiten. Sehen wir nun von dem Moment der Beschrän-
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
Aufgaben Her .Sanitätspolizei auf Hem platten Lande.
353
kung von Luft und Licht und Sonnenwärme und demjenigen der Ver¬
unreinigung der atmosphärischen Luft, die auf dem Lande nicht oder
nur in geringem Maasse bestehen, ab, so bleibt in der Verunreinigung
des Bodens und des Trinkwassers, der Verunreinigung der atmophä-
rischen Luft in geschlossenen Räumen und in der Verbreitung von
Infectionskrankheiten ein Gebiet übrig, auf welchem die Sanitäts¬
polizei auf dem platten Lande ihre Wirksamkeit segensreich entfalten
kann.
Unsere Aufgabe zieht folgerichtig aus dem Gehiet der öffent¬
lichen Gesundheitspflege die Boden-, Wohnungs- und Schul¬
hygiene und die contagiösen Infectionskrankheiten in ihr
Bereich, wobei sie diese Lehren den Verhältnissen auf dem platten
Lande anzupassen sucht.
2. Bodenhygiene.
Um die Tragweite der Bodenverunreinigung und die hohe hygie¬
nische Bedeutung der Reinhaltung des Wohnbodens zu verstehen,
müssen wir uns die physikalischen Eigenschaften des Bodens und die
in ihm vor sich gehenden chemischen Processe vergegenwärtigen.
Für die Wechselbeziehungen, die zwischen dem Menschen und
der von ihm bewohnten Erdrinde bestehen, kommt zunächst ihre
Eigenschaft der Permeabilität für Luft und Wasser in Betracht.
Diese Eigenschaft verdankt sie ihrer Porosität, welche theils von
dem lockeren Gefüge ihrer Constituentien, theils von der porösen Be¬
schaffenheit des Materials selbst herrührt. Die Luftmenge, die in
der Zeiteinheit in den Boden eindringt, resp. aus ihm heraustritt, ist
nicht so sehr von dem Porenvolumen, als vielmehr von der Poren¬
weite abhängig. Bei gleichem Porenvolumen aber ungleicher Porenweite
kommt dem weitmaschigen Boden die Durchlassungsfähigkeit für eine
grössere Luftmenge zu als dem engmaschigen. Hierdurch ist nun
ein Austausch zwischen Bodenluft und Atmosphäre ermöglicht, gc-
wissermassen ein „Athmen der Erde“ (Eulenberg 7 ) gegeben, wobei
Aufnahme und Abgabe von den Schwankungen des atmosphärischen
Luftdruckes, den Temperaturdifferenzen, den Luft- und Windströmun¬
gen und von der Bewegung des Bodenwassers abhängen (Soyka 8 ).
Es ist leicht begreiflich, dass bei diesem Gasaustausch krank-
raachende Miasmen, Kanal- und Leichengase, unter Umständen selbst
organisirte Keime in die atmophärische Luft gelangen und die Ge¬
sundheit des Menschen beeinträchtigen können.
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSITÄT OF IOWA
354 Pr. Süsskand,
Bezüglich der Durchlässigkeit des Bodens für Wasser unter¬
scheidet man nach Ad. Meyer (cit. bei Soyka 8 ) die grösste Wasser¬
kapazität, mit welcher der höchste Füllungsgrad der Poren mit
Wasser bezeichnet wird, und die kleinste oder absolute Wasserkapa¬
zität, welche die kleinste Wassermenge angiebt, die unter allen Um¬
ständen vom Boden festgehalten wird, sobald ihm ein Ueberschuss
von Wasser zu Gebote steht. Die Wasserkapazität verhält sich direkt
proportional zum Porenvolumen und umgekehrt proportional zur Weite
der Poren. Der Feuchtigkeitsgehalt des Bodens, der bei den soge¬
nannten Bodenkrankheiten eine so wichtige Rolle spielt, hängt wesent¬
lich von der Wasserkapazität des Bodens ab. Derselbe ist bei der
Durchfeuchtung von oben - durch Niederschläge — geringer, als
bei aufsteigender Durchfeuchtung — durch Grundwasser —, bei
welcher die Attraktion der kapillaren Ilohlräume mitwirkt. Daraus
folgt, dass bei Erschöpfung der Wasserkapazität alle Luft aus dem
Boden verdrängt und event. in die Häuser getrieben wird.
Bei der kapillaren Attraktion können mit dem Wasser Mikro¬
organismen bis an die Verdunstungszone (Hofmann 8 ) befördert wer¬
den, die nach Verdunsten des Wassers in das Bereich der atmosphä¬
rischen Luft gelangen.
Der Boden hat ferner in einer Tiefe von etwa 20 m (Roscn-
tlial 9 ) eine gewisse Eigenwärme, die zwar je weiter nach dem Erd¬
mittelpunkte um so höhere Werthc annimmt, sonst aber keinerlei
Schwankungen unterworfen ist.
Anders verhält sich die Temperatur der oberflächlichen
Schichten des Bodens, welche von den Sonnenstrahlen erwärmt
werden. Hier erleidet die Bodentemperatur zunächst periodische
Schwankungen, und zwar machen sich an den obersten Schichten
noch die Tagesschwankungen bemerklieh, während in den tieferen
Schichten nur die Jahresschwankungen noch nachweisbar sind. Weiter¬
hin gestaltet sie sich verschieden je nach dem Absorptionsvermögen,
der Strahlung, der Leitung, der spezifischen Wärme, der Farbe und
Lage des Bodens.
Die Menge der absorbirten und emittirten Strahlen ist um
so grösser, je feiner das Material und je dunkler die Farbe des Bo¬
dens ist. Fester Boden leitet die Wärme besser als lockerer. Die
specifische Wärme der Bodenmineralien ist eine geringe, eine
höhere beim Humus. Dass endlich die Lage des Bodens nach der
Himmelsgegend und seine Neigung gegen den Horizont von Einfluss
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
Aufgaben der .Sanitätspolizei auf dem platten Lande.
355
sind, braucht nur angedeutet zu werden. Dies alles gilt aber nur
für den trocknen Boden. Ist der Boden feucht, so wird viel Wärme
beim Verdunsten des Wassers verbraucht.
Unter dem mit Pflanzen oder Gebäuden bedeckten Boden ist die
Temperatur höher als unter dem nackten und kahlen (Soyka 8 ) und
liosenthal 9 ).
Die Maxima und Minima der Bodentemperatur in den mittleren
Schichten des Bodens fallen nicht mit denen der Lufttemperatur zu¬
sammen, sondern treten um so später ein, je tiefer die Stelle liegt.
So fand Quetelet in Brüssel bei 7 m Tiefe das Maximum im De¬
zember und Januar, das Minimum im Juni (bei Rosenthal 9 ).
Die hygienische Bedeutung der Bodentemperatur erhellt aus
ihrem Einfluss auf die Vegetation, der sich darin ausspricht, dass bei¬
spielsweise im Eisass der Weizen bis zu seiner Reife bei einer mitt¬
leren Sommertemperatur von 15° C. 137, bei 14,4° C. 146 Tage
braucht. Noch empfindlicher aber müssen Mikroorganismen auf Tem¬
peraturschwankungen reagiren (Soyka 8 ).
Das Absorptionsvermögen des Bodens für Gase hängt
zum Theil mit seinen physikalischen (Porosität), noch mehr aber mit
seinen chemischen Eigenschaften zusammen. Die Gase werden thcils
unverändert im Boden festgehalten (Wasserdampf, Kohlensäure, Sauer¬
stoff), theils erleiden sie eine chemische Veränderung, z. B. Ammo¬
niak, aus dem sich geringe Mengen Salpetersäure bilden, oder
Schwefelwasserstoff, aus dem sich Schwefel abscheidet, auch Schwefel¬
eisen bildet. Die Absorptionsgrösse ist von der Temperatur abhängig.
Die grössten Mengen werden bei einer Temperatur zwischen 0° und 10°
absorbirt. Die Absorption der mineralischen Verbindungen
durch den Boden ist ein vorwiegend chemischer Vorgang und erstreckt
sich im Allgemeinen auf solche Substanzen, die den Pflanzen zur Er¬
nährung dienen (Ammoniak, Kali, Natron, Kalk, Magnesia, Phosphor¬
säure, Kieselsäure). Die absorptionsfähigen Körper werden in gelöstem
Zustande aus ihren Lösungen, die unlöslichen als Ganzes absorbirt, so
der phosphorsaure Kalk und die phosphorsaure Ammoniakmagnesia.
Die Absorptionsfähigkeit des Bodens erstreckt sich ferner auch
auf viele organische Verbindungen, speziell auf viele Bestand-
theile der Abfallstoffe. Wird dunkle, stinkende Mistjauche durch ge¬
siebte Gartenerde oder feinen Flusssand filtrirt, so läuft eine klare,
nicht mehr riechende und auch chemisch veränderte Flüssigkeit ab.
Digitized by
Go. igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
356
Dr. Süsskand,
(Bronncr und Gazzcri bei Soyka 8 und Orth 10 ). Die fcstgehaltenen
organischen Verbindungen erleiden im Boden eine chemische Ver¬
änderung, indem sie in anorganische übergeführt, mineralisirt
werden, und zwar wird der Kohlenstoff zu Kohlensäure, der Stick¬
stoff zu salpetriger Säure und Salpetersäure oxydirt (oder in Ammo¬
niak umgewandelt).
Daraus erklärt sich die grosse Menge der in der Grundluft zu
findenden Kohlensäure. Die Kohlensäuremenge ist also ein Index
für den Ablauf organischer Processe im Boden.
Die Selbstreinigung des Bodens durch Absorption und Mine¬
ralisation findet jedoch bei zu starker Anhäufung und zu grosser
Konzentration der Schmutzstoffe früher oder später ihre Grenze
(Orth 10 ).
3. Grund- und Bodenwasscr.
Das Bodenwasser ist seinem Ursprünge nach oberirdisches Me¬
teorwasser, welches schon während seines Niederfallens auf die Erde
gasförmige und feste Bestandteile aus der atmosphärischen Luft auf¬
nimmt. Auf der Oberfläche der Erde wird es durch Auslaugen der
verschiedensten Abfallstofife, welche der Mensch in seinem physiolo¬
gischen, ökonomischen und gewerblichen Leben dem Boden mittheilt,
(Rosenthal 9 ) noch weiter verunreinigt. Indessen erleidet das Wasser
während seines Sickerns durch den Boden mannigfache Ver¬
änderungen in seiner Zusammensetzung.
Die suspendirten festen Bestandtheile werden, bei genügen¬
der Mächtigkeit der Filtrationsschicht, durch die Filtration des Bodens
vollständig, die unbelebte organische Materie durch Mineralisa¬
tion zum grössten Theil aus ihm entfernt. Von den in Lösung befind¬
lichen mineralischen Verbindungen wissen wir bereits, ein wie
grosser Theil durch Vegetationsproeesse dem Wasser wieder ent¬
zogen wird.
Zwar wird das Wasser bei einem durch lebhaftere Verwesungs¬
prozesse bedingten höheren Gehalt an Kohlensäure viel mehr von
den Carbonaten des Calcium’s und Magnesium’s, den hauptsächlich¬
sten Constituentien der Erdoberfläche (Tiemann 11 ), auflösen, doch
schliesst dies einen mehr ökonomischen, durch die Härte des Wassers
bedingten, als hygienischen Schaden in sich.
Nach den Untersuchungen von Tiemann und Preusse 11 ) beruht
denn der Schwerpunkt der Wasserverunreinigung auch nicht in dem
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
Aufgaben der Sanitätspolizei auf dem platten Lande..
357
höheren Gehalt an mineralischen Stoffen, noch auch in der grösseren
Menge der todten Materie, sondern in einem etwaigen Gehalt an le¬
benden pathogenen Mikroorganismen und ihren Sporen beziehungs¬
weise den Eiern von Eingeweidewürmern, denen das Wasser mög¬
licherweise als Vehikel dient, durch welches sie in den menschlichen
Organismus eindringen.
Nachdem nun das Wasser die angedeuteten physikalischen und
chemischen Processe durchlaufen hat, gelangt es schliesslich auf eine
Bodenschicht, die für Wasser undurchlässig ist, und sammelt sich
dort an. Dieses unterirdische Wasser nennen wir Grundwasser.
Es strömt auf der wasserdichten Unterlage mit einer Geschwindig¬
keit, die von ihrem Gefälle abhängt, w'ieder den Flüssen zu. Die
Configuration dieser Unterlage entspricht nicht immer derjenigen der
Bodenoberfläche, sondern bildet für sich Berge und Thäler (Soyka 8 ,
Schönfeld 12 ).
Der Abstand zwischen dem Spiegel des Grundwassers und dem
Oberflachenniveau des Bodens, der Grundwasserstand, ist kein kon¬
stanter.
Die örtlichen Schwankungen desselben sind nach Soyka ab¬
hängig:
1. von der an Ort und Stelle fallenden Regenmenge und, fügen
wir hinzu, von der Art des Regens (Platz- oder Landregen);
2. von der Configuration der Bodenoberfläche;
3. von ihrer Porosität;
4. von der Gestaltung der wasserdichten Unterlage, die je nach
ihrer Neigung einen Zu- oder Abfluss begünstigt;
5. davon, in welchem Verhältniss das Niveau des Grundwassers
sich zum Flussniveau befindet;
6. von der Verdunstung, deren Grösse von der Grösse der ka¬
pillaren Attraktion, der Steighöhe des Bodenwassers, abhängt, welche
um so grösser ausfällt, je feiner die Poren des Bodens sind.
Der Grundwasserstand steigt nicht parallel der gefallenen Regen¬
menge und ist daher ein sichererer Maassstab für die Bodenfeuchtig¬
keit, als die Niederschlagsmenge.
Das Grundwasser hat nicht bloss durch seine Besiehungen zum
Boden selbst und zur Bodenluft ein hervorragendes hygienisches Inter¬
esse, sondern auch durch seine Bestimmung als Trink- und Nutz¬
wasser. In dieser Beziehung verdient es auf dem platten Lande, wo
es an Ort und Stelle entnommen und in seinem natürlichen Zustande
Digitized by
Gck gle
Ürigiral from
UNIVERSITÄT OF IOWA
358
Dr. S ö s s k a n (1,
zum Trinken und zum Hausgebrauch benutzt wird, eine grössere
Beachtung, als in den Städten, welche bei verdächtigem Grundwasser
sich von seinem Standort emanzipiren, und von ferne her einwand¬
freies Wasser zuleitcn, oder jenes vorher einer künstlichen Filtration
unterwerfen.
Bei der auf dem Lande allein in Betracht kommenden Wasser¬
versorgung durch Brunnen erscheint daher vor allem die Reinhaltung
des Bodens geboten.
Es ergiebt sich ferner von selbst, dass Brunnen nicht in der
Nähe von Stallungen und Dunggruben angelegt werden dürfen. Am
zweckmässigstcn sind Röhrenbrunnen, welche das Wasser aus einer
tieferen Erdschicht beziehen.
4. Bodenkrankheiten.
Die Wichtigkeit der Bodenhygiene findet ihren schärfsten Aus¬
druck in den Beziehungen des Bodens zu gewissen Infektionskrank¬
heiten, zu den sogenannten ßodenkrankheiten. Sie alle verdanken
ihre Entstehung gewissen organischen Keimen, die in einem ihren
Lebensbedingungen günstigen Boden sich entwickeln und vermehren
und wohl auch ihre spccifisehe Wirksamkeit, ihre Virulenz, erlangen.
Für bestimmte Infektionskrankheiten sind die supponirten Keime ent¬
deckt und ihre biologischen Bedingungen genauer studirt und präcisirt
worden. Sic lassen sich in folgende Punkte zusammen fassen:
1. eine gewisse, nicht excessivc Feuchtigkeit;
2. Anwesenheit eines geeigneten Nährsubstrats, also ein Gehalt
an organischen Stoffen;
3. eine bestimmte Wärme;
4. freier Zutritt der atmosphärischen Luft.
Sind diese Bedingungen gegeben, so können die entwickelten
Keime auf den angedcuteten Wegen (vergl. oben) den Boden verlassen
und in die atmosphärische Luft oder in das Wasser gelangen. Auf
welchem Wege sie schliesslich in den menschlichen Organismus cin-
dringen, ob durch die Luft- oder Nahrungswege, steht bei den meisten
Infektionskrankheiten noch nicht fest. Jedenfalls sind beide Möglich¬
keiten in’s Auge zu fassen. Nach Eulenberg 2 ) werden sie „höchst
wahrscheinlich immer oder doch vorzugsweise mittelst der Respirations¬
wege aufgenommen.“ Die Bodenkrankheiten bezeichnet man auch
als miasmatische, die Krankheitskeime als ektogene.
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
Aufgaben der Sanitätspolizei auf dem platten Lande.
359
5. Das Prototyp der Bodenkrankheiten ist die Malaria.
Mit diesem Namen bezeichnet man eine ganze Reihe intermittiren-
der und remittirender Fieber, als deren Ursache der von Klebs und
Tommasi Crudeli entdeckte Bacillus malariae anzusehen ist. Er
wurde im Boden und den tiefen Luftschichten der römischen Cam-
pagna gefunden. In Reinkulturen dargestellt und verirapft erzeugt er
bei Kaninchen intermittirendes Fieber. Marchiafava (cit. bei
E. Frankel 13 ) wies bei an Intermittcns perniciosa verstorbenen In¬
dividuen die Anwesenheit der Bacillen im Blut und den blutbereiten¬
den Organen (Lymphdrüsen, Milz und Knochenmark) nach.
Die Bacillen stellen 2—7 ft lange schlanke Stäbchen dar, welche
in Reinkulturen zu langen, homogenen Fäden auswachsen, die sich
der Quere nach theilen und in ihrem Innern Sporen erzeugen. Sie
gehören zu den aerobien Spaltpilzen und bedürfen zu ihrer Ent¬
wickelung ausser dem Sauerstoff einer Temperatur von mindestens
20° C. (Ziegler 14 ).
Nach Aug. Hirsch (cit. bei Fränkel 13 ) findet die Malaria erst
mit der Isotherme von 15—16° ihre nördliche Grenze. Für ihr Ge¬
deihen am günstigsten ist ein Boden, der neben einem wechselnden
Feuchtigkeitsgehalt und dem freien Zutritt von Luft eine grössere
Menge organischer, namentlich pflanzlicher Stoffe enthält*).
Demgemäss beobachten wir das Auftreten der Malaria auf Sumpf¬
boden und in Niederungen, die häufigen Ueberschwemmungen ausge¬
setzt sind. Auch Verfall der Kultur, Verwüstung des Bodens, Aus¬
rottung der Wälder leisten der Entwickelung der Malaria Vorschub
(Soyka 8 , Eichhorst 16 ). Künstlich können Malariaherde dann
erzeugt werden, wenn grössere Umgrabungen des Bodens stattfinden,
wie unter anderem während des Hafenbaues im Jahdegebiet (Marsch¬
fieber).
Die Infektion erfolgt in der Regel durch Aufnahme des Giftes
mit der Athmungsluft, ausnahmsweise wohl auch durch Genuss von
Sumpfwasser (Eichhorst 16 ).
*) Das begünstigende Moment der Yegetabilien ist noch nicht genügend auf¬
geklärt. Die hierbei in Betracht kommenden Fäulnissvorgänge können es um so
weniger sein, als Klebs und Tommasi Crudeli nachgewiesen haben, dass ein
gut gedüngter und mit den natürlichen Effluvien der Menschen und Thiere durch-
tränkter Boden der Entwicklung der Malaria ungünstig ist. Diese Thatsache
scheint auch mit der aerobiotischen Natur der Spaltpilze in Einklang zu stehen.
Viertejj&hrsschr. f. ger. Med. Dritte Folge. XIV. 2. 24
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
360
Dr. Siisskand,
Die Inkubationszeit wird auf durchschnittlich 14 Tage be¬
messen. Die zu ergreifenden Maassregeln ergeben sich hiernach von
selbst: Austrocknen von Sümpfen durch zweckmässige Drainage oder
künstliche Aufschüttungen von „gutem Boden“; wo dies unthunlich,
gänzliches Unterwassersetzen des Malariaherdes. Schutz vor Ueber-
schweramungen durch Anlage von Dämmen; Hebung und Regelung
der Kultur eines malariasiechen Bodens durch zweckmässige Anpflan¬
zungen, event. solche, die eine austrocknende Wirkung haben, wie
z. B. der Eucalyptus globulus. Die Vegetation übt in vieler Beziehung
einen wohlthätigen Einfluss aus: sie regulirt die Wasserverhältnisse
des Bodens, so dass sie geringeren Schwankungen unterworfen sind;
sie entzieht dem Boden gewisse Stoffe, deren sie zu ihrem Aufbau
bedarf und beschränkt so die Fäulniss- und Verwesungsprocesse in
demselben.
6. Unterleibstyphus.
Der Unterleibstyphus ist eine endemisch und epidemisch
auftretende Infektionskrankheit, als. deren Erreger kurze, dicke, an
ihren Enden abgerundete Stäbchen (Bacillus typhosus Eberth) ange¬
geben werden, welche sich schon bei Zimmertemperatur auf verschie¬
denen Nährsubstraten züchten lassen. Die Kulturen erreichen in etwa
4 Tagen ihre volle Entwickelung und erzeugen bei Körpertemperatur
in ihrem Innern endständige Sporen. Sie sind in den Darminfiltraten,
den mesenterialen Lymphdrüsen und in der Milz von Individuen ge¬
funden worden, die in frühen Stadien des Abdominaltyphus ge¬
storben sind.
Infektionsversuche bei Thieren mit den Bacillen sind bis jetzt
negativ ausgefallen (Ziegler 14 ). Auch die Uebertragung der Krank¬
heit durch Ueberimpfen des Blutes auf Thiere wie auf Menschen
gelingt nach Motschukofsky nicht (Zuelzer 16 ).
Ueber die Stellung des Typhus abdominalis in der Reihe der
Infektionskrankheiten gehen die Ansichten auch heute noch weit aus¬
einander. Während die einen ihn zu den miasmatischen, den Boden¬
krankheiten zählen, reihen ihn die andern den kontagiösen Infektions¬
krankheiten an. Beide Richtungen, die lokalistische wie die konta-
gionistische, führen gewichtige Gründe ins Feld, die wir wegen ihrer
eminenten Wichtigkeit für die praktische Hygiene kurz skizziren wollen.
Nach Ansicht der Lokalistcn reproduciren sich die Typhuskeime
einzig und allein im Boden, und zwar in einem hierzu besonders
Digitized by
Gck gle
Original fro-m
UNIVERSUM OF IOWA
Aufgabon der Sanitätspolizei auf dom platten Lande.
361
disponirten. Für die Abhängigkeit des Typhus von gewissen Boden¬
verhältnissen liegen folgende Gründe vor.
Epidemiologisch kritische Vergleichungen der einzelnen En- und
Epidemien weisen darauf hin, dass, wo dieselben auch immer aufge¬
treten sind, es sich stets um niedrig gelegone, für Luft und Wasser
gleich durchlässige, feuchte Terrains gehandelt hat. v. Pettcnkofcr
und Buhl haben ferner für München und Virchow seither für Berlin
einen gesetzmässigen Zusammenhang zwischen dor Typhussterblichkeit
und den Grundwasserschwankungen nachgewiesen, derart, dass jedes¬
mal mit dem Absinken des Grundwassers ein Steigen, und umgekehrt
mit einem Ansteigen des Grundwassers ein Fallen der Typhusmorta¬
lität zusammenfällt.
Hingegen lässt sich ein Zusammenhang des Typhus mit dem
Trinkwasser, wie die sogenannte Trinkwassertheorie will, etwa in dem
Sinne, dass die Typhusbacillen mit den Dejcktionen Typhuskranker
in das Grundwasser und von da in unser Trinkwasser gelangen, aus
dem Grunde nicht konstruiren, weil die Erfahrung lehrt, dass Typhus¬
epidemien auch da wieder auftreten, wo die angeschuldigten Brunnen
und Leitungen gesperrt worden sind.
Andererseits aber zeigt es sich, dass bei gleichem Trinkwasser,
aber verschiedener Bodeubeschaffenheit der Typhus hinsichtlich seiner
In- und Extenstiät ein verschiedenes Verhalten, während derselbe bei
verschiedenartiger Wasserversorgung, aber derselben BodenbesehafFen-
heit ein gleiches Verhalten darbietet (Soyka 8 ).
Mit den epidemiologischen Anschauungen ist aber auch die Vor¬
stellung nicht zu vereinigen, als könnten die im Boden entwickelten
Keime durch die meteorischen Niederschläge in das Grundwasser her¬
untergespült werden, weil gerade trockene Jahre Typhusjahre sind.
Es bleibt also für die Typhuskeimo nur der Weg nach oben
übrig, welcher angebahnt wird durch die Capillarität oder die Venti¬
lation des Bodens.
Die Contagionisten lassen die Krankheitskeimc entogen im
menschlichen Organismus entstehen und sich fortentwickeln. Die
Uebertragung der Krankheit auf Andere geschieht nach ihrer Ansicht
durch Berührung mit den Kranken und ihren Effecten oder durch
den Genuss von mit den Dejcctionen Typhöser inficirtem Wasser oder
ungekochter Milch. Den Infectionsmodus durch ungekochte Milch hat
man sich übrigens so zu denken, dass die Milch ihre Infectiosität durch
Verdünnung oder Spülung der Milchgcfässe mit inficirtem Wasser er-
24*
Digitized by
Gck gle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
362
Dr. Süsskand,
langt. Zahlreiche Beobachtungen liegen vor, welche einen solchen
Infectionsmodus darthun (vgl. namentlich die Casuistik von Zuelzer 16 ).
Allein mit diesen rein contagionistischen Anschauungen stehen
die Thatsachen im Widerspruch, welche auf eine besondere Vorliebe
des Typhus für bestimmte Oertlichkeitcn und bestimmte Jahreszeiten
hinweisen. Auch die Erfahrung, dass die intimste Berührung mit den
Typhuskranken bisweilen keine Uebertragung der Krankheit auf die
Angehörigen, selbst unter den ungünstigsten hygienischen Verhältnissen,
herbeiführt, lässt sich mit diesen Anschauungen nicht in Einklang
bringen. Besonders lehrreich ist ein Fall unserer eigenen Beobach¬
tung. Ein Brief bote acquirirt den Typhus ausserhalb und wird krank
zu seinen Eltern gebracht. Der Kranke wurde in einer sehr engen
und niedrigen Stube, in welcher noch ein grosser Webstuhl stand und
die von einer dreiköpfigen Familie bewohnt wurde, verpflegt. Während
des Lebens und nach dem Tode des Pat. ist nichts zur Desinfection
der Stühle, der Effecten oder der Wohnung geschehen. Trotzdem sind
weder die Eltern noch seine etwa 17 Jahre alte Schwester erkrankt
und ist auch kein weiterer Fall von Typhus am Orte aufgetreten.
Die kleine Stadt, in der wir bis dahin nie einen Typhusfall erlebt
haben, liegt auf sterilem Sand.
Ferner sprechen gegen die Annahme, dass die Mikroorganismen
im menschlichen Organismus entstehen und dort auch ihre specifische
Wirksamkeit erlangen, die weiteren Thatsachen, dass frische Dejec-
tionen nicht toxisch wirken (E. Fraenkel 17 und Zuelzer 16 ) und
dass Ueberimpfen des Blutes von Typhuskranken auf Thiere und
Menschen keine Infection hervorruft.
So scheint denn Alles für die Annahme zu sprechen, dass die
Typhuskeime der Vermittelung eines geeigneten Bodens
bedürfen, um wirksam zu werden, dass aber auch jedes
andere Medium, welches die Bedingungen zur Fäulniss
(Wärme, Feuchtigkeit und Anwesenheit gewisser organischer
Stoffe) gewährleistet, die Rolle des disponirten Bodens
übernimmt.
Mit dieser Auffassung ist cs vollkommen vereinbar, dass durch
mit Dcjectionen von Kranken beschmutzte Wäsche die Affection auf
Wäscherinnen etc. übertragen, dass ferner die Krankheit durch Men¬
schen und Gegenstände nach einem anderen Orte verschleppt werden
und hier unter günstigen localen Bedingungen sich weiter verbreiten
kann. Auch muss die Möglichkeit ohne Weiteres zugegeben werden,
Digitized by
Gck gle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Aufgaben der Sanitätspolizei auf dem platten Lande.
363
dass wirkungsfähige Keime gelegentlich in Brunnen, die sich in
der gefährlichen Nähe von Abtritten und Mistgruben befinden, ge¬
langen.
Die zu ergreifenden sanitätspolizeilichen Massregeln zerfallen in
allgemeine und specielle.
Die allgemeinen Massregeln gehören zu den Obliegenheiten der
Sanitäts-Commissionen (§§ 1,2 und 6, Ziffer 1, 2 und 3 des Regulativs
vom 8. August 1835), die darüber zu wachen haben, dass die Strassen
und Plätze sauber gehalten, Abtritte und Dungstätten unschädlich ge¬
macht, Gossen und Rinnsteine reichlich mit Wasser gespült werden.
Vor Allem aber haben sie ihr Augenmerk auf die Beschaffenheit des
Trinkwassers zu richten, verdächtige Brunnen zu schliessen und An¬
weisungen für das Publikum zu ertheilen, welche eine Belehrung über
die Erscheinungen des Unterleibstyphus und einen Hinweis auf die
Anzeigepflicht gemäss §§ 9 und 36 des Regulativs, sowie Vcrhaltungs-
massregeln bei drohendem und erfolgtem Ausbruch einer Typhus¬
epidemie zu enthalten haben.
Für den speciellen Fall hat die Polizei darauf zu halten, dass
Dejectionen von Typhuskranken nicht in Abtritte oder auf Dungstätten
geschüttet, sondern erst nach dem bei der Cholera zu besprechenden
Verfahren desinficirt und dann in einem vom Brunnen fernzuhaltenden
tiefen Loche im Garten oder auf dem Acker vergraben und sorgfältig
zugedeckt werden. Auch die beschmutzte Wäsche wird nach dem¬
selben Verfahren wie bei der Cholera behandelt. Isolirung des Kranken
(§16 und 17 des Regulativs) ist unnöthig und überdies auf dem
platten Lande auch nicht durchführbar.
Die Anweisung zur Rundverfügung vom 14. Juli 1884 nimmt
eine vermittelnde Stellung in der Typhusfrage, und gewiss mit vollem
Recht, ein. Danach sind nur solche Kinder vom Schulbesuch auszu-
schliessen, welche selbst am Typhus leiden (No. 2 der Anlage zu
der erwähnten Verfügung), nicht aber gesunde Kinder, in deren Haus¬
stand ein Fall von Typhus vorkommt (No. 3 der Anlage). Die Schule
wäre nur dann zu schliessen, wenn eine Infection der Abtritte durch
Dejectionen Typhuskranker, sei es Schulkinder oder im Schulhause
wohnhafter Personen, zu befürchten ist (No. 7 der Anlage).
7. Cholera asiatica.
Der Krankheitserreger der Cholera asiatica ist der von Koch
entdeckte und von ihm so benannte Kommabacillus. Derselbe stellt
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
364
Dr. Süsskand,
ein komma- oder mehr halbkreisförmig gekrümmtes Stübchen dar,
dessen Länge ungefähr die Hälfte bis höchstens zwei Drittel eines
Tuberkelbacillus beträgt, aber erheblich dicker und plumper als dieser
ist. Zuweilen liegen zwei Individuen so übereinander, dass sie zu¬
sammen eine S-förmige Figur darstellen; zuweilen auch mehrere über¬
einander, so dass ein den Spirillen ähnliches, schraubenförmiges Ge¬
bilde entsteht. Sie lassen sich in alkalischer Fleischbrühe und Milch
züchten, vermehren sich darin ausserordentlich schnell und sind leb¬
haft beweglich (Ziegler 14 ). Sie gedeihen aber auch auf feuchter
Leinwand und feuchter Erde, am besten bei einer Temperatur von
30—40° C., wuchern nicht mehr unter 16°, bleiben aber noch bei
—10° lebend. Temperaturen über 50°, Säuren, zumal die Salzsäure,
und längeres Austrocknen tödten sie in kurzer Zeit. Zu ihrer Ent¬
wickelung bedürfen sie ferner des Sauerstoffes. Dauersporen lassen
sich nicht nachweisen. Koch hat zahlreiche Kommabacillen in dem
stark verunreinigten Wasser eines indischen Tank, an dessen Ufern
die Cholera herrschte, gefunden.
Die Kommabacillen kommen im Darminhalt und den schlauch¬
förmigen Drüsen des Darmes, seltener im Erbrochenen, niemals in
den Secreten, im Blute, im Harn und der Exspirationsluft vor. Rein-
culturen, in den Darm von Meerschweinchen eingespritzt oder, nach
voraufgegangener Neutralisirung des sauren Magensaftes, in den Magen
gebracht, führen nach zwei Tagen den Tod der Versuchsthiere herbei,
deren Darm man bei der Sektion mit einer flockigen, wässerigen
Flüssigkeit gefüllt findet, welche massenhaft Bacillen enthält (Ziegler 14
und Rosenthal 9 ).
Ueber den Ort der Entstehung dieser Baoillen besteht zur Zeit
noch eine tiefgehende Spaltung unter den Fachmännern.
v. Pettenkofer und seine Schüler treten von ihrem epidemio^
logischen Standpunkte aus für die ektogene Entstehung der Cholera¬
keime, für ihre Entstehung und Entwickelung im Boden ein.
Die Erfahrungen, die in den einzelnen Epidemien gewonnen
wurden, zeigen unwiderleglich die Abhängigkeit der letzteren von ge¬
wissen örtlichen und zeitlichen Dispositionen.
Die örtliche Disposition äussert sich darin, dass, während
gewisse Oertlichkeiten immer wieder von Choleraepidemien heim-
gesucht werden, andere mit gleicher Constanz verschont bleiben. Eine
Vergleichung dieser choleradisponirten Oertlichkeiten ergiebt überein¬
stimmend, dass es sich bei ihnen stets um einen lockeren, porösen,
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Aufgaben der Sanitätspolizei auf dem platten Lande.
365
für Wasser und Luft durchlässigen, alluvialen Boden handelt, der
einen mehr oder weniger grossen Gehalt an organischen, fäulniss-
fähigen Stoffen aufweist und dessen Oberflächenniveau vom Grund¬
wasserspiegel eine geringe Entfernung (5—50 Fuss) hat (Soyka 8 ).
Ja, die eigentliche Heimath der Cholera schildert Koch als ein
sumpfiges, von zahlreichen Ueberschwemmungen heirage-
suchtes Land mit üppiger Vegetation (cit. bei Eichhorst 18 ).
Das zeitlich disponirende Moment wird in einer zeitlich
wechselnden Durchfeuchtung des Bodens gefunden, womit es zu¬
sammenhängt, dass, wie v. Pettenkofer nachgewiesen hat, negative
Schwankungen des Grundwassers mit einer Steigerung der Erkran¬
kungen an Cholera einhergehen. Aber auch die von den Jahreszeiten
abhängige Bodentemperatur ist von Einfluss, indem sie gewisse bio¬
logische Processe im Boden ermöglicht. Demgemäss fällt im All¬
gemeinen das Auftreten der Cholera mit der steigenden Temperatur
zusammen und erlischt mit dem Eintreten der kälteren Jahreszeit.
Die Contagionisten stellen sich auf einen rein bakteriologischen
Standpunkt. Den ermittelten Lebensbedingungen der Koramabacillen
entsprechend, wird ihre entogene Entstehung behauptet, aus der de¬
letären Wirkung dieser Pilze auf die Versuchsthiere ihre Contagiosität
beim Menschen gefolgert und aus ihrer Lebensfähigkeit dn bestimmten
Medien (Milch und Wasser, feuchter Boden und feuchte Wäsche) ihre
Verbreitungsweise erschlossen.
In strenger Konsequenz seiner Richtung behauptet von Petten¬
kofer, dass dielnfection beim Menschen mittels der atmosphärischen
Luft erfolgt, was Koch für unwahrscheinlich hält, und vielmehr an¬
nimmt, dass die Bacillen mit dem Trinkwasser oder mit feuchten
Nahrungsmitteln in den Magen gelangen. Eine Infection mit der
Athmungsluft giebt er nur ausnahmsweise zu, dann nämlich, wenn
sich darin „zerstäubte flüssige Choleradejekte“ (Eichhorst 18 ) be¬
finden. v. Pettenkofer nimmt einen Dauerzustand der Bacillen
an, womit er das vorkommende Wiederaufflackern einer zeitweise er¬
loschenen Epidemie erklärt, was Koch wieder negirt, weil er Sporen
in seinen Spirillen nicht aufzufinden vermag (cf. v. Ziemssen 19 ).
Allein keine dieser Richtungen vermag, in ihrer Einseitigkeit,
die gesicherten Thatsachen befriedigend zu erklären.
Zunächst kann die durch die Untersuchungen Koch’s fest¬
gestellte Reproduktionsfähigkeit der Kommabacillen auch ausserhalb
des Bodens nicht mehr geleugnet werden; auch die Möglichkeit der
Digitized by
Gck igle
Original frorn
UNIVERSITÄT OF IOWA
3 60
Dr. Süss kan d,
Infection durch bacillenhaltiges Wasser lässt sich füglich nicht be¬
zweifeln.
Andererseits aber darf auch der erwiesene Einfluss der Oertlich-
kcit nicht in Abrede gestellt werden. Wollten wir von der Loka¬
lität ganz absehen, wie wäre die völlige Immunität mancher Orte,
die doch zweifellos besteht, zu erklären? Reproduciren sich aber die
Bacillen ausschliesslich im menschlichen Organismus: welcher Ein¬
fluss bleibt da für den Boden übrig?
Wir nehmen also an, dass die Cholerabacillen sich zwar in
jedem feuchten Medium reproduciren und vervielfältigen können,
ihre virulente Eigenschaft erlangen sie jedoch erst in einem „sicch-
haften“ Boden. Diese Virulenz ist durch die in solchem Boden statt¬
findenden Fäulnissproccsse und die dabei gebildeten Fäulnissprodukte,
die Ptomaine, gegeben, mit denen sich die Mikroorganismen „be¬
laden oder imprägniren,“ eine Annahme, die Zuelzer bereits für
die Typhusbacillen geltend gemacht hat.
Diese virulenten Keime können nun mit der atmosphärischen
Luft durch Mund und Nase, oder mit dem Trinkwasser und den
Nahrungsmitteln direkt in den Magen gelangen, diesen bei vorhan¬
dener individueller Disposition (alkalische Reaction des Magen¬
inhalts, Magenkatarrh [v. Zierassen 19 ]) glücklich passiren und sich
im Dünndarm ansiedeln, wo sie dann ihre deletäre Wirkung ent¬
falten. Dies ist der gewöhnliche Modus der Infection. Ausnahms¬
weise können die Keime auch ausserhalb der Bodens ihre giftigen
Eigenschaften annehmen, in den Fällen nämlich, wo andere Medien
die Stelle des Bodens vertreten. (Aug. Hirsch bei E. Fraenkel 20 ).
Die sanitätspolizeilichen Aufgaben erstrecken sich bei drohendem
Ausbruch der Cholera auf die lokale und individuelle Prophylaxe,
bei erfolgtem Ausbruch derselben auf die möglichste Beschränkung
ihrer Verbreitung.
Die örtliche Prophylaxe besteht in der Rein- und Trocken¬
haltung des Bodens und in der peinlichsten Sauberkeit in Haus
und Hof.
Die persönliche Prophylaxe wird angestrebt durch Beleh¬
rung des Publikums über sein Verhalten zu Cholerazeiten. Es wird
gewiss zur Beruhigung der Gemeinden beitragen, wenn im Publikum
die Uebcrzeugung Platz greift, dass sich jeder durch eine geeignete
Lebensweise und durch Befolgung der Verhaltungsmassregeln wirk¬
sam vor der Choleragefahr schützen kann. In Cholerazeiten hat man
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Aufgaben der Sanitätspolizei auf dem platten Lande.
367
seine Lebensweise so einzurichten, dass jede Verdauungsstörung ver¬
mieden wird. Nahrungsmittel, die gekocht werden können, des¬
gleichen das Trinkwasser, sollen nur in gekochtem Zustande ge¬
nossen werden. Dasselbe gilt auch für das im Hausgebrauch zu be¬
nutzende Wasser.
Man hat ferner verseuchte Orte sorgfältig zu meiden, ebenso
den Verkehr mit Personen, die von solchen Orten kommen.
Bei thunlichster Vermeidung jeder hypochondrischen Selbstbeob¬
achtung und übertriebenen Ängstlichkeit bei scheinbaren Abweichungen
von der Norm, dürfen vorhandene Magen- und Darmkatarrhe nicht
vernachlässigt werden.
Ist die Cholera ausgebrochen, so sollen die Kranken möglichst
isolirt werden. Nach den ortspolizeilichen Vorschriften müssen auch
auf dem platten Lande Räume zur Aufnahme von Cholerakranken
bereit gehalten werden. Allein wir fürchten, dass vorkommenden
Falles die Polizeiverfügungen sich schwer werden verwirklichen lassen.
In kleinen Städten und besonders in Dörfern sind isolirte Räume für
die Kranken und ein irgend wie brauchbares Personal zu ihrer Wartung
und Pflege garnicht zu beschaffen. Ein Transport der Kranken nach
den Krankenhäusern in den Kreisstädten aber ist mit grossen Gefahren
für letztere verbunden. Wir würden es daher für zweckmässiger
halten, die Gesunden von den Kranken abzusondern. Ihre eventuelle
Unterbringung in Scheunen würde sich leicht ausführen lassen. Die
Eigenthümcr sind gegen eine angemessene Entschädigung zur Uebcr-
lassung der Scheunen polizeilich zu veranlassen (vgl. Silbcrschlag 21 ,
pag. 36 sub 4).
Bei den Kranken bleiben nur so Viele zurück, als ihre Pflege es
erforderlich macht. Die evaeuirten Räume können vom Wartepersonal
zum Essen und, soweit dasselbe bei den Kranken entbehrlich ist, zum
Aufenthalt benutzt werden.
Die Dejectionen der Kranken sind, bevor sie den Abtritten cin-
verleibt werden, durch Desinfection mit 5proc. Carbolsäure unschäd¬
lich zu machen. Die Fussböden und alle Gegenstände, die mit Aus¬
leerungen der Kranken beschmutzt sind, müssen mit trockenen
Lappen gereinigt, letztere dann verbrannt werden. Alles Waschbare,
was mit den Kranken in Berührung kommt, muss zuvor ausgekocht
werden. Betten sollen mindestens 6 Tage lang ausser Gebrauch ge¬
setzt und an einem trockenen, luftigen Orte aufbewahrt werden.
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
368
Dr. Siisskand,
Die Aufenthaltsräume Cholerakranker sind ebenfalls 6 Tage lang
unbewohnt zu lassen und während dieser Zeit Tag und Nacht zu
lüften. Die Austrocknung dieser Räume kann durch Heizen wirksam
unterstützt werden (Koch, Skrzeczka, v. Pettenkofer 22 ). An¬
häufungen von Menschen auf einem engen Raume (§13 des Regulativs)
sind zu verbieten, die Schulen zu schliessen (M.-E. vom 14. Juli 1884).
8. Ruhr. Dysenterie.
„Als Ruhr bezeichnet man eine Infectionskrankheit, welche sich
vornehmlich durch Entzündung der Dickdarmschleimhaut äussert“
(Eich hörst 23 ).
Im Allgemeinen ist die Ruhr eine Krankheit des wärmeren Klimas.
Doch tritt sie unter besonderen Umständen auch in unserem Klima
bald sporadisch, bald epidemisch, ja sogar pandemisch auf.
Träger des Infectionsstoffcs ist immer der ruhrkranke Mensch,
der ihn mit den Fäces absetzt. Ob das vermuthete specifische Agens
seine Virulenz verliert, nachdem es seine Wirksamkeit im mensch¬
lichen Organismus vollendet hat und sie erst wieder im Boden erlangt,
oder ob es dasselbe beibehält, scheint noch nicht festzustehen. Jeden¬
falls aber steht die Abhängigkeit der Ruhr von gewissen Bodenver¬
hältnissen ausser allem Zweifel. Alle diejenigen Eigenschaften des
Bodens, die für das Auftreten der bereits erörterten Infectionskrank-
heiten, zumal der Malaria, günstig sind, begünstigen in hohem Grade
auch die Verbreitung der Ruhr, also ein niederes, feuchtes, mit organi¬
schen Stoffen reichlich durchtränktes Terrain bildet die örtliche
Disposition. Eine zeitliche Disposition macht sich insofern
geltend, als die meisten Epidemien in die Sommermonate fallen. Hier¬
bei kommen zwei Momente in Betracht: einmal die Temperatur, mit
deren Höhe die Ruhrepidemien in- und extensiv Hand in Hand zu
gehen scheinen, sodann die wechselnde Durchfeuchtung des Bodens
nach Regengüssen. — Neben der Bodenverunreinigung ist Unreinlich¬
keit und Ueberfüllung der Wohnräume ein die Verbreitung der Ruhr
begünstigendes Moment.
Die individuelle Disposition giebt sich darin zu erkennen,
dass schwächliche Individuen leichter befallen werden, als kräftige
Personen.
Darmcatarrhe begünstigen das Haften der Keime.
Die Aufnahme des Giftes erfolgt mit der Athemluft durch
Mund und Nase oder mit dem Trinkwasser; in beiden Fällen gelangt
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Aufgaben der Sanitätspolizei auf dem platten Lande.
369
es durch den Magen in den Darm, oder die Keime dringen direct
durch den After in den Darm ein.
Die Incubationsdauer beträgt 3—8 Tage.
Massregcln. Da, wie wir gesehen haben, der Ruhrkranke
Träger des Infectionsstoffes ist, so könnte ein wirksamer Schutz gegen
die epidemische Ausbreitung der Ruhr dadurch erreicht werden, dass
der erste Krankheitsfall rechtzeitig erkannt und thunlichst abgesondert
wird. Aber freilich wird gerade auf dem platten Lande die Ab¬
sonderung des Kranken (§ 18 des Regulativs) mit den grössten, in
den meisten Fällen unüberwindlichen Schwierigkeiten verbunden sein.
Die Abgänge des Kranken sind nach dem bei der Cholora angegebenen
Verfahren unschädlich zu machen. Die beschmutzte Wäsche ist sofort
in ein mit Kaliseifenlauge gefülltes Gefäss aufzunchmcn und dann
erst zu waschen.
Stirbt ein Ruhrkranker, so ist die Leiche in ein mit Kaliseifcn-
lauge getränktes Tuch zu legen und möglichst bald aus der Wohnung
zu entfernen.
Die Desinfection der vom Kranken gebrauchten Gegenstände,
sowie der von ihm benutzten Räume wird am besten, weil am leich¬
testen durchführbar, nach den §§ 19—22 ad B. der Anweisung des
Berliner Polizeipräsidiums vom 15. Aug. 1883 vorgenommen.
9. Der Milzbrand, Anthrax,
stellt eine acute Infectionskrankheit des Thierkörpers dar, von dem
sie aber direct oder indirect auch auf den Menschen übertragen w r ird.
Der Krankheitserreger ist der Bacillus Anthracis. Derselbe stellt
5—10 fi lange, runde Stäbchen dar, die sich in den verschiedensten
Nährsubstraten leicht züchten lassen. Sie bedürfen zu ihrer Entwicke¬
lung des Sauerstoffes und einer Temperatur von 30° C. Temperaturen,
die unter 15° und über 43° liegen, machen ihre Entwickelung un¬
möglich. Auf geeignetem Nährboden wachsen sie in 2—3 Stunden
zu langen Fäden aus, die nach weiteren 10—15 Stunden in regel¬
mässigen Abständen Sporen in ihrem Innern bilden und zerfallen.
Die frei werdenden Sporen wandeln sich dann wieder in Bacillen um
(Ziegler 14 und Zuelzer 24 ). Die Krankheit lässt sich bei hierfür
empfänglichen Thieren durch Verimpfen von Reinculturen und von
Blut milzbrandkranker Thiere hervorrufen. Die Vermehrung der Ba¬
cillen ist eine ungeheure. Davaine (bei Roloff 26 ) schätzt ihre Zahl
in einem Tropfen Blutes auf 8—10 Millionen
Digitized by Gougle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
370
Dr. Süsskand,
Die Milzbrandbacillen gehen durch hohe Temperaturen, schnelles
Austrocknen und durch Fäulniss des Nährbodens (vgl. Anmerk, auf
Seite 359) leicht zu Grunde, während die Sporen sich noch Jahre
lang in jedem Medium lebensfähig erhalten.
Die Abhängigkeit der Krankheit vom Boden zeigt sich insofern
ganz evident, als sie in einzelnen Gegenden von bestimmter Boden-
bcschaffenheit endemisch auftritt.
0ertlich disponirt zeigt sich ein humusreiches, feuchtes Terrain,
welches in mässiger Tiefe unter der wasserdurchlasscndon eine wasser¬
dichte Schicht enthält.
Heisse Sommer, besonders die Monate August und September,
zeitigen die frequentesten Epidemien.
Die individuelle Disposition äussert sich in der grösseren
oder geringeren Empfänglichkeit der einzelnen Thierspecies für das
Milzbrandgift. Ganz besonders disponirt sind die Herbivoren, viel
geringer die Omnivoren, am geringsten die Camivoren. Auch das
Geflügel ist gegen Milzbrand nicht immun. Einmaliges Ueber-
stehen der Krankheit gewährt keine Immunität. Der Anthrax
tritt in zwei Formen auf: als Haut- und Darmmilzbrand.
Der Darmmilzbrand (Mycosis intestinalis), die bei Thieren
häufigere Form, tritt durch Aufnahme des Giftes in die Verdauungs¬
wege ein. Träger desselben sind hierbei inficirtes Futter und Wasser.
Bei der massenhaften Vermehrung der Bacillen und bei der Eigen¬
schaft der Sporen, sich in jedem Medium lebensfähig zu erhalten,
braucht die Provenienz des Futters und des Wassers nicht mehr der
Ort ihrer autochthonen Entstehung zu sein. Vielmehr können cs alle
Futtermittel und jedes verunreinigte Wasser sein. Ja, die Abfallstoffe
der erkrankten Thiere (Abgänge und Futterreste) können der Aus¬
gangspunkt einer Stallenderaie werden. Aber auch alle anderen Gegen¬
stände und Stallutensilien sind gelegentlich Träger des Milzbrandgiftes,
welches sich der Athmungsluft mittheilen und mit dieser in den
thierischcn Organismus eindringen kann.
Bei dem Hautmilzbrand (Pustula maligna) dringt das Gift
durch die äussere Haut ein, es wird dem Thiere gleichsam eingeimpft.
Dies kann stattfinden, wenn gesunde Thiere von Hunden gebissen
werden, welche Fleisch von Milzbrandcadavern gefressen haben, oder
wenn sic von Fliegen, Bremsen gestochen werden, die mit Milzbrand¬
blut in Berührung gekommen sind.
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
Aufgaben der Sanitätspolizei auf dem platten Lande.
371
Beim Menschen sind die Wege der Ucbertragung des Giftes
dieselben, jedoch scheint das Eindringen desselben von den Integu¬
menten her häufiger zu sein. Am meisten exponirt sind die Berufs¬
arten, welche mit den erkrankten und verendeten Thieren selbst oder
mit den von ihnen stammenden Produkten (Häute, Haare, Borsten,
Wolle, Klauen, Hörner, Knochen) in Berührung kommen, also Vieh¬
knechte, Schäfer, Metzger, Gerber, Woll- und Rosshaarsortirer, Tape¬
zierer, Lumpensammler und Dienstleute.
Bei der Intestinalmykose des Menschen kommt, ausser der
möglichen Aufnahme des Giftes mit der Athmungsluft, besonders der
Genuss von Fleisch, Milch und Butter milzbrandkranker Thiere in Be¬
tracht (cf. Strümpell 26 , Bd. I. pag. 161).
Bei der grossen Resistenzfähigkeit der Milzbrandsporen und der
daraus erwachsenden Gefahr der Uebertragung des Milzbrandes auf
Menschen und Thiere kann ein wirksamer Schutz gegen dieselbe nur
durch die unschädliche Beseitigung der Träger des Infcctionsstoffcs
erreicht werden gemäss § 31 und 33 des Reichs-Viehseuchengesetzes
vom 23. Juni 1880. Demzufolge werden Thiere, welche am Milz¬
brand erkrankt oder dieser Seuche verdächtig sind, getödtet, der Ca-
daver vergraben, nachdem die Haut durch mehrfaches Zerschneiden
unbrauchbar gemacht und die Cadaver mit roher Carbolsäurc, Theer
oder Petroleum begossen worden sind (§ 11, Absatz 2 der Instruction
zum erwähnten Gesetz). Absatz 3 bestimmt, dass zur Vergrabung
der Cadaver solche Stellen zu wählen sind, welche von Pferden,
Wiederkäuern und Schweinen nicht betreten werden und an welchen
Viehfutter weder gewonnen, noch vorübergehend aufbewahrt wird.
Diese Massregel findet ihre Begründung in der durch den bekannten
Versuch Pasteur’s gestützten Thatsache, dass Thiere, welche an
Stellen weiden, wo früher Cadaver milzbrandkranker Thiere verscharrt
wurden, sehr häufig am Milzbrand erkranken.
Die §§12 und 14 der Instruction enthalten Bestimmungen über
Aufbewahrung und Transport der Cadaver, sowie über die Behand¬
lung der Abfälle von milzbrandkranken oder am Milzbrand gefallenen
Thieren und der mit ihnen in Berührung gekommenen Stallungen und
Stallutensilien.
Der milzbrandkranke Mensch wird am besten im Krankenhause
behandelt, weil dort die unschädliche Beseitigung seiner Excremente
und Excrete noch am ehesten gewährleistet ist. Die Desinfection der
Effecten und der Wohnräumc (§ 118 des Regulativs) findet nach
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
372
Dr. Süsskand,
Massgabe (lcr §§ 19—21 ad A, resp. des § 22 ad B der Anlei¬
tung zum Dcsinfectionsverfahren des Berliner Polizeipräsidiums vom
15. August 1883 statt.
10. Die Verunreinigung des Bodens durch die natürlichen
Effluvien der Menschen und Thierc und ihre Beseitigung.
Die festen und flüssigen Excremente der Menschen und Thiere
bilden eine reiche Quelle von Fäulnissproductcn, welche die Gesund¬
heit der Menschen direct oder indirect zu beeinträchtigen im Stande
sind: Sie entwickeln giftige Emanationen, wie Kohlensäure, Ammoniak,
Schwefelwasserstoff und die flüchtigen Schwcfelammoniumverbindungen,
welche in die atmosphärische Luft entweichen oder in die mensch¬
lichen Wohnungen eindringen; sie bewirken selbst in einer relativ ge¬
ringen Concentration eine Luftverderbniss, deren chronische Ein¬
wirkung auf den Menschen immer nachtheilig sein muss, indem sie,
wie Erismann es wahrscheinlich zu machen sucht, seine Wider¬
standsfähigkeit schwächt, die individuelle Disposition für gewisse
Krankheiten steigert und in Folge dessen die mittlere Lebensdauer
der Bevölkerung herabsetzt; sie imprägniren ferner den Boden mit
Fäulnissstoffen und machen ihn geeignet zur Brutstätte für pathogene
Mikroorganismen. Ja, für die contagiös-miasmatischen Infectionskrank-
heiten ist es, wie wir gesehen haben, im hohen Grade wahrschein¬
lich, dass die Krankheitserreger in einem solchen Boden erst ihre
virulente Eigenschaften erlangen.
Endlich können lösliche Verbindungen, zum Theil giftiger Art
(Ptomaine), in wässeriger Lösung durch den Boden versickern und in
Brunnen gelangen, deren gesundheitsschädliche Wirkung nach Tic-
mann und Preusse zwar nicht sehr wahrscheinlich, aber immerhin
möglich ist.
Daraus erhellt die Nothwendigkeit einer rechtzeitigen und
rationellen Beseitigung jener schädlichen Abfallstoffe.
Auf dem platten Lande kann es sich natürlich nicht darum
handeln, ob wir dem Liernur’schon oder dem Schwemmcanalsystem
den Vorzug geben wollen: Hier müssen wir mit den einfachsten Ab¬
fuhrsystemen rechnen, die so wenig kostspielig und so wenig um¬
ständlich wie irgend möglich zu bewerkstelligen sind.
Aber auch bei diesen einfachen Systemen ist die Frage nach
der Aufnahme und Aufbewahrung der Excrementc bis zu ihrer Ab¬
fuhr die brennendste.
Digitized by
Gck gle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Aufgaben der Sanitätspolizei auf dem platten Lande.
373
Sollen die Excrcmcntc in Gruben oder in Tonnen vorläufig auf¬
gefangen werden?
Giebt man den Gruben den Yorzug, dann müssten sic so her¬
gerichtet werden, dass sie ein Versitzen ihres flüssigen Inhalts nicht
gestatten. Dieses könnte aber durch eine undurchlässige Thonschicht
allein, die sehr leicht Spalten und Risse bekommt, nicht erreicht
werden. Man müsste denn die Grube nach dem Vorschlag von
Erismann 27 und Rosenthal 9 mit einer doppelten Lage von glasirten
Backsteinen ausrüsten, den Zwischenraum mit plastischem Thon aus¬
füllen, die Innenwand ausserdem mit Cement verputzen und, um ein
Ueberlaufen derselben durch Regenwasser und ein. Entweichen von
Abtrittgasen zu verhindern, luftdicht zudecken.
Allein abgesehen davon, dass eine solche Einrichtung der Gruben
für ländliche und kleinstädtische Verhältnisse zu kostspielig ist, ge¬
währen sie auch nur einen unsicheren hygienischen Schutz:
1. speichern sich darin die Fäkalien für längere Zeit auf und
gerathen in einen hohen Grad von Fäulniss; sie belästigen dann nicht
bloss durch Entwickelung von stinkenden Gasen, sondern bilden auch
willkommene Brutstätten für pathogene Pilze;
2. werden sie mit der Zeit doch durchlässig, indem die Alkali¬
metalle des Grubeninhalts die Kieselsäure des Cements zersetzen und
sich mit ihr zu Doppelsilikaten verbinden (Tiemann 11 und Wolff-
hügel bei Erismann 27 );
3. ist die Entleerung der Gruben mit grossen Uebelständcn ver¬
bunden, indem ein Verstreuen der Fäkalien und somit eine Ver¬
unreinigung des Bodens, und eine arge Belästigung des Publikums
durch die stinkenden Ausdünstungen, die sich Stunden lang nach
Fortschaffung des Grubeninhalts noch unangenehm bemerklich machen,
hierbei kaum zu vermeiden sind;
4. ist die sanitätspolizeiliche Controle der Gruben erschwert oder
geradezu unmöglich.
Alle diese Uebelstände beseitigen sicher und gründlich die be¬
weglichen Behälter für Fäkalien (Fosses mobiles) und sind für
ländliche Verhältnisse allein brauchbar. Hier fallen alle Bedenken,
die gegen ihre Anwendung erhoben werden, fort.
Nehmen wir mit Parkes (cit. bei Erismann 27 ) an, dass ein
Erwachsener durchschnittlich 120 g Koth und 1500 g Urin pro Tag
entleert, so reicht eine Tonne von 200 Liter Rauminhalt vollkommen
aus, um die Gesammtmengc der Excremcnte von 8 Tagen und 10 Per-
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
374
Dr. Süsskand,
sonen aufzunchroen. Diese Durchschnittszahl für die Bewohner eines
Hauses dürfte auf dem Lande fast nie erreicht und in kleinen Städten
kaum jemals überschritten werden.
Der Rauminhalt der Tonnen würde es demnach noch gestatten,
dass die Excremente täglich mit einer Schicht Gartenerde, die nach
Erismann eine bedeutende desodorirende Wirkung hat und auf dem
Lande leicht zu beschaffen ist, bedeckt werden.
Die Tonne, die aus einem Petroleumfass hergerichtet werden
kann, muss mit Henkeln armirt sein und oben einen zugeschärften
Rand haben, auf den ein mit einer circulären Furche versehener
Deckel passt.
Ein durch die Henkel laufender Stab hält den Deckel in seiner
Lage auf der Tonne fest. Zum Gebrauch wird die Tonne unter das
Sitzbrett geschoben, dessen Oeffnung in die Oeffnung der Tonne mündet,
deren Peripherie aber die Brillenperipherie um ein Erhebliches über¬
trifft. Regelmässig, etwa am 8. Tage oder jeden Sonnabend, wird
das Sitzbrett, welches wir uns beweglich denken, aufgeklappt, die
Tonne an Ort und Stelle fest zugedeckt und durch die mit einer be¬
weglichen Klappe versehenen Seitenwand des Abtrittes mittels Haken
herausgezogen und auf einem Handkarren auf den Acker geschafft.
Der Inhalt der Tonne wird entweder zur Düngung unmittelbar
verwendet, oder, wenn sich hierzu keine Gelegenheit bietet, auf einen
Composthaufen verbracht und mit Erde, Asche oder Kehricht zu¬
gedeckt (Mittermaier 28 ).
Für Viehställe ist zu verlangen, dass der Boden wasserdicht
hergestellt werde, was sich schon zum Schutz gegen Verseuchung des
Stallgrundes mit Milzbrandkeiraen empfiehlt, und mit einer Rinne für
die flüssigen Abgänge versehen sei, welche nach der Dunggrube führt.
Für letztere stellte die in München 1875 tagende Versammlung des
Deutschen Vereins für öffentliche Gesundheitspflege folgende These
auf: „Stalldüngergruben müssen undurchlässig, gut verschlossen und
ohne Ueberlauf sein“ (citirt bei Flügge 4 ). Aehnlich äussert sich
darüber Blankenstein 29 . Im vorigen Jahre erliess das Landraths¬
amt zu Steinau a. 0. nachstehende Polizeiverordnung: „Dungstätten
müssen mit einer undurchlässigen Umwehrung derartig versehen werden,
dass ein Abfluss der in ihnen enthaltenen Flüssigkeit nach öffentlichen
Strassen oder Gräben nicht stattfinden kann.“
Wenn aber eine Sillar’sche Mischung den Grubengrund bedeckt,
so dürfte die Durchlässigkeit desselben oder ein Abfluss der durch
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
Aufgaben der Sanitätspolizei auf dem platten Lande.
375
den A-B-C-Proccss (Eulenberg 30 ) geklärten Grabenflüssigkeit wohl
unbedenklich sein. Diese Mischung kann ja von Zeit zu Zeit er¬
neuert und als Dünger verwerthet werden. Bei hinlänglicher Flächen¬
ausdehnung der Dungstätten würde übrigens wohl auch eine genügende
Schicht gesiebter Gartenerde zur Filtration ausreichen.
Zur Abführung der atmosphärischen Niederschläge
und der Küchen- und Hauswässer, welche letztere nur geringe
Mengen organischer Substanz enthalten und erst bei längerem Sta-
gniren faulen, genügen in kleinen Orten offene Rinnsteine, vorausge¬
setzt, dass sie hinreichendes Gefälle haben und undurchlässig her-
gestellt sind (Blankenstein 20 ). Die sich in ihnen absetzenden
festen Bestandtheile werden durch oft vorzunehmende Wasserspülungen
entfernt.
Die privaten Schlachthäuser, die auf dem platten Lande
ausschliesslich in Gebrauch sind, geben bei undurchlässig hergestelltem
Boden und zweckmässiger Ausnutzung der thierischen Abfälle zur
Verunreinigung des Untergrundes keinen Anlass.
11. Die Verunreinigung des Bodens durch die todte Materie
und ihre Abhülfe.
Die Cadaver gefallener oder getödteter Thiere liefern ein sehr
bedenkliches Material der Bodenverunreinigung. Bezüglich ihrer Be¬
seitigung besteht ein schreiender Gegensatz zwischen Stadt und Land.
Während in den grösseren Städten wohleingerichtete Abdeckereien
existiren, welche alle Leichentheile zu industriellen Zwecken ver¬
arbeiten, werden auf dem platten Lande die Thiercadaver sammt und
sonders der Muttererde zur Verarbeitung überliefert. Wenn es auch
nur selten Vorkommen dürfte, dass die gefallenen oder getödteten
Thiere abgeledert und die Cadaver unverscharrt der Vernichtung durch
Fäulniss und dem Raube aasfressender Thiere überlassen werden
(Esser 81 ), so besteht doch vielfach noch die Unsitte, sie ober¬
flächlich in den Boden oder in Composthaufen zu verscharren, sodass
sie sehr leicht von Hunden und Füchsen herausgescharrt und wieder
an die Oberfläche befördert werden. Auf manchen Gütern herrscht
die nicht minder verwerfliche Sitte, für etwaige Thierleichen eine
Massengrube herzustellen, welche, schlecht zugedeckt, im Sommer
von Maden und verschiedenen Fliegenarten umwimmelt und um¬
schwärmt wird.
Viertejjahrsscbr. f. ger. Med. Dritte Folge. XIV. 2. 25
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
376
I)r. Süss kan d,
Die hygienischen Schäden, die daraus entstehen, liegen auf der
Hand. Durch Emanation von Leichengasen tritt eine Luftverderbniss
ein; sodann wird das Grundwasser, und in Folge dessen auch die
benachbarten Brunnen verunreinigt, der Boden selbst aber mit fäulniss-
fähigen organischen Stoffen durchsetzt.
Eine andere Reihe von Gefahren besteht darin, dass diejenigen
Fliegenarten, welche sich gern auf in Fäulniss übergehenden Cadavern
einfinden, durch Stich septische Krankheiten beim Menschen ver¬
anlassen können. Weiterhin können gefährliche, auf Menschen über¬
tragbare Infectionskrankheiten durch Herausscharren und Ver¬
zehren der Leichen seitens anderer Thiere verschleppt und weiter
verbreitet werden. Aber auch andere Thierkrankheiten können noch
dem Menschen durch Ucbertragung gefährlich werden! Zunächst der
Rotz.
1. Der Rotz oder die Wurmkrankheit (Mallcus) ist eine bei
Pferden und verwandten Thieren (Esel, Maulthiere und Maulesel)
epidemisch auftretende, contagiöse Infectionskrankheit, welche auch
auf andere Thiere (Feldmäuse, Katzen, Ziegen, schwerer auch das
Schaf) und den Menschen übertragen werden kann (Weigert 32 ,
Ziegler 14 , Roloff 38 ).
Der Krankheitserreger ist ein schlanker Bacillus, der dem Tu¬
berkelbacillus sehr ähnlich ist und sich nur in seinen Tinctionsver-
hältnissen von diesem unterscheidet. Die Bacillen findet man regel¬
mässig in jüngeren Rotzherden, theils in Zellen eingeschlossen, theils
frei, selten in älteren Herden, niemals ausserhalb der Herde. Sie
lassen sich in verschiedenen Nährmedien züchten, am besten auf er¬
starrtem Hammel-Pferdeblutserum, dagegen nicht auf pflanzlichen
Aufgüssen und Pferdemist, wodurch ihre parasitäre Natur wahrschein¬
lich gemacht wird. Reinculturen, geeigneten Thieren verimpft, er¬
zeugen die Rotzkrankheit. Dieselben erweisen sich nach 3 Monaten
unwirksam. Eine Dauerform ist nicht nachgewiesen (Weigert 32 ).
Die Infection erfolgt bei Thieren entweder durch directe Ueber-
tragung des Nasenschleimes beziehungsweise der gifthaltigen Secrete
der Rotzherde auf Schleimhäute resp. eine Wunde gesunder Thiere,
oder durch Vermittelung der atmosphärischen Luft, durch Einathmen
der Keime.
Beim Menschen geschieht die Ansteckung durch directe Ueber-
tragung, sei cs des rotzigen Schleimes (beim Husten und Ausbrusten
der Pferde) auf Schleimhäute, sei es des Sccrets aus den Rotzherden
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Aufgaben der Saiiitiitspolizei auf dem platten Lande.
377
auf eine offene Wunde. Daraus erklärt es sich, dass meist solche
Leute am Rotz erkranken, welche durch ihren Beruf viel mit Pferden
zu thun haben: Stallknechte, Cavalleristcn, Thierärzte etc. Die
Krankheit tritt je nach der Aufnahme des Giftes von den äusseren
Integumenten her oder den Athmungswegcn in Form von Nasen-
resp. Lungenrotz und Hautrotz (Wurm) auf.
Wiewohl die Bacillen bis jetzt nur in den erkrankten Herden ge¬
funden wurden, so ist doch ihre Anwesenheit im Blute aus dem
Grunde mit Sicherheit anzunehmen, weil sich aus den primären Herden
leicht Metastasen in verschiedenen anderen Organen bilden. Aus
diesem Grunde ist auch der Genuss von Milch und Fleisch rotzkranker
Thierc zu inhibiren.
Maassregeln: Rotzkranke Thiere müssen getödtet (§ 40), der
Seuche verdächtige abgesondert (§ 41), die Cadaver unschädlich be¬
seitigt werden (§ 43). Die unschädliche Beseitigung findet in der¬
selben Weise wie beim Milzbrand statt. Auch bezüglich des rotz¬
kranken Menschen gelten dieselben Bestimmungen wie beim Milz¬
brand (§ 122 des Regulativs).
2. Die Tollwuth (Rabies, Hydrophobie, Lyssa) stellt nach
Benedikt 34 ) eine durch das specifische, fixe, nicht verschleppbare,
endogene Gift wuthkranker Thiere bedingte Neurose dar.
Die Aufnahme des Giftes erfolgt durch eine Bisswunde, seltener
von einer exeoriirten Stelle aus durch Belecken derselben seitens
eines wuthkranken Hundes. Das wirksame Agens findet sich nicht
blos im Speichel und den Speicheldrüsen, sondern auch im Blut und
im Centralnervensystem, ja in dem letzteren ist es nach Pasteur
am concentrirtesten enthalten. Es ist schon während der Incubation
wirksam. Das Atrium der Intoxication scheint ausschliesslich die
Blutbahn zu sein; denn Füttcrungsversuche, die Hertwig (eit.
bei Roloff 35 ) mit frischem Speichel anstcllte, waren erfolglos, während
Impfungen einen positiven Erfolg hatten.
Das Wesen des Wuthgiftes ist zur Zeit noch unbekannt. Dafür,
dass es sich hierbei um ein organisirtes Gift handeln könnte, spricht
eigentlich nur die Regenerationsfähigkeit des Wuthgiftes, d. h. dass
ein vergiftetes Individuum durch Inoculation des Giftes ein anderes
Individuum befähigt, dieselben krankmachenden Eigenschaften zu er¬
langen. Dagegen fehlen ihm, abgesehen von der Incubation, alle
anderen Merkmale des Miasma oder Contagium vivurn.
25 *
Digitized by
Gck gle
Original frnm
UMIVERSITY OF IOWA
378
Dr. Süss kan d,
Die Eigenschaft, das Gift zu produciren, theilcn alle Thierc aus
dem Geschlecht der Hunde (Wölfe und Füchse), ferner Katzen, Pferde,
Wiederkäuer, Nager, Schweine (Benedikt) und selbst Hausge¬
flügel.
Die Frage, ob und bei welchen Thieren das Wuthgift primär
entsteht, ist eine offene.
Die Wirkung des Giftes erstreckt sich auf die Sphäre der Gross¬
hirnrinde, der Medulla und des Rückenmarkes und äussert sich
anfangs in einer Excitation, später in einer Depression der Functionen.
Die Incubation dauert beim Menschen gewöhnlich 2—8 Wochen
(Benedikt), beim Hund 3—6 Wochen, aber auch unter einer Woche
und über 12 und mehr Wochen. Die weiteste Grenze ist nach
Roloff die von 3 Monaten (daher Hundesperre bis auf 3 Monate
auszudehnen!). Die Resistenzfähigkeit des Wuthgiftes ist eine geringe,
denn schon nach 24 Stunden ist es, wie Impfversuche ergaben, nicht
mehr wirksam.
Maassregcln: § 16 Absatz 3 bestimmt: Wenn ein Mensch
oder ein Thier von einem an der Tollwuth erkrankten oder der Seuche
verdächtigen Hunde gebissen ist, so ist der Hund, wenn solches ohne
Gefahr geschehen kann, vor polizeilichem Einschreiten nicht zu tödten,
sondern behufs thierärztlicher Feststellung seines Gesundheitszustandes
einzusperren. (Die Einsperrung des Hundes erfolgt nach § 95 des
Regulativs „zur Aufklärung der Sache und zur Beruhigung der ge¬
bissenen Personen.“)
§ 18. Ist ein der Seuche verdächtiger Hund gestorben oder ge-
tödtet worden, so kann die Polizeibehörde die Zerlegung des Cadavers
durch den beamteten Thierarzt anordnen. Diese Anordnung muss
getroffen werden, wenn der Hund einen Menschen oder ein Thier ge¬
bissen hat.
§ 19. Ist die Tollwuth eines Hundes festgestellt, so ist die so¬
fortige Tödtung desselben anzuordnen.
Bezüglich der Kadaver ist ebenso zu verfahren, wie beim Milz¬
brand. Stirbt ein Mensch an Wuthkrankheit, so ist die Desinfection
der von ihm benutzten Wäsche und ßettstücke nach dem Buchstaben A
der §§19 und 20 vorzunehmen. Die Reinigung der weiteren Um¬
gebungen erfolgt nach 22 B. (§ 32 der Anleitung zum Desinfections-
verfahren des Berliner Polizeipräsidiums vom 15. August 1883).
3. Trichinenhaltiges Schweinefleisch kann, bei fahrlässiger
Beseitigung desselben, von Ratten, den häufigsten Trichinenträgern
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Aufgaben der Sanitätspolizei auf dem platten Lande.
37i)
für das Schwein, gefressen und so der Weiterverbreitung der Trichinose
Vorschub geleistet werden.
Den Forderungen der Hygiene würde durch Verbrennen der
Kadaver oder durch Unschädlichmachung derselben auf chemischem
Wege am besten genügt w’erden. Da dies jedoch auf dem platten
Lande nicht durchführbar ist, so muss ihre Beseitigung durch Ver¬
graben erfolgen.
Am besten eignen sich hierzu disseminirtc Einzelgruben,
wenn das dafür benöthigte Terrain von der Gemeinde beschafft werden
kann. Vermag aber die einzelne Gemeinde diese Fürsorge allein
nicht zu treffen, so müssen mehrere Gemeinden die Anlage eines
gemeinschaftlichen Verscharrungsplatzes in die Hand zu nehmen.
Für die Wahl des Terrains sind dieselben Gesichtspunkte maass¬
gebend, die wir für die Bestattung menschlicher Leichen kennen lernen
werden.
12. Lcichenbestattung.
Bei der Anlage eines Begräbnissplatzes hat man darauf Bedacht
zu nehmen, dass die Gesundheit und das Wohlbefinden der Gemeinde
nicht beeinträchtigt werden.
Eine solche Gefahr liegt hier aber möglicherweise vor:
1. durch Emanation von Leichengasen;
2. durch Uebertragung gewisser Infectionskrankheiten mittels
der atmosphärischen Luft und des Trinkwassers;
3. durch Vergiftung benachbarter Brunnen mit Leichenpro-
ducten.
1. Eine Emanation von Leichengasen kann stattfinden, wenn
die oberhalb der Verwesungszone gelegene Erdschicht von geringem
Tiefendurchmesser ist, oder grosse Lufträume enthält; wenn ferner
der Boden mit Lcichenmaterial übersättigt ist, was leicht durch all¬
zugrosse Nähe der Gräber an einander, durch Massengräber, und
durch einen gering bemessenen Turnus für die Wiederbelegung der
Gräber eintreten kann; endlich wenn die Verwesung durch die Be¬
schaffenheit des Bodens (zu enge Poren, zu grosse Feuchtigkeit oder
excessive Trockenheit) hintangehalten wird (Eulenborg 7 , Schön¬
feld 12 ).
Unter den Leichengasen kommt besonders die Kohlensäure in
Betracht, welche die Gesundheit von Menschen schwer schädigen und
selbst den Tod derselben herbeiführen kann. In Grabgewölben sind
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
380
Dr. Süsskand,
durch Anhäufung der Kohlensäure beim Betreten derselben mehrfach
Todesfälle vorgekommen.
Schwefelwasserstoff findet sich im Boden der Friedhöfe nie¬
mals vor (Eulenberg 7 ), weil er vom Eisenoxyd des Bodens in
Schwefcleisen übergeführt wird, wohl aber in geschlossenen Grüften
und im nassen Boden, wo er sich als solcher oder an Ammoniak
gebunden findet.
2. Eine Verschleppung von Infectionskrankheiton kann mög¬
licherweise durch den Gasaustausch zwischen der Bodenluft und der
Atmosphäre und durch die Capillarität des Bodens unter den oben
erörterten Bedingungen erfolgen.
3. Eine Verunreinigung des Grund- und Trinkwassers
tritt ein, wenn die unter der Verwesungszone gelegene Erdschicht
keine genügende Filtrationskraft besitzt, um die Zersetzungsproductc
der Leichen vom Grundwasser zurückzuhalten, sei es, dass sie nicht
mächtig genug, oder dass sie abnorm durchlässig ist; wenn ferner
das Grundwasser ständig oder zeitweise in der Verwesungszone steht
und gleichzeitig eine Communication mit dem Wasser in Brunnen
unterhält. Dasselbe findet auch statt, wenn die Grabcssohle zu tief
liegt, so dass sie zeitweise oder stets unter Wasser ist. Unter den
gegebenen Bedingungen können auch Infectionsstoffe in das Trink¬
wasser gelangen.
Aus diesen Gründen sind an einen neu anzulcgendcn Begräbniss-
platz folgende Anforderungen zu stellen:
I. Die Entfernung der Kirchhöfe aus benachbarten Ort¬
schaften.
Gesetzliche Bestimmungen:
Das allgemeine Landrecht Th. II, Tit. 11 bestimmt:
§ 184. In den Kirchen und in bewohnten Gegenden der Städte
sollen keine Leichname beerdigt werden.
§ 186. Ohne Anzeige an den geistlichen Obern sollen Leichen
anderswo als auf einem öffentlichen Kirchhofe nicht beerdigt werden.
§ 764. Die Anlegung neuer Begräbnissplätze soll nur aus er¬
heblicher Ursache und nur unter Einwilligung der geistlichen Orden,
sowie der Polizeivorgesetzten des Ortes stattfinden.
Der § 184 des Allg. Landrechts verbietet, wie wir sehen, das
Beerdigen von Leichnamen ausserhalb der öffentlichen Kirchhöfe,
insoweit der hierzu gewählte Ort in bewohnten Gegenden der Städte
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
Aufgaben der Sanitätspolizei auf dem platten Lande.
381
gelegen ist, er enthält aber kein Beerdigungsverbot auf öffentlichen
Kirchhöfen, die in bewohnten Gegenden der Städte sich befinden.
Für neue Anlagen von Begräbnissplätzen schreibt der Erlass
der Ministerien des Innern, für Handel etc. und der pp. Medicinal-
angelegenheiten vom 18. .März 1852 eine Entfernung von wenigstens
50 Ruthen (= 200 Meter) von Ortschaften vor, also nicht bloss von
Städten.
Da diese Vorschrift nur für neue Anlagen von Kirchhöfen be¬
steht, so werden letztere selbst in Dörfern innerhalb bewohnter Ort¬
schaften belassen und eine Verlegung derselben, die den Erlass zu
berücksichtigen hätte, sehr häufig durch, eine Erweiterung bestehender
umgangen.
Eulen borg wünschte deshalb eine Fassung des Gesetzes, welche
solchen Vorkommnissen Vorbeugen würde, ein Gesetz, welches das
Beerdigen von Leichnamen in bewohnten Gegenden der Städte, Ort¬
schaften und Dörfer verbietet: Dann würde auch dem Nachrücken
der Wohnungen nach den Friedhöfen ein wirksamer Riegel vorge¬
schoben werden.
II. Die Beschaffenheit des Begräbnissplatzes und seine
Lage.
Der Boden soll porös, für Luft und Wasser durchlässig sein und
eine rasche Verwesung der Leichen ohne Fettwachsbildung (durch zu
grosse Feuchtigkeit) und ohne Mumification (durch zu grosse Trocken¬
heit) ermöglichen. Diesen Anforderungen würde ein lockerer Gcröll-
boden am meisten entsprechen. Jedoch ist jeder Kies- und Sand¬
boden mit oder ohne Beimengungen von Lehm und Kalk, sowie jeder
Mergelboden hierzu geeiguet. Dagegen sind zu verwerfen Humus-,
Moor- und Sumpfboden, sowie fetter Lehm und Thon. Bei den letz¬
teren Bodenarten sind Risse und Spaltbildungcn bei eintretender
Trockenheit zu befürchten, welche den Gräbern Meteorwasser zuführen,
ohne ihm einen genügenden Abfluss zu gestatten. Die Verwesung
könnte noch erheblich befördert werden durch Beschickung der Särge
und der Leiche selbst mit Holzkohle oder Kalk (Eulenberg 7 ).
III. Tiefe der Gräber.
Bei einem so besbhaffenen Boden würde eine Tiefe von 1 m,
vom Grabesrand bis zum höchsten Punkt des eingestellten Sarges
gemessen, ausreichend sein. Die „übergreifende“ Bchügelung würde
Digitized by
Gck gle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
382
Dr. Süsskand,
dann noch diese Tiefe erhöhen. Die Mächtigkeit der Erdschicht von
der Grabessohle bis zum Grundwasserspiegel wäre je nach der Poro¬
sität des Bodens verschieden zu bemessen.
Bei mittlerer Porosität müsste diese Schicht 0,5 M., bei weiteren
llohlräumen mehr betragen. Natürlich wird hierbei die Durchlässig¬
keit für Wasser durch die ganze Dicke der Schicht vorausgesetzt.
Zwischen je zwei Einzelgräbcrn ist eine Erdschicht von 0,3 m zu be¬
lassen (Schönfeld 12 ).
IV. Die Lage des Begräbnissplatzcs.
Bei der Lage des Platzes kommt die Neigung des Terrains, be¬
sonders aber die Neigung der wasserdichten Unterlage des Grund¬
wassers, die Richtung seines Gefälles und die Himmelsrichtung in
Betracht.
Hinsichtlich der Neigung der Bodenoberfläche ist zu be¬
rücksichtigen, dass Bergesabhänge und Thalsohlen am Fusse eines
Gebirges dem Abfluss der Meteorwässer sehr exponirt sind. Ebenso
ist auch jeder Platz, welcher Uebcrschwemmungen ausgesetzt ist, so¬
wie die Nähe von Teichen, Sümpfen und Wasserläufen zu vermeiden.
Am geeignetsten für Beerdigungsplätze ist ein abschüssiges Terrain,
welches von Ortschaften abgewendet liegt (Eulenberg 7 ). Die un¬
durchlässige Schicht, die, wie wir gesehen haben, nicht immer
parallel der Eroberfläche verläuft, muss so geneigt sein, dass sie keine
Mulden bildet und ein gewisses Gefälle hat nach einer Richtung, die
der Richtung der Ortschaft entgegengesetzt ist.
Die Lage des Kirchhofes nach Osten ist aus dem Grunde
vorzuziehen, weil sie die Sonnenstrahlung nicht abhält, die Ostwinde
aber ebenso wie die Nordwinde austrocknend wirken (Eulenberg 7 ).
Ist ein trockenes Terrain nicht zu beschaffen, so muss die Feuch¬
tigkeit des verfügbaren Bodens durch Drainage oder durch Anlage
von Gräben, deren Tiefe bis in das Niveau der Verwesungszone hin¬
abreicht, geregelt, das Wasser auf ein Ackerland unschädlich abge¬
leitet werden, was auf dem platten Lande sich leicht bewerkstelligen
lässt.
V. Begräbnissturnus und Grösse des Begräbnissplatzcs.
Der Turnus für die Wiederbelegung von Gräbern darf nicht
allein aus der Bodenbeschaffenheit erschlossen, sondern es muss durch
thatsäehliche Wahrnehmungen festgestellt werden, welche Frist hierzu
Digitized by
Gck gle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Aufgaben der Sanitätspolizei auf dem platten Lande. 383
erforderlich ist. Im Allgemeinen ist eine solche von 25 Jahren
üblich.
Bei Bemessung der Grösse des Begräbnissplatzes wird ein
Flächenraum angenommen, welcher gleich ist dem Produkt aus der
jährlichen Sterblichkeitsziffer, der Frist für den Turnus und dem Grab¬
flächenraum einschliesslich der zu belassenden Zwischenräume an der
Längs- und Querseite der Gräber.
13. Bau- und Wohnungshygiene.
Die Bauweise in Dörfern zeichnet sich vortheilhaft vor der Bau¬
art in Städten durch die disserainirte Lage der einzelnen Wohnhäuser
aus. Dagegen kommen auf dem Lande schmale Zwischenräume von
1 m Breite zwischen zwei Gebäuden eines Gehöftes vor, welche wegen
der Anhäufung von Unrath und faulenden Stoffen in denselben aus
sanitären Rücksichten, sowie wegen der Feuergefährlichkeit vermieden
werden müssten.
Wenn die offene Bauweise schon für kleinere Städte nicht
mehr gefordert werden kann, so wäre doch die Bauart anzustreben,
bei welcher je zwei Gebäude geschlossen stehen, aber zwischen sieb
und den Nachbarhäusern einen freien Zwischenraum von 5—6 m
(Flügge 4 , Blankenstein 29 ) übrig lassen, durch welchen den Höfen
reichlich Luft zugeführt wird. Jedoch sollen die Gebäudeseiten keine
Fensteröffnungen enthalten (Flügge 4 ). Die Strassen, die mit Ver¬
meidung der Richtung von Westen nach Osten genügend breit ange¬
legt sein müssen (ihre Breite muss wenigstens der Haushöhe gleich
sein), sollten auch auf dem Lande gepflastert sein.
Das Pflaster muss folgenden Anforderungen gerecht werden:
1. dass es möglichst wenig Staub aufkommen lässt;
2. eine leichte und gründliche Reinigung gestattet und rasches
Ablaufen des Meteorwassers ermöglichst. Für die Salubrität eines
Wohnhauses ist die Beschaffenheit des Untergrundes von grosser
Wichtigkeit. Reinheit und Trockenheit sind die Bedingungen für die
Benutzung desselben. Ist aber der Untergrund verunreinigt und lässt
sich seine Reinigung durch Ausheben der faulenden Bodenschichten
nicht bewerkstelligen, so darf seine Bebauung nur dann gestattet
werden, wenn derselbe durch eine Betonschicht oder eine ähnliche
zweckmässige Aufschüttung isolirt wird. Ebenso muss auch der Bau¬
untergrund trocken sein. Eine feuchte Wohnung übt in mehrfacher
Beziehung einen gesundheitsschädlichen Einfluss auf die Bewohner aus.
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
384
Dr. Süsskand,
Die Feuchtigkeit sättigt die Luft mit Wasserdämpfen und erschwert
die Verdunstung an der Körperoberfläche; sic bindet durch Verdunsten
des Wassers viel Wärme, kühlt die Wohnräurac aus und führt Er¬
kältungen der Bewohner herbei; sie füllt die Poren des Baumaterials
aus und vereitelt so die natürliche Ventilation (Blankenstein 29 ).
Nach Rosenthal 9 können schliesslich an feuchten Mauern or¬
ganische Stoffe haften bleiben und durch Uebergang in Zersetzung,
wozu die Bedingungen ja gegeben sind, einen günstigen Nährboden
für die Entwickelung schädlicher Mikroorganismen bilden.
Eine horizontale Isolirschicht (am besten Asphalt) und vertieale
Isolirmauern schützen gegen auf- und absteigende Durchfeuchtung.
Kellerwohnungen sollten nur dann geduldet werden, wenn der
Fussboden im Niveau des umgebenden Terrains liegt. (Blankenstein).
Liegen sie tiefer, dann muss ein Lichtgraben gefordert werden, dessen
Breite dem Niveauunterschied entspricht und dessen Tiefe gleich ist
der Tiefe des Kellers.
Jeder Wohnraum soll eine lichte Höhe von 2,5 m und jeder
Wohn- oder Schlafraum wenigstens ein Fenster haben, welches direct
in’s Freie führt und zum Oeffnen eingerichtet ist.
Ganz verwerflich sind steile Treppen und dunkle Treppenflure,
was in unserem Orte leider die Regel ist. Die baupolizeilichen Vor¬
schriften berücksichtigen zumeist die Symmetrie und die Feuersichcr-
lieit, allenfalls auch die Salubrität der aufzu führen den Gebäude, nicht
aber ihre Benutzung zum Wohnen, ein Desiderat, auf welches
Miquel 36 in seiner Rede zur Erläuterung der seitens des Deutschen
Vereins etc. im Jahre 1889 aufgestellten „Thesen für Massregcln zur
Erreichung gesunden Wohnens“ hinwies.
These 3 fordert „Massnahmen gegen die gesundheitswidrige Uebcr-
füllung und gegen die übermässige Verringerung des Luftraumes“.
Wie weit, sind w r ir auch auf dem platten Lande, wo vielfach kinder¬
reiche Familien eine einzelne Stube bewohnen, noch davon entfernt,
dieser elementaren Forderung der Hygiene gerecht zu werden!
14. Schulhygiene.
Auch bezüglich der Schulhygiene kann unsere Aufgabe nur in
der Erörterung der differentiellen Verhältnisse der Landschulen
gegenüber den Stadtschulen bestehen. Die finanziellen Verhältnisse
der Landgemeinden bringen es mit sich, dass für die gesammte Schul-
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Aufgaben der Sanitätspolizei auf dem platten Lande.
385
jugend, d. h. für alle Altersstufen vom 6. bis zum 14. Jahre, eine
Sehulstube eingerichtet und ein Lehrer angestellt wird.
Es versteht sich von selbst, dass eine solche Schulcinrichtung
nicht jeder Altersstufe besonders Rechnung tragen kann. Dieselben
Schulbänke müssen da für verschiedene Altersstufen und Grössen
herhalten. Die Uebelstände, die daraus für die Gesundheit der Schul¬
jugend erwachsen, werden jetzt allgemein anerkannt. Besonders sind
cs, neben der Kurzsichtigkeit, die seitlichen Deviationen der Wirbel¬
säule, die Skoliosen, die den fehlerhaft eingerichteten Schulbänken
zur Lust gelegt werden. In der That scheint die Erfahrung, dass
die Skoliose „ohne Rachitis“ (Hu et er 37 ) erst vom 7. Jahre an auf¬
wärts zur Entwickelung kommt und vom 9. bis 15. Jahre noch an
Häufigkeit zunimmt, um von da ab wieder seltener zu werden, und
die Thatsache, dass in diesem Alter gewöhnlich rechtsseitige
Skoliosen auftreten, für einen Zusammenhang derselben mit Schäd¬
lichkeiten in der Schule zu sprechen. Genau so folgert Fahrn er
(cit. bei Varrentrapp 39 ): „Wenn fast 90 pCt dieser Verkrümmungen
während der Schuljahre beginnen und die Verkrümmung genau der
Schreibstellung gleicht, so hat man gewiss das Recht, die Schule an¬
zuklagen.“ Zwar ist Pistor 38 der Ansicht, dass gesunde Kinder
weder durch schlecht construirte Subsellien, noch durch fehlerhafte
Haltung beim Schreiben Verkrümmungen der Wirbelsäule erwerben;
vollends wird der gedachte Zusammenhang durch die Hueter’sche
Theorie gelockert, wonach Skoliosen der vorbezeichneten Art ihre
Entstehung dem asymmetrischen Wachsthum der Rippenknochen ver¬
danken, welches läge- und formverändernd auf die Querfortsätzc der
Wirbel, die Wurzeln der Wirbelbögen und die Wirbelkörper selbst
cinwirkt.
Indessen ist doch zuzugeben, dass bei vorhandener Anlage zu
Verkrümmungen der Wirbelsäule, mag sie durch Rachitis oder durch
eine abnorme Richtung des Knochenwachsthums bedingt sein, dieselben
durch schlecht eingerichtete Schulbänke und eine stundenlang aufge¬
zwungene fehlerhafte Haltung des Körpers in hohem Grade befördert
werden.
Alle VerbesserungsVorschläge sind darauf gerichtet, eine Schul¬
bank herzustcllen, in welcher ein Kind durch alle Phasen des Unter¬
richts gerade und bequem sitzen und für den Rücken, das Kreuz und
die Füssc einen festen und sicheren Stützpunkt finden kann.
Digitized by
Gck gle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
386
Dr. Süss kan d,
Zu dem Ende muss die Tischplatte eine gewisse Neigung
haben (nach Erismann 40 bis zu J / 5 ihrer Breite) und so breit sein,
dass ein Heft oder eine Tafel bequem darauf liegen kann (nach
Erismann 35—40 cm).
Die horizontale Entfernung vom hinteren Rande der Tisch¬
platte bis zum vorderen Rande der Sitzbank soll auf Null reducirt
oder sogar um 3 cm negativ gemacht werden (Pistör 38 ).
Die verticale Distanz vom hinteren Tischrande zum vorderen
Bankrande wird, bei rechtwinklig gebeugtem und senkrecht an der
Seitenwand des Thorax herabhängendem Arme, nach dem Abstand
zwischen dem Olecranon und dem Sitz bestimmt, welcher bei
Knaben '/ v> , bei Mädchen, wegen Erhöhung des Sitzes durch die
Röcke, y 7 der Körperlänge beträgt. Die durch das Vorschieben des
Unterarms beim Schreiben rcsultirende Hebung des Oberarms wird
wieder ausgeglichen, wenn man zu den angegebenen Maassen 2 cm
hinzuaddirt (Erismann 40 ).
Das Sitzbrett soll so breit sein, dass der ganze Oberschenkel
bequem aufliegen kann und, wegen der Verjüngung desselben nach
vorn, einen erhöhten vorderen Rand haben. Die Entfernung des
Sitzes vom Fussboden muss der Länge des Unterschenkels ent¬
sprechen, welche ungefähr 2 / 7 der Körperlänge beträgt (Erismann
und Pistor).
Nach diesen Grundsätzen eingerichtete Schulbänke gestatten aber
keine feste Verbindung zwischen Sitzbank und Tischplatte, denn die
hergestellte Minusdistanz, die zum Schreiben unerlässlich ist, behindert
die Kinder im Stehen innerhalb der Bank, was wiederum eine Plus¬
distanz nöthig macht. Berücksichtigt man ferner die verschiedenen
Altersstufen und Grössen, so würde nicht einmal eine Vorrichtung
ausreichend sein, welche, je nach Bedarf, eine Minus- oder Plus¬
distanz herzustellen ermöglicht. Es müsste denn auch die verticale
Distanz sich nach dem jeweiligen Bedarf verändern lassen, oder es
würden, bei der veränderlich hergestelltcn horizontalen Distanz, we¬
nigstens 6 verschiedene Modelle erforderlich werden (cf. Varren-
trapp 1. c., p. 508), um allen hygienischen Anforderungen zu ge¬
nügen. Ersteres ist jedoch wegen seiner Complicirtheit und Kost¬
spieligkeit, letzteres ausserdem wegen Raummangels in der einzelnen
Schulstube auf dem platten Lande unausführbar.
Wir würden daher für Landschulen eine Schulbank vorschlagen,
welche zwar eine Veränderung der negativ gemachten horizontalen
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Aufgaben der Sanitätspolizei auf dem platten Lande.
387
Distanz nicht gestattet, wohl aber eine Veränderung der verticalen
Distanz. Dieses liesse sich auf folgende, sehr einfache Weise er¬
reichen: die Tischplatte steht allein in trennbarer Verbindung mit
dem übrigen Rumpf der Bank; sie trägt an ihren beiden Schmalseiten
je ein verticales Wangenstück von hinreichender Länge, welches in
bestimmten Abständen mit Durchbohrungen versehen ist. Dieses
Wangenstück greift in verticaler Richtung über die Bankwangc hin¬
über, welche in gleichen Abständen wie die Tischwange durchbohrt
ist. Durch Pflöcke, welche durch die correspondirenden Durch¬
bohrungen der Tisch- und Bankwangen gehen, wird die Tischplatte
auf dem Bankrumof fixirt. Die Abstände der einzelnen Durch-
X
bohrungen von einander werden durch die Alters- und Grössendiffe¬
renzen der Kinder ermittelt. Kinder von gleicher Körperlänge werden
auf je eine Bank placirt. Auf diese Weise lassen sich durch Ver¬
stellen der Tischplatte verschiedene Bankmodelle ad hoc improvisiren.
Das Stehen, welches ohnedies „nach Zeit und Wichtigkeit“ von
untergeordneter Bedeutung ist (Varrentrapp), liesse sich entweder
durch Einführen zweisitziger Pulte so bewerkstelligen, dass die Kinder,
anstatt innerhalb der Bank aufzustehen, aus derselben heraustreten,
oder, wenn der Schulraum dies nicht gestattet, so erreichen, dass die
Sitzbänke nach der Löffel’schen Construction (cit. bei Erismann
und Pi stör) mit halbkreisförmigen Ausschnitten von 17 — 23 cm
Breite versehen werden, in welche die Kinder beim Aufstehen ein-
treten. Jeder Platz, dessen Breite 0,5—0,6 m betragen soll (Eris¬
mann) lässt für einen solchen Ausschnitt Raum übrig. So beschaffene
Bänke können vier- und mehrsitzig sein. „Die Beschaffung von
Schulbänken für mehr als 6 Schüler, d. h. von mehr als 3,0 m
Länge, ist nach diesen Grundsätzen für die Folge unstatthaft“ (Verf.
der Königl. Reg. zu Breslau vom 22. December 1891).
Für die jüngeren Jahrgänge können zum Anstemmen für die
Füsse Fussbretter, welche sich in horizontaler Richtung verschieben
lassen, angebracht werden; die älteren Jahrgänge können die Füsse
auf den Fussboden stemmen.
In gleicher Weise müssen die hygienischen Forderungen bezüglich
der Heizung und Ventilation in den Landschulen erheblich herab¬
gestimmt werden. Hier müssen wir uns bescheiden mit klappenlosen
Kachel- oder Mantelöfen und hinsichtlich der Ventilation „mit Luft-
schiebem, Oeffnen der Fenster, Lüftung durch den Kachelofen“
(Pi stör).
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
388
Dr. Süsskand,
15. Kontagiösc lnfectionskrankhciten.
1. Scharlach.
Der Scharlach ist eine exquisit contagiösc Infectionskrankheit
vorwiegend des kindlichen Alters. Das noch unbekannte infectiöse
Agens ist ein flüchtiges Contagium und als solches durch ge¬
sunde Menschen und „unbelebte“ Gegenstände verschleppbar (von
Ziemssen 41 und Fürbringer 42 ). Grössere Anhäufungen von Men¬
schen, öffentliche Anstalten und ganz besonders Schulen, begünstigen
seine Verbreitung. Der eigentliche Infectionsherd bleibt aber doch
die den Kranken umgebende Atmosphäre. Das die Infectiosität des
Scharlachs mit dem Prodromalstadium beginne, stellt v. Ziemssen
als zweifelhaft, Fürbringer für gewiss hin. Nach der 6. Wocho
hält Fürbringer eine Infection für unwahrscheinlich, vorausgesetzt,
dass die Kinder gebadet und mit frischen Kleidern versehen sind.
Unabhängig von Bodenverhältnissen — aber nicht von localen
im weiteren Sinne (v. Ziemssen) —, zeigt der Scharlach doch eine
zeitliche und individuelle Disposition insofern, als das Maximum
der Krankhoitsfrequenz in den Herbst, das Minimum in den Frühling
fällt; als manche Kinder trotz der gebotenen Gelegenheit von der
Krankheit verschont bleiben und als das Alter zwischen dem 3. und
7. Jahre (Henoch 43 ) — nach v. Ziemssen das vom 2. bis 5. Jahre —
das bevorzugte ist.
Die Incubationsdauer beträgt in der Regel 3—6 Tage.
Nur einmaliges Befallenwerden von der Krankheit ist durchaus
die Regel.
Bei der grossen Gefährlichkeit des Scharlachs (Henoch rechnet
ihn zu den gefährlichsten und zugleich heimtückischsten Feinden des
Kindesalters) müsste eine Isolirung der an Scharlach erkrankten
Kinder durchaus gefordert werden. Aber freilich wird diese Forde¬
rung auf dem platten Lande noch lange ein frommer Wunsch bleiben.
Wird doch die Gefährlichkeit des Scharlachs hier so sehr unterschätzt,
dass kaum der 10. Fall zur Kenntniss des Arztes gelangt. Eine
Remedur könnte nur dadurch erzielt werden, dass die §§ 9 und 36
des Regulativs, unter namentlicher Aufführung der einzelnen an¬
steckenden Krankheiten, jährlich wenigstens einmal durch die Kreis¬
blätter dem ländlichen Publicum bekannt gegeben werden. Noch wirk¬
samer wäre freilich eine dahingehende Bestimmung, dass in jedem
Falle, wo ein Kind mit Halsschmerzen oder einem Hautausschlage
Digitized by
Gck gle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Aufgaben der Sanitätspolizei auf dem platten Lande.
389
erkrankt, die Eltern gehalten sein sollen, die Natur der Krankheit
ärztlich feststellen zu lassen. Bei schulpflichtigen Kindern Hesse sich
dies auf Grund der bestellenden Vorschriften dadurch erreichen, dass
die Lehrer über die wegen Haisschinerzen oder Hautausschlag ent¬
schuldigten Schulversäumnisse der Polizeibehörde Anzeige erstatten,
w r elche dann den Arzt zur Feststellung der Krankheit requirirt. Ist
ein Scharlachfall festgestellt, dann tritt die Bestimmung der Rund¬
verfügung vom 14. Juli 1884 gemäss No. la—4 in ihr Recht. Der
Nutzen, den man sich von der Schliessung der Schulen verspricht,
wird auf dem Lande dadurch vereitelt, dass weder seitens der Er¬
wachsenen noch dor Kinder der Verkehr in dem verseuchten Hause
irgend eine Einschränkung erfährt. — Die Desinfcction beim
Scharlach, die sich nach Fürbringcr auf die Wäsche, Effecten,
Spielsachen der Kranken und den Fussboden der von ihnen benutzten
Räume zu erstrecken hat, soll stets durch bestellte Desinfectore, wo¬
möglich unter ärztlicher Aufsicht ausgeführt, niemals aber den Privat¬
personen überlassen werden, welche die Kosten scheuen und überdies
von der Ueberzeugung der Ueberflüssigkeit alles Desinficirens tief
durchdrungen sind. Abkratzen der Wände, neues Tapezieren, Ab¬
waschen der Möbelstücke mit concentrirtcn antiseptischen Lösungen
erachtet Fürbringer für überflüssig.
Bezüglich des Verfahrens bei der Desinfcction folgen wir hier
der seitens des Berliner Polizeipräsidiums gegebenen Anweisung zum
Desinfectionsverfahren bei Volkskrankheiten vom 7. Februar 1887
gemäss §§ 5, 6, 7, 8, 10, 12, 13 und 18. Freilich kann der § 11
dieser Anweisung auf dem platten Lande, wo Desinfectionsanstaltcn
nicht oxistiren, keine Anwendung finden. Um aber einem solchen
fühlbaren Magel abzuhelfen, empfiehlt Rogowski 44 den transpor¬
tablen Desinfectionsapparat, der für Rechnung des Kreises an¬
geschafft werden und für einen aus einer Anzahl „räumlich benach¬
barter“ Landgemeinden zusammengesetzten Desinfectionsbezirk be¬
stimmt sein soll. Die Kosten des Desinfectionsverfahrens werden
möglichst niedrig bemessen und etwaige Ausfälle vom Kreise ge¬
tragen.
2. Masern.
Auch die Masern repräsentiren eine eminent contagiösc In-
fectionskrankheit, welche in einzelnen Epidemien mit längeren oder
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
300 Dr. Siisskand,
kürzeren freien Intervallen besonders in den Wintermonaten und
im Frühling auftritt.
Ohne das eigentliche Wesen des Mascrncontagiums zu kennen,
wissen wir von ihm, dass es unabhängig vom Boden und Klima ist
(Fürbringer 45 ), sich durch grosse Flüchtigkeit und Diffusion aus-
zeichnct (Henoch) und, ausser den einmal Befallenen, fast keinen
Menschen verschont. Es befindet sich im Blute und in den Schleim-
hautsecreten zumal der Athmungswege Masernkranker und überträgt
sich vorzugsweise durch die Athmungsluft, aber auch mittelbar durch
Gesunde und durch die Effecten des Kranken, und zwar vom Be¬
ginne des Vorläufcrstadiums an. Die desquamirten Schuppen
wirken nicht mehr infectiös (Mayr bei Fürbringer 45 ).
Die Incubationsdauer bis zur Eruption des Exanthems beträgt
13—14 Tage.
In Berücksichtigung der grossen Gefahren, welche die Masern
für Kinder in den ersten Lebensjahren in sich schliessen, ist die
Ausschliessung der erkrankten und der gesunden, aber einem von
Masern heimgesuchten Hausstand angehörigen Kinder gemäss No. 2
und 3 der Anweisung zur Rundverfügung vom 14. Juli 1884 nur zu
billigen. Von der Schliessung der Schule wird so lange abzusehen
sein, als nicht ausnahmsweise ein bösartiges Auftreten der Masem-
epidemie eine solche Maassregel erheischt (Verfg. des Reg.-Präsidenten
zu Merseburg, betreffend die Schliessung der Schulen bei ansteckenden
Krankheiten. Vom 27. Juni 1888).
3. Die Rötheln (Rubeola)
dürften vielleicht nur eine Scheinexistenz führen. Fürbringer 46
tritt mit aller Schärfe für ihre Selbständigkeit ein. Henoch 43
dagegen scheint nie einen sicheren Fall von Rubeolen beobachtet
zu haben, geschweige denn eine grössere Epi- oder Endemie. Wir
selbst haben niemals Gelegenheit gehabt, auch nur einen Fall von
Rötheln zu sehen. Alle Fälle, die unter dieser Flagge segelten,
erwiesen sich vielmehr als Scharlach. Man wird daher gut thun,
bei den sogenannten Rötheln dieselben Maassregeln zu treffen wie beim
Scharlach.
4. Diphtherie (Rachenbräune).
Unter Diphtherie verstehen wir gemeinhin eine allgemeine
acute, durch ein organisirtes specifisches Agens hervorgerufene ln-
Digitized by
Go^ 'gle
Original from
UNIVERSITÄT OF IOWA
Aufgaben der Saniüitspolizei auf «lern platten Lande.
3SU
fectionskrankheit vorzugsweise des Kindesalters mit besonderer Locali-
sation des Krankheitsprocesses in den Rachentheilen.
Der Krankheitserreger ist wahrscheinlich, aber keineswegs sicher,
der Löffler’schc Bacillus.
Die Diphtherie tritt vorwiegend epidemisch und dann besonders
häufig in den Wintermonaten von October bis Ende April, aber auch
sporadisch in jeder Jahreszeit auf (Monti 47 ).
Am häufigsten wird das Alter zwischen dem 1. und 6. Jahre
von ihr betroffen, weit seltener das 1. Lebensjahr und die jenseits
des 10. Jahres gelegenen Altersstufen (Hcnoch 43 , Monti 47 und
S trürapell 26 ).
Erscheint hiernach die Schule als Ansteckungsstätte ausser Be¬
tracht und fehlt es auch au Versuchen nicht, welche direct beweisen,
dass die Berührung diphtheritischer Producte mit gesunden Schleim¬
häuten nicht inficirend wirkt, so hält Heu och unsere Krankheit
nichts destoweniger für zweifellos contagiös, nimmt aber auch hier,
wie bei anderen Infectionskrankheiten eine besondere Prädisposition
an. Dagegen wird sie von Monti als eine „ohne vorausgegangene
Ansteckung“ auftretende Krankheit definirt. Die vorausgesetzte Dis¬
position ist nach Monti eine individuelle und locale. Die indivi¬
duelle Disposition besteht in einer krankhaften Veränderung der
Schleimhäute der Rachenorgane und der oberen Luftwege, die locale
Disposition in mangelhaften hygienischen Verhältnissen der Woh¬
nungen und des Wohnbodens. Indcss scheint dieser Autor in der
örtlichen Disposition nur ein Moment zu erblicken, welches die Re¬
sistenzfähigkeit des Individuums, also wieder die individuelle Dis¬
position, herabsetzt oder vernichtet, nicht aber die Möglichkeit der
eetogenen Entwickelung des diphtherischen Giftes, etwa im Erd¬
boden, in den Zwischendecken (Fehlboden) etc. ins Auge zu fassen,
eine Annahme, die in neuester Zeit in R. Emmerich (cit. bei
Monti 47 ) einen berufenen Vertreter gefunden hat.
Der nähere Modus der Infection mit dem Diphtheriegift ist noch
unbekannt. Es wird angenommen, dass es nicht bloss unmittelbar
von einem Individuum auf das andere, sondern auch mittelbar durch
Zwischenträger, gesunde Personen und unbelebte Gegenstände,
übertragen wird.
Nach den neuerdings gemachten Erfahrungen darf auch die Mög¬
lichkeit der Uebertragung der Diphtherie durch manche Hausthiere
(Hühner, Tauben, Kälber, Hunde und Katzen), bei denen identische
Vierteljahrssclir. f. ger. Med. Dritte Folge. XIV. 2. 2G
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
392
Dr. Siisskand,
oder doch ähnliche Erkrankungen Vorkommen, nicht von der Hand
gewiesen werden. (Strümpell und Monti 1. c.) Aufgenommen wird
das Gift gewöhnlich mit der Athmungsluft, wohl seltener mit den
Nahrungsmitteln, namentlich der Milch, in welche die Keime ge-
rathen.
Die Incubationsdauer wird von den verschiedenen Autoren
verschieden angegeben, von Strümpell auf 2—5, Henoch auf 7,
Monti auf 12—14 Tage.
Bezüglich der sanitätspolizeilichen Maassregeln verweisen wir auf
das beim Scharlach Gesagte.
Die übrigen acuten und chronischen Infectionskrankheiten haben
auf dem platten Lande keine andere Bedeutung als in den Städten
und ist daher von ihrer Erörterung hier abgesehen worden.
Literatur.
1. Walbaum, Das Wesen der öffentlichen Sanitätspflege und ihre Feinde.
Gera 1876.
2. Eulenberg, Historische Einleitung zu dessen Handbuch des öffentlichen Ge¬
sundheitswesens. Bd. I. Berlin 1881.
3. Rosenthal, Ziele und Aussichten der Gesundheitspflege. Erlangen 1876.
4. Flügge, Anlage von Ortschaften. Handbuch der Hygiene und der Gewerbe-
krankheiten von v. Pettenkofer und v. Ziemssen. Leipzig 1882.
5. Finkelnburg, Ueber den hygienischen Gegensatz von Stadt und Land.
Centralbl. f. allgem. Gesundheitspflege. I. Jahrg. 1. u. 2. Heft. Bonn 1882.
6. Arnstein, Ueber die Gesundheitsverhältnisse des Kreises Ratibor. Diese
Vierteljahrssehr. 1889.
7. Eulenberg, Leichenbestattung. Dessen Handbuch. Bd. II. 1882.
8. Soyka, Boden. Eulenburg’s Keal-Encyclop. Bd. HI. 1885.
9. Rosenthal, Vorlesungen über die öffentliche und private Gesundheitspflege.
Erlangen 1887.
10. Orth, Boden. Eulenberg’s Handbuch. Bd. I. 1881.
11. Tiemann und Preusse, Wasser. Ebenda. Bd. II. 1882.
12. Schönfeld, Ref. zu den Beschlüssen der wissenschaftlichen Deputation für
das Medicinalwesen vom 31. Dec. 1890. Guttstadt, Deutschlands Gesund¬
heitswesen. II. Theil.
13. E. Fraenkel, Malaria. Eulenberg’s Handbuch. Bd. II. 1882.
14. Ziegler, Lehrbuch der allgemeinen pathologischen Anatomie. Jena 1885.
15. Eichhorst, Malaria-Krankheiten. Eulenburg’s Real-Encyclop. Bd.XII. 1S87.
16. Zuelzcr, Abdominaltyphus. Ebenda. Bd. I. 1885.
17. Fraenkel, Typhus abdominalis. Eulonbcrg’s Handbuch. Bd. II. 1882.
18. Eichhorst, Cholera asiatica. Eulenburg’s Real-Encyclop. Bd. IV. 1885.
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Aufgaben der Sanitätspolizei auf dem platten Lande.
35)3
19. v. Ziemssen, lieber die Cholera und ihre Behandlung. Klinische Vorträge.
4. Vortrag. 1887.
20. Fraenkel, Cholera asiatica. Eulenberg’s Handbuch. Bd. I. 1881.
21. Silberschlag, Die Aufgaben des Staates in Bezug auf die Heilkunde und
die öffentliche Gesundheitspflege. Berlin 1875.
22. Koch, Skrzeczka, v. Pettenkofer, Belehrung über das Wesen der Cho¬
lera und das Verhalten während der Cholerazeit. Guttstadt, Deutschlands
Gesundheitswesen.
23. Eichhorst, Ruhr. Real-Encyclop. Bd. XVII. 1889.
24. Zuelzer, Milzbrand. Ebenda. Bd. XIII. 1888.
25. Roloff, Milzbrand. Eulenberg’s Handbuch. Bd. II. 1882.
26. Strümpell, Lehrbuch der speciellen Pathologie und Therapie. Bd. I.
Leipzig 1885.
27. Erismann, Entfernung der Abfallstoffe, v. Pettenkofer und v. Ziemsscn’s
Handbuch der Hygiene und der Gewerbekrankheiten. Leipzig 1882.
28. Mittermaier, Die öffentliche Gesundheitspflege in Städten und Dörfern.
Karlsruhe 1875.
29. Blankenstein, Bau- und Wohnungspolizei. Eulenberg’s Handbuch. Bd. I.
1881.
30. Eulenberg, A-B-C-Process. Dessen Handbuch. Bd. I. 1881.
31. Esser, Abdeckerei wesen. Ebenda.
32. Weigert, Rotz. Eulenburg’s Real-Encyclop. Bd. XVI. 1888.
33. Roloff, Rotz. Eulenberg’s Handbuch. Bd. II. 1882.
34. Benedikt, Hundswuth. Eulenburg’s Real-Encyclop. Bd. IX. 1887.
35. Roloff, Wuth (Tollwuth). Eulenberg’s Handbuch. Bd. II. 1882.
36. Miquel, cit. in der „Rundschau über sanitätspolizeiliche Aufgaben und Lei¬
stungen“. Diese Vierteljahrsschr. 1889.
37. Hueter, Grundriss der Chirurgie. 2. Hälfte. Leipzig 1882.
38. Pistor, Schulgesundheitspflege. Eulenberg’s Handbuch. Bd. II. 1882.
39. Varrentrapp, Der heutige Stand der hygienischen Forderungen an Schul¬
bauten. Vierteljahrsschr. f. öffentl. Gesundheitspflege. Bd. I. H. 4. Braun¬
schweig 1869.
40. Erismann, Die Hygiene der Schule. Handbuch der Hygiene und der Ge¬
werbekrankheiten von v. Pettenkofer und v. Ziemssen. Leipzig 1882.
41. v. Ziemssen, Klinische Vorträge. 14. Vortrag. Leipzig 1888. (Zur Patho¬
logie und Therapio des Scharlachs.)
42. Fürbringer, Scharlach. Eulonburg’s Real-Encyclop. Bd. XVII. 1889.
43. Henoch, Vorlesungen über Kinderkrankheiten. 3. Aufl. Berlin 1887.
44. Rogowski, Uebor die Desinfection ländlicher Wohngebäude und die für
diesen Zweck erforderlichen sanitätspolizeilichen Anordnungen. Diese Viertel¬
jahrsschrift. Bd. VI. Jahrg. 1893. 4. H. Berlin 1893.
45. Fürbringer, Masern. Eulenburg’s Real-Encyclop. Bd. XII. 1887.
46. Fürbringer, Rötheln. Ebenda. Bd. XVI. 1888.
47. Monti, Diphthcritis. Ebenda. Bd. V. 1886.
48. Wern ich, Zusammenstellung der gültigen Medicinalgesetzc Preusscns. Mit
besonderer Rücksicht auf die Reichsgesetzgebung. Berlin 1890.
Digitizeit by
Gck igle
26 *
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
3.
Welche Bedenken lassen sich gegen die Sitte des
Ausstopfens des geschlachteten Geflügels mit Papier
erheben?
Amtliches Gutachten,
erstattet von
Dr. Robert Stürmer, gerichtlichem Physikus in Berlin.
Die Sitte, geschlachtetes Geflügel jeder Art mit Papier auszu¬
stopfen, ist eine anscheinend schon sehr alte, wenigstens finden sich
in den Acten des Königl. Polizeipräsidiums zu Berlin darauf bezüg¬
liche Notizen bereits vom 3. October 1847. Allerdings hat es den
Anschein, als wenn man Geflügel nur während der wärmeren Jahres¬
zeit ausstopft; vorwiegend wird bereits ausgenommenes oder, wie es
technisch heisst, ausgehäkeltes Geflügel mit Papier vollgestopft; doch
soll es auch hin und wieder Vorkommen, dass in noch nicht ausge-
nommenes Geflügel Papier hineingestopft wird.
Der Zweck des Ausstopfens kann ein doppelter sein: einmal
kann man sich des Ausstopfens bedienen lediglich in der Absicht, das
Zusammenfällen des Geflügelleibes zu verhüten, diesem vielmehr ein
volles und rundes Aussehen zu geben, in der Absicht, das betreffende
Thier fettreicher und fleischiger erscheinen zu lassen; andererseits
kann aber nicht geleugnet, werden, dass man durch das Ausstopfen
mit Papier eine Austrocknung der Körperhöhlen bis zu einem gewissen
Grade anstrebt; dann würde man also das Ausstopfen als eine Con-
servirungs-Methode betrachten müssen. Endlich kann das Ausstopfen
in der Absicht geschehen, den Zutritt der Luft in die Körperhöhlen
des Thierleibes zu verhüten, also einer schnellen Fäulniss vorzubeugen.
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Bedenken gegen das Ausstopfen dos geschlachteten Geflügels mit I’apier. 85)5
Geschieht das Ausstopfen lediglich in der Absicht, dem Thiere auch
bei längerem Lagern ein besseres Aussehen zu erhalten resp. zu ver¬
leihen, so wäre die Manipulation des Ausstopfens eine dem Aufblasen
des Fleisches analoge Behandlungsart. Der Käufer solchen Geflügels
soll also betrogen werden. Andererseits ist aber zu bemerken, dass
bei der Entfernung des Darmes durch eine enge Oeffnung am Stciss
der Darm und andere Eingeweide häufig einreissen, es tritt hierbei
ziemlich viel Flüssigkeit in Brust- und Bauchhöhle aus. Nun stopfen
die Verkäufer, um diese Flüssigkeit aufzusaugen, Papier in den Leib,
und zwar muss, damit die Feuchtigkeit auch wirklich gehörig auf¬
gesaugt wird, hierzu ein weiches Papier verwendet werden; so erklärt
es sich ungezwungen, dass zum Ausstopfen des Geflügels weiches
Druckpapier (Makulatur) verwendet wird. Dieses weiche Papier lässt
sich durch die kleine Oeffnung am Steiss sehr bequem in die Körper¬
höhle einführen, und es ist nachgiebig genug, so dass der Leib dicht
genug ausgestopft werden kann; ferner saugt es begierig die vor¬
handene Flüssigkeit auf, hat aber andererseits nicht den Nachtheil,
selbst wenn es ziemlich beträchtlich feucht geworden ist, sich in einen
Brei aufzulösen (das würde jedoch geschehen, wenn man Löschpapicr
zum Ausstopfen des Geflügels verwenden würde).
Andererseits würde sich reines, weisses Papier garnieht zum Aus¬
stopfen von Geflügel eignen, weil dieses Papier gar keine oder nur
wenig Feuchtigkeit aufnehmen würde und weil es sich auch nicht
leicht und bequem genug durch eine enge Oeffnung einführen und
gehörig zusammendrücken lässt. Es eignet sich demnach zu der in
Rede stehenden Manipulation nur ein weiches, ungcleimtes, Feuchtig¬
keit aufsaugendes Papier, welches indessen eine gewisse Festigkeit
haben muss. So erscheint es verständlich, weshalb man in ausge¬
stopftem Geflügel vorwiegend Druckpapier findet. Es kommt also
bei der mir vorgclegten Frage darauf an, fcstzustcllen, nach welcher
Richtung hin Druckpapier event. schädlich wirken könnte. Zur Be¬
antwortung dieser Frage wird man folgende Möglichkeiten in’s Auge
fassen müssen; es wird zum Ausstopfen verwendet:
a) lediglich reines Druckpapier (Zeitungsmakulatur);
b) schon zu anderen Zwecken gebrauchtes Druckpapier;
c) beliebiges farbiges Papier;
d) reines weisses Papier.
ad a. Gewöhnliches Zeitungspapier ist zumeist ein ordinäres
Papier, welches ziemlich viel Cellulose enthält. Sonstige Bestandteile
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Dr. Stürmer,
396
dieses Papiers sind Holzschliff resp. Holzstoff, Getreidestroh, Esparto-
gras, Flachs, Hanf, Baumwolle, Jute; alle diese Bestandtheile sind
unbedenklich; es würde sonach, wenn sie allein in Betracht kämen,
gegen die Verwendung des aus ihnen hergestellten Papiers zum Aus¬
stopfen von Geflügel vom hygienischen Standpunkte nichts einzuwenden
sein. Jedoch enthalten viele Sorten von Papier infolge bestimmter
Hcrstellungsweisc mancherlei bedenkliche chemische Stoffe, wie z. B.
Schwefelsäure, Chlor, Kalk und Leim. Man muss ohne Weiteres
sagen, dass die Anwesenheit dieser Stoffe in einem zur menschlichen
Nahrung bestimmten Thierleib Bedenken erregen muss, zumal das
Füllmaterial längere Zeit mit dem Fleische in Berührung bleibt und
es nicht ausgeschlossen erscheint, dass die genannten Chomikalien,
wenigstens zum Theil, in das Fleisch übergehen können. Eine Lösung
der in dem Papier enthaltenen bedenklichen Stoffe wird um so eher
eintreten, je mehr Feuchtigkeit der betreffende Thierleib enthielt. Weit
weniger wichtig, als die genannten Stoffe, erscheinen die Bestandtheile
der Druckerschwärze. Letztere ist im Wesentlichen ein Gemisch aus
Leinöl, Firniss und reinem, angeglühtem Kicnruss (so wenigstens ist
eine gute Druckerschwärze zusammengesetzt); doch ersetzt man den
theuren Leinöl-Firniss neuerdings recht häufig durch Colophonium,
Weisspech und Theer, den guten Russ durch schlechten, welcher reich¬
lich empyreumatische Oele, Kohle, Ammoniaksalze und Produkte der
unvollkommenen Verbrennung enthält. Aus dieser Darlegung ergiebt
sich, dass sehr viel auf die Zusammensetzung der beim Zoitungsdruck
verwendeten Druckerschwärze ankommt und dass man nicht ohne
Weiteres jede Druckerschwärze als einen für die menschliche Gesund¬
heit bedenklichen Stoff hinstellen kann; doch ist nicht zu leugnen,
dass die Bestandtheile der Druckerschwärze, da auch sie zum Theil
löslich sind, in das Fleisch übergehen und diesem sowohl einen un¬
angenehmen Geschmack, als auch hässlichen Geruch verleihen können.
Endlich liegt auf der Hand, dass die durch die Gewebsflüssigkeit auf-
weichcnde Druckerschwärze allen denjenigen Theilen des Thierleibes,
mit denen sic in Berührung kommt, ein widerwärtiges oder sogar
ekelhaftes Aussehen geben muss. Letzteres wird noch erhöht durch
den Umstand, dass der beim Aushäkeln des Darmes in die Bauch¬
höhle austretende Darminhalt von graugelbem Aussehen das zum Aus¬
stopfen verwendete Papier gleichfalls durchdringen wird; hierzu wird
in den meisten Fällen sich etwas Blut mischen und auch zuweilen
ein im Thierkörper zurückgebliebenes und bei der Manipulation des
Digitized by
Gck igle
Original from
UMIVERSITY OF IOWA
Bedenken gegen das Ausstopfen des geschlachteten Geflügels mit Papier. 397
Ausstopfens zerdrücktes Ei. Diese kJebrige Mischung von Darminhalt,
Eidotter, Blut, Druckerschwärze und halb durchweichtem Papier ist
sicherlich im Stande, bei den meisten Menschen das Gefühl des Ekels
hervorzurufen. Schon aus diesem Grunde allein wird man nach meiner
Ansicht gegen die Sitte des Ausstopfens des Geflügels mit Papier
sanitäre Bedenken erheben können. Dass in der That diese Dar¬
legung den Anschauungen des Publikums entspricht, beweisen zur
Genüge die zahlreichen, in den Polizei-Acten enthaltenen Beschwerden
über die in Rede stehende Unsitte; gleichzeitig ergiebt sich daraus,
dass die oben gegebene Schilderung von dem Zustande des Papiers
in den Thierleibern keineswegs etwa ein Gebilde einer allzu üppigen
Phantasie ist. Ueberdies besagt ein Reichsgerichts-Erkenntniss vom
5. October 1881, dass ein Nahrungsmittel als zum Genuss ungeeignet
oder minder geeignet, d. h. als verdorben bezeichnet werden müsse,
wenn es eine ekelerregende Veränderung aufweise. Eine solche Ver¬
schlechterung brauche nicht auf innerer Zersetzung beruhen; sie könne
auch durch eine menschliche Handlung hervorgerufen werden und es
sei nicht erforderlich, dass der Genuss eines derartig veränderten
Nahrungsmittels die menschliche Gesundheit gefährden müsse.
ad b) Noch viel gewichtigere Einwände lassen sich gegen die
Verwendung solchen Papiers Vorbringen, was schon zu irgend einem
anderen Zweck etwa als Emballage gedient hat. Schon die Rauhig¬
keit des Papiers bedingt, dass diesem Stoff sehr leicht Bacterien aller
Art anhaften können; das wird dann in besonders hohem Grade der
Fall sein, wenn das verwendete Papier bereits zu irgend einem anderen
Zweck gedient hat, wobei es zerknittert wurde und mit allerhand
Dingen in Berührung kam. Ueberdies ist die Verwendung solchen
Papiers unbedingt deshalb zu verwerfen, weil man ja nie wird con-
troliren können, welchen Zweck das gebrauchte Papier bereits er¬
füllte und von wo es stammt. Man bedenke z. B., durch wieviel
Hände häufig eine Zeitung geht und wie vielgestaltig für eine solche
die Möglichkeit ist, zum Contagienträger zu werden. Der Einwand,
dass die etwa mit dem Papier in den thierischen Leib gebrachten
Mikroorganismen durch das nachfolgende Auswaschen und Kochen
des Geflügels ja so wie so getödtet würden, kann nicht als stich¬
haltig bezeichnet werden; denn es ist zur Genüge bekannt, dass be¬
stimmte Zersetzungsproducte des Fleisches selbst durch hohe Tempe¬
ratur nicht gestört werden können, und dass Fleischvergiftungen auch
nach Genuss von gekochtem Fleisch beobachtet worden sind.
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITÄT OF IOWA
31)8
Dr. Stürmer,
ad e) Die Verwendung farbigen Papiers muss als direct schäd¬
lich bezeichnet werden; man kann dem farbigen Papier nicht ohne
Weiteres ansehen, mit welchen Farbstoffen es imprägnirt ist. Es sind
nicht nur die Farbstoffe, welche das Gesetz vom 5. Juli 1887 be¬
rücksichtigt, gesundheitsschädliche und die schädlichen Farben sind
theilweise leicht löslich. Ganz abgesehen von der dirccten Gefahr,
welche durch den Ucbertritt schädlicher Farbstoffe in das Fleisch
dem Consumcntcn desselben erwachsen kann, ist auch zuzugeben,
dass alles abnorm gefärbte Fleisch besonders geeignet erscheint, einen
widerwärtigen Eindruck, also Ekel hervorzurufen.
ad d) Bedenkt man, dass gerade das beste weisse Papier am
häufigsten sogenannte Füllmittel enthält, welche es glatt und glänzend,
sehr weiss und elegant erscheinen lassen, so wird man auch, da auch
ein Theil der Füllmittel in den Gewebsflüssigkeiten löslich und somit
ein Ucbertritt dieser Stoffe in das Fleisch selbst möglich ist, gegen
die Verwendung weissen Papiers zum Ausstopfen geschlachteten Ge¬
flügels Front machen müssen. Als Füllmittel für Papier dienen Leim,
Stärke, Kalk, Schwerspat, Thonerde, Soda, Ultramarin, zuweilen auch
noch einige Blei-, Chlor- und Schwefelverbindungen. Einen Theil
dieser Stoffe kann man wirklich nicht als unbedenkliche Beimischung
zur menschlichen Nahrung bezeichnen.
Endlich verdient noch hervorgehoben zu werden, dass ein Theil
der genannten ßestandtheile des Papiers sowie der Druckerschwärze
und einiger Farben überdies eine Veränderung durch den Beginn der
Fäulniss erleidet, und dass die unter der Einwirkung des Schwefel¬
wasserstoffs entstehenden missfarbigen Schwefelverbindungen jener
Stoffe, namentlich der Farben, das ekelhafte Aussehen des in das
Geflügel hineingestopften Papiers noch wesentlich erhöhen werden.
Ein weiteres gewichtiges sanitäres Bedenken gegen das Aus¬
stopfen des Geflügels mit Papier, wie überhaupt gegen jegliches Aus¬
stopfen, scheint mir darin zu liegen, dass die Begutachtung des Ge¬
flügels durch das Ausstopfen unter allen Umständen erschwert wird,
und zw r ar sowohl für Laien wie auch für Sachverständige. Es scheint
mir sehr wohl möglich, dass der Verwesungsgeruch dem Käufer um
so weniger wahniehmbar sein wird, je fester die Steissöffnung durch
Papier verstopft ist; auch kann in Folge der veränderten Spannungs¬
verhältnisse der Bauchw r andüngen durch festes Ausstopfen (mit Papier)
die Farbe der letzteren, erheblich verändert w r erden, sodass der Ein¬
tritt der Fäulniss von Laien nur schwer erkennbar w'ird.
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Bedenken gegen das Ausstopfen des geschlachteten Geflügels mit Papier. 399
Endlich erschwert das in den Leib gestopfte Papier die Controle
durch Sachverständige, da durch das Ausstopfen die inneren Organe
dem prüfenden Blick entzogen werden. Aber auch beim Geflügel
kann die Beschaffenheit des Fleisches, ebensowenig wie bei grösseren
Schlachtthieren lediglich durch den äusseren Anschein richtig beur-
theilt werden; bisweilen ist die Besichtigung der inneren Organe noth-
wendig sowie auch diejenige des Rippen- und Bauchfells.
Aus dem Gesagten geht hervor, dass sich gegen die Sitte des
Ausstopfens des geschlachteten Geflügels mit Papier eine ganze An¬
zahl gewichtiger sanitärer Bedenken erheben lassen.
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
4.
Bemerkungen zu Prof. C. Fraenkel’s Gutachten über
die Verunreinigung des Salzbach-MUhlgrabens an der
Hammermühle bei Biebrich durch die Abwässer der
Wiesbadener Kläranlage.
Von
Dr. med. Georg Frank (Wiesbaden) und Dr. Mayrhofer (Mainz).
In diesem Gutachten, erstattet an das Kgl. Oborlandesgericht zu Frankfurt
am Main (mitgetheilt in Heft I dieses Jahrganges) bemängelt Prof. Fraenkol drei
Punkte an dem Gutachten, welches wir in dem Verfahren erster Instanz an das
Kgl. Landgericht zu Wiesbaden abgegeben haben. Bei der Ausarbeitung dieses
Gutachtens hatllerr Dr. Mayrhofer die chemischen Untersuchungen übernommen:
dieselben geschahen nach zwischen uns beiden getroffenen Verabredungen: wir
haben das Gutachten gemeinsam abgegeben, tragen also auch gemeinsam die Ver¬
antwortung für dasselbe.
FraenkeL sagt also S. 6 des Separatabdruckes: Die oben erwähnten Unter¬
suchungen leiden freilich an dem Uebelstand, dass die Bestimmung der sogenann¬
ten organischen Substanz, eines besonders wichtigen Indikators für das Vorkommen
und das weitere Verhalten von gelüsten verunreinigenden Substanzen, durch
Chamaclconlösung unterblieben ist; und weiter auf S. 13: Die letzte vor¬
liegende Analyse ist in ihrem chemischen Theile hier wenig verwendbar, weil die
Bestimmung der organischen Substanz durch Permanganatlösung unterblieben
ist, ferner auch Zahlen für das Chlor fehlen, namentlich aber die Menge der
suspendirten Bestandtheile nicht Gegenstand einer besonderen Ermitte¬
lung war.
Die Bestimmung der organischen Substanz durch die Chamaeleonlösung,
Permanganatlösung, haben wir unterlassen, weil wir diese Probe im All¬
gemeinen, bei einfachen Trinkwasseruntersuchungen für wenig zuverlässig, bei
Kanalwässern aber für durchaus unbrauchbar ansehen. In dieser Sache wollen
wir nur die Aussprüche einer anerkannten Autorität anführen. In seinem Lehr¬
buche der hygienischen Untersuchungsmethoden aus dem Jahre 1881 fällt
Flügge folgenden ITtheilsspruc-h: „Schon aus diesen Versuchsergebnissen geht
hervor, dass an eine quantitative Bestimmung der organischen Substanz mittelst
des Chamaeleons nicht zu denken ist; auch nicht eine bestimmte, irgendwie unter
sonstige hygienische Gesichtspunkte zusammenzufassende Gruppe lässt sich durch
dieses Reagens abscheiden, und bei der in weitesten Grenzen wechselnden Zu¬
sammensetzung der organischen Stoffe des Wassers ist auch kein Vergleich zwischen
den Resultaten mehrerer verschiedene Wässer betreffender Analysen statthaft. Die
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
Bemerkungen zu Prof. C. FraenkePs Gutachten.
401
Methode würde eine weit grössere Bedeutung haben, wenn experimentell oder
statistisch die Oxydirbarkeit der organischen Stoffe als identisch mit der Gefährlich¬
keit eines Wassers nachgewiesen wäre; wie das nach der Art der Scheidung der
organischen Substanzen, welche durch Chamaeleon bewirkt wird, kaum anders
zu erwarten ist, haben aber die bisherigen Beobachtungen einen solchen Zusammen¬
hang durchaus zurückweisen müssen. Aehnlich äussern sich Wolffhügel (Pctten-
kofers Handbuch der Hygiene und der Gewerbekrankheiten II, 1, 2, S. 1G8 —174)
und Walther (Tiemann-Gärtner’s Handbuch der Untersuchung und Beurthcilung
der Wässer. IV. Aufl. 1895. S. 272—283). Mit so schwerwiegenden Fehlern ist
die Untersuchung und Beurthcilung eines Trink Wassers mittelst der Permanganat¬
lösung behaftet. Da ein Kanalwasser aber in seiner Zusammensetzung ausser¬
ordentlich wechseln und auch solche anorganische Substanzen, welche, wie Ferro-
salze, Nitrite, Sulfite, Schwefelwasserstoffe und Ammoniaksalze, die Chamaeleon-
lösung ebenfalls entfärben, enthalten kann, so halten wir die Chamaeleonprobe
nicht für einen „wichtigen Indikator für das Vorkommen und weitere Verhalten
von gelösten verunreinigenden Substanzen“ und haben deswegen diese Prüfung
unterlassen.
In der Bestimmung des Gesammt- und des Ammoniakstickstoffes glaubten
wir einen besseren Ausdruck für diese Substanzen zu haben. Fraenkel druckt
diese Untersuchungen in seinem Gutachten ab, beachtet sie aber in seinen Aus¬
führungen weiter nicht, scheint derartigen Bestimmungen also keinen Werth
beizumesssn. In diesem Punkte sind Prof. Fraenkel und wir verschiedener An¬
sicht; er bevorzugt die Chamaeleonprobe und vernachlässigt andere Methoden, wir
aber geben diesen anderen vor der Chamaeleonprobe den Vorzug.
Was die beiden anderen fehlenden Bestimmungen anbelangt, so sind wir mit
Herrn Prof. C. Fraenkel der Ansicht, dass deren Bestimmung eine sehr hoho
Bedeutung hat. Dass wir dieselben bei diesen Untersuchungen unterlassen haben,
findet in besonderen örtlichen Verhältnissen seine Begründung. Das Chlor gilt
als Repräsentant der Abfallstoffe des menschlichen Haushaltes, in dieser Eigen¬
schaft hat die Bestimmung desselben einen sicheren Werth, besonders bei der
Prüfung von Brunnenwasser aus bew r ohntem Terrain. Das Wiesbadener Kanal¬
wasser besteht aber nicht allein aus Hausabwässern, sondern zu mehr wie einem
Drittel aus einem an Kochsalz sehr reichen Thermalwasser. Dieser Zufluss bedingt
den ausserordentlich hohen Chlorgehalt des Wiesbadener Kanalwassers; er ist also
in sanitärer Beziehung ohne jede Bedeutung. Eine Bestimmung der suspendirten
Substanzen halten wir im Wiesbadener Kanalwasser aus folgenden Gründen für be¬
langlos. Die meisten Strassen Wiesbadens, besonders alle Berg- und bergabfiihren-
den Strassen, sind mit Macadam gepflastert. Infolgedessen führt das Wiesbadener
Kanalwasser feingeschlämmten Sand in reichlichen Mengen mit sich. Die sus¬
pendirten Substanzen sind also im vorliegenden Falle zum grössten Thcile nicht
der Ausdruck der in sanitärer Beziehung wichtigen organischen Verunreinigungen,
sondern gleichgültiger anorganischer Beimischungen.
Dies sind die Gründe, warum wir die Bestimmung der organischen Sub¬
stanzen durch die Chamaclconlösung, des Chlors und der suspendirten Bestand-
theile unterlassen haben. Im ersten Falle geschah es aus wissenschaftlichen
Gründen, in den beiden anderen w r egen Kenntniss und Berücksichtigung der ört¬
lichen Verhältnisse.
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
5.
Erwiderung auf die vorstehenden Bemerkungen.
Von
Prof. C. Fraenkel in Halle a. S.
Zu den vorstehenden „Bemerkungen 11 der Herren Dr. G. Frank und Dr.
Mayrhofer seien mir die folgenden Ausführungen gestattet
Die Mängel und Schwächen des Verfahrens zur Bestimmung der sogenannten
organischen Substanz mit Hilfe der Permanganatmethode sind mir, wie jedem
Fachmann, natürlich sehr wohl bekannt, und ich werde es mir gewiss niemals
einfallen lassen, die sanitäre Beschaffenheit eines Trinkwassers nach
dem Ergebniss dieser Probe zu beurtheilen und damit einen Fehler zu begehen,
den die von den Herren F. und M. citirten „anerkannten Sachverständigen“ allein
im Auge hatten, als sie das Verfahren einer Kritik unterwarfen und mit Recht vor
seiner Anwendung warnten.
Aber diese Frage kommt hier doch wahrlich gar nicht in Betracht; in dem
uns beschäftigenden Falle galt es vielmehr allein, die Veränderungen festzu¬
stellen, welche ein Kanalwasser unter dem Einfluss ganz bestimmter äusserer Be¬
dingungen erfährt, und überall da, wo es sich um derartige Verhältnisse handelt,
wo also die Reinigung eines Schrautzwassers und zwar sowohl die natür-
liehe, die sogenannte Selbstreinigung, wie die künstlich durch mechanische
oder chemische oder elektrische Mittel hervorgerufene in ihrem Verlaufe studirt
werden soll, erscheint mir die Chamäleonmethode nicht, wie derr Herren Dr. F.
und Dr. M. „ganz unbrauchbar“, sondern im Gegentheil nahezu unentbehrlich,
sofern man nur dafür Sorge trägt, dass gewisse Vorsichtsmassregeln bei ihrer Aus¬
führung beachtet, namentlich ausschliesslich Proben von identischer Herkunft einer
vergleichenden Prüfung unterworfen werden. Geschieht das, so sind die Ergebnisse
des Verfahrens für den besonderen Zweck aber durchaus befriedigende und ermög¬
lichen in der Regel nicht nur einen sehr viel einfacheren und bequemeren, son¬
dern auch übersichtlicheren Einblick in die Einzelheiten des Reinigungsvorgangs,
als die von F. und M. bevorzugte Bestimmung des Gesammt- und des Ammoniak -
Stickstoffs.
Eben deshalb hat auch bei der übergrossen Mehrzahl aller mir bekannten
einschlägigen Untersuchungen die Permanganatmethode Benutzung gefunden
und sich namentlich bei der Beurtheilung der künstlichen Klärverfahren bewährt.
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
Erwiderung auf die vorstehenden Bemerkungen.
403
Als Beweis hierfür seien z. B. die Veröffentlichungen von Lcpsius 1 ), von l’mos¬
kauer und Nocht 2 ), von König und Kayser 3 ) angeführt, sowio ferner hervor¬
gehoben, dass die in der Wiesbadener Streitsache vorliegenden Analysen bis auf
die von den Herren Frank und Mayrhofer herrühremlo den Permanganatvcr-
brauch gleichfalls sämmtlich berücksichtigt haben.
Für das Studium der Selbstreinigung ist die Methode zweifellos weniger
geeignet, weil ihre Ausschläge in der Regel zu geringfügige sind; trotzdem er¬
freut sie sich auch hier noch allgemeiner Beliebtheit, und unter den recht
zahlreichen in den letzten Jahren veröffentlichten Arbeiten über diese Frage ver¬
zichtet keine einzige auf ihre Unterstützung, auch nicht die von Herrn Dr.Fran k 4 )
selbst ausgeführte, die sich mit den Veränderungen des Spreewassers innerhalb
und unterhalb Berlins beschäftigt.
In dem gleichen sonderbaren Irrthum, der sie bei der Werthschätzung der
Chamäleonmethode auf falsche Wege geleitet hat, scheinen sich die Herren Frank
und Mayrhofer aber auch hinsichtlich der beiden anderen von ihnen berührten
Punkte zu befinden. Auch die Bestimmung des Chlors nämlich soll uns hier
durchaus keinen Aufschluss „in sanitärer Beziehung“ geben, für welchen Behuf
ich ihr übrigens einen „sicheren Werth“ im Gegensätze zu den Herren F. und M.
gar nicht zuzuerkennen vermag. Die Ermittelung des Chlorgehalts der einzelnen
Proben soll vielmehr im Wesentlichen nur dazu dienen, deren Identität festzu¬
stellen, also die Vorbedingung für die Benutzung der Chamäleonprobe u. s. w. zu
liefern, und für diesen Zweck ist es begreiflicherweise völlig nebensächlich, ob
das vorhandene Chlor als „Repräsentant der Abfallstoffo des menschlichen Haus¬
halts“ aultritt oder aus den Thermalwässern herrührt.
Nahezu das gleiche gilt endlich auch für die suspendirten Substanzen.
Gerade wo es sich um die Prüfung eines chemischen Klärverfahrens han¬
delt, dessen Einfluss bekanntennassen ganz besonders, wenn nicht ausschliesslich
die ungelösten Stoffe trifft, ist das Schicksal der letzteren von grösstem, ja ent¬
scheidendem Werthe für die Beurtheilung der thatsächlicli erzielten Wirkung und
die Frage, ob sie „der Ausdruck der in sanitärer Beziehung wichtigen organi¬
schen Verunreinigungen“ oder „gleichgiltigcr anorganischer Beimischungen“ sind,
zunächst von ganz untergeordneter Bedeutung.
An dem Vorwurf bedauerlicher Unvollständigkeit, den ich gegen die Unter¬
suchungen der Herren F. und M. erhoben habe, muss ich deshalb auch jetzt noch
festhalten; während ich aber bei Abfassung meines Gutachtens noch der Meinung
war, dass dieser Fehler wahrscheinlich auf gewisse zufällige und unabsichtliche
Momente zurückzuführen sei, haben mich die vorstehenden „Bemerkungen“ davon
überzeugt, dass eine grundsätzliche Verkennung der gestellten Aufgabe ihre un¬
genügende Lösung verschuldet hatte.
1) Vierteyahrsschr. f. öffentl. Gesundheitspflege. Bd. 23. S. 233 ff.
2) Zeitschr. f. Hygiene. Bd. X. S. 111 ff.
3) Verunreinigung der Gewässer. Berlin 1887. S. 188.
4) Zeitschr. f. Hygiene. Bd. III. S. 335 ff.
Digitizeit by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Besprechungen, Referate, Notizen,
amtliche Mittheilungen.
Oe werbehygienische Rundschau
von
Med.-Rath Dr. Roth.
Die Explosion eines Acetylengasbehälters in der Werkstätto von G. Isaak in
Berlin, bei der vier Personen verunglückten, gab dem Polizeipräsidenten von Berlin
Anlass unter dem 19. December 1896 eine Polizeiverordnung zu erlassen, nach
der Jedermann, der Acetylengas aus Calciumcarbid darstellen will, zur Anzeige
bei der Polizeibehörde verpflichtet ist. Die Behörde ertheilt die Erlaubnis, nach¬
dem sie vorher durch Sachverständige hat prüfen lassen, ob die zur Verwendung
kommenden Apparate entsprechend eingerichtet und gefahrlos sind, und ob die
Personen, die mit Acetylengas arbeiten wollen, hinreichend sachverständig sind.
Hinsichtlich des flüssigen Acetylens besteht bereits die Anzeigepflicht nach dem
Reichsgesetz vom 9. Juli 1884, da es sich hierbei zweifellos um einen Sprengstoff
handelt, während Anlagen, in denen Acetylen gewerbsmässig, d. h. zum Zwecke
des Erwerbes hergestellt werden soll, als chemische Fabriken nach § 16 der Ge¬
werbeordnung einer besonderen Genehmigung bedürfen, die versagt oder von
besonderen Bedingungen abhängig gemacht werden kann. Eine ausführliche Dar¬
stellung über die Gewinnung und die Gefahren des Acetylens veröffentlichte
Sprenger in der Zeitschrift der Centralstelle für Arbeiterwohlfahrtsbestrebungen
(Jahrg. 1897, No. 1 und 2).
Ueber extragenitale Syphilisinfection bei Glasbläsern berichtet Eysel in
seiner Inaugural-Dissertation, Göttingen 1896, an der Hand von 12 von ihm beob¬
achteten Fällen. Auf die Gefahr der Syphilisübertragung, die den Glasbläsern
aus der Benutzung verunreinigter Instrumente, namentlich der Glasbläserpfeife,
droht, ist in letzter Zeit besonders von französischen Autoren hingewiesen worden.
Ein mit Syphilis behafteter 19jähriger Arbeiter, der im (Jetober 1893 in die Glas¬
fabrik zu Amelitte gekommen war, hatte innerhalb kurzer Zeit die Syphilis auf
12 Arbeitsgenossen übertragen, die kürzere oder längere Zeit mit den betreffenden
Patienten zusammengearbeitet hatten; in zwei Fällen kam noch ausserdem der
Digitized by
Gck igle
Original ffom
UNIVERSUM OF IOWA
Besprechungen, Referate, Notizen, amtlicho Mittheilungen.
405
Gebrauch gemeinsamer Trink- und Essgeschirro sowie ein längeres Zusammen¬
wohnen hinzu. In allen diesen Fällen war die Eingangspforte des syphilitischen
Giftes im Bereich der Mundhöhle zu finden. Die Vorschläge des Verf., derartigen
Vorkommnissen zu begegnen, gipfeln darin, dass die Arboiter in Zwischenräumen
von etwa 14 Tagen einer gewissenhaften ärztlichen Untersuchung unterzogen
werden, und dass jeder Arbeiter mit eigener Pfeife und eigenem Mundstück
arbeitet, eine Neuerung, die in der Fabrik zu Amelitte bereits getroffen ist. Ein
Uebergang der Pfeife auf andere Arbeiter findet nur statt, nachdem dieselbe im
Glasofen vorher ausgeglüht ist. An andern Orten behaupten die Arbeiter, mit dem
Mundstück nicht rasch und sicher genug arbeiten zu können. Nach Guinod vear
es in französischen Fabriken nicht einmal mit Hilfe der Behörden möglich, diese
Neuerung durchzuführen. Auch die ärztliche Untersuchung stösst bei den Arbeitern
vielfach auf Widerstand. Im sanitären Interesse würde es deshalb besonders
freudig zu begrüssen sein, wenn die Versuche mit dem Appert’sehen Apparat,
der zum Glasblasen comprimirte Luft verwendet zu einem in technischer Hinsicht
befriedigenden Ergebniss führten. Bei uns sind bisher Versuche mit diesem
Apparat, soweit bekannt geworden, nur in der Stralauer Glasfabrik gemacht
worden.
Wiederholt ist auf die Gefahren der Milzbrandinfection hingewiesen, die den
Arbeitern in Betrieben drohen, in denen Thierhaare, namentlich ausländischer
Herkunft, Rosshaare und Schweineborsten verarbeitet werden. Neben den Pinsel¬
fabriken kommen hier hauptsächlich die Rosshaarspinnereien in Betracht, deren
es ausser in Süddeutshland namentlich im Regierungsbezirk Cassel eine grössere
Anzahl giebt. Häufigere Erkrankungen, die in diesen Fabriken vor Jahren wieder¬
holt beobachtet wurden, hatten bereits im Jahre 1889 zum Erlass einer Polizei¬
verordnung Anlass gegeben. Da trotzdem weitere Milzbrandinfectionen auftraten,
im Jahre 1895 wurden allein in einer Rosshaarspinnerei 6 Erkrankungen an Milz¬
brand beobachtet, wurde in der unter dem 19. April 1896 erlassenen Polizei¬
verordnung der Desinfectionszwang, der bisher auf die ausländischen Rosshaare
sich beschränkte, auch auf die inländischen Thierhaare ausgedehnt. Ausgenommen
von der Desinfection sind allein die unverraischten Pferdeschweifhaare und Pferde¬
mähnen, die durch den Desinfectionsprocess — vorgeschrieben ist ein 15 Minuten
langes Kochen in Wasser oder Einwirkung von Wasserdampf von mindestens
Vio Atmosphäre Ueberdruck in einem geeigneten Apparat eine Stunde hindurch
— erheblich an Werth verlieren. Für die Arbeiter, die das Hineinbringen der
Haare in dieDesinfectionsapparate besorgen, sowie für diejenigen, die das Sammeln
und den Transport des Staubes sowie das Abschneiden der Pferdeschweifhaaro
vom Schwcifleder und das Hecheln derselben besorgen, desgleichen für diejenigen,
die die Arbeitsräume zu reinigen und die nicht dosinficirten Haare abzuladen
haben, ist das Tragen von Respiratoren und Sohutzanzügcn vorgeschrieben.
Ausserdem sind die Vorschriften über die körperliche Reinigung und die Bereit¬
stellung der dazu erforderlichen Einrichtungen verschärft. Weitere Bestimmungen
betrefTen die Reinigung nnd Desinfection der Arbeitsräume sowie die Desinfection
der Umhüllungon der zur Verarbeitung gelangenden Haare. Die von der Des¬
infection befreiten Haare sind in gesonderten Räumen zu lagern. Zu dem Verbot
der Beschäftigung jugendlicher Arbeiter beim Sortiren, Desinficiren und Hecheln
der Haare ist in der neuen Verordnung die Bestimmung hinzugekommen, dass
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
406
Besprechungen, Referate, Notizen, amtliche Mittheilungen.
weibliche Arbeiter auch in den Desinfectionsräumen sich nicht aufhalten dürfen.
Auch in Nürnberg ist der Desinfectionszwang allgemein für sämmtliche Haare ein¬
geführt, ohne dass über besondere Beschädigungen des Materials Klage geführt
worden ist. Ob indess die Haare nach der Desinfection für die verschiedenen in¬
dustriellen Yerwendungsarten dieselbe Brauchbarkeit behalten wie vor derselben,
darüber waren die im Kaiserlichen Gesundheitsamt angestellten Untersuchungen
noch nicht abgeschlossen (Verhandlungen des Reichstags vom 15. Jan. d. J.).
Während der letzten Reichstagssession stand auch der socialdemokratische
Antrag auf Einführung des achtstündigen Arbeitstages wiederum zur Berathung.
Nachdem dieser Antrag wie auch der Gegenantrag des Centrums auf Festsetzung
der 63 stündigen Arbeitswoche abgelehnt waren, wurde ein weiterer Antrag des
Centrums angenommen, dahin lautend: die verbündeten Regierungen zu ersuchen,
Erhebungen insbesondere unter Befragung der Gewerbeaufsichtsbeamten, der
Krankenkassenvorstände und Aerzte, sowie durch Vergleichung der Statistik der
Krankenkassen und Invaliditätsanstalten darüber anzustellen, in welchen gewerb¬
lichen Betrieben durch übermässige Dauer der täglichen Arbeitszeit die Gesund¬
heit der Arbeiter gefährdet wird und auf Grund dieser Erhebungen überall dort, wo
eine solche Gesundheitsgefährdung vorliegt, in Ausführung des § 120 e, Abs. 3
der Gewerbe-Ordnung durch entsprechende Verordnungen die Arbeitszeit zu
regeln.
Ueber die Erstickungsgefahr in den Gährräumen der Spiritusbrennereien
berichtete Oppermann in der Zeitschrift der Centralstelle für Arbeiterwohlfahrts¬
bestrebungen (18%, No. 22). Die bei der Gährung der Maische in den Brennereien
sich bildende Kohlensäure kann unter allen Umständen, wenn die Gährräume klein
sind und namentlich in tief liegenden Kellern in so reichlicher Menge sich an¬
sammeln, dass ein unvorsichtiges Betreten dieser Räume Erstickungen herbeiführen
kann. Wiederholt sind aus diesem Grunde Erstickungsfälle sowohl bei Arbeitern
wie bei controlirenden Steuerbeamten beobachtet worden. Zur Verhütung dieser
Gefahren hat der Regierungs-Präsident in Posen in zwei Rund Verfügungen an die
Polizeibehörden empfohlen, in Gährräumen, die sich in der Nähe von Wasser¬
gräben, Teichen u. dergl. befinden, Abzugsöffnungen oder Abzugskanäle dicht
über dem Fussboden anzubringen. Wo derartige ein Gefälle aufweisende Abzugs¬
öffnungen nicht möglich sind, wird als wirksamste Vorrichtung ein Dampfstrahl¬
ventilator empfohlen. Einen derartig zweckmässig construirten und zuverlässig
wirkenden Apparat der Gebr. Körting beschreibt Oppermann. Eine am Eingang
des Gährraums anzubringende Warnungstafel enthält die Aufforderung, dass Jeder
vor Betreten des Raumes die Schutzvorrichtungen in Wirksamkeit setzen und sich
von ihrem guten Zustande überzeugen soll. Erstrebenswerth bleibt ausserdem
die Beseitigung der Gährkeller, was in vielen Fällen ohne erhebliche Kosten in
der Weise sich erreichen lässt, dass man in die oberirdisch liegende Malztenne
den Gährraum verlegt und diesen zur Malztenne umwandelt.
Ueber gesundheitliche Massregeln zum Schutze der Arbeiter gegen Queck¬
silbervergiftungen in Spiegelbelegereien und Fabriken zur Herstellung der Glas¬
birnen für elektrische Beleuchtungsapparate verbreitet sich H. Wittzack in der
deutschen Vierteljahrsschrift für öffentliche Gesundheitspflege No. 28, Heft 4.
Diese Massnahmen laufen in der Hauptsache darauf hinaus, einmal die Entstehung
der Quecksilberdämpfe möglichst einzuschränken und zweitens den unvermeidlich
Digitizeit by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Besprechungen, Referate, Notizen, amtliche Mittheilungen.
407
entstehenden Dampf möglichst unschädlich zu machen. In erstem- Beziehung ist
von besonderer Bedeutung das Einhalten niedriger Temperaturen in den betreffen¬
den Arbeitsräumen, während hinsichtlich des zweiten Punktes die Maassnahmen
der individuellen Prophylaxo, die auf sorgfältigste Reinhaltung der Kleidung und
des Körpers der Arbeiter, insbesondere auch auf eine geregelte Mundpflege ab¬
zielen, von hauptsächlicher Bedeutung sind. Vor dem 20. Lebensjahr sollten
Arbeiter, männliche wie weibliche, in Spiegelbelegen zur Arbeit nicht zugelassen
werden. Schwangere Frauen und Wöchnerinnen, letztere bis 6 Wochen nach der
Entbindung, sind von der Arbeit in Spiegelbelegen auszuschliessen. Wie auf dem
Gebiet der gewerblichen Vergiftungen im Allgemeinen, erweisen sich auch hier
die gesundheitlichen Maassnahmen um so wirksamer, je mehr die Durchführung
derselben durch das Verhalten der Arbeiter selber gefordert wird. Was die ge¬
sundheitlichen Maassregeln in den Fabriken zur Herstellung von Glasbirnen für
elektrische Beleuchtungsapparate betrifft, so kommen hier im Wesentlichen die¬
selben prophylaktischen Maassnahmen der Ventilation, der Reinhaltung der
Arbeitsräume, der Mundpflege und ärztlichen Ueberwachung der Arbeiter in Frage,
wie sie für Quccksilberspiegelbelego vorgeschrieben sind. Wie die Industrio bisher
schon in erheblichem Umfange dazu übergegangen ist, an die Stelle der Queck-
silberspiegelfabrication die Silberspiegelindustrie zu setzen, ist es neuerdings auch
gelungen, die erforderliche hohe Verdünnung der Luft in dem den Kohlenbügel
umgebenden Glaskörper durch andere ohne Quecksilber arbeitende Luftpumpen zu
ersetzen.
Die inzwischen erschienenen, im Reichsamt des Innern zusammengestellten
„Amtlichen Mittheilungen aus den Jahresberichten des Gewerbeaufsichtsbeamton,
Jahrgang XX, 1895“ enthalten, wie die vorangegangenen Jahresberichte, ein sehr
reiches Material auch in gewerbehygienischer Hinsicht. Wir entnehmen demselben,
dass im Jahre 1896 in den der Gewerbeaufsicht unterstellten Betrieben 4327 Kin¬
der unter 14 Jahren beschäftigt waren. Sowohl diese Zahl wie die Zahl der jun¬
gen Leute zwischen 14 und 16 Jahren, ganz besonders aber die Zahl der Arbeite¬
rinnen über 16 Jahre zeigte im Berichtsjahr eine erhebliche Zunahme gegenüber
dem Jahre 1894. Die Art der Beschäftigung jugendlicher Arbeiter war, von der
Verwendung derselben bei stauberzeugender Arbeit abgesehen, im Allgemeinen
dem Lebensalter und den Kräften derselben angemessen. Auf den Ziegeleien, hin¬
sichtlich deren der vorliegende Bericht besondere Erhebungen in grösserem Um¬
fange enthält, waren die Beköstigung und besonders die Wohnungsverhältnisse
vielfach besonders ungünstige; nicht selten fanden sie enge, unsaubere Aufent¬
halts- und Schlafräume mit unzureichenden Lagerstätten und ungenügender Lüf¬
tung, mangelhafter Beschaffenheit der Aborte u. a. Von mehreren Berichterstattern
wird angeregt, für jugendliche Arbeiter und für Arbeiterinnen die Arbeit in den
über den Oefen befindlichen Trockenräumen zu verbieten. Wie in früheren Jahren
wurden übermässig lange Arbeitszeiten am häufigsten in Ziegeleien, Mahl- und
Schneidemühlen beobachtet, vielfach auch in Brauereien, in den kleinen länd¬
lichen Strumpffabriken, bei Maschinen- und Dampfkesselwärtern, in Cigarren¬
fabriken u. a.
In dem Abschnitt, der den gesundheitlichen Verhältnissen der industriellen
Arbeiter gewidmet ist, wird von mehreren Aufsichtsbeamten ein geregelter Verkehr
Yierteljahrsbchr. f. ger. Med. Dritte Folge. XIV. 2. 27
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
408
Besprechungen, Referate, Notizen, amtliche Mittheilungen.
mit den Krankenkassen und ein geordnetes Zusammenarbeiten mit dem ärztlichen
Sachverständigen vermisst. Von specicllcn Gesundheitsschädigungen ist zu er¬
wähnen, dass in den Thomasschlackenrnühlen eines Bezirks von 815 Erkrankungen
während der Jahre 1892 bis 1894 04 pCt. Erkrankungen der Athmungsorgane be¬
trafen, und dass von 21 Todesfällen 20 auf Lungenerkrankungen zurückzuführen
waren. Der Staubbeseitigung wurde namentlich in den Schleifereien, insbesondere
auch den Glasschleifereien, desgleichen auch in Holzbearbeitungsfabriken, in Bloi-
und Silberhütten u. a. erhöhte Aufmerksamkeit zugewandt. Durch die auf Veran¬
lassung des Ministers für Handel und Gewerbe in den Lumpensortiranstalten statt¬
gehabten Erhebungen wurden in den meisten Bezirken wenig erfreuliche Zustände
aufgedeckt; insbesondere fand ein Entstauben der Lumpen vor dem Sortiren nur
in einigen wenigen grossen Betrieben statt, während in den kleineren die Durch¬
führung dieser und anderer Maassnahmen wegen der ungünstigen wirtschaftlichen
Verhältnisse der Arbeitgeber vielfach auf Schwierigkeiten stiess. Es steht zu er¬
warten, dass durch die nunmehr von dem Minister für Handel und Gewerbe auf-
gestellten Grundsätze, betreffend Einrichtung und Betrieb der Lumpensortirungs-
anstalten durch Einwirkung auf die Arbeitgeber allinälig bessere Arbeitsbedin¬
gungen für die in den Lumpensortiranstalten beschäftigten Personen herbeigeführt
werden.
Hinsichtlich der Gefahren der Zinkhütten beschränken sich die Mitteilungen
auf einen Bericht aus dem Oppelner Bezirk, ln einzelnen Bleiweissfabriken machte
sich Dank der Mitwirkung der Kassenärzte und Medicinalbeamten eine erfreuliche
Abnahme der Zahl der Erkrankungen bemerklich. Auch hinsichtlich der Gesund-
heitsverhältnissc in Accumulatorenfabriken wird vielfach eine Besserung gemeldet;
speciell in der Fabrik in Hagen blieb die Zahl der Bleierkrankungen vom Jahre
1895 Dank der sehr energischen prophylaktischen Maassnahmen sehr erheblich
hinter der Zahl des Jahres 1894 zurück. Der Gesundheitszustand der Arbeiter in
Chromatfabriken, unter denen sich in einemßezirk bei etwa einem Drittel der unter¬
suchten Arbeiter die charakteristische Durchlöcherung der Nasenscheidewand
vorfand, erfuhr besondere Beachtung und wurde auch seitens dos Kaiserlichen
Gesundheitsamts zum Gegenstand eingehender Erhebungen gemacht, als deren Er¬
gebnis* die inzwischen unter dem 2. Februar d. J. verölfentlichte Bekanntmachung
des Reichskanzlers, betr. Einrichtung und Betrieb der Anlagen zur Herstellung
von Alkalichromaten sich darstellt.
Gegen die mit der Arsenikerzeugung verbundenen Gefahren hat sich eine
von den Arbeitern selber erfundene Schutzvorrichtung bewährt, die allen An¬
sprüchen genügt und den Vortheil hat, dass sie jeden Augenblick in völlig ge¬
reinigtem Zustande und jeder Kopfform angepasst aufgelegt werden kann; die¬
selbe bestellt in leinenen waschbaren Tüchern, die leicht um Kopf und Hals gelegt
werden, Quecksilbervergiftungen wurden nicht beobachtet. Ebenso haben sich
die Gesundheitsverhältnisse in den Zündholzfabriken bedeutend gebessert; ver¬
einzelte Fälle von Phosphornecrose, über die berichtet wird, waren auf Nachlässig¬
keit und Unachtsamkeit der betreffenden Arbeiter zurückzuführen.
lieber die Gesundheitsverhältnisse der Cigarrenarbeiter enthält der Bericht
des Aufsichtsbeamten für Baden worthvolle Mittheilungen. Danach starben im
Amtsbezirk Bruchsal 0,70 pCt. der Cigarrenarbeiter an Schwindsucht, während
von der übrigen Bevölkerung des Bezirks nur 0,21 pCt. dieser Krankheit erlagen;
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Besprechungen, Referate, Notizen, amtliche Mittheilungen.
409
in einem anderen Bezirk war dies Verhältniss bei den Cigarrenarbeitern 0,45pCt.,
d. h. etwa das Doppelte des Landesdurchschnitts. Von wesentlicher Bedeutung
ist nebon der Verbesserung der socialen Verhältnisse die Entfernung der Erkrank¬
ten aus der Fabrik und ihrer Häuslichkeit und die Ceberführung derselben in be¬
sondere Heilstätten, — Milzbranderkrankungen in Gerbereien lind Anstalten zur
Verarbeitung von Thierhaaren kamen, wie schon erwähnt, noch häufig vor und
endeten zum Theil tödtlich. Neben Reinlichkeit und sorgfältigster Beachtung der
kleinsten Wunden bleibt die Desinfection der Thierhaare vor der Bearbeitung das
einzig wirksame Schutzmittel.
Gegen die sogen. Theerkrätze in den Steinkohlenbrikettfabriken hat sich als
wirksamster Schutz eine Fabrikationsweise bewährt, bei welcher das Steinkohlcn-
theerpech nicht durch directe Ofenfeuerung, sondern durch zugeleitete Dämpfe in
einem abgeschlossenen Rührwerk erhitzt wird. Wenn bei dieser Fabrikationsweise die
Arbeiter für gewöhnlich von Krankheitserscheinungen verschont geblieben sind,
so ist dies darauf zurückzuführen, dass der Arbeiter hierbei weniger von der vom
Ofen ausgehenden strahlenden Hitze zu leiden hat, dass ferner durch die sich ent¬
wickelnden heissen Dämpfe die Luft des Arbeitsraums beständig feucht gehalten
und vor Allem die Staubbildung wesentlich vermindert wird.
In den Achatschleifereien und in der Porzellanindustrie zeigten sich dieselben
ungünstigen Verhältnisse, wie sie in früheren Berichten hervorgehoben sind.
Speciell in der Achatschleiferei wird das ausserordentlich gesundheitsschädliche
Schleifen im Liegen trotz der mit Beihülfe der Regierung in einigen Schleifereien
lierbeigeführten Verbesserungen unverändert fortgesetzt.
Aus dem letzten Abschnitt, der die wirtschaftlichen und sittlichen Zustände
der Arbeiterbevölkerung und die Wohlfahrtseinrichtungen behandelt, ergiebt sich,
dass die Ernährungsverhältnisse der Arbeiter durch Vermehrung von Speisean¬
stalten und Consumvereinen fortschreitend günstig beeinilusst wurden. Des¬
gleichen fand die Frage der Beschaffung von Arbeiterwohnungen seitens der Ar¬
beitgeber wie besonderer Bauvereine ständige Beachtung. Besondere Erwähnung
verdient auch die zunehmende Fürsorge für kranke Arbeiter seitens der Vereine
und Verbände, der Krankenkassen und Versicherungsanstalten. — Elf Specialan¬
lagen bilden den Schluss der inhaltreichen Mittheilungen.
Von den inzwischen erschienenen Lieferungen des Weyl’sehen Handbuchs
der Hygiene behandelt die 5. Lieferung des achten Bandes die Hygiene der kera¬
mischen Industrie, der Steinmetzen, Maurer, Glasarbeiter und Spiegelbeleger, die
6. Lieferung desselben Bandes die Hygiene der Tcxtil-Industrie.
In dem ersten Abschnitt behandelt Sonne die Hygiene der keramischen In¬
dustrie, der Ziegeleiarbeiter, Töpfer und Porzellanarbeiter. Nach einer kurzen
Darstellung des Gewerbebetriebes werden die Berufskrankheiten der betreffenden
Arbeiterkategorien und im Anschluss daran die Fürsorge für die Arbeiter be¬
sprochen. Verf. erwähnt, dass die Arbeit der Ziegler, die an sich sehr anstren¬
gend ist, durchschnittlich 14 Stunden und länger dauert, und dass namentlich
auch die Wohnungen der Ziegeleiarbeiter sehr Vieles zu wünschen übrig lassen,
während die eigentlichen Schädlichkeiten der Berufsarbeit ein eingehendere Dar¬
stellung nicht gefuuden haben. Angeschlossen sind die Unfallverhütungsvor¬
schriften der Ziegelei- und Töpferci-Berufsgenossenschaft.
27*
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
410
Besprechungen, Referate, Notizen, amtliche Mittheilungen.
Bei Her Darstellung Her Hygiene Her Porzellanarbeiter haben Hie sorgfältigen
Untersuchungen Sommerfeldes gebührende Berücksichtigung gefunden. Gegen¬
über Puchesnc, der die Arbeits- und Gesundheitsverhältnisse der französischen
Porzellanmacher als sehr günstige darstellt, lassen die Untersuchungen von
Sommerfeld, Popper, Eulenberg u. A. keinen Zweifel, dass das Durch¬
schnittsalter der Porzellanarbeiter ein sehr niedriges ist. Nach W. Ogle’s be¬
kannten Sterbetafeln stehen die Arbeiter der Porzellanfabrication und Töpferei
unter 44 Berufsarten an dritthöchster Stelle und werden nur noch von der Sterb¬
lichkeit der Zinngrubenarbeiter, Hausirer und Kellner übertroffen. Beizustimmen
ist dem Verf. darin, dass, wenn die zur Verbesserung der gesundheitlichen Lage
der in der keramischen Industrie beschäftigten Arbeiter im Laufe des letzten Jahr¬
zehnts gemachten Vorschläge seitens der Arbeitgeber mit Verständniss durchge¬
führt und deren Ausführung sachgemäss überwacht würde, und wenn auch die
Arbeiter selber die in ihrem eigenen Interesse getroffenen Maassnahmen willig be¬
folgten, die Bekämpfung der Berufskrankheiten auf dem Gebiete der keramischen
Industrie crfolgrcichsr wie bisher gelingen wird.
Im zweiten Abschnitt behandelt Sommerfeld die Hygiene der Steinmetzen
und Maurer. Bei der Untersuchung der Erkrankungs- und Sterblichkeitsverhält¬
nisse der Steinmetzen unter Ausscheidung der Steinsetzer und Steinklopfer, fand
der Verf. die Gesundheitsverhältnisse noch ungünstiger, als bisher allgemein an¬
genommen wurde. Von wesentlicher Bedeutung ist, ob Marmor, Granit oder
Sandstein, die hauptsächlich in Frage kommenden Gesteinsarten, bearbeitet wird.
Nach den Untersuchungen Sommerfeldes, die durch die in anderen Ländern,
namentlich in England und Italien gemachten Erfahrungen ergänzt und bestätigt
werden, zeigten die günstigsten Mortalitätsverhältnissc die Marmorarbeiter, dem¬
nächst die Granitarbeiter, während diejenigen Steinmetzen, welche Sandstein be¬
arbeiten, am ungünstigsten gestellt sind. Nach den Erfahrungen des Verbandes
der Steinmetzen Deutschlands betrug bei 344 Steinmetzen die durchschnittliche
Lebensdauer zwischen 35 und 36 Jahre, ein Mittel, das bei den Sandsteinarbeitern
bis auf 33 Jahre Jahre 6 Monate herunterging. Entsprechend der häufigsten Er-
krankungsursache, der Einathmung von Steinstaub, werden die Steinmetzen fast
ausschliesslich von Krankheiten der Athmungsorgane, in erster Linie von der
Lungenschwindsucht, dahingerafft. Von 497 in den Zeiträumen von 1886 bis 1892
in den verschiedensten Gegenden Deutschlands gestorbenen Steinmetzen erlagen
444 = 89,93 pCt. der Lungenschwindsucht. Sommerfeld fordert dcsshalb mit
Recht, dass der Eintritt in das Steinmetzgewerbe nur gesunden, kräftigen Personen,
und nicht vor Zurücklegung des 16. Lebensjahres gestattet werden darf und dass
der Schutz, der gewissen Kategorien der jugendlichen Glushüttonarbeiter bereits
zu Theil wird, auch auf die Steinmetzlehrlinge ausgedehnt wird. Wie nothwendig
diese Forderung ist, erhellt aus den von Sommerfeld an 94 dieser Lehrlinge
gewonnenen Erfahrungen. Im Uebrigen ist der Schwerpunkt der prophylactischen
Maassnahmen in der Verhütung der Einathmung des Staubes gelegen. Neben der
Befeuchtung des zu bearbeitenden Steines mit Wasser oder Glycerin, dem Be¬
sprengen des Arbeitsplatzes, der regelmässigen täglichen Beseitigung der Staub¬
massen ist von besonderer Wichtigkeit, die Arbeit entweder ganz im Freien oder
in besonders hohen und gegen Wind und Wetter genügend geschützten Arbeits¬
buden ausführen zu lassen. Eine völlige Staubabhaltung von den Athmungsor-
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
Besprechungen, Referate, Notizen, amtliche Mitthciluugen.
411
ganen der Arbeiter wird indess in geschlossenen Räumen durch das Tragen
zweckmässig construirter Respiratoren zu erreichen sein. Unter den zahlreichen
derartigen Apparaten giebt der Verf. dem von B. Loeb in Berlin construirten den
Vorzug, nur müsste derselbe noch flacher und leichter gefasst sein. Vor Allem
wären auch schon die Lehrlinge an das Tragen von Respiratoren zu gewöhnen.
Die Dauer der Arbeitszeit schwankt bei den Steinmetzen und Steinbild¬
hauern zwischen 7V 2 und 12 Stunden. Sommerfeld empfiehlt für die in Frage
kommenden Berufe eine Arbeitszeit von 7 bis höchstens S, für die Lehrlinge eine
solche von 6 Stunden und befürwortet gleichzeitig nach einer 2stündigen Arbeits¬
schicht eine Pause von 15 bis 30 Minuten.
Auch bei den Maurern entfallen nach den Aufzeichnungen der Ortskranken¬
kasse der Maurer zu Berlin und der Centralkasse der Maurer Deutschlands mehr
als die Hälfte aller Todesfälle auf Krankheiten der Athmungsorgane, auf Lungen¬
schwindsucht allein 38,2 pCt. Das Durchschnittsalter betrug 43,80 Jahre. Ausser¬
ordentlich zahlreich sind ausserdem Betriebsunfälle, sowie Verletzungen und Er¬
krankungen der Muskeln und Sehnenscheiden, die durch Heben schwerer Lasten
und die angestrengte Thätigkcit bedingt sind.
Unter den Massnahmen, die bestimmt sind, die hygienische Lage der Maurer
aufzubessern, kommt vor Allem auch die Bereitstellung von Baubuden seitens der
Unternehmer in Frage, die neben ihrer hygienischen gleichzeitig eine hervorragende
sociale Bedeutung haben in Folge der dadurch bewirkten Einschränkung des Be¬
suches benachbarter Wirthshäuser.
Den Schluss der fünften Lieferung des achten Bandes bildet eine Darstellung
der Hygiene der Glasarbeiter und Spiegelbeleger von Schaefer, dem wir bereits
eine werthvolle Arbeit über die Gewerbekrankheiten der Glasarbeiter verdanken
(diese Zeitschrift. 3. Folge. Bd. VIII. S. 181).
Verfasser beginnt mit einer Darstellung der Technik des Gewerbebetriebes
der Glasarbeiter, um sodann die Gesuudhcitsschädigungen und Unglücksfälle zu
besprechen. Die hauptsächlichste Gefahr ist der bei der Vermischung der Roh¬
materialien entstehende Staub, der u. A. nicht unerhebliche Mengen Arsenik ent¬
hält. Es handelt sich hierbei um einen scharfen, quarzhaltigen Staub, dessen
Einathmung die Schmelzer, wenn auch nur während eines kurzen Zeitabschnittes
der täglichen Arbeitszeit, ausgesetzt sind; während der übrigen Zeit haben sie
die Feuerung zu reguliren und die schmelzende Masse zu beobachten, wobei sie
unter der Einwirkung der Hitze und der entweichenden Gase und Dämpfe zu leiden
haben. Bei den Glasbläsern, der Hauptgruppe der Arbeiter, sind es die schroffen
Temperaturunterschiede, die intensive Hitze und Wärmestrahlung, die dadurch,
dass sie übermässige Schweissproduction hervorrufen, schwächend auf den Orga¬
nismus wirken. Dazu kommt die Arbeit als solche, die eine forcirte Exspiration
zur Voraussetzung hat, in deren Gefolge es mehr oder weniger bei allen Glas¬
bläsern zurEntwickelung von Lungenemphysem und dessen Folgezuständen kommt.
Auf den Umstand, dass der Beruf des Glasmachers seit alter Zeit in einzelnen
Familien erblich ist, führt der Verf. die Thatsachc zurück, dass sich in diesen
Familien eine Art von Gewöhnung an die Arbeit herausgebildet hat, was besonders
bei einem Vergleich der Glasbläser aus alten Glasbläserfamilien mit Arbeitern, die
solchen nicht entstammern, auffällt, da die Letzteren bedeutend mehr zu den spe-
cifischen Berufskrankheiten neigen, als die Ersteren.
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
412
Besprechungen, Referate. Notizen, amtliche Mittheilungen.
Als weitere Gesundheitsschüdigungen sind Bindehautcatarrhe in Folge steter
Einwirkung des Rauches, Staarbildung, Magendarmleiden, Verbrennungen und die
Übertragung der Syphilis durch die gemeinschaftliche Pfeife zu erwähnen.
Bei den Glasschleifern, die selten ein höheres Alter als 40 Jahre erreichen,
liegt die hauptsächlichste Gefahr in der Einathmung des feinen, scharfen Glas¬
staubes, der zu chronisch-interstitiellen Pneumonien und im weiteren Verlaufe zu
Erweichungen des Lungengewebes und Tubereulose Anlass giebt. Auch Rheuma¬
tismus kommt bei den Glasschleifern recht häufig vor. Charakteristisch ist eine
Art Schleimbeutol, der sich an der Innenseite in der Mitte des Unterarmes ulnar-
wiirts bildet, da, wo der Schleifer sich gegen die Holzpflöcke stemmt. Sehr ver¬
breitet ist ausserdem ein eigentluimliches llautleiden zwischen den Fingern, das
im acuten Stadium den Arbeiter arbeitsunfähig macht, wahrscheinlich in Folge
des feinen Sandes und der ahgeschlidenen Glastheilchcn, welche beim Arbeiten
in die Haut zwischen den Fingern eingerieben werden. Bleivergiftungen werden
dann beobachtet, wenn die Schleifer bleihaltiges Glas trocken schleifen und poliren,
wozu bei der Bearbeitung von Mousseline-Glas, von Email und Strass Gelegenheit
gegeben ist.
Nach Anackers Berechnungen, die einen Zeitraum von 25 Jahren um¬
fassen, betrug die mittlere Lebensdauer der Glasarbeiter im Allgemeinen 35,2Jahre,
für die Schleifer allein 32,6, für die Glasbläser 38,0 und für die übrigen Arbeiter
41,0 Jahre.
Zur Verhütung der Gesundheitsschädigungen, zunächst bei der Mischung der
Rohmaterialien, ist die Einführung maschineller Einrichtungen zum Zerkleinern
und Zerpulvern erforderlich (geschlossene Collergänge, geschlossene Misch¬
maschinen von Dralle mit Elevatorvorrichtung zur Entleerung des fertigen Ge¬
menges in die Oefen). Gegen die grosse Hitze haben sich neben geeigneten Venti-
lationsvorriehtungen durch mechanische Kraft bewegte Fächer bewährt, welche,
aus einer Welle mit Windflügeln bestehend, bei ihren Umdrehungen den Arbeitern
Luft zufächeln. Gegen die Einwirkung des grellen Lichtes sollen dunkle Glas-
und Glimmerbrillen schützen. Besser, weil unabhängig von dem Willen des Ar¬
beiters, ist die Anbringung grosser, vor dem Stande des Arbeiters aufgehängter
blauer oder rauchgrauer Glastafeln, durch welche der Arbeiter in den Ofen sieht.
Von besonderer Bedeutung für die Hygiene der Glasarbeiter verspricht die Erfin¬
dung der französischen Ingenieure Gebr. Apport zu werden, die an die Stelle
des Glasblasens mittelst des Mundes die Glaserzeugung durch maschinelle Ein¬
richtung setzt. Der Apparat verwirklicht den Gedanken der Verwendung compri-
mirier Luft zum Glasblasen im grossen Massstabe und in vollkommenster Aus¬
führung. Die Einführung derartiger Apparate auch in unseren deutschen Fabriken
kann, falls sie sich bewahren, im Interesse des Gesundheitsschutzes der Glasbläser
nicht dringend genug befürwortet werden. Durch dieselben würde auch jede Ge¬
fahr der Uebertragung ansteckender Krankheiten unter den Glasbläsern (Syphilis,
Tubereulose) ausgeschlossen werden.
Durch besondere Ventilatoren und event. geeignete Schutzmasken sind die
Glasschleifer vor dem so verderblichen scharfen Glas- und Sandstaub zu schützen.
Zur Verhütung der Bleivergiftung bei der Moussclineverzierung hat sich das Sand¬
gebläse von Tilghmann, hei der Emailbereitung das Arbeiten in geschlossenen
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
Besprechungen, Referate, Notizen, amtliche Mittheilungen.
413
Kasten bewährt. Endlich bleibt die Bereitstellung zweckentsprechender Badeein¬
richtungen ein dringendes Postulat der Hygiene der Glasarbeiter.
Zum Schluss haben die Unfallverhütungsvorschriften der Glasberufsgenossen-
schaft und die Bestimmungen des Bundesruthes vom 11. März 18512 Erwähnung
gefunden. Der Yerf. fordert, dass Knaben unter 14 Jahren zu der in jedem Falle
gesundheitsschädlichen Arbeit in den Glashütten überhaupt nicht zugelassen
werden, jugendliche Arbeiter von 14 bis IG Jahren aber erst nach Beibringung
eines ärztlichen Zeugnisses, dass sie genügend entwickelt und arbeitskräftig sind.
In einem zweiten Abschnitt behandelt Schaefer die Hygiene der Spiegel-
beleger hauptsächlich an der Hand der Erfahrungen von Wollner und Ken k.
Wiedergegeben sind die Vorschriften des Glasbelegerhülfsvercins in Fürth, die,
wie bekannt, einen ausserordentlich günstigen Einlluss auf den Gesundheitszustand
der Quecksilberbcleger ausgeübt haben, und an die sich die später erlassenen
noch weitergehenden gesetzlichen Bestimmungen in Dreussen, Bayern und Baden
im Wesentlichen anlehnen. Von besonderer Bedeutung im Kampfe gegen die Ge¬
sundheitsschädigungen in den Quecksilberspiegelbelegen ist der Umstand gewor¬
den, dass dieselben im letzten Jahrzehnt mehr und mehr durch die Silherspirgel-
fabrikation verdrängt worden sind. So sind in Fürth in den letzten Jahren 13
auf grosse Leistungsfähigkeit für den Export eingerichtete Silberspiegelfabriken
entstanden.
In der sechsten Lieferung des 8. Bandes des Weyl’schen Handbuches be¬
handelt Netolitzky in Wien, der in seiner früheren Stellung als Gemeinde-,
Krankenkassen- und Amtsarzt vielfache Gelegenheit hatte, die Textil-Industrie in
allen ihren Zweigen genau kennen zu lernen, in grossen Zügen diejenigen Gesichts¬
punkte, die bei der sanitären Beurtheilung dieses Industriezweiges ins Auge zu
fassen sind, unter Beschränkung auf das für diese Beurtheilung Nothwendige.
Bei der ungeahnten Entfaltung, die insbesondere die chemische Technologie der
Färberei in den letzten Jahrzehnten gewonnen hat, konnten in der vorliegenden
Abhandlung nur die Grundzüge derselben berührt werden. Ebenso musste bei
der Besprechung der Schutzvorkehrungen an den Maschinen insofern eine Be¬
schränkung eintreten, als nur einzelne erprobte Typen vorgeführt werden konnten,
da die Unzahl neuer Erfindungen auf diesem Gebiet hinsichtlich ihrer Zweck¬
mässigkeit bei der Anempfehlung eine gewisse Reserve auferlegte.
In der Vorrede betont der Verf., dass die Abgabe eines zutreffenden Gut¬
achtens über einen Betrieb in jedem Falle zur Voraussetzung hat, dass sich der
Sachverständige vorher über die Vorgänge bei dem Betriebe und die bei demselben
in Anwendung kommenden Hilfsmittel aufs Genauste informiren, die localen Ver¬
hältnisse in Betracht ziehen und seine Forderungen denselben anpassen muss.
Nach einander werden die »Spinnerei, die Weberei, die zugerichteten Webwaaren,
Fleehtwaaren, Nähterei, der Staub in der Textilindustrie, die Luft in den Arbeiis-
riiumen,die Beleuchtung, die Bleicherei und Wäscherei, die Färberei und Druckerei,
die Abwässer und die Gesundheitsstatistik der Textilarbeiter besprochen. Neben
der Darstellung der Art des Betriebes haben die gesundheitlichen Einwirkungen
und Schutzmaassnahmen wie die einschlägigen Bestimmungen überall gebührende
Berücksichtigung gefunden. Ihrer Wichtigkeit entsprechend haben die verschie¬
denen Staubarten in der Textil-Industrie und deren Einwirkung auf den Orga¬
nismus, sowie die Schutz Vorkehrungen und im Anschluss daran die Luft in den
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
414
Besprechungen, Referate, Notizen, amtliche Mittheilungen.
Arbeitsräumen eine besondere Darstellung erfahren. In Frage kommen hier Flachs¬
staub, Hanf- und Jutestaub, Baumwollenstaub, Wollstaub und Seidenstaub.
Leider sind wir mangels zuverlässiger Specialuntersuchungen noch weit davon
entfernt, die Schädlichkeit der verschiedenen Staubarten zahlenmässig feststellen
zu können. Vielfach basiren die vorhandenen Statistiken auf zu kleinen Zahlen
und berücksichtigen ausserdem nicht die sonstigen in Frage kommenden Momente,
wie Dauer der Zugehörigkeit zum Beruf, individuelle Anlage und sociale Ver¬
hältnisse.
Dass den Fabrikabwässern in der Textilindustrie ein besonderer Abschnitt
gewidmet ist, wurde schon erwähnt. Die Bedeutung derselben erhellt aus dem
Umstande, dass nach den Untersuchungen von Günther in Sachsen annähernd
50 Procent aller Fälle von Flussverunreinigung auf die Textil-lndustrie entfallen,
und dass diese Verunreinigung oft eine sehr erhebliche ist. Je nachdem es hiebei
um giftige Substanzen, die in der Textil-lndustrie zumeist den Bleichmitteln,
Farbstoffen und Beizen, seltener den verarbeiteten Rohstoffen in den Spinnereien
und Webereien entstammen, oder um solche Substanzen handelt, die durch ihre
weitere Veränderung einen schädigenden Einfluss auf die Menschen, die Land¬
wirtschaft, Fischzucht und Industrie üben können, wird die Beurteilung eino
verschiedene sein. Jedenfalls bedarf die Frage der Flussverunreinigung durch
die Fabrikabwässer spcciell in Preussen dringend der gesetzlichen Regelung.
Den Schluss der Abhandlung bildet die Gesundhoitsstatistik der Textil¬
arbeiter unter Berücksichtigung der Körperentwicklung, der Frauen- und Kinder¬
arbeit und des Einflusses der Arbeit auf die Gesundheit, wobei hauptsächlich die
bekannten Untersuchungen von Erismann und von Schüler und Burckhardt
Berücksichtigung gefunden haben. Ein letzter Abschnitt behandelt die Unfälle in
der Textil-lndustrie an der Hand der offiziellen Unfallstatistik Oesterreichs und
Deutschlands.
Die vorliegenden beiden Lieferungen des Wey loschen Handbuchs der Hygiene,
mit denen der 8. Band, umfassend die allgemeine und specielle Gewerbehygiene,
abschliesst, sind um so vollkommner, als es an einer gleich zusammenfassenden
und erschöpfenden Darstellung dieser Specialgebiete der Gewerbehygiene bis¬
lang fohlte.
Referate.
Wyatt Johnston (Boston med. and surg. journal 8. April 1897) hat die
von Florence angegebene, in dieser Zeitschrift, 3. Folge, Bd. XIII. S. 446, be¬
sprochene Jodprobe auf Sperma nachgeprüft. Er ist dabei zu Resultaten gekom¬
men, die mit denen des Autors im Wesentlichen übereinstimmen, hält aber noch
weitere Untersuchungen für erforderlich. Str.
Knauss, K., lieber die Vergiftung mit Schwefelsäure. Beitrag zu der
Festschrift des Stuttgarter ärztlichen Vereins 1897. Verlag von E. Schweizer¬
barth, Stuttgart.
Knauss giebt zunächst die genaue Beschreibung zweier von ihm als Pro-
sector des städt. Katharinenhospitals innerhalb 13 Monaten secirten Fälle von
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Besprechungen, Referate, Notizen, amtliche Mittheilungen.
415
Selbstmord durch Verschlucken der käuflichen Schwefelsäure. Der erste Fall be¬
traf ein 29jähriges Dienstmädchen, welches IP /4 Stunden nach Verschlucken von
2 Löffeln „Vitriolöl 44 im Spital verstarb. Typischer Befund der acuten Vergiftung
mit concentrirter Mineralsäure: weissgraue Verfärbung von Mund, Schlund, Speise¬
röhre. Stärkste blutig-schwarze Infiltration der Magenwand ohne Perforation, aber
mit stellenweiser Auflösung der Schleimhaut; Dünndarm ebenfalls blutig infilfrirt,
Jejunum grau verätzt. Ausgedehnte, zum Thcil postmortale Verstopfung der Ge¬
lasse mit in Hämatin umgewandeltem Blut an Magen, Netz, vorderer Bauchwand,
Pankreas bis herab in die Aorta abdom. und Art. iliaeae. Mikroskopisch: Magon-
wand auf etwa das dreifache verdickt durch profuse Infiltration der Mucosa und
Submucosa mit braunschwarz verschontem Blut. Nieren: völlige Trübung und
Quellung der Epithelien der Harncanälchen.
Der zweite Fall behandelt eine injährige Modistin, welche 10 Tage nach
dem Verschlucken einer Tasse voll Vitriolöl (an den Erscheinungen innerer Ver¬
blutung) zu Grunde ging.
Die Section, welche drei Stunden p. m. ausgeführt werden konnte, ergab
(zum Theil verscliorfte) Ulcerationen in Mund und Schlund und in der Speise¬
röhre; in der unteren Hälfte der letzteren, sowie dem ganzen Magen und Duo¬
denum bis zu dessen unterem Quertheil lag die Muscularis zu Tage; die Schleim¬
haut dagegen lag als zusammenhängendes, zum Theil zerfetztes nekrotisches Kohr
frei im Magen. Nur an einer Stelle sass sie noch fest, da wo die Magen wand mit
der Milz verwachsen und perforirt war. Im unteren Theil des Dünn- und des Dick¬
darms grosse Massen theerartigen Blutes.
Mik roskopisch zeigen die abgestossenen Schlcimhauttheile eine Auffase¬
rung in farblose Lamellen, zwischen denen hier und da braunrotheHämatinschollen
zu erkennen sind; Speiserohr und Magen dagegen bestehen nur aus der zum Theil
verschonten, von Granulationen durchzogenen Muscularis und der Serosa. In den
Nieren war eine woit vorgeschrittene Regeneration der Epithelien deutlich zu er¬
kennen. Auf dem linken Fussrücken, wo ein Theil der Säure aufgetropft war und
eine tiefe Verätzung erzeugt hatte, war als Zeichen der Entstehung durch conccn-
trirte Mineralsäure in zahlreichen Gefässen die in dem ersten Falle weitverbreitete
Umwandlung des Blutes in Hämatin noch zu constatiren.
In der Besprechung wird u. A. auf die Schwierigkeit der Unterscheidung
zwischen vitaler und postmortaler Säureeinwirkung hingewiesen; sodann auf die
Seltenheit einer so ausgedehnten nekrotischen Abstossung der zusammen¬
hängenden Schleimhaut des Magens und seiner Nachbarschaft, welche in
diesem Umfange in der Literatur nirgends verzeichnet gefunden wurde; den
Tod durch parenchymatöse Blutung aus der nackten Muscularis und schliesslich
die bei beiden Fällen durch Zeichnung festgestellte ganz gleichmässige
Verätzung an Mund und Kinn durch Herabfliessen der Säure beim Trinken.
Den Schluss der Arbeit bilden statistische Zusammenstellungen
über den Selbstmord in Württemberg für den Zeitraum von 1870—1894.
Während die Selbstmordfälle von 1800 (1800/09 10,1 auf 100,000 Lebende)
bis 1878 (21,9) zugenommen haben, ist von diesem Jahre an wieder eine Abnahme
zu constatiren bis auf 15,9.
Die Verhältnisse zwischen den einzelnen Todesarten sind im Grossen und
Ganzen seit 1860 dieselben geblieben, doch ist allmälig auf Kosten der gebräuch-
□ igitized bfy-
h Google
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
416
Besprechungen, Referate, Notizen, amtliche Miltheilungen.
liebsten Solhstmordformen (Erhängen GO C.°> pCt., Ertranken ca. 15, Erschiessen
12—15 pCt. der Fälle) eine geringe Verschiebung zu Gunsten der Vergiftung und
des Ueberfahrenlnssens eingetreten.
Immerhin ist auch jetzt noch gegenüber anderen Ländern der Selbstmord
durch Gift in Württemberg aussergewühnlich selten (früher 1,2 pCt., jetzt
2,6 pCt.). Unter den verschiedenen Arten der Vergiftung steht weitaus obenan
die Blausäure, sodann kommen die Mineralsäuren, der Phosphor, die Carboi-
säure. Andere Gifte, wie Opiate, Arsen und auch die sonst so sehr verbreitete
Vergiftung mit Kohlenoxydgas sind nur in wenigen Fällen benützt worden.
Sublimat ist in Württemberg erst in 2 Fällen zum Selbstmord verwendet worden.
A u torefera t.
Berger, E igen Hl ü in 1 ich er Selbstmord durch Erd rossein. Zeitsehr.
f. Med.-Beamte. 1 SO7. No. 5.
Ein mit seinen Angehörigen häufig in Streit liegender Mann wird in seiner
verschlossenen Kammer vor dem Bett auf dem Bauche liegend gefunden; um den
Hals ist ein seidenes Tuch doppelt geschlungen und geknotet, die eine der beiden
Sehlingen ist mittelst eines als Knebel verwendeten Handstockes mit eiserner
Zwinge fest zusammengedreht. Die Seetion ergab zunächst eine harte Marke,
welche etwas nach hinten zu anstieg. Verf. erklärt dies daraus, dass der Ver¬
storbene mit der rechten Hand drehend nach unten gezogen hat. Sodann fanden
sich zwei als agonale gedeutete Verletzungen, eine in der Gegend des Jochbeins,
hervorgerufen durch die Zwinge beim Niederstürzen, und eine zweite, ebenfalls
beim Umfallen durch Aufschlagen auf eine Kommode entstandene über dem einen
Auge. Puppe-Berlin.
Sur l’assainissement de la fabrication des Mumettes — au nom d’unc
Commissioir composec de MM. Theophile Boussel, Magi tot, Ch. Monod,
Hanriot et Vallin, Importeur. Bull, de FAcademie de mcdecinc. (Seance du
!). fevrier 1897.)
Nachdem Frankreich im Jahre 188!) die Streichhülzer-Fabrication von Staats¬
wegen monopolisirt hat, macht sich in Anbetracht der gesteigerten Verantwort¬
lichkeit. des Staates das Bestreben geltend, die sanitären Verhältnisse in den Zünd¬
holzfabriken einer durchgreifenden Besserung zu unterziehen. Wennschon einzelne
neuere Fabriken in dieser Hinsicht wenig zu wünschen übrig lassen, zeigen doch
wieder andere eine erhebliche ErkrankungszilTer an Fällen von Phosphor-Nekrose.
So hatten die Fabriken in Pautin und Aubervilliers auf 620 Arbeiter von 1888 bis
Ls% nicht weniger als 47 derartige Erkrankungen. Die Schlussfolgerungen, welche
die Commission ihrem sehr eingehenden, auch speziell die belgischen Verhältnisse
berücksichtigenden Bericht anfügt, laufen auf folgende Punkte hinaus: Verbot des
weissen Phosphors, Verwendung von geschlossenen Maschinen, ausgiebigste Ven¬
tilation, häufigerer Wechsel des Personals in den einzelnen Werkstätten, ärztliche
Visitationen mit Ausschluss der ärztlicherseits für ungeeignet befundenen Arbeiter
und peinliche Ueberwachung des Zustandes der Wasch- und Aufenthaltsräume.
Digitized by
Gck igle
Original fi -m
UNIVERSUM OF IOWA
Besprechungen, Referate, Notizen, amtliche Mittheilungen.
417
Angesichts der in Deutschland bereits seit dem 8. Juli 1893 zu Recht bestehenden
Bekanntmachung betr. Einrichtung und Betrieb von Anlagen zur Anfertigung von
Zündhölzern unter Verwendung von weissem Phosphor haben die Darlegungen
gewiss grosses Interesse. Interessant dürfte ferner die von Hob in gemachte, von
Arnaud bestrittene Angabe sein, dass beim chronischen Phosphorismus die Menge
der anorganischen Bestandtheilc des Urins steigen soll und dass man dieses Ver¬
halten in zweifelhaften Fällen auch diagnostisch verwerthen könne.
Pup pe-Berlin.
Hammer, Ueber Prostitution und venerische Erkrankungen in Stutt¬
gart und die praktische Bedeutung des Gonococcus. Arch. f. Denn,
und Syphilis 1897.
Verf. berichtet über seine Erfahrungen als Polizeiarzt und Vorstand der
Prostituirtcnabtheilung des Katharinenhospitals in Stuttgart während einer zwei¬
jährigen Thätigkeit; die gewonnenen Resultate interessiren besonders, weil die
Untersuchungsergebnisse consequent in jedem einzelnen Fall durch das Mikroskop
controlirt wurden. Zunächst wird eine Beschreibung des angewandten Verfahrens
gegeben, die des weiteren durch statistische Tabellen erläutert wird. Die mikro¬
skopische Untersuchung des Urethral- und Cervicalsecretes betrachtet Verf. bei
derpolizeiärztlichenControle als conditio sine qua non; er legt hierbei nicht sowohl
auf den Gonokokkennachweis Gewicht, als auf die Verhältnisse der übrigen mor¬
phologischen Bestandtheilc des Sccretes, wie Eiterzellen und Epithelzellen. Einige
Angaben mögen das Gesagte kurz erläutern: 89,6 pCt. der bei Inscribirten er¬
hobenen Gonokokkenbefunde fanden sich bei vorwiegend Eiterzellen enthaltenden
Secreien; ebenso 93,6 pCt. der bei weiblichen Inhaftirten erhobenen, während
sich bei letzterer Kategorie nur bei 5,88 pCt. der Gonokokkenbefunde vorwiegend
Epithelzellen fanden. Auf Grund ausgedehnter Untersuchungen gelangt Verf. zu
der Ansicht, dass nur mehrmaliges vollständiges Verschwinden der Eiterzellen
das einzig zuverlässige Kriterium für die Heilung der Urethralgonorrhoe bilde.
Pup pe-Berlin.
Witthauer, Leitfaden für Krankenpflegerinnen im Krankenhaus und
in der Familie. Halle a. S. 1897. Marhold.
J. Lazarus, Krankenpflege. Handbuch für Krankenpflegerinnen und Fami¬
lien. Berlin 1897. Springer.
Die Hygiene kann nur damit einverstanden sein, wenn Bücher, wie die vor-
bezeichneten, erscheinen und eine recht ausgedehnte Verbreitung erlangen; viel
Gutes werden sie stiften und viel Schlimmes verhüten. Beide Bücher haben die
gleiche Genesis: Sie sind hervorgegangen ans dem praktischen Unterricht von
Pflegerinnen, der beiden Herren VerfT. obliegt. Beide haben sie auch die gleiche
Disposition, die von Witthauer in Form von Vorlesungen, von Lazarus in
breiter angelegten Abhandlungen ausgeführt wird: Zunächst wird der Bau des
menschlichen Körpers besprochen, sodann die allgemeine und endlich die spociellc
Krankenflcge. Ausführliche Register erleichtern in beiden Büchern sehr die Oricn-
tirung. Puppe-Berlin.
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
418
Besprechungen, Referate, Notizen, amtliche Mittheilungen.
Knauss, lieber Volksernährung. Heran sgegeben von dem Verein für das
Wohl der arbeitenden Klassen in Stuttgart 1897.
Verf. stellt für eine Volksschrift über Volksernährung die zu berücksichtigen¬
den Punkte zusammen. Er betont die Schwierigkeit des Gegenstandes der local
so verschiedenen Verhältnisse wegen. Auch Stadt und Land unterscheiden sich.
Während der Landarbeiter im ganzen schlechter sich nährt, namentlich weniger
Fleisch im Verhältniss zu den Kartoffeln geniesst, als der Stadtarbeiter, lebt an¬
dererseits der Stadtarbeiter unter sonst schlechteren hygienischen Verhältnissen.
Auch fehlen bei ihm Missstände in der Ernährung nicht. Solche sind der über¬
reiche Genuss flüssiger, alkoholischer, vermeintlich kräftigender Genussmittel, un¬
rationelle Auswahl der Nahrungsmittel und theure Bezahlung beim Einkauf im
kleinen und bei den kleinsten Händlern, die mangelhafte Schulung der Frau im
Kochen. Auch über Stoffwechsel müsste eine Volksschrift das Nöthige enthalten,
namentlich aber über den Nährwerth der einzelnen Nahrungsmittel belehren, am
besten Nährwerthsgeldberechnungen tabellarisch bringen, ferner Speisezettel in
reichlicher Menge. Gegenüber besonderen Präparaten und ausländischen Produc-
ten empfiehlt Verf. die geeignete Verwendung der heimischen nahrhaften Producte,
der Milch und ihrer Producte, der Hiilscnfrüchle, Seefische, der billigen Theile
der Schlachtt-hierA Unterweisung der Mädchen in Küche und Haushalt in Schulen
dürfte nicht fehlen. R. Schulz-Berlin.
Amtliche Mittheilungen.
Erlass, betr. Anwendung des Lysols in der Hebammenpraxis, sämmtlichen
Königl. Regierungs-Präsidenten zur Beachtung mitgetheilt.
Auf den gefälligen Bericht vom 28. März d. J. übersende ich Ew. Hochwohl-
geboren ergebenst Abschrift des unterm 21. April d. Js. von der Königlichen
Wissenschaftlichen Deputation für das Mcdicinalwcsen erstatteten Gutachtens,
dessen Ausführungen ich beitrete.
Gutachten.
Die Thatsache, dass die Haut mancher Hände Waschungen mit Karbolsäure
nicht verträgt, ist nicht zubestreiten und ebenso ist es richtig, dass in solchen Fällen
auch die desinficirende Kraft der Karbolsäure durch die Rauhigkeit der Hände be¬
einträchtigt wird.
Es ist deshalb vom ärztlichen Standpunkte aus durchaus vernünftig, in sol¬
chen Fällen andere desinficirende Mittel zur Anwendung zu bringen, und, wenn
dies auch im Hebammenlehrbuch nicht vorgesehen ist, so besteht doch kein Be¬
denken für die bezeichneten Fälle Ausnahmen zu gestatten.
Von Desinfcctionsmitteln könnten hierbei wohl nur wenige in Frage kommen,
nämlich folgende:
1. Absoluter Alkohol, dessen desinficirende Kraft eine vollkommen genügende
ist. Doch ist der denaturirtc Alkohol, wegen seines penetranten Geruchs nicht
verwendbar für Zwecke der Desinfection und der reine Alkohol viel zu theuer, um
Anwendung in der Hebammenpraxis finden zu können.
2. Sublimat, kräftiger desinficirend als Karbolsäure, aber seiner ausserordent¬
lichen Giftigkeit wegen bedenklich. Zu vaginalen Ausspülungen dürfte derselbe
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
Besprechungen, Referate, Notizen, amtliche Miitheilungen.
415 )
auch nicht zur Anwendung kommen. 1 >ie Hebammen wären dann genöthigt, zu
diesem Zweck die Karbolsäure doch immer noch beizubehalten.
3. Lysol, nicht ganz so energisch wie Karbolsäure desinficirend, aber doch
genügend wirksam in 1 proc. Lösung, um an Stelle der Karbolsäure treten zu
können, und viel weniger giftig als Karbolsäure. Das Lysol hat durch den Gehalt
an Seife gerade für die Anwendung in der geburtshülllichen Praxis nicht unerheb¬
liche Vortheile und hat sich in verschiedenen Kliniken seit Jahren mit gutem Er¬
folge eingebürgert.
Wir würden deshalb nicht beanstanden, wenn das Lysol als Ersatz für Kar¬
bolsäure den Hebammen gestattet würde und würden eine 1 proc. Lösung für ge¬
nügend halten. Doch miissto in jedem Einzelfalle die Hebamme darüber belehrt
werden, wie sie sich die einprocentige Lösung herzustellen hat.
Berlin, den 1. Mai 1897.
Der Minister der geistlichen, Unterrichts- und Medicinal-Angelegenheiten.
Im Aufträge: L ö w e n b e rg.
Gesetz, betr. den Verkehr mit Butter, Käse, Schmalz und deren
Ersatzmittel«
WirWilhelm, von Gottes Gnaden Deutscher Kaiser, König von Preussen etc.
verordnen im Namen des Reichs, nach erfolgter Zustimmung des Bundesraths und
des Reichstags, was folgt:
§ 1 .
Dio Geschäftsräume und sonstigen Verkaufsstellen, einschliesslich der Markt¬
stände, in denen Margarine, Margarinekäse oder Kunstspeisefett gewerbsmässig
verkauft oder feilgehalten wird, müssen an in die Augen fallender Stelle die deut¬
liche, nicht verwischbaro Inschrift „Verkauf von Margarine“, „Verkauf von Marga¬
rinekäse“, „Verkauf von Kunstspeisefett“ tragen.
Margarine im Sinne dieses Gesetzes sind diejenigen, der Milchbutter oder
dem Butterschmalz ähnlichen Zubereitungen, deren Fettgehalt nicht ausschliesslich
der Milch entstammt.
Margarinekäse im Sinne dieses Gesetzes sind diejenigen käseartigen Zuberei¬
tungen, deren Fettgehalt nicht ausschliesslich der Milch entstammt.
Kunstspeisefett im Sinne dieses Gesetzes sind diejenigen, dem Schweine¬
schmalz ähnlichen Zubereitungen, deren Fettgehalt nicht ausschlich aus Schweine¬
fettbesteht. Ausgenommen sind unverfälschte Fette bestimmter Thier- oder Pilanzen-
arten, welche unter den ihrem Ursprung entsprechenden Bezeichnungen in den
Vorkehr gebracht werden.
§ 2 .
Die Gefässe and äusseren Umhüllungen, in welchen Margarine, Margarinc-
käse oder Kunstspeisefett gewerbsmässig verkauft oder feilgehalten wir, müssen an
in die Augen fallenden Stellen die deutliche, nicht verwischbare Inschrift „Mar¬
garine“, „Margerinekäse“, „Kunstspeisefett“ tragen. Die Gelasse müssen ausser¬
dem mit einem stets sichtbaren, bandförmigen Streifen von rother Farbe versehen
sein, welcher bei Gelassen bis zu 35 Centimeter Höhe mindestens 2 Gentimenter,
bei höheren Gelassen mindestens 5 Centimeter breit sein muss.
Wird Margarine, Margarinekäse oder Kunstspeisefett in ganzen Gebinden
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
420
Besprechungen, Referate, Notizen, amtliche Mittheilungen,
oder Kisten gewerbsmässig verkauft oder feilgehaltcn, so hat die Inschrift ausser¬
dem den Namen oder die Firma des Fabrikanten, sowie die von dem Fabrikanten
zur Kennzeichnung der Beschaffenheit seiner Erzeugnisse angewendeten Zeichen
(Fabrikmarke) zu enthalten.
Im gewerbsmässigen Einzelverkaufe müssen Margarine, Margarinekäse und
Kunstspeisefett an den Käufer in einer Umhüllung abgegeben werden, auf
welcher die Inschrift „Margarine“, Margarinekäse“, „Kunstspeisefett“ mit dem
Namen oder der Firma des Verkäufers angebracht ist.
Wird Margarine oder Margarinekäse in regelmässig geformten Stücken ge¬
werbsmässig verkauft oder feilgehalten, so müssen dieselben von Würfelform sein,
auch muss denselben die Inschrift „Margarine“, „Margarinefett“ eingepresst sein.
§3.
Die Vermischung von Butter oder Buttermilch mit Margarine oder anderen
Speisefetten zum Zwecke des Handels mit diesen Mischungen ist verboten.
Unter diese Bestimmung fällt auch die Verwendung von Milch oder Kahm
bei der gewerbsmässigen Herstellung von Margarine, sofern mehr als 100 Gewichts-
theilc Milch oder eine dementsprechende Menge Rahm auf 100 Gewichtstheile der
nicht der Milch entstammenden Fette in Anwendung kommen.
§ 4.
In Räumen, woselbst Butter oder Butterschmalz gewerbsmässig hergestellt,
aufbewahrt, verpackt oder feilgehalten wird, ist die Herstellung, Aufbewahrung,
Verpackung oder das Feilhalten von Margarine oder Kunstspeisefett verboten.
Ebenso ist in Räumen, woselbst Käse gewerbsmässig hergestellt, aufbewahrt, ver¬
packt oder feilgehalten wird, die Herstellung, Aufbewahrung, Verpackung oder
das Feilhalten von Margarinekäse untersagt.
In Orten, welche nach dem endgültigen Ergebnisse der letztmaligen Volks¬
zählung weniger als 5000 Einwohner hatten, findet die Bestimmung des vorstehen¬
den Absatzes auf den Kleinhandel und das Aufbewahren der für den Kleinhandel
erforderlichen Bedarfsmengen in öffentlichen Verkaufsstätten, sowie auf das Ver¬
packen der daselbst im Kleinhandel zum Verkaufe gelangenden Waaren keine An¬
wendung. Jedoch müssen Margarine, Margarinekäse und Kunstspeisefett innerhalb
der Verkaufsräume in besonderen Vorrathsgefässen und an besonderen Lagerstellen,
welche von den zur Aufbewahrung von Butler, Butterschmalz und Käse dienenden
Lagerstellen getrennt sind, aufbewahrt werden.
Für Orte, deren Einwohnerzahl erst nach dem endgültigen Ergebniss einer
späteren Volkszählung die angegebene Grenze überschreitet, wird der Zeitpunkt,
von welchem ab die Vorschrift des zweiten Absatzes nicht mehr Anwendung findet,
durch die nach Anordnung der Landes-Centralbehörde zuständigen Verwaltungs¬
stellen bestimmt. Mit Genehmigung der Landes-Centralbehörde können diese Ver¬
waltungsstellen bestimmen, dass die Vorschrift des zweiten Absatzes von einem
bestimmten Zeitpunkt ab ausnahmsweise in einzelnen Orten mit weniger als
5000 Einwohnern nicht Anwendung findet, sofern der unmittelbare räumliche Zu¬
sammenhang mit einer Ortschaft von mehr als 5000 Einwohnern ein Bedürfniss
hierfür begründet.
Die auf Grund des dritten Absatzes ergehenden Bestimmungen sind min¬
destens sechs Monate vor dem Eintritte des darin bezeichneten Zeitpunktes öffent¬
lich bekannt zu machen.
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Besprechungen, Referate, Notizen, amtliche Mittheilungon.
421
§ ö.
In öffentlichen Angeboten, sowie in Schlusssteinen, Rechnungen, Fracht¬
briefen, Konnossementen, Lagerscheinen, Ladescheinen uml sonstigen im Handels¬
verkehr üblichen Schriftstücken, welche sich auf die Lieferung von Margarine,
Margarinekäse oderKimstspeisefettbezichen, müssen dio diesem Gesetz entsprechen¬
den Waarenbezeichnungen angewendet werden.
§ 6 .
Margarine oder Margarinekäse, welche zu Handelszwecken bestimmt sind,
müssen einen die allgemeine Erkennbarkeit der Waare mittelst chemischer Unter¬
suchung erleichternden, Beschaffenheit und Farbe derselben nicht schädigenden Zusatz
enthalten.
Die näheren Bestimmungen hierüber werden vom Bundesrath erlassen und
im Reichs-Gesetzblatte veröffentlicht.
§7.
Wer Margarine, Margarininekäse oder Kunstspeisefett gewerbsmässig her-
steilen will, hat davon der nach den landesrechtlichen Bestimmungen zuständigen
Behörde Anzeige zu erstatten, hierbei auch die für die Herstellung, Aufbewah¬
rung, Verpackung und Feilhaltung der Waaren dauernd bestimmten Räume zu
bezeichnen und die etwa bestellten Betriebsleiter und Aufsichtspersonen namhaft
zu machen.
Für bereits bestehende Betriebe ist eine entsprechende Anzeige binnen zwei
Monaten nach Inkrafttreten dieses Gesetzes zu erstatten.
Veränderungen bezüglich der der Anzeigcpllicht unterliegenden Räume und
Personen sind nach Maassgabe der Bestimmung des Absatzes 1 der zuständigen
Behörde binnen drei Tagen anzuzeigen.
§ 8 -
Dio Beamten der Polizei und die von der Polizeibehörde beauftragten Sach¬
verständigen sind befugt, in dio Räume, in denen Butter, Margarine, Margarine¬
käse oder Kunstspeisefett gewerbsmässig hergestcllt wird, jederzeit, in die Räume,
in denen Butter, Margarine, Margarinekäse oder Kunstspeisefett aufbewahrt, feil¬
gehalten oder verpackt wird, während der Geschäftszeit einzutreten und daselbst
Revisionen vorzunehmen, auch nach ihrer Auswahl Proben zum Zwecke derUnter-
suchung gegen Empfangsbescheinigung zu entnehmen. Auf Verlangen ist ein
Theil der Probe amtlich verschlossen oder versiegelt zurückzulassen und für die
entnommene Probe eine angemessene Entschädigung zu leisten.
§9.
Die Unternehmer von Betrieben, in denen Margarine, Margarinekäse oder
Kunstspeisefett gewerbsmässig hergestellt wird, sowie die von ihnen bestellten Be¬
triebsleiter und Aufsichtspersonen sind verpflichtet, der Polizeibehörde oder deren
Beauftragten auf Erfordern Auskunft über das Verfahren bei Herstellung der Er¬
zeugnisse, über den Umfang des Betriebs und über die zur Verarbeitung ge¬
langenden Rohstoffe, insbesondere auch über deren Menge und Herkunft zu er-
theilen.
§ 10 .
Die Beauftragten der Polizeibehörde sind, vorbehaltlich der dienstlichen Be¬
richterstattung und der Anzeige von Gesetzwidrigkeiten, verpflichtet, über die
Digitized by
Gck igle
Original from
UMIVERSITY OF IOWA
422
Besprechungen, Referate, Notizen, amtliche Mittheilungen.
Digitized by
Thaisachen und Einriehlungen, welche durch die Ueberwachung und Controle der
Betriebe zu ihrer Kenntniss kommen, Verschwiegenheit zu beobachten und sich
der Mittheilung und Nachahmung der von den Betriebsunternehmern geheim ge¬
haltenen, zu ihrer Kenntniss gelaunten Betriebseinrichtungen und Betriebsweisen,
solange als diese Betriebsgeheimnisse sind, zu enthalten.
Die Beauftragten der Polizeibehörde sind hierauf zu beoidigen.
§ n.
Der Bundesrath ist ermächtigt, das gewerbsmässige Verkaufen und Feil¬
halten von Butler, deren Fettgehalt nicht eine bestimmte Grenze erreicht oder
deren Wasser- oder Salzgehalt eine bestimmte Grenze überschreitet, zu verbieten.
§ 12 .
Der Bundesrath ist ermächtigt:
1. nähere, im Reichs-Gesetzblatte zu veröffentlichende Bestimmungen zur
Ausführung der Vorschriften des § 5 zu erlassen,
2. Grundsätze aufzustellen, nach welchen die zur Durchführung dieses Ge¬
setzes, sowie des Gesetzes vom 14. Mai 1879, betreffend den Verkehr
mit Nahrungsmitteln, Genussmitteln und Gebrauchsgegenständen (lteichs-
Gesetzbl. S. 145), erforderlichen Untersuchungen von Fetten und Käsen
vorzunehmen sind.
§ 13.
Die Vorschriften dieses Gesetzes finden auf solche Erzeugnisse der im § 1
bczeichneten Art, welche zum Genüsse für Menschen nicht bestimmt sind, keine
Anwendung.
§ 14 .
Mit Gefängniss bis zu sechs Monaten und mit Geldstrafe bis zu eintausend¬
fünfhundert Mark oder mit einer dieser Strafen wird bestraft:
1. wer zum Zwecke der Täuschung im Handel und Verkehr eine der nach
§ 3 unzulässigen Mischungen herstellt;
2. wer in Ausübung eines Gewerbes wissentlich solche Mischungen verkauft,
feilhält oder sonst in Verkehr bringt;
3. wer Margarine oder Margarinekäse ohne den nach § 6 erforderlichen Zu¬
satz vorsätzlich herstellt oder wissentlich verkauft, feilhält oder sonst in
Verkehr bringt.
Im Wiederholungsfälle tritt Gefängnisstrafe bis zu sechs Monaten ein, neben
welcher auf Geldstrafe bis zu cintausendfünfhundert Mark erkannt werden kann;
diese Bestimmung findet nicht Anwendung, wenn seit dem Zeitpunkt, in welchem
die für die frühere Zuwiderhandlung erkannte Strafe verbüsst oder erlassen ist,
drei Jahre verflossen sind.
§ 15.
Mit Geldstrafe bis zu eintausendfünfhundert Mark oder mit Gefängniss bis
zu drei Monaten wird betraft, wer als Beauftragter der Polizeibehörde unbefugt
Betriebsgeheimnisse, welche kraft seines Auftrages zu seiner Kenntniss gekommen
sind, offenbart, oder geheimgehaltene Betriebseinrichtungen oder Betriebsweisen,
von denen er kraft seines Auftrages Kenntniss erlangt hat, nachahmt, so lange
dieselben noch Betriebsgeheimnisse sind.
Die Verfolgung tritt nur auf Antrag des Betriebsunternehmers ein.
Gck igle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
Besprechungen, Referate, Notizen, amtliche Miltheilungen.
4*23
§ IG-
Mit Geldstrafe von fünfzig bis zu einhundertfiinfzig Mark oder mit Haft wird
bestraft:
1. wer den Vorschriften des § 8 zuwider den Eintritt in die Räume, die
Entnahme einer Probe odor die Revision verweigert;
2. wer die in Gemässheit des § 9 von ihm erforderte Auskunft nicht ertheilt
oder bei der Auskunftcrtheilung wissentlich unwahre Angaben macht.
§ 17 -
Mit Geldstrafe bis zu einhundertfünfzig Mark oder mit llaft bis zu vier
Wochen wird bestraft:
1. wer den Vorschriften des § 7 zuwiderhandelt;
2. wer bei der nach § 9 von ihm erforderten Auskunftsortheilung aus Fahr¬
lässigkeit unwahre Angaben macht.
§ 18 -
Ausser den Fällen der §§ 14 bis 17 werden Zuwiderhandlungen gegen die
Vorschriften dieses Gesetzes, sowie gegen die in Gemässheit der §§11 und 12,
Ziffer 1, ergehenden Bestimmungen des Bundesraths mit Geldstrafe bis zu ein-
hundertfünfzig Mark oder mit Haft bestraft.
Im Wiederholungsfall ist auf Geldstrafe bis zu sechshundert Mark, oder auf
Haft oder auf Gefängniss bis zu drei Monaten zu erkennen. Diese Bestimmung
findet keine Anwendung, wenn seit dem Zeitpunkt, in welchem die für die frühere
Zuwiderhandlung erkannte Strafe verbüsst oder erlassen ist, drei Jahre verflossen sind.
§19.
In den Fällen der §§ 14 und 18 kann neben der Strafe auf Einziehung der
verbotswidrig hergestellten, verkauften, feilgehaltenen oder sonst in Verkehr ge¬
brachten Gegenstände erkannt werden, ohne Unterschied, ob sie dem Verurteilten
gehören oder nicht.
Ist die Verfolgung oder Verurteilung einer bestimmten Person nicht aus¬
führbar, so kann auf die Einziehung selbständig erkannt werden.
§ 2 °.
Die Vorschriften des Gesetzes, betreffend den Verkehr mit Nahrungsmitteln,
Genussmitteln und Verbrauchsgegenständen, vom 14. Mai 1879 (Reichs-Gesetzbl.
S. 145) bleiben unberührt. Die Vorschriften in den §§ 16, 17 desselben finden
auch bei Zuwiderhandlungen gegen die Vorschriften des gegenwärtigen Gesetzes
mit der Massgabo Anwendung, dass in den Fällen des § 14 die öffentliche Be¬
kanntmachung der Verurteilung angeordnet werden muss.
§ 21 .
Die Bestimmungen des § 4 treten mit dem 1. April 1898 in Kraft.
Im Uebrigen tritt dieses Gesetz am 1. October 1897 in Kraft. Mit diesem
Zeitpunkte tritt das Gesetz, betreffend den Verkehr mit Ersatzmitteln für Butter,
vom 12. Juli 1887 (Reichs-Gesetzbl. S. 375) ausser Kraft.
Urkundlich unterUnsererllöchsteigenhändigenUnterschrift undbeigedrucktom
Kaiserlichen Insiegel.
Gegeben Neues Palais, den 15. Juni 1897.
(L. S.) Wilhelm.
von Bötticher.
Yierteljahrssclir. f. gcr. Med. Dritte Felge. XIV. 2. 28
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
424
Besprechungen, Referate, Notizen, amtliche Mittheilungen.
Bekanntmachung, betr. Bestimmungen zur Ausführung des Gesetzes über
den Verkehr mit Butter, Käse, Schmalz und deren Ersatzmitteln,
Zur Ausführung der Vorschriften in § 2 und § 6, Absatz 1 des Gesetzes, be-
trolTend den Verhehl* mit Butter, Käse, Schmalz und deren Ersatzmitteln, vom
15. Juni 1897 (R.-G.-ßL S. 475) hat der Bundesrath in Gemässheit des § 12
No. 1 und § 6 Absatz 2 dieses Gesetzes die nachstehenden Bestimmungen be¬
schlossen :
1. Um die Erkennbarkeit von Margarine und Margarinekäse, welche zu
Ilandelszwecken bestimmt sind, zu erleichtern (§ fi des Gesetzes, betreffend den
Verkehr mit Butter, Käse, Schmalz und deren Ersatzmitteln, vom 15. Juni 1897),
ist den bei der Fabrikation zur Verwendung kommenden Fetten und Oelen Sesamöl
zuzusetzen. In 100 Gewichtstheilen der angewandten Fette und Oele muss die
Zusatzmenge bei Margarine mindestens 10 Gewichtstheile, bei Margarinekäse min¬
destens 5 Gewichtstheile Sesamöl betragen.
Der Zusatz des Sesamöls hat bei dem Vermischen der Fette vor der weiteren
Fabrikation zu erfolgen.
2. Das nach No. 1 zuzusetzende Sesamöl muss folgende Reaction zeigen:
Wird ein Gemisch von 0,5 Kaumtheilen Sesamöl und 99,5 Kaumtheilen Baum-
wollsamenöl oder Erdnussöl mit 100 Kaumtheilen rauchender Salzsäure vom spe-
ciiischen Gewicht 1,19 und einigen Tropfen einer 2procentigen alkoholischen
Lösung von Furfurol geschüttelt, so muss die unter der Oelschicht sich absetzende
Salzsäure eine deutliche Rothfärbung annehmen.
Das zu dieser Reaction dienende Furfurol muss farblos sein.
3. Für die vorgeschriebene Bezeichnung der Gefässe und äusseren Um¬
hüllungen. in welchen Margarine, Margarinekäse oder Kunstspeisefett gewerbs¬
mässig verkauft oder feilgehalten wird (§ 2 Absatz 1 des Gesetzes), sind die an¬
liegenden Muster mit der Massgabe zum Vorbilde zu nehmen, dass die Länge der
die Inschrift umgebenden Einrahmung nicht mehr als das Siebenfache der Höhe,
sowie nicht weniger als 30 cm und nicht mehr als 50 cm betragen darf. Bei
runden oder länglich-runden Gefässen, deren Deckel einen grössten Durchmesser
von weniger als 35 cm hat, darf die Länge der die Inschrift umgebenden Ein¬
rahmung bis auf 15 cm ermässigt werden.
4. Der bandförmige Streifen von rother Farbe in einer Breite von mindestens
2 cm bei Gelassen bis zu 35 cm Höhe und in einer Breite von mindestens 5 cm
bei Gefässen von grösserer Höhe (§ 2 Absatz 1 des Gesetzes) ist parallel zur
unteren Randfläche und mindestens 3 cm von dem oberen Rande entfernt anzu¬
bringen. Der Streifen muss sich oberhalb der unter No. 3 bezeichneten Inschrift
befinden und ohne Unterbrechung um das ganze Gelass gezogen sein. Derselbe
darf die Inschrift und deren Umrahmung nicht berühren und auf den das Gefäss
umgebenden Reifen oder Leisten nicht angebracht sein.
5. Der Name oder die Firma des Fabrikanten, sowie die Fabrikmarke (§ 2
Absatz 2 des Gesetzes) sind unmittelbar über, unter oder neben der in No. 3 be-
zeichncten Inschrift anzubringen, ohne dass sie den in No. 4 erwähnten rothen
Streifen berühren.
6. Die Anbringung der Inschriften lind der Fabrikmarke (No. 3 und 5) er¬
folgt durch Einbrennen oder Aufmalen. Werden die Inschriften aufgemalt, so sind
sie auf weissem oder hellgelbem Untergründe mit schwarzer Farbe herzustellen.
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Besprechungen, Referate, Notizen, amtliche Mittheilungen. 425
Die Anbringung des rothen Streifens (No. 4) geschieht durch Aufmalen. Bis zum
]. Januar 1898 ist es gestattet, die Inschrift „Margarinekäse“, „Kunstspeisefett“,
die Fabrikmarke und den rothen Streifen auch mittelst Aufklebens von Zetteln
oder Bändern anzubringen.
7. Die Inschriften und die Fabrikmarke (No. 3 und 5) sind auf den Seiten¬
wänden des Gefässes an mindestens zwei sich gegenüberliegenden Stellen, falls
das Gefäss einen Deckel hat, auch auf der oberen Seite des letzteren, bei Fässern
auch auf beiden Böden anzubringen.
8. Für die Bezeichnung der würfelförmigen Stücke (§ 2 Absatz 4 des Ge¬
setzes) sind ebenfalls die anliegenden Muster zum Vorbilde zu nehmen. Es findet
jedoch eine Beschränkung hinsichtlich der Grösse (Länge und Höhe) der Einrah¬
mung nicht statt. Auch darf das Wort „Margarine“ in zwei, das Wort „Margarine¬
käse“ in drei unter einander zu setzende, durch Bindestriche zu verbindende Theile
getrennt werden.
9. Auf die beim Einzelverkaufe von Margarine, Margarinekäse und Kunst¬
speisefett verwendeten Umhüllungen (§ 2 Absatz 3 des Gosetzes) findet die Be¬
stimmung unter No. 3 Satz 1 mit der Massgabe Anwendung, dass die Länge der
die Inschrift umgebenden Einrahmung nicht weniger als 15 cm betragen darf.
Der Name oder die Firma des Verkäufers ist unmittelbar über, oder neben der
Inschrift anzubringen.
Berlin, den 4. Juli 1897.
Der Stellvertreter des Reichskanzlers.
Graf von Posadowsky.
MARGARINE
Gesetz, betreffend die Tagegelder and Reisekosten der Staatsbeamten.
Wir Wilhelm, von Gottes Gnaden König von Preussen u. s. w. verordnen,
mit Zustimmung des Landtages der Monarchie, was folgt:
Artikel L
Die §§ 1 und 4 dos Gesetzes vom 24. März 1873 (Gesetz-Samml. S. 122), be¬
treffend die Tagegelder und Reisekosten der Staatsbeamten, bezw. der Artikel 1.
§ 1 und § 4 dos Gesetzes vom 28. Juni 1875 (Gesetz-Samml. S. 370), betreffend
eine Abänderung des gedachten Gesetzes vom 24. März 1873, sowie der Artikel 1.
§ 1 und § 4 der Verordnung vom 15. April 1876 (Gesetz-Samml. S. 107), betref-
28*
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
426 Besprechungen, Referate, Notizen, amtliche Mittheilungen.
fend die Tagegelder und Reisekosten der Staatsbeamten, werden wie folgt abge
ändert:
§i-
Die Staatsbeamten erhalten bei Dienstreisen Tagegelder nach den fol¬
genden Sätzen:
I. Active Staatsminister.35 Mark,
II. Beamte der ersten Rangklasse.28 „
III. Beamte der zweiten und dritten Rangklasso.22 r
IV. Beamte der vierten und fünften Rangklasso.15 „
V. Beamte, welche nicht zu obigen Klassen gehören, soweit sie
bisher zu dem Tagegeldersatze von 9 Mark berechtigt waren 12 „
VI. Subalternbeamte der Provinzial-, Kreis- und Lokalbehörden
und andere Beamte gleichen Ranges.8 „
VII. Andere Beamte, welche nicht zu den Unterbeamten zu zählon
sind.6 „
VIII. Unterbeamte.4 „
Erstreckt sich eine Dienstreise auf zwei Tage und wird sie innerhalb
24 Stunden beendet, so ist nur das Ein- und einhalbfache der Sätze unter I bis
VIII zu liquidiren.
Wird die Dienstreise an ein und demselben Tage angetreten und beendet,
so tritt eine Ermässigung der Tagegelder bei I auf 27 Mark, bei II auf 21 Mark,
bei III auf 17 Mark, bei IV auf 12 Mark, bei V auf 9 Mark, bei VI auf 6 Mark,
bei VII auf 4,50 Mark und bei VIII auf 3 Mark ein.
§ 4 .
An Reisekosten, einschliesslich der Kosten der Gepäckbeförderung er¬
halten :
I. bei Dienstreisen, welche auf Eisenbahnen oder Dampfschiffen gemacht
werden können:
1. die im § 1 unter I bis IV bezeichneten Beamten für das Kilometer
9 Pfennig und für jeden Zu- und Abgang 3 Mark.
Hat einer dieser Beamten einen Diener auf die Reise mitgenom¬
men, so kann er für denselben 5 Pfennig für das Kilometer bean¬
spruchen ;
2. die im § 1 unter V und VI genannten Beamten für das Kilometer
7 Pfennig und für jeden Zu- und Abgang 2 Mark;
3. die im § 1 unter VII und VIII genannten Beamten für das Kilometer
5 Pfennig und für jeden Zu- und Abgang 1 Mark.
II. bei Dienstreisen, welche nicht auf Eisenbahnen, Kleinbahnen oder Dampf¬
schiffen zurückgelegt werden können:
1. die im § 1 unter I bis IV genannten Beamten ... 60 Pfennig,
2. die im § 1 unter V und VI genannten Beamten 40 „
3. die im § 1 unter VII und VIII genannten Beamten . 30 „
für das Kilometer.
III. Die Bestimmung darüber, unter welchen Umständen von den Beamten
bei ihren Dienstreisen Kleinbahnen zu benutzen, und welche Reisekosten¬
vergütungen in solchen Fällen zu gewähren sind, erfolgt durch das Staats¬
ministerium,
Digitized by
Gck igle
Original ffom
UNIVERSUM OF IOWA
Besprechungen, Referate, Notizen, amtliche Mittheilungen.
427
Haben erweislich höhere Reisekosten als die unter I bis III festgesetzten
aufgewendet werden müssen, so werden diese erstattet.
Artikel II.
Soweit Beamte nach Massgabe der für das betreffende Ressort bestehenden
Bestimmungen Dienstreisen mit unentgeltlich gestellten Verkehrsmitteln ausführen,
haben dieselben an Reisekosten nur die bestimmungsmässigen Entschädigungen
für Zu- und Abgang zu beanspruchen.
Artikel III.
Für Beamte, welche durch die Art ihrer Dienstgeschäfte zu häufigen Dienst¬
reisen innerhalb bestimmter Amtsbezirke oder zu regelmässig wiederkehrenden
Dienstreisen zwischen bestimmten Orten genöthigt werden, können an Stolle der
nach den §§ 1 und 4 des Gesetzes vom 24. März 1873 beziehungsweise Artikel I
dieses Gesetzes zu berechnenden Vergütungen nach Bestimmung des Verwaltungs¬
chefs und des Finanzministers Bauschvergütnngen festgesetzt werden.
Artikel IV.
Für die Ansprüche der Beamten auf Grund der gesetzlichen Bestimmungen
über die Reisekosten und Tagegelder der Staatsbeamten sind die Ansführungsvor¬
schriften massgebend, die vom Staatsministerium oder, soweit gesetzlich die Zu¬
ständigkeit der Verwaltungschefs beziehungsweise des Finanzministers begründet
ist, von diesen getroffen werden.
Artikel V.
Die Bestimmungen im § 12 des Gesetzes vom 24. März 1873 in der.Fassung
der Verordnung vom 15. April 1876 (Gesetz-Samml. S. 107) finden auf die vor
Erlass des gegenwärtigen Gesetzes ergangenen gesetzlichen oder sonstigen Vor¬
schriften, welche für einzelne Dienstzweige oder Dienstgeschäfte bezüglich der
den Beamten aus der Staatskasse zu gewährenden Tagegelder und Reisekosten er¬
gangen sind, mit der Massgabe Anwendung, dass die im Artikel I des gegen¬
wärtigen Gesetzes bestimmten Sätze nicht überschritten worden dürfen.
Die Bestimmungen im Artikel 1 §§ No. I und II des gegenwärtigen Gesetzes
finden jedoch auf diejenigen Beamten, welche unter den § 2 des Gesetzes be¬
treffend die den Medicinalbeamten für die Besorgung gerichtsärztlicher, mcdicinal-
oder sanitätspolizeilicher Geschäfte zu gewährenden Vergütungen, vom 9. März 1872
(Gesetz-Samml. S. 265) fallen, so lange keine Anwendung, als die Besoldungs¬
verhältnisse derselben nicht anderweitig geregelt sein werden.
Artikel VI.
Dieses Gesetz tritt mit dem 1. October 1897 in Kraft.
Urkundlich unter Unserer Höchsteigenhändigen Unterschrift und beigedruck¬
tem Königlichen Insiegel.
Gegeben Helgoland, den 21. Juni 1897.
(L. S.) Wilhelm.
Fürst zu Hohenlohe, v. Boetticher. v. Miquel. Thielen. Bosse.
Frhr. v. Hammerstein. Schönstedt. Frhr.v.d.Recke. Brefeld. v.Gosslor.
Erlass an di e Koni gl. Regierangs-Präsidenten betr. das Neue Tuberkulin Koch.
Ew. Hochwohlgeboren theile ich ergebenst mit, dass das von dem Geheimen
Medicinalrath Professor Dr. Koch erfundene neue Heilmittel gegen die Tubercu-
Digitizetf by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
428
Besprechungen, Referate, Notizen, amtliche Mittheilungen.
lose (T. R.), welches von den Farbwerken Meister Lucius und Brüning zu Höchst
a. M. unter der Bezeichnung „Neues Tuberculin Koch“ in den Handel gebracht
wird, ebenso wie das alte Tuberculinum Kochii — abgesehen vom Grosshandel —
nur in Apotheken abgegeben werden darf.
Hinsichtlich der Aufbewahrung und Abgabe der Mittel in den Apotheken
trelfe ich nachstehende Anordnungen:
1. Das „neue Tuberculin Koch“ ist unter den Separanden vor Licht ge¬
schützt aufzubewahren.
2. Dasselbe ist nur in den unversehrten Originalflaschen und.nur gegen
schriftliche Anweisung eines approbirten Arztes an diesen selbst oder eine von
ihm beauftragte Person abzugeben.
3. Der Taxpreis des „neuen Tuberculins Koch“ wird hiermit (einschliess¬
lich der Verpackungskosten) für das Fläschchen mit 1 ccm Inhalt auf 8,50, für
das mit 5 ccm Inhalt auf 42,50 Mk. festgesetzt.
Ew. Hochwohlgeboren ersuche ich ergebenst, die vorstehenden Aenderungen
den Apotheken des dortigen Bezirks in geeigneter Weise bekannt zu geben und
auch Bestimmung darüber zu trelfen, dass bei den Apothekenrevisionen die Be¬
folgung derselben controlirt wird.
Berlin, den 30. Juni 1897.
Der Minister der geistlichen, Unterrichts- und Medicinal-Angelegenheiten.
Bosse.
Allerhöchster Erlass, betreffend die Ausübung der gesundheitspolizeilichen
Aufsicht Uber die Provinzial-Anstalten und die Schulaufsicht über die
Provinzial-Zwangserziehungsanstalten.
Auf den Bericht vom 7. d. M. will Ich hierdurch genehmigen, dass die Aus¬
übung der gesundheitspolizeilichen Aufsicht über die Provinzial-Anstalten und die
Schulaufsicht über die Provinzial-Zwangserziehungsanstalten dom Geschäftskreise
der Ober Präsidenten überwiesen werde.
Urville, den 12. Mai 1897.
Wilhelm.
Bosse. Frhr. v. d. Recke.
Bekanntmachung, betreffend die Einrichtung und den Betrieb der Buch-
druckereien und Schriftgiessereien.
Auf Grund des § 120c der Gewerbeordnung hat der Bundesrath folgende
Vorschriften über die Einrichtung und den Betrieb der Buchdruckereien und
Schriftgiessereien erlassen:
1. Auf Räume, in welchen Personen mit dem Setzen von Lettern oder mit
der Herstellung von Lettern oder Stereotypplatten beschäftigt werden, finden fol¬
gende Vorschriften Anwendung:
1. Der Fussboden der Arbeitsräume darf nicht tiefer als einen halben Meter
unter dem ihn umgebenden Erdboden liegen. Ausnahmen dürfen durch die
höhere Verwaltungsbehörde zugelassen werden, wenn durch zweckmässige Isoli-
rung des Bodens und ausreichende Licht- und Luftzufuhr den gesundheitlichen
Anforderungen entsprochen ist.
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Besprechungen, Referate, Notizen, amtliche Mittheilungen. 429
Unter dem Dache liegende Räume dürfen als Arbeitsräume nur dann be¬
nutzt werden, wenn das Dach mit gerohrter und verputzter Verschalung ver¬
sehen ist.
2. In Arbeitsräumen, in welchen die Herstellung von Lettern und Stereotyp¬
platten erfolgt, muss die Zahl der darin beschäftigten Personen so bemessen sein,
dass auf jede mindestens fünfzehn Kubikmeter Luftraum entfallen. In Räumen,
in welchen Personen nur mit anderen Arbeiten beschäftigt werden, müssen auf
jede Person mindestens zwölf Kubikmeter Luftraum entfallen.
In Fällen vorübergehenden ausserordentlichen Bedarfs kann die höhere Ver¬
waltungsbehörde auf Antrag des Unternehmers eine dichtere Belegung der Arbeits¬
räume für höchstens dreissig Tage im Jahre insoweit gestatten, dass mindestens
zehn Kubikmeter Luftraum auf die Person entfallen.
3. Die Räume müssen, wenn auf eine Person wenigstens fünfzehn Kubik¬
meter Luftraum kommen, mindestens 2,60 Meter, andernfalls mindestens 3 Meter
hoch sein.
Die Räume müssen mit Fenstern versehen sein, welche nach Zahl und Grösse
genügen, um für alle Arbeitsstellen ausreichendes Licht zu gewähren. Die Fenster
müssen so eingerichtet sein, dass sie zum Zwecke der Lüftung ausreichend ge¬
öffnet werden können.
Arbeitsräume mit schräg laufender Decke dürfen im Durchschnitte keino ge¬
ringere als die im Absatz 1 bezeichneto Höhe haben.
4. Die Räume müssen mit einem dichten und festen Fussboden versehen sein,
der eine leichte Beseitigung des Staubes auf feuchtem Wege gestattet. Hölzerne
Fussboden müssen glatt gehobelt und gegen das Eindringen der Nässe ge¬
schützt sein.
Die Wände und Decken müssen, so weit sie nicht mit einer glatten ab¬
waschbaren Bekleidung oder mit einem Oelfarbenanstrich versehen sind, min¬
destens einmal jährlich mit Kalk frisch angestrichen werden. Die Bekleidung und
der Oelfarbenanstrich müssen jährlich einmal abgewaschen und der Oelfarbenan¬
strich, wenn er lackirt ist, mindestens alle zehn Jahre, wenn er nicht lackirt ist,
alle fünf Jahre erneuert werden.
Die Setzerpulte und die Regale für die Letternkasten müssen entweder rings¬
herum dichtschliessend auf dem Fussboden aufsitzen, so dass sich unter denselben
kein Staub ansammeln kann, oder mit so hohen Füssen versehen sein, dass die
Reinigung des Fussbodcns auch unter den Pulten und Schriftregalen leicht aus¬
geführt werden kann.
5. Die Arbeitsräume sind täglich mindestens einmal gründlich zu lüften.
Ferner ist dafür Sorge zu tragen, dass in ihnen ein ausreichender Luftwechsel
während der Arbeitszeit stattfindet.
6. Die Schmelzkessel für das Lettern- und Stereotypenmetall sind mit gut
ziehenden, ins Freie oder in einen Schornstein mündenden Abzugsvorrichtungen
(Fangtrichtern) für entstehende Dämpfe zu überdecken.
Das Legiren des Metalls und das Ausschmelzen der sogenannten Krätze darf
nur in besonderen Arbeitsräumen, in anderen nur nach Entfernung der mit diesen
Verrichtungen nicht beschäftigten Arbeiter erfolgen.
7. Die Räume und Einrichtungen, insbesondere auch Wände, Gesimse, Re¬
gale sind zweimal im Jahre gründlich zu reinigen.
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
430
Besprechungen, Referate, Notizen, amtliche Mitteilungen.
DieFussböden sind täglich mindestens einmal durch Abwaschen oder feuchtes
Abreiben vom Staube zu reinigen.
8. Die Letternkasten sind, bevor sie in Gebrauch genommen werden und so¬
lange sie in Benutzung stehen, nach Bedarf, mindestens aber zweimal im Jahre
zu reinigen.
Das Ausblasen der Kasten darf nur mittelst eines Blasebalges im Freien statt-
linden und jugendlichen Arbeitern nicht übertragen werden.
9. In den Arbeitsräumen sind mit Wasser gefüllte und täglich zu reinigende
Spuc-knäpfe, und zwar mindestens einer für je fünf Personen, aufzustellen.
Das Ausspucken auf den Fussboden ist von den Arbeitgebern zu unter¬
sagen.
10. Für die Setzer sowie die Giesser, Polirer und Schleifer sind in den Ar¬
beitsräumen oder in deren unmittelbarer Nähe in zweckentsprechenden Räumen
ausreichende Wascheinrichtungen anzubringen und mit Seife auszustatten; für
jeden Arbeiter ist mindestens wöchentlich ein reines Handtuch zu liefern.
Soweit nicht genügende Wascheinrichtungen mit fliessendem Wasser vor¬
handen sind, muss für höchstens je fünf Arbeiter eine Waschgelegenheit einge¬
richtet werden. Es muss ferner dafür gesorgt werden, dass bei der Wascheinrich-
tung stets reines Wasser in ausreichender Menge vorhanden ist und dass das ge¬
brauchte Wasser an Ort und Stelle ausgegossen werden kann.
Die Arbeitgeber haben mit Strenge darauf zu halten, dass die Arbeiter jedes¬
mal, bevor sie Nahrungsmittel innerhalb des Betriebs zu sich nehmen oder den Be¬
trieb verlassen, von der vorhandenen Waschgelegenheit Gebrauch machen.
11. Kleidungsstücke, welche während der Arbeitszeit abgelegt werden, sind
ausserhalb der Arbeitsräume aufzubewahren. Innerhalb der Arbeitsräume ist die
Aufbewahrung nur gestattet, wenn dieselbe in verschliessbaren oder mit einem
dicht schlicssenden Vorhänge versehenen, gegen das Eindringen von Staub ge¬
schützten Schränken erfolgt. Die letzteren müssen während der Arbeitszeit ge¬
schlossen sein.
12. Alle mit erheblicher Wärmeentwickelung verbundenen Beleuchtungsein-
richtungen sind derart anzuordnen oder mit solchen Schutz Vorkehrungen zu ver¬
sehen, dass eine belästigende Wärmeausstrahlung nach den Arbeitsstellen ver¬
mieden wird.
13. Der Arbeitgeber hat, um die Durchführung der unter Ziffer 8, 9 Absatz 2,
10 Absatz 3 und 11 getroffenen Bestimmungen zu regeln und sicherzustellen, für
die Arbeiter verbindliche Vorschriften zu erlassen.
Werden in einem Betrieb in der Regel mindestens zwanzig Arbeiter beschäf¬
tigt, so sind diese Vorschriften in die nach § 134a der Gewerbeordnung zu er¬
lassende Arbeitsordnung aufzunehmen.
II. In jedem Arbeitsraum ist ein von der Ortspolizeibehörde zur Bestätigung
der Richtigkeit seines Inhalts auterzeichneter Aushang anzubringen, aus dem er¬
sichtlich ist:
a) die Länge, Breite und Höhe des Raumes,
b) der Inhalt des Luftraums in Kubikmeter,
c) die Zahl der Arbeiter, die demnach in dem Arbeitsraume beschäftigt
werden darf.
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
Besprechungen, Referate, Notizen, amtliche Mittheilungen.
431
In jedem Arbeitsraume muss ferner an einer in die Au^en fallenden Stolle
eine Tafel anshängen, die in deutlicher Schrift die Bestimmungen unter I
wiedergiebt.
III. Für die bei dem Erlasse dieser Bekanntmachung bereits im Betriebe stehen¬
den Anlagen können während der ersten zehn Jahre nach Erlass dieser Bekannt¬
machung auf Antrag des Unternehmers Abweichungen von den Vorschriften unter
I Ziffer 2 und 3 durch die höhere Verwaltungsbehörde zugelassen werden. Jedoch
darf für die Arbeitsräume eine geringere als die unter 1 Ziffer 3 bezeiehnete Höhe
nur dann zugelassen werden, wenn jedem Arbeiter in (Jiessereieri ein Luftraum von
mindestens fünfzehn Cubikmeter, in Setzereien von mindestens zwölf Oubikmeter
gewährt wird. Ein geringerer als der unter 1 Ziffer 2 bezeiehnete Luftraum darf
in Giessereien nur bis zur Grenze von je zwölf Cubikmeter, in Setzereien nur bis
zur Grenze von je zehn Cubikmeter und nur unter der Bedingung zugelassen
werden, dass durch künstliche Ventilation für regelmässige Lufterneuerung aus¬
reichend gesorgt und die künstliche Beleuchtung so eingerichtet ist, dass weder
strahlende Wärme noch die Arbeiter belästigende Verhrennungsprnducte in die
Arbeitsräume gelangen.
IV. Die vorstehenden Bestimmungen treten für neu zu errichtende Anlagen
sofort in Kraft.
Für Anlagen, die zur Zeit des Erlasses dieser Bestimmungen bereits im Be¬
triebe sind, treten die Vorschriften unter I Ziffer 5 Satz 1 sowie Ziffer 7 bis 9
sofort, die übrigen Vorschriften mit Ablauf eines Jahres nach dem Tage ihrer Ver¬
kündigung in Kraft.
Berlin, den 31. Juli 1897.
Der Stellvertreter des Reichskanzlers.
Graf von Posadowsky.
eil ruckt Ihm L. .Schumacher in Herl in.
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Digitized by Gougle
Original frnm
UMIVERSITY OF IOWA
V iertelj ahrsschrift
für
gerichtliche Medicin
und
öffentliches Sanitätswesen.
Unter Mitwirkung der Königl. wissenschaftlichen Deputation
für das Medicinalwesen im Ministerium der geistlichen,
Unterrichts- und Medicinal-An&elegenheiten
o o
herausgegeben
von
Dr. A. L. Sclunidtmann, und Dr. Fritz Strassinann,
fleh. Med.-und vortr. Rath im Königl. Preussischen a. o. Professor, gerichtl. Stadtphysikus und
Ministerium der geistlichen. Unterrichts- und Director der Königl. Unterrichts-Anstalt für
Medicinal-Angelegenheiten. Stautsar/neikunde zu Berlin.
Dritte Folge. XIV. Band. Supplement-Heft.
Jahrgang 1897. Supplement.
BERLIN, 1897.
VERLAG VON AUGUST HIRSCHWALD.
NW. UNTER DEN LINDEN 68.
Digitized by Google
Original from
UMIVERSITY OF IOWA
Digitized by Gougle
Original frnm
UMIVERSITY OF IOWA
Inhalt.
Seite
Nachruf an E. v. Hofmann. I
I. Gerichtliche Mediciu .1—116
1. Zur gerichtsärztlichen Beurtheilung der Darmverletzungen. Von Dr.
A. Wegener in Clausthal i. H. 1
2. Die Verletzungen des Zwerchfells vom gerichtsärztlichen Standpunkte.
Von Kreisphysikus Dr. L. Israel in MedenauT(Ostpreussen) ... 47
6. Die gerichtsärztliche Beurtheilung der Lungenverletzungen. Von Stabs¬
arzt a. D. Dr. Altmann in Strassburg i. E.71
4. Ueber Zungenverlotzungen in gerichtlich-medicinischer Beziehung. Von
Dr. Fritz Colley in Insterburg.107
II. Oeffentliches Sanitätswesen .117—210
1. Gutachten der technischen Deputation für das Veterinärwesen und der
wissenschaftlichen Deputation für das Medicinalwosen, betreffend die
Verwerthung des Fleisches finniger Rinder.117
2. Die Ueberwachung des Fleischhandels auf dem Lande und in kleinen
Städten und die dazu erforderlichen Einrichtungen und Anordnungen
vom sanitätspolizeilichen Standpunkte. Von Dr. Möhlfeld in St. Hülfe
(Hannover).143
Nachtrag zu den Gutachten betreffend die Verwerthung’des Fleisches fin¬
niger Rinder. 210
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UMIVERSITY OF IOWA
Eduard v. Hofmann *j\
Wiederum müssen wir mit einer Trauerkunde beginnen.
Unserer Zeitschrift ist einer ihrer hervorragendsten, einer
ihrer treuesten Mitarbeiter entrissen worden. Eduard
v. Hofmann ist am 27. August d. J. zu Igls (Tyrol)
nach schweren Leiden gestorben. Sein Hinscheiden be¬
deutet für die gerichtliche Medicin einen unersetzlichen
Verlust.
Es sind jetzt gerade drei Jahre vergangen, seit wir
den Tag feierten, an dem der Entschlafene 25 Jahre zuvor
ordentlicher Professor der gerichtlichen Medicin geworden
war. Damals hat unsere Vierteljahrsschrift ihm eine Samm¬
lung von Arbeiten seiner Schüler als Festgabe darge¬
bracht. In ihr hat Hofmann’s langjähriger Mitarbeiter,
A. Haberda, ein treues Bild von dem Leben und Wirken
seines Lehrers entworfen, das heute nur weniger Striche
zur Ergänzung bedarf.
Trotz der mit peinigender Athemnoth verbundenen
Krankheit, die ihn in seinen letzten Lebensjahren quälte,
ist Hofmann auch in diesen rastlos thätig gewesen. Zahl¬
reiche werthvolle, unseren Lesern bekannt gewordene Ar¬
beiten aus seinem Institut, auf seine Anregung und mit
seiner Förderung entstanden, sind dafür vollgültiges Zeug-
niss. Seine vorzügliche Besprechung der gerichtlich-medi-
cinischen Litteratur für Virchow’s Jahresbericht hat er bis
Digitized b'
v Google
Original fro-m
UNiVERSITY OF IOWA
zuletzt fortgeführt, die 8. Auflage seines meisterhaften Lehrbuches
kurz vor seinem Tode vollendet; an dem Tage, an dem das Leben
des grossen Forschers endete, erschien sein letztes Werk, sein „Atlas
der gerichtlichen Medioin“, würdig allein, den Ruhm eines Gelehrten
zu begründen.
So schaffend, hat Eduard v. Hofmann bis zu seinem Tode den
Platz des Führers und Meisters auf dem Gebiete der gerichtlichen
Medicin behauptet, den ihm seit Jahren die allgemeine Anerkennung
der Fachgenossen unbestritten zugesprochen hatte. Als wir uns vor
Monatsfrist zu Moskau versammelten, da empfanden wir Alle es als
erste Pflicht, dem durch schwere Krankheit Ferngehaltenen den Wunsch
baldiger Genesung auszusprechen. Anders, als wir cs gehofft hatten,
ist er erfüllt worden; eine Woche später lebte der Mann nicht mehr,
den zu uns rechnen zu dürfen unser Aller Stolz war und an seinem
Grabe trauernd empfinden wir wieder einmal die Wahrheit des
Dichterwortes:
Von Allem, was Dein Herz bedroht
Ist eins unheilbar nur, der Tod.
Berlin, im September 1897.
Fritz Strassmann.
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
I. Gerichtliche Medicin.
1 .
Zur gcriclitsärztlichen ßeurtlieilung der
Darmverletzungen.
Von
Dr. A. Wegener in Clausthal i. II.
Nach dem bekannten oft wiederholten Ausspruch Charles Bcll’s:
„Nach einer Schlacht steht die Zahl der am Unterleibe Verwundeten
in demselben Verhältnisse, welches die Fläche des Unterleibes
zu den übrigen Theilen des Körpers hat; wenige Tage nachher
findet man jedoch keinen oder nur wenige dieser Verwundeten“,
sind die Wunden am Unterleibe die tödtlichsten von allen, und
das hat seinen Grund darin, dass meistens die darin befindlichen
Organe, deren Integrität und Functionsfähigkeit für das Leben
unerlässliche Bedingung ist, zugleich mit verletzt werden. Unter
253142 Verwundungen fand Nussbaum 8590 Unterlcibswunden,
wovon 3717 penetrirende Bauchwunden waren. Von diesen 3717
Verletzten starben 3031, also 87 pCt. Unter den Bauchorganen
ist es wiederum der Darm, der besonders häufig Verletzungen er¬
leidet, was bei seiner Länge von 7—8 m nicht wunderbar erscheinen
kann. Edler 1 ) fand unter 1072 Eingeweideschussverlctzungen 653 mal
Darmverletzungen, was einen Procentsatz von 60,9 ausmacht. Wenn
auch diese Zahlen der Kriegsstatistik entstammen, so geben sie doch
ein Bild für die Häufigkeit und Gefährlichkeit der Unterleibs- spccicll
der Darm Verletzungen und interessiren nicht nur den Chirurgen,
sondern dienen auch dem Gerichtsarzt bei der Bcurtheilung ähnlicher
1) Edler, v. Langenbcck’s Archiv f. klin. Chir. XXXIV. 1887.
VierieljahrsBchr. f. ger. Med. Dritte Folge. XIV. Suppl.-Heft. j
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
2
Dr. Wegcner,
Verletzungen als Anhaltspunkt. Vom Standpunkte des letzteren aus
wollen wir in der vorliegenden Abhandlung die Darraverletzungen
betrachten.
Nach Casper-Liman ist Verletzung in forensischem Sinne zu
definiren als: jede durch äussere Veranlassung bewirkte Veränderung
im Bau oder in der Verrichtung eines Körpertheiles. Wenn wir be¬
denken, dass diese äussere Veranlassung nicht nur von aussen zu
kommen braucht, sondern auch im Innern des Darmes vorhanden
sein kann (Fremdkörper etc.), so können die Verletzungen von so
mannigfacher Art sein, dass wir Mühe haben, dieselben unter be¬
stimmten Gesichtspunkten zu vereinigen. Wir wollen Gussenbauer 1 )
folgen und zunächst die Verletzungen des Darmes eintheilen in patho¬
logische und traumatische. Die traumatischen zerfallen wieder in
solche, die ihren Weg durch die beiden natürlichen Körperöffnungen
— per os et anum — nehmen, und in solche, die den Darm von
den äusseren Körperbedeckungen aus treffen, sei es mit Bewahrung
des äusseren Zusammenhangs (subcutane Verletzungen), sei es mit
vollständiger Durchbohrung derselben (penetrirende Verletzungen).
Zum Schluss werden wir die Verletzungen in Folge ärztlicher Kunst¬
fehler betrachten.
Was nun zunächst die pathologischen Verletzungen betrifft, so
müssen wir sagen, dass diese Bezeichnung allerdings wenig glücklich
gewählt ist, allein es soll dadurch ausgedrückt werden, dass dieselben
ohne eine Gewalteinwirkung von aussen lediglich durch pathologische
Processe verursacht werden. Es handelt sich um die sogenannten
spontanen Darmrupturen, w r elche besonders durch übermässige An¬
sammlung von Koth und Gasen entstehen. Unter normalen Verhält¬
nissen kann nach Zicnassen 2 ) die Ausdehnung des Darms durch
Koth und Gase nie den Grad erreichen, dass er platzt, weil bei
stärkerer Ansammlung zugleich auf den Darm einen Reiz ausgeübt
wird, welcher eine Verstärkung der Peristaltik und ein Fortschieben
von Gasen und Fäcalmassen zur Folge hat. Ist dagegen die Con-
traction der Darmmusculatur aus irgend einem Grunde behindert, sei
es durch eine Parese der Darmmusculatur oder durch eine Stenose
des Darmlumens, w r elche ein für die Leistungen der Muskelcontraction
unüberwindliches Hinderniss abgeben, so muss schliesslich eine Ruptur
1) Gussenbauer, Traumatische Verletzungen. Stuttgart 1880.
2) Ziemsson, Pathologie und Therapie. Vll. 2. Leipzig 1878.
Digitized by
Gck igle
Original from
UMIVERSITY OF IOWA
Zur geriohtsärztlichen Beurtheilung der Darmverletzungen.
3
des Darmes eintreten. Solche Fälle kommen vor bei Carcinom, Ge¬
schwülsten, Invaginationen, schrumpfenden Geschwürsnarben, Axen-
drehungen und inneren Einklemmungen. Am häufigsten und leichtesten
treten derartige Spontanrupturen in Folge Platzens von Geschwüren
ein. Im Duodenum sind es nach Orth die runden Verdauungsge¬
schwüre, welche hauptsächlich die Wand perforiren, im Jejuno-Ileum
typhöse, im Colon tuberculöse und diphtherische, im Processus vermi¬
formis tuberculöse und besonders Fremdkörpergeschwüre, im Mast¬
darm tuberculöse, diphtherische und syphilitische. Zuweilen sind diese
Rupturen auch hervorgerufen durch Arrosion des Darmes von aussen,
durch benachbarte Eiterungen, namentlich in der Umgebung des Dick¬
darms und des Rectum, durch Leber-, Milz- und Niercnabscesse,
durch Geschwüre der Gallenblase oder des Choledochus, durch Aneu¬
rysmen, welche in den Darm perforiren. Bei der Obduction findet
man, wenn die Perforation von innen ausgegangen ist, gewöhnlich
die inneren Häute des Darmes in grösserer Ausdehnung zerstört,
während bei Perforationen von aussen das entgegengesetzte Verhältniss
besteht.; bei jenen ist oft nur ein kleines Loch in der Serosa, bei
diesen in der Mucosa.
Dem Platzen des Darmes folgt der Austritt von Kotli in die
Bauchhöhle und eine septische Peritonitis mit mehr oder weniger
schnellem tödtlichen Ausgange. Solche plötzlichen Erkrankungen und
unerwartet schnellen Todesfälle vorher womöglich ganz gesund er¬
scheinender Menschen werden natürlich leicht den Verdacht eines
nicht natürlichen Todes, vielleicht einer Vergiftung erregen, und cs
wird dann an den Gerichtsarzt die Aufgabe herantreten, die Todes¬
ursache zu ermitteln. Maschka 1 ) theilt 3 hierher gehörende Fälle
mit, in denen durch den Gerichtsarzt festgestellt werden musste, dass
die Betreffenden eines natürlichen Todes in Folge eines Krankheits¬
zustandes gestorben waren.
Im 1. Falle handelte es sich um eine 23jährige Apothekers¬
tochter, die ein Jahr vorher eine Bauchfellentzündung überstanden
hatte. Sie besuchte Abends noch den Circus, klagte dann über Un¬
wohlsein, erbrach in der Nacht und starb gegen Morgen. Es trat
der Verdacht einer Vergiftung auf, die Obduction ergab jedoch eine
Perforation des Wurmfortsatzes. Fall 2 betrifft einen 34jährigen
ledigen vorher vollkommen gesunden Mann, der nach einem vorziig-
1) Maschka, Eulenberg’s Viertcljahrsschr. XL1II.
Digitized by
Gck igle
1 *
Original from
UNiVERSITY OF IOWA
4
Dr. Wegen er,
lielion Souper in der Nacht von Unwohlsein und Erbrechen befallen
wurde und gegen Morgen starb. Da einige Werthgegenstände fehlten,
so lenkte sich auf die Haushälterin der Verdacht, ihn aus Habsucht
vergiftet zu haben. Die Obduction ergab ebenfalls eine Perforation
des Wurmfortsatzes. Im 3. Falle erkrankte eine 45jährige Frau an
Erbrechen und Unterleibsschmerzen und starb nach 10 Stunden. Der
Mann kam in den Verdacht, ihren Tod verschuldet zu haben, die
Obduction ergab jedoch eine Perforation des Darmes, welche dadurch
entstanden war, dass oberhalb einer narbig verengten Stelle eine Ge¬
schwürsbildung aufgetreten mar, welche endlich in Folge der Er¬
weiterung des Darmrohrcs oberhalb der Stenose und in Folge des
Druckes der Darmcontenta znm Durchbruch führte. Maschka fügt
selbst hinzu: Dieser Fall beweist, wie derartige Fälle auch in straf¬
rechtlicher Beziehung eine Bedeutung haben können.
Selbst beim Mastdarm kommen Spontanzerreissungen vor, welche
lediglich durch gewaltsames Hervordrängen harter Kothmassen aus
dem After entstehen. Ashton 1 ) beschreibt mehrere derartige Ver¬
letzungen, wo auf diese Weise nicht nur Einrisse in den Anus ent¬
standen, sondern auch bedeutende transversale Einrisse in das Rectum
oberhalb des Sphincter internus. In einigen Fällen, wo die Darm¬
wand schon vorher krankhaft verändert war, genügte sogar gewöhn¬
liches Drängen beim Stuhlgang, ferner das Heben einer Last, ja selbst
ohne jede nachweisbare Veranlassung ist es schon zur Zerreissung des
Rectum und zum Vorfall von Dünndarmschlingen aus dem After ge¬
kommen (Esmarch, cit. bei Mantzel).
Diese spontanen Darmrupturen werden im allgemeinen nicht gar
häufig zur Beurtheilung des Gerichtsarztes kommen, höchstens, wenn
cs sich darum handelt fremde Schuld auszuschliessen; ein weit grösseres
Feld dagegen bietet sich für seine Thätigkeit bei der Beurtheilung der
traumatischen Verletzungen. In weitaus den meisten Fällen werden
solche Verletzungen den Darm von den äusseren Körperdecken aus
treffen, es kann jedoch auch vom Inneren des Darmes aus ein schäd¬
liches Agens nach aussen hinwirken. Selbstverständlich muss dieses
schädliche Agens erst in den Darm hineingebracht werden, und das
ist auf natürlichem Wege nur möglich durch die beiden natürlichen
Körperöffnungen Mund und After. Durch den Mund gelangen die ver¬
schiedenartigsten Fremdkörper in den Darm hinein und bewirken da-
1) citirt bei Mantzel in dieser Vierteljahrsschr. V.
Digitized by
Gck gle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
Zur gerichtsärztlichen Beurtheilung der Darmverletzungen. 5
selbst Verletzungen. Chemische Substanzen, wie ätzende Alkalien
und Säuren, verletzen mehr die Speiseröhre und den Magen als den
Darm, alle anderen fremden Körper, welche zufällig oder aus Frevel
verschluckt werden, gelangen, wenn sie nicht schon im Halse, der
Speiseröhre und dem Magen stecken bleiben, oder wenn sie nicht
wieder erbrochen werden, mit grosser Leichtigkeit in den Darm, den
sie, ohne Schaden anzurichten, mit dem Koth wieder verlassen können,
in dem sie sich jedoch auch, namentlich wenn sie spitze und scharfe
Kanten haben, festsetzen und zur Perforation mit nachfolgender Peri¬
tonitis führen können. Obstkerne, Knochensplitter, Fischgräten, falsche
Zähne, Ringe, Glasperlen, Steine, Holzstücke, Löffel, Messer, Gabeln,
Münzen, Nägel, Schrauben etc. sind schon verschluckt worden. Zu¬
fall, dummer Spass, Furcht vor Entdeckung gestohlener Sachen, Irr¬
sinn und Selbstmordversuche werden meist als Ursache angeführt
(Nussbaum).
John Cummings verschluckte in betrunkenem Zustande 4 Matrosen¬
messer, wovon in den nächsten Tagen drei durch den Stuhl ohne Be¬
schwerden abgingen, das vierte aber nie gefunden wurde und auch
keine Beschwerden machte. Ein Geisteskranker verschluckte 4 Glas¬
perlen von 6—7 cm Länge, ein Stück eines porzellanenen Weih¬
wasserkessels, ein hölzernes Nadelbüchsohen, einen Schlüssel von 11 cm
Länge und 4 cm Breite. Alles ging gefahrlos durch den Stuhl ab
(Nussbaum). 1 )
Je grösser, eckiger und spitzer ein solcher Fremdkörper ist, um
so leichter wird er im Darm stecken bleiben können. Die geeignet¬
sten Orte dafür sind die Umbiegungsstelle des Duodenum, die Blind¬
darmklappe, der Wurmfortsatz, die Umbiegungsstelle des Dickdarras
und die 3 Sphincteren. Sehr dünne und spitze Gegenstände können,
ohne Abscesse zu erzeugen, durch die Darmwandungen hindurch¬
wandern und an den Bauchdecken, Schenkelbeugen, Hüften etc. wieder
zum Vorschein kommen, andere verursachen umfangreiche Geschwüre
und Abscesse, perforiren den Darm und erzeugen letale Peritonitis.
Oftmals haben Nadeln, Degenspitzen, Ahlen, Scheeren den Tod ge¬
bracht, ohne dass man im Leben den Verdacht auf einen fremden
Körper hatte. Ein Geisteskranker hatte peritonitische Symptome, und
bei der Section fand man in allen Theilen des Darmes Geschwüre,
die Schleimhaut des Coecum ganz zerstört und im Sacke des Coecum
1) Nussbaum, Die Verletzungen des Unterleibes. Stuttgart 1880.
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
6
Dr. Wegcncr,
einen Esslöffel (Nussbäum). Je plötzlicher der Tod erfolgt, um so
eher wird der Verdacht eines nicht natürlichen Todes auftreten, und
dem Gerichtsarzt bleibt es überlassen die wirkliche Todesursache
festzustellen.
Die andere natürliche Körperöffnung, durch welche Verletzungen
den Darm direct treffen können, ist der After und zwar ist es selbst¬
verständlich der Mastdarm, der auf diesem Wege, sei es auf che¬
mische, sei es auf mechanische Weise, verletzt wird. Durch ätzende
Flüssigkeiten, die Klystieren zugesetzt waren, sind Läsionen der Mast¬
darmschleimhaut vorgekommen. Nach Orth findet man in solchen
Fällen die Faltenhöhen des Mastdarms entweder mit Substanzver¬
lusten versehen oder mit einer grauen verschorft erscheinenden
Schleimhaut bedeckt, die Umgebung stark geröthet und geschwollen.
Die Begrenzung einer derartigen Affection auf eine kleine Strecke,
das Freisein der übrigen Theile des Darmes von solchen den dysen¬
terischen sehr ähnlichen Veränderungen, müssen stets den Verdacht
einer chemischen Ursache erregen.
Schuchardt 1 ) stellt fünf Fälle von beabsichtigter und zufälliger
Schwefelsäurevergiftung per Clysma zusammen. In einem dieser Fälle
starb der Kranke unter den heftigsten Schmerzen nach wenigen Stun¬
den, in den übrigen trat Genesung ein, ob mit oder ohne Stricturen,
davon wird nichts berichtet. Heinicke 2 ) (1. c., Ueber Rectalstric-
turen) berichtet über einen Fall, wo nach einem Klystier von zu
heissem Wasser eine Mastdarmverletzung mit nachfolgender Strictur
cintrat. Lim an 3 ) erörtert ausführlich die Vergiftung einer an Dysen¬
terie leidenden Frau durch ein 3 V 3 pCt. Carbolsäure enthaltendes
Klystier.
Häufiger als diese chemische Verletzung des Mastdarras ist beim
Verabreichen von Klystieren die mechanische infolge ungeschickter
oder roher Handhabung der Klystierspritze. Einfache Schleimhaut-
vcrlctzungen bis zur völligen Perforation des Mastdarms finden wir
in der Literatur verzeichnet. Je nach der Schwere der Verletzung ist
auch der Ausgang. Blosse Schleirahautverletzungen werden meistens
in Heilung übergehen, wenn auch die Entwicklung einer paraproctalen
Phlegmone nicht ausgeschlossen ist, während Perforationen Pcri- und
1) Schuchardt, Vergiftungen, in Masehka’s Handbuch. II. Bd. S. G7.
2) citirt bei Mant/.el in dieser Vierteljahrsschr. Bd. V.
3) I. c. Bd. II. S. 582.
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
Zur gerichtsärztlichen Beurtheilung der Darmvcrletzungen.
7
Paraproetitis verursachen können, welche durch Sepsis und Pyäraie
zum Tode führen oder sich mit tödtlicher Peritonitis combiniren
können. In anderen Fällen entwickeln sich Stricturen oder Fisteln,
die zu langem Siechthum führen können. Für die Diagnose solcher
klysmatischen Mastdarm Verletzungen kommt namentlich der Sitz der
Affection und die Entfernung vom Anus in Betracht. Im Uebrigen
sind die Kennzeichen zu wenig charakteristisch, um aus dem objec-
tiven Befund den klysmatischen Ursprung zu beweisen, und dürfte
wohl in den meisten Fällen erst die Anamnese unzweifelhafte Sicher¬
heit gewähren (Mantzel). A. Nordmann 1 ) veröffentlicht 25 derar¬
tige Fälle aus der Baseler pathologischen Anstalt, unter denen mit
Sicherheit nur in 2 Fällen der Tod als Folge der Verletzung anzu¬
sehen ist. Velpeau sah von 8 Fällen von Perforation des Mastdarms
6 tödtlich endigen, während in einem Falle eine bedeutende Functions¬
störung für das ganze Leben zurückblieb. Chomel beobachtete zwei
Todesfälle, den einen 7 Tage, den anderen 4 Tage nach der Perfo¬
ration. Eine umfangreiche Zusammenstellung derartiger Verletzungen
finden wir in A. Wernich’s Vierteljahrsschrift für gerichtliche Medicin
von A. Mantzel (Die Verletzungen des Mastdarms).
Als Nachbar der Geschlechtsorgane ist der Mastdarm ferner bei
sexuellen Acten häufig Verletzungen ausgesetzt, sei es, dass der Penis
sich irrthümlicher Weise in den Anus verirrt oder absichtlich in den
Mastdarra eingeführt wird. Vulvo-Rectal- und Recto-Vaginalfistcln,
welche nach dem ersten Coitus aufgetreten sind und durch welche
der Ehemann oft Jahre lang den Beischlaf ausgeführt hat, gehören
nicht zu den Seltenheiten. In solchen Fällen wird der Beischlaf in
natürlicher Lage vollzogen, denn nur so vermag der erigirte Penis die
Recto-Vaginalwand zu durchstossen, während beim päderastischen Acte
der in den Mastdarm geführte Penis nur in die Kreuzbeinhöhle, nicht
aber in die Vagina gelangen kann (Mantzel). Als Zeichen der habi¬
tuellen passiven Päderastie dienen dem Gerichtsarzt eine auffällige
Erweiterung und Erschlaffung der Mastdarmöffnung, welche wie ein
leeres Loch erscheint und die Einführung des Daumens ohne Weiteres
gestattet. Dabei darf der Gerichtsarzt aber nicht vergessen, dass ein
Offenstehen des Afters eine ganz gewöhnliche und häufige Leichen¬
erscheinung ist. Die Erschlaffung kann zur vollständigen Lähmung
des Schliessrauskels, verbunden mit Kothincontinenz führen, ja es
1) A. Nord mann, Ueber klysmatische Läsionen des Mastdarms.
Digitized by
Gck gle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
8
Dr. Wegen er,
kann sogar zum Mastdarmvorfall kommen. Bei 211 m ersten Male aus-
geübtem gewaltsamen päderastischen Acte, namentlich bei widernatür¬
licher Nothzucht an Kindern, wo zwischen den beschädigten Theilen
und dem Penis des Thäters ein grosses Missverhältniss existirt, kommt
cs zu umfangreichen Verletzungen. Für den Gerichtsarzt haben solche
Verletzungen zunächst diagnostische Bedeutung, insofern sie Spuren
von strafbaren Handlungen darstellen, und sodann kommen für ihn
hauptsächlich die Folgen in Betracht, die sie für Leben und Gesund¬
heit des Beschädigten nach sich ziehen.
Reimann 1 ) erzählt von einem 9jährigen Mädchen, das ein russi¬
scher Priester päderastisch genothzüchtigt und dabei den Anus an
mehreren Stellen eingerissen hatte.
Lim an (1. c. Bd. I. S. 189) constatirte bei dem gcmissbrauchten
5 Jahre alten Knaben Handtke ausser drei kleineren Verletzungen
einen grossen klaffenden den ganzen Schliessmuskel durchtrennenden
Riss.
Auch bei Ausübung päderastischer Onanie kommt es bisweilen
zu Verletzungen des Mastdarms, namentlich wenn grössere Fremd¬
körper als Werkzeuge dazu benutzt werden. J. Collins Warren
(cit. bei Mantzel) berichtet über einen Vagabunden, der, um seine
Geschlechtslust zu befriedigen, eine 10 Zoll lange kegelförmige Ein-
machcflasche im Rectum rhythmisch hin und her zu bewegen pflegte,
bis sie ihm eines Tages entglitt und hoch in den Mastdarm hinauf¬
rutschte, von wo sie nur nach Durchschneidung des Sphincter heraus¬
befördert werden konnte. Nelaton (cit. bei Mantzel) erzählt von
einem Manne, dem bei einer Orgie ein grosses Bicrglas in den Mast¬
darm geschoben wurde, welches bei den Extractionsversuchen zerbrach
und den Mastdarm so zerriss, dass der Verletzte nach 8 Tagen an
Phlegmone des Beckenbindegewebes zu Grunde ging. Major 2 ) erzählt
von einem lüjährigen jungen Mädchen, welches den Tod von 4 kleinen
Kindern verursachte, dadurch, dass sic behufs unnatürlicher Wollust-
befriedigung im Mastdarm derselben mit dem Finger herumbohrtc und
die Darm Wandungen perforirte.
Sehr schwere Verletzungen sind die sogenannten Pfählungsver¬
letzungen, welche zu Stande kommen, wenn ein Mensch aus der Höhe
auf spitze Pfähle oder Stäbe fällt, die den Mastdarm perforiren und
1) Diese Yicrteljahrssclir. Bd. 22. S. 58.
2) Kricdreicli’s Blätter f. ger. Med. 38. Jahrg. S. 457.
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITÄT OF IOWA
Zur gerichtsärztlichen Beurtheilung der Darmverlctzungen.
9
den Unglücklichen vollständig aufspiessen. Diese Art der Verletzung,
die in Afrika noch zu Hinrichtungen benutzt werden soll, hat für den
Gerichtsarzt nur Interesse, wenn eine verbrecherische Absicht zu
Grunde liegt. So berichtet Stromeyer, dass einem alten Päderasten
von zwei jungen Leuten ein grosser Holzpflock in den Mastdarm ge¬
keilt wurde und v. Hofmann erzählt, dass dem Liebhaber einer
Bäuerin von dem eifersüchtigen Gatten mit Hülfe eines Steines ein
Holzpflock in den After getrieben wurde. König Eduard II. von
England wurde bekanntlich 1327 in ähnlicher Weise ermordet, indem
ihm ein glühendes Eisen in den Mastdarm geschoben wurde.
Als Curiosa führe ich noch zwei kaum glaubliche Fälle an, wo
durch die in den Mastdarm eingeführte Ruthe eines Thieres Ver¬
letzungen verursacht wurden. Im 1. Falle, den Tardieu erzählt
(cit. bei Mantzel), warf ein 2jähriger Stier einen Bauer, der im
Stalle seine Nothdurft verrichtete, so zu Boden, dass er in eine der
Knie-Ellenbogenlage ähnliche Stellung kam und bohrte ihm seine
Ruthe tief in den Anus hinein, so dass das Rectum perforirt wurde
und der Verletzte nach 8 Stunden starb. Im 2. Falle, den Brou-
ardel berichtet, wurde einem 18jährigen Diener, der sich gewohn-
heitsraässig von einem Jagdhunde per anum bearbeiten liess, als er
während eines solchen Actes gerufen wurde, beim Versuche, sich
schnell von dem Thiere loszumachen, durch die geschwollene Eichel
des Hundepenis der Sphincter ani zerrissen. Bei der gerichtsärzt¬
lichen Beurtheilung kommt es in allen diesen Fällen von Mastdarm¬
verletzungen besonders darauf an, inwieweit das Leben des Verletzten
gefährdet ist, und welche Folgen für die Gesundheit desselben dadurch
erwachsen. Narbige Verengerungen, Stricturen, ganz abgesehen davon,
dass dadurch eine Disposition zur Geschwürsbildung und Perforation
geschaffen wird, sowie KothincontineDz mit allen ihren Nachthcilcn,
werden stets als Siechthum aufgefasst werden müssen.
Die Verletzungen des Darms durch die natürlichen Körperöffnun¬
gen hindurch gehören zwar nicht zu den Seltenheiten, allein ihr Vor¬
kommen ist doch nicht eben häufig und kommt kaum in Betracht
gegenüber denjenigen Verletzungen, welche den Darm erst treffen,
nachdem die äusseren ihn umgebenden Körperbedeckungen zunächst
in Mitleidenschaft gezogen sind. Die Gewalt, die im Stande ist eine
Verletzung des Darmes zu erzeugen, kann von hinten oder von den
Seiten oder von vorne auf die Körperoberfläche wirken, meistens wird
sie es jedoch von vorne, von den Bauchdecken aus thun und zwar
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
10
Dr. Wegener,
in der Weise, dass sie entweder die Bauchdecken intact lässt (subcu-
tane Verletzungen) oder sie perforirt (penetrirende Verletzungen). Die
subcutanen Verletzungen des Darmes sind also solche, bei denen die
Bauchwandungen ganz intact oder höchstens mit blauen Flecken und
Sugillationen versehen sind, während der hinter ihnen liegende Darm
in so hohem Grade verletzt sein kann, dass der Tod sofort oder
nach kurzer Zeit eintritt. Selbstverständlich werden diese Fälle, wo
am Aeussem eines Menschen gar keine Verletzungen nachzuw r eisen
sind, und die tödtliche Verletzung im Innern vermuthet werden muss,
besonders häufig zur Beurtheilung der Gerichtsärzte gelangen. Der¬
artige Verletzungen des Darmes treten ein nach Contusionen der
Bauchwandungen, durch Stoss, Fall auf den Bauch, Hufschlag, Ueber-
fahrenwerden, Verschüttungen, Quetschungen zwischen 2 Puffer, auch
durch indirecte Gewalten, durch starke Erschütterungen des Leibes,
infolge von Sturz aus beträchtlicher Höhe, Fall aufs Becken, auf die
Kniee etc. Der Darm kann dabei in verschieden hohem Grade ver¬
letzt sein. Zunächst kann durch eine Contusion nur ein mechanischer
Reiz auf ihn ausgeübt werden, welcher eine ungeordnete Muskelthä-
tigkeit mit nachfolgender Axendrehung oder Invagination zur Folge
hat, dann kann eine Circulationsstörung verursacht werden, welche
zur Mortification der betroffenen Partien führt, und schliesslich kann
auch sofort eine Ruptur entstehen, sei es einzelner Schichten oder
der ganzen Dicke des Darmes. In einem Falle können selbst alle
anatomischen Veränderungen in den Darmwandungen fehlen, und trotz¬
dem kann fast momentan der Tod eingetreten sein; man pflegt dann
zu sagen: Der Verletzte ist am Shok gestorben. Da der Shok auch
bei allen später zu behandelnden Darm Verletzungen eintreten kann,
so wollen wir seine Betrachtung gleich vorwegnehmen.
Das Wesen des Shok beruht nach dem jetzigen Stande der
Wissenschaft in einer durch Erschütterung der sensiblen Nerven her¬
vorgerufenen reflectorischen Alteration resp. Lähmung des Rücken¬
marks und der Medulla oblongata, welche man durch den bekannten
Goltz’schen Klopfversuch beim Frosche experimentell erzeugen kann.
Durch wiederholtes Klopfen auf den Bauch eines Frosches entsteht
bekanntlich infolge der mechanischen Reizung der sensiblen Nerven
ein eigcnthümlicher Collapszustand, bedingt durch eine reflectorisch
hervorgerufene Erschöpfung des Rückenmarks und der Medulla oblon¬
gata. Dieser Collapszustand kann durch Herzlähmung zum Tode
führen. Die vom Shok befallenen Menschen zeigen eine auffallende
Digitized by
Gck igle
Original frnrri
UNIVERSUM OF IOWA
Zur gerichtsärztlichen Beurtheilung der Darmverletzungen.
11
Blässe und Kühle der Haut und der sichtbaren Schleimhäute, die
Augen sind starr und glanzlos, die Herzaction verlangsamt und un¬
regelmässig, der Puls fadenförmig, die Respiration flach, ab und zu
durch tiefere Athemzüge unterbrochen. Die Gehirnthätigkeit ist je
nach der Schwere des Shoks mehr oder weniger alterirt, was sich
äussert durch Fortfall der Willcnsimpulse, Theilnahmlosigkeit, Herab¬
setzung der Sensibilität und Reflexerregbarkeit. In der Regel erholen
sich die Kranken in kürzerer oder längerer Zeit, nur in Ausnahme¬
fällen tritt der Tod ein. Durch diese Definition scheint mir jedoch
die Erklärung des Wesens des Shok noch nicht völlig erschöpft zu
sein, denn ich habe Bergleute gesehen, die Hunderte von Fussen im
Bergwerk von Absatz zu Absatz gefallen waren und sich das Rück¬
grat gebrochen hatten, wo also meistens eine directe Compression
des Rückenmarks stattgefunden hatte, aber dennoch keine Spur von
Shok zeigten. Warum tritt gerado nach Contusionen des Bauches,
die gar nicht einmal schwer zu sein brauchen, Shok ein, während er
bei schweren Rückenmarksverletzungen ausbleibt? Sollte nicht ganz
nach Analogie des Goltz’schen Klopfversuchs eine directe Erschütte¬
rung und directe Reizung der herzregulatorischen Fasern des Vagus
eine hemmende Wirkung auf die Herzaction ausüben! Damit würde
auch die Thatsache übereinstimmen, dass nach Contusionen des Unter¬
leibes, wo es sich also lediglich um eine contundirende Wirkung und
directe Erschütterung der Vagusfasern handelt, häufiger Shok eintritt
als bei den perforirenden Verletzungen, von den schweren mit Zer-
reissung des Darmes einhergehenden Schuss Verletzungen abgesehen,
bei welchen ja auch mehr die contundirende als perforirende Gewalt
in Betracht kommt.
Wiener (Obergutachten, Fall 23) berichtet über einen 15jährigen,
früher vollkommen gesunden Lehrling, der mit der Faust in die Magen¬
gegend gestossen wurde, worauf er sofort bewusstlos niederstürzte und
nach wenigen Minuten verschied. Maschka, der diesen Fall zu be¬
gutachten hatte, schloss aus dem negativen Obductionsbefund, aus
der Abwesenheit jeglicher anderen Todesursache und aus dem Um¬
stande, dass der Betreffende vorher ganz gesund gewesen war, auf
Shok, ebenso wio in einem anderen Falle, wo ein vollkommen ge¬
sunder und kräftiger Fuhrmann nach einem mit der flachen Seite
einer Schaufel gegen die Magengegend geführten Schlage zusammen¬
stürzte und binnen wenigen Stunden verschied. Der Gerichtsarzt hat
bei Tod durch Shok keine Anhaltspunkte an der Obduction, da ein
Digitized by
Gck gle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
12
Dr. Wegcner,
bestimmter Obductionsbefund dafür noch nicht festgestellt ist, sondern
kann nur durch Ausschluss anderer Todesursachen und aus den
äusseren Umständen auf Tod durch Shok schliessen. Der Begriff
Shok bedeutet, wie Wiener diesem Falle beifügt, für die gerichts¬
ärztliche Erkenntniss vorläufig nur ein Zugeständnis an die Lücken¬
haftigkeit unseres Wissens darüber.
Ein weiteres Eingehen auf den Shok, so interessant es auch
wäre, würde den Rahmen unserer Arbeit überschreiten, und so kommen
wir unserer Disposition gemäss zu denjenigen Verletzungen des Darmes,
welche erst in zweiter Linie als Verletzungen aufgefasst werden müssen,
insofern zunächst infolge irgend einer Contusion nur ein mechanischer
Reiz auf den Darm ausgeübt wird, der zu ungeordneter Muskelthätig-
keit und infolgedessen zu Axendrehungen (Volvulus) und Einschiebungen
(Invagination) führen kann. Diese Lageveränderungen haben entzünd¬
liche Zustände im Gefolge, und diese Folgezustände sind es, welche
für die Beurtheilung des Gerichtsarztes in Betracht kommen. Ebenso
wie Nothnagel durch Reizung der Darmmuskulatur mittelst eines
faradischen Stromes eine umschriebene ringförmige Einschnürung mit
nachfolgender Einschiebung des Darmes experimentell erzeugen konnte,
kann dieser Reiz auch auf mechanische Weise durch Schlag oder Stoss
bewirkt werden. Axendrehungen, wozu besonders eine auffallende
Länge und Schlaffheit des Mesenteriums disponiren, sind im allge¬
meinen selten beobachtet, Invaginationen dagegen sind in der Literatur
in genügender Anzahl verzeichnet. Ob diese Invaginationen para¬
lytische oder spasmodische sind, kommt nicht in Betracht, Thatsache
ist nur, wie Orth sagt, dass der contrahirte Theil des Darmes zu
dem cintretenden, der erschlaffte zu dem austretenden Rohr wird.
Leichtenstern fand unter 593 Invaginationen 14 durch Contusion
des Abdomen, 9 durch Erschütterungen des Körpers hervorgebracht.
Solche Einschiebungen können sich wieder lösen, sie können jedoch
auch verwachsen und eine narbige Verengerung des Darmes ver¬
ursachen, die Kothstauungen und periodisch auftretende Schmerzen
und Siechthum, ja nach übermässiger Erweiterung des Darmes ober¬
halb der Verengerung Geschwüre und Perforation mit nachfolgender
letaler Peritonitis hervorruft, wie wir bei den spontanen Darmzer-
reissungen gesehen haben. Wie schwer oft die Beurtheilung derartiger
Fälle für den Gerichtsarzt ist, beweist folgender, von Wiener (Ober¬
gutachten) mitgctheilte Fall.
Digitized by
Go^ gle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
Zur gerichtsärztlichen Beurtheilung der Darrnvcrletzungen.
13
Ein Schäfer wurde von einem Gastwirth mit Fäusten gemisshandelt und
namentlich gegen den Bauch gestossen, worauf er heftig erkrankte und 8 Wochen
bettlägerig war. Der Schäfer war nocli Monate nachher arbeitsunfähig und erhob
gegen den Gastwirth Entschädigungsansprüche. Dieser behauptete dagegen, der
Kläger sei bereits vorher magenleidend gewesen, habe auch nach dem Vorfälle
noch stundenlang seine Heerde gehütet, später sogar noch Getreide abgeladen.
Die behandelnden Aerzte erklärten die Krankheit für eine Darmeinschiebung, bei
welcher die Symptome einer sich entwickelnden Darm- und Bauchfellentzündung
sich gezeigt hätten und zwar als Folge der Misshandlung. Der vernommene Kreis-
physikus trat dem Gutachten insoweit bei, als er behauptete, die Darmcinschie-
bung könne eine Folge der durch die Misshandlung veranlassten Darm- und Bauch¬
fellentzündung gewesen sein. Das Medicinalcollegium leugnete überhaupt die
Möglichkeit der traumatischen Entstehung der Darmeinschiebung, die Königl.
wissenschaftliche Deputation dagegen erklärte es wohl für möglich, dass Stoss und
Schlag auf den Unterleib Darmeinschiebungen bewirken könnten.
Die meisten Invaginationen, ca. dieHälfte, betreffen nachLeichten-
stern das Kindesalter und sind Ileocoecaleinschiebungen, während man
bei Erwachsenen vorwiegend den reinen Dünndarmeinschiebungen be¬
gegnet. Bei Kindern genügt schon geringe und selbst indirecte Er¬
schütterung, z. B. Fall aufs Gesäss, zur Erzeugung einer Invagination.
Rilliet (cit. bei Wiener) berichtet von einem Knaben, der eine In¬
vagination bekam, nachdem er von einem Kameraden auf den Unter¬
leib getreten war, Focke (cit. bei Wiener) erzählt sogar, dass Kinder
beim Springen auf den Armen des Vaters Invaginationen davongetragen
hätten. Uebrigens muss der Gerichtsarzt wissen, dass man bei Sec-
tionen von Kindern, welche an Gehirnaffectionen und acuten Darm-
catarrhen gelitten haben, häufig nicht nur eine, sondern eine ganze
Anzahl von Invaginationen findet, welche in der Agone oder gar oft
erst nach dem Tode entstanden sind und sich von den intra vitam
entstandenen dadurch unterscheiden, dass sie sich leicht auszichen
lassen und ohne irgend welche circulatorisehe oder entzündliche Ver¬
änderungen sind.
Da es sich in solchen Fällen meist um Folgezustände handelt,
ist es für den Gerichtsarzt schwierig, den Causalnexus zwischen diesen
und der Verletzung festzustellen. Stirbt der Verletzte, so wird die
Obduction wenigstens in den meisten Fällen klar legen, welcher Art
die Verletzung war, und ob dadurch der Tod verursacht worden ist,
stirbt er aber nicht und handelt es sich nur um eine Reihe von Be¬
schwerden, die der Verletzung vom Verletzten zur Last gelegt werden,
so kann die gerichtsärztliche Beurtheilung auf grosse Schwierigkeiten
stossen. Ebenso wie bei den Invaginationen trifft dieses auch zu bei
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
14
Dr. Wegcner,
denjenigen Verletzungen des Darmes, wo infolge einer Contusion eine
Circulationsstörung oder eine Läsion einzelner Schichten des Darmes
hervorgerufen wird, Verletzungen, die man erst an ihren Folgen als
solche erkennen kann, indem erst später Stücke des abgestorbenen
Darmes per anum entleert werden und narbige Verengerungen des
Darmes mit allen Beschwerden und Gefahren eintreten. Der Darm
ist ausserordentlich empfindlich gegen Contusionen, und es treten weit
leichter, als man meinen sollte, blutige Infiltrationen in oder zwischen
den einzelnen Häuten desselben auf. Solche Infiltrationen mit Blut
scheinen durchaus nicht selten zu sein, denn Jobert de Lamballc
sagt: Es giebt wenige Leichen, welche, falls die Bauchdecken Con¬
tusionen erfahren haben, bei der Autopsie nicht mehr oder weniger
ausgedehnte Ecchymosen zeigen. Auch Duplay 1 ) und Baraduc 2 )
haben verschiedene Fälle gesehen, wo ausgedehnte Blutinfiltrationen
unter der Serosa oder zwischen Muoosa und Muscularis vorhanden
waren. Kleinere Blutungen werden anstandslos resorbirt werden, und
zur Heilung gelangen, wenn jedoch die Mucosa durch ein grösseres
Blutextravasat von den tieferen Schichten abgehoben wird, so stirbt
sie aus Mangel an Ernährung ab, wird abgestossen und auf der nackten
Muscularis entsteht ein Geschwür, welches, wenn es klein ist, heilen
kann, welches jedoch durch tiefe Eiterung zur Perforation führen kann.
Wenn die ganze Dicke des Darmes mit Blut infiltrirt ist, so ist die
Gefahr der Mortification der ganzen infiltrirten Partie mit nachfolgen¬
der Perforation und eitriger Peritonitis natürlich noch grösser. Den¬
selben Verlauf und dieselben Gefahren haben auch die Zerreissungen
des Darmes, die nicht seine ganze Dicke, sondern nur bestimmte
Schichten desselben betreffen, die unvollständigen Rupturen. Es han¬
delt sich nach Gendron und Duguet 3 ) hier meistentheils um Zer-
reissung der Mucosa. Die Serosa bleibt gewöhnlich intact, die Mucosa
allein oder Muscularis und Mucosa sind zerrissen. Ist die Zerreissung
gering, so wird Heilung eintreten, ist sie jedoch bedeutend, so können
narbige Verengerungen und tiefe Gcschwürsbildung mit Perforation die
Folge sein.
Gallez 4 ) berichtet einen Fall, wo 19 Tage nach einer Bauch-
1) Duplay, Pathologie externe.
2) Baraduc, Bull. Soc. anatora.
.3) Gendron et Duguet, Bull. Soc. anatom.
4) Gallez, Contus. abdom. Bull, de l’Acad. de med. de Belgique.
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Zur gerichtsärztlichen Beurtheilung der Darmvcrlctzungen.
15
contusion ein Stück Mucosa von 1 m Länge entleert wurde. Poland 1 )
erzählt von einem 40jährigen Manne, der vom Wagen überfahren
wurde und am 15. Tage wieder ausging. Am 17. Tage trat plötzlich
ein schwerer Zufall ein und er entleerte 14 Zoll seines Darmes per
anum. In der vierten Woche bildete sich dann ein Anus praeter¬
naturalis, der mehrere Jahre eiterte und Koth und Flatus herausliess.
Allmälig trat Heilung ein. Gallez berichtet ferner von einem Manne,
der von einem Wagen einen Stoss in’s Abdomen erhielt. Am folgen¬
den Tage trat eine starke Blutung auf, der eine circumscripte Peri¬
tonitis folgte. Am 19. Tage entleerte er ein l x / 2 m langes Schleim¬
hautstück des Dickdarms. Allmälig erholte er sich. Oftmals haben
sich erst nach Jahr und Tag die Folgen solcher Ernährungsstörungen
gezeigt.
Herin 2 ) erwähnt einen 65jährigen Mann, der eine Contusion des
Abdomen erhielt und 4 Monate später an Erbrechen und Koliken er¬
krankte. Die Symptome verschwanden, um 15 Monate später wieder¬
zukehren. Der Tod erfolgte unter den Zeichen innerer Einklemmung.
Das Ileum war in einer Ausdehnung von 6 Zoll verengt. Pouzet
(ibidem) erzählt von einem 46jährigen Manne, der mit einem Fasse
fiel und einen Stoss in den Leib bekam. Nach einigen Tagen ver¬
schwanden die aufgetretenen Leibschmerzen und er war sechs Monate
gesund. Da trat eine Verschlimmerung ein, infolge dessen er starb.
Der Darm war so verengt, dass mit einer Sonde nicht durchzukom-
raen war.
Mac Ewen 3 ) theilt zwei ähnliche Fälle mit. Im ersten wurde
ein 14jähriges Kind von einem Rade über den Leib gefahren. Am
11 . Tage schien es geheilt, am 47. Tage machte es einen Diätfehlcr
und starb nach einigen Stunden. Die Autopsie ergab eine circum¬
scripte Peritonitis, von der eine allgemeine ausgegangen war. Im
zweiten Falle erhielt ein 30jähriger Constabler einen Fusstritt in den
Bauch. Zehn Tage darauf that er wieder seinen Dienst, am 77. Tage
kehrte er jedoch in die Klinik zurück, um 7 Tage darauf zu sterben.
Poland endlich berichtet von einem 12jährigen Knaben, der von
einem Kameraden in den Bauch getreten wurde. Ein Jahr lang litt
er an häüfig auftretenden Leibschmerzcn mit Diarrhoe und hatte einige
1) Poland, Guy’s Hosp. Rep.
2) H4rin, Dans la pathologie Follin et Duplay.
3) Mac Even, The Glasgow med. Journ.
Digitized by
Gck gle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
16
Dr. Wogener,
Male blutige Stühle, infolgedessen er sehr abmagerte. Plötzlich ent¬
leerte er ein 13 Zoll langes Stück Darm und starb. In der deutscheu
gerichtsärztlichen Literatur habe ich solche Fälle nicht gefunden, der¬
artige Ausgänge scheinen demnach glücklicher Weise nicht allzu häufig
vorzukommen.
Wir kommen nun zu denjenigen subcutanen Darm Verletzungen,
welche mit sofortiger vollständiger Zerreissung der Darmwand einher¬
gehen, den sogenannten Darmrupturen. Es ist klar, dass der kranke
Darm leichter reissen wird als der gesunde, und dass geringe Er¬
schütterungen ausreichen, um eine genügend vorbereitete Perforation
zur Vollendung zu bringen. Ein Darmgeschwür, sei es nun ein
tuberculöses, ein typhöses, ein diphtherisches oder syphilitisches wird
immer einen „locus minoris resistentiae“ bilden, der durch den ge¬
ringsten Anlass zum Einreissen gebracht werden kann. Wenn schon
durch die blosse Anstrengung der Bauchpresse, durch einen Sprung
aus dem Bette (Miculicz), eine spontane Ruptur eintreten kann, so
ist es einleuchtend, dass ein gewaltsamer Stoss um so eher eine
solche hervorrufen kann, wenn pathologische Verhältnisse am Darm
bestehen. Der Gerichtsarzt wird also in jedem Falle von Darmruptur
darauf fahnden müssen, ob nicht ein Geschwür vorhanden gewesen
ist. In den meisten Fällen wird es unschwer gelingen, da die Darm¬
geschwüre bestimmte Eigenthümlichkeiten in Bezug auf ihr Aussehen
und ihren Sitz darbieten. Die Verdauungsgeschwüre sitzen im Duo¬
denum und haben kreisrunde Form, die tuberculösen sitzen mit Vor¬
liebe über der Bauhin’schen Klappe im Dünndarm, seltener im
Dickdann, und treten meistens multipel auf in characteristischer läng¬
licher zur Längsachse des Darms senkrechter Form und sind in der
Regel mit Lungenschwindsucht combinirt. In zweifelhaften Fällen wird
die Auffindung der Tuberkelbacillen sie als tuberculöse Geschwüre
characterisiren. Die typhösen Geschwüre betreffen meistens den folli-
culären Apparat des Darmes, vor allen die Peyer’schen Haufen, und
lassen sich meistentheils durch die markige Schwellung ihrer Ränder,
die sich bei grossen Geschwüren über den Geschwürsgrund hinüber-
lcgen, sowie durch eine zum Darm längsgerichtete Gestalt von an¬
deren unterscheiden. Sollten auch klinische Symptome, wie solches
ja beim Typhus gar nicht selten ist, fehlen, so wird doch durch die
Eigenthümlichkeit dieser Geschwüre, sowie durch die gleichzeitige
Beschaffenheit der Mesenterialdrüsen und der Milz, eventuell durch
den Nachweis des Typhusbacillus, ihr typhöser Character besiegelt.
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Zur gericlitsärzUiclien Beurtheilung der Darmverletzungon.
17
Ilofmann 1 ) führt eine Beobachtung von Hyrtl an, wo ein anscheinend
gesunder Knabe von einem Erdhaufen herunterkollerte und an Peri¬
tonitis starb. Die Section ergab Typhus und Ruptur eines Geschwürs.
Sterkoralgeschwüre haben ihren Lieblingssitz am Wurmfortsatz. Bei
carcinomatösen Geschwüren werden wohl keine Zweifel entstehen
können, da zu einer Zeit, wo ein Krebsgeschwür zum Durchbruch
kommt, bereits unverkennbare pathologische Veränderungen vor¬
handen sind, eventuell wird die mikroskopische Untersuchung Aus¬
kunft geben. In der Regel treten die Geschwüre multipel auf, und
was man dann an dem einen nicht sehen kann, das wird das andere
zeigen, ist aber nur ein einzelnes Geschwür vorhanden, und womög¬
lich noch der Geschwürsrand durch Eiterung oder cadaveröse Er¬
weichung zerstört, so kann die Unterscheidung schwer werden, ge¬
wöhnlich aber wird die characteristische Veränderung der Schleim¬
hautoberfläche und der Substanzverlust der Schleimhaut, welcher
grösser ist als der der Muscularis und Serosa, das Vorhandensein
eines Geschwürs beweisen.
Für die gerichtsärztliche Beurtheilung kommt es besonders auf
die Beantwortung der Frage an, ob die constatirte Perforation eines
Darmgeschwüres Folge einer Verletzung oder unabhängig von einer
solchen zu Stande gekommen ist. Die Entscheidung dieser Frage
wird häufig grosse Schwierigkeiten machen, da es ja hinlänglich be¬
kannt ist, dass es nur einer geringen Gewalteinwirkung bedarf, um
ein Geschwür zum Reissen zu bringen. Allgemeine Regeln lassen
sich deshalb nicht aufstellen, sondern der Gerichtsarzt wird gut thun
jeden Fall nach seinen besonderen Eigentümlichkeiten mit Berück¬
sichtigung aller Nebenumstände zu begutachten. Blaue Flecke an
der Körperoberfläche, Hautabschürfungen und Sugillationen, Brüche
von irgend welchen Knochen, werden immer eine Gewalteinwirkung
voraussetzen, infolgedessen es höchst wahrscheinlich ist, dass auch
dadurch das Geschwür zur Ruptur gebracht worden ist, indessen das
Fehlen dieser äusseren Verletzungen ist kein Beweis für das Gegen¬
teil, da wir ja wissen, dass bei Contusionen des Unterleibes meisten¬
teils keine Spuren einer Verletzung an den Bauchdecken vorhanden
sind und trotzdem eine tödtliche Darmverletzung verursacht sein
kann. Der' Gerichtsarzt wird darum häufig sein Urteil auf Neben¬
umstände basiren müssen. Angeschwollene Mesenterialdrüsen sagen
1) Hofmann, Gericht!. Medicin. S. 484.
Yierteljahrsschr. f. ger. Med. Dritte Folge. XIV. Suppl.-Heft. 2
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITÄT OF IOWA
18
Dr. Wegener,
ihm, dass der Darm schon seit längerer Zeit durch pathologische
Affectionen beeinflusst gewesen ist, kalkige Degeneration derselben
spricht dafür, dass bereits vor Jahr und Tag derartige Einwirkungen
stattgefunden haben. Und wenn er dann zu der Ueberzeugung ge¬
kommen ist, dass infolge der Verletzung das Geschwür perforirt ist,
so wird sein Gutachten dahin lauten, dass der Verletzte durch eine
besondere Leibesbeschaffenheit ausgezeichnet war, welche auch sonst
wohl leicht zum Tode hätte führen können, und dass die Verletzung
bei einem anderen Menschen vielleicht überhaupt keine üblen Folgen
gehabt haben würde. Peters 1 ) theilt einen Fall mit, wo ein Maurer
eine Darmperforation infolge eines Stosses mit einem Ziegelstein gegen
den Unterleib bekam, woran er am folgenden Tage starb. Da der
Mann schon vor der Verletzung über Leibschmerzen geklagt hatte,
und da sich bei der Section Zeichen fanden, dass schon längere Zeit
pathologische Affectionen den Darm bneinflusst hatten, so wurde an¬
genommen, dass eine besondere Leibesbeschaffenheit Vorgelegen habe
und, zumal jede vorsätzliche Misshandlung ausgeschlossen war, der
Thäter freigesprochen.
In anderen Fällen wird der Gerichtsarzt das zeitliche Verhältniss
zwischen der Verletzung und dem muthmasslichen Eintritt der Perfora¬
tion klarzustellen haben. Ist der Verletzte vor dem Eintritt der Ver¬
letzung noch völlig gesund gewesen, und treten sofort mit der Ver¬
letzung die Symptome einer Perforation, heftiger localer Schmerz,
häufig verbunden mit einem Aufschrei, auf, so kann man wohl an¬
nehmen, dass die Perforation eine directe Folge der Verletzung ist,
ist er dagegen noch Stunden lang ohne Schmerzen herumgelaufen,
so kann der ursächliche Zusammenhang mit Recht angezweifelt wer¬
den. In vielen Fällen wird sich dennoch der Causalnexus nicht er¬
bringen lassen, und der Gerichtsarzt wird gezwungen sein, sich in
seinem Urtheil folgendermassen auszudrücken: Es ist mehr oder
weniger wahrscheinlich, dass die Perforation Folge der Verletzung
ist, der ursächliche Zusammenhang hat sich jedoch nicht mit Sicher¬
heit nachweisen lassen.
Nicht minder häufig als die Rupturen des kranken Darmes sind
diejenigen des gesunden. Hohes Alter, männliches Geschlecht und
gefährlicher Beruf geben eine gewisse Disposition dafür ab. Der
fettarme, oft papierdünne Darm alter Leute, wird leichter reissen als
1) Peters, Diese Vierteljahrsschr. 53.
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Zur gerichtsärztlichen Beurtheilung der Darmverletzungen.
10
derjenige jugendlicher Personen, allein auch dieser reisst schon hei
ganz geringen Gewalteinwirkungen. Es betreffen sogar die in der
Literatur verzeichneten Fälle meistens Männer im kräftigsten Mannes¬
alter, was wohl darin seinen Grund hat, dass solche in weit höherem
Masse, namentlich durch den Beruf, allen möglichen Gefahren aus¬
gesetzt sind. Wie das Platzen des gesunden Darmes zustande kommt,
darüber herrschen die verschiedensten Ansichten, nur darin stimmen
alle überein, dass ein gewisser Füllungszustand desselben vorhanden
sein muss. Ti 11 man ns sah Zerreissungen des Duodenum bei einem
14 jährigen Knaben, welcher unmittelbar Dach dem Essen von einem
Erwachsenen unter den Achseln in die Höhe gehoben und hin und
hergeschleudert wurde. Der Darm enthält gasige, flüssige und feste
Stoffe, also die verschiedensten Bestandtheile, die wiederum in ver¬
schiedenster Weise durch die grosse Länge des Dünndarms vertheilt
sein und unzählige von einander verschiedene Lagen des Darmes bedingen
können. Bei so complicirten Verhältnissen kann die Entstehungs¬
weise, wenigstens wenn man sie in alle Details hinein verfolgt, un¬
möglich so einfach sein. Die Experimente Longuet’s 1 ) beweisen
nur die absolute Festigkeit des Darms. Er liess auf einen 15 cm
langen auf beiden Seiten geschlossenen Darm aus iy 2 m Höhe Ge¬
wichte fallen. Ein leerer, sowie ein mit Wasser gefüllter Darm wurde
durch 2 kg zerrissen, ein mit Luft gefüllter erst durch 5 kg. Für die
unendlich complicirten Lageverbältnisse des Darmes in der Bauchhöhle
bieten diese Experimente kein Analogon. Im allgemeinen kommen
wir damit aus, wenn wir die Entstehung mit Umgehung aller spitz¬
findigen Speculationen auf grob mechanische Weise erklären. Ein
Stoss kommt gegen den Leib, die Bauchdecken weichen vermöge
ihrer Elasticität aus, der Stoss pflanzt sich fort auf den Darm. Dieser
wird dann gegen die Wirbelsäule oder gegen das Becken gedrückt
und reisst, wenn er nicht entweichen kann, ein. Auf diese Weise
kann auch an entfernten Stellen ein Riss entstehen, ohne dass wir
den unmedicinischen Contrecoup oder eine Art Explosion des Darmes
infolge plötzlicher Drucksteigerung seines gasförmigen Inhalts zu Hülfe
zu ziehen brauchen. Das Nichtentweichenkönnen ist die Hauptsache,
das beweist schon der Umstand, dass die fixirten Partieen, besonders
die Flexuren, denen ein Entweichen gar nicht oder nur beschränkt
möglich ist, in erster Linie gefährdet sind. Man beobachtet nach
1) Bulletins de la Soci6t6 anatomique.
2*
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
20
Dr. Wegener,
Poland die häufigsten Darmrupturen am unteren Ende des Duodenum
und an der Flexura duodeno-jejunalis. Dieser untere Thcil des Duo¬
denum ist durch den von Treitz entdeckten und beschriebenen
Musculus suspensorius duodeni, eine aus glatten Muskelfasern bestehende
Platte, fixirt.
In ähnlicher Weise kommt auch die Ruptur einer Hernie zu
stände. Wird eine prallgefüllte Hernie von einem Stoss getroffen,
so sucht der Darm und sein Inhalt durch die Bruchpforte zu ent¬
weichen. Da dieselbe aber zu eng ist, und das Entweichen nicht so
schnell vor sich gehen kann, so muss der Darm platzen.
Die Einrisse verlaufen längs und quer und klaffen häufig so weit
auseinander, dass sie die Form eines runden Loches darbieten. Ihre
Grösse hängt nicht immer von der Stärke der äusseren Einwirkung
ab, indem eine geringe Gewalt oft ebenso umfangreiche Rupturen
hervorbringt als eine grosse, wohl aber scheint das Andauern einer
Gewalteinwirkung, z. B. das Ueberfahrenwerden durch einen Lastwagen,
besonders ausgedehnte Zerreissungen hervorzubringen. Es giebt Fälle,
in denen der Darm wie mit einer Schcere durchschnitten aussiebt.
Ich habe mir gegen 60 derartige Fälle aus der Literatur ge¬
sammelt und gebe im Folgenden eine Auswahl characteristischer Fälle,
mit besonderer Berücksichtigung der in der gerichtlich medicinischen
Literatur Vorgefundenen. Man muss sich dabei häufig wundern über
die Geringfügigkeit der angewandten äusseren Gewalt.
Rehm (Friedreich’s Bl. 42. Jahrg.): Fusstritt gegen den Leistenbruch eines
G l . (jährigen Tagelöhners durch seinen Sohn. Tod am folgenden Tage. Loch im
Dünndarm.
Idem: 6(> jähriger Söldner erhält Fussstösso gegen den Leib. Loch im
Dünndarm.
Idem: 50jährige Gürtlersfrau erhält in gebückter Stellung von hinten durch
ihren geistig gestörten Ehemann einen Fusstritt gegen ihren Scheidenvorfall. Tod
am folgenden Tage. 2 Löcher im Dünndarm.
Wiener (Obergutachten, Fall 24): Der Drahtbinder B. erhält einen Stoss
mit der Wagendeichsel in den Leib und stirbt am folgenden Tage unter den Er¬
scheinungen einer Peritonitis. Vollständige Zerrcissung einer Darmschlinge.
Mittenzweig (Zeitschr. t. Med.-Beamte. Berlin 1890): Stoss mit dem Fuss
gegen den Unterleib. Tod am folgenden Tage.
Liman (II. S. 117): GOjähriger Mann wird aus einer Restauration geworfen.
Per Dünndarm war 9 Zoll vom Mesenterium abgerissen und völlig durchgerissen.
lluger (Med. and surg. Journ. „The Atlanta“): Dünndarmriss eines jungen
Mannes nach Fall des Freundes auf seinen Leib beim Ringen.
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Zur gerichtsärztlichen Beurthoilung der Darm Verletzungen.
21
Laudahn (Eulenberg. Bd. XVI.): Ein blödsinniger Knabe tritt einen Idioten
mit der Fussspitzc gegen die Regio iliaca dextra. Tod nach 12 Stunden. Riss
einer direct vor der Wirbelsäule liegenden Darmschlinge.
Hofmann (Ger. Med. S. 484): 3 Darmverlctzungen, 2 durch Fusstritte, der
3. durch Pferdehufschlag entstanden.
Page (Transact. of the clin. soc. 1883): Ueberfahren durch ein Wagenrad.
Tod nach 48 Stunden. 20-Pfennigstückgrosses Loch im Dünndarm.
Bouley (Progres medical. 1881): Ueberfahren durch Wagenrad. Dünndarm
quer völlig durchgerissen.
Walter (Lancet. 1881): Ueberfahren durch Wagenrad (Dünndarm quer
völlig durchgerissen). Tod nach 27 Stunden. Darmruptur.
Beck (Deutsche Zeitschr. f. Chir. 1881): Kanonier vom Geschütz über den
Leib gefahren. Tod nach 6 Stunden. 50-Pfennigstückgrosses Loch im Colon des-
cendens.
Idem: Einem Trompeter fällt das Pferd auf den Leib. Tod nach 31 Stun¬
den. Dünndarm glatt durchgerissen.
Idem: Soldat vom Pferde geschlagen. Totale Durchreissung desDünndarms.
Tod nach 30 Stunden.
Idem: Infanterist springt gegen die Ecke eines Sprungkastens. Tod nach
3 Tagen an Peritonitis. Ruptur.
Casper-Liman (Lehrbuch. II. 229): Stoss einer Wagendeichsel vor den
Bauch. Tod nach 4 Tagen. Zwei kreisrunde Perforationen im Dünndarm.
Spaeth (Bcrl. klin. W'ochenschr. 1887. S. 883): 22jiihrigcr Mosaikarbeiter
fällt vom Gerüst. Dämpfung in der Fossa iliaca dextra. Nach 23 Tagen tritt da¬
selbst Fluctuation auf und es wird incidirt. Heilung mit Kothfistcl.
Idem: 40jährigcr Zimmermann erhält durch einen Balken einen Stoss gegen
den Leib. Am nächsten Tage Laparotomie, die einen Riss im Dünndarm ergiobt.
Naht des Risses. Tod nach 9 Tagen an Peritonitis bei geheilter Nahtstelle.
Mayer (Friedreich’s Blätter. 1876): Wurf mit einem Maasskruge auf Schritt
Entfernung. Ruptur des Duodenum.
Gendron (Progres möd. 1882): Schlag vom Pferdehufe. Tod nach 29 Stun¬
den. Frankstückgrosse Perforation des Dünndarms.
Croft (Transact. of the clin. soc. 1888): 34jähriger Mann erhält einen Fuss-
tritt gegen den Bauch. Nach 18 Stunden Laparotomie. Riss im oberen Ileum.
Heilung. Später bei Operation des künstlichen Afters Tod.
Messerer (Friedreich’s Bl. 1888): Stoss mit der Schuhspitze. Schlitzför¬
mige Ruptur des Dickdarms nahe der Blinddarmklappe.
Hofmann (Lehrbuch, S. 484): Einem Mann fallt ein Zuckerhut auf die
rechte Bauchseite. Ruptur einer Darmschlinge in der linken Leistengegend.
A. Köhler (Charite-Annalen. 1885): 37jähriger Mann fällt beim Abspringen
von der Pferdebahn platt auf den Bauch. Darmnaht ca. 24 Stunden später, Tod
18 Stunden darauf an Peritonitis.
Idem: 38jährigor Mann fällt mit dem Bauch auf ein stumpfes Gitter. Ope¬
ration einige Stunden nach dem Unfall. Tod kurz darauf an Shok.
Idem: 31 jähriger Mann erhält einen Hufschlag gegen den Bauch. Opera¬
tion. 1 Zoll langer Riss im Dünndarm. Tod 24 Stunden darauf an Peritonitis.
Digitizeit by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
2*2
Dr. Wegener,
Idem: Hufschlag gegen den Leib eines 17 jährigen Mannes. Sofort Opera¬
tion. 2 Risse im Dünndarm. Tod 24 Standen später.
Moritz (Petersb. med. Wochenschr. 1879): Kräftiger Arbeiter erhält einen
Faustschlag auf den Leib. Sogleich Schmerzen und Erbrechen. Tod an Perito¬
nitis. Perforation des Jejunum.
In allen diesen Fällen waren, obgleich verschiedentlich sehr hef¬
tige Gewalten eingewirkt hatten, äusserlich meistens gar keine Ver¬
letzungen, einige Male nur leichte Hautabschürfungen oder blaue Flecke
vorhanden. Dennoch endeten alle mehr oder weniger schnell letal
mit Ausnahme eines Falles, den Spaeth berichtet. In einem anderen
Falle, den Croft erzählt, trat zunächst Heilung ein mit Bildung eines
künstlichen Afters, aber bei der Operation desselben starb der Be¬
treffende. Auch Albert (Lehrbuch der Chirurgie) findet unter 60
Fällen nur einen, der nicht letal endet. Der gewöhnliche Ausgang
ist der Tod. Diese Fälle beweisen die Nothwendigkeit, dass der
Richter von seinem Rechte schon zur Leichenschau einen Arzt hinzu¬
zuziehen, den ausgiebigsten Gebrauch macht und nicht, wie häufig
geschieht, wegen Abwesenheit äusserer Verletzungen das Untersuchungs¬
verfahren einstellt und Fälle niederschlägt, die bei sachverständiger
Prüfung doch häufig der strafrechtlichen Verurtheilung unterliegen
würden. Erfahrungsmässig schliesst der Mangel äusserer Verletzungen
nicht aus, dass der Tod durch Bauchfellentzündung infolge von trau¬
matischer Darmzerreissung dem strafbaren Verschulden eines Dritten
zugeschrieben werden muss (Wiener).
Bei allen bisher betrachteten Verletzungen des Darmes waren die
den Darm schützenden Bedeckungen des Körpers, speciell die Baueh-
dccken, in ihrem Zusammenhänge nicht getrennt; jetzt kommen wir
zu den Verletzungen, die erst nach Durchbohrung derselben zu Stande
kommen, zu den penctrirenden Verletzungen. Dieselben entstehen
meistens durch das Eindringen eines verletzenden Instruments oder
Projcctils, cs handelt sich demnach um Stich-, Schnitt-, Hieb- und
Schusswunden. Man sollte meinen, dass das Eindringen eines fremden
Körpers in die Bauchhöhle stets mit einer Verletzung des Darmes
verbunden sei, weil sich der Darm dem verletzenden Instrument ge¬
radezu entgegendrängt, allein zahlreiche Beobachtungen beweisen,
dass der Darm auch durch tief eindringende, ja den ganzen Körper
perforirende Stich- und Schnittwunden oft nicht verletzt wird und
das lässt sich dadurch erklären, dass er vermöge seiner Schlüpfrig¬
keit und Beweglichkeit in der Lage ist, auszuweichen, so dass hoch-
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Zur gerichtsärztlichen Beurtheilung der Darmverletzungen.
23
stens die äusseren Schichten lädirt werden. Henko 1 ) hat darüber
Untersuchungen an menschlichen Leichen angestellt, indem er dünne
Eisenstäbe tief in den Leib stiess. In 95 Versuchen fand sich 20 mal
der Darm unverletzt. Beck (1. c.) fand bei 73 penetrirenden Bauch¬
wunden 5 mal keine Darm Verletzung. Im fünfjährigen amerikanischen
Rebellionskriege, wo 3717 penetrirende Bauchwunden zur Spital¬
behandlung kamen, fand man 32 mal, d. i. bei 13 Stich- und Schnitt¬
wunden und bei 19 Schusswunden die Gedärme ganz unverletzt.
Hennen sah einen Soldaten, der sich aus Unvorsichtigkeit einen
eisernen Ladestock durch den Leib schoss, so dass er hinten heraus¬
sah. Der Ladestock wurde herausgezogen und der Verletzte genas.
Voss 2 ) berichtet über 4 Fälle von fast symptomlos verlaufenen
Bauchschüssen, welche nach seiner Ansicht penetrirende Schüsse ohne
Darm Verletzungen waren. Mac Cormac erwähnt folgenden Fall: Im
amerikanischen Kriego wurde ein entfliehender Gefangener mit dem
Bajonett so durch den Leib gestochen, dass die in die linke
Weiche eingetretene Spitze des Bajonetts hinten 2 Zoll von der Wirbel¬
säule herausragte. Die Verletzung war bereits am 4. Tage geheilt.
Seidel 3 ) beschreibt einen Fall von Pistolenschuss in die linke Unter¬
bauchgegend. Aus der Bauchwunde drängte sich ein pilzförmiges
Convolut von Dünndärmen hervor. In der Bauchhöhle fand sich
ausser einem Bluterguss ein Papierpfropf und 9 grobe Schrotkömer.
Trotzdem keine Dannverletzung.
Casper-Liman (H. S. 264): Schusswunde in den Bauch; der
Schusscanal geht durch das Netz, zwischen den Darmschlingen hin¬
durch bis auf das Gekröse des Colon descendens, der Darm ist un¬
verletzt.
In anderen Fällen kann der Darm dagegen mehrfach verletzt
sein. So beobachtete Longmore eine sechzehnfache Verletzung des
Darms durch eine Kugel.
Am häufigsten sind die Verletzungen des Dünndarms. Vom
Dünndarm ist wiederum am häufigsten das Ileum, am seltensten das
Duodenum verletzt Sehr vereinzelt sind die penetrirenden Wunden
des Mastdarms. Stich- und Schnittwunden desselben kommen dem
1) Zur Lehre von den perforirenden Bauchschüssen. Inaug.-Diss. Dorpat.
2) Petersb. med. Wochenschr.
3) Diese Yierteljahrsschr. N. F. 43,
Digitized by
Gck gle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
24
Dr. Wegener,
Gerichtsarzt höchst selten zu Gesicht. Buhl 1 ) berichtet über eine
Mastdarmstichwunde, die der Verletzte bei einer Tanzbodenrauferei
davongetragen hatte. Die äussere Wundöffnung, durch welche sich
Koth und Darmgase entleerten, befand sich dicht neben dem rechten
Sitzknorren. Die Heilung dauerte 6 Wochen, jedoch verfiel der Ver¬
letzte in Siechthum und starb 4 Jahre später an Tuberculose, worauf
der Fall zur gerichtsärztlichen Begutachtung kam. Indess gelang es
nicht einen Zusammenhang zwischen der Todesursache und der Mast-
darraverletzung nachzuweisen. Esmarch (1. c.) erwähnt noch Schnitt¬
wunden des Mastdarms, die dadurch entstehen, wenn Kinder, ihre
Nothdurft verrichtend, auf Porzellantöpfen sitzen und diese unter ihnen
zusammenbrechen. Auch Erwachsenen scheinen solche Vorkommnisse
zu passiren, denn ich erinnere mich, dass während meiner Studienzeit
in einem englischen Damenpensionate in meiner Nähe derselbe Unfall
eintrat. Forensisches Interesse können solche Fälle gewinnen, wenn
Fahrlässigkeit des Pflegepersonals in Frage kommt.
Ebenso selten kommen Schusswunden des Mastdarms zur ge-
-richtsärztlichen Beurtheilung, bei welchen auch die Hauptgefahr we¬
niger in den Verletzungen des Darmes als in den Nebenverletzungen
liegt. In der kriegschirurgischen Literatur finden wir dagegen eine
reichhaltige Casuistik solcher Verletzungen. Ucberhaupt sind wir hin¬
sichtlich der Statistik aller Schussverletzungen auf die kriegschirur¬
gischen Aufzeichnungen angewiesen, da glücklicher Weise im Frieden
nicht überall der Revolver dieselbe Rolle spielt wie in Amerika, wäh¬
rend die Stich-Schnittwunden auch im Frieden, namentlich in Ge¬
genden, wo bereits halberwachsene Burschen im Griffe feststehende
Messer zu führen pflegen, zur Genüge Vorkommen. Bezüglich der
Stich-Schnittwunden verdient eine Zusammenstellung von Albanese
(Blcssures ä l’arme blanche) "einiges Interesse. Dieser hatte die in
Sicilien nicht selten gebotene Gelegenheit Verwundungen durch blanke
Waffen in sehr grosser Zahl im Höpital de la Conception zu Palermo
zu beobachten. Er hat innerhalb eines Zeitraums von 10 Jahren
(1870—80) unter 2293 Verwundungen durch Messer, Dolche, Degen,
Säbel 307 penetrirende und 155 nicht penetrirende Bauchwunden be¬
handelt.
Alle möglichen spitzen, scharfen und stumpfen Instrumente können
zur Beibringung von perforirenden Darmwunden benutzt werden, das
1) Henle und v. Pfeufer’s Zcitschr. f. ration. Med.
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
Zur gerichtsärztlichen Beurtheilung der Darmverletzungen.
25
am häufigsten in Betracht kommende Instrument ist das Taschen¬
messer, ebenso entstehen die Schusswunden durch Geschosse der ver¬
schiedensten Grösse vom Schrotkorn an bis zum Projectil des schwer¬
sten Geschützes. Handelt es sich darum, festzustellen, durch welches
Instrument eine Darmverletzung beigebracht ist, so wird der Gerichts¬
arzt in erster Linie die Beschaffenheit der äusseren Bauchdecken¬
wunde in Rechnung zu ziehen haben, da diese gewöhnlich sicherere
Anhaltspunkte giebt als die Darmwunde. Die Grösse der Wunde,
der Verlauf derselben, die Beschaffenheit ihrer Ränder, ob scharf,
zerrissen oder gequetscht, sind besonders in Betracht zu ziehen. Je
weniger die Wunde therapeutischen Eingriffen ausgesetzt gewesen ist,
je weniger die ursprüngliche Form durch Eiterung oder Entzündung
verändert worden ist, um so genauer wird diese Frage zu beant¬
worten sein. Bei Schussverletzungen ist Form und Grösse der Ein¬
schuss-, und wenn eine solche vorhanden ist, der Ausschussöffnung
zu beobachten, um das Caliber des Projectils festzustellen. Ist eine
Ausschussöffnung nicht vorhanden, so muss bei der Obduction das
Projectil aufgesucht werden, was meist ohne Schwierigkeiten gelingt.
Ueber die Form der Darmwunde im Verhältnis zum verletzenden
Instrument sind von Hofmann und dessen Schüler Katayama ex¬
perimentelle Untersuchungen angestellt, welche von Kirstein nach¬
geprüft worden sind. Erstere gossen ein Darmstück mit einer Fett¬
masse aus, letzterer schnitt den Darm der Länge nach auf und
breitete ihn auf einer Leber, als einer weich elastischen Unterlage
aus. Hof mann fand, dass die Darm wand in analoger Weise, wie
die äussere Haut, bestimmte Spaltbarkeitsrichtungen besitzt und zwar
die Serosa longitudinal, die Muscularis quer, die Mucosa unregel¬
mässig. Infolgedessen gelingt es nie mit einem runden Instrument
ein kreisförmiges Loch zu erzeugen, sondern man erhält stets einen
klaffenden Längsschlitz. Kirstein konnte bei der Serosa die An¬
gaben Hofmann’s bestätigen, während es ihm für die anderen
Schichten des Darmes nicht gelang ein charakteristisches Verhalten
herauszufinden, auch gekreuzte Figuren, wie sie Hofmann und Ka¬
tayama beschrieben haben, konnte er nicht constatiren. Ucbrigens
werden solche Resultate auch niemals der Wirklichkeit genau ent¬
sprechen, da die Versuche ja an Leichen vorgenommen sind, wo im
Augenblick des Zustandekommens der Verletzung wichtige Factoren,
wie Bauchpresse und Peristaltik etc. fehlen.
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
26
Dr. Wegener,
Was nun die Gefahren der penetrirenden Darmverletzungen an¬
belangt, so können wir darüber kein besseres Urtheil anführen als
den oben erwähnten Ausspruch Charles Bell’s, der gerade wegen
seiner Allgemeinheit Berühmtheit erlangt hat. Specieller drückt sich
Henke 1 ) aus, indem er sagt: „Verletzungen von Gedärmen, die ein¬
fach sind, haben um so weniger Gefahr, je weiter sie vom Magen
entfernt, je kleiner sie sind, und je leichter sie mit der äusseren
Wunde zusammenheilen können. Kleine Hieb- oder Stichwunden sind
daher nicht tödtlich. Auch ist eine gänzliche Durchschneidung des
Darms, ja sogar eine Verletzung, wodurch ein Theil des Darms ver¬
loren geht, nicht immer tödtlich. Selbst die Bildung eines künst¬
lichen Afters ist in solchem Falle nicht unbedingt nöthig, und dieser
hat um so weniger Gefahr, je tiefer unten im Darmcanal er ist.
Mehrfache und complicirte Darmwunden aber, die mit Zerreissung
und Zerquetschung verbunden sind, sind sehr gefährlich und oft,
wegen unabwendbaren Uebergangs in Brand, nothwendig tödtlich.
Bei eindringenden Wunden werden die Gedärme übrigens nicht selten
durch ihre Schlüpfrigkeit geschützt, hingegen drängen sie sich leicht
aus der Wunde hervor, entzünden sich und werden, wenn sie nicht
bald zurückgebracht werden, brandig.“ Im Allgemeinen können wir
auch heutzutage noch diese Thesen unterschreiben, nur im Beson¬
deren haben unsere Anschauungen einige Aenderungen erfahren.
Die nächste Gefahr ist abgesehen vom Shok, den wir bereits
früher betrachtet haben, die Blutung, doch pflegt dieselbe selten er¬
heblich zu sein, da der Darm nur Gefässe geringen Calibers besitzt.
Stärkere, das Leben gefährdende Blutungen treten nur ein, wenn die
Gefässe des Mesenteriums oder andere grössere Gefässe in der Bauch¬
höhle mitverletzt werden.
Eine weitere Gefahr beruht darin, dass durch das verletzende
Instrument Fäulniss und Entzündung erregende Mikroorganismen in
die Bauchhöhle eingeführt werden, sei es dass dasselbe von vorn¬
herein verunreinigt war, sei es dass es erst beim Durchdringen der
schmierigen Kleider und der schmierigen Körperoberfläche des Ver¬
letzten verunreinigt wurde. Auf diese Weise kann selbst die kleinste
penetrirende Wunde tödtlich werden. Am reinsten werden immer
noch die Projectile der Schusswaffen sein, vorausgesetzt, dass nicht
Fetzen von Kleidungsstücken mit in die Bauchhöhle hineingerissen
1) Ilenko, Lehrbuch der gerichtl. Medicin. 1838.
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSITÄT OF IOWA
Zur gerichtsärztlichen Beurtheilung der Darmverletzungen.
27
werden. Die Gefahr des Eintritts von Entzündungserregern in die
Bauchhöhle wird noch erhöht durch den eventuellen Vorfall von
Darmschlingen. Ist die Zusammenhangstrennung der Bauchdecken
gross genug, dass Darmschlingen vorfallen können, was oft mit
ausserordentlicher Schnelligkeit geschieht, so wird der Verletzte sic
mit seinen schmierigen Händen zurückzuhalten, eventuell durch das
Loch zurückzuschieben suchen. Da dieses meist nicht gelingt, so
wird der Vorfall mit mehr oder weniger schmutzigen Tüchern bedeckt
bis zur Ankunft des Arztes. Wenn dann Darmschlingen auch noch
so sorgfältig gereinigt werden, bevor sie reponirt werden, so ist doch
der Eintritt einer eitrigen Bauchfellentzündung nicht zu verwundern.
Ganz abgesehen von der gebotenen Gelegenheit von Entzündung
erregenden Mikroorganismen, trägt selbst das längere Verweilen des
Darmes ausserhalb der Bauchhöhle insofern schon grosse Gefahren in
sich, als dadurch eine ausserordentlich grosse und rasche Abkühlung
des Peritoneum eintritt, welche weit schneller vor sich geht als auf
der äusseren Haut, da jenes feucht und nicht wie diese trocken und
mit Haaren besetzt ist. Alle darüber angestellten Experimente haben
ergeben, dass eine starke Abkühlung des Peritoneum reflectorisch einen
paralytischen Einfluss ausübt auf das Herz, welcher so stark sein
kann, dass unter Collapserscheinungen der Tod eintritt. Wird nicht
früh genug Wärme hinzugeführt, oder ist die Abkühlung eine sehr
grosse gewesen, so kann das Leben nicht mehr gerettet werden (Nuss-
baum), und eine durch Wärme erzeugte Besserung ist nur vorüber¬
gehend. Interessant sind die Experimente Wcgner’s darüber: Legte
er auf den blossgelegten Kaninchendarm Eis, so stand fast augen¬
blicklich das Herz still, liess er warme Dämpfe darüber hinstreichen,
so konnte dies 7—8 Stunden ohne Beschädigung des Versuchsthieres
geschehen, und weder Herz- noch Lungenthätigkeit wurden beeinflusst.
Schon bei Abkühlung bei 32° wurden Herz- und Lungenthätigkeit
sehr schwach und die Thiere somnolent. Es ist wohl kaum zweifel¬
haft, dass es sich hierbei um eine directe Einwirkung auf den Hem¬
mungsnerven des Herzens, den Vagus, handelt, und dass der Tod in
derselben Weise eintritt wie beim Shok.
Die Hauptgefahr bei allen Darmperforationen besteht in dem Aus¬
tritt von Koth in die Bauchhöhle und der dadurch verursachten Bauch¬
fellentzündung. Je kleiner die Perforationsöffnung ist, um so leichter
wird dieses verhindert werden können, da die Schleimhaut des Dar¬
mes sofort vorzuquellen pflegt und einen Abschluss bildet. Ungestraft
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
28
Dr. W egen er,
wird daher mit einem dünnen Troikart der gelähmte stark aufgetrie¬
bene Darm durch die Bauchdecken hindurch punktirt, um die Gase
herauszulassen. Ebenso können Schrotschüsse, wenn sie nicht aus
unmittelbarer Nähe abgefeuert und dadurch Zerreissungen verursacht
werden, anstandslos heilen. A. Köhler (Charite-Annalen 1885) be¬
richtet von einem 22jährigen Schriftsetzer, der sich eine Schrotpatronc
in den Bauch geschossen hatte und nach 14 Tagen wieder geheilt
war. Bram an n (Berl. klin. Wochenschr.) erzählt von einer doppel¬
ten Dünndarmschusswunde, wobei die Darmöffnung beiderseits durch
Vorquellen der Mucosa luftdicht verschlossen war. Zur Vorsicht wurde
noch ein Nahtverschluss angelegt. Bull (Amer. med. News 1885)
berichtet von einem 22jährigen Manne, bei dem 17 Stunden nach
einer Bauchschussverletzung Laparotomie gemacht wurde. Der Darm
war an 6 Stellen verletzt, jedoch hatte sich überall die Schleimhaut
nach aussen gestülpt und so einen Verschluss gebildet. Die Löcher
wurden trotzdem noch mit Lembert’schen Nähten verschlossen. Die
Heilung wäre vielleicht auch ohne Vernähung eingetreten. Das Vor¬
quellen der Schleimhaut wird von Kirstein, der darüber experimen¬
telle Studien am Hundedarm machte, nicht für einen passiven (Pro¬
lapsus tunicae mucosae), sondern für einen activen (Retractio tunicae
muscularis) Vorgang gehalten, der zustande kommt durch das Zurück¬
ziehen der Muskelhaut und gleichzeitiges Herausziehen der Schleimhaut.
Unter günstigen Umständen, wiewohl sehr selten, kann sich die
verletzte Darraschlinge sofort der äusseren Bauchwunde anlegen, so-
dass kein Koth in die Bauchhöhle kommt, sondern direct nach aussen
entleert wird. Es entsteht dann ein Anus praeternaturalis, der auch
häufig chirurgisch angelegt wird, um den Abfluss des Kothes zu be¬
werkstelligen. Doch ein widernatürlicher After ist für den damit Be¬
hafteten kein beneidenswerther Zustand. Oftmals wird er durch Ope¬
ration geheilt, oft aber besteht er lange Zeit und giebt durch Erregung
von chronischen Eczemen in der Umgebung sowie durch mangelhafte
Ausnützung der Nahrungsstoffe Anlass zum Verfall in Siechthum (§ 224
D. Str.-G.). Aber auch die Operation eines Anus praeternaturalis ist
nicht ohne Gefahr, wie wir an dem oben angeführten Beispiele von
Croft sehen, wo dieselbe den Tod zur Folge hatte, und wenn auch
schliesslich eine vollständige Heilung eintritt, so können doch die ein¬
getretenen narbigen Verengerungen und Stricturen des Darms das
Leben unerträglich machen, ja, wie wir bei den spontanen Rupturen
gesehen haben, später dennoch zum Tode führen. Sehr kurzsichtig
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSITÄT OF IOWA
Zur gerichtsärztlichen Beurlheilung der Dannverletzungen. 29
scheint mir daher jener Gerichtsarzt in einem Falle, den Caspcr-
Liman (I. S. 293) erwähnt. Eine Frau erhielt einen Stich in den
Unterleib, es entleerte sich Koth aus der Wunde, trotzdem schloss
sich dieselbe schnell und die Frau blieb ganz gesund. Da nun keine
der in § 224 des Deutschen Str.-G.-ß. bezeichneten Folgen eingetreten
war, so war der Gerichtsarzt in die sonderbare Lage versetzt eine
perforirende Darmwunde als leichte Verletzung begutachten zu müssen.
Unter allen Umständen sollte eine perforirende Darmwunde als eine
besonders schwere Verletzung betrachtet werden, wenn sie auch zu¬
nächst gut ablaufen sollte, denn wer garantirt dafür, dass sie nicht
über Jahr und Tag Stricturen etc. im Gefolge hat.
Wenn trotz des Vorquellens der Mucosa und trotz der gegen¬
seitigen elastischen Compression der Därme eine geringe Menge Darm¬
inhalt ausgetreten ist — gross darf sie jedenfalls nicht sein —, so
ist dennoch ein verhältnissmässig günstiger Ausgang möglich, indem
sich schnell vermöge der raschen Exsudationsfähigkeit der serösen
Häute Adhäsionen und Verlöthungen bilden, welche stark genug sind
einen später drohenden grösseren Kotherguss aufzuhalten und abzu¬
kapseln. Es entsteht dann eine circumscripte Peritonitis, die, falls
sie nicht zu einer allgemeinen wird — was zu jeder Zeit eintreten
kann, indem die gebildeten Verwachsungen mechanisch durch Gase
und Peristaltik, chemisch durch Eiter und Darmsaft gelöst werden —,
abgekapselt bleibt, den gebildeten Eiter in den Darm entleert und
schliesslich ausheilen kann. Selbst die Projectile können auf diese
Weise in den Darm gelangen und durch den Stuhl entleert werden.
So berichtet A. Köhler (Charite-Annalen 1893) über einen perfori-
renden Bauchschuss, der spontan verheilte und bei dem das Geschoss
durch den Stuhl abging.
Am günstigsten für den Eintritt einer abgckapsclten Entzündung
liegen die Verhältnisse, wenn die Perforationsstelle an einer vom
Bauchfell freien Seite liegt. Es entsteht dann ein extraperitonealer
Kothabscess, welcher zu weit ausgedehnter Eiterung und Jauchung
führen kann, der aber doch mehr Chancen zur Heilung bietet, als
ein intraperitonealer. Auch bei solchen günstig verlaufenden Fällen
wird der Gerichtsarzt in seinem Urtheil auf die eventuell später ein¬
tretenden Folgen hinweisen müssen. Denn es ist bekannt, dass in
solchen Fällen stets Verwachsungen der Bauchorgane Zurückbleiben,
welche zu inneren Einklemmungen oder heftigen Koliken Veranlassung
geben können. Oft bleiben auch langdauernde fistulöse Eiterungen
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
30
Ür. Wegener,
nach solchen abgckapseltcn peritonitischen Eiterungen zurück, welche
in der verschiedensten Weise mit den Unterleibsorganen coramuniciren
können und oft nach Jahren durch Marasmus zum Tode führen.
Die Verletzungen des Dünndarms haben die grösste Mortalität,
die Wunden des Dickdarms sind im Allgemeinen nicht so gefährlich,
wie die des Dünndarms, weil der erstere nur zum Theil vom Bauch¬
fell überzogen ist und daher der austretende Koth zuweilen zu einem
extraperitonealen Kothabscess führt. Am häufigsten hat man nach
Tillmanns Heilungen eintreten sehen nach Verwundungen des Coe-
cum und des aufsteigenden Colon, dann am Colon descendens und
unteren Mastdarm. Im Allgemeinen gilt der Satz, dass die Ver¬
letzungen des Darms um so gefährlicher sind, je höher hinauf sie
stattfinden. Aber selbst Perforationen des untersten Darmabschnittes,
des Mastdarms, haben noch eine Mortalität nach Marion Sims 1 )
von 42,7 pCt.
Fast ohne Ausnahme zum tödtlichen Ausgange führt die perfo-
rirende Darrawunde, wenn die vorher erwähnten günstigen Zufälle
nicht eintreten und sich aus der circumscripten Peritonitis oder sofort
nach dem Kothaustritt eine allgemeine septische Peritonitis entwickelt.
Der Verletzte wird dann von heftigem Erbrechen und Singultus be¬
fallen, wodurch der ausgetretene Koth schnell über das ganze Peri¬
toneum verrieben wird; heftige Schmerzen, starker Meteorismus, kleiner
Puls, hohes Fieber, flache Athmung infolge der Hinaufdrängung des
Zwerchfells und der oft colossalen Ausdehnung der gelähmten Därme
etc. treten ein. Der Tod tritt am 4. bis 6. Tage, häufig bereits
innerhalb 24 Stunden ein. Es ist viel darüber gestritten, wodurch
der Tod bei septischer Peritonitis verursacht wird. Nach den Ex¬
perimenten Wcgner’s kann dies wohl kaum zweifelhaft sein. Nach
ihm ist die Quadratfläche des Bauchfells jener der äusseren Haut
nahezu gleich, sie beträgt 17182 qcm, während jene eine Oberfläche
von 17502 qcm hat. Infolge dieser colossalen Ausdehnung vermag
das Bauchfell in zwei Tagen ein Exsudat, welches dem Körpergewicht
gleichkommt, sowohl zu liefern, als auch zu resorbiren. Magen und
Darm haben selbst eine viel langsamere Resorptionsthätigkeit. Eine
ganz kleine Quantität Chloralhydrat wirkt z. B., wenn sie in die Peri¬
tonealhöhle gebracht wird, fast augenblicklich schlafmachend. Wenn
1) Brit. med. Journ. 1881.
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITÄT OF IOWA
Zur gorichtsärztlichen Beurtheilung der Darmverletzungen.
31
wir nun bedenken, dass selbst kleine Abscesse im Körper hohes
Fieber bewirken können, und dem gegenüberstellen die grossen Mengen
giftigen Eiters, welche bei einer Peritonitis gebildet und resorbirt
werden, so wird es nicht zweifelhaft erscheinen, dass durch Resorption
dieser grossen Mengen von giftigen Stoffen und Toxinen eine allge-
gemeine Blutvergiftung hervorgerufen wird, welche schnell und sicher
zum Tode führt. Die reflectorische Einwirkung auf das Herz- und
Gefässnervensystem kommt hierbei sicher erst in letzter Linie in Be¬
tracht, jedenfalls dürfte eine Erklärung des Todes an Peritonitis durch
Shok wenig Wahrscheinlichkeit für sich haben, man müsste sonst
Shok mit Collaps identificiren. Bei der Section an eitriger septischer
Peritonitis Gestorbener findet man den Darm stark aufgetrieben, das
Bauchfell stark hyperämisch, die Darmschlingen verklebt und mit
schmutzigen, fibrinös-eitrigen Auflagerungen versehen. In der Bauch¬
höhle findet sich ein mehr oder weniger grosser eitriger Erguss, der
mit Koth untermischt ist. Oftmals, und gerade bei den schwersten
Formen von Peritonitis, wo der Tod sehr rasch unter zunehmendem
Collaps eintritt, findet man nur wenige Veränderungen in der Bauch¬
höhle, vielleicht nur eine Trübung an einzelnen Stellen des Peritoneum
und eine leichte Verklebung des Darmes. In solchen Fällen müssen
wir annehmen, dass die Stoffwechselprodukte der Mikroben, die Toxine,
besonders giftige Eigenschaften gehabt haben. Bakteriologisch handelt
es sich um Staphylococcus und Streptococcus pyogenes. Hat der
Gerichtsarzt bei der Obduction einer an Darmverletzung gestorbenen
Person den pathologisch-anatomischen Befund einer septischen Peri¬
tonitis festgestellt, so wird er nicht anstehen, dieselbe als Todes¬
ursache nach § 226 des Str.-G.-B. zu Protokoll zu geben.
Sollte es sich um die Frage, ob Mord oder Selbstmord vorliegt,
handeln, so muss der Gerichtsarzt auf die Beschaffenheit der Wunde,
ob der Sitz derselben und der Wundcanal derartig sind, dass sie von
eigener Hand beigebracht sein kann, sowie auf die äusseren Umstände,
in denen die Leiche gefunden wurde, ob noch andere Verletzungen
vorhanden sind oder ob Spuren eines vorangegangenen Kampfes auf¬
zufinden sind, recurriren. Bei Schussverletzungen kommt besonders
in Betracht, ob der Schuss aus unmittelbarer Nähe abgefeuert ist, ob
die Kleidungsstücke verbrannt und ob Pulverkörner in der Umgebung
der Wunde eingesprengt sind. Im Allgemeinen kommen Darmver¬
letzungen bei Selbstmördern nicht sehr häufig zur Beobachtung, wohl,
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
32
Dr. Wegcner,
wie Soramcrbrodt 1 ) meint, aus dem Grunde, weil der Laie die
Bauchverletzungen für weniger gefährlich, zum mindesten nicht für
sofort tödtlich hält. Auch das Bauchaufschlitzen ist bei den Deutschen
nicht so in Mode, wie bei den Japanesen, bei denen es wohl noch
aus jener Zeit stammt, wo eine derartige Selbsthinrichtung missliebig
gewordener Staatsbeamten (Harakiri) noch im Schwünge war. Immer¬
hin darf diese notorische Seltenheit der Bauchverletzungen bei Selbst¬
mördern für den Ausschluss eines Selbstmordes nicht in Betracht ge¬
zogen werden, da oftmals die Phantasie der Selbstmörder, wie Casper
treffend bemerkt, unberechenbar ist und manchmal auf die grillen¬
haftesten Proceduren verfällt (II. S. 291). Ich selbst habe am Orte
innerhalb zweier Jahre 2 mal Selbstmord durch Bauchaufschlitzen er¬
lebt. Der erste Fall kommt nicht in Betracht, weil keine Verletzung
des Darmes vorlag, sondern nur eine tiefe Stich-Schnittwunde der
Leber, die nach Tamponade mit Jodoformgaze in wenigen Tagen
heilte. Im zweiten Falle hatte sich der Selbstmörder, ein Bergmann,
eine quer über den Bauch, dicht oberhalb des Nabels verlaufende,
10 cm lange Wunde beigebracht, welche von dem vorgefallenen Netz
bedeckt war. Unter dem Netz lag ein gleichfalls vorgefallenes Stück
Dickdarm, welches in einer Ausdehnung von 5 cm vom Mesenterium
abgetrennt und eine ebenso grosse Zusammenhangstrennung zeigte.
Der Tod erfolgte 12 Stunden nachher. Ich werde auf diesen Fall
später noch zurückkommen.
Briggs (Boston med. Joum. 81) berichtet den Selbstmord eines
20jährigen Frauenzimmers durch Pistolenschuss, wodurch der Darm
verletzt wurde.
Lau gier 2 ) erwähnt einen Geisteskranken, der sich 145 Messcr-
verletzungen beibrachte, darunter 5 Einstiche in die Nabelgegcnd,
durch welche 7 Darmschlingen verletzt wurden.
Bauchschüsse scheinen sich vorwiegend Soldaten in selbstmörde¬
rischer Absicht beizubringen und sich meistens ihres Gewehrs hierzu
zu bedienen. Sommerbrodt erwähnt den Selbstmord eines Pioniers
des Eisenbahnbataillons, der die Mündung des Gewehres gegen den
Bauch setzte und sich erschoss, indem er mit der Hand abdrückte.
Ein Nachmessen der Länge der Arme und des Laufes und ein even¬
tuelles Vorfinden eines räumlichen Missverhältnisses wird den Selbst-
1) Yierteljahrsschr. f. pract. Heilk. Bd. 140. Prag 1878.
2) Annales d’hygiene publ. et de med. lögale. Mai 1889.
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
Zur gerichtsärztliohcn Bourtheilung der Darm Verletzungen.
33
mord nicht ausschHessen, denn der Betreffende kann sich einer künst¬
lichen Schussvorrichtung bedienen oder sich, wie jener 17 jährige Cadctt,
mit dem Bauche über die Mündung beugen und den Drücker mit dem
Fusse abdrücken (Neudörffer, cit. bei Sommerbrodt).
Ob beabsichtigter oder zufälliger Selbstmord durch Losgehen eines
Gewehres vorliegt, läuft forensisch auf dasselbe hinaus, insofern cs
sich um Ausschluss fremder Schuld handelt. Liegen aber Zweifel
vor, ob Mord oder zufälliger Selbstmord anzunehmen ist, so wird für
den Gerichtsarzt, wenn aus den äusseren Umständen keine Schlüsse
gezogen werden können, die Feststellung der Schussrichtung und der
muthmasslichen Entfernung von Wichtigkeit sein. Solche Fälle kommen
wohl mal auf der Jagd vor, wenn ein Jäger mit schussbereiter Flinte
fällt und ihm die Ladung in den Bauch geht. Ich habe selbst einen
derartigen Fall vor Augen, wo ein Herr todt im Walde gefunden
wurde mit einem Schuss im Unterleib. Es war offenbar, dass der
Mann durch Unvorsichtigkeit um’s Leben gekommen war; nichtsdesto¬
weniger tauchten andere Gerüchte auf. Auch folgender Fall ist denk¬
bar: Ein Forstbeamter will einem Wilderer das Gewehr abnehmen.
Beide ringen um das Gewehr, der Schuss geht los und fährt dem
Förster in den Bauch und zerreisst ihm den Darm. Der Förster wird
todt aufgefunden, aber auch der Wilderer wird entdeckt und wegen
Mordes angeklagt. Der Gerichtsarzt stellt aus der Beschaffenheit der
äusseren Wunde und der Zerrissenheit des Darmes fest, dass der
Schuss aus unmittelbarer Nähe abgefeuert ist, und kommt ferner in
Anbetracht, dass der Schusscanal von oben nach unten verläuft, dass
also das Gewehr beim Losgehen nicht in einer beim beabsichtigten
Abfeuern gewöhnlichen Haltung sich befunden hat, zu dem Schlüsse,
dass das Gewehr beim Ringen von selbst sich entladen haben könnte
und cs sich möglicher Weise nicht um Mord, sondern um fahrlässige
Tödtung handeln könne.
Meistens wird allerdings, sofern nicht noch andere lebenswichtige
Unterleibsorgane mitverletzt sind oder nicht plötzlicher Shok eintritt,
der Verletzte im Stande sein, noch selbst Aussagen zu machen, da
die Erfahrung lehrt, dass Darm Perforationen für sich allein fast nie
augenblicklich den Tod herbeiführen. Diese Thatsache ist für den
Gerichtsarzt wichtig bei der Beurtheilung, wie lange Denatus nach
der Verletzung noch gelebt hat, eventuell ob es möglich sei, dass der¬
selbe vor seinem Tode noch irgend eine Handlung unternommen habe.
Man hat Leute mit zerschossenem und vorgefallenem Darm, den Vor-
Vierteyalirsschr. f. gcr. Med. Dritte Folge. XIV. Suppl.-Heft. o
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
34
Dr. Wegen er,
fall in der Hand tragend, noch grosse AVegesstrecken gehen sehen.
König berichtet von einem derartig Verletzten, dass er, die heraus¬
getretenen Eingeweide mit der Hand zusammenhaltend, noch ca. 470 m
ging und dann mit Unterstützung noch eine Treppe erstieg. Bei der
Obduction zeigte sich ausser vielfacher Durchlöcherung des Darmes,
dass sogar noch das Hüftbein in 4 Stücke zerschmettert war. Ebenso
sah Neudörffer (1. c.) die beiden ersten Verwundeten von Solferino,
beide mit A^orfällen, das eine Mal des verletzten, das andere Mal des
unverletzten Darmes, den Weg von ca. 3000 Schritt bis zum Verband¬
platz in 25—23 Minuten zurücklegcn.
Auch wenn sich neben der Darmperforation noch eine andere
Todesursache findet, muss der Gerichtsarzt bei seiner Beurtheilung
davon ausgehen, dass der Tod nach Darmperforation selten in wenigen
Minuten cintritt. Hat beispielsweise bei einer Rauferei Jemand einen
Stich in den Unterleib mit Perforation mehrerer Darmschlingen be¬
kommen, von einem Anderen aber einen Stich in die Brust, der stark
geblutet hat, und findet er bei der Obduction allgemeine Blutleere,
im Bauche aber nur einen mittelmässigen blutigen Erguss, so wird
er der Darmverletzung die Priorität der Todesursache nicht einräumen
können.
Sollte es einmal in Frage kommen, ob eine Darmverletzung schon
im Leben oder erst an der Leiche beigebracht werden ist, so wird
man nach gehöriger Berücksichtigung der allgemeinen Umstände des
bet reffenden Falles auf diis A r orhandensein oder Fehlen der sogenannten
vitalen Rcactionserscheinungen recurriren müssen. Diese bestehen in
blutiger Imbibition und entzündlicher Schwellung der Wundränder. In
den meisten Fällen werden sich sowohl an der AAVinde des Darmes,
wie an der äusseren Bauchwunde diese Erscheinungen fcststellcn lassen,
und damit w'ird die Entstehung bewiesen sein, allein es können auch
Fälle ein treten, wo die Unterscheidung schwierig, ja unmöglich sein
kann. Noch Casper 1 ), gestützt auf die bei seinen Untersuchungen
sich ergebende verschiedene Resistenz des lebenden und todten Ge¬
webes, auf den Mangel der Ecchymosirung, auf den mangelnden Blut¬
erguss in den Kanälen und auf das Lciehcnaussehcn der AVundränder,
hält eine Verwechslung von A T erletzungen an Leichen und Lebenden
für unmöglich, allein neuere Untersuchungen haben das Gegentheil er¬
geben, besonders für die Schussverlctzungcn. Leider, bemerkt Som-
1) 2. Hundert von gerichtlichen LeichcnülTnungen.
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Zur gcricliUsärzllichen BouiTheilung der Darm Verletzungen.
35
mcrbrodt, wiederholt sieh hier die Erscheinung, dass auf gewissen
Gebieten der gerichtsärztlichen Praxis mit der wachsenden Erfahrung
die Zweifel häufig eher zu- als abnehmen. Fehlen äussere Wunden,
z. ß. bei einer durch einen Schlag auf den Bauch eingetretenen Darm¬
ruptur, und ist man lediglich auf eine Darrawunde bei der ßeurtheilung
angewiesen, so kann die Entscheidung noch schwieriger werden, da
ja bekanntermassen der Darm nur geringe Neigung zur vitalen Reaction
zeigt. Auch die sich intra vitam vollziehende, früher besprochene
Ausstülpung der Mucosa wird nicht immer einen sicheren Anhalts¬
punkt geben, da in der Agone noch eine kräftige Peristaltik vorhanden
zu sein pflegt und durch die Contractionen der Muscularis noch nach
dem Tode der Schleimhautvorfall hervorgebracht sein kann. Der Ge¬
richtsarzt wird dann immer nur sagen können, dass die Verletzung
bei Lebzeiten oder kurz nach dem Tode beigebracht worden ist. Wird
endlich längere Zeit nach Beibringung der Verletzung, womöglich bei
exhumirten Leichen, die Obduction vorgenommen, so wird eine sichere
Entscheidung unmöglich sein, da die Därme ziemlich früh verwesen,
weich werden und zum Platzen kommen. Diese cadaveröse Erwei¬
chung kann schon nach wenigen Tagen eintreten und zu Irrthümern
Veranlassung geben. So fand Majer (Fricdreich’s Bl. 1873) bei
der Obduction einer an Peritonitis gestorbenen Puerpera, welche
11 Tage nach dem Tode obducirt wurde, eine ovale, 1 1 J 2 Zoll grosse
Oeffnung im Dünndarm. Wegen des Mangels jeder Spur von vitaler
Reaction entschied er sich dafür, dass diese Zusammenhangstrennung
eine cadaveröse Erscheinung sei.
Zum Schluss kommen wir zu denjenigen Verletzungen des Darmes,
welche ärztlichen Kunstfehlern zur Last gelegt werden können. Am
häufigsten geschehen von ärztlicher Seite Verletzungen des Mastdarms.
Der Chirurg kommt häufig in die Lage, das Rectum absichtlich oder
unabsichtlich zu verletzen. Namentlich wird bei Ausführung des Stein-
sclmittcs vom Damme aus der Mastdann leicht angeschnitten, jedoch
passirt dieses auch den berühmtesten Operateuren und dürfte darum
kaum forensisches Interesse gewinnen. Auch bei Geburten, nament¬
lich bei Zangenextractionen, wenn der Kindskopf gross und die mütter¬
lichen Theile rigide und eng sind, wird ein Riss oft weit in den Mast¬
dann hinein zustande gebracht. Für solchen completen Dammriss
wird jedoch der Geburtshelfer, auch wenn er manches Mal nicht ohne
Schuld ist, kaum zur Verantwortung gezogen werden können, denn,
wie Sch ro cd er sagt, rcissen die Därme oft wie Zunder und lassen
3*
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITÄT OF IOWA
Dr. Wegen er,
36
sich hei aller Vorsicht und Geschicklichkeit oft Risse nicht vermeiden.
Die Folgen werden auch meistens, wenn der Arzt solchen Riss sofort
vernäht, was seine Pflicht ist, selten, mag er auch nur unvollständige
sccundäre Heilung erzielen, derartige sein, dass eine Schädigung der
Wöchnerin durch dauerndes Siechthum infolge Incontinentia alvi her¬
beigeführt wird. Bei unterlassener Naht dagegen kann der Arzt, da
Spontanheilungen nur selten sind und spätere operative Beseitigungen
der Mastdarminsufficienz grosse Schwierigkeiten und oft mangelhafte
Resultate haben, gerichtlich herangezogen werden. Ferner kann das
Einführen der ganzen Hand in den Mastdarm, sowie das unvorsichtige
Einführen von Bougies Risse und Perforationen des Mastdarmes her¬
beiführen.
Curling (cit. bei Mantzel) sah in der Sammlung des Guy’s
Hospitals einen vollständig gesunden Mastdarm, den ein Wundarzt in
der Meinung, eine Strictur vor sich zu haben, 14 Zoll oberhalb des
Afters mit einer Kerze durchbohrt hatte, so dass der Tod infolge von
Peritonitis eintrat.
Aber nicht nur der Mastdarm, sondern auch der übrige Darm
ist bei Geburten bereits verletzt worden. Die unglaublichsten Vor¬
kommnisse werden in dieser Hinsicht erzählt.
Klusemann 1 ) berichtet über einen Fall, wo eine Hebamme bei
einer Erstgebärenden die Nachgeburt manuell zu entfernen versuchte.
Nach langem Herumbohren in den Genitalien, riss sie mit einer er¬
heblichen Kraftanstrengung aus der laut schreienden Frau ein Stück
Darm heraus. Der Tod trat nach 3 Tagen ein. Die Hebamme war
gar nicht in den Uterus hineingekommen, sondern hatte das hintere
Scheidengewölbe perforirt und ein Convolut Darmschlingen, darunter
das total vom Colon ascendens abgerissene Coecum nebst Processus
vermiformis herausbefördert.
In Lode’s Journal für Chirurgie vom Jahre 1799 finden sich
4 ähnliche Fälle. In einem dieser Fälle perforirte ein Arzt ebenfalls
beim Herausholen der Nachgeburt den Uterus, zog ein Stück Darm
heraus und befahl der Hebamme dasselbe abzuschneiden.
Einen völlig analogen Fall finden wir von Rump 2 ) referirt, bei
welchem noch als erschwerende Umstände vorhanden waren, dass die
Hebamme den Arzt erst darauf aufmerksam gemacht hatte, dass das
1) Casper’s Viertcljalirsschr. Bd. 9. S. 2öS.
2) Zeit sehr. f. Med.-Beamte. V. Jalirg. 1892.
Digitized by
Gck gle
Original from
UNIVERSITÄT OF IOWA
Zur gerichtsärztlichen Beurtheilung der Darmverletzungen. 37
herausgerissene Stück Darm sei, und dasselbe erst auf seinen Befehl
und auf seine Verantwortung abgeschnitten hatte. Gegen den be¬
treffenden Arzt wurde auf Antrag der Königl. Staatsanwaltschaft die
Anklage erhoben durch Fahrlässigkeit den Tod der Frau verursacht
zu haben und zwar unter Ausserachtlassung der Aufmerksamkeit, zu
welcher er vermöge seines Berufs besonders verpflichtet war (§ 222,
Abs. 1 und 2 des Str.-G.-B.). Es erfolgte darauf die Verurtheilung
zu 6 Wochen Gefängniss und Tragung der Kosten. Solche Vorkomm¬
nisse beweisen, dass nicht nur auf die Ausbildung der Hebamme, die
ja häufig genug gemeingefährliche Personen sind, sondern auch der
Aerzte in dieser Beziehung Gewicht gelegt werden muss, und dass
nicht die beiden obligaten Geburten, bei denen der Candidat der Me-
dicin doch nur das Zuschauen zu haben pflegt, zum Staatsexamen
ausreichend sein dürfen. Wenn ich noch nach ca. 80 meist compli-
cirten Geburten als Hauspraktikant in der Königl. Frauenklinik zu
Berlin auf die gewöhnlich ungeheuerlich klingende Meldung der Heb¬
amme hin mit Herzklopfen hingefahren zu sein mich erinnere, so
dürften wohl weniger Geübte bei einer vorkommenden stärkeren Nach¬
geburtsblutung leicht den Kopf verlieren. Leider ist an kleinen Uni¬
versitäten das Material ein derartig geringes, dass Internisten oft vier
Wochen lang auf ihre Examensgeburt warten müssen.
Leichter verständlich und weniger belastend für den Arzt dürfte
wohl das Fehlen in den Fällen sein, wo es sich um die Unterschei¬
dung eines eingeklemmten Bruches und der Ruptur des im Bruchsack
liegenden Darmes handelt. Leicht kann cs passiren, dass infolge
einer Contusion eines Leistenbruchs der im Bruchsack befindliche
Darm platzt und vom Arzte, welcher wegen der heftigen Schmerzen
und des Tumors in der Leistengegend auf eingeklemmten Bruch dia-
gnosticirt, Reposition gemacht wird, infolgedessen dann der Koth
in den Bauch gedrückt wird und eine septische Peritonitis eintritt.
B. Cooper erzählt von einem 40jährigen Manne, der einen
Fusstritt in die rechte Weiche bekam, wo er nie einen Bruch be¬
merkt hatte. Es wurde eine Hernia inguinalis constatirt und reponirt.
Bald darauf starb der Verletzte unter den Zeichen einer Peritonitis.
Die Obduction ergab einen Riss im Darm.
Jobert de Lamballe berichtet, dass ein Mann einen Schlag
mit einem Stock auf eine alte Inguinalhernie bekam. Nach einigen
Repositionsversuchen wurde glücklicher Weise Incision gemacht, der
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
38 Dr. Wegcncr,
Vorgefundene Darm vernäht und der Darm reponirt. Am folgenden
Tage Tod an Peritonitis.
Chavignez: Ein 54 jähriger Maurer erhält einen Fusstritt auf
einen alten Leistenbruch. Reposition. Tod an Peritonitis. Die Ob-
duction ergab eine Ruptur des Darmes.
Duguet: 25 jähriger Mann erhält einen Schlag in die rechte
Weiche. Reposition eines Bruches. Tod nach 25 Stunden an allge¬
meiner Peritonitis infolge Darmruptur.
Eine solche Darmruptur kann also leicht eine eingeklemmte
Hernie Vortäuschen, doch dürfte solcher Lapsus, wie die vorstehenden
Fälle zeigen, auch berühmten Chirurgen passiren und darum kaum
Gegenstand gerichtlicher Verhandlung werden.
Wegen Ausserachtlassens der Grundregeln der Antiseptik und
der Wundheilung wird man einen Arzt kaum zur Rechenschaft zu ziehen
haben, da solche heutzutage den Aerzten in Fleisch und Blut über¬
gegangen sind und selbst unbewusst selten vernachlässigt werden
dürften. Der Erfolg wird dagegen oft, und das trifft besonders für
die Darraverletzungen zu, den gestellten Erwartungen und Ansprüchen
nicht entsprechen, und da tritt die Frage auf: Inwieweit können
Misserfolge dem Arzte zur Last gelegt werden? Schon bei Be¬
sprechung der Gefahren haben wir gesehen, mit welchen Schwierig¬
keiten oft der Arzt zu kämpfen hat, und wie es oft nicht in seiner
Macht liegt auch bei günstigen Fällen den letalen Verlauf zu hindern.
Die Entfernung vom Arzte, die Unreinlichkeit der Kleider und des
Körpers des Verletzten, die Verunreinigung der Wunde, die oft denk¬
bar ungünstigsten Verhältnisse, unter welchen der Arzt seinen Beruf
auszuüben gezwungen ist, beeinflussen den Ausgang.
Nehmen wir den Fall an, einem Manne auf dem Dorfe sei im
Streite der Bauch aufgeschlitzt. Der Mann wird den vorgefallenen
und verletzten Darm mit seinen schmutzigen Händen festhalten, wenn
nicht zurückzubringen suchen und infolgedessen die ganze Oberfläche
mit Koth besudeln. Es vergeht oft lange Zeit, ehe der Arzt zur
Hand ist, in der Zwischenzeit wird darum der Vorfall mit keineswegs
aseptischen Tüchern bedeckt. Schliesslich erscheint der Arzt, ahnungs¬
los, dass es sich um eine solche Verletzung handelt, ohne ausreichende
Dcsinficientien und Instrumente. Bis alles zur Hand ist, sind ge¬
wöhnlich schon Stunden verflossen, und der Darm meistens kalt und
trocken, ln dem auf Seite 32 von mir erwähnten Falle kam der
Arzt ebenfalls ahnungslos an und fand den Verletzten bereits collabirt;
Digitized by
Gck gle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Zur gerichtsärztlichen Beurtheilung der Dannverletzungen.
30
der Puls war nicht zu fühlen, kalter Schweiss bedeckte die Stirn,
der vorgefallene Darm fühlte sich kalt an, die Scrosa war matt und
trocken. Nachdem die Instrumente ausgekocht, Desinficientien und
Verbandzeug herbeigeschafft waren, waren bereits 2 Stunden ver¬
gangen. Die Dauer der ohne Narkose vorgenommenen Naht bis zur
Schliessung der Bauchwunde dauerte ebenfalls 2 Stunden. Der Tod
erfolgte 12 Stunden nachher, ohne dass der Verletzte sich wieder er¬
holt hätte offenbar an Shok infolge der langen Abkühlung der Därme,
denn die Obduction ergab keinen fremden Inhalt in der Bauchhöhle,
keine Auflagerungen und Verklebungen, und die Nähte hielten voll¬
ständig dicht.
Man hat zwar die wunderbarsten Heilungen gesehen.
Nussbaura führt einen Fall an, den Gurlt im chirurgischen
Archiv von v. Langenbeck als Auszug aus einem englischen klini¬
schen Bericht mittheilt. Einem Hirtenknaben wurde von einem Widder,
welcher den mit ihm gemachten Spass nicht verstand, der Bauch
aufgcschlitzt, sodass die Gedärme und der Magen vorficlen. Der
Widder verfolgte den schwer verletzten Knaben. Dieser kroch, um
dem Widder zu entgehen, an einen Graben hin und liess sich in
denselben hinunterrollen. Dort lag er von Dornen und schmutzigem
Sande umgeben der Sonnenhitze ausgesetzt und wurde endlich ohn¬
mächtig. So fand man ihn nach mehreren Stunden und brachte ihn
in die Klinik. Die Gedärme waren voll Sand und Dornen und ganz
vertrocknet. Man weichte dieselben mit warmem Wasser auf, repo-
nirtc sie und schloss die Wunde. Der Verletzte genas.
Gal 1 ) berichtet von einer 45 jährigen Bäuerin, welcher von einer
Kuh die ganze linke Bauchseite aufgeschlitzt wurde, sodass die Därme
hcrausfielen. 9 Stunden später fand man sie, die Därme in ein
schmutziges Tuch gehüllt. Heilung in 3 Wochen.
Schetelig 2 ) erzählt von einem ebenso günstig verlaufenden
Falle und sagt: Wir sind gewohnt jedes unvorsichtige gewaltsame
und abkühlende Behandeln etwa vorgefallener in die Manipulation
hineingezogener Darmschlingen aufs äusserstc zu vermeiden. Hier
lag ein beträchtliches Stück Intestinum 9y 2 Stunden ausserhalb des
Peritonealraums, beschmutzt mit Fäces, Erde und Stroh, abgekühlt
durch grobe nasse Lappen, eingeschnürt und ödematös geschwollen
1) Wiener med. Presse. No. 21.
2) Bert. klin. Wochenschr. 1888.
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITÄT OF IOWA
40
Dr. Wegener,
und durch lividc Färbung Gefässstauung verrathend. Trotz alledem
Heilung in bester Form und 1100 h dazu bei einem 60 jährigen decre-
piden Manne.
Solche wunderbaren Heilungen sind zu allen Zeiten dagewesen,
sie gehören jedoch zu den Raritäten und setzen die eminente Gefähr¬
lichkeit solcher Verletzungen nicht herab. Mag jedoch der Fall auch
noch so aussichtslos erscheinen, so darf bei der Uebemahme der Be¬
handlung einer solchen Verletzung der Arzt nie vom Pessimismus,
dass der tödtliche Ausgang doch nicht zu vermeiden ist, befallen
werden, jedenfalls sein Handeln nicht dadurch beeinflussen lassen.
Stets ist es seine Pflicht, wenn auch grosse Mengen von mit Wunden
bedecktem Darm vorgefallen sind, solche kunstgemäss zurückzubringen,
oder die Zurückbringung wenigstens zu versuchen Wie die Erfahrung
lehrt, stösst die Zurückbringung allerdings häufig auf Schwierigkeiten,
indem die Darmmassen sich nicht durch die kleine Bauchwunde zu-
rückbringen lassen, sondern im Gegentheil bei den Repositionsver¬
suchen noch mehr vorfallen. Es bleibt dann dem Arzte weiter nichts
übrig, als die Bauchwunde zu erweitern, aber diese Erweiterung muss
exaet geschehen und die ganze Dicke der Bauchwand betreffen, weil
es sonst leicht, geschieht, dass die Gedärme nicht durch das kleine
Loch im Bauchfell in die Bauchhöhle zurückgelangen, soodern die
Zellgewebslagen zwischen den Muskeln und unter der Haut ausein¬
andergedrängt und geräumige Höhlen in der Bauchwand selbst ge¬
schaffen werden.
Rehm (Friedreich’s Bl.) berichtet über 3 solcher Fälle. Der
erste Fall betrifft einen Söldner M., der einen Messerstich in den
Unterleib erhalten hatte, infolgedessen Darmschlingen vorfielen. Der
Arzt vernähte die verletzten Därme, erweiterte die Hautwunde und
brachte die Därme zurück. Der Tod trat D /2 Tage nach der Ope¬
ration ein. Bei der Section fand man den vorgefallenen Dünndarm
in eine solche falsche Höhle eingebettet. Im 2. Falle wurde der
Häusler M. so in den Unterleib gestochen, dass verletzte Darraschlin-
gen vorfielen. Der Arzt vernähte den Darm und brachte das Packet
Därme zurück. Nach y 2 Stunde trat der Tod ein. Bei der Obduc-
tion fand man den Darm in eine falsche Höhle eingebettet. Im
3. Falle, wo ein Bauer F. ebenfalls einen Messerstich in den Unter¬
leib erhalten hatte, war gleichfalls zwischen Bauchfell und Bauchwan¬
dung eine Anzahl dunkelrother mehrfach verletzter Dünndarmschlingen
eingeklemmt, ln allen 3 Fällen hatten die Aerzte gegen die Regeln
Digitized by
Gck gle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Zur gerichtsärztlichen Beurtheilung der Darmverletzungen. 41
der Chirurgie gefehlt. Rehra knüpft folgende zutreffende Betrach¬
tungen daran: Abgesehen von der überaus gefährlichen Verletzung,
welche eine Bauchwunde mit Vorfall zahlreicher verletzter Dünndarm¬
schlingen darstellt, und abgesehen von der mit der Zurückbringung
derselben als unabwendbar geschilderten Gefahren, musste doch zur
Erzeugung der falschen Wege auf den vorgefallenen Darm eine un-
verhältnissmässige Gewalt ausgeübt werden, fernerhin wurde eine
neue umfangreiche Wundfläche geschaffen und auch in diese noth-
wendig die Gefahr einer Infection von aussen getragen. Für letzte
Verhältnisse und die daraus entstehenden Gefahren ist das Handeln
des Arztes verantwortlich zu machen. Nur die erfahrungsmässige
Wahrscheinlichkeit des tödtlichen Ausgangs dieser Bauchwunden auch
ohne das unrichtige ärztliche Handeln liess vor Gericht von der Frage
des Kunstfehlers abschen.
Ganz anders gestaltet sich die Beurtheilung der Handlungsweise
des Arztes, wenn es sich um Beantwortung der Frage handelt, ob
der Arzt verpflichtet ist in gegebenem Falle eine Laparotomie zu
machen, oder nicht. Zwar hat der Gerichtsarzt in erster Linie nur
festzustellen, ob in einem betreffenden Falle der Tod infolge der Ver¬
letzung eingetreten ist, ohne Rücksicht darauf, ob durch eine andere
ärztliche Behandlung der letale Ausgang hätte abgewandt werden
können, allein er wird es manches Mal nicht vermeiden können, bei
seiner Beurtheilung auch diesen Punkt zu berühren, zumal, wenn vom
Vertheidiger des Schuldigen, um vielleicht eine mildere Strafe zu er¬
wirken, geltend gemacht werden sollte, dass die Verletzung nicht
nothwendig zum Tode geführt haben würde, wenn der Verletzte in
eine Klinik überführt und dort die Laparotomie gemacht worden
wäre. Darauf müssen wir antworten, dass die Laparotomie schon an
und für sich ein lebensgefährlicher Eingriff ist, und ebensowenig, wie
ein Mensch gezwungen werden kann, einen solchen an sich vornehmen
zu lassen, kann auch der Arzt und namentlich der alleinstehende
Arzt, dem die nöthige Assistenz, die nöthigen Räumlichkeiten und
der nöthige antiseptische Apparat — eine conditio sine qua non —
fehlen, verpflichtet sein, einen solchen Eingriff zu wagen. In einer
Klinik liegen die Verhältnisse schon bei weitem anders, allein auch
unter den Klinikern herrschen über die Opportunität der Vornahme
dieser Operation bei Darmverletzungen noch grosse Meinungsverschie¬
denheiten und für seine Handlungsweise wird der Arzt in jedem Falle
das Urtheil von namhaften Autoren ins Feld führen können. Ist die
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
42
Dr. Wegen er,
Bauchhöhle durch die Verletzung bereits eröffnet, wie bei Stich- und
Schnittwunden, so wird sich der Arzt schon leichter entschlossen
können, die Wunde zu erweitern und den Darm nach Verletzungen
abzusuchen ungeachtet der Gefährlichkeit der sich daran knüpfenden
Manipulationen, handelt, es sich aber um die muthmassliche Ruptur
eines Darmes bei unverletzten Bauchdecken, und muss der Arzt auf
seine Verantwortung hin die Bauchhöhle erst eröffnen, so gehört schon
eine gewisse Kühnheit dazu. Denn die Diagnose solcher Rupturen
ist immer eine unsichere und man erkennt sie eigentlich erst an den
Folgen, noch mehr aber die ungefähre Bestimmung des Sitzes einer
solchen, der sich nicht immer, wie v. Beck meint, durch die locale
Schmerzhaftigkeit mit ziemlicher Genauigkeit bestimmen lässt. Auch
die Senn'sehen Gaseintreibungen haben ihro diagnostische Berühmt¬
heit verloren, seitdem experimentell nachgewiesen ist, dass durch die¬
selben auch Koth in die Bauchhöhle cingetricben worden ist. Immer¬
hin hat man in neuerer Zeit mit Recht ein baldiges operatives Ein¬
greifen empfohlen, während man früher mit einer abwartenden Therapie
unter Verordnung von Opium und unbedingter Ruhe sich begnügte.
Namentlich nach den Experimenten von Parkes ist darin ein Wandel
eingetreten. Von 37 Hunden, welchen Parkes Schusswunden bei¬
brachte, starben 15 an Verletzung der grossen Unterleibsgefässe, resp.
an ausgedehnter Verwundung der inneren Organe, 1 an Tetanus und
2 nur leicht verletzte, aber exspeetativ behandelten Thiere starben
ebenfalls. Von den übrigen 19 wurden 9 durch Laparotomie am
Leben erhalten. D. Barrow hat 112 Fälle von Laparotomie w r egcn
Unterleibsverletzungen analysirt, wonach die Mortalität 66,27 pCt.
betrug, während sie ohne Operation 90 pCt. übersteigt. Mac Cormae
fand unter 56 Fällen von Schuss- und Stichwunden des Darmes,
welche durch Laparotomie und Darmnaht behandelt wurden, 42 Hei¬
lungen und 14 Todesfälle. Auch Thomas Morton sammelte in der
Literatur 57 Fälle von Laparotomie und zwar 22 Schussverletzungen
mit 5 Heilungen, 19 Stichwunden mit 12 Heilungen, 10 Blasenzcr-
rcissungen mit 4 Heilungen, 5 Darmzerreissungen mit keiner Heilung,
also eine Gesammtmortalität von 63 pCt. Mikulicz und Lücke
haben selbst bei perforirten Typhusgeschwüren operirt und Heilungen
erzielt, kein Wunder, dass sie bei solchen Resultaten begeisterte An¬
hänger der Laparotomie geworden sind. Man ist schliesslich so weit
gekommen, sogar eine bereits bestehende Peritonitis nicht als Contra-
indication für die Laparotomie anzunehmen, ln neuester Zeit haben
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
Zur gerichtsärztlichen Bcurtheilung der Darmverlctzungen. 43
sich nun im Gegensatz zu den Amerikanern, die einen sofortigen Ein¬
griff verlangen, die englischen und deutschen Chirurgen für ein ab¬
wartendes Verfahren ausgesprochen und nur bei Schuss Verletzungen
eine sofortige Operation anempfehlen. Karczcwski 1 ) stellt für die
Behandlung der penctrirenden Bauchverletzungen folgende Grundsätze
auf: Bei Verletzungen, die durch ein scharfes Instrument erzeugt
wurden, kann von der Laparotomie dann Abstand genommen werden,
wenn sonst keine dringende Indication vorliegt, oder der Arzt mit
der Technik der Operation zu wenig vertraut ist, oder eine aseptische
Ausführung derselben nicht gewährleistet werden kann. Nach Schuss¬
verletzungen soll, wenn nicht mehr als 4 Stunden verstrichen sind,
auch dann operirt werden, wenn auch sonst sichere Zeichen einer
Darmverletzung fehlen. Bei bereits bestehender Peritonitis soll nicht
mehr laparotomirt werden, höchstens bei sehr gutem Kräftezustand
des Patienten. Ebenso spricht die Erfahrung gegen ein operatives
Eingreifen im Felde.
In Rücksicht auf die Gefährlichkeit der Vornahme einer Laparo¬
tomie, in Rücksicht auf die Verschiedenheit der Ansichten chirur¬
gischer Autoren, muss es daher in jedem einzelnen Falle dem Er¬
messen des einzelnen Arztes überlassen werden, ob er den Versuch
einer operativen Behandlung wagen will. Eine Unterlassung der La¬
parotomie kann ihm jedenfalls nicht als Kunstfehler angerechnet werden.
Andererseits kann ihm aber auch, falls er diese Operation vor¬
zunehmen für nöthig erachtet hat und dennoch der tödtliche Ausgang
eingetreten ist, solcher nicht zur Last gelegt werden, denn er hat
nur seine Pflicht gethan und die Regeln, welche seine Wissenschaft
ihm vorschrieb, befolgt. Befand sich wirklich ein Loch ira Darm,
durch welches derselbe mit der Bauchhöhle communicirte, so war die
Prognose für das Leben des Verletzten infaust genug, eine vorge-
nommenc kunstgerechte Operation konnte sie höchstens verbessern.
Die Hauptergebnisse vorstehender Arbeit fassen wir in folgenden
Punkten zusammen:
1. Spontanrupturen des Darmes können den Verdacht einer Ver¬
giftung hervorrufen.
2. Verletzungen des Darmes, w'elche auf dem Wege durch Mund.
1) Wiener klin. Wochensclir. 1894. 8.
Digitized by
Gck gle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
44
t)r. Wegen er ^
und After entstehen, können durch ihre Folgezustände zu gerichts¬
ärztlicher Beurtheilung Veranlassung geben.
3. Bestehende Darmstricturen müssen als Siechthum aufgefasst
werden, insofern sie nicht nur heftige Koliken, sondern auch eine
Disposition zur Geschwürsbildung und Ruptur abgeben.
4. Für Shok ist noch kein bestimmter Obductionsbefund fest¬
gestellt. Der Tod durch Shok lässt sich nur aus den äusseren Um¬
ständen, sowie durch Ausschluss anderer Todesarten feststellen.
5. Bei nach Contusionen des Bauches eintretendem Shok spielt
die directe Reizung der herzregulatorischen Hemraungsfasern des Vagus
eine grosse Rolle.
6. Axendrehungen und Einschiebungen des Darmes können auf
traumatische Weise entstehen.
7. Durch Bauchcontusionen können Circulationsstörungen am Darm
verursacht werden, welche zur Mortification und Abstossung einzelner
Schichten oder der ganzen Dicke der Darmwandungen mit nach¬
folgender Verengerung, Geschwürsbildung oder Perforation führen
können.
8. Bei allen Darm Verletzungen, welche Geschwürsbildung und
narbige Verengerung bewirken, können die Folgen, wenn auch die
Verletzten als geheilt erscheinen, noch nach Jahr und Tag auftreten.
9. Bei subcutanen Rupturen des Darmes infolge von Contusionen
der Bauchdecken zeigen letztere in den meisten Fällen keine Spur
einer Verletzung.
10. Der Richter soll deshalb von seinem Rechte, schon zur
Leichenschau einen Arzt hinzuzuziehen, Gebrauch machen, da er-
fahrungsmässig der Mangel äusserer Verletzungen nicht ausschliesst,
dass der Tod durch Bauchfellentzündung infolge von traumatischer
Darmzerreissung dem strafbaren Verschulden eines Dritten zuge¬
schrieben werden muss.
11. Das Nichtentweichenkönnen des Darmes ist bei der Ent¬
stehung einer traumatischen subcutanen Darmruptur die Haupt¬
bedingung.
12. Eine zu starke oder zu lange Abkühlung des Darmes führt
durch Shok zum Tode.
13. Ein Anus praeternaturalis ist als Siechthum aufzufassen,
selbst wenn er durch Operation geheilt wird.
14. Eine perforirende Darmwunde muss stets als tödtliche Ver¬
letzung angesehen werden.
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
Zur gerichtsärztlichen Beurthcilung der Darmverletzungen. 45
15. Aus jeder circumscripten Peritonitis kann zu jeder Zeit eine
allgemeine sich entwickeln.
16. Der Tod an Peritonitis erfolgt infolge allgemeiner Blutver¬
giftung durch Resorption der Stoffwechselproducte des Staphyloeoccus
und Streptococcus pyogenes.
17. Darmperforationen für sich allein führen, wenn nicht Shok
eintritt, fast nie augenblicklich zum Tode.
18. Die Unterlassung einer Laparotomie kann dem Arzt nicht
als Kunstfehler angerechnet werden.
Literatur.
1. Paul Coillot, Des ltfsions de l’intestine et de l’estomac. Inaug.-Dissert.
Paris 1885.
2. C. A. Ewald, Klinik der Verdauungskrankheiten. II. Berlin 1893.
3. Friedreich’s Blätter für gerichtliche Medicin und Sanitätspolizei. 25., 42. und
43. Jahrg.
4. H. Eulenberg, Vierteljahrsschr. f. gerichtl. Medicin und öffentl. Sanitäts¬
wesen. Bd. 16, 17, 43 u. 53.
5. B. v. Langonbeck, Archiv f. klin. Chirurg. Bd. XXXIV. 1887: L. Edler,
Traumatische Verletzungen der parenchymatösen Unterleibsorgane.
6. The Atlanta, medical and surgical Journal. Vol. II. 1885.
7. Gussenbauer, Traumatische Verletzungen. Stuttgart 1880.
8. Ign. Mair, Gerichtlich-medicinische Casuistik der Körperverletzungen und
Tödtungen.
9. A. JobertdeLamballe, Les plaies du canal intestinal. Paris 1826.
10. The medical and surgical Reporter. Philadelphia 1887.
11. Schalenkamp, Ueber Pfählung. Inaug.-Dissert. Bonn 1891.
12. Salingrä, Ueber Pfählungsverletzungen. Inaug.-Dissert. Berlin 1893.
13. Erdmann, Die Laparotomie bei penetrirenden Bauchwunden. Inaug.-Diss.
Berlin 1893.
14. A.W.Varges, Zeitschr. f. Medicin, Chirurgie u. Geburtshülfe. Leipzig 1861.
15. Bouness, Bauchfellentzündung nach Perforation innerer Organe. Inaug.-
Dissert. Berlin 1877.
16. Letz, Ueber die Gefährlichkeit der Stichwunden. Inaug.-Diss. Berlin 1S83.
17. J. L. Casper, Gerichtliche Leichenöffnungen. Berlin 1853.
18. II. Nothnagel, Physiologie und Pathologie des Darmes. Berlin 1884.
19. Joh. Orth, Lehrbuch der speciellen pathologischen Anatomie. Berlin 1887.
20. Klebs, Handbuch der pathologischen Anatomie. Berlin 1868.
21. Virchow, Archiv f. patholog. Anatomie u. Physiologie. Bd. 5, 44, 45 u. 67.
22. Adolph Henke, Lehrbuch der gerichtl. Medicin. Berlin 1838.
23. Bardeleben, Lehrbuch der Chirurgie und Operationslehre. Berlin 1861.
24. Ziemssen, Pathologie und Therapie. VII. 2. Leipzig 1878.
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
46 Dr. Wogencr, Zur gerichtsärztlichen Beurtheilung der Darm Verletzungen.
25. Casper-Liman, Handbach der gerichtl. Medicin. Berlin 1882.
26. König, Lehrbuch der speciellen Chirurgie. Berlin 1889.
27. Wiener, Sammlung gerichtlich-medicinischer Obergutachten. 1891.
28. Zeitschr. f. Medicinal-Beamte. Berlin 1890 und 1892.
29. Wernich, Yierteljahrsschr. f. gerichtl. Medicin u. öffentliches Sanitätswesen.
Bd. I. u. V.
30. Nussbaum, Die Verletzungen des Unterleibes. Stuttgart 1880.
31. A. Köhler, Charite-Annalen. 12., 15. u. 18. Jahrg.
32. Sommerbrodt, Ueber Schussverletzungen der Bauchorgane vom gericht¬
lichen Standpunkte aus. Vierteljahrsschr. f. practische Heilkunde. Bd. 140.
Prag 1878.
33. A. Kirstein, Ueber perforirende Darmwunden vom gerichtsärztlichen Stand¬
punkte. Allgern. med. Central-Zoitung.
34. Tillmanns, Lehrbuch der speciellen Chirurgie. Leipzig 1894.
Digitizeit by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Die Verletzungen des Zwerchfells vom gericlits
ärztlichen Standpunkte.
Von
Krcisphysikus Dr. L. Israel in Medenau (Ostpr).
Das Zwerchfell ist nächst dem Herzen der wichtigste Muskel des
menschlichen Körpers; wie dieses als Ccntralorgan des Gefässsystems
den Blutkreislauf zu bewältigen hat, ist das Zwerchfell ein integriren-
der Theil der Athmungsorgane. Herz und Zwerchfell sind beide un¬
unterbrochen thätig; die Störung oder theil weise Unterbrechung ihrer
Leistungsfähigkeit durch die Einwirkung einer äusseren Gewalt bedingt
für den Verletzten stets eine grosse Gefahr. Haben somit Verletzungen
des Zwerchfells schon deswegen meist eine erhebliche Störung der
Gesundheit zur Folge, so sind sie auch wegen der Nachbarschaft
vieler lebenswichtiger Organe stets ernst zu nehmen. Als Scheide¬
wand zwischen Brust- und Bauchhöhle ausgespannt, ist es von Pleura
und Peritoneum überzogen; Herz und Lungen einerseits, Milz und
Leber andererseits sind ihm angelagert, die grossen Blut- und Lymph-
gefässe, Nerven und Speiseröhre passiren das Zwerchfell. Es ist end¬
lich in Action bei der Wirkung der Bauchpresse, ohne welche die
Fortbewegung der Darmcontenta, der venöse Kreislauf des Unterleibes,
die Sceretion der Untcrlcibsdrüsen u. s. w. nicht normalitcr von Statten
gehen können. Bei der hohen Wichtigkeit des Organs muss der Gc-
riohtsarzt naturgemäss auch jeder gewaltsamen Functionsstörung und
Verletzung desselben seine volle Aufmerksamkeit schenken.
Die Verletzungen des Zwerchfells sind keineswegs sehr selten,
doch ist in der gcrichtsärztlichcn Praxis nur wenig davon die Rede.
Selten nämlich sind solche Verletzungen isolirt, in den meisten Fällen
treten complicircnde Wunden und deren Symptome in den Vorder-
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
48
Dr. Israel,
grund. Am seltensten kommen, wie v. Hofmann in seinem Lehr¬
buche 1 ) bemerkt, isolirte Rupturen vor, deren Entstehung eine be¬
deutende Gewalt erfordert und kaum andere Organe intact lassen
wird. Bei solchen Verletzungen schwerster Art pflegen Rupturen von
parenchymatösen Organen, Fracturen des Schädels und der Wirbel¬
säule, innere Verblutung den Tod herbeizuführen, so dass eine bei
der Obduction Vorgefundene Zwerchfellruptur eine nur nebensächliche
Rolle spielt. Stich- und Schussverletzungen können sowohl von der
Brust- als von der Bauchhöhle her das Zwerchfell treffen; nicht so
selten aber wird, wie vielfach angenommen wird, durch das Werkzeug
eine isolirte Wunde des Zwerchfells hervorgerufen. Wenn wir auf die in
der Literatur Vorgefundenen Fälle Rücksicht nehmen, so können wir
der Ansicht Hub er’s 2 ) nicht beipflichten, der da behauptet, es dürfte
selbst einem geschickten Anatomen schwer werden, eine Stichver¬
letzung des Zwerchfells hervorzubringen, ohne Brust- und Abdominal¬
organe zu verletzen und der die Annahme gerechtfertigt hält, dass
wohl in der Regel bei Stichverletzungen der untere Lappen der Lunge
mitverletzt ist.
In der vorliegenden Arbeit habe ich es mir zur Aufgabe gemacht,
im Wesentlichen isolirte Zwerchfell-Verletzungen abzuhandeln und
von denjenigen Folgeerscheinungen zu sprechen, welche in vivo und
am Sectionstisch Gegenstand gerichtsärztlicher Begutachtung werden
können. Für die Beurtheilung solcher Verletzungen, des Sitzes, der
Entstehungsweise und des Verlaufes ist es aber ebenso wie für die
Stellung der Diagnose von grösster Wichtigkeit, sich mit den ein¬
schlägigen anatomischen Verhältnissen vertraut zu machen, weshalb ich
eine Schilderung derselben, soweit sie den Gerichtsarzt interessiren,
vorausschicken möchte.
Der periphere, muskulöse Theil des Zwerchfells zerfällt in drei
Abschnitte: Lendentheil, Rippentheil und Brusttheil; letzterer ent¬
springt vom Proc. ensiformis stemi, zwischen den inneren, sich kreu¬
zenden Schenkeln des erstgenannten Theiles liegt der Hiatus aorticus.
Der centrale, sehnige Theil (Centrum tendineum) hat die Form eines
dreiblättrigen Kleeblattes; er ist an der oberen Fläche grösstentheils
mit dem Herzbeutel verwachsen und hat rechts das For. quadrilaterum
1) v. Hofmann, Lehrbuch der gerichtl. Medicin. 6. Aull. 1893. S. 479.
2) I)r. Huber, Zur Casuistik der Zwerchfellwunden. Friedreich’s Blätter f.
gerichtl. Medicin. V. Heft. 1883.
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
Verletzungen des Zwerchfells vom gerichtsärztlichen Standpunkte.
49
pro vena cava inf. Das Zwerchfell hat eine doppelte Wölbung, die
rechtcrseits grösser ist (Leber!); beim Einathmen flachen sich die
Wölbungen ab, wodurch der Thoraxraum erweitert wird. Während
durch die Action der Rippen der Brustkorb mehr von vorn nach hinten
und von links nach rechts erweitert wird, verursachen die Contrac-
tionen des Zwerchfells eine Erweiterung des Innenraumes von oben
nach unten. Das Zwerchfell ist der Hauptrespirationsmuskel, was
schon daraus hervorgeht, dass nach beiderseitiger Phrenicus-Durch-
schneidung der Tod erfolgt. Das Centr. tend. steigt beim Jnspirium
am wenigsten herab, daher kommt es, dass dasselbe bei tiefstem
Zwcrchfcllstande am höchsten gegen den Thoraxrand hinaufragt. Die
veränderliche Stellung des Zwerchfells während des Athmcns giebt
uns die Erklärung, weshalb bei einer und derselben Verletzung 1. ver¬
schiedene Theile desselben getroffen werden, 2. warum complicircnde
Verletzungen der Nachbarorgane entstehen oder ausbleiben können. —
Ausser den beiden oben genannten Ocffnungen (Hiatus aorticus und
For. quadrilaterum) müssen wir noch einige andere erwähnen, weil sie
gelegentlich die Durchtrittsstelle für Baucheingeweide bilden können:
a) For. oesophageum. b) For. Morgagni, eine von Fettgewebe aus-
gefüllte Lücke hinter dem Sternum, zwischen der vom Proc. xiphoid.
entspringenden Stcmalportion und den zu beiden Seiten gelegenen,
von den VII. Rippenknorpeln abgehenden ersten Costalzacken. c) For.
Bochdaleki, eine ähnliche dreieckige Lücke mit fettreichem Binde¬
gewebe, hinten zwischen dem äusseren Schenkel und den nächsten,
sich an die XII. Rippe ansetzenden Muskelzacken; es wird rechts
besser als links geschlossen, d) Die Durchtrittsstelle des N. sym-
pathicus. e) Ein Muskel-Interstitium zwischen den Balken der Pars
muscularis costalis und vertebralis, das nur durch Pleura und Peri¬
toneum geschlossen ist.
Wir gehen nunmehr zur Besprechung der einzelnen Arten der
Zwerchfell-Verletzungen über und fassen zuerst die durch stumpf
wirkende Gewalt hervorgerufenen Rupturen in’s Auge. Die
Contusionen, welche mit breiter Oberfläche und einer gewissen Gewalt
den Körper treffen, bringen eine Erschütterung des Thorax zu Wege,
welche sich auf das Zwerchfell fortpflanzen und es so anspannen
kann, dass die Widerstandsfähigkeit zu gering wird und eine Conti-
nuitätstrennung eintritt. Darüber, ob die Rupturen in einem bestimmten
Falle während der Exspiration oder Inspiration entstanden sind, herrscht
Viertoljahrsschr. f. ger. Med. Dritte Folge. XIV. Suppl.-Heft. 4
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
50
Dr. Israel,
unter (len Autoren noch Meinungsverschiedenheit. Schuster 1 ) hält
die Inspirationsstellung des Zwerchfells für das Zustandekommen der
Rupturen am günstigsten, weil dasselbe dann im Zustande der Con-
traction die grösste Spannung besitzt. Als Gelegenheitsursachen nennen
wir: Ueberfahren- und Verschüttetwerden, Fall von beträchtlicher Höhe,
des Gerathen zwischen Eisenbahnpuffer, directe Schläge auf Brust und
Bauch, Quetschungen durch Maschinentheile. Dafür, dass die über¬
mässige Anstrengung der Bauchpresse unter Umständen eine Zerreissung
des Zwerchfells hervorbringen könne, finden sich mehrere Beispiele in
der Literatur. So erwähnt Weydenmeyer 2 ) in Fall 9 einen Riss
des Zwerchfells infolge starker Geburtswehen bei einer jungen Frau,
ferner einen solchen bei einem Manne, der einen Sarg, welcher hinab-
zufallcn drohte, zurückhielt; ferner sind Fälle beschrieben, wo durch
grosse Anstrengungen bei Raufereien, heftige Drehbewegungen beim
Fall auf dem Eise isolirte Zwerchfellsrupturen eintraten. Auch durch
Fall auf die Tubera ischii, wobei säramtliche Abdominalorgane nach
oben gegen das Zwerchfell gedrängt werden, kann sich bei gleich¬
zeitigem Glottis Verschluss ein Einriss im Zwerchfell durch indirecte
Gewalt einstellen (Dietz 3 ). Indessen wird man bei Rupturen dieser
Art, nämlich infolge übermässiger Anstrengung der Bauchpresse, stets
sich der Annahme zuneägen müssen, dass meist prädisponirende Mo¬
mente für die Zerreissung bestanden haben. Zu solchen rechnen wir:
Fettige Entartung des Muskels bei allgemeiner Fettsucht, bei Alkoho¬
lismus und chronischen Vergiftungen; vorausgegangene Pleuritis mit
schwartigen Verdickungen, die auf das Zwerchfell übergehen, endlich
partielle, mangelhafte Entwicklungszustände. Mit Bestimmtheit werden
wir aber solche Degenerationszustände in denjenigen Fällen voraus¬
setzen müssen, in welchen Zerreissungen des Zwerchfells lediglich in¬
folge heftigen Erbrechens vorgekommen sein sollen; ohne eine solche
Disposition dürfte wohl eine so schwere Verletzung durch den Brech¬
act allein nicht hervorgerufen werden. Wir hätten endlich noch den
äusserst seltenen Fall von B rem me 4 ) zu erwähnen, bei welchem die
1) Dr. Schuster, Ueber die Verletzungen der Brust durch stumpf wirkende
Gewalt vom gerichtsärztlichen Standpunkte. Zeitsclir. f. Heilk. I. Bd. 1880.
2) Weydenmeyer, Des ruptures du diaphragme au point de vue m£dico-
legale. Lyoner These. Serie 1. Facult6 de M6d. et de Pharm, de Lyon. 1893.
3) E. Dietz, Neue Beobachtungen über die Hernien des Zwerchfells, Inaug.-
Dissert. Strassburg 1881.
4; Bremme, Diese Vierteljahrsschr. XXIX. 1.
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Verletzungen des Zwerchfells vorn gerichtsärztlichen Standpunkte. 51
Ruptur sozusagen durch eine innere Gewalt zu Stande kam. Ein er¬
wachsener Mann stirbt plötzlich nach dem Genuss einer reichlichen
Mahlzeit, die hauptsächlich aus Kartoffelsuppe bestand. Da man eine
Vergiftung vermuthete, wurde die gerichtsärztliche Obduction vorge¬
nommen, welche indessen keine Spuren von Vergiftung erkennen liess.
Dagegen fand sich der Magen sehr stark durch Gas ausgedehnt, auf
der rechten Seite des Zwerchfells ein unregelmässiger, ziemlich grosser
Riss, durch welchen Dünndarmschlingcn und ein Theil der Leber in
den Thoraxraum durchgegangen waren. Der Fall liess sich so er¬
klären: Denatus litt an einer auch durch die Section festgestellten
Magenerweiterung mit chronischem Magencatarrh. Gegen den letzteren
hatte er an dem betreffenden Tage reichliche Mengen von Natrium
bicarbonicum zu sich genommen, so dass sich noch nach dem Genuss
der Kartoffelsuppe viel Kohlensäure entwickelte. Die entwickelten
Gase konnten wegen einer Drehung des Magens nicht austreten,
drückten auf das Zwerchfell und brachten es zum Bersten. Es be¬
steht auch hier die Wahrscheinlichkeit, dass eine Muskeldegeneration
bestanden hat und dass durch die sich bietende Gelegenhcitsursache
die Ruptur eintrat.
Es folgen dann die Schusswunden des Zwerchfells. Wenn
letztere isolirt entstehen sollen, so darf das Projectil nur klein sein,
während man andererseits bei Schrotschüssen fast regelmässig auf
complicirende Verletzungen (Lungen, Leber, Milz) zu rechnen hat.
Li man 1 ) beschreibt einen Fall: Mord durch Schusswunde in das
Zwerchfell. Ein Seidenwirkergeselle hatte die Läufe eines Doppel¬
pistols, in deren jeden er eine halbe Kugel geladen hatte, auf die
Herzgegend seiner Geliebten gesetzt und den einen Lauf abgeschossen.
Bei der Section fand sich zwischen der VII. und AHII. linken Rippe
die äussere Schusswundöffnung, die Rippen selbst waren, ebenso wie
Lungen, Herz und grosse Gefässe, unversehrt. Dagegen fand sich,
dass die ganze linke Hälfte des Zwerchfells mit ungleichen, stark
sugillirten Rändern zerrissen war. Die Kugel konnte in der Bauch¬
höhle nicht aufgefunden werden. — Auch in folgendem Falle 2 ) handelte
cs sich um eine isolirte Schussverletzung dos Zwerchfells: Die Kugel
dringt hinten an der X. Rippe in den Körper und verlässt ihn an der
1) Casper-Liman, Handbuch der gerichtl. Medicin. 8. Aufl. II. Bd.
2) Yirchow Hirsch’s Jahresberichte über die Leistungen und Fortschritte der
gcs. Medicin. 1870. II.
4*
Digitized by
Gck gle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
52 Dr. Israel,
VI. Rippe in der Achselgegcnd. Der Verletzte war ein halbes Jahr
lang krank, konnte dann aber, obgleich er an Athemnoth und Er¬
brechen litt, die Arbeit wieder aufnehmen. Der Tod erfolgte durch
plötzliche Einklemmung. Bei der Section fand sich eine 2V 2 Zoll
runde Oeffnung im Zwerchfell, durch welche Magen, Netz und Mesen¬
terium in die Brusthöhle gedrungen waren. Schliesslich erwähnen wir
noch den von Popp 1 ) angeführten Fall: Schuss durch den Proc. xi-
phoideus, die Kugel dringt zwischen V. und VI. Rippe heraus, die
Wunde heilt zu, Patient stirbt erst nach 6 Monaten. Es findet sich
eine fingerbreite, isolirte Verletzung im muskulösen Theile des Zwerch¬
fells. — Im Ganzen findet man Verletzungen des Zwerchfells häufiger
bei Brust- als bei Bauchwunden.
Bei weitem zahlreicher als Schusswunden kommen isolirte Stich¬
verletzungen des Zwerchfells vor. Als Werkzeuge dienen Messer,
Säbel, Degen; bei langen Werkzeugen kann die Eingangsöffnung auch
in den oberen Abschnitten des Thorax liegen oder aber an tieferen
Stellen des Unterleibes. Tritt bei penetrirenden Bauchwunden schau¬
miges Blut aus der Wunde heraus, so kann man annehmen, dass der
Stich durch das Zwerchfell hindurch in die Lunge gedrungen ist
(Kaufmann 2 )). Die Eingangsöffnungen liegen meist zwischen dem
IV. und IX. Intercostalraum; die Stiche werden in selbstmörderischer
Absicht beigebracht, sind auch nicht selten Folgen von Raufereien,
bei denen das Messer eine Rolle spielte. Wie kann eine Stich¬
verletzung des Zwerchfells ohne Betheiligung der Lunge
zu Stande kommen? Die elastischen Lungen sind nirgend im
Thoraxraum angewachsen, sondern ihre glatte Pleura bewegt sich an
der ebenfalls glatten Pleura costalis und diaphragmatica. Durch den
Druck der Luft in ihrem Innern werden die Lungen an die Brust¬
wand angedrückt. Wird der Brustkorb durch eine Inspiration ausge¬
dehnt, so muss, da ein luftleerer Raum nicht entstehen kann, sich
die Lunge vermöge ihrer Elasticität wieder ausdehnen und dem er¬
weiterten Thorax überall anlegen. Bei tiefer Einathmung steigen nun
die Lungen vorn über die VI. Rippe abwärts bis zur VII. Rippe,
hinten bis zur XI. Rippe; hierbei hebt sich die Pleura diaphragmatica
von der PI. costalis ab und die Lungen nehmen den entstandenen
1) Dr. A. Popp, Erworbene Zwerchfellshernien. Deutsche Zcitschr. f. Chir.
Bd.I. II. 1.
2) Dr. M. Kaufmann, lieber die Krankheiten des Zwerchfells. Deutsche
Klinik. 1805. No. 23ff.
Difitized by Gougle
Original from
UNiVERSITY OF IOWA
Verletzungen des Zwerchfells vom gerichtsärztlichen Standpunkte. 53
Hohlraum ein. Bei der Exspiration dagegen fallen die Lungen zu¬
sammen, die unteren Lungenränder steigen wieder höher empor und
entfernen sich von der oberen Fläche des Zwerchfells. Aus diesem
Grunde erscheint die Annahme zulässig, dass wenn eine Stichverlet¬
zung das Zwerchfell trifft, sie am ehesten isolirt dasselbe verwunden
kann, wenn sie im Momente stärkster Exspiration, z. B. bei heftigem
Wortwechsel entsteht. In dieser Beziehung verweisen wir auf den
Pincus’sehen 1 ) Fall: In der Trunkenheit erhält ein 20 Jahre alter
Primaner einen Stich mit einem Pioniersäbel in die linke Brustseite
zwischen IV. und V. Rippe. Nach sechs Monaten, während welcher
Zeit stark in Baccho excedirt wurde, trat der Tod durch Einklemmung
des Magens in der durch] die Stichverletzung gesetzten Wunde des
Zwerchfells ein. Der Magen rupturirt und der Inhalt: 3 Liter dunkel-
rothe, trübe Flüssigkeit ergiesst sich in die linke Pleurawand. Eine
Verletzung der Lunge wurde nicht constatirt. Der Säbelstich hatte
vom IV. Intercostalraum aus das Zwerchfell getroffen, weil der nach
dem Saufgelage stark angefüllte Magen dasselbe in die Höhe ge¬
drängt hatte.
Zu den Stichverletzungcn gehört auch ein von mir beobachteter
Fall von Verletzung des Zwerchfells durch einen Nadelstich,
wobei die Nadel im Körper verblieben war. Seiner grossen Selten¬
heit wegen (ich bin bei der Durchsicht der Literatur keinem einzigen
ähnlichen begegnet) verdient er hier etwas ausführlicher geschildert
zu werden.
Im Februar 189 . verbreitete sich im Fischerdorfe C. das Gerücht, das 2 Jahre
alte Stiefkind der Arbeiterfrau X. wäre eines unnatürlichen Todes gestorben. Bei
der hierauf vorgenommenen gerichtsärztlichen Obduction wurde Folgendes, soweit
es für uns hier wichtig ist, zu Protokoll gegeben:
1. Die Leiche des etwa 2 Jahre alten Knaben ist 79 cm lang, von regel¬
mässigem Körperbau, sehr schwacher Muskulatur und beinahe ganz fehlendem
Fettpolster.
2. Die Farbe der Leiche ist im Allgemeinen blassgelbgrau, nur an den
Bauchdecken grünlich und auf dem Rücken an einzelnen kleinen Stellen blass-
röthlich. Einschnitte zeigen hier keinen Blutaustritt im Unterhautzellgewebe.
Auf der Vorderfläche des Rumpfes, gerade in der Herzgrube, ist ein etwa mark¬
stückgrosser bräunlicher Fleck der Haut, an dem sich dieselbe lederartig hart an¬
fühlt und schneidet. Einschnitte ergeben keinen Blutaustritt.
1) Ein Fall von tödtlicher Zwerchfellshernie, sechs Monate nach einer Stich¬
verletzung in die linke Brustseite. Obergutachten des Königl. Medicinal-Collc-
giums für die Provinz Preussen (Referent Med.-Rath Dr. Pincus). Dieso Viertcl-
jalirsschrift. N. F. XVIH. 2.
Digitizeit by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
54
Dr. Israel,
4. Kopf unverletzt.
7. Lippen geschlossen, Schleimhäute blass, Zunge hinter den festgeschlosse¬
nen Kiefern.
9. Brustkasten schmal, gut gewölbt, Unterleib flach.
Brust- und Bauchhöhle. 23. Vorschriftsmässige Eröffnung derselben;
die Fettschicht der Haut fehlt ganz. Die Muskeln hellroth, wässerig durchtränkt,
sehr diinn. Die Organe der Bauchhöhle in regelmässiger Lage, die blassbräun
liehe Leber bedeckt den oberen Theil der Bauchgegend, in ihrem linken Lappen
steckt eine 8 cm lange schwärzliche eiserne Stopfnadel, deren vorderes Ende (Ohr)
2 cm hervorsteht. Ein fremder Inhalt ist in der Bauchhöhle nicht vorhanden.
Höchster Stand des Zwerchfells beiderseits am unteren Rande der V. Rippe.
Bauchhöhle. 32. Bei der Untersuchung nach der Milz wird im Zwerch¬
fell steckend, ohne dass ein Organ verletzt wäre, eine 4y 2 cm lange
grobe Nähnadel von schwärzlicher Farbe gefunden.
41. Gekröse fettarm, mit stark gefüllten Blutgefässen, erbsen- bis bohnen¬
grossen Drüsen, sonst unverändert.
43. Die untere Hohlvene ist stark mit dunklem Blute gefüllt.
44. Leber 17 cm breit, 9 cm hoch, 4 cm dick, mit glatter, dunkelrother
Oberfläche; in dem linken Lappen auf der Oberfläche eine 1 cm lange, von vorn
nach hinten verlaufende Wunde, von welcher aus sich eine 5 cm lange, etwas
grünlich verfärbte Verletzung von kanalförmiger Gestalt durch den linken Leber¬
lappen nachweisen lässt. Der rechte Leberlappcn ist vollständig unverletzt.
Bei der gerichtlichen Verhandlung gestand die Stiefmutter ein, sie hätte
beide Nadeln dem Kinde 8 Tage vor dem eingetretenen Tode in der Absicht es zu
tödten beigebracht und zwar habe sie die Nadeln senkrecht zur Bauchwand in der
Gegend der Herzgrube hineingedrückt.
Ausser den genannten drei Arten von Verletzungen, nämlich
Rupturen, Schuss- und Stichwunden wollen wir noch einige Läsionen
des Zwerchfells erwähnen, die nur selten das Interesse des Gerichts¬
arztes in Anspruch nehmen dürften. So kann nach Bowditch 1 )
auch durch Kunstfehlcr eventuelle Verletzung des Zwerchfells Vor¬
kommen, nämlich durch die bei Pleuritisexsudat angewandte Aspira¬
tionsnadel; sie ist auch Bowditch mehrmals passirt, ohne dass er
je üble Folgen davon gesehen hat. Verletzungen ohne Continuitäts-
trennungen sind ebenfalls beschrieben worden; z. B. hat Lesser 2 )
bei einer Quetschung des Zwerchfells durch Ueberfahrenwerden neben
anderen schweren Verletzungen als Nebenbefund eine mässig starke
Blutung in der rechten Zwerch feil hälfte constatirt. Nach Vergif¬
tungen durch Säuren kommen Corrosionen des Zwerchfells und Hämor-
1) Bowditch, Thoracenteso p. pleurit. Exsud. Americ. Joum. 1863; cit.
bei Ziemsscn, Ilandb. d. spec. Path. u. Ther. Bd. IV. I. 2. Hälfte.
2) Lesser, Atlas der gerichtlichen Medicin. II. S. 103.
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Verletzungen des Zwerchfells vom gerichtsärztlichen Standpunkte. 55
rhagieen (von Hirsekorngrösse bis 2 cm lang und 1 / 2 cm breit bei
Schwefelsäure) vor; doch sind diese Veränderungen im Hinblick auf
die hochgradigen Veränderungen im Intestinaltractus nur von unter¬
geordneter Bedeutung. Mehr Beachtung verdient indessen die fettige
Entartung der Muskelfasern nach Vergiftungen mit Phosphor, Kohlen¬
oxyd und Schweinfurter-Grün, ausser dem Herzen pflegen am aus¬
giebigsten Zwerchfell- und Kehlkopfmusculatur afficirt zu sein. Ja,
Lesser 1 ) beschreibt einen Fall, bei welchem nach einer Vergiftung
mit Schweinfurter-Grün „die Muskeln des Stammes und der Extremi¬
täten sowie des Rachens und Kehlkopfes keine Abweichung zeigten,
das Zwerchfell allein in einer mässigen Anzahl von Fasern eine Trü¬
bung des Inhalts und eine Störung der normalen Structur aufwies.“
Dass endlich langdauemde Empyeme und Lungenabscesse das Zwerch¬
fell ulceriren, dass subphrenische Abscesse es durchbrechen und dass
endlich grosse Geschwülste das Zwerchfell in sich beziehen und von
der einen Höhle nach der anderen durchwachsen können, hat wohl
mehr klinische als gerichtsärztliche Bedeutung, und sollte hier nur
der Vollständigkeit halber Erwähnung finden.
Die Zwerchfellvcrletzungen werden in überwiegender Mehrzahl bei
Leuten im mittleren Lebensalter beobachtet und zwar meist bei
Männern, welche durch ihre professionelle Beschäftigung und Lebensweise
dazu prädestinirt sind. So findet man sie bei Zimmerern, Maurern, Ma¬
trosen, Schieferdeckern, Soldaten; wegen der Abnahme der Elasticität
der Gewebe scheint von der zweiten Lebensperiode an eine grössere
Disposition zur Zerreissung zu bestehen. Lcichtenstern 2 ), welcher
über die Entstehung der Zwerchfellhernien äusserst umfassende Studien
geliefert hat, fand bei 150 erworbenen Hernien 128 Männer, während
Lacher 3 ) 119 von 146 = 81,5pCt. männliche herausfand. Was das
Verhältniss der einzelnen Verletzungsarten unter einander betrifft, so
giebt Lacher dasselbe wie folgt an: Von 102 Verletzungen waren
37 Stich- und 14 Schusswunden. 35 mal war Sturz oder Fall von
der Höhe, 7 mal Verschüttung, 3 mal Quetschung des Thorax die Ur¬
sache, in 6 Fällen bei vorhandener Disposition die übermässige An¬
strengung der Bauchpresse. Eine andere Zusammenstellung betrifft
1) Lesser, 1. c. I. 134.
2) Leichtenstern, Hernia diaphragmatica. Ziemssen’s Handb. Bd. VII.
2. Hälfte.
3) Lacher, Ueber Zwerchfellshernien. Deutsches Archiv f. klin. Modicin.
XXVU. 3. u. 4. Heft. 1880.
Digitized by Gougle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
56
t)r. Israel,
37 Verletzungen des Zwerchfells; bei diesen waren 21 Stich- und
3 Schusswunden, 10 mal Sturz oder Verschüttung, je 1 mal starke
Anstrengung und heftige Drehbewegung notirt (Popp 1 )). — Die Ver¬
letzungen des Zwerchfells können in jedem Theile ihren Sitz haben,
sie werden jedoch in der bei weitem grösseren Anzahl auf der linken
Körperseite gefunden; man nimmt als Verhältnisszahl ungefähr 5
(1) : 1 (r) an. Lacher hat bei 150 Verletzungen: 127 linksseitige,
Popp bei 37 Fällen 32 linksseitige, Leichtenstern (1. c.) 115 links¬
seitige und nur 25 rechtsseitige angetroffen. Diese Bevorzugung der
linken Seite ist nicht etwa zufällig oder etwa dadurch begründet, dass
die linke Seite des Zwerchfells schwächer ist, sondern erklärt sich
aus folgenden Umständen. Die massige Leber, welche die rechte
Höhlung des Zwerchfells ausfüllt, sich eng an dasselbe anschmiegt
und es stützt, schwächt einen Schlag, Stoss oder von unten her
kommende Kraft ab und vertheilt sie auf eine grössere Fläche. Des¬
wegen entstehen rechts selten Einrisse, auch werden diese, besonders
wenn sie klein sind, von der Leber verdeckt. Ferner pflegt die
rechte Zwerchfellslücke (For. Bochdaleki) weniger entwickelt zu sein
als die linke, die rechten Zwerchfellsschenkel sind länger und fester
als die linken und besitzen noch zwei fibröse Verstärkungsbänder.
Unter diesen Bedingungen können daher Rupturen viel eher links zu
Stande kommen, während Stich- und Schusswunden wohl deswegen
mehr die linke Seite treffen, weil sie ja meist von der rechten Seite
des Gegners kommen.
Welche Folgen treten durch Continuitätstrennungen
des Zwerchfells ein? Sobald eine abnorme Oeffnung im Zwerch¬
fell vorhanden ist, besteht die Möglichkeit, dass Baucheingeweide in
dieselbe und durch sie in den Brustraum eintreten. Hierfür wirkt in
erster Reihe der positive Druck, welcher beim Drängen u. s. w. auf
die Abdominalorgane ausgeübt wird, nicht weniger aber auch der bei
tiefer Inspiration erhöhte negative Druck innerhalb des Thorax; die
betreffenden Organe werden durch diesen negativen Druck hineinge¬
sogen. Ist dieser Zustand perfect, so hat man es mit einem
Zwerchfell-Bruch, einer Hcrnia diaphragmatica zu thun, ein
Leiden, das den bei weitem wichtigsten Folgezustand der Zwerchiell-
Verlelzungcn vorstellt und deswegen eine eingehende gerichtsärztlichc
1 ) 1. c.
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Verletzungen des Zwerchfells vom gerichtsärztlichen Standpunkte. 57
Würdigung verdient. Man hat früher (Leichtenstern) die Hernien
in wahre und falsche eingetheilt, die wahren sollten einen Bruchsack
aus Peritoneum, oder Pleura oder endlich aus beiden zugleich be¬
sitzen. Bei traumatischen Brüchen ist aber ein Bruchsack so gut wie
garnicht beobachtet; er kann ja auch nur vorhanden sein, wenn die
Hernie sich allmälig entwickelt, etwa bei einer Atrophie der Muskel¬
fasern und einer nachfolgenden allmäligen Aussackung. Häufiger trifft
man einen Bruchsack bei angeborenen Hernien (10,15 pCt. nach
Lacher) an. Man hat daher die alte Einteilung längst fallen ge¬
lassen und scheidet nach Cruveilhier die Hernien mit Beziehung
auf ihre Aetiologie in:
a) congenitale und
b) aquirirte.
Erstere scheidet man weiter in 1) solche, welche mit auf die Welt
gebracht sind 2) solche, bei denen infolge mangelhafter Entwicklung
des Zwerchfells eine Disposition zur Entstehung von Brüchen schon
von Geburt an besteht. Letztere, die acquirirten, zerfallen in: 1. solche,
die durch die Verletzung des vorher normalen Zwerchfells zu Stande
kommen, 2. solche, bei welchen infolge mangelhafter Anlage eine
minder widerstandsfähige Stelle im Zwerchfell geschaffen wurde, so
dass eine Gelegenheitsursache, ein Trauma, den Durchtritt der Abdo¬
minalorgane veranlassen konnte.
Die congenitalen Hernien sind fast ausschliesslich Folgen
einer embryonalen Entwicklungshemmung; nur in einem Falle einer
rechtsseitigen Hernie mit Vorfall der Leber und des Darmes konnte
nachgewiesen werden (Bloest 1 )), dass ein Trauma während der Gra¬
vidität auf die Frucht eingewirkt hatte. An die Möglichkeit eines
angeborenen Dcfectes und einer congenitalen Hernie muss aber der
Gerichtsarzt in jedem Falle denken, weil sie als Befund zu Trug¬
schlüssen Veranlassung geben können; auch dann noch, wenn sich
eine Trennung im Zwerchfell unter Umständen findet, welche eine
gewaltsame Zerreissung sehr wohl als möglich annehmen lassen.
Strassmann 2 ) beschreibt einen diesbezüglichen Fall: Ein Mann ge-
räth in die Transraissionswelle und stirbt infolge Zermalmung der
Gliedmassen, Bruch der Wirbelsäule u. s. w. Bei der Obduction findet
sich ferner linkerseits eine handbreit klaffende Lücke zwischen Zwerch-
1) Bloest, Med. Corresp.-Bl. bayer. Aerzte. No. 22. 1846.
2) Strassmann, Lehrbuch der gerichtl. Mcdicin. Stuttgart 1895,
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
58
Dr. Israel,
feil und linker Brustwand, durch welche der Magen grösstentheils in
die linke Brusthöhle dislocirt war. Aus den weiter unten zu schil¬
dernden Merkmalen konnten die Obducenten mit Sicherheit das Be¬
stehen eines congenitalen Defectes annehmen. Letztere bedingen,
wenn sie, was nicht selten vorkommt, eine grosse Lücke darstellen,
ja das Centrum tendineum oder gar eine Zwerchfellhälfte einnehmen,
gewöhnlich die Lebensunfähigkeit der Neugeborenen, zumal sich häufig
neben ihnen noch andere Missbildungen (Anencephalie, Hemicranie)
vorfinden. Um die Lebensunfähigkeit festzustellen und sich über die
etwaige Schuld eines Dritten gutachtlich zu äussem, kann der Ge-
richtsarzt in die Lage kommen, Leichenöffnungen vornehmen zu müssen.
Liman (1. c. S. 11) berichtet über 2 Fälle dieser Art; einer ist des¬
wegen noch sehr interessant, weil die sehr wohlgebildete, vollkommen
ausgetragene männliche Frucht 4 Stunden lang gelebt hatte und an¬
geblich durch Vernachlässigung der Hebamme an Verblutung gestorben
sein sollte. — Die angeborenen Hemien kommen übrigens selten vor,
sehr selten aber auf der rechten Seite; auf 98 angeborene Hernien
rechnet Lacher nur 19 rechtsseitige. Sind die congenitalen Zwerch-
felldefecte nur klein, so kann dor Bruch jahrelang, ja während des
ganzen Lebens latent bleiben und dem Träger verhältnissmässig wenig
Beschwerden machen. Die Brüche werden dann entweder zufällig an
der Leiche gefunden (Guttmann 1 ), Hansemann 2 )) oder es erfolgt
der Tod durch Incarceration des Darmes (Abel 3 )), wie wir dies des
Näheren noch bei Schilderung des Verlaufes der acquirirten Hernien
erfahren werden, zu deren Besprechung wir nunmehr übergehen.
Die acquirirten Hernien bilden sich zum kleineren Theil da¬
durch, dass die Eingeweide durch die normal vorhandenen und durch
das Trauma erweiterten Oeffnungen des Zwerchfells hindurchgedrängt
werden. Der Hiat. aorticus und das For. pro vena cava sind noch
niemals als Durchtrittsstellen beobachtet worden, dagegen sämmtlichc
anderen oben erwähnten Lücken und Oeffnungen; diejenigen Hemien,
welche durch das For. Morgagni gehen, heissen H. mediastin. ante¬
riores, diejenigen im For. Bochdaleki: H. mediastin. posteriores. Die
Durchtrittsstelle des N. sympathicus hat nur in einem Falle als
Bruchpforte gedient. In der Mehrzahl der Fälle wird durch das
1) Guttmann, Bert. klin. Wochenschr. No. 2. 1893.
2) II ansemann, Deutsche med. Wochenschr. No. 8. 1893.
3) Abel, Berl. klin. Wochenschr. No. 4. 1894.
Digitized by
Gck gle
Ürigiral from
UNIVERS11T OF IOWA
Verletzungen des Zwerchfells vom gerichtsärztlichen Standpunkte. 50
Trauma eine frische Trennung im Zwerchfellgewebe hervorgebracht;
der musculöse Theil wird öfters verletzt als der festere, sehnige Theil
(6:4, Leichtenstern). Die Risse haben verschiedene Form und
Dimensionen, meist rund oder oval im musoulösen, mehr viereckig
im aponeurotischen Theil; auch können sie spalt- oder schlitzförmig
sein. Die Grösse schwankt zwischen der eines Pfennigstückes bis
zum Fehlen einer Hälfte. Von den Bauchorganen, welche durch den
Riss hindurchtreten, nimmt der Magen die erste Stelle ein; bald wird die
Hernie von einem, bald von mehreren Organen (letzteres in 80 pCt.
der Fälle) gebildet. Nach Dietz 1 ) war der Magen 164 mal, das
Colon 150, das Netz 101, der Dünndarm 85, die Milz 60, die Leber
46, das Duodenum 35, das Pancreas 27, das Coecum 20, die Niere
2 mal dislocirt. Mit Ausnahme des Mastdarms, der Harnblase und
der Genitalien sind schon sämmtliche Organe dislocirt vorgefunden
worden. Falls nur ein Organ durch den Zwerchfellriss geht, so ist
dies meist der Magen und zwar geschieht dies nach den von v. Ho-
roch 2 ) an 23 Leichen angestellten Versuchen dann am ehesten, wenn
der Magen nicht über 2 / 3 ausgedehnt ist.
Während das eben beschriebene Emporsteigen der Abdominal¬
organe als die häufigste Folgeerscheinung der Zwerchfellverletzung an¬
zusehen ist, kommt es vereinzelt vor, dass ein Stück Lunge ins Ab¬
domen hineingezogen wird und so verwächst. Einen solchen Fall
fand ich bei Weydenmeyer (1. c.): Durch Fall von einem Wagen
erleidet ein 22 Jahre alter Mann schwere innere Verletzungen: starke
Schmerzen beim Athmen, Haemoptoe, Peritonitis sind die Folgen.
Nach 2y 2 Monaten tritt plötzlich der Exitus ein, bei der Section
findet man das Zwerchfell an der unteren Fläche der Lunge an einer
Stelle adhärent, auf der oberen Fläche der Leber einen Abscess, in
welchem sich abgeschnürte, brandige Lungenstücke befinden. Es
waren wahrscheinlich kleine Lungenstücke durch den Zwcrchfelldefect
getreten, dann abgerissen und brandig geworden. Das übrige Zwerch¬
fell ausserhalb der Grenzen des Abscesses war normal.
Welchen Verlauf nehmen die Zwerchfell-Verletzungen? Was
geschieht, wenn durch eine stumpfe Gewalt, durch Schuss- oder Stich¬
verletzung eine Continuitätstrennung des Zwerchfells entstanden ist?
Wir sehen hierbei davon ab, dass durch concurrirendc Verletzung
1) 1. c.
2) v. Horoch, Allgom. Wiener Med.-Zoitung. 1884.
Digitized by
Go gle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
60
Dr. Israel,
anderer lebenswichtiger Organe, durch Verblutung aus den grossen
Körpergcfässen der Tod eintreten kann und beachten nur diejenigen
Ereignisse, die sich an die isolirte Ruptur anschliessen. Die Zwerch¬
fellverletzungen sind stets gefährlicher Natur; Hippocrates hielt sie
für unbedingt tödtlich, Celsus (cit. bei Kaufmann) für sehr ernst,
„quae vix ad sanitatem perveniunt“, Galen hielt die tendinösen
Wunden für gefährlicher als die musculösen. Ein solcher Unterschied
besteht nicht, wohl kann aber der Ucbergang einer Entzündung vom
Centrura tendincum auf den Herzbeutel die Gefahr steigern. — Je
mehr Eingeweide und je plötzlicher dieselben in den Thorax hinein-
gerathen, um so schneller kann der Tod kurze Zeit nach geschehener
Verletzung eintreten. Es kann als Todesursache dann Shok in Frage
kommen, der ja gerade bei Bauchverletzungen eine grosse Rolle spielt
oder Asphyxie: die plötzlich in den Thorax eindringenden Bauchein¬
geweide bringen nämlich eine Compression der Lunge und des Herzens
mit Verdrängung und Paralyse desselben zu Wege. Natürlich muss
für den plötzlichen Durchtritt mehrerer Organe die geschaffene Oeff-
nung ziemlich gross sein. Ist der ganze Magen durchgetreten, so
kann der Exitus letalis auch durch plötzliche Einklemmung und
Axendrehung desselben erfolgen; selbst bei kleiner Wunde kann aber
der Tod auch kurze Zeit nach der Verletzung eintreten, z. B. an Ver¬
blutung. Kaufmann erwähnt die Verletzung der Stämme der Art.
phrcnicae, Popp (1. c. Fall 20) Verletzung der Vena lienalis und
Magenvenen durch Stich von der linken Lendengegend aus mit nach¬
folgender Verblutung. Ferner kann durch eindringende Entzündungs¬
erreger (mit dem verletzenden Instrument, Schrotkörner, Kleiderfetzen)
und Verbreitung der Entzündung auf Pleura und Peritoneum mit Ver¬
eiterung der tödtliche Ausgang eintreten. — Hat man es mit einer
nur kleinen Ocffnung zu thun und ist die Blutung nicht zu umfang¬
reich, so kann der Riss im Zwerchfell zu einer Art Heilung gelangen
und der Verletzte mit mehr oder minder grossen Beschwerden viele
Jahre fortleben. Je langsamer der Bruch entsteht und je weniger
Complicationen sich einstellen, um so günstiger liegt der Fall. Die
Gefahr für den Träger eines solchen verletzten Zwerchfells besteht
aber fort; denn einerseits kann sich die Oeffnung durch die andrän¬
genden Baucheingeweide immer vergrössern und letztere in grösserer
Ausdehnung und Zahl allmälig durchlassen, andererseits kann bei
kleiner und unnachgiebiger vernarbter Oeffnung sehr leicht eine Ein¬
klemmung von Magen und Darm mit allen ihren Folgen bis zur Gan-
Digitized by
Go^ 'gle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
Verletzungen «les Zwerchfells vom gerichtsärztlichen SUmtlpuiikte. Ol
grän und Peritonitis perforativa cintreten. Deshalb befinden sich
solche Verletzte in steter Lebensgefahr; denn der Gelegenheitsursachen
für die acute Einklemmung des Magens und Darms in der Zwerchfell-
spaltc giebt es sehr viele: Excessc in Baccho und reichliche Mahl¬
zeiten können schon die bedrohlichsten Erscheinungen, ja den Exitus
letalis herbeiführen (cf. hierzu den Fall von Pincus), ferner Traumen
auf Thorax und Abdomen, Anstrengung der Bauchpresse bei körper¬
lichen Arbeiten und Heben von Lasten, ja starkes Erbrechen, wie
denn die Verabreichung eines Emeticum bei falscher Diagnosenstellung
schon in 2 Fällen zur Todesursache wurde (Lacher 1. c.). Es kommt
infolgedessen nicht ganz selten vor, einerseits, dass bei plötzlichen
und unerklärlichen Todesfällen die Seetion erst durch den Befund
einer lange bestehenden Zwerchfells-Hernie mit frischen Einklemmungs-
crscheinungen Aufschluss über die Todesursache giebt, andererseits,
dass Thoraxverletzungen scheinbar heilen, eine Zwechfells-Hernie nicht
vermuthet wird, die Verletzten noch Jahre lang leben (bis 50 Jahre
beobachtet), bis dann eine der genannten Schädigungen hinzutritt und
der Patient zu Grunde geht. Verwachsen die dislocirten Organe in¬
folge der Reizung durch peritonitische Stränge mit einander, was hier
und da auch beobachtet ist, so ist die Möglichkeit einer Axendrehung
und Einklemmung schon dadurch gegeben. Durch die Reibung, welchen
das eingeklemmte Organ, z. B. der Magen, am Zwerchfell-Loch bei
den Respirationsbewegungen ausgesetzt ist, kommt es ab und zu
zur Entzündung, hämorrhagischen Erosion und Ulcus. Als einen
relativ günstigen Ausgang haben wir es anzusehen, wenn das Netz
vorfällt und das Loch verschliesst, so dass sich die Baucheingeweidc
nicht vorlagern können; bei dem Guttmann’schen Kranken (1. c.)
war dies der Fall, der 50 Jahre alte, an Pneumonie verstorbene Mann
hatte über keinerlei Beschwerden zu klagen gehabt.
Bei Schilderung der Symptome hat man zu unterscheiden:
1. solche, die sich unmittelbar an die Zwerchfellverletzung anschliessen
und bis zum bald darauf eintretenden Tode andauern. 2. Bei über¬
lebenden und langsam entstehenden Hernien: a) solche, die dem Auf¬
treten der Hernie unmittelbar vorangehen, b) diejenigen während des
Bestehens der Hernie. 3. Diejenigen, welche den unglücklichen Aus¬
gang durch Einklemmung der Hernie vorausahnen lassen. — Die
ersten Zeichen einer Zw'erchfellverletzung sind kaum wesentlich ver¬
schieden von denjenigen, -welche bei Erschütterung und schweren Ver¬
letzungen des Rumpfes aufzutreten pflegen. Plötzlicher Schmerz im
Digitized by Gougle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
L)r. Israel,
<52
Leibe, besonders im Epigastrium, Cyanosc, heftige Dyspnoe, Ohn¬
macht, Zuckungen, Erbrechen, Fehlen des Zwerchfeliathmcns sind so
allgemeiner Natur, dass dadurch allein wohl niemals eine Zwerchfell¬
ruptur erkannt werden könnte. Den Angaben der alten Aerzte, dass
Risus sardonicus, Schluchzen und Spiritus rarus charakteristische Zei¬
chen seien, ist irgend welche Bedeutung nicht beizulegen. Die Dia¬
gnose von Zwerchfellrupturen ist also kurz nach der Verletzung sehr
schwierig, bei besinnungslosen Verletzten ganz unmöglich. — Viel
prägnantere Symptome bieten dagegen die Hernien. Meistens haben
die Patienten unmittelbar nach dem Durchtritt der Bauchcingeweide
durch den Zwerchfellriss die Empfindung, als ob ihnen etwas inner¬
lich gesprungen wäre, sie klagen sofort über Seitenstechen und Prä-
cordialangst. Hand in Hand geht hiermit die Dyspnoe, welche je
nach der Grösse der Compression, der Füllung der eingeklemmten
Organe und der Schnelligkeit, mit welcher sie hindurchgedrängt wer¬
den, an Intensität verschieden ist, so dass auch Erstickungsanfälle
cintretcn können. Erbrechen, Spannung und Ziehen im Unterleib,
kolikartige Schmerzen vervollständigen das Bild. Wenn die ersten
bedrohlichen Erscheinungen dann vorüber sind, kann sich der Träger
der Hernie an eine solche relativ gut gewöhnen und es bildet sich
eine Symptomenreihe heraus, welche gerade durch ihren häufigen
Wechsel und ihre Inconstanz charakteristisch ist. Da ja in den mei¬
sten Fällen der Magen eingeklemmt ist und die Speisen nach dem
im Thorax befindlichen Magen geschluckt werden, so geben die Pa¬
tienten an, beim Trinken von kalten Flüssigkeiten das Gefühl auf¬
steigender Kälte in der betreffenden Brusthälfte zu haben, ferner
klagen sic über ein eigenthümliches Glucksen, das hör- und fühlbar
ist. Ein Gefühl von Völle und Druck in der afficirten Seite, Uebel-
keiten, Kolik, Erbrechen, erschwertes Athmen, Stuhl Verstopfung, be¬
sonders wenn Theile des Colon dislocirt sind: alle diese- Symptome
treten mehr oder minder stark auf. So lange die Patienten massig
leben und sich körperlicher Anstrengungen enthalten können, werden
sie nicht sehr belästigt, zumal die eine comprimirte Lunge und das
verdrängte Herz sich sehr wohl an den Zustand gewöhnen können.
Die Symptome steigern sich aber, das Bild wird ein anderes, viel
bedrohlicheres, wenn eine plötzliche und heftige Anstrengung der
Bauchpresse gemacht wird, ferner — und das ist für die Herma
diaphr. besonders bezeichnend — nach grösseren Mahlzeiten. Das
Erbrechen und die kolikartigen Schmerzen vermehren sich sofort, bis
Digitized by
Gck gle
Original frnm
UMIVERSITY OF IOWA
Verletzungen des Zwerchfells vom gerichtsärztlichen Standpunkte. t}H
der Magen nach Entleerung seines Ueberschusses wieder die alte Lago
eingenommen hat, die Dyspnoe und die Angstsymptome weichen auch
nicht eher, bis das Volumen des eingeklemmten Magens sich ver¬
kleinert hat. Gerade die Steigerung der Symptome nach Nahrungs¬
aufnahme und der häufige Wechsel der Krankheitszeichen ermöglicht
im Verein mit den nachher noch zu beschreibenden physikalischen
Untersuchungsbefunden die Stellung einer Diagnose. Die gesteigerte
Nahrungsaufnahme ist aber auch zugleich eine der häufigsten Ursachen
für die während des scheinbaren Wohlbefindens plötzlich eintretende
Einklemmung von Magen und Darm, die mit Collapserscheinungon
und Ileus verbunden ist, und die in fast allen Fällen durch Gangrän
und Peritonitis zum Exitus führt.
Hat der Gcrichtsarzt Zwerchfellrupturen und deren Folgen zu
diagnosticiren, so wird er bei der Unbestimmtheit der Symptome,
welche die Schwerverletzten kurze Zeit nach der Verletzung darbieten,
wohl kaum in der Lage sein, auch nur mit annähernder Bestimmtheit
eine Diagnose auf isolirte Verletzung des Zwerchfells zu stellen. Um
so grössere Beachtung wird er daher einem objectiven Zeichen schen¬
ken, auf welches erst in neuerer Zeit aufmerksam gemacht worden
ist, nämlich dem sogen. Zwerchfellphänomen. Da nach einer Verlet¬
zung die Excursionsfähigkeit des Zwerchfells bei der Respiration meist
behindert, der bedeutenden Schmerzen wegen die Athmung mehr eine
costalc und einseitige ist, so dürfte es in der Zukunft für den dia-
gnosticjrenden Arzt allerdings von Werth sein, auf dieses Phänomen
zu achten. Litten 1 ) war der erste, der auf dasselbe aufmerksam
gemacht hat; er versteht darunter „den sichtbaren Ausdruck der
successivcn fortschreitenden Ablösung (oder Abhebung) des Zwerch¬
fells von der Brustwand bei dessen Tiefertreten während der Inspira¬
tion, sowie seine sueccssive fortschreitende Anlegung an die Brust¬
wand während der Exspiration. Dieser bei jeder Respiration sich
wiederholende Vorgang giebt sich an der Brustwand deutlich zu er¬
kennen durch das regelmässige Auf- und Absteigen einer eigenartigen
schattenhaften Linie, welche durch die Bewegungen des Zwerchfells
hervorgerufen ist und ein untrügliches Zeichen für den jeweiligen
Stand des letzteren ergiebt. Diese Schattenbewegung beginnt bei
1) Litten, Deutsche med. Wochenschr. No. 13. 1802, und: Sitzungsher.
der Berl. medicin. Gesellschaft vom 23. Jan. 180'). Deutsche med. Wochenschr.
No. 5. 1895.
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
64
L)r. Israel,
Gesunden beiderseits etwa in der Höhe des VI. Intercostalraumes und
steigt als gerade Linie bei tiefster Inspiration mehrere Intercostal-
räume weit, zuweilen bis an den Rippenbogen herab, um bei der
Exspiration um das gleiche Mass wieder in die Höhe zu steigen. Der
zu Untersuchende muss horizontal bei geeigneter Beleuchtung liegen.“
Zweifellos ist das Phänomen von hohem diagnostischen Interesse,
wenn das Zwerchfell z. B. durch Tumoren an der Excursionsfähigkeit.
gehindert ist, so kann man an dem Ausbleiben der Schattenlinie,
oder an einer geringeren Ausdehnung derselben einen gewissen An¬
haltspunkt gewinnen. Bei einseitigen Verletzungen wird die Diagnose
bei Beachtung des Phänomens natürlich ebenfalls ungemein erleichtert
werden.
Die Diagnose der Herniae diaphragmaticae ist bis jetzt
am Lebenden nur 5—7 mal mit Bestimmtheit richtig gestellt worden;
ganz besonders eingehend ist sie von Leichtenstern 1 ) studirt worden,
der einen einschlägigen Fall iy 2 Jahre lang aufs Genaueste beob¬
achtet hat. Die von ihm an dem Patienten gestellte Diagnose wurde
durch die Autopsie bestätigt. Da es sich um den wichtigsten Folge¬
zustand der Zwerchfellverletzungen handelt, so verdient die Differen¬
tialdiagnose wohl eine etwas ausführliche Besprechung. Wenn Abdo¬
minalorgane (Magen, Darmstücke) plötzlich in den Thorax eindringen,
so können sie das Bestehen eines traumatischen Pneumothorax Vor¬
täuschen. Während jedoch letzterer bei destruirenden Lungenprocessen,
Empyemen, sowohl rechts als links auftritt, dann sofort die ganze
Brusthälfte einnimmt, um nach einiger Zeit resorbirt zu werden und
die Lunge sich wieder ausdehnen zu lassen, tritt die Hemia diaphra-
gmatica unter den Erscheinungen innerer Einklemmung bei Abwesen¬
heit von Lungenerkrankungen auf, kommt mit dislocirten, lufthaltigen
Organen nur links vor, nimmt nur einen kleineren Bezirk mit Hohl¬
raumerscheinungen ein und bleibt oft Jahre lang constant bestehen.
Gemeinschaftlich ist beiden Zuständen: Die Vorwölbung der be¬
treffenden Thoraxhälfte, welche überdies bei der Respiration unthätig
ist, die Verdrängung des Herzens nach rechts, das Aufgehobensein
des Pectoralfremitus und des normalen Athmungsgeräusches, der
paukenartige, tympanitische Percussionsschall und der Metallklang bei
Plessimeter-Stäbchcn-Percussion. Indessen sind es gerade die objec-
tiven Zeichen der Auscultation und Percussion, welche die Aufstellung
1) Leichtenstern, 1. c. und Berl. klin. Wochenschr. 1894.
Digitized by
Go^ 'gle
Original frnrri
UNIVERSUM OF IOWA
Verletzungen des Zwerchfells vom gerichtsärztlichen Standpunkte. (15
dilferentialdiagnostischer Momente zulassen. Der durch den Pneumo¬
thorax geschaffene Hohlraum verändert ja sein Volumen nur allmälig,
die Phänomene bleiben daher lange Zeit constant bestehen; der Metall¬
klang ist stets derselbe und hat immer die gleiche Begrenzung,
Athmungsgeräusch und Succussionsphänomen bleiben dieselben. Ganz
anders liegen die Verhältnisse bei Hernia diaphragmatica. Da die
eingeklemmten Organe verschieden grosse Ausdehnung haben, also
auch verschieden grosse Lufträume enthalten, bald Luft, bald Flüssig¬
keit oder feste Theile in sich bergen, durch Peristaltik ihr Volumen,
ihre Lage und ihren Blähungszustand verändern, so müssen natur-
gemäss die auscultatorischen und percussorischen Zeichen inconstant
sein. Variabel sind die metallischen Phänomene hinsichtlich ihres
Vorhandenseins überhaupt, ihrer Klanghöhe und Ausdehnung, in ganz
kurzer Zeit kann der Percussionsschall sich ändern, die Plessimeter-
Stäbchen-Percussion in geringen Zwischenräumen verschiedene Resul¬
tate geben; ja es kann Vorkommen, dass zuweilen schon während
der Percussion, also innerhalb einer Untersuchung, durch peristalti¬
sche Bewegungen die Dämpfung verschiedene Ausdehnung annimmt,
der Ton plötzlich an der eben untersuchten Stelle sich ändert. Wenn
viel fester Inhalt im Magen vorhanden ist, bleibt der Metallklang
ganz aus. Bei Pneumothorax ferner ist das Abdomen eher stark vor¬
gewölbt, bei der Hernia diaphragmatica meist abgeflacht, eingezogen,
brettartig gespannt, bei letzterer ist auch die costale Athmung vor¬
herrschend. Bei der Auscultation hört man bei der Hernia diaphra¬
gmatica hinten am Thorax Darmgeräusche: Rasseln, Plätschern,
Blasenspringen, Tropfenfallen, Zeichen, die sich schon durch leichtes
Schütteln des Thorax erzeugen lassen und sich deshalb mit den vom
Magen her fortgeleiteten Geräuschen nicht werden verwechseln lassen.
Zur Unterstützung der Diagnose kann man endlich nach eingeführtcr
Magensonde die einströmende Luft beim Schlucken oder bei Insuffla-
tion des Magens auscultiren.
Hat man an der Leiche eine etwa vorausgegangene Zwerchfell¬
verletzung zu diagnosticiren, so muss der Hauptaugenmerk darauf
gerichtet sein, ob man es mit einem frischen Riss oder einem alten,
oder gar einer angeborenen Oeffnung zu thun hat. Bei frischen
Rupturen sind die Ränder zerfetzt, zackig, aufgewulstet, mehr oder
weniger suggillirt; bei angeborenen Defecten oder alten abgeheilten
traumatischen Rupturen sind die Ränder glatt, callös, abgerundet,
sehnig verdickt, die Fetzen sind resorbirt. Das Bestehen alter peri-
Vierteljahrsscbr. f. ger. Med. Dritte Folge. XIV. Suppl.-Heft. 5
Digitized by
Gck gle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
66
Dr. Israel,
tonitischcr Stränge, seltener auch fester Verwachsungen zwischen Or¬
ganen (Magen und untere Lungenfläche in dem Falle von Strass¬
mann [1. c.]) weist natürlich mit Bestimmtheit auf das Vorhanden¬
sein eines alten Defectes hin. Ferner können, allerdings sehr selten,
auch post mortem Risse im Zwerchfell entstehen, ein Umstand der
sorgfältige Berücksichtigung seitens der Gerichtsärzte bei Stellung der
Diagnose verdient. Weydenmeyer (1. c.) erwähnt zwei solche bis¬
her nicht veröffentlichte Fälle: 1. Ein 19 jähriger Jüngling erhält
einen Schuss ins Gehirn; bei der Section (50—60 Stunden nach dem
Tode) werden in der linken Pleurahöhle Speisereste gefunden. Bei
näherer Untersuchung findet man im linken Theile des Zwerchfells
drei ovale Oeffnungen, von denen die grösste 4 cm im Durchmesser
misst; die Ränder zeigen keine blutige Durchtränkung. An correspon-
direnden Punkten sind im Magen 3 ähnliche Perforationen vorhanden;
die Magenschleimhaut ist normal, 2. Bei einem Ertrunkenen wird
15 Tage p. m. die Section gemacht; auf der linken Seite des Zwerch¬
fells findet sich ein unregelmässiger Riss, durch welchen man 2 bis
3 Finger hindurchstecken kann. Keine vitale Reaction, sonst nichts
an der Leiche was auf Verletzung deutet. — Die Entstehung
solcher postmortalen Rupturen lässt sich folgendermassen er¬
klären. Durch die im Abdomen der Leiche sich entwickelnden Fäul-
nissgase dehnen sich die Intestina aus, ihr Volumen vergrössert sich
und der intraabdominelle Druck wird erhöht. Hieraus erklärt sich
die häufiger vorkommende Austreibung eines Darmstückes aus dem
Anus und den Genitalien, ferner der Vorgang der Sarggeburt; in
selteneren Fällen kann dadurch die vordere Bauchwand auseinander¬
weichen. Nach oben treten in Folge der Fäulniss die ödematöse
Flüssigkeit (Schaum mit und ohne Blut) bei Ertrunkenen oder Er¬
stickten durch Mund und Nase, Speisereste köimen bis zum Pharynx
Vordringen. So kann man sich auch vorstellen, dass wenn die Zwerch¬
fellmuskulatur im Leben schon prädisponirt oder durch Leichenmace-
ration erst desorganisirt war, eine postmortale Zerreissung des in die
Höhe getriebenen und durch den erhöhten intraabdominellen Druck
aufs stärkste gespannten Zwerchfells eintreten kann. Das Fehlen der
vitalen Reaction und die Berücksichtigung der Anamnese müssen hier
zu richtigen Schlüssen führen.
Was die gerichtsärztlicho Beurtheilung der ZwerchfeU-Ver¬
letzungen betrifft, so wird wohl selten der Fall eintreten, dass un¬
mittelbar nach geschehener Verletzung die Abgabe eines Gutachtens
Digitized by
Gck gle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
Verletzungen des Zwerchfells vorn gericblsärztlichen Standpunkte. 67
gefordert wird. Ist es in einem solchen Falle gelungen, die Diagnoso
einer Zwerch feil Verletzung zu stellen, so muss man mit der Prognose,
also mit den voraussichtlich sich einstellenden Folgen bei der Beur-
theilung sehr vorsichtig sein; denn es giebt zahlreiche Fälle, die dar-
thun, dass die ersten Erscheinungen gut überstanden werden, dass
aber noch in dem ersten Stadium nach der Verletzung sich Umstände
einstellen können, die einen letalen Ausgang herbeiführen. Auch
scheinbare Heilungen dürfen dem Gerichtsarzt niemals zu voreiligen
Gutachten Veranlassung geben. Sind die bedrohlichen Symptome
vorübergegangen und hat man es mit einem abgelaufeneu Fall zu
thun, so wird man besonders auf das eventuelle Bestehen einer Hemia
diaphragmatica sein Hauptaugenmerk richten und sie unter Berück¬
sichtigung der oben angeführten Hilfsmittel zu disgnosticiren suchen.
Beschwerden, die sich unmittelbar nach dem Genuss einer reichlichen
Mahlzeit regelmässig einzustellen pflegen, Athemnoth und die ge¬
nannten subjectiven Empfindungen müssen den Verdacht einer Hernia
diaphragmalica entstehen lassen, wenn eine Verletzung der betreffen¬
den Körpergegend stattgefunden hat. Da die Diagnose einer solchen
Hernie äusserst schwierig ist und wiederholte, eingehende Unter¬
suchungen erfordert, so wird der Gerichtsarzt gut thun, falls er Ver¬
dacht auf einen Zwerchfellbruch hat, den Richter darauf aufmerksam
zu machen und event. eine längere Krankenhaus-Beobachtung bean¬
tragen. Sobald aber dac Bestehen einer Hernie anzunehmen ist, wird
man kein Bedenken tragen, einen solchen körperlichen Zustand als
„Siechthum“ zu betrachten, also eine schwere Körperverletzung im
Sinne des § 224 des D. St. B. anzunehmen. Das Allgemeinbefinden
ist ja, wie die ausführlich angegebene Symptomatologie beweist, derart
gestört, dass der Träger einer Hernie in steter Lebensgefahr schwebt,
ein mhiges Leben führen und sich strenge Diät auferlegen muss.
Diejenigen Fälle, in denen Hernien ohne Störung ertragen wurden,
können um so weniger iu Betracht kommen, als sie zu den Aus¬
nahmen gehören. Auch die Arbeits- und Erwerbsfähigkeit ist dauernd
gestört und man wird, falls die Verletzung durch einen Betriebsunfall
entstanden ist, mit Rücksicht auf die Folgen den Arbeiter als in
höherem Grade erwerbsunfähig bezeichnen; er muss sich ja vor jeder
körperlichen Anstrengung in Acht nehmen, weil eine solche die Gefahr
der Brucheinklemmung in sich schliesst.
Es wird mm vielleicht vom Richter gelegentlich die Frage auf¬
geworfen werden, ob ein solcher Zustand nicht heilbar ist. Es kann
5*
Digitized by
Gck gle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
68
Dr. Israel,
sich hierbei nur um eine Laparotomie handeln, die aber nicht allein
zu dem Zwecke gemacht wird, um, wie die älteren Aerzte es sich
dachten, den Magen bezw. Darmstücke in’s Abdomen zurückziehen
zu können, da sie ja bei der nächsten Pressbewegung wieder hinauf¬
steigen würden; es muss sich vielmehr daran auch die Naht der
Zwerchfellwunde anschliessen. Bei grösseren Defecten wird es ferner
nöthig sein, dieselben durch plastische Operationen zu ersetzen. Solche
mit Glück ausgeführte Operationen erwähnt Schönwerth') bei einer
Stich Verletzung des Zwerchfells, v. No orden 2 ) nach Exstirpation grosser
Geschwulstmassen, wobei ein grosser, dreieckiger Defect (8 cm tief
und 9 cm breit) im Zwerchfell entstanden war und unter Zuhilfenahme
des breiten Bauchmuskels geschlossen wurde, v. Noorden erwähnt
die Operationen von Posternpski (Verhandlungen des X. internat.
med. Congr. Bd. III. p. 188), welcher manche guten Erfolge mit
plastischen Operationen am Zwerchfell gehabt hat. Abgesehen davon,
dass der Verletzte mit einem solchen Eingriffe (Laparotomie u. s. w.)
nicht leicht einverstanden sein wird, sind es so seltene und schwierige,
nur von den geschicktesten Chirurgen auszuführende Operationen,
deren dauernder Erfolg bei der geringen Anzahl der veröffentlichten
Fälle überdies noch in Frage steht. Die Frage einer eventuellen
Heilbarkeit kommt also bei der gerichtlichen Beurtheilung nicht wesent¬
lich in Frage.
Die Beurtheilung des Leichenbefundes wird damit beginnen,
dass man feststellt, ob ein angeborener Defect oder eine mit der Ver¬
letzung in Zusammenhang stehende Oeffnung oder endlich eine post¬
mortale Erscheinung vorhanden ist. Die Frage, ob die Schuld eines
Dritten oder ein Selbstmord (bes. bei Stichverletzungen) vorliegt, wird
mit Berücksichtigung der Lage der äusseren Wunde, der Richtung des
eingedrungenen Instruments, der Nebenumstände u. s. w. zu beurtheilen
sein. Relativ einfach liegen die Fälle, bei denen der Tod unmittelbar
nach der Verletzung oder nach der sich anschliessenden schweren
Gesundheitsstörung cingetreten ist. Schwieriger wird die Beurtheilung,
wenn zwischen Verletzung und Exitus letalis ein monate- bis jahre¬
langer Zeitraum scheinbaren Wohlbefindens vorhanden war und der
Tod schnell und unerwartet eintrat. Da man meistens Einklemmungs-
1) Schönwerth, Münchener med. Wochenschr. No. 35. 1895.
2) v. No orden, Zur Operation der grossen Chondrome des Rumpfes, ein
Beitrag zur Chirurgie des Zwerchfells. (Mikulicz’sche Klinik in Breslau). Deutsche
med. Wochenschr. No. 15. 1893.
Digitized by
Gck gle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
Verletzungen des Zwerchfells vom gerichtsärztlichen Standpunkte. Gü
erscheinungen und deren Folgen an der Leiche vor sich hat, so wird
man zu bedenken haben, dass die Zwerchfellöffnung sehr wohl vor
Monaten und Jahren entstanden sein kann und dass trotzdem der Tod
infolge von Incarceration als mittelbare Folge der Verletzung ange¬
sehen werden muss. (Vergl. hierzu den Pincus’schen Fall.) Eine
genaue Aufnahme der Krankheitserscheinungen zwischen Verletzung
und Todeseintritt ist unerlässlich, wenn anders man sich vor un¬
richtigen Schlussfolgerungen hüten will. Vielleicht kann noch gefragt
werden, ob es einem Zwerch feil-Verletzten möglich war, unmittelbar
nach der Verletzung einige Stunden lang scheinbar gesund zu bleiben,
weiter zu arbeiten, grössere Strecken zu gehen, um dann unter schweren
Erscheinungen zu Grunde zu gehen. Devergie (cit. bei Schuster,
1. c.) erwähnt einen solchen Fall: Ein Arbeiter erlitt bei einer Rauferei
eine Zwerchfellruptur; es fand sich nämlich bei der Section der Magen
in der linken Pleurahöhle, er war geplatzt und hatte seinen Inhalt
(zwei tiefe Suppenteller voll Brot, Gemüse und Fleisch) entleert; die
linke Lunge war ganz comprimirt. Der Verletzte hatte noch einen
Weg von 1 lieue ( s / 4 deutsche Meilen) zurückgelegt.. — Sollte es sich
hier nicht um postmortale Erscheinungen handeln? Jedenfalls beweist
der Fall, dass der Gerichtsarzt bei solchen Vorkommnissen bestrebt
sein muss, zu individualisiren und die Ergebnisse der Autopsie einer
strengen Selbstkritik zu unterwerfen.
ßcsumc.
1. Isolirtc Zwerchfell-Verletzungen werden selten beobachtet;
sie können durch Schuss- und Stichverletzungen oder infolge Ein¬
wirkung einer stumpfen Gewalt zu Stande kommen.
2. Die bei weitem überwiegende Anzahl wird auf der linken
Körperseite gefunden, die Mehrzahl kommt bei Männern im mittleren
Lebensalter vor.
3. Die wichtigste Folgeerscheinung ist die Zwerchfell-Hernie,
welche man als aquirirte Hernie von der congenitalen zu unterscheiden
hat; meist ist der Magen dislocirt.
4. Bei Stellung der Diagnose kann das Litten’sche Zwerchfell-
Phänomen einen guten Anhalt geben; für die Differential-Diagnose
kommt in erster Reihe der traumatische Pneumothorax in Betracht.
Digitized
bv Google
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
70 Dr. Israel, Verletzungen des Zwerchfells vom gerichtsarztl. Standpunkte.
5. Die Zwerchfell-Hernien können in selteneren Fällen längere
Zeit ohne Krankheitserscheinungen bestehen, meist wird über Be¬
schwerden nach der Nahrungsaufnahme und nach körperlichen An¬
strengungen geklagt. Der Exitus tritt am häufigsten als Folge einer
Einklemmung des dislocirten Organes mit nachfolgender Perforativ-
Pcritonitis ein.
6. Das Bestehen einer Zwerchfell-Hernie ist als „Siechthum“
zu betrachten. Bei der Leichenuntersuchung soll fostgestellt werden,
ob man es mit einer angeborenen oder erworbenen Oeffnung oder
endlich einer postmortalen Ruptur zu thun hat.
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
3.
Die gerichtsärztliche Beurtheilung der
Lungenyerletzungen.
Von
Stabsarzt a. D. Dr. Altmann,
pract. Arzt zu Strassburg i. E.
Die Verletzungen der Lunge kommen auf zwei wesentlich ver¬
schiedene Arten zu Stande. Entweder können Erschütterungen und
Quetschungen — stumpfe Gewalten —, welche den Brustkorb treffen,
durch die Veränderungen, die sie an ihm oder an seinem Inhalte her-
vorrufen, auf die Lungen wirken, ohne mit diesen selbst in Berührung
zu treten (indirecte Lungenverletzungen), oder unter gleichzeitiger
Trennung der Bedeckungen erfolgt ein unmittelbarer verwundender
Contact des verletzenden Werkzeuges mit dem Lungengewebe. Solche
Verletzungen werden bewirkt durch Hieb und Stich, durch Geschosse
und Zerrcissungen (directe Lungenverletzungen). Die zwischen beiden
Arten in der Mitte stehenden, nicht nachweislich die Pleura pulmo-
nalis durchdringenden Verletzungen werden, wie später begründet, am
zweckmässigsten der zweiten Gruppe zugerechnet. —
Gerechtfertigt wird diese Trennung nach directen und indirecten
Läsionen durch die Verschiedenheiten des Verlaufes und der Beurthei¬
lung — insbesondere auch der gerichtsärztlichen —, welche durch
das Fehlen oder Vorhandensein einer Eröffnung des Brustraumes und
einer pathologischen Communikation der Lungen mit der Aussenwelt
gegeben sind. —
Die Verletzungen, welche die Lunge durch eine reine Brust¬
erschütterung (Commotio thoracis) infolge Fall oder Stoss erleidet,
sind nach Ausweis sowohl der klinischen wie der experimentellen Er¬
fahrungen nur geringe. Mehr als.kleine subpleurale Blutergüsse, der
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
72
Dr. Altmann,
getroffenen Brustkorbstelle ungefähr entsprechend, konnten die Beob¬
achter (Riedinger 1. S. 13 ff.) 1 ) nicht nachweisen und zwar weder
bei den zur Obduction gelangten Unglücksfällen, noch bei den nament¬
lich von Riedinger (2) veranstalteten Versuchen, bei denen die Wir¬
kungen der einmaligen Erschütterung durch die Application vieler
kleiner Schläge auf den Thorax nachgcahmt wurden. — Ob eine der
Gehirnerschütterung analoge Coramotion der Lunge stattfinden kann
und welche Erscheinungen am Lebenden sie bietet, ist eine Frage,
die selbst durch die experimentelle Forschung nicht befriedigend be¬
antwortet werden konnte, da das Bild stets durch die gleichzeitige
Reaction der benachbarten Organe (Herz, Unterleibseingeweide), sowie
des Nervensystems getrübt wird. So müssen einerseits die häufig
dominirenden Shokerscheinungen auf die directe oder reflectorische
Hirn- und Rückenmarksreizung, andrerseits das experimentell beob¬
achtete Sinken des Blutdrucks — bis zur völligen Herzlähmung —
auf Reizung des Nervus vagus sowie der Splanchnici, die Verkürzung
und Beschleunigung der Athmung auf Reizung der betreffenden Nerven-
centren durch die daselbst secundär eintretende Anämie zurückgeführt
werden. Die Summe dieser Erscheinungen ist im Stande, auch ohne
besondere nachweisbare organische Veränderungen den sofortigen Tod
herbeizuführen (s. den Fall von Nelaton bei Riedinger 1. p. 13).
Meistens allerdings, zum wesentlichen Unterschiede von der Contusio
thoracis, verschwinden die anfangs bedrohlichen Symptome binnen
weniger Stunden oder Tage. Die Möglichkeit, dass dieselben zu
späteren Lungenleiden den Keim legen, oder ein vorhandenes zur Ent¬
wickelung bringen, ist jedoch nicht ausgeschlossen.
Die eigentlichen Contnsionen der Brust sind stets von gröberen
anatomischen Veränderungen theils der Lunge selbst, theils der sie
direct beeinflussenden Nachbartheile begleitet. Ihr Vorkommen ist
häufig und ihre Ursachen sind sehr mannigfaltig, ebenso wie die
Aeusserungen ihres Einflusses auf die Lunge. Als Entstehungsursachen
sind im Allgemeinen zu bezeichnen stumpf wirkende Gewalten, d. h.
„Insulte, welche breit auftreffend den Thorax ganz oder theilweisc
eomprimiren und durch die plötzlich eintretenden anatomischen Lage-
verschicbungen Zerrcissungen seines Inhalts — mit oder ohne gleich¬
zeitige Beschädigung der Wandung — hervorrufen“ (Schuster. 3.
I) Die Zahlen beziehen sieh — um Wiederholungen zu vermeiden — auf
die am Schlüsse angeführten Liieraturangaben.
Digitized by
Go^ gle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Die gerichtsärztliche Beurtheilung der Lungönverletznngen. 73
S. 417). Als solche Gewalten ergeben sich Stösse mit der Hand
(Faust) oder den Füssen (Hufen) oder stumpfen Werkzeugen jeglicher
Natur, Wurf mit derartigen Gegenständen, Ueberfahrenwerden oder
sonstige Quetschungen verschiedener Art, wie sie im Maschinen-, Bau-,
Bergwerks- und Eisenbahnbetriebe so häufig sind und auch bei anderen
Gewerben und Beschäftigungen (Pferdepflege!) sich ereignen können;
weiterhin Sturz von bedeutender Höhe oder wuchtiger Auprall an harte
Körper; auch Geschosse (matte Kugeln, Sprengstücke) können die
Wirkungen stumpfer Gewalten äussern. — Die Erscheinungen nach
solchen Contusionen bewegen sich in den Grenzen zwischen den
leichtesten, kaum nachweisbaren Veränderungen und den schwersten,
sofortigen Tod herbeiführenden Läsionen, zwischen acuten, kürzere
oder längere Zeit sich hinziehenden Erkrankungen und chronischen,
oft sogar erst nach geraumer Zeit zu Tage tretenden Leiden. —
Durch die einwirkende Gewalt kann eine so ausgedehnte Zcr-
reissung der Lungen erfolgen, dass ein Häraato- bezw. Hämato-pneumo-
tliorax mit sofortigem, durch Lungeneompression bewirktem Tode ein-
tritt. Eine reiche Sammlung solcher Fälle zählt Riedinger (1. S. 10ff.)
auf. Die Lungenzerreissung erfolgt hierbei durch die Fortleitung der
quetschenden Gewalt vermittelst des elastischen Brustkorbes auf die
Lunge und wird begünstigt durch einen im Augenblick des Insultes
bestehenden Verschluss der Stimmritze bei gleichzeitiger Inspirations¬
stellung der Lungen. Es brauchen jedoch selbst bedeutende Zerreissungen,
sofern sie sich auf eine Lunge beschränken, die Fortdauer des Lebens
nicht auszuschlicssen. Der Bluterguss in den Pleuraraum kann zur Re¬
sorption gelangen — die beim Ausbleiben einer Infection oft sehr
schnell erfolgt — und völlige Heilung eintreten. Der gleichzeitige
Lufteintritt aus der geborstenen Lunge in den Pleuraraum (Hämato-
pneumothorax) wird natürlich die Heilung oft verzögern oder in Frage
stellen. Die Gefahr einer Infection mit Eiterung, Sepsis und Com-
pression der Lunge durch Entwickelung von Fäulnissgasen im Brust¬
raum liegt hier sehr nahe. Unter Athemnoth und Hämoptoe können
die Verletzten mit allen sonstigen Symptomen genannter Begleiterkran¬
kungen monatelang an’s Krankenbett gefesselt sein und an jenen noch
seeundär zu Grunde gehen oder dauerndem Siechthum verfallen. —
Die Compression der Lunge nach Verletzungen kann auch durch
andere Momente als den Hämatothorax infolge Lungenruptur ver¬
ursacht werden — Vorgänge, die allerdings seltener zur Beobachtung
gelangen. Es gehören hierher der Hämatothorax nach Verletzung der
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
74
Dr. Altmann,
Arteria mammaria interna oder einer Intercostalarterie (4), und der
Chylothorax, entstanden durch Zerreissung des Ductus thoracicus (5.6).
Die comprimirende Wirkung eines Ergusses auf die Lunge ist dabei
natürlich der des Hämatothorax gleichbedeutend, der Ausgang wird
beim Chylothorax ausserdem noch durch die gleichzeitigen Ernährungs-
anomalien modificirt. — Weiterhin können traumatische Lungencom-
pressionen durch Zwechfellrupturen nach Verletzungen eintreten. Durch
den Riss des Zwerchfells — der ebenfalls bei Inspirationsstellung des
letzteren am ehesten erfolgt — treten Unterleibsorgane in die Brust¬
höhle und erzeugen dann häufig letal endigende Störungen der Lungen¬
functionen, abgesehen von ihren sonstigen Schädigungen. Jedoch sind
auch Fälle beobachtet, in denen solche Hernien sogar ohne besondere
Symptome — manchmal unerkannt — jahrelang bestanden haben und
erst bei der Section entdeckt wurden (7. 8). Auf die Möglichkeit des
Bestehens solcher Organverschiebungen muss bei in Betracht kommen¬
den Verletzungen stets Rücksicht genommen werden, da bei etwaigen
Punctionen und Aspirationen hierbei Bauchorgane perforirt und tödt-
liche Ausgänge erzeugt werden können (Butlin bei Riedinger, 1.
S. 11).
Auch ohne solche ausgedehnten Zerreissungen bezw. Cora-
pressionen des Lungengewebes kann die Quetschung des Brustkorbs
krankheitserregend auf die Lunge wirken. Es treten nach Contu-
sionen Blutungen ins Lungenparenchym und selbst lungenentzündungs¬
ähnliche oder pleuritiscbe Erscheinungen auf, die direct als trauma¬
tische oder Contnsions-Pnenmonien oder -Pleuritiden bezeichnet worden
sind. — Die Möglichkeit einer Entstehung von Pneumonien durch
Quetschungen des Brustkorbs war von den Forschern lange Zeit ignorirt,
oder gar bezweifelt worden (Jürgensen, Strümpell, Lehrb. d. spec.
Path. u. Ther.). Litten (9) war der erste, der geordnet eine Anzahl
Fälle anführte, aus denen ihm mit Evidenz der causale Zusammenhang
zwischen mechanischer Läsion des Brustinhalts und der Lungenerkran¬
kung hervorzugehen schien. Neben den direct als traumatisch zu erklä¬
renden Lungenaffectionen — einfacher Ecchymosirung, hämorrhagischer
Infiltration, Infarcirung oder reichlichem parenchymatösen Blutergusse
durch Gefässzerreissung, sowie Zerreissung und Zermalmung der
Lunge — beschreibt er als „Contusionspneumonie“ eine Affection,
die 1—2 Tage nach dem Unfälle, während welcher der Verletzte oft
noch arbeitet und sich verhältnissmässig wohl fühlt, in der Regel mit
einem Schüttelfröste einsetzt. Es folgt ein mehrtägiges Fieber, ge-
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Die gerichtsärztliche Beurtheilung der Lungenverletzungen.
75
wohnlich mit kritischem Abfall; dabei besteht pneumonischer Auswurf,
meistens von stark hämorrhagischem Charakter. In der Mehrzahl der
Litten’schen Fälle war der Unterlappen ergriffen; auch fehlten nicht
sonstige Nebenerscheinungen der Pneumonie — Schweisse, Urinsedi¬
mente, Herpes u. s. w. Der Ausgang erfolgte einige Male in
Gangrän, die aber nach Abstossung der nekrotischen Fetzen einen
günstigen Verlauf nahm. Bestanden leichte Einrisse an der Lungen¬
oberfläche, so hatte nachweislich die Entzündung von diesen gewöhn¬
lich ihren Ausgang genommen, konnte auch in Form einer Pneumonia
migrans von einem dieser Einrisse zum anderen überspringen. Fast
stets begleitete eine trockene oder seröse Pleuritis die Erscheinungen,
die bei Gangrän und ähnlichen Processen den entsprechenden Cha¬
rakter annahm. Die zur Section gelangten Fällen wiesen ein längeres
Verharren der Lunge im Zustande der rothen Hepatisation auf, als
dies der genuinen Pneumonie zukommt, dazu das Vorhandensein reich¬
licher rother Blutkörperchen in den Alveolen. Von späteren Beob¬
achtern (10) wurden in derartigen Fällen auch Pneumokokken in der
entzündeten Lunge aufgefunden und die Annahme hingestellt, dass
das Trauma als solches der Infection nur die Wege geebnet habe. —
Der Kriegs-Sanitätsbericht(ll) erwähnt eine Anzahl Fälle von Lun¬
genentzündungen nach vorausgegangenen Quetschungen der Brust, deren
Verlauf sich von dem der gewöhnlichen Pneumonie in nichts Wesent¬
lichem unterschied, wenngleich seitens der Berichterstatter ihrer Auf¬
fassung als reine Contusionspneumonien die Möglichkeit sonstiger Ent¬
stehungsursachen entgegen gehalten wird.
Die Angaben von Litten fanden zum Theil vielfache Bestätigung
und casuistische Erweiterung, wenn auch andrerseits Stimmen nicht
fehlten, welche die Abweichungen des Verlaufes derartiger Pneumonien
betonten (Demuth 12) und zwar die Möglichkeit entzündlicher lobärer
Infiltrate Zugaben, jedoch ihre Identität mit der genuinen Pneumonie
in Abrede stellten. Demuth, der unter 604 Fällen von Lungenent¬
zündung 10 mit voraufgegangenen Contusionen beobachtete, hebt den
abweichenden Verlauf dieser Fälle hervor: Der initiale Fieberfrost,
sowie die in diesem Stadium sonst hörbaren feinblasigen Rasselgeräusche
seien nicht immer vorhanden, der Verlauf mitunter protrahirter; das
Sectionsergebniss zeigte manchmal nur Anschoppung und Blutunter¬
laufung der Lungen; in einem Falle wies der Querschnitt der infiltrirten
Lunge nicht die körnige Beschaffenheit der pneumonischen Hepatisa¬
tion auf; die Infiltration war auch mehr inselförmig über die Lappen
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
76
I)r. Altraann,
versprengt, als lobär umgrenzt. Dabei fehlte, als auf äusseres Trauma
hindeutend, selten das charakteristische, der genuinen Pneumonie nicht
zukommende Symptom der miliaren subpleuralen Ecchymosen. Eine
Anzahl ähnlicher Fälle, durch Eisenbahnunglück entstanden (Reu-
bold, 13), liessen Lungenaffcctionen beobachten, die theilweise den
Charakter der Pneumonie, theilweise mehr den der reinen Quetschung
trugen. Eine weitere Anzahl von demselben Autor beobachteter Fälle
von Brust- und Lungenquetschungen (14) lassen diesen zu demselben
Resultate gelangen, dass das Auftreten von Pneumonieen und aüch
Pleuritiden nach Quetschungen der Lunge zweifellos zu beobachten
sei, wenn auch die ersteren fast stets einen auf ihre mehr hämor¬
rhagische Natur deutenden Charakter zeigten. Kannenberg (15) be¬
richtet ebenfalls von einigen Fällen von Pneumonie nach Quetschungen,
darunter einem, in dem ein Sturz auf den Knopf des Gewehrhebels
einen Druck des Nervus vagus und anschliessend eine Unterlappen¬
pneumonie verursacht hatte, die vielleicht nicht mit Unrecht der Be¬
einflussung dieses Nerven zugeschrieben werden konnte. — Von Inter¬
esse ist ferner ein Fall von Kuby (16), wo nach einer Gewaltein¬
wirkung auf die rechte Brustseite sich links eine Lungeninfiltration
cinstellte, während sich rechts ausser einer Rippenfractur mit ent¬
sprechendem Bluterguss nur das terminale Lungenödem vorfand; der
Begutachter hebt die Möglichkeit einer Contrecoup-Wirkung auf die
nicht direct getroffene Seite hervor. — Koch (10) und Sokolowski
(17) betonen anlässlich der von ihnen beschriebenen Fälle den echt
pneumonischen, durch den Nachweis von Diplokokken gesicherten
Charakter der durch die Quetschungen entstandenen Affectionen. —
Alle die beschriebenen Fälle sowohl, als auch die Betrachtungen der
Autoren lassen die Frage des Entstehens einer genuinen Pneumonie
durch Contusion als eine umstrittene bestehen. Das Auftreten fieber¬
hafter Erscheinungen nach einer Lungenquetschung erscheint durch
das Vorhandensein grösserer Hämorrhagien durchaus erklärt, wie dies
auch die Versuche von Ledderhose (18) und Hadelich (19) be¬
stätigen, welch letzterer besonders die Anwesenheit von Blut in den
Alveolen als Entzündungsreiz hervorhebt. So tragen die sogenannten
Contusionspneumonien meistens den hämorrhagischen Charakter, wie
er sich in den niedrigeren Fiebercurven, dem mehr protrahirten Ver¬
laufe, dem stark blutigen Auswurf und den erwähnten Sectionsbefunden
ausprägt. Das Auftreten zweifellos echter Pneumonien nach Gewalt¬
einwirkungen kann dann entweder als zufälliges ßegleitmoment auf-
Digitized by
Gck gle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Die gerichtsärztliche Beurthcilung der Lungenverletzungen. 77
gefasst werden, oder es darf beim Vorhandensein der Möglichkeit
einer Infectiou von aussen das Trauma dadurch, dass es in der Lunge
einen Locus minoris resistentiae schuf, für die Erkrankung direct ver¬
antwortlich gemacht werden. — Die Frage nach dem Zusammenhänge
zwischen der Tuberkulose und erlittenen mechanischen Insulten soll
später ausführlicher betrachtet werden.
Nebenhergegangene Quetsch Wirkungen auf die Brustwand können
nun die Symptome der einfachen Lungenquetschung in mehrfacher
Weise modificiren. Blosse Weichtheilverletzungen werden natürlich
die etwa bestehende Lungen Verletzung nicht weiter beeinflussen. An¬
ders jedoch verhält es sich mit Brüchen des Brustkorbgerüstes,
welche die Erscheinungen der Lungenquetschung um weitere eigen-
thümliche vermehren. — Die Brache des Sternums können auf
die Lunge entweder durch die hervorgerufene Erschwerung des Ath-
mens rückwirken und namentlich bei älteren Leuten das Eintreten
von Hypostasen und Lungenödem begünstigen, oder es kann ein
substemaler Bluterguss die Lunge comprimiren; endlich auch kön¬
nen die Fragmente directe Zerreissungen des Lungengewebes mit
allen für dieselben charakteristischen Erscheinungen erzeugen. Unter
ihnen ist von besonderer Bedeutung das durch die Kommunikation
zwischen Lunge und Unterhautzellgewebe entstehende Hautemphysem,
das häufig einen beträchtlichen Umfang annehmen und seinerseits durch
Compression, Vereiterung u. s. w. die Prognose der Verletzung trüben
kann. — In besonders inniger Beziehung zu den Lungenverletzungen
stehen sodann die Rippenbrfiche. Das Zustandekommen derselben er¬
fordert bei seniler Beschaffenheit oder sonstigen krankhaften Verände¬
rungen der Rippen keine bedeutende Gewalt. Es können unter solchen
Bedingungen durch gewaltsame Muskelbewegungen oder ähnliche Mo¬
mente sogar spontane Fracturen entstehen. Bei jüngeren Leuten und
gesunden Rippen gehört zur Rippenfractur in Anbetracht der Elasti-
cität des Thorax eine intensive Gewalteinwirkung: Kann doch hier
der Brustkorb eine solche Compression erleiden, dass das Brustbein
die Wirbelsäule berührt, ohne dass die Rippen brechen (s. Messerer
bei Reubold, 14). — Brüche zahlreicher Rippen, insbesondere doppel¬
seitige, sind im Stande, durch umfangreiche Zerreissungen der Pleuren
und Lungen und die consecutive Blutung binnen kürzester Frist den
Tod herbeizuführen. Bleibt der Verletzte am Leben, so werden neben
den Erscheinungen der Lungenquetschung bezw. -Zerreissung durch
die Fracturenden — Bluthusten, Athemnoth, Dämpfungen u. s. w. —
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
78
Dr. Altmann,
noch diejenigen der Rippenfracturcn selbst mit in die Erscheinung
treten und die üble Einwirkung der ersteren erhöhen. Besonders das
Unterhautemphysem kann sich sehr rasch entwickeln, jedoch ist zu
berücksichtigen, dass dieses Symptom nicht unbedingt pathognomonisch
für eine Rippenfractur, nicht einmal für einen Riss der Lungenober¬
fläche ist. Bei inneren Zerreissungen der Lunge kann im peribron¬
chialen und -trachealen Bindegewebe eine Luftansammlung entstehen,
die zunächst schwere und unerklärliche Compressionserscheinungen er¬
zeugt und erst beim Aufsteigen und Umsichgreifen im Halsbindegewebe
sichtbar wird; diesselbe Phänomen kann sogar durch ulcerative Pro-
cesse bedingt sein, wenn durch solche eine Kommunikation zwischen
dem Lungeninneren und dem die Luftröhrenäste umgebenden Binde¬
gewebe hergestellt wird. — Die Schmerzhaftigkeit der Rippenfractur-
stelle beeinträchtigt nun ferner die Athmung und wird so zur Ursache
secundärer krankhafter Processe in der Lunge oder zum hemmenden
Moment des Ausgleichs bestehender Verletzungen. — Sodann können
durch die Bruchlücken Lungenhemien heraustreten — ein bei nicht
penetrirenden Brustwunden allerdings seltenes, aber doch sicher beob¬
achtetes Vorkommniss (20. Fall von Weis: Hornstoss — Rippen¬
fractur — Lungenvorfall); diese Ausstülpungen entstehen im Mo¬
mente forcirter Exspiration und zeichnen sich neben den sonstigen
Erscheinungen durch bedeutende Empfindlichkeit aus, die zu Ohn¬
machtsanfällen führen kann. — Weiterhin kann der Rippenbruch unter
Umständen zur Ursache von comprimirenden Pleuraergüssen werden,
und zwar auch ohne directe Beschädigung der Lunge, bei isolirten
Pleurarissen oder Zerreissungen von Gefässen. Die möglichen Folge-
und Verlaufserscheinungen dieser Complikationen (Pneumo-, Pyothorax
mit eventeller Sepsis, Pyämie etc.) sind den entsprechenden Processen
bei penetrirenden Brustwunden analog und sollen in ihren Einzelheiten
bei Besprechung dieser genauer gewürdigt werden.
Eine besondere Hervorhebung, ihrer eigenthümlichen Entstehungs*
Ursache wegen, verdienen noch die Schusscontusionen der Lunge, bei
denen das Geschoss, ohne Pleura oder Lunge direct zu verletzen, durch
seine erschütternde Wirkung einen schädigenden Einfluss auf die Lunge
gewinnt. Reichhaltiges Material an hierher gehörigen Fällen liefert der
deutsche Kriegs-Sanitätsbericht von 1870/71 (11), der unter den
7102 sicher constatirten nicht penetrirenden Brustverletzungen (Quetschun¬
gen, reinen Weichtheilwunden und Knochenverletzungen) 318 Fälle mit
Complikationen seitens Lunge und Brustfell aufzählt (die auf dem Schlacht-
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSITÄT OF IOWA
Die gerichlsärztliche Beurtheilung der Lungen Verletzungen.
79
feldc Gestorbenen nicht eingerechnet), welche zum weitaus grössten
Theile auf Geschosse zurückzu führen sind. Es können sowohl die
Erscheinungen der leichten, wie der schweren Brusterschütterung her¬
vorgerufen werden, oder der wechselnde Symptomencoroplex einer
Lungenquetschung sich vorfinden: Bluthusten, Blutungen in’s Lungen¬
gewebe, Blutergüsse in den Pleuraraum, mit oder ohne Risse der
Pleura und des Lungenparenchyms selbst, Contusionspneumonien und
-Pleuritiden, nicht selten Ausgänge in Tuberkulose. Bei gleichzeitig
vorhandenen Knochenbrüchen zeigten sich unter 813 Fällen 68mal
die Athmungsorgane in Mitleidenschaft gezogen. Auch Wahl (21)
führt eine Anzahl solcher Schusscontusionen der Lunge mit und ohne
gleichzeitige Rippenfracturen an; selbst die selten zur Beobachtung
gelangten „Luftstreifschüsse“ (Pirogoff bei Wahl 1. c., Kriegs-Sani¬
tätsbericht. Bd. III. S. 396) können neben den Wirkungen auf die
äusseren Bedeckungen eine Insultation der Lunge im Gefolge haben.
Die in Pleuraraum und Lunge penetrirenden Brustverletzungen
bieten ausser solchen Folgeerscheinungen, die den Quetschungsresul¬
taten analog sind, noch diejenigen Besonderheiten dar, die durch die
abweichende Art des Zustandekommens und durch die Kommunication
der Lungenwunde mit der Aussenwelt gesetzt werden. Die Lebens¬
wichtigkeit der hierbei der Läsion ausgesetzten Theile bringt es mit
sich, dass die penetrirenden Brustverletzungen in der Mehrzahl der
Fälle einen Weiterbestand des Lebens überhaupt nicht gestatten, son¬
dern zu raschem Tode führen, den wir als primär oder secundär er¬
folgend bezeichnen können, je nachdem er das unmittelbare Resultat
der Verletzung oder das späterer Complicationen ist. Abgesehen von
dem Shok und etwaigen Mitverletzungen des Herzens — die nur in
den seltensten Fällen einen Fortbestand des Lebens gestatten (s. Rie¬
din ge r 1. S. 182) — ist eine innere oder äussere Verblutung in
erster Linie die Ursache des schnellen Endes, sodann die Ausserthätig-
keitsetzung der Lunge beim Auftreten eines ausgedehnten Pneumo¬
thorax. Aber auch wer dieser Gefahr entronnen ist, kann durch den
Eintritt weiterer infectiös-entzündlicher Processe, von Nachblutungen
und sonstigen üblen Zufällen noch im ferneren Verlaufe dahin gerafft
werden. Welche Höhe die Sterblichkeitsziffer der Lungenverletzungen
erreicht, lehren insbesondere die kriegschirurgischen Erfahrungen.
Nach dem Kriegssanitätsberichte (11. Bd. UI. A. S. 301) starben von
15378 Brustverletzungen 7953 = 51 pCt., davon 5918 = 37,3 pCt.
sofort, die übrigen nachträglich. Wieviele dieser Todesfälle auf aus-
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
80
l)r. Altmann,
schliessliche Lungenvcrlctzungen zu rechnen sind, ist aus diesen Be¬
richten nicht zu ersehen. Hingegen ergab sich von den 3121 lebend
in Behandlung gekommenen Verwundeten mit penetrirenden Lungen¬
verletzungen eine Sterbeziffer von 47,9 pCt. (1. c. S. 423) — die¬
jenigen, bei denen die Lungenverletzung nur wahrscheinlich, als wirk¬
lich Verletzte mitgerechnet. Einen noch höheren Procentsatz von Todes¬
fällen lieferten zum grössten Theil die Statistiken der anderen Kriege
dieses Jahrhunderts. So ergab sich im Krimkriege eine Sterblichkeit
von 91 pCt. bei den Franzosen, 79,2 pCt. bei den Engländern, im
amerikanischen Kriege eine solche von 65,6 pCt. u. s. w. Eine Zu¬
sammenstellung von Asch6 (22) führt aus dem deutsch-französischen
Kriege unter 5102 Gewehrschüssen in die Brust 2262 = 44,31 pCt.
sofort und 438 = 8,58 pCt. nachträglich Verstorbene an (insge-
sammt eine Sterblichkeit von 52,89 pCt.). Von 66 Bajonettwunden
der Brust waren sofort tödtlich 13 = 19,69 pCt., späterhin noch
3 = 4,54 pCt., im ganzen also nur 24,23 pCt. — Immerhin sind
aber in der Literatur aus der Kriegs- und Friedenspraxis Fälle sehr
schwerer Lungenverletzungen, umfangreicher Zerreissungen, auch mit
Complicationen anderer wichtiger Organe beschrieben, die doch noch
mit dem Leben davon kamen und selbst zur relativen Heilung ge¬
langten.
Die Entstehung penetrirender Brustwunden erfolgt durch Hieb-,
Schnitt- und Stichwaffen der verschiedensten Art, durch Schusspro-
jcctile oder durch sonstige zerreissende Gewalten, wie sie, ausser
durch Geschosse grösseren Kalibers, bei mancherlei Unglücksfällcn
gegeben sein können (Verschüttungen, Explosionen, Eisenbahnunfälle etc.).
Isolirte Verwundungen der Pleura parietalis — bei rascher Retraction
der Lunge — sind selbst unter Berücksichtigung der Schwierigkeit,
Wunden des visceralen Pleurablattes sogar bei der Obduction infolge
ihrer häufig rasch auftretenden Verklebung aufzufinden, dennoch sicher
beobachtete Thatsachen (s. Riedinger, 1. S. 119). Diese sehr häufig
bestehende Unmöglichkeit, bei Brustverletzungen eine gleichzeitige
Lungenwunde genau zu diagnosticiren bezw. auszuschliessen, der bis
auf wenige, fast nur in sehr ausgeprägten Fällen zu erkennende Unter¬
schiede gleichartige Verlauf beider Arten von Verletzungen, die un¬
umgänglichen Wirkungen, welche auch reine Pleurawunden auf die
Lunge mit ausüben müssen: All’ diese Umstände bestimmen uns,
die penetrirenden Pleurawunden als mit den oberflächlichen Lungen¬
wunden grundsätzlich gleichwertig zu betrachten.
Digitized by
Gck gle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Die jrerielitsiirztliche Rourthoilung der Lungenvcrletzungen.
81
Jede Herstellung einer Communication zwischen Ausscnwrelt und
Brustinnern wird nothwendiger Weise das Eintreten von Luft in den
hierdurch erst zum wirklichen Ausdruck gelangenden Pleuraraum er¬
möglichen, also einen Pneumothorax schaffen. Fehlen kann derselbe
bei mangelndem Parallelismus der Wundränder, ein Umstand, der
besonders vor dem Sondiren der Brustwunden warnen muss, oder bei
vcntiJartigem Verschlüsse der Wunde. Schnitt- und Hiebwunden be¬
günstigen daher das Eintreten eines Pneumothorax mehr als Schuss¬
wunden. Andrerseits sind bei ersteren die Gefahren einer Infcction,
besonders durch das Fehlen mitgerissener Kleidungsfetzen u. s. w.
geringer; da bei ihnen auch Knochensplitterungen nicht so leicht Vor¬
kommen, bieten die glatteren Wundflächen für die Heilung eine gün¬
stigere Gewähr als die gequetschten Gewebstrümmer einer Schuss¬
wunde.
Der Pneumothorax wird sich auf einen geringen Umfang be¬
schränken beim Bestehen von Adhäsionen zwischen den Pleurablättern,
wie sic sehr häufig, besonders bei älteren Individuen zu beobachten
sind. Die Wirkung des Lufteintritts in den Pleuraraum ist ein Zu¬
sammenfallen der Lunge nach dem Hilus zu, so dass ein Rücksinken
derselben auf die Wirbelsäule stattfindet. Ein pfeifendes Geräusch
begleitet jeden Athemzug, die eingedrungene Luft kann, wenn die
Wundöfinung sich schliesst, den Thorax über das gewöhnliche Hass
auseinanderwölben, und giebt sich durch hellen tympanitischen Schall
zu erkennen. Bei gleichzeitiger Continuitätstrennung an der Lungen¬
oberfläche ist dem Zustandekommen des Pneumothorax durch das Mit¬
eintreten von Luft aus den Bronchien doppelte Gelegenheit geboten,
während andrerseits die Möglichkeit eines Verklebens der Pleurablätter
sein Umsichgreifen hindern kann (s. Arnold bei Riedinger, 1. S.122).
Unter günstigen Umständen — bei baldigem Verschluss der Oeffnung
und der Abwesenheit entzündlicher Exsudate — vermag eine rasche
Resorption der in den Pleuraraum eingedrungenen Luft und eine all-
mälige Wiederausdehnung der Lunge stattzufinden, die der Restitutio
in integrum die Wege ebnet..
Den Pneumothorax begleitet für gewöhnlich ein Bluterguss,
der entweder aus gleichzeitig getroffenen Gefässen (Arteria mamraaria,
intercostalis, Pulmonalgefässcn) oder aus dem Lungengewebe selbst
stammt. Sein Wachsen ist durch den Nachweis einer steigenden
Dämpfung zu verfolgen; er führt häufig zum sofortigen oder baldigen
Tode durch Verblutung, oder zu hochgradigen Oppressionserscheinun-
Viertelj&hrsßchr. f. ger. Med. Dritte Folge. XIV. Suppl.-Heft. g
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
82
Dr. A11 m a n n ,
gen, unter Verdrängung dos Herzens, Compression der anderen Lunge,
in der vicariirendes Emphysem, zum Ende auch Oedem eintreten kann,
doppelseitige penetrirende Lungenverletzung wird fast stets sofortigen
Tod im Gefolge haben. Die Blutung ist bei den glattrandigen Hieb¬
und Stichwunden eine erheblichere. Beim Fernbleiben von Infection
vermag der Bluterguss wieder resorbirt zu werden, und gestattet eine
völlige Genesung. Anderseits aber bietet er Keimen, die entweder
durch unreine Waffen, Projeetile, Klcidungsfetzen u. s. w. eingeführt
sind, oder nachträglich einwandern können, einen günstigen Boden
zur Erzeugung von eitrigen Pleuritiden oder jauchigen Ergüssen, zur
Sepsis und Pyämie, die durch operative Eingriffe nicht immer zu be¬
seitigen sind. Auch können bereits in Bildung begriffene, Rettung
verheissende Adhäsionen durch solche secundären Processe zur eitrigen
Schmelzung gebracht, und so nachträglich noch ein Pyopneumothorax
erzeugt werden. Um die Lungenwunde finden sich nicht selten Hämor-
rhagien und Infiltrate, die zu acuten oder chronischen Pneumonien
Veranlassung geben können (s. die Versuche von Hadelich, 19).
Die Möglichkeit des Zusammenhanges phthisischer Processe mit Lungen¬
verletzungen wird uns späterhin noch beschäftigen. — Des weiteren
sind Vorfälle des Lungengewebes, namentlich der Ränder, durch die
äussere Wunde beobachtet, welche dem an dieser Stelle verminderten
Gegendruck des Thorax bei der Exspiration ihren Austritt verdanken.
Hierbei kann völliges Zurückziehen des Prolapses, Schrumpfung, oder
Gangrän mit ihren Folgen der Ausgang sein. Eine bei penetrirenden
Lungenwunden häufige Erscheinung ist das Hautemphysera der Nach¬
barschaft. Dasselbe setzt zu seinem Entstehen jedoch einen gewissen
Verschluss der Eingangswunde voraus — die lockeren Zellgewebs-
maschen bieten alsdann der aus der Lunge dringenden Luft ein be¬
quemes Verbreitungsgebiet. — Die subjectiven Zeichen der Lungen¬
verletzung sind natürlich sehr wechselnde. Initial bestehen häufig die
Erscheinungen des Shoks, tiefe Ohnmacht, kleiner Puls, Blässe, livides
Aussehen und kalter Schweiss. In anderen Fällen findet sich starker
Brustschmerz, Angstgefühl und Athemnoth, auch kann Cvanose ein¬
treten, Zittern der Extremitäten und die sonstigen Symptome einer
acuten Anämie. Sodann kann oft unter starkem Hustenreiz blutiger
Auswurf sich entleeren, der, wenn auch manchmal nur kurze Zeit
anhaltend, doch selten fehlt. Sehr gefährlich sind secundäre Hämo¬
ptoen, durch spätere Arrosion von Gelassen u. s. w. entstanden, die
dem schon geschwächten Organismus dann vollends den Rest geben.
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Di ft gerielitsärzlliclie Beurtlieilung <Ier Lungcnvcrlctzungen. 83
Die Wundöffnungen variiren natürlich nach der Natur der Waffe.
Die meist glatten und seharfrandigen Schnitt- und Stichwunden sind
von den runden oder gezackten, mitunter verbrannten Schussöffnungen
verschieden; diese lassen auch häufig an eingestülpten bezw. heraus¬
gerissenen Rändern die Ein- und Ausgangsöffnung erkennen, letztere
unter Umständen durch Geschosstrümmer oder Knochensplitterung
besonders verunstaltet. Der Austritt meist schaumig-blutiger Flüssig¬
keit aus der Wunde ist gewöhnlich zu beobachten. — Weiterhin
bieten auch die Wunden der Lunge solbst die verschiedensten Bilder.
Glatte Ränder — gleichsam Rupturen — sind selbst bei Schuss¬
wunden beobachtet (Meissner, bei Riedinger, 1. S. 135); sonst
sind die Ränder der Schusswunden meist zerrissen und eingedrückt,
mit Sugillationen in der Umgebung.
Die sccundären Krankheitsprocesse — Empyeme, Pneumonien,
Verjauchungen u. s. w. verändern die pathologischen Befunde oft er¬
heblich.
Von grosser Wichtigkeit für den Verlauf ist bei den Schuss¬
wunden noch das Verhalten der Projectile und der sonstigen etwa in
den Brustraum mitgerissenen Objecte. Letztere in Gestalt von Knochen¬
splittern oder zackigen Theilstücken von Geschossen vermögen be¬
trächtliche Zerreissungen im Lungengewebe anzurichten, die die Prognose
verschlechtern. Wenn auch Projectile häufig reaetionslos einheilen,
manchmal späterhin an anderen Orten zum Vorschein kommend, oder
auch erst bei der Section zu finden, so bilden sie anderseits häufig
das Centrum von Abscessbildungen, die in Form einer Lungencavcrnc
oder eines Empyems verlaufen — durch Entleerung (manchmal sogar
in die Bauchhöhle) .ausheilen, oder auch letal endigen können. Be¬
sonders üble Wirkung kommt mitgerissenen Kleidungsfetzen zu, die
fast stets als Träger von Infcction sich ausweisen. Von Bedeutung
ist bei den Heilungsvorgängen solcher Vereiterungen der Lungensub-
stauz die nachfolgende Schrumpfung, die zum Einsinken der ganzen
Thoraxseite und zur scoliotischen Wirbelsäulenverkrümmung führen
kann. Die Therapie sieht sich sogar behufs Schliessung der Abscess-
höhle zu ausgiebigen Rippenresectionen genöthigt (s. den Fall von
Schneider, 23). Eine Anführung der unzähligen Variationen, die der
oft jahrelange Verlauf derartiger Verletzungen mit sich bringen kann,
würde viele Seiten füllen; das Werk von Riedinger (1), sowie zahl¬
reiche Publicationcn der letzten Jahre bieten eine reiche Fundgrube
6 *
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Dr. Altmann,
S4
bezüglicher Fälle, auf deren bemerkenswerthere Ergebnisse wir zum
Tlicil noch zurückzukommen haben.
Die Fragen, welche bei den bisher besprochenen Verletzungen
sich dem Gerichtsarzte zur Erwägung darbieten, werden hauptsächlich
folgende Punkte umfassen:
1. Liegt eine Verletzung der Lunge vor, bezw r . ist der Tod durch
eine solche verursacht?
2 . Durch welche Art Waffen, Werkzeuge oder sonstige Gewalt
kann die Verletzung entstanden sein?
3. Welche Folgen erwachsen den Verletzten für Leben, gegen¬
wärtige und zukünftige Gesundheit, sowie Erwerbsfähigkeit?
4. Inwieweit sind die eingetretenen Folgczustände auf die Ver¬
letzung selbst oder auf etwaige concurrirende Momente
(Heredität, Disposition, Infeotion etc.) zurückzuführen?
5. Wie ist die Verletzung im Sinne des Strafgesetzbuchs zu
characterisiren?
Die in Vorhergehendem zusammengestellte Uebersicht über die
Erscheinungen der Lungenverletzungen liefert die Hauptgesichtspunkte,
nach denen die Präcisirung einer Brastverletzniigsdiagnose vorzunehmen
sein wird. So einfach und leicht sich in vielen Fällen die Beant¬
wortung der Frage gestalten wird, ob ein dem Thorax zugefügtes
Trauma die Lunge in Mitleidenschaft gezogen hat oder nicht, so
schwer, ja nahezu unmöglich kann doch mitunter diese Entscheidung,
besonders am lebenden Patienten, werden. — Eine reine Commotion
der Lunge wird diagnostisch wohl kaum je festzustellen sein, da die
Shokcrscheinungen wohl die dominirende Stelle im Krankheitsbilde
einnehmen werden, und auch an der Leiche höchstens kleine sub¬
pleurale Ecchymosen auf die Mitbetheiligung der Lunge hinweisen. Die
Möglichkeit der Diagnose einer Lungcncontusion aus den initialen
Symptomen wird davon abhängig sein, ob unter denselben sich solche
befinden, die als von der Lunge ausgehend angesehen werden können.
Als solche sind in vivo zu beobachten die Hämoptoe, die jedoch
durchaus nicht immer unmittelbar nach dem Unfall, sondern manch¬
mal erst nach Tagen, auch noch später sich einstellt. Die Art ihres
Auftretens ermöglicht mitunter weitere Schlüsse auf die Ausdehnung
und die Natur der Lungenverletzung. Vereinzelte Blutbeimengungen
im Schleim oder Speichel gestatten die Annahme einer mehr diffusen,
auf einen grösseren oder kleineren Abschnitt der Lunge beschränkten
Quetschung, deren Ausdehnungsgebict dann auch auscultatorisch
Digitized by
Gck gle
Original from
UNIVERSITÄT OF IOWA
Die gerichtsärztliche Beurtheilung der Lun gen Verletzungen.
85
— durch feuchte Rasselgeräusche — und percutorisch nachweisbar
sein wird. Beim Erguss reinen Blutes aus der Mundhöhle, besonders
unmittelbar nach der Verletzung wird man nicht fehlgehen, die Zcr-
reissung eines Arterienastes bezw.' bei sehr starker Blutung eines
Hauptzweiges der Pulmonalis vorauszusetzen. Eine secundäre Lungcti-
blutung weist hin auf die nachträgliche Oelfnung eines zugequetschten
Arterienastes, oder auf die Lösung eines Thrombus, beides vielleicht
durch heftige Hustenstössc, durch respiratorische Anstrengung, auch
schon artificiell durch angewandte Expectorantien oder Brechmittel
erzeugt, oder auf die Arrosion eines Gefässes durch das Eintreten
gangränöser Processe im gequetschten Luugengewebe. — Dass das
anfangs rein hämorrhagische Sputum nach wenigen Tagen in ein
hämorrhagisch-pneumonisches und mit ihm die Contusionserscheinungen
in das Bild einer Lungenentzündung übergehen können, ist in der
Eingangsbetrachtung bereits auseinandergesetzt und die daraus zu
ziehenden Schlüsse erwähnt worden.
Mit grosser Wahrscheinlichkeit werden wir eine Verletzung der
Lunge diagnosticiren können, wenn wir bei einer Brustquetschung die
Anzeichen einer inneren Blutung in dem Pleuraraum bemerken: Ohn¬
macht, Blässe, kalter Schweiss, rapides Sinken des Blutdrucks, kleiner
Puls; dazu Dyspnoe, respiratorisches Zurückbleiben der verletzten Seite
und die objectiv nachweisbaren Symptome eines Ilämothorax. Eine
rasch steigende Dämpfung, aufgehobenes Athmen, eventuell Verstrei-
chung der Intercostalräume und Volumzunahme der ergriffenen Thorax¬
hälfte: alle diese Zeichen gewährleisten die Annahme eines die Pleura
pulmonalis durchsetzenden Risses im Luugengewebe unter Mitzcr-
reissung eines grossen Blutgefässes. Nicht ausgeschlossen ist hierbei
die Möglichkeit der Zcrreissung anderer Arterien — der Mammaria
interna oder einer Intercostalarterie, welche theihveise die gleichen
physikalischen Symptome hervorzurufen im Stande sind. Jedoch nur
das absolute Ausschliessen jeglicher Anzeichen einer gleichzeitigen
Lungen- oder Pleuraverletzung darf bei einem Bluterguss im Pleura¬
raum eine derartige Annahme aufkoramen lassen. Noch ist hier zu
erwägen die Möglichkeit, dass ein Chyluserguss aus dem durchrissenen
Ductus thoracicus („Chylothorax“) einen Bluterguss vortäuscht. Die
durch Probepunction leicht festzustellende Beschaffenheit des Ergusses
und die Beobachtung der Folgeerscheinungen (Ernährungsstörungen)
werden bei dem Gedanken an diese Möglichkeit leicht Klarheit ver¬
schaffen. — Die Erscheinungen des Pneumo- bezw. Hämopneumo-
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
86
T)r. Altmann,
thorax worden bei fehlender Kommunikation mit der Aussenluft durch
eine Wunde der Thoraxwandungen nur selten beobachtet, es sei denn,
dass ein grösserer Bronchialast mit zerrissen wäre. Die Blutung
hindert einmal durch mechanischen Verschluss der Alveolen, sodann
auch durch ihren Druck den Luftaustritt aus der Lungenwunde. Bei
weniger ausgedehnter Blutung ist allerdings der Eintritt eines Ilämato-
pneumothorax die Regel, doch auch hier nur dann, wenn nicht die
so häufigen alten Adhäsionen der Pleurablätter seinem Zustande¬
kommen Grenzen ziehen; derselbe — nachweisbar durch tympaniti-
schcn Schall, Succussionsgcräusch und starke Vorwölbung der Thorax¬
wand —, pflegt jedoch meist in kurzer Zeit wieder zu verschwinden,
d. h. dem einfachen Hämothorax Platz zu machen, indem die aus¬
getretene Luft baldigst wieder resorbirt wird. Aber auch hier ist mit
Aufmerksamkeit die Wcitcrentwickclung der initialen Symptome zu
verfolgen. Der Eintritt von lnfectionsträgcrn in den Erguss des Pleura¬
raumes vermag denselben in einen Pyo-Pncumothorax umzuwandeln
und somit eine an sich weniger belangreiche Lungenruptur zu einer
lebensgefährlichen Verletzung zu stempeln, wenngleich der Bronchial-
und Alveolcnschlcimhaut eine gewissermassen keimfiltrircnde Wirkung
zugeschrieben werden muss.
Weiterhin muss das Auftreten von Reibegeräuschen nach einer
Brustcontusion den Verdacht einer Lungen- bezw. Plcuraaflfeetion rege
machen; oft genug wird derselbe bestätigt durch das secundärc Auf¬
treten einer serösen oder fibrinösen Pleuritis, die dann sicherlich als
Folge der erlittenen Beschädigung anzusehon ist. — Das Vorhanden¬
sein von Rippcnfracturen nöthigt nicht immer zu der Annahme einer
gleichzeitigen Lungcnverletzung, vielmehr kann auf eine Zerreissung
der Pleura bezw. des Lungengewebes nur bei gleichzeitigem Vor¬
handensein der soeben erwähnten, für Lungen- und Pleurarisse cha¬
rakteristischen Erscheinungen geschlossen werden. Zu diesen tritt
gerade bei den Rippenbrüchen noch das Unterhautcmphysera, das
auch beim Fehlen sonstiger Lungensymptome die Diagnose der Lungen¬
wunde sicher stellt. Der Sitz, sowie die Art und Weise des Auftretens
dieses Emphysems erlaubt weiter wichtige Schlüsse über die Natur
der Lungenverletzung. Von der Rippenbruchstellc ausgehend, hier
meist unmittelbar nach der Verletzung sich zeigend und bald grössere,
bald kleinere Körperabschnitte überziehend, weist es auf den Zusam¬
menhang zwischen diesen und dem Lungengewebe hin. Von ganz be¬
sonderem Interesse ist alter sein Zutagetreten über dem Media-
Digitized by
Gck gle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Die gericbtsärztliche Beurtheilung der Lungen Verletzungen.
87
stinnm posticura in der vorderen und seitlichen Halsgegend. Ilier-
selbst tritt es gewöhnlich erst Stunden nach der Verletzung auf und
in Begleitung von Lungencomprcssionserscheinungcn, Dyspnoe, Cyanose,
Ausscrfunctionssetzung der verletzten Seite, und weist dann hin auf
eine pathologische Kommunikation zwischen dem den Lungcnhilus ver¬
lassenden Bindegewebe und dem Bronchialbaum, wie sie durch eine
nicht in den Pleuraraum sich eröffnende Risswunde hervorgebracht
wird. Die bedeutende Gefährlichkeit dieses Emphysems, das, in dem
interlobulären Bindegewebe fortkriechend, die Lungenläppchen compri-
mirt und, wie bemerkt, nur bei seinem Hervortreten aus dem Media¬
stinum zur exaeten Cognition gelangen kann, liegt auf der Hand.
Eine Art von Lungenverletzung ist cs noch, die sich fast stets
nur mit Rippenbrüchen vergesellschaftet findet: die Lungenhernien --
das Auftreten einer meist rundlichen, auf Druck knisternden, pereu-
torisch Lungenschall aufweisenden und meist recht schmerzhaften, zu
Shokerscheinungen disponirenden Geschwulst in der Lücke der Rippen-
fractur. Durch das Steigen des intrathoracischen Druckes bei der
Exspiration tritt in dieser Phase die Geschwulst mehr hervor. Sie
ist jedoch gewöhnlich reponirbar und führt nur selten zu Verödung
bezw. Gangrän des eingeklemmten Stückes.
Das Nichtvorhandensein der erwähnten Lungensymptome nach
einer Contusion des Thorax berechtigt nun jedoch nicht zur sofortigen
Aussehlicssung einer Lungen Verletzung. Die besonders bei gleich¬
zeitiger Fractur am Thorax vorhandene Schmerzhaftigkeit lässt mit¬
unter eine sofortige genaue Untersuchung nicht zu, und der Beobachter
wird erst späterhin durch einen Erguss u. s. w. überrascht, der auf
eine vorhanden gewesene Lungen- oder Pleuraverletzung schlicsscn lässt.
Derselbe Grund lässt mitunter die Patienten auch jeglichen Husten,
somit auch die Hämoptoe unterdrücken, und namentlich bei alten
Leuten mit ohnehin dürftiger Expectoration kann dies Symptom leicht
übersehen werden. Ferner können, wie erwähnt, alte Verwachsungen,
Schwarten, sonstige chronische Processe an Pleura oder Lunge die
Diagnose eines frisch hinzugetretenen Traumas beeinträchtigen. So¬
dann giebt es nicht wenige Fälle, in denen Lungenaffectioncn infolge
von Unfällen erst nach längeren Zeitintervallen hervortreten; gerade
diese Fälle sind aber von ganz besonderer forensischer Wichtigkeit,
weil bei ihnen häufig der Zusammenhang zwischen Verletzung und
nachheriger Krankheit ein Object des Rechtsstreites ist und dem Ge¬
richtsarzte hier eine nach allen Richtungen hin schwierige und ver-
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSITÄT OF IOWA
88
Dr. Altmann,
antwortungsreiche Aufgabe erwächst, wenn aucli die Diagnose der hier
in Betracht kommenden Krankheitsformen (Pleuritis, Pneumonie und
Phthisis etc.) als solche keine besondere Schwierigkeit bereitet. Was
die Diagnose des Sitzes der Lungencontusionen anlangt, so sind hier¬
für die äusserlichen Spuren der Gewalteinwirkung nicht immer mass¬
gebend. Die Elasticität der Thoraxwand, namentlich bei jungen Indi¬
viduen, bringt es mit sich, dass ein den Brustkorb treffender Druck
zwar an der Einwirkungsstelle seine äusseren Spuren hinterlassen, im
übrigen sich aber auf den Brustkorb gleichmässig vertheilen und hier
an den verschiedensten Stellen Rupturen hervorbringen kann. Zum
Zustandekommen derartiger gewissermassen indirecter Rupturen gehört,
wie fast allseitig angenommen wird (s. Riedinger. 1. S. 9), das
Verschlossensein der Stimmritze im Augenblick des Unfalls, ein Zu¬
stand, der im Moment des Schrecks, der psychischen Aufregung, beim
Angstschrei gewiss fast regelmässig auftritt. Die Lunge platzt als¬
dann wie eine sonstige, mit Luft angefüllte Blase an einer beliebigen
Stelle, am liebsten allerdings an einem durch irgend welche ältere
Erkrankungen geschaffenen Locus minoris resistentiac — ein Umstand,
der, wie wir noch sehen werden, auch zu forensischen Controversen
Veranlassung bieten kann. Risse in beiden Lungen mit consecutivem
doppelseitigem Hämo-(Pneumo-)thorax führen wohl stets den raschen
Tod herbei. Mehrfache Einrisse werden in vivo kaum zu sondern
sein, ebenso wird die Bestimmung ihres Sitzes nicht immer gelingen;
im Allgemeinen dürfen nach den vorliegenden Beobachtungen die
Untcrlappen als die Prädilectionsstellen der Rupturen angesehen werden.
— Auch Contusionspneumonien brauchen nicht stets ihren Sitz auf
der durch den Unfall betroffenen Seite zu haben. Einer der von
Litten mitgetheilten Fälle beweist, dass die Contusion auch die ent¬
gegengesetzte Lungenhälfte zur Entzündung disponiren kann.
Der Leichenbefund in Fällen schwerer Brustcontusionen dürfte
Zweifel an der Existenz einer Lungenverlctzung nur selten auftauchen
lassen. Die Veränderungen: Continuitätstrennungen, Zertrümmerungen
und Zerquetschungen mit ihren Folgezuständen: Blutergüssen, Hyper¬
ämie und Anschoppungen der umgebenden Theile, Infiltrationen und
hämorrhagische Infarctc einzelner Lungenabschnitte sind zutreffenden
Falls so evident, dass sie dem untersuchenden Arzte nicht entgehen,
ebenso dürften über die Deutung der sccundären Veränderungen bei
später zur Section gelangenden Fällen — der entzündlichen Processe
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Die serielltsärztliche Beurtheilung der Lungenverletzungen. 89
im Pleuraraum, der Lungengangrän oder des Abscesses dem Obdu¬
centen kaum Zweifel erwachsen, obgleich hier allerdings der Zu¬
sammenhang zwischen dem Leichenbefund und der Verletzung mit
besonderer Berücksichtigung etwaiger sonstiger Krankheitsursachen
zu begründen ist. Die nothwendigc Achtsamkeit bei der Eröffnung
der Brusthöhle wird Verwechselungen zwischen intravital entstandenem
Hämothorax und nachträglichem Bluterguss in den Pleuraraum ver¬
meiden lassen, desgleichen die Erkenntniss eines etwaigen von der
Brustwandung ausgehenden Blutergusses ermöglichen. Schwierigkeiten
wird mitunter die Auffindung der vermutheten Lungenwunde machen.
Kleine Lungenrisse können einige Zeit nach erfolgter Verletzung der
Diagnose entgehen; wie Hadelich (19) nachgewiesen hat, verkleben
glatte Wunden der Lungenoberfläche bereits innerhalb 24 Stunden
und können nach Tagen mit so schmaler linearer Narbe verheilt sein,
dass sie sich dem suchenden Auge entziehen. Auch Verstecktsein
des Risses zwischen Adhäsionen erschwert seinen Nachweis. Noch
schwieriger kann sodann die Beantwortung der Frage werden, ob
eine vorhandene Pneumonie als eine genuine oder durch Contusion
erzeugte anzusehen ist. Etwaige Eechymosen der Pleura werden die
Antwort erleichtern; nach Litten spräche auch der hämorrhagische
Charakter der Infiltration, das lange Verweilen im Zustande der rothen
Hepatisation für den traumatischen Ursprung; denselben wird auch
der mikroskopische Nachweis zahlreicher rother Blutkörperchen in
den Alveolen wahrscheinlich machen, während andrerseits das Auf¬
finden der Pneumokokken die von der Contusion unabhängige Ent¬
stehung der Lungenverletzung nicht bewiese, da die Mikroorganismen
gerade die durch die Verletzung geschlossene Eingangspforte zu ihrem
krankheitserregenden Eindringen benutzt haben können. Nur sorg¬
fältiges Abwägen aller für den traumatischen Ursprung einer Lungen¬
entzündung sprechenden Momente gegen etwaige sonstige Entstehungs¬
möglichkeiten kann in solchen Fällen Irrthümer der Beurtheilung fern
halten.
Bei penetrirenden Brustwunden wird es im Allgemeinen leicht
zu beantworten sein, ob die Lunge getroffen worden ist oder nicht,
wenn auch die directe Prüfung des Zusammenhangs mit Sonde oder
Finger verboten ist. Jede das Niveau der Pleura costalis erreichende
Wunde der Brustwand legt uns die Frage nach einer etwaigen Be¬
schädigung des Brustinhalts vor. Verletzungen der Pleura sind da¬
bei, wie schon begründet, oberflächlichen Lungenwunden äquivalent
Digitized by
Gck gle
Original from
UNIVERSITÄT OF IOWA
90
Dr. Altmann,
zu betrachten, sowohl diagnostisch, da eine Sonderung bei dem häufigen
Fehlen specifischer Lungensymptome oft zu den Unmöglichkeiten ge¬
hört, als prognostisch: Ein Bluterguss aus isolirter Pleurawunde
kann in derselben Weise comprimirend wirken, und durch Luftzutritt
aus der äusseren Wunde die gleichen Folgezustände nach sich ziehen,
als ob die Lunge mitbetheiligt wäre, während andrerseits, wie wir
gesehen haben, einfache Lungenwunden oft binnen kurzem verkleben
und durch keine weiteren Erscheinungen sich bemerkbar machen.
Dies Vorkommen reiner Pleurawunden selbst bei Schussverlctzun-
gen, was früher vielfach bezweifelt wurde, ist durch neuere Beob¬
achtungen (Fall von Arnold bei Riedingcr, 1. S. 121) ausser Frage
gestellt.
Das Ausbleiben des bei Eröffnung des Brustraums zur Regel ge¬
hörigen Pneumothorax spricht noch nicht gegen die Eröffnung, da bei
nicht völligem Parallelismus der Wundränder oder bei schmaler Wund¬
spalte ein Uebereinanderlagern der Weichtheile den Lufteintritt ver¬
hindern kann. Dasselbe vermag auch eine rasch auftrotende Blutung.
Die schnelle Resorption der etwa eingetretenen Luft macht auch mit¬
unter den Nachweis des Pneumothorax unmöglich. Ein Austritt der
Luft aus der Lungenwundc findet — wie schon früher besprochen —
nicht immer statt, speciell lassen die gequetschten Randflächen eines
Schusscanals einen solchen gewöhnlich nicht zu, wenn nicht gerade
gleichzeitig ein Bronchus getroffen ist. — In weitaus den meisten
Fällen werden nun aber die subjoetiven und objcctiven Symptome
einer Lungenverletzung, wie wir sic bei Besprechung der Quetschungen
kennen gelernt haben, die Diagnose ermöglichen, wenn auch ihr Fehlen
die Anwesenheit einer Lungenwunde nicht völlig ausschliesst. Das
Hautemphysem hat hier eine besondere diagnostische Wichtigkeit, da
es gerade bei penetrirenden Lungenwunden nahezu regelmässig auf-
tritt, wenngleich hierbei auch die Möglichkeit des allerdings sehr sel¬
tenen sogenannten äusseren Wundemphysems ohne Lungenverlctzung
nicht ausser Betracht gelassen werden darf. Nur die Schusswunden
zeigen diese Erscheinung sehr selten, da hier die grössere Communica-
tionsöffnung zwischen der Ausscnluft und der getroffenen Lunge einer
Luftaufsaugung die Möglichkeit benimmt. Auch wird bei ihnen der
bei Stich- etc. Wunden verkommende Vorfall von Lungenrandpartien
nicht beobachtet, da das gequetschte Gewebe und der enge Schuss¬
canal nicht dazu disponirt. Die Hämoptoe — blutig-schaumiger Aus¬
wurf — wird in fast allen Fällen, ausgenommen die ganz oberfläch-
Digitized by
Go^ 'gle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
Die gerichtsärztliche Benrtheilung der Lun gen Verletzungen. 91
liehen Lungenverletzungen, vorhanden sein; das zisehende Aus- und
Eintreten von Luft synchronisch der Athmung, sowie das Strömen
schaumigen, luftuntermischten Blutes aus der Wunde, machen die
Diagnose zu einer sicheren. Der Vorschlag von Weilinger (Peters¬
burg. mcdicin. Zeitschr. 1866. Heft 3), zur Sicherung der Diagnose
nach einer tiefen Exspiration die Wunde mit der Hand zu bedecken,
dann einathmen zu lassen und zu sehen, ob dann bei Oeffnung der
Wunde und Schliessung von Mund und Nase Luft aus der Wunde
strömt, ist erstens theoretisch anfechtbar, da die Wunde durch
Coagula verstopft sein kann, und zweitens praktisch bedenklich, da
forcirte Athembewegungen dem Verwundeten unzuträglich werden
können. Das Vorhandensein einer Ein- und Ausgangsöffnung, deren
Verbindungslinie die Lunge schneidet, dürfte im Allgemeinen für
eine Lungenwunde beweisend sein, immerhin ist hier beim Fehlen von
Lungenerscheinungen die Möglichkeit eines Contourschusses im Auge
zu behalten, dessen Wundcanal sich — manchmal allerdings erst nach
Tagen — als rother geschwollener Streif um den Thorax präsentirt.
Mitunter aber lässt der reactionslose Verlauf von Lungenwunden die
Annahme eines eventuell auch inneren Contourschusses aufkommen,
die sich durch den Zutritt secundärer Erscheinungen dann als irrig
erweisen kann. Wie schwer manchmal die Entscheidung über das
Vorhandensein einer Lungen Verletzung sein kann, beweisen mehrere
in der Literatur beschriebene Fälle; in einem Falle von Dollinger
(Langenb. Archiv XXI, S. 704) war der sichere Nachweis derselben
erst durch das Aushusten blauer Wollfäden gegeben, die von einem
durch das Projectil in die Lunge gerissenen Stücke des Waffenrocks
stammten. In einem andern Fall von Brunnhoff (24) hatten die
Sugillationen zwischen Ein- und Ausgangsöffnung, sowie das Fehlen
von Hämoptoe einen Contourschuss wahrscheinlich gemacht, während
der spätere Verlauf und die Section das Vorhandensein einer Lungcn-
verletzung ergab. Solche Fälle beweisen, wie vorsichtig man mit der
Annahme eines Contourschusses sein muss, und dass man im Allge¬
meinen besser daran thun wird, in ähnlichen Fällen auch bei Ab¬
wesenheit prägnanter Lungensymptome der Lungenverletzung die höhere
Wahrscheinlichkeit zuzusprechen.
Der Bluterguss in dem Pleuraräume mit seinen Umwandlungen
wird sich fast stets nachweisen lassen. Durch seinen Druck und den
der comraunicirenden Atmosphäre wird die Lunge für gewöhnlich
comprimirt und gegen die Wirbelsäule gedrückt. Bei günstigem Vor-
Digitized by
Gck gle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
92
Dr. Alt mann,
lauf tritt unter Resorption des Exsudats und nach Verklebung der
Wunde eine Wiederausdelmung der Lunge ein. Das Auftreten einer
Pleuritis in irgend einer Form ist für die (event. secundärc) Lungen-
bezw. Pleuraverletzung beweisend. Namentlich sind es die bösartigen
septischen Formen (Pyopneumothorax), die häufig zur Beobachtung
gelangen, im Gegensatz zu der Pleuritis bei nicht penetrirenden Brust¬
wunden, bei denen, wie Hüter (Riedinger, 1. S. 129) meint, die
etwa in den Thorax tretende Luft vorher durch die Lungen eine
Flächenfiltration erfahren hat. Häufig ist das Zurückbleiben von Pro-
jcctilen oder sonstigen Fremdkörpern im Brustraum die Ursache dieser
verderblichen Complicationen. Eine Statistik von Dem me (Riedin¬
ger, 1. S. 137) ergiebt die grosse Gefährlichkeit der Lungenwunden
mit zurückgebliebenem Projectil, bei denen von 57—52 starben, wäh¬
rend von 102 Verletzungen mit Ein- und Ausgangsöffnung nur 45 tödt-
lich endeten. Diese erwähnten septischen Pleuritiden bildeten die
häufigste Todesursache. Nach einer Statistik von Beck (1. S. 150)
starben hieran von 98—40, während die ebenfalls häufig auftretenden
Entzündungen der benachbarten Lungenthcilc meist gutartig verlaufen,
selbst wenn sie Abscess- und Gangränbildung im Gefolge haben
(s. d. Fall von Schneider (23). Auf die anatomischen und diagno¬
stischen Unterschiede der Stich- und Schusswunden werden wir ge¬
legentlich der Würdigung der Entstehuugswerkzeuge näher cingehen.
Die Obductionsergebnissc werden bei penetrirenden Brustwunden
wohl kaum je zu Unklarheiten Veranlassung geben. Das Vorhanden¬
sein einer Pleura- oder Lungenverletzung, selbst wenn sie sich in vivo
nicht zur Diagnose stellte, macht sich an der Leiche stets durch un¬
verkennbare pathologisch-anatomische Zeichen ersichtlich. Die rasche
Verklebung selbst eines oberflächlichen Lungenritzes dürfte bei gleich¬
zeitig eröffneter Brusthöhle nur ausnahmsweise ermöglicht worden sein,
da sie selbst experimentell (Hadelieh 19) nur mit Anwendung aller
Oautelcn erreicht werden konnte. — Die Lungenrisse bezw. Aus¬
gangsöffnungen sind mitunter mehrfach, was in dem Miteingerissen¬
werden von Knochensplittern, Bekleidungsfetzen, oder in Zertrümme¬
rung des Geschosses seinen Grund hat und zum sorgfältigen Suchen
nach derartigen Fremdkörpern ermahnt, besonders, da gerade diese
häufig durch die an ihnen haftenden Infectionsstoffe als die unmittel¬
bare Todesursache anzusehen sind. Jedenfalls räth die Möglichkeit
mehrerer Wundöffnungen bei nur einem Schüsse zu vorsichtiger Be-
urtheilung solcher Fälle.
Digitized by
Go^ gle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
1 »io gerichtsärztliclie Bi-urtheilung der Lungenverletzungon.
93
Mit der Frage nach dem Vorhandensein einer Lungenverletzung
überhaupt als Folge einer Verletzung, zu deren Beantwortung das
bisher Erörterte wohl das genügende Material liefert, hängt eng zu¬
sammen die zweite Frage nach der Natur der verletzenden Gewalt,
bezw. des verwundenden Instrumentes. Diese Beurtheilung wird dem
Gerichtsarzt in den meisten Fällen leicht gelingen, manchmal jedoch
auch ein unsicheres Ergebniss liefern. So weit nicht die Anamnese
oder die gerichtlichen Erhebungen Anhaltspunkte liefern, wird man
bei Quetschungen sich darauf beschränken müssen, eine stumpfe Ge¬
walt im Allgemeinen als Ursache zu statuiren. Wenn bei Lungen¬
verletzungen die äusseren Hüllen unversehrt sind, so darf man eine
mehr den gesammten Thorax comprimirende Gewalt als Ursache vor¬
aussetzen (Sturz, Ueberfahrenwerden, Einklemmung u. a.). Die gleichen
Gewalten können natürlich auch Rippenbrüche und Verletzungen der
Weiehtheilc im Gefolge gehabt haben, die dann auf den Grad der
Einwirkung Schlüsse zulassen. Die grosse forensische Wichtigkeit des
Vorhandenseins auch kleiner Excoriationen, Sugillationen u. s. w. auf
der Haut hat auch hier ihre Geltung. Nicht nur bezeichnen sie genau
den Ort und die Ausdehnung der Gewalteinwirkung — wenn auch,
wie wir gesehen, die Lungenverletzung nicht immer diesem Ort ent¬
spricht —; ihre Form und Grösse erlaubt mitunter einen direeten
Schluss auf den verletzenden Gegenstand (Stockhiebe, Hammerspuren,
Anprallen matter Kugeln oder sonstiger fester Körper, Fusstritte, Huf¬
schläge u. s. w.). Die gerichtsärztliche Praxis dürfte Fälle von Schuss-
contusionen selten bieten, da dieselben fast nur in die Kategorie der
Kriegsverletzungen fallen und beim Fehlen sonstiger Hinweise (dem
Geschoss entsprechender* Hautsugillationen) auch kaum mit Sicherheit
als solche erkannt werden können. Von grossem Interesse sind einige
Fälle (Schuster, 3), bei denen auf der Rumpf haut neugeborener
Kinder, die nach Compression des Thorax an Lungenrissen gestorben
waren, die Eindrücke der comprimirenden Finger als Sugillationen
noch bemerkbar waren.
Zur Feststellung der Ursache einer penctrirenden Brustwunde
handelt es sich, abgesehen von den seltenen, durch gröbere Gewalt
erzeugten Zcrreissungen und Eröffnungen des Thorax im Wesentlichen
um die Unterscheidung zwischen Stich-, Hieb-, Schnitt- und Riss¬
wunden auf der einen und Schusswunden auf der anderen Seite. Die
Differentialdiagnose kann sich hierbei am Lebenden nur an die Mo¬
mente halten, die auch für die Wunden an anderen Körperstellen
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
04
I)r. Alt mann,
massgebend sind und daher hier nur andeutungsweise berührt zu
werden brauchen (Genaueres s. beiHoffmann, 25, Baumgarten, 26).
Stich-, Schnitt- und Hiebwunden mit scharfen Instrumenten zeigen
glatte, nicht gequetschte Ränder, die auch sonst keine besonderen
Veränderungen aufweisen und unter günstigen Umständen meist ohne
weitere Zwischenfälle heilen. Ein nicht ganz seltener Befund hierbei
sind abgebrochene Stücke der Waffe, des Messers u. s. w., die durch
ihre Wirkung als Fremdkörper, häufig von unsauberer Beschaffenheit,
das Krankheitsbild compliciren können, das gerichtsärztliche Urtheil
jedoch wesentlich erleichtern. Schartige und stumpfe Werkzeuge
können mehr gequetschte, gerissene, sugillirte Ränder zurücklassen;
bei Stichen kann die Spur einer Scharte direct am Wundrande er¬
sichtlich sein. Die Dimensionen der Wunde werden denen des vor¬
gezeigten verletzenden Instrumentes nicht immer entsprechen, da im
Augenblick der Gewalteinwirkung die Haut gedehnt wird, an der
Stelle des Dehnungsmaximums reisst (platzt) und sich nach Verlassen
des Werkzeuges retrahirt. Daher lässt die in erster Linie der Haut¬
spaltbarkeitsrichtung conforme Wunde nicht immer auf die genaue
Beschaffenheit des verletzenden Instrumentes schliessen, und der gleiche
Grund ist Schuld daran, dass die Entstehung, ob durch cylindrische
oder polygonale, spitz zulaufende Waffen, an der gesetzten Wunde
nicht immer zu unterscheiden ist. Stich-Ein- und -Ausgangsöffnungen
dürften zu den Seltenheiten gehören (Bajonettstiche!); ihre Möglich¬
keit — etwa durch parallel zu den Rippen geführte oder an letzteren
abgeglittcne Stiche — muss jedoch im Auge behalten werden, damit
sic nicht für mehrfache Stiche gehalten werden, was sowohl die
klinische Prognose als die gerichtsärztliche Beurtheilung wesentlich
modificiren wüirde. — Die Richtungen der Stichkanäle werden in vivo
nicht leicht zu bestimmen sein wegen des Verbots der Sondirung und
der häufigen Verschiebung der Theile im Augenblick der That. An
der Leiche wird die Bestimmung leicht gelingen und kann von Wichtig¬
keit werden für die Beurtheilung des verletzenden Instrumentes, der
Kraft der Ausführung, der Frage, ob Selbstmord, Fahrlässigkeit oder
absichtliche Verletzung vorliegt. Ueberhaupt wird gerade der Sitz
und die Richtung eines Wundkanals an der Brust von grosser Be¬
deutung für die Unterscheidung sein, welches der genannten drei Mo¬
mente vorliegt. So citirt z. B. Becker (27) einen Fall nach Lim an,
wo durch die von oben nach unten ziehende Richtung der Stichkanäle
das von dem Angeklagten behauptete Hineinrennen des Verletzten in
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
I>ic jrfriclitsärzlIiche Ri'urtheiluna: der Liiiigenverlet/.ungen.
Oft
das blosser als unwahrscheinlich bewiesen werden konnte. Ein Ab¬
gleiten des Instrumentes von den Rippen kann sowohl die Form der
äusseren Wunde, als die Richtung des Kanals ändern; die aus letzteren
Factoren zu ziehenden Schlüsse haben daher auch auf diese Möglich¬
keit Rücksicht zu nehmen. Die Kriterien der Schusswunden richten
sich nach den Projectilen und vor Allem nach der Entfernung der
Waffen vom Körper. — Auch ist die Wirkung der neueren Handfeuer¬
waffen eine andere als die der älteren Modelle (s. Reger, 28).
Die meisten Schusswunden werden eine Ein- und Ausgangsöffnung
aufweisen, die durch einen Schusskanal verbunden sind. Im Falle
des Fehlens letzterer Ocffnung ist der Kanal blind und die die Pro¬
gnose bedeutend verschlechternde Wahrscheinlichkeit des zurückgeblie¬
benen Projcctils ist dann vorhanden. Jedoch kann dieses letztere
durch irgend welche Umstände bereits aus der Wunde nach aussen
gefallen sein oder aber sich im Gewebe gesenkt haben, so dass es
im Schusskanal weder aufgefunden wird, noch aus ihm sich später
entleert. Blind endigende Wundkanäle, die Schusskanälen ähnlich
sehen, können aber auch durch allerhand sonstige, mehr oder weniger
stumpfe Werkzeuge hervorgebracht werden und erheischen daher eine
sorgfältige Prüfung aller sonstigen für Schusswunden charakteristischen
Eigenschaften. — Als solche sind weiterhin zu bemerken die fast
stets — wenn auch oft in geringerem Umfange — gequetschten und
eeehymosirten Ränder, die verhältnissmässig geringe Blutung — durch
„ Eerasement “ der Gewebe — und bei Nahschüssen das Vorhanden¬
sein eines ringförmigen Beschlages mit Pulvcrschleim, das Eingesprengt¬
werden der Pulverkörner als blauschwarze Punkte in den Wundrändern
oder in dem Schusskanal selbst, endlich die Verbrennung der Weich-
t heile durch die Pul vergase Bei der Eingangsöffnung kommt hier
häufig noch hinzu die gewissermassen explosiv wirkende Kraft der
Pulvergast', die die Wundränder klaffend auseinander treiben und auch
den Schusskanal erweitern kann.
Die Lungenschusscanäle unterscheiden sich nun wesentlich von
den Stichcanälen durch die bei der Weichheit des Gewebes hier stets
stattfindende hochgradige Quetschung, vermöge welcher das Lumen
des Schusscanals das Kaliber des Geschosses stets übertrifft. Dieser
Linstand führt zur üdematösen Schwellung der angrenzenden Lungen¬
partien, durch die der Gewebsdefect im ersten Augenblick wieder
ausgefüllt werden kann, und zur gangränösen Abstossung der Gewebs-
fetzen — mit der Gefahr von Nachblutungen infolge gelöster Tlnom-
Digitized by
Gck igle
Original frn-m
UNIVERSUM OF IOWA
Dr. Altmann
9fi
ben der Quetsrhstellen, die die primäre Blutung hintanhielten. Die
Ausgangsöffnung wird bei Nahschüssen durch das raitgcrissene Ge¬
webe, besonders wenn noch Fremdkörper es begleiten, gewöhnlich
grösser sein, als die Eingangsöffnung, die Haut sternförmig oder un¬
regelmässig, mit auswärts gerichteten Lappen gerissen; dicht hinter
der Ausgangsöffnung befindet sich dann mitunter eine geräumige Gc-
webshöhle. Von hohem forensischen Interesse ist das Vorkommen
mehrerer Ausschussöffnungen bei nur einer Eintrittsöffnung: Losge¬
rissene Knochensplitter oder abgesprengte Theile des Projectils können
verschiedene Austrittspfade einschlagen und so das Vorhandensein
mehrerer Schüsse Vortäuschen. Sehr lehrreich und interessant in
dieser Beziehung ist ein Fall von Sommerbrodt (29), bei dem sich
vier Wunden bezw. Narben in der Lunge vorfanden mit 2 Haut-
öffnungen, und wo ein losgesprengtes Bleistück, quer durch die linke
Lunge abgelenkt, die rechte mit durchbohrte und über dem Schulter¬
blatt austrat. — Fernschüsse werden, wenn das Geschoss noch einige
Kraft hatte, den Thorax durchschlagen, und die Eingangsöffnung wird
spaltförmig nach innen gezogen sein (die Haut platzt auf der Spitze
des durch das Geschoss eingedrückten Kegels), die Ausgangsöffnung
ist meist grösser, mehr gezackt, oder aber blos schlitzförmig. Das
Fehlen von Verbrennungserscheinungen kann diese Wunden sowie die
aus ganz kleinen Handfeuerwaffen den Stichwunden ähnlich gestalten.
Substanzverlustc, Mitgerissenwerden von Kleidungsfetzen sichern die
.Annahme einer Schussverletzung. Ihre Abwesenheit, sowie die der
Verbrennungserscheinungen beweist jedoch nicht das Gegentheil. Nur
die aufmerksamste Berücksichtigung aller heranzuziehenden Unter¬
scheidungsmerkmale kann hier unliebsame Irrthümer verhüten. — 1>)V
röhrenförmige Gestaltung eines Schusscanals im Gegensatz zu de r
mehr keilförmigen der Stichverlctzung, sowie das Fehlen von Quet¬
schungserscheinungen bei letzteren erleichtern ebenfalls die Diagnose.
Die gleichen Momente gelten auch für die Differentialdiagnose zwi¬
schen Streifschüssen und tangential verlaufenden Hieb- bezw. Stich¬
wunden. Die Wichtigkeit und eventuelle Schwierigkeit der Unter¬
scheidung zwischen eonturirenden und durchbohrenden Schüssen am
Thorax ist bereits früher hervorgehoben worden. — Die Grösse des
Geschosskalibers wird in Anbetracht der im Augenblick des Durch-
tretens erfolgenden Hautdehnung die des Wunddurchmessers manchmal
übertreffen. Andrerseits kann die Hautwunde beim Platzen der Haut
Digitized
bv Google
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
Die gerichtsärztliche Beurthcilung der Lungenverletzungen. 97
in der Spaltbarkeitsrichtung auch bedeutend grösser werden, wie das
Projectil.
Die Beantwortung der Frage ob eine Lungenverletzung durch
fremde Hand oder in selbstmörderischer Absicht erzeugt war, vermag
die ärztliche Untersuchung nur in beschränktem Masse zu geben. Es
gelten hier die allgemeinen zwischen Mord- und Selbstmord Verletzun¬
gen herrschenden Unterschiede im Sitz und Aussehen der Wunde,
und der sonstige Thatbestand. Hervorzuheben wäre, dass eine beab¬
sichtigte Verletzung der Lunge zu selbstmörderischem Zwecke wohl
kaum sich ereignen dürfte, sondern höchstens durch die Abwege einer
dem Herzen zugedachten Verwundung zu Stande kommen wird.
Contusionsverletzungen der Lunge im Verein mit solchen anderer Or¬
gane können bei verschiedenen Selbstmordarten eintreten (Herab¬
springen von Höhen, Ueberfahrenlassen und dergl.). Bei zweifelhaften
Schussverletzungen wird die möglichst genaue Bestimmung der Aus¬
gangsöffnung und der Schusscanalrichtung den Verdacht auf Selbst¬
mord mitunter zur Ausschliessung bringen können. — Die Stichcanal¬
richtung vermag in besonderen Fällen auch die Frage zu entscheiden,
ob actives Zustechen oder Hineinrennen in die Waffe die Wunde
erzeugt hat (s. den Fall von Liman bei Becker, 27. S. 423).
Von der grössten Tragweite ist das Urtheil des Gcrichtsarztes
über die Folgen, welche die Lungenvcrletzung für Leben, zeitige und
künftige Gesundheit und Erwerbsfähigkeit mit sich bringt. Erwiesene
Traumen der Lunge besitzen eine hohe Mortalitätsziffer, insbesondere
sterben bei penetrirenden Wunden über die Hälfto der Betroffenen
entweder sofort oder in den ersten Stunden nach der Verletzung, wie
das eingangs schon durch einige Ziffern belegt worden ist; eine nicht
geringe Zahl noch in Folge der secundär sich entwickelnden Processe.
Als Todesursache ergiebt sich bei umfangreichen Zerreissungen und
Zerquetschungen der heftige Shok und die Ausserfunctionsetzung des
lebenswichtigen Organs, bei doppelseitigen penetrirenden Brustwunden
oder doppelseitigen mit Lungenrissen etc. einhergehenden Quetschungen
bewirkt der eintretende Hämothorax eine rapide Compression beider
Lungen, und mit ihr den Exitus, sofern derselbe nicht schon durch
die Anämie selbst bedingt ist. Ebenso kann doppelseitiger Pneumo¬
thorax die Todesursache werden. Bei einseitigen Lungenwunden er¬
giebt sich als Todesursache sehr häufig die Blutung, äussere oder
innere. Durch die Section können die entsprechenden Annahmen
Vierteljalirsschr. f. ger. Med. Dritte Folge. XIV. Suppl.-Heft. n
Digitized by
Gck igle
Original from
UMIVERSITY OF IOWA
98
Dr. Altmann,
sicher gestellt, bezw. die Quelle der Blutung gefunden "werden. Die
Frage, wie lange bei dem primär eingetretenen Tode der Verwundete
noch gelebt hat, ist nicht leicht zu beantworten. Selbst sehr schwer
erscheinende Verletzungen brauchen nicht mit Nothwendigkeit den
sofortigen Tod herbeiführen, und in der Literatur sind manche Fälle
beschrieben, in denen Brustverletzte sich noch Strecken weiter bewegt,
auch noch sonstige körperliche Leistungen verrichtet haben, ehe sie
der Verletzung erlagen (s. Becker, 27. S. 422). Mehr Anhaltspunkte
zur Beurtheilung des Zeitraums zwischen Verwundung und Tod wird
die Beschaffenheit der Wunde liefern. Sind die Ränder derselben
ohne die Veränderungen, welche noch die Lebensthätigkeit des Orga¬
nismus voraussetzen (Sugillationen, ödematöse Schwellung), so ist der
unmittelbare Eintritt des Todes anzunehmen. Die mehr oder weniger
vollständige Gerinnung des Blutes lässt sich zu dieser Beurtheilung
nicht verwerthen, wohl jedoch das Auftreten von Emphysem in der
Wunde, das nach seiner grösseren oder geringeren Ausdehnung auf
die zu seiner Entstehung nöthig gewesene Zeit einigermassen Rück¬
schlüsse zulässt.
Die Excoriationen und Sugillationen, wie sie namentlich nach
Quetschungen sich finden, enthalten oft wichtige Anhaltspunkte zur
Beantwortung gerichtlicher Fragen; die dem Gerichtsarzte geläufigen
Unterscheidungsmerkmale zwischen ihnen und den postmortalen Ver¬
änderungen werden vor Verwechselungen mit solchen nachträglichen
Geschehnissen schützen. Genauere Präcisirung der Todesursache ge¬
statten die secundär — durch Hinzutritt von Entzündungen u. s. w. —
erfolgten Todesfälle, bei denen auch schon die vorhergegangene klini¬
sche Beobachtung die Beurtheilung der Folgezustände erleichtert. Die
schon mehrfach erwähnten Formen des Hämothorax und seiner Um¬
wandlungserscheinungen (Pyo-Pyopneumothorax), eitrige und septisch¬
jauchige Pleuritiden mit Compression der Lunge, eventuell allgemeine
pyämische und septische Erscheinungen, stellen die durch die Ver¬
letzung bewirkte Todesursache dar — ein Beweis für den Satz,
dass bei penetrirenden Brustwunden die Eröffnung der Pleurahöhle
an sich für eine mindestens ebenso schwere Verletzung als die
Betheiligung der Lunge anzusehen ist. Weiterhin können secundäre
Pneumonien — entweder direct traumatisch von der Lungenwunde
ausgehend, oder contusioneilen Ursprungs, Lungenabscess- oder Gan¬
gränbildung, endlich auch phthisische Processe sich auf dem Leichen¬
tisch als Todesursache ergeben. Die Frage nach dem Zusammenhang
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UMIVERSITY OF IOWA
Die gerirhLsärztlirhe Beurtheilung der Lungenverletzungen. 99
solcher Befunde mit einer Verletzung wird uns weiter unten noch be¬
schäftigen.
Von denselben pathologisch-anatomischen Grundlagen und klini¬
schen Ergebnissen muss nun auch die Beurtheilung der Folgen einer
Lungcnverletzung für die Gesundheit ausgehen. Ob ein an der Lunge
verletzt gewesenes Individuum je wieder seine volle Leistungs- und
körperliche Wiederstandsfähigkeit zurückgewinnt, ist eine Frage, die
nach allen Erfahrungen nur in einer geringen Anzahl von Fällen wird
bejaht werden können. Klar zu Tage liegende Fälle namentlich
penetrirender Wunden werden das Mass der zu erwartenden Gesund¬
heitsbeschränkung von vornherein leicht bestimmen lassen — natür¬
lich nur unter Ausschluss aller ungünstigen Zwischenfälle.
Wohl nur bei leichten Commotionen und Quetschungen wird man
eine völlige restitutio in integrum Vorhersagen können. Jede lebhafte
Blutung, deren völlige Resorption nicht sicher ist, jede Reizung der
Pleura (durch Rippenfragraente u. s. w.), jede Eröffnung derselben
kann zur Bildung bleibender Schwarten und Adhäsionen führen, die
zwar häufig späterhin keine Erscheinungen hervorrufen, aber doch
stets als Symptome der Beeinträchtigung eines wichtigen Organs an¬
zusehen sind. Die schwereren Begleitumstände der Lungcnverletzung
können, wofern der Verwundete ihre Lebensgefährlichkeit überwindet,
Anlass zu langem, oft unheilbarem Sicchthum geben. Schuss- und
Stichkanäle werden häufig Ausgangspunkte langer traumatisch-infec-
tiöser Entzündungen und Eiterungen, von Gangräncscirung und Los-
stossung grosser Gewebsfetzen, lange anhaltenden pleuritischen Ent¬
zündungen, und diese Zustände erfordern nicht selten umfassende und
gefahrvolle Operationen. — Die Lungenhernien und -Vorfälle leisten
manchmal der Reposition Widerstand und erheischen operative Ab¬
tragungen. Eiternde Fisteln und namentlich im Brustraume zurück¬
gebliebene Projectile, Knochensplitter oder Kleidungsfetzen können
jeden Augenblick wieder schwere Krankheitserscheinungen ins Dasein
rufen, und das Leben des Verletzten verkürzen. Auch Depressions¬
zustände psychischer Natur müssen manchmal als Folgezusländc einer
Lungen Verletzung angesehen werden (so nach Eisenbahnunfällen u. s.w.,
s. Reubold, 13. S. 118). So kommt es, dass vielfach Leute, die
zunächst als geheilt bezeichnet werden, in späterem Verlaufe doch
noch an Leiden dahinsiechen können, die mit der ersten Verletzung
in unmittelbarem Zusammenhänge stehen. Die Kriegsinvalidensta¬
tistiken lehren auch, eine wie geringe Anzahl Invaliden mit Brust-
7 *
Digitized by Gougle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
100
Dr. A11 m a n n,
Verletzungen nach kurzer Zeit noch vorhanden sind, obwohl das Con-
tingent der Brustverwundeten ein so bedeutendes ist (s. Riedinger,
1. S. 151). — Schwieriger wird das gerichtsärztliche Urtheil, wo der
Zusammenhang zwischen der Folgekrankheit der Lunge und der Ver¬
letzung nicht gewissermaassen handgreiflich zu erweisen ist, und wo
die Gefahr nahe liegt, aus einem vielleicht nur zufälligen einen cau-
salen Zusammenhang zu construiren. Bis vor wenigen Jahren wurde
vielfach, theilweise sogar mit Schroffheit, die Möglichkeit der Ent¬
stehung sowohl einer Pneumonie als einer Phthise durch Vermittelung
eines Traumas zurückgewiesen. Trotz des heute mit erhöhter Ge¬
nauigkeit geführten Beweises der Infectiosität beider Krankheiten,
steht man gegenwärtig doch nicht an, den Einfluss einer Verletzung
auf das Entstehen genannter Leiden zuzugeben, indem man dieselbe
als ein Moment ansieht, das dem Virus der Krankheit selbst die
Wege ebnet (s. S. 76 ff.). Zahlreiche wohlbeobachtete Fälle dieser Art
lassen einen begründeten Zweifel an dieser Auffassung kaum noch zu.
Eine solche Contusionspneumonic wird öfters mit völliger Genesung
ablaufen können; bei einer mit Sicherheit auf ein Trauma zurück¬
zuführenden chronischen oder acuten (Miliar-) Tuberculose hat sich
das Gutachten natürlich für eine schwere Gesundheitsstörung auszu¬
sprechen.
Die ganze Reihe der nach Lungenverletzungen auftretenden Ge¬
sundheitsstörungen weist darauf hin, ein abschliessendes Urtheil erst
längere Zeit nach der Verletzung abzugeben, und auch dann nur unter
Vorbehalt, da bei der eigentümlichen Beschaffenheit der Lunge und
bei besonderen Nebenumständen (vorläufiges Einheilen von Projectilen)
das Auftreten späterer, mit der Verletzung noch causal zusammen¬
hängender Leiden niemals ausgeschlossen ist. Das vorläufige Gut¬
achten wird auf die bereits eingetretenen oder noch mit Sicherheit
zu erwartenden acuten Krankheitszustände eingehen, und den wahr¬
scheinlichen Effect derselben für Leben und Gesundheit zu begründen
suchen; die Möglichkeit einer Aenderung des Zustandes namentlich
in pejus — eines Ueberganges in chronische Formen —, muss jedoch
stets offen gelassen werden.
Mit der gleichen Reserve hat sich auch das Urtheil über Erwerbs¬
fähigkeit auszudrücken. Nur in ganz leichten Fällen, wo völlige
Heilung sicher scheint, kann auch die Hoffnung auf Rückkehr der
völligen Erwerbsfähigkeit ausgesprochen werden. Der Grad einer ein-
tretenden Beschränkung der letzteren und ihre etwaige Dauer muss
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Die gerichtsärztliche Beurtheilung der Lungenverletzungen.
101
nach den concreten Verhältnissen des einzelnen Falles und nach der
Art des Berufes so sehr variiren, dass sich allgemeine Regeln zu
ihrer Abstufung nicht geben lassen, sondern eine jeweilige strenge
Individualisirung nothwendig wird. Selbst umfangreiche und unheil¬
bar scheinende Verletzungen heilten noch mit relativ befriedigendem
Resultate, während geringfügige Verletzungen nicht selten zum Aus¬
gangspunkt langer unheilbarer Leiden wurden. Die Fälle, in denen
der Sachverständige sein Urtheil auf dauernde gänzliche Erwerbs¬
unfähigkeit wird abgeben müssen, werden jedenfalls nicht selten sein;
derselbe wird jedoch gut thun, auf die subjectiven Angaben der
Verletzten bei unzureichendem objectivem Befunde nicht einseitig Ge¬
wicht zu legen, um nicht der Geltendmachung unangemessener pe-
cuniärer Ansprüche seitens der betroffenen Individuen Thür und Thor
zu öffnen. Die Wohlthaten des Unfallversicherungs- und Invaliditäts¬
gesetzes, sowie sonstige Entschädigungsansprüche schliessen die Gefahr
der Grossziehung des Simulantenthums in sich und mahnen zur
Sorgfalt gerade in der Beantwortung einer noch zu besprechenden
wichtigen Frage — der nach dem wirklich nachweisbaren Zusammen¬
hänge zwischen der vorliegenden Gesundheits- und Erwerbsstörung
und der erlittenen Verletzung.
Bei Obductionen werden es besonders die Fälle mit geringen
äusserlichen. und inneren Verletzungen sein, die die Frage nach dem
Zusammenhänge zwischen dieser Verletzung und dem eingetretenen
Tode nahe legen und beim Befunde anderweitiger Organ Veränderungen
den Obducenten unter Umständen zur Anerkennung dieser uud nicht
der vorliegenden Verletzung als Todesursache nöthigen können. In
gleicher Weise wird es bei der schon mehrfach erwähnten Contusions-
pneumonie nicht immer leicht sein, beim Fehlen jeglicher äusserlicher
Verletzungen, sich selbst und den Richter von dem causalen Zusam¬
menhang der Lungeninfiltratiou mit dem etwa stattgehabten Insulte
zu überzeugen. Nur der Hinweis auf beobachtete analoge Fälle, der
unmittelbare zeitliche Anschluss des Leidens an die Körperverletzung,
die Möglichkeit des Ausschliessens anderer krankheitserregender Mo¬
mente bei einem sonst gesunden Menschen, der eventuell mikrosko¬
pische Nachweis der früher (S. 77) hervorgehobenen, für traumatischen
Ursprung sprechenden Merkmale vermag die Annahme des Zusammen¬
hanges zwischen Krankheit und Verletzung zu stützen. Ferner kann
die Frage auftreten, inwieweit einzelne als Verletzungen aufgefasstc
Körperveränderungen durch den vorgekommenen Gewaltact selbst, oder
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSITÄT OF IOWA
102
Dr. Altmann,
durch besondere „eigentümliche Leibesbeschaffenheit“, ungünstige
Nebenumstände u. s. w. hervorgerufen sind. Es können spontane
Rupturen alter Cavernen u. s. w., Hämoptysen stattgefunden haben,
ohne durch die Verletzung direct erzeugt zu sein, ja selbst das Vor¬
kommen von Rippenbrüchen ohne Gewalteinwirkung wird beschrieben
(s. die Fälle bei Riedinger, 1. S. 51). Solche Vorkommnisse wer¬
den mitunter eine mildere Auffassung des Zusammenhanges zwischen
einer stattgehabten leichten Läsion und den eventuellen schweren Fol¬
gen gestatten. Auch die Möglichkeit der postmortalen Entstehung
solcher Verletzungen, eventuell sogar durch Einrisse u. s. w. bei der
Section selbst, muss in zweifelhaften Fällen zu besonderer Vorsicht
mahnen. Die gleiche kritische Erwägung wird Platz zu greifen haben,
wenn Krankheitsprocesse auf erlittene Traumen zurückgeführt werden,
die ihrer Natur und Ausbildung nach älteren Datums sein müssen,
oder bei denen man Grund zu der Annahme hat, dass sonstige Ur¬
sachen, mangelhafte hygienische Zustände, hereditäre oder individuelle
Disposition dieselben erzeugt haben. Hauptsächlich kommt hier in
Betracht die Frage der traumatischen Phthise, die bisher noch nicht
eingehend erörtert ist und die schon zu vielen gerichtlichen Contro-
versen Veranlassung gegeben hat.
Dass äussere Traumen an sonstigen Körpertheilen im Stande
sind, die Tuberkelbacillen aufzunehraen und nicht nun zur localen
Entwicklung, sondern auch zur allgemeinen Infection des Körpers
zu cultiviren, ist durch zahlreiche Beobachtungen nachgewiesen (s.
Lacher, 30, in Friedreich’s Blättern, 1891, der hierhergehörige
Fälle von über 40 Autoren anführt). Wenn auch die Ubiquität der
Tubcrkelbacillen nicht angenommen werden soll, so können doch
Lungen verletzte gerade in Hospitälern, ungesunden Wohnungen u. s. w.
leicht in die Lage kommen, mit den Bacillen in Berührung zu
treten und ihnen dann einen Locus minoris resistentiac zur Auf¬
nahme darzubieten. Mit Recht wird von den verschiedenen Autoren
(Mendelsohn 31) hervorgehoben, dass die bei Lungenverletzungen
fast constantcn Butergüssc für bacilläre Entwicklung einen geeigneten
Nährboden darbicten. Bei der nothwendigen Ruhelage des Patienten
und der durch das Trauma erzeugten verminderten Athmung und so¬
mit schlechter Ventilation und Expectoration der erkrankten Seite —
deren Einfluss auch gerade auf die Entstehung der idiopathischen
Spitzeninlillraüon allgemein hervorgehoben wird — kommen Secrct-
siagnationon, Hypostasen, Bronehialcaiarrhe u. s. w. zu Stande. Die
Digitized by
Gck gle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
Die gerichtsärztliche Beurtheilung der Lungen Verletzungen.
103
natürliche Fähigkeit der Lunge, durch die Flimmerbewegung des Epi¬
thels und den Hustenstoss die eingedrungenen Noxen zu entfernen,
schwindet, und der Entwicklung eines tuberkulösen Processes ist Spiel¬
raum gelassen — natürlich unter der Voraussetzung einer hereditären
oder individuellen Anlage. Diese Erwägungen haben sogar zu der
hier nicht weiter zu verfolgenden Theorie geführt, die Lungenblutungen
überhaupt als die primäre Ursache für die Entwicklung einer Lungen¬
tuberkulose anzusehen. Jedenfalls wird in Fällen, wo bisher durch¬
aus gesunde, nicht erblich veranlagte Individuen im Anschluss an eine
Lungen Verletzung kränkeln und ein tuberkulöser Process zur Ausbil¬
dung gelangt, das Trauma für diese Entwicklung verantwortlich ge¬
macht werden müssen, selbst wenn wir alle Bindeglieder dieses Zu¬
sammenhangs nicht verfolgen können. Für diese Annahme wird
natürlich, wenn sich die Tuberkulose erst Jahre nach dem Unfall ent¬
wickelt, der Nachweis von schon in der Zwischenzeit constant vor¬
handen gewesenen Lungenstörungen (Blutungen, Husten) von grosser
Bedeutung sein, ebenso das etwaigo Zurückgebliebensein von Fremd¬
körpern (s. den Fall von Sommerbrodt 29). Weniger einfach dürfte
manchmal die Entscheidung sein, wenn die Insulte bereits notorisch
tuberkulöse oder hereditär zweifellos veranlagte Personen getroffen
haben. Bei ersteren wird der Begutachtende — vor allem wenn es
sich, wie im gewöhnlichen Leben so häufig, um Verschlechterungen
nach geringfügigen mechanischen Läsionen handelt — die Möglichkeit
einer spontanen Verschlimmerung des Zustandes zugeben müssen,
andererseits aber auf die erhöhte Verletzlichkeit solcher Individuen
und die Wahrscheinlichkeit hinweisen, dass eine geringe Beschädigung
hier doch eine schwerere Verletzung habe hervorbringen müssen, als
bei einem Gesunden. Unter dieselben Gesichtspunkte wird auch die
Auffassung des Entstehens solcher Lungenleiden durch gewerbliche
Schädlichkeiten zu fallen haben. Selbst wenn wir die Wahrschein¬
lichkeit einer spontan zu erwartenden Krankheit bei hereditär veran¬
lagten Personen zugeben müssen, so wird doch der Gerichtsarzt in
der Beurtheilung der Folgen gewerbehygienischer Nachtheile für die
Lungen aus Gründen der Wissenschaft wie der Humanität denselben
Standpunkt einzunehmen haben, wie in solchen Fällen der Militärarzt:
er wird vorher nicht nachweislich erkrankten Personen, die durch der¬
artige Schädlichkeiten Lungenleiden acquirirt haben, Entschädigungs-
bezw. Invaliditätsansprüche zuerkennen dürfen, selbst auf die Gefahr
hin, dass die Wohlthat des Gesetzes einmal Jemanden treffen könnte,
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
104 Dr. Altmann,
dessen Leiden auch ohne die erlittenen Schädigungen zum Ausbruch
gekommen wäre.
Tritt Tuberkulose nach Trauma bei Personen auf, die zwar bis¬
her nicht nachweislich krank, aber erblich veranlagt waren, so können
sich bei den verschiedenen Begutachtern die abweichendsten Ansichten
bilden. Einerseits muss der Umstand berücksichtigt werden, dass
Tuberkulose bereits — wie sehr häufig — latent bestanden hat und
durch den stattgehabten Unfall erst zur Wahrnehmung gelangt ist.
Andererseits muss — wenn ein unmittelbarer zeitlicher Zusammenhang
der Erscheinungen auffallend ist — hervorgehoben werden, da sonst kein
Wahrscheinlichkeitsgrund vorhanden sei, weshalb der Process gerade
jetzt sich habe manifestiren müssen, sehr wohl das Trauma als der
Anstoss gelten könne, der den Process zum Leben entwickelt habe,
während dieser sonst noch jahrelang hätte schlummern können.
In das Gebiet dieser Frage — nach dem Zusammenhänge der
späteren Folgen mit der Verletzung selbst — gehört auch die Ent¬
scheidung darüber, ob die üblen Folgezustände einer Lungenwunde
allein der Verwundung an sich oder etwaiger fehlerhafter ärztlicher
Behandlung zuzuschreiben sind, eine Frage, die während des Ueber-
ganges zur Antiseptik nicht so ganz selten die Gerichte beschäftigte.
Ucber die Grundsätze der Behandlung von Lungenverletzungen werden
Meinungsverschiedenheiten heute wohl kaum noch bestehen, und Ver¬
nachlässigung der nothwendigen Cautelen dürften wohl zu den seltensten
Ausnahmen gehören. Sondeneifrige Untersucher und auch die Anhänger
des vor Jahrzehnten noch beliebten Aderlasses dürften allerdings unter
Umständen der Anklage der Fahrlässigkeit nicht entgehen. In wie weit
etwa unterlassene Operationen unter denselben Begriff fallen würden,
ist eine Frage, die meines Wissens in concreto noch nicht zum Aus¬
trag gelangt ist. — Der chirurgisch gebildete Sachverständige dürfte
in eclatanten Fällen immerhin über sein Urtheil nicht unklar sein.
Es erübrigen noch einige Worte betreffs der strafrechtlichen Cha-
rakterisirung der Lungen Verletzungen gemäss den juristischen Begriffen
der „leichten“ und „schweren“ Körperverletzung. Während nach rein
ärztlicher Auffassung eine Lungen Verletzung stets als schwer ange¬
sehen werden muss, wird der Gerichtsarzt nicht umhin können,
in besonders leicht und günstig ohne bleibende Folgen verlaufen¬
den Fällen, der strafrechtlichen Forderung nachgebend, sein Urtheil
auf leichte Körperverletzung abzugeben (nach § 223 des Strafgesetz-
buehes) mit oder ohne Bezugnahme auf die in § 223 a namhaft ge-
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Die gerichtsärztliche Beurthoilung der Lungen Verletzungen.
105
machten verletzenden Werkzeuge und die näheren Umstände der Ver¬
letzung. Speciell wird sehr häufig eine Beschädigung der Lunge als
eine das Leben gefährdende Behandlung (§ 223 a) aufgefasst werden
müssen. — Für gewöhnlich wird die Lungenverletzung ohne Weiteres
als schwere Körperverletzung imponiren, indem die gewöhnlich ein¬
tretende dauernde Beeinträchtigung der Lungenfunction als „Verfall
in Siechthum“ (nach § 224) betrachtet werden muss. — Wie bereits
hervorgehoben, wird bei der hohen Mortalität der Lungenverletzungen
in mindestens der Hälfte aller Fälle der Begriff der Tödtuilg oder
doch der Körperverletzung mit nachfolgendem Tode zur Anwendung
gelangen müsse. Ueber den Begriff der Fahrlässigkeit wird der Sach¬
verständige wohl nur in der oben erwähnten Beziehung zur ärztlichen
Behandlung sich zu äussern haben, da die Fahrlässigkeit, die etwa
bei der Entstehung der Verletzung selbst im Spiele war, kaum je
Gegenstand eines gerichtsärztlichen Gutachtens wird sein müssen.
Die Hauptergebnisse vorstehender Betrachtungen über die Be¬
deutung der Lungenverletzungen für den Gerichtsarzt lassen sich kurz
in folgende Sätze zusammenfassen:
1. Verletzte, welche die primären Folgen der Lungen¬
verwundung überstehen, haben, wenn sie sogleich in geord¬
nete Behandlung kommen, selbst bei schweren Verletzungen
Aussicht auf Erhaltung des Lebens.
2. Die Geringfügigkeit äusserer Merkmale und selbst
das anfängliche Fehlen subjectiver Beschwerden verbürgen
nie die Gewissheit einer nur unbedeutenden Verletzung der
Lunge.
3. Die Bedeutung der Lungenquetschung ist häufig der
einer penetrirenden Lungenwunde gleich zu achten, da das
gefährdende Moment in erster Linie die Läsion des Pleura¬
raumes ist.
4. Das Eintreten pneumonischer und tuberkulöser Pro-
ccsse darf in vielen Fällen als Folge eines Lungentraumas
angesehen werden. Solche Fälle bedürfen aber stets einer
sehr eingehenden Begründung.
5. Das gewöhnlich nach Lungcnverletzungcn stattfin¬
dende Zurückbleiben von Residuen irgend welcher Art
schafft in der Lunge einen Locus minoris resistentiac, an
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
106 Dr. Altmann, Die gerichtsärztliche Beurtheilung der Lnngenverletzongen.
den sich die Weiterbildung dauernder Lungenleiden knüpfen
kann.
6. Eine definitive Begutachtung einer Lungenvorletzung
kann in jedem Falle erst nach längerer Beobachtung er¬
folgen und wird auch dann stets Vorbehalte für die Zukunft
zu machen haben.
Literatur.
1. Riedinger, Verletzungen etc. des Thorax. Deutsche Chirurgie. Liefg. 42.
2. Derselbe, lieber Brusterschütterungen. Festschrift etc. Würzburg 1882.
3. Schuster, Ueber Verletzungen der Brust durch stumpf wirkende Gewalt.
Zeitschr. f. Heilk. 1881. I.
4. Koch, Duellverletzungen der Art. mammaria. Archiv f. klin. Chir. 1888.
S. 413.
5. Kirchner, Chylothorax. Langenbeck’s Archiv. Bd. 32. S. 157.
6. Bög eh old, Chylothorax. Ebenda. Bd. 29. S. 443.
7. Huber, Friedreich’s Blätter f. gerichtl. Mod. 1882. S. 363.
8. Lacher, Deutsches Archiv f. klin. Med. Bd. 27.
9. Litten, Contusionspneumonien. Zeitschr. f. klin. Med. 1882.
10. Koch, Contusionspneumonien. Inaug.-Diss. Berlin 1886.
11. Kriegs sanitätsbericht der deutschen Heere von 1870/71.
12. Demuth, Münch, med. Wochensohr. 1888. No. 32 u. 33.
13. Reubold, Friedreich’s Blätter. 1886. S. 110.
14. Derselbe, Ebenda. 1890. S. 28.
15. Kannenberg, Deutsche militär-ärztl. Zeitschr. 1890. S. 199.
16. Kuby, Friedreich’s Blätter. 1880. S. 81.
17. Soiolowski, Berl. klin. Wochenschr. 1889. S. 861.
18. Leddorhose, Ueber das Verhalten von Blutergüssen in serösen Höhlen.
Strassburg 1887.
19. Hadolich, Archiv f. klin. Med. 1878. S. 842.
20. Weiss, Langenbeck’s Archiv. 1877. S. 235.
21. Wahl, Schusseontusionen. Archiv f. klin. Chir. 1872.
22. Aschö, Schmidt’s Jahrb. 1885. S. 203.
23. Schneider, Archiv f. klin. Chir. 1878. S. 248.
24. Brunhoff, Pleura- und Lungenverletzungen. Inaug.-Diss. Berlin 1877.
25. v. Hofraann, Lehrbuch der gerichtl. Medicin.
26. Baumgarten, Friedreich’s Blätter. 1891. S. 67.
27. Becker, Penotrirende Brustwunden. Militär-ärztl. Zeitschr. 1885.
28. Regcv, Gewehrschussw'unden der Neuzeit.
29. Sommerbrodt, Langenbeck’s Archiv. 1883. S. 928.
30. Lacher, Tuberkulose als Folge von Traumen. Friedreich’s Blätter. 1891.
S. 321.
31. Mendelsohn, Traumatische Phthise. Zeitschr. f. klin. Med. Bd. 10. S. 108.
Sodann die Lehrbücher von Hüter, Strümpell, König etc.
Digitizedl
bv Google
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
4.
lieber Zungenverletzungen ln geriehtlich-
medicinischer Beziehung.
Von
Dr. Fritz Colley, Specialarzt für Chirurgie in Insterburg. *)
Die neuere Literatur hat sich mit den Verletzungen der Zunge,
soweit dieselben ein rein chirurgisches Interesse haben, nur wenig be¬
schäftigt. Ucber die Behandlung von Wunden, mögen dieselben rein
oder septisch, einfach oder eomplicirt, glatt, gelappt oder zerfetzt sein,
herrscht im Grossen und Ganzen unter den Fachleuten für den Augen¬
blick Einigkeit. Ist die Wunde frisch und rein, so wird sie genäht;
im Falle, dass eine Verhaltung zu befürchten ist, wird für ausreichen¬
den Abfluss des Wundsecretes gesorgt; besteht eine Verunreinigung
der Wunde, so wird die Reinigung derselben angestrebt und zwar
unter Anwendung der verschiedensten Mittel von der einfachen feuch¬
ten Wärme beginnend bis herauf zur Application des Ferrum candens.
Die Blutung wird örtlich gestillt; wenn sic capillär ist, oder aus
kleinen Venen erfolgt durch Tamponade; handelt es sich um grössere
Venen oder Arterien durch die Ligatur. Ist die Blutung heftig und
das Operationsfeld unübersichtlich oder treten in kürzeren Zwischen¬
räumen des öfteren Warnungsblutungen ein, so kann die Unterbindung
des Arterienstammes oberhalb der Wunde indicirt sein, doch wird
dieser Eingriff nur selten in Frage kommen. Bei der Verletzung
eines grösseren Gefässstammes besteht im Munde neben der Gefahr,
die eine starke Blutung an allen Körpertheilen in sich schliesst, noch
die Möglichkeit der Aspiration in die Lungen und der dadurch be¬
dingten Schluckpneumonie. Dieser Uebelstand lässt sich durch die
1) Ein ausführliches Literaturverzeichniss findet sich am Schluss der Arbeit.
Digitized by
Gck gle
Original frnm
UMIVERSITY OF IOWA
108
Dr. Colley,
Tracheotomie beseitigen, nach deren Vollendung vermittels der leicht
ausführbaren Tamponade des Kehlkopfes von untenher auch ohne eine
Tampon-Canüle dem Blute der Zutritt zu den Luftwegen völlig ver¬
schlossen ist. Auf diese Weise beherrscht der Arzt eine frische Zun¬
genverletzung vollständig, wenn anders sie nicht zu spät in seine
Behandlung kommt.
Auf einem ganz anderen Gebiet, wie die Behandlung einer Wunde
durch den Chirurgen, liegt die Beurtheilung derselben durch den Ge¬
richtsarzt. In gerichtlich-medicinischer Beziehung haben die Zungen¬
verletzungen — die leichten sowohl, wie auch die schweren — nicht
nur deswegen eine hohe Bedeutung, weil sie zeitweilig eine unmittel¬
bare Gefahr für das Leben des Betroffenen in sich schliessen können,
sondern ganz besonders aus dem Grunde, weil unter Umständen aus
einer möglicher Weise nur geringfügigen Verletzung der Zunge auf
einen an dem betreffenden Individuum verübten Gewaltakt geschlossen
werden kann.
Nirgends habe ich einen Fall verzeichnet gefunden, wo bei einem
Verbrechen die Verletzung der Zunge Selbstzweck gewesen wäre, wo
der Thäter es nur auf dieses Organ abgesehen gehabt hätte, wie sich
das ja öfters bei Verletzungen anderer Körpertheile, z. B. der Geni¬
talien ereignet. Dahingegen trifft man derartige Verstümmelungen
der Zunge als Selbstverletzung häufig bei Geisteskranken an. Hin¬
sichtlich der Beurtheilung liegen auf einem ähnlichen Gebiete die
Zungenverletzungcn bei der Chorea, bei der progressiven Paralyse und
vor allen Dingen bei der Epilepsie. Bei allen diesen Affectionen
wird sich der Arzt weniger über die körperlichen Verletzungen als
über den geistigen Zustand des Verletzten gutachtlich zu äussern
haben.
Wenn bei einer Zungen Verletzung ein Gewaltakt einer dritten
Person in Frage steht, und der Verletzte am Leben geblieben ist, so
wird der Gcrichtsarzt aus dem objectiven Befunde nur selten festzu-
stellcn haben, ob eine zufällige oder fahrlässige Verletzung oder ein
Verbrechen vorliegt, da ja ein wichtiger Zeuge in der Gestalt des
Verletzten vorhanden ist, sondern wird sich darüber zu äussern
haben, ob eine Körperverletzung im Sinne des § 224 des Strafgesetz¬
buches vorliegt..
Dass durch die Entfernung eines grossen Theiles der Zunge, ja
sogar durch die Amputation des ganzen Organes die Sprache nur
wenig beeinflusst wird, ist bekannt. Nach den Mittheilungen der
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
lieber Zungenverlctzungen in gericbtlich-modieinischer Beziehung. 109
allcrgrössten Mehrzahl älterer und neuer Beobachter sind die Nach¬
theile der Sprache, welche auch durch einen erheblichen Zungendefect
entstehen, nicht so bedeutend, wie man erwarten sollte.
Die zweite wichtige Function der Zunge besteht darin, dass sic
beim Schluckakt thätig ist. ln wie weit ihr Fehlen diesen letzteren
beeinträchtigen kann, darüber habe ich in der Literatur nur sehr
wenige Angaben gefunden; doch kann man sich oftmals davon über¬
zeugen, dass die Fortnahme von mehr als der Hälfte des Organes
durchaus nicht hinderlich ist, und ein mir bekannter Arzt bekommt
von einem Manne, dem er vor Jahren die Totalexstirpation machte,
am Jahrestage der Operation regelmässig die Nachricht, dass derselbe
auf das Wohl seines Lebensretters ein volles Glas leere. Beeinträch¬
tigend dagegen auf den Schluckakt wirkt das Verwachsen sein der
Zunge mit anderen Theilen der Mundhöhle, wie solches bei schweren
Verletzungen, auch bei therapeutischen Massnahmen, nicht so ganz
selten vorkommt.
Drittens ist die Zunge dann auch das vornehmste Organ, welches
den Geschmack vermittelt; wenn zwar auch der Seitentheil des
weichen Gaumens und der Arcus glosso-palatinus durch den Nervus
glosso-pharyngeus Geschmacksempfindung zur Wahrnehmung gelangen
lassen, so ist für diese Function die Zunge doch von solcher Wich¬
tigkeit, dass nach ihrer Entfernung sich eine hochgradige Dysgeusic
einstellt.
Die Entstellung ist beim Verluste selbst des ganzen Organes
stets sehr gering.
Aus allen diesen Erwägungen geht hervor, dass der Gerichtsarzt
bei der Beurtheilung der möglicher Weise aus einer Zungenverletzung
zurückbleibenden Folgen äusserst vorsichtig sein muss, und dass er
niemals vor völlig erfolgter Heilung ein definitiv feststehendes Urthcil
dahin abgeben kann, ob der Verletzte die Sprache verlieren, oder in
dauerndes Siechthum verfallen wird; während es zweifellos ist, dass
mit dem Moment, wo die Zunge gänzlich aus dem Munde entfernt
wurde, der Verlust eines wichtigen Gliedes des Körpers eingetreten
ist. Mit anderen Worten ausgedrückt ergiebt sich folgendes Resultat:
es kann nur von Fall zu Fall entschieden werden, ob eine Zungen¬
verletzung unter § 224 des St. G.-ß. fällt.
Ganz anders, als bei der Beurtheilung der Folgen, welche die in
Genesung übergegangenen Fälle von Zungen Verletzung haben, stellt
sich nun di° Thätigkeit des Gerichtsarztes dar, wenn nach einer
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
110
Dr. Colley,
solchen Verletzung der Tod cingetrctcn ist. Hier kann es sich da¬
rum handeln, fcstzustcllen, ob die Verletzung die Todesursache abge¬
geben hat, oder ob der Tod durch andere Momente bedingt war; so¬
dann aber können in selbst unbedeutenden Zungenverletzungen Zeichen
erkannt werden, aus denen unter Umständen untrüglich auf ein Ver¬
brechen zu schliessen ist.
Zungenverletzungen können auf mannigfache Art direct und in-
dircct, schnell und langsam zum Tode führen. Zur Herbeiführung
einer tödtlichen Blutung ist nicht einmal immer die Verletzung des
Ilauptstammes der Schlagader erforderlich. Bei decrepiden, elenden
und herabgekommenen Individuen kann auch ein weit geringerer Blut¬
verlust verderblich werden. Theoretisch genügt eine derartige Blutung
an und für sich schon zur Vernichtung des Lebens, in der Praxis
wird sie stets mehr oder minder verbunden sein mit einem Herab-
fliessen des Blutes in die tieferen Luftwege. Und diese Aspiration
erfordert weit mehr Opfer, als die Blutung an sich, da schon eine
unbeträchtliche Menge Flüssigkeit hinreicht zur Herbeiführung der
Asphyxie, und da eine noch geringere Quantität eine Lungenentzündung
zur Folge haben kann.
Wenn nun die Blutung mit allen ihren Folgen glücklich über¬
wunden ist, so droht als letzte Lebensgefahr noch die Infection der
Wunde mit der Möglichkeit einer erheblichen secundären Schwellung,
wclehe so hochgradig werden kann, dass der Zugang zu den Brust¬
wegen bis zur völligen Erstickung verschlossen wird. Auch acutes
Glottisödem mit seinen deletären Zufällen tritt häufig bei inficirten
Zungen wunden auf. Man hat auch sehr ausgedehnte Eiterung mit
Senkung in den Muskelzwischenräumen, zuweilen sogar Perforation
in den Larynx eintreten sehen.
In Folge der sehr geschützten Lago der Zunge in der Mundhöhle
und dadurch, dass sie bei geschlossenem Munde vollständig bedeckt
ist, ereignen sich Verletzungen dieses Organes, ohne dass die angren¬
zenden Theile in Mitleidenschaft gezogen werden, äusserst selten.
Nur durch eine Gewalt, die den Kopf oder Unterkiefer trifft, kann
dieses Ereigniss indirect eintreten und dabei nur in dem Falle, dass
sich die Zunge im Momente der Einwirkung zwischen beiden Zahn¬
reihen befindet — oder aber direct bei geöffnetem Munde. Von
diesen Verletzungen sind die ersteren allgemein bekannt, doch auch
die letzteren sind nicht so selten, wie man von vomeherein annehmen
zu sollen glaubt. Im Kriege 1870/71 wurden verschiedentlich Sol-
Digitized by
Go», igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
lieber Zangenverletzungen in gerichtlich-medicinischer Beziehung. 111
daten, die beim Angriff, besonders beim Ersteigen von Anhöhen, mit
offenem Munde athmeten, durch Geschosse lediglich an der Zunge
verletzt. Die weitaus grösste Mehrzahl der Zungenverletzung ist in-
dess complicirt mit Zertrümmerungen benachbarter Weichtheile und
Knochen; unter solchen Umständen ist, wenn der Tod eintrat, selbst¬
verständlich eine Beurtheilung der Gesammtverletzung erforderlich bei
Feststellung der Todesursache.
Neben diesen bisher besprochenen Arten von Zungenverletzungcn,
bei denen die Schwere der Verletzung hauptsächlich ins Gewicht fällt,
erregt noch eine andere Kategorie das Interesse des Gerichtsarztes,
das sind die zufällig entstandenen, meistens kleinen Verletzungen und
unbedeutenden Abschürfungen. Vielfach bekommt der Arzt schmerz¬
hafte Wunden der Zunge in Behandlung, die herbeigeführt wurden
durch die eigenen Zähne des Verletzten, indem dieselben, schief nach
innen stehend, allmälig den Seitenrand der Zunge wund machen.
Diese Verletzungen haben ganz typische Stellen und sind nicht leicht
zu verwechseln mit denjenigen, welche entstehen, wenn der Mund
gewaltsam geschlossen wird, sei es um hierdurch die Erstickung her¬
bei zu führen, sei es um das Object am Schreien zu hindern.
Alle diese Verletzungen haben die gemeinsame Eigenschaft, dass
sie nach Entfernung des blutigen Schaumes von den äusserlich sicht¬
baren Körpertheilen und den Bekleidungsstücken bei oberflächlicher
Betrachtung der Leiche leicht übersehen werden können. Die erstcrc
von diesen beiden Arten kommt vielfach, doch nicht ausschliesslich,
beim Kindsmord vor und hat ihren Ursprung in der Einführung von
fremden Körpern in den Mund, wie kleinen Ballen von Watte, Werg,
Gras u. dergl. Sache des Gerichtsarztes ist es zu constatiren, ob
die betreffenden Körper in den Mund des lebenden Kindes eingeführt
wurden. Dieses wird nicht unter allen Umständen ganz leicht sein,
aber schliesslich doch wohl meistens gelingen, wenn man bedenkt,
dass post mortem entstandene oberflächliche Verletzungen höchstens
geringe Spuren von Blut hinterlasscn, während im anderen Falle bei
der gleichzeitig bestehenden Erstickungsnoth die Blutung eine nicht
ganz unbeträchtliche sein wird. Schon deswegen muss der Gerichts¬
arzt sehr vorsichtig zu Werke gehen, weil die Art und Weise, wie
ein Mord begangen wird, bei dem sich derartige unbedeutende und
leichte Zungen Verletzungen vorfinden, sehr schlau erdacht sein kann,
und weil die Leichenschau im Uebrigen oftmals ein völlig negatives
Resultat liefert.
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
112
Dr. Colley,
Eine gewisse Klasse von Verletzungen der Zunge und des Zungen¬
bändchens giebt es, welche nicht häufig Vorkommen und unter Um¬
ständen Veranlassung zu falschen Schlüssen geben könnten, das sind
die sogenannten Dentitionsgeschwüre. In neuerer Zeit ist festgestellt
worden, dass diese Verletzungen nicht, wie W. Roser, der sie zuerst
beschrieb, meinte, im Durchbrechen der Schneidezähne ihren Ursprung
haben, sondern dass sie durch Anpressen der Zunge gegen den Unter¬
kiefer beim Keuchhusten entstehen, sic wurden nämlich nicht nur
beobachtet bei Kindern, welche schon die unteren Schneidezähne hatten,
sondern auch bei zahnlosen Säuglingen.
Zu dieser Gruppe von Verletzungen gehören auch diejenigen, welche
durch den Genuss von ätzenden Substanzen entstehen. Dieser Genuss
ist wohl selten auf ein Verbrechen — welches, nur an Kindern, Be¬
wusstlosen oder Trunkenen begangen sein kann — meistens viel¬
mehr auf Unvorsichtigkeit oder Selbstmord zurückzuführen. Vielfach
sind diese Wunden an der Zunge nicht sehr bedeutend, unter Um¬
ständen ist nur das Epithel geschädigt, zeitweilig finden sich kleinsfe
Substanzverluste; bei der Einwirkung grösserer Mengen ätzender
Flüssigkeiten kann aber auch der ganze Zungenrücken in Mitleiden¬
schaft gezogen werden. So fand Strassmann bei einer derartigen
Obduction eine vollständige Verätzung von der Zungenspitze an bis
durch die Speiseröhre hindurch und weiter hinab bis in den Darm.
Durch den Genuss siedend heisser Nahrungsmittel entstehen im
Munde ganz ähnliche Verletzungen, wie sie soeben beschrieben wurden;
indess pflegen sich hierbei die Zerstörungen nicht so weit in die
tieferen Verdauungswege hinab zu erstrecken, sondern vornehmlich
auf die Schleimhaut des Zungenrückens und der Wangen beschränkt
zu bleiben.
Eine für die Betroffenen äusserst schmerzhafte Verletzung des
Zungenrückens entsteht dadurch, dass Kinder zur Winterszeit an kal¬
ten Metallstücken, Thürgriffen und dergl. lecken; dabei haftet die
Schleimhaut so fest an dem betreffenden Gegenstand, dass sie beim
Zurückziehen der Zunge in Fetzen abgerissen werden kann.
Bei weitem grössere Zerstörungen und völlige Verwüstungen wer¬
den angerichtet durch Schüsse, welche zu Selbstmordzwecken in den
Mund hinein abgefeuert werden, mag das Geschoss nun aus Metall
bestehen oder aus anderem Material. Und doch wird auch hierbei
mcistcntheils nicht die Zungenverletzung die Todesursache abgeben,
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Uel>er Zungenverletzungen in gerichtlicli-medicinisrher Beziehung. 113
sondern nur ein Symptom sein, durch welches der Untersuchende auf¬
gefordert wird, weiter nachzuforschen.
Demnach können die Verletzungen der Zunge, welche den Ge¬
richtsarzt deswegen beschäftigen, weil er aus ihnen den Schluss ziehen
kann, ob die vor ihm liegende Leiche einem Verbrechen zum Opfer
gefallen ist oder nicht, in ihrer Ausdehnung sehr verschieden sein.
Ist die Verletzung sehr schwer und in ihrer Wirkung tiefgreifend, ohne
Complication mit äusseren Wunden, oder handelt es sich um Aetzun-
gen bei einem Erwachsenen, so wird, falls nicht andere gravirendc
Momente vorliegen, der Verdacht auf einen Gewaltact fast immer un¬
begründet sein, während kleine Kratz- und Risswunden, oder selbst
nur Veränderungen in der Form der Zunge, besonders wenn sich
dieselben bei kleinen Kindern finden, zu grosser Vorsicht in der Be¬
urteilung mahnen.
Eine kleine Operation an der Zunge, die früher vielfach aus¬
geführt, heutigen Tages, wenn nicht ganz besondere Verhältnisse vor¬
liegen, wohl nur noch von Hebammen unternommen wird, kann unter
besonders ungünstigen Umständen zum Tode führen und dann die
Thätigkeit des Gerichtsarztes in Anspruch nehmen, weil Fahrlässig¬
keit der handelnden Person vorliegt, die zu der Aufmerksamkeit,
welche sie aus den Augen setzte, vermöge ihres Berufes besonders
verpflichtet war: das ist die Operation des zu kurzen Zungenbänd¬
chens. Wurde durch unvorsichtige und ungeschickte Führung des
Schnittes die Arteria oder Vena ranina verletzt, so kann eine für ein
neugeborenes Kind tödtliche Blutung entstehen, wenn nicht alsbald
eine sachgemässe Blutstillung vorgenomraen wird. Wer auf diese Weise
ein Leben in Gefahr gebracht hat, kann nach § 222 dos St.-G.-B.
zur Verantwortung gezogen werden. Als ein anderer übeler Zufall
nach Durchschneidung des Zungenbändchens wird die Zurückziehung,
ein Verschlucken der Zunge und die dadurch bedingte Erstickungs¬
gefahr angeführt.
Erwähnung verdient hier die merkwürdige, von Kuss maul be¬
sprochene Fertigkeit einiger Personen, ihre Zunge nach Durchtrennung
des Bändchens so tief in die Rachenhöhle zurückzuziehen, dass sie
aussieht, als wenn sie durch Abschneiden verkürzt wäre. Da cs
einem solchen Menschen gelang, einen berühmten Anatomen hinter
das Licht zu führen, indem er behauptete, er habe als Fremden¬
legionär in Algier durch arabische Hand die Verstümmelung erlitten,
Vierteljahrsschr. f. ger. Med. Dritte Folge. XIV. Suppl.-Heft. g
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSITÄT OF IOWA
114
Dr. Colley,
so könnte ja auch einmal ein Betrüger versuchen, das Gericht und
den Gcriehtsarzt auf diese Weise zu täuschen.
Wollte heutigen Tages ein Arzt es unternehmen, dem Stottern
auf operativem Wege beizukommen, wie Dieffenbach versuchte,
indem er subeutan Querschnitte durch die Zungenwurzel machte und
Keile aus dem Rücken derselben herausschnitt, so würde er, da das
Stottern als eine functionellc Neurose erkannt ist, einen schweren
Fehler begehen und für die eventuellen iibelen Folgen einzustehen
haben.
Es erübrigt noch, eine Art von Verletzungen zu besprechen, die
niemals das Object der Behandlung für den Chirurgen sein kann, die
aber für das Urtheil des Gerichtsarztes von grosser Tragweite zu sein
vermag, das sind die Wunden, welche durch Zufall oder absichtlich
einer Leiche bald nach dem Tode beigebracht sind. Die Meinung
des Richters und das Urtheil über einen Angeklagten wird gerade in
diesen Fällen häufig in erster Linie von der sicheren Entscheidung
des Arztes abhängen, ob die Wunden bei Lebzeiten oder postmortal
entstanden sind. Es handelt sich hierbei wohl nie um uncomplicirte
Zungenverletzungen; fast stets werden sich dabei geringere oder aus¬
gedehntere Knochenbrüche oder Weiehthcilwunden vorfinden.
Ein von Ilorteloup mitgetheilter Fall mögo das Gesagte erläutern: Bei
einer aufgefundenen Leiche handelte es sieh darum, festzustellen, ob der Verstor-
hene eine steinerne Treppe hinabgestürzt, also verunglückt war und dabei den
Tod gefunden hatte, oder ob er ermordet und darauf hinabgestürzt war. Die
erstere von den beiden Annahmen schien die grössere Wahrscheinlichkeit für sich
zu haben. Bei der Leichenschau fand Ilorteloup neben bedeutenden Schädel¬
verletzungen auch Fracturen der Wirbelsäule vor. Die Zunge lag zwischen den
Zähnen, ihre Spitze war fast durchtrennt.; im Munde war kein Blut vorhanden.
Am Halse fanden sich einige Hautdefecte, die als Kratzwunden angesehen werden
mussten. Unter Berücksichtigung dieses Zustandes entschied sich Horteloup
dafür, dass ein Mord vorlag und zwar ein Mord durch Erdrosseln, und dass nach
dem Eintritt des Todes die Leiche zur Verdunkelung des Thatbestandes die Treppe
hinabgestürzt war. Die Zunge war erst bei diesem letzten Act des Verbrechens
verletzt worden, im anderen Falle hätte aus der grossen Wunde Blut hervortreten
müssen.
In einer experimentellen Arbeit über Stichverletzungen, deren
Kenntniss sicherlich dem Gerichtsarzte hei der Beurtheilung manches
sonst schwer erklärlichen Falles von grossem Nutzen sein kann, hat
Kunivosi Katayama auch einen Beitrag zu den Stichverletzungen
der Zunge geliefert. Vermittelst eines konisch gespitzten Werkzeuges
bedeckte er die ganze Oberlläche der Zunge mit zahlreichen Stichen.
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
I-ober Zungenverletzungen in gcrichUic.h-niodicinisrher Hcziehung. 115
Die dadurch entstandenen Wundselilitze waren auf der Zungcnobcr-
flächc im Grossen und Ganzen folgermasssen gruppirt: An der Zungen¬
wurzel in der Medianlinie waren sie longitudinal und an den beiden
Seitenhälften mehr oder weniger schief nach vorn divergirend, auch
kam öfters eine nach vorn winklig geknickte Wundspalte vor in den
Fällen, w r o die Stiche genau die Mittellinie getroffen hatten. An der
Zungenrückenfläche erschienen sie fast immer von hinten und aussen
schief nach vorn und der Mitte zu convergirend. Diese Erscheinung,
sagt Kuniyosi Katayama, kann forensisch eine wichtige Venvor-
thung finden in Fällen, wo man z. ß. am Halse einer Leiche etwa
einen Centimeter oberhalb des Zungenbeinkörpers eine quere und an
der Zungenwurzel eine longitudinale, etwas kleinere Schlitzwunde
findet, welche durch einen Wundcanal in Verbindung stehen. Hier
kann man nämlich aus der Richtung und Beschaffenheit der Wund-
spaltc an der Haut, der Schleimhaut und den dazwischen liegenden
Gcwebsschichten schliessen, dass die Verletzung entweder durch ein
nicht schneidendes, mehrkantiges, oder durch ein konisches Werkzeug
erzeugt worden ist. Ebenfalls könnte man dann die Frage, ob die
Verletzung durch das als verdächtig vorgelegtc, gewöhnliche scharfe
Messer — wenn wir diesen Fall annehmen — erzeugt wurde, mit
Bestimmtheit verneinen.
Literatur.
Ausser den bekannten Lehrbüchern der Anatomie, Physiologie, Chirurgie
und gerichtlichen Medicin und den Abhandlungen, die in Eulenburg’s lteal-
Encyclopädie veröffentlicht sind, wurden benutzt:
II. Demme, Militär-chirurgische Studien in den italienischen Lazarcthcn von
1859. lief, in Schmidt’s Jahrbüchern. Bd. 113.
Geissei, Schussverletzung der Zunge. Tracheotomie. Ligatur der Carotis
communis. Tod. Verhandl. der Deutschen Gesellsch. f. Chir. 6. Congr.
Horteloup, Mord durch Schädelbruch und Strangulation. Ref. in Schmidt’s
Jahrb. Bd. 162.
Käst und Rumpel, Pathologisch-anatomische Tafeln. Wandsbeck-IIamburg
1892.
Kuniyosi Katayama, Ueber Stichwunden in gcrichtlich-medicinischcr Be¬
ziehung. Diese Vierteljahrsschr. Bd. 46. 1887.
Mittler, Seltener Fall von Verletzung der Zunge. Wiener med. Woehenschr.
1870.
Frank Ogston, A case of suicido by pistolshot, without external wound.
Edinburgh med. Journ. No. CCCXLIV. Fcbr. 1884.
Digitized by
Gck gle
8 *
Original from
UNIVERS1TV OF IOWA
116 Dr. Colley, Zungenveiletzungen in geriohtl.-medicin. Beziehung.
Digitized by
Frederik Peterson, A note upon disturbance of the sense of taste after am-
pulation of the tongue. Ref. in Schmidt’s Jahrb. Bd. 228.
Sanitätsbericht über die deutschen Heere 1870.
af Schultön, Totale Exstirpation der Zunge und deren Einwirkung auf die
Sprache. Deutsche Zeitschr. f. Chir. Bd. 35.
Seerig, Merkwürdiger Fall von Verletzung der Zunge bei einem vier Wochen
alten Kinde. Ref. in Schmidt’s Jahrb. Jahrg. 1834.
Singer, Ein Fall von hochgradiger Zungenverletzung. Wiener med. Presse.
1878.
F. Strassmann, Ueber den anatomischen Nachweis forensischerVergiftungen.
Berl. klin. Wochenschr. 1895.
Tampke, Verletzung der Zunge. Generalbericht des Königl. rheinischen Me-
dicinal-Collegii über das Jahr 1843.
Aloysius Wurm, Merkwürdiger Fall von Verstümmelung der Zunge eines
Kindes. Jahrbücher des ärztl. Vereins zu München. IV. 3.
Derselbe, Ueber Zungendefecte und deren Folgen. Münch, ärztl. Intell.-Bl.
1866.
Gck igle
Original frnm
UMIVERSITY OF IOWA
n. Oeffentliches Sanitätswesen.
l.
Gutachten der technischen Deputation für das Vete-
rinürwesen und der wissenschaftUchen Deputation
für das Medicinalwesen, betreffend die Yerwerthung
des Fleisches finniger Rinder.
1. Gutachten der technischen Deputation für das Veterinärwesen
vom 20. November 1896.
Eure Excellenz haben die gehorsamst Unterzeichnete technische
Deputation für das Veterinärwesen mittelst hohen Erlasses vom
24. April d. J. angewiesen, eine gutachtliche Erklärung darüber zu
erstatten:
Ob auch jetzt noch an der Forderung der Zwangskochung
alles finnig befundenen Rindfleisches festgehalten werden muss,
oder ob und welche Erleichterungen für die Verwerthung der
finnigen Rinder zulässig erscheinen.
Euer Excellenz beehren wir uns, diese Aeusserung im Nach¬
stehenden ehrerbietigst zu überreichen.
Es war bis zum Jahre 1888 nicht bekannt, dass auch die ein¬
heimischen* Rinder häufiger mit Finnen behaftet sind. In dem ge¬
nannten Jahre aber führte eine zufällige Beobachtung zur Entdeckung
derjenigen Körperstelle, an welcher die Rinderfinne mit Vorliebe auf¬
zutreten pflegt, und die seitdem regelmässig erfolgte Untersuchung
dieser Stelle bei geschlachteten Rindern hatte zur Folge, dass auf
den Schlachthöfen Preussens alljährlich eine grosse Anzahl finniger
Rinder ermittelt wurde. So sind z. B. allein auf dem Centralschlacht¬
hofe zu Berlin in den Jahren 1888 bis 1895 bei 1902 Rindern Finnen
nachgewiesen werden.
Als die Zahl der Rinder, welche mit Finnen behaftet waren, zu
steigen begann, wurde die Unterzeichnete technische Deputation an-
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITÄT OF IOWA
118 Gutachten der technischen Deputation für das Yeterinarwesen und
gewiesen, sich darüber zu äussern, in welcher Weise mit dem Fleische
(inniger Kinder zu verfahren sei. Die technische Deputation hatte
sich darauf dahin ausgesprochen, dass das Fleisch (inniger Rinder in
derselben Weise behandelt w r erden müsse, wie das Fleisch finuiger
Schweine, d. h. dass das Fleisch eines Rindes selbst beim Auflinden
einer einzigen Finne nur im gekochten Zustande in Verkehr gebracht
werden dürfe.
Nun lagen aber zu der Zeit, in der diese gutachtliche Erklärung
erstattet wurde, nur ungenügende Erfahrungen über die Vertheilung
der Finnen in den Muskeln der Rinder und über die Häufigkeit des
Auftretens der Finnen vor. Hierüber sind seit dieser Zeit Beobach¬
tungen gemacht worden, welche für das Urtheil über die Behandlung
des Fleisches finniger Rinder von Bedeutung sind.
Zunächst wurde ermittelt, dass die Rinderfinne im Gegensätze
zur Schweinefinne gewöhnlich nur vereinzelt vorkommt. So waren in
Berlin bei den oben erwähnten 1902 geschlachteten finnigen Rindern
1825 Stück, also 95 pCt., mit vereinzelten Finnen behaftet; und bei
der Mehrzahl (06 pCt.) der letzteren Rinder war trotz der Unter¬
suchung aller Körpermuskeln überhaupt nur eine Finne nachzuweisen.
Ferner haben die Untersuchungen auf allen Schlachthöfen über¬
einstimmend ergeben, dass Kaumuskeln, Herz und Zunge Lieblings-
sitzc der Finnen sind, und dass die Finnen oft in grösserer Menge
an diesen Stellen angetroffen werden, während sie in anderen Körpcr-
muskeln seltener Vorkommen. In der Leber, der Milz, der Lunge,
den Nieren, an dem Magen, dem Darme, dem Gekröse und dem
Netze werden Finnen ausserordentlich selten beobachtet, selbst in
den Fällen, in welchen die Muskeln stark von ihnen durchsetzt sind.
Weiter wurde festgcstellt, dass die Zahl der mit Finnen behaf¬
teten Rinder eine grössere ist, als anfänglich angenommen wurde.
Die im Schriftstücke des Hamburger Senats enthaltene Mittheilung,
dass nur 0,02 pCt. der im Jahre 1895 geschlachteten Rinder mit
Finnen behaftet waren, stclvt mit den an anderen Orten gemachten
Beobachtungen nicht in Ucbcreinstimmung. In den letzten 5 Jahren
erwiesen sich in Berlin 0,204 pCt., im Jahre 1895 in Königsberg und
Danzig je 0,36 pCt., in Hannover 0,41 pCt., in Freiburg i. Schl.
0,50 pCt., in Hildesheim 0,76 pCt., in Oels 1 pCt., in Marienwerder
1,2 pCt., in Ohlau 1,57 pCt. und in Neissc sogar 2,91 pCt. mit Finnen
behaftet.
Digitized by
Gck igle
Original from
UMIVERSITY OF IOWA
der wissenschaftlichen Deputation für das Mcdicinalwesen.
119
Endlich wurde, nachdem die Vorschrift der Zwangskochung des
finnigen Fleisches erlassen worden war, ganz allgemein die Beobach¬
tung gemacht, dass gekochtes finniges Rindfleisch viel schwerer zu
verkaufen ist, als gekochtes finniges Schweinefleisch; ja dass an
manchen Orten das gekochte finnige Rindfleisch selbst bei sehr ge¬
ringem Preise entweder keine oder nur eine ungenügende Abnahme
findet. Hierbei dürfte vielleicht der Umstand von Bedeutung sein,
dass namentlich Bullen mit Finnen behaftet sind, und dass gekochtes
Bullenfleisch hart und deshalb schwer zu kauen ist, auch keinen an¬
genehmen Geschmack hat. Unter den im Berichtsjahre 1894/95 in
Berlin ermittelten 293 finnigen Rindern waren z. B. 109 Bullen, und
unter den im zweiten Semester desselben Berichtsjahres in Dresden
beobachteten 64 finnigen Rindern sogar 29 Bullen.
Auf Grund dieser Erfahrungen wurde im Königreiche Sachsen
das Verfahren mit dem Fleische finniger Rinder abgeändert. Wäh¬
rend das Königlich Sächsische Ministerium des Innern früher ange¬
ordnet hatte, dass das Fleisch der finnigen Rinder nur im gekochten
Zustande verkauft werden dürfe, hielt es jetzt die Ausführung dieser
Massregel bei Rindern, welche nur eine Finne aufweisen lassen,
nicht mehr für erforderlich und gestattete, dass das Fleisch solcher
Rinder auch im rohen Zustande dem Verkehre übergeben würde.
Auch wir sind in Erwägung des jetzt vorliegenden Erfahrungs¬
materials der Ansicht, dass die Zwangskochung der cinfinnigen Rinder
nicht erforderlich ist, sondern dass das Fleisch der Rinder, bei wel¬
chen eine Finne gefunden wurde, ohne Gefahr für die menschliche
Gesundheit roh in den Verkehr gegeben werden darf, wenn bei der
Zerlegung des Fleisches in kleinere Stücke keine weitere Finne ge¬
funden wird. Solches in kleinere Stücke zerlegte Fleisch aber ohne
weiteres freizugeben, halten wir um so mehr für geboten, als das
Fleisch durch die Zwangskochung ganz unverhältnissmässig ent-
werthet wird.
Der Nachweis der Finnen bei geschlachteten Rindern wird in der
Weise geführt, dass zunächst die Lieblingssitze der Finnen (die inneren
und äusseren Kaumuskeln, das Herz und die Zunge) sowohl an der
Oberfläche, wie auf frisch hergestcllten Durchscbnittsflächen unter¬
sucht und darauf die übrigen, nach dem Schlachten freigelegten Mus¬
keln, namentlich die Halsmuskeln, die Brustmuskeln, die Zwischen-
rippenmuskcln und die musculösen Theile des Zwerchfells auf das
Vorhandensein von Finnen an den Oberflächen geprüft werden. Wird
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
120 Gutachten der technischen Deputation für das Vcterinärwosen und
bei alledem nur eine einzige Finne ermittelt, so werden solche Rinder
als „einfinnige“ bezeichnet. Werden dagegen einzelne Finnen an
mehreren Stellen oder nur an einer Stelle mehrere Finnen gefunden,
so bezeichnet man solche Rinder als „mehrfinnige“. Die in neuerer
Zeit an mehreren Schlachthöfcn mit grosser Sorgfalt ausgeführten
Untersuchungen, bei denen das ganze Fleisch „einfinniger“ Rinder in
zahlreiche kleine Stücke zerlegt und auf die Anwesenheit von Finnen
genau geprüft worden ist, haben gezeigt, dass zwar die Mehrzahl der
„einfinnigen“ Rinder mit weiteren Finnen nicht behaftet ist, dass aber
immerhin noch bei ca. 34 pCt. derselben Finnen in dem übrigen
Fleische gefunden werden. Mithin dürfte das Freigeben des rohen
Fleisches nicht ausschliesslich von dem Nachweise einer einzigen
Finne abhängig zu machen, sondern auch an die Bedingung zu knüpfen
sein, dass bei der Zerlegung des Fleisches in höchstens 2y 2 kg schwere
Stücke weitere Finnen nicht gefunden werden.
Es ist zu bemerken, dass es sich bei allen Untersuchungen und
Prüfungen um die lebende Finne zu handeln hat, da nur diese für die
Gesundheit des Menschen nachtheilig ist, während die abgestorbene,
verkäste oder verkalkte Finne ohne Bedeutung ist.
Hiernach dürfte der Verkehr mit dem Fleische „einfinniger“
Rinder in folgender Weise zu regeln sein:
Das Fleisch derjenigen Rinder, bei denen nur eine lebende Finne
an einem der Lieblingssitze oder an einer anderen Stelle nachgewiesen
worden ist, darf nach Entfernung der Finne dem freien Verkehre
übergeben werden, wenn nach Zerlegung des Fleisches in höchstens
2 1 /., kg schwere Stücke keine weiteren lebenden Finnen gefunden
werden.
Das Fleisch der „mchrfinnigen“ Rinder müsste gewissen Ver¬
kehrsbeschränkungen unterworfen bleiben; aber auch bei diesem könnte
von der Forderung einer Zwangskochung vor dem Verkaufe abgesehen
werden.
Es würde genügen, wenn der Verkauf des Fleisches der stärker
mit Finnen behafteten Rinder entweder auf Freibänken oder, wo die
letzteren fehlen, unter Deklaration stattfinden müsste. Denn auf der
Freibank wird eben Fleisch feilgehalten, welches mit Mängeln be¬
haftet ist, die durch Kochen oder andere Zubereitungsarten des
Fleisches sich beseitigen lassen; in den Schlachthäusern oder in Ge¬
meinden aber, in denen eine Freibank fehlt, müsste den Käufern des
Fleisches der „mehrfinnigen“ Rinder der Fehler desselben und die
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSITÄT OF IOWA
der wissenschaftlichen Deputation für das Medicinalwescn.
121
Behandlung, welche das Fleisch vor dem Genüsse zu erfahren hat,
durch Anschlag öffentlich mitgetheilt werden. Ferner würde es, um
jeden Zwischenhandel zu vermeiden, nothwendig sein, durch polizei¬
liche Vorschriften und durch polizeiliche Ueberwachung dafür zu sor¬
gen, dass die Veräusserung des Fleisches an den einzelnen Käufer
nur in höchsten 2 1 / 2 kg schweren Stücken erfolgt. Gewerbsmässige
Zwischenhändler, wie Schlächter, Wurstmacher, Speise- und Gast-
wirthe würden von dem Erwerbe solchen Fleisches grundsätzlich aus-
zuschliessen sein.
Die Nachtheile, welche mit dem Genüsse des Fleisches „mehr¬
finniger“ Rinder verbunden sein können, dürften durch die Befolgung
der angegebenen Massregeln vollständig beseitigt werden. Denn die
Rinderfinnen sterben schon nach einer Erwärmung auf 45 0 C. ab und
gehen deshalb bei dem im Haushalte üblichen Kochen des Fleisches,
bei welchem letzteres regelmässig über 50° C. erwärmt wird, sicher
zu Grunde. Im Uebrigen bemerken wir noch, dass Fleisch, welches
durch Kochen oder andere Zubereitungsmethoden zum Genüsse für
Menschen geeignet gemacht werden kann, nach mehreren überein¬
stimmenden Entscheidungen des Reichsgerichtes (Urtheile des 4. Straf¬
senates vom 11. Juli 1884 und vom 21. März 1888 und des 1. Straf¬
senates vom 1. Januar 1885) auch roh in Verkehr gebracht werden
darf, wenn ausreichende Vorsichtsmassregeln getroffen worden sind,
dass solches Fleisch in einem zum Genüsse für Menschen geeigneten
Zustande verzehrt wird.
Zu den Zubereitungsarten, welche das Fleisch finniger Rinder
zum Genüsse für Menschen geeignet machen, gehört auch das Pökeln.
Denn, durch sachgemässes Pökeln werden die im Fleische enthaltenen
Finnen getödtet. So konnte bei dem im hygienischen Institute der
hiesigen thierärztlichen Hochschule gemachten Versuchen festgestellt
werden, dass Finnen selbst in 6 cm dicken Muskelmassen zu Grunde
gegangen waren, wenn letztere 14 Tage lang in einer 25 proc.
Pökellake gelegen hatten. Dasselbe Ergebniss wurde bei grösseren
Fleischstücken z. B. ganzen Schinken erzielt, in welche Salzlake
eingespritzt worden war und welche darauf gleichfalls 14 Tage
lang in der Lake gelegen hatten. Mithin hat das Pökeln den¬
selben Nutzen, wie das Kochen. Das ist aber von praktischer
Bedeutung, weil gepökeltes Fleisch in verschiedenen Formen zube¬
reitet werden kann und deshalb leichter verwendbar ist, als gekochtes
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
122 Gutachten der technischen Deputation für das Veterinär wesen und
Fleisch, und der Gewichtsverlust beim Pökeln nur 5—6pCt. beträgt,
während er beim Kochen eine Höhe bis zu 50 pCt. erreicht.
Hiernach dürfte für das Fleisch „mehrfinniger“ Rinder folgendes
Verfahren zu empfehlen sein:
Das Fleisch derjenigen Rinder, bei denen mehrere lebende
Finnen nachgewiesen worden sind, darf nur in höchstens 2y 2 kg
schweren Stücken und unter der Angabe verkauft werden, dass es
von einem finnigen Rinde herstammt und nur im gekochten oder
gepökelten Zustande zum Genüsse für Menschen geeignet ist.
Zwischenhändler (Schlächter, Wurstmacher, Speise- und Gastwirthe)
sind von dem Erwerbe dieses Fleisches auszuschliessen.
Zu dem Gutachten wurde von einem Mitgliede der Deputation
bemerkt, dass er sich dem Gutachten nur unter der Voraussetzung
anschliesse, dass der Begriff der „mehrfinnigen“ Rinder genauer definirt
wird. „Mehrere Stellen“ erscheint ihm zu dehnbar, er würde glauben,
dass dafür eine bestimmte Zahl z. B. von „höchstens 5—6 Stellen“
gesetzt werden müsste.
Wir bemerken, dass zur Zeit im hygienischen Institute Versuche
darüber gemacht werden, ob die Finnen im Fleische, welches eine
bestimmte Zeit lang im Kühlhausc gehangen hat, zu Grunde gegangen
sind oder nicht. Sollte sich die Vermuthung bestätigen, dass die
Finnen unter den angegebenen Umständen absterben, so würde das
oben vorgeschlagene Verfahren bezüglich des Fleisches finniger Rinder
eine wesentliche Aenderung erfahren müssen.
Schliesslich erlauben wir uns noch hervorzuheben, dass eine Aende¬
rung in dem bisher beobachteten Verfahren mit dem Fleische finniger
Rinder auch noch aus folgenden Gründen nothwendig ist. Die grossen
Verluste, welche sich aus der Forderung der Zwangskochung des
Fleisches finniger Rinder ergeben, stellen zur Zeit ein wichtiges Hinder¬
niss für die Einführung einer obligatorischen Fleischschau im Allge¬
meinen und für die Untersuchung des Fleisches der Rinder auf die
Anwesenheit von Finnen im Besonderen dar. Eine Tilgung des aus
der Rindenfinne sich entwickelnden Bandwurmes ist aber nur dann
zu erwarten, wenn das Fleisch der geschlachteten Rinder überall auf
die Anwesenheit von Finnen untersucht wird.
Wie die Dinge jetzt liegen, indem in einer Anzahl von Städten
die bezügliche Untersuchung des Rindfleisches mit peinlichster Sorg¬
falt ausgeführt wird, in der Umgebung dieser Städte hingegen eine
solche Untersuchung garnicht stattfindet, ist an einen erfolgreichen
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
der wissenschaftlichen Deputation für das Medicinalwcsen.
123
Kampf gegen den aus der Rinderlinne sich entwickelnden Bandwurm
nicht zu denken.
Um die Zweckmässigkeit der bezüglich des Fleisches finniger
Rinder vorgeschlagenen Massregeln sicher beurtheilen und demnach
auch entscheiden zu können, ob diese Massregeln eine Abänderung
bedürfen oder nicht, dürfte das Vorkommen und die Verbreitung der
Finne bei Rindern durch neuere statistische Erhebungen festzustellen
sein. Diese Erhebungen könnten durch die Schlachthausthierärzte
stattfinden, welche ihre Beobachtungen beim Zerlegen finniger Rinder
den beamteten Thierärzten mitzutheilen hätten. Die beamteten Thier¬
ärzte ihrerseits könnten die Ergebnisse dieser Beobachtungen in ihren
amtlichen Berichten zusammenstellen. So würden die Ergebnisse zur
Kenntniss der technischen Deputation kommen.
Eure Excellenz bitten wir deshalb gehorsamst, die Schlachthaus¬
thierärzte anweisen zu lassen, ihre Befunde bei den Zerlegungen der
finnigen Rinder unter genauer Angabe der Finnensitze den beamteten
Thierärzten mitzutheilen und die beamteten Thierärzte zu veran¬
lassen, diese Beobachtungen in ihren amtlichen Berichten zusammen¬
zustellen.
Von einem Mitgliede wurde gegenüber dem Vorschläge der Mit¬
theilung an die beamteten Thierärzte bemerkt, dass diese Zwischen¬
instanz nicht nothwendig sei, dass jene Berichte vielmehr in die all¬
jährlich den Regierungen amtlich zuzustellenden Schlachthaustabellen
aufgenommen werden können, welche im Ministerium für Landwirth-
schaft pp. zu einer Generaltabelle seit mehreren Jahren zusammen¬
gestellt würden.
Königliche technische Deputation für das Veterinärwesen.
(Unterschrift.)
An den Königlichen Staatsminister und Minister für Landwirtschaft,
Domänen und Forsten, Herrn Freiherrn von Hammerstein, Ex-
cellenz.
2. Erstes Gutachten der wissenschaftlichen Deputation für das
Medicinalwesen vom 23. December 189G.
(Erster Referent: Virchow.)
(Zweiter Referent: Pistor.)
Eure Excellenz haben durch Erlasse vom 20. Octobor und vom
7. December d. J. uns eine grössere Anzahl amtlicher Schriftstücke
Digitized by
Gck gle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
124 Gutachten der technischen Deputation für das Veterinärwesen und
zur Aeusserung zugehen lassen, welche sich auf die Behandlung des
Fleisches finniger Rinder beziehen. Es sind dies folgende:
1. eine Beschwerde der vereinigten Viehcoramissionäre und Vieh¬
händler zu Berlin vom 31. Januar d. J.;
2. ein Schreiben des Senates der freien und Hansastadt Hamburg
vom 11. Juni d. J.;
3. ein Bericht des Königlichen Polizei-Präsidenten von Berlin
vom 6. October d. J.;
4. eine Beschwerde des Vorstandes der Rindvieh-Versicherungs-
Gesellschaft Drausen-Niederung vom 5. März d. J.;
5. ein Bericht des Königlichen Regierungs-Präsidenten zu Danzig
vom 6. September d. J.;
6. eine Beschwerde der Landschaftskammer für die Provinz
Sachsen vom 2. November d. J.;
7. ein Schreiben des Königlichen Ministers für Landwirthschaft,
Domänen und Forsten vom 29. November d. J., welchem
beigefügt ist
8. ein Gutachten der Königlichen Technischen Deputation für
das Veterinärwesen vom 20. November d. J.
Indem wir diese sämratlichen Aktenstücke beifolgend zurück-
reichen, erlauben wir uns nachstehend Folgendes ganz gehorsamst zu
äussern:
Sowohl die Beschwerde führenden Interessenten, als die ver¬
schiedenen Behörden und Beamten kommen darin überein, dass der
gegenwärtige Zustand der Beaufsichtigung des Fleischhandels mancherlei
Missstände mit sich bringt. Die Klagen richten sich hauptsächlich auf
die Bestimmung, dass Fleisch von Rindern, in welchen Finnen ge¬
funden worden sind, nicht ohne Weiteres dem freien Verkehr über¬
geben werden darf, und dass über die Behandlung desselben in
Deutschland sehr verschiedene Anordnungen getroffen sind. Diese
Verschiedenheit wird durch einige practische Beispiele nächgewiesen.
In Preussen sind bis jetzt die gleichen Massregeln in Betreff der
finnigen Schweine und der finnigen Rinder geltend gewesen. Diese
Massregeln, die durch unsere Gutachten vom 2. Februar 1876 und
vom 4. Januar 1893 begründet wurden, und die schon in der Cir¬
cularverfügung vom 16. Februar 1876 angeordnet worden sind, gehen
dahin, dass auch das Fleisch solcher Thiere, bei denen nur eine
Finne gefunden ist, nicht eher zur freien Verwendung gelangen soll,
als bis die Finnen durch Kochen des Fleisches getödtet sind. Da
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
der wissenschaftlichen Deputation für das Medicinalvvesen.
125
jedoch bis zum Jahre 1888 über die Rinderfinnen wenig bekannt war,
so blieb die practische Anwendung der gedachten Verordnung vor¬
läufig auf Schweine beschränkt. Seit 1888 häufen sich jedoch die
Funde von Rinderfinnen auf dem Schlachthofe, so dass z. B. auf dem
Berliner Centralschlachthofe bis 1895 allein 1902 Rinder als finnig
befunden wurden.
So erklärt es sich, dass erst seit 1893 Beschwerden der Inter¬
essenten laut wurden. Vorzugsweise geschah dies im Regierungsbezirk
Oppeln. Auf Grund unseres Gutachtens vom 4. Januar 1893 erfolgte
jedoch eine Zurückweisung der erhobenen Beschwerde, obgleich die
Königliche Regierung zu Oppeln Milderungen beantragt hatte. Die
späteren Beschwerden richten sich mehr oder weniger einerseits gegen
die Bestimmung, dass auch sogenannte einfinnige oder wenig¬
finnige Thiere derselben Beschränkung unterworfen sein sollen, wie
vielfinnige, andererseits gegen die Forderung, dass das Fleisch
solcher Thiere nur im gekochten Zustande dem freien Verkehr
überlassen werden sollen.
Anders verfuhr man im Königreich Sachsen, wo im vorigen Jahre
durch Ministerial-Verfügung gestattet wurde, dass das Fleisch einfin¬
niger oder nur an gewissen, vorzugsweise ausgesetzten Theilen des
Körpers mit Finnen behafteten Rinder im rohen Zustande in den
Verkehr gebracht werde. Das Ergebniss dieser Milderung ist uns nicht
bekannt.
Dagegen erfahren wir durch das Schreiben des Hamburger Se¬
nats vom 11. Juni d. J., dass bis zum letzten März die Uebung be¬
stand , dass von solchen Rindern, bei welchen nur im Kopfe eine
Finne, im übrigen Körper keine Finne gefunden wurde, nur der Kopf
beschlagnahmt, das übrige Fleisch aber dem freien Verkehr über¬
lassen wurde, nachdem es vom Staatsthierarzt untersucht und für
unverdächtig erklärt war, dass jedoch auf Grund einer, am 1. April
d. J. gemachten Erfahrung der Chef der Polizeibehörde die Anord¬
nung getroffen hat, dass auch solche Rinder, bei welchen nur im
Kopf eine Finne gefunden wird, unter persönlicher Aufsicht nach ge¬
höriger Zertheilung einzupökeln sind und dass das Fleisch derselben
erst dann dem freien Verkehr übergeben werden darf, wenn dasselbe
mindestens 3 Wochen in der Salzlösung sich befunden hat. In dem
Falle, der diese Verordnung veranlasst hat, war bei einem Ochsen
bei der ersten Untersuchung nur eine Finne im Kopfe aufgefunden
worden, bei der weiteren genaueren Untersuchung wurden in den
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSITÄT OF IOWA
126 Gutachten der technischen Deputation für das Veterinärwesen und
Brustmuskeln und in einem Hinterviertcl noch 4 lebende Finnen er¬
mittelt.
Nach dem Bericht des hiesigen Polizei-Präsidenten vom 6. Oc-
tober d. Js. sind durch die Berliner Fleischschau an schwachfinnigen
d. h. (nach der ersten Untersuchung) nur mit Finnen in den Kau¬
muskeln behafteten Rindern während des Zerkleinerns des Fleisches
seit dem Frühjahr in nahezu 100 Rindern auch in der übrigen Muscu-
latur Finnen festgestellt worden. Dabei wird zugleich erwähnt, dass
in einem Falle die Kaumuskeln, aber nicht die übrige Musculatur frei
von Finnen waren.
Diese Erfahrungen beweisen, wie sehr unsere Auffassung berech¬
tigt war, dass das Auffinden einer Finne genüge, um den Verdacht
zu begründen, dass mehrere Finnen in dem Körper vorhanden sein
möchten. Wir müssen daher auch jetzt, gegenüber den Beschwerde¬
führern darauf beharren, dass das Fleisch einfinniger Rinder nach
Entfernung der einen Finne dem freien Verkehr im rohen Zustande
nicht übergeben werden darf. Die Technische Deputation für das
Veterinärwesen hat in ihrem jetzt vorliegenden Gutachten die weitere
Concession angerathen, dass auch solches Fleisch freigegeben werden
könne, wenn nach Zerlegung des Fleisches in höchstens 2 x / 2 kg schwe¬
rer Stärke keine weiteren lebenden Finnen gefunden werden. Wir
müssen dagegen hervorheben, dass in jedem solchen Stücke noch
eine oder auch mehrere Finnen verborgen sein können, deren Bloss¬
legung nur von einer viel weitergehenden Zerkleinerung erwartet
werden darf.
Die Technische Deputation sucht die Grenze für die zu gewäh¬
rende Concession in der Zahl der aufgefundenen Finnen: sie will das
Fleisch von mehrfinnigen Rindern anders behandelt haben, als das
von einfinnigen. Abgesehen davon, dass der Begriff der Mehrfinnig-
keit erst dann eine gereiftere Form erhalten würde, wenn wenigstens
die zulässige Maximalzahl bestimmt würde, wie es z. B. früher im
Regierungsbezirk Oppeln zugelassen war, wo an einzelnen Orten die
Zahl 5 als Grenzzahl angenommen wurde — so ist durch die vorge¬
schlagene Untersuchungsmethode doch nie mit Sicherheit festzustellen,
ob nur eine Finne oder nur eine Minderzahl, z. B. 5, vorhanden sind.
Es darf nicht übersehen werden, dass selbst bei genauer Untersuchung
doch immer der Zufall entscheidet, ob das Messer genau auf die vor¬
handene Finne stösst oder ob dieselbe, vielleicht dicht neben der
Schnittfläche, verborgen bleibt. Es wird daher immer gefordert wer-
Digitized by
Gck gle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
der wissenschaftlichen Deputation für das Medicinalwesen.
1*27
den müssen, dass noch weitere Bürgschaften für die Unschädlichkeit
des Fleisches gesucht werden.
Eine solche Bürgschaft liegt in dem Kochen, wie allgemein zu¬
gestanden wird. Auch die Beschwerdeführer haben dagegen nur ein¬
zuwenden, dass der Werth des Fleisches durch das Kochen bedeutend
vermindert wird, ja dass das Fleisch häufig überhaupt nicht mehr
verkäuflich ist. Wir können die Berechtigung dieser Klage nicht in
Abrede stellen. Damit wollen wir jedoch nicht zugestchcn, dass jede
Art des Kochens die gleiche Entwerthung zur Folge haben müsse.
Die neueren Sterilisirungsapparate haben schon eine solche Vervoll¬
kommnung erreicht, dass die Hoffnung nicht ausgeschlossen ist, es
werde gelingen, durch derartige Apparate Fleisch zu sterilisiren, ohne
es ungenicssbar oder auch nur widerwillig geniessbar zu machen.
Unseres Erachtens sollten gerade in dieser Richtung, auch mit Rück¬
sicht auf das Fleisch tubereulöser Thiere, weitere Versuche angestellt
werden.
Immerhin wird einige Zeit dazu gehören, um solche Versuche
zum Abschlüsse zu bringen, und auch dann wird erst die allgemeine
Einführung derartiger Apparate herbeigeführt werden müssen. Inzwi¬
schen scheint es nur zulässig, in einer anderen Weise die Unschäd¬
lichmachung des Fleisches unter relativer Erhaltung seines Werthes
anzuordnen. Von verschiedenen Seiten und auch von einzelnen der
Beschwerdeführer ist auf das Einpökeln hingewiesen worden. Auch
das Gutachten der Technischen Deputation für das Vetcrinärwesen
schlägt dasselbe, jedoch nur für das mehrfinnige Rind, vor. Sie be¬
ruft sich dabei auf Versuche, die in dem hygienischen Institut der
hiesigen thierärztlichen Hochschule angestellt worden sind, wobei
Finnen selbst in 6 cm dicken Muskelmassen zu Grunde gingen, wenn
diese 14 Tage lang in einer 25 proc. Pökellake lagen. Dasselbe war
der Fall bei grösseren Flcischstücken, z. B. bei ganzen Schinken,
welche mit Salzlake eingespritzt und darauf 14 Tage lang in der
Lake gehalten waren.
Wir können daher, ohne das Kochverfahren zu verwerfen, nicht
umhin, die Methode des Einpökelns, welche in Hamburg vorgenommen
worden ist, für die weitere Ausbildung unserer Fleischschau zu em¬
pfehlen. Vielleicht wird damit einem grossen Theil der erhobenen
Klagen abgeholfen w'erden. Jedenfalls hat dieses Verfahren, zumal
wenn es facultativ neben dem Kochen zugclassen wird, den Vorzug,
dass es überall und ohne besondere Vorbereitungen ausgeführt werden
Digitized by
Gck gle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
128 Gutachten «ler technischen Deputation für das Veterinärwesen und
kann, und dass cs einen Hauptvorwurf, den man dem Kochen ge¬
macht hat, abhaltcn wird. Denn während durch Kochen des Fleisches
eine Gewichtsverminderung bis zu 50 pCt. eintreten kann, so beträgt
sie nach dem erwähnten Gutachten beim Pökeln nur 5—6 pCt. Auch
ist cs ein Vorzug dieser Methode, dass sie mit gleicher Berechtigung
auf cinfinnigcs und auf mehrfinniges Fleisch angewendet werden
kann, und dass dadurch alle Beschwerden über ungleiche Behand¬
lung der einzelnen Fälle vermieden werden. Sollte die Erfahrung
lehren, dass das Abtödten aller Finnen durch Pökeln mit Sicherheit
erreicht werden kann, so würde man sogar dem Gedanken näher
treten können, dieselbe Concession für alles finnige Fleisch zu machen.
Die technische Deputation für das Veterinärwesen, welche das
Pökeln nur für das mehrfinnige Fleisch anrät.h, macht .die weitere Be¬
schränkung, dass dasselbe nur in höchstens 2,5 kg schweren Stücken
und unter Angabe, dass es von einem finnigen Rinde herstammt zum
Genüsse für Menschen zugelassen werden soll, dass aber Zwischen¬
händler (Schlächter, Wurstmacher, Speise- und Gastwirthe) von dem
Erwerbe dieses Fleisches auszuschliessen sind. Wir erkennen an, dass
solche Vorsichtsmassregeln nicht zu tadeln sind; wir können sie sogar
insofern befürworten, als wir jede neue Bürgschaft für die Unschäd¬
lichkeit des Fleisches als einen Fortschritt begrüssen müssen. Wir
sind jedoch zweifelhaft, ob so weit gehende Beschränkungen auf dem
Wege blosser Polizeiverordnung durchgeführt werden können.
An sich kann es nicht zweifelhaft sein, dass die Reichsgesetz¬
gebung diese Materie ordnen müsste. Wenn es bis jetzt nicht ge¬
schehen ist und wenn wir auch jetzt Bedenken tragen, einen solchen
Schritt zu beantragen, so erklärt sich dies aus dem Umstande, dass
auch die Wissenschaft in dieser Richtung über das Stadium der Ver¬
suche und der weiteren Forschung noch nicht hinausgekommen ist.
Mit Recht wünscht die technische Deputation für das Veterinärwesen
eine systematische Sammlung aller einschlägigen Beobachtungen auf
den Schlachthöfcn; sie macht auch Vorschläge über die Art der Samm¬
lung. Wir schliessen uns diesem Wunsche an. Wird erst eine
sichere Statistik für die ganze Finnenfrage beschafft, so wird auch
für die spätere Gesetzgebung ein zuverlässiger Boden gewonnen sein.
Schliesslich bemerken wir noch, dass wir der Bemängelung der
früheren Bestimmungen in Bezug auf unvollkommen entwickelte und
auf verkalkte Finnen beitreten. Die letzteren sind zweifellos abge¬
storben und insofern ganz unschädlich. Was die ersteren anbetrifft,
Digitized by
Gck gle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
der wissenschaftlichen Deputation für das Medicinalwesen.
129
so sind wir nicht in der Lage, beurteilen zu können, was mit der
Bezeichnung „unvollkommen entwickelte“ Finnen gemeint ist. Jede
lebende Finne ist als gleichwertig zu betrachten. Es könnte sich
nur darum handeln, welche Merkmale für das Lebendigsein derselben
erforderlich werden sollen. Das Hauptmerkmal ist die spontane Be¬
wegung. Aber die Fleischbeschauer werden wahrscheinlich nicht oft
in der Lage sein, dieselbe zu sehen. Es wird daher ausreichen,
wenn durch sie festgestellt ist, dass die Finnen regelrecht ausgebildet
und ohne nennenswerte Abweichungen in ihrer Form und Structur
sind, und dass in ihrer Umgebung keine wesentlichen Veränderungen
des Gewebes stattgehabt haben. Der Ausdruck „unvollkommen ent¬
wickelt“ sollte aus der Verordnung entfernt werden.
Wir halten daher die von der technischen Deputation für das
Vetcrinärwcsen beantragten Erleichterungen für den Verkehr mit
Fleisch von finnigen Rindern im Interesse der menschlichen Gesund¬
heit für zur Zeit noch nicht zulässig und wünschen zunächst weitere
Erfahrungen in den angegebenen Richtungen.
Damit sind wir einverstanden, dass für sogenannte einfinnige
und (bis zu 5) mehrfinnige Rinder nach Zerlegung in 2 1 / 2 Kilo-Stücke
die Pökelung in 25 proc. Salzlake während 3 Wochen zugelasscn
werde.
Königliche Wissenschaftliche Deputation für das Medicinalwesen.
(Unterschriften.)
Seiner Exccllenz dem Staatsminister, Minister der geistlichen, Unter¬
richts- und Medicinal-Angelcgenhciten Herrn Dr. Bosse.
3. Zweites Gutachten der wissenschaftlichen Deputation für das
Medicinalwesen vom 12. Mai 1897.
(Erster Referent: Virchow.)
(Zweiter Referent: Pistor.)
Nachdem wir unter dem 23. December v. J. unser Gutachten
über die vorgeschlagenen Aenderungen der Anweisungen über die Be¬
handlung finnigen Rindfleisches erstattet und Ew. Excellenz unter dem
13. Januar, unter Mittheilung dieses Gutachtens dem Herrn Minister
für die landwirtschaftlichen Angelegenheiten, Domänen und Forsten
gegenüber sich bereit erklärt hatten, im Sinne dieses Gutachtens einen
Runderlass vorbereiten zu lassen, hat der genannte Herr Minister in
Vierteljahrsschr. f, ger. Med. Dritte Folge. X1Y. Suppi.-Heft. q
Digitized by
Gck gle
Original frorn
UNIVERSITÄT OF IOWA
130 Gutachten der technischen Deputation für das Veterinärwesen und
zwei uns gegenwärtig vorliegenden Schreiben vom 9. und 18. März
seine Auffassung dargelegt.
In dem ersten dieser Schreiben lässt er im Interesse der Be¬
schleunigung der Sache seine in einem Schreiben vom 22. Januar d. J.
geäusserten Bedenken gegen die von uns beantragte Begrenzung des
Begriffes „mehrfinniger“ Rinder fallen, nur dass er statt der Begren¬
zung auf 5 nachgewiesene lebende Finnen die Zahl 10 gesetzt wünscht.
Wir hatten die kleinere Zahl gewählt, weil sie in Schlesien schon
thatsächlich als Grundlage für das Urtheil gebraucht worden war; wir
können aber zugestchcn, dass ein wissenschaftlicher Grund nicht vor¬
handen ist, die Grenze für die Bezeichnung „schwachfinniger“ Rinder
gerade auf die Zahl 5 zu setzen. Freilich ergiebt sich aus einem uns
vorgelegten Berichte des hiesigen Polizei-Präsidenten vom 2. März d. J.
wiederum, dass von der Berliner städtischen Fleischschau in der Zeit
vom 1. April bis zum Schlüsse des Jahres 1896 schwachfinnig (im
bisherigen Sinne) 402 Rinder befunden sind und dass unter diesen 38
waren, bei denen ausser den Kaumuskeln noch andere Stellen Finnen
zeigten. In 9 Fällen fanden sich Finnen in grösserer Anzahl, so dass
auf jeder dritten bis zehnten Schnittfläche von Hand teil ergrösse eine
Finne ermittelt wurde. Ausser dem Herzen werden speciell die Hals-,
Schulter- und Rückcnmuskcln, sowie die Einwärtszieher der Hinter¬
schenkel erwähnt. Es wird jedoch ausdrücklich hervorgehoben, dass
bei der Ueborlastung des betreffenden Thierarztes das Auffinden einer
zweiten Finne meist dem Zufalle zuzuschreiben sei, und dass that¬
sächlich der Fall von dem Vorkommen mehrerer Finnen sich erheb¬
lich häufiger ereignen dürfte, als durch die Fleischschau festgestellt
worden ist. Daraus ergiebt sich unseres Erachtens, dass die Bestim¬
mung eines gewissen, wenn auch einigermassen willkürlichen Grenz-
werthes für die Anwendung des Wortes „schwachfinnig“ nicht zu ent¬
behren sein wird.
Eine weitere Differenz hat sich herausgestellt in Betreff der Be¬
handlung des mehrfinnigen Fleisches. Allerdings besteht, soweit wir
übersehen können, völlige Ucbercinstimmung in Betreff der Anwen¬
dung des Einpökelns. Auch besteht, wie wir aus einer Eingabe des
Breslauer Magistrats vom 8. Januar d. J. ersehen, in Königsberg i. Pr.,
Magdeburg, Hamburg, Lübeck und Leipzig schon gegenwärtig der Ge¬
brauch, den Verkauf von finnigem Rindfleisch nur noch in gepökeltem
Zustande auf der Freibank zuzulassen. Genauere Angaben darüber
liegen uns nicht vor.
Digitized by
Gck gle
Original frnm
UMIVERSITY OF IOWA
der wissenschaftlichen Deputation für das Medicinalwcsen.
131
Dagegen hat der Herr Minister der landwirtschaftlichen Angele¬
genheiten in seinem letzten Schreiben einen neuen Vorschlag gemacht
auf Grund eines Berichtes des Professor Ostertag über Versuche mit
länger aufgehängtem, sonst aber nicht behandeltem Fleisch. Dieser
Bericht, datirt vom 8. März d. J., ist uns jetzt mitgetheilt. Derselbe
geht darauf hinaus, „dass die Verwertung schwachfinnigen Rindfleisches
als menschlichen Nahrungsmittels auch dann zu gestatten sei, wenn
dasselbe 3 Wochen lang in einem Kiihlraura aufbewahrt worden ist“.
(Siehe Anlage S. 133 ff.)
Eine Durchsicht des Berichtes giebt uns die Ueberzeugung, dass
die experimentelle Untersuchung, welche Professor Ostertag in dem
hygienischen Institut der hiesigen Thierarzneischule ausgeführt hat,
mit grösster Umsicht und unter Berücksichtigung aller Umstände durch¬
geführt ist und, soweit sich ohne neue Nachprüfung beurtheilen lässt,
als erw’eisend angesehen werden kann. Es muss daher auch der
Schluss, welchen der sorgsame Beobachter zieht,
dass durch dreiwöchige Aufbewahrung finnigen Rindfleisches die
in demselben enthaltenen Finnen unschädlich gemacht werden,
für die weiteren Massrcgeln der Verwaltung zu Grunde gelegt werden.
Da das dreiwöchige Hängenlassen in Kühlhäusern dem Garkochen und
Durchpökeln des Fleisches als Abtödtungsmittel gleich zu erachten
sei, so schlägt er vor, die Verwerthung schwachfinnigen Rindfleisches
nicht nur in gekochtem und gepökeltem Zustande, sondern auch dann
zu gestatten, wenn es 3 Wochen lang in einem Kühlraum aufbewahrt
worden ist. Dagegen ist Professor Ostertag vorsichtig genug, zu
empfehlen, dass starkfinniges Rindfleisch, ebenso wie starkfinniges
Schweinefleisch, lediglich zur technischen Verwerthung zuzulassen sei.
Dementsprechend wünscht nunmehr der Herr Minister für die
landwirthschaftlichen Angelegenheiten, dass in den Entwurf der neuen
Vorschriften eine Bestimmung aufgenommen werde, nach welcher
schwachfinniges Rindfleisch als menschliches Nahrungsmittel benutzt
werden darf, wenn es 21 Tage in einem Kühlraum auf bewahrt wor¬
den ist. Er setzt voraus, dass eine solche Aufbewahrung unter poli¬
zeilicher Controle in allen mit Kühlvorrichtungen versehenen Schlacht¬
häusern leicht ausführbar sein werde, und er fügt hinzu, das Pökeln
des in Stücke von nicht mehr als 2y 2 kg zerlegten Fleisches werde
alsdann voraussichtlich nur in solchen Orten vorgenommen werden,
die keine öffentlichen Schlachthäuser mit Kühlräumen besitzen.
Wir treten dieser Auffassung im Allgemeinen bei, halten es jc-
9*
Digitized by
Gck gle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
132 Gutachten der technischen Deputation für das Veterinärwesen und
doch für nothvvendig, dass zugleich allgemeine Bestimmungen über
die Art der Einrichtung, insbesondere über das Raumbedürfniss der
Kühlräume getroffen werden. Dies wird auf Grund der Erfahrungen
an vorhandenen Räumen geschehen können, wie sie nicht bloss in
Schlachthäusern, sondern auch in anderen Anstalten, z. B. in Kranken¬
häusern im Gebrauche sind. Wir erinnern an die Einrichtungen im
hiesigen städtischen Baracken-Lazareth in Moabit. Nach den getrof¬
fenen Bestimmungen sind alsdann auch die vorhandenen Kühlräume
der Revision zu unterziehen. Denn es wird vor Allem darauf an-
koramen, dass das wochenlang aufbewahrte Fleisch vor Verderbniss
geschützt werde, damit nicht faulige Veränderungen an demselben
eintreten.
Zweifelhaft kann es erscheinen, ob sich diese Concession nur auf
schwachfinniges Fleisch erstrecken soll, wie Professor Ostertag vor¬
schlägt und wie auch der Herr Minister der landwirthschaftlichen An¬
gelegenheiten zu beabsichtigen scheint. Wir bemerken dabei, dass
Professor Ostertag nur zwischen schwach- und starkfinnigem Fleisch
unterscheidet, also das sogenannte mehrfinnige Fleisch wenigstens zum
Theil ausser Betracht lässt. Wenn die Grenze für das schwachfinnige
Fleisch erst bei dem Nachweis von 10 Finnen gesetzt wird, so wird
allerdings eine fühlbare Milderung eintreten, und es wird der weiteren
Erfahrung überlassen w T erden können, etwa noch grössere Nachlässe
eintreten zu lassen. Vorläufig halten w r ir es für geboten, in dieser
Richtung die bisherigen Verordnungen bestehen zu lassen.
Ebenso wird eine Aenderung in den Bestimmungen über das
Kochen und über das Einpökeln für diejenigen Fleischmassen, welche
nicht dem Verfahren in Kühlräumen unterzogen werden, nicht vorzu-
nchmen sein. Da nach dem Bericht des Breslauer Magistrats der
Werth des gepökelten Fleisches etwa 50—60 pCt. des Werthes vom
gesunden rohen Fleisch, der des gekochten nur 20—28 pCt. beträgt.,
so wird sich das Ein pökeln wohl mehr und mehr einbürgern. Aber
es werden doch immer noch Fälle übrig bleiben, wo an der Forde¬
rung des Kochens festgehaltcn werden muss. Jedenfalls sollte die zu
erlassende Bestimmung das Kochen ausdrücklich zulassen.
Königliche wissenschaftliche Deputation für das Medicinalwcsen.
(Unterschriften.)
Seiner Execllenz dem Staatsminister, Minister der geistlichen, Unter¬
richts- und Medicinal-Angelegenheiten Herrn Dr. Bosse.
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITÄT OF IOWA
der wissenschaftlichen Deputation für das Mediciuahvesen.
133
Anlage.
Bericht des Professor Dr. Ostertag über Versuche, das Ab¬
sterben der Rinderfinnen im ausgeschlachteten und in Kühl¬
räumen aufbewahrten Fleische betreffend.
Der italienische Forscher Perron cito hat bei Gelegenheit von
Untersuchungen über die Widerstandsfähigkeit der Rinderfinnen gegen
höhere Temperaturen im Jahre 1876 die Beobachtung gemacht, dass
bei einem Kalbe, welches künstlich mit Finnen inficirt worden war,
sämmtliche Parasiten 14 Tage nach der Schlachtung abgestorben
waren. Perroncito stellte den Tod der Finnen dadurch fest, dass
er dieselben auf ein Schulze’sches Wärmetischchen brachte und
mikroskopisch betrachtete. Abgestorbene Finnen bleiben hierbei nach
Erwärmung bis zu 40° C. regungslos, während entwicklungsfähige
Finnen sich lebhaft bewegen.
Diese Beobachtung musste Veranlassung zu Nachprüfungen geben,
denn sie bot die Aussicht, finniges Rindfleisch lediglich durch Auf¬
bewahrung in Kühlräumen unschädlich zu machen und an Stelle des
Kochzwanges ein anderes Verfahren treten zu lassen, welches eine
vortheilhaftere Verwerthung des Fleisches finniger Rinder ermöglicht.
Zu den Nachprüfungen standen mir kleinere finnige Stücke Rind¬
fleisch (Kaumuskeln, Zungen, Herzen) und drei starkfinnige Rinder¬
viertel zur Verfügung. Letztere waren dem hygienischen Institut ausser
zahlreichen kleineren Rindfleischstücken mit Finnen vom hiesigen
Centralschlachthofe zur Verfügung gestellt worden. Ausserdem er¬
hielt ich reichliches Material vom Schlachthofe zu Neisse, ferner von
den Schlachthöfen zu Kiel, Dresden, Danzig, Marienwerder und Lübeck.
Die finnigen Fleischstücke wurden während der Wintermonate in
einem ungeheizten und gut gelüfteten Fleischaufbcwahrungsraum,
während der übrigen Zeit dagegen in einem durch Chlorcalcium trocken
gehaltenen Eisschranke aufbewahrt. Kleinere Fleischstückc sind, um
das Austrocknen zu verhüten und möglichst natürliche Verhältnisse
herzustellen, nach sorgfältiger Abtragung der oberflächlichen Schichten
mittels steriler Messer in die Tiefe von Rindervierteln oder Schweine¬
schinken versenkt worden. Zur Feststellung des Bewegungsvermögens
der Finnen benutzte ich den von Nuttal construirten Mikroskop-
Thermostaten, in welchem sich die Untersuchungsobjecte stundenlang
auf einer beliebigen Temperatur erhalten lassen. Die Betrachtung der
Finnen geschah bei 40fachcr Vergrösscrung,* die Beobachtungsdauer
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
134 Gutachten der technischen Deputation für das Veterinärwesen und
war 2 Stunden. Während dieser Zeit wurde die Temperatur auf 30
bis 40° C. gebracht, weil sich hierbei entwicklungsfähige Finnen sehr
auffällig bewegen. War bei Finnen nach zweistündiger Beobachtungs¬
dauer Bewegung nicht gesehen worden, so wurde die Temperatur des
Thermostaten rasch auf 45° C., die Abtödtungstemperatur für Rinder-
finnen, gebracht. Denn es hatte sich herausgestellt, dass auf diese
Weise Bewegungserscheinungen auch noch bei solchen Finnen hervor¬
gerufen werden können, welche bereits im Absterben begriffen sind.
Zu den Untersuchungen konnten unentwickelte Finnen mit weniger
als 6 mm Länge und vollkommen ausgebildete mit einer Länge von
7—10 mm verwendet werden. Die mit den unentwickelten Finnen
angestellten Versuche sollen hier, weil ohne praktisches Interesse,
nicht weiter berücksichtigt werden. Es sei nur bemerkt, dass die
unentwickelten, einem künstlich infieirten Kalbe exstirpirten Finnen
schon nach einer Aufbewahrung von 8, längstens 14 Tagen ganz
regelmässig todt gefunden wurden.
Das Erwärmungsverfahren wurde zu den Untersuchungen ge¬
wählt, weil es die zuverlässigste Schnellmethode zum Nachweis des
Finnentodes ist und viel genauere Resultate giebt als z. B. das Färbe¬
verfahren.
Das Ergebniss meiner Versuche, welche ich mit Unterstützung
des Assistenten und eines Volontärassistenten des hygienischen In¬
stituts angcstellt habe,' war bei vollständig ausgcbildeten Finnen fol¬
gendes:
1. Rinderfinnen, welche 14 Tage lang unter den angegebenen
Vorsichtsmassrcgeln aufbewahrt worden waren, zeigten bei der Er¬
wärmung ein sehr verschiedenes Verhalten. Untersucht wurden im
ganzen 41 Finnen aus 10 verschiedenen Thieren, und zwar:
5 einzelne Finnen von 5 verschiedenen Rindern,
2 Finnen von einem Rinde,
4
* n n n n
4
* n ” 7) n
^ v n n ri
n r> ” v
Hiervon Hessen noch 23 deutliche Bewegungen erkennen, 0 Finnen
bewegten die Saugnäpfe, 14 den Kopf im ganzen und den Hals,
18 Finnen blieben regungslos.
2. 15 Tage nach der Schlachtung.
Untersucht wurden 12 Finnen aus 2 verschiedenen Rindern:
Digitized by
Go^ 'gle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
der wissenschaftlichen Deputation für das Medicinalwosen.
135
1 Firme aus einem cingesandtcn Kaumuskel,
11 Finnen aus der Tiefe eines ganzen Viertels.
Von den 12 untersuchten Finnen zeigten
2 Bewegung der Saugnäpfe und des Kopfes,
6 lebhafte Halsbewegungen,
4 nichts.
Hervorzuheben ist, dass die Bewegungen bei den erstgenannten
8 Finnen erst nach y 4 ständiger Beobachtung wahrgenommen wurden,
während dieselben bei frischen Finnen schon nach 5 Minuten sinn¬
fällig werden.
3. 17 Tage nach der Schlachtung.
Untersucht wurden 10 Finnen aus 3 verschiedenen Thieren,
2 aus eingesandten Kaumuskeln von 2 Hindern,
8 aus der Tiefe eines Viertels.
Von den 10 Finnen zeigten:
1 nach y 4 ständiger Beobachtung wiegende Bewegungen mit
dem Kopfe und deutliches allmäliges Hervortreten der
Saugnäpfc,
2 nach : / 2 ständiger Beobachtung ganz schwache Zuckungen
des Halses und Kopfes,
7 nichts.
4. 18 Tage nach der Schlachtung.
Untersucht wurden 12 Finnen aus der Tiefe eines Viertels. Von
diesen zeigten:
fi deutliche Halsbewegungen und ganz allmäligc Rundung der
zuerst halbmondförmigen Saugnäpfe; Zusammenziehung und
Ausstälpung der Saugnäpfe ist nicht beobachtet worden,
6 blieben regungslos.
Sämmtliche untersuchten Finnen waren im Gegensatz zu frischen sehr
leicht ausstälpbar.
5. 19 Tage nach der Schlachtung.
Untersucht wurden 29 Finnen von 6 verschiedenen Thieren:
3 einzelne aus eingesandten Kaumuskeln,
4 Finnen aus einem cingesandtcn Herz,
3
4
15
I
aus ganzen Vierteln,
Rinde angehörten.
wovon zwei einem und demselben
Bei allen 19tägigen Finnen fiel auf, dass die Schwanzblasenflässigkeit
fast völlig geschwunden war und dass die sehr leicht ausstälpbaren
Digitized by
Gck gle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
136 Gutachten der technischen Deputation für das Veterinärwesen und
Finnen durchweg trüb und nicht wie frischere Finnen durchsichtig oder
durchscheinend waren.
Von den 29 Finnen zeigten
12 ganz schwache, leise wiegende Halsbewegungen ohne jeg¬
liche Veränderung der Saugnäpfe oder des Kopfes,
17 nichts.
6. 20 Tage nach der Schlachtung.
Untersucht wurden 68 Finnen von 9 Thieren, und zwar:
5 einzelne aus eingesandten Kaumuskeln verschiedener Thiere,
4 aus Kaumuskeln und Herz eines Rindes,
10 aus Kaumuskeln und Herz eines Rindes,
5 aus Kaumuskeln eines weiteren Rindes,
161
jaus 2 Vierteln eines und desselben Rindes.
Von den 68 untersuchten Finnen zeigten
13 schwache Halsbewegungen,
55 nichts.
Bei sämmtlichen hier fraglichen Finnen war der Kopf vollkommen
trübe. Die 13 Finnen, welche noch eine schwache Bewegung des
Halses wahrnehmen Hessen, entstammten den oben erwähnten Vierteln
desselben Rindes. Die Halsbewegungen traten zwar erst nach lstün-
diger Beobachtungsdauer auf und waren recht schwach, sprachen aber
doch zweifellos dafür, dass die 13 Finnen noch nicht völlig todt waren.
Bei der absoluten Regungslosigkeit des Kopfes und insbesondere der
Saugnäpfe musste indessen angenommen werden, dass auch diese
Finnen bereite ihre weitere Entwicklungsfähigkeit eingebüsst hatten.
Denn wenn der Kopf der Finnen nicht mehr lebt, muss er beim
Durchgang durch den Magen verdaut werden, ganz abgesehen davon,
dass er nicht mehr im Stande wäre, sich an der Darmschleimhaut
des neuen Wirthes festzusaugen.
Diese Vermuthung wurde durch Verdauungs- und Infectionsver-
suche bestätigt. Was zunächst die Verdauungs versuche anbelangt,
so wurden dieselben nach den Angaben des Physiologen hiesiger
Hochschule, Prof. Dr. Munk, mittels eines Salzsäure-Pepsin-Ge-
misches im Brütofen vorgenommen. Bei den Versuchen ergab sich,
dass die 11 Finnen, welche noch schwache Halsbewegungen gezeigt
hatten, im Verlauf einer Stunde ebenso verdaut wurden wie 17 andere
Finnen, die auf die Erwärmung im Thermostaten nicht reagirt hatten.
Von den Finnen waren nach 1 ständiger Dauer der Verdauungsver-
Digitized
bv Google
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
der wissenschaftlichen Deputation für das Medicinalwesen.
137
suche nur noch die Hälse und Reste der Schwanzblascn bemerkbar.
Die Saugnäpfe lagen alle frei in der Verdauungsflüssigkeit und waren
mehr oder weniger angedaut.
Bei Vornahme der Verdauungsversuche in dem auf 37 °C. ein¬
gestellten Thermostaten konnte man verfolgen, wie die Conturen des
Kopfes der Finnen schon nach 10—20 Minuten durch Verdauung des
Kopfgewebes unregelmässig und die Saugnäpfe von der Nachbarschaft
freigedaut wurden. Die Saugnäpfe hingen nach 30 Minuten nur noch
mit einer schmalen Randpartie an dem übrig gebliebenen Kopfgewebe
und konnten durch Umrühren des Verdauungsbreies und selbst durch
Hineinträufeln einiger Tropfen Flüssigkeit von dem Kopfe losgelöst
werden. Mit der Loslösung der Saugnäpfe ging auch eine Auflösung
der im Halse angehäuften Kalkkörperchen einher.
Bemerkt sei, dass nicht nur die zum Zwecke der Beobachtung
künstlich ausgestülpten, sondern auch nicht ausgestülpten 20 Tage
alten Rinderfinnen nach 1 Stunde derart verdaut wurden, dass sich die
Saugnäpfe leicht loslösten.
Frische Schweinefinnen, welche zu Controlversuchen verwendet
wurden, zeigten unausgestülpt selbst nach 1 x / 2 ständigem Verweilen
im Brutofen und weiterem 6 ständigen Stehen bei Zimmertemperatur
keine Verdauungserscheinungen am Kopfe oder Halse. Die Saug¬
näpfe erwiesen sich nach dem l l / 2 ständigen Verdauungs versuch noch
als völlig durchsichtig und scharf conturirt und die Hälfte noch ge¬
füllt mit Kalkkörperchen wie bei unversehrten Finnen.
Somit dürfte erwiesen sein, dass sämmtliche untersuchten 20 Tage
alten Finnen, auch diejenigen, welche noch geringfügige Halsbewe¬
gungen aufgewiesen hatten, entwicklungsunfähig waren.
7. 21. Tage nach der Schlachtung.
Zur Untersuchung gelangten 71 Finnen von 9 verschiedenen Rin¬
dern, nämlich:
2 einzelne Finnen von 2 verschiedenen Rindern
einem Rinde
- ” v v v n f in kleineren Muskel-
O r- ” ” • V ” ” f stücken.
2 linnen von einem Rinde l
& i
u n v v v )
4 „ aus der Tiefe eines Viertels,
37 „ „ „ „ zweier Viertel eines und desselben
Rindes.
Digitized
bv Google
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
138 Gutachten der technischen Deputation für das Veterinärwesen und
Von diesen 71 Finnen zeigten:
8 ganz minimale Bewegungen bezw. Zuckungen des Halses,
63 nichts.
Bei sämmtlichen Finnen war die Schwanzblase leicht zcrreisslieh,
die Köpfe waren nach dem Ausstülpen trübe und schlecht conturirt,
ausserdem hatten die Finnen eine abnorme klebrige Beschaffenheit.
Auch bei diesen Finnen ergab der Verdauungsversuch ausnahms¬
los eine prompte Verdauung der Köpfe.
Aus den 2 Vierteln des zu obigen Versuchen mitbenutzten stark-
finnigen Rindes konnten noch bis zum 34. Tage vor Austrocknung
geschützte Finnen entnommen und untersucht werden. Es ergab sich,
dass noch schwache zuckende Halsbewcgungcn zeigten:
am 22. Tage von 10 untersuchten Finnen 2
r> 23. „ „ 9 „ n 2
„ 24. „ „ 16 „ „ 2
v 25. „ „ 6 t) n 0
7, 26. „ „ 8 B „0
71 27. ?7 71 10 71 n 0
71 28. 71 71 3 71 „0
77 29. 11 71 5 71 71 0
71 30. „ „ 8 „ „0
77 34 . 71 71 4 71 71 0
Weiteres Material für Thermostatversuche stand mir im Laufe des
Jahres nicht zur Verfügung, nachdem der Versuch, ein Kalb finnig
zu machen, fehlgeschlagen war. Das fragliche Kalb hatte 12 Pro-
glottiden einer Taenia saginata erhalten, und es waren hierauf auch,
wie durch regelmässige Exstirpationen festgestellt wurde, anfänglich
Finnen zur Entwicklung gekommen. Von der 12. Woche an konnten
aber Finnen nicht mehr nachgewiesen werden, und bei der 10 Monate
nach der Fütterung mit Bandwurmbrut vorgenommenen Schlachtung
erwies sich das Kalb als völlig linnenfrei. Es waren nur noch kleine
bindegewebige Schwielen als Ueberbleibsel der Finnen in der Muscu-
latur vorhanden.
Durch das zufällige Vorkommen einiger stark finniger Rinder
auf dem hiesigen Centralschlachthofe bin ich aber mit soviel Material
versehen worden, dass sowohl den Thermostatversuchen wie den
weiter angestellten Infectionsversuchcn ein beweisendes Ergebniss zu¬
kommen dürfte.
Aus den Thermostatversuchen mit einer grossen Anzahl voll-
Digitized by
Gck gle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
der wissenschaftlichen Deputation für das Medicinalwesen.
139
ständig aiisgebildeter Rinderfinnen verschiedener Herkunft muss ge¬
schlossen werden, dass die Rinderfinnen spätestens vom 20. Tage
nach der Schlachtung an ihre Weiterentwicklungsfähigkeit verloren
haben.
Diese Schlussfolgerung findet ihre volle Bestätigung durch den
Ausfall von Infectionsversuchen, welche von mir selbst und auf
meine Veranlassung hier von 33 anderen Personen mit Finnen aus 20 bis
21 Tage altem Fleische angestellt worden sind. Ueber die Einzel¬
heiten der infectionsversuche giebt die beiliegende Tabelle Aufschluss.
Zu derselben ist nur zu bemerken, dass sich die Versuchsansteller
vor Beginn der Versuche durch Kamala (5,0) darauf prüften, ob sic
vielleicht zufällig einen Bandwurm beherbergten, dass sie sich ferner
verpflichteten, während der Versuchsdauer weder rohes noch halb¬
gares Rindfleisch zu essen. Die zu den Versuchen verwendeten Finnen
wurden in Fleisch eingehüllt und nach einer kleinen Vormahlzeit möglichst
ohne Kauen abgeschluckt. Die 74 Finnen der Versuche unter lfd. No. 27
sind mit Wasser abgeschluckt worden. Nach 1—4 Monaten haben
sämmtliche an den Versuchen betheiligten Personen eine vorschrifts-
mässige Bandwurmcur eingcleitet. Ursprünglich war beabsichtigt ge¬
wiesen, als Bandw'urmmittel Extract. filic. mar. zu verwenden. Seine
Anwendung stiess aber auf Schwierigkeiten, nachdem das Mittel bei
einigen Versuchsanstcllern drastisch gewirkt hatte. An Stelle des
Extract. filic. mar. wurde von dem grössten Theil der Herren Kamala
genommen, welches stets eine sehr starke Diarrhoe hervorrief. Um
über die Versuchsergebnisse aber vollkommene Sicherheit zu erlangen,
wurden dieselben als abgeschlossen erst betrachtet, als sich 12 Wochen
* nach dem letzten Finnenessen bei keinem der Versuehsthcilnehmer
Abgang von Proglottiden gezeigt hatte.
Uebersicht über die Infectionsversuche mit Finnen.
o
d
2
Name
der
Vcrsuchs-
ansteller
Finnen
gegessen
am
Zahl der
genossenen
Finnen
Tage nach d.
Schlachtung
des Thieres
Herkunft
und
Fundstelle
Band¬
wurmkur
cingeleitet
am
Erfolg der
Kur
Abgang von
Proglottiden
bis zum
1. März 1897
1
N., Assi¬
14. 2. 96
2
16
Berlin, Kau¬
26. 7. 96
0
0
stent.
muskeln.
(Filic. mar.
12,0).
2
0., Profes¬
13. 3. 96
2
20
do.
1. 7. 96
0
0
sor.
(Kamala
5,0).
Digitized by Go ugle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
140 Gutachten der technischen Deputation für das Veterinärwesen und
Digitized by
6
53
rö
Vm
Name
der
Versuchs-
ansteller
Finnen
gegessen
am
Zahl der
genossenen
Finnen
Tage nach d.
Schlachtung
des Thieres
Herkunft
und
Fundstelle
Band¬
wurmkur
eingelcitet
am
Erfolg der
Kur
Abgang von
Proglottiden
bis zum
1. März 1897
3
Derselbe.
18. 3. 96
5
20
Neisse, Kau-
1. 7. 96
0
0
muskeln.
(Kamala
5,0).
4
E., cand.
20. 5. 96
4
21
Lübeck,
8. 8. 96
0
0
med. vet.
1
Herz.
(Filic.mar.
10.0).
5
Bi., cand.
do.
4
21
do.
do.
0
0
med. vet.
!
6
K., Thier-
18. 7. 96
1
19
Neisse, Kau-
7. 12. 96
0
0
arzt
muskeln.
(Kamala
6,0).
7
La., cand.
22. 7. 96
5
21
Berlin, Kopf-
25. 9. 96
0
0
med. vet.
muskeln.
(Kamala
5,0).
8
Le., cand.
do.
5
21
do.
do.
0
0
med. vet.
9
Schw.,
25. 7. 96
5
21
Neisse, Kopf-
10. 9. 96
0
0
cand.incd.
muskeln.
(Kamala
vet.
5,0).
10
U., cand.
do.
5
21
do.
10. 10. 96
0
0
med. vet.
(Kamala
5,0).
11
R., cand.
do.
5
21
do.
10. 9. 96
0
0
med. vet.
(Filic. mar.
12,0).
12
M.
do.
0
21
do.
10. 9. 96
0
0
(Kamala
5,0).
13
0.
do.
7
21
do.
s. u. No. 20!
0
0
14
Br., Volon-
7. S. 9G
3
20
Neisse, Kau¬
28. 11. 96
0
0
tiirassist.
muskeln.
(Filic. mar.
10,0).
15
Bii., cand.
15. 8. 90
6
21
Berlin, Kopf¬
30. 9. 96
0
0
raed. vet.
muskeln.
(Filic. mar.
i
15,0).
IG
Wi., cand.
do.
6
21
do.
do.
0
0
med. vet.
17
Ke., cand.
do.
6
21
do.
30. 9. 96
0
0
med. vet.
(Kamala
5,0).
18
Z., cand.
do.
6
21
do.
do.
0
0
med. vet.
19
W., cand.
do.
6
21
do.
do.
0
0
med. vet.
20
0.
do.
6
21
do.
20. 10. 96
0
0
(Filic.mar.
12,0).
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
der wissenschaftlichen Deputation für das Mcdicinahvesen.
141
d
d
S
•J
Name
der
Versuchs-
ansteller
Finnen
gegessen
am
Zahl der
genossenen
Finnen
Tage nach d.
Schlachtung
des Thieres
Herkunft
und
Fundstelle
Erfolg der
Kur
Abgang von
Proglottiden
bis zum
1. März 1897
21
01., Repe-
4. 9. 96
6
20
Neisse, Herz
20. 10. 96
0
0
titor.
und Kau-
(Kamala
muskcln.
4,0).
22
Scho.,
do.
6
20
do.
16. 10. 96
0
0
cand.mcd.
(Kamala
vet.
5,0;.
23
W., cand.
1. 11. 96
6
20
Berlin, Kopf-
12. 12. 96
0
0
med. vet.
muskelD.
(Kamala
5,0).
24
Bii., cand.
do.
6
20
do.
do.
0
0
med. vet.
25
Wi., cand.
do.
6
20
do.
do.
0
0
med. vet.
26
0.
do.
12
20
do.
28. 12. 96
0
0
(Filic. mar.
i
12,0).
27
Re., städt.
25. 11. 96
74
21
Berlin, Vor¬
13.—19. 1.
0
0
Oberthier-
der- u. Hin¬
97 (Kam.
arzt mit 14 Beamten
der städtisch.
tervierte l.
5,0).
Fleischschau.
28
0.
do.
10
21
do.
1. 2. 97
0
0
(Filic. mar.
12,0).
Boi keinem der an den Infectionsvcrsuchen betheiligten Herren
ist cs zur Entwicklung einer Tänic gekommen. Dass dies nicht etwa
eine Folge der künstlichen Einverleibungsart, sondern lediglich der
Entwickelungsunfähigkeit der verzehrten Finnen war, ist durch den
positiven Ausfall von Versuchen bewiesen, welche in gleicher Weise
mit 9 und 15 Tage alten Finnen von den Sehlachthofthierärzten
Zsch. in Dresden, Gl. und K. in Hannover angestellt worden sind.
Bei den diesseits vorgenommenen Versuchen sind verzehrt worden
16 Tage alte Finnen 2 Stück von 1 Herrn
19 1 1
A ^ n fl n A n A n
^0 „ „ „ 52 n „9„
21 „ * „ 166 „ „ 31 „
Das negative Ergebniss dieser 42 Versuche stimmt sowohl mit dem
Resultat der anderweitig unternommenen Versuche, als auch mit dem
Ausfall der Thermostatversuche gut überein.
Mein Schüler Gl. hat während seiner Thätigkeit auf dem Schlacht¬
hofe zu Magdeburg 1 Finne aus 16 Tage altem Fleische verzehrt,
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
142 Gutaclit. d. techn. Deput. f. d. Vet.- u. d. wissenschaftl.Deput. f. d. Med.-Wes.
ohne dass sich infolgedessen ein Bandwurm entwickelt hätte. Gl.
wiederholte später auf dem Schlachthofe zu Hannover zusammen mit
dem Schlachthofthierarzt K. den Versuch mit je 3 Finnen aus 15 Tage
altem Fleische. Diesmal bildeten sich bei beiden Herren mehrere
Bandwürmer aus. Gl. beseitigte durch die nach Beendigung des Ver¬
suchs vorgenommene Bandwurmcur 2, K. 3 Exemplare von Taenia
saginata, welche aus der Rinderfinnc hervorgeht. Zsch. in Dresden
ass am 18. September 1895 4 Finnen (5—6 mm lang) und konnte
bereits am 27. October 1895 4 Bandwürmer von 150 cm Gesammt-
länge entfernen. Als Zsch. später 5 Finnen, welche beim Zerlegen
des 14—16 Tage alten Fleisches von 5 verschiedenen Rindern ge¬
funden wurden, zu sich nahm, ergab die 87 Tage nach Aufnahme
der ersten bezw. 59 Tage nach Aufnahme der letzten Finne einge¬
leitete Bandwurmcur die Anwesenheit eines Bandwurms von 230 cm
Länge. Endlich hat Zsch. auch 5 Finnen aus 21 Tage altem Fleisch
genossen, ohne dass sich hiernach ein Bandwurm entwickelt hätte.
Durch das völlig übereinstimmende Ergebniss der mit 322 Finnen
verschiedener Herkunft angestellten Thermostatversuche und der mit
221 vollkommen ausgebildeten Finnen vorgenommenen Infectionsver-
suche dürfte der Beweis erbracht sein,
dass durch 3 wöchige Aufbewahrung finnigen Rind¬
fleisches die in demselben enthaltenen Finnen un¬
schädlich gemacht werden.
Das 3 wöchige Hängenlassen, welches zur Verhütung einer Zersetzung
des Fleisches in Kühlhäusern zu geschehen hat, ist somit dem Gar¬
kochen und Durchpökeln des Fleisches als Abtödtungsmittel der
Finnen gleich zu erachten. Da die Durchpökelung, namentlich aber
die Garkochung den Absatz des finnigen Rindfleisches erheblich er¬
schwert, so dürfte es angezeigt sein, die Verwerthung schwachfinnigen
Rindfleisches nicht nur im gekochten und gepökelten Zustande, son¬
dern auch dann zu gestatten, wenn es 3 Wochen lang in einem Kühl¬
raum aufbewahrt worden ist.
Starkfinniges Rindfleisch dürfte ebenso wie das starkfinnige
Schweinefleisch lediglich zur technischen Verwerthung zuzulassen sein 1 ).
Berlin, den 8. März 1897.
1) Bemerkung zu der Aeusserung der Technischen Deputation für das
Veterinärwesen, betreffend die obligatorische Fleischschau, siche am Schluss des
Heftes.
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
Die Ueberwacliung des Fleischliandels auf dem Lande
und in kleinen Städten und die dazu erforderlichen
Einrichtungen und Anordnungen vom sanitäts¬
polizeilichen Standpunkte aus.
Von
Dr. Möhlfeld, pract. Arzt in St. Hülfe (Hannover).
Wie die Speisegesetze der Egypter und Juden beweisen, wusste
man schon in alten Zeiten, von welch’ ausserordentlicher Bedeutung
für den Gesundheitszustand eines Volkes die Art der Fleischversor¬
gung ist. Es steht fest, dass aus der Fleischnahrung dem Menschen
grosse Gefahren drohen, indem Krankheiten der Schlachtthiere auf
denselben übertragen werden können. Es braucht hier nur an die
Trichinosis erinnert zu werden, welche oft mehrere Hundert Personen
aufs Krankenlager geworfen und viele auch zum Tode geführt hat,
ferner an die bei der Häufigkeit der Tuberculose unter den Schlacht-
thieren grosse Gefahr der Uebertragung auf den Menschen durch Ge¬
nuss stärker tuberculösen Fleisches. Die Frage, wie man solchen
Gefahren für die menschliche Gesundheit am wirksamsten entgegen¬
tritt, wird durch die allgemeine Durchführung einer obligatorischen
Fleischschau, sowie durch die Errichtung öffentlicher Schlachthäuser
mit allgemeinem Schlachtzwange in einer den Anforderungen der
öffentlichen Gesundheitspflege genügenden Weise gelöst. Dieses ist
bis jetzt in Preussen und mehreren anderen Staaten jedoch haupt¬
sächlich nur in den grösseren Städten erreicht, während die Ueber-
wachung des Flcischhandels auf dem Lande und in kleinen Städten
noch grösstcntheils sehr im Argen liegt. x\uf keinem Gebiete der
Nahrungsmittelpolizei bestehen grössere Ungleichheiten als hier. Wäh¬
rend in den Schlachthäusern der Städte in der Regel nur Thiere ge-
Digitized by
Gck gle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
144
I)r. Möh lfeld,
schlachtet werden, welche vor dem Schlachten Krankheitssymptome
nicht gezeigt haben und das Fleisch kranker Thiere wegen seines ge¬
sundheitsschädlichen oder verdorbenen Zustandes massenhaft confiscirt
und vom freiem Verkehr ausgeschlossen wird, werden auf dem Lande
und in kleinen Ortschaften jahraus jahrein viele Nothschlachtungcn
vorgenommen und findet das Fleisch kranker Thiere ungestört seinen
Weg zum menschlichen Consum. Denn es wird wohl nicht so leicht
ein Händler oder Schlächter ein Stück krankes Vieh zum Besten des
Publikums opfern, da er dasselbe ja ohne alle Mühe und Risico ver¬
werten kann. Nun wird aber auch gerade auf dem Lande weit
mehr minderwertiges Vieh geschlachtet, als in grösseren Städten,
denn der Absatz von schlechterem, namentlich verdächtigem Vieh ist
den Viehhändlern und Schlächtern in den Schlachthäusern der Städte
erschwert oder gar unmöglich gemacht, infolgedessen sie es auf dem
Lande zu verwerten suchen. „Die kleinen Städte und Flecken“, so
berichtet der Kreiswundarzt des Kreises Herford 1 ) aus den Jahren
1886—1888, „befinden sich bei der Anlage von öffentlichen Schlacht¬
häusern in den grösseren Städten in einer unglücklichen Lage. Natür¬
lich meiden Viehhändler und Bauern die grossen Städte wegen der
Schlachthauscontrole und wird infolgedessen nach den kleinen Städten
jetzt alles verdächtige Vieh abgeschoben. Früh Morgens oder bei
eingetretener Dunkelheit wird das Vieh in die letzteren gebracht und
finden sich stets gewissenlose Schlächter als Abnehmer.“ Fast in
gleicher Weise berichtet der Kreisphysikus des Kreises Halle 2 ) im
Regierungsbezirk Minden: „Es unterliegt keinem Zweifel, dass viel
minderwerthiges Vieh verkauft wird: Nach den bei dem hiesigen Ab¬
decker eingezogenen Erkundigungen ist der Zugang von gefallenem
beziehungsweise nothgeschlachtetem Rindvieh in den letzten Jahren
immer geringer geworden und gehört gegenwärtig zu den seltenen
Vorkommnissen. Als Grund giebt der Abdecker an, dass er die
Preise nicht anlegen könne für die Waare, welcher kurz vor oder
nach dem Absterben der Hals abgeschnitten werde, weil von den
Handelsleuten höhere Preise geboten würden.“ Schon hieraus geht
hervor, dass eine polizeiliche Aufsicht über den Fleischverkauf in
kleinen Städten und auf dem Lande, wo nur irgend ein Schlächter
1) Generalbericht über das öffentliche Gesundheitswesen im Regierungsbe¬
zirk Minden. 188(>—1888. S. 130.
2) 1. c.
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
reherwachung des KleisuhhanHels auf Hem LauHe und in kleinen Städten. 145
oder Flcischverkäufer sieh aufhält, ebenso nothwendig ist, als in den
grösseren Städten.
Was für Anordnungen sind bis jetzt auf dem Lande und in
kleinen Städten zur Ueberwachung des Fleischhandels getroffen?
Trichinenschau.
Fragen wir uns nun, was in dieser Beziehung bis jetzt für Schutz-
massregcln getroffen sind. Im nördlichen Deutschland ist es eigent¬
lich nur der Handel mit Schweinefleisch, der insoweit überwacht wird,
als eine Untersuchung auf Trichinen jetzt fast allgemein eingeführt
ist. Zahlreiche verheerende Trichinenepidemien, welche besonders in
den Gegenden Norddcutschlands auftraten, wo es Brauch ist, rohes
Schweinefleisch zu essen, haben allgemein die Aufmerksamkeit auf diese
mit dem Genuss von Schweinefleisch verbundene Gefahr gelenkt. Die
Folge hiervon war, dass auf einen Ministerial-Erlass vom 4. Januar
1872 allmälig in den meisten Regierungsbezirken Preusscns und vielen
anderen Staaten Polizeiverordnungen erlassen wurden, welche die
obligatorische Untersuchung des Schweinefleisches auf Trichinen ein¬
führten. Dass durch eine obligatorische Trichinenschau die meisten
Erkrankungen an Trichinosis sich verhüten lassen, lässt sich nicht
ableugnen. Allerdings ist ihre Durchführung eine sehr kostspielige
Massrcgel. Im Regierungsbezirk Posen 1 ), wo die Trichinenschau nicht
einmal allgemein durchgeführt ist, werden für dieselben jährlich schon
mehr als 150000 M. ausgegeben. Im Regierungsbezirk Düsseldorf 2 )
würden bei einer allgemeinen Durchführung der Trichinenschau nach
der Berechnung des Regierungs- und Medicinalraths Dr. Weiss jähr¬
lich 19000 M. zur Ermittelung eines trichinösen Schweines erforder¬
lich sein. Diese Summen dürften jedoch um so weniger von der all¬
gemeinen Einführung der Trichinenschau abhalten, als sic sich auf
eine grosse Zahl von Einwohnern im Regierungsbezirk verthcilen
und letztere an Gesundheit und Leben geschützt werden. Was
für Unglück schon durch die Entdeckung eines trichinösen Schweines
verhütet werden kann, kann man besonders noch aus der That-
sachc entnehmen, dass im Jahre 1865 in Hedersleben durch ein
1) G.-B. ii. d. ö. Gesundheitswesen im Regierungsbezirk Posen. 1881)—91.
S. 123.
2) G.-B. ii. d. ö. Gesundheitswesen im Regierungsbezirk Düsseldorf. 1886
bis 1888. S. 153.
Viertoljahrssclir. f. ger. Med. Dritte Folge. XIV. .Suppl.-Heft.
Digitized by Gougle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Dr. M ö li 1 l‘e I <1,
146
einziges 'Schwein 337 Erkrankungen mit 101 Todesfällen und 1874
in Linden 497 Erkrankungen mit 65 Todesfällen verursacht sind 1 ).
Nebenbei werden durch die Trichinenschau auch noch nahezu Tau¬
sende von Bezirkseingesessenen zu einer Existenz, oder doch zu einem
lohnenden Nebenerwerbe verholfen. Was die jetzige Handhabung der
Trichinenschau an betrifft, so lässt sich nicht ableugnen, dass in der¬
selben auf dem Lande noch mannigfache Verbesserungen nöthig sind.
Was zunächst das Material anbetrifft, aus dem sich die ländlichen
Trichinenschauer recrutiren, so muss man sich sagen, dass es in
vielen Gegenden Leute sind, welche sich ihrer schweren Verantwort¬
lichkeit nicht bewusst sind. Oft sind es Häuslinge und kleine Hand¬
werker, die neben Gemeindediener und Nachtwächter auch noch
Trichinenschauer sind und zu diesem letzteren Amte durchaus nicht
die Befähigung haben, dasselbe auch noch mit einer unverantwort¬
lichen Nachlässigkeit und Gleichgültigkeit betreiben. Wie lax die
Trichinenschau gehandhabt wird, sieht man häufig schon daran,
wie den Trichinenschauern die zur Untersuchung erforderlichen
Fleischproben übermittelt werden. Vorgeschrieben 2 ) ist in dieser
Hinsicht in den meisten Gegenden, dass der Fleischbeschauer
die Fleischproben entweder selbst entnimmt oder durch einen von
der Ortspolizeibehördc eidlich verpflichteten Fleischboten entnehmen
lässt. Die Proben sind in Blechkästen mit numerirten Fächern oder
in weissen Papierbeuteln aufzubewahren, auf denen Nummer, Stück¬
zahl und der Name des Besitzers deutlich aufgeschrieben ist. Oft
genug werden diese Vorschriften übertreten, der Schlächter schickt
dom Trichinenschauer gelegentlich die Fleischstücke in unsauberes
Zeitungspapier eingcwickelt ins Haus, ohne dass letzterer bestimmt
weiss, ob die Proben den richtigen Stellen entnommen sind, und ob
auch nicht eine Verwechslung stattgefunden hat. Derartige Vorkomm¬
nisse werden z. B. aus dem Regierungsbezirk Cassel 3 ) aus den Jahren
1880—85 berichtet. Während dann der Trichinenschauer die Unter¬
suchung vornimmt, findet häufig schon eine weitere Zerlegung des
Schweines und eine Verarbeitung des Fleisches zu Würsten statt,
ohne dass das Resultat abgewartet wird. Auch die Untersuchung
selbst wird jedenfalls nicht immer mit der genügenden Sorgfalt und
1) Hühner, Lehrbuch der Hygiene. S. 523.
2) Schlochow, I. S. 252.
3) G.-B. ü. d. ö. Gesundheitswesen im Regierungsbezirk Cassel. 1880 bis
1885. 8. 236.
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Uehcrwachung des Fleischhandels auf dem Lande und in kleinen Stadien. 147
Einsicht vorgenommen. Wie saumselig manche Fleischbeschauer bei
den Untersuchungen verfahren, lässt sich aus dem einen Beispiel er¬
kennen, dass in einem Ort des Regierungsbezirks Oppeln 1 ) ein von
2 Fleischern gemeinschaftlich geschlachtetes Schwein von 2 Fleisch¬
beschauern untersucht wurde; der eine derselben hatte in der ihm
übergebenen Hälfte des geschlachteten Schweines reichlich Trichinen
gefunden, der andere erklärte seine Hälfte für völlig trichinenfrei.
Die Nachrevision ergab aber, dass das betreffende Schwein in der
That reichlich mit Trichinen durchsetzt war. Recht deutlich traten
auch grosse Uebelstände unter den Fleischbeschauern zu Tage ge¬
legentlich einer im Jahre 1888 im Regierungsbezirk Liegnitz in
sämmtlichen Kreisen durchgeführten Nachprüfung, bei welcher in der
Mehrzahl der Kreise grobe Mängel entdeckt wurden 2 ). „21 Fleisch¬
beschauer legten unmittelbar nach der Prüfung ihr Amt nieder oder
wurden desselben enthoben; mehr als 80 bestanden in der Prüfung
nicht und mussten theils einer Nachprüfung unterworfen werden, theils
noch einmal unterrichtet werden. Von den untersuchten Mikroskopen
wurden gegen 90 stark verunreinigt oder sonst unbrauchbar befunden.“
Aehnliche Verhältnisse zeigten sich im Regierungsbezirk Arnsberg 3 )
bei einer im Jahre 1881 und 1882 durchgeführten Nachprüfung der
Trichinenschauer. 112 derselben mussten aus ihrem Gewerbebetriebe
wegen verloren gegangener Befähigung oder ungenügender Instrumente
entfernt werden. Ferner wurden in diesen Jahren in demselben Be¬
zirk 32 Trichinenschauer bestraft, zum Theil auch entlassen, weil sie
wider das ergangene Verbot sich mit Schlachten befasst, die Fleisch¬
schau in fremden Bezirken ausgeübt, die zu untersuchenden Fleisch¬
proben nicht selbst entnommen, oder die Untersuchung nicht recht¬
zeitig ausgeführt hatten, ausserdem noch eine Anzahl wegen willkür¬
licher Herabrainderung der Untersuchungsgebühren. In anderen
Regierungsbezirken, wie Breslau, Münster, Minden, lauten die Resul¬
tate über die Nachprüfungen der Fleischbeschauer günstiger.
Vorschläge zur Verbesserung der Trichinenschau.
Um solche Uebelstände zu vermeiden muss man bei der Aus¬
wahl der Persönlichkeit in erster Linie auf Zuverlässigkeit, Nüchtern*
1) G.-B. ü. d. ö. Gesundheitswesen im Regierungsbezirk Oppeln. 188G—91.
2) Kloss, Handhabung der Sanitätspolizei auf dem Lande. Vierteljahrsschr.
f. öffentl. Gesundheitspflege. Bd. 23. S. 445.
3) G.-B. ü. d. ö. Gesundheitswesen im Regierungsbezirk Arnsberg. 1880
bis 1885. S. 148.
10 *
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
148
Br. Möhlfeld,
licit und allgemeine Befähigung die möglichste Rücksicht nehmen,
ln Orten, wo Thierärzte ihren Sitz haben, sind diese die geeignetsten
Leute zur Trichinenschau, doch werden sie sich nicht überall dazu
bereit finden, besonders wenn sie grössere Praxis haben und des¬
wegen die Untersuchungen nicht immer rechtzeitig ohne Störung im
Schichtbetriebe ausführen können. In solchen Orten ist man also
gezwungen, empirisch ausgebildetc Laien zu der Trichinenschau her¬
anzuziehen. In manchen Gegenden hat sich gezeigt, dass sich die
Volksschullehrer sehr zu dieser Thätigkeit eignen, und dass sich das
Amt eines Trichinenschauers mit ihrer Stellung und ihren Berufs-
pflichten wohl vereinbaren lässt. Einerseits erlangen Lehrer gewiss
am ersten die nöthige Gewandtheit und Sicherheit im Untersuchen,
andrerseits besitzen sie auch besonders in der Landbevölkerung die
genügende Autorität, um alle Vorschriften streng durchführen zu
können. Von der Königlichen Regierung zu Gumbinnen 1 ) ist daher
auch genehmigt, dass die Lehrer zur Uebcrnahme des Amtes als
Fleischbeschauer nach Möglichkeit herangezogen werden. Ferner
haben sich in vielen Gegenden auch Frauen recht gut als Triehinen-
schauerinncn bewährt. So erhielten in den Regierungsbezirken Oppeln,
Magdeburg, Köslin geeignete Frauen vielfach die Genehmigung als
Trichinenschauerinnen, ohne dass daraus jemals ein Nachtheil er¬
wachsen wäre. Aus dem Regierungsbezirk Magdeburg 2 ) wird sogar
berichtet, dass die Frauen zum Prüfungstermin mit seltenen Aus¬
nahmen besser vorbereitet erschienen, als die männlichen Prüflinge.
Auch in Schlachthäusern sind vielfach weibliche Trichinenschauer ein¬
geführt z. B. in Köslin, Kolberg, Stolp.
Um Pflichtverletzung vorzubeugen, sind von vornherein vom Amt
eines Trichinenschauers auszuschliessen, wie dies auch in den meisten
Gegenden mit obligatorischer Trichinenschau durch Polizei-Verordnung
geschehen ist, Schlächter, Fleischhändler, Viehversicherungsagenten
und Personen, welche in deren Diensten stehen. Im Regierungsbe¬
zirk Minden 3 ) ist im Anschluss hieran noch die empfehlenswerthe
Verfügung getroffen, dass sämmtlichen Fleischbeschauern bei Verlust
1) G.-B. ii. d. ö. Gesundheitswesen im Regierungsbezirk Gumbinnen. 1886
bis 1888. S. 131.
2) G.-B. ii. d. ö. Gesundheitswesen im Regierungsbezirk Magdeburg. 1886
bis 1888.
3) G.-B. ü. d. ö. Gesundheitswesen im Regierungsbezirk Minden. 1880—82.
S. 50.
Digitized by
Gck gle
Original frnm
UMIVERSITY OF IOWA
Uebcrwachung des Fleischhandcls auf dem Lande und in kleinen Städten. 1411
ihrer Bestallung verboten ist, die von ihnen oder ihren Angehörigen
eigentümlich besessenen Schweine zu untersuchen. Unter „Ange¬
hörige“ sind nach einer späteren Verfügung Eltern, Kinder, Ge¬
schwister (einschliesslich Halbgeschwister), und deren Ehegatten zu
verstehen. Im Regierungsbezirk Münster 1 ) hat man die Entscheidung
getroffen, dass sogen. Hausschlächter, welche sich nur mit dem
Schlachten von Haus zu Haus beschäftigen, nicht als ungeeignet zur
Ausbildung bezw. Anstellung als Fleischbeschauer zu betrachten seien.
Auch im Regierungsbezirk Stade 2 ) wurde die Erlaubniss, Haus¬
schlächter als Trichinenschauer anzustellen wegen Mangel an anderen
geeigneten Personen mehrfach ertheilt. Dagegen aber lässt sich ein¬
wenden, dass die Hausschlächter besonders in ländlichen Gegenden
in den Wintermonaten häufig täglich 3—4 Schlachtungen haben und
dann gewiss nicht mehr die nöthige Kraft und Aufmerksamkeit be¬
sitzen, um am Abend bei Lampenlicht eine sorgfältige Untersuchung
auf Trichinen vorzunehmen. Dazu kommt noch, dass die Haus¬
schlächter auf dem Lande, wo die Schlachtungen meist als sogen.
„Schlachtefeste“ betrachtet werden, häufig am Abend soviel Alcohol
genossen haben, dass sie absolut nicht mehr zu einer Untersuchung
fähig sind.
Die Ausbildung der Trichinenschauer erfolgt am besten und
schnellsten an einem Schlachthofe, weil hier die ausgiebigste Unter¬
suchung am Object erfolgen kann, wo dieses nicht möglich ist, sind
die Kreisphysiker damit zu beauftragen. Die Bestallung als amtlicher
Trichinenschauer hat für einen bestimmten Bezirk auf Grund einer
vor einem Schlachthausthierarzt oder dem betr. Kreisphysicus bestan¬
denen besonderen theoretischen und praktischen Prüfung durch den
Landrath zu erfolgen. Die Function als amtlich bestallter Trichinen¬
schauer muss jeder Zeit widerruflich sein. Die Beschaffenheit der
Mikroskope der Trichinenschauer hat in mehreren Regierungsbezirken 3 )
zu Ausstellungen Anlass gegeben, sowohl die Instandhaltung an sich
brauchbarer, als auch die Benutzung billiger und schlecht eingerich¬
teter Instrumente. Sehr zu empfehlen wäre in dieser Beziehnng,
wenn die Gemeinden die Kosten der Mikroskope trügen und die
1) G.-B. ü. d. ö. Gesundheitswesen im Regierungsbezirk Münster. 1889—91.
S. 103.
2) G.-B. ü. d. ö. Gesundheitswesen im Regierungsbezirk Stade. 1889—91.
S. 144.
3) EbendaS. 145. — Desgl. im Regierungsbezirk Magdeburg. 1880- 88. S.45.
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
150
Dr. Möhlfeld,
Physiker sich der Besorgung derselben unterzögen. Einerseits wäre
dadurch die Garantie gegeben, dass nur zweckmässige Mikroskope in
Gebrauch kämen, andrerseits würden sich, wenn für die Trichinen¬
schauer die Ausgaben für die Mikroskope fortfiele, gewiss weit mehr
und dann auch geeignetere Personen zu diesem Amte melden. Um
die Untersuchung möglichst leicht und sicher zu machen, ist im Re¬
gierungsbezirk Potsdam 1 ) in sehr empfehlenswerther Weise angeordnet,
die Trichinenschauer zu veranlassen, dass sie sich der durch Beigabe
eines Compressoriums vervollkommneten Mikroskope bedienen, welche
von den meisten Optikern zu mässigen Preisen hergestellt werden.
Ein solches Compressorium besteht aus zwei mit Schrauben zum
Zusammenpressen versehenen Glasplatten, zwischen welche die Prä¬
parate gelegt werden, und einer mechanischen Einrichtung, mittels
welcher das Compressorium mit den darin befindlichen Fleischproben
sich unter dem Objectiv des Mikroskopes leicht so schieben lässt,
dass die ausgebreiteten Präparate dem untersuchenden Auge Strich
für Strich vorgeführt werden und keine Stelle ungesehen bleiben kann,
während es bei dem einfachen Schieben des Objectträgers mit der
freien Hand kaum zu vermeiden ist, dass einzelne Stellen dem Auge
entgehen. Ferner empfiehlt es sich, jedes Mikroskop mit einer amt¬
lichen Nummer am besten am Fusse desselben cingepresst zu ver¬
sehen, denn so kann verhütet werden, dass bei etwaigen Nachprüfun¬
gen fremde geliehene Mikroskope von gewissenlosen Trichinenschauern,
deren Instrumente nicht im Stande sind, vorgelegt werden. Eine
ähnliche Verfügung existirt auch schon in der Anweisung für Fleisch¬
beschauer im Regierungsbezirk Düsseldorf 2 ).
Jeder amtlich bestallter Fleischbeschauer hat über die von ihm
untersuchten Schweine ein Journal zu führen, in welchem sofort nach
jeder mikroskopischen Untersuchung folgende Rubriken auszufüllen
sind: a) laufende Nummer, b) Name und Wohnort des Eigenthümers
des Schweines bezw. der Fleischwaaren, c) Gegenstand der Unter¬
suchung, d) Ergebniss der Untersuchung.
Die zur mikroskopischen Untersuchung zu verwendenden Fleiseh-
theilc hat der Fleischbeschauer am Ort der Schlachtung selbst zu
1) G.-B. ü. d. ö. Gesundheitswesen im Regierungsbezirk Potsdam. 1889
bis 1891. S. 90.
2) Pesgl. im Regierungsbezirk Düsseldorf. 1886—88. S. 156.
Digitized by
Gck gle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Uebenvachung des Fleischhandels auf dem Lande und in kleinen Städten. 151
entnehmen, oder durch einen eidlich verpflichteten Flcischbotcn ent¬
nehmen zu lassen.
Die Proben sind in Blechkästen mit numerirten Fächern oder
in weissen Papierbeutcln aufzubewahren, auf denen Nummer, Stück¬
zahl und der Name des Besitzers aufgeschrieben ist.
Die Probekästen sind nach jedem Gebrauch einer gehörigen
Reinigung zu unterziehen. Wie nöthig dieses ist, ergiebt sich aus
folgendem Fall 1 ), der sich in Hanau ereignet hat: Am 24. Septem¬
ber 1881 nachmittags waren dem Beschauer Dr. W. die Proben von
4 Schweinen des Metzgers H. zur Untersuchung übergeben. Am
26. morgens theilte jener dem Metzger H. mit, dass sich in den mit
No. 1 bezeichneten Fleischproben Trichinen vorgefunden hätten. Das
betreffende Schwein war indessen bereits verarbeitet und verkauft. Am
29. September fand Dr. W. abermals unter 7 Schweinen dieses Metz¬
gers 2 trichinös. Bei der Beschlagnahme der betreffenden Schw'einc
zeigte sich zunächst, dass die Schweine und Proben nicht überein¬
stimmend bezeichnet waren und die angeblich trichinösen nicht her¬
ausgefunden werden konnten. Es mussten daher sämmtlichc sieben
Schweine noch mal untersucht werden; jetzt konnten aber trotz ein¬
gehendster Prüfung keine Trichinen wieder nachgewiesen werden.
Dagegen fanden sich an den Wänden und am Boden des Probekäst¬
chens, in welchem die am 26. als trichinös erkannten Proben gelegen
hatten, ältere, schmutzige Fleischtheilchen, in welchen lebende freie
Trichinen aufgefunden wurden. Die Sachverständigen nahmen hiernach
an, dass in Folge mangelhafter Reinigung des Probekästchens Reste
von den am 26. als trichinös erkannten Fleischtheilen zurückgeblieben
und unter die späteren Proben gerathen seien.
Um die Zuverlässigkeit der Untersuchungen zu fördern, ist poli¬
zeilich festzusetzen, wie viel Untersuchungen ein Fleischbeschauer an
einem Tage vornehmen darf, und wie lange Zeit er auf eine Unter¬
suchung zu verwenden hat. Im Regierungsbezirk Minden 2 ) besteht
die Bestimmung, dass ein Trichinenschaucr an einem Tage nicht mehr
als 6 Schweine oder 20 Speckseiten untersuchen darf. Rechnet man
die Zeitdauer für die Untersuchung eines Schweines zu 30 Minuten,
einer Speckseite zu 10 Minuten, so würde die Untersuchung von sechs
1) G.-B. ü. d. ö. Gesundheitswesen im Regierungsbezirk Cassel. 1.8.80—85.
S. 237.
2) Desgl. im Regierungsbezirk Minden. 1880—82. S. 58.
Digitized by
Go. igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
152
Dr. Möhlfeld,
Schweinen oder 20 Speckseiten etwa 3 Stunden in Anspruch nehmen.
Diese Zahlen entsprechen wohl durchaus der Leistungsfähigkeit eines
Trichinenschauers. Die in den Schlachthäusern thätigen Beschauer
machen hiervon natürlich eine Ausnahme, da sie gewöhnlich eine-
grössere Fertigkeit und Uebung im Anfertigen und Untersuchen der
Präparate besitzen, und dann auch noch die behufs Entnahme der
Fleischproben nothwendigen Wege in Fortfall kommen. Setzt man
für diese Trichinenschauer die zur Untersuchung eines Schweines be¬
stimmte Zeit auf 20 Minuten fest, so würden sie in 7 Stunden fünf¬
zehn Schweine untersuchen können, was auf einen ganzen Tag ver¬
theilt wohl keine zu hohe Anforderung ist. Das Resultat einer
Untersuchung hat der Trichinenschauer in sein Journal einzutragen
und das betr. Schwein oder die Fleischwaaren, wenn sie trichinenfrei
befunden sind, mit einem vorgeschriebenen dauerhaften, ungiftigen
Farbenstempel abzustcrapeln. Die Stempelung muss der Trichinen¬
schauer am besten selbst vornehmen und darf sie nicht dem Fleisch¬
boten überlassen.
Um über die Fähigkeit und Zuverlässigkeit der Fleischbcschauer
orientirt zu bleiben, haben sich die in den meisten Regierungsbezirken
.stattfindenden Nachprüfungen derselben gut bewährt. Im Regierungs¬
bezirk Köslin 1 ) finden dieselben mindestens alle 3 Jahre statt, und
der Trichinenschauer hat bei derselben vorzulegen:
1. das Mikroskop nebst den zugehörigen Gerätschaften;
2. das Prüfungszeugnigs nebst Anstellungsurkunde;
3. das seit der letzten Nachprüfung oder falls eine solche noch
nicht stattgefunden hat, seit der Anstellung geführte Ficiseh¬
schaubuch;
4. ein Lehrbuch über Trichinenschau;
5. den vorgeschriebenen Farbenstempel.
Werden hierbei erhebliche Mängel in den erforderlichen Kennt¬
nissen und Fähigkeiten festgestellt oder unbrauchbare Mikroskope
vorgefunden, so hat der Trichinenschauer für die sofortige Abstellung
der Vorgefundenen Mängel Sorge zu tragen und sich ausserdem einer
Wiederholung der Nachprüfung zu unterwerfen. In diesem Fall hat
sich der Trichinenschauer in der Zwischenzeit jeder amtlichen Thätig-
keit zu enthalten. Bei nochmaligem ungenügenden Ausfall der Nach-
1) G.-B. ü. (1. ö. Gesundheitswesen im Regierungsbezirk Köslin. 1892— 94.
S. 117.
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Uebcrwachung fies Fleischhandels «auf dem Lande und in kleinen Städten. 153
prüfung ist der Trichinenschaucr von der Ortspolizeibehörde aus seiner
Stellung zu entlassen und diese Entlassung öffentlich bekannt zu
machen. Besonders zu achten ist bei dieser Prüfung auch noch auf
das Sehvermögen der Leute, das sich häufig im Laufe der Jahre sehr
verschlechtert. So zeigten bei einer Nachprüfung im Regierungsbezirk
Magdeburg 1 ) mehrere Prüflinge eine so hochgradige Einschränkung
des Sehvermögens, dass die betreffenden Personen auf Vorhalt er¬
klärten, die Function eines Trichinenschauers freiwillig niederlegen zu
wollen. Ferner wurde im Regierungsbezirk Anisberg nach dem Be¬
richt von 1889 bis 1891 zufällig ein Beschauer entdeckt, bei dem
sich ein Staar entwickelt hatte und der deshalb sofort entlassen
werden musste. Da derartige Augenkrankheiten, die die Zuverlässig¬
keit des Beschauers in Frage stellen, zu jeder Zeit eintreten können,
hält der Regierungs- und Medicinalrath des Kreises Arnsberg, Dr. Ten¬
holt, die Vorschrift, dass die Trichinenschauer nur alle 3 Jahre einer
Nachprüfung unterzogen werden, für nicht genügend. Dieselbe müsste
mindestens alljährlich vorgenommen werden. Gewiss ist dies immer¬
hin empfehlenswerther und auch wohl durchführbar.
Im Interesse einer sorgfältigen Ausführung der Trichinenschau
muss auch die Bezahlung der Leute eine angemessene sein. Dies
ist besonders in ländlichen Gegenden vielfach nicht der Fall, und es
sind in manchen Orten die Preise durch die von den Beschauern be¬
triebene Concurrenz derart gedrückt, dass für das Geld Niemand eine
sorgfältige Untersuchung auf Trichinen vornehmen kann. Die Be¬
schauer der Landgemeinden im Kreise Eschwegc erhielten nach dem
Bericht 2 ) des Kreisphysikus vom Jahre 1882 meist nur 50 Pf., meh¬
rere 25 Pf., in einer Gemeinde 15 Pf. und in einer anderen sogar
nur 10 Pf. für die Untersuchung. Einzelne Beschauer waren durch
Vertrag mit der Gemeinde an diese niedrige Taxe gebunden, und ein
Beschauer, welcher entgegen diesem Vertrage eine höhere Gebühr
beanspruchte, wurde mit der gerichtlichen Klage abgewiesen. Nach
dem Bericht 3 ) des Kreisphysikus zu Marburg vom Jahre 1887 ist
auch dort der Preis für die Untersuchung eines Schweines bei den
ländlichen Beschauern bis auf 20 Pf. herabgedrückt gewesen, was
daher kam, dass von den Bürgermeistern stets nur die Mindcstfordcrn-
1) G.-B. ü. d. ö. Gesundheitswesen im Regierungsbezirk Magdeburg. 1886
bis 1888. S. 45.
2) Desgl. im Regierungsbezirk Cassel. 1880—85. S. 236.
3) Ebenda. 1886-88. S. 238.
Digitized by
Gck gle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
154
Dr. Möhlfeld,
den als Beschauer in Vorschlag gebracht wurden. Aehnliche Honorare
sind nach den Berichten der Regierungs- und Medicinalräthe auch in
anderen Provinzen bezahlt. Diesem Unwesen, unter welchem die
Zuverlässigkeit der Untersuchung leidet, ist jedoch leicht abzuhelfen,
da durch die Ministerial-Verfügung vom 19. October 1875 die Land-
räthe angewiesen sind, auf Fleischbcschauer, welche Taxermässigung
durchweg oder auffallend häufig eintreten lassen, ihr besonderes Augen¬
merk zu richten und gegen dieselben, sobald sich ergiebt, dass sic
die Untersuchung nicht mit der erforderlichen Sorgfalt vornehmen,
einzuschreiten. Als angemessene Bezahlung für die Untersuchung
eines Schweines ist 1 Mk. zu bezeichnen. Darunter sollte kein Tri¬
chinenschauer eine Untersuchung vornehmen, auch nicht, wenn er für
Jemanden an einem Tage mehrere Schweine zu untersuchen hat und
eventuell zur Entnahme der Probestücke auch nur ein Weg nöthig
ist. Im prcussischcn Staate entfielen in den Jahren 1887—1888 1 )
durchschnittlich jährlich 210—213 Untersuchungen auf einen Trichinen-
schaucr. Rechnet man jede Untersuchung zu 1 M., so sind jährlich
210—213 M. immerhin ein ganz begehrenswerthes Nebeneinkommen,
für die gewiss passende und tüchtige Persönlichkeiten das Amt eines
Trichinenschauers übernehmen. Ausserdem ist in manchen Gegenden
noch die nützliche Einrichtung getroffen, dass die Trichinenschauer
für die Auffindung von Trichinen eine Prämie erhalten in Kolberg 2 )
sogar 30 M. Gegen dieses Verleihen von Prämien ist geltend ge¬
macht, dass sich Trichingnschauer dadurch zu Fälschungen von Prä¬
paraten, ja sogar dazu haben verleiten lassen, die Schweine des
Nachbars mit trichinösem Fleisch zu füttern, um später die Prämie
zu erhalten. Diese Vorkommnisse sind aber immerhin so selten,
dass man desshalb nicht davon abzusehen braucht, die Trichinen¬
schauer durch solche Prämien zu sorgfältigem Untersuchen anzu¬
spornen.
Sonstige empfchlenswerthe Massrcgcln zur Verhütung
einer Trichineninfection.
Ausser der obligatorischen Trichinenschau lassen sich noch an¬
dere werthvollc Massregeln treffen, um einer Trichineninfection durch
1) G.-B. ü. d. ö. Gesundheitswesen im Regierungsbezirk Minden. 188G—88.
S. 135.
2) Desgl. im Regierungsbezirk Köslin. 1892—94. S. 148.
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
Ueberwachung des Fleischhandels auf dem Lande und in kleinen Städten. 155
Genuss von Schweinefleisch vorzubeugen. Die häufige Trichinose des
Schweines wird hauptsächlich dadurch vermittelt, dass die trichinen¬
haltigen Abgänge der Schweine in Schlächtereien und Abdeckereien
anderen Schweinen zur Nahrung gereicht werden, ferner dass Schweine
trichinöse Ratten und Mäuse fressen 1 ). Diesem Ucbelstande kann
dadurch abgeholfen werden, dass den Schlächtern und Abdeckern das
Mästen von Schweinen und anderem Vieh mit Abfällen irgend welcher
Art unbedingt verboten wird. Dabei sind auch die Schlächterhunde
zu berücksichtigen, die nicht allein trichinöses Fleisch fressen, und
also durch ihren Koth inficiren können, sondern dasselbe auch noch
irgend wohin verschleppen, wo cs Schweinen und anderen Thiercn
zur Nahrung dienen kann. Schlächterhunde sollen sich daher absolut
nicht in den Schlachtstätten aufhalten, w r o es ihnen möglich ist, Ab¬
fälle zu bekommen.
Ferner ist es nöthig, dass bei jedem Fall von Trichinosis beim
Schwein der Stall ausfindig gemacht wird, aus dem dasselbe stammt,
damit geeignete polizeiliche Massrcgeln gegen die Weiterverbreitung
ergriffen werden können. Ställe, in denen trichinöse Schweine vor¬
gekommen sind, sollen gründlich gereinigt, namentlich deren Dcjec-
tionen gründlich unschädlich beseitigt werden. Wenn sich in solchen
Ställen auch noch'Ratten aufhaltcn, so ist die Anlage der Ställe
namentlich auch der Fussbodcn derartig herzurichten, dass den Ratten
der Zugang zu denselben möglichst erschwert wird. Schliesslich ist
auch noch eine wichtige veterinär-sanitätspolizeiliche Verhütungsmass-
regel der Trichinosis die, dass Schweine nur auf Stall fiitterung ge¬
halten werden dürfen, und es verboten wird, dass dieselben, wie in
manchen Gegenden üblich, sich überall frei herumtreiben, wo sie auf
Düngerhaufen, auf der Strasse alles mögliche infectionsfähige Material
fressen können.
Verkehr mit finnigem Fleisch.
Was den Verkehr mit finnigem Fleisch auf dem Lande und in
kleinen Städten anbetrifft, so erstreckt sich auch hierauf in den
meisten Gegenden die obligatorische Fleischbeschau, indem die Be¬
schauer verpflichtet sind, von einem derartigen Befunde ebenso wie bei
Vorhandensein von Trichinen der Ortspolizeibehörde Anzeige zu machen.
Dieselbe hat dann gemäss der Ministerial-Verfügung vom IG. Februar
]) Rubner, Lehrbuch der Hygiene. 1892. S. 52G.
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
15 6
Dr. Mölilfeld,
1876 1 ) dafür Sorge zu tragen, dass das Schwein, wenn es in be¬
deutenderem Grade finnig befunden ist, ganz beseitigt wird, nachdem
zuvor eventuell geeignete Thcile zur Bereitung von Seife und Leim etc.
ausgenutzt sind, ist dagegen das Fleisch nur wenig mit Finnen durch¬
setzt, so kann die Polizeibehörde das durch Ausschmelzen oder Kochen
gewonnene Fett unbedingt, das magere Fleisch dann zum Verkaufe
und häuslichen Gebrauch zulassen, wenn es unter polizeilicher Auf¬
sicht nach vorheriger Zerkleinerung vollständig gar gekocht ist.
Der Begriff „wenig mit Finnen durchsetzt“ ist von der König¬
lichen technischen Deputation für das Veterinärwesen 2 ) dahin er¬
läutert, dass ein Fleisch dann als „wenig mit Finnen durchsetzt“
anzuschen ist, wenn „sowohl an der Oberfläche, als auch auf den
verschiedenen Durchschnittsflächen des Fleisches auf einem etwa
Handteller grossen Theile der Fläche sich nicht mehr als eine Finne
befindet.“ Sich in jedem speciellen Fall streng an diese Erläuterung
zu halten, hat wohl grosse Schwierigkeiten und am besten bleibt es
wohl jedes Mal einem thierärztlichen Sachverständigen überlassen, zu
prüfen, ob nach der Vorgefundenen Zahl der Finnen das Fleisch über¬
haupt noch für geniessbar und nicht als ekelhaft anzusehen ist.
Die obengenannte Ministerial-Verfügung vom 16. Februar 1876
bezieht sich aber nur auf den Verkehr mit finnigem Schweinefleisch,
darüber wie mit finnigem Rindfleisch zu verfahren ist, besteht bis
jetzt noch keine Verfügung. Es ist aber die Thatsache bekannt und
in der Fachliteratur vielfach erörtert, dass schon seit einer Reihe von
Jahren der von der Rinderfinne stammende Bandwurm, Taenia medio-
cancllata, bei Menschen häufiger vorkommt, als der von der Schweine¬
finne abstammende. Nach einem Gutachten der technischen Deputation
für das Veterinärwesen vom 12. März 1890 und einem solchen der
wissenschaftlichen Deputation für das Medicinalwesen darf auch Fleisch
und ebenso irgend ein anderer Theil eines Rindes, in welchem nur
eine oder wenige Finnen gefunden worden sind, zur menschlichen
Nahrung nur zugelassen werden, nachdem es unter polizeilicher Auf¬
sicht. nach vorheriger Zerkleinerung vollständig gar gekocht ist. Nach
dem Bericht 3 ) des Directors der städtischen Fleischschau zu Berlin,
1) Schlockow, I. S. 259.
2) G.-B. ii. d. ö. Gesundheitswesen im Regierungsbezirk Gumbinnen. 1883
bis 1885. S. 178.
3) Das ülTentlicho Gesundheitswesen und seine Uebervvachung in Berlin.
1S8G—88. S. 167.
Digitized by
Gck gle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Ueberwachung des Fleischhandels auf dem Lande und in kleinen Städten. 157
Dr. Hertwig, für das Jahr 1888/89 ist der Prädilcktionsort für die
Rinderfinne die Kaumuskeln und besonders der innere Kaumuskel.
Von 113 mit Finnen behafteten Rindern, wurden 71 mal in den Kau¬
muskeln allein Finnen gefunden. Zu ihrer Ermittelung werden auf
dem Berliner Schlachthof in die Kaumuskeln Parallelschnittc mit der
Innen- resp. Aussenfläche des Unterkiefers angelegt. Es dürfte wohl
nicht unmöglich sein, dass dieser Vorschrift auch auf dem Lande
Eingang verschafft würde.
Nahrungsmittel- und Viehscuchengesetz.
Ausser durch diese Untersuchung der Schweine auf Trichinen
und Finnen ist noch durch den Erlass des Reichsgesetzes vom
14. Mai 1879 den Verkehr mit Nahrungsmitteln betreffend 1 ), und
durch das Viehscuchengesetz vom 23. Juli 1880 x ) eine gewisse Hand¬
habe zur Ueberwachung des Fleischhandels auf dem Lande und in
kleinen Städten geschaffen. Das Viehseuchengesetz verbietet, aller¬
dings aus veterinärpolizeilichen Gründen die Schlachtung von Thieren
und den Verbrauch ihres Fleisches, welche an Milzbrand, Tollwuth
oder Rotz leiden, oder des Milzbrandes und der Tollwuth verdächtig
sind und stellt die Tödtung von rotzverdächtigen Thieren unter poli¬
zeiliche Aufsicht. Das Nahrungsmittelgesetz sucht durch Strafan¬
drohung den Verkehr mit nicht gesundem Fleisch zu verhindern.
Wenn diese beiden Gesetze für grössere Gemeindewesen auch durch¬
aus nicht hinreichend sind, um auch nur einen geringen Thcil von
gesundheitsschädlichem Fleisch aus dem Verkehr zu bringen, so ist
ihnen für das flache Land und kleinere Städte eine gewisse Bedeutung
nicht abzusprechen, da bei den hier herrschenden einfachen Verhält¬
nissen die gegenseitige Controlle der Bewohner, doch immerhin so
gross ist, dass gewiss viele Fälle von Uebertretung dieser Gesetze zur
Kenntniss der Polizei kommen würden.
Ferner ist das Schlachten von Pferden, wozu allerdings erfah-
rungsgemäss recht viel abgetriebene und kranke Thiere benutzt wer¬
den, fast überall unter thierärztliche Controlle gestellt, und in wenigen
Regierungsbezirken Preussens, wie Minden, Breslau, Liegnitz, Arns¬
berg, Stade ist auch eine sorgfältige thierärztliche Beaufsichtigung
aller Nothschlachtungen 2 ) ins Leben gerufen.
1) Bleisch, Die Aufgaben und die Organisation einer obligatorischen
Fleiscbschau etc. Dieso VierteljahrsscJir. 3. Folge. II. Bd. S. 129.
2) Ostertag, Handbuch der Fleischschau. S. 37.
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
158
Dr. Mö hl fehl,
Fleischschau in anderen Staaten.
Norddeutsehland weit voraus ist in all’ diesen Punkten das süd¬
liche und ein Theil des westlichen und mittleren Deutschlands. Die
Königreiche Bayern und Württemberg, die Grossherzogthümer Sachsen-
Koburg-Gotha und Sachsen-Meiningen, das Fürstenthum Schwarzburg-
Rudolstadt und das Reichsland Elsass-Lothringen haben schon seit
längerer oder kürzerer Zeit eine obligatorische Fleischschau, durch
die auch der Fleischhandcl in kleinen Städten und auf dem Lande
geregelt und überwacht wird 1 ). Die Verordnungen der betreffenden
Regierungen schreiben vor, dass jedes Schlachtthier, welches zur
menschlichen Nahrung bestimmt ist, vor und nach dem Schlachten
untersucht wird. Ausgenommen sind in einigen Staaten nur ganz
junge Thiere, wie Saugkälber und Spanferkel, ferner zum Theil die¬
jenigen Thiere, welche zum Privatgebrauch geschlachtet werden. In
den einzelnen Gemeinden, in denen Schlachthäuser nicht bestehen,
sind Fleischkommissionen bestellt, oder doch wenigstens eine geeignete
Person mit der Fleischschau betraut. Wo Thierärzte wohnen, sind
diese die Fleischschauer, wo solche nicht vorhanden sind, werden
gut beleumdete Personen, nachdem sie zuvor an Schlachthöfen ausge-
bildct und durch den beamteten Thierarzt ihres Bezirks geprüft
sind, als empirische Fleischschaucr angestellt. Dieselben dürfen im
Allgemeinen nur bei völlig gesund befundenen Thieren den Genuss
des Fleisches gestatten; wenn sich Krankheiten vorfinden, sind sic
dagegen verpflichtet, einen thierärztlichen Sachverständigen zur Ent¬
scheidung herbeizurufen. Nur bei besonders namhaft gemachten Er¬
krankungen und gewissen Verletzungen haben auch die empirischen
Fleischschaucr das Recht, über die Geniessbarkeit des Fleisches selbst¬
ständig zu entscheiden. Jeder Fleischschauer hat ein Tagebuch zu
führen, welches er jeder Zeit auf Verlangen dem beamteten Thierarzt
und der Polizeibehörde zur Controle vorzulegen hat 2 ). Ueber jede
Beschau erhält der Eigenthümer des Stück Viehes einen Beschau¬
schein. Ausserdem haben die Fleischbeschauer noch unvermuthete
Revisionen in Schlacht- und Verkaufsstätten der Fleischer in Bezug
auf Reinlichkeit und Verwendung guten Fleisches vorzunehmen. Eine
solche obligatorische Flcischschau, die sich nicht alle in auf die Städte
mit Schlachthäusern beschränkt, sondern auch auf das platte Land
1) Oster tag, 1. c. S. 83 u. 34.
2) Ger lach, Die Fleischkost des Menschen. S. 122.
Digitized by
Gck gle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Ueberwachung des Fleisehhandels auf dem Lande und in kleinen Städten. 1551
ausgedehnt ist, hat sich in all’ diesen Staaten im Allgemeinen gut
bewährt. Ihre Nützlichkeit und Nothwendigkeit ist jetzt auch in
Preussen mehr und mehr anerkannt, und es sind bereits wichtige
Anfänge gemacht, auch hier diese Frage in befriedigender Weise zu
lösen. So hat sich die Gewerbekammer der Provinz Brandenburg 1 )
in der Sitzung vom 16. December 1890 mit dieser Frage beschäftigt
und sich einstimmig dafür ausgesprochen, dass öffentliche Schlacht¬
häuser möglichst in allen Städten der Provinz von 4000 Einwohner
an aufwärts und in denjenigen kleineren, in welchen Exporthandel
mit ausgeschlachtctem Fleisch betrieben wird, zu errichten seien und
dass in den übrigen kleinen Städten, Flecken und grösseren Land¬
gemeinden, deren financielle Lage die Anlegung öffentlicher Schlacht¬
häuser nicht gestattet, eine wirksame Vieh- und Fleischschau durch
Sachverständige unter Anwendung geeigneter Polizei-Verordnungen
cingeführt werde. In der Provinz Hessen-Nassau wurde auch schon
eine solche Polizei-Verordnung am 1. Juni 1892 erlassen; dieselbe
schliesst sich in ihren Einzelbestimmungen im Allgemeinen dem be¬
währten süddeutschen Muster an. Ferner haben die Ministerien deslnnern,
für Landwirthschaft und Cultus sämmtliehe Oberpräsidenten durch
einen Runderlass 2 ) vom 21. August 1893 auf die Bedeutung einer
geregelten Fleischcontrole für die menschliche Gesundheit und ihre
Durchführbarkeit mit Hülfe von genügend vorgcbildeten Laien hinge¬
wiesen und denselben die Einführung in die einzelnen Provinzen nahe
gelegt. Hiernach scheint die preussische Regierung mit Rücksicht auf
die Ungleichheit der Verhältnisse in den einzelnen Gegenden der Monarchie
die Regulirung der Fleischcontrole den Provinzial-Rcgierungen überlassen
zu wollen, um dieselbe den Verhältnissen der einzelnen Provinzen
anzupassen, wie dies auch bei der Einführung der Trichinenschau der
Fall war. Im Interesse der gleichmässigen Handhabung der Fleisch-
schau läge es aber wohl, wenn Landesgesetze über die Controle des
Fleischverkehrs mit exacten Ausführungsbestimmungen erlassen würden.
Auch der deutsche Fleischcrbund hat mit Rücksicht auf eine solche
Gleichraässigkeit der obligatorischen Fleischschau vor mehreren Jahren
beschlossen, beim Bundesrath dahin vorstellig zu werden, dass die
öffentliche Fleisch- und Trichinenschau durch Erlass eines Rcichsge-
1) G.-B. ü. d. ö. Gesundheitswesen im Regierungsbezirk Potsdam. 1889
bis 1891. S. 91.
2) Ostertag, I. c. S. 43.
Digitized by
Gck gle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
1<>()
Dr. MöhIfehl,
setzes einheitlich für ganz Deutschland geregelt werde, und hat eine
entsprechende Petition an den Reichstag gerichtet 1 ). Mit dieser Frage
hat sich übrigens auch schon vor langen Jahren die wissenschaftliche
Deputation für das Medicinalwesen beschäftigt. Sie hat bei der Re¬
gierung direct die obligatorische Fleischschau für ganz Preussen cinzu-
führen beantragt. Indessen ist seitens der Regierung diesem Anträge
nicht entsprochen worden, aber wenigstens anerkannt, dass in der
Frage der Flcischschau „ein Mehreres als bisher geschehen müsse
und geschehen könne.“ Die hierauf bezügliche Verfügung ist die
Rundverfügung vom 4. Januar 1875 2 ).
Was für Einrichtungen und Anordnungen sind vom sanitäts¬
polizeilichen Standpunkte aus zur Ueberwachung des Fleisch¬
handels auf dem Lande und in kleinen Städten erforderlich!
Schlachthausfragc für kleine Städte.
Es fragt sich nun, was für Einrichtungen und Anordnungen vom
sanitätspolizeilichen Standpunkte aus in kleinen Städten und auf dem
Lande empfehlenswerth und nothwendig sind, um den Fleischhandel
in wirksamer Weise überwachen zu können. Das vollkommenste Mittel
zur sicheren Ueberwachung des innerhalb einer Gemeinde stattfindcn-
den Flcischhandels ist zweifellos die Errichtung eines öffentlichen
Schlachthauses und der damit verbundene Zwang, dass alle zur mensch¬
lichen Nahrung bestimmten Schlachtthiere daselbst geschlachtet und
sachverständig untersucht werden. Nur so erhält man die sichere
Garantie, dass gesundheitsschädliches und verdorbenes Fleisch in den
Schlachthäusern angehalten wird und nur gutes vollwerthigcs Fleisch
in den freien Verkehr gelangt. Doch nicht nur im Interesse der
Nahrungsmittelpolizei, auch in Bezug auf die Gesundheitspolizei bieten
die öffentlichen Schlachthäuser so grosse Vorzüge, dass hierdurch allein
schon ihre Errichtung geboten wäre. Durch die Schliessung der Privat¬
schlächtereien werden wichtige Quellen der Luftverderbniss und Boden¬
verunreinigung verstopft. Befinden sich oft schon in grösseren Städten,
wo noch Spülung und Kanalisation bestehen, die Privatschlächtereien
in einem äusserst traurigen und gesundheitsschädlichen Zustande, wie
viel mehr ist das in kleineren Städten der Fall, wo meist weder Spü¬
lung noch Kanalisation vorhanden sind, und wo oft der Abfluss der
1) Bollinger, Verwendbarkeit des an Infectionskrankheiten leidenden
Schlachtviehes. Vierteljahrsschr. f. öfTentl. Gesundheitspflege. Bd. 23. S. 101.
2) Schlockow, I. S. 248.
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Uehcrwachung des Fleischhandels auf dem Lande und in kleinen Städten. 161
Abwässer infolge der Boden- und Terrainverhältnisse ein ganz unzu¬
länglicher ist. Wie primitiver Art sind hier oft die Schlachträume?
Kleine Höfe und Thorbögen, die schlecht oder garnicht gepflastert
sind, werden als solche benutzt. Alles was beim Schlachten abfällt,
das Blut, der Inhalt der Magen und Gedärme wird entweder in Gruben
gesammelt oder lliesst in Gossen allmählich in die Flüsse ab. Auf
diese Weise werden fortdauernd dem Boden und den Flussläufen eine
Menge fäulnissfähiger Substanzen zugeführt. Besonders zur Sommer¬
zeit und bei Trockenheit, wenn nicht stärkere atmosphärische Nieder¬
schläge den Unrath fortspülen, machen sich diese Uebelstände vor
den Schlächtereien oft durch penetranten Geruch bemerkbar.
Da häufig auch die Räumlichkeiten sehr beschränkte sind, be¬
finden sich oft Schlachtort, Reinigungsort für die Gedänne und der
Platz für die Zerlegung des Fleisches innerhalb desselben Lokals. Ein
w r ie widerwärtiger Anblick ist es, wenn in unmittelbarer Nähe der an
den Wänden hängenden Fleischstücke die Kothmassen aus den Ge¬
därmen entleert oder Därme getrocknet und Häute, Hörner und Hüfe
zum Abholen aufbewahrt werden. Recht deutlich traten solche Miss¬
stände zu Tage gelegentlich einer im Jahre 1889 in Stade 1 ) vorge¬
nommenen Untersuchung der 18 Privatschlächtereien. Von diesen
entsprachen nur 3 den in gesundheitspolizeilicher Hinsicht nothwen-
digen Anforderungen. Alle übrigen veranlassten erhebliche Belästi¬
gungen und Gefahren für die Gesundheit der Nachbarn. „In 9 Schläch¬
tereien fehlte der zum Betriebe erforderliche Raum, Hofplätze waren
theilweise überhaupt nicht vorhanden und die Betriebsstätten in den
Wohnhäusern oder in kaum zugänglichen Hintergebäuden, sogar in
einem niedrigen Keller angebracht. Die Schlachträume befanden sich
mehrfach in einem Zustande, der genügende Reinhaltung unmöglich
machte, dagegen augenscheinlich den Erdboden mit Fäulnissstoffen
verunreinigte. Die Entleerung der Gruben für die Schlachtabfälle war
durch den Platzmangel so erschwert, dass die angetroffene Ueberfiil-
lung mit vollständig in Fäulniss übergegangenen Abfällen ebensowenig
auffallen konnte, wie das häufige Umhertreiben von Schläehtcreiab-
fällen in den öffentlichen Wasserläufen der Stadt.“
Aehnliche Verhältnisse boten die 30 in der Stadt Verden 2 ) zer-
1) G.-B. ü. d. ö. Gesundheitswesen im Regierungsbezirk Stade. 1889—91.
S. 146.
2) Ebenda S. 131.
Vierteljahrsschr. f. ger. Med. Dritte Folge. XIV. »Suppl.-Heft. | ]
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
162
Dr. Mölilfeld,
streuten Schlächtereien. Fast ohne Ausnahme gelangten dort die
flüssigen Abgänge in die Häuser und auf die Strassen. Die zur Auf¬
nahme der Abgänge vorhandenen Behälter waren auch in den neueren
Schlächtereien häufig so angelegt, dass sie das nöthige Gefälle nicht
erreichten. Eine nicht unbedeutende Schweineschlächterei wurde in
einem Winkel auf der Strasse betrieben. Nicht viel Besseres wird
aus anderen Regierungsbezirken berichtet.
Alle diese Uebelstände kommen durch die Errichtung eines öffent¬
lichen, ausschliesslich zu benutzenden Schlachthauses in Wegfall. Hier
kann einerseits bei den Schlachtverrichtungen, da weit mehr Raum
und Wasser zur Verfügung steht, die grösstmöglichste Sauberkeit
herrschen, andrerseits auch die Beseitigung der Abfälle in zweck-
mässigster Weise erfolgen, sodass von einer Verunreinigung des
Wassers und Bodens nicht mehr die Rede sein kann. Bis vor nicht
zu langer Zeit war man nun allgemein der Meinung, dass die Errich¬
tung eines öffentlichen Schlachthauses ein sehr kostspieliges Unter¬
nehmen sei und dasselbe sich nur in grossen, wohlhabenden Städten
rentiren könne. Man fürchtete sowohl, dass die Entschädigung an
die Schlachtstätteninhaber, wozu die Stadt durch das Gesetz vom
18. März 1868 betreffend die Errichtung öffentlicher Schlachthäuser,
verpflichtet ist, sich sehr hoch belaufen würde, als auch dass durch
die Schlacht- und Untersuchungsgebühren, welche von den Schlächtern
an die Schlachthof Verwaltung zu entrichten sind, eine erhebliche Stei¬
gerung der Fleischpreise herbeigeführt werde. Bald überzeugte man
sich jedoch, dass diese Befürchtungen vollständig grundlos waren und
die Schlachthäuser sich überall aufs Beste rentirten, ja an manchen
Orten bald noch zu einer Einnahmequelle für die Stadtverwaltung
wurden 1 ). Den Schlächtern wurde nur in äusserst seltenen Fällen
eine Entschädigungssumme ausbezahlt, die Meisten von ihnen wurden
dadurch von der Geltendmachung ihrer Ansprüche abgebracht, dass
ihnen aufgegeben wurde, ihre Schlachtanlagcn, falls sie nicht Verzicht
leisteten, so zu ändern, dass sie allen gesundheitspolizeilichen Anfor¬
derungen entsprächen. Auch eine Steigerung der Fleischpreise, die
auf Errichtung von Schlachthäusern mit Einführung des Schlacht¬
zwanges zu beziehen gewesen wäre, trat nur in manchen Orten in
unerheblicher Weise ein 1 ).
1) Pfeiffer, Verwaltungs-Hygiene. S. 122.
Digitized by
Go^ 'gle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
Ueberwachung des Fleischhandcls auf dem Lande und in kleinen Städten. 163
Rentabilität eines Schlachthauses in kleinen Orten.
Nach solchen Erfahrungen war es natürlich, dass man bald da¬
zu schritt, auch in kleineren Städten öffentliche Schlachthäuser zu er¬
richten und den Schlachtzwang einzuführen. Dass sich auch diese
gut verzinsen, beweist die im Jahre 1888 zu Arnsberg 1 ), einer Stadt
mit rund 7000 Einwohnern errichtete Anstalt. Die Baukosten be¬
trugen 77000 M. einschliesslich der Kosten des Grundstücks und der
Anlage für Beseitigung der Abfallstoffe. Letztere hat 2492 M. ge¬
kostet und besteht aus mehreren zu einem System verbundenen,
wasserdicht ausgemauerten Gruben. Die festen Stoffe werden aus
diesen abgefahren, die flüssigen gelangen, nachdem sie noch einen
Fällungsproccss mittels Kalk und schwefelsaurem Aluminium und
eine Filtrirvorrichtung von Koaks durchgemacht haben, schliesslich als
klares Wasser in die Ruhr. Der Rechnungsabschluss für das Jahr
1888/89 gestaltete sich folgcndermassen:
I. Einnahmen.
1.
Gebühren.
2828
M.
90
Pf.
2 .
Sonstige Einnahmen.
6
77
85
77
Summa
2835 M.
75
Pf.
II. Ausgaben.
i.
Verwaltungskosten.
640
M.
—
Pf.
2.
Betriebskosten.
855
77
06
77
3.
Unterhaltungskosten.
115
77
38
77
4.
Verzinsung und Amortisation. . .
152
77
85
77
5.
Zur Ansammlung eines Reservefonds
und für unvorhergesehene Ausgaben
1023
77
20
77
Summa
2786 M.
49
Pf.
III. Schluss der Rechnung.
1.
Einnahmen.
2835
M.
75
Pf.
o
Ausgaben.
2786
77
49
77
Mithin Bestand
49
M.
26 Pf.
Der Schlachthof zu Schwiebus (8500 Einwohner) ist von Ost¬
hoff 2 ) für eine Stadt von 10000 Einwohnern entworfen. Die Kosten
der Anlage sind zu 116000 M., also bei 10000 Einwohnern zu 11 M.
1) G.-B. ii. d. ö. Gesundheitswesen im Regierungsbezirk Arnsberg. 1886
bis 1888. S. 609.
2) Osthoff, Markthallen, Schlachthöfc und Viehmärkte. Jena 1894. S. 66.
Digitized by
Gck gle
11 *
Original from
UNIVERSITÄT OF IOWA
164
Dr. Möhlfeld,
60 Pf. für jeden Einwohner veranschlagt. Im Regierungsbezirk Oppeln
ist die regierungsseitig angeregte Erbauung von öffentlichen Schlacht¬
häusern bereits soweit gediehen, dass sämmtliche Städte mit mehr
als 5000 Einwohnern sich der Wohlthat eines Schlachthauses erfreuen.
In Württemberg und Baden sind auch die meisten kleineren Städte
mit nur 3000 Einwohnern und darunter im Besitze von Schlacht¬
häusern. Achnlieh verhält es sich in Elsass-Lothringcn. Hier ent-
fallen von 69 öffentlichen Schlachthäusern 18 auf Gemeinden mit
weniger als 2000 Einwohnern 1 ).
Zweckentsprechende Einrichtung eines Schlachthauses
für kleine Städte.
Osthoff 2 ) hat in einer kleinen Schrift nachgewiesen, wie sich mit
geringen Mitteln solche zweckentsprechende Schlachthöfe für kleine Städte
schaffen lassen, und dass dieselben unter normalen Verhältnissen ihre An¬
lagekosten bei geringen Schlachtgebühren stets zu verzinsen ira Stande
sind. Nach seinen Angaben kann die Schlachthof-Anlage für eine kleine
Stadt nur dann mit den geringsten Kosten bei vollkommener Zweck¬
erfüllung zur Durchführung gelangen, wenn man die Schlachtungen
der verschiedenen Thiergattungen in möglichst wenige Räume zu¬
sammendrängt und möglichst viele Räume unter einem Dach vereinigt.
Dabei macht er jedoch ausdrücklich darauf aufmerksam, dass in jedem
Schlachthof, so klein derselbe auch sein mag, zwei Schlachträume
nebst Stallungen in vollständig getrennten Gebäuden für gesundes und
krankes Vieh, dann auch noch ein gesonderter Raum zum Abstechen,
Brühen und Enthaaren der Schweine vorhanden sein müsse, damit der
heisse Dunst, der beim Brühen entstehe, von den zum Auskühlen
aufgehängten Thieren fern gehalten werde. Was die Lage eines
Schlachthauses anbetrifft, so muss dasselbe ausserhalb der Stadt, aber
möglichst nahe dem Verkehrsmittelpunkt des Ortes liegen, und mög¬
lichst so, dass dasselbe nicht inmitten der zukünftigen Bebauung
liegt. Ein das lästige Durchtreiben des Viehes durch die Städte zu
verhüten, ist es rathsam, das Schlachthaus in die Nähe derjenigen
Strasse zu legen, auf der das meiste Vieh angetrieben wird, oder wo
dasselbe aus mehreren Richtungen zuströmt, diese verschiedenen
Strassen ausserhalb der Stadt mit dem Schlachthofe zu verbinden.
1) Ostertag, 1. c. S. 44.
2) Osthoff, Schlachthöfe für kleine Städte.
Digitized by
Gck gle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Uebcrwachung des Fleischhandels auf dem Lande und in kleinen Städten. 165
Ferner empfiehlt Osthoff 1 ), wenn möglich die Anlage durch einen
Schienenstrang mit dem nächsten Bahnhof zu verbinden, besonders
wenn ein Viehmarkt im Anschluss an den Schlachthof geschaffen
werden soll. Bezüglich der Entfernung der Abgänge räth Osthoff 1 )
den Schlachthof in einer nicht canalisirten Stadt an den unteren Lauf
eines Flusses zu legen, in einer canalisirten so, dass die flüssigen
Abgänge die städtischen Kanäle möglichst wenig durchlaufen, und
dass diese Canäle dann möglichst weit unterhalb in den Fluss gehen.
Ist jedoch ein passendes Grundstück am unteren Laufe eines Flusses
nicht zu bekommen, oder ist weder ein Fluss, noch ein genügend
Wasser haltender Bach, noch eine Kanalisation vorhanden, so ist man
nach Osthoff genöthigt, Abwässerreinigungsanstalten auf dem Schlacht¬
hofe anzulegen, welche nicht nur auf mechanischem, sondern auch auf che¬
mischem Wege die Abwässer reinigen können. Ein häufig angewendetes
und bewährtes System ist das von Al. Friedrich und Glas in Leipzig.
Kläranlagen, welche die festen Stoffe mechanisch aus den Abwässern
entfernen, sind überall da nöthig, wo dieselben die städtischen Kanäle
durchfliessen, oder wo nicht ein genügend grosser Fluss vorhanden ist.
Für die Unterbringung und Entfernung des Düngers dürfte wohl fol¬
gende Anlage am zweckmässigsten sein: In dem Fussboden einer
zum Theil seitlich offenen überdachten Plattform befinden sich eine
oder mehrere trichterförmige Oeffnungen, unter denen eiserne Dünger¬
wagen stehen. In diese Fussbodenöffnungen der Plattform wird der
Dünger geschüttet und fällt so in den Wagen. Sobald derselbe ge¬
füllt ist, wird er abgefahren und durch einen anderen ersetzt. Diese
Art der Düngerabfuhr empfiehlt sich aber nur dann, wenn in der
Nähe der Stadt Grundbesitzer vorhanden sind, welche zu jeder Zeit
den Dünger bezw. die Abfuhrwagen abholen. Diese werden sich na¬
mentlich in der Umgebung von kleineren Städten, wo meist viel
Landwirtschaft getrieben wird, fast immer finden Dann ist für
Wasser auf dem Schlachthofe reichlich zu sorgen. Am besten ist cs,
auf dem Schlachthofe Brunnen anzulegen, das Wasser mittels Dampf¬
pumpen zu heben und in ein oder mehrere Hochbehälter zu drücken.
Damit ein Schlachthaus im Sommer möglichst kühl, im Winter mög¬
lichst warm ist, müssen die Mauern stark und ferner das Gebäude
von Nord nach Süd gestellt sein, damit im Sommer die Mittagssonne
nicht durch die Fenster dringen kann. Genügendes Tageslicht erhält
1) Usthoff, Markthallen, Schlachthüfc und Viehmärkte. S. 2<S.
Digitized by
Gck gle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
166
Dr. Möhlfeld,
man am besten durch Oberlicht. Ferner ist für gute Lüftung zu
sorgen. Dies ist nach Osthoff 1 ) nur möglich durch systematische
Zuführung frischer und Abführung der verdorbenen Luft, er empfiehlt
dafür die patentirten Constructionen der Luftsauger und der Zufüh¬
rung erwärmter Luft für die Brühkessel von Alexander Huber in
Köln a. Rhein. Die Fenster richtet Osthoff als Schiebefenster zum
Oeffnen ein jedoch so, dass unten und oben ein Stück geöffnet wer¬
den kann, während das Mittelstück fest bleibt. Die Wände der
Schlachthäuser werden am besten in 2,0 m Höhe in gebügeltem
Cementmörtel verputzt oder mit glasirten hellen Ziegeln verkleidet.
Der Fussboden muss so eingerichtet sein, dass das Wasser beim
Reinigen rasch und vollständig abfliesst, er darf kein Schmutzwasscr
in sich aufnehmen, auch keine Rillen und Löcher enthalten, in welchen
Wasser und Schmutztheilc leicht Zurückbleiben. Dabei muss er fest,
dauerhaft und zäh sein und darf beim Auffallen von schweren eisernen
Gegenständen nicht zerspringen, auch darf er nicht glatt sein, damit
die Schlächter bei ihrer Arbeit nicht ausgleiten. Reparaturen müssen
leicht auszuführen sein. Alle diese Eigenschaften hat nach Osthoff 2 )
ein Cementfussboden, der aber nicht geglättet, sondern nur mit höl¬
zernen Kellen rauh abgerieben wird. Zum Dach der Schlachthallen
empfiehlt sich Holzcement, welcher sehr dick ist, Wärme und Kälte
abhält und sehr wenig Reparaturen erfordert. Was die weitere innere
Einrichtung der Schlachträume anbetrifft,so ist das dcutscheHallensystem
dem französischen Zellensystem vorzuziehen, ein Mal aus Billigkeitsrück¬
sichten, ferner auch noch weil letzteres ira Vergleich mit dem deutschen
System erhebliche Nachtheile, namentlich in Bezug auf die Ueberwachung
der Schlachtungen und der Reinhaltung der Schlachträume hat. Dann ist
es ein Haupterforderniss auch für kleine Schlachthöfe, dass besondere
Kühlräumc zur Aufbewahrung des Fleisches vorhanden sind, aus welcher
die Schlächter nur immer den nöthigen Tagesbedarf entnehmen dürfen.
Hierdurch wird längeres Lagern von Fleisch in den Häusern der
Schlächter vermieden, wo es oft in dunklen, dumpfigen Kellern auf
zweifelhaften Eiskästen aufbewahrt wird und schon nach kurzer Zeit
an Widerstandsfähigkeit verliert und einen üblen Geruch und ein
schlechtes Aussehen annimmt. In früherer Zeit erbaute man Eis¬
keller, um das Fleisch im Sommer vor Verderben zu schützen, er-
1) Osthoff, Schlachthüfe für kleine und mittelgrosse Städte. S. 35.
2) Osthoff, Markthallen, Schlaehthöfe und Viehmärkte. S. 31.
Digitized by
Go^ 'gle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
Ueberwachung des Fleischhandels auf dem Lande und in kleinen Städten.- 167
reichte dies aber nur in sehr unvollkommener Weise, da das Fleisch
sich schon nach wenigen Tagen mit einem feuchten Schimmel über¬
zog und an Güte abuahm. Jetzt dagegen hat man sehr zweckmässige
Maschinen construirt, durch welche die Luft in den Kühlhäusern künst¬
lich abgekühlt und getrocknet wird. Fleisch hält sich am längsten,
wenn es in einer trockenen Luft bei einer Temperatur von -f- 2°
bis -f- 5°C. aufbewahrt wird. Eine gute Kühlcinrichtung muss nun
zwei Bedingungen erfüllen: 1 die Kühlhausluft auf diese Temperatur
abkühlen, 2. dieselbe zugleich von ihren Wasserdämpfen soweit be¬
freien, dass sie im Stande ist, die Feuchtigkeit aufzunehmen, welche
das zu kühlende Fleisch bei der Abkühlung von sich giebt. Diese
Bedingungen werden erfüllt durch die Linde’schen Eismaschinen in
Wiesbaden, welche sich nach Ansicht vieler Sachverständiger durch
vorzügliche Wirkung und geringen Aufwand auszeichnen sollen. Der
Kühlraum selbst, in welchem durch die Kühleinrichtungen entweder
die Luft abgekühlt oder in welchen abgekühlte Luft eingetrieben wird,
soll 3 Bedingungen erfüllen:
1. der innere Raum soll so eingerichtet sein, dass das Fleisch
darin und zwar am besten in verschlossenen Zellen bequem aufge¬
hängt werden kann;
2. die Zellen und der innere Kühlraum müssen so beschaffen
sein, dass die kalte Luft den ganzen Raum durchstreichen und das
Fleisch von allen Seiten umspülen kann;
3. die Aussenwände, die Fenster und Thüren müssen so con¬
struirt sein, dass ein Tcmperaturausgleich zwischen der äusseren und
der inneren Luft in möglichst geringem Maassc stattfinden kann.
Aus diesen Gründen ist der innere Kühlraum als möglichst freier
Raum zu construiren und nur durch eiserne Säulen, nicht aber durch
Wände zu unterbrechen.
Dass durch eine solche Kühlanlage eine Schlachthofanlage sich
zwar vertheuert, ist einleuchtend, doch ist, wie Osthoff nachgewiesen
hat, diese Vertheuerung nicht derartig, dass man in kleinen Städten
von einer solchen Anlage absehen muss. Auch in kleinen Städten
können sowohl die jährlichen Ausgaben für die Kühlanlage, als auch
eine 4procentige Verzinsung des Anlagekapitals durch Miethe für den
Kühlraum vollständig gedeckt werden. Die folgende nach Osthoff
aufgestellte Tabelle giebt ein Bild, wie sich Schlachthöfc mit und
ohne Kühlanlagen in kleinen und mittleren Städten verzinsen.
Digitized by
Gck gle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
168
ßr. Möhlfeld,
i*— t—»i—»
Oü'CO’OOiOOOOttOO^OO-lCLO'
oooooooooooooooo
oooooooooooooooo
oooooooooooooooo
Einwohnerzahl der Stadt
40 000
48 000
52 000
60 000
67 000
70 000
84 000
112 000
135 000
160 000
200 000
240 000
280 000
320 000
360 000
400 000
s
Kosten des Schlachthofes
ohne Kühlanlage
IO tc U) W U) W U» ^ ^ CR Ü» O O O
oooooooooooooooo
oooooooooooooooo
oooooooooooooooo
K
Kosten der Kühlanlage
(mit Kühlraum)
60 000
68 000
72 000
85 000
92 000
95 000
118 000
146 000
177 000
202 000
262 000
302 000
342 000
402 000
442 000
482 000
K
Gesammtkosteo
05 03 t>0 *© t>D 'L i-» ►-*
•-‘©u>oo4-©©4»*fco©oo-^i-^i©oirf^
©©oo-<i©cnto^303cc>i>ö©©4*--<iao
©0©©©©Ö©©4^©0"4»>4*©©
©©©©©©©©©©©ooooo
s
Jährliche Ausgaben des
Schlachthofcs ohne Kühl¬
anlage
1—‘ H-‘ H-*
©©©00 00 00rf**tf^0505050305fc0t0t3
©©©tOtOI>S©©©©©©©rf^tfwtf>.
©©OOOOOCZ)i.O(OOOtf*-^^tOWlO
©©©©©©©©©ooo©©©©
SJ
Jährliche Ausgaben für die
Kühlanlage bei 6 Monaten
Betriebsdauer
^^IWaihÖCOH-tDCSWMOOCDOO^
©Cnrf*.©0O^Ih-©i>0-4K>©©0o>-‘t>&
©©©GOOOGOI>OGO©^4^©GO Ci OO U)
©©©©©©©©©©©OOOOO
SS
Summe der jährlichen Aus¬
gaben eines Schlachthofes
mit Kühlanlage
(^ü'WüuDtoajOJCDüiCOH-o^-siai
©O'OOOCnO^üiaiO-Ji^MCOO^
29S5QOOOOOOQQOOO
©©©©©©©©©©©ooooo
«
aus dem Schlacht¬
hofe ohne Kühl¬
anlage
Jährliche
Einnahmen
t—» * H-» 1—* H-* H-*
0$c»05©©©©©üi<0'rfi*rf>»4*0ö0$03
COOOCß^—l^J©©tOK)©©©t>S>l>D»ND
CCCßa>©©©©©©©^4>*4-*tOK,K>
©©©©©©©©©©©©©©©©
SS
aus der Kühlanlage
OOU)Cn©<X>C»tO©rf^©-qcnrf*.|>OH-©
OOCOOOIO^JU)©©-JQO©-^4».03©-*3
COOOOO©©©©©©©^|^4*-tNE>fcOK)
ooo©©©©©©©©©©©©©
SS
Summe der jährlichen
Einnahmen
t>£> tO >— 1 ^ ‘ *
rf^»►-^©©4k.l>Ö©Gc^lCntf»^tf^.OSK>tOH-
©Ot00DiK©00©l>5^100©00©©-^l
OOOOOOO^OaiOü’CiCi^O
OOO©©©©©©©©©©©©©
2S
Jährlicher Gewinnüber¬
schuss des Schlachthofcs
ohne Kühlanlage
© j© © © j© © ©©©©©©CnC^tf^rf^
© © © © © © rfx Co co ©'©'©'to'Vo
©©0©©©05©©©©©©^ü>0^
pGt.
Verzinsung des Anlage-
Capitals
IO l>£i tO »—• h-k >—• i—» h-»
-44^tO©©4^H-©<x^:iO'Cn4*‘03tOtO
1.0 'Cß rfi* 1^ CO W O' ►-* O) © Ow C/} Ü'
c/DOsccaDaoaDGoto©^©^©©^©
0©00000©©0©©©0©©
£
Jährlicher Gewinnüber¬
schuss des Schlachthofes
mit Kühlanlage
O 1 w» pi ü\C* O' O" OiC^CS©Citn^^rf^
© © Ol © b^o* © <X> CO © >-» ^ t—'bl ’r—» b.
© 05 © 4^ © tO C£> 05 .4- 4- © © 05 -vl oo
pCt.
Verzinsung des Anlage-
Capital s
Digitized by C^Quoie
Original from
UMIVERSITY OF IOWA
Jährliche Verzinsung eines Schlachthofes mit und ohne Kühlanlage.
Ueberwachung des Fleischhandels auf dem Lande und in kleinen Städten. 1G9
Freibankfrage.
Ferner ist es auch für kleinere Orte noch ein wesentliches Er¬
forderniss, mit dem Schlachthof eine Freibank zu verbinden. Wenn
auch die Zahl der kranken Thiere keine sehr grosse ist, so darf man
trotzdem nach Bo Hing er 1 ) dem durch die Schlachtthiere repräsen-
tirten Theile des nationalen Vermögens doch nur soviel durch Con-
liscation entziehen, als unbedingt zum Schutze der menschlichen Ge¬
sundheit erforderlich ist. Dass dennoch, wenn auch überall in Deutsch¬
land Freibänke oder freibankähnliche Einrichtungen beständen, noch
jährlich viele Millionen Mark in Form schlechten Fleisches wegge¬
worfen würden, kann man schon aus der Zahl der auf dem Central¬
viehhof in Berlin beanstandeten Thiere ersehen. Vom 1. April 185)1
bis 30. März 1892 2 3 * ) wurden daselbst nach der Schlachtung wegen
verschiedener Krankheiten beanstandet und nicht zum Verkauf zuge¬
lassen, sondern meist der Abdeckerei überwiesen:
Rinder . . . 1819,
Kälber ... 180,
Schafe . . . 111,
Schweine . . 5049.
Nimmt man nun das Fleischgewicht eines Rindes zu 200 kg, eines
Kalbes zu 25 kg, eines Schafes zu 15 kg und eines Schweines zu
110 kg, ferner die Kosten für 1 kg Fleischgewicht vom Rind zu 2 M.,
vom Kalb zu 1,20 M., vom Schaf zu 1,20 M. und vom Schwein zu
1,40 M. an, dann sind nach dieser Annahme im Jahre 1891/92
1512544 M. in Berlin in Form von schlechtem Fleisch weggeworfen.
Der Werth des im Jahre 1889 im Greifswalder 8 ) Schlachthause ver¬
worfenen Fleisches beläuft sich auf 14—15000 M. Könnte man eine
solche Berechnung für ganz Deutschland anstellen, so kämen viele
Millionen Mark heraus, und die obige Forderung von Bollinger hat
demnach ihre volle Berechtigung. Zudem ist man auch vom socialen
Standpunkte aus verpflichtet, bei den gegenwärtigen hohen Fleisch-
preisen auch den Haushaltungen unbemittelter Stände eine möglichst
billige und dabei gesunde Fleischnahrung zu beschaffen. Dieses ist
1) Ueber die Verwendbarkeit des anlnfectionskrankheiten leidenden Schlacht¬
viehes. Diese Vierteljahrsschr. 1891. S. 95.
2) Das öffentliche Gesundheitswesen und seine Ueberwachung in Berlin.
1889-91. S. 132.
3) G.-B. ü. d. ö. Gesundheitswesen im Regierungsbezirk Stralsund. 1889
bis 1891. S. 70.
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSITÄT OF IOWA
170
Dr. Möhlfeld,
nun leicht möglich, da nach bekannten Thatsachen und wissenschaft¬
lichen Erfahrungen feststeht, dass nicht jede Erkrankung der Schlacht-
thiere das Fleisch vom Genuss ausschliesst, sondern dass dasselbe
noch sehr oft, häufig allerdings im gekochten Zustande zum mensch¬
lichen Consum zugelassen werden kann. Wo nun überhaupt Schlacht¬
höfe bestehen, ist cs am empfehlenswerthesten, den Verkauf dieses
minderwerthigen Fleisches nur hier zu gestatten, da es in den Häusern
der Schlächter sehr leicht als vollwerthige, bankwürdige Waare ver¬
kauft werden könnte. In den Schlachthöfen aber bietet die amtliche
Controle die Garantie, dass solches Fleisch zu niedrigem Preise und
unter der ausdrücklichen Angabe der fehlerhaften Beschaffenheit even¬
tuell nur in gekochtem Zustande oder doch mit der Mahnung verkauft
wird, dasselbe nur nach gehörigem Kochen zu geniessen.
Da in kleinen Städten und deren Umgebung viele Leute, und
gerade wenig bemittelte, sich ein bis zwei Stück Vieh halten, so liesse
sich mit der Freibank noch die Einrichtung treffen, dass jeder Be¬
sitzer im Fall einer Nothschlachtung, die womöglich immer im
Schlachthofe stattzufinden hat, das Fleisch selbst auf der Freibank zu
vorgeschriebenem Preise verkaufen kann, wenn es zum Genüsse zu¬
lässig befunden ist. Auf diese Weise kann ein Besitzer häufig noch
eine ganz ansehnliche Summe aus einem solchen Stück Vieh heraus¬
schlagen, während ihn auf andere Weise ein weit grösserer Verlust
treffen würde. Ein betrügerischer Zwischenhandel mit nicht bank¬
würdigem Fleische wird in kleinen Städten schon durch die gegen¬
seitige Controle der Einwohner verhindert, trotzdem ist immerhin an-
zurathen, den Verkauf nur in kleinen Quantitäten zu 3—5 kg zu
gestatten und Schlächter, Händler, Wirthe und eventuelle Beauftragte
dieser Personen vom Erwerbe dieses Fleisches auszuschliesscn. Dass
die Einrichtung einer Freibank sich auch in kleinen Schlachthöfen be¬
währt, beweisen im Regierungsbezirk Königsberg: Heiligenbeil (3761 Ein¬
wohner), Labiau (4862 Einwohner), Guttstadt (4503 Einwohner), im
Regierungsbezirk Hildesheim: Münden (7220 Einwohner), Osterode am
Harz (6757 Einwohner), Northeim (6694 Einwohner), Orte, wo über¬
all Schlachthäuser mit Freibank oder freibankähnlicher Einrichtung
bestehen. Ebenso wird aus dem Regierungsbezirk Oppeln berichtet 1 ),
1) G.-ß. ü. (I. ü. Gesundheitswesen im Regierungsbezirk Oppeln. 18S9 -91.
S. 95.
Digitized by
Gck gle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Ueberwachung ries Fleischhandels auf dem Lande und in kleinen Städten. 171
dass die in den dortigen Schlachthäusern vorhandenen Freibänke sich
grosser Beliebtheit in der ärmeren Bevölkerung erfreuen. Bei der
Freibankfrage für kleine Städte sei nochmals hervorgehoben, dass die¬
selbe sich schon aus dem Grunde besonders für kleine Städte eignet,
weil man den Verbleib des Fleisches besser als in grossen Städten
controliren kann.
Spccielle Massnahmen zur Verhütung weiterer Erkran¬
kungen von Schlachtthieren.
Feber die in den Schlachthäusern entdeckte Erkrankung des
Schlachtviehes sollte jede Schlachthausverwaltung den Besitzern oder
Züchtern des Viehes Mittheilung machen, um diese in den Stand zu
setzen, die zur Tilgung sowie zur Verhütung der Verbreitung der
Krankheit geeigneten Massregeln zu treffen. In der Provinz Schleswig-
Holstein 1 ) geschieht dies auf Anordnung der Königlichen Regierung
auch schon in soweit, als die Schlachthaus-Verwaltungen angewiesen
sind, von jedem Fall von Tuberculose dem Verkäufer oder Züchter
des Viehes eine genaue Mittheilung zu machen.
Unter wessen Leitung sollen Schlachthäuser in kleinen
Orten stehen?
Der Leiter eines solchen Schlachthofes soll womöglich immer
ein Thierarzt sein. Wo in kleinen Orten die Verhältnisse dies nicht
gestatten und die Leitung einem Laien übertragen werden muss, da
ist auf jeden Fall die Einrichtung empfehlenswerth, dass ein Thier¬
arzt im Nebenamte angestellt wird, der an den Schlachttagen die
Untersuchung der Thiere auszuführen hat. Nur so erhält das Publi¬
cum die Garantie, dass eine sachgemässe Untersuchung der Schlacht-
thierc stattfindet.
Auch bezüglich des Kostenpunktes ist cs vorteilhafter, die
Untersuchung durch einen Thierarzt vornehmen zu lassen, da so die
Ausgaben fortfallen, die durch die jedenfalls sehr häufig vorkommen¬
den tierärztlichen Superrevisionen entstehen würden, wenn die Unter¬
suchung von einem empirisch vorgebildeten Laien ausgeführt wird.
1) G.-B. ii. (1. ö. Gesundheitswesen in der Provinz Schleswig-Holstein.
188G—88. S. 137.
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
172
Dr. Möhlfeld,
Ucberwachung der Einfuhr von ausgeschlachtetem Fleisch
in Orten mit Schlachthäusern.
Von grosser Wichtigkeit ist nun noch für Städte mit Schlacht¬
häusern, die Einfuhr von auswärts geschlachtetem Fleisch möglichst
streng zu überwachen, um der Möglichkeit vorzubeugen, dass Fleisch
von kranken Thieren eingeführt und hierdurch nicht nur die Gesund¬
heit gefährdet, sondern auch noch den einheimischen Schlächtern eine
nicht zu ertragende Concurrenz bereitet wird. Wenn daher die städti¬
schen Behörden das Bestreben haben, die Einfuhr von auswärts ge¬
schlachtetem Fleisch möglichst zu erschweren und den Fleischhandel
mehr und mehr im Orte selbst zu centralisiren, so ist dies Bestreben
im öffentlichen Gesundheitsinteresse und zur Ausübung einer wirk¬
samen Ueberwachung des Fleischhandels als sehr erwünscht za be¬
zeichnen. Um die Einfuhr von krankem Fleisch möglichst zu ver¬
hindern, ist die Bestimmung sehr empfehlenswerth, dass auswärts
geschlachtetes Fleisch nur in Hälften oder Vierteln womöglich aber
noch im Zusammenhänge mit den Eingeweiden eingeführt werden
darf, und dann von einem amtlichen Fleischbeschauer zu untersuchen
ist. In der Stadt Eberswalde ist bezüglich des von auswärts einge-
brachten Fleisches durch ein Regulativ von 1887 1 ) die sehr beachtens-
werthe Bestimmung getroffen, dass Jeder, welcher frisches Fleisch in
die Stadt bringt, um es zu verkaufen, in Gast-, Schank- oder Speise-
wirthschaften zum Genuss für Gäste zuzubereiten, der Polizeibehörde
dieses anzeigen und den Nachweis führen muss, dass das Fleisch in
dem städtischen oder einem anderen öffentlichen Schlachthause hin¬
sichtlich seiner gesunden Beschaffenheit untersucht worden ist. An
der Verkaufsstelle müssen in deutlicher 8 cm grosser Schrift mit
weisser Oelfarbe auf schwarzer Tafel die Worte „auswärts geschlachtet“
angebracht sein, ebenso an den Transportmitteln bei dem Einbringen.
Die Ausfuhr von gesundheitsschädlichem Fleisch wird in Orten mit
Schlachthäusern durch die Bestimmung verhindert, dass dasselbe aus
dem Schlachthof nicht entfernt werden darf. Hier ist noch zu er¬
wähnen, dass auch bei dem Transport des Fleisches an vielen Orten
sich grosse Uebelstände gezeigt haben, indem das Fleisch häufig auf
unsauberen Wagen den nachtheiligen Einflüssen der Witterung, des
Staubes und Ungeziefers ungeschützt über grössere Wegestrecken aus-
1) G.-B. ü. cf. ö. Gesundheitswesen im Regierungsbezirk Potsdam. 188(5
bis 1888. S. 91.
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
Ueberwachung dos Flcisclihandels auf dem Lande und in kleinen Städten. 173
gesetzt wird. Diesem Lnfugc muss durch eine Polizei-Verordnung
Abhülfe geschaffen werden. Sehr empfehlenswerth ist in dieser Be¬
ziehung die im Regierungsbezirk Oppeln 1 ) im Jahre 1886 erlassene
Verfügung. Dieselbe bestimmt, dass die zum Fleischtransport ver¬
wendeten Gefühlte mit Zinkblech oder verzinntem Eisenblech innen
auszuschlagen, nach jedesmaligem Gebrauch sauber zu reinigen und
zum gleichzeitigem Transport anderer Gegenstände nicht zu verwen¬
den sind. Ausserdem wird das Sitzen auf und neben dem Fleische
untersagt und die Bedeckung des Fleisches beim Transport auf
offenen Wagen oder Austragen auf der Schulter mit einem reinen
leinenen Tuche angeordnet. Ausserdem wäre noch anzuordnen, dass
bei Regenwetter das Fleisch auch noch mit einem wasserdichten Stoffe
zu bedecken wäre.
Leberwachung des Fleischhandels in Orten ohne Schlacht¬
häuser durch Anstellung von amtlichen Fleischbeschauern.
Was nun die Ueberwachung des Fleischhandels auf dem Lande
und in ganz kleinen Städten anbetrifft, so muss man hier natürlich
von der Erbauung öffentlicher Schlachthäuser absehen, da sie bei dem
geringen Schlachtbetriebe doch zu wenig benutzt würden, um sich
einigermassen bezahlt zu machen. Die untere Grenze der Einwohner¬
zahl, bis zu der die Errichtung öffentlicher Schlachthäuser anzustreben
wäre, lässt sich nicht genau angeben, da sich dieses zum grössten
Theil nach den localen Verhältnissen richtet. Wenn im Grossen und
Ganzen auch der Schlachtbetrieb zu der Einwohnerzahl im geraden
Verhältniss steht, so wird sich doch in allerdings kleinen, aber ver¬
kehrsreichen Orten, wo vielleicht noch starker Exporthandel mit aus¬
geschlachtetem Fleisch betrieben wird (Gütersloh: westfälischer Schin¬
ken, Aurich, Norden: ostfriesisches Fleisch), weit eher die Anlage
eines Schlachthauses rentiren, als in Ortschaften mit oft bedeutend
grösserer Einwohnerzahl, die aber abgeschlossen liegen und keinen
Handel und Verkehr haben, ln dicht bevölkerten Gegenden, wo viele
kleinere Ortschaften zusammenliegen, empfiehlt es sich ferner noch,
dass sich mehrere derselben zusammenthun und einen gemeinschaft¬
lichen Schlachthof erbauen. Auf diese Weise können in manchen
1) G.-B. ü. <1. ö. Gesundheitswesen im Regierungsbezirk Oppeln. 1886—91.
8. 93.
Digitized by
Gck gle
Original frnm
UNIVERSITÄT OF IOWA
174
Dr. Mülilfeld,
Gegenden selbst die kleinsten Gemeinden die Vortheile eines Schlacht¬
hauses gemessen. Wo es nun nicht möglich ist. Schlachthäuser zu
errichten, geschieht die Ueberwachung des Fleischhandels am besten
nach Analogie der in Süddeutschland mit grossem Erfolge durchge¬
führten Einrichtungen.
Hiernach ist cs vor allem erforderlich, die obligatorische Fleisch¬
beschau überall streng durch zu führen, so dass auch in Gegenden ohne
Schlachthäuser jedes zum Genuss für Menschen bestimmte Sehlacht-
thicr vor und nach dem Schlachten untersucht wird.
In Ortschaften, wo ein Thierarzt seinen Sitz hat, ist dieser in
erster Linie zur Wahrnehmung der Fleischschau zu berufen, da er
die competcntestc Persönlichkeit dazu ist. In Süddeutschland ist
daher auch die Verordnung 1 ) getroffen, dass Ausnahmen hiervon nur
mit Genehmigung der Regierung gemacht werden dürfen. Wo in
kleinen Orten ein Thierarzt nicht vorhanden ist, ist man gezwungen,
um die obligatorische Fleischschau auch hier durchführen zu können,
empirische Fleischbeschauer anzustellen, in ähnlicher Weise wie dies
bei der Trichinenschau der Fall ist. Bei der Auswahl der zu einem
solchen Amte passenden Person, ist sowohl auf Zuverlässigkeit und
Charakterfestigkeit, als auch auf Intelligenz und eine gewisse Summe
von Schulkenntnissen möglichst Rücksicht zu nehmen.
Von vornherein auszuschliessen sind, ähnlich wie in Süddcutsch-
land, Viehversicherungsagenten und Schlächter, da bei diesen immer
die Gefahr vorhanden ist, dass sie die Interessen der Versicherungs¬
gesellschaft beziehungsweise ihrer Berufsgenossen mehr im Auge
haben, als das öffentliche Wohl und so leicht zur Verletzung ihrer
Amtspflichten kommen können.
Bezahlung der Fleischbeschaucr.
In manchen Gegenden wird die Personalfrage nun gewiss auf
Schwierigkeiten stossen, wie dies auch schon so häufig bei der Wahl
eines Trichinenschauers der Fall ist. Um diese Schwierigkeit zu über¬
winden und möglichst geeignete Leute für dieses Fach zu gewinnen, ist cs
wohl vor allem geboten, die Fleischbeschauer so gut wie möglich zu be¬
zahlen. Wenn in dem bayrischen Kreise Oberfranken die Gebühren für
die Untersuchung eines grossen Schlachthieres 24 Pf., eines kleinen
12 Pf. betragen und diese in eineinen Orten durch allgemeinen Brauch
1) Ostertag, 1. c. S. 60.
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UMIVERSITY OF IOWA
Ucberwachung dos Fleischhandels auf dem Lande und in kleinen Städten. 175
noch auf 20 Pf. resp. 10 Pf. heruntergedrückt sind 1 ), so nimmt es
bei einer solchen Bezahlung nicht Wunder, wenn der Fleischbeschauer¬
stand sehr in Misscredit kommt und sich nur schwer eine geeignete
Person dazu bereit findet. Desshalb ist alles daran zu setzen, dass
die Fleischbeschauer eine gute Bezahlung für ihre Thätigkeit erhalten.
Als angemessene Gebühr für eine wirklich gewissenhafte Untersuchung
eines Stück Kleinviehes sind 50 Pf., eines Stück Grossviehes 2 M.
zu bezeichnen, Sätze wie sie durch einzelne Gemeindefleischbeschau¬
verordnungen in der Rheinprovinz eingeführt sind 2 ). Für Unter¬
suchungen ausserhalb des Wohnortes muss der Fleischbeschauer ent¬
sprechende Kilometergelder erhalten, wie es auch die Verfügung für
Hessen-Nassau vom 1. Juli 1892 vorschrcibt. Um Konflikte und
Unterschleife zu vermeiden, erfolgt die Bezahlung am besten, wie es
in Baden 3 ) schon lange üblich ist, aus der Gemeindekasse, welche
ihrerseits wieder die Beiträge für die Untersuchungen von den be¬
treffenden Gemeindemitgliedern einzieht.
Ausbildung von empirischen Fleischbeschauern.
Die Ausbildung der empirischen Fleischbeschauer geschieht wohl
am gründlichsten in Cursen, die in regelmässigen Zwischenräumen
unter thierärztlicher Leitung an öffentlichen Schlachthäusern abgc-
halten werden. Die Zulassung zur Ausbildung darf, ähnlich wie bei
den Hebammenaspirantinnen nur erfolgen auf Grund zweier amtlicher
Nachweise, vom Kreisphysikus über die allgemeine Befähigung zum
Amt eines Fleischbeschauers, von der Polizeibehörde über die dazu
erforderliche Zuverlässigkeit und Unbescholtenheit. Auf diese Weise
ist es möglich, ungeeignete Elemente von vornherein vom Fleischbc-
schauerberuf fernzuhalten. Die Kurse selbst dürfen nicht zu kurz
sein und müssen nach Ostertag 4 ) mindestens 6 Wochen betragen.
Empfehlenswerth ist es wohl, wenn die betreffenden Personen dann
auch zugleich als Trichinenschauer ausgebildet werden, so dass ihnen
später in einem Orte die gesammte Fleischschau übertragen werden
kann. Hierdurch wird die Sache sehr vereinfacht, und werden auch
1) Lebrecht, Die Fleischbeschau auf dem Lande und Vorschläge zu deren
Verbesserung. Zeitschr. f. Fleisch- u. Milchhygiene. 1892. S. 170.
2) Ostertag, 1. c. S. 117.
3) Maier, Die Fleischbeschau auf dem Lande. Zeitschr. f. Fleisch- und
Milchhygiene. 1892. S. 191.
4) Ostertag, 1. c. S. 114.
Digitized by
Gck igle
Original from
UMIVERSITY OF IOWA
176
Dr. Mrthlfcld,
noch die Einkünfte der Fleisch beschau er bedeutend erhöht, so dass
dieses Amt don Charakter einer blossen Nebenbeschäftigung mehr
und mehr verliert, ein Umstand, der, wie Bleisch 1 ) mit Recht her-
vorhebt, die Lösung der Pcrsonalfrage in vielen Ortschaften wesentlich
erleichtert. Aus demselben Grunde hat auch die Kosten der Aus¬
bildung am besten die Gemeinde zu tragen. Am Schluss der Cursc
hat eine Prüfung stattzufinden. Bleisch 1 ) macht den bemerkens-
werthen Vorschlag, dass dieselbe am besten vor einer Kommission
bestehend aus dem Leiter der Curse, einem beamteten Thierarzt und
einem Krcisphysikus abgehalten wird, und der Kandidat darin nach-
weisen muss, dass er sich folgende Kenntnisse in genügender Weise
ungeeignet hat:
1. Kenntnisse der einschlägigen Gesetze, Verordnungen und In¬
struktionen.
2. Kenntnisse der einzelnen Körpcrtheile der Schlachtthierc und
ihrer Benennung.
3. Kenntniss der Alters- und Gesundheitszcichen der einzelnen
Schlachtthierc.
4. Kenntniss der hauptsächlichsten Merkmale der Krankheiten
der Schlachtthierc am lebenden und am todten Thierc, sowie
ihrer Beurtheilung im Sinne der Begriffe: „gesundheitsschäd¬
lich“, „verdorben“, „nicht bankwürdig“.
5. Kenntniss der Merkmale derjenigen Veränderungen, denen
das Fleisch nach dem Tode ausgesetzt ist, und ihrer Beur¬
theilung im Sinne der Begriffe: „gesundheitsschädlich“, „ver¬
dorben“, „verfälscht“ und „nachgemacht“.
6. Kenntniss der wichtigeren Thierkrankheiten, insbesondere des
Milzbrandes, der Tollwuth, des Rotzes, der Rinderpest, der
Lungen-, Maul- und Klauenseuche.
All’ diese Kenntnisse von einem Laienfleischbeschauer zu ver¬
langen, ist wohl etwas zu weit gegangen, da er doch immer nur be¬
schränktes Entscheidungsrecht haben darf. Genügend ist jedenfalls,
wenn seine Kenntnisse den Anforderungen der Punkte 1, 2, 3 und 4
entsprechen, soweit sie sich auf die hauptsächlichsten Merkmale der
Krankheiten am lebenden und am todten Thiere erstrecken. Dazu
1) Bleisch, Die Aufgaben und die Organisation einer obligatorischen Fleisch¬
beschau etc. Diese Yiertcljahrsschr. 1891. Bd. II. S. 105.
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
Ucbcnvacliung des Fleiselihandels auf dem Lande und in kleinen Städten. 177
kämen dann noch die zur Trichinenschau erforderliche Kenntniss und
Technik.
Anstellung und Thätigkcit der Fleischbcschauer.
Die Anstellung der Fleischbeschauer muss für einen bestimmt
abgegrenzten Bezirk durch den Landrath und im Interesse der Disci-
plin auf Widerruf erfolgen. Um ihre Verantwortlichkeit zu erhöhen
und zum Schutze gegen etwaigen Widerstand der Schlächter ist ihnen
die Eigenschaft relativer Polizeibeamtcr zu verleihen, wie dies auch
in einzelnen süddeutschen Staaten durchgeführt ist 1 ). Jede beabsich¬
tigte Schlachtung muss nun früh genug dem Fleischbeschauer ange¬
meldet werden, und dieser ist verpflichtet, innerhalb einer gewissen
Zeit auf der Schlachtstätte zu erscheinen. Sollte er verhindert sein,
so muss für Vertretung, am besten durch den Fleischbcschauer des
nächstliegenden Bezirkes, gesorgt sein. Der Fleischbeschauer hat nun
das Schlachtthier vor und nach dem Schlachten genau zu untersuchen,
Für diese Beschau empfiehlt Ostertag 2 ) ganz zweckmässig, einen
ein für allemal einzuhaltenden Untersuchungsraodus vorzuschreiben.
Beschränktes Entscheidungsrecht der empirischen
Fleischbeschauer.
Den empirischen Fleischbeschauern kann natürlich, entsprechend
ihren begrenzten Kenntnissen auch nur beschränktes Entscheidungs¬
recht zuerkannt werden. Sie dürfen nur bei völlig gesunden Thieren
und in gewissen Fällen von Erkrankungen eine Entscheidung treffen.
Diese Fälle sind ihnen in ihren Vorschriften über die Ausführung
der Fleischbeschau genau namhaft zu machen. Ostertag 3 ) macht
den empfehlenswerthen Vorschlag den Empirikern in folgenden Fällen
selbstständige Entscheidung zu gestatten:
1. bei durch Eingeweidewürmer verursachten Veränderungen, mit
Ausnahme der Zungen-, Herz-, Gehirn- und Muskelfinnen;
2. bei rein bindegewebigen Verwachsungen von Organen ohne
Eiterung und übelriechende wässerige Ergüsse;
3. bei localen abgekapselten Abscesscn — ausschliesslich der-
1) Ostertag, 1. c. S. 60.
2) Ostertag, 1. c. S. 151.
3) Ostertag, 1. c. S. 63.
Viorleljahrssclir. f. ger. Mod. Dritte Folge. XIV. »Suppl.-Helt. 12
Digitized by
Gck igle
Original fro-m '
UNIVERSUM OF IOWA
178
Dr. Möhlfeld,
j eiligen in der Gebärmutter und Musculatur — und localen
Geschwüren;
4. bei localer Aktinomykose;
5. bei localer Tuberculose.
Für alle übrigen Krankheitsfälle ist den empirischen Fleischbe¬
schauern vorzuschreiben, durch Vermittelung der Ortspolizeibehörde
die Entscheidung eines Thierarztes herbeizuführen. Insbesondere muss
dies, wie überall in Staaten mit obligatorischer Fleischbeschau einge¬
führt ist, für alle Nothschlachtungen geschehen, nur wo schwere Ver¬
letzungen oder Geburtshindernisse bei vorher gesunden Thieren die
Schlachtung bedingen, kann man auch den empirischen Fleischbe¬
schauern Entscheidungsrecht zuerkennen, wenn die Schlachtung als¬
bald stattfindet. Ferner muss die Untersuchung vor und nach dem
Schlachten von Pferden, Maulthieren und Eseln auf jeden Fall von
einem Thierarzt ausgeführt werden, wie es auch in der Provinz
Hessen-Nassau vorgeschrieben ist. Bemerkenswerth hierbei ist noch,
dass das Fleisch der mit Kreuzschlag — Lumbago — behafteten
gcnothschlachtetcn Pferde auf jeden Fall von der Zulassung zum
Genüsse für Menschen auszuschliessen ist, da es, wie der folgende
Fall zeigt, schon schwere Vergiftungserscheinungen hervorgerufen hat.
In Altena 1 ) in Westfalen erkrankten im Jahre 1891 im Ganzen
20 Personen nach dem Genuss von Pferdefleisch, von denen einer,
welcher sehr viel von dem rohen Fleisch genossen hatte, nach drei¬
tägigem Krankenlager starb. Die Krankheit hatte begonnen mit
Schüttelfrösten, hohem Fieber, dem sich Erbrechen, Durchfälle und
schliesslich Bewusstlosigkeit anschlossen. Am schwersten wurden die¬
jenigen ergriffen, welche das Fleisch in rohem Zustande verzehrt
weniger diejenigen, welche es gebraten oder gekocht genossen hatten.
Das betreffende Pferd war wegen Lumbago genothschlachtet und ohne
Weiteres, obgleich der Schlachthaus-Inspector, ein approbirter Thier-
arzt, das schwerkrank damiederliegende Thier untersucht hatte, dem
Verkehr überlassen worden, indem der Inspector von der Ansicht
ausging, dass derartiges Fleisch nicht zu beanstanden sei. Die nähere
Untersuchung des Fleisches war ohne Ergebniss abgesehen davon,
dass dasselbe von sehr mürber Beschaffenheit war und die querge-
1) G.-B. ü. d. ö. Gesundheitswesen im Regierungsbezirk Arnsberg. 1889
bis 1891. S. 97.
Digitized by
Gck gle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Uebervvachung des Fleischhandels auf dem Lande und in kleinen Städten. 179
streiften Muskeln die Querstreifung erösstentheils verloren hatten.
Zur Vermeidung der Wiederkehr jener unglücklichen Begebenheit
wurde durch Rund-Verfügung des Regierungspräsidenten angeordnet,
dass das Fleisch der mit Lumbago behafteten Pferde von der Zu¬
lassung zum Genuss für Menschen auszuschliessen sei. Nur in den¬
jenigen Fällen, in welchen das betreffende Pferd zwar zur Genesung
gekommen ist, jedoch eine theilweise Lähmung geringen Grades zu¬
rückbehalten hat und wegen der Unbrauchbarkeit die Abschlachtung
nachträglich in Frage kommt und die Gefahr der Uebcrtragung daher
nicht mehr vorliegt, ist der Genuss des Fleisches gestattet, falls dies
nicht aus anderweitigen Gründen verboten ist.
Jeder Fleischbeschauer hat ein Tagebuch zu führen, in das er
jede Untersuchung genau einzutragen hat, ebenso auch in ein ent¬
sprechendes Controlbuch der Schlächter. Bei Schlachtungen für den
Privatgebrauch erhält der Besitzer in ähnlicher Weise eine Bescheini¬
gung über das Resultat der Untersuchung.
Ueberwachung des Verkehrs mit nicht-bankwiirdigem
Fleisch in Orten ohne Schlachthäuser.
Durch verschiedene Stempelung ist bankwürdiges und nicht-bank-
wiirdigesFleisch von einander zu scheiden. Jede nicht-bankwürdigeWaare
darf in den Schlächterladen nur streng gesondert von der bankwürdigen
aufbewahrt und verkauft werden und muss einen mit der Unterschrift
des Fleischbeschauers versehenen Vermerk über die Nichtbankwürdig¬
keit und die Ursache derselben tragen. Um das Publicum in einem
Schlächterladen sogleich darauf aufmerksam zu machen, dass hier
nicht-bankwürdiges Fleisch feilgehalten wird, muss in dem Laden
ein ebenfalls mit der Unterschrift des Fleischbeschauers versehenes
Plakat sichtbar ausgehängt sein, auf dem der Verkauf von nicht¬
bankwürdiger Waare und die Ursache der Nicht-bankwürdigkeit
öffentlich bekannt gegeben wird. Wo Pferde, Maulthiere oder Esel
geschlachtet werden, ist in vielen Gegenden, so z. B. im Regierungs¬
bezirk Stade, Düsseldorf u. a., die erapfehlenswerthe Verordnung ge¬
troffen, dass Fleisch von diesen und die daraus hcrgestellten Fleisch-
waaren nur in bestimmten mit der Aufschrift „Rossfleischwaarenver-
kauf“ versehenen Lokalen feilgehalten werden dürfen, in denen andere
Fleischwaaren weder aufbewahrt, noch in irgend einer Weise in den
Verkehr gebracht werden.
12*
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
180
Dr. Mölilfeld,
Einfuhr von ausgeschlachtetem Fleisch in Orte ohne
Schlachthäuser.
Von Wichtigkeit ist nun noch, auch die Einfuhr von ausge-
schlachtctcm Fleisch, wobei viel Schwindel passirt, möglichst streng
zu überwachen. Es steht nichts im Wege, wenn selbst Städte ohne
Schlachthäuser die Bestimmung treffen, dass auswärts geschlachtetes
Fleisch nur im Zusammenhänge mit den Eingeweiden eingeführt wer¬
den darf. Diese Bestimmung ist in Hadersleben 1 ) eingeführt und hat
sich dort gut bewährt. Auf diese Weise kann man der so sehr er-
strebenswcrthen Centralisation des Fleischhandels sehr entgegenge¬
kommen.
Hausierhandel mit Fleisch und Fleischwaaren ist am besten ganz
zu verbieten. Wo dieses nicht möglich ist, hat jeder, der mit Fleisch
hausiren will, dieses der Ortpolizeibehörde anzuzeigen und durch eine
amtliche Bescheinigung und verschiedene Stempelungen des Fleisches
nachzuweisen, dass dasselbe von Thieren stammt, die vor und nach
dem Schlachten von einem Sachverständigen untersucht sind.
Vernichtung von gesundheitsschädlichem Fleisch in Orten
ohne Schlachthäuser.
Findet ein Flcischbeschauer bei seinen Untersuchungen, dass ein
Schlachtthier entweder ganz oder einzelne Theile desselben nach seiner
Ansicht gesundheitsschädlich und vom menschlichen Genuss auszu-
schliessen sind, so hat er dem Schlächter die Verwendung des be¬
treffenden Thiercs vorläufig zu untersagen und ihn auf die eventuellen
Folgen einer Vcrwerthung aufmerksam zu machen, ferner noch sofort
der Ortspolizei den Fall anzuzeigen. Dieselbe hat dann, wenn vom
Schächter kein Einspruch erhoben wird, für die unschädliche Beseiti¬
gung des Fleisches zu sorgen. Dies geschieht auf dem Lande wohl
wohl meistens durch einfaches Eingraben an einer passenden Stelle,
doch hat man in einzelnen ländlichen Gegenden Süddeutschlands, wie
aus dem Bericht 2 ) des Ausschusses über die 4. Versammlung des
Vereins für öffentliche Gesundheitspflege 1876 hervorgeht, schon lange
1) G.-B. ü. d. ö. Gesundheitswesen in der Provinz Schleswig-Holstein.
1889—91. S. 114.
2) Vierteljahrsschr. f. ölTcntl. Gesundheitspflege. Bd. 9. 1877.
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
lieber wach img des Fleischhandels auf dem Lande und in kleinen Städten. 181
den Anfang gemacht, thierischc Kadaver in chemische Fabriken zu
bringen, wo man für sic eine verhältnissmässig bedeutende Summe
bekommt und die Vernichtung der gefährlichen Ansteckungsstoffe
völlig eintritt. In einzelnen Theilen Schwabens und Badens haben
sich mehrere Gemeinden zusammengethan und lassen ihre Thier¬
kadaver in solche Fabriken transportiren. Empfehlenswerter ist es
wohl noch, wenn sich eine oder mehrere Gemeinden einen Kafill-
Desinfector anschaffen, wie er auch schon auf vielen Schlachthöfen
existirt. Dieser dient zum Sterilisiren und Austrocknen von Fleisch
und Thierleichen unter Gewinnung von Fett, Leim und Dungpulver.
Ein solcher Apparat könnte auf Gemcindekosten verwaltet oder auch
verpachtet werden. Um Unterschied mit gesundheitsschädlichem Fleisch
zu verhüten, ist es zweckmässig, dasselbe in jedem Falle sofort mit
einer stinkenden Flüssigkeit z. B. Petroleum, rohem Kreosot, Pyri¬
din etc. zu imprägniren und es dadurch für Jedermann kenntlich und
unverwerthbar zu machen. Sehr einfach lässt sich die Beseitigung
von krankem Fleisch auch durch Verbrennen bewerkstelligen, was
schon in einem einfachen Ofen möglich ist, der nur genügend gross
sein und dabei genügend Hitze liefern muss. Das Verbrennen hat
den Vorzug, dass dabei eine vollkommene Vernichtung der An¬
steckungsstoffe eintritt. Wie nöthig es ist, dass die Beseitigung von
beanstandetem Fleisch unter polizeilicher Aufsicht geschieht, sieht
man noch daran, dass es in vielen Gegenden Brauch der Schlächter
ist, krankes Fleisch einfach auf Düngerhaufen zu werfen, oder doch
hier nur oberflächlich einzugraben, wodurch natürlich die Verschleppung
von Ansteckungsstoffen auf leichteste Weise ermöglicht wird, wobei
ferner auch noch die Gefahr vorlicgt, dass das Fleisch, wie schon
häufig vorgekommen, wieder ausgegraben und in den Handel gebracht
wird. Im Königreich Sachsen ist auch schon, um obigem Unfug zu
steuern, durch eine Ministcrial-Verfügung vom 16. Januar 185)0 das
Wegwerfen und Eingraben tuberculöser Theilc auf Düngerhaufen ver¬
boten.
ßerufungsrecht der Gewerbetreibenden gegen das Urthcil
eines Fleischbeschauers.
Um die Gewerbetreibenden vor Nachtheilen zu schützen, die
ihnen aus einer irrthümlichen Entscheidung eines Flcischbcschauers
erwachsen können, ist ihnen das Recht zu geben, Berufung einzu-
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSITÄT OF IOWA
182
Dr. Möhlfeld,
legen und das Urtheil einer höheren Instanz anzurufen. Dieses muss
innerhalb einer bestimmten kurzen Frist geschehen. Richtet sich die
Berufung gegen die Entscheidung eines empirischen Fleischbeschauers,
so ist ein wissenschaftlicher Thierarzt, womöglich ein beamteter hin¬
zuzuziehen, dessen Urtheil massgebend is^. Handelt es sich um die
Entscheidung eines Thierarztes, so ist ebenfalls die Hinzuziehung eines
beamteten Thierarztes zu veranlassen. Für den Fall, dass hierbei
kein Einverständnis erzielt wird, empfiehlt es sich, ähnlich wie es
auch in Belgien x ) eingeführt ist, dass die Ortsbehörde den endgültigen
Sachverständigen, etwa den nächst wohnenden beamteten Thierarzt
ernennt. Für Fragen von principieller Bedeutung hat Melchers 1 2 )
vorgeschlagen, eine Oberberufung an eine thierärztliche Landeskom¬
mission vorzusehen, die auf Grund des Aktenmaterials entscheidet.
Die Kosten einer Superrevision hat wohl am besten die unterliegende
Partei zu tragen, d. h. im Falle des Unterliegens eines Sachverstän¬
digen die betreffende Gemeindeverwaltung.
Die von den Fleischbeschauern auszuübenden unver-
mutheten Revisionen der Schlächtereien.
Ausser dieser regelmässigen Untersuchung der Schlachtthiere wäre
den Fleischbeschauem noch, wie es in Süddeutschland schon lange
cingeführt ist, zur Pflicht zu machen, von Zeit zu Zeit unvermuthete
Revisionen der Schlächtereien vorzunehmen. Die Schlächter haben
dann dem Fleischbeschauer ihren gesammten Fleischvorrath zu zeigen.
In erster Linie hat dieser darauf zu achten, ob nicht-bankwürdige
Waare auch streng gesondert von der bankwürdigen feilgehalten wird
und den nöthigen Vermerk der Nichtbankwürdigkeit trägt, t und ob
auch nicht irgendwie ein Unterschleif stattfindet. Dann hat er sich
die Aufbewahrungsräume für Fleisch anzusehen, ob dieselben allen
hygienischen Anforderungen entsprechen. Das Fleisch soll stets in
trocknen, möglichst kühlen, gut mit reiner Luft zu ventilirenden
Räumen so aufgehängt sein, dass die Fleischstücke allseitig von einem
leichten Luftstromc berührt werden und an der Oberfläche schwach
antrocknen. Wände, Fussböden und Tische müssen stets trocken und
frei von Pilzablagerungen sein. Als ideal sind Kachelwände zu bc-
1) Ostertag, 1. c. S. 29.
2) Ostertag, 1. c. S. 62.
Digitized by
Go^ gle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Ueberwachung des Fleischhandcls auf dem Lande und in kleinen Städten. 183
zeichnen. Niemals darf auch zugegeben werden, dass Fleisch, wie es
in kleinen Orten noch vielfach Brauch ist, vor den Häusern in der
freien Strasse aufgehängt wird, wo es nicht selten durch den Staub der
Luft oder durch Insecten verunreinigt wird. Ein sehr grosses Gewüeht
ist auf die Controle der Schlachtstätten zu legen, dass dieselben allen
polizeilichen Anforderungen entsprechen. Der Fussboden der Schlacht¬
stätten soll wasserdicht sein und wird am besten cementirt, die Wände
sollen mindestens auf 2 m Höhe entweder mit Oel- oder Emaillefarbc
gestrichen oder anderweitig so hergerichtet sein, dass sie durch Ab¬
waschen vollständig gereinigt werden können. Durch eine Rinne mit der
Schlachtstätte zu verbinden ist eine Senkgrube für die Abfallstoffc. Für
dieselbe ist die Hauptbedingung, dass sie wasserdicht ist. Um dieses
zu erreichen, wird empfohlen 1 ), die Umfassung aus 4 undurchlässigen
Schichten zu bilden: 1. aussen aus einer 30 cm breiten Thonschicht,
2. aus einer 35 cm starken Betonschicht, 3. aus einer Mauer aus
hartgebranntem Ziegel (Klinker), 4. innen aus einem glatten Cement-
putz. Die Grube muss hermetisch abgedeckt sein. Die Reinigung
der Grube hat in einer den localen Verhältnissen angemessenen Weise
zu erfolgen. In gewissen Zwischenräumen ist auch die Wasserdichtig¬
keit der Gruben zu prüfen, was in der Weise 2 ) geschieht, dass eine be¬
stimmte Quantität Wasser in dieselben hineingegossen und nach einiger
Zeit untersucht wird, ob und welche Quantitäten innerhalb einer ge¬
wissen Zeit durch Versickern zum Verschwinden gebracht sind.
Ausserdem ist die Bedingung zu stellen, dass im Hofe des Grund¬
stückes ein Brunnen oder im Schlachtlocale eine Wasserleitung vor¬
handen ist. Das Resultat einer Revision trägt der Fleischbeschauer
in sein eigenes Tagebuch und in das Controlbuch der Schlächter ein,
welche dann der Polizei vorgelegt werden. Diese hat eventuell bei
einer grösseren Anzahl Monita, besonders wenn solche häufig wieder¬
kehren, den betreffenden Schlächter in eine entsprechende Strafe zu
nehmen und für Abhülfe der Uebelstände zu sorgen.
Ueberwachung der Fleischbeschauer selbst seitens der
Polizeibehörde und Kreisphysiker.
Was nun die Ueberwachung der Fleischbeschauer selbst beziehungs¬
weise die Controle ihrer Bücher anbetrifft, so wäre dieselbe tlieils den
1) Schlockow, 1892. S. 338.
2) Schlockow, 1895. S. 453.
Digitized by
Gck gle
Original frnm
UNIVERSITÄT OF IOWA
184
Dr. Möhlfold,
Kreisphysikern, theils der Polizeibehörde zu übertragen. Letztere hat
am besten allmonatlich bei der Gehaltsauszahlung das Tagebuch der
Fleischbeschauer zu revidiren und mit den Controlbüchern der Schlächter
zu vergleichen. Ferner sind diese der Polizeibehörde bei jeder un-
vermutheten Revision vorzulegen, welche die Fleischbeschauer vor¬
nehmen.
Die Kreisphysiker haben (gelegentlich ihrer Dienstreisen) die
Fleischbeschauer, soweit sie nicht Thierärzte sind, möglichst oft und
unvermuthet zu revidiren und von Zeit zu Zeit nachzuprüfen. Ferner
müssen ihnen alljährlich Berichte über die Fleischbeschau zur Einver¬
leibung in ihre Akten und daneben die Tagebücher zum Vergleich
mit diesen Berichten vorgelegt werden, wie cs ähnlich auch im Gross¬
herzogthum Baden cingcführt ist 1 ). Eine sehr empfehlenswerthe Ein¬
richtung hat auch Georges 2 ) im Herzogthum Koburg-Gotha getroffen,
die empirischen Fleischbeschauer jährlich zweimal durch die ßezirks-
thierärzte zu Versammlungen einberufen zu lassen, in welchen von
den Ficisehbeschauern allgemeine Berichte erstattet, von den Bezirks-
thierärzten aber durch Besprechung bemerkenswerther Fälle die Fleisch¬
beschauer weiter ausgcbildet werden.
Die volkswirtschaftliche Bedeutung einer allgemeinen
obligatorischen Fleischschau. Gründung von staatlich beauf¬
sichtigten V iehversicherungsgesell schäften.
Eine in derartiger Weise auf dem Lande und in kleinen Städten
durchgeführte sorgfältige Ueberwachung des Fleischhandcls und eine
energische Handhabung der hierauf bezüglichen Massregeln wird ihre
segensreichen Wirkungen nicht verfehlen. In erster Linie wird da¬
durch Leben und Gesundheit des ländlichen Publicums geschützt,
dann aber auch vom ökonomischen Standpunkte aus der Landwirt¬
schaft sehr genutzt. Ein Theil der kranken Thiere wird zwar dem
Verkehr entzogen, aber der weitaus grösste doch dem Landwirth zur
preiswürdigen Verwertung erhalten, während er sonst in dieser Hin¬
sicht ganz der Willkür einzelner Schlächter preisgegeben ist und
jedenfalls häufig von denselben ausgebcutct w r ird. Ferner ist man
durch die regelmässige Untersuchung der Schlachtthierc in den Stand
1) Maier, 1. c. S. l'.Kk
2) Ostertag, 1. c. S. (X).
Digitized by
Gck gle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Uobenvachung des Fleischhandels auf dem Lande und in kleinen Städten. 185
gesetzt, Fälle von Viehseuchen und besonders die so weit verbreitete
Tubereulose möglichst frühzeitig zu entdecken, so dass gleich zu ihrer
Tilgung entsprechende Massnahmen getroffen werden können. Es
wäre zu wünschen, wenn sich das Volk und besonders die Landbe¬
völkerung von dieser grossen Bedeutung einer allgemeinen Fleischschau
immer mehr überzeugte. Dieses liesse sich erreichen durch Vorträge
in landwirtschaftlichen Vereinen, durch Artikel in landwirtschaft¬
lichen Zeitungen und auch schon durch Belehrung in der Schule.
Dem Landwirt muss an der Hand von Statistiken vor die Augen
geführt werden, dass jährlich in Deutschland Millionen Mark in Form
von schlechtem Fleisch weggeworfen werden, und dass er im Stande
ist, einen grossen Theil dieses Geldes zu retten, wenn er das Be¬
streben hat, seinen Viehstand so gesund wie möglich zu erhalten.
Dringt diese Ueberzcugung mehr und mehr in die Landbevölkerung
ein, so wird es gewiss allmählich dahin kommen, dass die Land¬
wirte, sobald sich z. B. die ersten Fälle von Tuberculose in ihren
Ställen zeigen, sofort energische Massregeln (Tuberkulinimpfung, Iso-
lirung der kranken Thiere etc.) gegen die Weiter Verbreitung dieser
gefährlichen Seuche ergreifen und nicht, wie es jetzt häufig geschieht,
nichts gegen dieses Uebel thun.
Dann sollte vom Staate darauf gedrungen werden, dass überall
Viehversichcrungsgesellschaften gegründet werden, um die Landwirte
vor grösseren pekuniären Nachteilen zu schützen, die ihnen aus der
Verwerfung eines Stück kranken Viehes erwachsen. Diese Gesell¬
schaften dürften keine reine Privatgesellschaften sein, bei denen die
Versicherung, wie ich durch Nachfragen fcstgestellt habe, häufig mit
so grossen Kosten verbunden ist, dass aus diesem Grunde die Land¬
wirte vor dem Eintritt zurückschrecken, vielmehr wäre zu erwägen,
ob die Versicherungen nach Analogie der Berufsgenossenschaften unter
directer staatlicher Aufsicht stehen und vom Staate subventionirt
werden könnten. Dann müsste aber auch der Eintritt in dieselben
obligatorisch gemacht werden, und Landwirte, in deren Ställen immer
wieder Viehseuchen und besonders Tuberculose Vorkommen, müssten
gezwungen werden, gegen dieselben geeignete Massregeln zu ergreifen,
wozu noch eventuell vom Staate eine Beihülfe zu gewähren wäre,
ln neuester Zeit sind in politischen Zeitungen Artikel erschienen, in
welchen ein derartiges geschlossenes Vorgehen zur Tilgung der Tuber¬
culose unter unseren deutschen Viehbeständen nachdrücklichst cm-
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
186
Dr. Möhlfeld,
pfohlen wird, und wobei in Bezug auf die Handhabung nützlicher
Massregeln auf das Vorgehen des Staates Dänemark hingewiesen
wird. Jedenfalls lässt sich nicht bezweifeln, dass bei ernstem Willen
viel zu erreichen ist. Es sei aber nochmals darauf hingewiesen, dass
eine geregelte Fleischschau nur dann ihren vollen Nutzen haben kann,
wenn sämmtliche Schlachtthiere, Gross- und Kleinvieh, vor und nach
dem Schlachten untersucht werden. Auch Ausnahmen zu Gunsten
des privaten Schlachtens sind nicht zu gestatten, sondern dasselbe muss
gerade so beaufsichtigt werden, wie das gewerbsmässige Schlachten,
denn der Schlachtende schädigt sich eventuell nicht nur selbst, son¬
dern womöglich auch noch andere Leute, da häufig genug Fleisch
von den zum Privatgebrauch geschlachteten Thieren in andere Hände
z. ß. von Verwandten gelangt.
Die wichtigsten Punkto der vorstehenden Erörterungen
lassen sich in folgenden Sätzen zusammenfassen:
1. Die Ueberwachung des Fleischhandels auf dem Lande und in
kleinen Städten liegt in Nord-Deutschland noch grösstentheils sehr
im Argen. Eine geregelte Fleischcontrole ist hier ein dringendes ße-
dürfniss.
2. Das vollkommenste Mittel zur sicheren Ueberwachung des inner¬
halb einer Gemeinde stattfindenden Fleischhandels ist zweifellos die
Errichtung öffentlicher Schlachthäuser und der damit verbundene un¬
bedingte Zwang, dass alle zur menschlichen Nahrung bestimmten
Thiere daselbst geschlachtet und sachverständig untersucht werden.
3. Da sich auch in kleinen Städten erfahrungsgemäss Schlacht¬
häuser rentiren, ist hier ihre Errichtung möglichst anzustreben. Bis
zu welcher unteren Grenze der Einwohnerzahl sich dies empfiehlt,
lässt sich nicht genau angeben, da sich dieses zum grössten Theil
nach den localen Verhältnissen richtet.
4. In dicht bevölkerten Gegenden, wo viele kleine Ortschaften
zusammenliegen, empfiehlt es sich, gemeinschaftliche Schlachthäuser
zu erbauen.
5. Es ist von grosser Bedeutung sowohl vom national-ökonomi¬
schen als auch vom sanitätspolizeilichen Standpunkte aus, dass mit
jedem Schlachthause eine Freibank verbunden wird. Besonders für
bv Google
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Ueberwachung des Fleischhandcls auf dem Lande und in kleinen Städten. 187
kleine Städte eignet sich eine solche Einrichtung, da hier der Ver¬
bleib des Fleisches besser überwacht werden kann, als in grossen
Städten.
6. Die Leitung eines Schlachthauses ist einem Thierarzt zu über¬
tragen. Wo in kleinen Orten die Verhältnisse dies nicht gestatten,
ist auf jeden Fall ein Thierarzt im Nebenamte anzustellen, der die
Untersuchung der Schlachtthiere auszuführen hat.
7. In Gegenden, wo es nicht möglich ist, Schlachthäuser zu er¬
richten, sind Sachverständige anzustellen, die jedes zum Genuss für
Menschen bestimmte Schlachtthicr vor und nach dem Schlachten zu
untersuchen haben.
8. Wo ein Thierarzt seinen Sitz hat, ist dieser in erster Linie
zur Wahrnehmung einer solchen Fleischschau zu berufen. Wo dieses
nicht möglich ist, sind in ähnlicher Weise, wie dies bei der Trichinen¬
schau durchgeführt, empirische Fleischbeschauer anzustellen.
9. Die Ausbildung derselben hat an Schlachthöfen unter thier¬
ärztlicher Leitung in mindestens sechswöchentlichen Oursen zu er¬
folgen. Am Schluss der Curse hat eine entsprechende Prüfung statt¬
zufinden.
10. Jeder Fleischbeschauer ist für einen bestimmt abgegrenzten
Bezirk anzustellen, in dem er die gesammte Fleischbeschau, auch
Trichinenschau wahrzunehmen hat. Die Anstellung hat durch den
Landrath auf Widerruf zu erfolgen. Zum Schutze gegen etwaigen
Widerstand der Schlächter ist ihnen die Eigenschaft relativer Polizei¬
beamter zu verleihen.
11. Die empirischen Fleischbeschauer dürfen nur bei gesunden
Thieren und besonders namhaft gemachten Fällen von Erkrankung
ein Entscheidungsrecht besitzen. Für alle übrigen Krankheitsfälle,
insbesondere für alle Nothschlachtungen ist ihnen vorzuschreiben, die
Entscheidung des zuständigen Thierarztes herbeizuführen. Nur wo
schwere Verletzungen oder Geburtshindernisse bei vorher gesunden
Thieren die Nothschlachtung bedingen, kann auch den empirischen
Fleischbeschauern Entscheidungsrecht zuerkannt werden, wenn die
Schlachtung alsbald stattfindet.
12. Um die Gewerbetreibenden vor Nachtheil zu schützen,
müssen sie das Recht haben, gegen die Entscheidung eines Fleisch¬
beschauers Berufung einzulegcn und das Urthcil einer höheren Instanz
anzurufen.
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
188
Dr. M ö li 1 f e 1 d,
18. Die Fleischbeschaucr haben von Zeit zu Zeit unvermuthete
Revisionen der Schlächtereien vorzunehmen.
14. Die Controle der Fleischbeschauer ist theils der Polizeibe¬
hörde, theils den Kreisphysikem zu übertragen. Ersterer sind regel¬
mässig allmonatlich bei der Gehaltsauszahlung die von den Fleisch¬
beschauern zu führenden Tagebücher und entsprechende Controlbücher
der Schlächter vorzulegcn. Die Kreisphysiker haben (gelegentlich
ihrer Dienstreisen) die Fleischbeschaucr, soweit sie nicht Thierärzte
sind, unvermuthet zu revidiren und von Zeit zu Zeit nachzuprüfen.
15. Die weitesten Schichten des Volkes sind durch Vorträge in
landwirthschaftlichcn Vereinen etc. über die Bedeutung einer obligatori¬
schen Fleischschau immer mehr aufzuklären. So lassen sich am
ersten diese Klassen für etwaige spätere gesetzgeberische Massnahmen
vorbereiten.
IG. Es ist zu erwägen, ob nicht der weiteren Gründung von
Vieh Versicherungsgesellschaften vom Staate aus Vorschub zu leisten
ist, und ob dieselben nicht Statuten aufstellen könnten, nach denen
die Landwirthe gezwungen wären, gegen etwaige Seuchen in ihren
Ställen geeignete Massregeln zu ergreifen, eventuell mit Beihülfe des
Staates.
Fm zu zeigen, wie die Beaufsichtigung des Fleischhandels in
einzelnen Gegenden Preussens gchandhabt wird, habe ich für mehrere
Stand der Beaufsichtigung des Fleischhandels in einzelnen
•
u
Schlachthaus.
Kreis und Stadt
'o _
£ .a
C c3
s N
Wann erricht,
u. mit welchen
Kosten ?
Welche veterinär-polizeiliche
Beaufsichtigung findet statt?
Geschlachtet
wurden
1. (TTeiligenbcil)
2. (Heilsberg) .
3761
5489
) vor 1889
3. (Nordenburg)
2*251
f errichtet
4. (Labiau) . .
4862
> cf. S. 106
5. (Tapiau) . .
3763
l Anm. im
l Bericht.
0. (Seeburg). .
7. (Osterode) .
2797
941-2
\ Bau fest
8. (Mobrungen).
1 3759
1
| beschlossen
Fleischmarkt wird durch einen
Thierarzt beaufsichtigt.
Der Markt wird durch einen
Thierarzt controlirt.
Königsberg
Digitized by
Gck igle
Original frn-rri
UNiVERSUY OF IOWA
Ueberwachung des Fleisclihandels auf dom Lande und in kleinen Städten. 18!)
Regierungsbezirke nach den Gencral-Sanitätsberichtcn von 1888 bis
1891, für wenige Bezirke von 1886—1888 (da nur diese mir zu¬
gänglich waren) eine tabellarische Uebersicht beigefügt, aus welcher
hervorgeht:
1. In welchen Orten Schlachthäuser bestehen. Mit Rücksicht
auf mein Thema sind die Orte von 10000 Einwohnern und da¬
runter, welche als kleine anzusehen sind, in Klammer gestellt.
2. Welche veterinärpolizeiliche Beaufsichtigung in diesen Schlacht¬
häusern besteht.
3. In welchem Umfange gesundheitsschädliches Fleisch ver¬
worfen ist.
4. Wo Freibänke existiren.
5. Was für besondere Polizei-Verordnungen etwa in einzelnen
Kreisen besonders auch in Orten ohne Schlachthäuser hinsichtlich des
Schlachtverkehrs erlassen sind.
6. Wie sich die Trichinenschau gestaltet hat (Zahl der Trichinen¬
schauer, Zahl der untersuchten Schweine, der trichinösen und finnigen).
Die Tabellen sind keine vollständigen und können dies
nicht sein, da selbst die einzigen über Handhabung des Fleisch¬
handels existirenden authentischen Angaben, wie wir sie in den
General-Sanitätsberichten der Regierungs- und Medicinalräthe finden,
stellenweise ungemein lückenhaft sind. Höchstens sind noch um¬
fassendere Angaben in den Akten des Landwirthschaftsministcriums
vorhanden, doch waren mir diese nicht zugänglich.
Regierungsbezirken Preussens naeh den General-Sanitätsberichten.
Verworfen
Besondere polizei¬
liche Verordnungen
Vorschriften über
ganz
zum
Theil
in Orten ohne
Schlachthaus
Trichinenschau
Bemerkungen
1889—1891.
d
<v
3
a
<D
X
d
bfi
fl
<
ja
ja
ja
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
190
Digitized by
Dr. Möhlfeld,
Jtreis und Stadt
Einwohner¬
zahl
Schlachthaus.
Wann erricht,
u. mit welchen
Kosten ?
Welche veterinär-polizeiliche
Beaufsichtigung findet statt?
Geschlachtet
wurden
9. Schmelz . .
Vorstadt von
Memel
10. (Prökuls) Kr.
500
—
—
—
Memel
11. (Rössel) . .
3474
—
—
—
12. (Dreugfurt) .
1694
—
—
—
13. Allcnstein .
19375
Vor 1886.
Der als Trichinenschauer ge¬
prüfte Schlachthausaufseher
unters, das Vieh; in zweifel¬
haften Fällen entscheidet der
Kreisthierarzt.
In der Zeit v.
1.4.91 bis31.
3. 92
8326 Thiere.
14. (Wartenburg)
Kr. Allenstein
4735
do.
dto., hier entscheidet ein prakt.
Arzt.
4571 „
15. Braunsberg .
10851
do.
Der als Trichinenschauer ge¬
prüfte Schlachthausinspector u.
der Aufseher untersuchen das
Vieh. In zweifelhaften Fällen:
Kreisphysikus.
2879 „
16. (Wormditt) .
Kr.Braunsberg
5116
Nach 1888.
Trichinenschauer ist d. Schlacht¬
hausaufseher. Kreisthierarzt ent¬
scheidet in zweifelhaft. Fällen.
918 ,
17. (Kranz) . .
Kr.Fischhausen
1321
Vor 1886.
Der Trichinenschauer und der
Apotheker, sowie ein Fleischer¬
meister untersuchen das Vieh.
949 ,
18. (Bartenstein)
Kr. Friedland
6442
do.
Umbau noth-
wendig, be¬
reits in Aus¬
führung.
Die Schlachthaus-Deputation u.
die Polizei-Verwaltung beauf¬
sichtigen den Schlachtbetrieb.
Bei Schlachtung kranker und
verdächtiger Thiere wird der
Kreisthierarzt zugezogen.
5230 „
19. (Gerdauen) .
2858
Vor 1886.
Der als Trichinen- und Fleisch¬
beschauer geprüfte Aufseher
untersucht das Schlachtvieh,
in zweifelhaften Fällen ent¬
scheiden Kreisthierarzt u. Kreis¬
physikus.
2728 „
20. (Guttstadt) .
Kr. Heilsberg
4503
Zwischen 1888
und 1889.
Der als Trichinenschauer ge¬
prüfte Schlachthaus - Aufseher
untersucht das Vieh.
3557 „
21. (Pr. Holland)
4983
Vor 1886.
Der als Trichinenschauer ge¬
prüfte Schlachthaus-Inspector
untersucht das Vieh, in zweifel¬
haften Fällen entscheidet der
Kreisthierarzt.
1.4.91 bis 31.
3. 92
3456 Thiere.
22. (Rastenburg)
7303
do.
Der als Trichinen- und Fleisch¬
beschauer geprüfte Schlacht¬
hausaufseher untersucht das
6992 „
Vieh.
ln zweifelhaften Fällen entscheidet der Schlachthausthierarzt.|
Gck igle
Original from
UMIVERSITY OF IOWA
Ueberwachung des Floischhandels auf dein Lande und in kleinen Städten. 191
Verworfen
ganz
zum
Theil
19
2
22
50
10
Besondere polizei¬
liche Verordnungen
in Orten ohne
Schlachthaus
Vorschriften über
Trichinenschau
T3 i
O G
< 1 ? -a .2
*h :c3 Sm
24
180
40
Obligatorische Fleischschau eingeführt.
do.
Das Schweinefleisch untersucht ein
Fleichbeschauer.
Polizeilich obligatorische Trichinen¬
schau eingeführt.
11
71
108
76
ja
ja
ja
Digitizetf by
Gck igle
Bemerkungen
Original frn-m
UNIVERSITY OF IOWA
192
Digitized by
Dr. Möhlfcld,
Einwohner¬
zahl
Schlachthaus.
Wann erricht,
u. mit welchen
Kosten ?
Welche veterinär-polizeiliche
Beaufsichtigung findet statt?
Geschlachtet
wurden
5384
Vor 1S86.
Die veterinärpolizeiliche Beauf¬
sichtigung wird durch den
Kreisthierarzt ausgeübt.
6138 Thiere.
1 CI 528
Das private
Innungs-
—
Im Jahre 1891
54934 Thiere
schiachthaus wird bald(?) durch ein com-
(zus. 93273 l j 2
munales öffentliches ersetzt (event. 1893 voll¬
endet) s. S. 108 im Bericht. Kosten circa
2100000 M. für den Schlachthof u. 700000
für den dazu gehörigen Viehhof.
Centn er.
3443
2256
192S1
3937
2516
3681
fDcr Bau des
( Schlachthau-
[ses ist (wird)
1 beschlossen.
Gumbinnc
4291
Vor 1889.
Angaben fehlen.
In den Jahren/
1889—91 I
13242 Thiere. 1
3451
do.
—
9504 „ 1
7169
do.
—
18383 „
12213
do.
—
35148 „
22237
do.
—
53929 „
5481
do.
—
20982 „
9987
do.
—
35761 „
3956
do.
—
9940 „
3553
do.
—
13147 „
4888
1891
In dem einen
Betriebsmonat
412 Thiere.
4677
1888
—
11537 „
24550
1891
Ma
»/♦jährige
Betriebszeit
2047 Thiere.
rienwerde
10042
1. 4. 88.
Die Beaufsichtigung d. Schlacht¬
Angab. fehlen
5042
8. 10. 88.
häuser mit grösserem Betrieb
980
1. 12. 88.
ist eigens hierzu angestellten
3208
Ende 1888.
Thierärzten übertragen. In den
27007
Vor 1886.
kleineren ist ein für seine Auf¬
Es wird ge¬
Obligatorisch.
gabe durch längere Schulung
braucht pro
Schlachtzwang
in grösseren Schlachthäusern
Kopf u. Jahr
für Private.
herangebildeter Aufseher an-
gcstellt, der die Besichtigung
0,17Grossvieh,
Kreis und Stadt
23. (Wchlau).
24. Königsberg .
25. (Pr. Eylau)
26. (Liebstadt)
27. Memel
28. (Mehlsack)
29. (Saalfeld)
30. (Soldau) .
1. (Angerburg).
2. (Darkehmen)
3. (Goldap) .
4. Gumbinnen
5. Insterburg
6. (Lötzen) .
7. (Lyck) .
8. (Ragnit) .
9. (Sensburg)
10. (Marggrabowa)
11. (Stallupönen)
12. Tilsit . . .
1. Könitz
2. (Jastrow).
3. (Landeck)
4. (Schlochau)
5. Thora. .
Gck'gl«
Original frn-m
UNiVERSUY OF IOWA
Ueberwachung des Fleischhandels auf dem Lande und in kleinen Städten. 193
Verworfen
HO I
Besondere polizei- °-S bo
liehe Verordnungen Vorschriften über ^ W g
in Orten ohne Trichinenschau 5 'S 2
Schlachthaus £ *q
in Orten ohne
Schlachthaus
Resultate zu IraLandkreise Kö- —
detaillirt an- nigsberg besteht_
gegeben. seit einigen Jahren die Einrichtung,
dass ländliche Schlachtstätten vor
ihrer Concessionirung genau geprüft
und untersucht werden müssen (durch
den Kreisphysikus). Rundverfüg, v.
27. 3. 86 u. 6. 6. 87 (S. 107 im Bericht):
wasserdichter Fussboden etc.
Angaben
fehlen
1889—1891.
Zu detaillirt
Eine besondere polizeiliche Verordnung —
angegeben.
hinsichtlich der Untersuchung des
Schweinefleisches auf Trichinen, die
—
am 31. 1. 75 zwar erlassen, mangels —
genügender Anzahl von Fleischbe¬
—
schauern aber noch suspendirt war, —
—
ist neu am 26. I. 91 erlassen, nach- —
—
dem in den einzelnen Ortschaften —
—
genügende Kräfte zur Trichinenschau —
—
gewonnen sind. Die Polizei-Verord- —
—
nung selbst s. S. 156 im Bericht. —
—
Verwendung finnigen Fleisches durch —
—
Polizei-Verordnung vom 14. 5. 87 ge- —
regelt.
—
—
1886—1888.
Im ganzenRegierungs-
bezirke wurden in
den Jahren 1889,
1890 u. 1891 unters.
163184 Schweine:
davon waren trichi¬
nös : 152 u. finnig :
216. Im Durchschn.
waren jährlich 268
amtliche Fleischbe¬
schauer thätig.
—
—
Wo Schlachthäuser
Polizei-Verordng.
Bei einigen
—
—
fehlen, wird die Con-
8. 2. 75 ordnet
Schlacht¬
—
—
trole des Fleisches
d. obligatorische
häusern
—
—
durch die Ortspolizei
Trichinensch au
sind Frei¬
—
—
unter Zuziehung der
für den Regie¬
bänke ein¬
Thierärzte ausgeübt.
rungsbezirk
geführt.
an.
Nähere An¬
Die Gebühr be¬
gaben dar¬
trägt für eine
überfehlen
Vierteljahrsschr. f. ger. Med. Dritte Folge. XIV. SuppL-Heft.
Digitized fr,
Google
Das Schlachthaus¬
wesen hat im Re¬
gierungsbezirk er¬
hebliche und erfreu-
ÜcheFortschritte ge¬
macht.
n einzelnen Städten
müssen nicht ge-
werbsmäss. Schlach-
Qriginal from
UNIVERSSTV OF IOWA
1!)4
Dr. Möhlfcld,
Kreis und Stadt
Einwohner¬
zahl
Schlachthaus.
Wann erricht,
u. mit welchen
Kosten ?
Welche veterinär-polizeiliche
Beaufsichtigung findet statt?
Geschlachtet
wurden
6. Graudenz
20393
Vor 1886.
jedes eingelieferten Stückes
Vieh vor und nach derSchlach-
tung vornimmt und in allen
0,55 Kleinvieh,
0,49 Schweine.
Es wird ge-
7. (Dt. Krone) .
6950
do.
zweifelhaften Fällen das Gut¬
achten eines bestimmten Thier¬
arztes einholen muss.
braucht pro
Kopf u. Jahr
0,13Grossvieh,
0,45 Kleinvieh,
0,49 Schweine.
8. (Culra) . .
9762
Im Bau.
—
9. (Flatow) . .
3852
do.
—
10. (Christburg).
3116
\ DerBau eines
—
11. (Stuhm) . .
2263
j Schlacht-
—
12. (Pr.Friedland)
3597
1 hauses ist
—
13. (Lübau) . .
4592
l beschlossen
—
14. (Culmsee)
6332
1 und befindet
—
15. (Dt. Eylau) .
5707
i sich in ver-
—
16. (Sehwetz)
6707
l schied. Stad.
—
17. (Strasburg) .
6123
' d. Ausfiihrg.
—
18. (Marienwerder)
8579
Bau ist Sept.
—
19. (Briesen). .
1500
18S9 beschlos¬
sen worden.
—
1. Anklam . .
12925
OefTentlichcs
Das Schlachtvieh wird durch
S t e 11 i
Vom 1. 4. 90
2. Demmin . .
10S56
Schlachthaus
errichtet vor
1889.
do.
einen Thierarzt, der als Vor¬
steher des Schlachthofes auge-
stellt ist, untersucht; als Ge-
hiilfe steht im zur Seite der
Schlachthausaufsehcr. In strei¬
tigen Fällen entscheidet der
Kreisthierarzt.
Die Aufsicht übt der Gemeinde¬
bis 31. 3. 92
12697 Thiere.
13959 „
3. (Swinemünde)
8510
Errichtet 1891,
thierarzt aus, welcher durch
die Schlachthaus - Commission
controlirt wird, eine Controle
durch einen staatlich ange-
stellten Thierarzt findet nicht
statt.
Die Aufsicht übt der Schlacht¬
Vom 1. 4. 91
besitzt ein
sehr zweck¬
mässig. Kühl¬
haus. Tren¬
nung d. fliiss.
Schlachtab-
jlallev.d.festen.
hausinspector (Thierarzt) aus,
weicher durch die Schlacht¬
hauscommission controlirt wird.
Eine Controle durch einen staat¬
lich augestelltcn Thierarzt fin¬
det nicht statt.
bis 1. 4. 92
48S4 Thiere.
Digitized by
Gck 'gle
Original frn-m
UNiVERSUY OF IOWA
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UMIVERSITY OF IOWA
196
Dr. Möhlfeld,
Kreis und Stadt
Einwohner¬
zahl
Schlachthaus.
Wann erricht,
u. mit welchen
Kosten ?
Welche veterinär-polizeiliche
Beaufsichtigung findet statt?
Geschlachtet
wurden
4. (Pasewalk) .
f>. Stettin . . .
9401
116239
Eröffnet 1892.
do.
Anlagecapital
1 226000 M.
Angaben fehlen.
do.
6. Stargard . .
23792
Im Bau.
do.
—
Köslin
1. (Lauenburg).
Kr. Lauenburg
8055
21. 10. 1890.
100000 M.
Die Aufsicht wird durch einen
von der Stadtgemeinde ange-
stellten geprüften Thierarzt
geübt, derselbe untersucht das
Vieh vor und nach dem Schlach¬
ten. Es besteht nicht nur für
Fleischer, sondern allgemeiner
Schlachtzwang.
Angaben fehl.
2. Köslin. . .
17830
1. 6. 1888.
Die Aufsicht führt ein Thier¬
arzt als Inspector. 6 geprüfte
Trichinenschauerinnen.
Zwang, Privatschlächterei nur
im öffentlichen Schlachthaus
vorzunebmen.
In den Jahren
1889—91
32880 Thiere.
3. (Neustettin).
8675
1. 12. 1888.
Aufsicht führt ein Thierarzt als
Inspector.
Im Jahre 1891
379 Binder,
2359Schweine.
4. Kolberg . .
16998
16. 12. 1889.
Aufsicht führt ein Thierarzt als
Inspector. 6 geprüfte Be¬
schauerinnen.
5. (Belgard). .
7036
1. 6. 1893.
Untersucht wird durch einen
angestellten Thierarzt. Im
Sommer eine, im Winter zwei
Beschauerinnen.
In den Jahren
1893 und 94
5945 Thiere.
6. Stolp . . .
23884
1. 10. 1894.
Aufsicht führt ein Thierarzt
als Inspector. 6 Trichinen¬
schauerinnen.
In den Jahren
1891-94
53652 Thiere.
7. (Bütow) . .
5012
1. 10. 1893.
Aufsicht führt ein Thierarzt.
Im Jahre 93/94
8378 Thiere.
8. (Falkenburg)
4079
1. 2. 1894.
Aufsicht und Trichinenschau
durch einen Thierarzt.
3064 „
9. (Schlawe)
5436
1 Im Bau
—
—
10. (Schivelbein)
5922
/ begriffen.
—
—
11. (Rummels-
bürg)
5080
—
—
—
12. (Tempelburg)
4533
—
—
—
13. (Janow) . .
2857
—
—
—
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSITÄT OF IOWA
Ueberwachung des Fleischhandels auf dem Lande und in kleinen Städten. 197
Verworfen
Besondere polizei¬
liche Verordnungen
in Orten ohne
Schlachthaus
Vorschriften über
Trichinenschau
Freibank od.
ähnl. Ein¬
richtung
—
—
—
_I_I_| sind auf 199600 Mk.
angenommen, davon sind Betriebskosten 20550 Mk., Gehälter und
Lohn 61200 M., Unterhaltung der Gebäude, Verzinsung und Amortisa¬
tion des Anlagekapitals 117850M., in Summa 199600M. Die Schlacht¬
gebühren betragen für 1 Rind 5,00, 1 Schwein 2,00,1 Kalb 1,50, 1 Schaf
1,00, 1 Pferd 5,00 M. Fleischschaugebühr für 1 Schwein 2,00 M.
1889—1894.
Rinder —
0,76
pCt.,
Schwei¬
ne
0,lpCt.
0,3pCt. l,7pCt.
aller aller
Thiere. Thiere.
1,25 pCt. —
Rinder,
0,27
pCt.
Schwei-
KeineFrei-In allen 23 Städten
bank. d. Regierungsbezirks
ist Trichinenschau
ein geführt ausser
Leba (1938) und
Ratzebuhr (2297).
Im allgemein, kommt
im Reg.-Reg. viel
do. krankes Vieh zum
Schlachten.
30 Mk. Prämie für Freibank
Auffinden von erricht, im
Trichinen. Schlacht¬
hause.
59 -
— v Keine geeigneten Kräfte
I zur Trichinenschau, je-
— j doch Einführung d. Schau
— ' bevorstehend.
Digitized fr,
Google
Original from
UNiVERSITY OF IOWA
198
Dr. Mühlfeld,
Kreis und Stadt
Sh
o
Schlachthaus.
Welche veterinär-polizeiliche
a
Wann erricht.
Geschlachtet
Einwo
zahl
u. mit welchen
Kosten?
Beaufsichtigung findet statt?
wurden
Potsdam
1. Eberswalde .
16122
Vor 1889.
Die Fleischschau ist durch Ge¬
Angaben
meindebeschluss geregelt und
fehlen.
werden die Untersuchungen
sorgfältig ausgeführt.
2. Rathenow
16354
do.
do.
3. Spandau . .
45364
do.
do.
a. im Kreise
a. 41568
Spandau
Schweine.
4. Prcnzlau . .
18013
do.
do.
a. im Kreise
a. 53167
Prcnzlau
Schweine.
5. Brandenburg
40000
do.
do.
a. im Kreise
a. 30006
Brandenburg
Schweine.
G. (Pritzwalk) .
6353
do.
do.
7. Potsdam . .
54161
do.
do.
a. im Kreise
a. 29397
Potsdam
Schweine,
8. Wittenberge.
12590
\ Der Bau
_
1). (Angermiinde)
6711
f eines
—
a. 70138
a. im Kr. An¬
> Schlaeht-
Schweine.
germünde
\ hauses ist
10. (Nauen) . .
8119
'beschlossen.
—
—
11. (Wittstock) .
6894
HVegen and.
—
—
1 nothwendig.
1 Ausgab. ist d.
f Bau eines
1 Schlachth.
12. (Kyritz) . .
5085
/ verschoben.
Digitized by
Gck 'gle
Original frorn
UMIVERSITY OF IOWA
Ueberwachung des Fleischhandels auf dem Lande und in kleinen Städten. 1S)J)
r ö «
Verworfen
Besondere polizei¬
liche Verordnungen
Vorschriften über
O £3
5 33
Bemerkungen
zum
8 anz Theil
in Orten ohne
Trichinenschau
5 P
Schlachthaus
:ctf u
1889—1891.
—
—
In den einzelnen Städ¬
—
—
ten d. Iieg.-Bez. wer¬
den d. Privatschläch¬
tereien durch Sach¬
verständige con-
trolirt.
— I
Eine Acnderungd.
trichin.
1G4
Polizeivorschrift
und
Schw.
betr. Untersuch.
finnig
des Schweine¬
fleisches auf Tri¬
chinen v. 17.3.86
(2. 10. 90) S. 71
u. 89 im Bericht.
do.
20
Schw.
do.
85
—
—
Schw r .
—
—
In Perleberg (7565),
—
—
trichin.
52
Puttlitz (1794) all¬
und
finnig
Schw.
monatlich unvermu-
thetc Revision der
Fleisch verkaufstell.
—
—
In Ketzin (3462) Po¬
—
—
trichin.
31
lizeiverordn. v. 13.2.
und
Schw.
90: Alles z. Schlach¬
finnig
ten in die Stadt kom-
—
—
mendeVieh soll thier-
—
—
ärztlich untersucht
werden u. zwar Rin¬
der vor und nach
dem Schlachten, die
andern Thiere nach
dem Schlachten. Die
Kosten für ein Rind
betragen 2 Mk., für
Benutz, d. Schlacht¬
hauses nur für ge-
werbsmäss. Schlach¬
ten vorgeschrieben,
sogen. Hausschläch¬
terei besteht noch
fort; lur diese müssen
die Beschauer bes.
Bücher führen.
hauszwang; für die
Bewohner der Aus¬
bauten auf dem
Stadt fei de kein
Zwang, dort Haus¬
schlächterei.
Beschluss d. Gewerbe¬
kammer der Provinz
Brandenburgbesagt,
dass alle Städte von
4000 Einw. aufwärts
Schlachthäuser er
richten sollen.
Ein Fall von Tri¬
chinenerkrankung d.
Leichtsinn hervorge¬
rufen. s. S. 92 im
Bericht.
Digitized by Gougle
Original frorn
UNIVERSUM OF IOWA
200
Dr. Möhlfeld,
Kreis und Stadt
U,
<D
fl
g -
S-s
Schlachthaus.
Wann erricht,
u. mit welchen
Kosten ?
13. Luckenwalde
18399
14. Neu-Ruppin.
14581
15. (Templin) .
4354
16. (Schwedt) .
9797
17. (Wriezen)
7130
18. (Freienwalde)
7261
1. Bromberg
41451
1
i
1
1
2. (Crone a. B.)
3752
3. Inowrazlaw .
16504
4. Schneidemühl
14447
5. (Kolmari. P.)
3256
G. (Mogilno). .
3149
7. (Tremessen).
4766
8. (Strelno) . .
4171
9. (Nakcl) . .
6766
10. Gnesen . .
18065 1
11. (Wongrowitz)
4920
12. (Lobseus)
2253
Welche veterinär-polizeiliche
Beaufsichtigung findet statt?
Geschlachtet
wurden
Dem Bau
eines
Schlacht¬
hauses völlig|
abgeneigt,
Der Kreisthierarzt besichtigt täg¬
lich sämmtliche Schlächtereien
(Honorar pro anno 1000 M.).
3. 7. 1890.
haus eine
tfusteranstal
Näheres S. 63
im Bericht.
Vor 1890.
do.
Juli 1890.
Vor 1889.
1890
Vor 1889.
1. 5. 1890.
Vor 1889.
Als Schlachthaus-Director fun-
girt einThierarzt. 20 Trichinen¬
schauer und 2 Probenehmer.
Beaufsichtigung durch einen
Hallenmeister, in zweifelhaften
Fällen entscheidet ein Thier¬
arzt.
Tbierarzt führt die Aufsicht.
Thierarzt führt die Aufsicht
Kreis-Thierarzt führt die Unter¬
suchungen aus.
Untersuchung durch einen Hal¬
lenmeister unter Oberaufsicht
des Kreisthierarztes.
Die Untersuchung des Schlacht¬
viehes erfolgt durch den
Schlachthauspächter, die Un¬
tersuchung auf Trichinen durch
3 Fleischbeschauer.
Die betreffende Untersuchung
führt ein Thierarzt aus.
Untersuch, durch einen Schlacht¬
hausinspector, der nicht Thier-
Im Kreise
Luckenwalde
71939 Schw.
Im Kreise
Buppin
75942 Schw.
Im Kreise
Templin
53919 Schw.
Bromberg
1890 u. 91
42119 Thiere. I
5802
19561
16727
5190
4553
4929
6628
11876
dto.
10471
arzt ist; in zweifelhaft. Fällen wird der Kreisthierarzt zugezotr.
889. Allger ' ” -
Innungs-
Schlachthau
Vor 1889.
Vor 1890.
Untersuch, durch einen Schlacht¬
hausinspector, der nicht Thier¬
arzt ist, in zweifelhaften Fällen
durch den Thierarzt,
dto.
7704
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSUV OF IOWA
Ueberwachung des Fleischhandels auf dem Lande und in kleinen Städten. 201
trichin.
und
finnig
do.
103
Schw.
27
Schw.
alle andern Thiere je
0,5 Mk. Auch von
auswärts eingeführt.
Fleisch muss durch
einen Thierarzt un¬
tersucht werden.
do. 53
— Schw.
1889—1891.
232
3120
Die Polizeiverordnung vom 29. Aug. 89
ordnet die obligatorische Untersuchung
des aus Russland eingeführt. Schweine¬
fleisches für den Reg.-Bez. an. Die
Polizei-Verordnung vom 1. 7. 1890
concedirt den öffentlichen Schlacht¬
häusern statutarische abweichende
Die Ein¬
richtung V.
Freibank,
an allen
Schlacht¬
häusern
erscheint
9
487
Bestimmungen, abweichend von der
Polizei-Verordnung vom 28. 9. 86,
welche die einschlägigen Verhältnisse
(Trichinenschau) für den ganzen Reg.
unerläss¬
lich, wird
auch lang¬
sam durch¬
49
101
Bez. regelt. Letztgenannte Polizei-
geführt.
8
13
Verordnung ist sehr verbesserungsbe¬
Freibank.
7
183
dürftig und wird wahrscheinlich bald
durch eine neue ersetzt werden.
—
5
15
Für die Kreise Bromberg, Inowrazlaw,
Wongrowitz, Garnikau, Wittkowo und
Filehne konnten nicht an allen Orten
Angaben
Trichinenbeschauer bestellt werden;
—
fehlen.
jedoch helfen hier die Nachbarbezirkc
nach Möglichkeit aus.
27
88
—
9
15
—
52
5
Nachprüfungen der Fleischbeschauer
im Reg.-Bez. finden regelmässig statt.
Die jährliche Anzahl der Fleischbe¬
—
13
185
schauer im Reg.-Bez. betrug im Durch¬
schnitt 538.
Zahl der im Reg.-Bez. 1889—91 unter¬
suchten Schweine 283452 : trichinös
—
—
590, finnig 552.
—
Im ganzen Reg.-Bez.
ist eine erfreuliche
Zunahme an In¬
teresse am Schlacht¬
hauswesen zu con-
statiren; es sind so¬
gar mehrfach auf
den Dörfern zum
allgemein. Gebrauch
bestimmte Schläch¬
tereien errichtet wor¬
den, die früher keine
hatten.
Digitized fr,
Google
Original from
UNiVERSITY OF IOWA
202
Dr. Mühlfeld,
Kreis und Stadt
Einwohner¬
zahl
Schlachthaus.
Wann erricht,
u. mit welchen
Kosten ?
Welche veterinär-polizeiliche
Beaufsichtigung findet statt?
Geschlachtet
wurden
1. (Kempen)
54G1
Seit 1882
Die öffentlichen Schlachthäuser
Posen
2.
(Wreschen) .
522(1
* 1888
des Bezirkes werden seit dem
3.
(Miloslaw) .
2157
„ 1885
1. Juli 1891 von den Kreis-
4.
(Kosten) . .
4701
» 1885
thierärzten gelegentlich an-
5.
(Mitstadt)
1431
„ 1885
derer Dienstreisen mindestens
6.
(Ostrowo)
9700
* 1887
ein Mal in jedem Kalender¬
vierteljahr, von dem Departe¬
mentsthierarzt mindestens ein
7.
(Samter) . .
4385
* 1S87
Mal im Jahr einer eingehenden
8.
Kroteschin .
10GG1
. 18S7
Besichtigung unterzogen. Die
9.
(Schrimm) .
6098
„ 1888
Besichtigung erstreckt sich auf
10.
(Koschmir) .
4358
„ 1889
den gesammten Betrieb der
O
11.
(Kurink) . .
2470
„ 1890
Schlachthäuser, insbesondere
Xi
Ai
12.
Lissa i. Pr. .
13297
„ 1S90
auf die Art der Ausführung
der Schlachtungen, Fleisch- u.
Trichinenschau, Desinfection
a
0
rO
d
13.
(Pieschen) .
Gl 29
» 1891
der Schlachträume, Stallungen
a
14.
(Gortge) . .
3721
„ 1891
und Viehrampen.
Wenn Personen als Sachver¬
ständige bei den Schlacht-
15.
(Jarotschin) .
2903
» 1891
häusern angestellt sind, die
IG.
17.
(Obornik)
Rawitsch . .
2879
12423
| Im Bau.
nicht als Thierärzte geprüft
sind, so haben sie vor dem
18.
19.
Posen . . .
(Schmiegel) .
G9G31
3882
f Der Bau ist
1 beschlossen.
Königlichen Departementsthier-
arzt eine Prüfung über ihre Be¬
fähigung abzulegen. Erforder¬
nisse dazu s. S. 129 im Bericht,
ln allen Fällen innerer Krank¬
heiten von Thieren oder schwie¬
rigen Fällen sind die Sehlacht-
thiere einer zweiten Beschauung
thierärztl. Sachverständigen zu
r durch einen
unterziehen.
20.
1.
(Schroda)
Leobschiitz .
4989
12584
Vor 1886.
Die Fleischcontrole wird durch
0 p p e 1
Geschlachtet
2.
Gleiwitz . .
196G7
Privat-
Sclil achthaus.
Vor 1886.
einenThierarzt ausgeübt, dessen
Anstellung von Seiten des Ma¬
gistrats auch in den Städten
wurden im
Regier.-Bezirk
von 1SS9—91
3!
Oppeln . .
19183
do. Innungs-
erfolgt, in denen die Schlacht¬
428526Thiere.
4.
Ratibor . .
20729
Schlachthaus.
Vor 1886.
häuser nicht im Besitz der
Commune sind (Grottkau, Leob-
5.
(Kreuzburg).
7553
do.
schiitz, Oppeln). Ferner noch
G.
Neustadt O.-S.
17581
do.
veterinärpolizeiliche Controle
7.
Beuthcn . .
30823
1886—91 fer¬
durch den Kreisthierarzt.
8.
(Cosel) . .
6161
tig gestellt,
do.
do.
9. (Grottkau) .
4345
do.
do.
Innungs-
Schlachthaus.
Digitized by
Gck 'gle
Original from
UMIVERSITY OF IOWA
Ueberwachung des Fleischhandels auf dem Lande und in kleinen Städten. 203
Verworfen
ganz
zum
Theil
Besondere polizei¬
liche Verordnungen Vorschriften über
in Orten ohne Trichinenschau
Schlachthaus
•
o a
§ §
£ _ :
£ c xi
£ 'S
_N :d in
fr
Bemerkungen
1889—1891.
Eine allgemeine obligatorische Fleisch¬
ja
schau ist im Reg.-Bez. noch nicht ein¬
ja
geführt. Die mikroskopische Fleisch¬
ja
schau ist am vollkommensten in den-
ja
jenig. Gemeinden durchgeführt, welche
In d. Ein¬
öffentliche Schlachthaus - Einrichtung
richtung
besitzen; wo Trichinenschauer fehlen,
begriffen.
treten häufig die der Nachbarschaft
do.
ein.
ja
Im ganzen Trichinen- und Finnenschau¬
ja
wesen im Vergleich zur Vergangenheit
ja
ein höchst anerkennenswerther Fort¬
ja
schritt zu verzeichnen.
In d. Ein¬
d
Im Durchschnitt waren jährlich 1028
richtung
amtliche Fleischbeschauer thätig.
begriffen.
05
ja
G
In d. Ein¬
o
cä
richtung
c
begriffen.
<
ja
ja
Ueber die Posener Verhältnisse siehe
S. 129, 130, 131 im Bericht. Es fin¬
den dort Revisionen des Fleischmarktes
durch Schutzleute statt, wobei ver¬
dächtiges Fleisch angehalten u. unter¬
sucht wird, was bei den vielen Fällen
zweifelhafter Natur dringend nothwen-
dig erscheint.
1889—1890.
Der Reg.-Bez. opfert
jährlich mehr als
150000 Mk. iür die
in ihren Resultaten
immer noch un¬
sicheren Schutz ge¬
währende Trichinen¬
schau. DieTrichincn-
und Finnenschau der
geschlacht. Schweine
und der amerikani¬
schen Schweinc-
lleischarten ist im
Bezirk einheitlich
geregelt.
Im ganzen Reg.-Bez.
betrug die Zahl der
1889—91 unters.
Schweine 458 433
davon waren trichi¬
nös 1934 und finnig
1033.
Ueber Erkrankungen
an Trichinosis siehe
S. 121 im Bericht.
Polizei-Verordn, vom
22. 5. 8G giebt Vor¬
schriften über den
Durch Verfügung
v. 16. 2. 91 ist
für den Reg.-Bez.
—
—
Transport des Flei¬
die regelmässige
—
sches zu d. Märkten.
Polizei-Verordn. vom
Nachprüfung der
Trichinenschaucr
—
—
—
28. 11. 85 verbietet
und die Beauf¬
—
—
—
das Aufblasen von
sichtigung der-
—
—
—
Fleisch, die Polizei-
selb. angeordnet.
—
501
Verordn. v. 3. 7. 87
untersagt das Feil¬
—
—
—
halten solchen Flei¬
—
sches für den Reg.-
Bezirk.
In den Städten des
Reg.-Bez. findet eine
regelmässige polizei¬
liche Ueberwachung
des Fleischverkehrs
namentlich auf den
Märkten statt mit
Unterstützung der
beamteten Thier-
iirzte.
In den Grenzkreisen
Pless, Rybnik, Glei-
witz, Zarbze haben
die Grenz- u. Thier¬
ärzte die Verpflich-
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
204
Dr. Möhlfeld,
Digitized by
Kreis und Stadt
Einwohner¬
zahl
Schlachthaus.
Wann erricht,
u. mit welchen
Kosten ?
Welche veterinär-polizeiliche
Beaufsichtigung findet statt?
Geschlachtet
wurden
10. (Myslowitz) .
9388
1886—91 fer-
tig gestellt.
11. Neisse . .
22447
do.
—
—
12. (Rybnik) . .
5157
do.
13. (Tarnowitz) .
9985
do.
—
—
14. Kattowitz
16527
92 fertig gest.
—
_
15. (Gr.-Strehlitz)
5114
\
—
—
16. (Ziegenhals).
6778
f
—
—
17. (Pless) . .
4084
\Tm Ron
—
—
18. (Patschkau).
5762
/LUX LJilU.
—
—
19. (Nikolai) . .
5650
i
—
—
20. Königshütte.
36501
>
—
—
L i e g n i t z
1. (Goldberg) .
6438
Zwischen 1886
Ein approbirter Thierarzt führt
Schweine, Rin-
9
und 1888.
als lnspector die Aufsicht.
der u. Kälber
2. (Sprottau)
3. (Liebau) .
4. (Haynau).
5. Licgnitz .
G. Görlitz .
7. Bunzlau .
8. Jauer . .
9. Sagan . .
10. Lauban .
7644 1. 7. 89.
5038 1888. Eigen¬
thum der Flei-
8115
scher-Innung.
1. 10. 89.
46852
62135
12921
11571
12623
11958
Eigenthum
der
Fleischer-
Innung.
dto.
Ein früherer Schlächtermeister
führt als Schlachthausinspector
die Aufsicht.
Ein approbirter Thierarzt führt
als Inspector die Aufsicht.
z. Zt. führt ein Fleischermeister
die Aufsicht als Inspector.
Ein approbirter Thierarzt führt
die Aufsicht als Inspector,
dto.
Ein früherer Fleischermeister
führt als Schlachthof-Inspector
die Aufsicht.
Aufsicht wird durch einen appro-
birten Thierarzt geführt. Reini¬
gung der Abwässer s. S. 86
im Bericht unter Bemerkung.
Ein früherer Fleischermeister
führt als Inspector die Auf¬
sicht.
1. 7. 1888
4604
1886—188S:
75787
112409
27040
21748
31904
1887 und S8:
13766
11. Grünberg
12. Hirschberg .
13. (Landeshut).
14. Glogau . .
16092
16213
7579
20486
} Im Bau
begriffen.
2 öffentliche Schlachthäuser, 1 grösseres für christliche, 1
kleineres für jüdische Schlächter; jedoch keines ist aus
| schliesslich zu benutzen. 2 Fleischer haben eigene
Schlachtstätten.
Gck igle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
Ueberwachung des Fleisclihandcls auf dem Lande und in kleinen Städten. 205
i
Verworfen Besondere polizei- I. ®.2 ^
_ liehe Verordnungen Vorschriften über g
7llm O^n ohne Trichinenschau 5
ganz Thdi Schlachthaus ß, •£
Trichinenschau
rS ca
S ja
c
Bemerkungen
_I _ I _ I _ I _ tung den Fleisch¬
handel grenzpolizeilich zu controliren. — Namentlich im Industriebezirk wird sich
der Fleischverkehr besonders auf den Märkten abspielen, event. auf Jahre hinaus.
— Betrugsfälle in Leobschütz u. 1 Fall in Kreuzburg. s. S. 93 im Bericht.
— I — I — I — I — In Neisse existirt eine
_I_ I _I_ I _ sogen. Schlachtvieh¬
versicherungsgesellschaft unter den Fleischern selber. — Beuthen u. Myslowitz haben
einen bedeutenden Fleischexport über die Grenzen des Reg.-Bez. hinaus.
1886—1888.
Vorschrift über Angaben
Trichinenschau fehlen,
für d. Reg.-Bez.,
auch ganz Schle- —
sien v. 31. G. 78. —
Verordnung betr.
Nachrcvisionen
d. Trichinensch.
und der Instru¬
mente v. J. 1888. ad 5)
Sehr arge Miss- Freibank,
stände haben ge- —
waltet.
Durch Polizei-Verord¬
nung vom 26. 9. 85
ist für den ganzen
Reg.-Bez. das Auf¬
blasen des Fleisches
verboten.
Inspector hat d. Ver-
pflichtg., jede krank¬
hafte Erscheinung
dem Departements-
Thierarzt anzuzeigen
resp. vorzulegen.
Ferner muss alles
von auswärts einge¬
führte Fleisch im
Schlachthaus unter¬
sucht werden, bevor
es verkauft werden
darf.
Im ganzen Reg.-Bez.
wurden in den Jah¬
ren 1886—1888 un¬
tersucht 769 144
Schweine, davon wa¬
ren trichinös 360,
finnig 1373.
Digitized by Gougle
Original fro-m
UNIVERSUM OF IOWA
206
Digitized by
Dr. Möhlfcld,
Kreis und Stadt
Einwohner¬
zahl
Schlachthaus.
Wann erricht,
u. mit welchen
Kosten?
Welche veterinär-polizeiliche
Beaufsichtigung findet statt?
Geschlachtet
wurden
1. Bielefeld . .
39950
Vor 18S9.
Schlachthausverwalter führt Auf-
M i n d e
38419 Thiere.
2. Herford . .
19262
Eröffnet 1889.
sieht u. Untersuchung. Nähere
Angaben fehlen.
do.
10610 „
3. (Höxter) . .
6050
Vor 1889.
do.
11745 „
4. Minden. . .
20223
do.
do.
15090 „
5. (Oenhauscn) .
2481
do.
do.
1890—91
6. Paderborn. .
17993
do.
do.
3795 „
31140 „
7. (Warburg). .
5044
do.
do.
8170 „
8. (Gütersloh)
5919
Schlachthaus
—
9. (Bünde) . .
3482
projectirt,
doch noch
nicht endgül¬
tig beschloss.
Bau sehr
nöthig.
Die projectirte
1. (Arnsberg) .
7418
Anlage wieder
ad act. gelegt.
December 8S,
Arasber
1S89—91
2. Bochum . .
52029
Kosten
77000 Mk.
Vor 1886.
i
11996 Thiere.
67708 „
3. Dortmund .
89592
Vor 1886. Ist
—
109501 „
4. Gelsenkirchcn
28033
Mustcranstalt.
Zwischen 1886
_
35240 „
5. Hagen. . .
35376
und 1888.
do.
—
43483 *
6. Hocrde . .
16347
Vor 1886.
—
22419
7. Iserlohn . .
22199
do.
—
29505 „
8. Lippstadt
10408
do.
—
14543 B
0. Lüdenscheid.
19450
do.
—
17122 *
10. Siegen . .
18245
1886
—
39957 „
11. Soest . . .
15073
Vor 1886.
—
20935
12. Witten . .
26314
Zwischen
_
32569 „
13. Hamm . .
24975
1886 u. 1888.
Im Bau.
—
—
Gck igh
Original frn-m
UNiVERSUY OF IOWA
Überwachung des FJeischliandcls auf dem Lande und in kleinen Städten. 207
Verworfen
ganz
zum
Theil
Besondere polizei¬
liche Verordnungen
in Orten ohne
Schlachthaus
Vorschriften überi
Trichinenschau
T? .
o a
%
5 ■ 3
la rC
3 .S
Bemerkungen
1889—1891.
1889-1891.
55
209
—
Polizei - Verordng.
_
v. 26. 7. 91 be¬
31
265
_
stimmt d. repeti-
torischen Nach¬
41
678
—
prüfungen der
—
36
117
—
Trichinensch.
—
3
7
—
In einzelnen Be¬
—
35
zirken besteht d.
82
—
Vorschrift, dass
—
13
38
—
ein Trichinensch.
—
an einem Tage
nie mehr als
6 Untersuchun¬
gen von ganzen
Schweinen vor¬
nehmen darf.
Polizei-Verordng.
—
—
v. 8. 3. 91 be-
stimmt die Ausnahmefälle
nach vorherig. Zustimmung
des Kreisthierarztes.
Im Reg.-Bez. wurden
im Jahre 18S9—91
untersucht 490 064
Schweine, trichinös
waren 30, finnig453.
Durchschnittszahl d.
amtlichen Trichinen¬
schauer 852.
Ganz verworf.
_
I
358, incl. 342
neugeb.Kälber.
1193, incl. 654
neugeb. Kälber.
2237, incl. 1956
neugeb.Kälber.
846, incl. 373
I
neugeb.Kälber.
1261,incl.1249
neugeb.Kälber.
935, incl. 676
G
■2 [
neugeb.Kälber.
1645, incl. 1577
xx A -
s— 1
c
neugeb.Kälber.
341, incl. 284
o
ci
bß
neugeb.Kälber.
1069, incl. 1007
Im ganzen Bezirk
<
neugeb.Kälber.
155, incl. 52
_
werden durch d.
Kreisphysiker
f
neugeb.Kälber.
707, incl. 645
Nachprüfungen
derTrichinensch.
neugeb.Kälber.
459, incl. 416
vorgenomraen,
was sich gut be¬
r
neugeb.Kälber.
—
währt hat.
)ie Einnahme des
Schlachth. in Arnsbg.
betrug im Etatsjahre
1888/89 2835,85 M.,
Ausgabe 2786,49M.,
also im Plus von
49,36 M.
orzuhebenist das
stete Wachsen des
Fleischconsums im
Reg.-Bez.
~)urch Verfügung vom
13. 2. 92 ist ver¬
boten, Fleisch von
Pferden mit Lum¬
bago zum mensch¬
lichen Genuss zuzu¬
lassen.
"ür den ganzen Reg.-
Bez. waren im Jahre
1889:1524, 1890:
1525, 1891 : 1552
Trichinenschauer be¬
schäftigt, welche
von den betreffenden
Kreisphysikern con-
trolirt werden.
Digitized by
Gck igle
Original frn-m
UNiVERSITY OF IOWA
208
Dr. Möhlfeld,
Kreis und Stadt
14. Altena
15. (Hohenlim¬
burg)
16. (Niedermars¬
berg)
17. Unna . . .
18. (Meschede) .
19. (Plettenberg)
Kr. Altena
Einwohner¬
zahl
Schlachthaus.
Wann erricht,
u. mit welchen
Kosten ?
Welche veterinär-polizeiliche
Beaufsichtigung findet statt?
Geschlachtet
wurden
11140
Zwischen
1889 u. 1891.
—
1889—91:
7950 Thiere.
6205
do.
—
547 „
3555
do.
—
2464 *
11124
Projectirt.
—
2940
3698
do.
Möchte gern
ein Schlacht!
beaufsichtige!
—
laus bauen, jedoch ohne die Anstellung eines
iden Thierarztes.
Digitized by
Gck igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
IJcborwachung des Fleischluin«leis auf dem Lande und in kleinen Städten. 209
Verworfen
Besondere polizei¬
liche Verordnungen
Vorschriften über
r O •
o a
¥
s §
Bemerkungen
zum
ganz Theil
in Orten ohne
Schlachthaus
Trichinenschau
Freib?
ähn.L
rieht
Ganz verworf.
441, incl. 422
neugeb.Kälber.
8, incl. 5 neu¬
geb. Kälber.
32, incl. 2 neu¬
geb. "Kälber.
Am 28. 10. 91 neue Polizei-Verordn.
für den Reg.-Bezirk, betr. die Unter¬
suchung des Schweinefleisches auf
Trichinen und Finnen. Doch haben
sich hinsichtlich dieser Poliz.-Verord.
schon einige wünscheuswcrthe Ver¬
besserungen ergeben.
1889—1891 wurden
im Reg.-Bcz. ge¬
schlachtet 836950
Schweine, davon 22
trichinös.
—
—
Nachtrag zu den Gutachten, betreffend die Yerwerthung des
Fleisches finniger Rinder.
Mit Bezugnahme auf die in den Gutachten der technischen De¬
putation für das Veterinärwesen (S. 122) angeführte Aeusscrung be¬
treffend die Einführung einer obligatorischen Fleischschau ist nachzu¬
tragen, dass inzwischen durch Ministerial-Erlass vom 10. August d. J.
die Oberpräsidenten angewiesen worden sind, die obligatorische Fleisch¬
schau vor und nach dem Schlachten der Thiere im Wege der Polizei¬
verordnung nach dem Muster der für die Provinz Hessen - Nassau
geltenden Verordnung vom 1. Juli 1892 in allen preussischen Gebiets¬
teilen zur Einführung zu bringen.
Bruckfehlerberichtigung.
Auf Seile 416, Bd. XIV. Heft 2, Zeile 18 von unten lies „Alluraettes“ statt
„Mumcttes“.
(Gedruckt hoi L. Scliuiiiaclier in Uerlin.
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
Digitized by Gougle
Original frnm
UMIVERSITY OF IOWA
Digitized by Gougle
Original frnm
UMIVERSITY OF IOWA
Digitized by
Go igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Digitized by
Go igle
Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA