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Full text of "Vierteljahrsschrift Für Gerichtliche Medizin Und Öffentliches Sanitätswesen ( 3. F.) 14.1897 & Suppl."

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Vierteljahrsschrift 

für 

gerichtliche Medicin 

und 

öffentliches Sanitätswesen. 


Unter Mitwirkung der Königl. wissenschaftlichen Deputation 
für das Medicinalwesen im Ministerium der geistlichen, 
Unterrichts- und Medicinal-Angelegenheiten 

herausgegeben 


I>r. A. L. Schmidtmann, und Dr. Fritz Strassmann, 

Geh. Med.- and vorir. Rath im Königl. Preußischen a. o. Professor, gerichtl. Stadtphysikus und 
Ministerium der geistlichen, Unterricht«- und Director der Königl. Unterrichts-Anstalt fllr 
di ein al- Angelegenheiten. Staatsarzneikunde zu Berlin. 


Dritte Folge. XIV. Band. 
Jahrgang 1897. 


BERLIN, 1897. 

VERLAG VON AUGUST HIRSCHWALD. 

SW. UNTER DEN LINDEN «8. 


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Inhalt. 


Seite 

I. Gerichtliche Medicin .1—102. 199—328 

1. Obergutachten über die Zuverlässigkeit der Angaben eines Aphasischen 

über die Vorgänge bei der seiner Aphasie zu Grunde liegenden Schädel¬ 
verletzung (Raubmordversuch). Von Prof. Dr. Th. Ziehen ... 1 

2. Zur Casuistik der Carboisäurevergiftung. Von Dr. A. Brosch in Wien 20 

3. Aus dem Institut für gerichtliche Medicin des Herrn Hofrath v. Hof- 
m ann in "Wien: Ueber die Dauer der Nachweisbarkeit von Kohlenoxyd 
im Blute und in Blutextravasaten überlebender Individuen. Von Dr. 

E. Michel .36 

4. Aus dem Institut für gerichtliche Medicin des Herrn Hofrath Professor 

E. v. Hofmann in Wien: Ueber die Thymus des Erwachsenen in ge- 
richtlich-medicinischer Beziehung. Von Dr. S. Dwornitschenko . 51 

5. Trauma und Carcinom. Von Kreisphysikus Dr. H. Berger in Neustadt . 62 

6. Beiträge zur Begutachtung des Zusammenhanges zwischen Trauma und 

Lungentuberkulose. Von Dr. J. Koehler in Berlin . '. . . . 87 

7. Gutachten über die Frage: ob ein, von einem Paralytischen ab¬ 
geschlossener, Haus-Kauf rechtsgiltig ist oder nicht? Von Prof.Rieger 


in Würzburg .199 

g. Casuistischer Beitrag zur gerichtlichen Psychiatrie. Von Med.-Rath Dr. 

F. Siemens . 218 

9. Ueber psychische Infection und inducirtes Irresein. Von Physikus Dr. 

O- Ri e del (Lübeck).235 

IO. Ueber Sarggeburt und Mittheilung eines neuen Falles. Von Dr. Bleich 252 
2E Seltsamer Kindesmord. Von Prof. Dr. Fritz Strassmann in Berlin 260 
12. Hundert Jahre alte Haare. Von Bezirksarzt Fr. Ringberg in Hallund 264 


j 3 _ Aus der Unterrichtsanstalt für Staatsarzneikunde zu Berlin: Zur Kennt- 
niss des Sclererytbrins nebst Bemerkungen über ein mittelst desselben 
berzustellendes Reagenzpapier (Secalepapier). Von Dr. G. Puppe . 267 

14. Ein seltener Fall von chronischer Chloralvergiftung. Von Dr. Geill . 274 

15. Ueber die Vertheilung einiger Gifte im menschlichen Körper. Von Prof. 

A- Ees ser in Breslau.. 287 

IE Oeffentüches Sanitätswesen. 103—150. 329—403 

X. Gutachten der Königl. wissenschaftlichen Deputation für das Medicinat- 
wesen, betreffend die Schutzpockenimpfung und die Disposition für die 


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IV 


Inhalt. 


Seite 


Erkrankung an Tuberkulose. (Erster Referent: Gerhardt, Zweiter 
Referent: v. Ley de n.).103 

2. Die Verbreitung der Cholera durch das Wasser und die Massnahmen 

gegen dieselbe vom sanitätspolizeilichen Standpunkte. Von Dr. 0. 
Brunzlow in Hamburg (Schluss).105 

3. Der Stand der Städtereinigungsfrage. Von Schmidtmann und 

Proskauer. 11. Thcil ..132 

4. Zwei Gutachten über Reinigung städtischer Kanal wässer auf Veranlassung 

der Stadtverwaltungen zu Köln und Thorn. Von Prof. C. Fraenkel 329 

5. lieber die Aufgaben der Sanitätspolizei auf dom platten Lande. Von 

Dr. Siisskand, pract. Arzt in Koben a. 0.351 

6. Welche Bedenken lassen sich gegen die Sitte des Ausstopfens des ge¬ 
schlachteten Geflügels mit Papier erheben? Gutachten von R. Stornier 394 


7. Bemerkungen zu Prof. C. FracnkePs Gutachten über die Verunreinigung 

des Salzbach-Mühlgrabens an der liammcrmühle bei Biebrich durch 
die Abwässer der Wiesbadener Kläranlage. Von Dr. G. Frank (Wies¬ 
baden) und Dr. Mayrhofer (Mainz).400 

8. Erwiderung auf die vorstehenden Bemerkungen. Von Prof. C. Fraenkel 402 

III. Besprechungen, Referate, Notizen, amtliche Mittheilungen 

151 -196. 404-431 


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I. Gerichtliche Medicin. 


1 . 

Obergutachten über die Zuverlässigkeit der Angaben 
eines Aphasischen Uber die Vorgänge bei der seiner 
Aphasie zu Grunde liegenden Schädelverletzung 

(Raubmordversuch). 

Von 

Prof. Dr. Th. Ziehen. 


Auf Grund eingehenden Studiums der Acten J. 1318/95, ßd. 1 
und 2, sowie meiner persönlichen Beobachtungen am 8. April 1890 
erstatte ich das nachfolgende motivirte Gutachten über den Geistes¬ 
zustand des Richard H. und die Glaubwürdigkeit seiner jetzigen und 
früheren Aussagen. 

1. Darstellung des KrankheitsVerlaufs. 

Der p. H. wurde am 17. Dec. 1895 auf dem Wege von Remd^ nach Treppen¬ 
dorf angefallen und mit einem scharfen Instrument an zwei Stellen des Kopfes 
schwer verletzt. Ueber den Hergang der Verletzung stehen nur die Aussagen des 
p. II. selbst zur Verfügung. Da gerade die Glaubwürdigkeit der Aussagen des 
p. H. Gegenstand der Untersuchung in diesem Gutachten ist, sehe ich hier von 
einer Verwerthung derselben für die Reconstruction des Hergangs der Verletzung 
ab; es kann dies um so mehr geschehen, als die Aussagen des p. H. auf diesen 
Hergang in ärztlicher Beziehung kein erhebliches Licht werfen. Jedenfalls ver¬ 
mochte H. noch wieder auf den Wagen zu gelangen, von welchem er durch die 
Hiebe heruntergestürzt worden war. Den Zustand, in welchem er zu Hause an¬ 
kam, beschreibt sein Bruder Karl, welcher alsbald von einigen Kindcrn'herzuge- 
rufen worden war, wie folgt: „Er hatte zwei blutende Wunden auf dein Kopfe, 
von denen die eine, auf der rechten Seite, einige Centimetcr hinter dem Ohr be¬ 
gann und bis ungefähr in die Mitte der oberen Backe reichte; das Ohr war von 
hinten durchschnitten. Die andere Wunde ging, am linken Ohr beginnend, in der 
Richtung des Ohrs nach oben verlaufend, über den Hinterkopf nach der Scheitel- 

Vierteljahrssehr. f. ger. Med. Dritte Folge. XIV. 1. j 


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höhe. Beide Wunden waren glatt; aus der letztgenannten waren Gehirntheile her¬ 
vorgetreten.“ Nach ca. 3 Stunden kam als Arzt der cand. med. M. Derselbe ver¬ 
ordnte Wasseraufschläge. Darauf schlug H., der nach Angabe seines Bruders bis 
dahin besinnungslos gewesen war, die Augen auf. Auf die Frage des Arztes: 
Sind Sie mit einem Beil geschlagen worden? soll er „ja“ geantwortet haben. Dar¬ 
auf wurde er zu Bett gebracht. Am folgenden Tage wurde auch Dr. K. zugezogen. 
Dieser beschreibt die für dies Gutachten bezw. für den Geisteszustand des p. II. 
allein in Betracht kommende linksseitige Wunde folgendennassen: „Die zweite 
Verletzung befindet sich auf der linken Seite des Kopfes; sie hat die Richtung von 
der Mitte des Scheitels gegen den äusseren Augenrand, durchschneidet die Kopf¬ 
schwarte in einer Länge von 7 cm, die Hirnschale in einer Länge von 4y a cm 
und einer mittleren Breite von 1 / 2 cm und ist nach ungefährer Schätzung 1 cm ' 
tief in das Innere des Schädels eingedrungen. Die Ränder an den Weichtheilen 
und dem äusseren Rand der Schädelwunde sind vollständig glatt und verlaufen 
gerade. Der innere Rand der Schädelwunde war infolge von Ablösungen grösserer 
und kleinerer Knochensplitter in Bezug auf seine Beschaffenheit nicht zu beur- 
theilen. Aus der Wunde ist Gehirnmasse während der Nacht und während der 
an dem nächsten Tage vorgenommenen Operation in einer Menge von- ungefähr 
12 ccm abgeflossen. Bei weiterer Besichtigung zeigte sich die Knochenwunde 
nach oben hin nach dem Scheitel zu etwa iy 2 cm > nach unten zu 2 cm unter der 
Haut als Spalt oder Sprung fortsetzend. Die Verletzung hat gegen die Seite des 
Kopfes eine Neigung von 45°, so dass sie bei der Aufrechthaltung des Kopfes 
zwischen wagerechter und senkrechter Richtung etwa in der Mitte erfolgt sein 
müsste.“ Später hat Dr. K. die Länge der Hautwunde auf nur 5—6 cm angegeben 
und seine Angabe über die Richtung des Hiebes dahin berichtigt, dass derselbe in 
einer Linie gelegen habe, „die man sich von der Mitte des Scheitels (dem Wirbel) 
nach der Mitte des Jochbogens (= der Mitte zwischen Auge und Ohr) gezogen 
denkt.“ Die Eintragungen des Dr. K. in das Schema stimmen hiermit leidlich 
überein. In einem Gutachten vom 31. Jan. 18% hat Dr. K. die Länge der Haut¬ 
wunde und der Wunde des Schädeldachs auf 5 bezw. 4 l / 2 cm angegeben. 

Herr cand. med. M. hat gleichfalls eine Beschreibung der Verletzungen ge¬ 
geben. Aus der letzteren hebe ich die ausdrückliche Angabe hervor, dass auch 
die derbe Hirnhaut getrennt war und die Himsubstanz theilweise Defecte ergab. 
Haut- und Knochenwunde sollen beide etwa 5 cm lang gewesen sein. Die Hirn¬ 
haut soll etwa 4y 2 cm weit gespalten gewesen sein, „indem letztere nach oben 
und hinten zu etwa x / 2 cm im Verlauf der Wunde geschlossen war.“ 

Das Bewusstsein war nach Angabe des p. M. meist erloschen, der Puls voll, 
gleichmässig, ein wenig matt. 

Am Tage nach dem Anfall, d. h. am 18. Dec., wurde die Knochenverletzung 
freigelegt, der Knochenspalt nach oben erweitert, die Knochensplitter entfernt, die 
Dura (harte Hirnhaut) vernäht. Die Einzelheiten dieses operativen Eingriffs sind 
für dies Gutachten ohne Belang. 

Der Verlauf der Krankheit, welche die Verletzung hervorgerufen, gestaltete 
sich folgendennassen, wobei ich von den Aussagen des Verletzten über den An¬ 
fall zunächst ganz absehe. Schon M. hatte eine Lähmung des rechten Armes und 
Beines und der Sprache festgestellt. Auch die rechte Gesichtshälfto war gelähmt. 


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Obergutachten über die Zuverlässigkeit der Angaben eines Aphasischen. 3 

Am 6. -Tan. 1896 theilte Dr. K. der Staatsanwaltschaft mit, seit 8 Tagen seien 
keine Fortschritte zum Besseren eingetreten. Die Sprache sei lallend, das Ge- 
dächtniss scheine schwächer als bisher. Am 8. Jan. berichtet jedoch Dr. K., dass 
die Sprache auffallend deutlicher und wortreicher sei, als vor 8 Tagen. Dabei 
eonstatirt er andererseits noch „einen bestimmten Grad von Verwirrtheit.“ 

Bei der Vernehmung am 17. Jan. wird der Zustand des p. H. vom Unter¬ 
suchungsrichter folgendermassen beschrieben: II. zeigte „augenscheinliches Ver¬ 
ständnis für die ihm vorgelegten Fragen, Gedankenklarheit und Lebhaftigkeit des 
Geistes. Nur sein Sprach vermögen erwies sich als noch nicht ganz hergestellt; 
er musste zuweilen für den Ausdruck seiner Gedanken nach Worten suchen, welche 
ihm entweder nicht einftelen oder von ihm nicht auszusprechen waren. In dieser 
• Beziehung mag erwähnt werden, dass er den anwesenden Arzt immer entweder als 
„„Herr Förster““ oder als „„Herr Raster““, auch wohl „„Pastor““ anredete, weil 
ihm die Aussprache des Wortes „„Doctor““ offenbar nicht möglich war.“ — Der 
Bericht des Dr. K. vom 25. Jan. spricht sich über das körperliche Befinden gün¬ 
stig aus; in psychischer Beziehung habe der Kranke seit den letzten 8 Tagen 
keine Fortschritte gemacht. Am 31. Jan. erklärt Dr. K., dass „bei längerer und 
eindringlicher Unterredung noch Verwirrtheit zu bemerken sei“; auch widerspreche 
sich der Kranke noch. 

Aus dem eingehenden Gutachten des Dr. K. vom 24. März hebe ich hervor, 
dass damals bereits völlige Vernarbung eingetreten war. Die frühere rechtsseitige 
Gesichtslähmung war nahezu verschwunden, die Lähmung des rechten Beines 
zeigte sich noch durch einen leicht schleppenden Gang an. Am meisten war der 
rechte Arm noch von der Lähmung betroffen. Gute Fortschritte hatte die Sprache 
gemacht. „Der Kranke spricht im Grossen und Ganzen wieder fliessend, nur bei 
schwierigen Wörtern muss er sich besinnen, bezw. durch mehrmaliges Ansetzen 
und langsames Buchstabiren dieselben herauszubringen suchen. Will ihm eine 
Wortbildung gar nicht gelingen, so weiss er sich durch Umschreibung zu helfen. 
Aehnlich ist es mit dem gestörten Lesevermögen. Fast jedes Wort, mit Ausnahme 
der Fremdwörter, weiss er durch Buchstabiren verständlich zu machen. Mit dem 
Schreiben sind wenig Versuche gemacht worden wegen der noch bestehenden Läh¬ 
mung der rechten Hand. Doch ist der Zustand ähnlich, wie mit dem Lesen. Sehr 
in der Besserung fortgeschritten, soweit die Beobachtung reicht, ist die ursprüng¬ 
liche Gedächtnissschwäche (Amnesie). II. wird sich von Tag zu Tag klarer über 
seinen Zustand und über die Vorkommnisse und Begleiterscheinungen bei jenem 
Ueberfall. Soweit die letzten Beobachtungen ergeben haben, hat H. in seinen An¬ 
gaben bezüglich des Attentats, des Verlaufs seiner Krankheit, bei der Unterhal¬ 
tung über die verschiedenartigsten Dinge sich jetzt niemals mehr in Widersprüche 
verwickelt, wie das Anfangs geschah, oder überhaupt incorrecte Aeusserungen 
gethan.“ 


2. Untersuchungsbefund vom 8. April 1896. 

Vor der Confrontation des H. mit dem des Raubmordes verdächtigen Fr. am 
Orte der That untersuchte ich den II. in seiner Wohnung und stellte im Wesent¬ 
lichen Folgendes fest: 

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Prof. Ziehen, 


a) Körperlicher Zustand. 

Die linksseitigeNarbc, sowie der darunter liegendeKnochendefect entsprechen 
im Ganzen der Beschreibung der früheren Begutachter, wenn man die bei dem 
operativen Eingriff stattgehabten Hautschnitte und Erweiterung des Knochendefects 
in Betracht zieht. Der tiefe Knochendefect hat eine Länge von ca. 5 cm, sein 
oberes Ende liegt 6 cm von der Mittellinie und 10 cm vom äusseren Gehörgang 
entfernt. Das untere Ende liegt knapp 4 cm oberhalb der sogen. Ri eger'sehen 
Grundebene. Die ganze Gegend der Narbe ist in einer Zone von fast 12 cm Länge 
und ca. 4—5 cm Breite sehr druckempfindlich. Die rechtsseitige Narbe ist für das 
Gutachten belanglos. 

Linke Pupille weiter. Alle Reactionen erhalten. Augenbewegungen frei. 
Lidhebung symmetrisch. 

Stimfacialisinnervationen symmetrisch. 

Rechte Nasolabialfalte tiefer. Pfeifen symmetrisch. Zähnefletschen und 
sprachliche Innervationen der Mundmuskeln eher rechts etwas energischer. Die 
Zunge weicht vom Gaumen nach links, mit der Spitze nach rechts ab. 

Gaumenhebung symmetrisch. 

Bewegungen des rechten Armes im Schultergelenk, namentlich Hebung und 
Abduction sehr schwach und unausgiebig; ebenso die Beugung und Pronation im 
Ellenbogengelenk; auch Streckung und Supination werden in letzterem Gelenk 
nicht mit normaler Kraft ausgeführt. Hand- und Fingerbewegungen ebenfalls 
rechts schwächer und weniger ausgiebig. Opposition des Daumens und 5. Fingers 
gelingt kaum. Händedruck, dynamometrisch gemessen, links 68°, rechts 16°. 
Umfang des rechten Vorderarms (12 cm unterhalb des Olecranon) 22 y 2 cm, des 
linken 23y 4 cm. Anconcussehnenphänomen und mechanische Erregbarkeit der 
Armmuskeln rechts gesteigert, faradische Erregbarkeit erhalten. Sehr geringe 
Ataxie des rechten Armes. 

Bewegungen des rechten Beines in allen Gelenken ein wenig schwächer als 
die des linken. Leichter Hahnentritt rechts. Sehr geringe Ataxie des rechten 
Beines. Spiel der Zehenbewegungen rechts etwas langsamer als links. Kein Rom- 
berg’sches Schwanken. Umfang des rechten Unterschenkels (15 cm unterhalb 
der Patella) 31 cm, des linken 31 y a cm. Kniephänomen rechts stärker als links. 
Achillessehnenphänomen rechts fast erloschen, links erhalten. 

Plantarreflex rechts fast erloschen, links erhalten. 

Epigastrischer Reflex symmetrisch erhalten. 

Rechte Hand deutlich kälter als die linke. 

Berührungsempfindlichkeit auf der ganzen rechten Körperhälfte stark, Schmcrz- 
empfindlichkeit etwas herabgesetzt. 

Muskelgefühl rechts stark herabgesetzt. Patient fühlt namentlich die Rich¬ 
tung passiver Bewegungen nur äusserst unvollkommen. 

Gegenstände werden durch Betasten in der rechten Hand nicht erkannt. 

Gesichtsfelder intact. 

Geschmack und Geruch symmetrisch; nur behauptet der Kranke, die bezüg¬ 
lichen Substanzen röchen und schmeckten rechts „schlechter“. 

Uhrticken wird vom rechten Ohr nicht gehört. Auf meine Bitte hat Dr. K. 
das rechte Ohr später otoskopisch untersucht. Dabei ergab sich ein peripherischer 


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Ohergutachten über die Zuverlässigkeit der Angaben eines Aphasischen. 5 

Kranklieitsprocess im rechten Mittelohr. Die Herabsetzung der rechtsseitigen Hör¬ 
schärfe ist sonach wohl nicht auf die Gehirn Verletzung zu beziehen. 

b) Geistiger Zustand incl. Sprache. 

( Ich bemerke hierzu, dass auf Wunsch des Untersuchungsrichters Fragen, welche 
auf den Anfall Bezug haben, zunächst vermieden wurden.) 

Vorgelegte Gegenstände wurden grösstcntheils richtig benannt, so z. B. Salz, 
Kelle, Uhr, Ofen, einige, wie z. B. Tasse, Fünfmarkstiick, Bleistift, Portemonnaie 
etc. erst nach einigem Hesitiren (F—f—fünf Mark) oder öfterem Ansetzen (Ta— 
lasse) oder einigen Fehlversuchen (Beil—Blei—stirne—stift). Ab und zu wählt er 
auch im Spontansprechen auffällige Umschreibungen. 

Vorgelegte Farben werden durchaus richtig bezeichnet. 

Das Sprachverständniss ist durchaus erhalten. Seinem Bildungsgrad ent¬ 
sprechende Fragen versteht er ausnahmslos sofort richtig. 

Speciell unterscheidet er auch bezüglich des Verständnisses Farben, Zahlen, 
rechts und links etc. stets richtig. 

Rechnen gelingt dem Kranken nur sehr schlecht. Mühsam rechnet er 4-f- ,r) 
und 4> —j— 8. 6X7 wird =40 gerechnet. Patient bemerkt selbst: „Ich bring’s 
doch nicht zusammen.“ Sein Geburtsjahr giebt er richtig an (1853), dagegen 
rechnet er sein Alter falsch zu 34 Jahren aus. 

Seine Personalien giebt er im Uebrigen richtig an, seinen Geburtstag aller¬ 
dings erst nach öfterem Versprechen. Auch den Tag seines Anfalls weiss er nicht, 
('„das merk’ ich nicht“), er weiss nur anzugeben: im December, vor Weihnachten. 
Dass er Hafer verkauft, weiss er noch, nicht aber, wieviel Hafer. Er will um 1 Uhr 
von Treppendorf weggefahren sein; anfangs sagte er um 9, dann um 7 Uhr, cor- 
rigirte sich aber sofort selbst, indem ihn der Wortklang aufmerksam machte, dass 
er die Zahlen verwechselt habe. Auf dem Hinweg will er einem gewissen G. be¬ 
gegnet sein. Sehr gut erinnert er sich noch des Gesprächs mit dem Bruder des 
Herrn K. in Remda, welchem er das Getreide verkaufte. Der Kranke äussert wört¬ 
lich: „Wir haben ja viel gesprochen. Ich sagte ihm, wenn’s knapp wär’ — es 
ging nicht so recht — das Gewinde — das Gewicht — es stimmte nicht — es 
machte 60 Mark — er gab mir dasselbe. Er sagte noch: wenn wir ihn da hätten, 
war’ er auch eingetrocknet — wir sind sehr gute Freunde — sehr feine Herren!“ 
Auf die Frage, was für Geldstücke er bekommen, antwortete H.: „Ich glaube, es 
waren lauter 20 Marker in Gold.“ Auf die Frage, ob er Geld gewechselt habe, 
antwortete er wörtlich: „Wie wir fertig waren, hab’ ich ein Mal Bier getrunken 
und gewechselt. Ich weiss nicht, hab’ ich nur 6 oder 8 Mark gewechselt und das 
Zweimarkstück hat mir der Adolph B. gewechselt.“ (Ich denke ein Zehnmarkstück!) 
„Nein, das wusste ich erst nicht, jetzt weiss ich’s noch ganz gut.“ (Früher spra¬ 
chen Sie doch von einem Zehnmarkstück!) „Das hab’ ich mich wieder besonnen.“ 
(Wieviel hat das Bier gekostet?) „12 Seidel — (sich verbessernd) Pfennige.“ 
(Was hat B. Ihnen herausgegeben?). „Er hatte so viel Nickel — so Mansch — 
das Portemonnaie war so voll — so Nickel und Groschen. Das weiss ich noch. 
Vielleicht auch noch ein Fünfziger.“ (Hat er ihnen das später gesagt?) „Nein, 
ich wusste das selbst.“ 

Im übrigen Gespräch vermochte ich einen irgendwie nennenswerthen Intelli- 


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genzdefect nicht festzustellen. Nur hinsichtlich der Zahlvorstellungen waren die 
Antworten öfters ungenügend. 

Grossgeschriebene Worte liest Patient richtig. Zu schreiben vermag er nur 
mit der linken Hand, dabei macht sich eine Neigung zu Buchstabenversetzungen 
geltend. 

3. Die Angaben II.’s über den Anfall. 

Ich stelle zunächst kurz nach den Acten zusammen, was II. zu den verschie¬ 
denen Zeiten angegeben. Am 19. I)ec. wurde H., weil er mit den Fingern vor 
dem Munde spielte, von seinem Bruder gefragt, ob der Thäter Musiker sei; darauf 
machte er abwehrende Bewegungen mit der Hand und ein ärgerliches Gesicht. 
Ebenso wehrte er ab, als ihm der Name eines entlassenen Arbeiters genannt wurde. 
Hingegen auf die Frage, ob es ein Arbeiter von Gebrüder K., Brauerei in Remda, 
wohin H. den Hafer gefahren, gewesen sei, nickte er mit dem Kopfe und sein Ge¬ 
sicht war freudig und trotz der mangelnden Sprache brachte er durch Töne seine 
Zustimmung zum Ausdruck. Auch auf die Frage, ob er mit einem Beil geschlagen 
worden sei und ob es nur einer gewesen, nickte er mit dem Kopfe, bezw. ant¬ 
wortete auf erstere Frage sogar mit einem erkennbaren Ja. Das Gericht vermochte 
aus seinen Gesten damals etwas Positives nicht zu entnehmen. 

Am 2. Jan. 1896 theilt Dr. K. mit, dass H., wenn der Ueberfall berührt wird, 
sofort in hochgradige Erregung geräth, mit dem linken Arm um sich schlägt und 
flucht und schimpft. Dem Namen Fr. 1 ) gegenüber soll er sich, soweit Dr. K. be¬ 
kannt, bis jetzt indifferent gezeigt haben. Ich füge hier gleich ein, dass das 
Schlagen mit dem linken Arm, sowie das früher erwähnte Spielen mit den Fingern 
vor dem Munde und das von Dr. K. am Morgen nach dem Ueberfall beobachtete 
Anlegen des Zeigefingers an den Mund und Mundspitzon und Blasen Bewegungen 
sind, welche auch sonst recht oft bei Halbseitiggelähmten und Aphasischen Vor¬ 
kommen, also zu Schlüssen nicht zu verwerthen sind. Es mag noch bemerkt wer¬ 
den, dass H. auf Veranlassung seines Bruders im December auf eine Schiefertafel 
mit der linken Hand ein grosses S schrieb. Auch hierzu soll gleich hinzugefügt 
werden, dass auf dies S keinesfalls grosses Gewicht zu legen ist, da Verletzte, 
wie H., anfangs öfter sogen. Paragraphie zeigen, d. h. einen Buchstaben für einen 
anderen schreiben (auch mit der nicht gelähmten Hand). Vergl. hierzu auch mei¬ 
nen Untersuchungsbefund bezüglich der jetzigen Schreibfähigkeit, welcher eine 
Noigung zu Paragraphie noch jetzt ergiebt. 

Am 6. Jan. berichtet Dr. K., der Verletzte habe einige Anspielungen auf die 
Thäterschaft Fr.’s mit völliger Gleichgültigkeit aufgenommen. 

Am 10. Jan. fing H. nach Aussage seines Bruders von selbst von der That 
zu sprechen an. Auf die Frage, ob er auf dem Wagen gesessen habe, „hob er 
sich auf und setzte sich wieder.“ . . . „Dann schlug er sich mit der Hand hinten 
auf den Kopf,“ . . . „bückte sich nach vorn,“ . . . „beschrieb dann mit der Hand 
von der linken Seite her eine Kreislinie bis nach vorn und fuhr sich dann suchend 
nach der Taschengegend.“ . . . „Dann machte er eine Bewegung, dass der Thäter 
sich entfernt habe.“ Auf die Frage, ob er ihn nicht einmal gekannt habe, sagte 

1) So heisst Derjenige, auf welchen sich weiterhin aus den verschiedensten 
Gründen der Verdacht der Thäterschaft concentrirte. 


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Obergutachten über die Zuverlässigkeit der Angaben eines Aphasischen. 7 

er deutlich ,,Ne u . Dann suchte er durch Gesten auch, wie es scheint, die Grösse 
des Thäters und das Aussehen seines Bartes anzudeuten. 

Am 17. Jan. wurde H. vom Untersuchungsrichter befragt. Die wichtigsten 
Aeusserungen H.’s sind folgende: 

„Ja, wenn ich wusste, wer der Kerl war. Ich sah den Kerl, ich dachte aber 
es war’ ein armer Mensch. Der Kerl wollte mich todtschlagen, kam auf mich zu. 
Ich denke es ist ein armer Kerl, er will in’s Holz. Auf einmal krieg’ ich eine, da 
war ich weg.“ 

„Ich sass auf demWagen, quer wie hier (andeutend, dass das Pferd rechts vor 
ihm herging). Er kommt aus demForst rein und krakelt ein bischen um mich’rum.“ 
„Er kam aus dem Holz, er kam von hinten von der Seite (H. deutet nach 
links hinten). Er schrie etwas mir nach, er krakelte und wollte mit mir sprechen.“ 
„Nu, es war ein junger Mann, 30—40 Jahre, ein grosser war es nicht, es 
war wie ein Forstaufseher, ich dachte, er hätte etwas hier zu thun, nach den 
Leuten zu sehen.“ 

„Er hatte solche Stoppeln.“ 

„Nein, nicht einen starken Schnurrbart. Er kam von Remda her, es war 
ein junger Kerl und hatte ein Beil bei sich und trug es offen.“ 

(Frage: Hätten Sie ihn denn erkannt, wenn es ein Bekannter gewesen wäre?) 
„Ja, da hätte ich ihn erkanut. Es war ein Fremder, ich dachte ein Tagelöhner 
aus Remda. Er hatte eine grosse Mütze — oder war’s ein Hut?“ 

„Es war noch ziemlich hell, aber etwas Nebel. Wenn er nicht fremd ge¬ 
wesen wäre, da hätte ich ihn erkannt.“ 

„Ja, ich könne Fr.“ 

(Frage: Kann der’s gewesen sein?) „Da müsst’ er sich verstellt haben. Ich 
habe ihn nicht dafür gehalten.“ 

„Er kann es gewesen sein oder auch nicht, es sind schon 4 Wochen her.“ 
„Er (d. h. der Angreifer) hatte einen braunen Rock an; die Brühe lief mir 
immer zum Kopf herunter, ich sah nichts mehr. Ich hatte keine Macht mehr und 
konnte ihm nichts thun. Zuletzt hat er mich in den Graben gezerrt. Ich habe 
mich aber noch hiDgezerrt, ganz hinunter bin ich nicht gekommen, sonst wäre ich 
nicht wieder herausgekommen. Er nahm mir das Portemonnaio aus der Tasche 
und sprang fort — da ’nüber (deutet hinter sich). Ich habe mich dann wieder 
zum Wagen geschleift. Ich sah die Mütze liegen, konnte sie aber nicht raitneh- 
men, ich wäre sonst nicht wieder auf den Wagen gekommen.“ 

„Ja er kam aus dem Walde und ging eine Zeit an dem Wagen her.“ 

„Ich weiss nicht, ob er Stiefeln oder Schuhe angehabt hat.“ 

„Mir war’s, als hätte er am Halse zugehabt.“ 

(W'ie war denn der Schnurrbart?) „Heller wie meiner.“ 

„Er hatte dreckige Hosen an, hell, so wie der Ueberzieher ungefähr (er deutet 
auf einen grauen, kakaofarbengesprenkelten Mantel), aber alt.“ 

(War denn etwa sein Rock von demselben Stoff?) „Nein, der war braun, 
ungefähr so wie Ihrer“ (deutet auf ein ziemlich hellbraunes .Jaquet). 

„Er hatte keine Aehnlichkeit mit einem von hier herum, ich dachte es wäre 
einer aus Remda“. 

(Sind Sie, ehe Sie von Remda fortfuhren, irgendwo eingekehrt?) „Ich habe 
im Kathhaus einen Seidel getrunken.“ 


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8 Prof. Ziehen, 

„Ich habe (im Rathhaus sc.) ein grösseres Geldstück wechseln lassen, sonst 
habe ich Geld nicht gezeigt.“ 

„Ein Zehnmarkstück hat mir B. (Wirth im Rathhaus) gewechselt.“ 

„30 Mark hatte ich von hier mitgenommen und 60 Mark hatte ich dort be¬ 
kommen.“ 

Bei der Angabe, dass er ein Zehnmarkstück gewechselt habe, blieb H. stehen, 
obwohl ihm die thatsäehliche Unrichtigkeit (er hat nur ein Zweimarkstück gewech¬ 
selt) vorgehalten wurde. Jedoch machte es den Eindruck, ist im Protokoll be¬ 
merkt, als ob das Rechnen dem Verletzten noch schwer falle und ihn verwirre. 

Noch aus dem Januar stammt auch eine Handzeichnung des H., welche den 
Thatort darstellt und deren Nachbildung sich in den Acten befindet. H. gab dazu 
an, dass der Angreifer einige Zeit neben dem Wagen gegangen ist, indem er sich 
mit der linken Hand an der rechten hinteren Kippe des Wagens hielt. 

Aus dem Bericht des Gendarmen B. vom 29. Jan. ergiebt sich, dass H. da¬ 
mals schon auch erzählte, der Angreifer habe ihm erzählt, er wolle auf den Holz¬ 
schlag auf Tännich und sehen, ob die Dienstedter Holzmacher Holz mit nach Hause 
nehmen. Bezüglich der Hosen des Angreifers fügte er die Angabe hinzu, dieselben 
seien auf jedem Knie mit röthlich-braunen Flecken geflickt gewesen, der eine Fleck 
sei etwas grösser als der andere gewesen. Die Farbe der Jacke bezeichnet er als 
bräunlich, die Hosen als etwas heller. Auch soll H. zu dem Gendarmen selbst 
gesagt haben, seine dem Untersuchungsrichter gemachte Angabe stehe mit dem 
Sachverhalt nicht in Einklang, da er sich damals noch nicht auf Alles, so wie 
jetzt, habe besinnen können, weil jetzt der Verstand bei ihm mehr zurückkehre. 

Sehr bemerkenswerth ist weiterhin der Bericht des Dr. K. vom 24. März. 
Danach sind die Angaben II.’s jetzt bezüglich des Attentats frei von Widersprüchen. 
Auch konnte Dr. K. nicht die Ansicht gewinnen, dass H. etwa solche Dinge, welche 
ihm seine Angehörigen oft erzählt hätten, immer wieder verarbeite; vielmehr suche 
H. selbst Klarheit in das bisherige Dunkel hineinzubringen. Auch gab H. an, bei 
seinen früheren Aussagen habe er immer zwei Personen als eine in seiner Vor¬ 
stellung gehabt, die er auch jetzt nur mit grosser Schwierigkeit auseinanderzu¬ 
halten vermöge — er vermöge es aber jetzt —, einmal den Mann, welcher in Remda 
an seinem Wagen „herumgebummelt“ sei, und dann den Angreifer im Walde. 
Ferner erzählte H., dass der Attentäter auffallend schöne weisse Zähne gehabt 
habe; vielleicht habe links einer gefehlt; er erinnere sich nämlich, wie der Mann 
ihn angegrinst und die Zähne vor Angst oder Wuth zusammengebissen habe, 
nachdem er den Schlag ausgeführt. 

Endlich hat sich neuerdings in Gegenwart des Gutachters bei dem Ter¬ 
min vom 8. April H. an dem Thatort selbst vor, während und nach der Confron- 
tation mit Fr. ausführlich geäussert. Zunächst gab II. die Stelle an, wo er seinen 
Angreifer zuerst erblickt. Derselbe sei plötzlich den Wald herunter über den 
Strassengraben auf seinen Wagen zugesprungen. Er habe ein dreckiges wollenes 
Hemd und einen oben zugeknöpften, fuchsigen Rock getragen und wie ein Arbeiter 
ausgesehen. Er habe ihm (H.) mit heller Stimme zugerufen, er wolle auch mit 
da Tauf und einmal nach den Holzmachern sehen, die es ihm zu braun (d. h. zu 
bunt) machten. Dann sei er hinter dem Wagen in patschelndem Gang herge¬ 
schritten, zunächst etwas zurückgeblieben, bald aber wieder nachgekommen und 
habe sich nun an der ersten hinteren Kiepe festgehalten. Bei der Confrontation 


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OWrirutucliton über «lio Zuverlässigkeit der Angaben eines Aphnsischen. 0 

mu Fr. gab H. an, worin Fr. dem Attentäter ähnlich ausselie und worin nicht. 
Per Rock sei fuchsiger, die Hosen seien heller gewesen. Die Mütze könne unge¬ 
fähr passen, wenn nicht der Thäter einen Hut aufgehabt habe, worüber er sich 
nicht recht im Klaren sei. Gestalt und Aussehen Fr.’s, namentlich der Schnurr¬ 
bart seien ähnlich, nur die Backen erschienen ihm etwas zu dick. Ebenso sei der 
Gang ähnlich, auch die Sprache Fr.’s sei ungefähr wie die helle des Angreifers. 
Hierauf gab II. an, wie er gesessen habe, den Schlag empfangen habe und ge¬ 
fallen sei, und wie sein Angreifer über den Wagen weg ihn angegrinst habe. Fr. 
wurde in analoge Stellung gebracht und verzog das Gesicht in analoger Weise, 
worauf H. erklärte, so ungefähr habe das Gesicht des Thäters in diesem Moment 
ausgesehen. Namentlich fand er die Wcisse und Lückenlosigkeit der Zähne Fr.'s 
ähnlich. Den weiteren Vorgang schilderte H. dann wie auch früher. Auf aus¬ 
drückliches Befragen erklärte er, er könne mit Bestimmtheit weder angeben, dass 
Fr. der Thäter sei, noch dass er es nicht sei, nur dass Fr. in seinem heutigen 
Auftreten dem Thäter sehr ähnlich sehe. Der Gutachter frug 1L dann auch noch 
direct: Haben Sie damals den Mann an seiner Stimme oder seinem Aussehen er¬ 
kannt?, worauf H. verneinend antwortete. 

In Abwesenheit des Gutachters sagte H. dem Untersuchungsrichter gegen¬ 
über noch Folgendes aus, was sich übrigens grösstentheils mit dem deckt, was H. 
vorher dem Gutachter erzählt hatte. Auf dem Hinweg sei er nur dem Tagelöhner 
G. begegnet, der ihm zugerufen hätte: wenn er gewusst hätte, dass er (II.) käme, 
so hätte er gewartet. Ehe er von Hause fortgefahren, habe er sich 30 Mark in 
Gold in einem Beutel in die linke Hosentasche, ungefähr 5 oder auch 8 Mark ein¬ 
zelnes Geld — er denke es waren 1 oder 2 Thaler und ein Zweimarkstück, sowie 
ein paar Pfennige oder Groschen — in die rechte Hosentasche gesteckt. Die von 
K. erhaltenen Goldstücke habe er zu dem übrigen Gold in den Beutel gethan. 
Nach dem Haferverkauf habe er noch von dem Oberbrauer für 30 Pfennig Hefe ge¬ 
kauft, sei dann nach dem Rathhaus gefahren und habe dort Pferd und Wagen 
stehen lassen. Dann habe er bei dem Kaufmann II. 3 Cigarren für 15 Pfennig 
und ausserdem für den Wirth G. Pöklinge und Bratheringe gekauft. „Schon wie 
ich hin zu H. ging,“ erzählt H. weiter, „hatte ich einen Mann an meinem Wagen 
vorbei und über den Markt gehen sehen, den ich nun, als ich von H. zurückkam, 
nochmals zu Gesicht bekam, da er vom Markt wieder zurück und nach meinem 
Wagen gegangen war. Der Mann sah mir verdächtig aus und es war mir auffal¬ 
lend, dass er so um meinen Wagen herumlungerte und demselben augenscheinlich 
Interesse zuwandte. Ich erinnere mich, dass ich dachte, der Kerl könne mir etwas 
forigenommen haben, aber es fehlte nichts auf dem Wagen. Der Betreffende war 
zwar etwas grösser wie Fr., aber auch kein grosser Mann, er trug Schnurrbart und 
war an den Wangen und um das Kinn schlecht rasirt. Er sah älter aus wie Fr., 
etwa wie ein Vierziger, und hatte das Aeussere eines Arbeiters von schmieriger 
Kleidung. Er hatte einen verdrückten alten Hut auf und eine graue Joppe mit 
grüner Paspolirung an, die freilich auch recht abgetragen war. Die Farbe der 
Hosen kann ich nicht genau angeben, ich dächte es wären helle gewesen und 
hätten rechts einen grossen, links einen kleinen Flecken von braunem, abstechen¬ 
den Zeug auf den Knien gezeigt. Ich will aber gleich bemerken, dass diese Be¬ 
schreibung der Kleidung nicht zuverlässig ist, dass es leicht sein kann, dass diese 
Kleidung derjenige, der mich später überfiel, getragen hat, und dass mir in dieser 


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Prof. Ziehen, 


Beziehung Verwechslungen unterlaufen. Es gelingt mir nämlich noch nicht, meine 
Erinnerungen an die Person dieses Mannes und diejenige des Thäters auseinander¬ 
zuhalten oder aber mir darüber klar zu werden, ob beide vielleicht ein und die¬ 
selbe Person sind. Es kann also sein, dass das, was ich in Bezug auf die Beklei¬ 
dung und das Aeussere des einen oder anderen sage, in Wirklichkeit gerade auf 
den Anderen passt. Der betreffende Mann war offenbar kein Handwerksbursche, 
sondern ein Arbeiter; wenigstens habe ich ihn dafür gehalten. Er trug, als ich 
ihn das zweite Mal sah, einen grossen Bogen ungerolltes gelbes Papier, wie 
Schmirgelpapier, und eine lange Latte, wie eine Messstange, aber roh vom Brett 
abgetrennt, in /1er Hand; es konnte vielleicht ein Zimmermann sein. Er ging dann 
nach der Kschdorfer Strasse zu, von der man auf Umwegen ebenfalls auf die später 
von mir eingeschlagene Strasse gelangen kann. (Auf Befragen:) Das war Fr. nicht, 
das weiss ich genau.“ 

Weiterhin, erzählt 1L, habe er noch ein Fässchen Bier mitgenommen, ein 
Glas Bier getrunken, dabei Geld gewechselt (s. o.), und sei dann heimgefahren. 
Dabei sei er einigen Holzweibern und später dem Fuhrmann W. begegnet. Später 
sei er Niemand begegnet, bis ihn plötzlich sein späterer Angreifer vom Walde aus 
angerufen habe; was dieser gerufen, wisse er nicht mehr. Die weiteren Angaben 
stimmen mit denjenigen, welche 11. zuvor auf dem Thatorte gemacht, in der Haupt¬ 
sache überein. Als der Mann ihm zurief, er wolle sehen, dass die Holzmacher 
nicht so viel rnitnehnien, will H..erwidert haben: „Nu Herrjesus ne, da gicbt’s ja 
genug.“ Er habe gedacht, der Förster habe den Mann geschickt, und ihn für 
einen Holzarbeiter gehalten. Obwohl Nebel herrschte, sei es noch hell genug ge¬ 
wesen, um einen Menschen in dieserEntfernung, namentlich wenn es ein Bekannter 
gewesen wäre, zu erkennen. Der Mann habe allerdings sein Gesicht niedergebeugt 
getragen und abseits gewandt gesprochen. Der Dialekt sei ihm wie der eines > 
Mannes aus der Gegend vorgekommen. Unmöglich sei es nicht, dass er sich das 
Gesicht vielleicht beschmiert oder geschwärzt hätte, er glaube cs jedoch nicht, 
sondern denke, dass nur durch die Stoppeln das Gesicht verdunkelt worden sei. 

Er denke, er hätte eher einen Hut mit herabgedrückter Krempe als eine Mütze auf¬ 
gehabt, wenn er auch letzteres nicht als unmöglich bezeichnen wolle. Es sei ihm 
so, als wäre die Kopfbedeckung von der Farbe des dreckigen Grau, gewesen, wie 
Fr.’s Mütze. „Ein Halstuch,“ fährt H. wörtlich fort, „hatte er nicht um, es kam 
mir eben so vor, als wäre er plötzlich so davongelaufen.“ Die Hosen hätten nach 
IIPs jetziger Erinnerung ein geripptes Ansehen gehabt. Ob der Fremde Schuhe 
oder Stiefeln angehabt habe, wisse er auch jetzt nicht. — Ausdrücklich giebt H. 
an, als er am Boden gelegen, sei der Thäter um den hinteren Thcil des Wagens 
herumgekommen und habe ihn (H.) herumgezerrt; seine Hände seien rothblau ge¬ 
wesen. Er erinnert sich auch jetzt nur eines Schlags. In der Erwartung eines 
weiteren Schlags habe er, um ihn wenigstens nicht zu sehen, die Augen ge¬ 
schlossen. 

Auf Befragen gab H. noch an: „Als ich den Mann aus dem Walde kommen 
und hinter mir hergehen sah, hat er mich nicht an den llerumlungerer in Remda 
erinnert. Ebensowenig aber habe ich geglaubt oder überhaupt daran gedacht, 
dass cs Fr. wäre, den ich schon damals wohl kannte,“ und weiter: „Ich muss 
sagen, ich meine jetzt, dass ich Fr., wenn er es gewesen, doch wohl erkannt haben 


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«W'OTjrutachtcn über die Zuverlässigkeit der Angaben eines A|diasiselien. 11 


würde.“ „Auch will es mir jetzt scheinen, als hätte der Thäter etwas mit dem 
Reindaer Fremden Gemeinsames gehabt und als könne dieser es gewesen sein.“ 

4. Vorbemerkungen über die Gedächtnisstörungen nach 

Kopfverletzungen. 

Um für die weiter folgenden gutachtlichen Schlüsse eine Grund¬ 
lage zu gewinnen, ist es unerlässlich, einige solche Vorbemerkungen 
vorauszuschicken, zumal in den gutachtlichen Aeusserungen der ande¬ 
ren Aerzte die in Betracht kommenden Störungen nicht ausreichend 
unterschieden worden sind. 

Man beobachtet nach Kopfverletzungen 3 Formen der Gedächt¬ 
nisstörung, nämlich: 

1. eine allgemeine Gedächtnisschwäche, 

2. die sogen. Amnesie, 

3. den Verlust einzelner Gruppen von Erinnerungsbildern* („See¬ 
lenblindheit“, „Seelentaubheit“ u. s. f.). 

Im Einzelfall müssen keineswegs stets alle drei Störungen vor¬ 
handen sein; vielmehr findet man oft nur zwei oder nur eine. 

Die allgemeine Gedächtnissschwäche ist zu defmiren als eine all¬ 
gemeine, gleichmässigc Einbusse an Erinnerungen, welche sich nicht 
nur auf die Zeit der Verletzung, sondern auf das ganze frühere Leben 
erstreckt und sich fast stets auch bei neuen, d. h. lange nach der Ver¬ 
letzung aufgenommenen Eindrücken geltend macht. Zuweilen ist sic 
progressiv. Sie beweist einen wirklichen Intelligenzdefect. Wenn sie 
stärker ausgesprochen ist bezeichnet man die gesammte Störung da¬ 
her auch als traumatischen Schwachsinn. 

Die Amnesie ist der völlige oder theilweise Verlust der Erinne¬ 
rungen an die Erlebnisse während eines umschriebenen Zeitraumes 
vor und nach der Verletzung. Dieser Zeitraum, für welchen die Am¬ 
nesie besteht, kann sich über einige Stunden, mitunter aber auch über 
Tage oder auch Wochen erstrecken. Die Abgrenzung des Zeitraums, 
für welchen Amnesie besteht, gegen die Zeit vor- und nachher, für 
deren Erlebnisse die Erinnerung erhalten ist, ist nicht stets ganz scharf. 
Während die allgemeine Gedächtnissschwäche stabil oder sogar pro¬ 
gressiv ist, nimmt die Amnesie sehr oft allmälig ab. Dies allmälige 
Abnehmen kann sich über viele Monate erstrecken. Selten schwindet 
sie schliesslich ganz, vielmehr bleibt schliesslich ein gewisser Rest von 
Amnesie, welcher, so lange man auch die Beobachtung fortsetzt, nicht 
schwindet. Mit einer Umgestaltung der Erinnerung ist diese partielle 


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Prof. Ziehen, 


Wiederkehr der Erinnerung im Allgemeinen nicht verknüpft. Man 
beobachtet wohl — namentlich im Anfangsstadiura der Rückbildung 
der Amnesie — dass der Verletzte die Reihenfolge, die Oertlichkeiten, 
die Personen und Sachen seiner Erlebnisse z. Th. verwechselt, nicht 
aber, dass er Neues hinzufügt. Letzteres kommt nur dann vor, wenn 
sich sogen, delirante Zustände an die Verletzung einschliessen. Auch 
die suggestiven Einflüsterungen der Umgebung beeinflussen die wieder¬ 
kehrende Erinnerung im Allgemeinen sehr wenig. Es beruht diese 
Amnesie nämlich nicht auf einer Zerstörung des Hirngewebes, sondern 
auf sogen. Hemmungsvorgängen. Letztere gleichen sich langsam aus 
und damit kehrt die Erinnerung wenigstens theilweise wieder. Dieser 
ganze Vorgang ist daher schon seiner Natur nach von der Phantasie- 
thätigkeit des Verletzten und den Suggestionen der Umgebung in hohem 
Grade unabhängig. Wo doch einmal — z. B. bei sehr phantasie- 
begabteTi oder sehr suggestiblcn Individuen — die eigene Phantasie 
oder Einflüsterung der Umgebung die zurückkehrende Erinnerung um¬ 
gestaltend beeinflusst, sind diese Umgestaltungen daran zu erkennen, 
dass sie entweder Ausschmückungen oder Ergänzungen des Zusam¬ 
menhanges darstellen, welche einem bestimmten Vorstellungskreis 
entsprechen. Dagegen sind die thatsächlichen Erinnerungen durchweg 
durch ihre sinnliche Unmittelbarkeit ausgezeichnet. Heute fällt dem 
Kranken dies, nach 8 Tagen jenes Bruchstück seiner Wahrnehmungen 
während des amnestischen Zeitraumes wieder ein u. s. f. Oft weckt 
ein Zufall plötzlich wieder eines der schlummernden Erinnerungsbilder. 
Anfangs ergeben diese Bruchstücke keinen oder — in Folge von Ver¬ 
wechselungen — einen falschen Zusammenhang, und erst allmälig 
kann sich, indem die Bruchstücke sich häufen und die Verwechselun¬ 
gen corrigirt werden, ein richtiger Zusammenhang ergeben. Am zu¬ 
verlässigsten bleiben aber stets die einzelnen Bruchstücke selbst. Wenn 
ein Verletzter im Stadium der Rückbildung der Amnesie bestimmt 
sagt, er erinnere sich jetzt, diesen oder jenen Rock gesehen, diese 
oder jene Aeusscrung gehört zu haben, so ist eine solche Angabe 
durchweg sehr zuverlässig, d. h. es ist sehr wahrscheinlich, dass er 
den Rock im fraglichen Zeitraum wirklich gesehen, die Aeusserung 
wirklich gehört hat. Nicht ausgeschlossen ist dabei, dass er den Zeit¬ 
punkt und Ort des Gesichts-, bezw. Gchörseindrucks innerhalb des 
amnestischen Zeitraumes verschiebt. Endlich ist erfahrungsgemäss 
auch die rückkehrende Erinnerung für einzelne eigene Gedanken 
während des amnestischen Zeitraums (das bedeutet stets: desjenigen 


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Obergutachten über die Zuverlässigkeit der Angaben eines Aphasischen. 13 


Zeitraums, für ■welchen die Amnesie besteht) im Allgemeinen sehr zu¬ 
verlässig. 

Alle diese Erörterungen über die Amnesie gelten nur, insoweit 
neben letzterer nicht die sub 1 und 3 aufgezählten Gedächtnisstörungen 
in höherem Grade bestehen. 

Der Verlust einzelner Gruppen von Erinnerungsbildern bezw. Vor¬ 
stellungen ist von der örtlichen Zerstörung an der Oberfläche des Ge¬ 
hirns abhängig. Betrifft die Zerstörung den Hinterhauptslappen des 
Gehirns, so sind die optischen Erinnerungsbilder bezw. Vorstellungen, 
d. h. diejenigen Vorstellungen, welche auf Gesichtswahrnehmungen 
zurückgehen, dem Kranken theilweise oder ganz verloren gegangen, 
während seine nicht-optischen Erinnerungsbilder bezw. Vorstellungen 
erhalten sind. Dieser Verlust beschränkt sich also, je nach dem Ort 
der Verletzung auf die Vorstellungen eines bestimmten Sinnesgebiets 
und unterscheidet sich dadurch von der allgemeinen Gedächtnis¬ 
schwäche. Von der Amnesie unterscheidet er sich dadurch, dass nicht 
nur die Erinnerungsbilder einer beschränkten Zeit vor und nach der 
Verletzung, sondern die Erinnerungsbilder des ganzen früheren Lebens, 
soweit sie dem in Betracht kommenden Sinnesgebiet angehören, ganz 
oder theilweise verloren gegangen sind. Der Verlust bildet sich nicht 
allmälig zurück wie derjenige der Amnesie, sondern der Kranke kann 
nur durch neue Wahrnehmungen allmälig die verloren gegangenen Er¬ 
innerungsbilder bezw. Vorstellungen neu erwerben. 

Ausdrücklich bemerke ich noch, dass, ebenso wie der Verlust der 
optischen Erinnerungsbilder bezw. Vorstellungen an den Hinterhaupts¬ 
lappen des Gehirns, so der Verlust der akustischen Erinnerungsbilder 
bezw. Vorstellungen an den Schläfenlappen des Gehirns erfahrungs¬ 
gemäß gebunden ist. 

5. Gutachtliche Schlüsse bezüglich der Zuverlässigkeit des 
Gedächtnisses des p. H. für den Ueberfall. 

Ich beginne mit der Frage, ob ein Verlust einzelner Gruppen von 
Erinnerungsbildern nachzuweisen ist. Da dieser von der Zerstörung 
an der Himoberfläche abhängig ist, so handelt es sich darum, den 
Umfang dieser Zerstörung bei H. festzustellen. Auf Grund meines 
S. 3 ff. dieses Gutachtens ausführlich beschriebenen Untersuchungs¬ 
befundes bietet dies keine Schwierigkeit. Danach ist die Hauptver- 
Jetzung des Gehirns an der Grenze des Stirnlappens und des Scheitcl- 
lappcns zu suchen. Am schwersten ist das Centrum der Armbewe- 


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14 


Prof. Ziehen, 


jungen betroffen. Die Ilauptläsion liegt daher unmittelbar hinter dem 
Sulcus praecentralis superior im Gyrus centralis ant. und post. Von 
diesem Maximumpunkt der Zerstörung erstreckt sich die Läsion einer¬ 
seits nach oben gegen die Mittellinie hin in das Centrum der Bein¬ 
bewegungen und andererseits abwärts in das Centruin der Gesicht.s- 
bewegungen bis in das motorische Sprachccntrum (Centrum der Spraoh- 
bewegungen) im unteren hinteren Thcil des Stirnlappens hinein. In 
Anbetracht der schweren Herabsetzung der Sensibilität und des Muskel¬ 
gefühls ist ferner zu schliessen, dass die Zerstörung sich von den 
Gyri centrales noch weiter nach hinten bis in das obere event. auch 
untere Scheitelläppchen erstreckt. Hingegen liegt kein Anhaltspunkt 
vor, dass auch der Schläfen- und Hinterhauptslappen in nennens- 
werther Weise in Mitleidenschaft gezogen worden sind. Spcciell liegt 
keinerlei sensorische Aphasie (Verlust der akustischen Erinnerungs¬ 
bilder der Sprache = Aufhebung des Wort Verständnisses) und keiner¬ 
lei Störung des optischen Wahrnchmens und Wiedererkenncns von 
Gegenständen vor. Die optischen und akustischen Erinnerungsbilder 
des Kranken sind gut erhalten. Mit diesen Schlüssen stimmt durch¬ 
aus überein, was die behandelnden Aerzte über den Verlauf der Wunde 
angegeben haben. Ich habe ihre Angaben deshalb S. lff. dieses Gut¬ 
achtens zusamincngestellt. Auch eine Reconstruction an einem Lci- 
chenschädel hat meine Schlüsse bestätigt. Schläfen- und Hinterhaupts¬ 
lappen müssen im Wesentlichen intact geblieben sein, die Hauptver¬ 
letzung hat den Scheitellappen und den hinteren Theil des Stirnlappens 
betroffen. Selbstverständlich braucht sich die Gehirnzersiörung räum¬ 
lich nicht völlig mit der Knochenverletzung zu decken. Das ver¬ 
letzende Instrument kann schief eingedrungen sein, die Entzündung 
und der Prolaps (das Vorquellen) der Hirnsubstanz kann die Nach¬ 
barschaft in sehr ungleichmäßiger Weise in Mitleidenschaft gezogen 
haben. Was ersteres anlangt, so scheint ziemlich sicher, dass das 
Instrument annähernd recht winkelig mit seiner Schneide eingedrungen 
ist. Was Entzündung und Prolaps anlangt, so pflegen beide da am 
stärksten zu sein, wo der Knochen gesplittert hat. Dies hat eben 
am vorderen Rand der Verletzung stattgefunden. Also auch diese 
Ucberlegung führt zu dem Schluss, dass Hinterhauptslappen und Schlä¬ 
fenlappen des Gehirns gar nicht oder nur sehr wenig in Mitleiden¬ 
schaft gezogen worden sind. Daraus ist nun aber direct zu schliessen, 
dass ein Verlust optischer und akustischer Erinnerungsbilder bezw. 
Vorstellungen im Sinne der oben sub 3 aufgeführten Gcdäehtnissstü- 


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Obergutachten über die Zuverlässigkeit der Angaben eines Aphasisclien. 15 


rang in irgend erheblichem Umfang nicht stattgefunden hat. Sowohl 
meine Untersuchung wie die Darstellung der Verletzung in den Acten 
sehliessen dies aus. Der Verlust, welchen H. durch die Obcrflächen- 
verlctzung des Gehirns erlitten hat, bezieht sich fast ausschliesslich 
auf die Bewegungsfunctionen einschliesslich der Sprache sowie auf das 
Gebiet des Gefühlssinns (Berührungsempfindlichkeit, Schmcrzempfind- 
lichkeit, Muskelgefühl). Mit dem Verlust bezw. der Schädigung der 
Sprache hängt eng der Verlust bezw. die Schädigung der Zahlenvor¬ 
stellungen zusammen. Diese sind, wie die klinische Erfahrung lehrt, 
eng an die Sprache gebunden. Unabhängig von der Sprache sind 
unsere Zahlvorstellungen (im Gegensatz z. B. zu unseren Farben- und 
Form Vorstellungen) nur sehr unsicher. So erklärt es sich, dass auch 
bei H. entsprechend der Mitverletzung des Sprechcentrums die Zahl- 
vorstcllungen sehr mangelhaft und das Operiren mit Zahlen sehr un¬ 
sicher ist. Es bezieht sich dies auf Zahlenerinnerungen seines ganzen 
Lebens; giebt er doch, wie oben angeführt, sein eigenes Alter nicht 
sicher an. Seine Zahlenerinnerungen bezüglich des Anfalls und der 
damit verbundenen Erlebnisse können daher auch nicht sicher sein. 
Auf Zahlenangaben des H. dürfte also weder jetzt noch späterhin 
grösseres Gewicht zu legen sein. Damit ist die einzige Gruppe von 
Erinnerungen bezw. Vorstellungen nachgewiesen, für welche ein Ver¬ 
lust von Belang im Sinne der Gedächtnissstörung, welche ich sub 3 
aufgeführt habe,.eingetreten ist; denn die Erinnerungen auf dem Ge¬ 
biet des Gefühlssinnes dürften nach Lage der Umstände in diesem 
Fall schwerlich eine Rolle spielen. 

Ich wende mich nunmehr zu der allgemeinen Gedächtniss- 
schwäche, welche ich oben sub 1 besprochen habe. Nach meiner 
mit H. vorgenommenen Intelligenzprüfung kann von irgend erheb¬ 
licher allgemeiner Gedächtnissschwäche jetzt nicht die Rede sein. 
Von dem speciellen Verlust der Zahlenvorstellungen sowie dem am¬ 
nestischen Zeitraum ist dabei abzuschen. Wenn man ihm Zeit lässt, 
die Worte zu finden und zunächst falsch gewählte Worte (Paraphasie) 
nach dem Klang zu corrigircn, so ergiebt sich im Uebrigen keine er¬ 
heblichere Gedächtnisslücke. Dass sich in späteren Jahren eine solche 
entwickelt, ist nach klinischen Erfahrungen nicht ausgeschlossen; zur 
Zeit besteht sie nicht. 

Endlich ist die Amnesie des H. zu erörtern. Anfangs war diese 
fast total. Ganz allmälig hat sie sich im Laufe der Monate zurück- 
gebildet. II. befindet sich noch jetzt im Stadium dieser Rückbildung. 


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Prof. Ziehen, 


Es ist anzunehmen, dass in einigen Punkten diese Wiederkehr der 
Erinnerung noch weiter fortschreiten wird. In manchen entspricht die 
Erinnerung schon dem, was man selbst von einem gesunden nicht- 
vcrletzten Mann bezüglich eines über 3 Monate zurückliegenden Er¬ 
lebnisses erwarten darf, so z. B. bezüglich der Farbe der Kleider des 
Angreifers 1 ). In anderen Punkten wird wahrscheinlich ein dauernder 
Erinnerungsdefect, so lange man die Beobachtung auch fortsetzen mag, 
bleiben. Die Hauptfrage erhebt sich nun, inwieweit diejenigen Aus¬ 
sagen, welche H. jetzt über den Zeitraum des Ueberfalls macht, dank 
der schon stattgehabten Rückbildung seiner Amnesie, zuverlässig sind. 
Dass die Zahlen Vorstellungen aus anderen Gründen unzuverlässig sind, 
ist bereits erörtert. Um diese handelt es sich jedoch auch in der 
Hauptsache nicht. In der Hauptsache kommen die Erinnerungen auf 
dem Gebiet des Gehörs- und Gesichtssinnes in Frage, welche H. jetzt 
in seinen Aussagen bezüglich des Zeitraums des Ueberfalls berichtet. 
Ist zuverlässig, was er über das Aussehen des Angreifers, den An¬ 
griff selbst und seine (H.’s) eigenen Gedanken vor und während des 
Angriffs angiebt? Zunächst lassen sich viele seiner Angaben, soweit 
sie nämlich die Erlebnisse vor dem Ueberfall, also die Hinfahrt nach 
Remda, den Haferverkauf bei K., die Einkehr im Rathhaus, die Be¬ 
gegnungen auf dem ersten Theil der Rückfahrt betreffen, auf ihre 
Richtigkeit direct controliren. Dabei ergiebt sich, dass die jetzigen 
Angaben H.’s durchweg mit der Wirklichkeit übereiqstimraen. Dabei 
handelt es sich z. Th. um Angaben, welche H. nachweislich nicht aus 
späteren Mittheilungen betheiligter Personen geschöpft hat. Sein an¬ 
fängliches Beharren bei der unrichtigen Angabe, er habe bei dem Wirth 
B. ein Zehnmarkstück gewechselt, findet seine ausreichende Erklärung 
darin, dass eben gerade für Zahlvorstellungen ein von der einfachen 
Amnesie verschiedener Erinnerungsdefect besteht. Wirft schon die 
sonstige Correctheit der Angaben des H. über die Erlebnisse vor dem 
Ueberfall ein günstiges Licht auf die Zuverlässigkeit seiner wiederge¬ 
kehrten Erinnerung für den amnestischen Zeitraum im Allgemeinen 
und speciell für den Ueberfall selbst, so führt eine Analyse der Aus¬ 
sagen über den Ueberfall selbst zu einem ganz analogen Resultat. Die 
beiden Hauptquellen für eine etwaige Umgestaltung seiner Erinnerun¬ 
gen bezüglich des Unfalls wären 


1) Ich habe mich hiervon durch Controlversuche an mir und Anderen über¬ 
zeugt. 


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Obergutachten über die Zuverlässigkeit der Angaben eines Aphasisclien. 17 


1. seine eigene Phantasiethätigkeit, und 

2. Einflüsterungen anderer Personen im weitesten Sinne. 

Oben wurde bereits hervorgehoben, dass diese beiden Quellen über¬ 
haupt nicht häufig und nicht erheblich wirksam sind. In dem spe- 
cielL vorliegenden Fall ist ihr Einfluss fast gleich Null zu setzen. H. 
macht in keiner Weise den Eindruck eines phantasiebegabten, phan- 
tasiethätigen Mannes. Seine allmälig sich mehrenden Aussagen machen 
in keiner Weise den Eindruck phantastischer Ausschmückungen. Dazu 
sind sie viel zu einfach; auch entsprechen sie in keiner Weise einem 
bestimmten Vorstellungskreis (wie etwa der Vorstellung, der Thäter 
sei da oder dort zu suchen u. s. f.). Wie wenig die Phantasie des 
II. arbeitet, ergiebt sich daraus, dass er Schuhwerk und Kopfbedeckung 
des Angreifers auch jetzt noch im Unklaren lässt: hier lässt ihn 
seine Erinnerung noch im Stich, und seine Phantasie füllt die Lücke 
nicht aus. Ebensowenig haben Einflüsterungen seiner Umgebung eine 
irgend erhebliche Rolle gespielt. Es ist kaum verständlich, wie solche 
Einflüsterungen die wichtigsten Aussagen H.’s, z. B. über die Aeus.se- 
rungen seines Angreifers, seinen Anzug etc. hätten beeinflussen sollen. 
Auch in dieser Beziehung tragen die Aussagen H.’s den Stempel der 
Wahrheit. Sehr bezeichnend ist, wie kritisch er selbst seiner Erinne¬ 
rung gegenübersteht. Auch im Gespräch mit mir unterschied er ganz 
scharf, was ihm nachträglich Andere gesagt und was ihm selbst nach 
und nach eingefallen. Auch Dr. K.’s Bericht vom 24. März spricht 
sich in diesem Sinne aus. Alle die allmälig wiederkehrenden Erinne¬ 
rungen H.’s entsprechen genau den Erinnerungsbruchstücken, wie sic 
oben S. 12 ausführlich geschildert wurden. Der Fall H. kann in 
dieser Richtung geradezu als ein Paradigma dieser Rückbildung einer 
Amnesie gelten. Ich sehe daher auch keinerlei Grund, die Zuver¬ 
lässigkeit dieser Erinnerungen als solcher zu bezweifeln. Was H. da¬ 
mals gesehen und gehört zu haben und auch gedacht zu haben an- 
giebt, hat er aller Wahrscheinlichkeit nach in allen wesentlichen Punkten, 
abgesehen von Zahlenangaben, wirklich gesehen, wirklich gehört und 
wirklich gedacht. 

Anders liegt die Frage, ob er dasjenige, was er gesehen, gehört 
und gedacht zu haben berichtet, wirklich in der Reihenfolge, zu der 
Zeit, an dem Ort gesehen, gehört etc. hat. Schon oben S. 12 wurde 
hervorgehoben, dass solche Verwechslungen nicht ausgeschlossen sind. 
Die einzelnen Erinnerungen als solche entsprechen wirklichen Erleb¬ 
nissen des amnestischen Zeitraums, aber sie können örtlich und zeit- 

Vierteyahrsschr. f. ger. Med. Dritte Folge. XIV. 1. g 


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18 


Prof. Ziehen, 

lieh verschoben sein. Insofern erleidet also die Zuverlässigkeit der 
Angaben H.’s eine Einschränkung. 

Es liegt auf der Hand, dass von dieser Einschränkung manche 
Angaben H.’s gar nicht betroffen werden. Seine Angaben, der An¬ 
greifer sei ihm an jener bestimmten Stelle im Walde erschienen, sei 
über den Graben gesprungen, habe die oben angeführten Aeusserungen 
zu ihm gethan, er selbst habe ihn für Diesen oder Jenen gehalten, 
der Angriff selbst sei in dieser oder jener Weise erfolgt etc., sind 
ihrer Natur nach solche, dass eine Verwechslung mit anderen Erleb¬ 
nissen ausgeschlossen ist. Anders verhalten sich die Angaben über 
das Aussehen und die Kleidung des Angreifers. Hier ist Gelegenheit 
zu einer Verwechslung wohl gegeben gewesen, da er kurz vorher 
andere Menschen und speciell auch einen Fremden (bei seiner Einkehr 
im Rathhaus) gesehen hatte. Es ist nach anderweitigen Erscheinungen 
durchaus nicht ausgeschlossen, dass er einzelne Züge im Aussehen 
dieser beiden Personen noch verwechselt. Andere Züge wiederum, 
welche II. dem Aussehen seines Angreifers zuschreibt, sind nach Natur 
der Sache kaum von ihm verwechselt.: dahin rechne ich die eigen¬ 
artige Gangweise, die helle Stimme, die weissen Zähne; denn alle 
diese Erinnerungen sind so eng mit dem ganzen Auftritt im Walde 
verknüpft, dass eine Verschiebung in dem oben erörterten Sinne sehr 
unwahrscheinlich ist. Die Aussagen, dass er seinen Angreifer nicht 
erkannt habe, halte ich speciell für zuverlässig. Sic ist mit den An¬ 
gaben über das Gespräch zwischen H. und seinem Angreifer beim 
Auftauchen des letztereil viel zu eng verwoben, als dass hier eine 
Verwechslung mit dem Nichterkennen einer anderen Person (z. ß. des 
Individuums in Remda) stattgefunden haben könnte. Die Aussage H.’s 
(s. oben S. 7), er habe gedacht, der Mann sei Forstaufseher und habe 
nach den Leuten zu sehen, sowie die weitere Aussage, er habe die 
oben S. 10 angeführte Antwort gegeben, als der Mann ihm zurief, er 
wolle nach den Arbeitern sehen, sind durchaus zuverlässig und frei 
vom Verdacht einer Verwechslung und beweisen, dass H. seinen An¬ 
greifer nicht für Fr. gehalten, bezw. als solchen erkannt hat, sondern 
einen Fremden vor sich zu haben glaubte. Hätte er in dem Manne 
Fr. erkannt und dieser hätte jene Aeusserung gethan, so hätte H. 
sich über dies Vorgeben, welches im Munde Fr.’s ganz unverständlich 
war, gewiss gewundert und eine ganz andere Antwort als die S. 10 
angeführte gegeben. Auch dass II. in dem Angreifer den „Herum¬ 
lungerer in Remda“ nicht erkannt hat, ist wahrscheinlich richtig, denn 


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Obergutachten über die Zuverlässigkeit der Angaben eines Aphasischen. 19 


wenn er in dem plötzlich auftauchenden Mann diesen, der ihm schon 
in Remda Verdacht eingeflösst hatte, wiedererkannt hätte, wäre jeden¬ 
falls ein solcher Verdacht erst recht wieder in ihm aufgestiegen, das 
Gespräch wäre anders verlaufen, und vor Allem würde gerade die Er¬ 
innerung an diesen zum zweiten Mal auftauchenden Verdacht bei H. 
schwerlich völlig erloschen sein. 

Ich resumire die wichtigsten Schlüsse meines Gutachtens in fol¬ 
genden Sätzen: 

1. Es ist wahrscheinlich richtig, dass H. seinen Angreifer über¬ 
haupt nicht erkannt hat, sehr wahrscheinlich richtig, dass H. specicll 
den Angreifer nicht als Fr. erkannt hat. Ob letzteres daher rührt, 
dass Fr. sich unkenntlich gemacht hatte oder wegen des Nebels nicht 
zu erkennen war, oder daher, dass Fr. überhaupt gar nicht der An¬ 
greifer war, habe ich nicht zu entscheiden. 

2. Es ist sehr wahrscheinlich, dass sich der Vorgang im Walde 
so abgespielt hat, wie H. jetzt aussagt. 

3. Bezüglich des Gesichtes und der Kleidung des Angreifers 
könnten in den Aussagen H.’s noch Verwechslungen mit dem Remdaer 
Fremder, wie er übrigens selbst für möglich erklärt, enthalten sein. 
Andererseits kann auch die Aussage H.’s, wonach der Remdaer Fremde 
und der Angreifer sich sehr ähnlich gewesen wären, sehr wohl richtig 
sein. Auf die frühere Aussage H.’s, wonach er den Fremden in Remda 
und den Angreifer im Walde allmälig richtig zu unterscheiden gelernt 
habe und wonach es scheinen könnte, als könnten beide nicht iden- 
tisch gewesen sein, ist kein Gewicht zu legen. Auch jetzt vermag 
er beide noch nicht scharf zu unterscheiden. Richtig ist wahrschein¬ 
lich einstweilen nur so viel, dass H. im Walde den Angreifer nicht 
als den Fremden wiedererkannt hat (siehe sub 1). 

4. Die Rückbildung der Amnesie bei H. ist wahrscheinlich noch 
nicht abgeschlossen; es ist daher sehr wohl denkbar, dass er in einigen 
Punkten seine Aussagen noch ergänzt, bezw. etwaige Verwechslungen 
corrigirt. 


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2 . 

Zur Casuistik der Carbolsäurevergiftung. 

(Ein Fall mit ungewöhnlich ausgedehnten und tiefgreifenden 

Verätzungen.) 

Von 

Dr. Anton Brosch, Prosector des militär-anatomischen Institutes in Wien. 


Obgleich Carboisäurevergiftungen in der neueren Zeit nicht mehr 
zu den Seltenheiten gehören, dürfte der folgende Fall doch ein be¬ 
sonderes Interesse bieten, da bei demselben entgegen den gewöhnlichen 
Vergiftungen nicht eine verdünnte sondern eine hochconcentrirte Car- 
bolsäurelösung in einer ungewöhnlich grossen Menge zur Ausführung 
des Selbstmordes genommen wurde. 

Der Feldwebel J. C. wurde am 19. Oct. 1895 um 2 Uhr Nachmittags in einem 
Hotel, wo er übernachtet hatte, todt im Bette aufgefunden. Bei dem Bette wurden 
Bruchstücke einer Flasche gefunden, welche einen an Carbolsäure erinnernden 
Geruch wahrnehmen Hessen. Vom Hotelpersonale wurde der Feldwebel am 18. Oct. 
zwischen 7 und 8 Uhr Abends zum letzten Male gesehen, als er sich auf sein 
Zimmer begab. 

Der Obductionsbefund war der Hauptsache nach folgender: 

Kräftige männliche Leiche. In der Gegend des Hinterkopfes grosse blau- 
rothe, an den übrigen abhängigen Körperstellen ausgebreitete lichter rothgefärbte 
Todtenflecke. Die Extremitäten sämmtlich starr. Die Sichelblutleiter und 
die Blutleiter der Schädelbasis sind strotzend mit schwarzrothem 
flüssigen Blute erfüllt. Bei Eröffnung der Drosselvenen fliesst aus densel¬ 
ben reichliches schwarzrothes flüssiges Blut. 

Das Herz links contrahirt, rechts schlaff, enthält in der rechten Kammer 
und den Vorhöfen eine reichliche Menge dünnflüssigen Blutes, ohne jede Spur 
von Gerinnselbildung. Das Herzfleisch ist rothbraun, hart und brüchig. 

Die Lungen sind frei, überall lufthaltig, mässig durchfeuchtet. Auf der 
Schnittfläche entleert sich aus den Gefässen auffallend dunkles flüssiges Blut. 

Die Schleimhaut des Rachens ist trocken, granviolett gefärbt und weich. 
An derselben sind keine Schorfe nachweisbar. 


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Zur Casuistik der Carboisäurevergiftung. 


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Die Speiseröhre ist in ihrer ganzen Ausdehnung von der Gegend der 
Schlundschnürer bis zur Cardia stark zusammengezogen. Die Serosafläche 
der Speiseröhre ist überall diffus lichtroth gefärbt und sehr hart, wie ge¬ 
gerbt, anzufühlen. Mit der stumpfen Branche der Darmscheere ist es nicht mög¬ 
lich vom Rachen aus in das Lumen der Speiseröhre einzudringen. Dies gelingt 
erst nach vieler Mühe und wiederholten Versuchen mit einem eingefetteten Metall- 
catheter. Aus der gewaltsam eröffneten Speiseröhre entleert sich ein halber Kaffee¬ 
löffel einer milchigen, stark ätzenden Flüssigkeit. Die Schleimhaut der Speise¬ 
röhre istmilchweiss und sieht wie mitKalk über tüncht aus. Die mörtel¬ 
artige Härte der so gefärbten Schleimhaut macht diese Vorstellung nooh täu¬ 
schender. 

Die Schleimhaut des Kehlkopfes und der Luftröhre zeigt besonders an 
der hinteren Wand zarte, oberflächliche, grau gefärbte Schorfe. 

Der Magen ist stark zusammengezogen, diffus lichtroth gefärbt und 
sehr hart anzufühlen. Die dem Magen anliegende Unterfläche des linken Leber¬ 
lappens zeigt mehrere bis 4 cm im Durchmesser betragende grauweisse, un¬ 
regelmässig begrenzte Flecke, welche sich beim Anfühlen als sehr hart 
und derb erweisen. Beim Einschnitte in die Leber zeigt es sich, dass 
diese harten, grauweissen Partien bis zu einer Tiefe von 1 cm in das 
Lebcrparcnchym hineinreichen. 

Eine gleiche Veränderung von 3 cm Durchmesser und l cm Tiefe 
findet sich an dem der Magenwand zugekehrten oberen Pol der lin¬ 
ken Niere. 

Der Magen enthält drei Esslöffel einer milchigen, intensiv nach Car- 
bolsäure riechenden, stark ätzenden Flüssigkeit. Die Haut des Obduci- 
renden wurde von dieser Flüssigkeit unter der Empfindung heftigen Brennens in 
kurzer Zeit grau gefärbt. An dem frisch eröffneten Magen sieht das In¬ 
nere wie mit Kalk übergossen aus und sind die weissglänzenden Schleim¬ 
hautfalten sehr hart anzufühlen. 

Der Zwölffingerdarm enthält spärlichen graurothen breiartigen Inhalt. 
iJie Schleimhaut ist durchweg wie gegerbt anzufühlen und zeigt eine in das 
Uöthliche spielende theils weisse, theils mörtelgraue Farbe. Die Wandung ist in 
ihrer ganzen Dicke sehr hart und die Serosaflächo diffus lichtroth gefärbt. 

Der an den Zwölffingerdarm anschliessende Theil des Dünndarmes zeigt 
an seiner Schleimhaut auf eine Länge von über 3 Meter eine theils mörtel- 
graue, theils röthlichgraue Färbung. An jenen Stellen, die mörtelgrau ge¬ 
färbt sind, ist die Darmwand hart, an den röthlich tingirten Partien etwas wei¬ 
cher. Auch der Dünndarminhalt übt eine deutlich ätzende Wirkung auf die 
Haut des Obdncirenden, obwohl in bedeutend geringerem Grade als der Magen¬ 
inhalt. 

Die übrigen Organe ohne besondere Veränderung. 

Konnte schon aus dem Sectionsbefunde allein die Diagnose auf 
Vergiftung durch concentrirte Carbolsäurelösung gestellt werden, so 
wurde doch zur Bestätigung der Mageninhalt zur ; Untersuchung an 
das chemische Laboratorium des K. u. K. Militäi-Saniiäts-Ccmite in 


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Dr. Brosch, 

Wien eingesandt. Der vom Vorstand des chemischen Laboratoriums, 
Herr Oberstabsarzt Prof. Dr. Kratschmer hierüber ausgestellte Be¬ 
fund lautete: 

Der Mageninhalt, welcher einen starken Geruch nach Carbolsäure verbreitete, 
wurde aus einem Kolben mit Wasserdampf destillirt und in einer Vorlage aufge¬ 
fangen. Das Destillat erschien anfänglich milchig getrübt, schied sich bei länge¬ 
rem Stehen in zwei vollständig klare Flüssigkeitsschichten, von denen die untere 
aus reiner Carbolsäure (nach allen ihren Reactionen) bestand. Die auf diose 
Art gewonnene Carbolsäure betrug noch über 20 g. 


Vergiftungen mit verdünnter Carbolsäure sind schon häufig be¬ 
schrieben worden, doch geben diese kein so prägnantes Bild, wie die 
Vergiftung mit conccntrirter Säure, von Hofmann 1 ) giebt als nie¬ 
drigste letale Dosis für den Menschen 30 bis 50 g, Lewin 2 ) 8 bis 
60 g an. Ausserdem kommt noch in Betracht die zu chirurgischen 
Zwecken verwendete gereinigte verdünnte 3 bis 5proe. Lösung. Von 
einer 5proc. Lösung sind nach Hoffmann 8 ) für eine Katze schon 
v 4 —V 2 g und für ein Kaninchen y 6 g Carbolsäure tödtlich. 

Die sicht- und wahrnehmbaren Veränderungen bei der Vergiftung 
mit concentrirter Carbolsäure geben ein so wohl charakterisirtes patho¬ 
logisch-anatomisches Bild, dass man aus dem anatomischen Befunde 
allein die Diagnose mit solcher Sicherheit stellen kann, dass die 
Differentialdiagnose gegenüber anderen Vergiftungen fast gar nicht 
mehr in Betracht kommt. 

In dem vorliegenden Falle des Feldwebel J. C. war die Menge 
der eingenommenen Carbolsäure verhältnissmässig sehr gross. Leider 
wurden bei der Thatbestandsaufnahmc die Bruchstücke der Vorge¬ 
fundenen Flasche nicht gesammelt und womöglich ihre Provenienz 
fcstgestellt. Durch diesen Umstand hätte man die Menge der ein¬ 
genommenen Carbolsäure genau erfahren können, doch so muss man 
sich mit einer annäherungsweisen Schätzung begnügen. Wenn man 
bedenkt, dass sich aus dem Mageninhalt allein über 20 g reiner Car- 
bolsäurc darstellen licsscn, und wenn man weiteres bedeckt, dass 


1) v. Ilofmann, Lehrbuch der gerichtl. Medicin. 1893. S. 651. 

2) Lewin, Real-Encyklopädio f. d. ges. Pharinaeic. 1887. Bd. II. S. 544. 

3) W. Hoffmann, Beiträge zur Kenntniss der physiologischen Wirkung der 

iC'Serf». Dorpat 186(5. 


Carbolsäure umb des O.anfphöss.. Di." 

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Zur Casuistik der Carboisäurevergiftung. 


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auch in der Speiseröhre, dem Zwölffingerdarm und einem über drei 
Meter langen Dünndarmstücke sich wenn auch schwächerer, ätzender 
Inhalt vorfand, und wenn man weiter überlegt, wie viel Carbolsäure 
durch die ausgedehnte tiefgreifende Schorfbildung auf einer im Ganzen 
über vier Meter langen Strecke des Verdauungsstractes gebunden 
wurde und bei der quantitaven Bestimmung der Carbolsäure nicht 
initberechnet werden konnte, so wird man kaum fehlgehen, wenn 
man die Gesammtmenge der ursprünglich genommenen concentrirten 
Carbolsäure mindestens auf das Zehnfache der noch im Mageninhalt 
allein nachgewiesenen d. h. auf 200 g annimmt. 

Es können diese pathologisch-anatomischen Veränderungen in 
derselben Intensität aber örtlich beschränkt auch bei Einführung ge¬ 
ringerer Mengen von concentrirtcr Carbolsäure auftreten. Die ge¬ 
schilderten intensiven Grade der Aetzwirkung, wie sie hier an dem 
Leber und Nierenparchyra zum Ausdruck kamen, wird man auch bei 
geringeren Quantitäten concentrirter Säure finden 1 ). 

In dem vorliegenden Falle ist die Dauer der stattgehabten Ein¬ 
wirkung der Säure nicht mit Sicherheit festzustellen, da von 7 Uhr. 
Abends bis 2 Uhr Nachmittags des folgenden Tages Niemand mit dem 
Selbstmörder in Berührung kam und sonach auch vorläufig die 
Frage nicht beantwortet werden kann, wann die Carbolsäure ge¬ 
trunken wurde, beziehungsweise, wann der Tod des Betreffenden 
eintrat. 

Bei so schweren Laesionen muss man annchmen, dass der Tod 
nach sehr kurzer Zeit erfolgte. In dem Falle von John Way 2 ) er¬ 
folgte der Tod einer 35jährigen Frau, welche 8 Unzen Carbolsäure 
verschluckt hatte, ganz plötzlich. In den drei Fällen Couteaud’s 3 ) 
trat der Tod in 5—15 und 90 Minuten ein. In dem von Barlow 4 ) 

1) Eine ähnliche aber leichtere Verätzung an der Leber und am Zwerchfell 
ist von Josias beschrieben worden, ln diesem Falle soll der Betreffende eine 
(48 g Phenol entsprechende) concentrirte alkoholische Carbollösung getrunken 
haben. Tod nach 10 Minuten. Alb. Josias, Empoisonnement par l’acido ph£- 
nique riSsultant de m(5prise; mort en dix minutes; autopsie. Progres m6d. 1885. 
p. 254. 

2) John Way, Poisoning by carbolic acid. Transact. of tho patholog. So¬ 
ciety. XXIV. p. 93. 

3) Gouteaud, Empoisonnement foudroyants par l’acide feniquo. Gaz. hebd. 
1892. No. 14. p. 159. 

4) W. Th. Barlow, ( ’ase of poisoninu; by carbolic acid. Lancet 1860, 
Sept. 18. p. 404. 


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Dr. Brosch, 

beschriebenem Falle starb der Vergiftete durch Genuss von einer Unze 
Carbolsäure bereits in 10 Minuten. 

Für die Beurtheilung der Veränderungen an der Leiche ist es 
indessen nicht so wichtig die Zeitdauer von der Einführung der Car¬ 
bolsäure bis zum Eintritt des Todes zu wissen als vielmehr die Länge 
der Zeit zu kennen, durch welche die Carbolsäure überhaupt mit den 
Organgeweben im Contact war. 

Nimmt man als Zeitpunkt der Vergiftung die Zeit zwischen 
7 und 8 Uhr Abend an, wie es den Vermuthungen nach der Fall 
gewesen sein dürfte, da den Selbstmörder von dieser Zeit an Niemand 
mehr sah, er also von dieser Stunde an nicht mehr das Zimmer ver¬ 
lassen hatte, so ergiebt sich bis zu Auffindung der Leiche eine Zeit 
von beiläufig 18 Stunden. Die gerichtliche Obduction fand am folgen¬ 
den Tage um 11 Uhr Vormittags statt. Dies ergiebt im Ganzen 
eine Aetzwirkung der Carbolsäure in der Dauer von 39 oder abge- 
gerundet 40 Stunden. 

Um diese Schätzung auf eine sichere Basis zu stellen wurden 
Controlversuchc an der Leiche ausgeführt. Um von vorherein 
dem Einwande zu begegnen, dass Versuche an der Leiche nicht mit 
Experimenten am Lebenden verglichen werden dürfen, sei hier ganz 
besonders betont, dass in dem vorliegenden Falle eine sehr grosse 
Menge einer sehr starken (wahrscheinlich 90 proc.) Lösung verwendet 
wurde. Man muss daher nach den von Gade 1 ), Way 2 ), Couteaud 3 ) 
und Barlow 4 ) beschriebenen Fällen annehmen, dass der Tod nach 
5 Minuten bis längstens einer Stunde eintrat und dies umsomehr, als 
keinerlei Brech- oder Gegenmittel verabreicht oder Magenausspülungen 
vorgenommen wurden und auch kein freiwilliges Erbrechen stattfand. 
Diese kurze Zeit (5—60 Minuten) kann gegenüber einer Zeitdauer von 
40 Stunden Contactwirkung der Säure wohl vernachlässigt, werden, 
wenn es sich um eine annäherungsweise Schätzung handelt. 

Beim ersten Versuche wurde, da ein contrahirter Magen (ent¬ 
sprechend dem bei dem Vergifteten Vorgefundenen) nicht zur Ver¬ 
fügung stand, das Duodenum mit 40 g Acid. carbol. liqucfact. gefüllt, 

1) F. C. Gade, Dödelig Karbolsyrcfergiftning per os. Magazin f. Laege- 
vidensk. R. 3. B. 14. p. 234. (Tod in 13 Minuten nach Genuss von einem Ess¬ 
löffel Carbolsäure.) 

2) Way, 1. c. 

3) Couteaud, 1. c. 

4) Barlow, 1. c. 


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Zur Casuistik der Carboisäurevergiftung. 


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mit der Leber in Berührung gebracht und durch 40 Stunden der Ein¬ 
wirkung der Carbolsäure ausgesetzt. Das Bild war fast das Gleiche 
wie bei der Obduction des J. C. Die Schleimhaut des Duodenum 
war weiss gefärbt, wenn auch nicht so glänzend weiss wie bei dem 
Vergiftungsbild am Lebenden 1 ). Die Darmwand in ihrer ganzen 
Dicke hart, an der Scrosafläche lichtroth. Die Leber zeigte an der 
Berührungsfläche einen sehr hellgrauen derben Schorf, der beim Ein¬ 
sehneiden an seiner dicksten Stelle sich nahezu 1 cm tief in das 
Leberparenchym verfolgen lässt. 

Damit war wohl ein Maass für die Zeitdauer der Aetz- 
wirkung und für die Concentration gegeben, doch handelte es 
sich noch darum, festzustellen, welche Menge von Carbolsäure zur 
Hervorbringung dieser Aetzwirkung in einer Zeitdauer von 40 Stunden 
gebunden wurde. Es wurde der Inhalt des Duodenum destillirt und 
aus dem Destillate noch 12 g reiner flüssiger Carbolsäure erhalten. 
Daraus folgt, dass zur Erzeugung der geschilderten Aetz¬ 
wirkung in einer Zeitdauer von 40 Stunden mindestens 
28 Gramm Acid. carbolic. liquefact nothwendig sind. 

Lin den Versuch noch mehr der Wirklichkeit entsprechend zu 
gestalten, wurde ein zweiter Controllversuch ausgeführt. Es 
wurde von einer Leiche ein ‘contrahirter Magen, der nahezu die¬ 
selbe Grösse wie der bei dem Vergifteten gefundene besass, unbe¬ 
schadet seines geringen Inhaltes mit 250 g Acidum carbolicum 
liquefactum gefüllt, mit der Leber in Contact gebracht und durch 
40 Stunden der Einwirkung der Säure ausgesetzt. Das Bild entsprach 
vollkommen dem Befunde des obducirten Feldwebel C. Durch De¬ 
stillation des Mageninhalt wurden noch 215 g flüssiger reiner Carbol¬ 
säure erhalten. Es wurden also zur Erzeugung der tief¬ 
greifenden Verätzung im ganzen Magen und an der Leber 
in einer Zeit von 40 Stunden 35 g coneentrirter flüssiger 
Carbolsäure gebunden. 

Was die Minimalquantität der zur Erzeugung charakteristi¬ 
schen, wenn auch local beschränkter Veränderungen betrifft, so hat 
cs gar keinen praktischen Werth eine geringere Menge als 10 Gramme 
Carbolsäure anzunehmen, da diese Menge bei dem relativ hohen speci- 
fisehen Gewicht der reinen Carbolsäure kaum mehr einen schwachen 


1) Wahrscheinlich deshalb, weil die Leichentheile bereits stark mit diffun- 
ilirtem Blutfarbstoff durchtränkt sind. 


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Dr. Brosch, 

Esslöffel Flüssigkeit repräsentirt, und es ist wohl anzunehmen, dass 
ein Selbstmörder, der sich durch irgend eine Flüssigkeit vergiften will, 
mit einer geringeren Menge vorlieb nehmen sollte als eben für einen 
halbwegs guten Schluck ausreicht, zumal diese Selbstmörder meist 
Personen sind, welche von der Intensität der Aetzwirkung des Mittels, 
das sie gebrauchen, keine richtige Vorstellung haben. In der Regel 
pflegen solche Personen besonders bei Flüssigkeiten die Heftigkeit der 
Wirkung ganz bedeutend zu unterschätzen. 

Ein Schluck reiner Carbolsäure (etwa 10g) vermag noch weisse 
Schorfe in beschränkter Ausdehnung hervorzurufen, entweder im Mund 
und Rachen oder im Oesophagus. Im Magen kommt es bei dieser 
Quantität zu keiner eigentlichen Schorfbildung mehr 1 ). 

Einige Schlucke sehr concentrirter Lösungen (50 g und mehr) 
erzeugen schon ausgedehntere Schorfbildungen im Mund, Pharynx, 
Magen und Duodenum 2 ). 

Wie uns die Ausdehnung der Schorfe ein Schätzungsmittel 
für die gebrauchte Menge der Carbolsäurelösung an die Hand giebt, 
so bildet auch die Intensität der Schorfe einen Ausdruck für die 
Concentration und die Zeitdauer der Aetzwirkung der cinge- 
führten Carbolsäure. Die Wichtigkeit dieser objectiven Befunde darf 
bei einer gerichtlichen Obduction nicht übersehen werden, denn diese 
Befunde gestatten Schlussfolgerungen, die in zweifelhaften Fällen auf 
den richtigen Weg weisen können, namentlich wenn es sich um die 
Entscheidung der Frage, ob Selbstmord oder fremdes Verschulden 
(Mord oder Versehen) vorliegt. 

Es ist also wichtig zu wissen, dass um die geschilderten Ver¬ 
änderungen wenigstens theilweise ihrer Intensität und Extensität nach 
zu erzeugen, mindestens 50 g concentrirter Carbolsäurelösung einge¬ 
führt werden müssen, welche hierzu annähernd eine Einwirkungsdauer 
von 40 Stunden benöthigen. Wurde eine verdünnte Lösung gebraucht, 
so muss eine bedeutend grössere Quantität derselben genommen 
worden sein, um annähernd die gleichen Veränderungen hervorzurufen, 
wobei aber immer hervorgehoben werden muss, dass grosse Mengen 
verdünnter Lösungen, zwar sehr ausgedehnte aber wenig intensive 
Veränderungen bewirken. So erzeugt eine grössere Menge 50 proc. 


1) Fall von Krön lein, Zur Casuistik des Carbolismus acutus. Berl. klm. 
NVoclicnschr. 1873. No. 51. S. 605. 

2) Drei Fälle von Couteaud, 1. c. 


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Zur Casuistik der Carboisäurevergiftung. 


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Carboisäurelösung zwar eine ziemlich ausgedehnte (Pharynx, Oeso¬ 
phagus, Magen) aber nur wenig intensive Verätzung 1 ), während con- 
cententrirte Lösungen sogar in Quantitäten, die noch nicht tödtlich 
sind, bereits bedeutende Nekrosen erzeugen 2 ). 

Wenn diese Bestimmungen auch nur beiläufige sind, so haben 
sie doch einen gewissen Werth, weil man nur auf diese Weise eine 
annähernd richtige Vorstellung von der Grösse der Aetzwirkung einer 
bestimmten Flüssigkeit erhalten kann, was gerade für die gebräuch¬ 
lichen chemischen Flüssigkeiten, die zur Ausführung von Selbstmorden 
angewendet werden, von Wichtigkeit ist, denn wer mit diesen, wenn 
auch nur approximativen Werthen, nicht gut vertraut ist — ich meine 
alle jene Aerzte, welche zwar nicht pathologische Anatomen von 
Fach sind, aber doch hie und da in die Gelegenheit kommen eine 
gerichtliche Obduction machen zu müssen — wird sich niemals ein 
richtiges Bild der Aetzwirkung einer bestimmten Flüssigkeit machen 
können und in Folge dessen mit der Beurtheilung der eingenommenen 
Quantität und Concentration, die in gerichtlichen Fällen mitunter von 
ausschlaggebender Bedeutung sowohl für die Absicht als auch für die 
muthmassliche Thäterschaft sein kann, viel zu sehr schwanken, als 
dass es ihm möglich wäre aus dieser Beurtheilung für andere wich¬ 
tige Umstände die richtige Deutung zu finden. 

Nachdem wir also festgestellt haben, dass bei einer Mindest¬ 
quantität von beiläufig 50 g concentrirter flüssiger Carbolsäure das 
Bild des Obductionsbefundes nicht wesentlich von den im Falle J. C. 
geschilderten pathologisch-anatomischen Veränderungen abweichcn 
dürfte, erübrigt es noch die charakteristischen Merkmale der Vergif¬ 
tung mit concentrirter flüssiger Carbolsäure zusamraenzufassen, was 
um so vortheilhafter sein dürfte, als diese Merkmale mitunter auch 
eine eminente differentialdiagnostische Bedeutung gegenüber der Ver¬ 
giftung mit anderen chemischen Agentien besitzen können. 

Als charakteristisches Merkmal der Schorfe, die durch 
Einwirkung concentrirter Carbolsäure entstehen, sei das glänzende 
Weiss hervorgehoben, das bei längerer Einwirkung der Säure buch¬ 
stäblich so blendend aussehen kann, als sei die Schleimhaut mit Kalk 

1) M. Gauster, Zur Casuistik der Intoxication mit Carbolsäure. 1879. Me¬ 
morabilien. No. 1. S. 1. 

2) E. Schmidt, Ein Fall von Carboisäurevergiftung. Przegl. lekarski. 1894. 
No. 30. (3 Tage nach Genuss von concentrirter Carbolsäure Abstossung der gan¬ 
zen Oesophagusschleimhaut in continuo — Genesung.) 


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Dr. Brosch, 


übergossen worden. In dem vorliegenden Falle war diese blendend 
weisse Farbe am schönsten dort ausgeprägt, wo die Carbolsäure am 
längsten und intensivsten einwirkte: im Fundustheil des Magens. 
Aber auch auf der Schleimhaut der Speiseröhre war dieses blendende 
Weiss schön ausgesprochen. 

Beim Anfühlen erwiesen sich die so veränderten Magenwände 
hart und bei gewaltsamem Umbiegen zeigt der glänzende weisse glatte 
Schorf zahlreiche Risse und Sprünge. Die Serosafläche jener Theilc, 
an welchen die Wirkung der Carbolsäure am intensivsten zur Geltung 
kam, hat eine diffuse zarte Rosafärbung. Wo die Einwirkung der 
concentrirten Carbolsäure weniger intensiv zur Geltnng kam, oder wo 
die Carbolsäure durch das Passiren vieler Darminhaltsmengen bereits 
verdünnt war — wie in dem vorliegenden Falle in den am weitesten 
entfernt liegenden Dünndarmabschnitten — sind die Schorfe nicht 
mehr so glänzend weiss; sie sind auch weicher. Bei noch schwächerer 
Einwirkung endlich haben sie eine mörtelgraue Fabe. Doch auf diese 
Veränderungen w'ollen wir nicht näher eingehen, da sie genugsam 
beschrieben worden sind, und wir uns hier, um das Bild möglichst 
klar und einfach zu gestalten, nur auf die ausgeprägten Wirkungen 
der concentrirten flüssigen Carbolsäure beschränken. 

Bleiben diese glänzend weissen Schorfe der Einwirkung der Luft 
ausgesetzt, so werden sie mit der Zeit röthlich bis endlich schmutzig¬ 
braun. Diese Veränderung tritt nun langsamer und später, ein je 
Tiefgreifender die Schorfbildung ist. Im vorliegenden Falle waren die 
Schorfe in der Speiseröhre schon kurze Zeit nach Beendigung der 
Section röthlich gefärbt, während die Schorfe der Magenschleimhaut 
noch zwei Stunden nach der Obduction nahezu unverändert ihr blenden¬ 
des Weiss zeigten, das sie auch am nächsten Tage, in Formalin 
liegend, noch nicht ganz verloren hatten. Später nahmen auch die 
Schorfe der Magenschleimhaut eine verwaschene schmutzig braune 
Farbe an. 

Ein weiteres besonders charakteristisches Verhalten der Schorfe 
bei der Vergiftung mit hochconcentrirtcr Carbolsäure ist noch hervor¬ 
zuheben, das — wenn es vorkommt — ebenfalls eine differential¬ 
diagnostische Bedeutung besitzt. Man kann es als topographisches 
Verhalten der Aetzschorfe bezeichnen. In dem vorliegenden 
Falle waren an der Schleimhaut der Zunge, des Gaumens, der Gaumen¬ 
bogen und der Rachenwand Schorfe weder zu sehen noch zu fühlen. 
Diese Schleimhautpartien besassen überall ihre gewöhnliche Färbung 


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Zur Casuistik der Carboisäurevergiftung. 


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und waren durchaus weich und zart anzufühlen. Plötzlich am Be¬ 
ginne der Speiseröhre, die Constrictionslinie der Schlund¬ 
schnürer scharf markirend beginnen mit nahezu voller In¬ 
tensität im ganzen Umfange des Speiseröhrenquerschnittes 
die milchweissen Aetzschorfe. 

Rendu 1 ) und Patrouillard 2 ) berichten über einen tödtlichen 
Fall von Carboisäurevergiftung, wo im Munde und Schlunde keine 
Aetzschorfe und keine wirkliche Verfärbung vorhanden war. In 
diesem Falle waren übrigens auch im Oesophagus keine Verätzungen, 
sondern nur im Magen zwei Schorfe. Die Vergiftung wurde durch 
Carbolsäure, die zur Pissoirdesinfection diente (wahrscheinlich 14 bis 
15 proc. Lösung), verursacht. 

Greenway 3 ) berichtet über eine Vergiftung mit ca. 30g einer 
ungefähr 70 proc. Carboisäurelösung ohne Verätzung des Mundes 
und Schlundes. 

Wodurch ist dieses merkwürdige Verhalten der Aetzschorfe be¬ 
dingt? Jedenfalls durch das eigenthümliche Verhalten concentrirter 
Carbolsäure gegen Wasser und gegen wässerige Flüssigkeiten. Ein 
einfacher Versuch klärt dies auf. Nimmt man eine mit Wasser halb¬ 
gefüllte Eprouvette und giesst 6—10 proc. Carbolsäure hinein, so 
sieht man, dass sich dieselbe sofort mit dem Wasser mischt, giesst 
man dagegen concentrirte flüssige Carbolsäure hinein, so sieht man, 
dass sich dieselbe am Boden der Eprouvette sammelt, ohne sich mit 
dem Wasser zu vermengen. Erst wenn man die Eprouvette wieder¬ 
holt energisch schüttelt, kann man eine theilweise Vermischung der 
Carbolsäure mit dem Wasser erzielen. Worin hat dieses Verhalten 
der flüssigen Carbolsäure seinen Grund? Vielleicht in dem Unter¬ 
schiede der specifischen Gewichte der Carbolsäure und des Wassers 
und in der grossen Molekular-Cohäsion der Carbolsäure? Eine genaue 
Antwort darauf muss der Physiker oder der Chemiker geben. Ge¬ 
wiss ist, dass sich stark verdünnte Carbolsäurelösungen rascher und 
leichter mit Wasser mengen, als die schon durch ihre oclartigc Be- 


1) Rendu, Observation d’un cas d’empoisonnement par le phenol (sodique). 
Journ. de Pharm, et de Chem. Dec. 1871. p. 456. 

2) Patrouillard, Recherches toxicologiques sur le phenol. Ebendas. 
Dec. 1871. p. 459. 

3) James R. Greenway, A case of suicidal poisoning by carbolic acid; 
over one ounce of ninety percent strength stated to have been taken; recovery. 
Lancet 1891, Aug. 25. p. 485. 


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30 


Dr. Brosch, 


schaffenhcit auffallende coneentrirtc Lösung. Ueber die mit reichlicher 
wässeriger Feuchtigkeit, bedeckten Schleimhäute der Mundhöhle und 
des Rachens scheint die concentrirte Carbolsäurelösung unschädlich 
zu rollen, bis zu der Stelle, wo die Flüssigkeitssäule von den Schlund¬ 
schnüren zusainmengepresst und zu innigerem Contacte mit der 
Schleimhaut gezwungen wird 1 ). Hier tritt die Aetzwirkung sofort mit 
grösster Intensität auf. 

Selbstverständlich können in anderen Fällen auch Actzschorfe an 
der Schleimhaut der Mundhöhle und des Rachens auftreten, wenn die 
concentrirte Carbolsäure länger im Munde zurückbehalten wird. Das 
Vorhandensein von Aetzschorfen an den erwähnten Stellen 
spricht nicht gegen die Vergiftung mit conccntrirter Carbolsäure, 
aber das Fehlen von Aetzschorfen an diesen Stellen bei Vor¬ 
handensein von intensiven milchweisen Schorfen in der Speiseröhre 
spricht unbedingt für eine Vergiftung mit hochconccntrirter 
Säure. Soviel über die Topographie der Aetzschorfe. 

Was das Verhalten des Blutes betrifft, so war im vorliegenden 
Falle mit Ausnahme der Schorfe, welche die bekannte lichtrothe 
Färbung besassen, nirgends auch nur eine Spur von Blu tge- 
rinnung nachweisbar, weder im Herzen noch in den grossen Gefäs.sen 
noch sonst irgenwo. Ucberall, wo grosse Blutmengen angesammelt 
waren, bestanden sie aus auffallend schwarzrothem flüssigem 
Bute. Dieser Befund scheint nach den Angaben von Harrison 2 ), 
Jeffreys 3 ), Köhler 4 ), Krönlein 5 ), Terrier 6 ), Brabant 7 ), Zill- 

1) Ein Zufall fügte es, dass ich zur selben Zeit die Section eines Oesopha- 
guscarcinoms machte. Die obere Grenze des Carcinoms fiel ebenfalls genau mit 
der Constrictionslinic der Schlundschnürer zusammen. Diese passagere Stenose 
hat auch als Prädilcctionsstellc des Carcinoms eine besondere Bedeutung, (siche 
A. Brosch, Zur Aetiologie der Carcinome des Verdauungstractes. Wiener ined. 
Wochcnschr. 1805. No. 42.) 

2) Geo. Wm. Harrison, Gase of suicide by carbolic acid. Lancet 1867, 
July 25. p. 133. 

3) H. E. Jeffreys and John Ilainsworth, Gase of suicide by carbolic 
acid. Med. Times and Gaz. 1871. April 17. p. 423. 

4) R. Köhler, Tödtlicho Vergiftung durch Carbolsäure als Mittel gegen 
Krätze. Württcmb. mcd. Corresp.-Bl. 1872. No. 6, 7. S. 41, 49. 

5) Krönloin, 1. c. 

6) David Ferner, l’oisoning by carbolic acid. Brit. med. Journ. 1873, 
Febr. 15. p. 167. 

7) T. II. Brabant , Case of poisoning by carbolic acid. Lancet 1873. 
March 1. 


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Zur Casuistik der Carboisäurevergiftung. 31 

ner 1 ), Packer 2 ), Silk 3 ), Hankel 4 ) und Couteaud 5 ) Regel 
zu sein. 

Dass die Flüssigkeit des Blutes in der kürzeren Agonie 
ihre Ursache habe, während bei längererer Agonie massenhafte Ge¬ 
rinnselbildung vorkomme, wie Zillner 1 ) angiebt, wird kaum an¬ 
zunehmen sein, da in einem Falle, wo die dunkle Farbe und Dünn¬ 
flüssigkeit des Blutes besonders hervorgehoben wird (Terrier 6 ) bis 
zum Eintritt des Todes acht Stunden vergingen, der Verlauf also 
ein ziemlich protrahirter war. Auch der Umstand, ob die In- 
toxication per os oder auf anderem Wege (Haut) erfolgte, scheint 
auf die Consistenz des Blutes keinen Einfluss auszuüben. 
Jene Fälle, bei welchen reichliche Gerinnselbildung hervorgehoben 
wird, betreffen entweder Vergiftungen mit roher unreiner Carbolsäure 
(Ogaton 7 ), Zimm 8 ) und protrahirterem Verlauf (13—60 Stunden) 
oder solche durch äussere Anwendung der Carbolsäure (Zillner 1 ), 
doch ist auch ein Fall bekannt, wo bei Intoxication durch die Haut 
der Tod erst am dritten Tage erfolgte (Köhler 9 ) und dennoch in 
allen Sinus und Gcfässen sich dunkles flüssiges Blut vorfand. Als 
Regel wird also bei Vergiftungen mit höheren Concentrationsgraden 
oder grösseren Mengen von mittleren Conccntrationen die dunkle 
meist dünnflüssige Beschaffenheit des Blutes zu gelten haben. In 
vereinzelten Fällen wird eine dünnflüssige aber hellrothe Be¬ 
schaffenheit des Blutes angegeben (Brabant 10 ), was wohl auf 
äussere Einflüsse zurückzuführen sein wird, etwa versuchte künst- 

1) Eduard Zillner, Drei Fälle von CarbolsäurceinWirkung. Wien. med. 
Wochensehr. 1879. No. 49. S. 1287. 

2) W. Herbert Packer, Gase of poisoning of carbolic acid. Lance1 1878. 
Oct. 12. 

3) Silk, Poisoning by carbolic acid; profound coma; contrudcd pupils; 
death in two hours; post mortem appearanccs. Brit. med. .Journ. 1881. April 23. 
p. 640. 

4) E. Hankel, Ein Todesfall in Folge acuter Carboisäurevergiftung. Diese 
VierteIjahrsschr. 39. Bd. S. 57. 

5) Couteaud, 1. c. 

6) Ferrier, 1. c. 

7) Alex. Ogaton, Case of carbolic acid poisoning. Brit. med. Journ. 
1871. Febr. 4. p. 116. 

8) Rud. Zimm, Eine Carboisäurevergiftung. Berlin 1871. Dissert. 

9) Köhler, 1. c. 

10) Brabant, 1. c. 


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Dr. Brosch, 


liehe Atlimung oder längeres Liegen der Leiche an einem sehr luftigen 
Orte, öfterer Lagewccbsel der Leiche beim Transport etc., denn das 
dunkle Blut einer Carboivergiftungsleiche wird durch Berührung mit 
der Luft lichter, wie bereits Hankel 1 ) hervorgehoben hat. Auf die 
gleiche Ursache dürfte auch das Vorkommen von sehr liehtrothen 
Todtenflccken bei Carbolleichen zurückzuführen sein, auf welches 
unter anderen auch Köhler 2 ) hin weist. 

Nun erübrigt noch die Besprechung einiger Fragen, welche in 
gerichtlichen Fällen gestellt werden können, und insbesondere die 
Art und Weise, wie man zu einer zufriedenstellenden Antwort auf 
diese Fragen gelangen kann. 

Es kann in gerichtlichen Fällen so wie in dem vorliegenden 
Vorkommen, dass der Zeitpunkt der Vergiftung, die Menge und die 
Concentration der eingenommenen Säure unbekannt sind. Der Ge¬ 
richtsarzt muss aber mitunter angeben können, ob die Vergiftung zu 
einer von Zeugen angegebenen bestimmten Zeit wirklich stattfinden 
konnte. Es kann aus juridischen Gründen in einem concreten Falle 
die Frage gestellt werden, wann der Obduc.irte gestorben ist. Es 
kann endlich auch die Frage gestellt werden, ob nach dem Obduetions- 
befunde die Concentration und Menge der eingenommenen Lösung mit 
der Aussage der Zeugen (wenn diese Sachverständige, Mediciner, 
Pharmaceutcn, Droguisten etc. sind) in Einklang zu bringen ist. Die 
richtige Beantwortung dieser Fragen kann in zweifelhaften Fällen 
eine entscheidende Aufklärung geben, darum soll auf die Beantwortung 
dieser Fragen hier näher eingegangen und gezeigt werden, auf welche 
Art der Gerichtsarzt in geeigneten Fällen eine bestimmte Auskunft 
geben kann. 

Ein bekanntes 3 ) Gesetz für die Wirkung der Carbolsäurc lautet: 
„Die Intensität der Schorfe ist proportional der Concen¬ 
tration der Säure“ ... I). Wir müssen das weitere Gesetz hin¬ 
zufügen: „Die Extensität der Schorfe ist proportional der 
Menge der eingeführten Säure 4 ) . . . II). Endlich müssen wir 
noch ein drittes Gesetz anerkennen: „Die Intensität der Schorfe 

1) Ilankel, 1. c. 

2) Köhler, 1. e. 

.'{) v. Ilofmann, 1. c. 

4) Dieses Gesetz hat selbstredend nur dann Giltigkeit, wenn nichts erbrochen 
wurde, oder wenn man die Wirkung des Erbrochenen mit in Betracht zieht. 


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Zur Casuistik der Carbolsäurcvergiftung. 


33 


it proportional der Zeitdauer des Contaetes der Säure mit 
den Organ ge weben u . . . III). 

Wenn wir diese drei Gesetzte als Gleichungen auffassen, so 
haben wir als aus dem Obductionsbefunde bekannte Grössen die In¬ 
tensität und Extensität der Verätzungen. In jeder Gleichung ist 
ein unbekannte Grösse nämlich: Concentration, Menge, Zeit¬ 
dauer der Contactwirkung. In den meisten Fällen lässt sich 
aber eine der Unbekannten durch die gerichtlichen Erhebungen oder 
Zeugenaussagen mit Sicherheit feststellen. Dann lassen sich die 
anderen Unbekannten leicht annäherungsweise bestimmen. 

Ist beispielsweise aus dem Obductionsbefunde bekannt die In¬ 
tensität und Extensität der Schorfe und aus den gerichtlichen Er¬ 
hebungen der Zeitpunkt der Vergiftung (Zeitdauer der Contactwirkung), 
so lässt sich aus diesen Angaben die Menge und Concentration an¬ 
nähernd bestimmen, wenn man weiss, was für Veränderungen eine 
bestimmte Menge Säure von bestimmter Concentration, in einer be¬ 
stimmten Zeit hervorzubringen vermag. Es mag hierbei noch be¬ 
sonders darauf hingewiesen werden, dass es sich bei Todesfällen 
durch per os eingeführte Carbolsäure fast immer um grössere Mengen 
oder höherere Concentrationsgrade 1 ) handelt, andernfalls enden 
die Vergiftungen überhaupt nicht tödtlich. Durch diesen Umstand 
werden die erforderlichen Bestimmungen wesentlich erleichtert. 

Nun kann es aber Vorkommen, dass weder die Menge noch die 
Concentration noch die Zeitdauer der Contactwirkung der Säure be¬ 
kannt ist, wie im vorliegenden Falle, und doch sollen diese Grössen 
bestimmt werden. Ist dies überhaupt möglich? In vielen Fällen 
lassen sich diese Fragen mit grosser Sicherheit beantworten, wenn 
die aus dem Mageninhalt gewonnene Menge reiner Carbol¬ 
säure 2 ) und ihr Verhältniss zu dem ganzen Mageninhalt 
festgestellt wird . IV). 

In dem vorliegenden Falle fanden sich im Magen gegen drei 
Esslöffel, also etwa 40 ccm Flüssigkeit. Zur Erzeugung der ge¬ 
schilderten Veränderungen im ganzen Magen und den benachbarten 
Organen (Leber, Niere) in der beschriebenen Intensität gehört, wie 
wir aus den Controllversuchen wissen, eine Einwirkungsdauer von 

1) Schwache Concentrationen müssen um letal zu wirken in so grosser Menge 
genommen werden, dass sie, bevor noch die erforderliche Quantität aufgenommon 
ist, bereits eliminirt — erbrochen werden. 

2) Durch Destillation des Mageninhaltes. 

Vierte\j*hrBschr. f. ger. Med. Dritte Folge. XIV. 1. 3 


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Dr. Brosch, 

35—40 Stunden, un<j. wurden hierbei im Duodenum (erster Control¬ 
versuche) 28 g Carbolsäurc, im Magen (zweiter Controllversuch) 
35 g Carbolsiiure gebunden. Im Mageninhalt wurden durch die 
Untersuchung noch 20 g, im Duodenum konnten bei dem Controll- 
versuche aus der ungefähr gleichen Inhaltsmenge wie bei der Ob- 
duction noch 12 g Carbolsäure nachgewiesen werden. Für die 
Erzeugung der Veränderungen in der Speiseröhre muss man min¬ 
destens ebenso viel rechnen, wie für das Duodenum (28 g), hierzu 
kommen noch aus dem Inhalt der Speiseröhre ca. 5 g. Für das 
übrige 3 ra lange Dünndarmstück muss man sammt Inhalt min¬ 
destens 3mal soviel wie für das Duodenum (ca. 90 g) rechnen; um 
aber auf jeden Fall Ueberschätzungsfehler zu vermeiden werden in 
der Rechnung nur 50 g angenommen. Die Rechung stellt sich dabei 
folgenderraassen, wobei ausdrücklich gesagt sei, dass es sich nur um 
Bestimmung der Mindestwerthe handelt 1 ). 



Gebundene 

Carbolsäure 

Freie 

Carbolsäure 


Im Oesophagus. 

28 g 

J> 8 

j In einem 

Im Magen. 

35 „ 

20 * 

f Zeitraum 

Im Duodenum. 

28 „ 

12 „ 

3 Meter langem Dünn darmstück, in seiner 
ganzen Wanddicke verschorft mit ätzen¬ 
dem Inhalt. 

50 * 


| von 
;40Stunden 

Summa 

141 g 

37 g 

178 g 


Da im Mageh keine Speisereste vorgefunden wurden, und an¬ 
dererseits der Magen stets eine bestimmte Menge Schleim und Magen¬ 
saft enthält, so muss man im vorliegenden Falle aus dem Verhältniss 
der aus dem Mageninhalt gewonnenen reinen Säure zu der Gesammt- 
menge des Mageninhalts (20:40) schliessen, dass concentrirte oder 
zum mindesten sehr hochprocentige Carbolsäurc zur Ausführung des 
Selbstmordes genommen wurde. 

Im vorliegenden Falle kann man die vorerwähnten Fragen zu¬ 
sammenfassen und mit unbedingter Sicherheit dahin beantworten, dass 
der Selbstmörder vor mindestensten 30 Stunden eine Mindest- 


1) Die fettgedruckten Wert he sind nach der Obduction oder nach Control¬ 
versuchen direct bestimmt, die übrigen Werthe nur schätzungsweise angenommen. 


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Zur Casuistik der Carboisäurevergiftung. 


35 


Quantität von 100 Gramm 1 ) sehr hochprocentiger Carbol- 
säurelösung getrunken haben muss. Die grosse Menge und die 
hohe Concentration der Flüssigkeit schliesst schon für sich allein (ab¬ 
gesehen von etwaigen gerichtlichen Erhebungen) die Annahme eines 
Mordes oder auch nur eines Versehens durch fremde Hand mit nahe¬ 
zu absoluter Gewissheit aus. 

Schliesslich können wir nicht umhin, der Ansicht Ausdruck zu 
geben, dass es im gerichtsärztlichen Interesse sehr wünschenswerth 
wäre, w r enn auch bei anderen gebräuchlichen Vergiftungsflüssigkeiten, 
die charakteristische anatomische Veränderungen erzeugen und bei 
welchen auch weit höhere als letale Dosen genommen werden können, 
die Befunde sowohl nach Quantität Concentration und Zeitdauer der 
Einwirkung des Mittels genauer festgestellt würden, nicht nur damit 
die Mehrzahl der Aerzte mit diesen als Massstab dienenden Vergiftungs- 
bildem besser bekannt werde, sondern auch desshalb, weil nur eine 
genaue Kenntniss dieser Befunde eine richtige Beurtheilung in ver¬ 
antwortungsvollen gerichtlichen Fällen ermöglicht. 

Wenn es auch richtig ist, dass die Veränderungen, die eine 
Giftmenge erzeugt, welche die letale Dosis weit überschreitet, weder 
für den praktischen Arzt, noch für den Kliniker, noch für den Toxi¬ 
kologen ein besonderes Interesse bieten, denn eine letale Dosis ist 
eine Dosis letalis und ein „mehr letale“ giebt es nicht, was darüber 
hinausgeht interessirt auch kaum mehr den pathologischen Anatomen, 
so beginnt doch erst dort das eigentliche concurrenzlose uneinge¬ 
schränkte Feld der verantwortungsreichen Thätigkeit des Gerichts¬ 
arztes, denn der Gerichtsarzt hat nicht nur bei Verletzungen am 
Lebenden Aufklärung zu geben, sondern noch viel häufiger muss er 
es verstehen, aus dem, was über das Leben hinaus ist, aus Trümmern 
und Fragmenten eines gewesenen Daseins das Geschehene und Ver¬ 
gangene in seinem Geiste wieder lebendig zu machen. 


1) In Wirklichkeit wohl weit über 150 g, doch handelt es sich hier um die 
Feststellung einer unter allen Umständen einwandfreien Mindestquantität. 


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(Aus dem Institute für gerichtliche Medicin des Herrn Hofrath 

v. Hofmann in Wien.) 

Ueber die Dauer der Nachweisbarkeit von Kohlen¬ 
oxyd im Blute und in Blutextravasaten überlebender 

Individuen. 

Von 

Dr. E. Michel. 


Die Frage über die Dauer der Nachweisbarkeit des Kohlenoxyds 
im Blute solcher Individuen, welche die Vergiftung überlebt haben, 
ist bisher nur selten erörtert worden. Es ist einerseits zwar schon 
lange bekannt, dass die Verbindung des Kohlenoxyds mit dem Hämo¬ 
globin des Blutes eine viel festere ist als diejenige, die das letztere 
mit dem Sauerstoff eingeht, man wusste auch andererseits, dass das 
Kohlenoxyd aus dieser Verbindung nicht nur durch rein mechanische- 
sondem auch durch vitale Vorgänge wieder verdrängt werden kann, 
war aber nichtsdestoweniger sehr wenig über den Umstand orientirt, 
innerhalb welcher Frist man noch auf einen positiven Nachweis des 
Kohlenoxydhämoglobins in solchen Fällen rechnen könnte, in welchen 
die vitalen Vorgänge die Verdrängung des Kohlenoxyds aus dem Blute 
besorgen. Man wusste zwar schon ziemlich lange von der Thatsache, 
dass man bei Individuen, welche eine CO-Vergiftung überlebt haben, 
oder an den Folgezuständen einer solchen zu Grunde gegangen sind, 
zumeist kein CO mehr nachzuweisen vermag, ist aber auch heute 
noch nicht genügend darüber unterrichtet, wie langer Zeit es dazu 
bedarf, damit das CO aus dem Blute wieder verschwinde, oder rich¬ 
tiger, sich unserem Nachweise entziehe. 

Die diesbezüglichen Angaben, welche in der Literatur verzeichnet 
sind, differiren zumeist so wesentlich untereinander, dass schon aus 


bv Google 


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Dauer der Nachweisbarkeit ron Kohlenoxyd im Blute. 37 

diesem Grunde ein Versuch der Klarstellung dieses Punktes nicht 
unerwünscht erscheint. So will Pouchet 1 ) noch nach 60 Stunden und 
Koch 2 3 ) nach 10 Stunden den Nachweis des Kohlenoxyds im Blute 
überlebender Individuen geführt haben, v. Hofmann 8 ) gelang es, 
noch nach zwei Stunden den sicheren Nachweis des Kohlenoxyds 
in einem schweren Falle von Leuchtgasvergiftung zu erbringen, wohin¬ 
gegen Wesche 4 * ) in einem Falle von gleichzeitiger Vergiftung meh¬ 
rerer Individuen, bei einer Frau, welche dieselbe kaum zwei Stunden 
überlebt hatte, nunmehr ein undeutliches spectroskopisches Resultat 
erzielen konnte. Auch die Natronprobe lieferte in diesem Falle ein 
undeutliches Ergebniss. 

Dieser Vergiftungsfall veranlasste Wesche, sich durch Thierver¬ 
suche über verschiedene Fragen bei der Kohlenoxydvergiftung zu 
orientiren und eine von diesen war auch die über die Dauer der Nach¬ 
weisbarkeit des Kohlenoxyds im Blute überlebender Individuen. 

Da Wesche der einzige Autor ist, der sich, soweit unsere 
Kenntniss der Literatur reicht, experimentell mit dieser Frage be¬ 
schäftigt hat, erscheint cs geboten, etwas länger speciell bei diesen 
seinen Versuchen zu verweilen und zwar umsomehr als auch ein Thcil 
unserer Experimente über diese Frage die von ihm angestellten er¬ 
gänzt und bestätigt. 

Nachdem sich Wesche durch Versuche in vitro überzeugt hatte, 
dass die Haftbarkeit des CO am Hämoglobin relativ nur schwach ist, 
versuchte er festzustellen, ob diese Haftbarkeit im Organismus sich 
ebenso verhält. Er setzte ein Kaninchen unter eine Glasglocke und 
liess Leuchtgas einströmen, bis Convulsionen eintraten. Dann ent¬ 
fernte er das Thier aus der Glocke, setzte es in die frische Luft und 
tödtete es nach einer halben Stunde. Die spectroskopische Unter¬ 
suchung und die Natronprobe ergaben ein negatives Resultat. Das CO 
war nach einer halben Stunde nicht mehr nachweisbar. Daraufhin 
wiederholte er den Versuch fast bis zur vollständigen Vergiftung des 
Kaninchens und tödtete das Thier, nachdem es eine Viertelstunde 
frische Luft geathmet hatte. Die spectroskopische Untersuchung gab 
auch nach dieser geringen Zeitdauer kein genaues Resultat, cbenso- 

1) Virchow’s Jahrtuch. 1888. I. S. 482. 

2) Zur Encephalomalacie nach CO-Vergiftung. Diss. Greifswald 1892. 

3) Lehrbuch der gerichtl. Medicin. 7. Aufl. S. 706. 

4) Wesche, Ueber Leuchtgasvergiftung und Kohlenoxydblut. Diese Vicrtel- 

jahrsschr. 1876. XXV. S. 276. 


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38 


Dr. M i c li c 1, 

wenig wie die Natronprobe. Der Versuch bewies somit, dass sogar 
schon nach 15 Minuten reiner Luftathmung das CO aus dem Blute 
durch den 0 verdrängt werden könne. 

Wesche folgert aus diesen zwei Experimenten, dass dem negativen 
Ergebnisse der spectroskopischen Untersuchung kein grosser Werth 
beizulegen sei, ja dass das Fehlen der CO-Reaction des Blutes gar nichts 
beweise, sobald es sich um Individuen gehandelt habe, die ihr Leben 
in reiner Luft beschlossen haben, dahingegen sei ein um so grösserer 
Werth auf den positiven Ausfall der spectroskopischen Untersuchung 
zu legen. Wie aus diesen Thierversuchen zu entnehmen ist, interessirte 
unserer Frage Wesche nur indircct, indem er sich vor Allem nur 
von der Haftbarkeit des CO am Hämoglobin überzeugen wollte, und 
nach den erwähnten zwei Experimenten die Frage nicht weiter ver¬ 
folgte. 

Es war unter diesen Umständen und besonders mit Rücksicht 
auf die divergenten Anschauungen der Autoren in dieser Frage, ange¬ 
zeigt, möglichst eingehende Untersuchungen darüber anzustellen, wie 
lange sich das CO im Blute überlebender Thiere nachweisen lässt. 

Bevor wir zur Verwerthung der gewonnenen Resultate übergehen, 
dürfte es angezeigt sein, etwas über die Versuchsanordnung zu er¬ 
wähnen. Gleichwie in den Versuchen Wesche’s, wurden die 
Thiere unter eine Glasglocke gesetzt und das betreffende Gas von 
oben direct zugeleitet. Die ersten Versuche mit Leuchtgas wurden 
auf die Weise angestellt, dass dasselbe unmittelbar unter dem ganzen 
Drucke zugeleitet worden ist. Die Thiere waren schon nach iy 2 bis 
3 Minuten in bedeutender Erstickungsgefahr und mussten schleunigst 
entfernt werden. Später und zwar in der Absicht, die thatsächlichen 
Verhältnisse besser nachzuahmen und eine langsamere Sättigung der 
Blutmasse mit CO zu erreichen, wurde das Leuchtgas durch eine 
Wasserflasche geleitet, so dass die Zuströmung desselben nach der 
Anzahl der in die Spülflasche eintretenden Gasblasen beliebig regulirt 
werden konnte. Die Versuche mit reinem CO wurden derart bewerk¬ 
stelligt, dass man dasselbe nach der gebräuchlichen Weise aus Oxal- 
und Schwefelsäure entwickelte und durch Durchleiten desselben durch 
Kalilauge von der sich mitentwickelnden Kohlensäure befreite. Dabei 
konnte durch die Regulirung der Gasflamme die Gasentwickelung be¬ 
liebig beeinflusst werden. Auf diese Weise gelang es, die Vergiftungs¬ 
dauer bis über 40 Minuten auszudehnen und eine relativ allmälige 
Sättigung des Blutes mit CO zu erreichen. 


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Dauer der Nachweisbarkeit von Kohlenoxyd im Blute. 


39 


Die Thiere boten, je nachdem eine rasche oder eine allinäligere 
Zuleitung des vergiftenden Gases erfolgte, etwas verschiedenartige 
Vergiftungserscheinungen. Im ersteren Falle ging die Vergiftung in 
den Hauptzögen so vor sich, dass die Thiere, wie es schon Wesche 
beschreibt, sich anfangs ängstlich drückten, dann lebhafte Unruhe 
zeigten, die in einen mehr weniger comatösen Zustand überging, 
worauf heftige Convulsionen auftraten, bei deren Nachlassen die Thiere 
sofort aus der Glasglocke entfernt werden mussten, da sie sonst rasch 
zu Grunde gegangen wären. 

Bei der allmäligen Vergiftung war das geschilderte Bild viel 
weniger ausgesprochen. Die Thiere wurden allmälig hochgradig 
dyspnoisch, die Pupillen erweiterten sich maximal, man beobachtete 
regelmässig ein ziemlich hochgradiges Schwanken, das Thier legte 
sich sodann auf die Seite, athmete stossweise, die Athmung verlang¬ 
samte und verflachte sich und dieser Zustand wäre in den Exitus 
übergegangen, wenn man das Thier nicht rechtzeitig entfernt hätte. 
Bei Katzen machte sich ausser den beschriebenen Erscheinungen noch 
eine hochgradige Salivation bemerkbar, auch erfolgte regelmässig Ab¬ 
gang von Koth und Harn. Ein Unterschied in den Vergiftungserschei¬ 
nungen zwischen Leuchtgas und reinem CO konnte nicht wahrge¬ 
nommen werden. 

Nachdem die Thiere ad maxinum vergiftet worden waren, wurden 
sie aus der Glasglocke entfernt und ihnen aus der Vena jugularis in 
verschiedenen Zeiträumen Blutproben entnommen und auf CO unter¬ 
sucht. Ausser der spectroskopischen Methode, wurden noch die 
Tanninprobe nach Kunkel und Wetzel sowie die Natronprobe be¬ 
nützt, welche sich in den meisten Fällen etwas empfänglicher er¬ 
wiesen, als die spectroskopische Untersuchung. Die benützten Reduc- 
tionsmittel wurden regelmässig an gewöhnlichem Blute auf ihre Rc- 
ductionskraft geprüft. 

Aus den ange»teilten Versuchen liess sich kein absolut gesetz- 
massiges Verhältniss zwischen der Dauer der Vergiftung und der Länge 
der Nachweisbarkeit des CO im Blute des überlebenden Thicres 
erschlossen. 

Für die meisten Fälle zeigte es sich aber doch, dass, je länger 
die Vergiftung fortgesetzt werden konnte, umso länger das CO im 
Blute nachzuweisen war. So stimmen unsere Resultate annähernd 
mit denjenigen Wesche’s überein, der bei sehneller Vergiftung 
der Thiere, kaum nach 15 Minuten das CO nach weisen konnte. Wir 


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40 


Dr. Michel, 


haben nach Vergiftungen von l 1 ^—3y 2 Minuten Dauer (Vers. I., II., 
III., Tab. A.) auch nur nach 16 Minuten freien Athmens das CO 
nachweisen können. Ueber diese Frist hinaus war dasselbe bei der ra¬ 
piden Vergiftung mit keiner der benützten Methoden mehr nachzuweisen. 
Jedenfalls hängt die Länge der Nachweisbarkeit des CO im Blute 
nicht nur von der Vergiftungsdauer als solcher ab, sondern auch von 
individuellen Eigenthümlichkeiten des benützten Thierindividuums, 
deren Einfluss nicht leicht abzuschätzen ist. In den meisten Fällen 
gestaltete sich das Verhältnis derart, dass mit der Vergiftungsdauer 
auch die Länge der Nachweismöglichkeit gleichen Schritt hielt. 

Bei unseren Versuchen kamen sowohl Kaninchen als Katzen zur 
Verwendung, da wir von der Idee ausgingen, dass sich vielleicht 
Unterschiede in Bezug auf die Nachweisbarkeit des CO zwischen 
Pflanzen- und Fleischfressern ergeben würden. Die Resultate, zu 
welchen wir gekommen sind, lassen bei diesen beiden Thierarten eben¬ 
sowenig einen Unterschied im Syraptomenbilde der Vergiftung, als in 
der Länge der Nachweisbarkeit des Giftes erkennen. 

In den Muskeln liess sich das CO im Grossen und Ganzen nur 
ebenso lange nachweisen, als es im Blute nachweisbar war. Unsere 
in dieser Richtung an wässrigen Muskelauszügen angestellten Versuche 
ergaben, dass, sobald einmal der Nachweis des CO im Blute nicht 
mehr gelang, auch das wässrige Muskelextract kein positives Ergeb- 
niss mehr lieferte. 

Falk 1 ) hat bei seinen Untersuchungen am Muskel im Com- 
pressorium nachweisen können, dass sich das CO in den Muskeln 
länger nachweisen lasse als im Blute, ln wässrigen Muskelauszügcn 
liess sich, wie schon erwähnt, diese Differenz nicht eruiren. 

Was die maximale Dauer der Nachweisbarkeit des CO im Blute 
überlebender Thiere betrifft, zeigten unsere Versuche, dass sich die¬ 
selbe innerhalb ziemlich enger Grenzen bewegt. Es ist uns, wie 
aus den in der Versuchstabelle A angeführten Versuchen 
hervorgeht, nie gelungen das CO im Blute solcher Thiere 
länger als 41 Minuten nach der Herausnahme des Thieres 
aus der Glocke nachzuweisen. Diese Zeitdauer von 41 Mi¬ 
nuten stellt für unser e Versuche das Maximum dar. In den 
meisten Fällen schwankten die Werthe zwischen diesem 


1) P. Falk, Zur Casuistik der Kohlenoxydvergiftungen. Diese Vierteljahrs¬ 
schrift. III. F. II. Bd. 1891. S. 263. 


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Dauer der Nachweisbarkeit von Kohlenoxyd im Blute. 


41 


Maximum und dem Minimum von 16 Minuten. Diese relativ 
kurze Zeitdauer sollte uns eigentlich nicht überraschen. Das CO ver¬ 
drängt, wenn es eingeathmet wird, den Sauerstoff aus seiner Ver¬ 
bindung mit dem Haemoglobin und geht mit diesem eine etwas sta¬ 
bilere Verbindung ein. Beim Athmen in reiner Luft dunstet es jedoch 
nach der heute allgemein gütigen Annahme durch die Lungen wieder 
ab und das Sauerstoffhaemoglobin wird wieder hergestellt. Das 
Wesen dieser Regeneration beruht nach Donders auf einem ein¬ 
fachen Dissociationsvorgange. Dass derselbe, wenigstens bei Thiercn, 
mit einer ziemlichen Raschheit vor sich geht, indem das CO durch 
die vitalen Vorgänge sehr rasch in der Lunge zur Abdunstung ge¬ 
bracht wird, ist nach den angestellten Versuchen ziemlich einleuchtend. 

Dieses rasche Verschwinden des CO unter den obenerwähnten 
Bedingungen wird uns um so leichter verständlich, als, wie aus dem 
von Saint Martin 1 ) angestellten Versuche hervorgeht, schon durch 
dass blosse Stehen von CO-haltigem Blute an der Luft, ein wenn 
auch geringer Theil des CO nach einigen Stunden aus dem Blute 
verschwindet und sich nach der Beobachtung von Jäderholm 2 ) 
gegen Ende der ersten Woche vollständig aus demselben verliert. 

Schon Li man 3 ) ist es gelungen, aus dem Blut von einem in 
CO-Luft gestorbenen Menschen durch anhaltendes (ein halbe Stunde 
fortgesetztes) Schütteln mit atmosphärischer Luft und fleissiges Um- 
giessen der Flüssigkeit, das CO zu verdrängen und spectroskopisch 
bei Zusatz von Schwefelaramonium dieselbe Reaction zu erlangen wie 
bei normalem Blute. Dass das CO in vitro durch Einleitung eines 
kräftigen Luftstromes nach etwa fünf Stunden ganz verdrängt werden 
kann, ist ebenfalls schon seit längerer Zeit genügend bekannt. 

Ausserdem ist nicht nur bei Thierversuchen, sondern auch in 
concreten Fällen von CO-Vergiftungen der Umstand nicht zu unter¬ 
schätzen, auf den D res er 4 ) in seinen lehrreichen Versuchen auf¬ 
merksam macht. Diese haben ergeben, dass selbst bei den stärksten 
Vergiftungen mit CO keine vollständige Verdrängung des Sauerstoffes 
durch das CO aus dem Blute erfolgt. Bei raschen Vergiftungen er- 

1) Comptes rendus de l’Acad. des scienc. Tome CX1I. p. 1232. 

2) Jäderholm, Die gerichtlich-medicinische Diagnose der Kohlenoxydver¬ 
giftung. 1876. 

3) Casper-Liman, Lehrbuch der gerichtl. Medicin. 1876. -S. 570. 

4) H. Dreser, Zur Toxicologie des Kohlenoxyds. Archiv f. exper. Pathol. 
u. Pharmakol. 29. Bd. 1892. S. 119. 


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Original ftom 

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Thieres) kein CO 

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44 


Dr. Michel, 


folgte der Tod des nicht narkotisirten Kaninchens schon zu einer Zeit, 
wo erst die Hälfte des Hämoglobins sich mit CO verbunden hatte 
und selbst bei protrahirten Vergiftungen blieben noch immer 20 pCt. 
des Blutes als Oxyhaemoglobin intact. Diese Versuche beweisen, 
dass es kaum jemals zu einer völligen Sättigung des Blutes mit CO 
komme, dass immer,nur ein variabler Bruchtheil des Bluthaemoglo- 
bins sich mit dem CO verbinde und dass es bei nur halbwegs 
günstigen Bedingungen kaum lange dauern dürfte, bis das gesammte 
CO wieder aus dem Blute verschwindet. 

Wenn wir den oben angeführten Thatsachcn, nämlich den Er¬ 
gebnissen des Thierversuches und dem Versuche in vitro die An¬ 
schauung mancher. Autoren entgegenhalten, dass man das CO noch 
durch einige Tage im Blute überlebender Individuen nachweisen 
könne, so liegt schon in dem daraus resultirenden Widerspruch die 
Aufforderung, eine eindeutige Lösung dieser Frage nicht nur durch 
den Thierversuch, sondern besonders durch zweckmässige Untersuchung 
der sich präsentirenden Vergiftungsfälle an Menschen anzustreben. 

Uns war es im Laufe unserer Versuche leider nicht vergönnt, 
geeignete einschlägige Untersuchungen an überlebenden Menschen an¬ 
stellen zu können, so dass wir nur den Weg des Thierexperimentes 
betreten konnten. Mag es nun auch nur mit grosser Vorsicht er¬ 
laubt sein, Ergebnisse von Thierversuchen auf den Menschen zu über¬ 
tragen, so wird es doch nicht allzu gewagt erscheinen, sich den 
Analogieschluss zu erlauben, dass die Verhältnisse über die Nachweis¬ 
barkeit des CO sich auch bei Menschen, welche die Vergiftung über¬ 
lebt haben, nicht wesentlich anders gestalten dürften als es beim 
Thierversuch der Fall ist. Selbst bei noch so hochgradigen 
Vergiftungen dürfte der Nachweis des CO kaum über einige 
wenige Stunden mit einiger Sicherheit zu erbringen sein, 
vorausgesetzt, dass der Vergiftete wirklich Gelegenheit 
hatte, in reiner Luft zu athmen, und dass die Athmung 
nicht allzu unvollkommen vor sich gegangen ist. 

Wenn man in Betracht zieht, dass sich der Gas Wechsel bei 
kleineren Thieren wie wir sie bei unseren Versuchen benutzt haben 
(Kaninchen, Katzen), wegen des ungleich frequenteren Athmens dieser 
Thiere viel rascher gestaltet als beim Menschen, so dürfte es voll¬ 
kommen verständlich sein, warum sich für den Menschen eine relativ 
viel längere Zeitdauer ergeben dürfte. Dabei fallen auch noch andere 
Momente ins Gewicht, wie die wechselnde Sättigung des Hämoglobins 


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Dauer der Nachweisbarkeit von Kohlenoxyd im Blute. 


45 


mit CO, die wieder von der Dauer der Einwirkung und der Menge 
des Gases abhängt, sowie verschiedene individuelle Eigenthümlichkeiten, 
deren Einfluss auf die Dauer der Nachweisbarkeit des CO sich der¬ 
zeit noch völlig unseren Kenntnissen entzieht. Ausserdem dürfte cs 
nicht überflüssig sein zu betonen, dass die Angabe über die Grösse 
der gewonnenen Zeitwerthe durch die Leistungsfähigkeit der ange¬ 
wandten Untersuchungsmetboden sowie durch die Qualität und Empfind¬ 
lichkeit. der benutzten Reductionsmittel, die stets in diesem Sinne an 
Controlblut zu überprüfen sind, wesentlich beeinflusst werden können. 

Für die von uns angenommene Zeitdauer der Nachweisbarkeit des CO von 
nur wenigen Stunden sprechen einige Befunde, die ihrer Natur nach kaum eine 
andere Deutung zulassen. Ausser den schon erwähnten Fällen von Wesche und 
von v. Hofmann, kommt noch der von Szigeti aus diesem Institute veröffent¬ 
lichte Fall in Betracht, in welchem bei einem Manne, der ö 1 /^ Stunden nach Ein- 
athmung von Leuchtgas gestorben war, durch keine der üblichen Methoden das 
CO im Blute nachgewiesen werden konnte. 

Im Lehrbuche von Caspar-Liman 1 ) findet sich folgende Beobachtung: 

Drei Personen hatten sich am 27. März in einem frisch geheizten Zimmer 
schlafen gelegt. Morgens fünf Uhr wurden alle drei bewusstlos aufgefunden; die 
Ofenklappe war geschlossen. Steinkohlengluth im Ofen. Zwei der Verunglückten 
wurden gerettet. Der Dritte starb am Nachmittag des 28. um 2 Uhr. Die Obduc- 
tion ergab im letzteren Falle ausser hellrothen Todtenflecken noch Erstickungs¬ 
befunde und Lungenödem. Die inneren Organe hatten kein hellrothes Aussehen. 
Das Blut verhielt sich spectroskpisch wie normales Blut, es wurde durch Schwefel¬ 
ammonium wie normales reducirt. In diesem Falle konnte somit das CO schon 
9 Stunden nach der Auffindung des Vergifteten nicht mehr nachgewiesen werden. 

Bei einem jungen Manne, der in selbstmörderischer Absicht durch directes 
Anlegen eines Schlauches an den Mund Leuchtgas eingeathmet hatte und im be¬ 
wusstlosen Zustande in ein Krankenhaus überbracht wurde, konnte von uns etwa 
17 Stunden nach seiner Auffindung der spectroskopische Nachweis des CO nicht 
mehr erbracht werden. 

Chlumsky 2 ) berichtet über einen Fall von mehrfacher CO-Vergiftung, der 
eine Mutter mit ihren zwei Kindern betraf. Das ältere zwölfjährige Mädchen war 
bei der Auffindang bereits todt, die Mutter erholte sich völlig und das jüngere 
3 / 4 Jahre alte Kind starb nach 15 Stunden. Bei der spectroskopischen Blutunter¬ 
suchung konnte bei dem letzteren kein CO mehr im Blute nachgewiesen werden; 
bei dem älteren Kinde ergab sich ein positiver Blutbelund. Von besonderer Be¬ 
weiskraft erscheint uns aber folgender Fall, der in den Protokollen des Wiener 
gerichtlich-medicinischeu Institutes sehr eingehend verzeichnet ist: 

(Prot. XVIII. p. 119 ex 1889). J. P., 44 J., Regenschirmmacher und seine 
FrauTherese wurden etwa am24. Septbr. etwa um 11 Uhr Vormittags mit ihrer zelin- 


1) Casper-Liman, Lehrbuch der gerichtlichen Medicin. 1876. S. 581. 
Fall 258. 

2) Chlurnsky, Diese Vierteljahrsschr, III. F. V. Bd. S. 321. 


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46 


Dr. Michel, 

jährigen Tochter Helene in einer ebenerdigen Wohnung, die mit Gewalt geöffnet 
werden musste, bewusstlos aufgefunden. Die Frau und das Kind lagen entkleidet 
im Bette, während J. P. vollkommen angekleidet nächst der Zimmerthiire auf dem 
Fussboden liegend gefunden wurde. Die sofort angestellten Wiederbelebungsver¬ 
suche hatten nur bei Therese P. insofern einen Erfolg, als dieselbe noch lebend 
in ein Wiener Krankenhaus überbracht werden konnte, wo sie jedoch noch am 
selben Tage um 3 Uhr Nachmittags starb. J. P. und seine Tochter waren bereits 
todt. Bei Oeffnung der Wohnung soll nach Angabe der anwesenden Polizeiorgane 
ein penetranter Geruch nach Leuchtgas wahrgenommen worden sein. Auch im 
Keller des gegenüberliegenden Hauses wurde schon den 23. Septbr. ein intensiver 
Gasgeruch wahrgenommen, ohne dass von den requirirten Arbeitern der Gasanstalt 
die Ursache entdeckt werden konnte. 

Bei J. P. und seiner Tochter Helene wurden bei der Obduction die für die 
CO-Vergiftung charakteristischen Befunde erhoben und bei beiden wurde neben 
Zucker im Harne spectroskopisch auch die Anwesenheit von CO im Blute festgestellt. 

Bei Therese I*., 44 Jahre alt, die zwar, wie schon erwähnt, wiederbelebt 
werden konnte, aber schon nach 4 Stunden starb, ergab sich in Kürze folgender 
Obductionsbefund (Uebungsprot. p. 74. No. 285): 

Haut blass, mit blauvioletten Todtenllecken am Rücken. Bindehäute blass, 
Pupillen mittelweit, Mundschleimhaut blassviolett und feucht. Aus den Venen 
entleert sich dunkelflüssiges Blut. Musculatur heller roth gefärbt. Im Rachen 
und den oberen Luftwegen reichliche Mengen schaumigen Serums, beide Lungen 
gross, sehr blutreich, überall lufthältig, am Schnitt von schaumigem Serum über¬ 
strömend. Herz grösser, stark mit Fett bewachsen, schlaff, beiderseits locker ge¬ 
ronnenes Blut und bis in die grossen Gefässe reichende Faserstoffgerinnsel ent¬ 
haltend. Klappen der Aorta an ihrerBasis leicht verdickt. Beide Ventrikel etwas dila- 
tirt, in ihren Wandungen nicht auffallend verdickt, Herzfleisch etwas brüchig. In den 
übrigen Organen keine beriicksichtigenswerthen Befunde. Die chemische Unter¬ 
suchung des Harnes ergab die Anwesenheit von Zucker. Auf spectroskopischem 
Wege konnte kein CO mehr nachgewiesen werden. 

Aus dieser Beobachtung ist es ersichtlich, dass bei einer Frau, 
die nachgewiesenermaassen eine schwere CO-Vergiftung 4 Stunden 
nach ihrer Auffindung überlebt hatte, kein CO mehr in ihrem Blute 
nachgewiesen werden konnte, obzwar bei den zwei Personen, die 
zugleich mit ihr der Vergiftung ausgesetzt waren und ihr sofort er¬ 
lagen, ein solcher Befund mit der grössten Sicherheit festgcstellt 
werden konnte. Es genügten somit 4 Stunden Athmens in reiner 
Luft, damit das CO völlig durch die Lungen abdunste. 

In seinen schon erwähnten Versuchen beschäftigte sich D res er 
auch mit der Frage, wie weit bei einem in CO-haltiger Atmosphäre 
vergifteten, ohnmächtig und hilflos gewordenen Individuum der Sauer¬ 
stoffgehalt des Blutes heruntergeht und wie sich die Wiedererholung 
vollzieht? Er constatirte, dass bei einem mit CO vergifteten Kanin- 


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Dauer der Nachweisbarkeit von Kohlenoxyd im Blute. 


47 


ehen gleich nach Ablauf der Krämpfe das Blut nur 50,1 pCt. Saucr- 
stoffhaemoglobin aufwies. Nach einer Viertelstunde lebhaften Athmens 
erholte sich das Thier und die 20 Minuten nach der ersten ent¬ 
nommene zweite Blutprobe ergab jetzt 73,63 pCt. Sauerstoffhaemo- 
globin. Nach etwas mehr als zwei Stunden konnte das Thier seinem 
äusseren Verhalten nach als normal gelten. Die dritte 2 Stunden 
50 Minnuten nach der ersten entnommene Blutprobe ergab schon 
91,50 Sauerstoffhaemoglobin. Das Thier hatte also durch die äusserst 
energische Respiration wieder eine Regeneration des OHB aus dem 
COHB bewirkt. Diese Versuche Dreser’s, welche mit einem sehr 
empfindlichen Apparate (Hüfner’s Spectrophotoraeter) angestellt 
worden sind, ergeben mit den an überlebenden Menschen verzeichneten 
Befunden so analoge Resultate, dass an der von uns angenommenen 
Zeitdauer von nur wenigen Stunden kaum recht gezweifelt werden 
könnte. Sie zeigen, dass nach dieser Zeit fast das gesammte Hämo¬ 
globin des vergifteten Kaninchens wieder zu OHB regenerirt worden ist. 

l/mso auffallender im Vergleich mit den vorhergehenden That- 
sachen sind die Befunde jener Beobachter, welche das CO im Blute über¬ 
lebender Individuen selbst nach Tagen nachgewiesen zu haben behaupten. 
Die Befunde von Koch (10 Stunden) und von Pouchct (60 Stunden) 
wurden schon früher erwähnt. 

In neuester Zeit hat Posselt 1 ) einen Fall veröffentlicht, in welchem es sich 
um eine34jährigeFrau handelte, die am23.Jan. 1893 um 5UhrAbends neben ihrem 
bereits todten Manne in ihrerWohnung aufgefunden und etwa zwei Stunden später 
ins Spital überbracht worden ist. Sie soll schon vor drei Wochen wegen vorzeitigen 
Verschlusses der Ofenklappe an dem mit Kohlen goheizten Ofen, unter heftigen 
Kopfschmerzen, Erbrechen und Schwindelgefühl erkrankt sein. Im Harne war 
kein Zucker nachweisbar, Eiweiss war vorhanden. Der Fall endete nach sieben 
Tagen letal und die Obduction ergab ausser Hyperämie und symmetrischen Er¬ 
weichungsherden in Gehirn und Rückenmark keine für die CO-Vergiftung charak¬ 
teristischen Befunde. Noch am 25. Januar, also etwa zwei Tage nach der Auf¬ 
findung der Patientin, war das CO spectroskopisch und durch die Proben von 
Hoppe-Seyler und Kunyiosi Katayama nachzuweisen. Die Farbe desBlutes 
war kirschroth. An einer am 24. Jan. entnommenen, luftdicht verwahrten Blut¬ 
probe, konnte am 17. März noch die von Rubner empfohlene Probe mir positivem 
Resultate vorgenommen werden. Die Probe soll zwar nicht so deutlich ausge¬ 
fallen sein, wie eine mit Leuchtgas vorgenommene Controlprobe, der Unterschied 
soll jedoch immerhin zu sehen gewesen sein. 


1) Posselt, Ein Fall von Kohlendunstvergiftung. Wien, klin,Wochenschr. 
No. 21, 22. 1893. 


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48 


Dr. Michel, 

Die citirten Fälle, in denen das CO durch längere Zeit nach¬ 
gewiesen werden konnte, müssen vorderhand einfach registrirt werden, 
doch soll nicht unerwähnt bleiben, dass dieselben mit den experi¬ 
mentellen Ergebnissen an Thieren nicht in Einklang gebracht werden 
können. Ausserdem sind Beobachtungen auch an Menschen ver¬ 
zeichnet, welche denen von Ponchet und Posselt direct wider¬ 
sprechen. 

Besonders lehrreich und nicht zum mindesten schon wegen seiner Aehnlich- 
keit mit dem von Posselt veröffentlichten Falle ist eine Beobachtung, welche in 
den Protokollen des Wiener gerichtl. med. Institutes verzeichnet ist (XXII. Prot. 
S. 382. 1895): 

Johann Leitl, 45 Jahre alt, Heizer, wurde am 7. Febr. 1895 Mittags in einem 
an den Heizraum anstossenden Zimmer, in dem er seine Schlafstelle hatte, im be¬ 
wusstlosen Zustande aufgefunden und da man annahm, dass sein Zustand durch 
übermässigen Alkoholgenuss bedingt sei, wurde ihm bis zum nächsten Tage keine 
ärztliche Hilfe gewährt. Da sich aber sein Befinden nicht besserte, wurde er am 
8. Febr. um 11 Uhr Vorm, durch die freiwillige Rettungsgesellschaft in das Spital 
der barmherzigen Brüder überbracht, wo er am 9. Febr. 4 Uhr Nachm, unter den 
Erscheinungen hochgradiger Dyspnoe verstarb. 

Bei der Obduction fanden sich ausser einer symmetrischen Erweichung der 
Linsenkerne keine für den CO-Tod charakteristischen Befunde. Im Blute konnte 
bei der spectroskopischen Untersuchung, die 48 Stunden nach dem Auffinden des 
Pat. stattfand, kein CO nachgewiesen werden. . 

Im Lehrbuche von Casper-Liman*) finden sich folgende zwei Fälle: 

In einem mit Kohlendunst gefüllten Zimmer wurden drei Männer bewusstlos 
aufgefunden, von denen zwei nach 2y 2 Tagen an hypostatischer Pneumonie 
starben. Im Blute konnte nach dieser Zeit kein CO mehr nachgewiesen werden. 

Bei einem jungen Mädchen, das durch längere Zeit aus einem halbgeöffneten 
Gashahne Leuchtgas eingeathmet hatte, konnte 48 Stunden nach der Auffindung 
desselben, kein CO mehr constatirt werden. 

Bei der gegebenen Sachlage, wird die vorliegende Frage mit 
Bezug auf den Menschen nur auf die Art mit einiger Sicherheit zu 
einem gewissen Abschlüsse gebracht werden können, dass durch 
möglichst zahlreiche Beobachtungen an solchen Personen, welche eine 
CO-Vergiftung überlebt haben, die Aufstellung einer Durchschnitts¬ 
grenze der Nachweisbarkeit des CO ermöglicht werde. Unserer 
Meinung nach dürfte dieselbe, wie schon erwähnt, wenige Stunden 
kaum um ein wesentliches überschreiten. 

Was die gewöhnlichen Versuchsthiere betrifft, kann mit ziemlicher 
Sicherheit behauptet werden, dass das CO wenigstens zum grössten 

1) Casper-Liman, Lehrbuch der gerichtl. Medicin. S. 582, Fall 259, 260, 
und S. 590, Fall 208. 


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Dauer der Nachweisbarkeit von Kohlenoxyd im Blute. 


49 


rheile .sehr bald aus dem Blute derselben verschwinde und dass 
es sich noch vor dem Ablauf der ersten Stunde blossen Luft- 
athmens dem Nachweise durch unsere empfindlichsten 
Proben entziehe. 

Neben den Versuchen über die obere Grenze der Nachweisbar¬ 
keit des CO im Blute überlebender Thiere, sind noch solche über 
die Frage angestellt worden, wie lange das CO in Extravasaten 
nachzuweisen ist. Es ist bekannt, dass sich das CO in Blutaus- 
tritten viel länger hält, als im circulirenden Blute und dass man cs 
in Blutextravasaten noch zu einer Zeit nachweisen kann, wo es aus 
dem Kreisläufe schon lange verschwunden ist. In dem bekannten, 
von Szigeti 1 ) veröffentlichten Falle aus dem Wiener gerichtlichen 
raedicinischen Inst, handelte cs sich um einen Mann, der die Leucht¬ 
gasvergiftung nur um 5 l / 4 Stunde überlebte und in dessen Blute kein 
CO nachgewiesen werden konnte, wohingegen dasselbe in den Blut¬ 
extravasaten ausgezeichnet gelungen ist. Bisher ist aber noch Nie¬ 
mand der Frage näher getreten, wie lange das CO in den Extrava¬ 
saten nachgewiesen werden kann. Unsere diesbezüglichen Versuche 
w'urden auf folgende Weise angestellt: die benützten Thiere (Kanin¬ 
chen, Katzen) wurden in der schon erwähnten Weise durch Einleitung 
von Leuchtgas oder reinem CO ad maximum vergiftet, sodann aus 
der Glasglocke entfernt und eine Minute später wurde denselben mit 
einem Hammer eine subcutane Fractur des einen Oberschenkels er¬ 
zeugt. Man überzeugte sich stets durch eine Blutprobe gleich nach 
der Vergiftung von der Anwesenheit des CO. In verschiedenen Zeit¬ 
räumen (vid. Tab. B.) wurden die Thiere getödtet, das Extravasat 
unter sorgfältiger Vermeidung jeder Blutung herauspräparirt und 
spectroskopisch untersucht. Zu gleicher Zeit wurde auch das Herz¬ 
blut des betreffenden Thieres als Controlblut der spectroskopischcn 
Untersuchung unterzogen. Wie aus den sieben angestcllten Ver¬ 
suchen hervorgeht, konnte das CO bis zum fünften Tage in 
den Blutextravasaten mit Sicherheit nachgewiesen werden. 
Nach dieser Frist konnten nurmehr negative Befunde con- 
statirt werden. 

Es ist mit grösster Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass das 
Gas durch die Thätigkeit der das Blutextravasat umgebenden Ge¬ 
webe aus dem Blutergusse eliminirt worden ist. Jene Faetoren, welche 


1) Diese Vierteljahrsschr. 3. F. Bd. VI. S. 1. 

Vierteljahres ehr. f. ger. Med. Dritte Folge. XIV. 1. 


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50 Dr. Michel, Dauer der Nachweisbarkeit von Kohlenoxyd im Blute. 

die Resorption des gesetzten Extravasates bedingen, entfernen auch 
das CO aus demselben, das dann wahrscheinlich entweder in Form 
von Kohlensäure oder unverändert durch die Lungen ausgeschieden wird. 


Tabelle B. 


Fortlaufende Ver¬ 
suchsnummer. 

Datum. 

1896 

Thierart. 

Art der 

Vergif¬ 

tung. 

g Dauer der Ver- 
F giftung. 

Blut¬ 
befund 
nach der 
Vergif¬ 
tung. 

Dauer der 
Nachweisbarkeit 
im 

Blutextravasat. 

Herzblut 

des 

getödteten 

Thieres. 

VIII. 

19. 8. 

Kaninchen 

Leuchtgas 

2 

CO positiv 

Nach 24 Stunden 
positiver Befund 
von CO. 

Enthält 
kein CO. 

IX. 

20. 9. 

do. 

do. 

1 >/ 2 

do. 

Nach 48 Stunden 
positiver Befund 
von CO. 

do. 

X. 

22. 9. 

i do. 

do. 

3 

do. 

Nach 5 Tagen po¬ 
sitiver Befd. von 
CO. 

do. 

XII. 

28. 9. 

do. 

Kohlen¬ 

oxyd 

9 

do. 

Nach 6 Tagen ne¬ 
gativer Befund 
von CO. 

do. 

XVII. 

5. 10. 

do. 

Leuchtgas 

43 

do. - 

Nach 12 Tag. ne¬ 
gativer Befund 
von CO. 

do. 

XXII. 

20. 10. 

do. 

Kohlen¬ 

oxyd 

12 

do. 

Nach 6 Tagen ne¬ 
gativer Befund 
von CO. 

do. 

XXIV, 

28. 10. 

Katze 

do. 

i 

25 

do. 

Nach 5 Tagen ne¬ 
gativer Befund 
von CO. 

do. 


Zum Schlüsse erlaube ich mir, Herrn Prof. Hofrath v. Hofmann 
für das der Arbeit entgegengebrachte wohlwollende Interesse und 
Herrn Doc. Dr. A. Haberda für seine werthvollc Unterstützung bei 
Anstellung der Versuche bestens zu danken. 


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4. 

(Ans dem Institut für gerichtliche Medicin des Herrn Hofrath 
Prof. E. v. Hof mann in Wien). 

Leber die Thymus des Erwachsenen in gerichtlich- 
niedicinischer Beziehung. 

Von 

Dr. S. Dwornitschenko, 

I’rivatdoceiit uml Prusector der gerichtlichen Medicin hu der Universität zu Charkow. 


Im zur Aufklärung rätselhafter plötzlicher Todesfälle Er¬ 
wachsener bei persistenter oder vergrösserter Thymus beizutragen, 
wurden von mir Untersuchungen über die anatomischen und physi¬ 
kalischen Eigenschaften derselben und ihr Verhalten je nach dem 
Alter und dem allgemeinen Zustande des Individuums vorgenommen. 

Indem ich das reiche Material des gerichtlich medicinischcn In¬ 
stitutes in Wien benutzte, war es mir möglich 122 Leichen im Alter 
von 10 bis 88 Jahren zu untersuchen. 

Unter diesen waren 79 männliche und 43 weibliche Leichen; 
92 waren sanitätspolizeilich (das heisst zur Eruirung der Ursache des 
plötzlichen Todes) 17 gerichtlich und 13 als sogenannte Ucbungs- 
leichen (Verunglückte und Selbstmörder) obducirt worden. In 37 Fällen 
war der Tod durch Herzparalyse theils in Folge krankhafter Ver¬ 
änderungen am Herzen und den Herzkranzgefässen und theils in 
Folge solcher an der Aorta bedingt gewesen. In den übrigen Fällen 
war die Todesursache äusserst verschieden. 

Obgleich bei 8,5 pCt. der Fälle, wo die Thymus isolirt werden 
konnte, die Thymus vergrössert war (über 30 g), so konnte ihr den¬ 
noch kaum eiu Einfluss auf den Eintritt des Todes beigemessen 
werden, da die Todesursache anderweitig klar war (z. 13. Verbrennungen, 

4* 


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52 


Dr. D \v o r n i t s <■ h e n k n, 


Sehlus.sverlHzungoii, Insuff. valv. aortac ct stenosis ostii arteriosi si- 
nistri combinirt mit fettiger und schwieliger Entartung des lierz- 
flcisches und Verwachsung des Pericard. Haetnorrhagia hemisphacrac 
cerebri sin. Intoxicatio per Phosphor. Nephritis chronica et hyper- 
trophia cordis). Nur in einem Falle konnte die Thymus in Verbindung 
mit dem gleichzeitig bestandenen Status lymphaticus, zur Todes¬ 
ursache in ursächlicher Beziehung gestellt werden: Es handelte sich 
um einen 17jährigen jungen Mann, der im Bade ertrunken war; leider 
ist es nicht möglich den Fall eingehend zu besprechen, da die nähe¬ 
ren Umstände unbekannt geblieben sind. 

Die vorliegende Arbeit würde zu voluminös ausfallen, wollte ich 
jede von mir untersuchte Thymus einzeln einer ausführlichen Be¬ 
schreibung unterziehen; daher beschränkte ich mich im Folgenden 
auf eine zusammenfassende Darlegung der Besultatc meiner Unter¬ 
suchungen. 


1 . 

Die Thymus befindet sich im vorderen Mediastinalraume und liegt hier in 
der Mittellinie zwischen der Arteria anonyma und der Carotis communis sinistra. 
Dieselbe besteht gewöhnlich aus zwei nach oben verjüngten und nach unten brei¬ 
teren, flachen, unter einander durch Zellgewebe und Gefiisse verbundenen Lappen. 
Jeder Lappen ist von einem dünnen, bindegewebigen Ueberzuge umhüllt; überdies 
hat die ganze Drüse noch einen gemeinsamen Ueberzug. Die oberen Enden der 
Lappen laufen gegen die Gland. thyreoidea aus, ohne jedoch dieselbe zu erreichen, 
und bei einem Intervalle von 1—2 cm ist jeder Lappen der Gland. thymus mit 
der corrcspondirenden Hälfte der Gland. thyreoidea mittels bindegewebiger Sträng- 
chcn, in welchen Venen und Acstchen der Art. thyreoid. inferior enthalten sind, 
verbunden. Nach unten erstreckt sich die Gland. thymus noch auf 2—3 Finger¬ 
breiten unter die obere Umschlagstelle des Herzbeutels, so dass sie auf diesem 
auch theilweise ruht. 

Hechts seitwärts von der Gland. thymus befinden sich die Art. anonyma, 
die V. cava superior und der Nerv, phrenicus dexter, links die Art. carotis comm. 
und der Nerv, phrenicus sinister. Beide Nervi vagi und die Rami recurrentes 
liegen weit nach aussen und nach hinten. Mit ihrer hinteren Fläche liegt die 
Thymus unter dem Herzbeutel, weiter oben der aufsteigenden Aorta und der Vena 
anonyma sinistra und schliesslich der vorderen Fläche des Aortenbogens eng an. 
Vor ihr befindet sich lockeres Bindegewebe, welches sie mit dem Brustbeine ver¬ 
bindet. 

Die Gland. thymus lässt sich einigermassen, und zwar seitlich und nach oben, 
jedoch nur in unbedeutendem Grade, verschieben. Eine Senkung derselben wird 
durch die Ycrbindungsstriingohen mit der Gland. thyreoidea, welche bekanntlich 
vollkommen unbeweglich befestigt ist, verhindert. Schneidet man diese Verbin- 


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Die Thymus des Erwachsenen in gerichtlich-medicinischer Beziehung. 53 

düngen durch, dann senkt sich die Gland. tliymus ein wenig nacli unten und wird 
gleichsam kürzer, indem sie die Gefässsträngchen anzieht. 

Die Thymus wird durch Arterienästchen genährt, die aus der Art. mammaria 
interna, der Art. thyreoidea inferior und den Aa. pericardiacae entspringen. Diese 
Aestchen sind insbesondere im Vergleich zu den Gefässen der Gland. thyreoidea 
äusserst fein; hingegen sind die Venen der Gland. thymus grösser und vereinigen 
sich zu einem dickeren Stamme von ca. 3 mm Durchmesser, welcher zwischen den 
beiden Drüsenlappen liegt und in die Vena anonyma sinistra einmündet. 

Die Consistenz der Drüse ist ziemlich weich, ihre Oberfläche glatt, leicht 
concav, die Farbe lichtroth, ihre Länge im Mittel ca. 9,5 cm, die Breite etwa 5 cm, 
die Dicke meist etw-as über 1 cm, der Rauminhalt im Mittel 21 ccm, das Gewicht 
bis 22 g. Ausgeschnitten und auf Wasser gelegt sinkt die Drüse unter. 

Unter dem Mikroskope sieht man eine Menge lymphoider Zellen von gleich- 
mässigerer, rundlicherer Form als jene der Lymphdrüsen, eingebettet in ein zartes 
feinmaschiges Bindegewebsnetz mit zerstreut liegenden concentrisch geschichteten 
sogenannten Hassal’schen Körpern. Die sogenannte Sichelform der Zellen wird 
hier gewöhnlich nicht vorgefunden. 

Dies ist sozusagen der typische anatomische Befund, welchen ich bei voll¬ 
kommen gesunden jungen, selbst noch bei 17jährigen Personen vorfand. Man be¬ 
gegnet jedoch sowohl in diesem, als auch im höheren Alter verschiedenen Abwei¬ 
chungen von dieser Norm. 

Die Reihe derselben werden wir mit den Abweichungen, welche sich auf 
die Ortslage der Drüse beziehen, beginnen: 

Die Drüse kann von der Mittellinie entweder etwas nach rechts — wobei die¬ 
selbe der Art. anonyma eng anliegt — oder mehr nach links abweichen, dement¬ 
sprechend kann der eine oder der andere Nervus phrenicus unter der Drüse vor¬ 
gefunden werden. In einem Falle fand ich die Vena cava superior von der Drüse 
vollkommen verdeckt. Dies war nicht die Folge der Präparation, denn dieV. cava 
war an ihrer Vorderfläche mit der Drüse verwachsen, was sonst nicht vorzukom¬ 
men pflegt. Auch kann die Thymus entweder an der Gland. thyreoidea selbst 
beginnen, oder aber sie liegt viol tiefer unten in einem Abstande von ca. 4 cm von 
der Schilddrüse. Ein so grosser Abstand von der Thyreoidea wird dann beob¬ 
achtet, wenn die Drüse überhaupt klein ist und wenn sie kein Aestchen von der 
Art. thyreoidea inferior bekommt, sei es infolge angeborenen Mangels dieses Aest- 
chens, sei es vielleicht infolge Atrophie desselben in vorgeschrittenerem Le¬ 
bensalter. 

Nicht selten besteht die Thymus nicht aus 2, sondern aus 3, 4, bis 7 Lappen, 
doch sind in solchen Fällen gewöhnlich blos zwei Lappen am stärksten entwickelt, 
während die übrigen kleineren in der Mitte, gleichsam zur Ausfüllung des Zwischen¬ 
raumes zwischen den beiden grösseren Lappen, gelagert sind. Manchmal besteht 
die Thymus blos aus einem Lappen, welcher dann am oberen Ende gabelförmig 
gespalten ist. 

Die zur Ernährung der Drüse dienenden arteriellen Aestchen sind nicht im¬ 
mer gleich entwickelt: je grösser die Drüse ist, desto dicker sind sie natürlich. 
Ausser den obengenannten Aestchen erhält die Drüse manchmal einen Zweig von 
der Art. anonyma, welcher gewöhnlich von der Milte derselben, selten höher, bei 


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54 


Dr. Dworni Ischen ko. 


der Wurzel der Art. carotis communis, manchmal auch von dem au (steigenden 
Aste der Aorta, 2 cm unterhalb des Abganges der Art. anonyma, abzweigt. 

Die Consistenz der Drüse ist nicht immer weich. Einmal bekam ich eine 
Gland. thymus zur Untersuchung, deren Umfang bedeutend vergrössert und diese 
fest wie ein Fibrom war. Doch war dies eine pathologisch veränderte sarcomaiöse 
Drüse, ln einem anderen Falle fanden sich in der Drüse haselnussgrosse, voll¬ 
kommen verkalkte Knoten vor. Unter dem Einflüsse verschiedener, meist tuberku¬ 
löser Erkrankungen verliert die Drüse ihre ursprüngliche weiche Consistenz. Bei 
jugendlichen Personen kann man häutig im Inneren der Drüse einer erweichten 
und von einer milchartigen Flüssigkeit durchtränkten Partie begegnen. Unter dem 
Mikroskop sieht man in dieser Flüssigkeit eine ungeheure Menge von Lymphoid- 
elementen schwimmen. Die Consistenz ist in einem solchen Falle weich, wie fluc- 
tuirend. 

Die Oberfläche der sonst meist glatten Drüse erscheint manchmal uneben, 
und zwar infolge einer grossen Menge von Lappen, welche einander dachziegel¬ 
förmig überdecken und mit ihren freien Rändern nach unten und aussen ge¬ 
richtet sind. 

Die Farbe der Drüse ist bei normalem Verhalten blassroth, hei der Hyper¬ 
ämie wird sie dunkelroth, bei der Verwesung schmutzigroth. Mit der Alterszu¬ 
nahme beginnt die Drüse gelb zu werden; schon gegen die 30er Jahre bemerkt 
man stellenweise gelbliche Flecke, bei 40 Jahre alten Individuen ist schon die 
ganze Drüse von gelblicher Farbe, doch erkennt man eingestreute kleine röthliche, 
manchmal einen Blutaustritt vortäuschende Partien von unversehrt gebliebenem 
Gewebe in ihr. Gegen die 50er Jahre werden diese Partien seltener, so dass sie 
bisweilen ziemlich schwer zu finden sind, gegen die BO er Jahre sind sie dem un- 
bewaffneten Auge ganz unsichtbar, obzwar sich unter dem Mikroskope ohne be¬ 
sondere Schwierigkeiten kleine Nester von lymphoidomDrüsengewebe finden lassen: 
in noch höherem Alter wird dies schwieriger, obzwar es mir in einem Falle ge¬ 
lungen ist, bei einer 88jährigen Greisin in der Gland. thymus unter dem Mikro¬ 
skope inmitten des compacten Fettes kleine Häufchen von Lymphoidclcmenten vor¬ 
zufinden, welche nach ihren Eigenschaften nichts Anderes als Ueborreste des 
Drüsengewebes darstellen konnten. Die HassaPschen Körperchen verschwinden 
in der Periode zwischen GO—70 Jahren gänzlich. 

Dabei scheinen die ursprünglichen Dimensionen der Drüse mit der Altcrs- 
zunahme keine besonderen Veränderungen zu erleiden. Dies kann man aus fol¬ 
gender Tabelle ersehen. 


Grösse 

Länge 

cm. 

Breite 

cm. 

Dicke 

cm. 

Cubik- 

inhalt 

ccm. 

Gewicht 

g- 

Spccif. 

Gewicht. 

Zahl der 
Beobach¬ 
tungen. 



Alter von 10- 

-20 Jahren 


15 

Mittlere 

8,4 

5 

i 

20,0 

21 ,G 

1,03 


Maximale 

13 

7 

— 

32 

33 

1,05 


Minimale 


2,5 

— 

10 

10,3 

1,01 



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Die Thymus des Erwachsenen in gerichtlich-mcdicinischor Beziehung. 55 


Grösse 

Länge 

cm. 

Breite 

cm. 

Dicke 

cm. 

Cubik- 

inhalt 

ccm. 

Gewicht 

g- 

i 

Specif. 

Gewicht. 

Zahl der 
Beobach- 

tun gen. 




Alter 

von 20- 

—30 Jahren 



11 


Mittlere 

8,2 

4 



0,9 

14,2 

14,3 

1,007 




Maximale 

12 

5 



1 

25 

25,5 

1,02 




Minimale j 

4 

2 



0,5 

4 

5 

1,005 







Alter 

von 30- 

-40 Jahren 



18 


Mittlere 1 

9 

5,o 



1 

20 

19 

0.95 




Maximale 

12 

10 



1,3 

55 

54,5 

1,01 




Minimale 

i 

7 

1 



0,5 

8 

9 

0,94 







Alter 

von 40- 

-50 Jahren 


t 

21 


Mittlere 

8,S I 

4 



1 

i 16 

! 13 

0,94 




Maximale 

14 ! 

10 



1,6 

1 54 

1 51 

*1,005 




Minimale 

G 1 

1 

1,2 



0,4 

3 

3 

0,92 







Alter 

von 50- 

-60 Jahren 



18 


Mittlere 

1 8 

5 



1 

1 18,7 

18,1 

i 0,92 




Maximale 

15 

8 



1,2 

37 

3G 

0,95 




Minimale 

5 

1 



0,3 

1 2 

1 

1,9 

0,91 

i 







Alter 

von GO- 

-70 Jahren 



17 


Mittlere 

10 

ß,5 



1 

2*2,5 

20,5 | 

0,91 




Maximale 

14 

9 



— 

37 

36 

0,94 




Minimale 

4 

0 



— 

G 

5 ; 

0,9 







Alter 

von 70- 

-88 Jahren 



7 


Mittlere 

1 9 

5 



1 

IG 

14, G 

0,91 




Maximale 

! ii 

G 



— 

22 

21 

0,93 




Minimale 

1 G 

4 



— 

8 

7 

0,9 





Aus dieser Tabelle ersieht man weiter, dass das specifisehe Gewicht der 
Urüse sich mit der Altorszunahmc vermindert. Bis zu den 30er Jahren beträgt 
dasselbe noch mehr als eine Einheit und die Drüse sinkt im Wasser unter, nach 
den 30er Jahren beginnt sie zu schwimmen, obzwar bis zum 50. Jahre doch Fälle 
Vorkommen, wo sie noch specilisch schwerer als das Wasser ist. Nach dem 
50. Jahre schwimmt die Thymus in allen Fällen ohne Ausnahme an der Ober¬ 
fläche des Wassers. Die Verminderung des specifischen Gewichtes der Drüse deutet 
darauf hin, dass ein Theil ihres Gewebes durch eine andere specifisch leichtere 
Substanz, und zwar durch Fett ersetzt wurde. 

Das specifisehe Gewicht der Thymus lässt also bis zu einem gewissen Grade 
einen Schluss auf ihre Functionsfähigkcit zu. Die Drüse aus verwesten Leichen 
kann auch bei jugendlichen Individuen schwimmen, doch sinkt sie nach dem Aus¬ 
drücken unter, während eine verfettete Drüse nach dem Ausdrücken auf der Wasser¬ 
oberfläche bleibt. 

Bei Drüsen, die am Wasser schwimmen, findet man unter dem Mikroskop 
eine überwiegende Menge von Fettgewebe und nur wenig Lymphoidgewebe in Form 


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Original frum 

UNIVERSUM OF IOWA 






5fi I)r. Dwornitschenko, 

von zerstreuten kleinen Nestern vor. Das Mengenverhältniss dieser beiden Sub¬ 
stanzen pflegt allerdings je nach dem Alter verschieden za sein. Das Bindegewebe 
der Drüse wird also zum Theil in Fettgewebe umgewandelt, während dieLymphoid- 
olemente unter dem Drucke dieses Fettgewebes atrophiren. 

Die Form und der Umfang der Drüse bleiben dabei gewöhnlich bis in das 
hohe Greisenalter unverändert. 

Hinsichtlich der Beziehungen der Thymus zu dem Allgeraeinzustande des 
Organismus sei erwähnt, dass die Thymus bei kachektischen, geschwächten Per¬ 
sonen gewöhnlich auffallend klein ist, so z. B. hatte sie bei einem tuberculösen 
jungen Manne die Gestalt eines blassrothen, bis 10cm langen und bis 1cm breiten 
Strängchens. 

Der Rauminhalt dieser Drüse betrug 2,3 ccm, das Gewicht 3 g. 

Bei Erstickten und bei an Phosphorvergiftung Verstorbenen findet man in der 
Drüse oft reichliche Blutergüsse vor. Beim allgemeinen Status lymphaticus zeigt 
sich die Drüse«gewöhnlich etwas vergrössert. 

In der oben angeführten Tabelle fiel auch das Dimensionsmaximum der 
Drüse auf jene Leichen, bei welchen auch der übrige lymphatische Apparat merk¬ 
lich hypertrophisch war. Die Thymus kann jedoch auch ohne das Bestehen von 
lymphatischer Constitution vergrössert sein, ebenso wie letztere auch ohne beson¬ 
dere Vergrösserung der Drüse beobachtet wird. Letztere Fälle sind aber nicht 
häufig. 

Beim allgemeinen Status lymphaticus des Organismus behält die Thymus 
offenbar länger ihr grösseres specifisches Gewicht bei; doch trifft dies bei Weitem 
nicht immer zu, da der Status lymphaticus zur Fettbildung prädisponirt, und so 
zur Fettablagerung auch in der Gland. thyraus und zur Atrophie ihrer functioni- 
renden Elemente führen kann. 

Die Kapsel der Thymus besteht aus Bindegewebe und lässt sich, ob zwar 
sie dünne Faserchen in das Gewebe der Drüse selbst entsendet, im Allgemeinen 
doch leicht abtrennen. Mit zunehmendem Alter, d. i. bei den 40—50 jährigen 
Personen, unterliegt sie der Verfettung, lässt sich aber auch fernerhin leicht ab¬ 
trennen, solange die Fettablagerung nicht auch in den die Kapsel mit der Drüse 
verbindenden Fasern erfolgt, in welchem Falle die Abtrennung bedeutend er¬ 
schwert ist. Sobald aber auch das ganze Zellgewebe des Mediastinum, welches 
zum Theile mit dem Ueberzuge der Drüsen zusammenhängt, der Verfettung ver¬ 
fallen ist, dann ist die Isolirung der Gland. thymus ziemlich schwierig. 

Schliesslich wird die Isolirung absolut unmöglich, indem das mediastinale 
Fett ohne Grenzen in das der Drüse übergeht, was besonders bei faulen Leichen 
zutrifft. 

Lässt sich die Thymus immer in der Leiche finden? Man kann dieselbe stets 
in jedem Alter finden, wenn man sich an die oben beschriebene topographische 
Lage und hauptsächlich an die drei Markirungspunkte hält: Art. anonyma, Art. 
carotis communis sinistra und Vena anonyma sinistra. 

Die Drüse liegt zwischen den beiden Arterien oberhalb (d. i. vor) der Vene. 
Ls genügt eine dicke Sonde oder ein Glasstäbchen in die Vena anonyma sinistra 
hineinzulegen, um die Lage der Drüse zu bestimmen. Wenn man (bei liegender 
Leiche) dieses Stübchen ein wenig hinaufhebt, so hebt man gleichzeitig auch die 


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Die Thymus des Erwachsenen in gerichtlich-medicinischer Beziehung. 57 

Gland. thymus hinauf. In zweifelhaften Fällen muss man die mikroskopische 
Untersuchung in Anwendung bringen. 

Viel schwieriger ist es, die Drüse von den umgebenden Tbeilen zu isoliren. 
Mir ist dies in 16 Fällen nicht gelungen: in 10 Fällen in Folge der Verfettung 
der Drüse und ihrer Kapsel, wobei dieses Fett mit dem umgebenden Fette des 
vorderen Mediastinum vollkommen zusammengefallen war; in 4 Fällen in Folge 
von Fäulnissveränderungen der verfetteten Drüse; in 1 Fall in Folge Blut¬ 
ergusses in die Drüse (bei einer Phosphorvergiftung), wobei die Thymus und das 
umgebende Zellgewebe vom Blute gänzlich durchtränkt waren; schliesslich konnte 
in einem Falle die Gland. thymus in Folge der bedeutenden Sshwellung des Zell¬ 
gewebes des vorderen Mediastinums und der Drüse selbst nicht isolirt werden. 

Am leichtesten ist es, die oberen, gegen die beiden Hälften der Gland. thy- 
reoidea gerichteten Theile der Drüse zu präpariren. Sie behalten überhaupt länger 
nicht nur ihre Form, sondern auch ihre Structur und können auch leicht an der 
Richtung der Gefässe erkannt werden. 

Bezüglich der an die Thymus anstossenden Theile sei bemerkt, dass die 
Vena anonyma sinistra nicht immer zwischen der Drüse und der Aorta liegt, ein¬ 
mal befand sich dieselbe an der Vorderfläche der Gland. thymus in ihrer gewöhn¬ 
lichen quer-schiefen Lage von links und oben nach rechts und etwas nach unten; 
in dem zweiten Falle lag sie hinter dem linken und vor dem rechten Lappen, das 
heisst, sie ging aus der hinteren Fläche der Drüse auf die vordere über, die Ver¬ 
bindung zwischen den beiden Lappen durchbohrend. Auf diese Weise wurde eine 
ungewöhnliche Lage der Vena anonyma sinistra zwei Mal in 122 Fällen, das heisst 
in 1,6 pCt. aller Fälle beobachtet. 

Betreffs der Lage der Lungenarterie und der Lungenvenen ist zu bemerken, 
dass dieselben hinter der aufsteigenden Aorta, 4—5 cm oberhalb des oberen 
Randes der Vorkammer des Herzens liegen, ihre Aeste quer aussenden, äusserst 
dünnwandig sind und an der Leiche sich in zusammongefallenem Zustande be¬ 
finden. 

Wohl könnte die Thymus einen Druck auf diese Gefässe ausüben, doch ist 
dies bloss bei besonders günstigen Bedingungen möglich, wenn dieselben höher 
als gewöhnlich liegen, was manchmal vorkommt, und wenn die ganze Last der 
Thymus (wenn dieselbe z. B. über 50 g wiegt) durch den aufsteigenden Theil der 
Aoria auf diese Gefässe übertragen wird. 

Die Blutcirculation in der Lungenarterie kann durch diesen Druck kaum 
irgendwie beeinträchtigt werden, doch halte ich dies bei den Lungenvenen für 
möglich, da die „vis a tergo“ hier unbedeutend ist. 

Die Aorta selbst kann durch die Drüse nicht zusammengedrückt werden, 
wenigstens nicht bei Erwachsenen, da hierzu ein Gewicht von wenigstens 100 g 
bei der Leiche — beim Lebenden wird es ein viel grösseres sein -- nothwendig ist. 

Auch die Luftröhre kann gewiss durch diesen Druck nicht leiden: hier sind, 
um nur eine leichte Verengerung zu bewirken, wenigstens 200 g nöthig. 

Die Vena anonyma sinistra kann wohl leicht durch die Drüse an die vordere 
Aortenwand gedrängt werden. 

Die Vena cava superior kann bloss ausnahmsweise, wenn sie sich unter der 
Drüse befindet, von derselben zusammengedriiekt werden; dasselbe gilt auch von 
der Vena anonyma dextra. 


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58 


Ih\ P wo rn i tsch enko, 


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Damit der Druck auf die oben genannten Gefässe und insbesondere auf die 
Vena anonyma sinistra ernste Folgen und etwa gar den Tod verursachen könne, 
müsste er nothwendigerweise rasch und plötzlich zur Wirkung kommen, wenn er 
sich aber nach und nach entwickelt, wie dies z. B. bei den Geschwülsten in dem 
vorderen Mediastinum zu sein pflegt, dann ereignen sich, wie dies die Erfahrung 
lehrt, keine besonderen üblen Zufälle und Fersonen mit einer solchen pathologisch 
veränderten Thymus, die über 60 g wiegen kann, leben oft recht lange. 

Das „Asthma thymicum“ der Kinder, wie es bis vor Friedleben’s 1 ) 
Untersuchungen angenommen wurde, und dessen Bestehen auch heute noch von 
mehreren Seiten behauptet wird, hat beim Erwachsenen wohl kein Analogon. 

II. 

Nordmann 2 ), Gluck 3 ), v.Recklinghausen 4 5 ), A. Paltauf 6 ) und von 
Kundrat 6 ) haben räthselhafte, plötzliche Todesfälle Erwachsener mitgetheilt, in 
denen ausser einer persistenten und manchmal auch vergrösserten Gland. thymus 
und einem allgemeinen Status lymphaticus nichts Besonderes in der Leicho ge¬ 
funden wurde. 

Der Tod trat in diesen Fällen unter verschiedenen Umständen ein, so nach 
der Chloroformnarkose (20 Fälle gesammelt von Kundrat) insbesondere nach 
Operationen in der Halsgegend (Gluck) oder nach dem Bade (Nordmann, von 
Recklinghausen). 

Bei der Section solcher Leichen fand man gewöhnlich eine mehr oder minder 
starke Gesichtscyanose, Hyperämie des Gehirns und der Gehirnhäute, flüssiges 
Blut in den Schädelvenen, Halsvenen und im Herzen, dünnwandige und enge 
Arterien, auch geringes Lumen der Aorta, merklich hyperplastischc Lymphdrüsen, 
speciell Hyperplasie der Drüsen an der Zungenbasis, im Schlunde und am Kehl¬ 
deckel, Vergrösserung der Mandeln, der Gland. thyreoidea, der Gland. thymus, 
der Milz, der Peyer’schen Drüsen und der Solitärfollikel des Darmcanales. Der 
Herzmuskel zeigte in solchen Fällen meist weder makro- noch mikroskopische 
Veränderungen, welche die Annahme einer einfachen Herzparalyse rechtfertigen 
konnten; auch die übrigen Organe zeigten sich selbst bei sorgfältigster Unter¬ 
suchung vollkommen gesund, nur in manchen Fällen wurde eine Schwellung der 
Lunge und stärkere Ausdehnung der dünnwandigen Herzräume beobachtet. 


1) Die Physiologie der Thymusdrüse in Gesundheit und Krankheit. Frank¬ 
furt 1858. 

2) A. Nordmann, Ueber die Beziehungen der Thymusdrüse zu plötzlichen 
Todesfällen im Wasser. Corresp.-Bl. f. Schweiz. Aerzte. XIX. 1880. S. 202. 

6) Prof. Gluck, Thymuspersistenz bei Struma hyperplastica. Berl. klin. 
Wochensohr. 1894. No. 29. S. 670. 

4) siehe A. Nordmann, 1. c. S. 205. 

5) Dr. A. Pal tauf, Ueber die Beziehungen der Thymus zum plötzlichen 
Tod. Sep.-Abdr. aus der Wiener klin. Wochenschr. 1889, No. 46, u. 1890, No. 9. 

6) Dr. R. v. Kundrat, Zur Kenntniss des L'hloroformtodes. Wiener klin. 
Wochenschr. 1895. No. 1—4. 


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Die Thymus des Erwachsenen in gcrichtlich-medicinischer Beziehung. 50 


Diesem letzteren Umstande schreibt Arnold Paltanf eine grosse Bedeutung, 
als Todesursache zu. Er sagt: 

„Fasst man die gemeinsamen pathologischen Veränderungen aus den ange¬ 
führten Sectionsbefunden zusammen und versucht man, an der Hand dieser, eine 
pathologisch-anatomische Diagnose zu stellen, so hätten wir festzustellen: Ver- 
grüsserung der Tonsillen, Darmfollikel, ausgebreiteter Lymphdrüsencomplexe, 
der Follikel des Zungengrundes, der Milz und endlich das Vorhandensein einer 
verschieden grossen Thymusdrüse zu einer Zeit, in der diese sonst schon ganz 
geschwunden zu sein pflegt. Hierzu wäre noch in meinen Fällen eine zwar stets, 
aber in verschiedenen Graden ausgebildete Verengerung der Aorta beizufügen. In 
diesen Veränderungen zusammen mit der acuten Herzerweiterung ist zweifellos die 
Todesursache zu suchen (1. c. S. 18).“ 

Gluck ist offenbar geneigt, in solchen Fällen einen Druck seitens der ver- 
grösserten Thymus auf Gefässe und Nerven zuzugegeben. Und in der That 
liessen sich denn nicht wenigstens einige Fälle z.B. Gluck’s und Nordmann’s 
von diesem rein anatomischen Standpunkte aus erklären? Nach meiner Ansicht ja. 

In dem Falle Gluck’s handelt es sich um ein 16jähriges Mädchen, welches 
5 Minuten nach der Operation (Exstirpatio strumae) plötzlich unter Erscheinungen 
der Cyanose, Dyspnoe und der acuten Lungenschwellung gestorben war. 

Bei der Section fand man eine Thymus von 55 g Gewicht. 

Zur Erklärung dieses Falles wollen wir erinnern, dass die Gland. thymus 
durch Gefässe mit der Gland. thyreoidea communicirt, und dass die Unterbindung 
dieser bei einer Operation an der Thyreoidea eine Aenderung der Blutcirculation 
in der Gland. thymus zur Folge haben muss, da nun die grosse Art. thyreoidea 
inferior den grössten Theil ihres Blotes dahin senden wird. 

Ferner erinnern wir daran, dass hinter der Gland. thymus, zwischen ihr und 
der Aorta die dünnwandige Vena anonyma sinistra, in welcher das Blut bei höchst 
schwacher „vis a tergo“ circulirt, quer verläuft. 

Bei solchen Bedingungen genügt insbesondere, wenn der Kranke auf dem 
Rücken liegt, eine geringe Vergrösserung des Gewichtes und des Umfanges der 
Gland. thymus, z. B. in Folge einer acuten Hyperämie, damit die Vena anonyma 
sinistra an die überhaupt nicht nachgiebige Aortenwand (in welcher der innere 
Blutdruck bekanntlich sehr gross ist) angedrückt werde. Da der grösste Theil des 
venösen Blutes der Gland. thymus in die Vena anonyma sinistra sich ergiesst, 
kann der auf diese letztere ausgeübte Druck eine Rückstauung des Blutes nach 
der Thymus hervorrufen. 

Wenn man dann noch einen Einfluss des Druckes auf die Circulation in den 
Yv. pulmonal, annimmt, was bei deren Lage und bei der unbedeutenden „vis a 
tergo“ in denselben nicht ganz unmöglich erscheint, wird man sowohl die starke 
Cyanose, die Dyspnoe, die Lungenschwellung und wohl auch den raschen Tod ganz 
begreiflich finden. 

In dem Falle Nordmann’s handelte es sich um einen 20jährigen Rekruten, 
welcher nach dem Baden aus dem Wasser heraustrat, Fieberschauer empfand, er¬ 
blasste, einige langgedehnte Seufzer that und zu Boden sank; das Gesicht wurde 
rasch cyanotisch, der Puls und die Athmung hörten auf. Unverzüglich wurden 
Wiederbelebungsversuche vorgenommen; der Soldat machte noch zwei bis drei 
Alhemzüge und starb trotz Anwendung aller erprobten Mittel. 


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Dr. Dwornitschenko, 


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Bei der Section fand man unter anderem: 

„Kräftig gebaute Leiche mit ausgesprochener Todtenstarrc und zahlreichen 
Todtenflecken auf dem Kücken. Gesicht hochgradig cyanotisch. Sinus der Dura 
mater und Venen der Pia mit flüssigem Blute gefüllt. Die Gehirnsubstanz ist 
blutreich. Beide Lungen massig rctrahirt und vollständig frei, in allen Theilen 
lufthaltig, blutreich, stark ödematüs. Bronchien mit wenig schleimigem Secret, 
Schleimhaut hyperämisch. Herz von mittlerer Grösse. Muskulatur desselben braun- 
roth, von guter Consistenz, keine Zeichen von Verfettung darbietend. Alle 4 Herz¬ 
höhlen enthalten nur flüssiges Blut, und zwar die rechtsseitigen eine grössere 
Menge als die links gelegenen; nirgends sind Gerinnsel zu entdecken. Auch die 
grossen Venenstämme der Brusthöhle sind mit reichlichem flüssigen Blute gefüllt. 
Nach Entfernung des Sternums erscheint der Raum zwischen den Claviculae und 
den oberen Rippen von der bestehen gebliebenen, mehr als faustgrossen, ziemlich 
median gelegenen, etwas gelappten Thymusdrüse ausgefüllt. Dieselbe erstreckt 
sich nach oben bis wenig über das Jugulum, nach unten überragt sie etwa um 
Fingerbreite den oberen Rand des Herzbeutels. Sie weist auf ihrem Durchschnitte 
eine dunkelrothe, hyperämische Färbung, aber nirgends Blutergüsse auf; ihre 
Consistenz erscheint nicht vermehrt; auf Durchschnitten lassen sich einzelne durch 
Septa getrennte Drüsenabschnitte deutlich erkennen. Zungengrund mit stark ent¬ 
wickelten Follikeln. Tonsillen vergrössert. Trachea mit hyperämischer Schleim¬ 
haut. Die Schilddrüse ist in allen 3 Abschnitten vergrössert, die beiden Seiten¬ 
lappen sind jeder etwa apfelgross. Venen der seitlichen Halsgegend mit dunkel¬ 
flüssigem Blut gefüllt. Milz etwas vergrössert; Follikel z. Th. deutlich sichtbar. 
An den anderen Organen keine Abnormitäten. 

Auch diesen Fall kann man aus dem Zusammengedrücktwerden der Vena 
anonyrna sinistra durch die vergrösserte Drüse erklären; es ist möglich, dass auch 
die Vv. pulmonales und die Vena cava superior, wenn sich dieselben ausnahms¬ 
weise unter der Drüse befanden, von derselben gedrückt wurden. 

Eine solche Erklärung ist überhaupt zulässig, wenn wir in der Leiche eines 
jungen Menschen mit starker Gesiehtscyanose, starker Füllung der Venen des Ober¬ 
körpers, des Gehirnes und der Hirnhäute mit flüssigem Blute, eine vergrösserte 
hyperämische Gland. thyinus bei Fehlen jeder pathologischen Veränderung in den 
inneren Organen, hauptsächlich im Herzen und in den Gefässen finden, wenn jede 
andere Todesursache ausgeschlossen ist, und wenn zugleich die Umstände des 
Falles für die Annahme einer acuten Hyperämie, einer acuten Blutüberfüllung der 
Gland. thymus ursächliche Momente ergeben. 

Es unterliegt keinem Zweifel, dass sich dies bei Erwachsenen höchst selten 
ereignet, während es bei Kindern gewiss keine besondere Seltenheit bildet, wovon 
man sich leicht bei Durchsicht der in der Literatur mitgetheilten Seetionsprotokolle 
überzeugen kann; es handelt sich da um Fälle, in welchen keine ausgesprochene 
Todesursache, wohl aber eine hypertrophische Thymus gefunden wurde. 

Wenn man in der Leiche eine deutlich ausgesprochene Hypertrophie des 
Lymphapparates 1 ), die Gland. thymus von normalen Dimensionen und das Herz 

1) Selbstverständlich wird man sich hüten müssen, eine acute Schwellung 
der Lymphdrüsen, wie sie bei acuten Infectionskrankheiten vorkommt und wie ich 


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Die Thymus des Erwachsenen in gerichtlich-medicinigcher Beziehung. 61 


im Zustande der Paralyse constatirt, so bleibt beim Fehlen jeglicher anderen 
Todesursache nur die Annahme übrig, dass der Status lyrnphaticus als solcher die 
Herzparalyse hervorgerufen habe, namentlich wenn hierzu einigermaassen günstige 
äussere Bedingungen vorhanden waren. 

Schliesslich erachte ich es als meine Pflicht, dem Herrn Holrath Professor 
bd. v. Hofmann meinen tiegefühlten Dank für das mir übertragene Thema und 
für die Bewilligung, in seinem Institute arbeiten zu dürfen, auszudrücken und 
seinen Assistenten, dem Herrn Docent Dr. Alb in II aber da und Herrn Dr. Max 
Richter, für ihr collegiales Entgegenkommen zu danken. 

sie bei Influenza sah, mit einem chronisch hypertrophischen Zustande derselben 
zu verwechseln. 


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Trauma und Carcinom 


Von 

Kreisphysikus Dr. H. Berger in Neustadt a. Rbg. (Hannover). 


Ursächlich spielt das Trauma, man kann wohl sagen, bei den 
meisten Leiden in der Anamnese die grösste Rolle, und cs liegt ja 
auch sehr nahe, dass dem nach Ursachen suchenden Kranken irgend 
eine Trauma im weitesten Sinne, längere oder kürzere Zeit voraus¬ 
gehend, — und wer hätte ein solches nicht in der Anamnese auf¬ 
zuweisen — als das gesuchte Etwas erscheint. So wird in neuerer 
Zeit im Anschluss an Trauma berichtet unter anderen über Akrome¬ 
galie 1 ), Diabetes 2 ), Meningitis 3 ), Myelitis 4 ), Pneumonie 5 ), Magenge¬ 
schwür 6 ), multiple Sclerosc 7 ), Paralyse 8 ), Paralysis agitans 0 ). 

Und dieser Zusammenhang zwischen Trauma und Krankheit hat 
besonders bei der jetzigen Gesetzgebung eine grosse Wichtigkeit er¬ 
langt, da es sehr im Interesse des Einzelnen liegt, eine Erwerbsun¬ 
fähigkeit bezugsweise einen Todesfall auf einen Unfall zurückführen 
zu können, für welchen Entschädigung geleistet werden muss. 

1) Von Unverricht, Münch, nied. Wochenschr. 1805. 

2) Von W. Asher, Diese Vierteljahrsschr. 1894, 11.4, u. 1895, H. 1. Von 
Brühmer, Aerztl. Sachverst. Ztg. 1895. No. 14. 

3) Von Becker, Ebenda 1895. No. 9. 

4) Von Buschan, Ebenda 1895. No. 21. 

5) Von Granier, Ebenda 1895. No. 13. 

6) Von P. Müller, Inaug.-Diss. Breslau 1894. 

7) Von H. Oppenheim, Berl. klin. Wochenschr. 1898. No. 9. (Nur im 
Allgemeinen.) 

8) Von E. Thoma, Allgem. Zeitschr. f. Psychiat. 1896. No. 6. (Nur im 
Allgemeinen.) 

9) Von Becker, Aerztl. Sachverst. Ztg. 1895. No. 3. 


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Trauma und Carcinom. 


63 


Schilling 1 ) hebt unter den Folgen von Traumen drei Gruppen 
von Krankheiten hervor, die traumatischen Nervenstörungen, die trau¬ 
matische Tuberculose und die traumatischen Neoplasmen. 

Das Dunkel, in welches die Aetiologie der Geschwülste speciell ge¬ 
hüllt ist, ist auch heute in unserer bacteriologischen Aera noch nicht 
gelichtet, und selbst, wenn die Bacteriologie dazu im Stande wäre, so 
bliebe doch daneben noch das Trauma für die Aetiologie von nicht 
zu unterschätzender Bedeutung, wie dies ja auch für die bakteriologisch 
geklärte Tuberculose der Fall ist 2 ). Ein mir in meiner Praxis vor- 
gekonnnener Fall, welcher zur schiedsrichterlichen Entscheidung ge¬ 
langte, und 3 mir von dem Reichsversicherungsamt in liebenswürdigster 
Weise zur Verfügung gestellte Entscheidungen, veranlassten mich zu 
genauerem Studium über den Zusammenhang zwischen Trauma und 
Carcinom. 

Während früher der Begriff Carcinom für dio verschiedensten bösartigen Ge¬ 
schwülste gebraucht wurde, ist das Carcinom nach den jetzt zumeist Geltung 
habenden Anschauungen von Thiersch 3 ) und Waldeyer 4 ) eine von den epi¬ 
thelialen Deck- und Drüsenzellen ausgehende Neubildung, welche den normalen 
Gewebstypus der primär erkrankten Körperstelle zerstört, durch schrankenloses 
peripheres Wachsthum, durch Epithelmetastasen, vor allem mittels der Lymph- 
bahnen, seltener durch die Blutgefässe charakterisirt ist, und in der grössten 
Mehrzahl der Fälle unter den Erscheinungen der Allgemeinintoxication tödtlich 
endigt 5 ). 

Thiersch und Waldeyer sind der Ansicht, dass die Carcinomzellen nur 
aus den Epithelialzellen entstehen, während Virchow 6 ) und Gussenbauer 7 ) 
behaupten, dass das Carcinom durch Wucherung und Differenzirung der indiffe¬ 
renten Bindegewebszellen entstehe. Gussenbauer bezeichnet als Träger des 
Seminiums nicht die Zellen der primären Neubildung, sondern corpusculäre Ele- 


1) Trauma und Unfallversicherungsgesetz. Deutsche Medic.-Zeitung. 1895. 
No. 66. 

2) Guder, Ueber den Zusammenhang zwischen Trauma und Tuberkulose. 
Diese Vierteljahrsschr. 1894, H. 2 u. ff. — Schäffer, Trauma und Tuberkulose. 
Diese Vierteljahrsschr. 1895, H. 3. — Wagner, Ein Fall von Lungenschwind¬ 
sucht, dessen Entstehung ursächlich mit einer durch Trauma hervorgerufenen 
Lokaltuberkulose zusammenhängt. Diese Vierteljahrsschr. 1895, H. 4. 

3) Der Epithelialkrebs, namentlich der Haut. 1865. 

4) Virchow’s Archiv. XL. S. 470. LV. S. 67. 

5) Ti 11 man ns, Die Aetiologie und Histogenese des Carcinoms. Vortrag 
auf dem 3. Sitzungstage des 24. Congresses der Deutschen Gesellsch. f. Chirurgie. 
(Verhandl. d. Deutschen Gesellsch. f. Chirurgie. Berlin 1895.) 

6) Die krankhaften Geschwülste. 

7) Die allgemeine chirurgische Pathologie und Therapie von Billroth und 
W in i wart er. Berlin 1887, 


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Dr. Berger, 


mente, welche nicht selbst zu Geschwulstelementen werden, sondern nur inficirend 
wirken. Klebs 1 ) behauptet, dass die von einer epithelialen Zelle ausgehende 
Careinomzelle eine nicht epitheliale Zelle epithelial inliciren könne. 

Das Carcinom ist eine atypische Wucherung epithelialer Zellen, aber nicht 
jede atypische Wucherung ist ein Carcinom. Bei der Carcinombildung beschränken 
sich die Wucherungen des Epithels nicht auf die Bedeckung freier Flächen, son¬ 
dern sie führen im Gegentheil zu einer Invasion in das angrenzende Bindesub¬ 
stanzgewebe 2 ). Das Carcinomgewebc liegt als Parenchym in einem zellen- und 
genussreichen bindegewebigen Stroma, welches das Wachsen des Carcinoms er¬ 
leichtert, Ausläufer des Stromas und Reste des Parenchyms liegen bunt durch¬ 
einander. Atypische Wucherungen finden sich auch in Wunden und subepithe¬ 
lial gelegenen Granulationen, z. B. bei Lupusgeschwüren, aber sie sind noch kein 
Carcinom. Das Carcinom wächst selbstständig, unaufhaltsam, discontinuirlich 
und wirkt destruirend, die Carcinomzelle hat gleichsam die Fesseln der Epithel¬ 
zelle des Mutterbodens gebrochen, das Carcinomgewebe wächst und zerstört das 
sich ihm in den Weg stellende andere Gewebe, welches an der Grenze gegen das 
Carcinom in entzündlicher lteaction sich befindet. Dieselben Merkmale zeigen die 
Metastasen, für deren Entstehung ausser der Verschleppung keimfähigen Materials 
auch das Verhalten des Gewebes an dem betreffenden Orte wichtig ist, so ist das 
Carcinom in Leber und Lymphdrüsen sehr häufig, dagegen in. der Milz sehr selten. 

Es wurden auch verschiedene Krebse an demselben Individuum beobachtet, in 
welchemFalle dann der eine nicht dieMetastase des anderen sein kann, so berichtet 
0. Israel 3 ) über ein gleichzeitiges Carcinom der Gallenblase mit wesentlich cy- 
lindrischen Zellen und ein die an diesem Organ ungewöhnlichen Erscheinungen 
des Cancroids aufweisendes Carcinom dos Pankreas an demselben Individuum. 

Zuzugeben ist übrigens, dass aus einer einfachen atypischen Epithel¬ 
wucherung in Folge mechanischer und chemischer Insulte ein Carcinom entstehen 
kann 4 ). 

Hierher gehören die Uebergangsstufen des Adenoms, Adeno-Carcinoms, 
Adeno-Sarcoms und des Alveolarsarcoms, welches vom Carcinom gar nicht zu 
trennen ist. 

Ueber die Aetiologio des Carcinoms ist eine sehr umfangreiche Literatur vor¬ 
handen, so dass es nicht möglich ist, alles zu berücksichtigen. 

Cohnheim 5 ) führt alle Geschwülste auf eine Persistenz embryonaler An¬ 
lagen zurürck, diese erhalten sich als Zellen oderZellenconglomerate in einem Zu¬ 
stande, welcher der zeilig-embryonalen Anlage des betreffenden Gewebes entspricht, 

1) Handbuch der pathologischen Anatomie. 1869—76. 

2) Ziegler, Lehrbuch der allgem. und spec. pathol. Anatomie. 6. Aull. 
Jena 1889. 

3) Berl. med. Gesellsch. 18. Dec. 1895. 

4) Karpinski, Casuistische Beiträge zur Erörterung der Beziehungen zwi¬ 
schen Lupus und Carcinom. Inaug.-Diss. Greifswald 1891. (2 Fälle von Carci¬ 
nombildung in Lupusnarben.) — Ohloff, Ueber Epithelmetaplasien und Krebs¬ 
bildung an der Schleimhaut von Gallenblase und Trachea. Inaug.-Diss. Greifs¬ 
wald 1891. 

5) Vorlesungen über allgemeine Pathologie. I. Berlin 1882. 


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Trauma und Carcinom. 


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diese Zellen haben an den Umbildungen, welche die Ausbildung des Gewebes mit 
sich brachte, nicht Theil genommen. 

Nimmt man die Cohnheim’sche Hypothese an, so kann nun die weitere 
Entwickelung des Carcinoms aus den embryonalen Zellkeimen entweder von selbst 
oder aus gewissen prädisponirenden Ursachen erfolgen. 

Eis sind in dieser Richtung auch experimentelle Versuche gemacht worden, 
welche aber misslangen. Sehr für Cohn heim spricht der Umstand, das Prädilec- 
tionsstellen des Carcinoms die Orte sind, wo Einstülpungen des äussern Keim¬ 
blattes sich befinden oder wo das äussere Keimblatt mit einen anderen zusammen- 
trifft; da kommt es leicht zu Unregelmässigkeiten und Abschnürungen eines Epithel¬ 
haufens. So erklärt sich wohl in den meisten Fällen das Adenocarcinom bei 

i 

jugendlichen Personen. 

Ribbert 1 ) sucht das wesentliche nicht in dem embryonalen Character der 
Zellen, sondern in der Losrcissung der Zellen aus ihrem natürlichen Zusammen¬ 
hänge. 

In ihrem organischen Zusammenhänge fügt sich die Epithelzelle in das 
Ganze ein, aus ihm losgelöst wächst sie in’s Unbegrenzte. Die Epithelzelle muss, 
soll sie Epithelzelle bleiben, die gewöhnliche Anordnung neben Epithelicn und 
das gewöhnliche Verhältnis zu den anderen Geweben haben. 

Nach demselben geht der Beginn der Carcinombildung gar nicht vorn Epithel 
aus, sondern vom subepithelialen Bindegewebe, dessen Zellen wachsen zwischen 
die Epithelzellen hinein und trennen sie aus ihrem organischen Zusammenhänge, 
und erst in das zellen- und gefässreiche Bindegewebe verlagert, wuchern die 
Epithelion weiter, von der Oberfläche sind sie abgeschnitten, sie wachsen in der 
Richtung des geringsten Widerstandes weiter, in die Gewebsspalten, Lyraphbahnen 
(daher die Verschleppung durch diese), Gefässe und Nerven entlang. 

Aber Hauser 2 ) konnte im Anfangsstadium der Carcinombildung nicht 
immer die Bildung eines subepithelialen Granulationsgewebes beobachten, er hält 
auch die Absprengung der Zellen aus ihrem organischen Zusammenhänge nicht 
für massgebend, und sieht dies bewiesen durch die selbstständige carcinomatöse 
Entzündung der Epithelien bei Prüsencarcinomen der Mamma und beim Magen¬ 
krebs, hier kann man die Membrana propria erhalten sehen. 

Jedenfalls ist der Cohnheim’schen Theorie keine allgemeine Giltigkeit 
beizumessen, während sie für manche Geschwülste (Dermoide, Rhabdomyomc) zu¬ 
zutreffen scheint. 

Die Histogenese des Carcinoms ist keine einheitliche, der Beginn kann so¬ 
wohl vom Epithel als vom Bindegewebe ausgehen, je nachdem die auslösende Ur¬ 
sache dieses oder jenes trifft. Dies wäre an und für sich verständlich, aber es 
würde daraus doch nur immer eine atypische Anordnung resultiren, nicht eine 
atypische, destruirende Wucherung, die Aenderung der Epithelzelle in ihrem mor¬ 
phologischen und biologischen Charakter 3 ) ist das Unerklärliche. 


1) Deutsche med. Wochenschr. 1895. No. 1 u. ff. 

2) Histogenese des Krebses. Virchow’s Archiv. 1894. No. 188. S. 482. 

3) Hansemann, Studien über die Specificität, den Altruismus und die Ana¬ 
plasie der Zellen mit besonderer Berücksichtigung der Geschwülste. Berlin 1893. 

Vierteljahrsschr. f. ger. Med. Dritte Folge. XIV. 1. 5 


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Pr. Bor «rer, 


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06 


Es lajz sehr nahe, die Ursaclm dieser Entartung der epithelialen Mutterzelle 
in drin Einfluss von Bacterien zu suchen. 

Schill 1 ) berichtete über den regelmässigen Befund von Doppelstäbchen 
in carcinoniatösen und sarcomatösen Geweben, er rechnete sie zu den Fadenpilzen. 

Seheur len 2 j beschrieb die erfolgreiche Züchtung des Carcinomerregers auf 
Kartoffeln und Gelatineplatten, und demonstrirte einen sporenbildenden Bacillus 
im 'Verein für innere Mediein in Berlin 3 ). 

Petit 4 ) nimmt die Priorität derKntdeekung derCareinomerreger für Rappin 
gegen Sehe ur len in Anspruch, er berichtet über die Impfung von Carcinomgc- 
webe und Züchtung des Erregers daraus. 

Weiter berichten über Krebsparasiten Adamkiewicz 5 ), d’Arcy Power 6 ), 
Cattle Ctt. and .1. Miliar 7 ), M. Danzac 8 ), L. Pfeiffer 9 ), Soudake- 
witsch 10 ), Foa 11 ), Korotneff 12 ) und Andere. 

Darier 13 ) berichtete iiberSporozoen als Krebserreger, gleichzeitig Thoma 14 ) 
über parasitäre Organismen in den Kernen der Epithelzellen des Careinoms. Feber 
die ätiologische Bedeutung dieser intracellularen Einschlüsse ist viel hin und her 
gestritten worden, die einen hielten sie für Sporozoen, die anderen für Degenera¬ 
tionserscheinungen der Zellen und Zellkerne. 

Adler 15 ) berichtet bereits von 84 Abhandlungen über die parasitäre Natur 
der Zelleinschlüsse besonders bei Careinomen. 

II. Grasset 16 ) recapitulirt die Miltheilungen der letzten 6 Jahre, und kommt 
zu dem Schluss, dass irgend welch’ positiver Beweis für die parasitäre Natur des 
Krebses nicht erbracht sei. 

1) Berl. klm. Wochenschr. 1887. S. 1034. 

2) Deutsche med. Wochenschr. 1887. No. 48. 

3) Berl. klin. Wochenschr. 1887. S. 935. 

4) Le microhe du cancer. L’union med. No. lf)2. 1887. 

5) Weitere Beobachtungen über die bösartigen Geschwülste. Wiener med. 
Blätter. 1891. No. 4, 12, 30, und Wiener Sitzungsberichte. 1891. No. 5 u. 7. 
Fntersuchungen über den Krebs und das Prineip seiner Behandlung. Wien 1893. 

6) Some effects of chronic irritation upon living tissues etc. Brit. med.Journ. 

1893. X. 

7) On certain gregarinidae and the possiblc connexion etc. The Lancet. 

1894. XL 

8) Cancer et psorospermies. Gaz. hebdorn. de mtfd. et de Chirurg. 1893. 
No. 42. 

9) Untersuchungen über den Krebs. Jena 1893. 

10) Annales de Pinstitnt Pasteur. 1892. No. 8. 

11) Centralbl. f. Bacteriol. u. Parasitenkunde. 1892. XII. 6, und II Poli- 
clinico. 1894. 

12) Untersuchungen über den Parasitismus des Careinoms. Berlin 1893. 

13) Soc. de biol. de Paris. Avril 1889. 

14) Fortschr. d. Mediein. 1889. No. 11. 

15) American Journ. January 1894. 

10) Gaz. d'höpiteanx. 1894. VIII. Le parasitisme dans le cancer. 


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Trauma und Carcinom. 


67 


Francesco Sani'clicc 1 ) und unter ihm Binaghi 2 ) kommen zu dem 
Schlüsse, dass Blastomyceten die wahren specifischen Erreger der Epitheliome 
sind. Ersterer erklärt die Thatsache, dass die in don bösartigen Geschwülsten von 
Vielen entdeckten Formen mehr zu den Coccidien als zu den Blastomyceten ge¬ 
rechnet wurden, dadurch, dass man eben gar nicht wusste, dass es pathogene 
Blastomyceten giebt, alle Beobachter hätten die wahren Parasiten der bösartigen 
Geschwülste gesehen, aber bei der Einreihung derselben in das Reich dor Orga¬ 
nismen lrrthümer begangen. Er ist der Ueberzeugung, dass man aus den bös¬ 
artigen Geschwülsten des Menschen wird viele Bastomyceten isoliren können, 
welche, Thieren, die fähig sind, ebenfalls bösartige Geschwüre zu bekommen, ein¬ 
geimpft, ohne Wirkung sein werden, man muss erst empfängliche und prädispo- 
nirte Thiere finden. 

In den Arbeiten der beiden Autoren ist die einschlägige Literatur ausführ¬ 
lich verwerthct. 

Aehnliche Befunde wie Sanfelice erhoben Roncali 3 ), Albarran 4 ), 
Bussell 5 ), Kahane 6 ), Aievoli 7 ) und viele Andere, welche nicht alle hier an¬ 
geführt werden können. 

Jenen Umstand, dass verschieden geformte Zelleinschlüsse beobachtet worden 
sind, versucht Sawtschenko 8 ) zu erklären, er behauptet, dass es möglich sei, 
einen ununterbrochen fortlaufenden Zusammenhang zwischen den einzelnen ge¬ 
fundenen Formen festzustellen. 

Der endgültige Beweis, dass die als Sporozoen beschriebenen Gebilde Para¬ 
siten sind, fehlt; sie sind wahrscheinlich Zellen wie andere Zellen, und wonn die 
Farbenreactionen andere sind als bei lebenden Zellen, so ist der Grund dafür viel¬ 
leicht der, dass sie todt sind. 

Die angeblich beobachteten Lebenserscheinungen (analog den Malaria-Plas¬ 
modien) der fraglichen Carcinom-Parasiten sind noch nicht sicher festgestellt. Ein 
Beweis durch Isolirung und Uebertragung von Reinkulturen ist bis jetzt nicht er¬ 
bracht, wie das übrigens bei den Plasmodien der Malaria auch noch nicht erwiesen 
ist und überhaupt bei den Coccidien sehr schwer zu sein scheint. Eine Ueber- 
tragbarkeit ist ja allerdings erwiesen, aber nur als Autoinoculation schon vordem 


1) Ueber die pathogene Wirkung der Blastomyceten. 3 Abhandlungen. Zeit¬ 
schrift f. Hygiene u. Infectionskrankh. XXI. 1, 3. XXII. 1. 

2) Ueber das Vorkommen von Blastomyceten in don Epitheliomen und ihre 
parasitäre Bedeutung. Ebenda. XXIII. 2. 

3) Sopra particolari parassiti rinvenuti in un adenocarcinoma (papilloma 
infettante) della ghiandola ovarica. II Policlinico. 1895. 

4) Sur les tumeures epitheliales contenant des psorospermies. Compt. rend. 
de la Soc. de Biolog. 1889. 

5) An address on a characteristic organism of cancer. Brit. med. Journ. 1890. 

6 ) Prösence d’une levure dans les cancers. La Semaine Müd. 1895. 

7) Osservazioni preliminari sulla presenza dei blastomiceti nei neoplasmi. 
11 Policlinico. 1895. 

8) Im 4. Heft der Bibliotheca medica. Abth. D, 11. Dermatologie und Sy- 
philidologie. H. 1—5. Von Neisser. Cassel 1894/95. 

5* 


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Dr. Berger, 


Carcinomkranker, und auch diese Beobachtung erstreckt sich nur auf einzelne Fälle 
von Mensch zu Mensch oder von Thier zu Thier derselben Species (Hund 1 ), Hatte, 
Maus). Zu einem verneinenden Resultat bezüglich der Krebsparasiten gelangt 
auch Giuseppe Pianesc 2 ). 

Die Entstehung multipler C'arcinome an demselben Menschen ist beobachtet 
worden durch Contact oder Autoinoculation, so wird berichtet von IJebertragungen 
von der Unterlippe auf die Oberlippe 3 ), von einer Schamlippe auf die andere 4 ), 
vom Handrücken auf den Augenwinkel durch häufiges Wischen 5 ), von den oberen 
Luft- oder Verdauungswegen auf die tieferen Theile. 

Es sind ferner Uebertragungen eines Carcinoma mammae auf die andere 
Mamma durch Implantation beobachtet, endlich Impfcarcinome bei Operationen 
durch Instrumente oder Hände. Als Ausnahme ist das Zusammentreffen von Pcnis- 
carcinom und Uteruscarcinom bei einem Ehepaar zu betrachten. 

Soviel ist sicher, dass das Carcinom nicht contagiös im gewöhnlichen Sinne 
ist; wenn der Träger eines Carcinoms selbst sich erfolgreich impfen kann, so be¬ 
weist das nur, dass eine besondere Disposition nothwendig ist, wie sie eben der 
Krebskranke selbst hat. Bewiesen wird nur die erfolgreiche Gewebstransplantation, 
die parasitäre Natur des Krebses ist jedenfalls bisher nicht klargestellt. 

Sehr gegen die mikroparasitäre Ursache des Krebses spricht der Umstand, 
dass alle durch Spaltpilze erzeugten Neubildungen histologisch als Granulations¬ 
gewebe sich dokumentiren, während in den Metastasen des Krebses die epithelialen 
Zellen des primären Krebses sich finden, unerklärlich bleibt nur die Aendcrung 
in dem Charakter der Epithelialzellen. 

Bei dieser Unklarheit über die eigentliche Ursache des Carcinoms liegt heut¬ 
zutage das Hauptgewicht in den prädisponirendon, auslösenden Momenten und 
da scheint denn Einigkeit darüber zu herrschen, dass den traumatischen Einwir¬ 
kungen eine grosse Bedeutung beizumessen ist. 

Cohn heim behauptet, anschliessend an seine Hypothese, weiter, dass Trau-’, 
men wohl eine gutartige in eine bösartige Geschwulst umwandeln, aber an siel* 
keine Geschwulst erzeugen können. 

Billroth 6 ) glaubt nicht, dass mechanische und chemische Einwirkungen 
für die lokale Disposition massgebend sind, dazu gehört seiner Ansicht nach vor 
allen Dingen eine specilische Disposition des Individuums. 


1) Geissler, Verhandl. der Deutschen Gesellsch. f. Chirurgie. 24. Congr. 
Berlin, 17.—20. April 1895. 

2) Beitrag zur Histologie und Aetiologie des Carcinoms. 1. Supplementheft 
der Beiträge zur pathol. Anatomie von Ziegler. Jena 1894. 

3) v. Bergmann, Vorstellung eines Falles von Carcinom der Ober- und 
Unterlippe. Berl. klin. Wochenschr. 1887. No. 47. 

4) Hamburger, Contactinfection in der Vulva. Hospitalstid. 1892. S. 81. 

5) M. Lejard, Sur une variet6 d’epithöliome de la levre parasitaire. Arch. 
gen. de med. 1885, Avril. 

6) Allgemeine chirurgische Pathologie und Therapie. Berlin 1887. — Die 
Krankheiten der Brustdrüse. Deutsche Chirurgie von Billroth und Lücke. 
1886. 


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Trauma und Carcinom. 


(!!» 

Marly 1 ) construirt einen Zusammenhang zwischen Trauma und Diathese 
er glaubt, dass Traumen schlummernde Diatliesen manifestiren können. 

Auch Lücke 2 ) hält die allgemeine Disposition für das wichtigste, giebt 
aber doch lokale Reize, Verletzungen, als Gelegenheitsursachen zu. 

V irchow 3 ) nimmt eine Prädisposition des Ortes an, an dem sich die Ge¬ 
schwulst entwickelt, während er den allgemeinen Zustand des Körpers nur für ein 
seeundäres Verstärkungsmoment hält. Er weist auf den Zusammenhang der Neo¬ 
plasmen mit äusseren Reizen hin. 

Die örtlichen Störungen, welche bei Neoplasmen in Betracht kommen, sind 
erbliche oder erworbene, durch Krankheiten oder Insulte. Letztere können ein¬ 
malige sein oder andauernde mechanische oder chemische Reize oder pathologische 
Processe, wie Entzündungen, Ulcerationen, welche aber ihrerseits wieder durch 
ein Trauma hervorgerufen sein können. 

Sehen wir uns daraufhin erst die Statistik über das Trauma als Ursache des 
Carcinoms etwas genauer an. 

Löwenthal 4 ) führt eine Statistik von Billroth an, nach welcher von 
S00 Geschwülsten 358 oder 44,7 pCt. Carcinome waren, von diesen betrafen 
D>*> Männer, 188 Weiber (1 unbestimmt). 

Nach den befallenen Körperstellen vertheil teil sich folgcndermassen 


Kopf . 

die Geschwülste 
im Allgemeinen 
.... 93 

die Carcinome 

16 

Gesicht . 


134 

103 

Hals . 


12 

1 

Brust. 


198 

152 

Rücken . 


12 

9 

Bauch 


35 

8 

Harnorgane 


20 

15 

Genitalien 

• • • . 

42 

17 

Extremitäten 

( obere 

90 

18 

l untere . 

Am meisten befallen also waren 
die Brust . 

162 

. in 152 Fälle 

26 

n. 


das Gesicht . . „ 103 

die Extremitäten . „ 44 

Das Alter der Kranken betrug 

bei allen Geschwülsten bei Carcinom 

unter 1 Jahr 1 _ 

1—10 Jahre 28 4 

1 ) Contribution ä l’ötude de l’influence des aflections cardiaques sur le trau- 
matisme. Inaug.-Diss. Paris 1877. 

2) Die Lehre von den Geschwülsten. Ifandb. der allgem. u. spec. Chirurgie 
von v. Pitha und Billroth. 

3) Die krankhaften Geschwülste. Bd. 1 . S. 82, 68 . Bd. HI. 

4) Leber traumatische Entstehung der Geschwülste. Archiv f klin Chir 
1894. Bd. 49. H. 1 u. 2. 

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Dr. Berger, 


bei allen Geschwülsten 

bei Carcinom 

11—20 Jahre 

93 

3 

21—30 „ 

92 

8 

31-40 „ 

109 

38 

41-50 „ 

158 

92 

51-60 „ 

149 

106 

61-70 „ 

94 

72 

71—80 „ 

23 

16 

81—90 „ 

3 

3 

unbestimmt 

50 

16 


Also sowohl bei den Geschwülsten im Allgemeinen als bei den Carcinomen 
im Specicllcn wurden am häufigsten befallen Brust, Gesicht und Extremitäten. 

Bei den Carcinomen liefert das 6. Decennium die meisten Fälle, bei den Ge¬ 
schwülsten im Allgemeinen das 5. Decennium, doch ist der Unterschied nicht be¬ 
deutend, das 5. und 6. Decennium zusammen liefern beim Carcinom über die 
Hälfte aller Fälle. 

Liebe 1 ) berechnete nach Krankengeschichten der Strassburger chirurgischen 
Klinik von Mai 1872 bis Mai 1881 

von 343 Geschwülsten auf ein Trauma zuriickführbar 37 = 10,8 pCt., 

„ 221 Carcinomen „ „ „ „ 22 = 10 „ 

Wolff 2 ) konnte 

von 574 Geschwülsten 82 = 14,3 pCt. auf ein Trauma, 

„ 344 Carcinomen 42 = 12,2 ,, ,, ,. „ zurück führen. 

Von diesen 344 Carcinomen betrafen 
108 die Brustdrüse, 

57 die Unterlippe, 

92 das Gesicht, 

22 die Zunge, 

7 den Hals, 

5 den Hoden, 

11 den Penis, 

3 die äusseren weiblichen Gcschlechtstheile, 

11 den Uterus, 

20 das Rectum, 

3 den Rumpf, 

5 die Extremitäten. 

Nach Snow 3 ) liess sich eine traumatische Ursache des Carcinonis in 
22,37 pCt. der Fälle nachweisen. 

Ziegler 4 ) berichtet über 328 Carcinome, davon betrafen 117 Männer, 


1) nach Löwenthal, I. c. 

2) Zur Entstehung von Geschwülsten nach traumatischen Einwirkungen. 
Inaug.-Diss. Berlin 1874. 

3) The ctiology of cancer. Statistiks and Remarks. Lancet 1SS0. Dec. 25. 

4) Ueber die Beziehungen der Traumen zu den malignen Geschwülsten. 
Münchener med. Wochensohr. 1895. No. 27, 28. 


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Trauma und Carcinom. 


71 


211 Frauen. 55 — 17 pCt. Hessen sieh auf.ein einmaliges Trauma, — 2SpCt. 
auf chronische Reizzustände ursächlich zurückführen. 

Unter 170 Carcinomen der Mamma Hessen sieh .‘57 = 22 pCt., 

„ 44 Lippencarcinomen 5 = 11,3 pCt., 

„ 37 Carcinomen der Kopfhaut 8 = 22 pCt., 

„ 46 „ „ Mundhöhle 4 = 8,7 p( t., 

„ 9 „ des Penis 1 = 11 pCt., 

,, 9 primären Extremitäten-Carcinomen und unter 12 Carcinomen des 

Oesophagus keine auf ein einmaliges Trauma zurückführen. 

Es ist nun weiterhin klar, dass man die Carcinome nach ihrer Lokalisation 
wird verfolgen müssen, um auf die Bedeutung des Traumas als ursächlichen Mo¬ 
mentes einen Schluss machen zu können. 

Ein besonderes Interesse hat von jeher der Krebs der Unterlippe in An¬ 
spruch genommen. Die Unterlippe ist den mannigfachsten Insulten ausgesetzt, 
ganz besonders wurde das Rauchen der Pfeife für die Entstehung des Carcinoms 
verantwortlich gemacht. 

Warren 1 ) führt an, dass auf 73 an Lippenkreps erkrankte Männer 4 Frauen 
kamen, von denen 3 rauchten. Thiersch macht das Eindringen des Tabaksaftes 
durch feine Risse der Lippe verantwortlich. Führer hält für die Ursache das 
Rasiren besonders bei starkem Bartwuchs, wenn es selten geschieht und daher 
mechanisch insultirt. 

Langenbeck 2 ) sieht die Ursache in dem Reiz scharfer, gegen den Lippen¬ 
rand gerichteter Zahne, in dem Halten der Tabakspfeife an einer Lippe ohne 
Unterstützung, in dem Abreissen der Epidermis bei spröden Lippen, in der Ge¬ 
wohnheit sich auf die Lippe zu beissen, sie zu drücken u. s. w. 

Wolff 3 ) hält den Druck der Pfeife für das wesentliche, da der Mundwinkel 
zuerst ergriffen zu werden pflegt, an dem die Pfeife gewöhnlich gehalten wird, 
das ist der linke. In seiner Tabelle bezieht er von 57 Fällen .‘50 pCt. auf ein 
Trauma. 

Billroth 4 ) führt unter 23 Carcinomen der Unterlippe 5 auf ein Trauma 
zurück, einmal war eine Verletzung durch einen Holzsplitter vorausgegangen, ein¬ 
mal Verbrennung mit heissem Kaffee, einmal Verbrennung mit heissem Essen, 
einmal ein Schnitt mit einem Rasirmesser, einmal Reizung durch Zahnstümpfc. 

Tillmanns 5 ) führt die Wirkung des Tabaks auf brenzliche aromatische 
Stoffe zurück, wie sie auch bei Arbeitern in Theer-, ltuss- und Paraflinfabriken 
in Betracht kommen. 


1) Birch-Hirschfeld, Artikel Carcinom in Eulenburg’s Real-Encyklopäd. 
der ges. Heilk. 1885. 

2) Nosologie und Therapie der chirurgischen Krankheiten. Güttingen 1840. 

3) 1. c. 

4) In B. v. Langcnbcck's Archiv. Bd. 10. — Billroth, Chirurgische Er¬ 
fahrungen. Zürich. 

5) Ueher Theer-, Kuss- und Tabakskrebs. Deutsche Zeitsehr. f. Chirurgie. 

1881. XIII. S. 519. 


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72 


Dr. Berger, 


Wörncr 1 ) hält das Rauchen der Pfeile an sich nicht für wichtig, wohl aber 
spricht er kleinen unmerklichen Verletzungen eine grosse Rolle zu. 

Dass das Tabakkauen selbst bei jugendlichen Individuen Carcinom der 
Wangenschleimhaut und des Zahnfleisches hervorrufen kann, theilte v. Esmarch 2 ) 
mit. Für das Zungcncarcinom schätzt Wolff das Trauma für ätiologisch mass¬ 
gebend in 30 pCt. der Fälle, doch sind seine Zahlen hierfür sehr klein, 3mal 
ging Reizung durch stumpfe Zähne vorher, einmal Biss in die Zunge. 

Langenbcck 3 ) sagt: „Die Zunge ist von harten, hufeisenförmigen Rändern, 
von den Zähnen eingeschlossen, ihre Function bringt es mit sich, Speisen zu zer¬ 
drücken, sie zwischen die Zähne zu schieben, Überreste der Speisen, die zwischen 
den Zähnen stecken, mit ihrer Spitze hinauszuschieben. Bei jeder Seitwärtsbe¬ 
wegung tritt sie sofort mit den Zähnen in Berührung, sind diese schadhaft, scharf, 
hohl, irregulär oder vom Weinstein incrustirt, so stösst die Zunge auf scharfe 
Gegenstände. Auch ist die Zunge der Vorposten des Magens und wird von 
manchen scharfen Ingcstis irritirt. 

Sachse 4 ) giebt an, dass unter 245 Zungencarcinomkranken 230 Männer 
gewesen seien. Für massgebend werden angesehen der Tabak- und Alkohol¬ 
genuss, Reizung durch scharfe Zahnstümpfe, Gewebsveränderungen infolge Ver¬ 
letzungen oder Lues. 

Bottini 5 ) fand fast alle Zungencarcinome bei Rauchern und Tabakkauern. 
Er hält den Tabak in Naturform für unschädlich (daher die Seltenheit des Car- 
cinoms in Afrika und im Orient,) erst die zur Veredelung angewendete Beize 
mache ihn schädlich, das wirksame seien dieselben Stoffe, wie im Theer und Russ 
(kohlensaures und essigsaures Ammoniak, Essigsäure, Carbolsäure). 

Wolff führt mehrere traumatische Krebse des Gesichts an, in dem einen 
Falle war die Genese folgende, Steinwurf gegen die linke Backe, Blutung, Schorf, 
Kratzwunde, Krebs. In einem anderen Falle entstand ein Carcinom nach einem 
Schlag auf die Nase in Gestalt eines Polypen in der Nase. Ein Krebs des unteren 
Augenlides entstand bei einem Manne, dem ein Bund Roggenstroh in der Ernte 
aus Versehen ins Gesicht geworfen worden war, ferner ein Carcinom des Ober¬ 
kiefers nach einem starken Stoss zwischen die Augenbrauen. Die Zwischenzeit 
seit dem Trauma schwankte von 9 Monaten bis zu 11 Jahren. In 108 Fällen von 
Carcinoma mammae war nach Wolff lßmal ein Trauma vorhergegangen. In dem 
einen Falle entwickelte sich im Februar ein Carcinom, nachdem im December vor¬ 
her eine Kuh die betreffende Stelle erst durch einen Fussschlag und dann durch 
einen Hornstoss verletzt hatte; ein anderes Mal bezog eine Patientin ein Carcinom 
auf eine vor 5 Jahren erlittene Verletzung, es war ihr ein Fischbeinstab in die 
Brust gedrungen und abgebrochen, nach Extraction desselben entstand eine Ent¬ 
zündung, die Behandlung mit Aetzungen u. s. w. hinderte nicht die Entstehung 


1) Ueber die Endresultate der Operation des Lippenkrebses. Bruns, Bei 
träge zur klin. Chirurgie. 1887. II. 

2) III. C’ongress der Deutschen Goselisch, f. Chirurgie. 1874. I. S. 6. 

3) 1. c. 

4) Archiv f. klin. Chirurgie. Bd. 45. H. 4. 

5) Clinica chirurgica. 1894. No. 1. 


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Trauma und Careinom. 


73 


eines Careinoms. Ob in diesem Falle dio Entzündung das massgebende war oder 
die Misshandlung mit Aetzungen, Pilastern u. s. w., ist nicht zu entscheiden. 

In anderen Fällen werden als Ursachen angegeben Druck beimBrodschneiden, 
Quetschung, Stoss, Druck mit einem SchirmgrilT. Doch scheinen in allen Fällen 
dem Trauma vorangehende Entzündungen oder Operationen nicht unwichtig ge¬ 
wesen zu sein. 

König 1 ) hält eine locale Disposition der Gewebe für nöthig und sah das 
Carcinom in directer örtlicher und zeitlicher Folge auf Traumen entstehen. 

Auffallend ist, dass gerade die äussere obere Partie der Brustdrüse am 
häufigsten befallen wird, diese ist gerade auch Traumen ausgesetzt. Den hervor¬ 
ragendsten Antheil stellen bei den Brustkrebsen die Frauen, die Männer sind nur 
mit 1,5—2, im Durchschnitt 1,6 pCt. betheiligt, und von den Frauen gehören 
ßS pCt. den arbeitenden Klassen an, welche auch Traumen häufiger ausgesetzt 
sind. Dass dabei auch die geschlechtlichen Functionen in Frage kommen, erhellt 
daraus, dass bei 81 pCt. der Befallenen diese vorhanden waren. 

Auch bei Hündinnen, welche oft an Carcinom leiden, wird übrigens am 
häufigsten die am meisten Insulten ausgesetzte hintere Mamma befallen. 

Der Krebs des Scrotums (auch der Lippe) wird oft bei Schornsteinfegern, 
Steinkohlenarbeitern beobachtet. Hier sind ebenfalls brenzliche und aromatische 
Verbindungen das reizende, und auf dem Boden der chronischen Entzündungen 
entwickelt sich dann der Krebs. Auch auf den Vorderarm sind die Wirkungen 
der betreffenden Stoffe dieselben. 

Ueber Krebs des Hodens berichtet Wolff infolge von Stoss und Schlag, die 
Zwischenzeit von der Verletzung bis zur Entstehung der Geschwulst betrug in 
dem einen Falle nur 3 Monate. 

An Rumpf und Extremitäten fand v. Bergmann 2 ) unter 19 Carcinomen 
9 mal Entstehung aus Verbrennungs- und Erfrierungsnarben, 4mal aus Geschwüren 
und Fistelgängen, lmal aus einem Decubitus. Oft entstehen an Rumpf und Ex¬ 
tremitäten die Carcinome aus Warzen infolge localer Reizungen. Ueber dio Ent¬ 
stehung von Carcinomen in Narben berichten Pfannenstiehl 3 ) und Krün- 
lei n 4 j. 

Bemerkenswerth ist, dass an der unteren Extremität am häufigsten der Fuss 
befallen wird, welcher am meisten Insulten ausgesetzt ist. Ich beobachtete 2 Car¬ 
cinome am Fuss nach Traumen, welche 3 bezw. 9 Monate vorher eingewirkt hatten. 

Das Peniscarcinom wird fast ausschliesslich bei Phimose beobachtet, das 
Zwischenglied scheinen auch hier chronische entzündliche Reizungen zu sein 
( Frictionen, Verletzungen, Störungen in der Urinausleerung u. s. w.). 

Das Gallenblasencarcinom fand sich nach H. Zenker 5 ) in 84,5 pCt. der 
Fälle bei gleichzeitigem Vorhandensein von Gallensteinen, deren Wirksamkeit mit 
dem Zwischenglied der chronischen Entzündung verständlich erscheint , auch aus 
Narben der Gallenblase wurde die Entwicklung beobachtet. 


1) Lehrb. d. spec. Chir. Bd. II. Berlin 1881. 

2) Dorpat, med. Zeitschr. H. 1872. 

3) Zeitschr. f. Geburtsh. u. Gynäkol. Bd. 28. H. 2. 

4) Deutsche med. Wochenschr. 1895. No. 4. S. 62. 

5) Deutsches Archiv f. klin. Med. Bd. 44. 


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Dr. Berger, 


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Blasenkrcbs findet sich gleichfalls häufig gleichzeitig mit Blascnsteinen. 
Lungenkrebs (Lymphosarcom) wurde besonders bei den Arsenikarbeitern in 
Schneeberg beobachtet. Ueber einen Lungenkrebs nach Fall eines Stück Eisens 
auf den Thorax berichtet Georgi 1 ). 

Das Carcinom der Speiseröhre wird vorwiegend beim männlichen Geschlecht 
beobachtet (93,1 pC't.), und zwar ganz besonders bei Schnapstrinkern, auch hier 
erzeugt der Schnaps zunächst Reizzustände (chronische Entzündung der Deck- 
und Drüsenepithelien und des darunter liegenden Bindegewebes), auf deren Boden 
sich das Carcinom entwickelt. Auch in Narben des Oesophagus wird Carcinom- 
cntwicklung beobachtet. Dass der Branntweinconsum nicht ohne Bedeutung ist, 
geht daraus herver, dass in manchen Ländern mit Zunahme desselben eine Steige¬ 
rung der Carcinomerkrankungen beobachtet worden ist. 

Am Verdauungstractus entwickelt sich das Carcinom am häufigsten an den 
Stellen, an welchen sich normal Verengerungen finden, wo also leicht Reizungen 
und Verletzungen stattfinden können, das sind der Ein- und Ausgang des Magens, 
die Flexura sigmoidea (Gegend des Sphincter tertius), Anus. 

Im Magen speciell wurde die Entwicklung des Carcinoms in alten Geschwürs¬ 
narben beobachtet 2 ), vielleicht spielt auch der Schnaps bei dem Zustandekommen 
eine Rolle. 

Gockel 3 ) hält einen ätiologischen Zusammenhang zwischen Trauma und 
Carcinom (auch der inneren Organe) für möglich; Carcinome einige Tage oder 
Wochen nach Traumen an inneren Organen sind nicht traumatisch. 

Für das.Rectumcarcinom macht Langenbcck verantwortlich den steten 
Ausgang der Scybala, viel Sitzen, Reiten, Friction der Kleidung, Scheuern mit 
den Fingern, Unreinlichkeit. 

Allgemein wird die Entwicklung des Carcinoms nicht selten beobachtet in 
alten lupösen und syphilitischen Herden. 

Der Krebs des Uterus hat von jeher in ätiologischer Hinsicht ein grosses 
Interesse in Anspruch genommen. Nach Simpson 4 ) starben während der Jahre 
1847 bis 1861 in England 61715 Frauen und nur 25633 Männer an Carcinom, 
und unter 19666 Frauen mit Carcinom starben 6548, also fast 1 /3 an Uteruscar- 
cinom. 

Dass der Geschlechtsgenuss ein die Entstehung des Carcinoms begünstigen¬ 
der Factor ist, scheint aus der Statistik hervorzugehen. Nach Hofmeier 5 ) 
hatten von 812 Kranken 39=4,8 pCt. nicht geboren, und cs kamen auf jede 
Kranke, die geboren hatte, durchschnittlich 5,02 Geburten. 

Glatter 6 ) giebt folgende Statistik an: 


1) Berl. klin. Wochenschr. 1879. No. 16. 

2) Hauser, Das chronische Magengeschwür, sein Vcrnarbungsprocess und 
dessen Beziehungen zur Entwickelung des Magencarcinoms. Leipzig 1883. 

3) Ueber die traumatische Entstehung des Carcinoms mit besonderer Berück¬ 
sichtigung des Intestinaltractus. Archiv f. Verdauungskrankh. XXXI. 1897. 

4) Sei. Obst. Works. Edinb. 1871. 

5) Zeitsehr. f. Geburtsh. u. Gynäk. Bd. X. S. 269, und Bd. XIII. 

6) Vierteljahrsschr. f. ölfentl. Gesundheitspfl. 1870. Bd. II. S. 161. 


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Trauma und Careinom. 


75 


Es waren ledig, vcrhcirathel, verwiltwet. 

Unter 1000 Wiener Frauen über 20 Jahr 450 408 133 

Unter 1000 in Wien an Uteruskrebs verstorb. Frauen 229 503 208 

Doch bemerkt hierzu Hofmeier 1 ) ,,0b sich diese Erfahrungen in der 
Weise verwerthen lassen, dass man die Ursache einfach als traumatische Reizung 
deutet, ist doch sehr zweifelhaft, wenn man bedenkt, dass die beschauliche Ruhe, 
in der die Vaginalportion verharrt, auch bei der häufigsten Einwirkung: beim 
Coitus und bei der Geburt nur relativ selten unterbrochen wird (Prostituirte haben 
keineswegs besondere Neigung zum Uteruskrebs). Auffallend ist es allerdings, 
dass das Ostium uterinum gleich den meisten anderen Ostien, wie den Lippen, 
dem Pylorus, dem C'oecum, dem Mastdarm, so häufig an Carcinom erkrankt.“ 

H il d ebvandt 2 3 ) glaubt, dass das Carcinom der Portio vaginalis in weit über 
die Hälfte der Fälle seinen Ausgang nimmt von einfachen Catarrhen, deren 
Folgen Geschwüre und papilläre Wucherungen sind. Von andern Seiten 
(Löwenthal und andern) wird auf die Häufigkeit von Neoplasmen aller Art ge¬ 
rade an den Genitalien Prostituirter hingewiesen, wie beispielsweise Elephantiasis 
vulvae nach Traumen nicht selten ist (wie auch Elephantiasis cruris). 

Zu beachten ist die Häufigkeit bösartiger Neubildungen an den äusseren Or¬ 
ganen, während an den geschützter liegenden inneren Organen (Ovarium) diese 
im Allgemeinen seltener sind. 

Und gerade die Organe werden am häufigsten befallen, welche häufigen In¬ 
sulten, sei es in Folge ihrer Lage, ihrer Einrichtung oder ihrer Function aus¬ 
gesetzt sind, wie die Haut, die Schleimhäute des Verdauungstractus von der Lippe 
bis zum Anus, die Geschlechtsorgane, die Mammae; und characteristisch bei den 
Männern am häufigsten Lippe, Zunge, Magen, bei den Frauen Uterus und Mamma, 
also die Stellen, welche mit der Luft communiciren und häufigen Insulten aus¬ 
gesetzt sind. 

Birch-Hirschfeld 8 ) stellt die Häufigkeitsscala auf: Uterus, Magen, Haut, 
Mamma, Rectum, Speiseröhre, Genitalien. 

Wir müssen nun weiter auf den näheren Zusammenhang zwischen Trauma 
und Carcinom, welcher dem gesagten zufolge nicht wegzuleugnen sein dürfte, 
eingehen. 

Ist das Trauma an und für sich im Stande, Carcinom zu erzeugen? Bedenkt 
man, dass jedes einzelne Individuum von zahlreichen Traumen getroffen wird, 
dass trotzdem die Geschwülste eine verhältnissmässig seltene Erscheinung sind, 
dass bisher noch keine Geschwulst sich durch ein Trauma hat experimentell er¬ 
zeugen lassen, so könnte man zu dem Schluss kommen, dass entweder das 
Trauma ätiologisch für das Carcinom nicht in Betracht kommt, oder dass das 
Trauma nur bei manchen Menschen Carcinom hervorzurufen im Stande ist, bei 
den meisten jedoch nicht. 

Die Beziehungen zwischen Trauma und Carcinom müssten also ganz be¬ 
stimmte sein, entweder müsste das Trauma von ganz bestimmter Art sein, oder 

1) Schröder’s Handbuch der Krankh. d. weibl. Geschlechtsorgane. Leipzig 
1889. S. 349. 

2) Volkmann’s Samml. klin. Vortr. No. 32. 

3) 1. c. 


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Dr. Borger, 


das vom Trauma getroffene Individuum müsste ganz spezielle Verhältnisse dar¬ 
bieten. 

Schröder van der Kolk 1 ) hält für das Zustandekommen von Geschwülsten 
durch Traumen die Aufhebung des regulirenden Nerveneinflusses für nothwendig, 
und suchte das experimentell an Kaninchen zu beweisen. 

Bemerkenswerth ist die Ansicht Langenbeck’s 2 ), insofern sie die persön¬ 
liche Ueberzeugung über die Wirksamkeit des Traumas urtd den localen Sitz der 
Krankheit in Einklang zu bringen sucht mit der alten Krasenlehre. Er glaubt 
zwar nicht an das Vorhandensein einer primären Cacochymia cancrosa, wohl aber, 
da alle Elementarstoffe im Blute vorhanden seien, an eine generelle Cacochymia, 
und nimmt an, dass sich der Krebs in dem durch irgend eine Cacochymia vor¬ 
an hissten Oertlichen bilde. 

Dass Billroth eine allgemeine Disposition für nothwendig hält, wurde 
schon erwähnt, während Virchow eine ererbte oder erworbene örtliche Disposition 
annimmt. Virchow 3 ) interpretirt den Sinn des Morgagni’sehen „Sedes morbi u 
dahin, es giebt keinen kranken Körper, das Kranke ist nur ein Theil des Körpers. 

Ob durch die verschiedenen Traumen verschiedene Geschwülste erzeugt 
werden können, ist eine unentschiedene, wahrscheinlich aber zu verneinende 
Frage. 

Dass am häufigsten aufTraumen, nicht auf ein einmaliges stärkeres Trauma, 
sondern mehr auf eine Contusion (Fall Stoss, Schlag, Wurf) von den Geschwülsten 
das Sarcom zurückzuführen ist, ist schon lange bekannt, ganz ebenso waren die 
Traumen, auf welche man das Carcinom zurückführt; dass also gewissen Traumen 
eine specielle ätiologische Wichtigkeit hinsichtlich des Carcinoms zukommt, ist 
wohl mit Bestimmtheit zu verneinen, das Trauma ist nur ganz allgemein mit den 
Geschwülsten überhaupt in Beziehung zu bringen. 

Zur Beantwortung der Frage, warum im einzelnen Falle auf ein Trauma eine 
einfache Entzündung, im andern eine Geschwulst folgt, erscheint die Cohnheim- 
sche Theorie sehr annehmbar, nach ihr entstände eine Geschwulst nur dann, wenn 
ein Trauma ein in der Anlage abnormes Gewebe trifft, das Trauma wäre also 
accidentell, Gelegenheitsursache, welche an dem Ort der Geschwulstanlage eine 
Hyperämie erzeugt und so die Entwicklung der Geschwulst fördert. 

Maas 4 ) geht in dieser örtlichen Disposition der Gewebe noch einen Schritt 
weiter und hält örtlich überhaupt von der Norm abweichenden Zellen für mass¬ 
gebend. 

Velpeau und Verneuil 5 ) halten eine dirccte Umwandlung der durch das 
Trauma erzeugten, die Umgebung reizenden Blutergüsse in Geschwülste für 
möglich. 

1) bei Löwenthal, 1. c. 

2) 1. c. 

3) Morgagni und der anatomische Gedanke. Vortrag am 30. März 1894 auf 
dem XI. intern, med. Congress in Rom. 

4) II. Maas, Zur Aotiologie der Geschwülste. Berliner klin. Wochenschr. 
1880. No. 47. 

5) bei Löwenthal, 1. c. 


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Trauma und Carcinom. 


77 


R. Bar well 1 2 ) glaubt, dass nach manchen Traumen statt der gewöhnlichen 
Keaction eine excessive krankhafte Hyperplasie zclliger Elemente folge, dass also 
il^rn betreffenden Gewebe eine krankhafte Neigung, eine acute traumatische Ma¬ 
lignität, innewohnen müsse. 

Im Allgemeinen werden aut einmalige Traumen und chronische entzündliche 
Heizungen vielfach Geschwülste beobachtet, so nach Verletzungen Keloidc, nach 
Amputationen Neuroine, nach Knochenfracturen Osteome [nach Heizen Elephan¬ 
tiasis-)], und Virchow berichtet über zahlreiche Fälle, in denen eine Geschwulst 
einem einmaligen Trauma oder wiederholten Heizen und Entzündungen folgte. 
Ebenso äussert sich Nasse 3 ). 

Von manchen Seiten wurde behauptet, dass das Trauma den Kranken ledig¬ 
lich auf das schon vorher bestehende Leiden aufmerksam mache, doch scheinen 
dem zahlreiche thatsächliehe Beobachtungen zu widersprechen, übrigens würde 
auch in solchen Fällen dem Trauma, wenn kein ursächlicher, so doch vielleicht 
ein die Entwicklung fördernder Einfluss zuzuschreiben sein. Speciell nun das 
farcinom anlangend, sollen nach Ribbert 4 ) besonders chronische entzündliche 
Heizungen der verschiedensten Art geeignet sein, ein regelloses Durcheinander¬ 
wachsen von Epithel und Bindegewebe zu bewirken. Derselben Ansicht ist Schu- 
c har dt 5 ). 

Ebenso giebt Kuhn 6 ) an, dass der Krebs gern in blutreichen Organen nach 
Oontusionen auftrete. Adelmann 7 ) beobachtete, dass ein unvorsichtiger Stich 
oder Stoss das Krebsiibel, dessen eigentliche Ursache verborgen sei, sehr ver¬ 
schlimmerte. 

Carmichael 8 ) sagt, localer Krebs entsteht infolge andauernder Gewalt oder 
Heizung, so entsteht er durch Druck des Schuhwerks auf die Füsse, durch schlecht 
behandelte Bubonen nach Monaten, bei Bauern häufig durch die Gewohnheit, eine 
kurze und folglich sehr heisse Pfeife im Munde zu halten, trotz Jugend und Ge¬ 
sundheil, desgleichen durch gereizte Blüthchen und Warzen. Ausserdem entsteht 
das Carcinom häufig in Organen, welche aufhören, ihrer Function vorzustellen, 
wie in Uterus und Mamma, auch bei jugendlichen Personen (21 und 14 Jahre). 

Nach Löwenthal folgte das Carcinom der Mamma der Frau dem Trauma 


1) Brit. med. Journ. 1882, Febr. Schmidt’s Jahrb. Bd. 195. S. 247. 

2) cf. S. 75. 

3) Das Sarcom der langen Extremitätonknochen. Archiv f. klin. Chirurgie. 
Bd. 39. 1889. S. 886. 

4) 1. c. 

5) Beiträge zur Entstehung des Carcinoms aus chronisch-entzündlichen Zu¬ 
ständen der Schleimhäute und Hautdecken, v. Volkmann’s Samml. klin. Vortr. 
No. 257. 

6) Gaz. de Paris. 1861. 17, 25, 26. 

7) Günzb. Zeitschr. 1858, 1859. Bd. IX., X. Schmidt’s Jahrb. Bd. 105. 
S. 206. 

8) An Essay on the origin and nature of Tuberculous and Cancerous di¬ 
seases. Read to the medical section of the British Assoc. on the 23. of VIII. 1836. 
Schmidt’s Jahrb. Bd. 23. S. 376. 


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Dr. Berger, 


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sofort 

1 mal, 

innerhalb 8 Tagen 

i „ 

nach 3 Wochen 

i „ 

„ 1 Monat bis 1 Jahr 28 „ 

„ 1—5 Jahren 

10 „ 


es schloss sich entweder an eine Wunde an, die nicht heilte, oder war die Folge 
von Schlag, Stoss, Druck. 

Bei den Brustcarcinomen der Männer betrug in 9 Fällen die Zwischenzeit 
zwischen Trauma und Geschwulstbildung weniger als 1 Jahr, Inaal entwickelte 
sich ein Carcinom infolge wiederholten Traumas an demselben Orte. 

Als vermittelnd zwischen Trauma und Carcinom nehmen Viele ein Blut¬ 
extravasat an. Löwenthal kommt zu dem Schluss, dass ein Carcinom im An¬ 
schluss an einmalige Traumen beobachtet sei, dass es aber häufiger nach chro¬ 
nischen Entzündungen (Geschwüren, Narben, anderen Neubildungen) sich einstelle. 
Waldeyer fand denn auch häufig in der Umgebung des Krebses entzündliche 
Veränderungen, welche einen irritativen Ursprung des Carcinoms wahrscheinlich 
machen. 

Tillmanns sagt auch, die eigentliche Ursache des Carcinoms ist dunkel, 
bezüglich der prädisponirenden Momente aber herrscht Einigkeit, prädisponirend 
wirken länger dauernde traumatische (mechanische und chemische) Insulte. 

Als ferneres sehr wichtiges prädisponirendes Moment ist das Alter anzusehen. 
Ist auch bei jugendlichen Individuen das Carcinom beobachtet worden [Adenocarci- 
nom 1 )], so ist dasselbe doch eine eigentliche Alterskrankheit. Das Carcinom be¬ 
fällt am häufigsten Personen im 5. und 6. Decennium, die grösste Sterblichkeit 
an Carcinom besteht vom 55. bis zum 65. Lebensjahre, das Durchschnittsalter der 
Kranken mit Carcinoma mammae beträgt 48 Jahre. 

Im Alter atrophirt die Haut, das Stroma biisst an Widerstandsfähigkeit ein 
(senile Involution), die Deck- und Drüsenepithelien zeigen vermehrte Wachsthums¬ 
energie; bei alten Leuten sieht man oft schildartig prominirende Borken [Sebor- 
rhoea senilis 2 )], und häufig entwickelt sich das Carcinom aus gutartigen epithe¬ 
lialen Wucherungen (Papillomen). Nach Tillmanns 3 ) entstanden von 399 Haut- 
carcinomen 182 aus Warzen. Dass diese Wucherungen besonders excessiv werden 
können infolge örtlicher mechanischer und chemischer Reize, ist nicht zu verwun¬ 
dern, und eine genügend lange Einwirkung solcher Reize ist besonders der Ent¬ 
wicklung des Carcinoms forderlich, sind einmal Epithel und Bindegewebe in ent¬ 
zündliche Reizung versetzt, so ist die regellose Durcheinanderwucherung beider 
nur der nächste Schritt. 

Je mehr also Epithel und Bindegewebe schon normal in ein Missverhältniss 
treten (Alter), je mehr und je länger beide gereizt werden, um so mehr ist die 
Entwicklung des Carcinoms möglich. 

Dass das Carcinom sich auf dem Boden chronisch-entzündlicher Processe 
entwickelt, beweisen die Fälle, wo es sich in alten Tuberkulose- und Luesherden 


1) conf. S. 65. 

2) Schuchardt, Archiv f. klin. Chir. Bd. 43. 

3) Lehrbuch der allgem. Chirurgie. 4. Aull. 


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Trauma und Carcinom. 


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•■ntwickelt. oder in Narben oder aus gutartigen Gewebshyporplasien, das vermit¬ 
telnde ist immer eine länger dauernde mechanische oder chemische Heizung. 

Bei allen diesen Processen ist das normale Nebeneinander von Epithel und 
Stroma gestört. 

Ganz vorwiegend wird das Careinom des Uterus und der Brüste bei Frauen, 
welche geboren haben, beobachtet, hier sind infolge der abgelaufenen Graviditäten 
und Laetationen Gewebsveränderungen, chronische entzündliche Processe, zurück¬ 
geblieben, welche ihrerseits dio Entwicklung des Carcinoms begünstigen. 

Das Moment der Heredität ist beim Krebs noch nicht genügend geklärt, 
wenn auch die Familie der Napoleoniden nicht allein dasteht. Sie wird zu er¬ 
klären sein als eine Vererbung im Bau und in den Functionen der einzelnen Organe 
und Systeme des Körpers, als ererbte Disposition. Damit würde die von mir mehr¬ 
fach gemachte Beobachtung stimmen, dass wenn Carcinom in verschiedenen Gene¬ 
rationen auftritt, die jüngere Generation immer in einem jugendlicheren Alter er¬ 
krankt, als die ältere erkrankt war. 

Lebert 1 ) berechnet die Heredität auf 10 pCt., dieselbe Zahl giebt neuer¬ 
dings Hägler 2 ) an. 

Zum Theil ist das Carcinom Berufskrankheit, wie bei den Kuss-, Theer- und 
Paraffinarbeitern. 

Endlich sind nicht ohne Bedeutung sociale Einflüsse. 

Die Ernährung und Lebensweise ist bestimmend für die allgemeine und 
locale Constitution, ebenso sind die Schädigungen der Witterung von Einfluss auf 
die derselben zunächst ausgesetzten Theile des Körpers und auf die nach aussen 
communicirenden Organe. 

Während jedoch die Einen behaupten, das Carcinom sei häufiger bei armen 
Leuten als bei reichen, behaupten Andere das Gegentheil. 

Auffallend ist die bedeutende Zunahme der Carcinomerkrankungcn in Europa, 
speciell in England. Die relative Carcinomsterblichkeil ist jetzt 4mal so gross 
wie vor 50 .Jahren. 

1838 starben an Carcinom 2448, d. h. 160 auf 1 Mille der Bevölkerung, 

1890 „ „ „ 19433, „ „ 676 „ 1 „ „ 

W.-Hoger Williams 3 ) giebt folgende Zahlen an: 1840 starben an Carci¬ 
nom 2786, d. h. 1 auf 5646 Einwohner oder 1 Todesfall auf 129, oder 177 auf 
1 Million Todesfälle überhaupt; 1884 starben an Carcinom 21422, d. h. 1 auf 
1403 Einwohner oder 1 Todesfall auf 23, oder 713 auf 1 Million Todesfälle 
überhaupt. 

Diese Zunahme führen Williams 4 ) und Spencer Wells 5 ) auf das Wachs- 

Lj Physiol. path. 1845. II. — Traite prat. des maladies cancärcuses. 1851. 

2) Ueber die Factoren der Widerstandskraft und die Vorhersage der Lebens¬ 
dauer beim gesunden Menschen. Bericht aus der medicin. Gcsellsch. zu Basel. 
Corresp.-Bl. f. Schweizer Aerzte. 1896. No. 1. 

3) Brit. med. Journ. 1896. 

4) Med. chronicle. 1892, Nov. 1893, Febr., März (nach Tillmanns, Die 
Aetiologie und Histogenese des Carcinoms). 

5) Cancer and cancerous diseases. Brit. med. Journ. No. 1457/58 (nach 
Tillmanns). 


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Dr. Borger, 


tlmrn der Bevölkerung, die Besserung des nationalen Wohlstandes und der allge¬ 
meinen Lebensverhältnisse zurück. Auch für New York ist eine Zunahme er¬ 
wiesen 1 ). 

Crieh ton Browne 2 ) macht ebenfalls das moderne Leben mit seinen gei¬ 
stigen und körperlichen Leberanstrengungen, seinem Mangel an vermittelnder Buhe 
für die gesteigerte Mortalität im Alter und speciell für das häufigere Auftreten des 
Carcinoms verantwortlich. 

Zu bedenken ist auch bei der zahlenmässigen Zunahme der Krebserkrankun- 
gen die verbesserte Diagnostik. 

Parallel diesem Anwachsen derCarcinomsterblichkeit beobachteten VV illiams 
und Churchill 3 ) eine Abnahme der tuberkulösen Erkrankungen. 

Nach Williams kamen 1861 -—65 auf 1 Million Menschen 2526 Tuberkulöse 
und Phthisische, 1886—8!) aber 1589, er lullt das für eine Folge der verbesserten 
Lebensbedingungen, wonach also das Carcinom mehr bei guter Lebensweise auf- 
treten würde, bei ihr wird überschüssiges Material zu atypischen Wucherungen 
verwendet. 

Bekanntlich glaubte schon Rokitansky, dass sich Krebs und Tuberkulose 
ausscliliessen, aber das gemeinsame Vorkommen beider an demselben Individuum 
ist nicht selten beobachtet worden, häufig wird es aus dem Grunde nicht sein, 
weil beide Krankheiten zusammen das Individuum in kürzester Zeit vernichten 
müssen, weil ferner die Tuberkulose meist in früheren Lebensjahren als das Car¬ 
cinom auftriit. 

Andererseits weist Lcjard 4 ) auf die klinische, ätiologische und pathologisch¬ 
anatomische Verwandtschaft zwischen Tuberkulose und Carcinom hin, bei beiden 
(nach seiner Meinung wie bei anderen Infectionskrankhciten, aus welchem Grunde 
er eine bakterielle Ursache des Carcinoms für wahrscheinlich hält), werde die 
Morbidität von Jahr zu Jahr grösser, und dieselbe sei in der Stadt doppelt so 
gross als auf dem Lande. 

Williams und van den Corput 5 ) führen die Zunahme des Carcinoms vor 
allem auf die gesteigerte Fleischkost 6 ) zurück, daher sei auch das Carcinom bei 
Vegetarianern und in den Tropen selten, ln der That erkranken ja die fleisch¬ 
fressenden Thiere, wie der Hund, häufiger an Carcinom als die pflanzenfressenden, 
doch auch diese, wie das Pferd, erkranken, jedoch erst im Alter, dazu sind aber 
noch weitere Studien nöthig, wie Till mann’s hervorhebt, über das Blut und die 
Harnstoflausscheidung. Uebrigens kommen auch bei den Thieren in Betracht Alter, 
Traumen, chronische Entzündungen. Engel 7 ) beobachtete einen Mcdullarkrebs 


1) Barker, in Spencer Wells, Cancer and cancerous diseases. 

2) Referat von Winkler, Aerztl. Rundschau. 1892. 20. 

3) The increase of cancer in England and its cause. London 1888. 

4) 1. c. 

5) Centralbl. f. Chir. 1884. S. 171. 

6) Diese wird allerdings nicht allgemein zugegeben. Ostertag giebt für 
Berlin, München, Leipzig u. s. w. einen Rückgang des Fleisohconsums an. Zeit¬ 
schrift f. Fleisch- u. Milchhygiene. 1894. 

7) Untersuchungen im Gebiet der comparativen pathologischen Anatomie. 
Oesterr. med. Wochensohr. 1842. No. 12. Schmidt’s Jahrb. Bd. 35. S. 4L 


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Trauma und Carcinom. 


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beim Pfrrd, unmittelbar nach einem Stuss durch eine Wagenstange gegen den 
Hinterkieler. 

Im Gegensatz dazu halten Viele gerade schwächende Momente ätiologisch für 
wichtig, wie Stoflwechsclerkrankungen, Nervenstörungen, Kummer, Sorgen, Tro- 
j>lioneti rosen. 

Welches nun auch die Genese des Carcihoms sei, entstelle es auf Grund einer 
embryonalen Anlage oder einer Infection oder sonstwie, das dürfte feststehen, dass 
•lein Trauma als prädisponirender Ursache eine gewisse Bedeutung für die Ent¬ 
stehung des Carcinoms beizumessen ist. Jedenfalls rechtfertigt es die Kasuistik, 
auf einen innigeren Zusammenhang zwischen Trauma und Carcinom zu schliesscn, 
und nicht vielmehr lediglich auf ein zufälliges Nacheinander, zumal wenn andere 
Ursachen fehlen, und nach den bisherigen Anschauungen das Trauma geeignet 
erscheint, eine derartige Wirkung auf die Kürperzellen auszuüben. 

In einigen wenigen Fällen, in dönen sich die Entwicklung des Carcinoms 
direct an ein Trauma anschliesst, wird man nicht anstehen, das Trauma als die 
Ursache der Geschwulstbildung anzusehen, in der Mehrzahl der Fälle bildet das 
Trauma eine prädisponirende Ursache. 

Was Purgesz 1 ) von dem Zusammenhang zwischen croupüscr Pneumonie 
und Trauma sagt, das gilt in gewissem Sinne auch für das Carcinom; das Trauma 
«riebt nur die Gelegenheit ab, das Gleichgewicht des Körpers zu stören, gerade 
wie z. B. auch die Erkältung nur in wenigen Fällen als directe Ursache einer 
Pneumonie u. s. w. anzusehen ist, sondern nur als Gelegenheitsursache. Das 
Trauma hat vielleicht äusscrlieh gar keine Läsion hervorgerufen, wohl aber eine 
Lockerung im Gofügo der Zellen veranlasst, welche die normale Wachsthums- 
energie ändert und so die Ursache einer Störung des Nebeneinander von Epithel 
und Stroma geworden ist. Vielleicht auch hat das Trauma primär eine Circulations- 
störung hervorgerufen, welche weitere Folgen in dem Wachsthum der Zellen nach 
sich zieht. 

Und diese Traumen sind weniger einmalige, schwere Verletzungen, bei diesen 
ist die Reaction der afficirten Gewebe eine derartige, dass gewissennaassen keine 
Zeit ist für das Epithel in der Richtung des geringsten Widerstandes sich zu ver¬ 
mehren, vielmehr sind es wiederholte leichte Traumen und Contusionen, welche 
Blutergüsse setzen und die Ernährungsbedingungen der betreffenden Gewebe ändern 
und so den Anfang einer chronischen Entzündung bilden. 

Rindfleisch 2 ) meint, dass durch den Stoffwechsel in den Geweben fort¬ 
während Excretstoffe entstehen, welche sowohl aus den Organen, in denen sie ent¬ 
stehen, als aus der Säftemasse immer ausgeschieden werden müssen, wenn der 
Lebensprocess des Individuums ungestört bleiben soll. Werden sie nicht umge- 
wandelt oder ausgeschieden (wie z. B. in Folge einer Quetschung, Entzündung, 
Blutergusses), so häufen sie sich zunächst local an, dringen dann in die Säfte¬ 
masse und sind die Ursache jener progressiven Processe, welche mit Kernvermeh¬ 
rung beginnen und mit der Bildung von Tuberkel-, Krebsknoten endigen. 

Vielleicht sind es nach einem Trauma physikalische Vorgänge an der be- 


1) Deutsches Archiv f. klin. Med. XXXV. 

2) Lehrbuch der pathologischen Gewebelehre. Leipzig 188b. 

Vierteljahrbschr. f. gcr. Med. Dritte Folge. XIV. 1. ß 


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Dr. Berffor, 


tnMTendrn Stelle, welche die Knlstehung des t'arcinoms fördern, wie sie Litten 1 ) 
für die Pneumonie amiimnit. 

Der Zusammenhang /wischen Trauma und Carcinom hat bei 
unserer neuen Gesetzgebung eine grosse Wichtigkeit erlangt. 

Durch einen Cnfall kann eine Verletzung, ein ganz neues Leiden 
hervorgerufen werden oder ein schon vorhandenes Leiden verschlimmert 
werden. Viele sind zwar der Meinung, dass ein Leiden in den meisten 
Fällen nicht durch einen Cnfall hervorgerufen werde, das betreffende 
Individuum sei vielmehr schon vorher nicht ganz gesund gewesen. 
Dem ist entgegenzuhalten, dass ganz gesunde Arbeiter überhaupt eine 
Seltenheit sind, dass von Seiten des Arbeitgebers auch kein Werth auf 
die vollständige Gesundheit gelegt wird. Es handelt sieh nur darum, 
der Mann war vorher arbeitsfähig und w'ird jetzt arbeitsunfähig, die 
Folgen des Traumas sind also bei dem ganz gesunden und bei dem 
nicht ganz gesunden Arbeiter dieselben. 

Nach der Rceurs-Entschcidung vom 4. Februar 1887 des Reichs- 
Versicherungsamtes ist es nicht erforderlich, dass die bei einem Un¬ 
fall erlittene Verletzung die alleinige Ursache der Erwerbsunfähigkeit 
bildet, es genügt vielmehr, dass sie eine von mehreren dazu mit¬ 
wirkenden Ursachen ist. Der Anspruch besteht auch dann, wenn 
durch ein schon bestehendes Leiden die Folgen der Verletzung ver¬ 
schlimmert und die Erwerbsunfähigkeit beschleunigt werden. 

Eine Entschädigung ist nach den Recurs-Entscheidungcn 500 und 
610 ausgeschlossen, wenn die Erwerbsunfähigkeit nachgewiescner- 
massen nur in Folge schuldhaften Verhaltens des Verletzten durch 
Nichtachtung der ärztlichen Anordnungen entsteht. Das Zusammen¬ 
wirken mehrerer Ursachen schliesst den Schadenersatz nicht aus 2 ). 
So kann auch ein Mann trotz eines Krebsleidcns noch weiter arbeiten. 
Das Unfallversicherungsgesetz versichert gegen alle Folgen von Un¬ 
fällen im Betriebe, auch die mittelbaren; selbst also für denjenigen, der 
auf dem Cohnhcim’schen Standpunkt steht, ist das Trauma von 
grösster Wichtigkeit bei der praktischen Bcurtheilung derartiger Fälle. 


1) lieber die durch Uontusionon erzeugten Erkrankungen der Brustorgane 
mit besonderer Berücksichtigung der Contusionspneumonic. Zeitsohr. f. klin. Med. 
18*2. V. 

2) In der Keeurs-Entseheidung vorn ö. Juli iN'.Ci wurde sogar ein Fall von 
Scorbul als Unfall angesehen, es wurde angenommen, dass bei der verlängerten 
Seefahrt der Genuss brackigen Wassers mitgewirkt habe bei dem Zustandekommen 
der Krankheit. 


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Trauma und Oareinom. 


83 


Inwieweit eine \ erschlimmerung einessehon vorhandenen Leidens 
auf einen Unfall zurüekzuführen ist, das ist von dem Arzt auf (iruncl 
des thatsäeliliehen Krankheitszustandes zu erörtern und klarzustellen, 
norlnvemlig ist die nicht fortzudiseutirende Continuität der Erschei¬ 
nungen, wie sie mit der ärztlichen Wissenschaft vereinbar ist. 

Nach dem Unfallversicherungsgesetz ist die Verschlimmerung 
eines schon bestellenden Leidens gleichbedeutend mit der llervor- 
rufung eines solchen. Festzuhalten ist auch, dass der Unfall, auf 
welchen das Leiden zurückgeführt wird, ein zeitlich begrenzter ist, es 
genügen also nicht allgemeine Angaben, sondern der Moment, in 
welchem der Unfall eintritt, muss ein tixirter sein. Als Trauma gilt 
nach llofmann 1 ) im weiteren Sinne jede Gesundheitsbeschädigung, 
welche ihre Ursache ausserhalb des Individuums hat, im engeren Sinne 
Störungen des Zusammenhangs oder der Function gewisser Organe 
oder .Organgewebe durch mechanische Mittel. 

Die Frage ist also die: Besteht ein Kausalzusammenhang 
zwischen Trauma und Tod resp. Leiden, hat die Verletzung un¬ 
mittelbar gewirkt oder mittels einer Zwischenursache, welche durch 
jene erst in Wirksamkeit gesetzt worden ist? 

Zwischenursachc ist jedes Mittelglied zwischen Verletzung und 
Tod bezugsweise Krankheit (Geschwulst), und welches letztere ver¬ 
ursacht hat, seinerseits aber Folge der Verletzung ist und durch diese 
entstanden. Ein solches Mittelglied ist sehr häufig Entzündung, letztere 
steht dann in Causalncxus einerseits mit der Verletzung, andererseits 
mit dom Leiden bezugsweise dem Tode. In dieser Kette können noch 
mehr Glieder eingeschaltet werden, wie Verletzung, Bluterguss, Ent¬ 
zündung, Eiterung, Schorf, Geschwulst, Tod. Nothwendig ist, dass 
jedes folgende Glied der Kette (zeitlich und örtlich) Folge des vor¬ 
angehenden und Ursache des folgenden ist. 

Um den Zusammenhang zwischen Trauma und Garcinom anzu¬ 
nehmen, muss der Verletzte vor Einwirkung des Traumas überhaupt voll¬ 
ständig gesund oder doch frei von Beschwerden (efr. oben) gewesen sein. 
Die Geschwulst mnss sich sofort an die durch den Unfall gesetzte 
Verletzung in weitestem Sinne angeschlossen haben oder es müssen 
Schmerzen von dem Augenblick der Einwirkung des Traumas an be¬ 
standen haben, bis zur Manifestirung der Geschwulst, und letztere 


1) Lehrbuch der gerichtlichen Medicin. 1<S93. 

6* 


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84 


Dr. Berger, 

muss an clor Einwirkungsstelle dos Traumas zuerst ihren Anfang ge¬ 
nommen haben. 

Zu berücksichtigen ist die Zeit, welche vom Trauma an bis zum 
Beginn der Gcschwulstentwicklung vergangen ist, und ausserdem die 
Qualität und Quantität der Verletzung. Traumen, welche grössere 
Quetschungen und Blutergüsse erzeugen, scheinen nach den bisherigen 
Erfahrungen besonders geeignet zu sein, Geschwülste hervorzurufen. 

Entwickelt sich das Carcinom zeitlich und örtlich unmittelbar im 
Anschluss an das Trauma, oder bestehen seit der Einwirkung des 
Traumas an den betreffenden Orten beständig oder intermittirend 
Schmerzen und Beschwerden, und entwickelt sich die Geschwulst, an 
der betreffenden Stelle, so ist man berechtigt, die Geschwulst auf das 
Trauma zurückzuführen. Mit Recht hebt Stern 1 ) hervor, dass bei 
Begutachtung chronischer innerer Erkrankungen zwar eine Continuität 
bezüglich der objeetiven KrankhcitsVorgänge bestehen muss, dass aber 
manchmal in der ersten Zeit nach dem Unfall die objeetiven und sub- 
jeetiven Symptome so geringfügig sind, dass erstere für den Unter- 
suchcr nicht wahrnehmbar sind, letztere dem Patienten nicht zum 
Bewusstsein kommen und weist auf das zuweilen jahrelange Latenz- 
sladium der traumatischen Hirnabscessc hin. Es giebt eben keine 
allgemein gütigen Regeln, ein jeder Fall will für sich nach allen Rich¬ 
tungen genau gewürdigt werden. 

Ist die Geschwulst schon vor Einwirkung des Traumas vorhanden 
gewesen oder ist sie nach den bisherigen Erfahrungen und nach der 
Lage der Dinge wahrscheinlich schon vorhanden, aber noch nicht 
manifest gewesen, so ist der Einfluss des Traumas mit zu berück¬ 
sichtigen und sind seine Beziehungen zu der Geschwulst zu erörtern 
und genau zu begründen, dieser Zusammenhang wird von Fall zu Fall 
ein verschiedener, in manchen Fällen auch zu negiren sein. 

Eine mit der ärztlichen Wissenschaft übereinstimmende und nach¬ 
weisbare Verkettung der Krankheitserscheinungen ist für den ursäch¬ 
lichen Zusammenhang nothwendig. 

Je mehr Zeit zwischen Trauma und Geschwulstentwickelung liegt, 
je weniger Beschwerden in der Zwischenzeit bestanden, um so mehr 
ist man berechtigt, den Zusammenhang zu verneinen. 

Es genügt in dem einzelnen Falle nicht, zu sagen, dass die 
Möglichkeit oder Wahrscheinlichkeit vorhanden sei, dass das Carcinom 


1) Aerztl, Sachverstand.-Ztg. 1897. No. 1. 


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Trauma und Garcinom. 


85 


mit dein Trauma Zusammenhänge, sondern es müssen die Gründe, die 
aus dem tatsächlichen Befunde dafür sprechen, erörtert werden, nach 
diesen hat dann der Richter zu entscheiden. 

Die Frage des Zusammenhangs zwischen Trauma und Garcinom 
ist jüso nur für den Einzelfall zu entscheiden, aber bei der Beur- 
theilung ist ein etwa angegebenes Trauma gebührend zu berücksichtigen, 
es darf dieses nicht a priori als gleichgiltig unbeachtet gelassen wer¬ 
den, mag man über die Genese der Geschwülste denken, wie man 
will. Sehr richtig sagt Mendelsohn 1 ) hinsichtlich der traumatischen 
Phthise: „Es ist zwar die Kugel, welche tödtet, die Veranlassung ist 
jedoch immer der Schütze.“ 

Es ist unter den jetzigen Verhältnissen für den Arbeiter viel 
vortliedhafter einen Unfall als eine Krankheit zu bekommen, und so 
ist es, nachdem das Unfallversicherungsgesetz gewissermassen den 
Arbeiterstand zu einer geschickten Auslegung der Entstehung der 
Erwerbsunfähigkeit erzogen hat, für den begutachtenden Arzt von 
der grössten Wichtigkeit, sich vor Simulation und Uebertreibung zu 
schützen, er wird jeden einzelnen Fall auf das sorgfältigste erwägen, 
die thatsächliehen Befunde erörtern und seine aus den Thalsachen 
abgeleitete Ansicht auf das genaueste zu begründen haben. 

Schlusssätze: 

1. Die eigentliche Ursache des Carcinoms ist dunkel. 

2. Das Trauma ist mit ein prädisponirendes Moment zur Ent¬ 
wicklung des Carcinoms, sei es, dass dasselbe die Anlage 
zur Entwicklung bringt oder den Ort bestimmt. 

3. Die dagegen erhobenen Einwände (Seltenheit der Beobachtung 
sofort nach Einwirkung des Traumas, das negative Resultat 
der Experimente, der geringe Werth der subjeetiven Angaben 
des Kranken) sind nicht stichhaltig. 

4. Das Trauma muss weniger ein einmaliges heftiges sein, als 
vielmehr ein wiederholtes, Contusionen oder dergl., welche 
Blutergüsse erzeugen und die Ernährungsverhältnisse ändern. 

5. Besonders bei gleichzeitiger natürlicher seniler Involution 
werden genügend lange wirkende Traumen wirksam. 


1) Zeitschr. f. klin. Med. ls8ä. Hü. X., nach Gudcr, Gelier den Zusam¬ 
menhang - zwischen Trauma und Tuberkulose. Diese Yierteljahrssrhr. 1894. 2 IT. 


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l>r. Berger, Trauma und (-air-inom. 

6. Zu berücksichtigen ist hoi der praktischen Bcurtheilung nicht 
nur die rein ursächliche Beziehung des Traumas, sondern 
auch der die Entwicklung fördernde Einfluss. 

7. Bei der Bcurtheilung von Carcinom nach Unfällen ist dem 
Trauma eine gewisse ätiologische Bedeutung beizumessen. 

8. Diese Bedeutung ist im Einzelfalle zu erörtern und zu be¬ 
gründen. 

9. Bei dem Nachweise des Zusammenhangs zwischen Trauma 
und Carcinom muss zwischen beiden eine ununterbrochene 
Kette vorhanden sein, deren folgendes Glied immer aus dem 
vorliergellenden folgt. 


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Beiträge zur Begutachtung des Zusammenhanges 
zwischen Trauma und Lungentuberkulose. 

Von 

Dr. J. Kooliler (Berlin). 


Die in dieser Vierteljahrsschrift erschienenen Arbeiten, welche den 
Zusammenhang zwischen Trauma und Tuberculose beliandoln, haben 
nicht zum wenigsten dazu beigetragen, unter den begutachtenden 
Acrzten eine Klärung dieser Frage in wissenschaftlicher Beziehung zu 
schaffen. Trotzdem wird es Jedem, der öfters Gelegenheit hat, die 
verschiedenen Beurtheilungen einschlägiger Fälle zu lesen, au (fallen, 
wie weit wir noch im Allgemeinen davon entfernt sind, auch im Sinne 
der Rechtsprechung eine Einigkeit auf diesem Gebiete zu erzielen. 

Es liegt dies daran, dass gerade bei der Beurtheilung über das 
Entstehen oder die Verschlimmerung von Lungenerkrankungen dem 
subjcctivon Ermessen des Begutachters ein gewisser Spielraum ge¬ 
lassen ist. 

Spricht sich doch eine Rekurs-Entscheidung des Rciehs-Versiehe- 
rungs-Amtes vom 23. September 1889 bei der Frage, ob z. B. ein 
Blutsturz als die Folge eines Unfalles oder einer chronischen Erkran¬ 
kung aufzufassen ist, dahin aus 1 ): „Ein ßluisturz an sich ist ein 
krankhafter Vorgang im Körper des von ihm Betroffenen, dessen Auf¬ 
treten zwar unter Umständen die Folge eines Unfalles sein kann, 
dies aber keineswegs nothwendig sein muss“. „Lungenkrankheiten 
— und zwar sowohl die Lungenschwindsucht, als die besonderen Er¬ 
krankungen der dauernd mit dem Brechen und Bebauen von Steinen 

1) efr. L. Becker, Lehrbuch der ärztlichen Sachverstandiuen-ThiUiukcit etc. 
S. 185. 


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Dr. K o c h 1 e r, 


beschäftigten Arbeiter — haben erfahrungsgeraäss mit anderen chro¬ 
nischen Leiden das gemein, dass in ihrem natürlichen Verlaufe nicht 
selten acute Erscheinungen eintreten, welche dem seitherigen Zustande 
gegenüber plötzliche, erhebliche Verschlimmerungen herbeiführen. Hier¬ 
zu bedarf cs keineswegs eines erkennbaren äusseren Anlasses; jene 
Verschlimmerungen können auch gelegentlich der alltäglichen Ver¬ 
richtungen eintreten, an deren Vornahme der Leidende gewöhnt ist, 
lediglich in natürlicher Weiterentwicklung der inneren Krankheit. Wenn 
demgemäss ein bereits lungenkranker Arbeiter gelegentlich der Vor¬ 
nahme einer Arbeit, welche der tägliche Betrieb mit sich bringt, und 
welche nur die übliche massige Anstrengung seiner Kräfte erfordert, 
von einem Blutsturz befallen wird, so muss in jener Betriebshandlung 
wohl die zufällige Gelegenheit, nicht aber die Ursache der 
durch den Blutsturz bedingten Verschlimmerung im Körper¬ 
zustande jenes Arbeiters erblickt werden.“ 

Nun kommt es in vielen Fällen eben auf die subjeetive Auf¬ 
fassung an, was unter der üblichen massigen Anstrengung zu 
verstehen ist. 

Hass darüber die Ansichten häufig auseinandergehen r soll der 
erste Fall zeigen, der, wie ich glaube, auch dadurch einen gewissen 
objectiven Werth erlangt hat, dass die Endgutachten auf Grund des 
Obductionsbelundcs abgegeben worden sind. 

Ich lasse die einzelnen Gutachten hierunter der Reihe nach folgen. 

I. Fall. 

Herr M., welcher an Lungenblutung leidet, führt die Ursache seiner Erkran¬ 
kung auf schweres Heben in seinem Berufe, d. h. auf einen Unfall zurück. Aerzt- 
lichcrseits steht nach längerer Beobachtung des Leidens dieser Annahme nichts 
entgegen. 

Berlin, den 7. Mai 1895. (gez.) Dr. Koehler. 

Am 31. Mai 1895 habe ich auf Veranlassung der Bernfsgenossenschaft mit 
Herrn Ür. Koehler bei dom p. M. in dessen Wohnung consultirt. 

Ich fand M. schwer leidend, abgemagert aussehend, im Bett liegend. 

Die Ursache seiner Erkrankung führt er auf das Tragen der 20 
bis 25 kg schweren Eiscntheile von der Pferdebahn bis zum Schul¬ 
gebäude zurück, macht überhaupt mit dem bisherigen Acteniuate- 
rial gleichlautende Angaben. Er will früher stets gesund, stark, kräftig, 
sogar corpulent gewesen sein und aus gesunder Familie stammen. Das Tragen 
der Last hätte ihn sehr angestrengt, er sich sehr matt gefühlt und er dieserhalb 
dieselbe auch nicht wieder mitgenommen. 


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Zusammenhang zwischen Trauma und Lungentuberkulose. 


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Am 22. März Morgens stellte sich Bluthusten ein. Kr suchte Herrn Dr. 
Koehler ;iuf. Dieser behandelte ihn bisher; der Bluthusten, sogar bis Blutsturz 
gesteigert, hat sich öfter wiederholt, anfangs fast täglich; auch heute (31. Mai) 
>ind Blutspuren im Auswurf. Daneben bestand starker Auswurf, zeitweise Fieber, 
Schweiss, Abmagerung etc., und es stellte sich allniiilig ein schwindsuchtartiger 
Zustand ein. 

Die objective Untersuchung des kräftig gebauten, jetzt abgemagerten, elend 
aussehenden Mannes, die in Anbetracht der Neigung zu Lungenblutung nur schnell 
vorgenonimen wird, ergiebt über der ganzen rechten Lunge von oben bis unten, 
vorne und hinten^ mächtige Schallabschwächung, Dämpfung mit unbestimmtem 
bronchialem Athmen, namentlich auch hinten und rechts, und überall fein- bis 
rniuelblasigem, z. Th. leicht klingendem Rasseln. Herz normal. Linke Lunge 
hinten unten leichtes Rasseln, Spitze etc. normal. 

Keine Oedeme. 

Zur Zeit, Morgens 9 Uhr, kein Fieber. 

Herr Dr. Koehler sagte mir persönlich, dass bei dem ersten Besuch 
des M. in seiner Wohnung, am 22. März, dieser ihm von dem ursäch¬ 
lichen Unfall nichts gesagt hätte, sondern über geringes Lungenbluten, 
Brustschmerz, Mattigkeit geklagt hätte und er seiner Zeit anfangs bei der damals 
herrschenden Inlluenza-Epidemie die Erkrankung als Influenza mit Lungen¬ 
entzündung aufgefasst hätte. Temperaturmessungen sind nicht regelmässig vor- 
genommen. 

Nach meiner Untersuchung vom 31. Mai 1895 handelt es sich bei M. um 
einen subacut verlaufenden entzündlichen Process der ganzen rechten Lunge mit 
voraussichtlichem Uebergang in Schwindsucht, und wird mir auf tele¬ 
phonische Anfrage bei dem Vertreter des momentan verreisten Herrn Dr. Koehler, 
Herrn Dr. Langer, bestätigt, dass M. an Schwindsucht leide. 

Was nun die Frage des Betriebsunfalles anbetrilh, so lässt sich meiner Mei¬ 
nung nach ein solcher nicht annehmon. 

M. trug am 21. März 1895 eine für einen starken Mann nicht be¬ 
sonders schwere Last einige 100 Schritt (10 Häuser). Er nahm die¬ 
selbe nicht mit zurück, weil er sich angegriffen fühlte und ihm das 
Tragen schwer gefallen war. Dies ist wohl nicht die Folge der über¬ 
mässigen Anstrengung, sondern weil R. sich schon unwohl fühlte 
(Influenza). Erst am nächsten Morgen bei der Arbeit, stellte sich Bluthusten 
ein. Der Arzt constatirt Influenza, ihm sagt er auch nichts von dem ur¬ 
sächlichen^) Unfall, muss also wohl ausser über Bluthusten auch über andere 
Symptome geklagt haben, denn aus blossem Bluthusten diagnosticirt doch kein 
Arzt Influenza. Es entwickelt sich weiter eino ausgedehnte, schnell verlaufende 
Lungenentzündung der ganzen rechten Lunge, welche zu einem chronischen Lun¬ 
genleiden führt. Derartige Lungenentzündungen, specicll mit Blutauswurf, kom¬ 
men aber gerade im Anschluss und als Begleiterscheinung von Influenza vor. 

Wenn M. z. B. sofort nach dem Tragen oder bei demselben Blut ausgeworfen 
hätte, läge der Fall anders. Dann aber würde bei ruhigem Bettlager voraussicht¬ 
lich auch der Verlauf ein ganz anderer gewesen sein. Wahrscheinlich hätte die 
Blutung aufgehört und es wäre gar nicht zur Entzündung und ihren Folgen ge¬ 
kommen. Wenn die späteren Bluthustenanfälle von grosser Reichlichkeit alle dem 


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Pr. Koch ler, 

beim Tragen geplatzten Lungen ge lass entstammt hätten, so hatte M. auch sofort 
eine grössere Menge ausgehustet. 

Nach alledem scheint mir hier ein zeitlicher, aber kein ursäch¬ 
licher Zusammenhang vorzuliegen. M. fühlte sich durch die in ihm 
schlummernde Krankheit angegriffen, deshalb strengte ihn das Tragen der Last 
mehr als sonst an. Am nächsten Tage steigerte sich die Krankheit durch Lungen¬ 
entzündung und blutigen Auswurf. M. selbst sagt dem Arzt merkwürdiger Weise 
auch gar nichts von dem Tragen der Last, hält dasselbe also selbst nicht für ur¬ 
sächlich. Der Arzt constatirt Influenza und Lungenentzündung mit typischem, 
häufigem Blutauswurf und Lebergang in Schwindsucht und nun erst, am 2. Mai, 
wird von M. der Unfall als ursächliches Moment hervorgesucht. 

Dass schweres Heben Lungenzerreissung, Bluthusten, Entzündung, Schwind¬ 
sucht bewirken kann, ist unbestritten, dann aber ist ein schnellerer Eintritt der 
Blutung zu verlangen, der Verlauf ist ein langsamerer, namentlich bei sofortiger 
ärztlicher Hülfe. Gerade aber Inlluenzapneumonien setzen häufig mit Blutauswurf 
etc. ein und nehmen einen Verlauf wie der hier vorliegende, und ist kein Grund 
ersichtlich, wieso in diesem Falle das Tragen der massigen Last auch nur begün¬ 
stigend gewirkt haben soll, so dass der Unfall wohl abzulehnen ist. 

(gez.) Dr. II. 

Berlin, den 1. August 1895. 

Der Berufsgenossenschaft für Feinmechanik, Section I. Berlin, erlaube ich 
mir auf die gefällige Aufforderung vom 28. Juni 1895 mich in folgender Weise zu 
äussern: 

Was ad I. „den Zustand des M. anbetrifft, als derselbe (an welchem Tage?) 
in meine ärztliche Behandlung kam, sowie den Punkt, was M. mir gegenüber da¬ 
mals als Ursache seines Leidens angegeben hat,“ so steht fest, dass sich der p. M. 
am 22. März er. laut Ausweis meines Krankcnjournals bei mir als Kranker gemeldet 
hat. Als Diagnose ist meinerseits „Lungenblutung“ verzeichnet worden. 

Ein Zusammenhang dieser Lungenblutung mit einem etwa kurz vorher er¬ 
littenen Unfall ist damals, d. h. bei Beginn der Erkrankung, nicht in Erwägung 
gezogen worden, da mir der p. M. nur angegeben hat, dass er einen Tag vorher 
bei der Arbeit sich unwohl gefühlt, worauf sich dann gegen Abend die Blutung 
eingestellt habe. Erst ungefähr 3 Wochen nach dieser Zeit erfuhr ich von seiner 
Frau, mit bestätigenden Bemerkungen von ihm ergänzt, dass er am Tage seiner 
Erkrankung, d. h. den 21. März 1895, eine ca. 20—25 kg schwere Presse in einem 
in der Bellealliancestrasse belegenen Schulgebäude mehrere Treppen hinauf zu 
tragen gehabt habe. Schon auf der ersten Treppe sei ihm schlecht geworden, er 
habe sich hinsetzen müssen und erst nach einer Erholungspause weiter steigen 
können. Er glaube sicher, sich durch Tragen dieser Presse eine Zerrung zuge¬ 
zogen zu haben, denn seit dieser Zeit spüre er in der rechten Lunge, ungefähr im 
3. Zwischenrippenraum, dicht neben dem Brustbein, einen Schmerz. Er sei vorher 
immer gesund gewesen; ob ihm schon vor dem Tragen der Presse nicht ganz wohl 
gewesen, könne er nicht mit Sicherheit angeben. 

Auf meinen Ein wand, warum er erst 3 Wochen nach seiner Erkrankung auf 
diesen Umstand aufmerksam mache, erwidert er, dass er der Sache anfänglich 
keine Bedeutung beigelegt, auch geglaubt habe, in kurzer Zeit gesund zu sein. 


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Zusammenhang zwischen Trauma und Lungentuberkulose. 


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Pa sich die Krankheit, indess hinzöge und man nicht wissen könne, 
<»b er nicht langer erwerbsunfähig sein könne, als die Kasse ihn zu 
unterstützen verpflichtet sei, so habe er durch die nachträgliche 
Meldung seines U n fall es sich für die Zukunft sichern wollen. 

Dies ad I. 

Der p. M. ist nun, um auch über den 2. Punkt, den Verlauf des Heilverfah¬ 
rens, zu berichten, wie schon oben erwähnt, an Lungenblutung erkrankt gewesen. 
Die heftig und häufig unter vielen Hustenslösscn auftretenden Blutungen zwangen 
selbstverständlich bei der Untersuchung zu grosser Vorsicht. Es konnte, abge¬ 
sehen von massigem Fieber (rernittirendem Fieber), geringer Pulsbeschleunigung, 
»dijVctiv an der rechten Lunge im unteren und mittleren Theil des vorderen Lap¬ 
pens ein abnormes (bronchiales) Athemgeräusch, vermischt mit Rasselgeräuschen 
wahrgenommen werden, während der Percussionsschall darüber gegen die andere 
Seite gedämpft erschien. Die Untersuchung des schaumigen blutigen und des vom 
Blute freien Auswurfes zeigte zahlreiche Tuberkelbacillen. — Diese allmälig über 
der ganzen rechten Lunge nachweisbaren objcctiven Befunde der Verdichtung und 
Zerstörung setzten sich auch auf der linken Seite fort. Die häufig wiederkehren¬ 
den profusen Blutungen, der Mangel ausgiebigen Gasaustausches durch die zer¬ 
störte Lunge, das Fieber und die starken Schweissabsonderungen, das Danieder¬ 
liegen des Appetites, Schlaflosigkeit ctc. brachten einen Kräfteverfall zu Stande, 
wie er der sogen. Fhthisis florida (galloppirenden Lungenschwindsucht) eigen- 
th und ich zu sein pflegt. 

Der p. M. ist ungefähr 4 Monate nach Beginn seiner Erkrankung seinem Lei¬ 
den erlegen, und damit erledigt sich der eine Punkt der 3. Frage über den jetzigen 
Zustand des p. M. 

Von eingreifender Bedeutung ist und bleibt indess die Fortsetzung Ihrer 
Frage unter IIL, „ob nach dem Befunde zu I., in Verbindung mit den damaligen 
Angaben des Genannten mir gegenüber und unter Berücksichtigung aller einschlä¬ 
gigen Verhältnisse angenommen werden muss, dass das Leiden des M. thatsäch- 
lich auf einen Betriebsunfall oder auf welche Ursache sonst zurückzuführen sei.“ 

Ich wiederhole kurz: Der p. M. erkrankt nach kurzem Uehclhefmden mit einem 
Blut-sturz an Lungenschwindsucht, deren Ursache er, wie er 3 Wochen später be¬ 
hauptet, auf das Heben und Tragen einer 20—25 kg schweren Presse zurückführt. 

An und für sich ist es ja immerhin auffallend, dass das Heben und Tragen 
einer Presse mit obigem Gewicht bei einem kräftigen und gesunden Arbeiter eine 
derartige Zerrung des Brustfelles und Lungengewehes verursacht haben soll, dass 
eine starke Blutung mit nachfolgender Lungenschwindsucht daraus resultiren 
konnte. 

Indess glaube ich hier noch concurrirende Ursachen annehmen zu müssen; 
hat doch der p. M. selbst angegeben, dass er sich bereits beim Tragen der Presse 
nicht ganz wohl gefühlt habe; er musste sich auf die Treppe hinsetzen, wie oben 
berichtet — nach Ausweis meiner Krankenliste herrschte zur Zeit eine leichte In¬ 
fluenza-Epidemie, und ist es nicht unmöglich, dass auch bei dem Genannten eine 
derartige Influenza als mitbethciligte Ursache eingewirkt hat — andererseits ist 
wohl mit Sicherheit anzunehmen, dass der p. M. alte tuberkulöse Herde in seiner 
Lunge besessen hat, denn durch solch verhäUnisstnässig geringen Insult, wie das 
Heben und Tragen der beschriebenen Presse bedeutet, wäre wohl kaum eine der- 


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Dr. Ko eh ler, 


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artig starke Blutung aufgetreten, wenn nicht krankhaft verändertes Lungengewebe 
und Lungengefässe vorhanden gewesen waren. — Dass solche bestanden haben 
können, ohne bemerkenswerte Erscheinungen, von leichtem Husten abgesehen, 
hervorgerufen zu haben, ist ärztlicherseits nicht auffallend zu finden, wie auch der 
|). M. angegeben hat, dass er stets gesund gewesen, auch in seiner Familie kein 
Fall von Lungenerkrankung zu seiner Kenntniss gekommen sei. 

Wären nun selbst solche prädisponirenden Momente in diesem Falle vorhan¬ 
den gewesen, so könnte dennoch die Annahme eines Unfalles bestehen bleiben, 
wenn, wie hier, der Nachweis geliefert ist, dass im Anschluss an die durch das 
Tragen der Presse hervorgerufene Zerrung der Lunge eine Blutung stattgefunden 
hat. Nach einer Kecurs-Entscheidung des Beichsversicherungsamtes vom 4. Febr. 
1SS7 ist es zu einem begründeten Anspruch auf Unfallentschädigung nicht erfor¬ 
derlich, dass die bei dem Unfall erlittene Verletzung die alleinige Ursache der ein¬ 
getretenen Erwerbsunfähigkeit bildet, es genügt, wenn sie nur eine von mehreren 
dazu mitwirkenden Ursachen ist, und es bleibt daher der Anspruch bestehen, auch 
wenn durch ein schon bestehendes Leiden die Folgen der Verletzung sich ver¬ 
schlimmert und den Eintritt der Erwerbsunfähigkeit beschleunigt haben (cfr. 
Becker: Lehrbuch der ärztlichen Sachverständigen-Thätigkeit etc. 1895. S. 67). 

Was noch zum Schlüsse die Frage anbetrifft, ob im Anschluss an eine Ver¬ 
letzung, noch dazu, wenn dieselbe geringfügiger Natur ist, eine Lungentuberku¬ 
lose überhaupt sich entwickeln könne, da dieselbe nach unserer heutigen Auffas¬ 
sung eine Infectionskrankheit bedeute, so ist dieselbe wissenschaftlich schon längst 
in bejahendem Sinne gelöst, und will ich in dieser Beziehung nur auf die klassi¬ 
sche Sammelarbeit über diesen Gegenstand von Guder in der Vierteljahrsschrift 
für gerichtliche Medicin, 1894/95, hingewiesen haben. 

Mein Urtheil geht daher, was die Frage 111. anbetrifft, dahin, 
dass ich in vorliegendem Falle ärztlicherseits einen Zusammenhang 
zwischen dem angeblich durch das Tragen der Presse hervorgerufe¬ 
nen Unfall und darauf folgender Lungenschwindsucht nicht für 
ausgeschlossen, ja sogar für wahrscheinlich halte. 

(gez.) Dr. Ko eh ler, Arzt. 

Berlin, den 24. Juli 1895, Nachmittags Uhr. 

Protokoll der Section 
des Peter M., Mechaniker, 43 Jahre alt. 

Die Section der Kopfhöhle wird von den Angehörigen untersagt. 

Abgemagerter männlicher Leichnam, ohne äussere Verletzung, der Unterleib 
ist etwas eingesunken, das Unterhautfettgewebe ist atrophisch, bräunlich-gelblich, 
das Bauchfell ist glatt und glänzend, in der Bauchhöhle kein fremder Inhalt, die 
Darnischlingen sind etwas durch Gas aufgetrieben, der Zwerchfellstand befindet 
sich beiderseits am unteren Bande der 5. Bippc. 

Nach Abnahme des Brustbeins zeigt sich die linke Lunge etwa« zusammen¬ 
gesunken, die rechte ist in ihrem oberen Theil mit dem Brustkorb fest verwachsen, 
in ihrem unteren frei beweglich. In beiden Brusthöhlen (Pleurahöhlen) findet sich 
geringe Menge wässeriger Flüssigkeit. Im Herzbeutel ein Esslöffel gelblich-röth- 
liclier wässeriger Flüssigkeit. Das Herz ist ein wenig grösser wie die rechte Faust, 
sehr schlaff, die linke Herzkammer ist leer, der linke Vorhof enthält eine grössere 


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Zusammenhang zwischen Trauma und Lungentuberkulose. 


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Menge flüssigen und geronnenen Blutes. Die rechte Herzkammer enthält eine reich¬ 
liche Menge flüssigen Blutes und Speckgcrinnsel, der rechte Vorhof ist prall mit 
Blutgerinnsel gefüllt, die Herzmuskulatur ist blassroth, sehr brüchig und im Ge¬ 
biet der linken Herzkammer leicht gelblich. Die Herzklappen sind sämmtlich zart, 
beide Herzkammern etwas erweitert. Die Aorta ist eng, misst, über den Klappen 
aufgeschnitten, 6y 2 cm. Die Innenhaut ist glatt, die Kranzgefüsse des Herzens 
dnd zart. 

Die linke Pleura ist im Gebiete des Unterlappens an mehreren Stellen trocken 
und zeigt zahlreiche Tuberkel. Der linke Oberlappen enthält zahlreiche dicht¬ 
stehende, käsige Herde, welche theils bronchialer, theils pneumonischer Natur sind. 
Hin grösserer Herd ganz frischer käsiger Hepatisation von etwa Hühnereigrösse 
liegt ini vorderen Theil des linken Oberlappens. Der linke Unterlappen ist eben¬ 
falls durchsetzt mit vielen kleinen käsigen Herden. Die grösseren Bronchien der 
linken Lunge sind leer. Die Bronchialdrüsen sind ein wenig vergrössert, schwarz, 
und zeigen einzelne Tuberkel. Die Pleura des rechten Unterlappens ist von 
grosser Ausdehnung, trocken, und zeigt an verschiedenen Stellen Tuberkel. 
Im rechten Überlappen liegt, eine kleine, apfelgrosse, ulceröse Höhle, und inner¬ 
halb derselben, an der Seite, welche dem Ililus zu liegt, ein haselnussgrosser, 
zum grösseren Theil aus thrombotischen Massen bestehender Körper. Dieser Kör¬ 
per hängt mit einem der grösseren Aeste der Art. pulmon. zusammen und erweist 
sich als ein aneurysmatischer, mit Gerinnsel gefüllter, nicht mehr 
ganz intacter Sack. Im Uebrigen sind die Aeste der Lungenarterie auf beiden 
Seiten völlig intact. Neben der Höhle des Oberlappens liegen in demselben Herde 
schieferiger Indurationen, innerhalb welcher käsige, zum Theil auch verkalkte 
Massen, eingeschlossen sind. Der unterste Theil des Oberlappens wird eingenom¬ 
men durch zahlreiche Herde käsiger Bronchitis. Der Mittellappen enthält zahl¬ 
reiche käsige Herde, nur in seiner oberen Spitze ist ein wenig Lungengewebe er¬ 
halten. Der Unterlappen ist ebenfalls durchsetzt von zahlreichen käsigen Herden, 
welche vielfach in Schmelzung begriffen sind, dazwischen finden sich an einzelnen 
Stellen Verdickungen des Interstitialgewebcs. In den grösseren Bronchien der 
rechten Lunge liegen tuberkulöse Geschwüre. Die Bronchialdrüsen dieser Seite 
sind bedeutend vergrössert und herdweise käsig. Die Halsorgane sind blass; im 
unteren Theil der Luftröhre finden sich einzelne flache, tuberkulöse Geschwüre 
und mehrere kleinere auch auf der rechten Seite im Inneren des Kehlkopfes. Die 
Lymphdrüsen des Halses sind vergrössert, markig grauroih. 

Die Milz misst 12, 7, 3, ist weich, sehr schlaff, die Schnittfläche leicht un¬ 
eben, grauroth. Die linke Nebenniere ist ohne Veränderung, die linke Niere misst 
13, ß, 3, die Oberfläche ist glatt, an einer Stelle liegt eine sternförmige Narbe. 
Die Substanz der Niere ist blutreich, das Nierenbecken etwas erweitert. Die rechte 
Nebenniere ist ohne Veränderung. Die rechte Niere misst 13, 6, 3, zeigt an ihrer 
Oberfläche einige käsige Herde, die Oberfläche ist glatt. Die Substanz der Niere 
ist sehr schlaff, grauroth, das Nierenbecken ist nicht erweitert. Die Prostata ist 
ein wenig vergrössert, die Harnblase etwas trabekulös. Das Kectum ist ohne Ver¬ 
änderung, im Magen grosse Mengen flüssigen Inhalts. Magenschleimhaut schie¬ 
ferig gefärbt, die Leber ist klein, sehr schlaff, röthlich grau. Die absteigende 
Aorta ist überall glatt, die Mesenterialdrüsen sind klein. Im unteren Dünndarm 


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Dr. Kochler. 


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sind einzelne Follikel etwas vergrüssert, einige von diesen sind käsig. Die Darrn- 
schleiniliaut ist sehr blass, rüthlieh grau. Die Dickdarmschleimhaut ist se hr blass, 
Geschwüre linden sich im Darm nicht. 

Phthisis pulmonum duplex, partim ulcerosa, Jnduratio pigmentosa, Bron¬ 
chitis caseosa, Pneumonia ulcerosa multiplex, Aneurysma art. pulmon. Pleu¬ 
ritis tuberculosa duplex, Laryngitis, Tracheitis, Bronchitis tuberculosa ulcerosa, 
Enteritis follicularis caseosa, Hydronephrosis levis sinistra. 

(gez.) Pr. R. 0., Assistent am pathologischen Institut. 

Berlin, den 14. August 1895. 

Nach Kenntnissnahme der Acten in Sachen M., auf Grund eigener Fnter- 
suchung des M., sowie Beiwohnung der Section, endlich nach persönlicher Rück¬ 
sprache mit Herrn Dr. 0., komme ich zu der Leberzeugung, dass das von M. 
ursprünglich für den Betriebsunfall angeführte Tragen der 20 kg schweren Ma- 
schinentheilc ohne nachweislichen Zusammenhang mit der den Tod des¬ 
selben herbeigeführt habenden Lungenschwindsucht ist. 

Zunächst weise ich auf meinen Bericht vom 22. Juni 1895 hin, den ich auch 
nach der Section in allen Theilen aufrecht erhalte. 

Fs ist in dem Protokoll nichts enthalten, was den Schluss gestattet, dass 
die Lungenschwindsucht Folge einer Verletzung sei. 

Im Gegentheil sind in der rechten Lungenspitze alte, schieferige, verkalkte 
Herde gefunden, die beweisen, dass M. schon vor Jahren an einer beginnenden, 
aber zum relativen Stillstand gekommenen Lungenschwindsucht litt. Fs wird 
hierdurch auch der Werth der Zeugenaussagen illustrirt, dass M. stets ein ganz 
gesunder, nicht lungenleidender Mensch gewesen sei. Die Bildung eines Aneu¬ 
rysma (geplatzte, erweiterte Arterie) im rechten Oberlappen ist nicht als Folge 
einer Verletzung anzuerkennen, da es eine ganz gewöhnliche anatomische Form 
der Lungenschwindsucht ist, dass in die sich bildenden zerfallenden Hohlräume, 
wegen des geringen Widerstandes und schlechter Ernährung der Gefässwände Aus¬ 
buchtungen (Aneurysmen) bilden. Aber auch das Platzen des Aneurysma, die 
erste Blutung ist nicht Folge des Unfalles; gerade weil die Blutungen einem 
geplatzten Aneurysma entstammten, hätten sie als Folge des beim Tragen 
vermehrten Blutdruckes sofort und nicht erst nach 24 Stunden einsetzen 
müssen. 

Hiermit fallen alle aus sonstigen begünstigenden Rückwirkungen der Anämie 
auf die Entstehung der Tuberkulose zu ziehenden Schlüsse, die an sich überhaupt 
noch sehr hypothetisch sind, fort. 

Meiner Meinung nach ist M. einer ganz gewöhnlichen galoppircnden Schwind¬ 
sucht erlegen. Dass bei ihm zeitlich die erste Blutung eintrat, nachdem er Tags 
vorher - - anscheinend schon innerlich krank (Influenza, wie Dr. Koehlcr anfangs 
meinte) - mit etwas grösserer Mühe als sonst einen an sich nicht zu schweren 
Gegenstand getragen hatte, ist ganz bedeutungslos, beweist im Gegentheil, dass 
die Anstrengung an sich nicht sehr gross war, da sonst ein Platzen der dünnen 
Gefässwand sofort eingetreten wäre. 

Ich halte dafür, die Ansprüche des M. und seiner Rechtsnachfolger abzu- 
lehnen, (gez.) 9r. H. 


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Zusammenhang zwischen Trauma und Lungentuberkulose. 


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Berlin, den 20. November 1895. 

Indem icli dem Ersuchen des Schiedsgerichts zu Berlin entspreche, ein ein¬ 
gehendes Gutachten abgeben zu wollen, 

ob der Tod des p. M. mit der von dem Verstorbenen am 21. März d. J. 
ausgeführten Betriebsarbeit — Transport einer hydraulischen Presse — 
in ursächlichem Zusammenhänge steht, bezw. ob die Lungenschwind¬ 
sucht des Verstorbenen als Folge dieser Betriebsarbeit anzuschcn ist, 
erlaube ich mir Nachstehendes zu bemerken. 

Wie aus den übersandten Acten ersichtlich ist, wurde Folgendes festgestellt. 
Der p. M., geb. am 10. Juni 1852, hat am 21. März 1895 Vormittags ein ca. 25 kg 
schweres Modell einer hydraulischen Presse getragen, ist am 22. März Vormittags 
an Bluthusten (Lungenblutung) erkrankt und in die Behandlung des Dr. Koehler 
eingetreten. Während der weiteren Beobachtung traten heftige und häufige, unter 
vielen Hustenstössen erfolgende Blutungen, remittirendes Fieber, geringe Pulsbe¬ 
schleunigung auf. Die Untersuchung des schaumigen, blutigen, und des vom Blute 
freien Auswurfes zeigte zahlreiche Tuberkelbacillen. Die physikalische Unter¬ 
suchung stellte Verdichtung und Zerstörung beider Lungen fest. 

Nach viermonatlichem Krankenlager starb der p. M. am 22. Juli 1895. 

Die am 24. Juli 1895 von mir ausgeführte Section erwies chronische, ent¬ 
zündliche und tuberkulöse Processe sehr ausgedehnter Art in beiden Lungen, 
Höhlenbildung im rechten Oberlappen, ein geplatztes Aneurysma (Erweiterung und 
Berstung der Lungenschlagader) und keine Zeichen einer besonderen Blutleere des 
Körpers. Die eigentliche Todesursache war gegeben durch eine frische doppel¬ 
seitige tuberkulöse Lungen- und Rippenfellentzündung, wie mit Sicherheit aus dem 
Scctionsprotokoll gefolgert werden darf, und nicht auf eine Lungenblutung zurück¬ 
zuführen. Das anatomische Bild der Lungen war nicht dasjenige der sogenannten 
Phthisis florida (galoppirende Schwindsucht), sondern das der gewöhnlichen chro¬ 
nischen Lungenschwindsucht (ältere und frischere Veränderungen nebeneinander, 
käsige Bronchitis und Pneumonie, schieferige Induration, adhäsive und tuberku¬ 
löse Pleuritis, Verdichtung des Intorstitialgewebes etc.). 

Der anatomische Befund lässt mit Deutlichkeit erkennen, dass im oberen 
Theil der rechten Lunge sehr alte Erkrankungsherde (käsige, zum Theil auch ver¬ 
kalkte Partien, umgeben von schieferiger Induration, Verdichtung des Interstitial- 
gewebes, adhäsive und callöse Zustände der Pleura derselben Stelle) gefunden 
worden sind, welche einer sehr langsamen und über grössere Zeiträume (viele Mo¬ 
nate und Jahre) sich erstreckenden Entwicklung bedürfen. Ich meine daher, dass 
der p. M. vor dem 21. März 1895 gesunde Lungen nicht gehabt habe (ich befinde 
mich in dieser Beziehung in Uebereinstimmung mit den Herren DDr. H. und 
Koehler). Die mitgetheilten diesbezüglichen Angaben des Patienten und seiner 
Angehörigen sprechen nicht gegen diese Annahme, denn die Erfahrung lehrt, dass 
eine derartige Atfection der Lungenspitze sich unbemerkt, ohne sich durch sub- 
jective Symptome zu verrathen, ausbilden kann. 

Für die weitere Betrachtung erscheint mir Folgendes besonders wichtig. 
Dass im Allgemeinen in Folge von Verletzungen Tuberkulose entstehen kann, darf 
nicht bezweifelt werden. Anders muss jedoch die Frage beantwortet werden, ob 
in diesem concreten Fall ein Trauma (Betriebsunfall) in ätiologische Beziehung 
zu der Tuberkulose gesetzt werden darf. Zur Beurtheilung und Entscheidung 


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Dr. Ko eh ler, 


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muss demnach der Beweis geführt werden, dass einerseits ein wirkliches Trauma 
vorausgegangen ist, andererseits im Anschluss an dasselbe die Tuberkulose sich 
ausgebildet hat. Die in der Literatur mitgetheilten Fälle betrafen schwere Trau¬ 
men (heftige Contusionon) der Brust (Brustkorb, Lunge) vorher gesunder Men¬ 
schen. Dagegen hat in diesem Falle ein wirkliches Trauma gar nicht Vorgelegen; 
eine Contusion, eine wirkliche Verletzung des Brustkorbes, der Lunge ist über¬ 
haupt nicht erfolgt. Das Heben jenes bezeichneten Gegenstandes (Modells) ist 
eine Muskelarbeit, verändert die Verhältnisse des Kreislaufs und Blutdrucks und 
wirkt auf das Herz (sogen. Uebcranstrengung des Herzens). Darauf weist auch 
das Verhalten des Patienten hin: sein Verhalten unmittelbar nachdem er die Ar¬ 
beit geleistet hatte, scheint mir eher ein Erschöpfungszustand, als die Folge einer 
Verletzung zu sein. 

Obgleich Patient nicht sofort nach dem Unfall desselben Erwähnung gethan 
hat, konnte er doch die Krankheit später sehr wohl in seiner Erinnerung darauf 
beziehen. Patient ist, wie ich glaube, nicht durch diesen Betriebsunfall erst er¬ 
krankt, sondern sich selbst seines bereits bestehenden Leidens zum ersten Mal be¬ 
wusst geworden und verlegt daher den Beginn seiner Erkrankung auf diesen Tag. 
Im Verlauf chronischer Krankheiten ereignet es sich oft, dass Patienten sogar bis 
kurze Zeit vor dem Tode ihre Berufsarbeiten ausführen: nur ein kleiner Anstoss 
genügt schliesslich, um das definitive, d. h. das mit dem Tode endigende Kran¬ 
kenlager auszulösen. Durch ärztliche Untersuchung ist allerdings festgestellt wor¬ 
den, dass Patient nach dem Unfall krank gewesen ist, und dass die nach dem Un¬ 
fall vorhandene Krankheit jedenfalls tuberkulöse Lungenphthisis (Nachweis der 
Tuberkelbacillen) war. Aber es ist auch, wie ich bereits erläutert habe, aus dem 
Sectionsbefund ersichtlich, dass Patient schon längere Zeit vor dem Unfall lungen¬ 
krank, tuberkulös, gewesen ist. Der zweite Theil der Forderung, dass Patient vor 
dem Trauma gesund gewesen sei, wird nicht erfüllt. 

Ich muss noch hinzufügen, dass Patient laut Mittheilung der Acten Ende 
1893 wegen Influenza, also auch an einer Lungenkrankheit behandelt worden ist. 

Die während der jetzigen Erkrankung von Herrn Dr. Koehler als Influenza 
gedeuteten Erscheinungen können ohne Weiteres auch als Symptome des phthi- 
sisehen Processes bezeichnet werden, da in der Erscheinung dieser beiden Zu¬ 
stände mitunter eine ausserordentliche Aehnlichkeit hervortritt. Die von Herrn 
Dr. Koehler als mitbetheiligte Ursache angeführte Influenza-lnfection scheint mir 
daher nur hypothetisch, um so mehr, weil keine Grundlage dafür, ausser der Exi¬ 
stenz einer gleichzeitig bestehenden (leichten!) Influenza-Epidemie, vorliegt, und 
der betreffende bakteriologische Nachweis nicht geführt worden ist. 

Es geht nach meiner Meinung nicht an, die Lungenschwindsucht des Ver¬ 
storbenen als Folge jener Betriebsarbeit anzusehen. Ein Zusammenhang zwischen 
Betriebsunfall und Lungenschwindsucht besteht, wie ich glaube, nicht. 

Nachdem ich im Vorhergehenden die Beziehung jenes Betriebsunfalles zur 
Tuberkulose berührt habe, muss ich nun noch besonders auf einen Theil des Sec- 
ionsbefundes eingehen: ich meine das geplatzte, haselnussgrosse Aneurysma der 
Lungenschlagader, welches in der Höhle des rechten Oberlappens gefunden wurde; 
zur Beurtheilung dieser Gelassveränderung muss ich einige anatomische Thatsachen 
hervorheben. 


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Zusammenhang zwischen Trauma und Lungentuberkulose. 


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Die Bildung eines Aneurysma ist eine lokale Erkrankung der Schlagader, 
wird nicht durch Verhältnisse des allgemeinen Blutdrucks erklärt (ebensowenig 
wie etwa eine Hirnblutung allein durch Steigerung des Blutdrucks entsteht, wenn 
nicht bereits krankhaft veränderte Gefässe vorhanden sind). Die wesentliche und 
nothwendige Grundlage beruht nicht in der lokalen, bereits bestehenden Erkran¬ 
kung des Gefässes; das Aneurysma ist als eine Art Neubildung aufzufassen, ist 
kein einfaches Bersten eines vorher gesunden Gefässes. Der Gang der Entwick¬ 
lung ist in der Regel der, dass zuerst eine lokale Erweiterung (Neubildung) ent¬ 
steht, welcher später zunehmende Verdünnung und Zerreissung folgt. Das Aneu¬ 
rysma gehört nicht nothwendig zur tuberkulösen Lungenphthise, sondern ist etwas 
Besonderes, Accidentelles, kommt aber nicht selten in solchen Lungen zur Beob¬ 
achtung. Ich habe viele Fälle secirt, welche sehr ähnliche pathologische Verände¬ 
rungen der Lungen, jedoch ohne Aneurysma zeigten. 

Es wurde schon darauf hingewiesen, dass das Platzen der Aneurysmen sich 
mit einer gewissen Nothwendigkeit aus dem Verlauf des anatomischen Processes 
ergiebt. Sobald die Verdünnung der Wand einen höheren Grad erreicht hat und 
das Aneurysma, wie z. B. in diesem Falle, in einer grösseren Höhle liegt, kann 
durch jede beliebige, schwere oder leichte Muskelarbeit (Treppensteigen, Husten- 
stösse), durch geringfügige, kaum als solche zu bezeichnende, Traumen das Platzen 
herbeigeführt w r erden. Aber es darf auch nicht vergessen werden, dass das Aneu¬ 
rysma, vielleicht nur ein wenig später, von selbst platzt; das Bersten kann nicht 
etwa durch ruhiges Liegen ganz verhindert w r erden. 

Das Vorgefundene geborstene Aneurysma war zum grossen Thcil mit throm¬ 
botischen Massen (Gerinnseln) erfüllt, das austretende Blut hat sich durch die 
Gerinnselmasse hindurchgewühlt, ist hindurchgesickert. Wenn überhaupt ein Zu¬ 
sammenhang des Aneurysma mit dem Betriebsunfall festgestellt w'erden soll, was 
nach meiner Meinung durchaus nicht einwandsfrei erscheint, so könnte derselbe 
nur darin gesehen werden, dass die am folgenden Tage und im weiteren Verlauf 
eingetretenen Lungenblutungen auf das Aneurysma und seine Berstung bezogen 
werden, dabei müsste also vorausgesetzt werden, dass die eigentliche Gelasserkran- 
kung, das Aneurysma, bereits vor dem Trauma bestand. Durch den erhöhten Blut¬ 
druck wäre eine nicht intacte, bereits erkrankte, erweiterte Stelle geborsten; das 
Bersten wäre nicht unmittelbar im Anschluss an den Betriebsunfall eingetreten, 
es hätte sich nicht um einen einfachen perforirenden Riss handeln können, son¬ 
dern um ein allmäliges Durchsickern innerhalb der nächsten 24 Stunden, und es 
hätte während der folgenden Zeit immer weiter geblutet: am Tage nach dem Un¬ 
fall wurde zum ersten Male Blut im Auswurf bemerkt, welcher von diesem Termin 
an häufig blutige Beimischung zeigte. 

Gewöhnlich sind die Blutungen aus Aneurysmen ziemlich heftig, profus; 
wäre der Tod plötzlich, sofort oder kurze Zeit darauf eingetreten, dann wäre der 
Tod zweifellos die Folge der Betriebsarbeit gewesen. Aber der Tod ist keineswegs 
durch Lungenblutung herbeigeführt worden; dieselbe ist, w T as häufig beobachtet 
wird, überstanden worden. 

Wohl können im Allgemeinen fortgesetzte Blutverluste erschöpfend wirken, 
jedoch bestand in diesem Falle zugleich hektisches Fieber, Nachtschweisse, pro¬ 
gressiv verlaufende, ulcerös-tuberkulöse Lungenphthise, sodass der Einfluss jener 

VierteUahreschr. f. ger. Med. Dritte Folge. XIV. 1. 7 


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Dr. Koehler, 

Blutungen um so geringer anzuschlagen sein dürfte, als durch die genaue Fest¬ 
stellung der Obduction überhaupt Zeichen von Anämie (Blutleere des Körpers) 
nicht erhoben worden sind. 

Weder ist der Tod durch das Aneurysma und dessen Berstung verursacht 
worden, noch ist die tödtliche Phthisis die Folge des Aneurysma gewesen. Da 
zudem noch die Annahme der Berstung des Aneurysma durch den Betriebsunfall 
zweifelhaft ist (das Aneurysma kann z. B. auch infolge der vielen Hustcnanfalle 
geplatzt sein), so lässt sich bei besonderer Berücksichtigung des Sectionsergeb- 
nisses nach meiner Meinung ziemlich sicher sagen: 

Die Lungenblutung dieses Falles, eine im Verlauf einer chronischen Phthisis 
aufgetretene Complication, steht in zeitlichem, nicht ursächlichem Verhältniss zu 
dem Betriebsunfall. 

Die Frage, ob der Tod des p. M. mit der vom Verstorbenen am 21. März d. J. 
ausgeführten Betriebsarbeit in ursächlichem Zusammenhänge steht, beantworte ich 
auf Grund der gegebenen Ausführungen in verneinendem Sinne. 

(gez.) Dr. 0. 

Das Schiedsgericht entschied im Sinne des obigen Gutachtens zu 
Ungunsten der die Rente beanspruchenden Hinterbliebenen des p. M. 

II. Fall. 


Berlin, den 14. Juli 18%. 

Auf Veranlassung des Schiedsgerichts der Arbeiter-Versicherung zu Berlin 
habe ich am 12. Juli den Arbeiter Friedrich W\, geboren 19. Juni 1860 zu Gr.-S., 
Kreis Insterburg, untersucht, um fcstzustellen, „welche Folgen der Unfall vom 
8. Januar 18% bei dem p. W. hinterlassen, und um wieviel — in Procenten aus¬ 
gedrückt — derselbe hierdurch in seiner Erwerbsfähigkeit behindert sei“. 

Nach Ausweis des Actcnmaterials und nach der eigenen Erklärung des Ex- 
ploranden hat er sich am 8. Jan. 1896 durch Fehltreten eine Zerrung der linken 
Lendengegend zugezogen, welcher anscheinend leichten Verletzung ca. 10 Tage 
darauf eine schwere Lungenerkrankung mit Bluthusten gefolgt ist. Nach thcil- 
weiser Krankenhaus- und häuslicher Behandlung ist er auf widerstreitende Gut¬ 
achten verschiedener Aerzte hin von der Nordöstlichen Baugewerks-Berufsgenossen- 
schaft mit einer Rente von 20pCt. bedacht worden, einer Rentenfestsetzung, gegen 
die er bei dem Schiedsgericht Einspruch erhoben hat. 

Seine Klagen sind kurz die, dass er lungenleidend sei, zwar wenig huste 
und ebenso geringen Auswurf aufweise, doch sich schwach und matt fühle und 
gegen früher sehr heruntergekommen sei, wenn er auch jetzt durch den augen¬ 
blicklichen Aufenthalt in der Heimstätte zu Malchow anfinge ein wenig kräftiger 
und stärker zu werden. Arbeiten könne er zur Zeit gar nicht, namentlich nicht 
mehr in seinem schweren Berufe. -• Seine Lungenerkrankung bringe er in Zu¬ 
sammenhang mit dem oben erwähnten Unfälle, denn er habe doch bis zu jenem 
Zeitpunkte ruhig arbeiten können, ohne jemals vorher die Thätigkeit auszusetzen, 
selbst nicht, als er vor ca. 4 Jahren und zuletzt vor 2 Jahren Blutauswurf gehabt 
habe. Sonst wisse er nicht, an irgend einer Krankheit früher gelitten zu haben. 

Nach objectiver Betrachtung und Untersuchung ist der p. W. ein inittel- 


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Zusammenhang zwischen Trauma und Lungentuberkulose. 


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grosses, blasses, blutarmes Individuum mit flachem Brustkörbe und tief eingefal¬ 
lenen oberen und unteren Schlüsselbeingruben. Die linke untere Thoraxseite 
stärker convex gebogen als die rechte — er pflegte schwere eiserne Gegenstände 
auf der rechten Schulter zu tragen. — Die Muskulatur ist schlaff, das Fettpolster 
gering und wenig kernig. 

Die physikalische Untersuchung der Lungen ergiebt deutliche Veränderungen 
an beiden Spitzen und der gesammten rechten Lungenseite, Verdichtungen resp. 
Höhlenbildung rechterseits, während die linke Partie, abgesehen von der Spitze, 
fast normale Verhältnisse aufweist. — Da Auswurf während der Untersuchung 
nicht vorhanden ist, überhaupt wenig gehustet wird, so kann eine mikroskopische 
Untersuchung auf Tuberkelbacillen nicht vorgenommen werden. — An der durch 
den Unfall vom 8. Januar 1896 betroffenen linken Lendengegend nichts Abnormes 
festzustellen; keine Abweichung daselbst von der rechten Seite. 

Fieber ist nicht vorhanden; Puls 80, zeigt nichts Besonderes. Im Urin keine 
fremden Bestandteile. 

Der p. W. leidet nach diesem Befunde an einer Erkrankung, die man als 
Lungenschwindsucht, oder, da nach dem Gutachten des Herrn Dr. Sch. 
Tuberkelbacillen nachgewiesen sind, als Lungentuberkulose bezeichnet. 

Von der damals, d. h. 3 Tage nach dem Unfall festgestellten Mus¬ 
kelzerrung in der linken Lendengegend, „Muskelzerrung resp. partielle 
Zerreissung der Muskelfasern (vermuthlich hauptsächlich im M. longissimus dorsi 
und M. quadratus lumborum)“, wie Herr Dr. S. in seinem Gutachten vom 16. April 
sich äusserte, und von der Herr Dr. G. bemerkte: noch Druckschmerzen und leichto 
Muskelschwäche sind nachzuweisen, ist nichts mehr vorhanden, wie ja der¬ 
selben auch in dem Befunde des Herrn Dr. Sch. vom 18. April 1896 nicht mehr 
Erwähnung geschieht. 

In all’ den Gutachten, die in dem Unfälle W. bis jetzt abgegeben sind, 
sowohl in denen der behandelnden Aerzte, wie demjenigen des zuletzt begutach¬ 
tenden Herrn Dr. G., ist indess übereinstimmend festgestellt, dass der 
p. W. an Lungentuberkulose leidet, eine Diagnose, mit der auch das 
Resultat meiner Untersuchung übereinstimmt. 

Wenn also der p. W. an der eigentlich verletzten Lendengegend keine Ab¬ 
normitäten mehr darbietet, dagegen nachweisbar an Lungentuberkulose leidet, 
einer Krankheit, die nach Herrn Dr. S. ca. 8—10 Tage nach dem Unfälle, am 17. 
resp. 19. Jan. ihren nachweisbaren Anfang genommen haben musste — „bei den 
weiteren Consultationen am 17. und 19. Jan. zeigte sich bereits ein leichter Husten, 
ohne dass die Lungenuntersuchung zunächst ein positives Resultat ergeben hätte, 
in der Nacht vom 19. zum 20. Jan. trat heftiger Bluthusten ein —“ so entsteht 
die Frage, ist diese Lungentuberkulose als im Zusammenhänge mit 
jenem Unfälle stehend aufzufassen, ist sie die Folge desselben oder 
liegt sie ausser diesem Bereiche und ein einfaches zufälliges Zu¬ 
sammentreffen vor? 

Wie streitig dieser Punkt an sich ist, geht schon deutlich aus den verschie¬ 
denen Urtheilen der begutachtenden Aerzte hervor. Nach Dr. S. hatte der p. W. 
aller Wahrscheinlichkeit nach ein latentes Lungenleiden; ob der 
acute Ausbruch der Lungentuberkulose zu der Verletzung (etwa in 
Folge der Erschütterung des ganzen Körpers) in Beziehung zu bringen ist, 

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Dr. Koehler, 

muss als sehr zweifelhaft erscheinen, ist alicr doch nicht als ganz 
unmöglich zu betrachten. 

Durchaus positiv drückt sich Herr Dr. Sch. aus, der den p. W. klinisch 
beobachtet und behandelt hat. Auch er spricht von einem latenten Lungen¬ 
leiden nach den Angaben des W., das jedoch zuletzt zwei Jahre vor dem Unfälle 
sich bemerkbar gemacht hat. „Das Lungenleiden konnte vor dem Unfälle nicht 
heftig gewesen sein, das ergiebt sich aus dem allgemeinen Habitus, dem guten 
Ernährungszustände und dem verhältnissmässig geringen physikalischen Befunde 
bei der Aufnahme. Durch die Erschütterung, welche den Brustkorb am 
8. Jan. traf, war das Leiden wieder florid geworden und durch das 
Fortschreiten des Processes trat Lungenblutung' auf. Nach meiner 
Ansicht besteht demnach ein ursächlicher Zusammenhang zwischen 
dem Unfall und dem Leiden, deswegen der p. W. das Krankenhaus 
aufsuchte. 

Herr Dr. G. leugnet zwar dieMöglichkeitein es Zusammenhanges 
nicht, denn möglich ist schliesslich fast Alles auf dem Gebiete der medicinischen 
Wissenschaft, welche durch neue und ungeahnte Entdeckungen täglich bereichert 
wird, aber erfahrungsgemäss spricht dio grössere Wall rscheinlich- 
keit gegen den Zusammenhang. 

Diese verschiedenen Auffassungen über einen und denselben Fall sprechen 
schon hinreichend dafür, dass es nicht möglich ist, den directen Nach - 
weis einos Zusammenhanges zwischen unserem Unfälle und Lungen¬ 
tuberkulose zu liefern; es muss hinroichen, durch grössere oder ge¬ 
ringere Wahrscheinlichkeitsgründe zu einem bejahenden oder ver¬ 
neinenden Urtheile zu kommen. 

Dass grosse Gewalten auf den Brustkorb ausgeübt dirccte Verletzun¬ 
gen des Brustfelles und der Lungen hervorrufen, steht und stand schon früher 
erfahrungsgemäss fest. Dass aber verhältnissmässig geringe traumatische 
Einflüsse auf den Brustkorb oder entferntere Stellen, aber auch 
allgemeine Erschütterung des Körpers schwere Folgeerscheinungen 
für die Lunge mit sich bringen können, hat namentlich die Beobachtung 
und Erfahrung seit dem Inkrafttreten der Unfall-Gesetzgebung erwiesen. Die Be¬ 
schäftigung mit diesem Gegenstände hat eine verhältnissmässig bedeutende Lite¬ 
ratur geschaffen, und eine grosse Reihe analoger Fälle steht zum Vergleiche zur 
Verfügung. 

Dass eine blosse Erschütterung des Körpers, denn darin scheint in 
der Hauptsache der Unfall des p. W. bestanden zu haben, eine Lungenerkran¬ 
kung hervorrufen kann, stellt Dr. S. nicht in Abrede, Dr. Sch. giebt es ohne 
Weiteres in unserem Falle zu, Dr. G. äussert sich bei diesem Passlis: „Der Unfall, 
den der Verletzte im Betriebe erlitt, bestand lediglich darin, dass er beim Trans¬ 
port eines Drahtseiles auf der rechten Schulter vom Bürgersteig auf den Strassen- 
danun herunterging, um sich von der Richtigkeit der Firma zu überzeugen. Hier¬ 
bei bekam er einen Ruck im Kreuz und erlitt eine Erkrankung, die man 
wohl als Lumbago oder Muskelentzündung u. dergl. benennen mag. 
10 Tage später bekam er Bluthusten. Wie will man nun beweisen, 
dass ein Zusammenhang zwischen diesem Fehltritt so leichter Art 
und dem 10 Tage darauf entstandenen Bluthusten bestehen soll? 


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Zusammenhang zwischen Trauma und Lungentuberkulose. 


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In seiner vorzüglichen Sammelarbeit über den Zusammenhang zwischen 
Trauma und Tuberkulose (Diese Vierteljahrsschr., Jahrg. 1894/95, H. 1, 1895, 
S. 6S) führt Guder an: Es wird sich beim Trauma der Lunge wohl genau so 
verhalten, wie beim Trauma der Knochen, von dem Volkmann sagt: „Die grosse 
Mehrzahl aller tuberkulösen Knochen- und Gelenkleiden ist sicher auf traumatische 
Anlässe zurückzuführen, indess nicht auf schwere Wunden und Verletzun¬ 
gen, sondern auf leichte Traumen, Contusionen etc.“ — Unter den von 
Guder angeführten Fällen von Lungentuberkulose in Folge leichter Verletzung 
spielt auch die einfache Erschütterung eine Rolle, so dass nicht einzusehen 
ist, warum wir in unserem Falle nicht dieselbe Ursache annehmen sollen? 

Wenn ferner dagegen eingewendet wird, dass erst ca. 9—10 Tage nach dom 
Unfälle die Lungenerkrankung offenbar geworden ist, ein Zusammenhang somit 
noch unwahrscheinlicher sei, so ist auch dieser Einwurf sowohl nach den Erfah¬ 
rungen Anderer, sowie nach den eigenen mit Leichtigkeit zurückzuweisen. Ist der 
Insult auf eine bis dahin gesunde oder mit einem latenten Herde versehene Lunge 
ein verhältnissmässig leichter gewesen, so wird dementsprechend nur 
allmälig die Wirkung zu Tage treten. Die Krankheit setzt dann 
nicht plötzlich ein, es vergehen Tage, ja bisweilon Wochen, ehe es 
zu ausgesprochenen Krankheitserscheinungen kommt, und es ist daher 
nicht auffallend, wenn es in dem Gutachten des Dr. S. heisst: am 8. Tage leichte 
Hustenanfälle, denen dann zwei Tage darauf blutiger Auswurf folgte. 

Ein weiterer Einwurf vielleicht, dass eine linksseitige Muskelzerrung 
anfänglich festgestellt worden, die Lungenerkrankung indess haupt¬ 
sächlich die rechte Seite beträfe, ist leicht damit zurückzuweisen, dass nach 
einer Anzahl von Autoren die Erkrankung der Lungen unabhängig vom 
Sitze des Insultes, meist da einsetze, wo begünstigende Momente, 
wie z. B. ältere pathologische Veränderungen, ihren Sitz gehabt 
li-aben (cfr. Guder, 1. c. 1894, S. 294/295). 

Die Rolle, die der sogenannte latente — schlummernde — tuberku¬ 
löse Herd in der Lunge in unserem Falle spielt, der p.W. hat angegeben 
4 resp. 2 Jahre vor dem Unfälle Blut gehustet zu haben, ist insofern ohne Bedeu¬ 
tung für die Frage, ob die Lungenerkrankung die Folge des Unfalles vom 8. Jan. 
18% ist oder nicht, als ja auch eine Verschlimmerung eines schon be¬ 
stehenden Leidens, wenn sich ein Zusammenhang zwischen Unfall 
und Erkrankung überhaupt feststellen lässt, als Unfallsfolge zu be¬ 
trachten ist. 

Und was den Punkt anbetrifft, dass nach dem heutigen Stande unseres 
Wissens die Lungentuberkulose auf bacillärer Grundlage beruht, so 
steht wissenschaftlich längst fest, dass leichte wie schwere Lungenverletzungen 
sowohl durch die Wunden selbst, wie event. durch ernährungsstörende Einflüsse 
und ererbte Anlage etc. der Einwanderung resp. Vermehrung der Bacillen reich¬ 
lich Gelegenheit geben können. Ich will hier die Worte Mendelsohn’s (cfr. 
Guder, 1. c. 1895, S. 72) anführen: „Sich in derartigen Fällen hinter den Ba¬ 
cillus zu verstecken und zu sagen, er und nicht das Trauma mache die Tuberku¬ 
lose, ist wohlfeil, aber unzutreffend — es ist zwar die Kugel, welche tödtet, die 
Veranlassung ist jedoch immer der Schütze.“ 


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102 Dr. Koehler, Zusammenhang zwischen Trauma und Lungentuberkulose. 

Die zugestandene Möglichkeit eines Zusammenhanges zwischen Unfall und 
Lungenerkrankung, hier aber anzunehmende Unwahrscheinlichkeit, die sich in den 
Gutachten der Herren DDr. S. und G. kundgiebt, weil der Unfall im Verhältniss 
zu den schweren Folgen zu unbedeutend, der Bluthusten und damit der Beginn 
resp. die Verschlimmerung der Lungentuberkulose zu spät (ca. 10 Tage) nach dem 
Unfälle aufgetreten seien, der p. W. zudem bereits Jahre vorher tuberkulös er¬ 
krankt gewesen sein muss, glaube ich dadurch zu einem hohen Grade von Wahr¬ 
scheinlichkeit übergeführt zu haben, indem ich nachgewiesen 

a) dass es gleichgiltig ist, ob eine Verschlimmerung oder ein 
neues Leiden aufgotreten ist, wenn sich nur zeitlich und 
sachlich ein Zusammenhang mit dem Unfälle herbeiführen 
lässt; 

b) dass selbst unbedeutende Verletzungen wie Erschütterun¬ 
gen sowohl des Brustkorbes selbst, wie anderer Stellen des 
Körpers bei vorhandener Disposition event. früherer Er¬ 
krankung die Entstehung resp. Verschlimmerung einer 
Lungentuberkulose fördern können; 

c) dass die Erscheinungen der Neuerkrankung resp. Verschlim¬ 
merung sich nicht direct dem Unfälle anzuschliessen brau¬ 
chen, namentlich wenn der Insult verhältnissmässig nur 
leicht eingowirkt hat. 

Ich äussere mich daher gutachtlich dahin, dass ich im Einverständnis mit 
Dr. Sch. einen Zusammenhang zwischen dem am 8. Jan. 1896 erlitte¬ 
nen Unfälle des p. W. und seiner jetzigen Erkrankung — Lungen¬ 
tuberkulose — als sicher annehme und daher den p. W. nicht im Grade 
von 20 püt. — wie Herr Dr. G. aus den noch vorhandenen Beschwerden in der 
linken Lendengegend folgern zu müssen glaubt — sondern als zur Zeit voll¬ 
ständig erwerbsunfähig betrachten muss. 

Zum Schluss erkläre ich, die Angaben des p. W. genau niedergeschrieben 
und mein eigenes Gutachten nach bestem Wissen und Gewissen abgegeben zu 
haben. Dr. Koehler, Arzt. 


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II. Oeffentliches Sanitätswesen. 


1 . 

Gutachten 

der Königl. wissenschaftl. Deputation für das Medicinalwesen, 

betreffend die Schutzpockenimpfung und die Dispo¬ 
sition für die Erkrankung an Tuberkulose. 

(Erster Referent: Gerhardt.) 

(Zweiter Referent: v. Leyden.) 


Ew. Exeellenz haben von der gehorsamst Unterzeichneten wissen¬ 
schaftlichen Deputation eine gutachtliche Aeusserung darüber befohlen, 
ob in der That, event. unter welchen Voraussetzungen, die Schutz¬ 
pockenimpfung im Stande ist, eine Disposition für die Erkrankung an 
Tuberkulose bezw. Skrophulose zu schaffen? 

Seit Entdeckung des Tuberkel bacillus als Ursache der Tuberku¬ 
lose ist die Behauptung, dass durch die Impfung Tuberkulose ent¬ 
stehe, unmöglich geworden. Nun taucht die Behauptung auf, dass 
die Disposition zur Erkrankung an Tuberkulose durch die Impfung 
geschaffen werde. Die Annahme ist sehr verbreitet, dass durch Be¬ 
stehen oder den Ablauf gewisser Krankheiten im menschlichen Körper 
eine grössere Empfänglichkeit für Erkrankung an Tuberkulose ge¬ 
schaffen werde. Dies wird z. B. angenommen von Zuckerharnruhr, 
Masern, Keuchhusten und im Allgemeinen von entkräftenden Krank¬ 
heiten. Gehört dazu auch die kurzdauernde fieberhafte Erkrankung, 
welche durch die Impfung hervorgerufen wird? 

Da Tuberkulose die häufigste Krankheit des Menschen ist, wer¬ 
den natürlich auch eine Anzahl Geimpfter und Wiedergeimpfter an 
Tuberkulose früher oder später nach der Impfung erkranken. Wer 
solche Fälle sammelt, wird natürlich Material in Masse vorfinden, wer 


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104 


Gutachten <ler König:!, wissenschaftlichen Deputation. 


mehrere gesucht oder ungesucht zu Gesicht bekommt, oder zu Gehör, 
wird, wenn er sich nur den nächsten Eindrücken hingiebt, geneigt 
sein, die Thatsachen der früheren Impfung und der späteren Erkran¬ 
kung an Tuberkulose in Zusammenhang zu bringen. Zur Zeit ist je¬ 
doch keinerlei Kennzeichen bekannt, aus dem man erkennen und be¬ 
weisen könnte, dass im Einzelfalle die nach der Impfung entstandene 
Tuberkulose oder Skrophulose Folge der Impfung sei oder woraus 
man beweisen könnte, dass ein Einzelner nach der Impfung zur Er¬ 
krankung an Skrophulose oder Tuberkulose geneigter sei als nicht 
geimpfte Menschen. Eine derartige auf den Einzelfall gerichtete Be¬ 
hauptung muss deshalb als willkürliche und unerweisbare gelten. 

Sollte jedoch aus den Sterblichkeitsverhältnissen im Grossen ein 
Beweis in dieser Richtung versucht wmrden, so müsste man sagen: 
Die häufigste Todesursache ist für die heutige Zeit Tuberkulose. Hätte 
sich die Häufigkeit der Tuberkulose durch die allgemeine zwangsweise 
Impfung vermehrt, so würde die Sterblichkeit der Menschen im Gan¬ 
zen seit Einführung des Impfzwanges zugenommen haben. Dies ist 
jedoch nicht der Fall. Ferner: trotz fortbestehendem Revaccinations- 
zwange hat sich die Sterblichkeit an Tuberkulose in der preussischen 
Armee vermindert. Ein Beweis dafür, dass Impfung zu Tuberkulose¬ 
erkrankung geneigt mache, liegt zur Zeit weder im Einzelnen noch 
im Grossen vor. 

Man kann nur nach allgemein-pathologischen Erfahrungen ver- 
muthen, dass entkräftende Erkrankungen, welche durch fehlerhafte 
Impfung hervorgerufen wurden, wie Rothlauf, septische Infection, Sy¬ 
philis, den Körper so schwächen können, dass er dem Eindringen und 
Wuchern von Tuberkelbacillen weniger Widerstand entgegen zu setzen 
vermag. Auch kann man die Möglichkeit nicht ganz in Abrede stellen, 
dass bei Kindern, die irgendwo in ihrem Körper, z. B. in sogenannten 
skrophulösen Lymphdrüsen schon Tuberkelbacillen beherbergen, in ein¬ 
zelnen Ausnahmefällen mit starker fieberhafter Erkrankung eine raschere 
Vermehrung oder Verbreitung dieser Bacillen ermöglicht oder begün¬ 
stigt werden könne. Abgesehen von diesen ganz vereinzelten Fällen 
muss die Annahme, dass durch die Impfung eine Disposition zur Ent¬ 
stehung von Skrophulose oder Tuberkulose begründet werde, als un- 
erwiesen bezeichnet werden. 

Berlin, den 10. März 1897. 

(Unterschriften.) 


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2 . 

Die Verbreitung der Cholera durch das Wasser und 
die Massnahmen gegen dieselbe vom sanitätspolizei- 

lichen Standpunkte. 

Von 

Dr. Ottokar Brnnzlow in Köslin, 

Stabsarzt des Kadettenliauses. 

(Schluss.) 


Nun wären die angeführten Unregelmässigkeiten im Betriebe von 
geringerer Bedeutung, wenn die Möglichkeit bestände, schlecht arbei¬ 
tende Filter schnell zu erkennen und ihr Filtrat vom Consum auszu- 
sehüessen. Diese Möglichkeit ist aber in der That nicht vorhanden. 
Die einzige zuverlässige Untersuchungsmethode ist die bakteriologische, 
diese aber arbeitet für den genannten Zweck zu langsam. Nach dem 
bisher gebräuchlichen Gelatineplatten verfahren, wie es auch in Ham¬ 
burg und Altona angewendet wird, kann ein vorläufiges Ergebniss 
nach 24.Stunden, das endgültige nach 2—3 Tagen gewonnen werden. 
Diese Frist reicht wohl hin, um Betriebsstörungen alsbald zu ent¬ 
decken und eine weitere Benutzung des schlecht arbeitenden Filters 
zu verhindern. Das mangelhaft befundene Filtrat ist dann aber stets 
schon an die Consumenten geliefert worden, wenn der Controlirendc 
seine Beschaffenheit feststellen kann. Ein Urtheil über die Beschaffen¬ 
heit des Products vor seiner Abgabe zu gewinnen, ist mit unseren 
heutigen Einrichtungen völlig unmöglich. Wenn bei diesem mangel¬ 
haften Stande der Filtrationstechnik Leitungsepidemien nicht häufiger 
beobachtet worden sind, so liegt das eben nur daran, dass zum Zu¬ 
standekommen einer Epidemie die Insufficienz der Filter mit dem 
Vorhandensein des Infectionsstoffes zusammen fallen muss, und dass 
der Cholerakeim in unseren Gewässern ein seltener Gast ist. Ob 


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T>r. Brunzlow, 


aber nicht viele Typhusepidemien einem solchen Zusammentreffen ihre 
Entstehung verdanken, wäre noch zu erörtern; doch liegt das ausser¬ 
halb des Rahmens dieser Arbeit. 

Solche Erfahrungen haben längst in weiten Kreisen der Fach¬ 
männer zu zahlreichen Versuchen geführt, eine Reinigung auf anderem 
Wege als durch die Sandfiltration zu erreichen. Bis jetzt freilich ohne 
befriedigenden Erfolg. Alle anderen Filtereonstructionen scheinen noch 
weniger keimdicht zu arbeiten als die Sandfilter, und die übrigen Rei¬ 
nigungsmethoden, welche theils durch chemische Agentien, wie das 
Verfahren von Kröhnke in Altona, theils durch Elektrolyse oder 
andere Mittel die Keimfreiheit erstreben, sind über das Stadium des 
Versuchs noch nicht hinausgekommen. 

Der Hygieniker und Medicinalbeamte sieht sich also gezwungen, 
den Wasserversorgungen mit Flusswasser seine Zustimmung zu ver¬ 
sagen und nach anderen Bezugsquellen Umschau zu halten. Es lässt 
sich nicht verkennen, dass alle die bisher in Gebrauche befindlichen 
oder versuchten Reinigungsmethoden das Ziel vollständig verrücken 
und sich dadurch die zu erfüllende Aufgabe ganz ausserordentlich 
erschweren. Denn sie alle streben danach, ein völlig bakterienfreies 
Wasser zu gewinnen. Nun hat aber die Bakteriologie stets gelehrt, 
dass unsere Einrichtungen niemals „pilzdicht“ arbeiten können, und 
dass es nur darauf ankommt, den pathogenen Bakterien die Wege ab¬ 
zuschneiden. Bezüglich der Wasserversorgung hat nur Hueppe bis 
jetzt diesen Standpunkt streng festgehalten. Er hat schon im Jahre 
1887 in seinem Referate für den Verein der Gas- und Wasserfach¬ 
männer: „Ueber die Beurtheilung centraler Wasserversorgungsanlagen 
vom hygienischen und bakteriologischen Standpunkte“, die Forderung 
aufgestellt, dass die Entnahmestelle des Wassers so zu wählen sei, 
dass eine Infection überhaupt unmöglich gemacht werde 1 ). Eine solche 
Anlage ist immer möglich, wenn man zur Speisung des Werkes Grund¬ 
oder Quellwasser wählt. Diese Erkenntniss hat auch bei einer Reihe 
von centralen Anlagen schon bestimmend gewirkt, und die Werke von 
Danzig, Frankfurt a. M., Charlottenburg und manche andere beruhen 
auf diesem Princip. Leider lässt sich dasselbe noch nicht aller Orten 
durchführen, denn an vielen Punkten, besonders in der norddeutschen 


1) Hueppe, Die Choleraepidemie in Hamburg 1892. Berl. klin. Wochen 
schritt. 1892. No. 4. 


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Verbreitung der Cholera durch das Wasser. 


107 


Tiefebene, haben die Bohrversuche bisher noch kein geeignetes Grund¬ 
wasser gefördert. 

Für diese so überaus ungünstig gestellten Orte bleibt nun end¬ 
lich noch die Möglichkeit, auf das System der Römerzeit zurückzu¬ 
greifen, d. h. unverdächtiges Grund- oder Quellwasser • zu sammeln, 
wo es immer zu haben sei, und in langen, gedeckten Leitungen den 
Städten zuzuführen. München und Wien besitzen solche Hochquell¬ 
leitungen, befinden sich allerdings auch in der günstigen Lage, die 
Quellen des Gebirges in leicht erreichbarer Nähe zu haben. Für die 
Städte der norddeutschen Tiefebene wäre eine gleiche Anlage mit weit 
grösseren Schwierigkeiten und fast unerschwinglichen Kosten verknüpft. 
Hier besteht zur Zeit noch eine Lücke in unseren hygienisch-tech¬ 
nischen Einrichtungen. 


Die Flussepidemien. 

Die Thatsache, dass die Cholera auf ihren Wanderzügen den 
Strassen des menschlichen Verkehrs folgt und unter diesen wieder die 
Wasserstrassen besonders bevorzugt, ist so lange den Beobachtern 
aufgefallen, als es Cholera giebt. Als die Seuche im Jahre 1831 zum 
ersten Male deutschen Boden betrat, ging ihr die Nachricht vorher, 
dass sie in ihrer Heimath Indien sowohl, als auch auf ihrem Zuge 
durch Russland den Flussläufen gefolgt sei 1 ). In Deutschland kam 
man bald zu derselben Ueberzeugung, welcher das preussische Regu¬ 
lativ von 1835 klaren Ausdruck gegeben hat. Im Jahre 1866 traten 
die Verschleppungen durch die Truppen mehr in den Vordergrund. 
Dagegen zeigte die grosse Epidemie von 1873 das für Deutschland 
typisch gewordene Bild der Wanderung der Seuche von der russischen 
Grenze die Weichsel abwärts und von ihr durch die Brahe, Brora- 
beiger Kanal, Netze, Warthe zur Oder, von wo aus die Zerstreuung 
auf den dort sich nach allen Seiten verzweigenden Wasserstrassen 
erfolgt. Genau dasselbe Bild hat uns das Jahr 1894 gebracht. Die 
Epidemie von 1892 in Deutschland zeigte an Elbe und Oder, die von 
1886 in Ungarn an Donau und Theiss das gleiche Verhalten 2 ). 

Als man anfing, diese Thatsachen im Lichte der bakteriologischen 
Forschung zu betrachten, als die ersten Fund§ von Kommabacillen 


1) Reineke, Die Cholera in Hamburg und ihre Beziehungen zum Wasser. 

S. 24. 

2) Verhandlungen des VI. internat. Congresses für Hygiene. Wien 1887. 


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Dr. Brunzlow, 

im Wasser der Ströme, an denen entlang sich die Seuche bewegte, 
bekannt wurden, neigte man zu der Annahme, das Flusswasser werde 
von den Cholerabacillen ziemlich gleichmässig durchsetzt und sei also 
an allen Orten geeignet, Infection und damit neue Epidemien zu er¬ 
zeugen. Dei- Begriff der „Stromverseuchung“, wie er sich damals zu 
entwickeln begann, hat manchen Massnahmen, die gegen die Verbrei¬ 
tung der Cholera an den Flüssen ergriffen wurden, seinen unverkenn¬ 
baren Stempel aufgedrückt. Aber die Thatsaehen, welche der weitere 
Verlauf der Epidemien an die Hand gab, passten zu dem ursprüng¬ 
lichen Inhalte dieses Begriffes nicht ganz. So regte sich von vielen 
Seiten der Widerspruch gegen diese Theorie und damit auch gegen 
die Durchführung strenger Massregeln, und auf der letzten Versamm¬ 
lung des deutschen Vereins für öffentliche Gesundheitspflege in Magde¬ 
burg, wie gelegentlich der Schlussconferenz für den Stromüberwachungs¬ 
dienst im Weichselgebiete zu Danzig am 1. December 1894 fand er 
öffentlichen Ausdruck. 

Dass Flussläufe in der Tliat ziemlich lange Cholerabacillen ent¬ 
halten können, ist oben gezeigt worden. Besonders häufig sind Ver¬ 
seuchungen dieser Art in grösseren Städten mit ausgedehnten Hafcn- 
anlagen an Flüssen beobachtet worden. Die Gründe hierfür werden 
wir in denselben Verhältnissen zu suchen haben, welche auch für viele 
an grösseren oder kleineren Landseen, selbst an Teichen gelegene 
Städte bedeutungsvoll geworden sind. Beide sollen deshalb auch im 
Zusammenhänge betrachtet werden. 

Das erste in allen seinen Einzelheiten genau studirtc Beispiel ist 
die von Koch und Gaffky 1 ) beschriebene Epidemie an einem Tank 
in Kalkutta. Diese von Meteorwässern gefüllten und meist stark ver¬ 
unreinigten Wasserbecken haben stets die Mittelpunkte umschriebener 
Epidemien gebildet. Die Bewohner der unmittelbar an ihnen liegen¬ 
den Hütten benutzen ihr Wasser sowohl zum täglichen Baden, wie 
zur Vornahme der vorgeschriebenen religiösen Waschungen. Ferner 
wird die sämmtlichc schmutzige Wäsche im Tank gewaschen und 
ausserdem das für Haus- und Küchenzwecke erforderliche Wasser aus 
l hm entnommen. Dass es auch zum Trinken benutzt wird, kann um 
so weniger bezweifelt werden, als Koch Gelegenheit hatte zu beob¬ 
achten, dass Wasserträger ihre Lederschläuche damit füllten, um es 
in die benachbarten Wohnungen zu tragen, und dass Badende ihren 


1) Koch und Gaffky, a. a. 0. S. 184. 


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Verbreitung der Cholera durch das Wasser. 


105) 


Mund mit diesem Wasser reinigten und es dann wieder in den Tank 
ausspieen. Ebenso wie die gesamrate übrige Wäsche wurde natürlich 
auch diejenige der Cholerakranken, welche sich zu jener Zeit in den 
umliegenden Hütten befanden, in diesem Tank gewaschen. Die Ab¬ 
tritte, halb in die Erde vergrabene irdene Töpfe, die stets bis zum 
Ueberlaufen gefüllt sind, erfahren keine andere Reinigung, als dass 
bei heftigen Regengüssen ihr Inhalt fortgespült und natürlich in den 
Tank hineingeschwemmt wird. Kein Wunder, dass, wenn in einer 
dieser Hütten ein Cholerafall vorkommt, die anderen Anwohner infic.irt 
werden. Dass in der That das Tankwasser der Träger der lnfection 
ist, hat Koch mit Sicherheit durch den Nachweis der Kommabacillen 
in demselben festgestellt. 

Diese kleine, geradezu typisch verlaufene Epidemie stellt ein 
Paradigma dar, welches auf eine grosse Zahl in Europa beobachteter 
Fälle unmittelbar anzuwenden ist. Es erscheint auf den ersten Blick 
paradox, in hochcivilisirten Ländern dieselben Bedingungen anschul¬ 
digen zu wollen, welche in Indien, einem Lande, dessen Zustände auch 
den niedrigsten Anforderungen der Hygiene Hohn sprechen, wirksam 
sind. Doch schlagen wir die Geschichte der deutschen Epidemien 
auf. Aus dem Jahre 1873 berichtet Hirsch 1 ): Der Ort Kulmsee in 
Westpreussen „bezieht mit Ausnahme weniger Häuser den ganzen 
Wasserbedarf aus dem Sec, in welchen säramtliche Abfälle aus der 
Stadt durch offene Rinnsteine abgeführt werden, und zwar mündet 
einer der Hauptkanäle gerade an der Stelle des Ufers, welche vor¬ 
zugsweise als Schöpfstelle benutzt wird; nur etwa 12 Häuser in der 
Stadt haben tiefgelegte Brunnen, welche brauchbares und gutes Wasser 
geben, und gerade die Bewohner dieser Häuser sollen von der Cholera 
auffallend verschont geblieben sein, während unter der Bevölkerung 
der benachbarten Grundstücke, welche übrigens unter denselben so¬ 
cialen Verhältnissen lebten, die Krankheit zahlreiche Opfer gefordert 
hat, und in 5 von armseligen Leuten sparsam bewohnten Häusern, die 
unmittelbar am See und an der Ausmündung jenes Rinnsteins liegen, 
11 Todesfälle an Cholera vorgekommen sind.“ Ein ganz analoges 
Beispiel erzählt der Regierungs-Medicinalbcricht von Königsberg aus 
dem Orte Cräraersdorf, Kreis Allenstein 2 ): „In diesem Orte existirt 

1) Hirsch, Das Auftreten und der Verlauf der Cholera in den preussischen 
Provinzen Posen und Preussen während der Monate Mai—September 1873. Berlin 
1874. Reisebericht. 

2) Hirsch, Die Choleraepidemie des .Jahres 1873 in Norddeutschland. S. (58. 


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Dr. Brunzlow, 


nur ein Brunnen, welcher Privatbesitz ist. Die gesaramte Einwohner¬ 
schaft benutzt zum Trinken, Waschen, Küchenbedarf das Wasser eines 
im Dorfe gelegenen Teiches. Crämersdorf wurde von der Cholera 
schwer heimgesucht, nur die eine Familie, welche diesen Brunnen be¬ 
nutzte, blieb ganz verschont. 

Ein klassisches Beispiel von Hafenverseuchung bot Hamburg im 
Jahre 1892. Von jeher hat diese Stadt ihren gesammten Unrath der 
Elbe zugeführt. Früher geschah es in der Art, dass jedes Haus seine 
Abwässer dem nächsten Wasserarm: Elbe, Alster oder Fleth über¬ 
antwortete; seit die Stadt kanalisirt ist, führen die Siele die Auswurfs¬ 
stoffe von jetzt nahezu 600000 Menschen an verschiedenen Stellen in 
die Elbe. Alle diese Auslässe liegen innerhalb der Stadt. Da nun 
die Fluth das Elbwasser täglich zweimal zurückstaut und es unter 
Umständen um mehrere Kilometer stromaufwärts treibt, so wogt diese 
verunreinigte Wassermasse beständig durch den ganzen Hafen auf und 
ab und findet nur langsam ihren Abfluss. Zur Charakteristik dieses 
Wassers mag; es dienen, dass man nicht selten in der Gegend des 
Hauptsiels bei den Landungsbrücken feste Fäkaltheile im Strome 
schwimmend trifft, und dass Verfasser dieser Arbeit gelegentlich von 
Sterilisirungsversuchen beobachten konnte, dass mitten in der Elbe 
geschöpftes Wasser beim Umrühren im Standgefässe einen seifenartigen 
Schaum bildete, der viertelstundenlang stehen blieb. Welches Unglück 
die Stadt dadurch traf, dass sie solches Wasser ungereinigt ihrer Lei¬ 
tung überantwortete, ist schon besprochen worden. Aber auch hier¬ 
von abgesehen, stellt das Hafenwasser eine stete lnfectionsgefahr dar. 
Nicht allein die Mannschaften der im Hafen liegenden Schiffe, sondern 
die gesammten an und auf dem Strome beschäftigten Arbeiter kom¬ 
men damit in ständige Berührung, waschen sich darin und trinken es 
nicht selten. Wie diese Verhältnisse auf die Erkrankungsziffern der 
in Rede stehenden Bevölkerungsklassen eingewirkt haben, ist früher 
schon dargethan. In hochinteressanter Weise haben ferner die Unter¬ 
suchungen von Reineke gelehrt, dass bei allen Choleraepidemien 
Hamburgs der Hafen den locus minoris resistentiae abgegeben hat 1 ). 
So entfallen in den Epidemien von 1831 und 1832 ein Siebentel aller 
Erkrankungen auf Leute, die am Wasser arbeiten, sämmtliche Epi¬ 
demien ohne Ausnahme zeigen eine vorwiegende Betheiligung der um 


1) Reineke, Die Cholera in Hamburg und ihre Beziehungen zum Wasser. 
S. 22, 33, 71 u. s. w. 


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Verbreitung der Cholera durch das Wasser. 


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den Hafen gelegenen Stadttheile, und vielfach hat sich auch im Hafen 
der Ausgangspunkt der Epidemie nachweisen lassen. Ist solcher Ge¬ 
stalt die dort arbeitende Bevölkerung der Infection besonders ausge¬ 
setzt, so verschleppt diese natürlich die Krankheit in alle jene Stadt¬ 
gebiete, wo sie ansässig ist. Die Karte, welche Gaffky seinem Werke 
über die Cholera in Hamburg von 1892 beigegeben hat, zeigt die 
Richtigkeit dieser Annahme in der augenfälligsten Weise. 

Was hier von Hamburg eingehender auseinandergesetzt worden 
ist, hat sich fast bei allen Städten mit Hafenanlagen an Flüssen nach- 
weisen lassen. In Berlin sind 1873 und 1892 die ersten Erkrankun¬ 
gen auf Schiffen vorgekommen und haben von dort aus die Stadt in- 
fieirt; in Thom und Danzig konnte 1894 das Gleiche beobachtet wer¬ 
den. Immerhin liegen in vielen dieser Städte die Verhältnisse nicht 
so ungünstig wie in Hamburg, weil sie ihre Fäkalien nicht dem Strome 
überantworten. Denn das geht ja aus dem Gesagten klar hervor, 
dass gerade in dem circulus vitiosus, welcher den eigenen Unrath 
immer von neuem in die Stadt zurückführt, der Kernpunkt der Miss¬ 
stände zu finden ist. Dem gleichen Uebel begegnen wir da, wo nicht 
grosse Wasserbecken, sondern Gräben und Kanäle den Sammelpunkt 
der Abwässer bilden. In Demmin erkrankte im November 1892 eine 
Todtenfrau und ihr Mann an Cholera. Die Abgänge beider Personen 
gelangten zum Theil in den vorbeifliessenden Mühlengraben. Kurze 
Zeit darauf wurde in einem etwas weiter abwärts an diesem Graben 
gelegenen Hause ein junges Mädchen krank, deren Familie das Wasser 
des Grabens zum Waschen und Reinigen zu benutzen pflegte 1 ). — 
Das Städtchen Tiegenhof im Weichseldelta wird von einer grossen 
Zahl von Ent- und Bewässerungsgräben durchzogen, die mit dem 
Tiegefluss in Verbindung stehen, und deren Wasser von den Einwoh¬ 
nern vielfach zu Wirthschafts- und Trinkzwecken benutzt wird. Im 
Jahre 1873 hielt sich die Cholera besonders in einer Strasse, die von 
zwei derartigen Gräben umgeben war. Nachdem dieselben in späteren 
Jahren zugeschüttet worden, ist bei der Epidemie von 1894 in jener 
Strasse nicht ein Fall vorgekommen, obwohl die dort hausende arme 
Bevölkerung sich sonst in nichts geändert hat 2 ). — Eine grosse Zahl 
von Beispielen derselben Art finden wir auch in den Berichten aus 


1) Sitzungsberichte der Choleracommission. In: Acten des Staatscommissars 
für das Weichselgebiet. 

2) Acten des Staatscommissars für das Weichselgebiet. 


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Dr. Brunzlow, 


dein Jahre 1873 J ). Ganz besonders wird dort aber daraufhingewiesen, 
dass die Cholera mit Vorliebe an den Ufern kleiner Flüsse, auch sol¬ 
cher, die für einen Verkehr zu unbedeutend waren, festen Fuss ge¬ 
fasst habe. Zum Theil wird diese Erscheinung direct durch die Ein¬ 
mündung der Abzugskanäle erklärt, z. B. für die Städte Bischofsburg, 
Soldau, Neidenburg, Braunsberg im Reg.-Bez. Königsberg. Dasselbe 
hat sich nicht nur innerhalb der Ortschaften, sondern auch auf weitere 
Strecken bemerkbar gemacht. So heisst es dort 1 2 ): „Der Kreis Pr.- 
Eylau wird von einem kleinen, sumpfigen Flüsschen durchzogen; fast 
in allen an demselben gelegenen Ortschaften des Kreises sind Cholera¬ 
fälle beobachtet worden.“ Aus den Kreisen Glatz, Habelschwerdt und 
Strehlen im Reg.-Bez. Breslau und aus dem Reg.-Bez. Marienwerder 
wird das Gleiche berichtet 3 ). Besonders interessant hat sich die Dre- 
wenz verhalten. Tn der an ihr gelegenen Stadt Strasburg „haben vor¬ 
zugsweise diejenigen Strassen gelitten, welche an einem zur Sommers¬ 
zeit zumeist stagnirenden Abzugskanalc liegen, in welchen sämmtliehe 
Abfälle aus den höher gelegenen Thcilen des Ortes cinmünden, und 
welcher, durch die Stadt verlaufend, . . . schliesslich in die Drewenz 
einmündet.“ Weiterhin heisst cs dann ebenda, dass die Cholera sich 
wesentlich längs dieses Flusses verbreitet und in acht an ihm gelege¬ 
nen Ortschaften am heftigsten gehaust habe 4 ). 

Die angeführten Beispiele entstammen den Federn sehr zahlreicher, 
verschiedener Berichterstatter. Um so bedeutungsvoller ist es, dass 
sie Alle zu der Uebcrzeugung gekommen sind, dass der Grund für 
die Verbreitung der Cholera an solchen Flüssen in der Verunreinigung 
ihres Wassers durch Abzugskanäle und seiner späteren Benutzung für 
Haushaltszwecke zu suchen sei. Von vielen Seiten wird ausdrücklich 
betont, dass ein Verkehr auf diesen Gewässern nicht stattfinde, also 
auch nicht für die Verschleppung der Seuche verantwortlich gemacht 
werden könne. Ich halte es für um so wichtiger, auf diese That- 
sache hinzuweisen, als neuerdings wieder Bujwid versucht hat, für 
ähnliche Beobachtungen in Polen den Verkehr zur Erklärung der Aus¬ 
breitung der Epidemie heranzuziehen 5 ). Nach den Mcdicinalberichten 

1) Hirsch, Die Cholera-Epidemie des Jahres 1873 in Norddeutschland. S. 70. 

2) Hirsch, Ebenda. S. 62, 67, 75. 

3) Ebenda. 

4) Hirsch, Ebenda. S. 60—61. 

5) Bujwid, Die Entstehung der Cholera in Polen 1802. Zcitschr. f. Hy¬ 
giene. Bd. XIV. 


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Verbreitung der Cholera durch das Wasser. 


113 


aus dem Jahre 1873 kann es keinem Zweifel unterliegen, dass an 
kleinen Flüsschen und Bächen eine förmliche Verseuchung und ein 
Transport des Infectionsstoffes durch das Wasser beobachtet worden ist. 

Halten wir hieran fest, so wird es uns auch nicht schwer lallen, 
diejenigen Beobachtungen richtig zu würdigen, welche gelegentlich der 
Cholera im Weichselgebiete im Sommer 1894 gemacht worden sind, 
und die eingehend zu studiren mir durch die Güte Seiner Excellenz, 
des Herrn Staatsministers Dr. v. Gossler gestattet worden ist. Unter 
allen früheren Erfahrungen hatte nur die von Ko eh an der Saale ge¬ 
wonnene die Betheiligung des Wassers auch bei grösseren Flüssen 
ausser Frage gestellt. Die von den Rieselfeldern der Irrenanstalt zu 
Nietleben in die Saale gelangten Kommabacillen führten zu Erkran¬ 
kungen in vier bis zu 20 km unterhalb am Flusse gelegenen Ortschaften. 
Diese Verschleppung fand statt zu einer Zeit, wo der ganze Fluss mit 
Eis bedeckt war, konnte also nur durch das Wasser erfolgt sein. Alle 
anderen Fälle von sogenannter Stromverseuchung schienen weit mehr 
^ür eine Verschleppung des Keimes durch den Schifffahrtsverkehr zu 
sprechen. 

Aus der Zahl der an der Weichsel gemachten Beobachtungen hebt 
sich zunächst eine in sich abgeschlossene Epidemie heraus, deren Ent¬ 
stehung zweifellos auf eine Verseuchung des Flusses zurückzuführen 
war. Von der jetzigen Weichselmündung bei Neufähr nach Westen 
dehnt sich in einer Länge von etwa 16 km bis Neufahrwasser der 
alte Unterlauf des Stromes aus. Diese von der Stromweichsel durch 
eine Schleusenanlage bei Plehnendorf getrennte todte Weichsel hat 
äusserst geringe Strömung. Ihre westliche (untere) Hälfte bildet den 
weit sich ausdehnenden Hafen Danzigs und enthält die Lagerplätze 
für ansehnliche Mengen russischen Holzes. Die Mannschaft dieser 
Flösse wird schon an der Plehnendorfer Schleuse entlassen, um von 
Danzig aus mit der Bahn in die Heimath zurückzukehren, während 
die unbemannten Flösse durchgeschleust und durch Dampfer zum 
Lagerplatz geschleppt werden. Am 9. Juli erkrankte ein Flösser auf 
der Landstrasse von Plehnendorf nach Danzig an schwerer Cholera. 
Das von ihm geführte Floss wurde deshalb auf der todten Weichsel, 
etwa 6 km oberhalb Danzigs beim Dorfe Krakau isolirt verankert, 
und die Stelle, wo die Strohhütte des Kranken gestanden hatte, durch 
Uebergiessen mit Kalkmilch, wie es schien ausreichend, desiuficirt, 
denn die Untersuchung einer zwischen den Balken entnommenen Wasser¬ 
probe Iiess keine Kommabacillen entdecken. Erst später kam man 

Vierte^Abrsschr. f. ger. Med. Dritte Folge. XIV. 1. g 


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Dr. Brunzlow, 


zur Erkenntniss, dass durch diese Methode der grössere im Wasser 
liegende Theil der Balken, der mit einer dicken Schlammschicht über¬ 
zogen ist, nicht desinficirt wurde, nachdem in einer zweiten am 17. Juli 
entnommenen Wasserprobe im Institut für Infectionskrankheiten Cho¬ 
lerabacillen gefunden worden waren. Auf dieses Ergebniss hin wurde 
einige Tage später das Floss ausgewaschen, d. h. zerschlagen und zu 
Lande geschafft. Es muss hier gleich horvorgehoben werden, dass 
ein anderer Weg, auf dem Cholerabacillcn in das Weichselwasser ge¬ 
kommen sein könnten, oder eine andere Einschleppung in jene Gegend 
mit Sicherheit auszuschliessen sind. Die Luft- und Wassertempera¬ 
turen waren zu jener Zeit ausserordentlich hoch, letztere schwankten 
von Mitte Juli bis zum 12. August zwischen 19 und 23° C. und sanken 
erst gegen Ende August erheblich. Die ersten Erkrankungsfälle kamen 
am 13. und 14. Juli auf zwei am Holm bei Danzig liegenden Schiffen 
vor, und am 1. und 9. August wrnrdc je ein Haus auf dem Holm be¬ 
fallen. Inzwischen waren bei der Ankerstelle des infectiösen Flosses 
Erkrankungen in Krakau am 19., und am gegenüberliegenden Ufer in 
Kl.-Plehnendorf am 26. Juli aufgetreten, allesammt bei Leuten, in 
deren Haushalte das Weichselwasser ausgedehnte Verwendung gefunden 
hatte. Nach dem 26. erfolgte die Beseitigung des Flosses; weitere 
Erkrankungen kamen in jener Gegend nicht vor. Mit dem 9. August 
kam eine neue Epidemie in der Danziger Vorstadt Althof zum Aus¬ 
bruch und localisirte sich namentlich um den in die Weichsel ein¬ 
mündenden Stagnetcr Graben, in dem auch bald darauf Cholerabacillen 
gefunden wurden. An diesem Graben wurden auf einem Holzbearbei- 
tungsplatzc zahlreiche Arbeiter beschäftigt, welche nun sowohl nach 
Neufähr wie nach Kl.-Plehnendorf die Seuche verschleppten. Ein in 
der Nähe des Grabens liegender Dampfer wurde ebenfalls inficirt, des¬ 
gleichen ein Schiff, das in jenen Tagen dort vorüberfuhr, um dann in 
Danzig zu ankern. Am 20. August brach die Seuche in dem gerade 
gegenüber von Althof gelegenen Troyl aus. Auch die westliche Vor¬ 
stadt Schidlitz war, bereits am 13. Juli, von den am Holm liegenden 
Schiffen aus angesteckt. Indessen gelang es energischen Abwehrraass- 
regeln, welche sogleich bei jedem neuen Falle ins Werk gesetzt, wur¬ 
den, alle diese kleinen Herde auf sich selbst zu beschränken und die 
Seuche von Danzig selbst fernzuhalten. Am 19. August erreichte sie 
in Althof, am 27. in Troyl ihr Ende. Am 16. August begegnen wir 
noch einigen Fällen in Weichselmünde, wohin der Keim nur auf dem 
Wasserwege verschleppt sein konnte; andere Herdbildungen kamen 

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Verbreitung der Cholera durch das Wasser. 


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nicht mehr vor, und am 28. August war die Epidemie erloschen. Sie 
hatte 50 Tage gedauert und während dieser Zeit 50 Erkrankungen 
mit 18 Todesfällen geliefert, unter denen 12 mit voller Deutlichkeit 
auf eine Infection durch Weichselwasser hinwiesen, während bei den 
übrigen in directer Ucbertragung durch Kranke theils innerhalb der¬ 
selben Familie, theils von Haus zu Haus die Erklärung zu linden war. 

Diese scharf umschriebene Epidemie ist aus mehreren Gründen 
interessant. Erstens ist sie in allen ihren Einzelheiten genau beob¬ 
achtet. Die Infectionsquelle ist vollkommen eindeutig gegeben, die 
Krankheit ergreift nur Leute, die in häufige, nahe Berührung mit dem 
Wasser kommen, und sie wird trotz aller Bekämpfung durch Isolirung, 
Quarantänelegung und Desinfection an immer neuen Punkten durch 
den inficirten Strom wieder entzündet. Zweitens zeigt sie, wie lange 
unter günstigen Bedingungen (hohe Wassertemperaturen, geringe Strö¬ 
mung, welche die Bacillen nicht schnell von dannen führt) der Infec- 
tionsstoff sich nach einmaliger Einschleppung in einem solchen todten 
Stromabschnitte halten kann. Endlich weist sie eine ganz eigenartige 
räumliche Vertheilung auf, welche sehr gegen die Annahme spricht, 
dass während des Zeitraums von 50 Tagen, während dessen die todte 
Weichsel als verseucht gelten musste, in allen ihren Theilen der In- 
fectionsstoflf enthalten gewesen sei. Die Epidemie bewegt sich lang¬ 
sam und in grossen Sprüngen in der Richtung des Flusslaufes fort, 
deutlich der Strömung folgend, soweit nicht die Verschleppung durch 
erkrankte Personen eine Verbreitung in anderen Richtungen bedingt. 
Dabei hat der Infectionsstoff eine äusserst geringe Fähigkeit, sich im 
Strome lange an einem Punkte zu behaupten. Sobald das inficirte 
Floss entfernt ist, hören die Ansteckungen durch das Flusswasser im 
oberen Theile des Stromes auf; nur in dem Stagneter Graben findet 
der Krankheitskeim gewissermassen einen Schlupfwinkel, in dem ei- 
längere Zeit zu verweilen vermag. 

Betrachten wir nun den Verlauf der Epidemie an dem Weichsel¬ 
strome selbst. 

Seit dem April 1894 war die Seuche in Russisch-Polen in be¬ 
ständigem Vorrücken gegen die Grenze begriffen und hatte Ende Mai 
sämmtliche Weichselgouvernements erfasst. Am 31. Mai kam der 
erste sichere Fall auf deutschem Boden in Schilno vor. Es folgten 
noch drei weitere Fälle ebenda, sämmtlich bei Leuten, die intensiv 
mit dem Wasser zu thun hatten. Am 8. Juni erkrankte und starb 
ein Wasserbau arbeiter bei Getan zwischen Thorn und Schulitz. Am 

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Dr. Brunzlow, 


4. Juni wurde bei der Plehnendorfer Schleuse ein Flösser krank ge¬ 
funden. Dieser litt seit dem 1. Juni nachweislich an Cholera und 
hatte in dieser Zeit seine sämmtlichen Dejectionen der Weichsel über¬ 
antwortet. Das Floss hatte in den genannten Tagen die gegen 20 km 
lange Strecke von der Rothebuder Schleuse (der Einmündung des 
Wcichsel-Haff-Kanals) bis Plehnendorf durchfahren. Es gelang, die 
Flossmannschaft zu isoliren und unter ihr noch zwei weitere Cholera¬ 
fälle zu entdecken. Das Floss wurde in der Wesslinker Bucht bei 
Plehnendorf verankert; in dem Wasser, welches am 5. Juni zwischen 
den Balken geschöpft worden war, fanden sich Cholerabacillen. Von 
diesem Flosse aus erfolgten durch Vermittelung des Wassers zwei In- 
feetionen, die eine betraf einen Bühnenarbeiter, der bis zum 5. Juni 
nahe der Rothebuder Schleuse gearbeitet und nachweislich häufig 
Weichselwasser getrunken hatte, mit Flössern aber in keine nähere 
Berührung gekommen war, die zweite einen Schiffer aus Gr.-Grünhof 
bei Mewe, der, vom 1. bis zum 3. Juni weichselabwärts fahrend, die¬ 
selbe Stromstrecke wie das Floss passirt hatte und darauf am 5. nach 
Hause zurückgekehrt erkrankt war. Von ihm aus inficirte sich die 
eigene und eine Nachbarsfamilie. 

Nach diesen wenigen Fällen herrschte zunächst Ruhe, denn Ende 
Juni trat Hochwasser ein, das den gesammten Flussverkehr unter¬ 
brach. Sowie das Hochwasser mit Anfang Juli abgelaufen, sehen wir 
sofort auf dem ganzen Strome verstreut neue Fälle in grosser Zahl 
bei Flössern und Schilfern; nach Mitte August tritt ein deutlicher 
Rückgang der Erkrankungsziffern ein, und mit dem 23. October hat 
die Seuche überhaupt ein Ende, nachdem schon wochenlang nur spo¬ 
radische Fälle vorgekommen. Bemerkenswerth ist aus diesem zweiten 
Theile der Epidemie, dass in Getau und der Wesslinker Bucht sofort 
je eine neue Erkrankung beobachtet wurde. Letztere war am 9. Juli 
entdeckt worden, am 10. erkrankte in einem nahen Dorfe ein Schiffer, 
der Tages zuvor in der Bucht Sand eingeladen hatte. Bei Getau und 
in der Wesslinker Bucht sind nämlich günstige, viel benutzte Anlege¬ 
plätze für Flösse, und daher ist es zu verstehen, dass sie stets Prä- 
dilectionsstellen für Choleraerkrankungen abgegeben haben; in Getau 
waren auch 1892 und 1893 bei den ganz kleinen Stromepidemien 
Cholerafälle gefunden worden. 

Einer Herdbildung begegnen wir eigentlich nur in Thorn. Hier 
waren im ganzen Verlaufe der Epidemie Erkrankungen unter den Schif¬ 
fern im Therncr Hafen, d. h. auf der rechten Uferseite des Stromes, 


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Verbreitung der Cholera durch das Wasser. 1 17 

an die sich die Stadt anlehnt, beobachtet worden, während Schiffe und 
Flösse, die an der linken Seite und in der Mitte gelegen, völlig ver¬ 
schont geblieben waren. Zwischen jenen Schiffen im Hafen pflegt das 
Wasser zumeist zu stagniren. Von dort aus wurde die Cholera Ende 
August in zwei Vorstädte Thorns verschleppt und verbreitete sich hier 
in 24 Erkrankungen mit 12 Todesfällen von Haus zu Haus. Alle 
übrigen Erkrankungsfälle finden sich am ganzen Laufe des Stromes 
verstreut ohne feste Localisation, ohne irgend deutliche Neigung zur 
Herdbildung. Unter ihnen kamen allein bei der flussbefahrenden Be¬ 
völkerung 47 (21) Fälle vor, wovon 30 auf ausländische Flösser ent¬ 
fallen. Die Bedeutung dieser Zahl wird klar, wenn wir berechnen, 
dass in ganz Westpreussen 295 (128) Fälle beobachtet wurden, dass 
von diesen 149 (65) allein auf die Epidemien in Thorn, Tiegenhof und 
Tolkemit kommen und unter den 146 (63) anderen noch ein erheb¬ 
licher Antheil, der leider nicht zahlenmässig fixirt werden kann, auf 
die Familien der in Uferortschaften ansässigen Schiffer zu rechnen ist. 
Etwas ganz Aehnliches hat sich in demselben Jahre im Odergebiet 
ergeben. Sieht man von den Ortsepidemien in Nakel und Usch ab, 
so sind entlang der Netze, Warthe und Oder 57 Cholerafälle vorge¬ 
kommen, darunter sind 2 Schiffer, 15 (deutsche) Flösser und 12 An¬ 
gehörige oder Hausgenossen von Flösseru, bei denen sich die An¬ 
steckung durch diese unmittelbar nachweisen liess. 

Der Verlauf der Epidemie an der Stromwcichsel bestätigt die Un¬ 
fähigkeit des Cholerabacillus, sich im fliessenden Wasser lange an 
einem Punkte zu behaupten. Offenbare Wasserverseuchungen sind an 
vier Stellen beobachtet worden: an zwei Anlegeplätzen von Flössen, 
die dritte im Thorner Hafen. An einem der ersteren gelang der Ba¬ 
rillennachweis im Wasser, an dem letzteren erscheint durch die nach¬ 
gewiesene Uebertragung von Kahn zu Kahn die Annahme der Wasser¬ 
verseuchung gerechtfertigt. Alle drei Punkte besitzen Stauwasser. 
Hier darf an den Fall von Ansteckung durch das Wasser erinnert 
werden, der auf der Netze, ebenfalls an einem ständigen Lagerplätze 
von Flössen in einer Bucht mit stagnirendem Wasser beobachtet und 
oben berichtet wurde. Der vierte Fall von Wasserverseuchung be¬ 
trifft die Strecke von der Rothebuder Schleuse bis Plehnendorf in der 
Zeit zwischen dem 1. und 4. Juni. Dass die Ansteckung des Schif¬ 
fers und Bühnenarbeiters durch den Genuss von Weichselwasser er¬ 
folgt sei, darf um so eher angenommen werden, als nach allen ange- 
stellten Ermittelungen eine andere Gelegenheit zur Infection lur diese 


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Dr. Brunzlow, 


Leute nicht bestanden hat. Auffällig ist aber die Thatsache, dass die 
Verseuchung des Stromes nur genau so lange andauerte, wie das in- 
ficirende Floss dort passirte, denn anderen Falles hätten zweifellos 
auch späterhin noch Jnfectionen erfolgen müssen. Offenbar führt der 
Strom den Infectionskeim sofort von dannen. 

Dass dieser dabei nicht sogleich zu Grunde geht und unter Um¬ 
ständen nach anderen Orten verschleppt hier Infectionen erzeugen kann, 
hat die Beobachtung Koch’s an der Saale erwiesen, dafür spricht 
auch die Epidemie an der todten Weichsel. Wenn derartige Fälle in 
fliessendem Wasser so selten Vorkommen, so liegt das wahrscheinlich 
an der starken Verdünnung, welche die inficirende Masse im Strome 
erfährt. Dass diese in der That eine ganz erhebliche ist, davon konnte 
ich mich durch eigene Versuche an der todten Netze überzeugen. In 
den überaus langsam fliessenden Strom, der bei 40—50 m Breite und 
2 m Tiefe eine Geschwindigkeit von nur 0,25 m in der Secunde hat 
und 10 cbm Wasser fördert, wurden inmitten des Bettes ca. 150 1 
einer Jauche von hohem Bakteriengehalte eingeschüttet. Zahlreiche 
Schwimmkörper Hessen die Abwärtsbewegung der verunreinigten Wasser¬ 
masse deutlich verfolgen. Während nun die bakteriologische Unter¬ 
suchung der entnommenen Wasserproben zeigte, dass nach einer Fort¬ 
bewegung von etwa 100 m der Bakteriengehalt des Flusses auf das 
mehr als Zehnfache gestiegen war, betrug dieser 1 km weiter nur 
noch das Doppelte und war vom zweiten Kilometer an auf das frühere 
Mass zurückgekehrt. 

Die Verschleppung des Infcctionsstoffes fällt an der Stromwcichsel 
offenbar nicht sowohl dem Wasser als vielmehr der ström befahren den 
Bevölkerung: Schiffern und Flössern, zur Last. Schon von Hirsch 
ist in seinen Berichten über die Epidemie von 1873 wiederholt die 
Wichtigkeit des Flussverkehrs für die Verbreitung der Cholera betont 
worden. Zu ihrer Erklärung zieht Hirsch die allgemeinen hygieni¬ 
schen Ucbelstände in der Lebensweise, namentlich den Wohnräumen 
der Schiffer heran 1 ). Seitdem wir gelernt haben, uns mit diesem etwas 
unklaren Factor nicht zu begnügen, sondern bestimmten Schädlich¬ 
keiten nachzuforschen, genügt auch die Hirsch’.sehe Begründung nicht 
mehr. Zwar ist es richtig, dass enges Zusammenleben und Schmutz 
die llebertragung der Cholera von Mensch zu Mensch sehr befördern, 

1) Hirsch, Allgemeine Darstellung der Choleraepidemie des .Jahres 1873 
in Deutschland. Berichte der Cholera-Commission für das deutsche Reich. 


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Verbreitung' der Cholera durch das Wasser. 


111) 


und wenn die Cholera überhaupt für eine Krankheit des Proletariats 
erklärt wird, so sind dafür dieselben Gründe massgebend, welche zum 
Theil auch für die Schifferbevölkerung zutreffen. Indessen wird Jeder, 
welcher die Wohnräume der Kahnschiffer häufig betreten hat, einer 
übertriebenen Vorstellung von dem dort herrschenden Schmutze wider¬ 
sprechen. Auf deutschen Kähnen findet man zumeist eine zwar enge, 
aber doch saubere Haushaltung. Das wichtigste Moment für die auf¬ 
fallende Neigung der Flussbevölkerung, an Cholera zu erkranken, bildet 
das nahe Zusammenleben mit dem Wasser. Das Flusswasser deckt 
den gesammten Haushaltungsbedarf, nimmt aber auch alle Abfälle und 
Dejckte auf, und so entstehen dieselben Kreislaufsverhältnisse, wie sie 
oben geschildert wurden. Es wird daraus ohne Weiteres verständlich, 
warum gerade an Anlegeplätzen im stagnirenden Wasser die Verbrei¬ 
tung der Seuche unter den Schiffern besonders beobachtet wird, und 
die Ausbreitung unter den Oberländer Kähnen im Hamburger Hafen 
1892, unter den Schiffen im Thorner Hafen 1894, besonders aber die 
Ansteckung des Dampfers „Gretchen Bohlen“ von dem „Murciano“ 1 ) 
sind Beispiele, welche den Modus der Infection deutlich erkennen 
lassen. Es verdient hervorgehoben zu werden, dass unter den 50 Fällen 
auf der todten Weichsel allein 7 auf 4 Schiffen vorgekommen sind. 

Noch weit mehr als die Schiffer werden von der Cholera die 
Flösser und besonders die auf der Weichsel vorwiegend verkehrenden 
(lalizianer ergriffen. Wohl hat man auch hier häufig eine Uebertra- 
irung unter Schlafgenossen derselben Hütte beobachtet, aber das Aus¬ 
schlaggebende ist bei ihnen die Berührung mit dem Wasser. Wer 
einmal gesehen hat, wie am einen Ende der Traft ein Flösser seine 
Dejectc dem Strome überantwortet, am anderen Ende ein zweiter sich 
im Flusse wäscht, dort einer einen Becher Flusswasser mit Behagen 
schlürft oder, falls er Kaffee oder Kwass als Getränk vorzieht, sein 
Trinkgcfäss wenigstens zuvor im Flusse ausspült, und dies, nachdem 
den Leuten Jahre lang in Wort und Schrift gepredigt worden ist, sich 
vor dem Flusswasser zu hüten, der wird über den Weg der Infection 
keinen Zweifel mehr hegen. Ebensowenig kann er sich aber einer 
Täuschung darüber hingeben, dass alle Versuche, hierin eine Aende- 
rung zu schaffen, zu Lufthieben werden müssen. 

Einen weiteren Beweis für den Zusammenhang zwischen der Ver¬ 
breitung der Cholera unter dieser Bevölkerung und dem Wasser liefert 


1) Koch, a. a. 0. S. 98. 


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Dr. Brunzlow, 


die Gleichartigkeit der Curve der Erkrankungsziffem mit dem Gange 
der Luft- und Wassertemperaturen. Auf der Weichsel entfielen 1894 
auf die Zeit bis zum 17. August 37 von den insgesammt beobachteten 
47 Erkrankungen, nach Ende August kamen nur noch vereinzelte 
Fälle vor, auf der Netze ist nach dem 13. August überhaupt kein 
Flösser mehr erkrankt. Nun liegen von der ganzen Weichsel seit 
Mitte Juli fortlaufende Temperaturbestimmungen des Wassers vor. 
Nach diesen hielt sich die Wasserwärme bis zum 12. August zwischen 
19 und 23 °C., sank dann langsam und gelangte mit dem Ende des 
Monats unter 16°. Die vom Gesundheitsamte veröffentlichten Luft¬ 
temperaturen zeigen ferner, dass in Berlin nach dem 16. August kein 
Tag mehr eine Maximaltemperatur von über 25° und eine Minimal¬ 
temperatur von über 15 °C. gehabt hat. Man kann aus diesem Pa- 
rallelisraus einmal einen Beweis dafür herauslesen, dass die Cholera¬ 
bacillen nach Mitte August nicht so günstige Lebensbedingungen mehr 
im Wasser gefunden haben. Näher noch scheint mir eine andere Er¬ 
klärung zu liegen. Seit meinem Eintreffen an der Netze habe ich 
nach Mitte August niemals einen Schiffer oder Flösser Flusswasser 
trinken sehen: die Leute tranken ausschliesslich Kaffee; in der heissen 
Jahreszeit jedoch wird sicher bei der schweren Arbeit mancher Schluck 
Flusswasser getrunken, wenn auch Schiffer und Flösser betheuern, dass 
sie überhaupt nur Kaffee genössen. 

Den Träger des Cholerakeimes geben wohl meist die erkrankten 
Personen ab. Er kann aber auch dargestellt werden durch die Fahr¬ 
zeuge. Dass das Holz der Tratten in seiner die Balken unter Wasser 
überziehenden Schlaramschicht sogar recht lange Zeit die Cholera¬ 
bacillen beherbergen kann, ist früher gezeigt worden. Neben dem 
Holz spielt besonders das Stroh der Lagerstätten und Hütten eine 
Rolle. Liegen aus der neueren Zeit auch hierfür keine unmittelbaren 
Beobachtungen vor, so berichtet Hirsch doch deren genug. Erwähnt 
sei nur, dass in der kleinen Ortschaft Zlotterie an der Drewenz die 
Cholera ausbrach, nachdem die Einwohner das Stroh, welches von den 
Flössen in den Strom geworfen war, aufgefischt und nach Hause ge¬ 
bracht hatten 1 ). — Auch der Schifffahrtsverkehr vermag durch die 
Fahrzeuge die Verschleppung zu bewirken und zwar im Kielwasser. 
Nachdem diese Möglichkeit von den Bakteriologen auf Grund ver¬ 
schiedener Versuche behauptet, und 1892 von Lubarsch in einem 


1) Hirsch, Reisebericht. 


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Verbreitung der Cholera durch das Wasser. 


121 


Falle der ^tatsächliche Nachweis erbracht worden war, legte man ihr 
sogar von vielen Seiten eine sehr hohe Bedeutung bei. Die Erfah¬ 
rungen haben auch diese Besorgniss nicht bestätigt. Zwar gelang es 
1894 wiederum, im Kielwasser eines Kahnes, dessen Insassen die Cho¬ 
lera nach Tolkemit gebracht hatten, Komraabacillen nachzuweisen. 
Aber alle Befunde beziehen sich bis jetzt auf Schiffe, unter deren Be¬ 
satzung Cholera geherrscht hatte. Ein Fall, dass auch ohne dieses 
Cholerabacillen durch das Bilschwasser transportirt worden seien, ist 
nicht festgestellt. Muss auch theoretisch die Möglichkeit zugegeben 
werden, dass durch die Aufnahme verseuchten Hafenwassers Cholera¬ 
bacillen in die Bilsch gelangen, so hat die Häufigkeit dieser Art der 
Uebertragung doch wenig Wahrscheinlichkeit für sich. 

Eine Vergleichung der in Deutschland bisher genauer studirtcn 
Flussepidemien weist zwar erhebliche Verschiedenheiten sowohl der 
Ströme unter sich, als auch in den einzelnen Jahren auf; dennoch 
lässt sich unschwer ein ganz allgemein gültiges Gesetz ableiten. 

Die Weichsel und die Netze-Warthe-Strasse sind charakterisirt 
durch das starke Vorherrschen der Flösser als Träger der Infection. 
Es wurde schon angeführt, dass von 47 Cholerafällen auf der Weichsel 
30 allein auf die ausländischen Flösser entfallen. Dasselbe beweist 
der Gang der Seuche entlang der Wasserstrasse. Stets betrafen die 
ersten Fälle Galizianer, stets nahm die Epidemie zuerst ihren Weg 
weichselab bis Danzig; bei Bromberg zweigt sich eine Seitenstrasse 
ab und führt durch die Brahe, Kanal, Netze, Warthe bis zur Oder: 
es ist der Weg des russischen Holzes. Nicht nur zu Wasser sind die 
Flösser die Hauptverbreiter der Cholera, auch zu Lande treten sie in 
dieser Rolle auf. Im Odergebiete kamen 1894 in 21 Ortschaften Cho¬ 
lerafälle vor und hiervon in 13 nur je 1 Fall. Von den 8 übrigen 
mit mehr als einer Erkrankung wurde in 5 die Krankheit durch Flösser 
eingeschleppt; und aus dem Jahre 1873 berichtet Hirsch 1 ), dass 
durch die auf dem Landwege von Danzig über Dirschau, Marienburg, 
Rosenberg, Deutsch-Eylau, Löbau zurückkehrenden deutschen Flösser 
die Seuche in ihre heimathlichen Kreise Löbau und Strasburg ver¬ 
schleppt worden sei. 

Der Grund für dieses heftige Auftreten der Seuche gerade unter 
der Flösserbtevölkerung, das auf anderen Strömen niemals beobachtet 
wurde, liegt auf der Hand. Weichsel und Netze-Warthe bilden eine 


1) Hirsch, Reisebericht. 


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Dr. Brunzlow. 


zusammenhängende Wasserstrasse, deren Anfangspunkte Russisch-Polen 
und Galizien sind, Landestheile, die als ein grosser Seucheherd ange¬ 
sehen werden müssen, und von denen die Holztransporte ihren Aus- - 
gang nehmen. Die Heftigkeit der Flussepidemie auf deutschem Gebiete 
hängt unmittelbar von der Ausbreitung der Seuche in jenen Ländern 
ab. 1892 kam die Cholera erst sehr spät dorthin: die Weichselepidemie 
begann erst im October und erreichte mit Eintritt der kalten Jahres¬ 
zeit bald ihr Ende. 1893 trat sie in Polen erst Mitte August auf 
und gelangte in die Weichselgouvernements im September: die Epi¬ 
demie auf dem Strome war verschwindend. 1894 stiegen die Erkran- 
kungsziffem bereits im April rapide, und seit Ende Mai finden wir die 
heftige Epidemie auf deutschem Gebiete. Die Flussepidemie auf der 
Netze-Warthe geht hiermit Hand in Hand, beginnt aber immer erst 
mehrere Wochen später. 

Enter den übrigen Stromepidemien folgt der Erkrankungsziffer 
nach die von 1892 auf der Elbe. Alle Fälle traten dort entlang der 
Wasserstrasse auf, besonders an deren Hauptlinie von der Unterclbc 
durch Havel, Spree zur Oder. Verfolgt man zeitlich den Gang der 
Epidemie, so erkennt man ihr schrittweises Vorrücken von Hamburg 
als Ausgangspunkt stromauf. Den dritten Platz nimmt die Oder-Epi¬ 
demie von 1892 ein. Sie beginnt mit dem Augenblicke, wo der Stet¬ 
tiner Hafen zum Seucheherd geworden ist. Aber wie auch dieser 
nur einen Herd niederer Ordnung, wenn man so sagen darf, darstcllt, 
so nimmt auch die Flussepidemie nach Zahl der Fälle und Weite der 
Verschleppung nur einen geringen Fmfang an. Auf dem Rheine und 
der Weser endlich ist es 1892 zu einer Stromepidemie gar nicht ge¬ 
kommen. Zwar bestand an der Rheinmündung in den Niederlanden 
ein Seuchcherd. Aber dieser ist erst mit dem Ende August zur Ent¬ 
wicklung gelangt und hat auffallend geringe Erkrankungsziffern zu ver¬ 
zeichnen gehabt 1 ). So erklärt es sich, dass nur vereinzelte Verschlep¬ 
pungen rheinauf und auch erst Ende September, d. h. in der kühleren 
Jahreszeit erfolgten. An der Weser ist cs 1892 so wie an der Oder 
1893 nur zu einzelnen Einschleppungen gekommen. 

Wir sehen also, dass die Heftigkeit der Epidemien unter der fluss- 
befahrenden Bevölkerung einer bestimmten Wasserstrasse direct pro¬ 
portional ist der Heftigkeit der Seuche in einem an ihr gelegenen 
Herde. Nur da, wo ein solcher zur Entwicklung kommt, kann über- 

1) Amtliche Denkschrift über die Cholera-Epidemie 1892. 8. 12, 13. 


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Verbreitung der Cholera durch das Wasser. 


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haupt von einer Flussepidemie die Rede sein. Dabei sind aber auch 
nicht alle an einem Flusse gelegenen Seucheherde von gleicher Be¬ 
deutung. Die vom August bis October 1894 in Nakel herrschende 
recht heftige Epidemie hat keine einzige Verschleppung zur Folge ge¬ 
habt. Nakel liegt zwar an der Einmündung des Broraberger Kanals 
in die Netze, steht aber zu dem Flussverkehr in gar keiner Beziehung. 
Daher dürfen wir nur solchen Choleraherden die genannte Bedeutung 
zusprechen, welche sich in einem Hafenorte oder in einem Bezirke 
mit schifffahrttreibender Bevölkerung entwickeln. 

Kehren wir jetzt noch einmal zu dem Begriffe der „Stromver¬ 
seuchung“ zurück, so ergiebt sich aus dem Vorstehenden für ihn eine 
doppelte Begründung. Die Verseuchung der Flussläufe entsteht ein¬ 
mal durch den Sielinhalt verseuchter Ortschaften. Den Weg und die 
Verbreitung des Infectionsstoffes schreibt in diesem Falle die Strömung 
vor. Zweitens erzeugt der Flussverkehr eine Verseuchung derjenigen 
Wasserstrassen, an denen ein Choleraherd zur Entwicklung kam. Da¬ 
bei ist aber zu berücksichtigen, dass im fliessenden Wasser der In- 
fectionsstoff sehr schnell fortgespült wird und sich nur hinter Buhnen, 
in Buchten und namentlich an Landungsplätzen von Flössen und 
Schiffen länger zu halten vermag. Dagegen genügt für todte Strom¬ 
strecken eine einmalige Einschleppung, um länger dauernde Verseu¬ 
chung herbeizuführen. 

Unsere Betrachtungen haben gelehrt, dass die Verbreitung der 
Cholera entlang den grossen Wasserstrassen durch die Schifffahrt und 
Flösserei treibende Bevölkerung erfolgt. Der Flussverkehr mit ver¬ 
seuchten Ländern muss als die grösseste Gefahr der Cholera-Einschlep¬ 
pung angesehen werden. Die Uebertragung der Seuche von Schiffern 
und Flössern auf die Uferbevölkerung erfolgt dann entweder durch 
persönlichen Verkehr oder durch Vermittelung des Wassers. Hiernach 
werden sich die zu ergreifenden sanitätspolizeilichcn Massnahmen zu 
richten haben. 

Als das beste Mittel zur Abwendung dieser Gefahr hat sich in 
den Jahren 1892—1894 das System der Stromüberwachung bewährt. 
Es hat manche Wandlungen durchmachen müssen, ehe es zu der heu¬ 
tigen Stufe der Vollkommenheit gelangt ist, es wird auch in manchen 
Einzelheiten sich noch weiter als verbesserungs- und vereinfachungs¬ 
fähig zeigen; dass es aber allen anderen Systemen gegenüber den Vor¬ 
zug verdient, das dürften die Erfahrungen, welche man 1894 mit ihm 
an der Weichsel gemacht hat, zur Genüge bewiesen haben. Als die 


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Dr. Brunzlow, 


vorletzte Epidemie im Jahre 1873 gegen die deutschen Grenzen von 
Osten heranrückte, begann man zuerst, ihr mit der alten Methode der 
Q.uarantänelegung auch auf der Weichsel entgegenzutreten. Bei der 
grossen Zahl der stromab fahrenden Flösse häuften sich dadurch aber 
in kurzer Zeit so ungeheuere Menschenmengen in Sehilno an, dass die 
Quarantäne nicht nur undurchführbar wurde, sondern geradezu, der 
Ausbreitung der Seuche Vorschub leistete. Diese Anhäufung der 
Menschen ist es, die allen Quarantänemassregeln von vornherein ent¬ 
gegengehalten werden muss. Man schritt dann an der Weichsel zur 
Einrichtung der Revisionsstationen. Aber auch diese arbeiteten in 
ihrer damaligen Organisation mit grossen Menschenanhäufungen und 
vermieden also die genannten Uebelstände nicht. Kein Wunder, dass 
ihre Wirksamkeit in den amtlichen Berichten von 1873 vielfach sehr 
abfällig kritisirt wird 1 ). 

Diese Erfahrungen, zusammen mit der Berechnung des ungeheuren 
Kostenaufwandes für eine genaue Stromüberwachung — dieselben be¬ 
trugen 1894 an der Weichsel monatlich 60000 Mk. — haben Veran¬ 
lassung gegeben, zwei andere Sperrsysteme in Erwägung zu ziehen. 
Von diesen hat man freilich das eine, gänzliches Verbot der Holzein¬ 
fuhr, gleich im Princip fallen gelassen, da hierdurch dem Handel und 
der inländischen Holzindustrie eine unheilbare Wunde geschlagen würde. 
Aber auch gegen den zweiten Vorschlag, völligen Mannschaftswechsel 
auf den Traften an der Grenze, haben sich schwerwiegende Bedenken 
erhoben. Zu der Unmöglichkeit, diesen Wechsel für die gesammtc 
Mannschaft durchzuführen, und dem Mangel an geeigneten inländischen 
Leuten gesellen sich grosse Schwierigkeiten bei der Durchführung des 
Wechsels, vor Allem aber wiederum als unvermeidlicher Uebelstand 
die bei der Cholera so gefahrvolle Anhäufung grosser Menschenmassen 
an einem Punkte. 

Das Ueberwachungssystcm in seiner modernen Organisation ver¬ 
meidet nicht nur diese Uebelstände, sondern bringt auch unter allen 
Massnahmen die geringsten Störungen für Handel und Verkehr mit 
sich. Sehen wir, was es zu leisten vermag. 

Ich werde meiner folgenden Erörterung ausschliesslich die Orga¬ 
nisation an der Weichsel und Netze-Warthe zu Grunde legen, die ich 
aus eigener Anschauung kenne. Sie fusst an den beiden Stromgebieten 
auf denselben Vorschriften, welche der Ministerialerlass vom 8. August 


1) H irsch, Die Cholera des Jahres 1873 in Norddeutschland. a. a. 0. 


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Verbreitung der Cholera durch das Wasser. 


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1893 für die ganze Monarchie aufgestellt hat, zeigt aber doch an der 
Hand der besonderen Verhältnisse vielfach eine eigenartige Ausbildung. 
Sie erhebt nämlich an der Weichsel zu ihren leitenden Grundsätzen: 
unbedingte Absperrung der ausländischen Flösser von der einheimischen 
Bevölkerung, tägliche ärztliche Untersuchung aller auf dem Strome 
befindlichen Fahrzeuge und Personen und sofortige Isolirung aller 
Kranken und Verdächtigen nebst Quarantänelegung der gesammten 
Mannschaft des Fahrzeuges bis zu einer Zeit, wo sie mit Sicherheit 
nicht mehr für infectionsgefährlich gelten können. 

Die Durchführung des ersten Grundsatzes war lediglich Sache der 
Polizeiorgane. Den ausländischen Flössem wurde streng verboten, die 
Ufer zu betreten, abgesehen von einzelnen kenntlich gemachten Stellen, 
wo ihnen Gelegenheit zum Einkauf der Lebensmittel gegeben war. 
Nach Ablieferung des Holzes am Bestimmungsorte wurden sie in ge¬ 
schlossenen Trupps zur nächsten Bahnstation geführt und von da in 
besonderen Wagen bis über die Grenze befördert. Für die in Pleh- 
nendorf abliefemden Flösser war dort ein eigenes Barackenlager er¬ 
richtet, von dem aus sie mit Dampfern nach Dirschau und hier erst 
zur Bahn gebracht wurden. So erreichte man, was besonders wichtig 
erschien, die Fernhaltung dieses gefährlichen Elementes von dem 
Hauptverkehrspunkte Danzig. Um endlich einer Durchbrechung dieses 
ganzen Sperrsystems durch einzelne Personen entgegen zutreten, nahm 
man den Führern der Holztransporte an der Grenze die Pässe ab, 
um sie ihnen erst am Ankunftsorte wieder auszuliefem, wenn Alles 
in Ordnung war. Mit diesen Mitteln ist im Sommer 1894 an der 
Weichsel in der That die Beschränkung der Galizianer auf den Strom 
gelungen. Aber so wichtig diese Massregel erscheinen kann, liegt der 
Kernpunkt des ganzen Systems doch in der Durchführung des zweiten 
und dritten der genannten Grundsätze, d. h. in der gesundheitspoli- 
zeilichen Ueberwachung durch Aerzte. An dieser, welche auf der 
Weichsel ausschliesslich von Sanitätsofficieren ausgeübt wurde, haben 
sich auch besonders die Segnungen gezeigt, welche der Fortschritt der 
wissenschaftlichen Erkenntniss vom Wesen der Choleraübertragung für 
die Praxis gebracht hat. 

Das ganze Stromgebiet wurde in eine Anzahl von Controllbezir- 
ken eingetheilt, deren Umfang so bemessen war, dass entweder die 
Fahrzeuge täglich eine Station passiren mussten oder, wenn sie auf 
der Strecke still lagen, von jenen aus täglich besucht werden konnten. 
Auf diesen letzteren Punkt musste an der Weichsel das Hauptgewicht 


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Dr. Brunzlow, 


fallen, denn bei der Langsamkeit des dort fast nur durch Flösse und 
Segelkähne dargestellten Verkehrs ist der Strom unausgesetzt in seiner 
ganzen Länge von ihnen belegt. Auf der Netze waren die Revisions¬ 
fahrten der Dampfer nur für einzelne Strecken von Bedeutung, da die 
Flösse dort nur an ganz bestimmten Stellen sich festlegten. An der 
Hand einer, von der ersten Controllstation aufgestellten Liste der Be¬ 
satzung konnte sich der Arzt leicht von der Anwesenheit aller Per¬ 
sonen und ihrem Gesundheitszustände überzeugen. Jeder Cholerakranke 
oder Verdächtige fand unverzügliche Aufnahme in das eigene Lazareth 
der Station, während die übrigen Personen in einem besonderen Qua¬ 
rantäneraum isolirt wurden. Die ersten Dejekte der Kranken, wie 
auch aller Quarantänepflichtigen gelangten ausnahmslos zur bakterio¬ 
logischen Untersuchung an die Centralstellen Berlin, Danzig oder Thorn. 
Zur Entlassung aus dem Lazareth kamen die Cholerakranken erst 
dann, wenn ihr Stuhlgang wiederholentlich frei von Kominabacillen 
befunden war. Das Gleiche galt von Leuten mit leichten Durchfällen 
und solchen, die, obwohl gesund, doch Cholerabacillen in ihren Fäces 
gehabt hatten. Ausleerungen von Quarantänepflichtigen, in denen die 
erste Untersuchung keine Komraabacillen nachgewiesen hatte, wurden 
nicht weiter eingesendet; die Leute konnten sofort entlassen werden. 
Die Fahrzeuge, auf denen Cholerakranke gefunden waren, wurden iso¬ 
lirt verankert, die Flösse durch Vernichtung sämmtlicher Strohlager, 
sowie durch Uebergiessen derjenigen Stellen, wo die Lagerplätze ge¬ 
wesen waren, mit Kalkmilch, soweit es ohne Zerschlagen der Traft 
möglich war, desinficirt, bei den Schilfen eine Desinfection der Wohn- 
räume (Aborte) und des Bilschwassers vorgenommen. 

Die Durchführung des Ueberwachungsdienstes in der geschilderten 
Form hat sich als ein Organismus von vorzüglicher Leistungsfähigkeit 
erwiesen. Der Grund ergiebt sich aus nachstehender Erwägung. Jede 
Verkehrsüberwachung bei Choleragefahr hat mit der Schwierigkeit zu 
kämpfen, dass nur Kranke mit ganz deutlichen Cholerasymptomen von 
dem controllirenden Arzte zu entdecken sind. Schon bei den früheren 
Epidemien hat sich den Beobachtern die Ueberzeugung aufgedrängt, 
dass die Verschleppung meist durch Personen mit unbedeutenden 
Durchfällen erfolge. Seitdem dann Dunbar in Hamburg zuerst be¬ 
wiesen, dass auch im Stuhlgange gesunder Menschen, die mit Cholera¬ 
kranken in Berührung gekommen waren, sich Kommabacillen finden, 
sind damit der Verbreitungsmöglichkeit noch viel weitere Grenzen ge¬ 
zogen. Dagegen lässt sich aber geltend machen, dass auf Fahrzeugen, 


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Verbreitung der Cholera durch das Wasser. 


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unter deren Besatzung solche Personen sind — man hat sie an der 
Weichsel treffend mit dem Namen „Bacillcnträger“ belegt —, zweifel¬ 
los auch echte Cholerafälle Vorkommen werden; die Erfahrungsthat- 
sachen sprechen zum Mindesten dafür. Eine Organisation also, welche 
alle Fahrzeuge täglich dem Arzte zu Gesichte bringt und Niemanden 
aus der Quarantäne entlässt, der Cholerabacillcn beherbergt, giebt die 
beste Gewähr, dass alle verseuchten Fahrzeuge gefunden, und so auch 
die Choleradiarrhöen und die „Bacillenträger“ unschädlich gemacht 
werden. In der That dürfte dieses Ziel für die ausländischen Flösser, 
welche ganz auf den Strom gebannt werden können, erreichbar sein. 
Hinsichtlich der inländischen Schiffer und Flösser, denen eine solche 
Aufenthaltsbeschränkung rechtlich nicht auferlegt werden kann, er¬ 
scheint der Erfolg etwas unsicherer. Die Organisation der Netzeüber¬ 
wachung, welche nur mit deutscher Bevölkerung zu rechnen hatte und 
dementsprechend darauf verzichten musste, die Flösser von den Ufern 
fern zu halten, hat trotzdem an Leistungsfähigkeit nicht wesentlich 
eingebüsst. 

Um eine erfolgreiche Ueberwachung des Strom Verkehrs bewirken 
zu können, ist es nothwendig, dass sie schon beim Herannahen der 
Choleragefahr in Thätigkeit tritt. An der Weichsel konnte sie 1894 
erst gegen Ende der ersten der beschriebenen Perioden in Betrieb ge¬ 
setzt werden. Welche Gefahr daraus erwachsen war, beweist am 
Besten die Verschleppung durch den Schiffer nach Gr.-Grünhof bei 
Mewe. Das inficirende Floss war nur durch einen glücklichen Zufall 
in Plehnendorf angehalten worden, ehe die Besatzung es verlassen 
und so grösseres Unheil stiften konnte. Später ist es in der That 
gelungen, die Ausbreitung der Epidemie über den Strom hinaus zu 
verhüten. Dass hierin wirklich ein Erfolg der Ueberwachung zu sehen 
ist, beweisen am klarsten folgende Zahlen. Insgesammt wurden 
1086 Personen in Quarantäne genommen und von 914 die Dejektc 
untersucht. Darunter waren 135 = 14,8 pCt. Bacillenträger, d. h. 
135 Ansteckungsquellen für die Verschleppung der Seuche wurden 
verstopft. Die Erfahrungen an der Netze-Warthe sprechen in dem¬ 
selben Sinne, denn alle die erwähnten Verschleppungen in die Ort¬ 
schaften entlang des Stromes liegen vor der Errichtung der Control 1- 
stationen. 

Das Ueberwachungspersonal war ferner angewiesen, auch auf den 
Schiffen, welche keine Cholerakranke an Bord hatten, bei jeder Revi¬ 
sion die Aborte und „thunlichst auch das Bilsohwasser zu desinfieiren“. 


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Dr. Brnnzlow, 


Diese Vorschrift war ein Ausfluss der schon erwähnten Annahme, 
dass die Verschleppung auch durch das Bilschwasser solcher Schiffe 
erfolge, auf denen keine Erkrankungen vorgekommen. Dass hierfür 
eine sehr geringe Wahrscheinlichkeit bestehe, ist früher dargethan. 
Ferner spricht gegen die Aufrechterhaltung dieser Anordnung, dass 
eine Desinfection der Bilsche, wenn sie ausreichend sein soll, viel zu 
zeitraubend ist, um von dem geringen Personal der Stationen bei 
starkem Verkehre durchgeführt werden zu können, zum Mindesten aber 
eine gewaltige Verzögerung der Schifffahrt darstellt. Die nothwendige 
Folge dieses Umstandes war die Desinfectionspraxis, welche sich auf 
der Weichsel allgemein herausgebildet hatte: man schüttete am Schlüsse 
der Revision jedem Schiffe 1—2 Eimer Kalkmilch an irgend einer 
Stelle in die Bilsche und überliess es günstigen Winden, durch ge¬ 
höriges Schaukeln des Schiffes für eine Vertheilung des Kalkes wenig¬ 
stens in etwas zu sorgen. Wer sich einmal den Bau eines Fluss¬ 
kahnes genau angesehen, die Menge des zur Desinfection der Bilsch 
nöthigen Kalkes berechnet und die Schwierigkeit klar gemacht hat, 
diesen bei beladenem Fahrzeuge überall hin zu bringen, wer, wie der 
Verfasser, selber zahlreiche Kähne von diesem Gesichtspunkte aus des- 
inficirt hat, wird einsehen, dass an der Weichsel nur eine unnütze 
Materialverschwendung geübt wurde. Die angeführten Beispiele von 
Bakterienfunden im Kielwasser lassen, glaube ich, die Forderung ge¬ 
rechtfertigt erscheinen, nur da zu desinficiren, wo wirklich Grund vor¬ 
liegt, die Anwesenheit von Cholerabacillen zu vermuthen, d. h. wenn 
Cholera auf dem Schiffe geherrscht hat. 

Ein System, wie es im Vorstehenden geschildert worden ist, hat 
man für manche andere Ströme als zu weitgehend erachtet und dafür 
nur an einzelne besonders bedrohte Punkte, namentlich an stark fre- 
quentirte Häfen Commissarien entsandt. Dieses auch für die Weichsel 
cinzuführen, wurde gelegentlich der Schlussconferenz in Danzig am 
1. December 1894 vorgeschlagen. Aus dem Dargelegten geht zur 
Genüge hervor, dass eine solche Beschränkung den ganzen Erfolg in 
Frage stellen hiesse. Indessen ist zuzugeben, dass die Nothwendig- 
keit einer täglichen Revision des ganzen Stromlaufes sich wesentlich 
aus den Eigenthümlichkeiten der Weichselflösserei ergiebt. Wo der 
Verkehr vorwiegend durch Dampfer betrieben wird, kann man die 
Stationen auch weiter auseinanderlegen, ohne dabei auf die tägliche 
Untersuchung aller Fahrzeuge zu verzichten. Endlich kann man an 
Wasserstrassen, an denen kein Scucheherd gelegen ist, von einer voll- 


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Verbreitung der Cholera durch das Wasser. 


129 


ständig durchgeführten Stromüberwachung ganz absehen und nur an 
die Hauptverkehrspunkte Stationen legen, denen dann eine ähnliche 
Aufgabe zufiele, wie etwa den Hafenärzten grosser Seehäfen, z. B. 
Hamburgs. Dieses System ist 1893 an der Oder mit gutem Erfolge 
angewendet worden und hat den Vorzug grösserer Billigkeit. Die 
Oderstrasse konnte damals aber auch nicht als verseucht gelten. Für 
Wasserstrassen, auf denen wirklich eine Epidemie unter Schiffen) oder 
Flössern herrscht, dürfte nur die Ueberwachung des ganzen Stromes, 
deren Organisation sich den besonderen Verkehrseigenthümlichkeiten 
anzupassen hätte, die Sicherheit bieten, einer Verbreitung der Cholera 
mit Erfolg entgegenwirken zu können. 

Um der Uebertragung der Seuche auf die Uferbevölkerung durch 
Vermittelung des von Schiffern und Flössern inficirten Wassers ent¬ 
gegenzutreten, hat man sich bisher im Wesentlichen darauf beschränkt, 
Badeanstalten zu schlicssen und vor der Wasserentnahme aus ver¬ 
seuchten Flussläufen zu warnen. Hin und wieder ist auch der Ver¬ 
kauf von Fischen, die in solchem Strome gefangen wurden, verboten 
worden. Ein Gesichtspunkt ist dabei noch niemals in Rechnung ge¬ 
zogen worden, dem doch eine nicht geringe Bedeutung beizumessen 
sein dürfte. Wir haben gesehen, dass Wasserverseuchungen mit Vor¬ 
liebe an Anlegeplätzen von Flössen und Schiffen entstehen. Diese 
befinden sich zumeist bei Ortschaften und Städten. Thorii ist auf diese 
Art 1894 von seinem durch Schiffe verseuchten Hafen aus inficirt 
worden. Für Flösse konnte ich ein Gleiches an der Netze beobachten. 
Die Stadt Usch am Zusammenfluss der Netze und Küddow gelegen, 
bildet einen ständigen Sammelpunkt ganzer Schaaren von Flössen, 
welche an der Seite der Stadt auf Kilometerlänge den Fluss bedecken. 
Der Grund hierfür liegt in der Steigerung der Strorageschwindigkeit, 
wrclche die Netze hinter Usch erfährt, und die ein Nachbinden der 
Hölzer erfordert. Die Flösser pflegen die Stadt nicht zu betreten, 
nur eine bestimmte, am Ufer gelegene Kneipe zu besuchen. Dagegen 
konnte ich bei meinen Revisionsfahrten täglich sehen, wie unmittelbar 
an den Flössen von den Einwohnern Wäsche gespült und Wasser ge¬ 
schöpft wurde. Usch ist, so oft Cholera unter den Netzeflössem aus¬ 
brach, stets zuerst von der Seuche ergriffen worden. Hirsch macht 
im Jahre 1873 direct die Flösse hierfür verantwortlich 1 ). 1894 ent- 


1) Hirsch, Die Cholera des Jahres 1873 in Norddeutschland. 8. 48. — 
Derselbe, Reisebericht. 

Vierteljahnsschr. f. ger. Med. Dritte Folge. XIV. 1. 9 


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130 


Dr. Brunzlow. 


stand die Cholera scheinbar autochthon; es blieb nur die Annahme 
einer Infection durch Netzewasser für den ersten Fall. Dieser er¬ 
eignete sich am 2. August, an demselben Tage, an welchem auch in 
Nakel und Josefinen die Seuche aufflammte. Spätere Nachforschungen 
haben wahrscheinlich gemacht, dass Ende Juli unter Flössern in Jo¬ 
sefinen die ersten Fälle gewesen seien. Angesichts dieser Beobach¬ 
tungen halte ich die Vorschrift für nothwendig, dass auf gefährdeten 
und verseuchten Wasserstrassen alle Anlegeplätze an Uferabschnitte 
unterhalb der Ortschaften zu verlegen sind. Eine zweite würde sich 
dieser anschlicssen, dass in die Flusshäfen grösserer Städte nur vor¬ 
her untersuchte und für unverdächtig befundene Fahrzeuge einlaufcn 
dürften. Man käme damit nur zu einer analogen Massregel, wie sie 
für Seehäfen schon lange besteht. 

Die Ergebnisse der vorliegenden Betrachtungen sind in Kürze 
folgende: 

1. Unter allen Zwischenträgern des Cholerabacillus kommt dem 
Wasser die grösseste Bedeutung zu; die Verbreitung geschieht inner¬ 
halb der Ortschaften durch Verunreinigung der Wasserversorgungsan¬ 
lagen, von Ort zu Ort und von Land zu Land durch den Flussverkehr. 

2. Die Verunreinigung der Einzelversorgungsanlagen erfolgt stets 
von der Oberfläche her. Deshalb sind alle offenen Schöpfbrunnen und 
die Kesselbruhnen der gewöhnlichen Bauart infectionsverdächtig. Un¬ 
verdächtig sind Röhrenbrunnen und Kesselbrunnen mit wasserdichter 
Umkleidung des oberen Kesseltheiles, wenn keine Senkgruben u. dgl. 
in der Nähe liegen. Eine staatliche Controlle erscheint angezeigt. 

3. Centrale Wasserwerke sind der Einzelversorgung vorzuziehen 
und bieten, wenn richtig angelegt und betrieben, den wirksamsten 
Schutz gegen Cholera. Dagegen führt ihre Infection zu den umfang¬ 
reichsten Epidemien. Diese sind bei Flusswasserversorgung nicht 
selten, weil Flusswasser stets infectionsverdächtig ist. Solche Werke 
können auch mit Hülfe guter Filteranlagen keine vollkommene Sicher¬ 
heit gegen Leitungsinfection geben. Daher ist die Versorgung mit 
dem allein ganz unverdächtigen Quell- und Grundwasser überall von 
Seiten des Staates zu fordern. 

4. Auch nach Durchführung dieser Massregel können offene Ge¬ 
wässer zur Verbreitung der Cholera beitragen. Da ihre Verseuchung 
durch Einleiten der Abwässer verseuchter Orte erfolgen kann, dürfen 
diese nur nach vorhergegangener Desinfection den Seen, Kanälen oder 
Flussläufen zugeleitet werden. 


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Verbreitung der Cholera durch das Wasser. 


131 


5. Wasser Verseuchung entsteht auch durch den Flussverkehr. In 
todten Stromabschnitten und an Punkten mit Stauwasser kann schon 
durch einmalige Einschleppung länger dauernde Verseuchung Platz 
greifen; in fliessendem Wasser wird der Infectionsstoff in Kürze durch 
den Strom fortgeschwemmt. Zur Verhütung der Ansteckung genügt 
es nicht, der Wasserentnahme aus dem Flusse seitens der Uferbevöl¬ 
kerung vorzubeugen, sondern ist es erforderlich, choleraverdächtigen 
Schiffen und Flössen das Anlegen innerhalb der Uferortschalten zu 
untersagen. 

6. Die Verschleppung der Cholera auf weitere Strecken erfolgt 
zumeist auf Wasserstrassen, an welchen sich ein Seucheherd ent¬ 
wickelt, dessen Bewohner mit dem Fluss verkehr in Beziehung stehen. 
Richtung und Umfang der Ausbreitung der Seuche wird durch Rich¬ 
tung und Ausdehnung des Verkehrs bestimmt. Einzelne Einschlep¬ 
pungen bedingen keine „Stromverseuchung“. 

7. Die zuverlässigste Massregel gegen die Flussepidemien stellt 
die Stromüberwachung dar. Ihre Organisation hat sich nach den ört¬ 
lichen Verkehrsverhältnissen zu richten. Als Muster kann die Orga¬ 
nisation der Weichselüberwachung gelten, welche die Möglichkeit be¬ 
wiesen hat, die Cholera auf den Strom zu beschränken. 


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3. 


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Der Stand der StUdtereinigungsfrage. 

II. Theil. 1 ) 


Bei der Besprechung der Vorgänge auf dem Gebiete der Behandlung der 
städtischen Abfallstoffe muss an erster Stelle der Deutschen Landwirt schafts- 
gesellschaft gedacht werden, welche durch die erfolgreiche Thätigkeit ihres Son¬ 
derausschusses für Abfallstoffe und die bemerkenswerthen Arbeiten ihrer Versuchs¬ 
station einen unverkennbaren Einfluss erlangt hat. Als schöne Frucht dieses 
gemeinnützigen Wirkens ist das von Prof. Vogel verfasste Buch: „Die Verwer- 
thung der städtischen Abfallstoffe“ zu nennen. Dasselbe legt den heutigen Stand 
von Wissenschaft und Praxis in ebenso umfassender wie sachgemässer Weise dar. 
Vom Standpunkte des Hygienikers muss dabei besonders anerkannt werden, dass 
der Verfasser bestrebt gewesen ist, die Forderungen der Gesundheitslehre mit den 
volkswirtschaftlichen in Einklang zu bringen und da, wo dies nach dem heutigen 
Stande des Wissens noch unerreichbar erschienen, die sanitären Gesichtspunkte 
in den Vordergrund zu stellen. Durch dieses Buch wird der Beweis erbracht, dass 
es in den Städten in vielen Fällen möglich ist, die Abfallstoffe rentabel zu sam¬ 
meln, unschädlich zu machen und zu verwerten und durch die so erzielte Rein¬ 
haltung von Boden, Luft und Wasser die Gesundheit und das Wohlbefinden der 
Bewohner zu fördern. 

Der Anregung durch die D. L.-G. verdanken wir die experimentellen Unter¬ 
suchungen über den Torfmull von Prof. Dr. Gärtner, Frankel, Löffler und 
Stutzer, deren Gutachten: „Ueber die keimtödtende Wirkung des Torfmulls“, 
1894 im 1. Heft der Arbeiten der Deutschen Landwirtschaftsgesellschaft nieder- 
gelegt sind. Als Hauptergebnis ist hervorzuheben: 

1. dass erst eine Durchtränkung mit starken Mineralsäuren (Schwefelsäure, 
Phosphorsäure) dem Torfmull eine stark desinficirende Wirkung verleiht, 

2. dass ein Zusatz von Superphosphatgips zwar die Desinfectionskraft des 
Torfmulls erhöhen kann, dass aber eine sichere Garantie für die Abtödtung der 
Krankheitskeime dabei nicht gegeben ist, 

3. dass eine Beimengung von Kainit in keiner Weise die Desinfectionskraft 
des Torfmulls in den Fäkalien erhöhen kann. 


1) I. Theil s. Bd. XIII. S. 228. 1897. 


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Der Stand der Städtereinigungsfrage. 


133 


In praktischer Weise ist die Behandlung der Abfallstoffe durch zwei Preis¬ 
ausschreiben gefordert, deren erstes die mustergültige Einführung des Torfstuhl¬ 
verfahrens in kleineren oder mittleren Städten, deren zweites die Schaffung eines 
befriedigenden Klärverfahrens erstrebt. Die bisherigen Bewerbungen haben nicht 
den Anforderungen genügt und ist der Preisbewerb, die Kläranlagen betreffend, 
für die nächste diesjährigoWanderversammlung der D. L.-G. in Hamburg erneuert, 
ln richtiger Erkenntniss der Thatsache, dass kleine Modelle und Laboratoriums¬ 
versuche keinen sicheren Schluss auf den Grossbetrieb von Kläranlagen gestatten, 
ist zur Bedingung gemacht: das Verfahren muss in ordnungs- und geschäfts- 
mässigem Betriebe den Richtern und auf der Ausstellung durch Modelle, Zeich¬ 
nungen u. s. w. vorgeführt werden. 

Die Neuerungen in den Klärverfahren sind, unverkennbar unter dem vorbe- 
zeichneten Einflüsse, dadurch charakterisirt, dass erstrebt wird, die mechanischen 
Vorrichtungen zur Klärung mit und ohne Zuhülfenahme mechanisch wirkender 
und bindender Klärmittel zu vervollkommnen, die Verwendung von Chemikalien 
dagegen zu beschränken oder ganz zu vermeiden. Besonders gilt letzteres hin¬ 
sichtlich des Kalkes, der seine bisher dominirende Stelle unter den Klärmitteln*) 
mehr und mehr einbüsst. Seine Bevorzugung verdankte derselbe seiner fällenden 
und vornehmlich der gleichzeitig desinficirenden Eigenschaft, seiner leichten 
Beschaulichkeit und relativen Billigkeit. Demgegenüber ist der Kalk in der Praxis 
als Klärmittel missliebig gewordon, weil er zu bedeutende Schlammmassen fällt 
[100 kg Kalk ergeben 178 kg kohlensauren Kalk 1 2 ); 100 Ctr. trockener Kalk 1000 
bis 1500 Ctr. nassen Schlamm 3 )], in der Regel nicht desinficirt, da die zur Des- 
infection erforderliche Menge (1 pM. Kalkhydrat) und Einwirkungsdauer (1 x / 2 St.) 
nicht zu erzielen ist, und ferner, weil er vermöge seiner chemischen Eigenschaften 
neben der Bildung von unangenehmem Ammoniakgeruehe den grossen Nachtheil 
besitzt, auf die organischen Massen lösend zu wirken und die Schmutzwässer hier¬ 
mit anzureichern, so dass bei unzureichender Vorfluth eine nachträgliche Ausfäl¬ 
lung aus dem anscheinend klaren Abwasser unter Schlammbildung und Fäulniss 
wieder eintreten kann 4 ). Auch der billige Materialpreis tritt bei den für den Gross¬ 
betrieb erforderlichen Massen nicht mehr in Erscheinung. Die hierfür aufgewen¬ 
deten Kosten werden um so lästiger empfunden, je höher die Schlammberge um die 
Kläranlage steigen und das aus diesen Massen berechnete Gold sich nicht gewinnen 
lässt. Nunmehr wird gespart, der Zusatz der Chemikalien wird verringert, bei 
Nacht oder bei mangelnder Controle überhaupt eingestellt, und der Effect ist, dass 
die Reinigung der Wässer nach keiner Richtung 5 ) befriedigt, während dieSchlamm- 

1) Behring, Die Bekämpfung der Infectionskrankheiten. II. S. 378. 

2) Behring, S. 377. 

3) Fritsch, Ges.-Ing. No. 14. 18%. 

4) Proskauer, Die Reinigung von Schmutzwasser nach dem System 
Schwartzkopff. Zeitschr. f. Hyg. Bd. X. H. 1. — Proskauer und Nocht, Ueber 
die chemische und bakteriologische Untersuchung der Kläranlage (System Rothc- 
Röckner) in Potsdam. Zeitschr. f. Hyg. Bd. X. H. 1. 

5) Frankel, Gutachten über die Verunreinigung des Salzbaches. Diese 
Vierteljahrsschr. Bd. XIII. H. 2. 1897. 


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134 


Schmidtmann und Proskauer, 


masten die Nachbarschaft belästigen und Jedermann mit wachsendem Aerger über 
die verfehlte und thenre Anlage erfüllt wird. Dies ist im Allgemeinen das uner¬ 
freuliche Bild, welches die Kläranlagen bieten, denen zugemuthet wird, die 
Schmutzwassermengen aus volkreichen schwemmkanalisirten Städten zu rei¬ 
nigen. Einige Städte (Braunschweig, Dortmund) haben deshalb bereits das Auf¬ 
geben ihrer Kläranlagen und den Ersatz durch Rieselfelder beschlossen, während 
andere fortgesetzt mit einer befriedigenden anderweiten Lösung durch Verbesse¬ 
rung oder Verlegung der Anlagen etc. beschäftigt sind. 

Forschen wir nach den Ursachen solchen Misserfolges, so müssen wir uns 
der Thatsache erinnern, dass die Klärverfahren unter bestimmten Verhältnissen 
(Krankenhäuser, Schlachthofanlagen etc.) bei ordnungsmässigem Betrieb thatsäch- 
lich durchaus befriedigend arbeiten können. (Sämmtliches Abwasser des grossen 
Knappschaftslazarcths zu Königshütte wird, nach Hulwa geklärt, ohne jede Be¬ 
anstandung den Strassenrinnen zugeführt.) 

Die Erklärung hierfür ist vornehmlich darin zu finden, dass die Schmutz¬ 
wassermengen nach Qualität und Quantität in gewissen Grenzen constant sind, 
so dass sich das Verfahren, insbesondere der Zusatz der Chemikalien, darauf ein¬ 
stellen lässt. Bei der Kläranlage in Frankfurt a. M. versucht man dies auch im 
Grossbetriebe zu erreichen, indem man nach den Graden der Verschmutzung den 
Zusatz der chemischen Mittel regelt, allein, wie der Augenschein lehrt, nicht mit 
gleich befriedigendem Effect. Eine wirksame Anpassung an die in ihrer Zusam¬ 
mensetzung so wechselnden Schmutzwässer schwemmkanalisirter Städte wird sich 
kaum jemals erreichen lassen und hierin liegt eine der Hauptursachen für den 
Misserfolg der chemischen, insbesondere der Kalkklärung. Das Trennsystem lässt 
in dieser Hinsicht eine fundamentale Aenderung möglich erscheinen, indem es bei 
seinen geringeren und gleichmässigeren Abwässern eine günstigere Grundlage für 
die wirksamo Anwendung von Fällungs- und Desinfectionsmitteln bietet. 

Betrachten wir nun die neuen Verfahren in ihren Einzelheiten. 

1. Das Degener’sche Humus verfahren. 

Nach der am 15. October 1895 von Dr. Degen er und Rothe veröffentlich¬ 
ten Beschreibung 1 ) ist dasselbe dem Rieselverfahren nachgebildet und soll zur Ent¬ 
lastung und Vervollkommnung desselben dienen. Die Spüljauche wird zunächst 
mit Braunkohlengrus, Torf oder Moorerde (1—2 kg Trockensubstanz auf 1 Cubik- 
meter), welche nass auf das feinste zu unfühlbarem Brei geschliffen sind, alsdann 
mit einer kleinen Menge Eisenchlorid als beschwerendem Mittel versetzt und diese 
Mischung nun in den Rothe-Röckner’schen Klärthürmen zur vollkommenen 
Sedimentation gebracht. Das geklärte Wasser wird entweder auf Rieselfelder, 
oder noch mit etwas Kalk desinficirt direct in den Flusslauf entlassen. Die Er¬ 
finder nehmen an, dass die fäulnissfähigen, sowie die schlammbildenden Stoffe 
durch den Humus vollständiger zurückgehalten werden, als durch eines der bisher 
üblichen Verfahren, und betonen als weitere Vorzüge, dass der Klärschlamm durch 
Verbrennung beseitigt oder durch Gewinnung von Fetten und landwirtschaftliche 
Verwendung leicht nutzbar gemacht werden kann. Die in Laboratoriumsversuchen 


1) Vergl. auch D. R. Pat. 87417 und 92238. 


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Der Stand der Städtereinigungsfrage. 


135 


und an einem Probemodell gewonnenen und sachverständig controlirten (Pros- 
kauer, Vogel, Pfeiffer) Resultate waren hinsichtlich der Ausscheidung der 
organischen Masse (bis zu 68pCt.), des Geruches u. s. w. keine ungünstigen. Eine 
Desinfection der geklärten Wässer wurde zwar nicht erreicht, indessen genügte 
zur AbtÖdtung der Keime in den humusgeklärten Wässern eine erheblich geringere 
Menge von Desinfectionsmitteln, indem schon bei V 2 ständiger Einwirkung von 
0,05 pOt. Kalk in Form der Kalkmilch die sichere AbtÖdtung von Infectionskei- 
men erzielt wurde. Bezüglich der landwirtschaftlichen Werthschätzung ist das 
Verfahren von Vogel nicht so günstig, wie von dem Erfinder beurtheilt, doch 
wird auch von dieser Seite anerkannt (Vogel, a. a. 0. S. 671/673), dass der 
mechanische Theil vorzügliches leistet. Mit behördlicher Genehmigung ist die 
Kläranstalt zu Potsdam nach dem Humus verfahren umgestaltet und seit Kurzem 
in diesem Betrieb. Es wird sich somit an der Hand des practischen Versuches 
ein endgültiges Urtheil über den Werth des Humusverfahrens im Grossbetrieh 
bald gewinnen lassen. Nach den bisherigen von Proskauer ausgeführten Unter¬ 
suchungen sind die vorläufigen Resultate hinsichtlich der Entfernung der orga¬ 
nischen fäulnissfähigcn Substanzen (bis 80 pOt.) sehr befriedigend und ist die 
Desinfection der geklärten Wässer schon mit 0,025 pCt. Kalkmilch in 16 Minuten 
erreichbar. 

2. Das Verfahren des Ingenieurs Riensch-Wiesbaden 1 ). 

Die Abwässer werden durch einen Sandfang von trichterförmiger Bauart ge¬ 
leitet, aus welchem die schweren Sinkstoffe mittelst Baggerwerk gehoben werden, 
demnächst von allen greifbaren Unroinlichkeiten, wie Abfallen, Fäkalballen, Papier, 
Laub u. s. w. durch einen automatisch wirkenden Rechen befreit, welcher die¬ 
selben auf ein langsam gehendes Transportband bringt. Von diesem sollen die 
brauchbaren Stoffe in bequemerWeise abgenommen und das übrige in einen Kasten 
befördert werden, welcher den Stoff zu Düngerzwecken weiter führt. Die so vor¬ 
geklärten Abwässer werden mit den zum Patent angemeldeten Klärmitteln versetzt 
und durch 3 Bassins geführt, wobei im 1. und 2. das Fällmittel wiederholt wirken 
und im 3. die Klärung stattßnden soll. Durch eingeschobene Klärschienen wird 
eine möglichst grosse Klärfläche gebildet. Der flockig-poröse Schlamm wird wäh¬ 
rend des Betriebes abgezogen, durch Filterpresse entwässert und in transportable 
Form gebracht. Der Patentanspruch war darauf gegründet, dass poröse Stoffe, in¬ 
sonderheit Torfmull, als Klär- und Filtermaterial ohne chemische Behandlung, nur 
durch Kochen oder Dämpfen geeignet gemacht werden. Die im Laboratorium an- 
gestellten befriedigenden Ergebnisse haben sich bei den in der Kläranlago zu 
Wiesbaden ausgeführten Versuchen in der practischen Ausführung nicht so be¬ 
währt, dass der Betrieb beibehalten werden konnte. 

Für die Werthschätzung des Verfahrens in seinem mechanischen Theil ist 
von Belang, dass die Apparate theuer, und bei aller Anerkennung ihrer sinnreichen 
Construction für den Betrieb zu complicirt und empfindlich (rosten etc.) sind, hin¬ 
sichtlich der Klärmittel gilt das beim Humusverfahren Gesagte, eine Desinfections- 
kraft wird man auch ihnen nicht zuschreiben. 


1) Zeitschrift Tiefbau. No. 11 u. 36. 1895. 


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136 Schmidtmann und P roskau er, 

3. Verfahren von Pr. Frank in Wiesbaden 1 ). 

In gleichem Ideengang wie bei den vorbeschriebenen Verfahren macht Dr. 
Frank Torf durch Verreiben unter Wasser luftlrei und zum Filtermaterial geeignet. 
Die bisher veröffentlichten Krgebnisse der bei der Kläranstalt zu Wiesbaden ange- 
sleilten Versuche sind nicht so vollständig, dass sie als bemerkenswerther Beitrag 
zur Lösung der schwierigen Frage der Kanal wässerrein igung angesehen werden 
können. 

4. Der kugelförmige Filtrirapparat Kosmos der Firma Wiesche und 

Scharfe 2 ). 

Derselbe hat nach dem Prospect in erster Linie die Reinigung von Fluss¬ 
wasser für industrielle Zwecke im Auge. Als Filtermaterial wird Asbest und Baum- 
wollcellulose verwandt - Substanzen, welche bereits von Piefke, Breyer, En- 
zinger u. A. zu gleichem Zweck verwerthet worden sind. Von diesen Filtern ist 
bekannt, dass sie zwar gröbere, suspcndirte Verunreinigungen zurückzuhalten ver¬ 
mögen, jedoch nicht die Mikroorganismen und die gelösten Bestandtheile. Das 
Gleiche wird bei dem Apparat Kosmos vorauszusetzen sein; für die Reinigung 
städtischer Abwässer wird derselbe daher nur da in Betracht kommen können, 
wo man auf die Beseitigung der gelösten fäulnissfähigen Stoffe und der Mikroorga¬ 
nismen keinen Werth zu legen braucht. 

5. D a s A b w a s s e r r e i n i g u n g s v e r f a h r e n mittelst g e s c h w e 111 e r 
Schlammkohle von Friedrich und Glass in Leipzig 3 ). 

Hierbei liegt der Gedanke zu Grunde, aus dem durch Sedimentirung und 
Filtration erhaltenen Schlamm mittelst Schwellung Kohle zu gewinnen, welche zur 
Reinigung weiterer Abwässer benutzt wird. Bei diesen» Verfahren sollen nicht nur 
die Kosten eines besonderen Klär- bezw. Niederschlagmittels gespart, sondern auch 
die Schlammkalamität gehoben werden. Einem Beispiel ist eine Stadt von 80- bis 
100000 Einwohner mit 10000 cbm Abwassermenge zu Grunde gelegt. Der luft¬ 
trockene Schlamm wird für den Tag auf ca. 4 cbm berechnet bei 40 pCt. Aus¬ 
scheidung der auf 820 g pro Cubikmeter angenommenen festen Theile. Als Filter- 
Hache sind 10 Filter ä 36 qm nebst 2 Reservcfilter erforderlich bei einer 15fach 
grösseren Filtergeschwindigkeit als die z. Z. bei Trinkwasserfiltern gebräuchliche. 
Der Filterbetrieb soll 10 Monate dauern, so dass jeden Monat ein Filter erneuert 
wird. Bei 1 m Filterhöhe benöthigt man pro Tag 1,25 cbm Filterkohle zur Er¬ 
neuerung. Als täglicher Leberschuss sollen 2000 kg gut lufttrockenen Schlammes 
verbleiben. Die täglichen Betriebskosten sind mit 80 Mk., pro Kopf und Jahr mit 
29,2 Pfg. angesetzt, unter Anrechnung des Erlöses für Poudrette mit 60 Mk. pro 
Tag erniedrigen sich diese Kosten auf 7,3 Pfg., mit 30 Mk. auf 18,25 Pfg., wäh¬ 
rend dieselben in Essen 62 Pfg., Halle 75 Pfg., Wiesbaden 79 Pfg., Frankfurt a. M. 
100 Pfg. betragen. 

1) Feber Keinigung städtischer Kanalwässer durch Torffiltration. Ges.-Ing. 
No. 21/22. 1896. 

2) Zeitschrift Tiefbau. No. 29. 1895. 

3) Ges.-Ing. No. 15. 1896. 


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Der Stand der Städtereinigungsfrage. 


137 


Dieser verheissungsvollen Darlegung tritt Braun 1 ) entgegen. Derselbe ge¬ 
langt auf Grund seiner Nachprüfung der Berechnungen zu dem Resultat, dass die 
Betriebskosten ungefähr sich dreimal so hoch, die Anlagekosten doppelt so hoch, 
als angegeben, stellen, ausserdem wird die technische Unausführbarkeit behauptet. 

6. Filterbetrieb und anderweitc Verfahren. 

Der Filterbetrieb für Schmutzwässer ist in eine vollständig neue Phase ge¬ 
rückt durch den Anstoss, den er von England aus erfahren hat. Voraussetzung 
eines günstigen Betriebes ist die ausreichende Vorklärung und die intermittirende 
Function der Filter. Das erstere soll die Verschlammung des Filters verhindern, 
das zweite die Luftfüllung und damit die Oxydationswirkung sichern. Bei dem 
Ferrozonc-Polarite-Verfahren wird behufs Vorklärung Ferrozone (60 pCt. 
schwefelsaure Thonerde und 40 pCt. Eisenoxydul nach Vogel), bei dem Ilem- 
pels’schen Blausteinverfahren ein Gemisch von 70 pCt. schwefelsaurer 
Thonerde und 30 pCt. patentirter Blaustein verwandt. Das vorgeklärte Wasser 
wird auf die Filter geleitet, die in dem einen Falle neben der gebräuchlichen 
Sand-, Kies- und Steinlage eino Schicht Polarite, im anderen von Blaustein ent¬ 
halten und gleichsam ein künstliches Rieselfeld darstellen. 

Das Blausteinverfahren war in Kraschnitz O.-S. versuchsweise eingerichtet. 
Der Versuch hat jedoch nicht befriedigt und ist aufgegeben. 

Günstiger stellt sich bisher der Betrieb einer von der Stadt Bromberg ein¬ 
gerichteten Versuchsanlage nach dem Ferrozonc-Polarite-Verfahren, dessen Ergeb¬ 
nisse von Siedamgrotzky in dieser Vierteljahrsschrift, Band XIII. 1. Heft, 1897, 
..Beitrag zur Lösung der Frage der zweckmässigsten und billigsten Kanalisation 
in mittleren und kleineren Städten“, beschrieben sind. Bei der Beurtheilung der 
Angaben darf nicht ausser Acht gelassen werden, dass eine künstliche Schmutz¬ 
wassermischung benutzt wurde und die Ergebnisse sehr schwankende waren. In 
Ergänzung der Si edamgrotzky'sehen Mittheilungen hebt Prof. Vogel auf Grund 
nachträglich gemachter Feststellung hervor, dass das Filter zu Bromberg, was 
bisher bei den gleichartigen englischen Filtern nicht nachgewiesen werden konnte, 
eine Oxydationskraft entfaltete, die derjenigen auf gut geleiteten Rieselfeldern 
ebenbürtig ist, indem 57 pCt. Stickstoff oxydirt wurden, und zwar 

zu 33,20 freiem Stickstoff, 

„ 12,35 Salpetersäure, 

„ 12,35 salpetrige Säure; 

fast ausschliesslich geschah dies auf Kosten des Ammoniakstickstoffes, während 
der organische Stickstoff wenig verändert wurde. Ein Drittlheil des Gcsammt- 
stickstoffes war somit bei der Filtrirung verloren gegangen, was, falls sich dieser 
räthselhafte Verlust wirklich bestätigen sollte, in hygienischer Beziehung einen 
Vorzug, in landwirtschaftlicher einen Verlust bedeutet. Vogel glaubt, dass 
durch zweckmässigen Betrieb thunlichst aller Stickstoff in Salpetersäure über¬ 
geführt und der Landwirtschaft nutzbar gemacht werden kann. Zu diesem 
Zweck finden z. Z. an einem Probefilter Versuche in der Versuchsstation der 
Deutschen Landwirthschaftsgesellschaft statt. Da durch das Ausfällen bei dem 
Probeversuch zu Bromberg ca. 30 pCt. Stickstoff ausgeschieden waren, so waren 

1) Ges.-Ing. No. 19. 1896. 


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durch Fällung und Filtration ca. 87 pCt. Stickstoff der Spüljauche beseitigt bezw. 
in die hygienisch unbedenkliche Form der Salpetersäure und salpetrigen Säure um¬ 
gesetzt. Es wird allgemein angenommen, dass die oxydirende Leistung des Filters 
vornehmlich auf die Wirkung von ammoniakzersetzenden Mikroben zurückzuführen 
ist, welche nach Untersuchungen von Stutzer 1 ), die allerdings noch anderweiter 
Bestätigung bedürfen, als Generationsform eines Schimmelpilzes aufzufassen wären. 
Hiermit tritt die biologische Thätigkeit der Filter in den Vordergrund, 
während man bisher ihre sorgfältige mechanische Reinigungswirkung, durch 
welche die feinen schwebenden Theilchen zur Abscheidung kommen, als die Haupt¬ 
sache anzusehen pflegte. Alex. Müller war wohl der Erste, welcher die Selbst¬ 
reinigung der Spüljauche als einen biologischen Process, eine Verdauung durch 
eine Vielheit lebender Wesen, gedeutet und im Anschluss hieran ein Patent auf 
die cellulare (biologische) Reinigung der Zuckerfabrikabwässer erwarb. Unter¬ 
schiedlich von den Zielen der Trinkwasserfiltration würden wir hiernach kein so 
ausschlaggebendes Gewicht auf die absolute Verringerung der Bakterienzahl legen, 
sondern vielmehr auf die Beseitigung bezw. hygienisch unbedenkliche Umsetzung 
der organischen Substanz und die Erzielung einer der Entwicklung von Fäulniss- 
bakterien oder Conservirung von Infectionserregern nicht günstigen Beschaffenheit 
der Abwässer. Unsere Bestrebungen müssen darauf gerichtet sein, das Filter¬ 
material mit den erwünschten lebenskräftigen Mikroben zu bevölkern. Voraus¬ 
setzung hierbei ist nach den Erfahrungen ein ausreichender Luftgehalt, und so¬ 
mit sind wir bei dem Filteraufbau auf poröse Materialien, wie Coksklein, Polarite, 
Blaustein etc., den intermittirenden Betrieb und die absteigende Filtration ge¬ 
wiesen. 

Für die Ausbildung der biologischen Seite des Filterbetriebes haben sich be¬ 
sonders anregend erwiesen die unter Leitung des Chemikers Dibdin zu London 
während der Jahre 1892—95 angestellten Versuche zur besten Reinigung der Spül¬ 
jauche, deren Ergebnisse in den an den Londoner Provinzialrath erstatteten und 
auf Anordnung der Main Drainage Comitee veröffentlichten Berichten niedergelegt 
sind. Hiernach wurde zunächst an kleinen Filtern Entscheidung über das beste 
Filtermaterial nach der Grösse der erzielten Reinigung getroffen, welche nach der 
Verminderung der gelösten oxydirbaren Stoffe gegeben war. Dieselbe betrug fiir 


Klamotten.43,3 pC't. 

Sand.46,6 „ 

groben Kies.52,3 „ 

Patentmaterial mit Sand gemischt 60,0 „ 

Coksklein (Grus).62,2 „ 


An einem mit Coksklein hergerichteten, 1 Acre (4047 qm) grossen Filterfeld 
wurden nunmehr die Versuche im Grossen und auch im strengen Winter durch¬ 
geführt. Dieselben haben gezeigt, dass Spüljauche, besonders wenn sie vorher 
einer mechanischen Abklärung unterworfen war, in jedem gewünschten Grade 
(durchschnittlich wurden 80 pCt. erzielt) gereinigt werden kann. Je nach dem 
Grade der gewünschten Reinigung muss die Schmutzflüssigkeit längere oder kür¬ 
zere Zeit der Einwirkung der Mikroorganismen im Filter ausgesetzt sein. Bei einer 
beabsichtigten Reduction von 75 pCt. der gelösten oxydirbaren organischen Stoffe 

1) Centralbl. f. Bakterologie. II. Abth. III. Bd. No. 1, 2, 3, 7, 8ff. 1897. 


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Der Stand der Städtereinigungsfrage. 


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soll ein 1 / 2 ha grosses Cokskleinfilter zur Reinigung von 11216 cbm Abwasser 
genügen. Der Betrieb geschah mit abwechselnder Füllung und in jeder Woche 
mit 24 Stunden gänzlicher Ruhe nach Entleerung. Bei einer Verschlammung 
durch Kothmassen genügte eine Ruhe von 28 Tagen zur vollständigen Regenera¬ 
tion. Die Fäulnissorganismen beginnen nach Dibdin die Arbeit mit der Spaltung 
der organischen Massen und der Umwandlung derselben in einfachere Verbindun¬ 
gen, insbesondere Wasser, Kohlensäure, Ammoniak. Der salpeterbildende Organis¬ 
mus setzt dieselbe fort. Die vorgehende Einführung und die nachfolgende Culti- 
virung der Mikroben ist somit nach diesen Berichten das Ziel der wissenschaftlich 
geleiteten Filtration. Für den Fortgang des Processes wird als wesentlich bezeich¬ 
net: 1. die Versorgung des Organismus mit genügender Luft, 2. das Vorhandensein 
einer Base z. B. Kalk (2,4 grains Kalk und 1 grain Eisensulfatauf 1 Gallon [4,54 1] 
Spüljauche) womit sich die Salpetersäure verbinden kann, 3. die Thätigkeit der 
Mikroben im Dunkeln d. h. im Körper des Filters und nicht in dem über dem 
Filier stehenden Wasser. 

Auf der zu 3. erwähnten Beobachtung ist das Verfahren nach Camerons 
aufgebaut. Nach einem Berichte der Hüller Zeitung über diese neue Reinigungs¬ 
methode wurde die Jauche bei den Probeversuchen in 4 Tanks unter vollständigem 
Abschluss von Licht und Luft zu rapider faulender Gährung und Zersetzung ge¬ 
bracht und das aus den Tanks abfliessende schwach gefärbte Wasser verlor nach 
Passiren von Filtern alle üble Farbe und Geschmack. Chemikalien wurden nicht 
angewandt, die Filter reinigten sich automatisch, wenn sie kurze Zeit ausser Ge¬ 
brauch waren. Auf Grund der befriedigenden Ergebnisse der Vorversuche soll die 
Stadt Exeter (2300 Einwohner) die Reinigung ihrer Abwässer nach diesem Ver¬ 
fahren beschlossen haben. 

Dem Gedanken, die Umwandlung und Beseitigung der organischen Substan¬ 
zen durch „Verwesung“ mit Hülfe des Sauerstoffes und der Bakterien zu erreichen, 
begegnen wir auch bei dem in seinen Erfolgen sehr beachtenswerthen Prosko- 
wetz’schen Reinigungsverfahren für Abwässer von Zuckerfabriken. An 
Stelle des einen künstlichen Filters sind jedoch hierbei zwei mit Saugdrains vor¬ 
bereitete Bodenfilter verwandt, auf welchen eine zweimalige Filtration ausgeführt 
wird. Die Abwässer, welche vorher durch Kalkzusatz von ihren Sinkstoffen be¬ 
freit werden, sollen durch die Erdfiltration eine Umsetzung ihrer gelösten organi¬ 
schen Substanz erfahren, so dass sie alsdann durch Kalk fällbar und ganz ausge¬ 
schieden werden können. Nach den Berichten hat das so gereinigte Wasser den 
Fäulnissgeruch ganz und den Rübengeruch fast vollkommen verloren und ist in 
kleiner Menge, ohne den geringsten Ekel zu erregen, trinkbar. Jedenfalls ist in 
Sokolnitz eine derartige Wiederbelebung der Abfallwässer erreicht, dass letztere an¬ 
standslos im Betriebe der Fabrik seit einigen Jahren verwendet werden, ohne dass 
die Analysen des Rohzuckers eine Verschlechterung gegen früher haben nach weisen 
lassen. Der Bach, welcher früher zur Vorfluth diente und dessen Verschmutzung 
zu steten Beschwerden Veranlassung gegeben, wird seither nicht mehr in Anspruch 
genommen. Der Kalkzusatz, der zur Vor- und Nachklärung benutzt war, ist ein 
relativ erheblicher, indem auf die Abwässer von 4000 Doppelcentner verarbeiteter 
Rüben täglich die Lösung von 5 Doppelcentnern Aetzkalk zur Vorklärung und 
10 Doppelcentner znr Nachklärung des Drainwassers kommen. Dagegen erwies 
sich eine Bodenfläche von ca. 0,4 ha als ausreichend für die Filtration. Das Ver- 


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Schmidtmann und Proskauer, 

fahren ist bisher in der Zuckerfabrik zu Sokolnitz und neuerdings in angeblich 
noch vervollkominneter Weise bei einer Zuckerfabrik in Sadowa eingeführt. Von 
den preussischen Behörden ist beabsichtigt, dasselbe durch Sachverständige wäh¬ 
rend der nächsten Campagne prüfen zu lassen. 

Wenn bei den vorbeschriebenen Reinigungsverfahren die biologische und 
bakterielle Umwandlung der organischen Substanzen in den Schmutz wässern in 
Vordergrund gestellt ist, so weisen die interessanten Versuche des Baron Tindall 
in Amsterdam über die Einwirkung ozonisirter Luft auf Schmutzwässer auch der 
chemisch molecularen Wirkung einen Platz an und lassen die Behandlung der 
Schmutzwässer auf diesem Wege, insbesondere behufs Vernichtung etwaiger In- 
fectionserreger, aussichtsvoll erscheinen. Nach der Veröffentlichung des Prof, 
van Krmengem 1 ) wurden die Versuche angestellt mit dem stark verunreinigten 
Wasser des alten Rheins, das von schwärzlicher Farbe, widerwärtigem Gerüche 
war und zahlreiche Keime enthielt. Nach Befreiung von gröberen Beimengungen 
mittelst Sandfilters hatte dasselbe noch eine dunkelbraune Farbe und widerwär¬ 
tigen Geruch. Nunmehr mit Ozon behandelt, indem man ozonisirte Luft durch 
das Wasser hindurchleitete oder das Wasser in feinsten Tröpfchen durch die ozo¬ 
nisirte Luft herabfallen Hess, erwies sich das abfliessende Wasser völlig klar, von 
gutem Geruch und Geschmack, und bei sorgfältiger bakteriologischer Untersuchung 
völlig keimfrei, auch wenn absichtlich die widerstandsfähigsten Dauersporen 
in grossen Mengen zugesetzt waren. Nach dieser Aeusserung eines so bewährten 
Forschers kann nicht bezweifelt werden, dass mit Hülfe des Ozons auch Schmutz¬ 
wässer sterilisirt und für den menschlichen Gebrauch ungeeignetes Wasser zu Trink¬ 
wasser umgewandelt werden kann, doch gelten derartige Schlüsse zunächst nur 
für Laboratoriumsverhältnisse, denn auch der grösste der Probeapparate vermochte 
nur 50 1 in der Minute zu liefern, und es wäre voreilig, diese Resultate auf die An¬ 
wendung des Ozons im Grossbetriebe, wo Tausende Cubikmeter in Betracht kom¬ 
men, ohne Weiteres zu übertragen. Namentlich dürfte auch die Kostenfrage die 
Anwendung des Ozons hierbei irrationell machen. 

In dieser Hinsicht wird den Verfahren von Bassenge 2 ), sowie von Schum¬ 
burg 3 ) ein grösserer practiseher Werth beizulegen sein, da es mit denselben ge¬ 
lingt, durch relativ kleine Mengen Chlorkalk (0,0978 actives Chlor entsprechend 
ca. 0,15 g käuflichem Chlorkalk auf 1 1 bei einer Einwirkungsdauer \ r on 10 Min., 
1 kg Chlorkalk genügt zur Sterilisirung ca. 5 cbm stark verunreinigten Wassers) 
bezw. Brom (0,06 g Brom oder 0,2 ccm einer 20proc. Bromkaliumlösung auf 1 1 
Spreewasser, 1 kg Brom für ca. 16 cbm) bakterienreiche Flüssigkeiten zu sterili- 
siren. Bei Verwendung der genannten Chemikalien zur Sterilisation von Schmutz¬ 
wässern ist jedoch zu beachten, dass ein sehr grosser Theil derselben durch die 
organischen Stoffe, Ammoniak u. dergl., seiner Wirkung entzogen wird. 


1) De la Sterilisation des eaux par Pozone. Traveil de laboratoire d’hygiene 
et de bacteriologie de l’Universite de Gand. Extrait des Annales de PInstitut 
Pasteur. Oct. 1895. 

2) Zur Herstellung keimfreien Trinkwassers. Zeitschr. f. Hyg. u. Infect.- 
Krankh. Bd. 20. 

3) Neues Verfahren zur Herstellung keimfreien Trinkwassers. Deutsche med. 
Wochenschr. No. 10. 1897. 


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Der Stand der Städtereinigungsfrage. 


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So vielversprechend und werthvoll die Ergebnisse der erwähn¬ 
ten Probeversuche nnd Laboratoriumsarbeiten immerhin für die Lö¬ 
sung der Schmutzwasserreinigung sind, so wird doch Niemand in 
Zweifel darüber sein, dass über den practischenWerth der verschie¬ 
denen Systeme und Verfahren nur das Experiment im Grossen ent¬ 
scheiden kann. Wir glauben hervorheben zu müssen, dass ganz besondere 
Vorsicht geboten ist bei der Beurtheilung der mitgetheilten in England gewonnenen 
Ergebnisse über die Thätigkeit der Mikroben bei dem Reinigungsverfahren. Ein 
endgültiges Urtheil über dieses wissenschaftlich vielfach noch unaufgeklärte Ge¬ 
biet dürfte sich erst nach weiteren Versuchen unter genauer Bestimmung der Qua¬ 
lität der verschiedenen Schmutzwässer, der Arten der betheiligten Mikroben und 
der Bedingungen, unter denen sie für den beabsichtigten Zweck sich nutzbar er¬ 
weisen, und dergleichen mehr fällen lassen. 

Erfreulicher Weise wird auch in Deutschland bald mannigfache Gelegenheit 
sich bieten, an grösseren Versuchsanlagen die Wirkung einzelner Kanalisations¬ 
systeme und Reinigungsverfahren zu ersehen. So wird u. A. eine Entwässerungs¬ 
anlage für den Schiessplatz auf dem Lechfeld für eine Belegmannschaft von 
5000 Personen nach dem Druckluftsystem von E. Merten, für Zoppot ein Diffe- 
renzirsystem ausgeführt, in der Stadt U. ist eine Kläranlage im Bau, bei welcher 
dem System der Durchlüftung durch Einschaltung von Gradirwerken Rechnung 
getragen ist; erwähnt wurde bereits die veränderte Rothe-Röckner’sche Anlage 
zu Potsdam, das Ferrozone-Polarite-Filter in Bromberg. Eine besondere Betrach¬ 
tung rechtfertigt die von dem Culturingenieur Sch weder nach dem Dib di n- 
schen Princip entworfene Versuchs-Kläranlage, welche, günstige Ergebnisse vor¬ 
ausgesetzt, demnächst bei Lichterfelde und Tempelhof für die Reinigung der Ka¬ 
nalspüljauche angewandt werden dürfte. Unter Vermeidung jeder Kunstmittel wird 
die Reinigung der Spüljauche ähnlich dem natürlichen Hergang auf den Riesel¬ 
feldern, jedoch auf erheblich kleinerem Areal nach Alex. Müller sozusagen „fa- 
brikmässig“ erstrebt. Dieselbe soll sich vollziehen durch Gährung und Oxydation, 
welche Processe das Arbeitsresultat von verschiedenen Mikroorganismen darstellen, 
und zwar wird angenommen, dass der Gährungserreger am Energischsten im Dun¬ 
keln, der stickstoffverzehrende und salpeterbildende im Licht, insonderheit unter 
Zuführung frischer Luft arbeitet. Der erstere soll im Harn vorhanden, der zweite 
ein sporenbildender Schimmelpilz (Stutzer) sein, welcher sich auch am Heu in 
warmem Wasser bildet. Dies gebe die Möglichkeit, den Pilzreichthum des Filters 
künstlich zu steigern, ebenso wie es auch ausführbar erscheint, den Gährungspro- 
cess erforderlichen Falls durch Zusatz von menschlichem oder thierischem Harn 
zu beschleunigen. Der Gährungsraum wird zur Erhaltung der gleichmässigen 
Temperatur einem Keller ähnlich theils in die Erde eingebettet, theils mit Erd¬ 
mantel umgeben und auf engmaschigem Drahtnetz mit Torfmull überdeckt, w'obei 
diesem Material noch die Absorption der üblen Gerüche zugewiesen ist. Der Oxy¬ 
dationsraum wird durch Filter gebildet, welche aus einer Mittelschicht von 0,80 m 
Coksabfall und einer oberen und unteren Schicht von je 0,20 in grobem Kies auf¬ 
gebaut werden sollen. 

Die Kosten der Anlage werden auf 2—3 Mk. lür den Kopf der Bevölkerung 
gegenüber 10 Mk. bei Anlage eines entsprechenden Rieselfeldes berechnet. Als 


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sanitätspolizeilicher Vorzug gegenüber den Rieselfeldern wird betont, dass die 
Controle des Betriebes und der Ergebnisse eine leichtere ued sichere sei. 

In beachtenswerther Weise hat Prof. Alex. Müller Stellung zu den Dib- 
d i n ’schen Bestrebungen und dem vorgeschilderten Projecte genommen 1 ). Der¬ 
selbe erachtet die „fabrikmässige Spüljauchenreinigung für einen Fortschritt ähn¬ 
lich demjenigen in der Essigbereitung durch langsame Essiggährung von Frucht¬ 
säften zur Schnellessigfabrikation“, er macht darauf aufmerksam, dass die nach 
Dibdin gereinigte Spüljauche geradezu ein ideales Rieselwasser darstellt, nach¬ 
dem die Schlammthcile der Jauche durch Gährung und Oxydation allmälig in 
Kohlensäure, Ammoniak, Salpetersäure und Aschenbestandtheile übergeführt, d. h. 
mineralisirt und so für die Chlorophyllpflanzen erst geniessbar geworden sind. 
Die angewandten Chemikalien sind nach Alex. Müller mehr oder weniger con- 
servirende Mittel, welche die natürliche Selbstreinigung der geklärten Abwässer 
kürzer oder länger verhindern. 

Die Combination des Klär- und Rieselverfahrens begegnet uns auch in dem 
Project von Fritsch 2 ). Durch Verwendung von Sumpfpflanzen soll hierbei die 
Rieselfläche möglichst beschränkt werden und ist für die Abklärteiche die Be¬ 
setzung mit Fischen (Schleien, Karauschen, Rothaugen etc.) vorgeschlagen. Es 
wird berechnet, dass die Stadt Leipzig bei einer Aufwendung von 1 Million für 
solche combinirte Anlage weiter komme als mit 10 Millionen bei Rieselfeldern. 

In Hinblick auf die in unserem I. Theil der Besprechung der Städtereini¬ 
gungsfrage gemachten Angaben über das Trennsystem ist es von Interesse, dass 
einzelne Communen nachträglich die Aufstellung der Kosten für die Kanalisations¬ 
anlage nach dem Einheits- (sog. Schwemm-)system und dem Trennsystem haben 
ausführen lassen. Bei einer mittclgrossen Stadt, bei welcher die örtlichen Ver¬ 
hältnisse für eine getrennte Ableitung der Tage- und der Schmutzwässer günstig 
lagen, stellte sich nach genauem Ueberschlag der Aufwand für die Kanalanlage 
nach dem Einheitsproject auf 600000 Mk., nach dem Trennproject auf 180000 Mk., 
wozu noch die Kosten der Regenwasserleitung mit 80000 Mk. treten. Demgemäss 
bietet das Trennsystem manchen Städten die Möglichkeit, sich die hygienischen 
Vortheile der Kanalisation, wenn auch nicht in der bisher vollkommensten Weise 
nach dem Einheitssystem, zu sichern, während dieselben bisher angesichts der 
erheblichen Kosten der Anlage und des Betriebes der Schwemmkanalisation von 
jeder geregelten Ableitung der Schmutzwässer absahen und es lieber beim Alten 
beliessen. 

Auch für das vielgeschmähte, aber wohl auch vielfach verkannte Lienur- 
System ist neuerdings eine beachtenswerte Kundgebung der Direction der Stadt- 
reinigungs-Maatschappij zu Amsterdam erfolgt, durch welche die „Thatsachen 
über das Lienur-System, 25 Jahre Praxis, 1897“ 3 ), in 17 Grundsätzen niedergelegt 
werden und die Vorzüge des Systems auch in den Punkten (Verstopfungen u. s.w.) 


1) Lokalanzeiger für Lichterielde. No. 85/86. 1896. 

2) Rieseln oder Klären? Ein Vorschlag zur Lösung der Leipziger Schleusen¬ 
wasserfrage. Ges.-Ing. No. 14. 18%. 

3) Gesundheit. No. 2. 1897. 


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Der Stand der Städtereinigungsfrage. 143 

behauptet werden, welche in dem Buche von Vogel 1 ) keine so günstige Schilde¬ 
rang erfahren haben. 

Auf dem Gebiete der Poudrettirung der Fäkalstoffe sind ebenfalls Fort¬ 
schritte zu verzeichnen. Der Fehler, welcher durch Lienur gemacht war, indem 
er eine halbtrockene Waare durch Eindampfen gewinnen wollte, ist bei dem Ver¬ 
fahren von Podewils, nach welchem seit 15 Jahren in Augsburg, und bei der 
Anlage von der Firma Venuleth und Ellenberger, in welcher seit Jahresfrist 
die Fäkalstoffe in Bremen poudrettirt werden, vermieden, indem eine trockene, 
pulverformige, landwirtschaftlich nutzbare Handelswaare dargestellt wird. We¬ 
sentlich ist für den landwirtschaftlichen Werth dieser Poudrette, dass es durch 
Zosatz von Schwefelsäure (2 pCt.) gelungen ist, die Austreibung des Ammoniaks 
beim Eindampfungsprocess zu verhindern, und hygienisch ist von Bedeutung, dass 
der ganze Verarbeitungsprocess in geschlossenen Apparaten und Gefässen vorge¬ 
nommen wird, und dass alle etwa in den Fäkalien vorhandenen Krankheitserreger 
sicher abgetödtet werden müssen. Vogel kommt bei seinem Vortrage in der 
Deutschen Gesellschaft für öffentliche Gesundheitspflege 2 ) zu dem Schlüsse, dass 
eine bessere Beseitigung der Fäkalien in hygienischer Beziehung überhaupt nicht 
erfolgen kann. Ein weniger günstiges Urteil über die Fäkalienbehandlung in 
Bremen fallt ein Gutachten des Oboringenieurs Meyer-Hamburg 3 ), in welchem 
die ganze Fäkalienaufstapelung nebst Zubehör als „Bombenschweinerei“ bezeichnet 
wird. Der anscheinende Widerspruch der bewährten Gutachter erklärt sich wohl 
daraus, dass der ersten Beurteilung das Poudretteverfahren als solches für sich 
allein unterstellt worden ist, während der zweite Gutachter das ganze System der 
Auffangung, (Kübel) Ueberführung, Lagerung etc. der Fäkalien vor Abgabe an 
die Fabrik seiner abfälligen Kritik unterzogen hat. 

Bei der Verarbeitung der Schlammrückstände aus der Rothe- 
Röckner’schen Kläranlage zu Pankow ist es gleichfalls gelungen, unter Anwen¬ 
dung von Schwefelsäure den Gehalt der trockenen Waare an Stickstoff auf 3 pCt. 
und mehr zu steigern und damit eine handelsfähige Waare herzustellen. 

Wie weit der Weg gangbar ist, getrockneten Klärschlamm, der bei Verwen¬ 
dung von Torf etc. als Klärmittel, gewonnen wird, durch Verbrennung zu besei¬ 
tigen, dürfte sich an der veränderten Kläranlage zu Potsdam bald durch den 
praktischen Versuch erproben lassen. 

Auch auf dem Gebiete der Müllbeseitigung und Verwerthung beginnt es 
sich zu regen. Die hygienischen Anforderungen an Abladeplätze für Mull werden 
von Weyl 4 ) in kurz zusammenfassender Weise besprochen und von J. H. Vogel 
in einer besonderen Broschüre 5 ) in eingehendster Weise unter besonderer Anleh¬ 
nung an die Berliner Verhältnisse erörtert. Die interessante Abhandlung des ver¬ 
dienten Verfassers stellt sich dar als Ergänzung seines vielgenannten Buches über 
die Verwerthung der Abfallstoffe und ist mit 17 der Wirklichkeit entnommenen 

1) a. a. 0. S. 253—277. 

2) Hygienische Rundschau. No. 4. 1897. 

3) Bremer Courier. No. 59. 28. Febr. 1897. 

4) Diese Vierteljahrssohr. Aprilheft 1897. S. 427—434. 

5) Die Beseitigung und Verwerthung des Hausmülls vom hygienischen und 
volkswirthschaftlichen Standpunkte. Jena, G. Fischer, 1897. 

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Schmidtmann und Proskauer,. 

Bildern und 1 Plan ausgestattet. Die Bearbeitung des Stoffes ist mit bekannter 
Gründlichkeit und Sachkenntnis erfolgt. Aus den Schlusssätzen heben wir Fol¬ 
gendes hervor: „Sammelkastenwagen, bei welchen Arbeiter das Müll aufstapeln 
müssen, sind unter allen Umständen zu verwerfen. Bei der Neuregelung der Müll¬ 
abfuhr müssen solche Wagen so umgestaltet werden, dass eine directe Verfrach¬ 
tung des Mülls aus den Wagen in Kähne oder Eisenbahnwagen ohne jede Staub¬ 
entwicklung möglich ist; an erster Stelle kommt das Wechselkastensystem in 
Betracht, wie es z.Z. vom Grundbesitzerverein Nordwest in Berlin betrieben wird.“ 

„In jedem Hausmüll ist ein bestimmter Mindestgehalt an Stoffen, welche man 
als düngende bezw. bodenverbessernde zu bezeichnen pflegt, wie Stickstoff, Phos¬ 
phorsäure, Kali, Kalk, Magnesia und die organische Substanz. Infolgedessen kann 
man das Hausmüll ebenso wie den Stallmist zu den sog. vollständigen oder ab¬ 
soluten Dungmitteln rechnen. Auf die Dungverwerthung ist die vorhergehende 
zweckmässige Lagerung (nicht zu hoch, nicht zu fest und Erdüberdeckung) von 
Einfluss, damit die Verrottung im Verlaufe von ca. 1 Jahr eintritt.“ 

„In solchen Städten, deren nähere Umgebung keinen geeigneten Boden (leichte 
Sand- und Moorböden) besitzt oder vornehmlich zu industriellen Zwecken benutzt 
wird, und von welchen aus solche Ländereien, welche für die Düngung mit Haus¬ 
müll geeignet sind, auf dem Wasserwege in bequemer Weise nicht erreicht wer¬ 
den können, empfiehlt es sich, das Hausmüll zu verbrennen. Die Müllverbrennung 
wird seit fast 2 Jahrzehnten in England mit Erfolg betrieben. Als Rückstände 
verbleiben nur 25—30 Volumprocente des Mülls. Die in Hamburg vorgenomme¬ 
nen Versuche waren so erfolgreich, dass seit Beginn des Jahres 1896 das auf 
300000 Personen abfallende Hansmüll in einer grösseren Anlage verbrannt wird. 
Die in Berlin angestcllten Versuche haben ein befriedigendes Ergebniss nicht ge¬ 
habt. Die aus den Städten Essen, Stuttgart, München, Elberfeld und Berlin stam¬ 
menden Müllproben konnten in der Verbrennungsanlage zu Hamburg ebensogut 
verbrannt werden, wie das Hamburger Müll. Der Gehalt des Mülls an brennbaren 
Bestandtheilen ist grossen Schwankungen unterworfen. Nach einer Anzahl vom 
Verfasser ausgeführter Untersuchungen betrug derselbe im Mittel 22,5 pCt., neben 
61,9 pCt. unverbrennlichen Bestandtheilen und 15,6 pCt. Wasser.“ 

Für Berlin ist hinsichtlich der Müllbeseitigung vorgeschrieben, dass Keh¬ 
richtablagerungen nur auf den von der Stadtgemeinde eingerichteten und anderen 
vorschriftsmässig angelegten Abladeplätzen erfolgen dürfen (P.-V. 26. II. 1893), 
ferner, dass der Transport des Mülls staub- und geruchfrei bewirkt wird (P.-V. 
30. I. 1895). Als Systeme, welche den in Bezug auf Vermeidung einer Verun¬ 
reinigung der Strasse, insbesondere auch einer Entwicklung von Staub und üblen 
Gerüchen gestellten Anforderungen genügen, sind durch polizeiliche Bekannt¬ 
machung anerkannt das Wechselkastensystem, das System Kinsbrunncr und 
Geduld & Co. 

Einen besonderen Ruf hat das in Budapest seit einem Jahre geübte Verfah¬ 
ren der Müllbeseitigung (System Cscry) sich neuerdings erworben, bei welchem 
sämmtliche Haus- und Marktabfälle nach einem ca. 18 km entfernten Orte mittels 
Bahn transportirt und dort in einem besonderen Fabrikgebäude sortirt und ver- 
werthet werden. Soweit hierbei ein maschineller Betrieb angewandt wird, ist das 
Verfahren als ein hygienischer Fortschritt anzuerkennen, so lange jedoch noch 


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Der Stand der Städtereinigungsfrage. 


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Menschenhände zum Sortiren der Massen verwendet werden müssen, stellt es noch 
kein hygienisch vollkommenes System dar. 

Ein eigenartiger Vorschlag zur Lösung der Städtereinigungsfrage wird von 
dem Ingenieur Kürten gemacht. Derselbe plant, in einem Transportkanal die 
lorfvermengten Fäkalien nebst Strassenkehricht, Schnee u. dergl. mittelst eines 
darin sich bewegenden tuchartigen elastischen Gewebsstückes ohne Ende aus dem 
Stadtinnern zu schaffen. In seiner Broschüre 1 ) berechnet der Verfasser einen so 
erheblichen Reingewinn, dass man sich wundern muss, wenn die Städte nicht als¬ 
bald sich eine solche Einnahmequelle zu Nutze machen. Wie die Gewinnberech¬ 
nung, so dürfte auch die technische Ausführbarkeit des Systems berechtigten 
Zweifeln begegnen. 

Lassen wir unseren Blick übor die interessirten wissenschaftlichen Kreise 
hinwegschweifen, so sehen wir, dass die Frage der Städtereinigung und die damit 
eng verbundene der Flussverunreinigung in weiten Schichten der Bevölkerung 
Wurzel geschlagen hat. Einen Einblick in diese Bewegung gewähren uns die Ver¬ 
handlungen, welche in der Sitzung des Reichstages vom 14. Januar 1897 und des 
preussischen Abgeordnetenhauses am 1. und 27. Februar d.J. stattgefunden haben 
und in deren Verlaufe die Nothwendigkeit der Reinhaltung der Flussläufe entschie¬ 
den betont wurde. In gleichem Sinne wendet sich der 1877 zu Köln gegründete 
„internationale Verein gegen Verunreinigung der Flüsse, des Bodens und der Luft“ 
mit seiner Eingabe vom November 18% zum Schutze des Rheinstroms an die Mini¬ 
sterien von Baden, Hessen, Elsass-Lothringen 2 ). Die Gesuchssteller glauben be¬ 
wiesen zu haben, dass von den verschiedenen Systemen der Städtereinigung ein ver- 
vollkommnetes Abfuhrsystem mit Tonnen ohne oder mit Torfmull in gesundheit¬ 
licher und volkswirtschaftlicher Hinsicht den meisten Vortheil biete und dass eine 
Wegschwemmung der menschlichen Abfallstoffe die grössten Bedenken für Gesund¬ 
heit und Volkswirtschaft bervorrufe, insbesondere wenn diese Stoffe unmittelbar 
in die Flussläufe geleitet würden. • 

Im Gegensatz hierzu finden wir die Bestrebungen der Communen fast aus¬ 
nahmslos dahin gerichtet, sich ihrer Kanalwässer durch directe Einleitung in die 
Vorfluthgewässer billig und bequem, thunlichst ohne jede Reinigung, zu entledi¬ 
gen. Sie stützen sich hierbei auf das vielfach missverstandene und unzutreffend 
verallgemeinerte Gutachten von Pettenkofer über die Kanalisation von München 
und die sogen. Selbstreinigung der Flüsse. Dass die letztere eine begrenzte und 
bei der stetig wachsenden Inanspruchnahme der Ströme eine mehr und mehr un¬ 
vollkommene, wie die Beispiele der Elster, Lippe etc. offenkundig beweisen, wird 
dabei oft übersehen. 

Die behördliche Entschliessung wird durch die bezüglichen gesetz¬ 
lichen Bestimmungen, gerichtlichen Entscheidungen und ministeriellen Anordnun¬ 
gen bestimmt, über welche wir zur Vervollständigung unserer Betrachtung nach¬ 
stehend einen kurzen Ueberblick geben. 

In dem Allgemeinen Landrecht sind wenig Bestimmungen über die Verun- 


1) Neues Kanal-Transportsystem zur Beseitigung der Fäkalien und der Zu 
l’ührung in der Landwirtschaft. Leipzig, Diefenbach, 1896. 

2) Gesundheit. No. 24. 1896. 

Viertel]ahrsschr. f. ger. Med. Dritte Folge. XIV. 1. i q 


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reinigung der Flussläufe, Seen, Kanäle etc. enthalten. Allein § 46 A. L.-R. Th. II. 
Tit. 15 verbietet die Anlegung von Wasch- oder Badehäusern an öffentlichen Strö¬ 
men ohne besondere Erlaubniss des Staates. Im Uebrigen steht dem Allgemeinen 
Landrecht nur die Bestimmung in § 10 A. L.-R. Th. II. Tit. 17 zur Verfügung, 
wonach es Sache der Polizei ist, die nöthigen Anstalten zur Erhaltung der öffent¬ 
lichen Sicherheit und Ordnung, sowie zur Abwendung der dem Publikum oder 
einzelnen Mitgliedern desselben bevorstehenden Gefahr zu treffen. 

Eine gewünschte Ergänzung bot die Allerhöchste Kabinetsordre vom 24. Fe¬ 
bruar 1816, welche für die Verunreinigung durch industrielle Betriebe auch heute 
noch die grundlegende Bestimmung ist. Dieselbe setzt zur Verhütung der Verun¬ 
reinigung der schiff- und flössbaren Flüsse und Kanäle fest, dass Niemand, der 
eines Flusses sich zu seinem Gewerbe bedient, Abgänge in solchen Massen in den 
Fluss werfen darf, dass derselbe dadurch nach dem Urtheil der Provinzial-Polizei- 
Behörde (Regierungs-Präsident) erheblich verunreinigt werden kann, und dass Je¬ 
der, der dawider handelt, nicht nur die Wegräumung der den Wasserlauf hem¬ 
menden Gegenstände auf seine Kosten vornehmen lassen muss, sondern auch 
ausserdem eine Polizeistrafe von 10 bis 50 Thalern verwirkt hat. 

Nach der Rechtsprechung (Kammergerichts-Urtheil vom 27. Februar 1893) 
muss unter „Abgänge in den Fluss werfen“ auch das „Ablassen“ flüssiger oder 
sonstiger Abgänge in den Fluss subsumirt werden. 

Zum Schutze der Fischzucht gegen Verunreinigung des Wassers ist im § 43 
des Fischereigesetzes für den Preussischen Staat vom 30. Mai 1874 bestimmt: „Es 
ist verboten, in die Gewässer aus landwirtschaftlichen oder gewerblichen Betrie¬ 
ben Stoffe von solcher Beschaffenheit und in solohen Mengen einzuwerfen, einzu¬ 
leiten oder einfliessen zu lassen, dass dadurch fremde Fischereirechte geschädigt 
werden können. Bei überwiegendem Interesse der Landwirtschaft kann das Ein¬ 
werfen oder Einleiten solcher Stoffe in die Gewässer gestattet werden. Soweit es 
die örtlichen Verhältnisse zulassen, soll dabei dem Inhaber der Anlage die Aus¬ 
führung solcher Einrichtungen aufgegeben werden, welche geeignet sind, den 
Schaden für die Fischerei möglichst zu beschränken. Ergiebt sich, dass durch 
Ableitungen aus landwirtschaftlichen oder gewerblichen Anlagen, welche bei Er¬ 
lass dieses Gesetzes bereits vorhanden waren, oder in Gemässheit des vorstehen¬ 
den Absatzes gestattet worden sind, der Fischbestand der Gewässer vernichtet oder 
erheblich beschädigt wird, so kann dem Inhaber der Anlage auf den Antrag der 
durch die Ableitung benachtheiligten Fischereiberechtigten im Verwaltungswege 
die Auflage gemacht werden, solche ohne unverhältnissmässige Belästigung seines 
Betriebes ausführbaren Vorkehrungen zu treffen, welche geeignet sind, den Scha¬ 
den zu heben oder doch tunlichst zu verringern.“ 

Ausserdem heisst es im § 44 des Fischereigesetzes: „Das Rösten von Flachs 
und Hanf in nicht geschlossenen Gewässern ist verboten. Ausnahmen von diesem 
Verbote kann die Bezirksregierung (jetzt der Regierungs-Präsident), jedoch immer 
nur widerruflich, für solche Gemeindebezirke oder grössere Gebietsteile zulassen, 
wo die Örtlichkeit für die Anlage zweckdienlicher Röstgruben nicht geeignet ist 
und die Benutzung nicht geschlossener Gewässer zur Flachs- und Hanfbereitung 
zur Zeit nicht entbehrt werden kann.“ 

Für die allgemeine Industrie ist die Verunreinigung der Gewässer durch die 


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Der Stand der Städtereinigungsfrage. 


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§§16 ff. der Reichs-Gewerbeordnung vom 


21. Juni 1869 

—— theilweisebeschränkt. Nach 

!• Juli looo 


§ 16 a. a. 0. ist „zur Errichtung von Anlagen, welche durch die örtliche Lage 
oder die Beschaffenheit der Betriebsstätte für die Besitzer oder Bewohner der be¬ 
nachbarten Grundstücke oder für das Publikum überhaupt erhebliche Nachtheile, 
Gefahren oder Belästigungen herbeiführen können, die Genehmigung der nach den 
Landesgesetzen zuständigen Behörde erforderlich.“ 

Zur Wahrnehmung der den Kreis-(Stadt-)Ausschüssen (Magistraten) durch 
§ 109 des Gesetzes über die Zuständigkeit der Verwaltungs- und Verwaltungs¬ 
gerichtsbehörden vom 1. August 1883 hinsichtlich der Genehmigung gewerblicher 
Anlagen übertragenen Zuständigkeiten hat der Herr Minister für Handel und Ge¬ 
werbe mit dem Erlasse vom 15. Mai 1895 eine „Technische Anleitung“ her¬ 
ausgegeben, welche im Theil I. (Allgemeine Gesichtspunkte) den Behörden die 
Vorbeugung der Verunreinigung von Gewässern besonders zur Pflicht macht, und 
anrathet, im Falle der Genehmigungsertheilung der Polizeibehörde ausdrücklich 
das Recht zu wahren, jederzeit die Ableitung der Abgänge in Wasserläufe von 
weiteren Bedingungen abhängig zu machen oder auch gänzlich zu untersagen, falls 
die bei Ertheilung der Genehmigung gegebenen Vorschriften sich als unzulänglich 
erweisen sollten. Nach § 23 Abs. 3 der Reichs-Gewerbeordnung bleibt es übri¬ 
gens der Landesgesetzgebung Vorbehalten, zu verfügen, inwieweit durch Ortssta¬ 
tuten darüber Bestimmung getroffen werden kann, dass einzelne Ortstheile vor¬ 
zugsweise zu Anlagen der oben aufgeführten, im § 16 erwähnten Art zu bestim¬ 
men, in anderen Ortstheilon (z. B. Villenkolonien) aber dergleichen Anlagen ent¬ 
weder gar nicht oder nur unter besonderen Beschränkungen zuzulassen sind. 

Durch die in den §§ 16ff. der Reichs-Gewerbeordnung geschehene Auffüh* 
rung der einer Genehmigung bedürfenden Anlagon ist keineswegs ausgeschlossen, 
dass die zuständigen Polizeibehörden auch anderen Gewerbebetrieben (Brauereien, 
Brennereien, Abfuhrunternehmen) den Betrieb ihres Gewerbes überhaupt oder für 
einzelne Ortstheile auf Grund der ihnen durch §10 A.L.-R. Th. II. Tit. 17, bezw. 
§ 6 Litt, b, f, g und h des Gesetzes über die Polizei-Verwaltung vom 11. März 
1850 gegebenen Befugnisse verbieten oder derartigen Betrieben Beschränkungen 
auferlegen. Denn die Vorkehrungen, welche nothwendig sind, um die schädlichen 
Einflüsse der Industrie auf ihre Umgebung zu verhindern oder doch auf ein mög¬ 
lichst geringes Maass zu beschränken, gehören in das Gebiet der Gesundheitspo¬ 
lizei. Keineswegs hat die Gewerbeordnung beabsichtigt, die Gewerbetreibenden 
von der Beachtung derjenigen Beschränkungen zu entbinden, welche sich aus all¬ 
gemeinen polizeilichen, theils in Gesetzen, theils in Verordnungen der Behörden 
enthaltenen Vorschriften ergeben und die für Jedermann, er mag ein Gewerbe be¬ 
treiben oder nicht, Anwendung finden. 

Damit der Allgemeinheit kein Schaden entstehen kann t bestimmt § 51 der 
Gewerbeordnung Folgendes: „Wegen überwiegender Nachtheile und Gefahren für 
das Gemeinwohl kann die fernere Benutzung einer jeden gewerblichen Anlage 
durch die höhere Verwaltungsbehörde zu jeder Zeit untersagt werden. Doch muss 
dem Besitzer alsdann für den erweislichen Schaden Ersatz geleistet werden; aus 
der Untersagung der ferneren Benutzung entspringt kein Anspruch auf Entschä- 

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digung, wenn bei der früher ertheilten Genehmigung ausdrücklich Vorbehalten 
worden ist, dieselbe ohne Entschädigung zu widerrufen.“ 

Ueber die Benutzung der Privatflüsse bestimmt das Gesetz vom 28. Februar 
1843 im § 1: „Jeder Uferbesitzer an Privatflüssen (Quellen, Bächen oder Flüssen, 
sowie Seen, welche einen Abfluss haben) ist, sofern nicht Jemand das ausschliess¬ 
liche Eigenthum des Flusses hat, oder Provinzialgesetze, Lokalstatuten oder spe- 
cielle Rechtstitel eine Ausnahme begründen, berechtigt, das an seinem Grund¬ 
stücke vorüberfliessende Wasser unter den näheren Bestimmungen zu seinem be¬ 
sonderen Vortheile zu benutzen. Jedoch bleibt es in Ansehung der Benutzung des 
Wassers zu Mühlen und anderen Triebwerken, sowie auch in Ansehung der 
Fischereiberechtigung und der Vorfluth bei den bestehenden gesetzlichen Vor¬ 
schriften, soweit diese durch gegenwärtiges Gesetz nicht ausdrücklich abgeän¬ 
dert sind. u 

Eine Ausnahme hiervon construirt der § 3 Abs. 1 desselben Gesetzes, wel¬ 
cher vorschreibt, dass das zum Betriebe von Färbereien, Gerbereien, Walken und 
ähnlichen Anlagen benutzte Wasser keinem Flusse zugeleitet werden darf, wenn 
dadurch der Bedarf der Umgegend an reinem Wasser beeinträchtigt oder eine er¬ 
hebliche Belästigung des Publikums verursacht wird. Die Entscheidung hierüber 
steht nach Abs. 2 der Polizeibehörde zu. Ferner kann nach § 6 die Anlegung 
von Flachs- und Hanfrösten von der Polizeibehörde untersagt werden, wenn solche 
die Heilsamkeit der Luft beeinträchtigt oder dazu Anlass giebt, dass der freie Ab¬ 
fluss des Wassers behindert oder eine erhebliche Belästigung des Publikums ver¬ 
ursacht wird. 

Das bürgerliche Gesetzbuch hat Abänderungen der vorstehend wiedergege¬ 
benen Vorschriften nicht getroffen; der Artikel 65 des Einführungsgesetzes zura 
bürgerlichen Gesetzbuch bestimmt vielmehr, dass die landesgesetzlichen Vor¬ 
schriften, welche dem Wasserrecht angehören, mit Einschluss des Mühlenrechts, 
des Flötzrcchts und des Flössereirechts, sowie der Vorschriften zur Beförderung 
der Bewässerung und Entwässerung der Grundstücke und der Vorschriften über 
Anlandungen, entstehende Inseln und verlassene Flussbetten unberührt bleiben. 

Dagegen wird das bisherige Wasserrecht in dem im Entwürfe vorliegenden 
Preussischen Wasserrecht verschiedentlich abgeändert. Die hauptsächlichsten Be¬ 
stimmungen betreffs der Einleitung von Stoffen in die Wasserläufe bezw. die Ver¬ 
unreinigung der letzteren sind enthalten in den §§ 38ff., 52ff., 59 und 65 des 
Entwurfes. Im Anschluss an den Erlass eines Wassergesetzes ist übrigens die Er¬ 
richtung einer Reichs-Centralstelle für die Pflege der binnenländischen Hydro¬ 
graphie geplant. 

Ueber die Einleitung von Abwässern aus städtischen etc. Kanalisationsan¬ 
lagen, welche neben Regenwasser auch industrielle und Hauswässer sowie Fäka¬ 
lien enthalten, in die Flussläufe, sind besonders drei massgebende Runderlasse 
der Herren Minister des Innern, der öffentlichen Arbeiten, für Landwirtschaft, 
Domänen und Forsten, der geistlichen, Unterrichts- und Medicinal-Angelegenheiten 
und für Handel und Gewerbe ergangen, und zwar unter dem 1. September 1877, 
8. September 1888 und 30. März 1896, in \yelchen in erster Linie vorgeschrieben 
ist, dass die Genehmigung zu neuen Kanalisationsanlagen nicht ohne vorherige 
Entscheidung der Herren Ressortminister zu ertheilen ist. Des Weiteren sind die 
hauptsächlichsten Grundsätze angeführt, welche bei der ministeriellen Entschei- 


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Der Stand der Städtereinigungsfrage. 


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düng Anwendung finden, und die Punkte bezeichnet, welche bei der Vorlage des 
Projects in dem Berichte zu erörtern sind. 

Aus den Verordnungen ist ersichtlich, dass die Centralbehörden frühzeitig 
die Wichtigkeit der Städteentwässerung und den Einfluss derselben auf den Zu¬ 
stand der Flüsse erkannt haben. Nach den bekannt gewordenen Entscheidungen 
wird von den betheiligten Ressortministern eine grundsätzliche Stellung zu Gun¬ 
sten eines bestimmten Systems im Allgemeinen nicht eingenommen, sondern die 
Entscheidung von Fall zu Fall unter eingehender Berücksichtigung der örtlichen 
Verhältnisse und der jeweilig feststehenden wissenschaftlichen und practischen 
Erfahrung, zumeist nach der gutachtlichen Aeusserung der wissenschaftlichen De¬ 
putation für das Medicinalwesen x ), getroffen. Ein bestimmtes Reinigungsverfahren 
für Schmutzwässer wird nicht vorgeschrieben, vielmehr den Betheiligten überlassen, 
wie sie den geforderten mindesten Reinheitsgrad am zweck massigsten erzielen 
wollen. Derselbe ist bei der behördlichen Genehmigung städtischer Kanalisationen 
wiederholt dahin festgelegt, dass die gereinigten Abwässer von allen mit blossen 
Sinnesorganen wahrnehmbaren Verunreinigungen, von Fäkal- oder Fäulnissgerueh 
frei sein, in 1 ccm nicht mehr als 300 entwicklungsfähige Keime enthalten und in 
unzersetztem Zustande mindestens 10 Tage hindurch haltbar sein sollen. Ausser¬ 
dem wird die jederzeitige polizeiliche Controle der Leistungen der Reinigungsan¬ 
stalt und zumeist die Einleitung der abfliessenden Wässer in die Vorfluth unter¬ 
halb der Orte und in den Stromstrich verlangt. So lange ein allseitig befriedigen¬ 
des, bestes Städtereinigungssystem nicht anerkannt ist, kann dieser Standpunkt 
nur gebilligt werden unter der Voraussetzung, dass sich die sachverständigen Be- 
rather über alle Vorgänge auf diesem Gebiete orientirt halten. Eine andere Frage 
ist die, ob eine solche passive Rolle fernerhin genügt und ob es nicht in Hinblick 
auf die grossen wirtbschaftlichen und gesundheitlichen öffentlichen Interessen, die 
bei der Städtereinigungsfrage auf dem Spiele stehen, geboten ist, dass der Staat 
mit seinen Machtmitteln sich an der Förderung und Lösung dieser für die Ent¬ 
wicklung der Gemeinwesen, insbesondere der städtischen, wichtigen Lebensfrage 
betheiligt. Dies könnte in der Weise geschehen, dass er die gerade jetzt so rüh¬ 
rige Bewegung zur Verbesserung der Klärverfahren etc. durch entsprechende Mitt el 
unterstützt und sich damit auch das Recht und die Mitwirkung auf eine sachge- 
mässe Veranstaltung der Versuche und auf die Controle der Ergebnisse sichert. 
Auch die staatlichen wissenschaftlichen Institute, vornehmlich die hygienischen, 
würden zweckdienlich zur Mitarbeit herangezogen und ihnen bestimmte Aufgaben 
zugewiesen. Die an den verschiedenen Stellen und unter verschiedenartigen Ver¬ 
hältnissen gesammelten Erfahrungen und Feststellungen würden alsdann einheit¬ 
lich zu bearbeiten sein. Auf diese Weise dürfte sich ein rascherer Fortgang in 
dem Stande der Städtereinigung voraussichtlich bald vollziehen, als auf dem bis¬ 
herigen Wege, bei welchem die Bestrebungen uneinheitlich nebeneinander hergehen 
und die Ergebnisse der Einzelnen oftmals unbeachtet und unverwerthet bleiben. 


1) vergl. insbesondere Beschlüsse der unter Zuziehung von Vertretern der 
Aerztekammern geführten Verhandlungen vom 24., 25. und 26. Üctober 1888, die 
Verunreinigung der öffentlichen Wasserläufe betreffend. Diese Vierteljahrsschr. 
1889. Bd. 51. S. 171. 


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150 Schmidtmann u. Proskauer, Der Stand der Städtereinigungsfrage. 

Nach Abschluss des vorstehenden Referates hat einer der Referenten (Prof. 
Proskauer) Gelegenheit gehabt, sich über das Dibdin’sche und Ferrozone-Po- 
larite-Verfahren in England selbst zu unterrichten. Nach dessen Beobachtung 
scheint man in England z. Z. dem letztgenannten Verfahren weniger Vertrauen 
entgegenzubringen, als man dies nach den bisherigen Veröffentlichungen in der 
deutschen Fachliteratur annehmen musste, in Hundon ist dasselbe aufgegeben, und 
zwar wegen der Höhe der Kosten und anscheinend auch wegen des nicht immer 
voll befriedigenden Effectes. Auch das Verfahren nach Dibdin kann als abge¬ 
schlossen noch nicht gelten, wofür schon der Umstand spricht, dass die Versuche 
von Dibdin selbst, sowie neuerdings auch von dem Londoner Magistrat noch fort¬ 
geführt werden. Eine genaue Veröffentlichung ist von Dibdin im Juni in Aus¬ 
sicht gestellt und behalten wir uns vor, uns alsdann weiter über den Gegenstand 
zu äussern. 1 ) 


Schnidtmaan. Proskauer. 


1) Die vorstehende Veröffentlichung erscheint, zusammen mit dem I. Theil 
derselben, als selbständiger Sonderabdruck im Verlage von A. Hirschwald-Berlin. 


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ID. Besprechungen, Referate, Notizen, 
amtliche Mittheilungen. 


Besprechungen der legislatorischen Yorgänge auf dem Gebiete 
der Medicinal* und Sanitätspolizei für das Jahr 1896. 

Von 

Medieinal-Assessor Dr. Springfeld, Berlin. 

(Schluss) 


3. Drogenhandlungen. 

Für die Drogisten ist das verflossene Jahr nach keiner Richtung hin ein 
günstiges gewesen. 

Im Jahre 1895 hatte der Reichstag den auf Antrag der preussischen Medi¬ 
zinalverwaltung vom Bundesrathe im Reichstage eingebrachte Antrag: 

„Der Handel mit Drogen ist zu untersagen, wenn Thatsachen vor¬ 
liegen, welche die Unzuverlässigkeit der Gewerbetreibenden darthun 
(§ 35 R.-G.-O.)“ 

auf Antrag der Kommission abgelehnt, weil das von der Regierung beigebrachte 
Material nicht ausreiche zur Begründung einer weiteren Einschränkung der 
Gewerbefreiheit auf diesem Gebiete. 

Die neue Gewerbenovelle, welche dem Reichstage des Jahres 1896 vorgelegt 
wurde, enthielt hinsichtlich der Drogenhandlungcn den Passus: 

Artikel 4 zu § 35 R.-G.-O. 

Unter denselben Voraussetzungen (Unzuverlässigkeit in Bezug auf den Ge¬ 
werbebetrieb) ist zu untersagen: der Handel mit solchen Drogen und chemischen 
Präparaten, welche zu Heilzwecken dienen, und zu § 53 R.-G.-O „Ist die Unter¬ 
sagung erfolgt, so kann die Landescentralbehörde oder eine andere von ihr be¬ 
stimmte Behörde die Wiederaufnahme der Gewerbebetriebe gestatten, sofern seit 
der Untersagung mindestens ein Jahr verflossen ist. Nachdem in der 36. u. 37. 
Sitzung vom 10. u. 11.2.1896 der Antrag auf Commissionsberathung abgelehnt war, 
wurde in der Sitzung vom 7. u. 9. März ein Amendement Gröber angenommen, 
an Stell« der Worte: „welche zu Heilzwecken dienen“ zu setzen: „sofern die 
Handhabung des Gewerbetriebes Leben und Gesundheit gefährdet“ mit 137 gegen 


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Besprechungen, Referate, Notizen, amtliche Mittheilungen. 


78 Stimmen der Freisinnigen, Socialdemokraten und Antisemiten angenommen. 
Die Begründung des Regierungsanlrages erfolgte durch Geheimen Ob.-Med.-Rath 
Pi stör. Eine warme Vertheidigung fand der Antrag durch den Reichstabgeord- 
nelen Kruse, welcher sich auf das in Berlin gewonnene und vom Ref. (Z. für 
Med.-B. Märzheft) veröffentlichte und den Abgeordneten zugestellte Berliner 
Zahlenmaterial stützen konnte. Trotz des erdrückenden Beweismaterials ge¬ 
langten in dritter Lesung am 17 u. 18. Mai ein Antrag Hitze-Jakobskötter- 
Stumm: 

„der Handel mit Drogen etc., welche zu Heilzwecken dienen, ist zu 
untersagen, wenn die Handhabung des Gewerbebetriebes Leben und 
Gesundheit der Menschen gefährdet“ (zwischen dem 3. u. 4. Absatz 
der § 35 einzuschiebon) 
und sogar noch ein Antrag Haase: 

„Der Handel mit Arzneimitteln etc. kann demjenigen untersagt werden, 
welcher starkwirkende Stoffe zu Heilzwecken feilgehalten oder verkauft 
hat und desshalb rechtskräftig bestraft worden ist“ 
zur Berathung, und nur mit einer Stimme Majorität wurde der erste Antrag 
angenommen. Das Gesetz tritt mit dem 1. Januar 1897 in Kraft und wird sicher¬ 
lich imVerein mit dem § 53 der R.-G.-O. nicht verfehlen, die Thätigkeit unsauberer 
Elemente im Drogistenstande einzuschränken. 

Die Praxis der Verwaltungs-Gerichte, denen die Entscheidung zufällt, wie 
weit der „Begriff der Gefährdung von Leben und Gesundheit von Menschen“ 
interpretirt werden soll und ob er der Aufsichtsbehörde grössere Machtmittel 
giebt als der Begriff „Unzuverlässigkeit in Bezug auf den beabsichtigten Ge¬ 
werbebetrieb.“ 

Das wirksamste Mittel um die Drogisten vor Uebertretungen der Kais. Ver¬ 
ordnung zu bewahren ist der Erlass von Polizei-Verordnungen, welche den Polizei- 
Behörden die Befugniss zur Konfiskation der verbotswidrig vorräthigen Waaren 
verleiht. Derartige Polizei-Verordnungen sind nach § 6 des Ausführungsgesetzes 
zum R.-St.-G.-B. durchaus zulässig und würde nur eine alte Bestimmung des 
preussischen Str.-G.-B. wiederherstellen. 

DieGiftpolizeiverordnungen, welche gleichlautend in allen Bezirken des 
Reiches erlassen waren, hatten die „Ertheilung der Giftkonzession“ unbeachtet 
gelassen. Nach § 34 der R.-G.-O. können die Landesregierungen vorschreiben, 
dass zum Handel mit Giften eine besondere Genehmigung erforderlich ist. Baden, 
Elsass-Lothringen, Schwarzburg-Sondershausen, Schaumburg-Lippe und Württem¬ 
berg fordern die Anmeldepflicht, Braunschweig, Sachsen, Bayern und Sachsen- 
Altenburg für Gifte der Abth. 3 die Anmeldung, für die übrigen Gifte die Kon¬ 
zession. In Preussen beruht die Konzessionspflicht für alle Gifte auf § 49 der 
pr. G.-O. vom 11. Januar 1845 in der Fassung des Gesetzes vom 22. 6. 1861, 
wonach denjenigen, welche Gifte feilhalten wollen, der Beginn des Gewerbe¬ 
betriebes erst dann zu gestatten ist, wenn die Behörde von ihrer Zuverlässigkeit 
überzeugt ist. Da nach Entscheidungen des Oberverwaltungsgerichtes der Begriff 
Zuverlässigkeit sowohl die intellektuellen wie moralischen Eigenschaften begreift, 
war in dieser Bestimmung eine Handhabe gegeben eine Art des so nothwendigen 
und von den Drogisten selbst erstrebten Befähigungsnachweises einzuführen. Nach¬ 
dem der Herr Minister durch Erlass vom 11. 3. 1896 an den Polizei-Präsidenten von 


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Besprechungen, Referate, Notizen, amtliche Mittheilungen. 153 

Berlin den Vorschlag einer einheitlichen Regelung abgelehnt hatte, machte der Stadt¬ 
ausschuss von Berlin auf Antrag des Polizei-Präsidenten durch Bekanntmachung 
vom 3. Januar 1896 die Ertheilung der Konzession von der Beibringung eines 
Physikatsattestes abhängig und wurden die Physiker angewiesen, derartige Atteste 
gegen Mk. 10,— Gebühren auszustellen. Später wurde durch Bekanntmachung 
des Stadtausschusses vom 7. Mai 1897 dieser Befähigungsnachweis auch von den 
im Sinne der Gewerbeordnung als Stellvertreter funktionirenden Gehilfen, männ¬ 
lichen wie weiblichen, verlangt. 

Der Reg.-Präsident von Posen hatte durch Verfügung vom 19. Nov. 1895 
den Bezirksausschüssen gerathen, die Erlaubniss nur auf Widerruf zu ertheilen 
und die konzessionirten Mittel stets einzeln und namentlich in der Konzessions¬ 
urkunde aufzuführen. 

Eine ähnliche Verfügung des Reg.-Präs. zu Bromberg vom 13. 2. 1896 will 
die Zahl der zu konzedirenden Gifte von den örtlichen und gewerblichen Bedürf¬ 
nissen, sowie Art und Umfang des betreffenden Geschäftes abhängig machen, die 
Ertheilung der Konzession soll indessen nicht von der Bedürfnissfrage direkt ab¬ 
hängig gemacht werden. 

Man sieht, dass in diesen Verfügungen bereits die Anfänge weiterer Entwicke¬ 
lung des Drogistenstandes zu Apotheken II. Klasse liegen: Befähigungsnachweis, 
Konzession, lokale Beschränkung der Gifthandlungen. 

Der Reg.-Präs. in Posen empfahl gegen die Entscheidungen der Kreisaus¬ 
schüsse die Rechtsmittel der Klage. Für die Stadtausschüsse hat das O.-V.-G. 
anerkannt, dass deren Beschlüsse endgiltig sind. 

Zu dem Begriffe „Ungeziefermittel“ erliess der Herzogliche O.-S.-R. zu 
Braunschweig unter dem 16. Sept. 1896 die Deklaration, dass darunter alle zur 
Vertilgung schädlicherThiere dienenden Mittel zu verstehen seien und dass der Zu¬ 
satz „sogenannt“ keineswegs die Bedeutung einer Einschränkung des voraus¬ 
gehenden Gattungsbegriffes „Mittel gegen schädliche Thiere“, sondern lediglich die 
eines kürzeren, volkstümlichen Namens habe. 

Als ein Mangel wird es von den Drogisten mit Recht empfunden, dass die 
Giftpolizei-Verordnung nicht denWortlaut der Belehrungen enthält, welche nach 
§ 18 der P.-V. 28-/8. 1895 dem Käufer giftiger Ungeziefermittel übergeben werden 
sollen. Die erste Belehrung wurde von der Hamburger Medizinalpolizei veröffent¬ 
licht. Die im Wortlaute hiervon abweichende Berliner Verordnung vom 22. April 
enthält über Aufbewahrung, Gebrauch, Vergiftungszeichen und Gegengifte An¬ 
deutungen, und ist auf rothem Papier zu verabfolgen. Die am 15. Mai 1896 publi- 
cirte Königsberger Belehrung verlangt grünes, gelbes, rothes und blaues Papier. 
Nachdem auch Württemberg, Baden u. a. preussiscbe Regierungen Belehrungen 
erlassen haben, ist die Musterkarte aJlmälig recht bunt geworden. 

Die erste Erläuterung, welche der gangbaren Farben man als giftige im 
Sinne des Gesetzes anzusehen habe, gab Jacobsohn in dieser Vierteljahrsschrift. 
Die erste behördliche Bekanntmachung erschien in Merseburg am 22. April 1896. 

Die Ausführung des Min.-Erl. vom 1. 2. 94, Min.-Bl. 2, setzte polizeiliche 
Bestimmungen über die Aufbewahrung der Medikamente ausserhalb 
der Apotheken voraus. Nachdem der Reg.-Präs. zu Minden schon vor Erlass 
der giftpolizeilichen Bestimmungen sehr ins Einzelne gehende Verordnungen erlassen 
hatte, wurde diese Materie auf dem Wege von Landespolizei-Verordnungen in Kös- 


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Besprechungen, Referate, Notizen, amtliche Mittheilungen. 


lin, Düsseldorf, Köln, Kassel und Gumbinnen in verschiedener Ausdehnung und Form 
geregelt. Für Berlin ist eine Verordnung in Aussicht genommen (inzwischen am 
14. Mai 1897 erlassen), welche die Signatur in deutscher Sprache vorschreibt und 
die Aufbewahrung in bestimmten der Polizei vorher bekannt zu gebenden Räumen 
zulässt. Der Senat von Hamburg erliess unter dem 27. Januar 1896 eine Bekannt¬ 
machung betr. die Revisionen von Gifthandlungen, nach welcher die Verkaufs- und 
Lagerräume, in welchen Gifte auf bewahrt und feilgehalten werden, neben den dazu 
gehörigen Arbcits- und Nebenräumen und der Geschäftszimmer der Inhaber der 
Handlung vom Physikus unter ev. Hinzuziehung pharmaceutischer Sachverstän¬ 
digen einzubeziehen sind. Auch auf diesem Gebiete wäre eine einheitliche Regelung 
durch Pol.-V. betr. denVerkehr mit Arzneimitteln ausserhalb der Apotheken erwünscht 

Den gesteigerten Ansprüchen entsprechend, welche der Gesetzgeber und das 
Publikum an den neuen Stand stellen, arbeitet dieser rüstig an der Lösung der 
Vor- und Ausbildungsfrage durch Lehrkurse, Lehrlings- und Gehilfenprüfung. Eine 
Petition der Berl. Drogisten-Innung und Zuziehung der Innungen zu den Prüfungen 
behufs Erlangung der Befähigung als Gifthändler wurde vom Polizei-Präsidenten 
abgelehnt. 

Ueber die Art der Beaufsichtigung in Ausführung des Min.-Erlasses 
vom 1. Febr. 1894 in Berlin hat Referent in der Zeitschrift f. Med.-B., Märzheft, 
berichtet. Geheime Ankäufe, regelmässige Revisionen durch Physiker und Pharma- 
ceuten, Durchsuchungen auf Gerichtsbeschluss und Beschlagnahmung der Waaren 
bilden wohl überall die Form, in welcher sich die Aufsicht vollzieht und haben 
im Laufe des letzten Jahres wiederum eine grosse Zahl von Uebertretungen an das 
Licht gebracht. Als Formular für die Revisionen ist das von Rapmund entworfene 
im Gebrauch, oder das kürzere Berliner Formular des Ref., welches in Form eines 
Protokolles abgefasst ist. (Bei Kühne & Söhne, Breitestr. erhältlich.) Ein sehr 
brauchbares Lehrbuch über die Revisionen von Drogenhandlungen schrieb Jacob¬ 
sohn (Verl, von Klingenstein, Salzwedel 1 Mk.) 

Die Führung des Titels „Apotheker“ im Geschäftsbetriebe, also nicht nur 
auf dem Firmenschilde, sondern auch auf Kartonnagen, Emballagen, Rechnungs¬ 
formularen, Couverts, wurde den Drogisten allenthalben untersagt. Die Deklaration 
einer sächsischen Regierung, dass nur Apothekenbesitzer zur Führung der Be¬ 
zeichnung Apotheker berechtigt sein würden, lässt eine Zustimmung preussischer 
Verwaltungsgerichte nicht erwarten. Der Bezirks-Präs, von Unter-Elsass erliess 
unter dem 11. März 18% eine diesen Gegenstand regelnde Verfügung. 

Entsprechend der verschärften Aufsicht ist auch die Zahl gerichtlicher 
Entscheidungen zur Kaiserl. Verordnung und der Gift-Polizei-Ver- 
ordnung erheblich gestiegen. 

DassVorbeugungsmittel nicht als Heilmittel anzusehen sind, wurdedurch 
Erlass des R.-G. 16. März 1896 anerkannt, dass nur die im Verzeichniss B auf- 
geführten Drogen, nicht auch ihre Zubereitungen, z. B. Strychnin weizen unter 
das Verbot fallen, bestätigten Erkenntnisse verschiedener O.-L.-G. u. a. das 
des O.-L.-G. Celle, während das R.-G. 12. Juli 1894 dieselbe Frage verneint hatte. 

Hinsichtlich der Verbandstoffe haben die Gerichte allenthalben den Stand¬ 
punkt eingenommen, dass dieselben von dem Verbote der Kais. Verordn, ausge¬ 
nommen sein. Für Cocainwatte brachte der Reg.-Präs. zu Schleswig dagegen 
unter dem 2. Sept. zur Kenntniss, dass dieselbe von Drogisten gemäss Al. 2 


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Besprechungen, Referate, Notizen, amtliche Mittheilungen. 155 

von § 1 der R..-V. 27./1. 1890 nicht einmal gegen Giftschein abgegeben werden 
dürfe. 

Eine neue gerichtliche Auslegung desBegriffs „künstl. Mineralwasser“ lieferte 
ein Erkenntniss des Landgerichts 1, Berlin. Dieses Erkenntniss führt aus, dass 
durch die Kais. Verordn. 27. 1. 1890 der Kreis der freigegebenen Wässer, gegen¬ 
über den älteren Bestimmungen erweitert sei, und dass die Worte, und „wenn sie 
zugleich“ in § 1 d. R.-V. keinen Zweifel darüber lassen könnte, dass nur diejenigen 
künstlichen Wässer demfreien Verkehr entzogen seien, welche, ohne natürlichen 
Wässern in ihre Zusammensetzung zu entsprechen, die in § 1 namhaft gemachten 
Gifte enthielten: „die künstlichen Wässer sind Zubereitungen, welche durch 
§ 1 von dem Verbote eximirt sind.“ 

Endlich wurde im vergangenen Jahre erstinstanzlich die Frage entschieden, 
ob Feilhalten von indifferenten, aber dem freien Verkehr entzogenen Heilmitteln 
zur Entziehung der Giftkonzession berechtigt. (§ 53 Al. 2, § 34 Al. 3 d. R.-G.-O. 
in Verb, mit § 49 d. G.-O.-V. 22. Juni 1861 z. G.-O. vom 17. Jan. 1845) in 
Düsseldorf zu Ungunsten und in Berlin zu Gunsten der klagenden Behörde. Das 
Erkenntniss der O.-V. bleibt indessen abzuwarten. Zweifelhaft ist trotz aller Er¬ 
örterungen die Frage geblieben, ob der Medizinalbeamte das Recht zur Beschlag¬ 
nahme von Waaren hat. 

Die deutsche Drogistenbewegung, wie sie sich durch die Kais. Verordn, ent¬ 
wickelt hat, wurde von Nesemann (Memschke u. Berendt, Breslau 18%) kritisch 
besprochen. Die Broschüre ist lesenswerth für jeden, welcher sich in die nicht 
immer einfach liegenden Fragen dieses Gebietes vertiefen will. 

4. Hebammen. 

Asepsis der Hebammen. — Verhütung des Kindbettfiebers. 

Seitdem die Arbeiten von Döderlein, Krönig, Menge, Stroganoff 
u. A. dargethan haben, dass das Scheidensekret nicht touchirter Schwangeren, 
Gonokokken ausgenommen, niemals infektiöse Keime enthält, dass vielmehr die 
Vagina jeder nicht touchirten Schwangeren aseptisch ist, machen sich Be¬ 
strebungen geltend, welche auf die Einschränkung der innerlichen Untersuchung 
insbesondere durch Hebammen abzielen. Baum-Breslau will die innere Unter¬ 
suchung seitens der Hebammen auf folgende Fälle beschränkt wissen: 

1. Wenn der Kopf leicht beweglich über dem Beckeneingang steht; und 
zwar vor dem Blasensprung, behufs Erkennung des eventuellen Vorliegens der 
Nabelschnur, gleich nach dem Blasensprung behufs Erkennung eines eventuellen 
Nabelschnurvorfalles. 

2. Wenn die Hebamme genöthigt wird eine Prognose zu stellen, namentlich 
behufs FeststeUung bezw. Aussohliessung eventueller Regelwidrigkeit der inneren 
Geburtsorgane. 

3. Wenn die Hebamme genöthigt ist, festzustellen, wie weit der Mutter- 
mund ist. 

4. Wenn die äussere Untersuchung keine Klarheit ergiebt. 

Bo kelmänn-Berlin, welcher den gegenwärtigen Stand der prophylaktischen 
Antisepsis in der Geburtshilfe und ihre Durchführbarkeit in der ärztlichen Privat¬ 
praxis (Sammlung zwangloser Abhandlungen aus dem Gebiete der Frauen-Heil- 


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künde und Geburtshilfe. Halle a. S. bei Karl Marhold) skizzirte, führt aus, dass 
das Hauptgewicht der Antisepsis auf die Desinfektion des Geburtshelfers, seiner 
Hände und Instrumente zu legen sei und dass es bei der gesunden Wöchnerin nur 
darauf ankommt, ihre primäre Asepsis zu erhalten, dass somit eine Desinfektion 
des Geburtskanales mindestens überflüssig sei. Die gründlichste mechanische 
Reinigung der Hände hält er für ebenso wichtig wie die Anwendung von Anti¬ 
sepsis, die thunlichst unter Anwendung von Alkohol nach Fürbringer geschehen 
soll. Jede geburtshilfliche Untersuchung, die nicht ausdrücklich geboten ist, soll 
vermieden werden. Die Untersuchung per rectum ist als allen Grundsätzen asep¬ 
tischen Handelns widersprechend, insbesondere auch mit Rücksicht darauf zu 
verwerfen, dass man neuerdings die im Rektum befindlichen Bact. coli als Ur¬ 
sache der sogen. Autoinfektionen ansieht. Geboten ist eine sorgfältige Säuberung 
der Vulva und ihrer Umgebung mit lauwarmem Seifenwasser und 2,5 proc. Carbol- 
lösung, insbesondere der Analgegend, wenn Fäces ausgepresst werden. Ebenso 
wie die Desinfektion des Geburtskanals der Kreisenden verwirft Verfasser diejenige 
des entleerten Geburtskanals. Zur Reinigung der Neuentbundenen genügt ab¬ 
gekochtes Wasser. Er verwirft ferner das Vorlegen steriler Watte, sofern dieselbe 
mehr leisten soll, als das Sekret aufzusaugen. Auch Müllerheim (Berlin 1895, 
bei 0. Coblentz) trat für die Einschränkung der inneren Untersuchung in der 
Hebammenpraxis ein und legte die Methoden dar, nach denen durch äussere Pal¬ 
pation die meisten Phasen der Geburt zu überwachen sind. Die vaginale Unter¬ 
suchung erscheint ihm nur erforderlich 1) wenn bei Erstgebärenden der Kopf noch 
nicht eingetreten ist, 2) wenn bei Mehrgebärenden trotz stundenlanger Press¬ 
wehen der Kopf nicht tiefer tritt, 3) bei abnormen Becken, 4) bei Cervixdehnung, 
Blutungen und Eklampsie, 5) bei fehlerhafter Kopfeinstellung, 6) bei unregel¬ 
mässigen Herztönen des Kindes, 7) bei Nabelschnur- oder Armvorfall, 8) bei 
Meconiumabfluss, 9) bei vorzeitigem Blasensprung, 10) wenn die äussere Palpation 
keinen Aufschluss giebt. Sperling (D. med. Wochenschr. 1895, No. 52) geht 
in dem Streben nach Einschränkung viel weiter. Er lässt die innere Untersuchung 
nur zu, wenn die äussere keinen Aufschluss giebt und zugleich die zu spät ge¬ 
rufene Hebamme starker Wehen halber weder palpiren noch auskultiren kann. 
Die von Baum und Müllerheim aufgestellten Indikationen sind viel zu 
weitgehend, und würden bei 50 pCt. der Geburten die innere Untersuchung 
erfordern. 

Der Nachweis, dass Carbolsäurelösung die Hände der Hebammen verdirbt 
und ein Abbürsten der äusseren Genitalien mit 2,5 proc. Carbol nach der Vorschrift 
derHebammenlehrbücherKeimfreihcit nicht erzielt, veranlassteZw ei fei, Reinickc 
mit der Anstellung von Untersuchungen zu beauftragen. Die Resultate der Unter¬ 
sucher, die nach der Fürbringer’schen Methode in 50 pCt. der Fälle Misserfolg 
erzielten, konnte Reinicke bestätigen. Die mechanische Reinigung mit nach¬ 
folgender Desinfektion mit Sublimat, Lysol, Trikresol, Chlor, Carbolsäurc leisteten 
nicht Genügendes. 90proc. Alkohol dagegen erzielte in jedem Falle Keimfreiheit 
der vorher mechanisch gereinigten Hände. Ausserdem empfiehlt Reinicke den 
Ersatz der Bürste durch Loofahschwamm. Sänger empfahl als Ersatz der Bürste 
den vSand. Fürbringer sieht wie bisher den Alkohol nur als fettlösendes, die 
Desinfektion vorbereitendes Mittel an. Poten stellte an beschmutzten Händen, 
welche mit virulenten Reinkulturen inficirt waren, Desinfektionsversuche an und 


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fand, dass mechanische Reinigung mit Seife, Wasser und Bürste nie Keimfreiheit 
ergiebt, selbst dann nicht, wenn hinterher die Hände 5 Minuten hindurch in 
Sublimatlösung gebürstet werden. Ebenso wenig ist denaturirter Alkohol allein 
wirksam. Dagegen wurdeu die Hände steril, wenn man sie abseifte und alsdann 
gründlich in Alkohol abwusch. (Monatsschrift für Geburtshilfe und Gynäkologie. 
1895, II.Bd. Heft 2 u. 3.) Ahlfeld (D. med. Wochenschr. 1895, No. 51), welcher 
ein Jahr hindurch an 121 Hebammen und 93 Aerzten bezw. Praktikanten die Rei- 
nicke'sehen Versuche einer Nachprüfung unterzog, bestätigte im Allgemeinen die 
Resultate und empfiehlt folgendes Verfahren A. für einfache Händereinigung: 

„Nach Kürzung, Glättung und Reinigung derNägel erfolgt eine drei Minuten 
dauernde Waschung der Hände in sehr warmem Wasser mit Seife, unter Benutzung 
einer Bürste, oder auch ohne diese. Abspülung der Hand in klarem Wasser. 
Hierauf Abreiben der Hand, ganz besonders aber des Fingers der zur Untersuchung 
benutzt werden soll, im 96prozentigem Alkohol mit handgrossem Flanellläppchen, 
wobei durch geeignete, drehende und stossende Bewegung des zu sterilisirenden 
Fingers dafür Sorge zu tragen ist, dass der Alkohol unter den Nagelfalz eindringt. 
Der so sterilisirte Finger wird, ohne mit etwas bestrichen zu werden, zur Unter¬ 
suchung benutzt.“ 

B. für verschärfte Handreinigung: „Ausgiebige Waschung der Hand und 
des Armes mit Bürste und Seife in sehr warmem Wasser, mindestens 5 Minuten 
hindurch. Hierauf Abbürsten der Hand und des Armes oder Abreiben mit Fla¬ 
nell in 96procentigem Alkohol durch 5 Minuten. Jeder einzelne Finger ist 
besonders zu reinigen, wie dies bei der einfachen Desinfektion für den unter¬ 
suchenden Finger vorgeschrieben ist. Die so sterilisirte Hand wird dann direct 
zur Untersuchung oder zum Einführen in die Genitalien bei geburtshültlichen 
Operationen benutzt.“ 

In einer zweiten Versuchsreihe (Dtsch. med. Wochenschr. 1896 No. 6) hat 
Ahlfeld im Verein mit Vahle die Ursachen der Desinfektionskraft des Alkohols 
festzustellen versucht. Die Ansicht von Fürbringer wurde durch den Nachweis 
widerlegt, das der viel stärker fettlösende Aether nicht desinficirend wirkt und 
die Krönig’sche Theorie, dass die wasserentziehende Eigenschaft des Alkohols 
lediglich die Bakterien auf der Haut fixire durch den Nachweis, dass die Haut 
auch nach Auslaugung frei bleibt. Ahlfeld nimmt deshalb eine bactericide 
Wirkung des Alkoholes an, die indessen nur zur Wirkung kommt, wenn die 
erste äussere Zellschicht der Mikroorganismen mit H 2 0 durchtränkt ist. 

Im ärztlichen Verein zu Elberfeld hielt Linkenheld (nach der Deutschen 
Med.-Ztg. 1895, 21) einen Vortrag, in welchem er die Schuld an den geringen 
Erfolgen der Antiseptik in der Geburtshilfe den Hebammen zuschob, denen die 
Lister’schen Lehren nicht in Fleisch und Blut übergegangen seien. Man solle 
deshalb die Befugnisse der Hebammen beschränken und strengere Vorschriften 
für ihr antiseptisches Handeln erlassen. Die Behandlung des Abortes soll ihnen 
entzogen werden. Die Suspension der Hebamme bei Fällen von Kindbettfieber 
müsse eine absolute sein, insbesondere sei es verwerflich, der Hebamme die vagi¬ 
nalen Ausspülungen bei Kindbettfieber zu gestatten. 

Aehnlich äusserten sich Oscar Beuttner (Zur Frage der geburtshilflichen 
Untersuchung. Corresp.-Bl. f. Schweizer Aerzte. XXV. 10. S. 298. 1895), Prof. 
P. Zweifel (Die Desinfectionsvorschriften in den neuesten deutschen Hebammen- 


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158 Besprechungen, Referate, Notizen, amtliche Mittheilungen. 

lehrbüchern. Centralbl. f. Gynäkol. XVIII. 47. 1894), A. Mermann (VI. Bericht 
über Geburten ohne innere Desinfection. Centralbl. f. Bakt. XVIII. 33. 1894), 
G. Leopold (Vergleichende Untersuchungen über die Entbehrlichkeit der Schei- 
denausspülungen bei ganz normalen Geburten und über sogen. Selbstinfeotion. 
Arch. f. Gynäk. XLVI1. 3. S. 580. 1894). 

Diesen Bestrebungen trat neuerdings Ahlfeld (Deutsche med. Wochenschr. 
1896. No. 44) mit Entschiedenheit entgegen. Die äussere Untersuchung sei intra 
partum zu schwer auszuführen und lasse nur einen kleinen Theil der für Mutter 
und Kind verhängnissvollen Geburtsanomalien erkennen. Von Gesundheitsgefahren 
für die Mutter sei auch die äussere Untersuchung nicht frei. Sie rufe, intra par¬ 
tum wiederholt und gründlich ausgeführt, atypische Wehen, Bauchpressungen, 
Quetschungen des unteren Uterinsegmentes, Lage- und Haltungsveränderungen der 
Frucht und vor Allem heftige Schmerzen hervor. Die gleichmässige Vervollkomm¬ 
nung der äusseren und inneren Untersuchung müsse das Ideal sein und bleiben. 

Ein Erlass des Ministers der Medicinal-Angelegenheiten vom 27. Dec. 1895 
macht die Anwendung des CredfCsehen Prophylacticums bei Neugeborenen gegen 
Blennorrhoea obligatorisch für die Hebammenprüfung und -nachprüfung. 

Der Verwaltungsphysikus von Hamburg und der Polizei-Präsident von Berlin 
trafen unter dem 27. Jan. bezw. 16. Sept. 1896 Anweisungen über das Verhalten 
der Hebammen bei Pemphigus neonatorum. Fälle von Pemphigus neonato¬ 
rum wurden vom forensischen Standpunkte aus von Adickes (Zeitung f. Med.- 
Beamte. 1896. No. 17) besprochen und der Zusammenhang zwischen dieser Krank¬ 
heit und des Impetigo contagiosa von ßalzer (Ibid. 18%. No. 9) erörtert. Mit 
Beziehung auf die Praxis der Hebammen wurden Schälblatternepidemien beschrie¬ 
ben von Kornfeld (Ibid. No. 19), von Kuhnt und Vogel (Ibid. No. 22); die 
Kuhnt’sche Epidemie bestand in der Erkrankung von 11 von 28 durch eine Be¬ 
zirkshebamme während Februar bis Ende Juli gehobenen Kinder, wovon 4=55 pCt. 
starben. In diesen, wie in den von Vogel erwähnten Fällen liess sich der An- 
theil der Hebammen an der Uebertragung wahrscheinlich machen und traten nach 
Belehrung derselben weitere Fälle nicht auf. Kornfeld vermochte einen Zusam¬ 
menhang zwischen Hebammenpraxis und Epidemie nicht zu sehen. Soviel scheint 
sich jedoch aus diesen Beobachtungen zu ergeben, dass die einfache Erwähnung 
der Krankheit im Hebammenlehrbuche nicht im Verhältniss steht zur Grösse der 
Gefahr der Uebertragung durch Hebammen. 

Aehnlich steht es übrigens mit der Verhütung des Tetanus neonatorum. 

Die aseptische Behandlung des Nabelschnurrestes wurde von Grösz (Wiener 
klin. Rundschau. IX. 19. 1895) besprochen. 

Organisation des Hebammenwesens. 

Krug stellte bei Gelegenheit der Wiederholungslehrkurse in Hessen die Zahl 
der durchschnittlichen Entbindungen auf 33,1 fest, was bei einem Durchsohnitts- 
honorar von 8,27 Mk. pro Geburt einem Einkommen von 213,3 Mk. auf dem Lande, 
und bei 13,1 pCt. der Hebammen in den Städten 500 Mk., im Mittel von 313,5 Mk. 
entpricht. Krug schlägt zur Aufbesserung des Nothstands Vergrösserung der 
Hebammenbezirke, Erhöhung der Hebammentaxe und festes Gehalt vor. 

In Berlin, wo es nur frei practisirende Hebammen giebt, entfallen auf eine 
Hebamme im Durchschnitt 57 Geburten, und zwar so, dass auf die einzelnen Jahr- 


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Besprechungen, Referate, Notizen, amtliche Mittheilungen. 159 

zehnte desAlters von 20—80, 31, 78, 84, 73, 57, 48, 31,2 entfallen und bei einem 
Durchschnittshonorar von 10 Mk. pro Geburt das Einkommen der Hebammen dieser 
Altersstufen auf 310, 780, 840, 730, 570, 480, 310 Mk. zu berechnen wäre. Im 
Jahro 1871 entfielen noch 153 Geburten auf eine Hebamme. (Wernich-Spring- 
feld, VII. Gen.-San.-Ber.) 

Fritsch beklagte (Arch. f. Gynäkol. Bd. XLIX. H. 1), dass in der Heb- 
ammenreform augenblicklich ein Stillstand eingetreten sei und dass der gegen* 
wärtige Zustand der Organisation weder die Hebammen noch den Staat befriedigen 
könne. Die Verlängerung der Unterrichtszeit, die Einführung der Nachprüfungen 
und an einigen Orten der Fortbildungskurse, die obligatorischen Vorschriften betr. 
die Desinfection, endlich die Unterstützung von Hebammenvereinen, welche be¬ 
stimmt sind, die Hebammen fortzubilden und ihre sociale Lage zu verbessern, 
haben so gut wie Nichts erreicht. Die Vorschriften und Einrichtungen sind auf 
dem Papier stehen geblieben und die Fortentwicklung des Vereinswesens im Heb¬ 
ammenstande hat unter diesen ein übertriebenes Selbstbewusstsein erzeugt, welches 
auch ihr geburtshilfliches Handeln beeinflusst und einen Gegensatz zwischen 
Aerzten und Hebammen geschaffen hat, der sich mit der Stellung der Heb¬ 
amme als Gehilfin des Arztes schlechterdings nicht verträgt. Ihren Ausdruck fand 
dieses Selbstbewusstsein in dem Streben der Hebamme, den Titel Geburtshelferin- 
nen zu adoptiren, ein Versuch, der vom Berliner Polizei-Präsidenten seiner Zeit 
aus § 147 1 R.-G.-O. vereitelt wurde. 

Verfasser schlägt deshalb zwei Mittel zur Abhilfe vor: 1. die Zufuhr besserer 
Stände zum Hebammenberuf, 2. die Aufbesserung der Lage der Hebammen. Von 
der Anschauung ausgehend, dass als Ursache, weshalb das Hebammengewerbe so 
wenig Verlockendes für gebildete Frauen hat, lediglich die Scheu vor dem Zu¬ 
sammenleben mit ungebildeten Schülerinnen in den Lehranstalten sei, schlägt er 
die Freigabe des Hebammenunterrichts vor. Eine wirksame Verbesserung der so¬ 
cialen Lage will er durch Herbeiführung einer Reichs-Berufsgenossenschaft der 
Hebammen herbeiführen, die zweckmässig auf das gesammte niedere Heilpersonal 
anszudehnen wäre. Als Arbeitgeber wären die Krankenanstalten, der Staat, die 
Provinz, die Stadt, die Kommunalverbände anzusehen, welche das Heilpersonal 
anstellen. Die Vorschläge fielen nach beiden Richtungen hin auf fruchtbaren Bo¬ 
den. Das Med.-Min. erliess eine Umfrage über den ersten Punkt, über deren Er¬ 
gebnis bisher noch nichts wieder verlautet ist und der deutsche Hebammenverein 
beschloss eine Petition an den Reichstag zu richten und um Ausdehnung der so¬ 
cialpolitischen Gesetze auf Hebammen zu bitten. 

Auf Grund des § 2 des Alters- und Invalidenversicherungsgesetzes sind Heb¬ 
ammen nach der Revisionsentscheidung des Reichsversicherungsamts vom 19. Sept. 
1891 versicherungsberechtigt nach der Lohnklasse II., wenn sie die Kosten allein 
tragen und erwerbsfähig vor dem 40. Jahre in die Versicherung eintreten. Die¬ 
trich (Zeitschr. f. Med.-B. 1896. S. 387) betont, dass der Nutzen dieser Selbst- 
versicherung deshalb ein sehr geringer sei, weil er zur Zeit der Mehrzahl aller 
Hebammen nicht zukomme. So seien nach Gottschalk’s Statistik des Oppelner 
Bezirks 406 älter und 330 jünger als 40 Jahre. (In Berlin sind von 820 Hebam¬ 
men 37 pCt. jünger, Ref.) Er hält deshalb, weil der so nothwendige Zwang fehle 
and die Beiträge zu niedrig seien, eine Landes- und Pensionskasse für den zweck- 
massigsten Weg der Versicherung. 


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Besprechungen, Referate, Notizen, amtliche Mittheilungen. 


In verschiedenen Medicinalbeamtenvereinen kam die Taxfrage zur Sprache. 
Man war im Allgemeinen der Ansicht, dass die Taxpositionen zu niedrig sind, 
dass es sich empfiehlt, eine gesonderte Berechnung der Hilfeleistungen bei der 
Geburt und denen im Wochenbett einzuführen. In Wiesbaden hielt man einen 
Satz von 12—50 Mk. für die Entbindung von reifen und frühreifen Kindern, von 
6—25 Mk. für einen Abort incl. der durch das Hebammenlehrbuch vorgeschrie¬ 
benen Visiten, für jeden Extrabesuch 0,5—2 Mk. bei Tage, 1—4 Mk. bei Nacht 
für angemessen. 

Für eine Gehaltsaufbesserung der Gemeindehebammen plaidirte ein Badischer 
Ministerialerlass vom 13. Juni 1896. 

Krug hat über die in Hessen eingeführten Wiederholungslehrgänge für Heb¬ 
ammen berichtet. Die Repetitionskurse hatten eine Dauer von 8 Tagen bei einer 
durchschnittlichen Theilnehmerzahl von 24 Hebammen. Ihr Unterricht war ein 
theoretischer, hinsichtlich des Touchirens, der Anwendung des Catheters, der 
Temperaturmessung und Desinfection ein practischer. 

In Berlin sind im Polizei-Präsidium wöchentlich 2 Wiederholungskurse ä 

2 Stunden für den Preis von 25 Pfg. pro Monat eingerichtet, in denen practische 
Uebungen am Phantom, im Desinficiren etc. mit theoretischen Vorlesungen ab¬ 
wechseln. 

Der Erlass des Oberpräsiden len von Hannover vom 22. Febr. 18% schreibt 
die Einberufung aller Hebammen bis zum 60. Jahre in 10jährigen Intervallen zu 

3 wöchentlichen Lehrkursen in die Provinzialhebammenlehranstalten vor. Für Be¬ 
zirkshebammen ist die Theilnahme obligatorisch. Die Entschädigung der Heb¬ 
ammen erfolgt aus Provinzialfonds in ausreichendem Maasse auch für den Ausfall 
an Praxis, Pflege und Wartung der Kinder und Reiseunkosten. 

Von sonstigen Verfügungen sind bekannt geworden: 

Das Reichsgericht (Erkenntniss vom 16. Jan. 18%, No. 1224/95) verurtheilte 
eine freipracticirende Hebamme wegen Verlassens einer Gebärenden. 

Verfügung des Königl. Regierungspräsidenten zu Bromberg vom 15. Mai 
18% über Hebammentaxe und Hebammenpfuscherei. 

Eine Polizei-Verfügung, Sigmaringen, 12. Mai 18%, regelt das Hebammen¬ 
wesen und trifft Anweisungen über die Handhabung des Aufsichtsrechtes der Phy¬ 
siker über die Hebammen und die Abhaltung der Nachprüfungen. 


Referate. 

Perforation des Scheidengewölbes mit dem Zangenlöffel. Kunst¬ 
fehler oder unglücklicher Zufall? von Prof. E. v. Hofmann. Wiener 
klin. Wochenschr. 3. Septbr. 1896. 

Ein gerichtlicher Fall von Gebärmutter- und Scheidenzerreissung 
bei Hydramnios, von Privatdoc. Dr. H. W. Freund in Strassburg. Deutsche 
mcd. Wochenschr. 27. August 1896. 

Wenn mir die Aufforderung der Redaction, hier zwei zur gerichtlichen Ver¬ 
handlung gelangte Fälle von Zerrcissungen während der Geburt zu besprechen, 
eine besondere Ehre ist, so bin ich mir der Schwierigkeiten bewusst, die sich dem 


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Dritten, Fernstehenden bieten, der divergirende Anschauungen verschiedener, zum 
Theil autoritativer Begutachter referiren und kritisiren soll, und werde mich be¬ 
mühen, in den folgenden Zeilen eine möglichst objective Betrachtung zu geben. 

In dem von Hofmann’schen Falle handelte es sich um eine III. para, die 
zweimal starke lebende Kinder normal geboren hatte. Wehen begannen am 1. März 
und blieben unregelmässig, so dass die Hebamme am 2. III. ärztliche Hilfe in An¬ 
spruch nahm. Nach ca. 3ständigem Zuwarten legte der Arzt bei Fieber der 
Mutter und schlechten Herztönen und bei für 4 Finger durchgän¬ 
gigem Muttermund an den noch hoch, aber feststehenden Kopf 
3mal erfolglos die Zange an. Es blutete danach stärker, Schmerzen 
und Ohnmächten folgten, so dass die Kreissende zur Klinik Chrobak’s gebracht 
wurde. Hier wird complete Uterusruptur diagnosticirt und nach Porro ein 
übelriechendes Kind und der Uterus entfernt. Der grosse harte Schädel stand in 
Vorderscheitelbeinstellung auf den Beckeneingang gepresst. Am Uterus fand sich 
keine Verletzung, sondern ein grosses interligamentäres, retroperitoneales Haema- 
tom. Am 3. UI. 1 N. m. Exitus. Die gerichtliche Obduction ergab leichte Peri¬ 
tonitis, sub- und retroperitoneale bis zur Milz reichende Verjauchung. Cervix für 
4 F. durchgängig, gequetscht aber nicht zerrissen. Am linken Scheiden¬ 
gewölbe eine guldengrosse, unregelmässig runde, fetzige Zer- 
reissung, die nach oben sich in einen für den Finger durch¬ 
gängigen Kanal fortsetzt. Becken: grader D. 9 l A> (normal 11), querer 
fast 12 (13,5) schräger 11 cm (12,5 cm). Kind: 51 cm lang, 3560 grm. Kopf 
gegen die rechte hintere Scheitelgegend verschoben. Daselbst Kopf¬ 
geschwulst. Das erste Gutachten lautete auf Tod in Folge Bauchfellentzündung, 
Zerreissung des linken Scheidengewölbes durch die Zange, deren Anlegung bei 
noch nicht völliger Erweiterung, beträchtlicher Beckenverengerung und nicht ganz 
normaler Einstellung eines grossen und barten Kindskopfes den Regeln der Ge¬ 
burtshilfe widerspricht. 

Der 2mal vernommene Arzt sagte nicht beidemal gleich aus. Erst gab er 
an, blos den rechtsseitigen Löffel angelegt zu haben, während der linke nicht 
angelegt werden konnte, da die Seite zu eng war, beim 2. Male war es grade um¬ 
gekehrt. Der Kopf sei eingetreten gewesen. Auf Wunsch der Angehörigen und 
der Frau, die gegen Spitalaufnahme waren, wurden die Versuche auch in der 
Absicht gemacht, dem Kopf vielleicht eine bessere Stellung zu geben. Bei einer 
Wehe sei der rechte Löffel abgeglitten. Eine Verletzung sei dabei nicht ent¬ 
standen. Im Endgutacbten bleibt von Hofmann dabei, dass die nicht genügend 
vorsichtige und nicht indicirte Zangenapplioation die Ursache der Verletzung sei. 
Da Fieber schon vorher bestand, hätte vielleicht auch ohne diese die septische 
lnfection den tödtlichen Ausgang herbeigeführt; für die geburtshilfliche Begut¬ 
achtung seien Specialsachverständige heranzuziehen. Die Verhandlung wegen 
„fahrlässiger Verletzung“ endete mit Freisprechung. Prof. Schauta trat als 
Sachverständiger auf und führte (nach dem sehr kurz gehaltenen Bericht einer 
Zeitung) aus, dass er die Zangen-Operation für indicirt erachte. Die Verletzung 
stammt allerdings von dieser her, ist aber als Unglücksfall zu betrachten, der bei 
den Verhältnissen der Privatpraxis und den Schwierigkeiten des Falles entschuld¬ 
bar ist. u Vielleicht habe die Zange correct gelegen, sei dann bei einer Bewegung 

Viertelj*hrB80hr. f. ger. Med. Dritte Folge. XIV. 1. 2 j 


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Besprechungen, Referate, Notizen, amtliche Mittheilungen. 


der Kreissenden geglitten, und nun seien die Theile, die zu dieser Zeit immer sehr 
mürbe seien, ohne besondere Gewalt durchstossen worden. 

von Hofmann entnimmt aus der verschiedenen Frequenz der Zangenope¬ 
rationen an den Kliniken, dass die Indicationen verschieden gefasst würden. Er 
glaubt, dass die abnormen Grössenverhältnisse des Kopfes schon durch die Unter¬ 
suchung constatirt werden können, und hält die Correctur der Schädelstellung 
für eine der rationellsten Indicationen. Kunsthilfe sei wohl nothwendig gewesen, 
obschon keine directe Lebensgefahr Vorgelegen habe, aber nicht die Zange. Allen¬ 
falls wäre die Zange bei Wehenschwäche gerechtfertigt gewesen. Zu tadeln sei, 
dass keine Assistenz zugezogen war oder die Frau nicht zur Klinik geschafft 
worden ist. Endlich käme gravirend in Betracht, dass sich der betr. Arzt „Accou- 
cheur u. Frauenarzt“ auf seinem Schilde nenne. Bei besonderer Vorbildung fiele 
der Fehler auch besonders ins Gewicht; hätte er sich nicht besondere Kenntnisse 
in der Geburtshilfe vorher erworben, so läge in dem Titel eine Irreführung des 
Publikums. 

Soweit der Inhalt des von Hofmann’schen Aufsatzes. 

War die Entbindung mit Kunsthülfe gerechtfertigt? Unbe¬ 
dingt ja! Fieber, schlechte Herztöne, etwa 22 Stunden nach dem Blasensprung 
sind Indicationen. War die Zange contraindicirt? Die Grösse des 
Kopfes kann äusserlich und innerlich nie exact, sondern schätzungsweise 
sehr unsicher bestimmt werden. Darin lag also keine Contraindication. Die Lage 
betrachten wir nicht nur als keine „abnorme“, sondern sogar als eine „gün¬ 
stige. Es hatte sich der hintere Theil des vorderen Scheitelbeines eingestellt, 
der einzige Modus wie bei einem allgemein verengten Becken der Schädel pas- 
siren kann. Eine Correctur der Schädclstollung mit der Zange halten wir bei 
Hochstand für ein vergebliches Bemühen, zu dem hier kein Grund vorlag. Die 
Beckenenge war keine absolute, da schon 2 lebende Kinder spontan geboren 
waren. In solchen Fällen tritt die hohe Zange in ihr Recht. Ob es möglich ist, 
damit den Kopf zu entwickeln, lässt sich immer erst hinterher sagen. Das eine 
Mal macht man vor der Perforation nur noch einen Versuch, der spielend zum 
Ziele führt, ein ander Mal sieht man sich genöthigt zu perforiren, wo man ziemlich 
sicher auf einen Erfolg der Zange gerechnet hat. 

Der Muttermund war nur für 4 Finger durchgängig: weiter wird 
er in solchen Fällen sehr oft nicht. Denn wenn die Blase gesprungen ist und der 
Kopf bei räumlichem Missverhältnis nicht tief tritt, so hängt die oft schon vor¬ 
her gedehnte und nur collabirte Cervix herab, kann sogar einge¬ 
klemmt werden und so nach Ban dl die Entstehung der Uterusruptur begünstigen. 
In der poliklinischen Thätigkeit habe ich eine nicht geringe Zahl von Fällen unter 
genau gleichen Umständen mit hoher Zange beendigt und beendigen müssen. In 
anderen schloss sich die Perforation an, auf die die Angehörigen vorzubereiten 
hier immer rathsam ist. Es widerspricht nicht den Regeln der Kunst, die Zange 
versuchsweise in verschiedenen Durchmessern anzulegcn. Gute Wehen unter¬ 
stützen eine Operation, Wehenschwäche ist keine Indication, sondern eine 
Contraindication. 

Unzweifelhaft hat der Arzt mit der Zange den Scheidengrund 
durchstossen. Wann und wie ist nicht aufzuklären und auch gleichgiltig. Be¬ 
wegungen der Patientin sind kaum als Entschuldigung anzuführen, 


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ebenso scheint die mürbe Beschaffenheit puerperaler Genitalien nur 
ein Argument zu sein, das dem Laien den geringen Kraftaufwand und die Leich¬ 
tigkeit der Verletzung klar machen soll. Der Geburtshelfer soll mit diesen 
beiden Momenten rechnen und seine Bewegungen danach coordiniren. 
Trotzdem treten wir dem Urtheil bei, das den Arzt freisprach. Der Arzt hatte die 
Pflicht, zu entbinden, nachdem die vorgeschlagene Aufnahme ins Spital abgelehnt 
war. Gerade die Kreissende trennt sich schwerer als jede andere vom Hause; sie 
vermeint fälschlicherweise, dass die Pflege für sie und ihr Kind nur in den ge¬ 
wohnten 4 Pfählen und unter der Beihilfe der obligaten weiblichen Verwandt¬ 
schaft möglich sei. So bedauerlich die Verletzung war und so sehr sie auf einen 
Mangel an Fertigkeit schliessen lässt, so entstand sie doch bei einem indicirten 
Eingriffe. Wollte man hier strafen, so könnte man schliesslich jeden Operateur, 
der bei einem Eingriffe eine Neben Verletzung macht, in Anklage versetzen. Was 
v. H. über das Specialistenthum sagt, hat gerade in der Geburtshilfe gewiss einen 
Werth. Wer sich „Accoucheur und Frauenarzt“ nennt, übernimmt damit auch 
Verpflichtungen. So hätte an den vergeblichen Zangenversuch die Perforation 
sich anschliessen müssen. Man könnte auch bemängeln, dass die Verletzung nicht 
erkannt und die Kreissende erst nach 2 Stunden zur Klinik gebracht worden ist. 
Aber auch hier wurde die Verletzung nicht gefunden und sogar die Unversehrtheit 
der Scheide protokollirt. 

Wir pflichten der Auffassung bei, die in der Scheidendurchbohrung in diesem 
Falle eher einen Unglücksfall als einen strafbaren Kunstfehler erblickt. Der 
„strafbare Kunstfehler“ läge vor, wenn die Anwendung der Zange 
überhaupt unnöthig oder falsch gewesen wäre. 

H. W. Freund berichtet über eine 31jähr. Vpara. 3 spontane Geburten. 
4 Abort. 10. Monat der Gravidität. Es bestanden Oedeme, und starke Ausdehnung 
des Bauches. Sonntag und Montag schwache Wehen. Montag Nachmittag 
glaubt die Hebamme, ein Sinken der Herztöne zu constatiren und versucht zur 
Verstärkung der Wehen bei annähernd erweitertem Muttermunde die Blase mit 
dem Finger zu sprengen. Als dies nicht gelang, liess sie sich eine Stricknadel 
geben, die aber nicht sofort benutzt wurde. Bald darauf hörten die Anverwandten, 
die draussen weilten „einen entsetzlichen Schrei“ und erfuhren von der Kreissen¬ 
den, die mit den Händen auf den Nachttisch gestützt dastand, „dass die Heb¬ 
amme sie mit der Stricknadel in den Leib gestossen habe.“ Auf 
dem Fussboden befand sich viel Wasser. Die Hebamme leugnet, die Nadel ge¬ 
braucht zu haben, die Blase sei von selbst gesprungen, das Wasser habe das 
Bett durchnässt und sie habe daher die Kreissende aufstehen lassen. Von da an 
Collaps, Todesahnungen, keine Wehen mehr. Die Hebamme erklärt sich gegen 
das Rufen des Arztes, da der Kopf tief im Becken stehe. Sie ergriff die Hand der 
Schwester und führte sie in die Geschlechtstheile ein. Dienstag ging es der Frau 
ganz gut. Mittwoch wurde ein Arzt geholt, der an den schon in der Vulva 
sichtbaren Kopf die Zange anlegte und ein todtes Kind entwickelte. Danach 
Blutung. Der Arzt geht sofort in die Scheide und will die Placenta aus der Bauch¬ 
höhle entfernt haben. Intestina sind nicht gefühlt worden. Er tamponirt die 
Scheide mit Gaze und verlässt die Patientin, die nach 5 Stunden stirbt. Die 
Section der exhumirten Leiche ergab einen kolossalen Längsriss, der fast 
schnurgerade von der Mitte der hinteren Wand des Fundus an 

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durch Corpus und Cervix ponetrirend bis ans Ende des oberen 
Drittels des hinteren Scheidengewölbes hindurchging. Corpus und 
Collum auffallend dünn. 44 — 3 Sachverständige, darunter der Arzt, halten 
die Ruptur für eine durch die Stricknadel veranlasst©. Freund legt, wie es uns 
scheint, mit Recht weder auf die Aussage der Hebamme noch auf die des Arztes, 
der sich in 2 Vernehmungen widersprach, volles Gewicht. Er nimmt als sicher 
an, dass die Stricknadel zum Blasensprengen benutzt war und Ruptur mit Blasen¬ 
sprung coincidirte. Das Blasensprengen mit der der Hebamme seinerzeit gelehrten 
Benutzung der Stricknadel sei kein Kunstfehler. Die 20 cm lange Nadel sei nicht 
zur Herbeiführung einer Ruptur geeignet. Selbst wenn das Instrument direct nach oben 
(statt gegen das hintere Scheidengewölbe) gerichtet gewesen wäre, hätte der Schädel 
das Instrument aufhalten und ablenken müssen. (Einige Sachverständige nahmen an, 
dass das Instrument diesen umgehen könnte). Das von einer Stricknadel erzeugte 
Loch würde sich wie das einer Punction sofort verlegen und könnte nicht Veran¬ 
lassung zum Weiterreissen geben. — Die Hebamme wurde von der fahrlässigen 
Tödtung freigesprochen und soll nun noch wegen der groben Verstösse gegen dieHeb- 
ammenordnung verfolgt werden. Nach Freund hätte der plötzliche Blasen¬ 
sprung bei Hydramnios die Gebärmutter zum Platzen gebracht. 
Bei dem innigen Zusammenhang der vielleicht abnorm resistenten Eihäute mit 
der verdünnten Wand könne Eihaut und Uteruswand wie ein zusammengehöriges 
Ganze platzen, wie ja auch bei gynatretischer Hämatosalpinx die plötzliche Ent¬ 
leerung und die veränderten Druckverhältnisse zur Ruptur führen könne. Das 
Blasensprengen war zwar mithin die Ursache der Katastrophe, die aber auch 
ebenso einem Arzte hätte passiren können. Dazu kam noch die einseitige Dehnung 
der hinteren Wand in Folge Hängebauches. Schliesslich knüpft Freund noch 
einige geburtshülfliehe Bemerkungen an, dass die Wehen nach Ruptur nicht 
immer aufzuhören brauchten, ja sogar geburtsbefördernd wirken können und 
tritt der Anschauung entgegen, als könne bei tiefstehendem Schädel eine Ruptur 
ein treten. 

Die Frage nach der Entstehung der Uterusruptur hat in jüngster Zeit wieder 
die Gynäkologen beschäftigt. H. W. Freund selbst hat verschiedentlich werth - 
volle Arbeiten dazu beigesteuert. Auch auf dem Congresse der deutschen Gesell¬ 
schaft für Gynäkologie in Wien 1895 fand eine breite Diskussion darüber statt. — 
Es sind jetzt eine nicht unbeträchtliche Zahl von Fällen bekannt, wo bei spon¬ 
tanem Geburtsverlauf unter normalen Verhältnissen der Uterus zerriss. Dennoch 
möchten wir den Freund’schen Ausführungen uns nicht in den wesentlichen 
Punkten ansehliessen. Der jüngste Bearbeiter dieses Gebietes, Koblanck 1 ), der 
in einer höchst beachtenswerthen Studie über 80 Fälle der Berliner Frauenklinik 
(1877—1895) die Lehre von der Uterusruptur behandelt, schreibt ausdrücklich: 
„Von Abnormitäten des Eis begünstigen Hydramnion und Zwil¬ 
linge nicht die Entstehung von Rupturen. Obwohl die Ueberdchnung 
schon in der Schwangerschaft ganz ausserordentlich sein kann, tritt dennoch Zer- 
reissung niemals ein wegen der gl eich massigen Ausdehnung des ganzen Or¬ 
ganes. Wo dieselbe bei fliesen Complicationen stattfand, ist dieUrsache in anderen 


1) A. Koblanck, Beitrag zur Lehre von der Uterusruptur etc. Stuttgart, 
Enke, 1895. 


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Anomalien (Hängebauch etc.) zu suchen.“ Auch Sänger 1 ) und Küstncr 2 ) er¬ 
wähnen nicht das Hydramnion als Ursache der Ruptur. Ks ist physikalisch nicht 
verständlich, wie beim Nachlassen des Druckes (beim Fruchtwasserabfluss) der 
l’terus platzen soll. Dutzende von Fällen kennt jeder beschäftigte Geburtshelfer, 
wo spontan oder künstlich Hydramnien sich entleerten, selbst die Frucht und 
Placenta hinterher schoss, ohne dass Ruptur eintrat. Durch den Fruchtwasserab- 
lluss, ebenso bei dem plötzlichen Ablassen einer Ilämatometra strömt in Folge 
negativen Druckes viel Blut nach den Genitalien. Während es aber die gedehnten, 
mit schwacher Muskulatur versehenen Hämatosalpingen sprengen kann, vertheilt 
es sich in dem fast einen cavemösen Körper bildenden kreissenden Uterus und 
führt allenfalls zur vorzeitigen Lösung der Placenta. Wäre das anders, so müsste 
ja Jlydrainnios in der That zu den allorgefährlichsten Zuständen zählen. Beim 
Sprengen mit der Hand dürfte kaum eine Ruptur eintreten, man müsste in einem 
theoretisch construirten Falle eine gewaltsame Steigerung des Innendruckes an¬ 
nehmen, die aber bei der gleichmässigen Dehnung der Gebärmutter auch belang¬ 
los wäre. 

Hat die Hebamme, wie Freund annimmt, die Stricknadel gebraucht, so 
lässt sich nicht einsehen, wieso sie nicht auch in die Wand des unteren 
Lterusabschnittes gestochen haben kann. Der Cervicaltheil war ver¬ 
strichen, der Muttermundssaum ist bei Hydramnios oft sehr tief in die Scheide 
vorgewölbt. Aber auch ohne dieses kann man mit einem Finger schon sehr wohl 
in das untere Uterinsegment gelangen. Die Stricknadel bedarf keiner Biegung 
hierzu, denn die Blase weicht aus und der Kopf stellt in so prallem Liquor nicht 
so fest, dass er die Nadel hemmt. Die Nadel gelangte in den sehr dünnen Uterus, 
verletzte mit der Spitze die Wand und warum sollte es mit dem Stahl nicht mög¬ 
lich sein, einen Kanal oder Riss zu machen, wenn der „innige Zusammenhang“ 
und eine „plötzliche Druckschwankung“ es vermag? Da auch die hintere Scheide 
zerrissen war, ist es gar nicht von der Hand zu weisen, dass die Nadel Scheiden- ^ 
gewölbe und Cervix nahm. Den Riss bis in den Fundus hinauf hat die Heb- * 
amme mit der Stricknadel nicht gemacht, und nicht machen können, den 
vollendete dann der hohe intrauterine Druck, nachdem nun die schwache' 
Stelle durch die künstliche Verletzung gegeben war. Gleichzeitig lö^te sich 
das Ei auf grössere Strecken und die Blase sprang unmittelbar danach, der Kopf 
trat tief, ln die von H. W. Freund 3 ) aufgestellte Kategorie von „Zerplatzen ' 
der Uterus bei engem Muttermunde“ lässt sich der Fall nicht einreihen, 
da der Muttermund erweitert war, und kein prädisponirter Theil zum Platzen ge¬ 
geben war. Wenn der Kopf nach der Ruptur sofort bis in den Beckenausgang 
gelangte und später in der Vulva stand, so setzt dies nothwendigerweisc keine 
Wehenthätigkeit voraus. Ein in der hinteren Wand halbirter Uterus kann keine 
Wehen mehr produciren. Einzig und allein die Bauchpresse beförderte den Kopf 


1) Sänger, Referat über „Uterusruptur“, VI. C'ongr. d. deutsch. Gesellsch. 
f. Gynäk. Wien 1895. 

2) Küstner, Die vom Fö^us abhängenden Schwangerschafts- und Geburts- 
siörnngen in P. Müller’s Handbuch der Geburtsb. Bd. II. 1889. 

3) H. W. Freund, Die Mechanik und Therapie der Uterus- und Scheiden- 
. gewölberisse. Zeitschr. f. Geburtsh. u. Gynäk. 1892. Bd. XXIII. 


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16f> Besprechungen, Heferate. Notizen, amtliche Mittheilungen. 

noch tiefer, wie ja die Austreibung nach völliger Eröffnung zum grössten Theile 
von dieser abhängig ist. Obschon — was forensisch wichtig sein dürfte — bei 
Uterusruptur nicht jede Wehenthätigkeit aufzuhören braucht, ist nach dieser Rich¬ 
tung der Freund’sche Fall nicht verwerthbar. Auf die Frage nach der Möglich¬ 
keit einer Uterusruptur bei im Becken stehenden Schädel muss ich mir versagen, 
hier einzugehen. Einzelne Fälle der Litteratur sind kaum anzuzweifcln. Einen 
derartigen Fall habe ich kürzlich veröffentlicht. Es ist sehr wahrscheinlich, dass 
hier wie in parallelen Beobachtungen, nachdem beim Tiefertreten des Kopfes 
schon eine Dehnung des unteren Uterussegmentes stattgefunden hat, über¬ 
mässig starke Schulterentwickelung den Eintritt des Rumpfes ins Becken 
und die Geburt hemmt und die Ruptur hervorruft 1 ). 

Der sterilisirten Stricknadel habe ich mich bei resistenten Eihäuten und 
schlaffer, schwer zu durchbohrender Blase in wenigen Fällen bedient. Sie ist 
kein sehr angenehmes Instrument, da sie schlecht zu halten ist, leicht aus der 
Richtung geht und mit der freien Spitze auch einmal in die Uteruswand gerathen 
kann, wenn man nicht wie beim Perforatorium die andere Hand zur Deckung be¬ 
nutzt. Den Hebammen gestattet das neue preussische Lehrbuch überhaupt kein 
Instrument für das Blasensprengen mehr. Dieser Hebamme ist es, wie früher üblich, 
gelehrt worden, sich der Stricknadel zu bedienen; die Anwendung war hier (Hy- 
dramnios, Wehenschwäche, genügende Erweiterung) auch indicirt. Man kann 
daher für die Freisprechung der Hebamme denselben Gedankengang, wie im 
von Hofmann’schen Falle für den Arzt geltend machen und die Entstehung der 
Verletzung als Unglücksfall bei berechtigter Anwendung von Kunst¬ 
hülfe bezeichnen, wobei die abnorm dünne Wandbeschaffenheit zu mildernder 
Auffassung noch beitrüge und die Ausdehnung der Zerreissung erklärte. Wegen 
des Einführens einer nicht desinticirten Laienhand, des zu späten Herbeiholens 
ärztlicher Hilfe u. s. w. wird der strafende Arm der Gerechtigkeit die Hebamme 
Verdientermassen ereilen. P. Strassmann (Berlin). 


C. Kaiserling, Weitere Mittheilungen über die Herstellung mög¬ 
lichst naturgetreuer Sammlungspräparate. Virchow’sArchiv. Bd.147. 
Heft 3. 

Kaiserling hat sein Verfahren zuerst am 6. Juli 1896 im Verein für innere 
Medicin und am 8. Juli 1896 in der Berliner medicinischen Gesellschaft bekannt 
gegeben; eine ausführlichere Mittheilung erfolgte dann in No. 35 der Berliner kli¬ 
nischen Wochenschrift, 1896. Ueber eine Vereinfachung und Verbilligung seiner 
Methode berichtete er am 16. November 1896 im Verein für innere Medicin; die 
vorliegende Arbeit giebt in ausführlicher Weise eine Darstellung des Verfahrens 
mit Berücksichtigung der Conservirung der einzelnen Organo; sie bildet zugleich 
einen vorläufigen Abschluss der über Jahre hinaus ausgedehnten Untersuchungen 
des Verfassers. Kaiserling behandelt die zu fixirenden Präparate zuerst mit 
einem Formalingemisch von folgender Zusammensetzung: 


1) P. Strassmann, Ueber die Geburt der Schultern und über den Schlüssel¬ 
beinschnitt (Cleidotomia). Arch. f. Gynäk. Bd. LHI. 1897. 


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I. Formalin 200 
Wasser 1000 
Kal. nitr. 15 
Kal. acet. 30, 

mindestens 24 Stunden, höchstens 5mal 24 Stunden, im Durchschnitt wohl 2 bis 
3 Tage, je nach der Dicke der Präparate. Dann kommen sie in 

II. 95proc. Alkohol 

6—24 Stunden, und endlich werden sie fixirt in einem Gemisch von Glycerin und 
Kali aceticum: III. Wasser 2000 

Kal. acet. 200 
Glycerin 400. 

Die Vorschriften laufen weiter darauf hinaus: Man belege zuerst den Boden 
des Gefässes mit einer ziemlich dicken Watteschicht, dann giesse man die For¬ 
malinlösung zu und lege das Organ hinein. Verfährt man umgekehrt, so härten 
die auf liegenden Flächen ungenügend und weiter sind missfarbige Flecke dieFolge; 
am besten hängt man, wo dies ohneZerrung geschehen kann, dasOrgan auf; ferner 
unterstützt man sehr gut den Conservirungsprocess durch Belegen des Präparates 
mit wenig Watte, ein Hülfsverfahren, welches unerlässlich ist, wenn es sich darum 
handelt, kleine Incisionen klaffend zu erhalten. Sollen grosse Organe conscrvirt 
werden, so empfiehlt Kaiserling Injection der Arterien und Venen, z. B. an der 
Leber. Er mischt seine aus Formalin 400 

Wasser 1000 
Kali acet. 50 
Kal. nitr. 30 

bestehende Injectionsflüssigkeit, um keine Beschädigung des Blutgehaltes hervor¬ 
zurufen, mit Blut und injicirt dann. 

Verfährt man in der angegebenen Weise, so wird man alsbald feststellen 
können, wie die Farben des Präparates in dem Formalingemisch verschwinden 
oder wenigstens unansehnlich werden, um dann im Alkohol und noch mehr im 
Glycerin-Kali acetic.-Gemisch wiederzukehren und constant zu bleiben. Spektro¬ 
skopisch nachweisbare Veränderungen des Blutfarbstoffs sind die Ursache dieses 
Verhaltens. 

Die Vortheile des Verfahrens sind, wie Ref. bestätigen kann, in der That 
grosse. Die Umständlichkeit der Behandlung eines Präparates nacheinander mit 
drei Flüssigkeiten, sowie die Vertheuerung gegenüber der bisherigen alleinigen 
Alkohol-Conservirung werden reichlich ausgeglichen durch die ausgezeichnete Er¬ 
haltung der natürlichen Farben, die mit den bei der Section wahrgenommenen 
völlig identisch sind. Es sei gestattet, einige Beispiele anzuführen. Eine piece 
de r^sistance gegenüber der Alkohol-Conservirung pflegt in jeder gerichtlich-medi- 
cinischen Sammlung gewöhnlich der Cyankalium-Magen zu bilden; das so charak¬ 
teristische Aussehen des Organs wurde bislang stets unkenntlich und entstellt 
durch die Zusatzflüssigkeit. Bei den Präparaten, welche vom Ref. für die Samm¬ 
lung der Unterrichtsanstalt für Staatsarzneikumle zu Berlin in der angegebenen 
Weise behandelt wurden, ist dies anders: Schwellung, Röthung, kurz jedes kleine 
Detail ist jetzt noch, wie bei der Aufstellung vor einem halben Jahr zu sehen. 
Ein weiterer Prüfstein der Methode dürften Hirncontusionen sein. Auch von ihnen 
bewahrt die Sammlung der Berliner Unterrichtsanstalt für Staatsarzneikunde einige 


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168 Besprechungen, Referate, Notizen, amtliche Mittheilungen. 

Präparate, welche die Destruirung der Hirnsubstanz, die Extravasate ganz wie bei 
der Autopsie zeigen. Dem Verfahren gebührt demnach uneingeschränktes Lob; 
es bildet einen grossen Fortschritt auf dem Wege der Herstellung guter Demon¬ 
strationspräparate. Abzuwarten ist wohl noch, ob die Erfolge auch andauernd 
gute sein werden, oder ob nicht im Laufe der Zeit doch eine Auslaugung der Prä¬ 
parate durch die umgebende Flüssigkeit III. eintritt. Wennschon zur Zeit noch 
keine Anzeichen hierfür in den Ref. zur Verfügung stehenden Objecten vorhanden 
sind, so ist die Zeit für eine definitive Kritik — etwas über ein Semester — im¬ 
merhin eine kurze. Der Preis der verschiedenen Flüssigkeiten wird es mit sich 
bringen, dass nicht sonderlich hoch dotirte Sammlungen, und das sind leider wohl 
sehr viele, in den Fällen, in denen es sich allein um Erhaltung der Form handelt 
und bei denen auf die Farbe weniger ankommt (z. B. Hymen) doch beim Alkohol 
werden beharren müssen. Eine allzugrosse Vertheuerung des Verfahrens wird 
übrigens auch dadurch hintangehalten, dass man die beiden vorbereitenden Lö¬ 
sungen (Formalingemisch und Alkohol) häufiger benutzen kann, ohne dass sie un¬ 
brauchbar werden. Puppe. 


Aus Wiener Zeitungen. 

Referate von A. Haberda-Wien. 

E. Michel, Ein Be itrag zur Frage von der sogenannten traumatischen 
Spätapoplexie. Wiener klin. Wochenschr. 1896. No. 35. 

Nach heftigen traumatischen Einflüssen auf den Kopf kann es zu capillären 
Hämorrhagien in die Hirnsubstanz und aus diesen, selbst längere Zeit nach dem 
Trauma, durch Erweichung zu tödtlichen Hirnblutungen (traumatische Spätapo¬ 
plexie Bollinger’s) kommen. Einen neuen derartigen Fall bringt Michel aus 
dem Wiener gerichtlich-medicinischen Institute. Ein 65 Jahre alter Arbeiter wird 
am 14. Nov. 1895 in einer Fabrik zufällig durch die Unvorsichtigkeit eines An¬ 
deren von einer langen Eisenstange am Kopfe getroffen, wird nicht bewusstlos, 
macht dem Schuldtragenden sogleich Vorwürfe und arbeitet bis Abend weiter. In 
den nächsten 4 Tagen bleibt er wegen Kopfschmerzen zu Hause, dann arbeitet er 
wieder. Am 21. Nov. Mittags wird er bei der Arbeit unter Erbrechen, Schwindel 
und Kopfschmerzen unwohl, weshalb er sich nach Hause begiebt. Am Abend 
klagt er über Schwachsichtigkeit, verliert das Bewusstsein und stirbt am nächsten 
Morgen. Die gerichtliche Section (E.v.Hofmann) zeigte in der rechten vorderen 
Scheitelgegend eine kleine braunrothe Hautvertrocknung und darunter einen dünnen 
handflächengrossen, schon ins Bräunliche verfärbten Blutaustritt. Der Schädel 
war unverletzt. In den hinteren Schädelpartien zwischen Dura und Arachnoidea 
ein x / 2 cm dicker bräunlicher, und zwischen den inneren Hirnhäuten ein dünner, 
vielfach unterbrochener Blutaustritt. Die hintere Partie des rechten Hinterhaupt¬ 
lappens in eine fast gänseeigrosse, an der Spitze durchbrochene, mit festen, frischen 
Blutgerinnseln erfüllte und zerwühlte Höhle verwandelt, die in die Seitenkammern 
durchgebrochen ist. In der Umgebung dieser Höhle vereinzelte bis bohnen¬ 
grosse bläuliche, aus zahlreichen kleinsten Hämorrhagien bestehende Contusio- 
nen der Hirnrinde. Im linken Hinterhauptslappen zwischen Spitze und Hinter- 


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Besprechungen, Referate. Notizen, amtliche Mittheilungen. 169 

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liorn eine spaltformigo, mit Blut erfüllte Höhle. Die Kammern mit Blut erfüllt; 
im Ependym der Seitunkammern zerstreute kleine Blutaustritte. Im Gutachten er¬ 
klärte E. v. Hofmann, dass die tödtliche Hirnblutung vom rechten Hinterhaupts¬ 
lappen ausgegangen sei und zu einem Durchbruche nach den Kammern und zwi¬ 
schen die Hirnhäute geführt habe, und dass sie in Folge Quetschung und nach¬ 
träglicher Erweichung des Hinterhauptslappens eingetreten sei, welche Quetschung 
nach den Umständen des Falles sowie nach dem Befunde anderer kleiner Rinden¬ 
quetschungen in der Nachbarschaft und einer suffundirten Hautquetschung am 
Kopfe offenbar durch das 8 Tage vor dem Tode erlittene Trauma veranlasst wor¬ 
den war. Vielleicht habe das hohe Alter des Verletzten und eine grössere, durch 
Atheromatose bedingte Zerreisslichkeit der Gefiisse den Eintritt der tödtlichen 
Nachblutung begünstigt. 

Obwohl es durch das Trauma zu Blutungen in die Hirnrinde (Gontusionen) 
«kommen war, fehlten unmittelbar nach demselben alle klinischen Zeichen einer 
Hirnerschütterung und bestand tagelang kein anderes Symptom als Kopfschmerz. 
Michel beleuchtet die Wichtigkeit derartiger Beobachtungen für den Gerichtsarzt 
bei Beantwortung der Frage, ob gegebenen Falles ein erlittenes Trauma mit einer 
viel später eingetretenen Apoplexie im Zusammenhang stehe, oder ob diese Apo¬ 
plexie als eine spontane aufzufassen sei. 


Max Richter, Zur Differentia 1 diagnose zwischen Kohlendnnst- und 
Leuchtgas Vergiftung. Wiener klin. Wochenschr. 18%. No. 33. 

Leitet man in eine Methämoglobinlösung Leuchtgas ein, so wird dieselbe, 
wie Wachholz zeigte, intensiv roth, dabei verschwindet das Absorptionsband im 
rothen Theile des Spectrums und an seine Stelle tritt ein breites, wenig scharf 
begrenztes Band im Grün, das sich auf Zusatz von Schwefelammonium in zwei 
Bänder spaltet. Da Wachholz bei Einleiten von CO in Methämoglobinlösungen 
keine Veränderung der Farbe und des spectralen Verhaltens jener Lösung fest¬ 
stellen konnte, wollte er seine Entdeckung zu einer Differentialdiagnose zwischen 
Leuchtgas- und Kohlendunstvergiftung benutzen, indem er vorschlug, zu dem zu 
untersuchenden entsprechend verdünnten Leichenblut so lange rothes Blutlaugen¬ 
salz zuzusetzen, bis im Spectrum die beiden Streifen des COHb verschwunden 
seien; bleibe die Lösung roth und zeige sie je nach ihrer Concentration und der 
Menge des Leuchtgases noch den Methämoglobinstreifen oder ein Band im Grün 
oder vollkommene Absorption von Gelb bis Violett, so liege bei constatirter CO- 
Vergiftung eine Leuchtgas- und nicht eine Kohlendunstvergiftung vor. 

Richter zeigt, dass die Rothfärbung und das veränderte spectraleVerhalten 
von Hethämoglobinlösungen nach Einleiten von Leuchtgas nicht, wie Wachholz 
glaubt, durch die schweren Kohlenwasserstoffe des Letzteren, sondern durch das 
im Leuchtgase enthaltene Cyanwasserstoffgas veranlasst werden, dass sie also nur 
in der Umsetzung des Methämoglobin in Cyanhämatin ihre Ursache haben und 
aasbleiben, wenn man das Leuchtgas vorher durch Kalilauge leitet und so vom 
Cyanwasserstoff befreit. Uebrigens röthet auch reines Kohlenoxyd Methämoglobin- 
lösnngen, wenn auch weniger intensiv. Da weiter bei der unvollkommenen Ver¬ 
brennung überhaupt neben schweren Kohlenwasserstoffverbindungen auch Cyan 
sich bilde, so könne man theoretisch hinsichtlich des Verhaltens gegenüber Met- 


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170 Besprechungen, Referate, Notizen, amtliche Mittheilungen. 

hämoglobinlösungen einen Unterschied zwischen Leuchtgas und Kohlendunst nicht 
erwarten. In practischer Hinsicht ist die Probe auch deshalb nicht verwerthbar, 
weil wegen der ungemein kleinen Menge von Cyan im Blute nach Zusatz von 
rothem Blutlaugensalz zur Blutprobe stets Braunfärbung und Methämoglobinbil- 
dung und nie Rothfärbung entsteht, gleichviel ob das Blut von Kohlendunst* oder 
Leuchtgasvergiftungen stammt. 

J. Kratter, Ueber das Eindringen von Arsen aus der Friedhofserde 
in den Leichnam. Wiener klin. Wochenschr. 1896. No. 47. 

Die Leiche eines 70jährigen Mannes wurde nach 5y a Jahren wegen Ver¬ 
dachtes auf Arsenvergiftung exhumirt. Der Holzsarg war unversehrt und stand in 
sohwerdurchliissigem gelben Lehm, der Leichnam in Adipocire verwandelt, die 
Körperhöhlen geschlossen. Die Organreste der Brust- und Bauchhöhle enthielten 
Arsen, und zwar nach Umrechnung etwa ebensoviel Arsenik als die Friedhofserde, 
die in 500 g 87 mg (! Ref.) arsenige Säure enthielt. Auch im Gilet, mit dem die 
Leiche bekleidet war, fanden sich Spuren von Arsen. Durch fortgesetztes Aus¬ 
laugen mit Wasser von gewöhnlicher Temperatur waren aus der Erde immer wie¬ 
der Arsenosäuren in Lösung zu bringen, so dass zum mindesten ein gewisser Theil 
des Arsen in der Form von löslichen Verbindungen in der Erde vorhanden zu sein 
schien. Es musste daher mit der Möglichkeit gerechnet werden, dass das in die 
Friedhofserde über der Grabstelle eindringende Meteorwasser geringe Mengen von 
Arsen lösen und bis zum Sarge führen konnte und dass das Arsen von aussen in 
die Leiche gelangen konnte. Obwohl Kratter der Ansicht ist, dass bei unver¬ 
sehrtem und dichtem Sarge und bei geschlossenen Körperhöhlen Arsen aus der 
Erde in das Innere der Leiche nicht kommen kann, was immer für Löslichkeits¬ 
und Absorptionsverhältnisse für Arsen das umgebende arsenhaltige Erdreich auch 
zeigen mag, so gab er für den vorliegenden Fall mit Rücksicht auf die Löslich¬ 
keitsverhältnisse des in der Erde gefundenen Arsen doch die Möglichkeit zu, dass 
überhaupt Arsen von aussen in die Leiche gekommen sei, wenn er es auch mit 
der grössten Wahrscheinlichkeit für ausgeschlossen hält, dass die ganze Menge 
von Arsen, welche in den Leichenresten gefunden wurde, von aussen hineinge¬ 
langt sei. 

Das gerichtsärztliche Gutachten nahm mit ausserordentlich hoher Wahr¬ 
scheinlichkeit eine Arsen Vergiftung an. Die Staatsanwaltschaft erhob keine Anklage. 

J. Pal, Ueber das Verhalten des Herzens und der Gefässe bei der 
Phosphorvergiftung. Wiener klin. Wochenschr. 18%. No. 43. 

Trotz der hochgradigen Verfettung des Herzmuskels in Fällen subacuter 
Phosphorvergiftung ist zufolge der klinischen Erscheinungen der letale Ausgang 
in solchen Vorgiftungsfällen ausserhalb des Herzmuskels zu suchen, wie auch die 
ganz acuten Vergiftungen beweisen, in denen Veränderungen des Herzens ganz 
fehlen können. Pal ist der Ansicht, dass der Tod der mit Phosphor Vergifteten 
im Allgemeinen durch eine intensive Depression des Blutdruckes durch periphere 
Gefasslähmung und consecutive mangelhafte Speisung des Herzens herbeigeführt 
wird. Deshalb trifft man in Fällen von Phosphorvergiftung bei der Obduction im 
Herzen wenig oder gar kein Blut. 


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Kunstgutachten der medicinischen Fakultät in Wien (Referent Prof. 

E. Neusser). Wiener klin. Wochenschr. 1896. No. 15. 

Die 12 Jahre alte P. T. war am 27. Sept. zweimal mit der Faust geschlagen 
worden und, als sie gestürzt war, angeblich auch getreten worden. Sie arbeitete 
weiter. Am 1. Oct. musste sie sich zu Bett legen. Ein Arzt hat sie nicht behan¬ 
delt. Sie soll Schmerzen im Nacken und Rücken gehabt haben und konnte die 
Beine nicht bewegen, während die Hände frei waren; auch bestand Steifigkeit des 
Nackens und Rückens, Erbrechen und Stuhl Verhaltung. Nach 11 tägiger Erkran¬ 
kung starb sie. 

Die gerichtliche Obduction zeigte keinerlei Verletzungen und keine Organ¬ 
veränderungen ausser hochgradiger Koprostase. Das Rückenmark war nicht 
untersucht worden. Dennoch gaben die Obducenten das Gutachten ab, der 
Tod sei die Folge einer Erschütterung des Rückenmarkes und diese wahrschein¬ 
lich die Folge der erlittenen Misshandlung gewesen. Zwei andere vom Gerichte 
befragte Aerzte erklärten, das Kind sei an Obstipation gestorben. Nun wandte 
»ich das Gericht an die Fakultät und fragte, was die eigentliche Todesursache 
gewesen sei und ob der Tod mit der Misshandlung im Causalnexus stehe. 

Die Fakultät antwortete, die Todesursache sei wegen der Mangelhaftigkeit 
des Obductionsprotokolles nicht mehr sicher zu ermitteln; ein ursächlicher Zu¬ 
sammenhang zwischen der tödtlichen Erkrankung, deren Krankheitsbild am ehe¬ 
sten einer acuten Affection des Rückenmarkes und seiner Häute entspreche, und 
der Misshandlung sei zwar nicht auszuschliessen, jedoch nicht mit Sicherheit oder 
Wahrscheinlichkeit zu behaupten, da nach den Acten andere Ursachen für das 
Auftreten einer Rückenmarkskrankheit nicht sicher ausgeschlossen werden können. 

Albin Haberda, Plötzlicher Tod im Raufhandel, Verdacht auf ge¬ 
waltsame Tödtung. Wiener klin. Wochenschr. 1896. No. 31. 

Ein 19jäbriger Mechanikergehilfe provocirte einen Krämer in dessen Ver¬ 
kaufsladen, es kam zu einer Rauferei, während welcher ersterer zusammenstürzte 
und in wenigen Augenblicken verschied. Der Krämer entfloh, wurde aber ding¬ 
fest gemacht und wegen Verdachtes auf Todtschlag in Haft genommen. 

Bei der Section des Verstorbenen fand H. ausser kleinen Hautabschürfungen 
am linken Arme, die agonal beim Zusammenstürzen entstanden sein konnten, keine 
Verletzungen, dagegen leichtes Glottis- und Lungenödem, Ecchymosen an Herz 
und Lungen, flüssiges dunkles Blut, ein dilatirtes Herz, enge Aorta mit Intima¬ 
verfettungen, grosse Lymphdrüsen, grosse, follikelreiche Milz und einen grossen 
Thymusrest. Das Gutachten ging dahin, dass keine Zeichen eines gewaltsamen 
Todes gefunden wurden und dass der Verstorbene, welcher mit einer Constitutions¬ 
anomalie (Status thymicus) behaftet war, offenbar infolge der mit der Rauferei 
verbundenen psychischen Aufregung und der durch die körperliche Anstrengung 
veranlassten Erregung der Herzthätigkeit und Ueberanstrengung der Herzkraft an 
Erlahmung des Herzens unter raschem Eintritte von Lungen- und Glottisödem ge¬ 
storben ist, wobei seine krankhafte Constitution von wesentlichstem Einflüsse auf 
den plötzlichen Eintritt des Todes war. Das Verfahren wurde eingestellt, zumal 
Zeugen des VorfaUes aussagten, der Verstorbene hätte alle Schläge parirt und sei 
nicht getroffen worden. 


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172 Besprechungen, Referate, Notizen, amtliche Mittheilungen. 

ln der linken Paukenhöhle befand sich in diesem Falle etwas Blut, die 
Schleimhaut war hämorrhagisch infiltrirt; ein Befund, der nicht auf ein Kopftrauma 
bezogen werden konnte, da er sich auch bei mechanischer Erstickung und auch 
bei unter Erstickungserscheinungen und unter Blutstauung erfolgendem raschen 
natürlichen Tode findet. 

S. V. Basch, Oer plötzliche Herztod. Wiener med. Blätter. 1896. S. 1 ff. 

Oer im Experimente durch Vagusreizung bedingte Herzstillstand geht beim 
gesunden Individuum nicht in Herztod über, wohl aber kann es an einem kranken 
Herzen, das in seiner Ernährung gelitten hat und dessen Muskel bereits degene- 
rirt ist, während einer Vaguspause, da kein Blut dem Herzen zufliesst, zum dauern¬ 
den Herzstillstände kommen. So kann plötzliche Auftreibung des Magens und der 
Gedärme zu reflectorischor Vagusreizung und zum Herztod führen. 

Oer Herzstillstand, den Muscarin und Nicotin bewirken, ist kein dauernder. 
Oagegen kann man durch Oigitalis beim Thiere dauernden Herzstillstand erzielen, 
ebenso durch directe elektrische Reizung des Herzens. Den gleichen Effect hat 
das Abklemmen der Art. coronaria. Aus gleicher Ursache kommt es bei Angina 
pectoris nicht selten zum plötzlichen Tode, oft so rasch, dass kein Lungenödem 
gefunden wird. Möglicherweise giebt es auch beim Menschen verschiedene Typen 
des Herztodes, sicher ist, dass dieser nicht immer in gleicher Weise verläuft. Es 
wäre von grosser Wichtigkeit, wenn es möglich wäre, diejenigen Fälle, wo der 
Herzstillstand auch Aufhören der Erregbarkeit des Herzmuskels bedeutet, von jenen 
zu trennen, in denen die Erregbarkeit des Herzfleisches noch nicht erloschen ist. 
In letzteren Fällen wäre es nicht undenkbar, das Herz aus seiner diastolischen 
Ruhe wieder zu erwecken. 

G. Scheff, Ueber Fraoiuren der Kehlkopfknorpel auf Grund experi¬ 
menteller Versuche. Wiener med. Wochenschr. 1896. S. 717 ff. 

Ein 24jähriger Kutscher wurde durch einen Hufschlag an der Vorderseite 
des Halses verletzt, zeigte ausser Quetschwunden am Kinn ein fast den ganzen 
Körper einnehmendes Emphysem und hochgradigste Athemnoth. Während der 
vorgenommenen Tracheotomie starb er. Die Section ergab einen Abriss der linken 
Schildknorpelplatte vom Ringknorpel mit Einreissung der Knorpelhaut und der 
Schleimhaut und einen isolirten Riss am rechten wahren Stimmband. Durch 
Leichenexperimente überzeugte sich Scheff, dass häufiger Brüche des Schild¬ 
knorpels als solche des Ringknorpols entstehen, dass letztere selten isolirt sind, 
sondern meist mit ersteren sich vergesellschaften. Auch die Aryknorpel und ins¬ 
besondere die Stimmbänder können participiren an den Kehlkopfverletzungen. 
Theilweise ossificirte Knorpel brechen leichter als gar nicht ossificirte und die 
meiste Widerstandsfähigkeit besitzen die gänzlich verknöcherten Knorpel, wie sie 
in der Regel im hohen Alter zu treffen sind (? Ref.). 

Josef Märer, Circulares, nahezu totales Abreissen der Vagina. All¬ 
gemeine Wiener med. Zeitung. 1896. S. 418. 

Eine 29jährige Frau, die bei der ersten Entbindung vor 6 Jahren einen bis 
an das Rectum reichenden Darmriss acquirirte, der erst 4 Jahre später durch 


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Besprechungen, Referate, Notizen, amtliche Mittheilungen. 173 

Colpoperineoplastik geheilt wurde, erlitt bei ihrer zweiten Entbindung eine quere, 
fast vollständige Abreissung der Vagina unmittelbar hinter dem Introitus, mit 
starker Retraction der hinteren Vaginalwand, Blosslegung des perirectalen Gewebes 
und beträchtlicher venöser Blutung. Primäre Vereinigung der Wundränder er¬ 
zielte Heilung. 

Karl Soehla, Ueber die Einwirkung des Thymussaftes auf den Blut¬ 
kreislauf und über die sogenannte Mors thvmica der Kinder. Wie¬ 
ner med. Blätter. 1896. No. 46 ff. 

Die Injection des wässerigen Extractes der frischen oder getrockneten Thy¬ 
mus verschiedener Tbiere und des Menschen bewirkt beim Hunde eine Depression 
des Blutdruckes und Acceleration des Herzpulses, welche letztere länger andauert 
als die Blutdrucksenkung, und durch directe Einwirkung «auf das Herz bedingt ist, 
doch nur dann deutlich auftritt, wenn der Blutdruck nicht unter ein gewisses 
Maass absinkt. Wahrscheinlich beruht die Blutdrucksenkung auf einer vorüber¬ 
gehenden Schwächung der vasoconstrictorischen Centren. Nach wiederholten Ex- 
Iractinjectionen starben die Thiere. Die Section wies Dilatation des rechten Her¬ 
zens, Ecchymosen an der Pleura, zuweilen Lungenödem nach. Das Blut war 
schwerer gerinnbar. 

Die Toxicität des Thymussaftes legt die Verinuthung nahe, ob nicht der so¬ 
genannte Thymustod der Kinder im Zusammenhänge mit einer toxischen Wirkung 
stehen könnte, welche intra vitam die in grösseren Thymen erzeugte grössere Menge 
von Thymussaft bewirken könnte. Der Verfasser weist auf die Analogie des Sec- 
tionsbefundes bei seinen Thieren und bei plötzlich verstorbenen Kindern mit 
grossen Thymusdrüsen hin und meint, es sei wahrscheinlich, dass das Asthma 
thymicum und die Mors thymica auf einer „Hyperthymisation“ des Blutes beruhen, 
welche durch Lähmung derVasoconstrictoren zum Tode führt. (Für die Aetiologie 
des Laryngospasmus bei lymphatischen Kindern hat Esch er ich im vergangenen 
•lahre eine im Wesen gleiche Theorie aufgestellt. Ref.) 

Demetrio Galatti, Zur prognostischen Bedeutung des Status lyin- 
phaticus der Kinder. Wiener med. Blätter. 18%. No. 50. 

Im Anschlüsse an den Fall Langerhans theilt G. Fälle mit, die zeigen, 
mit wie schweren Erscheinungen Kinder, die an Status lymphaticus leiden, auf 
geringfügige Eingriffe reagiren. Ein 15 Monate altes Kind kam wegen Kopfeczem 
in Behandlung. Es wurden Umschläge mit verdünnter essigsaurer Thonerde ver¬ 
ordnet, in der Nacht darauf verstarb das Kind unter Convulsionen. Die Section 
zeigte Hirnödem als letzte Todesursache. Bei einem 4jährigen Kinde bildete sich 
unter Fieber ein Belag an den Tonsillen aus, der an Ausdehnung zunahm. Es 
wurde eine Heilseruminjection gemacht, nach der das Kind sehr unruhig wurde. 
10 Stunden danach starb es, 36 Stunden nach Beginn der Erkrankung; eine Sec¬ 
tion wurde nicht gemacht. G. glaubt nicht, dass die Diphtherie den raschen Tod 
verursachte, sondern die krankhafte Constitution in Verbindung mit der Injection. 


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174 Besprechungen, Referate, Notizen, amtliche Mittheilungen. 

Alfred Sänger ’s auf Beobachtungen aus dem Allgemeinen Krankenhause 
zu Hamburg-St. Georg gegründete Schrift: Die Beurtbeilung der Nervenerkran¬ 
kungen nach Unfall (Stuttgart 1896) giebt zunächst einen kurzen historischen 
Ueberblick über die Entwickelung der Lehre von der traumatischen Neurose. 
Weiter folgen Untersuchungen an gesunden und kranken Arbeitern, die nie einen 
Unfall erlitten hatten, auf Verhalten des Gesichtsfeldes, der Sensibilität, der 
Sehnenreflexe und der Herzaction. Hierbei fand Sänger Einengung des Ge¬ 
sichtsfeldes bei 6,7 pCt., Herabsetzung der Sensibilität meist an den Extremi¬ 
täten, mitunter am unteren Rücken und Kinn bei 4 pCt. Steigerung der Kniereflexe 
sehr häufig, Pulsanomalien wiederholt. Diese Beobachtungen erscheinen nicht 
auffallend, da eine Reihe anderweitiger Schädlichkeiten, die durch ihre Häufigkeit 
hier eine erhebliche Rolle spielen, ähnliche nervöse Störungen hervorrufen, wie 
sie für die Unfallneurosen als charakteristisch gelten. Sänger würdigt in dieser 
Beziehung besonders den Alcoholismus, weiter dem Tabaksmissbrauch, die Sy¬ 
philis, die ererbte neuropathische Constitution, endlich Arteriosclerose, die in 
der Hamburger arbeitenden Bevölkerung mit erschreckender Häufigkeit frühzeitig 
auftritt. 

Was die Frage anbetrifft, ob es pathognomonische Zeichen der Nervenerkran¬ 
kungen nach Unfall giebt, so hält Sänger gegenüber Strümpell’s neuerdings 
verändertem Standpunkt bis zu einem gewissen Grade an der Objevität der Symp¬ 
tome fest. Er begründet dies damit, dass er bei gelegentlichen Untersuchungen 
vollkommen arbeitsfähiger Männer, die früher einen Unfall erlitten hatten, aber an 
denselben gar nicht mehr dachten und weder Rente bezogen noch Ansprüche auf 
solche machten, mehrfach die Symptome der traumatischen Neurose entdeckte, 
concentrische Gesichtsfcldeinengung, Hemianaesthesie und Anaesthesien anderer 
Form, Steigerung der Sehnenreflexe und der vasomotorischen Erregbarkeit. Der 
Befund erscheint Sänger auch insofern wichtig, da er beweist, dass nervöse 
Störungen nach Traumen ohne psvschische Veränderungen Vorkommen — wofür 
auch die Erfahrungen aus den Kriegen sprechen — ferner dass Menschen mit 
hochgradigen nervösen Anomalien vollkommenes Wohlbefinden und vollo Arbeits¬ 
fähigkeit zeigen können. Das macht es wahrscheinlich, dass die psychischen Ver¬ 
änderungen bei traumatischer Neurose von den nervösen unabhängig sind und mit 
dem Unfall in keinem directen Zusammenhänge stehen. 

Sänger ist geneigt, für diese psychischen Erscheinungen und ihre Häufig¬ 
keit die Unfallversicherung, die Aussicht auf Rente und die so erzeugten Strüin- 
peil’sehen „Begehrungsvorstellungen“ verantwortlich zu machen. Er führt als 
Beweis eine Reihe von schweren Unfällen an, die zum Theil auch mit starkem 
Schreck, mit Erschütterung des ganzen Körpers verbunden waren, die aber nie zu 
Neurasthenie, wie zu psychogener Erkrankung führten, weil — oin Moment, auf 
das schon früher Page aufmerksam gemacht hat — die sichtbaren äusserlichen 
Verletzungen von vornherein die Gewährung einer Rente sichern und einen Kampf 
um dieselbe ersparen; ferner eine Anzahl schwerer Unfälle bei besitzenden nicht 
der Versicherungspflicht unterliegenden Personen, sowie bei Soldaten, bei denen 
nervöse Erscheinungen entweder ganz fehlten oder bald verschwanden, jedenfalls 
nie so hartnäckig blieben wie in den gewöhnlichen Fällen der traumatischen Neu¬ 
rose. Immerhin scheint er, wieRef. glaubt mit vollem Recht, auch den hypochon¬ 
drischen, mitunter durch ungeschickten ärztlichen Zuspruch suggerirten, ängstlich 


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Besprechungen, Referate, Notizen, amtliche Mittheilungen. 


175 


erregenden Vorstellungen und dem direct beim Trauma erfolgenden psychischen 
Schreck eine gewisse Bedeutung zu belassen. Bezüglich der Simulation betont der 
Verf. die Möglichkeit der Entdeckung vorgetäuschter Gesichtsfelddefecte und Anä¬ 
sthesien und giebt einige, nichts Besonderes bietende Beispiele von unberechtigten 
oder übertriebenen Rentenaussprüchen, besonders auf Grund der Simulation eines 
ursächlichen Zusammenhanges älterer Störungen mit dem Trauma. 

Die Prognose der traumatischen Neurosen hält Verf. nicht für so ungünstig, 
wie er denn die Prognose der functionellen Neurosen überhaupt etwas optimistisch 
aufzufassen scheint. Er hebt besonders den vortheilhaften Einfluss der Arbeit 
hervor und macht nähere berücksichtigungswerthe Vorschläge für die Errichtung 
eines — bekanntlich schon mehrfach befürworteten — Arbeitsnachweises für solche 
Halbinvaliden. Auch die Arbeitsfähigkeit dieser nervös Erkrankten hält er nicht 
für so hochgradig beschränkt, wie es meist geschieht. Er bringt Beispiele aus 
seiner Praxis, dass Personen mit anderweitig bedingten schweren functionellen 
Neurosen, Künstler, Kaufleute, Beamte trotzdem ihren aufregenden Beruf voll er¬ 
füllten. Um sichere Grundlagen für die Begutachtung in Zukunft zu gewinnen, 
empfiehlt Sänger endlich die Aufnahme eines Status des Nervensystems bei jedem 
in eine Kasse eintretenden Arbeiter. Str. 


Grönouw, Anleitung zur Berechnung der Erwerbsfähigkeit bei 
Sehstörung. Wiesbaden, Verlag von J. P. Bergmann, 18%. 

Grönouw hat, wie bereits vor ihm Zehender, Heddäus und besonders 
Magnus, versucht, einfache Formeln aufzustellen, nach welchen sich die Berech¬ 
nung der Erwerbsfahigkeit bei Sehstörungen ermitteln lässt. Selbstverständlich 
haben diese Formeln nicht den Werth absoluter Richtigkeit, da bei der Ab¬ 
schätzung mit einer Anzahl vonCoefficienten zu rechnen ist, die sich nie in mathe¬ 
matische Formeln zwingen lassen und die von Fall zu Fall bei der jedesmaligen 
Berechnung einer Rente in Anschlag gebracht werden müssen. Immerhin bleiben 
noch gewisse Constanten übrig. Zu diesen gehört Se die erwerbliche Sehschärfe 
[diese ist nicht gleich der wissenschaftlichen] und P das periphere Sehen, so dass 
die Formel lautet 

e (Erwerbsfähigkeit) = Se . P. 

Die Berechnung der Se sowohl für das einzelne Auge wie für das binoculare 
Sehen, für Berufsarten mit höheren und geringeren Ansprüchen an das centrale 
Sehen, die Berechnung der P. etc. muss im Allgemeinen Theil des Originals 
nachgelesen worden. Die im 2. speciellen Theil der Arbeit gegebene praktische 
Anweisung sowie die angefügten Tabellen, aus denen man schnell jeden erdenk¬ 
lichen Fall von Verminderung der Sehschärfe und des peripherischen Sehens 
leicht absehen kann, sind dann leicht verständlich. — Die ohne Aufwand von 
mathematischen Formeln klar und verständlich geschriebene Arbeit ist für den 
Augenarzt ein schätzenswerther Rathgeber. Lehmann (Berlin.) 


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176 


Besprechungen, Referate, Notizen, amtliche Mittheilungen. 


von Strümpell, Ueber einen Fall von retrograder Amnesie nach 
traumatischer Epilepsie. Deutsche Zeitschrift für Nervenheilkunde. 
VIII. 1. 

Alzheimer, Ueber rückschreitende Amnesie bei der Epilepsie. 
Allgem. Zeitschrift für Psychiatrie LIII. 4. 

Finkeistein, Dementia acuta in Folge von Gaz-pau vre-Vergiftung. 
Jahrbücher für Psych. und Neural. XV. 1. 

Die sog. retrograde Amnesie, insbesondere die retrograde Amnesie im engem 
Sinne, d. h. die zeitlich begrenzte retrograde Amnesie ist in den letzten Jahren 
wiederholt Gegenstand der Untersuchung gewesen. (Möbius, Wagner,Wollen¬ 
berg u. A.). Sie ist beobachtet nach schweren Gehirnerschütterungen, Erhän- 
gungsversuchen, rein psychischen Traumen (Schreck u. s. w.), seltener nach 
Vergiftungen und acut infectiösen Krankheiten (Typhus etc.). Trotz seiner viel¬ 
fachen Bearbeitung ist aber das Thema keineswegs vollständig erschöpft, und ist 
bis jetzt noch jede neue sichere Beobachtung vom hohem Werth. 

Die Strümpell’sche Mittheilung betrifft einen bis dahin gesunden, erblich 
nicht belasteten, ca. 44 Jahre alten Oeconomen, bei dem 2 Tage nach einem ohne 
weitere Schreckwirkung verlaufenden Stoss gegen den Kopf gehäufte (5) epilep¬ 
tische Anfälle erstmalig sich eingestellt hatten. Am Tage nach dem Auftreten der 
Krämpfe entwickelte sich von einer kleinen gelegentlich dos Unfalles entstandenen, 
nicht weiter beachteten Kopfwunde aus ein etwa 8 Tage lang dauerndes, mit 
schweren Gehirnerscheinungen einhergehendes Erysipel. Nach eingetretener Ge¬ 
nesung stellte sich heraus, dass dem Pat., der am Tage nach dem Unfall wohlauf 
und bei vollem Bewusstsein gewesen war, nicht nur das Gedächtniss für die Zeit 
seiner Erkrankung an dem Erysipel entschwunden war, sondern dass er auch die 
Erinnerung für das Auftreten der Krampfanfälle, sowie für den der Krankheit 
vorausgehenden Zeitabschnitt von 3—4 Monaten verloren hatte. Eine 
Rückkehr des Gedächtnisses für diese Zeit ist auch seither (ca. 2 Jahre nach dem 
Unfall) nicht erfolgt; nur 2 traumhafte Erinnerungen sind aus derselben erhalten 
geblieben. 

In dem berichteten Falle handelt es sich, wie Str. ausführt, zweifellos um 
eine rotrograde Amnesie nach Epilepsie, nicht um eine solche nach Trauma. Denn 
sie schloss sich nicht unmittelbar an die Kopfverletzung, sondern erst an die "2 
J age später auftretenden epileptischen Anfälle an. Ihre beträchtliche zeitliche 
Ausdehnung erklärt sich zum Theil wohl durch das Hinzukommen der erysipela- 
tösen Infection, ohne dass diese indess die epileptischen Anfälle hervorgerufen 
hätte, wie daraus erhellt, dass auch späterhin noch epileptische Insulte sich ein¬ 
gestellt haben. 

Die Genese der retrograden Amnesie anlangend, so führt Str. aus, dass alle 
organisch bedingten Gedächtnisstörungen darauf beruhen, dass die sog. inne¬ 
ren Gedächtnisszustände entweder von vornherein gar nicht mehr entstehen 
können oder dass sie zwar gebildet, aber wieder verschwunden sind oder endlich, 
dass sie zwar bestehen, aber gar nicht mehr oder doch nur erschwert in das Be¬ 
wusstsein übergeführt werden können. Unter inneren Gedächtnisszuständen 
versteht er bestimmte, in den betheiligten Ganglienzellen beim Bewusstwerden 
äusserer Eindrücke zurückgebliebene innere Zustände, welche je nach Häufigkeit 


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Besprechungen, Referate, Notizen, amtliche Mittheilungen. 


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und Intensität des Eindrucks stärker oder schwächer werden. Sie können auch 
latent fortbestehen und auf associativem Wege geweckt und zur Bildung weiteren 
Bewusstseinsinhalts verwerthet werden. Dass in seinem Falle eine Störung der 
associativen Thätigkeit vorliege, glaubt Str. nicht. Eine plötzliche Aufhebung 
aller associativen Verbindungen für sämmtliche Gedächtnisseindrücke sei kaum 
denkbar, auch spreche das Erhaltenbleiben zweier vereinzelter traumhafter Er¬ 
innerungen dagegen. Er nimmt deshalb an, dass in Folge der bestehenden 
Gehirnschädigung die besonderen inneren Zustände aus dem bestimmten, der 
Erkrankung vorausgehenden Zeitabschnitt unbrauchbar und nicht mehr reducirbar 
wurden. 

Von dieser echt organischen retrograden Amnesie, wie sie nach Strüm¬ 
pei l’s Annahme in reinster Form, wenn auch nicht gerade häufig bei Epilepsie 
beobachtet werden, sind die retrograden Amnesien hysterischen Ursprungs 
streng zu unterscheiden. Bei diesen, zu denen ausser den Amnesien nach rein 
psych. Traumen (Schreck) wahrscheinlich auch eine Anzahl der nach Erhängungs- 
und sonstigen Selbstmordversuchen (Vergiftung durch Kohlenoxydgas u. s. w.) 
beobachteten retrograden Amnesien zu rechnen sind, handelt es sich nicht um 
einen Verlust der Gedächtnisseindrücke, was schon daraus hervorgeht, dass die 
anscheinend verlorene Erinnerung durch hypnotische Suggestion in vielen Fällen 
wieder wachgerufen werden kann. Sie beruhen vielmehr auf einer Hemmung der 
Reproduction gewisser Vorstellungen, wahrscheinlich in Folge einer krankhaft 
fixinen Vorstellung, zufolge deren der Hysterische sich der betr. Zeit nicht er¬ 
innern kann oder will. Mit Beseitigung der hemmenden Vorstellung ist auch die 
Amnesie gehoben. Eine hysterische Amnesie ist sonach heilbar, 
eine organische ist dies häufig nicht. Die Eigenthümlichkeit der 
Genese der retrograden hysterischen Amnesie kann ihre Unterscheidung von 
einer simulirten selbstverständlich zu einer sehr schwierigen machen. 

ln den 3 Alzheimer’scben Beobachtungen handelt es sich um retrograde 
Amnesie bei genuiner bezw. (in dem 3. Falle) Alcohol-Epilepsie und zwar 
trat sie in allen Fällen nach gehäuften epileptischen Krämpfen mit konsekutivem 
Verwirrtheitszustand ein. Sie erstreckte sich in dem ersten Falle auf einen Zeit¬ 
raum von 1 Va Jahren, im 2. u. 3. auf einen solchen von 14 Tagen. In sämmt- 
lichen Fällen kehrten die verlorenen Erinnerungen im Gegensatz 
zu der Strümpell’schen Beobachtung zurück; im ersten Fall, in 
welchem sich der Hergang des Wiedererwachens der Erinnerung nicht genau fest¬ 
stellen liess, allmählich nach einigen Wochen und zuerst für den am weitesten 
zurückgebliebenen Zeitabschnitt, im 2. u. 3. Falle aber plötzlich und zwar ca. 2 
bezw. 3 Wochen nach Ablauf der epileptischen Bewusstseinstrübung. Bei der Be¬ 
sprechung seines ersten Falles hebt Alzh. hervor, dass die Amnesie seines 
Epilektikers sich dadurch von der gewöhnlichen hysterischen Amnesie, an welche 
sie vielleicht erinnern könne, unterscheide, dass sich die Hysterischen durch die 
Amnesie gar nicht beunruhigt und in Folge dessen auch nicht bewogen fühlen, 
das Vergessene durch Fragen zu ergänzen, während sein Epilektiker, der auch 
sonst niemals Zeichen von Hysterie gezeigt hatte, im Gegentheil bei jeder Gelegen¬ 
heit darnach geforscht habe. Im Uebrigen betont er die Schwierigkeit einer Er¬ 
klärung der Genese der retrograden Amnesie. Vielleicht erkläre sie sich nach 

Vierteljahreschr. f. ger. Med. Dritte Folge. XIV. 1 . 19 


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Besprechungen, Referate, Notizen, amtliche Mittheilungen. 


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Analogie jenes Bewusstseinsausfalls, welcher auch normalerweise bei Erwachen 
aus tiefem Schlafe auf der Reise und noch deutlicher nach kurzen Ohnmächten 
beobachtet werde. Hier vergehe auch oft eine, wenngleich nur ganz kurze Zeit, 
ehe die vorausgegangenen Ereignisse wieder in unser Bewusstsein zurückgerufen 
werden könnten. 3 Momente wirkten hierbei mit; 1) die vorausgehende Bewusst¬ 
seinsunterbrechung; 2) eine noch fortbestehende leichtere Bewusstseinstrübung 
und 3) die leichtere Auslüschbarkeit der jüngsten Erinnerungen. 

Mit Recht betont Alzli., dass die Unterscheidung der retrogradon Amnesie 
bei Epilepsie, die er übrigens nicht für sehr selten hält, von anderweitigen, auf 
epileptische Dämmerzustände zu beziehenden Erinnerungsdefecten nicht immer 
leicht sei, namentlich dann nicht, wenn die Zeit, für welche eine retrograde 
Amnesie besteht, eine kurze sei, so dass ein präepileptischer Dämmerzu¬ 
stand nicht ausgeschlossen werden könne. Sie sei desshalb nur dann anzunehmen, 
wenn der Nachweis erbracht sei, dass der Kranke in der Zeit, für welche 
die Erinnerung geschwunden sei, keinerlei Anzeichen einer Bewusstseinsstörung 
erkennen lasse. (Ein Nachweis, der in den meisten Fällen unmöglich sein 
wird. Ref.) 

Die Finkeistein’sche Beobachtung betrifft eine im Anschluss an eine Ver¬ 
giftung durch Gaz-pauvre entstandene retrograde Amnesie. 

Durch einen unglücklichen Zufall hatte ein Arbeiter gelegentlich der Repa¬ 
ratur eines Reservoirs einige Minuten lang Gaz-pauvre, eine durch Durchleiten 
von Luft über erhitztes Anthracit gewonnene, hauptsächlich Kohlenoxyd, Stick¬ 
stoff und Kohlensäure enthaltende, zu technischen Zwecken verwendete Gas¬ 
mischung eingeathmet. Er wurde in komatösem Zustande hcrvorgeholt, während 
ein anderer Arbeiter sofort erstickt war. Nach 3 Tagen zur vollen Besinnung ge¬ 
langt, wurde er nach Hause entlassen, woselbst Erscheinungen einer psychischen 
Störungbemerkbar wurden, die allmählich zunehmend, seine erneute Unterbringung 
ins Hospital nothwendig machten. Hier zeigte er das Bild einer akuten stuporösen 
Amentia, die nach etwa 14täg. Bestehen in Heilung endete. Sowohl für die Zeit 
der psychischen Erkrankung, wie für die dem Unfall vorausgehenden 2—3 Stunden 
fehlte ihm jegliche Erinnerung (retrograde Amnesie). Im Laufe der Psychose 
traten paretische Erscheinungen im Gebiete des linken N. facialis ein, die all¬ 
mählich, der Besserung des psychischen Zustandes entsprechend, zurückgingen; 
ebenso schwand mit zunehmender Besserung die während der Erkrankung be¬ 
stehende harnsaure Diathese. 

Leider enthält die Arbeit keine Mittheilung darüber, ob nicht etwa ein 
Wiederauftauchen der Erinnerung für die verlorenen Bewusstseinseindrücke statt¬ 
gefunden hat, ein Punkt, dessen Kenntniss um so wichtiger wäre, als nach Lage 
des Falles rein hysterische Momente nicht anzunehmen sind. Auch vermissen wir 
eine Blutuntersuchung, die bei der wohl mit Recht als eine Kohlenoxydvergiftung 
gedeuteten Erkrankung, kaum resultatlos gewesen sein würde. 

Kortum (Herzberge). 


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Ziehen, Die Erkennung und Behandlung der Melancholio in der 
Praxis. (Sammlung zwangloser Abhandlungen aus dem Gebiet der Nerven- 
und Geisteskrankheiten. Herausgeg. von Dr. Alt. Heft 2 u. 3.) 

Greidenberg, Zur Lehre über die acuten Formen der Verrücktheit. 
(Allgem. Zeitschrift für Psych. 53. Bd. 4. Heft.) 

1) Jeder praktische Arzt wird die Ziehen’&che Abhandlung über Melan¬ 
cholie mit Interesse und Nutzen lesen. Sie ist klar geschrieben, erschöpft den 
Gegenstand, soweit dabei rein ärztliche Ziele in Frage kommen, hinreichend und 
berücksichtigt namentlich auch die Diagnose und Therapie in eingehendster Weise. 
Z.’s Anschauungen über die nosologische Stellung der Melancholie weichen von 
der heute wohl ziemlich allgemein acceptirten nicht ab. Je nachdem die Psychose 
nur in primärer Depression und Associationshemmung mit Arbeitsunlust und Un¬ 
schlüssigkeit sich äussert oder aber mit kontinuirlicher oder zeitweilig auftretender 
heftiger Angst und secundären Wahnvorstellungen (der Versündigung, Ver¬ 
armung oder hypochondrischen Ideen) einhergeht, unterscheidet er die 
hauptsächlich bei Männern vorkommende melancholische Verstimmung (Mel. levis, 
Hypomelancholie) und die Mel. gravis. s. mel. sens. str., an welcher verhältniss- 
mässig viel mehr Frauen erkranken. Die übliche Unterscheidung zwischen Mel. 
passiva, attonita und agitata behält er bei. Ausserdem führt er noch eine Reihe 
von Varietäten, die apathische, hallucinatorische, neurasthenische und hysterische 
Varietät an und bespricht zum Schluss die periodische Melancholie. Ein ausführ¬ 
licher Abschnitt ist der differentiellen Diagnose, insbesondere gegenüber der 
Dementia paralytica, dann der Paranoia chronica und Paranoia acuta hallucin. 
sowie der Neurasthenie und Dementia senilis gegenüber gewidmet, bezüglich dessen 
Einzelheiten wir auf das Original verweisen müssen. — Die Prognose der Mel. 
ist im Allgemeinen eine sehr günstige. Indess sind Recidive nicht selten. Neben 
der Erblichkeit spielt in der Aetiologie die Gemütbserscbütterung die Hauptrolle. 
Praedilectionszeit der Erkrankung: 4. und 5. Decennium beim weibl. Geschlecht, 
die Zeit vom 45.—55. Jahre beim männlichen. — In allen Fällen, in welchen 
irgendwie erheblichere Angstaffecte bestehen, ist wegen der Selbstmordgefahr die 
alsbaldige Ueberführung in eine öffentliche oder private Irrenanstalt nothwendig, 
es sei denn, dass ganz ausnahmsweise günstige äussere Verhältnisse vorliegen. 
Die Behandlung bis zur Einlieferung in die Anstalt hat ihr Augenmerk vor Allem 
auf Verhütung des Selbstmordes zu richten. (Unterbringung in einen Parterreraum, 
Entfernung von schneidenden Gegenständen, stete Ueberwachung durch einen 
Pfleger etc.). Ausserdem ist die provisorische Einleitung der später in der Anstalt 
fortzuführenden Behandlung nothwendig, für welche Z. Bettruhe, Opium (Extr. 
opii am besten innerlich) und hydropathische Einpackungen empfiehlt. (Ob die 
beiden letztgenannten Mittel thatsächlich von solcher Heilkraft sind, wie Z. .an¬ 
nimmt, bleibe dahingestellt. Ref.) 

Die Behandlung der Hypomelancholie ist zu Hause durchführbar, wenn der 
Arzt psychiatrisch geschult ist und die Verhältnisse nicht ungünstig liegen. 
Manchmal erweist sich Unterbringung in eine andere Familie oder eine offene 
Nervenanstalt von Vortheil. Ist kein geschulter Arzt zur Hand, so zaudere man 
nicht mit der Ueberführung in die Irrenanstalt. 

2) Ausser dem remittirenden und intermittirenden Typus der akuten hallu- 

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180 Besprechungen, Referate, Notizen, amtliche Mittheilungen. 

cinatorischen Paranoia (Westphal, Hertz, Botkin, Korsakow u. A.) hat 
Greidenberg noch einen rekurrirenden Typus derselben zu beobachten Ge¬ 
legenheit gehabt. Die betreffenden akuten Psychosen setzten sich aus einzelnen, 
den Character der Amentia (i. S. Meyer’s) tragenden, durch inkohärente De¬ 
lirien, grosse Unruhe, Verwirrtheit und Halucinationen des Gesichts und Gehörs 
,gekennzeichneten Anfällen zusammen, welche von einander durch vollkommene 
normale Intervalle getrennt waren. Die einzelnen Anfälle liefen binnen wenigen 
Tagen oder binnen 1—2 Wochen, seltener erst nach längerer Zeit ab. Nach Dauer 
und Intensität waren sie auch in ein und demselben Palle verschieden. Ihre Zahl 
betrug bei den verschiedenen Krankheitsfällen zwischen 2 u. 5. Die Dauer der 
Intervalle schwankte zwischen 5 Tagen und ca. 3 Wochen. Unter 350 Fällen 
von akuter hall. Paran. hat G. ein derartiges Verhalten sieben Mal beobachtet. 
Die Krankheit betraf beide Geschlechter fast in gleicher Zahl (4 M. 3 Fr.) und 
ausschliesslich jugendliche Individuen. (Jüngster Patient 16, ältester 21 J.) Erb¬ 
liche Veranlagung war in 3 Fällen nachweisbar. Alle gingen in Heilung über. 
Die Dauer der Gesammierkrankung schwankte zwischen 2 und 3 Monaten. 

Kort u m (Herzberge). 


Lewald, Ueber öffentliche Trinker-Heilanstalten. (Separat-Abdruck 
aus Beiz’s „Irrenfreund“. 18%. No. 7 u. 8.) 

ln einer Besprechung der in letzter Zeit häufiger und von beachtenswerther 
Seite ventilirten Frage, ob nicht auch für Deutschland nach dem Vorgang des 
Cantons St. Gallen, verschiedener nordameriksnischer Staaten und neuerdings des 
niederösterreichischen Landtages die Errichtung öffentlicher Trinkerheilanstalten 
angezeigt erscheine, gelangt. Lewald auf Grund der von ihm in der Irrenanstalt 
Herzberge zu Lichtenberg bei Berlin gewonnenen Anschauungen zu demErgebniss, 
dass dieselbe sich vorläufig noch nicht empfehle, vielmehr von der 
Weiterentwickelung der gesetzlichen Bestimmungen abhängig 
sei. „Ob und in welche Beziehungen diese event. Anstalten dann zu den Irren¬ 
anstalten zu setzten sind, würde sich erst später übersehen lassen. Zur Zeit sind 
zur erfolgreichen Behandlung dieser Kranken die Irrenanstalten geeignet. Nach den 
bisherigen Erfahrungen kommen dafür besonders solche Abtheilungen der Irren¬ 
anstalten in Frage, welche einen weniger geschlossenen Character haben (Land¬ 
häuser, Colonien), und die die Beschäftigungsmöglichkeit in erster Linie berück¬ 
sichtigen, die also gewissermassen ein Trinkerasyl im Rahmen der Irrenanstalt 
darstellen. Sollten sich aber beispielsweise aus äusseren baulichen Gesichtspunkten 
noch schwerwiegende Gründe ergeben, die eine räumliche Trennung dieser Asyle 
von den Irrenanstalten wünschenswerth oder nothwendig erscheinen Hessen, so 
müsste immerhin das Hauptgewicht darauf gelegt werden, dass die Aufnahme der 
Alcoholisten in diese Asyle nicht direct erfolgte, sondern durch Vermittelung der 
Irrenanstalten, wie es in dem niederösterreichischen Gesetz zur Maxime erhoben 
worden ist; denn cs ist ohne weiteres ersichtlich, dass die durchaus nothwendige 
Individualisirung des einzelnen Falles nur von sackverständiger, also psychia¬ 
trischer Seite aus erfolgen kann, ebenso wie die Behandlung sich nach den 
allgemeinen Grundsätzen der Psychiatrie zu richten hat.“ 

Kor tum (Herzberge). 


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Besprechungen, Referate, Notizen, amtliche Mittheilungen. 181 

Dietrich, Staat und Krankenpflege. Separat-Abdr. aus der Zeitschr. für 
Krankenpflege. 

In der sehr beachtenswerthen Arbeit erweckt Verf. von Neuem unser leb¬ 
haftes Interesse für das in seiner Bedeutung von den massgebenden Factoren 
leider noch immer nicht genügend gewürdigte Gebiet der Krankenpflege. Bevor 
er das zur Zeit vorhandene Krankcnpflegepersonal schildert, giebt er einen er¬ 
schöpfenden Abriss über dessen geschichtliche Entwicklung, die sich bis in die 
ersten Anfänge des Christenthums zurückverfolgen lässt. Heutzutage lässt sich 
das Krankenpflegepersonal je nach den Motiven, welche Pfleger und Pflegerinnen 
veranlassten, einen an sich schweren, an Aufopferung und Entsagung reichen 
Beruf zu wählen, in zwei Gruppen trennen. Diejenigen Personen, welche das rein 
gewerbliche Interesse dazu trieb, verrichten gegen Entgelt von Fall zu Fall 
Krankenpflegerdienste oder sind in Krankenhäusern, Irrenanstalten und Siechen- 
häusern mit festem Gehalt angestellt. In dieser Gruppe haben nur wenige eine 
geordnete Ausbildung und systematische Erziehung zu ihrem Berufe genossen. 
Die andere Gruppe wird gebildet von solchen Personen, welche als Mitglieder von 
Genossenschaften nnd Vereinigungen oder in Anlehnung an solche Vereinigungen 
von diesen ihren Unterhalt empfangen und die Krankenpflege ohne Entgelt und 
nur aus dem Verlangen ausüben, ihren kranken, gebrechlichen Mitmenschen zu 
helfen. Zu dieser Gruppe gehören in erster Linie die Mitglieder der Vereinigungen 
auf confessioneller Grundlage. Allen Angehörigen der zweiten Gruppe ist gemein¬ 
sam, dass sie eine sorgfältige, systematische Erziehung für die Krankenpflege, 
eine theoretische und praktische Ausbildung in Krankenanstalten unter ärztlicher 
Leitung genossen haben. Es ist nun begreiflich, dass die Nachfrage nach dem 
rein gewerblichen Krankenpflegopersonal von Jahr zu Jahr geringer geworden ist, 
während das Bediirfniss nach dem Personal der zweiten Gruppe alljährlich steigt. 
Wenn nun die geistlichen Pflegegenossenschaften einen Mangel an verfügbarem 
Personal zeigen, so ist dieser Mangel kein absoluter, sondern nur ein relativer, 
durch die enorme Steigerung der Nachfrage bedingter. 

Um ihm abzuhelfen und um zugleich auch solchen in Herzens- und Geistes¬ 
bildung geeigneten Jungfrauen und Frauen, welchen die klösterliche Gemeinschaft 
der geistlichen Genossenschaften nicht sympathisch, andrerseits aber die Betä¬ 
tigung der Nächstenliebe Herzenssache ist, Gelegenheit zu geben, die Krankenpflege 
nach der nötigen Vorbildung in zweckmässiger und organischer Weise ausüben 
zu können, hat man Vereine vom rothen Kreuz etc. gegründet, welche in beson¬ 
deren Krankenpflegerinnenanstalten ihre Schwestern vom „rothen Kreuz“ oder 
ihre Genossenschaftsschwestern in den eigenen Mutterhäusern ohne Rücksicht auf 
die Confession aufnehmen, ausbilden und versorgen. Obwohl alle diese Vereine 
sich recht erfreulich entwickelt haben, reichen sie mit ihren Fortschritten nicht 
an die der geistlichen Genossenschaften heran. Wenn Verf. beide Arten der 
Krankenpflege-Genossenschaften mit einander vergleicht, kommt er zu dem Er¬ 
gebnis, dass das geistliche Pflege-Personal, soweit der Durchschnitt derGesammt- 
leistungen zur Beurtheilung steht, überlegen ist. 

Die neuerdings wieder in den Vordergrund getretene Frage, ob männliches 
oder weibliches Personal den Vorzug verdiene, beantwortet Verf. in gleicher Weise, 
wie es alle erfahrenen ärztlichen Autoritäten thun, dass das Weib für die Pflege 
Erkrankter geeigneter ist, Während der Kranke als ärztlicher Berather eine wenn 


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Besprechungen, Referate, Notizen, amtliche Mittheilungen. 


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auch menschenfreundliche, so doch immerhin energische männliche Persönlichkeit 
fordert, erwartet er von denen, die ihn pflegen, die weiche, linde Hand, die zarte 
Bewegung, die Sorgfalt in den kleinsten Handreichungen, das Aufgehen der eignen 
Persönlichkeit in die Wünsche des Kranken, und das findet er nur beim Weibe. 
Für die Zukunft sollte daher viel eher die Aufgabe der Frauen* 
vereine sein, den Krankenpflegerinnenberuf zu einem angeneh¬ 
men, auskömmlichen und allseitig befriedigenden zu machen, 
als die Erstrebung der Zulassung zu einzelnen gelehrten Be¬ 
rufen, welche doch nur wenigen Frauen eine befriedigende Thä* 
tigkeit eröffnen wird. 

Um nun die Kranken vor mangelhafter, unzureichender Behandlung seitens 
der Krankenpfleger und Krankenpflegerinnen zu schützen, erheischt es die 
Pflicht des Staates, dass er einen Befähigungsnachweis für Ausübung der Kranken¬ 
pflege verlange und diese Befähigung durch eine entsprechende Nachprüfung 
controllire. Durch eine solche Maassregel würde das Personal, welches bei uns 
für heute und in Zukunft überhaupt in Frage kommt, in der Frequenz nicht im 
Mindesten beeinträchtigt, da sie ähnlichen Bestimmungen meistens schon jetzt 
unterworfen sind. Getroffen werden allein diejenigen Personen, welche, ohne 
eine genügende Vorbildung zu besitzen, die Krankenpflege als Gewerbe be¬ 
treiben, diese werden allmählich verschwinden und zwar nicht zum Nachtheil der 
Krankenpflege. 

Schliesslich möchte Ref. noch den Wunsch des Verf.’s eindringlich unter¬ 
stützen, dass auch die jungen Mediziner einen geordneten Unterricht in der 
Krankenpflege geniessen sollten. Hier ist eine klaffende Lücke in unserer Fach¬ 
ausbildung, welche baldiger Abhülfe bedarf. Placzek (Berlin). 


Notizen, 

Gelegentlich der Brüsseler Weltausstellung werden daselbst im Sommer d. J. 
zwei die Leser unserer Zeitschrift interessirende Congresse stattfinden: die „Con¬ 
ference internationale concernant les Services sanitaires et l’hygiene des chemins 
de fer et de la navigation“ im September, und der „Congres international de mä- 
decin legale“ in der Zeit vom 2.—7. August. Die uns zugegangenen Programme 
beider Congresse sind sehr reichhaltig und betreffen Fragen von wesentlichster 
Bedeutung. Nähere Auskunft über den Congress für gerichtliche Medicin giebt 
Dr. Camille Moreau, Rue de la Gendarmerie 6, Charleroi, über die „Confe¬ 
rence“ Dr. J. de Lautsheere, Rue de l’association 56, Brüssel. 


Am 28. Februar d. J. verstarb nach langem Leiden zu Krakau Dr. Leo von 
Halban, bis vor Kurzem ordentlicher Professor der gerichtlichen Medioin an der 
Jagellonischen Universität. Die Wissenschaft verliert in ihm einen Forsoher von 
anerkanntem Ruf, unsere Vierteljahrsschrift einen warmen Freund, dem sie für 
mehrfache werthvolle Beiträge — wir erinnern hier nur an seine vortreffliche Dar¬ 
stellung der Geschichte der Lungenprobe in Bd. 38 und 39, N. F. — zu dauern¬ 
dem Danke verpflichtet ist. 


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Besprechungen, Referate, Notizen, amtliche Mittheilungen. 


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Mit dem laufenden Jahre beginnen zwei neue uns interessirende periodische 
Zeitschriften in Italien zu erscheinen: die Rivista quindicinale di psicologia, psi- 
chiatria, neuropatologia ad uso dei medici e dei giuristi, herausgegeben von den 
römischen Vertretern der Psychiatrie E. S ci am an na und G. Sergi, redigirt 
unter Mitwirkung von A.Giannelli, G. F. Montesano, A. Niceforo, G. Pa- 
cetti, G. Pardo und B. Vespa von Sante de Santis (casa editrice flli. Ca¬ 
pa ccini, Via Sistina No. 22, Roma), und die Rivista di medicina legale e di 
ginrisprudenza medica, herausgegeben von A. Severi, L. Acconci, P.E. Ben za, 
A. Filippi, F. Marino Zuco und E. Morsolli, redigirt von L. Borri, G. Per¬ 
rand o und C. Rota (casa editrice Dr. Francesco Vallardi, Milano). Wir 
wünschen unseren beiden (Kolleginnen den Erfolg, den die Namen ihrer Leiter uns 
sicher zu verbürgen scheinen. 


Der zweite Herausgeber dieser Zeitschrift ist von der Gesellschaft für ge¬ 
richtliche Medicin Belgiens zum Ehrenmitgliede ernannt worden. 


Der Deutsche Verein für öffentliche Gesundheitspflege hält in den 
Tagen vom 14. -17. September d. J. seine 22. Versammlung in Karlsruhe ab. 

Tagesordnung: 

Dienstag, den 14. Sept.: Mittheilungen über den Stand der Kehrichtverbren- 
nung in Deutschland. Oberingenieur F. A. Meyer-Hamburg. — I. Die Bekäm¬ 
pfung des Alkoholmissbrauchs. Referent: Med.-Rath Prof. Dr. F. Tuczek-Mar¬ 
burg. — II. Vortheile und Nachtheile der getrennten Abführung der Meteorwässer 
bei der Canalisation der Städte. Referenten: Hofrath Prof. Dr. A. Gärtner-Jena 
und Baurath A. Herzberg-Berlin. 

Mittwoch, den 15. Sept.: III. Die Nahrungsmittelfälschung und ihre Bekäm¬ 
pfung. Referenten: Oberbürgermeister Rümel in-Stuttgart und Prof. Dr. II. 
ßeckurts-Braunschweig. — IV. Die Vorzüge der Schulgebäude-Anlagen im Pa¬ 
villon-System, durchführbar für die Aussenbezirke der Städte. Referent: Prof. H. 
Chr. Nussbaum-Hannover. 

Donnerstag, den 16. Sept.: V. Die Wohnungsdesinfection in wissenschaft¬ 
licher und practischer Hinsicht. Referenten: Prof. Dr. E. v. Es mar ch «Königs¬ 
berg und Oberbürgermeister Zweigert-Essen. — VI. Hygiene der Bäder und 
Luftkurorte (Sommerfrischen) nnd Massregeln gegen Einschleppung und Verbrei¬ 
tung von Infectionskrankheiten. Referent: Geheimrath Dr. F. Battl ebner - 
Karlsruhe. 

Freitag, den 17. Sept.: Besuch von Baden-Baden. Besichtigung der Trink¬ 
halle, der staatlichen Badeanstalten und der Kläranlage für das Kanalwasser. 
Spaziergänge in die Villenbezirke, auf das alte Schloss u. s. w. 

Alles Nähere, die diesjährige Versammlung Betreffende, wird den Mitgliedern 
mit den von den Herren Referenten aufgestellten Thesen oder Schlusssätzen Mitte 
August mitgetheilt werden durch den ständigen Secretär Geh. Sanitäts-Rath Dr. 
A. Spiess in Frankfurt a. M. 


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Besprechungen, Referate, Notizen, amtliche Mittheilungen. 


Amtliche Mittheilungen. 

Randerlass an die Königl. Regierungs-Präsidenten betr. Choleradiagnose. 

In meinem Erlass vom 25. Juli d.Js. — M. 15535*) — hatte ich angeordnet, 
dass in jedem choleraverdächtigen Falle im dortigen Bezirk, sobald nach dem Er¬ 
gebnisse der Untersuchung die Annahme eines wirklichen Cholerafalles berechtigt 
erscheint, unverzüglich Untersuchungsmaterial an das hiesige Königliche Institut 
für Infektionskrankeitcn einzusenden ist, und dass erst, nachdem von hier aus 
das Ergcbniss der Untersuchung als positiv mitgetheilt worden, die Krankheit 
amtlich als Cholera bezeichnet werden darf. Um Missverständnissen vorzubeugen, 
bemerke ich, dass es sich hierbei nur um jeden ersten Fall von choleraverdäch¬ 
tiger Erkrankung an einem Orte handelte. 

Da es sich indessen als durchführbar herausgestellt hat, das auch die Hygie¬ 
nischen Institute der Universitäten stets wirksames Choleraserum und cholera¬ 
immune Meerschweinchen vorräthig halten, erscheint es gerechtfertigt, in allen 
denjenigen Fällen, in welchen die Untersuchung choleraverdächtigen Materials 
im Hygienischen Institut einer Universität stattgefunden hat, von der Nach¬ 
prüfung der Choleradiagnose durch das Institut für Infektionskrankheiten Abstand 
nehmen zu lassen. 

Bei Untersuchungen, welche an anderen Stellen stattgefunden haben, behält 
es dagegen bei meiner Verfügung vom 25. Juli d. Js. sein Bewenden, mit der 
Massgabe jedoch, dass in diesen Fällen auch dann, wenn keine Cholerabakterien 
gefunden worden sind, Untersuchungsmaterial zur Nachprüfung an das Institut 
für Infektionskrankheiten oder an das nächstgelegene Hygienische Universitäts- 
Institut einzusenden ist. Dies ist erforderlich, um das Nichterkennen eines 
ersten Falles von Cholera an einem Orte mit Sicherheit zu verhüten. 

Berlin, den 24. November 1896. 

Der Minister der geistlichen, Unterrichts- und Medicinal-Angelegenheiten. 

Bosse. 


Runderlass an die Königl. Regierungs-Präsidenten betr. leprakranke 

Schalkinder. 

Ein Specialfall, in welchem im Nasenschleim eines leprakranken Schul¬ 
knaben Leprabacillen mikroskopisch nachgewiesen worden sind, giebt uns behufs 
Verhütung von Ansteckungen Veranlassung, unter die im § 1 b der Anlage zu 
unserer Rundverfügung vom 14. Juli 1884, betreffend die Schliessung von Schulen 
bei ansteckenden Krankheiten, aufgezählten Krankheiten auch die Lepra (den 
Aussatz) aufzunehmen. Die §§ 2—11 der gedachten Verfügung finden daher auch 
auf die an Aussatz leidenden Schulkinder Anwendung, mit der Massgabe jedoch, 
dass mit Rücksicht auf die lange Dauer und die anscheinende Unheilbarkeit 
der Krankheit den Eltern und der Ortspolizeibehörde die Verpflichtung auf- 


1) Vierteljahrsschr. f. gerichtl.Medicin u. öffentl. Sanitätswesen. Jahrg. 1896. 
4. Heft. S. 453/454. 


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Besprechungen, Referaie, Notizen, amtliche Mittheilungen. 185 

zuerlegen ist, für den Unterricht der Kinder in anderer geeigneter Weise Sorge 
zu tragen. 

Berlin, den 19. Januar 1897. 

Der Minister der geistlichen, Unterrichts- Der Minister 

und Medicinal-Angelegenheiten. des Innern. 

Bosse. I. A.: Braunbehrens. 


Runderlass an die Königl. Regierungs-Präsidenten betr. die Dispensation 

homöopathischer Arzneimittel. 

Die Vorschriften des Reglements über die Befugniss der approbirten Medizi- 
nal-Personen zum Selbstdispensiren der nach homöopathischen Grundsätzen be¬ 
reiteten Arzneimittel vom 20. Juni 1843 (G.-S. S. 305) haben vielfach die 
Auslegung erfahren, dass Aerzte, welche die im § 3 des Reglements bezeichnete 
Prüfung bestanden haben, schon auf Grund des erlangten Befähigungszeugnisses 
sich zum .Selbstdispensiren homöopathischer Arzneimittel für berechtigt halten, 
ohne hierzu die Erlaubniss des Ministers der geistlichen, Unterrichts- und Medi- 
zinal-Angelegenheiten erhalten zu hacen. Dass diese Auslegung eine irrige ist, 
ergeben die Vorschriften der §§ 2 und 3, welche das Recht, nach homöopathischen 
Grundsätzen bereitete Arzneimittel selbst zu dispensiren, ausser von der durch 
das Bestehen einer Prüfung nachzuweisenden Befähigung noch von einer beson¬ 
deren Erlaubniss des Ministers ausdrücklich abhängig machen. Wer ohne diese 
Genehmigung homöopathische Arzneimittel selbst dispensirt, soll gemäss der 
Bestimmung im § 8 daselbst von der Befugniss hierzu für immer ausgeschlossen 
bleiben und ausserdem nach den allgemeinen Vorschriften über den unbefugten 
Verkauf von Arzneien bestraft werden. 

Indem ich Veranlassung nehme, die vorstehenden Anordnungen des Regle¬ 
ments erneut in Erinnerung zu bringen, bemerke ich zugleich, dass ich beabsichtige, 
bei der Handhabung dieser Angelegenheit in Zukunft nach Massgabe der nach¬ 
stehenden Gesichtspunkte zu verfahren: 

1. Denjenigen homöopathischen Aerzten, welche bisher ohne ministerielle 
Erlaubniss homöopathische Arzneimittel selbst dispensirt haben, wird die Geneh¬ 
migung ohneWeiteres ertheilt werden, sofern nichtVerfehlungen des Antragstellers 
gegen die medizinal-polizeilichen Vorschriften oder sonstige die Zuverlässigkeit 
der Person in Frage stellende Hinderungsgründe eine Versagung erforderlich er¬ 
scheinen lassen. 

2. Der Umstand, dass bei den vorhandenen Apotheken eines Ortes homöo¬ 
pathische Arzneiabgabestellen eingerichtet sind, bildet kein Hinderniss für die 
Ertheilung der Genehmigung. 

3. Beim Wechsel des Wohnortes des Arztes erlischt die Genehmigung nicht; 
dagegen ist der Arzt verpflichtet, von dem Wechsel dem Regierungs-Präsidenten, 
und, falls der Wohnort in den Bezirk einer anderen Regierung verlegt wird, auch 
dem Präsidenten dieser Regierung Anzeige zu erstatten. 

4. Die zur Zeit bestehenden Vorschriften über die Einrichtung und Beauf¬ 
sichtigung der ärztlichen Hausapotheken bleiben auch ferner massgebend (vgl. 
die §§ 49, 50 der Vorschriften über Einriohtung und Betrieb der Apotheker etc. 
vom 16. Dezember 1893, M. Bl. f. i. V. 1894 S. 11, und §§ 1, 25, 26 der An- 


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1S(> Besprechungen, Referate, Notizen, amtliche Mittheilungen. 

Weisung zur amtlichen Besichtigung der Apotheken etc. vom 16. Dezember 1*93, 
daselbst S. 12 und 15). 

Indem ich die entgegenstehenden Bestimmungen des Runderlasses voml4.Nov. 
1895 (M. (>883 1) aufhebe, ersuche ich Ew. Hochwohlgeboren ergebenst, bei bericht- 
lieben Anträgen die vorstehenden Gesichtspunkte gefälligst zu beachten. 

Berlin, den 19. Januar 1897. 

Der Minister der geistlichen, Unterrichts- und Medicinal-Angelegenheiten. 

B o s s (*. 


Kunderlass an die Königl« Regierungs-Präsidenten betr. die Anstellung yoii 
H aus- und Bankschlächtern als Trichinenschauer« 

Es ist zu unserer Kenntniss gelangt, dass an einigen Orten Haus- und Bank¬ 
schlächter als Trichinenschauer in Pflicht genommen sind. Da bei den sonstigen 
Verrichtungen solcher Hausschlächter die Gefahr vorliegt, dass die Untersuchungen 
nicht mit der. erforderlichen Sorgfalt ausgeführt werden, so bestimmen wir, dass 
Haus- und Bankschlächter überhaupt nicht mehr als Trichinenbeschauer angestellt 
werden dürfen. 

Berlin, den 18. Februar 1897. 

Der Minister für Landwirth- Der Minister Der Minister 

schaff, Domänen u. Forsten, der geistl. etc. Angel. des Innern. 

Freiherr v.Hammerstein. I. A.: Bartsch. 1. A.: Haase. 

Der Minister für Handel und Gew r erbe. 

I. V.: Loh mann. 


Erlass des Ministers der öffentlichen Arbeiten betr« Untersuchung des 
Sehvermögens der Eisenbahn-Bediensteten bei den prenss. Staatsbahnen. 

Ueber die Anforderungen, welche an das Sehvermögen (Sehschärfe und 
Farben unterscheidungsvermögen) der Eisenbahnbediensteten zu stellen sind, gelten 
nachstehende Vorschriften: 

I. 

1. Die Feststellung des Sehvermögens erfolgt vor dem Eintritt in die Be¬ 
schäftigung und vor dem Uebertritt aus einer Beschäftigung, für welche geringere 
Anforderungen an das Sehvermögen gestellt werden, in eine Beschäftigung mit 
höheren Anforderungen. 

2. Die Prüfungen sind bei mittlerer Tagesbeleuchtung und auf jedem Auge 
einzeln vorzunehmen. 

3. Die Wiederholung der Untersuchungen findet längstens alle fünf Jahre, 
sowie nach Augenkrankheiten, Kopfverletzungen, Gehirnerkrankungen, Erschütte¬ 
rungen, nach schweren Erkrankungen (Typhus-, Herz-, Nierenleiden u.s.f.) durch 
den Bahnarzt statt. Die Vordrucke der ärztlichen Genesungszeugnisse müssen zur 
Beantwortung der Frage, ob die Sehschärfe und das Farbenunterscheidungsver- 
mögen, sowie (Erlass vom 13. April 1877 2b. a. P. 3060 E.-V.-Bl. S. 223) das 
Hörvermögen, noch ausreichend sind, ausdrücklich anleiten. DasGenesongzeugniss 


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Besprechungen, Referalc, Notizen, amtliche Miltheilungen. 


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des Bahnarztes kann auch durch das Zeugniss des von der Eisenbahnbetricbs- 
kr&nkenkasse bestellten Kassenarztes ersotzt werden. 

II. 

1. Die Anforderungen an das Sehvermögen richten sich nach der Art der 
Beschäftigung. Demgemäss werdon nach der angeschlossenen Liebersicht die Be¬ 
diensteten unterschieden in solche, auf welche die Bestimmungen des Bundesraths 
über die Befähigung von Eisenbahnbetriebsbeamten, vom 5. Juli 1892 (H.-G.-Bl. 
S. 723, E.-V.-Bl. S. 189) Anwendung finden (Klasse I), und in solche, für welche 
der Bandesrath Bestimmungen nicht getroffen hat (Klasse II). Die Klasse I zerrfällt 
bezüglich des Sehvermögens in die Gruppe A und B, die Klasse II in die Gruppen 
A, B, C. 

2. Ob die Bediensteten für Beamtenverrichtungen im etals- oder ausser- 
etatsmässigen Staatsbeamtenverhältniss, ob sie als Hülfsbedienstete (Hülfs- und 
Aushülfsbahnwärter, -Weichensteller, -Bremser, -Wagenwärter, -Heizer, -Wagen- 
nnd Rangirmeister, -Telegraphisten, -Portiers u. s. f., -Stationsgehülfen u. s. w.) 
ausserhalb des Beamtenverhältnisses bestellt, ob sie nur zur Probe und Ausbildung 
als Hülfsbedienstete zur Beschäftigung herängezogen, oder ob sie nur versuchsweise 
beschäftigt sind, macht für die Erfüllung der an ihr Sehvermögen gestellten An¬ 
forderungen keinen Unterschied. Auch ist für die Anwendung dieser Bestimmungen 
die wirkliche dienstliche Beschäftigung und nicht die etwa abweichende Amts¬ 
bezeichnung des einzelnen Bediensteten massgebend. 

A. Sehschärfe. 

IH. 

Das Vorhandensein der erforderlichen Sehschärfe ist mit Tafeln, die nach 
den Sn eilen’sehen Regeln angefertigt sind und amtlich den Bahnärzten 
geliefert werden, festzustellen. Die Königliche Eisenbahndirektion in Berlin wird 
beauftragt, solche Tafeln in geeigneter Form (auch mit kurzen Erläuterungen, die 
allgemein verständlich sind) nach sachkundigem Rathe für alle Eisenbahndirek¬ 
tionen, welche ihren Bedarf anzumelden haben, anfertigen zu lassen und vorräthig 
zu halten. 

IV. 

Die Sehschärfe soll beim Eintritt oder Uebertritt (Abschnitt 1, Absatz 1) 
in eine: 

unter A beider Klassen bezeichnete Beschäftigung auf jedem Auge 
mindestens 7s, 

unter B beider Klassen bezeichnete Beschäftigung auf den einzelnen Augen 
mindestens 2 /s und y 8 , 

unter C der Klasse II bezeichnete Beschäftigung auf den einzelnen Augen 
mindestens y g und x / 6 

des von Snellen als Einheit (Abschnitt III) angenommenen Maasses betragen. 

V. 

1. Die bahnäretliohe Wiederholungsprüfung (Abschnitt I Abs. 3) erstreckt 
sich auf die Bediensteten der Gruppen A und B beider Klassen. 

2. Wird dabei festgestellt, dass die bezeichnete Sehschärfe zwar nicht mehr 
vorhanden, aber bei den Bediensteten Gruppen A beider Klassen noch nicht 
auf i/ 2 auf einem der beiden Augen, bei denen der Gruppen B beider Klassen 
noch nicht unter l / 9 auf einem der beiden Augen zurückgegangen ist, so ist zur 


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Feststellung, oh und unter welchen Bedingungen (häufiger wiederkehrende Unter¬ 
suchung u. s. w.) der Bedienstete in seiner Stellung belassen werden kann, eine 
praktische Prüfung auf den Bahnanlagen von dem dem Bediensteten Vorgesetzten 
Inspektionsvorstande unter Zuziehung des Bahnarztes vorzunehmen. Führt die 
praktische Prüfung nach der übereinstimmenden Ansicht des Inspektionsvorstandes 
und des Bahnarztes zu einem günstigen Ergebniss, werden insbesondere Weichen¬ 
signale bei mittlerer Tagesbeleuchtung von den Bediensteten der Gruppen A auf 
350 m, von denen der Gruppen B auf 200 m Entfernung erkannt, so kann der 
Inspektionsvorstand selbst die Belassung des Bediensteten in seiner Beschäftigung 
verfügen. 

3. Ist dagegen das Ergebniss der praktischen Prüfung ungünstig oder zweifel¬ 
haft oder stellt sich schon bei der bahnärztlichen Wiederholungsprüfung ein 
Rückgang der Sehschärfe auf oder unter die bezeichneten Grenzen (auf */«, oder 
unter ! / 3 auf einem der beiden Augen) heraus, so ist an die Vorgesetzte Eisen¬ 
bahndirektion zu berichten, welche über die weitere Verwendung des Bediensteten, 
geeignetenfalls nach dem Ergebniss einer weiteren praktischen Prüfung und nach 
Anhörung des Augenarztes, zu entscheiden hat. 

4. Hinsichtlich der einei Inspektion nicht unterstellten Bediensteten be¬ 
stimmt die Eisenbahndirektion, wie und von wem die praktische Wiederholungs¬ 
prüfung vorzunehmen ist. 

VI. 

1. Der Gebrauch der gewohnheitsmässig getragenen Brille, bei deren 
Benutzung die vorgeschriebene Sehschärfe vorhanden ist, ist gestattet bei und 
nach den Prüfungen für den Ein- oder Uebertritt in eine Beschäftigung der 
Gruppe C, ferner in eine Beschäftigung als Landmesser, Bauassistent und Bau¬ 
aufseher (Klasse II. B. 14, 15), desgleichen — unter der Verpflichtung, eine 
Ersatzbrille bei sich zu führen — als Telegraphenbeamter auf Stationen, 
Betriebskontroleur, Zugrevisor, technischer Kontroleur bei den Inspektionen, 
soweit er nicht im Lokomotivdienst thätig ist, als Maschinist für elektrische 
Beleuchtungs- und Kraftanlagen oder Maschinenwärter (Klasse II. B. 10 bis 
13, 16, 17). 

2. Die gleiche Erlaubniss kann bei und nach den Wiederholungsprüfungen 
(Abschnitt I Abs.3) den übrigen Bediensteten der Gruppen B, und den Bediensteten 
der Gruppe A mit Ausnahme: 

der Bahnwärter, Lokomotivführer, Weichensteller (auch der Weichensteller 
1. Klasse auf Stellwerken), der Rangirmeister, Brückenwärter, Rottenführer, 
Lokomotivheizer, der Werkstattbediensteten und technischen Kontroleure in) 
Falle ihrer Mitwirkung im Lokomotivdienst, der Rangirarbeiter 
von den zuständigen Inspektionsvorständen und, soweit die Beamten einer ln¬ 
spektion nicht unterstellt sind, von den Eisenbahudirektionen nach Anhörung 
des Augenarztes mit den durch den Einzelfall gebotenen Beschränkungen und 
Auflagen (ständiges Tragen der Brille, Mitführen einer Ersatzbrille u. s. f.) er- 
theilt werden. 

VII. 

Die Beschallung und Vorhaltung der zu den Untersuchungen des Sehver¬ 
mögens etwa erforderlichen Brillenkasten ist Sache der Bahnärzte. 


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Besprechungen, Referate, Notizen, amtliche Mittheilungen. 


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VIII. 

Die Fragen 12 und 19 des von den Dienstbewerbern einzureichenden ärzt¬ 
lichen Untersuchungszeugnisses sind unter Beseitigung der Frage 20 nach den 
vorstehenden Bestimmungen so abzufassen, wie am Schlüsse der auf der letzten 
Seite des Fragebogens abzudruckenden Uebersicht bemerkt ist. 

IX. 

Die gegenwärtig vorhandenen Bediensteten der Gruppen A und B beider 
Klassen sind Wiederholungsprüfungen nach den vorstehenden Bestimmungen bald 
ihunlichst zu unterziehen. 

X. 

1. Sollten sich bei längerer Anwendung der vorstehenden Bestimmungen 
Schwierigkeiten ergeben, so ist zu berichten. Alsbald ist jedoch meine Ent¬ 
scheidung einzuholen, wenn etwa schon bei der erstmaligen Durchführung dieser 
Vorschriften Anlass genommen werden müsste, eine grössere Anzahl von Be¬ 
diensteten aus ihrer gegenwärtigen Beschäftigung zu entfernen, oder wenn sich 
in Einzelfällen besondere Härten für die Beamten ergeben sollten. 

2. Wegen der höheren Beamten ergeht besondere Verfügung. 

B. Farbenunterscheidungsvermögen. 

XL 

1. Die Feststellung des Farbenunterscheidungsvennögens kann dadurch ge¬ 
schehen, dass dem zu Untersuchenden die Ordnung verschiedenfarbiger Wollfäden 
aufgegeben wird (Holmgren’sche Methode); die Wollfäden sind nötigenfalls 
den Bahnärzten von der Eisenbahnverwaltung zu liefern. 

2. Die bahnärztliche Wiederholungsprüfung (Abschnitt I Absatz 3) er¬ 
streckt sich auf die unter I A, 1 B, II A, II B 1 bis 13, C 1 bis 4 bezeichneton 
Dienstklassen. 

3. Wird in der Wiederholungsprüfung bei Angehörigen dieser Dienstklassen 
ein unrichtiges Farbenunterscheidungsvermögen ermittelt, so sind die Bediensteten 
der unter I A, 1 B, II A, II B 1 bis zu 4 bezeichneten Klassen aus den bisher 
«rahrgenommenen Dienststellen zurückzuziehen und in solchen, in denen der be- 
zeichnete Mangel nicht hinderlich ist, in denen sie insbesondere nicht mit dem 
Signaldienst in Berührung kommen, zu verwenden, soweit sie iin Uebrigen für 
diese Stellungen befähigt sind. (Vergleiche auch den Erlass vom 26. Juli 1879 — 
11. P. 4584 - Elberfelder Samml. Bd. 1 S. 497 Nr. 470). 

4. Bedienstete der unter II B 11 bis 13 bezeichneten Klassen, deren Farben¬ 
sinn als mangelhaft ermittelt wird, haben sich aller Anordnungen und Ver¬ 
richtungen, für welche das richtige Erkennen farbiger Signale von Bedeutung ist, 
zu enthalten. 

5. Die unter I A, I B, II A, HB bis 10, II CI bis 4 genannten Bediensteten, 
bei denen Mängel im Farbenunterscheidungsvermögen festgestellt worden, dürfen 
auch nicht aussergewöhnlich zur Hülfeleistung bei Geschäften des äusseren Be¬ 
triebsdienstes, die einen richtigen Farbensinn erfordern, betheiligt werden. Zugleich 
sind Vorkehrungen zu treffen, dass nicht gelegentlich durch ihre Mittheilung über 
den Stand farbiger Signale Missverständnisse bei den verantwortlichen Beamten 
erregt werden können. Zu diesem Zweck sind insbesondere die Bediensteten 
selbst, deren Farbsinn als mangelhaft festgestellt ist, über diese Feststellung und 
über die hieraus für ihr dienstliches Verhalten sich ergebenden Folgen schriftlich 


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Besprechungen, Referate, Notizen, amtliche Mittheilungen. 


zu unienveisen; auch sind dieDienstvorstehcr zu benachrichtigen und die Personal¬ 
akten, die Personalienbogen nnd die Arbeiterlisten an augenfälligen Stellen mit 
Vermerken zu versehen. 

6. Hat die Wiederholungsprüfung ein ungünstiges oder zweifelhaftes Ergeb¬ 
nis, so ist nach Anhörung des Augenarztes die Entscheidung von der Vorgesetzten 
Inspektion und hinsichtlich der nicht einer Inspektion unterstellten Beamten von 
der Eisenbahndirektion zu treffen. 

7. Die Erlasse vom 19. Mai 1877 — II. 9147 — (Elberfelder Samml. Bd. I. 

5. 154 No. 116a) nnd vom 25. März 1896 — IV a. B. 15048 — E.-V.-Bl. S. 163) 
über die Untersuchung des Farbenunterscheidnngsvermögens, deren wesentliche 
Bestimmungen vorstehend zusammengefasst sind, werden hierdurch aufgehoben. 

Vorstehende Bestimmungen finden sinngemäss auch auf die Privateisen¬ 
bahnen insoweit Anwendung, als sie die Bediensteten der Klasse I betreffen. 

Uebersicht der Dienstklassen, geordnet nach den Anforderungen 
an das Sehvermögen, und Entwurf zu den Fragen 12 und 19 des 
Fragebogens für die ärztliche Untersuchung. 

I. Dienstklassen, auf welche die Bestimmungen des Bundesraths über die Befähi¬ 
gung von Eisenbahn-Betriebsbeamten vom 5. Juli 1892 (R.-G.-Bl. S. 723, E.-V.-Bl. 

S. 189) Anwendung finden. 

Für die Sehschärfe. 

Gruppe A: 1. Bahnwärter; 2. Bremser; 3. Schaffner; 4. Packmeister; 5. 
Zugführer; 6. Lokomotivführer; 7. Stationsaufseher, Stationsassistent; 8. Stations¬ 
vorsteher; 9. Haltestellenaufseher; 10. Haltepunktwärter; 11. Weichensteller (auch 

I. Klasse); 12. Rangirmeister. 

Gruppe B: 1. Bahnmeister (auch 1. Klasse); 2. Wagenwärter; 3. SUtions- 
portiers; 4. Stationswächter. 

II. Dienstklassen, auf welche die vorbezeichneten Bestimmungen des Bundesraths 

nicht Anwendung finden. 

Für die Sehschärfe. 

Gruppe A: 1. BrückenWärter; 2. Schiankenwachen (-Wärterinnen); 3. Rot¬ 
tenführer (Streckenvorarbeiter); 4. Lokomotivheizer; 5. Werkstätten vorsteh er, 
Werkmeister, Werkführer und Vorarbeiter in Lokomotiv- und Betriebswerkstätten; 

6. Rangirarbeiter; 7. Telegraphenbeamte auf Blockstationen. 

Gruppe B: 1. Krahnmeister; 2. Krahnwärter; 3. Trajekt- und Schiffsbe¬ 
dienstete; 4. Stationsarbeiter, soweit nicht unter A und C benannt; 5. Bahnsteig¬ 
schaffner; 6. Wagenmeister; 7. Wagenaufzeichner; 8. Telegraphenmeister; 9. Tele¬ 
graphenunterhaltungsarbeiter; 10. Telegraphenbeamter auf Stationen; 11. Betriebs- 
kontroleure; 12. Zugrevisoren; 13. Technische Kontroloure bei den Inspectionen; 
14. Landmesser; 15. Bauassistenten und Bauaufseher; 16. Maschinisten für elek¬ 
trische Beleuchtungs- und Kraftanlagen; 17. Maschinenwärter. 

Gruppe C: 1. Werkstättenvorsteher, Werkmeister, -Führer und Vorarbeiter 
ausserhalb der Betriebs- und Lokomotivwerkstätten; 2. Abfertigungsbeamte, mit 
Ausnahme der Stationskassenrendanten, Einnehmer, Fahrkartenausgeber, Brücken¬ 
geldeinnehmer; 3. Lademeister; 4. Maschinenputzer; 5. die unter 2 ausgenom¬ 
menen Abfertigungsbeamten; 6. Materialien Verwalter; 7. Magazinaufseher und 
-Arbeiter; 8. Werkstättenportiers und -Wächter; 9. Werkstättenarbeitenr; 10. Ge- 


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Besprechungen, Referate, Notizen, amtliche Miltheilungen. 191 

päckträger: 11. Wagenputzer; 12. Kohlenlader; 13. Güterbodenarbeiter; 14. 
Strccken(Rotten-)arbeiter; 15. Bureaubeamte (nichttechnische); 16. Burcaubeainte 
(technische) mit Ausnahme der unter B 14 genannten; 17. Kanzleibeamte; 18. 
Zeichner; 19. Telegraphenbeamte in den Bureaus; 20. Billetdrncker; 21. Stein- 
drucker; 22. Bureau- und Kassendiener; 23. Fahrkartenordner; 24. Ofenheizer 
u. s. w. 

Das bei der Anstellung anzuwendende Untersuchungs-Formular er¬ 
fahrt demnach folgende Veränderungen: 

Frage 12. 

a) Ergiebt die Prüfung der Sehschärfe: 

1. Ohne Glas auf jedem Auge mindestens 2 / 3 des von .Snellen als Einheit 
(1) angenommenen Maasses? (Erforderniss für Bedienstete der Gruppen 
IA und IIA der Uebersicht.) 

2. «) Ohne Glas auf den einzelnen Augen mindestens 2 / 3 und 1 / 3 wie vor? 

(Erfordernisse für Bedienstete der Gruppen 1B und 11B No. 19 und 
No. 17.) 

Mit Glas, sonst wie bei 2 et? (Erforderniss der Bediensteten der Gruppe 
IIB No. 10-16.) 

3. Ohne oder mit Glas auf den einzelnen Augen mindestens */ 2 und 1 / t; 
wie vor? (Erforderniss für die Bediensteten der Gruppe IIC.) 

b) und c) (alt) fallen aus. 

d) und e) (alt) bleiben unverändert als neu b) und c). 
f) (alt) wird d). Sind Veränderungen des Gesichtsfeldes, Schielen oder 
Augenmuskellähmung vorhanden? 

Frage 19. Eignet sich der Untersuchte demnach zur Beschäftigung als: 

a) Bediensteter der Gruppen IA und IIA der Uebersicht? 

b) 1. Bediensteter der Gruppen IB und IIB No. 1 bis 9 und No. 17 der 

Uebersicht? 

2. Bediensteter der Gruppe IIB No. 10 bis 16 desgleichen? 

c) Bediensteter der Gruppe C desgleichen? 

Frage 20 fällt aus. 

Berlin, den 7. Januar 1897. 


Bekanntmachung des Reichskanzlers betr. Einrichtung und Betrieb von 
Anlagen zur Herstellung von Alkali-Chromaten. 

Auf Grund der §§ 120 e und 139a der Gewerbeordnung hat der Bundesrath 
über die Einrichtung und den Betrieb der Anlagen, in denen die Herstellung von 
Alkali-Chromaten (doppeltchromsaurem Kalium oder doppeltchromsaurcm Natrium) 
oder die Chromat-Regeneration stattßndet, folgende Vorschriften erlassen: 

§ 1. Die Zerkleinerung und Mischung der Rohmaterialien (Chromeisenstein, 
Aetzkalk, Sodau.s.w.) darf nur in Apparaten erfolgen, welche so eingerichtet sind, 
dass das Eindringen von Staub in die Arbeitsräumc thunlichst verhindert wird. 

§ 2. Alle Betriebseinrichtungen, welche geeignet sind, chromathaltigen Staub 
oder chromathaltigen Dampf zu erzeugen, müssen mit gut wirkenden Vorrichtungen 
versehen sein, durch welche der Eintritt solchen Staubes oder Dampfes in die 
Arbeitsräume thunlichst vermieden wird. 


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192 Besprechungen, Referate, Notizen, amtliche Mittheilungen. 

Die Schmelze darf nur in nassem Zustande oder in verdeckten Behältern 
transportirt werden; eine Lagerung der Schmelze ist, ausser bei den Oefen, nur 
in einem von sonstigen Arbeitsräumen abgesonderten Raume gestattet. 

Auslauge- und Abdampfpfannen sowie alle sonstigen Gefässe, welche Lö¬ 
sungen mit mehr als 50° C. enthalten, desgleichen die Säurerungspfannen sind mit 
gut schliessenden, ins Freie oder in einen Schornstein mündenden Abzugsvorrich- 
turigen zu überdecken. 

§ 3. Die Weiterbearbeitung der festen Chromate, insbesondere beim Trocknen, 
Sieben, Zerkleinern (Brechen, Mahlen) und Verpacken, muss in einem von sonsti¬ 
gen Arbeitsräumen abgesonderten Raume stattfinden. 

Die Zerkleinerung der Chromate darf nur in dicht ummantelten Apparaten 
vorgenommen werden. 

§ 4. Die Arbeitsräume und Höfe sind von Verunreinigungen mit Chromaten 
möglichst frei zu halten; insbesondere ist auf alsbaldige Beseitigung von Chro¬ 
maten Bedacht zu nehmen, welche durch Verspritzen von Laugen oder durch un¬ 
dichte Rohrleitungen in die Arbeitsräume gelangt und eingetrocknet sind. Fuss- 
böden, Wände, Treppen und Geländer sind stets in sauberem Zustande zu erhalten. 

Nach Bedarf, jedoch mindestens vierteljährlich, ist eine gründliche Reini¬ 
gung der Arbeitsräume vorzunehmen. 

§ 5. Der Arbeitgeber hat allen im Chromatbetriebe beschäftigten Arbeitern 
Arbeitsanzüge und Mützen in ausreichender Zahl und zweckentsprechender Be¬ 
schaffenheit zur Verfügung zu stellen. 

§ 6. Solche Arbeiten, bei welchen die Entwickelung chromathaltigen Stau¬ 
bes nicht völlig vermieden und letzterer nicht sofort und vollständig abgesaugt 
wird, darf der Arbeitgeber nur von Arbeitern ausführen lassen, welche zweckmässig 
eingerichtete, von dem Arbeitgeber gelieferte Respiratoren oder andere Mund und 
Nase schützende Vorrichtungen, wie feuchte Schwämme, Tücher u. s. w. tragen. 

Dies gilt insbesondere auch von dem Herausnehmen stäubender Masse aus 
den Trockenöfen, dem Beschicken der Schmelzöfen mit stäubender, aus den 
Trockenöfen entnommener Masse, von dem Entleeren der Schmelzöfen und dem 
Einschmelzen trockener Schmelze in die Transportbehälter, sowie von den Arbeiten 
beim Trocknen, Sieben und Verpacken der fertigen Chromate. 

§ 7. Der Ardeitgeber hat durch geeignete Anordnungen und Beaufsichtigung 
dafür Sorge zu tragen, dass die in den §§ 5 und 6 bezeichneten Arbeitskleider, 
Respiratoren und sonstigen Schutsmittel regelmässig, und zwar nur von denjenigen 
Arbeitern benutzt werden, welchen sie zugewiesen sind, und dass dieArbeitskleider 
mindestens wöchentlich, die Respiratoren, Mundschwämme u. s. w. vor jedem Ge¬ 
brauch gereinigt und während der Zeit, wo sie sich nicht im Gebrauche befinden, 
an dem für jeden Gegenstand zu bestimmenden Platz aufbewahrt werden. 

§ 8. In einem staubfreien Theil der Anlage muss für die Arbeiter ein 
Wasch- und Ankleideraum und getrennt davon ein Speiseraum vorhanden sein. 
Beide Räume müssen sauber und staubfrei gehalten und während der kalten 
Jahreszeit geheizt werden. 

In dem Wasch- und Ankleideraum müssen Wasser, Gefasse zum Zweck des 
Mundspülens, zum Reinigen der Hände und Nägel geeignete Bürsten, Seife und 
Handtücher, sowie Einrichtungen zur Verwahrung derjenigen Kleidungsstücke, 


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Besprechungen, Referate, Notizen, amtliche Mittheilungen. 193 

welche vor Beginn der Arbeit abgelegt werden, in ausreichender Menge vorhan¬ 
den sein. 

Der Arbeitgeber hat seinen Chromatarbeitern wenigstens zwei Mal wöchent¬ 
lich Gelegenheit zu geben, ein warmes Bad zu nehmen. 

§ 9. Die Verwendung von Arbeiterinnen sowie von jugendlichen Arbeitern 
ist nur in solchen Räumen und nur zu solchen Verrichtungen gestattet, welche 
sie mit Chromaten nicht in Berührung bringen. 

Diese Bestimmung hat bis zum 1. April 1907 Gültigkeit. 

§ 10. Der Arbeitgeber darf zur Beschäftigung im Chromatbetriebe nur solche 
Personen einstellen, welche eine Bescheinigung eines approbirten Arztes darüber 
beibringen, dass sie nicht mit Hautwunden, -Geschwüren oder -Ausschlägen be¬ 
haftet sind. Die Bescheinigungen sind zu sammeln, aufzubewahren und dem Auf- 
sichtsbeamten (§ 139b der Gew.-Ordn.) auf Verlangen vorzulegen. 

§11. Der Arbeitgeber hat die Ueberwachung des Gesundheitzustandes der 
Chromatarbeiter einem dem Gewerbeaufsichtsbeamten namhaft zu machenden 
approbirten Arzte zu übertragen, welcher die Arbeiter mindestens ein Mal monat¬ 
lich, und zwar namentlich auf das Vorhandensein von Ilautgeschwüren und Er¬ 
krankungen der Nasen- und Rachenhöhle zu untersuchen hat. 

§ 12. Der Arbeitgeber hat darauf zu halten, dass die Arbeiter auf das Vor¬ 
handensein von wunden Hautstellen, selbst geringfügiger Art, insbesondere an 
ihren Händen, genau achten und zutreffenden Falls von dem Arzte oder einer von 
diesem als geeignet bczeichneten Person mit einem Schutzverbande versehen wer¬ 
den. Täglich vor Beginn oder während der Arbeit sind Hände, Vorderarme und 
Gesicht der Arbeiter durch eine solche Person zu besichtigen. 

§ 13. Auf Anordnung des Arztes sind Arbeiter, welche Krankheitserschei¬ 
nungen in Folgo von Chromateinwirkung, z. B. Hautgeschwüre oder Anätzungen 
der Nasenschleimhaut, zeigen, bis zur völligen Heilung, solcho Arbeiter aber, 
welche sich besonders empfindlich gegenüber den nachtheiligen Einwirkungen des 
Betriebes erweisen, dauernd von der Beschäftigung im Chromatbetriebe fernzu¬ 
halten. 

§ 14. Der Arbeitgeber ist verpflichtet, ein Krankenbuch zu führen oder unter 
seiner Verantwortung durch einen Betriebsbeamten führen zu lassen. Er haftet für 
die Vollständigkeit und Richtigkeit der Einträge, soweit sie nicht vom Arzte be¬ 
wirkt sind. 

Das Krankenbuch muss enthalten: 

1. den Namen dessen, welcher das Buch führt, 

2. den Namen des mit der Ueberwachung des Gesundheitszustandes der 
Arbeiter beauftragten Arztes, 

3. den Namen der erkrankten Arbeiter, 

4. die Art der Erkrankung und der vorhergegangenen Beschäftigung, 

5. den Tag der Erkrankung, 

t». den Tag der Genesung oder, wenn der Erkrankte nicht wieder in Arbeit 
getreten ist, den Tag der Entlassung, 

7. die Tage und Ergebnisse der im § 11 vorgeschriebenen allgemeinen ärzt¬ 
lichen Untersuchungen. 

§ 15. Der Arbeitgeber hat Vorschriften zu erlassen, welche ausser einer An- 

Viertel} ahrsechr. f. ger. Med. Dritte Folge. XIV. 1. 

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Besprechungen, Referate, Notizen, amtliche Mittheilungen. 


Weisung hinsichtlich des Gebrauchs der in den §§ 5 und 6 bezeichneten Gegen¬ 
stände folgende Bestimmungen enthalten müssen: 

1. Die Arbeiter dürfen Nahrungsmittel nicht in die Arbeitsräume mitnehmen. 
Das Einnehmen der Mahlzeiten ist ihnen nur ausserhalb der Arbeitsräume ge¬ 
stattet (vergl. § 8). 

2. Jeder Arbeiter hat die ihm überwiesenen Arbeitskleider, Respiratoren 
und sonstigen Schutzmittel §§ 5 und 6) in denjenigen Arbeitsräumen und bei 
denjenigen Arbeitern, für welche es von dem Betriebsunternehmer vorgeschrieben 
ist, zu benutzen. 

3. Die Arbeiter müssen sich vor dem Einnehmen einer Mahlzeit Hände und 
Gesicht sorgfältig waschen. Am Schluss der Arbeitsschicht und vor dem Verlassen 
der Fabrik müssen die Arbeiter die Arbeitskleider ablegen, Hände und Gesicht 
sorgfältig waschen, sowie Mund und Nase, und zwar ohne Anwendung von Appa¬ 
raten, ausspülen. 

In den zu erlassenden Vorschriften ist vorzusehen, dass Arbeiter, die trotz 
wiederholter Warnung den vorstehend bezeichneten Bestimmungen zuwider¬ 
handeln, vor Ablauf der vertragsmässigen Zeit und ohne Aufkündigung entlassen 
werden können. 

Werden in einem Betriebe in der Regel mindestens zwanzig Arbeiter be¬ 
schäftigt, so sind die vorstehend bezeichneten Vorschriften in die nach § 134a 
der Gewerbeordnung zu erlassende Arbeitsordnung aufzunehinen. 

§ 16. ln jedem Arbeitsraum, sowie in dem Ankleide- und dem Speiseraum 
muss eine Abschrift oder ein Abruck der §§ 1 bis 15 dieser Vorschriften und der 
gemäss § 15 vom Arbeitgeber erlassenen Vorschriften an einer in die Augen 
fallenden Stelle aushängen. 

§ 17. Die vorstehenden Bestimmungen treten mit dem 1. Juli 1897 in Kraft. 

Berlin, den 2. Februar 1897. 

Der Reichskanzler. 

I. V.: v. Boetticher. 


Kunderlass an die Vorprüfungs-Commissionen betr. die Prüfung der 

Nahrungsmitt elchemiker. 

Nachdem die im § 16 Abs. 2 der Prüfungsvorschriften für Nahrungsmittel- 
Chemiker den Apothekern mit der Prüfungsnote „sehr gut“ eingeräumten Vergün¬ 
stigungen hinsichtlich ihrer Zulassung zur Hauptprüfung mehrfach zu Zweifeln 
Anlass gegeben haben, wird in Nachstehendem die gedachte Bestimmung, wie folgt, 
ausgelegt: 

Zunächst steht nach dem Wortlaut und Sinn der bezeichneten Vorschriften 
nichts entgegen, dass denjenigen Apothekern, welche das für die Zulassung zur 
Prüfung erforderliche naturwissenschaftliche Studium von sechs Halbjahren vor 
Ablegung der Apothekerprüfung noch nicht ganz zurückgelegt haben, die Nach¬ 
holung der fehlenden Studiensemester nach der bestandenen Apothekerpiiifuag 
gestattet wird. Was ferner die praktische Thätigkeit an einer staatlichen Unter¬ 
suchungsanstalt für Nahrungs- und Genussmittel (§ 16 Abs. 1 Ziff. 4 der Prüfungs¬ 
vorschriften) anlangt, so darf dieselbe, ebenso wie sie bei Nahrungsmittelc}iemikern 
mit regelmässigem Studiengange nach ausdrücklicher Vorschrift erst für die Zeit 


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Besprechungen, Referate, Notizen, amtliche Mittheilungen. 195 

nach bestandenerVorprüfung vorgesehen ist, bei Apothekern erst nach der als 
Ersatz für die Vorprüfung geltenden Apothekerprüfung erfolgen. Diese prak- 
tische Thätigkeit in der Untersuchung von Nahrungs- und Genussmitteln zeitlich 
zusammenfallen zu lassen mit demjenigen Universitätsstudium, welches ein Apo¬ 
theker behufs Erreichung der vorgeschriebenen sechssemestrigen Studienzeit nach 
der bestandenen Apothekerprüfung ablegt, ist mit den geltenden Vorschriften nicht 
vereinbar. Durch die Bestimmung im § 16 Abs. 2 Satz l der Prüfungsvorschriften 
ist denjenigen Apothern, welche die Prüfung mit dem Prädikate „sehr gut“ be¬ 
standen haben, mit Rücksicht auf die hierdurch nachgewiesenen Kenntnisse die 
Vorprüfung sowie der Nachweis der Gymnasialreife und der 2 1 / 2 jährigen Beschäf¬ 
tigung in chemischen Laboratorien erlassen, dagegen ist die Einräumung noch 
grosserer Vergünstigungen nioht beabsichtigt. 

Als eine weitere und zwar nicht unerhebliche Erleichterung würde es aber 
anzusehen sein, wenn die bei den Nahrungsmittel-Chemikern getrennten Theile 
des Studiengangs, nämlich das theoretische Studium auf einer Hochschule und die 
praktische Thätigkeit in einer Untersuchungsanstalt, bei den in Frage stehenden 
Apothekern mit einander verbunden werden dürften. Ausserdem erscheint eine so 
weitgehende Begünstigung der Prüfungs-Kandidaten mjt pharmaceutischer Vor¬ 
bildung auch im Interesse einer thunlichst gründlichen Ausbildung der Nahrungs¬ 
mittel-Chemiker nicht wünsch enswerth; es ist vielmehr besonderer Werth darauf 
zu legen, dass die praktische Thätigkeit erst nach Ablauf des gesammten theore¬ 
tischen Studiums beginnt. 

Berlin, den 2. März 1897. 

Der Minister der geistlichen, Unterrichts- und Medicinal-Angelegenheiten. 

In Vertretung: von Weyrauch. 


Bunderlas* an die Königl. Regierungs-Präsidenten betr. das öffentliche 

Impfgeschäft. 

Die Berichte über das öffentliche Impfgeschäft im Jahre 1895 lassen ver¬ 
schiedene Mängel erkennen, welche uns veranlassen, die nachstehenden Anweisun¬ 
gen zur Nachachtung bei dem diesjährigen Impfgeschäft, wie überhaupt bis auf 
weitere Bestimmung für die Folge zu geben: 

Da der Bedarf an thierischem Impfstoff nach Errichtung einer ausreichenden 
Zahl von staatlichen Anstalten zur Gewinnung thierischen Impfstoffs leicht und 
in genügender Menge jederzeit gedeckt werden kann, so bestimmen wir, dass in 
Zukunft für die öffentlichen Impfungen im Allgemeinen ausschliesslich thierischer 
Impfstoff aus den Landesanstalten zu verwenden ist. Sollte in einem einzelnen 
Falle sich die Benutzung von Menschenlymphe nothwendig erweisen, so ist dies 
von dem Impfarzte besonders zu begründen. 

Durch die Untersuchungen über den thierischen Impfstoff, welche von der 
von mir, dem Minister der geistlichen, Unterrichts- und Medicinal-Angelegenheiten, 
eingesetzten Commission ausgeführt und in dem durch Verfügung vom 29. October 
v. Js. — M- 16346 — übersandten Druckbericht niedergelegt sind, ist erwiesen, 
dass lange und nahe bei einander gelegte Impfschnitte, bei welchen ein Zusammen¬ 
flüssen des um jede Impfpustel der Regel nach entstehenden Entzündungshofes 

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190 Besprechungen, Referate, Notizen, amtliche Mittheilungen. 

eintritt, je nach der Individualität des Impflings stärkere Reiz- und Entzündungs¬ 
erscheinungen veranlassen können. Behufs Vermeidung solcher Folgen ist deshalb 
darauf zu achten, dass die Anweisung, wonach die Länge der Schnitte höchstens 
1 cm und ihre Entfernungvon einander mindestens je 2 ein betragen soll, von 
den Impfärzten befolgt wird. Kreuz- und Gitterschnitte, welche nach den Berich¬ 
ten noch vereinzelt angewandt werden, sind zu untersagen. Bei der Wirksamkeit 
des thierischen Impfstoffs erscheint in den meisten Fällen ein einmaliges Ein¬ 
streichen in die klaffend gehaltenen Schnitte anstatt der bisher vielfach geübten 
wiederholten Einreibung des Impfstoffes ausreichend. 

Erwiesen ist ferner, dass die wirklichen erysipelatösen und phlegmonösen 
Entzündungen (Erysipelas, Phlegmone) durch die in der Thierlymphe vorhandenen 
bekannten Keime, wie auch die Untersuchungen über den Keimgehalt des von den 
preussischen Anstalten erzeugten Impfstoffes neuerdings wieder festgestellt haben, 
nicht erzeugt werden, sondern dass dieselben, wenn sie auftroten, accidentelle 
Wundinfectionskrankheiten sind. Es wird deshalb die Aufmerksamkeit der Impf¬ 
ärzte ganz besonders darauf zu richten sein, dass eine Uebertragung specifischer 
Infectionserreger in die Impfwunde nicht stattfindet. Zu diesem Zwecke müssen 
die Impfinstrumente durchaus rein sein und, so lange keine weitergehenden Vor¬ 
schriften ergangen sind, mindestens den Bestimmungen im § 17 der Vorschriften, 
welche von den Aerzten bei der Ausführung des Impfgeschäfts zu befolgen sind 
(Anlage I. des Runderlasses vom 6. April 1886. M. 8745, U. II. 838, U. IHa. 
13087), entsprechend behandelt werden. Darüber hinaus empfiehlt es sich, dass 
der Impfarzt ein steriles Instrument zu jeder Impfung verwendet und vor Beginn 
des Impfactes seine Hände und Arme, wie vor jeder chirurgischen Thätigkeit des- 
inficirt. 

Im gleichen Sinne ist Gewicht darauf zu legen, dass die Bestimmungen im 
§ 2 der Verhaltungsvorschriften für die Angehörigen der Impflinge (Anlage II.) 
und im § 6 der Vorschriften, welche von den Ortspolizeibehörden bei der Aus¬ 
führung des Impfgeschäftes zu befolgen sind (Anlage III. des erwähnten Rund¬ 
erlasses), sowie die in Ziffer 19 dieses Kunderlasses zu letzterem Paragraphen 
gegebene Erläuterung innegehalten werden, wonach die Impfpflichtigen oder 
andere zur Impfung gelangende Personen mit reingewaschenem Körper und mit 
reinen Kleidern zur Impfung gestellt und für den Fall, dass dies nicht zutrifft, 
zurückgewiesen werden müssen. Um eine Störung der ordnungsmässigen Ab¬ 
wickelung des Impfgeschäftes durch solche Zurückweisungen thunlichst zu ver¬ 
meiden, ist zweckmässig bei Abhaltung eines öffentlichen Impftermins Vorsorge 
zu treffen, dass eine noch erforderlich erscheinende Reinigung des Armes mit 
Wasser und Seife dabei ausgeführt werden kann. 

Behufs Vermeidung einer Ueberfüllung der Impfräume und zur möglichsten 
Sicherung einer raschen und ungestörten Ausführung der Impfungen sind die 
Vorladungen an der Hand der Erfahrungen so zu gestalten, dass bei Erstimpf¬ 
lingen die Zahl 50, bei Wiederimpflingen die Zahl 80 im einzelnen Impftermine 
voraussichtlich nicht überschritten wird. Es ist dabei nicht ausgeschlossen, dass 
mehrere Impftermine an demselben Tage und in demselben Impflocale mit ange¬ 
messenen zeitlichen Zwischenräumen angesetzt werden. 

Die Schwierigkeit, mit welcher die Feststellungen über behauptete Jmpf- 
schädigungen nach Ablauf einer längeren Zeit verknüpft zu sein pflegen, macht 

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Besprechungen, Referate, Notizen, amtliche Mittheilungen. 


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es erwünscht, dass die Behörden thunlichst alsbald Kenntniss von den Fällen er¬ 
halten, bei denen ein abnormer Verlauf der Impfung beobachtet wird und ver- 
muthet werden kann, dass dieselben zur Behauptung einer Impfschädigung früher 
oder später Anlass geben können. Die Impfärzte sind deshalb anzuweisen, dass 
sie von derartigen Fällen, .welche aus eigener Anschauung im Nachschautermine 
oder anderweit zu ihrer Kenntniss gelangen, der zuständigen Behörde Mittheilung 
machen, damit die nach dem Runderlass vom 22. Mai 1895. — M. d.g.A-. M. 3941 
U. I., M. d. J. II. 6480 — angeordneten ^tatsächlichen Ermittelungen rechtzeitig 
vorgenommen werden können. 

Zur Sicherung einer ordnungsmässigen Durchführung des Impfgeschäfts 
wollen Euere Hochwohlgeboren den Ihnen unterstellten Regierungs- und Medi- 
cinalrath beauftragen, dass derselbe einzelnen Impfterminen in der jeweiligen 
Impfperiode beiwohnt. Dies würde unvermuthet zu geschehen haben. Sofern die 
Anzeige der Impftermine seitens der Ortsbehörden an die Regierungs-Präsidenten 
noch nicht überall vorgeschrieben worden, ist dies zu vorstehendem Zwecke noch 
anzuordnen. 

Berlin, den 31. März 1897. 

Der Minister der Medicinal- etc. Angeleg. Der Minister des Innern. 

I. A.: v. Bartsch. I. A.: Haase. 


Verordnung, betreffend die Führung der mit akademischen Graden 

verbundenen Titel. 

Wir Wilhelm, von Gottes Gnaden König von Preussen u. s. w. verordnen 
hierdurch, was folgt: 

§ 1. Preussische Staatsangehörige, welche einen akademischen Grad ausser¬ 
halb dös Deutschen Reichs erwerben, bedürfen zur Führung des damit verbunde¬ 
nen Titels der Genehmigung des Ministers der geistlichen, Unterrichts- und Me- 
dicinalangelegenheiten. 

§ 2. Für nichtpreussische Reichsangehörige und Ausländer, welche einen 
akademischen Grad ausserhalb des Deutschen Reiches erwerben, gilt die Bestim¬ 
mung des § 1 mit der Massgabe, dass es, sofern sie sich nur vorübergehend oder 
in amtlichem Aufträge und in beiden Fällen nicht zu literarischen oder sonstigen 
Erwerbszwecken in Preussen auf halten, genügt, wenn sie nach dem Recht ihres 
Heimathsstaats zur Führung des Titels befugt sind. 

§ 3. Die Frage, ob die Voraussetzungen der §§ 29 Abs. 1 und 147 No. 3 
der Reichsgewerbeordnung vom 21. Juni 1869/1. Juli 1883 zutreflen, wird durch 
die Bestimmungen der §§ 1 und 2 nicht berührt. Ebenso bleiben die statuta¬ 
rischen und sonstigen Vorschriften über die Habilitation von Privatdocenten an 
den Landesuniversitäten unverändert in Geltung. 

§ 4. Die vorstehende Verordnung greift bezüglich aller akademischen Grade 
Platz, welche nach dem 15. April 1897 verliehen werden. Für akademische Grade, 
welche vor diesem Zeitpunkt verliehen sind, bewendet es bei den bisherigen Be¬ 
stimmungen. 

Gegeben Berlin im Schloss, den 7. April 1897. 

(L. S.) Wilhelm R. 

Bosse. 


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198 Besprechungen, Referate, Notizen, amtliche Mittheilangen. 

Banderlass a» die Kftnlgl. Regierungs-Präsidenten betr. Porto der Melde* 
klarten Aber ansteckende Krankheiten. 

Es ist in Frage gekommen, in wie weit für Postsendungen mit Meldungen, 
welche aus Gründen der Gesundheitspolizei oder der Medicinalstatistik auf Anwei¬ 
sung der Staatsbehörden Seitens der Aerztc und des ärztlichen Ilülfspersonals, 
sowie Seitens der Standesbeamten erstattet werden, von dem Aversionirungsver- 
fahren Gebrauch gemacht werden kann. Es ist nicht statthaft, den Aerzten etc. 
den Gebrauch des AversionirungsVermerks einzuräumen. Dagegen ermächtige ich 
im Einverständnis mit dem Herrn Finanzminister und dem Herrn Minister des 
Innern, sowie nach Benehmen mit dem Herrn Staatssekretär des Reichs-Postamts 
die Herren Regierungs-Präsidenten und den Herrn Polizei-Präsidenten hierselbst 
für derartige Meldungen den vorgenannten Personen auf ihren Wunsch Briefum¬ 
schläge oder Postkarten mit dem Abdruck des Dienstsiegels und dem Aversioni- 
rungsvermerk, sowie thunlichst mit der Adresse des Empfängers zuzustellen. Die 
Kosten sind aus dem Bureaubedürfnissfonds zu bestreiten. 

Die betheiligten Reichs-Postanstalten sind von dem Herrn Staatssekretär des 
Reichs-Postamts mit Anweisung versehen worden. 

Berlin, den 20. April 1897. 

Der Minister der geistlichen, Unterrichts- und Medicinalangelegenheiten. 

In Vertretung: von Weyrauch. 


Geilruckt hoi L. Schumacher in Perlin. 


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I. Gerichtliche Medicin. 


l. 


Gutachten über die Frage: oh ein, von einem Para¬ 
lytischen abgeschlossener, Haus-Kauf rechtsgiltig ist 

oder nicht? 

Von 

Prof. Rieger in Würzburg. 


Das nachstehende Gutachten scheint mir, auch für weitere Kreise, 
von Bedeutung zu sein, weil drei wichtige Fragen darin behandelt sind: 

1. Von wann an ist ein beginnender Paralytiker überhaupt 
unzurechnungsfähig ? 

2. Inwieweit muss die Unzurechnungsfähigkeit, in speciellcr 
Hinsicht auf das, in Frage stehende, Rechts-Geschäft, bewiesen 
sein? 

3. Inwieweit kommt in Betracht: ob ein Vertrag-Schliessender, für 
den andern Theil notorisch, geisteskrank ist? 

Die Bezugnahmen auf das bayrische Landrecht, in dessen Be¬ 
reich der Process spielt, und auf das rheinische Recht werden vom 
Jahre 1900 ab keine unmittelbare practische Bedeutung mehr haben. 
Ich habe deshalb schon auf das bürgerliche Gesetzbuch vorausverwie¬ 
sen und auf Lücken in diesem, die vermuthlich nach 1900 in man¬ 
chem solchem Fall noch grosse Schwierigkeiten bereiten werden, wie 
am Schluss des Gutachtens auseinandergesetzt ist. — 

Durch Beweis-Beschluss des Oberlandesgerichts ist an mich die 
Frage gestellt: 

ob nach den, in den Gutachten der Sachverständigen nieder¬ 
gelegten, persönlichen Wahrnehmungen über den Krankheitszu- 

Viert elj ah rssebr. f- ger. Med. Dritte Folge. XIV. 2. 


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200 


l'rof. Rieder, 


stand des M. und nach dem Ergebnisse des, in vorliegender Sache 
erhobenen, Zeugenbeweises und insbesondere nach dem, von den 
Zeugen geschilderten, Verhalten des M. bei den Vertragsverhand¬ 
lungen, bei der notariellen Beurkundung des Vertrags und un¬ 
mittelbar nach dem Abschluss des Vertrags vom 1. Decembcr 
1892 anzunehmen ist: dass er damals und namentlich am 
1. Decembcr 1892 bereits hochgradig maniakalisch erregt und 
zum Abschluss von Verträgen wegen Mangels der Vernunft un¬ 
fähig war? 

Die gleiche Frage wurde an Dr. N. gerichtet; und da dessen 
Gutachten in den, mir übersandten, Akton schon enthalten ist, so kann 
ich diejenigen Punkte, in welchen ich mit ihm übereinstimme, als er¬ 
ledigt ansehen, zumal da dieses Gutachten auch völlig übereinstiramt 
mit den drei ärztlichen Gutachten, die aus dem erstinstanzlichen Ver¬ 
fahren bei den Akten liegen. 

Die Uebereinstimmung erstreckt sich auf Folgendes: 

M. ist an progressiver Paralyse 130 Tage nach dem Haus-Kaul 
gestorben. Vom (5. oder 7. Deccmber 1892 ab, also nach 6 oder 
7 Tagen von dem Haus-Kauf an gerechnet, hat er sich in einem so 
unzweifelhaften Zustande von Geisteskrankheit befunden, laut Zeug- 
niss des Dr. 0., dass, für diese Zeit und den weiteren Zeitraum bis 
zum Tode, die Behauptung seiner Dispositions-Fähigkeit völlig unmög¬ 
lich wäre. Jahre lang vor dem 1. Dec. 1892 hatte schon die, zur 
völligen Blindheit führende, Atrophie beider Sehnerven begonnen, die 
eine Theilcrscheinuug der verbreiteten Zerstörungen von Nervensub- 
stanz in seinem Hirn und Rückenmark gebildet hat. Auch in Bezug 
auf seinen Geistes-Zustand war er schon vor dem 1. Dec. 1892 nicht 
mehr normal: es kamen Dinge vor, die bewiesen, dass die Hirnkrank¬ 
heit, welche kurz nach dem 1. Dec. ihn völlig blödsinnig und zeit¬ 
weise tobsüchtig gemacht hat, schon in den Monaten vor dem ge¬ 
nannten Tage sich, bald mehr bald weniger stark, auch in psychischen 
Krankheits-Symptomen geäussert hatte. 

ln allen diesen Punkten stimme ich völlig überein, nicht nur mit 
dem Gutachten von Dr. N. sondern auch mit dem Gutachten der 
Sachverständigen, an welche in dem erstinstanzlichen Verfahren eine 
andere Fragestellung gerichtet worden war. 

Auf keinen dieser angeführten Punkte ist aber die jetzige Frage¬ 
stellung des Oberlandesgerichts gerichtet, sondern sie lautet: 

Ob M. am l. Dec. 1892 bereits hochgradig maniakalisch 


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Gutachten, ob Haus-Kauf durch Paralytischen reclitsgiltig ist oder nicht. 201 


erregt und zum Abschluss von Verträgen wegen Mangels der 
Vernunft unfähig war? 

Diesen beiden verschiedenen Theilen der Fragestellung gegenüber 
fällt auch die gutachtliche Beantwortung verschieden aus. 

Der erste Theil der Frage kann aus den nachstehenden Gründen 
bestimmt verneint werden; der zweite Theil wird, auf Grund der aus¬ 
führlichen Erörterungen, die unten folgen werden, bis zu einem ge¬ 
wissen Theiic unbeantwortbar und unlösbar bleiben müssen. — 

Die Gründe für die Verneinung des ersten Theils der gestellten 
Frage: 

ob M. am 1. Dec. 1892 bereits hochgradig maniakalisch 
erregt war? 
sind folgende: 

Dass ein „hochgradig maniakalisch Erregter“ einen Haus- 
Kauf mit notarieller Protokollirung absehliesscn könnte, ohne dass über 
seinen Zustand in dem Protokoll irgend ein Vermerk gemacht wäre, 
ist von vornherein schwer denkbar. Ich habe, um mich über diese 
Frage zu orientiren, Einsicht von dem Notariats-Gesetz (vom 10. Nov. 
1861) genommen, und zwar in der Ausgabe von Dollmann (Gesetz¬ 
gebung des Königreichs Bayern. Erlangen 1863), mit Commentar von 
E. v. Zink. 

ln diesem Commentar heisst es (S. 509) zu Art. 45: 

„Der Notar darf keine Urkunde aufnehmen für Leute, welche 
nicht bei gesundem Verstände sind oder welche in Folge von Be¬ 
trunkenheit, Zorn oder aus irgend einem anderen Grunde augenfällig 
und unzweifelhaft ihrer Vernunft beraubt sind; denn dergleichen 
Menschen haben gar keinen oder doch keinen freien Willen, während 
doch die Sendung des Notars gerade darin besteht Willens-Aeussc- 
rungen der Parteien aufzunehmen.“ 

Im Gesetzes-Texte habe ich jedoch keine Bestimmung auffinden 
können, die für den Fall der Geisteskrankheit dem Notar ausdrück¬ 
lich die Aufnahme einer Urkunde verböte. Bei näherer Erwägung 
wird diese gesetzgeberische Zurückhaltung auch begründet erscheinen 
müssen. Denn alle solche Fälle bedürfen einer sorgfältigen Indivi- 
dualisirung und eignen sich deshalb nicht für gesetzgeberische Genc- 
ralisirung. Mit Rücksicht auf diesen Punkt kann auch der scheinbare 
Widerspruch begreiflich erscheinen, der zu der, vorhin citirten, Stelle 
in der folgenden Stelle desselben Comraentars enthalten ist (a. a. 0. 
S. 512): 

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Prof. Rieger, 


„Will eine Person ein Testament errichten, welche wohl ihren 
Willen zusammenhängend erklären kann, dabei aber Kennzeichen einer 
gestörten Verstandes-Thätigkeit und unfreien Willens-Bestimmung wahr- 
nchmen lässt; so darf der Notar zwar die, beharrlich verlangte, 
Aufnahme nicht verweigern, er hat aber jene Umstände mit an¬ 
zuführen; weigert sich etwa der Testator dieses geschehen zu lassen 
oder die Urkunde zu unterzeichnen, so ist auch der Notar zur Ver¬ 
weigerung seines Dienstes berechtigt.“ 

Hier (beim Testament) heisst es: er dürfe es nicht verweigern; 
dort (bei der Urkunde im Allgemeinen) hiess es: er dürfe es nicht 
thun. Es dürfte sich dieser Widerspruch dadurch erklären, dass in 
der That, gerade im Hinblick auf Testamente, manche Fälle denkbar 
sind, in welchen auch gegenüber dem Verlangen eines „aufgeregten“ 
und ähnlichen Menschen Grund vorliegt die Urkunde aufzunehmen. 
Es dürfte deshalb der Art. 49 des Gesetzes ganz das Richtige treffen, 
wenn er besagt: 

„Wird die Dienstleistung eines Notars von einer Person in An¬ 
spruch genommen, über deren persönliche Befähigung zur Vornahme 
von Rechts-Geschäften er Bedenken hegt; so kann er zwar die Dienst¬ 
leistung nicht verweigern, ist aber verpflichtet seine, jenes Bedenken 
begründenden, Wahrnehmungen in der, über das Rechtsgeschäft aufzu¬ 
nehmenden, Urkunde zu constatiren.“ 

Soviel steht also, nach dem unzweideutigen Texte dieses Artikels, 
fest: dass, wenn M. bei der Kaufs-Protokollirung hochgradig maniaka- 
lisch erregt gewesen wäre, der Notar zum Mindesten hätte darüber 
eine Constatirung machen müssen. Gegenüber „hochgradiger mania- 
kalischer Erregtheit“ wäre die Annahme undenkbar: der Notar habe 
über die persönliche Befähigung ohne Bedenken sein können. Denn 
„hochgradige maniakalische Erregtheit“ ist ein, für Jedermann absolut 
notorischer, abnormer Geistes-Zustand. Nach der, in der oben citirten 
Stelle des Commentars vertretenen, strengeren Auffassung hätte er so¬ 
gar die Urkunde überhaupt nicht aufnehmen dürfen; denn ein hoch¬ 
gradig maniakalisch Erregter ist im Sinne der citirten Stelle „augen¬ 
fällig und unzweifelhaft“ seiner Vernunft beraubt; und dieser 
Fall ist in jener Stelle noch ausdrücklich in Gegensatz gestellt zu 
dem, in Artikel 49, vorgesehenen, wenn es (a. a. "0. S. 509) heisst: 
„Dem steht auch der Art. 49 nicht entgegen, welcher nur von dem 
Falle spricht, wo der Notar gegen die persönliche Befähigung der 
Partei zum Abschlüsse blosse Bedenken hegt.“ 


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Gutachten, ob Haus-Kauf durch Paralytischen rechtsgültig ist oder nicht. 203 

Dementsprechend hat auch der Notar in seiner eidlichen Aus¬ 
sage vom 15. Dec. 1893 bezeugt: 

„Sein Benehmen war etwas anders als bei Sehenden, was ich 
aber nur als Folge seiner Erblindung auffasste. Ausserdem ist mir 
an ihm gar nichts aufgefallen, was einen Zweifel an seiner Disposi¬ 
tions-Fähigkeit hätte erregen können, ich hätte sonst den Vertrag 
nicht aufgenommen.“ 

Wegen der Blindheit waren, nach Art. 57 des Notariats-Gesetzes, 
zwei Zeugen beizuziehen, was auch geschehen ist. Von dieser Blind¬ 
heit wird am Schlüsse des Gutachtens noch die Rede sein. Was aber 
hier zu sagen ist, ist Folgendes: Das, von dem Notar für „etwas 
anders als bei Sehenden“ erklärte und als Folge der Blindheit auf¬ 
gefasste, Benehmen des M. kann unmöglich ein „hochgradig maniaka- 
lisch erregtes“ gewesen sein. Wenn letzteres thatsächlich vorhanden 
gewesen wäre, so käme die Aussage des Notars einem bewussten 
Meineide gleich. Denn „hochgradige maniakalische Erregung“ ist eine 
sinnenfällige und dermassen notorische Erscheinung, dass, wenn sie 
vorhanden ist, sie auch von Jedermann wahrgenommen werden muss; 
dass also ihre fälschliche Inabrede-Stellung nicht als blosser Irrthum 
und Ausdruck einer (bona fide) falschen Meinung erklärt werden könnte. 
Gegenüber dem Thatbestand „hochgradiger maniakalischcr Erregung“ 
kann es sich niemals um einen blossen Ueberzeugungs-Eid sondern 
immer nur um einen Wissens-Eid handeln. 

Aus diesen Gründen lässt sich der erste Theil der Frage 
bestimmt verneinen. 

Der zweite Theil der gestellten Frage, nämlich: ob M. am 1. De- 
eember 1892 wegen Mangels der Vernunft zum Abschluss von Ver¬ 
trägen unfähig war? ist viel schwieriger zu beantworten als der erste. 
Er lässt überhaupt keine bestimmte Antwort zu und zwar aus folgen¬ 
den Gründen: 

Vor allem besteht in Bezug auf das ganze Material von Zeugen- 
Aussagen, auch wenn sie unter Eid geschehen sind, der grosse Gegen¬ 
satz zu dem ad 1 Erledigten: dass diese Aussagen, soweit sie für die 
Frage des „Mangels der Vernunft“ von Wichtigkeit sein sollen, sich 
nur zu einem geringen Theil beziehen können auf unzweideutige und 
concreto Thatsachen. Denn in dieser Richtung kann selbst der unge¬ 
bildetste Zeuge seine Aussage nur machen auf Grund einer gewissen, 
abstrahirenden und reflectirenden, Denkthätigkeit, welche die Aussage 


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204 


Prof. Kieper, 


in gewissem Sinne mehr als ein Gutachten denn als eine Bezeugung 
von Thatsachcn erscheinen lässt, und wobei die subjcctivc Meinung 
auf die Aussage einen, mindestens eben so grossen, Einfluss gewinnt 
als die einfache Erinnerung an unmittelbare Wahrnehmungen. Wäh¬ 
rend die Frage: ob „hochgradige maniakalische Erregtheit“ zu beob¬ 
achten war oder nicht? mit derselben, auf sinnliche Wahrnehmung 
gegründeten, Bestimmtheit beantwortet werden kann wie z. B. die: 
ob ein Wagen stillgestanden hat oder nicht? so wären alle Aussagen, 
die über den „Mangel an Vernuntt“ von den Zeugen gemacht werden 
können, nur dann von, eben so starker, Beweiskraft, wenn dieser 
„Mangel an Vernunft“ sich in so eklatantem Maassc dokumentirt hätte, 
dass von einem zweifelhaften Zustande keine Rede mehr sein könnte. 
Eine Aussage von so bestimmtem Werth ist z. B. die des Zeugen 1\ 
über die Vorgänge in der Nacht vom 9. zum 10. Dec. 1892. Was 
hier berichtet wird ist unmittelbare, objectivc Wiedergabe der Erinne¬ 
rung an jenen Ausbruch unzweifelhafter Geisteskrankheit. Nirgends 
aber findet sich in den Zeugen-Aussagen etwas gleiehermassen Beweis¬ 
kräftiges in Bezug auf die Zeit vor dem 1. Dec. 1892. Stellen, wie 
die folgende (Aussage des Zeugen A.), enthalten ja ganz anschauliche 
Schilderungen über M.’s Benehmen im Sommer und Herbst 1892: 

So ging os fort bis zum Frühjahr 1892. Da wurde er immer schlimmer. 
Er wurde nervös; heute hat er gestritten, am andorn Tage war er wieder gut. 
Dann machte er mir Vorwürfe — das kam übrigens erst nach der Scheidung von 
seiner Frau im October 1892 —, dass wir ihn nicht fortgehen Hessen, wir würden 
protzig, weil wir etwas von ihm hätten. 

Nach der Scheidung wurde es mit ihm überhaupt immer ärger. Einmal waren 
wir ganz ruhig beisammen gesessen, kaum war ich weggegangen, so stund er auf 
und schlug heftig die Thür zu, so dass ich zu meiner Frau sagte: Jetzt spinnt er 
wieder u. s. f. 

Aber in Bezug auf die bestimmte Frage: ob M. am 1. Dec. 
1892 wegen Mangels der Vernunft zum Abschluss von Verträgen un¬ 
fähig gewesen sei? enthalten auch solche Aussagen doch so gut wie 
nichts Entscheidendes. Was aus allen diesen und ähnlichen Angaben 
zu entnehmen ist, dies steht auch ohnedies fest: dass er nämlich, gegen 
den Dceember 1892 in steigendem Maasse, Zeichen seiner paralytischen 
Hirnkrankheit gezeigt hat und gezeigt haben muss. Ein Versuch 
aber, aus diesen mannigfaltigen Zeugen-Aussagen Beweise für die Be¬ 
jahung oder Verneinung der gestellten Frage zu schöpfen, hätte gar 
keinen Werth, da, was aus ihnen geschöpft werden kann, sich ledig¬ 
lich in den, überhaupt unbestreitbaren, Satz zusammenfassen lässt: 


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Gutachten, ob Haus-Kauf durch Paralytischen rcchtsgiltig ist oder nicht. 205 

M. befand sich im November 1892 im Zustande beginnenden 
paralytischen Blödsinns. 

Wäre der Antrag auf Entmündigung vor (statt nach) dem 1. Dee. 
1892 gestellt worden, so hätte es für einen wirklichen Sachverstän¬ 
digen nicht die mindeste Schwierigkeit gehabt nachzuweisen, dass er 
an paralytischer Geistcs-Störung leide und der Entmündigung bedürftig 
sei. Wäre dieser Auffassung von Seiten des Gerichts statt gegeben 
worden, so hätte die Entmündigung alles Weitere abgeschnitten, und 
der Haus-Kauf hätte nicht zu Stande kommen können. Auch die Stel¬ 
lung des Notars zur Sache wäre dann eine ganz andere gewesen. 
Allerdings enthält auch in dieser Richtung das Notariats-Gesetz nicht 
das ausdrückliche Verbot: der Notar dürfe Entmündigte nicht 
zu Vertrags-Abschlüssen zulassen; sondern der §48 besagt nur: dass 
bei dem Notar ein Verzeichniss der Entmündigten auf liegen soll. 
Allein soviel geht doch aus dieser Bestimmung hervor: dass, mit der 
Entmündigung implicite, der Entmündigte aus dem Kreise der ge¬ 
schäftsfähigen Personen ausscheidet, für welche der Notar da ist. 

Wäre es so gegangen, so wäre der krankhafte Gcistes-Zustand 
durch sachverständige und gleichzeitige Beobachtung und Untersuchung 
festgestellt gewesen; und wäre, was sehr unwahrscheinlich ist, der 
Vertrag trotzdem geschlossen worden, so hätte die Behauptung seiner 
Nichtigkeit eine sichere Stütze gehabt. Dagegen, so wie die Sache 
jetzt liegt, können diejenigen, welche die Giltigkeit des Vertrages be¬ 
haupten, Folgendes zu ihren Gunsten geltend machen: 

a) Es fehle vor dem 1. Dec. 1892 an einem deutlichen zeitlichen 
Einschnitt, von dem ab eigentliche Gcistes-Störung angenommen wer¬ 
den müsse. 

b) Es fehle der speciellc Nachweis, dass gerade der Haus-Kauf 
ein Ausfluss der Geisteskrankheit gewesen sei. 

c) Es fehle der Nachweis, dass seine Geisteskrankheit so noto¬ 
risch gewesen sei, dass sie, für das Bewusstsein der Verkäufer, einen 
Grund dafür hätte abgeben müssen von dem Verkaufe abzustehen. 

Allen diesen Einwänden wäre durch rechtzeitige Entmündigung 
des M. der Boden entzogen worden. Und umgekehrt wäre die Mög¬ 
lichkeit, die Giltigkeit des Kaufs zu bestreiten, erheblich eingeschränkt 
worden, wenn vor dem 1. Dec. 1892 die Entmündigung zwar bean¬ 
tragt aber abgelehnt worden wäre. In diesem Falle hätte die Be¬ 
hauptung: die Krankheit sei erst nach dem 1. Dec. 1892 in einer, 
die Dispositions-Fähigkeit aufhebenden, Weise aufgetreten, sclbstver- 


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206 


Prof. Riegcr, 


ständlicherweise einen viel sichereren Boden. — So wie die Sache 
jetzt thatsächlich liegt, ist alles unklar und verschwommen. Nur in 
Bezug auf die Zeit ungefähr vom 6. Dec. 1892 ab, lässt sich in völlig 
einwandfreier Weise behaupten: die Dispositions-Fähigkeit sei aufgehoben 
gewesen. Diese Zeit steht aber nicht in Frage. Dagegen lässt sich, 
hinsichtlich des in Frage stehenden Zeitpunktes und in Bezug auf die 
unter a), b) und c) aufgeführten Punkte, ziemlich gerade so viel für 
als wider behaupten. 

ad a) Von den vier vorliegenden Gutachten sagt das von Dr. 0.: 
es gehe aus den Zeugen-Aussagen hervor, dass M. schon im Frühjahr 
1892 an Beeinträchtigung des Gedächtnisses gelitten habe etc., und 
dass der Anfang der Krankheit bis in das Frühjahr 1892 hinein be¬ 
wiesen sei. Ferner: es sei medicinisch ganz undenkbar, dass M. am 
1. Dec. 1892 geistesgesund gewesen wäre. Ebenso Dr. A.: man 
könne sicher schliessen, dass der Beginn der Erkrankung auf Wochen 
oder Monate vor seinem Eintritte in das Krankenhaus (12. Dec. 1892) 
zurückzudatiren sei. Ebenso sagt Dr. S.: M. müsse im Hinblick auf 
die ganze Entwicklung der Krankheit am 1. Dec. bereits geistig er¬ 
krankt und dispositionsunfähig gewesen sein; und Dr. N. sagt am 
Schlüsse seines Gutachtens: dass, wenn schon von vornherein die 
grösste Wahrscheinlichkeit dafür bestanden hat, dass der, am 12. Dec. 
in hochgradigstem Erregungs-Zustande der dementia paralytica pro¬ 
gressiva befindliche, M. am 1. desselben Monats nicht mehr disposi¬ 
tionsfähig sein konnte, dies durch die Aussagen der Zeugen, die ihn 
an und vor diesem Tage ausreichend zu beobachten Gelegenheit ge¬ 
habt haben, und durch die Zeugnisse der behandelnden Aerzte soweit 
zur Gewissheit geworden ist, als diese überhaupt, ohne eine specielle, 
auf diesen Punkt gerichtete ärztliche Untersuchung an genanntem Tage 
selbst, erlangt werden kann. 

Diese vier Gutachten stimmen also völlig überein und äussern 
ihre einstimmige Ansicht auch mit Bestimmtheit, abgesehen von der 
Einschränkung, die in dem, soeben citirten, Schluss-Satz des Gutachters 
Dr. N. liegt. Ich selbst könnte mich im Allgemeinen gleichfalls völlig 
ihrer Ansicht anschliessen; und gegen die Behauptung: dass die, am 
6. Dec. 1892 eklatante, Geisteskrankheit auch schon am 1. Dec. 1892 
bestanden hat, ist es, auch nach meiner Ueberzeugung, völlig unmög¬ 
lich einen Einwand zu erheben. Wofern also nichts weiter verlangt, 
würde als diese Behauptung, könnte ich meine Aussage einfach als 
fünfte den vier bisherigen anschliessen. 


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Gutachten, ob Haus-Kauf durch Paralytischen rechtsgiltig ist oder nicht. 207 

Präcisirt man aber die Frage schärfer: von welchem Zeitpunkt 
ab er wegen Mangels der Vernunft unfähig gewesen sei zum Abschluss 
von Verträgen? so ist es unmöglich einen solchen Zeitpunkt zu finden, 
der so deutlich, wie etwa nachher die Nacht vom 9. zum 10. Dcc. 
1892, den Ausbruch heftiger Geistes-Störung markirte. Wenn heute 
etwa Jemand aufträte, der die Nichtigkeits-Erklärung auch schon für 
eine Handlung M.’s aus den So mm er-Monaten des Jahres 1892 bean¬ 
tragen wollte; so wäre schliesslich auch diesem gegenüber zuzugeben: 
dass M. auch damals schon an beginnendem paralytischem Blödsinn 
gelitten hat. Hiegegen wird allerdings eingewendet werden: je ge¬ 
ringer der zeitliche Abstand sei von dem eklatanten Ausbruch der 
Geisteskrankheit, desto stärkere Fortschritte müsse auch der Blödsinn 
schon gemacht haben. Dieser Einwand wäre aber nur unter folgen¬ 
der Voraussetzung richtig: dass nämlich im Beginne der progressiven 
Paralyse der psychische Verfall ein ganz allmäliger, unter dem Bilde 
einer, gleichmässig sich senkenden, Linie darstellbarer wäre. Diese 
Voraussetzung trifft aber für die meisten Fälle durchaus nicht zu. 
Vielmehr steht als Regel zweifellos fest: dass die Entwicklung der 
psychischen Störung sich ruckweise vollzieht; dass sie unter dem Bilde 
einer Linie darzustellen wäre, die sehr ungleichmässig abfällt, bald 
längere Zeit horizontal verläuft, bald wieder eine starke Senkung, 
bald auch wieder eine Hebung zeigt. Deshalb wäre es an und für 
sich keine absurde Annahme: ein solcher Paralytischer könnte in einem 
früheren Moment weniger geschäftsfähig gewesen sein als in einem 
späteren, sofern sich die Behauptung eben nur erstreckte auf den 
zweifelhaften Zeitraum des Beginns der psychischen Störungen. 

Der eigentliche Grund dafür, dass diese zeitlichen Grenz-Bestim- 
mungen so schwierig und vielfach geradezu unmöglich sind, liegt in 
folgendem: deutliche Zeitabschnitte können immer nur gemacht wer¬ 
den mit Hilfe von Ereignissen, die eine starke und ersichtliche Wir¬ 
kung äussem. Am klarsten sind solche Zusammenhänge selbstver¬ 
ständlicherweise dann, wenn durch ein sichtbares äusseres Ereigniss 
eine Veränderung im Körper bedingt wird. Wenn z. B. Jemand eine 
schwere Kopf-Verletzung durch eine äussere Gewalt erlitten hat, so ist 
damit der entscheidende Zeitpunkt von selbst gegeben; und ebenso 
wenn ein solcher Einschnitt durch einen sogenannten Hirn-Schlag, durch 
eine Störung der Blut-Versorgung des Hirns, gegeben ist. In diesen 
Fällen giebt es eine deutliche Grenze zwischen dem gesunden Zustand 
vorher und dem kranken Zustand nachher. Von einer solchen 


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Prof. Hievor, 


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äusseren Beeinflussung der Hirn-Thätigkeit kann aber im vorliegenden 
Falle, und bei der progressiven Paralyse überhaupt, durchaus keine 
Rede sein. Besonders ist jeder Gedanke daran auf das Entschiedenste 
ab/.uweisen: als ob, gerade erst in Folge des Haus-Kaufs, eine Ver¬ 
schlimmerung bei M. eingetreten wäre. Diese Auffassung findet sich 
in den Akten wiederholt von den Vertretern der Beklagten ausge¬ 
drückt, so z. B. in den Worten: Es ist vielmehr in hohem Grade 
wahrscheinlich, dass dieses (nämlich das maniakalische) Stadium erst 
in Folge des Kaufs und der, damit verbundenen, Aufregung eintrat. — 
Von einer derartigen (’ausalitäl kann nicht im Entferntesten die Rede 
sein. Vielmehr lässt sich mit grösster Bestimmtheit behaupten: dass 
die Entwicklung der progressiven Paralyse in jeder, auch der psy¬ 
chischen, Beziehung absolut unabhängig ist von allen gleichzeitigen 
äusseren Ereignissen. Auf Grund solcher Vermuthungen, wie der 
soeben angeführten, lässt sich deshalb durchaus kein zeitlicher Ein¬ 
schnitt bestimmen; ebensowenig als der, ebenfalls in einem Schrift-Satz 
vorkommende, Erklärungs-Versuch irgend einen Werth hat, wo von 
See neu die Rede ist, „wie sie bei allen älteren Männern Vorkommen“; 
was besonders für den, 1850 geborenen also erst zweiundvierzig¬ 
jährigen, M. doch überaus unzutreffend ist. Seine Paralyse hätte 
sich genau ebenso entwickelt, wenn er auch nie ein Haus gekauft 
hätte; und im Hinblick auf die Entwicklung der Krankheit muss dieser 
Haus-Kauf als ein so gleichgilfiges Ereigniss betrachtet werden, dass 
mit seiner Hille durchaus kein Abschnitt construirt werden kann. 

Aber auch vor dem 1. Deo. 1892 ist ein solcher Abschnitt nicht 
zu finden; und es bleibt deshalb nichts anderes übrig als sich mit 
der Annahme zu begnügen: er sei vor dem eklatanten Ausbruch seiner 
Geisteskrankheit in einer, zeitlich nicht bestimmbaren, Weise bald mehr 
bald weniger geisteskrank gewesen. Nur das eine könnte vielleicht 
behauptet werden: dass er gerade am 1. Dcc. 1892 einen weniger 
schlimmen Tag gehabt habe als an manchen anderen Tagen; und zwar 
auf Grund folgender Zeugen-Aussagen: Wir waren zuerst beim Notar, 
erst später kamen die Verkäufer. Er war damals ganz ruhig und 
gab dem Notar selbst den Kaufpreis und die Baarzahlungen an. Auch 
nach dem Kauf-Vertrag war er an diesem Tage weniger auffallend. 
Ferner: An diesem Tage kam dann zwischen T. und M. der Kauf- 
Vortrag zu Stande und zwar nach zweistündiger Verhandlung. T. wollte 
damals erst 85000 Mk., dann ging er auf 80000 herab und schliess¬ 
lich, als M. gehen wollte, auf 75000 Mk.—Die Annahme, dass der 


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Gutachten, oh Haus-Kauf durch Paralytischen rechtsgültig ist oder nicht. 209 

1. Dee. 1892 doch schon im Wesentlichen in dem Zeitraum der be¬ 
ginnenden Geisteskrankheit liegt, wird dadurch aber nicht erschüttert. 
Und somit wird schliesslich die Entscheidung in diesem Punkte we¬ 
sentlich davon abhängen, welche principielle Stellung man einnimmt 
zu der Frage: ob, im Hinblick auf den zweifelhaften Zeitraum, für 
einen einzelnen Zeitpunkt zu gelten hat die Präsumption der Ver¬ 
nunft oder die des Mangels der Vernunft? 

Diese Frage liegt so sehr auf der Grenzscheide juristischer und 
psychiatrischer Competenz, dass ich im Nachstehenden, wenn ich über¬ 
haupt etwas dazu äussern soll, nicht vermeiden kann mich etwas näher 
mit den Grundlagen des geltenden Rechts zu befassen, als es in ein¬ 
facher liegenden Fällen nöthig ist. 

Auch in dem bayrischen Landrecht ist der Gegensatz nachzu¬ 
weisen, der die Sache so schwierig macht. Die Stelle (I. Thcil, 7. Kap. 
§37): Alles was ein Unsinniger in seiner Raserei thut oder han¬ 
delt, ist aus Mangel des Willens oder Verstandes ohnehin, weder auf 
seiner noch auf anderer Seite, von der geringsten Kraft; enthält durch 
die Worte: „in seiner Raserei“ eine zweideutige Bestimmung, die 
in dem einen oder anderen Sinne verwerthet werden kann. Gicht 
man jenen Worten nur die Bedeutung: dass sic den Zeitraum im All¬ 
gemeinen bezeichnen sollen, während dessen Geisteskrankheit besteht; 
so enthalten sie nur eine Amplification des Begriffs „Unsinniger“; und. 
mittelst Uebersetzung der Begriffe des vorigen Jahrhunderts in moderne, 
ergiebt sich dann der Satz: So lange der Mensch im Ganzen als gei¬ 
steskrank zu erachten ist, sind alle seine Handlungen eo ipso ohne 
Rechts-Kraft. 

Fasst man dagegen die Worte: „in seiner Raserei“ nicht als 
bloss amplificatorischc sondern als eine nähere Bestimmung, derzu- 
folge nur dasjenige keine Rechtskraft besitzen soll, was „in“, d. h. 
unter dem Einfluss „der Raserei“ geschehen ist; so ist nicht alles, 
was während des ganzen, in Frage stehenden, Zeitraums geschieht, 
implicite für rechtsungültig erklärt; sondern es muss dann immer, in 
Bezug auf Zeitpunkte einzelner Handlungen, die Frage eigens entschie¬ 
den werden: ob gerade für sie der Nachweis der Geistes-Störung zu 
führen ist oder nicht? 

Es ist selbstverständlich, dass gutachtliche Acusserungen in 
ersterem Sinne mit grösserer Bestimmtheit abgegeben werden können 
als solche in letzterem Sinne, zumal dann wenn zwischen dem frag¬ 
lichen Zeitpunkt und dem Gutachten Jahre verflossen sind. Denn 


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210 


Prof. Kicker, 


über den Geistes-Zustand innerhalb eines längeren Zeitraums lässt 
sich ein zusamraenfassendes, generalisirendes Urtheil auf Grund psy¬ 
chiatrischer Kenntnisse unschwer abgeben, wie ja auch im vorliegen¬ 
den Falle in dieser Beziehung alle Gutachten, das meinigc einge¬ 
schlossert, völlig übereinstimmen. Dagegen ist es, zumal nach so 
langer Zeit, viel schwieriger oder geradezu unmöglich, etwas Bestimmtes 
auszusagen über den Geistcs-Zustand in einem bestimmten Zeitpunkt, 
immer unter der Voraussetzung, die ja im vorliegenden Falle zu 
machen ist: dass ein gänzlich gestörter Geistes-Zustand, der über¬ 
haupt ausser Diskussion stünde, noch nicht gegeben war. 

Für die richterliche Entscheidung wird jedenfalls sehr in Betracht 
kommen, welcher der beiden Rechts-Sätze anzuwenden ist, nämlich 
entweder): quilibet praesumitur sanae raentis esse, oder: semel demens 
semper praesumitur demens donec constet de contrario? 

In dieser Beziehung scheint mir das bayrische Landrecht, wenn 
ich cs richtig verstehe, folgenden Standpunkt zu rechtfertigen: Für 
einen Nicht-Entraündigten gilt der erste, für einen, wegen Geistes¬ 
krankheit, Entmündigten dagegen der zweite Satz. Denn einerseits 
heisst es in dem Commentar von Kreittmayr (IV. Theil, S. 1377, 
in der Anmerkung zu der Stelle IV. Theil, Cap. I. § 12): 

Regelrecht kann Jeder paktiren, ausgenommen Jene, denen es an genüg¬ 
samem Willen oder Verstand ermangelt. Im Zweifel wird weder ein noch anderer 
Mangel priisumirt, sondern derselbe muss allenfalls bewiesen sein. 

Andererseits heisst cs in dem Text des Gesetzes: für den Fall, dass 
ein Unsinniger bereits einen Curator habe, müsse „ein dilucidum 
intervallum von den Alleganten allezeit bewiesen sein“, wozu dann 
der Commentar bemerkt (I. S. 270): Bei Leuten, welche schon ein¬ 
mal für Narren gerichtlich erklärt worden sind, gelte nicht die Regel 
(s. oben): quilibet praesumitur etc., sondern die gegentheilige: semel 
demens etc. 

Für den Fall, dass erstens diese Auffassung der Rechts-Grundlage 
richtig ist, und dass zweitens zugegeben wird: Der Geistes-Zustand M.’s 
am 1. Dec. 1892 sei noch ein zweifelhafter gewesen; wäre also, 
da er damals nicht entmündigt war, die Präsumption nicht zulässig: 
dass er gerade auch bei der Vertrags-Schliessung geschäftsunfähig ge¬ 
wesen sein müsse; sondern dieser Umstand müsste noch ausdrück¬ 
lich bewiesen werden. Dieser Beweis wäre aber nur zu führen unter 
genauer Berücksichtigung der besonderen Umstände des, in Frage 
stehenden, Vertrags-Abschlusses selbst; und auf diesen speciellen Punkt 


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Gutachten, ob Haus-Kauf durch Paralytischen rochtsgiltig ist oder nicht. 211 

ist nachher, unter b), zurückzukommen. Hier dagegen wäre, nach 
allem bisher Auseinandergesetzten, nochmals im Allgemeinen die Frage 
ins Auge zu fassen: ob die, vorhin gemachte, Voraussetzung: dass es 
sich am 1. Dec. 1892 bei M. noch um einen bloss zweifelhaften 
Geistes-Zustand gehandelt habe, begründet ist oder nicht? 

Diese Frage kann im bejahenden Sinne beantwortet werden des¬ 
halb, weil die, immerhin noch am Sichersten stehende, Thatsache: dass 
sein Benehmen bei dem Notar ein normales war, die, für Geistes¬ 
krankheit in jener Zeit sprechenden, Gründe zwar durchaus nicht an- 
nullirt aber doch soweit aufwägt, dass man zu der Behauptung be¬ 
rechtigt ist: es habe doch auch in jenem Zeitraum noch Stunden ge¬ 
geben, für welche seine Geisteskrankheit als nicht wirksam betrachtet 
werden könne. Solche Stunden wären aber, meines Erachtens, wenn 
auch nicht im Sinne der Pathologie so doch im Sinne des bayrischen 
Landrechts, als „lucida intervalla“ zu betrachten. 

Wenn in dem Gutachten von Dr. S. ausgeführt ist: von einem 
lucidum intervallum könne nicht die Rede sein; so bin auch ich da¬ 
mit vollständig einverstanden, wofern darunter nur dasjenige verstan¬ 
den wird, was dieses Gutachten darunter versteht, indem es jenen 
Begriff gleichsetzt mit dem eines sogenannten „Remissions-Stadiums“ 
der Paralyse. Dass er am 1. Dec. 1892 sich nicht in einem solchen 
Stadium befunden hat; dass vielmehr gerade damals seine Krankheit 
in rascher Entwicklung zum völligen Ausbruch begriffen war; — darin 
bin ich mit dem Gutachten völlig einig. Aber ich muss die Annahme 
des Gutachtens bestreiten, derzufolge sein Zustand vom 1. Dec. 1892 
ira Wesentlichen schon völlig gleichzusetzen wäre dem Zustand, der 
ungefähr eine Woche später bestanden hat, und derzufolge auch für den 
1. Dec. 1892 schon ein derartiger krankhafter Zustand anzunehmen 
wäre, innerhalb dessen die Dispositions-Fähigkeit durchweg als aufge¬ 
hoben zu gelten hätte. Diese verschiedenen Zeiten, in ihrer recht¬ 
lichen Bedeutung, einfach gleichzusetzen; dies wird meines Erachtens 
unmöglich gemacht durch den starken Contrast, der sich aus den 
Akten ergiebt zwischen seinem Zustand vor und dem nach den 
Scenen, die auch nach Dr. S.’s Annahme frühestens auf den 5. Dec. 
1892 verlegt werden können. 

Wenn ich ferner mit Dr. S. völlig darin einig bin, dass der Be¬ 
ginn der Krankheit schon in das Jahr 1889 zurückzudatiren ist; so 
ergiebt sich für mich, gerade aus dieser Ueberzeugung, um so mehr 
die Auffassung: dass für die Stipulirung des Beginns der zwei fei- 


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212 


Prof. Ri ege r, 


losen und durch weg bestehenden Unzurechnungsfähigkeit ein 
schärferer zeitlicher Einschnitt erforderlich ist, als er gegeben ist 
durch irgend etwas, was vor dem 5. Dcc. 1892 liegt. Ist diese 
meine Auffassung richtig, dann bedarf es aber auch für die Annahme 
eines lucidum intervallum nicht eines eigentlichen Remissions-Stadiums 
der Krankheit. Ein solches wäre erforderlich, wenn er z. B., statt 
im Frühjahr 1893 rasch zu sterben, sich, nach einem mehrmonat¬ 
lichen Zustand schwerer Geistes-Störung, wieder vorübergehend soweit 
erholt hätte, dass er geistig klar geworden wäre. Für diesen Fall 
träfen die Worte des Gutachtens völlig zu: 

Die Möglichkeit der Wiederkehr der Dispositions-Fähigkeit ist erst dann ge¬ 
geben, wenn der Kranke aus der maniakalischen Erregung heraus in ein soge¬ 
nanntes Remissions-Stadium ei »tritt. Solche Remissions-Stadien dauern aber 
nicht einen oder einige Tage sondern Monate lang. 

Wenn dies für die Zeit nach dem Zeitraum zweifelloser Fnzu- 
rechnungs-Fähigkeit völlig zuträfe, so fehlt dagegen für die hier frag¬ 
liche Zeit gerade eine wesentliche Bedingung dieser Auffassung: nämlich 
dass es sich handelte um die Wiederkehr zu einer, vorher zweifellos 
und für längere Zeit völlig verlorenen, geistigen Klarheit. Vielmehr 
steht ja hier gerade das Gegentheil in Frage: ob nämlich der Zustand 
völliger und durchgreifender Unzurechnungsfähigkeit überhaupt schon 
cingetreten war oder nicht? 

Und da nun auch darüber principiell völliges Einverständnis» 
herrscht, dass im Beginn der progressiven Paralyse nicht auf einmal 
völlige Unzurechnungsfähigkeit ein tritt, sondern dass im Anfang klare 
und unklare Tage vielfach wechseln; so bedarf es für diese, über¬ 
haupt und durchaus zweifelhafte, Zeit zu der Annahme von 
Stunden der Zurechnungs-Fähigkeit keines eigentlichen „Remissions- 
Stadiums“, da ja ein Zustand, welcher nur durch eine solche völlige 
„remissio“ wieder aufgehoben werden könnte, sich überhaupt noch 
nicht für die Dauer festgesetzt hatte. Wenn nun das Landrecht (I. c. 7, 
§ 37, 3) selbst für Jemanden, der schon unter Curatel steht, die Mög¬ 
lichkeit zulässt, dass er, „daferne er zuweilen wiederum zu sich 
kömmt, während diesem Intcrvallo ohne Curator handeln könne“; so 
wäre, meines Erachtens, gegenüber von einem Nicht-Entmündigtcn 
um so mehr Anlass gegeben, principiell wenigstens, auch im vorliegen¬ 
den Falle für den 1. Dcc. 1892 die Möglichkeit eines lucidum inter¬ 
vallum anzuerkennen. 


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Gutachten, ob Haus-Kauf durch Paralytischen rechtsseitig- ist oder nicht. 213 


Davon aber, dass M. am 1. Dec. 1892 „geistig kerngesund“ ge¬ 
wesen wäre, welche Annahme in den Gründen des erstinstanzlichen 
Urtheils mit Recht als undenkbar zurückgewiesen wird, kann aller¬ 
dings durchaus keine Rede sein; und ich wiederhole deshalb nochmals 
ausdrücklich: dass ich in der Gesammt-Auffassung des Zustandes mit 
den vier bisherigen Gutachten völlig übereinstimme und nur zu be¬ 
denken gebe, ob nicht, auf Grund des bestehenden Rechts, der kritische 
Zeitpunkt doch als eine Episode der Zurechnungs-Fähigkeit betrachtet 
werden könnte in Anbetracht seines vernünftig scheinenden Beneh¬ 
mens und des, auch von Dr, N. in der oben citirtcn Stelle anerkannten, 
Umstandes, dass ohne eine specielle, auf diesen Punkt gerichtete, 
ärztliche Untersuchung ein völlig bestimmtes Urtheil über den Geistes¬ 
zustand an jenem Tage unmöglich ist. 

Ich bemerke noch zu der Frage des zeitlichen Verlaufs der Krank¬ 
heit: dass ich der, mehrfach in den Akten hervortretenden, Anschauung 
eutgegentreten muss, derzufolge gerade der nachherigc rasche Verlauf 
der Krankheit besonders beweiskräftig wäre für die Annahme, dass 
schon am 1. Dec. 1892 Unzureehnungs-Fähigkeit bestanden habe. Aus 
meiner Erfahrung wäre ich eher geneigt das Gcgentheil und speciell 
dieses zu behaupten: dass die, schliesslich sehr rasch verlaufenden, 
Fälle von Paralyse gerade diejenigen sind, bei welchen Anfangs noch 
merkwürdig lange, trotz starker körperlicher Symptome wie der Sch- 
nerven-Atrophie und anderer, mehr vom Rückenmark als vom Hirn, ab¬ 
hängiger, das psychische Leben verhältnissmässig intact geblieben war. 
Ich möchte aber in dieser Richtung durchaus keine Gesetzmässigkeit 
behaupten, da ich nicht glaube, dass eine solche existirt; sondern nur 
bestimmt mich dahin aussprechen: dass der nachträgliche rasche Ver¬ 
lauf weder in der einen noch in der anderen Richtung für die Frage 
des 1. Dec. 1892 venverthet w r erden darf. — 

ad b) Es fehle der specielle Nachweis, dass gerade der Haus- 
Kauf ein Ausfluss der Geisteskrankheit gewesen sei. 

Das erstinstanzliche Urtheil hat sich in dieser Richtung sehr be¬ 
stimmt gegenteilig geäussert und den Haus-Kauf direct für den 
Ausfluss einer Wahn-Idee erklärt. Es ist selbstverständlich, dass, wenn 
dem so ist, dadurch der stärkste Beweis geliefert wird dafür, dass 
der Kauf von dem Käufer „in seiner Raserei“ (im Sinne des Land¬ 
rechts) geschlossen worden ist. Das lucidum intervallum, dessen An¬ 
nahme ad a) principiell als zulässig und denkbar bezeichnet worden 
ist, würde ganz hinfällig, wenn nicht nur der Geistes-Zustand im All- 


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214 


Prof. Rieger, 


gemeinen ein sehr zweifelhafter, sondern sogar die specielle, in dem 
fraglichen Zeitpunkt vollzogene, Handlung eine solche gewesen wäre, 
dass sie vom Standpunkt der gesunden Vernunft nicht erklärlich wäre. 
Das landgerichtliche Urtheil ist in dieser Hinsicht weiter gegangen als 
die Gutachten. Das Gutachten von Dr. P. berührt diesen Punkt 
nicht. Dr. N. sagt nur: ob der Kauf für ihn günstig oder ungün¬ 
stig ausgefallen ist, kann im vorliegenden Falle als der reine Zufall 
betrachtet werden. Diese Auffassung ist auch, von dem Standpunkt 
aus, dass seine Dispositions-Fähigkeit am 1. Dec. 1892 durchweg und 
auf alle Fälle aufgehoben war, die consequente, indem alsdann auf 
eine einzelne Handlung nichts mehr ankommt. Würde dagegen das, 
von mir ad a), Auseinandergesetzte als richtig anerkannt, so käme 
gerade auf diesen Punkt am Meisten an. In dem bayrischen Land¬ 
recht habe ich darüber nichts linden können, während im badischen 
Landrecht z. B. die Worte stehen (Art. 503): wenn der Beweis 
des Wahnsinns sich aus der angefochtenen Handlung selbst ergiebt. 
Da das erstinstanzliche Urtheil auf diesen Punkt Nachdruck gelegt 
hat, so dürfte anzunehmen sein, dass er auch im vorliegenden Falle 
von Wichtigkeit ist, obgleich das bayrische Landrecht seiner nicht 
ausdrücklich Erwähnung thut. 

Die Beurtheilung dieser Frage: ob der Kauf ein vernünftiger war 
oder nicht? liegt aber, selbstverständlicherweise, ausserhalb meiner 
Competenz; und ich kann mich deshalb nur darauf beschränken 
meinerseits folgende Erklärung abzugeben: 

Falls das Gericht den Haus-Kauf (als solchen und rein objectiv, 
ohne Rücksicht auf den Käufer, betrachtet) für einen sachgemässen 
befinden würde, der von jedem andern, in seinen Verhältnissen Leben¬ 
den ebenso hätte abgeschlossen werden können; so würde, von meinem 
Standpunkt aus, dies nicht, wie von Dr. N., als blosser Zufall zu be¬ 
trachten sein sondern als Beweis dafür, dass er in jenem zweifel¬ 
haften Zeitraum zeitweise auch noch zu vernünftigen Handlungen fähig 
gewesen ist. 

ad c) Es fehle der Nachweis, dass seine Geisteskrankheit so 
notorisch gewesen sei, dass sie für das Bewusstsein der Verkäufer 
einen Grund dafür hätte abgeben müssen von dem Kaufe abzustehen. 

Auch die Entscheidung dieser Frage muss wesentlich beeinflusst 
werden durch die, ad b) als erforderlich erklärte, thatsächliche Fest¬ 
stellung. Denn wenn der Kauf an und für sich als vernünftig zu 
erachten ist, so fällt natürlich die Möglichkeit der Annahme weg: 


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Gutachten, ob Haus-Kauf durch Paralytischen rechtsgiltig ist oder nicht. 215 


Die Verkäufer hätten den abnormen Geistes-Zustand schon daraus er¬ 
kennen müssen, dass M. sich zu einem sinnlosen Kauf hergegeben 
habe; während bei der entgegengesetzten Auffassung gerade dies wohl 
wesentlich zur Annullirung des Vertrages beitragen müsste, wenn die 
Ueberzeugung zu gewinnen wäre, dass die Verkäufer mit Bewusstsein 
Missbrauch getrieben hätten mit einem, ihnen bekannten, abnormen 
Geistes-Zustand. 

Das erstinstanzliche Urtheil hat sich dahin ausgesprochen: es sei 
vollständig gleichgültig: ob der geistig gesunde Theil die Willens- 
Fähigkeit des Gegentheils erkennt oder nicht erkennt? ob er den Gc- 
genthcil geschädigt oder nicht geschädigt hat? — es fügt jedoch hinzu: 
„Diese Momente haben nur insofern Bedeutung, als, wenn Unreellität 
des gesunden Vertragstheils nachgewiesen wird, dies einen Beweis¬ 
behelf für die Erweisung der geistigen Erkrankung des anderen Ver¬ 
tragstheils bilden kann.“ 

Einen solchen Mangel an Gutgläubigkeit nimmt das Urtheil nicht 
als erwiesen an. 

Ob seine Geisteskrankheit den Verkäufern bewusst gewesen ist 
oder nicht? — diese Frage scheint auch mir, in Uebereinstimmung 
mit dem landgerichtlichen Urtheil, nicht beantwortbar zu sein, da aus 
den Zeugen-Aussagen ziemlich ebensoviel pro als contra beizubringen 
wäre. Nachdem jetzt so lange Zeit verflossen ist, w r ürdc es wohl um 
so weniger möglich sein noch durch nachträgliche Zeugen-Vernehmungen 
etwas Sicheres festzustellen. Speciell würde wohl auch in Bezug auf 
die Verkäufer, wie dies bei dem Notar der Fall war (s. dessen Zeu- 
gen-Aussage), die Einrede erhoben werden: was etwa auffällig erschie¬ 
nen sei, habe man durch die Blindheit erklären zu müssen geglaubt. 

Diese Blindheit ist, um dies nicht unerwähnt zu lassen, auch für 
die objective Beurtheilung des Geistes-Zustandes ein sehr erschweren¬ 
der Umstand, weil sie die Möglichkeit ausgeschlossen hat auf Grund 
etwaiger Schrift-Stücke von seiner Hand zu urtheilen. Ein solches 
Schriftstück, vom 1. Dec. 1892 oder den Tagen unmittelbar zuvor, 
hätte für die Frage des Mangels der Vernunft weit grössere Beweis- 
Kraft als alles, was Zeugen nachträglich aussagen können. Auch 
diese Lücke des Beweis-Materials muss deshalb noch erheblich dazu 
beitragen, die gestellte Frage als eine solche erscheinen zu lassen, 
die mit Bestimmtheit nicht zu beantworten ist. 

In diesem, wesentlich negativen, Satze habe ich oben mein Gut¬ 
achten zusammengefasst hinsichtlich der Frage des Mangels der Vor- 

Vierteljabraschr. f. ger. Med. Dritte Folge. XIV. 2. jfj 


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216 


Prof. Rieger, 


nunft; und in den vorstehenden Erörterungen habe ich versucht, so 
eingehend als es mir möglich war, den Beweis zu führen dafür, dass 
vom Standpunkt meiner psychiatrischen Erfahrung aus eine be¬ 
stimmtere Beantwortung der Frage nicht möglich ist. 

Sollte auf den Punkt c) überhaupt etwas ankommen, so möchte 
ich verweisen auf die Stelle bei Kreittmayr (I. S. 270): „Der 
obrigkeitlichen Deklaration oder Promulgation braucht es zwar bei 
ihnen, wie bei Prodigis, nicht, weil sie sich selbst gleich ver- 
rathen.“ Falls diese Stelle als wichtig zu erachten wäre, so Hesse 
sich aus ihr die Folgerung ziehen: dass (im Gegensatz zu den Ver¬ 
schwendern, denen man ihre Eigenschaft nicht ansehen kann,) als 
geschäftsunfähige Geisteskranke diejenigen zu gelten hätten, die sich 
in dem kritischen Zeitpunkt als solche unmittelbar verrathen. Wäre 
diese Auffassung richtig, so wäre, auch auf dem Boden des bayrischen 
Landrechts, der Umstand nicht völlig gleichgiltig, ob die Geistes¬ 
störung eine offenkundige war oder nicht; so wie dies z. B. im code 
civil ausdrücklich als wesentlicher Punkt bezeichnet ist in dem Ar¬ 
tikel 503: „Handlungen, welche vor der Entmündigung eingegangen 
wurden, können wieder zernichtet werden, wenn die Ursache der Ent¬ 
mündigung zur Zeit, als jene geschehen, schon kündbar vorhanden 
war.“ Als ich neulich die gleiche Frage, wie sie jetzt vorliegt, für 
ein badisches Gericht zu beantworten hatte, da war mit Rücksicht auf 
den angeführten Artikel die Frage-Stellung von vornherein darauf ge¬ 
richtet: ob die Geistes-Krankheit zur Zeit des Kaufs schon kündbar vor¬ 
handen war; und hiedurch wurde auch die Beantwortung beeinflusst. 

Sollte dagegen auf diesen Punkt gar nichts ankoramen, wie dies 
allerdings für die Zukunft in Deutschland überhaupt sein zu sollen 
scheint, indem es mir wenigstens nicht gelungen ist, in dem bürger¬ 
lichen Gesetzbuch etwas davon aufzufinden; — so müsste sich auch 
für die rechtlichen Folgen ein immer grösserer Zwiespalt herausstellen 
hinsichtlich dessen, was der Sachverständige und was der Nicht-Sach¬ 
verständige merkt und erkennt. Wäre das neue Gesetzbuch für den 
vorliegenden Fall schon gütig, so könnte auch für den nicht ent¬ 
mündigten M. die Frage nur lauten (nach § 104 Z. 2): ob er am 
1. Dezember 1892 sich befunden hat „in einem die freie Willens¬ 
bestimmung ausschliessenden Zustande krankhafter Störung der Geistes- 
thätigkeit“; und ich kann in dem ganzen Gesetzbuch nichts finden, 
wodurch auf die, oben unter b und c erörterten, Spezialfragen Rück¬ 
sicht genommen wäre. Die, so allgemein gestellte, Frage müsste auch 


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Gutachten, ob Haus-Kauf durch Paralytischen rechtsgiltig ist oder nicht. 217 


ich im Hinblick auf den vorliegenden Fall, in Uebereinstimmung mit 
den vier anderen Gutachten, bejahend beantworten. Aber dann wird 
eine grosse Zahl von Handlungen, welche der gesunde Menschenver¬ 
stand an und für sich für gültig halten würde, blos deshalb für un¬ 
gültig zu erklären sein, weil die Sachverständigen nicht umhin können 
werden, die ganze Persönlichkeit in dem ganzen fraglichen Zeitraum 
für geisteskrank zu erklären; und zwar wird dieser Zwiespalt um so 
stärker werden, je mehr die diagnostische Kunst Fortschritte macht 
in der Richtung, dass sie schon die frühesten Krankheits-Anfänge zu 
erkennen vermag. Ich fürchte, dass sich hieraus vielfache Konflikte 
ergeben werden. 

Der Wortlaut des citirten Paragraphen des bürgerlichen Gesetzbuchs 
ist im Wesentlichen entnommen dem § 51 des Strafgesetzbuchs. In 
dem Strafgesetzbuch ist aber wenigstens insofern eine schärfere zeit¬ 
liche Bestimmung enthalten, als es heisst: „wenn der Thäter zur 
Zeit der Begehung der Handlung“ etc.; und auch der Zusatz: 
„durch w r elche seine freie Willensbestimmung ausgeschlossen war“ ist 
immer so aufgefasst worden, dass nachzuweisen sei eine causale 
Abhängigkeit der concreten strafbaren Handlung von dem krank¬ 
haften Geisteszustand. Auch dies würde, auf Grund jener Fassung 
des bürgerlichen Gesetzbuchs, kaum mehr als erforderlich betrachtet 
werden dürfen; und jeder, auch nicht entmündigte, Geisteskranke 
wäre danach für alle Fälle geschäftsunfähig; Verträge etc., die er 
trotzdem abgeschlossen hätte, wären cs ipso rechtsungültig. 

Ich bemerke schliesslich, dass diese Auffassung in einen starken 
Gegensatz träte zu derjenigen, welche in dem Erlass des Bayr. Justiz- 
Ministeriums vom 26. März 1895 ausgedrückt ist, wo es heisst: „Von 
der Stellung eines Entmündigungs-Antrages kann dann keine Rede sein, 
wenn die geistige Störung die Handlungsfähigkeit des 
Kranken nicht beeinträchtigt.“ — 

Ich habe diese Betrachtung hier herangezogen, um daran zum 
Schluss noch einmal ausdrücklich die Erklärung zu knüpfen: dass, 
unter dieser letzteren hiemit erörterten Voraussetzung, auch von mir 
der, an paralytischer Geistes-Störung erkrankte, M. für geschäftsunfähig 
zu erklären wäre. Ein Widerspruch kann sich deshalb nicht ergeben 
hinsichtlich der thatsächlichen Grundlagen, über welche, innerhalb der 
psychiatrischen Competenz, alle fünf Gutachten übereinstimmen; son¬ 
dern nur in der Auffassung ihrer rechtlichen Bedeutung, in welcher 
Hinsicht eine Entscheidung ausserhalb psychiatrischer Competenz liegt. 

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2 . 


Casuistischer Beitrag zur gerichtlichen Psychiatrie. 

Von 

Med.-Rath Dr. F. Siemens, 

Direktor der Proviiizial-Irrcnatistalt Lauenburg in Pommern. 


Gattenin ord oder Selbstmord? Beide Ehegatten geistig gestört, 

Genuine oder traumatische Psychose des Ehemannes? 

Der nachstehende Fall ist gerichtlich - medizinisch nach vielen 
Richtungen hin von Interesse. 

Einmal bezüglich der Todesart der Denata. Es ist unmöglich, 
in diesem Falle mit Bestimmtheit zu sagen, wie die Frau N. ums 
Leben gekommen ist, ob Selbstmord oder Gattenraord vorliegt. 

Sodann bot die Beurtheilung des Geisteszustandes des Angeklagten 
manche schwierige Frage. Es zeigte sich wieder, dass in der Vor¬ 
untersuchung die von dem Angeklagten versuchte Simulation (oder 
Uebertreibung) einzelner körperlicher Symptome den Gerichtspersonen 
und dem Sachverständigen grosse Schwierigkeiten bei der Beurtheilung 
des Gesammtzustandes machte. Die vorhandenen Zeichen geistiger 
Störung wurden übersehen und alle Kunst darauf verwendet, den 
Simulanten zu entlarven. 

Die geistige Störung des Angeklagten, welche sich inzwischen 
zu einem gleichmässig verlaufenden hallucinatorischen Verfolgungs¬ 
wahn (Paranoia) ausgebildet hat, ist eigentümlich durch ihre Ent¬ 
stehung. Man kann bei N. sowohl eine gewisse originäre Anlage, 
eine dazu gekommene traumatische Hirnschädigung, wohl auch etwas 
Alkoholmissbrauch und endlich in der Einzelhaft aufgetretene llallu- 
cinationen 1 ) als Ursache ansehen. Wahrscheinlich ist die Geistes¬ 
störung aus dem Zusammenwirken aller dieser Umstände entstanden. 

1) Die Hallucinationen, welche in der Einzelhaft auftreten, werden noch 


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Casuistischer Beitrag zur gerichtlichen Psychiatrie. 

Gutachten. 

Der der schweren Körperverletzung und des Mordes seiner Ehe¬ 
frau angeklagte Arbeiter Jacob N. aus J. ist zur Beobachtung seines 
Geisteszustandes nach dem Beschluss des Königl. Schwurgerichts zu St. 
vom 10. Nov. 1896 auf 6 Wochen der hiesiegen Anstalt übergeben 
worden. Im Folgenden wird das mittels Schreibens der Königl. 
Staatsanwaltschaft vom 10. Dez. 1896 gewünschte schriftliche moti- 
virte Gutachten unter Rückgabe der Akten erstattet. 

Vorgeschichte aus den Akten und Ergebniss der Beobachtung. 

Nach den Akten ist der Arbeiter Jakob N. aus J. geboren den 3. Mai 1857 zu 
Gr., Kreis L., als Sohn des Matthias N. und der Wilhelmine, geborenen Sch., 
evangelisch, nicht Soldat gewesen und bisher unbestraft. Er war verheirathet mit 
Urike, geborene M., und hat 3 Kinder von 12, 8 und iy 2 Jahren. Nach N.’s 
hier gemachten eigenen Angaben war sein Vater Maurer und kleiner Eigenthümer. 
Es waren mehrere Geschwister zu Hause und Jakob erlernte dal)er auswärts die 
Schuhmacherei und arbeitete dann als Geselle an verschiedenen Orten. Als auch 
seine Mutter starb und die Erbschaft vertheilt wurde, war er nicht zu finden. 
Später zog er nach Vorpommern und arbeitete zuerst bei Bauern; 1886 diente 
er beim Bauern Johann L. in St.; hier lernte er seine Frau kennen, welche auch 
dort diente; sie hatte schon ein Kind und brachte es mit in die Ehe. 

Dann arbeitete N. l 1 /« Jahre auf dem R.’schen Hof in Bl. und hatte dort 
mit seiner Familie Wohnung. 1887 wurde er Streckenarbeiter an der Eisenbahn, 
wohnte in St. und arbeitete bis in die Jahre 1891 und 1892 an der Bahn. 

Nach der Arbeit, oft noch Nachts und Sonntags, schusterte er für die Leute 
und für seine Familie und hatte guten Verdienst. „Ich hatte ein paar Groschen 
und die Frau hatte auch ein paar Groschen. Ich verdiente bis zu 4 Mk. den Tag. 
Mit der Frau lebte ich einig; man sagt ja öfters ein Wort, aber das muss auch 
übergehen.“ 

Nach dem Attest des Dr. H. vom 11. Oct. 1893 (Blatt 11 der Unfallakten) 
ist N. diesem seit Jahren als fleissiger nüchterner Arbeiter bekannt gewesen, der 
den Eindruck eines gesunden kräftigen Mannes machte. 

Nach den Zeugenbekundungen des Dr. H., welche von dem Verfasser in der 
llauptverhandlung nachgeschrieben sind, hat N. auf ihn in den letzten Jahren 
schon einen etwas „dammligcn“ Eindruck gemacht. Dr. H. kennt N. bereits aus 
der Zeit, als N. noch Streckenarbeiter in St. war. N.’s Sprache sei damals schon 
genau so gewesen wie jetzt. Der Bahnmeister habe ihn schliesslich nicht mehr 
als Arbeiter haben wollen; darauf sei N. in .T. erschienen und habe in der Cement- 
fabrik gearbeitet. 

In J. ist N. durch einen schweren Unfall am 17. Juli 1893 zu Schaden ge¬ 
kommen. Nach Blatt 6 der Unfallakten hat N. darüber einige Wochen nach dem 


vielfach nicht genügend erkannt. Vergl. meinen Aufsatz in der Berliner klini¬ 
schen Wochenschrift. 1883. No. 9, 


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220 


Dr. Siemens, 


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Vorfall (6. Sept. 1893) dem Amtsvorsteher folgende Angaben gemacht: „Am 
17. Juli er. Vormittags kurz nach 10 Uhr war ich auf dem ersten Boden an dem 
grossen Cementofen, welcher ca. 15 Fuss vom Erdboden entfernt ist, beschäftigt. 
Während eines Arbeitsstillstandes wollte ich mich auf einen an dem Rande des 
Bodens befindlichen Balken setzen, ich ging hierbei rückwärts und kam zu nahe 
an den unbekleideten Rand des Bodens, verlor das Gleichgewicht und fiel von 
dem ca. 15 Fuss hohen Boden auf die Erde und zwar mit der linken Kopfseite 
auf ein dort befindliches Schienengeleise, wobei ich mir mehrero Wunden am 
Kopfe und eine Gehirnerschütterung zuzog. Ich wurde vollständig besinnungslos 
nach Hause getragen. Ich bin bis jetzt noch arbeitsunfähig, kann auf dem linken 
Ohre garnicht hören und bin ich ganz wirr im Kopfe.“ Der Arbeiter Wilhelm St., 
welcher bei dem Unfall zugegen war, bestätigte diese Angaben. 

Der hinzugerufene Arzt Dr. II. fand den N. 6 Stunden nach dem Unfall noch 
bewusstlos; Blut floss aus der Nase und dem linken Ohr. 

Der Arzt nahm eine schwere Gehirnerschütterung und einen Bruch der 
Schädelbasis an, kam aber von der letzteren Annahme zurück, da sich dio Folgen 
sehr bald ausglichen. N. konnte nach 3 -4 Wochen wieder gehen (Aussage in 
der Hauptverhandlung des Schwurgerichts). Dagegen blieb eine geistige Schwäche 
zurück. N. erscheint, selbst jedem Laien, als ein Mensch, der seinem köq>erlichen 
und geistigen Verfall entgegengeht. (Unfallattest Fol. II): „N. klagt dauernd 
über Kopfschmerzen, Mattigkeit in allen Gliedern, fortwährendem Hang zum Lie¬ 
gen, dabei hat sich eine krankhafte Vorstellung über seinen Gesammtzustand ent¬ 
wickelt. Er klagt über Athemnoth, Herzklopfen, Hustenreiz und andere Krank¬ 
heiten, für welche jedes objcctive Symptom fehlt. Allwöchentlich stellt er sich 
vor mit dem dringenden Verlangen nach Medicamenten, damit er endlich wieder 
genesen und arbeiten könne. Selbst nach Greifswald zu einem Arzt ist er gefahren; 
von diesem ist ihm auch eine Verordnung gemacht, die ihm in Folge seines thö- 
richten Gebrauchs fast verhängnissvoll geworden wäre.“ 

Als objectiven Befund notirt Dr. II.: „N. ist von mittlerer Grösse, mangel¬ 
hafter Muskulatur und sehr massigem Ernährungszustand. Augen von mattem 
Glanz, träge Pupillenreaction, geschwächte Sehschärfe, Hörfähigkeit namentlich 
auf dem linken Ohre herabgesetzt. Trommelfell links perforirt. Bewegungen un¬ 
sicher, Kraft der Arme unbedeutend, Gang schwankend, bei geschlossenen Augen 
starkes Schwanken. — Eine Unterhaltung mit N. ist unmöglich, da er verkehrte 
Antworten giebt. Schlaf unruhig. Grosse Gesprächigkeit!“ — Dr. H. hat in der 
Hauptverhandlung erklärt, dass er eine Contractur des linken Armes bei N. nicht 
bemerkt habe. 

Ein von Dr. Ha. unter dem 13. Oct. 1894 abgegebenes schriftliches Gut¬ 
achten (Unfallakten Blatt 20(T.) erwähnt die Angabe des N., dass er den linken 
Arm nicht gebrauchen könne. Auch Dr. Ha. stellte die träge Reaction der Pu¬ 
pillen fest, die angebliche Taubheit links und die Schwerhörigkeit rechts. Gehen 
konnte N. damals „frei und flott“. Schwanken bei geschlossenen Augen, N. konnte 
keine gerade Linie beim Gehen einlialten. Der linke Arm hing schlaff herunter 
mit gestreckten Fingern, welche N. nicht gebrauchen zu können angab. Schon 
damals äusserte N. den Verdacht der Untreue gegen seine Frau, sagt, „sie habe 
ihm seinen Lebenslauf versperrt,“ sie habe vor der Ehe ein Kind umgebracht, und 
ähnliche wirre Ideen. Diese Angaben bestätigte Dr. Ha. in der Hauptverhandlung 


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und gab noch an (Aufzeichnungen des Verf.’s), dass ihm die Ideen der ehelichen 
Untreue als wahnhaft erschienen seien. N. habe auch bei ihm über Hör¬ 
geräusche, besonders Nachts, geklagt. Ein geistiger Verfall schien dem 
Sachverständigen zweifellos vorhanden zu sein. Betrunken oder angetrunken fand 
er den N. nicht. 

N. wohnte nach dem Unfall schliesslich, da er keino Wohnung finden konnte, 
im Armen hause zu J. seit October 1894. 

Früher war der eheliche Friede zwischen den N.’schen Eheleuten ein leid¬ 
lich guter. Indess kamen doch auch vor dem Unfall Streitigkeiten und Thätlich- 
keiten vor. Nach Aussage der ältesten Tochter Hermine hat N. seine Frau ge- 
misshandelt, so lange sie sich erinnern kann (bis ins 6. Lebensjahr zurück), fast 
täglich und auch Nachts. Gewöhnlich suchte er sie zu würgen, indem er sie mit 
beiden Händen (um) in den Hals fasste . . . Auch Nachts hat er sie gemisshan- 
delt, wenn sie nicht zu ihm ins Bett wollte. Er verlangte häufig von ihr, dass sie 
sich Nachts das Hemd ausziehen sollte. Weigerte sie sich, so schlug er sie un¬ 
barmherzig und riss ihr mit Gewalt das Homd vom Leibe. 

Bemerkenswerth sind die Auslassungen des Pastors Sp. über die Gemüts¬ 
zustände beider Ehegatten (Bl. 88IT. der Akten). Sp. war 22 .Jahre Pastor in D., 
zu welchem Kirchcnsprengcl die Dörfer J. und St. gehörten. 

In St. kannte er die Frau N. als Mädchen; sie diente als Magd auf einem 
Bauernhöfe. Hier lernte sie den damaligen Knecht N. kennen, mit dem sie ein 
Liebesverhältniss anfing und von dem sie auch schwanger wurde. Später heirathetc 
sie N., der Pastor traute sie, taufte und beerdigte einige Kinder. 

Fra« N. war stets bescheiden, aber etwas scheu gegen den Seelsorger. Um 
Ostern 1894, als die Eheleute N. schon in .1. wohnten, kam Frau N. zum Pastor 
und klagte sich an, dass sie sich gegen ihren Vater versündigt habe — Genaueres 
sagte sie nicht — und suchte Vergebung der Sünden. Bald darauf kam sie in 
derselben Angelegenheit ein zweites Mal zu ihm. Sie machte auf den Pastor den 
Eindruck einer gemüthskranken Person; sie war auch in ärztlicher Behandlung. 
Sie erzählte, dass ihr Vater im Irrenhause gestorben sei. Dann ging sie mit ihrem 
Manne am Gründonnerstag 1894 zum Abendmahl. Später erfuhr der Geistliche, 
dass am Abend desselben Tages die Frau N. von ihrem Mann fürchterlich gemiss- 
liandelt wurde. Die Misshandlungen wiederholten sich und Frau N. kam deswegen 
mehrfach zu dem Pastor, um sich zu beklagen. Auch N. kam, um sich zu recht- 
fertigen. Er beschuldigte seine Frau, dass sie untüchtig und faul sei und ausser¬ 
dem die eheliche Treue ferlctze. — Die Eheleute waren dann bei ihm, um sich 
scheiden zu lassen, der Mann wegen der Untreue, die Frau wegen der Misshand¬ 
lungen. Die Frau war stets still auf die Vorwürfe, welche ihr der Mann machte. 
Der Pastor hatte die Ucberzeugung, dass sic schuldlos war. Er hielt den Mann 
„für vollständig überspannt“. — In einer späteren Vernehmung hat Pastor Sp. 
diese Angaben noch vervollständigt. Er fand im Amtsjournal die Notiz vom 
17. April 1894: „Sühne nutzlos, er ist närrisch, sie ist gemüthskrank.“ Der Ehe¬ 
mann erklärte bei dieser Gelegenheit, er habe seine Frau am Gründonnerstag auf 
dem Heimweg von der Kirche, wo sie beide das Abendmahl genommen hatten, 
deshalb so gemisshandelt, weil die Frau zu einem Tischler habe gehen wollen, 
um ihren Sarg zu bestellen. Letzteres gab Frau N. zu. Es war nicht festzustellen, 


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Dr. »Siemens, 

ob sie sich mit Selbstmordgedanken trug oder ob sie Furcht hatte, ihr Ehemann 
könnte sie einmal umbringen. 

N. gab auf Fragen grösstentheils unverständliche Antworten, machte aber 
dennoch nicht den Eindruck eines völlig unzurechnungsfähigen Menschen. Viel¬ 
leicht sei es Simulation gewesen? N. erklärte damals und auch später stets, seine 
Frau habe ihm die Kraft genommen. Der Pastor verstand das erst nicht, später 
schloss er aus den Beschuldigungen der ehelichen Untreue, dass N. auf unnatür¬ 
liche Weise sein geschlechtliches Bediirfniss habe befriedigen müssen. Er gewann 
auch die Ueberzeugung, dass Frau N. eine persönliche Abneigung gegen ihren 
Ehemann erlangt habe und ihm vermuthlich die eheliche Pflicht versage. Die 
Frau N. machte ihm den Eindruck einer völlig verschüchterten, gemüthskranken 
Person. 

Die Angaben in den Akten besagen übereinstimmend, dass die Frau N. sich 
gegen die Vorwürfe ihres Mannes und auch gegen die Misshandlungen meist 
schweigend verhielt; Anderen gegenüber beklagte sie sich selten und nahm sogar 
mitunter Partei für ihren Mann. »Sie musste oft aus dem Hause flüchten und Nachts 
in der Kälte halb nackend draussen sitzen oder in einen Heuschober sich ver¬ 
kriechen. Oft schloss N. sie stundenlang in die Kammer ein. Er duldete nicht, 
dass sie an seinem Tische ass und prügelte sie, wenn er sie beim Essen traf. Sic 
musste sich daher Kartoffeln von anderer Leute Feld holen. Sehr oft war sie 
braun und blau geschlagen. 

Die Misshandlungen mehrten sich in der letzten Zeit, wie dies des Näheren 
aus der Anklageschrift ersichtlich ist. Die Frau hatte anscheinend ihre Absicht, 
sich scheiden zu lassen, aufgegeben und sich stumpfsinnig in ihr Schicksal er¬ 
geben. Von »Selbstmord haben die Zeugen sie nicht sprechen hören; N. behauptet, 
dass sie »Selbstmordversuche gemacht habe. Eine Zeugin hat in der Hauptver¬ 
handlung angegeben, dass Frau N. ihr mitgetheilt habe, ihr Mann habe ihr zuge- 
setzt, sie solle das jüngste Kind in einen Eimer Wasser stecken und dann sich 
selbst das Leben nehmen. Das wollte sie aber nicht. — 

Bezüglich der Frage nach Trunksucht enthalten die Akten nur wenige sichere 
Angaben. Ein gewisses Quantum scheint N. regelmässig getrunken zu haben. Be¬ 
trunken ist er anscheinend nicht gesehen worden. In der Gastwirthschaft von 
Qu. kaufte er fast täglich für 10 Pf., zuweilen auch für 20 Pf., noch seltener für 
30 Pf. »Schnaps. 

Manche Nachbarn hielten N. für „verrückt, von Liebeswahn befallen“. X. 
reiste öfters nach Greifswald „um sich kuriren zu lassetf“. 

Am 11. Juli 18% fand man Frau N. todt in der Wohnung. N. selbst 
erschien gegen l*/ 4 Uhr beim Gensdarmen und zeigte in verworrener Rede an, 
dass er seine Frau todt angetroffen habe. Er war eben von P. zurückgekehrt, wo 
er seinen Rechtsanwalt gesprochen hatte. 

Pie Gemeinde J. hatte nämlich N. verklagt auf Zahlung von 3 Mk. monat¬ 
licher Miethe, da N. seit seinem Unfall von der Berufsgenossenschaft eine jähr¬ 
liche Rente von 394 Mk. bezog. N. seinerseits glaubte, er brauche keine Miethe 
im Armenhause zu zahlen, da er durch J.’sche Leute bei dem Unfall zu Schaden 
gekommen sei. 

Der Befund an der Frau war ein höchst verdächtiger. Die Leiche lag zu- 
sammengekauert zwischen Ofen und Bank. Das Gesicht der Frau war der Wand 


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Casuistischer Beitrag zur gerichtlichen Psychiatrie. 


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zugekehrt. in der Wand befand sich etwa in Manneshöhe ein starker eiserner 
Nagel, welcher etwas herabgebogen war. An dem Nagel hatte vorher Haushai* 
tungsgeräth gehangen; dies war abgenommen. Bei der Leiche, gleichfalls am 
Ofen, stand eine Waschwanne mit Wäschestücken. 

Die Frau hatte nach Aussage der Kinder am Vormittage gewaschen. — Am 
anderen Tage bei der Leichenschau fand der Gensdarm in der Ecke zwischen 
Sj'ind und Tisch, etwa iy 2 m von der Leiche entfernt, einen Strick. An dem¬ 
selben befanden sich mehrere dunkelblonde Haare von derselben Beschaffenheit 
wie die der Frau N. Am Halso der Leiche fand sich eine unzweifelhafte 
Strangulationsmarke, welche wahrscheinlich durch Erhängen entstanden ist, 
vielleicht auch durch Erdrosseln in der Weise zustande gekommen sein kann, 
dass der Strick der Frau von hinten um den Hals geworfen, und dass die Frau in 
die Höhe gezogen oder aufgeknüpft ist, letzteres möglicherweise erst nach ein¬ 
getretenem Tode. (Gutachten des Med.-Rath Dr. Sch.) 

Bei der Obduction fand man die Zeichen der Erstickung. Andere Ver¬ 
letzungen., oder Zeichen des Widerstandes fanden sich nicht vor. — 
X. wurde des Mordes beschuldigt, leugnete aber hartnäckig. Er setzte sich in 
Widerspruch mit den Zeugen, welche übereinstimmend angaben, dass N. gerade 
nm die Mittagszeit (12 Uhr) nach Hause kam, zuerst allein in seine Wohnung ein- 
irat und erst nach einer Stunde die Kinder hineinrief. Dieselben sahen dann ihre 
Mutter auf der Ofenbank am Tisch sitzen. 

Der Kopf ruhte wie bei einer Schlafenden auf dem rechten Arm, der auf dem 
Tische lag, der linke Arm hing schlaff herunter. N. trat hinter seine Frau, fasste 
sie unter die Arme und zog sie etwas an sich heran, *als ob er sie wecken wollte. 
Dabei fiel der Kopf der Frau auf die Tischkante. N. bemühte sich vergeblich, 
Kopf und Arm der Frau wieder in die frühere Lage zu bringen, indessen glitt der 
Unterkörper allmälig zwischen Ofen und Bank auf das Reisig, während der Ober¬ 
körper auf der Bank liegen blieb. N. befahl nun unter Drohungen seinen Kindern, 
auf Befragen zu erzählen, sie hätten, als er von P. gekommen sei, mit ihm gleich¬ 
zeitig die Wohnung betreten und die Mutter habe am Tisch gesessen; er habe sie 
angerufen und durch Schütteln am Arm wecken wollen und nun gesehen, dass 
sie todt sei (Aussagen der Kinder). 

Dann ging N. zum Gensdarm. 

Den Strick wollte N. nicht bemerkt haben und ihn überhaupt nicht kennen, 
obwohl der Strick seit Jahr und Tag in seinem Besitz war und in der Kammer 
lag (Aussage der Kinder). — Geschrei oder Getöse, etwa von einem Kampf zwi¬ 
schen X. und seine Frau herrührend, ist um die fragliche Zeit in der Wohnung 
nicht gehört worden. Alles war still. 

Im Gefängniss erschien N. den Beamten und dem Gelangt)issarzt in mehr¬ 
facher Beziehung als ein Simulant. Zunächst behauptete er, dass er „zum Stüm¬ 
per gemacht sei, der sein Gehör verloren und seinen linken Arm und sein linkes 
Bein nicht bewegen könne.“ Den linken Arm hielt er krampfhaft im Ellenbogen 
gebeugt am Körper fest. Das linke Bein hielt er im Knie steif und hinkte stark 
beim Gehen. 

Die Zeugen aus J. bekundeten, dass N. vor dem Tode der Frau stets Arm 
und Bein gebraucht hat wie andere Leute. — Auch bezeugte ein Mitgefangener, 
dass X. ganz gut hören könne wenn er wolle, auch leise Gesprochenes. Die Staats- 


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Dr. Siemens, 


Anwaltschaft nahm an, Hass X. die Zustände am Arm und Bein deshalb simulire, 
um den Schein zu erwecken, als oh sein Körperzustand ein derartiger sei, dass 
er die That garnioht habe ausführen können. 

Auch sonst benahm sich X. im Gefängnis* auffallend. Er setzte der Ueber- 
führung von einer Zelle des Untersuchungsgefängnisses in eine andere hartnäcki¬ 
gen Widerstand entgegen und klammerte sich mit Händen und Füssen an. Auch 
beim Wechseln des Hemdes sträubte sich N. sehr. (Angabe des Gefangenenauf¬ 
sehers in der Hauptverhandlung.) 

Am 20. November 1896 fand die Hauptverhandlung vor dem 
Schwurgericht in St. statt; der Yerf. war als Sachverständiger dazu 
geladen und sah hier X. zum ersten Male. N. leugnete den Mord, 
leugnete auch die schweren Misshandlungen. Er beschuldigte seine 
Frau der Untreue. 

X. erzählte die Vorkommnisse an dem Todestage der Frau in folgender Weise 
(Xachschrift des Verf/s): „Am 11. Juli früh fuhr ich mit 8 Uhr-Zug nach 1\, 
hab’ ich Tags vorher Schrift bekommen, ging gleich zum Rechtsanwalt und fragte, 
was im Termin herausgekommen ist, und bezahlte 5 Mk. Schulden (Vorschuss), 
Nachher ging ich zum Kriiger und Hess mir Schnitt Bier eingiessen und in Flasche 
auf Reise Schnaps eingiessen für 10 Pf. Ging zu Fuss nach Hause, kam an, Mit¬ 
tag ist nicht gewesen und Vesperzeit auch nicht. Kinder waren vor der Thür 
gesessen, ich fragte, ob Mutter nach Besingpflücken gohn is, die Kinder sagten: 
sie sitt in Stuw. Wat deit se? Liggt op Ofenbank, legt Kopp auf Disch. Fragt 
ich, ob sie was gessen haben: ja, Frühstück haUs zurecht gemacht, haben ge¬ 
gessen, ist nach Milch gegangen, aufgekocht, hat Wasser geholt. Stucktien, hat 
Wäsche eingeweicht, Kinder vor der Thür gespielt, sind reingegangen, haben sie 
sitzend befunden. Ist nicht aufgestamlen. Würd’ sie hungern, sind sie reinge¬ 
gangen, würd sie noch dasitzen. Ging ich rein, fand sie sitzend so, wie ich sie 
noch nie sitzend gesehen habe, der rechte Arm hing runter zwischen Bank und 
Tisch (zeigt die Stellung an dem Original-Tisch und -Bank). Kinder, sag ich, 
will ich Mutter munter machen: Mutter, Mutter, Mutter — zu vermuntern ist sie 
nicht. Schüttei sie am rechten Arm, dreh sic um, sieht sie weiss aus, seli ich, 
dass sie todt ist, fall ich auf die Knie und die Frau fällt auf mich. Ging ich zum 
Schandarm . . . Sie hat schon dreimal versucht sich Leben zu nehmen, dass sie 
andere Leute davon abgehalten haben. u 

Auf die Frage nach der Bewandniss mit dem Strick sagte N.: „Ja mein 
Herr, da steht mein Verstand still.“ 

Während einer Pause sprach der Vcrf. mit N. Derselbe fing 
sehr lebhaft an zu erzählen, wie seine Frau und die andern Weiber 
ihn ins Unglück gebracht hätten, sie hätten ihn zum Stümper ge¬ 
macht. Die Frau hätte ihn nach Greifswald geschickt um sich kuriren 
zu lassen, er sei impotent geworden und habe auch manchmal nicht 
pinkeln können. Die Frau habe es mit andern Männern geballen, 
man wolle ihn vernichten u. s, w. 


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Casuistischcr Beitrag zur gerichtlichen Psychiatrie. 


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Da N.\s Geisteszustand in hohem Grade den Verdacht auf 
geistige Störung wachrief, beantragte der Verf. in Uebereinstimmung 
mit dem Sachverständigen Med.-Rath Dr. Sch. (Gcfängnissarzt), die 
Beobachtung in einer Irrenanstalt nach § 81 der Straf-Prozess¬ 
ordnung. 

Der Gerichtshof beschloss Vertagung der Sache und Beobachtung 
in einer öffentlichen Irrenanstalt. 

N. wurde demgemäss am 9. Dec. 1894 in die Provinzial-Irren-Anstalt 
Lauenburg aufgenommen und auf der ßeobachtungsstation untergobracht, wo¬ 
selbst Wache bei Tag und Nacht stattfindet. N. ist während der ganzen Be¬ 
obachtungszeit auf dieser Station verblieben, abgesehen von wenig Stunden an 
einigen Tagen, wo er zu besonderen Untersuchungen in das Zimmer des Arztes 
geführt wurde. Zu irgend einer Beschäftigung erklärte er sich unfähig. Er wollte 
auch ungern ausser Bett sein, nur an wenig Tagen liess er sich anziehen und 
sass auf einem Stuhl, sonst lag er ständig zu Bett. Er bekümmerte sich um seine 
Umgebung nicht im Geringsten, auch lehnte er angebotene Zeitungen und Bücher 
ab. Tags über lag er meist still vor sich hin und schlief auch zuweilen. Während 
er sonst im wachen Zustand beständig den linken Arm im rechten Winkel ge¬ 
beugt fest an den Körper angezogen hielt und das linko Bein auch im Sitzen steif 
gestreckt liess, Lag er oft im Bett in bequemer zwangloser Lage mit leicht im 
Knie gebeugtem linken Bein, wie andere ruhenden Menschen. 

Bei der Aufnahme zeigte er am linken Ohr und an der Schläfe Blutunter¬ 
laufungen und Kratzspuren. N. gab an, die Leute im Gefängnis« in Sl. hätten ihn 
misshandelt und ihm das Hemd zerrissen. 

Die Untersuchung des körperlichen Zustandes ergab sonst Folgendes: X. ist 
ein 160,5 cm grosser Mann mit ziemlich kräftigem Knochenbau und gutem Ernäh¬ 
rungszustand. Körpergewicht 63 kg. Schädelbildung länglich, Umfang 54,5 cm. 
I>ie rechte Stirnwölbung erscheint etwas llacher als die linke. Entsprechend der 
Kranznaht zieht sich eine seichte fingerbreite Furche quer über den knöchernen 
Schädel. Ausgedehnte Glatze. Abgesehen von Kratznarben und kleineren, nicht 
mit dem Knochen verwachsenen linearen Narben keine Reste von Schädelver¬ 
letzungen zu erkennen. 

An den Augen keine Störungen. Die Untersuchung mit dem Augenspiegel 
lässt keine Abweichungen erkennen. Zunge und Sprache ohne Lähmungen. N. 
spricht ruckweise, sehr ungewandt, bei manchen Worten sich länger besinnend. 
Das allgemeine Empfindungsvermögen der Haut ist anscheinend unverändert, doch 
ist eine genauere Prüfung bei N. unmöglich. 

Der Kniereflex ist rechts normal, links wegen Spanncns des Beins nicht zu 
erzeugen. Im Zimmer geht N., wenn er unbeachtet ist, ziemlich schnell und 
und sicher, das linke Bein nachschleppend (im Knie steif gehalten), in gerader 
Linie und mit grossen Schritten. Bei veranlassten Gehübungen dagegen geht 
er schwankend mit unregelmässigen Schritten, sichtlich die Störung übertreibend. 
Die Treppe geht er immer ohne Unterstützung hinauf, dabei das linke Boin nach¬ 
schleppend. Die Bewegungen der rechten Armes und der Hand sind sicher und 


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Dr. S iemens, 

ohne Zittern, zuweilen etwas ruckweise. Den linken Arm hält N. im Ellenbogen- 
gelenk rechtwinklig gebeugt und an den Körper angedrückt, die linke Hand ge¬ 
schlossen mit gestrecktem Handgelenk und Daumen. Auf Zureden bewegt er die 
Hand, ohne die Stellung des Armes zu ändern. Die Muskeln der in ihrer Bewe¬ 
gung angeblich gestörten Glieder zeigen keine Veränderung ihres Volumens. Beim 
Stehen stützt sich N. auf den Kleinzehenballen des linken Fusses. Bei unbeach¬ 
teter Bettruhe nimmt N. eine normale Lage ein. 

Die Untersuchung der Ohren ergiebt, dass N. rechts die Taschenuhr noch 
auf 75 cm Entfernung hört. Linkerseits will er garnicht hören können, auch nicht, 
wenn die Uhr an den Schädel angedrückt wird, und nicht bei Anrufen. Auch die 
aufgesetzte Stimmgabel will er nur rechts hören. Bei der Untersuchung mit dem 
Ohrenspiegel* erscheint das Trommelfell verdickt, aber glänzend und unverletzt; 
links ist das Trommelfell strahlig-narbig zusammengezogen und enthält an der 
unteren Seite ein rundes Loch. Ohrenfluss fehlt beiderseits. N. klagt über Sausen 
im linken Ohr. 

Manchmal ist N. sehr schwerhörig, zuweilen antwortet er aber auch auf lei¬ 
sere Ansprache. 

Die Untersuchung der Lunge und des Herzens ergiebt normale Befunde. 

Puls voll, regelmässig, 80. Leib weich, Leber- und Milzdämpfung normal. 

Stuhl regelmässig. Die Harnentleerung geschieht regelmässsig ohne beson¬ 
dere Anstrengung. Urin hell, klar, ohne Eiweiss und Zucker. 

An den Geschleohtstheilen keine Narben oder sonstige Abweichungen. 

N. klagt über Schmerzen im Kopf, Schmerzen im linken Arm und linken 
Bein, und im Bruch (er hat aber keinen eigentlichen Bruch, nur eine etwas weite 
Bruchpforte rechterseits, das Eingeweide tritt jedoch nicht heraus). 

Bei den zahlreichen mit ihm geführten Unterredungen blieb N. dabei, dass 
er seiner Frau an dem betreffenden Tage nichts gethan, sondern sie todt ange¬ 
troffen habe. Die Erzählung geschieht stets fast in den nämlichen Worten, wie 
X.sie in der Hauptverhandlung gab. Einzelne leichte Misshandlungen aus früherer 
Zeit gab er zu, behauptete aber, Grund dazu gehabt zu haben. 

Seine Personalien gab er richtig an, erzählte auch aus seinem Vorleben, was 
bereits vorstehend ausführlich angegeben ist. 

Den Unfall vom Jahre 1893 schilderte er jetzt so, als ob ihn die andern Ar¬ 
beiter gezwungen hätten, sie mit Schnaps frei zu halten, und ihm dann davon zu 
trinken gegeben hätten; dann sollte er tanzen, sie hätten ihm die Hosen zerrissen. 
Sie hätten ihn mit Spitznamen „Baumvater“ genannt. Dann sei er nach Hause 
gegangen, andere Hosen anzuziehen, nachher hätten ihn die Mitarbeiter geschlagen 
und hinuntergeworfen, 12 Fuss tief auf ein Schienengeleise, P.Sch. habe ihn her- 
untergesiossen. Als er gefallen sei, sei er erst noch bei Besinnung gewesen, habe 
gemerkt, dass er blute und habe gebeten, ihm zu helfen, aber die Arbeiter hätten 
sogar mit Steinen nach ihm geworfen, dann erst habe er die Besinnung verloren. 

Dreizehn Wochen sei er krank gewesen und nachher nicht gesund geworden, 
er sei zum Stümper gemacht, und ein Stümper geblieben. 

Die Frau habe sieh mit den andern Weibern eingelassen, hätte sie mit Geld 
frei halten sollen und habe sich von den andern verführen lassen und mit den 
andern habe sie ihn „dressirt“. 


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Sie habe sich auch mit den andern Männern eingelassen, da er zum Stümper 
geworden sei, habe sie von ihm nichts mehr wissen wollen. „Mit Hermann W. 
hat sie sich abgegeben und mich haben sie geschlagen — Wittwe W. und andere. 
Die Frauen haben davon gesprochen, 94, Monat März, wie wir sind nach Frau P. 
hingegangen wegen Wohnung, ein junger Mann sei besser, sie solle nach N.’s 
Tode wieder einen jungen Mann heirathen.“ — Seine Frau habe ihm „die Lebens¬ 
kraft versperrt,“ ihm „die Liebe abgezogen“, d. h. sie habe mit ihm keine ge¬ 
schlechtliche Gemeinschaft mehr haben wollen, — aber wohl mit andern Männern. 
„Sie hat auch gesagt: „sie sei keinem Manne angehörig“, da habe ich gesagt: 
„Du hast Dich doch mit mir zusammen gegeben.“ Sie wollte auch nicht mehr bei 
mir schlafen.“ 

Er deutet nun an, er sei in Folge dessen krank geworden, impotent, habe 
auch Beschwerden beim Urinlassen gehabt. Darum sei er nach Greifswald ge¬ 
fahren, um sich behandeln zu lassen. Er sei zu dem „Doctor hinter der Frauen¬ 
klinik“ gegangen; der habe ihm etwas verschrieben. Er sei krank geworden „da 
dran“ (zeigt auf die Geschlechtstheile). Er habe Schmerzen da dran gehabt. Acht 
oder zehn Mal sei er in Greifswald gewesen. — Auf die Frage was er damit ge¬ 
meint habe, „sie habe ihm die Liebe runtergeschluckt?“ (Zeugenangabe) sagt er: 
„Wir hatten uns das im Spass angewöhnt und das versagte sie mir später. — Da 
sie nun nicht mehr zu mir wollte und das nicht mehr machte, bekam ich Schmerzen 
und konnte nicht pinkeln.“ — 

Was nun das sonstige Verhalten N.’s betrifft, so war er Anfangs, wie vor¬ 
stehend geschildert, ganz still für sich und sprach von selbst kaum ein Wort. — 
Am Abend des 22. Dec. wurde zuerst bemerkt, dass N. halblaut vor sich hin 
sprach. Trat Jemand an sein Bett, so schwieg er. Auf Befragen gab er keine 
Auskunft. 

Am 24. Abends gelang es dem Wärter, etwas von dem was N. vor sich hin¬ 
sprach, zu verstehen und es nachzuschreiben. Er sagte: „Wenn Ihr mich hättet 
rausziehen wollen, so hättet ihr mich nicht lassen halbtodt schlagen. Aber Ihr 
trachtet nur nach Menschenleben.“ Auf die Frage, was er damit meinte, sagte 
er: „Die Frauen sprechen immer.“ „Wie kommt die Frau dazu, mir immer zu 
spendiren (?), was steht sie da? Mit der Fabrik habe ich zu thun, weiter gar 
nichts.“ 

Am 28. Dec. beklagte er sich viel über die Frauen, die ihm keine Ruhe 
Hessen. Auch am andern Tage beschwerte er sich über die Belästigung: „Sie 
lassen mich nicht ruhig liegen, sie halten sich über mich auf, und ich weiss nicht 
warum, sie machen so grossen Skandal, dass ich nicht schlafen kann. (Wer ist 
es denn?) „Ich glaube, es ist August Schulz von St. und seine Frau.“ (Wer 
ist August Schulz?) „Als meine Frau gedient hat, ist er als ihr Bräutigam ge¬ 
wesen und da hat er die Falschheit auf mich hingeschmissen.“ 

Abends notirte der Wärter wieder die ärgerlichen Reden N.’s: „Wenn ich 
meine Ruhe nicht bekomme, passirt was. Ich habe mit den Frauensleuten nichts 
abzumachen. Ich will dahin, wo ich gekommen bin. Ich kann mich doch nicht 
quälen und Noth leiden. Mein Name ist polnisch, er soll deutsch werden. Wissen 
will ich, weshalb ich hier bin. Meine Gesundheit habe ich verloren und vier 
Fehler erhalten. Das Weib geht mich nichts an. Wenn ich hier nicht meine Ruhe 


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Dr. Siemens, 

bekomme, muss ich sie wo anders suchen. Ich bin froh, dass ich im Bett liegen 

darf wie zu Hause.-Was wollen die Leute mit dem Messer? Wozu nehmen 

sie mir die paar Groschen aus der Fabrik? Was hat die Hand damit zu thun? 
Ich danke Gott, dass sie mir gelassen ist. Das wird wohl jeder thun. Brauchst 
Dich nicht melden, ich bin froh, dass Du todt bist. Bin ich denn, was Sie gesagt 
haben? Zum Stümper bin ich gemacht. Ich weiss, dass ich in P. Bier und 
Schnaps getrunken habe. Als ich zurück kam fand ich sie todt. . , u 

Bemerkt sei hier, dass N. Alles dies für sich sagte, ohne dass er von Mit¬ 
kranken oder Wartpersonal angesprochen wurde und dass insbesondere Frauens¬ 
personen dort, wo N. sich aufhielt, niemals anwesend sind. Das Nachschreiben 
des Wärters geschah unbemerkt von N. 

Am 30. Dec. notirte der Wärter: „dass sie mir todt gemacht haben und todt 
nach Hause gebracht haben, und dann soll ich mir noch entschuldigen, na das 

fehlt auch noch gerade, das soll mir oinfallen-ganz genau, ganz genau . . . 

das ist da so wie hier und hier so wie da . . . Allerwärts lassen sie mir keine 
ltuhe, überall werd ich dressirt.“ 

Am 31. Dec. wurde notirt: „Wenn das nicht anders wird, dann verlange ich 
meine Kleider und w erde genug w issen, wo ich hingehe . . . hat solch Weib denn 
Gerechtigkeit, hierher zu kommen und zu fragen, warum ich hier bin, ich verlang’ 
meine Ruhe . . . was will die quatschen: „Schämst Du Dich nicht,“ über was 
soll ich mich schämen . . . nein das kann nicht stillbleiben, sie kann ein paar in 
die Fresse kriegen ... Du bist ein Larv, wenn Du kein Larv nicht wärst, dann 
frasst Du das nicht auf . . . wenn August Schulz vernünftig sein wird, dann wird 
er ja hingehen, aber für August Schulz w erd ich mich noch nicht schämen . . . 
na w at is denn dat, ich soll mich schämen . . . immer muss sich Jeder über mich 
aufhalten . . . wie kann das Weibstück sagen, ich soll mich schämen.“ 

N. gab nun auf Befragen an, er werde seit Herbst in St. in dieser Weise 
belästigt, besonders von dem August Schulz und dessen Frau. Diese Menschen 
verfolgten ihn bis hierher, sie müssten doch vor dem Hause stehen und über ihn 
sprechen, er höre es vom Fenster her. Die Leute Hessen ihn keine Nacht schlafen. 
Er w r ar nicht zu überzeugen, dass vor dem Fenster keine Leute ständen; er höre 
es doch ganz deutlich. 

Am 1. Jan. Nachts war er sehr störend, sprach viel und erregt, ging auch 
umher und liess sich nicht zur Ruhe bringen. Er musste schliesslich um Mitter¬ 
nacht allein in ein Zimmer gelegt werden. 

Erst gegen Morgen wurde er ruhig und legte sich zu Bett. 

In den späteren Nächten mussten stets Schlafmittel gegeben werden —2g 
Chloralhydrat — worauf N. ruhig schlief. Oft auch w T ar er Abeilds sehr unruhig 
und bedurfte stärkerer Narcotica. Er sagte, gesehen habe er August Schulz nicht, 
derselbe habe sich zuerst in St. ihm „kundgethan“ im Gefangniss. Er klagte, 
dass sie ihm „das Gehör herausholten“, was ihm der liebe Gott noch gelassen 
habe. Es sause und brause ihm in den Ohren, „als wenn sich Jemand an den 
Baum stellen thut“. 

Am 20. Jan. früh wurde er von zwei Polizeibeamten nach St. zurückgeführt. 

Er soll nach dem Bericht des einen in St. abwechselnd mit dem linken und 
auch mit dem rechten Bein gehinkt haben. 


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Casnistischer Beitrag zur gerichtlichen Psychiatrie. 229 

Gutachten. 

Das Gutachten wird sich wesentlich mit 3 Fragen zu beschäftigen 
haben: 

1. Wie war der körperliche und geistige Zustand N. vor dem 
11. Juli 1896 (Tod der Frau N.), wobei auch Streiflichter 
auf den geistigen Zusfand der Frau fallen müssen. 

2. Wie war er zur Zeit des Todes der Frau? Befand sich N. 
in einen Zustand der Geistesstörung, welcher seine freie 
Willensbestimmung ausschloss? 

3. Wie war N.’s geistiger und körperlicher Zustand nach dem 
11. Juli und wie ist er jetzt? Ist N. geisteskrank (wahn- 
oder blödsinnig) ist er gemeingefährlich und ist er ver¬ 
handlungsfähig? 

1. N. vor dem 11. Juli 1896. 

Leider sind genauere Nachrichten über das Vorleben dos N. nicht 
zu erhalten gewesen. Ob N. erblich mit Anlage zur Geistes- oder 
Nervenkrankheit belastet ist, wissen wir nicht. 

Er war erst Schuhmacher, dann Arbeiter auf dem Lande und 
an der Eisenbahn. Er war dort ein fleissiger nüchterner Arbeiter — 
nach dem Attest des Dr. H.; nach dessen nachträglicher Angabe 
„etwas dammlich, mit derselben stossweisen ungewandten Sprechweise 
wie jetzt.“ 

Der Bahnmeister habe ihn schliesslich nicht mehr haben wollen; 
darauf zog N. nach J. und arbeitete in der Cementfabrik; hier scheint 
er von seinen Arbeitsgenossen zuweilen gehänselt worden zu sein. 
Bei einer solchen Gelegenheit, in der Arbeitspause, erlitt er den 
schweren Unfall durch Herabfallen aus einer beträchtlichen Höhe auf 
den Kopf (17. Juli 1893). 

Wenn N. aus Nase und linkem Ohr Blut verloren hat und län¬ 
gere Zeit bewusstlos gewesen ist, muss mindestens eine schwere Ge¬ 
hirnerschütterung, vielleicht auch ein Bluterguss oder ein Knochen¬ 
sprung im Schädel angenommen werden. So schwere Verletzungen 
pflegen nicht ohne dauernde Nachtheile für das Nervensystem der 
Betroffenen vorüber zu gehen. 

Am 6. September, also 7 Wochen nach dem Unfall) gab N. an, 
er sei taub auf dem linken Ohr und sei ganz wirr im Kopf. 

Die Bewegungsstörungen des linken Arms und des linkes Beines 
haben sich erst später eingestellt; N. hat zuerst mehr über allgemeine 


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230 


Dr. Siemens, 

Beschwerden geklagt (Kopfschmerzen, Mattigkeit in allen Gliedern, 
fortwährenden Hang zum Liegen, Athemnoth, Herzklopfen, Husten¬ 
reiz u. s. w.). 

Der Arzt Dr. H. hielt dies für krankhaft übertrieben. Aber 
auch der andere, von der Berufsgenossenschaft zur Begutachtung N. ! s. 
berufene Arzt Dr. Ha. fand einen geistigen Verfall, sowie verschiedene 
schwere objective und subjective Nervenstörungen. 

Bermerkenswerth ist, dass sowohl Dr. H. als Dr. Ha. den Mann 
geistig nicht für gesund gehalten haben. 

Ersterer schildert N. als Hypochonder (viele Klagen und dringende 
Wünsche nach Medicamentcn bei Fehlen objektiver Symptome) und 
als schwachsinnigen Faseler, Dr. Ha. als geistig verfallenen und mit 
AValmideen behafteten Menschen. 

Dem Dr. Ha. gegenüber hat N. bereits den Wahn ehelicher Untreue 
gegen seine Frau geäussert und sich über „Hörgeräusche, besonders 
Nachts“, beklagt. Er hat also möglicherweise bereits damals an 
Hallucinationen des Gehörs gelitten. 

Wenn auch schon aus der Zeit vor dem Unfall von N. Miss¬ 
handlungen der Frau berichtet werden, so scheint doch nach dem Un¬ 
fall diese Sache schlimmer geworden zu sein. Es sind in der That 
die ausgesucht brutalen, gewohnheitsmässigen, excessiven Misshand¬ 
handlungen der armen Frau nur durch einen krankhaften Zug im 
AVesen des N. zu erklären. 

Auch deutet Manches auf perverse Gewohnheiten im Geschlechts¬ 
verkehr der beiden Ehegatten hin. 

Weiter aber geht aus den Angaben des Seelsorgers unzweifelhaft 
hervor, dass auch bei der Ehefrau N. krankhafte Gemüthszustände 
obwalteten. Ihr A r ater war geisteskrank, und sie kam mit Selbst¬ 
anklagen zum Geistlichen, die dieser für krankhaft hielt. 1894 am 
Gründonnerstag nach dem gemeinsamen Genuss des heiligen Abend¬ 
mahls misshandelte N. seine Frau fürchterlich, angeblich, weil die 
Frau auf dem Rückwege zu einem Tischler hatte gehen wollen, um 
ihren Sarg zu bestellen. 

Wie der Geistliche sich dachte, konnten das Selbstmordge¬ 
danken sein oder die Furcht der Frau, dass ihr Mann sie einmal 
umbringen könne. 

Dass der Pastor jetzt vermuthet, N.’s unverständliche Antworten 
könnten möglicher AA'eise damals auf Simulation beruht haben, ist 
wohl nur ein Beweis von der Befangenheit, in welche Laien sofort 


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Casuistischer Beitrag zur gerichtlichen Psychiatrie. 


231 


sofort verfallen, wenn sie hören, dass Personen mit zweifelhaftem 
Gemüthszustand einzelne z. ß. körperliche Symptome übertreiben oder 
sirauliren. 

Sie können sich nicht denken, dass ein thatsächlich Geistes¬ 
kranker in dieser oder jener Hinsicht noch zu täuschen versuchen 
kann. Und doch ist dies eine häufige Erfahrung der Irrenärzte. 

Irgend etwas in geistiger Hinsicht zu simuliren hatte N. damals 
keine Veranlassung. „Er ist närrisch, sie ist gemüthskrank“ — diese 
Notiz des Pastors vom 17. April 1894 ist meiner Ueberzeugung nach 
richtig und angemessen. * 

Die Frau war gemüthskrank. Ihre Absicht, sich scheiden zu 
lassen, gab sie nachher auf, weil der Rest ihrer normalen Wider¬ 
standskraft gegen die Ungeheuerlichkeiten der Behandlung ihres Mannes 
schwand. Sie wurde gemüthsstumpf und damit trat wohl auch eine 
körperliche Abneigung gegen den Mann ein, vor dessen geschlecht¬ 
lichen Anforderungen sie davonlief. 

N. war ebenfalls geisteskrank, aber in anderer Weise. Er litt 
an Wahnvorstellungen, einerseits hypochondrischer Art, andererseits 
von der Art des Verfolgungswahns. Er glaubte, dass seine Frau ihn 
in geschlechtlicher Beziehung hintergehe und in Gemeinschaft mit 
Andern ihn vernichten wolle. 

Durch diese Wahnvorstellungen veranlasst, lief und reiste N. zu 
den Aerzten und suchte da Hilfe; andererseits misshandelte er seine 
Frau, als die Urheberin aller seiner Plagen. 

Vielleicht hatte N. auch schon Gehörshallucinationen. 

Die geistige Störung N.’s war im April 1894 bereits sicher vor¬ 
handen. Entsprechend der fortschreitenden Art solcher Störungen 
muss man annehmen, dass die Wahnideen im Juli 1896 noch zahl¬ 
reicher und lebhafter als früher waren und dass dabei auch die 
geistige Schwäche bereits einen gewissen Grad erreicht hatte. (Die 
Schwache des Urtheils.) 

Nun kam noch der Process. N. war von der Gemeinde wegen 
der Miethe verklagt; es handelte sich um eine für ihn erhebliche 
Summe. Es ist anzunehmen, dass er aufgeregt war und sich die Zu¬ 
kunft in schwarzen Farben malte, und dass seine Verfolgungsideen 
besonders heftig zur Aeusserung kamen. Andererseits ist es auch 
wahrscheinlich, dass die Gemüthsdepression der Frau durch die 
schlimmen Aussichten sich noch vertiefte. 

Yierteljahreeehr. f. ger. Med. Dritte Folge. XIV. 2. 


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232 


Dr. Siemens, 

Jetzt wird die Frau todt gefunden, offenbar erhängt oder er¬ 
drosselt. N. war ohne Zeugen mit ihr allein. Niemand hat einen 
Laut gehört; niemand hat gesehen, wie das Entsetzliche geschehen 
ist. — — 

2. N. am 11. Juli 1896. 

Es ist nicht Sache des ärztlichen Sachverständigen, den That- 
bestand zu reconstruiren. 

Aber der Irrenarzt darf den Vorgang psychologisch beleuchten, 
wenn es feststeht, dass der Geisteszustand der in Betracht kommenden 
Personen ein abnormer war. 

N. kann der Thäter sein. Er kann die Frau erwürgt haben und 
kann sie auch, als sie schon todt oder widerstandsunfähig war, auf¬ 
gehängt haben. 

Er kann die Frau auch mit ihrem Einverständniss aufgehängt 
haben, auf ihr Bitten, oder ohne dass sie Widerstand leistete. Sie 
war ja gemüthskrank. 

Aber die Frau kann sich auch selbst aufgehängt haben. Man 
muss dann annchmen, dass N. die Erhängte abgenommen und die 
Leiche in die Lage gebracht hat, in welcher die herbeigerufenen 
Kinder sie sahen. 

Er wird Letzteres in jedem Falle so gemacht haben, um den 
Verdacht von sich abzulenken; so blödsinnig war er noch nicht, uni 
nicht einzusehen, dass er nach Lage der Umstände jedenfalls in dcu 
Verdacht kommen musste, bei dem Tode mitgewirkt zu haben. 

Wie es wirklich geschehen ist, das anzugeben weigert sich N. 
Er leugnet und erzählt eine unwahrscheinliche, offenbar eingelcrnte 
Geschichte, die er stets mit denselben Worten vorbringt. — Seine 
Thäterschaft muss dahingestellt bleiben. 

Aber N. war zur Zeit der That entschieden geisteskrank, er be¬ 
fand sich in einem Zustande krankhafter Störung seiner Gcistesthätig- 
keit, welcher seine freie Willensbestimmung ausschloss. Er betrachtete 
seine Frau als die Haupturheberin seines Unglücks und als die Quelle 
seiner Leiden und auf Grund dieser Wahnideen hat er sie in der 
fürchterlichsten Weise misshandelt und kann sie möglicherweise auch 
getödtet haben. 

3. N. nachher und jetzt. 

Das Bestehen der geschilderten geistigen Störung ist durchaus 
vereinbar mit der Thatsaehc, dass N. in mancher Beziehung simulirt. 


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Casaistisoher Beitrag zur gerichtlichen Psychiatrie. 


233 


Er simulirt allerlei körperliche Symptome: Contractur des linken 
Arms, Steifheit des linken Beins. Vielleicht übertreibt er auch zeit¬ 
weise seine Schwerhörigkeit. Letzteres ist zweifelhaft ; es ist bekannt, 
dass Schwerhörige zeitweilig besser und zeitweilig wieder viel schlechter 
hören. 

Zu der Simulation der Bewegungsstörungen können ihn sow r ohl 
Erwägungen, welche sich auf seinen erlittenen Unfall beziehen, als auch 
Erwägungen defensiver Art, welche auf den ihm zur Last gelegten 
Mord Bezug haben, veranlassen. 

Es können aber auch abnorme Gefühle sein, welche in Folge 
des Unfalls in den betreffenden Gliedern entstanden sind, und welche 
N. bei seinem geistig gestörten Wesen zu derartigen, halb willkür¬ 
lichen, halb unwillkürlichen abnormen Haltungen der Glieder ver¬ 
anlassen („traumatische Hysterie“). 

Die geistige Störung simulirt N. nicht. Sie bestand schon viel 
eher, als N. in gerichtliche Untersuchung genommen wurde. Sie ist 
jetzt in der ausgesprochendsten Weise vorhanden, da deutlich nach¬ 
weisbare Gehörshallucinationcn bestehen, weiche den Verfolgungs¬ 
wahnideen nach dem Tode der Frau einen neuen Inhalt geben. 

N. hallucinirte vielleicht schon früher (vergl. Angabe des 
Dr. Ha.). Sicher hallucinirt er jetzt, und zwar sind die Hallucinationen 
in dieser Deutlichkeit für den Kranken zuerst in St. in der Einzel¬ 
zelle des Untersuchungsgefängnisses aufgetreten. „August Schulz 
bat sich mir in St. zuerst kund gegeben“ giebt N. an. Er ist fest 
von der nahen Anwesenheit der hallucinirten Personen überzeuzt, 
welche durch Schmähungen und Verfolgungen ihn gänzlich zu nichtc 
machen wollen. 

Das Auftreten von Hallucinationen, besonders des Gehörs, in 
der Einzelhaft bei psychopathisch Veranlagten ist nichts Seltenes. 

Solche Symptome von Hallucinationen in ihrer klinischen Corrcct- 
heit, wie sie dem Irrenarzt genau bekannt sind, zu simuliren ist un¬ 
möglich. 

Es kann bei Sachverständigen kein Zweifel an dem Bestehen der 
schweren geistigen Störung vorhanden sein. 

Ich komme also bezüglich der Frage 3 meiner Begutachtung zu 
dem Schluss, dass N. chronisch geisteskrank ist — und zwar in der 
Form der sogenannten Verrücktheit (Paranoia) mit hypochondrischen 
Wahnideen, mit Hallucinationen und mit Verfolgungswahn. 

Die Entstehung kann verschieden sein. 

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234 Dr. Siemens, Casnistischer Beitrag zur gerichtlichen Psychiatrie. 


Die Störung kann in ihren Anfängen schon weit zurückliegen. 
Individuelle Anlage, unregelmässiges Leben, Alcohol-Missbrauch, ge¬ 
schlechtliche Excessc können die Ursache sein. Später hat entschieden 
der erlittene schwere Unfall, welcher vorzugsweise den Kopf, 
bezw. das Gehirn getroffen hat, die Entwickelung des Geisteskrankheit 
gefördert. 

Hypochondrie und Verfolgungswahn sind nach dem Unfall deut¬ 
lich aufgetreten, auch zunehmende geistige Schwäche. Den Rest hat 
N. vielleicht die Einzelhaft im Untersuchungsgefängniss gegeben; 
vielleicht aber sind die Hallucinationen auch schon früher ent¬ 
standen. 

Im Sinne des Allgemeinen Landrechts ist N. als blödsinnig zu 
bezeichnen, da er nicht im Stande ist, die Folgen seiner Handlungen 
zu überlegen. Denn er steht völlig unter der Herrschaft seiner ab¬ 
normen Gefühle und seiner Hallucinationen und der daraus sich er¬ 
gebenden Vcrfolgungswahnideen, und ist nicht mehr im Stande, die 
Wirklichkeit von den durch die Krankheit ihm vorgespiegelten subjoctiven 
Erlebnissen zu trennen. 

Da N. durch die Sinnestäuschungen und Wahnideen in einer er¬ 
heblichen Weise erregt und zu Abwehr-Handlungen verleitet wird, ist 
er als gemeingefährlich zu bezeichnen. 

Er bedarf der dauernden Fürsorge und Pflege in einer Irren- 
Anstalt. 

Endlich ist N. durch seine Sinnestäuschungen derart krankhaft be¬ 
einflusst, dass er als nicht verhandlungsfähig anzusehen ist. 


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3. 

Uefoer psychische Infection und inducirtes Irresein. 

Von 

Physikus Dr. 0. Riedel (Lübeck). 


Die Kenntniss der Uebertragbarkeit geistiger Störungen ist uralt, 
die wissenschaftliche Erkenntniss des inducirten Irreseins datirt erst 
aus den letzten Jahrzehnten. Ueber die Art und Weise, wie Geistes¬ 
störungen auf Gesunde oder anscheinend gesunde Individuen über¬ 
tragen werden, haben sich die Anschauungen bekämpft, nunmehr aber 
wohl bis zu einem befriedigendem Maasse geklärt. Freilich hat es 
noch in den letzten Jahren nicht an Stimmen gefehlt, welche eine 
eigentliche Gebertragung von Psychosen ganz in Abrede stellten (Graf, 
Werner) und in der anscheinend durch Ansteckung entstandenen 
zweiten Erkrankung ausschliesslich den durch eine Gelegenheitsursache 
hervorgerufenen Ausbruch einer schon vorbereiteten oder bestehenden 
Krankheit, das Offen barwerden eines bis dahin latenten Leidens oder 
auch die von jeglicher äusseren Ursache unabhängige Fortentwickelung 
einer schon vorhandenen Krankheitsanlage erblicken. Dem gegenüber 
muss doch betont werden, dass bei einer vorurteilsfreien Würdigung 
des vorhandenen Materials in vielen Fällen ein specifischer ursäch¬ 
licher Zusammenhang der zweiten Erkrankung mit einer gleich¬ 
beschaffenen ersten nicht von der Hand zu weisen ist, und dass da¬ 
her der Ausdruck „psychische Uebertragung“ oder „psychische In¬ 
fection“ durchaus berechtigt erscheint. Allerdings darf man das 
Krankheitsgift oder psychische Contagium sich nicht nach Art des 
Virus der somatischen Infectionskrankheiten als einen belebten ver¬ 
mehrungsfähigen Krankheitserreger vorstellen, auch nicht dasselbe, 
wie von Krön er angedeutet wird, etwa in einem chemischen Stoff- 


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236 


Dr. Riedel, 

wcohselproduct des Geisteskranken suchen; es handelt sich vielmehr 
um sinnliche, seelische Wahrnehmungen, Empfindungen und Ueber- 
legungcn, welche auf einem geeigneten Boden haften bleibend — der¬ 
selbe entspricht der für eine erfolgreiche somatische Infection er¬ 
forderlichen Disposition — Boden fassen, die Krankheit fortpflanzen 
und weiter verbreiten können. 

Wenn man die aus alter und neuer Zeit bekannt gewordenen 
zahlreichen psychischen Infectionen, thcils Massenerkrankungen in 
Gestalt geistiger Epidemien, thcils Fälle sporadischer Erkrankung, 
hinsichtlich des Febertragungsvorganges analysirt, so zeigt sich, dass 
es sich bald um Uebertraguiig durch Nachahmung oder psychische 
Emotion, bald auch um Uebertragung auf dem Wege der Feberlegung 
und des Verstandes gehandelt hat. Während die erstgenannten beiden 
Faktoren vorwiegend bei den geistigen Epidemien wirksam gewesen 
sind, kommt die Uebertragung auf dem Wege des Verstandes wesent¬ 
lich bei den sporadischen psychischen Infectionen zur Geltung. 

Die Nachahmung als Quelle geistiger Ansteckung kann sowohl 
bewusst wie auch unbewusst instinctiv thätig sein. Als Nachahmung 
im weiteren Sinne beschränkt sic sich nicht blos auf eine Neigung 
zum Wiederholen des äusseren Gcbahrens, sondern hat das Be¬ 
streben auch die an Andern wahrgenommenen Affecte und Erregungen 
mitzufühlen und nachzuempfinden. Dabei kann der Nachahmungs¬ 
trieb eine impulsive unwiderstehliche Gewalt gewinnen oder es kann 
durch Concentration der Aufmerksamkeit auf die beobachteten Vor¬ 
gänge eine Art Hypnose zu Stande kommen. An die Stelle der 
Imitation tritt dann die Suggestion. 

Der dem Menschen und den höheren Thieren eigene Nach¬ 
ahmungstrieb ist in der Kindheit am lebhaftesten, bei dem reiferen 
Individuum soll er mehr und mehr vom Verstände beherrscht und ge¬ 
zügelt sein. Schon bei Gesunden zeigt sich bei mannigfachen Ge¬ 
legenheiten des täglichen Lebens ein instincLivcr Nachahmungstrieb 
und ein Umsetzen empfundener Alfccte in motorische Effecte, so 
z. B. beim Lesen oder Anhören spannender, erschütternder Erzäh¬ 
lungen, beim Hören von Musik und dgl. mehr. 

Wie gewaltig in Folge des dem Menschen innewohnenden Nach¬ 
ahmungstriebes die Macht des Beispiels nach der guten wie nach der 
schlechten Seite hin wirkt, ist zur Genüge bekannt. Ist doch gerade 
das gute Beispiel eines der erfolgreichsten Erziehungsmittel, während 


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Ober psychische Infection und indirektes Irresein. 


237 


an eine einzelne von einer schlechten Persönlichkeit ausgeführte Misse- 
tliat sich gelegentlich eine ganze Reihe ähnlicher Nachahmungshand¬ 
lungen zahlreicher Individuen anschliessen kann. Es sei hier nur der 
wiederholentlich beobachteten Verbrechensepidemien, der Vergiftungs- 
und Brandstiftungsmanieen, der epidemischen Häufung der Selbst¬ 
morde und des epidemischen Auftretens von Selbstverstümmlungen 
gedacht. 

Damit nun durch die Wirkung des an sich physiologischen be¬ 
wussten oder unbewussten Nachahmungstriebes Krankheiten geistiger 
oder nervöser Natur, Psychosen oder Neurosen, durch Uebertragung 
zur Entwicklung gebracht werden, ist — wie von den Autoren ein- 
müthig anerkannt wird — erforderlich einerseits eine besonders leb¬ 
hafte „impressionistische“ Erkrankung als Ausgangspunkt, anderer¬ 
seits eine besondere (hysterische oder suggestive) Empfänglichkeit der 
secundär erkrankten Individuen. Als ein dritter, bisher nicht genügend 
gewürdigter Factor ist noch hinzuzufügen, die Anwesenheit von Publi¬ 
kum, welches theils neue Rekruten für die epidemische Erkrankung 
zu liefern, theils bei dem mehr oder weniger theatralischen Gebahren 
der Erkrankten als Zuschauer zu fungiren hat. Wenn von manchen 
Seiten (Kröner) gegen die Erklärung der Krankheitsentwicklung durch 
Nachahmung der Einwand geltend gemacht wird, dass nur die Nach¬ 
ahmung von etwas Angenehmem oder Vortheilhaftem ausgeführt 
werde — was bei geistigen Erkrankungen doch nicht der Fall sei — 
so muss dem entgegnet werden, dass gerade der Kitzel sich zu zeigen, 
sich zu produziren, bewundert oder bemitleidet zu werden, für ein 
hysterisches Individuum einen genügenden Anreiz abgeben dürfte, um 
die Nachahmung als erstrebenswerth erscheinen zu lassen. 

Es handelt sich bei diesen Nachahmungskrankheiten (imitatorische 
Scclenseuchen, Blasius) meist um Emotionspsychosen, deren Conta- 
giosität mit der Intensität der äusserlich wahrnehmbaren Krankheits¬ 
erscheinungen wächst. Die bei den besonders lebhaften und er¬ 
schütternden Krankheitsäusserungen stattgefundene Uebertragung, 
welche als acute oder subacute Erkrankung stets mehr oder weniger 
plötzlich erfolgt, hat man auch als Shock Wirkung aufgefasst. Dies 
mag wohl mit einem gewissen Recht geschehen. Es dürfen aber 
nicht als durch Shockwirkung übertragen, sondern nur durch Sh ock- 
wirkung veranlasst diejenigen, nicht hierhergehörigen Fälle bezeichnet 
werden, wenn bei den Zeugen geistiger Erkrankungen durch Schreck 
andersartige Krankheitszustände als die primären entstehen. Zum 


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238 


Dr. Riedel, 

Begriffe der geistigen Infection oder Contagion gehört eben die Ucbcr- 
tragung des gleichen Krankheitsbildes. 

Was nun die Art der übertragenen Erkrankungen betrifft, so 
haben sich Psychoncurosen und Neurosen mannigfacher Art, religiöse 
Ekstasen, maniakalische Erregungszustände, melancholische Angst¬ 
zustände und hysterische Krankheitsäusserungen in den verschiedensten 
Gestalten als zur Uebertragung geeignet erwiesen, wobei die Ueber- 
tragung doch meist nur eine äusserliche symptomatische, höchstens 
suggestive Aneignung der Krankheit darstellt. 

Als solche Imitationskrankheiten auf religiöser Grundlage sind 
aus alter und neuer Zeit zu nennen: Die Kinderkreuzzüge und die 
Tanzplagen des Mittelalters, die Pöschlianer in Oberösterreich (1814) die 
Predigerkrankheit in Schweden 1841, die Predigerkrankheit in Baden 
1852 und 1856, die Erweckungen in Amerika (1814, 1856) im 
Elberfelder Waisenhause (1890) und in Morzine (1865) die Malewanscht- 
schen in Russland (1891/92) u. a. mehr. Hierher gehören ferner die 
zahlreichen Beoachtungen von hysterischen Massenerkrankungen, 
welche nicht nur unter körperlich schwächlicher Stadtbevölkerung, 
sondern gelegentlich unter robusten körperlich widerstandsfähigen Land¬ 
mädchen aufgetreten sind (Seeligmüller). Besonders das enge Zu¬ 
sammenleben der Kinder in der Schule und die Eigentümlichkeiten 
des Schullebens begünstigen hysterische Uebertragungen. So berichtete 
Wich mann aus dem Jahre 1885 von einer in der Schule zu Wild¬ 
bad aufgetretenen Veitstanzepideraie, bei welcher von einer Veits¬ 
tanzerkrankung aus erst 18 Mädchen, dann 8 Knaben von Chorea be¬ 
fallen waren; dabei handelte es sich nur bei fünf Mädchen um wahre 
Chorea, während bei den übrigen Kindern Chorea rhythmica vorlag, 
die sich vorzugsweise durch taktmässiges Klopfen des Fussbodcns 
mit der Ferse betätigte. Im Bremer Waisenhause beobachtete Tölker 
1879 und 1882 epidemisches Auftreten von hysterischen Convulsionen, 
im Jahre 1892 von hysterischem Erbrechen und in dem Zeitraum von 1882 
bis 1886 wiederholt sich häufendes Auftreten hysterischer Contracturen. 

Schliesslich ist hier noch der anscheinend somatischen aber 
gleichfalls als hysterisch zu erachtenden „Imitationskrankheiten u 
der Kinder zu gedenken, wie solche gerade in neuester Zeit mehrfach 
aus Ungarn berichtet worden sind (Szegö). Es handelte sich dabei 
um das epidemische Auftreten von bellendem oder fauchendem Husten, 
oder andern thierstimmähnlichen Aeusserungen in Schulen und Pen- 
sionaten, wobei Art und Eintritt der Symptome und ihre schnelle 


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Geber psychische Infection und inducirtcs Irresein. 


239 


Heilbarkeit durch Isolirang keinen Zweifel an der hysterischen, imita¬ 
torischen Entstehung übrig Hessen. 

Diese günstige Aussicht auf eine meist schnelle Heilung, 
manchmal allerdings mit gelegentlichen, von äusseren Einflüssen ab¬ 
hängigen Rückfällen, ist ebenso wie auch ihre schnelle Entstehung für 
die Nachahmungs- und Emotionskrankheiten characteristisch. 

Wenn nun auch gelegentlich behauptet wird, dass unser realistisches 
Zeitalter dem Zustandekommen psychischer Epidemien ungünstig sei, 
so muss dagegen eingewendet werden, dass Ueberbürdung, Frühreife 
und die Ueberanstrengung des hastenden modernen Lebens und die 
ihm eigene mangelhafte Ausbildung der Widerstandsfähigkeit des 
Characters in unserem nervösen Zeitalter in Gestalt einer nervösen 
Grundlage und einer bereiten Empfänglichkeit für Täuschung, Selbst¬ 
täuschung und Suggestion auch für die Entwicklung geistiger Epi¬ 
demien keinen ungünstigen Boden darbieten dürften. Dass dem so 
ist, geht hervor aus der Verbreitung, welche in verschiedenen Ländern 
in den niederen Klassen die Propaganda der Heilsarmee erzielt hat, 
welche nichts anderes ist, als eine neue Auflage der „Erweckungen“ 
früherer Jahrzehnte. 

In den sogenannten gebildeten Kreisen vermochte die armselige 
Lehre des Spiritismus Boden zu fassen. Und dass Einseitigkeit, 
Urtheilslosigkeit und Neigung zu Selbsttäuschnng auf den verschie¬ 
denen wissenschaftlichen, ästhetischen und politischen Gebieten auch 
am Ende des 19. Jahrhunderts ihren verblendenden und intolerant 
machenden Einfluss äussem und zu Massensuggestionen führen, brauche 
ich hier nicht näher auszuführen. 

Im schroffen Gegensatz zur Entstehung dieser Imitationskrank¬ 
heiten steht nun die Genese der geistigen Infection auf dem Wege 
des Verstandes, für welche die zuerst von Lehmann angewendctc 
Rezeichnung des inducirten Irreseins Vorbehalten sei. Hierbei handelt 
es sich stets um die Uebertragung mehr oder weniger systematisier 
Wahnideen. Das wesentliche dabei ist die Ueberpflanzung der Idee, 
nicht die Uebertragung der äusserlichen Krankheitssymptome. 

Während bei den Emotionsphychosen eine geistige Infection im 
Allgemeinen um so leichter bewirkt wird, je lebhafter die Krankheits¬ 
äusserungen sind, so ist hier das Gegentheil der Fall: Eine Infection 
findet um so eher statt, je mehr das ersterkrankte Individuum in 
seinem Gebahren einem Gesunden gleicht. Die Uebertragung erfolgt 
langsam, indem der Erkrankte seine Ideen seiner Umgebung einzu- 


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Dr. Riedel, 


pflanzen sich bemüht. Durch Intimität des Verkehrs und Gleichheit 
der Interessen wird die Ueberpflanzung der krankhaften Ideen und 
und deren Entwicklung bei der Umgebung des Kranken begünstigt. 
Der Sachlage entsprechend kommt es hierbei nur zu einer Ueber- 
tragung der Krankheit auf eine oder wenige Personen. 

Das Krankheitsbild des inducirten Irreseins im engeren Sinne ge¬ 
hört in das Gebiet der folie ä deux, deren Krankheitsbegriff 1873 und 
1877 von Lasegue und Falret aufgestellt wurde. 

Während vordem die Thatsachen der Uebertragung von Geistes¬ 
krankheiten als Curiosa mitgetheilt wurden, haben Legrand du 
Saulle, Geoffroy und dann Lasegue und Falret durch eine 
wissenschaftliche Analyse der Fälle die Bedingungen der Ueber¬ 
tragung festzustellen sich bemüht. Sie kamen zu dem Ergebnisse, 
dass unter gewöhnlichen Verhältnissen eine solche Uebertragung nicht, 
stattfinde, sondern nur bei einer vorhandenen Disposition des zweit- 
bcfallenen „passiven“ Theils. Der „aktive“ Theil müsse dabei der 
intelligentere sein. Weitere Vorbedingung sei, dass ein enges Zu¬ 
sammenleben stattfinde und dass das Delir den Charaoter der Wahr¬ 
scheinlichkeit besitze, jedenfalls sich nicht aus dem Bereiche der 
Möglichkeit entferne. Das Delir, das übrigens auch auf drei oder 
mehr Personen übertragen werden könne, zeige sich bei dem passi¬ 
ven Theil gewöhnlich weniger stark ausgesprochen. Zu einer er¬ 
folgreichen Behandlung sei vor Allem eine Trennung der Erkrankten 
erforderlich. 

Es sei erwähnt, dass schon drei Jahrzehnte vor Lasegue und 
Falret im Jahre 1846 ein deutscher Autor Hofbauer einen Fall 
von infectio psychica beschrieben hat. Späterhin waren von Morel, 
ßaillarger (1860) und Nasse (1872) weitere Fälle von maniaka- 
lischer oder melancholischer Uebertragung mitgetheilt. Diese Fälle 
angeblicher geistiger Infection halten übrigens den Forderungen einer 
strengen Kritik, wenn nämlich unter psychischer Contagion wirklich eine 
Uebertragung auf dem Wege des Verstandes verlangt wird, grösstentheils 
nicht Stand, da es sich zum Theil nur um gleichzeitige Erkrankung ohne 
inneren Zusammenhang handelte. Für solche gleichzeitigen Erkran¬ 
kungen ohne inneren ursächlichen Zusammenhang führte Regis (1880) 
den Namen Folie simultanen ein. Er ging aber zu weit, wenn er in 
seiner Bekämpfung der Lehre der Folie ä deux sämmtliehe Fälle der¬ 
selben als Folie simultanee erklären und entsprechend bezeichnet 
wissen wollte. 


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l T eber psychische Infcction und inducirtes Irresein. 241 

Im Jahre 1881 wurde von Marandon de Montyel der Rcst- 
bestand der Folie ä deux in die Folie imposee und die Folie com- 
muniquee eingetheilt, so dass nunmehr, da die Eintheilung von den 
nachfolgenden Autoren in der Hauptsache anerkannt worden ist, in 
klinisch ätiologischer Beziehung drei Untergruppen der Folie a deux 
bestehen, von denen die ersten beiden als verschiedene Stadien einer 
Erkrankung beobachtet werden können. 

Bei der Folie imposee hält der passive Theil, welcher übrigens 
durchaus nicht dem erkrankten activen Partner gegenüber an Intel¬ 
ligenz minderwerthig zu sein braucht, die Wahnideen seines Genossen 
mit voller Ueberzeugung für wahr, eine eigentliche vollständige 
Geisteskrankheit ist bei ihm kaum schon mit Sicherheit nachzuwciscn, 
und auch das Zustandekommen von Hallucinationen wird von 
Arnauld (1893) nicht als Beweis einer solchen anerkannt. In dieser 
Form sind von der Trennung der Erkrankten für den passiven Theil 
die besten Erfolge zu erwarten. 

Im Zustande der Folie communiquce ist der passive Theil bereits 
vollständig geisteskrank geworden und entwickelt selbstständig das 
Delir weiter, ohne dass eine Trennung von dem Ersterkrankten dies 
zu hindern vermag. 

Das Activwerden der vorher passiven Person ist das Kriterium 
der eingetretenen Geistesstörung, nicht das Auftreten von Hallu¬ 
cinationen (Jörger). Wir haben also bei der Folie communiquce 
zwei active Elemente, welche gegenseitig auf einander einwirken und 
gemeinsam die Bausteine zum weiteren Ausbau ihres Wahngebäudes 
liefern. 

Für das Zustandekommen der Folie simultanee ist die Ursache 
nicht in einer geistigen Infektion des einen, gleichzeitig oder später 
erkrankten Theils zu suchen, sondern in einer bei beiden Theilen vor¬ 
handenen Disposition oder in gleichen äusseren Einflüssen. Eine be¬ 
sondere Unterart der Folie simultanee ist die Folie gemellairc, bei 
welcher Zwillinge, die räumlich von einander getrennt sein können, 
auf Grund ihrer gemeinsamen erblichen Veranlagung an ganz iden¬ 
tischen Psychosen erkranken. 

Ebenso wenig wie bei der Folie simultanee kann bei anderen 
gleichzeitig oder bald aufeinander folgenden Krankheiten von geistiger 
Infection oder inducirtem Irreseinn gesprochen werden, wenn bei der 
zweiterkrankten Person auch Kummer, Sorge, Schreck oder durch die 
Anstrengungen der Krankenpflege eine Psychose zum Ausbruche 


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Dr. Riedel, 


kommt, die dann sich auch nach Form und Inhalt von der ersten 
Krankheit ganz verschieden darstellt. Hierbei kann in der ersten 
Psychose nur eine Gelegenheitsursaehe erblickt werden, wie sie eben 
so gut auch durch die Pflege eines anderen Kranken, z. B. eines 
Krebskranken veranlasst werden könnte. 

Von inducirtem Irresein darf also nur gesprochen werden, wenn 
bei einem bis dahin gesunden Individuum durch intimen Umgang 
mit einem Geisteskranken durch Implantation einer Wahnidee eine 
allmählich eintretendc geistige Erkrankung hervorgerufen wird, welche 
inhaltlich der ersten Krankheit gleicht (Schönfeld). 

Welche Arten von Geisteskranken sind nun der Beschaffenheit 
ihrer Wahnideen und ihrem äusseren Gebahren nach geeignet, ihre 
Krankheit auf andere zu verpflanzen? Nicht die Melancholischen mit 
ihren absurden ängstlichen Befürchtungen, nicht die Maniakalischen 
mit ihrer rastlosen Unruhe und der Unbeständigkeit ihrer Bestre¬ 
bungen — beide werden vielmehr auf ihre Genossen sehr leicht den 
Eindruck eines Kranken machen — ebenso wenig eignen sich hierzu 
all die Krankheitsprozesse, welche mit furibunden Delirien, allgemeiner 
Erregtheit oder Verwirrtheit eingehen; wohl aber sind hierzu geeignet 
diejenigen Geisteskranken, deren äusseres Gebahren nicht den Stempel 
der Geistesstörung offen zur Schau trägt, die aber durch die Ein¬ 
dringlichkeit und Hartnäckigkeit ihrer Ideen und Bestrebungen, durch 
die einwandfreie Logik ihrer Schlussfolgerungen die Schärfe ihres 
Urtheils und die lückenlose Folgerichtigkeit ihrer Gedanken Ver¬ 
kettungen den passiven That zu captiviren und zu überzeugen be¬ 
fähigt sind. So handelt es sich denn bei der Foli'e communiquee vor¬ 
wiegend, wenn nicht ausschliesslich, um Fälle von Paranoia. 

Da nun die Paranoia in der Mehrzähl aller Fälle mit Verfol¬ 
gungsideen verbunden ist, so ist es leicht erklärlich, dass die über¬ 
tragenen Geisteskrankheiten vorzugsweise das Bild persecutorischcr 
Verrücktheit darbieten. Verfolgungsideen haften bei der dem Men¬ 
schen innewohnenden Neigung zum Misstrauen leichter als Grössen¬ 
ideen, welche meist auf dem Boden psychischer Schwäche entstehen 
und bei den Personen, auf welche sie übertragen werden sollen (um 
z. B. an fürstliche Abstammung oder dergl. zu glauben) eine beson¬ 
dere Inferiorität voraussetzen. Anders dagegen verhält es sich mit 
Grössenideen religiösen Characters, wenn die Umgebung des Kranken 
zu religiöser Schwärmerei neigt. Hier wird der passive Theil leicht 
in die übersinnliche Sphäre mit hineingerissen, in welcher ihm keine 


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lieber psychische Tnfection und inducirtes Irresein. 


243 


auf Erfahrung fassende Corrective zu Gebote stehen (Schön fei dt). 
So finden sich denn unter den übertragenen Psychosen auf dem Ge¬ 
biete der depressiven Paranoia Verfolgungs- und Querulanten wahn, von 
den expansiven Formen dagegen religiöse Verrücktheit. 

Es scheint, wie Kröner andeutet, für die Art der übertragenen 
Krankheiten der nationale Character von Bedeutung zu sein, da in 
der französichen Litteratur ausschliesslich von Uebertragungen des 
Verfolgungswahns berichtet wird, während in Deutschland noch ver- 
hältnissmässig häufig Melancholie übertragen worden ist und aus Russ¬ 
land von Sehönfeldt zahlreiche Fälle von Uebcrtragung religiösen 
Wahns berichtet werden. 

Nachdem wir gesehen haben, welche Arten geistiger Störung zur 
Uebertragung geeignet sind, sei noch kurz der Bedingungen gedacht, 
durch welche solche Infection begünstigt wird. Voraussetzung ist, 
wie schon erwähnt, dass die ersterkrankte Persönlichkeit von ihrer 
Umgebung nicht als krank erkannt wird, dass vielmehr ihre Ideen, 
wenn vielleicht anfangs von dem Genossen nicht getheilt, sondern be¬ 
kämpft, schliesslich von diesem aus Ueberzeugung oder Nachgiebig¬ 
keit als wahr anerkannt und aufgenommen werden. Es erhellt, dass 
dies um so leichter geschehen wird, je mehr der Ersterkrankte 
dem andern gegenüber eine autoritative Stellung einnimmt. Doch 
sind auch Fälle bekannt, wo geistig höher stehende Individuen von 
ihren geistig unbedeutenden Hausgenossen inficirt worden sind. Es 
gehört dazu eine enge Lebensgemeinschaft und eine Gleichheit der 
Interessen. Dass unter solchen Verhältnissen ein Processkrämer seine 
Umgebung von seinem vermeintlichen Recht zu überzeugen oder ein 
Paranoiker seinen unter den Folgen seines Wahns mitleidenden An¬ 
gehörigen denselben Wahn erfolgreich einzuimpfen vermag, ist nicht 
zu verwundern. Voraussetzung dabei ist immer, dass die Umgebung 
des Ersterkrankten diesen nicht als geisteskrank erkennt. Eine 
solche Verkennung kommt aber ja gerade am leichtesten Seitens der 
nächsten Angehörigen eines Geisteskranken zu Stande. Während oft 
von dem Fremden oder dem Fachmann auf den ersten Blick die 
geistigen Abnormitäten erkannt werden, sind die Angehörigen durch 
die allmähliche Entwicklung derselben und durch die Macht der Ge¬ 
wohnheit abgestumpft und an die „Besonderheiten“ des ihnen gesund 
erscheinenden Hausgenossen gewöhnt. 

Man hat gegen 200 Fälle von sporadischer Uebertragung von 
Geisteskrankheiten in der Litteratur beschrieben, doch kann nur ein 


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Dr. Riedel, 


Bruchthcil derselben als inducirtes Irresein, Folie communiquee, an¬ 
erkannt werden. Daher haben auch die statistischen Gruppirungen 
der Einzelumstände jener Fälle nur geringere Bedeutung. Man hatte 
ermittelt, dass es sich nur in 60 pCt. der Fälle um Febertragung von 
Psychosen unter Eheleuten handele. Bei diesen Fällen, dürfte es 
sich, vorausgesetzt dass bei beiden Ehegatten das gleiche Krankheits¬ 
bild sich entwickelt hat, ebenso wie bei der Uebertragung zwischen 
der Herrschaft und Dienstboten, um wirkliche psychische Induction 
handeln, während z. B. bei Geschwistern und Blutsverwandten häufig 
die Annahme einer aus gleicher Veranlassung auf gleicher ererbter 
Anlage entstandenen, nur gleichzeitigen Erkrankung nicht von der 
lland zu weisen ist. 

Eine Disposition freilich ist ja bei dem passiven Theil immer 
erforderlich. Eine solche kann angeboren oder durch mannigfache 
Veranlassungen erworben und dauernd oder vorübergehend gegeben 
sein. Kinder und Greise scheinen in Folge ihrer mangelhaften 
geistigen Selbstständigkeit besonders empfänglich. Das weibliche Ge¬ 
schlecht bietet, vermöge des Ueberwiegcns der Gefühlsphärc über 
die Verstandessphäre, vermöge seiner angeborenen Befähigung sich 
in die Gefühle und Rollen anderer zu versetzen, eine vorwiegende 
Disposition, welche noch durch die verschiedenen Phasen ihres physiolo¬ 
gischen Geschlechtslebens, Menstruation, Lactation, zeitig gesteigert 
wird. Schliesslich sei noch betont, dass bei beiden Geschlechtern 
durch Uebcransstrengungen namentlich auf geistigem Gebiete (surme- 
nage cerebral) und durch Intoxicationen die Empfänglichkeit gesteigert 
werden kann. 

Was den Ausgang der Erkrankungen betrifft, so ist es erklär¬ 
lich, dass die inducirte Krankheit je nach ihrer Dauer im Ganzen 
günstigere Aussichten auf Heilung bietet als die Psychose des Erst¬ 
erkrankten. Hier ist natürlich eine möglichst frühzeitige Trennung 
beider Kranken von grösster Bedeutung. Doch sind auch häufig die 
Erkrankungen der inficirtcn Personen unheilbar geworden. Vereinzelt 
wurde auch der Ersterkrankte geheilt, während die Psychosen des 
zweiten Theils fortbestanden. 

Als ein typisches Beispiel einer allmählichen psychischen Infektion auf 
dem Wege des Verstandes möge hier die Geschichte zweier eng mit einander 
verbundener Erkrankungen folgen, die ich in den .Jahren 1892—18% zu L. zu 
beobachten Gelegenheit gehabt habe. 


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Uebcr psychische Infection und inducirtes Irresein. 


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Ende Dee. 1892 wurde Vf. von der Oberschulbehörde beauftragt, den Geistes¬ 
zustand des Lehrers M. zu untersuchen, weil dieser durch seine reizbare und arg¬ 
wöhnische Stimmung seinen Collegen gegenüber und durch sein sonstiges auf¬ 
fallendes Benehmen Zweifel an seiner geistigen Gesundheit erweckt hatte. 

M., der schon lange durch sein bizarres und unkollegiales Verhalten bekannt 
war, hatte in der Schule mit den Lehrern und den Schülern erregte Scenen gehabt, 
er hatte sich von ihnen verhöhnt gefühlt, hatte ihren Blicken angesehen, „er solle 
nach Amerika auswandern“ „er solle sich aufhängen“ und dgl. mehr. 

Die Untersuchung des 47 jährigen, durch Trunksucht seines Vaters erblich 
belasteten, bis auf einen chronischen Bronchialkatarrh körperlich gesunden, 
kräftigen Mannes lieferte sofort den Beweis für das Vorhandensein einer Paranoia 
mit Verfolgungs- und Grössenwahnideen. Während die Verfolgungsideen spontan 
oder mit geringer Mithilfe willig expektorirt wurden, gelang es erst nach mehr¬ 
maliger Untersuchung die heiligst gehüteten Grössenideen dem M. zu entwinden. 
Es handelte sich um ein vollständig ausgesponnenes, seit vielen Jahren bestehen¬ 
des Wahnsystem. M. glaubte der aussereheliche Spross einer alten Patrizierfamilie 
zu sein, und fühlte sich durch diese weitverzweigte Familie und durch alle Be¬ 
hörden verfolgt. Alles batte den Zweck ihn aus seinem Amte und aus L. zu ver¬ 
drängen. Er „fühlte“ die Verfolgungen bei den alltäglichen Vorkommnissen des 
Schullebens, nur um ihn zu ärgern wurde am Schlüsse der Stunden zu früh oder 
zu spät geklingelt u. s. w. Die Freimaurer, welche nach ihrem Belieben einen 
Menschen hoch heben oder zum Budjer machen können, haben überall Leute an¬ 
gestellt, welche ihm auf der Strasse begegnen, um ihn zu „drücken“. Die Kirche 
besucht er nicht mehr, weil die von den Behörden angestifteten Geistlichen ihre 
Reden auf ihn münzen, der sich dabei den Geistlichen gegenüber doch ganz 
wehrlos befinde. — Neben dieser krankhaften subjektiven Umdeutung der äusseren 
Erscheinungen bestanden zweifellos seit Jahren Sinnestäuschungen und zwar Ge¬ 
hörsinnesstäuschungen. Er hatte seit Jahren von einzelnen Persönlichkeiten nichts¬ 
sagende unverständliche Aeusserungen gehört oder zu hören geglaubt, die aber 
alle den versteckten tiefen Sinn hatten ihn aus seiner Stellung zu verdrängen. 
Schon vor 16 Jahren bei seiner ersten Anstellung im Staatsdienste habe der 
Hauptlehrer S., in diesem Sinne gesagt „dieser wird gesetzt zu einem Falle und 
zur Auferstehung vieler.“ 

Weitere Nachforschungen ergeben, dass M. seinen Collegen schou seit dem 
Jahre 1886 psychisch höchst auffällig erschienen war. Schon damals hatte er 
nach Ansicht seiner Collegen und seiner Vorgesetzten Spuren von Verfolgungs¬ 
wahn gezeigt; er hatte sich häufig beklagt, dass er stets verkannt werde, dass er 
nicht gegrüsst werde, er hatte schon zu jener Zeit einmal aus den Gesten der 
Schüler die Aufforderung gelesen er solle sich aufhängen, er hatte behauptet, 
dass alle Lehrer und Schüler sich gegen ihn verschworen hätten. Als im Jahre 
1890 von Seiten der Behörde eine ärztliche Untersuchung des M. angeordnet 
wurde, gab der damalige Gutachter sein Urtheil folgendormasscn ab. „M. geräth 
in hochgradige Erregung, wenn sein Verhältnis zum Hauptlehrer H. erörtert 
wurde. Er hält an dem Glauben fest, derselbe wolle ihn aus seinem Amte ver¬ 
drängen „ihn geistig tödten,“ derselbe reize die übrigen Lehrer gegen ihn auf 
und belüge den Schulrath und die Behörden zu Ungunsten seines verhassten 
Opfers. M. bedient sich allerdings in den Klagen über den Hauptlehrer sonder- 


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barer und exccntrischer Redewendungen, wie „es ist im Rathe. der Götter be¬ 
schlossen mich zu stiirzen u u. dgl. mehr. Da indessen auf anderen Gebieten 
(mit Ausnahme des verschrobenen Geibel-Gedichts) ein wirklicher geistiger Defekt 
z. Z. nicht wahrzunehmen ist, so würde sich M.s Zustand erst dann als Verfol¬ 
gungswahn (mithin als Psychose) bezeichnen lassen, wenn seine Auslassungen 
gänzlich unbegründet sind und auf fixen Ideen beruhen. Was mich einigermassen 
befremdet sind die Mittheilungen der anscheinend ganz verständigen Ehe¬ 
frau M., welche behauptet Zeugin gewesen zu sein von wiederholten ungerechten 
Aeusserungen und Quälereien des Hauptlehrers X. gegen ihren Mann, wodurch 
derselbo zornmüthig erregt worden sei und nach und nach sein geistiges Gleich¬ 
gewicht völlig eingebüsst habe. Ohne augenblicklich ein definitives Gutachten 
über den geistigen Zustand M.’s abgeben zu können, möchte ich befürworten, den¬ 
selben vorläufig einem anderen Hauptlehrer zu überweisen, um weiteres Beobach¬ 
tungsmaterial über das Gebühren und die Leistungsfähigkeit des Genannten zu 
gewinnen. 44 

Als M. diesem Vorschläge gemäss an eine andere Schule versetzt worden 
war, wurde von dem Leiter derselben nach einem Vierteljahre berichtet, dass M. 
in seiner Thätigkeit ein durchaus normales Verhalten gezeigt, sich als pünktlich 
gewissenhaft und eifrig erwiesen, dem Schulleiter gegenüber bescheiden und 
willig, seinen Collegen gegenüber freundlich und zuvorkommend gewesen sei. 
Er habe zwar manche Eigentümlichkeiten und Besonderheiten an sich, aber kaum 
im höheren Maasse, als mancher andere Lehrer, und Hessen dieselben durchaus 
nicht auf irgend welche Störung seiner geistigen Kräfte schliesscn. 

Aber schon im Herbst 1890 traten wiederum Missstände zu Tage, da M. 
ohne Erlaubniss sein gedrucktes seltsames Geibeigedicht an die Schüler seiner 
(Jlasse vertheilt hatte und bei dieser Veranlassung dem Hauptlehrer gegenüber 
den Gehorsam verweigerte. Nachdem M. wiederum an eine andere Schule versetzt 
worden, häuften sich in den folgenden Jahren die Eingangs erwähnten lebhaften 
Klagen der Lehrerschaft und die erregten Schulscenen, und wurden Veranlassung 
zu einer abermaligen ärztlichen Untersuchung, welche das Vorhandensein einer 
schon längst bestehenden Paranoia ergab und die Pensionirung M.’s herbeiführte. 

Charakteristisch sind seine schriftlichen und literarischen Leistungen, 
welche sich durch ihre Tiefsinnigkeit, Verschrobenheit und Gespreiztheit aus¬ 
zeichnen. Als Probe derselben mag hier ein Gedicht folgen, das von M. zur 
Enthüllungsfeier dos Denkmals Emanuel Geibels am 18. Oktober 1889 veröffent¬ 
licht worden war. 


Zur Enthüllungsfeier des Denkmals 
Emanuel Geibels 

des Dichters und Ehrenbürgers Lübecks 
wie des gesammten Vaterlandes 
an Seinem Geburtstage den 18. Oktober 1889. 

Am Denkmal. 

Ein Priester Gottes dort und hier, Und diese Stätte weit und breit, 

Der Geithes Faust vollendet, Die „Geibelplatz“ bezeichnet, 

Hat mit die Stätte eingeweiht, Erschliesst der Würdigkeiten viel’, 

Umkreist sie auf der Stelle. Der Würde Rundgemälde. 


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l'eber psychische Infection und inducirtcs Irresein. 


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Zwar ehrt man Dich zu allermeist 
Im Folgen Deiner Werke; 

Allein ein Klassiker soll sein 
Auch klassisch schön verehret. 

D’rum hat vereint sich Stadt und Land, 
Alldeutschland, Land der Mitte, 

Ein Denkmal auf dem Platz zu weih’n, 
Das gilt dem Dichter-Fürsten. 


Umgehen von Natur und Kunst 
Siehst Du nun beide Welten, 

Blickst aus dem Aller-Heiligtum 
Auf Heiligtum und Vorhof. 

Doch wie vorhin, so wirkst Du noch 
Durch Deinen Geist im Geiste, 

Und segnend schaut St. Jacob ab 
Auf Dich und all’ die Deinen. 


An Deinem Throne aber ruht 
Ein Engel hold — Dein eigner, 
„Mein Vater!“ ruft er glücklich aus, 
„Israels Wagen, Reiter.“ 

Lübeck, den 18. October 1889. 


Beglei tvvort. 

Vorstehendes Gedicht ist in Veranlassung der Enthüllungsfeier des vom 
ganzen Vaterlande dem teuren Dichter errichteten Denkmals entstanden. 

Es will zugleich dem bedeutendsten Lyriker unserer Tage, dessen schöne 
Lieder oft im engen wie im weiten Kreise zum Gesänge ermuntern, an seinem 
Geburtstage eine Gegengabe bringen für die bereitwillige Zusage, die dem Ver¬ 
fasser seiner Zeit von demselben zu theil geworden. 

Das Gedicht, das sich ohne Endreimo abwechselnd in 4 und 3y 2 füssigen 
Jamben bewegt, zerfällt nach der Anzahl der Strophen in 7 Abschnitte. Str. 1 
beginnt mit der Vor- und Mitweihe. Str. 2 spricht von der Würde des Platzes. 
Str. 3 führt an, wodurch man den Dichter ehren muss und soll. Str. 4 drückt 
den Beschluss dos deutschen Volkes aus. Str. 5 knüpft an die nächste Umge- 
bang an, die Natur und Kunst. Str. 6 erwähnt die immerwährende Wirksamkeit 
des Dichters und den göttlichen Segen. Str. 7 nimmt Akt von der dem Dichter¬ 
fürsten gebührenden Ehre und Macht für die verwirklichende höhere Idee. 

Betrachten wir hiernach die einzelnen Strophen näher. 

Zunächst tritt uns ein Priester entgegen. Das ist der nun auch selige Hr. 
Pastor Dr. J. D. Hoffmann, der durch seine im fernen Weltteile unter deutschen 
Stammesbrüdern vollzogene Thätigkeit, in Lübeck durch seine in den letzten 
Jahren in der St. Jacobi-Kirche zuweilen gehaltenen Psalmpredigtcn (?), sowie 
durch seinen schon viel früher im Druck erschienenen Faust manchen Aeltercn 
erinnerlich sein wird,“ u. s. w.- 

Aehnliche bizarre Gelegenheitsschriften finden sich schon aus den Jahren 
1877 und 1880, und weiterhin aus dem Jahre 1892 eine ähnliche Leistung: An¬ 
rege und Programmentwurf für die Columbusfeier im Jahre 1892“. Auch ältere 
dienstliche Eingaben und vergebliche Bewerbungen M.’saus dem Jahre 1878 lassen 
bei ihrer seltsamen Fassung wohl keinen Zweifel, dass seine geistige Gesundheit 
schon in jener Zeit gestört war. 

Während bei den ärztlichen Untersuchungen mit M. selbst gut fertig zu 
werden war — er gerieth nur in grosse Erregung und lautes deklamatorisches 
Pathos, wenn er auf die ihm zu Theil werdenden Ungerechtigkeiten und Verfol¬ 
gungen zu sprechen kam — so zeichnete sich seine Frau durch grosse Heftigkeit 

Vierteijahrsschr. f. ger. Med. Dritte Folge. XIV. 2. 


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Dr. Riedel, 

uud furienhafte Leidenschaftlichkeit aus, mit welcher sie sein Interesse vertrat, 
seine Angaben als richtig bezeichnete und ihn aus seiner zeitweiligen Resignation 
aufhetzte. Gelang es einmal eine ruhige Aussprache mit der Frau zu erzielen, 
so räumte diese ein, dass sie für die Richtigkeit ihrer Behauptungen ausschliess¬ 
lich nur die Aussagen ihres Mannes als Unterlage habe. 

In ihren Augen war ja ihr Mann gesund und ein Märtyrer der allseitigen 
Verfolgungen. Sie konnte in dieser Ansicht nur unterstützt werden durch die 
von einem hiesigen Arzte in den Jahren 1893 (12. Juni) und auch nach statt¬ 
gehabter Entmündigung 1894 (28. März) wiederholt ausgestellte Bescheinigung, 
dass M. sich bei wiederholten Untersuchungen stets völlig gesund erwiesen habe. 

Nach seiner Pensionirung war M., um ihm etwas zuzuwenden, noch nach 
Möglichkeit zu schriftlichen Arbeiten benutzt worden (auch diese Thatsache 
wurde von beiden Eheleuten als Beweis der Abwesenheit einer geistigen Störung 
gedeutet); seine Bemühungen, auswärts eine Stellung zu finden, schlugen fehl, 
wie er annahm, weil auswärts die Behörden von hier aus gegen ihn inspirirt 
würden. Im Jahre 1894 kündigte er in den Blättern einen Cyklus von wissenschaft¬ 
lichen Vorträgen an, die er in den Landgemeinden halten wollte, was jedoch nicht 
zu Stande kam. 

Allmälig hatten sich die VerfolgungsideenM.’s auch auf seine Hausbewohner 
erstreckt, so dass er mit diesen in ein gespanntes Verhältniss gerieth und die¬ 
selben angeblich mit dem Leben bedrohte. Auch waren die Pelzsachen eines 
Miethers auf dem Hausboden boshaft zerschnitten w'orden. Wegen Bedrohung 
und Sachbeschädigung angeklagt, wurde M. am 8. Februar 1894 durch Beschluss 
des Amtsgerichts als geisteskrank entmündigt. 

Gegen den Entmündigungsbeschluss erhob M. in den Zeitungen eine Reihe 
von Protesten. Er unterzog sich darauf einer freiwilligen Beobachtung in einer 
auswärtigen privaten Irrenanstalt, um den Nachweis seiner geistigen Gesundheit 
zu führen. Mit dem erlangten Atteste — welches besagte, dass M. sich gesittet 
und ruhig benommen, in allgemeinen Sachen und Tagesfragen nichts Auffälliges 
geäussert habe, hinsichtlich seiner Verfolgungsideen sich aber vom Gegentheil 
nicht überzeugen liesse, — versuchte er vergeblich eine Wiederaufnahme der 
Entmündigung herbeizuführen. 

M. machte sich dadurch dauernd auffällig und schliesslich unmöglich, dass 
er auf der Strasse beamtete Personen belästigte und beschimpfte oder in die 
Häuser hineinrief ,, In Lübeck darf Niemand verrückt gemacht werden, nicht ein¬ 
mal der Bürgermeister.“ Den Amtsrichter, der bei seiner Entmündigung thätig 
gewesen war, bezeichnete er als ,,Seelcnmörder“, den Staatsanwalt als ,,Mörder“, 
den Schulrath als ,,Eheschänder“ (was er damit erklärte, derselbe habe seine, 
M.’s Ehe dadurch geschändet, dass er ihn als verrückt erklärt habe.) Diese Be¬ 
schimpfungen wurden von beiden Eheleuten nicht nur den betreffenden Be¬ 
amten zugerufen, sondern auch fremden unbekannten Persönlichkeiten mitgetheilt 
und erklärt. Die Spaziergänge endeten regelmässig vor der Wohnung des Schul¬ 
raths, vor welcher das Schimpfen von beiden Ehegatten namentlich auch von der 
Frau ausgeführt wurde. Mit einem besonderen Hasse verfolgte das Ehepaar 
auch die ihre Strasse passirenden Lehrer. Es kam zu einem Strassenanftiitte, bei 
welchem die Frau M. oinen Lehrer stellte und ihren Schirm auf demselben zer¬ 
schlug. Dieser Vorgang führte zur zwangsweisen Aufnahme des entmündigten 


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Ueber psychische Infection und inducirtes Irresein. 


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M. in der Irrenanstalt, während gegen Frau M. ein Strafantrag wegen Misshand¬ 
lung gestellt wurde. Bei dieser Veranlassung wurde der Geisteszustand der 
Frau M. Gegenstand ärztlicher Untersuchung. 

Die 38jährige, kräftig gebaute, gut genährte Frau war, soweit festzustellen, 
frei von erblicher Belastung. Sie hatte dem M. als dessen zweite Ehefrau in 
12jähriger Ehe drei Kinder geboren, von denen zwei in den ersten Lebensjahren 
verstorben und ein 10jähriger Knabe am Leben war. Die Exploration des 
geistigen Zustandes der Frau M. zeigte, dass dieselbe sich nunmehr das Wahn¬ 
system des Mannes völlig zu eigen gemacht hatte, dasselbe weiter ausgesponnen 
hatte und ihren Mann und sich selbst als Gegenstand der Verhöhnung des Publi¬ 
kums, der zielbewussten ungerechten Angriffe der Behörden und der parteiischen, 
ungerechten gerichtlichen Entscheidungen betrachtete. Sie hatte Gehörshallu- 
cinationen lebhafter als ihr Gatte, sowohl wenn sie zusammen waren, als wenn 
sie allein ausging. Vor dem erwähnten Strassenauftritte hatte sie von den hinter 
ihnen her kommenden Lehrern die Rufe „Du bist ein Kind“, „Du bist verrückt“ 
zu hören geglaubt. Als sie die Lehrer gestellt und sie dadurch veranlasst hatte, 
nach der andern Seite der Strasse auszuweichen, hörte sie von dort die nämlichen 
Stimmen, was Veranlassung zu dem thätlichen Angriff wurde. 

Schon vordem hatte Frau M., wenn sie mit ihrem Manne auf der Veranda 
sass, von anderen vorübergehenden Lehrern die Worte gehört „Kommt nur her¬ 
aus, ich will Euch schon bezahlen“, oder „Nur immer feste druff“, oder „Der 
Schulrath wird schon sorgen, dass Du nicht steigst“. Ihr Schimpfen auf der 
Strasse und vor dem Hause des Schulraths begründete sie damit, dass sie mit 
ihrem Manne auf der Strasse „Pudel“ gerufen würde (welchen Spitznamen M. 
gelegentlich einer seinen Schülern erzählten Hundegeschichte erhalten hatte); 
auch aus dem Hause des Schulraths töne immer der Ruf „Pudel“ heraus. 

Nachdem Frau M. wegen Geisteskrankheit vor Gericht freigesprochen war, 
führte sie mit ihrem 10jährigen Sohne ein einsiedlerisches Leben. Die Hoffnung, 
dass nach der Trennung von ihrem Manne ihr Zustand sich bessern würde, ging 
nicht in Erfüllung. Sie schimpfte zw'ar auf der Strasse nicht mehr so auffällig, 
hörte aber, wie die Leute sagten „wie ist die Frau doch immer auf dem Posten 
and doch schleppt man den Mann in’s Irrenhaus“ und hörte sich noch aus der 
Feme „Pudel“ rufen. 

Alle Wohnungen in ihrem Hause standen leer und wurden nicht wieder ver- 
miethet, da sie in allen Personen, welche die Wohnungen besichtigen wollten, 
Abgesandte der Behörden erblickte. 

Nachdem Frau M. entmündigt worden war, gelang es den Curatoren die Parterre¬ 
wohnung an eine von auswärts kommende Familie zu vermiethen. Einige Wochen 
ging alles gut, dann entspann sich eine Reihe von Conflikten. Frau M. bedrohte 
ihre Hausinwohner mehrmals in ganz unbegründeter Weise. Schliesslich glaubte 
sie Nachts Schimpfworte und Töne aus der Parterrewohnung nach ihrer Dach¬ 
wohnung hinauf zu hören und machte nun als Gegendemonstration allnächtlich 
einen Höllenspektakel, zu dessen Ausführung sie sich der Mithilfe ihres Sohnes 
bediente. Dieser bestätigte damals auf Befragen den Lärm in der Parterre¬ 
wohnung, namentlich das Thürschlagen, und gab an, dass er bei seinen Aus¬ 
gängen von den Knaben „Pudel“ und „Studio“ gerufen werde. 


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Dr. Iliedel, 


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Da es unumgänglich nothwcndig erschien, den Knaben dem Einfluss der 
Mutter zu entziehen, die materielle Existenz der Familie durch Vermiethung des 
Hauses sicher zu stellen, sowie Frau M. selbst einer geregelten ärztlichen Behand¬ 
lung zu unterwerfen, so wurde ihre Leberführung in die Irrenanstalt veranlasst. 
Ihr Zustand hat seitdem noch keine wesentliche Aenderung gezeigt. 

Der Knabe, welcher ausser einem geringen Strabismus divergens keine 
körperlichen Störungen aufweist, wurde in Pension gegeben und ist zur Zeit frei 
von Sinnestäuschungen oder nachweisbaren psychischen Anomalien. Er giebt 
jetzt zu, dass er von dem Lärm in der Parterrewohnung im Wesentlichen nur das 
Thürschlagen gehört habe und dass der Hauptlärm jedenfalls von seiner Mutter 
ausgegangen sei. — 

Die berichteten beiden Fälle erschienen der Mittheilung werth, weil es sich 
bei der primären Erkrankung des Mannes um einen Fall von klassischer Paranoia 
handelte, welcher anscheinend auf ererbter Grundlage allmählich und frühzeitig 
durch die Misserfolge und Enttäuschungen des Berufslebens zur Entwicklung ge¬ 
bracht. lange unerkannt bestanden und erst spät den Erkrankten aus seinem Be¬ 
rufe entfernt hat. Weil andererseits die inducirte Erkrankung der erblich nicht 
belasteten Frau sich erst nach einem sehr langen Vorstadium zum ausgesproche¬ 
nen aber vollständig gleichartigen Krankheitsbilde entwickelt hat. Diese Ueber- 
tragung war unterstützt und erleichtert durch mannigfache äussere Gründe, 
welche die Frau an der ärztlich wiederholt bescheinigten geistigen Gesundheit 
ihres Mannes und der Richtigkeit seiner Wahnideen unerschütterlich fest halten 
Hessen, durch die gemeinsam erlebten Misserfolge, durch die nach der Pensioni- 
rung des Mannes eintretende materielle Nothlage. 

Bei dem Sohne darf es zweifelhaft erscheinen, ob wirklich Hallucinationen 
Vorgelegen haben, da die auf der Strasse angeblich von ihm gehörten Rufe that- 
sächlich gefallen sein mögen. Von einer Uebertragung der Krankheit kann bei 
ihm keine Rede sein. Höchstens von einer zeitweise durch das Gebahren der 
Mutter bei ihm zu Stande gekommenen Suggestion. 


Literatur. 

Die ältere Literatur findet sich in den Arbeiten von Wollenberg und Pro- 
nier verzeichnet. 

Wollenberg, Leber psychische Infection. Arch. f. Psych. Bd. XX. 

Pionier, Etüde sur la contagion de la folie. Geneve 1892. 

Bocdecker, Inducirtes Irresein. Charite-Annalen. Bd. XVI. 

Kröner, Die Folie ä deux. Zeitschr. f. Psych. Bd. XLVL S. 634. 

Jörger, Das inducirte Irresein. Ibidem. Bd. XLV. S. 307. 

Graf, Leber den Einfluss Geisteskranker auf ihre Lmgebung. lbid. Bd. XLI1I. 
Euphrat, Leber den Zwillingsirrsinn. Ibidem. Bd. XLIV, 

Werner, Leber die sogenannte psychische Contagion. Ibidem. 

Kühner, Leber einen Fall von psychischer Ansteckung mit Ausgang in völlige 
Genesung. Ibidem. Bd. XLVIIL S. 60. 


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Original frnm 

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Ueber psychische Infection und inducirtes Irresein. 


251 


Ostermayer, Zur Lehre vom Zwillingsirrsein. Arch. f. Psych. Bd. XXIII. 
Herzog, Beitrag zur Lehre von der Infectiositiit der Neurosen. Ibid. Bd. XXL 
Schönfeld, Ueber das inducirte Irresein (Folie communiquee). Ibid. Bd. XXIV. 
Sehaeffer, Das sogenannte inducirte Irresein (Folie ä deux). Zeilschr. f. Mcdi- 
cinalbeamte. 1896. S. 57. 

Arnauld, La folie ä deux. Ann. möd. psych. 1893. 

Szegö, Ueber Imitationskrankheiten der Kinder. Jahrb. f. Kinderheilk. Bd. 41. 
Wichmann, Eine sogenannte Veitstanzepidemie in Wildbad. Deutsche medic. 
Wochenschr. 1890. 

Tölker, Beobachtungen über hysterische Contracturen. Zcitschr. f. klin. Med. 
Bd. XVII. Suppl.-lieft. 


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4. 


Heber Sarggeburt und Mittheilung eines neuen Falles. 

Von 

Dr. Bleich, König!. Kreiswundarzt in Tschirnau. 


Die Schwierigkeit, über das Wie des Zustandekommens der Sarg¬ 
geburt Aufschluss zu erhalten, liegt darin, dass bei dem ohnehin sel¬ 
tenen Vorkommen einer derartigen Geburt — selten wohl auch des¬ 
halb, weil heutzutage es bei den Geburtshelfern allgemein üblich ist, 
eine unentbunden verstorbene Kreissende post mortem kunstgemäss 
durch den Kaiserschnitt zu entbinden — directe Beobachtungen des 
GcburtsVorganges nicht vorliegen, auch wohl schwerlich bei der Natur 
dieses Vorganges je gemacht werden, experimentell es aber wohl kaum 
gelingen wird künstlich analoge Verhältnisse zu schaffen, um auf diese 
Weise die Sache zu entscheiden. Wir sind daher auf die Casuistik 
angewiesen, welche ziemlich spärlich und dabei nicht ganz cinwands- 
frei, besonders bei den Fällen, welche aus der ersten Hälfte dieses 
Jahrhunderts stammen, vorliegt und gezwungen aus ihr Schlüsse zu 
ziehen auf die Kräfte, welche bei der Sarggeburt walten. 

Dass übrigens der Vorgang der Sarggeburt in den Lehrbüchern 
der gerichtlichen Medicin keine Besprechung gefunden hat, wie Bl ei sch 
es beklagt 1 ), liegt wohl daran, dass die Sarggeburt an und für sich 
gar kein forensisches Interesse hat, da dieselbe nie durch die Schuld 
eines Anderen zu Stande kommen kann und der Gerichtsarzt vielleicht 
nur eher in der Lage ist bei Gelegenheit von Obductionen dieselbe 
zu constatiren. 

Was den gegenwärtigen Stand der Frage anbetrifft, wodurch die 
Sarggeburt bewirkt wird, so stehen sich, soweit aus der Literatur 1 ), 
wie sic mir zu Gebote stand, ersichtlich, zwei Ansichten gegenüber, 

1) Blei sch, Ein Fall von Sarggeburt. Diese Yierteljahrsschr. 1892. Jan. 


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Uebcr Sarggeburt und Mittheilung eines neuen Falles. 


253 


indem em Theil der Fälle darauf hinzudeuten scheint, dass dieser 
Geburtsvorgang nur durch den Druck der intraabdominellen Fäulniss- 
gase zu Stande kommen könne, während andere Fälle dafür zu sprechen 
scheinen, dass postmortale Zusammenziehungen der Gebärmutter dafür 
verantwortlich zu machen sind. Ohne mich in die Details der Ca- 
suistik, welche in früheren Arbeiten über diesen Gegenstand schon 
genugsam gewürdigt sind, weiter einzulassen, möchte ich hier nur 
einige Gesichtspunkte berühren, welche mir für die Beurtheilung dieser 
Frage von Wichtigkeit zu sein scheinen. Bei der Frage, ob eine 
Sarggeburt — es ist hier zunächst nur von der Geburt eines reifen 
ausgetragenen Kindes die Rede — lediglich durch die Wirkung des 
intraabdominellen Druckes der Fäulnissgase entstehen könne, handelt 
es sich in erster Linie darum, ob diese Gewalt im Stande ist, den 
physiologischen Geburtsvorgang, wie er im Leben durchgemacht wer¬ 
den muss — denn ohne diesen durchzumachen kann selbstverständ¬ 
lich kein reifes Kind auch nach dem Tode der Mutter geboren wer¬ 
den — nachzuahmen und steht und fällt mit der Beantwortung dieser 
Frage nach der einen oder anderen Seite die behauptete Wirkung 
dieser Gewalt. Wie die Geburtshilfe lehrt, passirt der Körper des 
Kindes selbst unter den günstigsten Verhältnissen nicht schlankweg 
die mütterlichen Geburtstheile, sondern nur mit Ueberwindung ge¬ 
wisser Hindernisse, welche hauptsächlich darin bestehen, dass der 
Kindeskörper, insbesondere der Kindeskopf, mit seinen Durchmessern 
die adäquaten Durchmesser des mütterlichen Beckens suchen und 
finden muss. Diese Hindernisse nun werden im Leben dadurch ge¬ 
nommen, dass der Kindeskopf, gleichsam sondirend, die passenden 
Beckendurchmesser aufsucht, geleitet und unterstützt von der leben¬ 
digen Kraft der Gebärmutter, welche in inniger Berührung mit dem 
Kindeskörper denselben, bald nach der einen, bald nach der anderen 
Seite vorwärtsschiebend, durch die Fährlichkeiten des Beckens hin¬ 
durchgleiten lässt und auf diese Weise allein im Stande ist eine nor¬ 
male Geburt zu vollenden. Anders stellen sich die Verhältnisse in 
der Leiche: Zur Bewältigung dieses Geburtsmechanismus, der auch 
hier unbedingt durchgeführt werden muss, stehen hier nur die rein 
mechanisch wirkenden Kräfte des Luftdruckes zu Gebote, welche nur 


S. 3S(T. — Moritz, Ein Fall von Sarggeburt. Diese Vierteljahrssclir. 1893. 
•Januar. S. 93ff. — A. Green, Ein Fall von Leichengeburt. (Lancet. 1895. 
Jan, 5.) Centralbl. f. Gynäk. 1895. S. 981. 


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254 


Dr. Bleich, 


nach einer Richtung — nach unten vorn und aussen — vordrängend 
wirken ohne Rücksicht auf die entgegcnstchenden Hindernisse. Dass 
diese Kraft in ihrer Wirkung auf die Austreibung des Kindeskörpers 
die lebendige Kraft des Uterus auch nur annähernd ersetzen sollte, 
daran zu zweifeln scheint so lange berechtigt zu sein, bis einwands¬ 
frei das Gegentheil bewiesen, während es ja andererseits nicht aus¬ 
geschlossen ist, dass bei unreifen Früchten in Folge abnormer Klein¬ 
heit der Körperdurchmesser die Austreibung derselben durch Fäul- 
nissgasc allein zu Stande kommen kann. 

Noch weniger plausibel erscheint mir die zweite Erklärung durch 
postmortale Wehen. Wenn wir uns zunächst klar machen, was unter 
diesen postmortalen Zusammenziehungen des Uterus zu verstehen ist, 
so ist es wohl nach dem heutigen Stande der Wissenschaft vollständig 
ausgeschlossen, dass cs sich um veritable Geburtswehen handeln kann, 
da die Function der Nerven, insbesondere ihre Reflexerregbarkeit, wo¬ 
durch doch normaler Weise Geburtswehen ausgelöst werden, kurz vor 
dom Tode schon, wenn Herz und Lunge noch functioniren, ganz er¬ 
loschen oder auf ein Minimum herabgesetzt ist. Um so weniger kann 
von einer Thätigkeit derselben nach dem Tode die Rede sein. Es 
bleibt also nur übrig anzunehmen, dass unmittelbar nach dem Tode 
der abnorm ausgedehnte Uterus in Folge seiner Elasticität sich zu- 
sammenzieht, unterstützt vielleicht durch Gerinnungsvorgänge in seinen 
glatten Muskelfasern, welche gleich wie bei der Todtenstarre der quer¬ 
gestreiften Fasern eine passive Zusammenziehung und Volumensmin- 
derung des ganzen Organs bewirken. Diese postmortalen Zusammen¬ 
ziehungen aber müssten, selbst wenn sie dazu angethan wären eine 
Geburt zu bewirken — w r as bei ihrer nur kurzen Dauer und geringen 
Intensität nur dann der Fall sein kann, wenn die Geburt schon so 
weit vorbereitet ist, dass.es zur Vollendung derselben nur einer ge¬ 
ringen Kraftäusserung von Seiten des Uterus bedarf — die Aus- 
stossung der Frucht unmittelbar nach dem Tode der Mutter be¬ 
wirken. Dafür aber finden wir in der ganzen Litteratur, so w r eit sie 
uns wenigstene bekannt ist, kein einziges Beispiel, da die geringste 
Zeit zwischen Tod der Mutter und erfolgter Sarggeburt mit 4 Stunden 
angegeben wird. Wenn nun diese postmortalen Kräfte nicht im 
Stande sind eine Sarggeburt zu bewirken, so müssen wir zur Er¬ 
klärung dieses Vorganges auf die Mitwirkung pracmortaler Weben 
zurückgreifen, welche, wie oben auseinandergesetzt, allein geeignet 
sind, die Geburt so weit vorzubereiten, dass dieselbe dann durch 


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Ucber Sarggeburt und Mittheilung eines neuen Falles. 


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postmortale Kräfte vollendet werden kann. Und in der That wird 
diese Annahme durch die dahin einschlagenden Fälle der Casuistik, 
wie sie besonders Reimann aufgestellt, unterstützt, indem sich aus 
ihnen nachweisen lässt, dass immer vorangegangene längere oder 
kürzere Geburtsarbeit oder aber Krankheiten, in Folge deren wehen¬ 
artige Uteruscontractionen entstehen könnten, die Geburt eingeleitet 
hatten. Auf Grund dieser Erörterungen lässt sich wohl mit ziem¬ 
licher Bestimmtheit behaupten, dass weder die Bauchgase noch die 
tonischen Uteruscontractionen post mortem allein im Stande sind die 
Sarggeburt einer reifen Frucht zu bewirken, dass vielmehr, mag nun 
durch Bruck der intraabdomiellen Fäulnissgasc oder durch die pro¬ 
blematische Wirkung der postmortalen Zusammenziehung der Gebär¬ 
mutter in letzter Linie die schliessliche Ausstossung der Frucht zu 
Stande kommen, immer eine vorbereitende Wehenthätigkeit des leben¬ 
den Uterus vorangegangen sein muss, welche die Geburt so weit ge¬ 
fördert, dass dieselbe durch eine dieser beiden Kräfte bewirkt 
werden konnte. 

Wenn ich mich nun nach diesen allgemeinen Bemerkungen zu dem Falle 
seihst wende, der mirvor Kurzem in meiner gerichtsärztlichen Praxis vorgekommen, 
so sei es mir gestattet, denselben genau nach den mir von der Kgl. Staatsanwalt¬ 
schaft zu diesem Zwecke giitigst zur Verfügung gestellten Akten, so weit es zur 
ßeurtheilung des Falles erforderlich schien, in Nachstehendem vorzuführen. 

Durch Schreiben des Amtsvorstehers vom 6. Juli d. J. wurde das Kgl. Amts¬ 
gericht zuG. benachrichtigt, dass an demselben Tage Vormittags am linken Bartsch- 
ufer unterhalb einer Brücke die Leiche einer weiblichen Person aufgefunden 
worden. 

Die daraufhin noch an demselben Tage vorgenommene gerichtliche Obduk¬ 
tion stellte fest, erstens die Identität der Leiche mit einer Frau, welche am 4. Juli 
d. J. im geistesgestörtem Zustande sich aus ihrem 13 km vom Fundorte gelegenen 
Heimathsorte entfernt hatte, dann, dass die Leiche in einem unweit vom Flusse 
entfernten Wasserloche in liegender Stellung wenig von Wasser bedeckt sich be¬ 
funden. Von gcrichtsärztlicher Seite wurden ausser geringen Blutunterlaufungen 
um rechten und linken Knie keine weiteren äusseren Verletzungen vorgefunden; 
die Untersuchung des Unterleibes Hess darauf schliessen, dass Den ata unge¬ 
fähr im 6. Monate der Schwangerschaft stand. Die Leiche zeigte nur 
am Kücken röthliche Todtenflecke, verbreitete keinen Fäulnissgeruch, die Gelenke 
der Extremitäten standen in Todtenstarre. Es war daher anzunehmen, dass die 
Uciche nur kurze Zeit im Wasser gelegen hat, da sich ausserdem noch an ein¬ 
zelnen Stellen, besonders der Beine, Gänsehaut vorfand. Auf Grund dieses Be¬ 
fundes lautete das gerichtsärztliche Gutachten dahin: 

dass kein Umstand gefunden worden ist, welcher der Annahme entgegen¬ 
stände, dass der Tod durch Ertrinken erfolgt ist. 

Daraufhin wurde, da offenbar Selbstmord vorlag, seitens der Kgl. Staatsanwalt- 


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Dr. Bleich, 


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Schaft das weitere Verfahren eingestellt und die Erlaubnis zur Beerdigung der 
Leiche, welche am 9. Juli erfolgte, ertheilt. 

Etwa 8 Tage nach Auffindung der Leiche wurde ermittelt und zur Anzeige 
gebracht, dass drei jugendliche Arbeiter mit der später als Leiche aufgefundenen 
Frau kurz nacheinander den Beischlaf ausgeführt und gaben dieselben bei ihrer 
Vernehmung übereinstimmend den Vorgang so an, wie er in der Anzeige nieder¬ 
gelegt war, nur bestritten sie, dass bei dem Akte irgend ein Zwang ihrerseits aus¬ 
geübt worden, die Person vielmehr freiwillig den Beischlaf geduldet habe. Auf 
Grund dieser Ermittelungen wurde die Ausgrabung und Section der Leiche ange¬ 
ordnet und am 19. Juli ausgeführt, doch gab dieselbe, nebenbei bemerkt, zu 
keinen weiteren gerichtlichen Schritten Veranlassung, da nach Kenntnissnahme 
von dem Obduktionsprotokoll seitens der Kgl. Staatsanwaltschaft der bis dahin 
bestehende Verdacht auf Nothzucht fallen gelassen und das Verfahren in der 
Sache aufgehoben wurde. Dagegen fand sich bei dieser Gelegenheit, nachdem 
der Sarg geöffnet und die Sterbekleider von der Leiche entfernt waren, eine Sarg¬ 
geburt vor und zwar eine vollkommene ausgebildete mit vollständiger Inversion 
und Prolaps des Uterus und der Scheide — die vollständig umgcstiilpte Gebärmutter 
hatte eine grosse Aehnlichkeit mit den auf Jahrmärkten als Kinderspielzeug feil¬ 
gebotenen mit WasserstofTgas gefüllten Gummiblasen — und führe ich aus dem 
Obduktionsprotokoll die folgenden für die Sarggeburt in Betracht kommenden 
Nummern auf: 


A. Aeussere Besichtigung. 

1. Die Leiche der 150 cm langen in den 30Jahren stehenden Frau, welche, 
wie uns mitgetheilt worden, am 6. d. M. todt aufgefunden worden ist, zeigte 
einen mittleren Ernährungzustand in Bezug auf Fettpolster und Muskulatur. 

2. Die Färbung der Haut ist nur an einigen Stellen, Unterschenkeln, Füssen 
und Oberarmen, sowie auf den Brüsten die gewöhnliche Leichenfarbe, grau mit 
grünlicher Tönung. Alle andere Körpertheile zeigen vorgeschrittene Fäulnisser- 
scheinungen. Die Oberhaut ist vielfach abgelöst, die Färbung fleckig grün und 
braunroth, besonders die Oberschenkel; an einzelnen Stellen finden sich weisse 
Pilzrasen. Mehrere von diesen braunen Flecken wurden eingeschnitten und fand 
sich kein freiergosseries Blut unter ihnen vor. Der Fäulnissgeruch ist ein 
erh ebli eher. 

4. In dem breitgedrückten Gesichte waren beide Augenhöhlen nur noch mit 
einem Stummel des Auges gefüllt, die Bindehäute aufgetrieben unb hervorgequollen. 

6. Die Lippen des geschlossenen Mundes erscheinen flach und breit und 

sind von dunkelbrauner Farbe.eine braune stinkige Jauche erfüllt die 

Mundhöhle. 

10. Der Bauch war sehr stark aufgotrieben, zeigte keino Ver¬ 
letzungen. 

Zwischen den Oberschenkeln der Leiche lag eine kopfgrosse, 
feuchte dunkelrothe Geschwulst, an deren unterem Ende eine 44 cm 
lange dunkle Nabelschnur entsprang. Mit derselben verbunden 
war die Leiche eines 3(5 cm langen Kindes. (Zwischen den Schenkeln 
der Mutter liegend, mit dem Kopfe fest an den Kniegelenken, mit 
den Füssen den mütterlichen Geschlechtstheilen zugekehrt, den 


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Ueber Sarggeburt und Mittheilung eines neuen Falles. 


257 


Kücken nach oben, Gesicht und Brust nach unten dem Sargboden 
zugekehrt. 1 ) Die Schamspalte stand weit offen. 

B. Innere Besichtigung. 

I. Schädelhöhle. 19. Die harte Hirnhaut, welche feucht und von blaugriin- 
licher Färbung ist, hängt als Beutel über den hintern Rand des Schädelschnittes 
herab, ist pergamentartig und hat einen schwappenden Inhalt. 

20. Beiin Einschneiden der harten Hirnhaut ergicsst sich die Ilirnmasso als 
ein graugrüner dünnflüssiger Brei, indem einzelne Theile durchaus nicht mehr zu 
unterscheiden sind. 

II. Brust- und Bauchhöhle. 23. Bei Eröffnung der Bauchhöhle (es ent¬ 
strömte derselben eine bedeutende Menge übelriechender Gase) lag 
im oberen Theile derselben das wenig Fett enthaltende Netz; die untere 
Hälfte wurde durch die sich vordrängenden Därme ausgefüllt. Ein 
geringer wässeriger Erguss fand sich in der Bauchhöhle vor. 

24. Zwerchfellstand beiderseits an der 4. Rippe. 

a. Brusthöhle. 

b. Bauchhöhle. 44. Die Gebärmutter, welche schlaff ist, war 
sackartig mit ihrer Innenfläche zwischen die Schenkel vorgedriingt 
mitsammt der Scheide; nicht mehr im Zusammenhänge mit der Ge¬ 
bärmutter fand sich ein etwa 1 cm dicker Mutterkuchen annähernd 
rund, von schwarzbrauner Farbe und schwieriger Consistenz und 
etwa 12 cm Durchmesser, die innere Fläche der Gebärmutter ist 
glatt, glänzend, blauroth. Die Muskulatur ist dünn und brüchig. 

45. Der Mastdarm war durch Luft aufgotriebon, sonst leer. 

Sehen wir uns nun den Fall nach dem Sektionsbefunde und im Lichte der 
gerichtlich festgestellten ihn begleitenden Umstände näher an, so erhellt zu¬ 
nächst, dass hier eine ausgesprochene Sarggeburt vorlag, da die Leiche, kurz 
nach dem Tode obducirt, noch keine Spuren einer stattgehabten Geburt gezeigt 
und erst, nachdem dieselbe 10 Tage in der Abgeschiedenheit des Grabes gelegen, 
nach ihrer Ausgrabung die Geburt constatirt werden konnte. Was ihre Ent¬ 
stehung betrifft, so müssen wir vorerst daran festhalten, dass hier nur postmor¬ 
tale Kräfte gewirkt haben und würden dieselben auch vollständig zur Erklärung 
des Vorganges ausreichen, da es sich um die Ausstossung einer unausgetragenen, 
im 7. Monate des Fötuslebens stehenden Frucht handelt und es fast scheint, als wenn 
hier von einer wenn auch noch so geringen vorbereitenden Thätigkeit der Gebär¬ 
mutter keine Rede sein könne, zumal die Frau im 7. Monate schwanger, noch zu 
^eit von dem Ende der Schwangerschaft entfernt war, um von normalen Geburts¬ 
wehen heimgesucht zu werden. 

Indessen werden wir bei näherer Betrachtung auch hier die Mitwirkung von 
Dolores praeparantes nicht ganz ausschliessen können, wenn wir bedenken, dass die 
hochschwangere Frau von drei kräftigen, jungen Leuten kurze Zeit hintereinander 
in liegender Stellung geschlechtlich gebraucht worden. Der Insult, welcher bei 

1) Die in Paranthese gesetzten Zusätze sind von mir nach den bei der 
Sektion gemachten Wahrnehmungen gemacht worden. 


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Dr. Bleich, 

diesem Akte einmal von den Bauchdeckon aus die schwangere Gebärmutter, dann 
aber auch durch Immissio penis den Uterus direkt trifft, genügt erfahrungsgemäss 
vollständig, um Wehen zu erzeugen, welche wenn auch nur kurze Zeit wie hier, 
wo die Frau bald darauf ihren Tod im Wasser gesucht und gefunden hat, doch 
einleitend auf die Geburt wirken konnten. Wir können daher auch in diesem 
Falle mit an Gewissheit reichender Wahrscheinlichkeit annehmen, dass die Sarg¬ 
geburt, durch Wehen während des Lebens eingeleitet, einige Zeit nach dem Tode 
durch die Wirkung der Fäulnissgase (No. 10 und 23) allmälig vollendet worden 
und zwar so, dass zunächst ein Theil des Fruchtwassers aus der durch den 
Fiiulnissprozess leck gewordenen Fruchtblase ausgeflossen, dadurch im Fundus 
uteri ein luftleerer Raum entstanden, der, durch das Bestreben der Bauchgase 
denselben auszufüllen, zunächst einen Theil des Fundus invertirt hat; durch 
weiteres Aussickern des Wassers aber ein immer grösserer Abschnitt des Uterus 
invertirt — vielleicht hat auch der Körper der Frucht wie der Stempel einer 
Luftpumpe, die Bauchgase ansaugend, dabei mitgewirkt — und durch den intra- 
abdominellen Druck der Gase allmiilig die kleine Frucht schliesslich mit voll¬ 
ständiger Inversion und Prolaps des Uterus ausgetrieben worden. Dass diese 
Kraft allmälig gewirkt, scheint daraus hervorzugehen, dass die invertirten Ge- 
schlechtstheile keine Zusammenhangstrennung zeigten, da im andern Falle eine 
so bedeutende plötzlich einwirkende Gewalt sicher die dünne und brüchige 
Utcruswand (N. 44) eingerissen hätte. Wenn auch die im Sarge Vorgefundene 
Lage der Frucht, weit ab von den mütterlichen Geschlechtsthcilcn mit dem Kopfe 
beinahe an den Kniegelenken der Mutter (No. 13), scheinbar für die Wirkung 
einer explosionsartigen Gewalt, welche die kindliche Leiche fortgeschleudert, 
spricht, so erklärt sich diese Lagerung ungezwungener dadurch, dass bei den 
Manipulationen des Sargausgrabens der Sarg an seinem Kopfende, als dem 
schwersten Theile, zunächst gefasst und mehre male in die Höhe gehoben und 
dadurch das Herabgleiten des Kindeskörpers nach den Knieen zu bewirkt worden. 
Weiter dafür, dass nicht blos der Gasdruck, sondern auch Wehen im Leben vor¬ 
gewirkt haben, spricht der sonst schwer erklärbare Umstand, dass die Nachgeburt 
vollständig von der Gebärmutter gelöst vorgefunden wurde (No. 44). 

Bei der innigen Verbindung zwischen Gebärmutter und Nachgeburt, deren 
einzelne Cotyledoncn zapfenartig in die Substanz der Gebärmutter hineinragen, 
erscheint es wenig wahrscheinlich, dass durch rein postmortale Vorgänge wie 
Fäulniss der Gewebe, Gasdruck oder tonische Zusammenziehungen des Uterus, 
eine so vollständige und reinliche Scheidung der Gewebe, wie sie in diesem 
Falle beobachtet worden, wo an der ziemlich gut erhaltenen Gebärmutter kaum 
noch Spuren der Placentarinsertion zu erkennen waren, vor sich gegangen ist 
und müssen wir auch hier die Annahme zu Hilfe nehmen, dass durch die me¬ 
chanischen Reizungen, welche die Gebärmutter bei den wiederholten Bcischlafs- 
vollziehungen crlitton, Uteruscontractionen ausgelöst worden, welche die Tren¬ 
nung der Nachgeburt bewirkt oder wenigstens so weit vorbereitet halten, dass 
dieselbe durch postmortale Vorgänge vollständig durchgeführt werden konnte. 

Wenn ich zum Schluss das Ergebniss der vorliegenden Arbeit 
zusammenfasse, so möchte ich betonen, dass, wenn auch der Schleier, 


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leber Saiggeburt und Mittheilung eines neuen Falles. 250 

welcher über dem geheimnissvollen Vorgänge der Sarggeburt schwebt, 
noch keineswegs hinreichend gelüftet ist, doch das fcstzustchcn 
scheint, dass wir es bei diesem Vorgänge sowohl mit praemortalen 
lebendigen Uteruscontractionen, Wehen — als auch mit postmortalen 
Kräften — Fäulnissgasen und tonischen Uteruscontractionen — zu 
tliun haben und dass ohne die Wirkung der einen und der andern 
Kraft keine Sarggeburt, wenigstens die keines ausgetragenen Kindes, 
zu Stande kommen kunn. Zur weiteren Klärung dieser Frage würde 
es dienen, wenn möglichst viele derartige Fälle, genauer beschrieben, 
veröffentlicht würden und hat auch mich das Bestreben, meinerseits 
dazu etwas beizutragen, bestimmt diesen Fall, den ersten in meiner 
Praxis, hier zu besprechen. 


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Seltsamer Kindesmord. 

Von 

Professor Dr. Fritz Strassmann in Berlin. 


Den nachfolgend mitgethcilten Fall habe ich gemeinschaftlich mit 
Herrn Collegen Mittenzweig beobachtet. Er ist in dessen kürzlich 
erschienener Arbeit über Selbsthilfe bereits kurz erwähnt worden 1 ). 
Da er ein Unicum darstellt, scheint mir seine ausführliche Wieder¬ 
gabe geboten und ich veröffentliche deshalb nachstehend das in dieser 
Sache von mir erstattete Gutachten. 

Zur Strafsache gegen G. erstatten wir nachstehend ergebenst das vom Herrn 
Untersuchungsrichter beim Königl. Landgericht Berlin I unter dem 13. d. Mts. 
erforderte motivirte Gutachten über den Tod des Kindes G. 

Die Angeschuldigte, ein unverheirathetes lSjähriges Mädchen, hat bei ihrer 
gerichtlichen Vernehmung angegeben, dass sie im August v. J. den Beischlaf aus¬ 
geführt hat und im Mai d.J. die Ueberzeugung erlangte, schwanger zu sein, ihre 
Entbindung aber noch nicht so bald erwartete. 

Einige Tage vor dem 26. Mai begannen die Wehen, steigerten sich allmäh¬ 
lich, am 26. Morgens gebar sie auf dem Closet ohne fremde Hilfe; das Kind kam 
von selbst aus dem Leibe heraus, fiel in den Trichter; sie hat es während der 
Geburt garnicht berührt. Die Nabelschnur will sie weder durchrissen noch durch¬ 
schnitten haben; die Nachgeburt trat am folgenden Tage aus. Sie nahm, nach¬ 
dem sie sich etwas von der Geburt erholt hatte, dass sich bewegende Kind aus 
dem Trichter, beschloss aus Furcht und Sorgen es zu tödten und zwar in der 
Weise, dass sie es mit der linken Hand festhielt und mit der rechten Hand ihm 
den Unterkiefer abzureissen suchte. Das Kind schrie hierbei, hörte aber bald auf, 
sie nahm an, dass es todt sei und versteckte es in dem Kohlenschrank. 

Dort begann das Kind wieder zu jammern, wurde von der Frau H. mit her¬ 
untergerissenem Unterkiefer gefunden, der hinzugerufene Arzt Dr. W. ordnete die 
Ueberfiihrung des verletzten Kindes und der Mutter nach der Charitö an. 


1) Diese Yierteljahrsschr. 1897. Bd. XHI. S. 101. 


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Seltsamer Kindesmord. 


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Hier wurden an dem Kinde folgende Wahrnehmungen gemacht: 

Das Kind (2804 gr schwer, 49 cm lang) wird mit der Mutter in mangelhaft 
versorgtem Zustande (in einige Lappen eingewickelt) eingeliefert, die Nabel¬ 
schnur war etwa 20—25 cm lang, das Ende unregelmässig gestaltet, offenbar ab¬ 
gerissen. Ausserdem war eine einfache Unterbindung vorhanden. Die Nabelschnur 
wird kunstgerecht versorgt. Vom rechten Mundwinkel geht eine weit klaffende 
Wunde bis ungefähr an die Mitte des rechten Kopfnickermuskels, die Wangen¬ 
schleimhaut ist etwa 1,5 cm weit durchgetrennt, der Unterkiefer liegt frei. Vom 
linken Mundwinkel geht schräg nach unten und hinten eine 4—5 cm lange 
Wunde; auch hier ist die Wangenschleimhaut etwa 2 cm tief unregelmässig ein¬ 
gerissen. In der Wundrichtung ist der Unterkiefer schräg gebrochen und frei¬ 
liegend, ausserdem ist ungefähr in der Mittellinie eine quere Durchtrennung des 
Unterkiefers nachweisbar. 

Die Wundränder sind nicht scharfrandig, sondern machen den Eindruck 
von Risswunden. Die Umgebung ist nicht gequetscht. Aus der Mundhöhle 
werden bei der Reinigung 2 Bettfedern entfernt. 

Der offene Unterkieferbruch wird durch eine Silkwormnaht vereinigt. Die 
Schleimhautwunden werden durch fortlaufende Catgutnaht, die Wunden der 
äusseren Haut durch Silkwormknopfnähte geschlossen. 

Die Blutung steht danach. Abends tritt eine Blutung aus dem linken Nasen¬ 
loch auf. Das Kind fühlte sich schon bei der Aufnahme sehr kalt an; es wird 
in eine Wärmewanne gelegt und erhält theelöffelweise Milch und Cognac. 

Am 28. Mai 1896, Vorm. 7 3 / 4 Uhr tritt der Tod ein. 

Die am 28. Mai von den Unterzeichneten ausgeführte gerichtliche Obduction 
ergab an wichtigen Punkten: 

4. Der Kopf ist bedeckt mit iy 2 cm langen blonden Haaren, die Durch¬ 
messer des Kopfes betragen der grade 11 1 / 2 , der quere 8y 2 , der schräge 
121/2 cm. 

8. Von jedem Mundwinkel zieht eine durch die chirurgische Naht ver¬ 
schlossene Hautdurchtrennung nach unten und aussen. Dieselbe ist auf der 
rechten Seite 5y 2 , auf der linken 2 1 / 2 cm lang. Nach Entfernung der Naht zeigt 
sich, dass die Weichtheile fetzig zerrissen sind und zwar bis in die Schleimhaut 
hinein, welche durch eine zweite Naht vereinigt ist. Die Umgebung der Durch¬ 
trennung von Haut wie Schleimhaut ist fleckweise blutig unterlaufen. In der 
Mitte sowie auf der linken Seite und zwar 1,2 cm von der Mittellinie entfernt, ist 
der Unterkiefer quer und stachelich durchbrochen. Die Haut ist hier noch etwa 
3 cm weit von dem äusseren Ende der Hautdurchtrennung an von der Unter¬ 
lage abgelöst und bildet eine Tasche,'die vom blutig zerrissenen Gewebe ausge¬ 
kleidet ist. 

12. Der Hodensack enthält beide Hoden, die Harnröhrenöffnung ist frei. 

14. Der Durchmesser der Schultern beträgt 12, der der Hüften 9 cm. 

15. Die hornigen Nägel an den Fingern überragen die Kuppen derselben, 
an den Zehen erreichen sie sie. 

16. Im unteren Knorpelende des Oberschenkels befindet sich ein Knochen- 
kera, der bis zu 7 mm Durchmesser hat. 

17. An beiden Füssen ist das Unterhautgewebe wässrig geschwollen. Auf 
dem rechten Fussrücken befindet sich eine Blutunterlaufung von 3 mm Dicke, der 


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Prof. Strass mann, 


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Durchmesser dieses Fleckens ist etwa 1 cm. Auch an den Unterschenkeln ist die 
Haut, wenn auch weniger wässrig geschwollen. 

18. Eine blutunterlaufene Stelle von etwa 1 cm Durchmesser und einigen 
Millimetern Dicke findet sich auch in der Haut und Fascie an der Aussenflächc 
des rechten Ellenbogens. 

27. Kehlkopf und Luftröhre oberhalb der Unterbindungsstelle enthalten 
etwas blutigen Schleim. 

28. Beide Lungen samt dem unteren Abschnitt der Luftröhre schwimmen 
auf W asser. Ihre Oberfläche zeigt eine rosagraue Farbe mit zahlreichen kleineren 
und grösseren dunkelblaurothen bis dunkelblauen Flecken. Bei Einschnitt zeigt 
sich an diesen Stellen die Lunge schwarzroth gefärbt (Bluteinathmung). Im 
Uebrigen erkennt man an der Oberfläche der Lunge überall deutlich die regelmässige 
Zeichnung luftgefüllter Lungenbläschen. Vielfach ist das Brustfell in kleineren 
und grösseren Luftbläschen abgehoben. 

Auch der untere Abschnitt der Luftröhre und die Verzweigungen derselben 
innerhalb der Lungen enthalten blutigen Scheint. 

32. In Mund- und Rachenhöhle kein Inhalt. Die Schleimhaut am Zungen- 
grunde ist blauroth verfärbt; auf der rechten Seite ist der Zungenansatz nahe der 
Wurzel in einem Fleck von etwa 1 qcm Ausdehnung fetzig eingerissen. An dem 
Zungengrunde sitzt der Kehldeckel, welcher aus der Verbindung mit dem übrigen 
Kehlkopf abgelöst ist. Die Trennungsfläche ist unregelmässig; an der Ver¬ 
einigungsstelle der beiden Schildknorpelplatten, vorn in der Mittellinie ist der 
Knorpel noch 4mm weit vom oberen Rande ab eingerissen. Die Scheimhaut ober¬ 
halb der Giessbeckenknorpel ist etwas wässrig geschwollen. 

42. Der Zwölffingerdarm ist mit flüssigem Blute strotzend gefüllt. 

43. Auch im Magen befindet sich Blut in Menge von etwa 5 ccm. Dasselbe 
ist dunkel und locker geronnen. Die Magenschleimhaut ist grauweiss ohne Blu¬ 
tungen oder Substanzverluste. 

50. Die weichen Bedeckungen des Schädeldaches sind blassroth, links hinten 
wässrig geschwollen. 

51. Die Knochenhaut ist unversehrt. Zwischen ihr und den Knochen be¬ 
findet sich auf den Scheitelbeinen etwas flüssiges Blut. 

53. Auch zwischen den Knochen und der harten Hirnhaut befindet sich 
hier etwas flüssiges Blut, an ihrer Innenfläche ist die Hirnhaut glatt und glän¬ 
zend. Ihre Blutleiter und Blutgefässe sind etwa halb gefüllt. 

Auf Grund aller dieser Thatsachen geben wir nunmehr unser endgiltiges 
Gutachten dahin ab: 

Das Kind G. ist an den beschriebenen Verletzungen gestorben. 

Die Verletzungen stellen sich als sehr schwere dar, es handelt sich um 
tiefgehende Zerreissungen der Mundhöhle (No. 8) um eine Zerreissung des 
Kehlkopfes (No. 32) um einen offenen Bruch des Unterkiefers (No. 8). Als 
Folgen dieser Verletzungen sind eingetreten starker Blutverlust, Blutanfüllung 
von Magen (43), Darm (42), besonders aber von Lungen (28) und Luftwegen 
(27, 29), wodurch die Athmung des Kindes beeinträchtigt werden müsste. Eben¬ 
falls die Athmung hemmend wirkte die entzündliche Schwellung, die sich an dem 
verletzten Kehlkopf entwickelt hat (32). Dazu kamen noch weitere, durch die 


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Seltsamer Kindesmord. 


268 


Obduction nicht nachweisbare, aber a priori zu erwartende Folgen der Ver¬ 
letzung, wie die Aufnahme septischer Substanzen in das Blut. Durch alle diese 
Folgewirkungen war die Verletzung im höchsten Grade geeignet, den Tod des 
Kindes herbeizuführen. 

Eine andere Todesursache hat weder die Beobachtung im Krankenhause 
noch die Seetion nachgewiesen. Diese hat vielmehr gezeigt, dass das Kind seiner 
Entwickelung nach lebensfähig war (No. 4, 12, 14, 15, 16), dass seine Organe 
gesund waren. Unter diesen Umständen wird man nicht daran zweifeln können, 
dass der Tod, der zeitlich der Verletzung des Kindes alsbald folgte, auch ursäch¬ 
lich auf dieselbe zurückzuführen ist. 

Die tödtliche Verletzung ist, wie aus ihrer zerrissenen fetzigen Beschaffen¬ 
heit hervorgeht, durch stumpfwirkende Gewalt erzeugt worden. Ihre Beschaffen¬ 
heit und ebenso der übrige Obductionsbefund stimmen durchaus mit dem Ge¬ 
ständnis der Angeschuldigten überein. Dadurch, dass diese mit der rechten 
Hand in den Mund des Kindes hineinfasste und den Unterkiefer abzureissen ver¬ 
suchte, kann sie sehr wohl die Vorgefundenen Zerreissungen bewirkt haben. 
Durch das Festhalten des Kindes mit der linken Hand sind dabei wahrschein¬ 
lich die blutunterlaufenen Stellen am Fuss und Ellenbogen (17, 18) entstanden. 

Da das Kind aus den Geschlechtsteilen herausfiel, ist es wohl möglich, 
dass die Nabelschnur von selbst zerriss und dass die Angeschuldigte sie nicht 
zu durchtrennen brauchte. Der Vermutung, dass die tödtlichen Verletzungen 
durch Selbsthilfe der Gebärenden entstanden sind, widersprechen die eigenen An¬ 
gaben derselben; es ist auch, wie Dr. V. bereits hervorgehoben hat, nicht anzu¬ 
nehmen, dass so schwere und besonders so tiefe Verletzungen, wie die Zerreissung 
des Kehlkopfes durch Selbsthilfe bewirkt werden konnten, zumal die Schilderung 
der S. in Verbindung mit No. 50, 51, 53 des Obd.-Prot. dafür spricht, dass es 
sich um eine Kopfgeburt gehandelt hat. 

Wir fassen daher unser Gutachten dahin zusammmen: 

Das Kind G. hat durch die Verletzungen, die ihm seine uneheliche 

Mutter gleich nach der Geburt beigebracht hat, seinen Tod gefunden. 


Vierteljahrsschr. f. gcr. Med. Dritte Folge. XIV. 2. 


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6 . 

Hundert Jahre alte Haare. 

Von 

Distriktsarzt Fr. Ringherg in Hallund in Dänemark. 


Am 29. November vorigen Jahres wurde vom Oberamtsphysikus Herrn 
Dr. Schwass in Sigmaringen dem Director der Unterrichtsanstalt für Staats¬ 
arzneikunde in Berlin, Herrn Prof. Strassmann eine Frauenperrücke übersandt, 
mit welcher folgende Mittheilungen erfolgten: 

„Gelegentlich eines Umbaues der fürstlichen Gruftkirche in Sigmaringen 
fanden sich überraschender Weise unter dem Steinboden eine Anzahl Skelette, 
von deren Vorhandensein Niemand etwas wusste. Auf einem der Schädel 
war noch eine gut erhaltene, blonde Frauenperrücke, welche sich, als die Ar¬ 
beiter hineingriffen, sofort vom Schädel löste, ohne indess ihre Configuration zu 
verlieren. 

Es steht fest, dass seit mindestens 100 Jahren — wahrscheinlich viel länger 
— der Boden der Kirche nicht bearbeitet ist, die Leichen also so lange unberührt 
liegen.“ 

Die Annahme, dass die übersandten Haare ltX) Jahre alt sind, ist also voll¬ 
ständig gerechtfertig. 

Herr Prof. Strassmann, welchem ich während meines Studienaufenthaltes 
in Berlin viel zu verdanken habe, war so gütig, mir diese Haare zur Untersuchung 
zu übergeben. Die Resultate der letzteren dürften vielleicht nicht ganz uninter¬ 
essant sein. 

Die Haare erwiesen sich als blondes Frauenhaar, welches mit einem drei¬ 
strähnigen Zopf endet. Die Windungen des Zopfes lagen dicht neben einander in 
voller Ordnung. Ein Umwicklungsband war nicht da, aber gegen die Spitze des 
Zopfes zwischen den Strähnen fand sich ein kleines Stück weisser Stoff, das sich 
unter dem Mikroskope als aus feiner Wolle bestehend herausstellte. 

Das Gewicht der Ifaarmassc betrug ca. 73 g. Die Länge des Zopfes war 
ungefähr 20 cm. Die längsten Haare waren ungefähr 55 cm. Zahlreiche Mes¬ 
sungen (ungefähr 100) gaben eine Durchschnittsdicke von 0,004 mm. Das dickste 
Haar, dass gemessen wurde, war 0,12 mm, dass dünnste war 0,048 mm dick. 

S cm lange Stücken von den kräftigsten Haaren wurden ausgeschnitten, und 


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Hundert Jahre alte Haare. 


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diese trugen ein Gewicht von 50 g ohne zu zerreissen, mein* als dieses Gewicht 
konnte kein Haar tragen. 

Was aber schon beim ersten Blick auf die Perrücke auffiel war, dass die 
Haare nicht überall dieselbe Farbe hatten; wahrend im Grossen und Ganzen die 
Farbe als hellblond bezeichnet werden musste, sah man, dass die Farbe an 
einigen Stellen, am meisten an dem Zopfe, fuchsroth war, und zwar fand sich 
diese rothe Färbung an den nach aussen convexen Theilen der Strähne des Zopfes. 
Dadurch entstand ein recht eigentümliches Bild; während sich das Vorderhaar 
hellblond präsentirte, war der Zopf mehr oder minder fuchsroth. Erst wenn man 
die Strähne aus einander genommen hatte, zeigten die Zopfhaare, wo sie in der 
Mitte des Geflechtes sich befunden hatten, dieselbe hellblonde Farbe wie das 
übrige Haar. 

Betrachtet man eine Strähne, so wechselte also ganz regelmässig die fuchs¬ 
roth e mit der hellblonden Farbe je nach der Stellung, welche der betreffende 
Theil im Zopfe eingenommen hatte; selbstverständlich bot das einzelne Haar im 
Zopfe dieselbe Farbenverschiedenheiten dar. Da diese Rothfärbung nur vorkam, wo 
die Haare am meisten mit der Umgebung in Berührung gewesen waren, und da 
weiter die Intensität dieser Farbe auch am stärksten war, wo die Haare mit der 
Aussenwelt am leichtesten in Berührung kommen konnten, und weiter die Farbe 
ganz allmählich gegen die mehr geschützte Stellen der Strähne sich verlor, so 
ergiebt es sich, dass wir es mit einer Verwesungsfarbe zu thun haben. 

Diese fuchsroth gefärbten Theile der Haare boten weiter andere Eigentüm¬ 
lichkeiten dar; nicht allein war, w r ie schon erwähnt, die Verfärbung am stärksten 
an den meist prominirenden Stellen der Strähne, sondern eben hier waren die 
Haare auch ausserordentlich brüchig, ja schon die äussersten Haare gebrochen, so 
dass die Continuität ganz aufgehoben war. Ferner zeigten diese Stellen recht oft 
eine Auflagerung von einer schwärzlichen Masse, welche die Haare zu kleinen 
Büscheln zusammen vereinigt hatte; ähnliche Massen fanden sich am vordoren 
Kopfhaare. Makroskopisch hätten diese die Haare zusammenklebende Massen als 
Blut angesprochen werden können, die nähere Untersuchung ergab jedoch, dass es 
kein Blut war. Es w T ar unmöglich, Hämincrystalle oder ein Blutspectrum daraus 
herzustellen* obschon recht zahlreiche Versuche angestellt w f urden, während bei 
entsprechenden Controllversuche leicht positives Resultat erhalten wurde. Die 
mikroskopische Untersuchung ergab, dass diese Massen unorganischer Natur waren 
mit eingelagerten Theilen von Insekten, Infusorien und dergl., ausnahmsweise 
wurden ganze Insekten gefunden. 

Da das Interesse sich wesentlich an die rothverfärbten Stellen der Haare 
knüpften, wurden Haare aus den Strähnen in ca. 1 cm lange Stücken zerlegt, so 
dass von demselben Haar sowohl luchsrothe als hellblonde Partien zur Unter¬ 
suchung kamen; es schien mir sehr wichtig zu sein, dass eine jede verglei¬ 
chende Untersuchung sich stets nur mit demselben Haare beschäftigte. Um nun 
erstens zu prüfen, ob diese rotheFärbung sich ausziehen lässt, wurden sowohl rothe 
Haarstücke als blonde in eine ganze Reihe von Flüssigkeiten eingelegt, und zwar 
kamen in Anwendung: 2 proc. und 5 proc. Kalilösung, Salmiaklösung, Schwcfel- 
ammonium, verdünnte Salzsäure, verdünnte Schwefelsäure, verdünnte Salpetersäure, 
2 proc. Essigsäure, 50 proc. Essigsäure, 60 proc. Alkohol, HO proc. Alkohol und 

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Dr. Ringberg, 


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Actlier. l)ic Zeit, während welcher die Haare in diesen Flüssigkeiten lagen, betrug 
mindestens 48 Stunden; in der Ammoniaklösung lagen dieselbe Haare in drei 
Wochen in dreimal erneuter Lösung — aber ein Verschwinden der Farbe wurde 
in keinem Fall konstatirt. Die ursprüngliche Farbenverschiedenheit zwischen roth 
und hellblond hielt sich in jeder von den angewandten Lösungen. Die Angabe 
früherer Untersucher, dass die Verwesungsfarbe in ammoniakalischen Lösungen 
sich ausziehen lässt, hat sich also in diesem Fall nicht bestätigt. 

Was den feineren Bau der Haare anbetrifft, so konnte die Cuticula an den 
blonden und rothen Theilen leicht zur Anschauung gebracht werden; namentlich 
bei Zusatz verdünnter Salzsäure zeigten die freien Ränder der Cuticulazellen 
sich deutlich. Doch nicht ohne Ausnahme; an einzelnen Haaren konnte man 
keine Cuticula sehen, obschon keine sonstigen Defecte nachweisbar waren, und 
zwar waren es am häufigsten die rothen Partien, die scheinbar ihrer Cuticula 
beraubt w r aren. Im Ganzen bot der rothe und der hellblonde Theil ein sehr aus¬ 
geprägtes Aussehen dar. Während der blonde Theil sich erstens durch seine 
helle Farbe auszeichnete, zweitens ein im durchfallenden Lichte dunkel gestreiftes 
Aussehen, drittens nur spärlich vaeuolisirtes Mark hatte, verhielt der fuchsrothe 
Theil des Haares sich ganz anders. Die Farbe, obwohl verschieden an Intensität, 
hob sich unter dem Mikroskope sehr scharf hervor, von den kleinen, zahlreichen 
Längsstreifen war hier nichts zu sehen, vielmehr war das Aussehen homogen roth, 
und mitten in diesem rothen Haar zog sich ein im durchfallenden Lichte dunkler 
Strang, das ganz mit Luft gefüllte Mark. Untersucht wurde auch der Uebergang 
zwischen den zwuü Färbungen, und man konnte da wahrnehmen, wie die Längs¬ 
strichelung gegen den roth verfärbten Theil hin, sich immer mehr und mehr ver¬ 
lor, und wie die Vacuolen im Mark immer dichter und dichter auftraten, immer 
grösser wurden, bis sie eben den oben erwähnten fortlaufenden Strang bildeten. 
Dass der dicke Centralstrang der rothen und die Längsstreifen der blonden Haar- 
theile im auffallenden Lichte ganz hell, wie leuchtend, erschienen, braucht wohl 
kaum besonders bemerkt zu werden. Ein weiterer Unterschied bestand darin, dass 
der rothe Haartheil sich mehr widerstandsfähig gegen erwärmte concentrirte 
Schwefelsäure zeigte, denn das Auseinanderfallen der Rindzellen war hier nicht 
so stark als in den hellblonden Theilen unter der Einwirkung der Schwefelsäure. 
Dies erklärt sich vielleicht so, dass die in den blonden Haartheilen so massenhaft 
auftretenden Längsspalten leichter die Säure ins Innere des Haarschaftes treten 
lassen, während in den rothen Theilen, wo solche Längsspalten nicht vorhanden 
waren, eine derartige Wirkung nicht eintreten konnte. Der Mangel von Längs¬ 
rissen oder Spalten in den rothen Theilen lässt sich vielleicht dadurch erklären, 
dass umgebende Humintheile oder irgend eine Flüssigkeit die kleinen Hohlräume 
gefüllt haben, vielleicht haben sie nebenbei die Rindenzellen gefärbt Eine solche 
Durchdringung der ganzen Haarrinde mit irgend welchem Stoff konnte ja um so 
eher geschehen, als der fortlaufende starke Luftkanal eine gänzliche Zerstörung der 
Markzellen andeutet. Die Cuticula ward stets uugefärbt gefunden; es gelang hie 
und da zusammenhängende Cuticulahäutchen isolirt zu sehen, aber stets waren 
sie ungefärbt, während der Haartheil, wovon das Häutchen sich abgelöst hatte, 
eine rothe Farbe besass. 

An den hellblonden Haartheilen fanden sich nicht viele Fremdkörper, man 
muss sie vielmehr als wenig verunreinigt ansehen. Nicht so an den rothverfärbten, 


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Hundert Jahre alte Haare. 


267 


hier fanden sich eine Anzahl kleine, sehr festhaftende, bräunliche Schollen, die 
aus denselben Bestandtheilen wie die erwähnten zusammenklebenden Massen zu 
bestehen schienen. 

Die blonden Theile waren meistens ganz unversehrt, die rothen dagegen 
wiesen sehr oft Lücken auf, die am häufigsten aussahen, als wenn ein Stück aus 
dem Haare ausgebissen war, entweder war die Oeffnung an der Aussenseito 
des Haares gleich so weit als die Lücke, oder die Oeffnung war beträchtlich 
kleiner, so dass es aussah, ob ein Insekt, Wurm oder dergl. sich hineingebohrt und 
weiter unterminirt hatte. An den brüchigen oder schon gebrochenen Stellen der rothen 
Haartheilen waren die Haare vielfach zerstört. Nach dem Befund von theils voll¬ 
ständigen Insekten, theilsTheilenvon solchen in denHaaren anhaftenden Schollen, 
ist es wahrscheinlich, dass mikroskopische Thiere einen wesentlichen Antheil an 
der Zerstörung der Haare gehabt haben; ob uud wie weit sie, vielleicht durch 
ihreAussclieidungen, an der Rothfarbung Theil gehabt haben oder ob diese durch 
Huminsubstanzen hervorgerufen ist, muss wohl eine offene Frage bleiben. 

Die freien Enden der Haare liefen konisch aus und waren zumeist gespalten. 

Fassen wir nun die Resultate der Untersuchung vom gerichtsärztlichen 
Standpunkte aus kurz zusammen, so sehen wir, wie vorsichtig man urtheilen 
muss, wenn Haare eine Verwesung erlitten haben oder erlitten haben konnten. 
An demselben einzelnen Haar haben wir ja nicht allein eine erhebliche Verschie¬ 
denheit der Farbe, sondern auch Verschiedenheiten in der Struktur beobachtet, 
dazu noch arrodirende Einflüsse von Lebewesen an einigen Stellen, während 
solche an anderen Stellen gänzlich vermisst wurden. Ausserdem haben wir ge¬ 
sehen, dass es nicht immer gelingt, die Verwesungsfarben wieder auszuziehen. 

Indem ich diese kleinen Bemerkungen schliesse, bin ich froh, dass mir eine 
Gelegenheit gegeben ist, meinen herzlichen Dank dem Leiter der Unterrichts¬ 
anstalt, Herrn Prof. Strassmann, sämmtlichen Herren Gerichtsphysici, und — 
last not least — dem Assistenten der Unterrichtsanstalt Herrn Dr. Puppe für die 
stets bewiesene Liebenswürdigkeit und das Wohlwollen auszusprechen, das mir zu 
Theil geworden ist. Insbesondere bin ich zu grossem Danke Herrn Prof. Strass¬ 
mann und Herrn Med.-Rath Long verpflichtet. 


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Aus der Unterrichtsanstalt für Staatsarzneikunde zu Berlin. 

Zur Kenntnis® des Sclererythrins nebst Bemerkungen 
Uber ein mittelst desselben herzustellendes Reagenz¬ 
papier (Secalepapier). 

Von 

Dr. G. Puppe, Assistent an der Unterrichtsanstalt für Staatsarzneikunde zu Berlin. 


Drei Punkte sind es vor allem, an die sich der Nachweis 
des Secale cornutum knüpft: der Nachweis mittelst des Mikroskops, 
die Prüfung auf Trimethylamin durch Einwirkung kalter Kalilauge 
und die Sclererythrin-Probe. Von ihnen gebührt unstreitig der 
letzteren das meiste Interesse, sowohl was die praktischen Erfolge 
der Methode betrifft, als auch bezüglich der so mannigfachen Moda¬ 
litäten ihrer Ausführung in rein wissenschaftlicher Hinsicht. Denn 
wennschon der Nachweis des Secale mit dem Mikroskop sichere Be¬ 
weiskraft hat, wenn er gelingt, so ist ein negativer Ausfall dieser 
Prüfung doch nicht beweisend, und für den positiven Ausfall der 
Trimethylamin-Probe ist ein Secalegehalt. von 1,25 pCt. in der zu 
untersuchenden Substanz erforderlich, bei einem geringeren Gehalt 
giebt sie keine sicheren Resultate, ganz abgesehen davon, dass auch 
noch andere organische Substanzen nach Behandlung mit Kalilauge 
in der Kälte Trimethylamin liefern. 1 ) 

Weit sicherer als beide ist dagegen der Sclererythrin-Nachweis; 
die Resultate der Methode sind in der Regel einwandsfrei, zumal die 
einzige von den Autoren hervorgehobene Schwierigkeit: der Nach- 


1) Dragendorff, Die gerichtlich-chemische Ermittlung von Giften. 3. Aufl. 
Göttingen 1888. S. 344. 


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Zur Kenntniss des Sclererythrins. 


269 


weis im Brod, Falck 1 ) zufolge nach Hoffmann-Kandel dadurch 
behoben werden kann, dass man die Extractionsfrist des Farbstoffes 
ausdehnt. Nach Hilger 2 ) können durch den Sclererythrin-Nachweis 
noch 0,005 pCt. Mutterkorn im Mehl erkannt werden. 

Die Darstellung der Substanz gelingt unschwer. HCl oder H 2 S0 4 - 
haltiger Alcohol extrahirt sie und erfährt eine röthlich-gelbe Tin- 
girung durch dieselbe; die Nuancen sind bei Schwefelsäure-An¬ 
wendung intensiver roth als bei Salzsäure und differiren natürlich 
bezüglich ihrer Intensität je nach der Menge des Secalc vom dunkeln 
Rothbraun bis zur eben erkennbaren Rosafärbung. Aus dieser sauren 
alcoholischen Lösung lässt sich Selererythrin durch Aethcr ausscliüt- 
teln. Nach Dragendorf kann man nun Selererythrin mit Petroleum¬ 
äther abscheiden; es bildet dann ein rothes Pulver, ist unlöslich im 
Wasser, löslich in Alkohol, Eisessig, verdünnten Alkalien mit schöner 
Murexidfärbung. Kalk und Barytwasser fällen es blauviolett, ebenso 
schwere Metallsalze. Aluminiumsulfat und Zinchloriir lösen es roth. 

Die rothgelbe Farbe der sauren alkoholischen Lösung wird nach 
Zusatz von Alkali schön violett, ebensolche Färbung erhält man durch 
Extraction des Farbstoffes mit alkoholischer Ammoniak-Lösung, aus 
welcher indess ein Ausschütteln mit Aether unmöglich ist. Dagegen 
erhält man eine blaue Farbe, wenn man zu der ätherischen rothen 
Sclererythrinlösung Natrium bicarbonicum hinzufügt: augenblicklich 
wird die Lösung entfärbt und cs findet sich alsbald am Boden des 
Gefässes die hinzugefügte Natronverbindung blau gefärbt vor, aus 
der man dann nach Abziehen der überstehenden Aetherschicht durch 
Wasserzusatz eine blaue prachtvolle Farblösung erhalten kann. 

Dieses Verhalten des Selererythrin ist in hohem Grade eigen- 
thümlich, und es knüpft sich daran die Frage: Handelt es sich nicht 
um einen Farbstoff, der sich ganz allgemein gegen Säure anders als 
gegen Alkalien verhält, handelt es sich weiter um einen regenera¬ 
tionsfähigen Farbstoff, der nach vorheriger Behandlung mit Alkali 
sich wieder in den rothen ursprünglichen urawandeln lässt und end¬ 
lich kann dieser Farbstoff nicht praktisch verwerthet werden sei es 
zur Ergänzung der Untersuchungsmethoden des Mutterkornes, sei es 
als Reagens auf Säure und Alkali ähnlich wie der Lakmusfarbstoff? 


1) A. Falck, Lehrbuch der practischen Toxikologie. Stuttgart, Enke, 1880. 
S. 290. 

2) Dragendorff, 1. c. 


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270 


Dr. Puppe, 


Um all diesen Fragen näher treten zu können, war es zunächst 
erforderlich, einen allen Anforderungen entsprechenden Recipienten 
für das Sclererythrin zu finden, mit dem dann das Verhalten gegen 
Säure oder Alkalien zu prüfen möglich war. Es unterlag keinem 
Zweifel, dass diese Forderung am besten erfüllt wurde durch die 
Anwendung des Farbstoffes als Imprägnirungsmittel für Fliesspapier, 
gerade wie dies beim Lakmusfarbstoff geschieht. 

Filtrirt man eine saure alkoholische Secale - Aufschwemmung, 
so färbt sich das Filtrirpapier intensiv rothbraun; eine blaue Fär¬ 
bung des Filtrirpapiers tritt ein, wenn man eine Aufschwemmung 
von pulverisiertem Secale mit Ammoniak-Alcohol oder mit Pottasche¬ 
lösung behandelt. Kalilauge, auch in ganz dünner Lösung, und Ammoniak 
bewirken augenblickliche Violettfärbung des rothbraunen Papiers, 
Spuren von Essigsäure und Salzsäure bewirken deutliche wenn auch 
schwache Bräunung des violetten Papiers, desgleichen Salpetersäure 
und 20 pCt. Salzsäure, aber in stärkerem Grade. Der Recipient 
schien gefunden zu sein, immerhin aber war die Substanz nicht rein 
aufgenommen, sondern zugleich mit allen ebenfalls durch die be¬ 
treffende Aufschwemmungsflüssigkeit gelösten Verunreinigungen, ab¬ 
gesehen davon, dass durch die pastöse Farbmasse ja auch ein 
Theil der Poren des Papiers verstopft wurde, der Farbstoff selbst 
also bei seinem völligen Durchdringen des Mediums Widerstände 
fand, die er nicht bewältigen konnte. 

Besser schien ein anderes Verfahren: Tingirung von Fliesspa¬ 
pier durch die aus der sauren ätherischen Lösung durch Natriumbi- 
carbonat erhaltene blaue Farbe. Die Prüfung ergab Orangefärbung 
durch Salz- und Salpetersäure, sowie durch Weinsäure, doch schienen 
schwache Lösungen dieser Säuren keinen deutlichen Effekt zu hinter¬ 
lassen. Setzt man zu der eben genannten blauen Lösung tropfen¬ 
weise Salzsäure hinzu, so erfolgt nach eben erfolgter Neutralisirung 
mit einem Male ein Umschlag der Farbe in Orange, die nunmehr 
ebenfalls mit Leichtigkeit zur Imprägnirung von Fliesspapier benutzt 
werden kann; cs ergiebt sich schön blass orangefarbenes Papier, 
welches auf Ammoniak und Spuren von Kalilauge durch sofortige 
Violettfärbung reagirt. Schien demnach auch das Orange-Papier zu 
weiteren Versuchen zu genügen, so liess das blaue doch bei feineren 
Säurebestimmungen im Stich; es musste daher ein anderes Verfahren, 
welches diesen Mangel nicht zeigte, ausfindig gemacht werden. 


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Zur Kenntniss des Sclcrerythrins. 


271 


Es gelang nun, aus der rothen, sauren ätherischen Lösung ein 
Papier zu gewinnen, welches den Anforderungen genügte, mit Hülfe 
eines kleinen Kunstgriffes. Zieht man einen Streifen Filtrirpapier, 
den man U-förmig an beiden Enden hält, und dessen untere Con- 
vexität in die Aetherlösung taucht, durch abwechselndes Verkürzen 
und Verlängern der Schenkel durch die Flüssigkeit, so stellt man 
sich damit eine der ganzen Grösse des Streifens entsprechende Ver¬ 
dunstungsfläche her; der Effekt, welcher zweckmässiger Weise noch 
durch Darüberhalten eines Luftstromes verstärkt wird, ist zunächst 
ein schnelles Verdampfen auch grösserer Aethermengen und weiter 
eine gleichmässige Imprägnirung mit dem gelösten Sclererythrin. Man 
erhält auf diese Weise ein schön orangefarbenes Reagenzpapier, welches 
zu weiteren Versuchen benutzt werden kann. Befeuchtet man das 
Fliesspapier vor der eben beschriebenen Prozedur mit Ammoniak oder 
nimmt man die Prozedur in reichlich Ammoniak enthaltender Luft 
vor und lässt dann den Aether aus diesem Ammoniak-Papier ver¬ 
dunsten, so resultirt ein violett gefärbtes Papier, das ebenfalls allen 
Ansprüchen bezüglich weiterer Versuche genügt. 

Salzsäure, Salpetersäure und Schwefelsäure färben das violette 
Papier auch in Spuren orange; ebenso Essigsäure, Weinsäure und 
Milchsäure; auch Chlorzinklösung ruft eine leichte Orangefärbung her¬ 
vor. Umgekehrt geben Kalilauge, Ammoniak und Cyankaliumlösung 
Violettfärbung des Orange-Papiers, resp. verstärken die Farbe des 
violetten. Ebenso verhalten sich Barytwasser und Kalkwasser sowie 
Bleiessig. Aus den nunmehr weiter fortgesetzten Prüfungen liess sich un¬ 
schwer entnehmen, dass auch weiterhin eine Uebereinstiramung des 
Secalepapiers mit dem Lakrauspapier statthatte bezüglich der Qua¬ 
lität der Farbenänderung, insofern als das orangefarbene Secale-Pa- 
pier dem rothen Lakmuspapier, das violette Secalepapier dem blauen 
Lakmuspapier völlig entsprach. Allein in der Feinheit der Em¬ 
pfindlichkeit schien das verwandte Secalepapier dem Lakmuspapier 
unterlegen; nicht immer, aher zuweilen fand sich die Farbenänderung 
nur eben angedeutet, wo das Lakmuspapier noch deutliche Unter¬ 
schiede aufwies. 

Die angestellten Untersuchungen scheinen den Schluss zuzulassen, 
dass wir in dem Sclererythrin einen Farbstoff vor uns haben, der in 
angemessener Bearbeitung ein Reagens auf freie Säure und Alkali zu 
bilden im Stande ist, und der sich als ein dem Lakmus jedenfalls 


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272 


Dr. Puppe, 


sehr nahestehender Farbstoff darstellt, wenn er ihn auch an Feinheit 
nicht ganz erreicht. Muss dieser Umstand auch vielleicht auf Kosten 
der sicher noch nicht ganz vollkommenen Herstellungsmethode ge¬ 
setzt werden, so soll absolut nicht die Prätension erhoben werden, 
als ob das Secalepapier als Concurrent des Lakmuspapiers aufzu¬ 
treten berufen wäre. Nichts berechtigt zu solcher Erwartung. Das 
Sclererythrin ist nur in der Rindenschicht des Secale cornutum vor¬ 
handen, es ist nicht in sehr grosser Menge da, auch der Preis des 
Lakmus (ungereinigt 1,30 Mk. gereinigt 3,25 Mk. für 1 kg.) ist dem 
des Secale voraus an Billigkeit, (1 kg 1,85 Mk.) da noch die Kosten 
der Herstellung (Alcohol, Acther etc.) dazukommen würden. Viel¬ 
leicht ändern vervollkommnete Methoden etwas an dieser Thatsache. 
Aber cs ist vom wissenschaftlichen Standpunkte aus gewiss sehr in¬ 
teressant, dass wir im Sclererythrin einen derartigen Farbstoff vor 
uns haben. 

Das besprochene Verfahren, Sclererythrin in Form des Secale- 
papiers zu bearbeiten, gestattet es aber auch praktische Konsequenzen 
zu ziehen nach zwei Seiten hin: einmal zur quantitativen Prüfung 
auf Secale und dann qualitativ zur Unterscheidung des Secale von 
andern Substanzen, sowohl solchen, welche sich säurehaltigem Alkohol 
gegenüber ähnlich wie Secale verhalten als auch ganz im allgemeinen. 
Beides würde der gerichtlichen Medizin, z. B. beim Nachweis von 
Secale im Erbrochenen u. a. wie auch der Nahrungsmittelchemic, zu 
(lute kommen können. 

Extrahirt man nämlich 1,0 Secale mit Schwefelsäure-haltigem 
Alkohol, schüttelt weiter Sclererythrin mit Aether aus und lässt dann 
in einem kleinen cylindrischen Glasgefäss von etwa 5 cm Durch¬ 
messer, auf dessen Boden sich ein passend zugeschnittenes Blatt Fliess¬ 
papier befindet, den Aether verdunsten, so resultirt eine tief braun- 
rothe Färbung des Papiers. Mit Leichtigkeit kann man sich so eine 
Farbenskala hersteilen, die man dann zur quantitativen Bestimmung 
des Secale benutzen könnte. Diese colorimetrische Methode dürfte 
zuverlässig sein, da nach ihr noch 0,005 Secale nachweisbar sind. 
Sie hat gegenüber dem colorimetrischen Verfahren mittelst eigens 
hcrgestellter Seealeextrakte von bestimmtem Gehalt den grossen Vor¬ 
zug der Conservirbarkeit des Secalepapiers. 

Behandelt man weiter Mehl, weiches mit Kornrade (Agrostemma 
Githago) und Tauraellolch (Lolium tremulentum) verunreinigt ist, 


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Zur Kenntuiss des Sclererythrins. 


273 


mit säurehaltigem Alcohol, so färbt siel» dieser nach Vogel gesättigt 
orangefarben 1 ). Unschwer gelingt es, die färbende Substanz mit 
Aether aus der sauren alkoholischen Lösung auszuschüttcln und nach 
Verdunsten des Aethers ein mehr oder minder gelblich gefärbtes 
Fliesspapier nach der im vorigen Abschnitt beschriebenen Methode 
zu erhalten. Während aber nun Secalepapier, welches ebenso erhalten 
wurde, unter dem Einfluss von Alkalien sofort violett wird, geben 
Lolium tremulentum und Agrostemma Githago diese Reaktion nicht. 

Auf dieselbe Art gelingt es auch bei der Untersuchung von er¬ 
brochenen Massen und Mageninhalt mit grösserer Sicherheit als bis¬ 
her die etwaige Anwesenheit von Secale festzustcllen. Violettfärbung 
des orangefarbenen Papiers durch Ammoniak weist unfehlbar auf die 
Beimischung von Secale hin und schlicsst andere sich etwa ähnlich 
verhaltende Substanzen aus. 


1) Rubner, Lehrbuch der Hygiene. 4. Aufl. Leipzig und Wien, Deuticke. 
S. Ö89. 


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8 . 

Ein seltener Fall von chronischer Chloralvergiftung. 

Von 

Dr. Chr. fleill, Irrenheilanstalt Aarhus. 


Die Krankengeschiclite des nachstehend veröffentlichten Falles 
ist folgende: 

Eine 58jährige Häuslerin, die angeblich zur Geisteskrankheit nicht erblich 
disponirt und immer früher gesund gewesen sein will, wurde den 8. Juli 1895 
auf die Irrenanstalt eingelegt, an einem ersten Anfall von Melancholie leidend. 
Sie hatte zu Hause einen Selbstmord mittelst Durchschneidens des Halses ver¬ 
sucht, dieWunde aber war durch Behandlung im Krankenhause geheilt. Von die¬ 
sem wurde sie uns eingeliefert. 

Vom 9. Juli an bekam sie jeden Abend Chloral (2 g). — 5. August. Vor¬ 
gestern Abend war sie etwas rothgefleckt an den Händen. Gestern wurde deut¬ 
liches Chloralexanthem konstatirt. Es war masernähnlich, hochroth, papulös, 
doch an vielen Orten, wie an den Unterarmen und Beinen, zu grösseren Flächen 
stark koniluirend. Am Halse und an der Brust war es discreter, ebenso am 
haarigen Theil des Kopfes, während es im Gesichte besonders abwärts stark kon- 
fluirte. Kein besonderes Aufgedunsensein der Haut. Die Schleimhaut des Mundes, 
besonders die des Gaumens und der Zunge, injicirt. Keine deutliche Conjuncti¬ 
vitis oder Schnupfen. Der Urin enthielt etwas Albumin — er war bei der Ein¬ 
legung normal gewesen. — Das Allgemeinbefinden nicht besonders afficirt. Sep. 
Chloral. — Heute hat das Exanthem sich etwas ausgebreitet, ist beinahe univer¬ 
sell, vielleicht weniger stark gefärbt als gestern. Ein wenig kleinblättrige Ab¬ 
schuppung in Gesicht und Beinen. Ein wenig Oedem der Knöchel. Die Injection 
der Scheimhaut des Mundes hat abgenommen. Der Urin enthält fortwährend Al¬ 
bumin, er giebt ebenso wenig wie gestern die Reaktion der'Urochloralsäure. — 
6. Aug. Heute Morgen ist Pat. stark verfallen; heftiges Erbrechen grüner Massen. 
Sie wurde auf der Krankenabtheilung zu Bettgelegt, kurz nachdem war sie jedoch selbst 
aus dem Bett aufgestanden. ZurZeit derVormittagsvisite war das Exanthem äusserst 
intensiv gefärbt; die Röthe sehr deutlich und koniluirend an Nase, Wangen und 
Kinn. Ein wenig Icterus im Gesichte. Die Zunge schorfig und der Mund sehr 
schleimig. Beide Füsse ein wenig oedematös und das Oedem erstreckt sich bis über 


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Ein seltener Fall von chronischer Chloralvergiftung. 


275 


die Knöchel. Der Urin sehr dunkel, braun mit grünlichem Glanz, giebt starke 
Reaktion auf Gallenfarbstoffe, enlhält ein wenig Albumen. 7. Aug. Später lag 
Pat. ganz ruhig mit ein wenig schnaubender Resp. Sie erbrach sich nicht, Urin 
und Stuhlgang, der nicht dünn war, gingen aber im Bette ab. Die ikterische 
Farbe nahm gegen Abend zu, der Puls war bei der Abendvisite klein und unregel¬ 
mässig. Trotz Stimulantien starb sie, indem die Kräfte immer abnahmen, heute 
Morgen um 3 Uhr. 

Section (9 St. p. m.) Die Leiche mittelmässig ernährt. Rigor findet sich 
in den Unterextremitäten. Es besteht sehr ansgebreitete Hypostase sowohl an den 
abhängigen Theilen als auch überall da, wo das Exanthem gewesen ist, besonders 
an den Vorderflächen des Oberarms und der Schenkel sammt dem Unterleibe 
und Gesichte. Es besteht deutliche ikterische Färbung, besonders im Gesichte, 
am Truncus und an der Vorderfläche der Schenkel. Etwas Oedem um die 
Knöchel. Die Sclerae sind intensiv ikterisch gefärbt. Ein wenigDesquamation an 
den Oberarmen sowie am Halse und im Gesichte. — Das abgesägte Schädeldach 
ist beinahe dreieckig, mit einem nur 5 cm breiten Frontaltheile, während der 
grösste Transversaldiameter, der weit hinten gerade unter den Tubera pariet. sich 
findet, 15 cm misst. Diameter ant.-post. 18 cm. Reichliche Diploe, die etwas 
hyperamisch ist. Viele Pacchionische Granulationen, die im Cranium tiefe Gruben 
absetzen, so dass von diesem an mehreren Stellen nur eine papierdünne Lamelle 
übrig bleibt. Dura theilweise adhaerent; die Innenseite ikterisch gefärbt, be¬ 
sonders an der Basis. Die Subduralflüssigkeit ist vermehrt. Das Gewicht des Ge¬ 
hirns 1325 g. Pia über der Convexität stark diffus verdickt, etwas oedematös. 
Die Flüssigkeitsmenge in den Gehimventrikeln ein wenig vermehrt. Das Ependym 
stark granulirt in den Seitenventrikeln und im 3. Ventrikel, während sich im 
4. Ventrikel nur einzelne Granulationen am Uebergange zum Velum medul. ant. 
finden. In beiden Seitenventrikeln findet sich eine kleine dreieckige Blutung 
unter demEpendym gerade an der Basis derCrurafomicis and. ImUebrigen nichts 
besonders Abnormes an den grossen Ganglien und amCerebellum. Dagegen befinden 
sich im Pons zwei Erweichungsheerde von der Grösse einer Erbse und mit 
Flüssigkeit gefüllt, jeder an einer Seite liegend, und zwar am Uebergange zwischen 
mittlerem und unterstem Drittel, der eine (kleinere) rechts ein wenig von der Mitte 
vom Pons, der andere (grössere) links, ein wenig hinter der Mitte. Der Blut¬ 
gehalt des Gehirns ist normal, sein Gewicht nach der Untersuchung 1295 g — 
Pericardialflüssigkeit ein wenig vermehrt, sehr dunkelgelb gefärbt. Herz so wie 
auch die grossen Gefässe enthalten eine ausserordentlich reichliche Menge Blut 
sammt grossen, dunklen, breiigen Coagulis. Das Herz ist schlaff; die Spitze wird 
vom 1. V. gebildet, Aorta und Mitralklappen stellenweise verdickt. Beginnende 
Entarteritis in der Aorta ascendens. Endocardium in den Vorkammern sowie auch 
Mitral- und Trikuspidalklappen sammtlntima überall an der Aorta stark gelb gefärbt; 
besonders in der Aorta descendens ist die Farbe intensiv safrangelb. Myocardium 
schlaff, von hellbrauner Farbe. Keine Flüssigkeit in den Lungensäcken. Nach 
unten adhaerirt die rechte Lunge durch wenige saitenförmige Adhaerenzen. Beide 
Lungen leicht emphysematos, nach unten hypostatisch. Bronchien mit ein 
wenig Schleim belegt. Bronchialdrüsen pigmentirt, leicht geschwollen. — Keine 
Flüssigkeit in der Abdominalhöhle. Milz gross mit fleckenweiser Verdickung der 
Kapsel. Pulpa schlaff, aber nicht flüssig. Es giebt zwei Nebenmilzen, die eine 


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wie eine Nuss, die andere wie eine Erbse. Leber gross und schlaff. An der 
dunklen, stark gefleckten Oberfläche sieht man zahlreiche, nicht hervorspringende 
kleine gelbe Flecken, von der Grösse eines Hirsekorns bis zu der einer Erbse. An 
der Schnittfläche zeigt sich das Gewebe abwechselnd schwarzgrau oder hellgelb 
gezeichnet, im gleichen Grade ikterisch und cyanotisch, mit einzelnen, stark gelb¬ 
lichen Flecken, wie oben beschrieben. Die ac-inöse Zeichnung undeutlich. Die 
Konsistenz vermindert. Die Gallenblase enthält reichliche schwarze Galle; Gallen¬ 
gang durchgängig. Magen wie ein Stundenglas in der Mitte eingeschnürt. Es 
zeigt sich, dass eine stark zusammengezogene Narbe an der Einschnürung Schuld 
ist; übrigens ist die Schleimhaut stark mamellonirt, hie und da injicirt. Sowohl 
die Serosa des Magens wie die des Darmes ist stark ikterisch gefärbt. Darm 
enthält reichliche grün gefärbte Fäces. Proc. vermiformis gross, 6 cm lang; 
Serosa injicirt. Wand stark verdickt, die Verdickung betrifft besonders die Mu- 
cosa. Er ist überall durchgängig und enthält Eiter und 4—6 kleine Haare. Me¬ 
senterialdrüsen etwas geschwollen. L. Niere gross. Die Kapsel löst sich nicht 
ohne dass Gewebe mit folgt. Auf der Schnittfläche ist die Zeichnung sehr undeut¬ 
lich; die Farbe blass, besonders an der Basis der Pyramiden. Konsistenz deut¬ 
lich vermehrt. In Becken und Kelchen sieht man eine ausserordentlich reichliche 
Eruption kleiner mit Flüssigkeit gefüllter Bläschen, die sich nach unten durch 
die Ureteren (es gehen nämlich vom Becken zwei Ureteren aus, und diese treffen 
sich erst genau über der Einmündung in die Blase), die etwas dilatirt sind, fort¬ 
setzt, bis zur Harnblase hinab. R. Niere kleiner als die linke. Die Zeichnung 
undeutlicher und die weissliche Färbung stärker, die Rinde hat aber wie in der 
linken Niere eine natürliche Breite. Hier sind Becken und Kelche stark dilatirt, 
und erstcre setzt sich wie ein grosser Sack mit Urin gefüllt über die Spitze der 
Niere fort. Die Ablagerung der kleinen hellen Bläschen mit gelblichem Inhalt ist 
noch deutlicher als an der linken Niere. In keiner der Nieren finden sich Cysten 
im Gewebe. Die Bläschen setzen sich durch den Ureter, der auf dieser Seite ein¬ 
zeln ist, fort. Harnblase dilatirt, enthält etwas dunklen Urin. Am Trigonum 
Lieutaudii findet sich eine reichliche Ablagerung ganz kleiner Vesikeln. Am 
rechten Ovarium eine Cyste von der Grösse einer Nuss, mit klarem Inhalt ge¬ 
füllt. Collum uteri gross, krebsig degenerirt, wie sich auch in Corpus uteri 
grössere und kleinere Knoten finden. — Die mikroskopische Untersuchung 
zeigt, die Leber betreffend, Folgendes: An allen untersuchten Stellen findet sich 
eine ausserordentlich vorgeschrittene Degeneration des Lebergewebes, höchstens 
kann nur l / 2 o von diesem einigermassen funktionstüchtig gewesen sein. Capsula 
Glissonii: leichte Verdickung des Bindegewebes und der Arterienwand; Gallen¬ 
gänge nicht erweitert; Epithelien ganz unbeschädigt; keine Rundzelleninfiltration. 
Acini: Um die etwas erweiterten Centralvenen findet sich ein kleiner Rest der 
Leberzellenbalken, die ein natürliches Aussehen haben, sie sind aber durch er¬ 
weiterte Capillargefässo auseinander gedrängt. Um diese Partie sieht man die 
Leberzellen körnig, vakuolisirt, ohne Kern; im allergrössten Theile des Durch¬ 
schnitts vom Acinus sieht man zwischen den ausgespannten Kapillaren nur ovale 
pigmentgefüllte Zellen und Protoplasmaklnmpen ohne Kern mit einzelnen aus¬ 
getretenen Leukocyten. Es giebt weder Rundzellenhaufcn noch kleine Abscesse, 
und keine Bakterienhaufen in den Gefässcn. Was die Nicron betrifft, zeigt die 
Untersuchung Folgendes: Die Kapsel ist nicht verdickt. Corticalis: Die Räume 


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Ein seltener Fall von chronischer Chloralvorgiftung. 


277 


zwischen Tubuli contorti sind etwas erweitert; hier und da sehr starke Ausdeh¬ 
nung der Gefässe. Am ausgepinselten Präparat sieht man die Kapselwände leicht 
verdickt. Glomeruli im Ganzen natürlich. Hier und da starke Ausdehnung ein¬ 
zelner Ansae. Ganz vereinzelte Glomeruli total fibrös degenerirt. Epithelien in 
den Tubuli contorti leicht körnig und etwas grob, aber die Kerne überall wohl er¬ 
halten. Medullaris: Starke Hvperaemie der Gefässe an den Papillen, sein- 
starke Entwicklung von Bindegewebe zwischen den Tubuli. Epithelien in den 
Tubuli recti zum Theil degenerirt und abgefallen. In Henle’schen Schlingen und 
theilweise in den Tubulis rectis hyaline Cylinder. 

Sections-Diagnose. Icterus universalis. Deformitas cranii. Pachymenin- 
gitis ext. Leptomengitis chron. diff. Ependymitis granul. chron. Haemorrhagiac 
subependymoidales ventr. I u. II. 

Emollitiones circumscript. pontis. Endarteritis valvular. mitralis et aortao. 
Degeneratio parenchym. myocardii. Endarteritis aortae. Emphysema et hypostasis 
pulmonum. Lienes accidentales. Degeneratio (toxica?) hepatis cum cyanosi. De¬ 
formitas ventriculi e cicatrice. Perityphlitis. Nephritis cyanotica renum chron. 
Deformitas pelvis renis dext. Ureter duplex sin. Vesiculae pelvis et calycum 
renum, ureterum et vesicae part. Cystis parovarialis dext. Cancer uteri. 

Ein 58jähriges Weib, das angeblich früher vollständig körperlich 
gesund war und an einem ersten Anfall von Melancholie litt, bekam 
also, nachdem sie 25 nach einander folgende Abende 2 g Chloral, 
zusammen 50 g gebraucht hatte, ein Chloralcxanthem, von gewöhn¬ 
lichem Unwohlsein und Albuminurie begleitet. Am 3. Tage erschien 
Icterus und zugleich Gallenfarbstoff im Urin. Der Tod trat trotz dem 
Aufhören des Chloralgebrauches am 4. Tage ein. Bei der Section 
wurde nachgewiesen, dass man die angegebene frühere vollständige 
Gesundheit als relative betrachten musste, da ausser einigen Entwick¬ 
lungsfehlern, wie abnorm gebildetem Schädel, Nebenrailzen, Verdop¬ 
pelung des Ureter links und Deformität des Nierenbeckens rechts 
sammt Zeichen überstandenen Magengeschwürs, das eine starke nar¬ 
bige Deformität des Magens hinterlassen hatte, sich ein paar kleine 
ältere Erweichungen im Pons, Endarteritis der Aorta, Degeneration 
des Myokard, Cancer uteri und Perityphlitis fanden. Als Zeichen 
der Chloralvergiftung musste man wohl die kleinen, Vorgefundenen 
subependymoidalen Ecchymosen, die Vesikelentwicklungen der Urin¬ 
wege, Cyanose der Nieren und der Leber und endlich die Leberdege¬ 
neration auffassen. 

Wenn man selbst glauben wollte, dass die Cyanose früher als 
die Vergiftung bestanden hätte — was wenigstens für die Nieren 
nicht wahrscheinlich ist, da man, ehe der Chloralgebrauch begann, 
kein Albumen im Urin gefunden hatte und Albuminurie auftrat, ehe 


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Dr. Gei 11, 


die Zeichen von dein Uebergange der Gallcnbestandthcilc ins Blut auf¬ 
traten — schien cs doch sicher, dass inan das Vorgefundene Leber- 
leiden als eine directe Folge der Chloralvergiftung auffassen musste, 
da man es jedenfalls nicht in directe Verbindung mit einer bestehen¬ 
den Cyanose setzen konnte. Durch starke Cyanose kann wohl ein 
Schwinden der Leberzellen entstehen, dieses fängt aber an der Central- 
vene an und besteht dann gewöhnlich aus einfacher Abmagerung der 
Leberzellen, die zuletzt wie drahtförmige Zellen zwischen den Capil- 
laren liegen. Hier fand man indessen die intacten Leberzellen im 
Centrum, und das Leiden bestand in vollständiger Verwüstung der 
Zellen. 

Die Möglichkeit, dass eine von der Cyanose unabhängige Leber- 
affection bestanden hätte, ehe das Chloral in Gebrauch genommen 
wurde, und dass die Chloralvergiftung diesem Leiden zur Seite ver¬ 
laufen wäre oder es verschlimmert hätte (Wernich) darf man zwar 
nicht absolut leugnen, die klinischen Phänomene wie auch der Sec- 
tionsbefund deuten aber in hohem Grade auf die Wahrscheinlichkeit 
hin, dass man sowohl die Cyanose, als die Leberdegeneration als di¬ 
recte Folge der Chloralvergiftung betrachten muss. Dass diese Cya¬ 
nose verursachen kann, lässt sich erklären nach den Kenntnissen, die 
wir von der paralysirenden Einwirkung des Chlorais auf das Circu- 
lationssystem haben. Was dagegen die Leberaffection betrifft, so wird 
die Deutung der Pathogenese dieser Degeneration schwieriger. Doch 
scheint der Umstand, dass das Reductionsproduct des Chloralhydrats 
im Organismus, der Trichloraethylalkohol, sich zu Trichloraethylgly- 
kuronsäure (Urochloralsäure) paart, und dass diese Paarung mit Gly- 
kuronsäuren in der Leber vor sich geht (Robert), das Verständniss 
dafür zu erleichtern, dass das Chloral so stark auf dieses Organ ein¬ 
wirken kann — besonders wenn Cyanose vorhanden ist. 

Im Ganzen kennt man sehr wenig den Sectionsbefund bei der 
chronischen Chloralvergiftung. Wie bei der acuten Chloralvergiftung, 
so ist beinahe auch immer bei der chronischen Vergiftung die Todes¬ 
ursache angeblich primäre oder secundäre Herzlähmung. Der Haupt¬ 
angriffspunkt des Chlorals ist wohl immer das vasomotorische Cen¬ 
trum. Es giebt deshalb gewöhnlich bei der chronischen und sub¬ 
acuten Chloralvergiftung ebensowenig wie bei der acuten Vergiftung 
einen charakteristischen Sectionsbefund. Höchstens finden sich bei 
der Section Kennzeichen von Schwäche des Circulationssystems (end- 
arteritische Veränderungen, Degeneration des Myokardiums) als Er- 


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Ein seltener Fall von chronischer Chloralvcrgiftung. 


279 


klärung, weshalb das Chloral eben in diesen Fällen eine letale Wir¬ 
kung gehabt hat. Was speciell den in unserem Falle gefundenen 
Icterus und die Leberaffection betrifft, so findet sich in der mir zu¬ 
gänglichen Literatur sehr wenig Verwerthbares. 

Wern ich 1 ) hat vier selbst beobachtete Fälle und einen ihm mitgetheilten 
Fall veröffentlicht, wo während des Chloralgebrauchs Ikterus entweder entstand, 
oder ein Ikterus, welcher vorher da war, sich auf eine Weise verschlimmerte, die 
keinen Zweifel an den Zusammenhang erlaubte. — Lewin 2 ) giebt zwar an, dass 
man öfters Ikterus bei der chronischen Chloralvergiftung konstatirt hat, meint 
aber, „dass es mehr als wahrscheinlich ist, dass es sich hier um einen Ikterus 
gastroduodenalis, also um einen durch die Reizwirkung des Chloralhydrats ver- 
anlassten Verschluss des Gallenausführungsganges und nicht um einen hämato¬ 
genen Ikterus handelt.“ — Pelman 3 ) sah nach dem Gebrauche des Chloral in 
zwei Fällen kleinere und grössere Petechien überall an der Haut; in einem Falle, 
bei einem Paralytiker, der obducirt wurde, fanden sich ausserdem zahlreiche 
Petechien in der Larynxschleimhaut und unter dem Endocard, und im Cranium 
ein grosses Hämatom, dessen dünnflüssiger Inhalt zeigte, dass es frischen Datums 
war. Er meint, dass der Ikterus, den er in einem dritten Falle während des 
Chloralgebrauchs entstehen sah, durch eine von dem Chloral bewirkte Blut¬ 
dissolution verursacht war; dieser Fall endete tödtlich, und bei der Section fand 
man die Leber fest, trocken, wenig blutreich, fast lederartig hart, aber nicht gelb 
und ohne Gallenpunkte; in der Gallenblase fand man nur ein wenig dicke, zähe 
und schleimige Galle; die Gallenfarbstoffprobe des Urins war nicht angestellt 
worden. — Arndt 4 ) sah bei einem 53 jährigen männlichen Paralytiker, der 8Abende 
nach einander 2,5—5 g Chloral bekommen hatte, ein stark papulöses Erythem 
mit einigen kleinen Echymosen. Ein paar Tage danach trat Ikterus mit Gallenfarb¬ 
stoff im Urin auf, den man wegen Retention mit dem Katheter abnehmen mussto. 
Als das Chloral ausgesetzt ward, schwanden sowohl Exanthem als Ikterus lang¬ 
sam, letzterer erst im Verlaufe dreier Wochen. Einen Monat nachher bekam der 
Patient wieder einige Abende 3—5 g Chloral, und 4 Tage nach der ersten Dosis 
erschien wieder ein papulöses Erythem, wozu nach 2 Tagen Ikterus und Urin- 
retention kamen. Das Chloral wurde gleich ausgesetzt, die Schwäche nahm aber 
zu, Dekubitus entwickelte sich, und der Tod trat am 7. Tage des Exanthems ein. 
Die Section wurde leider nicht vorgenommen. 

Arndt meint, dass der Ikterus von einem Gastro-intestinalkatarrh mit Ver¬ 
schluss des Gallengangs herrührte, meint aber im Gegensatz zu Lewin, dass 
dieser Katarrh nicht durch den direkt reizenden Einfluss des Chlorais auf die 


1) Ueber Icterus nach Anwendung von Chloralhydrat. Deutsches Archiv f. 
klin. Medicin. Bd. 12. S. 32—41. 1873. 

2) Die Nebenwirkungen der Arzneimittel. Berlin 1893. S. 16G. 

3) Ueber einige Nachtheile bei der Anwendung des Chloralhydrats. Irren¬ 
freund. 1871. No. 2. 

4) Wirkungen des Chloralhydrats. Archiv f. Psych. u. Nervenkrankh. III. 
S. 673. 1872. 

Yierteljahrsschr. f. ger. Med. Dritte Folge. XIV. 2. iq 


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Dr. Geil 1, 


Schleimhaut bewirkt, sondern von neurotischer Natur sei, analog mit der konsta¬ 
nten paralysirendon Wirkung des Chlorais auf das Nervensystem speciell das Ge- 
fässnervcn System. Als Grund dieser Meinung führt er einen andern selbstbeobach¬ 
teten Fall an, wo ein 36jähriger männlicher Paralytiker, nachdem er einige Zeit 
jeden Abend 2,5—4 g Chloral bekommen hatte, nach peritonitischen Symptomen 
starb. Die Section zeigte ausser einer Pachymeningitis interna haemorrbagica 
basilaris bedeutende Veränderungen im Magen. Die Schleimhaut war hier ge¬ 
lockert, leicht zerreisslich und vielfach erodirt; ihre grösseren Gefasse paralytisch 
erweitert und ihre kleineren stellenweise geborsten, so dass ausgedehnte Ecchy- 
mosen sich gebildet hatten. Die letzteren waren so bedeutend, dass der Fundus 
durch sie beinahe ganz gleichmässig dunkel erschien. Das auffälligste war in¬ 
dessen ein mehr als thalergrosses Loch der hinteren Wand, das beinahe wie mit 
einem Locheisen berausgeschlagen, sich so ziemlich in der Mitte derselben be¬ 
fand. Die Ränder dieses Loches waren nur wenig und in geringem Umfange ge¬ 
schwollen, die dasselbe umgebenden Schleimhautpartien stark erodirt und ecchymo- 
sirt. Hinter dem Magen, die ganze Bursa omentalis erfüllend, lag eine mehr als 
daumendicke gelbe Schwarte, welche aus Fibrin und massenhaften weissen Blut¬ 
körperchen bestand und den rauhen und getrübten Wänden der Bursa fest adhä- 
rirte. Die Schleimhaut im obersten Theile des Darmes war leicht geschwollen 
und gelockert und stellenweise ziemlich stark blutinjicirt, es waren keine Hae- 
morrhagien vorhanden und der Inhalt des Darmes war normal gefärbt. Arndt 
meint dem Chloral dieses heftige Magenleiden mit darauffolgender Perforation zu¬ 
schreiben zu müssen, und stützt sich darauf, 1. dass früher gar kein patho- 
gnostisches Zeichen, welches auf ein Magenleiden deuten konnte, da gewesen war, 
und 2. dass im Umfange der Wunde nur wenige Reactionserscheinungen vor¬ 
handen waren, indem besonders ihre Ränder nur wenig und im geringen Um¬ 
kreise geschwollen und entzündet waren. Diese akute Gastritis so wie der den 
im ersten Falle auftretenden Ikterus verursachende, zwar nur vermuthete Duode¬ 
nalkatarrh sind, wie Arndt meint, der vasoparalytischen Fähigkeit des Chlorais 
zuzuschreiben, und das Leiden sollte also mit den Hautaffectionen und speciell 
mit dem akut auftretenden Chloraldekubitus analog sein 1 ). 

Es liegen also drei verschiedene Theorien zur Erklärung der 
Pathogenese von Icterus bei der chronischen Chloralvergiftung vor, 
nämlich 1. dass ein Gastroduodenalkatarrh, der a) durch die direct 
reizende Wirkung des Chlorais auf die Schleimhaut (Lewin) oder 
b) indirect durch Vasoparalyse (Arndt) verursacht ist, daran Schuld 
sei, und 2. dass eine durch die Einwirkung des Chlorals auf das 
Blut erregte Blutdissolution daran schuld sei (Pelman). Hierzu 
muss folgendes bemerkt werden: Ein Factum ist es, dass Chloral 
heftige Reizphänomene vom Digestionskanale bei Einnehmen durch 
den Mund erregen kann, den lokalen Phänomenen, die durch Appli- 


1) Reimer, Ueber die Entstehung von Decubitus nach dem innerlichen Ge^ 
brauch von Chloralhydrat. Allgem. Zeitschr. f. Psych. Bd. 28. S. 316. 1872. 


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281 


Ein seltener Fall von chronischer Chloralvergiftung. 

kation des Mittels auf die Haut verursacht werden, entsprechend; 
hierzu ist aber eine grössere Menge Chloral erforderlich und beson¬ 
ders eine stark koncentrirtc Auflösung, Bedingungen, die gewöhnlich 
bei der akuten Chloralvergiftung, wo eine heftige Gastritis und Inte¬ 
stinalkatarrh zu den gewöhnlichen Sectionsbefunden gehören, gegeben 
sind. So auch im einzigen Falle akuter Chloralvergiftung, in dem 
ich zur Obduction Gelegenheit hatte. 

Ein 27jähriger Mann starb plötzlich den 30. Dez. 1886 nachdem er in selbst¬ 
mörderischer Absicht eine ziemlich grosse Portion Chloral in stark koncentrirter 
Auflösung genommen hatte. Wie viel er genommen, konnte man mit Sicherheit 
nicht auf klären; cs fand sich aber im Zimmer eine leere Schachtel, die, der 
Signatur nach 50 g Chloralhydrat enthalten hatte. Wahrscheinlich war das 
Chloral in Wein aufgelöst eingenommen, da sich auf dem Tische im Zimmer ein 
geleertes Woinglas fand. Totaler Rigor war jedenfalls */, Stunde nach dem Tode 
eingetreten. 

Die Section (31. Dez. 1886, 26 St. p. m.) zeigte den Unterleib betreffend 
Folgendes: Bei der Eröffnung des Abdomen spürte man einen eigenthümlichen 
aromatischen Geruch. Der Magen war mit einer reichlichen Menge graulichen 
Breies gefüllt, der auch den obersten Theil der dünnen Gedärme füllte, während 
die Masse weiter abwärts von einer bräunlicheren Farbe war. Die Schleimhaut 
des Ventrikel war dunkel ohokoladenfarbig; das Gewebe beinahe flüssig. Im 
oberen Theile des Darmkanals war das Verhältnis ein ähnliches; die Röthe ver¬ 
lor sich nach und nach abwärts, während die Schleimhaut im ganzen Dünndarme 
von der Muscularis sich leicht abschaben Hess. — Die Leber zeigte eine leicht 
grauliche Farbe. Die Nieren cyanotisch ohne Ecchymosen. — Bei der chemischen 
Untersuchung des Mageninhalts wies man grosse Mengen von Chloral nach. 

Bei der chronischen Chloralvergiftung aber, wo das Gift in suc- 
cessiven kleinen Dosen und gewöhnlich in stark verdünnter Auf¬ 
lösung eingenommen wird, ist es nicht glaublich, dass der Reiz so 
stark sei, dass dadurch ein Gastroduodenalkatarrh, der einen Ver¬ 
schluss der Gallenwege verursachte, entstehen kann. Und wenn zur 
Vertheidigung für den Glauben an einen Gastroduodenalkatarrh 
Ogston’s 1 ) Fall angeführt wird, wo sich bei der Section eines an 
Chloralgebrauch gewöhnten Individuums eine hämorrhagische Gastritis 
sammt Fettdegeneration der Leber und Nieren fanden, so kann man 
dem chronischen Chloralgebrauch diese hämorrhagische Gastritis nicht 
ohne weiteres zuschreiben, da der Betreffende plötzlich gestorben 
war, nachdem er ohne die Verordnung des Arztes eine Dosis Chloral 


1) A case of poisoning by chloralhydrate, introducing a now fest, 
med. Journ. 1878, Octbr. p. 289. 


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19* 


Edinb. 


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Dr. Geill, 


„unbekannter“ Grösse eingenommen hatte. Lewin’s Theorie von 
einem durch chronischen Chloralgebrauch verursachten Gastro-duodc- 
nalkatarrh und einem dadurch bewirkten Icterus, als Resultat 
der direct reizenden Wirkung des Chlorals auf die Schleimhaut, 
scheint daher absolut unhaltbar. Ansprechender ist Arndt’s Theorie 
von der indirecten Wirkung des Chlorals auf die betreffenden Schleim¬ 
häute durch eine Vasoparalyse. Wenn man aber auch die in seinem 
zweiten Falle nachgewiesene heftige Gastritis als absolut abhängig 
von dem eingenommenen Chloral anerkennt, so ist doch die überaus 
geringe vasomotorische Widerstandskraft der Paralytiker und ihr 
grosser Hang zu trophischen Leiden zu bedenken. Da ausgebreiteter 
gangränöser Decubitus während des Chloralgebrauchs oder sogar ohne 
denselben sich beinahe im Verlaufe einiger Stunden bei Paralytikern 
entwickeln kann, ist eine dem Hautleiden und der Affection der 
sichtbaren Schleimhäute entsprechende Läsion der Schleimhaut des 
Magens und des Darmes sowie auch der andern Schleimhäute durch¬ 
aus plausibel. Die in unserm Falle gefundene ausgebildete Vesikel¬ 
bildung der Urinwege muss man wohl der gleichen Ursache zu¬ 
schreiben. Ferner muss man sagen, dass, da die Section in Arndt’s 
ersten Falle fehlt, die Abhängigkeit des hier gefundenen Icterus von 
einem Duodenalkatarrh in jedem Falle nicht bewiesen ist. Arndt’s 
Hypothese der Pathogenese des Icterus bei der chronischen Chloral- 
vergiftung ist danach ebenso wie Lewin’s unsicher, zumal wenn 
man berücksichtigt, dass sich in den zwei einzigen Fällen von Icterus 
durch Chloralgebrauch, wo eine Section stattfand (Pelm an’s Fall 
und unserem) gar kein Anhaltspunkt für die Annahme eines Ueber- 
gangs der Galle ins Blut wegen eines mechanischen Verschlusses der 
Einmündung des Gallengangs in den Darm fand. 1 ) 

1) Es lässt sich überhaupt nicht bezweifeln, dass man bei Intoxikationen zu 
geneigt ist einem vermutheten Darmkatarrh mit mechanischem Verschluss des 
Gallenganges Bedeutung für die Entstehung von Icterus beizulegen. Ich möchte 
z. B. darauf aufmerksam machen, dass man nie Icterus durch Vergiftung per os 
mit Karbolsäure gesehen hat, deren Fähigkeit zur Verursachung heftiger katar¬ 
rhalischer Entzündung des Duodenum unbestritten ist, während 3 Fälle von 
Icterus bei Vergiftung mit Karbolsäure vorliegen, durch die Einführung des 
Gifts von anderen Wegen als dem des Digestionkanals verursacht. Dass der 
Icterus in zwei dieser Fälle (v. Sydow, Brunn) nach dem Verband der Nabel¬ 
gegendneugeborener Kinder mit Karbolöl, beziehungsweise Karbolsäure, im dritten 
(Ozennc) nach der Injektion einer Carbollösung von 5pCt. in einen Congestions- 
abscess des Beckens entstanden war, leitet darauf, dass Icterus durch die directe Ein- 


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Kin seltener Fall von chronischer Chloralvcrgiflung. 


283 


Man kann auch nicht sagen, dass Pelm an’s Theorie der Ent¬ 
stehung von Icterus durch eine von dem Chloral verursachte primäre 
Blutdissolution bewiesen ist. Kirn 1 ) meint zwar auch dem Chloral 
die Fähigkeit „eine entschiedene Alteration der Blutmischung zu be¬ 
wirken“ beilegen zu müssen und führt — wie Pelm an — zur Stütze 
dieser Annahme die Fähigkeit des Chloral Petechien, und bei lange 
dauerndem Gebrauch Marasmus zu verursachen an. Einwenden muss 
man jedoch, dass die Petechien, die das gewöhnliche papulöse Chlo¬ 
ralexanthem begleiten können und die zuerst von Crichton Browne 2 ) 
und Monckton 3 ) beschrieben, später aber als ein ziemlich häufiges 
Phänomen der chronischen Chloralvergiftung erkannt worden sind, 
ebenso wenig wie die von Anderen beobachteten Transudate in die 
serösen Höhlen, die Excoriationen der Mundschleimhaut und die 
starke Eczembildung der Haut mit nachfolgender Entwicklung von 
Abcessen an den Extremitäten, — was Kirn in einem Falle sah 
und als Beweis seiner und Pelm an’s Theorie anführt — absolut 
eine Blutdissolution beweisen: Der Umstand, dass die Petechien 
immer die Begleiter eines nicht hämorrhagischen Chloralexanthems sind, 
scheint vielmehr zu dem Glauben zu berechtigen, dass auch die Pe¬ 
techien ihre Ursache in einer durch die Einwirkung des Chloral auf 
das vasomotorische Centrum bewirkten Gefässparalyse haben und durch 
ein Bersten der Gefässwand entstehen, aber nicht von einer krank¬ 
haften Veränderung in der Zusammensetzung des Bluts bedingt sind. 
Die Oedeme und die übrigen serösen Ausschwitzungen lassen sich 
durch die Fähigkeit des Chloral, Herzschwäche zu verursachen, er¬ 
klären; und die cczematösen und ulcerativen Processe der Haut und 
der Schleimhäute muss man so wie die von Kirn beobachte Abscess- 
bildung sicher betrachten als sekundär entstanden durch von aussen 
einwirkende Schädlichkeiten (Infection), die sich an die nervös be¬ 
dingte primäre Hauteruption angeschlossen haben. Sollte man sich 
unbedingt an Pelman’s und Kirn’s Theorie von der directen Wir- 


wirkung des Gifts auf die Leber bei seiner Absorption durch die Pfortaderzweige 
verursacht sein kann. (cfr. Christian Geill, Kliniskc Studier over den akutter 
Karbolsyreforgiftning. 1887. p. 135.) 

1) Ueber chronische Intoxication durch Chloralhydrat. Allg. Zeitschr. f. 
Psych. Bd. 29. S. 323. 1873. 

2) Chloralhydrate, its inconveniences and dangers. Lancet 1871. Vol. I. 
p. 440. 

3) Lancet. 1871. 


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284 


Dr. GeiII, 

kung des Chlorals auf das Blut anscldicssen, so müssten jedenfalls 
mehr Stützpunkte als die von den Verfassern angeführten vorliegen, 
spec.iell Blut- und Urinuntersuchungen; solche finden sich aber nicht. 
Insofern hat Lcwin Recht, wenn er schreibt. 1 ) „Die angenommene 
Blutdissolution ist nicht nachgewiesen worden und die in einem 
solchen Fall aufgefundenen Ecchymoscn in allen serösen Häuten und 
die hämorrhagische Pachymeningitis lassen noch eine andere Deutung 
zu. u Dass das Chloral indessen im Stande ist —- wenn nicht pri¬ 
mär, so doch secundär — auf das Blut einzuwirken, scheint unser 
Fall zu zeigen, obgleich sich in der Literatur nichts Entsprechendes 
findet. Im ganzen sind die darin vorliegenden Berichte über den bei 
chronischer Chloralvergiftung nachgewiesenen Obductionsfund so un¬ 
vollständig und wenig detaillirt, und die angegebenen Veränderungen 
selbst so unbestimmt, dass sich auf diese weder eine Theorie von 
der Pathogenese der chronischen Chloralvergiftung im Allgemeinen, 
noch von der des selten Vorgefundenen Icterus insbesondere konstru- 
iren lässt. In unserm Falle muss man ohne Zweifel den Uebergang 
des Gallenfarbstoffs ins Blut und den dadurch verursachten starken 
Icterus der Vorgefundenen heftigen akuten Degeneration der Leber 
zuschreiben, und wenn man mit Robert daran festhält, dass die 
wichtigste Umbildung des Chlorals innerhalb des Organismus in der 
Leber vorgeht, scheint es natürlich anzunehmen, dass die gefundene 
Degeneration, die nicht — jedenfalls nicht allein — von der wahr¬ 
scheinlich durch das Chloral verursachten gleichzeitigen Cyanose 
stammen konnte, durch die direkte Wirkung des Gifts auf die Leber¬ 
zellen primär verursacht ist. 

Etwas der in unscrin Fall gefundenen Leberdegeneration Ent¬ 
sprechendes liegt noch nicht in der Literatur vor. Robert 2 ) giebt 
zwar im Allgemeinen an, dass degencrativc anatomische Verände¬ 
rungen der Leber, sowie auch des Herzens und der Nieren bei der 
subacutcn und chronischen Chloralvergiftung selten fehlen, hat aber 
nichts Näheres darüber angegeben. Ausser Ogston’s Fall (ohne 
Icterus), wo bei der Section Fettdegeneration der Leber nachgewiesen 
wurde und Pelman’s Fall (mit Icterus), wo die Leber sich fest, 
trocken, wenig blutreich, beinahe lederartig hart, aber nicht gelb und 


1) Nebenwirkungen. S. 1(>6. 

2) Lehrbuch der Intoxicationen. Stuttgart 1893. S. 587. 


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Ein seltener Fall von chronischer Chloralvergiftung. 


285 


ohne Gallenpunkte fand, giebt es nur eine Mittheilung von Leber- 
affection durch chronische Chloralvergiftung von Gellhorn 1 ). 

Dieser fand (Fall 12) bei einer 46jährigen Maniaca, die vom Nov. 1869 bis 
ein paar Monate vor ihrem Tode (4. April 1871) jeden Abend 4—7 g Choral be¬ 
kommen hatte, und die Marasmus mit Darchfall, Oedem der Füsse etc. und zu¬ 
letzt Ascites bekam, bei der Section ausser seröser Flüssigkeit in Pleura, Peri- 
kardium und Peritoneum zugleich, dass die Leber klein, fest, von gelblicher Farbe 
war, mit beinahe vollständigem Verschwinden der acinösen Zeichnung. Ferner 
(Fall 13), bei einen 58jährigen Mann (vielleicht Potator) mit Demenz und Ver¬ 
wirrtheit, der vom Okt. 1870 bis zu seinem Tode (18. Sept. 1871) jeden Abend 
erst 4 später 3 g Chloral bekam, und der an Lungenoedem mit häufigem Durch¬ 
fall starb, bei der Section die Leber kaum vergrössert, Parenchym bleich, von 
gelblicher Farbe (Fettleber), Gallenblase leer; das Parenchym der Nieren war 
blass und gelb, fettdegenerirt. Die in beiden Fällen gefundene Fettdegeneration 
der Leber, die im ersteren Falle von Loberatrophie begleitet war, meint Gell¬ 
horn dem Chloral zuschreiben zu müssen, was ja vielleicht auch berechtigt ist. 
Später hat Gellhorn 2 ) überdies einen Fall mitgetheilt (Fall 5), wo ein ziem¬ 
lich debiles, weibliches Individuum mit tabetischer Dementia paralytica, das von 
Jugend an an Necrose der Ulna litt, nachdem sie einen Monat jeden Abend 2 bis 
3 g Chloral gebraucht hatte, ein scarlatinöses Exanthem sammt allgemeinem 
Anasarca bekam, das jedoch besonders die Schenkel betraf, die erythematös roth 
waren. Dies schwand schnell unter starker Abschuppung, als der Chloral aus- 
gesetzt wurde. Nach 14 Tagen fing sie wieder mit Chloral an und bekam nach 
dem Gebrauch von 4 Tagen wieder Exanthem und Oedem, die schnell nach dem 
Aufhören des Chlorais schwanden. Das dritte Mal erschien ein Exanthem nach 
2 Mal 2 g Chloral mit Zwischenräumen von anderhalb Stunden. Endlich erschien, 
als sie drei Abende nach einander 2 g Chloral bekommen hatte, das vierte Mal 
ein Exanthem, das mit Petechien stark gemischt, ausser Oedem von starkem 
Durchfall begleitet war, und nach dem Verlaufe von 8 Tagen mit dem Tode 
endigte. Die Obduction zeigte Anasarca und Ascites, Ecchymosen unter dem 
Ependym der Gehimventrikel und in der Magenschleimhaut, Hyperämie und 
Schwellung der Schleimhaut im Dickdarme. Die Klappen im 1. Herzen waren 
verdickt; die Aorta stark atheromatös degenerirt, die Leber in allen Dimen¬ 
sionen verkleinert, aber mit ziemlich deutlich acinöser Zeichnung. Stein in der 
Gallenblase. 

Gellhorn’s Fälle stammen jedoch aus den ersten Jahren des 
Chloral, wo man es in weit grösseren Dosen und rücksichtsloser durch 
lange Zeiten gebrauchte, ohne das somatische Befinden der betreffen¬ 
den Patienten besonders zu berücksichtigen oder wenigstens ohne 
rechten Glauben daran, dass das Chloral im Stande sei, Störungen in 

1) Beobachtungen über Chloralhydrat. Allgem. Zeitschr. f. Psych. Bd. 28. 
S. 625. 1872. 

2) Ueber Hautexanthem nach dem Gebrauch von Chloralhydrat. Allgem. 
Zeitschr. f. Psych. Bd. 29. S. 428. 1873. 


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28(> Dr. Gei 11, Ein seltener Fall von chronischer Chloralvergiftung. 

diesem zu bewirken. So wird es wahrscheinlich schwierig sein, jetzt 
analoge Fälle zu finden, nachdem es schon längst klar geworden ist, 
dass das Chloral kein ganz ungefährliches Hypnoticum ist. Wenn 
man Gellhorn’s Fälle mit Ogston’s zusammenhält, bei denen die 
Aetiologie übrigens etwas dunkel ist, darf man die Fähigkeit des 
Chloral, während längeren Gebrauches Fettdegeneration der Leber und 
Nieren zu verursachen, jedenfalls nicht absolut leugnen. Die Wirkung 
des Chloral auf das Blut wird dann aber auch hier verschieden von 
der Blutdissolution, die Pelm an behauptet, und der „entschiedenen 
Alteration der Blutmischung“, an die Kirn glaubt. 

Ueberdies scheint es aus den in der Literatur vorliegenden 
Fällen chronischer Chloralvergiftung hervorzugehen, dass so wenig wie 
ein hier entstandener Icterus immer von Exanthem begleitet wird, 
ebenso wenig man eine Leberaffection nachweisen kann — oder je¬ 
denfalls nachgewiesen hat — w r o Icterus erscheint. Und bei den 
durch die Obduction sichcrgestelltcn Fällen von Leberaffection ist 
nicht immer bei Lebzeiten Icterus da gewesen. Bei den best unter¬ 
suchten Fällen hat es sich aber hier um Fettdegeneration der Leber 
gehandelt, einen Prozess, der ja von dem in unserm Falle nachgc- 
wiesenen starken Dcgencrationsprocess weit verschieden ist. Zur 
Deutung der Leberaffection in unserem Falle giebt darum, was Gell¬ 
horn und die andern Verfasser gefunden haben, keine Hilfe. Und 
vorläufig kann man nur auf die Möglichkeit hinweisen, dass der 
Icterus, welcher durch die chronische Chloralvergiftung verursacht ist, 
jedenfalls von einer acuten Leberdegeneration resultiren kann. Es 
sind dann das Erscheinen des Exanthems und die Entstehung des 
Icterus in unserm Falle von zwei verschiedenen Wirkungsarten des 
Chloral verursacht: die erstere ist die gewöhnliche vasoparalytische 
Wirkung des Chloral, die letztere eine selten auftretende Fähigkeit — 
vielleicht unter Mitwirkung einer präexistirenden oder durch die va- 
soparalytische Wirkung des Chloral entstandenen Cyanose — direct 
auf die Leber einzuwirken und, durch eine Verwüstung des Leber¬ 
gewebes, das Blut mit Gallenbestandtheilen zu überfüllen. 


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9. 


Ueber die Ycrtheilimg einiger Gifte im 
menschlichen Körper. 

Von 

Professor A. Lesser in Breslau. 


Während die Literatur in Bezug auf die Symptomatologie und 
die anatomischen Veränderungen der menschlichen Vergiftungen eine 
ausserordentlich umfangreiche ist, liegt meines Erachtens ein einiger- 
massen genügendes Material über die Ergebnisse der chemischen 
Untersuchungen dieser nicht vor. Ein nicht unerheblicher Theil des 
letzteren rührt zudem von Beobachtern her, die diesen Zweig der 
Chemie nur gelegentlich und ausnahmsweise traktirt haben, ein an¬ 
derer Theil betrifft in anamnestischer oder klinischer oder — so weit 
dies von Bedeutung — in anatomischer Beziehung mehr oder minder 
unaufgeklärte Beobachtungen, eine dritte Serie umfasst nur Raritäten, 
in einer vierten Gruppe ist die Zusammensetzung der analysirten 
Objecte eine wenig glückliche gewesen etc. etc., so dass die Ver¬ 
wendbarkeit der Erfahrungen bei Beurtheilung eines gerichtlichen 
Einzelfalles nicht selten eine zu beschränkte oder gar gleich Null ist. 

Seit Längerem habe ich die Ergebnisse der chemischen Unter¬ 
suchungen der in meinen Beobachtungskreis gefallenen (mensch¬ 
lichen) Intoxicationen gesammelt. Herr Dr. C. Bischoff-Berlin hat 
die grosse Güte gehabt, eine beträchtliche Anzahl derartiger Analysen 
auch privatim, d. h. ohne Auftrag der Kgl. Gerichtsbehörden, auf 
meine Bitte auszuführen; durch seine Freundlichkeit wie durch die 
des Herrn Dr. B. Fisch er-Breslau ist es mir ferner ermöglicht 
worden, Kenntniss einer nicht ganz kleinen Zahl von Vergiftungen zu 
erhalten, die in anderen Bezirken als in Berlin oder Breslau auf Ver¬ 
anlassung der Kgl. Staatsanwaltschaften untersucht und in Betreff der 
anamnestischen etc. Daten so vollständig geklärt worden waren, dass 


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288 


Prof. besser, 


es anging, sie mit den brauchbaren Beobachtungen eigener Erfah¬ 
rung in Beziehung zu setzen; die Kgl. Staatsanwaltschaften haben 
mir auf mein Ersuchen mit der grössten Bereitwilligkeit die betreffen¬ 
den Acten übermittelt, die zuständigen Herren Collegen 1 ) mit nicht 
geringerer Liebenswürdigkeit die Publikationsbefugniss ertheilt; etwa 
ein Drittel des Materials ist mir so zugänglich geworden. — Ich 
gestatte mir auch hier für diese Unterstützung meiner Bestrebungen 
den verbindlichsten Dank auszusprechen. 

231 Beobachtungen liegen dem Folgenden zu Grunde: 

Es gehören zur Lehre von der Vergiftung 

mit Arsenik.Fall 1— 48 (Fall 49 ist 

. eine Arsen Wasserstoffvergiftung), 


n 

v 

n 

n 

n 

n 

n 


Alkohol. 

7) 

50— 83 

Opium und der mit Morphium . . 

7) 

84—105 

Phosphor . . 

n 

106—122 

Strychnin . 

7) 

123—136 

Carbolsäure. 

7) 

137—149 

chlorsaurem Kalium. 

7 ) 

150—161 

Cyankalium und der mit Blausäure 

7? 

162—171 (172 und 173 


sind Intoxicationen mit blausäurehaltigem Bittermandelöl, 174 
ist eine Nitrobenzol-Vergiftung), 


1) Es sind dies die Herren Adamkiewitsch-Rawitsch, Behrend-Sagan, 
Behren d e s - Friedeberg, Beyer-Lübben, Bleyer-Elbing, Bl ei sch-Strehlen, 
Bittner-Stargardi.P., Böhm-Magdeburg, Bricdenhahn-Ballenstädt, Casper- 
Greiffenberg, Comnik-Striegau, Davidsohn-Spremberg, Deutschheim-Herz- 
berg, Falk-Berlin, Freyer-Stettin, Friedländer-Lublinitz, Gerlach-Cüstrin, 
Gottwalt-Torgau, Grosser-Neumarkt, Grossmann-Freienwalde, Hcer-Beu- 
then, Heyse-Rathenow, Hoffmann-Glogau, Jaenicke-Templin, Kraft-Rum¬ 
melsburg, Kutzner-Thorn, Lewicke-Stuhm, Liedtke-Neustettin, Lindner- 
Angcrmündc, Litterski-Wirsitz, Loewenhardt-Crossen, Loewy-Guben, Lud¬ 
wig- Ilabelschwerdt, Meissner-Strassburg W. P., Moritz-Schlochau, Mulert- 
Stolp, Neumann-Glogau, Nöldechon-Lauban, Noetzel-Colberg, Otto-Neu- 
rode, Ortmann-Rybnik, Peters-Angerburg, Philipp-Kyritz, Priester-Tuchel, 
Ratzel-Arnswalde, Rothe-Gurau, Rothschild-Drossen, Siehe-Calau, Si¬ 
mon-Quedlinburg, Schirm er-Grünberg, Schlockow-Breslau, Schmandt- 
Guhrau, Schultze-Stettin,Tessmar-Conitz,Tellke-Züllichow, Weissenborn- 
Zielenzig, Wiedemann-Neuruppin, Wilde-Deutsch-Krone, Winkler-Luckau, 
Wolff-Berlin, Wolf-Arnswalde, Wolff-Löbau. (Die Zahl der von mir durch¬ 
gesehenen Akten dürfte sich auf ca. 600 belaufen: im Durchschnitt war eine von 
drei Beobachtungen verwendbar. — Einen kleinen Theil der Fälle habe ich be¬ 
reits in meinem „Atlas der gerichtlichen Medicin“ veröffentlicht.) 


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lieber die Verthcilung einiger Gifte im menschlichen Körper. 


289 


mit Chloroform.Fall 175—186 (185b ist ein 

Todesfall in oder nach Bromäthylnarcose), 

„ Zuckersäure bezw. Kleesalz . . . Fall 187—196 

„ Schwefelsäure.„ 197—209 

„ Salzsäure.. 210—213 

„ salpetriger Säure.„ 214 

„ Natronlauge.„ 215—216 

„ Ammoniak. «217 (218 betrifft 

einen auffallend grossen Ammoniak-Befund in Folge von Fäulniss), 

„ Sublimat.Fall 219—220 

„ Blei.„ 221—222 

„ Pilzen.„ 223 - 224 

Ausserdem werde ich je einen Fall von Vergiftung mit Anti¬ 
mon, Salpeter und Rhodankalium, Wasserschierling, Datura Strammonii, 
Nicotin, Petroleum bringen. 

Trotz seines Umfanges regt dieses Material mehr Fragen an, 
als es löst: Fragen, die zum Theil und zwar unschwer auf experi¬ 
mentellem Wege, zum anderen Theil durch weitere Beobachtungen 
und Untersuchungen menschlicher Vergiftungen ihrer Entscheidung zu¬ 
zuführen sind. Da ich aber zur Zeit nicht in der Lage bin, derartige 
Versuche anzustellen, da ferner das von mir Gesammelte schon jetzt 
nicht leicht zu üborblicken ist, so halte ich es für zweckmässig, 
seine Veröffentlichung nicht weiter hinauszuschieben. 

Ich bin auf das Aeusscrste bemüht gewesen, die Darstellung der 
Beobachtungen möglichst kurz zu fassen; sic nimmt trotzdem einen 
so grossen Raum ein, dass ich erst später die Erfahrungen An¬ 
derer mit dem von mir Beigebrachten vergleichen werde. 

Herr Dr. C. Bischoff-Berlin und Herr Dr. B. Fischer-Breslau 
haben mir zugesagt, über die von ihnen befolgten Methoden der Ana¬ 
lyse in dieser Zeitschrift zu berichten, so dass ich mich vollständig 
auf das Medicinisch-Interessante beschränken kann. 1 ) 

Es erscheint mir sehr wünschenswerth, dass fernere Sammel¬ 
forschungen ähnlicher Art ein zureichenderes Material zur Verfügung 
stellen, damit wir wenigstens für die im Körper nicht zersetzlichen Gifte 


1) Die von Herrn Dr. C. Bisch off ausgeführten Analysen sind in den Ta¬ 
bellen dadurch gekennzeichnet, dass unter die fortlaufende No. ein B. gesetzt 
ist; die Untersuchungen des Herrn Dr. B. Fischer weisen an der nämlichen 
Stelle ein F. auf; die Namen der andern Herren Chemiker haben am analogen 
Ort ihren Platz erhalten. 


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290 


Prof. Besser, 

eine gesicherte Anschauung über ihre Vertheilung in den verschiedenen 
Organen je nach der Länge der Intoxicationen etc. gewinnen. Ich halte 
es für sehr wohl möglich, dass sich alsdann eine Tabelle aufstellen lässt., 
deren Zahlen mitverwerthbar sind für die Entscheidung der in so man¬ 
chen Giftmordfällen wesentlichen Frage: zu welcher Zeit ist die Noxe 
eingeführt worden?, trotzdem ja der Giftgehalt der Organe in Moment 
des Todes nicht stets dem gleich zu erachten sein wird, den der Ana¬ 
lytiker ermittelt. Leider fehlen quantitative Feststellungen über die 
Wirkungen der postmortalen Giftdiffusion vom Orte der Einführung aus 1 ) 
noch vollständig. Es ist ferner nicht ausser Erwägung zu lassen, dass 
abgesehen von jener noch andere Momente und zwar vornehmlich in 
späterer Zeit nach dem Ableben nicht nur den absoluten, sondern 
auch den relativen Giftgehalt der Organe verändern (z. B. colliquative 
Processe, Eintrocknung etc.): Modificationcn, deren Grenzwerthe eben¬ 
falls noch vollkommen unbekannt sind. 

Am Brauchbarsten sind Untersuchungen, die jedes der Organe 
bezw. jedes zusammengehörende Paar derselben gesonderten Analysen 
unterzogen haben; leider stellen sich diesem Vorgehen in der Mehr¬ 
zahl der Fälle unüberwindliche Schwierigkeiten seitens der Chemiker 
und mitunter auch seitens der Gerichte entgegen. Unter den gegebenen 
Verhältnissen erscheint cs mir am Zweckmässigsten, I. den Verdauungs- 
Kanal und seinen Inhalt (reichliche Kothmassen machen die Asservirung 
des Dickdarms und seines Inhalts in einem zweiten Gefässe wünschens¬ 
wert!^, II. die Leber, 111. die Nieren, IV. Blut aus dem Herzen und 
den grossen Rumpfgefässcn getrennt dem Chemiker zuzusenden; in 
manchen Fällen empfiehlt sich -- siehe später — auch die Asservi¬ 
rung des Hirns. V. ist Urin, wenn möglich, zu untersuchen. Be¬ 
liebig kleine Stücke der Organe, wie das so oft geschieht, dem Ana¬ 
lytiker zu überweisen, ist verfehlt. 

Nicht selten gelangen die Leichentheile erst viele Tage oder gar 
Wochen nach der Section in das chemische Laboratorium; es ist, um 
dies zu vermeiden, genügend, aber auch in jedem Einzelfalle geboten, 
am Schlüsse des Sectionsprotokolls auf die störenden Wirkungen der 
Fäulniss aufmerksam zu machen und zu beantragen, dass die Asser¬ 
vate schleunigst an den Analytiker gesandt werden mögen. 

Dass ich die im Preussischen Regulativ von 1875 vorgeschrie- 

1) Auch Fr. Strassmann und A. Kirstein, Virchow’s Archiv. Bd. 136. 
S. 127, und A. Haberda und A. Wachholz, Zeitschr. f. Medic.-Beamte. 1893. 
S. 393, haben hierauf ihre Untersuchungen nicht ausgedehnt. 


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Uober die Veitheilung einiger Gifte im menschlichen Körper. 2‘Jl 

bene Scctions - Methode bei Verdacht auf Vergiftung nicht für die 
beste halte, habe ich schon 1883 in dem I. Theile meines „Atlas 
der gerichtlichen Medicin“ ausgeführt. Nach jener Bestimmung geht 
es nicht an, die etwaigen Läsionen des Verdauungskanals in mög¬ 
lichster Continuität zu überblicken, nach ihr kann man sich nicht, 
über das Verhalten des Endtheils des Gallenganges orientiren, es ist 
unstatthaft, den Mageninhalt vor der Herausnahme des Organs in Sicher¬ 
heit zu bringen, eine Vorsicht, die nicht selten durch die Zerreisslich- 
keit der Wand geboten ist. Die zuerst ausgeführte Bauchsection lässt 
häufig so viel Blut in die Leiche fliessen, dass es nicht möglich ist, 
die zur chemischen Analyse erforderliche Menge rein aufzufangen; die 
Herausnahme der Bauchorgane fällt endlich vielen Sccirenden vor der 
Entfernung der Lungen und des Herzens erheblich schwerer, wie nach 
jener, so dass der Inhalt des Verdauungskanals gefährdeter ist, als in 
der That nothwendig. 

Handelt es sich um eine frische Leiche, so ist es meines Er¬ 
achtens zweckmässig mit der Section der Brusthöhle zu beginnen; 
ist die Magenwand erweicht, so empfehle ich nach Eröffnung des 
Rumpfes den Inhalt des Magens und des Zwölffingerdarms durch 
einen Einschnitt an der grossen Krümmung aufzufangen, nachdem das 
Duodenum im oberen Dritttheil doppelt unterbunden, und die Section 
der Brusthöhle der des Bauches voranzuschicken. Ist der Magenin¬ 
halt ganz oder zum Theil schon in den Peritonealsack geflossen, so 
ist natürlich seine Asservirung das Erste, was nach Durchtrennung 
der Bauchdecken vorzunehmen ist. — Das Gallengangende kann man 
untersuchen, nachdem ev. der Inhalt der Pars descendens duodeni durch 
sanftes Streichen in das untere Dritttheil desselben geschoben und 
dies durch Ligatur nach oben abgeschlossen worden ist. 

Bei Sectionen (vermuthlich) Vergifteter ist die Anwendung von 
Wasser im Interesse der chemischen Untersuchung möglichst zu ver¬ 
meiden. Man kann fast stets trocken seciren, wenn man mit Sorg¬ 
falt und Vorsicht die für die anatomische Diagnose wichtigen Flächen 
sei es mittelst der Finger, sei es mit der Schneide des Messers von den 
ihnen anhaftenden Flüssigkeiten befreit; es sind so fast immer 
sämmtliche Veränderungen der Gewebe zur Anschauung zu bringen. 
Auf diese Weise ist es allein zu erreichen, dass möglichst wenig von dem 
in den Leichentheilen enthaltenen Gift verloren geht, dass ferner dasselbe 
in dem nämlichen Aggregatzustande in die Hand des Chemikers ge¬ 
langt, in dem es post mortem in den Organen vorhanden war. 


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292 


Prof. besser, 


Die Praxis lässt mich endlich noch darauf hinweisen, dass es 
rationell ist, jedes Organ nach seiner Betrachtung sofort in das be¬ 
treffende Glas zu legen, so dass eine Berührung mit nicht in dem näm- 


1. Zur Lehre Yon der 


Die Zahlen in der linken Hälfte der Vierecke geben die Gewichtsmengen 
* » » » rechten „ „ „ „ * Quantitäten der 

„ „ „ „ Mitte unten den Arsenikgehalt in 100 Grammen des 



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UMIVERSITY OF IOWA 








Ucber die Verkeilung einiger Gifte irn menschlichen Körper. 


liehen öefässe zu asservirenden Thcilcn ausgeschlossen wird; dass die 
Unterlage, auf welcher die Organe aufgeschnitten werden, nach der 
Durchforschung jedes einzelnen exact zu reinigen ist, dürfte auch nicht 
allerseits stets beobachtet sein. 


Arsenik-Vergiftung. 

der untersuchten Organe bezw. der Organtheile in Grammen an, 
gefundenen arsenigen Säure in Milligrammen, 

Organs oder der Organtheile in Milligrammen. 



Gebär¬ 

4 

P 

Gehirn. 



mutter. 




li S 


einmalige Einführung von Arsenik. 


630 1,28 2fiO 8,06 

0,803 1,53 


1115 11,4 

1,022 


Gesäss- 

UDer- 


Darm und 


schenkel- 

'2 s ^ »5 


muskeln. 

knochen. 

•1 §3 Scnö 

Inhalt. 


15 Spur 


r 350 297,0 

430 2,17 360 1,48 550 1202,8 1616 163,2 

0,504 I 0,443 

Knochen v. 

Hand und 
Fuss und 
Kopfhaare: 

I Spur. 

213 5,4 562 4,2 467 1538,8 1102 216,1 

2,535 0,747 

"339^284,0 


1300 keine 
Spur 


380 334,0 
160 30,0 
780 224,9 

600 310,8 1100 23,5 
600 9,42 

165 7,82 


460 23,0 

388 ^ 1 ^ 50 ' 


Digitized fr, 


Google 


380 0,272 

-{-Milz 

Original from 

UNiVERSITY OF IOWA 








254 



Geschlecht. 

Alter. 

1 

Tod nach 




Mäd¬ 

chen 

5 '/ 2 J- 

14 St. 

Frau 

40 J. 

14 St. 

Mäd¬ 

chen 

2 »/ 4 J. 

14 St. 

Mann 

36 J. 

12—16 

St. 

do. 

32 J. 

17 St. 

Frau 

21 J. 

18 St. 

Mann 

25 J. 

18 St. 

do. 

c, 70 J. 

c. 18 St. 

Mäd¬ 

chen 

22 J. 

18V, 

St. 

Mann 

50 J. 

1872 

St. 

Frau 

34 J. 

20 St. 

Mann 

59 J. 

20—21 

St. 

do. 

36 J. 

24 St. 

do. 

50 J. 

38 St. 

Frau 

46 J. 

42 St. 

Mann 

37 J. 

24—48 

St. 



Leber. Nieren. ' Milz. Herz. 


Blut aus 

dem Lungen. 
Herzen. 


ISO Spur 


769 54,6 


7,3 


87^1,96 


6,8 


403 V 5,2 

AS 2 O 3 

3,0 

CuO 

1,3 


4,81135 4,94 

1240 


3,512 | 4,285 | 3,659 | 0,825 | 2,070 0,455 


240 10,14 

4,23 


375 15,1 

4,03 


17 (eingetrocknet) ca. 0,941 


5,318 16,22 16,38 9,252 14,84 

170 Spur 
147^22,7 


490 11,13 
2,271 


4,374 1,686 10,61 1,317 2,271 

32 21,2 264 3,83 77 0,89 298 2,67 120 0,49 480 2 

2,896 1,450 1,155 0,895 0,408 0,462 

67 deutl. Spuren 

27tT'“"£Ö 

In Baucheingeweidcn 
570 98,8 


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UNIVERSI1T OF IOWA 








Ueber die Vertheilung einiger Gifte im menschlichen Körper. 


295 


Gehirn. 


Gebär¬ 

mutter. 


565 1,98 

0,850 


XI 

O 

5 <iT • 
« 3-g 

■4J :cä 

■sa 2 


o 

P 


Galle. 


Urin. 


Gesäss- 

muskeln. 


Ober¬ 

schenkel¬ 

knochen. 


<D :o 

»H Je 

jq pg 
so N 

Ö fl 

• 2 b£ 
® rt 

CO ^ 


§75 

o3 *G 
-T3 G 

u ' 

O) 

b0T3 
P fl 
«G P 


Darm und 
Inhalt. 


V, Monat. 


672 Spur 


[580 0,99 

0,18 

675 1,23 

0,197 


+ Haare 
und Haut 
580 deutl. 
Spur. 


365 20,8 

5,698 


265 23,0 

8,679 


275 2 

rfl 

ü 

53 


10,0 0,82 
3,2 

eingc- 3,83 
trock¬ 
net 


Brust¬ 
muskeln 
327 0,99 

0,302 


Gcsiiss- 
muskeln 
310 4,9 

1,58 


Brust¬ 
muskel 
188 624,0 
0,659 


840 11,27 
1,341 


Vierteljsbrsschr. f. ger. Ued. Dritte Folge. XIV. Si. 



964 865,6 
As 2 0 3 
3S4,6CuO 
1447 482,0 


430 168,7 

+ Theil 
Dünndarm 
445 583,8 

99 c.0,894 

einge- 

trockn. 


715 916,5 

320 173,7 

129 117,7 
540 677,6 
93,0 

603 120,3 
390 266,0 


1778 111,2 


1255 179,7 


1060 36,6 
712 23,0 


20 


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UMIVERSITY OF IOWA 



296 


Prof. Lesser, 





Blut aus 

Nieren. 

Milz. 

Herz. 

dem 

Herzen. 


31. Knabe 10 J. 48 St. 6 Tag. I + Haut deutliche Spuren 


32. Frau 30—35 c.50St. 

B. J. 

33. do. 30 J. G2 St. 

99 


13 „ 295 3,22 

2 „ 100 Spu- 100 Nichts 100 Spur 100 Nichts 

ren 


100 Nichts 


34. Knabe 13Mon. 3—4T. 
B. 

35. Mäd- 4 J. 90 St. 
B. chen 


335 0,075 AS 2 O 3 
1,0 CuO 

516 1,2 62,5 2,9 21,5 1,4152,7 1,2 57,3 0,71136 6,2 

0,232 4,64 6,511 | 2,77 1,876 | 4,551 


I b. Tödtlichc Vergiftung durch 


Frau 

37 j. 

2 V* Tg. 

11 Tag. 

do. 

60 J. 

6-7 „ 

6 „ 

Mann 

46 J. 

8-9 „ 

3 „ 

do. 

38 J. 

4 Weh. 

3 V 2 

Monat 

Mann 

40 J. 

5 Tag. 

2 Tag. 

| Mann 

40 J. 


1 Tag | 

Mann 

46 J. 

11 Tag. 

2 Tag. 


160 Spuren 

"siT^ 123'~ 

4q _ 

6,r "~ 

l, J __ 

20,2 ~ 

8,2 


I c. Tod durch Delirium tremens 


+ Theilen 414 Spuren 
des Hirns 
u. d. Dünn¬ 
darms 

Id. Medicinale Verabreichung von Solutio Fowleri; 

780 0,51225 Spur 190 Spur 335 Spur 220 Spur 

0,064 I 

Anhang: Arsenwasserstoff- 

1223 16,0:212 0,27 107 0,661230 Spu- 63 0,34 420 0,2 

1,308 0,127 0,617 ren 0,54 0,05 


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UNiVERSITY OF IOWA 



Ueber die Vertheilung einiger Gifte im menschlichen Körper. 


297 



Gehirn. 


100 Nichts 


7 Nichts; Spuren 

Theil des 
Dünn¬ 
darms -(- 
Inhalt 

400 153,G 120 11.61 
100 Nichts 100 Nichts 100 Nichts 100 Nichts 


1072 4,2 

0,391 

mehrfache Ingestion von Arsenik. 


12-15 Spur 5,5 1,1 70,5 1,0 326 1,5'139 4,01580 17,9 

20,0 1,418 0,459 | 


750 52,1 


306 Spur. 30S Spur. 
1190^294,6 


einige Spu- 
(jramm ren 


Ul Spu-I 


und Arsenik-Vergiftung. 


1207 Nichts 


zuletzt 4 Tage a. m.; Tod im paralytischen Anfall. 
1070 Spu-| III I 


1510 Spur|460 Spu- 


Vergiftung. 

944 0,51 

0,054 


56 0,4 

0,714 


357 0,27 

0.076 
Zwerchfell 
98 1,1 

1,11 


1160 Nichtsl 1323 0,87 


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298 


Prof. Lesser, 

Bemerkenswerthes aus dem Akteninhalt in Bezug auf die äusseren 
Umstände der Fälle, ihre Krankheitsgeschichten, die Sections- 

Ergebnisse etc. 

Ia. Tödtlichc Vergiftung durch einmalige Ingestion 

von Arsenik. 

Fall 1. Selbstmord. In vollständiger Kleidung todt in seinem Bett ge¬ 
funden. Leiche zur Zeit der Section wenig faul; massig kräftiger Bau, mittlerer 
Ernährungszustand. 

Fall 2. Selbstmord. Etwa 1 Stunde nach Einführung des (pulverförmigen) 
Giftes in leeren Magen Bauchschmerzen, — auf Milchgenuss — häufig wiederkeh¬ 
rende Entleerungen nach oben und nach unten. — Leiche zur Zeit der Section ganz 
frisch. Mageninhalt ca. 200 ccm trüber, gelblicher, wässriger Flüssigkeit, Darm¬ 
inhalt ca. 100 ccm gleichen Materials, in beiden Arsenikkrystalle. Im Dickdarm 
geringe Mengen Schleimes. Gastritis acuta catarrhalis haemorrhagica; Enteritis 
acuta catarrhalis mit zahlreichen mucösen Blutungen im Duodenum. Schwache 
parenchymatöse Nephritis. 

Fall 3. Mord. Ein Stück Arsenik, so gross wie das Endglied des Mittel¬ 
fingers, geschabt, einem Wachholderbeeren-Aufguss zugesetzt, mit diesem ge¬ 
kocht. Einführung zur Vesperzeit, bald Eintritt des Durchfalls etc.-Sarg 

gut erhalten, Kleidung zum Theil zerstört, durchweg verfärbt. Weichtheile des 
Kopfes, des Halses, der Gliedmassen fehlen zum grossen Theile. Bauch- und 
Brusthöhle eröffnet. Bauchorgane sind zu sondern. Theile der Weste und der 
Hose — ursprünglich blaues Tuch — gelangten zur chemischen Untersuchung; 
sie rochen kakodylähnlich, waren aber frei von Arsen. Ihr Kupfergehalt (in 
32 ccm 0,0356 g CuO) stammt von der Färbung. 

Fall 4. Zufällige Vergiftung durch mit Arsenik bestreutes Biscuit; Ein¬ 
führung des Giftes bald nach Mittagessen. Beginn des Erbrechens und des 
Durchfalls binnen 1 / 2 Stunde. Anhalten der Entleerungen bis zum Tode. — 
Leiche zur Zeit der Section frisch. Wenig kräftiger Bau, dürftiger Ernährungs¬ 
zustand. Im Magen ca. 300 ccm schmutzig röthlicher, trüber, dünnflüssiger 
Masse, in welcher viel Schleim: Acute Gastritis catarrhalis, nur in 2, etwa 
zweimarkstückgrossen Partien der Hinterwand nahe der kleinen Krümmung Gruppen 
meist punktförmiger Blutaustritte. Im Dünndarm eine reichliche Menge trüben, 
fast weisslichen, wässrigen Materials; Dickdarm fast leer. Acute Enteritis 
katarrhalis. Im Magen eine grosse, im Darm eine sehr geringe Anzahl Arsenik- 
Krystalle. Beginnende Nephritis parenchymatosa. 

Fall 5. Mord. Anstatt Bittersalz Arsenik in Thee geschüttet. Beginn des 
Erbrechens und des Durchfalls erst nach 3 Stunden; Anhalten desselben bis zum 
Tode. Schmerzen auch in Extremitäten. Plötzlicher Tod. — Zur Zeit der Section 
colliquative Fäulniss. Chronisches Magengeschwür. Auf Magenschleimhaut verein¬ 
zelte Oktaeder. 

Fall 6. Selbstmord. Abends 9 Uhr — nach Abendbrot — Gift eingeführt; 
in welcher Form, fraglich. — Leiche zur Zeit der Section recht faul. Schwäch¬ 
licher Bau, dürftiger Ernährungszustand. 


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Ueber die \ ertheilung einiger Gifte im menschlichen Körper. 


290 


Fall 7. Zufällige Vergiftung, Näheres unermitielt. Beim Zubettgehen gegen 
8 Uhr Abends munter, wie stets, gegen 9V 2 erwacht, erbrochen, 3 mal Stuhl, 
wieder cingeschlafen; gegen 1 Uhr von Neuem erwacht: Schwäche, Verdrehen 
der Augen, krampfhafte Bewegungen mit den Händen; f. — Leiche frisch; kräf¬ 
tiger Bau, guter Ernährungszustand. Im Magen ca. 70 ccm schwach- hämorrha¬ 
gischer, schleimiger Masse, acuter Magenkatarrh. Im Darm wenig Schleim, ge¬ 
ringe Enteritis. — Ein 4jähriger Bruder erkrankte um die nämliche Zeit, wie 
Denata, genas nach wiederholtem Erbrechen; auch der Knabe war anscheinend 
gesund ins Bett gelegt worden und ebenfalls ruhig eingesehlafen. 

Fall 8. Selbstvergiftung. Bald nach Einführung des Giftes Entleerungen. 
-- Leiche zur Zeit der Section etwas faul. Im Magen ca. 500 ccm. braunröth- 
licher, mit Kartoffelrestcn und Schleimflocken untermischter, wässriger Flüssig¬ 
keit; acute Gastritis katarrhalis; im Dünndarm reichliche Menge gelblichen, 
massig-dünnflüssigen Materials, im Mastdarm bräunlicher Koth. Arsenik-Partikel 
im Magen mit blossem Auge sichtbar. Gravidität im 5. Monat, Placenta und Ei¬ 
häute nicht abgelöst, IJterus-Mucosa intact. 

Fall 9. Zufällige Vergiftung durch Genuss arsenikhaltigen Hammelfleisches 
und daraus gekochter Bouillon. Eine Stunde nach Ingestion Beginn des Erbrechens 
und des Durchfalls, die bis zum Tode andauerten. — Leiche zur Zeit der Section 
frisch. Mässig kräftiger Bau, schlechter Ernährungszustand. Im Magen ca. 200ccm 
trüber, gelbgrünlicher, wässriger Massen, in denen Speisereste und Schleim. Starke, 
partiell haemorrhagische Gastritis katarrh. acuta mit schwachem Oedem der Sub- 
mucosa. Im Dünndarm ca. 600 ccm eines ziemlich dünnflüssigen, haferschleim¬ 
artigen Inhalts. Schwellung der Mucosa nur in den oberen Abschnitten, daselbst 
auch starke Fettfüllung der Zotten. Im Dickdarm wenige Cubikccntimoter 
einer trüben, gelblichen, schleimigen Masse, Schleimhaut wenig geschwollen. 
Nieren, Herz, Leber intact. — ln 40 g des qu. Fleisches 171,4 mg arseniger 
Säure. 

Fall 10. Zufällige Vergiftung. Pulverisirtcr Arsenik in Kartoffeln (Ratten¬ 
gift) eingeführt. Sehr bald Erbrechen; häufige Wiederkehr desselben. Antidotum 
arsonicosum, Milch, Eis. — Leiche zur Zeit der Sektion ziemlich faul. Kräftiger 
Bau, guter Ernährungszustand. 

Fall 11. Zufällige Vergiftung durch Eierkuchen, dem anstatt Mehl 62 pCt. 
Arsenik enthaltendes Kartoffelmehl zugesetzt worden. Sehr bald Erbrechen etc. — 
Leiche frisch. Schwächlicher Bau, schlechter Ernährungszustand. Haemorrhag. 
Gastritis, Enteritis katarrh. 

Fall 12. Zufällige Vergiftung. Nach reichlicher Mahlzeit aus einer Brannt¬ 
wein und Fliegenstein enthaltenden Flasche mehrmals getrunken: „Es schmeckt“. 
Nach ihm und durch sein Lob verleitet tranken mehrere Mitarbeiter von dem 
qu. Material, aber geringe Mengen. Die Mitarbeiter erbrachen nach 5—10 Minuten 
zum ersten Male, genasen. Denatus empfand erst nach mehrstündiger Ar¬ 
beit auf dem Felde Unwohlsein, ging nach Hause, legte sich; häufige Stuhl- 
entleerungen, Leibschmerzen, angeblich kein Erbrechen. — Leiche zur Zeit der 
Sektion ziemlich faul. Kräftiger Bau, guter Ernährungszustand. Fliegenstein¬ 
partikel von bis Hirsekorngrösse in grosser Zahl im Magen. Haemorrhagische 
Gastritis acuta katarrh. — Im Bodensatz der qu. Flasche (nach Verlauf mehrerer 
Wochen) neben Fliegenstein reichliche Menge arseniger Säure. 


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Prof. Lesser, 


300 


Fall 13. Mordf?). Kräftig gebaut, gut genährt. — Leiche zur Zeit der Sec- 
tion sehr faul. Im Magen 5—6 Esslöffel dicklichen, braunrothen Breies, eben¬ 
dasselbe Material in geringer Menge im Dünndarm. Anscheinend haemorrhagische 
Affektion des Magens und des Darmes. 

Fall 14. Mord. Arsenik zum Theil gelöst eingeführt. Sehr copiöse Ent¬ 
leerungen nach oben und nach unten. — Leiche zur Zeit der Section ziemlich 
frisch. Mittlerer Ernährungszustand und massig kräftiger Bau. 

Fall 15. Mord; in welcher Form Arsenik genommen, unaufgeklärt. — 
Leiche zur Zeit der Section wenig faul. Mager, schwächlich gebaut. 

Fall 16. Mord; Arsenik auf Schmalzschnitte verabfolgt; erstes Erbrechen 
angeblich nach 4 Stunden. — Collicjnative Fäulniss. — Nach Einlegen des 
Schwefelammonium- oder Schwefelwasserstoff- haltigen Magens in Alkohol — 
es war Vergiftung mit Morphium vermuthet worden — löste sich der der Schleim¬ 
haut aufsitzende Arsenik, es entstanden (gelbe) Schwefelarsen-Flecken. Der 
Mageninhalt war hellgelb, (f 10. VI. 86., sec. 28. VII. 86.) 

Fall 17. Zufällige Vergiftung. Kind hatte unter den Schrank gestreutes Ratten¬ 
gift gegessen. Nach bald auftretendem Erbrechen mehrstündiger Schlaf, nach dem 
Erwachen ziemlich munter, über Leibschmerzen geklagt, eine Tasse Kamillenthee 
getrunken, wieder eingeschlafen, mehrfach erwacht, über Durst geklagt, Wasser 
getrunken. Circa 1 Stunde vor Tod Kälte der Haut, dann Krämpfe und Exitus. 
— Leiche ziemlich frisch. Kräftig gebaut, gut genährt. Acute Gastritis katarrh.; 
im Magen ca. 60 ccm trüber, gelbbrauner Flüssigkeit. — Das Rattengift enthielt 
33 pCt. weissen Arseniks. 

Fall 18. Selbstmord mit Schweinfurter Grün — reichliche Entleerungen 
nach oben und nach unten. — Leiche etwas faul. Kräftige Muskulatur, guter Er¬ 
nährungszustand, mittelstarker Knochenbau. Gastritis haemorrhag. acuta; im 
Magen 700 bis 800 ccm chokoladenfarbener, Schleimtlocken und Schweinfurter- 
Grün-Partikel führende Flüssigkeit, im Dünndarm reichliche Menge theils gelblicher, 
theils weisslicher, trüber Flüssigkeit, Dickdarm ziemlich leer. 

Fall 19. Zufällige Vergiftung. Denatus Johann S. hatte Arsenik, den er 
in einer Düte hinter dem Ofen seines Wohngelasses gefunden, für Mehl gehalten 
und zur Bereitung von Flössen verwendet. — Nach 2 Stunden erstes Erbrechen; 
reichliche Entleerungen nach oben und nach unten bis zum Tode. — Die nämliche 
Schüssel und denselben Löffel benutzten alsdann ohne vorhergegangene Reini¬ 
gung A. K. und Fl. W. zur Bereitung einer Suppe; nach Kurzem Erbrechen, am 
nächsten Tage arbeitsfähig. Des gleichen Geschirrs, wiederum ohne voraus- 
gesehiektes Abspülen oder Waschen desselben, bediente sich bald darauf M. S. 
zur Herstellung von Flössen; nach mehreren Stunden Erbrechen (5 mal), Leib¬ 
schmerzen; am Tage darauf arbeitsfähig. Die nächsten 4, welche dem M. S. in 
der Benutzung der Schüssel und des Löffels folgten, blieben — trotzdem auch sie 
die Dinge zuvor nicht gesäubert hatten — gesund. In ca. 100 ccm ITin des FI. W., 
gelassen nach 5 Tagen, des A. K., gelassen nach 7 Tagen, As nachweisbar; in dem 
gleichen Quantum Frin des M. S. vom 9. Tage As nicht vorhanden. — Leiche des 
Johann S. frisch. Mittelstarker Bau, mässiger Ernährungszustand. Gastritis 
acuta pari, crouposa; etwa der vierte Theil der stark geschwollenen Schleimhaut mit 
fibrinösen Auflagerungen versehen. Submucosa partiell bis 8 mm in Folge Oedems 
verdickt. 2 Ulcera rotunda ventriculi. Im Magen ca. 300 ccm wässriger, roth- 


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Ueber die Vertheilung einiger Gifte im menschlichen Körper. 301 

bräunlicher, trüber Flüssigkeit mit Arsenikpartipein. Starke Enteritis katarrhalis 
acuta, zumal im oberen 2 / 3 des Dünndarms, theilweise auch Oodem der Submucosa. 
Der unterste Abschnitt des Ilcum eng zusammengezogen, fast leer, in den oberen 
Dünndarmpartien ca. 600 ccm einer dünnflüssigen, trüben, gelblichen bis gelb- 
lichweissen, zum Theil auch lleischwasserfarbenen Masse, in der zahlreiche Ar¬ 
senikpartikel. Im Dickdarm geringe Menge Schleimes. Mcsenterialdrüscn kaum 
geschwollen. GeringerGrad parenchymatöser Degeneration des Herzens, der Leber, 
der Nieren. 

Fall 20. Schweinfurter Grün, wahrscheinlich als Abortivmittel genommen; 
keine Wirkung auf Uterus (5. Monat der Schwangerschaft). — Leiche frisch. 
Starker, partiell haemorrhagischer Katarrh des Magens und des Darmes, in denen 
Schweinfurter Grün makroskopisch zu erkennen. — In einem mit Erbrochenem 
besudelten Lappen (40 g) 0,615 g. As 2 0 3 und 0,6835 g GuO, in 1 g In¬ 
halt des Topfes, in dem das Gift angerührt worden war, 0,439 g AS2O3 und 
0,2945 g CuO, in 1 g unbenutzten Giftes 0,480 g As 2 0 3 und 0,3232 g CuO. 

Fall 21. Selbstmord. Erkrankung für Cholera nostras gehalten. — Leiche 
sehr faul. Kräftiger Bau, geringer Panniculus. Im Magen und Dünndarm Sch wefel- 
arsen und Arsenikkrystalle. (f 12. VII. 89, sec. 13. VIII. 89.) 

Fall 22. Mord. Feingestossenen Arsenik in Grütze und ebensoviel — ein 
Stück von Erbsengrösse — gepulvert in Schnaps erhalten. — Leiche frisch. 
Kräftiger Bau, guter Ernährungszustand: Acute harmorrhag. Gastritis, acute En¬ 
teritis katarrhalis.-Nach 6 Monaten fand Bischoff in den inzwischen ein¬ 

getrockneten Theilen die obon angegebenen Quantitäten. (Nimmtmanan, dassden 
17 g der II Wege, die zur Untersuchung Vorlagen, ursprünglich 100 g ent¬ 
sprochen hätten, so würden bereits in 1000g des nämlichen Geiuischos 10 mg As 2 0 3 
enthalten gewesen sein.) 

Fall 23. Selbstmord. Einen gehäuften Theelöflel pulverförmigen Arseniks 
genommen. Schwangerschaft von 5 Mon. Beginn dos Erbrechens 2—2Y2 Stunden 
nach Intoxic., zahlreiche Entleerungen nach oben und nach unten bis 1 1 / 2 bis 
2 Stunden ante mortem. Ricinusöl erhalten. — Leiche frisch, kräftiger Bau, guter 
Ernährungszustand. Gastritis katarrh. haemorrhag. mit Üedem der Submucosa; 
der gleiche Befund im Duod.; im Magen ca. 400 ccm tiefgrüner, trüber Flüssig¬ 
keit mit zahlreichen As 2 0 8 -Partikeln. Gegen die Klappe zu abnehmende Schwel¬ 
lung der Dünndarm-Schleimhaut; Intumescenz der Dickdarm-Schleimhaut etwas 
stärker, als die des Dünndarms; in diesem ca. 300 Liter einer wässrigen, trüben, 
schwachgelblichen Flüssigkeit, im Dickdarm Schleim, in welchem selbst im Bereich 
des Rectum Octaeder. Schwache paremchymatöse Trübung der Leber. Eihäute 
und Placenta nicht gelöst. 

Fall 24. Mord. Eine Messerspitze voll As 2 0 3 in Kaffee geschüttet. Zwei 
Stunden nach Ingestion Beginn des Erbrechens — Leiche frisch. Wenig kräftig 
gebaut, schlecht genährt. Im Magen gegen l / 2 1 trüber, bräunlicher Flüssigkeit 
mit As 2 0 3 -Partikeln. Im Darm (angeblich) nur eine geringe Menge Schleimes. — 
In dem betreffenden Trinkgeschirr eine Spur As. 

Fall 25. Mord. Vormittags Arsenik in Leberwurst beigebracht. Erstes 
Erbrechen nach iy a Stunden. — Sarg erhalten. Leiche zum Theil in Wasser ge¬ 
legen. Kleine, massig kräftige Person. Mumification des mit Schimmel bedeokten 
Gesichts; sonst colliquative Fäulniss; Rumpfhöhlen nicht eröffnet. Magen, Darm 


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302 


Prof. Besser, 

fast leer. — In 28,5g Erde aus den Sargfugen kein As nachzuweisen, (f 25. XI. 83, 
sec. 19. V. 84.) 

Fall 26. Zufällige Vergiftung. Ein Stück Arsenik von der Grösse „einer 
halben Bohne“ genommen. Nach ca. dreistündigem Schlaf Beginn unzähliger Ent¬ 
leerungen nach oben und nach unten. Etwa 15 Stunden nach Vergiftung Antidot, 
arsen., Lac Magnesiae, Eis, Roborantien, Excitantien. Ca. 4 Stunden ante 
mortem Aufhören des Erbrechens; Durchfall dauert an. 1 2 / 4 Stunden ante 
mortem: geringe Besserung des Allgemeinbefindens. (Denatus hatte seit 3 Jahren 
wegen ausgebreiteter Psoriasis wöchentlich mehrmals Arsenik in Stücken genom¬ 
men; mehrmals wöchentlich Durchfall; Klagen über abnorme Empfindungen in 
den Extremitäten.) —Leiche frisch. 179 cm lang, kräftig gebaut, gpt genährt. Im 
Magen ca. 300 ccm einer grauen, trüben, wässrigen Masse, in der — 1 / 2 linsen¬ 
grosse As 2 0 3 -Bröckel. Erhebliche katarrhalische Schwellung der linken s / 4 der 
Magenschleimhaut, sehr starke der Portio pylor., in deren Hinterwand eine 
ca. fünfmarkstückgrosse, von Haemorrhagien durchsetzte Partie mit dicker Croup- 
membram. Oedem der Submucosa daselbst. Im Duodenum starke Entzündung 
der Mucosa und der Submucosa. Im Dünn- und Dickdarm einige 100 ccm einer 
trüben, mit schwärzlicher (Schwefeleisenhaltiger) Flüssigkeit untermischten, gelb¬ 
lichen Masse von dünnbreiiger Consistenz. Schwellung der Schleimhaut durch¬ 
weg von der nämlichen, bedeutenden Intensität. Nephritis parenchym. ziemlich 
hohen Grades; ausgesprochene Myokarditis parenchymatosa. 

Fall 27. Zufällige Vergiftung. R. S., Bruder des in No. 19 erwähnten 
Johann S., hatte ebenfalls von den vergifteten Klössen, die J. S. bereitet, gegessen. 
Etwa 22 Stunden p. intox. starke Cyanose, kühle Extremitäten, leise Herztöne, 
Puls unfühlbar, Bauch nicht aufgetrieben, schmerzlos; Sensorium frei. Bald darauf 
2 mal Erbrechen, je eines halben Liters trübgelblicher Flüssigkeit. Excitantien: Puls 
fühlbar, Extremitäten warm: Prognose erschien günstiger. Nach Aufsitzen plötz¬ 
licher Tod. — Stuhl soll nach der Vergiftung nur 1 mal entleert sein. Erbrechen sehr 
. häufig und copiös. — Leichefrisch. Mittelkräftiger Bau, dürftigerErnährungszustand. 
Im Magen ca. 300 ccm trüber, grünlicher, wässriger Massen, in der bis V 2 hirse¬ 
korngrosse Arsenik-Partikel. Catarrhus gastricus acutus von massiger Stärke, in 
der rechten Hälfte des Organs einzelne croupös afficirte Abschnitte. Magen-Ver¬ 
änderung viel schwächer als in Fall 19, aber, wie dort, auch hier zwei (allerdings 
bereits vernarbte) Ulcera rotunda. Im Dünndarm, der ziemlich stark zusammen¬ 
gezogen, ca. 300 ccm einer dicklichen, trüben, gelblichen Flüssigkeit mit relativ 
spärlichen Arsenikbröckeln. Schwellung der Schleimhaut nimmt gegen die 
Klappe hin ab, im Anfang sehr stark, hier auch Haemorrhagien. Im Dickdarm ge¬ 
ringe Mengen noch zähflüssigeren Materials von ebenfalls trüber, gelblicher Fär¬ 
bung; auf massig geschwollener Mucosa dicke Schleimschicht. Ziemlich starke 
parenchymatöse Nephritis, Myocarditis, Hepatitis. Diaphragma, Zungenmuskel, 
Körpermuskeln frei von makroskopischen Veränderungen. Knochenmark des Fe¬ 
mur partiell intensiv roth. 

Fall 28. Zufällige Vergiftung; Rühreiern anstatt Mehl Arsenik zugesetzt; 
sie sollen „bitter“ geschmeckt haben. Nach süsser Milch Erbrechen, Stuhl mit¬ 
unter blutig; Entleerungen am 2. Tage überaus häufig. Im Schlaf gestorben. 
Denatus, welcher am Wenigsten von den Eiern genossen — 5 Kinder und die Ehe- 


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lieber die Verkeilung einiger Gifte im menschlichen Körper. 303 

frau theilten sich mit ihm in dieselben —, war seit 14 Tagen krank, appetitlos, 
zum Theil bettlägerig, immer schwach gewesen. Am Tage derVergiftung erhielt er 
wegen der durch sie verursachten Schmerzen 0,015 g Morph, und 0,03 g Opium 
am nächsten Tage 2 mal 0,03 g Opium. Frau nach Vergiftung ohnmächtig; bei 
ihr wie bei den Kindern, die ca. 2 Stunden p. intox. dem Arzt wie betäubt er¬ 
schienen, ebenfalls reichliche Entleerungen nach oben und nach unten; sic alle ge¬ 
nasen. — Leiche wenig faul. Schwächlicher Bau, dürftiger Ernährungszustand. 
— Chemische Untersuchung zwei Monate p. sect. begonnen. Die Arsenik-Partikel 
des Mageninhalts zum Theil in Schwefelarsen umgewandelt, auf Schleimhaut 
citronengelbe Flecke. 

Fall 29. Mord? Art der Beibringung nicht ermittelt. — Leiche frisch. 
Kräftiger Bau, guter Ernährungszustand. Inhalt des Tract. intestinalis (angeb¬ 
lich) nicht dünnflüssig. 

Fall 30. Mord. Auf Eierkuchen anstatt des Zuckers Arsenik gestreut. 
Einige Stunden a.m.cessirten die sehr reichlichen Entleerungen nach oben und nach 
unten. — Die Sargbretter fielen beim Herausheben aus der Grube auseinander: es 
lag das Skelett vor, welches nur am Rücken und an den Seitentheilen des Rumpfes 
mit „lederartigem, auf dem Durchschnitt homogenem, weisslichem Gewebe bedeckt“, 
war. Im Schädel eine ca. faustgrosse, äusserlich bräunliche, auf dem Durch¬ 
schnitt „scheckig“ erscheinende Substanz von ziemlich derber Gonsistenz. Lungen 
und Herz in Form schwarzgrauer, ziemlich derber Lappen von geringen Durch¬ 
messern vorhanden. Magen und Leber sehr geschrumpft, noch relativ gut erhalten : 
die übrigen Bauchorgane nicht von einander zu sondern. — Die Leichcntheile 
exhalirten auffällig riechende Gase, die mit Kakodyl eine gewisse Achnlichkeit 
hatten. 

a) In Hobelspänen und Sand in resp. unterhalb des Sarges und zwar in 
2740 g 30,4 mg As 2 0 3 . 

b) In Sand aus der Nähe des Grabes und zwar in 500 g keine Spur As. 

c) In Sand, 70 Schritte von dem Grabe entnommen, und zwar in 500 g 
keine Spur As. 

Das mit a bezeichnete Material war mit Wasser extrahirt worden. 

Fall 31. Einreibung fast der ganzen Körperoberlläche mit 3,64 pCt. Ar¬ 
senik haltigem Material wegen Krätze. Starkes Hautbrennen, Dermatitis partim 
bullosa fast der ganzen Körperoberfläche; nach 3 Stunden Erbrechen, Bauch¬ 
schmerzen, die bis zum Tode anhielten. Die übrigen Familien-Mitglicder hatten 
nur einzelne Hautpartien mit demselben Liquidum eingeriebon: schmerzhafte 
Dermatitis daselbst.-Leiche ziemlich faul. Kräftiger Bau, guter Ernährungs¬ 

zustand. 

Fall 32. Zufällige Vergiftung durch mit Arsenik-haltiger Butter bestrichenen 
Zwieback(Rattenvcrtilgungsmittel und zwar Nachmittags gegen 5 Uhr. f 4. VII. 91. 
Ausgrabung 17. VII. 91. Leiche sehr faul. 

Fall 33. Selbstmord. \ l / 2 Theelöffel Schweinfurter Grün in Wasser, 
Nachts 3 Uhr, genommen. Nach 6 Stunden Nachlass der sehr bald aufgetretenen 
und sehr reichlichen Entleerungen nach oben und nach unten, heftige krampf¬ 
artige Schmerzen in den Beinen, Steifheit derselben, grosses Schwächegefühl in 
den Armen, Schwindelgefühl bis Ohnmacht beim Aufsitzen. C. 30 St. p. intox. 


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304 


Prof. Lesser, 


Radialpuls unfühlbar, 120 Herzaktionen, 30 R. in Minimum. Geringe spontane 
Schmerzen in Magengegend, bei ruhiger Bettlage kein Schwindelgefühl. Abdomen 
nicht aufgetrieben, Nabelgegend sehr druckempfindlich. Gefühl der Schwere in 
Armen, Fingerspitzen taub, Händedruck schwach, Tremor der Finger beim 
Spreitzen, Druckempfindlichkeit der Oberschenkel- und der Wadenmuskeln. Häu¬ 
fige diarrhoische Stühle von dunkelgrüner Farbe, in ihnen rothe Blutkörperchen. 
Antidot, arsenic. — In dem durch Katheter entleerten Urin Eiweiss, rothe und 
farbloso Blutkörperchen, hyaline Cylinder.— Unter zunehmender Schwäche — trotz 
Excitantien — Exitus. — Leiche frisch. Kräftiger Bau, guter Ernährungszustand. 
Im Magen ca. 80 ccm. einer trüben, dünnflüssigen, grünen Masse; mässige Gastritis 
parenchymatosa mit spärlichen, punktförmigen, röthlichen Blutungen. Im Dünn¬ 
darm ca. lOOccm wässrigen, grünlichen, trüben Materials, untermischt mit dinten- 
schwarzer Masse. Im Dickdarm geringe Mengen solcher, Schwefeleisen führender 
Flüssigkeit. Dünndarmschleimhaut in der Mitte am wenigsten stark, sonst recht 
stark geschwollen. Ihre Haemorrhagien tiefschwarz. Schwellung im Dickdarm 
noch mächtiger als im Dünndarm; am bedeutendsten im Colon descend., dessen 
Submucosa auch oedematös. Die Schleimhautblutungen auch hier geschwärzt. 
Gokrösdrüsen etwas geschwollen. Leber, Myokard parenchymatös getrübt; acute 
haemorrhagische Nephritis parenchym.; bis kirschkerngrosse Lungen¬ 
blutungen. 

Fall 34. Zufällige Vergiftung durch Schweinfurter-Grün-haltiges Papier, 
das er — Vormittags — in den Mund gesteckt; das Papier umhüllte mit gift¬ 
freiem Ultramarin und Fuchsin gefärbtes Zuckerwerk; während der letzten Tage 
Eiweiss im Urin.— Leiche frisch, kräftiger Bau, guter Ernährungszustand. Acuter 
Magen-Darmkatarrh; Nephritis paremchymatosa. 

In dem grünen Papier, welches dem Kinde aus dem Munde entfernt worden 
war, 16,3 mg As 2 0 3 und 9,5 mg CuO. 

Fall 35. (.Schwester von Fall No. 4.) Zufällige Vergiftung durch mit Ar¬ 
senik bestreutes Bisquit, bald nach dem Mittagbrot gegessen. Sehr bald copiöses, 
recidivirendes Erbrechen, nach 6 Stunden Magen ausgespült. Darauf Allgemein¬ 
befinden gut. Infus. Sennae comp., Milch, Eisblase auf Bauch. Am folgenden 
Tage 36,9 0 T, 150 P, 30 R. Allgemeinbefinden schlechter, Puls sehr klein, keine 
Schmerzen, bricht alles Gereichte aus, zahllose dünne Stühle; meist schlafend. 
Beugemuskeln der Unterextremitäten in starker Contraktur. Eis, Wein, Camphor: 
In den nächsten Tagen Kräfteverfall und Somnolenz stärker. Temperatur bis 
36,2°, P. 112—128, R. 30—40. Erbrechen dauert an. Durchfall etwas geringer. 
— Leiche frisch; Graciler Bau, mittlerer Ernährungszustand. Dicker Epithelbelag 
auf Zunge; die blassrothe Schleimhaut des Rachens, namentlich in der 
Nähe des Kehlkopfeinganges, ziemlich stark geschwollen. Im Magen lOccm 
gelber, trüber Flüssigkeit, in der vereinzelte Oktaeder; Gastritis katarrhalis 
(viel schwächer als in Fall 4) mit haemorrhagischen Erosionen. Im Darm circa 
170 ccm einer wässrigen, hellgelblichen, trüben Flüssigkeit mit ganz wenigen 
Arsenik-Krystallen, durchweg starke Schwellung der Mucosa. Nephritis parenchym. 
reeens. Laryngitis, Tracheitis, Bronchitis katarrhalis, multiple Schluokpneu- 
monien des linken Unterlappens ganz frischen Datums; Myocard, Diaphragma, 
Körpermuskeln intact. 


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lieber Hie Verthoilung einiger Gifte im menschlichen Körper. 


305 


l b. Tödtliche Vergiftung durch mehrmalige Ingestion 

von Arsenik. 

Fall 36. Mord. Am Nachmittag des 7. April plötzlich erkrankt: Erbre¬ 
chen, Durchfall, Schwindel; die Entleerungen kehrten bis zum Morgem des 
8. April sehr häufig wieder, nahmen unter Besserung des Allgemeinbefindens im 
Laufe des Tages (8. April) ab; Nacht vom 8.—9. April relativ gut. Gegen 5 Uhr 
morgens des 9. Aprils wiederum Exacerbation der gastro-intestinalen Phaeno- 
rnene. Um 11 A / 2 Uhr Vorm, laugte Ehemann noch 2 Bogen Fliegenpapier mit 
Wasser aus, vermischte die Lösung mit Rothwein, dem die Concubine noch einen 
Phosphor-Streichhölzer-Infus zusetzte. Gegen 11 Uhr Vormittags trank Penata diese 
Mischung bis auf den letzten Tropfen: enorm häufige Entleerungen nach oben 
und nach unten, sehr starke Leibschmerzen. Tod gegen 11 Uhr Abends; während 
der Agone Coitus des Ehemanns und der Concubine, der Urheberin des Mord¬ 
planes, in dem Sterbezimmer.-Leiche frisch. Massig kräftiger Bau, mittlerer 

Ernährungszustand. Gastritis katarrh. haemorrh., Schleimhaut z. Th. schwefel¬ 
gelb gefärbt. — Im Mageninhalt fanden sich 28,7 mg As 2 0 3 , in der Magen- etc. 
Wand 23,4 mg As 2 0 3 . In dem mit Koth und Mageninhalt besudelten Ilemde 
der Denata Spuren von Arsen; die Hobelspäne unter dem Gesäss frei von As. 
Einer der noch nicht benutzten Bogen Fliegenpapier enthielt 247,5 mg As 2 0 3 . 
Phosphor oder niedere Oxydationsstufen desselben in den Objekten nicht nach¬ 
zuweisen. 

Fall 37. Mord. Arsenik seit 7 Tagen a. m. in Speisen (flüssigen und 

festen) beigebracht.-Leiche etwas faul, (sec. 17. X.), kräftiger Bau, guter 

Ernährungszustand. Im Magen etwa 60 ccm kafleesatzartiger Flüssigkeit, im 
Dünndarm 150 ccm gelbgrünlicher, etwas dickflüssiger Masse. Dickdarm leer. 
Haemorrhagische Magen-Darm-AfTektion. 

Fall 38. Mord. Arsenik seit 9 Tagen a. m. in (flüssigen und festen) 
Speisen beigebracht; todt, vor seinem Bett liegend, Morgens gefunden. — Leiche 
frisch. Befund wie in Fall 37 (der Mutter). 

Fall 39. Mord. Erste Vergiftungserscheinungen ca. 4 Wochen a. m. Ar¬ 
senik während der letzten Tage auch in Medicin verabreicht. Mehrere Hühner, 
die von Erbrochenem aus den letzten Tagen gefressen, krepirten. 2 St. a. m. 
verfügungsfähig. — Ausgebreitete Schimmelvegetation an Körperoberfläche, keine 
Mumifikation; Verwesung nicht sehr weit vorgeschritten. Kräftiger Bau. 

lc. Tod durch Delirium tremens und Arsenikvergiftung. 

Fall 40. Fahrlässige Tödtung. Pot. stren., schon mehrmals an Delir, 
trem. gelitten. Um ihm den Schnapsgenuss zu verleiden, laugte Ehefrau Ende Sept. 
V 2 Bogen Fliegenpapier mit warmemWasser aus und goss die so erhaltene Flüssig¬ 
keit in Schnaps. Delir, tremens. Am 9. Dez. Wiederholung des gleichen Verfahrens, 
am 12. Dez. eine ähnliche Quantität Arsenik in Schnaps gegossen. Seit 9. Dez. 
Erbrechen etc., am 13. Dez. Delirium tremens, f 14. 12. — Leiche frisch. Sehr 
kräftiger Bau. Tractus intestinalis fast leer. — In Flecken des Hemdes und des 
Kopfkissens, herrührend von Koth und Erbrochenem, Spuren von As. — Ein Bogen 
Fliegenpapier aus der nämlichen Bezugsquelle, wie die verwendeten, enthielt 
666 mg As^O^. 


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306 


Id. Mcdicinale Verabreichung von Solutio Fowleri. 

Fall 41. Denatus erhielt vom 15. Juli bis 25. Juli und vom 29. Juli bis 
8. Aug. 30 g Sol. Fowleri = 0,33 g As 2 0 3 , ohne eine Beeinflussung seines Be¬ 
findens darzubieten; j 12. Aug. in paralytischem Anfalle. — Leiche frisch; 
schlechter Ernährungszustand, schwächlicher Bau. 


Ie. Zu Unrecht vermuthete Arsenikvergiftungen; Arsen¬ 
befunde bei Ausgrabungen. 

Fall 42. 44jährige Frau, f 10. Juni. 83, ausgegraben 5. August 84. Sarg 
nur theilweise erhalten. Mumification mit starkem Schimmelbelag. Höhlen ge¬ 
schlossen. Lungen, wie die übrigen Organe, sehr geschrumpft, luftleer, 
ln 500 Gramm Erde unterhalb des Sarges Spuren von As. 

,, 50 ,, Holzspäne aus dem Sarge .... keine Spur von As. 

„ 50 ,, Magen und Inhalt, Oesopli. und Duoden. ,, ,, ,, ,, 

,, 53 ,, Leber, Milz, Nieren, Gebärmutter und 

Harnblase 

Fall 43. Mann, j 26. Jan. 86, ausgegraben 30. Jan. 88. 


n n 77 

Saig stand in 


?? 

37 


Spuren von As. 


77 

77 

7? 


77 

77 

73 

77 


7? 

77 

37 

77 


77 

37 

73 

77 

77 


Lehmwasser, solches auch innerhalb des Sarges. Sargdeckel eingesunken. Sapo- 
nification. Körperhöhlen geschlossen. 

In 1500 g Grabeserde etwa y i00 mg Arsen. 

„ Wasser aus dem Sarge . . kein 

,, Leichentheilen ....,, 

Fall 44. Frau G., f 7. Jan. 73, ausgegraben 20. Juli 84. Sarg und Leiche 
zerfallen. ' 

In Erdproben des Grabes, verschiedenen Stellen 

entnommen.je geringe 

Im Beschläge des Sarges und in Sargnägeln reichlichere 

Im Sargboden.keine 

In Hobelspänen aus Sarg .... 

In Kopfhaaren. 

Im Becken. 

Im Brustbein und in 3 Rippen 

Aus den letztangeführten Theilen war es nicht möglich gewesen sämmtlichc 
Sandpartikel zu entfernen. 

ln der nämlichen Sache wurde noch eine II. Leiche, die ca. 10 Jahre beerdigt 
gewesen, exhumirt. 

In der Leinewandhülle des Kopfes sowie der der vorderen Bauchwand mini¬ 
male Spuren von As. (y 200 bis y 500 mg) — ein nicht ungewöhnliches Vor¬ 
kommnisse- aus den Kopfhaaren dem entsprechend ebenfalls ein Hauch As darstell¬ 
bar. Die Untersuchung der übrigen Theile (Eingeweide etc.) — mit Ausnahme 
der Erde, der Sargnägel und der Sargbeschläge — fiel negativ aus. 

Fall 45. Mann,P.W., j Juni 63, Exhumirung 25. Mai 82. In dem betreffenden 
Grabe einige Jahre nach Beerdigung des P. W. noch eine Frau beigesetzt; deren 
Sarg zerfiel bei der Herausnahme. Neben diesem eine Masse morscher Holztheile 
mit zahlreichen weissen Nägeln, die die Buchstaben P. W. bildeten. Die von 
den morschen Holztheilen umschlossenen Stiefel und rekognitionsfähige Klcider- 


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Ueber die Vertheilung einiger Gifte im menschlichen Körper. 


307 


reste — dunkelblauer TuchstofF —waren nach Aussage eines Zeugen denen ähnlich, 
in welchen die Leiche des P. W. beerdigt worden. Ebenso stimmte die Farbe 
und Länge der blonden Kopfhaare und des Bartes - - die Form der Knochen etc. 
bewies ihre Zugehörigkeit zu dem Körper eines so grossen Mannes, wie P. W. 
Die beiden Oberschenkel waren gebrochen: bei der Beerdigung der Frauenleiche 
waren diese absichtlich zertrümmert worden, wie der Kirchhofsdiener noch an¬ 
zugeben vermochte: die Brüche dienten ebenfalls zur Rekognition. — Ausser 
dem Skelett geringe Reste mumificirter Weichtheile. Im Schädel eine spärliche 
Menge schmierigen Breies (Gehirns). 

Arsen sowohl in Erde des Grabes wio an anderen Stellen des Kirchhofes. 

Sämmtliche Leichentheile waren mit Sand bedeckt. 

In den von Sand befreiten Weichtheilen des Gesichts und den Haaren kein 
Arsen. 

In den Gehirntheilen und den übrigen Weichtheilen, aus denen der Sand 
nicht so vollständig zu entfernen, Spuren von As, aber nicht reichlicher, als dem 
beigemischten Sande entsprach. 

In dem durch Abbürsten vollständig von Sand zu befreienden Knochen 
(Becken, Wirbelsäule etc.) keine Spur von Arsen. In den von den Leichentheilen 
entfernten Sandmassen ähnliche Mengen As, wie in der Erde des Grabes; diese 
zeigt keine quantitativen Unterschiede in Bezug auf As-Gehalt gegenüber den 
andern Stellen des Kirchhofes entnommenen Erdproben. 

Fall 46. Potator strenuus, f 10. Okt. 77, exhumirt 26. März 84. Wenige 
Stunden vor dem Tode, wie in den vorangegangenen Tagen, Pflaumenmuss ge¬ 
gessen. — Sarg zum Theil eingedrückt; mit der Leiche herauszuheben. Leiche 
zum grossen Theil mit Lehm bedeckt; an den übrigen Theilen mumificirt. 
Körperhöhlen geschlossen, Rumpforgane geschrumpft, trocken, bräunlich, sehr 
leicht. 


In Unterleibsorganen.( 390 Gramm) 0,0220 Gramm CuO. 

„ Herz und Lungen.(58 „ ) 0,0074 „ „ 

„ den Gehirn-Resten.( 17,6 „ ) 0,0014 „ „ 

In einem Theile der Lenden- u. Brust-Wirbel ( 50 „ ) 0,0050 „ „ 

In Becken und Kreuzbein.(1000 „ ) 0,0140 „ „ 

„ Schädelknochen.(82 „ ) 0,0028 „ „ 

In Kleidungsstücken unterhalb der Leiche geringe Spuren von Cu. 

,, Theilen des Sargbodens .... keine „ ,, ,, 

,, ,, ,, Sargdeckels ....,, ,, ,, » 

In Erde oberhalb des Sarges (600 Gramm) Spuren von Cu und von As (etwa 
Vioo m S As entprechend). 

,, „ rechts vom Sarge . (600 Gramm) ,, „ „ „ „ ,, 

,, ,, links vom Sarge . . ( ,, ,, ) >> >» j> j» 

„ „ unterhalb des Sarges ( „ „ ) „ „ „ „ „ „ 

Die exhumirten Theile verbreiteten keinen Kanodyl-Geruch oder solchen 
nach Arsenwasserstoff. — Der Kupfergehalt der Leichentheile ist grösser als nor¬ 
mal; nichts spricht für eine nosologische Bedeutung des Metalls in diesem 
F'alle. In Pflaumenmus kommt Cu mitunter vor. Der Cu-Gehalt der Knochen ist 


sicher zum Theil Folge postmortaler Imbibition seitens der Eingeweide. 


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308 


Prof. Lesser, 

If. Arsenik-Vergiftung zweifelhaft. Tod durch Arsenik- 
Vergiftung nicht zu erweisen. 

Fall 47. Geständniss der Ehefrau, ihren Mann vergiftet zu haben. Kranken¬ 
geschichte fehlt, j* 6. Juli 82, exhumirt 19. Jan. 89. Sarg nicht zerfallen, 
Kleidung erhalten, ihre schwarze Farbe hat sich in eine grünliche bis dunkelgelbe 
verwandelt. Kopf und Extremitäten grösstentheils skelettirt. Brusthöhle eröffnet, 
Bauchwand ohne Defekte, wie die erhaltenen Theile der Brustwand muimiicirt, 
mit Schimmel bewachsen. Rumpforgane eingetrocknet, rothbräunlich, mit 
Schimmel bedeckt, Diaphragma fehlt. Leichentheile ohne Kakodyl-Geruch. 

I. In Y 2 des M a g ens > des Darmes, der 

Milz (235 Gramm) . . . eine Spur As = ca. 1 / 20 mg. 

II. ,, ,, der Leber (36 Gramm) . . etwas stärkere Spur als aus I. 

III. „ ,, der Lungen und des Herzens 

(70 Gramm).„ schwächere Spur als aus II. 

IV. ,, ,, des Schädelinhalts (102Grm.) kaum sichtbarer Anflug. 

V. ,, 31gHobelspänen, Tuch undLeder- 

fetzen, unterhalb des Beckensgelegen, deutlicher Spiegel = ca. l / 2 mg. 

VI. In 607 g Erde aus verschiedenen Ge¬ 
genden des Grabes.stärkerer Spiegel als in V = c. 1 mg. 

VII. In 4 Erdproben, 2 1 / a bis 19 m vom 

qu. Grabe entnommen.ähnliche Spiegel wie aus VI. 

Ob das Arsen in durch Wasser extrahirbarer Verbindung vorhanden war, ist 
nicht festgestellt worden. 

Die Gräber des betreffenden Kirchhofes stehen mitunterunter Wasser. Bei Einwir- 
kungeines anorganischen Stoffenreichen Grundwasserstromes auf arsensaures Eisen¬ 
oxydul können Theile des letzteren gelöst werden und mit dem Grundwasserindie 
Särge und ev. die Leichen eindringen. So könnten auch die gefundenen As-Mengen 
in die Höhlen des untersuchten Cadavers gelangt sein. Andererseits ist es nicht 
unmöglich, dass eine tödtlich verlaufene Arsenik-Vergiftung vorliegt, bei welcher 
die zur Zeit des Todes an sich schon spärlichen Giftmengen durch Einwirkung 
von Schimmelpilzen noch mehr vermindert worden sein könnten; III. ist nicht aus- 
zuschliessen, dass nur eineDosis toxica des Arseniks eingeführt worden; IV. könnten 
die gefundenen Arsenmengen von der Einführung eines Giftes herrühren, dem sie 
zufällig beigemischt gewesen sind (z. B. von einer Vergiftung mit Phosphor, siehe 
auch Fall 124, 134, 217). Der aus dem Objekt V dargestellte Spiegel kann z. Th. 
weder aus der Erde, noch aus der Leiche stammen: Leder, Leinewand, Tuche 
enthalten an und für sich nicht selten Spuren von Arsen. 

Ich gebe noch 

Fall 48, welcher dadurch bemerkenswert!! ist, dass in den Unterlagen der 
Leiche im Sarge Arsenik nicht nachweisbar war, trotzdem die Organe erhebliche 
Mengen davon enthielten (s. auch Fall 25, S. 302). Die SOjähr. Frau war gestorben 
am 12.Nov.80 und am 13. Nov. 80 von einem der behandelnden Aerzte secirt worden 
(derselbe hatte Herzfehler, chronische Nephritis, Hydrops anasarsa, Ascites, Hydro- 
Thorax und -Pericard, sowie frische, theilweise ulceröse Enteritis gefunden; an 
(tödtliche)Intoxication hatte er, wie nicht intra vitam, so auch nicht p.m. gedacht); 
der Cadaver wurde am 23. März 82 gerichtlich nochmals untersucht. Der Sarg- 


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Ueber die Vertheilung einiger Gifte im menschlichen Körper. 309 

deckel war eingedrückt. Die Vorderfläche der Leiche war mumificirt, die Rücken¬ 
fläche ebenso wie die darunter gelegenen Hobelspäne feucht; die Rückenfläche 
zeigte sich zudem weich und bräunlich. In dem zusammengetrockneten Magen 
(82 g) minimale Spuren von As, kein Kupfer, in 100 Theilen des eröffnet ge¬ 
fundenen, ebenfalls dünnwandigen Darms (im Ganzen gegen 700 g) 3,1 mg As 2 
0 8 und ca. 8 mg CuO; in 100 Theilen der Brust- und Bauchorgane (ohne Tract. 
intest.) [1290 g], die einen grünlich weissiichen oder bräunlichen Ton dar¬ 
boten, sehr weich und schlaff waren, 3,3 mg As 2 Og, 5,7 mg CuO; in 100 g 
des (zerflossenen) Hirns (630 g) Spur As und 0,6 mg CuO; in 100 g Wirbelsäule 
und Rückenmuskeln (348 g) Spur von As und Cu, ebenso wie im Oberschenkel¬ 
knochen. 

Herr Dr. Bise hoff vermochte jedoch nicht in (80 g) Hobelspänen aus dem 
Sarge, die unter Rücken und Gefäss gelegen hatten, eine Spur dieser Metalle zu 
finden; das nämliche negative Resultat ergab die Analyse des entsprechenden 
Sargtheiles; Erde (200 g), welche auf der Brust der (mit einem zum Theil fest 
angeklebten Hemde bekleideten) Leiche gefunden worden, sowie andere Erdproben 
aus dem Grabe (je 2,0 kg) zeigten ein gleiohes Verhalten. 

Anhang. 

Fall 49. Friedrich W., 46 Jahre alt, von massig kräftigem Bau, mittlerem 
Ernährungszustände, starb 11 Tage nach Einathmen eines Gemisches von Arsen¬ 
wasserstoff und Chlorarsen. Am 4. Mai 83 bereitete sich der als Fabrikant von 
Cocarden und ähnlichen Abzeichen thätigo Mann eine Mischung von 100 g Ar¬ 
senik, 100 g Hammerschlag und 1000 g Salzsäure; in diese Masse tauchte er zur 
Anfertigung von Cocarden bestimmte Zinkplättchen, um ihre Oberflächen zur Auf¬ 
nahme von Lack geeigneter zu machen. Diese Manipulationen wurden in einem 
ganz kleinen Raum ohne jede Ventilationsvorrichtung vorgenommen: W. athmete 
beträchtliche Mengen knoblauch-ähnlich riechender Gase ein. Nach kurzer 
Zeit fühlte er sich unwohl, so dass er die Arbeit unterbrach und sich in seine 
Wohnung begab. Er sah sehr blass aus. Durch einen Spaziergang erholte er 
sich; etwa eine Stunde nach der Vergiftung ass er mit gutem Apetit und 
plauderte in gewohnter Weise mit den Genossen seines Stammtisches. Der Heim¬ 
weg wurde ihm schwer; zu Hause stellte sich reichliches und häufig wieder¬ 
kehrendes Erbrechen ein, es traten bald danach grosses Mattigkeitsgefühl und 
ziemlioh heftige Magenschmerzen auf. 

Am folgenden Tage sah Herr Dr. Lewandowsky (Berlin), dessen Güte 
ich diese Aufzeichnungen verdanke, den Patienten. Derselbe lag im Bett und 
klagte über Hinfälligkeit, Brechneigung und einen nicht los zu werdenden knob¬ 
lauch-ähnlichen Geschmack. Die Haut hatte einen eigenthümlichen, in’s Graue 
spielenden Ton. Erbrechen bestand fort, der Urin war blutig gefärbt. 

In dem ferneren Verlauf der Krankheit waren die Erscheinungen von Seiten 
des Verdauungskanals: Appetitlosigkeit, belegte Zunge, in den ersten Tagen 
häufig, in den späteren selten auftretendes Erbrechen, Obstipation; die Fäces 
niemals entfärbt. Der Bauch war auf Druck nicht schmerzhaft. Die Milz war nicht 
vergrössert, die Leber überragte um ein Geringes den Rippenbogen. 

In den ersten Tagen war die Urinmenge sehr gering, später bestand fast 


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vollständige Anurie: nur wenige Tropfen Harns wurden täglich entleert. Es be¬ 
stand mehrfach Harndrang. Der Urin des 3. Tages zeigte eine dunkelrothe 
Farbe, er enthielt viele Hämoglobin-Tropfen und war sehr eiweissreich. Urin 
vom 4. Tage frei von Blutfarbstoff, in ihm viel Albumen. (Keine Oedeme.) Der 
Puls war sehr weich, leicht unterdrückbar, von mittlerer Frequenz. Ueber sämmt- 
lichen Herzostien laute systolische Geräusche. Häufige Klagen über Beklemmung, 
Ohnmächten beim Aufrichten. 

Ausserordentlich grosses Schwächegefühl bestand andauernd. Das Sensorium 
war bis zum Tode vollständig frei. Schlaf im Ganzen gut. Fieber fehlte stets. 

Das Bild einer schweren, durch das Gift bedingten Blutdissolution stand 
von Anfang an fest; es konnte von einer antidotarischen Behandlung nicht die 
Rede sein. Ausser Salpeter zur Anregung der Harnsekretion wurden Excitantien 
und lloboranticn sowie milde Abführmittel verabreicht. 

Section 2 Tage nach dem Tode; Leiche frisch. Mässig kräftiger Bau, mitt¬ 
lerer Ernährungszustand. Icterus universalis von nicht unbebeutender Intensität. 
Livores dunkellivide; Körpermuskulatur von normalem Aussehen. Dicker Zungen¬ 
belag, sehr starkes Oedem der Schleimhaut der Zungenwurzel, etwas schwächeres 
der Ligam. aryepiglot.; der Rachen und der weiche Gaumen intact; Oesophagus 
ohne Abweichungen. Im Magen CO—70 ccm dickflüssiger, zäher, gelblich ge¬ 
färbter Massen; chronischer Katarrh des Magens, Schleimhaut grünlich bis gelblich 
tingirt, partiell cadaverös getrübt. Inhalt des Darms (etwa 500 ccm) intensiv 
gelblich gefärbt, trübe, dünnflüssig, in allen Abschnitten von gleicher Beschaffen¬ 
heit. Schleimhaut vom I’ylorus-Anus stark geschwollen, im Dickdarm fast noch 
stärker als in den höher gelegenen Abschnitten; in letzteren die Schwellung der 
lymphatischen Gebilde ausgesprochen. Massige, frische Schwellung der Gekrös- 
drüsen. Die Milz nicht vergrössert, makroskopisch ohne Abweichungen. Die 
rechte Niere fehlt. Die linke misst 15, 6 3 / 4 , 4 3 / 4 cm, Kapsel leicht abzieh¬ 
bar, Oberfläche glatt, von grau-röthlichcm Ton, Consistenz eine mittlere. Auf 
dem Durchschnitt die Rindensubstanz nicht verbreitert, die Markstrahlen erschei¬ 
nen schwach-trübe, gelblich, die Zonen der gewundenen Kanälchen grau-röthlich, 
die Marksubstanz ist dunkelblauroth, ohne makroskopisch erkennbare Abweichun¬ 
gen. Die mikroskopische Untersuchung ergiebt zahlreiche Hämoglobin-Infarkte, 
vornehmlich an den Markkegeln, körnige und hyaline (farblose) Cylinder in 
grosser Menge sowie in einer ebenfalls nicht geringen Anzahl von Kanälen Aus¬ 
füllung der Lichtung durch desquamirtc, nekrotische Epithelien. Solche abge¬ 
storbenen Zellen finden sich auch in vielen Abschnitten der gewundenen und der 
schleifenförmigen Kanäle sowie an einzelnen Stellen der Sammelröhren der Wand 
noch aufsitzend; sie waren entweder kernlos oder sie besassen noch einen, aber 
nicht tingirbaren Kern, sie zeigten sich durchscheinender als unter normalen 
Verhältnissen, waren aber nicht ganz homogen. Die Nekrose war in den gewun¬ 
denen Kanälchen am ausgebreitetsten, daher deren makroskopische Differenz 
gegenüber den Markstrahlen. Die Epithelien der Glomeruli sowie der Bowman- 
schen Kapsel waren frei von jeder Abweichung; nirgends habe ich Blutfarb¬ 
stoffinfarkte innerhalb der Kapseln angetroffen. In dem der Ilyperplasis des 
Organs entsprechend verdickten interstitiellen Gewebe fanden sich an einer 
mässig zahlreichen Anzahl von Stellen Anhäufungen von llundzellen; aber weder 


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Ueber die Yertheilung einiger Gifte im menschlichen Körper. 311 

in der Rinde noch in dem Marke erreichten diese Heerde ins Gewicht fallende 
Dimensionen. Die Gelasse der Niere Hessen Abweichungen nicht erkennen. Harn¬ 
blase und Ureteren sowie Nieronkelche und Bocken intact, erstere ganz leer. Die 
Leber mittelgross, von normalerConsistenz, zeigt etwas kleine, leicht von einander 
abgrenzbaro Acini, deren llandzone anämisch, deren andere Theile icterisch sind. 
Die Gallenblase sowiosämmtliche Gallenwege strotzend gefüllt mit sehr zähflüssiger, 
mussartiger, schwärzlicher Galle. Die Pars intestinalis des Ductus cholcdochus ist 
frei von solcher und ausgefüllt durch einen Pfropf zähen, weisslichen Schlei¬ 
mes; ihre Wand blass und entbehrt ebenfalls der gelblichen Färbung, welche an 
allen anderen Abschnitten der Gallenwege in sehr grosser Stärke vorhanden. Die 
Leberzellen, deren Protoplasma vielfach sich sehr schwach granulirt erweist, 
sind im Uebrigen ohne Abweichungen von dem Gewöhnlichen; die mikroskopi¬ 
schen Gallenwege und die Gallencapillaren sind ebenfalls ausserordentlich stark 
gefüllt, letztere oft ectatisch. Die Glisson’sche Kapsel und die peripherischen 
Schichten der Läppchen weisen ziemlich zahlreiche Heerde von Rundzellen auf, 
die Blut-Capillaren sind stark injicirt, ihi Inhalt zeigt sehr wenige rothe Blut¬ 
körperchen von normaler Form und Grösse, dagegen ausserordentlich viele Zer¬ 
fallsprodukte dieser. Das Herz von mittlerer Grösse, beide Ventrikel schlaff, 
das Endocard und die Klappen intact, trotz Abwesenheit sonstiger Leichen- 
orscheinungen stellenweise blutig imbibirt. Das Myokard sehr schlaff, anämisch, 
kaum icterisch; Querstreifung überall vorhanden, eine nicht ganz unerhebliche 
Zahl von Muskelkernen erscheint abnorm gross. Das Blut zum Theil flüssig, 
zum Theil speckhäutig geronnen; Fibrincoagula icterisch gefärbt, übrige Blut¬ 
masse ohne Farben-Besonderheit. Neben rothen Blutkörperchen von normaler 
Färbung und Gestalt zahllose Microcyten und entfärbte Bruchstücke jener. Muskel¬ 
fasern des Diaphragma intact. Eitrige Laryngitis, Tracheitis, Bronchitis, in dem 
rechten Unterlappen zahlreiche lobuläre Pneumonien jungen Datums. Geringer 
Ascites und Hydrothorax, Transsudat schwach bräunlich. Extreme Anämie des 
Hirns und seiner Häute. 


Die ersten 35 Fälle betreffen tödtliche Intoxicationen, welche 
durch einmalige Einführung des Giftes bedingt worden sind; in den 
Beobachtungen 36 — 39 wurde das Gift mehrmals gereicht, be¬ 
vor es den Exitus herbeiführte. In Fall 40 ist die Intoxication 
nur in Gemeinschaft mit dem durch sie ausgelösten Delirium tre¬ 
mens als Todesursache anzusehen, in der folgenden Beobachtung 
hat der Arsenik schädliche Wirkungen gar nicht entfaltet. Die Mit¬ 
theilungen unter No. 42—46 beziehen sich auf Befunde von Aus¬ 
grabungen, die durch zu Unrecht gehegten Verdacht auf Tod durch 
Arsenik veranlasst worden waren; die Objecte der Beobachtung 
No. 47 waren ebenfalls nach Jahren exhumirte Ueberreste, von 
denen es dahingestellt bleiben muss, ob sie einem mit Arsenik Ver¬ 
gifteten angehört haben oder nicht, von denen jedenfalls nicht er- 

Vierteljahrsschr. f. ger. Med. Dritte'FoIge. XIV. 2. 91 


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312 Prof. Lesser, 

wiesen werden konnte, dass sie von einem durch Arsenik Gctödtcten 
stammten. 

Der Fall 49, den ich anhangsweise mittheile, erscheint mir 
wegen der relativen Seltenheit genauer untersuchter Arsenwasser¬ 
st offvergiftungen einer etwas ausführlicheren Schilderung nicht unwerth. 

Während die Fälle 36—39 sämmtlich Morde waren, fanden sich 
in den Beobachtungen 1—35 nur 9 Tödtungen, welche unzweifelhaft 
in die nämliche criminelle Kategorie gehören (No. 3, 5, 14 —16, 22, 
24, 25, 30); 3 fernere (No. 13, 29 und 48) sind wahrscheinlich 
ebendahin zu zählen. In den Beobachtungen No. 1, 2, 6, 8, 18, 
21, 23, 33 (8 Male) war das Gift als Selbstmordmittel gewählt 
worden, unglückliche Zufälle bezw. Fahrlässigkeit hatten 15 Intoxi¬ 
kationen (No. 4, 7, 9, 10, 11, 12, 17, 19, 26—28, 31, 32, 34, 35) 
veranlasst. In Fall 20 war die Arsenverbindung als Abtreibungs¬ 
mittel genommen worden, in Beobachtung 26 handelte es sich um 
Applikation eines angeblichen Heilmittels — übrigens der einzige Fall 
externer Anwendung —, in Beobachtung 40 war zwar die Herbei¬ 
führung einer Vergiftung, aber nicht die einer tödtlichen, beabsichtigt 
gewesen. 

In No. 18, 20, 33, 34, 48 handelte es sich um durch Schwein¬ 
furter Grün bewirkte Intoxikationen, die übrigen Vergiftungen rcsul- 
tirten aus Einführung arseniger Säure, welche in Pulverform genommen 
war in den Fällen 2, 4, 8, 10, 11, 16, 17, 18—20, 23, 25, 26—28, 

32, 33, 35 (18 Male), welche gelöst ingerirt worden in No. 9, 

31, 36, 40 (41); theilweise ungelöst hatte das Gift 6 Male (in No. 3, 

5, 12, 14, 22, 24) Verwendung gefunden. In den Beobachtungen 1, 

6, 7, 13, 15, 21, 29, 37—39 ist es nicht möglich gewesen, aus den 
Aussagen zuverlässigen Aufschluss über die Form des eingeführten 
Arseniks zu gewinnen. 

Das Alter der Vergifteten anlangend, so standen von den Fällen 
der Tabelle I 

im I., II., HI., IV., V., VI., VII. Decennium 

3 — 2 5 3 3 3 Personen männlichen Geschlechts, 

4 1 6 4 1 — — Personen weiblichen Geschlechts. 

Die beiden Frauen der Tabelle H standen im 38., bezw. 61. 
Lebensjahre, die 2 Männer dieser im V., resp. IV. Decennium. 
Innerhalb der ersten 12 Stunden verliefen 9 Fälle der Tabelle I tödtlich, 
„ „ zweiten „ „ „ 18 „ „ n „ 

„ des zweiten Tages „ 4 „ „ „ „ 


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Ueber die Vertheilung einiger Gifte im menschlichen Körper. 


313 


innerhalb des dritten Tages verliefen 2 Fälle der Tabelle I tödtlich, 
n n vierten „ n 2 „ „ n „ 

Die erste Gifteinführung geschah in den Beobachtungen der 
Tabelle II 4 Wochen bis 2 x / 2 Tage a. m., in Fall 40 5 Tage vor dem 
Tode; in der letzten Beobachtung (Arsenwasserstoff-Vergiftung) lebte 
Denatus noch 11 Tage. 


Ia. Tödtliche Vergiftungen durch einmalige Einführung 

des Arseniks. 

a) Giftgehalt der ersten Wege. 

Betrachten wir zunächst die Arsenikbefunde in den ersten Wegen 
bei denjenigen Fällen, in welchen das Gift (in No. 18, 20, 33 in 
Form von Schweinfurter Grün) ungelöst eingeführt worden war. In 
Tabelle A sind jene bezüglich des Magens und Inhalts, der Speise¬ 
röhre und des Zwöffingerdarms nach der Grösse der ermittelten 
Quantitäten verzeichnet, in Tabelle B die des Darmes und seines 
Inhaltes, aber geordnet nach der durch Tabelle A gegebenen Reihenfolge, 
ln Beobachtung 32 ist nur ein (unbestimmter) Theil des Darms und 


Tabelle A. 

Gefunden wurden in: 


Tabelle B. 


No. 

Alter 

und 

Geschlecht 

Tod nach 

Section 

nach 

As, O 3 

mg 

Masse 

g 

Asj 0 3 

mg 

Masse 

g 

4. 

9jähr. Knabe 

6 1/2 St. 

4 Tag. 

1538,8 

467 

216,1 

1102 

2 . 

49 j ähr. Frau 

5-6 St. 

2 Tag. 

1202,8 

550 

163,2 

1616 

23. 

22jähr. Mädchen 

18 »/* St. 

1 1/4 Tag. 

916,5 

715 

179,7 

1255 

18. 

36jähr. Mann 

12—16 St. 

4 Tag. 

865,6 

964 

1 


26. 

59jähr. Mann 

20—21 St. 

4 Tag. 

677,7 

540 

36,6 

1020 

19. 

32jähr. Mann 

17 St. 

2 72 Tag. 

482,0 

1447 

111,2 

1773 

8. 

20jähr. Mädchen 

8 St. 

2 Tag. 

224,9 

780 



20. 

21jähr. Mädchen 

18 St. 

4 Tag. 

168,7 

430 



32. 

35jähr. Frau 

50 St. 

13 Tag. 

153,6 

400 

11,6 

120 

16. 

40j ähr. Frau 

14 St. 

45 Tag. 

126,0 

170 



28. 

50jäbr. Mann 

38 St. 

3 Tag. 

120,5 

603 



25. 

34jähr. Frau 

20 St. 

6 Mon. 

117,7 

129 



27. 

36jähr. Mann 

24 St. 

3 Tag. 

93,0 

? 

23,0 

712 

17. 

2 3 / 4 jähr. Mädchen 

14 St. 

3 Tag. 

53,2 

85 



10. 

24jähr. Mädchen 

9 St. 

2 Tag. 

9,42 

600 



11. 

46jähr. Mädchen 

9»/ 2 st. 

3 Tag. 

7,82 

165 



35. 

4jähr. Mädchen 

90 St. 

2 Tag. 

4,0 

139 

17,9 

580 

33. 

30j ähr. Frau 

62 St. 

2 Tag. 

Nichts 

100 

Nichts 

100 


21* 


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314 


Prof. Lesser, 


seines Inhalts zur Untersuchung gelangt, in No. 33 hat der Chemiker 
nur 100 g dieser Theile verarbeitet, trotzdem ihm der ganze Darm und 
Inhalt zugestellt worden war; die 100 g sind jedoch erst nach Mischung 
der Gesaramtmenge dieser entnommen worden. In den übrigen Fällen 
beziehen sich die Zahlen der isolirten Arsenikmenge stets auf die 
unverkürzten Massen der ersten Wege und ihres Inhaltes. 

In No. 4, 23, 35 ist der Inhalt des Magens und der des Darmes, 
nachdem seine Reste durch sorgfältiges Abstreifen von der Schleim¬ 
haut entfernt worden, gesondert von den Organen untersucht worden. 
Fs fanden sich, auf 100 g jedes Objects berechnet: 

Tabelle C. 

in No. 4 in No. 23 in No. 35 
(9jähr. Knabe (22j. Mädchen (4jähr. Mädch. 
f n. 6 V 2 Std.) f n. 18 V 2 St.) + n. 90 St.) 
in Magen und Zwölffingerdarm . . 47mgAs 2 0 3 , 65mgAs2 0 3 , 2mgAsj0 3 , 

in deren Inhalt.418 „ „ 182 „ „ 3 „ „ 

in Dünn- und Dickdarm . ... 5 , , 8 „ , 3 , , 

in deren Inhalt.45, „ 37, , 1, , 

In No. 4, 23, 35 steht der procentuale Giftgehalt des Magen- 
und des Darm-Inhaltes zu der Dauer der Krankheit in einem gewissen 
Verhältniss, d. h. in der erstangeführten Beobachtung ist am meisten 
As 2 0 3 , in der an III. Stelle erwähnten am wenigsten gefunden worden: 
wie irrig jedoch der Satz wäre, je kürzer der Verlauf der 
Intoxikation, um so grösser der Giftgehalt der ersten Wege, 
lehrt ein Blick auf die Tabelle A. Man vergleiche nur die Be¬ 
funde in No. 23 mit denen in No. 10 und 11, den von 26 mit jenem 
in Beobachtung 20 etc. 1 ) In Fall 23 und in No. 26 trat das erste Er¬ 
brechen nach Verlauf von 2 resp. 3 Stunden, also relativ spät, ein, 
in No. 10 und 11 und wahrscheinlich auch in No. 20 erfolgte es kurze 
Zeit nach Einführung des Giftes; bemerkenswerth erscheint mir dieses 
Moment immerhin, da auch in anderen Fällen der ersten Hälfte der 
Tabelle A ein grösserer Zwischenraum zwischen Ingestion des Arseniks 
und Beginn der Entleerungen gelegen war, als in den zum Schluss 
dieser Zusammenstellung angeführten Beobachtungen; aber eine Re¬ 
gel lässt sich auch hieraus nicht abstrahiren (s. z. B. No. 8). 

1) In einem oben nicht aufgeführten Selbstmorde eines 62jähr. Mannes, dessen 
Krankheitsdauer nicht zu eruiren, dessen ziemlich faule Leiche 10 Tage nach dem 
Tode secirt worden war, fand Herr B. Fischer in Magen und Inhalt, Speiseröhre 
und Zwölffingerdarm (760 g) 32,44 g As, 2 0 3 (zum allergrössten Theile ungelöst), 
in Leber, Milz, Nieren (1200 g) 0,819 g As 2 0 3 , in Urin (13 g) Spuren As. 


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Uober die Verkeilung einiger Gifte im menschlichen Körper. 


315 


In 7 der Beobachtungen ist der Magen -f* Inhalt gesondert von dem 
Darm -f- Inhalt untersucht worden. In 100 g sowohl jenes wie dieses 
Objekts war keine Spur von Arsen bei No. 33 (f p. 62 h.) aufzu¬ 
finden: Die Theile verhielten sich also in Bezug auf den Giftgehalt 
gleich. Aus dem Darm-f-Inhalt der Beobachtung 35 (f nach 90 Stdn.) 
wurden relativ und absolut grössere Mengen Arseniks dargestellt, als 
aus dem Magen -f- Inhalt (3,1 pCt.: 2,8 pCt.); umgekehrt verhielt es sich 
in den binnen kürzerer Zeit letal geendeten Fällen No. 4 (f nach 
6 1 /a Stdn.), 2 (f nach 5 —6 Stdn.), 19 (f nach 17 Stdn.), 23 (f nach 
18 Stdn.), 26 (f nach 20 —21 Stdn.), aber auch der relative Gift¬ 
gehalt des Darmes -f- Inhalt ist, wie der absolute (s. o.), 
ohne constante Beziehung zur Länge der Intoxikation. 

Ebenfalls überragt der Giftgehalt des Magens -f- Inhalt den der 
tieferen Theile des Verdauungskanals in No. 9 (+ nach 8 Y 2 —9y 2 Stdn.), 
in welchem Falle das Gift höchstwahrscheinlich gelöst genommen 
war, während Analoga zu No. 35 die Beobachtungen 41 und 49 ab¬ 
geben können, bei welchen es sich allerdings, wenn nicht ausschliess¬ 
lich, so doch zum wesentlichsten Theile um secundäre Ausscheidung 
der Noxe in den Verdauungskanal handeln dürfte. 

In der dritten Kategorie der Fälle, die die Intoxikationen mit 
zum Theil ungelöstem Arsenik umfasst, fallen No. 14 und 22 durch 
die geringe Menge isolirten Giftes auf; nach ihrer Geschichte dürfte 
die Annahme berechtigt erscheinen, dass das Arsenik mindestens zum 
wesentlichen Theile in Solution genommen worden ist. In Beobachtung 
14 (f nach 12 Stdn.) Hessen sich in Magen und Inhalt (nebst Milz) 
nur 0,272 mg, in 22 (f nach 18 Stdn.) in Magen und Inhalt nur 
0,844 mg As 2 0 3 nachweisen. 

Die Vermuthung der Giftanwendung in Lösuug rufen auch die 
Untersuchungsergebnisse von 13 und 15 wach. 

Vergleicht man die Befunde in No. 5, 21 , 24 mit einander, so 
springt wiederum die Incongruenz ihrer Grösse mit der Länge des 
Krankheitsverlaufs in die Augen. Das Nämliche illustriren die Fälle 
1 und 29. 


b) Giftgehalt der zweiten Wege. 

Es empfiehlt sich, zunächst (Tabelle D) die Analysen in’s Auge zu 
fassen, die sich auf einzelne Organe und unvermischte Flüssigkeiten be¬ 
ziehen, und erst im Anschluss hieran (Tab. E) die Befunde einander gegen¬ 
über zu stellen, welche aus Untersuchungen von Organ- etc. Gemischen 


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316 


Prof. Lesscr, 


sich ergeben haben. Jene Explorationen beziehen sich ausschliesslich 
au( Fälle, in welchen das Gift in Pulverform genommen worden war. 

In den Tabellen D ist der procentuale Giftgehalt der Objekte 
und zwar in Milligrammen As 2 0 3 angegeben, die Abtheilung « umfasst 
die Beobachtungen, in denen es sich um erwachsene Personen ge¬ 
handelt hat, die mit ß bezeichnete solche, welche sich auf Kinder 
beziehen. 


Tabelle Da. 


P* 

Alter 

und 

Geschlecht 

Tod 

nach 

Stund. 








Körper¬ 

muskeln 

Os femoris 

Section 

nach 

Tagen 

2 

49 j. Frau 

5—6 

4,3 

1,4 

47,0 

1,2 

0,4 

22,2 

0,2 

0,5 

0,4 

2 

11 

46j. „ 

91/2 





2,0 





3 

19 

32j. Mann 

17 

3,5 

4,2 

3,6 

0,8 

2,0 

0,4 

0,3 

0,3 


2 v 2 

23 

22j. Mädchen 

18>/ 2 

5,3 

16,2 

16,3 

9,2 

14,8 


Spur 

1,5 


1V4 

26 

59j. Mann 

20—21 

4,3 

1,6 

10,6 

1,3 


2,2 

0,1 

0,3 

0,6 

4 

27 

36 j. „ 

24 

2,8 

1,4 

1,1 

0,8 

0.4 

0,4 

0,1 

0,6 

1,3 

3 

33 

30j. Frau 

62 

Spuren 

Nichts 

Spur 

Nichts 

! 


Nichts 

Nichts 

Nichts 

Nichts 







Tabelle D/9. 







4 

9j. Knabe 

6‘/, 

6,1 

5,1 

3,7 

1,7 

5,8 

2.0 

1,0 

2,5 

0,7 

4 

35 

4j. Mädchen 

90 

0,2 

4,6 

6,5 

2,2 

1,8 

4,5 

0,3 

1,4 

0,4 

2 


Die Leber des Falles 23 ist die giftreichste von den der in Ta¬ 
belle Da mitgetheilten Beobachtungen, die von No. 2 und 19 sowie 
von No. 26, 27, 33 enthalten geringere Quantitäten Arsenik. Während 
aber der Giftgehalt des in Rede stehenden Organs in den letztange¬ 
führten Intoxicationen continuirlich abnimmt, ist er bei No. 2 grösser, 
als in No. 19, trotzdem die Dauer der Erkrankung hier fast 3 mal 
so lang ist, als dort. 

Auch die Nieren, das Herz, das Blut, die Körpermuskeln des 
Falles 23 weisen das Maxiraum des Giftgehaltes im Vergleich mit 
den nämlichen Theilen der anderen Beobachtungen auf; bei den Nieren 
und bei dem Blut ist das Anwachsen des Giftgehalts in den voran¬ 
gestellten Intoxicationen ein continuirliches wie auch das Abnehmen 
dieses in den später aufgeführten Vergiftungen. Das Herz der No. 2 
wies mehr Arsenik auf als das von 19; das nämliche Verhalten sehen 
wir bezüglich der Körpermuskeln Platz greifen, auf deren erhebliche 


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Ueber die Vertheilung einiger Gifte im menschlichen Körper. 


317 


Differenz gegenüber dem Myokard (Herz dürfte wohl = Myokard 
zu setzen sein) ich noch besonders aufmerksam machen möchte. Die 
Abnahme der isolirten Arsenikmengen vollzieht sich in No. 26, 27, 
33 bezüglich des Herzens continuirlich, die Körpermuskeln des Falles 
27 sind erheblich reicher an Gift wie die von 26. 

Der enorme Arsenikgehalt der Milz in No. 2 (postmortale Diffu¬ 
sion des As 2 0 3 ?) fällt vollständig aus dem Rahmen der anderen Milz¬ 
analysen heraus, welche sich im Uebrigen um diejenige von 23 in 
analoger Weise gruppiren, wie es schon bei den übrigen Unterleibs¬ 
drüsen betont worden ist. 

Die Lungen von 2 enthalten unverhältnissmässig grosse Quanti¬ 
täten Giftes, in zweiter Reihe stehen die Athmungsorgane von 26, 
während die von 19 und von 27 gleich wenig und die von 33 gar 
kein Arsenik aufweisen. Ob nicht der Reichthura der Respirations¬ 
organe in No. 2 durch postmortale Vorgänge (Hineingelangen von 
Mageninhalt in Luftwege) veranlasst worden, muss ich offen lassen. 

Das Gehirn, dessen procentualer Giftgehalt geringer ist, als der 
aller bisher angeführten Organe, erreicht das Maximum in No. 19; in 
26 und 27 wurde mehr Arsenik nachgewiesen, als in 23. 

Der Oberschenkelknochen von 27 hat die reichlichste Menge 
As 2 0 3 geliefert, der von 26 kaum die Hälfte dieser Quantität, jener 
von 2 noch weniger, in 33 erwies er sich frei von Gift. 

Fall 4 und No. 35 (D ß) bieten ein anderes Bild der As 2 0 3 -Ver- 
theilung dar, so dass sie gesonderte Betrachtung erheischen: eine 
Differenz, die bei der Uebereinstimmung der Einführungsform der Noxe 
mit der der Fälle in Tabelle D a möglicher Weise mit der Jugend der 
Vergifteten in Zusammenhang zu bringen sein dürfte. Zunächst ist 
auffallend, dass der Tod in 4 erst eingetreten, nachdem so erhebliche 
Mengen Arsenik in den Organen abgesetzt worden sind, zweitens ist 
bemerkenswerth, dass die procentualen Quantitäten bezüglich der Le¬ 
ber, der Nieren, des Herzens, des Blutes, des Gehirns, der Körper¬ 
muskeln und der grossen Röhrenknochen erheblich die des Falles 2 
übersteigen, der in annähernd gleicher Zeit geendet hat. Eine Ar¬ 
senik-Anreicherung gegenüber den gleichen Organen des Bruders (No. 4) 
haben die Lungen und das Herz von 35 erfahren; die übrigen Ob¬ 
jekte wiesen in dieser Beobachtung einen geringeren Giftgehalt auf, 
als die entsprechenden von 4. Die Differenzen zeigen erhebliche 
Unterschiede; sie sind am grössten bezüglich der Leber und des 
Hirns, welches letztere in 4 eine Quantität As 2 0 3 isoliren liess, wie 


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318 


Prof. Lesser, 


sic keine der anderen Vergiftungen auch nur annähernd erreicht hat. 
Betonen möchte ich noch, dass die Vergiftung 33 durchweg, Beobach¬ 
tung 27 mit alleiniger Ausnahme der Knochen geringeren Giftgehalt 
der Organe darbietet als Fall 35, dessen Krankheitsdauer beträchtlich 
länger gewesen. 

Der procentuale Giftgehalt der Magenwand und der der Darm¬ 
wand in No. 4, 23, 35 (siehe Tabelle C, S. 314) weist, worauf ich noch 
beiläufig aufmerksam machen möchte, das Maximum in No. 23 auf. 

Tabelle E a giebt einen Ueberblick über die Befunde in den 
zweiten Wegen bei Intoxikationen Erwachsener, E ß bei solchen, die 


E a. 



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lieber die Verthcilung einiger Gifte im menschlichen Körper. 319 

Kinder unter 10 Jahren betroffen haben; während die Länge der 
Krankheit die Anordnung ira Ganzen bedingt hat, ist der Aggregat¬ 
zustand des eingeführten Arseniks bei der Eintheilung ebenfalls be¬ 
rücksichtigt. Im Gegensatz zu den Analysen in Tabelle D beziehen 
sich die hier zusammengestellten Befunde auf ungleichartige Objekte; 
die über die letzteren vorhandenen Angaben schlicssen zudem eine 
Schätzung des procentualen Verhältnisses aus, mit welchem jedes Organ 
in dem betreffenden Gemische vertreten ist. Die Befunde der Tabelle E 
sind daher mit einander und mit denen der Tabelle D nur in be¬ 
dingter Weise zu vergleichen. 



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320 


Prof. Lcsser, 


Eß. 


Fall } 

Alter 

und 

Geschlecht 

Tod 

nach 

Stund. 

xi 

o 

ct5 

ß 

ß 

o 

‘~p 

Ö 

<v 

Gift ungelöst eingeführt 

Leber 

Nieren 

Milz 

Herz 

Blut 





— 


_^ 



7 

27 2 j. Mädchen 

7 

3 Tag. 

+ Hirn 

380 

Spuren 

15 

5V*J. „ 

14 

^ » 





80 Spur) 

17 

2 8 /J. * 

14 

3 „ 



87 ' 

5,96 

31 

lOj. Knabe 

48 

6 „ 

+ Haut 








u. Lunge 








Spuren 




34 1 

1 V 12 j- » 

Tage 

1 „ 

+Darm 






3—4 


335 0,075 





Gift höchstwahrscheinlich vollstän¬ 
dig gelöst genommen 






ö 


u 

CJ 

ß 

<D 

Ut 

o> 

s 

(Q 

<v 

bo 

ß 

Gehirn 

<v 


• 

0> 

ß 


X3 

£ 


w 




Gift vielleicht gelöst genommen. 
Gift vielleicht gelöst genommen. 
Gift ungelöst eingeführt. 

Gift extern in Lösung applicirt. 


Gift ungelöst eingeführt. 


1 Schweinfurter-Grün-Vergiftung. 


Um so bemerkenswerther ist es, dass die drei der am ehesten 
zusamraenstellbaren Analysen aus der ersten Columne der Tabelle E « 
eine ähnliche Reihe bilden, wie die Intoxikationen der Tabelle D «. 
Wie hier im Grossen und Ganzen eine Beziehung zwischen 
der Länge der Vergiftungsdauer einerseits und dem Gift- 
gehaltc der einzelnen Organe der zweiten Wege anderer¬ 
seits zu statuiren ist und zwar in der Weise, dass bis zu 
einem gewissen Zeitpunkt, weicher bei den verschiedenen 
Organen differirt, ein Anwachsen des Giftgehalts und als¬ 
dann ein Sinken desselben statthat, so zeigt sich auch 
etwas Analoges in No. 10, 20, 32. Man fand bei Fall 10 (24jähr. 
Mädchen, f nach 9 Stdn., sec. nach 2 Tag.) in Leber, Milz, Nieren 
2,2% As 2 0 3 , bei Fall 20 (21 jähr. Mädchen, f nach 18 Stdn., sec. nach 
4 Tag.) in Leber, Milz, Nieren 4,2% As 2 0 3 , bei Fall 32 (33jähr. Frau, 
f nach 50 Stdn., sec. nach 13 Tag.) in Leber, Milz, Nieren 1,07% 
As 2 0 3 . In Fall 11 weisen Theile der nämlichen Unterleibsorgane und 
einer unbestimmten Gewichtsmenge Hirns erheblich weniger Arsenik 
auf, wie in Beobachtung 10, es liegt aber so nahe,*diese Differenz 
der ungleichartigen Mischung der Untersuchungsobjekte zuzuschreiben, 
dass jene durch diese wohl als erklärt angesehen werden kann. Für 
die Vergleichung von 18 und 20 dürfte das Nämliche geltend zu 
machen sein. Auf den (minimalen) Befund in No. 28 mag neben der 
Zusammensetzung des Objekts vielleicht auch der Schwächezustand 


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Ueber die Vortheilung einiger Gifte im menschlichen Körper. . 321 



des Verstorbenen zur Zeit der Intoxikation — in allen anderen Fällen 
der Columne 1 handelte es sich um vor dieser gesunde Personen — 
von Belang gewesen sein. Die geringe Menge der zur Untersuchung 
eingesandten Organtheile lässt das Resultat des Falles 8 aus der 
Vergleichung ausscheiden; es erscheint mir endlich als nicht von vorn¬ 
herein gänzlich auszuschliessen, dass die Grösse des Zwischenraumes 
zwischen Tod und Sektion in No. 25 einen Antheil hat an der Differenz 
dieser Analyse und jener der Beobachtung 20, deren Vergiftungsdauer 
ziemlich gleiche Länge aufweisen, wie ja auch der Fall 16 in dem 
nämlichen Sinne von Fall 18 sich unterscheidet. 

Nimmt man an, dass in Beobachtung 1 und in No. 29 (IV. Col.) die 
Noxe in fester Form genommen worden ist, so fügen sich die Befunde der 
durch die Fälle 10, 20, 32 gebildeten Reihe überraschend gut ein. 

Es spricht nichts gegen die Annahme, dass in dem vorletzten 
Falle der dritten Spalte, No. 21, Arsenik zum wesentlichen Theil in 
Flüssigkeit suspendirt cingeführt worden ist; trotzdem eine grössero 
Anzahl von Organen an den dem Chemiker zugestcllten Massen par- 
ticipirte als in No. 20 — bei beiden trat der Exitus 18 Stunden nach 
Vergiftung ein —, ist der procentuale Giftgehalt beide Male fast der 
nämliche (4,2 % un( l 4,3%), ein ferneres Moment, welches dafür 
anzuführen wäre, die Ingestionsform sei wie die Intoxicationsdauer 
die nämliche gewesen. 


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322 


Prof. Lesser, 


Die Fälle 5, 12, 24 (III. Columne) haben ausser der gleichen 
Einführungsform (zum [wesentlichsten] Theil in Lösung) das Gemein¬ 
same, dass die Entleerungen erst nach zwei und mehreren Stunden 
begonnen haben; sie zeigen ein Yerhältniss ihres Giftgehalts, welches, 
nicht ohne Regelmässigkeit, von dem in No. 1, 10, 20, 29, 32 auf¬ 
gefundenen erheblich sich unterscheidet. Ich möchte es nicht von 
der Hand weisen, dass diese Differenz allein durch die in 
der einen Reihe feste, in der anderen Gruppe flüssige Be¬ 
schaffenheit des ein verleibten Arseniks veranlasst worden 
ist. Es fanden sich bei Beobachtung 5 (56jähr. Mann, f nach 
6V 2 Stdn., sec. nach 20 Tag.) in Leber, Milz, Nieren 7,3%As20 s , bei 
Fall 12 (62jähr. Mann, f nach 10 Stdn., sec. nach 5 Tag.) in Leber, 
Milz, Nieren 2,2 % As 2 0 3 , bei Fall 24 (50jähr. Mann, f nach 18y 2 Stdn., 
sec. nach 2 Tag.) in Leber, Milz, Nieren Spur AsaOg. 

Wir sehen also eine Abnahme des procentualen Gift¬ 
gehalts mit der Länge der Intoxikation eintreten, jene ist, 
wie sich sofort ergeben wird, keine ganz regelmässige, 
d. h. sie hängt nicht ausschliesslich von dieser ab. 

Dass das Untersuchungsergebniss des Falles 3 nicht ein mit den 
der zuletzt erwähnten Beobachtungen vergleichbares Resultat — die 
Einführungsform dürfte die gleiche gewesen sein — ergeben hat, 
ist aus der Zusammensetzung jenes und die so späte Analyse ver¬ 
ständlich. 

No. 13 und 14 (II. Columne) weisen eine wesentlich geringere 
Quantität Arseniks in den untersuchten Theilen der zweiten Wege auf, 
als Beobachtung 12, die gleichfalls in 10 Stunden letal geendet hatte, 
eine Differenz, welche ich nur zum unwesentlichen Theile der Ver¬ 
schiedenartigkeit der Objekte zuschreiben möchte, ln No. 12 lagen 
zwischen Einführung des Giftes und Beginn der Krankheitserscheinungen 
mehrere Stunden, in 14 stellten sich nach Auskunft der Akten copiöse 
uud oft wiederkehrende Entleerungen sehr bald nach Ingestion der 
Noxe ein. Eine Krankheitsgeschichte existirt bezüglich des Falles 13 
nicht; beachtenswerth erscheint hier jedoch die ausserordentlich geringe 
Menge der bei der Sektion angetroffenen Contenta des Magens und 
des Darms. Jedenfalls ist die Dauer der resorptiven Wirkungen 
des Arseniks in 12 eine nicht unbedeutend kürzere gewesen als in 
13, Fall 12 ist mithin nicht einfach bezüglich seiner Dauer mit Be¬ 
obachtung 13 zu parallelisiren, jener hat qua Krankheit mehrere 
Stunden weniger gewährt; ein grösserer Giftgchalt seiner Organe 


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lieber die Verkeilung einiger Gifte im menschlichen Körper. 


323 


gegenüber 13 wäre also, falls die von No. 5, 12, 24 gebildete Reihe 
keine zufällige wäre, vorauszusehen gewesen. Sind die Reaktions¬ 
erscheinungen in No. 14 ebenfalls schnell eingetreten, so würde das Er¬ 
gebnis seiner chemischen Untersuchung sich bequem in die Folge der 
No. 5, 12,13, 24 einfügen: auch in 24 entsprach übrigens die Krankheits- 
länge nicht voll der Zeit zwischen Ingestion des Giftes und dem Tode. 

In Beobachtung 9, in welchem der Exitus l 1 / 2 —8y 2 Stunden 
nach Beginn des Erbrechens, S l / 2 — 9 Y 2 Stunden nach Ingestion der 
in Lösung befindlichen Säure eintrat, wies die chemische Untersuchung 
eine noch geringere Quantität derselben nach als in No. 13. 

Ob aus dem noch winzigeren Gehalt der grossen Unterleibsdrüsen 
und des Blutes in No. 6 (Tod nach 7 Stunden) der Schluss zu ziehen, 
dass auch hier der Arsenik gelöst genommen, halte ich für durchaus 
discutabel. 

Wäre diese Annahme eine zutreffende, so würden also die No. 6, 
9, 13, 14, 24 gemeinsam darthun, wie schnell bei flüssiger Ingestion 
der Arsenik ausgeschieden wird; es ist ausserordentlich zu bedauern, dass 
Harnuntersuchungen aus einem oder mehreren dieserFälle nicht vorliegen. 

Blicken wir nun noch einmal zurück auf die Auseinandersetzungen 
dieses Abschnittes, so sehen wir, dass die am wenigsten complicirten 
Beobachtungen der Tabelle E a (die Gründe, weshalb ich den Fällen 8, 
25, 28 eine eximirte Stellung glaube zuweisen zu müssen, habe ich 
S. 320 und 321 bereits angeführt) mit Hilfe einiger Hypothesen in zwei 
Kategorien unterzubringen sind. Die eine, 9 Intoxikationen (No. 1, 
8, 10, 11, 16, 18, 20, 21, 32) umfassend, bietet eine (gewisse) Bestäti¬ 
gung der durch die Fälle der Tabelle Da angedeuteten Regel be¬ 
züglich der Resorption und der Ausscheidung des in fester Form auf 
ein Mal genommenen Arseniks, die zweite, 8 Fälle (No. 3, 5, 6, 9, 12, 
13, 14, 24) in sich begreifend, giebt Aufschluss über den Giftgehalt 
der zweiten Wege nach einmaliger Ingestion der nämlichen, aber in 
Lösung befindlichen Noxe. 

Es erscheint mir nicht uninteressant, noch die Befunde in dem 
Verdauungskanal mit denjenigen in den zweiten Wegen zusammenzu¬ 
stellen, so weit dies thunlich ist. 

Tabelle F a. In 100 g der In 100 g des 

zweitenWege Magensu.Inh. 

Fall 1 (60j. Mann, f n. 5 Stdn., sec. n. 5 Tag.) 1,1 85 

„ 8 (20j. Weib, f „ 8 „ „ „ 2 „ Spur 28,9 

„ 10 (24j. Mann, f „ 9 „ „ „ 2 „ Spuren 1,5 

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324 


Prof. Löss er, 


In 100 g der In 100 g des 
zweitenWege Magens u.Inh. 


Fall 11 (46 j. Mann, 

f n. 9 1 /» Stdn., s 

ec. n. 

3 Tag.) 

1,4 

4,7 

„ 18 (36j. „ 

t „ 12-16 „ 

ti n 

4 

V 

1,3 

89,8 

„ 20 (21j. Weib, 

t n 18 „ 

TI TI 

4 

TI 

4,2 

41 

„ 25 (34j. „ 

t » 20 „ 

TI TI 

180 

TI 

15,4 

91 

„ 28 (50j. Mann, 

t n 38 „ 

V 71 

3 

V 

Spur 

20 

„ 29 (46j. Weib, 

t » 42 » 

TI TI 

1 

TI 

1,5 

66 

„ 32 (33j. „ 

t n 50 „ 

TI TI 

13 

TI 

1,07 

38 

Tabelle 

F ß. 




-j- Darm u. Inhalt 

Fall 5 (50j. Weib, 

f n. 67 2 Stdn., sec. n. 

20 Tag.) 7,3 

83,5 






Magen u. Inhalt 

8 (40j. „ 

t n 7 

TI TI 

3 

V 

Spur 

87,8 

„ 9 (35-40j. Mn f „ 87,-9 

TI TI 

1 

V 

Spur 

61,7 

„ 12 (62j. Mann, 

t * 10 „ 

V 7) 

5 

TI 

2,2 

5 






4- Darm u. Inhalt 

„ 13 (25-30j. W. 

t „ 10-12 „ 

TI TI 

4 

7) 

0,15 

0,35 






Magen u. Inhalt 







u. Milz 

„ 14 (53j. Mann, 

t n 12 „ 

TI 7) 

2 

TI 

Spur 

0,072 






Magen u. Inhalt 

„ 24 (50j. „ 

t » 18% „ 

TI TI 

2 

T) 

Spur 

54,7 


Tab. F a enthält Vergiftungen mit Arsenik in Pulverform, Tab. F ß 
solche, in denen zum Mindesten die Vermuthung berechtigt ist, 
das Gift sei zum wesentlichen Theil gelöst genommen worden. In 
No. 25 (Tab. F «), der jedoch in Folge der späteren Anstellung der 
Analyse eine Ausnahmestellung zuzuerkennen, fällt zwar der grösste 
Giftgehalt des Magens und seines Inhaltes mit dem der zweiten 
Wege zusammen, aber welch eine Differenz bezüglich dieses Verhält¬ 
nisses besteht in den Beobachtungen 1, 18, 29. In 100 g der zweiten 
Wege wurden bei der letzterwähnten Intoxikation 1,5 mg As 2 0 3 er¬ 
mittelt; fast das nämliche Resultat ergab sich in No. 11 (1,4 mg), 
in dem Magen und Inhalt dieses Falles betrug der Giftgehalt 4,7, in 
dem von 29 66pCt. No. 11 und 18 bieten einen analogen Unterschied. 

Es fällt also hier weder der höchste Giftgehalt der 
ersten Wege mit dem der zweiten zusammen, noch finden 
wir das Arsenik-Maximum in diesen neben den kleinsten 
Befunden in Magen und Inhalt; eine gesetzmässige Be¬ 
ziehung in Betreff des in Rede stehenden Verhältnisses tritt 
nicht hervor. 



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Ueber die Vertheilung einiger Gifte im menschlichen Körper. 


325 


Das Nämliche zeigen die Beobachtungen der Tabelle F ß. 
Die Ergebnisse von 6, 9, 24 führen wie die von 1, 8, 18, 20, 29, 32 
zu der Vermuthung, dass die Resorption der Noxe in den späteren 
Stadien der Intoxikation eine minimale ist, eine Erscheinung, die in 
den alsdann vollentwickelten katarrhalischen Veränderungen der In¬ 
testinalschleimhäute sehr wohl ihren Grund haben könnte. 

In Tabelle E ß zeigt Beobachtung 17 (2 8 /Jähr. Mädchen, f nach 
14 Stdn., sec. nach 3 Tagen) einen sehr hohen Giftgehalt der zweiten 
Wege, trotzdem mit den grossen Unterleibsdrüsen auch das Herz 
untersucht worden ist, ein Befund, welcher mit den Ergebnissen der 
Tabelle D ß in Uebereinstimmung steht. 

Ist die Annahme zutreffend, dass in No. 7 und 15 die Noxe 
gelöst einverleibt worden, so würden die Spuren des Arseniks, welche 
man aus den zweiten Wegen dieser Beobachtungen isolirt hat, im 
Hinblick auf die Ergebnisse der in der Tabelle E ß verzeichneten Ver¬ 
giftungen nicht ohne Analogie sein; aber der Unterschied in der 
Aufnahme und in der Ausscheidung des Arseniks zwischen dem kind¬ 
lichen und dem erwachsenen Organismus, welcher nach Ingestion des 
pulverförmigen Giftes hervortritt, erscheint hier verwischt. 

Von einer Vergleichung der beiden letzten Fälle der Tabelle E ß 
nehme ich Abstaud, weil die Organe der zweiten Wege nicht isolirt 
dem Chemiker zugestellt worden sind. 

Ib. Tödtliche Vergiftung durch mehrfache Ingestion von 

Arsenik. 

In No. 36 (mehrfache Beibringung einer Fliegenpapier-Auslaugung) 
war die letzte Dosis etwa 12 Stunden vor dem Tode gereicht worden: 
die Analyse wies in Theilen der ersten Wege (750 g Magen, Darm 
-1- Inhalt) 52,1 mg As 2 0 3 nach. Dieser Befund ist um ein sehr 
Erhebliches höher als der entsprechende in den ca. l / 2 Tag währenden 
Intoxikationen 13 und 14: eine Differenz, die zum Theil darin ihren 
Grund haben könnte, dass in Beobachtung 36 zur Zeit der letzten 
Arsenikeinführung bereits stark afficirte Schleimhäute, im Beginn der 
beiden anderen Intoxikationen dagegen mit normalen Resorptions¬ 
verhältnissen ausgestattete Mägen und Därme vorhanden gewesen 
sind (siehe oben). 

Leider boten die Akten der drei folgenden Fälle der Tabelle Ib 


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326 


Prof. Löss er, 


gar keinen Anhalt für die Verabreichungszeit der letzten Giftdosen, 
geschweige einen solchen für deren Grösse dar. 

In No. 36 war übrigens der Arsenikgehalt der intestinalen Con- 
tcnta und der der Magen-Darm-Wand fast der nämliche. (Section erst 
nach 11 Tagen!) 

Der Giftgehalt der zweiten Wege weicht in den Fällen 36 
und 14 nicht von einander ab. In Beobachtung 38, bei welcher in 
100 g der ersten Wege 22,5 mg As 2 0 3 ermittelt worden, betrug der 
Procentgchalt des aus Theilen der Leber, der Milz, der Nieren be¬ 
stehenden Objekts 1,7, in No. 37 4,1 und in Beobachtung 39, deren 
Sektion wiederum erst viele Wochen p. m. vorgenommen worden, 
8,2 mg arseniger Säure. Da über den Zustand der ersten Wege bei 
der letzten Gifteinführung sowie über den Zeitpunkt dieser selbst gar 
Nichts bekannt ist, so erübrigt sich eine Vergleichung der hier ge¬ 
machten Befunde mit solchen der Tabelle F ß. 

I c. Tod durch Delirium tremens und Arsenik-Vergiftung. 

I d. Medicinale Verabreichung von Solutio Fowleri nebst Anhang 
(Arsenwasserstoff-V ergiftung). 

In No. 40, in welcher jedenfalls und zwar zwei Tage vor dem 
Tode eine sehr viel erheblichere Quantität gelösten Arseniks, als in 
Beobachtung 41 4 Tage a. m., gereicht worden ist, war das Ergcbniss 
der Untersuchung des Magens und Inhalts ein negatives, während die 
Analyse in No. 41 sowohl in Magen und Inhalt wie in Darm und Con- 
tentis Spuren der Noxe nachzuweisen vermochte. In No. 41 war Er¬ 
brechen nicht eingetreten, in No. 40 hatten zahlreiche Entleerungen auch 
per os stattgehabt. Ob eine analoge Differenz auch bezüglich der zweiten 
Wege in Betreff der beiden in Rede stehenden Fälle vorliegt, wage ich 
nicht zu entscheiden; die Untersuchungsobjekte sind zu ungleich. 

In Hinblick auf das nämliche Moment möchte ich auch dahin¬ 
gestellt sein lassen, ob in der That, wie es den Anschein hat, die 
Organe der zweiten Wege in No. 41 giftreicher gewesen sind, als in 
Beobachtung 6, 9, 14, 24. 

Wenn es auch nicht überrascht, dass in der Arsen-Wasserstoff- 
Vergiftung (No. 40) trotz des späteren Eintritts des Todes (am 
12 . Tage) die Analyse fast jeden Organs positive Befunde ergeben 
hat, so sind doch die ermittelten Quantitäten, an den Mengen der 
vorstehenden Fälle gemessen, sehr grosse. 


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Ueber die Vcrtheilung einiger Gifte im menschlichen Körper. 


327 


Die durch AsHg 1 ) erzeugte Krankheit ist — wie ihre anato¬ 
mischen Substrate — wesentlich verschieden von der durch As 2 0 3 
bedingten Affektion. Bemerkenswerth erscheint es mir noch, dass 
der Magen, der akuter Veränderungen entbehrte, frei von Gift sich 
erwies, dass das Zwerchfell eine ganz besonders starke Affinität zu 
der Noxe zeigte, welche die der Körpermuskeln und auch die des Myo¬ 
kards übertraf. In den As 2 0 3 -Vergiftungen (No. 2, 4, 19, 23, 28, 35), 
bei welchen die Körpermuskeln untersucht worden, zeigten diese 
übrigens durchweg einen geringeren Giftgehalt als das Herz, während 
das Myokard des AsH a -Falles in dieser Beziehung weit hinter dessen 
Gesässrauskeln zurückstand. Der Gehalt seiner Leber spricht unzwei¬ 
deutig für ihr Aufspeicherungsvermögen in Bezug auf unsere Noxe. 

Die Abschnitte I e, I f bedürfen wohl keiner Erläuterung, zumal 
ich einige epikritische Bemerkungen in die Wiedergabe des That- 
bcstandes eingeflochten habe. 

Zum Schluss möchte ich nicht unerwähnt lassen, dass bei den 
Vergiftungen mit Schweinfurter Grün — eine in ihrer Zusammensetzung 
variirende Noxe — der Arsenik- und der Kupfergehalt der zweiten 
Wege weder mit dem der ersten noch der dieser beiden mit dem des 
benutzten Materials übereinstimmen müssen. 

So bot in Fall 20 der nicht verbrauchte Rest des angewendeten 
Grüns auf 100 Theile Arsenik 67 Theile Kupferoxyd; fast genau das 
nämliche Verhältnis bestand in dem Gift, das in dem zum Anrühren 
des Pulvers gebrauchten Topfe gefunden wurde; auf 100 Theile 
Arsenik kamen hier 67,1 von CuO. In dem Erbrochenen aber 
waren auf 100 As 2 0 3 111 CuO vorhanden. 


1) Die gefundenen As-Mengen sind in der grossen Tabelle (S. 296) auf 
AsgOg berechnet wiedergegeben worden; As wurde eruirt in Magen und Inhalt 
(160 g) keine Spur, in Dünndarm und Inhalt (745 g) 0,5 mg. 

ln Dickdarm und Inhalt . . . . ( 578 g) 0,15 mg 

„ der Leber.(1223 „) 12,0 „ 

,, dem Zwerchfell.( 98 „) 0,8 „ 

„ der Milz.( 107 „) 0,5 „ 

„ dem Gehirn.( 944 „) 0,4 „ 

„ der Galle.( 56 „) 0,3 „ 

„ Blut aus dem Herzen . . . . ( 63 „) 0,25 „ 

„ in Theilen der Gesässmuskcln . ( 357 „) 0,2 „ 

„ der linken Niere (die rechte fehlte) ( 212 „) 0,2 „ 

„ der linken Lunge.( 420 „) 0,15 „ 

„ dem von Blut befreiten Herzen . ( 230 „) Spuren. 

Viorteljahrsschr. f. gor. Med. Dritte Folge. XIV. 2. 22 


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828 Prof. Lcsser, Vertlieilung einiger Gifte im menschlichen Körper. 

ln Beobachtung 18 verhielt sich die Menge der As 2 0 3 zu der 
des CuO in dem Magen und Inhalt wie 100 : 44, in dem Gemisch 
von Leber, Milz, Nieren, Herz und Blut wie 100 : 60; in den zweiten 
Wegen von Fall 34 war das Verhältniss ein umgekehrtes, auf 1320 
Theile CuO kamen 100 Theile As 2 0 8 . 

Bei No. 48 fanden sich im Darm auf 100 Theile As 2 0 8 260 Theile 
CuO, in den Rumpforganen auf 100 As 2 0 8 173 CuO, im Magen war 
zwar eine Spur As, aber kein Kupfer, im Gehirn neben einer Spur As 
0,6 mg CuO nachweisbar: Differenzen, die wohl auf eine ver¬ 
schiedene Resorbirbarkeit der uns interessirenden Compo- 
nenten des Schweinfurter Grüns von den ersten Wegen aus 
und auf eine differente Aufspeicherungs-Fähigkeit der ein¬ 
zelnen Organe in Bezug auf jene zurückzuführen sein dürften. 

(Fortsetzung folgt.) 


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II. Oeffentliches Sanitätswesen. 


1 . 

Zwei Gutachten 

über 

Reinigung städtischer Kanalwässer 

auf Veranlassung der Stadtverwaltungen zu Köln und Thorn 

erstattet von 

Prof. C. Fraenkel in Halle a. S. 


a) Köln. 

Auf Grund einer am 16. October d. Js. ausgeführten Besichtigung 
der in Betracht kommenden Verhältnisse, sowie nach genauer Kennt- 
nissnahme der bisher vorliegenden Untersuchungen und Verhandlungen, 
erstatte ich das nachstehende Gutachten über die endgiltige Be¬ 
seitigung der dortigen Kanalwässer, bei dessen Abfassung ich die mit 
Schreiben vom 27. October d. J. aufgeworfenen einzelnen Fragen thun- 
lichst berücksichtigt habe, welche lauteten: 

1 . Ist bei den in Köln vorliegenden Entwässerungsverhältnissen, 
insbesondere bei der vorhandenen zweckentsprechenden Lage 
der Ausmündung der Kanalisation und den ungemein günstigen 
Vorfluthverhältnissen durch den Rhein eine Reinigung der Kanal¬ 
wässer in gesundheitlichem oder sonstigem Interesse erforderlich? 

2 . Eventuell in welchem Maasse? 

3. Genügt hierzu 

a) eine Abfangung der schwimmenden und schwebenden Stoffe 
(Fäkalien, Papier, Gedärme, Holz u. s. w.) und der schweren 
Stoffe (Sand, Kohle, Fleischreste u. s. w.) durch Siebe, 
Sandfänge oder andere geeignete Vorrichtungen, oder wird 
ausserdem 

b) eine Ausscheidung eines Thcils der im Kanalwasscr suspen- 
dirten Stoffe durch Klärbecken für erforderlich erachtet? 

22 * 


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330 


Prof. Fraenkel, 


4. Wie hoch wird bei Eintreten des Erfordernisses unter 3 b die 
Durchflussgeschwindigkeit in den Klärbecken zu bemessen sein? 

Ist es in gesundheitlicher Beziehung zulässig, den bei der 
Reinigung der Kanalwässer gewonnenen Schlamm, falls derselbe 
keine andere Verwendung findet, cinzuplaniren und zur Aus¬ 
füllung und Aufhöhung vorhandenen Terrains östlich der pro- 
jectirten Kläranlage zu benutzen? 

Darauf ist Folgendes zu antworten: 

Eine völlig freie Einleitung der von der Kölner Kanalisation ge¬ 
lieferten Abwässer ohne jede vorherige Behandlung in den Rhein ver¬ 
bietet sich trotz der ungewöhnlich günstigen dortigen Verhältnisse 
doch aus den verschiedensten Gründen. Einmal müssten mindestens 
die gröberen schwimmenden Substanzen, wie Papierfetzen, Kork¬ 
stopfen, Orangenschalen u. s. w., die zuerst die Aufmerksamkeit der 
stromabwärts befindlichen Flussanwohner auf sich lenken und die 
Klagen über die Verunreinigung des Wassers hauptsächlich hervor- 
rufen, aus der Jauche abgeschieden werden. Das gleiche gilt ferner 
für die schweren, die eigentlichen Sinkstoffe, wie Sand, feste Koth- 
ballen u. s. w., die ungeachtet der sehr zweckmässigen Lage der 
Mündung des Kanalrohrs im fliessenden Rheinstrom im Laufe der 
Zeit doch zur Ansammlung grösserer Schlammmassen im Flussbette 
Veranlassung geben können und deshalb unbedingt vorher zu be¬ 
seitigen sind. Endlich und namentlich aber erscheinen vom Stand¬ 
punkte der öffentlichen Gesundheitspflege besondere Einrichtungen 
zur Aufnahme und weiteren Behandlung der Schwemmjauche schon 
deshalb als nothwendig, weil sie allein uns die Möglichkeit gewährleisten, 
im Falle des Ausbruchs einer Seuche in der Stadt die Abwässer mit 
Hülfe chemischer Mittel gründlich zu desinfiziren und ihrer Gefährlich¬ 
keit zu entkleiden. 

Den hiermit aufgcstellten und kurz begründeten Forderungen 
würden nun zweifellos schon einfache mechanische Vorkehrungen, 
Eintauchplatten, Siebe und Sandfänge, sowie verhältnissmässig kleine 
Sammelbecken durchaus genügen. 

Wenn die Königl. Regierung anstatt dessen erheblich umfassendere 
Maassnahmen zur Reinigung der Schwemrajauche verlangt, so muss 
dieses Bestreben doch grundsätzlich als durchaus berechtigt bezeichnet 
werden. Dass die gewaltige Wassermasse des Rheins zur Zeit die 
ihm aus der Kölner Kanalisation zufliessenden Unrathmengen ohne 
jede Schwierigkeit rasch und sicher verdaut, geht aus den sorgfältigen 


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Zwei Gutachten über Reinigung städtischer Kanalwässer. 


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Untersuchungen von Stutzer und Knublaueh 1 ) mit zweifelloser 
Deutlichkeit hervor, nnd auch die von dem städtischen Bauinspector, 
Herrn Steuernagel 2 ), in seiner interessanten Abhandlung aufgestellte 
Berechnung, wonach der Zutritt der Kölner Kanaljauche den Ver¬ 
unreinigungsgrad des Rheins nur von l : 5000 auf 1 : 4975, also um 
etwa 0,5 pCt. erhöht, dürfte kaum anzufechten sein. Es ist aber bei 
der Würdigung dieser Thatsachen zu berücksichtigen, dass ausser 
Köln noch eine erhebliche Anzahl anderer grosser und mittlerer Ge¬ 
meinwesen am Rheine liegt und in den Fluss entwässert, die sich 
alle nach dem Muster und Beispiele von Köln richten und das Vor¬ 
gehen Ihrer Stadt bei der Behandlung des Kanalinhalts alsbald nach¬ 
zuahmen versuchen werden. Es ist gewiss bemerkenswerth, dass, 
wie die Akten erweisen, wenige Wochen nach Ertheilung der Er¬ 
laubnis zur Einleitung der Kanaljauche in den Rhein ohne vorherige 
chemische Klärung, sich Strassburg, Worms, Mainz, Wiesbaden und 
Düsseldorf schon mit Anfragen dorthin gewendet haben, die den 
Wunsch erkennen lassen, die nämliche Vergünstigung zu erlangen. 
Würde die Regierung sich nun in Köln mit der Erfüllung der nach 
Lage der dortigen Verhältnisse allenfalls zulässigen leichtesten Bedin¬ 
gungen begnügen, so würde sie die gleiche Concession auch an 
anderen Stellen kaum versagen können. Bei dem raschen und 
stetigen Anwachsen unserer grösseren Städte ist aber nicht zu be¬ 
zweifeln, dass auch der Rheinfluss eine allgemeine Benutzung als 
Ablagerungsstätte für städtische Auswurfsstoffe ohne eine im Laufe 
der Zeit immer zunehmende Verschmutzung nur dann zu ertragen 
im Stande sein wird, wenn bei der Einleitung .der Abwässer jede 
mögliche Vorsicht beobachtet wird. Die Staatsbehörden, denen der 
Schutz der öffentlichen Wasserläufe anvertraut ist, haben daher meines 
Erachtens alle Veranlassung, nicht den einzelnen Fall losgelöst aus 
seinem Zusammenhänge zu betrachten, sondern bei ihren Entschei¬ 
dungen auch die für die weitere Entwickelung der ganzen Frage 
resultirenden ’ Folgen zu erwägen, und deshalb grundsätzlich zu ver¬ 
langen, dass die unvermeidliche Verunreinigung der Flüsse 

1 ) Stutzer und Knublaueh, Untersuchungen über den Bakteriengehalt 
des Rheinwassers oberhalb und unterhalb der Stadt Köln. Centralbl. f. allgem. 
Gesundheitspflege. 1893. 

2) Steuernagel, Untersuchungen über die Verunreinigung des Rheins 
durch die Kölner Kanalwässer. Gesundheitsingenieur. 1893. 


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332 Prof. Fraonkel, 

sich wenigstens auf ein thunlichst geringes Maass be¬ 
schränke. 

Aber auch für die städtischen Verwaltungen ist es nicht nur 
ein nobile officium, sondern mehr noch ein Gebot der Klugheit, sich 
auf den gleichen Standpunkt zu stellen. Der Verzicht auf die früher 
stets geforderte chemische Reinigung der Abwässer bedeutet eine 
so erhebliche Rücksichtnahme auf die Interessen und die finanzielle 
Leistungsfähigkeit der Städte, dass es gewiss gerathen erscheint, sich 
zunächst mit dieser Errungenschaft zu begnügen. Thut man das 
nicht und versucht man, den Bogen noch weiter zu spannen, so ent¬ 
steht die Gefahr, dass das Pendel nach der anderen Seite zurück¬ 
schlägt, dass die jetzt glücklich überwundene rigorose Ausschliessung 
städtischer Abfallstoffe von den Flüssen, der man eine gewisse prin- 
cipielle und theoretische Berechtigung ja nicht wird abstreiten können, 
die aber für die Städte zu den grössten Unzuträglichkeiten geführt 
hat, aufs neue zu Ehren gelangt und der mühsam erreichte Fort¬ 
schritt wieder verloren geht. 

Es ist daher sehr erfreulich, dass die Stadt Köln in richtiger 
Würdigung dieser Thatsachen grundsätzlich durchaus bereit ist, ihre 
Kanalwässer vor der Einleitung in den Rhein einer sorgfältigen Säube¬ 
rung zu unterwerfen und nur über das Maass der hierfür nöthigen 
Vorkehrungen zu den Forderungen der Regierung in Widerspruch ge¬ 
rathen ist. Von beiden Seiten werden Sedimentirbecken, in denen 
die Schwemmjauche eine erhebliche Verringerung ihrer Strömungs¬ 
geschwindigkeit erfährt und so Gelegenheit findet, den grösseren 
Theil aller suspendy-ten Stoffe abzusetzen, als das für den vorliegenden 
Zweck geeignetste Mittel anerkannt. Während aber die Stadt den 
Becken nur eine Ausdehnung geben will, durch welche die Fort¬ 
bewegung der Flüssigkeit auf 15 mm in der Sekunde herabgesetzt 
wird, verlangt die Regierung eine Anlage, die eine Verlangsamung 
auf 4 mm ermöglicht, und es entsteht also die Frage, ob diese oder 
jene Anschauung die grössere Berechtigung hat. 

Meines Wissens sind genauere Untersuchungen über den Einfluss 
der mechanischen Klärung an umfangreicheren Anlagen bisher nur von 
Lepsius in Frankfurt a./M. 1 ) ausgeführt worden; dieselben haben 


1) Lepsius, Chemische Untersuchungen über die Reinigung der Sielwiisser 
im Frankfurter Klärbecken. Jahresbericht dos physikalischen Vereins in Frank¬ 
furt a. M. 3 Abhandlungen. Frankfurt a. M. 1889, 1890, 1891. 


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Zwei Gutachten über Reinigung städtischer Kanalwüsser. 


333 

bekanntlich zu dem sehr bemerkenswerthen Ergebnis« geführt, dass 
die mechanische Reinigung der chemischen nahezu ebenbürtig ist, 
und dass namentlich die suspendirten Stoffe, besonders ihr organischer, 
fäulnissfähiger Antheil bei beiden Verfahren in ganz dem gleichen 
Maassc, d. h. bis auf etwa 15 oder 17 pCt. ausgeschieden werden. 

In den Frankfurter Sielbccken wird die Strömungsgeschwindigkeit 
der Jauche auf 4 mm herabgesetzt; ich will jedoch bemerken, dass 
cs sich auch hier nur um einen Durchschnittswerth handelt, der zu 
gewissen Tageszeiten und bei Ausschaltung eines Beckens um ein 
mehr oder minder beträchtliches überschritten wird und sich nach 
der in der Regierungsverfügung vom 6. Febraur d. Js. für Köln auf¬ 
gestellten Rechnung eventuell bis auf etwas über 7 mm erhöhen kann. 
Trotzdem hat Lepsius regelmässig, auch in den Vormittagsstunden, 
zur Zeit des grössten Zuflusses, die erwähnten günstigen Ergebnisse 
erhalten, und wir wissen also, dass die mechanische Klärung 
bei einer Strömungsgeschwindigkeit von 4 mm in der Se¬ 
kunde alles erforderliche leistet. Dagegen ist es noch durch¬ 
aus unbekannt und weder auf dem Wege der Erfahrung noch des 
Versuches festgcstellt, wie sich die Dinge bei anderen Durchfluss¬ 
zahlen gestalten. Es wäre sehr wohl denkbar, dass z. B. bei 8 mm 
zwar nicht 83 oder 85, aber doch noch 75 pCt. und bei 15 mm 
noch 70 pCt. der suspendirten Stoffe abgefangen werden, und man 
würde jedesmal gewiss reiflich zu überlegen haben, ob der durch die 
stärkere Verlangsamung zu erzielende Gewinn in richtigem Verlud t- 
niss zur Höhe der aufgewendeten Mittel stehe. 

Schon aus diesem Grunde, weil also die hier aufgeworfenen 
Fragen noch durchaus einer Beantwortung und Lösung harren, würde 
ich es für ungerechtfertigt erachten, wenn man das Frankfurter 
Schema nun ohne weiteres auf alle ähnlichen Fälle übertragen wollte. 
Es lässt sich aber auch noch ein anderes Bedenken hiergegen geltend 
machen. Die Zusammensetzung der Abwässer verschiedener 
Städte ist keineswegs eine gleichartige, und somit werden 
auch die Anforderungen an die Reinigungsverfahren innerhalb gewisser 
Grenzen schwanken müssen und dürlen. Je nach dem durchschnitt¬ 
lichen Wasserverbrauch der Bevölkerung, nach der Entwickelung und 
dem Character der Industrie, nach der Lage des betreffenden Ortes 
u. s. f. wird die Jauche bald verdünnter, bald concentrirter sein, bald 
grössere, bald geringere Mengen suspendirter und gelöster Stoffe 
enthalten. 


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Prof. Fraenkel, 


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November d. Js. in 


So führen 1 ) z. B. die Kanalwässer von 
Paris 1515 rag suspendirter Substanzen im Liter. 

Frankfurt a. M. 1300 „ 

Berlin 670 „ 

London 614 „ „ 

Danzig 600 „ „ 

Die Kölner Sielwässer habe ich am 23-/24 
Pausen von je 6 Stunden dem Hauptkanal entnehmen lassen und bei 
ihrer Analyse nur einen Durchschnittsgehalt von 273 mg suspendirter 
Bestandtheile im 1., also eine relativ sehr geringe Menge gefunden. 
Möglich, dass diese Zusammensetzung eine zufällige, möglich auch, 
dass sie ein dauerndes Kennzeichen der Kölner Schweramjauche und 
durch die in den grösseren Sammelkanälen mehrfach angebrachten 
Schlammfänge bedingt ist. Diese Frage wird sich natürlich erst auf 
Grund zahlreicherer und regelmässigerer Untersuchungen entscheiden 
lassen, immerhin zeigt aber auch das jetzt erhaltene Ergebniss schon, 
dass beträchtliche Abweichungen in dem Aufbau der Abwässer Vor¬ 
kommen, die begreiflicher Weise für die weitere Behandlung derselben 
von erheblichster Bedeutung sein müssen. 

Ich möchte mir deshalb ganz ergebenst folgenden Vorschlag 
erlauben: 

In Köln werden mit der dortigen Schweramjauche sorgfältige 
Versuche angestellt, die zu ermitteln haben, wie sich dieselbe unter 
dem Einfluss verschiedener Strömungsgeschwindigkeiten in ihrer Be¬ 
schaffenheit verändert und namentlich ihrer suspendirten Bestandtheile 
entledigt. Zu diesem Zwecke werden dort zwei auswechselbare 
Sedimentirbecken in den Grössenverhältnissen errichtet, wie sic 
die Stadt für die endgiltige Anlage geplant hat, die später auch in 
die letztere übergehen und also von vornherein auf eine dauernde 
Benutzung zugeschnitten sein müssen. Dieselben sind mit Vorkeh¬ 
rungen zu versehen, welche eine genaue Regelung und Controlle der 
Durchflusszeit und deren beliebige Veränderung von etwa 2 auf 
etwa 20 mm ermöglichen. Bei den verschiedenen Geschwindigkeiten 
werden dann von zuverlässiger und sachverständiger Seite Proben der ab- 


1) Die Zahlen sind thei 1 s dem Werke von J. II. Vogel, „Die Verwerthung 
der städtischen Abfallstoffo“, theils den einschlägigen Veröffentlichungen von 
Weyl und Lcpsius entnommen. 


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Zwei Gutachten über Reinigung städtischer Kanalwässer. 


385 


fliessenden Jauche entnommen, bezw. untersucht und darnach die 
Wirkung der mechanischen Reinigung beurtheilt. 

An Stelle der Becken und zu dem gleichen Zwecke Röckner- 
Rothe’sche Thürrae zu entrichten, wie es angeregt worden ist, halte 
ich nicht für rathsam. Das Röckner-Rothe’sche Verfahren ist 
in seiner bisherigen Gestalt ganz auf den chemischen Betrieb, aut die 
Erzeugung eines voluminösen Kalkniederschlags berechnet und scheint 
sich bei Verzicht auf seine besonderen Klärmittel nicht zu bewähren, 
wie Versuche von Löffler 1 ) gezeigt haben. 

Von dem Ausfall der Prüfungen wird cs dann abhängig zu 
machen sein, welche Durchflussgeschwindigkeit man der Kölner 
Schwemmjauche auferlegt, d. h. welche Grösse man dem Sedimentir- 
becken giebt. 

Dabei wird man auf der einen Seite fordern müssen, dass die 
mechanische Reinigung nicht nur zum Schein erfolgt, sondern eine 
ausgiebige Wirkung entfaltet, und also in jedem einzelnen Falle mehr 
als die Hälfte der suspendirten Stoffe entfernt. 

Auf der andern Seite aber wird die Stadt Köln erwarten dürfen, 
dass ihre ganz ungewöhnlich günstigen Vorfluthverhält- 
nisse bei der Entscheidung eine gebührende Berücksichtigung finden. 
Der Rhein mit seinen 783 Sekunden-Kubikmetem bei Niedrigwasser 
gewährleistet in der That, selbst wenn die Kölner Kanalisation die 
Abwässer von 400000 Menschen, d. h. 56000 cbm im Tage abführen 
würde, noch eine mehr als lOOOfache, zur Zeit, wo nur die Abgänge 
von etwa 200000 Seelen in Betracht kommen, eine mehr als 
2000fache Verdünnung derselben. Auch die Strömungsgeschwindig¬ 
keit mit 1,03 m in der Sekunde ist eine sehr erhebliche, und jeden¬ 
falls befindet sich kaum eine deutsche Stadt, die ihre Abwässer mit oder 
ohne vorherige Klärung dem nächsten Flusslaufe überantwortet, in 
einer so beneidenswerthen Situation wie gerade Köln. Es wäre gewiss 
unbillig, wollte man dem Princip zu Liebe an diesem Umstande vor¬ 
beisehen und Köln die gleichen Bedingungen auferlegen, wie Städten 
unter wesentlich anderen und ungünstigeren Verhältnissen. Man wird 
sich auch hier vor Verallgemeinerungen hüten, vielmehr individualisiren 
und beispielsweise Marburg oder Hannover mit strengerem Maasse 
messen müssen, als Köln oder Thom. 


1) Löffler, Centralbl. f. Bakt. Bd. 13. S. 435. 


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Prof. Fraenkel, 


Die Regierung hat nun freilich in ihrer letzten Verfügung vom 
22 . April d. Js. als neuen Gesichtspunkt in die ganze Frage die Er¬ 
wägung eingeschoben, dass bei der von der Stadt gewünschten 
grösseren Durchflussgeschwindigkeit der Jauche in den Becken „den 
in den letzteren verbleibenden Rückständen gerade diejenigen Stoffe 
entzogen würden, welche für ihre landwirtschaftliche Verwerthung 
vorzugsweise in Betracht kommen. Dieser Umstand legt die Befürch¬ 
tung nahe, dass der Absatz der Rückstände und ihre nutzbringende 
Verwerthung mit Schwierigkeiten verknüpft, oder ganz in Frage ge¬ 
stellt werden würde. Der Zweck der ganzen Anlage wäre somit ver¬ 
fehlt, und ihr Nutzen stände jedenfalls in keinem Verhältniss zu den 
dafür aufgewendeten bedeutenden Mitteln.“ Ich vermag mich diesen 
Ausführungen nicht anzuschliessen. Einmal steht es, wie oben er¬ 
örtert, noch keineswegs fest, sondern müsste erst durch genaue 
Untersuchungen ermittelt werden, ob bei einer Erhöhung der Strömungs¬ 
geschwindigkeit auf 15 mm thatsächlich eine erheblich grössere Menge 
von suspendirten organischen Substanzen den Sedimentirbecken ent¬ 
geht, als bei 4 mm. Zweitens ist zu bestreiten, dass gerade diese 
Theile für die Landwirthschaft von besonderer Bedeutung seien; der 
Werth des Schlammes, seine praktische und thatsächliche Verwend¬ 
barkeit sinkt mit seinem Wassergehalt, und so sehen wir, dass bei 
den jetzt in Betrieb befindlichen Kläranlagen eben die gröbsten und 
deshalb wasserärrasten festen Stoffe, die von den Sieben und 
sonstigen mechanischen Reinigungsvorrichtungen abgefangen werden, 
am leichtesten abzusetzen und sogar mit Nutzen zu verkaufen sind. 
Der feinste und erst durch weitgehende Verlangsamung des Durch¬ 
flusses abzuscheidende Schlamm dagegen ist besonders wasserreich 
und kann daher nur durch Lagerung, Drainage u. s. w. in eine einiger- 
maassen brauchbare Form gebracht werden. Das hat wieder den 
Nachtheil, dass sich bei den Becken gewaltige Schlammmassen 
ansammeln, die namentlich in der warmen Jahreszeit höchst üble 
Dünste verbreiten, und wer diese künstlichen und kunstvollen Fäul- 
nissgebirge beispielsweise auf der Wiesbadener Kläranlage einmal ge¬ 
sehen und besonders gerochen hat, der wird nicht im Zweifel darüber 
sein,, dass sie mindestens eine erhebliche Belästigung, vielleicht eine 
unmittelbare Gesundheitsgefahr für ihre Umgebung bedeuten, und dass 
man deshalb alle Veranlassung hat, ihren Umfang auf ein möglichst 
geringes Maass zu beschränken. 


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Endlich ist es aber auch garnicht die Aufgabe einer städtischen 
Verwaltung, bei den Einrichtungen zur Beseitigung ihrer Abwässer 
Rücksicht auf die landwirtschaftlichen Interessen zu nehmen. Der 
Zweck einer derartigen Anlage ist vielmehr nur der, die Jauche von 
allen schädlichen Bestandteilen soweit zu befreien* dass sie ohne 
wesentliche sanitäre Bedenken den natürlichen Wasserläufen 
überantwortet werden, kann und also in den letzteren weder eine 
faulige Gährung erzeugt, noch auch zur Uebertragung von Infec- 
tionsstoffen Veranlassung giebt. Lässt sich diese Aufgabe lösen 
unter gleichzeitiger Erfüllung der landwirtschaftlichen Wünsche, so 
wird auch der Hygieniker dieses Zusammentreffen mit besonderer 
Freude begrüssen, aber den landwirtschaftlichen Gesichtspunkt dem 
sanitären und dem finanziellen überzuordnen, dürfte selbst in unseren 
agrarisch inficirten Zeitläuften nicht am Platze sein. 

Im übrigen glaube ich nicht, dass die Beseitigung des von 
den Sedimentirbecken gelieferten Schlammes, sofern derselbe 
eben nicht allzu wasserreich zu Tage tritt, hier auf erhebliche 
Schwierigkeiten stossen wird. Die jetzt geplante Vermischung und 
Desinfection desselben mit Kalkmich halte ich allerdings für ein un¬ 
zweckmässiges Verfahren. Der Aetzkalk verwandelt sich wesentlich 
unter dem Einfluss der Kohlensäure der Luft alsbald in das unwirksame 
Calciumcarbonat und ist dann nicht mehr im Stande, die Fäulniss zu 
verhindern. Ich würde empfehlen, falls sich der Schlamm nicht 
ohne alles weitere als absetzbar erweist, ihn mit den trockenen 
städtischen Abfallstoffon, dem Haus- und Strassenkehricht, zu 
compostiren und so in eine feste, leichter transportable und ver¬ 
sandfähige Masse zu verwandeln. Unter Umständen würde sich wohl 
auch der Versuch lohnen, ihn zu Poudrette zu verarbeiten. Man 
könnte Proben, d. h. einige 100 kg des Schlammes an die beste jetzt 
in Betrieb befindliche Poudrettefabrik von Vcnuleth & Ellen¬ 
berger in Bremen senden und dort prüfen lassen, ob ein brauch¬ 
bares Produkt entsteht, das eventuell einer Verarbeitung an Ort und 
Stelle das Wort reden würde. Erst wenn alle diese Möglichkeiten 
erschöpft sind und zu keinem befriedigenden Ergebniss geführt haben, 
könnte man als letzten Nothbehelf die von Ew. Hochw. angeregte 
Einplanirung und Verwendung des Schlammes zur Ausfüllung und 
Aufhöhung vorhandenen Terrains ins Auge fassen. Bei genügender 
Sorgfalt und Vorsicht wäre das ohne allzu erhebliche Bedenken woh I 
durchzuführen; doch hätte man dabei immer zu gewärtigen, dass, 


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Prof. Fraenkcl, 

wenn einmal selbst in weiterer Entfernung von dem so behandelten 
Gelände irgend eine Seuche ausbricht, das Schlammfeld bei der Klär¬ 
anlage und mittelbar die städtische Verwaltung dafür verantwortlich 
gemacht werden würde. 

Nach diesen Ausführungen möchte ich mein Gutachten dahin zu¬ 
sammenfassen, dass ich Ew. Hochw. empfehle: 

„Bei der Königl. Regierung zu beantragen, dass dieselbe die Ge¬ 
nehmigung zum Bau und vorläufigen Betriebe von zwei nebeneinander 
liegenden und umschichtig auszuschaltenden Sedimentirbecken ertheile, 
die in der von der Stadt vorgeschlagenen Grösse, d. h. mit 45 m 
Länge, 4 m Breite, 1,35 m Tiefe ausgeführt werden. An diesen 
Becken werden von zuverlässiger und sachverständiger Seite Unter¬ 
suchungen angestellt, wie weit die dortige Schwemmjauche durch 
verschiedene Strömungsgeschwindigkeiten, die zwischen 2 und 20 mm 
zu variiren hätten, von ihren suspendirten Bestandtheilen befreit und 
auch sonst in ihrer Zusammensetzung verändert wird. Diese Prü¬ 
fungen hätten sich über mindestens 2 Jahre auszudehnen, und 
erst nach ihrem Abschluss wäre zu entscheiden, welche Durchfluss¬ 
geschwindigkeit und damit auch welche Ausdehnung die endgiltige An¬ 
lage zu erhalten hätte.“ 

In der vorerwähnten Zeit könnten auch Versuche betreffs der 
Verarbeitung des Schlammes stattfinden. 

Endlich möchte ich es als eine wünschenswcrthe Vorbereitung 
und Ergänzung dieser Ermittelungen bezeichnen, wenn schon jetzt 
in regelmässigen, etwa 4 wöchigen Pausen Analysen der Schwemm¬ 
jauche vorgenommen würden, die uns einen Einblick in ihren Aufbau 
und ihre wechselnde Beschaffenheit gewähren könnten. 1 ) 

Halle a. S., den 28. December 1896. 


1) Die in obigem Gutachten gemachten Vorschläge sind in allen wesent¬ 
lichen Punkten sowohl von der Stadt Köln wio von Seiten der Königl. Regierung 
angenommen worden, so dass die empfohlenen Versuche demnächst beginnen 
werden. 


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Zwei Gutachten über Reinigung städtischer Kanalwässer. 


339 


b) T h o r n. 

lieber die mir durch Schreiben vom 8. Decembcr v. J. vorgclegtc 
Frage: 

1 . „ob der der Stadt Thorn bisher vorgeschriebene Klärzusatz 
von 1 pM. Aetzkalk erforderlich ist, um nachtheilige Folgen 
der Einführung der Abwässer in die Weichsel abzuwenden 
resp. bei welchem Klärzusatz die chemische Klärung der Ab¬ 
wässer immer noch für ausreichend anzusehen wäre;“ 

2 . „ob nicht mit Rücksicht auf die bisherigen Strom- und son¬ 
stigen örtlichen Verhältnisse und auf die vorhandenen An¬ 
lagen zur mechanischen Klärung überhaupt jede chemische 
Klärung in seuchefreien Zeiten überflüssig erscheint,“ 

erstatte ich auf Grund einer von mir am 28. Nov. v. J. ausgeführten 
Ortsbesichtigung, sowie einer genauen Kenntnissnahme des umfang¬ 
reichen einschlägigen Aktenmaterials das folgende Gutachten. 

Städtische Abwässer können zu gesundheitlichen Bedenken 
oder Gefahren Veranlassung geben einmal durch die Erregung von 
Fäulriissvorgängen und ferner durch die Uebertragung von in- 
fectiösen Keimen, und eben diese beiden Möglichkeiten spielen 
auch bei der Einleitung derartiger Stoffe in die öffentlichen Flussläufe 
die entscheidende Rolle. 

Was zunächst die Fäulniss angeht, d. h. die durch niederste 
Organismen hervorgerufene stinkende Zersetzung eiweisshaltiger Sub¬ 
stanzen, so entwickelt sich dieselbe bekanntlich gerado in städtischer 
Kanaljauche wegen ihres Reichthums an solchen Bestandtheilen regel¬ 
mässig in besonders ausgiebigem Maasse und unterbleibt bezw. ver¬ 
schwindet nur dann, wenn die betreffenden Schmutzstoffe so weit ent¬ 
fernt oder verdünnt werden, dass ihre Menge nicht mehr genügt, 
der Lebensthätigkeit und Vermehrung der Fäulnissbakterien als Grund¬ 
lage zu dienen. Handelt es sich irgendwo um die Frage der Zulässig¬ 
keit des Eintritts städtischer Abwässer in öffentliche Flussläufe, so 
ist deshalb stets und vor allen Dingen zu untersuchen, ob bei der 
entstehenden Vermischung jene Grenze erreicht und also die Gefahr 
der Fäulniss auf diese einfachste und zugleich sicherste Weise be¬ 
seitigt wird. 

Leider lässt sich in unserem Falle die Quantität der Kanal¬ 
jauche mit Bestimmtheit nicht ermitteln, da es noch an einer geeig¬ 
neten Messvorrichtung fehlt, und so wird cs auch begreiflich, dass 


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Prof. Fracnkcl, 


die Angaben über diesen Punkt innerhalb sehr weiter Grenzen schwan¬ 
ken, dass z. B. die durchschnittliche tägliche Production in 24 Stun¬ 
den von der einen Seite auf 1800—2000, von der anderen auf 5000 
bis 6000 cbm geschätzt wird. Berücksichtigt man, dass selbst nach 
vollständigem Ausbau des Kanalnctzcs nur die Abgänge von höch¬ 
stens 30000 Menschen Aufnahme in dasselbe finden werden, und er¬ 
wägt man ferner, dass z. Z. der tägliche Wasserconsum aus der 
städtischen Leitung nur etwa 40 1 pro Kopf beträgt, also auch bei 
reichlicher Benutzung anderer Wasserbezugsquellen, namentlich der 
Brunnen, schwerlich mehr als etwa die doppelte Menge für den Tag 
und Kopf verbraucht und in verunreinigtem Zustande an die Kanäle 
wieder abgeliefert werden wird, so dürfte man der Wahrheit am näch¬ 
sten kommen, wenn man die gesammte Jauche auf ungefähr 2400 cbm 
(30000x80 Liter) in maximo veranschlagt,, wobei bemerkt sei, dass 
dieser Ansatz auch dem für die meisten anderen kanalisirten Städte 
in Mittel- und Norddeutschland zutreffenden Werthe etwa entspricht. 

Demgegenüber führt die Weichsel bei Hochwasser 7750, bei mitt¬ 
lerem Stande 974, bei niedrigem Stande 709, bei dem niedrigsten, 
seit langen Jahren überhaupt beobachtetem Stande 300 cbm in der 
Sekunde, d. h. in 24 Stunden etwa 665 bezw. 86 bezw. 61 bezw. 
26 Millionen Cubikmeter, oder mit anderen Worten, die Abwässer 
der Stadt Thorn erfahren durch die Weichsel bei H.-W. eine 
mehr als 250000fache, bei M.-W. eine mehr als 30000fache, 
bei N.-W. eine 25000fache, bei niedrigstem Wasserstande 
eine lOOOOfache Verdünnung. Auf Grund eingehender Versuche 
und praktischer Ermittelungen hat Pettenkofer nun den Satz auf¬ 
gestellt, dass der Eintritt sinnfälliger Fäulniss ausbleibe, wenn die 
städtischen Abwässer bei ihrer Einleitung in den Fluss auf die etwa 
20 fache Menge verdünnt werden. Begreiflicher Weise kann diese 
Zahl allgemeine Giltigkeit schon deshalb nicht beanspruchen, weil die 
Zusammensetzung der Kanaljauche, ihr Gehalt an fäulnissfähigen 
Stoffen, erhebliche Unterschiede aufweist, der letztere z. B. durch in¬ 
dustrielle Abwässer, namentlich aus Brauereien, Gerbereien, Papier- 
und Zuckerfabriken u. s. f., weit über den Durchschnitt gesteigert bu 
werden pflegt, und nach meinen Erfahrungen wird man deshalb den 
von Pettenkofer angegebenen Werth nicht selten als unzureichend 
bezeichnen und eine stärkere Verdünnung fordern müssen. Auf jeden 
Fall aber genügen die hier vorliegenden Verhältnisse nicht nur den 
weitgehendsten Ansprüchen nach dieser Richtung in vollstem Maasse, 


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Zwei Gutachten über Reinigung städtischer Kanalwässer. 


341 


sondern stellen sogar einen so ungewöhnlich günstigen Thatbc- 
stand dar, wie ich ihn bisher noch bei keiner anderen Gelegenheit 
kennen gelernt habe. Selbst bei Köln, dem zwar der Rhein sogar 
bei N.-W. noch 783 Skbm zuführt, das aber dafür auch die Abfall¬ 
stoffe von etwa 400000 Menschen in den Fluss entlässt, ist der Ver¬ 
dünnungsgrad deshalb nur ein etwa lOOOfacher, und wenn man sich 
an den Ausmündungspunkt des Thorncr Kanalrohrs in die Weichsel 
begiebt, und die ungeheure Wassermasse, die der gewaltige Strom 
auch bei N.-W., wie zur Zeit meines Besuches, dahinwälzt, mit der 
geringen Menge Flüssigkeit vergleicht, die aus dem Siel zu Tage tritt, 
so muss sich jeder unbefangene Beurtheiler ganz unwillkürlich sagen, 
dass hier von einer Fäulnissgefahr schlechterdings nicht die 
Rede sein kann, dass die Weichsel vielmehr ganz gewiss unter allen 
Umständen die vorhandenen Unrathstoffe in kürzester Frist verarbeiten 
und unschädlich machen wird. 

Auch die starke Strömungsgeschwindigkeit des Flusses 
fällt als erwünschtes und förderliches Moment ins Gewicht. Nach 
einer von Prof. Baumeister in Karlsruhe herrührenden Formel 1 ) soll 
dieselbe bei einer Entscheidung der uns hier beschäftigenden Frage 
in der Weise berücksichtigt werden, dass man den „Vcrunreinigungs- 
coefficienten“ berechnet aus 

Q = Wassermenge des Flusses bei N.-W. in Cubikmetern pro Tag, 
v = mittlere Geschwindigkeit in Metern per Sekunde, 

E = Einwohnerzahl, 

c = Verhältniss derjenigen Einwohner, welche ihre Fäkalien in 
die Kanäle liefern, 

nach dem Satze T ~-t 

Ml+c) 

Wird diese Art der Berechnung für unsern Fall ausgeführt, so 
ergiebt sich, da die Geschwindigkeit der Weichsel bei niedrigstem 
Wasser 0,70 m, bei gewöhnlichem N.-W. 0,75 m, bei M.-W. 0,84 m 
in der Sekunde beträgt, als ungünstigstes Resultat 

26000000.0,70 _ 

30000 (1-1-1) “ dü °’ 

bei N.-W. dagegen schon 

61000000.0,75 
30000 (1 + 1) — ’ 


1) Deutsche Vierteljahrsschr. f. öffentl. Gesundheitspflege. 1892. S. 469. 


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342 


Prof. Fraenkel, 


und bei M.-W. 


86000000 


= 1200. 


30000 (1 + 1) 

Von 16 von Baumeister daraufhin geprüften Städten zeigten 
nur 3 (Basel, Mainz und Linz) einen Coefficienten von mehr als 300, 
keine einen solchen von mehr als 650, und B. fasst sein endliches 
Urtheil sogar dahin zusammen, dass eine „unmittelbare Einleitung der 
Abwässer in den Fluss zulässig“ erscheine, wenn der genannte 
Coefficient mehr als 5 betrage! 

Danach begreift es sich ohne Weiteres, dass die von Sie dam- 
grotzky und seinen Mitarbeitern ausgeführten Untersuchungen des 
Weichselwassers, welche einer Zeit angehören, wo das städtische 
Kanalnetz zwar noch nicht in Angriff genommen war, die Schmutz¬ 
stoffe zweifellos aber, wie in allen derartigen Fällen, doch schon zum 
weitaus grössten Theile in den Fluss gelangten, eine Verunreinigung 
des letzteren überhaupt nicht erkennen liessen. Zwar mussten diese 
Ermittelungen aus äusseren Gründen der systematischen Anordnung 
entbehren, und sie verzichten auch auf die Feststellung der bakterio¬ 
logischen Verhältnisse, die in der Regel einen weitaus genaueren Ein¬ 
blick in den Vorgang der Selbstreinigung der Flüsse eröffnen, als die 
chemischen Befunde, aber ich würde es für völlig unnöthig er¬ 
achten, diese Lücke etwa nachträglich zu ergänzen und dabei viel¬ 
leicht den jetzigen Zustand einer nochmaligen entsprechenden Prüfung 
zu unterwerfen. Nach den Erfahrungen, die man an anderen Orten 
unter ausserordentlich viel ungünstigeren Bedingungen gesammelt hat, 
wie z. B. an der Spree bei Berlin, der Lahn bei Marburg, der Isar 
bei München, der Mosel bei Trier, der Limmat bei Zürich u. s. f., 
kann nicht der leiseste Zweifel bestehen, dass die Einlei¬ 
tung der Thorner Abwässer in die Weichsel nur einen ver¬ 
schwindend geringfügigen Einfluss auf die Beschaffenheit 
des Stromes ausüben und schon dicht unterhalb der Stadt weder 
auf chemischem noch auf bakteriologischem Wege mehr nachzuweisen 
sein wird. 

Unter diesen Umständen muss sich gewiss die Frage aufdrängen, 
ob denn überhaupt eine Behandlung der Kanaljauche vor 
ihren Uebergang in den Fluss nothwendig, ob es nicht vielmehr 
zulässig sei, dieselbe ohne alles Weitere in den letzteren ein treten zu 
lassen. Ich möchte das mit Entschiedenheit verneinen und eine 
vorherige mechanische Reinigung der Abwässer als unbedingt 


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Zwei Gutachten über Reinigung städtischer Kanalwässer. 


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erforderlich, aber freilich auch, um das gleich hier hervorzuheben, 
in der Regel als völlig genügend bezeichnen. Die Gründe für 
diese meine Auffassung sind folgende: 

Einmal müssen unter allen Umständen die gröberen schwim¬ 
menden Substanzen, wie Papierfetzen, Korkstopfen, Orangeschalcn 
u. s. w., die erfahrungsgemäss zuerst die stromabwärts befindlichen 
Flussanwohner auf die Verunreinigung des Wassers aufmerksam machen, 
aus der Jauche abgeschieden werden. Das Gleiche gilt ferner für die 
schweren, die eigentlichen Sinkstoffe, wie Sand, feste Kothballen u.s.f., 
die sich sonst in unmittelbarer Nähe der Ausmündungsstellc des Ka¬ 
nalrohrs in grösseren Massen ansammeln und trotz der gerade bei der 
Weichsel zu wiederholten Malen im Laufe jedes Jahres statthabenden 
gründlichen Säuberung des Flussbettes durch die Hochwässer Schlamm¬ 
bänke, zeitweilige Fäulnissherde bilden könnten. Mit Rücksicht auf 
diese Möglichkeit würde es sich wohl auch empfehlen, das Ende des 
Kanalrohrs weiter in den Fluss hinein zu verlegen und so 
ausmünden zu lassen, dass es seinen Inhalt auch bei N.-W. unter 
dem Wasserspiegel entleert und sich nicht, wie es jetzt der Fall, hart 
am Ufer und schon bei M.-W. völlig frei öffnet. Eine mechanische 
Säuberung der Jauche erscheint ferner deshalb nothwendig, weil man 
aus allgemeinen Gründen vom Standpunkte der Gesundheitspflege 
zweifellos wird verlangen müssen, dass die unvermeidliche Ver¬ 
unreinigung der Flüsse durch die städtischen Auswurfstoffe 
sich wenigstens auf ein thunlichst geringes Maass be¬ 
schränke und nicht diejenige Grenze überschreite, die ohne allzu¬ 
grosse Schwierigkeiten und Opfer innegehalten werden kann. 

Endlich aber geben uns besondere Einrichtungen zur Aufnahme 
und weiteren Behandlung der Schwemmjauche allein die Möglichkeit, 
im Falle des Ausbruchs einer Seuche in der betreffenden Stadt die 
Abwässer mit Hülfe chemischer Mittel energisch zu desinfiziren 
und ihrer Gefährlichkeit zu entkleiden und müssen also schon aus 
diesem Grunde als unentbehrlich bezeichnet werden. 

Ich berühre damit das zweite wesentliche Bedenken, das, wie 
eingangs bemerkt, hier in Frage kommt: Die Verschleppung der 
Krankheitserreger durch die städtischen Immunditien. Können 
diese letzteren, wie wir eben gesehen haben, ihre fäulnissfähigc 
Beschaffenheit durch eine entsprechende Verdünnung vollständig ver¬ 
lieren, so werden die pathogenen Mikroorganismen durch den gleichen 
Vorgang nicht beseitigt. Stellen sie doch suspendirte, körperliche, 

VierteJjahrsschr. f. gor. Med. Dritte Folge. XIV. 2. 23 


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Prof. Fraenkel, 


im Wasser schwimmende Stoffe dar, die seihst durch reichliche Ver¬ 
dünnung ebensowenig aus der Welt geschafft werden, wie etwa ein 
Korkstopfen oder ein Gumraiball. Gewiss wird sich die Wahrschein¬ 
lichkeit ihres Uebcrgangs auf den Menschen in dem Maass verringern, 
wie das Verhältniss ihrer Zahl, ihrer Menge zu der des Wassers 
kleiner wird, aber die Möglichkeit eines derartigen Ereignisses 
bleibt immerhin bestehen und erfordert daher sorgfältige Berücksich¬ 
tigung. Freilich kann städtische Kanaljauche nur unter gewissen 
Bedingungen überhaupt zur Verbreitung von Infeetionskrankheiten 
durch die Flüsse Veranlassung geben: einmal nämlich, wenn sie 
solche Keime enthält, welche erfahrungsgemäss mit dem 
Wasser auf den Menschen übertragen werden und «also vom 
Magendarmkanal aus Eingang finden. Das ist bekanntlich keines¬ 
wegs immer der Fall, unter den s.ämmtlichen pathogenen Bakterien 
kommen hier vielmehr nur die der Cholera und des Typhus 
ernstlich in Betracht, und in den Verhandlungen, welche der Ent¬ 
scheidung über das für Thorn eingeführte Verfahren der Abwässer- 
rcinigung vorausgegangen sind, spielt deshalb gerade die Cholera und 
und ihr erneuter Ausbruch in Deutschland während der ersten Jahre 
dieses Decenniums mit Recht eine sehr wesentliche Rolle. Aber auf 
der andern Seite haben eben die bei dieser Gelegenheit gesammelten 
Erfahrungen gezeigt, dass man die hier in Rede stehende Gefahr 
nicht überschätzen solle. Wohl hat sich die Cholera auch bei 
ihrem jüngsten Auftreten als eine echte „Wasserkrankheit“ zu er¬ 
kennen gegeben, wohl hat sich ihre Verbreitung mit Vorliebe längs 
der grossen Flussläufe vollzogen, aber der Weg, den die Seuche 
dabei eingeschlagen, zeigte höchst auffälliger Weise in der 
Regel die dem Strom entgegengesetzte Richtung: die Cho¬ 
lera wanderte aufwärts und drang von der Mündung der Wolga, des 
Rheins, der Elbe, Oder u. s. f. in das Innere vor. Diese bemerkens¬ 
werte Erscheinung lehrt uns, dass nicht die städtischen Ab¬ 
wässer die gewöhnlichen Träger des Jnfectionsstoffs sein können, 
die die Krankheit natürlich stets flussabwärts verschleppen müssten, 
sondern dass der auf dem Strom lebenden, wohnenden und fahrenden 
Bevölkerung der wichtigste Antheil an diesem Ereignisse zukommt. 
Die Bedrohung der öffentlichen Wasscrläufe durch städtische Abfall¬ 
stoffe steht also hier erst in zweiter Linie, und auch durch die 
schärfsten Maassregeln nach dieser Seite, durch den Ausschluss jedes 


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Zwei Gutachten über Reinigung städtischer Kanalwässer. 


345 


Tropfens Kanalinhalt würde der eigentliche Kern der Gefahr nicht 
getroffen werdon. 

Wird diese Thatsache schon eine mildere Auffassung der ganzen 
Frage rechtfertigen, so kommt hinzu, dass selbst wenn die Flüsse auf 
die eine oder andere Weise inficirt sind, bedenkliche Folgen doch be¬ 
greiflicher Weise nur unter der Bedingung eintreten werden, dass 
das Wasser auch vom Menschen benutzt und genossen wird. 

So erklärt es sich, dass z. B. die Cholera bei ihrem letzten 
Seuchenzuge auf dem Wasserwege nur da Eingang und grössere Ver¬ 
breitung gefunden hat, wo Oberflächenwasser regelmässig zu 
Trinkzwecken verwendet wurde, d. h. einmal bei der Strom¬ 
bevölkerung und dann in denjenigen Städten, bezw. Ortschaften und 
Anstalten, die ihr Wasser aus dem anstossenden Flusse entnahmen 
und im gereinigten oder ungereinigten Zustande gebrauchten. 

Aus dieser Betrachtung ergiebt sich für unsern Fall zunächst 
die Nothwendigkeit, zu untersuchen, ob unterhalb Thorns an 
der Weichsel irgendwo derartige Verhältnisse bestehen. Dabei zeigt 
es sich alsbald, dass sich die Dinge hier ganz ungewöhnlich 
günstig gestalten. Die ersten unmittelbar am Flusse gelegenen Ort¬ 
schaften, Culm bezw. Schwetz, befinden sich einmal in einer Entfer¬ 
nung von 30 km, wie man sie für den gleichen Fall in dichter be¬ 
völkerten und angebauten Gegenden kaum so leicht wieder antreffen 
wird, und sind ferner für ihren Wasserbedarf auf die Weichsel 
nicht angewiesen, sondern versorgen sich auf anderem Wege. Auch 
noch weiter abwärts hat meines Wissens eine Wasserentnahme aus 
dem Flusse in grösserem Umfange für menschliche Gebrauchszwecke 
nirgends Statt, und so kommt für die Frage der Infectionsgefahr durch 
die Einleitung der Stadtlauge ernstlich wohl nur der Sehwimm- 
und Uebungsplatz der Pioniere in Betracht, der nach dieser 
Richtung auch in den bisherigen Verhandlungen schon eine wichtige 
Rolle spielt. Leider geben derartige Anstalten, und zwar sowohl der 
bürgerlichen wie der militärischen Bevölkerung recht häufig zu sani¬ 
tären Beschwerden Veranlassung, und ich zweifle nicht, dass die 
öffentliche Gesundheitspflege in den nächsten Jahren gerade die¬ 
sem Punkte erhöhte Aufmerksamkeit schenken und auf eine mög¬ 
lichst allgemeine Verlegung derselben oberhalb der betreffenden 
Städte hinzuwirken bestrebt sein wird. Nun ist in unserm Falle 
freilich ein erheblicher Theil der Bedenken dadurch beseitigt worden, 
dass die genannte Anstalt neuerdings ihren Platz auf dem andern 

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Prof. Fraenkel, 

Weichselufer erhalten hat und damit dem unmittelbaren Einfluss der 
in der Stromrinne abwärtstreibenden städtischen Schmutzstofle ent¬ 
rückt ist. Aber als ganz einwandsfrei kann ich die Situation immer 
noch nicht ansehen, und es dürfte sich deshalb doch vielleicht der 
Versuch empfehlen, entweder auf eine nochmalige Verlegung der An¬ 
stalt auf eine oberhalb befindliche Stelle hinzuwirken, oder aber das 
Kanalrohr weiter unten einmünden zu lassen und so jede Gefahr aus¬ 
zuschalten. 

Erweist sich die Ausführung dieses Vorschlages als unthunlich, 
so würde das allerdings ein wesentliches und unübersteigliches Hinder¬ 
niss auch noch nicht bilden. 

Denn ganz abgesehen von dem Schicksal des Uebungsplatzes wird 
sich die Stadt Thorn schon mit Rücksicht auf die Strombevölkerung 
dazu verstehen müssen, beim Auftreten derjenigen Krankheiten, deren 
Keime durch das Flusswasser übertragen werden können, eine zuver¬ 
lässige und gründliche Desinfeetion ihrer Spüljauchc vorzunehmen. 
Nach den oben gegebenen Erörterungen handelt es sich dabei haupt¬ 
sächlich, wenn nicht ausschliesslich um die Cholera und den 
Typhus, und so würde also eine derartige besondere Behandlung der 
Abwässer nöthig werden, sobald sich in der Stadt ein Cholera¬ 
fall ereignet, während man beim Typhus im Hinblick auf seine ge¬ 
ringere Gefährlichkeit und Ansteckungsfähigkeit zu den gleichen 
Maassregeln wohl erst zu greifen hätte, wenn die Affection eine ge¬ 
wisse x\usdehnung erreicht, eine bestimmte Anzahl von Erkran¬ 
kungen veranlasst hat, deren Höhe ein für alle Mal zu normiren, 
der Vorgesetzten Behörde anheimgestellt werden könnte. 

Als bestes Desinfectionsmittcl ist für die hier vorliegende 
Aufgabe immer noch der Aetzkalk zu bezeichnen, der in 1 p. M. 
Lösung eine sichere Abtödtung der vorhandenen Cholera- oder 
Thyphuserreger herbeiführt. Die Vermischung kann mittelst der 
jetzt schon vorhandenen Einrichtungen ohne jede Schwierigkeit ge¬ 
schehen. 

Ausserhalb dieser besonderen Zeiten und Umstände 
halte ich jede chemische Klärung der Thorner Abwässer 
aber für überflüssig und den vorgeschriebenen regel¬ 
mässigen Zusatz von Aetzkalk in Höhe von 1 : 1000 der 
Jauche sogar für zweckwidrig. Ueben die sämmtlichen hier ge¬ 
wöhnlich benutzten Chemikalien neben ihrer desinfektorischen Kraft 
doch nur eine Einwirkung auf die in der Jauche suspendirten Sub- 


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Zwei Gutachten iiher Reinigung städtischer Kanalwässer. 


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stanzen aus, die sie vollständig oder fast vollständig zu Boden 
schlagen und so beseitigen. Aber diesem Ergebniss kommt auch 
eine gut geleitete mechanische Reinigung so nahe, dass man auf den 
geringen Vorsprung des chemischen Verfahrens nur da nicht wird 
verzichten wollen, wo die nachfolgende Verdünnung der Jauche kaum 
das erforderliche Maass erreicht und also auf eine vorherige möglichst 
vollständige Entfernung der Schmutzstoffe besonderes Gewicht gelegt 
werden muss. 

Dabei hat die Verwendung des Aetzkalks, den man seiner 
starken keimtödtenden Eigenschaften, seiner relativen Billigkeit und 
Unschädlichkeit, wie endlich seines raschen Sedimentirungsvermögens 
halber mit Vorliebe benutzt, auf der andern Seite den erheblichen 
Nachtheil, dass die Menge der gelösten zersetzbaren Substanzen 
häufig eine nicht unbeträchtliche Steigerung erfährt, dass deshalb 
die Abwässer nach der Klärung sich immer noch in fäulnissfähigem 
Zustande befinden und mit dem Augenblicke, wo der bakterienwidrige 
Einfluss des vorhandenen Kalk Überschusses — in Folge Verwandlung 
in den unwirksamen kohlensauren Kalk durch die Kohlensäure der 
Luft — ausgeschaltet ist, auch alsbald in Gährung überzugehen pflegen. 
Ferner biisst. aus dem gleichen Grunde, wegen des Verlustes des in 
gelöste Form übergeführten Antheils der festen Stoffe und endlich 
wegen der gleichfalls durch den Kalk vcranlassten Austreibung des 
Ammoniakstickstoffs, der abgeschiedene Schlamm an Düng¬ 
werth ein; da derselbe aber gerade bei der Kalkfällung stets 
ein besonders grosses Volumen annimmt, so entstehen bei diesem 
Verfahren jene gewaltigen Massen lästiger Rückstände, die nicht 
nur keinen Erlös bringen, sondern deren endliche Entfernung die 
Städte häufig nur mit grossen Opfern zu bewirken vermögen. Auch 
in Thorn hat sich diese Kalamität schon fühlbar gemacht: die Menge 
des täglich gebildeten Klärschlamms beläuft sich jetzt bereits auf 
etwa 6—7 cbm, deren jedes für seine Fortschaffung einen haaren 
Aufwand von 70 Pfg. erfordert, so dass also allein hieraus jährliche 
Kosten im Betrage von etwa 1750 M. hervorgehen. Dabei ist zu be¬ 
rücksichtigen, dass zur Zeit die verlangte Höhe des Kalkzu¬ 
satzes von 1 p. M. auch nicht annähernd erreicht wird; bei 
*2000—2500 cbm durchschnittlicher Jauchemenge müssten täglich 
2—2% cbm — 40—50 Centner Kalk zur Anwendung gelangen, 
während sich der ^tatsächliche Verbrauch nur auf 250 kg = 5 Centner, 
also kaum den zehnten Theil beläuft. 


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Prof. Fraenkel, 


Mit der Steigerung des Kalkzusatzes würde aber nicht nur die 
Quantität des Schlammes in entsprechendem Maasse anwachsen, 
sondern namentlich auch die unmittelbaren Kosten für die Klä¬ 
rung selbst, für die Beschaffung der Chemikalien, eine erhebliche 
Vermehrung erfahren, und bei 2000 kg täglichen Konsums ungefähr 
15000 M. jährlich betragen. 

Unter diesen Umständen begreift es sich, dass alle mit der Kalk¬ 
klärung arbeitenden Gemeinwesen, ohne eine mir bekannte Ausnahme, 
den Kalkzusatz möglichst einschränken, den chemischen Betrieb 
während der Nacht häufig ganz unterbrechen, das Verfahren also 
eigentlich nur noch pro forma ausführen, und unter diesen Umständen 
begreift es sich auch, dass die fachmännischen Kreise zu einem immer 
ungünstigerem Gesammturtheil über die Brauchbarkeit der ganzen 
Methode gelangen. 

Angesichts ihrer grossen Mängel, der Vermehrung der gelösten 
fäulnissfähigen Stoffe, der Anhäufung eines minderwerthigen Schlammes 
und der hohen Kosten der Kalkklärung ist man eifrig bestrebt, andere 
und bessere Mittel für die Reinigung städtischer Abwässer zu finden 
und räumt dem Aetzkalk nur noch da eine berechtigte Stelle ein, 
wo es sich im gegebenen Fall um eine Desinfection der Jauche 
handelt. Für diesen besonderen Zweck wird der Kalk auch in Thorn 
am Platze sein, sonst aber jede chemische Klärung unnöthig werden 
und eine mechanische Säuberung der Abwässer völlig genügen, 
allen begründeten Forderungen durchaus entsprechen. 

Freilich muss dieselbe unter strenger Beobachtung be¬ 
stimmter Bedingungen erfolgen, wenn sie ihre Aufgabe erfüllen 
und also den grösseren Theil der suspendirten Stoffe zur Abscheidung 
bringen soll. Das wesentliche Moment ist hier eine gehörige Ver¬ 
minderung der Strömungsgeschwindigkeit der Jauche, damit 
sie Zeit findet, die schwimmenden Bestandtheile abzusetzen. Nach 
den einzigen bisher über diesen Punkt angestellten genaueren Unter¬ 
suchungen, den von Lepsius an den Frankfurter Klärbecken aus¬ 
geführten Prüfungen, genügt eine Verlangsamung auf 4 mm in der 
Sekunde, um 80—85 pCt. der suspendirten Stoffe zu beseitigen. 
Nun besitzt dieses Maass gewiss keine ganz allgemeine Gültigkeit 
und wird je nach der wechselnden Beschaffenheit der Jauche von 
Fall zu Fall einer Korrektur bedürfen. Aber mit sehr grosser Wahr¬ 
scheinlichkeit wird man doch von vornherein schon sagen können, 
dass die vortrefflich angelegte und eingerichtete, umfang- 


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Zwei Gutachten über Reinigung städtischer Kanalwässer. 


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reiche Kläranstalt in Thorn auch für die Zwecke der 
mechanischen Reinigung durchaus genügen wird. Nach den 
in den Akten befindlichen Aufstellungen durchläuft die Jauche die 
Klärbrunnen und -Becken mit einer Geschwindigkeit von 1 / 2 bis 
höchstens 2 mm in der Sekunde und in einer Zeit von 10 bis 
16 Stunden, also langsamer, als in irgend einer andern der grösseren 
bisher ausgeführten und im Betriebe befindlichen Anstalten. (Frank¬ 
furt a. M., Wiesbaden, Essen, Potsdam, Halle u. s. w.) Auf Grund 
einer Nachrechnung an der Hand namentlich der auf Seite 286 ff. der 
Akten verzeichneten Zahlen halte ich diese Behauptung im wesentlichen 
für richtig; andererseits giebt Herr Kreisphvsikus Dr. Wodtkc (auf 
Seite 3 seines Gutachtens) erheblich geringere Werthe, und es wäre 
nicht unmöglich, dass unter besonderen Umständen, bei ausnahms¬ 
weise starkem Zufluss und zeitweiliger Ausschaltung eines Theils der 
Anlage die ebenerwähnten Maasse doch überschritten würden. Einen 
völlig sicheren Aufschluss könnten hier nur unmittelbare Beobach¬ 
tungen und Prüfungen über die Menge, wie über die chemische Zu¬ 
sammensetzung der Jauche beim Eintritt in die Kläranstalt und 
beim Austritt aus derselben geben, und ich würde es für mindestens 
wünschenswerth halten, wenn derartige Analysen bei Gelegenheit aus¬ 
geführt würden und die Bcurtheilung des hier vorgenommenen Klär- 
processes sich damit auf eine unanfechtbare Grundlage stützen könnte. 
In jedem Falle aber sind die Grössenverhältnisse der Thorner 
Kläranlage sehr günstige, und wer die Frankfurter Klärbecken 
kennt, und dabei die Verschiedenheit der Einwohnerzahl und Jauche¬ 
mengen beider Städte berücksichtigt, der wird keinen Augenblick 
darüber im Zweifel sein, dass hier mindestens ebenso befriedigende 
Ergebnisse mit der mechanischen Reinigung erzielt werden können, 
wie dort. 

Auf Grund dieser Ausführungen, erlaube ich mir die Eingangs 
erwähnten Fragen dahin zu beantworten, dass ich 

„den der Stadt Thorn bisher vorgeschricbcnen Klär¬ 
zusatz von 1 pM. Aetzkalk zu den Abwässern nur im 
Falle des Ausbruchs von Cholera oder Typhus für er¬ 
forderlich halte, dass mir derselbe aber in gewöhn¬ 
lichen Zeiten als ünnöthig oder sogar als zweck¬ 
widrig und eine mechanische Reinigung der Jauche in 
der jetzt bestehenden Anstalt unter Verzicht auf 


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350 Prof. Fraenkel, Zwei Gutachten über Reinigung städtischer Kanalwässer. 

jedes chemische Verfahren als völlig ausreichend er¬ 
scheint.“ 

Einem Anträge auf Genehmigung einer entsprechenden Abänderung 
der jetzigen Bedingungen würde es voraussichtlich förderlich sein, 
wenn die Stadt Thorn sich bereit erklärte: 

1. eine selbstregistrirende Vorrichtung zur Bestimmung der 
täglich und stündlich gelieferten Jauchemengc anzubringen, 

2. durch chemische Untersuchungen die mechanische Wirkung 
der Klärbrunnen und Becken festzustellen, 

3. das Kanalrohr soweit in den Strom zu verlängern, dass es 
auch bei Niedrigwasser unter Wasser einmündet. 

4. Eventuell eine Verlegung des Schwimm- und Uebungs- 
platzes der Pioniere an einen oberhalb befindlichen Punkt 
anzuregen. 

Halle a. S., den 19. März 1897. 


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2 . 


lieber die Aufgaben der Sanitätspolizei auf dem 

platten Lande. 

Von 

Dr. Süsskaml, pract. Arzt in Sorau N.-L. 


Behufs schärferer Abgrenzung des zu besprechenden Kapitels ist. 
es erforderlich, vorweg zu untersuchen: 

1. Welches sind die Aufgaben der Sanitätspolizei überhaupt? 

2. Welches ihre Aufgaben auf dem platten Lande insbesondere? 

Die Antwort auf die erste Frage finden wir in der trefflichen 

Definition des Begriffes Sanitätspolizei von Pappenheim (cit. bei 
Wal bäum 1 ). Nach diesem Autor „ist die Sanitätspolizei derjenige 
Zweig der Polizei, welcher direkt zum Schutze und zur Förderung 
der physiologischen Integrität des Menschen bestimmt ist und 
zur Realisation seines Zweckes medicinischer oder naturwissenschaft¬ 
licher Technik bedarf. Wie aber die Polizeiwirksamkeit überhaupt, so 
ist auch jene specifische Fürsorge für die physiologische Integrität des 
Menschen nur da berechtigt, wo die Singuli sich selbst nicht 
genug sein können.“ (cf. § 10. II 17 des Allg. Landr.) 

Hiernach ist die Medicinalpolizei, welche die Ueberwachung 
des öffentlichen Heilwesens (Medicinal-Personal) und der öffentlichen 
Krankenpflege (Kranken-Anstalten) [Eulenberg 2 )] und folglich den 
Schutz des pathologisch alterirten Menschen, sich zur Auf¬ 
gabe macht, ebensowenig wie die private Gesundheitspflege eigent¬ 
liche Domäne der Sanitätspolizei. 

Die öffentliche Gesundheitspflege aber verhält sich zur Sanitäls- 
polizei so, dass sich diese den Plänen jener dienstbar macht. 

Zur Beantwortung der zweiten Frage, welche quantitative oder 
qualitative Unterschiede der sanitätspolizeilichen Aufgaben in den 


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L>r. Süss kan d, 


grösseren Städten und auf dom platten Lande voraussctzt, müssen 
wir an den hygienischen Gegensatz von Stadt und Land an- 
kniipfen. 

Zwei Momente sind es wesentlich, welche das Stadt- vom Land¬ 
leben unterscheiden: die Erwerbsweise und die Wohndichtig- 
keit. Dass diese beiden Momente auf die Gesundheit und das Wohl¬ 
befinden der Bewohner von Stadt und Land von entscheidendem 
Einfluss sein müssen, darüber lässt uns die Statistik, welche, in allen 
Kulturstaaten übereinstimmend, eine höhere Sterblichkeitsziffer in den 
Städten gegenüber dem platten Lande ergiebt, gar keinen Zweifel. 

Ein ähnliches Ergebniss liefert uns die Aushebungsstatistik, 
welche darthut, dass die Bevölkerung grösserer Städte im Durch¬ 
schnitt schwächlicher ist, als die Bevölkerung auf dem flachen Lande 
(Rosenthal 3 ). 

Welchem dieser Momente der gedachte Einfluss ausschliesslich 
oder hauptsächlich zukommt, darüber sind die Ansichten getheilt. 
Flügge 4 ) und Farr schreiben der Wohndichtigkeit den hauptsäch¬ 
lichen Antheil daran zu. Indess weist Finkelnburg 5 ) statistisch 
nach, dass die Erwerbsweise von solch bestimmendem Einfluss ist, 
dass unter einer Bevölkerung mit Ueberwiegen des ackerbautreibenden 
Charakters sich die Sterblichkeit in den Städten günstiger gestaltet, 
als auf dem platten Lande. Dies gilt namentlich für die Provinz 
Hessen-Nassau und die Regierungsbezirke Coblenz und Trier. Auch die 
statistischen Ermittelungen Arnstein’s 6 ) für den Kreis Ratibor lie¬ 
fern das Ergebniss, dass bis zu dem Alter der beginnenden Berufs¬ 
arbeit die Mortalität auf dem Lande grösser ist, als in der Stadt, 
während mit dem Eintritt in das Berufsleben sich das Verhältnis 
sofort umkehrt zu Gunsten des platten Landes. Daraus geht aber 
hervor, dass die selbstgeschaffenen hygienischen Zustände auf 
dem Lande ungünstiger sind, als in den Städten. In der Beschäfti¬ 
gungsweise der Landleute können wir aber nur ein günstiges Moment 
erblicken, die ungünstigen hygienischen Zustände auf dem Lande 
müssen also in einzelnen Komponenten, aus denen sich der Begriff der 
Wohndichtigkeit zusammensetzt, gesucht werden. Die aus der Wohn¬ 
dichtigkeit resultirendcn schädlichen Momente aber sind: Beschrän¬ 
kung von Luft und Licht und Sonnenwärme (Flügge 4 ), Verunreini¬ 
gung der Luft in der Atmosphäre und in geschlossenen Räumen, 
Verunreigung des Bodens und des Trinkwassers, Verbreitung von In¬ 
fektionskrankheiten. Sehen wir nun von dem Moment der Beschrän- 


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Aufgaben Her .Sanitätspolizei auf Hem platten Lande. 


353 


kung von Luft und Licht und Sonnenwärme und demjenigen der Ver¬ 
unreinigung der atmosphärischen Luft, die auf dem Lande nicht oder 
nur in geringem Maasse bestehen, ab, so bleibt in der Verunreinigung 
des Bodens und des Trinkwassers, der Verunreinigung der atmophä- 
rischen Luft in geschlossenen Räumen und in der Verbreitung von 
Infectionskrankheiten ein Gebiet übrig, auf welchem die Sanitäts¬ 
polizei auf dem platten Lande ihre Wirksamkeit segensreich entfalten 
kann. 

Unsere Aufgabe zieht folgerichtig aus dem Gehiet der öffent¬ 
lichen Gesundheitspflege die Boden-, Wohnungs- und Schul¬ 
hygiene und die contagiösen Infectionskrankheiten in ihr 
Bereich, wobei sie diese Lehren den Verhältnissen auf dem platten 
Lande anzupassen sucht. 


2. Bodenhygiene. 

Um die Tragweite der Bodenverunreinigung und die hohe hygie¬ 
nische Bedeutung der Reinhaltung des Wohnbodens zu verstehen, 
müssen wir uns die physikalischen Eigenschaften des Bodens und die 
in ihm vor sich gehenden chemischen Processe vergegenwärtigen. 

Für die Wechselbeziehungen, die zwischen dem Menschen und 
der von ihm bewohnten Erdrinde bestehen, kommt zunächst ihre 
Eigenschaft der Permeabilität für Luft und Wasser in Betracht. 
Diese Eigenschaft verdankt sie ihrer Porosität, welche theils von 
dem lockeren Gefüge ihrer Constituentien, theils von der porösen Be¬ 
schaffenheit des Materials selbst herrührt. Die Luftmenge, die in 
der Zeiteinheit in den Boden eindringt, resp. aus ihm heraustritt, ist 
nicht so sehr von dem Porenvolumen, als vielmehr von der Poren¬ 
weite abhängig. Bei gleichem Porenvolumen aber ungleicher Porenweite 
kommt dem weitmaschigen Boden die Durchlassungsfähigkeit für eine 
grössere Luftmenge zu als dem engmaschigen. Hierdurch ist nun 
ein Austausch zwischen Bodenluft und Atmosphäre ermöglicht, gc- 
wissermassen ein „Athmen der Erde“ (Eulenberg 7 ) gegeben, wobei 
Aufnahme und Abgabe von den Schwankungen des atmosphärischen 
Luftdruckes, den Temperaturdifferenzen, den Luft- und Windströmun¬ 
gen und von der Bewegung des Bodenwassers abhängen (Soyka 8 ). 
Es ist leicht begreiflich, dass bei diesem Gasaustausch krank- 
raachende Miasmen, Kanal- und Leichengase, unter Umständen selbst 
organisirte Keime in die atmophärische Luft gelangen und die Ge¬ 
sundheit des Menschen beeinträchtigen können. 


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354 Pr. Süsskand, 

Bezüglich der Durchlässigkeit des Bodens für Wasser unter¬ 
scheidet man nach Ad. Meyer (cit. bei Soyka 8 ) die grösste Wasser¬ 
kapazität, mit welcher der höchste Füllungsgrad der Poren mit 
Wasser bezeichnet wird, und die kleinste oder absolute Wasserkapa¬ 
zität, welche die kleinste Wassermenge angiebt, die unter allen Um¬ 
ständen vom Boden festgehalten wird, sobald ihm ein Ueberschuss 
von Wasser zu Gebote steht. Die Wasserkapazität verhält sich direkt 
proportional zum Porenvolumen und umgekehrt proportional zur Weite 
der Poren. Der Feuchtigkeitsgehalt des Bodens, der bei den soge¬ 
nannten Bodenkrankheiten eine so wichtige Rolle spielt, hängt wesent¬ 
lich von der Wasserkapazität des Bodens ab. Derselbe ist bei der 
Durchfeuchtung von oben - durch Niederschläge — geringer, als 
bei aufsteigender Durchfeuchtung — durch Grundwasser —, bei 
welcher die Attraktion der kapillaren Ilohlräume mitwirkt. Daraus 
folgt, dass bei Erschöpfung der Wasserkapazität alle Luft aus dem 
Boden verdrängt und event. in die Häuser getrieben wird. 

Bei der kapillaren Attraktion können mit dem Wasser Mikro¬ 
organismen bis an die Verdunstungszone (Hofmann 8 ) befördert wer¬ 
den, die nach Verdunsten des Wassers in das Bereich der atmosphä¬ 
rischen Luft gelangen. 

Der Boden hat ferner in einer Tiefe von etwa 20 m (Roscn- 
tlial 9 ) eine gewisse Eigenwärme, die zwar je weiter nach dem Erd¬ 
mittelpunkte um so höhere Werthc annimmt, sonst aber keinerlei 
Schwankungen unterworfen ist. 

Anders verhält sich die Temperatur der oberflächlichen 
Schichten des Bodens, welche von den Sonnenstrahlen erwärmt 
werden. Hier erleidet die Bodentemperatur zunächst periodische 
Schwankungen, und zwar machen sich an den obersten Schichten 
noch die Tagesschwankungen bemerklieh, während in den tieferen 
Schichten nur die Jahresschwankungen noch nachweisbar sind. Weiter¬ 
hin gestaltet sie sich verschieden je nach dem Absorptionsvermögen, 
der Strahlung, der Leitung, der spezifischen Wärme, der Farbe und 
Lage des Bodens. 

Die Menge der absorbirten und emittirten Strahlen ist um 
so grösser, je feiner das Material und je dunkler die Farbe des Bo¬ 
dens ist. Fester Boden leitet die Wärme besser als lockerer. Die 
specifische Wärme der Bodenmineralien ist eine geringe, eine 
höhere beim Humus. Dass endlich die Lage des Bodens nach der 
Himmelsgegend und seine Neigung gegen den Horizont von Einfluss 


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sind, braucht nur angedeutet zu werden. Dies alles gilt aber nur 
für den trocknen Boden. Ist der Boden feucht, so wird viel Wärme 
beim Verdunsten des Wassers verbraucht. 

Unter dem mit Pflanzen oder Gebäuden bedeckten Boden ist die 
Temperatur höher als unter dem nackten und kahlen (Soyka 8 ) und 
liosenthal 9 ). 

Die Maxima und Minima der Bodentemperatur in den mittleren 
Schichten des Bodens fallen nicht mit denen der Lufttemperatur zu¬ 
sammen, sondern treten um so später ein, je tiefer die Stelle liegt. 
So fand Quetelet in Brüssel bei 7 m Tiefe das Maximum im De¬ 
zember und Januar, das Minimum im Juni (bei Rosenthal 9 ). 

Die hygienische Bedeutung der Bodentemperatur erhellt aus 
ihrem Einfluss auf die Vegetation, der sich darin ausspricht, dass bei¬ 
spielsweise im Eisass der Weizen bis zu seiner Reife bei einer mitt¬ 
leren Sommertemperatur von 15° C. 137, bei 14,4° C. 146 Tage 
braucht. Noch empfindlicher aber müssen Mikroorganismen auf Tem¬ 
peraturschwankungen reagiren (Soyka 8 ). 

Das Absorptionsvermögen des Bodens für Gase hängt 
zum Theil mit seinen physikalischen (Porosität), noch mehr aber mit 
seinen chemischen Eigenschaften zusammen. Die Gase werden thcils 
unverändert im Boden festgehalten (Wasserdampf, Kohlensäure, Sauer¬ 
stoff), theils erleiden sie eine chemische Veränderung, z. B. Ammo¬ 
niak, aus dem sich geringe Mengen Salpetersäure bilden, oder 
Schwefelwasserstoff, aus dem sich Schwefel abscheidet, auch Schwefel¬ 
eisen bildet. Die Absorptionsgrösse ist von der Temperatur abhängig. 
Die grössten Mengen werden bei einer Temperatur zwischen 0° und 10° 
absorbirt. Die Absorption der mineralischen Verbindungen 
durch den Boden ist ein vorwiegend chemischer Vorgang und erstreckt 
sich im Allgemeinen auf solche Substanzen, die den Pflanzen zur Er¬ 
nährung dienen (Ammoniak, Kali, Natron, Kalk, Magnesia, Phosphor¬ 
säure, Kieselsäure). Die absorptionsfähigen Körper werden in gelöstem 
Zustande aus ihren Lösungen, die unlöslichen als Ganzes absorbirt, so 
der phosphorsaure Kalk und die phosphorsaure Ammoniakmagnesia. 

Die Absorptionsfähigkeit des Bodens erstreckt sich ferner auch 
auf viele organische Verbindungen, speziell auf viele Bestand- 
theile der Abfallstoffe. Wird dunkle, stinkende Mistjauche durch ge¬ 
siebte Gartenerde oder feinen Flusssand filtrirt, so läuft eine klare, 
nicht mehr riechende und auch chemisch veränderte Flüssigkeit ab. 


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Dr. Süsskand, 


(Bronncr und Gazzcri bei Soyka 8 und Orth 10 ). Die fcstgehaltenen 
organischen Verbindungen erleiden im Boden eine chemische Ver¬ 
änderung, indem sie in anorganische übergeführt, mineralisirt 
werden, und zwar wird der Kohlenstoff zu Kohlensäure, der Stick¬ 
stoff zu salpetriger Säure und Salpetersäure oxydirt (oder in Ammo¬ 
niak umgewandelt). 

Daraus erklärt sich die grosse Menge der in der Grundluft zu 
findenden Kohlensäure. Die Kohlensäuremenge ist also ein Index 
für den Ablauf organischer Processe im Boden. 

Die Selbstreinigung des Bodens durch Absorption und Mine¬ 
ralisation findet jedoch bei zu starker Anhäufung und zu grosser 
Konzentration der Schmutzstoffe früher oder später ihre Grenze 
(Orth 10 ). 

3. Grund- und Bodenwasscr. 

Das Bodenwasser ist seinem Ursprünge nach oberirdisches Me¬ 
teorwasser, welches schon während seines Niederfallens auf die Erde 
gasförmige und feste Bestandteile aus der atmosphärischen Luft auf¬ 
nimmt. Auf der Oberfläche der Erde wird es durch Auslaugen der 
verschiedensten Abfallstofife, welche der Mensch in seinem physiolo¬ 
gischen, ökonomischen und gewerblichen Leben dem Boden mittheilt, 
(Rosenthal 9 ) noch weiter verunreinigt. Indessen erleidet das Wasser 
während seines Sickerns durch den Boden mannigfache Ver¬ 
änderungen in seiner Zusammensetzung. 

Die suspendirten festen Bestandtheile werden, bei genügen¬ 
der Mächtigkeit der Filtrationsschicht, durch die Filtration des Bodens 
vollständig, die unbelebte organische Materie durch Mineralisa¬ 
tion zum grössten Theil aus ihm entfernt. Von den in Lösung befind¬ 
lichen mineralischen Verbindungen wissen wir bereits, ein wie 
grosser Theil durch Vegetationsproeesse dem Wasser wieder ent¬ 
zogen wird. 

Zwar wird das Wasser bei einem durch lebhaftere Verwesungs¬ 
prozesse bedingten höheren Gehalt an Kohlensäure viel mehr von 
den Carbonaten des Calcium’s und Magnesium’s, den hauptsächlich¬ 
sten Constituentien der Erdoberfläche (Tiemann 11 ), auflösen, doch 
schliesst dies einen mehr ökonomischen, durch die Härte des Wassers 
bedingten, als hygienischen Schaden in sich. 

Nach den Untersuchungen von Tiemann und Preusse 11 ) beruht 
denn der Schwerpunkt der Wasserverunreinigung auch nicht in dem 


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höheren Gehalt an mineralischen Stoffen, noch auch in der grösseren 
Menge der todten Materie, sondern in einem etwaigen Gehalt an le¬ 
benden pathogenen Mikroorganismen und ihren Sporen beziehungs¬ 
weise den Eiern von Eingeweidewürmern, denen das Wasser mög¬ 
licherweise als Vehikel dient, durch welches sie in den menschlichen 
Organismus eindringen. 

Nachdem nun das Wasser die angedeuteten physikalischen und 
chemischen Processe durchlaufen hat, gelangt es schliesslich auf eine 
Bodenschicht, die für Wasser undurchlässig ist, und sammelt sich 
dort an. Dieses unterirdische Wasser nennen wir Grundwasser. 
Es strömt auf der wasserdichten Unterlage mit einer Geschwindig¬ 
keit, die von ihrem Gefälle abhängt, w'ieder den Flüssen zu. Die 
Configuration dieser Unterlage entspricht nicht immer derjenigen der 
Bodenoberfläche, sondern bildet für sich Berge und Thäler (Soyka 8 , 
Schönfeld 12 ). 

Der Abstand zwischen dem Spiegel des Grundwassers und dem 
Oberflachenniveau des Bodens, der Grundwasserstand, ist kein kon¬ 
stanter. 

Die örtlichen Schwankungen desselben sind nach Soyka ab¬ 
hängig: 

1. von der an Ort und Stelle fallenden Regenmenge und, fügen 
wir hinzu, von der Art des Regens (Platz- oder Landregen); 

2. von der Configuration der Bodenoberfläche; 

3. von ihrer Porosität; 

4. von der Gestaltung der wasserdichten Unterlage, die je nach 
ihrer Neigung einen Zu- oder Abfluss begünstigt; 

5. davon, in welchem Verhältniss das Niveau des Grundwassers 
sich zum Flussniveau befindet; 

6. von der Verdunstung, deren Grösse von der Grösse der ka¬ 
pillaren Attraktion, der Steighöhe des Bodenwassers, abhängt, welche 
um so grösser ausfällt, je feiner die Poren des Bodens sind. 

Der Grundwasserstand steigt nicht parallel der gefallenen Regen¬ 
menge und ist daher ein sichererer Maassstab für die Bodenfeuchtig¬ 
keit, als die Niederschlagsmenge. 

Das Grundwasser hat nicht bloss durch seine Besiehungen zum 
Boden selbst und zur Bodenluft ein hervorragendes hygienisches Inter¬ 
esse, sondern auch durch seine Bestimmung als Trink- und Nutz¬ 
wasser. In dieser Beziehung verdient es auf dem platten Lande, wo 
es an Ort und Stelle entnommen und in seinem natürlichen Zustande 


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Dr. S ö s s k a n (1, 


zum Trinken und zum Hausgebrauch benutzt wird, eine grössere 
Beachtung, als in den Städten, welche bei verdächtigem Grundwasser 
sich von seinem Standort emanzipiren, und von ferne her einwand¬ 
freies Wasser zuleitcn, oder jenes vorher einer künstlichen Filtration 
unterwerfen. 

Bei der auf dem Lande allein in Betracht kommenden Wasser¬ 
versorgung durch Brunnen erscheint daher vor allem die Reinhaltung 
des Bodens geboten. 

Es ergiebt sich ferner von selbst, dass Brunnen nicht in der 
Nähe von Stallungen und Dunggruben angelegt werden dürfen. Am 
zweckmässigstcn sind Röhrenbrunnen, welche das Wasser aus einer 
tieferen Erdschicht beziehen. 

4. Bodenkrankheiten. 

Die Wichtigkeit der Bodenhygiene findet ihren schärfsten Aus¬ 
druck in den Beziehungen des Bodens zu gewissen Infektionskrank¬ 
heiten, zu den sogenannten ßodenkrankheiten. Sie alle verdanken 
ihre Entstehung gewissen organischen Keimen, die in einem ihren 
Lebensbedingungen günstigen Boden sich entwickeln und vermehren 
und wohl auch ihre spccifisehe Wirksamkeit, ihre Virulenz, erlangen. 
Für bestimmte Infektionskrankheiten sind die supponirten Keime ent¬ 
deckt und ihre biologischen Bedingungen genauer studirt und präcisirt 
worden. Sic lassen sich in folgende Punkte zusammen fassen: 

1. eine gewisse, nicht excessivc Feuchtigkeit; 

2. Anwesenheit eines geeigneten Nährsubstrats, also ein Gehalt 
an organischen Stoffen; 

3. eine bestimmte Wärme; 

4. freier Zutritt der atmosphärischen Luft. 

Sind diese Bedingungen gegeben, so können die entwickelten 
Keime auf den angedcuteten Wegen (vergl. oben) den Boden verlassen 
und in die atmosphärische Luft oder in das Wasser gelangen. Auf 
welchem Wege sie schliesslich in den menschlichen Organismus cin- 
dringen, ob durch die Luft- oder Nahrungswege, steht bei den meisten 
Infektionskrankheiten noch nicht fest. Jedenfalls sind beide Möglich¬ 
keiten in’s Auge zu fassen. Nach Eulenberg 2 ) werden sie „höchst 
wahrscheinlich immer oder doch vorzugsweise mittelst der Respirations¬ 
wege aufgenommen.“ Die Bodenkrankheiten bezeichnet man auch 
als miasmatische, die Krankheitskeime als ektogene. 


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5. Das Prototyp der Bodenkrankheiten ist die Malaria. 

Mit diesem Namen bezeichnet man eine ganze Reihe intermittiren- 
der und remittirender Fieber, als deren Ursache der von Klebs und 
Tommasi Crudeli entdeckte Bacillus malariae anzusehen ist. Er 
wurde im Boden und den tiefen Luftschichten der römischen Cam- 
pagna gefunden. In Reinkulturen dargestellt und verirapft erzeugt er 
bei Kaninchen intermittirendes Fieber. Marchiafava (cit. bei 
E. Frankel 13 ) wies bei an Intermittcns perniciosa verstorbenen In¬ 
dividuen die Anwesenheit der Bacillen im Blut und den blutbereiten¬ 
den Organen (Lymphdrüsen, Milz und Knochenmark) nach. 

Die Bacillen stellen 2—7 ft lange schlanke Stäbchen dar, welche 
in Reinkulturen zu langen, homogenen Fäden auswachsen, die sich 
der Quere nach theilen und in ihrem Innern Sporen erzeugen. Sie 
gehören zu den aerobien Spaltpilzen und bedürfen zu ihrer Ent¬ 
wickelung ausser dem Sauerstoff einer Temperatur von mindestens 
20° C. (Ziegler 14 ). 

Nach Aug. Hirsch (cit. bei Fränkel 13 ) findet die Malaria erst 
mit der Isotherme von 15—16° ihre nördliche Grenze. Für ihr Ge¬ 
deihen am günstigsten ist ein Boden, der neben einem wechselnden 
Feuchtigkeitsgehalt und dem freien Zutritt von Luft eine grössere 
Menge organischer, namentlich pflanzlicher Stoffe enthält*). 

Demgemäss beobachten wir das Auftreten der Malaria auf Sumpf¬ 
boden und in Niederungen, die häufigen Ueberschwemmungen ausge¬ 
setzt sind. Auch Verfall der Kultur, Verwüstung des Bodens, Aus¬ 
rottung der Wälder leisten der Entwickelung der Malaria Vorschub 
(Soyka 8 , Eichhorst 16 ). Künstlich können Malariaherde dann 
erzeugt werden, wenn grössere Umgrabungen des Bodens stattfinden, 
wie unter anderem während des Hafenbaues im Jahdegebiet (Marsch¬ 
fieber). 

Die Infektion erfolgt in der Regel durch Aufnahme des Giftes 
mit der Athmungsluft, ausnahmsweise wohl auch durch Genuss von 
Sumpfwasser (Eichhorst 16 ). 

*) Das begünstigende Moment der Yegetabilien ist noch nicht genügend auf¬ 
geklärt. Die hierbei in Betracht kommenden Fäulnissvorgänge können es um so 
weniger sein, als Klebs und Tommasi Crudeli nachgewiesen haben, dass ein 
gut gedüngter und mit den natürlichen Effluvien der Menschen und Thiere durch- 
tränkter Boden der Entwicklung der Malaria ungünstig ist. Diese Thatsache 
scheint auch mit der aerobiotischen Natur der Spaltpilze in Einklang zu stehen. 

Viertejj&hrsschr. f. ger. Med. Dritte Folge. XIV. 2. 24 


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Dr. Siisskand, 


Die Inkubationszeit wird auf durchschnittlich 14 Tage be¬ 
messen. Die zu ergreifenden Maassregeln ergeben sich hiernach von 
selbst: Austrocknen von Sümpfen durch zweckmässige Drainage oder 
künstliche Aufschüttungen von „gutem Boden“; wo dies unthunlich, 
gänzliches Unterwassersetzen des Malariaherdes. Schutz vor Ueber- 
schweramungen durch Anlage von Dämmen; Hebung und Regelung 
der Kultur eines malariasiechen Bodens durch zweckmässige Anpflan¬ 
zungen, event. solche, die eine austrocknende Wirkung haben, wie 
z. B. der Eucalyptus globulus. Die Vegetation übt in vieler Beziehung 
einen wohlthätigen Einfluss aus: sie regulirt die Wasserverhältnisse 
des Bodens, so dass sie geringeren Schwankungen unterworfen sind; 
sie entzieht dem Boden gewisse Stoffe, deren sie zu ihrem Aufbau 
bedarf und beschränkt so die Fäulniss- und Verwesungsprocesse in 
demselben. 


6. Unterleibstyphus. 

Der Unterleibstyphus ist eine endemisch und epidemisch 
auftretende Infektionskrankheit, als. deren Erreger kurze, dicke, an 
ihren Enden abgerundete Stäbchen (Bacillus typhosus Eberth) ange¬ 
geben werden, welche sich schon bei Zimmertemperatur auf verschie¬ 
denen Nährsubstraten züchten lassen. Die Kulturen erreichen in etwa 
4 Tagen ihre volle Entwickelung und erzeugen bei Körpertemperatur 
in ihrem Innern endständige Sporen. Sie sind in den Darminfiltraten, 
den mesenterialen Lymphdrüsen und in der Milz von Individuen ge¬ 
funden worden, die in frühen Stadien des Abdominaltyphus ge¬ 
storben sind. 

Infektionsversuche bei Thieren mit den Bacillen sind bis jetzt 
negativ ausgefallen (Ziegler 14 ). Auch die Uebertragung der Krank¬ 
heit durch Ueberimpfen des Blutes auf Thiere wie auf Menschen 
gelingt nach Motschukofsky nicht (Zuelzer 16 ). 

Ueber die Stellung des Typhus abdominalis in der Reihe der 
Infektionskrankheiten gehen die Ansichten auch heute noch weit aus¬ 
einander. Während die einen ihn zu den miasmatischen, den Boden¬ 
krankheiten zählen, reihen ihn die andern den kontagiösen Infektions¬ 
krankheiten an. Beide Richtungen, die lokalistische wie die konta- 
gionistische, führen gewichtige Gründe ins Feld, die wir wegen ihrer 
eminenten Wichtigkeit für die praktische Hygiene kurz skizziren wollen. 

Nach Ansicht der Lokalistcn reproduciren sich die Typhuskeime 
einzig und allein im Boden, und zwar in einem hierzu besonders 


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Aufgabon der Sanitätspolizei auf dom platten Lande. 


361 


disponirten. Für die Abhängigkeit des Typhus von gewissen Boden¬ 
verhältnissen liegen folgende Gründe vor. 

Epidemiologisch kritische Vergleichungen der einzelnen En- und 
Epidemien weisen darauf hin, dass, wo dieselben auch immer aufge¬ 
treten sind, es sich stets um niedrig gelegone, für Luft und Wasser 
gleich durchlässige, feuchte Terrains gehandelt hat. v. Pettcnkofcr 
und Buhl haben ferner für München und Virchow seither für Berlin 
einen gesetzmässigen Zusammenhang zwischen dor Typhussterblichkeit 
und den Grundwasserschwankungen nachgewiesen, derart, dass jedes¬ 
mal mit dem Absinken des Grundwassers ein Steigen, und umgekehrt 
mit einem Ansteigen des Grundwassers ein Fallen der Typhusmorta¬ 
lität zusammenfällt. 

Hingegen lässt sich ein Zusammenhang des Typhus mit dem 
Trinkwasser, wie die sogenannte Trinkwassertheorie will, etwa in dem 
Sinne, dass die Typhusbacillen mit den Dejcktionen Typhuskranker 
in das Grundwasser und von da in unser Trinkwasser gelangen, aus 
dem Grunde nicht konstruiren, weil die Erfahrung lehrt, dass Typhus¬ 
epidemien auch da wieder auftreten, wo die angeschuldigten Brunnen 
und Leitungen gesperrt worden sind. 

Andererseits aber zeigt es sich, dass bei gleichem Trinkwasser, 
aber verschiedener Bodeubeschaffenheit der Typhus hinsichtlich seiner 
In- und Extenstiät ein verschiedenes Verhalten, während derselbe bei 
verschiedenartiger Wasserversorgung, aber derselben BodenbesehafFen- 
heit ein gleiches Verhalten darbietet (Soyka 8 ). 

Mit den epidemiologischen Anschauungen ist aber auch die Vor¬ 
stellung nicht zu vereinigen, als könnten die im Boden entwickelten 
Keime durch die meteorischen Niederschläge in das Grundwasser her¬ 
untergespült werden, weil gerade trockene Jahre Typhusjahre sind. 

Es bleibt also für die Typhuskeimo nur der Weg nach oben 
übrig, welcher angebahnt wird durch die Capillarität oder die Venti¬ 
lation des Bodens. 

Die Contagionisten lassen die Krankheitskeimc entogen im 
menschlichen Organismus entstehen und sich fortentwickeln. Die 
Uebertragung der Krankheit auf Andere geschieht nach ihrer Ansicht 
durch Berührung mit den Kranken und ihren Effecten oder durch 
den Genuss von mit den Dejcctionen Typhöser inficirtem Wasser oder 
ungekochter Milch. Den Infectionsmodus durch ungekochte Milch hat 
man sich übrigens so zu denken, dass die Milch ihre Infectiosität durch 
Verdünnung oder Spülung der Milchgcfässe mit inficirtem Wasser er- 

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Dr. Süsskand, 


langt. Zahlreiche Beobachtungen liegen vor, welche einen solchen 
Infectionsmodus darthun (vgl. namentlich die Casuistik von Zuelzer 16 ). 

Allein mit diesen rein contagionistischen Anschauungen stehen 
die Thatsachen im Widerspruch, welche auf eine besondere Vorliebe 
des Typhus für bestimmte Oertlichkeitcn und bestimmte Jahreszeiten 
hinweisen. Auch die Erfahrung, dass die intimste Berührung mit den 
Typhuskranken bisweilen keine Uebertragung der Krankheit auf die 
Angehörigen, selbst unter den ungünstigsten hygienischen Verhältnissen, 
herbeiführt, lässt sich mit diesen Anschauungen nicht in Einklang 
bringen. Besonders lehrreich ist ein Fall unserer eigenen Beobach¬ 
tung. Ein Brief bote acquirirt den Typhus ausserhalb und wird krank 
zu seinen Eltern gebracht. Der Kranke wurde in einer sehr engen 
und niedrigen Stube, in welcher noch ein grosser Webstuhl stand und 
die von einer dreiköpfigen Familie bewohnt wurde, verpflegt. Während 
des Lebens und nach dem Tode des Pat. ist nichts zur Desinfection 
der Stühle, der Effecten oder der Wohnung geschehen. Trotzdem sind 
weder die Eltern noch seine etwa 17 Jahre alte Schwester erkrankt 
und ist auch kein weiterer Fall von Typhus am Orte aufgetreten. 
Die kleine Stadt, in der wir bis dahin nie einen Typhusfall erlebt 
haben, liegt auf sterilem Sand. 

Ferner sprechen gegen die Annahme, dass die Mikroorganismen 
im menschlichen Organismus entstehen und dort auch ihre specifische 
Wirksamkeit erlangen, die weiteren Thatsachen, dass frische Dejec- 
tionen nicht toxisch wirken (E. Fraenkel 17 und Zuelzer 16 ) und 
dass Ueberimpfen des Blutes von Typhuskranken auf Thiere und 
Menschen keine Infection hervorruft. 

So scheint denn Alles für die Annahme zu sprechen, dass die 
Typhuskeime der Vermittelung eines geeigneten Bodens 
bedürfen, um wirksam zu werden, dass aber auch jedes 
andere Medium, welches die Bedingungen zur Fäulniss 
(Wärme, Feuchtigkeit und Anwesenheit gewisser organischer 
Stoffe) gewährleistet, die Rolle des disponirten Bodens 
übernimmt. 

Mit dieser Auffassung ist cs vollkommen vereinbar, dass durch 
mit Dcjectionen von Kranken beschmutzte Wäsche die Affection auf 
Wäscherinnen etc. übertragen, dass ferner die Krankheit durch Men¬ 
schen und Gegenstände nach einem anderen Orte verschleppt werden 
und hier unter günstigen localen Bedingungen sich weiter verbreiten 
kann. Auch muss die Möglichkeit ohne Weiteres zugegeben werden, 


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Aufgaben der Sanitätspolizei auf dem platten Lande. 


363 


dass wirkungsfähige Keime gelegentlich in Brunnen, die sich in 
der gefährlichen Nähe von Abtritten und Mistgruben befinden, ge¬ 
langen. 

Die zu ergreifenden sanitätspolizeilichen Massregeln zerfallen in 
allgemeine und specielle. 

Die allgemeinen Massregeln gehören zu den Obliegenheiten der 
Sanitäts-Commissionen (§§ 1,2 und 6, Ziffer 1, 2 und 3 des Regulativs 
vom 8. August 1835), die darüber zu wachen haben, dass die Strassen 
und Plätze sauber gehalten, Abtritte und Dungstätten unschädlich ge¬ 
macht, Gossen und Rinnsteine reichlich mit Wasser gespült werden. 
Vor Allem aber haben sie ihr Augenmerk auf die Beschaffenheit des 
Trinkwassers zu richten, verdächtige Brunnen zu schliessen und An¬ 
weisungen für das Publikum zu ertheilen, welche eine Belehrung über 
die Erscheinungen des Unterleibstyphus und einen Hinweis auf die 
Anzeigepflicht gemäss §§ 9 und 36 des Regulativs, sowie Vcrhaltungs- 
massregeln bei drohendem und erfolgtem Ausbruch einer Typhus¬ 
epidemie zu enthalten haben. 

Für den speciellen Fall hat die Polizei darauf zu halten, dass 
Dejectionen von Typhuskranken nicht in Abtritte oder auf Dungstätten 
geschüttet, sondern erst nach dem bei der Cholera zu besprechenden 
Verfahren desinficirt und dann in einem vom Brunnen fernzuhaltenden 
tiefen Loche im Garten oder auf dem Acker vergraben und sorgfältig 
zugedeckt werden. Auch die beschmutzte Wäsche wird nach dem¬ 
selben Verfahren wie bei der Cholera behandelt. Isolirung des Kranken 
(§16 und 17 des Regulativs) ist unnöthig und überdies auf dem 
platten Lande auch nicht durchführbar. 

Die Anweisung zur Rundverfügung vom 14. Juli 1884 nimmt 
eine vermittelnde Stellung in der Typhusfrage, und gewiss mit vollem 
Recht, ein. Danach sind nur solche Kinder vom Schulbesuch auszu- 
schliessen, welche selbst am Typhus leiden (No. 2 der Anlage zu 
der erwähnten Verfügung), nicht aber gesunde Kinder, in deren Haus¬ 
stand ein Fall von Typhus vorkommt (No. 3 der Anlage). Die Schule 
wäre nur dann zu schliessen, wenn eine Infection der Abtritte durch 
Dejectionen Typhuskranker, sei es Schulkinder oder im Schulhause 
wohnhafter Personen, zu befürchten ist (No. 7 der Anlage). 

7. Cholera asiatica. 

Der Krankheitserreger der Cholera asiatica ist der von Koch 
entdeckte und von ihm so benannte Kommabacillus. Derselbe stellt 


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Dr. Süsskand, 

ein komma- oder mehr halbkreisförmig gekrümmtes Stübchen dar, 
dessen Länge ungefähr die Hälfte bis höchstens zwei Drittel eines 
Tuberkelbacillus beträgt, aber erheblich dicker und plumper als dieser 
ist. Zuweilen liegen zwei Individuen so übereinander, dass sie zu¬ 
sammen eine S-förmige Figur darstellen; zuweilen auch mehrere über¬ 
einander, so dass ein den Spirillen ähnliches, schraubenförmiges Ge¬ 
bilde entsteht. Sie lassen sich in alkalischer Fleischbrühe und Milch 
züchten, vermehren sich darin ausserordentlich schnell und sind leb¬ 
haft beweglich (Ziegler 14 ). Sie gedeihen aber auch auf feuchter 
Leinwand und feuchter Erde, am besten bei einer Temperatur von 
30—40° C., wuchern nicht mehr unter 16°, bleiben aber noch bei 
—10° lebend. Temperaturen über 50°, Säuren, zumal die Salzsäure, 
und längeres Austrocknen tödten sie in kurzer Zeit. Zu ihrer Ent¬ 
wickelung bedürfen sie ferner des Sauerstoffes. Dauersporen lassen 
sich nicht nachweisen. Koch hat zahlreiche Kommabacillen in dem 
stark verunreinigten Wasser eines indischen Tank, an dessen Ufern 
die Cholera herrschte, gefunden. 

Die Kommabacillen kommen im Darminhalt und den schlauch¬ 
förmigen Drüsen des Darmes, seltener im Erbrochenen, niemals in 
den Secreten, im Blute, im Harn und der Exspirationsluft vor. Rein- 
culturen, in den Darm von Meerschweinchen eingespritzt oder, nach 
voraufgegangener Neutralisirung des sauren Magensaftes, in den Magen 
gebracht, führen nach zwei Tagen den Tod der Versuchsthiere herbei, 
deren Darm man bei der Sektion mit einer flockigen, wässerigen 
Flüssigkeit gefüllt findet, welche massenhaft Bacillen enthält (Ziegler 14 
und Rosenthal 9 ). 

Ueber den Ort der Entstehung dieser Baoillen besteht zur Zeit 
noch eine tiefgehende Spaltung unter den Fachmännern. 

v. Pettenkofer und seine Schüler treten von ihrem epidemio^ 
logischen Standpunkte aus für die ektogene Entstehung der Cholera¬ 
keime, für ihre Entstehung und Entwickelung im Boden ein. 

Die Erfahrungen, die in den einzelnen Epidemien gewonnen 
wurden, zeigen unwiderleglich die Abhängigkeit der letzteren von ge¬ 
wissen örtlichen und zeitlichen Dispositionen. 

Die örtliche Disposition äussert sich darin, dass, während 
gewisse Oertlichkeiten immer wieder von Choleraepidemien heim- 
gesucht werden, andere mit gleicher Constanz verschont bleiben. Eine 
Vergleichung dieser choleradisponirten Oertlichkeiten ergiebt überein¬ 
stimmend, dass es sich bei ihnen stets um einen lockeren, porösen, 


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Aufgaben der Sanitätspolizei auf dem platten Lande. 


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für Wasser und Luft durchlässigen, alluvialen Boden handelt, der 
einen mehr oder weniger grossen Gehalt an organischen, fäulniss- 
fähigen Stoffen aufweist und dessen Oberflächenniveau vom Grund¬ 
wasserspiegel eine geringe Entfernung (5—50 Fuss) hat (Soyka 8 ). 
Ja, die eigentliche Heimath der Cholera schildert Koch als ein 
sumpfiges, von zahlreichen Ueberschwemmungen heirage- 
suchtes Land mit üppiger Vegetation (cit. bei Eichhorst 18 ). 

Das zeitlich disponirende Moment wird in einer zeitlich 
wechselnden Durchfeuchtung des Bodens gefunden, womit es zu¬ 
sammenhängt, dass, wie v. Pettenkofer nachgewiesen hat, negative 
Schwankungen des Grundwassers mit einer Steigerung der Erkran¬ 
kungen an Cholera einhergehen. Aber auch die von den Jahreszeiten 
abhängige Bodentemperatur ist von Einfluss, indem sie gewisse bio¬ 
logische Processe im Boden ermöglicht. Demgemäss fällt im All¬ 
gemeinen das Auftreten der Cholera mit der steigenden Temperatur 
zusammen und erlischt mit dem Eintreten der kälteren Jahreszeit. 

Die Contagionisten stellen sich auf einen rein bakteriologischen 
Standpunkt. Den ermittelten Lebensbedingungen der Koramabacillen 
entsprechend, wird ihre entogene Entstehung behauptet, aus der de¬ 
letären Wirkung dieser Pilze auf die Versuchsthiere ihre Contagiosität 
beim Menschen gefolgert und aus ihrer Lebensfähigkeit dn bestimmten 
Medien (Milch und Wasser, feuchter Boden und feuchte Wäsche) ihre 
Verbreitungsweise erschlossen. 

In strenger Konsequenz seiner Richtung behauptet von Petten¬ 
kofer, dass dielnfection beim Menschen mittels der atmosphärischen 
Luft erfolgt, was Koch für unwahrscheinlich hält, und vielmehr an¬ 
nimmt, dass die Bacillen mit dem Trinkwasser oder mit feuchten 
Nahrungsmitteln in den Magen gelangen. Eine Infection mit der 
Athmungsluft giebt er nur ausnahmsweise zu, dann nämlich, wenn 
sich darin „zerstäubte flüssige Choleradejekte“ (Eichhorst 18 ) be¬ 
finden. v. Pettenkofer nimmt einen Dauerzustand der Bacillen 
an, womit er das vorkommende Wiederaufflackern einer zeitweise er¬ 
loschenen Epidemie erklärt, was Koch wieder negirt, weil er Sporen 
in seinen Spirillen nicht aufzufinden vermag (cf. v. Ziemssen 19 ). 

Allein keine dieser Richtungen vermag, in ihrer Einseitigkeit, 
die gesicherten Thatsachen befriedigend zu erklären. 

Zunächst kann die durch die Untersuchungen Koch’s fest¬ 
gestellte Reproduktionsfähigkeit der Kommabacillen auch ausserhalb 
des Bodens nicht mehr geleugnet werden; auch die Möglichkeit der 


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Dr. Süss kan d, 

Infection durch bacillenhaltiges Wasser lässt sich füglich nicht be¬ 
zweifeln. 

Andererseits aber darf auch der erwiesene Einfluss der Oertlich- 
kcit nicht in Abrede gestellt werden. Wollten wir von der Loka¬ 
lität ganz absehen, wie wäre die völlige Immunität mancher Orte, 
die doch zweifellos besteht, zu erklären? Reproduciren sich aber die 
Bacillen ausschliesslich im menschlichen Organismus: welcher Ein¬ 
fluss bleibt da für den Boden übrig? 

Wir nehmen also an, dass die Cholerabacillen sich zwar in 
jedem feuchten Medium reproduciren und vervielfältigen können, 
ihre virulente Eigenschaft erlangen sie jedoch erst in einem „sicch- 
haften“ Boden. Diese Virulenz ist durch die in solchem Boden statt¬ 
findenden Fäulnissproccsse und die dabei gebildeten Fäulnissprodukte, 
die Ptomaine, gegeben, mit denen sich die Mikroorganismen „be¬ 
laden oder imprägniren,“ eine Annahme, die Zuelzer bereits für 
die Typhusbacillen geltend gemacht hat. 

Diese virulenten Keime können nun mit der atmosphärischen 
Luft durch Mund und Nase, oder mit dem Trinkwasser und den 
Nahrungsmitteln direkt in den Magen gelangen, diesen bei vorhan¬ 
dener individueller Disposition (alkalische Reaction des Magen¬ 
inhalts, Magenkatarrh [v. Zierassen 19 ]) glücklich passiren und sich 
im Dünndarm ansiedeln, wo sie dann ihre deletäre Wirkung ent¬ 
falten. Dies ist der gewöhnliche Modus der Infection. Ausnahms¬ 
weise können die Keime auch ausserhalb der Bodens ihre giftigen 
Eigenschaften annehmen, in den Fällen nämlich, wo andere Medien 
die Stelle des Bodens vertreten. (Aug. Hirsch bei E. Fraenkel 20 ). 

Die sanitätspolizeilichen Aufgaben erstrecken sich bei drohendem 
Ausbruch der Cholera auf die lokale und individuelle Prophylaxe, 
bei erfolgtem Ausbruch derselben auf die möglichste Beschränkung 
ihrer Verbreitung. 

Die örtliche Prophylaxe besteht in der Rein- und Trocken¬ 
haltung des Bodens und in der peinlichsten Sauberkeit in Haus 
und Hof. 

Die persönliche Prophylaxe wird angestrebt durch Beleh¬ 
rung des Publikums über sein Verhalten zu Cholerazeiten. Es wird 
gewiss zur Beruhigung der Gemeinden beitragen, wenn im Publikum 
die Uebcrzeugung Platz greift, dass sich jeder durch eine geeignete 
Lebensweise und durch Befolgung der Verhaltungsmassregeln wirk¬ 
sam vor der Choleragefahr schützen kann. In Cholerazeiten hat man 


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Aufgaben der Sanitätspolizei auf dem platten Lande. 


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seine Lebensweise so einzurichten, dass jede Verdauungsstörung ver¬ 
mieden wird. Nahrungsmittel, die gekocht werden können, des¬ 
gleichen das Trinkwasser, sollen nur in gekochtem Zustande ge¬ 
nossen werden. Dasselbe gilt auch für das im Hausgebrauch zu be¬ 
nutzende Wasser. 

Man hat ferner verseuchte Orte sorgfältig zu meiden, ebenso 
den Verkehr mit Personen, die von solchen Orten kommen. 

Bei thunlichster Vermeidung jeder hypochondrischen Selbstbeob¬ 
achtung und übertriebenen Ängstlichkeit bei scheinbaren Abweichungen 
von der Norm, dürfen vorhandene Magen- und Darmkatarrhe nicht 
vernachlässigt werden. 

Ist die Cholera ausgebrochen, so sollen die Kranken möglichst 
isolirt werden. Nach den ortspolizeilichen Vorschriften müssen auch 
auf dem platten Lande Räume zur Aufnahme von Cholerakranken 
bereit gehalten werden. Allein wir fürchten, dass vorkommenden 
Falles die Polizeiverfügungen sich schwer werden verwirklichen lassen. 
In kleinen Städten und besonders in Dörfern sind isolirte Räume für 
die Kranken und ein irgend wie brauchbares Personal zu ihrer Wartung 
und Pflege garnicht zu beschaffen. Ein Transport der Kranken nach 
den Krankenhäusern in den Kreisstädten aber ist mit grossen Gefahren 
für letztere verbunden. Wir würden es daher für zweckmässiger 
halten, die Gesunden von den Kranken abzusondern. Ihre eventuelle 
Unterbringung in Scheunen würde sich leicht ausführen lassen. Die 
Eigenthümcr sind gegen eine angemessene Entschädigung zur Uebcr- 
lassung der Scheunen polizeilich zu veranlassen (vgl. Silbcrschlag 21 , 
pag. 36 sub 4). 

Bei den Kranken bleiben nur so Viele zurück, als ihre Pflege es 
erforderlich macht. Die evaeuirten Räume können vom Wartepersonal 
zum Essen und, soweit dasselbe bei den Kranken entbehrlich ist, zum 
Aufenthalt benutzt werden. 

Die Dejectionen der Kranken sind, bevor sie den Abtritten cin- 
verleibt werden, durch Desinfection mit 5proc. Carbolsäure unschäd¬ 
lich zu machen. Die Fussböden und alle Gegenstände, die mit Aus¬ 
leerungen der Kranken beschmutzt sind, müssen mit trockenen 
Lappen gereinigt, letztere dann verbrannt werden. Alles Waschbare, 
was mit den Kranken in Berührung kommt, muss zuvor ausgekocht 
werden. Betten sollen mindestens 6 Tage lang ausser Gebrauch ge¬ 
setzt und an einem trockenen, luftigen Orte aufbewahrt werden. 


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Dr. Siisskand, 


Die Aufenthaltsräume Cholerakranker sind ebenfalls 6 Tage lang 
unbewohnt zu lassen und während dieser Zeit Tag und Nacht zu 
lüften. Die Austrocknung dieser Räume kann durch Heizen wirksam 
unterstützt werden (Koch, Skrzeczka, v. Pettenkofer 22 ). An¬ 
häufungen von Menschen auf einem engen Raume (§13 des Regulativs) 
sind zu verbieten, die Schulen zu schliessen (M.-E. vom 14. Juli 1884). 

8. Ruhr. Dysenterie. 

„Als Ruhr bezeichnet man eine Infectionskrankheit, welche sich 
vornehmlich durch Entzündung der Dickdarmschleimhaut äussert“ 
(Eich hörst 23 ). 

Im Allgemeinen ist die Ruhr eine Krankheit des wärmeren Klimas. 
Doch tritt sie unter besonderen Umständen auch in unserem Klima 
bald sporadisch, bald epidemisch, ja sogar pandemisch auf. 

Träger des Infectionsstoffcs ist immer der ruhrkranke Mensch, 
der ihn mit den Fäces absetzt. Ob das vermuthete specifische Agens 
seine Virulenz verliert, nachdem es seine Wirksamkeit im mensch¬ 
lichen Organismus vollendet hat und sie erst wieder im Boden erlangt, 
oder ob es dasselbe beibehält, scheint noch nicht festzustehen. Jeden¬ 
falls aber steht die Abhängigkeit der Ruhr von gewissen Bodenver¬ 
hältnissen ausser allem Zweifel. Alle diejenigen Eigenschaften des 
Bodens, die für das Auftreten der bereits erörterten Infectionskrank- 
heiten, zumal der Malaria, günstig sind, begünstigen in hohem Grade 
auch die Verbreitung der Ruhr, also ein niederes, feuchtes, mit organi¬ 
schen Stoffen reichlich durchtränktes Terrain bildet die örtliche 
Disposition. Eine zeitliche Disposition macht sich insofern 
geltend, als die meisten Epidemien in die Sommermonate fallen. Hier¬ 
bei kommen zwei Momente in Betracht: einmal die Temperatur, mit 
deren Höhe die Ruhrepidemien in- und extensiv Hand in Hand zu 
gehen scheinen, sodann die wechselnde Durchfeuchtung des Bodens 
nach Regengüssen. — Neben der Bodenverunreinigung ist Unreinlich¬ 
keit und Ueberfüllung der Wohnräume ein die Verbreitung der Ruhr 
begünstigendes Moment. 

Die individuelle Disposition giebt sich darin zu erkennen, 
dass schwächliche Individuen leichter befallen werden, als kräftige 
Personen. 

Darmcatarrhe begünstigen das Haften der Keime. 

Die Aufnahme des Giftes erfolgt mit der Athemluft durch 
Mund und Nase oder mit dem Trinkwasser; in beiden Fällen gelangt 


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es durch den Magen in den Darm, oder die Keime dringen direct 
durch den After in den Darm ein. 

Die Incubationsdauer beträgt 3—8 Tage. 

Massregcln. Da, wie wir gesehen haben, der Ruhrkranke 
Träger des Infectionsstoffes ist, so könnte ein wirksamer Schutz gegen 
die epidemische Ausbreitung der Ruhr dadurch erreicht werden, dass 
der erste Krankheitsfall rechtzeitig erkannt und thunlichst abgesondert 
wird. Aber freilich wird gerade auf dem platten Lande die Ab¬ 
sonderung des Kranken (§ 18 des Regulativs) mit den grössten, in 
den meisten Fällen unüberwindlichen Schwierigkeiten verbunden sein. 
Die Abgänge des Kranken sind nach dem bei der Cholora angegebenen 
Verfahren unschädlich zu machen. Die beschmutzte Wäsche ist sofort 
in ein mit Kaliseifenlauge gefülltes Gefäss aufzunchmcn und dann 
erst zu waschen. 

Stirbt ein Ruhrkranker, so ist die Leiche in ein mit Kaliseifcn- 
lauge getränktes Tuch zu legen und möglichst bald aus der Wohnung 
zu entfernen. 

Die Desinfection der vom Kranken gebrauchten Gegenstände, 
sowie der von ihm benutzten Räume wird am besten, weil am leich¬ 
testen durchführbar, nach den §§ 19—22 ad B. der Anweisung des 
Berliner Polizeipräsidiums vom 15. Aug. 1883 vorgenommen. 

9. Der Milzbrand, Anthrax, 

stellt eine acute Infectionskrankheit des Thierkörpers dar, von dem 
sie aber direct oder indirect auch auf den Menschen übertragen w r ird. 
Der Krankheitserreger ist der Bacillus Anthracis. Derselbe stellt 
5—10 fi lange, runde Stäbchen dar, die sich in den verschiedensten 
Nährsubstraten leicht züchten lassen. Sie bedürfen zu ihrer Entwicke¬ 
lung des Sauerstoffes und einer Temperatur von 30° C. Temperaturen, 
die unter 15° und über 43° liegen, machen ihre Entwickelung un¬ 
möglich. Auf geeignetem Nährboden wachsen sie in 2—3 Stunden 
zu langen Fäden aus, die nach weiteren 10—15 Stunden in regel¬ 
mässigen Abständen Sporen in ihrem Innern bilden und zerfallen. 
Die frei werdenden Sporen wandeln sich dann wieder in Bacillen um 
(Ziegler 14 und Zuelzer 24 ). Die Krankheit lässt sich bei hierfür 
empfänglichen Thieren durch Verimpfen von Reinculturen und von 
Blut milzbrandkranker Thiere hervorrufen. Die Vermehrung der Ba¬ 
cillen ist eine ungeheure. Davaine (bei Roloff 26 ) schätzt ihre Zahl 
in einem Tropfen Blutes auf 8—10 Millionen 

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Dr. Süsskand, 


Die Milzbrandbacillen gehen durch hohe Temperaturen, schnelles 
Austrocknen und durch Fäulniss des Nährbodens (vgl. Anmerk, auf 
Seite 359) leicht zu Grunde, während die Sporen sich noch Jahre 
lang in jedem Medium lebensfähig erhalten. 

Die Abhängigkeit der Krankheit vom Boden zeigt sich insofern 
ganz evident, als sie in einzelnen Gegenden von bestimmter Boden- 
bcschaffenheit endemisch auftritt. 

0ertlich disponirt zeigt sich ein humusreiches, feuchtes Terrain, 
welches in mässiger Tiefe unter der wasserdurchlasscndon eine wasser¬ 
dichte Schicht enthält. 

Heisse Sommer, besonders die Monate August und September, 
zeitigen die frequentesten Epidemien. 

Die individuelle Disposition äussert sich in der grösseren 
oder geringeren Empfänglichkeit der einzelnen Thierspecies für das 
Milzbrandgift. Ganz besonders disponirt sind die Herbivoren, viel 
geringer die Omnivoren, am geringsten die Camivoren. Auch das 
Geflügel ist gegen Milzbrand nicht immun. Einmaliges Ueber- 
stehen der Krankheit gewährt keine Immunität. Der Anthrax 
tritt in zwei Formen auf: als Haut- und Darmmilzbrand. 

Der Darmmilzbrand (Mycosis intestinalis), die bei Thieren 
häufigere Form, tritt durch Aufnahme des Giftes in die Verdauungs¬ 
wege ein. Träger desselben sind hierbei inficirtes Futter und Wasser. 
Bei der massenhaften Vermehrung der Bacillen und bei der Eigen¬ 
schaft der Sporen, sich in jedem Medium lebensfähig zu erhalten, 
braucht die Provenienz des Futters und des Wassers nicht mehr der 
Ort ihrer autochthonen Entstehung zu sein. Vielmehr können cs alle 
Futtermittel und jedes verunreinigte Wasser sein. Ja, die Abfallstoffe 
der erkrankten Thiere (Abgänge und Futterreste) können der Aus¬ 
gangspunkt einer Stallenderaie werden. Aber auch alle anderen Gegen¬ 
stände und Stallutensilien sind gelegentlich Träger des Milzbrandgiftes, 
welches sich der Athmungsluft mittheilen und mit dieser in den 
thierischcn Organismus eindringen kann. 

Bei dem Hautmilzbrand (Pustula maligna) dringt das Gift 
durch die äussere Haut ein, es wird dem Thiere gleichsam eingeimpft. 
Dies kann stattfinden, wenn gesunde Thiere von Hunden gebissen 
werden, welche Fleisch von Milzbrandcadavern gefressen haben, oder 
wenn sic von Fliegen, Bremsen gestochen werden, die mit Milzbrand¬ 
blut in Berührung gekommen sind. 


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Beim Menschen sind die Wege der Ucbertragung des Giftes 
dieselben, jedoch scheint das Eindringen desselben von den Integu¬ 
menten her häufiger zu sein. Am meisten exponirt sind die Berufs¬ 
arten, welche mit den erkrankten und verendeten Thieren selbst oder 
mit den von ihnen stammenden Produkten (Häute, Haare, Borsten, 
Wolle, Klauen, Hörner, Knochen) in Berührung kommen, also Vieh¬ 
knechte, Schäfer, Metzger, Gerber, Woll- und Rosshaarsortirer, Tape¬ 
zierer, Lumpensammler und Dienstleute. 

Bei der Intestinalmykose des Menschen kommt, ausser der 
möglichen Aufnahme des Giftes mit der Athmungsluft, besonders der 
Genuss von Fleisch, Milch und Butter milzbrandkranker Thiere in Be¬ 
tracht (cf. Strümpell 26 , Bd. I. pag. 161). 

Bei der grossen Resistenzfähigkeit der Milzbrandsporen und der 
daraus erwachsenden Gefahr der Uebertragung des Milzbrandes auf 
Menschen und Thiere kann ein wirksamer Schutz gegen dieselbe nur 
durch die unschädliche Beseitigung der Träger des Infcctionsstoffcs 
erreicht werden gemäss § 31 und 33 des Reichs-Viehseuchengesetzes 
vom 23. Juni 1880. Demzufolge werden Thiere, welche am Milz¬ 
brand erkrankt oder dieser Seuche verdächtig sind, getödtet, der Ca- 
daver vergraben, nachdem die Haut durch mehrfaches Zerschneiden 
unbrauchbar gemacht und die Cadaver mit roher Carbolsäurc, Theer 
oder Petroleum begossen worden sind (§ 11, Absatz 2 der Instruction 
zum erwähnten Gesetz). Absatz 3 bestimmt, dass zur Vergrabung 
der Cadaver solche Stellen zu wählen sind, welche von Pferden, 
Wiederkäuern und Schweinen nicht betreten werden und an welchen 
Viehfutter weder gewonnen, noch vorübergehend aufbewahrt wird. 
Diese Massregel findet ihre Begründung in der durch den bekannten 
Versuch Pasteur’s gestützten Thatsache, dass Thiere, welche an 
Stellen weiden, wo früher Cadaver milzbrandkranker Thiere verscharrt 
wurden, sehr häufig am Milzbrand erkranken. 

Die §§12 und 14 der Instruction enthalten Bestimmungen über 
Aufbewahrung und Transport der Cadaver, sowie über die Behand¬ 
lung der Abfälle von milzbrandkranken oder am Milzbrand gefallenen 
Thieren und der mit ihnen in Berührung gekommenen Stallungen und 
Stallutensilien. 

Der milzbrandkranke Mensch wird am besten im Krankenhause 
behandelt, weil dort die unschädliche Beseitigung seiner Excremente 
und Excrete noch am ehesten gewährleistet ist. Die Desinfection der 
Effecten und der Wohnräumc (§ 118 des Regulativs) findet nach 


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Dr. Süsskand, 


Massgabe (lcr §§ 19—21 ad A, resp. des § 22 ad B der Anlei¬ 
tung zum Dcsinfectionsverfahren des Berliner Polizeipräsidiums vom 
15. August 1883 statt. 

10. Die Verunreinigung des Bodens durch die natürlichen 
Effluvien der Menschen und Thierc und ihre Beseitigung. 

Die festen und flüssigen Excremente der Menschen und Thiere 
bilden eine reiche Quelle von Fäulnissproductcn, welche die Gesund¬ 
heit der Menschen direct oder indirect zu beeinträchtigen im Stande 
sind: Sie entwickeln giftige Emanationen, wie Kohlensäure, Ammoniak, 
Schwefelwasserstoff und die flüchtigen Schwcfelammoniumverbindungen, 
welche in die atmosphärische Luft entweichen oder in die mensch¬ 
lichen Wohnungen eindringen; sie bewirken selbst in einer relativ ge¬ 
ringen Concentration eine Luftverderbniss, deren chronische Ein¬ 
wirkung auf den Menschen immer nachtheilig sein muss, indem sie, 
wie Erismann es wahrscheinlich zu machen sucht, seine Wider¬ 
standsfähigkeit schwächt, die individuelle Disposition für gewisse 
Krankheiten steigert und in Folge dessen die mittlere Lebensdauer 
der Bevölkerung herabsetzt; sie imprägniren ferner den Boden mit 
Fäulnissstoffen und machen ihn geeignet zur Brutstätte für pathogene 
Mikroorganismen. Ja, für die contagiös-miasmatischen Infectionskrank- 
heiten ist es, wie wir gesehen haben, im hohen Grade wahrschein¬ 
lich, dass die Krankheitserreger in einem solchen Boden erst ihre 
virulente Eigenschaften erlangen. 

Endlich können lösliche Verbindungen, zum Theil giftiger Art 
(Ptomaine), in wässeriger Lösung durch den Boden versickern und in 
Brunnen gelangen, deren gesundheitsschädliche Wirkung nach Tic- 
mann und Preusse zwar nicht sehr wahrscheinlich, aber immerhin 
möglich ist. 

Daraus erhellt die Nothwendigkeit einer rechtzeitigen und 
rationellen Beseitigung jener schädlichen Abfallstoffe. 

Auf dem platten Lande kann es sich natürlich nicht darum 
handeln, ob wir dem Liernur’schon oder dem Schwemmcanalsystem 
den Vorzug geben wollen: Hier müssen wir mit den einfachsten Ab¬ 
fuhrsystemen rechnen, die so wenig kostspielig und so wenig um¬ 
ständlich wie irgend möglich zu bewerkstelligen sind. 

Aber auch bei diesen einfachen Systemen ist die Frage nach 
der Aufnahme und Aufbewahrung der Excrementc bis zu ihrer Ab¬ 
fuhr die brennendste. 


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Sollen die Excrcmcntc in Gruben oder in Tonnen vorläufig auf¬ 
gefangen werden? 

Giebt man den Gruben den Yorzug, dann müssten sic so her¬ 
gerichtet werden, dass sie ein Versitzen ihres flüssigen Inhalts nicht 
gestatten. Dieses könnte aber durch eine undurchlässige Thonschicht 
allein, die sehr leicht Spalten und Risse bekommt, nicht erreicht 
werden. Man müsste denn die Grube nach dem Vorschlag von 
Erismann 27 und Rosenthal 9 mit einer doppelten Lage von glasirten 
Backsteinen ausrüsten, den Zwischenraum mit plastischem Thon aus¬ 
füllen, die Innenwand ausserdem mit Cement verputzen und, um ein 
Ueberlaufen derselben durch Regenwasser und ein. Entweichen von 
Abtrittgasen zu verhindern, luftdicht zudecken. 

Allein abgesehen davon, dass eine solche Einrichtung der Gruben 
für ländliche und kleinstädtische Verhältnisse zu kostspielig ist, ge¬ 
währen sie auch nur einen unsicheren hygienischen Schutz: 

1. speichern sich darin die Fäkalien für längere Zeit auf und 
gerathen in einen hohen Grad von Fäulniss; sie belästigen dann nicht 
bloss durch Entwickelung von stinkenden Gasen, sondern bilden auch 
willkommene Brutstätten für pathogene Pilze; 

2. werden sie mit der Zeit doch durchlässig, indem die Alkali¬ 
metalle des Grubeninhalts die Kieselsäure des Cements zersetzen und 
sich mit ihr zu Doppelsilikaten verbinden (Tiemann 11 und Wolff- 
hügel bei Erismann 27 ); 

3. ist die Entleerung der Gruben mit grossen Uebelständcn ver¬ 
bunden, indem ein Verstreuen der Fäkalien und somit eine Ver¬ 
unreinigung des Bodens, und eine arge Belästigung des Publikums 
durch die stinkenden Ausdünstungen, die sich Stunden lang nach 
Fortschaffung des Grubeninhalts noch unangenehm bemerklich machen, 
hierbei kaum zu vermeiden sind; 

4. ist die sanitätspolizeiliche Controle der Gruben erschwert oder 
geradezu unmöglich. 

Alle diese Uebelstände beseitigen sicher und gründlich die be¬ 
weglichen Behälter für Fäkalien (Fosses mobiles) und sind für 
ländliche Verhältnisse allein brauchbar. Hier fallen alle Bedenken, 
die gegen ihre Anwendung erhoben werden, fort. 

Nehmen wir mit Parkes (cit. bei Erismann 27 ) an, dass ein 
Erwachsener durchschnittlich 120 g Koth und 1500 g Urin pro Tag 
entleert, so reicht eine Tonne von 200 Liter Rauminhalt vollkommen 
aus, um die Gesammtmengc der Excremcnte von 8 Tagen und 10 Per- 


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Dr. Süsskand, 


sonen aufzunchroen. Diese Durchschnittszahl für die Bewohner eines 
Hauses dürfte auf dem Lande fast nie erreicht und in kleinen Städten 
kaum jemals überschritten werden. 

Der Rauminhalt der Tonnen würde es demnach noch gestatten, 
dass die Excremente täglich mit einer Schicht Gartenerde, die nach 
Erismann eine bedeutende desodorirende Wirkung hat und auf dem 
Lande leicht zu beschaffen ist, bedeckt werden. 

Die Tonne, die aus einem Petroleumfass hergerichtet werden 
kann, muss mit Henkeln armirt sein und oben einen zugeschärften 
Rand haben, auf den ein mit einer circulären Furche versehener 
Deckel passt. 

Ein durch die Henkel laufender Stab hält den Deckel in seiner 
Lage auf der Tonne fest. Zum Gebrauch wird die Tonne unter das 
Sitzbrett geschoben, dessen Oeffnung in die Oeffnung der Tonne mündet, 
deren Peripherie aber die Brillenperipherie um ein Erhebliches über¬ 
trifft. Regelmässig, etwa am 8. Tage oder jeden Sonnabend, wird 
das Sitzbrett, welches wir uns beweglich denken, aufgeklappt, die 
Tonne an Ort und Stelle fest zugedeckt und durch die mit einer be¬ 
weglichen Klappe versehenen Seitenwand des Abtrittes mittels Haken 
herausgezogen und auf einem Handkarren auf den Acker geschafft. 

Der Inhalt der Tonne wird entweder zur Düngung unmittelbar 
verwendet, oder, wenn sich hierzu keine Gelegenheit bietet, auf einen 
Composthaufen verbracht und mit Erde, Asche oder Kehricht zu¬ 
gedeckt (Mittermaier 28 ). 

Für Viehställe ist zu verlangen, dass der Boden wasserdicht 
hergestellt werde, was sich schon zum Schutz gegen Verseuchung des 
Stallgrundes mit Milzbrandkeiraen empfiehlt, und mit einer Rinne für 
die flüssigen Abgänge versehen sei, welche nach der Dunggrube führt. 
Für letztere stellte die in München 1875 tagende Versammlung des 
Deutschen Vereins für öffentliche Gesundheitspflege folgende These 
auf: „Stalldüngergruben müssen undurchlässig, gut verschlossen und 
ohne Ueberlauf sein“ (citirt bei Flügge 4 ). Aehnlich äussert sich 
darüber Blankenstein 29 . Im vorigen Jahre erliess das Landraths¬ 
amt zu Steinau a. 0. nachstehende Polizeiverordnung: „Dungstätten 
müssen mit einer undurchlässigen Umwehrung derartig versehen werden, 
dass ein Abfluss der in ihnen enthaltenen Flüssigkeit nach öffentlichen 
Strassen oder Gräben nicht stattfinden kann.“ 

Wenn aber eine Sillar’sche Mischung den Grubengrund bedeckt, 
so dürfte die Durchlässigkeit desselben oder ein Abfluss der durch 


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den A-B-C-Proccss (Eulenberg 30 ) geklärten Grabenflüssigkeit wohl 
unbedenklich sein. Diese Mischung kann ja von Zeit zu Zeit er¬ 
neuert und als Dünger verwerthet werden. Bei hinlänglicher Flächen¬ 
ausdehnung der Dungstätten würde übrigens wohl auch eine genügende 
Schicht gesiebter Gartenerde zur Filtration ausreichen. 

Zur Abführung der atmosphärischen Niederschläge 
und der Küchen- und Hauswässer, welche letztere nur geringe 
Mengen organischer Substanz enthalten und erst bei längerem Sta- 
gniren faulen, genügen in kleinen Orten offene Rinnsteine, vorausge¬ 
setzt, dass sie hinreichendes Gefälle haben und undurchlässig her- 
gestellt sind (Blankenstein 20 ). Die sich in ihnen absetzenden 
festen Bestandtheile werden durch oft vorzunehmende Wasserspülungen 
entfernt. 

Die privaten Schlachthäuser, die auf dem platten Lande 
ausschliesslich in Gebrauch sind, geben bei undurchlässig hergestelltem 
Boden und zweckmässiger Ausnutzung der thierischen Abfälle zur 
Verunreinigung des Untergrundes keinen Anlass. 

11. Die Verunreinigung des Bodens durch die todte Materie 

und ihre Abhülfe. 

Die Cadaver gefallener oder getödteter Thiere liefern ein sehr 
bedenkliches Material der Bodenverunreinigung. Bezüglich ihrer Be¬ 
seitigung besteht ein schreiender Gegensatz zwischen Stadt und Land. 
Während in den grösseren Städten wohleingerichtete Abdeckereien 
existiren, welche alle Leichentheile zu industriellen Zwecken ver¬ 
arbeiten, werden auf dem platten Lande die Thiercadaver sammt und 
sonders der Muttererde zur Verarbeitung überliefert. Wenn es auch 
nur selten Vorkommen dürfte, dass die gefallenen oder getödteten 
Thiere abgeledert und die Cadaver unverscharrt der Vernichtung durch 
Fäulniss und dem Raube aasfressender Thiere überlassen werden 
(Esser 81 ), so besteht doch vielfach noch die Unsitte, sie ober¬ 
flächlich in den Boden oder in Composthaufen zu verscharren, sodass 
sie sehr leicht von Hunden und Füchsen herausgescharrt und wieder 
an die Oberfläche befördert werden. Auf manchen Gütern herrscht 
die nicht minder verwerfliche Sitte, für etwaige Thierleichen eine 
Massengrube herzustellen, welche, schlecht zugedeckt, im Sommer 
von Maden und verschiedenen Fliegenarten umwimmelt und um¬ 
schwärmt wird. 

Viertejjahrsscbr. f. ger. Med. Dritte Folge. XIV. 2. 25 


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I)r. Süss kan d, 

Die hygienischen Schäden, die daraus entstehen, liegen auf der 
Hand. Durch Emanation von Leichengasen tritt eine Luftverderbniss 
ein; sodann wird das Grundwasser, und in Folge dessen auch die 
benachbarten Brunnen verunreinigt, der Boden selbst aber mit fäulniss- 
fähigen organischen Stoffen durchsetzt. 

Eine andere Reihe von Gefahren besteht darin, dass diejenigen 
Fliegenarten, welche sich gern auf in Fäulniss übergehenden Cadavern 
einfinden, durch Stich septische Krankheiten beim Menschen ver¬ 
anlassen können. Weiterhin können gefährliche, auf Menschen über¬ 
tragbare Infectionskrankheiten durch Herausscharren und Ver¬ 
zehren der Leichen seitens anderer Thiere verschleppt und weiter 
verbreitet werden. Aber auch andere Thierkrankheiten können noch 
dem Menschen durch Ucbertragung gefährlich werden! Zunächst der 
Rotz. 

1. Der Rotz oder die Wurmkrankheit (Mallcus) ist eine bei 
Pferden und verwandten Thieren (Esel, Maulthiere und Maulesel) 
epidemisch auftretende, contagiöse Infectionskrankheit, welche auch 
auf andere Thiere (Feldmäuse, Katzen, Ziegen, schwerer auch das 
Schaf) und den Menschen übertragen werden kann (Weigert 32 , 
Ziegler 14 , Roloff 38 ). 

Der Krankheitserreger ist ein schlanker Bacillus, der dem Tu¬ 
berkelbacillus sehr ähnlich ist und sich nur in seinen Tinctionsver- 
hältnissen von diesem unterscheidet. Die Bacillen findet man regel¬ 
mässig in jüngeren Rotzherden, theils in Zellen eingeschlossen, theils 
frei, selten in älteren Herden, niemals ausserhalb der Herde. Sie 
lassen sich in verschiedenen Nährmedien züchten, am besten auf er¬ 
starrtem Hammel-Pferdeblutserum, dagegen nicht auf pflanzlichen 
Aufgüssen und Pferdemist, wodurch ihre parasitäre Natur wahrschein¬ 
lich gemacht wird. Reinculturen, geeigneten Thieren verimpft, er¬ 
zeugen die Rotzkrankheit. Dieselben erweisen sich nach 3 Monaten 
unwirksam. Eine Dauerform ist nicht nachgewiesen (Weigert 32 ). 

Die Infection erfolgt bei Thieren entweder durch directe Ueber- 
tragung des Nasenschleimes beziehungsweise der gifthaltigen Secrete 
der Rotzherde auf Schleimhäute resp. eine Wunde gesunder Thiere, 
oder durch Vermittelung der atmosphärischen Luft, durch Einathmen 
der Keime. 

Beim Menschen geschieht die Ansteckung durch directe Ueber- 
tragung, sei cs des rotzigen Schleimes (beim Husten und Ausbrusten 
der Pferde) auf Schleimhäute, sei es des Sccrets aus den Rotzherden 


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Aufgaben der Saiiitiitspolizei auf dem platten Lande. 


377 


auf eine offene Wunde. Daraus erklärt es sich, dass meist solche 
Leute am Rotz erkranken, welche durch ihren Beruf viel mit Pferden 
zu thun haben: Stallknechte, Cavalleristcn, Thierärzte etc. Die 
Krankheit tritt je nach der Aufnahme des Giftes von den äusseren 
Integumenten her oder den Athmungswegcn in Form von Nasen- 
resp. Lungenrotz und Hautrotz (Wurm) auf. 

Wiewohl die Bacillen bis jetzt nur in den erkrankten Herden ge¬ 
funden wurden, so ist doch ihre Anwesenheit im Blute aus dem 
Grunde mit Sicherheit anzunehmen, weil sich aus den primären Herden 
leicht Metastasen in verschiedenen anderen Organen bilden. Aus 
diesem Grunde ist auch der Genuss von Milch und Fleisch rotzkranker 
Thierc zu inhibiren. 

Maassregeln: Rotzkranke Thiere müssen getödtet (§ 40), der 
Seuche verdächtige abgesondert (§ 41), die Cadaver unschädlich be¬ 
seitigt werden (§ 43). Die unschädliche Beseitigung findet in der¬ 
selben Weise wie beim Milzbrand statt. Auch bezüglich des rotz¬ 
kranken Menschen gelten dieselben Bestimmungen wie beim Milz¬ 
brand (§ 122 des Regulativs). 

2. Die Tollwuth (Rabies, Hydrophobie, Lyssa) stellt nach 
Benedikt 34 ) eine durch das specifische, fixe, nicht verschleppbare, 
endogene Gift wuthkranker Thiere bedingte Neurose dar. 

Die Aufnahme des Giftes erfolgt durch eine Bisswunde, seltener 
von einer exeoriirten Stelle aus durch Belecken derselben seitens 
eines wuthkranken Hundes. Das wirksame Agens findet sich nicht 
blos im Speichel und den Speicheldrüsen, sondern auch im Blut und 
im Centralnervensystem, ja in dem letzteren ist es nach Pasteur 
am concentrirtesten enthalten. Es ist schon während der Incubation 
wirksam. Das Atrium der Intoxication scheint ausschliesslich die 
Blutbahn zu sein; denn Füttcrungsversuche, die Hertwig (eit. 
bei Roloff 35 ) mit frischem Speichel anstcllte, waren erfolglos, während 
Impfungen einen positiven Erfolg hatten. 

Das Wesen des Wuthgiftes ist zur Zeit noch unbekannt. Dafür, 
dass es sich hierbei um ein organisirtes Gift handeln könnte, spricht 
eigentlich nur die Regenerationsfähigkeit des Wuthgiftes, d. h. dass 
ein vergiftetes Individuum durch Inoculation des Giftes ein anderes 
Individuum befähigt, dieselben krankmachenden Eigenschaften zu er¬ 
langen. Dagegen fehlen ihm, abgesehen von der Incubation, alle 
anderen Merkmale des Miasma oder Contagium vivurn. 

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Dr. Süss kan d, 

Die Eigenschaft, das Gift zu produciren, theilcn alle Thierc aus 
dem Geschlecht der Hunde (Wölfe und Füchse), ferner Katzen, Pferde, 
Wiederkäuer, Nager, Schweine (Benedikt) und selbst Hausge¬ 
flügel. 

Die Frage, ob und bei welchen Thieren das Wuthgift primär 
entsteht, ist eine offene. 

Die Wirkung des Giftes erstreckt sich auf die Sphäre der Gross¬ 
hirnrinde, der Medulla und des Rückenmarkes und äussert sich 
anfangs in einer Excitation, später in einer Depression der Functionen. 

Die Incubation dauert beim Menschen gewöhnlich 2—8 Wochen 
(Benedikt), beim Hund 3—6 Wochen, aber auch unter einer Woche 
und über 12 und mehr Wochen. Die weiteste Grenze ist nach 
Roloff die von 3 Monaten (daher Hundesperre bis auf 3 Monate 
auszudehnen!). Die Resistenzfähigkeit des Wuthgiftes ist eine geringe, 
denn schon nach 24 Stunden ist es, wie Impfversuche ergaben, nicht 
mehr wirksam. 

Maassregcln: § 16 Absatz 3 bestimmt: Wenn ein Mensch 
oder ein Thier von einem an der Tollwuth erkrankten oder der Seuche 
verdächtigen Hunde gebissen ist, so ist der Hund, wenn solches ohne 
Gefahr geschehen kann, vor polizeilichem Einschreiten nicht zu tödten, 
sondern behufs thierärztlicher Feststellung seines Gesundheitszustandes 
einzusperren. (Die Einsperrung des Hundes erfolgt nach § 95 des 
Regulativs „zur Aufklärung der Sache und zur Beruhigung der ge¬ 
bissenen Personen.“) 

§ 18. Ist ein der Seuche verdächtiger Hund gestorben oder ge- 
tödtet worden, so kann die Polizeibehörde die Zerlegung des Cadavers 
durch den beamteten Thierarzt anordnen. Diese Anordnung muss 
getroffen werden, wenn der Hund einen Menschen oder ein Thier ge¬ 
bissen hat. 

§ 19. Ist die Tollwuth eines Hundes festgestellt, so ist die so¬ 
fortige Tödtung desselben anzuordnen. 

Bezüglich der Kadaver ist ebenso zu verfahren, wie beim Milz¬ 
brand. Stirbt ein Mensch an Wuthkrankheit, so ist die Desinfection 
der von ihm benutzten Wäsche und ßettstücke nach dem Buchstaben A 
der §§19 und 20 vorzunehmen. Die Reinigung der weiteren Um¬ 
gebungen erfolgt nach 22 B. (§ 32 der Anleitung zum Desinfections- 
verfahren des Berliner Polizeipräsidiums vom 15. August 1883). 

3. Trichinenhaltiges Schweinefleisch kann, bei fahrlässiger 
Beseitigung desselben, von Ratten, den häufigsten Trichinenträgern 


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Aufgaben der Sanitätspolizei auf dem platten Lande. 


37i) 


für das Schwein, gefressen und so der Weiterverbreitung der Trichinose 
Vorschub geleistet werden. 

Den Forderungen der Hygiene würde durch Verbrennen der 
Kadaver oder durch Unschädlichmachung derselben auf chemischem 
Wege am besten genügt w’erden. Da dies jedoch auf dem platten 
Lande nicht durchführbar ist, so muss ihre Beseitigung durch Ver¬ 
graben erfolgen. 

Am besten eignen sich hierzu disseminirtc Einzelgruben, 
wenn das dafür benöthigte Terrain von der Gemeinde beschafft werden 
kann. Vermag aber die einzelne Gemeinde diese Fürsorge allein 
nicht zu treffen, so müssen mehrere Gemeinden die Anlage eines 
gemeinschaftlichen Verscharrungsplatzes in die Hand zu nehmen. 

Für die Wahl des Terrains sind dieselben Gesichtspunkte maass¬ 
gebend, die wir für die Bestattung menschlicher Leichen kennen lernen 
werden. 


12. Lcichenbestattung. 

Bei der Anlage eines Begräbnissplatzes hat man darauf Bedacht 
zu nehmen, dass die Gesundheit und das Wohlbefinden der Gemeinde 
nicht beeinträchtigt werden. 

Eine solche Gefahr liegt hier aber möglicherweise vor: 

1. durch Emanation von Leichengasen; 

2. durch Uebertragung gewisser Infectionskrankheiten mittels 
der atmosphärischen Luft und des Trinkwassers; 

3. durch Vergiftung benachbarter Brunnen mit Leichenpro- 
ducten. 

1. Eine Emanation von Leichengasen kann stattfinden, wenn 
die oberhalb der Verwesungszone gelegene Erdschicht von geringem 
Tiefendurchmesser ist, oder grosse Lufträume enthält; wenn ferner 
der Boden mit Lcichenmaterial übersättigt ist, was leicht durch all¬ 
zugrosse Nähe der Gräber an einander, durch Massengräber, und 
durch einen gering bemessenen Turnus für die Wiederbelegung der 
Gräber eintreten kann; endlich wenn die Verwesung durch die Be¬ 
schaffenheit des Bodens (zu enge Poren, zu grosse Feuchtigkeit oder 
excessive Trockenheit) hintangehalten wird (Eulenborg 7 , Schön¬ 
feld 12 ). 

Unter den Leichengasen kommt besonders die Kohlensäure in 
Betracht, welche die Gesundheit von Menschen schwer schädigen und 
selbst den Tod derselben herbeiführen kann. In Grabgewölben sind 


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Dr. Süsskand, 

durch Anhäufung der Kohlensäure beim Betreten derselben mehrfach 
Todesfälle vorgekommen. 

Schwefelwasserstoff findet sich im Boden der Friedhöfe nie¬ 
mals vor (Eulenberg 7 ), weil er vom Eisenoxyd des Bodens in 
Schwefcleisen übergeführt wird, wohl aber in geschlossenen Grüften 
und im nassen Boden, wo er sich als solcher oder an Ammoniak 
gebunden findet. 

2. Eine Verschleppung von Infectionskrankheiton kann mög¬ 
licherweise durch den Gasaustausch zwischen der Bodenluft und der 
Atmosphäre und durch die Capillarität des Bodens unter den oben 
erörterten Bedingungen erfolgen. 

3. Eine Verunreinigung des Grund- und Trinkwassers 
tritt ein, wenn die unter der Verwesungszone gelegene Erdschicht 
keine genügende Filtrationskraft besitzt, um die Zersetzungsproductc 
der Leichen vom Grundwasser zurückzuhalten, sei es, dass sie nicht 
mächtig genug, oder dass sie abnorm durchlässig ist; wenn ferner 
das Grundwasser ständig oder zeitweise in der Verwesungszone steht 
und gleichzeitig eine Communication mit dem Wasser in Brunnen 
unterhält. Dasselbe findet auch statt, wenn die Grabcssohle zu tief 
liegt, so dass sie zeitweise oder stets unter Wasser ist. Unter den 
gegebenen Bedingungen können auch Infectionsstoffe in das Trink¬ 
wasser gelangen. 

Aus diesen Gründen sind an einen neu anzulcgendcn Begräbniss- 
platz folgende Anforderungen zu stellen: 

I. Die Entfernung der Kirchhöfe aus benachbarten Ort¬ 
schaften. 

Gesetzliche Bestimmungen: 

Das allgemeine Landrecht Th. II, Tit. 11 bestimmt: 

§ 184. In den Kirchen und in bewohnten Gegenden der Städte 
sollen keine Leichname beerdigt werden. 

§ 186. Ohne Anzeige an den geistlichen Obern sollen Leichen 
anderswo als auf einem öffentlichen Kirchhofe nicht beerdigt werden. 

§ 764. Die Anlegung neuer Begräbnissplätze soll nur aus er¬ 
heblicher Ursache und nur unter Einwilligung der geistlichen Orden, 
sowie der Polizeivorgesetzten des Ortes stattfinden. 

Der § 184 des Allg. Landrechts verbietet, wie wir sehen, das 
Beerdigen von Leichnamen ausserhalb der öffentlichen Kirchhöfe, 
insoweit der hierzu gewählte Ort in bewohnten Gegenden der Städte 


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Aufgaben der Sanitätspolizei auf dem platten Lande. 


381 


gelegen ist, er enthält aber kein Beerdigungsverbot auf öffentlichen 
Kirchhöfen, die in bewohnten Gegenden der Städte sich befinden. 

Für neue Anlagen von Begräbnissplätzen schreibt der Erlass 
der Ministerien des Innern, für Handel etc. und der pp. Medicinal- 
angelegenheiten vom 18. .März 1852 eine Entfernung von wenigstens 
50 Ruthen (= 200 Meter) von Ortschaften vor, also nicht bloss von 
Städten. 

Da diese Vorschrift nur für neue Anlagen von Kirchhöfen be¬ 
steht, so werden letztere selbst in Dörfern innerhalb bewohnter Ort¬ 
schaften belassen und eine Verlegung derselben, die den Erlass zu 
berücksichtigen hätte, sehr häufig durch, eine Erweiterung bestehender 
umgangen. 

Eulen borg wünschte deshalb eine Fassung des Gesetzes, welche 
solchen Vorkommnissen Vorbeugen würde, ein Gesetz, welches das 
Beerdigen von Leichnamen in bewohnten Gegenden der Städte, Ort¬ 
schaften und Dörfer verbietet: Dann würde auch dem Nachrücken 
der Wohnungen nach den Friedhöfen ein wirksamer Riegel vorge¬ 
schoben werden. 

II. Die Beschaffenheit des Begräbnissplatzes und seine 

Lage. 

Der Boden soll porös, für Luft und Wasser durchlässig sein und 
eine rasche Verwesung der Leichen ohne Fettwachsbildung (durch zu 
grosse Feuchtigkeit) und ohne Mumification (durch zu grosse Trocken¬ 
heit) ermöglichen. Diesen Anforderungen würde ein lockerer Gcröll- 
boden am meisten entsprechen. Jedoch ist jeder Kies- und Sand¬ 
boden mit oder ohne Beimengungen von Lehm und Kalk, sowie jeder 
Mergelboden hierzu geeiguet. Dagegen sind zu verwerfen Humus-, 
Moor- und Sumpfboden, sowie fetter Lehm und Thon. Bei den letz¬ 
teren Bodenarten sind Risse und Spaltbildungcn bei eintretender 
Trockenheit zu befürchten, welche den Gräbern Meteorwasser zuführen, 
ohne ihm einen genügenden Abfluss zu gestatten. Die Verwesung 
könnte noch erheblich befördert werden durch Beschickung der Särge 
und der Leiche selbst mit Holzkohle oder Kalk (Eulenberg 7 ). 

III. Tiefe der Gräber. 

Bei einem so besbhaffenen Boden würde eine Tiefe von 1 m, 
vom Grabesrand bis zum höchsten Punkt des eingestellten Sarges 
gemessen, ausreichend sein. Die „übergreifende“ Bchügelung würde 


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Dr. Süsskand, 

dann noch diese Tiefe erhöhen. Die Mächtigkeit der Erdschicht von 
der Grabessohle bis zum Grundwasserspiegel wäre je nach der Poro¬ 
sität des Bodens verschieden zu bemessen. 

Bei mittlerer Porosität müsste diese Schicht 0,5 M., bei weiteren 
llohlräumen mehr betragen. Natürlich wird hierbei die Durchlässig¬ 
keit für Wasser durch die ganze Dicke der Schicht vorausgesetzt. 
Zwischen je zwei Einzelgräbcrn ist eine Erdschicht von 0,3 m zu be¬ 
lassen (Schönfeld 12 ). 

IV. Die Lage des Begräbnissplatzcs. 

Bei der Lage des Platzes kommt die Neigung des Terrains, be¬ 
sonders aber die Neigung der wasserdichten Unterlage des Grund¬ 
wassers, die Richtung seines Gefälles und die Himmelsrichtung in 
Betracht. 

Hinsichtlich der Neigung der Bodenoberfläche ist zu be¬ 
rücksichtigen, dass Bergesabhänge und Thalsohlen am Fusse eines 
Gebirges dem Abfluss der Meteorwässer sehr exponirt sind. Ebenso 
ist auch jeder Platz, welcher Uebcrschwemmungen ausgesetzt ist, so¬ 
wie die Nähe von Teichen, Sümpfen und Wasserläufen zu vermeiden. 
Am geeignetsten für Beerdigungsplätze ist ein abschüssiges Terrain, 
welches von Ortschaften abgewendet liegt (Eulenberg 7 ). Die un¬ 
durchlässige Schicht, die, wie wir gesehen haben, nicht immer 
parallel der Eroberfläche verläuft, muss so geneigt sein, dass sie keine 
Mulden bildet und ein gewisses Gefälle hat nach einer Richtung, die 
der Richtung der Ortschaft entgegengesetzt ist. 

Die Lage des Kirchhofes nach Osten ist aus dem Grunde 
vorzuziehen, weil sie die Sonnenstrahlung nicht abhält, die Ostwinde 
aber ebenso wie die Nordwinde austrocknend wirken (Eulenberg 7 ). 

Ist ein trockenes Terrain nicht zu beschaffen, so muss die Feuch¬ 
tigkeit des verfügbaren Bodens durch Drainage oder durch Anlage 
von Gräben, deren Tiefe bis in das Niveau der Verwesungszone hin¬ 
abreicht, geregelt, das Wasser auf ein Ackerland unschädlich abge¬ 
leitet werden, was auf dem platten Lande sich leicht bewerkstelligen 
lässt. 

V. Begräbnissturnus und Grösse des Begräbnissplatzcs. 

Der Turnus für die Wiederbelegung von Gräbern darf nicht 
allein aus der Bodenbeschaffenheit erschlossen, sondern es muss durch 
thatsäehliche Wahrnehmungen festgestellt werden, welche Frist hierzu 


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Aufgaben der Sanitätspolizei auf dem platten Lande. 383 

erforderlich ist. Im Allgemeinen ist eine solche von 25 Jahren 
üblich. 

Bei Bemessung der Grösse des Begräbnissplatzes wird ein 
Flächenraum angenommen, welcher gleich ist dem Produkt aus der 
jährlichen Sterblichkeitsziffer, der Frist für den Turnus und dem Grab¬ 
flächenraum einschliesslich der zu belassenden Zwischenräume an der 
Längs- und Querseite der Gräber. 

13. Bau- und Wohnungshygiene. 

Die Bauweise in Dörfern zeichnet sich vortheilhaft vor der Bau¬ 
art in Städten durch die disserainirte Lage der einzelnen Wohnhäuser 
aus. Dagegen kommen auf dem Lande schmale Zwischenräume von 
1 m Breite zwischen zwei Gebäuden eines Gehöftes vor, welche wegen 
der Anhäufung von Unrath und faulenden Stoffen in denselben aus 
sanitären Rücksichten, sowie wegen der Feuergefährlichkeit vermieden 
werden müssten. 

Wenn die offene Bauweise schon für kleinere Städte nicht 
mehr gefordert werden kann, so wäre doch die Bauart anzustreben, 
bei welcher je zwei Gebäude geschlossen stehen, aber zwischen sieb 
und den Nachbarhäusern einen freien Zwischenraum von 5—6 m 
(Flügge 4 , Blankenstein 29 ) übrig lassen, durch welchen den Höfen 
reichlich Luft zugeführt wird. Jedoch sollen die Gebäudeseiten keine 
Fensteröffnungen enthalten (Flügge 4 ). Die Strassen, die mit Ver¬ 
meidung der Richtung von Westen nach Osten genügend breit ange¬ 
legt sein müssen (ihre Breite muss wenigstens der Haushöhe gleich 
sein), sollten auch auf dem Lande gepflastert sein. 

Das Pflaster muss folgenden Anforderungen gerecht werden: 

1. dass es möglichst wenig Staub aufkommen lässt; 

2. eine leichte und gründliche Reinigung gestattet und rasches 
Ablaufen des Meteorwassers ermöglichst. Für die Salubrität eines 
Wohnhauses ist die Beschaffenheit des Untergrundes von grosser 
Wichtigkeit. Reinheit und Trockenheit sind die Bedingungen für die 
Benutzung desselben. Ist aber der Untergrund verunreinigt und lässt 
sich seine Reinigung durch Ausheben der faulenden Bodenschichten 
nicht bewerkstelligen, so darf seine Bebauung nur dann gestattet 
werden, wenn derselbe durch eine Betonschicht oder eine ähnliche 
zweckmässige Aufschüttung isolirt wird. Ebenso muss auch der Bau¬ 
untergrund trocken sein. Eine feuchte Wohnung übt in mehrfacher 
Beziehung einen gesundheitsschädlichen Einfluss auf die Bewohner aus. 


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Dr. Süsskand, 


Die Feuchtigkeit sättigt die Luft mit Wasserdämpfen und erschwert 
die Verdunstung an der Körperoberfläche; sic bindet durch Verdunsten 
des Wassers viel Wärme, kühlt die Wohnräurac aus und führt Er¬ 
kältungen der Bewohner herbei; sie füllt die Poren des Baumaterials 
aus und vereitelt so die natürliche Ventilation (Blankenstein 29 ). 

Nach Rosenthal 9 können schliesslich an feuchten Mauern or¬ 
ganische Stoffe haften bleiben und durch Uebergang in Zersetzung, 
wozu die Bedingungen ja gegeben sind, einen günstigen Nährboden 
für die Entwickelung schädlicher Mikroorganismen bilden. 

Eine horizontale Isolirschicht (am besten Asphalt) und vertieale 
Isolirmauern schützen gegen auf- und absteigende Durchfeuchtung. 

Kellerwohnungen sollten nur dann geduldet werden, wenn der 
Fussboden im Niveau des umgebenden Terrains liegt. (Blankenstein). 
Liegen sie tiefer, dann muss ein Lichtgraben gefordert werden, dessen 
Breite dem Niveauunterschied entspricht und dessen Tiefe gleich ist 
der Tiefe des Kellers. 

Jeder Wohnraum soll eine lichte Höhe von 2,5 m und jeder 
Wohn- oder Schlafraum wenigstens ein Fenster haben, welches direct 
in’s Freie führt und zum Oeffnen eingerichtet ist. 

Ganz verwerflich sind steile Treppen und dunkle Treppenflure, 
was in unserem Orte leider die Regel ist. Die baupolizeilichen Vor¬ 
schriften berücksichtigen zumeist die Symmetrie und die Feuersichcr- 
lieit, allenfalls auch die Salubrität der aufzu führen den Gebäude, nicht 
aber ihre Benutzung zum Wohnen, ein Desiderat, auf welches 
Miquel 36 in seiner Rede zur Erläuterung der seitens des Deutschen 
Vereins etc. im Jahre 1889 aufgestellten „Thesen für Massregcln zur 
Erreichung gesunden Wohnens“ hinwies. 

These 3 fordert „Massnahmen gegen die gesundheitswidrige Uebcr- 
füllung und gegen die übermässige Verringerung des Luftraumes“. 
Wie weit, sind w r ir auch auf dem platten Lande, wo vielfach kinder¬ 
reiche Familien eine einzelne Stube bewohnen, noch davon entfernt, 
dieser elementaren Forderung der Hygiene gerecht zu werden! 

14. Schulhygiene. 

Auch bezüglich der Schulhygiene kann unsere Aufgabe nur in 
der Erörterung der differentiellen Verhältnisse der Landschulen 
gegenüber den Stadtschulen bestehen. Die finanziellen Verhältnisse 
der Landgemeinden bringen es mit sich, dass für die gesammte Schul- 


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Aufgaben der Sanitätspolizei auf dem platten Lande. 


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jugend, d. h. für alle Altersstufen vom 6. bis zum 14. Jahre, eine 
Sehulstube eingerichtet und ein Lehrer angestellt wird. 

Es versteht sich von selbst, dass eine solche Schulcinrichtung 
nicht jeder Altersstufe besonders Rechnung tragen kann. Dieselben 
Schulbänke müssen da für verschiedene Altersstufen und Grössen 
herhalten. Die Uebelstände, die daraus für die Gesundheit der Schul¬ 
jugend erwachsen, werden jetzt allgemein anerkannt. Besonders sind 
cs, neben der Kurzsichtigkeit, die seitlichen Deviationen der Wirbel¬ 
säule, die Skoliosen, die den fehlerhaft eingerichteten Schulbänken 
zur Lust gelegt werden. In der That scheint die Erfahrung, dass 
die Skoliose „ohne Rachitis“ (Hu et er 37 ) erst vom 7. Jahre an auf¬ 
wärts zur Entwickelung kommt und vom 9. bis 15. Jahre noch an 
Häufigkeit zunimmt, um von da ab wieder seltener zu werden, und 
die Thatsache, dass in diesem Alter gewöhnlich rechtsseitige 
Skoliosen auftreten, für einen Zusammenhang derselben mit Schäd¬ 
lichkeiten in der Schule zu sprechen. Genau so folgert Fahrn er 
(cit. bei Varrentrapp 39 ): „Wenn fast 90 pCt dieser Verkrümmungen 
während der Schuljahre beginnen und die Verkrümmung genau der 
Schreibstellung gleicht, so hat man gewiss das Recht, die Schule an¬ 
zuklagen.“ Zwar ist Pistor 38 der Ansicht, dass gesunde Kinder 
weder durch schlecht construirte Subsellien, noch durch fehlerhafte 
Haltung beim Schreiben Verkrümmungen der Wirbelsäule erwerben; 
vollends wird der gedachte Zusammenhang durch die Hueter’sche 
Theorie gelockert, wonach Skoliosen der vorbezeichneten Art ihre 
Entstehung dem asymmetrischen Wachsthum der Rippenknochen ver¬ 
danken, welches läge- und formverändernd auf die Querfortsätzc der 
Wirbel, die Wurzeln der Wirbelbögen und die Wirbelkörper selbst 
cinwirkt. 

Indessen ist doch zuzugeben, dass bei vorhandener Anlage zu 
Verkrümmungen der Wirbelsäule, mag sie durch Rachitis oder durch 
eine abnorme Richtung des Knochenwachsthums bedingt sein, dieselben 
durch schlecht eingerichtete Schulbänke und eine stundenlang aufge¬ 
zwungene fehlerhafte Haltung des Körpers in hohem Grade befördert 
werden. 

Alle VerbesserungsVorschläge sind darauf gerichtet, eine Schul¬ 
bank herzustcllen, in welcher ein Kind durch alle Phasen des Unter¬ 
richts gerade und bequem sitzen und für den Rücken, das Kreuz und 
die Füssc einen festen und sicheren Stützpunkt finden kann. 


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Dr. Süss kan d, 

Zu dem Ende muss die Tischplatte eine gewisse Neigung 
haben (nach Erismann 40 bis zu J / 5 ihrer Breite) und so breit sein, 
dass ein Heft oder eine Tafel bequem darauf liegen kann (nach 
Erismann 35—40 cm). 

Die horizontale Entfernung vom hinteren Rande der Tisch¬ 
platte bis zum vorderen Rande der Sitzbank soll auf Null reducirt 
oder sogar um 3 cm negativ gemacht werden (Pistör 38 ). 

Die verticale Distanz vom hinteren Tischrande zum vorderen 
Bankrande wird, bei rechtwinklig gebeugtem und senkrecht an der 
Seitenwand des Thorax herabhängendem Arme, nach dem Abstand 
zwischen dem Olecranon und dem Sitz bestimmt, welcher bei 
Knaben '/ v> , bei Mädchen, wegen Erhöhung des Sitzes durch die 
Röcke, y 7 der Körperlänge beträgt. Die durch das Vorschieben des 
Unterarms beim Schreiben rcsultirende Hebung des Oberarms wird 
wieder ausgeglichen, wenn man zu den angegebenen Maassen 2 cm 
hinzuaddirt (Erismann 40 ). 

Das Sitzbrett soll so breit sein, dass der ganze Oberschenkel 
bequem aufliegen kann und, wegen der Verjüngung desselben nach 
vorn, einen erhöhten vorderen Rand haben. Die Entfernung des 
Sitzes vom Fussboden muss der Länge des Unterschenkels ent¬ 
sprechen, welche ungefähr 2 / 7 der Körperlänge beträgt (Erismann 
und Pistor). 

Nach diesen Grundsätzen eingerichtete Schulbänke gestatten aber 
keine feste Verbindung zwischen Sitzbank und Tischplatte, denn die 
hergestellte Minusdistanz, die zum Schreiben unerlässlich ist, behindert 
die Kinder im Stehen innerhalb der Bank, was wiederum eine Plus¬ 
distanz nöthig macht. Berücksichtigt man ferner die verschiedenen 
Altersstufen und Grössen, so würde nicht einmal eine Vorrichtung 
ausreichend sein, welche, je nach Bedarf, eine Minus- oder Plus¬ 
distanz herzustellen ermöglicht. Es müsste denn auch die verticale 
Distanz sich nach dem jeweiligen Bedarf verändern lassen, oder es 
würden, bei der veränderlich hergestelltcn horizontalen Distanz, we¬ 
nigstens 6 verschiedene Modelle erforderlich werden (cf. Varren- 
trapp 1. c., p. 508), um allen hygienischen Anforderungen zu ge¬ 
nügen. Ersteres ist jedoch wegen seiner Complicirtheit und Kost¬ 
spieligkeit, letzteres ausserdem wegen Raummangels in der einzelnen 
Schulstube auf dem platten Lande unausführbar. 

Wir würden daher für Landschulen eine Schulbank vorschlagen, 
welche zwar eine Veränderung der negativ gemachten horizontalen 


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Aufgaben der Sanitätspolizei auf dem platten Lande. 


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Distanz nicht gestattet, wohl aber eine Veränderung der verticalen 
Distanz. Dieses liesse sich auf folgende, sehr einfache Weise er¬ 
reichen: die Tischplatte steht allein in trennbarer Verbindung mit 
dem übrigen Rumpf der Bank; sie trägt an ihren beiden Schmalseiten 
je ein verticales Wangenstück von hinreichender Länge, welches in 
bestimmten Abständen mit Durchbohrungen versehen ist. Dieses 
Wangenstück greift in verticaler Richtung über die Bankwangc hin¬ 
über, welche in gleichen Abständen wie die Tischwange durchbohrt 
ist. Durch Pflöcke, welche durch die correspondirenden Durch¬ 
bohrungen der Tisch- und Bankwangen gehen, wird die Tischplatte 
auf dem Bankrumof fixirt. Die Abstände der einzelnen Durch- 

X 

bohrungen von einander werden durch die Alters- und Grössendiffe¬ 
renzen der Kinder ermittelt. Kinder von gleicher Körperlänge werden 
auf je eine Bank placirt. Auf diese Weise lassen sich durch Ver¬ 
stellen der Tischplatte verschiedene Bankmodelle ad hoc improvisiren. 

Das Stehen, welches ohnedies „nach Zeit und Wichtigkeit“ von 
untergeordneter Bedeutung ist (Varrentrapp), liesse sich entweder 
durch Einführen zweisitziger Pulte so bewerkstelligen, dass die Kinder, 
anstatt innerhalb der Bank aufzustehen, aus derselben heraustreten, 
oder, wenn der Schulraum dies nicht gestattet, so erreichen, dass die 
Sitzbänke nach der Löffel’schen Construction (cit. bei Erismann 
und Pi stör) mit halbkreisförmigen Ausschnitten von 17 — 23 cm 
Breite versehen werden, in welche die Kinder beim Aufstehen ein- 
treten. Jeder Platz, dessen Breite 0,5—0,6 m betragen soll (Eris¬ 
mann) lässt für einen solchen Ausschnitt Raum übrig. So beschaffene 
Bänke können vier- und mehrsitzig sein. „Die Beschaffung von 
Schulbänken für mehr als 6 Schüler, d. h. von mehr als 3,0 m 
Länge, ist nach diesen Grundsätzen für die Folge unstatthaft“ (Verf. 
der Königl. Reg. zu Breslau vom 22. December 1891). 

Für die jüngeren Jahrgänge können zum Anstemmen für die 
Füsse Fussbretter, welche sich in horizontaler Richtung verschieben 
lassen, angebracht werden; die älteren Jahrgänge können die Füsse 
auf den Fussboden stemmen. 

In gleicher Weise müssen die hygienischen Forderungen bezüglich 
der Heizung und Ventilation in den Landschulen erheblich herab¬ 
gestimmt werden. Hier müssen wir uns bescheiden mit klappenlosen 
Kachel- oder Mantelöfen und hinsichtlich der Ventilation „mit Luft- 
schiebem, Oeffnen der Fenster, Lüftung durch den Kachelofen“ 
(Pi stör). 


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Dr. Süsskand, 

15. Kontagiösc lnfectionskrankhciten. 

1. Scharlach. 

Der Scharlach ist eine exquisit contagiösc Infectionskrankheit 
vorwiegend des kindlichen Alters. Das noch unbekannte infectiöse 
Agens ist ein flüchtiges Contagium und als solches durch ge¬ 
sunde Menschen und „unbelebte“ Gegenstände verschleppbar (von 
Ziemssen 41 und Fürbringer 42 ). Grössere Anhäufungen von Men¬ 
schen, öffentliche Anstalten und ganz besonders Schulen, begünstigen 
seine Verbreitung. Der eigentliche Infectionsherd bleibt aber doch 
die den Kranken umgebende Atmosphäre. Das die Infectiosität des 
Scharlachs mit dem Prodromalstadium beginne, stellt v. Ziemssen 
als zweifelhaft, Fürbringer für gewiss hin. Nach der 6. Wocho 
hält Fürbringer eine Infection für unwahrscheinlich, vorausgesetzt, 
dass die Kinder gebadet und mit frischen Kleidern versehen sind. 

Unabhängig von Bodenverhältnissen — aber nicht von localen 
im weiteren Sinne (v. Ziemssen) —, zeigt der Scharlach doch eine 
zeitliche und individuelle Disposition insofern, als das Maximum 
der Krankhoitsfrequenz in den Herbst, das Minimum in den Frühling 
fällt; als manche Kinder trotz der gebotenen Gelegenheit von der 
Krankheit verschont bleiben und als das Alter zwischen dem 3. und 
7. Jahre (Henoch 43 ) — nach v. Ziemssen das vom 2. bis 5. Jahre — 
das bevorzugte ist. 

Die Incubationsdauer beträgt in der Regel 3—6 Tage. 

Nur einmaliges Befallenwerden von der Krankheit ist durchaus 
die Regel. 

Bei der grossen Gefährlichkeit des Scharlachs (Henoch rechnet 
ihn zu den gefährlichsten und zugleich heimtückischsten Feinden des 
Kindesalters) müsste eine Isolirung der an Scharlach erkrankten 
Kinder durchaus gefordert werden. Aber freilich wird diese Forde¬ 
rung auf dem platten Lande noch lange ein frommer Wunsch bleiben. 
Wird doch die Gefährlichkeit des Scharlachs hier so sehr unterschätzt, 
dass kaum der 10. Fall zur Kenntniss des Arztes gelangt. Eine 
Remedur könnte nur dadurch erzielt werden, dass die §§ 9 und 36 
des Regulativs, unter namentlicher Aufführung der einzelnen an¬ 
steckenden Krankheiten, jährlich wenigstens einmal durch die Kreis¬ 
blätter dem ländlichen Publicum bekannt gegeben werden. Noch wirk¬ 
samer wäre freilich eine dahingehende Bestimmung, dass in jedem 
Falle, wo ein Kind mit Halsschmerzen oder einem Hautausschlage 


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Aufgaben der Sanitätspolizei auf dem platten Lande. 


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erkrankt, die Eltern gehalten sein sollen, die Natur der Krankheit 
ärztlich feststellen zu lassen. Bei schulpflichtigen Kindern Hesse sich 
dies auf Grund der bestellenden Vorschriften dadurch erreichen, dass 
die Lehrer über die wegen Haisschinerzen oder Hautausschlag ent¬ 
schuldigten Schulversäumnisse der Polizeibehörde Anzeige erstatten, 
w r elche dann den Arzt zur Feststellung der Krankheit requirirt. Ist 
ein Scharlachfall festgestellt, dann tritt die Bestimmung der Rund¬ 
verfügung vom 14. Juli 1884 gemäss No. la—4 in ihr Recht. Der 
Nutzen, den man sich von der Schliessung der Schulen verspricht, 
wird auf dem Lande dadurch vereitelt, dass weder seitens der Er¬ 
wachsenen noch dor Kinder der Verkehr in dem verseuchten Hause 
irgend eine Einschränkung erfährt. — Die Desinfcction beim 
Scharlach, die sich nach Fürbringcr auf die Wäsche, Effecten, 
Spielsachen der Kranken und den Fussboden der von ihnen benutzten 
Räume zu erstrecken hat, soll stets durch bestellte Desinfectore, wo¬ 
möglich unter ärztlicher Aufsicht ausgeführt, niemals aber den Privat¬ 
personen überlassen werden, welche die Kosten scheuen und überdies 
von der Ueberzeugung der Ueberflüssigkeit alles Desinficirens tief 
durchdrungen sind. Abkratzen der Wände, neues Tapezieren, Ab¬ 
waschen der Möbelstücke mit concentrirtcn antiseptischen Lösungen 
erachtet Fürbringer für überflüssig. 

Bezüglich des Verfahrens bei der Desinfcction folgen wir hier 
der seitens des Berliner Polizeipräsidiums gegebenen Anweisung zum 
Desinfectionsverfahren bei Volkskrankheiten vom 7. Februar 1887 
gemäss §§ 5, 6, 7, 8, 10, 12, 13 und 18. Freilich kann der § 11 
dieser Anweisung auf dem platten Lande, wo Desinfectionsanstaltcn 
nicht oxistiren, keine Anwendung finden. Um aber einem solchen 
fühlbaren Magel abzuhelfen, empfiehlt Rogowski 44 den transpor¬ 
tablen Desinfectionsapparat, der für Rechnung des Kreises an¬ 
geschafft werden und für einen aus einer Anzahl „räumlich benach¬ 
barter“ Landgemeinden zusammengesetzten Desinfectionsbezirk be¬ 
stimmt sein soll. Die Kosten des Desinfectionsverfahrens werden 
möglichst niedrig bemessen und etwaige Ausfälle vom Kreise ge¬ 
tragen. 

2. Masern. 

Auch die Masern repräsentiren eine eminent contagiösc In- 
fectionskrankheit, welche in einzelnen Epidemien mit längeren oder 


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300 Dr. Siisskand, 

kürzeren freien Intervallen besonders in den Wintermonaten und 
im Frühling auftritt. 

Ohne das eigentliche Wesen des Mascrncontagiums zu kennen, 
wissen wir von ihm, dass es unabhängig vom Boden und Klima ist 
(Fürbringer 45 ), sich durch grosse Flüchtigkeit und Diffusion aus- 
zeichnct (Henoch) und, ausser den einmal Befallenen, fast keinen 
Menschen verschont. Es befindet sich im Blute und in den Schleim- 
hautsecreten zumal der Athmungswege Masernkranker und überträgt 
sich vorzugsweise durch die Athmungsluft, aber auch mittelbar durch 
Gesunde und durch die Effecten des Kranken, und zwar vom Be¬ 
ginne des Vorläufcrstadiums an. Die desquamirten Schuppen 
wirken nicht mehr infectiös (Mayr bei Fürbringer 45 ). 

Die Incubationsdauer bis zur Eruption des Exanthems beträgt 
13—14 Tage. 

In Berücksichtigung der grossen Gefahren, welche die Masern 
für Kinder in den ersten Lebensjahren in sich schliessen, ist die 
Ausschliessung der erkrankten und der gesunden, aber einem von 
Masern heimgesuchten Hausstand angehörigen Kinder gemäss No. 2 
und 3 der Anweisung zur Rundverfügung vom 14. Juli 1884 nur zu 
billigen. Von der Schliessung der Schule wird so lange abzusehen 
sein, als nicht ausnahmsweise ein bösartiges Auftreten der Masem- 
epidemie eine solche Maassregel erheischt (Verfg. des Reg.-Präsidenten 
zu Merseburg, betreffend die Schliessung der Schulen bei ansteckenden 
Krankheiten. Vom 27. Juni 1888). 

3. Die Rötheln (Rubeola) 

dürften vielleicht nur eine Scheinexistenz führen. Fürbringer 46 
tritt mit aller Schärfe für ihre Selbständigkeit ein. Henoch 43 
dagegen scheint nie einen sicheren Fall von Rubeolen beobachtet 
zu haben, geschweige denn eine grössere Epi- oder Endemie. Wir 
selbst haben niemals Gelegenheit gehabt, auch nur einen Fall von 
Rötheln zu sehen. Alle Fälle, die unter dieser Flagge segelten, 
erwiesen sich vielmehr als Scharlach. Man wird daher gut thun, 
bei den sogenannten Rötheln dieselben Maassregeln zu treffen wie beim 
Scharlach. 

4. Diphtherie (Rachenbräune). 

Unter Diphtherie verstehen wir gemeinhin eine allgemeine 
acute, durch ein organisirtes specifisches Agens hervorgerufene ln- 


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Aufgaben der Saniüitspolizei auf «lern platten Lande. 


3SU 


fectionskrankheit vorzugsweise des Kindesalters mit besonderer Locali- 
sation des Krankheitsprocesses in den Rachentheilen. 

Der Krankheitserreger ist wahrscheinlich, aber keineswegs sicher, 
der Löffler’schc Bacillus. 

Die Diphtherie tritt vorwiegend epidemisch und dann besonders 
häufig in den Wintermonaten von October bis Ende April, aber auch 
sporadisch in jeder Jahreszeit auf (Monti 47 ). 

Am häufigsten wird das Alter zwischen dem 1. und 6. Jahre 
von ihr betroffen, weit seltener das 1. Lebensjahr und die jenseits 
des 10. Jahres gelegenen Altersstufen (Hcnoch 43 , Monti 47 und 
S trürapell 26 ). 

Erscheint hiernach die Schule als Ansteckungsstätte ausser Be¬ 
tracht und fehlt es auch au Versuchen nicht, welche direct beweisen, 
dass die Berührung diphtheritischer Producte mit gesunden Schleim¬ 
häuten nicht inficirend wirkt, so hält Heu och unsere Krankheit 
nichts destoweniger für zweifellos contagiös, nimmt aber auch hier, 
wie bei anderen Infectionskrankheiten eine besondere Prädisposition 
an. Dagegen wird sie von Monti als eine „ohne vorausgegangene 
Ansteckung“ auftretende Krankheit definirt. Die vorausgesetzte Dis¬ 
position ist nach Monti eine individuelle und locale. Die indivi¬ 
duelle Disposition besteht in einer krankhaften Veränderung der 
Schleimhäute der Rachenorgane und der oberen Luftwege, die locale 
Disposition in mangelhaften hygienischen Verhältnissen der Woh¬ 
nungen und des Wohnbodens. Indcss scheint dieser Autor in der 
örtlichen Disposition nur ein Moment zu erblicken, welches die Re¬ 
sistenzfähigkeit des Individuums, also wieder die individuelle Dis¬ 
position, herabsetzt oder vernichtet, nicht aber die Möglichkeit der 
eetogenen Entwickelung des diphtherischen Giftes, etwa im Erd¬ 
boden, in den Zwischendecken (Fehlboden) etc. ins Auge zu fassen, 
eine Annahme, die in neuester Zeit in R. Emmerich (cit. bei 
Monti 47 ) einen berufenen Vertreter gefunden hat. 

Der nähere Modus der Infection mit dem Diphtheriegift ist noch 
unbekannt. Es wird angenommen, dass es nicht bloss unmittelbar 
von einem Individuum auf das andere, sondern auch mittelbar durch 
Zwischenträger, gesunde Personen und unbelebte Gegenstände, 
übertragen wird. 

Nach den neuerdings gemachten Erfahrungen darf auch die Mög¬ 
lichkeit der Uebertragung der Diphtherie durch manche Hausthiere 
(Hühner, Tauben, Kälber, Hunde und Katzen), bei denen identische 

Vierteljahrssclir. f. ger. Med. Dritte Folge. XIV. 2. 2G 


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392 


Dr. Siisskand, 


oder doch ähnliche Erkrankungen Vorkommen, nicht von der Hand 
gewiesen werden. (Strümpell und Monti 1. c.) Aufgenommen wird 
das Gift gewöhnlich mit der Athmungsluft, wohl seltener mit den 
Nahrungsmitteln, namentlich der Milch, in welche die Keime ge- 
rathen. 

Die Incubationsdauer wird von den verschiedenen Autoren 
verschieden angegeben, von Strümpell auf 2—5, Henoch auf 7, 
Monti auf 12—14 Tage. 

Bezüglich der sanitätspolizeilichen Maassregeln verweisen wir auf 
das beim Scharlach Gesagte. 

Die übrigen acuten und chronischen Infectionskrankheiten haben 
auf dem platten Lande keine andere Bedeutung als in den Städten 
und ist daher von ihrer Erörterung hier abgesehen worden. 


Literatur. 

1. Walbaum, Das Wesen der öffentlichen Sanitätspflege und ihre Feinde. 
Gera 1876. 

2. Eulenberg, Historische Einleitung zu dessen Handbuch des öffentlichen Ge¬ 
sundheitswesens. Bd. I. Berlin 1881. 

3. Rosenthal, Ziele und Aussichten der Gesundheitspflege. Erlangen 1876. 

4. Flügge, Anlage von Ortschaften. Handbuch der Hygiene und der Gewerbe- 
krankheiten von v. Pettenkofer und v. Ziemssen. Leipzig 1882. 

5. Finkelnburg, Ueber den hygienischen Gegensatz von Stadt und Land. 
Centralbl. f. allgem. Gesundheitspflege. I. Jahrg. 1. u. 2. Heft. Bonn 1882. 

6. Arnstein, Ueber die Gesundheitsverhältnisse des Kreises Ratibor. Diese 
Vierteljahrssehr. 1889. 

7. Eulenberg, Leichenbestattung. Dessen Handbuch. Bd. II. 1882. 

8. Soyka, Boden. Eulenburg’s Keal-Encyclop. Bd. HI. 1885. 

9. Rosenthal, Vorlesungen über die öffentliche und private Gesundheitspflege. 
Erlangen 1887. 

10. Orth, Boden. Eulenberg’s Handbuch. Bd. I. 1881. 

11. Tiemann und Preusse, Wasser. Ebenda. Bd. II. 1882. 

12. Schönfeld, Ref. zu den Beschlüssen der wissenschaftlichen Deputation für 
das Medicinalwesen vom 31. Dec. 1890. Guttstadt, Deutschlands Gesund¬ 
heitswesen. II. Theil. 

13. E. Fraenkel, Malaria. Eulenberg’s Handbuch. Bd. II. 1882. 

14. Ziegler, Lehrbuch der allgemeinen pathologischen Anatomie. Jena 1885. 

15. Eichhorst, Malaria-Krankheiten. Eulenburg’s Real-Encyclop. Bd.XII. 1S87. 

16. Zuelzcr, Abdominaltyphus. Ebenda. Bd. I. 1885. 

17. Fraenkel, Typhus abdominalis. Eulonbcrg’s Handbuch. Bd. II. 1882. 

18. Eichhorst, Cholera asiatica. Eulenburg’s Real-Encyclop. Bd. IV. 1885. 


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Aufgaben der Sanitätspolizei auf dem platten Lande. 


35)3 


19. v. Ziemssen, lieber die Cholera und ihre Behandlung. Klinische Vorträge. 
4. Vortrag. 1887. 

20. Fraenkel, Cholera asiatica. Eulenberg’s Handbuch. Bd. I. 1881. 

21. Silberschlag, Die Aufgaben des Staates in Bezug auf die Heilkunde und 
die öffentliche Gesundheitspflege. Berlin 1875. 

22. Koch, Skrzeczka, v. Pettenkofer, Belehrung über das Wesen der Cho¬ 
lera und das Verhalten während der Cholerazeit. Guttstadt, Deutschlands 
Gesundheitswesen. 

23. Eichhorst, Ruhr. Real-Encyclop. Bd. XVII. 1889. 

24. Zuelzer, Milzbrand. Ebenda. Bd. XIII. 1888. 

25. Roloff, Milzbrand. Eulenberg’s Handbuch. Bd. II. 1882. 

26. Strümpell, Lehrbuch der speciellen Pathologie und Therapie. Bd. I. 
Leipzig 1885. 

27. Erismann, Entfernung der Abfallstoffe, v. Pettenkofer und v. Ziemsscn’s 
Handbuch der Hygiene und der Gewerbekrankheiten. Leipzig 1882. 

28. Mittermaier, Die öffentliche Gesundheitspflege in Städten und Dörfern. 
Karlsruhe 1875. 

29. Blankenstein, Bau- und Wohnungspolizei. Eulenberg’s Handbuch. Bd. I. 
1881. 

30. Eulenberg, A-B-C-Process. Dessen Handbuch. Bd. I. 1881. 

31. Esser, Abdeckerei wesen. Ebenda. 

32. Weigert, Rotz. Eulenburg’s Real-Encyclop. Bd. XVI. 1888. 

33. Roloff, Rotz. Eulenberg’s Handbuch. Bd. II. 1882. 

34. Benedikt, Hundswuth. Eulenburg’s Real-Encyclop. Bd. IX. 1887. 

35. Roloff, Wuth (Tollwuth). Eulenberg’s Handbuch. Bd. II. 1882. 

36. Miquel, cit. in der „Rundschau über sanitätspolizeiliche Aufgaben und Lei¬ 
stungen“. Diese Vierteljahrsschr. 1889. 

37. Hueter, Grundriss der Chirurgie. 2. Hälfte. Leipzig 1882. 

38. Pistor, Schulgesundheitspflege. Eulenberg’s Handbuch. Bd. II. 1882. 

39. Varrentrapp, Der heutige Stand der hygienischen Forderungen an Schul¬ 
bauten. Vierteljahrsschr. f. öffentl. Gesundheitspflege. Bd. I. H. 4. Braun¬ 
schweig 1869. 

40. Erismann, Die Hygiene der Schule. Handbuch der Hygiene und der Ge¬ 
werbekrankheiten von v. Pettenkofer und v. Ziemssen. Leipzig 1882. 

41. v. Ziemssen, Klinische Vorträge. 14. Vortrag. Leipzig 1888. (Zur Patho¬ 
logie und Therapio des Scharlachs.) 

42. Fürbringer, Scharlach. Eulonburg’s Real-Encyclop. Bd. XVII. 1889. 

43. Henoch, Vorlesungen über Kinderkrankheiten. 3. Aufl. Berlin 1887. 

44. Rogowski, Uebor die Desinfection ländlicher Wohngebäude und die für 
diesen Zweck erforderlichen sanitätspolizeilichen Anordnungen. Diese Viertel¬ 
jahrsschrift. Bd. VI. Jahrg. 1893. 4. H. Berlin 1893. 

45. Fürbringer, Masern. Eulenburg’s Real-Encyclop. Bd. XII. 1887. 

46. Fürbringer, Rötheln. Ebenda. Bd. XVI. 1888. 

47. Monti, Diphthcritis. Ebenda. Bd. V. 1886. 

48. Wern ich, Zusammenstellung der gültigen Medicinalgesetzc Preusscns. Mit 
besonderer Rücksicht auf die Reichsgesetzgebung. Berlin 1890. 


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26 * 

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3. 

Welche Bedenken lassen sich gegen die Sitte des 
Ausstopfens des geschlachteten Geflügels mit Papier 

erheben? 

Amtliches Gutachten, 
erstattet von 

Dr. Robert Stürmer, gerichtlichem Physikus in Berlin. 


Die Sitte, geschlachtetes Geflügel jeder Art mit Papier auszu¬ 
stopfen, ist eine anscheinend schon sehr alte, wenigstens finden sich 
in den Acten des Königl. Polizeipräsidiums zu Berlin darauf bezüg¬ 
liche Notizen bereits vom 3. October 1847. Allerdings hat es den 
Anschein, als wenn man Geflügel nur während der wärmeren Jahres¬ 
zeit ausstopft; vorwiegend wird bereits ausgenommenes oder, wie es 
technisch heisst, ausgehäkeltes Geflügel mit Papier vollgestopft; doch 
soll es auch hin und wieder Vorkommen, dass in noch nicht ausge- 
nommenes Geflügel Papier hineingestopft wird. 

Der Zweck des Ausstopfens kann ein doppelter sein: einmal 
kann man sich des Ausstopfens bedienen lediglich in der Absicht, das 
Zusammenfällen des Geflügelleibes zu verhüten, diesem vielmehr ein 
volles und rundes Aussehen zu geben, in der Absicht, das betreffende 
Thier fettreicher und fleischiger erscheinen zu lassen; andererseits 
kann aber nicht geleugnet, werden, dass man durch das Ausstopfen 
mit Papier eine Austrocknung der Körperhöhlen bis zu einem gewissen 
Grade anstrebt; dann würde man also das Ausstopfen als eine Con- 
servirungs-Methode betrachten müssen. Endlich kann das Ausstopfen 
in der Absicht geschehen, den Zutritt der Luft in die Körperhöhlen 
des Thierleibes zu verhüten, also einer schnellen Fäulniss vorzubeugen. 


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Bedenken gegen das Ausstopfen dos geschlachteten Geflügels mit I’apier. 85)5 


Geschieht das Ausstopfen lediglich in der Absicht, dem Thiere auch 
bei längerem Lagern ein besseres Aussehen zu erhalten resp. zu ver¬ 
leihen, so wäre die Manipulation des Ausstopfens eine dem Aufblasen 
des Fleisches analoge Behandlungsart. Der Käufer solchen Geflügels 
soll also betrogen werden. Andererseits ist aber zu bemerken, dass 
bei der Entfernung des Darmes durch eine enge Oeffnung am Stciss 
der Darm und andere Eingeweide häufig einreissen, es tritt hierbei 
ziemlich viel Flüssigkeit in Brust- und Bauchhöhle aus. Nun stopfen 
die Verkäufer, um diese Flüssigkeit aufzusaugen, Papier in den Leib, 
und zwar muss, damit die Feuchtigkeit auch wirklich gehörig auf¬ 
gesaugt wird, hierzu ein weiches Papier verwendet werden; so erklärt 
es sich ungezwungen, dass zum Ausstopfen des Geflügels weiches 
Druckpapier (Makulatur) verwendet wird. Dieses weiche Papier lässt 
sich durch die kleine Oeffnung am Steiss sehr bequem in die Körper¬ 
höhle einführen, und es ist nachgiebig genug, so dass der Leib dicht 
genug ausgestopft werden kann; ferner saugt es begierig die vor¬ 
handene Flüssigkeit auf, hat aber andererseits nicht den Nachtheil, 
selbst wenn es ziemlich beträchtlich feucht geworden ist, sich in einen 
Brei aufzulösen (das würde jedoch geschehen, wenn man Löschpapicr 
zum Ausstopfen des Geflügels verwenden würde). 

Andererseits würde sich reines, weisses Papier garnieht zum Aus¬ 
stopfen von Geflügel eignen, weil dieses Papier gar keine oder nur 
wenig Feuchtigkeit aufnehmen würde und weil es sich auch nicht 
leicht und bequem genug durch eine enge Oeffnung einführen und 
gehörig zusammendrücken lässt. Es eignet sich demnach zu der in 
Rede stehenden Manipulation nur ein weiches, ungcleimtes, Feuchtig¬ 
keit aufsaugendes Papier, welches indessen eine gewisse Festigkeit 
haben muss. So erscheint es verständlich, weshalb man in ausge¬ 
stopftem Geflügel vorwiegend Druckpapier findet. Es kommt also 
bei der mir vorgclegten Frage darauf an, fcstzustcllen, nach welcher 
Richtung hin Druckpapier event. schädlich wirken könnte. Zur Be¬ 
antwortung dieser Frage wird man folgende Möglichkeiten in’s Auge 
fassen müssen; es wird zum Ausstopfen verwendet: 

a) lediglich reines Druckpapier (Zeitungsmakulatur); 

b) schon zu anderen Zwecken gebrauchtes Druckpapier; 

c) beliebiges farbiges Papier; 

d) reines weisses Papier. 

ad a. Gewöhnliches Zeitungspapier ist zumeist ein ordinäres 
Papier, welches ziemlich viel Cellulose enthält. Sonstige Bestandteile 


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Dr. Stürmer, 


396 

dieses Papiers sind Holzschliff resp. Holzstoff, Getreidestroh, Esparto- 
gras, Flachs, Hanf, Baumwolle, Jute; alle diese Bestandtheile sind 
unbedenklich; es würde sonach, wenn sie allein in Betracht kämen, 
gegen die Verwendung des aus ihnen hergestellten Papiers zum Aus¬ 
stopfen von Geflügel vom hygienischen Standpunkte nichts einzuwenden 
sein. Jedoch enthalten viele Sorten von Papier infolge bestimmter 
Hcrstellungsweisc mancherlei bedenkliche chemische Stoffe, wie z. B. 
Schwefelsäure, Chlor, Kalk und Leim. Man muss ohne Weiteres 
sagen, dass die Anwesenheit dieser Stoffe in einem zur menschlichen 
Nahrung bestimmten Thierleib Bedenken erregen muss, zumal das 
Füllmaterial längere Zeit mit dem Fleische in Berührung bleibt und 
es nicht ausgeschlossen erscheint, dass die genannten Chomikalien, 
wenigstens zum Theil, in das Fleisch übergehen können. Eine Lösung 
der in dem Papier enthaltenen bedenklichen Stoffe wird um so eher 
eintreten, je mehr Feuchtigkeit der betreffende Thierleib enthielt. Weit 
weniger wichtig, als die genannten Stoffe, erscheinen die Bestandtheile 
der Druckerschwärze. Letztere ist im Wesentlichen ein Gemisch aus 
Leinöl, Firniss und reinem, angeglühtem Kicnruss (so wenigstens ist 
eine gute Druckerschwärze zusammengesetzt); doch ersetzt man den 
theuren Leinöl-Firniss neuerdings recht häufig durch Colophonium, 
Weisspech und Theer, den guten Russ durch schlechten, welcher reich¬ 
lich empyreumatische Oele, Kohle, Ammoniaksalze und Produkte der 
unvollkommenen Verbrennung enthält. Aus dieser Darlegung ergiebt 
sich, dass sehr viel auf die Zusammensetzung der beim Zoitungsdruck 
verwendeten Druckerschwärze ankommt und dass man nicht ohne 
Weiteres jede Druckerschwärze als einen für die menschliche Gesund¬ 
heit bedenklichen Stoff hinstellen kann; doch ist nicht zu leugnen, 
dass die Bestandtheile der Druckerschwärze, da auch sie zum Theil 
löslich sind, in das Fleisch übergehen und diesem sowohl einen un¬ 
angenehmen Geschmack, als auch hässlichen Geruch verleihen können. 
Endlich liegt auf der Hand, dass die durch die Gewebsflüssigkeit auf- 
weichcnde Druckerschwärze allen denjenigen Theilen des Thierleibes, 
mit denen sic in Berührung kommt, ein widerwärtiges oder sogar 
ekelhaftes Aussehen geben muss. Letzteres wird noch erhöht durch 
den Umstand, dass der beim Aushäkeln des Darmes in die Bauch¬ 
höhle austretende Darminhalt von graugelbem Aussehen das zum Aus¬ 
stopfen verwendete Papier gleichfalls durchdringen wird; hierzu wird 
in den meisten Fällen sich etwas Blut mischen und auch zuweilen 
ein im Thierkörper zurückgebliebenes und bei der Manipulation des 


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Bedenken gegen das Ausstopfen des geschlachteten Geflügels mit Papier. 397 


Ausstopfens zerdrücktes Ei. Diese kJebrige Mischung von Darminhalt, 
Eidotter, Blut, Druckerschwärze und halb durchweichtem Papier ist 
sicherlich im Stande, bei den meisten Menschen das Gefühl des Ekels 
hervorzurufen. Schon aus diesem Grunde allein wird man nach meiner 
Ansicht gegen die Sitte des Ausstopfens des Geflügels mit Papier 
sanitäre Bedenken erheben können. Dass in der That diese Dar¬ 
legung den Anschauungen des Publikums entspricht, beweisen zur 
Genüge die zahlreichen, in den Polizei-Acten enthaltenen Beschwerden 
über die in Rede stehende Unsitte; gleichzeitig ergiebt sich daraus, 
dass die oben gegebene Schilderung von dem Zustande des Papiers 
in den Thierleibern keineswegs etwa ein Gebilde einer allzu üppigen 
Phantasie ist. Ueberdies besagt ein Reichsgerichts-Erkenntniss vom 
5. October 1881, dass ein Nahrungsmittel als zum Genuss ungeeignet 
oder minder geeignet, d. h. als verdorben bezeichnet werden müsse, 
wenn es eine ekelerregende Veränderung aufweise. Eine solche Ver¬ 
schlechterung brauche nicht auf innerer Zersetzung beruhen; sie könne 
auch durch eine menschliche Handlung hervorgerufen werden und es 
sei nicht erforderlich, dass der Genuss eines derartig veränderten 
Nahrungsmittels die menschliche Gesundheit gefährden müsse. 

ad b) Noch viel gewichtigere Einwände lassen sich gegen die 
Verwendung solchen Papiers Vorbringen, was schon zu irgend einem 
anderen Zweck etwa als Emballage gedient hat. Schon die Rauhig¬ 
keit des Papiers bedingt, dass diesem Stoff sehr leicht Bacterien aller 
Art anhaften können; das wird dann in besonders hohem Grade der 
Fall sein, wenn das verwendete Papier bereits zu irgend einem anderen 
Zweck gedient hat, wobei es zerknittert wurde und mit allerhand 
Dingen in Berührung kam. Ueberdies ist die Verwendung solchen 
Papiers unbedingt deshalb zu verwerfen, weil man ja nie wird con- 
troliren können, welchen Zweck das gebrauchte Papier bereits er¬ 
füllte und von wo es stammt. Man bedenke z. B., durch wieviel 
Hände häufig eine Zeitung geht und wie vielgestaltig für eine solche 
die Möglichkeit ist, zum Contagienträger zu werden. Der Einwand, 
dass die etwa mit dem Papier in den thierischen Leib gebrachten 
Mikroorganismen durch das nachfolgende Auswaschen und Kochen 
des Geflügels ja so wie so getödtet würden, kann nicht als stich¬ 
haltig bezeichnet werden; denn es ist zur Genüge bekannt, dass be¬ 
stimmte Zersetzungsproducte des Fleisches selbst durch hohe Tempe¬ 
ratur nicht gestört werden können, und dass Fleischvergiftungen auch 
nach Genuss von gekochtem Fleisch beobachtet worden sind. 


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31)8 


Dr. Stürmer, 

ad e) Die Verwendung farbigen Papiers muss als direct schäd¬ 
lich bezeichnet werden; man kann dem farbigen Papier nicht ohne 
Weiteres ansehen, mit welchen Farbstoffen es imprägnirt ist. Es sind 
nicht nur die Farbstoffe, welche das Gesetz vom 5. Juli 1887 be¬ 
rücksichtigt, gesundheitsschädliche und die schädlichen Farben sind 
theilweise leicht löslich. Ganz abgesehen von der dirccten Gefahr, 
welche durch den Ucbertritt schädlicher Farbstoffe in das Fleisch 
dem Consumcntcn desselben erwachsen kann, ist auch zuzugeben, 
dass alles abnorm gefärbte Fleisch besonders geeignet erscheint, einen 
widerwärtigen Eindruck, also Ekel hervorzurufen. 

ad d) Bedenkt man, dass gerade das beste weisse Papier am 
häufigsten sogenannte Füllmittel enthält, welche es glatt und glänzend, 
sehr weiss und elegant erscheinen lassen, so wird man auch, da auch 
ein Theil der Füllmittel in den Gewebsflüssigkeiten löslich und somit 
ein Ucbertritt dieser Stoffe in das Fleisch selbst möglich ist, gegen 
die Verwendung weissen Papiers zum Ausstopfen geschlachteten Ge¬ 
flügels Front machen müssen. Als Füllmittel für Papier dienen Leim, 
Stärke, Kalk, Schwerspat, Thonerde, Soda, Ultramarin, zuweilen auch 
noch einige Blei-, Chlor- und Schwefelverbindungen. Einen Theil 
dieser Stoffe kann man wirklich nicht als unbedenkliche Beimischung 
zur menschlichen Nahrung bezeichnen. 

Endlich verdient noch hervorgehoben zu werden, dass ein Theil 
der genannten ßestandtheile des Papiers sowie der Druckerschwärze 
und einiger Farben überdies eine Veränderung durch den Beginn der 
Fäulniss erleidet, und dass die unter der Einwirkung des Schwefel¬ 
wasserstoffs entstehenden missfarbigen Schwefelverbindungen jener 
Stoffe, namentlich der Farben, das ekelhafte Aussehen des in das 
Geflügel hineingestopften Papiers noch wesentlich erhöhen werden. 

Ein weiteres gewichtiges sanitäres Bedenken gegen das Aus¬ 
stopfen des Geflügels mit Papier, wie überhaupt gegen jegliches Aus¬ 
stopfen, scheint mir darin zu liegen, dass die Begutachtung des Ge¬ 
flügels durch das Ausstopfen unter allen Umständen erschwert wird, 
und zw r ar sowohl für Laien wie auch für Sachverständige. Es scheint 
mir sehr wohl möglich, dass der Verwesungsgeruch dem Käufer um 
so weniger wahniehmbar sein wird, je fester die Steissöffnung durch 
Papier verstopft ist; auch kann in Folge der veränderten Spannungs¬ 
verhältnisse der Bauchw r andüngen durch festes Ausstopfen (mit Papier) 
die Farbe der letzteren, erheblich verändert w r erden, sodass der Ein¬ 
tritt der Fäulniss von Laien nur schwer erkennbar w'ird. 


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Bedenken gegen das Ausstopfen des geschlachteten Geflügels mit Papier. 399 


Endlich erschwert das in den Leib gestopfte Papier die Controle 
durch Sachverständige, da durch das Ausstopfen die inneren Organe 
dem prüfenden Blick entzogen werden. Aber auch beim Geflügel 
kann die Beschaffenheit des Fleisches, ebensowenig wie bei grösseren 
Schlachtthieren lediglich durch den äusseren Anschein richtig beur- 
theilt werden; bisweilen ist die Besichtigung der inneren Organe noth- 
wendig sowie auch diejenige des Rippen- und Bauchfells. 

Aus dem Gesagten geht hervor, dass sich gegen die Sitte des 
Ausstopfens des geschlachteten Geflügels mit Papier eine ganze An¬ 
zahl gewichtiger sanitärer Bedenken erheben lassen. 


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4. 


Bemerkungen zu Prof. C. Fraenkel’s Gutachten über 
die Verunreinigung des Salzbach-MUhlgrabens an der 
Hammermühle bei Biebrich durch die Abwässer der 
Wiesbadener Kläranlage. 

Von 

Dr. med. Georg Frank (Wiesbaden) und Dr. Mayrhofer (Mainz). 


In diesem Gutachten, erstattet an das Kgl. Oborlandesgericht zu Frankfurt 
am Main (mitgetheilt in Heft I dieses Jahrganges) bemängelt Prof. Fraenkol drei 
Punkte an dem Gutachten, welches wir in dem Verfahren erster Instanz an das 
Kgl. Landgericht zu Wiesbaden abgegeben haben. Bei der Ausarbeitung dieses 
Gutachtens hatllerr Dr. Mayrhofer die chemischen Untersuchungen übernommen: 
dieselben geschahen nach zwischen uns beiden getroffenen Verabredungen: wir 
haben das Gutachten gemeinsam abgegeben, tragen also auch gemeinsam die Ver¬ 
antwortung für dasselbe. 

FraenkeL sagt also S. 6 des Separatabdruckes: Die oben erwähnten Unter¬ 
suchungen leiden freilich an dem Uebelstand, dass die Bestimmung der sogenann¬ 
ten organischen Substanz, eines besonders wichtigen Indikators für das Vorkommen 
und das weitere Verhalten von gelüsten verunreinigenden Substanzen, durch 
Chamaclconlösung unterblieben ist; und weiter auf S. 13: Die letzte vor¬ 
liegende Analyse ist in ihrem chemischen Theile hier wenig verwendbar, weil die 
Bestimmung der organischen Substanz durch Permanganatlösung unterblieben 
ist, ferner auch Zahlen für das Chlor fehlen, namentlich aber die Menge der 
suspendirten Bestandtheile nicht Gegenstand einer besonderen Ermitte¬ 
lung war. 

Die Bestimmung der organischen Substanz durch die Chamaeleonlösung, 
Permanganatlösung, haben wir unterlassen, weil wir diese Probe im All¬ 
gemeinen, bei einfachen Trinkwasseruntersuchungen für wenig zuverlässig, bei 
Kanalwässern aber für durchaus unbrauchbar ansehen. In dieser Sache wollen 
wir nur die Aussprüche einer anerkannten Autorität anführen. In seinem Lehr¬ 
buche der hygienischen Untersuchungsmethoden aus dem Jahre 1881 fällt 
Flügge folgenden ITtheilsspruc-h: „Schon aus diesen Versuchsergebnissen geht 
hervor, dass an eine quantitative Bestimmung der organischen Substanz mittelst 
des Chamaeleons nicht zu denken ist; auch nicht eine bestimmte, irgendwie unter 
sonstige hygienische Gesichtspunkte zusammenzufassende Gruppe lässt sich durch 
dieses Reagens abscheiden, und bei der in weitesten Grenzen wechselnden Zu¬ 
sammensetzung der organischen Stoffe des Wassers ist auch kein Vergleich zwischen 
den Resultaten mehrerer verschiedene Wässer betreffender Analysen statthaft. Die 


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Bemerkungen zu Prof. C. FraenkePs Gutachten. 


401 


Methode würde eine weit grössere Bedeutung haben, wenn experimentell oder 
statistisch die Oxydirbarkeit der organischen Stoffe als identisch mit der Gefährlich¬ 
keit eines Wassers nachgewiesen wäre; wie das nach der Art der Scheidung der 
organischen Substanzen, welche durch Chamaeleon bewirkt wird, kaum anders 
zu erwarten ist, haben aber die bisherigen Beobachtungen einen solchen Zusammen¬ 
hang durchaus zurückweisen müssen. Aehnlich äussern sich Wolffhügel (Pctten- 
kofers Handbuch der Hygiene und der Gewerbekrankheiten II, 1, 2, S. 1G8 —174) 
und Walther (Tiemann-Gärtner’s Handbuch der Untersuchung und Beurthcilung 
der Wässer. IV. Aufl. 1895. S. 272—283). Mit so schwerwiegenden Fehlern ist 
die Untersuchung und Beurthcilung eines Trink Wassers mittelst der Permanganat¬ 
lösung behaftet. Da ein Kanalwasser aber in seiner Zusammensetzung ausser¬ 
ordentlich wechseln und auch solche anorganische Substanzen, welche, wie Ferro- 
salze, Nitrite, Sulfite, Schwefelwasserstoffe und Ammoniaksalze, die Chamaeleon- 
lösung ebenfalls entfärben, enthalten kann, so halten wir die Chamaeleonprobe 
nicht für einen „wichtigen Indikator für das Vorkommen und weitere Verhalten 
von gelösten verunreinigenden Substanzen“ und haben deswegen diese Prüfung 
unterlassen. 

In der Bestimmung des Gesammt- und des Ammoniakstickstoffes glaubten 
wir einen besseren Ausdruck für diese Substanzen zu haben. Fraenkel druckt 
diese Untersuchungen in seinem Gutachten ab, beachtet sie aber in seinen Aus¬ 
führungen weiter nicht, scheint derartigen Bestimmungen also keinen Werth 
beizumesssn. In diesem Punkte sind Prof. Fraenkel und wir verschiedener An¬ 
sicht; er bevorzugt die Chamaeleonprobe und vernachlässigt andere Methoden, wir 
aber geben diesen anderen vor der Chamaeleonprobe den Vorzug. 

Was die beiden anderen fehlenden Bestimmungen anbelangt, so sind wir mit 
Herrn Prof. C. Fraenkel der Ansicht, dass deren Bestimmung eine sehr hoho 
Bedeutung hat. Dass wir dieselben bei diesen Untersuchungen unterlassen haben, 
findet in besonderen örtlichen Verhältnissen seine Begründung. Das Chlor gilt 
als Repräsentant der Abfallstoffe des menschlichen Haushaltes, in dieser Eigen¬ 
schaft hat die Bestimmung desselben einen sicheren Werth, besonders bei der 
Prüfung von Brunnenwasser aus bew r ohntem Terrain. Das Wiesbadener Kanal¬ 
wasser besteht aber nicht allein aus Hausabwässern, sondern zu mehr wie einem 
Drittel aus einem an Kochsalz sehr reichen Thermalwasser. Dieser Zufluss bedingt 
den ausserordentlich hohen Chlorgehalt des Wiesbadener Kanalwassers; er ist also 
in sanitärer Beziehung ohne jede Bedeutung. Eine Bestimmung der suspendirten 
Substanzen halten wir im Wiesbadener Kanalwasser aus folgenden Gründen für be¬ 
langlos. Die meisten Strassen Wiesbadens, besonders alle Berg- und bergabfiihren- 
den Strassen, sind mit Macadam gepflastert. Infolgedessen führt das Wiesbadener 
Kanalwasser feingeschlämmten Sand in reichlichen Mengen mit sich. Die sus¬ 
pendirten Substanzen sind also im vorliegenden Falle zum grössten Thcile nicht 
der Ausdruck der in sanitärer Beziehung wichtigen organischen Verunreinigungen, 
sondern gleichgültiger anorganischer Beimischungen. 

Dies sind die Gründe, warum wir die Bestimmung der organischen Sub¬ 
stanzen durch die Chamaclconlösung, des Chlors und der suspendirten Bestand- 
theile unterlassen haben. Im ersten Falle geschah es aus wissenschaftlichen 
Gründen, in den beiden anderen w r egen Kenntniss und Berücksichtigung der ört¬ 
lichen Verhältnisse. 


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5. 


Erwiderung auf die vorstehenden Bemerkungen. 

Von 

Prof. C. Fraenkel in Halle a. S. 


Zu den vorstehenden „Bemerkungen 11 der Herren Dr. G. Frank und Dr. 
Mayrhofer seien mir die folgenden Ausführungen gestattet 

Die Mängel und Schwächen des Verfahrens zur Bestimmung der sogenannten 
organischen Substanz mit Hilfe der Permanganatmethode sind mir, wie jedem 
Fachmann, natürlich sehr wohl bekannt, und ich werde es mir gewiss niemals 
einfallen lassen, die sanitäre Beschaffenheit eines Trinkwassers nach 
dem Ergebniss dieser Probe zu beurtheilen und damit einen Fehler zu begehen, 
den die von den Herren F. und M. citirten „anerkannten Sachverständigen“ allein 
im Auge hatten, als sie das Verfahren einer Kritik unterwarfen und mit Recht vor 
seiner Anwendung warnten. 

Aber diese Frage kommt hier doch wahrlich gar nicht in Betracht; in dem 
uns beschäftigenden Falle galt es vielmehr allein, die Veränderungen festzu¬ 
stellen, welche ein Kanalwasser unter dem Einfluss ganz bestimmter äusserer Be¬ 
dingungen erfährt, und überall da, wo es sich um derartige Verhältnisse handelt, 
wo also die Reinigung eines Schrautzwassers und zwar sowohl die natür- 
liehe, die sogenannte Selbstreinigung, wie die künstlich durch mechanische 
oder chemische oder elektrische Mittel hervorgerufene in ihrem Verlaufe studirt 
werden soll, erscheint mir die Chamäleonmethode nicht, wie derr Herren Dr. F. 
und Dr. M. „ganz unbrauchbar“, sondern im Gegentheil nahezu unentbehrlich, 
sofern man nur dafür Sorge trägt, dass gewisse Vorsichtsmassregeln bei ihrer Aus¬ 
führung beachtet, namentlich ausschliesslich Proben von identischer Herkunft einer 
vergleichenden Prüfung unterworfen werden. Geschieht das, so sind die Ergebnisse 
des Verfahrens für den besonderen Zweck aber durchaus befriedigende und ermög¬ 
lichen in der Regel nicht nur einen sehr viel einfacheren und bequemeren, son¬ 
dern auch übersichtlicheren Einblick in die Einzelheiten des Reinigungsvorgangs, 
als die von F. und M. bevorzugte Bestimmung des Gesammt- und des Ammoniak - 
Stickstoffs. 

Eben deshalb hat auch bei der übergrossen Mehrzahl aller mir bekannten 
einschlägigen Untersuchungen die Permanganatmethode Benutzung gefunden 
und sich namentlich bei der Beurtheilung der künstlichen Klärverfahren bewährt. 


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Erwiderung auf die vorstehenden Bemerkungen. 


403 


Als Beweis hierfür seien z. B. die Veröffentlichungen von Lcpsius 1 ), von l’mos¬ 
kauer und Nocht 2 ), von König und Kayser 3 ) angeführt, sowio ferner hervor¬ 
gehoben, dass die in der Wiesbadener Streitsache vorliegenden Analysen bis auf 
die von den Herren Frank und Mayrhofer herrühremlo den Permanganatvcr- 
brauch gleichfalls sämmtlich berücksichtigt haben. 

Für das Studium der Selbstreinigung ist die Methode zweifellos weniger 
geeignet, weil ihre Ausschläge in der Regel zu geringfügige sind; trotzdem er¬ 
freut sie sich auch hier noch allgemeiner Beliebtheit, und unter den recht 
zahlreichen in den letzten Jahren veröffentlichten Arbeiten über diese Frage ver¬ 
zichtet keine einzige auf ihre Unterstützung, auch nicht die von Herrn Dr.Fran k 4 ) 
selbst ausgeführte, die sich mit den Veränderungen des Spreewassers innerhalb 
und unterhalb Berlins beschäftigt. 

In dem gleichen sonderbaren Irrthum, der sie bei der Werthschätzung der 
Chamäleonmethode auf falsche Wege geleitet hat, scheinen sich die Herren Frank 
und Mayrhofer aber auch hinsichtlich der beiden anderen von ihnen berührten 
Punkte zu befinden. Auch die Bestimmung des Chlors nämlich soll uns hier 
durchaus keinen Aufschluss „in sanitärer Beziehung“ geben, für welchen Behuf 
ich ihr übrigens einen „sicheren Werth“ im Gegensätze zu den Herren F. und M. 
gar nicht zuzuerkennen vermag. Die Ermittelung des Chlorgehalts der einzelnen 
Proben soll vielmehr im Wesentlichen nur dazu dienen, deren Identität festzu¬ 
stellen, also die Vorbedingung für die Benutzung der Chamäleonprobe u. s. w. zu 
liefern, und für diesen Zweck ist es begreiflicherweise völlig nebensächlich, ob 
das vorhandene Chlor als „Repräsentant der Abfallstoffo des menschlichen Haus¬ 
halts“ aultritt oder aus den Thermalwässern herrührt. 

Nahezu das gleiche gilt endlich auch für die suspendirten Substanzen. 
Gerade wo es sich um die Prüfung eines chemischen Klärverfahrens han¬ 
delt, dessen Einfluss bekanntennassen ganz besonders, wenn nicht ausschliesslich 
die ungelösten Stoffe trifft, ist das Schicksal der letzteren von grösstem, ja ent¬ 
scheidendem Werthe für die Beurtheilung der thatsächlicli erzielten Wirkung und 
die Frage, ob sie „der Ausdruck der in sanitärer Beziehung wichtigen organi¬ 
schen Verunreinigungen“ oder „gleichgiltigcr anorganischer Beimischungen“ sind, 
zunächst von ganz untergeordneter Bedeutung. 

An dem Vorwurf bedauerlicher Unvollständigkeit, den ich gegen die Unter¬ 
suchungen der Herren F. und M. erhoben habe, muss ich deshalb auch jetzt noch 
festhalten; während ich aber bei Abfassung meines Gutachtens noch der Meinung 
war, dass dieser Fehler wahrscheinlich auf gewisse zufällige und unabsichtliche 
Momente zurückzuführen sei, haben mich die vorstehenden „Bemerkungen“ davon 
überzeugt, dass eine grundsätzliche Verkennung der gestellten Aufgabe ihre un¬ 
genügende Lösung verschuldet hatte. 


1) Vierteyahrsschr. f. öffentl. Gesundheitspflege. Bd. 23. S. 233 ff. 

2) Zeitschr. f. Hygiene. Bd. X. S. 111 ff. 

3) Verunreinigung der Gewässer. Berlin 1887. S. 188. 

4) Zeitschr. f. Hygiene. Bd. III. S. 335 ff. 


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Besprechungen, Referate, Notizen, 
amtliche Mittheilungen. 


Oe werbehygienische Rundschau 

von 

Med.-Rath Dr. Roth. 


Die Explosion eines Acetylengasbehälters in der Werkstätto von G. Isaak in 
Berlin, bei der vier Personen verunglückten, gab dem Polizeipräsidenten von Berlin 
Anlass unter dem 19. December 1896 eine Polizeiverordnung zu erlassen, nach 
der Jedermann, der Acetylengas aus Calciumcarbid darstellen will, zur Anzeige 
bei der Polizeibehörde verpflichtet ist. Die Behörde ertheilt die Erlaubnis, nach¬ 
dem sie vorher durch Sachverständige hat prüfen lassen, ob die zur Verwendung 
kommenden Apparate entsprechend eingerichtet und gefahrlos sind, und ob die 
Personen, die mit Acetylengas arbeiten wollen, hinreichend sachverständig sind. 
Hinsichtlich des flüssigen Acetylens besteht bereits die Anzeigepflicht nach dem 
Reichsgesetz vom 9. Juli 1884, da es sich hierbei zweifellos um einen Sprengstoff 
handelt, während Anlagen, in denen Acetylen gewerbsmässig, d. h. zum Zwecke 
des Erwerbes hergestellt werden soll, als chemische Fabriken nach § 16 der Ge¬ 
werbeordnung einer besonderen Genehmigung bedürfen, die versagt oder von 
besonderen Bedingungen abhängig gemacht werden kann. Eine ausführliche Dar¬ 
stellung über die Gewinnung und die Gefahren des Acetylens veröffentlichte 
Sprenger in der Zeitschrift der Centralstelle für Arbeiterwohlfahrtsbestrebungen 
(Jahrg. 1897, No. 1 und 2). 

Ueber extragenitale Syphilisinfection bei Glasbläsern berichtet Eysel in 
seiner Inaugural-Dissertation, Göttingen 1896, an der Hand von 12 von ihm beob¬ 
achteten Fällen. Auf die Gefahr der Syphilisübertragung, die den Glasbläsern 
aus der Benutzung verunreinigter Instrumente, namentlich der Glasbläserpfeife, 
droht, ist in letzter Zeit besonders von französischen Autoren hingewiesen worden. 
Ein mit Syphilis behafteter 19jähriger Arbeiter, der im (Jetober 1893 in die Glas¬ 
fabrik zu Amelitte gekommen war, hatte innerhalb kurzer Zeit die Syphilis auf 
12 Arbeitsgenossen übertragen, die kürzere oder längere Zeit mit den betreffenden 
Patienten zusammengearbeitet hatten; in zwei Fällen kam noch ausserdem der 


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Besprechungen, Referate, Notizen, amtlicho Mittheilungen. 


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Gebrauch gemeinsamer Trink- und Essgeschirro sowie ein längeres Zusammen¬ 
wohnen hinzu. In allen diesen Fällen war die Eingangspforte des syphilitischen 
Giftes im Bereich der Mundhöhle zu finden. Die Vorschläge des Verf., derartigen 
Vorkommnissen zu begegnen, gipfeln darin, dass die Arboiter in Zwischenräumen 
von etwa 14 Tagen einer gewissenhaften ärztlichen Untersuchung unterzogen 
werden, und dass jeder Arbeiter mit eigener Pfeife und eigenem Mundstück 
arbeitet, eine Neuerung, die in der Fabrik zu Amelitte bereits getroffen ist. Ein 
Uebergang der Pfeife auf andere Arbeiter findet nur statt, nachdem dieselbe im 
Glasofen vorher ausgeglüht ist. An andern Orten behaupten die Arbeiter, mit dem 
Mundstück nicht rasch und sicher genug arbeiten zu können. Nach Guinod vear 
es in französischen Fabriken nicht einmal mit Hilfe der Behörden möglich, diese 
Neuerung durchzuführen. Auch die ärztliche Untersuchung stösst bei den Arbeitern 
vielfach auf Widerstand. Im sanitären Interesse würde es deshalb besonders 
freudig zu begrüssen sein, wenn die Versuche mit dem Appert’sehen Apparat, 
der zum Glasblasen comprimirte Luft verwendet zu einem in technischer Hinsicht 
befriedigenden Ergebniss führten. Bei uns sind bisher Versuche mit diesem 
Apparat, soweit bekannt geworden, nur in der Stralauer Glasfabrik gemacht 
worden. 

Wiederholt ist auf die Gefahren der Milzbrandinfection hingewiesen, die den 
Arbeitern in Betrieben drohen, in denen Thierhaare, namentlich ausländischer 
Herkunft, Rosshaare und Schweineborsten verarbeitet werden. Neben den Pinsel¬ 
fabriken kommen hier hauptsächlich die Rosshaarspinnereien in Betracht, deren 
es ausser in Süddeutshland namentlich im Regierungsbezirk Cassel eine grössere 
Anzahl giebt. Häufigere Erkrankungen, die in diesen Fabriken vor Jahren wieder¬ 
holt beobachtet wurden, hatten bereits im Jahre 1889 zum Erlass einer Polizei¬ 
verordnung Anlass gegeben. Da trotzdem weitere Milzbrandinfectionen auftraten, 
im Jahre 1895 wurden allein in einer Rosshaarspinnerei 6 Erkrankungen an Milz¬ 
brand beobachtet, wurde in der unter dem 19. April 1896 erlassenen Polizei¬ 
verordnung der Desinfectionszwang, der bisher auf die ausländischen Rosshaare 
sich beschränkte, auch auf die inländischen Thierhaare ausgedehnt. Ausgenommen 
von der Desinfection sind allein die unverraischten Pferdeschweifhaare und Pferde¬ 
mähnen, die durch den Desinfectionsprocess — vorgeschrieben ist ein 15 Minuten 
langes Kochen in Wasser oder Einwirkung von Wasserdampf von mindestens 
Vio Atmosphäre Ueberdruck in einem geeigneten Apparat eine Stunde hindurch 
— erheblich an Werth verlieren. Für die Arbeiter, die das Hineinbringen der 
Haare in dieDesinfectionsapparate besorgen, sowie für diejenigen, die das Sammeln 
und den Transport des Staubes sowie das Abschneiden der Pferdeschweifhaaro 
vom Schwcifleder und das Hecheln derselben besorgen, desgleichen für diejenigen, 
die die Arbeitsräume zu reinigen und die nicht dosinficirten Haare abzuladen 
haben, ist das Tragen von Respiratoren und Sohutzanzügcn vorgeschrieben. 
Ausserdem sind die Vorschriften über die körperliche Reinigung und die Bereit¬ 
stellung der dazu erforderlichen Einrichtungen verschärft. Weitere Bestimmungen 
betrefTen die Reinigung nnd Desinfection der Arbeitsräume sowie die Desinfection 
der Umhüllungon der zur Verarbeitung gelangenden Haare. Die von der Des¬ 
infection befreiten Haare sind in gesonderten Räumen zu lagern. Zu dem Verbot 
der Beschäftigung jugendlicher Arbeiter beim Sortiren, Desinficiren und Hecheln 
der Haare ist in der neuen Verordnung die Bestimmung hinzugekommen, dass 


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Besprechungen, Referate, Notizen, amtliche Mittheilungen. 


weibliche Arbeiter auch in den Desinfectionsräumen sich nicht aufhalten dürfen. 
Auch in Nürnberg ist der Desinfectionszwang allgemein für sämmtliche Haare ein¬ 
geführt, ohne dass über besondere Beschädigungen des Materials Klage geführt 
worden ist. Ob indess die Haare nach der Desinfection für die verschiedenen in¬ 
dustriellen Yerwendungsarten dieselbe Brauchbarkeit behalten wie vor derselben, 
darüber waren die im Kaiserlichen Gesundheitsamt angestellten Untersuchungen 
noch nicht abgeschlossen (Verhandlungen des Reichstags vom 15. Jan. d. J.). 

Während der letzten Reichstagssession stand auch der socialdemokratische 
Antrag auf Einführung des achtstündigen Arbeitstages wiederum zur Berathung. 
Nachdem dieser Antrag wie auch der Gegenantrag des Centrums auf Festsetzung 
der 63 stündigen Arbeitswoche abgelehnt waren, wurde ein weiterer Antrag des 
Centrums angenommen, dahin lautend: die verbündeten Regierungen zu ersuchen, 
Erhebungen insbesondere unter Befragung der Gewerbeaufsichtsbeamten, der 
Krankenkassenvorstände und Aerzte, sowie durch Vergleichung der Statistik der 
Krankenkassen und Invaliditätsanstalten darüber anzustellen, in welchen gewerb¬ 
lichen Betrieben durch übermässige Dauer der täglichen Arbeitszeit die Gesund¬ 
heit der Arbeiter gefährdet wird und auf Grund dieser Erhebungen überall dort, wo 
eine solche Gesundheitsgefährdung vorliegt, in Ausführung des § 120 e, Abs. 3 
der Gewerbe-Ordnung durch entsprechende Verordnungen die Arbeitszeit zu 
regeln. 

Ueber die Erstickungsgefahr in den Gährräumen der Spiritusbrennereien 
berichtete Oppermann in der Zeitschrift der Centralstelle für Arbeiterwohlfahrts¬ 
bestrebungen (18%, No. 22). Die bei der Gährung der Maische in den Brennereien 
sich bildende Kohlensäure kann unter allen Umständen, wenn die Gährräume klein 
sind und namentlich in tief liegenden Kellern in so reichlicher Menge sich an¬ 
sammeln, dass ein unvorsichtiges Betreten dieser Räume Erstickungen herbeiführen 
kann. Wiederholt sind aus diesem Grunde Erstickungsfälle sowohl bei Arbeitern 
wie bei controlirenden Steuerbeamten beobachtet worden. Zur Verhütung dieser 
Gefahren hat der Regierungs-Präsident in Posen in zwei Rund Verfügungen an die 
Polizeibehörden empfohlen, in Gährräumen, die sich in der Nähe von Wasser¬ 
gräben, Teichen u. dergl. befinden, Abzugsöffnungen oder Abzugskanäle dicht 
über dem Fussboden anzubringen. Wo derartige ein Gefälle aufweisende Abzugs¬ 
öffnungen nicht möglich sind, wird als wirksamste Vorrichtung ein Dampfstrahl¬ 
ventilator empfohlen. Einen derartig zweckmässig construirten und zuverlässig 
wirkenden Apparat der Gebr. Körting beschreibt Oppermann. Eine am Eingang 
des Gährraums anzubringende Warnungstafel enthält die Aufforderung, dass Jeder 
vor Betreten des Raumes die Schutzvorrichtungen in Wirksamkeit setzen und sich 
von ihrem guten Zustande überzeugen soll. Erstrebenswerth bleibt ausserdem 
die Beseitigung der Gährkeller, was in vielen Fällen ohne erhebliche Kosten in 
der Weise sich erreichen lässt, dass man in die oberirdisch liegende Malztenne 
den Gährraum verlegt und diesen zur Malztenne umwandelt. 

Ueber gesundheitliche Massregeln zum Schutze der Arbeiter gegen Queck¬ 
silbervergiftungen in Spiegelbelegereien und Fabriken zur Herstellung der Glas¬ 
birnen für elektrische Beleuchtungsapparate verbreitet sich H. Wittzack in der 
deutschen Vierteljahrsschrift für öffentliche Gesundheitspflege No. 28, Heft 4. 
Diese Massnahmen laufen in der Hauptsache darauf hinaus, einmal die Entstehung 
der Quecksilberdämpfe möglichst einzuschränken und zweitens den unvermeidlich 


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entstehenden Dampf möglichst unschädlich zu machen. In erstem- Beziehung ist 
von besonderer Bedeutung das Einhalten niedriger Temperaturen in den betreffen¬ 
den Arbeitsräumen, während hinsichtlich des zweiten Punktes die Maassnahmen 
der individuellen Prophylaxo, die auf sorgfältigste Reinhaltung der Kleidung und 
des Körpers der Arbeiter, insbesondere auch auf eine geregelte Mundpflege ab¬ 
zielen, von hauptsächlicher Bedeutung sind. Vor dem 20. Lebensjahr sollten 
Arbeiter, männliche wie weibliche, in Spiegelbelegen zur Arbeit nicht zugelassen 
werden. Schwangere Frauen und Wöchnerinnen, letztere bis 6 Wochen nach der 
Entbindung, sind von der Arbeit in Spiegelbelegen auszuschliessen. Wie auf dem 
Gebiet der gewerblichen Vergiftungen im Allgemeinen, erweisen sich auch hier 
die gesundheitlichen Maassnahmen um so wirksamer, je mehr die Durchführung 
derselben durch das Verhalten der Arbeiter selber gefordert wird. Was die ge¬ 
sundheitlichen Maassregeln in den Fabriken zur Herstellung von Glasbirnen für 
elektrische Beleuchtungsapparate betrifft, so kommen hier im Wesentlichen die¬ 
selben prophylaktischen Maassnahmen der Ventilation, der Reinhaltung der 
Arbeitsräume, der Mundpflege und ärztlichen Ueberwachung der Arbeiter in Frage, 
wie sie für Quccksilberspiegelbelego vorgeschrieben sind. Wie die Industrio bisher 
schon in erheblichem Umfange dazu übergegangen ist, an die Stelle der Queck- 
silberspiegelfabrication die Silberspiegelindustrie zu setzen, ist es neuerdings auch 
gelungen, die erforderliche hohe Verdünnung der Luft in dem den Kohlenbügel 
umgebenden Glaskörper durch andere ohne Quecksilber arbeitende Luftpumpen zu 
ersetzen. 

Die inzwischen erschienenen, im Reichsamt des Innern zusammengestellten 
„Amtlichen Mittheilungen aus den Jahresberichten des Gewerbeaufsichtsbeamton, 
Jahrgang XX, 1895“ enthalten, wie die vorangegangenen Jahresberichte, ein sehr 
reiches Material auch in gewerbehygienischer Hinsicht. Wir entnehmen demselben, 
dass im Jahre 1896 in den der Gewerbeaufsicht unterstellten Betrieben 4327 Kin¬ 
der unter 14 Jahren beschäftigt waren. Sowohl diese Zahl wie die Zahl der jun¬ 
gen Leute zwischen 14 und 16 Jahren, ganz besonders aber die Zahl der Arbeite¬ 
rinnen über 16 Jahre zeigte im Berichtsjahr eine erhebliche Zunahme gegenüber 
dem Jahre 1894. Die Art der Beschäftigung jugendlicher Arbeiter war, von der 
Verwendung derselben bei stauberzeugender Arbeit abgesehen, im Allgemeinen 
dem Lebensalter und den Kräften derselben angemessen. Auf den Ziegeleien, hin¬ 
sichtlich deren der vorliegende Bericht besondere Erhebungen in grösserem Um¬ 
fange enthält, waren die Beköstigung und besonders die Wohnungsverhältnisse 
vielfach besonders ungünstige; nicht selten fanden sie enge, unsaubere Aufent¬ 
halts- und Schlafräume mit unzureichenden Lagerstätten und ungenügender Lüf¬ 
tung, mangelhafter Beschaffenheit der Aborte u. a. Von mehreren Berichterstattern 
wird angeregt, für jugendliche Arbeiter und für Arbeiterinnen die Arbeit in den 
über den Oefen befindlichen Trockenräumen zu verbieten. Wie in früheren Jahren 
wurden übermässig lange Arbeitszeiten am häufigsten in Ziegeleien, Mahl- und 
Schneidemühlen beobachtet, vielfach auch in Brauereien, in den kleinen länd¬ 
lichen Strumpffabriken, bei Maschinen- und Dampfkesselwärtern, in Cigarren¬ 
fabriken u. a. 

In dem Abschnitt, der den gesundheitlichen Verhältnissen der industriellen 
Arbeiter gewidmet ist, wird von mehreren Aufsichtsbeamten ein geregelter Verkehr 

Yierteljahrsbchr. f. ger. Med. Dritte Folge. XIV. 2. 27 


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mit den Krankenkassen und ein geordnetes Zusammenarbeiten mit dem ärztlichen 
Sachverständigen vermisst. Von specicllcn Gesundheitsschädigungen ist zu er¬ 
wähnen, dass in den Thomasschlackenrnühlen eines Bezirks von 815 Erkrankungen 
während der Jahre 1892 bis 1894 04 pCt. Erkrankungen der Athmungsorgane be¬ 
trafen, und dass von 21 Todesfällen 20 auf Lungenerkrankungen zurückzuführen 
waren. Der Staubbeseitigung wurde namentlich in den Schleifereien, insbesondere 
auch den Glasschleifereien, desgleichen auch in Holzbearbeitungsfabriken, in Bloi- 
und Silberhütten u. a. erhöhte Aufmerksamkeit zugewandt. Durch die auf Veran¬ 
lassung des Ministers für Handel und Gewerbe in den Lumpensortiranstalten statt¬ 
gehabten Erhebungen wurden in den meisten Bezirken wenig erfreuliche Zustände 
aufgedeckt; insbesondere fand ein Entstauben der Lumpen vor dem Sortiren nur 
in einigen wenigen grossen Betrieben statt, während in den kleineren die Durch¬ 
führung dieser und anderer Maassnahmen wegen der ungünstigen wirtschaftlichen 
Verhältnisse der Arbeitgeber vielfach auf Schwierigkeiten stiess. Es steht zu er¬ 
warten, dass durch die nunmehr von dem Minister für Handel und Gewerbe auf- 
gestellten Grundsätze, betreffend Einrichtung und Betrieb der Lumpensortirungs- 
anstalten durch Einwirkung auf die Arbeitgeber allinälig bessere Arbeitsbedin¬ 
gungen für die in den Lumpensortiranstalten beschäftigten Personen herbeigeführt 
werden. 

Hinsichtlich der Gefahren der Zinkhütten beschränken sich die Mitteilungen 
auf einen Bericht aus dem Oppelner Bezirk, ln einzelnen Bleiweissfabriken machte 
sich Dank der Mitwirkung der Kassenärzte und Medicinalbeamten eine erfreuliche 
Abnahme der Zahl der Erkrankungen bemerklich. Auch hinsichtlich der Gesund- 
heitsverhältnissc in Accumulatorenfabriken wird vielfach eine Besserung gemeldet; 
speciell in der Fabrik in Hagen blieb die Zahl der Bleierkrankungen vom Jahre 
1895 Dank der sehr energischen prophylaktischen Maassnahmen sehr erheblich 
hinter der Zahl des Jahres 1894 zurück. Der Gesundheitszustand der Arbeiter in 
Chromatfabriken, unter denen sich in einemßezirk bei etwa einem Drittel der unter¬ 
suchten Arbeiter die charakteristische Durchlöcherung der Nasenscheidewand 
vorfand, erfuhr besondere Beachtung und wurde auch seitens dos Kaiserlichen 
Gesundheitsamts zum Gegenstand eingehender Erhebungen gemacht, als deren Er¬ 
gebnis* die inzwischen unter dem 2. Februar d. J. verölfentlichte Bekanntmachung 
des Reichskanzlers, betr. Einrichtung und Betrieb der Anlagen zur Herstellung 
von Alkalichromaten sich darstellt. 

Gegen die mit der Arsenikerzeugung verbundenen Gefahren hat sich eine 
von den Arbeitern selber erfundene Schutzvorrichtung bewährt, die allen An¬ 
sprüchen genügt und den Vortheil hat, dass sie jeden Augenblick in völlig ge¬ 
reinigtem Zustande und jeder Kopfform angepasst aufgelegt werden kann; die¬ 
selbe bestellt in leinenen waschbaren Tüchern, die leicht um Kopf und Hals gelegt 
werden, Quecksilbervergiftungen wurden nicht beobachtet. Ebenso haben sich 
die Gesundheitsverhältnisse in den Zündholzfabriken bedeutend gebessert; ver¬ 
einzelte Fälle von Phosphornecrose, über die berichtet wird, waren auf Nachlässig¬ 
keit und Unachtsamkeit der betreffenden Arbeiter zurückzuführen. 

lieber die Gesundheitsverhältnisse der Cigarrenarbeiter enthält der Bericht 
des Aufsichtsbeamten für Baden worthvolle Mittheilungen. Danach starben im 
Amtsbezirk Bruchsal 0,70 pCt. der Cigarrenarbeiter an Schwindsucht, während 
von der übrigen Bevölkerung des Bezirks nur 0,21 pCt. dieser Krankheit erlagen; 


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in einem anderen Bezirk war dies Verhältniss bei den Cigarrenarbeitern 0,45pCt., 
d. h. etwa das Doppelte des Landesdurchschnitts. Von wesentlicher Bedeutung 
ist nebon der Verbesserung der socialen Verhältnisse die Entfernung der Erkrank¬ 
ten aus der Fabrik und ihrer Häuslichkeit und die Ceberführung derselben in be¬ 
sondere Heilstätten, — Milzbranderkrankungen in Gerbereien lind Anstalten zur 
Verarbeitung von Thierhaaren kamen, wie schon erwähnt, noch häufig vor und 
endeten zum Theil tödtlich. Neben Reinlichkeit und sorgfältigster Beachtung der 
kleinsten Wunden bleibt die Desinfection der Thierhaare vor der Bearbeitung das 
einzig wirksame Schutzmittel. 

Gegen die sogen. Theerkrätze in den Steinkohlenbrikettfabriken hat sich als 
wirksamster Schutz eine Fabrikationsweise bewährt, bei welcher das Steinkohlcn- 
theerpech nicht durch directe Ofenfeuerung, sondern durch zugeleitete Dämpfe in 
einem abgeschlossenen Rührwerk erhitzt wird. Wenn bei dieser Fabrikationsweise die 
Arbeiter für gewöhnlich von Krankheitserscheinungen verschont geblieben sind, 
so ist dies darauf zurückzuführen, dass der Arbeiter hierbei weniger von der vom 
Ofen ausgehenden strahlenden Hitze zu leiden hat, dass ferner durch die sich ent¬ 
wickelnden heissen Dämpfe die Luft des Arbeitsraums beständig feucht gehalten 
und vor Allem die Staubbildung wesentlich vermindert wird. 

In den Achatschleifereien und in der Porzellanindustrie zeigten sich dieselben 
ungünstigen Verhältnisse, wie sie in früheren Berichten hervorgehoben sind. 
Speciell in der Achatschleiferei wird das ausserordentlich gesundheitsschädliche 
Schleifen im Liegen trotz der mit Beihülfe der Regierung in einigen Schleifereien 
lierbeigeführten Verbesserungen unverändert fortgesetzt. 

Aus dem letzten Abschnitt, der die wirtschaftlichen und sittlichen Zustände 
der Arbeiterbevölkerung und die Wohlfahrtseinrichtungen behandelt, ergiebt sich, 
dass die Ernährungsverhältnisse der Arbeiter durch Vermehrung von Speisean¬ 
stalten und Consumvereinen fortschreitend günstig beeinilusst wurden. Des¬ 
gleichen fand die Frage der Beschaffung von Arbeiterwohnungen seitens der Ar¬ 
beitgeber wie besonderer Bauvereine ständige Beachtung. Besondere Erwähnung 
verdient auch die zunehmende Fürsorge für kranke Arbeiter seitens der Vereine 
und Verbände, der Krankenkassen und Versicherungsanstalten. — Elf Specialan¬ 
lagen bilden den Schluss der inhaltreichen Mittheilungen. 

Von den inzwischen erschienenen Lieferungen des Weyl’sehen Handbuchs 
der Hygiene behandelt die 5. Lieferung des achten Bandes die Hygiene der kera¬ 
mischen Industrie, der Steinmetzen, Maurer, Glasarbeiter und Spiegelbeleger, die 
6. Lieferung desselben Bandes die Hygiene der Tcxtil-Industrie. 

In dem ersten Abschnitt behandelt Sonne die Hygiene der keramischen In¬ 
dustrie, der Ziegeleiarbeiter, Töpfer und Porzellanarbeiter. Nach einer kurzen 
Darstellung des Gewerbebetriebes werden die Berufskrankheiten der betreffenden 
Arbeiterkategorien und im Anschluss daran die Fürsorge für die Arbeiter be¬ 
sprochen. Verf. erwähnt, dass die Arbeit der Ziegler, die an sich sehr anstren¬ 
gend ist, durchschnittlich 14 Stunden und länger dauert, und dass namentlich 
auch die Wohnungen der Ziegeleiarbeiter sehr Vieles zu wünschen übrig lassen, 
während die eigentlichen Schädlichkeiten der Berufsarbeit ein eingehendere Dar¬ 
stellung nicht gefuuden haben. Angeschlossen sind die Unfallverhütungsvor¬ 
schriften der Ziegelei- und Töpferci-Berufsgenossenschaft. 

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Besprechungen, Referate, Notizen, amtliche Mittheilungen. 


Bei Her Darstellung Her Hygiene Her Porzellanarbeiter haben Hie sorgfältigen 
Untersuchungen Sommerfeldes gebührende Berücksichtigung gefunden. Gegen¬ 
über Puchesnc, der die Arbeits- und Gesundheitsverhältnisse der französischen 
Porzellanmacher als sehr günstige darstellt, lassen die Untersuchungen von 
Sommerfeld, Popper, Eulenberg u. A. keinen Zweifel, dass das Durch¬ 
schnittsalter der Porzellanarbeiter ein sehr niedriges ist. Nach W. Ogle’s be¬ 
kannten Sterbetafeln stehen die Arbeiter der Porzellanfabrication und Töpferei 
unter 44 Berufsarten an dritthöchster Stelle und werden nur noch von der Sterb¬ 
lichkeit der Zinngrubenarbeiter, Hausirer und Kellner übertroffen. Beizustimmen 
ist dem Verf. darin, dass, wenn die zur Verbesserung der gesundheitlichen Lage 
der in der keramischen Industrie beschäftigten Arbeiter im Laufe des letzten Jahr¬ 
zehnts gemachten Vorschläge seitens der Arbeitgeber mit Verständniss durchge¬ 
führt und deren Ausführung sachgemäss überwacht würde, und wenn auch die 
Arbeiter selber die in ihrem eigenen Interesse getroffenen Maassnahmen willig be¬ 
folgten, die Bekämpfung der Berufskrankheiten auf dem Gebiete der keramischen 
Industrie crfolgrcichsr wie bisher gelingen wird. 

Im zweiten Abschnitt behandelt Sommerfeld die Hygiene der Steinmetzen 
und Maurer. Bei der Untersuchung der Erkrankungs- und Sterblichkeitsverhält¬ 
nisse der Steinmetzen unter Ausscheidung der Steinsetzer und Steinklopfer, fand 
der Verf. die Gesundheitsverhältnisse noch ungünstiger, als bisher allgemein an¬ 
genommen wurde. Von wesentlicher Bedeutung ist, ob Marmor, Granit oder 
Sandstein, die hauptsächlich in Frage kommenden Gesteinsarten, bearbeitet wird. 
Nach den Untersuchungen Sommerfeldes, die durch die in anderen Ländern, 
namentlich in England und Italien gemachten Erfahrungen ergänzt und bestätigt 
werden, zeigten die günstigsten Mortalitätsverhältnissc die Marmorarbeiter, dem¬ 
nächst die Granitarbeiter, während diejenigen Steinmetzen, welche Sandstein be¬ 
arbeiten, am ungünstigsten gestellt sind. Nach den Erfahrungen des Verbandes 
der Steinmetzen Deutschlands betrug bei 344 Steinmetzen die durchschnittliche 
Lebensdauer zwischen 35 und 36 Jahre, ein Mittel, das bei den Sandsteinarbeitern 
bis auf 33 Jahre Jahre 6 Monate herunterging. Entsprechend der häufigsten Er- 
krankungsursache, der Einathmung von Steinstaub, werden die Steinmetzen fast 
ausschliesslich von Krankheiten der Athmungsorgane, in erster Linie von der 
Lungenschwindsucht, dahingerafft. Von 497 in den Zeiträumen von 1886 bis 1892 
in den verschiedensten Gegenden Deutschlands gestorbenen Steinmetzen erlagen 
444 = 89,93 pCt. der Lungenschwindsucht. Sommerfeld fordert dcsshalb mit 
Recht, dass der Eintritt in das Steinmetzgewerbe nur gesunden, kräftigen Personen, 
und nicht vor Zurücklegung des 16. Lebensjahres gestattet werden darf und dass 
der Schutz, der gewissen Kategorien der jugendlichen Glushüttonarbeiter bereits 
zu Theil wird, auch auf die Steinmetzlehrlinge ausgedehnt wird. Wie nothwendig 
diese Forderung ist, erhellt aus den von Sommerfeld an 94 dieser Lehrlinge 
gewonnenen Erfahrungen. Im Uebrigen ist der Schwerpunkt der prophylactischen 
Maassnahmen in der Verhütung der Einathmung des Staubes gelegen. Neben der 
Befeuchtung des zu bearbeitenden Steines mit Wasser oder Glycerin, dem Be¬ 
sprengen des Arbeitsplatzes, der regelmässigen täglichen Beseitigung der Staub¬ 
massen ist von besonderer Wichtigkeit, die Arbeit entweder ganz im Freien oder 
in besonders hohen und gegen Wind und Wetter genügend geschützten Arbeits¬ 
buden ausführen zu lassen. Eine völlige Staubabhaltung von den Athmungsor- 


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Besprechungen, Referate, Notizen, amtliche Mitthciluugen. 


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ganen der Arbeiter wird indess in geschlossenen Räumen durch das Tragen 
zweckmässig construirter Respiratoren zu erreichen sein. Unter den zahlreichen 
derartigen Apparaten giebt der Verf. dem von B. Loeb in Berlin construirten den 
Vorzug, nur müsste derselbe noch flacher und leichter gefasst sein. Vor Allem 
wären auch schon die Lehrlinge an das Tragen von Respiratoren zu gewöhnen. 

Die Dauer der Arbeitszeit schwankt bei den Steinmetzen und Steinbild¬ 
hauern zwischen 7V 2 und 12 Stunden. Sommerfeld empfiehlt für die in Frage 
kommenden Berufe eine Arbeitszeit von 7 bis höchstens S, für die Lehrlinge eine 
solche von 6 Stunden und befürwortet gleichzeitig nach einer 2stündigen Arbeits¬ 
schicht eine Pause von 15 bis 30 Minuten. 

Auch bei den Maurern entfallen nach den Aufzeichnungen der Ortskranken¬ 
kasse der Maurer zu Berlin und der Centralkasse der Maurer Deutschlands mehr 
als die Hälfte aller Todesfälle auf Krankheiten der Athmungsorgane, auf Lungen¬ 
schwindsucht allein 38,2 pCt. Das Durchschnittsalter betrug 43,80 Jahre. Ausser¬ 
ordentlich zahlreich sind ausserdem Betriebsunfälle, sowie Verletzungen und Er¬ 
krankungen der Muskeln und Sehnenscheiden, die durch Heben schwerer Lasten 
und die angestrengte Thätigkcit bedingt sind. 

Unter den Massnahmen, die bestimmt sind, die hygienische Lage der Maurer 
aufzubessern, kommt vor Allem auch die Bereitstellung von Baubuden seitens der 
Unternehmer in Frage, die neben ihrer hygienischen gleichzeitig eine hervorragende 
sociale Bedeutung haben in Folge der dadurch bewirkten Einschränkung des Be¬ 
suches benachbarter Wirthshäuser. 

Den Schluss der fünften Lieferung des achten Bandes bildet eine Darstellung 
der Hygiene der Glasarbeiter und Spiegelbeleger von Schaefer, dem wir bereits 
eine werthvolle Arbeit über die Gewerbekrankheiten der Glasarbeiter verdanken 
(diese Zeitschrift. 3. Folge. Bd. VIII. S. 181). 

Verfasser beginnt mit einer Darstellung der Technik des Gewerbebetriebes 
der Glasarbeiter, um sodann die Gesuudhcitsschädigungen und Unglücksfälle zu 
besprechen. Die hauptsächlichste Gefahr ist der bei der Vermischung der Roh¬ 
materialien entstehende Staub, der u. A. nicht unerhebliche Mengen Arsenik ent¬ 
hält. Es handelt sich hierbei um einen scharfen, quarzhaltigen Staub, dessen 
Einathmung die Schmelzer, wenn auch nur während eines kurzen Zeitabschnittes 
der täglichen Arbeitszeit, ausgesetzt sind; während der übrigen Zeit haben sie 
die Feuerung zu reguliren und die schmelzende Masse zu beobachten, wobei sie 
unter der Einwirkung der Hitze und der entweichenden Gase und Dämpfe zu leiden 
haben. Bei den Glasbläsern, der Hauptgruppe der Arbeiter, sind es die schroffen 
Temperaturunterschiede, die intensive Hitze und Wärmestrahlung, die dadurch, 
dass sie übermässige Schweissproduction hervorrufen, schwächend auf den Orga¬ 
nismus wirken. Dazu kommt die Arbeit als solche, die eine forcirte Exspiration 
zur Voraussetzung hat, in deren Gefolge es mehr oder weniger bei allen Glas¬ 
bläsern zurEntwickelung von Lungenemphysem und dessen Folgezuständen kommt. 
Auf den Umstand, dass der Beruf des Glasmachers seit alter Zeit in einzelnen 
Familien erblich ist, führt der Verf. die Thatsachc zurück, dass sich in diesen 
Familien eine Art von Gewöhnung an die Arbeit herausgebildet hat, was besonders 
bei einem Vergleich der Glasbläser aus alten Glasbläserfamilien mit Arbeitern, die 
solchen nicht entstammern, auffällt, da die Letzteren bedeutend mehr zu den spe- 
cifischen Berufskrankheiten neigen, als die Ersteren. 


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Besprechungen, Referate. Notizen, amtliche Mittheilungen. 


Als weitere Gesundheitsschüdigungen sind Bindehautcatarrhe in Folge steter 
Einwirkung des Rauches, Staarbildung, Magendarmleiden, Verbrennungen und die 
Übertragung der Syphilis durch die gemeinschaftliche Pfeife zu erwähnen. 

Bei den Glasschleifern, die selten ein höheres Alter als 40 Jahre erreichen, 
liegt die hauptsächlichste Gefahr in der Einathmung des feinen, scharfen Glas¬ 
staubes, der zu chronisch-interstitiellen Pneumonien und im weiteren Verlaufe zu 
Erweichungen des Lungengewebes und Tubereulose Anlass giebt. Auch Rheuma¬ 
tismus kommt bei den Glasschleifern recht häufig vor. Charakteristisch ist eine 
Art Schleimbeutol, der sich an der Innenseite in der Mitte des Unterarmes ulnar- 
wiirts bildet, da, wo der Schleifer sich gegen die Holzpflöcke stemmt. Sehr ver¬ 
breitet ist ausserdem ein eigentluimliches llautleiden zwischen den Fingern, das 
im acuten Stadium den Arbeiter arbeitsunfähig macht, wahrscheinlich in Folge 
des feinen Sandes und der ahgeschlidenen Glastheilchcn, welche beim Arbeiten 
in die Haut zwischen den Fingern eingerieben werden. Bleivergiftungen werden 
dann beobachtet, wenn die Schleifer bleihaltiges Glas trocken schleifen und poliren, 
wozu bei der Bearbeitung von Mousseline-Glas, von Email und Strass Gelegenheit 
gegeben ist. 

Nach Anackers Berechnungen, die einen Zeitraum von 25 Jahren um¬ 
fassen, betrug die mittlere Lebensdauer der Glasarbeiter im Allgemeinen 35,2Jahre, 
für die Schleifer allein 32,6, für die Glasbläser 38,0 und für die übrigen Arbeiter 
41,0 Jahre. 

Zur Verhütung der Gesundheitsschädigungen, zunächst bei der Mischung der 
Rohmaterialien, ist die Einführung maschineller Einrichtungen zum Zerkleinern 
und Zerpulvern erforderlich (geschlossene Collergänge, geschlossene Misch¬ 
maschinen von Dralle mit Elevatorvorrichtung zur Entleerung des fertigen Ge¬ 
menges in die Oefen). Gegen die grosse Hitze haben sich neben geeigneten Venti- 
lationsvorriehtungen durch mechanische Kraft bewegte Fächer bewährt, welche, 
aus einer Welle mit Windflügeln bestehend, bei ihren Umdrehungen den Arbeitern 
Luft zufächeln. Gegen die Einwirkung des grellen Lichtes sollen dunkle Glas- 
und Glimmerbrillen schützen. Besser, weil unabhängig von dem Willen des Ar¬ 
beiters, ist die Anbringung grosser, vor dem Stande des Arbeiters aufgehängter 
blauer oder rauchgrauer Glastafeln, durch welche der Arbeiter in den Ofen sieht. 
Von besonderer Bedeutung für die Hygiene der Glasarbeiter verspricht die Erfin¬ 
dung der französischen Ingenieure Gebr. Apport zu werden, die an die Stelle 
des Glasblasens mittelst des Mundes die Glaserzeugung durch maschinelle Ein¬ 
richtung setzt. Der Apparat verwirklicht den Gedanken der Verwendung compri- 
mirier Luft zum Glasblasen im grossen Massstabe und in vollkommenster Aus¬ 
führung. Die Einführung derartiger Apparate auch in unseren deutschen Fabriken 
kann, falls sie sich bewahren, im Interesse des Gesundheitsschutzes der Glasbläser 
nicht dringend genug befürwortet werden. Durch dieselben würde auch jede Ge¬ 
fahr der Uebertragung ansteckender Krankheiten unter den Glasbläsern (Syphilis, 
Tubereulose) ausgeschlossen werden. 

Durch besondere Ventilatoren und event. geeignete Schutzmasken sind die 
Glasschleifer vor dem so verderblichen scharfen Glas- und Sandstaub zu schützen. 
Zur Verhütung der Bleivergiftung bei der Moussclineverzierung hat sich das Sand¬ 
gebläse von Tilghmann, hei der Emailbereitung das Arbeiten in geschlossenen 


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Kasten bewährt. Endlich bleibt die Bereitstellung zweckentsprechender Badeein¬ 
richtungen ein dringendes Postulat der Hygiene der Glasarbeiter. 

Zum Schluss haben die Unfallverhütungsvorschriften der Glasberufsgenossen- 
schaft und die Bestimmungen des Bundesruthes vom 11. März 18512 Erwähnung 
gefunden. Der Yerf. fordert, dass Knaben unter 14 Jahren zu der in jedem Falle 
gesundheitsschädlichen Arbeit in den Glashütten überhaupt nicht zugelassen 
werden, jugendliche Arbeiter von 14 bis IG Jahren aber erst nach Beibringung 
eines ärztlichen Zeugnisses, dass sie genügend entwickelt und arbeitskräftig sind. 

In einem zweiten Abschnitt behandelt Schaefer die Hygiene der Spiegel- 
beleger hauptsächlich an der Hand der Erfahrungen von Wollner und Ken k. 
Wiedergegeben sind die Vorschriften des Glasbelegerhülfsvercins in Fürth, die, 
wie bekannt, einen ausserordentlich günstigen Einlluss auf den Gesundheitszustand 
der Quecksilberbcleger ausgeübt haben, und an die sich die später erlassenen 
noch weitergehenden gesetzlichen Bestimmungen in Dreussen, Bayern und Baden 
im Wesentlichen anlehnen. Von besonderer Bedeutung im Kampfe gegen die Ge¬ 
sundheitsschädigungen in den Quecksilberspiegelbelegen ist der Umstand gewor¬ 
den, dass dieselben im letzten Jahrzehnt mehr und mehr durch die Silherspirgel- 
fabrikation verdrängt worden sind. So sind in Fürth in den letzten Jahren 13 
auf grosse Leistungsfähigkeit für den Export eingerichtete Silberspiegelfabriken 
entstanden. 

In der sechsten Lieferung des 8. Bandes des Weyl’schen Handbuches be¬ 
handelt Netolitzky in Wien, der in seiner früheren Stellung als Gemeinde-, 
Krankenkassen- und Amtsarzt vielfache Gelegenheit hatte, die Textil-Industrie in 
allen ihren Zweigen genau kennen zu lernen, in grossen Zügen diejenigen Gesichts¬ 
punkte, die bei der sanitären Beurtheilung dieses Industriezweiges ins Auge zu 
fassen sind, unter Beschränkung auf das für diese Beurtheilung Nothwendige. 
Bei der ungeahnten Entfaltung, die insbesondere die chemische Technologie der 
Färberei in den letzten Jahrzehnten gewonnen hat, konnten in der vorliegenden 
Abhandlung nur die Grundzüge derselben berührt werden. Ebenso musste bei 
der Besprechung der Schutzvorkehrungen an den Maschinen insofern eine Be¬ 
schränkung eintreten, als nur einzelne erprobte Typen vorgeführt werden konnten, 
da die Unzahl neuer Erfindungen auf diesem Gebiet hinsichtlich ihrer Zweck¬ 
mässigkeit bei der Anempfehlung eine gewisse Reserve auferlegte. 

In der Vorrede betont der Verf., dass die Abgabe eines zutreffenden Gut¬ 
achtens über einen Betrieb in jedem Falle zur Voraussetzung hat, dass sich der 
Sachverständige vorher über die Vorgänge bei dem Betriebe und die bei demselben 
in Anwendung kommenden Hilfsmittel aufs Genauste informiren, die localen Ver¬ 
hältnisse in Betracht ziehen und seine Forderungen denselben anpassen muss. 
Nach einander werden die »Spinnerei, die Weberei, die zugerichteten Webwaaren, 
Fleehtwaaren, Nähterei, der Staub in der Textilindustrie, die Luft in den Arbeiis- 
riiumen,die Beleuchtung, die Bleicherei und Wäscherei, die Färberei und Druckerei, 
die Abwässer und die Gesundheitsstatistik der Textilarbeiter besprochen. Neben 
der Darstellung der Art des Betriebes haben die gesundheitlichen Einwirkungen 
und Schutzmaassnahmen wie die einschlägigen Bestimmungen überall gebührende 
Berücksichtigung gefunden. Ihrer Wichtigkeit entsprechend haben die verschie¬ 
denen Staubarten in der Textil-Industrie und deren Einwirkung auf den Orga¬ 
nismus, sowie die Schutz Vorkehrungen und im Anschluss daran die Luft in den 


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Besprechungen, Referate, Notizen, amtliche Mittheilungen. 


Arbeitsräumen eine besondere Darstellung erfahren. In Frage kommen hier Flachs¬ 
staub, Hanf- und Jutestaub, Baumwollenstaub, Wollstaub und Seidenstaub. 
Leider sind wir mangels zuverlässiger Specialuntersuchungen noch weit davon 
entfernt, die Schädlichkeit der verschiedenen Staubarten zahlenmässig feststellen 
zu können. Vielfach basiren die vorhandenen Statistiken auf zu kleinen Zahlen 
und berücksichtigen ausserdem nicht die sonstigen in Frage kommenden Momente, 
wie Dauer der Zugehörigkeit zum Beruf, individuelle Anlage und sociale Ver¬ 
hältnisse. 

Dass den Fabrikabwässern in der Textilindustrie ein besonderer Abschnitt 
gewidmet ist, wurde schon erwähnt. Die Bedeutung derselben erhellt aus dem 
Umstande, dass nach den Untersuchungen von Günther in Sachsen annähernd 
50 Procent aller Fälle von Flussverunreinigung auf die Textil-lndustrie entfallen, 
und dass diese Verunreinigung oft eine sehr erhebliche ist. Je nachdem es hiebei 
um giftige Substanzen, die in der Textil-lndustrie zumeist den Bleichmitteln, 
Farbstoffen und Beizen, seltener den verarbeiteten Rohstoffen in den Spinnereien 
und Webereien entstammen, oder um solche Substanzen handelt, die durch ihre 
weitere Veränderung einen schädigenden Einfluss auf die Menschen, die Land¬ 
wirtschaft, Fischzucht und Industrie üben können, wird die Beurteilung eino 
verschiedene sein. Jedenfalls bedarf die Frage der Flussverunreinigung durch 
die Fabrikabwässer spcciell in Preussen dringend der gesetzlichen Regelung. 

Den Schluss der Abhandlung bildet die Gesundhoitsstatistik der Textil¬ 
arbeiter unter Berücksichtigung der Körperentwicklung, der Frauen- und Kinder¬ 
arbeit und des Einflusses der Arbeit auf die Gesundheit, wobei hauptsächlich die 
bekannten Untersuchungen von Erismann und von Schüler und Burckhardt 
Berücksichtigung gefunden haben. Ein letzter Abschnitt behandelt die Unfälle in 
der Textil-lndustrie an der Hand der offiziellen Unfallstatistik Oesterreichs und 
Deutschlands. 

Die vorliegenden beiden Lieferungen des Wey loschen Handbuchs der Hygiene, 
mit denen der 8. Band, umfassend die allgemeine und specielle Gewerbehygiene, 
abschliesst, sind um so vollkommner, als es an einer gleich zusammenfassenden 
und erschöpfenden Darstellung dieser Specialgebiete der Gewerbehygiene bis¬ 
lang fohlte. 


Referate. 

Wyatt Johnston (Boston med. and surg. journal 8. April 1897) hat die 
von Florence angegebene, in dieser Zeitschrift, 3. Folge, Bd. XIII. S. 446, be¬ 
sprochene Jodprobe auf Sperma nachgeprüft. Er ist dabei zu Resultaten gekom¬ 
men, die mit denen des Autors im Wesentlichen übereinstimmen, hält aber noch 
weitere Untersuchungen für erforderlich. Str. 


Knauss, K., lieber die Vergiftung mit Schwefelsäure. Beitrag zu der 
Festschrift des Stuttgarter ärztlichen Vereins 1897. Verlag von E. Schweizer¬ 
barth, Stuttgart. 

Knauss giebt zunächst die genaue Beschreibung zweier von ihm als Pro- 
sector des städt. Katharinenhospitals innerhalb 13 Monaten secirten Fälle von 


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Selbstmord durch Verschlucken der käuflichen Schwefelsäure. Der erste Fall be¬ 
traf ein 29jähriges Dienstmädchen, welches IP /4 Stunden nach Verschlucken von 
2 Löffeln „Vitriolöl 44 im Spital verstarb. Typischer Befund der acuten Vergiftung 
mit concentrirter Mineralsäure: weissgraue Verfärbung von Mund, Schlund, Speise¬ 
röhre. Stärkste blutig-schwarze Infiltration der Magenwand ohne Perforation, aber 
mit stellenweiser Auflösung der Schleimhaut; Dünndarm ebenfalls blutig infilfrirt, 
Jejunum grau verätzt. Ausgedehnte, zum Thcil postmortale Verstopfung der Ge¬ 
lasse mit in Hämatin umgewandeltem Blut an Magen, Netz, vorderer Bauchwand, 
Pankreas bis herab in die Aorta abdom. und Art. iliaeae. Mikroskopisch: Magon- 
wand auf etwa das dreifache verdickt durch profuse Infiltration der Mucosa und 
Submucosa mit braunschwarz verschontem Blut. Nieren: völlige Trübung und 
Quellung der Epithelien der Harncanälchen. 

Der zweite Fall behandelt eine injährige Modistin, welche 10 Tage nach 
dem Verschlucken einer Tasse voll Vitriolöl (an den Erscheinungen innerer Ver¬ 
blutung) zu Grunde ging. 

Die Section, welche drei Stunden p. m. ausgeführt werden konnte, ergab 
(zum Theil verscliorfte) Ulcerationen in Mund und Schlund und in der Speise¬ 
röhre; in der unteren Hälfte der letzteren, sowie dem ganzen Magen und Duo¬ 
denum bis zu dessen unterem Quertheil lag die Muscularis zu Tage; die Schleim¬ 
haut dagegen lag als zusammenhängendes, zum Theil zerfetztes nekrotisches Kohr 
frei im Magen. Nur an einer Stelle sass sie noch fest, da wo die Magen wand mit 
der Milz verwachsen und perforirt war. Im unteren Theil des Dünn- und des Dick¬ 
darms grosse Massen theerartigen Blutes. 

Mik roskopisch zeigen die abgestossenen Schlcimhauttheile eine Auffase¬ 
rung in farblose Lamellen, zwischen denen hier und da braunrotheHämatinschollen 
zu erkennen sind; Speiserohr und Magen dagegen bestehen nur aus der zum Theil 
verschonten, von Granulationen durchzogenen Muscularis und der Serosa. In den 
Nieren war eine woit vorgeschrittene Regeneration der Epithelien deutlich zu er¬ 
kennen. Auf dem linken Fussrücken, wo ein Theil der Säure aufgetropft war und 
eine tiefe Verätzung erzeugt hatte, war als Zeichen der Entstehung durch conccn- 
trirte Mineralsäure in zahlreichen Gefässen die in dem ersten Falle weitverbreitete 
Umwandlung des Blutes in Hämatin noch zu constatiren. 

In der Besprechung wird u. A. auf die Schwierigkeit der Unterscheidung 
zwischen vitaler und postmortaler Säureeinwirkung hingewiesen; sodann auf die 
Seltenheit einer so ausgedehnten nekrotischen Abstossung der zusammen¬ 
hängenden Schleimhaut des Magens und seiner Nachbarschaft, welche in 
diesem Umfange in der Literatur nirgends verzeichnet gefunden wurde; den 
Tod durch parenchymatöse Blutung aus der nackten Muscularis und schliesslich 
die bei beiden Fällen durch Zeichnung festgestellte ganz gleichmässige 
Verätzung an Mund und Kinn durch Herabfliessen der Säure beim Trinken. 

Den Schluss der Arbeit bilden statistische Zusammenstellungen 
über den Selbstmord in Württemberg für den Zeitraum von 1870—1894. 

Während die Selbstmordfälle von 1800 (1800/09 10,1 auf 100,000 Lebende) 
bis 1878 (21,9) zugenommen haben, ist von diesem Jahre an wieder eine Abnahme 
zu constatiren bis auf 15,9. 

Die Verhältnisse zwischen den einzelnen Todesarten sind im Grossen und 
Ganzen seit 1860 dieselben geblieben, doch ist allmälig auf Kosten der gebräuch- 


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Besprechungen, Referate, Notizen, amtliche Miltheilungen. 


liebsten Solhstmordformen (Erhängen GO C.°> pCt., Ertranken ca. 15, Erschiessen 
12—15 pCt. der Fälle) eine geringe Verschiebung zu Gunsten der Vergiftung und 
des Ueberfahrenlnssens eingetreten. 

Immerhin ist auch jetzt noch gegenüber anderen Ländern der Selbstmord 
durch Gift in Württemberg aussergewühnlich selten (früher 1,2 pCt., jetzt 
2,6 pCt.). Unter den verschiedenen Arten der Vergiftung steht weitaus obenan 
die Blausäure, sodann kommen die Mineralsäuren, der Phosphor, die Carboi- 
säure. Andere Gifte, wie Opiate, Arsen und auch die sonst so sehr verbreitete 
Vergiftung mit Kohlenoxydgas sind nur in wenigen Fällen benützt worden. 
Sublimat ist in Württemberg erst in 2 Fällen zum Selbstmord verwendet worden. 

A u torefera t. 


Berger, E igen Hl ü in 1 ich er Selbstmord durch Erd rossein. Zeitsehr. 
f. Med.-Beamte. 1 SO7. No. 5. 

Ein mit seinen Angehörigen häufig in Streit liegender Mann wird in seiner 
verschlossenen Kammer vor dem Bett auf dem Bauche liegend gefunden; um den 
Hals ist ein seidenes Tuch doppelt geschlungen und geknotet, die eine der beiden 
Sehlingen ist mittelst eines als Knebel verwendeten Handstockes mit eiserner 
Zwinge fest zusammengedreht. Die Seetion ergab zunächst eine harte Marke, 
welche etwas nach hinten zu anstieg. Verf. erklärt dies daraus, dass der Ver¬ 
storbene mit der rechten Hand drehend nach unten gezogen hat. Sodann fanden 
sich zwei als agonale gedeutete Verletzungen, eine in der Gegend des Jochbeins, 
hervorgerufen durch die Zwinge beim Niederstürzen, und eine zweite, ebenfalls 
beim Umfallen durch Aufschlagen auf eine Kommode entstandene über dem einen 
Auge. Puppe-Berlin. 


Sur l’assainissement de la fabrication des Mumettes — au nom d’unc 
Commissioir composec de MM. Theophile Boussel, Magi tot, Ch. Monod, 
Hanriot et Vallin, Importeur. Bull, de FAcademie de mcdecinc. (Seance du 
!). fevrier 1897.) 

Nachdem Frankreich im Jahre 188!) die Streichhülzer-Fabrication von Staats¬ 
wegen monopolisirt hat, macht sich in Anbetracht der gesteigerten Verantwort¬ 
lichkeit. des Staates das Bestreben geltend, die sanitären Verhältnisse in den Zünd¬ 
holzfabriken einer durchgreifenden Besserung zu unterziehen. Wennschon einzelne 
neuere Fabriken in dieser Hinsicht wenig zu wünschen übrig lassen, zeigen doch 
wieder andere eine erhebliche ErkrankungszilTer an Fällen von Phosphor-Nekrose. 
So hatten die Fabriken in Pautin und Aubervilliers auf 620 Arbeiter von 1888 bis 
Ls% nicht weniger als 47 derartige Erkrankungen. Die Schlussfolgerungen, welche 
die Commission ihrem sehr eingehenden, auch speziell die belgischen Verhältnisse 
berücksichtigenden Bericht anfügt, laufen auf folgende Punkte hinaus: Verbot des 
weissen Phosphors, Verwendung von geschlossenen Maschinen, ausgiebigste Ven¬ 
tilation, häufigerer Wechsel des Personals in den einzelnen Werkstätten, ärztliche 
Visitationen mit Ausschluss der ärztlicherseits für ungeeignet befundenen Arbeiter 
und peinliche Ueberwachung des Zustandes der Wasch- und Aufenthaltsräume. 


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Angesichts der in Deutschland bereits seit dem 8. Juli 1893 zu Recht bestehenden 
Bekanntmachung betr. Einrichtung und Betrieb von Anlagen zur Anfertigung von 
Zündhölzern unter Verwendung von weissem Phosphor haben die Darlegungen 
gewiss grosses Interesse. Interessant dürfte ferner die von Hob in gemachte, von 
Arnaud bestrittene Angabe sein, dass beim chronischen Phosphorismus die Menge 
der anorganischen Bestandtheilc des Urins steigen soll und dass man dieses Ver¬ 
halten in zweifelhaften Fällen auch diagnostisch verwerthen könne. 

Pup pe-Berlin. 


Hammer, Ueber Prostitution und venerische Erkrankungen in Stutt¬ 
gart und die praktische Bedeutung des Gonococcus. Arch. f. Denn, 
und Syphilis 1897. 

Verf. berichtet über seine Erfahrungen als Polizeiarzt und Vorstand der 
Prostituirtcnabtheilung des Katharinenhospitals in Stuttgart während einer zwei¬ 
jährigen Thätigkeit; die gewonnenen Resultate interessiren besonders, weil die 
Untersuchungsergebnisse consequent in jedem einzelnen Fall durch das Mikroskop 
controlirt wurden. Zunächst wird eine Beschreibung des angewandten Verfahrens 
gegeben, die des weiteren durch statistische Tabellen erläutert wird. Die mikro¬ 
skopische Untersuchung des Urethral- und Cervicalsecretes betrachtet Verf. bei 
derpolizeiärztlichenControle als conditio sine qua non; er legt hierbei nicht sowohl 
auf den Gonokokkennachweis Gewicht, als auf die Verhältnisse der übrigen mor¬ 
phologischen Bestandtheilc des Sccretes, wie Eiterzellen und Epithelzellen. Einige 
Angaben mögen das Gesagte kurz erläutern: 89,6 pCt. der bei Inscribirten er¬ 
hobenen Gonokokkenbefunde fanden sich bei vorwiegend Eiterzellen enthaltenden 
Secreien; ebenso 93,6 pCt. der bei weiblichen Inhaftirten erhobenen, während 
sich bei letzterer Kategorie nur bei 5,88 pCt. der Gonokokkenbefunde vorwiegend 
Epithelzellen fanden. Auf Grund ausgedehnter Untersuchungen gelangt Verf. zu 
der Ansicht, dass nur mehrmaliges vollständiges Verschwinden der Eiterzellen 
das einzig zuverlässige Kriterium für die Heilung der Urethralgonorrhoe bilde. 

Pup pe-Berlin. 


Witthauer, Leitfaden für Krankenpflegerinnen im Krankenhaus und 
in der Familie. Halle a. S. 1897. Marhold. 

J. Lazarus, Krankenpflege. Handbuch für Krankenpflegerinnen und Fami¬ 
lien. Berlin 1897. Springer. 

Die Hygiene kann nur damit einverstanden sein, wenn Bücher, wie die vor- 
bezeichneten, erscheinen und eine recht ausgedehnte Verbreitung erlangen; viel 
Gutes werden sie stiften und viel Schlimmes verhüten. Beide Bücher haben die 
gleiche Genesis: Sie sind hervorgegangen ans dem praktischen Unterricht von 
Pflegerinnen, der beiden Herren VerfT. obliegt. Beide haben sie auch die gleiche 
Disposition, die von Witthauer in Form von Vorlesungen, von Lazarus in 
breiter angelegten Abhandlungen ausgeführt wird: Zunächst wird der Bau des 
menschlichen Körpers besprochen, sodann die allgemeine und endlich die spociellc 
Krankenflcge. Ausführliche Register erleichtern in beiden Büchern sehr die Oricn- 
tirung. Puppe-Berlin. 


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Besprechungen, Referate, Notizen, amtliche Mittheilungen. 


Knauss, lieber Volksernährung. Heran sgegeben von dem Verein für das 
Wohl der arbeitenden Klassen in Stuttgart 1897. 

Verf. stellt für eine Volksschrift über Volksernährung die zu berücksichtigen¬ 
den Punkte zusammen. Er betont die Schwierigkeit des Gegenstandes der local 
so verschiedenen Verhältnisse wegen. Auch Stadt und Land unterscheiden sich. 
Während der Landarbeiter im ganzen schlechter sich nährt, namentlich weniger 
Fleisch im Verhältniss zu den Kartoffeln geniesst, als der Stadtarbeiter, lebt an¬ 
dererseits der Stadtarbeiter unter sonst schlechteren hygienischen Verhältnissen. 
Auch fehlen bei ihm Missstände in der Ernährung nicht. Solche sind der über¬ 
reiche Genuss flüssiger, alkoholischer, vermeintlich kräftigender Genussmittel, un¬ 
rationelle Auswahl der Nahrungsmittel und theure Bezahlung beim Einkauf im 
kleinen und bei den kleinsten Händlern, die mangelhafte Schulung der Frau im 
Kochen. Auch über Stoffwechsel müsste eine Volksschrift das Nöthige enthalten, 
namentlich aber über den Nährwerth der einzelnen Nahrungsmittel belehren, am 
besten Nährwerthsgeldberechnungen tabellarisch bringen, ferner Speisezettel in 
reichlicher Menge. Gegenüber besonderen Präparaten und ausländischen Produc- 
ten empfiehlt Verf. die geeignete Verwendung der heimischen nahrhaften Producte, 
der Milch und ihrer Producte, der Hiilscnfrüchle, Seefische, der billigen Theile 
der Schlachtt-hierA Unterweisung der Mädchen in Küche und Haushalt in Schulen 
dürfte nicht fehlen. R. Schulz-Berlin. 


Amtliche Mittheilungen. 

Erlass, betr. Anwendung des Lysols in der Hebammenpraxis, sämmtlichen 
Königl. Regierungs-Präsidenten zur Beachtung mitgetheilt. 

Auf den gefälligen Bericht vom 28. März d. J. übersende ich Ew. Hochwohl- 
geboren ergebenst Abschrift des unterm 21. April d. Js. von der Königlichen 
Wissenschaftlichen Deputation für das Mcdicinalwcsen erstatteten Gutachtens, 
dessen Ausführungen ich beitrete. 

Gutachten. 

Die Thatsache, dass die Haut mancher Hände Waschungen mit Karbolsäure 
nicht verträgt, ist nicht zubestreiten und ebenso ist es richtig, dass in solchen Fällen 
auch die desinficirende Kraft der Karbolsäure durch die Rauhigkeit der Hände be¬ 
einträchtigt wird. 

Es ist deshalb vom ärztlichen Standpunkte aus durchaus vernünftig, in sol¬ 
chen Fällen andere desinficirende Mittel zur Anwendung zu bringen, und, wenn 
dies auch im Hebammenlehrbuch nicht vorgesehen ist, so besteht doch kein Be¬ 
denken für die bezeichneten Fälle Ausnahmen zu gestatten. 

Von Desinfcctionsmitteln könnten hierbei wohl nur wenige in Frage kommen, 
nämlich folgende: 

1. Absoluter Alkohol, dessen desinficirende Kraft eine vollkommen genügende 
ist. Doch ist der denaturirtc Alkohol, wegen seines penetranten Geruchs nicht 
verwendbar für Zwecke der Desinfection und der reine Alkohol viel zu theuer, um 
Anwendung in der Hebammenpraxis finden zu können. 

2. Sublimat, kräftiger desinficirend als Karbolsäure, aber seiner ausserordent¬ 
lichen Giftigkeit wegen bedenklich. Zu vaginalen Ausspülungen dürfte derselbe 


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auch nicht zur Anwendung kommen. 1 >ie Hebammen wären dann genöthigt, zu 
diesem Zweck die Karbolsäure doch immer noch beizubehalten. 

3. Lysol, nicht ganz so energisch wie Karbolsäure desinficirend, aber doch 
genügend wirksam in 1 proc. Lösung, um an Stelle der Karbolsäure treten zu 
können, und viel weniger giftig als Karbolsäure. Das Lysol hat durch den Gehalt 
an Seife gerade für die Anwendung in der geburtshülllichen Praxis nicht unerheb¬ 
liche Vortheile und hat sich in verschiedenen Kliniken seit Jahren mit gutem Er¬ 
folge eingebürgert. 

Wir würden deshalb nicht beanstanden, wenn das Lysol als Ersatz für Kar¬ 
bolsäure den Hebammen gestattet würde und würden eine 1 proc. Lösung für ge¬ 
nügend halten. Doch miissto in jedem Einzelfalle die Hebamme darüber belehrt 
werden, wie sie sich die einprocentige Lösung herzustellen hat. 

Berlin, den 1. Mai 1897. 

Der Minister der geistlichen, Unterrichts- und Medicinal-Angelegenheiten. 

Im Aufträge: L ö w e n b e rg. 


Gesetz, betr. den Verkehr mit Butter, Käse, Schmalz und deren 

Ersatzmittel« 

WirWilhelm, von Gottes Gnaden Deutscher Kaiser, König von Preussen etc. 
verordnen im Namen des Reichs, nach erfolgter Zustimmung des Bundesraths und 
des Reichstags, was folgt: 

§ 1 . 

Dio Geschäftsräume und sonstigen Verkaufsstellen, einschliesslich der Markt¬ 
stände, in denen Margarine, Margarinekäse oder Kunstspeisefett gewerbsmässig 
verkauft oder feilgehalten wird, müssen an in die Augen fallender Stelle die deut¬ 
liche, nicht verwischbaro Inschrift „Verkauf von Margarine“, „Verkauf von Marga¬ 
rinekäse“, „Verkauf von Kunstspeisefett“ tragen. 

Margarine im Sinne dieses Gesetzes sind diejenigen, der Milchbutter oder 
dem Butterschmalz ähnlichen Zubereitungen, deren Fettgehalt nicht ausschliesslich 
der Milch entstammt. 

Margarinekäse im Sinne dieses Gesetzes sind diejenigen käseartigen Zuberei¬ 
tungen, deren Fettgehalt nicht ausschliesslich der Milch entstammt. 

Kunstspeisefett im Sinne dieses Gesetzes sind diejenigen, dem Schweine¬ 
schmalz ähnlichen Zubereitungen, deren Fettgehalt nicht ausschlich aus Schweine¬ 
fettbesteht. Ausgenommen sind unverfälschte Fette bestimmter Thier- oder Pilanzen- 
arten, welche unter den ihrem Ursprung entsprechenden Bezeichnungen in den 
Vorkehr gebracht werden. 

§ 2 . 

Die Gefässe and äusseren Umhüllungen, in welchen Margarine, Margarinc- 
käse oder Kunstspeisefett gewerbsmässig verkauft oder feilgehalten wir, müssen an 
in die Augen fallenden Stellen die deutliche, nicht verwischbare Inschrift „Mar¬ 
garine“, „Margerinekäse“, „Kunstspeisefett“ tragen. Die Gelasse müssen ausser¬ 
dem mit einem stets sichtbaren, bandförmigen Streifen von rother Farbe versehen 
sein, welcher bei Gelassen bis zu 35 Centimeter Höhe mindestens 2 Gentimenter, 
bei höheren Gelassen mindestens 5 Centimeter breit sein muss. 

Wird Margarine, Margarinekäse oder Kunstspeisefett in ganzen Gebinden 


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Besprechungen, Referate, Notizen, amtliche Mittheilungen, 


oder Kisten gewerbsmässig verkauft oder feilgehaltcn, so hat die Inschrift ausser¬ 
dem den Namen oder die Firma des Fabrikanten, sowie die von dem Fabrikanten 
zur Kennzeichnung der Beschaffenheit seiner Erzeugnisse angewendeten Zeichen 
(Fabrikmarke) zu enthalten. 

Im gewerbsmässigen Einzelverkaufe müssen Margarine, Margarinekäse und 
Kunstspeisefett an den Käufer in einer Umhüllung abgegeben werden, auf 
welcher die Inschrift „Margarine“, Margarinekäse“, „Kunstspeisefett“ mit dem 
Namen oder der Firma des Verkäufers angebracht ist. 

Wird Margarine oder Margarinekäse in regelmässig geformten Stücken ge¬ 
werbsmässig verkauft oder feilgehalten, so müssen dieselben von Würfelform sein, 
auch muss denselben die Inschrift „Margarine“, „Margarinefett“ eingepresst sein. 

§3. 

Die Vermischung von Butter oder Buttermilch mit Margarine oder anderen 
Speisefetten zum Zwecke des Handels mit diesen Mischungen ist verboten. 

Unter diese Bestimmung fällt auch die Verwendung von Milch oder Kahm 
bei der gewerbsmässigen Herstellung von Margarine, sofern mehr als 100 Gewichts- 
theilc Milch oder eine dementsprechende Menge Rahm auf 100 Gewichtstheile der 
nicht der Milch entstammenden Fette in Anwendung kommen. 

§ 4. 

In Räumen, woselbst Butter oder Butterschmalz gewerbsmässig hergestellt, 
aufbewahrt, verpackt oder feilgehalten wird, ist die Herstellung, Aufbewahrung, 
Verpackung oder das Feilhalten von Margarine oder Kunstspeisefett verboten. 
Ebenso ist in Räumen, woselbst Käse gewerbsmässig hergestellt, aufbewahrt, ver¬ 
packt oder feilgehalten wird, die Herstellung, Aufbewahrung, Verpackung oder 
das Feilhalten von Margarinekäse untersagt. 

In Orten, welche nach dem endgültigen Ergebnisse der letztmaligen Volks¬ 
zählung weniger als 5000 Einwohner hatten, findet die Bestimmung des vorstehen¬ 
den Absatzes auf den Kleinhandel und das Aufbewahren der für den Kleinhandel 
erforderlichen Bedarfsmengen in öffentlichen Verkaufsstätten, sowie auf das Ver¬ 
packen der daselbst im Kleinhandel zum Verkaufe gelangenden Waaren keine An¬ 
wendung. Jedoch müssen Margarine, Margarinekäse und Kunstspeisefett innerhalb 
der Verkaufsräume in besonderen Vorrathsgefässen und an besonderen Lagerstellen, 
welche von den zur Aufbewahrung von Butler, Butterschmalz und Käse dienenden 
Lagerstellen getrennt sind, aufbewahrt werden. 

Für Orte, deren Einwohnerzahl erst nach dem endgültigen Ergebniss einer 
späteren Volkszählung die angegebene Grenze überschreitet, wird der Zeitpunkt, 
von welchem ab die Vorschrift des zweiten Absatzes nicht mehr Anwendung findet, 
durch die nach Anordnung der Landes-Centralbehörde zuständigen Verwaltungs¬ 
stellen bestimmt. Mit Genehmigung der Landes-Centralbehörde können diese Ver¬ 
waltungsstellen bestimmen, dass die Vorschrift des zweiten Absatzes von einem 
bestimmten Zeitpunkt ab ausnahmsweise in einzelnen Orten mit weniger als 
5000 Einwohnern nicht Anwendung findet, sofern der unmittelbare räumliche Zu¬ 
sammenhang mit einer Ortschaft von mehr als 5000 Einwohnern ein Bedürfniss 
hierfür begründet. 

Die auf Grund des dritten Absatzes ergehenden Bestimmungen sind min¬ 
destens sechs Monate vor dem Eintritte des darin bezeichneten Zeitpunktes öffent¬ 
lich bekannt zu machen. 


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Besprechungen, Referate, Notizen, amtliche Mittheilungon. 


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§ ö. 

In öffentlichen Angeboten, sowie in Schlusssteinen, Rechnungen, Fracht¬ 
briefen, Konnossementen, Lagerscheinen, Ladescheinen uml sonstigen im Handels¬ 
verkehr üblichen Schriftstücken, welche sich auf die Lieferung von Margarine, 
Margarinekäse oderKimstspeisefettbezichen, müssen dio diesem Gesetz entsprechen¬ 
den Waarenbezeichnungen angewendet werden. 

§ 6 . 

Margarine oder Margarinekäse, welche zu Handelszwecken bestimmt sind, 
müssen einen die allgemeine Erkennbarkeit der Waare mittelst chemischer Unter¬ 
suchung erleichternden, Beschaffenheit und Farbe derselben nicht schädigenden Zusatz 
enthalten. 

Die näheren Bestimmungen hierüber werden vom Bundesrath erlassen und 
im Reichs-Gesetzblatte veröffentlicht. 

§7. 

Wer Margarine, Margarininekäse oder Kunstspeisefett gewerbsmässig her- 
steilen will, hat davon der nach den landesrechtlichen Bestimmungen zuständigen 
Behörde Anzeige zu erstatten, hierbei auch die für die Herstellung, Aufbewah¬ 
rung, Verpackung und Feilhaltung der Waaren dauernd bestimmten Räume zu 
bezeichnen und die etwa bestellten Betriebsleiter und Aufsichtspersonen namhaft 
zu machen. 

Für bereits bestehende Betriebe ist eine entsprechende Anzeige binnen zwei 
Monaten nach Inkrafttreten dieses Gesetzes zu erstatten. 

Veränderungen bezüglich der der Anzeigcpllicht unterliegenden Räume und 
Personen sind nach Maassgabe der Bestimmung des Absatzes 1 der zuständigen 
Behörde binnen drei Tagen anzuzeigen. 

§ 8 - 

Dio Beamten der Polizei und die von der Polizeibehörde beauftragten Sach¬ 
verständigen sind befugt, in dio Räume, in denen Butter, Margarine, Margarine¬ 
käse oder Kunstspeisefett gewerbsmässig hergestcllt wird, jederzeit, in die Räume, 
in denen Butter, Margarine, Margarinekäse oder Kunstspeisefett aufbewahrt, feil¬ 
gehalten oder verpackt wird, während der Geschäftszeit einzutreten und daselbst 
Revisionen vorzunehmen, auch nach ihrer Auswahl Proben zum Zwecke derUnter- 
suchung gegen Empfangsbescheinigung zu entnehmen. Auf Verlangen ist ein 
Theil der Probe amtlich verschlossen oder versiegelt zurückzulassen und für die 
entnommene Probe eine angemessene Entschädigung zu leisten. 

§9. 

Die Unternehmer von Betrieben, in denen Margarine, Margarinekäse oder 
Kunstspeisefett gewerbsmässig hergestellt wird, sowie die von ihnen bestellten Be¬ 
triebsleiter und Aufsichtspersonen sind verpflichtet, der Polizeibehörde oder deren 
Beauftragten auf Erfordern Auskunft über das Verfahren bei Herstellung der Er¬ 
zeugnisse, über den Umfang des Betriebs und über die zur Verarbeitung ge¬ 
langenden Rohstoffe, insbesondere auch über deren Menge und Herkunft zu er- 
theilen. 

§ 10 . 

Die Beauftragten der Polizeibehörde sind, vorbehaltlich der dienstlichen Be¬ 
richterstattung und der Anzeige von Gesetzwidrigkeiten, verpflichtet, über die 


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Besprechungen, Referate, Notizen, amtliche Mittheilungen. 


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Thaisachen und Einriehlungen, welche durch die Ueberwachung und Controle der 
Betriebe zu ihrer Kenntniss kommen, Verschwiegenheit zu beobachten und sich 
der Mittheilung und Nachahmung der von den Betriebsunternehmern geheim ge¬ 
haltenen, zu ihrer Kenntniss gelaunten Betriebseinrichtungen und Betriebsweisen, 
solange als diese Betriebsgeheimnisse sind, zu enthalten. 

Die Beauftragten der Polizeibehörde sind hierauf zu beoidigen. 

§ n. 

Der Bundesrath ist ermächtigt, das gewerbsmässige Verkaufen und Feil¬ 
halten von Butler, deren Fettgehalt nicht eine bestimmte Grenze erreicht oder 
deren Wasser- oder Salzgehalt eine bestimmte Grenze überschreitet, zu verbieten. 

§ 12 . 

Der Bundesrath ist ermächtigt: 

1. nähere, im Reichs-Gesetzblatte zu veröffentlichende Bestimmungen zur 
Ausführung der Vorschriften des § 5 zu erlassen, 

2. Grundsätze aufzustellen, nach welchen die zur Durchführung dieses Ge¬ 
setzes, sowie des Gesetzes vom 14. Mai 1879, betreffend den Verkehr 
mit Nahrungsmitteln, Genussmitteln und Gebrauchsgegenständen (lteichs- 
Gesetzbl. S. 145), erforderlichen Untersuchungen von Fetten und Käsen 
vorzunehmen sind. 

§ 13. 

Die Vorschriften dieses Gesetzes finden auf solche Erzeugnisse der im § 1 
bczeichneten Art, welche zum Genüsse für Menschen nicht bestimmt sind, keine 
Anwendung. 

§ 14 . 

Mit Gefängniss bis zu sechs Monaten und mit Geldstrafe bis zu eintausend¬ 
fünfhundert Mark oder mit einer dieser Strafen wird bestraft: 

1. wer zum Zwecke der Täuschung im Handel und Verkehr eine der nach 
§ 3 unzulässigen Mischungen herstellt; 

2. wer in Ausübung eines Gewerbes wissentlich solche Mischungen verkauft, 
feilhält oder sonst in Verkehr bringt; 

3. wer Margarine oder Margarinekäse ohne den nach § 6 erforderlichen Zu¬ 
satz vorsätzlich herstellt oder wissentlich verkauft, feilhält oder sonst in 
Verkehr bringt. 

Im Wiederholungsfälle tritt Gefängnisstrafe bis zu sechs Monaten ein, neben 
welcher auf Geldstrafe bis zu cintausendfünfhundert Mark erkannt werden kann; 
diese Bestimmung findet nicht Anwendung, wenn seit dem Zeitpunkt, in welchem 
die für die frühere Zuwiderhandlung erkannte Strafe verbüsst oder erlassen ist, 
drei Jahre verflossen sind. 

§ 15. 

Mit Geldstrafe bis zu eintausendfünfhundert Mark oder mit Gefängniss bis 
zu drei Monaten wird betraft, wer als Beauftragter der Polizeibehörde unbefugt 
Betriebsgeheimnisse, welche kraft seines Auftrages zu seiner Kenntniss gekommen 
sind, offenbart, oder geheimgehaltene Betriebseinrichtungen oder Betriebsweisen, 
von denen er kraft seines Auftrages Kenntniss erlangt hat, nachahmt, so lange 
dieselben noch Betriebsgeheimnisse sind. 

Die Verfolgung tritt nur auf Antrag des Betriebsunternehmers ein. 


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Besprechungen, Referate, Notizen, amtliche Miltheilungen. 


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§ IG- 

Mit Geldstrafe von fünfzig bis zu einhundertfiinfzig Mark oder mit Haft wird 
bestraft: 

1. wer den Vorschriften des § 8 zuwider den Eintritt in die Räume, die 
Entnahme einer Probe odor die Revision verweigert; 

2. wer die in Gemässheit des § 9 von ihm erforderte Auskunft nicht ertheilt 
oder bei der Auskunftcrtheilung wissentlich unwahre Angaben macht. 

§ 17 - 

Mit Geldstrafe bis zu einhundertfünfzig Mark oder mit llaft bis zu vier 
Wochen wird bestraft: 

1. wer den Vorschriften des § 7 zuwiderhandelt; 

2. wer bei der nach § 9 von ihm erforderten Auskunftsortheilung aus Fahr¬ 
lässigkeit unwahre Angaben macht. 

§ 18 - 

Ausser den Fällen der §§ 14 bis 17 werden Zuwiderhandlungen gegen die 
Vorschriften dieses Gesetzes, sowie gegen die in Gemässheit der §§11 und 12, 
Ziffer 1, ergehenden Bestimmungen des Bundesraths mit Geldstrafe bis zu ein- 
hundertfünfzig Mark oder mit Haft bestraft. 

Im Wiederholungsfall ist auf Geldstrafe bis zu sechshundert Mark, oder auf 
Haft oder auf Gefängniss bis zu drei Monaten zu erkennen. Diese Bestimmung 
findet keine Anwendung, wenn seit dem Zeitpunkt, in welchem die für die frühere 
Zuwiderhandlung erkannte Strafe verbüsst oder erlassen ist, drei Jahre verflossen sind. 

§19. 

In den Fällen der §§ 14 und 18 kann neben der Strafe auf Einziehung der 
verbotswidrig hergestellten, verkauften, feilgehaltenen oder sonst in Verkehr ge¬ 
brachten Gegenstände erkannt werden, ohne Unterschied, ob sie dem Verurteilten 
gehören oder nicht. 

Ist die Verfolgung oder Verurteilung einer bestimmten Person nicht aus¬ 
führbar, so kann auf die Einziehung selbständig erkannt werden. 

§ 2 °. 

Die Vorschriften des Gesetzes, betreffend den Verkehr mit Nahrungsmitteln, 
Genussmitteln und Verbrauchsgegenständen, vom 14. Mai 1879 (Reichs-Gesetzbl. 
S. 145) bleiben unberührt. Die Vorschriften in den §§ 16, 17 desselben finden 
auch bei Zuwiderhandlungen gegen die Vorschriften des gegenwärtigen Gesetzes 
mit der Massgabo Anwendung, dass in den Fällen des § 14 die öffentliche Be¬ 
kanntmachung der Verurteilung angeordnet werden muss. 

§ 21 . 

Die Bestimmungen des § 4 treten mit dem 1. April 1898 in Kraft. 

Im Uebrigen tritt dieses Gesetz am 1. October 1897 in Kraft. Mit diesem 
Zeitpunkte tritt das Gesetz, betreffend den Verkehr mit Ersatzmitteln für Butter, 
vom 12. Juli 1887 (Reichs-Gesetzbl. S. 375) ausser Kraft. 

Urkundlich unterUnsererllöchsteigenhändigenUnterschrift undbeigedrucktom 
Kaiserlichen Insiegel. 

Gegeben Neues Palais, den 15. Juni 1897. 

(L. S.) Wilhelm. 

von Bötticher. 


Yierteljahrssclir. f. gcr. Med. Dritte Felge. XIV. 2. 28 


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Besprechungen, Referate, Notizen, amtliche Mittheilungen. 


Bekanntmachung, betr. Bestimmungen zur Ausführung des Gesetzes über 
den Verkehr mit Butter, Käse, Schmalz und deren Ersatzmitteln, 

Zur Ausführung der Vorschriften in § 2 und § 6, Absatz 1 des Gesetzes, be- 
trolTend den Verhehl* mit Butter, Käse, Schmalz und deren Ersatzmitteln, vom 
15. Juni 1897 (R.-G.-ßL S. 475) hat der Bundesrath in Gemässheit des § 12 
No. 1 und § 6 Absatz 2 dieses Gesetzes die nachstehenden Bestimmungen be¬ 
schlossen : 

1. Um die Erkennbarkeit von Margarine und Margarinekäse, welche zu 
Ilandelszwecken bestimmt sind, zu erleichtern (§ fi des Gesetzes, betreffend den 
Verkehr mit Butter, Käse, Schmalz und deren Ersatzmitteln, vom 15. Juni 1897), 
ist den bei der Fabrikation zur Verwendung kommenden Fetten und Oelen Sesamöl 
zuzusetzen. In 100 Gewichtstheilen der angewandten Fette und Oele muss die 
Zusatzmenge bei Margarine mindestens 10 Gewichtstheile, bei Margarinekäse min¬ 
destens 5 Gewichtstheile Sesamöl betragen. 

Der Zusatz des Sesamöls hat bei dem Vermischen der Fette vor der weiteren 
Fabrikation zu erfolgen. 

2. Das nach No. 1 zuzusetzende Sesamöl muss folgende Reaction zeigen: 

Wird ein Gemisch von 0,5 Kaumtheilen Sesamöl und 99,5 Kaumtheilen Baum- 

wollsamenöl oder Erdnussöl mit 100 Kaumtheilen rauchender Salzsäure vom spe- 
ciiischen Gewicht 1,19 und einigen Tropfen einer 2procentigen alkoholischen 
Lösung von Furfurol geschüttelt, so muss die unter der Oelschicht sich absetzende 
Salzsäure eine deutliche Rothfärbung annehmen. 

Das zu dieser Reaction dienende Furfurol muss farblos sein. 

3. Für die vorgeschriebene Bezeichnung der Gefässe und äusseren Um¬ 
hüllungen. in welchen Margarine, Margarinekäse oder Kunstspeisefett gewerbs¬ 
mässig verkauft oder feilgehalten wird (§ 2 Absatz 1 des Gesetzes), sind die an¬ 
liegenden Muster mit der Massgabe zum Vorbilde zu nehmen, dass die Länge der 
die Inschrift umgebenden Einrahmung nicht mehr als das Siebenfache der Höhe, 
sowie nicht weniger als 30 cm und nicht mehr als 50 cm betragen darf. Bei 
runden oder länglich-runden Gefässen, deren Deckel einen grössten Durchmesser 
von weniger als 35 cm hat, darf die Länge der die Inschrift umgebenden Ein¬ 
rahmung bis auf 15 cm ermässigt werden. 

4. Der bandförmige Streifen von rother Farbe in einer Breite von mindestens 
2 cm bei Gelassen bis zu 35 cm Höhe und in einer Breite von mindestens 5 cm 
bei Gefässen von grösserer Höhe (§ 2 Absatz 1 des Gesetzes) ist parallel zur 
unteren Randfläche und mindestens 3 cm von dem oberen Rande entfernt anzu¬ 
bringen. Der Streifen muss sich oberhalb der unter No. 3 bezeichneten Inschrift 
befinden und ohne Unterbrechung um das ganze Gelass gezogen sein. Derselbe 
darf die Inschrift und deren Umrahmung nicht berühren und auf den das Gefäss 
umgebenden Reifen oder Leisten nicht angebracht sein. 

5. Der Name oder die Firma des Fabrikanten, sowie die Fabrikmarke (§ 2 
Absatz 2 des Gesetzes) sind unmittelbar über, unter oder neben der in No. 3 be- 
zeichncten Inschrift anzubringen, ohne dass sie den in No. 4 erwähnten rothen 
Streifen berühren. 

6. Die Anbringung der Inschriften lind der Fabrikmarke (No. 3 und 5) er¬ 
folgt durch Einbrennen oder Aufmalen. Werden die Inschriften aufgemalt, so sind 
sie auf weissem oder hellgelbem Untergründe mit schwarzer Farbe herzustellen. 


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Besprechungen, Referate, Notizen, amtliche Mittheilungen. 425 

Die Anbringung des rothen Streifens (No. 4) geschieht durch Aufmalen. Bis zum 
]. Januar 1898 ist es gestattet, die Inschrift „Margarinekäse“, „Kunstspeisefett“, 
die Fabrikmarke und den rothen Streifen auch mittelst Aufklebens von Zetteln 
oder Bändern anzubringen. 

7. Die Inschriften und die Fabrikmarke (No. 3 und 5) sind auf den Seiten¬ 
wänden des Gefässes an mindestens zwei sich gegenüberliegenden Stellen, falls 
das Gefäss einen Deckel hat, auch auf der oberen Seite des letzteren, bei Fässern 
auch auf beiden Böden anzubringen. 

8. Für die Bezeichnung der würfelförmigen Stücke (§ 2 Absatz 4 des Ge¬ 
setzes) sind ebenfalls die anliegenden Muster zum Vorbilde zu nehmen. Es findet 
jedoch eine Beschränkung hinsichtlich der Grösse (Länge und Höhe) der Einrah¬ 
mung nicht statt. Auch darf das Wort „Margarine“ in zwei, das Wort „Margarine¬ 
käse“ in drei unter einander zu setzende, durch Bindestriche zu verbindende Theile 
getrennt werden. 

9. Auf die beim Einzelverkaufe von Margarine, Margarinekäse und Kunst¬ 
speisefett verwendeten Umhüllungen (§ 2 Absatz 3 des Gosetzes) findet die Be¬ 
stimmung unter No. 3 Satz 1 mit der Massgabe Anwendung, dass die Länge der 
die Inschrift umgebenden Einrahmung nicht weniger als 15 cm betragen darf. 
Der Name oder die Firma des Verkäufers ist unmittelbar über, oder neben der 
Inschrift anzubringen. 

Berlin, den 4. Juli 1897. 

Der Stellvertreter des Reichskanzlers. 

Graf von Posadowsky. 


MARGARINE 



Gesetz, betreffend die Tagegelder and Reisekosten der Staatsbeamten. 

Wir Wilhelm, von Gottes Gnaden König von Preussen u. s. w. verordnen, 
mit Zustimmung des Landtages der Monarchie, was folgt: 

Artikel L 

Die §§ 1 und 4 dos Gesetzes vom 24. März 1873 (Gesetz-Samml. S. 122), be¬ 
treffend die Tagegelder und Reisekosten der Staatsbeamten, bezw. der Artikel 1. 
§ 1 und § 4 dos Gesetzes vom 28. Juni 1875 (Gesetz-Samml. S. 370), betreffend 
eine Abänderung des gedachten Gesetzes vom 24. März 1873, sowie der Artikel 1. 
§ 1 und § 4 der Verordnung vom 15. April 1876 (Gesetz-Samml. S. 107), betref- 

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426 Besprechungen, Referate, Notizen, amtliche Mittheilungen. 


fend die Tagegelder und Reisekosten der Staatsbeamten, werden wie folgt abge 
ändert: 


§i- 

Die Staatsbeamten erhalten bei Dienstreisen Tagegelder nach den fol¬ 
genden Sätzen: 

I. Active Staatsminister.35 Mark, 

II. Beamte der ersten Rangklasse.28 „ 

III. Beamte der zweiten und dritten Rangklasso.22 r 

IV. Beamte der vierten und fünften Rangklasso.15 „ 

V. Beamte, welche nicht zu obigen Klassen gehören, soweit sie 

bisher zu dem Tagegeldersatze von 9 Mark berechtigt waren 12 „ 

VI. Subalternbeamte der Provinzial-, Kreis- und Lokalbehörden 

und andere Beamte gleichen Ranges.8 „ 

VII. Andere Beamte, welche nicht zu den Unterbeamten zu zählon 

sind.6 „ 

VIII. Unterbeamte.4 „ 

Erstreckt sich eine Dienstreise auf zwei Tage und wird sie innerhalb 
24 Stunden beendet, so ist nur das Ein- und einhalbfache der Sätze unter I bis 
VIII zu liquidiren. 

Wird die Dienstreise an ein und demselben Tage angetreten und beendet, 
so tritt eine Ermässigung der Tagegelder bei I auf 27 Mark, bei II auf 21 Mark, 
bei III auf 17 Mark, bei IV auf 12 Mark, bei V auf 9 Mark, bei VI auf 6 Mark, 
bei VII auf 4,50 Mark und bei VIII auf 3 Mark ein. 

§ 4 . 

An Reisekosten, einschliesslich der Kosten der Gepäckbeförderung er¬ 


halten : 

I. bei Dienstreisen, welche auf Eisenbahnen oder Dampfschiffen gemacht 
werden können: 

1. die im § 1 unter I bis IV bezeichneten Beamten für das Kilometer 
9 Pfennig und für jeden Zu- und Abgang 3 Mark. 

Hat einer dieser Beamten einen Diener auf die Reise mitgenom¬ 
men, so kann er für denselben 5 Pfennig für das Kilometer bean¬ 
spruchen ; 

2. die im § 1 unter V und VI genannten Beamten für das Kilometer 
7 Pfennig und für jeden Zu- und Abgang 2 Mark; 

3. die im § 1 unter VII und VIII genannten Beamten für das Kilometer 
5 Pfennig und für jeden Zu- und Abgang 1 Mark. 

II. bei Dienstreisen, welche nicht auf Eisenbahnen, Kleinbahnen oder Dampf¬ 
schiffen zurückgelegt werden können: 

1. die im § 1 unter I bis IV genannten Beamten ... 60 Pfennig, 

2. die im § 1 unter V und VI genannten Beamten 40 „ 

3. die im § 1 unter VII und VIII genannten Beamten . 30 „ 

für das Kilometer. 

III. Die Bestimmung darüber, unter welchen Umständen von den Beamten 
bei ihren Dienstreisen Kleinbahnen zu benutzen, und welche Reisekosten¬ 
vergütungen in solchen Fällen zu gewähren sind, erfolgt durch das Staats¬ 
ministerium, 


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Besprechungen, Referate, Notizen, amtliche Mittheilungen. 


427 


Haben erweislich höhere Reisekosten als die unter I bis III festgesetzten 
aufgewendet werden müssen, so werden diese erstattet. 

Artikel II. 

Soweit Beamte nach Massgabe der für das betreffende Ressort bestehenden 
Bestimmungen Dienstreisen mit unentgeltlich gestellten Verkehrsmitteln ausführen, 
haben dieselben an Reisekosten nur die bestimmungsmässigen Entschädigungen 
für Zu- und Abgang zu beanspruchen. 

Artikel III. 

Für Beamte, welche durch die Art ihrer Dienstgeschäfte zu häufigen Dienst¬ 
reisen innerhalb bestimmter Amtsbezirke oder zu regelmässig wiederkehrenden 
Dienstreisen zwischen bestimmten Orten genöthigt werden, können an Stolle der 
nach den §§ 1 und 4 des Gesetzes vom 24. März 1873 beziehungsweise Artikel I 
dieses Gesetzes zu berechnenden Vergütungen nach Bestimmung des Verwaltungs¬ 
chefs und des Finanzministers Bauschvergütnngen festgesetzt werden. 

Artikel IV. 

Für die Ansprüche der Beamten auf Grund der gesetzlichen Bestimmungen 
über die Reisekosten und Tagegelder der Staatsbeamten sind die Ansführungsvor¬ 
schriften massgebend, die vom Staatsministerium oder, soweit gesetzlich die Zu¬ 
ständigkeit der Verwaltungschefs beziehungsweise des Finanzministers begründet 
ist, von diesen getroffen werden. 

Artikel V. 

Die Bestimmungen im § 12 des Gesetzes vom 24. März 1873 in der.Fassung 
der Verordnung vom 15. April 1876 (Gesetz-Samml. S. 107) finden auf die vor 
Erlass des gegenwärtigen Gesetzes ergangenen gesetzlichen oder sonstigen Vor¬ 
schriften, welche für einzelne Dienstzweige oder Dienstgeschäfte bezüglich der 
den Beamten aus der Staatskasse zu gewährenden Tagegelder und Reisekosten er¬ 
gangen sind, mit der Massgabe Anwendung, dass die im Artikel I des gegen¬ 
wärtigen Gesetzes bestimmten Sätze nicht überschritten worden dürfen. 

Die Bestimmungen im Artikel 1 §§ No. I und II des gegenwärtigen Gesetzes 
finden jedoch auf diejenigen Beamten, welche unter den § 2 des Gesetzes be¬ 
treffend die den Medicinalbeamten für die Besorgung gerichtsärztlicher, mcdicinal- 
oder sanitätspolizeilicher Geschäfte zu gewährenden Vergütungen, vom 9. März 1872 
(Gesetz-Samml. S. 265) fallen, so lange keine Anwendung, als die Besoldungs¬ 
verhältnisse derselben nicht anderweitig geregelt sein werden. 

Artikel VI. 

Dieses Gesetz tritt mit dem 1. October 1897 in Kraft. 

Urkundlich unter Unserer Höchsteigenhändigen Unterschrift und beigedruck¬ 
tem Königlichen Insiegel. 

Gegeben Helgoland, den 21. Juni 1897. 

(L. S.) Wilhelm. 

Fürst zu Hohenlohe, v. Boetticher. v. Miquel. Thielen. Bosse. 
Frhr. v. Hammerstein. Schönstedt. Frhr.v.d.Recke. Brefeld. v.Gosslor. 


Erlass an di e Koni gl. Regierangs-Präsidenten betr. das Neue Tuberkulin Koch. 

Ew. Hochwohlgeboren theile ich ergebenst mit, dass das von dem Geheimen 
Medicinalrath Professor Dr. Koch erfundene neue Heilmittel gegen die Tubercu- 


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Besprechungen, Referate, Notizen, amtliche Mittheilungen. 


lose (T. R.), welches von den Farbwerken Meister Lucius und Brüning zu Höchst 
a. M. unter der Bezeichnung „Neues Tuberculin Koch“ in den Handel gebracht 
wird, ebenso wie das alte Tuberculinum Kochii — abgesehen vom Grosshandel — 
nur in Apotheken abgegeben werden darf. 

Hinsichtlich der Aufbewahrung und Abgabe der Mittel in den Apotheken 
trelfe ich nachstehende Anordnungen: 

1. Das „neue Tuberculin Koch“ ist unter den Separanden vor Licht ge¬ 
schützt aufzubewahren. 

2. Dasselbe ist nur in den unversehrten Originalflaschen und.nur gegen 
schriftliche Anweisung eines approbirten Arztes an diesen selbst oder eine von 
ihm beauftragte Person abzugeben. 

3. Der Taxpreis des „neuen Tuberculins Koch“ wird hiermit (einschliess¬ 
lich der Verpackungskosten) für das Fläschchen mit 1 ccm Inhalt auf 8,50, für 
das mit 5 ccm Inhalt auf 42,50 Mk. festgesetzt. 

Ew. Hochwohlgeboren ersuche ich ergebenst, die vorstehenden Aenderungen 
den Apotheken des dortigen Bezirks in geeigneter Weise bekannt zu geben und 
auch Bestimmung darüber zu trelfen, dass bei den Apothekenrevisionen die Be¬ 
folgung derselben controlirt wird. 

Berlin, den 30. Juni 1897. 

Der Minister der geistlichen, Unterrichts- und Medicinal-Angelegenheiten. 

Bosse. 


Allerhöchster Erlass, betreffend die Ausübung der gesundheitspolizeilichen 
Aufsicht Uber die Provinzial-Anstalten und die Schulaufsicht über die 
Provinzial-Zwangserziehungsanstalten. 

Auf den Bericht vom 7. d. M. will Ich hierdurch genehmigen, dass die Aus¬ 
übung der gesundheitspolizeilichen Aufsicht über die Provinzial-Anstalten und die 
Schulaufsicht über die Provinzial-Zwangserziehungsanstalten dom Geschäftskreise 
der Ober Präsidenten überwiesen werde. 

Urville, den 12. Mai 1897. 

Wilhelm. 

Bosse. Frhr. v. d. Recke. 


Bekanntmachung, betreffend die Einrichtung und den Betrieb der Buch- 
druckereien und Schriftgiessereien. 

Auf Grund des § 120c der Gewerbeordnung hat der Bundesrath folgende 
Vorschriften über die Einrichtung und den Betrieb der Buchdruckereien und 
Schriftgiessereien erlassen: 

1. Auf Räume, in welchen Personen mit dem Setzen von Lettern oder mit 
der Herstellung von Lettern oder Stereotypplatten beschäftigt werden, finden fol¬ 
gende Vorschriften Anwendung: 

1. Der Fussboden der Arbeitsräume darf nicht tiefer als einen halben Meter 
unter dem ihn umgebenden Erdboden liegen. Ausnahmen dürfen durch die 
höhere Verwaltungsbehörde zugelassen werden, wenn durch zweckmässige Isoli- 
rung des Bodens und ausreichende Licht- und Luftzufuhr den gesundheitlichen 
Anforderungen entsprochen ist. 


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Besprechungen, Referate, Notizen, amtliche Mittheilungen. 429 

Unter dem Dache liegende Räume dürfen als Arbeitsräume nur dann be¬ 
nutzt werden, wenn das Dach mit gerohrter und verputzter Verschalung ver¬ 
sehen ist. 

2. In Arbeitsräumen, in welchen die Herstellung von Lettern und Stereotyp¬ 
platten erfolgt, muss die Zahl der darin beschäftigten Personen so bemessen sein, 
dass auf jede mindestens fünfzehn Kubikmeter Luftraum entfallen. In Räumen, 
in welchen Personen nur mit anderen Arbeiten beschäftigt werden, müssen auf 
jede Person mindestens zwölf Kubikmeter Luftraum entfallen. 

In Fällen vorübergehenden ausserordentlichen Bedarfs kann die höhere Ver¬ 
waltungsbehörde auf Antrag des Unternehmers eine dichtere Belegung der Arbeits¬ 
räume für höchstens dreissig Tage im Jahre insoweit gestatten, dass mindestens 
zehn Kubikmeter Luftraum auf die Person entfallen. 

3. Die Räume müssen, wenn auf eine Person wenigstens fünfzehn Kubik¬ 
meter Luftraum kommen, mindestens 2,60 Meter, andernfalls mindestens 3 Meter 
hoch sein. 

Die Räume müssen mit Fenstern versehen sein, welche nach Zahl und Grösse 
genügen, um für alle Arbeitsstellen ausreichendes Licht zu gewähren. Die Fenster 
müssen so eingerichtet sein, dass sie zum Zwecke der Lüftung ausreichend ge¬ 
öffnet werden können. 

Arbeitsräume mit schräg laufender Decke dürfen im Durchschnitte keino ge¬ 
ringere als die im Absatz 1 bezeichneto Höhe haben. 

4. Die Räume müssen mit einem dichten und festen Fussboden versehen sein, 
der eine leichte Beseitigung des Staubes auf feuchtem Wege gestattet. Hölzerne 
Fussboden müssen glatt gehobelt und gegen das Eindringen der Nässe ge¬ 
schützt sein. 

Die Wände und Decken müssen, so weit sie nicht mit einer glatten ab¬ 
waschbaren Bekleidung oder mit einem Oelfarbenanstrich versehen sind, min¬ 
destens einmal jährlich mit Kalk frisch angestrichen werden. Die Bekleidung und 
der Oelfarbenanstrich müssen jährlich einmal abgewaschen und der Oelfarbenan¬ 
strich, wenn er lackirt ist, mindestens alle zehn Jahre, wenn er nicht lackirt ist, 
alle fünf Jahre erneuert werden. 

Die Setzerpulte und die Regale für die Letternkasten müssen entweder rings¬ 
herum dichtschliessend auf dem Fussboden aufsitzen, so dass sich unter denselben 
kein Staub ansammeln kann, oder mit so hohen Füssen versehen sein, dass die 
Reinigung des Fussbodcns auch unter den Pulten und Schriftregalen leicht aus¬ 
geführt werden kann. 

5. Die Arbeitsräume sind täglich mindestens einmal gründlich zu lüften. 
Ferner ist dafür Sorge zu tragen, dass in ihnen ein ausreichender Luftwechsel 
während der Arbeitszeit stattfindet. 

6. Die Schmelzkessel für das Lettern- und Stereotypenmetall sind mit gut 
ziehenden, ins Freie oder in einen Schornstein mündenden Abzugsvorrichtungen 
(Fangtrichtern) für entstehende Dämpfe zu überdecken. 

Das Legiren des Metalls und das Ausschmelzen der sogenannten Krätze darf 
nur in besonderen Arbeitsräumen, in anderen nur nach Entfernung der mit diesen 
Verrichtungen nicht beschäftigten Arbeiter erfolgen. 

7. Die Räume und Einrichtungen, insbesondere auch Wände, Gesimse, Re¬ 
gale sind zweimal im Jahre gründlich zu reinigen. 


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Besprechungen, Referate, Notizen, amtliche Mitteilungen. 


DieFussböden sind täglich mindestens einmal durch Abwaschen oder feuchtes 
Abreiben vom Staube zu reinigen. 

8. Die Letternkasten sind, bevor sie in Gebrauch genommen werden und so¬ 
lange sie in Benutzung stehen, nach Bedarf, mindestens aber zweimal im Jahre 
zu reinigen. 

Das Ausblasen der Kasten darf nur mittelst eines Blasebalges im Freien statt- 
linden und jugendlichen Arbeitern nicht übertragen werden. 

9. In den Arbeitsräumen sind mit Wasser gefüllte und täglich zu reinigende 
Spuc-knäpfe, und zwar mindestens einer für je fünf Personen, aufzustellen. 

Das Ausspucken auf den Fussboden ist von den Arbeitgebern zu unter¬ 
sagen. 

10. Für die Setzer sowie die Giesser, Polirer und Schleifer sind in den Ar¬ 
beitsräumen oder in deren unmittelbarer Nähe in zweckentsprechenden Räumen 
ausreichende Wascheinrichtungen anzubringen und mit Seife auszustatten; für 
jeden Arbeiter ist mindestens wöchentlich ein reines Handtuch zu liefern. 

Soweit nicht genügende Wascheinrichtungen mit fliessendem Wasser vor¬ 
handen sind, muss für höchstens je fünf Arbeiter eine Waschgelegenheit einge¬ 
richtet werden. Es muss ferner dafür gesorgt werden, dass bei der Wascheinrich- 
tung stets reines Wasser in ausreichender Menge vorhanden ist und dass das ge¬ 
brauchte Wasser an Ort und Stelle ausgegossen werden kann. 

Die Arbeitgeber haben mit Strenge darauf zu halten, dass die Arbeiter jedes¬ 
mal, bevor sie Nahrungsmittel innerhalb des Betriebs zu sich nehmen oder den Be¬ 
trieb verlassen, von der vorhandenen Waschgelegenheit Gebrauch machen. 

11. Kleidungsstücke, welche während der Arbeitszeit abgelegt werden, sind 
ausserhalb der Arbeitsräume aufzubewahren. Innerhalb der Arbeitsräume ist die 
Aufbewahrung nur gestattet, wenn dieselbe in verschliessbaren oder mit einem 
dicht schlicssenden Vorhänge versehenen, gegen das Eindringen von Staub ge¬ 
schützten Schränken erfolgt. Die letzteren müssen während der Arbeitszeit ge¬ 
schlossen sein. 

12. Alle mit erheblicher Wärmeentwickelung verbundenen Beleuchtungsein- 
richtungen sind derart anzuordnen oder mit solchen Schutz Vorkehrungen zu ver¬ 
sehen, dass eine belästigende Wärmeausstrahlung nach den Arbeitsstellen ver¬ 
mieden wird. 

13. Der Arbeitgeber hat, um die Durchführung der unter Ziffer 8, 9 Absatz 2, 
10 Absatz 3 und 11 getroffenen Bestimmungen zu regeln und sicherzustellen, für 
die Arbeiter verbindliche Vorschriften zu erlassen. 

Werden in einem Betrieb in der Regel mindestens zwanzig Arbeiter beschäf¬ 
tigt, so sind diese Vorschriften in die nach § 134a der Gewerbeordnung zu er¬ 
lassende Arbeitsordnung aufzunehmen. 

II. In jedem Arbeitsraum ist ein von der Ortspolizeibehörde zur Bestätigung 
der Richtigkeit seines Inhalts auterzeichneter Aushang anzubringen, aus dem er¬ 
sichtlich ist: 

a) die Länge, Breite und Höhe des Raumes, 

b) der Inhalt des Luftraums in Kubikmeter, 

c) die Zahl der Arbeiter, die demnach in dem Arbeitsraume beschäftigt 
werden darf. 


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Besprechungen, Referate, Notizen, amtliche Mittheilungen. 


431 


In jedem Arbeitsraume muss ferner an einer in die Au^en fallenden Stolle 
eine Tafel anshängen, die in deutlicher Schrift die Bestimmungen unter I 
wiedergiebt. 

III. Für die bei dem Erlasse dieser Bekanntmachung bereits im Betriebe stehen¬ 
den Anlagen können während der ersten zehn Jahre nach Erlass dieser Bekannt¬ 
machung auf Antrag des Unternehmers Abweichungen von den Vorschriften unter 
I Ziffer 2 und 3 durch die höhere Verwaltungsbehörde zugelassen werden. Jedoch 
darf für die Arbeitsräume eine geringere als die unter 1 Ziffer 3 bezeiehnete Höhe 
nur dann zugelassen werden, wenn jedem Arbeiter in (Jiessereieri ein Luftraum von 
mindestens fünfzehn Cubikmeter, in Setzereien von mindestens zwölf Oubikmeter 
gewährt wird. Ein geringerer als der unter 1 Ziffer 2 bezeiehnete Luftraum darf 
in Giessereien nur bis zur Grenze von je zwölf Cubikmeter, in Setzereien nur bis 
zur Grenze von je zehn Cubikmeter und nur unter der Bedingung zugelassen 
werden, dass durch künstliche Ventilation für regelmässige Lufterneuerung aus¬ 
reichend gesorgt und die künstliche Beleuchtung so eingerichtet ist, dass weder 
strahlende Wärme noch die Arbeiter belästigende Verhrennungsprnducte in die 
Arbeitsräume gelangen. 

IV. Die vorstehenden Bestimmungen treten für neu zu errichtende Anlagen 
sofort in Kraft. 

Für Anlagen, die zur Zeit des Erlasses dieser Bestimmungen bereits im Be¬ 
triebe sind, treten die Vorschriften unter I Ziffer 5 Satz 1 sowie Ziffer 7 bis 9 
sofort, die übrigen Vorschriften mit Ablauf eines Jahres nach dem Tage ihrer Ver¬ 
kündigung in Kraft. 

Berlin, den 31. Juli 1897. 

Der Stellvertreter des Reichskanzlers. 

Graf von Posadowsky. 


eil ruckt Ihm L. .Schumacher in Herl in. 


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V iertelj ahrsschrift 

für 

gerichtliche Medicin 

und 

öffentliches Sanitätswesen. 


Unter Mitwirkung der Königl. wissenschaftlichen Deputation 
für das Medicinalwesen im Ministerium der geistlichen, 
Unterrichts- und Medicinal-An&elegenheiten 

o o 

herausgegeben 

von 

Dr. A. L. Sclunidtmann, und Dr. Fritz Strassinann, 

fleh. Med.-und vortr. Rath im Königl. Preussischen a. o. Professor, gerichtl. Stadtphysikus und 

Ministerium der geistlichen. Unterrichts- und Director der Königl. Unterrichts-Anstalt für 
Medicinal-Angelegenheiten. Stautsar/neikunde zu Berlin. 


Dritte Folge. XIV. Band. Supplement-Heft. 

Jahrgang 1897. Supplement. 


BERLIN, 1897. 

VERLAG VON AUGUST HIRSCHWALD. 

NW. UNTER DEN LINDEN 68. 

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Inhalt. 


Seite 

Nachruf an E. v. Hofmann. I 

I. Gerichtliche Mediciu .1—116 

1. Zur gerichtsärztlichen Beurtheilung der Darmverletzungen. Von Dr. 

A. Wegener in Clausthal i. H. 1 

2. Die Verletzungen des Zwerchfells vom gerichtsärztlichen Standpunkte. 

Von Kreisphysikus Dr. L. Israel in MedenauT(Ostpreussen) ... 47 

6. Die gerichtsärztliche Beurtheilung der Lungenverletzungen. Von Stabs¬ 
arzt a. D. Dr. Altmann in Strassburg i. E.71 

4. Ueber Zungenverlotzungen in gerichtlich-medicinischer Beziehung. Von 
Dr. Fritz Colley in Insterburg.107 

II. Oeffentliches Sanitätswesen .117—210 

1. Gutachten der technischen Deputation für das Veterinärwesen und der 

wissenschaftlichen Deputation für das Medicinalwosen, betreffend die 
Verwerthung des Fleisches finniger Rinder.117 

2. Die Ueberwachung des Fleischhandels auf dem Lande und in kleinen 

Städten und die dazu erforderlichen Einrichtungen und Anordnungen 
vom sanitätspolizeilichen Standpunkte. Von Dr. Möhlfeld in St. Hülfe 
(Hannover).143 

Nachtrag zu den Gutachten betreffend die Verwerthung’des Fleisches fin¬ 
niger Rinder. 210 


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Eduard v. Hofmann *j\ 


Wiederum müssen wir mit einer Trauerkunde beginnen. 
Unserer Zeitschrift ist einer ihrer hervorragendsten, einer 
ihrer treuesten Mitarbeiter entrissen worden. Eduard 
v. Hofmann ist am 27. August d. J. zu Igls (Tyrol) 
nach schweren Leiden gestorben. Sein Hinscheiden be¬ 
deutet für die gerichtliche Medicin einen unersetzlichen 
Verlust. 

Es sind jetzt gerade drei Jahre vergangen, seit wir 
den Tag feierten, an dem der Entschlafene 25 Jahre zuvor 
ordentlicher Professor der gerichtlichen Medicin geworden 
war. Damals hat unsere Vierteljahrsschrift ihm eine Samm¬ 
lung von Arbeiten seiner Schüler als Festgabe darge¬ 
bracht. In ihr hat Hofmann’s langjähriger Mitarbeiter, 
A. Haberda, ein treues Bild von dem Leben und Wirken 
seines Lehrers entworfen, das heute nur weniger Striche 
zur Ergänzung bedarf. 

Trotz der mit peinigender Athemnoth verbundenen 
Krankheit, die ihn in seinen letzten Lebensjahren quälte, 
ist Hofmann auch in diesen rastlos thätig gewesen. Zahl¬ 
reiche werthvolle, unseren Lesern bekannt gewordene Ar¬ 
beiten aus seinem Institut, auf seine Anregung und mit 
seiner Förderung entstanden, sind dafür vollgültiges Zeug- 
niss. Seine vorzügliche Besprechung der gerichtlich-medi- 
cinischen Litteratur für Virchow’s Jahresbericht hat er bis 


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zuletzt fortgeführt, die 8. Auflage seines meisterhaften Lehrbuches 
kurz vor seinem Tode vollendet; an dem Tage, an dem das Leben 
des grossen Forschers endete, erschien sein letztes Werk, sein „Atlas 
der gerichtlichen Medioin“, würdig allein, den Ruhm eines Gelehrten 
zu begründen. 

So schaffend, hat Eduard v. Hofmann bis zu seinem Tode den 
Platz des Führers und Meisters auf dem Gebiete der gerichtlichen 
Medicin behauptet, den ihm seit Jahren die allgemeine Anerkennung 
der Fachgenossen unbestritten zugesprochen hatte. Als wir uns vor 
Monatsfrist zu Moskau versammelten, da empfanden wir Alle es als 
erste Pflicht, dem durch schwere Krankheit Ferngehaltenen den Wunsch 
baldiger Genesung auszusprechen. Anders, als wir cs gehofft hatten, 
ist er erfüllt worden; eine Woche später lebte der Mann nicht mehr, 
den zu uns rechnen zu dürfen unser Aller Stolz war und an seinem 
Grabe trauernd empfinden wir wieder einmal die Wahrheit des 
Dichterwortes: 

Von Allem, was Dein Herz bedroht 
Ist eins unheilbar nur, der Tod. 

Berlin, im September 1897. 

Fritz Strassmann. 


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I. Gerichtliche Medicin. 


1 . 


Zur gcriclitsärztlichen ßeurtlieilung der 
Darmverletzungen. 

Von 

Dr. A. Wegener in Clausthal i. II. 


Nach dem bekannten oft wiederholten Ausspruch Charles Bcll’s: 
„Nach einer Schlacht steht die Zahl der am Unterleibe Verwundeten 
in demselben Verhältnisse, welches die Fläche des Unterleibes 
zu den übrigen Theilen des Körpers hat; wenige Tage nachher 
findet man jedoch keinen oder nur wenige dieser Verwundeten“, 
sind die Wunden am Unterleibe die tödtlichsten von allen, und 
das hat seinen Grund darin, dass meistens die darin befindlichen 
Organe, deren Integrität und Functionsfähigkeit für das Leben 
unerlässliche Bedingung ist, zugleich mit verletzt werden. Unter 
253142 Verwundungen fand Nussbaum 8590 Unterlcibswunden, 
wovon 3717 penetrirende Bauchwunden waren. Von diesen 3717 
Verletzten starben 3031, also 87 pCt. Unter den Bauchorganen 
ist es wiederum der Darm, der besonders häufig Verletzungen er¬ 
leidet, was bei seiner Länge von 7—8 m nicht wunderbar erscheinen 
kann. Edler 1 ) fand unter 1072 Eingeweideschussverlctzungen 653 mal 
Darmverletzungen, was einen Procentsatz von 60,9 ausmacht. Wenn 
auch diese Zahlen der Kriegsstatistik entstammen, so geben sie doch 
ein Bild für die Häufigkeit und Gefährlichkeit der Unterleibs- spccicll 
der Darm Verletzungen und interessiren nicht nur den Chirurgen, 
sondern dienen auch dem Gerichtsarzt bei der Bcurtheilung ähnlicher 


1) Edler, v. Langenbcck’s Archiv f. klin. Chir. XXXIV. 1887. 

VierieljahrsBchr. f. ger. Med. Dritte Folge. XIV. Suppl.-Heft. j 


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2 


Dr. Wegcner, 


Verletzungen als Anhaltspunkt. Vom Standpunkte des letzteren aus 
wollen wir in der vorliegenden Abhandlung die Darraverletzungen 
betrachten. 

Nach Casper-Liman ist Verletzung in forensischem Sinne zu 
definiren als: jede durch äussere Veranlassung bewirkte Veränderung 
im Bau oder in der Verrichtung eines Körpertheiles. Wenn wir be¬ 
denken, dass diese äussere Veranlassung nicht nur von aussen zu 
kommen braucht, sondern auch im Innern des Darmes vorhanden 
sein kann (Fremdkörper etc.), so können die Verletzungen von so 
mannigfacher Art sein, dass wir Mühe haben, dieselben unter be¬ 
stimmten Gesichtspunkten zu vereinigen. Wir wollen Gussenbauer 1 ) 
folgen und zunächst die Verletzungen des Darmes eintheilen in patho¬ 
logische und traumatische. Die traumatischen zerfallen wieder in 
solche, die ihren Weg durch die beiden natürlichen Körperöffnungen 
— per os et anum — nehmen, und in solche, die den Darm von 
den äusseren Körperbedeckungen aus treffen, sei es mit Bewahrung 
des äusseren Zusammenhangs (subcutane Verletzungen), sei es mit 
vollständiger Durchbohrung derselben (penetrirende Verletzungen). 
Zum Schluss werden wir die Verletzungen in Folge ärztlicher Kunst¬ 
fehler betrachten. 

Was nun zunächst die pathologischen Verletzungen betrifft, so 
müssen wir sagen, dass diese Bezeichnung allerdings wenig glücklich 
gewählt ist, allein es soll dadurch ausgedrückt werden, dass dieselben 
ohne eine Gewalteinwirkung von aussen lediglich durch pathologische 
Processe verursacht werden. Es handelt sich um die sogenannten 
spontanen Darmrupturen, w r elche besonders durch übermässige An¬ 
sammlung von Koth und Gasen entstehen. Unter normalen Verhält¬ 
nissen kann nach Zicnassen 2 ) die Ausdehnung des Darms durch 
Koth und Gase nie den Grad erreichen, dass er platzt, weil bei 
stärkerer Ansammlung zugleich auf den Darm einen Reiz ausgeübt 
wird, welcher eine Verstärkung der Peristaltik und ein Fortschieben 
von Gasen und Fäcalmassen zur Folge hat. Ist dagegen die Con- 
traction der Darmmusculatur aus irgend einem Grunde behindert, sei 
es durch eine Parese der Darmmusculatur oder durch eine Stenose 
des Darmlumens, w r elche ein für die Leistungen der Muskelcontraction 
unüberwindliches Hinderniss abgeben, so muss schliesslich eine Ruptur 


1) Gussenbauer, Traumatische Verletzungen. Stuttgart 1880. 

2) Ziemsson, Pathologie und Therapie. Vll. 2. Leipzig 1878. 


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Zur geriohtsärztlichen Beurtheilung der Darmverletzungen. 


3 


des Darmes eintreten. Solche Fälle kommen vor bei Carcinom, Ge¬ 
schwülsten, Invaginationen, schrumpfenden Geschwürsnarben, Axen- 
drehungen und inneren Einklemmungen. Am häufigsten und leichtesten 
treten derartige Spontanrupturen in Folge Platzens von Geschwüren 
ein. Im Duodenum sind es nach Orth die runden Verdauungsge¬ 
schwüre, welche hauptsächlich die Wand perforiren, im Jejuno-Ileum 
typhöse, im Colon tuberculöse und diphtherische, im Processus vermi¬ 
formis tuberculöse und besonders Fremdkörpergeschwüre, im Mast¬ 
darm tuberculöse, diphtherische und syphilitische. Zuweilen sind diese 
Rupturen auch hervorgerufen durch Arrosion des Darmes von aussen, 
durch benachbarte Eiterungen, namentlich in der Umgebung des Dick¬ 
darms und des Rectum, durch Leber-, Milz- und Niercnabscesse, 
durch Geschwüre der Gallenblase oder des Choledochus, durch Aneu¬ 
rysmen, welche in den Darm perforiren. Bei der Obduction findet 
man, wenn die Perforation von innen ausgegangen ist, gewöhnlich 
die inneren Häute des Darmes in grösserer Ausdehnung zerstört, 
während bei Perforationen von aussen das entgegengesetzte Verhältniss 
besteht.; bei jenen ist oft nur ein kleines Loch in der Serosa, bei 
diesen in der Mucosa. 

Dem Platzen des Darmes folgt der Austritt von Kotli in die 
Bauchhöhle und eine septische Peritonitis mit mehr oder weniger 
schnellem tödtlichen Ausgange. Solche plötzlichen Erkrankungen und 
unerwartet schnellen Todesfälle vorher womöglich ganz gesund er¬ 
scheinender Menschen werden natürlich leicht den Verdacht eines 
nicht natürlichen Todes, vielleicht einer Vergiftung erregen, und cs 
wird dann an den Gerichtsarzt die Aufgabe herantreten, die Todes¬ 
ursache zu ermitteln. Maschka 1 ) theilt 3 hierher gehörende Fälle 
mit, in denen durch den Gerichtsarzt festgestellt werden musste, dass 
die Betreffenden eines natürlichen Todes in Folge eines Krankheits¬ 
zustandes gestorben waren. 

Im 1. Falle handelte es sich um eine 23jährige Apothekers¬ 
tochter, die ein Jahr vorher eine Bauchfellentzündung überstanden 
hatte. Sie besuchte Abends noch den Circus, klagte dann über Un¬ 
wohlsein, erbrach in der Nacht und starb gegen Morgen. Es trat 
der Verdacht einer Vergiftung auf, die Obduction ergab jedoch eine 
Perforation des Wurmfortsatzes. Fall 2 betrifft einen 34jährigen 
ledigen vorher vollkommen gesunden Mann, der nach einem vorziig- 


1) Maschka, Eulenberg’s Viertcljahrsschr. XL1II. 


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1 * 

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4 


Dr. Wegen er, 


lielion Souper in der Nacht von Unwohlsein und Erbrechen befallen 
wurde und gegen Morgen starb. Da einige Werthgegenstände fehlten, 
so lenkte sich auf die Haushälterin der Verdacht, ihn aus Habsucht 
vergiftet zu haben. Die Obduction ergab ebenfalls eine Perforation 
des Wurmfortsatzes. Im 3. Falle erkrankte eine 45jährige Frau an 
Erbrechen und Unterleibsschmerzen und starb nach 10 Stunden. Der 
Mann kam in den Verdacht, ihren Tod verschuldet zu haben, die 
Obduction ergab jedoch eine Perforation des Darmes, welche dadurch 
entstanden war, dass oberhalb einer narbig verengten Stelle eine Ge¬ 
schwürsbildung aufgetreten mar, welche endlich in Folge der Er¬ 
weiterung des Darmrohrcs oberhalb der Stenose und in Folge des 
Druckes der Darmcontenta znm Durchbruch führte. Maschka fügt 
selbst hinzu: Dieser Fall beweist, wie derartige Fälle auch in straf¬ 
rechtlicher Beziehung eine Bedeutung haben können. 

Selbst beim Mastdarm kommen Spontanzerreissungen vor, welche 
lediglich durch gewaltsames Hervordrängen harter Kothmassen aus 
dem After entstehen. Ashton 1 ) beschreibt mehrere derartige Ver¬ 
letzungen, wo auf diese Weise nicht nur Einrisse in den Anus ent¬ 
standen, sondern auch bedeutende transversale Einrisse in das Rectum 
oberhalb des Sphincter internus. In einigen Fällen, wo die Darm¬ 
wand schon vorher krankhaft verändert war, genügte sogar gewöhn¬ 
liches Drängen beim Stuhlgang, ferner das Heben einer Last, ja selbst 
ohne jede nachweisbare Veranlassung ist es schon zur Zerreissung des 
Rectum und zum Vorfall von Dünndarmschlingen aus dem After ge¬ 
kommen (Esmarch, cit. bei Mantzel). 

Diese spontanen Darmrupturen werden im allgemeinen nicht gar 
häufig zur Beurtheilung des Gerichtsarztes kommen, höchstens, wenn 
cs sich darum handelt fremde Schuld auszuschliessen; ein weit grösseres 
Feld dagegen bietet sich für seine Thätigkeit bei der Beurtheilung der 
traumatischen Verletzungen. In weitaus den meisten Fällen werden 
solche Verletzungen den Darm von den äusseren Körperdecken aus 
treffen, es kann jedoch auch vom Inneren des Darmes aus ein schäd¬ 
liches Agens nach aussen hinwirken. Selbstverständlich muss dieses 
schädliche Agens erst in den Darm hineingebracht werden, und das 
ist auf natürlichem Wege nur möglich durch die beiden natürlichen 
Körperöffnungen Mund und After. Durch den Mund gelangen die ver¬ 
schiedenartigsten Fremdkörper in den Darm hinein und bewirken da- 


1) citirt bei Mantzel in dieser Vierteljahrsschr. V. 


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Zur gerichtsärztlichen Beurtheilung der Darmverletzungen. 5 

selbst Verletzungen. Chemische Substanzen, wie ätzende Alkalien 
und Säuren, verletzen mehr die Speiseröhre und den Magen als den 
Darm, alle anderen fremden Körper, welche zufällig oder aus Frevel 
verschluckt werden, gelangen, wenn sie nicht schon im Halse, der 
Speiseröhre und dem Magen stecken bleiben, oder wenn sie nicht 
wieder erbrochen werden, mit grosser Leichtigkeit in den Darm, den 
sie, ohne Schaden anzurichten, mit dem Koth wieder verlassen können, 
in dem sie sich jedoch auch, namentlich wenn sie spitze und scharfe 
Kanten haben, festsetzen und zur Perforation mit nachfolgender Peri¬ 
tonitis führen können. Obstkerne, Knochensplitter, Fischgräten, falsche 
Zähne, Ringe, Glasperlen, Steine, Holzstücke, Löffel, Messer, Gabeln, 
Münzen, Nägel, Schrauben etc. sind schon verschluckt worden. Zu¬ 
fall, dummer Spass, Furcht vor Entdeckung gestohlener Sachen, Irr¬ 
sinn und Selbstmordversuche werden meist als Ursache angeführt 
(Nussbaum). 

John Cummings verschluckte in betrunkenem Zustande 4 Matrosen¬ 
messer, wovon in den nächsten Tagen drei durch den Stuhl ohne Be¬ 
schwerden abgingen, das vierte aber nie gefunden wurde und auch 
keine Beschwerden machte. Ein Geisteskranker verschluckte 4 Glas¬ 
perlen von 6—7 cm Länge, ein Stück eines porzellanenen Weih¬ 
wasserkessels, ein hölzernes Nadelbüchsohen, einen Schlüssel von 11 cm 
Länge und 4 cm Breite. Alles ging gefahrlos durch den Stuhl ab 
(Nussbaum). 1 ) 

Je grösser, eckiger und spitzer ein solcher Fremdkörper ist, um 
so leichter wird er im Darm stecken bleiben können. Die geeignet¬ 
sten Orte dafür sind die Umbiegungsstelle des Duodenum, die Blind¬ 
darmklappe, der Wurmfortsatz, die Umbiegungsstelle des Dickdarras 
und die 3 Sphincteren. Sehr dünne und spitze Gegenstände können, 
ohne Abscesse zu erzeugen, durch die Darmwandungen hindurch¬ 
wandern und an den Bauchdecken, Schenkelbeugen, Hüften etc. wieder 
zum Vorschein kommen, andere verursachen umfangreiche Geschwüre 
und Abscesse, perforiren den Darm und erzeugen letale Peritonitis. 
Oftmals haben Nadeln, Degenspitzen, Ahlen, Scheeren den Tod ge¬ 
bracht, ohne dass man im Leben den Verdacht auf einen fremden 
Körper hatte. Ein Geisteskranker hatte peritonitische Symptome, und 
bei der Section fand man in allen Theilen des Darmes Geschwüre, 
die Schleimhaut des Coecum ganz zerstört und im Sacke des Coecum 


1) Nussbaum, Die Verletzungen des Unterleibes. Stuttgart 1880. 


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6 


Dr. Wegcncr, 


einen Esslöffel (Nussbäum). Je plötzlicher der Tod erfolgt, um so 
eher wird der Verdacht eines nicht natürlichen Todes auftreten, und 
dem Gerichtsarzt bleibt es überlassen die wirkliche Todesursache 
festzustellen. 

Die andere natürliche Körperöffnung, durch welche Verletzungen 
den Darm direct treffen können, ist der After und zwar ist es selbst¬ 
verständlich der Mastdarm, der auf diesem Wege, sei es auf che¬ 
mische, sei es auf mechanische Weise, verletzt wird. Durch ätzende 
Flüssigkeiten, die Klystieren zugesetzt waren, sind Läsionen der Mast¬ 
darmschleimhaut vorgekommen. Nach Orth findet man in solchen 
Fällen die Faltenhöhen des Mastdarms entweder mit Substanzver¬ 
lusten versehen oder mit einer grauen verschorft erscheinenden 
Schleimhaut bedeckt, die Umgebung stark geröthet und geschwollen. 
Die Begrenzung einer derartigen Affection auf eine kleine Strecke, 
das Freisein der übrigen Theile des Darmes von solchen den dysen¬ 
terischen sehr ähnlichen Veränderungen, müssen stets den Verdacht 
einer chemischen Ursache erregen. 

Schuchardt 1 ) stellt fünf Fälle von beabsichtigter und zufälliger 
Schwefelsäurevergiftung per Clysma zusammen. In einem dieser Fälle 
starb der Kranke unter den heftigsten Schmerzen nach wenigen Stun¬ 
den, in den übrigen trat Genesung ein, ob mit oder ohne Stricturen, 
davon wird nichts berichtet. Heinicke 2 ) (1. c., Ueber Rectalstric- 
turen) berichtet über einen Fall, wo nach einem Klystier von zu 
heissem Wasser eine Mastdarmverletzung mit nachfolgender Strictur 
cintrat. Lim an 3 ) erörtert ausführlich die Vergiftung einer an Dysen¬ 
terie leidenden Frau durch ein 3 V 3 pCt. Carbolsäure enthaltendes 
Klystier. 

Häufiger als diese chemische Verletzung des Mastdarras ist beim 
Verabreichen von Klystieren die mechanische infolge ungeschickter 
oder roher Handhabung der Klystierspritze. Einfache Schleimhaut- 
vcrlctzungen bis zur völligen Perforation des Mastdarms finden wir 
in der Literatur verzeichnet. Je nach der Schwere der Verletzung ist 
auch der Ausgang. Blosse Schleirahautverletzungen werden meistens 
in Heilung übergehen, wenn auch die Entwicklung einer paraproctalen 
Phlegmone nicht ausgeschlossen ist, während Perforationen Pcri- und 


1) Schuchardt, Vergiftungen, in Masehka’s Handbuch. II. Bd. S. G7. 

2) citirt bei Mant/.el in dieser Vierteljahrsschr. Bd. V. 

3) I. c. Bd. II. S. 582. 


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Zur gerichtsärztlichen Beurtheilung der Darmvcrletzungen. 


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Paraproetitis verursachen können, welche durch Sepsis und Pyäraie 
zum Tode führen oder sich mit tödtlicher Peritonitis combiniren 
können. In anderen Fällen entwickeln sich Stricturen oder Fisteln, 
die zu langem Siechthum führen können. Für die Diagnose solcher 
klysmatischen Mastdarm Verletzungen kommt namentlich der Sitz der 
Affection und die Entfernung vom Anus in Betracht. Im Uebrigen 
sind die Kennzeichen zu wenig charakteristisch, um aus dem objec- 
tiven Befund den klysmatischen Ursprung zu beweisen, und dürfte 
wohl in den meisten Fällen erst die Anamnese unzweifelhafte Sicher¬ 
heit gewähren (Mantzel). A. Nordmann 1 ) veröffentlicht 25 derar¬ 
tige Fälle aus der Baseler pathologischen Anstalt, unter denen mit 
Sicherheit nur in 2 Fällen der Tod als Folge der Verletzung anzu¬ 
sehen ist. Velpeau sah von 8 Fällen von Perforation des Mastdarms 
6 tödtlich endigen, während in einem Falle eine bedeutende Functions¬ 
störung für das ganze Leben zurückblieb. Chomel beobachtete zwei 
Todesfälle, den einen 7 Tage, den anderen 4 Tage nach der Perfo¬ 
ration. Eine umfangreiche Zusammenstellung derartiger Verletzungen 
finden wir in A. Wernich’s Vierteljahrsschrift für gerichtliche Medicin 
von A. Mantzel (Die Verletzungen des Mastdarms). 

Als Nachbar der Geschlechtsorgane ist der Mastdarm ferner bei 
sexuellen Acten häufig Verletzungen ausgesetzt, sei es, dass der Penis 
sich irrthümlicher Weise in den Anus verirrt oder absichtlich in den 
Mastdarra eingeführt wird. Vulvo-Rectal- und Recto-Vaginalfistcln, 
welche nach dem ersten Coitus aufgetreten sind und durch welche 
der Ehemann oft Jahre lang den Beischlaf ausgeführt hat, gehören 
nicht zu den Seltenheiten. In solchen Fällen wird der Beischlaf in 
natürlicher Lage vollzogen, denn nur so vermag der erigirte Penis die 
Recto-Vaginalwand zu durchstossen, während beim päderastischen Acte 
der in den Mastdarm geführte Penis nur in die Kreuzbeinhöhle, nicht 
aber in die Vagina gelangen kann (Mantzel). Als Zeichen der habi¬ 
tuellen passiven Päderastie dienen dem Gerichtsarzt eine auffällige 
Erweiterung und Erschlaffung der Mastdarmöffnung, welche wie ein 
leeres Loch erscheint und die Einführung des Daumens ohne Weiteres 
gestattet. Dabei darf der Gerichtsarzt aber nicht vergessen, dass ein 
Offenstehen des Afters eine ganz gewöhnliche und häufige Leichen¬ 
erscheinung ist. Die Erschlaffung kann zur vollständigen Lähmung 
des Schliessrauskels, verbunden mit Kothincontinenz führen, ja es 


1) A. Nord mann, Ueber klysmatische Läsionen des Mastdarms. 


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Dr. Wegen er, 


kann sogar zum Mastdarmvorfall kommen. Bei 211 m ersten Male aus- 
geübtem gewaltsamen päderastischen Acte, namentlich bei widernatür¬ 
licher Nothzucht an Kindern, wo zwischen den beschädigten Theilen 
und dem Penis des Thäters ein grosses Missverhältniss existirt, kommt 
cs zu umfangreichen Verletzungen. Für den Gerichtsarzt haben solche 
Verletzungen zunächst diagnostische Bedeutung, insofern sie Spuren 
von strafbaren Handlungen darstellen, und sodann kommen für ihn 
hauptsächlich die Folgen in Betracht, die sie für Leben und Gesund¬ 
heit des Beschädigten nach sich ziehen. 

Reimann 1 ) erzählt von einem 9jährigen Mädchen, das ein russi¬ 
scher Priester päderastisch genothzüchtigt und dabei den Anus an 
mehreren Stellen eingerissen hatte. 

Lim an (1. c. Bd. I. S. 189) constatirte bei dem gcmissbrauchten 
5 Jahre alten Knaben Handtke ausser drei kleineren Verletzungen 
einen grossen klaffenden den ganzen Schliessmuskel durchtrennenden 
Riss. 

Auch bei Ausübung päderastischer Onanie kommt es bisweilen 
zu Verletzungen des Mastdarms, namentlich wenn grössere Fremd¬ 
körper als Werkzeuge dazu benutzt werden. J. Collins Warren 
(cit. bei Mantzel) berichtet über einen Vagabunden, der, um seine 
Geschlechtslust zu befriedigen, eine 10 Zoll lange kegelförmige Ein- 
machcflasche im Rectum rhythmisch hin und her zu bewegen pflegte, 
bis sie ihm eines Tages entglitt und hoch in den Mastdarm hinauf¬ 
rutschte, von wo sie nur nach Durchschneidung des Sphincter heraus¬ 
befördert werden konnte. Nelaton (cit. bei Mantzel) erzählt von 
einem Manne, dem bei einer Orgie ein grosses Bicrglas in den Mast¬ 
darm geschoben wurde, welches bei den Extractionsversuchen zerbrach 
und den Mastdarm so zerriss, dass der Verletzte nach 8 Tagen an 
Phlegmone des Beckenbindegewebes zu Grunde ging. Major 2 ) erzählt 
von einem lüjährigen jungen Mädchen, welches den Tod von 4 kleinen 
Kindern verursachte, dadurch, dass sic behufs unnatürlicher Wollust- 
befriedigung im Mastdarm derselben mit dem Finger herumbohrtc und 
die Darm Wandungen perforirte. 

Sehr schwere Verletzungen sind die sogenannten Pfählungsver¬ 
letzungen, welche zu Stande kommen, wenn ein Mensch aus der Höhe 
auf spitze Pfähle oder Stäbe fällt, die den Mastdarm perforiren und 


1) Diese Yicrteljahrssclir. Bd. 22. S. 58. 

2) Kricdreicli’s Blätter f. ger. Med. 38. Jahrg. S. 457. 


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Zur gerichtsärztlichen Beurtheilung der Darmverlctzungen. 


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den Unglücklichen vollständig aufspiessen. Diese Art der Verletzung, 
die in Afrika noch zu Hinrichtungen benutzt werden soll, hat für den 
Gerichtsarzt nur Interesse, wenn eine verbrecherische Absicht zu 
Grunde liegt. So berichtet Stromeyer, dass einem alten Päderasten 
von zwei jungen Leuten ein grosser Holzpflock in den Mastdarm ge¬ 
keilt wurde und v. Hofmann erzählt, dass dem Liebhaber einer 
Bäuerin von dem eifersüchtigen Gatten mit Hülfe eines Steines ein 
Holzpflock in den After getrieben wurde. König Eduard II. von 
England wurde bekanntlich 1327 in ähnlicher Weise ermordet, indem 
ihm ein glühendes Eisen in den Mastdarm geschoben wurde. 

Als Curiosa führe ich noch zwei kaum glaubliche Fälle an, wo 
durch die in den Mastdarm eingeführte Ruthe eines Thieres Ver¬ 
letzungen verursacht wurden. Im 1. Falle, den Tardieu erzählt 
(cit. bei Mantzel), warf ein 2jähriger Stier einen Bauer, der im 
Stalle seine Nothdurft verrichtete, so zu Boden, dass er in eine der 
Knie-Ellenbogenlage ähnliche Stellung kam und bohrte ihm seine 
Ruthe tief in den Anus hinein, so dass das Rectum perforirt wurde 
und der Verletzte nach 8 Stunden starb. Im 2. Falle, den Brou- 
ardel berichtet, wurde einem 18jährigen Diener, der sich gewohn- 
heitsraässig von einem Jagdhunde per anum bearbeiten liess, als er 
während eines solchen Actes gerufen wurde, beim Versuche, sich 
schnell von dem Thiere loszumachen, durch die geschwollene Eichel 
des Hundepenis der Sphincter ani zerrissen. Bei der gerichtsärzt¬ 
lichen Beurtheilung kommt es in allen diesen Fällen von Mastdarm¬ 
verletzungen besonders darauf an, inwieweit das Leben des Verletzten 
gefährdet ist, und welche Folgen für die Gesundheit desselben dadurch 
erwachsen. Narbige Verengerungen, Stricturen, ganz abgesehen davon, 
dass dadurch eine Disposition zur Geschwürsbildung und Perforation 
geschaffen wird, sowie KothincontineDz mit allen ihren Nachthcilcn, 
werden stets als Siechthum aufgefasst werden müssen. 

Die Verletzungen des Darms durch die natürlichen Körperöffnun¬ 
gen hindurch gehören zwar nicht zu den Seltenheiten, allein ihr Vor¬ 
kommen ist doch nicht eben häufig und kommt kaum in Betracht 
gegenüber denjenigen Verletzungen, welche den Darm erst treffen, 
nachdem die äusseren ihn umgebenden Körperbedeckungen zunächst 
in Mitleidenschaft gezogen sind. Die Gewalt, die im Stande ist eine 
Verletzung des Darmes zu erzeugen, kann von hinten oder von den 
Seiten oder von vorne auf die Körperoberfläche wirken, meistens wird 
sie es jedoch von vorne, von den Bauchdecken aus thun und zwar 


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Dr. Wegener, 


in der Weise, dass sie entweder die Bauchdecken intact lässt (subcu- 
tane Verletzungen) oder sie perforirt (penetrirende Verletzungen). Die 
subcutanen Verletzungen des Darmes sind also solche, bei denen die 
Bauchwandungen ganz intact oder höchstens mit blauen Flecken und 
Sugillationen versehen sind, während der hinter ihnen liegende Darm 
in so hohem Grade verletzt sein kann, dass der Tod sofort oder 
nach kurzer Zeit eintritt. Selbstverständlich werden diese Fälle, wo 
am Aeussem eines Menschen gar keine Verletzungen nachzuw r eisen 
sind, und die tödtliche Verletzung im Innern vermuthet werden muss, 
besonders häufig zur Beurtheilung der Gerichtsärzte gelangen. Der¬ 
artige Verletzungen des Darmes treten ein nach Contusionen der 
Bauchwandungen, durch Stoss, Fall auf den Bauch, Hufschlag, Ueber- 
fahrenwerden, Verschüttungen, Quetschungen zwischen 2 Puffer, auch 
durch indirecte Gewalten, durch starke Erschütterungen des Leibes, 
infolge von Sturz aus beträchtlicher Höhe, Fall aufs Becken, auf die 
Kniee etc. Der Darm kann dabei in verschieden hohem Grade ver¬ 
letzt sein. Zunächst kann durch eine Contusion nur ein mechanischer 
Reiz auf ihn ausgeübt werden, welcher eine ungeordnete Muskelthä- 
tigkeit mit nachfolgender Axendrehung oder Invagination zur Folge 
hat, dann kann eine Circulationsstörung verursacht werden, welche 
zur Mortification der betroffenen Partien führt, und schliesslich kann 
auch sofort eine Ruptur entstehen, sei es einzelner Schichten oder 
der ganzen Dicke des Darmes. In einem Falle können selbst alle 
anatomischen Veränderungen in den Darmwandungen fehlen, und trotz¬ 
dem kann fast momentan der Tod eingetreten sein; man pflegt dann 
zu sagen: Der Verletzte ist am Shok gestorben. Da der Shok auch 
bei allen später zu behandelnden Darm Verletzungen eintreten kann, 
so wollen wir seine Betrachtung gleich vorwegnehmen. 

Das Wesen des Shok beruht nach dem jetzigen Stande der 
Wissenschaft in einer durch Erschütterung der sensiblen Nerven her¬ 
vorgerufenen reflectorischen Alteration resp. Lähmung des Rücken¬ 
marks und der Medulla oblongata, welche man durch den bekannten 
Goltz’schen Klopfversuch beim Frosche experimentell erzeugen kann. 
Durch wiederholtes Klopfen auf den Bauch eines Frosches entsteht 
bekanntlich infolge der mechanischen Reizung der sensiblen Nerven 
ein eigcnthümlicher Collapszustand, bedingt durch eine reflectorisch 
hervorgerufene Erschöpfung des Rückenmarks und der Medulla oblon¬ 
gata. Dieser Collapszustand kann durch Herzlähmung zum Tode 
führen. Die vom Shok befallenen Menschen zeigen eine auffallende 


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Zur gerichtsärztlichen Beurtheilung der Darmverletzungen. 


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Blässe und Kühle der Haut und der sichtbaren Schleimhäute, die 
Augen sind starr und glanzlos, die Herzaction verlangsamt und un¬ 
regelmässig, der Puls fadenförmig, die Respiration flach, ab und zu 
durch tiefere Athemzüge unterbrochen. Die Gehirnthätigkeit ist je 
nach der Schwere des Shoks mehr oder weniger alterirt, was sich 
äussert durch Fortfall der Willcnsimpulse, Theilnahmlosigkeit, Herab¬ 
setzung der Sensibilität und Reflexerregbarkeit. In der Regel erholen 
sich die Kranken in kürzerer oder längerer Zeit, nur in Ausnahme¬ 
fällen tritt der Tod ein. Durch diese Definition scheint mir jedoch 
die Erklärung des Wesens des Shok noch nicht völlig erschöpft zu 
sein, denn ich habe Bergleute gesehen, die Hunderte von Fussen im 
Bergwerk von Absatz zu Absatz gefallen waren und sich das Rück¬ 
grat gebrochen hatten, wo also meistens eine directe Compression 
des Rückenmarks stattgefunden hatte, aber dennoch keine Spur von 
Shok zeigten. Warum tritt gerado nach Contusionen des Bauches, 
die gar nicht einmal schwer zu sein brauchen, Shok ein, während er 
bei schweren Rückenmarksverletzungen ausbleibt? Sollte nicht ganz 
nach Analogie des Goltz’schen Klopfversuchs eine directe Erschütte¬ 
rung und directe Reizung der herzregulatorischen Fasern des Vagus 
eine hemmende Wirkung auf die Herzaction ausüben! Damit würde 
auch die Thatsache übereinstimmen, dass nach Contusionen des Unter¬ 
leibes, wo es sich also lediglich um eine contundirende Wirkung und 
directe Erschütterung der Vagusfasern handelt, häufiger Shok eintritt 
als bei den perforirenden Verletzungen, von den schweren mit Zer- 
reissung des Darmes einhergehenden Schuss Verletzungen abgesehen, 
bei welchen ja auch mehr die contundirende als perforirende Gewalt 
in Betracht kommt. 

Wiener (Obergutachten, Fall 23) berichtet über einen 15jährigen, 
früher vollkommen gesunden Lehrling, der mit der Faust in die Magen¬ 
gegend gestossen wurde, worauf er sofort bewusstlos niederstürzte und 
nach wenigen Minuten verschied. Maschka, der diesen Fall zu be¬ 
gutachten hatte, schloss aus dem negativen Obductionsbefund, aus 
der Abwesenheit jeglicher anderen Todesursache und aus dem Um¬ 
stande, dass der Betreffende vorher ganz gesund gewesen war, auf 
Shok, ebenso wio in einem anderen Falle, wo ein vollkommen ge¬ 
sunder und kräftiger Fuhrmann nach einem mit der flachen Seite 
einer Schaufel gegen die Magengegend geführten Schlage zusammen¬ 
stürzte und binnen wenigen Stunden verschied. Der Gerichtsarzt hat 
bei Tod durch Shok keine Anhaltspunkte an der Obduction, da ein 


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Dr. Wegcner, 


bestimmter Obductionsbefund dafür noch nicht festgestellt ist, sondern 
kann nur durch Ausschluss anderer Todesursachen und aus den 
äusseren Umständen auf Tod durch Shok schliessen. Der Begriff 
Shok bedeutet, wie Wiener diesem Falle beifügt, für die gerichts¬ 
ärztliche Erkenntniss vorläufig nur ein Zugeständnis an die Lücken¬ 
haftigkeit unseres Wissens darüber. 

Ein weiteres Eingehen auf den Shok, so interessant es auch 
wäre, würde den Rahmen unserer Arbeit überschreiten, und so kommen 
wir unserer Disposition gemäss zu denjenigen Verletzungen des Darmes, 
welche erst in zweiter Linie als Verletzungen aufgefasst werden müssen, 
insofern zunächst infolge irgend einer Contusion nur ein mechanischer 
Reiz auf den Darm ausgeübt wird, der zu ungeordneter Muskelthätig- 
keit und infolgedessen zu Axendrehungen (Volvulus) und Einschiebungen 
(Invagination) führen kann. Diese Lageveränderungen haben entzünd¬ 
liche Zustände im Gefolge, und diese Folgezustände sind es, welche 
für die Beurtheilung des Gerichtsarztes in Betracht kommen. Ebenso 
wie Nothnagel durch Reizung der Darmmuskulatur mittelst eines 
faradischen Stromes eine umschriebene ringförmige Einschnürung mit 
nachfolgender Einschiebung des Darmes experimentell erzeugen konnte, 
kann dieser Reiz auch auf mechanische Weise durch Schlag oder Stoss 
bewirkt werden. Axendrehungen, wozu besonders eine auffallende 
Länge und Schlaffheit des Mesenteriums disponiren, sind im allge¬ 
meinen selten beobachtet, Invaginationen dagegen sind in der Literatur 
in genügender Anzahl verzeichnet. Ob diese Invaginationen para¬ 
lytische oder spasmodische sind, kommt nicht in Betracht, Thatsache 
ist nur, wie Orth sagt, dass der contrahirte Theil des Darmes zu 
dem cintretenden, der erschlaffte zu dem austretenden Rohr wird. 
Leichtenstern fand unter 593 Invaginationen 14 durch Contusion 
des Abdomen, 9 durch Erschütterungen des Körpers hervorgebracht. 
Solche Einschiebungen können sich wieder lösen, sie können jedoch 
auch verwachsen und eine narbige Verengerung des Darmes ver¬ 
ursachen, die Kothstauungen und periodisch auftretende Schmerzen 
und Siechthum, ja nach übermässiger Erweiterung des Darmes ober¬ 
halb der Verengerung Geschwüre und Perforation mit nachfolgender 
letaler Peritonitis hervorruft, wie wir bei den spontanen Darmzer- 
reissungen gesehen haben. Wie schwer oft die Beurtheilung derartiger 
Fälle für den Gerichtsarzt ist, beweist folgender, von Wiener (Ober¬ 
gutachten) mitgctheilte Fall. 


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Zur gerichtsärztlichen Beurtheilung der Darrnvcrletzungen. 


13 


Ein Schäfer wurde von einem Gastwirth mit Fäusten gemisshandelt und 
namentlich gegen den Bauch gestossen, worauf er heftig erkrankte und 8 Wochen 
bettlägerig war. Der Schäfer war nocli Monate nachher arbeitsunfähig und erhob 
gegen den Gastwirth Entschädigungsansprüche. Dieser behauptete dagegen, der 
Kläger sei bereits vorher magenleidend gewesen, habe auch nach dem Vorfälle 
noch stundenlang seine Heerde gehütet, später sogar noch Getreide abgeladen. 
Die behandelnden Aerzte erklärten die Krankheit für eine Darmeinschiebung, bei 
welcher die Symptome einer sich entwickelnden Darm- und Bauchfellentzündung 
sich gezeigt hätten und zwar als Folge der Misshandlung. Der vernommene Kreis- 
physikus trat dem Gutachten insoweit bei, als er behauptete, die Darmcinschie- 
bung könne eine Folge der durch die Misshandlung veranlassten Darm- und Bauch¬ 
fellentzündung gewesen sein. Das Medicinalcollegium leugnete überhaupt die 
Möglichkeit der traumatischen Entstehung der Darmeinschiebung, die Königl. 
wissenschaftliche Deputation dagegen erklärte es wohl für möglich, dass Stoss und 
Schlag auf den Unterleib Darmeinschiebungen bewirken könnten. 

Die meisten Invaginationen, ca. dieHälfte, betreffen nachLeichten- 
stern das Kindesalter und sind Ileocoecaleinschiebungen, während man 
bei Erwachsenen vorwiegend den reinen Dünndarmeinschiebungen be¬ 
gegnet. Bei Kindern genügt schon geringe und selbst indirecte Er¬ 
schütterung, z. B. Fall aufs Gesäss, zur Erzeugung einer Invagination. 
Rilliet (cit. bei Wiener) berichtet von einem Knaben, der eine In¬ 
vagination bekam, nachdem er von einem Kameraden auf den Unter¬ 
leib getreten war, Focke (cit. bei Wiener) erzählt sogar, dass Kinder 
beim Springen auf den Armen des Vaters Invaginationen davongetragen 
hätten. Uebrigens muss der Gerichtsarzt wissen, dass man bei Sec- 
tionen von Kindern, welche an Gehirnaffectionen und acuten Darm- 
catarrhen gelitten haben, häufig nicht nur eine, sondern eine ganze 
Anzahl von Invaginationen findet, welche in der Agone oder gar oft 
erst nach dem Tode entstanden sind und sich von den intra vitam 
entstandenen dadurch unterscheiden, dass sie sich leicht auszichen 
lassen und ohne irgend welche circulatorisehe oder entzündliche Ver¬ 
änderungen sind. 

Da es sich in solchen Fällen meist um Folgezustände handelt, 
ist es für den Gerichtsarzt schwierig, den Causalnexus zwischen diesen 
und der Verletzung festzustellen. Stirbt der Verletzte, so wird die 
Obduction wenigstens in den meisten Fällen klar legen, welcher Art 
die Verletzung war, und ob dadurch der Tod verursacht worden ist, 
stirbt er aber nicht und handelt es sich nur um eine Reihe von Be¬ 
schwerden, die der Verletzung vom Verletzten zur Last gelegt werden, 
so kann die gerichtsärztliche Beurtheilung auf grosse Schwierigkeiten 
stossen. Ebenso wie bei den Invaginationen trifft dieses auch zu bei 


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14 


Dr. Wegcner, 


denjenigen Verletzungen des Darmes, wo infolge einer Contusion eine 
Circulationsstörung oder eine Läsion einzelner Schichten des Darmes 
hervorgerufen wird, Verletzungen, die man erst an ihren Folgen als 
solche erkennen kann, indem erst später Stücke des abgestorbenen 
Darmes per anum entleert werden und narbige Verengerungen des 
Darmes mit allen Beschwerden und Gefahren eintreten. Der Darm 
ist ausserordentlich empfindlich gegen Contusionen, und es treten weit 
leichter, als man meinen sollte, blutige Infiltrationen in oder zwischen 
den einzelnen Häuten desselben auf. Solche Infiltrationen mit Blut 
scheinen durchaus nicht selten zu sein, denn Jobert de Lamballc 
sagt: Es giebt wenige Leichen, welche, falls die Bauchdecken Con¬ 
tusionen erfahren haben, bei der Autopsie nicht mehr oder weniger 
ausgedehnte Ecchymosen zeigen. Auch Duplay 1 ) und Baraduc 2 ) 
haben verschiedene Fälle gesehen, wo ausgedehnte Blutinfiltrationen 
unter der Serosa oder zwischen Muoosa und Muscularis vorhanden 
waren. Kleinere Blutungen werden anstandslos resorbirt werden, und 
zur Heilung gelangen, wenn jedoch die Mucosa durch ein grösseres 
Blutextravasat von den tieferen Schichten abgehoben wird, so stirbt 
sie aus Mangel an Ernährung ab, wird abgestossen und auf der nackten 
Muscularis entsteht ein Geschwür, welches, wenn es klein ist, heilen 
kann, welches jedoch durch tiefe Eiterung zur Perforation führen kann. 
Wenn die ganze Dicke des Darmes mit Blut infiltrirt ist, so ist die 
Gefahr der Mortification der ganzen infiltrirten Partie mit nachfolgen¬ 
der Perforation und eitriger Peritonitis natürlich noch grösser. Den¬ 
selben Verlauf und dieselben Gefahren haben auch die Zerreissungen 
des Darmes, die nicht seine ganze Dicke, sondern nur bestimmte 
Schichten desselben betreffen, die unvollständigen Rupturen. Es han¬ 
delt sich nach Gendron und Duguet 3 ) hier meistentheils um Zer- 
reissung der Mucosa. Die Serosa bleibt gewöhnlich intact, die Mucosa 
allein oder Muscularis und Mucosa sind zerrissen. Ist die Zerreissung 
gering, so wird Heilung eintreten, ist sie jedoch bedeutend, so können 
narbige Verengerungen und tiefe Gcschwürsbildung mit Perforation die 
Folge sein. 

Gallez 4 ) berichtet einen Fall, wo 19 Tage nach einer Bauch- 

1) Duplay, Pathologie externe. 

2) Baraduc, Bull. Soc. anatora. 

.3) Gendron et Duguet, Bull. Soc. anatom. 

4) Gallez, Contus. abdom. Bull, de l’Acad. de med. de Belgique. 


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Zur gerichtsärztlichen Beurtheilung der Darmvcrlctzungen. 


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contusion ein Stück Mucosa von 1 m Länge entleert wurde. Poland 1 ) 
erzählt von einem 40jährigen Manne, der vom Wagen überfahren 
wurde und am 15. Tage wieder ausging. Am 17. Tage trat plötzlich 
ein schwerer Zufall ein und er entleerte 14 Zoll seines Darmes per 
anum. In der vierten Woche bildete sich dann ein Anus praeter¬ 
naturalis, der mehrere Jahre eiterte und Koth und Flatus herausliess. 
Allmälig trat Heilung ein. Gallez berichtet ferner von einem Manne, 
der von einem Wagen einen Stoss in’s Abdomen erhielt. Am folgen¬ 
den Tage trat eine starke Blutung auf, der eine circumscripte Peri¬ 
tonitis folgte. Am 19. Tage entleerte er ein l x / 2 m langes Schleim¬ 
hautstück des Dickdarms. Allmälig erholte er sich. Oftmals haben 
sich erst nach Jahr und Tag die Folgen solcher Ernährungsstörungen 
gezeigt. 

Herin 2 ) erwähnt einen 65jährigen Mann, der eine Contusion des 
Abdomen erhielt und 4 Monate später an Erbrechen und Koliken er¬ 
krankte. Die Symptome verschwanden, um 15 Monate später wieder¬ 
zukehren. Der Tod erfolgte unter den Zeichen innerer Einklemmung. 
Das Ileum war in einer Ausdehnung von 6 Zoll verengt. Pouzet 
(ibidem) erzählt von einem 46jährigen Manne, der mit einem Fasse 
fiel und einen Stoss in den Leib bekam. Nach einigen Tagen ver¬ 
schwanden die aufgetretenen Leibschmerzen und er war sechs Monate 
gesund. Da trat eine Verschlimmerung ein, infolge dessen er starb. 
Der Darm war so verengt, dass mit einer Sonde nicht durchzukom- 
raen war. 

Mac Ewen 3 ) theilt zwei ähnliche Fälle mit. Im ersten wurde 
ein 14jähriges Kind von einem Rade über den Leib gefahren. Am 
11 . Tage schien es geheilt, am 47. Tage machte es einen Diätfehlcr 
und starb nach einigen Stunden. Die Autopsie ergab eine circum¬ 
scripte Peritonitis, von der eine allgemeine ausgegangen war. Im 
zweiten Falle erhielt ein 30jähriger Constabler einen Fusstritt in den 
Bauch. Zehn Tage darauf that er wieder seinen Dienst, am 77. Tage 
kehrte er jedoch in die Klinik zurück, um 7 Tage darauf zu sterben. 
Poland endlich berichtet von einem 12jährigen Knaben, der von 
einem Kameraden in den Bauch getreten wurde. Ein Jahr lang litt 
er an häüfig auftretenden Leibschmerzcn mit Diarrhoe und hatte einige 


1) Poland, Guy’s Hosp. Rep. 

2) H4rin, Dans la pathologie Follin et Duplay. 

3) Mac Even, The Glasgow med. Journ. 


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Dr. Wogener, 


Male blutige Stühle, infolgedessen er sehr abmagerte. Plötzlich ent¬ 
leerte er ein 13 Zoll langes Stück Darm und starb. In der deutscheu 
gerichtsärztlichen Literatur habe ich solche Fälle nicht gefunden, der¬ 
artige Ausgänge scheinen demnach glücklicher Weise nicht allzu häufig 
vorzukommen. 

Wir kommen nun zu denjenigen subcutanen Darm Verletzungen, 
welche mit sofortiger vollständiger Zerreissung der Darmwand einher¬ 
gehen, den sogenannten Darmrupturen. Es ist klar, dass der kranke 
Darm leichter reissen wird als der gesunde, und dass geringe Er¬ 
schütterungen ausreichen, um eine genügend vorbereitete Perforation 
zur Vollendung zu bringen. Ein Darmgeschwür, sei es nun ein 
tuberculöses, ein typhöses, ein diphtherisches oder syphilitisches wird 
immer einen „locus minoris resistentiae“ bilden, der durch den ge¬ 
ringsten Anlass zum Einreissen gebracht werden kann. Wenn schon 
durch die blosse Anstrengung der Bauchpresse, durch einen Sprung 
aus dem Bette (Miculicz), eine spontane Ruptur eintreten kann, so 
ist es einleuchtend, dass ein gewaltsamer Stoss um so eher eine 
solche hervorrufen kann, wenn pathologische Verhältnisse am Darm 
bestehen. Der Gerichtsarzt wird also in jedem Falle von Darmruptur 
darauf fahnden müssen, ob nicht ein Geschwür vorhanden gewesen 
ist. In den meisten Fällen wird es unschwer gelingen, da die Darm¬ 
geschwüre bestimmte Eigenthümlichkeiten in Bezug auf ihr Aussehen 
und ihren Sitz darbieten. Die Verdauungsgeschwüre sitzen im Duo¬ 
denum und haben kreisrunde Form, die tuberculösen sitzen mit Vor¬ 
liebe über der Bauhin’schen Klappe im Dünndarm, seltener im 
Dickdann, und treten meistens multipel auf in characteristischer läng¬ 
licher zur Längsachse des Darms senkrechter Form und sind in der 
Regel mit Lungenschwindsucht combinirt. In zweifelhaften Fällen wird 
die Auffindung der Tuberkelbacillen sie als tuberculöse Geschwüre 
characterisiren. Die typhösen Geschwüre betreffen meistens den folli- 
culären Apparat des Darmes, vor allen die Peyer’schen Haufen, und 
lassen sich meistentheils durch die markige Schwellung ihrer Ränder, 
die sich bei grossen Geschwüren über den Geschwürsgrund hinüber- 
lcgen, sowie durch eine zum Darm längsgerichtete Gestalt von an¬ 
deren unterscheiden. Sollten auch klinische Symptome, wie solches 
ja beim Typhus gar nicht selten ist, fehlen, so wird doch durch die 
Eigenthümlichkeit dieser Geschwüre, sowie durch die gleichzeitige 
Beschaffenheit der Mesenterialdrüsen und der Milz, eventuell durch 
den Nachweis des Typhusbacillus, ihr typhöser Character besiegelt. 


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Zur gericlitsärzUiclien Beurtheilung der Darmverletzungon. 


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Ilofmann 1 ) führt eine Beobachtung von Hyrtl an, wo ein anscheinend 
gesunder Knabe von einem Erdhaufen herunterkollerte und an Peri¬ 
tonitis starb. Die Section ergab Typhus und Ruptur eines Geschwürs. 
Sterkoralgeschwüre haben ihren Lieblingssitz am Wurmfortsatz. Bei 
carcinomatösen Geschwüren werden wohl keine Zweifel entstehen 
können, da zu einer Zeit, wo ein Krebsgeschwür zum Durchbruch 
kommt, bereits unverkennbare pathologische Veränderungen vor¬ 
handen sind, eventuell wird die mikroskopische Untersuchung Aus¬ 
kunft geben. In der Regel treten die Geschwüre multipel auf, und 
was man dann an dem einen nicht sehen kann, das wird das andere 
zeigen, ist aber nur ein einzelnes Geschwür vorhanden, und womög¬ 
lich noch der Geschwürsrand durch Eiterung oder cadaveröse Er¬ 
weichung zerstört, so kann die Unterscheidung schwer werden, ge¬ 
wöhnlich aber wird die characteristische Veränderung der Schleim¬ 
hautoberfläche und der Substanzverlust der Schleimhaut, welcher 
grösser ist als der der Muscularis und Serosa, das Vorhandensein 
eines Geschwürs beweisen. 

Für die gerichtsärztliche Beurtheilung kommt es besonders auf 
die Beantwortung der Frage an, ob die constatirte Perforation eines 
Darmgeschwüres Folge einer Verletzung oder unabhängig von einer 
solchen zu Stande gekommen ist. Die Entscheidung dieser Frage 
wird häufig grosse Schwierigkeiten machen, da es ja hinlänglich be¬ 
kannt ist, dass es nur einer geringen Gewalteinwirkung bedarf, um 
ein Geschwür zum Reissen zu bringen. Allgemeine Regeln lassen 
sich deshalb nicht aufstellen, sondern der Gerichtsarzt wird gut thun 
jeden Fall nach seinen besonderen Eigentümlichkeiten mit Berück¬ 
sichtigung aller Nebenumstände zu begutachten. Blaue Flecke an 
der Körperoberfläche, Hautabschürfungen und Sugillationen, Brüche 
von irgend welchen Knochen, werden immer eine Gewalteinwirkung 
voraussetzen, infolgedessen es höchst wahrscheinlich ist, dass auch 
dadurch das Geschwür zur Ruptur gebracht worden ist, indessen das 
Fehlen dieser äusseren Verletzungen ist kein Beweis für das Gegen¬ 
teil, da wir ja wissen, dass bei Contusionen des Unterleibes meisten¬ 
teils keine Spuren einer Verletzung an den Bauchdecken vorhanden 
sind und trotzdem eine tödtliche Darmverletzung verursacht sein 
kann. Der' Gerichtsarzt wird darum häufig sein Urteil auf Neben¬ 
umstände basiren müssen. Angeschwollene Mesenterialdrüsen sagen 


1) Hofmann, Gericht!. Medicin. S. 484. 

Yierteljahrsschr. f. ger. Med. Dritte Folge. XIV. Suppl.-Heft. 2 


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Dr. Wegener, 


ihm, dass der Darm schon seit längerer Zeit durch pathologische 
Affectionen beeinflusst gewesen ist, kalkige Degeneration derselben 
spricht dafür, dass bereits vor Jahr und Tag derartige Einwirkungen 
stattgefunden haben. Und wenn er dann zu der Ueberzeugung ge¬ 
kommen ist, dass infolge der Verletzung das Geschwür perforirt ist, 
so wird sein Gutachten dahin lauten, dass der Verletzte durch eine 
besondere Leibesbeschaffenheit ausgezeichnet war, welche auch sonst 
wohl leicht zum Tode hätte führen können, und dass die Verletzung 
bei einem anderen Menschen vielleicht überhaupt keine üblen Folgen 
gehabt haben würde. Peters 1 ) theilt einen Fall mit, wo ein Maurer 
eine Darmperforation infolge eines Stosses mit einem Ziegelstein gegen 
den Unterleib bekam, woran er am folgenden Tage starb. Da der 
Mann schon vor der Verletzung über Leibschmerzen geklagt hatte, 
und da sich bei der Section Zeichen fanden, dass schon längere Zeit 
pathologische Affectionen den Darm bneinflusst hatten, so wurde an¬ 
genommen, dass eine besondere Leibesbeschaffenheit Vorgelegen habe 
und, zumal jede vorsätzliche Misshandlung ausgeschlossen war, der 
Thäter freigesprochen. 

In anderen Fällen wird der Gerichtsarzt das zeitliche Verhältniss 
zwischen der Verletzung und dem muthmasslichen Eintritt der Perfora¬ 
tion klarzustellen haben. Ist der Verletzte vor dem Eintritt der Ver¬ 
letzung noch völlig gesund gewesen, und treten sofort mit der Ver¬ 
letzung die Symptome einer Perforation, heftiger localer Schmerz, 
häufig verbunden mit einem Aufschrei, auf, so kann man wohl an¬ 
nehmen, dass die Perforation eine directe Folge der Verletzung ist, 
ist er dagegen noch Stunden lang ohne Schmerzen herumgelaufen, 
so kann der ursächliche Zusammenhang mit Recht angezweifelt wer¬ 
den. In vielen Fällen wird sich dennoch der Causalnexus nicht er¬ 
bringen lassen, und der Gerichtsarzt wird gezwungen sein, sich in 
seinem Urtheil folgendermassen auszudrücken: Es ist mehr oder 
weniger wahrscheinlich, dass die Perforation Folge der Verletzung 
ist, der ursächliche Zusammenhang hat sich jedoch nicht mit Sicher¬ 
heit nachweisen lassen. 

Nicht minder häufig als die Rupturen des kranken Darmes sind 
diejenigen des gesunden. Hohes Alter, männliches Geschlecht und 
gefährlicher Beruf geben eine gewisse Disposition dafür ab. Der 
fettarme, oft papierdünne Darm alter Leute, wird leichter reissen als 


1) Peters, Diese Vierteljahrsschr. 53. 


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Zur gerichtsärztlichen Beurtheilung der Darmverletzungen. 


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derjenige jugendlicher Personen, allein auch dieser reisst schon hei 
ganz geringen Gewalteinwirkungen. Es betreffen sogar die in der 
Literatur verzeichneten Fälle meistens Männer im kräftigsten Mannes¬ 
alter, was wohl darin seinen Grund hat, dass solche in weit höherem 
Masse, namentlich durch den Beruf, allen möglichen Gefahren aus¬ 
gesetzt sind. Wie das Platzen des gesunden Darmes zustande kommt, 
darüber herrschen die verschiedensten Ansichten, nur darin stimmen 
alle überein, dass ein gewisser Füllungszustand desselben vorhanden 
sein muss. Ti 11 man ns sah Zerreissungen des Duodenum bei einem 
14 jährigen Knaben, welcher unmittelbar Dach dem Essen von einem 
Erwachsenen unter den Achseln in die Höhe gehoben und hin und 
hergeschleudert wurde. Der Darm enthält gasige, flüssige und feste 
Stoffe, also die verschiedensten Bestandtheile, die wiederum in ver¬ 
schiedenster Weise durch die grosse Länge des Dünndarms vertheilt 
sein und unzählige von einander verschiedene Lagen des Darmes bedingen 
können. Bei so complicirten Verhältnissen kann die Entstehungs¬ 
weise, wenigstens wenn man sie in alle Details hinein verfolgt, un¬ 
möglich so einfach sein. Die Experimente Longuet’s 1 ) beweisen 
nur die absolute Festigkeit des Darms. Er liess auf einen 15 cm 
langen auf beiden Seiten geschlossenen Darm aus iy 2 m Höhe Ge¬ 
wichte fallen. Ein leerer, sowie ein mit Wasser gefüllter Darm wurde 
durch 2 kg zerrissen, ein mit Luft gefüllter erst durch 5 kg. Für die 
unendlich complicirten Lageverbältnisse des Darmes in der Bauchhöhle 
bieten diese Experimente kein Analogon. Im allgemeinen kommen 
wir damit aus, wenn wir die Entstehung mit Umgehung aller spitz¬ 
findigen Speculationen auf grob mechanische Weise erklären. Ein 
Stoss kommt gegen den Leib, die Bauchdecken weichen vermöge 
ihrer Elasticität aus, der Stoss pflanzt sich fort auf den Darm. Dieser 
wird dann gegen die Wirbelsäule oder gegen das Becken gedrückt 
und reisst, wenn er nicht entweichen kann, ein. Auf diese Weise 
kann auch an entfernten Stellen ein Riss entstehen, ohne dass wir 
den unmedicinischen Contrecoup oder eine Art Explosion des Darmes 
infolge plötzlicher Drucksteigerung seines gasförmigen Inhalts zu Hülfe 
zu ziehen brauchen. Das Nichtentweichenkönnen ist die Hauptsache, 
das beweist schon der Umstand, dass die fixirten Partieen, besonders 
die Flexuren, denen ein Entweichen gar nicht oder nur beschränkt 
möglich ist, in erster Linie gefährdet sind. Man beobachtet nach 


1) Bulletins de la Soci6t6 anatomique. 


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Dr. Wegener, 


Poland die häufigsten Darmrupturen am unteren Ende des Duodenum 
und an der Flexura duodeno-jejunalis. Dieser untere Thcil des Duo¬ 
denum ist durch den von Treitz entdeckten und beschriebenen 
Musculus suspensorius duodeni, eine aus glatten Muskelfasern bestehende 
Platte, fixirt. 

In ähnlicher Weise kommt auch die Ruptur einer Hernie zu 
stände. Wird eine prallgefüllte Hernie von einem Stoss getroffen, 
so sucht der Darm und sein Inhalt durch die Bruchpforte zu ent¬ 
weichen. Da dieselbe aber zu eng ist, und das Entweichen nicht so 
schnell vor sich gehen kann, so muss der Darm platzen. 

Die Einrisse verlaufen längs und quer und klaffen häufig so weit 
auseinander, dass sie die Form eines runden Loches darbieten. Ihre 
Grösse hängt nicht immer von der Stärke der äusseren Einwirkung 
ab, indem eine geringe Gewalt oft ebenso umfangreiche Rupturen 
hervorbringt als eine grosse, wohl aber scheint das Andauern einer 
Gewalteinwirkung, z. B. das Ueberfahrenwerden durch einen Lastwagen, 
besonders ausgedehnte Zerreissungen hervorzubringen. Es giebt Fälle, 
in denen der Darm wie mit einer Schcere durchschnitten aussiebt. 

Ich habe mir gegen 60 derartige Fälle aus der Literatur ge¬ 
sammelt und gebe im Folgenden eine Auswahl characteristischer Fälle, 
mit besonderer Berücksichtigung der in der gerichtlich medicinischen 
Literatur Vorgefundenen. Man muss sich dabei häufig wundern über 
die Geringfügigkeit der angewandten äusseren Gewalt. 

Rehm (Friedreich’s Bl. 42. Jahrg.): Fusstritt gegen den Leistenbruch eines 
G l . (jährigen Tagelöhners durch seinen Sohn. Tod am folgenden Tage. Loch im 
Dünndarm. 

Idem: 6(> jähriger Söldner erhält Fussstösso gegen den Leib. Loch im 
Dünndarm. 

Idem: 50jährige Gürtlersfrau erhält in gebückter Stellung von hinten durch 
ihren geistig gestörten Ehemann einen Fusstritt gegen ihren Scheidenvorfall. Tod 
am folgenden Tage. 2 Löcher im Dünndarm. 

Wiener (Obergutachten, Fall 24): Der Drahtbinder B. erhält einen Stoss 
mit der Wagendeichsel in den Leib und stirbt am folgenden Tage unter den Er¬ 
scheinungen einer Peritonitis. Vollständige Zerrcissung einer Darmschlinge. 

Mittenzweig (Zeitschr. t. Med.-Beamte. Berlin 1890): Stoss mit dem Fuss 
gegen den Unterleib. Tod am folgenden Tage. 

Liman (II. S. 117): GOjähriger Mann wird aus einer Restauration geworfen. 
Per Dünndarm war 9 Zoll vom Mesenterium abgerissen und völlig durchgerissen. 

lluger (Med. and surg. Journ. „The Atlanta“): Dünndarmriss eines jungen 
Mannes nach Fall des Freundes auf seinen Leib beim Ringen. 


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Zur gerichtsärztlichen Beurthoilung der Darm Verletzungen. 


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Laudahn (Eulenberg. Bd. XVI.): Ein blödsinniger Knabe tritt einen Idioten 
mit der Fussspitzc gegen die Regio iliaca dextra. Tod nach 12 Stunden. Riss 
einer direct vor der Wirbelsäule liegenden Darmschlinge. 

Hofmann (Ger. Med. S. 484): 3 Darmverlctzungen, 2 durch Fusstritte, der 
3. durch Pferdehufschlag entstanden. 

Page (Transact. of the clin. soc. 1883): Ueberfahren durch ein Wagenrad. 
Tod nach 48 Stunden. 20-Pfennigstückgrosses Loch im Dünndarm. 

Bouley (Progres medical. 1881): Ueberfahren durch Wagenrad. Dünndarm 
quer völlig durchgerissen. 

Walter (Lancet. 1881): Ueberfahren durch Wagenrad (Dünndarm quer 
völlig durchgerissen). Tod nach 27 Stunden. Darmruptur. 

Beck (Deutsche Zeitschr. f. Chir. 1881): Kanonier vom Geschütz über den 
Leib gefahren. Tod nach 6 Stunden. 50-Pfennigstückgrosses Loch im Colon des- 
cendens. 

Idem: Einem Trompeter fällt das Pferd auf den Leib. Tod nach 31 Stun¬ 
den. Dünndarm glatt durchgerissen. 

Idem: Soldat vom Pferde geschlagen. Totale Durchreissung desDünndarms. 
Tod nach 30 Stunden. 

Idem: Infanterist springt gegen die Ecke eines Sprungkastens. Tod nach 
3 Tagen an Peritonitis. Ruptur. 

Casper-Liman (Lehrbuch. II. 229): Stoss einer Wagendeichsel vor den 
Bauch. Tod nach 4 Tagen. Zwei kreisrunde Perforationen im Dünndarm. 

Spaeth (Bcrl. klin. W'ochenschr. 1887. S. 883): 22jiihrigcr Mosaikarbeiter 
fällt vom Gerüst. Dämpfung in der Fossa iliaca dextra. Nach 23 Tagen tritt da¬ 
selbst Fluctuation auf und es wird incidirt. Heilung mit Kothfistcl. 

Idem: 40jährigcr Zimmermann erhält durch einen Balken einen Stoss gegen 
den Leib. Am nächsten Tage Laparotomie, die einen Riss im Dünndarm ergiobt. 
Naht des Risses. Tod nach 9 Tagen an Peritonitis bei geheilter Nahtstelle. 

Mayer (Friedreich’s Blätter. 1876): Wurf mit einem Maasskruge auf Schritt 
Entfernung. Ruptur des Duodenum. 

Gendron (Progres möd. 1882): Schlag vom Pferdehufe. Tod nach 29 Stun¬ 
den. Frankstückgrosse Perforation des Dünndarms. 

Croft (Transact. of the clin. soc. 1888): 34jähriger Mann erhält einen Fuss- 
tritt gegen den Bauch. Nach 18 Stunden Laparotomie. Riss im oberen Ileum. 
Heilung. Später bei Operation des künstlichen Afters Tod. 

Messerer (Friedreich’s Bl. 1888): Stoss mit der Schuhspitze. Schlitzför¬ 
mige Ruptur des Dickdarms nahe der Blinddarmklappe. 

Hofmann (Lehrbuch, S. 484): Einem Mann fallt ein Zuckerhut auf die 
rechte Bauchseite. Ruptur einer Darmschlinge in der linken Leistengegend. 

A. Köhler (Charite-Annalen. 1885): 37jähriger Mann fällt beim Abspringen 
von der Pferdebahn platt auf den Bauch. Darmnaht ca. 24 Stunden später, Tod 
18 Stunden darauf an Peritonitis. 

Idem: 38jährigor Mann fällt mit dem Bauch auf ein stumpfes Gitter. Ope¬ 
ration einige Stunden nach dem Unfall. Tod kurz darauf an Shok. 

Idem: 31 jähriger Mann erhält einen Hufschlag gegen den Bauch. Opera¬ 
tion. 1 Zoll langer Riss im Dünndarm. Tod 24 Stunden darauf an Peritonitis. 


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Dr. Wegener, 


Idem: Hufschlag gegen den Leib eines 17 jährigen Mannes. Sofort Opera¬ 
tion. 2 Risse im Dünndarm. Tod 24 Standen später. 

Moritz (Petersb. med. Wochenschr. 1879): Kräftiger Arbeiter erhält einen 
Faustschlag auf den Leib. Sogleich Schmerzen und Erbrechen. Tod an Perito¬ 
nitis. Perforation des Jejunum. 

In allen diesen Fällen waren, obgleich verschiedentlich sehr hef¬ 
tige Gewalten eingewirkt hatten, äusserlich meistens gar keine Ver¬ 
letzungen, einige Male nur leichte Hautabschürfungen oder blaue Flecke 
vorhanden. Dennoch endeten alle mehr oder weniger schnell letal 
mit Ausnahme eines Falles, den Spaeth berichtet. In einem anderen 
Falle, den Croft erzählt, trat zunächst Heilung ein mit Bildung eines 
künstlichen Afters, aber bei der Operation desselben starb der Be¬ 
treffende. Auch Albert (Lehrbuch der Chirurgie) findet unter 60 
Fällen nur einen, der nicht letal endet. Der gewöhnliche Ausgang 
ist der Tod. Diese Fälle beweisen die Nothwendigkeit, dass der 
Richter von seinem Rechte schon zur Leichenschau einen Arzt hinzu¬ 
zuziehen, den ausgiebigsten Gebrauch macht und nicht, wie häufig 
geschieht, wegen Abwesenheit äusserer Verletzungen das Untersuchungs¬ 
verfahren einstellt und Fälle niederschlägt, die bei sachverständiger 
Prüfung doch häufig der strafrechtlichen Verurtheilung unterliegen 
würden. Erfahrungsmässig schliesst der Mangel äusserer Verletzungen 
nicht aus, dass der Tod durch Bauchfellentzündung infolge von trau¬ 
matischer Darmzerreissung dem strafbaren Verschulden eines Dritten 
zugeschrieben werden muss (Wiener). 

Bei allen bisher betrachteten Verletzungen des Darmes waren die 
den Darm schützenden Bedeckungen des Körpers, speciell die Baueh- 
dccken, in ihrem Zusammenhänge nicht getrennt; jetzt kommen wir 
zu den Verletzungen, die erst nach Durchbohrung derselben zu Stande 
kommen, zu den penctrirenden Verletzungen. Dieselben entstehen 
meistens durch das Eindringen eines verletzenden Instruments oder 
Projcctils, cs handelt sich demnach um Stich-, Schnitt-, Hieb- und 
Schusswunden. Man sollte meinen, dass das Eindringen eines fremden 
Körpers in die Bauchhöhle stets mit einer Verletzung des Darmes 
verbunden sei, weil sich der Darm dem verletzenden Instrument ge¬ 
radezu entgegendrängt, allein zahlreiche Beobachtungen beweisen, 
dass der Darm auch durch tief eindringende, ja den ganzen Körper 
perforirende Stich- und Schnittwunden oft nicht verletzt wird und 
das lässt sich dadurch erklären, dass er vermöge seiner Schlüpfrig¬ 
keit und Beweglichkeit in der Lage ist, auszuweichen, so dass hoch- 


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Zur gerichtsärztlichen Beurtheilung der Darmverletzungen. 


23 


stens die äusseren Schichten lädirt werden. Henko 1 ) hat darüber 
Untersuchungen an menschlichen Leichen angestellt, indem er dünne 
Eisenstäbe tief in den Leib stiess. In 95 Versuchen fand sich 20 mal 
der Darm unverletzt. Beck (1. c.) fand bei 73 penetrirenden Bauch¬ 
wunden 5 mal keine Darm Verletzung. Im fünfjährigen amerikanischen 
Rebellionskriege, wo 3717 penetrirende Bauchwunden zur Spital¬ 
behandlung kamen, fand man 32 mal, d. i. bei 13 Stich- und Schnitt¬ 
wunden und bei 19 Schusswunden die Gedärme ganz unverletzt. 
Hennen sah einen Soldaten, der sich aus Unvorsichtigkeit einen 
eisernen Ladestock durch den Leib schoss, so dass er hinten heraus¬ 
sah. Der Ladestock wurde herausgezogen und der Verletzte genas. 

Voss 2 ) berichtet über 4 Fälle von fast symptomlos verlaufenen 
Bauchschüssen, welche nach seiner Ansicht penetrirende Schüsse ohne 
Darm Verletzungen waren. Mac Cormac erwähnt folgenden Fall: Im 
amerikanischen Kriego wurde ein entfliehender Gefangener mit dem 
Bajonett so durch den Leib gestochen, dass die in die linke 
Weiche eingetretene Spitze des Bajonetts hinten 2 Zoll von der Wirbel¬ 
säule herausragte. Die Verletzung war bereits am 4. Tage geheilt. 
Seidel 3 ) beschreibt einen Fall von Pistolenschuss in die linke Unter¬ 
bauchgegend. Aus der Bauchwunde drängte sich ein pilzförmiges 
Convolut von Dünndärmen hervor. In der Bauchhöhle fand sich 
ausser einem Bluterguss ein Papierpfropf und 9 grobe Schrotkömer. 
Trotzdem keine Dannverletzung. 

Casper-Liman (H. S. 264): Schusswunde in den Bauch; der 
Schusscanal geht durch das Netz, zwischen den Darmschlingen hin¬ 
durch bis auf das Gekröse des Colon descendens, der Darm ist un¬ 
verletzt. 

In anderen Fällen kann der Darm dagegen mehrfach verletzt 
sein. So beobachtete Longmore eine sechzehnfache Verletzung des 
Darms durch eine Kugel. 

Am häufigsten sind die Verletzungen des Dünndarms. Vom 
Dünndarm ist wiederum am häufigsten das Ileum, am seltensten das 
Duodenum verletzt Sehr vereinzelt sind die penetrirenden Wunden 
des Mastdarms. Stich- und Schnittwunden desselben kommen dem 


1) Zur Lehre von den perforirenden Bauchschüssen. Inaug.-Diss. Dorpat. 

2) Petersb. med. Wochenschr. 

3) Diese Yierteljahrsschr. N. F. 43, 


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Dr. Wegener, 


Gerichtsarzt höchst selten zu Gesicht. Buhl 1 ) berichtet über eine 
Mastdarmstichwunde, die der Verletzte bei einer Tanzbodenrauferei 
davongetragen hatte. Die äussere Wundöffnung, durch welche sich 
Koth und Darmgase entleerten, befand sich dicht neben dem rechten 
Sitzknorren. Die Heilung dauerte 6 Wochen, jedoch verfiel der Ver¬ 
letzte in Siechthum und starb 4 Jahre später an Tuberculose, worauf 
der Fall zur gerichtsärztlichen Begutachtung kam. Indess gelang es 
nicht einen Zusammenhang zwischen der Todesursache und der Mast- 
darraverletzung nachzuweisen. Esmarch (1. c.) erwähnt noch Schnitt¬ 
wunden des Mastdarms, die dadurch entstehen, wenn Kinder, ihre 
Nothdurft verrichtend, auf Porzellantöpfen sitzen und diese unter ihnen 
zusammenbrechen. Auch Erwachsenen scheinen solche Vorkommnisse 
zu passiren, denn ich erinnere mich, dass während meiner Studienzeit 
in einem englischen Damenpensionate in meiner Nähe derselbe Unfall 
eintrat. Forensisches Interesse können solche Fälle gewinnen, wenn 
Fahrlässigkeit des Pflegepersonals in Frage kommt. 

Ebenso selten kommen Schusswunden des Mastdarms zur ge- 
-richtsärztlichen Beurtheilung, bei welchen auch die Hauptgefahr we¬ 
niger in den Verletzungen des Darmes als in den Nebenverletzungen 
liegt. In der kriegschirurgischen Literatur finden wir dagegen eine 
reichhaltige Casuistik solcher Verletzungen. Ucberhaupt sind wir hin¬ 
sichtlich der Statistik aller Schussverletzungen auf die kriegschirur¬ 
gischen Aufzeichnungen angewiesen, da glücklicher Weise im Frieden 
nicht überall der Revolver dieselbe Rolle spielt wie in Amerika, wäh¬ 
rend die Stich-Schnittwunden auch im Frieden, namentlich in Ge¬ 
genden, wo bereits halberwachsene Burschen im Griffe feststehende 
Messer zu führen pflegen, zur Genüge Vorkommen. Bezüglich der 
Stich-Schnittwunden verdient eine Zusammenstellung von Albanese 
(Blcssures ä l’arme blanche) "einiges Interesse. Dieser hatte die in 
Sicilien nicht selten gebotene Gelegenheit Verwundungen durch blanke 
Waffen in sehr grosser Zahl im Höpital de la Conception zu Palermo 
zu beobachten. Er hat innerhalb eines Zeitraums von 10 Jahren 
(1870—80) unter 2293 Verwundungen durch Messer, Dolche, Degen, 
Säbel 307 penetrirende und 155 nicht penetrirende Bauchwunden be¬ 
handelt. 

Alle möglichen spitzen, scharfen und stumpfen Instrumente können 
zur Beibringung von perforirenden Darmwunden benutzt werden, das 


1) Henle und v. Pfeufer’s Zcitschr. f. ration. Med. 


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Zur gerichtsärztlichen Beurtheilung der Darmverletzungen. 


25 


am häufigsten in Betracht kommende Instrument ist das Taschen¬ 
messer, ebenso entstehen die Schusswunden durch Geschosse der ver¬ 
schiedensten Grösse vom Schrotkorn an bis zum Projectil des schwer¬ 
sten Geschützes. Handelt es sich darum, festzustellen, durch welches 
Instrument eine Darmverletzung beigebracht ist, so wird der Gerichts¬ 
arzt in erster Linie die Beschaffenheit der äusseren Bauchdecken¬ 
wunde in Rechnung zu ziehen haben, da diese gewöhnlich sicherere 
Anhaltspunkte giebt als die Darmwunde. Die Grösse der Wunde, 
der Verlauf derselben, die Beschaffenheit ihrer Ränder, ob scharf, 
zerrissen oder gequetscht, sind besonders in Betracht zu ziehen. Je 
weniger die Wunde therapeutischen Eingriffen ausgesetzt gewesen ist, 
je weniger die ursprüngliche Form durch Eiterung oder Entzündung 
verändert worden ist, um so genauer wird diese Frage zu beant¬ 
worten sein. Bei Schussverletzungen ist Form und Grösse der Ein¬ 
schuss-, und wenn eine solche vorhanden ist, der Ausschussöffnung 
zu beobachten, um das Caliber des Projectils festzustellen. Ist eine 
Ausschussöffnung nicht vorhanden, so muss bei der Obduction das 
Projectil aufgesucht werden, was meist ohne Schwierigkeiten gelingt. 
Ueber die Form der Darmwunde im Verhältnis zum verletzenden 
Instrument sind von Hofmann und dessen Schüler Katayama ex¬ 
perimentelle Untersuchungen angestellt, welche von Kirstein nach¬ 
geprüft worden sind. Erstere gossen ein Darmstück mit einer Fett¬ 
masse aus, letzterer schnitt den Darm der Länge nach auf und 
breitete ihn auf einer Leber, als einer weich elastischen Unterlage 
aus. Hof mann fand, dass die Darm wand in analoger Weise, wie 
die äussere Haut, bestimmte Spaltbarkeitsrichtungen besitzt und zwar 
die Serosa longitudinal, die Muscularis quer, die Mucosa unregel¬ 
mässig. Infolgedessen gelingt es nie mit einem runden Instrument 
ein kreisförmiges Loch zu erzeugen, sondern man erhält stets einen 
klaffenden Längsschlitz. Kirstein konnte bei der Serosa die An¬ 
gaben Hofmann’s bestätigen, während es ihm für die anderen 
Schichten des Darmes nicht gelang ein charakteristisches Verhalten 
herauszufinden, auch gekreuzte Figuren, wie sie Hofmann und Ka¬ 
tayama beschrieben haben, konnte er nicht constatiren. Ucbrigens 
werden solche Resultate auch niemals der Wirklichkeit genau ent¬ 
sprechen, da die Versuche ja an Leichen vorgenommen sind, wo im 
Augenblick des Zustandekommens der Verletzung wichtige Factoren, 
wie Bauchpresse und Peristaltik etc. fehlen. 


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Dr. Wegener, 


Was nun die Gefahren der penetrirenden Darmverletzungen an¬ 
belangt, so können wir darüber kein besseres Urtheil anführen als 
den oben erwähnten Ausspruch Charles Bell’s, der gerade wegen 
seiner Allgemeinheit Berühmtheit erlangt hat. Specieller drückt sich 
Henke 1 ) aus, indem er sagt: „Verletzungen von Gedärmen, die ein¬ 
fach sind, haben um so weniger Gefahr, je weiter sie vom Magen 
entfernt, je kleiner sie sind, und je leichter sie mit der äusseren 
Wunde zusammenheilen können. Kleine Hieb- oder Stichwunden sind 
daher nicht tödtlich. Auch ist eine gänzliche Durchschneidung des 
Darms, ja sogar eine Verletzung, wodurch ein Theil des Darms ver¬ 
loren geht, nicht immer tödtlich. Selbst die Bildung eines künst¬ 
lichen Afters ist in solchem Falle nicht unbedingt nöthig, und dieser 
hat um so weniger Gefahr, je tiefer unten im Darmcanal er ist. 
Mehrfache und complicirte Darmwunden aber, die mit Zerreissung 
und Zerquetschung verbunden sind, sind sehr gefährlich und oft, 
wegen unabwendbaren Uebergangs in Brand, nothwendig tödtlich. 
Bei eindringenden Wunden werden die Gedärme übrigens nicht selten 
durch ihre Schlüpfrigkeit geschützt, hingegen drängen sie sich leicht 
aus der Wunde hervor, entzünden sich und werden, wenn sie nicht 
bald zurückgebracht werden, brandig.“ Im Allgemeinen können wir 
auch heutzutage noch diese Thesen unterschreiben, nur im Beson¬ 
deren haben unsere Anschauungen einige Aenderungen erfahren. 

Die nächste Gefahr ist abgesehen vom Shok, den wir bereits 
früher betrachtet haben, die Blutung, doch pflegt dieselbe selten er¬ 
heblich zu sein, da der Darm nur Gefässe geringen Calibers besitzt. 
Stärkere, das Leben gefährdende Blutungen treten nur ein, wenn die 
Gefässe des Mesenteriums oder andere grössere Gefässe in der Bauch¬ 
höhle mitverletzt werden. 

Eine weitere Gefahr beruht darin, dass durch das verletzende 
Instrument Fäulniss und Entzündung erregende Mikroorganismen in 
die Bauchhöhle eingeführt werden, sei es dass dasselbe von vorn¬ 
herein verunreinigt war, sei es dass es erst beim Durchdringen der 
schmierigen Kleider und der schmierigen Körperoberfläche des Ver¬ 
letzten verunreinigt wurde. Auf diese Weise kann selbst die kleinste 
penetrirende Wunde tödtlich werden. Am reinsten werden immer 
noch die Projectile der Schusswaffen sein, vorausgesetzt, dass nicht 
Fetzen von Kleidungsstücken mit in die Bauchhöhle hineingerissen 


1) Ilenko, Lehrbuch der gerichtl. Medicin. 1838. 


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Zur gerichtsärztlichen Beurtheilung der Darmverletzungen. 


27 


werden. Die Gefahr des Eintritts von Entzündungserregern in die 
Bauchhöhle wird noch erhöht durch den eventuellen Vorfall von 
Darmschlingen. Ist die Zusammenhangstrennung der Bauchdecken 
gross genug, dass Darmschlingen vorfallen können, was oft mit 
ausserordentlicher Schnelligkeit geschieht, so wird der Verletzte sic 
mit seinen schmierigen Händen zurückzuhalten, eventuell durch das 
Loch zurückzuschieben suchen. Da dieses meist nicht gelingt, so 
wird der Vorfall mit mehr oder weniger schmutzigen Tüchern bedeckt 
bis zur Ankunft des Arztes. Wenn dann Darmschlingen auch noch 
so sorgfältig gereinigt werden, bevor sie reponirt werden, so ist doch 
der Eintritt einer eitrigen Bauchfellentzündung nicht zu verwundern. 

Ganz abgesehen von der gebotenen Gelegenheit von Entzündung 
erregenden Mikroorganismen, trägt selbst das längere Verweilen des 
Darmes ausserhalb der Bauchhöhle insofern schon grosse Gefahren in 
sich, als dadurch eine ausserordentlich grosse und rasche Abkühlung 
des Peritoneum eintritt, welche weit schneller vor sich geht als auf 
der äusseren Haut, da jenes feucht und nicht wie diese trocken und 
mit Haaren besetzt ist. Alle darüber angestellten Experimente haben 
ergeben, dass eine starke Abkühlung des Peritoneum reflectorisch einen 
paralytischen Einfluss ausübt auf das Herz, welcher so stark sein 
kann, dass unter Collapserscheinungen der Tod eintritt. Wird nicht 
früh genug Wärme hinzugeführt, oder ist die Abkühlung eine sehr 
grosse gewesen, so kann das Leben nicht mehr gerettet werden (Nuss- 
baum), und eine durch Wärme erzeugte Besserung ist nur vorüber¬ 
gehend. Interessant sind die Experimente Wcgner’s darüber: Legte 
er auf den blossgelegten Kaninchendarm Eis, so stand fast augen¬ 
blicklich das Herz still, liess er warme Dämpfe darüber hinstreichen, 
so konnte dies 7—8 Stunden ohne Beschädigung des Versuchsthieres 
geschehen, und weder Herz- noch Lungenthätigkeit wurden beeinflusst. 
Schon bei Abkühlung bei 32° wurden Herz- und Lungenthätigkeit 
sehr schwach und die Thiere somnolent. Es ist wohl kaum zweifel¬ 
haft, dass es sich hierbei um eine directe Einwirkung auf den Hem¬ 
mungsnerven des Herzens, den Vagus, handelt, und dass der Tod in 
derselben Weise eintritt wie beim Shok. 

Die Hauptgefahr bei allen Darmperforationen besteht in dem Aus¬ 
tritt von Koth in die Bauchhöhle und der dadurch verursachten Bauch¬ 
fellentzündung. Je kleiner die Perforationsöffnung ist, um so leichter 
wird dieses verhindert werden können, da die Schleimhaut des Dar¬ 
mes sofort vorzuquellen pflegt und einen Abschluss bildet. Ungestraft 


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Dr. W egen er, 


wird daher mit einem dünnen Troikart der gelähmte stark aufgetrie¬ 
bene Darm durch die Bauchdecken hindurch punktirt, um die Gase 
herauszulassen. Ebenso können Schrotschüsse, wenn sie nicht aus 
unmittelbarer Nähe abgefeuert und dadurch Zerreissungen verursacht 
werden, anstandslos heilen. A. Köhler (Charite-Annalen 1885) be¬ 
richtet von einem 22jährigen Schriftsetzer, der sich eine Schrotpatronc 
in den Bauch geschossen hatte und nach 14 Tagen wieder geheilt 
war. Bram an n (Berl. klin. Wochenschr.) erzählt von einer doppel¬ 
ten Dünndarmschusswunde, wobei die Darmöffnung beiderseits durch 
Vorquellen der Mucosa luftdicht verschlossen war. Zur Vorsicht wurde 
noch ein Nahtverschluss angelegt. Bull (Amer. med. News 1885) 
berichtet von einem 22jährigen Manne, bei dem 17 Stunden nach 
einer Bauchschussverletzung Laparotomie gemacht wurde. Der Darm 
war an 6 Stellen verletzt, jedoch hatte sich überall die Schleimhaut 
nach aussen gestülpt und so einen Verschluss gebildet. Die Löcher 
wurden trotzdem noch mit Lembert’schen Nähten verschlossen. Die 
Heilung wäre vielleicht auch ohne Vernähung eingetreten. Das Vor¬ 
quellen der Schleimhaut wird von Kirstein, der darüber experimen¬ 
telle Studien am Hundedarm machte, nicht für einen passiven (Pro¬ 
lapsus tunicae mucosae), sondern für einen activen (Retractio tunicae 
muscularis) Vorgang gehalten, der zustande kommt durch das Zurück¬ 
ziehen der Muskelhaut und gleichzeitiges Herausziehen der Schleimhaut. 

Unter günstigen Umständen, wiewohl sehr selten, kann sich die 
verletzte Darraschlinge sofort der äusseren Bauchwunde anlegen, so- 
dass kein Koth in die Bauchhöhle kommt, sondern direct nach aussen 
entleert wird. Es entsteht dann ein Anus praeternaturalis, der auch 
häufig chirurgisch angelegt wird, um den Abfluss des Kothes zu be¬ 
werkstelligen. Doch ein widernatürlicher After ist für den damit Be¬ 
hafteten kein beneidenswerther Zustand. Oftmals wird er durch Ope¬ 
ration geheilt, oft aber besteht er lange Zeit und giebt durch Erregung 
von chronischen Eczemen in der Umgebung sowie durch mangelhafte 
Ausnützung der Nahrungsstoffe Anlass zum Verfall in Siechthum (§ 224 
D. Str.-G.). Aber auch die Operation eines Anus praeternaturalis ist 
nicht ohne Gefahr, wie wir an dem oben angeführten Beispiele von 
Croft sehen, wo dieselbe den Tod zur Folge hatte, und wenn auch 
schliesslich eine vollständige Heilung eintritt, so können doch die ein¬ 
getretenen narbigen Verengerungen und Stricturen des Darms das 
Leben unerträglich machen, ja, wie wir bei den spontanen Rupturen 
gesehen haben, später dennoch zum Tode führen. Sehr kurzsichtig 


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Zur gerichtsärztlichen Beurlheilung der Dannverletzungen. 29 

scheint mir daher jener Gerichtsarzt in einem Falle, den Caspcr- 
Liman (I. S. 293) erwähnt. Eine Frau erhielt einen Stich in den 
Unterleib, es entleerte sich Koth aus der Wunde, trotzdem schloss 
sich dieselbe schnell und die Frau blieb ganz gesund. Da nun keine 
der in § 224 des Deutschen Str.-G.-ß. bezeichneten Folgen eingetreten 
war, so war der Gerichtsarzt in die sonderbare Lage versetzt eine 
perforirende Darmwunde als leichte Verletzung begutachten zu müssen. 
Unter allen Umständen sollte eine perforirende Darmwunde als eine 
besonders schwere Verletzung betrachtet werden, wenn sie auch zu¬ 
nächst gut ablaufen sollte, denn wer garantirt dafür, dass sie nicht 
über Jahr und Tag Stricturen etc. im Gefolge hat. 

Wenn trotz des Vorquellens der Mucosa und trotz der gegen¬ 
seitigen elastischen Compression der Därme eine geringe Menge Darm¬ 
inhalt ausgetreten ist — gross darf sie jedenfalls nicht sein —, so 
ist dennoch ein verhältnissmässig günstiger Ausgang möglich, indem 
sich schnell vermöge der raschen Exsudationsfähigkeit der serösen 
Häute Adhäsionen und Verlöthungen bilden, welche stark genug sind 
einen später drohenden grösseren Kotherguss aufzuhalten und abzu¬ 
kapseln. Es entsteht dann eine circumscripte Peritonitis, die, falls 
sie nicht zu einer allgemeinen wird — was zu jeder Zeit eintreten 
kann, indem die gebildeten Verwachsungen mechanisch durch Gase 
und Peristaltik, chemisch durch Eiter und Darmsaft gelöst werden —, 
abgekapselt bleibt, den gebildeten Eiter in den Darm entleert und 
schliesslich ausheilen kann. Selbst die Projectile können auf diese 
Weise in den Darm gelangen und durch den Stuhl entleert werden. 
So berichtet A. Köhler (Charite-Annalen 1893) über einen perfori- 
renden Bauchschuss, der spontan verheilte und bei dem das Geschoss 
durch den Stuhl abging. 

Am günstigsten für den Eintritt einer abgckapsclten Entzündung 
liegen die Verhältnisse, wenn die Perforationsstelle an einer vom 
Bauchfell freien Seite liegt. Es entsteht dann ein extraperitonealer 
Kothabscess, welcher zu weit ausgedehnter Eiterung und Jauchung 
führen kann, der aber doch mehr Chancen zur Heilung bietet, als 
ein intraperitonealer. Auch bei solchen günstig verlaufenden Fällen 
wird der Gerichtsarzt in seinem Urtheil auf die eventuell später ein¬ 
tretenden Folgen hinweisen müssen. Denn es ist bekannt, dass in 
solchen Fällen stets Verwachsungen der Bauchorgane Zurückbleiben, 
welche zu inneren Einklemmungen oder heftigen Koliken Veranlassung 
geben können. Oft bleiben auch langdauernde fistulöse Eiterungen 


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Ür. Wegener, 


nach solchen abgckapseltcn peritonitischen Eiterungen zurück, welche 
in der verschiedensten Weise mit den Unterleibsorganen coramuniciren 
können und oft nach Jahren durch Marasmus zum Tode führen. 

Die Verletzungen des Dünndarms haben die grösste Mortalität, 
die Wunden des Dickdarms sind im Allgemeinen nicht so gefährlich, 
wie die des Dünndarms, weil der erstere nur zum Theil vom Bauch¬ 
fell überzogen ist und daher der austretende Koth zuweilen zu einem 
extraperitonealen Kothabscess führt. Am häufigsten hat man nach 
Tillmanns Heilungen eintreten sehen nach Verwundungen des Coe- 
cum und des aufsteigenden Colon, dann am Colon descendens und 
unteren Mastdarm. Im Allgemeinen gilt der Satz, dass die Ver¬ 
letzungen des Darms um so gefährlicher sind, je höher hinauf sie 
stattfinden. Aber selbst Perforationen des untersten Darmabschnittes, 
des Mastdarms, haben noch eine Mortalität nach Marion Sims 1 ) 
von 42,7 pCt. 

Fast ohne Ausnahme zum tödtlichen Ausgange führt die perfo- 
rirende Darrawunde, wenn die vorher erwähnten günstigen Zufälle 
nicht eintreten und sich aus der circumscripten Peritonitis oder sofort 
nach dem Kothaustritt eine allgemeine septische Peritonitis entwickelt. 
Der Verletzte wird dann von heftigem Erbrechen und Singultus be¬ 
fallen, wodurch der ausgetretene Koth schnell über das ganze Peri¬ 
toneum verrieben wird; heftige Schmerzen, starker Meteorismus, kleiner 
Puls, hohes Fieber, flache Athmung infolge der Hinaufdrängung des 
Zwerchfells und der oft colossalen Ausdehnung der gelähmten Därme 
etc. treten ein. Der Tod tritt am 4. bis 6. Tage, häufig bereits 
innerhalb 24 Stunden ein. Es ist viel darüber gestritten, wodurch 
der Tod bei septischer Peritonitis verursacht wird. Nach den Ex¬ 
perimenten Wcgner’s kann dies wohl kaum zweifelhaft sein. Nach 
ihm ist die Quadratfläche des Bauchfells jener der äusseren Haut 
nahezu gleich, sie beträgt 17182 qcm, während jene eine Oberfläche 
von 17502 qcm hat. Infolge dieser colossalen Ausdehnung vermag 
das Bauchfell in zwei Tagen ein Exsudat, welches dem Körpergewicht 
gleichkommt, sowohl zu liefern, als auch zu resorbiren. Magen und 
Darm haben selbst eine viel langsamere Resorptionsthätigkeit. Eine 
ganz kleine Quantität Chloralhydrat wirkt z. B., wenn sie in die Peri¬ 
tonealhöhle gebracht wird, fast augenblicklich schlafmachend. Wenn 


1) Brit. med. Journ. 1881. 


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Zur gorichtsärztlichen Beurtheilung der Darmverletzungen. 


31 


wir nun bedenken, dass selbst kleine Abscesse im Körper hohes 
Fieber bewirken können, und dem gegenüberstellen die grossen Mengen 
giftigen Eiters, welche bei einer Peritonitis gebildet und resorbirt 
werden, so wird es nicht zweifelhaft erscheinen, dass durch Resorption 
dieser grossen Mengen von giftigen Stoffen und Toxinen eine allge- 
gemeine Blutvergiftung hervorgerufen wird, welche schnell und sicher 
zum Tode führt. Die reflectorische Einwirkung auf das Herz- und 
Gefässnervensystem kommt hierbei sicher erst in letzter Linie in Be¬ 
tracht, jedenfalls dürfte eine Erklärung des Todes an Peritonitis durch 
Shok wenig Wahrscheinlichkeit für sich haben, man müsste sonst 
Shok mit Collaps identificiren. Bei der Section an eitriger septischer 
Peritonitis Gestorbener findet man den Darm stark aufgetrieben, das 
Bauchfell stark hyperämisch, die Darmschlingen verklebt und mit 
schmutzigen, fibrinös-eitrigen Auflagerungen versehen. In der Bauch¬ 
höhle findet sich ein mehr oder weniger grosser eitriger Erguss, der 
mit Koth untermischt ist. Oftmals, und gerade bei den schwersten 
Formen von Peritonitis, wo der Tod sehr rasch unter zunehmendem 
Collaps eintritt, findet man nur wenige Veränderungen in der Bauch¬ 
höhle, vielleicht nur eine Trübung an einzelnen Stellen des Peritoneum 
und eine leichte Verklebung des Darmes. In solchen Fällen müssen 
wir annehmen, dass die Stoffwechselprodukte der Mikroben, die Toxine, 
besonders giftige Eigenschaften gehabt haben. Bakteriologisch handelt 
es sich um Staphylococcus und Streptococcus pyogenes. Hat der 
Gerichtsarzt bei der Obduction einer an Darmverletzung gestorbenen 
Person den pathologisch-anatomischen Befund einer septischen Peri¬ 
tonitis festgestellt, so wird er nicht anstehen, dieselbe als Todes¬ 
ursache nach § 226 des Str.-G.-B. zu Protokoll zu geben. 

Sollte es sich um die Frage, ob Mord oder Selbstmord vorliegt, 
handeln, so muss der Gerichtsarzt auf die Beschaffenheit der Wunde, 
ob der Sitz derselben und der Wundcanal derartig sind, dass sie von 
eigener Hand beigebracht sein kann, sowie auf die äusseren Umstände, 
in denen die Leiche gefunden wurde, ob noch andere Verletzungen 
vorhanden sind oder ob Spuren eines vorangegangenen Kampfes auf¬ 
zufinden sind, recurriren. Bei Schussverletzungen kommt besonders 
in Betracht, ob der Schuss aus unmittelbarer Nähe abgefeuert ist, ob 
die Kleidungsstücke verbrannt und ob Pulverkörner in der Umgebung 
der Wunde eingesprengt sind. Im Allgemeinen kommen Darmver¬ 
letzungen bei Selbstmördern nicht sehr häufig zur Beobachtung, wohl, 


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32 


Dr. Wegcner, 


wie Soramcrbrodt 1 ) meint, aus dem Grunde, weil der Laie die 
Bauchverletzungen für weniger gefährlich, zum mindesten nicht für 
sofort tödtlich hält. Auch das Bauchaufschlitzen ist bei den Deutschen 
nicht so in Mode, wie bei den Japanesen, bei denen es wohl noch 
aus jener Zeit stammt, wo eine derartige Selbsthinrichtung missliebig 
gewordener Staatsbeamten (Harakiri) noch im Schwünge war. Immer¬ 
hin darf diese notorische Seltenheit der Bauchverletzungen bei Selbst¬ 
mördern für den Ausschluss eines Selbstmordes nicht in Betracht ge¬ 
zogen werden, da oftmals die Phantasie der Selbstmörder, wie Casper 
treffend bemerkt, unberechenbar ist und manchmal auf die grillen¬ 
haftesten Proceduren verfällt (II. S. 291). Ich selbst habe am Orte 
innerhalb zweier Jahre 2 mal Selbstmord durch Bauchaufschlitzen er¬ 
lebt. Der erste Fall kommt nicht in Betracht, weil keine Verletzung 
des Darmes vorlag, sondern nur eine tiefe Stich-Schnittwunde der 
Leber, die nach Tamponade mit Jodoformgaze in wenigen Tagen 
heilte. Im zweiten Falle hatte sich der Selbstmörder, ein Bergmann, 
eine quer über den Bauch, dicht oberhalb des Nabels verlaufende, 
10 cm lange Wunde beigebracht, welche von dem vorgefallenen Netz 
bedeckt war. Unter dem Netz lag ein gleichfalls vorgefallenes Stück 
Dickdarm, welches in einer Ausdehnung von 5 cm vom Mesenterium 
abgetrennt und eine ebenso grosse Zusammenhangstrennung zeigte. 
Der Tod erfolgte 12 Stunden nachher. Ich werde auf diesen Fall 
später noch zurückkommen. 

Briggs (Boston med. Joum. 81) berichtet den Selbstmord eines 
20jährigen Frauenzimmers durch Pistolenschuss, wodurch der Darm 
verletzt wurde. 

Lau gier 2 ) erwähnt einen Geisteskranken, der sich 145 Messcr- 
verletzungen beibrachte, darunter 5 Einstiche in die Nabelgegcnd, 
durch welche 7 Darmschlingen verletzt wurden. 

Bauchschüsse scheinen sich vorwiegend Soldaten in selbstmörde¬ 
rischer Absicht beizubringen und sich meistens ihres Gewehrs hierzu 
zu bedienen. Sommerbrodt erwähnt den Selbstmord eines Pioniers 
des Eisenbahnbataillons, der die Mündung des Gewehres gegen den 
Bauch setzte und sich erschoss, indem er mit der Hand abdrückte. 
Ein Nachmessen der Länge der Arme und des Laufes und ein even¬ 
tuelles Vorfinden eines räumlichen Missverhältnisses wird den Selbst- 


1) Yierteljahrsschr. f. pract. Heilk. Bd. 140. Prag 1878. 

2) Annales d’hygiene publ. et de med. lögale. Mai 1889. 


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Zur gerichtsärztliohcn Bourtheilung der Darm Verletzungen. 


33 


mord nicht ausschHessen, denn der Betreffende kann sich einer künst¬ 
lichen Schussvorrichtung bedienen oder sich, wie jener 17 jährige Cadctt, 
mit dem Bauche über die Mündung beugen und den Drücker mit dem 
Fusse abdrücken (Neudörffer, cit. bei Sommerbrodt). 

Ob beabsichtigter oder zufälliger Selbstmord durch Losgehen eines 
Gewehres vorliegt, läuft forensisch auf dasselbe hinaus, insofern cs 
sich um Ausschluss fremder Schuld handelt. Liegen aber Zweifel 
vor, ob Mord oder zufälliger Selbstmord anzunehmen ist, so wird für 
den Gerichtsarzt, wenn aus den äusseren Umständen keine Schlüsse 
gezogen werden können, die Feststellung der Schussrichtung und der 
muthmasslichen Entfernung von Wichtigkeit sein. Solche Fälle kommen 
wohl mal auf der Jagd vor, wenn ein Jäger mit schussbereiter Flinte 
fällt und ihm die Ladung in den Bauch geht. Ich habe selbst einen 
derartigen Fall vor Augen, wo ein Herr todt im Walde gefunden 
wurde mit einem Schuss im Unterleib. Es war offenbar, dass der 
Mann durch Unvorsichtigkeit um’s Leben gekommen war; nichtsdesto¬ 
weniger tauchten andere Gerüchte auf. Auch folgender Fall ist denk¬ 
bar: Ein Forstbeamter will einem Wilderer das Gewehr abnehmen. 
Beide ringen um das Gewehr, der Schuss geht los und fährt dem 
Förster in den Bauch und zerreisst ihm den Darm. Der Förster wird 
todt aufgefunden, aber auch der Wilderer wird entdeckt und wegen 
Mordes angeklagt. Der Gerichtsarzt stellt aus der Beschaffenheit der 
äusseren Wunde und der Zerrissenheit des Darmes fest, dass der 
Schuss aus unmittelbarer Nähe abgefeuert ist, und kommt ferner in 
Anbetracht, dass der Schusscanal von oben nach unten verläuft, dass 
also das Gewehr beim Losgehen nicht in einer beim beabsichtigten 
Abfeuern gewöhnlichen Haltung sich befunden hat, zu dem Schlüsse, 
dass das Gewehr beim Ringen von selbst sich entladen haben könnte 
und cs sich möglicher Weise nicht um Mord, sondern um fahrlässige 
Tödtung handeln könne. 

Meistens wird allerdings, sofern nicht noch andere lebenswichtige 
Unterleibsorgane mitverletzt sind oder nicht plötzlicher Shok eintritt, 
der Verletzte im Stande sein, noch selbst Aussagen zu machen, da 
die Erfahrung lehrt, dass Darm Perforationen für sich allein fast nie 
augenblicklich den Tod herbeiführen. Diese Thatsache ist für den 
Gerichtsarzt wichtig bei der Beurtheilung, wie lange Denatus nach 
der Verletzung noch gelebt hat, eventuell ob es möglich sei, dass der¬ 
selbe vor seinem Tode noch irgend eine Handlung unternommen habe. 
Man hat Leute mit zerschossenem und vorgefallenem Darm, den Vor- 

Vierteyalirsschr. f. gcr. Med. Dritte Folge. XIV. Suppl.-Heft. o 


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34 


Dr. Wegen er, 


fall in der Hand tragend, noch grosse AVegesstrecken gehen sehen. 
König berichtet von einem derartig Verletzten, dass er, die heraus¬ 
getretenen Eingeweide mit der Hand zusammenhaltend, noch ca. 470 m 
ging und dann mit Unterstützung noch eine Treppe erstieg. Bei der 
Obduction zeigte sich ausser vielfacher Durchlöcherung des Darmes, 
dass sogar noch das Hüftbein in 4 Stücke zerschmettert war. Ebenso 
sah Neudörffer (1. c.) die beiden ersten Verwundeten von Solferino, 
beide mit A^orfällen, das eine Mal des verletzten, das andere Mal des 
unverletzten Darmes, den Weg von ca. 3000 Schritt bis zum Verband¬ 
platz in 25—23 Minuten zurücklegcn. 

Auch wenn sich neben der Darmperforation noch eine andere 
Todesursache findet, muss der Gerichtsarzt bei seiner Beurtheilung 
davon ausgehen, dass der Tod nach Darmperforation selten in wenigen 
Minuten cintritt. Hat beispielsweise bei einer Rauferei Jemand einen 
Stich in den Unterleib mit Perforation mehrerer Darmschlingen be¬ 
kommen, von einem Anderen aber einen Stich in die Brust, der stark 
geblutet hat, und findet er bei der Obduction allgemeine Blutleere, 
im Bauche aber nur einen mittelmässigen blutigen Erguss, so wird 
er der Darmverletzung die Priorität der Todesursache nicht einräumen 
können. 

Sollte es einmal in Frage kommen, ob eine Darmverletzung schon 
im Leben oder erst an der Leiche beigebracht werden ist, so wird 
man nach gehöriger Berücksichtigung der allgemeinen Umstände des 
bet reffenden Falles auf diis A r orhandensein oder Fehlen der sogenannten 
vitalen Rcactionserscheinungen recurriren müssen. Diese bestehen in 
blutiger Imbibition und entzündlicher Schwellung der Wundränder. In 
den meisten Fällen werden sich sowohl an der AAVinde des Darmes, 
wie an der äusseren Bauchwunde diese Erscheinungen fcststellcn lassen, 
und damit w'ird die Entstehung bewiesen sein, allein es können auch 
Fälle ein treten, wo die Unterscheidung schwierig, ja unmöglich sein 
kann. Noch Casper 1 ), gestützt auf die bei seinen Untersuchungen 
sich ergebende verschiedene Resistenz des lebenden und todten Ge¬ 
webes, auf den Mangel der Ecchymosirung, auf den mangelnden Blut¬ 
erguss in den Kanälen und auf das Lciehcnaussehcn der AVundränder, 
hält eine Verwechslung von A T erletzungen an Leichen und Lebenden 
für unmöglich, allein neuere Untersuchungen haben das Gegentheil er¬ 
geben, besonders für die Schussverlctzungcn. Leider, bemerkt Som- 


1) 2. Hundert von gerichtlichen LeichcnülTnungen. 


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Zur gcricliUsärzllichen BouiTheilung der Darm Verletzungen. 


35 


mcrbrodt, wiederholt sieh hier die Erscheinung, dass auf gewissen 
Gebieten der gerichtsärztlichen Praxis mit der wachsenden Erfahrung 
die Zweifel häufig eher zu- als abnehmen. Fehlen äussere Wunden, 
z. ß. bei einer durch einen Schlag auf den Bauch eingetretenen Darm¬ 
ruptur, und ist man lediglich auf eine Darrawunde bei der ßeurtheilung 
angewiesen, so kann die Entscheidung noch schwieriger werden, da 
ja bekanntermassen der Darm nur geringe Neigung zur vitalen Reaction 
zeigt. Auch die sich intra vitam vollziehende, früher besprochene 
Ausstülpung der Mucosa wird nicht immer einen sicheren Anhalts¬ 
punkt geben, da in der Agone noch eine kräftige Peristaltik vorhanden 
zu sein pflegt und durch die Contractionen der Muscularis noch nach 
dem Tode der Schleimhautvorfall hervorgebracht sein kann. Der Ge¬ 
richtsarzt wird dann immer nur sagen können, dass die Verletzung 
bei Lebzeiten oder kurz nach dem Tode beigebracht worden ist. Wird 
endlich längere Zeit nach Beibringung der Verletzung, womöglich bei 
exhumirten Leichen, die Obduction vorgenommen, so wird eine sichere 
Entscheidung unmöglich sein, da die Därme ziemlich früh verwesen, 
weich werden und zum Platzen kommen. Diese cadaveröse Erwei¬ 
chung kann schon nach wenigen Tagen eintreten und zu Irrthümern 
Veranlassung geben. So fand Majer (Fricdreich’s Bl. 1873) bei 
der Obduction einer an Peritonitis gestorbenen Puerpera, welche 
11 Tage nach dem Tode obducirt wurde, eine ovale, 1 1 J 2 Zoll grosse 
Oeffnung im Dünndarm. Wegen des Mangels jeder Spur von vitaler 
Reaction entschied er sich dafür, dass diese Zusammenhangstrennung 
eine cadaveröse Erscheinung sei. 

Zum Schluss kommen wir zu denjenigen Verletzungen des Darmes, 
welche ärztlichen Kunstfehlern zur Last gelegt werden können. Am 
häufigsten geschehen von ärztlicher Seite Verletzungen des Mastdarms. 
Der Chirurg kommt häufig in die Lage, das Rectum absichtlich oder 
unabsichtlich zu verletzen. Namentlich wird bei Ausführung des Stein- 
sclmittcs vom Damme aus der Mastdann leicht angeschnitten, jedoch 
passirt dieses auch den berühmtesten Operateuren und dürfte darum 
kaum forensisches Interesse gewinnen. Auch bei Geburten, nament¬ 
lich bei Zangenextractionen, wenn der Kindskopf gross und die mütter¬ 
lichen Theile rigide und eng sind, wird ein Riss oft weit in den Mast¬ 
dann hinein zustande gebracht. Für solchen completen Dammriss 
wird jedoch der Geburtshelfer, auch wenn er manches Mal nicht ohne 
Schuld ist, kaum zur Verantwortung gezogen werden können, denn, 
wie Sch ro cd er sagt, rcissen die Därme oft wie Zunder und lassen 

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Dr. Wegen er, 


36 

sich hei aller Vorsicht und Geschicklichkeit oft Risse nicht vermeiden. 
Die Folgen werden auch meistens, wenn der Arzt solchen Riss sofort 
vernäht, was seine Pflicht ist, selten, mag er auch nur unvollständige 
sccundäre Heilung erzielen, derartige sein, dass eine Schädigung der 
Wöchnerin durch dauerndes Siechthum infolge Incontinentia alvi her¬ 
beigeführt wird. Bei unterlassener Naht dagegen kann der Arzt, da 
Spontanheilungen nur selten sind und spätere operative Beseitigungen 
der Mastdarminsufficienz grosse Schwierigkeiten und oft mangelhafte 
Resultate haben, gerichtlich herangezogen werden. Ferner kann das 
Einführen der ganzen Hand in den Mastdarm, sowie das unvorsichtige 
Einführen von Bougies Risse und Perforationen des Mastdarmes her¬ 
beiführen. 

Curling (cit. bei Mantzel) sah in der Sammlung des Guy’s 
Hospitals einen vollständig gesunden Mastdarm, den ein Wundarzt in 
der Meinung, eine Strictur vor sich zu haben, 14 Zoll oberhalb des 
Afters mit einer Kerze durchbohrt hatte, so dass der Tod infolge von 
Peritonitis eintrat. 

Aber nicht nur der Mastdarm, sondern auch der übrige Darm 
ist bei Geburten bereits verletzt worden. Die unglaublichsten Vor¬ 
kommnisse werden in dieser Hinsicht erzählt. 

Klusemann 1 ) berichtet über einen Fall, wo eine Hebamme bei 
einer Erstgebärenden die Nachgeburt manuell zu entfernen versuchte. 
Nach langem Herumbohren in den Genitalien, riss sie mit einer er¬ 
heblichen Kraftanstrengung aus der laut schreienden Frau ein Stück 
Darm heraus. Der Tod trat nach 3 Tagen ein. Die Hebamme war 
gar nicht in den Uterus hineingekommen, sondern hatte das hintere 
Scheidengewölbe perforirt und ein Convolut Darmschlingen, darunter 
das total vom Colon ascendens abgerissene Coecum nebst Processus 
vermiformis herausbefördert. 

In Lode’s Journal für Chirurgie vom Jahre 1799 finden sich 
4 ähnliche Fälle. In einem dieser Fälle perforirte ein Arzt ebenfalls 
beim Herausholen der Nachgeburt den Uterus, zog ein Stück Darm 
heraus und befahl der Hebamme dasselbe abzuschneiden. 

Einen völlig analogen Fall finden wir von Rump 2 ) referirt, bei 
welchem noch als erschwerende Umstände vorhanden waren, dass die 
Hebamme den Arzt erst darauf aufmerksam gemacht hatte, dass das 


1) Casper’s Viertcljalirsschr. Bd. 9. S. 2öS. 

2) Zeit sehr. f. Med.-Beamte. V. Jalirg. 1892. 


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Zur gerichtsärztlichen Beurtheilung der Darmverletzungen. 37 

herausgerissene Stück Darm sei, und dasselbe erst auf seinen Befehl 
und auf seine Verantwortung abgeschnitten hatte. Gegen den be¬ 
treffenden Arzt wurde auf Antrag der Königl. Staatsanwaltschaft die 
Anklage erhoben durch Fahrlässigkeit den Tod der Frau verursacht 
zu haben und zwar unter Ausserachtlassung der Aufmerksamkeit, zu 
welcher er vermöge seines Berufs besonders verpflichtet war (§ 222, 
Abs. 1 und 2 des Str.-G.-B.). Es erfolgte darauf die Verurtheilung 
zu 6 Wochen Gefängniss und Tragung der Kosten. Solche Vorkomm¬ 
nisse beweisen, dass nicht nur auf die Ausbildung der Hebamme, die 
ja häufig genug gemeingefährliche Personen sind, sondern auch der 
Aerzte in dieser Beziehung Gewicht gelegt werden muss, und dass 
nicht die beiden obligaten Geburten, bei denen der Candidat der Me- 
dicin doch nur das Zuschauen zu haben pflegt, zum Staatsexamen 
ausreichend sein dürfen. Wenn ich noch nach ca. 80 meist compli- 
cirten Geburten als Hauspraktikant in der Königl. Frauenklinik zu 
Berlin auf die gewöhnlich ungeheuerlich klingende Meldung der Heb¬ 
amme hin mit Herzklopfen hingefahren zu sein mich erinnere, so 
dürften wohl weniger Geübte bei einer vorkommenden stärkeren Nach¬ 
geburtsblutung leicht den Kopf verlieren. Leider ist an kleinen Uni¬ 
versitäten das Material ein derartig geringes, dass Internisten oft vier 
Wochen lang auf ihre Examensgeburt warten müssen. 

Leichter verständlich und weniger belastend für den Arzt dürfte 
wohl das Fehlen in den Fällen sein, wo es sich um die Unterschei¬ 
dung eines eingeklemmten Bruches und der Ruptur des im Bruchsack 
liegenden Darmes handelt. Leicht kann cs passiren, dass infolge 
einer Contusion eines Leistenbruchs der im Bruchsack befindliche 
Darm platzt und vom Arzte, welcher wegen der heftigen Schmerzen 
und des Tumors in der Leistengegend auf eingeklemmten Bruch dia- 
gnosticirt, Reposition gemacht wird, infolgedessen dann der Koth 
in den Bauch gedrückt wird und eine septische Peritonitis eintritt. 

B. Cooper erzählt von einem 40jährigen Manne, der einen 
Fusstritt in die rechte Weiche bekam, wo er nie einen Bruch be¬ 
merkt hatte. Es wurde eine Hernia inguinalis constatirt und reponirt. 
Bald darauf starb der Verletzte unter den Zeichen einer Peritonitis. 
Die Obduction ergab einen Riss im Darm. 

Jobert de Lamballe berichtet, dass ein Mann einen Schlag 
mit einem Stock auf eine alte Inguinalhernie bekam. Nach einigen 
Repositionsversuchen wurde glücklicher Weise Incision gemacht, der 


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38 Dr. Wegcncr, 

Vorgefundene Darm vernäht und der Darm reponirt. Am folgenden 
Tage Tod an Peritonitis. 

Chavignez: Ein 54 jähriger Maurer erhält einen Fusstritt auf 
einen alten Leistenbruch. Reposition. Tod an Peritonitis. Die Ob- 
duction ergab eine Ruptur des Darmes. 

Duguet: 25 jähriger Mann erhält einen Schlag in die rechte 
Weiche. Reposition eines Bruches. Tod nach 25 Stunden an allge¬ 
meiner Peritonitis infolge Darmruptur. 

Eine solche Darmruptur kann also leicht eine eingeklemmte 
Hernie Vortäuschen, doch dürfte solcher Lapsus, wie die vorstehenden 
Fälle zeigen, auch berühmten Chirurgen passiren und darum kaum 
Gegenstand gerichtlicher Verhandlung werden. 

Wegen Ausserachtlassens der Grundregeln der Antiseptik und 
der Wundheilung wird man einen Arzt kaum zur Rechenschaft zu ziehen 
haben, da solche heutzutage den Aerzten in Fleisch und Blut über¬ 
gegangen sind und selbst unbewusst selten vernachlässigt werden 
dürften. Der Erfolg wird dagegen oft, und das trifft besonders für 
die Darraverletzungen zu, den gestellten Erwartungen und Ansprüchen 
nicht entsprechen, und da tritt die Frage auf: Inwieweit können 
Misserfolge dem Arzte zur Last gelegt werden? Schon bei Be¬ 
sprechung der Gefahren haben wir gesehen, mit welchen Schwierig¬ 
keiten oft der Arzt zu kämpfen hat, und wie es oft nicht in seiner 
Macht liegt auch bei günstigen Fällen den letalen Verlauf zu hindern. 
Die Entfernung vom Arzte, die Unreinlichkeit der Kleider und des 
Körpers des Verletzten, die Verunreinigung der Wunde, die oft denk¬ 
bar ungünstigsten Verhältnisse, unter welchen der Arzt seinen Beruf 
auszuüben gezwungen ist, beeinflussen den Ausgang. 

Nehmen wir den Fall an, einem Manne auf dem Dorfe sei im 
Streite der Bauch aufgeschlitzt. Der Mann wird den vorgefallenen 
und verletzten Darm mit seinen schmutzigen Händen festhalten, wenn 
nicht zurückzubringen suchen und infolgedessen die ganze Oberfläche 
mit Koth besudeln. Es vergeht oft lange Zeit, ehe der Arzt zur 
Hand ist, in der Zwischenzeit wird darum der Vorfall mit keineswegs 
aseptischen Tüchern bedeckt. Schliesslich erscheint der Arzt, ahnungs¬ 
los, dass es sich um eine solche Verletzung handelt, ohne ausreichende 
Dcsinficientien und Instrumente. Bis alles zur Hand ist, sind ge¬ 
wöhnlich schon Stunden verflossen, und der Darm meistens kalt und 
trocken, ln dem auf Seite 32 von mir erwähnten Falle kam der 
Arzt ebenfalls ahnungslos an und fand den Verletzten bereits collabirt; 


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Zur gerichtsärztlichen Beurtheilung der Dannverletzungen. 


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der Puls war nicht zu fühlen, kalter Schweiss bedeckte die Stirn, 
der vorgefallene Darm fühlte sich kalt an, die Scrosa war matt und 
trocken. Nachdem die Instrumente ausgekocht, Desinficientien und 
Verbandzeug herbeigeschafft waren, waren bereits 2 Stunden ver¬ 
gangen. Die Dauer der ohne Narkose vorgenommenen Naht bis zur 
Schliessung der Bauchwunde dauerte ebenfalls 2 Stunden. Der Tod 
erfolgte 12 Stunden nachher, ohne dass der Verletzte sich wieder er¬ 
holt hätte offenbar an Shok infolge der langen Abkühlung der Därme, 
denn die Obduction ergab keinen fremden Inhalt in der Bauchhöhle, 
keine Auflagerungen und Verklebungen, und die Nähte hielten voll¬ 
ständig dicht. 

Man hat zwar die wunderbarsten Heilungen gesehen. 

Nussbaura führt einen Fall an, den Gurlt im chirurgischen 
Archiv von v. Langenbeck als Auszug aus einem englischen klini¬ 
schen Bericht mittheilt. Einem Hirtenknaben wurde von einem Widder, 
welcher den mit ihm gemachten Spass nicht verstand, der Bauch 
aufgcschlitzt, sodass die Gedärme und der Magen vorficlen. Der 
Widder verfolgte den schwer verletzten Knaben. Dieser kroch, um 
dem Widder zu entgehen, an einen Graben hin und liess sich in 
denselben hinunterrollen. Dort lag er von Dornen und schmutzigem 
Sande umgeben der Sonnenhitze ausgesetzt und wurde endlich ohn¬ 
mächtig. So fand man ihn nach mehreren Stunden und brachte ihn 
in die Klinik. Die Gedärme waren voll Sand und Dornen und ganz 
vertrocknet. Man weichte dieselben mit warmem Wasser auf, repo- 
nirtc sie und schloss die Wunde. Der Verletzte genas. 

Gal 1 ) berichtet von einer 45 jährigen Bäuerin, welcher von einer 
Kuh die ganze linke Bauchseite aufgeschlitzt wurde, sodass die Därme 
hcrausfielen. 9 Stunden später fand man sie, die Därme in ein 
schmutziges Tuch gehüllt. Heilung in 3 Wochen. 

Schetelig 2 ) erzählt von einem ebenso günstig verlaufenden 
Falle und sagt: Wir sind gewohnt jedes unvorsichtige gewaltsame 
und abkühlende Behandeln etwa vorgefallener in die Manipulation 
hineingezogener Darmschlingen aufs äusserstc zu vermeiden. Hier 
lag ein beträchtliches Stück Intestinum 9y 2 Stunden ausserhalb des 
Peritonealraums, beschmutzt mit Fäces, Erde und Stroh, abgekühlt 
durch grobe nasse Lappen, eingeschnürt und ödematös geschwollen 


1) Wiener med. Presse. No. 21. 

2) Bert. klin. Wochenschr. 1888. 


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Dr. Wegener, 


und durch lividc Färbung Gefässstauung verrathend. Trotz alledem 
Heilung in bester Form und 1100 h dazu bei einem 60 jährigen decre- 
piden Manne. 

Solche wunderbaren Heilungen sind zu allen Zeiten dagewesen, 
sie gehören jedoch zu den Raritäten und setzen die eminente Gefähr¬ 
lichkeit solcher Verletzungen nicht herab. Mag jedoch der Fall auch 
noch so aussichtslos erscheinen, so darf bei der Uebemahme der Be¬ 
handlung einer solchen Verletzung der Arzt nie vom Pessimismus, 
dass der tödtliche Ausgang doch nicht zu vermeiden ist, befallen 
werden, jedenfalls sein Handeln nicht dadurch beeinflussen lassen. 
Stets ist es seine Pflicht, wenn auch grosse Mengen von mit Wunden 
bedecktem Darm vorgefallen sind, solche kunstgemäss zurückzubringen, 
oder die Zurückbringung wenigstens zu versuchen Wie die Erfahrung 
lehrt, stösst die Zurückbringung allerdings häufig auf Schwierigkeiten, 
indem die Darmmassen sich nicht durch die kleine Bauchwunde zu- 
rückbringen lassen, sondern im Gegentheil bei den Repositionsver¬ 
suchen noch mehr vorfallen. Es bleibt dann dem Arzte weiter nichts 
übrig, als die Bauchwunde zu erweitern, aber diese Erweiterung muss 
exaet geschehen und die ganze Dicke der Bauchwand betreffen, weil 
es sonst leicht, geschieht, dass die Gedärme nicht durch das kleine 
Loch im Bauchfell in die Bauchhöhle zurückgelangen, soodern die 
Zellgewebslagen zwischen den Muskeln und unter der Haut ausein¬ 
andergedrängt und geräumige Höhlen in der Bauchwand selbst ge¬ 
schaffen werden. 

Rehm (Friedreich’s Bl.) berichtet über 3 solcher Fälle. Der 
erste Fall betrifft einen Söldner M., der einen Messerstich in den 
Unterleib erhalten hatte, infolgedessen Darmschlingen vorfielen. Der 
Arzt vernähte die verletzten Därme, erweiterte die Hautwunde und 
brachte die Därme zurück. Der Tod trat D /2 Tage nach der Ope¬ 
ration ein. Bei der Section fand man den vorgefallenen Dünndarm 
in eine solche falsche Höhle eingebettet. Im 2. Falle wurde der 
Häusler M. so in den Unterleib gestochen, dass verletzte Darraschlin- 
gen vorfielen. Der Arzt vernähte den Darm und brachte das Packet 
Därme zurück. Nach y 2 Stunde trat der Tod ein. Bei der Obduc- 
tion fand man den Darm in eine falsche Höhle eingebettet. Im 
3. Falle, wo ein Bauer F. ebenfalls einen Messerstich in den Unter¬ 
leib erhalten hatte, war gleichfalls zwischen Bauchfell und Bauchwan¬ 
dung eine Anzahl dunkelrother mehrfach verletzter Dünndarmschlingen 
eingeklemmt, ln allen 3 Fällen hatten die Aerzte gegen die Regeln 


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Zur gerichtsärztlichen Beurtheilung der Darmverletzungen. 41 

der Chirurgie gefehlt. Rehra knüpft folgende zutreffende Betrach¬ 
tungen daran: Abgesehen von der überaus gefährlichen Verletzung, 
welche eine Bauchwunde mit Vorfall zahlreicher verletzter Dünndarm¬ 
schlingen darstellt, und abgesehen von der mit der Zurückbringung 
derselben als unabwendbar geschilderten Gefahren, musste doch zur 
Erzeugung der falschen Wege auf den vorgefallenen Darm eine un- 
verhältnissmässige Gewalt ausgeübt werden, fernerhin wurde eine 
neue umfangreiche Wundfläche geschaffen und auch in diese noth- 
wendig die Gefahr einer Infection von aussen getragen. Für letzte 
Verhältnisse und die daraus entstehenden Gefahren ist das Handeln 
des Arztes verantwortlich zu machen. Nur die erfahrungsmässige 
Wahrscheinlichkeit des tödtlichen Ausgangs dieser Bauchwunden auch 
ohne das unrichtige ärztliche Handeln liess vor Gericht von der Frage 
des Kunstfehlers abschen. 

Ganz anders gestaltet sich die Beurtheilung der Handlungsweise 
des Arztes, wenn es sich um Beantwortung der Frage handelt, ob 
der Arzt verpflichtet ist in gegebenem Falle eine Laparotomie zu 
machen, oder nicht. Zwar hat der Gerichtsarzt in erster Linie nur 
festzustellen, ob in einem betreffenden Falle der Tod infolge der Ver¬ 
letzung eingetreten ist, ohne Rücksicht darauf, ob durch eine andere 
ärztliche Behandlung der letale Ausgang hätte abgewandt werden 
können, allein er wird es manches Mal nicht vermeiden können, bei 
seiner Beurtheilung auch diesen Punkt zu berühren, zumal, wenn vom 
Vertheidiger des Schuldigen, um vielleicht eine mildere Strafe zu er¬ 
wirken, geltend gemacht werden sollte, dass die Verletzung nicht 
nothwendig zum Tode geführt haben würde, wenn der Verletzte in 
eine Klinik überführt und dort die Laparotomie gemacht worden 
wäre. Darauf müssen wir antworten, dass die Laparotomie schon an 
und für sich ein lebensgefährlicher Eingriff ist, und ebensowenig, wie 
ein Mensch gezwungen werden kann, einen solchen an sich vornehmen 
zu lassen, kann auch der Arzt und namentlich der alleinstehende 
Arzt, dem die nöthige Assistenz, die nöthigen Räumlichkeiten und 
der nöthige antiseptische Apparat — eine conditio sine qua non — 
fehlen, verpflichtet sein, einen solchen Eingriff zu wagen. In einer 
Klinik liegen die Verhältnisse schon bei weitem anders, allein auch 
unter den Klinikern herrschen über die Opportunität der Vornahme 
dieser Operation bei Darmverletzungen noch grosse Meinungsverschie¬ 
denheiten und für seine Handlungsweise wird der Arzt in jedem Falle 
das Urtheil von namhaften Autoren ins Feld führen können. Ist die 


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Dr. Wegen er, 


Bauchhöhle durch die Verletzung bereits eröffnet, wie bei Stich- und 
Schnittwunden, so wird sich der Arzt schon leichter entschlossen 
können, die Wunde zu erweitern und den Darm nach Verletzungen 
abzusuchen ungeachtet der Gefährlichkeit der sich daran knüpfenden 
Manipulationen, handelt, es sich aber um die muthmassliche Ruptur 
eines Darmes bei unverletzten Bauchdecken, und muss der Arzt auf 
seine Verantwortung hin die Bauchhöhle erst eröffnen, so gehört schon 
eine gewisse Kühnheit dazu. Denn die Diagnose solcher Rupturen 
ist immer eine unsichere und man erkennt sie eigentlich erst an den 
Folgen, noch mehr aber die ungefähre Bestimmung des Sitzes einer 
solchen, der sich nicht immer, wie v. Beck meint, durch die locale 
Schmerzhaftigkeit mit ziemlicher Genauigkeit bestimmen lässt. Auch 
die Senn'sehen Gaseintreibungen haben ihro diagnostische Berühmt¬ 
heit verloren, seitdem experimentell nachgewiesen ist, dass durch die¬ 
selben auch Koth in die Bauchhöhle cingetricben worden ist. Immer¬ 
hin hat man in neuerer Zeit mit Recht ein baldiges operatives Ein¬ 
greifen empfohlen, während man früher mit einer abwartenden Therapie 
unter Verordnung von Opium und unbedingter Ruhe sich begnügte. 
Namentlich nach den Experimenten von Parkes ist darin ein Wandel 
eingetreten. Von 37 Hunden, welchen Parkes Schusswunden bei¬ 
brachte, starben 15 an Verletzung der grossen Unterleibsgefässe, resp. 
an ausgedehnter Verwundung der inneren Organe, 1 an Tetanus und 
2 nur leicht verletzte, aber exspeetativ behandelten Thiere starben 
ebenfalls. Von den übrigen 19 wurden 9 durch Laparotomie am 
Leben erhalten. D. Barrow hat 112 Fälle von Laparotomie w r egcn 
Unterleibsverletzungen analysirt, wonach die Mortalität 66,27 pCt. 
betrug, während sie ohne Operation 90 pCt. übersteigt. Mac Cormae 
fand unter 56 Fällen von Schuss- und Stichwunden des Darmes, 
welche durch Laparotomie und Darmnaht behandelt wurden, 42 Hei¬ 
lungen und 14 Todesfälle. Auch Thomas Morton sammelte in der 
Literatur 57 Fälle von Laparotomie und zwar 22 Schussverletzungen 
mit 5 Heilungen, 19 Stichwunden mit 12 Heilungen, 10 Blasenzcr- 
rcissungen mit 4 Heilungen, 5 Darmzerreissungen mit keiner Heilung, 
also eine Gesammtmortalität von 63 pCt. Mikulicz und Lücke 
haben selbst bei perforirten Typhusgeschwüren operirt und Heilungen 
erzielt, kein Wunder, dass sie bei solchen Resultaten begeisterte An¬ 
hänger der Laparotomie geworden sind. Man ist schliesslich so weit 
gekommen, sogar eine bereits bestehende Peritonitis nicht als Contra- 
indication für die Laparotomie anzunehmen, ln neuester Zeit haben 


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Zur gerichtsärztlichen Bcurtheilung der Darmverlctzungen. 43 

sich nun im Gegensatz zu den Amerikanern, die einen sofortigen Ein¬ 
griff verlangen, die englischen und deutschen Chirurgen für ein ab¬ 
wartendes Verfahren ausgesprochen und nur bei Schuss Verletzungen 
eine sofortige Operation anempfehlen. Karczcwski 1 ) stellt für die 
Behandlung der penctrirenden Bauchverletzungen folgende Grundsätze 
auf: Bei Verletzungen, die durch ein scharfes Instrument erzeugt 
wurden, kann von der Laparotomie dann Abstand genommen werden, 
wenn sonst keine dringende Indication vorliegt, oder der Arzt mit 
der Technik der Operation zu wenig vertraut ist, oder eine aseptische 
Ausführung derselben nicht gewährleistet werden kann. Nach Schuss¬ 
verletzungen soll, wenn nicht mehr als 4 Stunden verstrichen sind, 
auch dann operirt werden, wenn auch sonst sichere Zeichen einer 
Darmverletzung fehlen. Bei bereits bestehender Peritonitis soll nicht 
mehr laparotomirt werden, höchstens bei sehr gutem Kräftezustand 
des Patienten. Ebenso spricht die Erfahrung gegen ein operatives 
Eingreifen im Felde. 

In Rücksicht auf die Gefährlichkeit der Vornahme einer Laparo¬ 
tomie, in Rücksicht auf die Verschiedenheit der Ansichten chirur¬ 
gischer Autoren, muss es daher in jedem einzelnen Falle dem Er¬ 
messen des einzelnen Arztes überlassen werden, ob er den Versuch 
einer operativen Behandlung wagen will. Eine Unterlassung der La¬ 
parotomie kann ihm jedenfalls nicht als Kunstfehler angerechnet werden. 

Andererseits kann ihm aber auch, falls er diese Operation vor¬ 
zunehmen für nöthig erachtet hat und dennoch der tödtliche Ausgang 
eingetreten ist, solcher nicht zur Last gelegt werden, denn er hat 
nur seine Pflicht gethan und die Regeln, welche seine Wissenschaft 
ihm vorschrieb, befolgt. Befand sich wirklich ein Loch ira Darm, 
durch welches derselbe mit der Bauchhöhle communicirte, so war die 
Prognose für das Leben des Verletzten infaust genug, eine vorge- 
nommenc kunstgerechte Operation konnte sie höchstens verbessern. 


Die Hauptergebnisse vorstehender Arbeit fassen wir in folgenden 
Punkten zusammen: 

1. Spontanrupturen des Darmes können den Verdacht einer Ver¬ 
giftung hervorrufen. 

2. Verletzungen des Darmes, w'elche auf dem Wege durch Mund. 


1) Wiener klin. Wochensclir. 1894. 8. 


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t)r. Wegen er ^ 

und After entstehen, können durch ihre Folgezustände zu gerichts¬ 
ärztlicher Beurtheilung Veranlassung geben. 

3. Bestehende Darmstricturen müssen als Siechthum aufgefasst 
werden, insofern sie nicht nur heftige Koliken, sondern auch eine 
Disposition zur Geschwürsbildung und Ruptur abgeben. 

4. Für Shok ist noch kein bestimmter Obductionsbefund fest¬ 
gestellt. Der Tod durch Shok lässt sich nur aus den äusseren Um¬ 
ständen, sowie durch Ausschluss anderer Todesarten feststellen. 

5. Bei nach Contusionen des Bauches eintretendem Shok spielt 
die directe Reizung der herzregulatorischen Hemraungsfasern des Vagus 
eine grosse Rolle. 

6. Axendrehungen und Einschiebungen des Darmes können auf 
traumatische Weise entstehen. 

7. Durch Bauchcontusionen können Circulationsstörungen am Darm 
verursacht werden, welche zur Mortification und Abstossung einzelner 
Schichten oder der ganzen Dicke der Darmwandungen mit nach¬ 
folgender Verengerung, Geschwürsbildung oder Perforation führen 
können. 

8. Bei allen Darm Verletzungen, welche Geschwürsbildung und 
narbige Verengerung bewirken, können die Folgen, wenn auch die 
Verletzten als geheilt erscheinen, noch nach Jahr und Tag auftreten. 

9. Bei subcutanen Rupturen des Darmes infolge von Contusionen 
der Bauchdecken zeigen letztere in den meisten Fällen keine Spur 
einer Verletzung. 

10. Der Richter soll deshalb von seinem Rechte, schon zur 
Leichenschau einen Arzt hinzuzuziehen, Gebrauch machen, da er- 
fahrungsmässig der Mangel äusserer Verletzungen nicht ausschliesst, 
dass der Tod durch Bauchfellentzündung infolge von traumatischer 
Darmzerreissung dem strafbaren Verschulden eines Dritten zuge¬ 
schrieben werden muss. 

11. Das Nichtentweichenkönnen des Darmes ist bei der Ent¬ 
stehung einer traumatischen subcutanen Darmruptur die Haupt¬ 
bedingung. 

12. Eine zu starke oder zu lange Abkühlung des Darmes führt 
durch Shok zum Tode. 

13. Ein Anus praeternaturalis ist als Siechthum aufzufassen, 
selbst wenn er durch Operation geheilt wird. 

14. Eine perforirende Darmwunde muss stets als tödtliche Ver¬ 
letzung angesehen werden. 


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Zur gerichtsärztlichen Beurthcilung der Darmverletzungen. 45 

15. Aus jeder circumscripten Peritonitis kann zu jeder Zeit eine 
allgemeine sich entwickeln. 

16. Der Tod an Peritonitis erfolgt infolge allgemeiner Blutver¬ 
giftung durch Resorption der Stoffwechselproducte des Staphyloeoccus 
und Streptococcus pyogenes. 

17. Darmperforationen für sich allein führen, wenn nicht Shok 
eintritt, fast nie augenblicklich zum Tode. 

18. Die Unterlassung einer Laparotomie kann dem Arzt nicht 
als Kunstfehler angerechnet werden. 


Literatur. 

1. Paul Coillot, Des ltfsions de l’intestine et de l’estomac. Inaug.-Dissert. 
Paris 1885. 

2. C. A. Ewald, Klinik der Verdauungskrankheiten. II. Berlin 1893. 

3. Friedreich’s Blätter für gerichtliche Medicin und Sanitätspolizei. 25., 42. und 
43. Jahrg. 

4. H. Eulenberg, Vierteljahrsschr. f. gerichtl. Medicin und öffentl. Sanitäts¬ 
wesen. Bd. 16, 17, 43 u. 53. 

5. B. v. Langonbeck, Archiv f. klin. Chirurg. Bd. XXXIV. 1887: L. Edler, 
Traumatische Verletzungen der parenchymatösen Unterleibsorgane. 

6. The Atlanta, medical and surgical Journal. Vol. II. 1885. 

7. Gussenbauer, Traumatische Verletzungen. Stuttgart 1880. 

8. Ign. Mair, Gerichtlich-medicinische Casuistik der Körperverletzungen und 
Tödtungen. 

9. A. JobertdeLamballe, Les plaies du canal intestinal. Paris 1826. 

10. The medical and surgical Reporter. Philadelphia 1887. 

11. Schalenkamp, Ueber Pfählung. Inaug.-Dissert. Bonn 1891. 

12. Salingrä, Ueber Pfählungsverletzungen. Inaug.-Dissert. Berlin 1893. 

13. Erdmann, Die Laparotomie bei penetrirenden Bauchwunden. Inaug.-Diss. 
Berlin 1893. 

14. A.W.Varges, Zeitschr. f. Medicin, Chirurgie u. Geburtshülfe. Leipzig 1861. 

15. Bouness, Bauchfellentzündung nach Perforation innerer Organe. Inaug.- 
Dissert. Berlin 1877. 

16. Letz, Ueber die Gefährlichkeit der Stichwunden. Inaug.-Diss. Berlin 1S83. 

17. J. L. Casper, Gerichtliche Leichenöffnungen. Berlin 1853. 

18. II. Nothnagel, Physiologie und Pathologie des Darmes. Berlin 1884. 

19. Joh. Orth, Lehrbuch der speciellen pathologischen Anatomie. Berlin 1887. 

20. Klebs, Handbuch der pathologischen Anatomie. Berlin 1868. 

21. Virchow, Archiv f. patholog. Anatomie u. Physiologie. Bd. 5, 44, 45 u. 67. 

22. Adolph Henke, Lehrbuch der gerichtl. Medicin. Berlin 1838. 

23. Bardeleben, Lehrbuch der Chirurgie und Operationslehre. Berlin 1861. 

24. Ziemssen, Pathologie und Therapie. VII. 2. Leipzig 1878. 


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46 Dr. Wogencr, Zur gerichtsärztlichen Beurtheilung der Darm Verletzungen. 


25. Casper-Liman, Handbach der gerichtl. Medicin. Berlin 1882. 

26. König, Lehrbuch der speciellen Chirurgie. Berlin 1889. 

27. Wiener, Sammlung gerichtlich-medicinischer Obergutachten. 1891. 

28. Zeitschr. f. Medicinal-Beamte. Berlin 1890 und 1892. 

29. Wernich, Yierteljahrsschr. f. gerichtl. Medicin u. öffentliches Sanitätswesen. 
Bd. I. u. V. 

30. Nussbaum, Die Verletzungen des Unterleibes. Stuttgart 1880. 

31. A. Köhler, Charite-Annalen. 12., 15. u. 18. Jahrg. 

32. Sommerbrodt, Ueber Schussverletzungen der Bauchorgane vom gericht¬ 
lichen Standpunkte aus. Vierteljahrsschr. f. practische Heilkunde. Bd. 140. 
Prag 1878. 

33. A. Kirstein, Ueber perforirende Darmwunden vom gerichtsärztlichen Stand¬ 
punkte. Allgern. med. Central-Zoitung. 

34. Tillmanns, Lehrbuch der speciellen Chirurgie. Leipzig 1894. 


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Die Verletzungen des Zwerchfells vom gericlits 
ärztlichen Standpunkte. 

Von 

Krcisphysikus Dr. L. Israel in Medenau (Ostpr). 


Das Zwerchfell ist nächst dem Herzen der wichtigste Muskel des 
menschlichen Körpers; wie dieses als Ccntralorgan des Gefässsystems 
den Blutkreislauf zu bewältigen hat, ist das Zwerchfell ein integriren- 
der Theil der Athmungsorgane. Herz und Zwerchfell sind beide un¬ 
unterbrochen thätig; die Störung oder theil weise Unterbrechung ihrer 
Leistungsfähigkeit durch die Einwirkung einer äusseren Gewalt bedingt 
für den Verletzten stets eine grosse Gefahr. Haben somit Verletzungen 
des Zwerchfells schon deswegen meist eine erhebliche Störung der 
Gesundheit zur Folge, so sind sie auch wegen der Nachbarschaft 
vieler lebenswichtiger Organe stets ernst zu nehmen. Als Scheide¬ 
wand zwischen Brust- und Bauchhöhle ausgespannt, ist es von Pleura 
und Peritoneum überzogen; Herz und Lungen einerseits, Milz und 
Leber andererseits sind ihm angelagert, die grossen Blut- und Lymph- 
gefässe, Nerven und Speiseröhre passiren das Zwerchfell. Es ist end¬ 
lich in Action bei der Wirkung der Bauchpresse, ohne welche die 
Fortbewegung der Darmcontenta, der venöse Kreislauf des Unterleibes, 
die Sceretion der Untcrlcibsdrüsen u. s. w. nicht normalitcr von Statten 
gehen können. Bei der hohen Wichtigkeit des Organs muss der Gc- 
riohtsarzt naturgemäss auch jeder gewaltsamen Functionsstörung und 
Verletzung desselben seine volle Aufmerksamkeit schenken. 

Die Verletzungen des Zwerchfells sind keineswegs sehr selten, 
doch ist in der gcrichtsärztlichcn Praxis nur wenig davon die Rede. 
Selten nämlich sind solche Verletzungen isolirt, in den meisten Fällen 
treten complicircnde Wunden und deren Symptome in den Vorder- 


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Dr. Israel, 


grund. Am seltensten kommen, wie v. Hofmann in seinem Lehr¬ 
buche 1 ) bemerkt, isolirte Rupturen vor, deren Entstehung eine be¬ 
deutende Gewalt erfordert und kaum andere Organe intact lassen 
wird. Bei solchen Verletzungen schwerster Art pflegen Rupturen von 
parenchymatösen Organen, Fracturen des Schädels und der Wirbel¬ 
säule, innere Verblutung den Tod herbeizuführen, so dass eine bei 
der Obduction Vorgefundene Zwerchfellruptur eine nur nebensächliche 
Rolle spielt. Stich- und Schussverletzungen können sowohl von der 
Brust- als von der Bauchhöhle her das Zwerchfell treffen; nicht so 
selten aber wird, wie vielfach angenommen wird, durch das Werkzeug 
eine isolirte Wunde des Zwerchfells hervorgerufen. Wenn wir auf die in 
der Literatur Vorgefundenen Fälle Rücksicht nehmen, so können wir 
der Ansicht Hub er’s 2 ) nicht beipflichten, der da behauptet, es dürfte 
selbst einem geschickten Anatomen schwer werden, eine Stichver¬ 
letzung des Zwerchfells hervorzubringen, ohne Brust- und Abdominal¬ 
organe zu verletzen und der die Annahme gerechtfertigt hält, dass 
wohl in der Regel bei Stichverletzungen der untere Lappen der Lunge 
mitverletzt ist. 

In der vorliegenden Arbeit habe ich es mir zur Aufgabe gemacht, 
im Wesentlichen isolirte Zwerchfell-Verletzungen abzuhandeln und 
von denjenigen Folgeerscheinungen zu sprechen, welche in vivo und 
am Sectionstisch Gegenstand gerichtsärztlicher Begutachtung werden 
können. Für die Beurtheilung solcher Verletzungen, des Sitzes, der 
Entstehungsweise und des Verlaufes ist es aber ebenso wie für die 
Stellung der Diagnose von grösster Wichtigkeit, sich mit den ein¬ 
schlägigen anatomischen Verhältnissen vertraut zu machen, weshalb ich 
eine Schilderung derselben, soweit sie den Gerichtsarzt interessiren, 
vorausschicken möchte. 

Der periphere, muskulöse Theil des Zwerchfells zerfällt in drei 
Abschnitte: Lendentheil, Rippentheil und Brusttheil; letzterer ent¬ 
springt vom Proc. ensiformis stemi, zwischen den inneren, sich kreu¬ 
zenden Schenkeln des erstgenannten Theiles liegt der Hiatus aorticus. 
Der centrale, sehnige Theil (Centrum tendineum) hat die Form eines 
dreiblättrigen Kleeblattes; er ist an der oberen Fläche grösstentheils 
mit dem Herzbeutel verwachsen und hat rechts das For. quadrilaterum 


1) v. Hofmann, Lehrbuch der gerichtl. Medicin. 6. Aull. 1893. S. 479. 

2) I)r. Huber, Zur Casuistik der Zwerchfellwunden. Friedreich’s Blätter f. 
gerichtl. Medicin. V. Heft. 1883. 


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Verletzungen des Zwerchfells vom gerichtsärztlichen Standpunkte. 


49 


pro vena cava inf. Das Zwerchfell hat eine doppelte Wölbung, die 
rechtcrseits grösser ist (Leber!); beim Einathmen flachen sich die 
Wölbungen ab, wodurch der Thoraxraum erweitert wird. Während 
durch die Action der Rippen der Brustkorb mehr von vorn nach hinten 
und von links nach rechts erweitert wird, verursachen die Contrac- 
tionen des Zwerchfells eine Erweiterung des Innenraumes von oben 
nach unten. Das Zwerchfell ist der Hauptrespirationsmuskel, was 
schon daraus hervorgeht, dass nach beiderseitiger Phrenicus-Durch- 
schneidung der Tod erfolgt. Das Centr. tend. steigt beim Jnspirium 
am wenigsten herab, daher kommt es, dass dasselbe bei tiefstem 
Zwcrchfcllstande am höchsten gegen den Thoraxrand hinaufragt. Die 
veränderliche Stellung des Zwerchfells während des Athmcns giebt 
uns die Erklärung, weshalb bei einer und derselben Verletzung 1. ver¬ 
schiedene Theile desselben getroffen werden, 2. warum complicircnde 
Verletzungen der Nachbarorgane entstehen oder ausbleiben können. — 
Ausser den beiden oben genannten Ocffnungen (Hiatus aorticus und 
For. quadrilaterum) müssen wir noch einige andere erwähnen, weil sie 
gelegentlich die Durchtrittsstelle für Baucheingeweide bilden können: 
a) For. oesophageum. b) For. Morgagni, eine von Fettgewebe aus- 
gefüllte Lücke hinter dem Sternum, zwischen der vom Proc. xiphoid. 
entspringenden Stcmalportion und den zu beiden Seiten gelegenen, 
von den VII. Rippenknorpeln abgehenden ersten Costalzacken. c) For. 
Bochdaleki, eine ähnliche dreieckige Lücke mit fettreichem Binde¬ 
gewebe, hinten zwischen dem äusseren Schenkel und den nächsten, 
sich an die XII. Rippe ansetzenden Muskelzacken; es wird rechts 
besser als links geschlossen, d) Die Durchtrittsstelle des N. sym- 
pathicus. e) Ein Muskel-Interstitium zwischen den Balken der Pars 
muscularis costalis und vertebralis, das nur durch Pleura und Peri¬ 
toneum geschlossen ist. 

Wir gehen nunmehr zur Besprechung der einzelnen Arten der 
Zwerchfell-Verletzungen über und fassen zuerst die durch stumpf 
wirkende Gewalt hervorgerufenen Rupturen in’s Auge. Die 
Contusionen, welche mit breiter Oberfläche und einer gewissen Gewalt 
den Körper treffen, bringen eine Erschütterung des Thorax zu Wege, 
welche sich auf das Zwerchfell fortpflanzen und es so anspannen 
kann, dass die Widerstandsfähigkeit zu gering wird und eine Conti- 
nuitätstrennung eintritt. Darüber, ob die Rupturen in einem bestimmten 
Falle während der Exspiration oder Inspiration entstanden sind, herrscht 

Viertoljahrsschr. f. ger. Med. Dritte Folge. XIV. Suppl.-Heft. 4 


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Dr. Israel, 

unter (len Autoren noch Meinungsverschiedenheit. Schuster 1 ) hält 
die Inspirationsstellung des Zwerchfells für das Zustandekommen der 
Rupturen am günstigsten, weil dasselbe dann im Zustande der Con- 
traction die grösste Spannung besitzt. Als Gelegenheitsursachen nennen 
wir: Ueberfahren- und Verschüttetwerden, Fall von beträchtlicher Höhe, 
des Gerathen zwischen Eisenbahnpuffer, directe Schläge auf Brust und 
Bauch, Quetschungen durch Maschinentheile. Dafür, dass die über¬ 
mässige Anstrengung der Bauchpresse unter Umständen eine Zerreissung 
des Zwerchfells hervorbringen könne, finden sich mehrere Beispiele in 
der Literatur. So erwähnt Weydenmeyer 2 ) in Fall 9 einen Riss 
des Zwerchfells infolge starker Geburtswehen bei einer jungen Frau, 
ferner einen solchen bei einem Manne, der einen Sarg, welcher hinab- 
zufallcn drohte, zurückhielt; ferner sind Fälle beschrieben, wo durch 
grosse Anstrengungen bei Raufereien, heftige Drehbewegungen beim 
Fall auf dem Eise isolirte Zwerchfellsrupturen eintraten. Auch durch 
Fall auf die Tubera ischii, wobei säramtliche Abdominalorgane nach 
oben gegen das Zwerchfell gedrängt werden, kann sich bei gleich¬ 
zeitigem Glottis Verschluss ein Einriss im Zwerchfell durch indirecte 
Gewalt einstellen (Dietz 3 ). Indessen wird man bei Rupturen dieser 
Art, nämlich infolge übermässiger Anstrengung der Bauchpresse, stets 
sich der Annahme zuneägen müssen, dass meist prädisponirende Mo¬ 
mente für die Zerreissung bestanden haben. Zu solchen rechnen wir: 
Fettige Entartung des Muskels bei allgemeiner Fettsucht, bei Alkoho¬ 
lismus und chronischen Vergiftungen; vorausgegangene Pleuritis mit 
schwartigen Verdickungen, die auf das Zwerchfell übergehen, endlich 
partielle, mangelhafte Entwicklungszustände. Mit Bestimmtheit werden 
wir aber solche Degenerationszustände in denjenigen Fällen voraus¬ 
setzen müssen, in welchen Zerreissungen des Zwerchfells lediglich in¬ 
folge heftigen Erbrechens vorgekommen sein sollen; ohne eine solche 
Disposition dürfte wohl eine so schwere Verletzung durch den Brech¬ 
act allein nicht hervorgerufen werden. Wir hätten endlich noch den 
äusserst seltenen Fall von B rem me 4 ) zu erwähnen, bei welchem die 


1) Dr. Schuster, Ueber die Verletzungen der Brust durch stumpf wirkende 
Gewalt vom gerichtsärztlichen Standpunkte. Zeitsclir. f. Heilk. I. Bd. 1880. 

2) Weydenmeyer, Des ruptures du diaphragme au point de vue m£dico- 
legale. Lyoner These. Serie 1. Facult6 de M6d. et de Pharm, de Lyon. 1893. 

3) E. Dietz, Neue Beobachtungen über die Hernien des Zwerchfells, Inaug.- 
Dissert. Strassburg 1881. 

4; Bremme, Diese Vierteljahrsschr. XXIX. 1. 


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Verletzungen des Zwerchfells vorn gerichtsärztlichen Standpunkte. 51 


Ruptur sozusagen durch eine innere Gewalt zu Stande kam. Ein er¬ 
wachsener Mann stirbt plötzlich nach dem Genuss einer reichlichen 
Mahlzeit, die hauptsächlich aus Kartoffelsuppe bestand. Da man eine 
Vergiftung vermuthete, wurde die gerichtsärztliche Obduction vorge¬ 
nommen, welche indessen keine Spuren von Vergiftung erkennen liess. 
Dagegen fand sich der Magen sehr stark durch Gas ausgedehnt, auf 
der rechten Seite des Zwerchfells ein unregelmässiger, ziemlich grosser 
Riss, durch welchen Dünndarmschlingcn und ein Theil der Leber in 
den Thoraxraum durchgegangen waren. Der Fall liess sich so er¬ 
klären: Denatus litt an einer auch durch die Section festgestellten 
Magenerweiterung mit chronischem Magencatarrh. Gegen den letzteren 
hatte er an dem betreffenden Tage reichliche Mengen von Natrium 
bicarbonicum zu sich genommen, so dass sich noch nach dem Genuss 
der Kartoffelsuppe viel Kohlensäure entwickelte. Die entwickelten 
Gase konnten wegen einer Drehung des Magens nicht austreten, 
drückten auf das Zwerchfell und brachten es zum Bersten. Es be¬ 
steht auch hier die Wahrscheinlichkeit, dass eine Muskeldegeneration 
bestanden hat und dass durch die sich bietende Gelegenhcitsursache 
die Ruptur eintrat. 

Es folgen dann die Schusswunden des Zwerchfells. Wenn 
letztere isolirt entstehen sollen, so darf das Projectil nur klein sein, 
während man andererseits bei Schrotschüssen fast regelmässig auf 
complicirende Verletzungen (Lungen, Leber, Milz) zu rechnen hat. 
Li man 1 ) beschreibt einen Fall: Mord durch Schusswunde in das 
Zwerchfell. Ein Seidenwirkergeselle hatte die Läufe eines Doppel¬ 
pistols, in deren jeden er eine halbe Kugel geladen hatte, auf die 
Herzgegend seiner Geliebten gesetzt und den einen Lauf abgeschossen. 
Bei der Section fand sich zwischen der VII. und AHII. linken Rippe 
die äussere Schusswundöffnung, die Rippen selbst waren, ebenso wie 
Lungen, Herz und grosse Gefässe, unversehrt. Dagegen fand sich, 
dass die ganze linke Hälfte des Zwerchfells mit ungleichen, stark 
sugillirten Rändern zerrissen war. Die Kugel konnte in der Bauch¬ 
höhle nicht aufgefunden werden. — Auch in folgendem Falle 2 ) handelte 
cs sich um eine isolirte Schussverletzung dos Zwerchfells: Die Kugel 
dringt hinten an der X. Rippe in den Körper und verlässt ihn an der 

1) Casper-Liman, Handbuch der gerichtl. Medicin. 8. Aufl. II. Bd. 

2) Yirchow Hirsch’s Jahresberichte über die Leistungen und Fortschritte der 
gcs. Medicin. 1870. II. 

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52 Dr. Israel, 

VI. Rippe in der Achselgegcnd. Der Verletzte war ein halbes Jahr 
lang krank, konnte dann aber, obgleich er an Athemnoth und Er¬ 
brechen litt, die Arbeit wieder aufnehmen. Der Tod erfolgte durch 
plötzliche Einklemmung. Bei der Section fand sich eine 2V 2 Zoll 
runde Oeffnung im Zwerchfell, durch welche Magen, Netz und Mesen¬ 
terium in die Brusthöhle gedrungen waren. Schliesslich erwähnen wir 
noch den von Popp 1 ) angeführten Fall: Schuss durch den Proc. xi- 
phoideus, die Kugel dringt zwischen V. und VI. Rippe heraus, die 
Wunde heilt zu, Patient stirbt erst nach 6 Monaten. Es findet sich 
eine fingerbreite, isolirte Verletzung im muskulösen Theile des Zwerch¬ 
fells. — Im Ganzen findet man Verletzungen des Zwerchfells häufiger 
bei Brust- als bei Bauchwunden. 

Bei weitem zahlreicher als Schusswunden kommen isolirte Stich¬ 
verletzungen des Zwerchfells vor. Als Werkzeuge dienen Messer, 
Säbel, Degen; bei langen Werkzeugen kann die Eingangsöffnung auch 
in den oberen Abschnitten des Thorax liegen oder aber an tieferen 
Stellen des Unterleibes. Tritt bei penetrirenden Bauchwunden schau¬ 
miges Blut aus der Wunde heraus, so kann man annehmen, dass der 
Stich durch das Zwerchfell hindurch in die Lunge gedrungen ist 
(Kaufmann 2 )). Die Eingangsöffnungen liegen meist zwischen dem 
IV. und IX. Intercostalraum; die Stiche werden in selbstmörderischer 
Absicht beigebracht, sind auch nicht selten Folgen von Raufereien, 
bei denen das Messer eine Rolle spielte. Wie kann eine Stich¬ 
verletzung des Zwerchfells ohne Betheiligung der Lunge 
zu Stande kommen? Die elastischen Lungen sind nirgend im 
Thoraxraum angewachsen, sondern ihre glatte Pleura bewegt sich an 
der ebenfalls glatten Pleura costalis und diaphragmatica. Durch den 
Druck der Luft in ihrem Innern werden die Lungen an die Brust¬ 
wand angedrückt. Wird der Brustkorb durch eine Inspiration ausge¬ 
dehnt, so muss, da ein luftleerer Raum nicht entstehen kann, sich 
die Lunge vermöge ihrer Elasticität wieder ausdehnen und dem er¬ 
weiterten Thorax überall anlegen. Bei tiefer Einathmung steigen nun 
die Lungen vorn über die VI. Rippe abwärts bis zur VII. Rippe, 
hinten bis zur XI. Rippe; hierbei hebt sich die Pleura diaphragmatica 
von der PI. costalis ab und die Lungen nehmen den entstandenen 

1) Dr. A. Popp, Erworbene Zwerchfellshernien. Deutsche Zcitschr. f. Chir. 
Bd.I. II. 1. 

2) Dr. M. Kaufmann, lieber die Krankheiten des Zwerchfells. Deutsche 
Klinik. 1805. No. 23ff. 


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Verletzungen des Zwerchfells vom gerichtsärztlichen Standpunkte. 53 


Hohlraum ein. Bei der Exspiration dagegen fallen die Lungen zu¬ 
sammen, die unteren Lungenränder steigen wieder höher empor und 
entfernen sich von der oberen Fläche des Zwerchfells. Aus diesem 
Grunde erscheint die Annahme zulässig, dass wenn eine Stichverlet¬ 
zung das Zwerchfell trifft, sie am ehesten isolirt dasselbe verwunden 
kann, wenn sie im Momente stärkster Exspiration, z. B. bei heftigem 
Wortwechsel entsteht. In dieser Beziehung verweisen wir auf den 
Pincus’sehen 1 ) Fall: In der Trunkenheit erhält ein 20 Jahre alter 
Primaner einen Stich mit einem Pioniersäbel in die linke Brustseite 
zwischen IV. und V. Rippe. Nach sechs Monaten, während welcher 
Zeit stark in Baccho excedirt wurde, trat der Tod durch Einklemmung 
des Magens in der durch] die Stichverletzung gesetzten Wunde des 
Zwerchfells ein. Der Magen rupturirt und der Inhalt: 3 Liter dunkel- 
rothe, trübe Flüssigkeit ergiesst sich in die linke Pleurawand. Eine 
Verletzung der Lunge wurde nicht constatirt. Der Säbelstich hatte 
vom IV. Intercostalraum aus das Zwerchfell getroffen, weil der nach 
dem Saufgelage stark angefüllte Magen dasselbe in die Höhe ge¬ 
drängt hatte. 

Zu den Stichverletzungcn gehört auch ein von mir beobachteter 
Fall von Verletzung des Zwerchfells durch einen Nadelstich, 
wobei die Nadel im Körper verblieben war. Seiner grossen Selten¬ 
heit wegen (ich bin bei der Durchsicht der Literatur keinem einzigen 
ähnlichen begegnet) verdient er hier etwas ausführlicher geschildert 
zu werden. 

Im Februar 189 . verbreitete sich im Fischerdorfe C. das Gerücht, das 2 Jahre 
alte Stiefkind der Arbeiterfrau X. wäre eines unnatürlichen Todes gestorben. Bei 
der hierauf vorgenommenen gerichtsärztlichen Obduction wurde Folgendes, soweit 
es für uns hier wichtig ist, zu Protokoll gegeben: 

1. Die Leiche des etwa 2 Jahre alten Knaben ist 79 cm lang, von regel¬ 
mässigem Körperbau, sehr schwacher Muskulatur und beinahe ganz fehlendem 
Fettpolster. 

2. Die Farbe der Leiche ist im Allgemeinen blassgelbgrau, nur an den 
Bauchdecken grünlich und auf dem Rücken an einzelnen kleinen Stellen blass- 
röthlich. Einschnitte zeigen hier keinen Blutaustritt im Unterhautzellgewebe. 
Auf der Vorderfläche des Rumpfes, gerade in der Herzgrube, ist ein etwa mark¬ 
stückgrosser bräunlicher Fleck der Haut, an dem sich dieselbe lederartig hart an¬ 
fühlt und schneidet. Einschnitte ergeben keinen Blutaustritt. 


1) Ein Fall von tödtlicher Zwerchfellshernie, sechs Monate nach einer Stich¬ 
verletzung in die linke Brustseite. Obergutachten des Königl. Medicinal-Collc- 
giums für die Provinz Preussen (Referent Med.-Rath Dr. Pincus). Dieso Viertcl- 
jalirsschrift. N. F. XVIH. 2. 


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Dr. Israel, 


4. Kopf unverletzt. 

7. Lippen geschlossen, Schleimhäute blass, Zunge hinter den festgeschlosse¬ 
nen Kiefern. 

9. Brustkasten schmal, gut gewölbt, Unterleib flach. 

Brust- und Bauchhöhle. 23. Vorschriftsmässige Eröffnung derselben; 
die Fettschicht der Haut fehlt ganz. Die Muskeln hellroth, wässerig durchtränkt, 
sehr diinn. Die Organe der Bauchhöhle in regelmässiger Lage, die blassbräun 
liehe Leber bedeckt den oberen Theil der Bauchgegend, in ihrem linken Lappen 
steckt eine 8 cm lange schwärzliche eiserne Stopfnadel, deren vorderes Ende (Ohr) 
2 cm hervorsteht. Ein fremder Inhalt ist in der Bauchhöhle nicht vorhanden. 
Höchster Stand des Zwerchfells beiderseits am unteren Rande der V. Rippe. 

Bauchhöhle. 32. Bei der Untersuchung nach der Milz wird im Zwerch¬ 
fell steckend, ohne dass ein Organ verletzt wäre, eine 4y 2 cm lange 
grobe Nähnadel von schwärzlicher Farbe gefunden. 

41. Gekröse fettarm, mit stark gefüllten Blutgefässen, erbsen- bis bohnen¬ 
grossen Drüsen, sonst unverändert. 

43. Die untere Hohlvene ist stark mit dunklem Blute gefüllt. 

44. Leber 17 cm breit, 9 cm hoch, 4 cm dick, mit glatter, dunkelrother 
Oberfläche; in dem linken Lappen auf der Oberfläche eine 1 cm lange, von vorn 
nach hinten verlaufende Wunde, von welcher aus sich eine 5 cm lange, etwas 
grünlich verfärbte Verletzung von kanalförmiger Gestalt durch den linken Leber¬ 
lappen nachweisen lässt. Der rechte Leberlappcn ist vollständig unverletzt. 

Bei der gerichtlichen Verhandlung gestand die Stiefmutter ein, sie hätte 
beide Nadeln dem Kinde 8 Tage vor dem eingetretenen Tode in der Absicht es zu 
tödten beigebracht und zwar habe sie die Nadeln senkrecht zur Bauchwand in der 
Gegend der Herzgrube hineingedrückt. 

Ausser den genannten drei Arten von Verletzungen, nämlich 
Rupturen, Schuss- und Stichwunden wollen wir noch einige Läsionen 
des Zwerchfells erwähnen, die nur selten das Interesse des Gerichts¬ 
arztes in Anspruch nehmen dürften. So kann nach Bowditch 1 ) 
auch durch Kunstfehlcr eventuelle Verletzung des Zwerchfells Vor¬ 
kommen, nämlich durch die bei Pleuritisexsudat angewandte Aspira¬ 
tionsnadel; sie ist auch Bowditch mehrmals passirt, ohne dass er 
je üble Folgen davon gesehen hat. Verletzungen ohne Continuitäts- 
trennungen sind ebenfalls beschrieben worden; z. B. hat Lesser 2 ) 
bei einer Quetschung des Zwerchfells durch Ueberfahrenwerden neben 
anderen schweren Verletzungen als Nebenbefund eine mässig starke 
Blutung in der rechten Zwerch feil hälfte constatirt. Nach Vergif¬ 
tungen durch Säuren kommen Corrosionen des Zwerchfells und Hämor- 


1) Bowditch, Thoracenteso p. pleurit. Exsud. Americ. Joum. 1863; cit. 
bei Ziemsscn, Ilandb. d. spec. Path. u. Ther. Bd. IV. I. 2. Hälfte. 

2) Lesser, Atlas der gerichtlichen Medicin. II. S. 103. 


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Verletzungen des Zwerchfells vom gerichtsärztlichen Standpunkte. 55 


rhagieen (von Hirsekorngrösse bis 2 cm lang und 1 / 2 cm breit bei 
Schwefelsäure) vor; doch sind diese Veränderungen im Hinblick auf 
die hochgradigen Veränderungen im Intestinaltractus nur von unter¬ 
geordneter Bedeutung. Mehr Beachtung verdient indessen die fettige 
Entartung der Muskelfasern nach Vergiftungen mit Phosphor, Kohlen¬ 
oxyd und Schweinfurter-Grün, ausser dem Herzen pflegen am aus¬ 
giebigsten Zwerchfell- und Kehlkopfmusculatur afficirt zu sein. Ja, 
Lesser 1 ) beschreibt einen Fall, bei welchem nach einer Vergiftung 
mit Schweinfurter-Grün „die Muskeln des Stammes und der Extremi¬ 
täten sowie des Rachens und Kehlkopfes keine Abweichung zeigten, 
das Zwerchfell allein in einer mässigen Anzahl von Fasern eine Trü¬ 
bung des Inhalts und eine Störung der normalen Structur aufwies.“ 
Dass endlich langdauemde Empyeme und Lungenabscesse das Zwerch¬ 
fell ulceriren, dass subphrenische Abscesse es durchbrechen und dass 
endlich grosse Geschwülste das Zwerchfell in sich beziehen und von 
der einen Höhle nach der anderen durchwachsen können, hat wohl 
mehr klinische als gerichtsärztliche Bedeutung, und sollte hier nur 
der Vollständigkeit halber Erwähnung finden. 

Die Zwerchfellvcrletzungen werden in überwiegender Mehrzahl bei 
Leuten im mittleren Lebensalter beobachtet und zwar meist bei 
Männern, welche durch ihre professionelle Beschäftigung und Lebensweise 
dazu prädestinirt sind. So findet man sie bei Zimmerern, Maurern, Ma¬ 
trosen, Schieferdeckern, Soldaten; wegen der Abnahme der Elasticität 
der Gewebe scheint von der zweiten Lebensperiode an eine grössere 
Disposition zur Zerreissung zu bestehen. Lcichtenstern 2 ), welcher 
über die Entstehung der Zwerchfellhernien äusserst umfassende Studien 
geliefert hat, fand bei 150 erworbenen Hernien 128 Männer, während 
Lacher 3 ) 119 von 146 = 81,5pCt. männliche herausfand. Was das 
Verhältniss der einzelnen Verletzungsarten unter einander betrifft, so 
giebt Lacher dasselbe wie folgt an: Von 102 Verletzungen waren 
37 Stich- und 14 Schusswunden. 35 mal war Sturz oder Fall von 
der Höhe, 7 mal Verschüttung, 3 mal Quetschung des Thorax die Ur¬ 
sache, in 6 Fällen bei vorhandener Disposition die übermässige An¬ 
strengung der Bauchpresse. Eine andere Zusammenstellung betrifft 

1) Lesser, 1. c. I. 134. 

2) Leichtenstern, Hernia diaphragmatica. Ziemssen’s Handb. Bd. VII. 
2. Hälfte. 

3) Lacher, Ueber Zwerchfellshernien. Deutsches Archiv f. klin. Modicin. 
XXVU. 3. u. 4. Heft. 1880. 

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t)r. Israel, 


37 Verletzungen des Zwerchfells; bei diesen waren 21 Stich- und 
3 Schusswunden, 10 mal Sturz oder Verschüttung, je 1 mal starke 
Anstrengung und heftige Drehbewegung notirt (Popp 1 )). — Die Ver¬ 
letzungen des Zwerchfells können in jedem Theile ihren Sitz haben, 
sie werden jedoch in der bei weitem grösseren Anzahl auf der linken 
Körperseite gefunden; man nimmt als Verhältnisszahl ungefähr 5 
(1) : 1 (r) an. Lacher hat bei 150 Verletzungen: 127 linksseitige, 
Popp bei 37 Fällen 32 linksseitige, Leichtenstern (1. c.) 115 links¬ 
seitige und nur 25 rechtsseitige angetroffen. Diese Bevorzugung der 
linken Seite ist nicht etwa zufällig oder etwa dadurch begründet, dass 
die linke Seite des Zwerchfells schwächer ist, sondern erklärt sich 
aus folgenden Umständen. Die massige Leber, welche die rechte 
Höhlung des Zwerchfells ausfüllt, sich eng an dasselbe anschmiegt 
und es stützt, schwächt einen Schlag, Stoss oder von unten her 
kommende Kraft ab und vertheilt sie auf eine grössere Fläche. Des¬ 
wegen entstehen rechts selten Einrisse, auch werden diese, besonders 
wenn sie klein sind, von der Leber verdeckt. Ferner pflegt die 
rechte Zwerchfellslücke (For. Bochdaleki) weniger entwickelt zu sein 
als die linke, die rechten Zwerchfellsschenkel sind länger und fester 
als die linken und besitzen noch zwei fibröse Verstärkungsbänder. 
Unter diesen Bedingungen können daher Rupturen viel eher links zu 
Stande kommen, während Stich- und Schusswunden wohl deswegen 
mehr die linke Seite treffen, weil sie ja meist von der rechten Seite 
des Gegners kommen. 


Welche Folgen treten durch Continuitätstrennungen 
des Zwerchfells ein? Sobald eine abnorme Oeffnung im Zwerch¬ 
fell vorhanden ist, besteht die Möglichkeit, dass Baucheingeweide in 
dieselbe und durch sie in den Brustraum eintreten. Hierfür wirkt in 
erster Reihe der positive Druck, welcher beim Drängen u. s. w. auf 
die Abdominalorgane ausgeübt wird, nicht weniger aber auch der bei 
tiefer Inspiration erhöhte negative Druck innerhalb des Thorax; die 
betreffenden Organe werden durch diesen negativen Druck hineinge¬ 
sogen. Ist dieser Zustand perfect, so hat man es mit einem 
Zwerchfell-Bruch, einer Hcrnia diaphragmatica zu thun, ein 
Leiden, das den bei weitem wichtigsten Folgezustand der Zwerchiell- 
Verlelzungcn vorstellt und deswegen eine eingehende gerichtsärztlichc 


1 ) 1. c. 


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Verletzungen des Zwerchfells vom gerichtsärztlichen Standpunkte. 57 


Würdigung verdient. Man hat früher (Leichtenstern) die Hernien 
in wahre und falsche eingetheilt, die wahren sollten einen Bruchsack 
aus Peritoneum, oder Pleura oder endlich aus beiden zugleich be¬ 
sitzen. Bei traumatischen Brüchen ist aber ein Bruchsack so gut wie 
garnicht beobachtet; er kann ja auch nur vorhanden sein, wenn die 
Hernie sich allmälig entwickelt, etwa bei einer Atrophie der Muskel¬ 
fasern und einer nachfolgenden allmäligen Aussackung. Häufiger trifft 
man einen Bruchsack bei angeborenen Hernien (10,15 pCt. nach 
Lacher) an. Man hat daher die alte Einteilung längst fallen ge¬ 
lassen und scheidet nach Cruveilhier die Hernien mit Beziehung 
auf ihre Aetiologie in: 

a) congenitale und 

b) aquirirte. 

Erstere scheidet man weiter in 1) solche, welche mit auf die Welt 
gebracht sind 2) solche, bei denen infolge mangelhafter Entwicklung 
des Zwerchfells eine Disposition zur Entstehung von Brüchen schon 
von Geburt an besteht. Letztere, die acquirirten, zerfallen in: 1. solche, 
die durch die Verletzung des vorher normalen Zwerchfells zu Stande 
kommen, 2. solche, bei welchen infolge mangelhafter Anlage eine 
minder widerstandsfähige Stelle im Zwerchfell geschaffen wurde, so 
dass eine Gelegenheitsursache, ein Trauma, den Durchtritt der Abdo¬ 
minalorgane veranlassen konnte. 

Die congenitalen Hernien sind fast ausschliesslich Folgen 
einer embryonalen Entwicklungshemmung; nur in einem Falle einer 
rechtsseitigen Hernie mit Vorfall der Leber und des Darmes konnte 
nachgewiesen werden (Bloest 1 )), dass ein Trauma während der Gra¬ 
vidität auf die Frucht eingewirkt hatte. An die Möglichkeit eines 
angeborenen Dcfectes und einer congenitalen Hernie muss aber der 
Gerichtsarzt in jedem Falle denken, weil sie als Befund zu Trug¬ 
schlüssen Veranlassung geben können; auch dann noch, wenn sich 
eine Trennung im Zwerchfell unter Umständen findet, welche eine 
gewaltsame Zerreissung sehr wohl als möglich annehmen lassen. 
Strassmann 2 ) beschreibt einen diesbezüglichen Fall: Ein Mann ge- 
räth in die Transraissionswelle und stirbt infolge Zermalmung der 
Gliedmassen, Bruch der Wirbelsäule u. s. w. Bei der Obduction findet 
sich ferner linkerseits eine handbreit klaffende Lücke zwischen Zwerch- 


1) Bloest, Med. Corresp.-Bl. bayer. Aerzte. No. 22. 1846. 

2) Strassmann, Lehrbuch der gerichtl. Mcdicin. Stuttgart 1895, 


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Dr. Israel, 


feil und linker Brustwand, durch welche der Magen grösstentheils in 
die linke Brusthöhle dislocirt war. Aus den weiter unten zu schil¬ 
dernden Merkmalen konnten die Obducenten mit Sicherheit das Be¬ 
stehen eines congenitalen Defectes annehmen. Letztere bedingen, 
wenn sie, was nicht selten vorkommt, eine grosse Lücke darstellen, 
ja das Centrum tendineum oder gar eine Zwerchfellhälfte einnehmen, 
gewöhnlich die Lebensunfähigkeit der Neugeborenen, zumal sich häufig 
neben ihnen noch andere Missbildungen (Anencephalie, Hemicranie) 
vorfinden. Um die Lebensunfähigkeit festzustellen und sich über die 
etwaige Schuld eines Dritten gutachtlich zu äussem, kann der Ge- 
richtsarzt in die Lage kommen, Leichenöffnungen vornehmen zu müssen. 
Liman (1. c. S. 11) berichtet über 2 Fälle dieser Art; einer ist des¬ 
wegen noch sehr interessant, weil die sehr wohlgebildete, vollkommen 
ausgetragene männliche Frucht 4 Stunden lang gelebt hatte und an¬ 
geblich durch Vernachlässigung der Hebamme an Verblutung gestorben 
sein sollte. — Die angeborenen Hemien kommen übrigens selten vor, 
sehr selten aber auf der rechten Seite; auf 98 angeborene Hernien 
rechnet Lacher nur 19 rechtsseitige. Sind die congenitalen Zwerch- 
felldefecte nur klein, so kann dor Bruch jahrelang, ja während des 
ganzen Lebens latent bleiben und dem Träger verhältnissmässig wenig 
Beschwerden machen. Die Brüche werden dann entweder zufällig an 
der Leiche gefunden (Guttmann 1 ), Hansemann 2 )) oder es erfolgt 
der Tod durch Incarceration des Darmes (Abel 3 )), wie wir dies des 
Näheren noch bei Schilderung des Verlaufes der acquirirten Hernien 
erfahren werden, zu deren Besprechung wir nunmehr übergehen. 

Die acquirirten Hernien bilden sich zum kleineren Theil da¬ 
durch, dass die Eingeweide durch die normal vorhandenen und durch 
das Trauma erweiterten Oeffnungen des Zwerchfells hindurchgedrängt 
werden. Der Hiat. aorticus und das For. pro vena cava sind noch 
niemals als Durchtrittsstellen beobachtet worden, dagegen sämmtlichc 
anderen oben erwähnten Lücken und Oeffnungen; diejenigen Hemien, 
welche durch das For. Morgagni gehen, heissen H. mediastin. ante¬ 
riores, diejenigen im For. Bochdaleki: H. mediastin. posteriores. Die 
Durchtrittsstelle des N. sympathicus hat nur in einem Falle als 
Bruchpforte gedient. In der Mehrzahl der Fälle wird durch das 


1) Guttmann, Bert. klin. Wochenschr. No. 2. 1893. 

2) II ansemann, Deutsche med. Wochenschr. No. 8. 1893. 

3) Abel, Berl. klin. Wochenschr. No. 4. 1894. 


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Verletzungen des Zwerchfells vom gerichtsärztlichen Standpunkte. 50 


Trauma eine frische Trennung im Zwerchfellgewebe hervorgebracht; 
der musculöse Theil wird öfters verletzt als der festere, sehnige Theil 
(6:4, Leichtenstern). Die Risse haben verschiedene Form und 
Dimensionen, meist rund oder oval im musoulösen, mehr viereckig 
im aponeurotischen Theil; auch können sie spalt- oder schlitzförmig 
sein. Die Grösse schwankt zwischen der eines Pfennigstückes bis 
zum Fehlen einer Hälfte. Von den Bauchorganen, welche durch den 
Riss hindurchtreten, nimmt der Magen die erste Stelle ein; bald wird die 
Hernie von einem, bald von mehreren Organen (letzteres in 80 pCt. 
der Fälle) gebildet. Nach Dietz 1 ) war der Magen 164 mal, das 
Colon 150, das Netz 101, der Dünndarm 85, die Milz 60, die Leber 
46, das Duodenum 35, das Pancreas 27, das Coecum 20, die Niere 
2 mal dislocirt. Mit Ausnahme des Mastdarms, der Harnblase und 
der Genitalien sind schon sämmtliche Organe dislocirt vorgefunden 
worden. Falls nur ein Organ durch den Zwerchfellriss geht, so ist 
dies meist der Magen und zwar geschieht dies nach den von v. Ho- 
roch 2 ) an 23 Leichen angestellten Versuchen dann am ehesten, wenn 
der Magen nicht über 2 / 3 ausgedehnt ist. 

Während das eben beschriebene Emporsteigen der Abdominal¬ 
organe als die häufigste Folgeerscheinung der Zwerchfellverletzung an¬ 
zusehen ist, kommt es vereinzelt vor, dass ein Stück Lunge ins Ab¬ 
domen hineingezogen wird und so verwächst. Einen solchen Fall 
fand ich bei Weydenmeyer (1. c.): Durch Fall von einem Wagen 
erleidet ein 22 Jahre alter Mann schwere innere Verletzungen: starke 
Schmerzen beim Athmen, Haemoptoe, Peritonitis sind die Folgen. 
Nach 2y 2 Monaten tritt plötzlich der Exitus ein, bei der Section 
findet man das Zwerchfell an der unteren Fläche der Lunge an einer 
Stelle adhärent, auf der oberen Fläche der Leber einen Abscess, in 
welchem sich abgeschnürte, brandige Lungenstücke befinden. Es 
waren wahrscheinlich kleine Lungenstücke durch den Zwcrchfelldefect 
getreten, dann abgerissen und brandig geworden. Das übrige Zwerch¬ 
fell ausserhalb der Grenzen des Abscesses war normal. 

Welchen Verlauf nehmen die Zwerchfell-Verletzungen? Was 
geschieht, wenn durch eine stumpfe Gewalt, durch Schuss- oder Stich¬ 
verletzung eine Continuitätstrennung des Zwerchfells entstanden ist? 
Wir sehen hierbei davon ab, dass durch concurrirendc Verletzung 


1) 1. c. 

2) v. Horoch, Allgom. Wiener Med.-Zoitung. 1884. 


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Dr. Israel, 


anderer lebenswichtiger Organe, durch Verblutung aus den grossen 
Körpergcfässen der Tod eintreten kann und beachten nur diejenigen 
Ereignisse, die sich an die isolirte Ruptur anschliessen. Die Zwerch¬ 
fellverletzungen sind stets gefährlicher Natur; Hippocrates hielt sie 
für unbedingt tödtlich, Celsus (cit. bei Kaufmann) für sehr ernst, 
„quae vix ad sanitatem perveniunt“, Galen hielt die tendinösen 
Wunden für gefährlicher als die musculösen. Ein solcher Unterschied 
besteht nicht, wohl kann aber der Ucbergang einer Entzündung vom 
Centrura tendincum auf den Herzbeutel die Gefahr steigern. — Je 
mehr Eingeweide und je plötzlicher dieselben in den Thorax hinein- 
gerathen, um so schneller kann der Tod kurze Zeit nach geschehener 
Verletzung eintreten. Es kann als Todesursache dann Shok in Frage 
kommen, der ja gerade bei Bauchverletzungen eine grosse Rolle spielt 
oder Asphyxie: die plötzlich in den Thorax eindringenden Bauchein¬ 
geweide bringen nämlich eine Compression der Lunge und des Herzens 
mit Verdrängung und Paralyse desselben zu Wege. Natürlich muss 
für den plötzlichen Durchtritt mehrerer Organe die geschaffene Oeff- 
nung ziemlich gross sein. Ist der ganze Magen durchgetreten, so 
kann der Exitus letalis auch durch plötzliche Einklemmung und 
Axendrehung desselben erfolgen; selbst bei kleiner Wunde kann aber 
der Tod auch kurze Zeit nach der Verletzung eintreten, z. B. an Ver¬ 
blutung. Kaufmann erwähnt die Verletzung der Stämme der Art. 
phrcnicae, Popp (1. c. Fall 20) Verletzung der Vena lienalis und 
Magenvenen durch Stich von der linken Lendengegend aus mit nach¬ 
folgender Verblutung. Ferner kann durch eindringende Entzündungs¬ 
erreger (mit dem verletzenden Instrument, Schrotkörner, Kleiderfetzen) 
und Verbreitung der Entzündung auf Pleura und Peritoneum mit Ver¬ 
eiterung der tödtliche Ausgang eintreten. — Hat man es mit einer 
nur kleinen Ocffnung zu thun und ist die Blutung nicht zu umfang¬ 
reich, so kann der Riss im Zwerchfell zu einer Art Heilung gelangen 
und der Verletzte mit mehr oder minder grossen Beschwerden viele 
Jahre fortleben. Je langsamer der Bruch entsteht und je weniger 
Complicationen sich einstellen, um so günstiger liegt der Fall. Die 
Gefahr für den Träger eines solchen verletzten Zwerchfells besteht 
aber fort; denn einerseits kann sich die Oeffnung durch die andrän¬ 
genden Baucheingeweide immer vergrössern und letztere in grösserer 
Ausdehnung und Zahl allmälig durchlassen, andererseits kann bei 
kleiner und unnachgiebiger vernarbter Oeffnung sehr leicht eine Ein¬ 
klemmung von Magen und Darm mit allen ihren Folgen bis zur Gan- 


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Verletzungen «les Zwerchfells vom gerichtsärztlichen SUmtlpuiikte. Ol 

grän und Peritonitis perforativa cintreten. Deshalb befinden sich 
solche Verletzte in steter Lebensgefahr; denn der Gelegenheitsursachen 
für die acute Einklemmung des Magens und Darms in der Zwerchfell- 
spaltc giebt es sehr viele: Excessc in Baccho und reichliche Mahl¬ 
zeiten können schon die bedrohlichsten Erscheinungen, ja den Exitus 
letalis herbeiführen (cf. hierzu den Fall von Pincus), ferner Traumen 
auf Thorax und Abdomen, Anstrengung der Bauchpresse bei körper¬ 
lichen Arbeiten und Heben von Lasten, ja starkes Erbrechen, wie 
denn die Verabreichung eines Emeticum bei falscher Diagnosenstellung 
schon in 2 Fällen zur Todesursache wurde (Lacher 1. c.). Es kommt 
infolgedessen nicht ganz selten vor, einerseits, dass bei plötzlichen 
und unerklärlichen Todesfällen die Seetion erst durch den Befund 
einer lange bestehenden Zwerchfells-Hernie mit frischen Einklemmungs- 
crscheinungen Aufschluss über die Todesursache giebt, andererseits, 
dass Thoraxverletzungen scheinbar heilen, eine Zwechfells-Hernie nicht 
vermuthet wird, die Verletzten noch Jahre lang leben (bis 50 Jahre 
beobachtet), bis dann eine der genannten Schädigungen hinzutritt und 
der Patient zu Grunde geht. Verwachsen die dislocirten Organe in¬ 
folge der Reizung durch peritonitische Stränge mit einander, was hier 
und da auch beobachtet ist, so ist die Möglichkeit einer Axendrehung 
und Einklemmung schon dadurch gegeben. Durch die Reibung, welchen 
das eingeklemmte Organ, z. B. der Magen, am Zwerchfell-Loch bei 
den Respirationsbewegungen ausgesetzt ist, kommt es ab und zu 
zur Entzündung, hämorrhagischen Erosion und Ulcus. Als einen 
relativ günstigen Ausgang haben wir es anzusehen, wenn das Netz 
vorfällt und das Loch verschliesst, so dass sich die Baucheingeweidc 
nicht vorlagern können; bei dem Guttmann’schen Kranken (1. c.) 
war dies der Fall, der 50 Jahre alte, an Pneumonie verstorbene Mann 
hatte über keinerlei Beschwerden zu klagen gehabt. 

Bei Schilderung der Symptome hat man zu unterscheiden: 
1. solche, die sich unmittelbar an die Zwerchfellverletzung anschliessen 
und bis zum bald darauf eintretenden Tode andauern. 2. Bei über¬ 
lebenden und langsam entstehenden Hernien: a) solche, die dem Auf¬ 
treten der Hernie unmittelbar vorangehen, b) diejenigen während des 
Bestehens der Hernie. 3. Diejenigen, welche den unglücklichen Aus¬ 
gang durch Einklemmung der Hernie vorausahnen lassen. — Die 
ersten Zeichen einer Zw'erchfellverletzung sind kaum wesentlich ver¬ 
schieden von denjenigen, -welche bei Erschütterung und schweren Ver¬ 
letzungen des Rumpfes aufzutreten pflegen. Plötzlicher Schmerz im 

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L)r. Israel, 


<52 


Leibe, besonders im Epigastrium, Cyanosc, heftige Dyspnoe, Ohn¬ 
macht, Zuckungen, Erbrechen, Fehlen des Zwerchfeliathmcns sind so 
allgemeiner Natur, dass dadurch allein wohl niemals eine Zwerchfell¬ 
ruptur erkannt werden könnte. Den Angaben der alten Aerzte, dass 
Risus sardonicus, Schluchzen und Spiritus rarus charakteristische Zei¬ 
chen seien, ist irgend welche Bedeutung nicht beizulegen. Die Dia¬ 
gnose von Zwerchfellrupturen ist also kurz nach der Verletzung sehr 
schwierig, bei besinnungslosen Verletzten ganz unmöglich. — Viel 
prägnantere Symptome bieten dagegen die Hernien. Meistens haben 
die Patienten unmittelbar nach dem Durchtritt der Bauchcingeweide 
durch den Zwerchfellriss die Empfindung, als ob ihnen etwas inner¬ 
lich gesprungen wäre, sie klagen sofort über Seitenstechen und Prä- 
cordialangst. Hand in Hand geht hiermit die Dyspnoe, welche je 
nach der Grösse der Compression, der Füllung der eingeklemmten 
Organe und der Schnelligkeit, mit welcher sie hindurchgedrängt wer¬ 
den, an Intensität verschieden ist, so dass auch Erstickungsanfälle 
cintretcn können. Erbrechen, Spannung und Ziehen im Unterleib, 
kolikartige Schmerzen vervollständigen das Bild. Wenn die ersten 
bedrohlichen Erscheinungen dann vorüber sind, kann sich der Träger 
der Hernie an eine solche relativ gut gewöhnen und es bildet sich 
eine Symptomenreihe heraus, welche gerade durch ihren häufigen 
Wechsel und ihre Inconstanz charakteristisch ist. Da ja in den mei¬ 
sten Fällen der Magen eingeklemmt ist und die Speisen nach dem 
im Thorax befindlichen Magen geschluckt werden, so geben die Pa¬ 
tienten an, beim Trinken von kalten Flüssigkeiten das Gefühl auf¬ 
steigender Kälte in der betreffenden Brusthälfte zu haben, ferner 
klagen sic über ein eigenthümliches Glucksen, das hör- und fühlbar 
ist. Ein Gefühl von Völle und Druck in der afficirten Seite, Uebel- 
keiten, Kolik, Erbrechen, erschwertes Athmen, Stuhl Verstopfung, be¬ 
sonders wenn Theile des Colon dislocirt sind: alle diese- Symptome 
treten mehr oder minder stark auf. So lange die Patienten massig 
leben und sich körperlicher Anstrengungen enthalten können, werden 
sie nicht sehr belästigt, zumal die eine comprimirte Lunge und das 
verdrängte Herz sich sehr wohl an den Zustand gewöhnen können. 
Die Symptome steigern sich aber, das Bild wird ein anderes, viel 
bedrohlicheres, wenn eine plötzliche und heftige Anstrengung der 
Bauchpresse gemacht wird, ferner — und das ist für die Herma 
diaphr. besonders bezeichnend — nach grösseren Mahlzeiten. Das 
Erbrechen und die kolikartigen Schmerzen vermehren sich sofort, bis 


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Verletzungen des Zwerchfells vom gerichtsärztlichen Standpunkte. t}H 


der Magen nach Entleerung seines Ueberschusses wieder die alte Lago 
eingenommen hat, die Dyspnoe und die Angstsymptome weichen auch 
nicht eher, bis das Volumen des eingeklemmten Magens sich ver¬ 
kleinert hat. Gerade die Steigerung der Symptome nach Nahrungs¬ 
aufnahme und der häufige Wechsel der Krankheitszeichen ermöglicht 
im Verein mit den nachher noch zu beschreibenden physikalischen 
Untersuchungsbefunden die Stellung einer Diagnose. Die gesteigerte 
Nahrungsaufnahme ist aber auch zugleich eine der häufigsten Ursachen 
für die während des scheinbaren Wohlbefindens plötzlich eintretende 
Einklemmung von Magen und Darm, die mit Collapserscheinungon 
und Ileus verbunden ist, und die in fast allen Fällen durch Gangrän 
und Peritonitis zum Exitus führt. 

Hat der Gcrichtsarzt Zwerchfellrupturen und deren Folgen zu 
diagnosticiren, so wird er bei der Unbestimmtheit der Symptome, 
welche die Schwerverletzten kurze Zeit nach der Verletzung darbieten, 
wohl kaum in der Lage sein, auch nur mit annähernder Bestimmtheit 
eine Diagnose auf isolirte Verletzung des Zwerchfells zu stellen. Um 
so grössere Beachtung wird er daher einem objectiven Zeichen schen¬ 
ken, auf welches erst in neuerer Zeit aufmerksam gemacht worden 
ist, nämlich dem sogen. Zwerchfellphänomen. Da nach einer Verlet¬ 
zung die Excursionsfähigkeit des Zwerchfells bei der Respiration meist 
behindert, der bedeutenden Schmerzen wegen die Athmung mehr eine 
costalc und einseitige ist, so dürfte es in der Zukunft für den dia- 
gnosticjrenden Arzt allerdings von Werth sein, auf dieses Phänomen 
zu achten. Litten 1 ) war der erste, der auf dasselbe aufmerksam 
gemacht hat; er versteht darunter „den sichtbaren Ausdruck der 
successivcn fortschreitenden Ablösung (oder Abhebung) des Zwerch¬ 
fells von der Brustwand bei dessen Tiefertreten während der Inspira¬ 
tion, sowie seine sueccssive fortschreitende Anlegung an die Brust¬ 
wand während der Exspiration. Dieser bei jeder Respiration sich 
wiederholende Vorgang giebt sich an der Brustwand deutlich zu er¬ 
kennen durch das regelmässige Auf- und Absteigen einer eigenartigen 
schattenhaften Linie, welche durch die Bewegungen des Zwerchfells 
hervorgerufen ist und ein untrügliches Zeichen für den jeweiligen 
Stand des letzteren ergiebt. Diese Schattenbewegung beginnt bei 


1) Litten, Deutsche med. Wochenschr. No. 13. 1802, und: Sitzungsher. 
der Berl. medicin. Gesellschaft vom 23. Jan. 180'). Deutsche med. Wochenschr. 
No. 5. 1895. 


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L)r. Israel, 


Gesunden beiderseits etwa in der Höhe des VI. Intercostalraumes und 
steigt als gerade Linie bei tiefster Inspiration mehrere Intercostal- 
räume weit, zuweilen bis an den Rippenbogen herab, um bei der 
Exspiration um das gleiche Mass wieder in die Höhe zu steigen. Der 
zu Untersuchende muss horizontal bei geeigneter Beleuchtung liegen.“ 
Zweifellos ist das Phänomen von hohem diagnostischen Interesse, 
wenn das Zwerchfell z. B. durch Tumoren an der Excursionsfähigkeit. 
gehindert ist, so kann man an dem Ausbleiben der Schattenlinie, 
oder an einer geringeren Ausdehnung derselben einen gewissen An¬ 
haltspunkt gewinnen. Bei einseitigen Verletzungen wird die Diagnose 
bei Beachtung des Phänomens natürlich ebenfalls ungemein erleichtert 
werden. 

Die Diagnose der Herniae diaphragmaticae ist bis jetzt 
am Lebenden nur 5—7 mal mit Bestimmtheit richtig gestellt worden; 
ganz besonders eingehend ist sie von Leichtenstern 1 ) studirt worden, 
der einen einschlägigen Fall iy 2 Jahre lang aufs Genaueste beob¬ 
achtet hat. Die von ihm an dem Patienten gestellte Diagnose wurde 
durch die Autopsie bestätigt. Da es sich um den wichtigsten Folge¬ 
zustand der Zwerchfellverletzungen handelt, so verdient die Differen¬ 
tialdiagnose wohl eine etwas ausführliche Besprechung. Wenn Abdo¬ 
minalorgane (Magen, Darmstücke) plötzlich in den Thorax eindringen, 
so können sie das Bestehen eines traumatischen Pneumothorax Vor¬ 
täuschen. Während jedoch letzterer bei destruirenden Lungenprocessen, 
Empyemen, sowohl rechts als links auftritt, dann sofort die ganze 
Brusthälfte einnimmt, um nach einiger Zeit resorbirt zu werden und 
die Lunge sich wieder ausdehnen zu lassen, tritt die Hemia diaphra- 
gmatica unter den Erscheinungen innerer Einklemmung bei Abwesen¬ 
heit von Lungenerkrankungen auf, kommt mit dislocirten, lufthaltigen 
Organen nur links vor, nimmt nur einen kleineren Bezirk mit Hohl¬ 
raumerscheinungen ein und bleibt oft Jahre lang constant bestehen. 
Gemeinschaftlich ist beiden Zuständen: Die Vorwölbung der be¬ 
treffenden Thoraxhälfte, welche überdies bei der Respiration unthätig 
ist, die Verdrängung des Herzens nach rechts, das Aufgehobensein 
des Pectoralfremitus und des normalen Athmungsgeräusches, der 
paukenartige, tympanitische Percussionsschall und der Metallklang bei 
Plessimeter-Stäbchcn-Percussion. Indessen sind es gerade die objec- 
tiven Zeichen der Auscultation und Percussion, welche die Aufstellung 


1) Leichtenstern, 1. c. und Berl. klin. Wochenschr. 1894. 


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Verletzungen des Zwerchfells vom gerichtsärztlichen Standpunkte. (15 

dilferentialdiagnostischer Momente zulassen. Der durch den Pneumo¬ 
thorax geschaffene Hohlraum verändert ja sein Volumen nur allmälig, 
die Phänomene bleiben daher lange Zeit constant bestehen; der Metall¬ 
klang ist stets derselbe und hat immer die gleiche Begrenzung, 
Athmungsgeräusch und Succussionsphänomen bleiben dieselben. Ganz 
anders liegen die Verhältnisse bei Hernia diaphragmatica. Da die 
eingeklemmten Organe verschieden grosse Ausdehnung haben, also 
auch verschieden grosse Lufträume enthalten, bald Luft, bald Flüssig¬ 
keit oder feste Theile in sich bergen, durch Peristaltik ihr Volumen, 
ihre Lage und ihren Blähungszustand verändern, so müssen natur- 
gemäss die auscultatorischen und percussorischen Zeichen inconstant 
sein. Variabel sind die metallischen Phänomene hinsichtlich ihres 
Vorhandenseins überhaupt, ihrer Klanghöhe und Ausdehnung, in ganz 
kurzer Zeit kann der Percussionsschall sich ändern, die Plessimeter- 
Stäbchen-Percussion in geringen Zwischenräumen verschiedene Resul¬ 
tate geben; ja es kann Vorkommen, dass zuweilen schon während 
der Percussion, also innerhalb einer Untersuchung, durch peristalti¬ 
sche Bewegungen die Dämpfung verschiedene Ausdehnung annimmt, 
der Ton plötzlich an der eben untersuchten Stelle sich ändert. Wenn 
viel fester Inhalt im Magen vorhanden ist, bleibt der Metallklang 
ganz aus. Bei Pneumothorax ferner ist das Abdomen eher stark vor¬ 
gewölbt, bei der Hernia diaphragmatica meist abgeflacht, eingezogen, 
brettartig gespannt, bei letzterer ist auch die costale Athmung vor¬ 
herrschend. Bei der Auscultation hört man bei der Hernia diaphra¬ 
gmatica hinten am Thorax Darmgeräusche: Rasseln, Plätschern, 
Blasenspringen, Tropfenfallen, Zeichen, die sich schon durch leichtes 
Schütteln des Thorax erzeugen lassen und sich deshalb mit den vom 
Magen her fortgeleiteten Geräuschen nicht werden verwechseln lassen. 
Zur Unterstützung der Diagnose kann man endlich nach eingeführtcr 
Magensonde die einströmende Luft beim Schlucken oder bei Insuffla- 
tion des Magens auscultiren. 

Hat man an der Leiche eine etwa vorausgegangene Zwerchfell¬ 
verletzung zu diagnosticiren, so muss der Hauptaugenmerk darauf 
gerichtet sein, ob man es mit einem frischen Riss oder einem alten, 
oder gar einer angeborenen Oeffnung zu thun hat. Bei frischen 
Rupturen sind die Ränder zerfetzt, zackig, aufgewulstet, mehr oder 
weniger suggillirt; bei angeborenen Defecten oder alten abgeheilten 
traumatischen Rupturen sind die Ränder glatt, callös, abgerundet, 
sehnig verdickt, die Fetzen sind resorbirt. Das Bestehen alter peri- 

Vierteljahrsscbr. f. ger. Med. Dritte Folge. XIV. Suppl.-Heft. 5 


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66 


Dr. Israel, 


tonitischcr Stränge, seltener auch fester Verwachsungen zwischen Or¬ 
ganen (Magen und untere Lungenfläche in dem Falle von Strass¬ 
mann [1. c.]) weist natürlich mit Bestimmtheit auf das Vorhanden¬ 
sein eines alten Defectes hin. Ferner können, allerdings sehr selten, 
auch post mortem Risse im Zwerchfell entstehen, ein Umstand der 
sorgfältige Berücksichtigung seitens der Gerichtsärzte bei Stellung der 
Diagnose verdient. Weydenmeyer (1. c.) erwähnt zwei solche bis¬ 
her nicht veröffentlichte Fälle: 1. Ein 19 jähriger Jüngling erhält 
einen Schuss ins Gehirn; bei der Section (50—60 Stunden nach dem 
Tode) werden in der linken Pleurahöhle Speisereste gefunden. Bei 
näherer Untersuchung findet man im linken Theile des Zwerchfells 
drei ovale Oeffnungen, von denen die grösste 4 cm im Durchmesser 
misst; die Ränder zeigen keine blutige Durchtränkung. An correspon- 
direnden Punkten sind im Magen 3 ähnliche Perforationen vorhanden; 
die Magenschleimhaut ist normal, 2. Bei einem Ertrunkenen wird 
15 Tage p. m. die Section gemacht; auf der linken Seite des Zwerch¬ 
fells findet sich ein unregelmässiger Riss, durch welchen man 2 bis 
3 Finger hindurchstecken kann. Keine vitale Reaction, sonst nichts 
an der Leiche was auf Verletzung deutet. — Die Entstehung 
solcher postmortalen Rupturen lässt sich folgendermassen er¬ 
klären. Durch die im Abdomen der Leiche sich entwickelnden Fäul- 
nissgase dehnen sich die Intestina aus, ihr Volumen vergrössert sich 
und der intraabdominelle Druck wird erhöht. Hieraus erklärt sich 
die häufiger vorkommende Austreibung eines Darmstückes aus dem 
Anus und den Genitalien, ferner der Vorgang der Sarggeburt; in 
selteneren Fällen kann dadurch die vordere Bauchwand auseinander¬ 
weichen. Nach oben treten in Folge der Fäulniss die ödematöse 
Flüssigkeit (Schaum mit und ohne Blut) bei Ertrunkenen oder Er¬ 
stickten durch Mund und Nase, Speisereste köimen bis zum Pharynx 
Vordringen. So kann man sich auch vorstellen, dass wenn die Zwerch¬ 
fellmuskulatur im Leben schon prädisponirt oder durch Leichenmace- 
ration erst desorganisirt war, eine postmortale Zerreissung des in die 
Höhe getriebenen und durch den erhöhten intraabdominellen Druck 
aufs stärkste gespannten Zwerchfells eintreten kann. Das Fehlen der 
vitalen Reaction und die Berücksichtigung der Anamnese müssen hier 
zu richtigen Schlüssen führen. 

Was die gerichtsärztlicho Beurtheilung der ZwerchfeU-Ver¬ 
letzungen betrifft, so wird wohl selten der Fall eintreten, dass un¬ 
mittelbar nach geschehener Verletzung die Abgabe eines Gutachtens 


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Verletzungen des Zwerchfells vorn gericblsärztlichen Standpunkte. 67 

gefordert wird. Ist es in einem solchen Falle gelungen, die Diagnoso 
einer Zwerch feil Verletzung zu stellen, so muss man mit der Prognose, 
also mit den voraussichtlich sich einstellenden Folgen bei der Beur- 
theilung sehr vorsichtig sein; denn es giebt zahlreiche Fälle, die dar- 
thun, dass die ersten Erscheinungen gut überstanden werden, dass 
aber noch in dem ersten Stadium nach der Verletzung sich Umstände 
einstellen können, die einen letalen Ausgang herbeiführen. Auch 
scheinbare Heilungen dürfen dem Gerichtsarzt niemals zu voreiligen 
Gutachten Veranlassung geben. Sind die bedrohlichen Symptome 
vorübergegangen und hat man es mit einem abgelaufeneu Fall zu 
thun, so wird man besonders auf das eventuelle Bestehen einer Hemia 
diaphragmatica sein Hauptaugenmerk richten und sie unter Berück¬ 
sichtigung der oben angeführten Hilfsmittel zu disgnosticiren suchen. 
Beschwerden, die sich unmittelbar nach dem Genuss einer reichlichen 
Mahlzeit regelmässig einzustellen pflegen, Athemnoth und die ge¬ 
nannten subjectiven Empfindungen müssen den Verdacht einer Hernia 
diaphragmalica entstehen lassen, wenn eine Verletzung der betreffen¬ 
den Körpergegend stattgefunden hat. Da die Diagnose einer solchen 
Hernie äusserst schwierig ist und wiederholte, eingehende Unter¬ 
suchungen erfordert, so wird der Gerichtsarzt gut thun, falls er Ver¬ 
dacht auf einen Zwerchfellbruch hat, den Richter darauf aufmerksam 
zu machen und event. eine längere Krankenhaus-Beobachtung bean¬ 
tragen. Sobald aber dac Bestehen einer Hernie anzunehmen ist, wird 
man kein Bedenken tragen, einen solchen körperlichen Zustand als 
„Siechthum“ zu betrachten, also eine schwere Körperverletzung im 
Sinne des § 224 des D. St. B. anzunehmen. Das Allgemeinbefinden 
ist ja, wie die ausführlich angegebene Symptomatologie beweist, derart 
gestört, dass der Träger einer Hernie in steter Lebensgefahr schwebt, 
ein mhiges Leben führen und sich strenge Diät auferlegen muss. 
Diejenigen Fälle, in denen Hernien ohne Störung ertragen wurden, 
können um so weniger iu Betracht kommen, als sie zu den Aus¬ 
nahmen gehören. Auch die Arbeits- und Erwerbsfähigkeit ist dauernd 
gestört und man wird, falls die Verletzung durch einen Betriebsunfall 
entstanden ist, mit Rücksicht auf die Folgen den Arbeiter als in 
höherem Grade erwerbsunfähig bezeichnen; er muss sich ja vor jeder 
körperlichen Anstrengung in Acht nehmen, weil eine solche die Gefahr 
der Brucheinklemmung in sich schliesst. 

Es wird mm vielleicht vom Richter gelegentlich die Frage auf¬ 
geworfen werden, ob ein solcher Zustand nicht heilbar ist. Es kann 

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Dr. Israel, 

sich hierbei nur um eine Laparotomie handeln, die aber nicht allein 
zu dem Zwecke gemacht wird, um, wie die älteren Aerzte es sich 
dachten, den Magen bezw. Darmstücke in’s Abdomen zurückziehen 
zu können, da sie ja bei der nächsten Pressbewegung wieder hinauf¬ 
steigen würden; es muss sich vielmehr daran auch die Naht der 
Zwerchfellwunde anschliessen. Bei grösseren Defecten wird es ferner 
nöthig sein, dieselben durch plastische Operationen zu ersetzen. Solche 
mit Glück ausgeführte Operationen erwähnt Schönwerth') bei einer 
Stich Verletzung des Zwerchfells, v. No orden 2 ) nach Exstirpation grosser 
Geschwulstmassen, wobei ein grosser, dreieckiger Defect (8 cm tief 
und 9 cm breit) im Zwerchfell entstanden war und unter Zuhilfenahme 
des breiten Bauchmuskels geschlossen wurde, v. Noorden erwähnt 
die Operationen von Posternpski (Verhandlungen des X. internat. 
med. Congr. Bd. III. p. 188), welcher manche guten Erfolge mit 
plastischen Operationen am Zwerchfell gehabt hat. Abgesehen davon, 
dass der Verletzte mit einem solchen Eingriffe (Laparotomie u. s. w.) 
nicht leicht einverstanden sein wird, sind es so seltene und schwierige, 
nur von den geschicktesten Chirurgen auszuführende Operationen, 
deren dauernder Erfolg bei der geringen Anzahl der veröffentlichten 
Fälle überdies noch in Frage steht. Die Frage einer eventuellen 
Heilbarkeit kommt also bei der gerichtlichen Beurtheilung nicht wesent¬ 
lich in Frage. 

Die Beurtheilung des Leichenbefundes wird damit beginnen, 
dass man feststellt, ob ein angeborener Defect oder eine mit der Ver¬ 
letzung in Zusammenhang stehende Oeffnung oder endlich eine post¬ 
mortale Erscheinung vorhanden ist. Die Frage, ob die Schuld eines 
Dritten oder ein Selbstmord (bes. bei Stichverletzungen) vorliegt, wird 
mit Berücksichtigung der Lage der äusseren Wunde, der Richtung des 
eingedrungenen Instruments, der Nebenumstände u. s. w. zu beurtheilen 
sein. Relativ einfach liegen die Fälle, bei denen der Tod unmittelbar 
nach der Verletzung oder nach der sich anschliessenden schweren 
Gesundheitsstörung cingetreten ist. Schwieriger wird die Beurtheilung, 
wenn zwischen Verletzung und Exitus letalis ein monate- bis jahre¬ 
langer Zeitraum scheinbaren Wohlbefindens vorhanden war und der 
Tod schnell und unerwartet eintrat. Da man meistens Einklemmungs- 

1) Schönwerth, Münchener med. Wochenschr. No. 35. 1895. 

2) v. No orden, Zur Operation der grossen Chondrome des Rumpfes, ein 
Beitrag zur Chirurgie des Zwerchfells. (Mikulicz’sche Klinik in Breslau). Deutsche 
med. Wochenschr. No. 15. 1893. 


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Verletzungen des Zwerchfells vom gerichtsärztlichen Standpunkte. Gü 

erscheinungen und deren Folgen an der Leiche vor sich hat, so wird 
man zu bedenken haben, dass die Zwerchfellöffnung sehr wohl vor 
Monaten und Jahren entstanden sein kann und dass trotzdem der Tod 
infolge von Incarceration als mittelbare Folge der Verletzung ange¬ 
sehen werden muss. (Vergl. hierzu den Pincus’schen Fall.) Eine 
genaue Aufnahme der Krankheitserscheinungen zwischen Verletzung 
und Todeseintritt ist unerlässlich, wenn anders man sich vor un¬ 
richtigen Schlussfolgerungen hüten will. Vielleicht kann noch gefragt 
werden, ob es einem Zwerch feil-Verletzten möglich war, unmittelbar 
nach der Verletzung einige Stunden lang scheinbar gesund zu bleiben, 
weiter zu arbeiten, grössere Strecken zu gehen, um dann unter schweren 
Erscheinungen zu Grunde zu gehen. Devergie (cit. bei Schuster, 

1. c.) erwähnt einen solchen Fall: Ein Arbeiter erlitt bei einer Rauferei 
eine Zwerchfellruptur; es fand sich nämlich bei der Section der Magen 
in der linken Pleurahöhle, er war geplatzt und hatte seinen Inhalt 
(zwei tiefe Suppenteller voll Brot, Gemüse und Fleisch) entleert; die 
linke Lunge war ganz comprimirt. Der Verletzte hatte noch einen 
Weg von 1 lieue ( s / 4 deutsche Meilen) zurückgelegt.. — Sollte es sich 
hier nicht um postmortale Erscheinungen handeln? Jedenfalls beweist 
der Fall, dass der Gerichtsarzt bei solchen Vorkommnissen bestrebt 
sein muss, zu individualisiren und die Ergebnisse der Autopsie einer 
strengen Selbstkritik zu unterwerfen. 


ßcsumc. 

1. Isolirtc Zwerchfell-Verletzungen werden selten beobachtet; 
sie können durch Schuss- und Stichverletzungen oder infolge Ein¬ 
wirkung einer stumpfen Gewalt zu Stande kommen. 

2. Die bei weitem überwiegende Anzahl wird auf der linken 
Körperseite gefunden, die Mehrzahl kommt bei Männern im mittleren 
Lebensalter vor. 

3. Die wichtigste Folgeerscheinung ist die Zwerchfell-Hernie, 
welche man als aquirirte Hernie von der congenitalen zu unterscheiden 
hat; meist ist der Magen dislocirt. 

4. Bei Stellung der Diagnose kann das Litten’sche Zwerchfell- 
Phänomen einen guten Anhalt geben; für die Differential-Diagnose 
kommt in erster Reihe der traumatische Pneumothorax in Betracht. 


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70 Dr. Israel, Verletzungen des Zwerchfells vom gerichtsarztl. Standpunkte. 

5. Die Zwerchfell-Hernien können in selteneren Fällen längere 
Zeit ohne Krankheitserscheinungen bestehen, meist wird über Be¬ 
schwerden nach der Nahrungsaufnahme und nach körperlichen An¬ 
strengungen geklagt. Der Exitus tritt am häufigsten als Folge einer 
Einklemmung des dislocirten Organes mit nachfolgender Perforativ- 
Pcritonitis ein. 

6. Das Bestehen einer Zwerchfell-Hernie ist als „Siechthum“ 
zu betrachten. Bei der Leichenuntersuchung soll fostgestellt werden, 
ob man es mit einer angeborenen oder erworbenen Oeffnung oder 
endlich einer postmortalen Ruptur zu thun hat. 


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3. 


Die gerichtsärztliche Beurtheilung der 
Lungenyerletzungen. 

Von 

Stabsarzt a. D. Dr. Altmann, 

pract. Arzt zu Strassburg i. E. 


Die Verletzungen der Lunge kommen auf zwei wesentlich ver¬ 
schiedene Arten zu Stande. Entweder können Erschütterungen und 
Quetschungen — stumpfe Gewalten —, welche den Brustkorb treffen, 
durch die Veränderungen, die sie an ihm oder an seinem Inhalte her- 
vorrufen, auf die Lungen wirken, ohne mit diesen selbst in Berührung 
zu treten (indirecte Lungenverletzungen), oder unter gleichzeitiger 
Trennung der Bedeckungen erfolgt ein unmittelbarer verwundender 
Contact des verletzenden Werkzeuges mit dem Lungengewebe. Solche 
Verletzungen werden bewirkt durch Hieb und Stich, durch Geschosse 
und Zerrcissungen (directe Lungenverletzungen). Die zwischen beiden 
Arten in der Mitte stehenden, nicht nachweislich die Pleura pulmo- 
nalis durchdringenden Verletzungen werden, wie später begründet, am 
zweckmässigsten der zweiten Gruppe zugerechnet. — 

Gerechtfertigt wird diese Trennung nach directen und indirecten 
Läsionen durch die Verschiedenheiten des Verlaufes und der Beurthei¬ 
lung — insbesondere auch der gerichtsärztlichen —, welche durch 
das Fehlen oder Vorhandensein einer Eröffnung des Brustraumes und 
einer pathologischen Communikation der Lungen mit der Aussenwelt 
gegeben sind. — 

Die Verletzungen, welche die Lunge durch eine reine Brust¬ 
erschütterung (Commotio thoracis) infolge Fall oder Stoss erleidet, 
sind nach Ausweis sowohl der klinischen wie der experimentellen Er¬ 
fahrungen nur geringe. Mehr als.kleine subpleurale Blutergüsse, der 


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72 


Dr. Altmann, 


getroffenen Brustkorbstelle ungefähr entsprechend, konnten die Beob¬ 
achter (Riedinger 1. S. 13 ff.) 1 ) nicht nachweisen und zwar weder 
bei den zur Obduction gelangten Unglücksfällen, noch bei den nament¬ 
lich von Riedinger (2) veranstalteten Versuchen, bei denen die Wir¬ 
kungen der einmaligen Erschütterung durch die Application vieler 
kleiner Schläge auf den Thorax nachgcahmt wurden. — Ob eine der 
Gehirnerschütterung analoge Coramotion der Lunge stattfinden kann 
und welche Erscheinungen am Lebenden sie bietet, ist eine Frage, 
die selbst durch die experimentelle Forschung nicht befriedigend be¬ 
antwortet werden konnte, da das Bild stets durch die gleichzeitige 
Reaction der benachbarten Organe (Herz, Unterleibseingeweide), sowie 
des Nervensystems getrübt wird. So müssen einerseits die häufig 
dominirenden Shokerscheinungen auf die directe oder reflectorische 
Hirn- und Rückenmarksreizung, andrerseits das experimentell beob¬ 
achtete Sinken des Blutdrucks — bis zur völligen Herzlähmung — 
auf Reizung des Nervus vagus sowie der Splanchnici, die Verkürzung 
und Beschleunigung der Athmung auf Reizung der betreffenden Nerven- 
centren durch die daselbst secundär eintretende Anämie zurückgeführt 
werden. Die Summe dieser Erscheinungen ist im Stande, auch ohne 
besondere nachweisbare organische Veränderungen den sofortigen Tod 
herbeizuführen (s. den Fall von Nelaton bei Riedinger 1. p. 13). 
Meistens allerdings, zum wesentlichen Unterschiede von der Contusio 
thoracis, verschwinden die anfangs bedrohlichen Symptome binnen 
weniger Stunden oder Tage. Die Möglichkeit, dass dieselben zu 
späteren Lungenleiden den Keim legen, oder ein vorhandenes zur Ent¬ 
wickelung bringen, ist jedoch nicht ausgeschlossen. 

Die eigentlichen Contnsionen der Brust sind stets von gröberen 
anatomischen Veränderungen theils der Lunge selbst, theils der sie 
direct beeinflussenden Nachbartheile begleitet. Ihr Vorkommen ist 
häufig und ihre Ursachen sind sehr mannigfaltig, ebenso wie die 
Aeusserungen ihres Einflusses auf die Lunge. Als Entstehungsursachen 
sind im Allgemeinen zu bezeichnen stumpf wirkende Gewalten, d. h. 
„Insulte, welche breit auftreffend den Thorax ganz oder theilweisc 
eomprimiren und durch die plötzlich eintretenden anatomischen Lage- 
verschicbungen Zerrcissungen seines Inhalts — mit oder ohne gleich¬ 
zeitige Beschädigung der Wandung — hervorrufen“ (Schuster. 3. 


I) Die Zahlen beziehen sieh — um Wiederholungen zu vermeiden — auf 
die am Schlüsse angeführten Liieraturangaben. 


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Die gerichtsärztliche Beurtheilung der Lungönverletznngen. 73 

S. 417). Als solche Gewalten ergeben sich Stösse mit der Hand 
(Faust) oder den Füssen (Hufen) oder stumpfen Werkzeugen jeglicher 
Natur, Wurf mit derartigen Gegenständen, Ueberfahrenwerden oder 
sonstige Quetschungen verschiedener Art, wie sie im Maschinen-, Bau-, 
Bergwerks- und Eisenbahnbetriebe so häufig sind und auch bei anderen 
Gewerben und Beschäftigungen (Pferdepflege!) sich ereignen können; 
weiterhin Sturz von bedeutender Höhe oder wuchtiger Auprall an harte 
Körper; auch Geschosse (matte Kugeln, Sprengstücke) können die 
Wirkungen stumpfer Gewalten äussern. — Die Erscheinungen nach 
solchen Contusionen bewegen sich in den Grenzen zwischen den 
leichtesten, kaum nachweisbaren Veränderungen und den schwersten, 
sofortigen Tod herbeiführenden Läsionen, zwischen acuten, kürzere 
oder längere Zeit sich hinziehenden Erkrankungen und chronischen, 
oft sogar erst nach geraumer Zeit zu Tage tretenden Leiden. — 

Durch die einwirkende Gewalt kann eine so ausgedehnte Zcr- 
reissung der Lungen erfolgen, dass ein Häraato- bezw. Hämato-pneumo- 
tliorax mit sofortigem, durch Lungeneompression bewirktem Tode ein- 
tritt. Eine reiche Sammlung solcher Fälle zählt Riedinger (1. S. 10ff.) 
auf. Die Lungenzerreissung erfolgt hierbei durch die Fortleitung der 
quetschenden Gewalt vermittelst des elastischen Brustkorbes auf die 
Lunge und wird begünstigt durch einen im Augenblick des Insultes 
bestehenden Verschluss der Stimmritze bei gleichzeitiger Inspirations¬ 
stellung der Lungen. Es brauchen jedoch selbst bedeutende Zerreissungen, 
sofern sie sich auf eine Lunge beschränken, die Fortdauer des Lebens 
nicht auszuschlicssen. Der Bluterguss in den Pleuraraum kann zur Re¬ 
sorption gelangen — die beim Ausbleiben einer Infection oft sehr 
schnell erfolgt — und völlige Heilung eintreten. Der gleichzeitige 
Lufteintritt aus der geborstenen Lunge in den Pleuraraum (Hämato- 
pneumothorax) wird natürlich die Heilung oft verzögern oder in Frage 
stellen. Die Gefahr einer Infection mit Eiterung, Sepsis und Com- 
pression der Lunge durch Entwickelung von Fäulnissgasen im Brust¬ 
raum liegt hier sehr nahe. Unter Athemnoth und Hämoptoe können 
die Verletzten mit allen sonstigen Symptomen genannter Begleiterkran¬ 
kungen monatelang an’s Krankenbett gefesselt sein und an jenen noch 
seeundär zu Grunde gehen oder dauerndem Siechthum verfallen. — 
Die Compression der Lunge nach Verletzungen kann auch durch 
andere Momente als den Hämatothorax infolge Lungenruptur ver¬ 
ursacht werden — Vorgänge, die allerdings seltener zur Beobachtung 
gelangen. Es gehören hierher der Hämatothorax nach Verletzung der 


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74 


Dr. Altmann, 


Arteria mammaria interna oder einer Intercostalarterie (4), und der 
Chylothorax, entstanden durch Zerreissung des Ductus thoracicus (5.6). 
Die comprimirende Wirkung eines Ergusses auf die Lunge ist dabei 
natürlich der des Hämatothorax gleichbedeutend, der Ausgang wird 
beim Chylothorax ausserdem noch durch die gleichzeitigen Ernährungs- 
anomalien modificirt. — Weiterhin können traumatische Lungencom- 
pressionen durch Zwechfellrupturen nach Verletzungen eintreten. Durch 
den Riss des Zwerchfells — der ebenfalls bei Inspirationsstellung des 
letzteren am ehesten erfolgt — treten Unterleibsorgane in die Brust¬ 
höhle und erzeugen dann häufig letal endigende Störungen der Lungen¬ 
functionen, abgesehen von ihren sonstigen Schädigungen. Jedoch sind 
auch Fälle beobachtet, in denen solche Hernien sogar ohne besondere 
Symptome — manchmal unerkannt — jahrelang bestanden haben und 
erst bei der Section entdeckt wurden (7. 8). Auf die Möglichkeit des 
Bestehens solcher Organverschiebungen muss bei in Betracht kommen¬ 
den Verletzungen stets Rücksicht genommen werden, da bei etwaigen 
Punctionen und Aspirationen hierbei Bauchorgane perforirt und tödt- 
liche Ausgänge erzeugt werden können (Butlin bei Riedinger, 1. 
S. 11). 

Auch ohne solche ausgedehnten Zerreissungen bezw. Cora- 
pressionen des Lungengewebes kann die Quetschung des Brustkorbs 
krankheitserregend auf die Lunge wirken. Es treten nach Contu- 
sionen Blutungen ins Lungenparenchym und selbst lungenentzündungs¬ 
ähnliche oder pleuritiscbe Erscheinungen auf, die direct als trauma¬ 
tische oder Contnsions-Pnenmonien oder -Pleuritiden bezeichnet worden 
sind. — Die Möglichkeit einer Entstehung von Pneumonien durch 
Quetschungen des Brustkorbs war von den Forschern lange Zeit ignorirt, 
oder gar bezweifelt worden (Jürgensen, Strümpell, Lehrb. d. spec. 
Path. u. Ther.). Litten (9) war der erste, der geordnet eine Anzahl 
Fälle anführte, aus denen ihm mit Evidenz der causale Zusammenhang 
zwischen mechanischer Läsion des Brustinhalts und der Lungenerkran¬ 
kung hervorzugehen schien. Neben den direct als traumatisch zu erklä¬ 
renden Lungenaffectionen — einfacher Ecchymosirung, hämorrhagischer 
Infiltration, Infarcirung oder reichlichem parenchymatösen Blutergusse 
durch Gefässzerreissung, sowie Zerreissung und Zermalmung der 
Lunge — beschreibt er als „Contusionspneumonie“ eine Affection, 
die 1—2 Tage nach dem Unfälle, während welcher der Verletzte oft 
noch arbeitet und sich verhältnissmässig wohl fühlt, in der Regel mit 
einem Schüttelfröste einsetzt. Es folgt ein mehrtägiges Fieber, ge- 


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Die gerichtsärztliche Beurtheilung der Lungenverletzungen. 


75 


wohnlich mit kritischem Abfall; dabei besteht pneumonischer Auswurf, 
meistens von stark hämorrhagischem Charakter. In der Mehrzahl der 
Litten’schen Fälle war der Unterlappen ergriffen; auch fehlten nicht 
sonstige Nebenerscheinungen der Pneumonie — Schweisse, Urinsedi¬ 
mente, Herpes u. s. w. Der Ausgang erfolgte einige Male in 
Gangrän, die aber nach Abstossung der nekrotischen Fetzen einen 
günstigen Verlauf nahm. Bestanden leichte Einrisse an der Lungen¬ 
oberfläche, so hatte nachweislich die Entzündung von diesen gewöhn¬ 
lich ihren Ausgang genommen, konnte auch in Form einer Pneumonia 
migrans von einem dieser Einrisse zum anderen überspringen. Fast 
stets begleitete eine trockene oder seröse Pleuritis die Erscheinungen, 
die bei Gangrän und ähnlichen Processen den entsprechenden Cha¬ 
rakter annahm. Die zur Section gelangten Fällen wiesen ein längeres 
Verharren der Lunge im Zustande der rothen Hepatisation auf, als 
dies der genuinen Pneumonie zukommt, dazu das Vorhandensein reich¬ 
licher rother Blutkörperchen in den Alveolen. Von späteren Beob¬ 
achtern (10) wurden in derartigen Fällen auch Pneumokokken in der 
entzündeten Lunge aufgefunden und die Annahme hingestellt, dass 
das Trauma als solches der Infection nur die Wege geebnet habe. — 
Der Kriegs-Sanitätsbericht(ll) erwähnt eine Anzahl Fälle von Lun¬ 
genentzündungen nach vorausgegangenen Quetschungen der Brust, deren 
Verlauf sich von dem der gewöhnlichen Pneumonie in nichts Wesent¬ 
lichem unterschied, wenngleich seitens der Berichterstatter ihrer Auf¬ 
fassung als reine Contusionspneumonien die Möglichkeit sonstiger Ent¬ 
stehungsursachen entgegen gehalten wird. 

Die Angaben von Litten fanden zum Theil vielfache Bestätigung 
und casuistische Erweiterung, wenn auch andrerseits Stimmen nicht 
fehlten, welche die Abweichungen des Verlaufes derartiger Pneumonien 
betonten (Demuth 12) und zwar die Möglichkeit entzündlicher lobärer 
Infiltrate Zugaben, jedoch ihre Identität mit der genuinen Pneumonie 
in Abrede stellten. Demuth, der unter 604 Fällen von Lungenent¬ 
zündung 10 mit voraufgegangenen Contusionen beobachtete, hebt den 
abweichenden Verlauf dieser Fälle hervor: Der initiale Fieberfrost, 
sowie die in diesem Stadium sonst hörbaren feinblasigen Rasselgeräusche 
seien nicht immer vorhanden, der Verlauf mitunter protrahirter; das 
Sectionsergebniss zeigte manchmal nur Anschoppung und Blutunter¬ 
laufung der Lungen; in einem Falle wies der Querschnitt der infiltrirten 
Lunge nicht die körnige Beschaffenheit der pneumonischen Hepatisa¬ 
tion auf; die Infiltration war auch mehr inselförmig über die Lappen 


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I)r. Altraann, 


versprengt, als lobär umgrenzt. Dabei fehlte, als auf äusseres Trauma 
hindeutend, selten das charakteristische, der genuinen Pneumonie nicht 
zukommende Symptom der miliaren subpleuralen Ecchymosen. Eine 
Anzahl ähnlicher Fälle, durch Eisenbahnunglück entstanden (Reu- 
bold, 13), liessen Lungenaffcctionen beobachten, die theilweise den 
Charakter der Pneumonie, theilweise mehr den der reinen Quetschung 
trugen. Eine weitere Anzahl von demselben Autor beobachteter Fälle 
von Brust- und Lungenquetschungen (14) lassen diesen zu demselben 
Resultate gelangen, dass das Auftreten von Pneumonieen und aüch 
Pleuritiden nach Quetschungen der Lunge zweifellos zu beobachten 
sei, wenn auch die ersteren fast stets einen auf ihre mehr hämor¬ 
rhagische Natur deutenden Charakter zeigten. Kannenberg (15) be¬ 
richtet ebenfalls von einigen Fällen von Pneumonie nach Quetschungen, 
darunter einem, in dem ein Sturz auf den Knopf des Gewehrhebels 
einen Druck des Nervus vagus und anschliessend eine Unterlappen¬ 
pneumonie verursacht hatte, die vielleicht nicht mit Unrecht der Be¬ 
einflussung dieses Nerven zugeschrieben werden konnte. — Von Inter¬ 
esse ist ferner ein Fall von Kuby (16), wo nach einer Gewaltein¬ 
wirkung auf die rechte Brustseite sich links eine Lungeninfiltration 
cinstellte, während sich rechts ausser einer Rippenfractur mit ent¬ 
sprechendem Bluterguss nur das terminale Lungenödem vorfand; der 
Begutachter hebt die Möglichkeit einer Contrecoup-Wirkung auf die 
nicht direct getroffene Seite hervor. — Koch (10) und Sokolowski 
(17) betonen anlässlich der von ihnen beschriebenen Fälle den echt 
pneumonischen, durch den Nachweis von Diplokokken gesicherten 
Charakter der durch die Quetschungen entstandenen Affectionen. — 
Alle die beschriebenen Fälle sowohl, als auch die Betrachtungen der 
Autoren lassen die Frage des Entstehens einer genuinen Pneumonie 
durch Contusion als eine umstrittene bestehen. Das Auftreten fieber¬ 
hafter Erscheinungen nach einer Lungenquetschung erscheint durch 
das Vorhandensein grösserer Hämorrhagien durchaus erklärt, wie dies 
auch die Versuche von Ledderhose (18) und Hadelich (19) be¬ 
stätigen, welch letzterer besonders die Anwesenheit von Blut in den 
Alveolen als Entzündungsreiz hervorhebt. So tragen die sogenannten 
Contusionspneumonien meistens den hämorrhagischen Charakter, wie 
er sich in den niedrigeren Fiebercurven, dem mehr protrahirten Ver¬ 
laufe, dem stark blutigen Auswurf und den erwähnten Sectionsbefunden 
ausprägt. Das Auftreten zweifellos echter Pneumonien nach Gewalt¬ 
einwirkungen kann dann entweder als zufälliges ßegleitmoment auf- 


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Die gerichtsärztliche Beurthcilung der Lungenverletzungen. 77 

gefasst werden, oder es darf beim Vorhandensein der Möglichkeit 
einer Infectiou von aussen das Trauma dadurch, dass es in der Lunge 
einen Locus minoris resistentiae schuf, für die Erkrankung direct ver¬ 
antwortlich gemacht werden. — Die Frage nach dem Zusammenhänge 
zwischen der Tuberkulose und erlittenen mechanischen Insulten soll 
später ausführlicher betrachtet werden. 

Nebenhergegangene Quetsch Wirkungen auf die Brustwand können 
nun die Symptome der einfachen Lungenquetschung in mehrfacher 
Weise modificiren. Blosse Weichtheilverletzungen werden natürlich 
die etwa bestehende Lungen Verletzung nicht weiter beeinflussen. An¬ 
ders jedoch verhält es sich mit Brüchen des Brustkorbgerüstes, 
welche die Erscheinungen der Lungenquetschung um weitere eigen- 
thümliche vermehren. — Die Brache des Sternums können auf 
die Lunge entweder durch die hervorgerufene Erschwerung des Ath- 
mens rückwirken und namentlich bei älteren Leuten das Eintreten 
von Hypostasen und Lungenödem begünstigen, oder es kann ein 
substemaler Bluterguss die Lunge comprimiren; endlich auch kön¬ 
nen die Fragmente directe Zerreissungen des Lungengewebes mit 
allen für dieselben charakteristischen Erscheinungen erzeugen. Unter 
ihnen ist von besonderer Bedeutung das durch die Kommunikation 
zwischen Lunge und Unterhautzellgewebe entstehende Hautemphysem, 
das häufig einen beträchtlichen Umfang annehmen und seinerseits durch 
Compression, Vereiterung u. s. w. die Prognose der Verletzung trüben 
kann. — In besonders inniger Beziehung zu den Lungenverletzungen 
stehen sodann die Rippenbrfiche. Das Zustandekommen derselben er¬ 
fordert bei seniler Beschaffenheit oder sonstigen krankhaften Verände¬ 
rungen der Rippen keine bedeutende Gewalt. Es können unter solchen 
Bedingungen durch gewaltsame Muskelbewegungen oder ähnliche Mo¬ 
mente sogar spontane Fracturen entstehen. Bei jüngeren Leuten und 
gesunden Rippen gehört zur Rippenfractur in Anbetracht der Elasti- 
cität des Thorax eine intensive Gewalteinwirkung: Kann doch hier 
der Brustkorb eine solche Compression erleiden, dass das Brustbein 
die Wirbelsäule berührt, ohne dass die Rippen brechen (s. Messerer 
bei Reubold, 14). — Brüche zahlreicher Rippen, insbesondere doppel¬ 
seitige, sind im Stande, durch umfangreiche Zerreissungen der Pleuren 
und Lungen und die consecutive Blutung binnen kürzester Frist den 
Tod herbeizuführen. Bleibt der Verletzte am Leben, so werden neben 
den Erscheinungen der Lungenquetschung bezw. -Zerreissung durch 
die Fracturenden — Bluthusten, Athemnoth, Dämpfungen u. s. w. — 


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78 


Dr. Altmann, 


noch diejenigen der Rippenfracturcn selbst mit in die Erscheinung 
treten und die üble Einwirkung der ersteren erhöhen. Besonders das 
Unterhautemphysem kann sich sehr rasch entwickeln, jedoch ist zu 
berücksichtigen, dass dieses Symptom nicht unbedingt pathognomonisch 
für eine Rippenfractur, nicht einmal für einen Riss der Lungenober¬ 
fläche ist. Bei inneren Zerreissungen der Lunge kann im peribron¬ 
chialen und -trachealen Bindegewebe eine Luftansammlung entstehen, 
die zunächst schwere und unerklärliche Compressionserscheinungen er¬ 
zeugt und erst beim Aufsteigen und Umsichgreifen im Halsbindegewebe 
sichtbar wird; diesselbe Phänomen kann sogar durch ulcerative Pro- 
cesse bedingt sein, wenn durch solche eine Kommunikation zwischen 
dem Lungeninneren und dem die Luftröhrenäste umgebenden Binde¬ 
gewebe hergestellt wird. — Die Schmerzhaftigkeit der Rippenfractur- 
stelle beeinträchtigt nun ferner die Athmung und wird so zur Ursache 
secundärer krankhafter Processe in der Lunge oder zum hemmenden 
Moment des Ausgleichs bestehender Verletzungen. — Sodann können 
durch die Bruchlücken Lungenhemien heraustreten — ein bei nicht 
penetrirenden Brustwunden allerdings seltenes, aber doch sicher beob¬ 
achtetes Vorkommniss (20. Fall von Weis: Hornstoss — Rippen¬ 
fractur — Lungenvorfall); diese Ausstülpungen entstehen im Mo¬ 
mente forcirter Exspiration und zeichnen sich neben den sonstigen 
Erscheinungen durch bedeutende Empfindlichkeit aus, die zu Ohn¬ 
machtsanfällen führen kann. — Weiterhin kann der Rippenbruch unter 
Umständen zur Ursache von comprimirenden Pleuraergüssen werden, 
und zwar auch ohne directe Beschädigung der Lunge, bei isolirten 
Pleurarissen oder Zerreissungen von Gefässen. Die möglichen Folge- 
und Verlaufserscheinungen dieser Complikationen (Pneumo-, Pyothorax 
mit eventeller Sepsis, Pyämie etc.) sind den entsprechenden Processen 
bei penetrirenden Brustwunden analog und sollen in ihren Einzelheiten 
bei Besprechung dieser genauer gewürdigt werden. 

Eine besondere Hervorhebung, ihrer eigenthümlichen Entstehungs* 
Ursache wegen, verdienen noch die Schusscontusionen der Lunge, bei 
denen das Geschoss, ohne Pleura oder Lunge direct zu verletzen, durch 
seine erschütternde Wirkung einen schädigenden Einfluss auf die Lunge 
gewinnt. Reichhaltiges Material an hierher gehörigen Fällen liefert der 
deutsche Kriegs-Sanitätsbericht von 1870/71 (11), der unter den 
7102 sicher constatirten nicht penetrirenden Brustverletzungen (Quetschun¬ 
gen, reinen Weichtheilwunden und Knochenverletzungen) 318 Fälle mit 
Complikationen seitens Lunge und Brustfell aufzählt (die auf dem Schlacht- 


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Die gerichlsärztliche Beurtheilung der Lungen Verletzungen. 


79 


feldc Gestorbenen nicht eingerechnet), welche zum weitaus grössten 
Theile auf Geschosse zurückzu führen sind. Es können sowohl die 
Erscheinungen der leichten, wie der schweren Brusterschütterung her¬ 
vorgerufen werden, oder der wechselnde Symptomencoroplex einer 
Lungenquetschung sich vorfinden: Bluthusten, Blutungen in’s Lungen¬ 
gewebe, Blutergüsse in den Pleuraraum, mit oder ohne Risse der 
Pleura und des Lungenparenchyms selbst, Contusionspneumonien und 
-Pleuritiden, nicht selten Ausgänge in Tuberkulose. Bei gleichzeitig 
vorhandenen Knochenbrüchen zeigten sich unter 813 Fällen 68mal 
die Athmungsorgane in Mitleidenschaft gezogen. Auch Wahl (21) 
führt eine Anzahl solcher Schusscontusionen der Lunge mit und ohne 
gleichzeitige Rippenfracturen an; selbst die selten zur Beobachtung 
gelangten „Luftstreifschüsse“ (Pirogoff bei Wahl 1. c., Kriegs-Sani¬ 
tätsbericht. Bd. III. S. 396) können neben den Wirkungen auf die 
äusseren Bedeckungen eine Insultation der Lunge im Gefolge haben. 

Die in Pleuraraum und Lunge penetrirenden Brustverletzungen 
bieten ausser solchen Folgeerscheinungen, die den Quetschungsresul¬ 
taten analog sind, noch diejenigen Besonderheiten dar, die durch die 
abweichende Art des Zustandekommens und durch die Kommunication 
der Lungenwunde mit der Aussenwelt gesetzt werden. Die Lebens¬ 
wichtigkeit der hierbei der Läsion ausgesetzten Theile bringt es mit 
sich, dass die penetrirenden Brustverletzungen in der Mehrzahl der 
Fälle einen Weiterbestand des Lebens überhaupt nicht gestatten, son¬ 
dern zu raschem Tode führen, den wir als primär oder secundär er¬ 
folgend bezeichnen können, je nachdem er das unmittelbare Resultat 
der Verletzung oder das späterer Complicationen ist. Abgesehen von 
dem Shok und etwaigen Mitverletzungen des Herzens — die nur in 
den seltensten Fällen einen Fortbestand des Lebens gestatten (s. Rie¬ 
din ge r 1. S. 182) — ist eine innere oder äussere Verblutung in 
erster Linie die Ursache des schnellen Endes, sodann die Ausserthätig- 
keitsetzung der Lunge beim Auftreten eines ausgedehnten Pneumo¬ 
thorax. Aber auch wer dieser Gefahr entronnen ist, kann durch den 
Eintritt weiterer infectiös-entzündlicher Processe, von Nachblutungen 
und sonstigen üblen Zufällen noch im ferneren Verlaufe dahin gerafft 
werden. Welche Höhe die Sterblichkeitsziffer der Lungenverletzungen 
erreicht, lehren insbesondere die kriegschirurgischen Erfahrungen. 
Nach dem Kriegssanitätsberichte (11. Bd. UI. A. S. 301) starben von 
15378 Brustverletzungen 7953 = 51 pCt., davon 5918 = 37,3 pCt. 
sofort, die übrigen nachträglich. Wieviele dieser Todesfälle auf aus- 


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l)r. Altmann, 

schliessliche Lungenvcrlctzungen zu rechnen sind, ist aus diesen Be¬ 
richten nicht zu ersehen. Hingegen ergab sich von den 3121 lebend 
in Behandlung gekommenen Verwundeten mit penetrirenden Lungen¬ 
verletzungen eine Sterbeziffer von 47,9 pCt. (1. c. S. 423) — die¬ 
jenigen, bei denen die Lungenverletzung nur wahrscheinlich, als wirk¬ 
lich Verletzte mitgerechnet. Einen noch höheren Procentsatz von Todes¬ 
fällen lieferten zum grössten Theil die Statistiken der anderen Kriege 
dieses Jahrhunderts. So ergab sich im Krimkriege eine Sterblichkeit 
von 91 pCt. bei den Franzosen, 79,2 pCt. bei den Engländern, im 
amerikanischen Kriege eine solche von 65,6 pCt. u. s. w. Eine Zu¬ 
sammenstellung von Asch6 (22) führt aus dem deutsch-französischen 
Kriege unter 5102 Gewehrschüssen in die Brust 2262 = 44,31 pCt. 
sofort und 438 = 8,58 pCt. nachträglich Verstorbene an (insge- 
sammt eine Sterblichkeit von 52,89 pCt.). Von 66 Bajonettwunden 
der Brust waren sofort tödtlich 13 = 19,69 pCt., späterhin noch 
3 = 4,54 pCt., im ganzen also nur 24,23 pCt. — Immerhin sind 
aber in der Literatur aus der Kriegs- und Friedenspraxis Fälle sehr 
schwerer Lungenverletzungen, umfangreicher Zerreissungen, auch mit 
Complicationen anderer wichtiger Organe beschrieben, die doch noch 
mit dem Leben davon kamen und selbst zur relativen Heilung ge¬ 
langten. 

Die Entstehung penetrirender Brustwunden erfolgt durch Hieb-, 
Schnitt- und Stichwaffen der verschiedensten Art, durch Schusspro- 
jcctile oder durch sonstige zerreissende Gewalten, wie sie, ausser 
durch Geschosse grösseren Kalibers, bei mancherlei Unglücksfällcn 
gegeben sein können (Verschüttungen, Explosionen, Eisenbahnunfälle etc.). 
Isolirte Verwundungen der Pleura parietalis — bei rascher Retraction 
der Lunge — sind selbst unter Berücksichtigung der Schwierigkeit, 
Wunden des visceralen Pleurablattes sogar bei der Obduction infolge 
ihrer häufig rasch auftretenden Verklebung aufzufinden, dennoch sicher 
beobachtete Thatsachen (s. Riedinger, 1. S. 119). Diese sehr häufig 
bestehende Unmöglichkeit, bei Brustverletzungen eine gleichzeitige 
Lungenwunde genau zu diagnosticiren bezw. auszuschliessen, der bis 
auf wenige, fast nur in sehr ausgeprägten Fällen zu erkennende Unter¬ 
schiede gleichartige Verlauf beider Arten von Verletzungen, die un¬ 
umgänglichen Wirkungen, welche auch reine Pleurawunden auf die 
Lunge mit ausüben müssen: All’ diese Umstände bestimmen uns, 
die penetrirenden Pleurawunden als mit den oberflächlichen Lungen¬ 
wunden grundsätzlich gleichwertig zu betrachten. 


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Die jrerielitsiirztliche Rourthoilung der Lungenvcrletzungen. 


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Jede Herstellung einer Communication zwischen Ausscnwrelt und 
Brustinnern wird nothwendiger Weise das Eintreten von Luft in den 
hierdurch erst zum wirklichen Ausdruck gelangenden Pleuraraum er¬ 
möglichen, also einen Pneumothorax schaffen. Fehlen kann derselbe 
bei mangelndem Parallelismus der Wundränder, ein Umstand, der 
besonders vor dem Sondiren der Brustwunden warnen muss, oder bei 
vcntiJartigem Verschlüsse der Wunde. Schnitt- und Hiebwunden be¬ 
günstigen daher das Eintreten eines Pneumothorax mehr als Schuss¬ 
wunden. Andrerseits sind bei ersteren die Gefahren einer Infcction, 
besonders durch das Fehlen mitgerissener Kleidungsfetzen u. s. w. 
geringer; da bei ihnen auch Knochensplitterungen nicht so leicht Vor¬ 
kommen, bieten die glatteren Wundflächen für die Heilung eine gün¬ 
stigere Gewähr als die gequetschten Gewebstrümmer einer Schuss¬ 
wunde. 

Der Pneumothorax wird sich auf einen geringen Umfang be¬ 
schränken beim Bestehen von Adhäsionen zwischen den Pleurablättern, 
wie sic sehr häufig, besonders bei älteren Individuen zu beobachten 
sind. Die Wirkung des Lufteintritts in den Pleuraraum ist ein Zu¬ 
sammenfallen der Lunge nach dem Hilus zu, so dass ein Rücksinken 
derselben auf die Wirbelsäule stattfindet. Ein pfeifendes Geräusch 
begleitet jeden Athemzug, die eingedrungene Luft kann, wenn die 
Wundöfinung sich schliesst, den Thorax über das gewöhnliche Hass 
auseinanderwölben, und giebt sich durch hellen tympanitischen Schall 
zu erkennen. Bei gleichzeitiger Continuitätstrennung an der Lungen¬ 
oberfläche ist dem Zustandekommen des Pneumothorax durch das Mit¬ 
eintreten von Luft aus den Bronchien doppelte Gelegenheit geboten, 
während andrerseits die Möglichkeit eines Verklebens der Pleurablätter 
sein Umsichgreifen hindern kann (s. Arnold bei Riedinger, 1. S.122). 
Unter günstigen Umständen — bei baldigem Verschluss der Oeffnung 
und der Abwesenheit entzündlicher Exsudate — vermag eine rasche 
Resorption der in den Pleuraraum eingedrungenen Luft und eine all- 
mälige Wiederausdehnung der Lunge stattzufinden, die der Restitutio 
in integrum die Wege ebnet.. 

Den Pneumothorax begleitet für gewöhnlich ein Bluterguss, 
der entweder aus gleichzeitig getroffenen Gefässen (Arteria mamraaria, 
intercostalis, Pulmonalgefässcn) oder aus dem Lungengewebe selbst 
stammt. Sein Wachsen ist durch den Nachweis einer steigenden 
Dämpfung zu verfolgen; er führt häufig zum sofortigen oder baldigen 
Tode durch Verblutung, oder zu hochgradigen Oppressionserscheinun- 

Viertelj&hrsßchr. f. ger. Med. Dritte Folge. XIV. Suppl.-Heft. g 


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82 


Dr. A11 m a n n , 


gen, unter Verdrängung dos Herzens, Compression der anderen Lunge, 
in der vicariirendes Emphysem, zum Ende auch Oedem eintreten kann, 
doppelseitige penetrirende Lungenverletzung wird fast stets sofortigen 
Tod im Gefolge haben. Die Blutung ist bei den glattrandigen Hieb¬ 
und Stichwunden eine erheblichere. Beim Fernbleiben von Infection 
vermag der Bluterguss wieder resorbirt zu werden, und gestattet eine 
völlige Genesung. Anderseits aber bietet er Keimen, die entweder 
durch unreine Waffen, Projeetile, Klcidungsfetzen u. s. w. eingeführt 
sind, oder nachträglich einwandern können, einen günstigen Boden 
zur Erzeugung von eitrigen Pleuritiden oder jauchigen Ergüssen, zur 
Sepsis und Pyämie, die durch operative Eingriffe nicht immer zu be¬ 
seitigen sind. Auch können bereits in Bildung begriffene, Rettung 
verheissende Adhäsionen durch solche secundären Processe zur eitrigen 
Schmelzung gebracht, und so nachträglich noch ein Pyopneumothorax 
erzeugt werden. Um die Lungenwunde finden sich nicht selten Hämor- 
rhagien und Infiltrate, die zu acuten oder chronischen Pneumonien 
Veranlassung geben können (s. die Versuche von Hadelich, 19). 
Die Möglichkeit des Zusammenhanges phthisischer Processe mit Lungen¬ 
verletzungen wird uns späterhin noch beschäftigen. — Des weiteren 
sind Vorfälle des Lungengewebes, namentlich der Ränder, durch die 
äussere Wunde beobachtet, welche dem an dieser Stelle verminderten 
Gegendruck des Thorax bei der Exspiration ihren Austritt verdanken. 
Hierbei kann völliges Zurückziehen des Prolapses, Schrumpfung, oder 
Gangrän mit ihren Folgen der Ausgang sein. Eine bei penetrirenden 
Lungenwunden häufige Erscheinung ist das Hautemphysera der Nach¬ 
barschaft. Dasselbe setzt zu seinem Entstehen jedoch einen gewissen 
Verschluss der Eingangswunde voraus — die lockeren Zellgewebs- 
maschen bieten alsdann der aus der Lunge dringenden Luft ein be¬ 
quemes Verbreitungsgebiet. — Die subjectiven Zeichen der Lungen¬ 
verletzung sind natürlich sehr wechselnde. Initial bestehen häufig die 
Erscheinungen des Shoks, tiefe Ohnmacht, kleiner Puls, Blässe, livides 
Aussehen und kalter Schweiss. In anderen Fällen findet sich starker 
Brustschmerz, Angstgefühl und Athemnoth, auch kann Cvanose ein¬ 
treten, Zittern der Extremitäten und die sonstigen Symptome einer 
acuten Anämie. Sodann kann oft unter starkem Hustenreiz blutiger 
Auswurf sich entleeren, der, wenn auch manchmal nur kurze Zeit 
anhaltend, doch selten fehlt. Sehr gefährlich sind secundäre Hämo¬ 
ptoen, durch spätere Arrosion von Gelassen u. s. w. entstanden, die 
dem schon geschwächten Organismus dann vollends den Rest geben. 


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Di ft gerielitsärzlliclie Beurtlieilung <Ier Lungcnvcrlctzungen. 83 

Die Wundöffnungen variiren natürlich nach der Natur der Waffe. 
Die meist glatten und seharfrandigen Schnitt- und Stichwunden sind 
von den runden oder gezackten, mitunter verbrannten Schussöffnungen 
verschieden; diese lassen auch häufig an eingestülpten bezw. heraus¬ 
gerissenen Rändern die Ein- und Ausgangsöffnung erkennen, letztere 
unter Umständen durch Geschosstrümmer oder Knochensplitterung 
besonders verunstaltet. Der Austritt meist schaumig-blutiger Flüssig¬ 
keit aus der Wunde ist gewöhnlich zu beobachten. — Weiterhin 
bieten auch die Wunden der Lunge solbst die verschiedensten Bilder. 
Glatte Ränder — gleichsam Rupturen — sind selbst bei Schuss¬ 
wunden beobachtet (Meissner, bei Riedinger, 1. S. 135); sonst 
sind die Ränder der Schusswunden meist zerrissen und eingedrückt, 
mit Sugillationen in der Umgebung. 

Die sccundären Krankheitsprocesse — Empyeme, Pneumonien, 
Verjauchungen u. s. w. verändern die pathologischen Befunde oft er¬ 
heblich. 

Von grosser Wichtigkeit für den Verlauf ist bei den Schuss¬ 
wunden noch das Verhalten der Projectile und der sonstigen etwa in 
den Brustraum mitgerissenen Objecte. Letztere in Gestalt von Knochen¬ 
splittern oder zackigen Theilstücken von Geschossen vermögen be¬ 
trächtliche Zerreissungen im Lungengewebe anzurichten, die die Prognose 
verschlechtern. Wenn auch Projectile häufig reaetionslos einheilen, 
manchmal späterhin an anderen Orten zum Vorschein kommend, oder 
auch erst bei der Section zu finden, so bilden sie anderseits häufig 
das Centrum von Abscessbildungen, die in Form einer Lungencavcrnc 
oder eines Empyems verlaufen — durch Entleerung (manchmal sogar 
in die Bauchhöhle) .ausheilen, oder auch letal endigen können. Be¬ 
sonders üble Wirkung kommt mitgerissenen Kleidungsfetzen zu, die 
fast stets als Träger von Infcction sich ausweisen. Von Bedeutung 
ist bei den Heilungsvorgängen solcher Vereiterungen der Lungensub- 
stauz die nachfolgende Schrumpfung, die zum Einsinken der ganzen 
Thoraxseite und zur scoliotischen Wirbelsäulenverkrümmung führen 
kann. Die Therapie sieht sich sogar behufs Schliessung der Abscess- 
höhle zu ausgiebigen Rippenresectionen genöthigt (s. den Fall von 
Schneider, 23). Eine Anführung der unzähligen Variationen, die der 
oft jahrelange Verlauf derartiger Verletzungen mit sich bringen kann, 
würde viele Seiten füllen; das Werk von Riedinger (1), sowie zahl¬ 
reiche Publicationcn der letzten Jahre bieten eine reiche Fundgrube 

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bezüglicher Fälle, auf deren bemerkenswerthere Ergebnisse wir zum 
Tlicil noch zurückzukommen haben. 

Die Fragen, welche bei den bisher besprochenen Verletzungen 
sich dem Gerichtsarzte zur Erwägung darbieten, werden hauptsächlich 
folgende Punkte umfassen: 

1. Liegt eine Verletzung der Lunge vor, bezw r . ist der Tod durch 
eine solche verursacht? 

2 . Durch welche Art Waffen, Werkzeuge oder sonstige Gewalt 
kann die Verletzung entstanden sein? 

3. Welche Folgen erwachsen den Verletzten für Leben, gegen¬ 
wärtige und zukünftige Gesundheit, sowie Erwerbsfähigkeit? 

4. Inwieweit sind die eingetretenen Folgczustände auf die Ver¬ 
letzung selbst oder auf etwaige concurrirende Momente 
(Heredität, Disposition, Infeotion etc.) zurückzuführen? 

5. Wie ist die Verletzung im Sinne des Strafgesetzbuchs zu 
characterisiren? 

Die in Vorhergehendem zusammengestellte Uebersicht über die 
Erscheinungen der Lungenverletzungen liefert die Hauptgesichtspunkte, 
nach denen die Präcisirung einer Brastverletzniigsdiagnose vorzunehmen 
sein wird. So einfach und leicht sich in vielen Fällen die Beant¬ 
wortung der Frage gestalten wird, ob ein dem Thorax zugefügtes 
Trauma die Lunge in Mitleidenschaft gezogen hat oder nicht, so 
schwer, ja nahezu unmöglich kann doch mitunter diese Entscheidung, 
besonders am lebenden Patienten, werden. — Eine reine Commotion 
der Lunge wird diagnostisch wohl kaum je festzustellen sein, da die 
Shokcrscheinungen wohl die dominirende Stelle im Krankheitsbilde 
einnehmen werden, und auch an der Leiche höchstens kleine sub¬ 
pleurale Ecchymosen auf die Mitbetheiligung der Lunge hinweisen. Die 
Möglichkeit der Diagnose einer Lungcncontusion aus den initialen 
Symptomen wird davon abhängig sein, ob unter denselben sich solche 
befinden, die als von der Lunge ausgehend angesehen werden können. 
Als solche sind in vivo zu beobachten die Hämoptoe, die jedoch 
durchaus nicht immer unmittelbar nach dem Unfall, sondern manch¬ 
mal erst nach Tagen, auch noch später sich einstellt. Die Art ihres 
Auftretens ermöglicht mitunter weitere Schlüsse auf die Ausdehnung 
und die Natur der Lungenverletzung. Vereinzelte Blutbeimengungen 
im Schleim oder Speichel gestatten die Annahme einer mehr diffusen, 
auf einen grösseren oder kleineren Abschnitt der Lunge beschränkten 
Quetschung, deren Ausdehnungsgebict dann auch auscultatorisch 


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Die gerichtsärztliche Beurtheilung der Lun gen Verletzungen. 


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— durch feuchte Rasselgeräusche — und percutorisch nachweisbar 
sein wird. Beim Erguss reinen Blutes aus der Mundhöhle, besonders 
unmittelbar nach der Verletzung wird man nicht fehlgehen, die Zcr- 
reissung eines Arterienastes bezw.' bei sehr starker Blutung eines 
Hauptzweiges der Pulmonalis vorauszusetzen. Eine secundäre Lungcti- 
blutung weist hin auf die nachträgliche Oelfnung eines zugequetschten 
Arterienastes, oder auf die Lösung eines Thrombus, beides vielleicht 
durch heftige Hustenstössc, durch respiratorische Anstrengung, auch 
schon artificiell durch angewandte Expectorantien oder Brechmittel 
erzeugt, oder auf die Arrosion eines Gefässes durch das Eintreten 
gangränöser Processe im gequetschten Luugengewebe. — Dass das 
anfangs rein hämorrhagische Sputum nach wenigen Tagen in ein 
hämorrhagisch-pneumonisches und mit ihm die Contusionserscheinungen 
in das Bild einer Lungenentzündung übergehen können, ist in der 
Eingangsbetrachtung bereits auseinandergesetzt und die daraus zu 
ziehenden Schlüsse erwähnt worden. 

Mit grosser Wahrscheinlichkeit werden wir eine Verletzung der 
Lunge diagnosticiren können, wenn wir bei einer Brustquetschung die 
Anzeichen einer inneren Blutung in dem Pleuraraum bemerken: Ohn¬ 
macht, Blässe, kalter Schweiss, rapides Sinken des Blutdrucks, kleiner 
Puls; dazu Dyspnoe, respiratorisches Zurückbleiben der verletzten Seite 
und die objectiv nachweisbaren Symptome eines Ilämothorax. Eine 
rasch steigende Dämpfung, aufgehobenes Athmen, eventuell Verstrei- 
chung der Intercostalräume und Volumzunahme der ergriffenen Thorax¬ 
hälfte: alle diese Zeichen gewährleisten die Annahme eines die Pleura 
pulmonalis durchsetzenden Risses im Luugengewebe unter Mitzcr- 
reissung eines grossen Blutgefässes. Nicht ausgeschlossen ist hierbei 
die Möglichkeit der Zcrreissung anderer Arterien — der Mammaria 
interna oder einer Intercostalarterie, welche theihveise die gleichen 
physikalischen Symptome hervorzurufen im Stande sind. Jedoch nur 
das absolute Ausschliessen jeglicher Anzeichen einer gleichzeitigen 
Lungen- oder Pleuraverletzung darf bei einem Bluterguss im Pleura¬ 
raum eine derartige Annahme aufkoramen lassen. Noch ist hier zu 
erwägen die Möglichkeit, dass ein Chyluserguss aus dem durchrissenen 
Ductus thoracicus („Chylothorax“) einen Bluterguss vortäuscht. Die 
durch Probepunction leicht festzustellende Beschaffenheit des Ergusses 
und die Beobachtung der Folgeerscheinungen (Ernährungsstörungen) 
werden bei dem Gedanken an diese Möglichkeit leicht Klarheit ver¬ 
schaffen. — Die Erscheinungen des Pneumo- bezw. Hämopneumo- 


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T)r. Altmann, 

thorax worden bei fehlender Kommunikation mit der Aussenluft durch 
eine Wunde der Thoraxwandungen nur selten beobachtet, es sei denn, 
dass ein grösserer Bronchialast mit zerrissen wäre. Die Blutung 
hindert einmal durch mechanischen Verschluss der Alveolen, sodann 
auch durch ihren Druck den Luftaustritt aus der Lungenwunde. Bei 
weniger ausgedehnter Blutung ist allerdings der Eintritt eines Ilämato- 
pneumothorax die Regel, doch auch hier nur dann, wenn nicht die 
so häufigen alten Adhäsionen der Pleurablätter seinem Zustande¬ 
kommen Grenzen ziehen; derselbe — nachweisbar durch tympaniti- 
schcn Schall, Succussionsgcräusch und starke Vorwölbung der Thorax¬ 
wand —, pflegt jedoch meist in kurzer Zeit wieder zu verschwinden, 
d. h. dem einfachen Hämothorax Platz zu machen, indem die aus¬ 
getretene Luft baldigst wieder resorbirt wird. Aber auch hier ist mit 
Aufmerksamkeit die Wcitcrentwickclung der initialen Symptome zu 
verfolgen. Der Eintritt von lnfectionsträgcrn in den Erguss des Pleura¬ 
raumes vermag denselben in einen Pyo-Pncumothorax umzuwandeln 
und somit eine an sich weniger belangreiche Lungenruptur zu einer 
lebensgefährlichen Verletzung zu stempeln, wenngleich der Bronchial- 
und Alveolcnschlcimhaut eine gewissermassen keimfiltrircnde Wirkung 
zugeschrieben werden muss. 

Weiterhin muss das Auftreten von Reibegeräuschen nach einer 
Brustcontusion den Verdacht einer Lungen- bezw. Plcuraaflfeetion rege 
machen; oft genug wird derselbe bestätigt durch das secundärc Auf¬ 
treten einer serösen oder fibrinösen Pleuritis, die dann sicherlich als 
Folge der erlittenen Beschädigung anzusehon ist. — Das Vorhanden¬ 
sein von Rippcnfracturen nöthigt nicht immer zu der Annahme einer 
gleichzeitigen Lungcnverletzung, vielmehr kann auf eine Zerreissung 
der Pleura bezw. des Lungengewebes nur bei gleichzeitigem Vor¬ 
handensein der soeben erwähnten, für Lungen- und Pleurarisse cha¬ 
rakteristischen Erscheinungen geschlossen werden. Zu diesen tritt 
gerade bei den Rippenbrüchen noch das Unterhautcmphysera, das 
auch beim Fehlen sonstiger Lungensymptome die Diagnose der Lungen¬ 
wunde sicher stellt. Der Sitz, sowie die Art und Weise des Auftretens 
dieses Emphysems erlaubt weiter wichtige Schlüsse über die Natur 
der Lungenverletzung. Von der Rippenbruchstellc ausgehend, hier 
meist unmittelbar nach der Verletzung sich zeigend und bald grössere, 
bald kleinere Körperabschnitte überziehend, weist es auf den Zusam¬ 
menhang zwischen diesen und dem Lungengewebe hin. Von ganz be¬ 
sonderem Interesse ist alter sein Zutagetreten über dem Media- 


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Die gericbtsärztliche Beurtheilung der Lungen Verletzungen. 


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stinnm posticura in der vorderen und seitlichen Halsgegend. Ilier- 
selbst tritt es gewöhnlich erst Stunden nach der Verletzung auf und 
in Begleitung von Lungencomprcssionserscheinungcn, Dyspnoe, Cyanose, 
Ausscrfunctionssetzung der verletzten Seite, und weist dann hin auf 
eine pathologische Kommunikation zwischen dem den Lungcnhilus ver¬ 
lassenden Bindegewebe und dem Bronchialbaum, wie sie durch eine 
nicht in den Pleuraraum sich eröffnende Risswunde hervorgebracht 
wird. Die bedeutende Gefährlichkeit dieses Emphysems, das, in dem 
interlobulären Bindegewebe fortkriechend, die Lungenläppchen compri- 
mirt und, wie bemerkt, nur bei seinem Hervortreten aus dem Media¬ 
stinum zur exaeten Cognition gelangen kann, liegt auf der Hand. 

Eine Art von Lungenverletzung ist cs noch, die sich fast stets 
nur mit Rippenbrüchen vergesellschaftet findet: die Lungenhernien -- 
das Auftreten einer meist rundlichen, auf Druck knisternden, pereu- 
torisch Lungenschall aufweisenden und meist recht schmerzhaften, zu 
Shokerscheinungen disponirenden Geschwulst in der Lücke der Rippen- 
fractur. Durch das Steigen des intrathoracischen Druckes bei der 
Exspiration tritt in dieser Phase die Geschwulst mehr hervor. Sie 
ist jedoch gewöhnlich reponirbar und führt nur selten zu Verödung 
bezw. Gangrän des eingeklemmten Stückes. 

Das Nichtvorhandensein der erwähnten Lungensymptome nach 
einer Contusion des Thorax berechtigt nun jedoch nicht zur sofortigen 
Aussehlicssung einer Lungen Verletzung. Die besonders bei gleich¬ 
zeitiger Fractur am Thorax vorhandene Schmerzhaftigkeit lässt mit¬ 
unter eine sofortige genaue Untersuchung nicht zu, und der Beobachter 
wird erst späterhin durch einen Erguss u. s. w. überrascht, der auf 
eine vorhanden gewesene Lungen- oder Pleuraverletzung schlicsscn lässt. 
Derselbe Grund lässt mitunter die Patienten auch jeglichen Husten, 
somit auch die Hämoptoe unterdrücken, und namentlich bei alten 
Leuten mit ohnehin dürftiger Expectoration kann dies Symptom leicht 
übersehen werden. Ferner können, wie erwähnt, alte Verwachsungen, 
Schwarten, sonstige chronische Processe an Pleura oder Lunge die 
Diagnose eines frisch hinzugetretenen Traumas beeinträchtigen. So¬ 
dann giebt es nicht wenige Fälle, in denen Lungenaffectioncn infolge 
von Unfällen erst nach längeren Zeitintervallen hervortreten; gerade 
diese Fälle sind aber von ganz besonderer forensischer Wichtigkeit, 
weil bei ihnen häufig der Zusammenhang zwischen Verletzung und 
nachheriger Krankheit ein Object des Rechtsstreites ist und dem Ge¬ 
richtsarzte hier eine nach allen Richtungen hin schwierige und ver- 


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antwortungsreiche Aufgabe erwächst, wenn aucli die Diagnose der hier 
in Betracht kommenden Krankheitsformen (Pleuritis, Pneumonie und 
Phthisis etc.) als solche keine besondere Schwierigkeit bereitet. Was 
die Diagnose des Sitzes der Lungencontusionen anlangt, so sind hier¬ 
für die äusserlichen Spuren der Gewalteinwirkung nicht immer mass¬ 
gebend. Die Elasticität der Thoraxwand, namentlich bei jungen Indi¬ 
viduen, bringt es mit sich, dass ein den Brustkorb treffender Druck 
zwar an der Einwirkungsstelle seine äusseren Spuren hinterlassen, im 
übrigen sich aber auf den Brustkorb gleichmässig vertheilen und hier 
an den verschiedensten Stellen Rupturen hervorbringen kann. Zum 
Zustandekommen derartiger gewissermassen indirecter Rupturen gehört, 
wie fast allseitig angenommen wird (s. Riedinger. 1. S. 9), das 
Verschlossensein der Stimmritze im Augenblick des Unfalls, ein Zu¬ 
stand, der im Moment des Schrecks, der psychischen Aufregung, beim 
Angstschrei gewiss fast regelmässig auftritt. Die Lunge platzt als¬ 
dann wie eine sonstige, mit Luft angefüllte Blase an einer beliebigen 
Stelle, am liebsten allerdings an einem durch irgend welche ältere 
Erkrankungen geschaffenen Locus minoris resistentiac — ein Umstand, 
der, wie wir noch sehen werden, auch zu forensischen Controversen 
Veranlassung bieten kann. Risse in beiden Lungen mit consecutivem 
doppelseitigem Hämo-(Pneumo-)thorax führen wohl stets den raschen 
Tod herbei. Mehrfache Einrisse werden in vivo kaum zu sondern 
sein, ebenso wird die Bestimmung ihres Sitzes nicht immer gelingen; 
im Allgemeinen dürfen nach den vorliegenden Beobachtungen die 
Untcrlappen als die Prädilectionsstellen der Rupturen angesehen werden. 
— Auch Contusionspneumonien brauchen nicht stets ihren Sitz auf 
der durch den Unfall betroffenen Seite zu haben. Einer der von 
Litten mitgetheilten Fälle beweist, dass die Contusion auch die ent¬ 
gegengesetzte Lungenhälfte zur Entzündung disponiren kann. 

Der Leichenbefund in Fällen schwerer Brustcontusionen dürfte 
Zweifel an der Existenz einer Lungenverlctzung nur selten auftauchen 
lassen. Die Veränderungen: Continuitätstrennungen, Zertrümmerungen 
und Zerquetschungen mit ihren Folgezuständen: Blutergüssen, Hyper¬ 
ämie und Anschoppungen der umgebenden Theile, Infiltrationen und 
hämorrhagische Infarctc einzelner Lungenabschnitte sind zutreffenden 
Falls so evident, dass sie dem untersuchenden Arzte nicht entgehen, 
ebenso dürften über die Deutung der sccundären Veränderungen bei 
später zur Section gelangenden Fällen — der entzündlichen Processe 


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Die serielltsärztliche Beurtheilung der Lungenverletzungen. 89 

im Pleuraraum, der Lungengangrän oder des Abscesses dem Obdu¬ 
centen kaum Zweifel erwachsen, obgleich hier allerdings der Zu¬ 
sammenhang zwischen dem Leichenbefund und der Verletzung mit 
besonderer Berücksichtigung etwaiger sonstiger Krankheitsursachen 
zu begründen ist. Die nothwendigc Achtsamkeit bei der Eröffnung 
der Brusthöhle wird Verwechselungen zwischen intravital entstandenem 
Hämothorax und nachträglichem Bluterguss in den Pleuraraum ver¬ 
meiden lassen, desgleichen die Erkenntniss eines etwaigen von der 
Brustwandung ausgehenden Blutergusses ermöglichen. Schwierigkeiten 
wird mitunter die Auffindung der vermutheten Lungenwunde machen. 
Kleine Lungenrisse können einige Zeit nach erfolgter Verletzung der 
Diagnose entgehen; wie Hadelich (19) nachgewiesen hat, verkleben 
glatte Wunden der Lungenoberfläche bereits innerhalb 24 Stunden 
und können nach Tagen mit so schmaler linearer Narbe verheilt sein, 
dass sie sich dem suchenden Auge entziehen. Auch Verstecktsein 
des Risses zwischen Adhäsionen erschwert seinen Nachweis. Noch 
schwieriger kann sodann die Beantwortung der Frage werden, ob 
eine vorhandene Pneumonie als eine genuine oder durch Contusion 
erzeugte anzusehen ist. Etwaige Eechymosen der Pleura werden die 
Antwort erleichtern; nach Litten spräche auch der hämorrhagische 
Charakter der Infiltration, das lange Verweilen im Zustande der rothen 
Hepatisation für den traumatischen Ursprung; denselben wird auch 
der mikroskopische Nachweis zahlreicher rother Blutkörperchen in 
den Alveolen wahrscheinlich machen, während andrerseits das Auf¬ 
finden der Pneumokokken die von der Contusion unabhängige Ent¬ 
stehung der Lungenverletzung nicht bewiese, da die Mikroorganismen 
gerade die durch die Verletzung geschlossene Eingangspforte zu ihrem 
krankheitserregenden Eindringen benutzt haben können. Nur sorg¬ 
fältiges Abwägen aller für den traumatischen Ursprung einer Lungen¬ 
entzündung sprechenden Momente gegen etwaige sonstige Entstehungs¬ 
möglichkeiten kann in solchen Fällen Irrthümer der Beurtheilung fern 
halten. 

Bei penetrirenden Brustwunden wird es im Allgemeinen leicht 
zu beantworten sein, ob die Lunge getroffen worden ist oder nicht, 
wenn auch die directe Prüfung des Zusammenhangs mit Sonde oder 
Finger verboten ist. Jede das Niveau der Pleura costalis erreichende 
Wunde der Brustwand legt uns die Frage nach einer etwaigen Be¬ 
schädigung des Brustinhalts vor. Verletzungen der Pleura sind da¬ 
bei, wie schon begründet, oberflächlichen Lungenwunden äquivalent 


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Dr. Altmann, 

zu betrachten, sowohl diagnostisch, da eine Sonderung bei dem häufigen 
Fehlen specifischer Lungensymptome oft zu den Unmöglichkeiten ge¬ 
hört, als prognostisch: Ein Bluterguss aus isolirter Pleurawunde 
kann in derselben Weise comprimirend wirken, und durch Luftzutritt 
aus der äusseren Wunde die gleichen Folgezustände nach sich ziehen, 
als ob die Lunge mitbetheiligt wäre, während andrerseits, wie wir 
gesehen haben, einfache Lungenwunden oft binnen kurzem verkleben 
und durch keine weiteren Erscheinungen sich bemerkbar machen. 
Dies Vorkommen reiner Pleurawunden selbst bei Schussverlctzun- 
gen, was früher vielfach bezweifelt wurde, ist durch neuere Beob¬ 
achtungen (Fall von Arnold bei Riedingcr, 1. S. 121) ausser Frage 
gestellt. 

Das Ausbleiben des bei Eröffnung des Brustraums zur Regel ge¬ 
hörigen Pneumothorax spricht noch nicht gegen die Eröffnung, da bei 
nicht völligem Parallelismus der Wundränder oder bei schmaler Wund¬ 
spalte ein Uebereinanderlagern der Weichtheile den Lufteintritt ver¬ 
hindern kann. Dasselbe vermag auch eine rasch auftrotende Blutung. 
Die schnelle Resorption der etwa eingetretenen Luft macht auch mit¬ 
unter den Nachweis des Pneumothorax unmöglich. Ein Austritt der 
Luft aus der Lungenwundc findet — wie schon früher besprochen — 
nicht immer statt, speciell lassen die gequetschten Randflächen eines 
Schusscanals einen solchen gewöhnlich nicht zu, wenn nicht gerade 
gleichzeitig ein Bronchus getroffen ist. — In weitaus den meisten 
Fällen werden nun aber die subjoetiven und objcctiven Symptome 
einer Lungenverletzung, wie wir sic bei Besprechung der Quetschungen 
kennen gelernt haben, die Diagnose ermöglichen, wenn auch ihr Fehlen 
die Anwesenheit einer Lungenwunde nicht völlig ausschliesst. Das 
Hautemphysem hat hier eine besondere diagnostische Wichtigkeit, da 
es gerade bei penetrirenden Lungenwunden nahezu regelmässig auf- 
tritt, wenngleich hierbei auch die Möglichkeit des allerdings sehr sel¬ 
tenen sogenannten äusseren Wundemphysems ohne Lungenverlctzung 
nicht ausser Betracht gelassen werden darf. Nur die Schusswunden 
zeigen diese Erscheinung sehr selten, da hier die grössere Communica- 
tionsöffnung zwischen der Ausscnluft und der getroffenen Lunge einer 
Luftaufsaugung die Möglichkeit benimmt. Auch wird bei ihnen der 
bei Stich- etc. Wunden verkommende Vorfall von Lungenrandpartien 
nicht beobachtet, da das gequetschte Gewebe und der enge Schuss¬ 
canal nicht dazu disponirt. Die Hämoptoe — blutig-schaumiger Aus¬ 
wurf — wird in fast allen Fällen, ausgenommen die ganz oberfläch- 


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Die gerichtsärztliche Benrtheilung der Lun gen Verletzungen. 91 

liehen Lungenverletzungen, vorhanden sein; das zisehende Aus- und 
Eintreten von Luft synchronisch der Athmung, sowie das Strömen 
schaumigen, luftuntermischten Blutes aus der Wunde, machen die 
Diagnose zu einer sicheren. Der Vorschlag von Weilinger (Peters¬ 
burg. mcdicin. Zeitschr. 1866. Heft 3), zur Sicherung der Diagnose 
nach einer tiefen Exspiration die Wunde mit der Hand zu bedecken, 
dann einathmen zu lassen und zu sehen, ob dann bei Oeffnung der 
Wunde und Schliessung von Mund und Nase Luft aus der Wunde 
strömt, ist erstens theoretisch anfechtbar, da die Wunde durch 
Coagula verstopft sein kann, und zweitens praktisch bedenklich, da 
forcirte Athembewegungen dem Verwundeten unzuträglich werden 
können. Das Vorhandensein einer Ein- und Ausgangsöffnung, deren 
Verbindungslinie die Lunge schneidet, dürfte im Allgemeinen für 
eine Lungenwunde beweisend sein, immerhin ist hier beim Fehlen von 
Lungenerscheinungen die Möglichkeit eines Contourschusses im Auge 
zu behalten, dessen Wundcanal sich — manchmal allerdings erst nach 
Tagen — als rother geschwollener Streif um den Thorax präsentirt. 
Mitunter aber lässt der reactionslose Verlauf von Lungenwunden die 
Annahme eines eventuell auch inneren Contourschusses aufkommen, 
die sich durch den Zutritt secundärer Erscheinungen dann als irrig 
erweisen kann. Wie schwer manchmal die Entscheidung über das 
Vorhandensein einer Lungen Verletzung sein kann, beweisen mehrere 
in der Literatur beschriebene Fälle; in einem Falle von Dollinger 
(Langenb. Archiv XXI, S. 704) war der sichere Nachweis derselben 
erst durch das Aushusten blauer Wollfäden gegeben, die von einem 
durch das Projectil in die Lunge gerissenen Stücke des Waffenrocks 
stammten. In einem andern Fall von Brunnhoff (24) hatten die 
Sugillationen zwischen Ein- und Ausgangsöffnung, sowie das Fehlen 
von Hämoptoe einen Contourschuss wahrscheinlich gemacht, während 
der spätere Verlauf und die Section das Vorhandensein einer Lungcn- 
verletzung ergab. Solche Fälle beweisen, wie vorsichtig man mit der 
Annahme eines Contourschusses sein muss, und dass man im Allge¬ 
meinen besser daran thun wird, in ähnlichen Fällen auch bei Ab¬ 
wesenheit prägnanter Lungensymptome der Lungenverletzung die höhere 
Wahrscheinlichkeit zuzusprechen. 

Der Bluterguss in dem Pleuraräume mit seinen Umwandlungen 
wird sich fast stets nachweisen lassen. Durch seinen Druck und den 
der comraunicirenden Atmosphäre wird die Lunge für gewöhnlich 
comprimirt und gegen die Wirbelsäule gedrückt. Bei günstigem Vor- 


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lauf tritt unter Resorption des Exsudats und nach Verklebung der 
Wunde eine Wiederausdelmung der Lunge ein. Das Auftreten einer 
Pleuritis in irgend einer Form ist für die (event. secundärc) Lungen- 
bezw. Pleuraverletzung beweisend. Namentlich sind es die bösartigen 
septischen Formen (Pyopneumothorax), die häufig zur Beobachtung 
gelangen, im Gegensatz zu der Pleuritis bei nicht penetrirenden Brust¬ 
wunden, bei denen, wie Hüter (Riedinger, 1. S. 129) meint, die 
etwa in den Thorax tretende Luft vorher durch die Lungen eine 
Flächenfiltration erfahren hat. Häufig ist das Zurückbleiben von Pro- 
jcctilen oder sonstigen Fremdkörpern im Brustraum die Ursache dieser 
verderblichen Complicationen. Eine Statistik von Dem me (Riedin¬ 
ger, 1. S. 137) ergiebt die grosse Gefährlichkeit der Lungenwunden 
mit zurückgebliebenem Projectil, bei denen von 57—52 starben, wäh¬ 
rend von 102 Verletzungen mit Ein- und Ausgangsöffnung nur 45 tödt- 
lich endeten. Diese erwähnten septischen Pleuritiden bildeten die 
häufigste Todesursache. Nach einer Statistik von Beck (1. S. 150) 
starben hieran von 98—40, während die ebenfalls häufig auftretenden 
Entzündungen der benachbarten Lungenthcilc meist gutartig verlaufen, 
selbst wenn sie Abscess- und Gangränbildung im Gefolge haben 
(s. d. Fall von Schneider (23). Auf die anatomischen und diagno¬ 
stischen Unterschiede der Stich- und Schusswunden werden wir ge¬ 
legentlich der Würdigung der Entstehuugswerkzeuge näher cingehen. 

Die Obductionsergebnissc werden bei penetrirenden Brustwunden 
wohl kaum je zu Unklarheiten Veranlassung geben. Das Vorhanden¬ 
sein einer Pleura- oder Lungenverletzung, selbst wenn sie sich in vivo 
nicht zur Diagnose stellte, macht sich an der Leiche stets durch un¬ 
verkennbare pathologisch-anatomische Zeichen ersichtlich. Die rasche 
Verklebung selbst eines oberflächlichen Lungenritzes dürfte bei gleich¬ 
zeitig eröffneter Brusthöhle nur ausnahmsweise ermöglicht worden sein, 
da sie selbst experimentell (Hadelieh 19) nur mit Anwendung aller 
Oautelcn erreicht werden konnte. — Die Lungenrisse bezw. Aus¬ 
gangsöffnungen sind mitunter mehrfach, was in dem Miteingerissen¬ 
werden von Knochensplittern, Bekleidungsfetzen, oder in Zertrümme¬ 
rung des Geschosses seinen Grund hat und zum sorgfältigen Suchen 
nach derartigen Fremdkörpern ermahnt, besonders, da gerade diese 
häufig durch die an ihnen haftenden Infectionsstoffe als die unmittel¬ 
bare Todesursache anzusehen sind. Jedenfalls räth die Möglichkeit 
mehrerer Wundöffnungen bei nur einem Schüsse zu vorsichtiger Be- 
urtheilung solcher Fälle. 


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1 »io gerichtsärztliclie Bi-urtheilung der Lungenverletzungon. 


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Mit der Frage nach dem Vorhandensein einer Lungenverletzung 
überhaupt als Folge einer Verletzung, zu deren Beantwortung das 
bisher Erörterte wohl das genügende Material liefert, hängt eng zu¬ 
sammen die zweite Frage nach der Natur der verletzenden Gewalt, 
bezw. des verwundenden Instrumentes. Diese Beurtheilung wird dem 
Gerichtsarzt in den meisten Fällen leicht gelingen, manchmal jedoch 
auch ein unsicheres Ergebniss liefern. So weit nicht die Anamnese 
oder die gerichtlichen Erhebungen Anhaltspunkte liefern, wird man 
bei Quetschungen sich darauf beschränken müssen, eine stumpfe Ge¬ 
walt im Allgemeinen als Ursache zu statuiren. Wenn bei Lungen¬ 
verletzungen die äusseren Hüllen unversehrt sind, so darf man eine 
mehr den gesammten Thorax comprimirende Gewalt als Ursache vor¬ 
aussetzen (Sturz, Ueberfahrenwerden, Einklemmung u. a.). Die gleichen 
Gewalten können natürlich auch Rippenbrüche und Verletzungen der 
Weiehtheilc im Gefolge gehabt haben, die dann auf den Grad der 
Einwirkung Schlüsse zulassen. Die grosse forensische Wichtigkeit des 
Vorhandenseins auch kleiner Excoriationen, Sugillationen u. s. w. auf 
der Haut hat auch hier ihre Geltung. Nicht nur bezeichnen sie genau 
den Ort und die Ausdehnung der Gewalteinwirkung — wenn auch, 
wie wir gesehen, die Lungenverletzung nicht immer diesem Ort ent¬ 
spricht —; ihre Form und Grösse erlaubt mitunter einen direeten 
Schluss auf den verletzenden Gegenstand (Stockhiebe, Hammerspuren, 
Anprallen matter Kugeln oder sonstiger fester Körper, Fusstritte, Huf¬ 
schläge u. s. w.). Die gerichtsärztliche Praxis dürfte Fälle von Schuss- 
contusionen selten bieten, da dieselben fast nur in die Kategorie der 
Kriegsverletzungen fallen und beim Fehlen sonstiger Hinweise (dem 
Geschoss entsprechender* Hautsugillationen) auch kaum mit Sicherheit 
als solche erkannt werden können. Von grossem Interesse sind einige 
Fälle (Schuster, 3), bei denen auf der Rumpf haut neugeborener 
Kinder, die nach Compression des Thorax an Lungenrissen gestorben 
waren, die Eindrücke der comprimirenden Finger als Sugillationen 
noch bemerkbar waren. 

Zur Feststellung der Ursache einer penctrirenden Brustwunde 
handelt es sich, abgesehen von den seltenen, durch gröbere Gewalt 
erzeugten Zcrreissungen und Eröffnungen des Thorax im Wesentlichen 
um die Unterscheidung zwischen Stich-, Hieb-, Schnitt- und Riss¬ 
wunden auf der einen und Schusswunden auf der anderen Seite. Die 
Differentialdiagnose kann sich hierbei am Lebenden nur an die Mo¬ 
mente halten, die auch für die Wunden an anderen Körperstellen 


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04 


I)r. Alt mann, 


massgebend sind und daher hier nur andeutungsweise berührt zu 
werden brauchen (Genaueres s. beiHoffmann, 25, Baumgarten, 26). 
Stich-, Schnitt- und Hiebwunden mit scharfen Instrumenten zeigen 
glatte, nicht gequetschte Ränder, die auch sonst keine besonderen 
Veränderungen aufweisen und unter günstigen Umständen meist ohne 
weitere Zwischenfälle heilen. Ein nicht ganz seltener Befund hierbei 
sind abgebrochene Stücke der Waffe, des Messers u. s. w., die durch 
ihre Wirkung als Fremdkörper, häufig von unsauberer Beschaffenheit, 
das Krankheitsbild compliciren können, das gerichtsärztliche Urtheil 
jedoch wesentlich erleichtern. Schartige und stumpfe Werkzeuge 
können mehr gequetschte, gerissene, sugillirte Ränder zurücklassen; 
bei Stichen kann die Spur einer Scharte direct am Wundrande er¬ 
sichtlich sein. Die Dimensionen der Wunde werden denen des vor¬ 
gezeigten verletzenden Instrumentes nicht immer entsprechen, da im 
Augenblick der Gewalteinwirkung die Haut gedehnt wird, an der 
Stelle des Dehnungsmaximums reisst (platzt) und sich nach Verlassen 
des Werkzeuges retrahirt. Daher lässt die in erster Linie der Haut¬ 
spaltbarkeitsrichtung conforme Wunde nicht immer auf die genaue 
Beschaffenheit des verletzenden Instrumentes schliessen, und der gleiche 
Grund ist Schuld daran, dass die Entstehung, ob durch cylindrische 
oder polygonale, spitz zulaufende Waffen, an der gesetzten Wunde 
nicht immer zu unterscheiden ist. Stich-Ein- und -Ausgangsöffnungen 
dürften zu den Seltenheiten gehören (Bajonettstiche!); ihre Möglich¬ 
keit — etwa durch parallel zu den Rippen geführte oder an letzteren 
abgeglittcne Stiche — muss jedoch im Auge behalten werden, damit 
sic nicht für mehrfache Stiche gehalten werden, was sowohl die 
klinische Prognose als die gerichtsärztliche Beurtheilung wesentlich 
modificiren wüirde. — Die Richtungen der Stichkanäle werden in vivo 
nicht leicht zu bestimmen sein wegen des Verbots der Sondirung und 
der häufigen Verschiebung der Theile im Augenblick der That. An 
der Leiche wird die Bestimmung leicht gelingen und kann von Wichtig¬ 
keit werden für die Beurtheilung des verletzenden Instrumentes, der 
Kraft der Ausführung, der Frage, ob Selbstmord, Fahrlässigkeit oder 
absichtliche Verletzung vorliegt. Ueberhaupt wird gerade der Sitz 
und die Richtung eines Wundkanals an der Brust von grosser Be¬ 
deutung für die Unterscheidung sein, welches der genannten drei Mo¬ 
mente vorliegt. So citirt z. B. Becker (27) einen Fall nach Lim an, 
wo durch die von oben nach unten ziehende Richtung der Stichkanäle 
das von dem Angeklagten behauptete Hineinrennen des Verletzten in 


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I>ic jrfriclitsärzlIiche Ri'urtheiluna: der Liiiigenverlet/.ungen. 


Oft 


das blosser als unwahrscheinlich bewiesen werden konnte. Ein Ab¬ 
gleiten des Instrumentes von den Rippen kann sowohl die Form der 
äusseren Wunde, als die Richtung des Kanals ändern; die aus letzteren 
Factoren zu ziehenden Schlüsse haben daher auch auf diese Möglich¬ 
keit Rücksicht zu nehmen. Die Kriterien der Schusswunden richten 
sich nach den Projectilen und vor Allem nach der Entfernung der 
Waffen vom Körper. — Auch ist die Wirkung der neueren Handfeuer¬ 
waffen eine andere als die der älteren Modelle (s. Reger, 28). 

Die meisten Schusswunden werden eine Ein- und Ausgangsöffnung 
aufweisen, die durch einen Schusskanal verbunden sind. Im Falle 
des Fehlens letzterer Ocffnung ist der Kanal blind und die die Pro¬ 
gnose bedeutend verschlechternde Wahrscheinlichkeit des zurückgeblie¬ 
benen Projcctils ist dann vorhanden. Jedoch kann dieses letztere 
durch irgend welche Umstände bereits aus der Wunde nach aussen 
gefallen sein oder aber sich im Gewebe gesenkt haben, so dass es 
im Schusskanal weder aufgefunden wird, noch aus ihm sich später 
entleert. Blind endigende Wundkanäle, die Schusskanälen ähnlich 
sehen, können aber auch durch allerhand sonstige, mehr oder weniger 
stumpfe Werkzeuge hervorgebracht werden und erheischen daher eine 
sorgfältige Prüfung aller sonstigen für Schusswunden charakteristischen 
Eigenschaften. — Als solche sind weiterhin zu bemerken die fast 
stets — wenn auch oft in geringerem Umfange — gequetschten und 
eeehymosirten Ränder, die verhältnissmässig geringe Blutung — durch 
„ Eerasement “ der Gewebe — und bei Nahschüssen das Vorhanden¬ 
sein eines ringförmigen Beschlages mit Pulvcrschleim, das Eingesprengt¬ 
werden der Pulverkörner als blauschwarze Punkte in den Wundrändern 
oder in dem Schusskanal selbst, endlich die Verbrennung der Weich- 
t heile durch die Pul vergase Bei der Eingangsöffnung kommt hier 
häufig noch hinzu die gewissermassen explosiv wirkende Kraft der 
Pulvergast', die die Wundränder klaffend auseinander treiben und auch 
den Schusskanal erweitern kann. 

Die Lungenschusscanäle unterscheiden sich nun wesentlich von 
den Stichcanälen durch die bei der Weichheit des Gewebes hier stets 
stattfindende hochgradige Quetschung, vermöge welcher das Lumen 
des Schusscanals das Kaliber des Geschosses stets übertrifft. Dieser 
Linstand führt zur üdematösen Schwellung der angrenzenden Lungen¬ 
partien, durch die der Gewebsdefect im ersten Augenblick wieder 
ausgefüllt werden kann, und zur gangränösen Abstossung der Gewebs- 
fetzen — mit der Gefahr von Nachblutungen infolge gelöster Tlnom- 


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Dr. Altmann 


9fi 

ben der Quetsrhstellen, die die primäre Blutung hintanhielten. Die 
Ausgangsöffnung wird bei Nahschüssen durch das raitgcrissene Ge¬ 
webe, besonders wenn noch Fremdkörper es begleiten, gewöhnlich 
grösser sein, als die Eingangsöffnung, die Haut sternförmig oder un¬ 
regelmässig, mit auswärts gerichteten Lappen gerissen; dicht hinter 
der Ausgangsöffnung befindet sich dann mitunter eine geräumige Gc- 
webshöhle. Von hohem forensischen Interesse ist das Vorkommen 
mehrerer Ausschussöffnungen bei nur einer Eintrittsöffnung: Losge¬ 
rissene Knochensplitter oder abgesprengte Theile des Projectils können 
verschiedene Austrittspfade einschlagen und so das Vorhandensein 
mehrerer Schüsse Vortäuschen. Sehr lehrreich und interessant in 
dieser Beziehung ist ein Fall von Sommerbrodt (29), bei dem sich 
vier Wunden bezw. Narben in der Lunge vorfanden mit 2 Haut- 
öffnungen, und wo ein losgesprengtes Bleistück, quer durch die linke 
Lunge abgelenkt, die rechte mit durchbohrte und über dem Schulter¬ 
blatt austrat. — Fernschüsse werden, wenn das Geschoss noch einige 
Kraft hatte, den Thorax durchschlagen, und die Eingangsöffnung wird 
spaltförmig nach innen gezogen sein (die Haut platzt auf der Spitze 
des durch das Geschoss eingedrückten Kegels), die Ausgangsöffnung 
ist meist grösser, mehr gezackt, oder aber blos schlitzförmig. Das 
Fehlen von Verbrennungserscheinungen kann diese Wunden sowie die 
aus ganz kleinen Handfeuerwaffen den Stichwunden ähnlich gestalten. 
Substanzverlustc, Mitgerissenwerden von Kleidungsfetzen sichern die 
.Annahme einer Schussverletzung. Ihre Abwesenheit, sowie die der 
Verbrennungserscheinungen beweist jedoch nicht das Gegentheil. Nur 
die aufmerksamste Berücksichtigung aller heranzuziehenden Unter¬ 
scheidungsmerkmale kann hier unliebsame Irrthümer verhüten. — 1>)V 
röhrenförmige Gestaltung eines Schusscanals im Gegensatz zu de r 
mehr keilförmigen der Stichverlctzung, sowie das Fehlen von Quet¬ 
schungserscheinungen bei letzteren erleichtern ebenfalls die Diagnose. 
Die gleichen Momente gelten auch für die Differentialdiagnose zwi¬ 
schen Streifschüssen und tangential verlaufenden Hieb- bezw. Stich¬ 
wunden. Die Wichtigkeit und eventuelle Schwierigkeit der Unter¬ 
scheidung zwischen eonturirenden und durchbohrenden Schüssen am 
Thorax ist bereits früher hervorgehoben worden. — Die Grösse des 
Geschosskalibers wird in Anbetracht der im Augenblick des Durch- 
tretens erfolgenden Hautdehnung die des Wunddurchmessers manchmal 
übertreffen. Andrerseits kann die Hautwunde beim Platzen der Haut 


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Die gerichtsärztliche Beurthcilung der Lungenverletzungen. 97 

in der Spaltbarkeitsrichtung auch bedeutend grösser werden, wie das 
Projectil. 

Die Beantwortung der Frage ob eine Lungenverletzung durch 
fremde Hand oder in selbstmörderischer Absicht erzeugt war, vermag 
die ärztliche Untersuchung nur in beschränktem Masse zu geben. Es 
gelten hier die allgemeinen zwischen Mord- und Selbstmord Verletzun¬ 
gen herrschenden Unterschiede im Sitz und Aussehen der Wunde, 
und der sonstige Thatbestand. Hervorzuheben wäre, dass eine beab¬ 
sichtigte Verletzung der Lunge zu selbstmörderischem Zwecke wohl 
kaum sich ereignen dürfte, sondern höchstens durch die Abwege einer 
dem Herzen zugedachten Verwundung zu Stande kommen wird. 
Contusionsverletzungen der Lunge im Verein mit solchen anderer Or¬ 
gane können bei verschiedenen Selbstmordarten eintreten (Herab¬ 
springen von Höhen, Ueberfahrenlassen und dergl.). Bei zweifelhaften 
Schussverletzungen wird die möglichst genaue Bestimmung der Aus¬ 
gangsöffnung und der Schusscanalrichtung den Verdacht auf Selbst¬ 
mord mitunter zur Ausschliessung bringen können. — Die Stichcanal¬ 
richtung vermag in besonderen Fällen auch die Frage zu entscheiden, 
ob actives Zustechen oder Hineinrennen in die Waffe die Wunde 
erzeugt hat (s. den Fall von Liman bei Becker, 27. S. 423). 

Von der grössten Tragweite ist das Urtheil des Gcrichtsarztes 
über die Folgen, welche die Lungenvcrletzung für Leben, zeitige und 
künftige Gesundheit und Erwerbsfähigkeit mit sich bringt. Erwiesene 
Traumen der Lunge besitzen eine hohe Mortalitätsziffer, insbesondere 
sterben bei penetrirenden Wunden über die Hälfto der Betroffenen 
entweder sofort oder in den ersten Stunden nach der Verletzung, wie 
das eingangs schon durch einige Ziffern belegt worden ist; eine nicht 
geringe Zahl noch in Folge der secundär sich entwickelnden Processe. 
Als Todesursache ergiebt sich bei umfangreichen Zerreissungen und 
Zerquetschungen der heftige Shok und die Ausserfunctionsetzung des 
lebenswichtigen Organs, bei doppelseitigen penetrirenden Brustwunden 
oder doppelseitigen mit Lungenrissen etc. einhergehenden Quetschungen 
bewirkt der eintretende Hämothorax eine rapide Compression beider 
Lungen, und mit ihr den Exitus, sofern derselbe nicht schon durch 
die Anämie selbst bedingt ist. Ebenso kann doppelseitiger Pneumo¬ 
thorax die Todesursache werden. Bei einseitigen Lungenwunden er¬ 
giebt sich als Todesursache sehr häufig die Blutung, äussere oder 
innere. Durch die Section können die entsprechenden Annahmen 

Vierteljalirsschr. f. ger. Med. Dritte Folge. XIV. Suppl.-Heft. n 


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Dr. Altmann, 


sicher gestellt, bezw. die Quelle der Blutung gefunden "werden. Die 
Frage, wie lange bei dem primär eingetretenen Tode der Verwundete 
noch gelebt hat, ist nicht leicht zu beantworten. Selbst sehr schwer 
erscheinende Verletzungen brauchen nicht mit Nothwendigkeit den 
sofortigen Tod herbeiführen, und in der Literatur sind manche Fälle 
beschrieben, in denen Brustverletzte sich noch Strecken weiter bewegt, 
auch noch sonstige körperliche Leistungen verrichtet haben, ehe sie 
der Verletzung erlagen (s. Becker, 27. S. 422). Mehr Anhaltspunkte 
zur Beurtheilung des Zeitraums zwischen Verwundung und Tod wird 
die Beschaffenheit der Wunde liefern. Sind die Ränder derselben 
ohne die Veränderungen, welche noch die Lebensthätigkeit des Orga¬ 
nismus voraussetzen (Sugillationen, ödematöse Schwellung), so ist der 
unmittelbare Eintritt des Todes anzunehmen. Die mehr oder weniger 
vollständige Gerinnung des Blutes lässt sich zu dieser Beurtheilung 
nicht verwerthen, wohl jedoch das Auftreten von Emphysem in der 
Wunde, das nach seiner grösseren oder geringeren Ausdehnung auf 
die zu seiner Entstehung nöthig gewesene Zeit einigermassen Rück¬ 
schlüsse zulässt. 

Die Excoriationen und Sugillationen, wie sie namentlich nach 
Quetschungen sich finden, enthalten oft wichtige Anhaltspunkte zur 
Beantwortung gerichtlicher Fragen; die dem Gerichtsarzte geläufigen 
Unterscheidungsmerkmale zwischen ihnen und den postmortalen Ver¬ 
änderungen werden vor Verwechselungen mit solchen nachträglichen 
Geschehnissen schützen. Genauere Präcisirung der Todesursache ge¬ 
statten die secundär — durch Hinzutritt von Entzündungen u. s. w. — 
erfolgten Todesfälle, bei denen auch schon die vorhergegangene klini¬ 
sche Beobachtung die Beurtheilung der Folgezustände erleichtert. Die 
schon mehrfach erwähnten Formen des Hämothorax und seiner Um¬ 
wandlungserscheinungen (Pyo-Pyopneumothorax), eitrige und septisch¬ 
jauchige Pleuritiden mit Compression der Lunge, eventuell allgemeine 
pyämische und septische Erscheinungen, stellen die durch die Ver¬ 
letzung bewirkte Todesursache dar — ein Beweis für den Satz, 
dass bei penetrirenden Brustwunden die Eröffnung der Pleurahöhle 
an sich für eine mindestens ebenso schwere Verletzung als die 
Betheiligung der Lunge anzusehen ist. Weiterhin können secundäre 
Pneumonien — entweder direct traumatisch von der Lungenwunde 
ausgehend, oder contusioneilen Ursprungs, Lungenabscess- oder Gan¬ 
gränbildung, endlich auch phthisische Processe sich auf dem Leichen¬ 
tisch als Todesursache ergeben. Die Frage nach dem Zusammenhang 


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Die gerirhLsärztlirhe Beurtheilung der Lungenverletzungen. 99 

solcher Befunde mit einer Verletzung wird uns weiter unten noch be¬ 
schäftigen. 

Von denselben pathologisch-anatomischen Grundlagen und klini¬ 
schen Ergebnissen muss nun auch die Beurtheilung der Folgen einer 
Lungcnverletzung für die Gesundheit ausgehen. Ob ein an der Lunge 
verletzt gewesenes Individuum je wieder seine volle Leistungs- und 
körperliche Wiederstandsfähigkeit zurückgewinnt, ist eine Frage, die 
nach allen Erfahrungen nur in einer geringen Anzahl von Fällen wird 
bejaht werden können. Klar zu Tage liegende Fälle namentlich 
penetrirender Wunden werden das Mass der zu erwartenden Gesund¬ 
heitsbeschränkung von vornherein leicht bestimmen lassen — natür¬ 
lich nur unter Ausschluss aller ungünstigen Zwischenfälle. 

Wohl nur bei leichten Commotionen und Quetschungen wird man 
eine völlige restitutio in integrum Vorhersagen können. Jede lebhafte 
Blutung, deren völlige Resorption nicht sicher ist, jede Reizung der 
Pleura (durch Rippenfragraente u. s. w.), jede Eröffnung derselben 
kann zur Bildung bleibender Schwarten und Adhäsionen führen, die 
zwar häufig späterhin keine Erscheinungen hervorrufen, aber doch 
stets als Symptome der Beeinträchtigung eines wichtigen Organs an¬ 
zusehen sind. Die schwereren Begleitumstände der Lungcnverletzung 
können, wofern der Verwundete ihre Lebensgefährlichkeit überwindet, 
Anlass zu langem, oft unheilbarem Sicchthum geben. Schuss- und 
Stichkanäle werden häufig Ausgangspunkte langer traumatisch-infec- 
tiöser Entzündungen und Eiterungen, von Gangräncscirung und Los- 
stossung grosser Gewebsfetzen, lange anhaltenden pleuritischen Ent¬ 
zündungen, und diese Zustände erfordern nicht selten umfassende und 
gefahrvolle Operationen. — Die Lungenhernien und -Vorfälle leisten 
manchmal der Reposition Widerstand und erheischen operative Ab¬ 
tragungen. Eiternde Fisteln und namentlich im Brustraume zurück¬ 
gebliebene Projectile, Knochensplitter oder Kleidungsfetzen können 
jeden Augenblick wieder schwere Krankheitserscheinungen ins Dasein 
rufen, und das Leben des Verletzten verkürzen. Auch Depressions¬ 
zustände psychischer Natur müssen manchmal als Folgezusländc einer 
Lungen Verletzung angesehen werden (so nach Eisenbahnunfällen u. s.w., 
s. Reubold, 13. S. 118). So kommt es, dass vielfach Leute, die 
zunächst als geheilt bezeichnet werden, in späterem Verlaufe doch 
noch an Leiden dahinsiechen können, die mit der ersten Verletzung 
in unmittelbarem Zusammenhänge stehen. Die Kriegsinvalidensta¬ 
tistiken lehren auch, eine wie geringe Anzahl Invaliden mit Brust- 

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Dr. A11 m a n n, 


Verletzungen nach kurzer Zeit noch vorhanden sind, obwohl das Con- 
tingent der Brustverwundeten ein so bedeutendes ist (s. Riedinger, 
1. S. 151). — Schwieriger wird das gerichtsärztliche Urtheil, wo der 
Zusammenhang zwischen der Folgekrankheit der Lunge und der Ver¬ 
letzung nicht gewissermaassen handgreiflich zu erweisen ist, und wo 
die Gefahr nahe liegt, aus einem vielleicht nur zufälligen einen cau- 
salen Zusammenhang zu construiren. Bis vor wenigen Jahren wurde 
vielfach, theilweise sogar mit Schroffheit, die Möglichkeit der Ent¬ 
stehung sowohl einer Pneumonie als einer Phthise durch Vermittelung 
eines Traumas zurückgewiesen. Trotz des heute mit erhöhter Ge¬ 
nauigkeit geführten Beweises der Infectiosität beider Krankheiten, 
steht man gegenwärtig doch nicht an, den Einfluss einer Verletzung 
auf das Entstehen genannter Leiden zuzugeben, indem man dieselbe 
als ein Moment ansieht, das dem Virus der Krankheit selbst die 
Wege ebnet (s. S. 76 ff.). Zahlreiche wohlbeobachtete Fälle dieser Art 
lassen einen begründeten Zweifel an dieser Auffassung kaum noch zu. 
Eine solche Contusionspneumonic wird öfters mit völliger Genesung 
ablaufen können; bei einer mit Sicherheit auf ein Trauma zurück¬ 
zuführenden chronischen oder acuten (Miliar-) Tuberculose hat sich 
das Gutachten natürlich für eine schwere Gesundheitsstörung auszu¬ 
sprechen. 

Die ganze Reihe der nach Lungenverletzungen auftretenden Ge¬ 
sundheitsstörungen weist darauf hin, ein abschliessendes Urtheil erst 
längere Zeit nach der Verletzung abzugeben, und auch dann nur unter 
Vorbehalt, da bei der eigentümlichen Beschaffenheit der Lunge und 
bei besonderen Nebenumständen (vorläufiges Einheilen von Projectilen) 
das Auftreten späterer, mit der Verletzung noch causal zusammen¬ 
hängender Leiden niemals ausgeschlossen ist. Das vorläufige Gut¬ 
achten wird auf die bereits eingetretenen oder noch mit Sicherheit 
zu erwartenden acuten Krankheitszustände eingehen, und den wahr¬ 
scheinlichen Effect derselben für Leben und Gesundheit zu begründen 
suchen; die Möglichkeit einer Aenderung des Zustandes namentlich 
in pejus — eines Ueberganges in chronische Formen —, muss jedoch 
stets offen gelassen werden. 

Mit der gleichen Reserve hat sich auch das Urtheil über Erwerbs¬ 
fähigkeit auszudrücken. Nur in ganz leichten Fällen, wo völlige 
Heilung sicher scheint, kann auch die Hoffnung auf Rückkehr der 
völligen Erwerbsfähigkeit ausgesprochen werden. Der Grad einer ein- 
tretenden Beschränkung der letzteren und ihre etwaige Dauer muss 


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Die gerichtsärztliche Beurtheilung der Lungenverletzungen. 


101 


nach den concreten Verhältnissen des einzelnen Falles und nach der 
Art des Berufes so sehr variiren, dass sich allgemeine Regeln zu 
ihrer Abstufung nicht geben lassen, sondern eine jeweilige strenge 
Individualisirung nothwendig wird. Selbst umfangreiche und unheil¬ 
bar scheinende Verletzungen heilten noch mit relativ befriedigendem 
Resultate, während geringfügige Verletzungen nicht selten zum Aus¬ 
gangspunkt langer unheilbarer Leiden wurden. Die Fälle, in denen 
der Sachverständige sein Urtheil auf dauernde gänzliche Erwerbs¬ 
unfähigkeit wird abgeben müssen, werden jedenfalls nicht selten sein; 
derselbe wird jedoch gut thun, auf die subjectiven Angaben der 
Verletzten bei unzureichendem objectivem Befunde nicht einseitig Ge¬ 
wicht zu legen, um nicht der Geltendmachung unangemessener pe- 
cuniärer Ansprüche seitens der betroffenen Individuen Thür und Thor 
zu öffnen. Die Wohlthaten des Unfallversicherungs- und Invaliditäts¬ 
gesetzes, sowie sonstige Entschädigungsansprüche schliessen die Gefahr 
der Grossziehung des Simulantenthums in sich und mahnen zur 
Sorgfalt gerade in der Beantwortung einer noch zu besprechenden 
wichtigen Frage — der nach dem wirklich nachweisbaren Zusammen¬ 
hänge zwischen der vorliegenden Gesundheits- und Erwerbsstörung 
und der erlittenen Verletzung. 

Bei Obductionen werden es besonders die Fälle mit geringen 
äusserlichen. und inneren Verletzungen sein, die die Frage nach dem 
Zusammenhänge zwischen dieser Verletzung und dem eingetretenen 
Tode nahe legen und beim Befunde anderweitiger Organ Veränderungen 
den Obducenten unter Umständen zur Anerkennung dieser uud nicht 
der vorliegenden Verletzung als Todesursache nöthigen können. In 
gleicher Weise wird es bei der schon mehrfach erwähnten Contusions- 
pneumonie nicht immer leicht sein, beim Fehlen jeglicher äusserlicher 
Verletzungen, sich selbst und den Richter von dem causalen Zusam¬ 
menhang der Lungeninfiltratiou mit dem etwa stattgehabten Insulte 
zu überzeugen. Nur der Hinweis auf beobachtete analoge Fälle, der 
unmittelbare zeitliche Anschluss des Leidens an die Körperverletzung, 
die Möglichkeit des Ausschliessens anderer krankheitserregender Mo¬ 
mente bei einem sonst gesunden Menschen, der eventuell mikrosko¬ 
pische Nachweis der früher (S. 77) hervorgehobenen, für traumatischen 
Ursprung sprechenden Merkmale vermag die Annahme des Zusammen¬ 
hanges zwischen Krankheit und Verletzung zu stützen. Ferner kann 
die Frage auftreten, inwieweit einzelne als Verletzungen aufgefasstc 
Körperveränderungen durch den vorgekommenen Gewaltact selbst, oder 


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102 


Dr. Altmann, 


durch besondere „eigentümliche Leibesbeschaffenheit“, ungünstige 
Nebenumstände u. s. w. hervorgerufen sind. Es können spontane 
Rupturen alter Cavernen u. s. w., Hämoptysen stattgefunden haben, 
ohne durch die Verletzung direct erzeugt zu sein, ja selbst das Vor¬ 
kommen von Rippenbrüchen ohne Gewalteinwirkung wird beschrieben 
(s. die Fälle bei Riedinger, 1. S. 51). Solche Vorkommnisse wer¬ 
den mitunter eine mildere Auffassung des Zusammenhanges zwischen 
einer stattgehabten leichten Läsion und den eventuellen schweren Fol¬ 
gen gestatten. Auch die Möglichkeit der postmortalen Entstehung 
solcher Verletzungen, eventuell sogar durch Einrisse u. s. w. bei der 
Section selbst, muss in zweifelhaften Fällen zu besonderer Vorsicht 
mahnen. Die gleiche kritische Erwägung wird Platz zu greifen haben, 
wenn Krankheitsprocesse auf erlittene Traumen zurückgeführt werden, 
die ihrer Natur und Ausbildung nach älteren Datums sein müssen, 
oder bei denen man Grund zu der Annahme hat, dass sonstige Ur¬ 
sachen, mangelhafte hygienische Zustände, hereditäre oder individuelle 
Disposition dieselben erzeugt haben. Hauptsächlich kommt hier in 
Betracht die Frage der traumatischen Phthise, die bisher noch nicht 
eingehend erörtert ist und die schon zu vielen gerichtlichen Contro- 
versen Veranlassung gegeben hat. 

Dass äussere Traumen an sonstigen Körpertheilen im Stande 
sind, die Tuberkelbacillen aufzunehraen und nicht nun zur localen 
Entwicklung, sondern auch zur allgemeinen Infection des Körpers 
zu cultiviren, ist durch zahlreiche Beobachtungen nachgewiesen (s. 
Lacher, 30, in Friedreich’s Blättern, 1891, der hierhergehörige 
Fälle von über 40 Autoren anführt). Wenn auch die Ubiquität der 
Tubcrkelbacillen nicht angenommen werden soll, so können doch 
Lungen verletzte gerade in Hospitälern, ungesunden Wohnungen u. s. w. 
leicht in die Lage kommen, mit den Bacillen in Berührung zu 
treten und ihnen dann einen Locus minoris resistentiac zur Auf¬ 
nahme darzubieten. Mit Recht wird von den verschiedenen Autoren 
(Mendelsohn 31) hervorgehoben, dass die bei Lungenverletzungen 
fast constantcn Butergüssc für bacilläre Entwicklung einen geeigneten 
Nährboden darbicten. Bei der nothwendigen Ruhelage des Patienten 
und der durch das Trauma erzeugten verminderten Athmung und so¬ 
mit schlechter Ventilation und Expectoration der erkrankten Seite — 
deren Einfluss auch gerade auf die Entstehung der idiopathischen 
Spitzeninlillraüon allgemein hervorgehoben wird — kommen Secrct- 
siagnationon, Hypostasen, Bronehialcaiarrhe u. s. w. zu Stande. Die 


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Die gerichtsärztliche Beurtheilung der Lungen Verletzungen. 


103 


natürliche Fähigkeit der Lunge, durch die Flimmerbewegung des Epi¬ 
thels und den Hustenstoss die eingedrungenen Noxen zu entfernen, 
schwindet, und der Entwicklung eines tuberkulösen Processes ist Spiel¬ 
raum gelassen — natürlich unter der Voraussetzung einer hereditären 
oder individuellen Anlage. Diese Erwägungen haben sogar zu der 
hier nicht weiter zu verfolgenden Theorie geführt, die Lungenblutungen 
überhaupt als die primäre Ursache für die Entwicklung einer Lungen¬ 
tuberkulose anzusehen. Jedenfalls wird in Fällen, wo bisher durch¬ 
aus gesunde, nicht erblich veranlagte Individuen im Anschluss an eine 
Lungen Verletzung kränkeln und ein tuberkulöser Process zur Ausbil¬ 
dung gelangt, das Trauma für diese Entwicklung verantwortlich ge¬ 
macht werden müssen, selbst wenn wir alle Bindeglieder dieses Zu¬ 
sammenhangs nicht verfolgen können. Für diese Annahme wird 
natürlich, wenn sich die Tuberkulose erst Jahre nach dem Unfall ent¬ 
wickelt, der Nachweis von schon in der Zwischenzeit constant vor¬ 
handen gewesenen Lungenstörungen (Blutungen, Husten) von grosser 
Bedeutung sein, ebenso das etwaigo Zurückgebliebensein von Fremd¬ 
körpern (s. den Fall von Sommerbrodt 29). Weniger einfach dürfte 
manchmal die Entscheidung sein, wenn die Insulte bereits notorisch 
tuberkulöse oder hereditär zweifellos veranlagte Personen getroffen 
haben. Bei ersteren wird der Begutachtende — vor allem wenn es 
sich, wie im gewöhnlichen Leben so häufig, um Verschlechterungen 
nach geringfügigen mechanischen Läsionen handelt — die Möglichkeit 
einer spontanen Verschlimmerung des Zustandes zugeben müssen, 
andererseits aber auf die erhöhte Verletzlichkeit solcher Individuen 
und die Wahrscheinlichkeit hinweisen, dass eine geringe Beschädigung 
hier doch eine schwerere Verletzung habe hervorbringen müssen, als 
bei einem Gesunden. Unter dieselben Gesichtspunkte wird auch die 
Auffassung des Entstehens solcher Lungenleiden durch gewerbliche 
Schädlichkeiten zu fallen haben. Selbst wenn wir die Wahrschein¬ 
lichkeit einer spontan zu erwartenden Krankheit bei hereditär veran¬ 
lagten Personen zugeben müssen, so wird doch der Gerichtsarzt in 
der Beurtheilung der Folgen gewerbehygienischer Nachtheile für die 
Lungen aus Gründen der Wissenschaft wie der Humanität denselben 
Standpunkt einzunehmen haben, wie in solchen Fällen der Militärarzt: 
er wird vorher nicht nachweislich erkrankten Personen, die durch der¬ 
artige Schädlichkeiten Lungenleiden acquirirt haben, Entschädigungs- 
bezw. Invaliditätsansprüche zuerkennen dürfen, selbst auf die Gefahr 
hin, dass die Wohlthat des Gesetzes einmal Jemanden treffen könnte, 


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104 Dr. Altmann, 

dessen Leiden auch ohne die erlittenen Schädigungen zum Ausbruch 
gekommen wäre. 

Tritt Tuberkulose nach Trauma bei Personen auf, die zwar bis¬ 
her nicht nachweislich krank, aber erblich veranlagt waren, so können 
sich bei den verschiedenen Begutachtern die abweichendsten Ansichten 
bilden. Einerseits muss der Umstand berücksichtigt werden, dass 
Tuberkulose bereits — wie sehr häufig — latent bestanden hat und 
durch den stattgehabten Unfall erst zur Wahrnehmung gelangt ist. 
Andererseits muss — wenn ein unmittelbarer zeitlicher Zusammenhang 
der Erscheinungen auffallend ist — hervorgehoben werden, da sonst kein 
Wahrscheinlichkeitsgrund vorhanden sei, weshalb der Process gerade 
jetzt sich habe manifestiren müssen, sehr wohl das Trauma als der 
Anstoss gelten könne, der den Process zum Leben entwickelt habe, 
während dieser sonst noch jahrelang hätte schlummern können. 

In das Gebiet dieser Frage — nach dem Zusammenhänge der 
späteren Folgen mit der Verletzung selbst — gehört auch die Ent¬ 
scheidung darüber, ob die üblen Folgezustände einer Lungenwunde 
allein der Verwundung an sich oder etwaiger fehlerhafter ärztlicher 
Behandlung zuzuschreiben sind, eine Frage, die während des Ueber- 
ganges zur Antiseptik nicht so ganz selten die Gerichte beschäftigte. 
Ucber die Grundsätze der Behandlung von Lungenverletzungen werden 
Meinungsverschiedenheiten heute wohl kaum noch bestehen, und Ver¬ 
nachlässigung der nothwendigen Cautelen dürften wohl zu den seltensten 
Ausnahmen gehören. Sondeneifrige Untersucher und auch die Anhänger 
des vor Jahrzehnten noch beliebten Aderlasses dürften allerdings unter 
Umständen der Anklage der Fahrlässigkeit nicht entgehen. In wie weit 
etwa unterlassene Operationen unter denselben Begriff fallen würden, 
ist eine Frage, die meines Wissens in concreto noch nicht zum Aus¬ 
trag gelangt ist. — Der chirurgisch gebildete Sachverständige dürfte 
in eclatanten Fällen immerhin über sein Urtheil nicht unklar sein. 

Es erübrigen noch einige Worte betreffs der strafrechtlichen Cha- 
rakterisirung der Lungen Verletzungen gemäss den juristischen Begriffen 
der „leichten“ und „schweren“ Körperverletzung. Während nach rein 
ärztlicher Auffassung eine Lungen Verletzung stets als schwer ange¬ 
sehen werden muss, wird der Gerichtsarzt nicht umhin können, 
in besonders leicht und günstig ohne bleibende Folgen verlaufen¬ 
den Fällen, der strafrechtlichen Forderung nachgebend, sein Urtheil 
auf leichte Körperverletzung abzugeben (nach § 223 des Strafgesetz- 
buehes) mit oder ohne Bezugnahme auf die in § 223 a namhaft ge- 


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Die gerichtsärztliche Beurthoilung der Lungen Verletzungen. 


105 


machten verletzenden Werkzeuge und die näheren Umstände der Ver¬ 
letzung. Speciell wird sehr häufig eine Beschädigung der Lunge als 
eine das Leben gefährdende Behandlung (§ 223 a) aufgefasst werden 
müssen. — Für gewöhnlich wird die Lungenverletzung ohne Weiteres 
als schwere Körperverletzung imponiren, indem die gewöhnlich ein¬ 
tretende dauernde Beeinträchtigung der Lungenfunction als „Verfall 
in Siechthum“ (nach § 224) betrachtet werden muss. — Wie bereits 
hervorgehoben, wird bei der hohen Mortalität der Lungenverletzungen 
in mindestens der Hälfte aller Fälle der Begriff der Tödtuilg oder 
doch der Körperverletzung mit nachfolgendem Tode zur Anwendung 
gelangen müsse. Ueber den Begriff der Fahrlässigkeit wird der Sach¬ 
verständige wohl nur in der oben erwähnten Beziehung zur ärztlichen 
Behandlung sich zu äussern haben, da die Fahrlässigkeit, die etwa 
bei der Entstehung der Verletzung selbst im Spiele war, kaum je 
Gegenstand eines gerichtsärztlichen Gutachtens wird sein müssen. 

Die Hauptergebnisse vorstehender Betrachtungen über die Be¬ 
deutung der Lungenverletzungen für den Gerichtsarzt lassen sich kurz 
in folgende Sätze zusammenfassen: 

1. Verletzte, welche die primären Folgen der Lungen¬ 
verwundung überstehen, haben, wenn sie sogleich in geord¬ 
nete Behandlung kommen, selbst bei schweren Verletzungen 
Aussicht auf Erhaltung des Lebens. 

2. Die Geringfügigkeit äusserer Merkmale und selbst 
das anfängliche Fehlen subjectiver Beschwerden verbürgen 
nie die Gewissheit einer nur unbedeutenden Verletzung der 
Lunge. 

3. Die Bedeutung der Lungenquetschung ist häufig der 
einer penetrirenden Lungenwunde gleich zu achten, da das 
gefährdende Moment in erster Linie die Läsion des Pleura¬ 
raumes ist. 

4. Das Eintreten pneumonischer und tuberkulöser Pro- 
ccsse darf in vielen Fällen als Folge eines Lungentraumas 
angesehen werden. Solche Fälle bedürfen aber stets einer 
sehr eingehenden Begründung. 

5. Das gewöhnlich nach Lungcnverletzungcn stattfin¬ 
dende Zurückbleiben von Residuen irgend welcher Art 
schafft in der Lunge einen Locus minoris resistentiac, an 


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106 Dr. Altmann, Die gerichtsärztliche Beurtheilung der Lnngenverletzongen. 


den sich die Weiterbildung dauernder Lungenleiden knüpfen 
kann. 

6. Eine definitive Begutachtung einer Lungenvorletzung 
kann in jedem Falle erst nach längerer Beobachtung er¬ 
folgen und wird auch dann stets Vorbehalte für die Zukunft 
zu machen haben. 

Literatur. 

1. Riedinger, Verletzungen etc. des Thorax. Deutsche Chirurgie. Liefg. 42. 

2. Derselbe, lieber Brusterschütterungen. Festschrift etc. Würzburg 1882. 

3. Schuster, Ueber Verletzungen der Brust durch stumpf wirkende Gewalt. 
Zeitschr. f. Heilk. 1881. I. 

4. Koch, Duellverletzungen der Art. mammaria. Archiv f. klin. Chir. 1888. 

S. 413. 

5. Kirchner, Chylothorax. Langenbeck’s Archiv. Bd. 32. S. 157. 

6. Bög eh old, Chylothorax. Ebenda. Bd. 29. S. 443. 

7. Huber, Friedreich’s Blätter f. gerichtl. Mod. 1882. S. 363. 

8. Lacher, Deutsches Archiv f. klin. Med. Bd. 27. 

9. Litten, Contusionspneumonien. Zeitschr. f. klin. Med. 1882. 

10. Koch, Contusionspneumonien. Inaug.-Diss. Berlin 1886. 

11. Kriegs sanitätsbericht der deutschen Heere von 1870/71. 

12. Demuth, Münch, med. Wochensohr. 1888. No. 32 u. 33. 

13. Reubold, Friedreich’s Blätter. 1886. S. 110. 

14. Derselbe, Ebenda. 1890. S. 28. 

15. Kannenberg, Deutsche militär-ärztl. Zeitschr. 1890. S. 199. 

16. Kuby, Friedreich’s Blätter. 1880. S. 81. 

17. Soiolowski, Berl. klin. Wochenschr. 1889. S. 861. 

18. Leddorhose, Ueber das Verhalten von Blutergüssen in serösen Höhlen. 
Strassburg 1887. 

19. Hadolich, Archiv f. klin. Med. 1878. S. 842. 

20. Weiss, Langenbeck’s Archiv. 1877. S. 235. 

21. Wahl, Schusseontusionen. Archiv f. klin. Chir. 1872. 

22. Aschö, Schmidt’s Jahrb. 1885. S. 203. 

23. Schneider, Archiv f. klin. Chir. 1878. S. 248. 

24. Brunhoff, Pleura- und Lungenverletzungen. Inaug.-Diss. Berlin 1877. 

25. v. Hofraann, Lehrbuch der gerichtl. Medicin. 

26. Baumgarten, Friedreich’s Blätter. 1891. S. 67. 

27. Becker, Penotrirende Brustwunden. Militär-ärztl. Zeitschr. 1885. 

28. Regcv, Gewehrschussw'unden der Neuzeit. 

29. Sommerbrodt, Langenbeck’s Archiv. 1883. S. 928. 

30. Lacher, Tuberkulose als Folge von Traumen. Friedreich’s Blätter. 1891. 
S. 321. 

31. Mendelsohn, Traumatische Phthise. Zeitschr. f. klin. Med. Bd. 10. S. 108. 
Sodann die Lehrbücher von Hüter, Strümpell, König etc. 


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4. 


lieber Zungenverletzungen ln geriehtlich- 
medicinischer Beziehung. 

Von 

Dr. Fritz Colley, Specialarzt für Chirurgie in Insterburg. *) 


Die neuere Literatur hat sich mit den Verletzungen der Zunge, 
soweit dieselben ein rein chirurgisches Interesse haben, nur wenig be¬ 
schäftigt. Ucber die Behandlung von Wunden, mögen dieselben rein 
oder septisch, einfach oder eomplicirt, glatt, gelappt oder zerfetzt sein, 
herrscht im Grossen und Ganzen unter den Fachleuten für den Augen¬ 
blick Einigkeit. Ist die Wunde frisch und rein, so wird sie genäht; 
im Falle, dass eine Verhaltung zu befürchten ist, wird für ausreichen¬ 
den Abfluss des Wundsecretes gesorgt; besteht eine Verunreinigung 
der Wunde, so wird die Reinigung derselben angestrebt und zwar 
unter Anwendung der verschiedensten Mittel von der einfachen feuch¬ 
ten Wärme beginnend bis herauf zur Application des Ferrum candens. 
Die Blutung wird örtlich gestillt; wenn sic capillär ist, oder aus 
kleinen Venen erfolgt durch Tamponade; handelt es sich um grössere 
Venen oder Arterien durch die Ligatur. Ist die Blutung heftig und 
das Operationsfeld unübersichtlich oder treten in kürzeren Zwischen¬ 
räumen des öfteren Warnungsblutungen ein, so kann die Unterbindung 
des Arterienstammes oberhalb der Wunde indicirt sein, doch wird 
dieser Eingriff nur selten in Frage kommen. Bei der Verletzung 
eines grösseren Gefässstammes besteht im Munde neben der Gefahr, 
die eine starke Blutung an allen Körpertheilen in sich schliesst, noch 
die Möglichkeit der Aspiration in die Lungen und der dadurch be¬ 
dingten Schluckpneumonie. Dieser Uebelstand lässt sich durch die 

1) Ein ausführliches Literaturverzeichniss findet sich am Schluss der Arbeit. 


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Dr. Colley, 


Tracheotomie beseitigen, nach deren Vollendung vermittels der leicht 
ausführbaren Tamponade des Kehlkopfes von untenher auch ohne eine 
Tampon-Canüle dem Blute der Zutritt zu den Luftwegen völlig ver¬ 
schlossen ist. Auf diese Weise beherrscht der Arzt eine frische Zun¬ 
genverletzung vollständig, wenn anders sie nicht zu spät in seine 
Behandlung kommt. 

Auf einem ganz anderen Gebiet, wie die Behandlung einer Wunde 
durch den Chirurgen, liegt die Beurtheilung derselben durch den Ge¬ 
richtsarzt. In gerichtlich-medicinischer Beziehung haben die Zungen¬ 
verletzungen — die leichten sowohl, wie auch die schweren — nicht 
nur deswegen eine hohe Bedeutung, weil sie zeitweilig eine unmittel¬ 
bare Gefahr für das Leben des Betroffenen in sich schliessen können, 
sondern ganz besonders aus dem Grunde, weil unter Umständen aus 
einer möglicher Weise nur geringfügigen Verletzung der Zunge auf 
einen an dem betreffenden Individuum verübten Gewaltakt geschlossen 
werden kann. 

Nirgends habe ich einen Fall verzeichnet gefunden, wo bei einem 
Verbrechen die Verletzung der Zunge Selbstzweck gewesen wäre, wo 
der Thäter es nur auf dieses Organ abgesehen gehabt hätte, wie sich 
das ja öfters bei Verletzungen anderer Körpertheile, z. B. der Geni¬ 
talien ereignet. Dahingegen trifft man derartige Verstümmelungen 
der Zunge als Selbstverletzung häufig bei Geisteskranken an. Hin¬ 
sichtlich der Beurtheilung liegen auf einem ähnlichen Gebiete die 
Zungenverletzungcn bei der Chorea, bei der progressiven Paralyse und 
vor allen Dingen bei der Epilepsie. Bei allen diesen Affectionen 
wird sich der Arzt weniger über die körperlichen Verletzungen als 
über den geistigen Zustand des Verletzten gutachtlich zu äussern 
haben. 

Wenn bei einer Zungen Verletzung ein Gewaltakt einer dritten 
Person in Frage steht, und der Verletzte am Leben geblieben ist, so 
wird der Gcrichtsarzt aus dem objectiven Befunde nur selten festzu- 
stellcn haben, ob eine zufällige oder fahrlässige Verletzung oder ein 
Verbrechen vorliegt, da ja ein wichtiger Zeuge in der Gestalt des 
Verletzten vorhanden ist, sondern wird sich darüber zu äussern 
haben, ob eine Körperverletzung im Sinne des § 224 des Strafgesetz¬ 
buches vorliegt.. 

Dass durch die Entfernung eines grossen Theiles der Zunge, ja 
sogar durch die Amputation des ganzen Organes die Sprache nur 
wenig beeinflusst wird, ist bekannt. Nach den Mittheilungen der 


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lieber Zungenverlctzungen in gericbtlich-modieinischer Beziehung. 109 


allcrgrössten Mehrzahl älterer und neuer Beobachter sind die Nach¬ 
theile der Sprache, welche auch durch einen erheblichen Zungendefect 
entstehen, nicht so bedeutend, wie man erwarten sollte. 

Die zweite wichtige Function der Zunge besteht darin, dass sic 
beim Schluckakt thätig ist. ln wie weit ihr Fehlen diesen letzteren 
beeinträchtigen kann, darüber habe ich in der Literatur nur sehr 
wenige Angaben gefunden; doch kann man sich oftmals davon über¬ 
zeugen, dass die Fortnahme von mehr als der Hälfte des Organes 
durchaus nicht hinderlich ist, und ein mir bekannter Arzt bekommt 
von einem Manne, dem er vor Jahren die Totalexstirpation machte, 
am Jahrestage der Operation regelmässig die Nachricht, dass derselbe 
auf das Wohl seines Lebensretters ein volles Glas leere. Beeinträch¬ 
tigend dagegen auf den Schluckakt wirkt das Verwachsen sein der 
Zunge mit anderen Theilen der Mundhöhle, wie solches bei schweren 
Verletzungen, auch bei therapeutischen Massnahmen, nicht so ganz 
selten vorkommt. 

Drittens ist die Zunge dann auch das vornehmste Organ, welches 
den Geschmack vermittelt; wenn zwar auch der Seitentheil des 
weichen Gaumens und der Arcus glosso-palatinus durch den Nervus 
glosso-pharyngeus Geschmacksempfindung zur Wahrnehmung gelangen 
lassen, so ist für diese Function die Zunge doch von solcher Wich¬ 
tigkeit, dass nach ihrer Entfernung sich eine hochgradige Dysgeusic 
einstellt. 

Die Entstellung ist beim Verluste selbst des ganzen Organes 
stets sehr gering. 

Aus allen diesen Erwägungen geht hervor, dass der Gerichtsarzt 
bei der Beurtheilung der möglicher Weise aus einer Zungenverletzung 
zurückbleibenden Folgen äusserst vorsichtig sein muss, und dass er 
niemals vor völlig erfolgter Heilung ein definitiv feststehendes Urthcil 
dahin abgeben kann, ob der Verletzte die Sprache verlieren, oder in 
dauerndes Siechthum verfallen wird; während es zweifellos ist, dass 
mit dem Moment, wo die Zunge gänzlich aus dem Munde entfernt 
wurde, der Verlust eines wichtigen Gliedes des Körpers eingetreten 
ist. Mit anderen Worten ausgedrückt ergiebt sich folgendes Resultat: 
es kann nur von Fall zu Fall entschieden werden, ob eine Zungen¬ 
verletzung unter § 224 des St. G.-ß. fällt. 

Ganz anders, als bei der Beurtheilung der Folgen, welche die in 
Genesung übergegangenen Fälle von Zungen Verletzung haben, stellt 
sich nun di° Thätigkeit des Gerichtsarztes dar, wenn nach einer 


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110 


Dr. Colley, 


solchen Verletzung der Tod cingetrctcn ist. Hier kann es sich da¬ 
rum handeln, fcstzustcllen, ob die Verletzung die Todesursache abge¬ 
geben hat, oder ob der Tod durch andere Momente bedingt war; so¬ 
dann aber können in selbst unbedeutenden Zungenverletzungen Zeichen 
erkannt werden, aus denen unter Umständen untrüglich auf ein Ver¬ 
brechen zu schliessen ist. 

Zungenverletzungen können auf mannigfache Art direct und in- 
dircct, schnell und langsam zum Tode führen. Zur Herbeiführung 
einer tödtlichen Blutung ist nicht einmal immer die Verletzung des 
Ilauptstammes der Schlagader erforderlich. Bei decrepiden, elenden 
und herabgekommenen Individuen kann auch ein weit geringerer Blut¬ 
verlust verderblich werden. Theoretisch genügt eine derartige Blutung 
an und für sich schon zur Vernichtung des Lebens, in der Praxis 
wird sie stets mehr oder minder verbunden sein mit einem Herab- 
fliessen des Blutes in die tieferen Luftwege. Und diese Aspiration 
erfordert weit mehr Opfer, als die Blutung an sich, da schon eine 
unbeträchtliche Menge Flüssigkeit hinreicht zur Herbeiführung der 
Asphyxie, und da eine noch geringere Quantität eine Lungenentzündung 
zur Folge haben kann. 

Wenn nun die Blutung mit allen ihren Folgen glücklich über¬ 
wunden ist, so droht als letzte Lebensgefahr noch die Infection der 
Wunde mit der Möglichkeit einer erheblichen secundären Schwellung, 
wclehe so hochgradig werden kann, dass der Zugang zu den Brust¬ 
wegen bis zur völligen Erstickung verschlossen wird. Auch acutes 
Glottisödem mit seinen deletären Zufällen tritt häufig bei inficirten 
Zungen wunden auf. Man hat auch sehr ausgedehnte Eiterung mit 
Senkung in den Muskelzwischenräumen, zuweilen sogar Perforation 
in den Larynx eintreten sehen. 

In Folge der sehr geschützten Lago der Zunge in der Mundhöhle 
und dadurch, dass sie bei geschlossenem Munde vollständig bedeckt 
ist, ereignen sich Verletzungen dieses Organes, ohne dass die angren¬ 
zenden Theile in Mitleidenschaft gezogen werden, äusserst selten. 
Nur durch eine Gewalt, die den Kopf oder Unterkiefer trifft, kann 
dieses Ereigniss indirect eintreten und dabei nur in dem Falle, dass 
sich die Zunge im Momente der Einwirkung zwischen beiden Zahn¬ 
reihen befindet — oder aber direct bei geöffnetem Munde. Von 
diesen Verletzungen sind die ersteren allgemein bekannt, doch auch 
die letzteren sind nicht so selten, wie man von vomeherein annehmen 
zu sollen glaubt. Im Kriege 1870/71 wurden verschiedentlich Sol- 


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lieber Zangenverletzungen in gerichtlich-medicinischer Beziehung. 111 


daten, die beim Angriff, besonders beim Ersteigen von Anhöhen, mit 
offenem Munde athmeten, durch Geschosse lediglich an der Zunge 
verletzt. Die weitaus grösste Mehrzahl der Zungenverletzung ist in- 
dess complicirt mit Zertrümmerungen benachbarter Weichtheile und 
Knochen; unter solchen Umständen ist, wenn der Tod eintrat, selbst¬ 
verständlich eine Beurtheilung der Gesammtverletzung erforderlich bei 
Feststellung der Todesursache. 

Neben diesen bisher besprochenen Arten von Zungenverletzungcn, 
bei denen die Schwere der Verletzung hauptsächlich ins Gewicht fällt, 
erregt noch eine andere Kategorie das Interesse des Gerichtsarztes, 
das sind die zufällig entstandenen, meistens kleinen Verletzungen und 
unbedeutenden Abschürfungen. Vielfach bekommt der Arzt schmerz¬ 
hafte Wunden der Zunge in Behandlung, die herbeigeführt wurden 
durch die eigenen Zähne des Verletzten, indem dieselben, schief nach 
innen stehend, allmälig den Seitenrand der Zunge wund machen. 
Diese Verletzungen haben ganz typische Stellen und sind nicht leicht 
zu verwechseln mit denjenigen, welche entstehen, wenn der Mund 
gewaltsam geschlossen wird, sei es um hierdurch die Erstickung her¬ 
bei zu führen, sei es um das Object am Schreien zu hindern. 

Alle diese Verletzungen haben die gemeinsame Eigenschaft, dass 
sie nach Entfernung des blutigen Schaumes von den äusserlich sicht¬ 
baren Körpertheilen und den Bekleidungsstücken bei oberflächlicher 
Betrachtung der Leiche leicht übersehen werden können. Die erstcrc 
von diesen beiden Arten kommt vielfach, doch nicht ausschliesslich, 
beim Kindsmord vor und hat ihren Ursprung in der Einführung von 
fremden Körpern in den Mund, wie kleinen Ballen von Watte, Werg, 
Gras u. dergl. Sache des Gerichtsarztes ist es zu constatiren, ob 
die betreffenden Körper in den Mund des lebenden Kindes eingeführt 
wurden. Dieses wird nicht unter allen Umständen ganz leicht sein, 
aber schliesslich doch wohl meistens gelingen, wenn man bedenkt, 
dass post mortem entstandene oberflächliche Verletzungen höchstens 
geringe Spuren von Blut hinterlasscn, während im anderen Falle bei 
der gleichzeitig bestehenden Erstickungsnoth die Blutung eine nicht 
ganz unbeträchtliche sein wird. Schon deswegen muss der Gerichts¬ 
arzt sehr vorsichtig zu Werke gehen, weil die Art und Weise, wie 
ein Mord begangen wird, bei dem sich derartige unbedeutende und 
leichte Zungen Verletzungen vorfinden, sehr schlau erdacht sein kann, 
und weil die Leichenschau im Uebrigen oftmals ein völlig negatives 
Resultat liefert. 


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112 


Dr. Colley, 


Eine gewisse Klasse von Verletzungen der Zunge und des Zungen¬ 
bändchens giebt es, welche nicht häufig Vorkommen und unter Um¬ 
ständen Veranlassung zu falschen Schlüssen geben könnten, das sind 
die sogenannten Dentitionsgeschwüre. In neuerer Zeit ist festgestellt 
worden, dass diese Verletzungen nicht, wie W. Roser, der sie zuerst 
beschrieb, meinte, im Durchbrechen der Schneidezähne ihren Ursprung 
haben, sondern dass sie durch Anpressen der Zunge gegen den Unter¬ 
kiefer beim Keuchhusten entstehen, sic wurden nämlich nicht nur 
beobachtet bei Kindern, welche schon die unteren Schneidezähne hatten, 
sondern auch bei zahnlosen Säuglingen. 

Zu dieser Gruppe von Verletzungen gehören auch diejenigen, welche 
durch den Genuss von ätzenden Substanzen entstehen. Dieser Genuss 
ist wohl selten auf ein Verbrechen — welches, nur an Kindern, Be¬ 
wusstlosen oder Trunkenen begangen sein kann — meistens viel¬ 
mehr auf Unvorsichtigkeit oder Selbstmord zurückzuführen. Vielfach 
sind diese Wunden an der Zunge nicht sehr bedeutend, unter Um¬ 
ständen ist nur das Epithel geschädigt, zeitweilig finden sich kleinsfe 
Substanzverluste; bei der Einwirkung grösserer Mengen ätzender 
Flüssigkeiten kann aber auch der ganze Zungenrücken in Mitleiden¬ 
schaft gezogen werden. So fand Strassmann bei einer derartigen 
Obduction eine vollständige Verätzung von der Zungenspitze an bis 
durch die Speiseröhre hindurch und weiter hinab bis in den Darm. 

Durch den Genuss siedend heisser Nahrungsmittel entstehen im 
Munde ganz ähnliche Verletzungen, wie sie soeben beschrieben wurden; 
indess pflegen sich hierbei die Zerstörungen nicht so weit in die 
tieferen Verdauungswege hinab zu erstrecken, sondern vornehmlich 
auf die Schleimhaut des Zungenrückens und der Wangen beschränkt 
zu bleiben. 

Eine für die Betroffenen äusserst schmerzhafte Verletzung des 
Zungenrückens entsteht dadurch, dass Kinder zur Winterszeit an kal¬ 
ten Metallstücken, Thürgriffen und dergl. lecken; dabei haftet die 
Schleimhaut so fest an dem betreffenden Gegenstand, dass sie beim 
Zurückziehen der Zunge in Fetzen abgerissen werden kann. 

Bei weitem grössere Zerstörungen und völlige Verwüstungen wer¬ 
den angerichtet durch Schüsse, welche zu Selbstmordzwecken in den 
Mund hinein abgefeuert werden, mag das Geschoss nun aus Metall 
bestehen oder aus anderem Material. Und doch wird auch hierbei 
mcistcntheils nicht die Zungenverletzung die Todesursache abgeben, 


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Uel>er Zungenverletzungen in gerichtlicli-medicinisrher Beziehung. 113 


sondern nur ein Symptom sein, durch welches der Untersuchende auf¬ 
gefordert wird, weiter nachzuforschen. 

Demnach können die Verletzungen der Zunge, welche den Ge¬ 
richtsarzt deswegen beschäftigen, weil er aus ihnen den Schluss ziehen 
kann, ob die vor ihm liegende Leiche einem Verbrechen zum Opfer 
gefallen ist oder nicht, in ihrer Ausdehnung sehr verschieden sein. 
Ist die Verletzung sehr schwer und in ihrer Wirkung tiefgreifend, ohne 
Complication mit äusseren Wunden, oder handelt es sich um Aetzun- 
gen bei einem Erwachsenen, so wird, falls nicht andere gravirendc 
Momente vorliegen, der Verdacht auf einen Gewaltact fast immer un¬ 
begründet sein, während kleine Kratz- und Risswunden, oder selbst 
nur Veränderungen in der Form der Zunge, besonders wenn sich 
dieselben bei kleinen Kindern finden, zu grosser Vorsicht in der Be¬ 
urteilung mahnen. 

Eine kleine Operation an der Zunge, die früher vielfach aus¬ 
geführt, heutigen Tages, wenn nicht ganz besondere Verhältnisse vor¬ 
liegen, wohl nur noch von Hebammen unternommen wird, kann unter 
besonders ungünstigen Umständen zum Tode führen und dann die 
Thätigkeit des Gerichtsarztes in Anspruch nehmen, weil Fahrlässig¬ 
keit der handelnden Person vorliegt, die zu der Aufmerksamkeit, 
welche sie aus den Augen setzte, vermöge ihres Berufes besonders 
verpflichtet war: das ist die Operation des zu kurzen Zungenbänd¬ 
chens. Wurde durch unvorsichtige und ungeschickte Führung des 
Schnittes die Arteria oder Vena ranina verletzt, so kann eine für ein 
neugeborenes Kind tödtliche Blutung entstehen, wenn nicht alsbald 
eine sachgemässe Blutstillung vorgenomraen wird. Wer auf diese Weise 
ein Leben in Gefahr gebracht hat, kann nach § 222 dos St.-G.-B. 
zur Verantwortung gezogen werden. Als ein anderer übeler Zufall 
nach Durchschneidung des Zungenbändchens wird die Zurückziehung, 
ein Verschlucken der Zunge und die dadurch bedingte Erstickungs¬ 
gefahr angeführt. 

Erwähnung verdient hier die merkwürdige, von Kuss maul be¬ 
sprochene Fertigkeit einiger Personen, ihre Zunge nach Durchtrennung 
des Bändchens so tief in die Rachenhöhle zurückzuziehen, dass sie 
aussieht, als wenn sie durch Abschneiden verkürzt wäre. Da cs 
einem solchen Menschen gelang, einen berühmten Anatomen hinter 
das Licht zu führen, indem er behauptete, er habe als Fremden¬ 
legionär in Algier durch arabische Hand die Verstümmelung erlitten, 

Vierteljahrsschr. f. ger. Med. Dritte Folge. XIV. Suppl.-Heft. g 


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Dr. Colley, 


so könnte ja auch einmal ein Betrüger versuchen, das Gericht und 
den Gcriehtsarzt auf diese Weise zu täuschen. 

Wollte heutigen Tages ein Arzt es unternehmen, dem Stottern 
auf operativem Wege beizukommen, wie Dieffenbach versuchte, 
indem er subeutan Querschnitte durch die Zungenwurzel machte und 
Keile aus dem Rücken derselben herausschnitt, so würde er, da das 
Stottern als eine functionellc Neurose erkannt ist, einen schweren 
Fehler begehen und für die eventuellen iibelen Folgen einzustehen 
haben. 

Es erübrigt noch, eine Art von Verletzungen zu besprechen, die 
niemals das Object der Behandlung für den Chirurgen sein kann, die 
aber für das Urtheil des Gerichtsarztes von grosser Tragweite zu sein 
vermag, das sind die Wunden, welche durch Zufall oder absichtlich 
einer Leiche bald nach dem Tode beigebracht sind. Die Meinung 
des Richters und das Urtheil über einen Angeklagten wird gerade in 
diesen Fällen häufig in erster Linie von der sicheren Entscheidung 
des Arztes abhängen, ob die Wunden bei Lebzeiten oder postmortal 
entstanden sind. Es handelt sich hierbei wohl nie um uncomplicirte 
Zungenverletzungen; fast stets werden sich dabei geringere oder aus¬ 
gedehntere Knochenbrüche oder Weiehthcilwunden vorfinden. 

Ein von Ilorteloup mitgetheilter Fall mögo das Gesagte erläutern: Bei 
einer aufgefundenen Leiche handelte es sieh darum, festzustellen, ob der Verstor- 
hene eine steinerne Treppe hinabgestürzt, also verunglückt war und dabei den 
Tod gefunden hatte, oder ob er ermordet und darauf hinabgestürzt war. Die 
erstere von den beiden Annahmen schien die grössere Wahrscheinlichkeit für sich 
zu haben. Bei der Leichenschau fand Ilorteloup neben bedeutenden Schädel¬ 
verletzungen auch Fracturen der Wirbelsäule vor. Die Zunge lag zwischen den 
Zähnen, ihre Spitze war fast durchtrennt.; im Munde war kein Blut vorhanden. 
Am Halse fanden sich einige Hautdefecte, die als Kratzwunden angesehen werden 
mussten. Unter Berücksichtigung dieses Zustandes entschied sich Horteloup 
dafür, dass ein Mord vorlag und zwar ein Mord durch Erdrosseln, und dass nach 
dem Eintritt des Todes die Leiche zur Verdunkelung des Thatbestandes die Treppe 
hinabgestürzt war. Die Zunge war erst bei diesem letzten Act des Verbrechens 
verletzt worden, im anderen Falle hätte aus der grossen Wunde Blut hervortreten 
müssen. 

In einer experimentellen Arbeit über Stichverletzungen, deren 
Kenntniss sicherlich dem Gerichtsarzte hei der Beurtheilung manches 
sonst schwer erklärlichen Falles von grossem Nutzen sein kann, hat 
Kunivosi Katayama auch einen Beitrag zu den Stichverletzungen 
der Zunge geliefert. Vermittelst eines konisch gespitzten Werkzeuges 
bedeckte er die ganze Oberlläche der Zunge mit zahlreichen Stichen. 


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I-ober Zungenverletzungen in gcrichUic.h-niodicinisrher Hcziehung. 115 

Die dadurch entstandenen Wundselilitze waren auf der Zungcnobcr- 
flächc im Grossen und Ganzen folgermasssen gruppirt: An der Zungen¬ 
wurzel in der Medianlinie waren sie longitudinal und an den beiden 
Seitenhälften mehr oder weniger schief nach vorn divergirend, auch 
kam öfters eine nach vorn winklig geknickte Wundspalte vor in den 
Fällen, w r o die Stiche genau die Mittellinie getroffen hatten. An der 
Zungenrückenfläche erschienen sie fast immer von hinten und aussen 
schief nach vorn und der Mitte zu convergirend. Diese Erscheinung, 
sagt Kuniyosi Katayama, kann forensisch eine wichtige Venvor- 
thung finden in Fällen, wo man z. ß. am Halse einer Leiche etwa 
einen Centimeter oberhalb des Zungenbeinkörpers eine quere und an 
der Zungenwurzel eine longitudinale, etwas kleinere Schlitzwunde 
findet, welche durch einen Wundcanal in Verbindung stehen. Hier 
kann man nämlich aus der Richtung und Beschaffenheit der Wund- 
spaltc an der Haut, der Schleimhaut und den dazwischen liegenden 
Gcwebsschichten schliessen, dass die Verletzung entweder durch ein 
nicht schneidendes, mehrkantiges, oder durch ein konisches Werkzeug 
erzeugt worden ist. Ebenfalls könnte man dann die Frage, ob die 
Verletzung durch das als verdächtig vorgelegtc, gewöhnliche scharfe 
Messer — wenn wir diesen Fall annehmen — erzeugt wurde, mit 
Bestimmtheit verneinen. 


Literatur. 

Ausser den bekannten Lehrbüchern der Anatomie, Physiologie, Chirurgie 
und gerichtlichen Medicin und den Abhandlungen, die in Eulenburg’s lteal- 
Encyclopädie veröffentlicht sind, wurden benutzt: 

II. Demme, Militär-chirurgische Studien in den italienischen Lazarcthcn von 
1859. lief, in Schmidt’s Jahrbüchern. Bd. 113. 

Geissei, Schussverletzung der Zunge. Tracheotomie. Ligatur der Carotis 
communis. Tod. Verhandl. der Deutschen Gesellsch. f. Chir. 6. Congr. 
Horteloup, Mord durch Schädelbruch und Strangulation. Ref. in Schmidt’s 
Jahrb. Bd. 162. 

Käst und Rumpel, Pathologisch-anatomische Tafeln. Wandsbeck-IIamburg 
1892. 

Kuniyosi Katayama, Ueber Stichwunden in gcrichtlich-medicinischcr Be¬ 
ziehung. Diese Vierteljahrsschr. Bd. 46. 1887. 

Mittler, Seltener Fall von Verletzung der Zunge. Wiener med. Woehenschr. 
1870. 

Frank Ogston, A case of suicido by pistolshot, without external wound. 
Edinburgh med. Journ. No. CCCXLIV. Fcbr. 1884. 


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8 * 


Original from 

UNIVERS1TV OF IOWA 



116 Dr. Colley, Zungenveiletzungen in geriohtl.-medicin. Beziehung. 


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Frederik Peterson, A note upon disturbance of the sense of taste after am- 
pulation of the tongue. Ref. in Schmidt’s Jahrb. Bd. 228. 

Sanitätsbericht über die deutschen Heere 1870. 

af Schultön, Totale Exstirpation der Zunge und deren Einwirkung auf die 
Sprache. Deutsche Zeitschr. f. Chir. Bd. 35. 

Seerig, Merkwürdiger Fall von Verletzung der Zunge bei einem vier Wochen 
alten Kinde. Ref. in Schmidt’s Jahrb. Jahrg. 1834. 

Singer, Ein Fall von hochgradiger Zungenverletzung. Wiener med. Presse. 
1878. 

F. Strassmann, Ueber den anatomischen Nachweis forensischerVergiftungen. 
Berl. klin. Wochenschr. 1895. 

Tampke, Verletzung der Zunge. Generalbericht des Königl. rheinischen Me- 
dicinal-Collegii über das Jahr 1843. 

Aloysius Wurm, Merkwürdiger Fall von Verstümmelung der Zunge eines 
Kindes. Jahrbücher des ärztl. Vereins zu München. IV. 3. 

Derselbe, Ueber Zungendefecte und deren Folgen. Münch, ärztl. Intell.-Bl. 
1866. 


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n. Oeffentliches Sanitätswesen. 


l. 

Gutachten der technischen Deputation für das Vete- 
rinürwesen und der wissenschaftUchen Deputation 
für das Medicinalwesen, betreffend die Yerwerthung 
des Fleisches finniger Rinder. 


1. Gutachten der technischen Deputation für das Veterinärwesen 

vom 20. November 1896. 

Eure Excellenz haben die gehorsamst Unterzeichnete technische 
Deputation für das Veterinärwesen mittelst hohen Erlasses vom 
24. April d. J. angewiesen, eine gutachtliche Erklärung darüber zu 
erstatten: 

Ob auch jetzt noch an der Forderung der Zwangskochung 
alles finnig befundenen Rindfleisches festgehalten werden muss, 
oder ob und welche Erleichterungen für die Verwerthung der 
finnigen Rinder zulässig erscheinen. 

Euer Excellenz beehren wir uns, diese Aeusserung im Nach¬ 
stehenden ehrerbietigst zu überreichen. 

Es war bis zum Jahre 1888 nicht bekannt, dass auch die ein¬ 
heimischen* Rinder häufiger mit Finnen behaftet sind. In dem ge¬ 
nannten Jahre aber führte eine zufällige Beobachtung zur Entdeckung 
derjenigen Körperstelle, an welcher die Rinderfinne mit Vorliebe auf¬ 
zutreten pflegt, und die seitdem regelmässig erfolgte Untersuchung 
dieser Stelle bei geschlachteten Rindern hatte zur Folge, dass auf 
den Schlachthöfen Preussens alljährlich eine grosse Anzahl finniger 
Rinder ermittelt wurde. So sind z. B. allein auf dem Centralschlacht¬ 
hofe zu Berlin in den Jahren 1888 bis 1895 bei 1902 Rindern Finnen 
nachgewiesen werden. 

Als die Zahl der Rinder, welche mit Finnen behaftet waren, zu 
steigen begann, wurde die Unterzeichnete technische Deputation an- 


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118 Gutachten der technischen Deputation für das Yeterinarwesen und 


gewiesen, sich darüber zu äussern, in welcher Weise mit dem Fleische 
(inniger Kinder zu verfahren sei. Die technische Deputation hatte 
sich darauf dahin ausgesprochen, dass das Fleisch (inniger Rinder in 
derselben Weise behandelt w r erden müsse, wie das Fleisch finuiger 
Schweine, d. h. dass das Fleisch eines Rindes selbst beim Auflinden 
einer einzigen Finne nur im gekochten Zustande in Verkehr gebracht 
werden dürfe. 

Nun lagen aber zu der Zeit, in der diese gutachtliche Erklärung 
erstattet wurde, nur ungenügende Erfahrungen über die Vertheilung 
der Finnen in den Muskeln der Rinder und über die Häufigkeit des 
Auftretens der Finnen vor. Hierüber sind seit dieser Zeit Beobach¬ 
tungen gemacht worden, welche für das Urtheil über die Behandlung 
des Fleisches finniger Rinder von Bedeutung sind. 

Zunächst wurde ermittelt, dass die Rinderfinne im Gegensätze 
zur Schweinefinne gewöhnlich nur vereinzelt vorkommt. So waren in 
Berlin bei den oben erwähnten 1902 geschlachteten finnigen Rindern 
1825 Stück, also 95 pCt., mit vereinzelten Finnen behaftet; und bei 
der Mehrzahl (06 pCt.) der letzteren Rinder war trotz der Unter¬ 
suchung aller Körpermuskeln überhaupt nur eine Finne nachzuweisen. 

Ferner haben die Untersuchungen auf allen Schlachthöfen über¬ 
einstimmend ergeben, dass Kaumuskeln, Herz und Zunge Lieblings- 
sitzc der Finnen sind, und dass die Finnen oft in grösserer Menge 
an diesen Stellen angetroffen werden, während sie in anderen Körpcr- 
muskeln seltener Vorkommen. In der Leber, der Milz, der Lunge, 
den Nieren, an dem Magen, dem Darme, dem Gekröse und dem 
Netze werden Finnen ausserordentlich selten beobachtet, selbst in 
den Fällen, in welchen die Muskeln stark von ihnen durchsetzt sind. 

Weiter wurde festgcstellt, dass die Zahl der mit Finnen behaf¬ 
teten Rinder eine grössere ist, als anfänglich angenommen wurde. 
Die im Schriftstücke des Hamburger Senats enthaltene Mittheilung, 
dass nur 0,02 pCt. der im Jahre 1895 geschlachteten Rinder mit 
Finnen behaftet waren, stclvt mit den an anderen Orten gemachten 
Beobachtungen nicht in Ucbcreinstimmung. In den letzten 5 Jahren 
erwiesen sich in Berlin 0,204 pCt., im Jahre 1895 in Königsberg und 
Danzig je 0,36 pCt., in Hannover 0,41 pCt., in Freiburg i. Schl. 
0,50 pCt., in Hildesheim 0,76 pCt., in Oels 1 pCt., in Marienwerder 
1,2 pCt., in Ohlau 1,57 pCt. und in Neissc sogar 2,91 pCt. mit Finnen 
behaftet. 


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der wissenschaftlichen Deputation für das Mcdicinalwesen. 


119 


Endlich wurde, nachdem die Vorschrift der Zwangskochung des 
finnigen Fleisches erlassen worden war, ganz allgemein die Beobach¬ 
tung gemacht, dass gekochtes finniges Rindfleisch viel schwerer zu 
verkaufen ist, als gekochtes finniges Schweinefleisch; ja dass an 
manchen Orten das gekochte finnige Rindfleisch selbst bei sehr ge¬ 
ringem Preise entweder keine oder nur eine ungenügende Abnahme 
findet. Hierbei dürfte vielleicht der Umstand von Bedeutung sein, 
dass namentlich Bullen mit Finnen behaftet sind, und dass gekochtes 
Bullenfleisch hart und deshalb schwer zu kauen ist, auch keinen an¬ 
genehmen Geschmack hat. Unter den im Berichtsjahre 1894/95 in 
Berlin ermittelten 293 finnigen Rindern waren z. B. 109 Bullen, und 
unter den im zweiten Semester desselben Berichtsjahres in Dresden 
beobachteten 64 finnigen Rindern sogar 29 Bullen. 

Auf Grund dieser Erfahrungen wurde im Königreiche Sachsen 
das Verfahren mit dem Fleische finniger Rinder abgeändert. Wäh¬ 
rend das Königlich Sächsische Ministerium des Innern früher ange¬ 
ordnet hatte, dass das Fleisch der finnigen Rinder nur im gekochten 
Zustande verkauft werden dürfe, hielt es jetzt die Ausführung dieser 
Massregel bei Rindern, welche nur eine Finne aufweisen lassen, 
nicht mehr für erforderlich und gestattete, dass das Fleisch solcher 
Rinder auch im rohen Zustande dem Verkehre übergeben würde. 

Auch wir sind in Erwägung des jetzt vorliegenden Erfahrungs¬ 
materials der Ansicht, dass die Zwangskochung der cinfinnigen Rinder 
nicht erforderlich ist, sondern dass das Fleisch der Rinder, bei wel¬ 
chen eine Finne gefunden wurde, ohne Gefahr für die menschliche 
Gesundheit roh in den Verkehr gegeben werden darf, wenn bei der 
Zerlegung des Fleisches in kleinere Stücke keine weitere Finne ge¬ 
funden wird. Solches in kleinere Stücke zerlegte Fleisch aber ohne 
weiteres freizugeben, halten wir um so mehr für geboten, als das 
Fleisch durch die Zwangskochung ganz unverhältnissmässig ent- 
werthet wird. 

Der Nachweis der Finnen bei geschlachteten Rindern wird in der 
Weise geführt, dass zunächst die Lieblingssitze der Finnen (die inneren 
und äusseren Kaumuskeln, das Herz und die Zunge) sowohl an der 
Oberfläche, wie auf frisch hergestcllten Durchscbnittsflächen unter¬ 
sucht und darauf die übrigen, nach dem Schlachten freigelegten Mus¬ 
keln, namentlich die Halsmuskeln, die Brustmuskeln, die Zwischen- 
rippenmuskcln und die musculösen Theile des Zwerchfells auf das 
Vorhandensein von Finnen an den Oberflächen geprüft werden. Wird 


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120 Gutachten der technischen Deputation für das Vcterinärwosen und 


bei alledem nur eine einzige Finne ermittelt, so werden solche Rinder 
als „einfinnige“ bezeichnet. Werden dagegen einzelne Finnen an 
mehreren Stellen oder nur an einer Stelle mehrere Finnen gefunden, 
so bezeichnet man solche Rinder als „mehrfinnige“. Die in neuerer 
Zeit an mehreren Schlachthöfcn mit grosser Sorgfalt ausgeführten 
Untersuchungen, bei denen das ganze Fleisch „einfinniger“ Rinder in 
zahlreiche kleine Stücke zerlegt und auf die Anwesenheit von Finnen 
genau geprüft worden ist, haben gezeigt, dass zwar die Mehrzahl der 
„einfinnigen“ Rinder mit weiteren Finnen nicht behaftet ist, dass aber 
immerhin noch bei ca. 34 pCt. derselben Finnen in dem übrigen 
Fleische gefunden werden. Mithin dürfte das Freigeben des rohen 
Fleisches nicht ausschliesslich von dem Nachweise einer einzigen 
Finne abhängig zu machen, sondern auch an die Bedingung zu knüpfen 
sein, dass bei der Zerlegung des Fleisches in höchstens 2y 2 kg schwere 
Stücke weitere Finnen nicht gefunden werden. 

Es ist zu bemerken, dass es sich bei allen Untersuchungen und 
Prüfungen um die lebende Finne zu handeln hat, da nur diese für die 
Gesundheit des Menschen nachtheilig ist, während die abgestorbene, 
verkäste oder verkalkte Finne ohne Bedeutung ist. 

Hiernach dürfte der Verkehr mit dem Fleische „einfinniger“ 
Rinder in folgender Weise zu regeln sein: 

Das Fleisch derjenigen Rinder, bei denen nur eine lebende Finne 
an einem der Lieblingssitze oder an einer anderen Stelle nachgewiesen 
worden ist, darf nach Entfernung der Finne dem freien Verkehre 
übergeben werden, wenn nach Zerlegung des Fleisches in höchstens 
2 1 /., kg schwere Stücke keine weiteren lebenden Finnen gefunden 
werden. 

Das Fleisch der „mchrfinnigen“ Rinder müsste gewissen Ver¬ 
kehrsbeschränkungen unterworfen bleiben; aber auch bei diesem könnte 
von der Forderung einer Zwangskochung vor dem Verkaufe abgesehen 
werden. 

Es würde genügen, wenn der Verkauf des Fleisches der stärker 
mit Finnen behafteten Rinder entweder auf Freibänken oder, wo die 
letzteren fehlen, unter Deklaration stattfinden müsste. Denn auf der 
Freibank wird eben Fleisch feilgehalten, welches mit Mängeln be¬ 
haftet ist, die durch Kochen oder andere Zubereitungsarten des 
Fleisches sich beseitigen lassen; in den Schlachthäusern oder in Ge¬ 
meinden aber, in denen eine Freibank fehlt, müsste den Käufern des 
Fleisches der „mehrfinnigen“ Rinder der Fehler desselben und die 


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der wissenschaftlichen Deputation für das Medicinalwescn. 


121 


Behandlung, welche das Fleisch vor dem Genüsse zu erfahren hat, 
durch Anschlag öffentlich mitgetheilt werden. Ferner würde es, um 
jeden Zwischenhandel zu vermeiden, nothwendig sein, durch polizei¬ 
liche Vorschriften und durch polizeiliche Ueberwachung dafür zu sor¬ 
gen, dass die Veräusserung des Fleisches an den einzelnen Käufer 
nur in höchsten 2 1 / 2 kg schweren Stücken erfolgt. Gewerbsmässige 
Zwischenhändler, wie Schlächter, Wurstmacher, Speise- und Gast- 
wirthe würden von dem Erwerbe solchen Fleisches grundsätzlich aus- 
zuschliessen sein. 

Die Nachtheile, welche mit dem Genüsse des Fleisches „mehr¬ 
finniger“ Rinder verbunden sein können, dürften durch die Befolgung 
der angegebenen Massregeln vollständig beseitigt werden. Denn die 
Rinderfinnen sterben schon nach einer Erwärmung auf 45 0 C. ab und 
gehen deshalb bei dem im Haushalte üblichen Kochen des Fleisches, 
bei welchem letzteres regelmässig über 50° C. erwärmt wird, sicher 
zu Grunde. Im Uebrigen bemerken wir noch, dass Fleisch, welches 
durch Kochen oder andere Zubereitungsmethoden zum Genüsse für 
Menschen geeignet gemacht werden kann, nach mehreren überein¬ 
stimmenden Entscheidungen des Reichsgerichtes (Urtheile des 4. Straf¬ 
senates vom 11. Juli 1884 und vom 21. März 1888 und des 1. Straf¬ 
senates vom 1. Januar 1885) auch roh in Verkehr gebracht werden 
darf, wenn ausreichende Vorsichtsmassregeln getroffen worden sind, 
dass solches Fleisch in einem zum Genüsse für Menschen geeigneten 
Zustande verzehrt wird. 

Zu den Zubereitungsarten, welche das Fleisch finniger Rinder 
zum Genüsse für Menschen geeignet machen, gehört auch das Pökeln. 
Denn, durch sachgemässes Pökeln werden die im Fleische enthaltenen 
Finnen getödtet. So konnte bei dem im hygienischen Institute der 
hiesigen thierärztlichen Hochschule gemachten Versuchen festgestellt 
werden, dass Finnen selbst in 6 cm dicken Muskelmassen zu Grunde 
gegangen waren, wenn letztere 14 Tage lang in einer 25 proc. 
Pökellake gelegen hatten. Dasselbe Ergebniss wurde bei grösseren 
Fleischstücken z. B. ganzen Schinken erzielt, in welche Salzlake 
eingespritzt worden war und welche darauf gleichfalls 14 Tage 
lang in der Lake gelegen hatten. Mithin hat das Pökeln den¬ 
selben Nutzen, wie das Kochen. Das ist aber von praktischer 
Bedeutung, weil gepökeltes Fleisch in verschiedenen Formen zube¬ 
reitet werden kann und deshalb leichter verwendbar ist, als gekochtes 


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122 Gutachten der technischen Deputation für das Veterinär wesen und 

Fleisch, und der Gewichtsverlust beim Pökeln nur 5—6pCt. beträgt, 
während er beim Kochen eine Höhe bis zu 50 pCt. erreicht. 

Hiernach dürfte für das Fleisch „mehrfinniger“ Rinder folgendes 
Verfahren zu empfehlen sein: 

Das Fleisch derjenigen Rinder, bei denen mehrere lebende 
Finnen nachgewiesen worden sind, darf nur in höchstens 2y 2 kg 
schweren Stücken und unter der Angabe verkauft werden, dass es 
von einem finnigen Rinde herstammt und nur im gekochten oder 
gepökelten Zustande zum Genüsse für Menschen geeignet ist. 
Zwischenhändler (Schlächter, Wurstmacher, Speise- und Gastwirthe) 
sind von dem Erwerbe dieses Fleisches auszuschliessen. 

Zu dem Gutachten wurde von einem Mitgliede der Deputation 
bemerkt, dass er sich dem Gutachten nur unter der Voraussetzung 
anschliesse, dass der Begriff der „mehrfinnigen“ Rinder genauer definirt 
wird. „Mehrere Stellen“ erscheint ihm zu dehnbar, er würde glauben, 
dass dafür eine bestimmte Zahl z. B. von „höchstens 5—6 Stellen“ 
gesetzt werden müsste. 

Wir bemerken, dass zur Zeit im hygienischen Institute Versuche 
darüber gemacht werden, ob die Finnen im Fleische, welches eine 
bestimmte Zeit lang im Kühlhausc gehangen hat, zu Grunde gegangen 
sind oder nicht. Sollte sich die Vermuthung bestätigen, dass die 
Finnen unter den angegebenen Umständen absterben, so würde das 
oben vorgeschlagene Verfahren bezüglich des Fleisches finniger Rinder 
eine wesentliche Aenderung erfahren müssen. 

Schliesslich erlauben wir uns noch hervorzuheben, dass eine Aende¬ 
rung in dem bisher beobachteten Verfahren mit dem Fleische finniger 
Rinder auch noch aus folgenden Gründen nothwendig ist. Die grossen 
Verluste, welche sich aus der Forderung der Zwangskochung des 
Fleisches finniger Rinder ergeben, stellen zur Zeit ein wichtiges Hinder¬ 
niss für die Einführung einer obligatorischen Fleischschau im Allge¬ 
meinen und für die Untersuchung des Fleisches der Rinder auf die 
Anwesenheit von Finnen im Besonderen dar. Eine Tilgung des aus 
der Rindenfinne sich entwickelnden Bandwurmes ist aber nur dann 
zu erwarten, wenn das Fleisch der geschlachteten Rinder überall auf 
die Anwesenheit von Finnen untersucht wird. 

Wie die Dinge jetzt liegen, indem in einer Anzahl von Städten 
die bezügliche Untersuchung des Rindfleisches mit peinlichster Sorg¬ 
falt ausgeführt wird, in der Umgebung dieser Städte hingegen eine 
solche Untersuchung garnicht stattfindet, ist an einen erfolgreichen 


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der wissenschaftlichen Deputation für das Medicinalwcsen. 


123 


Kampf gegen den aus der Rinderlinne sich entwickelnden Bandwurm 
nicht zu denken. 

Um die Zweckmässigkeit der bezüglich des Fleisches finniger 
Rinder vorgeschlagenen Massregeln sicher beurtheilen und demnach 
auch entscheiden zu können, ob diese Massregeln eine Abänderung 
bedürfen oder nicht, dürfte das Vorkommen und die Verbreitung der 
Finne bei Rindern durch neuere statistische Erhebungen festzustellen 
sein. Diese Erhebungen könnten durch die Schlachthausthierärzte 
stattfinden, welche ihre Beobachtungen beim Zerlegen finniger Rinder 
den beamteten Thierärzten mitzutheilen hätten. Die beamteten Thier¬ 
ärzte ihrerseits könnten die Ergebnisse dieser Beobachtungen in ihren 
amtlichen Berichten zusammenstellen. So würden die Ergebnisse zur 
Kenntniss der technischen Deputation kommen. 

Eure Excellenz bitten wir deshalb gehorsamst, die Schlachthaus¬ 
thierärzte anweisen zu lassen, ihre Befunde bei den Zerlegungen der 
finnigen Rinder unter genauer Angabe der Finnensitze den beamteten 
Thierärzten mitzutheilen und die beamteten Thierärzte zu veran¬ 
lassen, diese Beobachtungen in ihren amtlichen Berichten zusammen¬ 
zustellen. 

Von einem Mitgliede wurde gegenüber dem Vorschläge der Mit¬ 
theilung an die beamteten Thierärzte bemerkt, dass diese Zwischen¬ 
instanz nicht nothwendig sei, dass jene Berichte vielmehr in die all¬ 
jährlich den Regierungen amtlich zuzustellenden Schlachthaustabellen 
aufgenommen werden können, welche im Ministerium für Landwirth- 
schaft pp. zu einer Generaltabelle seit mehreren Jahren zusammen¬ 
gestellt würden. 

Königliche technische Deputation für das Veterinärwesen. 

(Unterschrift.) 

An den Königlichen Staatsminister und Minister für Landwirtschaft, 
Domänen und Forsten, Herrn Freiherrn von Hammerstein, Ex- 
cellenz. 


2. Erstes Gutachten der wissenschaftlichen Deputation für das 
Medicinalwesen vom 23. December 189G. 

(Erster Referent: Virchow.) 

(Zweiter Referent: Pistor.) 

Eure Excellenz haben durch Erlasse vom 20. Octobor und vom 
7. December d. J. uns eine grössere Anzahl amtlicher Schriftstücke 


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124 Gutachten der technischen Deputation für das Veterinärwesen und 


zur Aeusserung zugehen lassen, welche sich auf die Behandlung des 
Fleisches finniger Rinder beziehen. Es sind dies folgende: 

1. eine Beschwerde der vereinigten Viehcoramissionäre und Vieh¬ 
händler zu Berlin vom 31. Januar d. J.; 

2. ein Schreiben des Senates der freien und Hansastadt Hamburg 
vom 11. Juni d. J.; 

3. ein Bericht des Königlichen Polizei-Präsidenten von Berlin 
vom 6. October d. J.; 

4. eine Beschwerde des Vorstandes der Rindvieh-Versicherungs- 
Gesellschaft Drausen-Niederung vom 5. März d. J.; 

5. ein Bericht des Königlichen Regierungs-Präsidenten zu Danzig 
vom 6. September d. J.; 

6. eine Beschwerde der Landschaftskammer für die Provinz 
Sachsen vom 2. November d. J.; 

7. ein Schreiben des Königlichen Ministers für Landwirthschaft, 
Domänen und Forsten vom 29. November d. J., welchem 
beigefügt ist 

8. ein Gutachten der Königlichen Technischen Deputation für 
das Veterinärwesen vom 20. November d. J. 

Indem wir diese sämratlichen Aktenstücke beifolgend zurück- 
reichen, erlauben wir uns nachstehend Folgendes ganz gehorsamst zu 
äussern: 

Sowohl die Beschwerde führenden Interessenten, als die ver¬ 
schiedenen Behörden und Beamten kommen darin überein, dass der 
gegenwärtige Zustand der Beaufsichtigung des Fleischhandels mancherlei 
Missstände mit sich bringt. Die Klagen richten sich hauptsächlich auf 
die Bestimmung, dass Fleisch von Rindern, in welchen Finnen ge¬ 
funden worden sind, nicht ohne Weiteres dem freien Verkehr über¬ 
geben werden darf, und dass über die Behandlung desselben in 
Deutschland sehr verschiedene Anordnungen getroffen sind. Diese 
Verschiedenheit wird durch einige practische Beispiele nächgewiesen. 

In Preussen sind bis jetzt die gleichen Massregeln in Betreff der 
finnigen Schweine und der finnigen Rinder geltend gewesen. Diese 
Massregeln, die durch unsere Gutachten vom 2. Februar 1876 und 
vom 4. Januar 1893 begründet wurden, und die schon in der Cir¬ 
cularverfügung vom 16. Februar 1876 angeordnet worden sind, gehen 
dahin, dass auch das Fleisch solcher Thiere, bei denen nur eine 
Finne gefunden ist, nicht eher zur freien Verwendung gelangen soll, 
als bis die Finnen durch Kochen des Fleisches getödtet sind. Da 


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der wissenschaftlichen Deputation für das Medicinalvvesen. 


125 


jedoch bis zum Jahre 1888 über die Rinderfinnen wenig bekannt war, 
so blieb die practische Anwendung der gedachten Verordnung vor¬ 
läufig auf Schweine beschränkt. Seit 1888 häufen sich jedoch die 
Funde von Rinderfinnen auf dem Schlachthofe, so dass z. B. auf dem 
Berliner Centralschlachthofe bis 1895 allein 1902 Rinder als finnig 
befunden wurden. 

So erklärt es sich, dass erst seit 1893 Beschwerden der Inter¬ 
essenten laut wurden. Vorzugsweise geschah dies im Regierungsbezirk 
Oppeln. Auf Grund unseres Gutachtens vom 4. Januar 1893 erfolgte 
jedoch eine Zurückweisung der erhobenen Beschwerde, obgleich die 
Königliche Regierung zu Oppeln Milderungen beantragt hatte. Die 
späteren Beschwerden richten sich mehr oder weniger einerseits gegen 
die Bestimmung, dass auch sogenannte einfinnige oder wenig¬ 
finnige Thiere derselben Beschränkung unterworfen sein sollen, wie 
vielfinnige, andererseits gegen die Forderung, dass das Fleisch 
solcher Thiere nur im gekochten Zustande dem freien Verkehr 
überlassen werden sollen. 

Anders verfuhr man im Königreich Sachsen, wo im vorigen Jahre 
durch Ministerial-Verfügung gestattet wurde, dass das Fleisch einfin¬ 
niger oder nur an gewissen, vorzugsweise ausgesetzten Theilen des 
Körpers mit Finnen behafteten Rinder im rohen Zustande in den 
Verkehr gebracht werde. Das Ergebniss dieser Milderung ist uns nicht 
bekannt. 

Dagegen erfahren wir durch das Schreiben des Hamburger Se¬ 
nats vom 11. Juni d. J., dass bis zum letzten März die Uebung be¬ 
stand , dass von solchen Rindern, bei welchen nur im Kopfe eine 
Finne, im übrigen Körper keine Finne gefunden wurde, nur der Kopf 
beschlagnahmt, das übrige Fleisch aber dem freien Verkehr über¬ 
lassen wurde, nachdem es vom Staatsthierarzt untersucht und für 
unverdächtig erklärt war, dass jedoch auf Grund einer, am 1. April 
d. J. gemachten Erfahrung der Chef der Polizeibehörde die Anord¬ 
nung getroffen hat, dass auch solche Rinder, bei welchen nur im 
Kopf eine Finne gefunden wird, unter persönlicher Aufsicht nach ge¬ 
höriger Zertheilung einzupökeln sind und dass das Fleisch derselben 
erst dann dem freien Verkehr übergeben werden darf, wenn dasselbe 
mindestens 3 Wochen in der Salzlösung sich befunden hat. In dem 
Falle, der diese Verordnung veranlasst hat, war bei einem Ochsen 
bei der ersten Untersuchung nur eine Finne im Kopfe aufgefunden 
worden, bei der weiteren genaueren Untersuchung wurden in den 


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126 Gutachten der technischen Deputation für das Veterinärwesen und 

Brustmuskeln und in einem Hinterviertcl noch 4 lebende Finnen er¬ 
mittelt. 

Nach dem Bericht des hiesigen Polizei-Präsidenten vom 6. Oc- 
tober d. Js. sind durch die Berliner Fleischschau an schwachfinnigen 
d. h. (nach der ersten Untersuchung) nur mit Finnen in den Kau¬ 
muskeln behafteten Rindern während des Zerkleinerns des Fleisches 
seit dem Frühjahr in nahezu 100 Rindern auch in der übrigen Muscu- 
latur Finnen festgestellt worden. Dabei wird zugleich erwähnt, dass 
in einem Falle die Kaumuskeln, aber nicht die übrige Musculatur frei 
von Finnen waren. 

Diese Erfahrungen beweisen, wie sehr unsere Auffassung berech¬ 
tigt war, dass das Auffinden einer Finne genüge, um den Verdacht 
zu begründen, dass mehrere Finnen in dem Körper vorhanden sein 
möchten. Wir müssen daher auch jetzt, gegenüber den Beschwerde¬ 
führern darauf beharren, dass das Fleisch einfinniger Rinder nach 
Entfernung der einen Finne dem freien Verkehr im rohen Zustande 
nicht übergeben werden darf. Die Technische Deputation für das 
Veterinärwesen hat in ihrem jetzt vorliegenden Gutachten die weitere 
Concession angerathen, dass auch solches Fleisch freigegeben werden 
könne, wenn nach Zerlegung des Fleisches in höchstens 2 x / 2 kg schwe¬ 
rer Stärke keine weiteren lebenden Finnen gefunden werden. Wir 
müssen dagegen hervorheben, dass in jedem solchen Stücke noch 
eine oder auch mehrere Finnen verborgen sein können, deren Bloss¬ 
legung nur von einer viel weitergehenden Zerkleinerung erwartet 
werden darf. 

Die Technische Deputation sucht die Grenze für die zu gewäh¬ 
rende Concession in der Zahl der aufgefundenen Finnen: sie will das 
Fleisch von mehrfinnigen Rindern anders behandelt haben, als das 
von einfinnigen. Abgesehen davon, dass der Begriff der Mehrfinnig- 
keit erst dann eine gereiftere Form erhalten würde, wenn wenigstens 
die zulässige Maximalzahl bestimmt würde, wie es z. B. früher im 
Regierungsbezirk Oppeln zugelassen war, wo an einzelnen Orten die 
Zahl 5 als Grenzzahl angenommen wurde — so ist durch die vorge¬ 
schlagene Untersuchungsmethode doch nie mit Sicherheit festzustellen, 
ob nur eine Finne oder nur eine Minderzahl, z. B. 5, vorhanden sind. 
Es darf nicht übersehen werden, dass selbst bei genauer Untersuchung 
doch immer der Zufall entscheidet, ob das Messer genau auf die vor¬ 
handene Finne stösst oder ob dieselbe, vielleicht dicht neben der 
Schnittfläche, verborgen bleibt. Es wird daher immer gefordert wer- 


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der wissenschaftlichen Deputation für das Medicinalwesen. 


1*27 


den müssen, dass noch weitere Bürgschaften für die Unschädlichkeit 
des Fleisches gesucht werden. 

Eine solche Bürgschaft liegt in dem Kochen, wie allgemein zu¬ 
gestanden wird. Auch die Beschwerdeführer haben dagegen nur ein¬ 
zuwenden, dass der Werth des Fleisches durch das Kochen bedeutend 
vermindert wird, ja dass das Fleisch häufig überhaupt nicht mehr 
verkäuflich ist. Wir können die Berechtigung dieser Klage nicht in 
Abrede stellen. Damit wollen wir jedoch nicht zugestchcn, dass jede 
Art des Kochens die gleiche Entwerthung zur Folge haben müsse. 
Die neueren Sterilisirungsapparate haben schon eine solche Vervoll¬ 
kommnung erreicht, dass die Hoffnung nicht ausgeschlossen ist, es 
werde gelingen, durch derartige Apparate Fleisch zu sterilisiren, ohne 
es ungenicssbar oder auch nur widerwillig geniessbar zu machen. 
Unseres Erachtens sollten gerade in dieser Richtung, auch mit Rück¬ 
sicht auf das Fleisch tubereulöser Thiere, weitere Versuche angestellt 
werden. 

Immerhin wird einige Zeit dazu gehören, um solche Versuche 
zum Abschlüsse zu bringen, und auch dann wird erst die allgemeine 
Einführung derartiger Apparate herbeigeführt werden müssen. Inzwi¬ 
schen scheint es nur zulässig, in einer anderen Weise die Unschäd¬ 
lichmachung des Fleisches unter relativer Erhaltung seines Werthes 
anzuordnen. Von verschiedenen Seiten und auch von einzelnen der 
Beschwerdeführer ist auf das Einpökeln hingewiesen worden. Auch 
das Gutachten der Technischen Deputation für das Vetcrinärwesen 
schlägt dasselbe, jedoch nur für das mehrfinnige Rind, vor. Sie be¬ 
ruft sich dabei auf Versuche, die in dem hygienischen Institut der 
hiesigen thierärztlichen Hochschule angestellt worden sind, wobei 
Finnen selbst in 6 cm dicken Muskelmassen zu Grunde gingen, wenn 
diese 14 Tage lang in einer 25 proc. Pökellake lagen. Dasselbe war 
der Fall bei grösseren Flcischstücken, z. B. bei ganzen Schinken, 
welche mit Salzlake eingespritzt und darauf 14 Tage lang in der 
Lake gehalten waren. 

Wir können daher, ohne das Kochverfahren zu verwerfen, nicht 
umhin, die Methode des Einpökelns, welche in Hamburg vorgenommen 
worden ist, für die weitere Ausbildung unserer Fleischschau zu em¬ 
pfehlen. Vielleicht wird damit einem grossen Theil der erhobenen 
Klagen abgeholfen w'erden. Jedenfalls hat dieses Verfahren, zumal 
wenn es facultativ neben dem Kochen zugclassen wird, den Vorzug, 
dass es überall und ohne besondere Vorbereitungen ausgeführt werden 


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128 Gutachten «ler technischen Deputation für das Veterinärwesen und 

kann, und dass cs einen Hauptvorwurf, den man dem Kochen ge¬ 
macht hat, abhaltcn wird. Denn während durch Kochen des Fleisches 
eine Gewichtsverminderung bis zu 50 pCt. eintreten kann, so beträgt 
sie nach dem erwähnten Gutachten beim Pökeln nur 5—6 pCt. Auch 
ist cs ein Vorzug dieser Methode, dass sie mit gleicher Berechtigung 
auf cinfinnigcs und auf mehrfinniges Fleisch angewendet werden 
kann, und dass dadurch alle Beschwerden über ungleiche Behand¬ 
lung der einzelnen Fälle vermieden werden. Sollte die Erfahrung 
lehren, dass das Abtödten aller Finnen durch Pökeln mit Sicherheit 
erreicht werden kann, so würde man sogar dem Gedanken näher 
treten können, dieselbe Concession für alles finnige Fleisch zu machen. 

Die technische Deputation für das Veterinärwesen, welche das 
Pökeln nur für das mehrfinnige Fleisch anrät.h, macht .die weitere Be¬ 
schränkung, dass dasselbe nur in höchstens 2,5 kg schweren Stücken 
und unter Angabe, dass es von einem finnigen Rinde herstammt zum 
Genüsse für Menschen zugelassen werden soll, dass aber Zwischen¬ 
händler (Schlächter, Wurstmacher, Speise- und Gastwirthe) von dem 
Erwerbe dieses Fleisches auszuschliessen sind. Wir erkennen an, dass 
solche Vorsichtsmassregeln nicht zu tadeln sind; wir können sie sogar 
insofern befürworten, als wir jede neue Bürgschaft für die Unschäd¬ 
lichkeit des Fleisches als einen Fortschritt begrüssen müssen. Wir 
sind jedoch zweifelhaft, ob so weit gehende Beschränkungen auf dem 
Wege blosser Polizeiverordnung durchgeführt werden können. 

An sich kann es nicht zweifelhaft sein, dass die Reichsgesetz¬ 
gebung diese Materie ordnen müsste. Wenn es bis jetzt nicht ge¬ 
schehen ist und wenn wir auch jetzt Bedenken tragen, einen solchen 
Schritt zu beantragen, so erklärt sich dies aus dem Umstande, dass 
auch die Wissenschaft in dieser Richtung über das Stadium der Ver¬ 
suche und der weiteren Forschung noch nicht hinausgekommen ist. 
Mit Recht wünscht die technische Deputation für das Veterinärwesen 
eine systematische Sammlung aller einschlägigen Beobachtungen auf 
den Schlachthöfcn; sie macht auch Vorschläge über die Art der Samm¬ 
lung. Wir schliessen uns diesem Wunsche an. Wird erst eine 
sichere Statistik für die ganze Finnenfrage beschafft, so wird auch 
für die spätere Gesetzgebung ein zuverlässiger Boden gewonnen sein. 

Schliesslich bemerken wir noch, dass wir der Bemängelung der 
früheren Bestimmungen in Bezug auf unvollkommen entwickelte und 
auf verkalkte Finnen beitreten. Die letzteren sind zweifellos abge¬ 
storben und insofern ganz unschädlich. Was die ersteren anbetrifft, 


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der wissenschaftlichen Deputation für das Medicinalwesen. 


129 


so sind wir nicht in der Lage, beurteilen zu können, was mit der 
Bezeichnung „unvollkommen entwickelte“ Finnen gemeint ist. Jede 
lebende Finne ist als gleichwertig zu betrachten. Es könnte sich 
nur darum handeln, welche Merkmale für das Lebendigsein derselben 
erforderlich werden sollen. Das Hauptmerkmal ist die spontane Be¬ 
wegung. Aber die Fleischbeschauer werden wahrscheinlich nicht oft 
in der Lage sein, dieselbe zu sehen. Es wird daher ausreichen, 
wenn durch sie festgestellt ist, dass die Finnen regelrecht ausgebildet 
und ohne nennenswerte Abweichungen in ihrer Form und Structur 
sind, und dass in ihrer Umgebung keine wesentlichen Veränderungen 
des Gewebes stattgehabt haben. Der Ausdruck „unvollkommen ent¬ 
wickelt“ sollte aus der Verordnung entfernt werden. 

Wir halten daher die von der technischen Deputation für das 
Vetcrinärwcsen beantragten Erleichterungen für den Verkehr mit 
Fleisch von finnigen Rindern im Interesse der menschlichen Gesund¬ 
heit für zur Zeit noch nicht zulässig und wünschen zunächst weitere 
Erfahrungen in den angegebenen Richtungen. 

Damit sind wir einverstanden, dass für sogenannte einfinnige 
und (bis zu 5) mehrfinnige Rinder nach Zerlegung in 2 1 / 2 Kilo-Stücke 
die Pökelung in 25 proc. Salzlake während 3 Wochen zugelasscn 
werde. 

Königliche Wissenschaftliche Deputation für das Medicinalwesen. 

(Unterschriften.) 

Seiner Exccllenz dem Staatsminister, Minister der geistlichen, Unter¬ 
richts- und Medicinal-Angelcgenhciten Herrn Dr. Bosse. 


3. Zweites Gutachten der wissenschaftlichen Deputation für das 
Medicinalwesen vom 12. Mai 1897. 

(Erster Referent: Virchow.) 

(Zweiter Referent: Pistor.) 

Nachdem wir unter dem 23. December v. J. unser Gutachten 
über die vorgeschlagenen Aenderungen der Anweisungen über die Be¬ 
handlung finnigen Rindfleisches erstattet und Ew. Excellenz unter dem 
13. Januar, unter Mittheilung dieses Gutachtens dem Herrn Minister 
für die landwirtschaftlichen Angelegenheiten, Domänen und Forsten 
gegenüber sich bereit erklärt hatten, im Sinne dieses Gutachtens einen 
Runderlass vorbereiten zu lassen, hat der genannte Herr Minister in 

Vierteljahrsschr. f, ger. Med. Dritte Folge. X1Y. Suppi.-Heft. q 


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130 Gutachten der technischen Deputation für das Veterinärwesen und 


zwei uns gegenwärtig vorliegenden Schreiben vom 9. und 18. März 
seine Auffassung dargelegt. 

In dem ersten dieser Schreiben lässt er im Interesse der Be¬ 
schleunigung der Sache seine in einem Schreiben vom 22. Januar d. J. 
geäusserten Bedenken gegen die von uns beantragte Begrenzung des 
Begriffes „mehrfinniger“ Rinder fallen, nur dass er statt der Begren¬ 
zung auf 5 nachgewiesene lebende Finnen die Zahl 10 gesetzt wünscht. 
Wir hatten die kleinere Zahl gewählt, weil sie in Schlesien schon 
thatsächlich als Grundlage für das Urtheil gebraucht worden war; wir 
können aber zugestchcn, dass ein wissenschaftlicher Grund nicht vor¬ 
handen ist, die Grenze für die Bezeichnung „schwachfinniger“ Rinder 
gerade auf die Zahl 5 zu setzen. Freilich ergiebt sich aus einem uns 
vorgelegten Berichte des hiesigen Polizei-Präsidenten vom 2. März d. J. 
wiederum, dass von der Berliner städtischen Fleischschau in der Zeit 
vom 1. April bis zum Schlüsse des Jahres 1896 schwachfinnig (im 
bisherigen Sinne) 402 Rinder befunden sind und dass unter diesen 38 
waren, bei denen ausser den Kaumuskeln noch andere Stellen Finnen 
zeigten. In 9 Fällen fanden sich Finnen in grösserer Anzahl, so dass 
auf jeder dritten bis zehnten Schnittfläche von Hand teil ergrösse eine 
Finne ermittelt wurde. Ausser dem Herzen werden speciell die Hals-, 
Schulter- und Rückcnmuskcln, sowie die Einwärtszieher der Hinter¬ 
schenkel erwähnt. Es wird jedoch ausdrücklich hervorgehoben, dass 
bei der Ueborlastung des betreffenden Thierarztes das Auffinden einer 
zweiten Finne meist dem Zufalle zuzuschreiben sei, und dass that¬ 
sächlich der Fall von dem Vorkommen mehrerer Finnen sich erheb¬ 
lich häufiger ereignen dürfte, als durch die Fleischschau festgestellt 
worden ist. Daraus ergiebt sich unseres Erachtens, dass die Bestim¬ 
mung eines gewissen, wenn auch einigermassen willkürlichen Grenz- 
werthes für die Anwendung des Wortes „schwachfinnig“ nicht zu ent¬ 
behren sein wird. 

Eine weitere Differenz hat sich herausgestellt in Betreff der Be¬ 
handlung des mehrfinnigen Fleisches. Allerdings besteht, soweit wir 
übersehen können, völlige Ucbercinstimmung in Betreff der Anwen¬ 
dung des Einpökelns. Auch besteht, wie wir aus einer Eingabe des 
Breslauer Magistrats vom 8. Januar d. J. ersehen, in Königsberg i. Pr., 
Magdeburg, Hamburg, Lübeck und Leipzig schon gegenwärtig der Ge¬ 
brauch, den Verkauf von finnigem Rindfleisch nur noch in gepökeltem 
Zustande auf der Freibank zuzulassen. Genauere Angaben darüber 
liegen uns nicht vor. 


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der wissenschaftlichen Deputation für das Medicinalwcsen. 


131 


Dagegen hat der Herr Minister der landwirtschaftlichen Angele¬ 
genheiten in seinem letzten Schreiben einen neuen Vorschlag gemacht 
auf Grund eines Berichtes des Professor Ostertag über Versuche mit 
länger aufgehängtem, sonst aber nicht behandeltem Fleisch. Dieser 
Bericht, datirt vom 8. März d. J., ist uns jetzt mitgetheilt. Derselbe 
geht darauf hinaus, „dass die Verwertung schwachfinnigen Rindfleisches 
als menschlichen Nahrungsmittels auch dann zu gestatten sei, wenn 
dasselbe 3 Wochen lang in einem Kiihlraura aufbewahrt worden ist“. 
(Siehe Anlage S. 133 ff.) 

Eine Durchsicht des Berichtes giebt uns die Ueberzeugung, dass 
die experimentelle Untersuchung, welche Professor Ostertag in dem 
hygienischen Institut der hiesigen Thierarzneischule ausgeführt hat, 
mit grösster Umsicht und unter Berücksichtigung aller Umstände durch¬ 
geführt ist und, soweit sich ohne neue Nachprüfung beurtheilen lässt, 
als erw’eisend angesehen werden kann. Es muss daher auch der 
Schluss, welchen der sorgsame Beobachter zieht, 

dass durch dreiwöchige Aufbewahrung finnigen Rindfleisches die 
in demselben enthaltenen Finnen unschädlich gemacht werden, 
für die weiteren Massrcgeln der Verwaltung zu Grunde gelegt werden. 
Da das dreiwöchige Hängenlassen in Kühlhäusern dem Garkochen und 
Durchpökeln des Fleisches als Abtödtungsmittel gleich zu erachten 
sei, so schlägt er vor, die Verwerthung schwachfinnigen Rindfleisches 
nicht nur in gekochtem und gepökeltem Zustande, sondern auch dann 
zu gestatten, wenn es 3 Wochen lang in einem Kühlraum aufbewahrt 
worden ist. Dagegen ist Professor Ostertag vorsichtig genug, zu 
empfehlen, dass starkfinniges Rindfleisch, ebenso wie starkfinniges 
Schweinefleisch, lediglich zur technischen Verwerthung zuzulassen sei. 

Dementsprechend wünscht nunmehr der Herr Minister für die 
landwirthschaftlichen Angelegenheiten, dass in den Entwurf der neuen 
Vorschriften eine Bestimmung aufgenommen werde, nach welcher 
schwachfinniges Rindfleisch als menschliches Nahrungsmittel benutzt 
werden darf, wenn es 21 Tage in einem Kühlraum auf bewahrt wor¬ 
den ist. Er setzt voraus, dass eine solche Aufbewahrung unter poli¬ 
zeilicher Controle in allen mit Kühlvorrichtungen versehenen Schlacht¬ 
häusern leicht ausführbar sein werde, und er fügt hinzu, das Pökeln 
des in Stücke von nicht mehr als 2y 2 kg zerlegten Fleisches werde 
alsdann voraussichtlich nur in solchen Orten vorgenommen werden, 
die keine öffentlichen Schlachthäuser mit Kühlräumen besitzen. 

Wir treten dieser Auffassung im Allgemeinen bei, halten es jc- 

9* 


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132 Gutachten der technischen Deputation für das Veterinärwesen und 


doch für nothvvendig, dass zugleich allgemeine Bestimmungen über 
die Art der Einrichtung, insbesondere über das Raumbedürfniss der 
Kühlräume getroffen werden. Dies wird auf Grund der Erfahrungen 
an vorhandenen Räumen geschehen können, wie sie nicht bloss in 
Schlachthäusern, sondern auch in anderen Anstalten, z. B. in Kranken¬ 
häusern im Gebrauche sind. Wir erinnern an die Einrichtungen im 
hiesigen städtischen Baracken-Lazareth in Moabit. Nach den getrof¬ 
fenen Bestimmungen sind alsdann auch die vorhandenen Kühlräume 
der Revision zu unterziehen. Denn es wird vor Allem darauf an- 
koramen, dass das wochenlang aufbewahrte Fleisch vor Verderbniss 
geschützt werde, damit nicht faulige Veränderungen an demselben 
eintreten. 

Zweifelhaft kann es erscheinen, ob sich diese Concession nur auf 
schwachfinniges Fleisch erstrecken soll, wie Professor Ostertag vor¬ 
schlägt und wie auch der Herr Minister der landwirthschaftlichen An¬ 
gelegenheiten zu beabsichtigen scheint. Wir bemerken dabei, dass 
Professor Ostertag nur zwischen schwach- und starkfinnigem Fleisch 
unterscheidet, also das sogenannte mehrfinnige Fleisch wenigstens zum 
Theil ausser Betracht lässt. Wenn die Grenze für das schwachfinnige 
Fleisch erst bei dem Nachweis von 10 Finnen gesetzt wird, so wird 
allerdings eine fühlbare Milderung eintreten, und es wird der weiteren 
Erfahrung überlassen w T erden können, etwa noch grössere Nachlässe 
eintreten zu lassen. Vorläufig halten w r ir es für geboten, in dieser 
Richtung die bisherigen Verordnungen bestehen zu lassen. 

Ebenso wird eine Aenderung in den Bestimmungen über das 
Kochen und über das Einpökeln für diejenigen Fleischmassen, welche 
nicht dem Verfahren in Kühlräumen unterzogen werden, nicht vorzu- 
nchmen sein. Da nach dem Bericht des Breslauer Magistrats der 
Werth des gepökelten Fleisches etwa 50—60 pCt. des Werthes vom 
gesunden rohen Fleisch, der des gekochten nur 20—28 pCt. beträgt., 
so wird sich das Ein pökeln wohl mehr und mehr einbürgern. Aber 
es werden doch immer noch Fälle übrig bleiben, wo an der Forde¬ 
rung des Kochens festgehaltcn werden muss. Jedenfalls sollte die zu 
erlassende Bestimmung das Kochen ausdrücklich zulassen. 

Königliche wissenschaftliche Deputation für das Medicinalwcsen. 

(Unterschriften.) 

Seiner Execllenz dem Staatsminister, Minister der geistlichen, Unter¬ 
richts- und Medicinal-Angelegenheiten Herrn Dr. Bosse. 


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der wissenschaftlichen Deputation für das Mediciuahvesen. 


133 


Anlage. 

Bericht des Professor Dr. Ostertag über Versuche, das Ab¬ 
sterben der Rinderfinnen im ausgeschlachteten und in Kühl¬ 
räumen aufbewahrten Fleische betreffend. 

Der italienische Forscher Perron cito hat bei Gelegenheit von 
Untersuchungen über die Widerstandsfähigkeit der Rinderfinnen gegen 
höhere Temperaturen im Jahre 1876 die Beobachtung gemacht, dass 
bei einem Kalbe, welches künstlich mit Finnen inficirt worden war, 
sämmtliche Parasiten 14 Tage nach der Schlachtung abgestorben 
waren. Perroncito stellte den Tod der Finnen dadurch fest, dass 
er dieselben auf ein Schulze’sches Wärmetischchen brachte und 
mikroskopisch betrachtete. Abgestorbene Finnen bleiben hierbei nach 
Erwärmung bis zu 40° C. regungslos, während entwicklungsfähige 
Finnen sich lebhaft bewegen. 

Diese Beobachtung musste Veranlassung zu Nachprüfungen geben, 
denn sie bot die Aussicht, finniges Rindfleisch lediglich durch Auf¬ 
bewahrung in Kühlräumen unschädlich zu machen und an Stelle des 
Kochzwanges ein anderes Verfahren treten zu lassen, welches eine 
vortheilhaftere Verwerthung des Fleisches finniger Rinder ermöglicht. 

Zu den Nachprüfungen standen mir kleinere finnige Stücke Rind¬ 
fleisch (Kaumuskeln, Zungen, Herzen) und drei starkfinnige Rinder¬ 
viertel zur Verfügung. Letztere waren dem hygienischen Institut ausser 
zahlreichen kleineren Rindfleischstücken mit Finnen vom hiesigen 
Centralschlachthofe zur Verfügung gestellt worden. Ausserdem er¬ 
hielt ich reichliches Material vom Schlachthofe zu Neisse, ferner von 
den Schlachthöfen zu Kiel, Dresden, Danzig, Marienwerder und Lübeck. 

Die finnigen Fleischstücke wurden während der Wintermonate in 
einem ungeheizten und gut gelüfteten Fleischaufbcwahrungsraum, 
während der übrigen Zeit dagegen in einem durch Chlorcalcium trocken 
gehaltenen Eisschranke aufbewahrt. Kleinere Fleischstückc sind, um 
das Austrocknen zu verhüten und möglichst natürliche Verhältnisse 
herzustellen, nach sorgfältiger Abtragung der oberflächlichen Schichten 
mittels steriler Messer in die Tiefe von Rindervierteln oder Schweine¬ 
schinken versenkt worden. Zur Feststellung des Bewegungsvermögens 
der Finnen benutzte ich den von Nuttal construirten Mikroskop- 
Thermostaten, in welchem sich die Untersuchungsobjecte stundenlang 
auf einer beliebigen Temperatur erhalten lassen. Die Betrachtung der 
Finnen geschah bei 40fachcr Vergrösscrung,* die Beobachtungsdauer 


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134 Gutachten der technischen Deputation für das Veterinärwesen und 


war 2 Stunden. Während dieser Zeit wurde die Temperatur auf 30 
bis 40° C. gebracht, weil sich hierbei entwicklungsfähige Finnen sehr 
auffällig bewegen. War bei Finnen nach zweistündiger Beobachtungs¬ 
dauer Bewegung nicht gesehen worden, so wurde die Temperatur des 
Thermostaten rasch auf 45° C., die Abtödtungstemperatur für Rinder- 
finnen, gebracht. Denn es hatte sich herausgestellt, dass auf diese 
Weise Bewegungserscheinungen auch noch bei solchen Finnen hervor¬ 
gerufen werden können, welche bereits im Absterben begriffen sind. 
Zu den Untersuchungen konnten unentwickelte Finnen mit weniger 
als 6 mm Länge und vollkommen ausgebildete mit einer Länge von 
7—10 mm verwendet werden. Die mit den unentwickelten Finnen 
angestellten Versuche sollen hier, weil ohne praktisches Interesse, 
nicht weiter berücksichtigt werden. Es sei nur bemerkt, dass die 
unentwickelten, einem künstlich infieirten Kalbe exstirpirten Finnen 
schon nach einer Aufbewahrung von 8, längstens 14 Tagen ganz 
regelmässig todt gefunden wurden. 

Das Erwärmungsverfahren wurde zu den Untersuchungen ge¬ 
wählt, weil es die zuverlässigste Schnellmethode zum Nachweis des 
Finnentodes ist und viel genauere Resultate giebt als z. B. das Färbe¬ 
verfahren. 

Das Ergebniss meiner Versuche, welche ich mit Unterstützung 
des Assistenten und eines Volontärassistenten des hygienischen In¬ 
stituts angcstellt habe,' war bei vollständig ausgcbildeten Finnen fol¬ 


gendes: 

1. Rinderfinnen, welche 14 Tage lang unter den angegebenen 
Vorsichtsmassrcgeln aufbewahrt worden waren, zeigten bei der Er¬ 
wärmung ein sehr verschiedenes Verhalten. Untersucht wurden im 
ganzen 41 Finnen aus 10 verschiedenen Thieren, und zwar: 

5 einzelne Finnen von 5 verschiedenen Rindern, 

2 Finnen von einem Rinde, 

4 

* n n n n 

4 

* n ” 7) n 

^ v n n ri 

n r> ” v 

Hiervon Hessen noch 23 deutliche Bewegungen erkennen, 0 Finnen 
bewegten die Saugnäpfe, 14 den Kopf im ganzen und den Hals, 
18 Finnen blieben regungslos. 

2. 15 Tage nach der Schlachtung. 

Untersucht wurden 12 Finnen aus 2 verschiedenen Rindern: 


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der wissenschaftlichen Deputation für das Medicinalwosen. 


135 


1 Firme aus einem cingesandtcn Kaumuskel, 

11 Finnen aus der Tiefe eines ganzen Viertels. 

Von den 12 untersuchten Finnen zeigten 

2 Bewegung der Saugnäpfe und des Kopfes, 

6 lebhafte Halsbewegungen, 

4 nichts. 

Hervorzuheben ist, dass die Bewegungen bei den erstgenannten 
8 Finnen erst nach y 4 ständiger Beobachtung wahrgenommen wurden, 
während dieselben bei frischen Finnen schon nach 5 Minuten sinn¬ 


fällig werden. 

3. 17 Tage nach der Schlachtung. 


Untersucht wurden 10 Finnen aus 3 verschiedenen Thieren, 

2 aus eingesandten Kaumuskeln von 2 Hindern, 

8 aus der Tiefe eines Viertels. 

Von den 10 Finnen zeigten: 

1 nach y 4 ständiger Beobachtung wiegende Bewegungen mit 
dem Kopfe und deutliches allmäliges Hervortreten der 
Saugnäpfc, 

2 nach : / 2 ständiger Beobachtung ganz schwache Zuckungen 
des Halses und Kopfes, 

7 nichts. 

4. 18 Tage nach der Schlachtung. 

Untersucht wurden 12 Finnen aus der Tiefe eines Viertels. Von 

diesen zeigten: 

fi deutliche Halsbewegungen und ganz allmäligc Rundung der 
zuerst halbmondförmigen Saugnäpfe; Zusammenziehung und 
Ausstälpung der Saugnäpfe ist nicht beobachtet worden, 

6 blieben regungslos. 

Sämmtliche untersuchten Finnen waren im Gegensatz zu frischen sehr 

leicht ausstälpbar. 

5. 19 Tage nach der Schlachtung. 

Untersucht wurden 29 Finnen von 6 verschiedenen Thieren: 

3 einzelne aus eingesandten Kaumuskeln, 

4 Finnen aus einem cingesandtcn Herz, 


3 

4 
15 


I 


aus ganzen Vierteln, 
Rinde angehörten. 


wovon zwei einem und demselben 


Bei allen 19tägigen Finnen fiel auf, dass die Schwanzblasenflässigkeit 
fast völlig geschwunden war und dass die sehr leicht ausstälpbaren 


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136 Gutachten der technischen Deputation für das Veterinärwesen und 


Finnen durchweg trüb und nicht wie frischere Finnen durchsichtig oder 
durchscheinend waren. 

Von den 29 Finnen zeigten 

12 ganz schwache, leise wiegende Halsbewegungen ohne jeg¬ 
liche Veränderung der Saugnäpfe oder des Kopfes, 

17 nichts. 

6. 20 Tage nach der Schlachtung. 

Untersucht wurden 68 Finnen von 9 Thieren, und zwar: 

5 einzelne aus eingesandten Kaumuskeln verschiedener Thiere, 

4 aus Kaumuskeln und Herz eines Rindes, 

10 aus Kaumuskeln und Herz eines Rindes, 

5 aus Kaumuskeln eines weiteren Rindes, 

161 

jaus 2 Vierteln eines und desselben Rindes. 

Von den 68 untersuchten Finnen zeigten 

13 schwache Halsbewegungen, 

55 nichts. 

Bei sämmtlichen hier fraglichen Finnen war der Kopf vollkommen 
trübe. Die 13 Finnen, welche noch eine schwache Bewegung des 
Halses wahrnehmen Hessen, entstammten den oben erwähnten Vierteln 
desselben Rindes. Die Halsbewegungen traten zwar erst nach lstün- 
diger Beobachtungsdauer auf und waren recht schwach, sprachen aber 
doch zweifellos dafür, dass die 13 Finnen noch nicht völlig todt waren. 
Bei der absoluten Regungslosigkeit des Kopfes und insbesondere der 
Saugnäpfe musste indessen angenommen werden, dass auch diese 
Finnen bereite ihre weitere Entwicklungsfähigkeit eingebüsst hatten. 
Denn wenn der Kopf der Finnen nicht mehr lebt, muss er beim 
Durchgang durch den Magen verdaut werden, ganz abgesehen davon, 
dass er nicht mehr im Stande wäre, sich an der Darmschleimhaut 
des neuen Wirthes festzusaugen. 

Diese Vermuthung wurde durch Verdauungs- und Infectionsver- 
suche bestätigt. Was zunächst die Verdauungs versuche anbelangt, 
so wurden dieselben nach den Angaben des Physiologen hiesiger 
Hochschule, Prof. Dr. Munk, mittels eines Salzsäure-Pepsin-Ge- 
misches im Brütofen vorgenommen. Bei den Versuchen ergab sich, 
dass die 11 Finnen, welche noch schwache Halsbewegungen gezeigt 
hatten, im Verlauf einer Stunde ebenso verdaut wurden wie 17 andere 
Finnen, die auf die Erwärmung im Thermostaten nicht reagirt hatten. 
Von den Finnen waren nach 1 ständiger Dauer der Verdauungsver- 


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der wissenschaftlichen Deputation für das Medicinalwesen. 


137 


suche nur noch die Hälse und Reste der Schwanzblascn bemerkbar. 
Die Saugnäpfe lagen alle frei in der Verdauungsflüssigkeit und waren 
mehr oder weniger angedaut. 

Bei Vornahme der Verdauungsversuche in dem auf 37 °C. ein¬ 
gestellten Thermostaten konnte man verfolgen, wie die Conturen des 
Kopfes der Finnen schon nach 10—20 Minuten durch Verdauung des 
Kopfgewebes unregelmässig und die Saugnäpfe von der Nachbarschaft 
freigedaut wurden. Die Saugnäpfe hingen nach 30 Minuten nur noch 
mit einer schmalen Randpartie an dem übrig gebliebenen Kopfgewebe 
und konnten durch Umrühren des Verdauungsbreies und selbst durch 
Hineinträufeln einiger Tropfen Flüssigkeit von dem Kopfe losgelöst 
werden. Mit der Loslösung der Saugnäpfe ging auch eine Auflösung 
der im Halse angehäuften Kalkkörperchen einher. 

Bemerkt sei, dass nicht nur die zum Zwecke der Beobachtung 
künstlich ausgestülpten, sondern auch nicht ausgestülpten 20 Tage 
alten Rinderfinnen nach 1 Stunde derart verdaut wurden, dass sich die 
Saugnäpfe leicht loslösten. 

Frische Schweinefinnen, welche zu Controlversuchen verwendet 
wurden, zeigten unausgestülpt selbst nach 1 x / 2 ständigem Verweilen 
im Brutofen und weiterem 6 ständigen Stehen bei Zimmertemperatur 
keine Verdauungserscheinungen am Kopfe oder Halse. Die Saug¬ 
näpfe erwiesen sich nach dem l l / 2 ständigen Verdauungs versuch noch 
als völlig durchsichtig und scharf conturirt und die Hälfte noch ge¬ 
füllt mit Kalkkörperchen wie bei unversehrten Finnen. 

Somit dürfte erwiesen sein, dass sämmtliche untersuchten 20 Tage 
alten Finnen, auch diejenigen, welche noch geringfügige Halsbewe¬ 
gungen aufgewiesen hatten, entwicklungsunfähig waren. 

7. 21. Tage nach der Schlachtung. 

Zur Untersuchung gelangten 71 Finnen von 9 verschiedenen Rin¬ 
dern, nämlich: 

2 einzelne Finnen von 2 verschiedenen Rindern 


einem Rinde 


- ” v v v n f in kleineren Muskel- 

O r- ” ” • V ” ” f stücken. 

2 linnen von einem Rinde l 

& i 

u n v v v ) 

4 „ aus der Tiefe eines Viertels, 

37 „ „ „ „ zweier Viertel eines und desselben 

Rindes. 


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138 Gutachten der technischen Deputation für das Veterinärwesen und 


Von diesen 71 Finnen zeigten: 

8 ganz minimale Bewegungen bezw. Zuckungen des Halses, 
63 nichts. 

Bei sämmtlichen Finnen war die Schwanzblase leicht zcrreisslieh, 
die Köpfe waren nach dem Ausstülpen trübe und schlecht conturirt, 
ausserdem hatten die Finnen eine abnorme klebrige Beschaffenheit. 

Auch bei diesen Finnen ergab der Verdauungsversuch ausnahms¬ 
los eine prompte Verdauung der Köpfe. 

Aus den 2 Vierteln des zu obigen Versuchen mitbenutzten stark- 
finnigen Rindes konnten noch bis zum 34. Tage vor Austrocknung 
geschützte Finnen entnommen und untersucht werden. Es ergab sich, 
dass noch schwache zuckende Halsbewcgungcn zeigten: 

am 22. Tage von 10 untersuchten Finnen 2 


r> 23. „ „ 9 „ n 2 

„ 24. „ „ 16 „ „ 2 

v 25. „ „ 6 t) n 0 

7, 26. „ „ 8 B „0 

71 27. ?7 71 10 71 n 0 

71 28. 71 71 3 71 „0 

77 29. 11 71 5 71 71 0 

71 30. „ „ 8 „ „0 

77 34 . 71 71 4 71 71 0 

Weiteres Material für Thermostatversuche stand mir im Laufe des 
Jahres nicht zur Verfügung, nachdem der Versuch, ein Kalb finnig 
zu machen, fehlgeschlagen war. Das fragliche Kalb hatte 12 Pro- 
glottiden einer Taenia saginata erhalten, und es waren hierauf auch, 
wie durch regelmässige Exstirpationen festgestellt wurde, anfänglich 
Finnen zur Entwicklung gekommen. Von der 12. Woche an konnten 
aber Finnen nicht mehr nachgewiesen werden, und bei der 10 Monate 
nach der Fütterung mit Bandwurmbrut vorgenommenen Schlachtung 
erwies sich das Kalb als völlig linnenfrei. Es waren nur noch kleine 
bindegewebige Schwielen als Ueberbleibsel der Finnen in der Muscu- 
latur vorhanden. 

Durch das zufällige Vorkommen einiger stark finniger Rinder 
auf dem hiesigen Centralschlachthofe bin ich aber mit soviel Material 
versehen worden, dass sowohl den Thermostatversuchen wie den 
weiter angestellten Infectionsversuchcn ein beweisendes Ergebniss zu¬ 
kommen dürfte. 

Aus den Thermostatversuchen mit einer grossen Anzahl voll- 


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der wissenschaftlichen Deputation für das Medicinalwesen. 


139 


ständig aiisgebildeter Rinderfinnen verschiedener Herkunft muss ge¬ 
schlossen werden, dass die Rinderfinnen spätestens vom 20. Tage 
nach der Schlachtung an ihre Weiterentwicklungsfähigkeit verloren 
haben. 

Diese Schlussfolgerung findet ihre volle Bestätigung durch den 
Ausfall von Infectionsversuchen, welche von mir selbst und auf 
meine Veranlassung hier von 33 anderen Personen mit Finnen aus 20 bis 
21 Tage altem Fleische angestellt worden sind. Ueber die Einzel¬ 
heiten der infectionsversuche giebt die beiliegende Tabelle Aufschluss. 
Zu derselben ist nur zu bemerken, dass sich die Versuchsansteller 
vor Beginn der Versuche durch Kamala (5,0) darauf prüften, ob sic 
vielleicht zufällig einen Bandwurm beherbergten, dass sie sich ferner 
verpflichteten, während der Versuchsdauer weder rohes noch halb¬ 
gares Rindfleisch zu essen. Die zu den Versuchen verwendeten Finnen 
wurden in Fleisch eingehüllt und nach einer kleinen Vormahlzeit möglichst 
ohne Kauen abgeschluckt. Die 74 Finnen der Versuche unter lfd. No. 27 
sind mit Wasser abgeschluckt worden. Nach 1—4 Monaten haben 
sämmtliche an den Versuchen betheiligten Personen eine vorschrifts- 
mässige Bandwurmcur eingcleitet. Ursprünglich war beabsichtigt ge¬ 
wiesen, als Bandw'urmmittel Extract. filic. mar. zu verwenden. Seine 
Anwendung stiess aber auf Schwierigkeiten, nachdem das Mittel bei 
einigen Versuchsanstcllern drastisch gewirkt hatte. An Stelle des 
Extract. filic. mar. wurde von dem grössten Theil der Herren Kamala 
genommen, welches stets eine sehr starke Diarrhoe hervorrief. Um 
über die Versuchsergebnisse aber vollkommene Sicherheit zu erlangen, 
wurden dieselben als abgeschlossen erst betrachtet, als sich 12 Wochen 
* nach dem letzten Finnenessen bei keinem der Versuehsthcilnehmer 
Abgang von Proglottiden gezeigt hatte. 


Uebersicht über die Infectionsversuche mit Finnen. 


o 

d 

2 

Name 

der 

Vcrsuchs- 

ansteller 

Finnen 

gegessen 

am 

Zahl der 
genossenen 
Finnen 

Tage nach d. 
Schlachtung 
des Thieres 

Herkunft 

und 

Fundstelle 

Band¬ 

wurmkur 

cingeleitet 

am 

Erfolg der 
Kur 

Abgang von 
Proglottiden 
bis zum 

1. März 1897 

1 

N., Assi¬ 

14. 2. 96 

2 

16 

Berlin, Kau¬ 

26. 7. 96 

0 

0 


stent. 




muskeln. 

(Filic. mar. 









12,0). 



2 

0., Profes¬ 

13. 3. 96 

2 

20 

do. 

1. 7. 96 

0 

0 


sor. 





(Kamala 









5,0). 




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Original frnm 

UNIVERSUM OF IOWA 


140 Gutachten der technischen Deputation für das Veterinärwesen und 


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6 

53 

rö 

Vm 

Name 

der 

Versuchs- 

ansteller 

Finnen 

gegessen 

am 

Zahl der 
genossenen 
Finnen 

Tage nach d. 
Schlachtung 
des Thieres 

Herkunft 

und 

Fundstelle 

Band¬ 

wurmkur 

eingelcitet 

am 

Erfolg der 
Kur 

Abgang von 
Proglottiden 
bis zum 

1. März 1897 

3 

Derselbe. 

18. 3. 96 

5 

20 

Neisse, Kau- 

1. 7. 96 

0 

0 






muskeln. 

(Kamala 









5,0). 



4 

E., cand. 

20. 5. 96 

4 

21 

Lübeck, 

8. 8. 96 

0 

0 


med. vet. 

1 



Herz. 

(Filic.mar. 









10.0). 



5 

Bi., cand. 

do. 

4 

21 

do. 

do. 

0 

0 


med. vet. 







! 

6 

K., Thier- 

18. 7. 96 

1 

19 

Neisse, Kau- 

7. 12. 96 

0 

0 


arzt 




muskeln. 

(Kamala 









6,0). 



7 

La., cand. 

22. 7. 96 

5 

21 

Berlin, Kopf- 

25. 9. 96 

0 

0 


med. vet. 




muskeln. 

(Kamala 









5,0). 



8 

Le., cand. 

do. 

5 

21 

do. 

do. 

0 

0 


med. vet. 








9 

Schw., 

25. 7. 96 

5 

21 

Neisse, Kopf- 

10. 9. 96 

0 

0 


cand.incd. 




muskeln. 

(Kamala 




vet. 





5,0). 



10 

U., cand. 

do. 

5 

21 

do. 

10. 10. 96 

0 

0 


med. vet. 





(Kamala 









5,0). 



11 

R., cand. 

do. 

5 

21 

do. 

10. 9. 96 

0 

0 


med. vet. 





(Filic. mar. 









12,0). 



12 

M. 

do. 

0 

21 

do. 

10. 9. 96 

0 

0 







(Kamala 









5,0). 



13 

0. 

do. 

7 

21 

do. 

s. u. No. 20! 

0 

0 

14 

Br., Volon- 

7. S. 9G 

3 

20 

Neisse, Kau¬ 

28. 11. 96 

0 

0 


tiirassist. 




muskeln. 

(Filic. mar. 









10,0). 



15 

Bii., cand. 

15. 8. 90 

6 

21 

Berlin, Kopf¬ 

30. 9. 96 

0 

0 


raed. vet. 




muskeln. 

(Filic. mar. 








i 

15,0). 



IG 

Wi., cand. 

do. 

6 

21 

do. 

do. 

0 

0 


med. vet. 








17 

Ke., cand. 

do. 

6 

21 

do. 

30. 9. 96 

0 

0 


med. vet. 





(Kamala 









5,0). 



18 

Z., cand. 

do. 

6 

21 

do. 

do. 

0 

0 


med. vet. 








19 

W., cand. 

do. 

6 

21 

do. 

do. 

0 

0 


med. vet. 








20 

0. 

do. 

6 

21 

do. 

20. 10. 96 

0 

0 







(Filic.mar. 









12,0). 




Gck igle 


Original frnm 

UNIVERSUM OF IOWA 



der wissenschaftlichen Deputation für das Mcdicinahvesen. 


141 


d 

d 

S 

•J 

Name 

der 

Versuchs- 

ansteller 

Finnen 

gegessen 

am 

Zahl der 
genossenen 
Finnen 

Tage nach d. 
Schlachtung 
des Thieres 

Herkunft 

und 

Fundstelle 


Erfolg der 
Kur 

Abgang von 
Proglottiden 
bis zum 

1. März 1897 

21 

01., Repe- 

4. 9. 96 

6 

20 

Neisse, Herz 

20. 10. 96 

0 

0 


titor. 




und Kau- 

(Kamala 








muskcln. 

4,0). 



22 

Scho., 

do. 

6 

20 

do. 

16. 10. 96 

0 

0 


cand.mcd. 





(Kamala 




vet. 





5,0;. 



23 

W., cand. 

1. 11. 96 

6 

20 

Berlin, Kopf- 

12. 12. 96 

0 

0 


med. vet. 




muskelD. 

(Kamala 









5,0). 



24 

Bii., cand. 

do. 

6 

20 

do. 

do. 

0 

0 


med. vet. 








25 

Wi., cand. 

do. 

6 

20 

do. 

do. 

0 

0 


med. vet. 








26 

0. 

do. 

12 

20 

do. 

28. 12. 96 

0 

0 







(Filic. mar. 





i 




12,0). 



27 

Re., städt. 

25. 11. 96 

74 

21 

Berlin, Vor¬ 

13.—19. 1. 

0 

0 


Oberthier- 




der- u. Hin¬ 

97 (Kam. 




arzt mit 14 Beamten 

der städtisch. 

tervierte l. 

5,0). 




Fleischschau. 







28 

0. 

do. 

10 

21 

do. 

1. 2. 97 

0 

0 







(Filic. mar. 









12,0). 




Boi keinem der an den Infectionsvcrsuchen betheiligten Herren 
ist cs zur Entwicklung einer Tänic gekommen. Dass dies nicht etwa 
eine Folge der künstlichen Einverleibungsart, sondern lediglich der 
Entwickelungsunfähigkeit der verzehrten Finnen war, ist durch den 
positiven Ausfall von Versuchen bewiesen, welche in gleicher Weise 
mit 9 und 15 Tage alten Finnen von den Sehlachthofthierärzten 
Zsch. in Dresden, Gl. und K. in Hannover angestellt worden sind. 
Bei den diesseits vorgenommenen Versuchen sind verzehrt worden 
16 Tage alte Finnen 2 Stück von 1 Herrn 
19 1 1 

A ^ n fl n A n A n 

^0 „ „ „ 52 n „9„ 

21 „ * „ 166 „ „ 31 „ 

Das negative Ergebniss dieser 42 Versuche stimmt sowohl mit dem 
Resultat der anderweitig unternommenen Versuche, als auch mit dem 
Ausfall der Thermostatversuche gut überein. 

Mein Schüler Gl. hat während seiner Thätigkeit auf dem Schlacht¬ 
hofe zu Magdeburg 1 Finne aus 16 Tage altem Fleische verzehrt, 


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Original from 

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142 Gutaclit. d. techn. Deput. f. d. Vet.- u. d. wissenschaftl.Deput. f. d. Med.-Wes. 

ohne dass sich infolgedessen ein Bandwurm entwickelt hätte. Gl. 
wiederholte später auf dem Schlachthofe zu Hannover zusammen mit 
dem Schlachthofthierarzt K. den Versuch mit je 3 Finnen aus 15 Tage 
altem Fleische. Diesmal bildeten sich bei beiden Herren mehrere 
Bandwürmer aus. Gl. beseitigte durch die nach Beendigung des Ver¬ 
suchs vorgenommene Bandwurmcur 2, K. 3 Exemplare von Taenia 
saginata, welche aus der Rinderfinnc hervorgeht. Zsch. in Dresden 
ass am 18. September 1895 4 Finnen (5—6 mm lang) und konnte 
bereits am 27. October 1895 4 Bandwürmer von 150 cm Gesammt- 
länge entfernen. Als Zsch. später 5 Finnen, welche beim Zerlegen 
des 14—16 Tage alten Fleisches von 5 verschiedenen Rindern ge¬ 
funden wurden, zu sich nahm, ergab die 87 Tage nach Aufnahme 
der ersten bezw. 59 Tage nach Aufnahme der letzten Finne einge¬ 
leitete Bandwurmcur die Anwesenheit eines Bandwurms von 230 cm 
Länge. Endlich hat Zsch. auch 5 Finnen aus 21 Tage altem Fleisch 
genossen, ohne dass sich hiernach ein Bandwurm entwickelt hätte. 

Durch das völlig übereinstimmende Ergebniss der mit 322 Finnen 
verschiedener Herkunft angestellten Thermostatversuche und der mit 
221 vollkommen ausgebildeten Finnen vorgenommenen Infectionsver- 
suche dürfte der Beweis erbracht sein, 

dass durch 3 wöchige Aufbewahrung finnigen Rind¬ 
fleisches die in demselben enthaltenen Finnen un¬ 
schädlich gemacht werden. 

Das 3 wöchige Hängenlassen, welches zur Verhütung einer Zersetzung 
des Fleisches in Kühlhäusern zu geschehen hat, ist somit dem Gar¬ 
kochen und Durchpökeln des Fleisches als Abtödtungsmittel der 
Finnen gleich zu erachten. Da die Durchpökelung, namentlich aber 
die Garkochung den Absatz des finnigen Rindfleisches erheblich er¬ 
schwert, so dürfte es angezeigt sein, die Verwerthung schwachfinnigen 
Rindfleisches nicht nur im gekochten und gepökelten Zustande, son¬ 
dern auch dann zu gestatten, wenn es 3 Wochen lang in einem Kühl¬ 
raum aufbewahrt worden ist. 

Starkfinniges Rindfleisch dürfte ebenso wie das starkfinnige 
Schweinefleisch lediglich zur technischen Verwerthung zuzulassen sein 1 ). 

Berlin, den 8. März 1897. 

1) Bemerkung zu der Aeusserung der Technischen Deputation für das 
Veterinärwesen, betreffend die obligatorische Fleischschau, siche am Schluss des 
Heftes. 


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Die Ueberwacliung des Fleischliandels auf dem Lande 
und in kleinen Städten und die dazu erforderlichen 
Einrichtungen und Anordnungen vom sanitäts¬ 
polizeilichen Standpunkte aus. 

Von 

Dr. Möhlfeld, pract. Arzt in St. Hülfe (Hannover). 


Wie die Speisegesetze der Egypter und Juden beweisen, wusste 
man schon in alten Zeiten, von welch’ ausserordentlicher Bedeutung 
für den Gesundheitszustand eines Volkes die Art der Fleischversor¬ 
gung ist. Es steht fest, dass aus der Fleischnahrung dem Menschen 
grosse Gefahren drohen, indem Krankheiten der Schlachtthiere auf 
denselben übertragen werden können. Es braucht hier nur an die 
Trichinosis erinnert zu werden, welche oft mehrere Hundert Personen 
aufs Krankenlager geworfen und viele auch zum Tode geführt hat, 
ferner an die bei der Häufigkeit der Tuberculose unter den Schlacht- 
thieren grosse Gefahr der Uebertragung auf den Menschen durch Ge¬ 
nuss stärker tuberculösen Fleisches. Die Frage, wie man solchen 
Gefahren für die menschliche Gesundheit am wirksamsten entgegen¬ 
tritt, wird durch die allgemeine Durchführung einer obligatorischen 
Fleischschau, sowie durch die Errichtung öffentlicher Schlachthäuser 
mit allgemeinem Schlachtzwange in einer den Anforderungen der 
öffentlichen Gesundheitspflege genügenden Weise gelöst. Dieses ist 
bis jetzt in Preussen und mehreren anderen Staaten jedoch haupt¬ 
sächlich nur in den grösseren Städten erreicht, während die Ueber- 
wachung des Flcischhandels auf dem Lande und in kleinen Städten 
noch grösstcntheils sehr im Argen liegt. x\uf keinem Gebiete der 
Nahrungsmittelpolizei bestehen grössere Ungleichheiten als hier. Wäh¬ 
rend in den Schlachthäusern der Städte in der Regel nur Thiere ge- 


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144 


I)r. Möh lfeld, 


schlachtet werden, welche vor dem Schlachten Krankheitssymptome 
nicht gezeigt haben und das Fleisch kranker Thiere wegen seines ge¬ 
sundheitsschädlichen oder verdorbenen Zustandes massenhaft confiscirt 
und vom freiem Verkehr ausgeschlossen wird, werden auf dem Lande 
und in kleinen Ortschaften jahraus jahrein viele Nothschlachtungcn 
vorgenommen und findet das Fleisch kranker Thiere ungestört seinen 
Weg zum menschlichen Consum. Denn es wird wohl nicht so leicht 
ein Händler oder Schlächter ein Stück krankes Vieh zum Besten des 
Publikums opfern, da er dasselbe ja ohne alle Mühe und Risico ver¬ 
werten kann. Nun wird aber auch gerade auf dem Lande weit 
mehr minderwertiges Vieh geschlachtet, als in grösseren Städten, 
denn der Absatz von schlechterem, namentlich verdächtigem Vieh ist 
den Viehhändlern und Schlächtern in den Schlachthäusern der Städte 
erschwert oder gar unmöglich gemacht, infolgedessen sie es auf dem 
Lande zu verwerten suchen. „Die kleinen Städte und Flecken“, so 
berichtet der Kreiswundarzt des Kreises Herford 1 ) aus den Jahren 
1886—1888, „befinden sich bei der Anlage von öffentlichen Schlacht¬ 
häusern in den grösseren Städten in einer unglücklichen Lage. Natür¬ 
lich meiden Viehhändler und Bauern die grossen Städte wegen der 
Schlachthauscontrole und wird infolgedessen nach den kleinen Städten 
jetzt alles verdächtige Vieh abgeschoben. Früh Morgens oder bei 
eingetretener Dunkelheit wird das Vieh in die letzteren gebracht und 
finden sich stets gewissenlose Schlächter als Abnehmer.“ Fast in 
gleicher Weise berichtet der Kreisphysikus des Kreises Halle 2 ) im 
Regierungsbezirk Minden: „Es unterliegt keinem Zweifel, dass viel 
minderwerthiges Vieh verkauft wird: Nach den bei dem hiesigen Ab¬ 
decker eingezogenen Erkundigungen ist der Zugang von gefallenem 
beziehungsweise nothgeschlachtetem Rindvieh in den letzten Jahren 
immer geringer geworden und gehört gegenwärtig zu den seltenen 
Vorkommnissen. Als Grund giebt der Abdecker an, dass er die 
Preise nicht anlegen könne für die Waare, welcher kurz vor oder 
nach dem Absterben der Hals abgeschnitten werde, weil von den 
Handelsleuten höhere Preise geboten würden.“ Schon hieraus geht 
hervor, dass eine polizeiliche Aufsicht über den Fleischverkauf in 
kleinen Städten und auf dem Lande, wo nur irgend ein Schlächter 


1) Generalbericht über das öffentliche Gesundheitswesen im Regierungsbe¬ 
zirk Minden. 188(>—1888. S. 130. 

2) 1. c. 


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reherwachung des KleisuhhanHels auf Hem LauHe und in kleinen Städten. 145 


oder Flcischverkäufer sieh aufhält, ebenso nothwendig ist, als in den 
grösseren Städten. 

Was für Anordnungen sind bis jetzt auf dem Lande und in 
kleinen Städten zur Ueberwachung des Fleischhandels getroffen? 

Trichinenschau. 

Fragen wir uns nun, was in dieser Beziehung bis jetzt für Schutz- 
massregcln getroffen sind. Im nördlichen Deutschland ist es eigent¬ 
lich nur der Handel mit Schweinefleisch, der insoweit überwacht wird, 
als eine Untersuchung auf Trichinen jetzt fast allgemein eingeführt 
ist. Zahlreiche verheerende Trichinenepidemien, welche besonders in 
den Gegenden Norddcutschlands auftraten, wo es Brauch ist, rohes 
Schweinefleisch zu essen, haben allgemein die Aufmerksamkeit auf diese 
mit dem Genuss von Schweinefleisch verbundene Gefahr gelenkt. Die 
Folge hiervon war, dass auf einen Ministerial-Erlass vom 4. Januar 
1872 allmälig in den meisten Regierungsbezirken Preusscns und vielen 
anderen Staaten Polizeiverordnungen erlassen wurden, welche die 
obligatorische Untersuchung des Schweinefleisches auf Trichinen ein¬ 
führten. Dass durch eine obligatorische Trichinenschau die meisten 
Erkrankungen an Trichinosis sich verhüten lassen, lässt sich nicht 
ableugnen. Allerdings ist ihre Durchführung eine sehr kostspielige 
Massrcgel. Im Regierungsbezirk Posen 1 ), wo die Trichinenschau nicht 
einmal allgemein durchgeführt ist, werden für dieselben jährlich schon 
mehr als 150000 M. ausgegeben. Im Regierungsbezirk Düsseldorf 2 ) 
würden bei einer allgemeinen Durchführung der Trichinenschau nach 
der Berechnung des Regierungs- und Medicinalraths Dr. Weiss jähr¬ 
lich 19000 M. zur Ermittelung eines trichinösen Schweines erforder¬ 
lich sein. Diese Summen dürften jedoch um so weniger von der all¬ 
gemeinen Einführung der Trichinenschau abhalten, als sic sich auf 
eine grosse Zahl von Einwohnern im Regierungsbezirk verthcilen 
und letztere an Gesundheit und Leben geschützt werden. Was 
für Unglück schon durch die Entdeckung eines trichinösen Schweines 
verhütet werden kann, kann man besonders noch aus der That- 
sachc entnehmen, dass im Jahre 1865 in Hedersleben durch ein 

1) G.-B. ii. d. ö. Gesundheitswesen im Regierungsbezirk Posen. 1881)—91. 
S. 123. 

2) G.-B. ii. d. ö. Gesundheitswesen im Regierungsbezirk Düsseldorf. 1886 
bis 1888. S. 153. 

Viertoljahrssclir. f. ger. Med. Dritte Folge. XIV. .Suppl.-Heft. 

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Dr. M ö li 1 l‘e I <1, 


146 

einziges 'Schwein 337 Erkrankungen mit 101 Todesfällen und 1874 
in Linden 497 Erkrankungen mit 65 Todesfällen verursacht sind 1 ). 
Nebenbei werden durch die Trichinenschau auch noch nahezu Tau¬ 
sende von Bezirkseingesessenen zu einer Existenz, oder doch zu einem 
lohnenden Nebenerwerbe verholfen. Was die jetzige Handhabung der 
Trichinenschau an betrifft, so lässt sich nicht ableugnen, dass in der¬ 
selben auf dem Lande noch mannigfache Verbesserungen nöthig sind. 
Was zunächst das Material anbetrifft, aus dem sich die ländlichen 
Trichinenschauer recrutiren, so muss man sich sagen, dass es in 
vielen Gegenden Leute sind, welche sich ihrer schweren Verantwort¬ 
lichkeit nicht bewusst sind. Oft sind es Häuslinge und kleine Hand¬ 
werker, die neben Gemeindediener und Nachtwächter auch noch 
Trichinenschauer sind und zu diesem letzteren Amte durchaus nicht 
die Befähigung haben, dasselbe auch noch mit einer unverantwort¬ 
lichen Nachlässigkeit und Gleichgültigkeit betreiben. Wie lax die 
Trichinenschau gehandhabt wird, sieht man häufig schon daran, 
wie den Trichinenschauern die zur Untersuchung erforderlichen 
Fleischproben übermittelt werden. Vorgeschrieben 2 ) ist in dieser 
Hinsicht in den meisten Gegenden, dass der Fleischbeschauer 
die Fleischproben entweder selbst entnimmt oder durch einen von 
der Ortspolizeibehördc eidlich verpflichteten Fleischboten entnehmen 
lässt. Die Proben sind in Blechkästen mit numerirten Fächern oder 
in weissen Papierbeuteln aufzubewahren, auf denen Nummer, Stück¬ 
zahl und der Name des Besitzers deutlich aufgeschrieben ist. Oft 
genug werden diese Vorschriften übertreten, der Schlächter schickt 
dom Trichinenschauer gelegentlich die Fleischstücke in unsauberes 
Zeitungspapier eingcwickelt ins Haus, ohne dass letzterer bestimmt 
weiss, ob die Proben den richtigen Stellen entnommen sind, und ob 
auch nicht eine Verwechslung stattgefunden hat. Derartige Vorkomm¬ 
nisse werden z. B. aus dem Regierungsbezirk Cassel 3 ) aus den Jahren 
1880—85 berichtet. Während dann der Trichinenschauer die Unter¬ 
suchung vornimmt, findet häufig schon eine weitere Zerlegung des 
Schweines und eine Verarbeitung des Fleisches zu Würsten statt, 
ohne dass das Resultat abgewartet wird. Auch die Untersuchung 
selbst wird jedenfalls nicht immer mit der genügenden Sorgfalt und 

1) Hühner, Lehrbuch der Hygiene. S. 523. 

2) Schlochow, I. S. 252. 

3) G.-B. ü. d. ö. Gesundheitswesen im Regierungsbezirk Cassel. 1880 bis 
1885. 8. 236. 


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Uehcrwachung des Fleischhandels auf dem Lande und in kleinen Stadien. 147 


Einsicht vorgenommen. Wie saumselig manche Fleischbeschauer bei 
den Untersuchungen verfahren, lässt sich aus dem einen Beispiel er¬ 
kennen, dass in einem Ort des Regierungsbezirks Oppeln 1 ) ein von 
2 Fleischern gemeinschaftlich geschlachtetes Schwein von 2 Fleisch¬ 
beschauern untersucht wurde; der eine derselben hatte in der ihm 
übergebenen Hälfte des geschlachteten Schweines reichlich Trichinen 
gefunden, der andere erklärte seine Hälfte für völlig trichinenfrei. 
Die Nachrevision ergab aber, dass das betreffende Schwein in der 
That reichlich mit Trichinen durchsetzt war. Recht deutlich traten 
auch grosse Uebelstände unter den Fleischbeschauern zu Tage ge¬ 
legentlich einer im Jahre 1888 im Regierungsbezirk Liegnitz in 
sämmtlichen Kreisen durchgeführten Nachprüfung, bei welcher in der 
Mehrzahl der Kreise grobe Mängel entdeckt wurden 2 ). „21 Fleisch¬ 
beschauer legten unmittelbar nach der Prüfung ihr Amt nieder oder 
wurden desselben enthoben; mehr als 80 bestanden in der Prüfung 
nicht und mussten theils einer Nachprüfung unterworfen werden, theils 
noch einmal unterrichtet werden. Von den untersuchten Mikroskopen 
wurden gegen 90 stark verunreinigt oder sonst unbrauchbar befunden.“ 
Aehnliche Verhältnisse zeigten sich im Regierungsbezirk Arnsberg 3 ) 
bei einer im Jahre 1881 und 1882 durchgeführten Nachprüfung der 
Trichinenschauer. 112 derselben mussten aus ihrem Gewerbebetriebe 
wegen verloren gegangener Befähigung oder ungenügender Instrumente 
entfernt werden. Ferner wurden in diesen Jahren in demselben Be¬ 
zirk 32 Trichinenschauer bestraft, zum Theil auch entlassen, weil sie 
wider das ergangene Verbot sich mit Schlachten befasst, die Fleisch¬ 
schau in fremden Bezirken ausgeübt, die zu untersuchenden Fleisch¬ 
proben nicht selbst entnommen, oder die Untersuchung nicht recht¬ 
zeitig ausgeführt hatten, ausserdem noch eine Anzahl wegen willkür¬ 
licher Herabrainderung der Untersuchungsgebühren. In anderen 
Regierungsbezirken, wie Breslau, Münster, Minden, lauten die Resul¬ 
tate über die Nachprüfungen der Fleischbeschauer günstiger. 

Vorschläge zur Verbesserung der Trichinenschau. 

Um solche Uebelstände zu vermeiden muss man bei der Aus¬ 
wahl der Persönlichkeit in erster Linie auf Zuverlässigkeit, Nüchtern* 

1) G.-B. ü. d. ö. Gesundheitswesen im Regierungsbezirk Oppeln. 188G—91. 

2) Kloss, Handhabung der Sanitätspolizei auf dem Lande. Vierteljahrsschr. 
f. öffentl. Gesundheitspflege. Bd. 23. S. 445. 

3) G.-B. ü. d. ö. Gesundheitswesen im Regierungsbezirk Arnsberg. 1880 
bis 1885. S. 148. 

10 * 


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148 


Br. Möhlfeld, 


licit und allgemeine Befähigung die möglichste Rücksicht nehmen, 
ln Orten, wo Thierärzte ihren Sitz haben, sind diese die geeignetsten 
Leute zur Trichinenschau, doch werden sie sich nicht überall dazu 
bereit finden, besonders wenn sie grössere Praxis haben und des¬ 
wegen die Untersuchungen nicht immer rechtzeitig ohne Störung im 
Schichtbetriebe ausführen können. In solchen Orten ist man also 
gezwungen, empirisch ausgebildetc Laien zu der Trichinenschau her¬ 
anzuziehen. In manchen Gegenden hat sich gezeigt, dass sich die 
Volksschullehrer sehr zu dieser Thätigkeit eignen, und dass sich das 
Amt eines Trichinenschauers mit ihrer Stellung und ihren Berufs- 
pflichten wohl vereinbaren lässt. Einerseits erlangen Lehrer gewiss 
am ersten die nöthige Gewandtheit und Sicherheit im Untersuchen, 
andrerseits besitzen sie auch besonders in der Landbevölkerung die 
genügende Autorität, um alle Vorschriften streng durchführen zu 
können. Von der Königlichen Regierung zu Gumbinnen 1 ) ist daher 
auch genehmigt, dass die Lehrer zur Uebcrnahme des Amtes als 
Fleischbeschauer nach Möglichkeit herangezogen werden. Ferner 
haben sich in vielen Gegenden auch Frauen recht gut als Triehinen- 
schauerinncn bewährt. So erhielten in den Regierungsbezirken Oppeln, 
Magdeburg, Köslin geeignete Frauen vielfach die Genehmigung als 
Trichinenschauerinnen, ohne dass daraus jemals ein Nachtheil er¬ 
wachsen wäre. Aus dem Regierungsbezirk Magdeburg 2 ) wird sogar 
berichtet, dass die Frauen zum Prüfungstermin mit seltenen Aus¬ 
nahmen besser vorbereitet erschienen, als die männlichen Prüflinge. 
Auch in Schlachthäusern sind vielfach weibliche Trichinenschauer ein¬ 
geführt z. B. in Köslin, Kolberg, Stolp. 

Um Pflichtverletzung vorzubeugen, sind von vornherein vom Amt 
eines Trichinenschauers auszuschliessen, wie dies auch in den meisten 
Gegenden mit obligatorischer Trichinenschau durch Polizei-Verordnung 
geschehen ist, Schlächter, Fleischhändler, Viehversicherungsagenten 
und Personen, welche in deren Diensten stehen. Im Regierungsbe¬ 
zirk Minden 3 ) ist im Anschluss hieran noch die empfehlenswerthe 
Verfügung getroffen, dass sämmtlichen Fleischbeschauern bei Verlust 

1) G.-B. ii. d. ö. Gesundheitswesen im Regierungsbezirk Gumbinnen. 1886 
bis 1888. S. 131. 

2) G.-B. ii. d. ö. Gesundheitswesen im Regierungsbezirk Magdeburg. 1886 
bis 1888. 

3) G.-B. ü. d. ö. Gesundheitswesen im Regierungsbezirk Minden. 1880—82. 
S. 50. 


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UMIVERSITY OF IOWA 



Uebcrwachung des Fleischhandcls auf dem Lande und in kleinen Städten. 1411 

ihrer Bestallung verboten ist, die von ihnen oder ihren Angehörigen 
eigentümlich besessenen Schweine zu untersuchen. Unter „Ange¬ 
hörige“ sind nach einer späteren Verfügung Eltern, Kinder, Ge¬ 
schwister (einschliesslich Halbgeschwister), und deren Ehegatten zu 
verstehen. Im Regierungsbezirk Münster 1 ) hat man die Entscheidung 
getroffen, dass sogen. Hausschlächter, welche sich nur mit dem 
Schlachten von Haus zu Haus beschäftigen, nicht als ungeeignet zur 
Ausbildung bezw. Anstellung als Fleischbeschauer zu betrachten seien. 
Auch im Regierungsbezirk Stade 2 ) wurde die Erlaubniss, Haus¬ 
schlächter als Trichinenschauer anzustellen wegen Mangel an anderen 
geeigneten Personen mehrfach ertheilt. Dagegen aber lässt sich ein¬ 
wenden, dass die Hausschlächter besonders in ländlichen Gegenden 
in den Wintermonaten häufig täglich 3—4 Schlachtungen haben und 
dann gewiss nicht mehr die nöthige Kraft und Aufmerksamkeit be¬ 
sitzen, um am Abend bei Lampenlicht eine sorgfältige Untersuchung 
auf Trichinen vorzunehmen. Dazu kommt noch, dass die Haus¬ 
schlächter auf dem Lande, wo die Schlachtungen meist als sogen. 
„Schlachtefeste“ betrachtet werden, häufig am Abend soviel Alcohol 
genossen haben, dass sie absolut nicht mehr zu einer Untersuchung 
fähig sind. 

Die Ausbildung der Trichinenschauer erfolgt am besten und 
schnellsten an einem Schlachthofe, weil hier die ausgiebigste Unter¬ 
suchung am Object erfolgen kann, wo dieses nicht möglich ist, sind 
die Kreisphysiker damit zu beauftragen. Die Bestallung als amtlicher 
Trichinenschauer hat für einen bestimmten Bezirk auf Grund einer 
vor einem Schlachthausthierarzt oder dem betr. Kreisphysicus bestan¬ 
denen besonderen theoretischen und praktischen Prüfung durch den 
Landrath zu erfolgen. Die Function als amtlich bestallter Trichinen¬ 
schauer muss jeder Zeit widerruflich sein. Die Beschaffenheit der 
Mikroskope der Trichinenschauer hat in mehreren Regierungsbezirken 3 ) 
zu Ausstellungen Anlass gegeben, sowohl die Instandhaltung an sich 
brauchbarer, als auch die Benutzung billiger und schlecht eingerich¬ 
teter Instrumente. Sehr zu empfehlen wäre in dieser Beziehnng, 
wenn die Gemeinden die Kosten der Mikroskope trügen und die 

1) G.-B. ü. d. ö. Gesundheitswesen im Regierungsbezirk Münster. 1889—91. 
S. 103. 

2) G.-B. ü. d. ö. Gesundheitswesen im Regierungsbezirk Stade. 1889—91. 
S. 144. 

3) EbendaS. 145. — Desgl. im Regierungsbezirk Magdeburg. 1880- 88. S.45. 


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Dr. Möhlfeld, 


Physiker sich der Besorgung derselben unterzögen. Einerseits wäre 
dadurch die Garantie gegeben, dass nur zweckmässige Mikroskope in 
Gebrauch kämen, andrerseits würden sich, wenn für die Trichinen¬ 
schauer die Ausgaben für die Mikroskope fortfiele, gewiss weit mehr 
und dann auch geeignetere Personen zu diesem Amte melden. Um 
die Untersuchung möglichst leicht und sicher zu machen, ist im Re¬ 
gierungsbezirk Potsdam 1 ) in sehr empfehlenswerther Weise angeordnet, 
die Trichinenschauer zu veranlassen, dass sie sich der durch Beigabe 
eines Compressoriums vervollkommneten Mikroskope bedienen, welche 
von den meisten Optikern zu mässigen Preisen hergestellt werden. 
Ein solches Compressorium besteht aus zwei mit Schrauben zum 
Zusammenpressen versehenen Glasplatten, zwischen welche die Prä¬ 
parate gelegt werden, und einer mechanischen Einrichtung, mittels 
welcher das Compressorium mit den darin befindlichen Fleischproben 
sich unter dem Objectiv des Mikroskopes leicht so schieben lässt, 
dass die ausgebreiteten Präparate dem untersuchenden Auge Strich 
für Strich vorgeführt werden und keine Stelle ungesehen bleiben kann, 
während es bei dem einfachen Schieben des Objectträgers mit der 
freien Hand kaum zu vermeiden ist, dass einzelne Stellen dem Auge 
entgehen. Ferner empfiehlt es sich, jedes Mikroskop mit einer amt¬ 
lichen Nummer am besten am Fusse desselben cingepresst zu ver¬ 
sehen, denn so kann verhütet werden, dass bei etwaigen Nachprüfun¬ 
gen fremde geliehene Mikroskope von gewissenlosen Trichinenschauern, 
deren Instrumente nicht im Stande sind, vorgelegt werden. Eine 
ähnliche Verfügung existirt auch schon in der Anweisung für Fleisch¬ 
beschauer im Regierungsbezirk Düsseldorf 2 ). 

Jeder amtlich bestallter Fleischbeschauer hat über die von ihm 
untersuchten Schweine ein Journal zu führen, in welchem sofort nach 
jeder mikroskopischen Untersuchung folgende Rubriken auszufüllen 
sind: a) laufende Nummer, b) Name und Wohnort des Eigenthümers 
des Schweines bezw. der Fleischwaaren, c) Gegenstand der Unter¬ 
suchung, d) Ergebniss der Untersuchung. 

Die zur mikroskopischen Untersuchung zu verwendenden Fleiseh- 
theilc hat der Fleischbeschauer am Ort der Schlachtung selbst zu 


1) G.-B. ü. d. ö. Gesundheitswesen im Regierungsbezirk Potsdam. 1889 
bis 1891. S. 90. 

2) Pesgl. im Regierungsbezirk Düsseldorf. 1886—88. S. 156. 


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Uebenvachung des Fleischhandels auf dem Lande und in kleinen Städten. 151 


entnehmen, oder durch einen eidlich verpflichteten Flcischbotcn ent¬ 
nehmen zu lassen. 

Die Proben sind in Blechkästen mit numerirten Fächern oder 
in weissen Papierbeutcln aufzubewahren, auf denen Nummer, Stück¬ 
zahl und der Name des Besitzers aufgeschrieben ist. 

Die Probekästen sind nach jedem Gebrauch einer gehörigen 
Reinigung zu unterziehen. Wie nöthig dieses ist, ergiebt sich aus 
folgendem Fall 1 ), der sich in Hanau ereignet hat: Am 24. Septem¬ 
ber 1881 nachmittags waren dem Beschauer Dr. W. die Proben von 
4 Schweinen des Metzgers H. zur Untersuchung übergeben. Am 
26. morgens theilte jener dem Metzger H. mit, dass sich in den mit 
No. 1 bezeichneten Fleischproben Trichinen vorgefunden hätten. Das 
betreffende Schwein war indessen bereits verarbeitet und verkauft. Am 
29. September fand Dr. W. abermals unter 7 Schweinen dieses Metz¬ 
gers 2 trichinös. Bei der Beschlagnahme der betreffenden Schw'einc 
zeigte sich zunächst, dass die Schweine und Proben nicht überein¬ 
stimmend bezeichnet waren und die angeblich trichinösen nicht her¬ 
ausgefunden werden konnten. Es mussten daher sämmtlichc sieben 
Schweine noch mal untersucht werden; jetzt konnten aber trotz ein¬ 
gehendster Prüfung keine Trichinen wieder nachgewiesen werden. 
Dagegen fanden sich an den Wänden und am Boden des Probekäst¬ 
chens, in welchem die am 26. als trichinös erkannten Proben gelegen 
hatten, ältere, schmutzige Fleischtheilchen, in welchen lebende freie 
Trichinen aufgefunden wurden. Die Sachverständigen nahmen hiernach 
an, dass in Folge mangelhafter Reinigung des Probekästchens Reste 
von den am 26. als trichinös erkannten Fleischtheilen zurückgeblieben 
und unter die späteren Proben gerathen seien. 

Um die Zuverlässigkeit der Untersuchungen zu fördern, ist poli¬ 
zeilich festzusetzen, wie viel Untersuchungen ein Fleischbeschauer an 
einem Tage vornehmen darf, und wie lange Zeit er auf eine Unter¬ 
suchung zu verwenden hat. Im Regierungsbezirk Minden 2 ) besteht 
die Bestimmung, dass ein Trichinenschaucr an einem Tage nicht mehr 
als 6 Schweine oder 20 Speckseiten untersuchen darf. Rechnet man 
die Zeitdauer für die Untersuchung eines Schweines zu 30 Minuten, 
einer Speckseite zu 10 Minuten, so würde die Untersuchung von sechs 


1) G.-B. ü. d. ö. Gesundheitswesen im Regierungsbezirk Cassel. 1.8.80—85. 
S. 237. 

2) Desgl. im Regierungsbezirk Minden. 1880—82. S. 58. 


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Dr. Möhlfeld, 


Schweinen oder 20 Speckseiten etwa 3 Stunden in Anspruch nehmen. 
Diese Zahlen entsprechen wohl durchaus der Leistungsfähigkeit eines 
Trichinenschauers. Die in den Schlachthäusern thätigen Beschauer 
machen hiervon natürlich eine Ausnahme, da sie gewöhnlich eine- 
grössere Fertigkeit und Uebung im Anfertigen und Untersuchen der 
Präparate besitzen, und dann auch noch die behufs Entnahme der 
Fleischproben nothwendigen Wege in Fortfall kommen. Setzt man 
für diese Trichinenschauer die zur Untersuchung eines Schweines be¬ 
stimmte Zeit auf 20 Minuten fest, so würden sie in 7 Stunden fünf¬ 
zehn Schweine untersuchen können, was auf einen ganzen Tag ver¬ 
theilt wohl keine zu hohe Anforderung ist. Das Resultat einer 
Untersuchung hat der Trichinenschauer in sein Journal einzutragen 
und das betr. Schwein oder die Fleischwaaren, wenn sie trichinenfrei 
befunden sind, mit einem vorgeschriebenen dauerhaften, ungiftigen 
Farbenstempel abzustcrapeln. Die Stempelung muss der Trichinen¬ 
schauer am besten selbst vornehmen und darf sie nicht dem Fleisch¬ 
boten überlassen. 

Um über die Fähigkeit und Zuverlässigkeit der Fleischbcschauer 
orientirt zu bleiben, haben sich die in den meisten Regierungsbezirken 
.stattfindenden Nachprüfungen derselben gut bewährt. Im Regierungs¬ 
bezirk Köslin 1 ) finden dieselben mindestens alle 3 Jahre statt, und 
der Trichinenschauer hat bei derselben vorzulegen: 

1. das Mikroskop nebst den zugehörigen Gerätschaften; 

2. das Prüfungszeugnigs nebst Anstellungsurkunde; 

3. das seit der letzten Nachprüfung oder falls eine solche noch 
nicht stattgefunden hat, seit der Anstellung geführte Ficiseh¬ 
schaubuch; 

4. ein Lehrbuch über Trichinenschau; 

5. den vorgeschriebenen Farbenstempel. 

Werden hierbei erhebliche Mängel in den erforderlichen Kennt¬ 
nissen und Fähigkeiten festgestellt oder unbrauchbare Mikroskope 
vorgefunden, so hat der Trichinenschauer für die sofortige Abstellung 
der Vorgefundenen Mängel Sorge zu tragen und sich ausserdem einer 
Wiederholung der Nachprüfung zu unterwerfen. In diesem Fall hat 
sich der Trichinenschauer in der Zwischenzeit jeder amtlichen Thätig- 
keit zu enthalten. Bei nochmaligem ungenügenden Ausfall der Nach- 


1) G.-B. ü. (1. ö. Gesundheitswesen im Regierungsbezirk Köslin. 1892— 94. 
S. 117. 


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Uebcrwachung fies Fleischhandels «auf dem Lande und in kleinen Städten. 153 

prüfung ist der Trichinenschaucr von der Ortspolizeibehörde aus seiner 
Stellung zu entlassen und diese Entlassung öffentlich bekannt zu 
machen. Besonders zu achten ist bei dieser Prüfung auch noch auf 
das Sehvermögen der Leute, das sich häufig im Laufe der Jahre sehr 
verschlechtert. So zeigten bei einer Nachprüfung im Regierungsbezirk 
Magdeburg 1 ) mehrere Prüflinge eine so hochgradige Einschränkung 
des Sehvermögens, dass die betreffenden Personen auf Vorhalt er¬ 
klärten, die Function eines Trichinenschauers freiwillig niederlegen zu 
wollen. Ferner wurde im Regierungsbezirk Anisberg nach dem Be¬ 
richt von 1889 bis 1891 zufällig ein Beschauer entdeckt, bei dem 
sich ein Staar entwickelt hatte und der deshalb sofort entlassen 
werden musste. Da derartige Augenkrankheiten, die die Zuverlässig¬ 
keit des Beschauers in Frage stellen, zu jeder Zeit eintreten können, 
hält der Regierungs- und Medicinalrath des Kreises Arnsberg, Dr. Ten¬ 
holt, die Vorschrift, dass die Trichinenschauer nur alle 3 Jahre einer 
Nachprüfung unterzogen werden, für nicht genügend. Dieselbe müsste 
mindestens alljährlich vorgenommen werden. Gewiss ist dies immer¬ 
hin empfehlenswerther und auch wohl durchführbar. 

Im Interesse einer sorgfältigen Ausführung der Trichinenschau 
muss auch die Bezahlung der Leute eine angemessene sein. Dies 
ist besonders in ländlichen Gegenden vielfach nicht der Fall, und es 
sind in manchen Orten die Preise durch die von den Beschauern be¬ 
triebene Concurrenz derart gedrückt, dass für das Geld Niemand eine 
sorgfältige Untersuchung auf Trichinen vornehmen kann. Die Be¬ 
schauer der Landgemeinden im Kreise Eschwegc erhielten nach dem 
Bericht 2 ) des Kreisphysikus vom Jahre 1882 meist nur 50 Pf., meh¬ 
rere 25 Pf., in einer Gemeinde 15 Pf. und in einer anderen sogar 
nur 10 Pf. für die Untersuchung. Einzelne Beschauer waren durch 
Vertrag mit der Gemeinde an diese niedrige Taxe gebunden, und ein 
Beschauer, welcher entgegen diesem Vertrage eine höhere Gebühr 
beanspruchte, wurde mit der gerichtlichen Klage abgewiesen. Nach 
dem Bericht 3 ) des Kreisphysikus zu Marburg vom Jahre 1887 ist 
auch dort der Preis für die Untersuchung eines Schweines bei den 
ländlichen Beschauern bis auf 20 Pf. herabgedrückt gewesen, was 
daher kam, dass von den Bürgermeistern stets nur die Mindcstfordcrn- 

1) G.-B. ü. d. ö. Gesundheitswesen im Regierungsbezirk Magdeburg. 1886 
bis 1888. S. 45. 

2) Desgl. im Regierungsbezirk Cassel. 1880—85. S. 236. 

3) Ebenda. 1886-88. S. 238. 


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Dr. Möhlfeld, 


den als Beschauer in Vorschlag gebracht wurden. Aehnliche Honorare 
sind nach den Berichten der Regierungs- und Medicinalräthe auch in 
anderen Provinzen bezahlt. Diesem Unwesen, unter welchem die 
Zuverlässigkeit der Untersuchung leidet, ist jedoch leicht abzuhelfen, 
da durch die Ministerial-Verfügung vom 19. October 1875 die Land- 
räthe angewiesen sind, auf Fleischbcschauer, welche Taxermässigung 
durchweg oder auffallend häufig eintreten lassen, ihr besonderes Augen¬ 
merk zu richten und gegen dieselben, sobald sich ergiebt, dass sic 
die Untersuchung nicht mit der erforderlichen Sorgfalt vornehmen, 
einzuschreiten. Als angemessene Bezahlung für die Untersuchung 
eines Schweines ist 1 Mk. zu bezeichnen. Darunter sollte kein Tri¬ 
chinenschauer eine Untersuchung vornehmen, auch nicht, wenn er für 
Jemanden an einem Tage mehrere Schweine zu untersuchen hat und 
eventuell zur Entnahme der Probestücke auch nur ein Weg nöthig 
ist. Im prcussischcn Staate entfielen in den Jahren 1887—1888 1 ) 
durchschnittlich jährlich 210—213 Untersuchungen auf einen Trichinen- 
schaucr. Rechnet man jede Untersuchung zu 1 M., so sind jährlich 
210—213 M. immerhin ein ganz begehrenswerthes Nebeneinkommen, 
für die gewiss passende und tüchtige Persönlichkeiten das Amt eines 
Trichinenschauers übernehmen. Ausserdem ist in manchen Gegenden 
noch die nützliche Einrichtung getroffen, dass die Trichinenschauer 
für die Auffindung von Trichinen eine Prämie erhalten in Kolberg 2 ) 
sogar 30 M. Gegen dieses Verleihen von Prämien ist geltend ge¬ 
macht, dass sich Trichingnschauer dadurch zu Fälschungen von Prä¬ 
paraten, ja sogar dazu haben verleiten lassen, die Schweine des 
Nachbars mit trichinösem Fleisch zu füttern, um später die Prämie 
zu erhalten. Diese Vorkommnisse sind aber immerhin so selten, 
dass man desshalb nicht davon abzusehen braucht, die Trichinen¬ 
schauer durch solche Prämien zu sorgfältigem Untersuchen anzu¬ 
spornen. 

Sonstige empfchlenswerthe Massrcgcln zur Verhütung 
einer Trichineninfection. 

Ausser der obligatorischen Trichinenschau lassen sich noch an¬ 
dere werthvollc Massregeln treffen, um einer Trichineninfection durch 


1) G.-B. ü. d. ö. Gesundheitswesen im Regierungsbezirk Minden. 188G—88. 
S. 135. 

2) Desgl. im Regierungsbezirk Köslin. 1892—94. S. 148. 


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Ueberwachung des Fleischhandels auf dem Lande und in kleinen Städten. 155 

Genuss von Schweinefleisch vorzubeugen. Die häufige Trichinose des 
Schweines wird hauptsächlich dadurch vermittelt, dass die trichinen¬ 
haltigen Abgänge der Schweine in Schlächtereien und Abdeckereien 
anderen Schweinen zur Nahrung gereicht werden, ferner dass Schweine 
trichinöse Ratten und Mäuse fressen 1 ). Diesem Ucbelstande kann 
dadurch abgeholfen werden, dass den Schlächtern und Abdeckern das 
Mästen von Schweinen und anderem Vieh mit Abfällen irgend welcher 
Art unbedingt verboten wird. Dabei sind auch die Schlächterhunde 
zu berücksichtigen, die nicht allein trichinöses Fleisch fressen, und 
also durch ihren Koth inficiren können, sondern dasselbe auch noch 
irgend wohin verschleppen, wo cs Schweinen und anderen Thiercn 
zur Nahrung dienen kann. Schlächterhunde sollen sich daher absolut 
nicht in den Schlachtstätten aufhalten, w r o es ihnen möglich ist, Ab¬ 
fälle zu bekommen. 

Ferner ist es nöthig, dass bei jedem Fall von Trichinosis beim 
Schwein der Stall ausfindig gemacht wird, aus dem dasselbe stammt, 
damit geeignete polizeiliche Massrcgeln gegen die Weiterverbreitung 
ergriffen werden können. Ställe, in denen trichinöse Schweine vor¬ 
gekommen sind, sollen gründlich gereinigt, namentlich deren Dcjec- 
tionen gründlich unschädlich beseitigt werden. Wenn sich in solchen 
Ställen auch noch'Ratten aufhaltcn, so ist die Anlage der Ställe 
namentlich auch der Fussbodcn derartig herzurichten, dass den Ratten 
der Zugang zu denselben möglichst erschwert wird. Schliesslich ist 
auch noch eine wichtige veterinär-sanitätspolizeiliche Verhütungsmass- 
regel der Trichinosis die, dass Schweine nur auf Stall fiitterung ge¬ 
halten werden dürfen, und es verboten wird, dass dieselben, wie in 
manchen Gegenden üblich, sich überall frei herumtreiben, wo sie auf 
Düngerhaufen, auf der Strasse alles mögliche infectionsfähige Material 
fressen können. 

Verkehr mit finnigem Fleisch. 

Was den Verkehr mit finnigem Fleisch auf dem Lande und in 
kleinen Städten anbetrifft, so erstreckt sich auch hierauf in den 
meisten Gegenden die obligatorische Fleischbeschau, indem die Be¬ 
schauer verpflichtet sind, von einem derartigen Befunde ebenso wie bei 
Vorhandensein von Trichinen der Ortspolizeibehörde Anzeige zu machen. 
Dieselbe hat dann gemäss der Ministerial-Verfügung vom IG. Februar 


]) Rubner, Lehrbuch der Hygiene. 1892. S. 52G. 


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Dr. Mölilfeld, 

1876 1 ) dafür Sorge zu tragen, dass das Schwein, wenn es in be¬ 
deutenderem Grade finnig befunden ist, ganz beseitigt wird, nachdem 
zuvor eventuell geeignete Thcile zur Bereitung von Seife und Leim etc. 
ausgenutzt sind, ist dagegen das Fleisch nur wenig mit Finnen durch¬ 
setzt, so kann die Polizeibehörde das durch Ausschmelzen oder Kochen 
gewonnene Fett unbedingt, das magere Fleisch dann zum Verkaufe 
und häuslichen Gebrauch zulassen, wenn es unter polizeilicher Auf¬ 
sicht nach vorheriger Zerkleinerung vollständig gar gekocht ist. 

Der Begriff „wenig mit Finnen durchsetzt“ ist von der König¬ 
lichen technischen Deputation für das Veterinärwesen 2 ) dahin er¬ 
läutert, dass ein Fleisch dann als „wenig mit Finnen durchsetzt“ 
anzuschen ist, wenn „sowohl an der Oberfläche, als auch auf den 
verschiedenen Durchschnittsflächen des Fleisches auf einem etwa 
Handteller grossen Theile der Fläche sich nicht mehr als eine Finne 
befindet.“ Sich in jedem speciellen Fall streng an diese Erläuterung 
zu halten, hat wohl grosse Schwierigkeiten und am besten bleibt es 
wohl jedes Mal einem thierärztlichen Sachverständigen überlassen, zu 
prüfen, ob nach der Vorgefundenen Zahl der Finnen das Fleisch über¬ 
haupt noch für geniessbar und nicht als ekelhaft anzusehen ist. 

Die obengenannte Ministerial-Verfügung vom 16. Februar 1876 
bezieht sich aber nur auf den Verkehr mit finnigem Schweinefleisch, 
darüber wie mit finnigem Rindfleisch zu verfahren ist, besteht bis 
jetzt noch keine Verfügung. Es ist aber die Thatsache bekannt und 
in der Fachliteratur vielfach erörtert, dass schon seit einer Reihe von 
Jahren der von der Rinderfinne stammende Bandwurm, Taenia medio- 
cancllata, bei Menschen häufiger vorkommt, als der von der Schweine¬ 
finne abstammende. Nach einem Gutachten der technischen Deputation 
für das Veterinärwesen vom 12. März 1890 und einem solchen der 
wissenschaftlichen Deputation für das Medicinalwesen darf auch Fleisch 
und ebenso irgend ein anderer Theil eines Rindes, in welchem nur 
eine oder wenige Finnen gefunden worden sind, zur menschlichen 
Nahrung nur zugelassen werden, nachdem es unter polizeilicher Auf¬ 
sicht. nach vorheriger Zerkleinerung vollständig gar gekocht ist. Nach 
dem Bericht 3 ) des Directors der städtischen Fleischschau zu Berlin, 

1) Schlockow, I. S. 259. 

2) G.-B. ii. d. ö. Gesundheitswesen im Regierungsbezirk Gumbinnen. 1883 
bis 1885. S. 178. 

3) Das ülTentlicho Gesundheitswesen und seine Uebervvachung in Berlin. 
1S8G—88. S. 167. 


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Ueberwachung des Fleischhandels auf dem Lande und in kleinen Städten. 157 


Dr. Hertwig, für das Jahr 1888/89 ist der Prädilcktionsort für die 
Rinderfinne die Kaumuskeln und besonders der innere Kaumuskel. 
Von 113 mit Finnen behafteten Rindern, wurden 71 mal in den Kau¬ 
muskeln allein Finnen gefunden. Zu ihrer Ermittelung werden auf 
dem Berliner Schlachthof in die Kaumuskeln Parallelschnittc mit der 
Innen- resp. Aussenfläche des Unterkiefers angelegt. Es dürfte wohl 
nicht unmöglich sein, dass dieser Vorschrift auch auf dem Lande 
Eingang verschafft würde. 

Nahrungsmittel- und Viehscuchengesetz. 

Ausser durch diese Untersuchung der Schweine auf Trichinen 
und Finnen ist noch durch den Erlass des Reichsgesetzes vom 
14. Mai 1879 den Verkehr mit Nahrungsmitteln betreffend 1 ), und 
durch das Viehscuchengesetz vom 23. Juli 1880 x ) eine gewisse Hand¬ 
habe zur Ueberwachung des Fleischhandels auf dem Lande und in 
kleinen Städten geschaffen. Das Viehseuchengesetz verbietet, aller¬ 
dings aus veterinärpolizeilichen Gründen die Schlachtung von Thieren 
und den Verbrauch ihres Fleisches, welche an Milzbrand, Tollwuth 
oder Rotz leiden, oder des Milzbrandes und der Tollwuth verdächtig 
sind und stellt die Tödtung von rotzverdächtigen Thieren unter poli¬ 
zeiliche Aufsicht. Das Nahrungsmittelgesetz sucht durch Strafan¬ 
drohung den Verkehr mit nicht gesundem Fleisch zu verhindern. 
Wenn diese beiden Gesetze für grössere Gemeindewesen auch durch¬ 
aus nicht hinreichend sind, um auch nur einen geringen Thcil von 
gesundheitsschädlichem Fleisch aus dem Verkehr zu bringen, so ist 
ihnen für das flache Land und kleinere Städte eine gewisse Bedeutung 
nicht abzusprechen, da bei den hier herrschenden einfachen Verhält¬ 
nissen die gegenseitige Controlle der Bewohner, doch immerhin so 
gross ist, dass gewiss viele Fälle von Uebertretung dieser Gesetze zur 
Kenntniss der Polizei kommen würden. 

Ferner ist das Schlachten von Pferden, wozu allerdings erfah- 
rungsgemäss recht viel abgetriebene und kranke Thiere benutzt wer¬ 
den, fast überall unter thierärztliche Controlle gestellt, und in wenigen 
Regierungsbezirken Preussens, wie Minden, Breslau, Liegnitz, Arns¬ 
berg, Stade ist auch eine sorgfältige thierärztliche Beaufsichtigung 
aller Nothschlachtungen 2 ) ins Leben gerufen. 

1) Bleisch, Die Aufgaben und die Organisation einer obligatorischen 
Fleiscbschau etc. Dieso VierteljahrsscJir. 3. Folge. II. Bd. S. 129. 

2) Ostertag, Handbuch der Fleischschau. S. 37. 


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Dr. Mö hl fehl, 


Fleischschau in anderen Staaten. 

Norddeutsehland weit voraus ist in all’ diesen Punkten das süd¬ 
liche und ein Theil des westlichen und mittleren Deutschlands. Die 
Königreiche Bayern und Württemberg, die Grossherzogthümer Sachsen- 
Koburg-Gotha und Sachsen-Meiningen, das Fürstenthum Schwarzburg- 
Rudolstadt und das Reichsland Elsass-Lothringen haben schon seit 
längerer oder kürzerer Zeit eine obligatorische Fleischschau, durch 
die auch der Fleischhandcl in kleinen Städten und auf dem Lande 
geregelt und überwacht wird 1 ). Die Verordnungen der betreffenden 
Regierungen schreiben vor, dass jedes Schlachtthier, welches zur 
menschlichen Nahrung bestimmt ist, vor und nach dem Schlachten 
untersucht wird. Ausgenommen sind in einigen Staaten nur ganz 
junge Thiere, wie Saugkälber und Spanferkel, ferner zum Theil die¬ 
jenigen Thiere, welche zum Privatgebrauch geschlachtet werden. In 
den einzelnen Gemeinden, in denen Schlachthäuser nicht bestehen, 
sind Fleischkommissionen bestellt, oder doch wenigstens eine geeignete 
Person mit der Fleischschau betraut. Wo Thierärzte wohnen, sind 
diese die Fleischschauer, wo solche nicht vorhanden sind, werden 
gut beleumdete Personen, nachdem sie zuvor an Schlachthöfen ausge- 
bildct und durch den beamteten Thierarzt ihres Bezirks geprüft 
sind, als empirische Fleischschaucr angestellt. Dieselben dürfen im 
Allgemeinen nur bei völlig gesund befundenen Thieren den Genuss 
des Fleisches gestatten; wenn sich Krankheiten vorfinden, sind sic 
dagegen verpflichtet, einen thierärztlichen Sachverständigen zur Ent¬ 
scheidung herbeizurufen. Nur bei besonders namhaft gemachten Er¬ 
krankungen und gewissen Verletzungen haben auch die empirischen 
Fleischschaucr das Recht, über die Geniessbarkeit des Fleisches selbst¬ 
ständig zu entscheiden. Jeder Fleischschauer hat ein Tagebuch zu 
führen, welches er jeder Zeit auf Verlangen dem beamteten Thierarzt 
und der Polizeibehörde zur Controle vorzulegen hat 2 ). Ueber jede 
Beschau erhält der Eigenthümer des Stück Viehes einen Beschau¬ 
schein. Ausserdem haben die Fleischbeschauer noch unvermuthete 
Revisionen in Schlacht- und Verkaufsstätten der Fleischer in Bezug 
auf Reinlichkeit und Verwendung guten Fleisches vorzunehmen. Eine 
solche obligatorische Flcischschau, die sich nicht alle in auf die Städte 
mit Schlachthäusern beschränkt, sondern auch auf das platte Land 


1) Oster tag, 1. c. S. 83 u. 34. 

2) Ger lach, Die Fleischkost des Menschen. S. 122. 


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Ueberwachung des Fleisehhandels auf dem Lande und in kleinen Städten. 1551 


ausgedehnt ist, hat sich in all’ diesen Staaten im Allgemeinen gut 
bewährt. Ihre Nützlichkeit und Nothwendigkeit ist jetzt auch in 
Preussen mehr und mehr anerkannt, und es sind bereits wichtige 
Anfänge gemacht, auch hier diese Frage in befriedigender Weise zu 
lösen. So hat sich die Gewerbekammer der Provinz Brandenburg 1 ) 
in der Sitzung vom 16. December 1890 mit dieser Frage beschäftigt 
und sich einstimmig dafür ausgesprochen, dass öffentliche Schlacht¬ 
häuser möglichst in allen Städten der Provinz von 4000 Einwohner 
an aufwärts und in denjenigen kleineren, in welchen Exporthandel 
mit ausgeschlachtctem Fleisch betrieben wird, zu errichten seien und 
dass in den übrigen kleinen Städten, Flecken und grösseren Land¬ 
gemeinden, deren financielle Lage die Anlegung öffentlicher Schlacht¬ 
häuser nicht gestattet, eine wirksame Vieh- und Fleischschau durch 
Sachverständige unter Anwendung geeigneter Polizei-Verordnungen 
cingeführt werde. In der Provinz Hessen-Nassau wurde auch schon 
eine solche Polizei-Verordnung am 1. Juni 1892 erlassen; dieselbe 
schliesst sich in ihren Einzelbestimmungen im Allgemeinen dem be¬ 
währten süddeutschen Muster an. Ferner haben die Ministerien deslnnern, 
für Landwirthschaft und Cultus sämmtliehe Oberpräsidenten durch 
einen Runderlass 2 ) vom 21. August 1893 auf die Bedeutung einer 
geregelten Fleischcontrole für die menschliche Gesundheit und ihre 
Durchführbarkeit mit Hülfe von genügend vorgcbildeten Laien hinge¬ 
wiesen und denselben die Einführung in die einzelnen Provinzen nahe 
gelegt. Hiernach scheint die preussische Regierung mit Rücksicht auf 
die Ungleichheit der Verhältnisse in den einzelnen Gegenden der Monarchie 
die Regulirung der Fleischcontrole den Provinzial-Rcgierungen überlassen 
zu wollen, um dieselbe den Verhältnissen der einzelnen Provinzen 
anzupassen, wie dies auch bei der Einführung der Trichinenschau der 
Fall war. Im Interesse der gleichmässigen Handhabung der Fleisch- 
schau läge es aber wohl, wenn Landesgesetze über die Controle des 
Fleischverkehrs mit exacten Ausführungsbestimmungen erlassen würden. 
Auch der deutsche Fleischcrbund hat mit Rücksicht auf eine solche 
Gleichraässigkeit der obligatorischen Fleischschau vor mehreren Jahren 
beschlossen, beim Bundesrath dahin vorstellig zu werden, dass die 
öffentliche Fleisch- und Trichinenschau durch Erlass eines Rcichsge- 


1) G.-B. ü. d. ö. Gesundheitswesen im Regierungsbezirk Potsdam. 1889 
bis 1891. S. 91. 

2) Ostertag, I. c. S. 43. 


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1<>() 


Dr. MöhIfehl, 


setzes einheitlich für ganz Deutschland geregelt werde, und hat eine 
entsprechende Petition an den Reichstag gerichtet 1 ). Mit dieser Frage 
hat sich übrigens auch schon vor langen Jahren die wissenschaftliche 
Deputation für das Medicinalwesen beschäftigt. Sie hat bei der Re¬ 
gierung direct die obligatorische Fleischschau für ganz Preussen cinzu- 
führen beantragt. Indessen ist seitens der Regierung diesem Anträge 
nicht entsprochen worden, aber wenigstens anerkannt, dass in der 
Frage der Flcischschau „ein Mehreres als bisher geschehen müsse 
und geschehen könne.“ Die hierauf bezügliche Verfügung ist die 
Rundverfügung vom 4. Januar 1875 2 ). 

Was für Einrichtungen und Anordnungen sind vom sanitäts¬ 
polizeilichen Standpunkte aus zur Ueberwachung des Fleisch¬ 
handels auf dem Lande und in kleinen Städten erforderlich! 

Schlachthausfragc für kleine Städte. 

Es fragt sich nun, was für Einrichtungen und Anordnungen vom 
sanitätspolizeilichen Standpunkte aus in kleinen Städten und auf dem 
Lande empfehlenswerth und nothwendig sind, um den Fleischhandel 
in wirksamer Weise überwachen zu können. Das vollkommenste Mittel 
zur sicheren Ueberwachung des innerhalb einer Gemeinde stattfindcn- 
den Flcischhandels ist zweifellos die Errichtung eines öffentlichen 
Schlachthauses und der damit verbundene Zwang, dass alle zur mensch¬ 
lichen Nahrung bestimmten Schlachtthiere daselbst geschlachtet und 
sachverständig untersucht werden. Nur so erhält man die sichere 
Garantie, dass gesundheitsschädliches und verdorbenes Fleisch in den 
Schlachthäusern angehalten wird und nur gutes vollwerthigcs Fleisch 
in den freien Verkehr gelangt. Doch nicht nur im Interesse der 
Nahrungsmittelpolizei, auch in Bezug auf die Gesundheitspolizei bieten 
die öffentlichen Schlachthäuser so grosse Vorzüge, dass hierdurch allein 
schon ihre Errichtung geboten wäre. Durch die Schliessung der Privat¬ 
schlächtereien werden wichtige Quellen der Luftverderbniss und Boden¬ 
verunreinigung verstopft. Befinden sich oft schon in grösseren Städten, 
wo noch Spülung und Kanalisation bestehen, die Privatschlächtereien 
in einem äusserst traurigen und gesundheitsschädlichen Zustande, wie 
viel mehr ist das in kleineren Städten der Fall, wo meist weder Spü¬ 
lung noch Kanalisation vorhanden sind, und wo oft der Abfluss der 

1) Bollinger, Verwendbarkeit des an Infectionskrankheiten leidenden 
Schlachtviehes. Vierteljahrsschr. f. öfTentl. Gesundheitspflege. Bd. 23. S. 101. 

2) Schlockow, I. S. 248. 


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Uehcrwachung des Fleischhandels auf dem Lande und in kleinen Städten. 161 

Abwässer infolge der Boden- und Terrainverhältnisse ein ganz unzu¬ 
länglicher ist. Wie primitiver Art sind hier oft die Schlachträume? 
Kleine Höfe und Thorbögen, die schlecht oder garnicht gepflastert 
sind, werden als solche benutzt. Alles was beim Schlachten abfällt, 
das Blut, der Inhalt der Magen und Gedärme wird entweder in Gruben 
gesammelt oder lliesst in Gossen allmählich in die Flüsse ab. Auf 
diese Weise werden fortdauernd dem Boden und den Flussläufen eine 
Menge fäulnissfähiger Substanzen zugeführt. Besonders zur Sommer¬ 
zeit und bei Trockenheit, wenn nicht stärkere atmosphärische Nieder¬ 
schläge den Unrath fortspülen, machen sich diese Uebelstände vor 
den Schlächtereien oft durch penetranten Geruch bemerkbar. 

Da häufig auch die Räumlichkeiten sehr beschränkte sind, be¬ 
finden sich oft Schlachtort, Reinigungsort für die Gedänne und der 
Platz für die Zerlegung des Fleisches innerhalb desselben Lokals. Ein 
w r ie widerwärtiger Anblick ist es, wenn in unmittelbarer Nähe der an 
den Wänden hängenden Fleischstücke die Kothmassen aus den Ge¬ 
därmen entleert oder Därme getrocknet und Häute, Hörner und Hüfe 
zum Abholen aufbewahrt werden. Recht deutlich traten solche Miss¬ 
stände zu Tage gelegentlich einer im Jahre 1889 in Stade 1 ) vorge¬ 
nommenen Untersuchung der 18 Privatschlächtereien. Von diesen 
entsprachen nur 3 den in gesundheitspolizeilicher Hinsicht nothwen- 
digen Anforderungen. Alle übrigen veranlassten erhebliche Belästi¬ 
gungen und Gefahren für die Gesundheit der Nachbarn. „In 9 Schläch¬ 
tereien fehlte der zum Betriebe erforderliche Raum, Hofplätze waren 
theilweise überhaupt nicht vorhanden und die Betriebsstätten in den 
Wohnhäusern oder in kaum zugänglichen Hintergebäuden, sogar in 
einem niedrigen Keller angebracht. Die Schlachträume befanden sich 
mehrfach in einem Zustande, der genügende Reinhaltung unmöglich 
machte, dagegen augenscheinlich den Erdboden mit Fäulnissstoffen 
verunreinigte. Die Entleerung der Gruben für die Schlachtabfälle war 
durch den Platzmangel so erschwert, dass die angetroffene Ueberfiil- 
lung mit vollständig in Fäulniss übergegangenen Abfällen ebensowenig 
auffallen konnte, wie das häufige Umhertreiben von Schläehtcreiab- 
fällen in den öffentlichen Wasserläufen der Stadt.“ 

Aehnliche Verhältnisse boten die 30 in der Stadt Verden 2 ) zer- 


1) G.-B. ü. d. ö. Gesundheitswesen im Regierungsbezirk Stade. 1889—91. 
S. 146. 

2) Ebenda S. 131. 

Vierteljahrsschr. f. ger. Med. Dritte Folge. XIV. »Suppl.-Heft. | ] 


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162 


Dr. Mölilfeld, 


streuten Schlächtereien. Fast ohne Ausnahme gelangten dort die 
flüssigen Abgänge in die Häuser und auf die Strassen. Die zur Auf¬ 
nahme der Abgänge vorhandenen Behälter waren auch in den neueren 
Schlächtereien häufig so angelegt, dass sie das nöthige Gefälle nicht 
erreichten. Eine nicht unbedeutende Schweineschlächterei wurde in 
einem Winkel auf der Strasse betrieben. Nicht viel Besseres wird 
aus anderen Regierungsbezirken berichtet. 

Alle diese Uebelstände kommen durch die Errichtung eines öffent¬ 
lichen, ausschliesslich zu benutzenden Schlachthauses in Wegfall. Hier 
kann einerseits bei den Schlachtverrichtungen, da weit mehr Raum 
und Wasser zur Verfügung steht, die grösstmöglichste Sauberkeit 
herrschen, andrerseits auch die Beseitigung der Abfälle in zweck- 
mässigster Weise erfolgen, sodass von einer Verunreinigung des 
Wassers und Bodens nicht mehr die Rede sein kann. Bis vor nicht 
zu langer Zeit war man nun allgemein der Meinung, dass die Errich¬ 
tung eines öffentlichen Schlachthauses ein sehr kostspieliges Unter¬ 
nehmen sei und dasselbe sich nur in grossen, wohlhabenden Städten 
rentiren könne. Man fürchtete sowohl, dass die Entschädigung an 
die Schlachtstätteninhaber, wozu die Stadt durch das Gesetz vom 
18. März 1868 betreffend die Errichtung öffentlicher Schlachthäuser, 
verpflichtet ist, sich sehr hoch belaufen würde, als auch dass durch 
die Schlacht- und Untersuchungsgebühren, welche von den Schlächtern 
an die Schlachthof Verwaltung zu entrichten sind, eine erhebliche Stei¬ 
gerung der Fleischpreise herbeigeführt werde. Bald überzeugte man 
sich jedoch, dass diese Befürchtungen vollständig grundlos waren und 
die Schlachthäuser sich überall aufs Beste rentirten, ja an manchen 
Orten bald noch zu einer Einnahmequelle für die Stadtverwaltung 
wurden 1 ). Den Schlächtern wurde nur in äusserst seltenen Fällen 
eine Entschädigungssumme ausbezahlt, die Meisten von ihnen wurden 
dadurch von der Geltendmachung ihrer Ansprüche abgebracht, dass 
ihnen aufgegeben wurde, ihre Schlachtanlagcn, falls sie nicht Verzicht 
leisteten, so zu ändern, dass sie allen gesundheitspolizeilichen Anfor¬ 
derungen entsprächen. Auch eine Steigerung der Fleischpreise, die 
auf Errichtung von Schlachthäusern mit Einführung des Schlacht¬ 
zwanges zu beziehen gewesen wäre, trat nur in manchen Orten in 
unerheblicher Weise ein 1 ). 


1) Pfeiffer, Verwaltungs-Hygiene. S. 122. 


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Ueberwachung des Fleischhandcls auf dem Lande und in kleinen Städten. 163 


Rentabilität eines Schlachthauses in kleinen Orten. 

Nach solchen Erfahrungen war es natürlich, dass man bald da¬ 
zu schritt, auch in kleineren Städten öffentliche Schlachthäuser zu er¬ 
richten und den Schlachtzwang einzuführen. Dass sich auch diese 
gut verzinsen, beweist die im Jahre 1888 zu Arnsberg 1 ), einer Stadt 
mit rund 7000 Einwohnern errichtete Anstalt. Die Baukosten be¬ 
trugen 77000 M. einschliesslich der Kosten des Grundstücks und der 
Anlage für Beseitigung der Abfallstoffe. Letztere hat 2492 M. ge¬ 
kostet und besteht aus mehreren zu einem System verbundenen, 
wasserdicht ausgemauerten Gruben. Die festen Stoffe werden aus 
diesen abgefahren, die flüssigen gelangen, nachdem sie noch einen 
Fällungsproccss mittels Kalk und schwefelsaurem Aluminium und 
eine Filtrirvorrichtung von Koaks durchgemacht haben, schliesslich als 
klares Wasser in die Ruhr. Der Rechnungsabschluss für das Jahr 
1888/89 gestaltete sich folgcndermassen: 

I. Einnahmen. 


1. 

Gebühren. 

2828 

M. 

90 

Pf. 

2 . 

Sonstige Einnahmen. 

6 

77 

85 

77 


Summa 

2835 M. 

75 

Pf. 


II. Ausgaben. 





i. 

Verwaltungskosten. 

640 

M. 

— 

Pf. 

2. 

Betriebskosten. 

855 

77 

06 

77 

3. 

Unterhaltungskosten. 

115 

77 

38 

77 

4. 

Verzinsung und Amortisation. . . 

152 

77 

85 

77 

5. 

Zur Ansammlung eines Reservefonds 






und für unvorhergesehene Ausgaben 

1023 

77 

20 

77 


Summa 

2786 M. 

49 

Pf. 


III. Schluss der Rechnung. 




1. 

Einnahmen. 

2835 

M. 

75 

Pf. 

o 

Ausgaben. 

2786 

77 

49 

77 


Mithin Bestand 

49 

M. 

26 Pf. 


Der Schlachthof zu Schwiebus (8500 Einwohner) ist von Ost¬ 
hoff 2 ) für eine Stadt von 10000 Einwohnern entworfen. Die Kosten 
der Anlage sind zu 116000 M., also bei 10000 Einwohnern zu 11 M. 


1) G.-B. ii. d. ö. Gesundheitswesen im Regierungsbezirk Arnsberg. 1886 
bis 1888. S. 609. 

2) Osthoff, Markthallen, Schlachthöfc und Viehmärkte. Jena 1894. S. 66. 


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164 


Dr. Möhlfeld, 


60 Pf. für jeden Einwohner veranschlagt. Im Regierungsbezirk Oppeln 
ist die regierungsseitig angeregte Erbauung von öffentlichen Schlacht¬ 
häusern bereits soweit gediehen, dass sämmtliche Städte mit mehr 
als 5000 Einwohnern sich der Wohlthat eines Schlachthauses erfreuen. 
In Württemberg und Baden sind auch die meisten kleineren Städte 
mit nur 3000 Einwohnern und darunter im Besitze von Schlacht¬ 
häusern. Achnlieh verhält es sich in Elsass-Lothringcn. Hier ent- 
fallen von 69 öffentlichen Schlachthäusern 18 auf Gemeinden mit 
weniger als 2000 Einwohnern 1 ). 

Zweckentsprechende Einrichtung eines Schlachthauses 

für kleine Städte. 

Osthoff 2 ) hat in einer kleinen Schrift nachgewiesen, wie sich mit 
geringen Mitteln solche zweckentsprechende Schlachthöfe für kleine Städte 
schaffen lassen, und dass dieselben unter normalen Verhältnissen ihre An¬ 
lagekosten bei geringen Schlachtgebühren stets zu verzinsen ira Stande 
sind. Nach seinen Angaben kann die Schlachthof-Anlage für eine kleine 
Stadt nur dann mit den geringsten Kosten bei vollkommener Zweck¬ 
erfüllung zur Durchführung gelangen, wenn man die Schlachtungen 
der verschiedenen Thiergattungen in möglichst wenige Räume zu¬ 
sammendrängt und möglichst viele Räume unter einem Dach vereinigt. 
Dabei macht er jedoch ausdrücklich darauf aufmerksam, dass in jedem 
Schlachthof, so klein derselbe auch sein mag, zwei Schlachträume 
nebst Stallungen in vollständig getrennten Gebäuden für gesundes und 
krankes Vieh, dann auch noch ein gesonderter Raum zum Abstechen, 
Brühen und Enthaaren der Schweine vorhanden sein müsse, damit der 
heisse Dunst, der beim Brühen entstehe, von den zum Auskühlen 
aufgehängten Thieren fern gehalten werde. Was die Lage eines 
Schlachthauses anbetrifft, so muss dasselbe ausserhalb der Stadt, aber 
möglichst nahe dem Verkehrsmittelpunkt des Ortes liegen, und mög¬ 
lichst so, dass dasselbe nicht inmitten der zukünftigen Bebauung 
liegt. Ein das lästige Durchtreiben des Viehes durch die Städte zu 
verhüten, ist es rathsam, das Schlachthaus in die Nähe derjenigen 
Strasse zu legen, auf der das meiste Vieh angetrieben wird, oder wo 
dasselbe aus mehreren Richtungen zuströmt, diese verschiedenen 
Strassen ausserhalb der Stadt mit dem Schlachthofe zu verbinden. 


1) Ostertag, 1. c. S. 44. 

2) Osthoff, Schlachthöfe für kleine Städte. 


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Uebcrwachung des Fleischhandels auf dem Lande und in kleinen Städten. 165 

Ferner empfiehlt Osthoff 1 ), wenn möglich die Anlage durch einen 
Schienenstrang mit dem nächsten Bahnhof zu verbinden, besonders 
wenn ein Viehmarkt im Anschluss an den Schlachthof geschaffen 
werden soll. Bezüglich der Entfernung der Abgänge räth Osthoff 1 ) 
den Schlachthof in einer nicht canalisirten Stadt an den unteren Lauf 
eines Flusses zu legen, in einer canalisirten so, dass die flüssigen 
Abgänge die städtischen Kanäle möglichst wenig durchlaufen, und 
dass diese Canäle dann möglichst weit unterhalb in den Fluss gehen. 
Ist jedoch ein passendes Grundstück am unteren Laufe eines Flusses 
nicht zu bekommen, oder ist weder ein Fluss, noch ein genügend 
Wasser haltender Bach, noch eine Kanalisation vorhanden, so ist man 
nach Osthoff genöthigt, Abwässerreinigungsanstalten auf dem Schlacht¬ 
hofe anzulegen, welche nicht nur auf mechanischem, sondern auch auf che¬ 
mischem Wege die Abwässer reinigen können. Ein häufig angewendetes 
und bewährtes System ist das von Al. Friedrich und Glas in Leipzig. 
Kläranlagen, welche die festen Stoffe mechanisch aus den Abwässern 
entfernen, sind überall da nöthig, wo dieselben die städtischen Kanäle 
durchfliessen, oder wo nicht ein genügend grosser Fluss vorhanden ist. 
Für die Unterbringung und Entfernung des Düngers dürfte wohl fol¬ 
gende Anlage am zweckmässigsten sein: In dem Fussboden einer 
zum Theil seitlich offenen überdachten Plattform befinden sich eine 
oder mehrere trichterförmige Oeffnungen, unter denen eiserne Dünger¬ 
wagen stehen. In diese Fussbodenöffnungen der Plattform wird der 
Dünger geschüttet und fällt so in den Wagen. Sobald derselbe ge¬ 
füllt ist, wird er abgefahren und durch einen anderen ersetzt. Diese 
Art der Düngerabfuhr empfiehlt sich aber nur dann, wenn in der 
Nähe der Stadt Grundbesitzer vorhanden sind, welche zu jeder Zeit 
den Dünger bezw. die Abfuhrwagen abholen. Diese werden sich na¬ 
mentlich in der Umgebung von kleineren Städten, wo meist viel 
Landwirtschaft getrieben wird, fast immer finden Dann ist für 
Wasser auf dem Schlachthofe reichlich zu sorgen. Am besten ist cs, 
auf dem Schlachthofe Brunnen anzulegen, das Wasser mittels Dampf¬ 
pumpen zu heben und in ein oder mehrere Hochbehälter zu drücken. 
Damit ein Schlachthaus im Sommer möglichst kühl, im Winter mög¬ 
lichst warm ist, müssen die Mauern stark und ferner das Gebäude 
von Nord nach Süd gestellt sein, damit im Sommer die Mittagssonne 
nicht durch die Fenster dringen kann. Genügendes Tageslicht erhält 


1) Usthoff, Markthallen, Schlachthüfc und Viehmärkte. S. 2<S. 


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166 


Dr. Möhlfeld, 


man am besten durch Oberlicht. Ferner ist für gute Lüftung zu 
sorgen. Dies ist nach Osthoff 1 ) nur möglich durch systematische 
Zuführung frischer und Abführung der verdorbenen Luft, er empfiehlt 
dafür die patentirten Constructionen der Luftsauger und der Zufüh¬ 
rung erwärmter Luft für die Brühkessel von Alexander Huber in 
Köln a. Rhein. Die Fenster richtet Osthoff als Schiebefenster zum 
Oeffnen ein jedoch so, dass unten und oben ein Stück geöffnet wer¬ 
den kann, während das Mittelstück fest bleibt. Die Wände der 
Schlachthäuser werden am besten in 2,0 m Höhe in gebügeltem 
Cementmörtel verputzt oder mit glasirten hellen Ziegeln verkleidet. 
Der Fussboden muss so eingerichtet sein, dass das Wasser beim 
Reinigen rasch und vollständig abfliesst, er darf kein Schmutzwasscr 
in sich aufnehmen, auch keine Rillen und Löcher enthalten, in welchen 
Wasser und Schmutztheilc leicht Zurückbleiben. Dabei muss er fest, 
dauerhaft und zäh sein und darf beim Auffallen von schweren eisernen 
Gegenständen nicht zerspringen, auch darf er nicht glatt sein, damit 
die Schlächter bei ihrer Arbeit nicht ausgleiten. Reparaturen müssen 
leicht auszuführen sein. Alle diese Eigenschaften hat nach Osthoff 2 ) 
ein Cementfussboden, der aber nicht geglättet, sondern nur mit höl¬ 
zernen Kellen rauh abgerieben wird. Zum Dach der Schlachthallen 
empfiehlt sich Holzcement, welcher sehr dick ist, Wärme und Kälte 
abhält und sehr wenig Reparaturen erfordert. Was die weitere innere 
Einrichtung der Schlachträume anbetrifft,so ist das dcutscheHallensystem 
dem französischen Zellensystem vorzuziehen, ein Mal aus Billigkeitsrück¬ 
sichten, ferner auch noch weil letzteres ira Vergleich mit dem deutschen 
System erhebliche Nachtheile, namentlich in Bezug auf die Ueberwachung 
der Schlachtungen und der Reinhaltung der Schlachträume hat. Dann ist 
es ein Haupterforderniss auch für kleine Schlachthöfe, dass besondere 
Kühlräumc zur Aufbewahrung des Fleisches vorhanden sind, aus welcher 
die Schlächter nur immer den nöthigen Tagesbedarf entnehmen dürfen. 
Hierdurch wird längeres Lagern von Fleisch in den Häusern der 
Schlächter vermieden, wo es oft in dunklen, dumpfigen Kellern auf 
zweifelhaften Eiskästen aufbewahrt wird und schon nach kurzer Zeit 
an Widerstandsfähigkeit verliert und einen üblen Geruch und ein 
schlechtes Aussehen annimmt. In früherer Zeit erbaute man Eis¬ 
keller, um das Fleisch im Sommer vor Verderben zu schützen, er- 


1) Osthoff, Schlachthüfe für kleine und mittelgrosse Städte. S. 35. 

2) Osthoff, Markthallen, Schlaehthöfe und Viehmärkte. S. 31. 


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Ueberwachung des Fleischhandels auf dem Lande und in kleinen Städten.- 167 

reichte dies aber nur in sehr unvollkommener Weise, da das Fleisch 
sich schon nach wenigen Tagen mit einem feuchten Schimmel über¬ 
zog und an Güte abuahm. Jetzt dagegen hat man sehr zweckmässige 
Maschinen construirt, durch welche die Luft in den Kühlhäusern künst¬ 
lich abgekühlt und getrocknet wird. Fleisch hält sich am längsten, 
wenn es in einer trockenen Luft bei einer Temperatur von -f- 2° 
bis -f- 5°C. aufbewahrt wird. Eine gute Kühlcinrichtung muss nun 
zwei Bedingungen erfüllen: 1 die Kühlhausluft auf diese Temperatur 
abkühlen, 2. dieselbe zugleich von ihren Wasserdämpfen soweit be¬ 
freien, dass sie im Stande ist, die Feuchtigkeit aufzunehmen, welche 
das zu kühlende Fleisch bei der Abkühlung von sich giebt. Diese 
Bedingungen werden erfüllt durch die Linde’schen Eismaschinen in 
Wiesbaden, welche sich nach Ansicht vieler Sachverständiger durch 
vorzügliche Wirkung und geringen Aufwand auszeichnen sollen. Der 
Kühlraum selbst, in welchem durch die Kühleinrichtungen entweder 
die Luft abgekühlt oder in welchen abgekühlte Luft eingetrieben wird, 
soll 3 Bedingungen erfüllen: 

1. der innere Raum soll so eingerichtet sein, dass das Fleisch 
darin und zwar am besten in verschlossenen Zellen bequem aufge¬ 
hängt werden kann; 

2. die Zellen und der innere Kühlraum müssen so beschaffen 
sein, dass die kalte Luft den ganzen Raum durchstreichen und das 
Fleisch von allen Seiten umspülen kann; 

3. die Aussenwände, die Fenster und Thüren müssen so con¬ 
struirt sein, dass ein Tcmperaturausgleich zwischen der äusseren und 
der inneren Luft in möglichst geringem Maassc stattfinden kann. 

Aus diesen Gründen ist der innere Kühlraum als möglichst freier 
Raum zu construiren und nur durch eiserne Säulen, nicht aber durch 
Wände zu unterbrechen. 

Dass durch eine solche Kühlanlage eine Schlachthofanlage sich 
zwar vertheuert, ist einleuchtend, doch ist, wie Osthoff nachgewiesen 
hat, diese Vertheuerung nicht derartig, dass man in kleinen Städten 
von einer solchen Anlage absehen muss. Auch in kleinen Städten 
können sowohl die jährlichen Ausgaben für die Kühlanlage, als auch 
eine 4procentige Verzinsung des Anlagekapitals durch Miethe für den 
Kühlraum vollständig gedeckt werden. Die folgende nach Osthoff 
aufgestellte Tabelle giebt ein Bild, wie sich Schlachthöfc mit und 
ohne Kühlanlagen in kleinen und mittleren Städten verzinsen. 


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168 


ßr. Möhlfeld, 


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Oü'CO’OOiOOOOttOO^OO-lCLO' 

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oooooooooooooooo 

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Einwohnerzahl der Stadt 

40 000 
48 000 
52 000 
60 000 
67 000 
70 000 
84 000 
112 000 
135 000 
160 000 
200 000 
240 000 
280 000 
320 000 
360 000 
400 000 

s 

Kosten des Schlachthofes 
ohne Kühlanlage 

IO tc U) W U) W U» ^ ^ CR Ü» O O O 

oooooooooooooooo 

oooooooooooooooo 

oooooooooooooooo 

K 

Kosten der Kühlanlage 
(mit Kühlraum) 

60 000 

68 000 

72 000 

85 000 

92 000 

95 000 
118 000 
146 000 
177 000 
202 000 
262 000 
302 000 
342 000 
402 000 
442 000 
482 000 

K 

Gesammtkosteo 

05 03 t>0 *© t>D 'L i-» ►-* 

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Jährliche Ausgaben des 
Schlachthofcs ohne Kühl¬ 
anlage 

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Jährliche Ausgaben für die 
Kühlanlage bei 6 Monaten 
Betriebsdauer 

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Summe der jährlichen Aus¬ 
gaben eines Schlachthofes 
mit Kühlanlage 

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aus dem Schlacht¬ 
hofe ohne Kühl¬ 
anlage 

Jährliche 

Einnahmen 

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aus der Kühlanlage 

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Summe der jährlichen 
Einnahmen 

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Jährlicher Gewinnüber¬ 
schuss des Schlachthofcs 
ohne Kühlanlage 

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Verzinsung des Anlage- 
Capitals 

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Jährlicher Gewinnüber¬ 
schuss des Schlachthofes 
mit Kühlanlage 

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Verzinsung des Anlage- 
Capital s 


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Jährliche Verzinsung eines Schlachthofes mit und ohne Kühlanlage. 



Ueberwachung des Fleischhandels auf dem Lande und in kleinen Städten. 1G9 


Freibankfrage. 

Ferner ist es auch für kleinere Orte noch ein wesentliches Er¬ 
forderniss, mit dem Schlachthof eine Freibank zu verbinden. Wenn 
auch die Zahl der kranken Thiere keine sehr grosse ist, so darf man 
trotzdem nach Bo Hing er 1 ) dem durch die Schlachtthiere repräsen- 
tirten Theile des nationalen Vermögens doch nur soviel durch Con- 
liscation entziehen, als unbedingt zum Schutze der menschlichen Ge¬ 
sundheit erforderlich ist. Dass dennoch, wenn auch überall in Deutsch¬ 
land Freibänke oder freibankähnliche Einrichtungen beständen, noch 
jährlich viele Millionen Mark in Form schlechten Fleisches wegge¬ 
worfen würden, kann man schon aus der Zahl der auf dem Central¬ 
viehhof in Berlin beanstandeten Thiere ersehen. Vom 1. April 185)1 
bis 30. März 1892 2 3 * ) wurden daselbst nach der Schlachtung wegen 
verschiedener Krankheiten beanstandet und nicht zum Verkauf zuge¬ 
lassen, sondern meist der Abdeckerei überwiesen: 

Rinder . . . 1819, 

Kälber ... 180, 

Schafe . . . 111, 

Schweine . . 5049. 

Nimmt man nun das Fleischgewicht eines Rindes zu 200 kg, eines 
Kalbes zu 25 kg, eines Schafes zu 15 kg und eines Schweines zu 
110 kg, ferner die Kosten für 1 kg Fleischgewicht vom Rind zu 2 M., 
vom Kalb zu 1,20 M., vom Schaf zu 1,20 M. und vom Schwein zu 
1,40 M. an, dann sind nach dieser Annahme im Jahre 1891/92 
1512544 M. in Berlin in Form von schlechtem Fleisch weggeworfen. 
Der Werth des im Jahre 1889 im Greifswalder 8 ) Schlachthause ver¬ 
worfenen Fleisches beläuft sich auf 14—15000 M. Könnte man eine 
solche Berechnung für ganz Deutschland anstellen, so kämen viele 
Millionen Mark heraus, und die obige Forderung von Bollinger hat 
demnach ihre volle Berechtigung. Zudem ist man auch vom socialen 
Standpunkte aus verpflichtet, bei den gegenwärtigen hohen Fleisch- 
preisen auch den Haushaltungen unbemittelter Stände eine möglichst 
billige und dabei gesunde Fleischnahrung zu beschaffen. Dieses ist 

1) Ueber die Verwendbarkeit des anlnfectionskrankheiten leidenden Schlacht¬ 
viehes. Diese Vierteljahrsschr. 1891. S. 95. 

2) Das öffentliche Gesundheitswesen und seine Ueberwachung in Berlin. 
1889-91. S. 132. 

3) G.-B. ü. d. ö. Gesundheitswesen im Regierungsbezirk Stralsund. 1889 

bis 1891. S. 70. 


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Dr. Möhlfeld, 


nun leicht möglich, da nach bekannten Thatsachen und wissenschaft¬ 
lichen Erfahrungen feststeht, dass nicht jede Erkrankung der Schlacht- 
thiere das Fleisch vom Genuss ausschliesst, sondern dass dasselbe 
noch sehr oft, häufig allerdings im gekochten Zustande zum mensch¬ 
lichen Consum zugelassen werden kann. Wo nun überhaupt Schlacht¬ 
höfe bestehen, ist cs am empfehlenswerthesten, den Verkauf dieses 
minderwerthigen Fleisches nur hier zu gestatten, da es in den Häusern 
der Schlächter sehr leicht als vollwerthige, bankwürdige Waare ver¬ 
kauft werden könnte. In den Schlachthöfen aber bietet die amtliche 
Controle die Garantie, dass solches Fleisch zu niedrigem Preise und 
unter der ausdrücklichen Angabe der fehlerhaften Beschaffenheit even¬ 
tuell nur in gekochtem Zustande oder doch mit der Mahnung verkauft 
wird, dasselbe nur nach gehörigem Kochen zu geniessen. 

Da in kleinen Städten und deren Umgebung viele Leute, und 
gerade wenig bemittelte, sich ein bis zwei Stück Vieh halten, so liesse 
sich mit der Freibank noch die Einrichtung treffen, dass jeder Be¬ 
sitzer im Fall einer Nothschlachtung, die womöglich immer im 
Schlachthofe stattzufinden hat, das Fleisch selbst auf der Freibank zu 
vorgeschriebenem Preise verkaufen kann, wenn es zum Genüsse zu¬ 
lässig befunden ist. Auf diese Weise kann ein Besitzer häufig noch 
eine ganz ansehnliche Summe aus einem solchen Stück Vieh heraus¬ 
schlagen, während ihn auf andere Weise ein weit grösserer Verlust 
treffen würde. Ein betrügerischer Zwischenhandel mit nicht bank¬ 
würdigem Fleische wird in kleinen Städten schon durch die gegen¬ 
seitige Controle der Einwohner verhindert, trotzdem ist immerhin an- 
zurathen, den Verkauf nur in kleinen Quantitäten zu 3—5 kg zu 
gestatten und Schlächter, Händler, Wirthe und eventuelle Beauftragte 
dieser Personen vom Erwerbe dieses Fleisches auszuschliesscn. Dass 
die Einrichtung einer Freibank sich auch in kleinen Schlachthöfen be¬ 
währt, beweisen im Regierungsbezirk Königsberg: Heiligenbeil (3761 Ein¬ 
wohner), Labiau (4862 Einwohner), Guttstadt (4503 Einwohner), im 
Regierungsbezirk Hildesheim: Münden (7220 Einwohner), Osterode am 
Harz (6757 Einwohner), Northeim (6694 Einwohner), Orte, wo über¬ 
all Schlachthäuser mit Freibank oder freibankähnlicher Einrichtung 
bestehen. Ebenso wird aus dem Regierungsbezirk Oppeln berichtet 1 ), 


1) G.-ß. ü. (I. ü. Gesundheitswesen im Regierungsbezirk Oppeln. 18S9 -91. 


S. 95. 


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Ueberwachung ries Fleischhandels auf dem Lande und in kleinen Städten. 171 


dass die in den dortigen Schlachthäusern vorhandenen Freibänke sich 
grosser Beliebtheit in der ärmeren Bevölkerung erfreuen. Bei der 
Freibankfrage für kleine Städte sei nochmals hervorgehoben, dass die¬ 
selbe sich schon aus dem Grunde besonders für kleine Städte eignet, 
weil man den Verbleib des Fleisches besser als in grossen Städten 
controliren kann. 

Spccielle Massnahmen zur Verhütung weiterer Erkran¬ 
kungen von Schlachtthieren. 

Feber die in den Schlachthäusern entdeckte Erkrankung des 
Schlachtviehes sollte jede Schlachthausverwaltung den Besitzern oder 
Züchtern des Viehes Mittheilung machen, um diese in den Stand zu 
setzen, die zur Tilgung sowie zur Verhütung der Verbreitung der 
Krankheit geeigneten Massregeln zu treffen. In der Provinz Schleswig- 
Holstein 1 ) geschieht dies auf Anordnung der Königlichen Regierung 
auch schon in soweit, als die Schlachthaus-Verwaltungen angewiesen 
sind, von jedem Fall von Tuberculose dem Verkäufer oder Züchter 
des Viehes eine genaue Mittheilung zu machen. 

Unter wessen Leitung sollen Schlachthäuser in kleinen 

Orten stehen? 

Der Leiter eines solchen Schlachthofes soll womöglich immer 
ein Thierarzt sein. Wo in kleinen Orten die Verhältnisse dies nicht 
gestatten und die Leitung einem Laien übertragen werden muss, da 
ist auf jeden Fall die Einrichtung empfehlenswerth, dass ein Thier¬ 
arzt im Nebenamte angestellt wird, der an den Schlachttagen die 
Untersuchung der Thiere auszuführen hat. Nur so erhält das Publi¬ 
cum die Garantie, dass eine sachgemässe Untersuchung der Schlacht- 
thierc stattfindet. 

Auch bezüglich des Kostenpunktes ist cs vorteilhafter, die 
Untersuchung durch einen Thierarzt vornehmen zu lassen, da so die 
Ausgaben fortfallen, die durch die jedenfalls sehr häufig vorkommen¬ 
den tierärztlichen Superrevisionen entstehen würden, wenn die Unter¬ 
suchung von einem empirisch vorgebildeten Laien ausgeführt wird. 


1) G.-B. ii. (1. ö. Gesundheitswesen in der Provinz Schleswig-Holstein. 
188G—88. S. 137. 


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Dr. Möhlfeld, 


Ucberwachung der Einfuhr von ausgeschlachtetem Fleisch 
in Orten mit Schlachthäusern. 

Von grosser Wichtigkeit ist nun noch für Städte mit Schlacht¬ 
häusern, die Einfuhr von auswärts geschlachtetem Fleisch möglichst 
streng zu überwachen, um der Möglichkeit vorzubeugen, dass Fleisch 
von kranken Thieren eingeführt und hierdurch nicht nur die Gesund¬ 
heit gefährdet, sondern auch noch den einheimischen Schlächtern eine 
nicht zu ertragende Concurrenz bereitet wird. Wenn daher die städti¬ 
schen Behörden das Bestreben haben, die Einfuhr von auswärts ge¬ 
schlachtetem Fleisch möglichst zu erschweren und den Fleischhandel 
mehr und mehr im Orte selbst zu centralisiren, so ist dies Bestreben 
im öffentlichen Gesundheitsinteresse und zur Ausübung einer wirk¬ 
samen Ueberwachung des Fleischhandels als sehr erwünscht za be¬ 
zeichnen. Um die Einfuhr von krankem Fleisch möglichst zu ver¬ 
hindern, ist die Bestimmung sehr empfehlenswerth, dass auswärts 
geschlachtetes Fleisch nur in Hälften oder Vierteln womöglich aber 
noch im Zusammenhänge mit den Eingeweiden eingeführt werden 
darf, und dann von einem amtlichen Fleischbeschauer zu untersuchen 
ist. In der Stadt Eberswalde ist bezüglich des von auswärts einge- 
brachten Fleisches durch ein Regulativ von 1887 1 ) die sehr beachtens- 
werthe Bestimmung getroffen, dass Jeder, welcher frisches Fleisch in 
die Stadt bringt, um es zu verkaufen, in Gast-, Schank- oder Speise- 
wirthschaften zum Genuss für Gäste zuzubereiten, der Polizeibehörde 
dieses anzeigen und den Nachweis führen muss, dass das Fleisch in 
dem städtischen oder einem anderen öffentlichen Schlachthause hin¬ 
sichtlich seiner gesunden Beschaffenheit untersucht worden ist. An 
der Verkaufsstelle müssen in deutlicher 8 cm grosser Schrift mit 
weisser Oelfarbe auf schwarzer Tafel die Worte „auswärts geschlachtet“ 
angebracht sein, ebenso an den Transportmitteln bei dem Einbringen. 
Die Ausfuhr von gesundheitsschädlichem Fleisch wird in Orten mit 
Schlachthäusern durch die Bestimmung verhindert, dass dasselbe aus 
dem Schlachthof nicht entfernt werden darf. Hier ist noch zu er¬ 
wähnen, dass auch bei dem Transport des Fleisches an vielen Orten 
sich grosse Uebelstände gezeigt haben, indem das Fleisch häufig auf 
unsauberen Wagen den nachtheiligen Einflüssen der Witterung, des 
Staubes und Ungeziefers ungeschützt über grössere Wegestrecken aus- 


1) G.-B. ü. cf. ö. Gesundheitswesen im Regierungsbezirk Potsdam. 188(5 
bis 1888. S. 91. 


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Ueberwachung dos Flcisclihandels auf dem Lande und in kleinen Städten. 173 


gesetzt wird. Diesem Lnfugc muss durch eine Polizei-Verordnung 
Abhülfe geschaffen werden. Sehr empfehlenswerth ist in dieser Be¬ 
ziehung die im Regierungsbezirk Oppeln 1 ) im Jahre 1886 erlassene 
Verfügung. Dieselbe bestimmt, dass die zum Fleischtransport ver¬ 
wendeten Gefühlte mit Zinkblech oder verzinntem Eisenblech innen 
auszuschlagen, nach jedesmaligem Gebrauch sauber zu reinigen und 
zum gleichzeitigem Transport anderer Gegenstände nicht zu verwen¬ 
den sind. Ausserdem wird das Sitzen auf und neben dem Fleische 
untersagt und die Bedeckung des Fleisches beim Transport auf 
offenen Wagen oder Austragen auf der Schulter mit einem reinen 
leinenen Tuche angeordnet. Ausserdem wäre noch anzuordnen, dass 
bei Regenwetter das Fleisch auch noch mit einem wasserdichten Stoffe 
zu bedecken wäre. 

Leberwachung des Fleischhandels in Orten ohne Schlacht¬ 
häuser durch Anstellung von amtlichen Fleischbeschauern. 

Was nun die Ueberwachung des Fleischhandels auf dem Lande 
und in ganz kleinen Städten anbetrifft, so muss man hier natürlich 
von der Erbauung öffentlicher Schlachthäuser absehen, da sie bei dem 
geringen Schlachtbetriebe doch zu wenig benutzt würden, um sich 
einigermassen bezahlt zu machen. Die untere Grenze der Einwohner¬ 
zahl, bis zu der die Errichtung öffentlicher Schlachthäuser anzustreben 
wäre, lässt sich nicht genau angeben, da sich dieses zum grössten 
Theil nach den localen Verhältnissen richtet. Wenn im Grossen und 
Ganzen auch der Schlachtbetrieb zu der Einwohnerzahl im geraden 
Verhältniss steht, so wird sich doch in allerdings kleinen, aber ver¬ 
kehrsreichen Orten, wo vielleicht noch starker Exporthandel mit aus¬ 
geschlachtetem Fleisch betrieben wird (Gütersloh: westfälischer Schin¬ 
ken, Aurich, Norden: ostfriesisches Fleisch), weit eher die Anlage 
eines Schlachthauses rentiren, als in Ortschaften mit oft bedeutend 
grösserer Einwohnerzahl, die aber abgeschlossen liegen und keinen 
Handel und Verkehr haben, ln dicht bevölkerten Gegenden, wo viele 
kleinere Ortschaften zusammenliegen, empfiehlt es sich ferner noch, 
dass sich mehrere derselben zusammenthun und einen gemeinschaft¬ 
lichen Schlachthof erbauen. Auf diese Weise können in manchen 


1) G.-B. ü. <1. ö. Gesundheitswesen im Regierungsbezirk Oppeln. 1886—91. 

8. 93. 


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Dr. Mülilfeld, 

Gegenden selbst die kleinsten Gemeinden die Vortheile eines Schlacht¬ 
hauses gemessen. Wo es nun nicht möglich ist. Schlachthäuser zu 
errichten, geschieht die Ueberwachung des Fleischhandels am besten 
nach Analogie der in Süddeutschland mit grossem Erfolge durchge¬ 
führten Einrichtungen. 

Hiernach ist cs vor allem erforderlich, die obligatorische Fleisch¬ 
beschau überall streng durch zu führen, so dass auch in Gegenden ohne 
Schlachthäuser jedes zum Genuss für Menschen bestimmte Sehlacht- 
thicr vor und nach dem Schlachten untersucht wird. 

In Ortschaften, wo ein Thierarzt seinen Sitz hat, ist dieser in 
erster Linie zur Wahrnehmung der Fleischschau zu berufen, da er 
die competcntestc Persönlichkeit dazu ist. In Süddeutschland ist 
daher auch die Verordnung 1 ) getroffen, dass Ausnahmen hiervon nur 
mit Genehmigung der Regierung gemacht werden dürfen. Wo in 
kleinen Orten ein Thierarzt nicht vorhanden ist, ist man gezwungen, 
um die obligatorische Fleischschau auch hier durchführen zu können, 
empirische Fleischbeschauer anzustellen, in ähnlicher Weise wie dies 
bei der Trichinenschau der Fall ist. Bei der Auswahl der zu einem 
solchen Amte passenden Person, ist sowohl auf Zuverlässigkeit und 
Charakterfestigkeit, als auch auf Intelligenz und eine gewisse Summe 
von Schulkenntnissen möglichst Rücksicht zu nehmen. 

Von vornherein auszuschliessen sind, ähnlich wie in Süddcutsch- 
land, Viehversicherungsagenten und Schlächter, da bei diesen immer 
die Gefahr vorhanden ist, dass sie die Interessen der Versicherungs¬ 
gesellschaft beziehungsweise ihrer Berufsgenossen mehr im Auge 
haben, als das öffentliche Wohl und so leicht zur Verletzung ihrer 
Amtspflichten kommen können. 

Bezahlung der Fleischbeschaucr. 

In manchen Gegenden wird die Personalfrage nun gewiss auf 
Schwierigkeiten stossen, wie dies auch schon so häufig bei der Wahl 
eines Trichinenschauers der Fall ist. Um diese Schwierigkeit zu über¬ 
winden und möglichst geeignete Leute für dieses Fach zu gewinnen, ist cs 
wohl vor allem geboten, die Fleischbeschauer so gut wie möglich zu be¬ 
zahlen. Wenn in dem bayrischen Kreise Oberfranken die Gebühren für 
die Untersuchung eines grossen Schlachthieres 24 Pf., eines kleinen 
12 Pf. betragen und diese in eineinen Orten durch allgemeinen Brauch 


1) Ostertag, 1. c. S. 60. 


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Ucberwachung dos Fleischhandels auf dem Lande und in kleinen Städten. 175 

noch auf 20 Pf. resp. 10 Pf. heruntergedrückt sind 1 ), so nimmt es 
bei einer solchen Bezahlung nicht Wunder, wenn der Fleischbeschauer¬ 
stand sehr in Misscredit kommt und sich nur schwer eine geeignete 
Person dazu bereit findet. Desshalb ist alles daran zu setzen, dass 
die Fleischbeschauer eine gute Bezahlung für ihre Thätigkeit erhalten. 
Als angemessene Gebühr für eine wirklich gewissenhafte Untersuchung 
eines Stück Kleinviehes sind 50 Pf., eines Stück Grossviehes 2 M. 
zu bezeichnen, Sätze wie sie durch einzelne Gemeindefleischbeschau¬ 
verordnungen in der Rheinprovinz eingeführt sind 2 ). Für Unter¬ 
suchungen ausserhalb des Wohnortes muss der Fleischbeschauer ent¬ 
sprechende Kilometergelder erhalten, wie es auch die Verfügung für 
Hessen-Nassau vom 1. Juli 1892 vorschrcibt. Um Konflikte und 
Unterschleife zu vermeiden, erfolgt die Bezahlung am besten, wie es 
in Baden 3 ) schon lange üblich ist, aus der Gemeindekasse, welche 
ihrerseits wieder die Beiträge für die Untersuchungen von den be¬ 
treffenden Gemeindemitgliedern einzieht. 

Ausbildung von empirischen Fleischbeschauern. 

Die Ausbildung der empirischen Fleischbeschauer geschieht wohl 
am gründlichsten in Cursen, die in regelmässigen Zwischenräumen 
unter thierärztlicher Leitung an öffentlichen Schlachthäusern abgc- 
halten werden. Die Zulassung zur Ausbildung darf, ähnlich wie bei 
den Hebammenaspirantinnen nur erfolgen auf Grund zweier amtlicher 
Nachweise, vom Kreisphysikus über die allgemeine Befähigung zum 
Amt eines Fleischbeschauers, von der Polizeibehörde über die dazu 
erforderliche Zuverlässigkeit und Unbescholtenheit. Auf diese Weise 
ist es möglich, ungeeignete Elemente von vornherein vom Fleischbc- 
schauerberuf fernzuhalten. Die Kurse selbst dürfen nicht zu kurz 
sein und müssen nach Ostertag 4 ) mindestens 6 Wochen betragen. 
Empfehlenswerth ist es wohl, wenn die betreffenden Personen dann 
auch zugleich als Trichinenschauer ausgebildet werden, so dass ihnen 
später in einem Orte die gesammte Fleischschau übertragen werden 
kann. Hierdurch wird die Sache sehr vereinfacht, und werden auch 

1) Lebrecht, Die Fleischbeschau auf dem Lande und Vorschläge zu deren 
Verbesserung. Zeitschr. f. Fleisch- u. Milchhygiene. 1892. S. 170. 

2) Ostertag, 1. c. S. 117. 

3) Maier, Die Fleischbeschau auf dem Lande. Zeitschr. f. Fleisch- und 
Milchhygiene. 1892. S. 191. 

4) Ostertag, 1. c. S. 114. 


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Dr. Mrthlfcld, 

noch die Einkünfte der Fleisch beschau er bedeutend erhöht, so dass 
dieses Amt don Charakter einer blossen Nebenbeschäftigung mehr 
und mehr verliert, ein Umstand, der, wie Bleisch 1 ) mit Recht her- 
vorhebt, die Lösung der Pcrsonalfrage in vielen Ortschaften wesentlich 
erleichtert. Aus demselben Grunde hat auch die Kosten der Aus¬ 
bildung am besten die Gemeinde zu tragen. Am Schluss der Cursc 
hat eine Prüfung stattzufinden. Bleisch 1 ) macht den bemerkens- 
werthen Vorschlag, dass dieselbe am besten vor einer Kommission 
bestehend aus dem Leiter der Curse, einem beamteten Thierarzt und 
einem Krcisphysikus abgehalten wird, und der Kandidat darin nach- 
weisen muss, dass er sich folgende Kenntnisse in genügender Weise 
ungeeignet hat: 

1. Kenntnisse der einschlägigen Gesetze, Verordnungen und In¬ 
struktionen. 

2. Kenntnisse der einzelnen Körpcrtheile der Schlachtthierc und 
ihrer Benennung. 

3. Kenntniss der Alters- und Gesundheitszcichen der einzelnen 
Schlachtthierc. 

4. Kenntniss der hauptsächlichsten Merkmale der Krankheiten 
der Schlachtthierc am lebenden und am todten Thierc, sowie 
ihrer Beurtheilung im Sinne der Begriffe: „gesundheitsschäd¬ 
lich“, „verdorben“, „nicht bankwürdig“. 

5. Kenntniss der Merkmale derjenigen Veränderungen, denen 
das Fleisch nach dem Tode ausgesetzt ist, und ihrer Beur¬ 
theilung im Sinne der Begriffe: „gesundheitsschädlich“, „ver¬ 
dorben“, „verfälscht“ und „nachgemacht“. 

6. Kenntniss der wichtigeren Thierkrankheiten, insbesondere des 
Milzbrandes, der Tollwuth, des Rotzes, der Rinderpest, der 
Lungen-, Maul- und Klauenseuche. 

All’ diese Kenntnisse von einem Laienfleischbeschauer zu ver¬ 
langen, ist wohl etwas zu weit gegangen, da er doch immer nur be¬ 
schränktes Entscheidungsrecht haben darf. Genügend ist jedenfalls, 
wenn seine Kenntnisse den Anforderungen der Punkte 1, 2, 3 und 4 
entsprechen, soweit sie sich auf die hauptsächlichsten Merkmale der 
Krankheiten am lebenden und am todten Thiere erstrecken. Dazu 


1) Bleisch, Die Aufgaben und die Organisation einer obligatorischen Fleisch¬ 
beschau etc. Diese Yiertcljahrsschr. 1891. Bd. II. S. 105. 


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Ucbcnvacliung des Fleiselihandels auf dem Lande und in kleinen Städten. 177 


kämen dann noch die zur Trichinenschau erforderliche Kenntniss und 
Technik. 

Anstellung und Thätigkcit der Fleischbcschauer. 

Die Anstellung der Fleischbeschauer muss für einen bestimmt 
abgegrenzten Bezirk durch den Landrath und im Interesse der Disci- 
plin auf Widerruf erfolgen. Um ihre Verantwortlichkeit zu erhöhen 
und zum Schutze gegen etwaigen Widerstand der Schlächter ist ihnen 
die Eigenschaft relativer Polizeibeamtcr zu verleihen, wie dies auch 
in einzelnen süddeutschen Staaten durchgeführt ist 1 ). Jede beabsich¬ 
tigte Schlachtung muss nun früh genug dem Fleischbeschauer ange¬ 
meldet werden, und dieser ist verpflichtet, innerhalb einer gewissen 
Zeit auf der Schlachtstätte zu erscheinen. Sollte er verhindert sein, 
so muss für Vertretung, am besten durch den Fleischbcschauer des 
nächstliegenden Bezirkes, gesorgt sein. Der Fleischbeschauer hat nun 
das Schlachtthier vor und nach dem Schlachten genau zu untersuchen, 
Für diese Beschau empfiehlt Ostertag 2 ) ganz zweckmässig, einen 
ein für allemal einzuhaltenden Untersuchungsraodus vorzuschreiben. 

Beschränktes Entscheidungsrecht der empirischen 
Fleischbeschauer. 

Den empirischen Fleischbeschauern kann natürlich, entsprechend 
ihren begrenzten Kenntnissen auch nur beschränktes Entscheidungs¬ 
recht zuerkannt werden. Sie dürfen nur bei völlig gesunden Thieren 
und in gewissen Fällen von Erkrankungen eine Entscheidung treffen. 
Diese Fälle sind ihnen in ihren Vorschriften über die Ausführung 
der Fleischbeschau genau namhaft zu machen. Ostertag 3 ) macht 
den empfehlenswerthen Vorschlag den Empirikern in folgenden Fällen 
selbstständige Entscheidung zu gestatten: 

1. bei durch Eingeweidewürmer verursachten Veränderungen, mit 
Ausnahme der Zungen-, Herz-, Gehirn- und Muskelfinnen; 

2. bei rein bindegewebigen Verwachsungen von Organen ohne 
Eiterung und übelriechende wässerige Ergüsse; 

3. bei localen abgekapselten Abscesscn — ausschliesslich der- 


1) Ostertag, 1. c. S. 60. 

2) Ostertag, 1. c. S. 151. 

3) Ostertag, 1. c. S. 63. 

Viorleljahrssclir. f. ger. Mod. Dritte Folge. XIV. »Suppl.-Helt. 12 


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Dr. Möhlfeld, 


j eiligen in der Gebärmutter und Musculatur — und localen 
Geschwüren; 

4. bei localer Aktinomykose; 

5. bei localer Tuberculose. 

Für alle übrigen Krankheitsfälle ist den empirischen Fleischbe¬ 
schauern vorzuschreiben, durch Vermittelung der Ortspolizeibehörde 
die Entscheidung eines Thierarztes herbeizuführen. Insbesondere muss 
dies, wie überall in Staaten mit obligatorischer Fleischbeschau einge¬ 
führt ist, für alle Nothschlachtungen geschehen, nur wo schwere Ver¬ 
letzungen oder Geburtshindernisse bei vorher gesunden Thieren die 
Schlachtung bedingen, kann man auch den empirischen Fleischbe¬ 
schauern Entscheidungsrecht zuerkennen, wenn die Schlachtung als¬ 
bald stattfindet. Ferner muss die Untersuchung vor und nach dem 
Schlachten von Pferden, Maulthieren und Eseln auf jeden Fall von 
einem Thierarzt ausgeführt werden, wie es auch in der Provinz 
Hessen-Nassau vorgeschrieben ist. Bemerkenswerth hierbei ist noch, 
dass das Fleisch der mit Kreuzschlag — Lumbago — behafteten 
gcnothschlachtetcn Pferde auf jeden Fall von der Zulassung zum 
Genüsse für Menschen auszuschliessen ist, da es, wie der folgende 
Fall zeigt, schon schwere Vergiftungserscheinungen hervorgerufen hat. 

In Altena 1 ) in Westfalen erkrankten im Jahre 1891 im Ganzen 
20 Personen nach dem Genuss von Pferdefleisch, von denen einer, 
welcher sehr viel von dem rohen Fleisch genossen hatte, nach drei¬ 
tägigem Krankenlager starb. Die Krankheit hatte begonnen mit 
Schüttelfrösten, hohem Fieber, dem sich Erbrechen, Durchfälle und 
schliesslich Bewusstlosigkeit anschlossen. Am schwersten wurden die¬ 
jenigen ergriffen, welche das Fleisch in rohem Zustande verzehrt 
weniger diejenigen, welche es gebraten oder gekocht genossen hatten. 
Das betreffende Pferd war wegen Lumbago genothschlachtet und ohne 
Weiteres, obgleich der Schlachthaus-Inspector, ein approbirter Thier- 
arzt, das schwerkrank damiederliegende Thier untersucht hatte, dem 
Verkehr überlassen worden, indem der Inspector von der Ansicht 
ausging, dass derartiges Fleisch nicht zu beanstanden sei. Die nähere 
Untersuchung des Fleisches war ohne Ergebniss abgesehen davon, 
dass dasselbe von sehr mürber Beschaffenheit war und die querge- 


1) G.-B. ü. d. ö. Gesundheitswesen im Regierungsbezirk Arnsberg. 1889 
bis 1891. S. 97. 


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Uebervvachung des Fleischhandels auf dem Lande und in kleinen Städten. 179 


streiften Muskeln die Querstreifung erösstentheils verloren hatten. 
Zur Vermeidung der Wiederkehr jener unglücklichen Begebenheit 
wurde durch Rund-Verfügung des Regierungspräsidenten angeordnet, 
dass das Fleisch der mit Lumbago behafteten Pferde von der Zu¬ 
lassung zum Genuss für Menschen auszuschliessen sei. Nur in den¬ 
jenigen Fällen, in welchen das betreffende Pferd zwar zur Genesung 
gekommen ist, jedoch eine theilweise Lähmung geringen Grades zu¬ 
rückbehalten hat und wegen der Unbrauchbarkeit die Abschlachtung 
nachträglich in Frage kommt und die Gefahr der Uebcrtragung daher 
nicht mehr vorliegt, ist der Genuss des Fleisches gestattet, falls dies 
nicht aus anderweitigen Gründen verboten ist. 

Jeder Fleischbeschauer hat ein Tagebuch zu führen, in das er 
jede Untersuchung genau einzutragen hat, ebenso auch in ein ent¬ 
sprechendes Controlbuch der Schlächter. Bei Schlachtungen für den 
Privatgebrauch erhält der Besitzer in ähnlicher Weise eine Bescheini¬ 
gung über das Resultat der Untersuchung. 

Ueberwachung des Verkehrs mit nicht-bankwiirdigem 
Fleisch in Orten ohne Schlachthäuser. 

Durch verschiedene Stempelung ist bankwürdiges und nicht-bank- 
wiirdigesFleisch von einander zu scheiden. Jede nicht-bankwürdigeWaare 
darf in den Schlächterladen nur streng gesondert von der bankwürdigen 
aufbewahrt und verkauft werden und muss einen mit der Unterschrift 
des Fleischbeschauers versehenen Vermerk über die Nichtbankwürdig¬ 
keit und die Ursache derselben tragen. Um das Publicum in einem 
Schlächterladen sogleich darauf aufmerksam zu machen, dass hier 
nicht-bankwürdiges Fleisch feilgehalten wird, muss in dem Laden 
ein ebenfalls mit der Unterschrift des Fleischbeschauers versehenes 
Plakat sichtbar ausgehängt sein, auf dem der Verkauf von nicht¬ 
bankwürdiger Waare und die Ursache der Nicht-bankwürdigkeit 
öffentlich bekannt gegeben wird. Wo Pferde, Maulthiere oder Esel 
geschlachtet werden, ist in vielen Gegenden, so z. B. im Regierungs¬ 
bezirk Stade, Düsseldorf u. a., die erapfehlenswerthe Verordnung ge¬ 
troffen, dass Fleisch von diesen und die daraus hcrgestellten Fleisch- 
waaren nur in bestimmten mit der Aufschrift „Rossfleischwaarenver- 
kauf“ versehenen Lokalen feilgehalten werden dürfen, in denen andere 
Fleischwaaren weder aufbewahrt, noch in irgend einer Weise in den 
Verkehr gebracht werden. 

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Dr. Mölilfeld, 

Einfuhr von ausgeschlachtetem Fleisch in Orte ohne 

Schlachthäuser. 

Von Wichtigkeit ist nun noch, auch die Einfuhr von ausge- 
schlachtctcm Fleisch, wobei viel Schwindel passirt, möglichst streng 
zu überwachen. Es steht nichts im Wege, wenn selbst Städte ohne 
Schlachthäuser die Bestimmung treffen, dass auswärts geschlachtetes 
Fleisch nur im Zusammenhänge mit den Eingeweiden eingeführt wer¬ 
den darf. Diese Bestimmung ist in Hadersleben 1 ) eingeführt und hat 
sich dort gut bewährt. Auf diese Weise kann man der so sehr er- 
strebenswcrthen Centralisation des Fleischhandels sehr entgegenge¬ 
kommen. 

Hausierhandel mit Fleisch und Fleischwaaren ist am besten ganz 
zu verbieten. Wo dieses nicht möglich ist, hat jeder, der mit Fleisch 
hausiren will, dieses der Ortpolizeibehörde anzuzeigen und durch eine 
amtliche Bescheinigung und verschiedene Stempelungen des Fleisches 
nachzuweisen, dass dasselbe von Thieren stammt, die vor und nach 
dem Schlachten von einem Sachverständigen untersucht sind. 

Vernichtung von gesundheitsschädlichem Fleisch in Orten 

ohne Schlachthäuser. 

Findet ein Flcischbeschauer bei seinen Untersuchungen, dass ein 
Schlachtthier entweder ganz oder einzelne Theile desselben nach seiner 
Ansicht gesundheitsschädlich und vom menschlichen Genuss auszu- 
schliessen sind, so hat er dem Schlächter die Verwendung des be¬ 
treffenden Thiercs vorläufig zu untersagen und ihn auf die eventuellen 
Folgen einer Vcrwerthung aufmerksam zu machen, ferner noch sofort 
der Ortspolizei den Fall anzuzeigen. Dieselbe hat dann, wenn vom 
Schächter kein Einspruch erhoben wird, für die unschädliche Beseiti¬ 
gung des Fleisches zu sorgen. Dies geschieht auf dem Lande wohl 
wohl meistens durch einfaches Eingraben an einer passenden Stelle, 
doch hat man in einzelnen ländlichen Gegenden Süddeutschlands, wie 
aus dem Bericht 2 ) des Ausschusses über die 4. Versammlung des 
Vereins für öffentliche Gesundheitspflege 1876 hervorgeht, schon lange 


1) G.-B. ü. d. ö. Gesundheitswesen in der Provinz Schleswig-Holstein. 
1889—91. S. 114. 

2) Vierteljahrsschr. f. ölTcntl. Gesundheitspflege. Bd. 9. 1877. 


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lieber wach img des Fleischhandels auf dem Lande und in kleinen Städten. 181 


den Anfang gemacht, thierischc Kadaver in chemische Fabriken zu 
bringen, wo man für sic eine verhältnissmässig bedeutende Summe 
bekommt und die Vernichtung der gefährlichen Ansteckungsstoffe 
völlig eintritt. In einzelnen Theilen Schwabens und Badens haben 
sich mehrere Gemeinden zusammengethan und lassen ihre Thier¬ 
kadaver in solche Fabriken transportiren. Empfehlenswerter ist es 
wohl noch, wenn sich eine oder mehrere Gemeinden einen Kafill- 
Desinfector anschaffen, wie er auch schon auf vielen Schlachthöfen 
existirt. Dieser dient zum Sterilisiren und Austrocknen von Fleisch 
und Thierleichen unter Gewinnung von Fett, Leim und Dungpulver. 
Ein solcher Apparat könnte auf Gemcindekosten verwaltet oder auch 
verpachtet werden. Um Unterschied mit gesundheitsschädlichem Fleisch 
zu verhüten, ist es zweckmässig, dasselbe in jedem Falle sofort mit 
einer stinkenden Flüssigkeit z. B. Petroleum, rohem Kreosot, Pyri¬ 
din etc. zu imprägniren und es dadurch für Jedermann kenntlich und 
unverwerthbar zu machen. Sehr einfach lässt sich die Beseitigung 
von krankem Fleisch auch durch Verbrennen bewerkstelligen, was 
schon in einem einfachen Ofen möglich ist, der nur genügend gross 
sein und dabei genügend Hitze liefern muss. Das Verbrennen hat 
den Vorzug, dass dabei eine vollkommene Vernichtung der An¬ 
steckungsstoffe eintritt. Wie nöthig es ist, dass die Beseitigung von 
beanstandetem Fleisch unter polizeilicher Aufsicht geschieht, sieht 
man noch daran, dass es in vielen Gegenden Brauch der Schlächter 
ist, krankes Fleisch einfach auf Düngerhaufen zu werfen, oder doch 
hier nur oberflächlich einzugraben, wodurch natürlich die Verschleppung 
von Ansteckungsstoffen auf leichteste Weise ermöglicht wird, wobei 
ferner auch noch die Gefahr vorlicgt, dass das Fleisch, wie schon 
häufig vorgekommen, wieder ausgegraben und in den Handel gebracht 
wird. Im Königreich Sachsen ist auch schon, um obigem Unfug zu 
steuern, durch eine Ministcrial-Verfügung vom 16. Januar 185)0 das 
Wegwerfen und Eingraben tuberculöser Theilc auf Düngerhaufen ver¬ 
boten. 

ßerufungsrecht der Gewerbetreibenden gegen das Urthcil 
eines Fleischbeschauers. 

Um die Gewerbetreibenden vor Nachtheilen zu schützen, die 
ihnen aus einer irrthümlichen Entscheidung eines Flcischbcschauers 
erwachsen können, ist ihnen das Recht zu geben, Berufung einzu- 


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Dr. Möhlfeld, 


legen und das Urtheil einer höheren Instanz anzurufen. Dieses muss 
innerhalb einer bestimmten kurzen Frist geschehen. Richtet sich die 
Berufung gegen die Entscheidung eines empirischen Fleischbeschauers, 
so ist ein wissenschaftlicher Thierarzt, womöglich ein beamteter hin¬ 
zuzuziehen, dessen Urtheil massgebend is^. Handelt es sich um die 
Entscheidung eines Thierarztes, so ist ebenfalls die Hinzuziehung eines 
beamteten Thierarztes zu veranlassen. Für den Fall, dass hierbei 
kein Einverständnis erzielt wird, empfiehlt es sich, ähnlich wie es 
auch in Belgien x ) eingeführt ist, dass die Ortsbehörde den endgültigen 
Sachverständigen, etwa den nächst wohnenden beamteten Thierarzt 
ernennt. Für Fragen von principieller Bedeutung hat Melchers 1 2 ) 
vorgeschlagen, eine Oberberufung an eine thierärztliche Landeskom¬ 
mission vorzusehen, die auf Grund des Aktenmaterials entscheidet. 
Die Kosten einer Superrevision hat wohl am besten die unterliegende 
Partei zu tragen, d. h. im Falle des Unterliegens eines Sachverstän¬ 
digen die betreffende Gemeindeverwaltung. 

Die von den Fleischbeschauern auszuübenden unver- 
mutheten Revisionen der Schlächtereien. 

Ausser dieser regelmässigen Untersuchung der Schlachtthiere wäre 
den Fleischbeschauem noch, wie es in Süddeutschland schon lange 
cingeführt ist, zur Pflicht zu machen, von Zeit zu Zeit unvermuthete 
Revisionen der Schlächtereien vorzunehmen. Die Schlächter haben 
dann dem Fleischbeschauer ihren gesammten Fleischvorrath zu zeigen. 
In erster Linie hat dieser darauf zu achten, ob nicht-bankwürdige 
Waare auch streng gesondert von der bankwürdigen feilgehalten wird 
und den nöthigen Vermerk der Nichtbankwürdigkeit trägt, t und ob 
auch nicht irgendwie ein Unterschleif stattfindet. Dann hat er sich 
die Aufbewahrungsräume für Fleisch anzusehen, ob dieselben allen 
hygienischen Anforderungen entsprechen. Das Fleisch soll stets in 
trocknen, möglichst kühlen, gut mit reiner Luft zu ventilirenden 
Räumen so aufgehängt sein, dass die Fleischstücke allseitig von einem 
leichten Luftstromc berührt werden und an der Oberfläche schwach 
antrocknen. Wände, Fussböden und Tische müssen stets trocken und 
frei von Pilzablagerungen sein. Als ideal sind Kachelwände zu bc- 


1) Ostertag, 1. c. S. 29. 

2) Ostertag, 1. c. S. 62. 


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Ueberwachung des Fleischhandcls auf dem Lande und in kleinen Städten. 183 

zeichnen. Niemals darf auch zugegeben werden, dass Fleisch, wie es 
in kleinen Orten noch vielfach Brauch ist, vor den Häusern in der 
freien Strasse aufgehängt wird, wo es nicht selten durch den Staub der 
Luft oder durch Insecten verunreinigt wird. Ein sehr grosses Gewüeht 
ist auf die Controle der Schlachtstätten zu legen, dass dieselben allen 
polizeilichen Anforderungen entsprechen. Der Fussboden der Schlacht¬ 
stätten soll wasserdicht sein und wird am besten cementirt, die Wände 
sollen mindestens auf 2 m Höhe entweder mit Oel- oder Emaillefarbc 
gestrichen oder anderweitig so hergerichtet sein, dass sie durch Ab¬ 
waschen vollständig gereinigt werden können. Durch eine Rinne mit der 
Schlachtstätte zu verbinden ist eine Senkgrube für die Abfallstoffc. Für 
dieselbe ist die Hauptbedingung, dass sie wasserdicht ist. Um dieses 
zu erreichen, wird empfohlen 1 ), die Umfassung aus 4 undurchlässigen 
Schichten zu bilden: 1. aussen aus einer 30 cm breiten Thonschicht, 
2. aus einer 35 cm starken Betonschicht, 3. aus einer Mauer aus 
hartgebranntem Ziegel (Klinker), 4. innen aus einem glatten Cement- 
putz. Die Grube muss hermetisch abgedeckt sein. Die Reinigung 
der Grube hat in einer den localen Verhältnissen angemessenen Weise 
zu erfolgen. In gewissen Zwischenräumen ist auch die Wasserdichtig¬ 
keit der Gruben zu prüfen, was in der Weise 2 ) geschieht, dass eine be¬ 
stimmte Quantität Wasser in dieselben hineingegossen und nach einiger 
Zeit untersucht wird, ob und welche Quantitäten innerhalb einer ge¬ 
wissen Zeit durch Versickern zum Verschwinden gebracht sind. 
Ausserdem ist die Bedingung zu stellen, dass im Hofe des Grund¬ 
stückes ein Brunnen oder im Schlachtlocale eine Wasserleitung vor¬ 
handen ist. Das Resultat einer Revision trägt der Fleischbeschauer 
in sein eigenes Tagebuch und in das Controlbuch der Schlächter ein, 
welche dann der Polizei vorgelegt werden. Diese hat eventuell bei 
einer grösseren Anzahl Monita, besonders wenn solche häufig wieder¬ 
kehren, den betreffenden Schlächter in eine entsprechende Strafe zu 
nehmen und für Abhülfe der Uebelstände zu sorgen. 

Ueberwachung der Fleischbeschauer selbst seitens der 
Polizeibehörde und Kreisphysiker. 

Was nun die Ueberwachung der Fleischbeschauer selbst beziehungs¬ 
weise die Controle ihrer Bücher anbetrifft, so wäre dieselbe tlieils den 


1) Schlockow, 1892. S. 338. 

2) Schlockow, 1895. S. 453. 


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184 


Dr. Möhlfold, 

Kreisphysikern, theils der Polizeibehörde zu übertragen. Letztere hat 
am besten allmonatlich bei der Gehaltsauszahlung das Tagebuch der 
Fleischbeschauer zu revidiren und mit den Controlbüchern der Schlächter 
zu vergleichen. Ferner sind diese der Polizeibehörde bei jeder un- 
vermutheten Revision vorzulegen, welche die Fleischbeschauer vor¬ 
nehmen. 

Die Kreisphysiker haben (gelegentlich ihrer Dienstreisen) die 
Fleischbeschauer, soweit sie nicht Thierärzte sind, möglichst oft und 
unvermuthet zu revidiren und von Zeit zu Zeit nachzuprüfen. Ferner 
müssen ihnen alljährlich Berichte über die Fleischbeschau zur Einver¬ 
leibung in ihre Akten und daneben die Tagebücher zum Vergleich 
mit diesen Berichten vorgelegt werden, wie cs ähnlich auch im Gross¬ 
herzogthum Baden cingcführt ist 1 ). Eine sehr empfehlenswerthe Ein¬ 
richtung hat auch Georges 2 ) im Herzogthum Koburg-Gotha getroffen, 
die empirischen Fleischbeschauer jährlich zweimal durch die ßezirks- 
thierärzte zu Versammlungen einberufen zu lassen, in welchen von 
den Ficisehbeschauern allgemeine Berichte erstattet, von den Bezirks- 
thierärzten aber durch Besprechung bemerkenswerther Fälle die Fleisch¬ 
beschauer weiter ausgcbildet werden. 

Die volkswirtschaftliche Bedeutung einer allgemeinen 
obligatorischen Fleischschau. Gründung von staatlich beauf¬ 
sichtigten V iehversicherungsgesell schäften. 

Eine in derartiger Weise auf dem Lande und in kleinen Städten 
durchgeführte sorgfältige Ueberwachung des Fleischhandcls und eine 
energische Handhabung der hierauf bezüglichen Massregeln wird ihre 
segensreichen Wirkungen nicht verfehlen. In erster Linie wird da¬ 
durch Leben und Gesundheit des ländlichen Publicums geschützt, 
dann aber auch vom ökonomischen Standpunkte aus der Landwirt¬ 
schaft sehr genutzt. Ein Theil der kranken Thiere wird zwar dem 
Verkehr entzogen, aber der weitaus grösste doch dem Landwirth zur 
preiswürdigen Verwertung erhalten, während er sonst in dieser Hin¬ 
sicht ganz der Willkür einzelner Schlächter preisgegeben ist und 
jedenfalls häufig von denselben ausgebcutct w r ird. Ferner ist man 
durch die regelmässige Untersuchung der Schlachtthierc in den Stand 


1) Maier, 1. c. S. l'.Kk 

2) Ostertag, 1. c. S. (X). 


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Uobenvachung des Fleischhandels auf dem Lande und in kleinen Städten. 185 


gesetzt, Fälle von Viehseuchen und besonders die so weit verbreitete 
Tubereulose möglichst frühzeitig zu entdecken, so dass gleich zu ihrer 
Tilgung entsprechende Massnahmen getroffen werden können. Es 
wäre zu wünschen, wenn sich das Volk und besonders die Landbe¬ 
völkerung von dieser grossen Bedeutung einer allgemeinen Fleischschau 
immer mehr überzeugte. Dieses liesse sich erreichen durch Vorträge 
in landwirtschaftlichen Vereinen, durch Artikel in landwirtschaft¬ 
lichen Zeitungen und auch schon durch Belehrung in der Schule. 
Dem Landwirt muss an der Hand von Statistiken vor die Augen 
geführt werden, dass jährlich in Deutschland Millionen Mark in Form 
von schlechtem Fleisch weggeworfen werden, und dass er im Stande 
ist, einen grossen Theil dieses Geldes zu retten, wenn er das Be¬ 
streben hat, seinen Viehstand so gesund wie möglich zu erhalten. 
Dringt diese Ueberzcugung mehr und mehr in die Landbevölkerung 
ein, so wird es gewiss allmählich dahin kommen, dass die Land¬ 
wirte, sobald sich z. B. die ersten Fälle von Tuberculose in ihren 
Ställen zeigen, sofort energische Massregeln (Tuberkulinimpfung, Iso- 
lirung der kranken Thiere etc.) gegen die Weiter Verbreitung dieser 
gefährlichen Seuche ergreifen und nicht, wie es jetzt häufig geschieht, 
nichts gegen dieses Uebel thun. 

Dann sollte vom Staate darauf gedrungen werden, dass überall 
Viehversichcrungsgesellschaften gegründet werden, um die Landwirte 
vor grösseren pekuniären Nachteilen zu schützen, die ihnen aus der 
Verwerfung eines Stück kranken Viehes erwachsen. Diese Gesell¬ 
schaften dürften keine reine Privatgesellschaften sein, bei denen die 
Versicherung, wie ich durch Nachfragen fcstgestellt habe, häufig mit 
so grossen Kosten verbunden ist, dass aus diesem Grunde die Land¬ 
wirte vor dem Eintritt zurückschrecken, vielmehr wäre zu erwägen, 
ob die Versicherungen nach Analogie der Berufsgenossenschaften unter 
directer staatlicher Aufsicht stehen und vom Staate subventionirt 
werden könnten. Dann müsste aber auch der Eintritt in dieselben 
obligatorisch gemacht werden, und Landwirte, in deren Ställen immer 
wieder Viehseuchen und besonders Tuberculose Vorkommen, müssten 
gezwungen werden, gegen dieselben geeignete Massregeln zu ergreifen, 
wozu noch eventuell vom Staate eine Beihülfe zu gewähren wäre, 
ln neuester Zeit sind in politischen Zeitungen Artikel erschienen, in 
welchen ein derartiges geschlossenes Vorgehen zur Tilgung der Tuber¬ 
culose unter unseren deutschen Viehbeständen nachdrücklichst cm- 


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186 


Dr. Möhlfeld, 


pfohlen wird, und wobei in Bezug auf die Handhabung nützlicher 
Massregeln auf das Vorgehen des Staates Dänemark hingewiesen 
wird. Jedenfalls lässt sich nicht bezweifeln, dass bei ernstem Willen 
viel zu erreichen ist. Es sei aber nochmals darauf hingewiesen, dass 
eine geregelte Fleischschau nur dann ihren vollen Nutzen haben kann, 
wenn sämmtliche Schlachtthiere, Gross- und Kleinvieh, vor und nach 
dem Schlachten untersucht werden. Auch Ausnahmen zu Gunsten 
des privaten Schlachtens sind nicht zu gestatten, sondern dasselbe muss 
gerade so beaufsichtigt werden, wie das gewerbsmässige Schlachten, 
denn der Schlachtende schädigt sich eventuell nicht nur selbst, son¬ 
dern womöglich auch noch andere Leute, da häufig genug Fleisch 
von den zum Privatgebrauch geschlachteten Thieren in andere Hände 
z. ß. von Verwandten gelangt. 


Die wichtigsten Punkto der vorstehenden Erörterungen 
lassen sich in folgenden Sätzen zusammenfassen: 

1. Die Ueberwachung des Fleischhandels auf dem Lande und in 
kleinen Städten liegt in Nord-Deutschland noch grösstentheils sehr 
im Argen. Eine geregelte Fleischcontrole ist hier ein dringendes ße- 
dürfniss. 

2. Das vollkommenste Mittel zur sicheren Ueberwachung des inner¬ 
halb einer Gemeinde stattfindenden Fleischhandels ist zweifellos die 
Errichtung öffentlicher Schlachthäuser und der damit verbundene un¬ 
bedingte Zwang, dass alle zur menschlichen Nahrung bestimmten 
Thiere daselbst geschlachtet und sachverständig untersucht werden. 

3. Da sich auch in kleinen Städten erfahrungsgemäss Schlacht¬ 
häuser rentiren, ist hier ihre Errichtung möglichst anzustreben. Bis 
zu welcher unteren Grenze der Einwohnerzahl sich dies empfiehlt, 
lässt sich nicht genau angeben, da sich dieses zum grössten Theil 
nach den localen Verhältnissen richtet. 

4. In dicht bevölkerten Gegenden, wo viele kleine Ortschaften 
zusammenliegen, empfiehlt es sich, gemeinschaftliche Schlachthäuser 
zu erbauen. 

5. Es ist von grosser Bedeutung sowohl vom national-ökonomi¬ 
schen als auch vom sanitätspolizeilichen Standpunkte aus, dass mit 
jedem Schlachthause eine Freibank verbunden wird. Besonders für 


bv Google 


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Ueberwachung des Fleischhandcls auf dem Lande und in kleinen Städten. 187 

kleine Städte eignet sich eine solche Einrichtung, da hier der Ver¬ 
bleib des Fleisches besser überwacht werden kann, als in grossen 
Städten. 

6. Die Leitung eines Schlachthauses ist einem Thierarzt zu über¬ 
tragen. Wo in kleinen Orten die Verhältnisse dies nicht gestatten, 
ist auf jeden Fall ein Thierarzt im Nebenamte anzustellen, der die 
Untersuchung der Schlachtthiere auszuführen hat. 

7. In Gegenden, wo es nicht möglich ist, Schlachthäuser zu er¬ 
richten, sind Sachverständige anzustellen, die jedes zum Genuss für 
Menschen bestimmte Schlachtthicr vor und nach dem Schlachten zu 
untersuchen haben. 

8. Wo ein Thierarzt seinen Sitz hat, ist dieser in erster Linie 
zur Wahrnehmung einer solchen Fleischschau zu berufen. Wo dieses 
nicht möglich ist, sind in ähnlicher Weise, wie dies bei der Trichinen¬ 
schau durchgeführt, empirische Fleischbeschauer anzustellen. 

9. Die Ausbildung derselben hat an Schlachthöfen unter thier¬ 
ärztlicher Leitung in mindestens sechswöchentlichen Oursen zu er¬ 
folgen. Am Schluss der Curse hat eine entsprechende Prüfung statt¬ 
zufinden. 

10. Jeder Fleischbeschauer ist für einen bestimmt abgegrenzten 
Bezirk anzustellen, in dem er die gesammte Fleischbeschau, auch 
Trichinenschau wahrzunehmen hat. Die Anstellung hat durch den 
Landrath auf Widerruf zu erfolgen. Zum Schutze gegen etwaigen 
Widerstand der Schlächter ist ihnen die Eigenschaft relativer Polizei¬ 
beamter zu verleihen. 

11. Die empirischen Fleischbeschauer dürfen nur bei gesunden 
Thieren und besonders namhaft gemachten Fällen von Erkrankung 
ein Entscheidungsrecht besitzen. Für alle übrigen Krankheitsfälle, 
insbesondere für alle Nothschlachtungen ist ihnen vorzuschreiben, die 
Entscheidung des zuständigen Thierarztes herbeizuführen. Nur wo 
schwere Verletzungen oder Geburtshindernisse bei vorher gesunden 
Thieren die Nothschlachtung bedingen, kann auch den empirischen 
Fleischbeschauern Entscheidungsrecht zuerkannt werden, wenn die 
Schlachtung alsbald stattfindet. 

12. Um die Gewerbetreibenden vor Nachtheil zu schützen, 
müssen sie das Recht haben, gegen die Entscheidung eines Fleisch¬ 
beschauers Berufung einzulegcn und das Urthcil einer höheren Instanz 
anzurufen. 


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188 


Dr. M ö li 1 f e 1 d, 


18. Die Fleischbeschaucr haben von Zeit zu Zeit unvermuthete 
Revisionen der Schlächtereien vorzunehmen. 

14. Die Controle der Fleischbeschauer ist theils der Polizeibe¬ 
hörde, theils den Kreisphysikem zu übertragen. Ersterer sind regel¬ 
mässig allmonatlich bei der Gehaltsauszahlung die von den Fleisch¬ 
beschauern zu führenden Tagebücher und entsprechende Controlbücher 
der Schlächter vorzulegcn. Die Kreisphysiker haben (gelegentlich 
ihrer Dienstreisen) die Fleischbeschaucr, soweit sie nicht Thierärzte 
sind, unvermuthet zu revidiren und von Zeit zu Zeit nachzuprüfen. 

15. Die weitesten Schichten des Volkes sind durch Vorträge in 
landwirthschaftlichcn Vereinen etc. über die Bedeutung einer obligatori¬ 
schen Fleischschau immer mehr aufzuklären. So lassen sich am 
ersten diese Klassen für etwaige spätere gesetzgeberische Massnahmen 
vorbereiten. 

IG. Es ist zu erwägen, ob nicht der weiteren Gründung von 
Vieh Versicherungsgesellschaften vom Staate aus Vorschub zu leisten 
ist, und ob dieselben nicht Statuten aufstellen könnten, nach denen 
die Landwirthe gezwungen wären, gegen etwaige Seuchen in ihren 
Ställen geeignete Massregeln zu ergreifen, eventuell mit Beihülfe des 
Staates. 


Fm zu zeigen, wie die Beaufsichtigung des Fleischhandels in 
einzelnen Gegenden Preussens gchandhabt wird, habe ich für mehrere 


Stand der Beaufsichtigung des Fleischhandels in einzelnen 



• 

u 

Schlachthaus. 



Kreis und Stadt 

'o _ 

£ .a 

C c3 

s N 

Wann erricht, 
u. mit welchen 
Kosten ? 

Welche veterinär-polizeiliche 
Beaufsichtigung findet statt? 

Geschlachtet 

wurden 


1. (TTeiligenbcil) 

2. (Heilsberg) . 

3761 

5489 

) vor 1889 

3. (Nordenburg) 

2*251 

f errichtet 

4. (Labiau) . . 

4862 

> cf. S. 106 

5. (Tapiau) . . 

3763 

l Anm. im 
l Bericht. 

0. (Seeburg). . 
7. (Osterode) . 

2797 

941-2 

\ Bau fest 

8. (Mobrungen). 

1 3759 

1 

| beschlossen 


Fleischmarkt wird durch einen 
Thierarzt beaufsichtigt. 


Der Markt wird durch einen 
Thierarzt controlirt. 


Königsberg 


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Original frn-rri 

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Ueberwachung des Fleisclihandels auf dom Lande und in kleinen Städten. 18!) 


Regierungsbezirke nach den Gencral-Sanitätsberichtcn von 1888 bis 
1891, für wenige Bezirke von 1886—1888 (da nur diese mir zu¬ 
gänglich waren) eine tabellarische Uebersicht beigefügt, aus welcher 
hervorgeht: 

1. In welchen Orten Schlachthäuser bestehen. Mit Rücksicht 
auf mein Thema sind die Orte von 10000 Einwohnern und da¬ 
runter, welche als kleine anzusehen sind, in Klammer gestellt. 

2. Welche veterinärpolizeiliche Beaufsichtigung in diesen Schlacht¬ 
häusern besteht. 

3. In welchem Umfange gesundheitsschädliches Fleisch ver¬ 
worfen ist. 

4. Wo Freibänke existiren. 

5. Was für besondere Polizei-Verordnungen etwa in einzelnen 
Kreisen besonders auch in Orten ohne Schlachthäuser hinsichtlich des 
Schlachtverkehrs erlassen sind. 

6. Wie sich die Trichinenschau gestaltet hat (Zahl der Trichinen¬ 
schauer, Zahl der untersuchten Schweine, der trichinösen und finnigen). 

Die Tabellen sind keine vollständigen und können dies 
nicht sein, da selbst die einzigen über Handhabung des Fleisch¬ 
handels existirenden authentischen Angaben, wie wir sie in den 
General-Sanitätsberichten der Regierungs- und Medicinalräthe finden, 
stellenweise ungemein lückenhaft sind. Höchstens sind noch um¬ 
fassendere Angaben in den Akten des Landwirthschaftsministcriums 
vorhanden, doch waren mir diese nicht zugänglich. 

Regierungsbezirken Preussens naeh den General-Sanitätsberichten. 


Verworfen 

Besondere polizei¬ 
liche Verordnungen 

Vorschriften über 

ganz 

zum 

Theil 

in Orten ohne 
Schlachthaus 

Trichinenschau 


Bemerkungen 


1889—1891. 


d 

<v 

3 


a 

<D 

X 

d 

bfi 

fl 

< 


ja 

ja 

ja 


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Original frnm 

UNIVERSUM OF IOWA 








190 


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Dr. Möhlfeld, 


Jtreis und Stadt 

Einwohner¬ 

zahl 

Schlachthaus. 
Wann erricht, 
u. mit welchen 
Kosten ? 

Welche veterinär-polizeiliche 
Beaufsichtigung findet statt? 

Geschlachtet 

wurden 

9. Schmelz . . 





Vorstadt von 
Memel 





10. (Prökuls) Kr. 

500 

— 

— 

— 

Memel 





11. (Rössel) . . 

3474 

— 

— 

— 

12. (Dreugfurt) . 

1694 

— 

— 

— 

13. Allcnstein . 

19375 

Vor 1886. 

Der als Trichinenschauer ge¬ 
prüfte Schlachthausaufseher 
unters, das Vieh; in zweifel¬ 
haften Fällen entscheidet der 
Kreisthierarzt. 

In der Zeit v. 
1.4.91 bis31. 
3. 92 

8326 Thiere. 

14. (Wartenburg) 
Kr. Allenstein 

4735 

do. 

dto., hier entscheidet ein prakt. 
Arzt. 

4571 „ 

15. Braunsberg . 

10851 

do. 

Der als Trichinenschauer ge¬ 
prüfte Schlachthausinspector u. 
der Aufseher untersuchen das 
Vieh. In zweifelhaften Fällen: 
Kreisphysikus. 

2879 „ 

16. (Wormditt) . 
Kr.Braunsberg 

5116 

Nach 1888. 

Trichinenschauer ist d. Schlacht¬ 
hausaufseher. Kreisthierarzt ent¬ 
scheidet in zweifelhaft. Fällen. 

918 , 

17. (Kranz) . . 

Kr.Fischhausen 

1321 

Vor 1886. 

Der Trichinenschauer und der 
Apotheker, sowie ein Fleischer¬ 
meister untersuchen das Vieh. 

949 , 

18. (Bartenstein) 
Kr. Friedland 

6442 

do. 

Umbau noth- 
wendig, be¬ 
reits in Aus¬ 
führung. 

Die Schlachthaus-Deputation u. 
die Polizei-Verwaltung beauf¬ 
sichtigen den Schlachtbetrieb. 
Bei Schlachtung kranker und 
verdächtiger Thiere wird der 
Kreisthierarzt zugezogen. 

5230 „ 

19. (Gerdauen) . 

2858 

Vor 1886. 

Der als Trichinen- und Fleisch¬ 
beschauer geprüfte Aufseher 
untersucht das Schlachtvieh, 
in zweifelhaften Fällen ent¬ 
scheiden Kreisthierarzt u. Kreis¬ 
physikus. 

2728 „ 

20. (Guttstadt) . 
Kr. Heilsberg 

4503 

Zwischen 1888 
und 1889. 

Der als Trichinenschauer ge¬ 
prüfte Schlachthaus - Aufseher 
untersucht das Vieh. 

3557 „ 

21. (Pr. Holland) 

4983 

Vor 1886. 

Der als Trichinenschauer ge¬ 
prüfte Schlachthaus-Inspector 
untersucht das Vieh, in zweifel¬ 
haften Fällen entscheidet der 
Kreisthierarzt. 

1.4.91 bis 31. 
3. 92 

3456 Thiere. 

22. (Rastenburg) 

7303 

do. 

Der als Trichinen- und Fleisch¬ 
beschauer geprüfte Schlacht¬ 
hausaufseher untersucht das 

6992 „ 


Vieh. 

ln zweifelhaften Fällen entscheidet der Schlachthausthierarzt.| 


Gck igle 


Original from 

UMIVERSITY OF IOWA 



Ueberwachung des Floischhandels auf dein Lande und in kleinen Städten. 191 


Verworfen 


ganz 


zum 

Theil 


19 

2 

22 


50 


10 


Besondere polizei¬ 
liche Verordnungen 
in Orten ohne 
Schlachthaus 


Vorschriften über 
Trichinenschau 


T3 i 
O G 

< 1 ? -a .2 

*h :c3 Sm 


24 

180 

40 


Obligatorische Fleischschau eingeführt. 


do. 

Das Schweinefleisch untersucht ein 
Fleichbeschauer. 

Polizeilich obligatorische Trichinen¬ 
schau eingeführt. 


11 


71 


108 


76 


ja 

ja 

ja 


Digitizetf by 


Gck igle 


Bemerkungen 


Original frn-m 

UNIVERSITY OF IOWA 


192 


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Dr. Möhlfcld, 


Einwohner¬ 

zahl 

Schlachthaus. 
Wann erricht, 
u. mit welchen 
Kosten ? 

Welche veterinär-polizeiliche 
Beaufsichtigung findet statt? 

Geschlachtet 

wurden 

5384 

Vor 1S86. 

Die veterinärpolizeiliche Beauf¬ 
sichtigung wird durch den 
Kreisthierarzt ausgeübt. 

6138 Thiere. 

1 CI 528 

Das private 
Innungs- 

— 

Im Jahre 1891 
54934 Thiere 


schiachthaus wird bald(?) durch ein com- 

(zus. 93273 l j 2 


munales öffentliches ersetzt (event. 1893 voll¬ 
endet) s. S. 108 im Bericht. Kosten circa 
2100000 M. für den Schlachthof u. 700000 
für den dazu gehörigen Viehhof. 

Centn er. 

3443 

2256 

192S1 

3937 

2516 

3681 

fDcr Bau des 
( Schlachthau- 
[ses ist (wird) 
1 beschlossen. 


Gumbinnc 

4291 

Vor 1889. 

Angaben fehlen. 

In den Jahren/ 
1889—91 I 
13242 Thiere. 1 

3451 

do. 

— 

9504 „ 1 

7169 

do. 

— 

18383 „ 

12213 

do. 

— 

35148 „ 

22237 

do. 

— 

53929 „ 

5481 

do. 

— 

20982 „ 

9987 

do. 

— 

35761 „ 

3956 

do. 

— 

9940 „ 

3553 

do. 

— 

13147 „ 

4888 

1891 


In dem einen 
Betriebsmonat 
412 Thiere. 

4677 

1888 

— 

11537 „ 

24550 

1891 

Ma 

»/♦jährige 
Betriebszeit 
2047 Thiere. 

rienwerde 

10042 

1. 4. 88. 

Die Beaufsichtigung d. Schlacht¬ 

Angab. fehlen 

5042 

8. 10. 88. 

häuser mit grösserem Betrieb 

980 

1. 12. 88. 

ist eigens hierzu angestellten 


3208 

Ende 1888. 

Thierärzten übertragen. In den 


27007 

Vor 1886. 

kleineren ist ein für seine Auf¬ 

Es wird ge¬ 


Obligatorisch. 

gabe durch längere Schulung 

braucht pro 


Schlachtzwang 

in grösseren Schlachthäusern 

Kopf u. Jahr 


für Private. 

herangebildeter Aufseher an- 
gcstellt, der die Besichtigung 

0,17Grossvieh, 


Kreis und Stadt 


23. (Wchlau). 


24. Königsberg . 


25. (Pr. Eylau) 

26. (Liebstadt) 

27. Memel 

28. (Mehlsack) 

29. (Saalfeld) 

30. (Soldau) . 


1. (Angerburg). 


2. (Darkehmen) 

3. (Goldap) . 

4. Gumbinnen 

5. Insterburg 

6. (Lötzen) . 

7. (Lyck) . 

8. (Ragnit) . 

9. (Sensburg) 

10. (Marggrabowa) 


11. (Stallupönen) 

12. Tilsit . . . 


1. Könitz 

2. (Jastrow). 

3. (Landeck) 

4. (Schlochau) 

5. Thora. . 


Gck'gl« 


Original frn-m 

UNiVERSUY OF IOWA 






Ueberwachung des Fleischhandels auf dem Lande und in kleinen Städten. 193 


Verworfen 


HO I 

Besondere polizei- °-S bo 

liehe Verordnungen Vorschriften über ^ W g 

in Orten ohne Trichinenschau 5 'S 2 
Schlachthaus £ *q 


in Orten ohne 
Schlachthaus 



Resultate zu IraLandkreise Kö- — 

detaillirt an- nigsberg besteht_ 

gegeben. seit einigen Jahren die Einrichtung, 
dass ländliche Schlachtstätten vor 
ihrer Concessionirung genau geprüft 
und untersucht werden müssen (durch 
den Kreisphysikus). Rundverfüg, v. 
27. 3. 86 u. 6. 6. 87 (S. 107 im Bericht): 
wasserdichter Fussboden etc. 


Angaben 

fehlen 


1889—1891. 


Zu detaillirt 

Eine besondere polizeiliche Verordnung — 

angegeben. 

hinsichtlich der Untersuchung des 


Schweinefleisches auf Trichinen, die 

— 

am 31. 1. 75 zwar erlassen, mangels — 


genügender Anzahl von Fleischbe¬ 

— 

schauern aber noch suspendirt war, — 

— 

ist neu am 26. I. 91 erlassen, nach- — 

— 

dem in den einzelnen Ortschaften — 

— 

genügende Kräfte zur Trichinenschau — 

— 

gewonnen sind. Die Polizei-Verord- — 

— 

nung selbst s. S. 156 im Bericht. — 

— 

Verwendung finnigen Fleisches durch — 

— 

Polizei-Verordnung vom 14. 5. 87 ge- — 


regelt. 

— 

— 


1886—1888. 


Im ganzenRegierungs- 
bezirke wurden in 
den Jahren 1889, 
1890 u. 1891 unters. 
163184 Schweine: 
davon waren trichi¬ 
nös : 152 u. finnig : 
216. Im Durchschn. 
waren jährlich 268 
amtliche Fleischbe¬ 
schauer thätig. 


— 

— 

Wo Schlachthäuser 

Polizei-Verordng. 

Bei einigen 

— 

— 

fehlen, wird die Con- 

8. 2. 75 ordnet 

Schlacht¬ 

— 

— 

trole des Fleisches 

d. obligatorische 

häusern 

— 

— 

durch die Ortspolizei 

Trichinensch au 

sind Frei¬ 

— 

— 

unter Zuziehung der 

für den Regie¬ 

bänke ein¬ 



Thierärzte ausgeübt. 

rungsbezirk 

geführt. 



an. 

Nähere An¬ 




Die Gebühr be¬ 

gaben dar¬ 




trägt für eine 

überfehlen 


Vierteljahrsschr. f. ger. Med. Dritte Folge. XIV. SuppL-Heft. 


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Google 


Das Schlachthaus¬ 
wesen hat im Re¬ 
gierungsbezirk er¬ 
hebliche und erfreu- 
ÜcheFortschritte ge¬ 
macht. 

n einzelnen Städten 
müssen nicht ge- 
werbsmäss. Schlach- 


Qriginal from 

UNIVERSSTV OF IOWA 





1!)4 


Dr. Möhlfcld, 


Kreis und Stadt 

Einwohner¬ 

zahl 

Schlachthaus. 
Wann erricht, 
u. mit welchen 
Kosten ? 

Welche veterinär-polizeiliche 
Beaufsichtigung findet statt? 

Geschlachtet 

wurden 

6. Graudenz 

20393 

Vor 1886. 

jedes eingelieferten Stückes 
Vieh vor und nach derSchlach- 
tung vornimmt und in allen 

0,55 Kleinvieh, 
0,49 Schweine. 
Es wird ge- 

7. (Dt. Krone) . 

6950 

do. 

zweifelhaften Fällen das Gut¬ 
achten eines bestimmten Thier¬ 
arztes einholen muss. 

braucht pro 
Kopf u. Jahr 
0,13Grossvieh, 
0,45 Kleinvieh, 
0,49 Schweine. 

8. (Culra) . . 

9762 

Im Bau. 


— 

9. (Flatow) . . 

3852 

do. 


— 

10. (Christburg). 

3116 

\ DerBau eines 


— 

11. (Stuhm) . . 

2263 

j Schlacht- 


— 

12. (Pr.Friedland) 

3597 

1 hauses ist 


— 

13. (Lübau) . . 

4592 

l beschlossen 


— 

14. (Culmsee) 

6332 

1 und befindet 


— 

15. (Dt. Eylau) . 

5707 

i sich in ver- 


— 

16. (Sehwetz) 

6707 

l schied. Stad. 


— 

17. (Strasburg) . 

6123 

' d. Ausfiihrg. 


— 

18. (Marienwerder) 

8579 

Bau ist Sept. 


— 

19. (Briesen). . 

1500 

18S9 beschlos¬ 
sen worden. 


— 

1. Anklam . . 

12925 

OefTentlichcs 

Das Schlachtvieh wird durch 

S t e 11 i 

Vom 1. 4. 90 

2. Demmin . . 

10S56 

Schlachthaus 
errichtet vor 
1889. 

do. 

einen Thierarzt, der als Vor¬ 
steher des Schlachthofes auge- 
stellt ist, untersucht; als Ge- 
hiilfe steht im zur Seite der 
Schlachthausaufsehcr. In strei¬ 
tigen Fällen entscheidet der 
Kreisthierarzt. 

Die Aufsicht übt der Gemeinde¬ 

bis 31. 3. 92 
12697 Thiere. 

13959 „ 

3. (Swinemünde) 

8510 

Errichtet 1891, 

thierarzt aus, welcher durch 
die Schlachthaus - Commission 
controlirt wird, eine Controle 
durch einen staatlich ange- 
stellten Thierarzt findet nicht 
statt. 

Die Aufsicht übt der Schlacht¬ 

Vom 1. 4. 91 



besitzt ein 
sehr zweck¬ 
mässig. Kühl¬ 
haus. Tren¬ 
nung d. fliiss. 
Schlachtab- 
jlallev.d.festen. 

hausinspector (Thierarzt) aus, 
weicher durch die Schlacht¬ 
hauscommission controlirt wird. 
Eine Controle durch einen staat¬ 
lich augestelltcn Thierarzt fin¬ 
det nicht statt. 

bis 1. 4. 92 
48S4 Thiere. 


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Original frn-m 

UNiVERSUY OF IOWA 





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Original frnm 

UMIVERSITY OF IOWA 



196 


Dr. Möhlfeld, 


Kreis und Stadt 

Einwohner¬ 

zahl 

Schlachthaus. 
Wann erricht, 
u. mit welchen 
Kosten ? 

Welche veterinär-polizeiliche 
Beaufsichtigung findet statt? 

Geschlachtet 

wurden 


4. (Pasewalk) . 
f>. Stettin . . . 

9401 

116239 

Eröffnet 1892. 
do. 

Anlagecapital 
1 226000 M. 

Angaben fehlen. 

do. 



6. Stargard . . 

23792 

Im Bau. 

do. 

— 



Köslin 


1. (Lauenburg). 
Kr. Lauenburg 

8055 

21. 10. 1890. 
100000 M. 

Die Aufsicht wird durch einen 
von der Stadtgemeinde ange- 
stellten geprüften Thierarzt 
geübt, derselbe untersucht das 
Vieh vor und nach dem Schlach¬ 
ten. Es besteht nicht nur für 
Fleischer, sondern allgemeiner 
Schlachtzwang. 

Angaben fehl. 

2. Köslin. . . 

17830 

1. 6. 1888. 

Die Aufsicht führt ein Thier¬ 
arzt als Inspector. 6 geprüfte 
Trichinenschauerinnen. 

Zwang, Privatschlächterei nur 
im öffentlichen Schlachthaus 
vorzunebmen. 

In den Jahren 
1889—91 
32880 Thiere. 

3. (Neustettin). 

8675 

1. 12. 1888. 

Aufsicht führt ein Thierarzt als 
Inspector. 

Im Jahre 1891 
379 Binder, 
2359Schweine. 

4. Kolberg . . 

16998 

16. 12. 1889. 

Aufsicht führt ein Thierarzt als 
Inspector. 6 geprüfte Be¬ 
schauerinnen. 


5. (Belgard). . 

7036 

1. 6. 1893. 

Untersucht wird durch einen 
angestellten Thierarzt. Im 
Sommer eine, im Winter zwei 
Beschauerinnen. 

In den Jahren 
1893 und 94 
5945 Thiere. 

6. Stolp . . . 

23884 

1. 10. 1894. 

Aufsicht führt ein Thierarzt 
als Inspector. 6 Trichinen¬ 
schauerinnen. 

In den Jahren 
1891-94 
53652 Thiere. 

7. (Bütow) . . 

5012 

1. 10. 1893. 

Aufsicht führt ein Thierarzt. 

Im Jahre 93/94 
8378 Thiere. 

8. (Falkenburg) 

4079 

1. 2. 1894. 

Aufsicht und Trichinenschau 
durch einen Thierarzt. 

3064 „ 

9. (Schlawe) 

5436 

1 Im Bau 

— 

— 

10. (Schivelbein) 

5922 

/ begriffen. 

— 

— 

11. (Rummels- 
bürg) 

5080 

— 

— 

— 

12. (Tempelburg) 

4533 

— 

— 

— 

13. (Janow) . . 

2857 

— 

— 

— 


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Original frnm 

UNIVERSITÄT OF IOWA 



Ueberwachung des Fleischhandels auf dem Lande und in kleinen Städten. 197 


Verworfen 


Besondere polizei¬ 
liche Verordnungen 
in Orten ohne 
Schlachthaus 

Vorschriften über 

Trichinenschau 

Freibank od. 
ähnl. Ein¬ 
richtung 

— 

— 

— 



_I_I_| sind auf 199600 Mk. 

angenommen, davon sind Betriebskosten 20550 Mk., Gehälter und 
Lohn 61200 M., Unterhaltung der Gebäude, Verzinsung und Amortisa¬ 
tion des Anlagekapitals 117850M., in Summa 199600M. Die Schlacht¬ 
gebühren betragen für 1 Rind 5,00, 1 Schwein 2,00,1 Kalb 1,50, 1 Schaf 
1,00, 1 Pferd 5,00 M. Fleischschaugebühr für 1 Schwein 2,00 M. 


1889—1894. 


Rinder — 
0,76 
pCt., 

Schwei¬ 

ne 

0,lpCt. 

0,3pCt. l,7pCt. 
aller aller 
Thiere. Thiere. 
1,25 pCt. — 
Rinder, 

0,27 

pCt. 

Schwei- 


KeineFrei-In allen 23 Städten 
bank. d. Regierungsbezirks 

ist Trichinenschau 
ein geführt ausser 
Leba (1938) und 
Ratzebuhr (2297). 

Im allgemein, kommt 
im Reg.-Reg. viel 
do. krankes Vieh zum 

Schlachten. 


30 Mk. Prämie für Freibank 
Auffinden von erricht, im 
Trichinen. Schlacht¬ 

hause. 


59 - 


— v Keine geeigneten Kräfte 
I zur Trichinenschau, je- 

— j doch Einführung d. Schau 

— ' bevorstehend. 


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Original from 

UNiVERSITY OF IOWA 





198 


Dr. Mühlfeld, 


Kreis und Stadt 


Sh 

o 

Schlachthaus. 

Welche veterinär-polizeiliche 


a 

Wann erricht. 

Geschlachtet 

Einwo 

zahl 

u. mit welchen 
Kosten? 

Beaufsichtigung findet statt? 

wurden 


Potsdam 


1. Eberswalde . 

16122 

Vor 1889. 

Die Fleischschau ist durch Ge¬ 

Angaben 




meindebeschluss geregelt und 

fehlen. 




werden die Untersuchungen 





sorgfältig ausgeführt. 


2. Rathenow 

16354 

do. 

do. 


3. Spandau . . 

45364 

do. 

do. 


a. im Kreise 




a. 41568 

Spandau 




Schweine. 

4. Prcnzlau . . 

18013 

do. 

do. 


a. im Kreise 




a. 53167 

Prcnzlau 




Schweine. 

5. Brandenburg 

40000 

do. 

do. 


a. im Kreise 




a. 30006 

Brandenburg 




Schweine. 

G. (Pritzwalk) . 

6353 

do. 

do. 


7. Potsdam . . 

54161 

do. 

do. 


a. im Kreise 




a. 29397 

Potsdam 




Schweine, 

8. Wittenberge. 

12590 

\ Der Bau 


_ 

1). (Angermiinde) 

6711 

f eines 

— 

a. 70138 

a. im Kr. An¬ 


> Schlaeht- 


Schweine. 

germünde 


\ hauses ist 



10. (Nauen) . . 

8119 

'beschlossen. 

— 

— 

11. (Wittstock) . 

6894 

HVegen and. 

— 

— 



1 nothwendig. 





1 Ausgab. ist d. 





f Bau eines 





1 Schlachth. 



12. (Kyritz) . . 

5085 

/ verschoben. 




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Original frorn 

UMIVERSITY OF IOWA 


Ueberwachung des Fleischhandels auf dem Lande und in kleinen Städten. 1S)J) 





r ö « 


Verworfen 

Besondere polizei¬ 
liche Verordnungen 

Vorschriften über 

O £3 

5 33 

Bemerkungen 

zum 

8 anz Theil 

in Orten ohne 

Trichinenschau 

5 P 

Schlachthaus 

:ctf u 



1889—1891. 


— 

— 

In den einzelnen Städ¬ 

— 

— 



ten d. Iieg.-Bez. wer¬ 
den d. Privatschläch¬ 
tereien durch Sach¬ 





verständige con- 
trolirt. 


— I 




Eine Acnderungd. 


trichin. 

1G4 


Polizeivorschrift 


und 

Schw. 


betr. Untersuch. 


finnig 



des Schweine¬ 
fleisches auf Tri¬ 
chinen v. 17.3.86 





(2. 10. 90) S. 71 
u. 89 im Bericht. 


do. 

20 





Schw. 




do. 

85 


— 

— 


Schw r . 




— 

— 

In Perleberg (7565), 

— 

— 

trichin. 

52 

Puttlitz (1794) all¬ 



und 

finnig 

Schw. 

monatlich unvermu- 
thetc Revision der 
Fleisch verkaufstell. 



— 

— 

In Ketzin (3462) Po¬ 

— 

— 

trichin. 

31 

lizeiverordn. v. 13.2. 



und 

Schw. 

90: Alles z. Schlach¬ 



finnig 


ten in die Stadt kom- 



— 

— 

mendeVieh soll thier- 

— 

— 



ärztlich untersucht 
werden u. zwar Rin¬ 
der vor und nach 
dem Schlachten, die 
andern Thiere nach 





dem Schlachten. Die 
Kosten für ein Rind 
betragen 2 Mk., für 




Benutz, d. Schlacht¬ 
hauses nur für ge- 
werbsmäss. Schlach¬ 
ten vorgeschrieben, 
sogen. Hausschläch¬ 
terei besteht noch 
fort; lur diese müssen 
die Beschauer bes. 
Bücher führen. 


hauszwang; für die 
Bewohner der Aus¬ 
bauten auf dem 
Stadt fei de kein 
Zwang, dort Haus¬ 
schlächterei. 
Beschluss d. Gewerbe¬ 
kammer der Provinz 
Brandenburgbesagt, 
dass alle Städte von 
4000 Einw. aufwärts 
Schlachthäuser er 
richten sollen. 


Ein Fall von Tri¬ 
chinenerkrankung d. 
Leichtsinn hervorge¬ 
rufen. s. S. 92 im 
Bericht. 


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Original frorn 

UNIVERSUM OF IOWA 




200 


Dr. Möhlfeld, 


Kreis und Stadt 


U, 

<D 

fl 

g - 

S-s 


Schlachthaus. 
Wann erricht, 
u. mit welchen 
Kosten ? 


13. Luckenwalde 

18399 

14. Neu-Ruppin. 

14581 

15. (Templin) . 

4354 

16. (Schwedt) . 

9797 

17. (Wriezen) 

7130 

18. (Freienwalde) 

7261 

1. Bromberg 

41451 

1 

i 

1 

1 

2. (Crone a. B.) 

3752 

3. Inowrazlaw . 

16504 

4. Schneidemühl 

14447 

5. (Kolmari. P.) 

3256 

G. (Mogilno). . 

3149 

7. (Tremessen). 

4766 

8. (Strelno) . . 

4171 

9. (Nakcl) . . 

6766 

10. Gnesen . . 

18065 1 

11. (Wongrowitz) 

4920 

12. (Lobseus) 

2253 


Welche veterinär-polizeiliche 
Beaufsichtigung findet statt? 


Geschlachtet 

wurden 


Dem Bau 
eines 
Schlacht¬ 
hauses völlig| 
abgeneigt, 


Der Kreisthierarzt besichtigt täg¬ 
lich sämmtliche Schlächtereien 
(Honorar pro anno 1000 M.). 


3. 7. 1890. 


haus eine 
tfusteranstal 
Näheres S. 63 
im Bericht. 
Vor 1890. 


do. 

Juli 1890. 
Vor 1889. 

1890 


Vor 1889. 


1. 5. 1890. 
Vor 1889. 


Als Schlachthaus-Director fun- 
girt einThierarzt. 20 Trichinen¬ 
schauer und 2 Probenehmer. 


Beaufsichtigung durch einen 
Hallenmeister, in zweifelhaften 
Fällen entscheidet ein Thier¬ 
arzt. 

Tbierarzt führt die Aufsicht. 

Thierarzt führt die Aufsicht 

Kreis-Thierarzt führt die Unter¬ 
suchungen aus. 

Untersuchung durch einen Hal¬ 
lenmeister unter Oberaufsicht 
des Kreisthierarztes. 

Die Untersuchung des Schlacht¬ 
viehes erfolgt durch den 
Schlachthauspächter, die Un¬ 
tersuchung auf Trichinen durch 
3 Fleischbeschauer. 

Die betreffende Untersuchung 
führt ein Thierarzt aus. 

Untersuch, durch einen Schlacht¬ 
hausinspector, der nicht Thier- 


Im Kreise 
Luckenwalde 
71939 Schw. 
Im Kreise 
Buppin 
75942 Schw. 
Im Kreise 
Templin 
53919 Schw. 


Bromberg 

1890 u. 91 
42119 Thiere. I 


5802 


19561 

16727 

5190 

4553 


4929 


6628 

11876 


dto. 


10471 


arzt ist; in zweifelhaft. Fällen wird der Kreisthierarzt zugezotr. 

889. Allger ' ” - 

Innungs- 
Schlachthau 
Vor 1889. 


Vor 1890. 


Untersuch, durch einen Schlacht¬ 
hausinspector, der nicht Thier¬ 
arzt ist, in zweifelhaften Fällen 
durch den Thierarzt, 
dto. 


7704 


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Original from 

UNIVERSUV OF IOWA 



Ueberwachung des Fleischhandels auf dem Lande und in kleinen Städten. 201 



trichin. 

und 

finnig 

do. 


103 

Schw. 

27 

Schw. 


alle andern Thiere je 
0,5 Mk. Auch von 
auswärts eingeführt. 
Fleisch muss durch 
einen Thierarzt un¬ 
tersucht werden. 


do. 53 
— Schw. 


1889—1891. 


232 

3120 

Die Polizeiverordnung vom 29. Aug. 89 
ordnet die obligatorische Untersuchung 
des aus Russland eingeführt. Schweine¬ 
fleisches für den Reg.-Bez. an. Die 
Polizei-Verordnung vom 1. 7. 1890 
concedirt den öffentlichen Schlacht¬ 
häusern statutarische abweichende 

Die Ein¬ 
richtung V. 
Freibank, 
an allen 
Schlacht¬ 
häusern 
erscheint 

9 

487 

Bestimmungen, abweichend von der 
Polizei-Verordnung vom 28. 9. 86, 
welche die einschlägigen Verhältnisse 
(Trichinenschau) für den ganzen Reg. 

unerläss¬ 
lich, wird 
auch lang¬ 
sam durch¬ 

49 

101 

Bez. regelt. Letztgenannte Polizei- 

geführt. 

8 

13 

Verordnung ist sehr verbesserungsbe¬ 

Freibank. 

7 

183 

dürftig und wird wahrscheinlich bald 
durch eine neue ersetzt werden. 

— 

5 

15 

Für die Kreise Bromberg, Inowrazlaw, 
Wongrowitz, Garnikau, Wittkowo und 
Filehne konnten nicht an allen Orten 


Angaben 

Trichinenbeschauer bestellt werden; 

— 

fehlen. 

jedoch helfen hier die Nachbarbezirkc 
nach Möglichkeit aus. 


27 

88 


— 

9 

15 


— 

52 

5 

Nachprüfungen der Fleischbeschauer 
im Reg.-Bez. finden regelmässig statt. 
Die jährliche Anzahl der Fleischbe¬ 

— 

13 

185 

schauer im Reg.-Bez. betrug im Durch¬ 
schnitt 538. 

Zahl der im Reg.-Bez. 1889—91 unter¬ 
suchten Schweine 283452 : trichinös 


— 

— 

590, finnig 552. 

— 


Im ganzen Reg.-Bez. 
ist eine erfreuliche 
Zunahme an In¬ 
teresse am Schlacht¬ 
hauswesen zu con- 
statiren; es sind so¬ 
gar mehrfach auf 
den Dörfern zum 
allgemein. Gebrauch 
bestimmte Schläch¬ 
tereien errichtet wor¬ 
den, die früher keine 
hatten. 


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UNiVERSITY OF IOWA 







202 


Dr. Mühlfeld, 


Kreis und Stadt 

Einwohner¬ 

zahl 

Schlachthaus. 
Wann erricht, 
u. mit welchen 
Kosten ? 

Welche veterinär-polizeiliche 
Beaufsichtigung findet statt? 

Geschlachtet 

wurden 

1. (Kempen) 

54G1 

Seit 1882 

Die öffentlichen Schlachthäuser 

Posen 

2. 

(Wreschen) . 

522(1 

* 1888 

des Bezirkes werden seit dem 


3. 

(Miloslaw) . 

2157 

„ 1885 

1. Juli 1891 von den Kreis- 


4. 

(Kosten) . . 

4701 

» 1885 

thierärzten gelegentlich an- 


5. 

(Mitstadt) 

1431 

„ 1885 

derer Dienstreisen mindestens 


6. 

(Ostrowo) 

9700 

* 1887 

ein Mal in jedem Kalender¬ 
vierteljahr, von dem Departe¬ 
mentsthierarzt mindestens ein 


7. 

(Samter) . . 

4385 

* 1S87 

Mal im Jahr einer eingehenden 


8. 

Kroteschin . 

10GG1 

. 18S7 

Besichtigung unterzogen. Die 


9. 

(Schrimm) . 

6098 

„ 1888 

Besichtigung erstreckt sich auf 


10. 

(Koschmir) . 

4358 

„ 1889 

den gesammten Betrieb der 

O 

11. 

(Kurink) . . 

2470 

„ 1890 

Schlachthäuser, insbesondere 

Xi 

Ai 

12. 

Lissa i. Pr. . 

13297 

„ 1S90 

auf die Art der Ausführung 
der Schlachtungen, Fleisch- u. 
Trichinenschau, Desinfection 

a 

0 

rO 

d 

13. 

(Pieschen) . 

Gl 29 

» 1891 

der Schlachträume, Stallungen 

a 

14. 

(Gortge) . . 

3721 

„ 1891 

und Viehrampen. 

Wenn Personen als Sachver¬ 
ständige bei den Schlacht- 


15. 

(Jarotschin) . 

2903 

» 1891 

häusern angestellt sind, die 


IG. 

17. 

(Obornik) 
Rawitsch . . 

2879 

12423 

| Im Bau. 

nicht als Thierärzte geprüft 
sind, so haben sie vor dem 


18. 

19. 

Posen . . . 

(Schmiegel) . 

G9G31 

3882 

f Der Bau ist 

1 beschlossen. 

Königlichen Departementsthier- 
arzt eine Prüfung über ihre Be¬ 
fähigung abzulegen. Erforder¬ 
nisse dazu s. S. 129 im Bericht, 
ln allen Fällen innerer Krank¬ 
heiten von Thieren oder schwie¬ 
rigen Fällen sind die Sehlacht- 
thiere einer zweiten Beschauung 
thierärztl. Sachverständigen zu 

r durch einen 
unterziehen. 

20. 

1. 

(Schroda) 

Leobschiitz . 

4989 

12584 

Vor 1886. 

Die Fleischcontrole wird durch 

0 p p e 1 

Geschlachtet 

2. 

Gleiwitz . . 

196G7 

Privat- 
Sclil achthaus. 
Vor 1886. 

einenThierarzt ausgeübt, dessen 
Anstellung von Seiten des Ma¬ 
gistrats auch in den Städten 

wurden im 
Regier.-Bezirk 
von 1SS9—91 

3! 

Oppeln . . 

19183 

do. Innungs- 

erfolgt, in denen die Schlacht¬ 

428526Thiere. 

4. 

Ratibor . . 

20729 

Schlachthaus. 
Vor 1886. 

häuser nicht im Besitz der 
Commune sind (Grottkau, Leob- 


5. 

(Kreuzburg). 

7553 

do. 

schiitz, Oppeln). Ferner noch 


G. 

Neustadt O.-S. 

17581 

do. 

veterinärpolizeiliche Controle 


7. 

Beuthcn . . 

30823 

1886—91 fer¬ 

durch den Kreisthierarzt. 


8. 

(Cosel) . . 

6161 

tig gestellt, 
do. 

do. 


9. (Grottkau) . 

4345 

do. 

do. 





Innungs- 

Schlachthaus. 




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Gck 'gle 


Original from 

UMIVERSITY OF IOWA 





Ueberwachung des Fleischhandels auf dem Lande und in kleinen Städten. 203 


Verworfen 


ganz 


zum 

Theil 


Besondere polizei¬ 
liche Verordnungen Vorschriften über 

in Orten ohne Trichinenschau 
Schlachthaus 


• 

o a 

§ § 

£ _ : 

£ c xi 

£ 'S 

_N :d in 

fr 


Bemerkungen 


1889—1891. 



Eine allgemeine obligatorische Fleisch¬ 

ja 


schau ist im Reg.-Bez. noch nicht ein¬ 

ja 


geführt. Die mikroskopische Fleisch¬ 

ja 


schau ist am vollkommensten in den- 

ja 


jenig. Gemeinden durchgeführt, welche 

In d. Ein¬ 


öffentliche Schlachthaus - Einrichtung 

richtung 


besitzen; wo Trichinenschauer fehlen, 

begriffen. 


treten häufig die der Nachbarschaft 

do. 


ein. 

ja 


Im ganzen Trichinen- und Finnenschau¬ 

ja 


wesen im Vergleich zur Vergangenheit 

ja 


ein höchst anerkennenswerther Fort¬ 

ja 


schritt zu verzeichnen. 

In d. Ein¬ 

d 

Im Durchschnitt waren jährlich 1028 

richtung 


amtliche Fleischbeschauer thätig. 

begriffen. 

05 


ja 

G 


In d. Ein¬ 

o 

cä 


richtung 

c 


begriffen. 

< 


ja 

ja 


Ueber die Posener Verhältnisse siehe 
S. 129, 130, 131 im Bericht. Es fin¬ 
den dort Revisionen des Fleischmarktes 
durch Schutzleute statt, wobei ver¬ 
dächtiges Fleisch angehalten u. unter¬ 
sucht wird, was bei den vielen Fällen 
zweifelhafter Natur dringend nothwen- 
dig erscheint. 



1889—1890. 


Der Reg.-Bez. opfert 
jährlich mehr als 
150000 Mk. iür die 
in ihren Resultaten 
immer noch un¬ 
sicheren Schutz ge¬ 
währende Trichinen¬ 
schau. DieTrichincn- 
und Finnenschau der 
geschlacht. Schweine 
und der amerikani¬ 
schen Schweinc- 
lleischarten ist im 
Bezirk einheitlich 
geregelt. 

Im ganzen Reg.-Bez. 
betrug die Zahl der 
1889—91 unters. 
Schweine 458 433 
davon waren trichi¬ 
nös 1934 und finnig 
1033. 

Ueber Erkrankungen 
an Trichinosis siehe 
S. 121 im Bericht. 




Polizei-Verordn, vom 
22. 5. 8G giebt Vor¬ 
schriften über den 

Durch Verfügung 
v. 16. 2. 91 ist 
für den Reg.-Bez. 


— 

— 

Transport des Flei¬ 

die regelmässige 

— 



sches zu d. Märkten. 
Polizei-Verordn. vom 

Nachprüfung der 
Trichinenschaucr 

— 

— 

— 

28. 11. 85 verbietet 

und die Beauf¬ 

— 

— 

— 

das Aufblasen von 

sichtigung der- 

— 

— 

— 

Fleisch, die Polizei- 

selb. angeordnet. 

— 

501 


Verordn. v. 3. 7. 87 
untersagt das Feil¬ 

— 

— 

— 

halten solchen Flei¬ 


— 



sches für den Reg.- 
Bezirk. 




In den Städten des 
Reg.-Bez. findet eine 
regelmässige polizei¬ 
liche Ueberwachung 
des Fleischverkehrs 
namentlich auf den 
Märkten statt mit 
Unterstützung der 
beamteten Thier- 
iirzte. 

In den Grenzkreisen 
Pless, Rybnik, Glei- 
witz, Zarbze haben 
die Grenz- u. Thier¬ 
ärzte die Verpflich- 


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Gck igle 


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UNIVERSUM OF IOWA 







204 


Dr. Möhlfeld, 


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Kreis und Stadt 

Einwohner¬ 

zahl 

Schlachthaus. 
Wann erricht, 
u. mit welchen 
Kosten ? 

Welche veterinär-polizeiliche 
Beaufsichtigung findet statt? 

Geschlachtet 

wurden 


10. (Myslowitz) . 

9388 

1886—91 fer- 






tig gestellt. 




11. Neisse . . 

22447 

do. 

— 

— 


12. (Rybnik) . . 

5157 

do. 




13. (Tarnowitz) . 

9985 

do. 

— 

— 


14. Kattowitz 

16527 

92 fertig gest. 

— 

_ 


15. (Gr.-Strehlitz) 

5114 

\ 

— 

— 


16. (Ziegenhals). 

6778 

f 

— 

— 


17. (Pless) . . 

4084 

\Tm Ron 

— 

— 


18. (Patschkau). 

5762 

/LUX LJilU. 

— 

— 


19. (Nikolai) . . 

5650 

i 

— 

— 


20. Königshütte. 

36501 

> 

— 

— 






L i e g n i t z 

1. (Goldberg) . 

6438 

Zwischen 1886 

Ein approbirter Thierarzt führt 

Schweine, Rin- 

9 



und 1888. 

als lnspector die Aufsicht. 

der u. Kälber 



2. (Sprottau) 

3. (Liebau) . 

4. (Haynau). 

5. Licgnitz . 
G. Görlitz . 

7. Bunzlau . 

8. Jauer . . 

9. Sagan . . 

10. Lauban . 


7644 1. 7. 89. 

5038 1888. Eigen¬ 
thum der Flei- 


8115 


scher-Innung. 
1. 10. 89. 


46852 

62135 

12921 

11571 

12623 

11958 


Eigenthum 

der 

Fleischer- 

Innung. 


dto. 

Ein früherer Schlächtermeister 
führt als Schlachthausinspector 
die Aufsicht. 

Ein approbirter Thierarzt führt 
als Inspector die Aufsicht. 

z. Zt. führt ein Fleischermeister 
die Aufsicht als Inspector. 

Ein approbirter Thierarzt führt 
die Aufsicht als Inspector, 
dto. 

Ein früherer Fleischermeister 
führt als Schlachthof-Inspector 
die Aufsicht. 

Aufsicht wird durch einen appro- 
birten Thierarzt geführt. Reini¬ 
gung der Abwässer s. S. 86 
im Bericht unter Bemerkung. 

Ein früherer Fleischermeister 
führt als Inspector die Auf¬ 
sicht. 


1. 7. 1888 
4604 


1886—188S: 
75787 
112409 

27040 

21748 


31904 


1887 und S8: 
13766 


11. Grünberg 

12. Hirschberg . 

13. (Landeshut). 

14. Glogau . . 


16092 

16213 

7579 

20486 


} Im Bau 
begriffen. 

2 öffentliche Schlachthäuser, 1 grösseres für christliche, 1 
kleineres für jüdische Schlächter; jedoch keines ist aus 
| schliesslich zu benutzen. 2 Fleischer haben eigene 
Schlachtstätten. 


Gck igle 


Original from 

UNIVERSUM OF IOWA 




Ueberwachung des Fleisclihandcls auf dem Lande und in kleinen Städten. 205 


i 

Verworfen Besondere polizei- I. ®.2 ^ 

_ liehe Verordnungen Vorschriften über g 

7llm O^n ohne Trichinenschau 5 

ganz Thdi Schlachthaus ß, •£ 


Trichinenschau 


rS ca 
S ja 

c 


Bemerkungen 


_I _ I _ I _ I _ tung den Fleisch¬ 
handel grenzpolizeilich zu controliren. — Namentlich im Industriebezirk wird sich 
der Fleischverkehr besonders auf den Märkten abspielen, event. auf Jahre hinaus. 
— Betrugsfälle in Leobschütz u. 1 Fall in Kreuzburg. s. S. 93 im Bericht. 

— I — I — I — I — In Neisse existirt eine 

_I_ I _I_ I _ sogen. Schlachtvieh¬ 
versicherungsgesellschaft unter den Fleischern selber. — Beuthen u. Myslowitz haben 
einen bedeutenden Fleischexport über die Grenzen des Reg.-Bez. hinaus. 


1886—1888. 



Vorschrift über Angaben 
Trichinenschau fehlen, 

für d. Reg.-Bez., 
auch ganz Schle- — 

sien v. 31. G. 78. — 

Verordnung betr. 
Nachrcvisionen 
d. Trichinensch. 
und der Instru¬ 
mente v. J. 1888. ad 5) 
Sehr arge Miss- Freibank, 
stände haben ge- — 

waltet. 


Durch Polizei-Verord¬ 
nung vom 26. 9. 85 
ist für den ganzen 
Reg.-Bez. das Auf¬ 
blasen des Fleisches 
verboten. 


Inspector hat d. Ver- 
pflichtg., jede krank¬ 
hafte Erscheinung 
dem Departements- 
Thierarzt anzuzeigen 
resp. vorzulegen. 
Ferner muss alles 
von auswärts einge¬ 
führte Fleisch im 
Schlachthaus unter¬ 
sucht werden, bevor 
es verkauft werden 
darf. 

Im ganzen Reg.-Bez. 
wurden in den Jah¬ 
ren 1886—1888 un¬ 
tersucht 769 144 
Schweine, davon wa¬ 
ren trichinös 360, 
finnig 1373. 


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Original fro-m 

UNIVERSUM OF IOWA 





206 


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Dr. Möhlfcld, 


Kreis und Stadt 

Einwohner¬ 

zahl 

Schlachthaus. 
Wann erricht, 
u. mit welchen 
Kosten? 

Welche veterinär-polizeiliche 
Beaufsichtigung findet statt? 

Geschlachtet 

wurden 

1. Bielefeld . . 

39950 

Vor 18S9. 

Schlachthausverwalter führt Auf- 

M i n d e 

38419 Thiere. 

2. Herford . . 

19262 

Eröffnet 1889. 

sieht u. Untersuchung. Nähere 
Angaben fehlen. 

do. 

10610 „ 

3. (Höxter) . . 

6050 

Vor 1889. 

do. 

11745 „ 

4. Minden. . . 

20223 

do. 

do. 

15090 „ 

5. (Oenhauscn) . 

2481 

do. 

do. 

1890—91 

6. Paderborn. . 

17993 

do. 

do. 

3795 „ 

31140 „ 

7. (Warburg). . 

5044 

do. 

do. 

8170 „ 

8. (Gütersloh) 

5919 

Schlachthaus 

— 


9. (Bünde) . . 

3482 

projectirt, 
doch noch 
nicht endgül¬ 
tig beschloss. 
Bau sehr 
nöthig. 

Die projectirte 



1. (Arnsberg) . 

7418 

Anlage wieder 
ad act. gelegt. 

December 8S, 


Arasber 

1S89—91 

2. Bochum . . 

52029 

Kosten 
77000 Mk. 
Vor 1886. 

i 

11996 Thiere. 

67708 „ 

3. Dortmund . 

89592 

Vor 1886. Ist 

— 

109501 „ 

4. Gelsenkirchcn 

28033 

Mustcranstalt. 
Zwischen 1886 

_ 

35240 „ 

5. Hagen. . . 

35376 

und 1888. 
do. 

— 

43483 * 

6. Hocrde . . 

16347 

Vor 1886. 

— 

22419 

7. Iserlohn . . 

22199 

do. 

— 

29505 „ 

8. Lippstadt 

10408 

do. 

— 

14543 B 

0. Lüdenscheid. 

19450 

do. 

— 

17122 * 

10. Siegen . . 

18245 

1886 

— 

39957 „ 

11. Soest . . . 

15073 

Vor 1886. 

— 

20935 

12. Witten . . 

26314 

Zwischen 

_ 

32569 „ 

13. Hamm . . 

24975 

1886 u. 1888. 
Im Bau. 

— 

— 


Gck igh 


Original frn-m 

UNiVERSUY OF IOWA 




Überwachung des FJeischliandcls auf dem Lande und in kleinen Städten. 207 


Verworfen 


ganz 


zum 

Theil 


Besondere polizei¬ 
liche Verordnungen 
in Orten ohne 
Schlachthaus 


Vorschriften überi 
Trichinenschau 


T? . 

o a 

% 

5 ■ 3 

la rC 

3 .S 


Bemerkungen 


1889—1891. 


1889-1891. 


55 

209 

— 

Polizei - Verordng. 

_ 




v. 26. 7. 91 be¬ 


31 

265 

_ 

stimmt d. repeti- 
torischen Nach¬ 


41 

678 

— 

prüfungen der 

— 

36 

117 

— 

Trichinensch. 

— 

3 

7 

— 

In einzelnen Be¬ 

— 

35 



zirken besteht d. 


82 

— 

Vorschrift, dass 

— 

13 

38 

— 

ein Trichinensch. 

— 




an einem Tage 
nie mehr als 

6 Untersuchun¬ 





gen von ganzen 
Schweinen vor¬ 





nehmen darf. 
Polizei-Verordng. 



— 

— 

v. 8. 3. 91 be- 





stimmt die Ausnahmefälle 




nach vorherig. Zustimmung 
des Kreisthierarztes. 


Im Reg.-Bez. wurden 
im Jahre 18S9—91 
untersucht 490 064 
Schweine, trichinös 
waren 30, finnig453. 
Durchschnittszahl d. 
amtlichen Trichinen¬ 
schauer 852. 


Ganz verworf. 

_ 


I 

358, incl. 342 
neugeb.Kälber. 
1193, incl. 654 




neugeb. Kälber. 
2237, incl. 1956 




neugeb.Kälber. 
846, incl. 373 



I 

neugeb.Kälber. 
1261,incl.1249 




neugeb.Kälber. 
935, incl. 676 



G 

■2 [ 

neugeb.Kälber. 
1645, incl. 1577 



xx A - 

s— 1 

c 

neugeb.Kälber. 
341, incl. 284 



o 

ci 

bß 

neugeb.Kälber. 
1069, incl. 1007 


Im ganzen Bezirk 

< 

neugeb.Kälber. 
155, incl. 52 

_ 

werden durch d. 
Kreisphysiker 

f 

neugeb.Kälber. 
707, incl. 645 


Nachprüfungen 

derTrichinensch. 


neugeb.Kälber. 
459, incl. 416 


vorgenomraen, 
was sich gut be¬ 

r 

neugeb.Kälber. 

— 

währt hat. 



)ie Einnahme des 
Schlachth. in Arnsbg. 
betrug im Etatsjahre 
1888/89 2835,85 M., 
Ausgabe 2786,49M., 
also im Plus von 
49,36 M. 

orzuhebenist das 
stete Wachsen des 
Fleischconsums im 
Reg.-Bez. 

~)urch Verfügung vom 
13. 2. 92 ist ver¬ 
boten, Fleisch von 
Pferden mit Lum¬ 
bago zum mensch¬ 
lichen Genuss zuzu¬ 
lassen. 

"ür den ganzen Reg.- 
Bez. waren im Jahre 
1889:1524, 1890: 
1525, 1891 : 1552 

Trichinenschauer be¬ 
schäftigt, welche 
von den betreffenden 
Kreisphysikern con- 
trolirt werden. 


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Original frn-m 

UNiVERSITY OF IOWA 


208 


Dr. Möhlfeld, 


Kreis und Stadt 


14. Altena 


15. (Hohenlim¬ 
burg) 

16. (Niedermars¬ 
berg) 

17. Unna . . . 

18. (Meschede) . 

19. (Plettenberg) 
Kr. Altena 


Einwohner¬ 

zahl 

Schlachthaus. 
Wann erricht, 
u. mit welchen 
Kosten ? 

Welche veterinär-polizeiliche 
Beaufsichtigung findet statt? 

Geschlachtet 

wurden 

11140 

Zwischen 
1889 u. 1891. 

— 

1889—91: 
7950 Thiere. 

6205 

do. 

— 

547 „ 

3555 

do. 

— 

2464 * 

11124 

Projectirt. 


— 

2940 

3698 

do. 

Möchte gern 
ein Schlacht! 
beaufsichtige! 

— 


laus bauen, jedoch ohne die Anstellung eines 
iden Thierarztes. 


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Original frnm 

UNIVERSUM OF IOWA 



IJcborwachung des Fleischluin«leis auf dem Lande und in kleinen Städten. 209 


Verworfen 

Besondere polizei¬ 
liche Verordnungen 

Vorschriften über 

r O • 
o a 

¥ 

s § 

Bemerkungen 

zum 

ganz Theil 

in Orten ohne 
Schlachthaus 

Trichinenschau 

Freib? 

ähn.L 

rieht 

Ganz verworf. 
441, incl. 422 
neugeb.Kälber. 
8, incl. 5 neu¬ 
geb. Kälber. 
32, incl. 2 neu¬ 
geb. "Kälber. 

Am 28. 10. 91 neue Polizei-Verordn. 
für den Reg.-Bezirk, betr. die Unter¬ 
suchung des Schweinefleisches auf 
Trichinen und Finnen. Doch haben 
sich hinsichtlich dieser Poliz.-Verord. 
schon einige wünscheuswcrthe Ver¬ 
besserungen ergeben. 


1889—1891 wurden 
im Reg.-Bcz. ge¬ 
schlachtet 836950 
Schweine, davon 22 
trichinös. 

— 



— 






Nachtrag zu den Gutachten, betreffend die Yerwerthung des 
Fleisches finniger Rinder. 

Mit Bezugnahme auf die in den Gutachten der technischen De¬ 
putation für das Veterinärwesen (S. 122) angeführte Aeusscrung be¬ 
treffend die Einführung einer obligatorischen Fleischschau ist nachzu¬ 
tragen, dass inzwischen durch Ministerial-Erlass vom 10. August d. J. 
die Oberpräsidenten angewiesen worden sind, die obligatorische Fleisch¬ 
schau vor und nach dem Schlachten der Thiere im Wege der Polizei¬ 
verordnung nach dem Muster der für die Provinz Hessen - Nassau 
geltenden Verordnung vom 1. Juli 1892 in allen preussischen Gebiets¬ 
teilen zur Einführung zu bringen. 


Bruckfehlerberichtigung. 

Auf Seile 416, Bd. XIV. Heft 2, Zeile 18 von unten lies „Alluraettes“ statt 
„Mumcttes“. 


(Gedruckt hoi L. Scliuiiiaclier in Uerlin. 


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